Title: Junge Herzen: Erzählungen für die reifere Jugend
Author: Sara Hutzler
Release date: March 24, 2020 [eBook #61667]
Language: German
Credits: Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
https://www.pgdp.net (This book was produced from images
made available by the HathiTrust Digital Library.)
Erzählungen
für die reifere Jugend
von
Sara Hutzler.
Stuttgart.
Verlag von Carl Krabbe.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von Carl Hammer in Stuttgart.
Meinen lieben Eltern
im fernen Continente
zugeeignet
Weihnachten des Jahres 1884
Sara.
Seite | |
Durch die Liebe | 1 |
Des Nachbars Junge | 55 |
Die Geschichte einer Wäscherin | 71 |
Lora | 91 |
Haß und Liebe | 121 |
Gesiegt | 152 |
Zu spät | 165 |
Erste Liebe | 177 |
Das Lied | 193 |
»Verzeihen Sie – bin ich hier recht bei Herrn Harvey?«
»Das ist mein Name!«
Die Fragerin, ein noch sehr junges, schlank gebautes Mädchen, stand auf der inneren Schwelle der Thüre des großen Bureauzimmers, während der am Schreibpult beschäftigte Herr sich umsah, erhob und der zögernden Mädchengestalt um einige Schritte entgegentrat.
»Womit kann ich dienen?« Der Ton, in dem er sprach, war nicht ermutigend. Es klang daraus etwas von Kühle, etwas von Mißbilligung über die erfahrende Störung. Das Mädchen sandte einen forschenden Blick zu ihm auf. Sie trat dann, wie um sich gegen die eigene Scheu zu wappnen, rasch vor und stand dem Manne gegenüber.
»Ich komme mit einer Bitte, mein Herr!« Sie machte eine Pause, in der sie vielleicht eine ermunternde Entgegnung erwartete; da sie ausblieb und der Mann mit gleich unbeweglichem Ernste vor ihr stand, sah sie nieder und sprach rasch und geläufig weiter. »Der Samariterverein hat beschlossen einen Ball mit Bazar zu arrangieren, dessen Ertrag zum Bau eines konfessionslosen Krankenhauses verwandt werden soll. Ich wollte Sie bitten, mir einige Billette abzukaufen. Ich komme zu Ihnen, weil man Ihnen große Mildthätigkeit nachrühmt. Wie viele Karten wünschen Sie?«
Sie hatte, indem sie sprach, ein Täschchen geöffnet. Sie trat dem Manne etwas näher und blickte, da er nicht sofort sprach, verwundert zu ihm auf.
»Wie viele?« fragte sie nochmals, etwas leiser als zuvor. Ihre Augen begegneten den seinen. Es lag in den stillen ernsten grauen Männeraugen etwas Prüfendes. Er verneigte sich leicht. Seine Antwort kam höflich, aber entschieden:
»Ich muß bedauern. Ich wünsche mich nicht zu beteiligen!«
»Nicht zu beteiligen!« Sie wiederholte seine Worte unwillkürlich, fast mechanisch, und plötzlich stieg es jäh und heiß in ihre Wangen auf. Mit einer unwilligen Geberde verletzten Selbstgefühls warf sie den braunlockigen Kopf zurück. »Mein Herr, es ist eine Wohlthätigkeitssache!« Hatte sie sich getäuscht oder lächelte er ein wenig, ganz wenig? – – Seine Ruhe, sein schlichtes »ich weiß wohl« kränkte sie mehr noch als vorhin sein Bescheid.
Mit funkelnden Augen und erregt bebender Stimme trat sie zurück.
»Ich habe wohl mehr als zehn Bureaux besucht, mein Herr,« sagte sie, »und nirgends hat man mich abschlägig beschieden, d. h. wo man mir ›Nein‹ sagte, gab man artigerweise seine Gründe an!«
»Dann that man mehr als nötig war. In Wohlthätigkeitssachen schuldet man nur sich allein Erklärung und Rechenschaft!«
Des Mannes Worte enthielten eine Zurechtweisung – das Mädchen mochte sie empfinden. Mit einer kindlich herrischen Geste klappte sie das Täschchen zu und wandte sich rasch um zu gehen. In diesem Augenblick fiel ihr Blick in das angrenzende Bureauzimmer, in dessen Innern sich einige neugierige Männerköpfe von den Pulten aufgerichtet hatten, um die kleine Billetverkäuferin in sehr bewundernder Weise anzustarren. Diese stumme Huldigung mochte ihr Selbstgefühl wachrufen. Ihr eigentliches Selbst in seinem ganzen verzogenen Eigensinn trat plötzlich bei ihr zu tage. Sie, Lily Elsworth, das verwöhnte Schoßkind der Gesellschaft, sollte es sich bieten lassen von einem Manne, den sie gar nicht kannte, von einem häßlichen Manne, der sie nichts anging, eine Zurechtweisung zu empfangen, eine Zurechtweisung noch dazu in einer Angelegenheit, in der sie sich herabließ von fremden Menschen etwas zu erbitten, sie – Lily Elsworth, das reichste, gesuchteste Mädchen der Stadt! Sie sollte es sich sagen lassen, daß man es gewagt hatte, sie mit einem »Nein« abzufertigen – oh nicht doch! Sie war gekommen, um Billette für eine gute Sache loszuwerden, und loswerden würde sie dieselben und wäre es auch nur, um dem arroganten Menschen – – »Sie erlauben!« Den braunen Kopf zurückwerfend trat sie an Herrn Harvey vorüber und näherte sich ohne weitere Erklärung den im Bureauzimmer befindlichen jugendlichen Schreibern.
»Sind die Herren auch gegen Ball und Tanzvergnügen eingenommen?« fragte sie in lautem, dabei herausforderndem Tone, »oder sind Sie geneigt einer wohlthätigen Sache zu dienen, indem Sie mir einige Billette abnehmen? O wie liebenswürdig!«
Herr Harvey hatte seinen Platz am Schreibpult wieder eingenommen. Beim Klang der eigenartig einschmeichelnden Mädchenstimme, die nun im Gespräch mit den sie umstehenden jungen Angestellten eine so helle Färbung gewann, hob er rasch den Kopf.
Das Mädchen stand, den Nacken leicht vornübergebeugt, mit niedergeschlagenen Augen da und zählte – eine Reihe schneeiger Zähne wurden hinter rosigen Lippen sichtbar – die verkauften Billette ab. Die Gestalt, welche tannengerade in die Höhe ging, war von auffällig schlankem Ebenmaße.
»Am vierten – ja! Ich danke bestens!« Ihre Worte drangen zu Herrn Harvey herein. Aufblickend sah er, wie sich das Mädchen mit leicht graziöser Neigung ihres Köpfchens den Herren empfahl. Sie hatte die Thürklinke des Vorsaales bereits erfaßt, als ihr Auge die Gestalt Harveys gewahrte, der emsig schreibend über seinen Akten saß. Rasch ließ sie ihre Hand wieder sinken.
Er fuhr leicht zusammen und sah sich um. Er erhob sich.
»Mein Fräulein!« Ersichtlich frappierte sie seine unbeirrte Höflichkeit. »Ich – ich –« Da seine Miene an Strenge nicht nachließ, sondern unverändert ernst verblieb, wallte es in kindlichem Trotz bei ihr auf. Er brauchte nicht zu denken, daß sie eine Niederlage empfunden, und daß er ihr durch seine Haltung etwa imponierte – sie wollte, sie mußte ihm den Gedanken nehmen, und so warf sie mit kindlichem Unwillen den Kopf in den Nacken, zog sie den unruhig bewegten Mund in eine gerade Linie ein und sprach mit einem Triumphton ihre Meinung:
»Es thut mir leid, Sie zu enttäuschen,« sagte sie gelassen, »aber mildthätig sind Sie nicht. Wenn man Ihre Güte jemals wieder in meinem Beisein rühmt, so werde ich das Gegenteil aufs kräftigste nachweisen! Guten Morgen!« Ein rascher Aufblick aus tiefblauen Augen – ein geschicktes Wenden – zwei gerade resolute Schritte – weg war sie.
Über das ernste Antlitz des Mannes ging ein leises Lächeln, das alsbald wieder schwand, um den alten Ausdruck unbeweglichen, fast melancholischen Ernstes anzunehmen.
Der Tag des Festes war herangerückt. In dem großen hellerleuchteten Saale des Germania-Klubs wogte eine bunte Menschenmenge lärmend durcheinander. Die riesigen Säulen, welche kleine traute Nebenräume vom Tanzsaale trennten, waren mit Kränzen umwunden, und in den tiefsten Tiefen des Raumes lag die Bühne wie ein exotisches Treibhaus geschmückt da.
Von Seite zu Seite hingen Guirlanden in phantasievoll verschlungenen Bögen herab, während aus den Coulissen Fahnen verschiedenster Nationen herauswehten.
Kleine reizende Nischen, aus Oleandern und Palmen gebildet, luden mit ihren bunten Lampions, ihren tête à tête Stühlen und ihren Amorstatuetten zu neckischen Plauderstündchen ein. In dem Vordergrund der Bühne gruppierten sich eine Reihe helllachender jugendlicher Mädchen, welche mit unglaublicher Gewandtheit kleine Knopflochsträußchen wanden, um sie den Vorübergehenden zum Verkaufe anzupreisen. In den Nebensälen standen die üblichen verlockenden Buden. Zuerst die Post, ein aus Brettern errichtetes, von Bannern und Fahnen umwehtes Häuschen, dessen Pforten und Schalter reizende Beamtinnen bergen, Beamtinnen, welche durch neckisches Geplauder doppeltes und dreifaches Porto erzielen. »Für die gute Sache,« hallte es triumphierend aus dem Innern hervor, und aus der Nebenbude, wo sich ein Glücksrad dreht, hört man nach jedesmaligem erneutem Glücksversuch den Satz wiederholen: »Für die gute Sache!«
Die gute Sache verlangt viel. Überall ist etwas anderes zu sehen. Hier ein Tisch mit Luxusartikeln, dort eine Nische mit Erfrischungen von zierlichen Mädchen mit Kellnerschürzen serviert, dann einige Zelte, daraus gewahrsagt wird, und endlich ein Cigarrenverkauf! Letzterer trägt am Eingang ein Riesenschild mit enormer Annonce: »Feine Havannas!«
Der Abend nahte sich seinem Höhepunkt und noch hatte sich der Schwarm von Menschen, welcher gerade dieses Zelt umstand, nicht um das Mindeste gelichtet. Aus dem Innern dringt eine helle Mädchenstimme, bei deren Klang sich die bereits stehende Gruppe nur noch vermehrt.
»Die kleine Elsworth, beim Jupiter!« ruft ein sehr jugendlicher bartloser Blondin, sich nicht ohne Geschick bis an die Zeltöffnung vordrängend und gleich darauf steht er mit der Linken einen vermeintlichen Schnurrbart drehend mit hochrotem Gesicht vor der jungen Verkäuferin.
»Bin entzückt, Miß Lily, entzückt! Und ausverkauft? Alles? Na ja natürlich, wer könnte Ihnen widerstehen?«
»Niemand!« gibt das Mädchen prompt und keck lachend zurück und rasch an ihm vorübertretend hält sie an der Zeltöffnung angelangt ein weißes Händchen hoch.
»Noch drei Cigarretten, meine Herren!« ruft sie lächelnd; »der Meistbietende erhält sie – es sind die letzten!«
Es entsteht ein Drängen und ein Stoßen, ein Haschen nach der zurückweichenden Mädchenhand. Männerstimmen schwirren hinüber, die helle Mädchenstimme klingt zurück und endlich ist der letzte Kauf geschehen.
»Fünf Dollars. Danke Ihnen für die gute Sache, – Sie wissen! So, addio Cigarrenduft, jetzt gehts zu den Blumen – wer folgt?«
Lily Elsworth hat sich zum Gehen gewandt, als ihr der bartlose Blonde den Weg vertritt.
»Aber Miß Lily, unser Tanz –!«
»Tanz!« Sie lacht hell zu ihm auf. »Tanz, heute – hier? Wenn Sie nicht gerade oben auf meinem Zelt walzen möchten, sehe ich nicht recht ein, wie Sie's in dem Gedränge anstellen wollten!«
»Aber Miß Lily, ich muß –!«
»Muß! Oh, oh!« Das Mädchen zieht plötzlich eine heuchlerische Trauermiene und blickt zu ihm auf, dann schlägt sie rasch beide Hände zusammen und lehnt den braunen Kopf neckend zur Seite.
»Ich komme nachher wieder und höre mir Ihre Seufzer an, Mr. Tom Warren, jetzt muß ich Blumen verkaufen!«
Fort ist sie. Tom Warren steht inmitten des Kreises junger Leute und sieht der schwebenden elfenhaften kleinen Gestalt nach.
»By Jove!« murmelt er verdrossen, indem er mit gierigen Augen die Richtung verfolgt.
Sie steht dicht vor der bunt dekorierten Bühne und nimmt mit der ihr eigenen resoluten Hast die ihr dargereichten Sträußchen zum Verkaufe in Empfang. Zu gleicher Zeit plauderte sie unbefangen nach allen Richtungen hin.
»Wo ich die alle anbringen soll, weiß ich so recht nicht. Alle Knopflöcher sind bereits besetzt.« Sie wandte sich rasch zu einem neben ihr stehenden Bekannten: »Sehen Sie vielleicht noch irgendwo ein unverblümtes Knopfloch?«
Ohne die Entgegnung abzuwarten, steuerte sie bereits auf ihr Ziel los. An der Ausgangsthür des Saales stand die breitschulterige Gestalt eines Mannes, dessen etwas vorgebeugter Kopf der Thüre zugekehrt war. Er trug seinen Hut in der Hand. Lily blickte bis zur Bruststelle hinauf. Er hatte keine Blumen. Im Nu stand das Mädchen vor ihm. Es war ein siegessicheres Lächeln, das ihren Mund umschwebte, als sie ihn ansprach.
»Ohne Knopflochbouquet verläßt keiner den Saal, mein Herr, bitte, einen Dollar, oder so viel mehr als Sie wollen. Sie bekommen dafür diese Veilchen – und der Weg ist frei!«
Sie sprachs, ohne aufzusehen. Ihre schlanken Finger wählten unter den im Korbe umhergestreuten Blumen. Der Mann hatte sich ihr zugewandt. Er zögerte einen Moment mit der Entgegnung und als sie kam, zuckte das Mädchen leicht zusammen.
Rechtsanwalt Harvey stand vor ihr. Seine Stimme klang ernster noch, als bei der vorigen Begegnung.
»Es thut mir aufrichtig leid,« begann er, »daß ich in die Lage komme, Ihnen zweimaligen abschlägigen Bescheid geben zu müssen, indes –«
Helles Rot stieg in des Mädchens Wangen. Sie unterbrach ihn rasch. »Bitte, mein Herr, sprechen Sie nicht weiter. Ich würde Sie ja doch nie angeredet haben, wenn ich Sie erkannt hätte, da ich zur Genüge erfahren habe, wie unangenehm Ihnen Wohlthätigkeiten sind!«
»Die sogenannten – ja!«
Das Mädchen blickte auf. Ihre Lippe kräuselte sich verächtlich.
»Das verstehe ich nicht. Übrigens ist es ja gleich, welche Ausrede Sie wählen!«
Des Mannes Stirn zog sich in Falten. Es schien, als ob er fast gegen seinen Willen die weiteren Worte sprach.
»Ausreden, meine verehrte junge Dame, kommen bei mir nicht vor. Eine ›sogenannte‹ Mildthätigkeit ist es, wenn sie zum Hauptzweck hat, jungen Mädchen ein Deckmantel zu sein für unwürdiges Amüsement!«
»Mein Herr!« Lily Elsworth richtete sich hoch auf. Ihre Augen blitzten. Einen Augenblick schien es, als wollten sie Feuer sprühen, dann aber zuckten die Lippen stolz und das Mädchen fragte, sich gewaltsam beherrschend:
»Ist es ein ›Amüsement‹, den ganzen Abend in einem engen Zelt zu stehen und Cigarren zu verkaufen?«
»Cigarren verkaufen! Das thaten Damen?«
»Das that ich, mein Herr, und ich thäte um einer guten Sache zu dienen noch einiges andere!« Sie stand ihm gerade gegenüber. Sie blickte ihm gerade in die Augen, Trotz und Herausforderung in ihrer ganzen Haltung. Wollte er nicht antworten oder ärgerte ihn ihre Rede so sehr? Das Mädchen blieb einen Augenblick stumm, dann sprach sie, und ihre Stimme hatte den alten spöttischen Ton: »Ich muß mich wundern, daß ein Herr, dem Mildthätigkeiten so zuwider sind, das Fest mit seiner Gegenwart beehrt!«
»Das würden Sie verstehen, wenn ich Ihnen sagte, daß ich kam, um einem Wesen, das lange am Krankenbette gesessen, eine Abwechslung zu verschaffen!«
Lily schwieg. Gegen ihren Willen fühlte sie sich beschämt. Das bessere Gefühl in ihr gewann plötzlich Oberhand und es war unwillkürlich, daß sie suchend umsah, unwillkürlich, daß sie das ihr unbekannte Wesen beneidete, um derentwillen dieser streng bleibende Mann ein Opfer brachte. Es lag in der Art wie sie den braunen Kopf zurückwarf etwas vom schmollenden Kinde.
»Wenn Sie denn nur kamen, um jemandem gutes zu erweisen, so werden Sie ja mit dem Jemand wieder gehen, und alle unliebsamen Begegnungen gleich vergessen – nicht?«
Herr Harvey lächelte ein wenig. Für Lily war das Lächeln eine Kränkung. Thränen des Zornes füllten ihre Augen und zitterten in ihrer Stimme nach, und mit dem Ausruf: »Ich freue mich, daß ich Sie amüsiere, mein Herr!« wandte sie sich rasch und eilte davon. Sie drängte sich unter die Menschen, scherzte, lachte, pries ihre Blumen an, sehnte sich plötzlich inmitten all der lachenden Menschen fort nach Hause, nach dem Alleinsein.
Tom Warren traf es ungeschickt, daß er dem Mädchen gerade in der Stimmung entgegentrat. Mit dem faden Lächeln und den noch faderen Reden, die er stets geführt, die aber dem Mädchen, halb Kind, halb Weib, das sie war, nie so zuwider gewesen waren wie heute, faßte er sie an der Thüre ab und erging sich in höflichen Schmeichelreden.
Lily hörte ihm zerstreut zu. Erst als er ihr seine Begleitung antrug und erklärte, daß ihr Onkel, der sie herbegleitet, ermüdet nach Hause gegangen und ihm, Tom Warren, das Mädchen anvertraut habe, sah sie rasch und prüfend zu dem blonden Menschen auf.
»Ich glaube, ich gehe lieber allein,« sagte sie zögernd.
Seine glänzenden Augen, seine geröteten Wangen ließen auf hohen Weingenuß schließen.
»Wie? allein? Oh nimmermehr! Ich habe Ihrem Onkel versprochen – ich bin glücklich, Ihnen endlich sagen zu dürfen – die Gefühle meiner Seele aushauchen – –«
»Oh! oh! oh! Mr. Warren!« Sie lachte schon wieder, erst leise, dann, sein komisches Gesicht sehend, laut auf. »Aushauchen ist sehr nett; das ist eine neue Wendung. Aushauchen haben Sie doch gesagt, glaube ich!«
Tom Warren sah sehr ernsthaft drein. Er zupfte mehrfach an seinem Halskragen und sagte mit beleidigter Miene: »Sie – mein Fräulein – ich – Sie lachen über mich!«
Sie sah ihn keck an. »Ja,« sagte sie mit einem Anflug ihres alten Übermutes; »ja, ich glaube in der That, daß ich lache! Im übrigen« – Lily wurde plötzlich ernster – »seien Sie gescheid, Tom Warren, schmachten Sie nicht, ›aushauchen‹ steht Ihnen nicht. Sie sind zu – wohlgenährt. Nach Hause geleiten dürfen Sie mich, ich gehe in zehn Minuten!«
Lily hatte die Garderobenthüre erreicht. Im Begriff, die Klinke zu erfassen, begegnete ihre Hand einer anderen, welche sich offenbar in derselben Absicht genähert hatte.
»Pardon!« sagte eine sehr weiche Stimme, und Lily betrachtete im Garderobenzimmer stehend nicht ohne Mitgefühl die eintretende Gestalt. Es war ein nicht mehr ganz junges Mädchen mit glattzurückgestrichenen braunen Haaren und großen dunklen, ernstblickenden Augen. Die Gestalt war traurig entstellt durch schmale hochgebaute Schultern, aus denen der Kopf mit seinem kurzen Hals unglückselig genug hervorkam. Lily hatte wenig Gelegenheit gehabt, unglückliche Menschen kennen zu lernen; in ihrem an Zerstreuung reichen Leben fand sie richtig gesagt keine Zeit, die Leiden und Gebrechen der Welt zu beachten. Eine besonders weiche Stimmung mußte wohl heute über sie gekommen sein, daß sie so nachdenklich verblieb bei dem Anblick der armen Verwachsenen.
Vielleicht lag auch in der Stimme der Fremden ein Etwas, was unwillkürlich anzog. Lily horchte plötzlich teilnahmvoll auf das Gespräch, welches zwischen ihr und der Garderobiere stattfand.
»Oh nein, das kann ich nicht,« hörte sie das Mädchen sagen; »es ist ja natürlich eine Verwechslung, aber da ich ja nicht weiß mit wem, kann ich doch nicht einen beliebigen Mantel einer andern mitnehmen.«
»Na, wenn Sie nicht wollen!«
Lily sah, wie die wohlbeleibte Garderobiere sich achselzuckend abwandte und im Nu stand sie an der Seite der hilflos dastehenden kleinen Gestalt.
»Verzeihen Sie,« redete sie dieselbe entschlossen an, »ich gebe Ihnen mit Vergnügen meinen Mantel mit. Ich wohne so nahe, daß ich ihn nicht einmal entbehre!«
Die Angeredete hob bei der so unerwartet freundlichen Ansprache den Blick. Es leuchtete darin von wirklichster Rührung. »Oh wie gütig!« sprach sie, und wieder war es der weiche Ton, der so eigen warm in das Herz Lilys eindrang – –
»Darf ich also?« Sie nahm, wie um einer kommenden Weigerung zu entgehen, rasch und resolut ihren pelzverbrämten Umhang auf und drängte ihn der schüchternen kleinen Gestalt auf. »Ich wohne wirklich zwei Häuser von hier,« eiferte sie, während ein ihr bis dahin fremdgebliebenes Gefühl von Befriedigung sie durchzog, »es ist mir eine Freude, Ihnen aus der Verlegenheit helfen zu können, so, fassen Sie zu, bitte! Wohnen Sie weit von hier?«
Die Fremde hatte Miene gemacht, das Anerbieten abzulehnen. Nun, da die andere mit so liebenswürdiger Dringlichkeit sprach, ließ sie sie still gewähren und antwortete halb gerührt, halb verlegen: »Ziemlich weit. Ich bin Erzieherin im Hause des Herrn Harvey – –« Lilys Haltung wurde plötzlich weniger freundlich; das Mädchen gewahrte es und sprach mit zaghafter Stimme ihren Satz zu Ende: »Gewöhnlich bestellt Herr Harvey den Wagen, es war nur heute unbestimmt, wie spät wir bleiben würden und Herr Harvey läßt so ungern die Pferde in der Kälte warten; darf ich Ihnen meinen Namen nennen? Ich heiße Marie Müller.«
»Lily Elsworth,« war die einfache Entgegnung, die Lily halb mechanisch gab. Sie gedachte in Verbindung mit der Rücksichtnahme Harveys auf seine Pferde, seine ablehnende Herbheit ihr gegenüber. Sie tauschte immer noch mechanisch mit dem Mädchen Wohnungsadressen aus, und schritt später, nachdem die andere gegangen war, schweigsam an der Seite Tom Warrens die Haupttreppe des Hauses hinab. Sie ließ sich, draußen angelangt, den Paletot des jungen Mannes um die Schultern legen und hielt denselben, da es doch empfindlich kalt geworden war, mit der kleinen Hand unter dem Kinn zusammen. Sie waren bis zu der Häuserreihe gelangt, deren eines von Lilys Verwandten bewohnt war, und Lily fiel es zum erstenmale auf, wie ungewöhnlich schweigsam ihr Begleiter den Weg zurückgelegt. »Ist Ihnen etwas?« fragte sie eifrig, indem sie sich aus seinem Paletot herausschälte und ihm ihren Hausschlüssel zum öffnen hinhielt, »ist Ihnen etwas?«
Er erfaßte – Lily bemerkte erst jetzt seine unsicheren Bewegungen – mit dem Schlüssel die ganze Hand des Mädchens, drehte sich plötzlich um, daß sein Rücken den Eingang der Thüre deckte und beugte sein gerötetes, unstät zuckendes Antlitz zu dem Mädchen nieder. »Ob mir etwas ist, wollen Sie wissen? Ha – ha – ja, mir ist, mir ist etwas. Sie haben mich verspottet, Sie verspotten mich immer, aber zuerst locken Sie und dafür will ich –«
»Was fällt Ihnen ein, Tom Warren, ich rufe um Hilfe!«
Er hatte ihre Hände erfaßt, sie an sich gezogen. »Rufen Sie nur, es wird Sie kein Mensch hören. Ich lasse Sie los, wenn ich meine Rache habe – ich liebe Sie!«
»Sind Sie wahnsinnig?« Des Mädchens Lippen zitterten.
»Wahnsinnig, ja aus Liebe wahnsinnig, Lily Elsworth, Sie sind allein mit mir, und nun sollen diese Lippen, die mich lockten und dann höhnten –«
»Ich bin in Ihrem Schutz, wie können Sie wagen, lassen Sie los!«
Des Mädchens angsterfüllter Ruf drang weithin durch die Nacht: »Hilfe – Hilfe!«
War es ein Irrtum oder nahten rasche Schritte? Lily rang mit aller Kraft, ihr Kopf bog sich weit zurück, da – ein Erlösungsschrei tönte von ihren Lippen – taumelt ihr Begleiter von starker Hand geschleudert zurück. Lily sieht, wie im Nebel, das erschreckte bleiche Gesicht der verwachsenen Erzieherin Harveys und neben ihm ein ernstes herbes Männerantlitz, das sich mit befehlerischer strenger Stimme an Tom Warren wendet. Die Hausthüre ist geöffnet. Lily stützte sich erschöpft auf Marie Müllers dargebotenen Arm. Das Wort des Dankes erstirbt ihr auf den Lippen, da Richard Harvey vor ihr steht und mit der Miene strengen Ernstes, die sie kennt, die Thüre weit geöffnet hält, um sie hineinzulassen.
Seltsam ist es, wie sich zwei so sehr entgegengesetzte Naturen oft in innigem Einvernehmen zusammenfinden. Einen größeren Kontrast gab es so leicht nicht, wie die stille Erzieherin Marie Müller und das verzogene Weltkind Lily Elsworth. Dennoch hatte sich zwischen ihnen ein Freundschaftsbündnis gestaltet, das auf beide günstig zu wirken schien. So saßen sie denn zwei Tage nach dem Vorangegangenen plaudernd in dem luxuriös ausgestatteten Wohnzimmer des Elsworth'schen Hauses, Marie lehnte in einem behaglichen Fauteuil, während Lily auf einem niederen Schemel vor dem Kamin hockte und abwechselnd in das ernste Antlitz der Besucherin, dann in die prasselnden Kamingluten blickte. Nach Mädchenart besprachen sie das Fest.
»Die Blumen, die Sie sehen, sind alle noch daher,« erzählte Lily nicht ohne Eitelkeit und Marie zog einen der herrlichen Rosensträuße zu sich heran und fragte, ob sie ihr vom Komite nachgesandt worden seien.
Lily lachte hellauf: »Vom Komite! Nein, Sie liebe Unschuld! Das sind lauter enthusiastische Widmungen von Verehrern. Ich bekomme fast täglich Sachen zugeschickt: Bonbonnieren, Parfüme u. dgl.«
»Und Sie nehmen sie an?«
»Aber natürlich. Es hätte ja gar keinen Sinn, sie abzulehnen. Ich amüsiere mich über die Spender! Sie sind mir alle ganz gleichgiltig!«
»Ganz gleichgiltig?« Marie Müller wiederholte die Worte, als seien sie ihr nicht verständlich. »Wenn Sie die Herren nicht ermutigen, wie können sie dann wagen – –«
Lily unterbrach sie lebhaft: »Das ist es eben! Ich ermutige sie immer. Mein Gott, das Leben wäre schrecklich langweilig, wenn man dieses Amüsement nicht hätte!«
Marie Müller blickte plötzlich sehr ernst. »Sie nennen das Amüsement, Lily? Das ist ein Unrecht!«
Lily sah rasch auf. Sie öffnete die Lippen zu lächelnder Entgegnung, schloß sie indes wieder und sah während einiger Augenblicke sinnend in den Kamin. Plötzlich hob sie den Blick.
»Denkt er so?« fragte sie, und Marie Müller sah sie verwundert an.
»Wer?« fragte sie zurück.
»Herr Harvey?«
»Herr Harvey? O, der denkt in allen Beziehungen so rechtlich,« entgegnete Marie, »ich habe hierüber mit ihm nie gesprochen; aber ich bin überzeugt, daß er in diesem Punkt so denkt wie ich!«
»So?« Lily Elsworth war aufgesprungen. Es überkam sie eine Heftigkeit, für die sie sich keine Erklärung gab. Sie warf mit kindlichem Ungestüm das widerspenstige Stirngelock zurück und eiferte ganz ohne Grund auf die Freundin ein: »Es ist sehr leicht, ein Urteil zu fällen über andere, und alles was sie thun, unrecht zu finden. Ich möchte wissen, ob Herr Harvey eine Ahnung davon hat, was es heißt, sich langweilen!«
Marie Müller antwortete sehr prompt: »Nein, davon hat er sicherlich keine Ahnung. Herr Harvey hat Pflichten!«
»Pflichten, ja! Es gibt aber Menschen, die keine haben – ich zum Beispiel!«
»Das liegt an Ihnen. Seien Sie mir nicht böse, aber Sie könnten sich welche schaffen. Ihrem Leben fehlt, das meinte Herr Harvey auch, ein rechter Inhalt; den könnten Sie – aber Lily, was ist Ihnen? Sie zürnen mir, Sie weinen!«
Lily hatte plötzlich beide Hände vor's Gesicht geschlagen.
»Nein,« rief sie, »ich zürne Ihnen gar nicht, aber –« hier bebte ihre Stimme in losbrechendem Schluchzen, »er – er hat sich gar nichts um mich zu kümmern! Ich verlange nicht zu wissen, was Herr Richard Harvey über mich denkt!«
»Lily,« bat die andere, von der Leidenschaft des Mädchens sichtlich verlegen gemacht, »ich bitte Sie, weinen Sie nicht! ich war ungeschickt. Herr Harvey – Sie thun ihm unrecht; er sprach an jenem Abend nach der Begegnung mit Tom Warren von Ihnen und da meinte er – Sie seien viel besser als das so den Anschein hätte.«
Es war eigentümlich, wie lange dem Mädchen die letzten Worte in den Ohren klangen. Sie saß, lange nachdem die Freundin gegangen war, vor dem Kamin und sann über dieselben nach, und als sie am Nachmittag des nächsten Tages in das Vereinslokal trat, um Abrechnung zu liefern über die am Abend des Festes eingegangenen Gelder, staunte sie selbst, als sie ohne jede Veranlassung die Worte vor sich hin sprach: »Besser, als das so den Anschein hat.« – Unmutig über sich selbst betrat sie den Saal; unmutiger wie je hatte sie ihn wieder verlassen. Unter den schriftlich übersandten mildthätigen Gaben für den Bau hatte sich ein Check von »Rechtsanwalt Harvey« vorgefunden. Ein Check über 100 Dollars! Geben wollte der Mann also, der Sache dienen, ja, es war also offenbar nur Abneigung gegen ihre Person, die ihn zu seinen Weigerungen veranlaßt. Abneigung! War es denn möglich, daß sie ihm unangenehm war, sie, die gewohnt war zu gefallen und sich feiern zu lassen? – Lily ging nachdenklich vor sich hin; ein Zug großen Unwillens lag auf ihrem Antlitz, der auch dann nicht schwand, als sie sich anrufen hörte.
»Fräulein Elsworth-Lily!«
Lily hob den Kopf. Aus dem Erkerfenster eines der großen villaartig gebauten Häuser beugte sich das sanfte Gesicht Marie Müllers. »Wohnen Sie da?« fragte Lily herauf und die andere nickte lebhaft.
»Kommen Sie auf ein Weilchen herein,« bat sie, und bei der freundlich gesagten Bitte wurde Lilys Antlitz düster wie vorher. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Eile!« sagte sie schroff.
»So warten Sie ein bißchen, ich komme zu Ihnen!«
Lily mußte es mit der Eile nicht allzuernst gewesen sein. An Marie Müllers Seite wanderte sie ein Stück Wegs und machte plaudernd mit ihr kehrt. Unweit des Hauses blieben die Mädchen stehen.
»Seien Sie gut,« bat Marie, die Hände der Freundin fassend, »jetzt sind Sie nicht mehr verdrossen, kommen Sie zu mir herauf!«
»Lassen Sie mich,« erwiderte die andere mit Ernst; »ich sage Ihnen ungern »nein«, aber in das Haus des Herrn Harvey gehe ich nicht!«
»Sie kommen ihm ja nicht nahe, wenn Sie mich besuchen. Ich weiß nicht, was Sie gegen ihn einnimmt, will es gar nicht wissen, aber es verletzt mich zu sehen, daß Sie mich deswegen meiden –«
»Das thue ich nicht,« unterbrach sie Lily, und –
»Das thun Sie aber ja,« eiferte Marie. »Sehen Sie, mein Zimmer liegt ganz apart von den andern, die Kinder sind ausgegangen, ich bin ganz allein, kommen Sie mit hinauf!«
Marie Müller hatte sie halb gezogen, halb gedrängt. Zögernd betrat sie mit ihr das Haus.
»Dies ist mein Revier,« sagte lächelnd Marie, als sie den Gast in ein kleines, überaus wohnliches Gemach führte; »machen Sie sich's recht bequem, ich laufe nur eben hinunter, um Auftrag zu geben, daß uns die Kinder nicht überfallen!«
Es lag in der Atmosphäre etwas von Harmonie, deren Einfluß Lily wohlthat.
Lily war allein. Sie hatte sich in dem im Erker befindlichen Schaukelstuhl niedergelassen und ihre Hutbänder gelöst, als sie an der Thüre leises Klopfen vernahm. »Herein!« rief sie, ohne sich zu besinnen, und herein trat – Lily erbleichte vor Schrecken und Verlegenheit – Herr Harvey.
Er sprach im Eintreten, offenbar die im Schatten des Erkers sitzende Gestalt nicht erkennend: »Ich störe Sie nur auf eine Minute, Fräulein Marie, behalten Sie Platz; ich bin über Frau Warren in Unruhe, Sie waren wohl bei ihr? Hat sie Nachrichten über Toms Verbleiben?«
Lily war bei den rasch aufeinanderfolgenden Fragen aufgestanden und dem Manne näher getreten. Bei den letzten wallte es ihr plötzlich heiß auf. Dicht vor Herrn Harvey hintretend sprach sie mit Hast die Worte einzeln hervorstoßend: »Ich bin es, Herr Rechtsanwalt. Marie Müller überredete mich, sie hierher zu begleiten; sie ist auf einige Minuten hinuntergegangen. Sie sagten etwas über Tom Warren und seine Mutter – ist sie krank? und ist er fort?«
Der Mann achtete nicht im mindesten auf die sichtliche Erregung des Mädchens, er näherte sich der Thüre. »Verzeihung, ich glaubte Fräulein Müller zu finden! Die Mitteilungen, die ich machte, oder besser die Fragen, die ich stellte, waren privater Natur.«
Er war an der Thüre. Lily sprang rasch vor und deckte sie mit ihrer tannengeraden Gestalt. »Privater Natur? wie können sie das sein, wenn sie von Tom Warren handeln, von einem Menschen, den Sie selbst mit mir antrafen und der – oh bitte, sagen Sie mir ausführlich was geschehen ist!« Der letzte Satz war im Wortlaut sehr weich, der Ton aber war mehr herrisch als bittend und Herr Harvey blickte sehr ruhig in das aufgeregte Gesichtchen vor ihm und entgegnete ernsthaft:
»Ich wiederhole Ihnen, daß meine Mitteilungen Fräulein Müller galten, dieselben können Sie nicht interessieren –«
Lily unterbrach ihn: »Sie weichen mir aus. Wie können Sie das sagen? Wenn Tom Warren fort ist, so geschah es vielleicht durch mich?«
»Vielleicht?!!« – Herr Harvey hatte das Wort mit ironischer Emphase gesprochen. Lily verstand ihn; sie stand einen Augenblick regungslos, während die weißen Finger ihrer Hände nervös ineinander arbeiteten, dann zwang sie sich zu mäßiger Ruhe:
»Das eine Wort gibt mir Aufschluß, mein Herr. Sie geben mir für das Geschehene die Schuld und halten mich für so herzlos, kein Interesse dafür zu haben!«
Herr Harvey sah sie rasch an. »Herzlos? Nein,« entgegnete er langsam, »man veranlaßt oftmals durch Leichtsinn Kummer; dieser leichte Sinn hilft auch dann über den Ernst der Sache hinweg.«
»So? Und das denken Sie von mir?« Lilys Lippen zuckten wie bei einem gescholtenen Kinde. »Sie denken, daß ich oberflächlich bin, und daß ich nichts empfinde, und daß –«
Harvey unterbrach sie. »Verzeihung, mein Fräulein, Sie täuschen sich. Wie käme ich dazu, ein so unfreundliches Urteil über eine junge Dame zu fällen, die ich so wenig kenne! Ich bedaure unendlich, Sie in ganz unnötige Aufregung gebracht zu haben. Darf ich?« – Er machte eine Bewegung der Thüre zu.
