The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 9-10: Die Brüder Karamasoff

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Title: Sämtliche Werke 9-10: Die Brüder Karamasoff

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: March 2, 2022 [eBook #67541]

Language: German

Original publication: Germany: Piper

Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 9-10: DIE BRÜDER KARAMASOFF ***

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
herausgegeben von Moeller van den Bruck

Übertragen von E. K. Rahsin

Erste Abteilung: Neunter und zehnter Band

F. M. Dostojewski

Die Brüder Karamasoff

Roman

R. Piper & Co. Verlag, München

R. Piper & Co. Verlag, München, 1914
Vierte Auflage

Copyright 1914 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
Verlag in München.

F. M. Dostojewski

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.

Ev. Johannis, Kap. XII, 24.

Inhalt

Erstes Buch: Die Geschichte einer Familie
      Seite
I. Kap. Fedor Pawlowitsch Karamasoff 1
II. Der erste Sohn 7
III. Die zweite Frau und deren Kinder 12
IV. Der dritte Sohn Aljoscha 23
V. Die Startzen 38
Zweites Buch: Die unschickliche Versammlung
I. Kap. Die Ankunft im Kloster 55
II. Der alte Narr 64
III. Die gläubigen Weiber 80
IV. Die kleingläubige Dame 94
V. Und es geschehe also 108
VI. Wozu lebt solch ein Mensch? 125
VII. Der Seminarist und Streber 144
VIII. Der Skandal 160
Drittes Buch: Die Wollüstlinge
I. Kap. In der Bedientenstube 176
II. Lisaweta Ssmerdjäschtschaja 186
III. Die Beichte eines heißen Herzens. In Versen 193
IV. Die Beichte eines heißen Herzens. In Prosa 208
V. Die Beichte des heißen Herzens. „Kopfüber hinab“ 222
VI. Ssmerdjäkoff 237
VII. Die Kontroverse 247
VIII. Beim Gläschen 257
IX. Die Wollüstlinge 271
X. Beide zusammen 281
XI. Noch ein verlorener Ruf 301
Viertes Buch: Ausbrüche
I. Kap. Pater Ferapont 316
II. Beim Vater 335
III. Die kleinen Schuljungen 344
IV. Bei Chochlakoffs 352
V. Im Empfangssalon 364
VI. In der Stube 385
VII. Und in frischer Luft 400
Fünftes Buch: Pro und Contra
I. Kap. Das Verlöbnis 420
II. Ssmerdjäkoff mit der Gitarre 440
III. Die beiden Brüder 452
IV. „Empörung“ 470
V. „Der Großinquisitor“ 492
VI. Ein vorläufig noch sehr unklares Gespräch 532
VII. „Mit einem klugen Menschen ist auch das Reden ein Vergnügen“ 553
Sechstes Buch: Ein russischer Mönch
I. Kap. Der Staretz Sossima und seine Gäste 569
II. Aufzeichnungen aus dem Leben des in Gott verschiedenen Priestereinsiedlermönches, des Staretz Sossima, zusammengestellt nach dessen eigenen Worten von Alexei Fedorowitsch Karamasoff. Biographische Aufzeichnungen  
    a) Vom jungen Bruder des Staretz Sossima 577
    b) Von der Heiligen Schrift im Leben des Staretz Sossima 584
    c) Erinnerungen des Staretz Sossima aus den Knaben- und Jugendjahren seines weltlichen Lebens. Das Duell 594
    d) Der geheimnisvolle Gast 607
III. Aus den Gesprächen und Predigten des Staretz Sossima  
    e) Einiges über den russischen Mönch und seine Bedeutung 630
    f) Einiges über Herren und Diener: Kann es zwischen Herr und Diener eine geistige Bruderschaft geben? 635
    g) Vom Gebet, von der Liebe und von der Berührung mit anderen Welten 642
    h) Kann man Richter über seinesgleichen sein? Vom Glauben bis ans Ende 647
    i) Von der Hölle und vom höllischen Feuer. Eine mystische Betrachtung 651
Siebentes Buch: Aljoscha
I. Kap. Der Verwesungsgeruch 656
II. Solch ein Augenblick 678
III. Das Zwiebelchen 688
IV. Die Hochzeit zu Kana in Galiläa 722
Achtes Buch: Mitjä
I. Kap. Kusjma Ssamssonoff 731
II. Ljägawyj 750
III. Die Goldgruben 763
IV. In der Dunkelheit 784
V. Der plötzliche Entschluß 795
VI. „Ich fahre!“ 825
VII. Der Erste und Unbestrittene 840
VIII. Rausch 871
Neuntes Buch: Die Voruntersuchung
I. Kap. Der Anfang der Laufbahn des Beamten Perchotin 897
II. Der Alarm 910
III. Der Gang der Seele durch die Hölle. Das erste Purgatorium 922
IV. Zweites Purgatorium 939
V. Das dritte Purgatorium 954
VI. Der Staatsanwalt 976
VII. Mitjäs großes Geheimnis 991
VIII. Die Aussagen der Zeugen. „Das Kindichen“ 1014
IX. Wie Mitjä fortgeführt wurde 1032
Zehntes Buch: Die Knaben
I. Kap. Koljä Krassotkin 1041
II. Die Gören 1051
III. Kap. Die Schüler 1062
IV. Shutschka 1077
V. An Iljuschas Bettchen 1092
VI. Frühe Entwicklung 1122
VII. Iljuscha 1135
Elftes Buch: Iwan Fedorowitsch
I. Kap. Bei Gruschenka 1143
II. Das kranke Füßchen 1162
III. Das Teufelchen 1182
IV. Die Hymne und das Geheimnis 1194
V. „Nicht du, nicht du!“ 1221
VI. Erstes Wiedersehen mit Ssmerdjäkoff 1233
VII. Der zweite Besuch bei Ssmerdjäkoff 1252
VIII. Der dritte und letzte Besuch bei Ssmerdjäkoff 1271
IX. Der Teufel. Iwan Fedorowitschs Alb 1303
X. „Das hat Er gesagt!“ 1341
Zwölftes Buch: Der Justizirrtum
I. Kap. Der verhängnisvolle Tag 1352
II. Die gefährlichen Zeugen 1366
III. Die ärztliche Expertise und die Geschichte von dem einen Pfund Nüsse 1383
IV. Das Glück lächelt Mitjä 1393
V. Die Katastrophe 1410
VI. Die Rede des Staatsanwalts: Die Charakteristik 1428
VII. Der Überblick 1448
VIII. Über Ssmerdjäkoff 1459
IX. Der Schluß der Rede des Staatsanwalts: Der Gipfel der Psychologie. Die jagende Troika 1479
X. Die Rede des Verteidigers. Ein Stock hat zwei Enden 1503
XI. Kein Geld. Keine Beraubung 1512
XII. Und kein Mord 1524
XIII. Kap. Der Übertreter des Gebots 1539
XIV. Das Urteil der Bauern 1555
Epilog
I. Kap. Pläne zu Mitjäs Rettung 1569
II. Auf einen Augenblick ward die Lüge Wahrheit 1579
III. Iljuschas Beerdigung. Die Rede am großen Stein 1595

Zur Einführung.
Bemerkungen über Dostojewski

Zwanzig Jahre haben wir nach dem Tode Dostojewskis gebraucht, um zu begreifen, daß wir heute keine zufällige „Degeneration“, keinen zeitweiligen „Niedergang“, keine, wie man meint, aus dem Westen herübergebrachte Dekadenz, sondern das lange vorbereitete, natürliche und notwendige Ende der russischen Literatur erleben. Furchtbar ist es uns, das einzugestehen. Vielleicht aber liegt in diesem Furchtbaren zugleich auch Freudiges für uns, vielleicht ist die russische Literatur, so groß sie auch sein mag, doch noch kleiner als das russische Leben? Vielleicht ist das Ende der russischen Literatur d. h. unserer großen russischen Anschauungsweise, der Anfang zu der großen russischen Tat?

Erst jetzt, da die russische Literatur ihr Ende erreicht hat, oder wenigstens ein vollkommen bestimmter, unwiederholbarer Kreis ihrer Entwicklung sich abschließt, erst jetzt fangen wir an zu verstehen, was eigentlich von den dreißiger bis zu den achtziger Jahren des XIX. Jahrhunderts in Rußland vor sich gegangen ist, von Puschkins „Onégin“ bis zu „Anna Karenina“ und den „Brüdern Karamasoff“. Um in der Weltkultur etwas dieser plötzlichen Offenbarung, oder richtiger, etwas diesem Ausbruch geistiger Kräfte Ähnliches zu finden, müßte man zur Entwicklung der griechischen Tragödie von Äschylos’ „Prometheus“ bis zu Euripides’ „Alkestis“ oder zur Geschichte der Malerei der italienischen Renaissance zurückgreifen.

Acht Jahrhunderte lang, seit dem Anfang Rußlands bis zu Peter, schliefen wir; in dem Jahrhundert von Peter bis Puschkin begannen wir zu erwachen; und dann, in dem halben Jahrhundert von Puschkin bis Tolstoj und Dostojewski, durchlebten wir nach dem plötzlichen Erwachen, das erfolgt war, drei ganze Jahrtausende der westeuropäischen Menschheit. Der Atem vergeht einem von dieser Schnelligkeit des Erwachens, die der Schnelligkeit eines Steinfluges in den Abgrund gleichkommt. L. Tolstoj und Dostojewski – diese beiden Gipfel der russischen Kultur – wurden vom ersten Strahl der furchtbaren Sonne erleuchtet, wie bis jetzt noch kein einziger aller Gipfel der westeuropäischen Kultur erleuchtet worden ist. Diese furchtbare Sonne aber, das ist der Gedanke an das Ende der Weltgeschichte.

Ich fühle die mir drohende Gefahr, das Heiligste lächerlich zu machen, denn für die Kinder dieses Jahrhunderts, für die Menschen der ewigen Mittelmäßigkeit, des endlosen „Fortschritts“, der Weiterentwicklung der Welt, gibt es nichts Lächerlicheres, Dümmeres, Unwahrscheinlicheres, Beleidigenderes als diesen Hauptgedanken des ganzen Christentums – der Gedanke an das Ende der Welt. Doch ich beruhige mich damit, daß mich jetzt ja doch niemand oder so gut wie niemand hören wird: meine Worte, die uns wie Donnergetöse betäuben, werden den „Menschen dieses Jahrhunderts“ kaum vernehmbares Geflüster scheinen.

„Allem ist das Ende nahe,“ „Kinder, es ist die letzte Stunde,“ wiederholte vor dem Tode der hundertjährige Greis, der geliebte Jünger des Herrn, der an Seinem Herzen geruht und das Geheimnis dieses Herzens gehört hatte – Johannes, „der Sohn der Gewitter“. Ja, je näher wir dem Herzen des Herrn sind, um so verständiger wird dieser sein geheimer Gedanke – der Gedanke an das Ende.

Fast zwei Jahrtausende sind seit der Zeit vergangen, als dieses Wort gesagt ward: „Das Ende der Welt ist nahe“ – das Ende aber kommt nicht. „Wo ist die Verheißung seiner Zukunft? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles, wie es von Anfang der Kreatur gewesen ist“ (Zw. Sendschr. Petri III, 4). Und gerade jetzt glauben die Menschen mehr denn je, daß es ein Ende überhaupt nicht geben werde, daß eher seine Worte vergehen werden, als Himmel und Erde. Doch selbst wenn die Zentripetalkraft unseres Planeten noch für ganze zwei Jahrtausende ausreichte – für zwei Augenblicke vor dem Angesicht des Ewigen – was hat das zu sagen? Ist es doch unmöglich, daß wir das nicht sehen, was wir erblickt haben.

Gleich denen, die, auf einer Höhe stehend, über die Köpfe der Menschen hinweg das ihnen Nahende erblicken, während dieses der unter ihnen stehenden Masse vorläufig noch unsichtbar ist, haben wir, über alle kommenden Jahrhunderte und möglichen geschichtlichen Ereignisse hinweg, das Ende der Weltgeschichte erblickt.

Das Anzeichen unserer neuen Annäherung an Christus ist dieser plötzlich zu gleicher Zeit auf allen äußersten, höchsten Punkten des Menschengeistes aufdämmernde Gedanke an das Ende. „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß,“ also spricht Zarathustra-Nietzsche. „Das Menschengeschlecht muß erlöschen“ – stimmt L. Tolstoj Nietzsche bei. „Das Ende der Welt kommt,“ gibt auch Dostojewski zu.

Alle drei haben sie sich auf diese für die zeitgenössischen Menschen des unendlichen „Fortschritts“ lächerlichste und unwahrscheinlichste, für uns furchtbarste und glaubwürdigste Prophezeiung gleichsam verschworen: „Das Ende ist nahe“.

Nicht umsonst stimmt das, was auf den höchsten Gipfeln der russischen und universalen Kultur aufgedämmert ist, mit dem überein, was in dem tiefsten Elemente des russischen Volkes vor sich geht: nicht umsonst hat in den letzten drei Jahrhunderten gerade das russische Volk so hartnäckig und unablässig wie kein einziges der anderen westeuropäischen Völker über das Ende der Welt nachgedacht.

Wir sind „Dekadente“, obgleich auch unsere „Dekadenz“ vielleicht etwas Verwandtes, Volkliches, Russisches ist – das nicht von außen, sondern von innen kommt, nicht aus Westeuropa, sondern aus der Tiefe, aus dem blutverwandtesten Mutterschoß der russischen Erde (ist denn Dostojewski vom Gesichtspunkte des klassischen, akademischen Puschkin nicht „dekadenter“ als wir alle?); vielleicht ist auch unsere „Dekadenz“ gleichfalls etwas Historisch-Natürliches, etwas Notwendiges, denn was sind wir anderes, als das natürliche und notwendige Ende der russischen Literatur, die selbst das Ende von etwas noch Größerem ist? Mögen wir die Schwächsten der Schwachen sein. „In der Schwäche vollendet sich unsere Kraft.“ Unsere Kraft aber besteht darin, daß uns selbst der Mächtigste aller Teufel mit keiner einzigen Verlockung der ewigen Mittelmäßigkeit, des unendlichen „Fortschritts“ gewinnen kann. Wir nehmen keine Durchschnittsphilosophie an, denn wir glauben an das Ende, sehen das Ende, wollen das Ende, denn wir selbst – sind das Ende oder wenigstens der Anfang vom Ende. In unseren Augen liegt ein Ausdruck, der noch nie in Menschenaugen gelegen hat; in unseren Herzen ist ein Gefühl, das kein einziger Mensch nun schon seit neunzehn Jahrhunderten mehr empfunden hat, seit der Zeit, als dem Einsiedler von Pathmos die Vision erschien: „Und der Geist und die Braut sagen: komm! und der es hört, sage: komm! Es spricht, der solches zeuget: wahrlich, ich komme bald! Amen. Wahrlich, komme, Herr Jesus Christus!“

Wir sind wie Gräser auf dem äußersten Rande eines steilen Abhanges, auf einer Höhe, wo nichts mehr wächst. Dort unten in den Tälern reichen hohe Eichenbäume mit ihren Wurzeln bis tief hinein in die Erde. Wir aber sind die Schwachen, Kleinen, von der Erde aus kaum Sichtbaren, wir stehen unbeschützt vor allen Winden und Stürmen, fast wurzellos, fast verwelkt. Dafür stehen wir früh morgens, wenn die Wipfel der Eichen noch dunkel sind, schon im Licht; wir sehen das, was noch niemand sieht; wir sind die ersten, die die Sonne des großen Tages sehen; wir sind die ersten, die zu Ihm sagen:

„Wahrlich, Herr, komme!“

Dmitri Mereschkowski.

Vorwort

Die „Brüder Karamasoff“ sind das Epos aller der dunklen Innenmächte, die durch das Russentum drängen. In seinen anderen Romanen, vor allem in „Rodion Raskolnikoff“ und in den „Dämonen“, hat sich Dostojewski mit erklärt zeitlichen Werten, moralkritischen oder kritischpolitischen, auf eine neue und großartige Weise auseinandergesetzt. In den „Karamasoffs“ dagegen ist Allgemein-Volkliches und im volklichen Sinne Ewiges ausgedrückt. Deshalb wirken jene in ihrer Knappheit und Schärfe fast wie Dramen, die „Brüder Karamasoff“ dagegen sind in der heiligen Schwere, mit der ihr erregender und leidenschaftlicher Inhalt vorgetragen wird, ein echtes Epos.

Zwar sollte noch ein großer Schlußteil das für alles Russentum geradezu typische Geschlecht der Karamasoff unmittelbar einführen in religiös-politische Gegenwartskonflikte. Ausdrücklich kündete Dostojewski an: „Dieser Schlußteil wird die Tätigkeit meines Helden (Aljoscha Karamasoff) in unserer Zeit bringen, gerade im gegenwärtigen Augenblick.“ Aber dieser Schlußteil ist ungeschrieben geblieben. Warum? Der äußere Grund lautet: Dostojewski starb über der Vollendung seines Hauptwerkes. Etwa vom Jahre 1870 an hatte ihn die Idee der „Brüder Karamasoff“ beschäftigt. Doch immer wieder schob sich zwischen die Niederschrift anderes: die „Dämonen“ und die Hauptmasse seiner kritischen Schriften, in denen er gleichfalls seine tiefsten und notwendigsten russischen Gedanken ausdrücken konnte – bis er dann endlich in den Jahren 1879 und 1880 sein Werk wenigstens zu der vollendeten und doch unabgeschlossenen Form brachte, in der wir es heute kennen. Das Jahr 1881 aber war dann, schon im Januar, das Todesjahr Dostojewskis.

Doch die Beziehungen zwischen der Entwicklungsgeschichte der Werke eines Genies und dem Leben des Genies pflegen niemals bloß äußerliche zu sein. Diese inneren Gründe, die Dostojewski verwehrten, das Epos der Karamasoff in einem Umkreise abzurunden, der alle russischen Möglichkeiten in der Summe erfaßte und aussprach, hat zuerst Mereschkowski klar erkannt: „Die ‚Brüder Karamasoff‘ zu Ende zu führen, das war, wie sich zeigte, unmöglich für Dostojewski, denn dieses Ende war im Leben noch nicht vorhanden; und als hätte er selbst gefühlt, daß er alles getan, was möglich war, verließ er das Leben – er starb.“ Gleichwohl liegt in den „Brüdern Karamasoff“ das Russentum, so weit es und so wie es sich bis heute entwickelt hat, in mächtiger Basis aufgerollt. Und vielleicht ist gerade ihr Prototypisches, daß Dostojewski wenigstens im Gedanken und in der Absicht den Versuch machte, den zentralen Ausdruck allen Russentums der Gegenwart wie der Zukunft aus dem Riesenplane zu heben. Das war nur möglich auf dem Wege einer vorbildhaften russischen Einheldigkeit, die an die Stelle des problematischen und nihilistischen Heldentums trat, das Dostojewski in seinen früheren Romanen auf dem Hintergrunde des leidenden und doch so wirklichen Heldentums in der russischen Volksbreite geschildert hatte. Von den drei Brüdern Karamasoff war Mitjä, der Enthusiast, der unendliche Lebensbejaher, die verkörperte Grundlage eines volklich-russischen Heldentums, in dem sich Güte mit Gewaltsamkeit, Empfindung mit Überschwang zu einer Einheit verband. Darüber hinaus sollte Aljoscha Karamasoff in der Kraft seiner naiven Reinheit zum russischen Einhelden auswachsen. Oder wäre nicht vielleicht doch Iwan Karamasoff, der Ideologe, dieser Einheld geworden? Aber hier bricht das Werk ab, wie hier das russische Leben abbricht, das nach außen als ein so festes und schweres Massiv erscheint und doch in seinem Innern von zersplitternden und zersetzenden Dualismen erfüllt ist, die sich nicht selbst befruchten, sondern eher gegenseitig aufheben.

Moeller van den Bruck.

Erstes Buch.
Die Geschichte einer Familie

I.
Fedor Pawlowitsch Karamasoff

Alexei Fedorowitsch Karamasoff war der dritte Sohn des Gutsbesitzers unseres Gouvernements Fedor Pawlowitsch Karamasoff, der seinerzeit – vor jetzt gerade dreizehn Jahren – durch sein tragisches und dunkles Ende, auf das ich noch später zu sprechen kommen werde, so viel von sich reden machte. Vorläufig will ich über diesen „Gutsbesitzer“, wie man ihn gewöhnlich bei uns nannte, obgleich er in seinem ganzen Leben fast nie auf seinem Gute wohnte, nur bemerken, daß er ein sehr eigenartiger Mensch war, ein Typ, den man aber, genau genommen, nicht einmal so selten antrifft: der Typ eines nichtsnutzigen und ausschweifenden Menschen, der zu gleicher Zeit ganz auffallend närrisch ist, – jedoch zu jener besonderen Art von Narren gehört, die ihre Geschäftchen immer vorzüglich zu machen verstehen, und zwar scheint das das einzige zu sein, was sie verstehen. Fedor Pawlowitsch, zum Beispiel, begann mit fast nichts in der Tasche. Von den Gutsbesitzern war er einer der ärmsten: er fuhr uneingeladen zu allen Bekannten zum Besuch und lebte so als ewiger Gast auf Kosten fremder Menschen, aber nach seinem Tode erwies es sich, daß er allein an barem Kapital runde hunderttausend Rubel besaß. Und doch war er sein ganzes Leben lang einer der einfältigsten Narren unseres Gouvernements. Ich will damit nicht sagen, daß er etwa dumm gewesen wäre – größtenteils sind diese Narren sogar sehr klug und schlau –, sondern gerade einfältig, und dazu war es bei ihm noch eine ganz besondere Einfältigkeit, eine nationale.