Lily warf heftig den Kopf zurück. Sie sah den Mann mit aufblitzenden Augen an, mit Augen, die unter seinen ruhigen Blicken weich wurden, und die Hände mit einer halb herrischen, halb kindlichen Art zusammenbringend trat sie dicht vor ihn hin. »Sagen Sie mir, warum Sie mich hassen!« Ihre Worte, ihre Haltung waren frappierend. Sie waren mit so eigenartigem Ungestüm, dabei so ehrlich treuherzig ausgerufen, daß es dem Manne eigen milde überkam; dennoch blieb er bei seiner Kühle von vorher, als er höflich und bestimmt erwiderte: »Ich hasse Sie nicht, mein kleines Fräulein!«
Lily sah zu Boden. Ein ihr unerklärliches Gefühl gab es ihr ein, weiter in ihn zu drängen. »Aber Sie geben mir die Schuld an dem Verschwinden Tom Warrens –«
»O nein! Daran nicht, aber an der nächtlichen Scene, welche – – aber mein Fräulein, ich habe nicht das mindeste Recht, Ihnen etwas vorzuhalten – –«
»Sie sollen mir aber etwas vorhalten!« Lily hatte es mit einem Anflug ihres alten Trotzes gerufen, bei seinem nachsichtsvollen, ein wenig amüsierten Lächeln dämpfte er sich sofort wieder. »Bitte, sagen Sie mir, was ich that, um die Dreistigkeiten des Mannes herauszufordern!«
Herr Harvey sah sie prüfend an. »Das, mein Fräulein, wissen Sie am besten selbst. Ohne vorherige Aufmunterung pflegen Männer nicht dreist zu werden –«
»Herr Harvey!«
Ihr Ausruf hinderte ihn nicht weiterzusprechen. »Sie sind kokett; das ist für Sie nicht schmeichelhaft und gar nicht ehrend. Kokette Mädchen sollten bedenken, daß sie sich selbst preisgeben – – Oh, mein Fräulein!« Er brach plötzlich ab. Die blauen Augen des Mädchens, voll zu ihm aufgeschlagen, hatten sich bei seinem herben Ton mit Thränen gefüllt. Harvey wurde es, da er das schmale Gesichtchen betrachtete, seltsam weich zu Sinn. Er streckte dem Mädchen in warmer Geste die Hand entgegen. »Sie dürfen nicht weinen,« sagte er, »ich wollte Ihnen nicht weh thun.« Er hatte ihre Hand erfaßt, sich, wie um sie zu trösten, vorgebeugt, da – öffnete sich die Zimmerthüre. Marie Müller trat ein. Harvey ließ die Mädchenhand fahren. »Ich spreche Sie später,« sagte er rasch zu Marie, indem er sich eilig entfernte.
Lily war in großer Aufregung. Auf ihr stürmisches Drängen hatte ihr Marie Müller die Einzelnheiten über das Warren'sche Haus mitgeteilt. Tom war der Ernährer seiner alten Mutter gewesen; die Nüchternheit, welche der nächtlichen Scene gefolgt war, hatte ihn Scham empfinden lassen. Er fürchtete sowohl die Entlassung aus den Diensten des Herrn Harvey, dessen Buchhalter er war, als auch die öffentliche Schande, die sich für einen Mann daran knüpfte, ein seinem Schutze anbefohlenes Mädchen zu überfallen. Tom Warren war heimlich abgereist, seine Mutter ohne Nachricht über sein Verbleiben zurücklassend, was diese infolge fortgesetzter Aufregung krank darniederwarf.
»Ist sie schwer krank?« hatte Lily gefragt und Fräulein Müller hatte ihr geantwortet, daß eine ernste Sache zu befürchten sei, worauf Lily lange schweigend mit gesenkten Blicken verharrt hatte, um endlich aufblickend ihr Vorhaben kundzuthun.
»Ich gehe zu ihr!« Lilys Handlungen folgten stets ihrem Wort. Der Nachmittag des nächsten Tages fand sie einigermaßen zaghaft vor dem niedern, zweistockigen Häuschen, dessen obere Stübchen von Frau Warren bewohnt waren, stehen.
Auf ihr wiederholtes Klopfen war keine Antwort erfolgt. Mit resoluter Hand öffnete sie und trat ein.
»Frau Warren!«
Aus den überaus sauberen Kissen des schneeigen Bettes richtete sich ein fieberndes Frauenantlitz auf. Die tiefliegenden greisen Augen hafteten mit mißtrauischem Ausdruck auf der Mädchengestalt. »Wer ist da?«
Lily trat etwas näher. Ihre Rede begann sie zaghaft, wurde aber allmählich beherzter. »Ich bin eine Freundin von Fräulein Müller,« sagte sie; »dieselbe ist heute behindert zu kommen, und damit Sie doch nicht allein wären, kam ich. Ich wohne in der Nähe und ich habe viel Zeit, die ich Ihnen widmen möchte, wenn Sie es mir gestatten. Ihr Sohn –« hier stockte sie, »Ihr Sohn ist mir bekannt, und eigentlich – ich will ganz ehrlich sein, Frau Warren – eigentlich habe ich Schuld –«
»Sind Sie – sind Sie – –«
Das Mädchen nickte bei der aufgeregten Frage der Alten mit dem Kopf und sagte kleinlaut: »Lily Elsworth – ja – die bin ich!«
Die Kranke stützte sich mit aller ihr zu Gebot stehenden Kraft auf die Ellenbogen, um sich so dem Mädchen näher zu bringen. Die fieberhaft erregte Stimme klang heiser und bewegt. »Sie also sind es,« schrie sie lebhaft, »die meinen Jungen erst toll gemacht und dann verjagt hat, Sie mit ihrer aufgespielten Tugendhaftigkeit! Was, ich sollte mich von Ihnen pflegen lassen, von Ihnen, die Sie ja doch kein Herz im Leibe – oh! oh!«
Stöhnlaute erstickten ihre Rede. Sie sank mit Atemnot und Husten kämpfend in die Kissen zurück und schloß die Augen, und das Mädchen, das bis dahin regungslos an der Thüre gestanden hatte, trat ohne sich zu besinnen heran und richtete, das Sträuben der Kranken nicht achtend, das Kopfkissen, auf dem sie lag, empor. Sie sprach nichts, sie verteidigte sich nicht. Mit ihrem kräftigen Mädchenarm stützte sie den Körper der alten Frau und diese sank endlich keuchend wieder in die Kissen, während Lily regungslos neben ihr stand und die abgerissenen Schmähworte mit bleichem Antlitz und zusammengepreßten Lippen stumm über sich ergehen ließ.
»Mit jedem Wort haben Sie ihn 'rangelockt, meinen Jungen, anstatt wie ein ehrbares Mädchen seine Aufmerksamkeiten zurückzuweisen, und dann in der Nacht – spröde zu spielen, Komödie, weil es gerade so paßte, weil Menschen kamen. Was hat er Ihnen denn so schlimmes gethan, mein Tom? – he? Warum sollte er das nicht dürfen, nach dem wie Sie zu ihm standen – wär 'n wohl ein anderer lieber gewesen –«
»Frau Warren – oh! oh!« Die Stimme, welche ermahnend von der Schwelle ertönte, ließ das Mädchen zusammenfahren.
Herr Harvey war unbemerkt eingetreten und hatte den letzten Teil der Rede der Alten gehört. Er sprach beschwichtigend auf die Kranke ein, welche von Neuem nach Atem ringend unter krampfhaftem Husten in die Kissen sank.
»Lassen Sie mich die Kranke stützen,« sagte Lily herantretend, »es wird gut sein, den Arzt zu holen!«
Harvey legte, ohne zu sprechen, das Haupt, der nun völlig bewußtlosen Frau in des Mädchens Arm, rückte ein Gefäß mit Wasser an das Bett und ging eiligst davon. Es dauerte lange, bis es Lily gelang, die Ohnmächtige ins Leben zurückzurufen.
Die Dämmerung war eingetreten, als Harvey mit dem Arzte endlich erschien. Die Untersuchung währte nicht lange.
»Die Frau bedarf der besten Pflege,« lautete der Ausspruch des Arztes, »sind Sie eine Verwandte?« seine Frage an Lily.
»Nein,« sagte sie rasch, »aber ich übernehme die Pflege!«
Harveys Augen hefteten sich fest auf Lilys Antlitz. Seine Lippen öffneten sich zum Protest, dann schien er sich zu besinnen. Das war eine Frage, die ohne die Anwesenheit des Arztes erledigt werden konnte, und so wartete er, schweigend in seiner Ecke verharrend, bis sich derselbe entfernt hatte. Dann trat er auf das Mädchen zu: »Sie werden die Pflege nicht übernehmen, ich bestelle eine Wärterin!«
»Das thun Sie nicht!« gab Lily mit ebenderselben Bestimmtheit zurück.
»Eine Pflegerin vom Fach ist hier notwendig!« behauptete er, und Lily stand plötzlich neben ihm und sagte in leisem aber entschlossenem Tone: »Bestehen Sie nicht darauf, Herr Harvey, ich bitte Sie darum!« Es lag etwas eigenartig zwingendes in ihrer Haltung, wenn sie diesen halbleisen energischen Ton anschlug. Herr Harvey antwortete nicht sofort. Er wandte sich von ihr ab und trat sinnend an das Fenster. Die Kranke schlief. Lily zog behutsam die Bettvorhänge zusammen, dann näherte sie sich langsam dem Fenster, an dem der Mann stand. »Herr Rechtsanwalt, standen Sie vorhin schon lange dort?« fragte sie. Er verstand sofort, daß sie mit dem »dort« die Thürschwelle meinte, von dem aus er die Worte der Kranken vernommen. Er bejahte. »Und Sie hörten, was Sie sagte?« Wieder bejahte er, und Lily senkte einen Augenblick die Lider, dann fragte sie stockend: »Ist das alles wahr, was sie sagte?« Er sah rasch auf.
»Fräulein Elsworth, warum fragen Sie mich? Sie wissen doch sicherlich am besten, wie viel davon verdient und wie viel ungerecht war!«
»Nein!«
Bei dem mit großem Ernste gesprochenen einfachen Worte sah er sie scharf an und begegnete ihrem voll zu ihm aufgeschlagenen Blick. »Nein?« wiederholte er fragend, »aber Sie sind doch darüber klar, daß nur Ihre vorherige Haltung Tom Warren gegenüber ihn zu der Rücksichtslosigkeit ermutigt haben konnte. Sie wissen doch bestimmt, daß der Ton, den Sie mit Männern anschlagen, ein herausfordernder, ein gefährlicher ist! Es thut mir leid, daß gerade ich Ihnen all diese bitteren Dinge sagen muß, während es nicht meine, sondern Ihrer Eltern Sache ist, Sie darauf hinzuweisen!«
Es war wieder jener seltsame Ton, der so seltsam vibrierte und von verhaltener Empfindung sprach. Herr Harvey sah mitleidig auf sie herab.
»O, das wußte ich nicht. Ich bitte um Verzeihung!«
»Das sollen Sie nicht, Herr Harvey. Es wäre gut, wenn man mich öfter tadelte. Meine Eltern sind lange tot. Mich hat nie jemand auf eine Unziemlichkeit aufmerksam gemacht. Mein Großonkel, bei dem ich wohne, findet alles gut, was ich thue. Ich bin in einer Pension erzogen, in der man mich unbedingt lobte, und so war ich nahe daran, mich für ein ungefähr vollkommenes Geschöpf zu halten!«
Sie sprach die letzten Worte mit einem Anflug von Spott, und Herr Harvey blickte eine Weile schweigend ernst auf sie herab. Als er sprach, that er es wie jemand, der mit sich uneinig ist über die einzuschlagende Richtung: »Es ist traurig, was Sie da sagen. Es beweist, daß Sie nie darüber nachgedacht haben, was denn eigentlich unter dem Worte ›vollkommen‹ bei einem Weibe zu verstehen ist. Sie haben vielleicht niemals begriffen, daß die Art, wie Sie mit ihren Vorzügen umgehen, für Sie weder ehrlich noch verdienstlich ist. Sie wundern sich über die Dreistigkeit Tom Warrens, ich sage Ihnen, daß jeder einzelne Herr Ihrer Bekanntschaft, mit dem Sie so verkehren, wie ich es von Ihnen zu sehen in meinem eigenen Bureau Gelegenheit hatte, dieselbe Dreistigkeit bei Ihnen wagen würde und mit vollster Berechtigung, denn der Mann hat ein Recht darauf, ehrlich behandelt zu werden. Es ärgerte Sie, daß ich keine Billette von Ihnen nahm. Ich weigerte mich nicht aus Härte oder Mangel an Sympathie. Aber ein solcher Billetthandel, getrieben von jungen Mädchen, ist ein Markt für schöne Blicke und feines Lächeln, und jeder ehrenwerte Mann müßte schon aus Respekt für seine Schwestern und seine Mutter einen solchen Handel verhüten und zu verhindern suchen. Sie boten mir am Bazarabend Blumen zum Kauf, Sie sagten »für die gute Sache«. Ich sah Sie an, Ihre kleine Gestalt, Ihre hellen Augen, und ich sagte mir, daß es schade sei um so ein Wesen wie Sie. Schade, daß man Sie glauben ließ, es sei eine gute Sache zu nennen, wenn man seine kokettsten Blicke dem Meistbietenden anträgt. Ich bin mir an jenem Abend darüber klar geworden, daß ein Bazarverkauf in vollstem Sinne des Wortes verwerflich ist, und daß der Reinertrag, mag er so groß ausfallen, wie er kann, doch nur ein Raubgeld ist, das schon um der Art seines Entstehens halber nichts gutes stiften kann. Ein solcher Bazarverkauf ist ein Bildungsinstitut für weibliche Koketterie! Sie meinten den Grund von Mildthätigkeit nach dem messen zu können, was man in dem Bazar ankauft. Unter all den dort anwesenden Herren gab es nicht zehn, die aus gutem Herzen für den guten Zweck gaben. Sie gaben den schönen Augen der Damen ihr Geld!«
Herr Harvey schwieg. Er hatte sich in Eifer gesprochen, jetzt blickte er auf das Mädchen herab, das unbeweglich mit herabhängenden Händen und niedergegeschlagenen Augen vor ihm stand, und die Art, wie sie aufrecht ohne Halt, ohne Stütze in der Mitte des Gemaches wie angewurzelt verblieb, verlieh ihr in dem dunkelwerdenden Gemache etwas abgeschlossenes, verlassenes, einsames, das dem Mann zu Herzen ging. Er beugte sich zu ihr: »Ich hätte das alles vielleicht nicht sagen sollen,« flüsterte er weicher als Lily es noch gehört, »ich glaube, es waren Ihre eigenen Worte, die mich dazu ermunterten. Ich werde Ihnen nicht mehr wehe thun! Aber, mein Gott, was ist Ihnen?« Lily hob ihr Gesicht. Es war geisterhaft bleich. Im Begriff, etwas zu erwiedern, stürzten ihr plötzlich die Thränen aus den Augen und flossen unaufhaltsam an ihren Wangen herab, während ihre ganze Gestalt ein heftiges Zittern überkam. Sie tastete nach einem Stuhl. Herr Harvey hatte sie mit seinen Armen gestützt, er hielt ihre Hände, er sprach sanft mit ihr wie mit einem leidenden Kinde und eilte endlich hinweg, um unter den Bewohnern des Hauses eine gütige Hand zu finden, die sich der Krankenpflege Frau Warrens vorderhand annehmen sollte, bis er das erregte junge Mädchen nach Hause besorgen konnte.
Lily machte keine Einwendungen. Sie fügte sich; matt wie ein Kind vom vielen Weinen, ließ sie sich von ihm die Stufen des Hauses hinabgeleiten und in den bereitstehenden Wagen heben. Harvey saß neben ihr. Schweigend durchfuhren sie die dunkelgewordenen Straßen. Lily lehnte teilnahmlos in einer Ecke.
»Ist Ihnen besser?« fragte Harvey, kurz bevor sie hielten; Lily wandte sich ihm nicht zu und nickte nur still.
Der Wagen hielt. Sie standen nebeneinander auf der kleinen Treppe, auf der sich die Scene mit Tom Warren abgespielt hatte. Dachten sie wohl beide daran? Lily lehnte, während Herr Harvey die Glocke zog, an der Mauer, die sich zu beiden Seiten der Treppe entlangzog, und als Harvey sie ansprach, fuhr sie leicht zusammen.
»Darf ich Sie hineinführen?« fragte er.
Sie wandte den Kopf und sah ihn zum erstenmal voll an. Als sie sprach, klang ihre Stimme herb.
»Sie würden aus freiem Antrieb diese Schwelle wohl nicht übertreten haben, Herr Harvey?«
»Weshalb nicht?«
Sie lachte nervös: »Ich dachte nur, Sie würden doch niemals ein Mädchen aufsuchen, das so – das solche verderbten Eigenschaften hat, wie ich!«
»Es sind das nicht Eigenschaften, es sind die Folgen schlechter Erziehung. Es steht bei Ihnen, dieselben abzulegen, und ich bin überzeugt, daß Sie es auch thun werden!«
»Wirklich?« Lily rief das eine Wort grell, fast jubelnd heraus und ebenso rasch sammelte sie sich wieder und legte ihre Hände bittend zusammen. Ihre Augen schlug sie auf. Es perlten darin Thränen: »Ich möchte, daß Sie mich nicht mehr haßten!«
Harvey sah auf das Mädchen nieder. Was war's, was ihm plötzlich so heiß durchs Herz fuhr? Sich selbst im Unklaren über die Strömung in seinem Innern, ergriff er, ohne es zu wollen, fest die bittend zusammengelegten Hände und hielt sie in den seinen.
»Ich Sie hassen? Lily, das denken Sie ja selbst nicht!« Die Worte thaten es nicht. Es war in der Stimme etwas, was sie beide durchzuckte. Aus den blauen Mädchenaugen leuchtete ein eigenes Etwas, das dem Mann nachging und ihn verfolgte bis in sein Heim.
Herr Harvey saß in dem Arbeitszimmer seiner eleganten Wohnung. Er starrte in die verglimmenden Kohlen des Kamins und sann unaufhaltsam über Zukunft und Vergangenheit nach. Über dem Kamin hing das kleine Ölbild des Weibes, das er geliebt. Die nächtigen Augen, tief und schwermutvoll innig, schienen ihm heute ernster denn je. Die letzten Jahre seines Lebens traten ihm tageshell vor die Seele, die drei Jahre der trostlosen Herzenseinsamkeit, die er durchlebt. Sein Geist schweifte zurück in die Vergangenheit. Er durchlebte sie wieder, die glücklichen und zugleich unendlich traurigen Tage seiner Liebe. In Genf war er ihr begegnet; es war in einer mondhellen Nacht, die Atmosphäre schwül und drückend. Er war in einem Kahn hinausgerudert auf den See. Plötzlich ertönte ein Lied an sein Ohr, ein schwärmerisches Negerlied, das ihn an seine Kindheit erinnerte – so hatte einst seine Mutter gesungen. Die weichen, sehnsüchtig klagenden Töne hörte er seit jener Zeit zum erstenmal wieder, sie riefen längst entschlummerte Erinnerungen in ihm wach. Die erste Strophe war beendet, da hob er seine Stimme, kräftig und voll, und sang den zweiten Vers. Tiefe Stille. Er horchte gespannt, da hörte er wie die Ruder eines zweiten Kahnes mit Hast gehandhabt wurden und plötzlich glitt derselbe, eine weibliche Gestalt bergend, dicht an den seinen heran. Der Mond warf sein silbernes Licht auf ein dunkles sirenenhaftes Weib, welches vom Mondenlicht umflossen in ihrem weißen Gewande und den dunklen herabfallenden Flechten märchenhaft schön erschien. Mit der eidechsenhaften Grazie südländischer Frauen kreuzte sie, als sie das kleine Fahrzeug neben das seine gebracht hatte, die Ruder und rief, den Oberkörper vorneigend, mit tiefklingender Stimme ihren Gruß. »Ein Ruf aus der Heimat! Wer Sie auch sein mögen, ich danke Ihnen!« So war es gekommen, so hatten sie sich gefunden.
Nita hatte, ein halbes Kind noch, konventionellen Rücksichten folgend, einem älteren Manne die Hand gereicht. Die Ehe ward, durch die Altersverschiedenheit zuerst, dann durch den gänzlichen Mangel an Herzensinteressen zu einer unglücklichen. Der Gatte Nitas starb. Nita kränkelte; man schickte sie ins Ausland; sie lebte mit ihren beiden Kindern in der Schweiz, als ihr Harvey begegnete.
Zum erstenmal in ihrem Leben lernte sie die Liebe kennen. Mit aller Kraft ihres Herzens liebte sie den Mann, der nur noch den einen Wunsch hatte, Nita zu seinem Weibe zu machen. Diese Hoffnung scheiterte an der Krankheit Nitas. Was half's, daß er ihr zuschwor, ihr nie von der Seite zu gehen, sein Leben dem ihren zu weihen? – sie brach zusammen, sie welkte dahin. Es war in Italien; Nita lag schwerkrank darnieder, der Tod forderte sein Opfer. Die ersten Strahlen einer aufsteigenden goldigen Sonne fielen auf ein bleiches schönes totes Antlitz, auf eine kleine braune Hand, die noch im Tode wie liebkosend auf dem dunkeln Scheitel des Mannes lag, der ohne einen Laut am Bette zusammengebrochen war, und auf zwei kleine ängstliche Kindergesichtchen, die erschreckt Hand in Hand an der Thüre standen und leise »Mama« riefen.
Seine Stimme war es, die sie tröstete, sein Haus, das sie aufnahm. »Ich sterbe ruhig, wenn ich sie bei dir weiß,« hatte sie am Tage vor ihrem Tode gesagt, »sei ihnen ein Vater und versprich mir, eine jede Regung von dir zu weisen, die dich der Liebe zu den Kindern abwendig macht und der Erinnerung an mich. Versprich das deiner Nita und behalte sie lieb!«
Die einschmeichelnde Stimme war verhallt. Er war mit den Kindern in das Heimatland zurückgekehrt. Marie Müller, die sorgsame Erzieherin der Kinder, hatte ihn begleitet. Der Kummer hatte seine Spuren bei ihm zurückgelassen. Aus dem heiteren, herzlich warmen, jugendfrischen Richard war ein ernster, wortkarger Mann geworden, der seinen Pflichten lebte und die Gesellschaft mied. Die Zeit, die allein heilbringende, gab ihm mit den Jahren die Resignation. Mit zurückgelehntem Kopfe lag er in dem Sessel vor dem Kamine. Sein Blick hing an den Zügen der Verklärten. Die Lippen auf dem Bilde schienen zu sprechen: »Weise jede Regung von dir, die dich der Erinnerung an deine Nita abwendig macht.« Er sprang auf und trat vor das Bildchen hin. Wie um eine in ihm laut werdende Stimme zu unterdrücken sprach er fest und beteuernd: »Sei ruhig, Nita, ich halte dir Wort!«
Seltsam war es, daß in diesem Augenblick mit nicht zu verscheuchender Klarheit ein brauner Krauskopf vor ihm auftauchte und daß sein Ohr plötzlich eine zitternde Mädchenstimme zu hören wähnte, die da bat: »Ich möchte, daß Sie mich nicht haßten!«
Sie mußte wohl krank sein, dachte Herr Harvey, als er bei seinen täglichen Besuchen in der Warren'schen Wohnung die lichte Mädchengestalt nicht mehr antraf, und der Gedanke versetzte ihn in peinliche Unruhe. Zweimal hatte er auf seinen Wegen ins Comptoir einen Umweg machend das vornehme Haus an der Avenue passiert, um jedesmal im inneren Kampfe mit sich gesenkten Hauptes vorüberzugehen. Hinter jenen weißen Vorhängen lag indes ein blaßes Geschöpfchen, das den braunen Kopf unruhig in die Kissen einwühlte und die so langsam vorschreitende Genesung nach mehrtägigen heftigen Fiebern ungeduldig erwartete.
»Die Tage sind so lang,« klagte sie immer wieder, mit eigensinniger Gereiztheit im Tone, und die gutwilligen aber schwachen Verwandten erhoben nur gelinden Einspruch, als sich das Mädchen plötzlich entschloß, aus dem Krankenzimmer zu entfliehen.
Vor dem Hause Frau Warrens blieb sie stehen. Sollte sie hinaufgehen? Durfte sie es? Würde sie dort etwas erfahren über – – Lily erschrak vor sich selbst. Fühlte sie vielleicht zum erstenmale, daß ihre Unruhe im Krankenzimmer etwas anderes bedeutet hatte als nur Sehnsucht nach Luft und Landschaft und nach ihrem Plätzchen im Parke? Lilys Wangen brannten, ihre Augen glühten und mit eiligen Schritten wandte sie sich von der Schwelle des kleinen Häuschens. Ehe sie sich dessen bewußt war, hatte sie ihr Plätzchen im Parke aufgesucht.
Die Luft war kalt, kalt und frostig; auf den Bäumen lag der Reif. Die Wege waren von leichtem trockenem Schnee gedeckt und aus den Promenaden jubelten lebhafte Knaben und Mädchen jeglichen Alters. Schneebälle flogen hin und her, Kindergruppen fielen über den Haufen und erhoben sich wieder, ringsum war Leben, Leben und Frohsinn. Lily hatte die Schneeflocken von der Bank gefegt. Sie lehnte den Kopf etwas gegen den mächtigen Baumstamm, der ihr Plätzchen stützte, und blickte träumend vor sich hin. Es war so seltsam in ihr, so anders als sonst, so feierlich und doch so traurig. Wie glücklich strahlten die Kindergesichtchen um sie her, wie sorglos heiter klang das Kinderlachen! Und jetzt – dicht vor ihr kniete ein winziges Mädchen mit langen dunkeln Locken und rollte sich mit vollstem Kindeseifer einen Schneeball zurecht. Lily beobachtete sie schweigend. Er hatte auch ein kleines Mädchen. Marie Müller hatte ihr von den kleinen Kindern erzählt, von den beiden mutterlosen Wesen, die er so grenzenlos liebte! Lily preßte die Hand aufs Herz, es war ihr plötzlich so weh zu Mute. Ihre Blicke folgten wieder den Bewegungen des Kindes, das seinen Ball beendet und sich erhoben hatte; die Kleine beugte sich spähend nach allen Seiten, wohl um den Gegenstand ihres Schelmenstreiches zu erspähen, sie bog den Oberkörper zurück, hob den Arm, zielte und warf so mädchenhaft ungeschickt, daß das Schneeklümpchen nach rückwärts flog und sie selbst das Gleichgewicht verlor und seitwärts hinfiel.
»Oh!« rief Lily unwillkürlich bedauernd aus, und das Kind krabbelte sich empor und steuerte ohne jede Geniertheit auf die bleiche Mädchengestalt zu.
»Er ist weggelaufen,« erzählte sie ohne jede Einleitung und wie zur Verhinderung von etwaigen Beileidsäußerungen, die sie für beschämend halten mochte, und Lily lächelte sie an und fragte, wer »weggelaufen« sei.
»Edgar.«
Lily beugte sich zu dem Kinde nieder. »Ist Edgar dein Bruder?« fragte sie zutraulich und das Kleine nickte lebhaft.
»Er ist kleiner wie ich,« plauderte es, »und er fürchtet sich vor Schneeballen. Er rennt immer!«
»Allein?« fragte Lily.
»Nein, Tante Marie ist heute mit, Papa ist verreist. Kennst du Papa?«
Lily schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn nicht,« sagte sie, »aber er ist gewiß der beste und schönste Mann auf der Welt – nicht?«
Das Kind wurde plötzlich ernst, die blauen Augen sahen prüfend auf. »Du kennst ihn ja doch,« sagte es langsam und mit Betonung, »woher kannst du denn sonst wissen, daß er der beste und schönste ist?«
»Ich kenne ihn nicht, aber ich weiß das doch, ebenso wie ich weiß, daß Mama die süßeste und schönste – –«
Das Kind unterbrach sie fast heftig. »Du lachst!« rief sie aus; »Tante Marie sagt: wenn man von Mama spricht, dürfte man nicht lachen, man müßte leise sprechen und an Gott denken. Mama wohnt dort oben!«
Lily legte rasch ihre Arme um das Kind. Ein ihr unbekanntes Gefühl von Einsamkeit durchzuckte sie. Eine Zärtlichkeit, wie sie solche noch nicht empfunden hatte, überkam sie jäh. »So hast du also keine Mutter mehr, du arme Kleine? Wir sollten uns miteinander befreunden. Mir geht es ebenso, ich habe auch keine Mutter!«
»Oh – aber ich habe eine,« sagte ernsthaft das Kind; »ich habe sie bei mir, willst du sehen?«
Sie zog mit Hast an der schmalen Halskette, die sie trug und riß in ihrem Ungestüm das Medaillon davon los. Es fiel dem Mädchen in den Schoß, wo es weitgeöffnet liegen blieb. Lily starrte darauf nieder. Welch seltsame Augen in dem noch seltsameren Antlitz! Schön, hinreißend schön und bestrickend war der Frauenkopf, der mit solch traurigen Augen zu ihr aufsah. Lily wurde weh ums Herz. Sie zog fast unwillkürlich das kleine dunkle Kindchen, das andächtig an ihrer Seite stand, in ihre Arme und küßte es.
»Du weinst,« flüsterte die Kleine und Lily wußte selbst nicht, weshalb sie denn eigentlich weinte. Sie saß mit der Kleinen lange schweigend da und hob erst den Kopf, als sich das Kind lebhaft umwandte.
»Was?« rief sie erstaunt und erfreut. »Fräulein Müller, Sie sind Tante Marie? wie freue ich mich Sie zu treffen! Ich war krank; es ist das erstemal, daß ich wieder ausgehe, ist es nicht seltsam, daß ich hier unbewußt mit Ihrem Zögling geplaudert habe?«
Die Neuangekommene hatte sich neben dem Mädchen gesetzt. Sie hob das kleine Bürschchen, das sich schüchtern und befangen in ihre Röcke verbarg, zu sich auf den Schoß und reichte der Freundin die Hand. »Dies ist Edgar,« sagte sie, das Kerlchen vorschiebend, nachdem sie ein Weilchen geplaudert hatten, aber Edgar weigerte sich, aus seiner Schüchternheit hervorzutreten und schaute nur ängstlich abwehrend zu der fremden Gestalt auf.
»Welch seltsame Augen!« rief Lily unwillkürlich.
»Er hat die Augen seiner Mutter,« entgegnete Marie, und Lily beugte sich rasch zu ihr: »Sie haben sie gekannt?«
»O ja!« entgegnete das Mädchen, »ich kam zwei Jahre vor ihrem Tode zu ihr. Ich kannte sie gut. Ich war, als ich in ihr Haus kam, ein im Innern tief erschüttertes Geschöpf. Ihre Milde und Güte, verbunden mit der Harveys, brachte mich zu mir selbst zurück, und so danke ich diesen Menschen mehr als ich je zu vergelten imstande sein werde!«
»O bitte, erzählen Sie! Erzählen Sie mir von dem Hause und von Ihnen!«
»Von mir?« Marie Müller seufzte tief auf. »Von mir? – Die Geschichte ist kurz und traurig. Sie ist vielleicht gar nicht interessant, aber ich lernte durch sie das Leid kennen, und dann den Wert guter Menschen. Ich will's Ihnen in kurzen Umrissen erzählen, ich fürchte in mir noch wund zu sein, und durch ausführliche Erzählung alte Schmerzen von neuem aufzureißen. Können Sie sich denken, daß ich einst liebte und geliebt wurde? Geliebt wurde trotz meiner – Gestalt? Sie sehen mich an; Sie wundern sich. Es war aber auch ein armer blinder Mann, der so thöricht war, sein Herz an mich zu hängen und er hätte es auch wohl nicht gethan, wenn nicht vor seinen Augen jener Schleier gelegen hätte. Ich war Vorleserin in der Klinik für Augenkranke, und in dieser Thätigkeit täglich auf Stunden bei ihm. Er hatte sich an mein Kommen gewöhnt und meine Stimme war ihm lieb geworden und ich, es war wohl Unrecht von mir, daß ich die Empfindung bei ihm keimen ließ, aber ich war stets einsam gewesen und nicht glücklich und es lag eine Seligkeit darin, sich von einem Menschen, von einem Einzigen ersehnt zu wissen, wie ich wußte, daß mich mein armer Patient ersehnte. Der Tag kam, an dem die Binde von seinen Augen fallen sollte, und in seinen Frühstunden hörte ich das Geständnis seiner Liebe, einer Liebe, die, das wußte ich, schwinden mußte, sobald die Augen sehend wurden. Ich kann Ihnen die Einzelnheiten nicht erzählen, aber ich ging fort, ging ohne ein Abschiedswort, und ließ ihm in wenigen Zeilen mein entschiedenes »nein« zurück. Es kam eine Zeit, in der ich mich, meinen verwachsenen Körper, meine Mitmenschen und die Welt haßte. Da kam ich zu ihr. Dann traf ich auch ihn, Herrn Harvey. An ihm hatte ich ein edles Vorbild. Von ihm lernte ich, daß ein braves Herz durch Prüfungen stark und durch das Unglück veredelt wird. Als er mir, nach Nitas Tode, den Vorschlag machte, ihn und die Kinder zu begleiten übers Meer in die Heimat, da willigte ich gerne ein. Wir hatten dasselbe Ziel. Es galt, aus den verlassenen Kleinen brave Menschen zu machen. Wir haben zusammen gewirkt und unser Leid in gutem Streben vergessen?« Die Erzählerin schwieg. Lily faßte aufatmend ihre Hand.
»Und er?« fragte sie teilnahmsvoll, »von ihm haben Sie nie wieder gehört?« Marie schüttelte stumm den Kopf und sah zu dem Mädchen auf. Eine Thräne lag in beider Augen.
»Arme Marie,« flüsterte Lily leise und in ihrem Herzen offenbarte sich ihr eine Welt von Empfindung, die sie nie vorher gekannt.
Herr Harvey war von seiner Reise zurückgekehrt. Er saß in dem Spielzimmer der Kinder. Jeannette hatte ihm ihre Hefte gezeigt, ihr neuestes Gedicht hergesagt, ihr Zeichenbuch präsentiert und schließlich das schöne seidene Kleid, das die Puppe bekommen hatte von – »rate einmal Papa, von wem?«
Papa konnte schlecht raten. Er zählte die Lehrerinnen her, deren Namen ihm geläufig waren, dann die wenigen älteren Damen, mit denen er in formellem Verkehr stand, dann Tante Marie und das Dienstpersonal.
»Ach Papa, du sagst immer die falschen; ich sagte dir doch: sie ist süß und schön und hat krause Haare. Du mußt's doch erraten können!«
Harvey schüttelte den Kopf. »Nein, Jeannette, ich kann's nicht, ich geb's auf.«
»Dann paß' auf! Ich buchstabiere es: L–i–l–y!« Die Hand, welche die Puppe hielt, umschloß diese fester.
Der Mann zog das plaudernde Kind näher zu sich heran. »Hat sie noch einen Namen, deine L–i–l–y?«
»Lily Elsworth heißt sie, und – oh Papa, sie ist hübsch und süß und gut, fast so gut wie du, und ich habe sie lieb und – oh Papa, du drückst mich so fest, das thut weh!«
Herr Harvey hatte die kleine Plaudertasche eng an sich gezogen und heftig geküßt. Jetzt erhob er sich hastig. »Spiele weiter, Jeannette,« sagte er sanft, »ich muß jetzt zur Stadt.«
Lange ging er in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Seine Gedanken ließen von dem gegebenen Thema nicht nach. Der Name, den das Kind gesprochen, mußte einen eigenen Reiz haben, da er ihn leise vor sich hin sprach: »Lily – Lily!« Er lächelte und das Lächeln verklärte gleichsam sein Antlitz und machte es jung. Doch plötzlich zuckte er auf, der Klang seiner Stimme schien ihn zu erschrecken. Der alte Ernst kam über ihn und mit energischer Geste warf er das Haupt zurück: »Thorheit, Thorheit, ich werde es überwinden!«
Er hatte es fest gewollt und der Abend brachte zu dem Vorsatz noch eine Kraft, genannt Selbstvorwurf.
Edgar war erkrankt. Marie Müller meldete es mit ängstlichem Blicke. »Ich kam von Frau Warren,« sagte sie, »es ist dort alles gut. Frau Warren reist noch heute nach Chicago zu Tom. Ich kam ziemlich eilig nach Hause und fand Edgar im Fieber. Er hat rote Flecken auf der Haut. Ich hielt es für gut, Jeannette zu entfernen und Fräulein Elsworth bat, daß ich sie ihr mitgeben möchte; es ist Ihnen hoffentlich recht so?«
»Wo liegt das Kind?«
Er stand an dem Bettchen, darin das fiebernde dunkellockige Kindchen lag. Was für selbstquälerische Gedanken marterten des Mannes Hirn, als er während der langen Nacht am Bette des kleinen Knaben saß und dessen Fieberphantasien hörte!
»Lauter Engel – mit goldenen Flügeln – eine gelbe Krone – oh sieh – sieh – er kommt – singe mehr – Mama – es ist Mama – –«
Der starke Mann erbebte, als er die heißen Hände des Kindes in die seinen faßte.
»Edgar, mein Junge, mein armer Junge!«
Bange Tage, bange Nächte vergingen. Es war schon spät am Abend, als die Thüre des Krankenzimmers sich leise öffnete, um eine zarte Mädchengestalt einzulassen, eine Gestalt, welche es mit großer Mühe und mit Aufwendung aller Überredungskünste durchgesetzt hatte, hinter dem Rücken des Hausherrn in der Krankenstube erscheinen zu dürfen, um die Nachtpflege mit der Freundin zu teilen. Lily Elsworth war eine andere geworden. Die Stunden der Sorge, die sie am Bette des leidenden Kindes verlebte, hatten ihre ganze frühere sorglose Leichtlebigkeit vertrieben. Aus dem übermüthigen Kobold war eine sorgende, zarte Pflegerin geworden, die mit echt weiblicher Ruhe und Ausdauer ihre selbstauferlegte Pflicht erfüllte. Im Hause lag alles in tiefem Schlummer. Marie hatte sich auf einige Stunden aufs Bett geworfen. Es wachte nur eine: Lily. Das Kind warf sich in wirren Fieberphantasien im Bettchen umher, während er mit heißen Händen wie spielend an der Bettdecke zupfte. Lily beugte sich über ihn, faßte die kleinen Finger und hielt sie in den ihren. Tiefe Stille herrschte im Gemach, da öffnete sich leise die Thüre und Harveys hohe Gestalt überschritt die Schwelle. Sein Auge schweifte besorgt zum Bette hinüber, während sein vorsichtig schreitender Fuß sich demselben näherte, von dessen Seite sich jäh erschreckt die schlanke Gestalt des Mädchens erhob und ihm gegenüberstand.
»Lily – Fräulein Elsworth!«
Der Ruf des Mannes ertönte in unterdrücktem Schrecken durch das Gemach, und in dem Schrecken lag es wie Vorwurf und verhaltene Empfindung zugleich.
»Wie können Sie – wie konnte man Ihnen gestatten? Die Krankheit ist übertragbar – Sie wissen das nicht –«
»Doch, Herr Harvey, ich weiß es!« Sie stand dem Manne gegenüber. Ihre Antwort kam klar und fest und es lag ein eigenes Selbstbewußtes, Bestimmtes in ihrem Ton wie in der Haltung. Der Mann stand einige Augenblicke unbeweglich, sein Auge auf das Mädchenantlitz geheftet, das im Scheine der verstellten Lampe bleich und seltsam schmal erschien. Ein Gefühl von Angst, von tötlichster Besorgnis überkam ihn plötzlich, sein bärtiger Mund zuckte einigemal, seine Augen suchten die ihren.
»Lily,« begann er, und beim Klang seiner Stimme sah sie rasch zu ihm auf, »Lily, ich bin in Angst um Sie – ich –« er stockte.
Ihre blauen Augen sahen gerade in die seinen und schienen mit ihren stummen Bitten seine Angst bannen zu wollen. Sie schüttelte einigemal beruhigend, beschwichtigend den Kopf und lächelte ihn an, und in der Bewegung, in dem Lächeln lag ein so eigenartig weiblicher Reiz, daß es den Mann mächtig und mit unwiderstehlicher Macht zu ihr zwang. Seine Hände umfaßten plötzlich den kleinen braunen Mädchenkopf und hoben ihn zu sich. »Lily,« sagte er, und in seiner Stimme lag unaussprechliche Zärtlichkeit. Sie erwiderte nichts. Sie wandte nur leicht das von ihm umfaßte Köpfchen zur Seite und berührte mit ihrer Wange die weiße Männerhand.
Der Morgen graute. Edgar lag mit geöffneten Augen, in denen der erste Strahl wiederkehrenden Bewußtseins leuchtete, auf seinem Lager. Lily neigte sich über ihn. Thränen entrinnen ihren Augen, als das Kind zu ihr aufsehend mit leiser Stimme »Lily« flüstert.
Auf der Thürschwelle steht eine Männergestalt, dessen Auge gleich dem des Mädchens feucht wird. Seine Blicke gehen von der lichten Mädchenfigur fort zum Kinde und von diesem wieder zu Lily hinüber.
»Gestern Abend schickten Sie mich fort,« sagte er leise, »darf ich nun wiederkommen?«
Sie antwortete sogleich. Sie faßte das Köpfchen des bleichen kleinen Patienten und neigte ihr Antlitz darauf. »Rufe Papa!« sagte sie.
Edgars Augen wanderten zuerst ziellos im Gemach umher, dann blieben sie an den beiden über ihn gebeugten Köpfen haften. »Ich habe geträumt,« sprach er leise, »so etwas schönes, von Mama, sie hatte rosige Flügel und überall waren weiße Täubchen und ein kleines Täubchen reichte sie mir und wie ich es nehmen wollte, da lachte sie und schüttelte den Kopf und dann flog sie fort, und dann kam sie wieder und du kamst auch Papa, aber du hattest jetzt das Täubchen und es war mit einemmale anders geworden, es hatte große blaue Augen wie, wie Lily, und Mama nickte immer und lächelte und – dann war der Traum aus.«
Das Kind schwieg. Harvey faßte seine Hand. »Edgar,« fragte er, »soll Lily bei uns bleiben, immer und ewig?«
Der kleine Patient lächelte. »Ja,« lispelte er, indem er die Augen schloß, »ja, immer und ewig!«
Vor dem Bette stand Harvey, an seiner Seite – Lily. Das erste Morgenrot fiel durch die Ritzen der grünen Fensterläden ins Zimmer und warf goldige Streiflichter auf das Antlitz des Mädchens, das ihr Haupt zu dem Manne erhoben hatte und wortlos seiner Stimme lauschte.
»Lily,« sagte er ernst, »es ist ein Wortbruch, aber sie wird es mir vergeben, wenn sie ihr Kind hört, und nun sprich zu mir, mein Mädchen.« –
Der braune Krauskopf lag an seiner Schulter. Die Mädchenhände lagen auf seiner Brust gefaltet und des Mannes Mund beugte sich herab und küßte die leise geflüsterten Liebesworte von ihren Lippen.
»Mein Mädchen,« sagte er nochmals leise, »mein böses, trotziges, sanftes Mädchen!«
Er war ein verwahrlostes Kind und in dem ganzen Stadtviertel wegen seiner losen Streiche gefürchtet; dennoch zog mich etwas in seinem sommersprossigen, kugelrunden, von roten, struppigen Haaren umgebenen Gesichte seltsam an und ließ mich, wenn er auf den an den Parterrefenstern entlang laufenden Balkons der gleichgebauten Häuser seine halsbrecherischen Gelenkübungen vornahm, interessiert und besorgt zu ihm aufsehen.
Eine Zeit lang pflegte der bewegliche Bursche die gefährlichen Schaustellungen in der Gymnastik an allen Eisengittern und Fenstervorsprüngen den staunend bewundernden Blicken der versammelten Schuljugend zum besten zu geben; seit aber seine Produktionen zu Nachahmungen reizten, die unter den weniger gelenkigen Knaben einige gebrochene Gliedmaßen zur Folge hatten, seitdem die biederen Nachbarsfamilien den verderblichen Einfluß des verwahrlosten Knaben erkannten, war das Machtverbot des »Nichtumgehens« mit Charley Gregor sprichwörtlich geworden, und so begnügte sich der vereinsamte Gymnastiker, seine Produktionen scheinbar zum Schrecken der Vorübergehenden oder zu seiner eigenen Unterhaltung unbeirrt fortzusetzen, bis er eines sonnenhellen Morgens bei einer seiner gewagtesten Verrenkungen (er hing mit einem Bein an der Bretterwand, welche den Garten seines Vaters von dem meinen trennte, während sein niederbaumelnder Kopf sich auf gleicher Linie mit seinen rücklings herabhängenden Armen hin und her wiegte) die Augen aufschlug, und mein erschrecktes Gesicht über dem Fenstersims gebeugt sah. Im Nu schnellte der kleine Mensch hoch – saß fest und sicher auf dem Zaun und lachte mit absichtlich schief gezogenem Munde, in dem die gelblichen Zähne weit auseinander standen, unverschämt dreist zu mir herein, während er sich mit einer unglaublichen Behendigkeit auf dem Zaun entlang schob und sich so meinem Fenster näherte. War es die mir innewohnende weibliche Scheu vor der Roheit des Kindes, war es das instinktive Abwehren der mir drohenden Annäherung, ich machte einen Schritt in das Zimmer zurück; dann aber besann ich mich. Der gänzliche Mangel an Ehrerbietung einer Erwachsenen gegenüber, der sich in seinen dreisten Blicken aussprach, veranlaßte mich, die in mir aufsteigende Empörung zu unterdrücken, und, ganz der Stimme des Mitleids in mir folgend, bog ich mich vor und sprach den Knaben an.
»Ich fürchtete, du würdest fallen!«
Die Antwort war eine rohe Lache, die, kaum aufgeschlagen, ganz kurz abbrach und verstummte. Aus dem unschönen Knabenantlitz schaute mich sekundenlang ein tiefblaues Augenpaar starr, forschend an; dann verschwand der sinnige Ausdruck, der flüchtig auf seinem Antlitz gelegen und machte einem höhnischen, zweifelnden Lächeln Platz.
»Und wenn ich gefallen wäre – who'd care?« (wer machte sich was daraus?)
»Jeder; dein Vater zuerst!«
»Der?« Charley Gregor warf mit einer verächtlichen Lache den Oberkörper rücklings auf den Zaun und blickte aus halb geschlossenen Lidern hervor auf die herabgelassenen Jalousien seines väterlichen Heims; dann schwang er sich wieder auf, schüttelte die buschige Mähne in die Stirn zurück und spie – wie um die Verkommenheit seines Wesens zu demonstrieren – mit einer gewissen Großthuerei weithin über den Garten. Sein Kopf war etwas abgewandt; als er ihn nach kurzer Pause wieder erhob, schien ihn meine fortgesetzte Anwesenheit am Fenster zu erstaunen.
»Bad case – me?« (Verlorne Seele – ich?) rief er kurz, halb fragend, halb behauptend.
»So?« entgegnete ich lächelnd, »weshalb denn?«
»Unverbesserlich!« Er stieß das Wort mit einem Anflug von Stolz hervor und steckte aufrecht sitzend beide Hände tief in die Hosentaschen, bauschte dieselben weit auseinander und klappte sie, mit einem festen kleinen Schlag gegen seinen Körper, wieder zusammen.
»Das Ihr Vogel?« fragte er plötzlich zutraulicher – den Bauer unausgesetzt ansehend. Ich nickte.
»Gekauft?« Die drollige Frage gefiel mir.
»Er gehörte meinem Kinde,« berichtete ich.
Charleys Augen hoben sich fragend.
»Haben Sie ein Kind?«
»Jetzt nicht mehr,« sagte ich leise, »es ist gestorben!«
»So?« Charleys Ausruf war ein Mittelding zwischen Neugierde und Mitgefühl, und seine Blicke begannen über den Hausdächern ziellos umherzuirren und sanken endlich mit salbungsvollem Ausdruck auf seine dickbesohlten Stiefeln herab.
»Viele Leute sterben,« begann er endlich, mit der Miene eines bejahrten Tröster, dem nach langem Suchen das richtige Wort eingefallen ist, »kenne 'ne Menge Leute, die gestorben sind. Viele sterben an Masern. Böse Krankheit – Masern!«
Ich antwortete nichts. Meine Gedanken waren weit zurückgeschweift. Sie hingen an dem Bilde eines kleinen dunkellockigen Knaben, dessen hellklingende Stimme mir durch kurze Jahre das Dasein gelichtet hatte, um dann zu verstummen – auf immer – und mich einsam zurückzulassen. – –
Wie lange ich in stillem Sinnen verblieb, weiß ich nicht. Als ich aufsah, war ich allein. Charley Gregor war geräuschlos verschwunden. Ich dachte eine Weile über sein plötzliches Verschwinden nach, und empfand ein unbehagliches Gefühl von Reue darüber, die rauhen Trostesworte, die, wie ungeschickt sie auch schienen, doch von gutem Willen sprachen, so unerwidert gelassen und – so folgerte ich – das Kind dadurch gekränkt und verscheucht zu haben.
Ich begann mir ernstliche Vorwürfe zu machen, daß ich die weiche Regung des verwahrlosten Knaben zurückgestoßen und ihm vielleicht auf immer den Mut genommen, sie wieder zu offenbaren. Wer konnte wissen, wie tief ihn meine Nichtbeachtung seines wohlgemeinten Trostes geschmerzt – wie zerknirscht –
Mein reuiger Gedanke wurde durch ein dumpfes Gemurmel unterbrochen. Von meinem Fenster aus konnte ich trotz des eingetretenen Dämmerlichts sehen, wie ein Menschenhaufen sich vor der gegenüberliegenden halb verfallenen alten Kirche ansammelte, und besorgten Blickes zur Spitze derselben aufschaute, von wo aus rasch aufeinanderfolgende kleine brennende Hölzchen herniederfielen. Brannte es? War ein Feuer ausgebrochen? Ich bog mich geängstigt weit aus dem Fenster und durchspähte prüfend den oberen zackigen Vorsprung des verfallenen Baues.
War es möglich? Ich stand vor Entrüstung zitternd aufrecht. Dort oben, hinter einer der vorspringenden zerstückelten Figuren versteckt – lugte der rote Kopf Charley Gregors vorsichtig auf die Menge herab, während er mit empörendem Eifer kleine Stücke von der bröckeligen Holzballustrade ablöste – sie mittelst eines Zünders anblies und bedächtig unter die unten versammelte Menge vertrieb. Der leichte Abendwind trug glücklicherweise die brennenden Hölzer hin und her und löschte die bläulichen Flämmchen, bevor sie die Menschen erreichten, wo sie nur noch als kleine Kohlen glimmend zur Erde regneten. Ich sah noch, wie eine ganze Handvoll solcher Funken auf einmal herniederfiel, sah, wie eine vorsichtig kletternde kleine Gestalt mit der Behendigkeit einer Katze die hintere Steinwand entlang – vom Vorsprung zum Fenster und dann weiter abwärts glitt, und, plötzlich inmitten der Menschengruppe stehend, mit dieser hinaufschaute nach der Stelle – von der aus er selbst noch vor wenigen Sekunden die brennenden Hölzer geworfen.
Ich schloß, über die besonnene Schlechtigkeit dieses Knaben entrüstet, das Fenster, und trat, empört über seine klar zu Tage getretene Verderbtheit, mißgelaunt ins Zimmer zurück.
Es war mir unerquicklich, daß mich während der Nacht das sommersprossige Gesicht des »Gregor-Jungen« verfolgte. Bald sah ich ihn an hohen zackigen Felsen hängen, bald auf irgend einem Dachvorsprung sitzen, von dessen Kante aus er die gefährlichsten Sprünge machte, und so überraschte es mich nicht sonderlich, als ich in der Frühe an meinem Schreibtisch sitzend, eine wohlbekannte Stimme in geheimnisvollem Flüsterton rufen hörte:
»Hay Missus!« Ich blickte von meinen Manuskripten auf. Vor der obersten Scheibe meines Fensters baumelten zwei unreinliche Spitzen zweier sehr unreinlicher Stiefel. Es war unschwer zu erkennen, wessen Körper über den dicken Sohlen schwebte. Ich trat auf den Balkon hinaus. An den Stäben des zum oberen Geschosse gehörigen Balkons hielt er sich, während sein herabspähender Kopf eine günstige Stelle zum Hinabspringen zu suchen schien.
»Pleasant morning!« (Angenehmer Tag!) rief er, mit der familiären Miene eines täglich willkommenen Besuchers, und ich vergaß über dem unbefangenen Gruß des Knaben, wie über der beängstigenden Lage seines Körpers meine Indignation von vorher.
»Ein sehr angenehmer Tag, aber du wirst gleich stürzen,« rief ich so ruhig wie möglich zurück.
»Aus dem Weg', ich komme!« Der Warnungsruf kam nicht einen Augenblick zu früh. Der feste kleine Mensch landete geräuschvoll auf dem Balkon und stand an meiner Seite. Mein unerwarteter Gast trat dicht vor die Schwelle meines Zimmers und spähte mit unverfrorener Dreistigkeit in das Innere desselben.
»Hat er hier bei Ihnen sitzen dürfen?«
»Wer?« fragte ich, durch den sinnigen Ernst seines Gesichtes stutzig gemacht.
»Der tote Junge!« Wie schmerzlich mich die rohe Benennung auch berührte, so lag doch in der halb brutalen, halb feierlichen Betonung der Worte etwas Ergreifendes. Ich nickte stumm Bejahung.
»War wohl ein famoser Junge?« Diese Bezeichnung paßte kaum auf das zarte dreijährige kränkliche Wesen, das seine kurze Lebenszeit meist liegend zugebracht. Mein Gast machte sich wie es schien, ein falsches Bild von ihm, das ich für den Augenblick nicht zerstören mochte.
»Weshalb meinst du, daß es ein gutes Kind war?« fragte ich.
Die Antwort kam rasch, bestimmt.
»Cause ye'r sorry!« (Weil Sie traurig sind.)
»Aber das wäre ich doch auch bei dem Verlust eines unartigen Kindes!«
Charley Gregor lachte mich an, als hätte ich einen Witz gemacht. Er stemmte seinen linken Fuß rückwärts gegen die Mauer und schob sich in kleinen Sprüngen stoßweiße vor.
»Sie hatten ihn doch lieb!«
»Ja!«
»Schlechte Jungens mag man aber nicht!« Er sah mich bei dieser Erklärung ganz ernst an, wie um seine Lache von vorhin zu entschuldigen.
»Weshalb denn nicht?« entgegnete ich, »sie sind deshalb doch unsere Kinder!«
Charley Gregor stand ganz still. Er hatte sich etwas abgewandt, so daß ich nicht erkennen konnte, was in seinem Antlitz vorging. Als er es nach längerem Schweigen zu mir wandte, lag darauf ein Ausdruck kindlicher dringlicher Wißbegierde.
»Und wenn er ganz schlecht gewesen wäre, hätten Sie ihn doch lieb gehabt?«
»Gewiß!«
Charley wurde dringlicher. Seine Augen glänzten eigen.
»Und wenn er auf dem Felde Scheiterhaufen gemacht hätte, und Schule geschwänzt, und Milchkannen gestohlen?«
»Auch dann!« Charley zog wieder den schiefen Mund und lachte. Ich blickte mit Wehmut auf den Knaben, der so unbewußt in seinen zweifelnden Fragen eine bittere Herzensklage aussprach. Eine Aufwallung von Mitleid überkam mich. Ich trat ihm näher.
»Gehst du nicht zur Schule, Charley?«
»Manchmal!«
»Weshalb nur manchmal?« Charley warf ein Bein über die Brüstung des Balkons.
»Meistens schwänze ich!« Ich sah voraus, wie die alte höhnische Stimmung ihn zu überkommen drohte und mühte mich, sie fern zu halten.
»Aber das ist unrecht. Das betrübt deinen Vater!« Die rote Mähne flog von der Stirn zurück. Die blauen Augen sahen groß zu mir auf.
»Mein Vater macht sich gar nichts draus!« erklärte er sehr bestimmt.
»Woher weißt du denn das?«
»Er sagt's. Er hat mich aufgegeben. Sagt, aus mir wird doch nichts! Früher hat er gehauen – dann bin ich davongelaufen – dann hat er mich eingesperrt, wenn der Lehrer klatschte, daß ich geschwänzt hatte. Jetzt kümmert er sich nicht mehr drum. ›Thu, was du willst‹, sagte er, und so thue ich, was ich will. Gestern habe ich geschwänzt, heute auch – niemand kümmert sich drum! Kann ich 'mal reingehen?«
Charley Gregor trat, ohne meine Erlaubnis abzuwarten, mit der ihm eigenen Dreistigkeit in meine Behausung ein. Ich habe nie vergessen können, mit welch eigentümlich andächtiger Bescheidenheit sich der brutale Straßenjunge bei diesem seinem ersten und letzten Besuch bei mir verhielt. Die Hände tief in den Taschen vergraben, wie um sich vor »Anfassen« zu bewahren, oder um die Unreinlichkeit zu verbergen, umkreiste er dreimal das Nipptischchen, auf dem die Reliquien meines heimgegangenen Kindes gesammelt lagen.
»Kleiner Schuh!« sagte er einmal halblaut, indem er mit überlegenem Lächeln das kleine lederne Bekleidungsstück betrachtete, »ich kenne ein kleines baby – da unten am Wasser wohnt's – das hat solch kleine Füße. Manchmal gehe ich hin und bringe ihm ein Stück Zucker, und das steckt es auf einmal in den Mund und schiebt die ganze Faust nach. ›Charley‹ kann es noch nicht sagen, es sagt ›Tally‹, und wenn es lacht, sperrt es den Mund ganz weit auf und dann sieht man nur drei Zähne; mehr hat es nicht!«
Es war ein herzgewinnendes Lachen, mit dem er die kleine knabenhafte Beschreibung begleitete, und es erhellte sein Gesicht, wie ein Sonnenstrahl. Ich fuhr ihm lächelnd über das krause Haar, und er sah verwirrt zu mir auf. Seltsam war es, daß sich mir jeder seiner Blicke und jedes seiner Worte so fest einprägten! Ich saß lange, nachdem er mich verlassen, und sann über seinen Besuch nach. Wie anders erschien mir der Knabe jetzt! Und wie schlug mein Herz vor Erbitterung gegen den Mann, den Vater des an Gemüt reichen Knaben, der den Weg nicht fand zum Herzen seines Kindes! Liebte er wirklich das Kind nicht, oder verstand er es nur nicht, das trotzige Wesen desselben zu lenken?
Es war Abend geworden. Die milde Frühlingsluft zog mich hinaus in den Garten. Es war ringsum still, und wider meinen Willen schweiften meine Gedanken zu dem Nebenhaus hinüber. Dort lag alles im Dunkel. Schlief man bereits? So intensiv gespannt horchte ich hinüber, daß ich das Geklirre der Kette an der Gartenthüre des Nebenhauses überhörte, und erst als eine Stimme »Missus« rief, wandte ich mich um und gewahrte meinen Knaben auf der Straße stehend.
»Charley! du?«
»Kommen Sie mal dicht 'ran ans Gitter,« sprach er in seiner kategorischen Art, und ich trat dicht auf ihn zu.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß das alles eine Lüge war, was Sie mir sagten, und daß es doch einerlei ist, was ich thue. Ich werde Ihnen auch sagen, wieso. Der Lehrer war wieder da und hat geklatscht, und wie er fort war, da ist mir eingefallen, was Sie gesagt haben von schlechten Kindern, die doch geliebt werden, und da bin ich zu meinem Vater 'reingegangen, und habe ihm sagen wollen, daß ich bei Ihnen war und – und – na – so allerhand – wollt' ich ihm sagen – – –«
»Nun, und?«
»Da hat er gesprochen und hat gesagt, er wollte nichts wissen. ›Bist ein Vagabond‹, sagte er – ›ob du auf dem Galgen endest oder im Zuchthaus, das ist mir gleichgültig! Meinetwegen kannst du stehlen oder dich ersäufen, mir ist's gleich, wenn ich dich nur nicht mehr sehen muß,‹ sagte er. – So, und nun bin ich nur gekommen, um Ihnen zu sagen, daß es alles Lüge war, Missus!«
Es war ein seltsam weißes entschlossenes Gesicht, das er mir, vom Mondlicht umflossen, zukehrte, bevor er sich wandte und rasch davonschritt.
Eine mir unklare Angst trieb mich, ihn anzurufen.
»Charley! Charley Gregor!« Ich erhielt keine Antwort. Seine Schritte klangen nur undeutlich zu mir zurück, als ich, ein Tuch über den Kopf geschlungen, von einer unbestimmten Angst gejagt, die Straße entlang eilte.
Warum sagte ich mir nicht einmal: Thörin, was rennst du durch die Nacht? Was kümmert's dich, was drunten am Fluß geschieht? In dem großen dunklen Hause liegt alles im Schlummer, was also treibt dich atemlos dem Ufer entlang, dem kleinen verwahrlosten Knaben nach, der – ich allein wußte es, unter der rauhen Fläche eine wunde, liebebedürftige Seele barg. Schnell! Schnell! Die kleinen Füße laufen behend. Das Ufer ist leer. Kein Mensch, der ihn aufhält!
»Charley! Charley!« Irrte ich, oder wandte sich das Kinderantlitz mit den tiefen Augen noch ein letztesmal zu mir? Ein dumpfer Aufschlag – ein Schrei! – – –
Wo kamen die Menschen her, die sich ans Ufer drängten? Waren es meine Rufe, die sie beschieden? Und der sich da durchdrängte, barhäuptig, bleich, hohläugig – der sich aufschluchzend über die nasse Leiche beugte, die in meinem Schoße lag, war das der Vater, dessen starres Herz den Knaben von sich gestoßen, dessen Worte ihn vertrieben?
»Charley, o Charley!« Der Ruf hallte weithin durch die Nacht, und der ihn ausstieß, hob ein greises, gramgefurchtes Antlitz zu mir auf.
»Ich habe ihn nicht verstanden, Madame!«
Das war's! Alle Bitterkeit schwand aus meinem Herzen. Auf das bleiche Knabenantlitz niederschauend, wiederholte ich leise die Worte:
»Er hat dich nicht verstanden – Charley!«
Sie bewohnte ein niederes, aus Brettern erbautes Häuschen in einem der entlegensten Stadtteile, dort wo der große Teich gelegen war, der im Winter zu starrem spiegelglattem Eise zufror und die ganze waghalsige Stadtjugend auf seine glänzenden Flächen lockte.
Ihr Häuschen stand dicht an der Eisbahn, und der Wind heulte oft um die scharfe Ecke, in welcher der einstöckige kleine Bretterbau gelegen war, und rüttelte an den grauen Fensterläden, daß sie geräuschvoll aneinander schlugen und der grauen Außenseite etwas Unheimliches verliehen.
»Ein unfreundlicher Aufenthalt,« dachten die Fremden, welche von ferne das einsame, von den anderen Bauten durch eine kahle Wiese getrennt liegende Häuschen sahen, aber die Schuljugend dachte anders darüber. Die rosige kleine Schar, die auf dem Eise lärmend und jubelnd übereinander purzelte, sich Arme und Beine wund stieß und unter abwechselndem Lachen und Wehgeschrei mit den schmerzenden Gliedmaßen in das Innere des niederen Häuschens flüchtete, um sich Trost zu holen! Diese kleine Schar hielt die zwei spärlich möblierten engen Stübchen mit den weißen Gardinen und dem helllodernden Kaminfeuer für das reizvollste Plätzchen der ganzen Erde. Der feuchte Dunst vom Seifenschaum, der aus dem großen Waschzuber dicht am Fenster emporzusteigen pflegte, hüllte tagtäglich mehr denn ein Dutzend herein- und heraushuschender Kinderköpfchen in seine feuchte Wolken ein, und die leichten Schaumflöckchen, die sich in kleinen flickernden Bläschen auf die zerzausten Lockenköpfchen niedersetzten, zogen mit eigenartigem Zauber die Kleinen stets von neuem an. Oder war es doch nicht der flockige schneeige Seifenschaum, der sie lockte? War es vielleicht jene alte, etwas heisere, ganz unmelodische, aber überaus drollige tiefe Stimme, die von der Ecke her über das plätschernde Seifenwasser fort ihr ernst scherzendes:
»Sieh! sieh! sieh! wollt ihr wohl weitergehen!« ertönen ließ, was solche besondere Anziehungskraft übte?
Mutter Krüger war eine alte Frau. Sie war vor vielen Jahren – die Alten des Städtchens erinnerten sich undeutlich des Tages, unbegleitet und ungekannt in das Häuschen eingezogen, hatte mit einem stillen, Schonung gebietenden Antlitz die freundlichen Annäherungen der geschäftigen Nachbarn abgelehnt, um einsam, wie sie gekommen, in ihren vier Wänden zu verharren. Müßige Zungen ließen es an allerlei verdächtigen Reden nicht fehlen. »Sie ist eine durchgebrannte Frau, sie hat eine ›Geschichte‹,« flüsterten sie unter einander. Aber wenn sie gleich ihre Geschichte hatte – die verschlossenen, wehmütig herabgezogenen Lippen wahrten ihr Geheimnis gut, und mit der Zeit gewöhnte man sich daran, die hinkende Gestalt (Mutter Krüger schleppte das rechte Bein nach) – hinter den weißen Vorhängen des Vorderstübchens unter einer Wolke heißen Dunstes auf- und niedertauchen zu sehen und die energische Handhabung des Waschbrettes bis auf die Straße hinaus zu vernehmen.
Mutter Krüger hatte ihre regelrechten Kunden, solche, die sie allwöchentlich beschäftigten, und die sich aus Interesse für die redlich Arbeitende zu zeitweiligen Besuchen bei ihr herbeiließen. Diese Besuche der guten Stadtdamen waren für Mutter Krüger wenig erfreulich – destomehr aber entzückte sie die immer reichlicher werdende Schar kleiner Leute, die sich mit Leidenschaft an die einsame Frau anschlossen und in ihr die Vertraute allen Kummers und aller Freuden sahen. Wie doch Kinder hinter der verschlossensten Maske ein warmes Gemüt herauszufühlen wissen! Und wie auch wieder so ein Kindeslächeln die Eiskruste eines erkalteten Herzens hinwegzuschmelzen vermag! Von dem gramgefurchten Antlitz schwand mit der Zeit der wehmütige Hauch, und die Kinderwelt meinte, auf Erden keinen so neckischen Mund finden zu können, wie den ihrer alten Freundin, und keine verständnisvolleren Augen als die großen grauen ernsthaften der Mutter Krüger, die – wenn sie mißbilligten – so beschämend blickten. Die kleinen Schulmädchen erinnerten sich recht gut der Sache mit dem Ordnungsheft, das plötzlich vor der Prüfungszeit von den mit Tadeln reichlich bedachten Schülerinnen vernichtet worden war, und wie sie, die Missethäter, aus Furcht vor der ihnen drohenden Entlassungsstrafe drei Tage lang geschwänzt hatten. Mutter Krüger hatte sie gleich so seltsam angesehen, als sie zu ungewöhnlich früher Morgenstunde bei ihr eingetreten waren und verlegener denn sonst ihren Gruß erwiderten. Es war auch wohl ein Zufall gewesen, daß die Alte gerade Zeit hatte, von ihrem Waschfaß fortzuhinken, um sich vor den Kamin unter die kleinen Schelme zu setzen.
Toni Hellmuth erzählte später, wie merkwürdig es ihr gewesen sei, daß Mutter Krüger ihr wiederholt mit der feuchten Hand das Haar gestreift, nachdem sie, gerade sie, es wieder gewesen war, die jenen Schulstreich angestiftet! Ja, sie gestand sogar, daß sie nahe daran gewesen, der guten Alten die Sache zu verraten; aber da war gerade der Krach gekommen –
»Wie wir just um den Kamin so behaglich sitzen,« hatte Toni in ihrer knabenhaften lebhaften Art erzählt, »kam das Gepolter gegen die Thüre, und jede einzelne von uns wußte ganz genau, daß es der Lehrer war, und wie der Blitz waren wir von der Erde auf und hinter den Wäschehaufen versteckt, und da öffnete die Krüger langsam die Thür und richtig – es war der Lehrer!« Das Gespräch zwischen dem kleinen strengen Mann und der einfachen Alten wurde aufs genaueste von den versteckt lauschenden Kindern in der Stadt nacherzählt.
»Daß die Kinder Bertha, Elisabeth und Toni schwänzen – seit drei Tagen schwänzen – das wissen Sie gewiß,« hatte der gestrenge Mann lauernd, fragend, tadelnd gemeint und »Mein Herr« war darauf die ruhige Erwiderung der Alten.
»Und da das Trio bei den Eltern nicht aufzufinden war« – sprach der abscheuliche Mann, unbeirrt von der Zwischenantwort der Wäscherin mit seiner monotonen Lehrerstimme weiter, »so vermuten wir berechtigterweise, daß sie sich bei Ihnen – gute Frau – verbergen – hem! hem!«
»Herr,« hatte der Mutter Krüger leicht vibrierende Stimme gesprochen, »ich sagte Ihnen schon, daß ich von dem begangenen Streich nichts wußte; eines aber ist gewiß,« – hier machte Frau Krüger einen Schritt ins Innere des Zimmers und begann nachlässig den umhergestreuten Wäschestoß so aufzutürmen, daß das rotstruppige Haar Toni Hellmuths mit seinem verräterischen Wulst besser verdeckt wurde – »eines ist gewiß, Herr, unter all den Kindern Ihrer Schule ist kein einziges, das Mutter Krüger so wenig ehrt, um sie zu einer Hehlerin zu machen!«
In dem Zimmer war es still gewesen, nachdem der kleine Mann gegangen. Mutter Krüger war schweigend an ihren Waschzuber getreten. Ebenso schweigend kamen die kleinen Missethäter aus ihren Ecken hervorgekrochen, um sich mit verschämt gesenkten Köpfchen zur Thüre zu schleichen. Mutter Krüger aber hatte erst dann den Blick gehoben, als Toni Hellmuth, auf der Schwelle stehend, mit dunkelrotem verhülltem Antlitz ihr »ich schäme mich, Mutter Krüger,« gestammelt hatte, und Mutter Krüger nickte nur und lächelte sie mit dem alten Lächeln an.
Die kleine Begebenheit wurde nicht vergessen. Kinderherzen sind eigen rachsüchtig im Haß, wie sie eigen erkenntlich sind in der Liebe.
Die Arreststrafe wurde hart zugemessen. Tagelang blieben die Kinder vom Eisplatze und von der kleinen lieben Hütte verbannt, und als sie endlich wieder vor dem Häuschen erschienen, da lag auf den Gesichtern der Ausdruck eines rachedurstigen entschlossenen Vorhabens.
Mutter Krüger stand sinnend am Fenster und blickte auf die Straße hinab. Es hat immer sein Unheilkündendes, wenn Kinder dort, wo sie jubeln könnten, in kleinen engen Gruppen beieinanderstehen und finster – leise miteinander sprechen! Das stille Antlitz, mit den glattgestrichenen weißen Haaren und dem einverstandenen Lächeln sah mit gespannten Blicken auf die Kinder nieder. Vielleicht war es ein Ahnungsgefühl, was sie empfinden ließ, daß es etwas zu verhindern geben dürfte. – Mutter Krüger schloß leise die Gardinen, ging – Besorgungen heuchelnd, auf die Straße. Absichtlich einen Umweg machend, kam sie ganz unerwartet auf die Kindergruppe zu, welche sich froh überrascht der alten hinkenden Gestalt entgegenwarf. Die Stimmen klangen alle durcheinander. Mitteilsamkeit, Schwatzhaftigkeit, Vertrauensseligkeit, alles zusammen sprach sich in den leidenschaftlichen Erzählungen der Kleinen aus, und über alle anderen hob sich die Stimme Toni Hellmuths:
»Er hat uns jeden Tag nachsitzen lassen, und wer, denkst du, hat es verraten, daß wir bei dir waren?« Große Pause. »Der bucklige Zeitungsträger war's!« Dies mit einer staunenden Eröffnungsmiene und geheimnisvoll hastig. »Sie sollen aber beide was abhaben, wir machen uns große Schneebälle und thun diese Steine hinein, und der Lehrer muß doch hier vorüber, wenn er nach Hause will, und dann rufen wir dem Zeitungsjungen von drüben allerhand Schimpfnamen zu, so daß er wütend wird und herauskommt – – na, und wenn der Lehrer seine Steine an den Kopf hat, ducken wir uns ganz klein, so daß er uns nicht sieht und der abscheuliche Zeitungsjunge kriegt die Schuld. So! Ist es nicht großartig?« Das erregte Kindergesicht erhob sich voll rachedurstiger Entschlossenheit. Erst als sie geendet, sah Toni den eigenartig schmerzlichen Ausdruck in Mutter Krügers Angesicht. Die Finger ihrer runzeligen Hand umschlossen jäh und fest die vertrauensvoll in die ihren eingeschlichenen Kindesfinger und Toni sah geängstigt zu ihr auf.
»Was ist's, Mutter Krüger – bist du böse?«
»Böse?« Die alten Lippen sprachen langsam die Silben nach. Die Stimme klang trotz des wehmütigen Zuckens ihrer Lippe – tapfer ermunternd, wie fast: »Wie sollt' ich böse sein – ich denke nur soeben an ein kleines Mädchen, die in meiner Heimatstadt zu Hause war und – aber es ist kalt hier unten, ich hebe die Geschichte von dem armen Mädchen auf, oder – wollt ihr euren Plan verschieben und mit mir –«
»O ja, ja!« Wie gut die Alte ihre Kleinen kannte! Wie wohl sie wußte, daß ein jeder Plan in nichts zerfiel, sobald sie etwas zu erzählen sich bereit erklärte!