Er war zweimal verheiratet gewesen und hatte drei Söhne, – den ältesten, Dmitrij Fedorowitsch, von der ersten Frau; die beiden anderen, Iwan und Alexei, von der zweiten. Die erste Gemahlin Fedor Pawlowitschs stammte aus dem wohlhabenden und angesehenen Adelsgeschlecht der Miussoffs, – gleichfalls Gutsbesitzer unseres Bezirks. Wie es kam, daß dieses reiche Mädchen – das dazu noch hübsch war und zu den temperamentvollen, intelligenten Frauen gehörte, die man in unserer Generation so häufig antrifft, die aber auch schon in der vergangenen auftauchten –, solch einen jämmerlichen Menschen heiraten konnte, will ich weiter nicht zu erklären versuchen. Kannte ich doch ein junges Mädchen, allerdings war es eines aus der vorigen „romantischen“ Generation, das sich nach etlichen Jahren rätselhafter Liebe zu einem Mann, den es zu jeder Zeit ruhig hätte heiraten können, schließlich die unüberwindlichsten Hindernisse ausdachte, die eine Vereinigung unbedingt ausschlossen, und die sich darauf in einer stürmischen Nacht von einem hohen Ufer, das fast einem Felsen glich, in einen ziemlich tiefen und reißenden Strom hinabstürzte und in ihm ertrank, – eigentlich doch nur deshalb, um der Shakespeareschen Ophelia zu gleichen. Ja, es ist sogar anzunehmen, daß sie, wenn an der Stelle des malerischen Felsens nur ein prosaisches, flaches Flußufer gewesen wäre, an die phantastische Idee, aus Liebe in den Tod zu gehen, überhaupt nicht gedacht hätte. Dieser Selbstmord ist aber Tatsache, und ich glaube annehmen zu dürfen, daß sich in unseren beiden letzten Generationen nicht selten Ähnliches zugetragen hat. Auch die Heirat Adelaida Iwanowna Miussoffs war ein Schritt von derselben Art und zweifellos auf fremde Einflüsse zurückzuführen. Vielleicht wollte sie durch ihn ihre weibliche Selbständigkeit beweisen, gegen die gesellschaftlichen Fesseln, gegen den Despotismus ihrer Eltern und Verwandten auftreten, und vielleicht hatte ihr noch die bereitwillige Phantasie die Überzeugung eingeflößt, wenn auch nur auf einen Augenblick, daß Fedor Pawlowitsch trotz seiner Rolle als ewiger Freischlucker einer der geistreichsten und eigenartigsten Spötter dieser Übergangsepoche sei, die zweifellos zu Besserem führte, obgleich er in Wirklichkeit doch nichts als ein boshafter Narr war. Das eigentlich Reizvolle der Sache bestand jedoch darin, daß sie von ihm entführt wurde – das aber war für sie ausschlaggebend. Hinzu kam, daß Fedor Pawlowitsch damals unbedingt, gleichviel mit welchen Mitteln, Karriere machen wollte, und so war er denn infolge seiner sozialen Lage geradezu gezwungen, sie zu entführen: war doch die Aussicht auf eine Mitgift und die Gelegenheit, zu einer reichen und angesehenen Familie in so nahe Beziehung zu treten, gar zu verführerisch. Was nun die beiderseitige Liebe anbelangt, so war die überhaupt nicht vorhanden, weder von seiten der Braut, noch, trotz deren Schönheit, von seiten Fedor Pawlowitschs, – eine Tatsache, die in ihrer Art denn auch den einzigen Ausnahmefall im Leben Fedor Pawlowitschs bildete, dieses größten Lüstlings, der sein Leben lang immer sofort bereit war, nach einerlei was für einem Weiberrock zu langen, wenn er ihn nur anlockte. So war also diese Frau die einzige, die, was seine Leidenschaft anbetraf, nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Adelaida Iwanowna kam denn auch schon bald nach der Entführung zur Überzeugung, daß sie für ihren Mann nur Verachtung empfinden konnte, und so stellten sich die Folgen dieser Heirat unverzüglich ein. Ungeachtet dessen, daß ihre Familie sich sehr bald darauf mit der Tatsache aussöhnte und der Entlaufenen die Mitgift auszahlte, kam es zwischen den Eheleuten doch zu unaufhörlichen Szenen. Später erzählte man, daß die junge Frau unvergleichlich mehr Anstand und Vornehmheit bewiesen habe als Fedor Pawlowitsch, der sich, wie man es jetzt genau weiß, fast ihr ganzes Geld, an fünfundzwanzigtausend Rubel, sofort einsteckte, so daß sie von diesen Tausenden nichts mehr zu sehen bekam. Das Gütchen jedoch und das Haus in der Stadt, die gleichfalls zu ihrer Mitgift gehörten, wollte er lange Zeit unbedingt auf seinen Namen überführen, und er würde auch bestimmt erreicht haben, was er wollte, da sein unaufhörliches Betteln und seine unverschämten Erpressungsversuche in ihr nur Verachtung und Ekel hervorriefen, und sie vielleicht aus seelischer Ermüdung, und um ihn los zu werden, schließlich eingewilligt hätte. Zum Glück aber trat ihre Familie für sie ein und machte diesen Erpressungsversuchen ein Ende. Wahr ist gleichfalls, daß zwischen ihnen nicht selten Prügeleien stattfanden, doch war es nach der Überlieferung nicht Fedor Pawlowitsch, der schlug, sondern Adelaida Iwanowna, die eine heißblütige, kühne, ungeduldige Dame von bräunlicher Gesichtsfarbe und nicht geringer körperlicher Kraft war. Schließlich aber hielt sie es doch nicht mehr aus und lief Fedor Pawlowitsch mit einem in Armut verkommenen Seminaristen, der übrigens Lehrer war, einfach davon, und überließ ihm außer ihrem Kapital noch ihren dreijährigen Sohn Mitjä.[1] Fedor Pawlowitsch machte aus seinem Hause sofort einen Harem und ein Lokal für die wüstesten Gelage, von Zeit zu Zeit aber fuhr er zu allen Bekannten, also fast durch das ganze Gouvernement, und beklagte sich mit Tränen in den Augen über Adelaida Iwanowna, wobei er so ausführlich von seinem Eheleben erzählte, wie es ein anderer Ehemann schon allein aus Schamgefühl nie getan haben würde. Es schien ihm beinahe angenehm und womöglich noch schmeichelhaft zu sein, diese lächerliche Rolle des gekränkten Gatten zu spielen und anderen sein Leid in allen Farben auszumalen. „Man könnte ja wirklich glauben, Fedor Pawlowitsch, daß Sie einen höheren Rang erhalten haben, so zufrieden scheinen Sie trotz Ihres vermeintlichen Kummers zu sein,“ sagten ihm denn auch manche, denen er sein Leid klagte, nicht ohne spöttische Verachtung. Viele fügten sogar noch hinzu, er solle sich doch nicht verstellen, da er ja im Grunde nur froh sei, eine neue Narrenrolle spielen zu können, und sich bloß, um die Komik zu erhöhen, den Anschein gäbe, als bemerke er die eigene Lächerlichkeit nicht. Wer aber kann es wissen, vielleicht war das alles wirklich ganz naiv von ihm? Endlich gelang es ihm, seiner Flüchtigen auf die Spur zu kommen. Die Arme befand sich in Petersburg, wohin sie mit ihrem Seminaristen gefahren war, und wo sie in der größten Ungebundenheit lebte. Fedor Pawlowitsch traf sofort große Anstalten zur Reise nach Petersburg – warum aber und wozu dorthin? – das wußte er natürlich selbst nicht. Vielleicht wäre er damals auch wirklich abgefahren, doch nachdem er einen so großen Entschluß gefaßt hatte, fühlte er sich sofort vollkommen berechtigt, sich zur Stärkung auf einen so weiten und schweren Weg vorher noch dem uferlosesten Trunk zu ergeben. Inzwischen aber erhielt die Familie seiner Frau die Nachricht von deren Tode. Sie war ganz plötzlich gestorben, irgendwo in einer Dachkammer, am Typhus, wie die einen behaupteten, oder wie die anderen meinten – vor Hunger. Als der gerade betrunkene Fedor Pawlowitsch die Nachricht vom Tode seiner Frau erhielt, soll er auf die Straße hinausgelaufen sein, die Hände wie zum Dank zum Himmel emporgehoben und laut ausgerufen haben: „Herr, nun lässest du mich in Frieden fahren!“ – Andere aber sagen, er habe wie ein kleines Kind geweint, und zwar so sehr, daß man für ihn trotz der Verachtung Mitleid habe empfinden können. Es ist sehr leicht möglich, daß sowohl das eine wie das andere wahr ist, daß er sich über seine Befreiung von ihr gefreut, und zu gleicher Zeit über ihren Tod geweint hat – beides zusammen. In den meisten Fällen sind die Menschen, und sogar Bösewichte, viel naiver und aufrichtiger, als wir es von ihnen voraussetzen. Ja, und wir selbst sind es doch gleichfalls. –

II.
Der erste Sohn

Man kann sich natürlich denken, welch ein Erzieher oder Vater solch ein Mensch sein konnte. Fedor Pawlowitsch vergaß das Kind vollständig, doch nicht etwa aus Bosheit oder aus irgendwelchen beleidigten Gattengefühlen, sondern ganz einfach, weil er es eben vollkommen vergaß. Solange er noch trauerte, klagte und weinte und sein Haus dabei in eine unzüchtige Höhle verwandelte, nahm sich des kleinen, dreijährigen Knaben Grigorij, der treue Diener seines Hauses, an – wenn dieser es nicht getan hätte, so würde der Kleine kaum ein Hemdchen zum Wechseln gehabt haben, da auch die Familie seiner Mutter ihn in der ersten Zeit gleichfalls ganz vergaß. Sein Großvater Miussoff, der Vater Adelaida Iwanownas, war schon gestorben, und dessen Witwe, Mitjäs Großmutter, war nach Moskau übergesiedelt und dort erkrankt; ihre jüngeren Töchter heirateten gerade, und so blieb denn Mitjä ein ganzes Jahr beim Diener Grigorij und lebte in dessen Wohnung auf dem Hofe. Übrigens, wenn sich der Vater seiner auch erinnert hätte (denn er konnte doch unmöglich von seiner Existenz überhaupt nichts wissen), so würde er ihn doch selbst wieder in die Leutewohnung auf den Hof geschickt haben, da das Kind ihm bei diesem Völlerleben nur im Wege gewesen wäre. Doch da kehrte eines schönen Tages der Vetter der Verstorbenen, Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, aus Paris zurück, wo er viele Jahre hindurch gelebt hatte. Er war damals noch ein ganz junger Mann, der sich aber unter den Miussoffs doch schon als aufgeklärter Großstädter und Ausländer auszeichnete; er fühlte sich von jeher als Europäer, und am Ende seines Lebens konnte er zu den Liberalen der vierziger und fünfziger Jahre gezählt werden. Natürlich stand er mit allen liberalen Größen seiner Epoche in Rußland wie im Auslande in Verbindung, kannte persönlich Proudhon und Bakunin, und liebte zum Schluß seiner Wanderschaft ganz besonders, sich der drei Tage der Pariser Februarrevolution zu erinnern und anzudeuten, daß er selbst beinahe auf den Barrikaden gestanden hätte. Das waren für ihn die schönsten Erinnerungen seiner Jugendjahre. Er besaß ein ansehnliches Vermögen – nach den früheren Verhältnissen gerechnet, ungefähr tausend Seelen. Sein wundervolles Gut lag ganz in der Nähe unsres Städtchens und grenzte an die Ländereien des berühmten Klosters, mit dem Miussoff sofort, nachdem er sein Erbe angetreten hatte, einen Prozeß begann (wegen irgendwelcher Rechte auf den Fischfang im Fluß oder auf das Holzfällen in einem Walde, ich weiß es nicht mehr ganz genau), da er als aufgeklärter Mensch selbstverständlich für seine bürgerliche Pflicht hielt, mit den „Klerikalen“ Prozeß zu führen. Als er nun das Schicksal Adelaida Iwanownas, deren er sich natürlich noch sehr gut erinnerte und für die er sich früher sogar interessiert hatte, erfuhr, und von ihrem Sohn Mitjä hörte, beschloß er sofort, sich trotz seines heftigen Unwillens über Fedor Pawlowitsch, in die Sache einzumischen. Bei der Gelegenheit war es denn, daß er Fedor Pawlowitsch zum erstenmal sah und kennen lernte. Er erklärte sich bereit, die Erziehung Mitjäs auf sich zu nehmen. Noch lange nachher erzählte er, gewissermaßen zur Charakterisierung Fedor Pawlowitschs, daß dieser, als er ihm von Mitjä gesprochen, ein Gesicht gemacht habe, als ob er überhaupt nicht verstehen könne, von welch einem Kinde die Rede sei und ersichtlich sogar sehr erstaunt gewesen wäre, zu hören, daß bei ihm im Hause irgendwo ein kleiner Sohn lebte. Wenn Pjotr Alexandrowitsch in seiner Erzählung auch etwas übertrieben haben mag, so muß doch immerhin etwas Wahres daran gewesen sein. Außerdem aber liebte es Fedor Pawlowitsch tatsächlich, sich plötzlich zu verstellen, oder eine ganz unerwartete Rolle zu spielen, und zwar, was die Hauptsache dabei schien, ohne daß die geringste Notwendigkeit dazu vorhanden gewesen wäre, mitunter sogar zu seinem eigenen Nachteil, wie z. B. in diesem Falle. Dieser Zug ist übrigens vielen Leuten eigen, und sogar sehr klugen Leuten, nicht nur solchen wie Fedor Pawlowitsch. Miussoff führte also die Sache durch und wurde sogar als Vormund des Knaben eingesetzt (zusammen mit Fedor Pawlowitsch natürlich), da doch dem Kleinen nach dem Tode der Mutter immerhin das Gütchen und das Haus verblieben. Mitjä wurde denn auch wirklich in das Haus Pjotr Alexandrowitschs gebracht; der aber hatte keine Familie, und da er selbst, nachdem er seine Wirtschafts- und Geldangelegenheiten auf dem Gute geordnet hatte, so schnell als möglich und auf lange Zeit wieder nach Paris eilte, so wurde das Kind einer Tante, einer älteren Dame, die in Moskau wohnte, anvertraut. Und so kam es denn, daß auch Miussoff in Paris den Knaben vollständig vergaß, besonders als diese Februarrevolution ausbrach, die ihm so imponierte, daß er sie sein Lebtag nicht vergessen konnte. Die Moskauer Dame aber starb bald darauf, und Mitjä kam zu einer ihrer verheirateten Töchter. Ich glaube, er hat dann noch einmal, zum viertenmal, das Nest gewechselt. Doch darüber werde ich mich weiter nicht verbreiten, da ich noch viel über diesen Erstling Fedor Pawlowitschs zu erzählen habe; ich will mich jetzt nur auf die notwendigsten Mitteilungen beschränken, ohne die ich den Roman nicht beginnen kann.

Dieser Dmitrij Fedorowitsch war der einzige von den drei Söhnen Fedor Pawlowitschs, der mit dem Bewußtsein aufwuchs, daß er immerhin über einige Mittel verfügte und, wenn er mündig geworden, unabhängig sein werde. Seine Kinder- und Jugendjahre verlebte er ziemlich unordentlich: das Gymnasium beendete er nicht, darauf kam er auf eine Kriegsschule, diente dann im Kaukasus, hatte dort ein Duell, wurde deswegen degradiert, diente sich aber wieder in die Höhe, führte ein wildes Leben und gab verhältnismäßig viel Geld aus. Vor seiner Mündigkeit bekam er von Fedor Pawlowitsch kein Geld, lebte daher bis dahin von Schulden. Fedor Pawlowitsch, seinen Vater, lernte er erst nach seiner Mündigkeit kennen; er kam damals zum erstenmal in unsere Stadt, um sich mit ihm über seine Vermögensverhältnisse auszusprechen. Wie es schien, gefiel ihm sein Vater nicht, denn er verließ ihn sofort wieder, als er eine gewisse Summe erhalten und mit ihm über die weiteren Einnahmen seines Gutes verhandelt hatte; doch konnte er weder die Einkünfte, noch den Wert des Gutes jemals von seinem Vater erfahren. (Bitte das wohl zu beachten.) Fedor Pawlowitsch aber bemerkte damals sofort (und auch dies bitte nicht zu vergessen), daß Mitjä sich von seinem Vermögen eine unrichtige und übertriebene Vorstellung machte, womit Fedor Pawlowitsch jedoch sehr zufrieden war, denn er hatte dabei seine eigenen Berechnungen. Er sagte sich, daß der junge Mann leichtsinnig, stürmisch, leidenschaftlich, ungeduldig war und wild lebte, daß man ihn aber, wenn man ihm immer wieder etwas schickte, sehr wohl beruhigen könnte, wenn auch natürlich immer nur auf kurze Zeit. So begann dann Fedor Pawlowitsch seinen Sohn zu exploitieren, d. h. er speiste ihn mit kleinen Almosen und zufälligen Sendungen ab, und zum Schluß, als Mitjä nach vier Jahren seine Geduld endlich verlor und zum zweitenmal in unser Städtchen kam, um noch einmal mit seinem Vater die Angelegenheit zu besprechen, da erwies sich plötzlich zu seinem größten Erstaunen, daß er überhaupt nichts mehr zu verlangen hatte, daß er mit dem erhaltenen Gelde schon der Schuldner seines Vaters geworden war, daß er nach der und der Abmachung, die er selbst einmal, dann und dann, gewünscht, kein Recht mehr hatte, noch irgendetwas zu verlangen usw. Der junge Mann war sehr betroffen, witterte einen Betrug, geriet außer sich und schien fast den Verstand zu verlieren. Dieser Umstand führte dann zu der Katastrophe, deren Wiedergabe der Gegenstand meines ersten, einführenden Romanes, oder besser gesagt, sein äußerer Anlaß ist. Doch bevor ich zu dem Roman übergehe, muß ich noch von den beiden anderen Söhnen Fedor Pawlowitschs, Mitjäs Brüdern, erzählen, und erklären, wie er zu diesen beiden gekommen war.

III.
Die zweite Frau und deren Kinder

Nachdem Fedor Pawlowitsch sich des vierjährigen Mitjä entledigt hatte, heiratete er kurz darauf zum zweitenmal. Diese Ehe dauerte acht Jahre. Ssofja Iwanowna, seine zweite Frau, war gleichfalls noch sehr jung, als er sie heiratete. Er lernte sie in einem andern Gouvernement kennen, wohin er in „Geschäftchen“ mit einem Juden gefahren war, denn wenn Fedor Pawlowitsch auch unsolide und ausschweifend lebte und viel trank, so hörte er doch nie auf, für die vorteilhafte Umsetzung seines Kapitals zu sorgen und überall gute Geschäftchen zu machen, wenn auch immer auf betrügerische Weise. Ssofja Iwanowna war als Tochter eines kleinen Diakons und als Ganzwaise in dem reichen Hause ihrer Wohltäterin, Erzieherin und Peinigerin, der angesehenen alten Witwe des Generals Worochoff, aufgewachsen. Ausführlicheres über sie weiß ich nicht, nur hörte ich, daß man die bescheidene, demütige Kleine einmal in der Kleiderkammer aus einer Schlinge gezogen hatte – so schwer war es ihr gewesen, die Launen und ewigen Vorwürfe dieser anscheinend bösen Alten zu ertragen, die aber eigentlich nur vom Nichtstun und der Langeweile zu diesem unerträglichen, launischen Parasit geworden war. Fedor Pawlowitsch warb um ihre Hand; man zog Erkundigungen über ihn ein und setzte ihn vor die Tür – da schlug er dann der Waise, wie bei seiner ersten Heirat, eine Entführung vor. Es ist sehr möglich, daß auch sie ihn um nichts in der Welt geheiratet haben würde, wenn sie etwas mehr über ihn erfahren hätte. Aber sie lebte ja in einem andern Gouvernement, und was hätte denn auch ein sechzehnjähriges Mädchen von allem dem verstanden, ganz abgesehen davon, daß sie vorgezogen hätte, in den Fluß zu gehen, als noch länger bei ihrer Wohltäterin zu bleiben. So vertauschte denn die Ärmste ihre Wohltäterin mit einem Wohltäter. Fedor Pawlowitsch, oder vielmehr seine Frau, bekam diesmal keine Kopeke Mitgift, da die Generalin über die Entführung in Wut geriet und nichts gab und sie obendrein noch beide verfluchte; er rechnete aber auch nicht darauf, sondern berauschte sich an der eigenartigen Schönheit dieses zarten Mädchens und vor allem an ihrem unschuldigen Ausdruck, der ihn, den Lüstling, der bis dahin nur der lasterhafte Liebhaber gemeiner Frauenschönheit gewesen war, ganz betroffen gemacht hatte. „Diese unschuldigen Äuglein fuhren mir wie ein Rasiermesser übers Herz!“ erzählte er später mit seinem gemeinen Lachen. Aber auch das konnte für solch einen Menschen, wie Fedor Pawlowitsch, nur einen sinnlichen Reiz haben. Da sie also gar keine Mitgift bekam, machte er mit ihr weiter keine Zeremonien und benutzte es, daß sie vor ihm, wie er sagte, „schuldig“ war und er sie „aus der Schlinge gezogen“ hatte, benutzte außerdem noch ihre phänomenale Güte und Unselbständigkeit, und trat jeglichen ehelichen Anstand einfach mit Füßen. So führte er nach wie vor die berüchtigsten Weibsbilder in sein Haus und feierte ungestört seine Orgien mit ihnen. Als charakteristischen Zug will ich hier noch anführen, daß der Diener Grigorij, ein finsterer, eigensinniger und dummrechthaberischer Mensch, der seine frühere Herrin, Adelaida Iwanowna, geradezu gehaßt hatte, nun aber entschieden zur neuen Herrin hielt, diese immer verteidigte, Fedor Pawlowitsch auf eine für einen Diener fast unerhörte Weise ihretwegen durchschimpfte, und einmal sogar, als wieder eine Orgie gefeiert wurde, alle Weiber mit Gewalt aus dem Hause jagte. Die unglückliche, von Kindheit an so verschüchterte junge Frau bekam späterhin ein nervöses Frauenleiden, das man sonst wohl am häufigsten im Volke antrifft, bei den Bäuerinnen, die dann „Klikuschi“[2] genannt werden. Durch die schrecklichen, hysterischen Anfälle dieser Krankheit verlor die Arme zeitweilig sogar ihren Verstand. Sie gebar aber Fedor Pawlowitsch doch zwei Söhne, Iwan und Alexei, den älteren im ersten Jahr ihrer Ehe und drei Jahre danach den jüngeren. Als sie starb, war der kleine Alexei kaum vier Jahre alt, doch jedenfalls war Eines Tatsache, wie unglaublich es klingen mag: er konnte sich, wie ich genau weiß, seiner Mutter noch sein ganzes Leben lang erinnern, wenn diese Erinnerung auch etwas verschwommen, wie ein halber Traum war. Nach ihrem Tode geschah mit ihren beiden Söhnen genau dasselbe, was mit dem ersten, Mitjä, geschehen war: sie wurden vom Vater vollkommen vergessen und kamen zu demselben Grigorij in dieselbe Stube. In dieser Stube fand sie denn auch die alte Generalin, die Wohltäterin und Erzieherin ihrer Mutter. Sie lebte noch und konnte selbst nach acht Jahren die ihr zugefügte Beleidigung nicht vergessen. Vom Leben und Treiben ihrer Ssofja war sie alle diese acht Jahre hindurch unter der Hand ganz genau unterrichtet worden, und als sie gehört hatte, wie krank diese war und welche Scheußlichkeiten sie umgaben, hatte sie sich zwei oder dreimal ihren Bedienten gegenüber geäußert, es geschehe ihr ganz recht, so strafe Gott sie für ihre Undankbarkeit.

Genau drei Monate nach dem Tode Ssofja Iwanownas erschien nun plötzlich die Generalin persönlich in der Stadt und fuhr geradenwegs zu Fedor Pawlowitsch, blieb im ganzen nur eine halbe Stunde in der Stadt, richtete aber in dieser kurzen Zeit sehr viel aus. Es war zur Abendzeit. Fedor Pawlowitsch, der sie acht Jahre lang nicht gesehen hatte, empfing sie in betrunkenem Zustande. Man sagt, daß sie ihm sofort ohne jegliche vorhergehende Erklärung zwei tüchtige, lautschallende Ohrfeigen gegeben und ihn dann noch dreimal kräftig an den Haaren gezogen habe. Darauf – das ist Tatsache – begab sie sich, ohne ein Wort zu verlieren, geradenwegs in die Leutewohnung auf den Hof zu den beiden Knaben. Sie überzeugte sich auf den ersten Blick, daß sie ungewaschen waren und schmutzige Wäsche anhatten, verabfolgte daher dem Diener Grigorij gleichfalls eine Ohrfeige und erklärte ihm darauf kurz und bündig, daß sie die beiden Kinder mitnehmen werde. Sie wickelte sie so wie sie waren in ein Plaid ein, setzte sie auf den Wagen und fuhr mit ihnen davon. Grigorij ertrug diese Ohrfeige wie ein ergebener Sklave, wurde nicht grob und sagte kein Wort, und als er die alte Dame zum Wagen begleitete, verneigte er sich noch tief vor ihr und sagte nur ernst und ehrerbietig, daß Gott es ihr für die Waisen lohnen werde, wofür ihm aber die Generalin im Fortfahren zurief: „Du aber bist und bleibst doch ein alter Esel.“ Fedor Pawlowitsch überlegte sich die Sache und fand, daß es sehr gut war, so wie es gekommen war, und widersetzte sich der Generalin, der er sogar die formelle Erlaubnis gab, seine Kinder zu erziehen, in keinem einzigen Punkte. Von den erhaltenen Ohrfeigen aber erzählte er sofort selbst in der ganzen Stadt.

Die Generalin starb jedoch schon bald darauf und vermachte in ihrem Testament jedem der Kleinen tausend Rubel – „Zu ihrer Bildung zu verwenden, und daß dieses Geld unbedingt für sie verausgabt wird, aber so, daß es bis zu ihrer Mündigkeit ausreicht, denn diese Gabe muß für solche Kinder genügen; wenn es aber jemandem gefällt, so mag er seinen eigenen Beutel öffnen“ usw. Ich habe das Testament nicht selbst gelesen, aber ich hörte, daß es in dieser Art und jedenfalls in recht sonderbarem Tone abgefaßt gewesen sei. Der Haupterbe der Alten erwies sich indessen als sehr ehrenwerter Mensch: es war das der Adelsmarschall eines Kreises in jenem Gouvernement, Jefim Petrowitsch Polenoff. Er verhandelte mit Fedor Pawlowitsch brieflich über die Erziehung der Kinder, erriet sofort, daß Geld von diesem Vater nicht zu bekommen war – obgleich dieser nie geradezu absagte, sondern in solchen Fällen die Sache nur hinzog und dabei sogar in Gefühlsduselei verfiel – und nahm sich der Waisen persönlich an; er gewann namentlich den jüngeren Bruder Alexei sehr lieb und so wurde denn dieser lange Zeit ganz in seiner Familie erzogen. Wenn diese Jungen für ihre Erziehung und Bildung jemandem zu Dank verpflichtet waren, so waren sie es ausschließlich Polenoff, diesem ehrenwertesten und humansten Menschen, den man sich nur denken kann. Er bewahrte den Kleinen ihre tausend Rubel auf, die ihnen die Generalin hinterlassen hatte, so daß sie bis zu deren Mündigkeit mit den Prozenten auf je Zweitausend anwuchsen, bestritt die Erziehungskosten aus seiner eigenen Tasche, und verausgabte natürlich für jeden von ihnen viel mehr als tausend Rubel. Auf eine ausführliche Erzählung ihrer Kinder- und Jugendjahre kann ich mich wiederum nicht einlassen, daher werde ich nur die springenden Punkte aus ihrem Leben angeben. Über den älteren, Iwan, teile ich nur mit, daß er als düsterer und verschlossener Knabe aufwuchs, weit entfernt davon, schüchtern zu sein, aber es war – als ob er von Kindheit an gefühlt hätte, daß er in einer fremden Familie erzogen wurde und von fremder Barmherzigkeit lebte, und daß ihr Vater ein Mensch war, von dem zu sprechen man sich schämen mußte. Dieser Knabe bewies schon seit der frühesten Kindheit (so erzählte man wenigstens) eine außergewöhnliche und glänzende Begabung. Wie es geschah, daß er schon mit dreizehn Jahren die Familie Jefim Petrowitschs verließ und in ein Moskauer Gymnasium eintrat und bei der Gelegenheit zu einem erfahrenen und berühmten Pädagogen in Pension kam, zu einem Jugendfreunde Polenoffs, weiß ich nicht genau. Wie Iwan später selbst erzählte, war es sozusagen aus Jefim Petrowitschs „begeisterter Liebe zu guten Taten“ geschehen: Jefim Petrowitsch hätte sich nämlich für die Idee begeistert, daß die genialen Fähigkeiten des Knaben auch von einem genialen Pädagogen ausgebildet werden müßten. Übrigens waren beide schon tot, sowohl Polenoff wie auch der geniale Pädagoge, als Iwan das Gymnasium beendete und auf die Universität ging. Da aber Jefim Petrowitsch das von der Generalin den Kindern hinterlassene Geld schlecht angelegt hatte, so verzögerte sich infolge der bei uns unvermeidlichen Formalitäten die Auszahlung des Geldes dermaßen, daß der junge Mann in den zwei ersten Jahren auf der Universität gezwungen war, seinen Lebensunterhalt und das Studium sich selbst zu verdienen. Ich muß hier bemerken, daß er damals nicht einmal den Versuch machte, sich mit seinem Vater brieflich über eine Unterstützung zu verständigen – vielleicht aus persönlichem Stolz oder auch aus Verachtung, vielleicht aber auch aus kühler, gesunder Einsicht, da er sich wohl sagen konnte, daß von Papachen eine Unterstützung nicht zu erwarten war. Wie dem aber auch sein mochte, jedenfalls wußte sich der junge Mann sofort zu helfen und sich durch Arbeit das nötige Geld zu beschaffen: zuerst durch Stunden für zwanzig Kopeken, und darauf durch Zeitungsberichte von zehn Zeilen über Straßenvorfälle, mit der Unterschrift „Ein Augenzeuge“. Diese Berichte, sagt man, sollen stets so eigenartig und geistreich verfaßt gewesen sein, daß sie bald vorzüglich bezahlt wurden; so bewies er allein schon dadurch seine praktische und geistige Überlegenheit im Vergleich zu jenem großen Teil unserer unglücklichen und notleidenden studierenden Jugend beiderlei Geschlechts, die in den Großstädten gewöhnlich vom Morgen bis zum Abend die Türschwellen der Redaktionen abläuft, und sich nichts Besseres ausdenken kann, als ewig ein und dieselbe Bitte um Übersetzung aus dem Französischen oder um Kopierarbeit zu wiederholen. Iwan Fedorowitsch gab auch später seine Verbindungen mit den Redaktionen nie ganz auf, und in den letzten Jahren auf der Universität veröffentlichte er dann sehr talentvolle Abhandlungen über Bücher und Spezialfragen, die ihn sogar in den literarischen Kreisen bekannt machten. Doch erst in der allerletzten Zeit lenkte er plötzlich die Aufmerksamkeit eines weit größeren Kreises von Lesern auf sich: kurz nachdem er die Universität verlassen hatte und sich gerade anschickte, für seine zweitausend Rubel ins Ausland zu reisen, veröffentlichte er in einer der großen Tageszeitungen einen ganz besonderen Artikel, der geradezu Aufsehen erregte und sogar die Aufmerksamkeit der Spezialisten auf ihn lenkte. Es war das ein Artikel über eine Frage, die ihm, wie man meinen sollte, ganz fern liegen mußte, denn er hatte Naturwissenschaft studiert. Der Artikel behandelte die damals überall besprochene Frage „Kirchenjustiz“. Er untersuchte zuerst etliche schon geäußerte Meinungen und kam dann auf seine persönliche Anschauung der Sache. Besonders fiel der Ton auf und das Unerwartete seiner Schlüsse. Viele Geistliche hielten den Autor entschieden für einen von den Ihrigen. Und plötzlich begannen nicht nur die Anhänger der Staatspartei, sondern sogar die Atheisten ihm immer lebhafter ihren Beifall zu zollen. Schließlich aber behaupteten einige kluge Leute, die eine etwas feinere Nase hatten, daß der ganze Artikel nur eine freche Farce und eine Verhöhnung sei. Ich erwähne die Geschichte nur darum, weil dieser Artikel auch in dem bei unserer Stadt gelegenen berühmten Kloster bekannt wurde und die Mönche, die sich sehr für die aufgeworfene Kirchengerichtsfrage interessierten, einfach vor den Kopf stieß. Wie groß war die Verwunderung, als man auch den Namen des Autors erfuhr und somit, daß er ein Kind unserer Stadt und der Sohn „dieses selben Fedor Pawlowitsch“ sei! Da aber erschien der Autor selbst in unserer Stadt.

Warum Iwan Fedorowitsch zu uns kam, das fragte ich mich auch damals schon mit einer gewissen Unruhe. Diese so verhängnisvolle Ankunft, die den Anfang so vieler Ereignisse bildete, blieb für mich noch lange nachher unaufgeklärt und ist es teilweise vielleicht auch jetzt noch. Überhaupt war es sonderbar, daß dieser junge Mann, der so stolz, so gelehrt und dem Anschein nach gleichzeitig so vorsichtig war, plötzlich in dieses berüchtigte Haus kam, zu diesem Vater, der ihn bis dahin völlig ignoriert hatte, der ihn nicht einmal kannte, sich kaum seiner erinnerte und ihm natürlich auf keinen Fall und unter keinen Bedingungen Geld gegeben hätte, selbst wenn der Sohn ihn um welches gebeten haben würde, der sich aber trotzdem beständig fürchtete, daß seine Söhne Iwan und Alexei doch auch einmal kommen und ihn dann um Geld bitten könnten. Und siehe da, plötzlich kommt der junge Mann in das Haus solch eines Vaters, lebt mit ihm einen Monat und dann noch einen, und beide leben miteinander, wie man es sich besser nicht wünschen könnte. Wahrlich, das setzte nicht nur mich in Erstaunen, sondern auch noch viele andere.

Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, der Vetter der ersten Frau Fedor Pawlowitschs, war kurz vorher aus Paris, wo er sich endgültig niedergelassen hatte, auf einige Zeit wieder in die Heimat gekommen und wohnte damals auf seinem Gute. Ich erinnere mich noch, daß gerade er mehr als alle anderen über dieses gute Einvernehmen erstaunt war, als er diesen ihn sehr interessierenden jungen Mann kennen lernte, dem er, nebenbei bemerkt nicht ganz ohne Neid, Kenntnisse zugestehen mußte, die die seinigen weit überstiegen. „Er ist sehr stolz,“ sagte er damals von Iwan Karamasoff, „wird sich immer sein Geld selbst verdienen und besitzt bereits so viel, daß er ins Ausland reisen kann – was also sucht er noch hier? Es ist doch allen klar, daß er nicht zum Vater gekommen ist, um Geld zu holen, ganz abgesehen davon, daß der Vater ihm doch auf keinen Fall welches geben würde. Zu trinken und ausschweifend zu leben, liebt er auch nicht, und doch kann der Alte ohne ihn kaum noch auskommen, dermaßen gut vertragen sich die beiden!“

Und so war es auch. Der junge Mann hatte ersichtlich einen großen Einfluß auf den Vater; der schien ihm sogar zu gehorchen, wenn er auch bisweilen unglaublich und geradezu heimtückisch eigensinnig sein konnte; ja, er fing sogar an sich anständiger aufzuführen.

Erst später stellte sich heraus, daß Iwan Fedorowitsch zum Teil auf die Bitte seines älteren Bruders Dmitrij Fedorowitsch gekommen war, den er kurz vorher zum erstenmal gesehen und kennen gelernt hatte, doch mit dem er schon längere Zeit vor seiner Fahrt hierher in einer wichtigen Angelegenheit, die wiederum nur Dmitrij Fedorowitsch anging, im Briefwechsel gestanden hatte. Was das für eine Angelegenheit war, wird der Leser späterhin bis in alle Einzelheiten erfahren. Nichtsdestoweniger schien mir Iwan Fedorowitsch auch dann noch rätselhaft, als ich schon alles, selbst diesen sonderbaren Umstand, wußte, und sein Aufenthalt bei uns immerhin unerklärlich.

Ich füge noch hinzu, daß Iwan Fedorowitsch zwischen dem Vater und dem älteren Bruder Dmitrij Fedorowitsch, der gegen den Vater eine gerichtliche Klage einzureichen beabsichtigte, der Vermittler und Friedensstifter zu sein schien.

Die Familie war damals, wie ich schon erwähnte, zum erstenmal vollzählig versammelt, und so sahen sich denn auch einige ihrer Glieder zum erstenmal im Leben. Nur der jüngste Sohn, Alexei Fedorowitsch, lebte schon seit fast einem Jahr bei uns; ihn hatten wir von den drei Brüdern zuerst kennen gelernt. Über ihn bereits in meiner Einleitung etwas zu sagen, ist mir aber am schwersten. Nur kann ich das eine, wie ich sehe, nicht umgehen, da es eine sehr sonderbare Tatsache zu erklären gilt, nämlich: warum ich meinen Helden schon in der ersten Szene seines Romans in der Kutte eines Klosternovizen vorführen muß. Denn fast seit einem Jahr lebte er schon in unserem Kloster und beabsichtigte, wie es schien, sich für sein ganzes Leben in ihm einzuschließen.

IV.
Der dritte Sohn Aljoscha[3]

Er zählte erst zwanzig Jahre (sein Bruder Iwan war vierundzwanzig und der älteste Bruder Dmitrij achtundzwanzig Jahre alt). Vor allem möchte ich bemerken, daß dieser Jüngling durchaus kein Fanatiker war und, wenigstens meines Erachtens, auch kein Mystiker. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich in ihm einfach einen jugendlichen Menschenfreund sehe. Wenn er aber ins Kloster ging, so tat er das nur, weil das Klosterleben einen tiefen Eindruck auf ihn machte und ihm als Ideal eines Ausgangs seiner sich aus dem Dunkel des Bösen dieser Welt zum Licht der Liebe sehnenden Seele erschien. Und einen so tiefen Eindruck machte dieses Leben auf ihn wohl nur, weil er dort im Kloster einen so ungewöhnlichen Menschen antraf: unseren berühmten Staretz[4] Sossima, an den er sich sofort mit der ganzen großen ersten Liebe seines heißen, sehnsüchtigen Herzens hing. Übrigens will ich nicht bestreiten, daß er schon damals sehr sonderbar war; ja, er war es eigentlich schon seit seiner frühesten Kindheit. Als seine Mutter starb, hatte er kaum das vierte Jahr erreicht, und doch erinnerte er sich, wie ich schon erwähnte, ihres Gesichts, ihrer Liebkosungen, „ganz, als ob sie lebend vor mir stände“. Solche Erinnerungen kann man bekanntlich aus noch jüngeren Jahren haben, schon aus dem zweiten Lebensjahre, doch treten sie im späteren Leben nur wie helle Punkte aus der Dunkelheit hervor, wie ein hellgebliebenes Eckchen eines riesigen Bildes, das bis zur Unkenntlichkeit nachgedunkelt und verloschen ist – bis auf diesen einen begrenzten Fleck. So war es auch mit seiner Erinnerung. Er entsann sich eines stillen Sommerabends: durch das offene Fenster fallen die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne in das Zimmer und in die Ecke auf das Heiligenbild, vor dem das Lämpchen brennt (der schrägen Sonnenstrahlen erinnerte er sich am besten), vor dem Heiligenbild kniet seine Mutter, die „Klikuscha“, die hysterisch weint, schluchzt und Schmerzensschreie ausstößt; sie zieht ihn zu sich heran, umarmt ihn so fest, daß es ihm weh tut, und während sie die Muttergottes um Schutz für ihn anfleht, hebt sie ihn zum schimmernden Heiligenbild empor, als ob sie ihn unter den Schutz der Muttergottes stellen wollte ... und plötzlich kommt die Kinderfrau ins Zimmer hereingestürzt und reißt ihn ganz erschrocken aus den Händen der Mutter. Das war das Bild. Er erinnerte sich auch noch des Gesichtes der Mutter in jenem Augenblick; er sagte: „Es muß wie wahnsinnig, wie verzückt gewesen sein und doch wunderbar schön, wenigstens darnach zu urteilen, wie ich es noch vor mir sehe“. Doch liebte er es nicht, davon zu sprechen. Als Knabe, und auch späterhin als Jüngling, war er wenig mitteilsam und gar nicht gesprächig, doch war er es nicht etwa aus Schüchternheit, sondern aus ganz anderen Gründen, aus gleichsam unbewußten, innerlichen Empfindungen, die eigentlich nur ihn persönlich angingen und mit anderen Menschen nichts zu tun hatten, die aber für ihn so wichtig waren, daß er seine Umgebung darüber ganz zu vergessen schien. Doch er liebte die Menschen: er glaubte an sie sein ganzes Leben hindurch und doch hielt ihn niemand für beschränkt oder naiv. Es war etwas in ihm, was ihm die Menschen zu richten verbot, und ihm immer zuflüsterte, daß er nicht der Richter der Menschen sein, nicht das Verurteilen auf sich nehmen wolle und darum auch unter keiner Bedingung verurteilen werde. Es schien sogar, daß er alles zugab und nichts verurteilte, wenn er auch oftmals selbst schwer darunter litt. Ja, schließlich konnte ihn nichts und niemand mehr weder in Erstaunen setzen noch erschrecken, und das war eigentlich schon von seiner frühesten Jugend an der Fall. Als er mit zwanzig Jahren rein und keusch zu seinem Vater kam, in diese Höhle schmutzigen Lasters, entfernte er sich nur schweigend, wenn er es nicht mehr mit ansehen konnte; doch tat er das ohne den geringsten Ausdruck von Verachtung und Verurteilung, einerlei wessen. Sein Vater, der als ehemaliger Freischlucker gegen solche Beleidigungen ungemein feinfühlig und mißtrauisch war, und ihn denn auch sehr voreingenommen empfing („Er schweigt zu viel und denkt mir viel zu viel,“ sagte er), kam schon nach kurzer Zeit, nach kaum zwei Wochen, immer häufiger zu ihm, um ihn zu umarmen und zu küssen, allerdings mit trunkenen Tränen und in berauschter Rührseligkeit, doch ersichtlich auch, weil er ihn aufrichtig immer mehr lieb gewann, so, wie er vielleicht noch nie jemanden geliebt hatte.

Ja, alle Menschen liebten diesen Jüngling, überall brachte man ihm, wo er auch erschien, schon von Kindheit an sofort Liebe entgegen. Im Hause seines Wohltäters und Erziehers Jefim Petrowitsch Polenoff hatten ihn alle so lieb, daß man ihn wirklich wie einen leiblichen Sohn behandelte. Und doch kam er in dieses Haus in so jungen Jahren, daß es unmöglich ist anzunehmen, er habe durch Schlauheit oder die Kunst zu gefallen oder sich einzuschmeicheln, die allgemeine Liebe erworben. So trug er denn diese Gabe, in allen Liebe zu erwecken, ganz unbewußt in sich, sie lag sozusagen schon in seiner Natur. Dasselbe geschah mit ihm auch in der Schule, während man doch hätte glauben können, daß er gerade zu jenen Kindern gehörte, die in den Kameraden gewöhnlich Spott hervorrufen, nicht selten aber Mißtrauen und sogar Haß. Er war zum Beispiel immer nachdenklich und schien sich gern von allen abzusondern. Er liebte es schon von Kindheit an, sich in einen Winkel zurückzuziehen und Bücher zu lesen. Und doch liebten ihn auch seine Schulkameraden sogar so auffallend, daß man ihn tatsächlich während seiner ganzen Schulzeit den allgemeinen Liebling nennen konnte. Er war selten ausgelassen, selten auch nur lustig; aber ein jeder, der ihn ansah, wußte sofort, daß er nicht finster oder mürrisch war, sondern heiter und gutmütig. Unter seinen Altersgenossen suchte er nie sich hervorzutun. Vielleicht kam dies daher, daß er niemanden und nichts fürchtete, und doch begriffen die Knaben sofort, daß seine Unerschrockenheit keine Prahlerei sein konnte und er selbst nicht einmal wußte, daß er kühn und furchtlos war. Beleidigungen trug er nie nach. Es kam vor, daß er nach einer Stunde dem Beleidiger antwortete oder mit ihm selbst so heiter und zutraulich ein Gespräch begann, als ob niemals etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre. Und nie hatte es dabei den Anschein, daß er absichtlich vergessen oder dem Beleidiger verzeihen wollte, sondern es geschah immer ganz harmlos von ihm, als ob er es gar nicht für eine Beleidigung gehalten hätte – und das war es, was die Kinder bestrickte und sie ihm unterwarf. Nur eine Eigenschaft hatte er, die in allen Klassen des Gymnasiums, von der niedrigsten bis zur höchsten, in den Kameraden immerwährend den Wunsch erweckte, ihn zu necken, nicht etwa aus Bosheit, sondern einfach, weil es ihnen Spaß machte. Das waren seine Scham und seine Keuschheit. Er konnte gewisse Worte und gewisse Gespräche über Frauen nicht ertragen. Diese „gewissen“ Worte und Gespräche sind zum Unglück in den Schulen unausrottbar. In der Seele und im Herzen reine Jungen, fast noch Kinder, lieben es zuweilen, in den Klassen unter sich und auch laut von solchen Sachen, Bildern und Vorstellungen zu sprechen, über die selbst einfache Soldaten nicht sprechen würden, denn Soldaten wissen und verstehen vieles nicht von dem, was ganz jungen Kindern unserer höheren Gesellschaft schon bekannt ist. Eine Sittenverderbnis kann man das nicht gut nennen, ein wirklicher innerer Zynismus ist es auch nicht, wohl aber ist es ein äußerer Zynismus, den man oft für vornehm, „schneidig“ und womöglich noch für nachahmungswürdig hält. Als man nun bemerkte, daß „Aljoschka Karamasoff“, wenn man „davon“ sprach, seine Finger in die Ohren steckte, so versammelte man sich um ihn und riß ihm mit Gewalt die Hände fort und schrie ihm dann Gemeinheiten in beide Ohren: er jedoch riß sich los, wälzte sich auf dem Fußboden herum, versuchte sich zu verstecken und zu bedecken, ertrug aber, ohne ihnen ein Wort zu erwidern, ohne zu schreien, schweigend die Beleidigung. Zu guter Letzt ließen sie ihn denn auch in Ruh und neckten ihn nicht mehr als „das Mädchen“, sahen aber in der Beziehung doch mit Bedauern auf ihn herab. Als Schüler war er einer von den besseren, doch niemals war er der erste.

Als Polenoff starb, blieb Aljoscha noch zwei Jahre im Kreisgymnasium. Die untröstliche Gemahlin Jefim Petrowitschs begab sich sofort nach seinem Tode, und zwar auf lange Zeit, mit ihrer ganzen Familie, die nur aus Wesen weiblichen Geschlechts bestand, nach Italien. Aljoscha kam zu zwei Damen, die er früher niemals gesehen hatte, zu entfernten Verwandten Jefim Petrowitschs; unter welchen Bedingungen, das wußte er selbst nicht. Charakteristisch, und das sogar im höchsten Grade, war diese eine Eigenschaft an ihm, daß er sich niemals darum bekümmerte, auf wessen Kosten er lebte. Darin war er der größte Gegensatz seines älteren Bruders Iwan Fedorowitsch, der die zwei ersten Jahre auf der Universität Not litt und sich durch seine eigene Arbeit ernährte, und es von Kindheit an immer bitter empfunden hatte, daß er auf fremde Kosten, auf die seines Wohltäters, leben mußte. Diese sonderbare Charaktereigenschaft Aljoschas konnte man indessen nicht streng verurteilen, denn ein jeder, der ihn nur etwas näher kennen lernte, überzeugte sich alsbald, daß Aljoscha in der Beziehung zu dem Typ der gleichsam einfältigen Jünglinge gehörte, die, wenn man ihnen ein ganzes Kapital gäbe, es bei der ersten Gelegenheit fortgeben würden, sei es zu einem guten Zweck oder einfach einem gewandten Menschen, wenn er sie darum bäte. Ja, und überhaupt kannte er nicht den Wert des Geldes – versteht sich, nicht im buchstäblichen Sinne gesprochen. Aber wenn man ihm Taschengeld gab, um das er niemals selbst bat, so wußte er wochenlang nicht, was er mit ihm anfangen sollte, oder er gab es sofort, und ohne zu berechnen, aus. Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, ein Mensch, der in Geldsachen und bourgeoisen Ehrbegriffen sehr empfindlich war, sprach über Alexei einmal folgenden Aphorismus aus: „Er ist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der, wenn man ihn plötzlich allein und ohne Geld auf einem Platze einer ihm unbekannten Millionenstadt ließe, weder verloren gehen würde, noch vor Kälte oder Hunger sterben, denn man würde ihm sofort zu essen geben, ihm sofort alles verschaffen, ohne daß er sich auch nur anzustrengen brauchte oder sich erniedrigen müßte, und ohne daß er dem Gönner zur Last fiele, im Gegenteil, man würde es sich noch zur Ehre anrechnen.“

Das Gymnasium beendete er nicht; er hatte noch ein ganzes Jahr vor sich, als er plötzlich seinen Damen erklärte, daß er wegen einer Sache, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, zu seinem Vater fahren müsse. Die Damen waren sehr betrübt und erschrocken darüber und wollten es ihm zuerst nicht gestatten. Die Fahrt kostete nicht viel, doch die Damen erlaubten ihm nicht, seine Uhr zu dem Zwecke zu versetzen – ein Geschenk, das er zur Erinnerung von der Familie seines Wohltäters erhalten hatte, als diese ins Ausland abgereist war – und statteten ihn selbst nicht nur mit reichen Mitteln, sondern auch noch mit neuen Kleidern und guter Wäsche aus. Er gab ihnen aber die Hälfte des Geldes zurück und erklärte ihnen, daß er durchaus in der dritten Klasse fahren wolle. Als er dann in unserem Städtchen ankam, antwortete er auf die ersten Fragen seines Vaters: „Warum hast du dich denn hierher begeben, ohne deinen Kursus beendet zu haben?“ einfach überhaupt nichts, sondern war, wie man sich allgemein erzählte, in sich gekehrt und nachdenklich. Bald darauf brachte man heraus, daß er das Grab seiner Mutter suchte. Er sagte später sogar selbst, daß er nur darum gekommen sei. Aber es ist wohl kaum anzunehmen, daß dies allein der Grund seiner Reise war. Viel wahrscheinlicher ist, daß er sich damals selbst nicht erklären konnte, was er wollte: irgend etwas hatte sich in seiner Brust erhoben, etwas, das ihn schon auf einen neuen, unbekannten und unvermeidlichen Weg zog. Fedor Pawlowitsch konnte ihm übrigens den Platz, wo er seine zweite Frau begraben hatte, nicht zeigen, da er nach der Beerdigung niemals mehr an ihrem Grabe gewesen war, und daher im Laufe der Jahre ganz vergessen hatte, wo sie eigentlich beerdigt lag ...

Noch ein Wort über Fedor Pawlowitsch. Er hatte längere Zeit über nicht in unserem Städtchen gelebt. Im dritten oder vierten Jahre nach dem Tode seiner Frau war er in den Süden Rußlands gereist und zu guter Letzt in Odessa angekommen, wo er einige Jahre verlebte. Nach seinen eigenen Worten hatte er sich dort mit vielen „Juden und Jüdchen der verschiedensten Sorten“ angefreundet, und war zum Schluß sogar „bei richtigen Hebräern“ empfangen worden. Es ist wohl anzunehmen, daß er in dieser Periode seines Lebens die besondere Kunst entwickelt hatte, aus allem Geld herauszuschlagen und so sein Kapital beträchtlich zu vergrößern. Er kehrte erst drei Jahre vor der Ankunft Aljoschas endgültig in unser Städtchen zurück. Seine früheren Bekannten fanden ihn sehr gealtert, obgleich er noch längst kein Greis war; auch hielt er sich nicht etwa anständiger, sondern womöglich noch unanständiger. Vor allem tat sich in dem alten Narren das Bedürfnis kund, jetzt auch andere zu Narren zu machen. Mit Frauen verkehrte er nicht nur wie früher, sondern tat es noch gemeiner, noch widerlicher. In kurzer Zeit gründete er viele neue Schenken in unserem Gouvernement. Es war klar, daß er mindestens hunderttausend Rubel Kapital besitzen mußte. Viele von den Stadteinwohnern, aber auch viele vom Lande, wurden denn auch alsbald seine Schuldner, doch natürlich nur unter den sichersten Garantieen. Äußerlich veränderte er sich in der letzten Zeit ganz ansehnlich: er bekam etwas Aufgedunsenes, das er früher nicht gehabt hatte, schien sich auch von seinen Handlungen nicht mehr Rechenschaft ablegen zu können, bekundete einen gewissen Leichtsinn, begann mit dem einen und endete mit etwas ganz anderem, wurde auffallend unruhig und betrank sich immer öfter, und wenn ihn nicht zuweilen sein treuer Diener Grigorij, der in der Zwischenzeit gleichfalls recht gealtert war, fast wie seinen Zögling bewacht und beschützt hätte, so würde er sich vielleicht durch seine Lebensweise ernste Unannehmlichkeiten zugezogen haben. Die Ankunft Aljoschas machte aber in moralischer Beziehung doch einen gewissen Eindruck auf ihn: es schien, als ob in diesem verderbten Alten etwas von dem wiedererwachte, was in seiner Seele schon längst verstummt war.