Hell prasselte das Feuer im Kamin. Es warf über das Stübchen, in das die Kinder eintraten – seinen goldigroten Glanz.
»Sie hieß Christine,« begann Mutter Krüger fast heiter ihre Erzählung.
»Kein hübscher Name – was? Und nun gar, wenn man ihn abkürzte und Christe rief, und das thaten die Straßenjungen gar gerne, und wenn sie sie ärgern wollten, fügten sie noch ein Wort hinzu und nannten sie ›lahme Christe!‹
Sie war nämlich – habe ich euch schon erzählt, daß sie lahm war? Sie war als Kind gefallen und daher kam es. Manchmal bemerkte man es gar nicht. Wenn sie in den Werktagen in einem alten Rocke der Bäckersfrau – bei der sie Kost und Logis erhielt – umherlief, und die Falten ihr im Schmutz des Weges nachschleppten, konnte man ihr Hinken zu den anderen willkürlichen Körperverdrehungen zählen, mit denen Christe die Nachbarschaft halb trotzig, halb geärgert unterhielt.
Christe war nie zur Schule gegangen. Sie mußte des Morgens und des Abends das frische Backwerk in der Stadt herumtragen und des Mittags lag sie auf den Straßen und trieb aus Langeweile oder aus schlechter Laune allerhand böswillige Streiche. Sie war – was man so einen Taugenichts nennt, und die Nachbarskinder hatten große Angst vor ihr und nur einer – der Kaufmannssohn – ja so, ich muß der Reihe nach erzählen, sonst wißt ihr ja nicht, wie sie zu der Freundschaft mit ihm gekommen war.«
Mutter Krüger atmete tief auf. Ihr Gesicht wurde nachdenklicher – ihr Blick wandte sich dem Fenster zu. Die Straßen lagen im Dunkel. Der Wind hob und fegte die Schneeflocken kreuz und quer durcheinander und warf sie spielend gegen die Fensterscheibe, so daß es in der Stille des Zimmers wie ein schüchternes Pochen erklang.
»Christine hatte ihn eines Morgens auf ihrem Rundgang durch die Stadt in einer Pfütze liegend und laut schreiend gefunden, aus der sie ihn, ohne viel Worte zu machen, herausgezogen und in ihrer derben gutmütigen Art recht ungeschickt unter der Pumpe eines Nachbarhofes gesäubert hatte. Möglich, daß sie ihn dabei geschüttelt oder gezerrt, bis er sein Zetergeschrei erhob. – Die Nachbarn kamen herbeigelaufen und stießen das Mädchen ziemlich unsanft von der Thüre fort. Christine ging trotzig ab. Sie ging an dem Kaufmannsladen nicht mehr vorüber, und wenn der kleine Bursche – der mehrere Jahre jünger war wie das Mädchen – sie anrief, machte sie ihm drohende Zeichen und schüttelte sich vor Abscheu, und wie er einmal über ihr Gebahren hell auflachte und ihr schmeichelnd einen Apfel hinhielt – ging sie – naschig wie sie war, auf ihn zu und aß ihn mit ihm auf. Sie wurden gute Freunde – diese beiden.
An einem Tage schlugen sie sich und dann vertrugen sie sich wieder und wenn sie sich gerade gezankt hatten, ging der Junge zerstreut umher – und vernachlässigte seine Schularbeiten so sehr, daß ihn der Lehrer dafür strafen mußte.
Dies paßte nun aber dem Kleinen gar nicht und eines Tages lauerte er voller Zorn den Lehrer an der Straßenecke ab, um einen ganz abscheulichen Plan, den er sich mit den anderen Knaben ausgedacht hatte – durchzuführen. Sie spannten nämlich eine dünne Schnur über den Weg, den der Mann zu gehen hatte, und was geschah? Der Lehrer denkt an nichts Arges – sieht in der Dunkelheit des Abends die Schnur nicht, stolpert – fällt und – das war das Schreckliche – bleibt wie tot liegen. Ja, ja, – wie tot, und der Junge, der das Unglück angestellt hatte, bekommt große Angst und rennt mit seinen Freunden davon.
Wie nun die Menschen gelaufen kamen, schrieen sie vor Schreck laut auf, und die lahme Christine, die den Lärm hörte, drängt sich heran und beguckt sich neugierig den Menschenhaufen. Wie sie aber dasteht – fällt es plötzlich den Leuten ein, daß eigentlich alle bösen Streiche immer von ihr angestellt wurden, und daß sie sich nun so dreist durch die Menge schob, machte die Menschen erst recht aufsässig.
›Natürlich war es wieder die lahme Brut,‹ schrie eine dicke Frau aus der Menge und
›Sie ist ein gefährliches Geschöpf!‹ riefen andere zurück.
Christine sagte gar nichts. Sie war vielleicht erschreckt oder überrascht oder auch nur zornig auf die Menschen, die so ungerecht auf sie schimpften. Sie biß die Lippen trotzig zusammen und warf den Kopf zurück, und wie man den wirklich schwer verletzten Lehrer aufnahm und forttrug, fielen die Leute über das Mädchen her und tobten – bis man sie festnahm. Das Kind sagte kein Wort. Sie ließ sich von dem herbeigerufenen Beamten abführen, und machte zu all dem Lärmen um sich her ein böses höhnisches Gesicht. Sie that so, als machte ihr die Sache gar nichts aus, und um die Wahrheit zu gestehen – sie machte ihr wirklich nicht viel, weil sie bestimmt erwartete, daß der kleine Kamerad aus dem Kaufmannsladen kommen würde und die Geschichte erklären, – denn Christe war ein gerechtes Mädchen – trotz ihrer Fehler, und daß man andere leiden lassen konnte – für selbst gethanes Unrecht, das konnte sie nicht glauben.«
Die Erzählerin schwieg und sah die kleine Gruppe von Zuhörern aufmerksam und ernsthaft an. Wie still sie saßen! Wie tief befangen die schamroten Gesichtchen sich zu Boden neigten. War's, daß Mutter Krügers Schweigen eine stumme Aufforderung enthielt – war's, daß in dem gerechten Herzen Toni Hellmuths, der Anführerin der Kinderschar – ein Etwas sie zum reuigen Handeln antrieb – das Kind stand plötzlich hochaufgerichtet vor dem Herde – die kleinen Hände griffen halb verlegen, halb mit Ungestüm die Steine auf, die für den geplanten Angriff in Bereitschaft lagen, und stieß sie, einen Seitenblick auf Mutter Krüger gerichtet, mit hastiger Geberde in das Feuer.
»Der erste Tag verging,« sprach die Wäscherin gedankenvoll zur Erde sehend fort, »der erste Tag und auch der zweite – dann der dritte, und – er – kam nicht.«
»O, wie abscheulich!« Der Ruf aus dem Munde des kleinen Mädchens ließ Mutter Krüger aufblicken. Das schmale Fenster rüttelte unsicher in seinen Fugen und eine Zugluft drängte sich durch die Ritzen und wehte die Vorhänge leicht auseinander. Die welken Hände der Alten schlossen sich über ihre Knie und der abwesende Blick ihrer Augen – die eigen verschleierte Stimme, mit der sie weiter sprach, gaben Zeugnis davon, daß sie für sich zu sprechen, sich allein zu sein wähnte.
»Er war feige,« stieß sie düster und kurz hervor, »feige und undankbar. Er bekannte nichts. Der Lehrer starb an den Verletzungen. Sein Tod machte die Leute neu erregt. Zuerst war das Geschehene wie ein Kinderstreich gewesen – jetzt nannte man es ein Verbrechen.
Das Gericht war milde – glaubte milde zu sein – das Mädchen wanderte auf zwei Jahre ins Korrektionshaus. Christine wurde – auf ihr verzweifeltes Leugnen hörte man nicht mehr – in die Anstalt jüngerer Verbrecher geschafft und der Kaufmannssohn blieb, ohne sich durch ein Wort als der wirkliche Thäter zu verraten – daheim.«
»Mutter Krüger – du erzählst doch weiter – es ist nicht das Ende?«
»Das Ende?«
Die Alte wiederholte die Frage der Kleinen halb zögernd. Ihr Blick ruhte auf dem Feuer. »Vielleicht,« sagte sie, »sollte es für euch zu Ende sein, denn das, was folgt – aber nein, ihr sollt das Ganze hören. Das Mädchen blieb zwei Jahre in der Anstalt – zwei Jahre lebte sie unter allerhand kleinen und großen Verbrechern und wie die Zeit herum war – da konnte sie gehen. Wohin? – Danach fragte keiner. Das lahme Ding wollte wohl arbeiten, aber wer traute einem Mädchen, das aus der bekannten Strafanstalt entlassen worden war. Wo immer sie anfragte, jagte man sie höhnend fort. Es wurde ihr schwer gemacht, ihr ehrliches Brot zu verdienen – wochenlang – Monate – sie hatte viele Tage des Elends verlebt und endlich – – kam er.«
Mutter Krügers Auge blickte starr – ihre Stimme sank zum Flüstertone herab – wieder war es wie ein Selbstgespräch, das sie führte.
»Er war groß geworden, der frühere Kamerad – groß und schön, und seine Stimme klang so wahr und reuevoll – es war die erste Stimme, die in ihrem Leben weich und liebevoll zu ihr gesprochen hatte – er sagte ihr, daß er sie überall gesucht, daß er durch sein so feiges Schweigen ihr Leben verdorben, daß er gut machen wollte, was er gethan. Er konnte nicht Ruhe finden, während sie allein und unglücklich blieb und darum müsse sie ihm folgen – bei ihm bleiben – auf immer.
Sie war um Jahre älter als er. Sie hätte daran denken sollen, anstatt – anstatt –.« Die Stimme erlosch. Mutter Krüger hielt, wie sich besinnend – die Lippen geöffnet – dann lachte sie wie in jähem Erwachen, – die Hand auf die Brust, und erhob sich rasch. »Hörtet ihr nichts? Kamen nicht Schritte?« fragte sie seltsam beklommen und ihre Augen wanderten zum Fenster. Immer dichter fiel der Schnee, immer schärfer tobte der Wind. Er stob wie in blinder Raserei die Flocken auf und warf die Fensterläden krachend aus den Angeln. »Es war der Wind!« Die Alte sagte es leise in der den Kindern altgewohnten bekannten lieben Stimme und »es ist spät ihr Kleinen,« fügte sie hinzu, »und die Geschichte ist zu Ende, Sie heirateten sich, diese beiden – und – mein Gott« – die Wäscherin lachte leicht auf und sprach mit geradeaus blickenden Augen, »sie war nicht mehr jung, sie war nicht schön, und er war beides, und es war nicht seine Schuld, daß er eine jüngere fand, die zu ihm paßte und deshalb nahm die Frau mit der traurigen Vergangenheit eines sonnigen Tages ihre paar Habseligkeiten und ging ganz still fort und suchte sich ein neues« – – Die Stimme der Alten stockte.
»Was war das?« Mutter Krüger stand totenbleich aufrecht. Die kleine horchende Schar schob sich ängstlich auseinander, da sich das Antlitz ihrer alten Freundin mit weitgeöffneten stieren Augen auf die Thüre richtete, auf deren äußere Schwelle Männerschritte fielen. Die Hand der Frau hob sich, wie in ahnungsvollem Schmerz und deutete – mit gebieterischer stummer Geste auf das Nebenzimmer, und wie zum Schutze der sprachlos hereinhuschenden gehorsamen Kleinen – schleppte sie mit Aufwendung aller Kräfte ihren zitternden Körper vor die Thüre des Stübchens.
Wie der Wind heulte, wie die Flammen im Kamin hochschlugen, da die Eingangsthüre nach mehrfachem herrischen Klopfen aufgestoßen wurde. Ein Mann bei Mutter Krüger! Ein großer schneebedeckter Mann, mit vorgebeugtem breiten Nacken und einem düsteren, kranken Blick.
»Christine!« Der Ausruf war fast wie ein Schreckensschrei und die aufrechtstehende reglose Gestalt nickte mit bebender Lippe zweimal und wiederholte mit leiser Stimme:
»Ja – Christine!« Mochte es der schmerzliche Tonfall sein, der dem Manne wie eine Ermutigung klang – that es der Blick, der aus dem ergebenen alten Antlitz der Mutter Krüger auf ihn fiel? – Er machte einige Schritte zu ihr hin, blieb jedoch vor der ablehnend erhobenen Rechten stehen.
»Ich habe dich gesucht,« sagte er zögernd, mit gesenktem Auge.
»Zum zweitenmale,« unterbrach sie ihn leise und hart.
»Ich – ich war sehr krank, Christine – ich habe böses erlebt – ich – bin allein!«
Der Kopf der Alten hob sich rasch.
»Und – sie?«
Er lachte bitter auf. »Sie,« erwiderte er höhnisch, »sie wurde meiner überdrüssig!«
Es lag in der heftigen gereizten Sprechweise des Mannes etwas vom gekränkten eigensinnigen Kinde, und seine Haltung der Frau gegenüber hatte mehr vom leidklagenden Sohne zur Mutter, als vom reuigen Gatten zur Gattin. Vielleicht fühlte sie das nicht zum erstenmal heraus, vielleicht klangen darum ihre Worte herber, als sie es wußte.
»Und weiter – was suchst du hier?«
»Was ich suche? Christine, ich war lange krank – ich bin allein –«
»Halt!«
Er wich vor der gebietenden Haltung scheu zurück. Mutter Krüger stand noch immer vor der angelegten Thüre des Nebenzimmers – das ihre Kleinen barg. Jetzt, da sie sprach, zog sie die Thüre ins Schloß und trat dicht vor den Mann hin.
»Sprich nicht zu Ende,« gebot sie kurz, »es wäre vergeblich. Unsere Wege gehen auseinander. Du hast gewählt zwischen uns – du ließest mich gehen. Jetzt bin ich alt und hier drinnen ist's ruhig geworden. Einmal glaubte ich vom Leben etwas erwarten zu dürfen. – Das ist vorbei. Du bist jung – deine Wunden werden vernarben. Unsere Wege gehen auseinander, das ist mein letztes Wort. Ich zürne dir nicht. Gott sei mit dir!« –
Der Wind, der die Hausthüre krachend zuwarf, fegte den nassen Schnee hinter der gebeugten Gestalt des Mannes her, der vor dem Hause stehend einen letzten Blick hinaufwarf auf das matt erleuchtete Fenster des niederen Häuschens. Im Innern des Stübchens lehnte Mutter Krüger mit umflorten Augen an den Rahmen der Thüre – durch die die kleinen Gäste mit scheuem »Gutenachtgruß« eintraten.
»Geht, Kinder, geht! Laßt mich allein!« Langsam entfernten sie sich und als die Thüre ins Schloß gefallen war, ertönte neben der alten Frau eine kleine verschleierte Stimme:
»Mutter Krüger!«
Sie zuckte zusammen.
»Toni? Du?«
Die kleine Mädchengestalt drückte sich eng an die alte Freundin. Mit unendlicher Weichheit legte das Kind ihre Wange an der Wäscherin Hand.
»Geh, Kind, geh!« Die Stimme der Alten war gepreßt, klanglos, und der greise Blick starrte verloren in die Dunkelheit hinaus. Die Kleine drückte sich, der Zurechtweisung nicht achtend, mit feinem Kindesinstinkt das Richtige fühlend, enger an die einsame Alte und blickte mit ihr geradeaus. Im Stürmen des Wetters, unter dem Rascheln der Läden und Thüren hallte auf dumpfem Schnee der Klang von schwer schleppenden aber festen Schritten.
»Er ist fort, Mutter Christine,« sagte sanft das Kind und beim Klang des Namens faßte die Einsame mit einem lauten Schluchzlaut das Kind in die Arme und weinte. Mit ihm zusammen trat sie an das Fenster und blickte lange schweigend in die Nacht hinaus, in der die Umrisse einer hohen vorgebeugten Gestalt in der Ferne sichtbar waren und allmählich im Dunkel der Nacht verschwanden. Und der Wind rüttelte an den Fensterläden um das einsame Haus und drinnen starrte noch lange ein altes gramgefurchtes Angesicht geradeaus ins Leere.
Zehn Minuten noch und der große prächtige Dampfer verläßt den Hafen von New-York. Mit mächtigem Gedröhn rollen die schweren Kisten und Koffer den Perron entlang. Schrille Stimmen von kleinen und großen Obst-, Bücher- und Spielwarenhändlern tönen lärmend durcheinander, ein jeder hofft, sein Lager von auserwählt süßem Obst, von pikanter Reiselektüre, von turnenden Hampelmännern und tanzenden Schreipuppen vor Abfahrt des Dampfers zu verkaufen. Noch drängen sich auf dem Verdeck dichte Haufen von Menschen; Verwandte, Freunde derer, die binnen weniger Minuten Abschied nehmen werden, auf Wochen oder Monate, viele für immer. Mit schwerem Getöse rollen große Expreßwagen bis zur Seite des Dampfers heran. Geschäftig rühren sich die Hände der abladenden Arbeiter und der in empfangnehmenden Matrosen, deren aus heiserer Kehle tönender Seemannsruf wie klagend in das Ohr fällt, als traurige Mahnung, daß die Scheidestunde geschlagen. Noch lächeln die Lippen, noch leuchten die Augen; noch ist man ja beisammen. Ja, man scherzt sogar; man tändelt mit den Kinderchen, hebt sie lachend in die Höhe, um ihnen das gewaltige Wasser zu zeigen, in das sie in kurzer Zeit hinausrauschen werden. Einige ältere Leute stehen gebeugten Hauptes und blicken sehnsüchtig zum Lande hin. Soeben sind die Säcke mit Briefen angekommen, und werden mit lautem »Ohoi!« auf die breiten Schultern der braunen Matrosen geladen und aufs Verdeck geschleppt. Die Briefe bilden den Abschluß. Die Post ist angelangt, der Trennungsaugenblick gekommen! Als sei plötzlich ein Unglück eingetreten, das keiner vorausgesehen noch geahnt, bricht nun der Schmerz sich mit Heftigkeit Bahn, und krampfhaft liegen sie sich in den Armen, die vor wenigen Minuten noch gelächelt. Kein fröhliches Auge nun, kein scherzendes Wort mehr. Blasse, tieftraurige Gesichter ringsum .... Ein dichter, schwerer Dampf steigt mit sausendem Gezisch zum Himmel empor. Schrilles Pfeifen durchdringt die eingetretene Ruhe. Dreimaliges Geläute! ... Hellaufschluchzende Laute, ein Taumeln, Drängen, Klagerufe. Nochmaliges Läuten, Kettengerassel. – »Ohoi!« rufen die Matrosen, die Brücke fällt. Das Schiff stößt ab. Am Ufer stehen die Zurückgebliebenen. Thränenfeuchten Auges winken sie und lächeln den Scheidenden zu. Ein jeder sucht das ihm bekannte Auge und hemmt den Thränenlauf, um mit dem Tuche ein letztes Ade zu winken. Langsam, majestätisch gleitet der Dampfer aus dem Hafen.
Am vorderen Ende desselben steht, die Arme über die Brust gekreuzt, den breiten Hut zum Schutze gegen die Sonne tief in die Stirn gedrückt, ein hochgewachsener Mann. Er mochte lange schon so gestanden haben, seine Stellung hatte etwas unbewegliches, gewohntes. Tiefer Ernst prägte sich auf seinen schönen Zügen aus, Ernst und Mitleid. Sein Auge folgte der Gestalt eines Mädchens, das am hintersten Ende des Schiffes gestanden hatte und sich der Heimat zugewendet. Bleich, bebend, dann im heftigsten Schmerz laut aufschluchzend, war sie, als der Dampfer abstieß, auf das dem Lande nächstliegende Ende zugeeilt, hatte, den Oberkörper weit über die Brüstung des Verdeckes gelehnt, mit vorgestreckten Armen, als suche sie in dieser Geberde das Heimatland zu halten, sich dem vollsten Schmerze hingegeben. »Mutter! Mutter!« klagten ihre Lippen, als sie mit aller Kraft sich aufrichtend, das Land ihren Augen entschwinden und die Gestalten ihrer Lieben immer kleiner und undeutlicher werden sah. Als rufe dieser Klagelaut die so schmerzlich Ersehnte herbei, erschien an der äußersten Spitze des Perrons, von welchem das Schiff abgestoßen war, die hohe Gestalt ihrer Mutter. Das ergraute Haupt ihr zugewendet, mit blassem Antlitz, doch mutig ermunternd, traurig ihr zulächelnd, so erblickte das junge Mädchen noch einmal die Mutter, dann brach es mit lautem Aufschrei zusammen.
Der Unbewegliche am andern Ende des Schiffes war mit wachsender Teilnahme den Bewegungen des Mädchens gefolgt. Jetzt machte er einige Schritte, als wolle er ihr zur Hilfe eilen, blieb aber wieder stehen, als er die vielen bereitwilligen Hände sah, welche die Damen, durch den Aufschrei des jungen Geschöpfes von dem eigenen Schmerze abgelenkt, ihr darreichten. Jene richteten die Weinende auf und schienen eindringlich mit ihr zu sprechen. Es waren jedenfalls tröstende, milde Worte, die jedoch ihren Zweck zu verfehlen schienen, denn das Mädchen warf sich, die Hände vors Gesicht schlagend, auf die nahestehende Bank, wies mit heftigen Geberden die ihr zugeflüsterten Worte von sich und wandte den Umstehenden wie ein ungezogenes verwöhntes Kind den Rücken, gab sich dann, mit dem ganzen Eigensinn der Jugend, ihrem Schmerze hin. Verwundert und verletzt traten die wohlmeinenden Damen zurück und ließen sie allein.
Die Tischglocke hatte zum zweitenmale geläutet und noch saß das junge Mädchen auf der Bank. Die Hände ruhten gefaltet in ihrem Schoße. Ihr Auge blickte sehnsüchtig nach der Richtung hin, wo nur ein dunkler Streifen, gleich einer Nebellinie, das Heimatland bezeichnete. Die heftige Bewegung von vorhin hatte ihr das Haar gelöst, das nun in zwei vollen rötlichbraunen Zöpfen auf die Hände herabfiel. Der kleine Mund zuckte und die zarte Gestalt erzitterte noch in der Nachwirkung ihrer Erregung. Den Steward, der an sie herangetreten war mit der Aufforderung, gefälligst zu Tisch zu kommen, entließ sie barsch, dem zweiten, vom Oberkellner geschickten Boten, der frug, ob sie vielleicht oben etwas zu genießen wünsche, entgegnete sie, daß sie nichts wünsche als ungestört zu sein.
Auf der anderen Seite des Verdeckes hallten mit monotoner Regelmäßigkeit Schritte eines Mannes zu ihr herüber und veranlaßten sie, ihre Stellung zu verändern, um den so unermüdlich Marschierenden anzusehen. Es war derselbe, den sie bei Abfahrt des Schiffes so unbeweglich hatte stehen sehen. »Weshalb er wohl nicht zu Tische geht«, dachte sie. Die Schritte kamen näher. Der Mann, der sich allem Anschein nach für den alleinigen Inhaber des Verdeckes hielt, bog plötzlich um die vordere Seite desselben und stellte sich, das ernste Gesicht dem Lande zukehrend, dicht vor die Bank, auf der das junge Mädchen saß. Seine Gestalt versperrte ihr so den Anblick des Landes.
Mit dem eigenen Zartgefühl fein organisierter Wesen, denen es stets peinlich ist, unbemerkt Zeuge irgend welcher Empfindungsäußerung zu sein, fühlte sie sich veranlaßt, ihre Anwesenheit erkennbar zu machen. Eine leichte Bewegung, und er wandte sich um. Das junge Mädchen erblickend, zog er den Hut, trat dann mit einigen entschuldigenden Worten zur Seite. Sein Organ übte einen eigenen Zauber aus. Fühlte das Mädchen das Bedürfnis, mit jemanden zu sprechen, oder weckte der tiefe, volle Ton seiner Stimme ihr Zutrauen, sie wandte dem Manne ihr Gesicht zu und fragte, in der kindlich naiven Art eines Mädchens, das nur den Schmerz voll begreift, der sie selbst betroffen, indem sie ein braunes Augenpaar groß zu ihm aufschlug: »Haben Sie auch Ihre Mutter dort zurückgelassen?«
»Nein,« antwortete die tiefe Stimme, und ein Lächeln flog über seine Züge, das aber sofort wieder schwand, als er ernst fortfuhr, »nein, das habe ich nicht, denn um jemanden, den man liebt, zurücklassen zu können, muß man zuerst jemanden haben.«
Voll Interesse schaute sie zu ihm auf. Mit unverkennbarem Staunen frug sie: »Haben Sie keine Verwandten, keinen Bruder, keine Schwester?«
»Keinen Bruder, keine Schwester. Niemanden, gar niemanden. Sie sehen ordentlich erschreckt aus, mein kleines Fräulein! Sie können sich wohl kaum denken, daß man auf der weiten Welt keine Angehörigen haben kann.«
»Nein,« sagte sie einfach. Dann wandte sie die Augen von ihm ab und ließ den nachdenklichen Blick weit hinausschweifen über das Meer. Er folgte ihren Augen, und etwas näher an sie herantretend fragte er, und aus dem Ton klang es wie Bitterkeit: »Halten Sie sich darum für glücklicher, weil Sie eine Anzahl Menschen um Sie trauernd zurückgelassen und selbst ein trauerndes Herz mit fortgenommen, als z. B. mich, der ich keine Trauer verursache und keine empfinde?«
»O ja,« entgegnete sie rasch, »für viel, viel glücklicher. Wenn Sie nie traurig waren, können Sie nie recht froh gewesen sein, meine ich. Ich kann darüber nichts sagen, doch ich denke es mir entsetzlich öde und einsam, keinem Menschen auf der Welt anzugehören, keinen Menschen zu lieben.« Ihre Stimme hatte unwillkürlich einen leisen schwärmerischen Klang angenommen, der einen seltsamen Kontrast bot zu dem rauhen, dumpfen Schlag der Schraube.
»Öde und einsam,« wiederholte er, »jawohl, das ist es.«
Die Tischzeit war vorüber. Hier und da trat einer oder der andere der Passagiere aufs Verdeck, zog sich jedoch bald wieder in die unteren Räume zurück, da die kühle Abendluft den Aufenthalt auf dem Verdecke erschwerte.
Im Salon unten saßen sämtliche Passagiere der ersten Kajüte und versuchten es, sich auf diese oder jene Art und Weise untereinander bekannt zu machen. Noch schaukelte der Dampfer nicht, sondern glitt leicht wie eine Barke auf glatter See ins Meer hinaus.
Am zweiten Tage trat um 5 Uhr früh ein junges Mädchen leise auf den Fußspitzen gehend, als fürchte sie, die noch sanft in ihren Kojen schlafenden Mitreisenden zu stören, aufs Verdeck. Das kleine Deckhäuschen bot ein Bild wirren Durcheinanders; es wurde geputzt und gescheuert. Draußen angelangt, blickt sie erstaunt gen Himmel; es regnete nicht, und doch war das ganze Verdeck naß. Da hörte sie ein Plätschern, und sich umwendend, gewahrte sie, daß Seeleute das Verdeck reinigten. Mittelst eines Gummischlauches badeten sie dasselbe im wahren Sinne des Wortes; Stühle, Bänke, Fenster, Thüren, alles triefte.
Ein recht unbehaglicher Aufenthalt, dachte sie, und doch der kleinen engen Koje und dem schrecklichen Geruch von Maschinenöl in den unteren Räumen vorzuziehen. Die Kleider hebend, damit sie nicht mit dem feuchten Deck in Berührung kommen, stieg sie grüßend an den Matrosen vorbei bis zur Stelle, wo sie Tags zuvor aufs Land geblickt hatte.
Doch umsonst spähte das Auge nach der Stelle, wo sie ihre Lieben zuletzt gesehen. Wo sie hinblickte, sah sie das Meer und nur das Meer. Hilflos, bang, als bedürfe sie der Stütze, faßte sie nach der Lehne einer nahestehenden Bank; große Thränen füllten ihre Augen, und schmerzhaft zuckte der Mund. Die kleine Hand griff, als schmerze sie etwas, ans Herz und immer bleicher wurden ihre Lippen. Es nahten sich Schritte. Den Kopf wendend, gewahrte sie den Mann, der gestern mit ihr gesprochen. Tags zuvor war er ihr noch fremd gewesen, heute erschien er dem jungen Mädchen wie ein alter Bekannter, wie ein guter Freund. Mit dem ganzen Ausdruck der Wehmut, die sie erfüllte, auf ihn zueilend, ergriff sie mit ihren beiden Händen die ihr entgegengestreckte Rechte des Mannes, während sie ausrief: »Sehen Sie doch nur, wie schrecklich. Wir sind ganz allein und verlassen. Nichts als Wasser, dunkles, schreckliches, schäumendes Wasser. Kein Land! O, wie öde, wie öde!« Thränen erstickten ihre Stimme.
Ihre Hände fest umschlossen, führte er sie an das äußerste Ende des Verdeckes. Sanft, als spräche er zu einem leidenden Kinde, begann er: »Kein Land, das ist wahr, aber nur Wasser, nichts als Wasser, das ist nicht ganz richtig – sehen Sie doch!« Sie hob den Kopf, und folgte mit den Augen der Richtung seiner erhobenen Hand. »Dort oben,« sagte sie leise, »ja, dort ist der Himmel.«
»Sehen Sie also, verlassen sind wir nicht. Das ist derselbe Himmel, den Sie gestern auf dem Lande sahen, und da, schauen Sie 'mal hierher – ein Vogel. Nun, nun lächeln Sie wieder, der Vogel führt Sie dem Lande näher, nicht wahr? Aber das ist eine Täuschung. Diese kleinen Seevögel begleiten uns über's Meer hinüber, und nähren sich während der Reise von den Abfällen des Schiffes.« Leise seufzend heftete sie die Augen auf das grünliche Wasser, dessen weite Flächen sich ins Unendliche auszudehnen schienen. Sie wandte sich wieder zu ihm. »Ich kann nicht dafür,« sagte sie, »mir wird kalt im Herzen bei der trostlosen Leere dort. Mir ist, als ob eine Ewigkeit mich vom Heimatslande trennte, als sei ich so klein und winzig neben dem gewaltigen Meere, und so traurig, so weh ist mir, als dürfe ich nie mehr froh werden.« Der Mann blickte in das feine Gesichtchen, das sich zu ihm hob. Eine seltsame Rührung überkam ihn. »Welch ein Gemisch vom feinfühlenden poetischen Weibe und von reinem Kinde vereint sich in diesem kleinen Wesen,« dachte er. Laut entgegnete er: »Das macht das Neue. Es ist dies gewiß Ihre erste Seereise?«
»Ja wohl, meine erste, und ich hatte es mir so heiter gedacht.«
»Für eine so junge Dame, wie Sie es sind, gehört viel Mut zu dem Entschluß, allein über den Ozean zu fahren und sich den Stürmen des Meeres preiszugeben!«
»Das war Zufall,« erklärte sie. »Ich sollte in dem Schutz einer uns bekannten Familie bis nach Hamburg reisen. Wir leben im Westen, in Missouri, jene in Georgia. Wir verließen die Heimat acht Tage, bevor das Schiff abfahren sollte, um noch einige Städte zu besuchen, denn mein Papa ist Geschäftsmann, und wollte nebst dem mir zugedachten Geleit noch einige geschäftliche Angelegenheiten dortselbst besprechen. In New-York angelangt, erwarteten wir mit Bestimmtheit jene Familie zu finden, die mich mitnehmen sollte. Statt ihrer aber fanden wir unter den aus der Heimat uns nachgesandten Briefen einen, der die Nachricht von der plötzlichen Erkrankung des einzigen Kindes der Familie brachte. Unsere Freunde schrieben, daß sie ihre Reise um einige Wochen hinausschieben müßten und sprachen die Hoffnung aus, daß ich mich dann anschließen würde. Durch unsere frühe Abreise von zu Hause erhielten wir die Nachricht erst am Tage meiner Einschiffung! Es ist also Zufall und nicht mein Verdienst, daß ich allein reise. Zudem wurde uns gesagt, daß die Menschen unter einander sehr liebenswürdig seien auf einer Seereise, und nach Deutschland sollte ich nun einmal, weil ich kränklich bin – so bleich – sehen Sie nur!« Sie zeigte ihm ihre beiden feinen Hände.
Weiß, sehr weiß und wohlgeformt waren sie, und die Augen des Beschauers schweiften unbewußt bewundernd von ihnen weg über die zarte Gestalt des Mädchens, das mit solch reizender Einfachheit ihre Erklärung beendete. Die Sonne war aufgegangen. Ihre warmen Strahlen senkten sich wohlthuend auf die beiden Menschen herab, die wohl mehr als eine halbe Stunde in der feuchten, kühlen Morgenluft gestanden hatten.
»Wann fängt's denn an zu schaukeln,« fragte sie, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gestanden.
»Das läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen,« erwiderte er, »haben Sie Sehnsucht danach, die Seekrankheit kennen zu lernen?«
»Die fürchte ich nicht,« war die rasche Antwort.
»Sie vertrauen wohl auf den Schiffsarzt?« lächelte er.
»O nein, auf den am wenigsten. Gerade dieses Schiff soll einen abscheulichen Arzt haben. Mir wurde erzählt, er sei ein unfreundlicher, arroganter Mensch, der sich ungern bemühen lasse. Meinethalben mag er's sein, ich werde ihn gewiß nicht belästigen. Kennen Sie ihn?«
»Ja.«
»Ist er so, wie man ihn schildert?«
»Ich weiß Ihnen darauf wirklich keine rechte Antwort. Wenn ich Ihnen sagte, ›ich kenne ihn, er ist ein entsetzlicher Mensch,‹ so könnten Sie glauben, das Urteil entspringe gehässiger Zunge, und sagte ich Ihnen wiederum ›er ist ein durchaus leidlicher Mensch,‹ würden Sie meine Ansicht für maßgebend erachten? Ich glaube nicht.«
»O doch,« rief sie lebhaft, »ich habe zu Ihnen so viel Vertrauen, daß –« sein Auge traf das ihre. Stockend, errötend senkte sie die Blicke und schwieg.
Er legte seine Hand auf die des Mädchens und neigte sich zu ihr, als er leise sprach: »Vertrauen haben ist kein Unrecht, mein kleines Fräulein. Sie dürfen ruhig weiter sprechen.«
»O, ich wollte nur sagen, daß ich Ihnen alles glauben würde, Sie sehen aus, als könnten Sie nicht anders als gerecht sein, aber woher kennen Sie den Arzt? Reisten Sie schon einmal auf diesem Schiff?«
»Mehr wie einmal,« entgegnete er, »und der Arzt mit mir! Versprechen Sie mir,« rief er plötzlich, »im Falle Sie seiner bedürfen, so zögern Sie nicht, ihn zu belästigen!« Seine Stimme hatte wieder den eigentümlichen Wohllaut. Ohne sich darüber Rechenschaft geben zu können, fühlte sie sich in einem Bann, wenn er sprach. Seltsam, ganz seltsam ward ihr zu Mute. Etwas wie Beklemmung, Bangigkeit bemächtigte sich ihrer – sie wollte sprechen und dennoch schwieg sie.
Wieder diese verlockende Stimme. »Nicht wahr, Sie werden nicht zögern, wenn Ihnen etwas ist, den Arzt zu rufen? Sagen Sie nein.«
Sie fühlte seine Blicke auf ihr ruhen; er hielt ihr die Hand hin; wie von einem Magnete gezogen hob sie die Augen zu ihm auf. Dann legte sie schweigend, zusagend ihre kleine Hand in die seine.
Das Frühstück war vorüber. Der Kapitän hatte einige heitere Anekdoten erzählt, die nötige Anerkennung in Form des herzhaftesten Gelächters war ihm seitens der Gruppe von andächtigen Zuhörern, meistens aus älteren Herren bestehend, geworden. Diesem oder jenem Passagiere noch ein freundliches Wort zurufend, war er aus dem Salon in den langen Korridor getreten, wo ihm ein kleines Kind in den Weg kam, das er lachend in die Höhe hob, dann niedersetzte und jagte, dann haschte, dann wieder jagte, zur großen Befriedigung der Mutter, einer bleichen Frau, die lesend im Deckhäuschen saß. Mit dem Kapitän entfernten sich etwa vier Herren, um sich ins Spielzimmer zu begeben. Die weiblichen Passagiere saßen in Gruppen umher, teils mit Handarbeiten beschäftigt, teils lesend oder sich von ihren Kindern erzählend. Eine ganz unerwartete Senkung des oberen Endes des Dampfers ließ in der Thätigkeit der Nadeln, der Augen und der Zungen der Damen eine Stockung eintreten und angstvoll blickte man nach den Kindern.
Am Abend des folgenden Tages bot das Verdeck einen traurigen Anblick.
Mit Ausnahme von zwei Klappstühlen, die tief unter doppelten Plaids und Shawls ihre bleichen Insassen, zwei Herren, bargen, war das Verdeck leer.