„Weißt du auch, Alexei,“ sagte er oftmals, wenn er ihn betrachtete, „daß du ihr sehr ähnlich bist, ich meine der Klikuscha?“ So nannte er stets seine verstorbene Frau, die Mutter Iwans und Aljoschas. Das Grab der „Klikuscha“ zeigte dem Jungen schließlich der Diener Grigorij. Er führte ihn auf unseren Friedhof, und dort zeigte er ihm in einer entlegenen Ecke eine kleine, nicht gerade teuere, doch immerhin sauber gearbeitete gußeiserne Platte, auf der sogar eine Inschrift stand: der Name, das Geburts- und Todesjahr der Verstorbenen, und darunter war noch ein vierstrophiger Spruch eingraviert, einer von den allgemein gebräuchlichen auf den Gräbern des Mittelstandes. Diese Platte erwies sich zu Aljoschas nicht geringer Verwunderung als ein Liebeswerk Grigorijs. Er hatte sie selbst auf dem Grabe der armen „Klikuscha“ errichten lassen, auf seine Kosten, nachdem Fedor Pawlowitsch, den er mehrmals mit der Erinnerung an dieses Grab geärgert hatte, schließlich nach Odessa gefahren war und hinfort nicht nur von Gräbern, sondern auch von allem Gewesenen nichts mehr wissen wollte. Aljoscha äußerte am kleinen Grabe seiner Mutter keinerlei besondere Rührung; er hörte nur der wichtig und ernst vorgetragenen Erzählung Grigorijs von der Errichtung der Grabplatte zu, stand mit gesenktem Kopf, und sprach die ganze Zeit über kein Wort. Seit jenem Tage war er vielleicht im ganzen Jahr kein einziges Mal wieder auf den Kirchhof gegangen. Doch auf Fedor Pawlowitsch machte auch diese kleine Episode einen gewissen Eindruck, was sich in einer sehr originellen Weise äußerte. Er nahm plötzlich tausend Rubel und brachte dieses Tausend in unser Kloster, um Seelenmessen für seine verstorbene Frau lesen zu lassen, doch nicht für die zweite, die Mutter Aljoschas, die „Klikuscha“, sondern für die erste, Adelaida Iwanowna, die ihn geprügelt hatte. Am Abend dieses Tages betrank er sich, und schimpfte dann in Aljoschas Gegenwart gewaltig über die Mönche. Selbst war er nichts weniger als ein religiöser Mensch; er hatte vielleicht kein einziges Mal im Leben ein Fünfkopekenlicht vor ein Heiligenbild gestellt. Aber gerade solche Burschen können zuweilen ganz sonderbare Ausbrüche plötzlicher Gefühle und plötzlicher Gedanken haben.

Ich sagte schon, daß sein Gesicht aufgedunsen war. Seine Züge drückten damals etwas aus, das scharf die Charakteristik und das Wesentliche seines durchlebten Lebens kennzeichnete. Außer den langen und fleischigen Säcken unter seinen kleinen, ewig unverschämten, mißtrauischen und spöttischen Äuglein, außer einer Menge kleiner, tiefer Runzeln in seinem kleinen, doch fetten Gesicht, hing sich an sein spitzes Kinn noch ein großes, fleischiges und sackartig längliches Doppelkinn, das ihm ein ganz besonders widerlich-lüsternes Aussehen verlieh. Hinzu füge man jetzt noch einen großen, sinnlichen Mund mit fleischigen Lippen, hinter denen man die kleinen Stummel schwarz gewordener, fast verfaulter Zähne sah. Wenn er zu sprechen begann, spritzte jedesmal Speichel von seinen Lippen. Übrigens liebte er selbst, über sein Gesicht zu scherzen, obgleich er, wie es schien, ganz zufrieden mit ihm war. Besonders wies er auf seine Nase hin, die nicht sehr groß, doch sehr schmal und stark gebogen war: „Echt römisch,“ pflegte er zu sagen, „zusammen mit dem Doppelkinn die echte Physiognomie eines alten römischen Patriziers aus der Verfallszeit.“ Darauf, glaube ich, war er sogar ziemlich stolz.

Eines Tages nun, bald nachdem Aljoscha das Grab seiner Mutter besucht hatte, erklärte dieser plötzlich seinem Vater, daß er in das Kloster eintreten wolle, und daß die Mönche bereit seien, ihn als Novizen aufzunehmen. Er fügte noch hinzu, daß es sein heißer Wunsch sei, und daß er jetzt von ihm, seinem Vater, die feierliche Erlaubnis dazu erbäte. Der Alte wußte schon, daß der Staretz Sossima, der in der Einsiedelei des Klosters lebte, auf seinen „sanften, stillen Jungen“ einen tiefen Eindruck gemacht hatte.

„Dieser Staretz ist bei ihnen noch der ehrlichste von allen,“ brummte er vor sich hin, nachdem er Aljoschas Bitte, über die er sich weiter gar nicht wunderte, angehört hatte. „Hm ... sieh mal einer an, wohin du willst ... Also dorthin willst du, mein sanfter Junge!“ Er war halbtrunken, und plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem langen, stumpfen Grinsen, das aber doch nicht einer gewissen Schlauheit und Hinterlist entbehrte: „Hm ... weißt du, ich ahnte es ja, daß du gerade mit irgend so etwas enden würdest, kannst du dir das vorstellen? Gerade darauf hattest du’s doch abgesehen. Nun, was, meinetwegen ... Du hast doch deine Zweitausend, das wäre denn die Aussteuer. Ich aber werde dich, mein Liebling, nie verlassen, und auch jetzt werde ich dir alles geben, was du zum Eintritt nötig hast, wenn sie’s verlangen. Nun, und wenn sie’s nicht verlangen, warum dann aufdrängen, nicht wahr? Geld gibst du ja nur wie’n Kanarienvogel aus, kaum zwei Körnchen in einer Woche ... Hm ... weißt du, bei einem bekannten Kloster gibt’s so eine kleine Vorstadt, und alle wissen dort schon, daß in ihr nur die ‚Klosterweiber‘ leben, so werden sie dort allgemein genannt, etwa dreißig an der Zahl, glaube ich ... Ich war dort mal, nicht uninteressant, natürlich in ihrer Art, so als Abwechslung einmal. Gemein war nur der furchtbare Russizismus, nicht eine einzige Französin war dabei, könnten aber sein, denn die Mittel sind bedeutend. Nun, werden’s schon bald riechen und angeflogen kommen. Hier aber, alle Achtung, hier gibt’s keine Klosterweiber, Mönche an zweihundert Stück. Alle ehrsam, nichts zu sagen. Fasten bloß. Ich muß gestehen ... Hm! Also du willst zu den Mönchen gehen? Aber du tust mir doch leid, Aljoscha, wirklich, glaub mir, ich habe dich liebgewonnen! ... Übrigens, das wäre eine günstige Gelegenheit: Du kannst dort auch für uns Sünder beten, haben wir doch hier schon gar zu viel gesündigt. Ich habe immer daran gedacht: wer wird einmal für mich beten? Gibt es in der Welt auch nur einen einzigen Menschen, der für mich beten wird? Du mein lieber Junge, ich bin doch in dieser Beziehung ganz furchtbar dumm, du glaubst es nicht, wie dumm! Ganz furchtbar. Siehst du: wie dumm ich aber nun auch bin, an dieses denke ich doch ununterbrochen, ununterbrochen, d. h. versteht sich, so mitunter, aber ich denke doch immerhin daran! Es kann doch nicht sein, denke ich, daß die Teufel vergessen sollten, mich mit Ofenkrücken oder spitzen Haken zu sich hinabzuziehen, wenn ich gestorben bin? Nun, und da denke ich denn so: Haken? Woher nehmen sie die? Schön, – Haken! – aber was für welche? Etwa eiserne? Wo werden sie denn dort geschmiedet? Oder haben sie dort womöglich so ’ne ganze Fabrik? Im Kloster glauben doch die Mönche sicherlich, daß es in der Hölle, zum Beispiel, einen Plafond, eine Decke gibt. Ich aber, siehst du, bin bereit, an die Hölle zu glauben, nur muß sie ohne Decke sein; das ist gewissermaßen delikater, aufgeklärter – das heißt lutherischer. Im Grunde aber sollte man meinen, – ist’s denn nicht einerlei: mit ’ner Decke oder ohne Decke? Das aber ist ja die verflixte Frage! Nun, sage doch selbst: wenn es keine Decke gibt, so gibt es folglich auch keine Haken. Gibt’s aber keine Haken, so geht ja die ganze Hölle flöten, dann ist ja das Ganze nur ’ne Fabel; also – wiederum unwahrscheinlich: wer wird mich dann noch mit Ofengabeln hinunterziehen, denn wenn man nicht einmal mich hinunterzieht, wer soll dann überhaupt noch gezogen werden, und wo ist dann die Gerechtigkeit in der Welt? Il faudrait les inventer, diese Ofengabeln, speziell für mich, für mich allein, denn, ach Aljoscha! – wenn du wüßtest, was ich für ein Schandkerl bin! ...“

„Aber dort gibt es doch gar keine Ofengabeln,“ sagte still und ruhig Aljoscha, der ernst den Vater betrachtete.

„Stimmt, nur Schatten von Ofengabeln. Ich weiß, ich weiß. Das ist, wie ein Franzose die Hölle beschreibt: J’ai vu l’ombre d’un cocher qui avec l’ombre d’une brosse frottait l’ombre d’une carrosse. Aber woher weißt du denn, mein Täubchen, daß es dort keine Ofengabeln gibt? Bleib mal erst ein bißchen bei den Mönchen, dann wirst du schon was andres anstimmen, wirst piepen, wie die Alten singen. Doch, übrigens, gehe hin, wenn du willst, trachte, bis zur Wahrheit vorzudringen und komm dann her erzählen: es wird doch immerhin leichter sein, ins Jenseits abzugehen, wenn man genau weiß, wie’s dort eigentlich zugeht. Und dort bei den Mönchen ist’s auch anständiger für dich als hier bei mir, dem alten Trinker und den Mädels ... wenn auch dich, wie einen Engel, nichts berührt. Nun, vielleicht wird dich auch dort nichts berühren, nur darum erlaube ich dir alles, weil ich eben darauf hoffe. Deinen Verstand hat doch nicht der Teufel aufgefressen. Wirst entflammen und erlöschen, gesund werden und zurückkommen. Ich aber werde dich erwarten. Fühle ich doch, daß du der einzige Mensch auf der ganzen Welt bist, der mich nicht verurteilt hat, du mein lieber Junge, das fühle ich doch, wie soll ich denn das nicht fühlen! ...“

Und er fing sogar an zu flennen. Er war ein sentimentaler Mensch. Er war gemein und sentimental zugleich.

V.
Die Startzen

Vielleicht werden meine Leser denken, Aljoscha Karamasoff sei ein kränklicher, ekstatischer, dürftig entwickelter Jüngling gewesen, ein bleicher Träumer, ein blutarmer, kraft- und saftloser Mensch. Im Gegenteil: Aljoscha war schon ein stattlicher, neunzehnjähriger junger Mann mit einem hellen, offenen Blick und strotzte fast vor Gesundheit. Er war sogar sehr hübsch, prächtig gewachsen, dabei von mittelhohem Wuchs, dunkelblond, das Gesicht von einem regelmäßigen, etwas länglichen Oval, in dem die glänzenden, dunkelgrauen Augen weit auseinanderstanden, war sehr nachdenklich und – wenigstens schien es so – sehr ruhig. Man wird vielleicht sagen, daß rote Wangen weder Fanatismus noch Mystizismus ausschließen; ich aber glaube, daß Aljoscha mehr als sonst jemand Realist war. O, versteht sich, im Kloster glaubte er vollkommen an Wunder, doch meiner Meinung nach machen Wunder einen Realisten niemals irre. Nicht die Wunder führen den Realisten zum Glauben. Wenn der echte Realist ungläubig ist, wird er immer die Kraft und die Fähigkeit in sich finden, dem Wunder nicht zu glauben, wenn aber das Wunder vor ihm zur unabweisbaren Tatsache wird, so wird er eher seinen Sinnen nicht trauen, als daß er die Tatsache zugäbe. Oder gibt er sie auch einmal zu, so wird er sie doch nur als ganz natürlichen Vorgang zugeben, der ihm nur bis dahin noch unbekannt war. Im Realisten wird der Glaube nicht durch das Wunder hervorgerufen, sondern das Wunder durch den Glauben. Wenn der Realist einmal glaubt, so muß er gerade infolge seines Realismus unbedingt auch das Wunder zugeben. Der Apostel Thomas sagte, daß er nicht eher glauben werde, als bis er selbst sähe, als er aber sah, da rief er: „Mein Herr und mein Gott!“ Machte ihn das Wunder glauben? Wahrscheinlich nicht, sondern er glaubte ausschließlich darum, weil er glauben wollte, und vielleicht glaubte er in seinem Innersten schon damals vollkommen, als er sagte, er werde nicht eher glauben, als bis er selbst sähe.

Oder vielleicht wird man sagen, Aljoscha sei stumpf gewesen, unentwickelt, habe das Gymnasium nicht beendet usw. Letzteres ist allerdings wahr, doch wäre es eine große Ungerechtigkeit, zu sagen, daß er dumm gewesen sei. Ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: Der einzige Grund, warum er diesen Weg einschlug, war der, daß nur dieser Weg allein auf ihn damals einen tiefen Eindruck machte und ihm mit einemmal das ganze Ideal der Erlösung seiner leidenschaftlich aus der Finsternis zum Licht strebenden Seele zeigte. Jetzt bedenke man noch, daß er seinem Alter nach teilweise schon unserer neuen Zeit angehörte, also schon von Natur ehrlich war, nach Wahrheit verlangte, sie suchte, an sie glaubte und mit der ganzen Kraft seiner Seele der Wahrheit unmittelbar teilhaftig werden wollte, sich nach einer Heldentat sehnte, und zwar mit dem bedingungslosen Wunsch, für diese Tat womöglich alles, selbst das Leben zu opfern. Nur sehen es diese Jünglinge leider nicht ein, daß das Opfer des Lebens in den meisten Fällen vielleicht das leichteste von allen Opfern ist, und daß, zum Beispiel, von seinem in Jugend schäumenden Leben fünf oder sechs Jahre schwerem, mühsamem Studium der Wissenschaft zu opfern – und wenn auch nur, um in sich die Kraft zur Förderung dieser selben Wahrheit und zur Ausführung derselben Heldentat, für die man schwärmt, und die zu erfüllen man sich vorgenommen hat, zu verzehnfachen – daß solch ein Opfer vielen von ihnen weit über ihre Kräfte geht. Aljoscha erwählte bloß den Weg, der allen anderen entgegengesetzt war, doch tat er es mit demselben heißen Verlangen nach einer schnellen Heldentat. Kaum war er in ernstem Nachdenken von der Überzeugung, daß es Unsterblichkeit und Gott gibt, ergriffen worden, als er sich natürlicherweise sofort sagte: „Ich will für die Unsterblichkeit leben, auf einen Kompromiß aber gehe ich nicht ein.“ Ebenso wäre er, wenn er sich überzeugt hätte, daß es Unsterblichkeit und Gott nicht gibt, sofort zu den Atheisten und Sozialisten übergegangen (denn der Sozialismus ist nicht nur eine Arbeiterfrage oder eine Frage des sog. vierten Standes, sondern hauptsächlich eine atheistische Frage, die Frage der gegenwärtigen Inkarnation des Atheismus, die Frage des „Turmes zu Babel“, der gerade ohne Gott gebaut wird, nicht zur Erreichung des Himmels von der Erde aus, sondern zur Niederführung des Himmels auf die Erde). Es schien Aljoscha sogar sonderbar und unmöglich, so weiter zu leben. Es steht geschrieben: „Verteile dein Gut und folge mir nach, wenn du vollkommen sein willst.“ Und so sagte sich denn auch Aljoscha: „Ich kann doch nicht an Stelle meines ganzen Gutes nur zwei Rubel geben, und anstatt des ‚folge mir nach‘ nur zur Kirche gehen.“ Von den Eindrücken seiner Kinderjahre erinnerte er sich vielleicht noch einiger aus unserem Kloster, wohin ihn die Mutter oftmals mitgenommen hatte. Vielleicht waren auch die schrägen Strahlen der Abendsonne, die auf das schimmernde Heiligenbild fielen, als ihn seine Mutter, die Klikuscha, zu jenem hingehalten hatte, auf ewig in seine Seele gefallen. Nachdenklich und still war er damals, als er herkam, vielleicht nur, um zu sehen: Ist hier alles, oder sind auch hier nur zwei Rubel? – Da traf er im Kloster diesen Staretz ...

Dieser Staretz war, wie ich schon früher sagte, der Staretz Sossima. Doch hier sehe ich mich gezwungen, zunächst ein wenig zu erläutern, wer und was diese „Startzen“ in unseren Klöstern eigentlich sind. Es tut mir nur leid, daß ich mich in dieser Frage nicht ganz maßgebend fühle; ich werde mich daher mit einer kurzen, mehr oberflächlichen Erklärung begnügen. Viele Sachkundige behaupten, daß das Startzentum bei uns in unseren russischen Klöstern erst seit sehr kurzer Zeit eingeführt sei, kaum seit hundert Jahren, während es im ganzen orthodoxen Osten, besonders auf dem Sinai und dem Athos, schon seit mehr denn tausend Jahren vorkomme. Es wird zwar behauptet, daß das Startzentum auch bei uns früher, schon in den ältesten Zeiten, bestanden habe, dann aber infolge der vielen Heimsuchungen Rußlands, infolge des Tatarenjochs, der inneren Unruhen, der Unterbrechung unserer früheren Verbindungen mit dem Westen und schließlich der Eroberung Konstantinopels durch die Türken vergessen worden sei. Aufgekommen aber wäre es jetzt wieder seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts durch einen der großen Eiferer, Paissij Welitschkowskij und seine Schüler, doch ist es noch heute, also selbst nach fast hundert Jahren, nur in sehr wenigen Klöstern eingeführt, und nicht selten ist es sogar als in Rußland unerhörte Neuerung nahezu Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Zu besonderer Blüte kam es bei uns in Rußland in der berühmten Einsiedelei der Koselskischen Optina. Wann und durch wen es auch in unserem, ganz nahe bei der Stadt gelegenen Kloster eingeführt worden ist, weiß ich nicht; doch sind dort schon drei Startzen gewesen, von denen der Staretz Sossima der dritte und der letzte Nachfolger war. Auch er siechte schon in Krankheit und Schwäche dahin. Durch wen man ihn aber ersetzen sollte, das wußte man noch nicht einmal. Für unser Kloster war das eine wichtige Frage, da es sich bis dahin eigentlich noch durch nichts ausgezeichnet hatte: Es gab in ihm weder Gebeine Heiliger noch „wunderbar erschienene,[5] wundertätige Heiligenbilder“, und nicht einmal alte Sagen, die es mit unserer Geschichte verknüpft oder von ihm Großes, um das Vaterland Verdienstvolles zu berichten gewußt hätten. Aufgeblüht aber und in ganz Rußland bekannt geworden war es gerade durch seine Startzen, die zu sehen und zu hören Pilger in Scharen von weitem herkamen und oft Tausende von Werst zu Fuß zurücklegten. Doch was ist nun solch ein Staretz? Der Staretz ist einer, der eines Menschen Seele und Willen in seine Seele und seinen Willen aufnimmt. Wenn man einen Staretz gewählt hat, sagt man sich von dem eigenen Willen los und gibt ihn dem Staretz zu vollem Gehorsam mit vollständiger Selbstverleugnung. Diese Prüfung, diese furchtbare Lebensüberwindung nimmt der sich dem Staretz Ergebende freiwillig auf sich: in der Hoffnung, nach langer Prüfung sich selbst überwinden zu können, sich seiner selbst dermaßen zu bemächtigen, daß er endlich durch lebenslänglichen Gehorsam die volle Freiheit erlange, – das heißt, um vor sich selbst frei zu sein, auf daß er dem Los derer entgehe, die das ganze Leben verleben und doch ewig ihr eigener Knecht bleiben. Diese Einrichtung, ich meine das Startzentum, ist nicht theoretisch entstanden, sondern hat sich im Osten aus der Praxis ergeben und ist heutzutage schon tausendjährig. Die Verpflichtungen dem Staretz gegenüber sind nicht etwa der gewöhnliche „Gehorsam“ (oder „Dienst“), der in unseren russischen Klöstern seit jeher üblich ist; nein, hier handelt es sich um die ewige Beichte aller sich dem Staretz Ergebenden und die unlösbare Verbindung zwischen dem Gebundenen und dem Bindenden. Man erzählt sich zum Beispiel, daß einmal in den ältesten Zeiten des Christentums ein derart Gebundener eine Buße, die ihm von seinem Staretz auferlegt worden war, nicht erfüllt und das Kloster verlassen hatte, und in ein anderes Land, ich glaube aus Syrien nach Ägypten, gezogen war. Dort hatte er lange Zeit Großes vollbracht, und schließlich war er für seinen Glauben den Märtyrertod gestorben. Als aber die Kirche ihn, den sie fast schon als Heiligen ehrte, bestatten wollte, da war der Sarg plötzlich bei den Worten des Diakonus: „Katechumenen, geht hinaus“, mit der in ihm liegenden Leiche des Märtyrers von der Stelle gerückt und zur Kirche hinausgeworfen worden, und also war es dreimal geschehen. Erst später hatte man erfahren, daß der heilige Dulder den Gehorsam gebrochen und seinen Staretz verlassen hatte, und darum konnte ihm ohne die Erlaubnis dieses Staretz, selbst trotz seiner großen Taten, nicht verziehen werden. Und seine Bestattung konnte erst stattfinden, als sein Staretz ihn der Buße enthoben hatte. Natürlich ist das nur eine alte Legende, doch will ich noch eine andere Begebenheit aus unserer Zeit erzählen: Einer unserer zeitgenössischen Mönche hatte sich in das Kloster des Athos zurückgezogen, und plötzlich befiehlt ihm sein Staretz, Athos zu verlassen – Athos, das er bis in die tiefste Tiefe seiner Seele in Liebe eingeschlossen hatte! – und zuerst nach Jerusalem und dann zurück nach Rußland, in den Norden, nach Sibirien zu gehen: „Dort ist dein Platz, nicht hier.“ Der erschrockene und vor Leid niedergedrückte Mönch ging nach Konstantinopel zum Ökumenischen Patriarchen und flehte ihn an, ihn des Gehorsams zu entbinden; da aber antwortete ihm der Ökumenische Machthaber, daß nicht nur er, der Ökumenische Patriarch, ihn nicht befreien könne, sondern daß es auf der ganzen Erde keine Macht gäbe, die ihn von dem, was ihm einmal sein Staretz auferlegt hätte, entbinden könnte, abgesehen natürlich von dem Staretz selbst. So haben denn die Startzen in gewissen Fällen eine grenzenlose und unvergleichliche Macht. Das ist auch der Grund, warum bei uns das Startzentum in vielen Klöstern auf solche Feindseligkeit stieß. Indessen aber wurden die Startzen im Volk alsbald sehr geachtet und verehrt. Zu den Startzen unseres Klosters kamen sowohl die einfachsten als die vornehmsten Leute, um ihnen kniend ihre Zweifel, Sünden und Leiden zu beichten und sie um Rat und Leitung zu bitten. Dagegen führten dann die Gegner der Startzen unter anderen Beschuldigungen aus, daß hierbei das Mysterium der Beichte eigenmächtig und leichtsinnig profaniert werde – obgleich in diesem Falle das ununterbrochene Beichten des sich ihm ergebenden Klosterbruders oder Weltlichen keineswegs als Mysterium aufgefaßt wurde. Es endete schließlich damit, daß das Startzentum sich doch behauptete und allmählich in den Klöstern verbreitete. Allerdings ist auch das wahr, daß dieses erprobte und schon tausendjährige Mittel zur sittlichen Auferstehung des Menschen von der Sklaverei zur Freiheit und zur moralischen Vervollkommnung sich in ein zweischneidiges Schwert verwandeln kann, so daß es manchen vielleicht, statt zur Demut und endgültigen Selbstüberwindung, zu satanischem Stolz, also zu Ketten, nicht aber zur Freiheit führt.