Doch nicht, ganz oben an der Spitze des Deckes lag ausgestreckt auf der Bank ein junges Mädchen. Ein Kopfkissen zu Häupten, ein Plaid über die Füße gedeckt, so lag sie mit geschlossenen Augen und bleichen Wangen. In den auf der Brust gefalteten Händen hielt sie ein Buch. Der Wind wehte heftig, die Wellen schlugen hoch und spien wie die ungezogenen Kinder ins Schiff hinein. Ein Steward, der soeben dem einen Herrn einen Cognac gebracht hatte, ihn dann in den unteren Salon geführt, trat auf das junge schlafende Mädchen zu und redete sie an. Sie öffnete die Augen und erwiderte auf seine Frage, ob sie nicht lieber hineingehen wolle, da es anfange zu regnen, höflich aber ablehnend, es sei ihr oben wohler. Dann schloß sie die Augen wieder. Wie lange sie gelegen haben mag, sie wußte es nicht; als sie erwacht, bemerkte sie, daß es tief dunkle Nacht und der Regen heftiger geworden war. Leicht erschauernd versuchte sie, sich zu erheben. Kaum stand sie jedoch, als eine heftige Welle das Schiff hob, dann wieder senkte. Unter dem Einfluß dieser Bewegung mußte sie zuerst einen Seitensprung machen, wurde gleich darauf zurückgeschleudert und zwar in die Arme eines Herrn, der dort erwartungsvoll gestanden haben mußte.
»Nun, wie ist's,« fragte eine wohlbekannte Stimme, »schaukelt's genug?«
Er hielt sie umfangen und wiegte sich von Seite zu Seite harmonisch mit den Bewegungen des Schiffes. Als sie in der tödlichsten Verlegenheit schwieg, beugte er sich herab, um ihr ins Gesicht sehen zu können, und sagte ernst: »Soll ich Sie hinunterführen, mein kleines Fräulein? Nur mache ich Sie darauf aufmerksam, daß die drückende Luft in den unteren Sälen Sie wieder krank machen wird, ich rate Ihnen daher, sich lieber von mir stützen zu lassen und so lange wie möglich oben zu bleiben, wollen Sie?«
Ob sie wollte! In diesem Augenblicke hätte sie ins Wasser springen wollen, wenn er es ihr geraten. Er wartete ihre Antwort nicht ab. Den Arm um ihre Schultern gelegt, führte er sie an das Gitter, welches die erste Kajüte von der zweiten trennt. Dort war sie durch das Deckhaus vor dem heftigen Wind geschützt. Er stellte sich vor, ihre Hand noch immer haltend. »Waren Sie sehr krank?«
»O ja,« sagte sie, »und sehr trostlos.«
»Und Ihr Versprechen, im Falle Sie leiden, mich rufen zu lassen?« katechisierte er weiter.
»Mein Versprechen, Sie rufen zu lassen,« wiederholte sie langsam. »Ich verstehe Sie nicht. O mein Gott – Sie sind der Arzt,« rief sie, und in dem Ton lag ebensoviel Schrecken, als habe sie entdeckt, daß er ein entsprungener Galeerensträfling sei. »O, ich unvernünftiges Mädchen: Sie werden meine unartigen Reden wohl nicht vergessen können?«
»Schwerlich,« entgegnete er lächelnd. »Sie müssen mir schon verschiedenes sagen, bevor ich's versuche. Zunächst möchte ich Ihren Namen wissen, ich lese nie eine Schiffsliste.«
»Lora, Lora Vandyke. Fragen Sie mehr, ich möchte so gern gut machen, was kann ich thun?« bat sie.
»Vor allen Dingen versprechen, fest versprechen, mich baldmöglichst in meiner Eigenschaft als Arzt zu ›belästigen‹.«
»Dazu müßte ich doch erst wieder krank werden,« lächelte sie.
»Sie werden sich dazu keine besondere Mühe zu geben brauchen, die Gelegenheit wird sich bieten,« meinte er.
»Ach, es kommt also noch ärger, noch stürmischer?«
»O ja, bedeutend, bis jetzt war's nur eine kleine Probe, mein Fräulein. Ich sehe Sie schon, wie Sie mit aufgelösten Haaren und bleichen Wangen sich zu mir flüchten werden, hilfesuchend, und ich bin so boshaft, mich auf diesen Augenblick zu freuen.«
»Waren Sie nie seekrank? Wie lange fahren Sie schon?« fragte sie, wie ein Kind, eine Frage über die andere vergessend.
»Welche Frage befehlen Sie, daß ich zuerst beantworte?« fragte er lächelnd.
»Ach, beide.«
»Gut, also beide. Auf meiner ersten Seereise, die ich vor zehn Jahren machte, wurde ich krank. Es war aber auch sehr stürmisch. Ich war auch leidend. Die See hat mich völlig wieder hergestellt.« Sein Ton wurde ernst, wie ihr schien sogar traurig.
»Wo ist Ihre Heimat? ich meine Ihre dauernde Heimat?« fragte sie.
»Eine Heimat habe ich nicht,« klang die tiefe Stimme, »ich sagte Ihnen ja schon, daß ich keine Angehörigen besitze, ich habe auch keine Heimat. Wenn das Schiff vor Anker liegt, und sie alle: Seeleute und Matrosen, zu den ihrigen zurückkehren, verbleibe ich, wie ein bestraftes Schulkind, auf dem Dampfer. Einmal glaubte ich mir eine Heimat gründen zu können« – er seufzte tief – »es ist lange her und das interessiert Sie nicht.«
Sie antwortete nicht. Nur beide Hände legte sie hastig auf seinen Arm, und in den braunen, voll zu ihm aufgeschlagenen Augen lag eine stumme Bitte. Er begann:
»Ich war Student der medizinischen Fakultät. Meine Mutter lebte noch, als ich eines Tages zu einer bekannten Familie gerufen wurde, um mit meinen schwachen Kenntnissen der Medizin auszuhelfen, da ihr Familienarzt verreist und die alte Dame, Freundin meiner Mutter, schwer erkrankt war. An ihrem Bette saß die aus der Pension heimgekehrte Tochter, ein schlankes goldblondes Mädchen, einige Jahre älter als ich. Ich widmete der Kranken meine vollste Aufmerksamkeit. Die Dame genas. Man lobte meine Behandlung und nannte mich ihren Erretter. Der Verkehr unserer beiden Familien wurde inniger. Lea, so hieß die Tochter, war still und ernst. Ich war es auch. Wenn ich öfters in den Dämmerstunden zu ihren Füßen auf niederem Schemel saß und ihr von meiner Zukunft sprach, die ich immer und immer mit der ihrigen verband, und sie stillglücklich lächelnd mit ihrer weißen Hand mir übers Haar fuhr, dann glaubte ich auf der Welt keinen Wunsch mehr zu haben, als daß diese Stunden ewig dauern möchten! Wir hatten niemals von Liebe gesprochen, wozu auch Worte! Wußten wir doch beide und fühlten, was in unseren Herzen lebte. Meine Mutter erkrankte. Ein bösartiges Fieber raffte sie nach drei Tagen unsäglichen Leidens dahin. Lea hatte mir in der Pflege der Verstorbenen treulich zur Seite gestanden. Die Hand der Sterbenden lag segnend auf unseren Häuptern. Ich war allein! Am Tage nach der Beerdigung sprachen wir zum erstenmal bestimmtes über unsere Zukunft. Sofort nach Beendigung meiner Studien, in einem halben Jahre also, wollten wir uns vermählen und das Haus meiner Mutter beziehen.« Er hielt inne, holte tief Atem, fuhr dann langsam fort. »Die Anstrengung der Nachtwache, die starke Nervenerregung, endlich die nasse Fahrt nach dem Kirchhof, alles zusammen mag wohl dazu beigetragen haben, daß Lea, ein schwachorganisiertes, schmächtiges Mädchen, einige Tage nachdem wir die Mutter zur Ruhe bestattet, an demselben Fieber erkrankte und nach acht langen, langen Nächten – fortging – und mich zurückließ, vereinsamt, verzweifelnd. Es hielt mich nicht mehr in der Heimat, wo alles mich an die Teuren erinnerte. Mein Lebensglück war zerstört, ich mußte fort. Ich hatte erfahren, daß ein Kollege von mir als Schiffsarzt angestellt worden war. Auf dem Meere, dachte ich, auf dem wilden brausenden Meer, dort ist vielleicht ›Vergessen‹. Mit fieberhafter Hast warf ich mich über meine Studien her. Ich machte mein Examen. Die höchsten Atteste standen mir zur Seite. In kurzer Zeit erhielt ich die Ernennung zum Schiffsarzt. Als ich in voller Thätigkeit das schöne, unendliche, gewaltige Meer kennen lernte, da fühlte ich zuerst wieder, daß das Leben noch Wert hat. Zehn Jahre sind darüber hingegangen. Ich bin ruhig geworden. Manchmal packt's mich mit unsagbarem Weh – ein Gefühl von Vereinsamung schnürt mir das Herz zusammen, wenn wir uns dem Lande nähern. Draußen auf dem Wasser, da wird's hier drinnen erst wieder ruhiger.« Er hatte die Rechte auf die Brust gelegt und mit einer ihm eigenen heftigen Geberde des Kopfes das volle Haar aus der Stirne geschüttelt.
Es war spät geworden. Sie schwiegen beide. In dem kleinen Deckhäuschen waren die Lichter bereits gelöscht. Der Mann fühlte, wie eine weiche Mädchenhand leicht über sein Haar fuhr, hörte die leise geflüsterten Worte »gute Nacht – ich danke Ihnen« und bevor er es hindern, bevor er ihr behilflich sein konnte, war sie an ihm vorüber in die untere Kajüte gehuscht.
Drei Tage waren vergangen. Sie hatten sich nicht wiedergesehen. Die Fahrt war stürmisch geworden. Die meisten Deckpassagiere lagen krank. Der Arzt hatte alle Hände voll zu thun; vorzüglich fand er unter den Armen im Zwischendeck Beschäftigung. Ein Kind war schwer erkrankt – die schlechte Luft, der ungesunde Dunst des großen, aber niederen Schlafraumes, in dem Männer, Frauen und Kinder nebeneinander zu liegen kamen, hätten den Zustand des leidenden Kindes verschlimmert – es wurde also auf Anordnung des Arztes in das sogenannte »Hospital« geschafft, ein Raum, auf dem Korridor der zweiten Kajüte gelegen, wo es reinlich gehalten, sorglich gepflegt werden konnte, und wo es in der unbedingten Nähe des Arztes sich befand.
Fräulein Lora mußte sehr krank sein. Oft, sehr oft, entschlüpfte er dem Krankenzimmer, um sehnsüchtig suchend das Verdeck zu durchwandern. Vergebens! Sie blieb unsichtbar. Er wurde mit rücksichtsloser Aufdringlichkeit von den Erkrankten der ersten Kajüte in Anspruch genommen, ja, man scheute sich nicht, ihn des Nachts zu überfallen, eines erneuten Anfalls von Seekrankheit halber, gegen die er doch machtlos war; nur die eine, von der er sehnlichst wünschte, gerufen zu werden, sie blieb fern. Einmal erkundigte er sich bei der Mitgenossin von Loras Koje nach ihrem Befinden; er erfuhr bei der Gelegenheit, daß sie nicht seekrank gewesen sei, nur an Kopfschmerzen litte, und nicht zu bewegen sei, aufzustehen, da ihr, wie sie sagte, liegend wohler sei. Er hätte ihr so gern ein linderndes Mittel geschickt; er kannte die Qualen der sogenannten »Seekopfschmerzen«; doch sein Stolz verbot ihm, seine ärztliche Hilfe aufzudringen.
Wieder war es Nacht. Die Reisenden hatten sich zur Ruhe begeben. Alle Lichter waren gelöscht, bis auf das eine, das stets des Nachts im Salon matt zu brennen pflegte. Über den Häuptern der noch nicht Entschlafenen dröhnten geräuschvoll die Schritte der Seeleute, die mittelst einer geknoteten Leine die stündlich zurückgelegte Meilenzahl erforschten. Die Leine mit dem Bleigewicht wurde ins Meer geworfen. Von Knoten zu Knoten zählte eine Meile. In längeren Zwischenräumen wurde die Leine, naß und schwer, von den Matrosen aufgewunden. Vornüber gebeugt zogen sie dieselbe auf ihren Schultern nach sich. Es wiederholte sich dieses Schauspiel täglich einigemale, dennoch entbehrte es nie der Zuschauer, die der Operation mit großem Interesse folgten.
Auf der See, abgeschlossen von alle dem, was in der Welt vorgeht, auf sich selbst und die nahe Umgebung der Mitreisenden angewiesen, hat man naturgemäß ein Interesse für all und jedes. Man klammert sich auf der Seereise an jede Kleinigkeit, die besprochen werden könnte. Da man keine fortschreitenden Ereignisse in Erfahrung bringt, so ergreift man eben die unwesentlichen Dinge, die sich auf dem Dampfer bieten, und behandelt sie mit demselben Eifer, wie man auf dem Lande etwa politische oder Börsenangelegenheiten bespricht.
Zu den spannendsten Neuigkeiten der Reise gehört denn in erster Linie die Zahl von Meilen, die zurückgelegt worden sind, also die Knoten der Meßleine. Darum störten auch in dieser Nacht die dröhnenden Schritte der Matrosen die müden Reisenden nicht, sondern trösteten sie vielmehr mit der Hoffnung, am folgenden Tage eine Neuigkeit zu erfahren.
Eine Stunde später! Der Kapitän mißt mit unruhigen Schritten das Verdeck. Mit zusammengezogenen Braunen blickt er hinaus in die nebelumzogene Nacht. Der erste Offizier nähert sich ihm, erhält einige Anweisungen, tritt dann an seinen Posten zurück. Seinen Regenmantel fester um sich ziehend, besteigt der Kapitän die wenigen Stufen, die zu dem kleinen Pavillon hinaufführen, zu dem nur er selber Zutritt hat, und den er nur dann besteigt, wenn das Schiff seiner speziellen Anleitung und Fürsorge bedarf. Ein heftiger Nordwind hat sich erhoben, der pfeifend das Schiff umkreist. Das Marssegel hatte sich losgerissen, und schlug nun, vom Winde gepeitscht, dröhnend gegen Taue und Mast. Hochauf bäumt sich das Schiff, mächtig rollen und zischen und poltern die Wellen dagegen, und leise, wie eine Klage, tönt der Pfiff des Schornsteins, in abgestoßenen kurzen Tönen, den andern Seglern zur Warnung! Bleich, ängstlich fahren die Passagiere aus ihren Betten, blicken sich an und nicken verständnisinnig; keiner wagt das Wort »Sturm« auszusprechen. Da erscheint die breite Gestalt des Arztes im Salon. Die geängstigten Passagiere erblickend, lächelt er, und auf ihre bangen Fragen, »ob's denn wirklich jetzt schlimm gehe,« beruhigt er sie mit der Versicherung, daß der Kapitän selbst auf dem Pavillon sei und keinen Sturm voraussehe. Das Alarmsignal sei nur um des Nebels willen, der sich übrigens auch schon verziehe. Getröstet legen sie sich wieder zur Ruhe. Nicht so der Arzt. Mit verschränkten Armen lehnt er sich gegen die Wand, die eine Koje von der andern trennt, und blickt unverwandten Auges auf die gegenüber liegende Kajüte, von der soeben eine kleine Hand den schweren Vorhang zurückschiebt und eine Mädchengestalt erscheint: – Lora.
Vollständig angekleidet, das aufgelöste Haar weit über den Rücken hinunterwallend, stand sie einige Augenblicke gegen den Sessel gelehnt, der neben ihr stand. Sie wartete, bis das Schiff das Gleichgewicht wieder erlangt hatte, dann erhob sie den Blick zu dem Manne, dessen Augen mit Teilnahme und Besorgnis auf ihr ruhten, und schritt rasch auf ihn zu. Ohne seine Stellung zu verändern, nur die eine Hand ihr entgegenreichend, erfaßte er sie und zog sie dicht an seine Seite. Keiner von beiden wunderte sich über die Anwesenheit des andern. Es erschien jeder, den andern dort zu finden, gewiß.
Der Dampfer machte einen gewaltigen Satz. Der junge Mann legte seinen Arm um die Schultern des jungen Mädchens, neigte den Kopf zu ihr, und berauschend wirkte der tiefe Ton seiner Stimme auf sie, als er leise sprach: »Fürchten Sie sich, Lora?« Beim Klang ihres Namens zuckte sie leicht zusammen. Den Kopf hebend, erwiederte sie leise, fast schüchtern: »Jetzt nicht mehr.«
»Jetzt nicht mehr,« wiederholte er vorwurfsvoll. »Sie haben sich also gefürchtet und sind nicht gekommen? Krank waren Sie auch, und Sie riefen mich nicht? War das recht?«
»Recht, recht! O Herr Doktor. Wenn Sie mir doch sagen wollten, was recht ist! Als es diese Nacht so recht stürmisch zu werden drohte, da überkam mich plötzlich eine Todesangst, nicht vor dem Sturm, sondern vor mir selber. Ich hatte seit vier Tagen nicht ein einzigesmal an die Meinen zu Hause gedacht. Ich habe des Abends vergessen, für sie zu beten. Ich wußte nichts, als daß ich ein pflichtvergessenes Mädchen bin, und doch konnte ich nicht anders sein, es zwang mich etwas, ich konnte an nichts denken als an« – sie stockte, warf plötzlich beide Hände vors Gesicht – und schluchzte laut. Ebenso rasch aber trocknete sie ihre Augen und sprach leise, bang wie ein Kind: »Wenn ich früher, zu Hause, unartig gewesen war, und es brach plötzlich ein Gewitter los, dann pflegte meine Mama zu sagen: ›Jetzt kommt die Strafe für deine Unart.‹ Ich glaubte auch immer daran, und heute Nacht, als der Wind so heulte, da war mir's als höre ich die Mutter sagen: ›Wer Vater und Mutter vergißt, dem zürnt der liebe Gott‹ – und ich, ich hatte ja alles, alles vergessen, mir mußte der liebe Gott ja zürnen.« Sie hatte die ersten Worte leise, zaghaft gesprochen, jetzt nahm ihre Stimme einen leidenschaftlich erregten Ton an, der sie erschreckt inne halten ließ. Ihre Brust wogte, ihr Atem ging rasch, die kleine Hand, die er wieder erfaßt hatte, zuckte fieberhaft. Sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, fuhr sie fort: »Die Dame, die mit mir die Koje teilt, weinte und betete. Ich versuchte anfangs auch zu beten – aber ich konnte nicht – es trieb mich hinaus – ich wollte – zu Ihnen kommen! Ich wollte Sie fragen, ob's sehr unrecht war, daß ich etwas that, was – was« –
»Lora,« unterbrach er sie und seine Stimme zitterte, »wenn Sie etwas thaten, weil Sie Ihr Herz dazu trieb, dann war es kein Unrecht.« Er stockte, wandte sich plötzlich und schlang beide Arme um sie, während er flüsterte: »Und wenn du seit vier Tagen unaufhörlich an mich denken mußtest, so konntest du nicht dafür, weil du mich liebst, mein süßes Kind, wie ich dich liebe, und weil du mein bist, du kleines, banges Geschöpfchen, mein auf immer und ewig!«
Beide Arme um seinen Hals geschlungen, lag sie an seiner Brust. Eine Weile preßte er sie an sich, dann sprach er: »Nun sieh mich mal an, Lora, mich, den abscheulichen Schiffsarzt, den du so lieb hast, daß du um ihn das Leben vergißt.« Den Arm um sie legend führte er sie an ihre Kajüte, dann blieb er stehen, faßte ihren braunen Kopf zwischen seine Hände, hob ihn hoch, küßte sie auf die Lippen und sagte leise: »Nun wird mein Lorchen wieder an die Mama denken können – nun wird sie auch wieder beten lernen, nicht wahr? Gute Nacht, schlafe jetzt. Ich muß zu einem kleinen kranken Kinde und Lora muß schlafen,« fügte er sanft aber entschieden hinzu, als ihre kleinen Hände die seinen umklammerten, als wolle sie ihn halten, »sonst habe ich morgen zwei Patienten.«
Als der Morgen graute, war das Meer still und glatt, der Himmel wolkenlos. Die Sonne schien hell und warf ihre Strahlen auf das blaue Meer hernieder, daß es wie Gold erglänzte.
Zwei Jahre später. Auf dem Verdeck eines Dampfers, der von Havre abstieß, stehen zwei Menschen eng aneinander gelehnt. Ein hochgewachsener dunkler Mann, ein zartes, schönes Weib. Sein Kopf neigt sich zärtlich zu ihr nieder; er flüstert leise Worte, die sie erröten lassen. Den Arm um sie schlingend führt er sie zur äußersten Spitze des Dampfers und bleibt hinter dem Maschinenhäuschen stehen, um das Meer zu betrachten. Es ist Abend, eben erhellt der Mond das Dunkel. »Sieh doch, Max,« spricht die kleine Frau, den Kopf von seiner Brust hebend und sich über die Brüstung des Schiffes neigend, »sieh doch ins Wasser, ist's nicht gerade als funkelten Sterne dort unten?«
»Jawohl, so sieht es aus,« antwortete die tiefe Stimme des Mannes, »und wenn eine gewisse kleine Dame vor zwei Jahren nicht so verliebt gewesen wäre, daß sie taub und blind wurde für jedes poetische Gebilde auf dem Meere, so hätte sie das wunderbare Spiel der Sterne schon damals kennen gelernt.«
»Daran erinnerst du mich vorwurfsvoll,« schmollte sie, »ich schäme mich des Gefühls durchaus nicht, ich weiß erst, wie süß das Leben ist, seit ich die Liebe kenne.«
»Mein Lorchen!« Seine Stimme hat an Wohlklang nicht verloren, sie wirkte noch ebenso berauschend auf das junge Weib wie damals, als sie, ein halbes Kind noch, sich gegen den Zauber sträubte und wehrte. Der Mond wirft sein gelbliches Licht auf ihre feine Gestalt und erhellt den Glanz ihrer Augen, als sie, sich innig an ihn schmiegend in dem leisen kindlich reizenden Ton von früher spricht: »Max, sage die Wahrheit, liebst du mich ebenso innig, als du damals Lea liebtest?« Er umschlingt sie leidenschaftlich.
»In meinem Herzen,« spricht er, »lebt nur ein Bild, das meiner Frau. Bist du zufrieden?«
Wie ein schmeichelndes Kind lehnt sie den Kopf an seine Brust und streichelt mit der kleinen Hand seinen Arm. »Darf ich nun auch etwas fragen, gnädige Frau?« lächelt er. »Wie steht es mit dem Schiffsarzt? Ist er ein abscheulicher, arroganter Mensch? Lorchen, du hast's doch verdient, daß ich dich, deiner Schmähungen halber, auf ewig an ihn kettete, nicht?«
»Wenn du es darum thatest, so danke ich Gott, daß er mich so strafte,« flüsterte sie leise, innig.
»Meine kleine Heilige!« Sich umschlungen haltend blickten sie lange hinaus in das glänzende sternenbesäete Meer.
»Norine, Norine! Wo steckt sie nur wieder?«
»Ja – ruft Ihr nur!« Die Gerufene hockt – die Füße dicht an den Leib gezogen, eng zusammengekauert – in der dunkelsten Ecke des im Hofe gelegenen Katzenstalles und horcht mit trotzig aufgeworfenen Lippen in souveräner Nichtachtung auf die Rufe der alten Köchin. »Könnt immerfort rufen!« sagt sie entschlossen leise, und ihre jungen Katzen an sich ziehend, brütet sie sich fest und immer fester in ihren Entschluß hinein. Ja – sie war mit sich einig. Sie würde sie nicht empfangen. Es hätte des zufällig von ihr überhörten Ausspruchs der alten Köchin, »daß Stiefmütter alle Hexen seien«, nicht erst bedurft, um sie zu bestimmen, nachdem sie Paul Dierkes, des Bäckers Jungen, hatte auf der Hintertreppe des Ladens sitzen und zur Mittagsstunde eine unbestrichene harte Semmel verzehren sehen.
»Wenn man eine rechte Mutter hat,« philosophierte sie, »so bekommt man ein warmes Mittagbrot in einer Stube, und braucht nicht, wie der arme Paul Dierkes, eine unbestrichene Semmel – – und auf der Hintertreppe« – Norine wußte es eigentlich selbst nicht, wie es unter der Leitung einer »rechten« Mutter zuging. Sie hatte die eigene nicht gekannt – Norine wußte auch nicht, daß der vielbeklagte Paul Dierkes an ebendemselben Tage einige Kuchen aus dem Bäckerladen heimlich entwendet hatte, welcher Thatsache er es dankte, daß er zu Mittag eine Semmel verzehrte, aus Furcht vor der Strafe, die ihn gerechterweise von seiten der Eltern bei seiner Heimkehr treffen mußte.
Norine saß also – während die Stiefmutter erwartet wurde – zusammengekauert in dem Stall bei ihren Katzen. Der aus Brettern aufgebaute, sehr zerfallene Raum mochte vor Zeiten eine Wagenremise vorgestellt haben – spätere Bewohner des Hauses hatten ihn zur Herberge eines Pferdes eingerichtet, und jetzt diente er endlich der Familie Raimond als Holzkammer, während Norine sich darin eine Abteilung für ihre Katzen reserviert hatte – die sie allmählich ausdehnte – so daß nur noch ein geringer Teil des Stalles dem Hause, ein großer aber dem Kinde als Spielort diente. An dieser Stelle durchlebte Norine die Freuden und Leiden ihres jungen Daseins. An dieser Stelle pflegte, fütterte, unterhielt sie ihre alte Mietz und deren schneeweiße Jungen – an dieser Stelle empfing sie, gegen das Verbot des Hauses, ihren Spielkameraden Paul – an diese Stelle endlich trug sie ihren Zorn bei der Vermeldung des väterlichen Entschlusses, dem Hause eine Vertreterin und ihr – Norine – eine zweite Mutter zu geben. Und diese Vermeldung! Sie war ebenso kurz und zerstreut und gütig gemacht worden, wie der Vater eben alles machte, was ihn von seinen Büchern ablenkte. Er hatte allerhand dem Kinde unverständliches gesagt von Vormundschaft einer gebildeten Dame, deren Mutter plötzlich gestorben – von Pflichten als langjähriger Freund der Toten und von ernstester Sympathie und dergleichen mehr. Norine hatte halbverwirrt zugehört und den Vater abreisen sehen, und von irgendwoher war eine Meldung angelangt, die seine Verheiratung ankündete. »Komme in drei Tagen an!« hatte der Bericht gelautet und seither rannten die alte Doris und die schnippische Lisbeth fortwährend treppauf treppab, um zum Empfang der neuen Herrschaft alles »blank« zu machen, wie Doris sagte. Ja, sie konnten rennen! Norine hatte sich die Sache nach allen Seiten beleuchtet – das Endresultat blieb dasselbe. Sie brauchten keine Frau im Hause. Was sollte sie da? Der Vater hatte ja seine Bücher und sein Essen brachte die Doris immer zur rechten Zeit, und seine Kleider wurden auch manchmal gebürstet. – Das hatte Norine gesehen. Wozu brauchte man also eine Frau? Norine hatte gehört, wie eine Nachbarin zur alten Doris sagte, »es sei Zeit, daß das Kind eine Mutter bekäme.« – Das Kind! Damit hatte man sie gemeint. Na, sie wollte ihnen allen schon zeigen, daß sie keine Mutter brauchte, und da konnten Doris und die schnippische Lisbeth sich zum Empfang der neuen Dame immer putzen. Sie rührte sich noch nicht einmal von ihren Katzen weg, und wenn sie noch so zottelig um den Kopf wäre und noch so beschmutzt vom spielen. Norine besah sich die kleinen Hände. Ja, beschmutzt waren sie, aber das war ihr eben recht so. Wen kümmerte es, wenn – horch! Wagengerassel. Norine bog den Nacken horchend vor. Ja – richtig! Da marschierten auch schon Doris und die Lisbeth mit den Feldblumensträußen aus der Küche herauf.
»Norine! Norine!«
»Ja – ruft nur!« Das Kind hat mit dem Ausdruck großer Selbstzufriedenheit ihre Kätzchen an sich gelockt. »Die kann lange rufen,« flüstert sie dem einen Tierchen ins Ohr und kichert verstohlen in sich hinein.
»Norine, der Wagen kommt. Wo bist Du?« Die Stimme erschallt im Hinterhof. Das Kind bleibt unbeweglich sitzen, die Blicke fest und trotzig auf die Thüre geheftet. Sie fährt im nächsten Augenblick zusammen, da Doris vor ihr steht.
»Norine – du läßt mich immerfort rufen. Komm' rasch – der Wagen –«
»Laß ihn kommen!«
»Aber du mußt doch wenigsten gewaschen –«
Das Kind hat sich erhoben. »Ich will nicht!«
Die Alte kennt die Haltung und den Blick. Wenn Norine mit so steifem Körper vor ihr steht – wenn die dunklen Kinderaugen so starr in die ihren sehen – dann ist der Kleinen durch nichts beizukommen. Sie wagt es dennoch mit ganz leiser Mahnung:
»Norine – dein Vater hat gewünscht, daß du –«
»Ich sage dir, ich will nicht!« In den tiefdunkeln Augen blitzt es auf. Die kleinen Hände sind geballt. Doris steht einen Augenblick noch zaudernd vor ihr – dann hört sie nahendes Geroll von Rädern und geht kopfschüttelnd zur Hausthüre hinauf, um dort mit Lisbeth ihre neue Herrschaft zu empfangen.
Norine ist leise auf ihren Platz zurückgekehrt. In ihrem Arm hält sie zwei ihrer weißen Lieblinge – zu ihren Füßen schnurrt die alte Mietz und blinzelt fast verständnisinnig zu der kleinen Herrin auf.
Das Kind ist ernst geworden. Mit vorgebeugtem Nacken horcht es auf das Geräusch, das vom vorderen Hausflur zu ihr dringt. Zuerst Schleifen von Koffern – dann das Öffnen der Salonthüre, die der Thätigkeit ungewohnt, in ihren Angeln knarrt – darauf der Lisbeth piepsende Stimme, die zum Eintreten lud und – – Norine drückte in einer Aufwallung von heftiger Zärtlichkeit ihre Katzen an sich.
»Hört Ihr's? Hörst du's, Mietz, was sie für'n Lärm machen um eine wildfremde Frau, die 'ne Stiefmutter ist und die uns alle hassen wird, und die sofort versuchen wird, uns zu trennen? Paul Dierkes weiß das; er hat's gesagt, daß alle Stiefmütter Katzen hassen und daß sie Euch heimlich fortbringen wird, aber – ich werde aufpassen – ich leid's nicht, mein Mietz, ich leid's nicht!«
Das Kind hatte diese Worte mit energischem Zurückwerfen seines verwahrlosten Köpfchens gesprochen und dann hatte es wieder hinaufgehorcht auf die Stimme »da oben.«
»Das Kind?« hörte sie den Vater fragen, und gleich darauf mit atemloser Spannung die Antwort der alten Doris. Was sagte sie da? »Nicht finden können!?« Norine versetzte ihrer Katze einen verwunderten kleinen Stoß.
»O, Ihr Katzen, hört Ihr's, wie sie lügt, die gute Alte? hört Ihr's? Da, nun geht die Thüre zu. Jetzt sind sie drin. Nein – doch nicht. Da sprechen sie ja noch. Das ist des Vaters Stimme!« Das Kind muß seinen Kopf dicht an die Öffnung der Thüre lehnen, um zu verstehen.
»Hat sich versteckt – sucht doch im Hofe,« spricht der Vater und eine fremde Frauenstimme unterbricht ihn:
»O bitte – laßt sie, ich möchte sie selbst suchen!« Das mußte die neue Stiefmutter sein. Gewiß rückte sie sich ihre blaue Brille zurecht und legte die altmodische seidene Mantille ab. Na – sie sollte nur suchen kommen – das konnte sie ja, aber zum Glück hatte der Stall so verschiedene kleine dunkle Ecken, wo Norine sich mit ihren Lieblingen oft verkrochen und dahin würde Madame mit der Brille und der spitzen Nase wohl – »horch Mietze – ich höre was! Es schleicht ganz sachte an der Holzmauer entlang. Wenn das die Stiefmutter – – Mietze, rasch!«
Kind und Katzen turnten mit unglaublicher Behendigkeit über die umhergestreuten Holzblöcke hinweg, als sich vom Hofzaun her eine Stimme hören ließ und die Gestalt eines Knaben von der Mauer herab sichtbar wurde.
»Norine!« Die Gerufene blieb zögernd stehen.
»Paul Dierkes – bist du's?«
»Ja!«
»Komm' 'rüber!« Es hätte der kategorischen Aufforderung nicht bedurft. Der sehr blonde, sehr gelenke – verschmitzt blinzelnde Bäckerssproß stand schon an ihrer Seite.
»Ist sie da?« Seine Kopfbewegung nach der Richtung des Hauses hin war nicht mißzudeuten. Er meinte die Stiefmutter. Norine nickte.
»Na – wie war's?«
»Weiß nicht,« sagte die Kleine, ein triumphierendes, braunes Gesichtchen zeigend, »ich war nicht drin!«
»Ach was! Donnerschock!« Der Knabe stand ihr gegenüber.
Er blickte mit unverhohlener Bewunderung in das dunkle glühende Gesicht der Kleinen und wiederholte im Flüsterlaut seinen Lieblingsausruf: »Donnerschock!«
Sein Lob that ihr wohl.
»Komm herein,« sagte sie einladend, die Schritte in das Innere des Stalles wendend. Dicht vor ihrem Katzennest blieb sie stehen und wandte den Kopf: »Aber nicht necken,« drohte sie ernsthaft.
»Na, vor mir kannst du sicher sein,« erwiderte der Bursche grinsend, »ich dachte, die Gefahr für deine Katzen käme von dort.«
Norine hatte sich auf die Erde gesetzt und ihre Lieblinge an sich gelockt. Paul stemmte den Fuß auf eine quer über dem Boden liegende Planke und ließ sich herbei, mit überlegenem Blick auf die Tiere herabzulächeln.
»Schade!« sagte er plötzlich, ein ernstes Gesicht ziehend, und das Mädchen sah rasch zu ihm auf.
»Was ist schade?«
»O nichts – ich dachte nur so – wie schade es wäre, wenn die neue Madame es mit den Tieren so machte, wie es meine mit dem Dot« –
»Dot? War das dein Hund?« Der Knabe nickte.
»Was hat sie gemacht?« fragte Norine, gespannt aussehend und Paul machte mit der Hand die rasche Bewegung des Erdrosselns.
»Tot?« fragte das aufhorchende Kind und der Knabe erwiderte trocken: »Mausetot!«
Mit sehr erregtem Gesicht und einer raschen Geberde halb der Angst halb des Zorns umfaßte die Kleine die weiße Katzenfamilie und drückte sie schützend an sich:
»Wenn sie es wagt,« rief sie mit funkelnden Augen, »wenn sie es wagt« – der warnend erhobene Zeigefinger des Kameraden ließ sie abbrechen.
»Es kommt Jemand!« Beide Kinder standen jetzt aufrecht Seite an Seite. Beider Kinder Augen hingen an der niederen Thüre des Bretterhäuschens. Des Knaben Blicke hatten einen lauernden, die des Mädchens einen trotzig herausfordernden Ausdruck. Der Schatten der auf den Weg fiel, zeichnete die Linien einer jugendlich schlanken weiblichen Gestalt. Im Rahmen der Thüre bückte sich ein von dichten Flechten umgebener blonder Frauenkopf.
»Bist Du Norine?« Die Stimme, die da sprach, war ganz dazu angethan, Groll zu verscheuchen. Zürnende Kinderherzen geben sich dem Eindrucke jedoch nicht so leicht hin. Norine stand, die dunklen Augen fest auf die Fremde gerichtet, unbeweglich da. Trotzig, schweigend preßte sie die Lippen aufeinander.
»Also hierher hast Du Dich geflüchtet? Und das ist Dein Freund? Paul – nicht wahr? Siehst Du, Das weiß ich Alles schon!« Der Knabe schoß rasch einen Blick hoch und senkte ihn wieder, dann schob er die Hände in die Hosentaschen und grub etwas verlegen den Absatz seines Stiefels in die lockere Erde ein.
»Sind das Deine Katzen?«
Norine stellte sich plötzlich schützend davor.
»Siehst Du?« flüsterte der Knabe unter vielsagendem Augenblinzeln.
War der jungen Frau die Pantomime entgangen, oder wollte sie nichts gesehen haben? Über ihr Antlitz flog ein leichtes Rot, das sofort wieder verschwand.
»Ich möchte mir Deine Lieblinge gern genauer ansehen,« wandte sie sich an Norine, ohne den Knaben zu beachten, »aber« – hier lächelte sie ein wenig – »ich fürchte mich vor Katzen!«
»Ha – ha!« Es war eine hämische Lache, die der Knabe aufschlug, und seine Dreistigkeit gab dem jüngeren Kinde die Haltung wieder. Sie machte Miene, in sein geringschätziges Lachen einzustimmen, sah aber doch, wie von einem ihr innewohnenden Etwas gedrängt, mit großen Augen zu der jungen Frau auf.
»Magst Du gern Vögel?« fragte diese jetzt, und ohne auf eine Erwiderung zu warten, fügte sie ihrem Satz rasch noch einen bei: »Ich habe noch einen Vogel – einen goldgelben. Wenn Du ihn sehen möchtest – wenn Ihr ihn sehen möchtet« – verbesserte sie sich zögernd, »so könnt Ihr nur mit mir hinaufkommen!«
Nachdem sie gesprochen, wandte sie sich und stieg ohne Weiteres die kleine Treppe hinauf, die vom Hinterhof in das Haus führte.
Die beiden Kinder sahen sich einen Augenblick an.
»Wenn Du gehen willst« – sagte der Junge.
»Na – willst Du denn?«
»Du kannst ja gehen,« gab Paul in unlogischer Erwiderung zurück und gleich darauf, »was ist es denn für'n Vogel?«
Sie hatten sich, indem sie sprachen, gegenseitig der Thüre zugeschoben. Nun, da sie auf der Außenschwelle standen, marschierten sie ohne weitere Kommentare auf die Hintertreppe zu, und waren – ehe sie sich's recht eigentlich bewußt waren – an der offenen Thüre des für die Stiefmutter neu eingerichteten Wohnzimmers.
In der Mitte des behaglichen kleinen Raumes stand die junge Frau. Sie hatte den Rücken zur Thüre gekehrt, während sie, vor einem Vogelbauer stehend, dem zwitschernden Tierchen durch die Goldstäbe seines Käfigs ein Stückchen Zucker hinhielt.
»Kommt nur herein!« sagte sie, ohne sich umzuwenden, und Paul schob Norine mit knabenhaft verlegenem Ellenbogenstoß in das Zimmer. Er folgte langsam und hielt sich – Gleichgültigkeit heuchelnd – in der Nähe des Ausgangs.
»Er heißt Jack – mein Vogel,« sagte die junge Frau, einen freundlichen Blick auf das Mädchen werfend. Da das Kind, ohne seine feindselige Miene abzulegen, stumm zu dem gelben Tierchen aufsah, sprach auch sie während einiger Minuten nichts. Es entstand eine kleine Pause in der das Vögelchen lustig weiter zierpte und an dem Zucker pickte. Plötzlich wurde das Schweigen unterbrochen.
»Woher haben Sie'n?« fragte Paul in dreister Neugier, und die Antwort kam sehr rasch und in eigenartig tiefem Tonfall.
»So?« Es war wieder der Junge, der das kleine Wörtchen in gedehnt gleichgültiger Manier sprach, und Norine stellte – in dem Bestreben, es ihm gleichzuthun – ihre erste Frage. »Wo ist sie?«
»Sie ist gestorben,« erwiderte die junge Frau, und die Kinder bemerkten, daß sie leise – ein wenig heiser sprach. »Sie war lange krank, aber ich mußte ihr jeden Tag den kleinen Jack an ihr Bett stellen, damit sie ihn selbst fütterte. Bevor sie starb, gab sie ihn mir. Du begreifst, wie ich ihn lieben muß – und wie –« sie brach plötzlich ab. Hatte sie doch zu sehr auf das Gemüt des Kindes gerechnet, oder war bei dem trotzig dastehenden Kinderpaar der Begriff »kindliche Liebe« noch nicht erwacht?
Über das Antlitz der jungen Frau zog ein Schatten, als sie sah, wie der Knabe den Mund über den gelblichen Zähnen schief zog – wie dann das Mädchen – einen verständnisvollen Blick zu ihm aussendend – mit ihm zugleich in eine spöttische Lache ausbrach und davonlief.
Im Zimmer stützte sich die junge Stiefmutter schwer auf einen Sessel. »Es ist nicht leicht,« sagte sie leise vor sich hin – und mit der Hand über die Augen fahrend, seufzte sie einigemal tief auf, dann trat sie an das Fenster und blickte in den Hof hinab.
Sie hatte Schweres auf sich genommen. Vielleicht empfand sie das in diesem Augenblicke erst voll und ganz, denn das junge Gesicht hatte einen ernsten, sinnenden Ausdruck angenommen, der sie um Jahre älter erscheinen ließ. Die beiden Kinder waren im Hofe angelangt. Der Knabe hatte sich auf den Zaun geschwungen und Norine lehnte gegen den Bretterbau. Sie mußten wohl von ihr sprechen. Die blonde Frau erkannte es an dem störrischen, trotzigen Blick, mit dem die Kleine das Haus streifte. Wie böse konnte das Kind aussehen! Wie abwehrend kalt war seine Haltung! Wie gerade die Linie, welche die dichten Augenbrauen miteinander verband!
Die junge Frau gedachte der kleinen Mädchenschar, unter der sie seit Jahren als Lehrerin gewaltet, bei der es nur eines günstigen Blickes, eines Lächelns bedurft hatte, um sie weich und gefügig zu stimmen. Das Lächeln war ihr schwer geworden, seit dem Tage, da ihr die Mutter, die lange kränkelnde, gestorben war. Aus ihrem einsamen Herzen heraus konnte sie mutig den Entschluß fassen, einem anderen verwaisten Wesen eine Stütze zu sein, und so willigte sie gern ein, ihre Hand in die des älteren Mannes zu legen. Auf den Widerstand, den ihr sein Kind entgegengebracht, war sie zum Teil gefaßt.
»Das Wort Stiefmutter klingt herb,« hatte sie selbst ihrem Manne gesagt, als dieser ihr flüchtig von dem Trotz des Kindes gesprochen, »ich begreife, daß sie sich gegen mich auflehnt, aber ich werde ihren Widerwillen besiegen!«
Einige Zweifel an dem Erfolg mochten in ihr aufgestiegen sein, als sie so nachdenklich am Fenster lehnte und auf die Kindergesichter hinabsah. Sie öffnete leise die Flügel des Fensters und horchte hinaus auf das Gespräch der beiden.
»Ich wette,« hörte sie den Knaben höhnisch sagen, »ich wette, daß sie die Katzen ertränkt!«
»Nein,« gab das Mädchen kurz zurück.
»Du wirst ja sehen,« reizte er weiter, und vom Zaune sich hinabbeugend, spie er mit Gleichgültigkeit in den Hof hinab.
Die Kleine sann einen Augenblick nach. Dann sah sie auf. Ihre Augen blitzten. »Ich lasse sie nicht hinein,« erklärte sie.
»Ha, sie wird Dich gerade fragen!« Der Hohn, der in seiner Rede lag, machte sie ersichtlich stutzig.
»Wie meine Alte den Dot wegschaffte, that sie's in der Nacht. Deine holt die Mietz auch Nachts!«
Norines Augen wurden groß und finster.
»In der Nacht?« wiederholte sie unsicher – dann in aufsteigender Besorgnis: »da schlaf' ich ja!«
»Ja eben!« Der Knabe weidete sich offenbar an dem Angstblick der Kleinen. Er schielte lauernd auf sie herab und schnellte plötzlich hoch.
»Weißt du,« begann er, »wenn es dir eine Beruhigung ist, so bleibe ich die Nacht hier und halte Wache.«
Norine blickte atemlos zu ihm auf.
»Wo?« sagte sie, über seine unerwartete Großmut verwirrt.
»Ach – ich schlafe im Stall auf der Erde. Uns Jungens« – prahlte er großthuerisch – »uns macht das nichts. Kannst ganz ruhig sein. Wenn sie kommt und deine Katzen holen will – na, laß' mich nur machen. Ist ein Schlüssel drin?«
Es war keiner drin und der Knabe beruhigte sich auch darüber.
»Thut nichts,« meinte er, »ich baue eine Barrikade!«
Es war Abend geworden.
Aus dem Schatten der Finsternis löste sich die schlanke Gestalt der jungen Frau ab. »Der Bösewicht!« sagte sie für sich, einen letzten Blick auf den Stall hinabwerfend, in dessen Inneres der Knabe verschwunden war, und dann stand sie lange regungslos da und starrte in den dunkel werdenden Hof hinaus, bis Norine auf wiederholtes Rufen der alten Doris ins Haus trat; dann eilte sie rasch in den Korridor hinaus dem Kinde entgegen.
»Du gehst schlafen, Norine?« Das Kind sah finster auf.
»Ja,« sagte es kurz im Weitergehen.
»Willst du mir nicht gute Nacht sagen?« Ohne den Blick zu erheben, machte das Kind vor ihrer Zimmerthüre halt. Die Antwort kam hart und frostig.
»Nein!«
»Norine, du« – eine Sekunde lang schoß es glühendrot über Stirn und Wange der Frau, dann sprach sie langsam und sanft weiter: »ich habe dein Gespräch mit Paul mitangehört. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich deine Katzen –«
Ein heftiges Zuschlagen der Zimmerthüre Norines schnitt der Sprecherin das Wort ab. Norine war drin. Sie stand mit zusammengepreßten Lippen auf der inneren Schwelle und horchte auf die davongehenden Schritte der Stiefmutter.
Sie blieb einen Augenblick mit sich im Zweifel, ob das Triumphgefühl, das sie empfand, wohl ganz berechtigt war.
Es war spät geworden. Norine lag mit weitgeöffneten Augen in ihrem Bette. Die Erregungen des Tages ließen sie nicht schlafen. Es war ihr, als müsse sie wachen, um zu verhüten – nein doch – es war nicht nötig. Paul Dierkes hatte ja versprochen – Paul war ein guter Junge, ein sehr guter Junge, und sie wollte es ihm ewig danken, daß er in dem Stall auf der harten Erde – der Stallfußboden war sehr hart und nicht jeder Junge würde sich eine ganze Nacht hindurch hinkauern, blos um ihr einen Gefallen zu thun; und wach bleiben müßte er auch, denn wenn die Frau wirklich – ob sie wohl wirklich die Katzen so haßte? Ob sie es vorhatte, sie zu töten – zu ersäufen? O weh, welch ein Gedanke! Ersäufen? ihre Mietz – ihre geliebte alte Mietz, und die kleinen weißen Jungen, die so dumm und lieb mit der Schnauze herumleckten, wenn sie ihnen das Milchnäpfchen brachte – und die ganz jämmerlich schreien würden, wenn sie ersäuft – nein, nein – sie sollten nicht – sie durften nicht – Mietz würde auch kratzen – Mietz konnte kratzen, aber vielleicht würde sie die arme alte Katzenmutter heimlich von hinten packen und sie in das kalte Wasser – o nein – nein! Das Kind schrie bei dem Gedanken entsetzt auf. Mit einem Satz sprang es zum Bette hinaus und an das Fenster. Ha, wie dunkel es draußen war! Wie still! Und das Katzenhaus lag so einsam da – und ringsum regte sich nichts – gar nichts – – oder doch? – es regte sich was. Es ging jemand. Eine Gestalt kam die Hintertreppe herab und trat auf die Stallthüre zu – eine Frau war's – sie – die Stiefmutter – o Gott – die Katzen! Wenn sie herunter könnte – aber nein doch – Paul war ja da – Paul würde verhüten – o die böse Frau – die böse – die so gethan hatte, als könnte sie gut sein – gut sein – eine Frau, die den armen Tieren ein Leids anthun wollte – war nicht gut. Nur böse Menschen – nur böse Stiefmütter konnten Tiere hassen, und Katzen waren Tiere so gut wie andere, aber wie sollte sie, eine Stiefmutter, Katzen lieb haben? sie, die nie einen Liebling – doch – sie hatte ja ihren Vogel, dem sie Zucker reichte. Wie würde es ihr vorkommen, wenn jemand ihren Liebling heimlich faßte und – ha – welch ein Gedanke!
Norine stand einen Augenblick sinnend aufrecht und blickte mit finster zusammengezogenen Brauen in den Hof hinab. Der Rachegedanken, der ihr plötzlich gekommen, packte sie wie ein Blitz.
Das war's. Ja – das war's. Wenn sie meine Katzen holt – und – ja doch – da ging sie ja direkt auf den Stall zu, und jetzt – jetzt stand sie am Stalle und sprach durch die geschlossene Thüre auf Paul Dierkes ein, und er? – Paul mußte wohl Antwort geben, denn sie machte eine kleine Pause, als ob sie lauschte, und sprach von Neuem. Norine konnte nichts verstehen – sie starrte angstbeklommenen Herzens auf die Umrisse der Frau und auf die Stallthüre, die sich – war es denn möglich? – plötzlich öffnete, um Paul – Paul selbst herauszulassen. Norines Augen blitzten. Glühend heiß schoß es ihr in die Wangen. Was war geschehen? Was bedeutete das? Was hatte die Frau gesagt? womit dem Freunde gedroht? denn gedroht mußte sie haben, sonst verließ Paul seinen Posten nicht, und da – da standen sie beide – sie mit einem Fuß auf der Schwelle des Katzenhauses und Paul draußen – und jetzt würde sie hineingehen und die armen Tiere – o die Böse! die Schlechte! Norine fuhr mit jähem Ruck in die Höhe – die ganze Entrüstung ihres leidenschaftlich heftigen Herzens im Antlitz.
»Warte, du!«
Über den Korridor huschten leise Füßchen. An den Wänden entlang tappten sich unsichere Kinderhände. Die in weißem Nachtgewand dahinschleichende Gestalt der Kleinen blieb vor der Wohnzimmerthüre der Stiefmutter eine Sekunde lang horchend stehen, dann öffnete sie rasch und hastig und trat ein. Ringsum war alles still. Das Mondlicht fiel durch das offene Fenster und beleuchtete das Innere des Gemaches. Dort in der rechten Ecke stand der Käfig, jetzt mit einem leichten Battistzeug verhangen. Des Kindes Augen starrten – Leidenschaft und Haß im Ausdruck – darauf hin und rasch entschlossen riß sie das Tuch hinweg. Erschreckt flatterte das Tierchen auf und klammerte sich eingeschüchtert an den Gitterstäben fest. Des Kindes Hände faßten nach der Käfigthüre. Des Kindes Augen erglänzten triumphierend, als es, ohne zu zögern, die kleine Pforte öffnete. Anhaben konnte sie dem Tierchen nichts – aber davonfliegen sollte es – fort von ihr – damit sie spürte, was es heißt, seine Lieblinge entbehren.
»Husch – husch!« Die Kinderhand scheuchte, das Tierchen flatterte unstät – zierpte – flog empor – sank herab und endlich ängstlich dem Fenster zu – Fort war es! Norine warf den Kopf zurück. Ihr Atem ging rasch.
»So – du!« Sie flüsterte die Worte mit einem Racheblick auf den Hofraum, dann streifte ihr Auge den leeren Käfig. Die Thüre stand noch geöffnet. Das leere Innere sah still aus wie ein Sarg. Norine wurde es unheimlich, sie tastete sich eilig dem Ausgang des Zimmers zu und schrak heftig zusammen, als ihr auf der Schwelle eine Gestalt entgegentrat.
»Norine!« Der Stiefmutter Stimme. Einen Augenblick des Schreckens und das Kind drückte sich in dem instinktiven Bestreben, sich zu verbergen, in den Schatten der Zimmerecke zurück.
»Norine!« Es war vergebens. Die Frau stand vor ihr. Norine sah auf. Die weiche Ansprache der Stiefmutter ließ sie ein Übergewicht des Rechtes empfinden. Was hatte sie auch anderes gethan, als Rache geübt? Und Rache durfte sie üben – wenn man ihr so viel böses anthat – wenn man ihr ihr liebstes – ihre Mietz – heimlich ah – sie brauchte sich nicht zu verbergen, und wenn die böse Frau sie fragte, wer den Vogel –
»Norine – o Gott – der Käfig!«
Die junge Frau hatte – im Rahmen der Thüre stehend – die Unordnung im Käfig entdeckt – ihr Blick übersah das Ganze und es war ein Weheruf sowohl als eine Anklage, die ihren Lippen entfuhr. »Wer – o wer?« Norine sah einen Moment vor sich nieder. Fehlte es ihr nun doch an Muth?
O nein! Wie um sich in ihrem Entschluß zu stärken, warf sie den dunklen Kopf in den Nacken. Mit lauter Stimme, deren Festigkeit unter dem Auge der blassen Frau ins Wanken geriet, schleuderte sie ihr zornig ihre Antwort entgegen:
»Ich war's. Ich hab's gethan – so!«
»Norine!« Ein einziger schmerzlicher Ausruf – dann herrschte mehrere Sekunden lang im Zimmer Schweigen. Dem Kinde gegenüber stand die junge Frau und lehnte wortlos ihre Wange an den leeren Käfig. Ihre Brust wogte heftig – die bleichen Lippen zuckten. Als sie endlich aufsah, das Kind ansprach, vibrierte ihre Stimme vor unterdrückter Erregung. Es war die resolute Lehrerin, die aus ihr sprach, und die bestimmte Form – die knappe Rede – imponierte ersichtlich der Fremdheit halber dem Kinde.
»Du hast etwas böses gethan,« sagte sie leise und ernst, »vielleicht weißt du nicht einmal, wie bös. Du hast ein Tierchen grausam vertrieben, das ohne die gewohnte Pflege verhungern oder erfrieren wird. Du hast an den armen Vogel nicht gedacht, du wolltest nur mir etwas zufügen. Das kann ich übersehen, denn man hat dich aufrührerisch gemacht – aber du könntest deinen Groll auf mich weiter in grausamer Weise kund thun, und das muß ich verhindern. Gehe jetzt in dein Zimmer zurück – es ist notwendig, daß du den morgigen Tag allein bleibst und über dein Verhalten nachdenkst!«
Seltsam – daß das Kind ohne Widerrede davonging! Seltsam, daß es schweigend sein Zimmer erreichte! Lag in der Haltung der jungen Frau ein etwas, das unwillkürlich Gehorsam forderte? Oder war es die Dunkelheit und die ringsum lagernde Stille, die das Kind verschüchterten? Norine wußte es selbst nicht. Erst als der Morgen anbrach und ihr von Doris das Frühstück überbracht wurde mit der Benachrichtigung, daß sie tagsüber ihr Zimmer zu hüten habe, kamen Leben und Zorn und Trotz mit alter Gewalt über das Kind und in lautem Gepolter schlugen die kleinen Fäuste gegen die von außen verriegelte Thüre. Durch das Haus hallten ihre zornigen Rufe – lauter und lauter werdend. Wie konnte man es wagen, sie einzusperren? Sie wollte doch mal sehen, ob das so einfach ginge.
Heraus wollte sie – sofort heraus! Die Hände schlugen sich rot. Die Stimme rief sich heiser, die Füßchen hatten sich wund gestampft und Norine bedeckte – von leidenschaftlicher, ohnmächtiger Wut übermannt – ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte hellauf.
O! wenn doch Paul da wäre! Paul würde schon Rat wissen, Paul würde es ihr schon zeigen – der Bösen – der abscheulichen Frau – sie dachte wohl – man würde sich das so ruhig gefallen lassen. O nein – das würde man nicht. Wenn sie dächte, man wisse nicht, weshalb die Stiefmutter sie einsperren ließ, so irre sie. Sie übersah die Sache ganz gut. Die Katzen sollten 'ran! Wahrscheinlich hatte das Paul gestern abend verhindert, und darum wollte sie heute – aber nein – das sollte ihr nicht gelingen – sie würde – sie würde – Norines Schluchzen ließ einen Augenblick nach. Das thränenfeuchte Gesichtchen hob sich energisch. Ihr Blick traf das Fenster. Dort, von dort aus konnte sie vielleicht – Norine beugte sich hinab. Enttäuscht fuhr sie zurück. Zu hoch! Und kein hervorspringendes Fenstersims – kein Halt. Wie sollte sie da? – horch, was war das? – Wer zischte ihr vom Zaun aus zu? Norine schob in erregter Hast einen Stuhl ans Fenster und sah hinaus:
»Ach – Paul!«
»Pst!« Der Knabe hing an der Außenseite der Holzmauer. Über derselben hob sich ein ungekämmter, blonder Kopf, den er in warnender Geberde nach dem Hause zu bewegte.
»Bin eingesperrt!« klagte Norine, das ablehnende »Pst« im Anblick des Freundes außer Acht lassend, und der Knabe schwang sich auf die Mauer und wiederholte durch Zeichen und Grimassen sein Begehr, von ihr nicht beachtet zu werden.
»Aber ich bin eingesperrt!« schluchzte Norine nochmals auf, »und meine Katzen!« –
Wiederum fuhren des Knaben Hände gestikulierend umher, und Norine glaubte in den Zeichen etwas Beruhigendes über ihre Lieblinge zu verstehen. »Sind sie noch da?« fragte sie ängstlich, und Pauls Kopf gab rasch nickend Bejahung, und Norine sah, wie der Knabe sich abwandte und – war's möglich? – mit zwar verlegener, aber doch richtiger Höflichkeit seinen Hut zum Gruß gegen jemanden lüftete.
»Guten Morgen, Paul!« Der helle Gruß kam vom Hofe herab.
Norine erkannte der Stiefmutter Stimme, und mit neu aufsteigendem bitteren Groll sprang sie vom Stuhl herab und in das Innere des Zimmers zurück.
Was wollte sie von Paul? Wozu war er gekommen? Warum that er so verlegen? Was bedeutete – –?
Norine hörte sie zusammen die Treppe hinaufsteigen, der Frau Stimme klang freundlich – gar nicht böse, und Paul? seine Stiefel knarrten – sie knarrten immer, wenn er leise zu gehen versuchte. Paul sprach wohl gar nichts – Norine hörte nur die andere gehaßte Stimme. Es öffnete sich die Wohnzimmerthüre. Sie schienen beide eingetreten zu sein. Was mochte sie mit dem Jungen wollen? Was hatte sie mit Paul zu reden? Norine kauerte sich vor ihr Schlüsselloch nieder. Die Stimme der Frau drang in halbverständlicher Rede zu ihr:
»Sie führte den Bäckerladen in unserer Stadt, und deine jetzige Mutter war ihre Halbschwester. Deine Mutter hatte sie gern. Ich weiß das genau, denn ich wurde als halberwachsenes Mädchen oft in den Laden geschickt, und dann sah ich es oft, wie deine Mutter, die Bäckerin, ihre Halbschwester im Hauswesen unterwies und ihr die Pflege ihres kleinen Sohnes – das warst du, Paul – anvertraute. Deine Mutter hatte sie lieb – und wenn sie das alles wäre, was du denkst, so hätte deine Mutter ihr nicht sterbend Mann und Kind anempfohlen – und das hat sie gethan. Du hast dich von ihr fern gehalten, seit sie an deiner Mutter Stelle getreten ist, und hast dir eingeredet, daß sie dich haßt. Sage mir nichts. Du hast es durch deine Lebensweise so weit gebracht, daß sie ratlos geworden ist und dich eben laufen läßt und« – die Rede brach ab. Paul machte scheinbar eine Entgegnung. Es gab eine kleine Pause, und Norine hörte einzelne Sätze – doch nicht im Zusammenhang.
»Unwahr von dir! Norine zu lieb – hast du gesagt – ganz unwahr – dich verbergen im Stall – wegen der entwendeten Kuchen – weil du dich fürchtest, nach Hause zu gehen. Gestehe, daß es so war! Ein Junge – Furcht vor Bestrafung. Und dem Kinde einreden – die Katzen – Willst du versprechen? –«
Norine schwirrte es im Kopfe. Soviel hatte sie verstanden, Paul war ein Treuloser. Er hatte nicht Großmut geübt, indem er seine Dienste zur Nachtwache antrug – er hatte sich dienen wollen, und sie hatte er glauben gemacht, daß – daß – ah – der Verräter, der abscheuliche Junge! Und stehlen that er auch – das konnte er nun nicht mehr ableugnen, und jetzt? Wie benahm er sich jetzt? Hockte drin ganz freundlich mit ihr – während sie – o! – sie war eine arme Hintergangene – ein verlassenes Wesen – das keinen wahren Freund hatte. Der Einzige, der immer so gethan hatte, als wenn er's so gut meinte – der war gerad' wie alle andern, und geliebt wurde sie von niemandem – von keinem Menschen – nur von ihren Katzen, und die – wer weiß, ob sie die jemals wiedersehen würde, denn selbst wenn die Frau da drinnen (Mutter würde sie niemals zu ihr sagen) die armen Tiere noch nicht überfallen hatte, so stürbe die Katzenbrut tagsüber vor Hunger – und sie, die sie wie eine Gefangene gehalten wurde, sie konnte dann auch sterben – ja, das konnte sie und das wollte sie auch, denn ohne ihre Mietz, ohne die lieben jungen Mietze konnte sie doch nicht sein – dann würde vielleicht der Paul Dierkes um sie weinen, und die andern auch – und Doris und der Vater – und alle die – die –
Norine kam mit ihrem herzbrechenden Phantasiebild nicht weiter. In heftigem Geschluchze warf sie sich auf die Erde nieder. Das heiße Gesichtchen wühlte leidenschaftlich erbittert auf den vorgestreckten Armen umher, während ihre Thränen unaufhaltsam stürzten. Stunden verstrichen. Das Kind lag regungslos auf der Schwelle, bis ihr, vom Weinen ermüdet, die Augen zufielen und sie unter schläfrigen kleinen Seufzlauten einschlief.
Die Mittagssonne war aufgestiegen und hatte sich wieder gesenkt, als Norine das sehr zerzauste Köpfchen hob und mit weit offenen Augen um sich blickte. Hatte sie Böses geträumt, daß ihre braunen Augen so starr und so entschlossen schauten? Die Lippen preßten sich auf einander und die Gestalt, die sich mit jähem Ruck auf die Füße stellte, blieb hochaufgerichtet, wie um sich gegen eine feindliche Macht zu rüsten, stehen.
»Ich will nicht!« schrie sie, sich plötzlich in losbrechendem Zorne gegen die Thüre werfend. »Ich will hinaus!« Ihre Hände faßten mit Aufwendung aller Kraft die Klinke und rüttelten.
Ein heftiger Ruck. Norine flog gegen die Wand zurück. Die Thüre war offen. Das Kind stand einen Augenblick verwirrt da und starrte geradeaus. Das Schloß war unversehrt. Man hatte also vorher geöffnet. Wie ein nach Freiheit lechzendes Wild schoß sie in den Korridor hinaus und die Treppe hinab. Ihre Katzen! Ihre armen Katzen!
Sicherlich waren sie tot – tot, wie sie im Traum gesehen – mit herabhängenden Pfötchen und geöffneten Mäulchen, und die Stiefmutter, die böse, stand triumphierend daneben, während sie wehklagte – –
Norines Füßchen trabten eiliger treppab. Mit hochklopfendem Herzen und zitternden Händen erreichte sie das Katzenhaus.
»Mietz – Mietz!«
Sie schrie es unwillkürlich – sie blieb vor Angst atemlos an der Thüre des Katzenhauses stehen.
Hatte sie sich getäuscht oder tönte ihr aus dem Innern desselben ein leises »Miau« entgegen? »Mietz!« rief sie noch einmal und ihre Stimme durchflog ein ängstlich freudiges Zittern – »Mietz!«
Sie stand horchend auf der Schwelle. Das Auge gewöhnte sich schwer an das dumpfe Licht. Sie trat näher und spähte hinein. Ein unterdrückter Ausruf des Schreckens zuerst – dann des Staunens entfuhr ihrem Munde.
Vor ihr auf der Erde – auf dem Holzblock, den sie einzunehmen gewohnt war, saß die Stiefmutter, auf ihrem Schooße – sechs weiße Kätzchen, in ihren Händen – sie waren weiß und weich, diese Hände – eine Schale mit Milch und geweichtem Brot.
Die Frau hob bei Norines Eintritt den Kopf. Sie lächelte. Und bei dem Lächeln zog es wie tiefe Beschämung in des Kindes Herz.
Regungslos – reuig – thränenvoll blickte sie in das schöne blonde Frauenantlitz, das mit solch gütigem Ausdruck zu ihr aufsah.
»Komm herein, Norine,« sprach der lächelnde Frauenmund, »die Tierchen wissen, daß ich mich ein wenig fürchte, und darum gewöhnen sie sich etwas schwer an mich – komm' herein!«
Norine regte sich minutenlang nicht. Ein nie gekanntes Gefühl von Weichheit und überströmender Wärme durchflutete ihr Inneres, und in ausbrechendem Gefühl von Reue und Liebe stürzte sie laut aufweinend zu der blassen Frau hin.
»Ich habe gedacht, Sie – du – Sie wären eine böse Stiefmutter!«
»Kind!« Die Frau hielt sie umfangen. Sie hob leise das thränenüberströmte Köpfchen hoch und sah ihr in die Augen.
»Norine – um eine böse Stiefmutter zu sein, müßte ich doch erst eine böse Frau sein, und das bin ich nicht!«
Norine wußte nicht, wie's geschah. Der herzliche Ton ergriff sie seltsam. Mit der ihr eigenen raschen Leidenschaftlichkeit der Bewegung hatte sie den Kopf gewandt und den sie umschlingenden Frauenarm geküßt.
»Jetzt sage ich auch Mutter,« flüsterte sie leise, verschämt, und aus dem über sie gebeugten Antlitz der jungen Frau fiel eine Thräne herab und netzte des Kindes Wange.
Es war dunkel geworden, als Stiefmutter und Kind Hand in Hand den Hof verließen. Norine drückte sich eng an die Frau und zusammen stiegen sie die Treppe des Hauses hinauf. Auf der oberen Schwelle trat ihnen eine Knabengestalt entgegen.
»Paul – Paul Dierkes!« Ihr Staunen war begreiflich.
Paul Dierkes, sauber, gescheitelt, mit blanken Stiefeln und gebürstetem Rockkragen – das war ein Rätsel!
»Ich – ich gehe morgen in Stellung,« stammelte er, ohne aufzublicken und mit verlegenem Schwenken seiner Mütze an die Frau sich wendend – dann schoß er rasch und mutig den Blick hoch und fügte halb leise als Versprechen hinzu:
»Ich werd's gut machen!« Fort war er. Norine sah ihm verblüfft nach. Die junge Frau bückte sich zu ihr nieder und lachte. »Wollen wir's auch gut machen?« fragte sie schelmisch. Das Kind sah einen Augenblick sinnend zu ihr auf und schlang plötzlich beide Arme um den Nacken der Frau:
»Meine Mutter,« sagte es leise – schmeichelnd.
Die Klasse ist in Aufruhr. Die bevorstehende Landpartie hat die Knaben elektrisiert. Teils über die Tische gebeugt, teils auf Stühlen und Bänken knieend, hören sie, mit halbem Ohre nur, des Lehrers Worte, die ihnen die Marschordre auseinandersetzen sollen. Ungeduldige Füße schieben sich hin und her, erregte Köpfchen lehnen flüsternd aneinander, da – tönt von draußen schon Musik herein, und jeder Rücksicht bar, stürzt die entzückte Kinderschar sich jauchzend der Thüre entgegen.
»Hurra! 's geht los!« Kurt Henning steht, den andern voraus, im Vorplatz. Den Strohhut hochgeschwungen, das dunkle Antlitz voll Erwartung leuchtend, stürmt er voran, und nur des Lehrers streng befohlenes »Halt!« veranlaßt ihn, den Hut von neuem aufzusetzen, und langsam bis zur Schwelle des Schulzimmers zurückzukehren.
»Kommt alle wieder herein,« befiehlt Herr Karler, lächelnd die erregten Köpfe musternd, »stellt euch 'mal um mich – wir wollen einen Fahnenträger suchen. Wer ist der größte?« Jetzt gab's ein Schieben und ein Drängen um den Lehrer. Die kleinen Hälse recken sich, und alle Knaben werfen – Größe heuchelnd – die Köpfe weit zurück.
»Kurt Henning und Max Roland vor! die andern setzen sich!« Ein heftiges Gemurmel geht von Mund zu Mund – es fliegen unterdrückte widerspenstige Worte durch das Zimmer, und endlich stellt sich die begehrte Ruhe ein.
Kurt Henning und Max Roland stehen Schulter dicht an Schulter. Die hochgestreckten Köpfe beider bilden scheinbar eine Linie. Herr Karler legt gutmütig prüfend seine Rechte auf den Scheitel beider. Das buschige Haar Kurt Hennings drückt sich unter der Berührung nieder.
»Die Mähne täuscht, mein Sohn,« bemerkt Herr Karler, vertraulich über die unordentliche Lockenfülle streichelnd, »Max ist der größere! Hier Max – du trägst die Fahne! Stellt euch auf! Kurt hierher!« Unwillig läßt sich der Gerufene in die erste Reihe stellen. Die braunen Augen schießen unter seiner niedern Stirn hervor empörte, grimmige Blicke auf den blonden Kameraden, der, den andern voran – die bunt geschmückte Fahne trägt.
Das Zeichen ist gegeben. Hellsingend, unter brausendem Trompetenklang marschiert die junge Knabenwelt dem Thore zu. Die Straßen sind gefüllt mit Menschen, die den Zug mit Jubelruf begrüßen. Vor allen andern gelten die Zurufe dem blonden Max, der stolzen Hauptes seine Fahne schwenkt und die entzückte Menge grüßt.
Gleich hinter ihm, den Kopf gesenkt, ein Ausdruck tief empörten Trotzes auf der Stirn, geht Kurt. Er hält die festgeballten Fäuste in den Taschen und gibt dem Ingrimm, der ihn füllt, gebührenden Ausdruck, indem er mit den Stiefeln heftige Staubwolken aufwühlt und so den hintern Reihen ihren Marsch erschwert.
»Kurt Henning!«
Des Lehrers Ruf. Ein rascher Aufblick, dann stößt der Kleine mit einem Ausdruck selbstzufriedenen Trotzes einen letzten Staubwulst auf, bevor er sich dem Schritt der andern anpaßt.
»Aber Kurt, du bist doch sonst nicht trotzig!« Herr Karler steht an seiner Seite. Der Ton, in dem er spricht, ist gütig vorwurfsvoll. Der kleine Bursche senkt beschämt den Kopf, und preßt die Lippen aufeinander.
»Was ist dir denn, mein Junge?«
»Ich – ich wollte so gerne die Fahne tragen!«
»Ja so!« Der gütige Lehrer nickt verständnisvoll. »Ja so – das ist's!« Er klopft dem Kleinen auf die Schulter.
»Weißt du auch, daß es draußen Prämien geben soll? – erobere dir etwas – dann ist die Fahne bald vergessen!«
Kurt sieht rasch auf.
»Für was gibts Prämien?«
»Für Spiele und Wettrennen. Du kannst ja tüchtig rennen!«
Des Knaben Augen leuchten. Er wirft den Kopf zurück.
»Ja – das kann ich,« ruft er entzückt, und gleich darauf fällt seine Miene wieder. Mit einem halben Seufzer schließt er die so froh begonnene Rede: »Max läuft auch gut!« Der Lehrer sieht ihn ernsthaft an.
»Um so größer das Verdienst, wenn du ihn übertriffst! Nur tapfer gewagt! Der Kampf ist gleich!«
Und gleich war er. Mit muskulös entwickelten kleinen Körpern standen die Knaben der ersten Abteilung eine Stunde später nebeneinander aufgestellt, und warteten gespannt auf das Zeichen zum Wettlauf.
Die Hüte liegen auf dem Rasen. Die Jacken hängen an den Büschen ringsumher. Das Ziel ist angegeben. Herr Karler hält die Uhr.
»Eins! Zwei! Drei! Los!«
Der Staub fliegt hoch und legt sich wieder, und in dem Wirbel werden die Gestalten sichtbar, die Kopf an Kopf die Strecke durchlaufen. Drei von den Knaben blieben sofort zurück. Voran – in gleicher Linie – sind nur Kurt und Max. Das Ziel ist nahe. Wild fliegt die lockige Mähne Kurts ihm um das Haupt – die Augen sehen stumpfen Blickes starr hinaus. »Voran! Voran!« tönt es in seinem Innern. Nur wenige Sekunden noch, und er ist Sieger. Dicht neben ihm schallt Maxens Fuß in raschem – im gleichen Lauf mit ihm. Ein kurzer Sprung liegt zwischen beiden. Da – saust mit gazellenartigem Satz Max flugs voraus und steht – einen Augenblick dem andern zuvor – am Ziel.
»Hurrah! Ich! Ich!« Kurt hört's wie durch einen Nebel. Er sieht's undeutlich, wie Max Roland jubelnd seine Arme hochwirft. Die Lehrer und die Klasse nähern sich.
»Tapfer gelaufen beide! Gratuliere Max! Hast dich zu früh aufgegeben, Kurt!« hallt's durcheinander an des erschöpften Kindes Ohr, indes er mit glühend heißen Wangen an einem Baumstamm lehnt und mit den dunkeln Augen fragend, hoffend zu dem Lehrer aufsieht.
»Hat Max den Preis?« Er hört die eigene Stimme nicht. Die kleine Hand wischt mit dem Taschentuch zerstreut die Stirn und sinkt dann schlaff herab.
»Hat Max den Preis?« Er wiederholt es lauter, mit seinen Blicken mehr eindringlich fragend als mit Worten, und da Herr Karler teilnahmsvoll bedauernd mit dem Kopfe nickt – da sich der Knabe von den Augen aller mitleidsvoll betrachtet weiß, kämpft er gewaltsam seine Thränen nieder und sucht heroisch ein einsichtsvolles Lächeln zu erzwingen.
»Vielleicht kriegst du den Preis im Ballspiel!« raunt ihm ein kleiner Knabe tröstend zu, und Kurt schluckt einigemal an etwas dickem in der Kehle, bevor er, immer noch mit feuchten Augen ein halbleises »Ja vielleicht« erwidert.
Wie sie geräuschvoll den siegreichen Max umzingeln! Wie sie voll Jubel ihm den Kranz aufs blonde Haar aufsetzen! Mit welchem Eifer sie den Stift betrachten, der ihm als Prämie eingehändigt worden ist! Kurt siehts von weitem. Er hat vorsätzlich lange Zeit gebraucht, um seine Jacke und den Shlips zu ordnen, um so den Anschluß an die Klasse zu versäumen. Jetzt liegt er hingeworfen auf dem hohen Rasen – von einem Baumstamm liebevoll gedeckt, und läßt den Thränen der Enttäuschung, die ihm in die Augen treten, vollen Lauf.