Der Staretz Sossima war fünfundsechzig Jahre alt; er stammte aus einer Gutsbesitzerfamilie, war als Junge Kadett gewesen und hatte im Kaukasus als Oberleutnant gedient. Zweifellos hatte er auf Aljoscha durch irgendeine ganz besondere Eigenschaft seiner Seele einen so tiefen Eindruck gemacht. Aljoscha lebte in seiner unmittelbaren Nähe, in seiner Zelle, da der Staretz ihn sehr liebgewonnen hatte. Ich muß noch bemerken, daß Aljoscha, als er damals im Kloster lebte, noch durch nichts gebunden war, zu jeder Zeit aus dem Kloster gehen und ganze Tage lang fortbleiben konnte, und wenn er die Kutte trug, so geschah es von ihm freiwillig, um nicht unter den anderen im Kloster aufzufallen, und natürlich gefiel es ihm auch selbst, die Kutte zu tragen. Vielleicht wirkten auf seine jugendliche Phantasie auch die Macht und der Ruhm, die seinen Staretz ununterbrochen umgaben. Von dem Staretz Sossima sagte man, er hätte in all den Jahren dermaßen viel Geständnisse und Geheimnisse in seine Seele aufgenommen, daß er schließlich schon auf den ersten Blick in das Gesicht des Unbekannten erraten könne, womit jemand zu ihm kam, was er suchte, und sogar, welch eine Qual sein Gewissen peinigte, und ihn, noch bevor der Andere ein Wort gesprochen, durch diese Kenntnis seines Geheimnisses in Erstaunen setzte, verwirrte und nicht selten erschreckte. Dabei fiel es Aljoscha besonders auf, daß viele, wenn nicht alle, die das erstemal zum Staretz zu einem Gespräch unter vier Augen kamen, ängstlich und unruhig bei ihm eintraten, dafür aber beinahe immer heiter und glücklich wieder fortgingen, daß selbst das finsterste Gesicht sich in ein fröhliches verwandelte. Auch wunderte es ihn sehr, daß der Staretz keineswegs streng war; im Gegenteil, er war stets heiter. Die Mönche sagten von ihm, daß er mit seiner Seele am meisten an denen hinge, die sündiger wären, und den am meisten liebte, der am sündigsten war. Unter den Mönchen gab es selbst bis zu seinem Lebensende noch manche, die ihn haßten und beneideten, doch war ihre Zahl schon recht klein geworden, und auch sie schwiegen, obgleich zu ihnen sogar sehr bekannte und im Kloster hochangesehene Mönche gehörten, wie zum Beispiel einer der ältesten Einsiedler, Pater Ferapont, der ein großer Schweiger und außergewöhnlicher Faster war. Doch immerhin hielt schon die übergroße Mehrzahl unbedingt zum Staretz Sossima, und von ihnen liebten ihn viele von ganzem Herzen; einige aber hingen geradezu fanatisch an ihm. Letztere sagten sogar – übrigens sagten sie es doch nicht ganz laut –, daß er ein Heiliger sei, daß darüber kein Zweifel bestehen könne, und da sie seinen nahen Tod voraussahen, so erwarteten sie sogar Wunder und schon in nächster Zukunft von dem Verscheidenden großen Ruhm fürs Kloster. Auch Aljoscha glaubte widerspruchslos an die wundertätige Kraft des Staretz, ganz wie er widerspruchslos auch an die Geschichte von dem dreimal aus der Kirche hinausgeflogenen Sarge glaubte. Er sah es, wie viele, die mit kranken Kindern oder erwachsenen Kranken hinkamen und den Staretz baten, seine Hände auf sie zu legen und ein Gebet über ihnen zu sprechen, alsbald wiederkehrten – viele sogar schon am nächsten Tage – und weinend vor dem Staretz niederfielen, um ihm für die Heilung ihrer Kranken zu danken. War’s nun wirklich Heilung, oder war’s nur eine natürliche Erleichterung – das konnte für Aljoscha weiter keine Frage sein, denn er glaubte bedingungslos an die geistige Kraft seines Lehrers, dessen Ruhm für ihn gleichsam sein eigener Triumph war. Besonders jedoch erbebte sein Herz und verklärte sich sein ganzes Gesicht, wenn der Staretz zu dem Volke, das ihn an der Pforte der Einsiedelei erwartete, hinausging. Diese Pilger kamen von weit her, von allen Gauen Rußlands, um den Staretz zu sehen und seinen Segen zu empfangen. Sie knieten vor ihm nieder, weinten, küßten seine Füße, küßten die Erde, auf der er stand, und die Weiber hielten ihm ihre Kinder hin oder führten ihm eine kranke Klikuscha zu.

Der Staretz redete mit ihnen, sprach über ihnen ein kurzes Gebet und segnete sie dann. In der letzten Zeit war er durch seine Krankheit so schwach geworden, daß er nicht mehr die Zelle verlassen konnte, und dann warteten die Pilger im Kloster oft tagelang auf sein Erscheinen. Niemals fragte sich Aljoscha, warum das Volk den Staretz so liebte, warum die Leute vor ihm niederfielen und vor Rührung weinten, sobald sie nur sein Antlitz sahen. O, er begriff vorzüglich, daß es für die demütige Seele des einfachen Russen, die von Leid und Arbeit zerquält ist, und vor allem durch die immerwährende Ungerechtigkeit und die Sünde – wie durch die eigene, so auch durch die Sünde der ganzen Welt –, keinen größeren Trost und kein größeres Verlangen gibt, als ein Heiligtum oder einen Heiligen zu finden, vor ihm niederzufallen und ihn anzubeten: „Wenn es auch bei uns Sünde, Unwahrheit und Versuchung gibt, so gibt es dort irgendwo auf Erden doch einen Heiligen und Höheren; dafür hat er die Wahrheit, dafür kennt er die Wahrheit: also ist sie auf Erden noch nicht gestorben, also wird sie einmal auch zu uns kommen und sich über die ganze Erde verbreiten, wie es verheißen ist.“

Aljoscha wußte, daß nur das Volk so fühlt und so denkt – das begriff er wohl; doch daran, daß gerade der Staretz dieser Heilige, dieser Hüter der Gotteswahrheit in den Augen des Volkes war – daran zweifelte er auch keinen Augenblick, gleich diesen weinenden Bauern und ihren kranken Weibern, die ihre Kinder dem Staretz entgegenbrachten. Die Überzeugung, daß der Staretz sterbend oder erst durch seinen Tod dem Kloster ungewöhnlichen Ruhm verschaffen werde, herrschte in Aljoschas Seele vielleicht sogar noch stärker als in allen anderen Anhängern des Staretz. Und überhaupt erhob sich und entbrannte in dieser ganzen letzten Zeit eine unbestimmbare, tiefe, flammende Begeisterung immer stärker und stärker in seinem Herzen. Es verwirrte ihn nicht im geringsten, daß dieser Staretz doch immerhin als ein einzelner vor ihm stand: „Gleichviel, er ist heilig, in seinem Herzen liegt das Geheimnis der Erneuerung aller, jene Kraft, die endlich die Wahrheit auf der Erde aufrichten wird, und alle werden heilig sein, und alle werden einander lieben, und es wird weder Reiche noch Arme, weder sich Überhebende noch Erniedrigte mehr geben, sondern es werden alle wie Kinder Gottes sein, und es wird das wahre Reich Christi beginnen.“ Das war es, wovon Aljoschas Herz träumte.

Ich glaube, die Ankunft seiner beiden Brüder, die er bis dahin überhaupt noch nicht gekannt hatte, machte einen ungewöhnlich starken Eindruck auf ihn. Mit seinem ältesten Bruder, Dmitrij Fedorowitsch, freundete er sich schneller und näher an, obgleich jener erst später ankam, als mit dem zweiten, seinem leiblichen Bruder Iwan Fedorowitsch. Es reizte ihn heftig, seinen Bruder Iwan näher kennen zu lernen; doch dieser lebte schon ganze zwei Monate beim Vater, sie aber waren sich noch immer nicht nähergetreten, was um so auffallender war, als sie sich sogar ziemlich oft sahen: Aljoscha war selbst schweigsam und schien etwas zu erwarten, schien sich irgendeiner Sache zu schämen; sein Bruder Iwan jedoch hörte, wie es schien, bald gänzlich auf, an ihn auch nur zu denken, obgleich Aljoscha zu Anfang sehr wohl seine langen, fragenden Blicke auf sich ruhen gefühlt und auch bemerkt hatte. Aljoscha schrieb diese Gleichgültigkeit seines Bruders, die ihn nicht wenig befangen machte, ihrem Alters- und besonders Bildungsunterschied zu. Doch machte sich Aljoscha auch noch andere Gedanken: ein so geringes Interesse für ihn und so wenig Teilnahme konnte bei Iwan vielleicht von etwas ganz anderem herrühren, das ihm, Aljoscha, völlig unbekannt blieb. Aus irgendeinem Grunde schien es ihm immer, daß Iwan mit etwas Besonderem beschäftigt war, mit etwas Innerlichem und Ungeheurem, daß er zu einem bestimmten Ziele strebte, vielleicht zu einem sehr schweren, so daß es ihm jetzt nicht um Brüder zu tun war, und daß dies also der einzige Grund sein konnte, warum er auf ihn, Aljoscha, so zerstreut blickte. Auch dachte Aljoscha noch darüber nach, ob sich darin nicht eine gewisse Verachtung des klugen Atheisten für ihn, den dummen Novizen, verbarg. Er wußte es, daß sein Bruder Atheist war. Diese Verachtung aber, selbst wenn sie vorhanden gewesen wäre, hätte ihn nicht kränken können; doch trotz allem erwartete er mit einer ihm selbst unerklärlichen, ihn verwirrenden Unruhe, wann denn der Bruder ihm endlich würde nähertreten wollen. Dmitrij Fedorowitsch äußerte sich über Iwan stets mit der größten Hochachtung und sprach überhaupt immer ganz besonders durchdrungen und begeistert von ihm. Durch ihn erfuhr denn auch Aljoscha alle Einzelheiten jener wichtigen Angelegenheit, die in der letzten Zeit seine beiden älteren Brüder so sonderbar und eng verbunden hatte. Diese begeisterten Äußerungen Dmitrijs über seinen Bruder Iwan waren in Aljoschas Augen um so auffallender, als Dmitrij im Vergleich zu Iwan so gut wie ganz ungebildet war und sie beide, wenn man sie als Persönlichkeiten und Charaktere verglich, einen so schroffen Gegensatz bildeten, wie man ihn sich größer nicht hätte vorstellen können.

Zu dieser Zeit fand dann die Zusammenkunft in der Zelle des Staretz statt, oder richtiger, die Familienversammlung aller Glieder dieser uneinigen Familie, die einen so ungewöhnlichen Eindruck auf Aljoscha machte. Der Vorwand, unter dem man zusammenkam, war natürlich erlogen. Gerade damals hatten die Uneinigkeiten zwischen Dmitrij Fedorowitsch und seinem Vater wegen der Vermögensabrechnungen einen Punkt erreicht, an dem jede Verständigung ausgeschlossen schien. Ihr Verhältnis zueinander spitzte sich immer mehr zu und wurde unerträglich. Ich glaube, Fedor Pawlowitsch war der erste, der scherzend vorschlug, sich doch in der Zelle des Staretz zu versammeln, und wenn auch nicht gerade seine Vermittlerschaft zu suchen, so sich doch immerhin etwas anständiger zu besprechen, wobei die Würde und die Person des Staretz natürlich einen gewissen Einfluß in gutem Sinne haben könnte. Dmitrij Fedorowitsch, der nie beim Staretz gewesen war und ihn nie gesehen hatte, glaubte natürlich, daß man ihn mit dem Staretz schrecken wollte; schließlich aber nahm er den Vorschlag an, besonders deshalb, weil er sich im Herzen für viele, gar zu heftige Ausfälle gegen den Vater heimlich ernste Vorwürfe machte. Bei der Gelegenheit will ich noch bemerken, daß er nicht im Hause seines Vaters lebte, wie Iwan Fedorowitsch, sondern ganz am anderen Ende der Stadt eine Wohnung gemietet hatte.

Hinzu kam jetzt noch, daß Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, der zu jener Zeit gerade auf seinem Gute lebte, ganz besonders diese Idee Fedor Pawlowitschs gefiel. Als Liberaler der vierziger und fünfziger Jahre, Freigeist und Atheist, nahm er mehr aus Langeweile oder aus leichtsinniger Zerstreuungssucht an dieser ganzen Angelegenheit lebhaften Anteil. Er wollte plötzlich ungeheuer gern das Kloster und den „Heiligen“ sehen, und da sich sein alter Prozeß mit dem Kloster wegen der Grenze ihrer Güter und irgendwelcher Rechte auf das Holzfällen im Walde und den Fischfang im Fluß immer noch hinzog, so beeilte er sich jetzt, diesen Umstand zur Einwilligung des Staretz auszunutzen, unter dem Vorwande, daß er selbst mündlich mit dem Prior besprechen wollte, ob sich der Streit nicht irgendwie gütlich beilegen ließ. Einen Gast, der mit so wohlgesinnten Absichten kam, mußte man im Kloster selbstverständlich aufmerksamer und zuvorkommender empfangen als einen gewöhnlichen Neugierigen. Und infolge aller dieser Kombinationen konnte man dann einen gewissen Einfluß vom Kloster aus auf den kranken Staretz erwarten, denn sonst war die Hoffnung, vom Staretz empfangen zu werden, ziemlich gering: er verließ in letzter Zeit fast überhaupt nicht mehr seine Zelle und empfing selbst nicht einmal außergewöhnlichen Besuch. Nun, und so endete es denn auch damit, daß der Staretz seine Einwilligung gab und Tag und Stunde bestimmt wurde. „Wer hat mich berufen, ihr Richter zu sein?“ sagte er nur lächelnd zu Aljoscha.

Als Aljoscha von dieser Zusammenkunft erfuhr, erschrak er. Der einzige von allen, der diesen Besuch ernst nehmen konnte, war sein Bruder Dmitrij; die anderen jedoch würden alle aus leichtsinnigen und für den Staretz vielleicht sogar beleidigenden Gründen kommen – das war es, was Aljoscha sich sagte. Sein Bruder Iwan und Miussoff würden aus Neugier kommen, vielleicht sogar aus einer sehr rohen, sein Vater aber, um als Narr irgendeine dumme Szene zu machen. O, wenn Aljoscha auch schwieg, so kannte er seinen Vater doch schon zur Genüge. Ich wiederhole es: Dieser Jüngling war keineswegs so naiv einfältig, wie alle glaubten. Mit schweren Gefühlen erwartete er den festgesetzten Tag. Zweifellos sorgte er sich im Herzen viel darum, daß alle diese Familienzwistigkeiten sich nicht beilegen ließen. Doch trotzdem galt seine größte Sorge dem Staretz: er zitterte für ihn, fürchtete, daß sie ihn beleidigen könnten, fürchtete besonders den feinen, immer höflichen Spott Miussoffs und das stolze Schweigen seines intelligenten Bruders Iwan. Er wollte es sogar wagen, dem Staretz etwas davon zu sagen, ihn vorzubereiten, bedachte sich aber und sagte nichts. Nur ließ er am Vorabend seinem Bruder Dmitrij durch einen Bekannten sagen, daß er ihn sehr liebe und von ihm die Erfüllung des Versprechens erwarte. Dmitrij wurde nachdenklich, denn er konnte sich auf keine Weise erinnern, was er ihm versprochen haben sollte, und antwortete nur mit einem Brief, in dem er schrieb, daß er sich aus allen Kräften „von einer Niedrigkeit“ zurückhalten werde, und wenn er auch den Staretz und ihren Bruder Iwan sehr hoch achte, so sei er doch überzeugt, daß es sich um eine Falle für ihn oder um eine unwürdige Komödie handele. „Nichtsdestoweniger werde ich eher meine Zunge hinunterschlucken, als daß ich den Respekt vor dem heiligen Manne, den Du so verehrst, irgendwie vergessen sollte,“ schloß Dmitrij seinen kurzen Brief. Aljoscha fühlte sich aber durch ihn nicht sonderlich beruhigt.

Zweites Buch.
Die unschickliche Versammlung

I.
Die Ankunft im Kloster

Es war ein schöner, warmer und klarer Augusttag. Der September stand schon vor der Tür. Man hatte verabredet, daß sich alle gleich nach dem zweiten Hochamt, also ungefähr um halb zwölf Uhr, beim Staretz versammeln sollten. Unsere Klostergäste geruhten aber nicht, zum Gottesdienst zu kommen, sondern erschienen erst, als er gerade beendet war. Sie kamen in zwei Wagen angefahren: im ersten, einem eleganten kleineren Gefährt, das mit zwei teuren Pferden bespannt war, Pjotr Alexandrowitsch Miussoff mit seinem entfernten Verwandten Pjotr Fomitsch Kalganoff. Das war ein junger Mann von zwanzig Jahren, der sich vorbereitete, eine russische Universität zu besuchen, doch wußte er noch immer nicht, welche; Miussoff dagegen, bei dem er augenblicklich wohnte, beredete seinen jungen Verwandten, mit ihm nach Zürich oder Jena zu fahren, um dort die Universität zu besuchen und sein Studium zu beenden. Der junge Mann aber konnte sich noch immer nicht recht entscheiden. Er war nachdenklich und schien meist zerstreut zu sein. Er hatte ein angenehmes Gesicht, war stark gebaut und ziemlich hoch von Wuchs. Sein Blick konnte mitunter ganz auffallend unbeweglich sein: wie alle zerstreuten Menschen blickte er einen dann lange und starr an, ohne aber dabei etwas zu sehen. Er war schweigsam und ein wenig ungeschickt, doch kam es vor – übrigens nur, wenn er mit jemandem unter vier Augen war –, daß er plötzlich äußerst gesprächig, scherzhaft, heftig oder heiter sein, und herzlich, doch Gott weiß, über was eigentlich, lachen konnte. Aber seine Lebhaftigkeit verging gewöhnlich ebenso schnell, wie sie kam. Gekleidet war er immer gut, wenn nicht gar gesucht. Er besaß schon ein gewisses Vermögen und hatte die besten Aussichten, noch viel mehr zu erben. Mit Aljoscha war er befreundet.

Im zweiten Wagen, in einer äußerst alten, stöhnenden, doch recht umfangreichen Kutsche, vor der zwei alte Schimmel trabten, die aber hinter Miussoffs leichtem Gefährt beträchtlich zurückblieben, kam Fedor Pawlowitsch Karamasoff mit seinem zweiten Sohn Iwan Fedorowitsch angefahren. Dmitrij Fedorowitsch hatte man schon am vorhergehenden Tage die Stunde angesagt, doch trotzdem war er nicht zu sehen. Man ließ die Wagen außerhalb der Klostermauer bei der Herberge halten, stieg aus und trat zu Fuß durch das Klostertor ein. Außer dem alten Karamasoff hatte von den übrigen drei, wie es schien, kein einziger je ein Kloster von innen gesehen; Miussoff aber war vielleicht schon seit dreißig Jahren nicht mehr in einer Kirche gewesen. Er blickte mit einer Neugier um sich, die nicht ganz ohne eine gewisse gemachte Ungezwungenheit war. Doch leider gab es für seinen ausschauenden Verstand im Innern der Klostermauern außer den übrigens sehr einfachen Kirchen- und Wirtschaftsgebäuden nichts Besonderes zu entdecken. Aus der Kirche strömte sich bekreuzend das Volk, die Mützen in der Hand. Unter dem einfachen Volk fielen zwei oder drei Damen der höheren Gesellschaft sowie ein alter General auf: alle standen sie im großen Zimmer der Herberge. Bettler umringten alsbald die Neuangekommenen, doch keiner von ihnen gab etwas. Nur Petruscha Kalganoff nahm aus seiner Börse ein Zehnkopekenstück, das er verlegen einem Weibe zusteckte, wobei er hastig hervorstieß: „Richtig verteilen.“ Die anderen sagten ihm nichts darauf, so daß er ganz grundlos verwirrt wurde; trotzdem wurde er, als er bemerkte, daß die anderen dies schweigend übersahen, noch verlegener.

Etwas war aber sehr sonderbar: man sollte meinen, daß Gäste, wie sie, ganz anders empfangen werden müßten; Karamasoff hatte vor noch nicht langer Zeit tausend Rubel geschenkt, und Miussoff war der reichste Gutsbesitzer und der sozusagen gebildetste Mensch, von dem man hier im Kloster teilweise geradezu abhing, da der Prozeß, den man mit ihm wegen des Fischrechts im Fluß führte, noch nicht beendet war. Und siehe da: keine einzige der offiziellen Persönlichkeiten des Klosters war zu ihrem Empfang erschienen. Miussoff blickte zerstreut auf die Grabsteine an der Kirche und wollte schon bemerken, daß das Recht, an einem so „heiligen“ Ort begraben zu liegen, den Leidtragenden nicht wenig aus der Tasche gezogen haben müsse, schwieg aber und sagte nichts: die gewöhnliche liberale Ironie verwandelte sich in ihm fast in Zorn.

„Teufel, wo gibt es denn hier bei dieser blödsinnigen Einrichtung so etwas, wo man sich erkundigen kann ... Das muß man doch endlich feststellen, sonst verlieren wir hier bloß unsere kostbare Zeit,“ brummte er leise, als wollte er es nur so vor sich hinsagen.

Da trat ein älterer, kahlköpfiger Herr dienstbereit auf sie zu, ein Herr mit ungemein freundlich blickenden und etwas hervorstehenden Augen, der einen weiten Sommermantel trug. Er zog den Hut und stellte sich mit wahrhaft honigsüßer Stimme als Tulascher Gutsbesitzer Maximoff vor.

„Der Staretz Sossima lebt in der Einsiedelei, hermetisch verschlossen, hermetisch, vierhundert Schritt vom Kloster, durch das Wäldchen, durch das Wäldchen ...“

„Das weiß ich selbst, daß man durch das Wäldchen zu ihm gehen muß,“ unterbrach ihn Fedor Pawlowitsch Karamasoff, „aber den Weg dorthin hab ich total vergessen, bin lange nicht mehr hier gewesen.“

„Hier, hier, gleich durch diese Pforte und dann gerade durch das Wäldchen ... durch das Wäldchen. Wenn gefällig ... ich muß selbst ... ich werde selbst ... Hier, sehen Sie, hier ...“

Sie traten aus dem Torgang und schritten auf den Wald zu. Der Gutsbesitzer Maximoff, ein Mann von sechzig Jahren, ging nicht eigentlich, sondern lief geradezu neben ihnen her, während er sie dabei mit einer krampfhaften, schier unglaublichen Neugier betrachtete, wobei seine Glotzäugigkeit noch unangenehmer auffiel.

„Wir sind in einer besonderen Angelegenheit zum Staretz gekommen,“ bemerkte mit strenger Miene Miussoff. „Diese ‚Persönlichkeit‘ hat uns sozusagen eine Audienz gewährt, und daher müssen wir Sie bitten, obgleich wir Ihnen für das Wegweisen sehr dankbar sind, doch nicht mit uns zusammen einzutreten.“

„Ich war ja schon, ich war ja schon ... Un chevalier parfait!“ versicherte sofort der Gutsbesitzer und knipste mit den Fingern vor Begeisterung.

„Wer ist ein Chevalier?“ fragte Miussoff.

„Der Staretz, der prachtvolle Staretz, der Staretz! ... Die Ehre und der Ruhm des ganzen Klosters! Sossima! Das ist solch ein Staretz ...“

Seine krause Rede wurde unterbrochen: Ein kleiner, bleicher, magerer Mönch in einer Kutte kam ihnen nachgelaufen. Karamasoff und Miussoff blieben stehen. Der Mönch verbeugte sich tief und sagte höflich:

„Seine Hochehrwürden, der Prior, läßt Sie alle, meine Herren, bitten, nach Ihrem Besuch in der Einsiedelei zu ihm zum Mittagsmahl zu kommen. Und Sie gleichfalls,“ fügte er, sich an Maximoff wendend, hinzu.

„Das werde ich unbedingt!“ rief der alte Karamasoff, ungemein erfreut über die Einladung, „unbedingt! Und wissen Sie, wir haben uns alle das Wort gegeben, uns hier anständig aufzuführen ... Und Sie, Miussoff, werden Sie auch kommen?“

„Warum sollte ich denn nicht? Wozu bin ich denn sonst hergekommen, wenn nicht, um hier alle diese Bräuche kennen zu lernen. Nur eines macht mir Bedenken, und das ist gerade, was ich jetzt mit Ihnen, Fedor Pawlowitsch ...“

„Ja, meinen Sohn Dmitrij Fedorowitsch gibt’s aber vorläufig noch nicht.“

„Und er täte gut, überhaupt nicht zu kommen; ist mir denn diese Ihre ganze schmutzige Geschichte etwa angenehm, und zudem noch mit Ihnen als Zugabe! – Wir werden gern der freundlichen Einladung Folge leisten, überbringen Sie Seiner Hochehrwürden unseren besten Dank,“ sagte er darauf zum Mönch.

„Ich soll Sie zum Staretz führen,“ antwortete der Mönch.

„Dann werde ich jetzt solange zum Prior gehen!“ sagte eilig der Gutsbesitzer Maximoff.

„Der Prior ist augenblicklich in Anspruch genommen ... aber ... wie Sie wollen ...“ meinte etwas unentschlossen der Mönch.

„Ein äußerst zudringlicher Kauz,“ bemerkte Miussoff laut, als Maximoff zum Kloster zurückeilte.

„Gleicht ungemein dem berühmten Herrn von Sohn,“ sagte plötzlich der alte Karamasoff.

„Das scheint das einzige zu sein, was Sie sagen können ... Warum soll er denn Herrn von Sohn gleichen? Haben Sie überhaupt jemals Herrn von Sohn gesehen?“

„Selbstverständlich: auf der Photographie. Er gleicht ihm fabelhaft, sag ich Ihnen, wenn auch nicht in den Gesichtszügen, sondern in etwas ganz Unerklärlichem. Von Sohns Doppelgänger, mit einem Wort. Das sehe ich ihm sofort an der Physiognomie an.“

„Nun, meinetwegen,“ bemerkte Miussoff gereizt, „Sie sind ja Kenner in solchen Sachen. Nur noch eines, Fedor Pawlowitsch: Sie geruhten soeben selbst daran zu erinnern, daß wir uns das Wort gegeben haben, uns anständig aufzuführen, wie Sie sich wohl noch entsinnen werden. Ich sage Ihnen: Vergessen Sie das nicht! Sollten Sie aber wieder anfangen, den Narren zu spielen, so werde ich es, glauben Sie mir, nicht dulden, daß man mich hier mit Ihnen auf eine Stufe stellt! ... Sehen Sie, was das für ein Mensch ist,“ fügte er darauf, zum Mönch gewandt, hinzu, „ich fürchte mich geradezu, mit ihm bei anständigen Menschen einzutreten.“

Auf den blassen, blutleeren Lippen des kleinen Mönches erschien ein feines, verschwiegenes Lächeln, das in seiner Art doch eine gewisse Geriebenheit verriet, aber er antwortete nicht, und es war nur zu augenscheinlich, daß er aus dem Gefühl der eigenen Würde heraus schwieg. Miussoff runzelte die Stirn.

„Ach, der Teufel hole sie allesamt; das ist ja doch bloß eine in Jahrhunderten ausgearbeitete Äußerlichkeit; in Wirklichkeit ist es nur Scharlatanerie und Blödsinn.“

„Ah, da sind wir also glücklich angelangt: da ist die Einsiedelei!“ rief Fedor Pawlowitsch. „Die Mauer und die Pforte sind aber geschlossen, wie ich sehe.“

Und er begann, sich eifrig vor den Heiligenbildern zu bekreuzen, die über und zu beiden Seiten der Pforte gemalt waren.

„In ein fremdes Kloster soll man nicht mit seinem Reglement eintreten,“ bemerkte er. „Im ganzen suchen hier in dieser Einsiedelei fünfundzwanzig Heilige ihr Seelenheil, beobachten einander und vertilgen Sauerkohl. Und kein einziges Frauenzimmerchen darf hier durch diese Pforte treten, das ist das Bemerkenswerteste dabei, und das ist wirklich so. Aber, mein Lieber, wie kommt es – ich habe nämlich trotzdem gehört, daß der Staretz auch Damen empfängt?“ damit wandte er sich plötzlich an den Mönch.

„Aus dem Volk sind auch jetzt Weiber hier; sehen Sie dort, sie warten an der Galerie. Für die höheren Damen aber sind hier bei der Galerie, außerhalb der Einfriedung, zwei Zimmerchen angebaut, diese Fenster dort, und der Staretz kommt dann zu ihnen durch den inneren Gang, wenn er gesund ist, also immer außerhalb der Einfriedung. Auch jetzt ist dort eine vornehme Dame, eine Gutsbesitzerin aus dem Charkoffschen, Frau Chochlakoff; sie erwartet ihn mit ihrer gelähmten Tochter. Wahrscheinlich hat er versprochen, zu ihnen hinauszukommen, obgleich er in letzter Zeit so schwach geworden ist, daß er sich kaum noch dem Volk zeigen kann.“

„Also gibt es immerhin doch noch ein Schlupfloch, das aus der Einsiedelei zu den Weibern führt? Das heißt, heiliger Vater, glauben Sie um Gottes willen nicht, daß ich irgend etwas! – ich meinte ja nur so. Wissen Sie, auf dem Athos, Sie haben es vielleicht schon gehört, ist nicht nur der Besuch von Frauen verboten, sondern überhaupt jede Gotteskreatur weiblichen Geschlechts; weder werden dort Hühnchen geduldet, noch Putchen, noch Kälbchen ...“

„Fedor Pawlowitsch, ich werde sofort zurückgehen und Sie allein eintreten lassen! Man wird Sie hier sowieso hinausschmeißen, das prophezeie ich Ihnen!“

„Aber was tue ich Ihnen denn, Pjotr Alexandrowitsch? Sehen Sie doch mal,“ rief er plötzlich, da er durch die Pforte trat, „sehen Sie doch, in welch einem Rosental sie hier leben!“

Tatsächlich waren dort, wenn auch keine Rosen, so doch überall, wo man sie nur hatte pflanzen können, eine Menge seltener und schöner Herbstblumen. Augenscheinlich pflegte sie eine geübte Hand. Blumenbeete lagen zwischen Gräbern, und Blumen wuchsen als Spalier an der Mauer. Das einstöckige Holzhäuschen, in dem sich die Zelle des Staretz befand, war mit seiner Galerie vor dem Eingang gleichfalls von Blumen umgeben.

„War denn das auch beim früheren Staretz Warssonofij so? Der soll ja, wie man sagt, Schönheit überhaupt nicht geliebt haben, soll sogar das schöne Geschlecht mit dem Stock geschlagen haben,“ bemerkte Fedor Pawlowitsch, als er die Stufen hinanstieg.

„Der Staretz Warssonofij war zuweilen allerdings etwas wunderlich, aber auch viel Unwahres wird von ihm erzählt. Mit dem Stock hat er niemanden geschlagen,“ antwortete der Mönch. „Bitte sich hier einen Augenblick zu gedulden, ich werde Sie anmelden.“

„Fedor Pawlowitsch, zum letztenmal die Bedingung, hören Sie! Führen Sie sich gut auf, sonst haben Sie es mit mir zu tun,“ gelang es Miussoff, ihm noch schnell zuzuflüstern.

„’s ist wirklich unbegreiflich, warum Sie dermaßen erregt sind,“ bemerkte spöttisch Fedor Pawlowitsch, „oder fürchten Sie sich wegen Ihrer Sünden? Man sagt ja, daß er es an den Augen erkenne, womit man zu ihm kommt. Und wie hoch Sie plötzlich seine Meinung schätzen, Sie, solch ein Pariser und Fortschrittler! Sie setzen mich ja heute wahrhaftig in Erstaunen.“

Doch Miussoff konnte nichts mehr auf diesen Sarkasmus entgegnen: man bat sie einzutreten.

„Wie ich mich kenne, werde ich jetzt zu streiten anfangen, wie immer, wenn ich gereizt bin, ... werde heftig werden – und mich und die Idee erniedrigen, das weiß ich schon im voraus,“ fuhr es Miussoff noch durch den Kopf, als er ins andere Zimmer trat.

II.
Der alte Narr

Sie betraten das Zimmer fast zu gleicher Zeit mit dem Staretz, der bei ihrem Erscheinen sofort seinen kleinen Schlafraum verlassen hatte. Sein Erscheinen erwarteten in der Zelle schon seit längerer Zeit zwei Priestermönche der Einsiedelei, der Pater Bibliothekar und der Pater Paissij, ein kranker, noch nicht alter, jedenfalls aber sehr gelehrter Mann, wie es hieß. Außerdem erwartete ihn noch stehend in einem Winkel ein junger, etwa zweiundzwanzigjähriger Bursche in einem Zivilrock, ein Seminarist und zukünftiger Theologe, der, unbekannt warum, von der ganzen Klosterbrüderschaft gönnerhaft beschützt wurde. Er war ziemlich groß von Wuchs, hatte ein frisches Gesicht mit breiten Kinnbacken, kluge und aufmerksame, schmale, braune Augen. Auf seinem Gesicht drückte sich vollkommene Ehrerbietung aus, doch war es eine anständige Ehrerbietung, d. h. ohne sichtbares sich Einschmeichelnwollen. Die eingetretenen Gäste begrüßte er nicht einmal mit einer Verbeugung, wie eine ihnen nicht gleichstehende, sondern untergeordnete oder gar von ihnen abhängige Person.

Der Staretz Sossima erschien in Begleitung Aljoschas und eines Novizen. Die Priestermönche erhoben sich und verneigten sich tief vor ihm, wobei sie mit den Fingern den Boden berührten, und küßten ihm darauf, nachdem sie sich bekreuzt hatten, ehrfürchtig die Hand. Der Staretz erteilte ihnen seinen Segen, verneigte sich vor einem jeden von ihnen ebenso tief, wobei er gleichfalls den Fußboden mit den Fingern berührte und auch von ihnen ihren Segen erbat. Die ganze Zeremonie ging sehr ernst vor sich, durchaus nicht wie irgendein alltäglicher Brauch, sondern fast mit einem tiefen Gefühl. Miussoff aber argwöhnte plötzlich, daß alles ihretwegen absichtlich so ernst und feierlich gemacht werde. Er stand, da er als erster eingetreten war, vor den anderen. Nun hätte er, ganz abgesehen von seinen Ideen, einfach aus gewöhnlicher Höflichkeit (da hier nun einmal solche Bräuche waren), auf den Staretz zutreten, und, wenn ihm auch nicht gerade die Hand küssen, so ihn doch wenigstens um seinen Segen bitten müssen. Das hatte er sich am Abend vorher sogar schon vorgenommen. Als er aber jetzt alle diese Verbeugungen sah, änderte er im Augenblick seinen Entschluß: wichtig und ernst machte er eine tiefe, gesellschaftliche Verbeugung und trat darauf zurück. Genau dasselbe tat auch Fedor Pawlowitsch, der diesmal wie ein Affe Miussoff auf ein Haar kopierte. Iwan Fedorowitsch machte ernst und höflich seine Verbeugung, doch gleichfalls „Hände an den Nähten“, Kalganoff dagegen verwirrte sich dermaßen, daß er überhaupt nicht grüßte. Der Staretz ließ seine zum Segen erhobene Hand wieder sinken, und bat sie, indem er sich zum zweitenmal vor ihnen verneigte, Platz zu nehmen. Aljoscha stieg das Blut ins Gesicht; er schämte sich – seine schlechten Ahnungen hatten ihn also nicht getäuscht!

Der Staretz setzte sich auf ein kleines, altmodisches Ledersofa aus rotem Holz, den Gästen aber wies er an der entgegengesetzten Wand vier Stühle an, die alle in einer Reihe standen, gleichfalls aus rotem Holz waren und einen stark abgenutzten Lederbezug hatten. Die Priestermönche setzten sich etwas abseits, der eine bei der Tür, der andere am Fenster. Der Seminarist, Aljoscha und der Novize blieben stehen. Die Zelle war nicht gerade groß und hatte so ein, fast möchte man sagen, welkes Aussehen. Die Sachen und die Möbel, nur die notwendigsten, waren von ganz einfacher Arbeit, fast ärmlich. Zwei Blumentöpfe auf dem Fensterbrett und in der Ecke viele Heiligenbilder – darunter ein sehr großes der Muttergottes, das wahrscheinlich schon lange vor der Kirchenspaltung[6] gemalt worden war. Vor ihm brannte ein Lämpchen. Daneben hingen zwei andere Heiligenbilder mit reicher Verzierung, etwas weiter zwei kleine Cherubim, Ostereier aus Porzellan, ein katholisches Kreuz aus Elfenbein mit einer es umarmenden Mater dolorosa, und dann hingen an den Wänden noch einige ausländische Gravüren großer italienischer Meister der vergangenen Jahrhunderte. Neben diesen schönen und teuren Gravüren hingen aber die allereinfachsten russischen Buntdrucke verschiedener Heiliger, Märtyrer, Erzbischöfe usw., kurz, Bilder, wie sie zu einer Kopeke das Stück auf allen Jahrmärkten verkauft werden. Ebenso hingen an den anderen Wänden noch mehrere Bilder lebender wie verstorbener Geistlicher. Miussoff streifte mit seinem Blick nur flüchtig diesen ganzen „Heiligenkram“ und richtete ihn dann fest auf das Gesicht des Staretz. Er schätzte seinen Blick sehr hoch: er hatte diese an ihm jedenfalls verzeihliche Schwäche, verzeihlich, wenn man bedenkt, daß er ein Mann von fünfzig Jahren war, also schon ein Alter erreicht hatte, in dem ein kluger, wohlsituierter Weltmann zu seiner eigenen Person immer ehrerbietiger wird – und wäre es unwillkürlich.

Im ersten Augenblick gefiel ihm der Staretz nicht. Allerdings war in dessen Gesicht etwas, das vielen, auch außer Miussoff, nicht gefallen hätte. Er war ein mittelgroßer, gebeugter Mann mit sehr schwachen Füßen, erst fünfundsechzig Jahre alt, doch erschien er infolge seiner Krankheit wenigstens um zehn Jahre älter. Sein mageres Gesicht war von kleinen, feinen Runzeln übersät, besonders um die Augen herum. Diese Augen waren nicht groß, wohl aber hell und glänzend wie zwei leuchtende Punkte. Nur an den Schläfen hatte er noch ein wenig graues Haar, das Bärtchen war spitz und klein und spärlich, die Lippen aber, die häufig lächelten, waren so schmal wie zwei dünne Schnürchen. Die Nase war nicht gerade lang, dafür aber fast so spitz wie ein Vogelschnabel.

„Allem Anschein nach ein boshaftes und kleinlich-anmaßendes Männchen,“ zuckte es Miussoff durch den Kopf. Er war sehr unzufrieden mit sich.

Da schlug die Uhr und half somit, ein Gespräch zu beginnen. Es schlug von einer billigen Wanduhr mit Gewichten in schnellen Schlägen gerade zwölf.

„Genau die festgesetzte Stunde!“ rief Fedor Pawlowitsch, „mein Sohn Dmitrij Fedorowitsch ist aber noch immer nicht erschienen. Ich bitte für ihn um Entschuldigung, heiliger Staretz!“ (Aljoscha fuhr zusammen, als er das „heiliger Staretz“ hörte.) „Ich selbst dagegen bin immer pünktlich auf die Minute, da ich weiß, daß Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist.“

„Soviel ich weiß, sind Sie nichts weniger als ein König,“ brummte Miussoff, der sich schon nicht mehr recht in der Gewalt hatte.

„Stimmt! Nichts weniger als ’n König. Und denken Sie nur, Pjotr Alexandrowitsch, das wußte ich ja selbst, bei Gott! Und sehen Sie, immer muß ich alles so mal à propos sagen! Ehrwürden!“ rief er darauf mit einem ganz plötzlichen, unerwarteten Pathos aus: „Sie sehen vor sich einen leibhaftigen Narren! Habe die Ehre, mich Ihnen als solchen vorzustellen. Alte Angewohnheit – leider! Daß ich aber am unrechten Ort und zur unrechten Zeit zuweilen etwas lüge, o, das geschieht sogar mit Absicht von mir, um andere zu erheitern und ihnen angenehm zu sein. Denn das muß man doch, nicht wahr? Wissen Sie, einmal, so vor etwa sieben Jahren, kam ich in ein Städtchen, es gab Geschäftchen abzuwickeln, wollte dort mit ein paar Kaufleuten eine Kompanie gründen. Kurz, wir gehen zum Kreispolizeichef – man mußte ihn doch um dies und jenes bitten –, um ihn zu einem Schmaus einzuladen. Er kommt heraus, groß, dick, blond und mürrisch, – eines der gefährlichsten Subjekte in solchen Fällen: ‚Herr Isprawnik,‘[7] sage ich zu ihm, ‚seien Sie unser Naprawnik!‘ – ‚Was soll ich sein?‘ fragte er. Ich sehe schon in der ersten Viertelsekunde, daß die Sache schief gegangen ist, er steht steif, fixiert mich: ‚Ich erlaubte mir, nur zu scherzen,‘ sage ich, ‚bloß so zur allgemeinen Heiterkeit, da Herr Naprawnik unser bekannter russischer Dirigent und Kapellmeister der kaiserlichen Oper ist, wir aber zur Harmonie unseres Unternehmens gleichfalls so etwas wie einen Kapellmeister brauchen‘ ... Kurz und gut, ich erkläre ihm vernünftig den ganzen Vergleich, nicht wahr, er aber sagt: ‚Ich bin der Isprawnik und verbitte mir unpassende Witzchen mit meinem Titel,‘ – kehrt sich um und geht! Ich ihm nach, rufe: ‚Ah, selbstverständlich sind Sie nur Isprawnik und kein Naprawnik!‘ – Er aber sagt nichts darauf und geht, geht wahrhaftig! Und was glauben Sie wohl: unsere ganze Geschichte ging aus dem Leim! Und immer bin ich so, immer verpfusche ich mir alles selbst mit meiner Liebenswürdigkeit! – Einmal, das ist jetzt schon viele Jahre her, sagte ich zu einer angesehenen, sogar einflußreichen Persönlichkeit: ‚Ihre Frau Gemahlin ist etwas sehr kitzlich,‘ – in dem Sinne, meine ich, was die Ehre anbetrifft, ich meine – in moralischer Hinsicht; er aber fragt mich: ‚Haben Sie sie denn gekitzelt?‘ Wart, denke ich, werde mir ein Witzchen erlauben: ‚Versteht sich,‘ sage ich. Nun, darauf hat er mich aber etwas anders gekitzelt ... Doch das ist schon so lange her, daß man sich weiter nicht mehr schämt, es zu erzählen. Und immer schade ich mir selbst auf diese Weise.“

„Das tun Sie ja auch jetzt wieder,“ brummte Miussoff mit Verachtung.

Der Staretz betrachtete sie beide stumm.

„Und ob! Stellen Sie es sich nur vor, Pjotr Alexandrowitsch, ich wußte das ja selbst, ich ahnte es bereits, als ich den Mund auftat und, wissen Sie, ich wußte sogar, daß Sie zu mir als erster diese Bemerkung machen würden. In diesen Sekunden, Ehrwürden, wenn ich sehe, daß der Spaß mir nicht gelingt, trocknen mir allmählich beide Wangen an das Zahnfleisch der unteren Kinnbacken an, und es kommt so etwas wie ein Krampf über mich: Das habe ich von Jugend auf, als ich noch bei den Edelleuten aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen wurde und mir auf diese Weise, also dafür, daß ich bei ihnen lustiger Gast war, mein Brot verdiente. Ich bin ein eingefleischter Narr, bin’s von Kindesbeinen an, bin so geboren, Ehrwürden, ’s ist angeborene Blödsinnigkeit, wie gesagt! Oder möglich, daß sich ein unreiner Geist in mir verbirgt, will’s nicht verreden, übrigens, keines großen Kalibers, denn ein bedeutenderer würde sich ein anderes Quartier mieten, nur ist damit nicht gesagt, daß er dabei das Ihrige, Pjotr Alexandrowitsch, wählen würde, denn, nicht wahr, auch Sie sind ja kein bedeutendes Quartier. Dafür aber bin ich gläubig, glaube an Gott! Nur in der letzten Zeit habe ich so einige Bedenken gekriegt, dafür aber sitze ich jetzt hier in Erwartung heiliger Worte. Ich, Ehrwürden, bin wie Diderot. Kennen Sie die Geschichte, wie der Philosoph Diderot zum Metropoliten Platon kam? – zur Zeit der Kaiserin Katharina? Er kommt herein und sagt direkt, ganz ohne jegliche Einleitung: ‚Es gibt keinen Gott.‘ Worauf der große Kirchenvater seine Hand erhebt und sagt: ‚Rede nur, Sinnloser, in deinem Herzen trägst du Gott!‘ Diderot ihm sofort zu Füßen: ‚Ich glaube,‘ ruft er aus, ‚und empfange die Taufe.‘ Und so wurde er denn auch sofort getauft. Fürstin Daschkowa hob ihn aus der Taufe, und Potemkin war sein Pate ...“

„Fedor Pawlowitsch, das ist unerträglich! Sie wissen es ja selbst, daß Sie lügen, daß diese dumme Anekdote nichts weniger als wahr ist, wozu machen Sie denn diese Faxen?“ unterbrach ihn mit zitternder Stimme Miussoff, der sich nicht länger beherrschen konnte.

„Mein ganzes Leben lang habe ich’s ja geahnt, daß sie nicht wahr ist!“ bestätigte sofort und gleichsam in heller Begeisterung Fedor Pawlowitsch. „Meine Herren, ich werde Ihnen dafür die ganze Wahrheit sagen! Großer Staretz! Verzeihen Sie mir: das letzte, dieses von der Taufe Diderots, habe ich mir selbst soeben ausgedacht, erst jetzt, genau, als ich es erzählte, früher ist es mir nie in den Kopf gekommen. Hab’s mir nur so zur Pikanterie ausgedacht. Darum mache ich ja nur diese Faxen, Pjotr Alexandrowitsch, um sympathischer zu sein. Zuweilen weiß ich übrigens selbst nicht, warum. Und was den Diderot betrifft, so habe ich dieses: ‚rede nur, Sinnloser,‘ etwa zwanzigmal von den hiesigen Gutsbesitzern erzählen gehört, hab’s bereits als halbes Kind gehört, als ich bei ihnen lebte; auch von Ihrer lieben Tante, Pjotr Alexandrowitsch, von Mawra Fominitschna, habe ich’s gehört. Alle sind sie durch die Bank, bis auf den heutigen Tag, noch überzeugt, daß der gottlose Diderot zum Metropoliten Platon über Gott disputieren gegangen ist ...“

Miussoff erhob sich, nicht nur, weil er die Geduld verloren hatte, sondern er tat es offenbar, weil er im Augenblick in seiner Erregung nichts anderes zu tun wußte. Er war empört und sagte sich, daß er dadurch selbst lächerlich werde. Ja, in der Zelle ging wirklich etwas ganz Unmögliches vor sich. Diese Zelle, in der vielleicht schon seit vierzig oder fünfzig Jahren, noch bei den früheren Startzen, die Fremden empfangen wurden, hatte nur tiefste Ehrfurcht gesehen. Alle, die in ihr empfangen worden waren, hatten gewußt, daß man ihnen damit eine große Gnade erwies. Viele sanken auf die Knie und erhoben sich erst, wenn sie fortgehen mußten. Viele sogar von den „höheren“ Persönlichkeiten, sogar viele Gelehrte, ja, selbst viele Freigeister, die entweder aus Neugierde oder aus sonst einem Grunde gekommen waren, machten es sich alle, bis auf den letzten, beim Eintritt in die Zelle zur ersten Pflicht, sich während des Besuchs tief ehrerbietig, tadellos zu benehmen, um so mehr, als man nicht für Geld empfangen wurde, sondern aus Liebe und Mitleid. Und die hinkamen, waren entweder Reuige, die Trost suchten, oder Menschen, die einer schweren Frage ihrer Seele eine Antwort suchen wollten, oder einen schweren Augenblick im Leben des eigenen Herzens zu überwinden hatten, und die dann um Beistand, Rat und Hilfe baten. So riefen denn solche Possen, wie sie plötzlich Fedor Pawlowitsch an diesem Ort trieb, bei den übrigen Anwesenden oder wenigstens bei einigen von ihnen stumme Verwunderung und erstauntes Nichtverstehenkönnen hervor. Die Priestermönche, die übrigens ihren Gesichtsausdruck nicht im geringsten veränderten, warteten ernst und aufmerksam, was der Staretz sagen werde, doch bereiteten auch sie sich schon vor, wie Miussoff, aufzustehen. Aljoscha war dem Weinen nahe und stand stumm mit gesenktem Kopf. Am sonderbarsten schien ihm, daß sein Bruder Iwan Fedorowitsch, der einzige, auf den er gehofft hatte, und der allein solch einen Einfluß auf seinen Vater besaß, daß er ihn hätte zügeln können, jetzt vollkommen unbeweglich auf seinem Stuhl saß, den Blick zu Boden gesenkt hielt, und, wie es schien, mit einer geradezu wißbegierigen Neugier abwartete, womit das enden werde, ganz als ob er selbst nur eine fremde Nebenperson wäre. Auf Rakitin, den Seminaristen, wagte Aljoscha nicht einmal einen Blick zu werfen, obgleich er ihn gut kannte, und ihm fast nahe stand: oh, er kannte dessen Gedanken nur zu gut (vielleicht er allein im ganzen Kloster).

„Entschuldigen Sie mich ...,“ begann Miussoff zum Staretz gewandt, „wenn ich Ihnen vielleicht gleichfalls als Teilnehmer an diesem unwürdigen Scherz erscheine. Meine Schuld besteht bloß darin, daß ich geglaubt habe, selbst so einer, wie Fedor Pawlowitsch, würde, wenn er an solch einem Ort ist, seine Pflichten begreifen ... Ich hätte es nicht gedacht, daß man dafür noch um Verzeihung werde bitten müssen, daß man mit ihm zusammen eintritt ...“

Miussoff sprach seinen Satz nicht zu Ende und wollte schon ganz verwirrt hinausgehen.

„Beunruhigen Sie sich nicht, ich bitte Sie darum,“ sagte der Staretz und erhob sich plötzlich, trotz seiner kranken Füße, von seinem Platz, ergriff Miussoff an beiden Händen und nötigte ihn, sich wieder auf den Stuhl zu setzen. „Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie darum, und besonders bitte ich Sie, mein Gast zu sein;“ und nachdem er sich nochmals verbeugt hatte, setzte er sich wieder auf sein kleines Sofa.

„Großer Staretz, sprechen Sie es aus: beleidige ich Sie durch meine Lebhaftigkeit oder nicht?“ rief plötzlich Fedor Pawlowitsch, wobei er auf dem Stuhl nach vorn rückte und mit den Händen schon die Armlehnen seines Stuhles ergriff, als ob er mit der Antwort zugleich aufspringen wollte.