Wäre er doch gar nicht mitgekommen! Wär' er daheim geblieben bei dem alten Vater, der ohnehin zögernd zugegeben, daß er am Ausflug teilnahm. Er hätte davon auch nicht viel gehabt – im stillen Häuschen bei dem Vater regungslos zu sitzen und zu lesen oder rechnen, wie es stets von ihm beansprucht wurde – beim Vater, der von früh bis spät so emsig schrieb und seinen Sohn kaum je beachtete – und doch! Wie ungleich besser als stets von neuem sehen zu müssen, wie der blonde Knabe ihm den Rang ablief – die Prämien alle nahm, während er sich doch so redlich mühte, einmal wenigstens –
»Ballfangen! Kurt – das Wettspiel! Komm' doch!« Es war derselbe kleine teilnahmsvolle Bursche von vorhin, der seine dünne Stimme fisteltönig hoch geschraubt zu Kurt hinüberklingen ließ, da Kurt sich weder aufhob, noch etwas erwiderte – durchsprang sein kleiner Freund die Strecke, die sie schied – und stand an seiner Seite.
»Kurt, komm' doch!«
»Mag nicht!« Er stieß es mürrisch aus und warf sich unwirsch auf die andere Seite.
»Komm doch!« ermuntert der Herangetretene eindringlich bittend – und da der andere nichts entgegnet, nur heftig mit dem Fuß ausschlägt, verliert der kleine Freund den Mut und schiebt sich rücklings gehend fort – dem Spiele zu.
Kurt liegt eine kleine Weile regungslos – die Augen in die Arme vergraben – auf dem Rasen. Von ferne hallen Rufe heller Stimmen zu ihm – er hört das Aufschlagen der geworfenen Bälle – das Schreien und Fallen und Stoßen der erregten Kinder und zwischendurch des Lehrers Stimme.
»Na – fängt denn keiner?«
Kurt hat den Kopf emporgerichtet. Die dunkeln Augen sehen gespannt dem Spiele zu. Wie sich alle schieben – wie sie rennen, um den Ball beim ersten Wurf zu fangen! War's denn so schwer, daß selbst der Max – Plötzlich mit einem Sprung steht er auf seinen Füßen; noch ehe er selbst sich über sein Vorhaben klar wird – ist er im Kreise derer – die da um den Ball wetteifern. Kühn, aufrecht – fest entschlossen steht der kleine Bursche da. Die Klasse sollte sehen, ob es jedesmal der Max sein mußte, der – –
»Eins! Zwei! Los!« Der Ball fliegt hoch und wieder nieder. Wild schreiend schieben sich die Kinder aneinander. Sie beugen sich zurück und vor und strecken ungestüm die Hände aus, und aus dem dichten Haufen lärmender, erregter Kinder windet sich ein einziges los, streckt sich triumphierend ein energischer Arm empor.
Kurt Henning hat den Ball.
»Er hat ihn nicht beim ersten Wurf gehabt!« ruft eine Stimme laut, und es entsteht ein lautes Lärmen, und Protest erhebt sich.
»Max Roland hatte ihn zuerst; dann fiel er hin – und dann nahm ihn Kurt Henning auf!« schreit der Ankläger von vorhin.
»Lüge!« stößt Kurt ingrimmig aus.
»Keine Lüge – er hat ihn nicht beim ersten Wurf gehabt!«
»Nein – das hat er auch nicht – Max hatte ihn!« schrieen die Kinder erregt und Herr Karler hebt – Ruhe gebietend – beide Hände.
»Kurt soll vortreten!«
»Sage Kurt – hast du den Ball beim ersten Wurf gefangen!«
Des Knaben Augen lodern unheimlich trotzig auf.
»Ich – ich –«
»Er hat ihn nicht gefangen!«
»Max hat ihn gehabt!« ertönen wieder die Anklagestimmen von vorhin.
»Ruhe! Ich frage euch nicht!« spricht ernst Herr Karler. »Kurt wird mir ganz allein die Wahrheit sagen!«
Ein Augenblick der Spannung! In des gefragten Kindes Hirn entsteht ein wüster Kampf. Sagt er »nein«, so fällt die letzte Chance, die ersehnte Prämie zu erhalten – fällt jede Aussicht, einmal von des gestrengen Vaters Mund gelobt zu werden! – sagt er ein »ja«, so spricht sich's morgen in der Stadt herum, daß er – nicht Max –
»Hast du den Ball richtig gefangen, Kurt?« Wie eigen warm des Lehrers Stimme klingt! Wie voll Vertrauen das graue Augenpaar ihn ansieht! Des Kindes Herz versteht den Blick; des Kindes Herz erwidert darauf. Den Kopf zurückgeworfen, daß die Lockenfülle weithin in den Nacken fliegt – die Augen groß und voll zum Lehrer aufgeschlagen, spricht Kurt ein deutliches ernsthaftes »Nein, Herr Karler!«
Die Stille, die dem Worte folgt, wird durch den Lehrer unterbrochen.
»Du bist ein braver Kerl, Kurt Henning!«
Die Dämmerung ist da. Müde und bestaubt marschiert die kleine Schar zur Stadt zurück. Die Frühstücksbüchsen hängen ihnen leer zur Seite.
Kurt Henning hat den Blick mit ernstem Ausdruck auf das kleine Haus gerichtet, das am Thore liegt und das er mit dem Vater bewohnt.
»Worüber sinnst du, Kind?« fragt ihn Herr Karler, dem etwas in dem Angesicht des Knaben zu denken gibt, und Kurt erwidert leise – sehnsuchtsvolle Augen zu dem Lehrer hebend:
»Ich hätte doch so gerne eine Prämie heimgebracht; mein Vater hätte sich gefreut!«
Herr Karler legt die Hand liebkosend auf des Knaben Haupt und gibt ein Zeichen, daß die andern stehen.
»Sag' deinem Vater, daß du ihm die Achtung deines Lehrers mitbringst, Kurt, das wiegt wohl eine Prämie auf! Gut' Nacht, mein Sohn!«
Weiß wohl der kleine Mensch den vollen Sinn der Worte zu verstehen, oder ist's der einfach kindliche Instinkt, der ihn so eigen wonnesam ergreift?
Die kleinen Hände schließen sich fest um des Mannes Rechte und feuchte Kinderlippen legen sich – von einem plötzlichen Impuls geleitet – auf dieselbe nieder.
»Gut' Nacht, Herr Lehrer!«
Die Klasse wartet, bis der kleine Schüler in den Flur des niederen Häuschens eingetreten ist. Herr Karler gibt das Zeichen, und vorwärts gehts im Schritt, dem Städtchen zu.
Aus einem Fenster des zurückgelassenen Häuschens beugt sich vom zweiten Stock ein müdes Köpfchen voller krauser wirrer Locken und nickt der Klasse grüßend zu, und über ihm neigt sich ein runzeliges, greises Haupt und sieht mit glücklichem und stolzem Lächeln auf das dunkle Köpfchen seines Sohnes nieder.
Sie war ein unscheinbares Ding von zartem Körperbau und einem blassen, unauffälligen Gesicht, das ganze Gegenteil von dem robusten strammen Brüderchen, das so geräuschvoll treppauf treppab trampelte, mit lauter Stimme seine Wünsche kundgab und das ganze Haus gründlich tyrannisierte.
»Wie verschieden doch ihre Kinderchen sind!« meinten die gelegentlichen Besucher der Familie Holfers, vergleichende Blicke auf die Kleinen werfend, und Frau Holfers pflegte mit einem Kopfnicken über den glatten braunen Scheitel Gretchens fort auf das blondgelockte Köpfchen ihres Knaben niederzuschauen und dann – Gretchen kannte den Hergang genau – mit mütterlichem Stolze die übermütigen Streiche des Söhnchens aufzuzählen, ihn in jeder Zwischenpause drei-, viermal zu streicheln und endlich – wie gut Gretchen das immer voraussah – die lange seidene Locke aus der verschlossenen Lade vorzunehmen und sie lächelnd stolz zu zeigen:
»So goldig war das Kerlchen! Ich habe ihm die Strähne abgeschnitten, als er kaum zwei Jahre zählte!«
Gretchen hatte die lichte Strähne oft gesehen. Zuerst mit der ihr eigenen stillen Bewunderung und dem leicht geweckten Kindesinteresse und später mit einem staunenden Verwundern darüber, daß die Mutter niemals die von ihrem Haupt geschnittene Locke zeigte, die doch jedenfalls auch in der Lade liegen mußte; und aus dem Staunen wuchs ein inniger Wunsch, ein einzigesmal hineinzublicken in das verschlossene Fach, das – Gretchen zweifelte nicht einen Augenblick daran – die andre Strähne barg. Gewiß war sie nicht schön, wie die des Knaben – die Mutter hatte es ja oft gesagt, daß sie stets häßlich war – sie konnte also auf sie nicht stolz sein, wie auf das Brüderchen, das sie ja auch so ungeheuer liebte. Gretchen hatte, wenn sie diesen Gedanken nachhing, ein so eigentümliches Drücken im Halse, und eine solche Schwere in der Brust, daß sie ungeachtet der mütterlichen Mahnung, doch »ihr ewiges Gejammer ohne Grund« mal endlich einzustellen, – trotz der stürmischen Liebkosung Arthurs, in helle Thränen ausbrach. Ja, diese leidigen Thränen! Gretchen wußte wohl, wie sehr die Mutter Thränen haßte – und diese trugen auch die Schuld, daß die so heitere Natur der Mutter sich immer mehr dem Brüderchen zuwandte, dessen leidenschaftlich zärtliche Natur von allen Liebe forderte und allen Liebe gab, der, wo er ärgerte, auch gleich wieder versöhnte, und dessen Thränen, wenn sie fielen, gleich einem sonnigen Regenguß, im Hintergrunde lichte Strahlen zeigten.
»Wenn sie nur etwas von des Knaben Art in ihrem Wesen hätte,« hörte Gretchen ihre Mutter klagen, »ich finde mich in dieser kalten unfreundlichen Natur gar nicht zurecht. Wenn sie vor sich hin weint, weiß sie sicherlich selbst nicht, warum sie's thut!«
Das Kind hatte die Klage, unbemerkt am Fenster sitzend, mit angehört, und lange darüber nachgesonnen. Gewiß, sie war gerecht. Selbst wußte sie ja nicht, was ihr das Herz bedrückte, bis es ihr eines Morgens klar wurde, und von da ab weinte sie nicht mehr.
Sie hat nie davon gesprochen, niemand erzählt, wie es gekommen, daß sie an einem Tage, da wiederum die schöne goldene Locke Arthurs vorgezeigt und bewundert wurde, von einem instinktiven Etwas angespornt, ganz heimlich an die nachlässig aufgebliebene Lade schlich. Auf einem Schemel stehend, mit vorgestrecktem Halse und eifrig hastigem Auge, hatte sie das Fach durchstöbert, um neben der goldblonden Locke die noch niemals vorgezeigte dunklere zu suchen, um doch zu wissen, ob sie denn so häßlich – gar so unansehnlich häßlich war!
Das kleine Mädchen hatte lange regungslos vor dem verräterischen Fach gestanden. Niemand hörte je ein Wort darüber, was in dem Kinderherzen vorgegangen war, da Gretchen in der mit Seide ausstaffierten Schachtel die Stelle neben Arthurs Locke leer fand, und es zum erstenmal ihr dämmerte, daß man von ihrem Kopf nie eine Strähne abgeschnitten hatte, um sie aus Liebe und aus Zärtlichkeit aufzubewahren. Wie die mageren Hände zitterten, die mühsam erst die Lade schlossen und sich dann bebend vor die Lippen preßten, wie um den Aufschrei aus des Kindes Brust zu unterdrücken.
Der Abend fand die Familie Holfers um den Speisetisch versammelt, und zweimal hatte man die Kinder rufen lassen.
»Wo bleibt denn Gretchen?« fragte über seine Zeitung fort der Vater, als Arthur frischgewaschen in der Thür erschien.
»Nicht gesehen!« erwiderte der Kleine, und Frau Holfers sagte, dem Söhnchen liebevoll zunickend: »Sie wird wohl oben sein, sie läßt sich gern zweimal rufen!«
Oben war sie; aber ihr Nichterscheinen war weder Trotz noch Prätension. Im guten Zimmer lag das Kind halb hingekauert vor dem Schrank, die Augen weit geöffnet, das blasse Köpfchen hintenüber an die Wand gelehnt.
»Was ist mit ihr? Gretchen!« Sie hört den Angstruf nicht, mit dem die Mutter sich an ihrer Seite niederwirft.
Es währte lange, bis der starre Ausdruck aus dem Kinderantlitz schwand, und als er schwand, lag in den blauen Tiefen ihrer Augen ein der Mutter fremder, düsterer Ausdruck.
»Bist du gefallen, Kind?« Die Lippen sprachen nicht sogleich. Es war, als käme langsam von dem Herzen zu dem Mund herauf ein kaltes, hartes Etwas, das die Stimme Gretchens heiser machte:
»Gefallen – nein!«
»Was ist dem Kinde nur – sie ist so anders?« Die Mutter fragte sich's von jenem Tage an gar oft, wenn sie das stille Kind mit dem verschlossenen Antlitz kommen und gehen sah und es deutlich erkannte, daß sie ihr scheu auswich und mit Beharrlichkeit die Zärtlichkeiten des goldhaarigen Bruders schroff von sich wies.
»Sie hat mich nicht mehr lieb,« wehklagte Arthur, und Frau Holfers nickte schmerzlich bitter vor sich hin und sagte nur:
»Sie hat gar niemand lieb, mein Kind!«
Das blasse Mädchen hörte Klage und Antwort und sagte nichts.
War's wahr, daß sie gar niemand liebte? War's möglich, daß die blauen Augen, die so sehnsüchtig und heiß die Mutter streiften, wenn sie sich ungesehen glaubte, von einem kalten Herzen sprachen? War's denkbar, daß das Kind, das sich allabendlich, wenn alles schlief, mit nackten Füßchen leise an das Bett des Brüderchens heranschlich, um lange in das schlafende Gesichtchen zu blicken, kalt war und lieblos?
Und doch! Wie schroff verstand der Mund den Morgengruß zu sprechen, wie fremd und interesselos blieb sie den Freuden und den Ärgernissen der Familie gegenüber, wie scheu entwich sie jeder Annäherung des liebevollen kleinen Bruders! Die Zeit verstrich; mit ihr gewöhnte man sich daran, das stille Kind ganz ungehindert seinen Weg gehen zu lassen und die herben, schroffen Züge ihres Wesens mit Geringschätzung und Kühle zu erwidern.
Der Sommer war gekommen. Die Zeit, in der man in die Bäder zog. Im Hause Holfers machte man die ersten Vorbereitungen zur Reise, und so gewann der kleine Arthur Zeit, mehr als gewöhnlich unbewacht im Freien zu sein, und die Mama unternahm nicht ohne Besorgnis die kleine Reise über Land, um die Beschlüsse über die in Aussicht genommene Sommerwohnung endgültig zu treffen.
»Wenn nur dem Kleinen nichts geschieht!« rief sie vom Wagenschlag besorgt zurück; »wenn ich nur wüßte, daß man auf ihn achten wollte!« – Der Mutter Blick lag auf dem Antlitz Gretchens, die, an der Thüre stehend, ihr unverwandt ins Antlitz sah. Es war ein eigenes Etwas in den Augen beider, da sie sich zum erstenmal seit lange in einander senkten. Zum erstenmale empfanden vielleicht zu gleicher Zeit die Mutter und das Kind, daß in der Seele beider – von dem andern unverstanden – etwas lag, was ungeklärt zu schlummern schien.
Was war's, das plötzlich die Mutter bestimmte, aus dem Wagenfenster zu schauen und dem stillen bleichen Kinde einen liebevollen Gruß zuzunicken? Was gab's dem Mädchen ein, die kleine Hand fast unwillkürlich auszustrecken – an den Mund zu führen – nochmals auszustrecken?
Der Wagen fuhr davon, und langsam fielen ungesehen zwei schwere Thränen, die eine in den Schoß der Mutter, die andere auf die Hand des Kindes, das regungslos an der Thür stand und dem Gefährt mit großen Augen lange nachsah.
»Gretchen! Gretchen!« Der Kopf des Kindes fuhr aus seinen Träumen auf. Das war Arthurs Stimme. Sie klang so hell, so jubelnd. Woher kam sie nur?
Aus dem Stall vielleicht!
»Ist Arthur dort?« Sie ruft es in den Stall hinein, und ehe der Diener Antwort giebt, sieht sie durch die weit offene Stallthür den kleinen Burschen allein auf dem noch ungezähmten Füllen sitzen, das der Vater neuerdings dem Kleinen zum Geschenk gemacht. Gretchen schreit ängstlich auf.
»Wie können Sie nur?« ruft sie dem Diener zu; doch dieser zieht verlegen beide Schultern hoch.
»Er schrie und strampelte so sehr, was sollt' ich machen?«
»So geh'n Sie nach und halten ihn! Arthur!«
Der Ruf entfährt erschreckt den blassen Lippen Gretchens, da sie gewahrt, wie Arthur unerschrocken seine Zügel hält und dem erregten Tier zuschnalzt.
»Arthur!« Es hilft nichts mehr, daß der verlegene Diener dem Kinde nacheilt, der gelenkige Bursche trabt ganz unbekümmert um die Rufe seiner Schwester durch den Thorweg auf die Straße, und diese eilt, von einem Angstgefühl erfüllt, durchs Haus, um durch den kürzern Weg dem Brüderchen den weiten um die Straße abzuschneiden. Der Gartenzaun ist offen. Gretchen ist angelangt, nicht einen Augenblick zu früh. Von einem Stein, aus eines Nachbarkindes Hand geworfen, wild zur Flucht getrieben, kommt Arthurs Tierchen auf sie zugesaust. Der kleine Reiter hängt bleich, voll Todesangst die Mähne seines Tieres fest umklammert, zitternd da. Von allen Seiten stürzen sich die Menschen vor und suchen ihn durch Rufen anzuhalten.
»Wenn es ihn abwirft, ist das Kind verloren! Der arme kleine Bursche!«
»Ach Gott! Ach Gott!«
Gretchen hört die Worte, die Jammerrufe. Ihre Augen sind weit aufgerissen, die Hände fest ineinander geschlungen. Ein entschlossenes blasses Gesichtchen hebt sie zu dem Bruder.
»Halte fest, Arthur, halte fest!«
»Um Gotteswillen, was macht das Mädchen?« Die Menge schreit auf, und um sie her erschallen Warnungsrufe. Zu spät!
Mit ihrem kleinen Körper hat sich das Mädchen dem Tier in den Weg geworfen. Die Arme hoch empor haltend fällt sie dem schäumenden, erregten Tier in die Zügel – – ein Sturz, ein Schrei – das arme, arme Kind!
Die Pferdehufe hatten sie getreten, nachdem der zarte Kinderleib schon eine Strecke weit geschleift und arg mißhandelt worden war.
So lag sie denn bewußtlos auf dem weichen Bettchen, und fremde Menschen standen um sie her und weinten laut.
Die schnell herbeigerufenen Ärzte schütteln stumm die Köpfe.
»Es ist nichts mehr zu machen!«
Es war schon spät, als sie die Augen langsam öffnete und auf das Rollen nahender Räder horchte.
»Arthur!« Sie flüsterte den Namen leise fragend – und Margaret –
Die alte Köchin zeigte auf das Bettchen ihr zur Seite.
»Er schläft ganz gut, der kleine Mensch!«
Ein Lächeln gleitet über Gretchens Antlitz. Sie hat die Augen auf die Thüre geheftet, die von erregten Händen aufgestoßen wird.
»Arthur ist nicht verletzt, erschrick nicht Mutter!«
So leis die Worte sind, die blasse Frau hat sie gehört.
»Arthur ja, aber du, mein armes liebes Kind?«
»Ich? o Mama!«
Es war das erstemal, daß sie den Namen Mutter mit dem kindlichen »Mama« vertauschte, das erstemal, daß sich die zarten Arme um der Mutter Nacken legten, Es war, als ob das überfüllte Kinderherzchen all den Kummer seines kurzen Daseins von sich wälzen, all die unterdrückte Zärtlichkeit von Jahren in die einzige letzte Stunde ergießen müßte. Halb klagend, halb kosend bewegten sich die erbleichenden Kinderlippen, und sprachen leise Geständnisse von Liebe und Kummer und Herzweh.
»Ich war immer so einsam – ich – –«
»O still, Kind, still!«
»Thut es – dir leid – Mama?« Es war das Letzte, was sie sprach. Die Augen sahen noch sekundenlang mit großer Andacht auf zur Decke – dann schlossen sie sich langsam. Still, unauffällig wie es gelebt, so starb das Kind, und über dem Bettchen lag die Mutter und schluchzte verzweiflungsvoll auf.
»Das alles fühlte sie, das arme kleine Ding! und ich erfuhr es erst – zu spät!«
Meine erste Liebessache spielte in der kleinen Hafenstadt Hoboken. Das Städtchen hatte neben der großen Freischule für unbemittelte Kinder nur eine Privatschule, und diese leitete, in dieser unterrichtete ein sehr frommer Pastor, der seinen Zöglingen mehr Frömmigkeit beibrachte als Gelehrsamkeit. Als dann nach kurzer Zeit ein rühmlichst bekannter Deutscher die ersten Schritte zur Gründung eines großen deutsch-amerikanischen Lehrinstitutes that, schlossen sich ihm die ehrenwerten Bürger und Familienväter mit Enthusiasmus an, und nach kaum einem halben Jahre wanderten die frommen Zöglinge des salbungsvollen Pastors, unter denen auch ich, in die neugegründete »Hoboken Akademie« über. Das Institut hatte einen besonderen Reiz. Die Klassen enthielten auch Knaben.
Welch ein Übergang von dem demutsvollen »Lasset die Kindlein zu mir kommen«, vom würdigen Pastor allmorgentlich wiederholt, zu dem Frühgruß der Besucher der Akademie mit den begleitenden feuchtgerollten fliegenden Papierklümpchen und den gelegentlichen wundervollen Balgereien.
Das Institut hatte noch einen Reiz. Man wurde vierteljährlich versetzt. Ich durchreiste, Dank meinen guten Befähigungen mehr, wie meinem Fleiß, mit großer Geschwindigkeit die untere Klasse und saß als zehnjähriges, blondkrauses, sehr selbstbewußtes, sehr unordentliches junges Dämchen mit frischgewaschenen Schürzen und mangelhaft sauberen Taschentüchern in Klasse vier, inmitten einer Reihe älterer zum Teil sehr wohlerzogenen Studiengenossinnen und einer tollen Bande der reizendsten halberwachsenen, courmacherlichsten Knaben, welche je unter diese stolze Kategorie gestellt zu werden verdienten. Ich habe niemals an dem Verkehr mit Männern so hohen Genuß erlebt, wie ihn mir die sehr ausgezeichneten jungen Mitbürger aus Klasse vier der »Hoboken-Akademie« jener Zeit gewährten. Was ist denn auch wirklich so ein devoter Handkuß eines salonfähigen Kavaliers – gegenüber dem wonnig unerzogenen herzlichen Ellenbogenstoß – gegenüber dem unerwarteten, kräftig liebevollen Schlag auf die Schulter und dem dazu aus frischer Kehle gebrüllten »Halloh old girl!«, wie ihn meine hochverehrte, mir mit Leib und Seele ergebene, kleine Garde aus Zimmer vier zu verabreichen im Stande war! –
Wir hatten, ich bedauerte die Thatsache, einen Klassenlehrer. Noch mehr aber bedauerte ich die Abneigung, welche dieser lange ehrwürdige Herr gegen das kleine – hm – Einvernehmen hatte, das zwischen mir und Tommie Sievers bestand. Tommie hatte – es ist vielleicht geschmacklos von mir, die Vorzüge eines abwesenden jungen Herrn in Gegenwart anderer hervorzuheben – indessen, der Wahrheit die Ehre, Tommie hatte sehr hübsche Augen. Er war sommersprossig, nur sein Haar – es hätte weniger borstig sein dürfen, und ich fand selbst, daß seine Figur zu sehr gedrungen war – indes – was thut das einem jungen Mädchen, das, wie ich, diesen denkwürdigen Tommie mit großer Willenskraft, aus herzlichstem Selbstgefühl und ohne jede Zuneigung für ihn aus den Fesseln einer Daisy Rimpel gerissen, und der es nun gegenüber der Klasse ehrenhalber zur Notwendigkeit wurde, die Aufmerksamkeiten des edlen Tommie über sich ergehen zu lassen.
Die Abneigung unseres Klassenlehrers gegen die in Zimmer IV bestehenden kleinen Kommunikationen von den Knabenpulten zu denen der Mädchen hinüber weckte in mir den innigen Wunsch nach der Entfernung des guten Mannes, und da dieser ohnehin leidend war, Aufregungen scheute und leicht in Zorn geriet, wurde es mir nicht allzu schwer, tagtäglich mit Hilfe einiger der Mitschülerinnen neue Missethaten zu ersinnen, die den armen Mann in steter Aufregung hielten und ihn veranlaßten, gesundsheitshalber – so hieß es – seine Entlassung zu fordern. Wir atmeten auf. Unter den uninteressierten Augen der Hilfslehrer wurden wir zu freien Menschen. Tommie konnte ungehindert seine Liebesdienste verrichten, und er war ein ausgezeichneter Liebhaber; gerade nicht von besonderer Geistesanlage, auch sonst auf den Inhalt seiner Bücher nicht neugierig, war er doch von rührender Opferfähigkeit. Er schleppte mir mit ritterlicher Unverdrossenheit die Mappe nach und überbrachte mir, ohne den geringsten Anspruch auf Halbierung zu erheben, die ihm von der blaßblonden Daisy Rimpel heimlich zugesteckten Äpfel. Ich verzehrte sie ohne Gewissensbisse – ja, ich besaß die Kaltblütigkeit, sie vor seinen Augen mit Fanny Dayson, der ältesten der Klasse, zu teilen – mit ihr sogar über die tölpelhafte Treue meines Tommie zu spotten; denn, um wahr zu sein, muß ich gestehen, daß mich an der Person des treuen Sklaven, nachdem ich es zu Stande gebracht, ihn der Daisy Rimpel abspenstig zu machen, nachdem ich weiter die Luchsaugen des Klassenlehrers nicht zu scheuen hatte, wenig fesselte, und mein leichtaufflackerndes Interesse am Schwinden war.
So weit hielten wir, als der neue Klassenlehrer uns gemeldet wurde. Es war an einem Mittwoch – Vormittagsstunde. Wir packten gerade die in der Schreibstunde benutzten Hefte fort, ich steckte noch hinter meinem aufgeklappten Pultdeckel, als sich die Thüre der Schulstube öffnete. Vor uns stand unser neuer Lehrer. Er war gar nicht sommersprossig, sein Haar war gar nicht borstig. Aufs modischste gekleidet, aufs sorglichste gescheitelt stand er vor uns – das junge bartlose Gesicht mit den ernst blickenden, graubraunen Augen uns grüßend zugekehrt. Es wäre unmöglich, die Aufregung zu schildern, in die sein Erscheinen uns, die Klasse, mich und – ich sah es mit einigem Staunen – die sonst so kühle Fanny Dayson versetzte. Wenn ich jemals die vornehme Ruhe dieser unserer ältesten Mitschülerin bewundert hatte, wenn mich ihre Reserve je entzückt hatte – an diesem Morgen war mir die Gemessenheit mit der sie Antwort gab, die Sicherheit, mit der sie sich verneigte, aufs Empfindlichste zuwider, um so mehr als ich gewahrte, daß Herr Page – so hieß der neue Lehrer – sie mehrfach angeblickt und sie, deren Äußeres etwas Gleichgiltiges hatte, die Augen – Fanny hatte seltsame schläfrige Augen – unter langen Wimpern hervor auf ihn gerichtet hielt. Ich weiß nicht, ob ich dieses Mädchen liebte oder haßte. Gewiß ist, daß mich ihre Kühle verletzte und ihre Überlegenheit reizte – gewiß ist weiter, daß ich, nicht ohne Trotz gestand ich mir's, unter ihrem Einfluß stand. Diesem Einfluß dankt' ich es – das sah ich jetzt – daß ich die Liebesbezeugungen Tommies gering geschätzt und diesem Einfluß dankte ich es ferner, daß ich – ihrem Beispiele folgend – den neuen Lehrer mit ganz eigenen Gefühlen ansah. Wenn er die reservierte Fanny interessierte, so war das grund für mich, ihn anzubeten. Ich war es nicht gewohnt, lange unbeachtet zu bleiben – ich steckte noch immer hinter meinem aufgeklappten Pulte und sah's mit heißen Wangen, wie der Lehrer Fanny angeblickt – mein Herz begann zu klopfen – die trotzige Unbändigkeit des Wesens ließ mich die Folgen einer Missethat nicht übersehen – ich schlug mit einem lauten »Klaps« mein Pult zu – warf den Wulst störrischen blonden Gekräusels, der mir mähnenartig in die Stirne hing, zurück, und der Augenblick war da. Die Blicke des jungen Gottes begegneten den meinen, ein halb überlegenes, halb belustigtes Lächeln ging über seine Lippen, meine Schläfen begannen ein wildes Hämmern, meine Wangen glühten – vergessen war Fanny – Daisy Rimpel – Tommie – alles – – ich liebte! Es war zum lachen und doch ist es etwas Rührendes um so ein junges Lieben. Ich wurde, Sie dürfen es mir glauben, ein wahrhaft vornehmes Geschöpf in dem Zeitabschnitt dieser, meiner ersten Liebe, und es ist schade um die enttäuschende Katastrophe – – aber ich greife vor.
Der Gegenstand meiner Anbetung bevorzugte mich sichtlich – die gehässige Haltung der Mitschülerinnen – die grimmigen Blicke Tommies, bewiesen dies zur Genüge. Ich durchlebte alle Wonnen, die der Anbetungsdienst eingiebt und alle Schmerzen, die er fordert. Ich war eifersüchtig. Zwischen meinem Idol und Fanny bestand eine gewisse Reserve, die zu den von mir mit Argusaugen bewachten Blicken beider nicht im Einklang stand. Fanny war eine vorzügliche Schülerin, sie war tadellos von Benehmen, und ihr Äußeres! – es war unleugbar, daß der Anflug von dunklem Flaum, der einem jeden andern Gesichte einen unreinlichen Anstrich gegeben hätte, ihrem gelblich blassen Teint einen besondern Reiz verlieh. Ich war eifersüchtig! – Ich bewachte mit neidischen Blicken die Geberden des Lehrers – ich haschte mit selbstquälerischer Lust nach einem jeden kleinen Zeichen eines Einvernehmens – und schämte mich, wenn ich bei ruhigem Sinnen nichts Verräterisches fand. Fanny war gütiger gegen mich als sonst, so gütig, daß ich begann, mein böses Mißtrauen zu verlieren, als ein kleines Ereignis mich von Neuem in die alte Erregung brachte. Es war nach einer Freipause. Die große Glocke hatte die Stunde bereits eingeleitet – die Kinder kamen in eiligen Gruppen vom Hofe in die Schulstube gerannt und nahmen ihre Plätze ein. Fanny fehlte. Ich rückte schon ungeduldig auf meinem Platze umher, meine Blicke flogen vom Lehrerpult, an dem auch er noch nicht erschienen war, zur Thüre und meine Hände wühlten unruhig in den Griffelkasten herum, da – trat Tommie auf mich zu.
»Sie können beide noch nicht heraufkommen,« flüsterte er mit nichtswürdigem Augenzwinkern, »er hat sich die Hand beschädigt, und sie verbindet sie ihm mit ihrem Taschentuch.« Ich fuhr in die Höhe. Das Blut strömte mir in die Schläfen.
»Beschädigt!« schrie ich, »und sie – sie« – selbst wußte ich nicht, ob mein Mitgefühl oder meine eifersüchtige Wut größer war. Tommie stand lächelnd, höhnisch lächelnd vor mir. Ich fühlte, daß ich ihn haßte.
»'s ist eine Lüge!« rief ich, am ganzen Leibe zitternd, und mit erhobener Rechten zielte ich auf die einst geliebten blauen Augen los.
»Keine Lüge!« knurrte er, den Kopf wie eine Dogge gesenkt, die Blicke lauernd schadenfroh aufwärts gerichtet, »sie standen versteckt an der Flurthür und plauderten – und der Wind schlug die Thüre auf seine Hand, und sie nahm sie so« –
Tommies anschauliche Geste raubte mir den Rest meiner Fassung. »Fort von mir!« befahl ich – selbst nun mit unterdrückter Stimme – und im selben Augenblick wurde die Klassenthüre geöffnet. Fanny trat ein, hinter ihr – ein wenig blaß aber schön wie ein Apoll – die Hand, die wundervolle Hand in einer weißen Schlinge – kam er. Ich brauchte ihn nur zu sehen, und mein Mitleid verdrängte jedes andere Empfinden. Er war verwundet, er litt und – ich liebte ihn. Über das Geschichtsbuch gebeugt, fielen meine Thränen auf das Blatt herab und verwischten vor meinen Augen den weiten Druck. Er stand vor seinem Pulte. Mit der Linken führte er das Blei, mit dem er die eingehändigten Abschriftseiten durchstrich und zeichnete. Wenn er mit leis' verzogenem Munde innehielt und mit der guten Hand im Schmerz die kranke faßte, durchfuhr mich's wie ein Stoß. Von neuem lebte die fatale Eifersucht in meinem Herzen auf. Ihr Tuch lag um die Wunde – es war ihr weißes Linnen, das er sanft berührte. Sie saß so ruhig da – die selbstbewußte Samariterin, deren Tuch so weiß war – so abscheulich weiß und sein – ich zog verlegen an dem meinen. Es sah beschämend aus. Ich stopfte – ohne Kommentare – das gefleckte arg zerknitterte Häufchen einst rein gewesener grober Leinwand mit Hast in sein Versteck zurück und ließ mein nasses Angesicht nur tiefer sinken. Was hatten sie sich plaudernd auf den Flur zu stellen, er und sie? Weshalb blieb sie vor uns so reserviert, wenn sie im Flur mit ihm so viel zu plaudern hatte? Vor meinen Augen schwirrte es. Die krummgezogenen Finger kritzelten unleserliches Zeug ins Heft und strichen durch und fingen wieder vorne an, und immer wieder fielen meine Thränen auf das Heft. O – ich war tief unglücklich. Da trat er auf mich zu.
»Nun Kleine – will es nicht gehen?« Ich fuhr zusammen. Meine Hände zitterten. Er beugte sich und sah auf mich herab. Fort war der heftige Schmerz, den ich gefühlt – fort auch – meine mühsam bewährte Tapferkeit. Wie goldiger Sonnenschein durchflutete es mein Inneres – ich warf aufschluchzend meinen Kopf auf meine Arme nieder und fühlte, am ganzen Körper erbebend, die Hand – die angebetete – auf meinem Haar; dann ertönte grell die Schulhausglocke. Die Stunde war zu Ende.
Die Welt war plötzlich schön geworden. Von jenem Tage an vertraute ich Fanny Dayson all meinen Liebesschmerz – haßte ich Tommie, der den Verräter spielte – liebte ich mehr denn je – den Lehrer, der mich verzog, und als das Schreckliche geschah – fiel es vernichtend auf mein liebendes Gemüt. Mr. Page ward plötzlich entlassen. Wieso – warum – woher – darüber herrschte unverbrüchliches Schweigen. Wie eine Todesbotschaft traf uns die Vermeldung seines bevorstehenden Scheidens, und wir wehrten uns redlich dagegen. Leider vergebens. Eine Petition mit Namensunterschrift sämtlicher Schulkinder wird vom Direktor mit Nichtachtung beiseite gelegt. Trauermienen – zu allen Stunden an den Tag gelegt – erfuhren die schärfste Rüge. Die Wochen gingen zu Ende, der Tag des Abschieds war da. Wie eine Versammlung leidtragender Vereinsglieder umzingelten wir Mädchen den geliebten Erzieher. Fanny fehlte an jenem Tage. Der Tisch des Lehrers prangte von Feldblümchen und schöngebundenen Rosenbouquets – kleine Andenken und Liebesgaben aus enthusiastischen Kinderhänden. Die Abschiedsrede des Mannes hatte die Klasse in Thränen überfließen lassen. Wohl zehnmal machte er abschiednehmend unter ihr die Runde, wohl zehnmal hatten ausgestreckte tintebekleckste Hände den Ausgang an der Thüre gesperrt.
Ich stand – ein nie genug zu preisender Glückszufall hatte mich mit einem denkwürdig reinlichen Taschentuch versehen – dicht an des Lehrers Tisch und schluchzte still in meine Hände hinein. Als der entscheidende Moment seines Abschieds wirklich gekommen war, und er mit einigen Schritten an mir vorüber wollte – überkam's mich plötzlich wie eine bange Ahnung bevorstehenden tiefen Schmerzes. Ich sollte ihn verlieren, ihn, den ich liebte, den ich immer lieben würde – – ehe ich mir dessen selbst bewußt wurde – hatte ich mich auf ihn gestürzt. Mit meinen Händen krallte ich mich an seinen Arm, während meine glühenden Wangen von Naß überströmt an den Zweireihknöpfen seines Rockes umherwühlten. Mit welchen Mitteln weicher Zuredungskunst es ihm gelang, mich zu beruhigen – ich weiß es nicht, gewiß ist, daß wir alle der in ein graues kurzes Jaquet gekleideten elastischen Gestalt die Treppe hinab das Geleit gaben, dem Scheidenden in herzzerreißender Weise unser »Farewell Mr. Page« nachschluchzend.
Mit ernsten Mienen standen die übrigen Lehrer des Instituts an den Ausgangsthüren ihrer Klassen. Die gemessene Art, mit der sie unserem Abgott ihr »Leben Sie wohl!« sagten, war für uns – für mich geradezu empörend. Von Mitgefühl überwältigt, trabte ich – im Gefolge der ganzen Klasse – neben dem Manne her, immer von neuem das klagende »Oh, Mr. Page! Farewell, Mr. Page!« in die Sonne hinausweinend.
Die Straße, in der wir uns trennen mußten, war erreicht. Weiße Tücher, von Thränen feucht, flatterten dem Idol Abschied winkend nach. Gebrochen, schmerzgelähmt – gramerfüllt kam ich nach Hause. Was hatte das Leben nun noch frohes für mich? Die Dämmerstunde war gekommen. Ich hatte mir eine jede einzelne Zärtlichkeitsäußerung meines Helden vor die Erinnerung gerufen – ich hatte in meinem Schmerz gewühlt, bis zur Unerträglichkeit. Mein Herz schrie nach Mitteilung. Ich mußte von ihm sprechen, seinen Namen nennen, nennen hören – mußte klagen und mich trösten lassen. Aber wo – wer? Ah – ein Gedanke. Fanny. Sie hatte in der Schule gefehlt. Sicherlich war sie krank. Das war eine Ausrede, als ich – ein Tuch über den Kopf schlingend – im Dämmerlichte an den Häusern entlang schlich, bis ich das Eckhaus erreichte, dessen Vorgarten zu durchschreiten war, um an die kleine Pforte zu gelangen, die zur Freitreppe führte. Die Gartenthür stand offen und ich trat ein. Unter den halb gesenkten Jalousien des Wohnzimmers zu ebener Erde leuchtete eine niedergeschraubte Lampe über den frischgeworfenen Kiesweg. War Fanny drinnen? Schlief sie vielleicht? Diese Gedanken jagten mir durch den Kopf, als ich zögernden Fußes über den Weg schritt. Plötzlich hörte ich Stimmen. Flüsternde Stimmen. Ich stand still, um zu lauschen. Sie kamen über den Zaun, der den Garten von der freien Wiese trennte. Ich stand im Nu auf den Stufen der Freitreppe. Von dort übersah ich den Zaun. Die Wiese lag im Dunkel. Stimmen drangen zu mir herüber und mein Auge – an die Dunkelheit rasch gewöhnt – erblickte zwei Gestalten. Warum ich – mit ahnungsvollem Herzen – hinüberstarrte, wußte ich nicht. Was ich sah, machte mich schwindelig, was ich hörte raubte mir das Bewußtsein. An einen Baumstamm gelehnt stand – mein Idol – bei ihm, die weißen Hände auf seiner Brust gefaltet – den Kopf zurückgeworfen – Fanny – meine heimtückische Rivalin. Ich hörte ihre Worte.
»Wer hat uns verraten?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht,« flüsterte er.
»Und die Briefe?« sagte wieder sie.
»Ich habe sie« – er.
»Und du mußt fort?« Die Schamlose duzte ihn.
»Muß wohl,« seufzte das verräterische Idol, »aber ich sehe dich wieder!«
»O mein Gott!« stöhnte sie, und dann war es still und der Mond drängte sich durch die Zweige des Baumes, dessen Laub sie deckte, und ich sah – sah's mit wilder Qual, wie er den angebetenen Kopf neigte und sie küßte.
»Die Kleine?« hört ich sie fragen, »hat sie getobt?« Wie ein Messerstich durchfuhr es mein Herz bei seiner lächelnden Antwort.
»Wie eine Katze – das wilde kleine Geschöpf – es that mir fast leid!«
Sie lachten beide. Der Mond war nun voll durch die Wolken gedrungen. Sein Silberlicht durchkreuzte die vom Winde leicht bewegten Zweige. Ich sah's noch, wie er den kleinen Reif vom Finger zog, um ihn an ihre Hand zu stecken, wie er sich beugte, um die kleine Hand zu küssen. – »Braut« sagte er leise und in meinem Innern ward es plötzlich totenstill. Schweigend – heimlich, wie ich gekommen – schlich ich mich wieder davon. In dem hohen Grase auf der andern verborgenen Seite der Wiese – lag ich bis zu später Stunde hingeworfen – das Gesicht zur Erde gekehrt, und weinte – weinte schmerzzerrissen – leidenschaftlich erzitternd, meine erste Enttäuschung – in die feuchten Gräser hinein, unter dem Glanze des stillfahrenden Mondes, in der tiefdunklen Einsamkeit der Nacht.
Aus dem Fenster des zweiten Stockwerkes lugte der blonde Krauskopf eines Kindes. Die kleine Gestalt mußte auf Fußspitzen stehen und aufs äußerste gereckt sein, denn den vorübergehenden Passanten ward nur die Spitze einer aufwärtsgehenden kleinen Nase und ein Wulst in die Stirne fallender krauser gelber Haare sichtbar. Um so deutlicher aber drang eine Kinderstimme auf die Straße herab, welche in monotoner Wiederholung mit der ganzen Beharrlichkeit eigensinniger Kleinen halb klagend halb gereizt den Ruf »Jinnie oh Jinnie« ertönen ließ.
Die Ausdauer des Kindes, verbunden mit dem drollig vorgestreckten unsicher schaukelnden Köpfchen hätte etwas Lächerliches gehabt, wenn nicht in dem tiefen, von Thränen erstickten Tonfall etwas Rührendes gelegen, das den Vorübergehenden unwillkürlich zurückblicken ließ.
Frau Martha Terris hob gerade mit Hilfe ihres Hausmädchens den Kinderwagen von den Stufen ihres gegenüber gelegenen Wohnhäuschens, um darin ihr acht Wochen altes Erstgeborenes in der Morgensonne auf und ab zu fahren, als der Ruf des kleinen Menschen vom zweiten Stockwerk des Thompsonschen Hauses zu ihr herabdrang:
»Jinnie oh Jinnie!«
»Thompsons Junge hat schon wieder seinen Anfall,« bemerkte sie mit einem Aufblick nach der Richtung der gelben Locken – dann nahm sie mit einem besorgten »leise, leise« der Dienerin das schlafende Baby ab und bettete es sorglich in die Kissen des Wagens.
»Ich sehe es kommen, daß der Schreihals sie weckt,« murmelte sie halb vor sich hin, einen ängstlichen Blick von ihrem schlafenden Sproß fort zum Fenster hinaufsendend, und mit der ihr eigenen entschlossenen Hast setzte sie das kleine Gefährt in Bewegung, damit das Räderrollen ihre Stimme übertönte, und wandte sich geärgert dem beharrlich rufenden Krauskopf zu.
»Neddie Thompson – wen rufst du denn?«
Die zwei kleinen Hände, die zur besseren Stütze des hin und her balancierenden Körpers die Fensterbank umklammert hielten, fuhren weiter hinaus und klammerten sich von neuem ein. Das Kind mußte sich innen an der unter dem Fenster entlanglaufenden Holzeinrahmung festgestemmt haben, denn der blonde Lockenkopf tauchte plötzlich über der Brüstung hervor, und ein sehr verweintes blaues Augenpaar heftete sich auf die Fragerin.
»Wen du rufst, wollte ich wissen!« Der Ton der guten Frau war wenig geeignet, das Zutrauen eines Kindes zu erwecken; der Schmerz des Kleinen mochte indes alle anderen Bedenken in den Hintergrund gedrängt haben – das Köpfchen nickte wie zur Bekräftigung seines Rechtes zweimal und der zuckende Mund erklärte beharrlich ernsthaft: »Jinnie will ich!« Frau Terris blickte während einiger Sekunden vor Mißbilligung stumm geradeaus.
»Hat man je so etwas« – murmelte sie, unterbrach sich aber mit einem sehr beredten Achselzucken. »Wo ist denn deine Jinnie?« fragte sie streng.
»Fort!« Der Antwort folgte jene Pause, in der von oben der sehnsüchtige Kindesruf wieder angestimmt wurde, und gleich darauf drang aus dem Innern des Wagens leises Wimmern.
»Ein abscheulicher Junge,« schimpfte die junge Frau, indem sie das Gefährt energisch hin und her schaukelte, »wenn meine junge Dame da drinnen sich jemals einfallen lassen sollte, einen solchen Singsang anzustimmen, ich wollte ihr meine Meinung über derartige Anwandlungen klar machen – das wollt' ich. Sei doch mal still du – Neddie Thompson – such' doch deine Jinnie!« Frau Terris sah sich nach diesem ihrem Ausbruch wohlgemeinter Entrüstung genötigt, ihr nun hellweinendes Baby eine Strecke zu fahren. Sie bog ohne weitere Beachtung des Gegenstandes ihres Verdrusses in die Straßenecke ein. So bemerkte sie denn auch nicht, wie die Rufe vom zweiten Stock nachließen, wie die kleinen Hände sich nach der empfangenen Strafpredigt von dem Fenstersims lösten und das Stumpfnäschen – darüber der gelbe Lockenwulst – aus dem Rahmen desselben verschwand. Es hätte sie jedenfalls in Erstaunen gesetzt, zu bemerken, wie nach einer Viertelstunde die kleine dicke Kindergestalt sich unbeholfen rückwärts schiebend die steile Wendeltreppe hinabkletterte, durch die wegen der milden Sommerluft offenstehende Hausthüre trat und mit unbeschuhten Füßchen und barhäuptig die Straße erreichte und unbekümmert darum, daß die heiß und heißer werdenden Sonnenstrahlen ihm auf das unbedeckte Köpfchen fielen – seinen Weg geradeaus nahm und um die scharfe Ecke verschwand. Noch mehr würde es die junge Frau gewundert haben zu hören, wie der kleine Fußgänger von einem alten Gärtner angehalten, nach dem Ziel seiner Wanderung befragt, mit wohlgelungener Nachahmung des Terrisschen Tonfalls »ich such' meine Jinnie« erwidert hatte.
Als Frau Terris nach einstündigem Spaziergang die Richtung ihres Hauses wieder einschlug – das Gefährt mit dem schlafenden Terrisbaby vor sich herschiebend – gewahrte sie zwischen dem ihren und dem Thompsonschen Hause eine Anzahl gestikulierender Menschen, welche unter bedauerlichem Achselzucken nach allen Richtungen hindeuteten und die Köpfe schüttelten.
»'s ist der Junge von drüben,« erklärte das herbeigeeilte Hausmädchen, das – ihrer Pflichten eingedenk – die Vorkommnisse der Nachbarschaft in Abwesenheit der Herrin getreulich überwachte und zungengeläufig herzählte. »'s ist der Junge von drüben!«
»Gestürzt?« fragte Frau Terris rasch – etwas Neugier, etwas Angst im Ton.
»Gestürzt nicht. Verschwunden – verloren – fort. Sie suchen ihn überall!«
»Gracious Goodness! (»Herr des Himmels!«) welch ein Junge! Wo mag er nur sein!«
Ja – wo mochte er sein? Die trostlos versammelten Nachbarn sprachen einer dem andern den Satz nach und blickten mit der allen müßigen Gaffern eigenen Albernheit die Häuser zuerst, dann die Bäume und endlich sich gegenseitig mitleidsvoll an.
Frau Terris verlor unter ihnen die Geduld. Ohne weiter auf die immer größer werdende Menschenzahl zu achten, faßte sie behutsam die Räder des Kinderwagens und bedeutete dem redseligen Dienstmädchen, ein gleiches auf der Rückseite zu thun.
»Tragen Sie sie leise hinauf,« befahl sie – »ich gehe zu Thompsons hinüber, um zu hören!«
Frau Terris hörte bei den Thompsons wenig, aber das Wenige genügte, um sie einigermaßen zu verstimmen. Frau Thompson fiel von einer Ohnmacht in die andere, während Thompson Gatte mit Hilfe der willigen Nachbarn die nahegelegenen Straßen absuchte. Die Dienerschaft allein vermochte es, der energischen Frau Terris schluchzend Rede und Antwort zu stehen.
»Jinnie war entlassen worden – Jinnie das schwarze Kindermädchen. War zu spielerisch – machte keine Arbeit mehr ordentlich. Missus hatte recht und Neddie – der süße Engel – Kinder seien ja alle gleich – und die Jinnie, das raffinierte Ding, geberdete sich so toll, kein Wunder, daß der »süße Engel« Neddie anfing zu weinen und sich an sie hängte, so daß »Missus« ihn nach oben trug. Missus habe beim Einkochen aufgepaßt, sie hätten Quittengelee gemacht, und während sie in der Küche beschäftigt waren – hätte der süße Engel – der herzige Engel –
»Ob ihm denn niemand begegnet sei?«
»Ja – der alte Gärtner von der Bahnhofsecke. Er habe den Kleinen angehalten – das »süße Kind« habe mit dem Kopfe vorwärts gedeutet und immer gesagt: »Such' meine Jinnie – such' meine Jinnie!«
»Und der gräßliche Mensch habe ihn gehen lassen?« Stummes Kopfschütteln – erneuetes Schluchzen – weiter erfuhr Frau Terris nichts, und was sie gehört, ließ sie etwas von ihrem vielgepriesenen Selbstvertrauen einbüßen.
»'s ist keine Kleinigkeit,« erzählte sie später dem heimgekehrten männlichen Terris; »wenn ich bedenke, daß ich es war, der den abscheulichen Jungen ausschimpfte, daß ich es war, der ihm sagte, er solle das Frauenzimmer suchen, anstatt sich – hörst du mich auch, mein lieber Terris?«
Es machte Terris einige Schwierigkeiten zu hören, wenn seine Frau, wie das hier der Fall war, so auffällig beim Decken des Tisches mit den Tellern klapperte, und er, nebenbei gesagt, hinter dem Zeitungsblatt versteckt, die Kurse studierte; trotzdem hob er mit einem vorwurfsvollen Blick den Kopf und versicherte, daß er mit dem größten Interesse aufpasse, und aufs Lebhafteste gespannt sei – der Schluß des Satzes verlor sich in erneuetem Tellergeklapper.
»Es ging mich vielleicht nichts an, wirst Du sagen,« sprach Frau Terris mit erzwungen gleichmütigem Tone weiter, »wenn der Junge da herunter lamentiert, aber wenn man mit Mühe und Not sein eigenes Baby in den Schlaf gekriegt – Mary Ann ist seit zwei Tagen schwer einzuschläfern – und man will sie ein Stückchen auf und ab fahren, und so ein Junge maltraitiert einen mit seinem Singsang – da kann es dem besten Menschen passieren, daß man einmal derb die Meinung sagt und –«
Das Klappern der Teller hatte allmälig nachgelassen – die Stimme der ehrenwerten kleinen Frau ward allmälig unsicherer und Herr Terris fuhr nicht ohne Schrecken zusammen, als sich seine Gattin ohne alle Vorbereitung mit der ihr eigenen Heftigkeit plötzlich neben ihm niederwarf, ihr Gesicht an seiner Schulter barg und erst weinerlich, dann heftig schluchzend weitersprach:
»Wenn ich ihm auch gesagt habe, daß er seine dumme Jennie suchen sollte – dann brauchte er doch nicht – wenn ich bedenke, daß unsere Mary Ann eines Tages auf und davon – – oh Talbot, ich hätte es ihm nicht so zu sagen brauchen – hätt' ich?« Herr Terris hatte alle Ursache, sich zu schämen. Er hatte nicht einen Augenblick zugehört und befand sich in der unbehaglichen Lage, trösten zu sollen, ohne zu ahnen, um was es sich handelte. Der Erregung der Frau war es zuzuschreiben, daß es ihm gelang.
»Was kann ich in der Sache thun?« fragte er im Bewußtsein, daß nur eine Handlung ihm in den Augen seiner Martha Gunst verleihen würde, und wirklich blickte dieselbe dankerfüllt zu ihm auf.
»Du wirst gleich nach Tisch gehen und den abscheulichen Jungen suchen helfen, mein guter Talbot, nicht wahr?«
Der »gute Talbot« erfuhr zum Glück im Hinausgehen vom Hausmädchen, um welchen »abscheulichen Jungen« es sich eigentlich handelte.
Das Kind war fort. Der Tag verging – der zweite kam – das Kind blieb fort. Die Nachbarn bestätigten es mit Trauermienen und bedauerndem Aufblick zu den herabgelassenen Thompsonschen Jalousien, hinter denen die Herrin von Weinen erschöpft darniederlag und die alte Köchin während des langen Tages unter weinerlichen Stöhnlauten einherging und mit immer neuen Gefühlsausbrüchen die Anfragen der Nachbarn mit dem stets gleichen Jammerruf: »Das Kind ist fort – fort«, beantwortete.
Der melancholische Ton weckte so sehr das Mitgefühl wie die traurige Thatsache selbst. Was Wunder also, daß die guten Nachbarn aufhorchten, als am Abend desselben Tages die Stimme der alten Köchin vor den Stufen des Hauses in ganz anderer Weise erscholl. Allem Anscheine nach war sie ergrimmt. Man sah eine drohend geballte Faust – hörte eine unterdrückte, erregte, zornbebende Stimme:
»Fort ist das Kind. Jawohl, du schwarzes Ungeheuer, fort ist es, und wenn der süße Engel zu Tode hungert oder auf den Eisenbahnschienen umkommt – wer hat die Schuld, du nichtswürdiges Geschöpf? wer anders als du – du – was willst du überhaupt noch hier? Nach ihm fragen? So? Wenn du mir wieder unter die Hände kommst – ich – ich – fort von hier, sag ich, du schwarzes Ungeheuer oder ich« –
»Mit wem sie nur reden mag,« fragten sich die teilnahmvollen Beobachter, deren neugierige Köpfe bei dem ungewohnten Geräusch zu den Fenstern herauskamen, »wer mag denn da unten sein?«
Bevor sie sich indessen klar werden konnten, war die Thüre des Thompsonschen Hauses ins Schloß gefallen und von den Stufen erhob sich eine halberwachsene Mädchengestalt, die sich eingeschüchtert an den Häusern entlang hinschlich und im Dunkeln verschwand.
»'s war das Frauenzimmer, die Jinnie, ich wette, was du willst,« sagte Frau Terris, ihren vom Abendwind zerzausten Kopf von der Fenstereinrahmung zurückziehend und den männlichen Terris herausfordernd ansehend, »das freche Ding – hier noch herzukommen, nachdem sie die ganze Sache angerichtet – so ein Nigger!« Es gab in der Umgegend noch andere, die das Gebahren des Negermädchens für frech erklärten, so zum Beispiel schien es dem hinter seiner Schnapsflasche eingeschlafenen Bahnbeamten eine nie dagewesene Dreistigkeit von einem halberwachsenen Mädchen, ihn zu wecken, um zu fragen, ob sie auf eine Viertelstunde die Laterne nehmen dürfe, um etwas, was sie verloren, zu suchen, und dann hatte er in seinen Flüchen innehalten müssen, als sich das junge Ding so ängstlich seitwärts drückte und ihn aus großen Augen so eigen hilflos anstarrte.
»Frech war es, ihn zu wecken, aber – na, die Lampe stand ja da – seinetwegen – aber wiederbringen – verstanden?« Eine Frechheit war es wiederum von dem hinterlistigen Ding – das doch nur wie alle Neger stehlen wollte, an der Apfel- und Kartoffelbude der irländischen Marktfrau zur Abendstunde anzuklopfen. »Ob ein Herr Smith hier wohne? Oho – die Frage kannte man. Als ob nicht jeder wüßte, daß an der Grenze der Stadt – wo die Eisenbahn halt machte, kein Smith, sondern sie selbst, die bekannte Apfel-Kennedy, wohnte. Was sie denn von dem Smith wollte, he?«
»Ein kleines Kind habe sich verlaufen und ein gewisser Gärtner Smith solle dem Kinde auf der Avenue begegnet sein, sie wollte nur fragen –«
»So, na ja. Ob sie dächte, daß man das Zeug glauben würde. Wenn weiße Leute ein Kind suchten, schicken sie doch keinen Nigger danach aus. Ein rotköpfiger Junge wäre gestern vorübergekommen. Vielleicht war's der! Na, was sollte das heißen? Nur nicht so dicht 'rankommen, sie hätt' ihn nicht weiter beachtet. Da 'runter wär' er gegangen und die Leute aus der Schlächterei hätten ihn angehalten – ob sie wohl in ihrer Hast den Korb nicht umstoßen wollte – solch ein Nigger! Na – gestohlen hatte sie nichts – Gott sei Dank.«
Gestohlen hatte sie nichts und doch mußten die Bewohner der armseligen, kleinen Hütten, dicht hinter der großen Schlächterei, die umherschleichende, sich bei jedem Geräusch scheu verbergende Gestalt des Negermädchens mit Argwohn betrachten. Es war nicht erwiesen, daß sie stehlen wollte, trotzdem sie in der gut gekannten Manier aller Diebe und Schleicher an den verschiedenen Thüren anklopfte, um mit verstellt harmloser Miene zu fragen, ob dies Nr. 19 wäre, und dabei mit großen, suchenden Augen die spärlich möblierten, inneren Raume zu überblicken.
Nein – es war nicht Nr. 19. Es gab überhaupt hier keine Nummern, und wenn sie vielleicht etwas ausspionieren wollte, so könnte man dem männlichen Hüter des Hauses rufen – aha – das wirkte! So ein diebischer Nigger! – Die Drohung hatte sie fortgeschreckt! Es war also keine Gefahr mehr vorhanden. Die aus der Schenke heimkehrenden Männer täuschten sich auch wohl, wenn sie im Schatten des im Zickzack entlanglaufenden Holzzauns eine sich verbergende Gestalt zu sehen wähnten. Wie sollte auch zu so später Abendstunde – – sie konnten vorsichtshalber die konferierenden Stimmen etwas senken. Und die Stimmen, welche ohnehin in halb ängstlicher Weise verhandelten, senkten sich vorsichtig zu noch leiserem Ausspruche:
»Schaff es fort,« riet die eine, »ich rate dir gut,« und eine zweite erwiderte zögernd und undeutlich:
»s'ist hart, ich mag nicht!«
»Willst du's hierbehalten bis man's entdeckt, und wir bestraft werden?« Der Ton des Mannes klang rauh und die Unschlüssigkeit des Nachbars gab ihm ersichtlich Mut. »Ich sage dir, es steckt 'ne Summe dahinter, verspiel dein Glück nicht – ich dächte die Armut hättest du mit Frau und Kindern ausgekostet – Arbeit, nichts wie Arbeit und was dafür? Morgen werden Plakate ausgehängt – große Belohnungssummen geboten – schaff es auf drei Wochen fort und die Summen werden verdreifacht – ich rate dir – Höll' und Teufel – siehst du nichts? Bewegt sich nicht etwas auf der Erde entlang – auf allen Vieren – ein Mensch – nein verdamm mich – ein Mädchen – da – fort ist's. Sahst du denn nichts – ich träume doch nicht – war da nicht jemand?«
»Nichts gesehen. Komm nach Hause!«
Tiefe Dunkelheit überall. Die Schritte waren verklungen. Von der nahe gelegenen Stadtuhr schlug es zehn. Die letzten herabgeglommenen Kerzen aus den einzelnen noch gering erleuchteten Hütten verloschen. Über den ärmlichen Stadtteil war tiefe Finsternis gefallen, und plötzlich hob sich aus der ringsum lagernden Stille der Nacht eine menschliche Stimme im Gesang. Eigenartig leise, eigenartig tief zugleich erscholl es aus einer Mädchenkehle in halb zitternden Tönen. Durch die ruhenden Straßen und so eigen gedämpft, so sehnsuchtsvoll innig kam die Melodie, daß die schlafende Stadt weiter schlief; und der leichte Nachtwind trug die zitternden Töne fort zu den Fenstern der niedern Hütten – durch diese zu dem Bettchen eines Kindes, das sich halb träumend aufrichtete und mit unbewußt vorgestrecktem Köpfchen auf die Stimme hinaus horchte. Der Gesang kam näher – die Worte wurden deutlicher – der Ton trauriger:
»Oh my dear Nellie Grey |
They have taken you away |
And I'll never see my darling |
Any more – any more – –« |
Die Stimme brach ab. Was war das? War es eine Täuschung oder fiel das Mondlicht auf ein klagendes schlaftrunkenes Kinderköpfchen, das sich hinter der Scheibe des Eckhüttenfensters abzeichnete?
»I am sitting by the river, |
I am weeping all the day –« |
»Jinnie oh Jinnie!«
Es war keine Täuschung. Es war wirklich ein sehnender Kinderschrei gewesen, der in die Straßen hinabtönte, und mit einem aufschluchzenden Jauchzer riß das Lied ab. Vor dem Fenster des Erdgeschosses, aus dem die kleine Stimme gekommen, stand hochaufgerichtet das Negermädchen und streckte, halb wie zum Dankesruf, halb im Triumph, beide Arme empor:
»Neddie, darling Neddie!«
Was that's, daß das Einschlagen des Fensters die Schlafenden weckte – was galt es ihr, daß in den Hütten sich's zu regen begann? Was kümmerte es sie, daß hinter ihr Flüche, Schimpfworte, Drohungen erschollen? Das schluchzende Kind im Arm haltend, durchflog sie die Straßen – stolperte, richtete sich auf – stürzte, hob sich wieder – fort, weiter und immer weiter durch die Nacht, aus dem verödeten düstern Stadtteil in den belebteren helleren, ein einzigesmal rastend, um das zerzauste Köpfchen an ihrer Schulter sorglicher zu betten, das blasse Gesicht des verwirrt blickenden Kindes mit ihren Lippen zu streifen und ihren Lauf fortzusetzen, bis sie, hastig atmend – zu Tode erschöpft das Thompsonsche Haus erreicht, die Stufen zur Hausthür erklommen hatte, um wie eine Wahnwitzige an der Glocke zu ziehen, daß es klirrend, dröhnend durch alle innern Räume ging.
Die da nach wenigen Augenblicken mit Licht erschienen, fanden auf der Thürschwelle die in sich zusammengesunkene Gestalt des Negermädchens und neben ihr das verlorene Kind Neddie, das den schwarzen Kopf des Mädchens aufzurichten suchte und in dem gekannten tiefen Klageton sein »Jinnie, Jinnie« rief.
Von der Bewegung, die noch in der Nacht in den Straßen entstand, wußten die guten Nachbarn noch lange zu erzählen.
Ob man wohl glauben könnte, daß ein Neger – und noch dazu ein Lied – ein sentimentales Lied, das dem Knaben beim Einschläfern vorgesungen worden war, ihn gelockt – es war seltsam.
»Verlange nicht von mir, daß ich dir meine Gefühle schildere,« bat Frau Martha Terris am Frühstückstisch ihren Gatten, indem sie mit energischem Schlag ihre Rechte auf den Tisch niederklappte – »verlange das nicht! Ich werde, solange ich lebe, den Nigger nicht ansehen können, ohne versucht zu sein, ihr eine Verbeugung zu machen, und daß du's nur weißt, ich bin mir noch gar nicht sicher, ob ich nicht direkt hinübergehe und dem schwarzen Ding einen herzhaften Kuß gebe; denn – du merkst wohl, Terris, daß ich mit dir rede.« Herr Terris glaubte so etwas bemerkt zu haben. Seine Wohlerzogenheit als Ehegatte verbot ihm, der schwatzhaften kleinen Dame seine Ansicht über ihr menschenfreundliches Vorhaben kund zu thun. Er begnügte sich damit, einen verständnisinnigen Blick auf das vis-à-vis gelegene Haus zu werfen, und verkroch sich eiligst wieder hinter seine Zeitung, als Frau Terris mit einem entzückten kleinen Schrei auf das Fenster zuflog.
»Da ist der Junge! Sieh ihn dir an! Du kannst noch so eigensinnig das Gegenteil behaupten, ich erkläre dir, daß es kein hübsches Kind ist. Die Nase ist platt. Wenn ich dagegen unsere Mary Ann, – da ist das Mädchen Jinnie und der Junge küßt sie. Nichts auf der Welt wird mich jemals veranlassen, das Mädchen wie ein irdisches Wesen zu betrachten, denn wenn das Fenster da drüben leer geblieben wäre – nachdem ich es war, die den Jungen – du kannst versichert sein, Talbot, daß es mein Tod gewesen wäre – thatsächlich mein« –
Der Satz wurde nicht vollendet. Frau Terris Aufmerksamkeit wurde auf das Thompsonsche Fenster gelenkt, aus dem sich der blonde Krauskopf des besprochenen Kindes herausbog und sich lebhaft nickend hin- und herbewegte.
»Ich glaube gar – es spricht zu mir!« Frau Terris geriet über die besondere Auszeichnung fast in Verlegenheit. Des Kindes Stimme tönte freudig erregt zu ihr hinüber.
»Meine Jinnie wieder da!« meldete der rote Mund beglückt eifrig, und Frau Terris grüßte ganz gerührt zu den gelben Locken herüber und nickte – eine Thräne im Auge mit einem kräftig gesprochenen »God bless her« dem Thompson Jungen zu – dann warf sie sich – wie um eine verräterische Rührung zu unterdrücken, ihrem Manne entgegen:
»Ich bin glücklich, daß der abscheuliche Junge wieder da ist, Talbot – wenn ich bedenke, daß unsere kleine Mary Ann – ich war es ja doch, die ihn« – hier geriet die tapfere Frauenstimme ins Wanken und von dem Rockärmel des männlichen Terris kamen abgerissen die Worte – »ich – ich – o Talbot – ich bin so froh.«
Eine Erzählung für junge Mädchen
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Erzählungen
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Eine Erzählung
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Frei von allen Uebertreibungen und gesuchten Verwicklungen schildert die Verfasserin den einfachen Verlauf eines Mädchenlebens, bis zu der Zeit, wo dasselbe an der Seite eines geliebten Gatten die gottgeordnete Bestimmung des Weibes erreicht. Es werden dem jungen Mädchen, das die Hauptperson dieser Erzählung bildet, die Dornen des Lebens, welche sein Herz tief und schmerzlich verwunden, Leid, Noth, Kränkung aller Art, schwere Kämpfe nicht erspart, aber es fehlen ihm auch nicht die Freuden des Lebens, »die Rosen«, welche es erquicken und aufrichten. Unter dieselben werden vor Allem gerechnet die Liebe einer braven, einsichtsvollen Mutter, die zärtliche Hinneigung einer bis dahin verzogenen, nur durch seltene Gewissenhaftigkeit und selbstlose Liebe gewonnenen Schülerin und die innige, warme, aber in richtiger Erkenntniß der so verschiedenen Verhältnisse muthig bekämpfte Herzensneigung zu einem reichen edlen Manne, welcher das junge Mädchen, das als Gouvernante von dem Stolz, Hochmuth und der Eifersucht seiner Prinzipalin schwer zu leiden hat, diesen traurigen Verhältnissen entnimmt und zur glücklichen Gattin macht. Die Schilderung der »Dornen und Rosen« dieses Mädchenlebens ist eine so gelungene, daß der Leser unter den Dornen mitleidet und seufzt und der Rosen sich von Herzen freut. –
Eine Erzählung
für junge Mädchen
von
Marie Stein.
Hübsch gebunden. – 3 Mark.
In dieser Erzählung wird uns gezeigt, wie schwer es ist, den Sieg über althergebrachte Standesvorurtheile zu erringen. Nur sehr ungern gibt der alte Graf Waldemar von Felsburg, ein edler, aber sehr stolzer Aristokrat seine Einwilligung zur Verlobung seines Sohnes, des Grafen Hermann, mit Marie, der Tochter seines Predigers, wiewohl er das junge Mädchen wegen seiner natürlichen Einfachheit, großen Pflichttreue und seiner übrigen trefflichen Eigenschaften hochachtet und überdies eine innige, wahre Freundschaft ihn mit dem alten Pfarrer, Mariens Vater, verbindet. Die liebliche, aber zarte Comtesse Clara, die einzige Tochter des alten Grafen, kämpft in der Tiefe ihres Herzens erfolgreich den schwersten Kampf einer hoffnungslosen Liebe zu Egon von Bernsdorf, dem Freunde ihres Bruders, der als Gast auf dem väterlichen Schlosse weilt, während Letzterer lange vergeblich sich um die kalte, herzlose und hochmüthige Gräfin Angelika Arnheim bemüht, bis diese, besonders durch das edle Vorbild der Comtesse Clara, eine völlig andere wird und in demüthiger, mädchenhafter Liebe dem stets Geliebten sich hingiebt. So werden an verschiedenen Beispielen und nach verschiedenen Richtungen die in der Tiefe des Herzens durchzumachenden Kämpfe von der Verfasserin mit großem Geschick und Verständniß geschildert.
Verlag von Carl Krabbe in Stuttgart.
Der Schmutztitel wurde entfernt, das Frontispiz vor die Widmung verschoben.
Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.
Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Antiqua, fett.
Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "erwidern" – "erwiedern", "gleichgiltig" – "gleichgültig, "tödlich" – "tötlich",
mit folgenden Ausnahmen,
Seite 10:
"»" eingefügt
(»Tanz, heute – hier?)
Seite 12:
"«" eingefügt
(abschlägigen Bescheid geben zu müssen, indes –«)
Seite 13:
"jemanden" geändert in "jemandem"
(nur kamen, um jemandem gutes zu erweisen)
Seite 14:
"," entfernt hinter "aushauchen – –«"
(die Gefühle meiner Seele aushauchen – –«)
Seite 17:
"sie" geändert in "Sie"
(fassen Sie zu, bitte!)
Seite 26:
"«" eingefügt
(»Vielleicht?!!« – Herr Harvey hatte das Wort)
Seite 27:
"«" eingefügt
(Aufregung gebracht zu haben. Darf ich?«)
Seite 33:
"ihre" geändert in "Ihre"
(daß nur Ihre vorherige Haltung Tom Warren gegenüber)
Seite 36:
"floßen" geändert in "flossen"
(Thränen aus den Augen und flossen unaufhaltsam)
Seite 39:
"nnd" geändert in "und"
(da hob er seine Stimme, kräftig und voll)
Seite 45:
"»" eingefügt
(»Fräulein Müller, Sie sind Tante Marie?)
Seite 46:
"weilchen" geändert in "Weilchen"
(nachdem sie ein Weilchen geplaudert hatten)
Seite 74:
"füllte" geändert in "hüllte"
(hüllte tagtäglich mehr denn ein Dutzend)
Seite 74:
"»Geschichte«," geändert in "›Geschichte‹,«"
(sie hat eine ›Geschichte‹,« flüsterten sie)
Seite 74:
"»" vor "Aber" entfernt
(Aber wenn sie gleich ihre Geschichte hatte)
Seite 77:
"»" vor "eines" entfernt
(nichts wußte; eines aber ist gewiß)
Seite 86:
"«" eingefügt
(Kamen nicht Schritte?« fragte sie)
Seite 87:
"sonniges" geändert in "sonnigen"
(eines sonnigen Tages ihre paar Habseligkeiten und ging)
Seite 90:
"Schluchslaut" geändert in "Schluchzlaut"
(mit einem lauten Schluchzlaut)
Seite 94:
".." geändert in "..."
(Dreimaliges Geläute! ...)
Seite 103:
"«" eingefügt
(nicht mit Bestimmtheit sagen,« erwiderte er)
Seite 104:
"»" und "«" geändert in "›" und "‹"
(›ich kenne ihn, er ist ein entsetzlicher Mensch,‹)
sowie (›er ist ein durchaus leidlicher Mensch,‹)
Seite 114:
"Ereignissen" geändert in "Ereignisse"
(keine fortschreitenden Ereignisse in Erfahrung bringt)
Seite 114:
"tröstete" geändert in "trösteten"
(sondern trösteten sie vielmehr mit der Hoffnung)
Seite 117:
"«" eingefügt
(mir mußte der liebe Gott ja zürnen.«)
Seite 119:
"abend" geändert in "Abend"
(Es ist Abend, eben erhellt der Mond das Dunkel.)
Seite 128:
"»" eingefügt
(»horch Mietze – ich höre was!)
Seite 139:
"«" hinter "nein!" entfernt
(in das kalte Wasser – o nein – nein!)
Seite 144:
"»" vor "O!" entfernt
(O! wenn doch Paul da wäre!)
Seite 144:
"!" hinter "wisse" entfernt
(Wenn sie dächte, man wisse nicht)
Seite 155:
"hochge-geschwungen" geändert in "hochgeschwungen"
(Strohhut hochgeschwungen, das dunkle Antlitz)
Seite 185:
"geblich" geändert in "gelblich"
(ihrem gelblich blassen Teint einen besondern Reiz)
Seite 186:
"»" eingefügt
(»sie standen versteckt an der Flurthür und plauderten)
Seite 195:
"unwillkührlich" geändert in "unwillkürlich"
(das den Vorübergehenden unwillkürlich zurückblicken ließ)
Seite 197:
"»" vor "Sei" entfernt
(Sei doch mal still du – Neddie Thompson)
Seite 199:
"«" hinter "Goodness!" entfernt
(»Gracious Goodness!)
Seite 199:
"müssigen" geändert in "müßigen"
(der allen müßigen Gaffern)
Seite 204:
"«" hinter "wohne?" entfernt
(Ob ein Herr Smith hier wohne?)