„Und auch Sie bitte ich aufrichtig, sich nicht zu beunruhigen und sich keinen Zwang anzutun,“ sagte ihm eindringlich der Staretz. „Seien Sie ganz wie zu Haus. Und vor allem, schämen Sie sich nicht so sehr Ihrer selbst, denn nur daher kommt bei Ihnen alles.“

„Ganz wie zu Haus? Das heißt wohl so recht natürlich? O, das ist viel, viel zu viel, doch – nehme es in Rührung an! Wissen Sie, gesegneter Vater, beschwören Sie mich nicht auf das Natürliche, riskieren Sie es lieber nicht ... Bis zur Natürlichkeit komme ich ja noch nicht einmal bei mir selbst. Ich warne Sie nur, um Sie vor Schlimmem zu bewahren. Na ja, und was das übrige anbetrifft, so liegt das noch in der Finsternis der Unbekanntheit, obgleich mich gewisse Leute gern anschwärzen wollen. Das ist an Ihre Adresse gesagt, Pjotr Alexandrowitsch. Ihnen aber, heiligstes Wesen, Ihnen sage ich folgendes: ‚Ich spreche meine Begeisterung aus!‘“ Er erhob sich, erhob die Hände und rief: „‚Selig der Schoß, der dich getragen, und die Brüste, die dich genährt,‘ besonders die Brüste! Sie haben mich soeben mit Ihrer Bemerkung: ‚Schämen Sie sich nicht so sehr Ihrer selbst, denn nur daher kommt alles,‘ mit dieser Bemerkung haben Sie mich einfach durchbohrt und mir gezeigt, daß Sie in meinem Innersten lesen. Das ist es ja, daß es mir immer scheint, wenn ich zu Leuten hineingehe, daß ich gemeiner als alle bin, und daß mich alle für einen Narren halten, und darum denke ich: ‚wart, werde meinetwegen den Narren spielen, fürchte eure Meinung nicht, denn ihr seid doch alle, bis auf den letzten, gemeiner als ich!‘ Sehen Sie, und darum bin ich denn Narr, bin vor Scham Narr, großer Staretz, nur vor Scham! Nur aus Argwohn bin ich frech, mache ich sofort Skandal. Denn wäre ich überzeugt, wenn ich eintrete, daß mich alle sofort für den liebenswürdigsten und klügsten Menschen halten, – Herrgott, was würde ich dann für ein guter Mensch sein! Mein Lehrer!“ rief er aus und sank ganz plötzlich auf die Knie nieder, „was soll ich tun, um das ewige Leben zu erwerben?“

Selbst jetzt war es schwer, zu sagen, ob er scherzte, oder ob er tatsächlich so begeistert war?

Der Staretz blickte ihn an und sagte lächelnd:

„Das wissen Sie selbst schon längst, was man dazu tun muß, Verstand haben Sie genug: Ergeben Sie sich nicht dem Trunk, mäßigen Sie sich in Ihren Worten, ergeben Sie sich nicht der Sinnenlust und vor allem nicht der Vergötterung des Geldes, und schließen Sie Ihre Trinkstuben, wenn nicht alle, falls Ihnen das unmöglich ist, so doch wenigstens zwei oder drei. Und die Hauptsache, das allerwichtigste – lügen Sie nicht.“

„Das geht wohl auf das von dem Diderot?“

„Nein, nicht nur auf die Geschichte vom Diderot. Die Hauptsache ist, belügen Sie sich nicht selbst. Wer sich selbst belügt und auf seine eigene Lüge hört, kommt schließlich dazu, daß er keine einzige Wahrheit mehr, weder in sich noch um sich, unterscheidet, das aber führt zu Nichtachtung sowohl seiner selbst als der anderen. Wer aber niemanden achtet, der hört auch auf zu lieben; um sich aber ohne Liebe zu beschäftigen und zu zerstreuen, ergibt er sich den Leidenschaften und rohen Ausschweifungen und steigt in seinen Lastern hinab bis zum Viehischen; und also geschieht das nur durch seine fortwährende Lüge, den Menschen wie sich selbst gegenüber. Wer sich selbst belügt, kann sich auch am ehesten beleidigt fühlen. Ist es doch mitunter sogar sehr angenehm, sich gekränkt zu fühlen, ist’s nicht so? Und der Mensch weiß es doch selbst, daß ihn niemand gekränkt hat, daß er sich selbst die Kränkung ausgedacht und vorgelogen hat zur vermeintlichen Zierde, daß er es selbst vergrößert hat, daß er aus einer Erbse einen Berg macht, – er weiß es selbst nur zu gut, und doch fühlt er sich gekränkt, fühlt er sich bis zum Wohlbehagen gekränkt, bis zur Empfindung eines Genusses, und das bringt ihn dann bis zur wahren Feindschaft gegen die Menschen ... Aber so stehen Sie doch auf, setzen Sie sich doch, ich bitte Sie darum; das sind doch gleichfalls nur erlogene Gebärden.“

„Heiligster Mensch! Lassen Sie mich Ihre Hand küssen,“ rief aufspringend Fedor Pawlowitsch begeistert aus, beugte sich geschwind und drückte schmatzend einen Kuß auf die magere Hand des Staretz. „Das ist es ja, das ist’s: jawohl, geradezu angenehm ist es, sich gekränkt zu fühlen! Das haben Sie so schön gesagt, wie ich es überhaupt noch nicht gehört habe. Das ist es ja, mein Lebelang habe ich mich bis zum Genuß gekränkt gefühlt, habe mich nur um der Ästhetik willen gekränkt gefühlt, denn es ist nicht nur angenehm, sondern zuweilen sogar hübsch, gekränkt zu sein; – das haben Sie vergessen, hinzuzufügen, großer Staretz: wirklich hübsch. Das werde ich mir ins Notizbuch schreiben! Aber gelogen habe ich entschieden mein ganzes Leben, an jedem Herrgottstag, in jeder Stunde und Minute; bin die leibhaftige Lüge, bin der Vater der Lüge! Übrigens verhaue ich mich wahrscheinlich wieder im Text, sagen wir lieber, der Sohn der Lüge, das dürfte ja auch schon genügen. Nur ... hören Sie, mein Engel ... so etwas wie das vom Diderot kann man zuweilen doch erfinden! Diderot schadet weiter nicht, aber so gewisse Wörtchen können mitunter schaden. Ach, bei der Gelegenheit, großer Staretz, hätt’s beinahe total vergessen, und hab’s mir doch schon seit drei Jahren fest vorgenommen, mich hier danach zu erkundigen, gerade hier anzufragen und es positiv zu erfahren – wollten Sie aber nicht vorher Pjotr Alexandrowitsch sagen, daß er mich nicht unterbricht! – also, ich wollte sagen: ist es wahr, großer Mann, was in der Vita Sanctorum irgendwo geschrieben steht, von irgendeinem heiligen Wundertäter, den man um seines Glaubens willen gemartert hat? Es heißt dort nämlich, daß er, nachdem man ihn schließlich enthauptet hatte, aufgestanden sei, seinen Kopf aufgehoben und ihn ‚liebevoll geküßt‘ habe, und lange so mit ihm in den Armen herumgegangen sei, das Haupt immer ‚liebevoll küssend‘. Ist das nun wahr oder nicht, meine ehrenwerten Väter?“

„Nein, das ist nicht wahr,“ sagte der Staretz.

„So etwas steht überhaupt nicht in der Vita Sanctorum. Von welch einem Heiligen soll denn das geschrieben stehen?“ fragte der eine Priestermönch, der Pater Bibliothekar.

„Das weiß ich selbst nicht, von welch einem. Weiß es nicht und ahne es nicht einmal. Hab’s nur so reden hören, bin aber betrogen worden. Und wissen Sie, wer es erzählt hat? Nun, dieser selbe Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, der sich soeben dermaßen über den Diderot zu entrüsten geruhte; er selbst ist es, der es erzählt hat!“

„Niemals habe ich Ihnen das erzählt! Mit Ihnen spreche ich überhaupt nicht!“

„Stimmt, Sie haben es nicht mir erzählt; aber Sie haben es in einer Gesellschaft erzählt, in der auch ich mich befand, und das war so vor ungefähr vier Jahren. Ich erwähne es ja nur aus dem einen Grunde, weil Sie, Pjotr Alexandrowitsch, durch diese spaßige Geschichte meinen Glauben erschütterten. Sie wußten es nicht und ahnten es nicht; ich aber kehrte mit erschüttertem Glauben heim, und seit der Zeit wird er immer noch mehr erschüttert. Ja, Pjotr Alexandrowitsch, Sie waren die Ursache eines großen Falles! Das ist nicht bloß so ein Geschichtchen von Diderot!“

Der alte Karamasoff geriet bereits in Pathos, doch war allen vollkommen klar, daß er sich wieder nur verstellte. Miussoff aber war doch tief verletzt.

„Welch ein Unsinn,“ sagte er gekränkt. „Ich habe es vielleicht wirklich einmal gesagt ... nur nicht Ihnen. Ich habe es selbst von anderen gehört. Man hat es mir in Paris erzählt; es war ein sehr gelehrter Franzose, der sich speziell mit russischer Theologie beschäftigte ... hatte lange in Rußland gelebt ... er sagte, es werde bei uns nach der Frühmesse in der Vita Sanctorum gelesen ... Ich habe es zwar selbst nicht gelesen ... und werde es auch nicht ... als ob man wenig bei Tisch spricht? ... Wir tafelten damals gerade ...“

„Ja, Sie tafelten damals gerade; ich aber verlor dabei meinen Glauben!“ neckte der alte Karamasoff geflissentlich weiter.

„Was geht mich Ihr Glaube an!“ fuhr Miussoff auf, bezwang sich aber plötzlich und fügte nur mit Verachtung hinzu: „Sie machen wirklich alles gemein, womit Sie in Berührung kommen.“

Der Staretz erhob sich von seinem Platz.

„Entschuldigen Sie mich, meine Herren, ich muß Sie auf wenige Minuten verlassen,“ sagte er, sich an alle wendend, „ich werde von Leuten erwartet, die noch vor Ihnen gekommen sind. Sie aber, lügen Sie ein für allemal nicht mehr,“ fügte er mit heiterem Gesicht zu Fedor Pawlowitsch gewendet hinzu.

Er verließ die Zelle. Aljoscha und der Novize gingen ihm sofort nach, um ihn die Treppe hinunterzugeleiten. Aljoscha war fast atemlos, war froh, fortgehen zu können, doch freute es ihn besonders, daß der Staretz nicht gekränkt, sondern heiter zu sein schien. Der Staretz wollte zur kleinen Galerie gehen, um die ihn Erwartenden zu segnen. Aber Fedor Pawlowitsch hielt ihn noch an der Zellentür auf:

„Gesegneter Mensch!“ rief er gefühlvoll, „erlauben Sie mir, noch einmal Ihre Hände zu küssen! Nein, mit Ihnen kann man doch reden! Sie glauben, daß ich immer so dumm bin und so den Narren spiele? So sage ich Ihnen denn, daß ich es die ganze Zeit mit Absicht getan habe, um Sie zu erproben. Die ganze Zeit befühle ich Sie ja doch nur, ob man mit Ihnen auch leben kann? Hat denn meine Wenigkeit Platz neben Eurer Hoheit!? Stelle Ihnen einen Belobigungsschein aus: man kann wahrhaftig mit Ihnen leben! Jetzt aber verstumme ich, verstumme für die ganze Zeit. Werde mich auf meinen Lehnstuhl setzen und verstummen! Jetzt ist die Reihe an Ihnen, Pjotr Alexandrowitsch, zu sprechen; jetzt sind Sie als Hauptperson zurückgeblieben ... auf zehn Minuten.“

III.
Die gläubigen Weiber

Diesmal warteten unten an der kleinen Holzgalerie, die an der Außenseite der Einfriedigungsmauer angebaut war, nur Frauen, etwa zwanzig Weiber aus dem Volk. Man hatte sie benachrichtigt, daß der Staretz endlich käme, und alle hatten sich daraufhin erwartungsvoll herangedrängt. Auf die Galerie war auch Frau Chochlakoff mit ihrer Tochter gekommen, doch blieb sie in der anderen, für vornehme Gäste reservierten Hälfte. Frau Chochlakoff, eine reiche und stets geschmackvoll gekleidete Dame, war noch ziemlich jung, an sich sehr nett, etwas bleich vielleicht, mit sehr lebhaften, fast ganz schwarzen Augen. Sie war erst dreiunddreißig Jahre alt und seit fünf Jahren Witwe. Ihre vierzehnjährige Tochter hatte gelähmte Füße, und so wurde denn das arme Ding, das seit einem halben Jahr nicht gehen konnte, in einem langen Rollstuhl auf Gummirädern geschoben. Sie hatte ein ganz reizendes Gesichtchen, von der Krankheit sah es allerdings etwas abgezehrt aus, doch war es nichtsdestoweniger stets lustig. Etwas Schalkhaftes spielte in ihren großen, dunklen Augen mit den langen Wimpern. Die Mutter beabsichtigte schon seit dem Frühling, mit ihr ins Ausland zu reisen, hatte aber im Sommer ihr Gut nicht verlassen können. In unserer Stadt wohnte sie bereits seit einer Woche, wohl mehr aus geschäftlichen Gründen, als um hier zu beten; doch hatte sie vor drei Tagen schon einmal den Staretz besucht. Jetzt aber waren sie plötzlich wiedergekommen, obgleich sie wußten, daß er so gut wie niemanden mehr empfangen konnte, und hatten unentwegt um das „Glück, dem großen Arzt danken zu können“, gebeten. Inzwischen warteten sie auf ihn. Die Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Rollstuhl ihrer Tochter. Zwei Schritt von ihnen stand ein alter Mönch, der aus einem fernen, unbekannten Kloster im Norden gekommen war. Er wartete gleichfalls auf den Segen des Staretz. Doch dieser schritt, als er auf die Galerie trat, geradenwegs zum Volk. Man drängte sich sofort zur kleinen, dreistufigen Treppe, die von der niedrigen Galerie auf den Rasen hinabführte. Der Staretz blieb auf der obersten Stufe stehen, nahm das Epitrachelion um und begann die sich zu ihm drängenden Frauen zu segnen. Man zog auch eine „Klikuscha“ an beiden Händen zu ihm heran. Kaum aber hatte diese den Staretz erblickt, als sie plötzlich ganz absonderlich zu kreischen, zu schnucken und am ganzen Körper zu zittern begann, so, wie kleine Kinder zittern, wenn sie Krämpfe haben. Der Staretz breitete sein Epitrachelion mit einer Handbewegung über ihren Kopf, sprach ein kurzes Gebet – und sie verstummte und beruhigte sich sofort. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, doch in meiner Kindheit habe ich häufig auf dem Lande und in Klöstern solche „Klikuschi“ gesehen und gehört. Sie wurden zum Gottesdienst geführt; sie kreischten oder bellten wie Hunde durch die ganze Kirche, doch wenn die geweihten Gaben des heiligen Abendmahles herausgetragen und sie dann zu ihnen geführt wurden, so hörte die „Besessenheit“ sofort auf, und die Kranken beruhigten sich stets auf einige Zeit. Mir fiel das als Kind ungemein auf, und ich wunderte mich nicht wenig darüber. Doch schon damals erfuhr ich auf meine Fragen von verschiedenen benachbarten Gutsbesitzern und besonders in der Stadt von meinen Lehrern, daß alles nur Verstellung sei, um nicht arbeiten zu müssen, und daß diese Krankheit mit der gehörigen Strenge stets auszurotten sei, wobei es dann noch zur Bekräftigung dieser Behauptung verschiedene Anekdoten gab. Späterhin aber erfuhr ich zu meinem Erstaunen von Medizinern, von Spezialisten, daß hierbei von Verstellung überhaupt nicht die Rede sein könne, daß das ganz einfach eine furchtbare Frauenkrankheit sei, die, wie es scheint, am häufigsten hier bei uns in Rußland vorkommt und von dem schweren Los unserer Bauernweiber zeugt, eine Krankheit, die von der allzu früh begonnenen, anstrengenden Arbeit nach einer schweren, unnormalen Entbindung ohne jede ärztliche Hilfe herrührt, oder auch von aussichtslosem Leid, von Schlägen usw., was gewisse Frauennaturen denn doch nicht ertragen können. Was aber die sonderbare und sofortige Heilung des „besessenen“ und tobenden Weibes anbetrifft, die man mir als Verstellung erklärt hatte oder als eine Posse, die womöglich von dem „Klerus“ selbst arrangiert werde, so ging sie wahrscheinlich gleichfalls auf ganz natürliche Weise vor sich: Sowohl die Kranke als die Weiber, die sie zur Hostie führten, glaubten daran, wie an eine allbekannte Wahrheit, daß der unreine Geist, der sich der Kranken bemächtigt hatte, diese einfach verlassen müsse, weil er es nicht ertragen könne, wenn man sie zum Altar bringt und sie vor der Hostie niederkniet. Darum aber ging dann in dem nervösen und natürlich auch psychisch kranken Weibe gewissermaßen eine Erschütterung des ganzen Organismus vor sich, die selbstverständlich durch die Erwartung des unbedingten Wunders hervorgerufen wurde, ja, infolge des unerschütterlichen Glaubens daran, daß es geschehen werde, hervorgerufen werden mußte. Und so geschah es denn auch, wenn auch nur auf eine Minute. Und so geschah es denn auch diesmal, kaum daß der Staretz die Kranke mit dem Epitrachelion bedeckt hatte.

Viele von den sich zu ihm drängenden Weibern brachen unter dem Eindruck des Augenblicks in Tränen der Rührung und der Begeisterung aus; andere wiederum drängten sich zu ihm, um wenigstens den Saum seines Gewandes zu küssen; wieder andere murmelten Gebete oder Segenssprüche vor sich hin. Er segnete sie alle, und mit einigen von ihnen sprach er auch. Die „Klikuscha“ kannte er schon von früher, sie wurde aus einem Dorfe, das nur sechs Werst vom Kloster entfernt war, zu ihm gebracht, und zwar hatte man das schon des öfteren getan.

„Du dort, du bist von fern hergekommen!“ sagte er zu einem noch ziemlich jungen Weibe, das aber sehr mager und im Gesicht nicht etwa bloß sonnverbrannt, sondern geradezu schwarz war. Sie lag auf den Knien und sah mit unbeweglichem Blick auf den Staretz. In ihrem Blick lag etwas wie Verzückung.

„Von weitem, Vater, von weitem, dreihundert Werst von hier. Von weitem, Vater, von weitem,“ sagte das Weib, die Worte fast singend, wobei es den Kopf langsam hin und her wiegte und die Hand an die Wange legte. Und ihre ganze Sprache war wie ein Klagegesang.

Es gibt im Volk stummes und vielgeduldiges Leid: es zieht sich in sich selbst zurück und schweigt. Doch gibt es auch anderes Leid: das bricht einmal in Tränen aus, und von dem Augenblicke an geht es dann in Klage oder Gebet über. Dies kommt besonders bei den Frauen vor. Doch ist es nicht leichter als das schweigende Leid. Die Klage lindert nur dadurch das Leid, daß sie das Herz zerreißt. Solch ein Leid verlangt nicht einmal nach Trost, es nährt sich am Gefühl seiner Unstillbarkeit, an seiner Trostlosigkeit. Die Klage aber ist nur das Bedürfnis, die schmerzende Wunde immer wieder zu berühren.

„Du bist wohl vom Kleinbürgerstande?“ fragte der Staretz, der sich aufmerksam in ihr Gesicht hineinsah.

„Aus der Stadt sind wir, Vater, aus der Stadt, sind einfache Leute, sind vom Bauernstande, wohnen aber in der Stadt, Vater, in der Stadt. Bin gekommen, um dich zu sehen. Wir haben von dir gehört, Vater, viel gehört. Habe mein Söhnchen, mein Kleines, beerdigt, bin gegangen, um zu Gott zu beten. Bin in drei Klöstern gewesen, doch alle sagen sie mir: ‚Gehe hin, Nastassjuschka, gehe hin, zu ihm,‘ zu dir, mein Liebling, soll ich gehen. So bin ich gekommen, war gestern im nächtlichen Gottesdienst, und heute bin ich zu dir gekommen.“

„Worüber weinst du?“

„Über mein Söhnchen, Vater, ein dreijähriges Kindchen war’s, nur noch drei Monate fehlten, und es wäre drei Jahre alt gewesen. Um mein Söhnchen quäle ich mich, Vater, um mein Söhnchen. Es war das letzte, das mir blieb, vier hatten wir, vier, Nikituschka und ich. Aber die Kinderchen bleiben nicht bei uns, du Guter, sie bleiben nicht. Die drei ersten begrub ich, begrub sie, und es tat mir nicht gar so weh; diesen letzten aber begrub ich, und nun kann ich ihn nicht mehr vergessen. Es ist mir, als ob er hier vor mir steht und nicht fortgeht. Hat mir die Seele ausgesogen. Betrachte ich seine Sächelchen, seine Hemdchen oder seine kleinen Stiefelchen, da stöhne ich und heule auf. Breite alles aus, was von ihm übriggeblieben ist, jedes kleine Sächelchen, sehe und heule. Sage Nikituschka, meinem Manne: Laß du mich, Lieber, beten gehen. Droschkenkutscher ist er, nicht arm sind wir, Vater, nicht arm, er ist sein eigener Herr, alles gehört uns selbst, die Pferde und auch die Wagen. Aber wozu nützt uns jetzt unser Besitz? Wieder wird er jetzt fehlgehen, mein Nikituschka, das ist schon so, ohne mich, und ist auch immer so gewesen: Wenn ich mich nur von ihm abwende, wird er sofort wieder schwach. Aber jetzt denke ich gar nicht mehr an ihn. Bin jetzt schon drei Monate fort von Hause. Habe vergessen, alles vergessen, und will auch nichts wissen; was soll ich jetzt mit ihm? Es ist aus mit ihm, habe mit allem abgeschlossen, mit allem. Würde ich doch jetzt nicht mein Haus sehen wollen und all mein Hab und Gut, und würde ich doch auch nichts mehr sehen!“

„Höre mich, Mutter,“ sagte der Staretz, „einstmals erblickte ein alter Heiliger im Tempel eine weinende Mutter, wie du, und sie weinte gleichfalls über ihr kleines Kind, um ihr einziges, das Gott von ihr zu sich genommen hatte. ‚Oder weißt du nicht,‘ sprach der Heilige zur Mutter, ‚wie kühn diese Kindlein vor dem Throne Gottes sind? Gibt es doch niemanden, der im Himmelreiche kühner wäre, denn sie. Du, Herr, hast uns das Leben geschenkt, sagen sie zu Gott, und kaum, daß wir es erschauten, da nahmst du es wieder von uns. Und so kühn bitten und flehen sie, daß der Herr sie alsbald zu Engeln macht. Und darum,‘ sprach der Heilige, ‚freue du dich, Weib, und weine nicht, denn dein Kind ist bei Gott und weilet in seiner Engelschar.‘ Also sprach in alten Zeiten der Heilige zum weinenden Weibe. War aber ein großer Heiliger, wie also hätte er ihr Unwahrheit sagen können? So wisse denn auch du, Mutter, daß auch dein Kind vor dem Throne Gottes steht und fröhlich und selig ist, und Gott für dich bittet. Und darum weine auch du nicht, sondern freue dich.“

Das Weib hörte ihn an, die Wange in die Hand gestützt. Sie seufzte tief.

„Damit hat mich auch Nikituschka getröstet, Wort für Wort, wie du es sagst: ‚Was weinst du,‘ sagt er, ‚unser Söhnchen ist jetzt bestimmt beim lieben Herrgott und singt dort mit den Engelein.‘ Das sagt er mir, weint aber dabei selbst, ich sehe es ja, weint, wie ich weine. ‚Das weiß ich, Nikituschka,‘ sage ich, ‚wo sollte er denn sonst sein, wenn nicht beim lieben Herrgott, nur ist er nicht bei uns, Nikituschka, sitzt nicht mehr hier neben uns, wie er früher saß!‘ Wenn ich nur ein einziges Mal ihn wiedersehen könnte, nur ein einziges Mal, würde ja nicht zu ihm gehen, würde kein Wörtchen sagen, würde mich in der Ecke verstecken, nur ein Minutchen, nur ein einziges, ihn sehen, ihn hören, wie er auf dem Hof spielt, oder hereinkommt und mit seinem Stimmchen ruft: ‚Mammi, wo bist du?‘ Nur einmal noch will ich hören, wie er im Zimmer herumtrippelt, nur ein einziges Mal, mit seinen Beinchen, tipp tapp, und so schnell, schnell geht’s, ich weiß noch, wie er zuweilen so zu mir gestrampelt kam, schrie und lachte dabei ... wenn ich nur einmal noch seine Schrittchen hören könnte, nur einmal, ich würde ihn gleich wiedererkennen! Aber er ist nicht mehr, Vater, er ist nicht mehr, und niemals mehr werde ich ihn hören. Sieh, hier ist sein Gürtelchen, er aber ist nicht mehr da, und niemals mehr, niemals mehr werde ich ihn sehen noch hören! ...“

Sie zog einen kleinen mit Borten bestickten Gürtel hervor, den sie in den Busen gesteckt hatte, doch kaum sah sie ihn an, da brach sie auch schon in Tränen aus; ihr ganzer Körper wurde vom Schluchzen erschüttert, sie bedeckte die Augen mit den Händen, doch die Tränen flossen durch die Finger über die Hände herab.

„So hat auch Rachel über ihre Kinder geweint und sich nicht trösten können; das sind die Schranken, die euch Müttern hier auf Erden gezogen worden sind. Und so gib dich denn nicht damit zufrieden, Weib, tröste dich nicht, und laß dich nicht trösten, sondern weine, nur wisse in jeder Stunde, in der du weinst, daß dein Sohn einer der Engel Gottes ist, daß er von dort auf dich niederschaut, dich sieht, und sich deiner Tränen freut, und sie Gott dem Herrn zeigt. Und lange noch, Mutter, wirst du die Tränen deines großen Schmerzes weinen, doch schließlich werden sie sich in eine stille Freude verwandeln, und deine bitteren Tränen werden dann nur Tränen einer stillen Rührung sein, eine Herzensläuterung, die vor allen Sünden bewahrt. Deines Sohnes aber werde ich im Gebete gedenken. Wie hieß er mit Namen?“

„Alexei, Vater.“

„Ein lieber Name. Nach dem Gottesknecht Alexei?“

„Nach dem Gottesknecht, Vater, ja, nach dem Gottesknecht, nach dem Gottesknecht Alexei.“

„Das war ein heiliger Mann! Ich werde seiner gedenken, Mutter, und auch deiner Trauer in meinem Gebet, und auch deines Mannes werde ich gedenken, auf daß es ihm wohl ergehe, und er gesund bleibe. Nur ist es Sünde von dir, ihn so allein zu lassen. Kehre zurück zu deinem Manne und beschütze ihn. Sonst sieht es dein Sohn von droben, daß du seinen Vater verlassen hast, und er wird über euch weinen: Warum störst du also seine Seligkeit? Denn er lebt doch, er lebt, denn die Seele ist ewig lebendig, und wenn du ihn auch nicht im Hause siehst, so ist er doch unsichtbar bei euch. Wie soll er nun in euer Haus kommen, wenn dir dein Haus, wie du sagst, nicht mehr lieb ist? Und zu wem soll er kommen, wenn er nicht euch beide, Vater und Mutter, beisammen findet? Sieh, jetzt träumst du von ihm, und das quält dich, dann aber wird er dir sanfte Träume schicken. Geh zu deinem Manne, Weib, kehre noch heutigen Tages zu ihm zurück, Mutter.“

„Ich werde gehen, du mein Lieber, werde gehen, wie du sagst. Hast mir mein Herz erleichtert! ... Nikituschka, du mein Nikituschka, erwartest mich wohl, mein Täubchen,“ begann sie vor sich hinzusagen, doch der Staretz wandte sich schon zu einem alten Mütterchen, das städtisch, aber ganz sonderbar und altmodisch gekleidet war. An ihren Augen konnte man sehen, daß sie etwas Besonderes auf dem Herzen hatte und gekommen war, um es mitzuteilen. Sie war die Witwe eines Unteroffiziers aus unserem Städtchen. Ihr Sohn Wassenjka hatte irgendwo im Kommissariat gedient, war aber dann nach Sibirien, nach Irkutsk, gefahren. Zweimal hatte er ihr von dort geschrieben, dann aber hatte sie ein ganzes Jahr lang keine Nachricht mehr von ihm erhalten. Sie hatte sich darauf wohl nach ihm erkundigt, doch genau genommen, wußte sie nicht recht, wo man sich eigentlich erkundigen sollte.

„Nun sagte mir noch neulich Stepanida Iljinitschna Bedrjägina, die Kaufmannsfrau, sie ist sehr reich – sie sagte mir, laß doch, Prochorowna, für deinen Sohn eine Seelenmesse lesen. Dann wird seine Seele Heimweh bekommen, und er wird dir sofort einen Brief schreiben. Das ist schon mehrmals erprobt worden und hat sich immer als richtig erwiesen, sagt Stepanida Iljinitschna. Nur denke ich so bei mir ... weiß nicht, was ich tun soll ... Sage du mir, unser Augenlicht, was soll ich tun, soll ich die Messe für seine Seele lesen lassen?“

„Du solltest an so etwas überhaupt nicht denken. Es ist schon eine Schande, solches auch nur zu fragen. Und wie wäre denn das möglich, daß man für eine lebende Seele die Totenmesse lesen läßt, und dazu noch die leibliche Mutter. Das wäre eine große Sünde, wäre wie Zauberei, und nur wegen deiner Unwissenheit sei es dir verziehen. Bete lieber zur Muttergottes für seine Gesundheit und auf daß sie dir deine unrechten Gedanken verzeihe. Und höre, was ich dir noch sagen werde, Prochorowna: Dein Sohn wird bald entweder selbst zu dir zurückkehren, oder er wird dir einen Brief schicken. Das wisse. Gehe jetzt und sei ruhig. Dein Sohn lebt, das sage ich dir.“

„Unser Lieber, du unser Augenlicht, Gott schütze dich, unser Wohltäter, weiß ich doch, daß du für uns alle betest und für alle unsere Sünden!“

Der Staretz aber hatte schon zwei brennende Augen bemerkt, mit denen ihn eine magere, dem Anscheine nach schwindsüchtige, doch noch junge Bäuerin unverwandt ansah. Sie blickte ihn stumm an, ihre Augen baten um etwas, doch schien sie Angst zu haben, näher zu kommen.

„Womit bist du gekommen, mein Kind?“

„Erlöse meine Seele, Vater,“ sagte sie leise und unübereilt, kniete nieder und verbeugte sich vor ihm bis zur Erde.

„Ich habe gefehlt, mein Vater, ich fürchte meine Sünde.“

Der Staretz setzte sich auf die unterste Stufe, die Bäuerin näherte sich ihm, ohne sich dabei von den Knien zu erheben.

„Ich bin Witwe, schon das dritte Jahr,“ begann sie halb flüsternd, wobei sie fast zusammenschauerte. „Schwer hatte ich es in der Ehe, alt war er, und schmerzhaft schlug er mich. Dann wurde er krank und lag zu Bett; und so denke ich, wie ich ihn so sehe, wenn er aber gesund wird und wieder aufsteht, was dann? Und da kam mir dieser selbe Gedanke! ...“

„Wart,“ sagte der Staretz und näherte sein Ohr ganz dicht ihren Lippen. Sie fuhr mit leisem Flüstern in ihrer Beichte fort, doch konnte man nichts mehr verstehen. Sie war bald zu Ende damit.

„Das dritte Jahr?“ fragte der Staretz.

„Das dritte. Zuerst dachte ich nicht daran, jetzt aber ist das Kränkeln gekommen und damit auch die Seelenangst.“

„Bist du von weitem hergekommen?“

„Über fünfhundert Werst von hier.“

„Hast du es in der Beichte gestanden?“

„Habe gestanden, habe es zweimal gestanden.“

„Hat man dich zum Abendmahl zugelassen?“

„Ja, man ließ mich zu. Ich fürchte mich, fürchte mich, zu sterben.“

„Fürchte nichts, und fürchte dich niemals, und ängstige deine Seele nicht. Wenn nur die Reue in dir nicht verarmt – wird Gott dir alles verzeihen. Gibt es doch keine Sünde, kann es doch auf der ganzen Welt keine so große Sünde geben, die Gott der Herr dem wahrhaft reuigen Sünder nicht verziehe. Und kann doch der Mensch nie und nimmer eine so große Sünde begehen, daß sie die endlose Liebe Gottes ganz erschöpfte. Oder glaubst du, daß es eine Sünde gäbe, die größer wäre als die Liebe Gottes? Trage nur Sorge um die Reue, sei unermüdlich im Bereuen, doch die Angst sollst du von dir scheuchen. Glaube daran, daß Gott dich so liebt, wie du es dir gar nicht denken kannst, daß er dich zusammen mit deiner Sünde und dich in deiner Sünde liebt. Weißt du nicht, daß es geschrieben steht: Über einen reuigen Sünder wird im Himmel mehr Freude sein, als über zehn Gerechte? So geh denn hin und fürchte dich nicht. Laß dich von den Menschen nicht erbittern und ärgere dich nicht über Kränkungen. Dem Verstorbenen vergib im Herzen alles, söhne dich aus mit ihm in Wahrheit. Wenn du bußfertig bist, so liebst du, liebst du aber, so bist du schon Gottes Kind ... Liebe erkauft alles, Liebe rettet alles. Wenn du schon mich, der ich doch ein ebenso sündiger Mensch bin wie du, gerührt hast und ich Mitleid mit dir empfinde, um wieviel mehr wird es dann Gott tun. Die Liebe ist ein so unschätzbarer Schatz, daß du mit ihr die ganze Welt kaufen kannst und nicht nur deine, sondern auch fremde Sünden auskaufst. So gehe jetzt hin in Frieden und fürchte dich nicht.“

Dreimal schlug er das Kreuz über sie, nahm dann von seinem Halse ein kleines Heiligenbild und legte es um ihren Hals. Schweigend neigte sie sich vor ihm bis zur Erde. Er erhob sich, und blickte heiter auf ein gesundes Bauernweib, das ein Brustkind auf den Armen trug.

„Bin aus Wyschegorje, Liebster.“

„Immerhin sechs Werst von hier, hast noch dazu das Kindchen getragen. Was wolltest du?“

„Dich sehen wollte ich; ich bin doch schon früher bei dir gewesen, oder hast du’s vergessen? Dann hast du wohl kein großes Gedächtnis, wenn du mich schon vergessen hast! Die Leute sprachen dort bei uns, daß du krank sein sollst; da dachte ich, wart, werde ich selbst hingehen, sehen, was er macht. Und da sehe ich dich nun; was bist du denn für ein Kranker? Wirst noch zwanzig Jahre leben, wirklich! Gott mit dir! Und als ob du wenig Fürbitter hättest! Wie sollst du denn krank sein?“

„Ich danke dir für alles, Liebe.“

„Wart, ich habe noch eine kleine Bitte an dich, sie ist nicht groß: Hier sind sechzig Kopeken, gib sie, Liebster, einer, die ärmer ist als ich. Als ich herkam, dachte ich so bei mir: Besser, ich gebe es durch ihn; er wird schon wissen, wer es nötig hat.“

„Ich danke dir, Liebste, danke, meine Gute. Ich habe dich lieb, du Gute; ich werde unbedingt so handeln, wie du wünscht. – Ist es ein Mädchen?“

„Ein Mädchen, Liebster, Lisaweta.“

„Der Herr segne euch beide, dich wie die kleine Lisaweta. Mein Herz hast du mir erheitert, Mutter. Lebt wohl, meine Lieben, lebt wohl, meine teuren Lieben!“

Er segnete alle und verneigte sich tief vor ihnen.

IV.
Die kleingläubige Dame

Die zugereiste Gutsbesitzerin, die dem ganzen Gespräch des Staretz mit dem einfachen Volk zugehört hatte, vergoß stille Tränen und tupfte sie mit ihrem Batisttüchlein ab. Sie war eine gefühlvolle Weltdame mit in gar manchen Dingen wahrhaft guten Neigungen. Als der Staretz endlich auch zu ihr trat, begrüßte sie ihn ganz begeistert.

„Ich habe soviel, soviel empfunden beim Anblick dieser rührenden Szene ...“ Vor Erregung stockte sie im Sprechen. „O, ich verstehe nur zu gut, daß das Volk Sie liebt, ich liebe es auch selbst, ich will es lieben, und wie sollte man es auch nicht lieben, dieses prachtvolle, in seiner Größe so treuherzige, russische Volk!“

„Wie steht es mit der Gesundheit Ihrer Tochter? Man sagte mir, daß Sie mit mir sprechen wollten?“

„O, ich habe darum gebeten, gefleht! ich war bereit, auf die Knie zu fallen und meinetwegen drei Tage lang vor Ihren Fenstern zu knien, bis Sie mich dann endlich empfangen hätten! Wir sind zu Ihnen gekommen, großer Arzt, um Ihnen unseren heißen, heißen Dank auszusprechen! Sie haben doch meine Lisa ganz gesund gemacht, aber ganz, und wodurch? – Durch Ihr Gebet am Donnerstag, dadurch daß Sie Ihre Hände beim Gebet auf sie gelegt haben! Wir sind hergekommen, um diese Hände zu küssen, um unsere Gefühle, unsere Ehrfurcht auszudrücken!“

„Wieso habe ich sie geheilt? Sie liegt doch noch im Rollstuhl?“

„Aber sie fiebert jetzt in der Nacht überhaupt nicht mehr, zwei Nächte nicht mehr, seit Donnerstag!“ sagte nervös erregt die Dame. „Und nicht nur das allein, auch ihre Füße sind erstarkt. Heute morgen stand sie ganz gesund auf, sie hat die ganze Nacht geschlafen; sehen Sie doch, wie rosig sie heute ist, wie ihre Augen glänzen! Sonst weinte sie immer, jetzt aber lacht sie, ist lustig und fröhlich. Heute wollte sie unbedingt, daß man sie auf die Füße stelle, und so stand sie eine ganze Minute ohne jede Stütze. Sie hat mit mir gewettet, daß sie nach zwei Wochen Walzer tanzen werde. Ich ließ den hiesigen Doktor Herzenstube zu mir bitten; er aber zuckte bloß mit den Achseln und sagte: ‚Das überrascht mich, ist mir unverständlich!‘ Und Sie verlangen, daß wir Sie nicht mehr beunruhigen sollen, daß wir nicht danken? Lise, bedank dich doch, aber so bedanke dich doch!“

Lisas reizendes, lachendes Gesichtchen wurde plötzlich ganz ernst; sie erhob sich im Stuhl, soweit sie es konnte, blickte ernst den Staretz an und legte ihre Händchen vor ihm zusammen, doch konnte sie sich nicht bezwingen und fing von neuem an zu lachen ...

„Über ihn, ach, ich lache ja nur über ihn!“ rief sie, auf Aljoscha weisend, in kindlichem Unwillen über sich selbst, weil sie nicht ernst geblieben war und gelacht hatte. Wer Aljoscha, der einen Schritt hinter dem Staretz stand, betrachtet hätte, der würde die Röte bemerkt haben, die auf einen Augenblick in sein Gesicht stieg. Seine Augen blitzten auf, und er senkte den Blick zu Boden.

„Sie hat einen Auftrag an Sie, Alexei Fedorowitsch ... Wie geht es Ihnen?“ wandte sich die Mama an Aljoscha und streckte ihm ihr reizendes behandschuhtes Händchen entgegen. Der Staretz sah sich hastig nach Aljoscha um und betrachtete ihn lange Zeit sehr aufmerksam. Jener näherte sich Lisa und reichte ihr ein wenig ungeschickt lächelnd die Hand. Lise machte ein wichtiges Gesichtchen.

„Katerina Iwanowna schickt Ihnen durch mich diesen Brief,“ sagte sie und überreichte ihm ein kleines Schreiben. „Sie läßt Sie sehr, sehr bitten, zu ihr zu kommen und so schnell als möglich, und nicht nur zu versprechen, sondern bestimmt zu kommen.“

„Sie bittet mich, zu ihr zu kommen? Zu ihr, mich ... Warum denn?“ stotterte Aljoscha höchst verwundert. Er sah plötzlich ganz besorgt aus.

„O, es handelt sich natürlich um Dmitrij Fedorowitsch und ... um alle diese jüngsten Begebenheiten,“ erklärte flüchtig die Mama. „Katerina Iwanowna hat sich jetzt zu etwas entschlossen ... zu diesem Zweck aber muß sie Sie sehen – warum? Das weiß ich natürlich nicht; aber sie läßt Sie bitten, sobald als möglich zu kommen. Und Sie kommen doch, nicht wahr? Kommen Sie unbedingt, hier gebietet es sogar die Christenpflicht.“

„Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen,“ sagte Aljoscha immer noch ganz verwundert.

„O, das ist ein so edles, ein so unerreichbar edles Mädchen! ... Schon allein, was sie gelitten hat ... Bedenken Sie doch nur, was sie ertragen hat, und was sie jetzt ertragen muß, und bedenken Sie nur, was sie noch erwartet! ... Es ist schrecklich, wirklich schrecklich, wenn man das bedenkt!“

„Gut, ich werde hingehen,“ beschloß Aljoscha, nachdem er das kurze, rätselhafte Schreiben überflogen hatte, das außer der dringenden Bitte, zu ihr zu kommen, weiter nichts, keine einzige Erklärung enthielt.

„Ach, wie nett das von Ihnen ist, und es wird herrlich sein!“ rief Lisa ganz entzückt aus. „Ich habe Mama immer gesagt: Er wird bestimmt nicht kommen, um keinen Preis wird er kommen! Wie nett, wie reizend Sie sind! Ich habe mir immer gedacht, daß Sie reizend sind, und es ist mir angenehm, Ihnen das jetzt sagen zu können.“

Lise!“ rief ernst die Mama, doch lächelte auch sie gleich wieder.

„Sie haben uns ganz vergessen, Alexei Fedorowitsch; Sie kommen ja gar nicht mehr zu uns! Lise aber hat mir schon zweimal gesagt, daß sie sich nur in Ihrer Gesellschaft wohl fühle.“

Aljoscha erhob den gesenkten Blick, wurde plötzlich wieder über und über rot und lachte abermals, ohne selbst zu wissen, warum. Der Staretz aber beobachtete ihn nicht mehr; er unterhielt sich bereits mit dem Mönch, der, wie schon erwähnt, neben Lisas Rollstuhl auf sein Erscheinen gewartet hatte. Es war dem Aussehen nach ein ganz einfacher Mönch, ein Mensch mit einer kleinen, doch unzerstörbaren Weltanschauung, dabei aber gläubig und in seiner Art ungemein starrköpfig. Er sagte, daß er aus dem fernen Norden gekommen sei, aus Obdorsk vom heiligen Silvester, – aus einem armen, kleinen Kloster, in dem nur neun Mönche lebten. Der Staretz segnete ihn und forderte ihn auf, einerlei wann, zu ihm in die Zelle zu kommen.

„Wie können Sie so was erreichen?“ fragte plötzlich der Mönch, wobei er ernst und feierlich auf Lisa hinwies. Er fragte es in betreff ihrer „Heilung“.

„Davon zu sprechen, ist natürlich noch zu früh. Erleichterung ist nicht völlige Heilung und kann auch durch andere Ursachen hervorgerufen worden sein. Und selbst das wird nicht anders als nach Gottes Wunsch und durch Gottes Kraft geschehen sein. Alles kommt von Gott. Besuchen Sie mich bald, Pater,“ fügte er nochmals hinzu, „denn nicht zu jeder Zeit kann ich aufstehen; ich bin krank und weiß, daß meine Tage gezählt sind.“

„O nein, nein, Gott wird Sie nicht von uns nehmen; Sie werden noch lange, lange leben!“ fiel die Mama ihm ins Wort. „Und woran sind Sie denn erkrankt? Sie sehen so gesund aus, so fröhlich und glücklich!“

„Heute fühle ich mich auch viel besser, aber ich weiß, daß es nur eine Erleichterung auf eine Minute ist. Ich kenne jetzt meine Krankheit und kann mich nicht mehr darüber täuschen. Wenn ich Ihnen aber so fröhlich und glücklich scheine, so hätten Sie mich mit nichts so erfreuen können wie durch diese Bemerkung. Denn zum Glück sind die Menschen geschaffen, und wer vollkommen glücklich ist, der darf sich selbst sagen: ‚Ich habe das Gebot Gottes auf dieser Welt erfüllt.‘ Alle Heiligen, alle heiligen Märtyrer sind glücklich gewesen.“

„O wie schön Sie reden, welch große und hohe Worte Sie gebrauchen,“ sagte begeistert die Mama. „Wenn Sie etwas sagen, so durchdringen Sie einen gleichsam. Und doch! ... das Glück, ja, das Glück – wo ist es? Wer kann von sich sagen, daß er glücklich sei? O, wenn Sie schon so gut gewesen sind, heute nochmals zu uns zu kommen, so hören Sie denn auch alles, was ich Ihnen das vorige Mal nicht sagen konnte, was ich nicht zu sagen wagte, alles, worunter ich so lange, so lange schon leide! Ich leide, verzeihen Sie mir, ich leide ...“ Und sie faltete in einem plötzlich sie überkommenden heißen Gefühl die Hände vor ihm.

„Worunter denn so besonders?“

„Ich leide ... unter meinem Unglauben ...“

„Unglauben an Gott?“

„O nein, nein, daran wage ich nicht einmal zu denken: aber das Leben im Jenseits – das ist solch ein Rätsel! Und niemand, niemand kann genau auf die Frage antworten! Hören Sie mich an, Sie tiefer Kenner der Menschenseele; ich habe natürlich keine Ansprüche darauf, daß Sie meinen Worten vollen Glauben schenken, aber ich versichere Ihnen, daß ich jetzt nicht aus Leichtsinn rede: Der Gedanke an das Leben nach dem Tode regt mich Unglückliche auf, bis zur Beängstigung, bis zum Entsetzen bringt er mich! Und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll, niemals habe ich gewagt ... Und sehen Sie, jetzt habe ich gewagt, mich an Sie zu wenden ... O Gott, für was werden Sie mich nun halten!“ Und sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

„Beunruhigen Sie sich nicht wegen meiner Meinung,“ entgegnete der Staretz. „Ich glaube vollkommen an die Aufrichtigkeit Ihres Kummers.“

„O, ich danke Ihnen dafür! Sehen Sie, ich schließe die Augen und denke: Wenn alle glauben, so – woher kommt das? Jetzt aber versichert man, das sei zuerst nur aus der Furcht vor den Schrecken einflößenden Naturerscheinungen gekommen, und daß es alles das überhaupt nicht gäbe. Wie nun, denke ich, ich habe geglaubt so lange ich lebe – und da sterbe ich nun, und plötzlich ist nichts da, und nur ‚Kletten wachsen auf meinem Grabe‘, wie ich vor kurzem bei einem Schriftsteller las. Das ist doch entsetzlich! Wodurch den Glauben wiedergewinnen, wodurch? Und wissen Sie, ich habe eigentlich nur als ganz kleines Mädchen geglaubt, mechanisch, ohne etwas dabei zu denken ... Wodurch sich nun überzeugen? Ich bin zu Ihnen gekommen, um vor Ihnen niederzuknien und Sie zu fragen; denn wenn ich jetzt diese Gelegenheit unbenutzt vorübergehen lasse, so wird mir doch in meinem ganzen Leben niemand mehr darauf Antwort geben. Womit nun beweisen, wodurch sich überzeugen? O, das ist ein zu großes Unglück! Ich stehe und sehe, daß allen alles einerlei ist, oder fast allen, niemand denkt jetzt daran, nur ich allein kann das nicht mehr ertragen. Das ist ja entsetzlich, ganz entsetzlich, einfach tötend!“

„Zweifellos tötend. Doch beweisen läßt sich hierbei nichts, wohl aber kann man sich überzeugen.“

„Wie? Wodurch?“

„Durch die Erfahrung der werktätigen Liebe. Bemühen Sie sich, Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben. In dem Maße, wie Sie in der Liebe fortschreiten, werden Sie sich auch vom Sein Gottes und von der Unsterblichkeit Ihrer Seele überzeugen. Wenn Sie aber in Ihrer Liebe zum Nächsten bis zur vollen Selbstverleugnung gekommen sind, dann werden Sie auch den vollen Glauben errungen haben, und kein Zweifel wird sich dann mehr in Ihre Seele einschleichen können. Das ist eine alterprobte Wahrheit.“

„Durch werktätige Liebe? Aber da erhebt sich die andere Frage, und was das für eine Frage ist! Sehen Sie: ich liebe die Menschheit dermaßen, daß ich – werden Sie es mir glauben? – zuweilen daran denke, alles zu verlassen, alles, was ich habe, Lise und alles, alles, und barmherzige Schwester zu werden. Ich schließe die Augen, denke und träume, und in diesen Augenblicken fühle ich eine unüberwindliche Kraft in mir. Keine Wunden, keine eiternden Beulen könnten mich abschrecken, ich würde sie mit meinen eigenen Händen waschen und verbinden; ich möchte die Wärterin dieser Leidenden sein und wäre bereit, diese Schwären zu küssen ...“

„Und selbst das ist schon viel und gut, daß Ihre Gedanken davon träumen und nicht von anderem. Bestimmt werden Sie doch noch eine gute Tat tun, wenn auch vielleicht nur aus Versehen ...“

„Ja, aber wie lange könnte ich denn dieses Leben aushalten?“ fragte erregt, fast außer sich, die Dame. „Das ist ja die Hauptfrage! Das ist die allerquälendste Frage! Ich schließe die Augen und frage mich: Wie lange würdest du auf diesem Wege gehen können? Und wenn der Kranke, dessen Wunden du wäschst, dir nicht sofort seine ganze Dankbarkeit schenkt, dich im Gegenteil womöglich noch mit Launen quält, ohne deine menschenfreundliche Aufopferung zu schätzen oder auch nur zu beachten, dich anschreit, sogar roh von dir verlangt, was du doch freiwillig gibst, sich sogar bei den Vorgesetzten über dich beklagt – wie das doch häufig Schwerleidende tun –, was dann? Wird dann deine Liebe noch fortdauern oder nicht? Und denken Sie sich, ich habe mir selbst sofort angstvoll eingestanden: wenn es etwas gibt, was meine ‚tätige‘ Liebe zur Menschheit sofort erkalten machen könnte, so ist das einzige die Undankbarkeit. Mit einem Wort, ich bin eine Arbeiterin um Lohn, ich verlange den Lohn sofort; ich meine, daß man mich lobt, ich verlange Gegenliebe als Lohn für meine Liebe. Anders bin ich überhaupt nicht fähig, jemanden zu lieben!“

Es schien ein Anfall der aufrichtigsten Selbstgeißelung über sie gekommen zu sein. Als sie geendet hatte, blickte sie mit einer geradezu herausfordernden Entschlossenheit auf den Staretz.

„Was Sie mir sagen, hat mir fast Wort für Wort einmal, es ist schon lange her, ein Arzt gesagt,“ bemerkte dieser. „Es war ein bereits bejahrter und zweifellos kluger Mensch. Er sprach ebenso aufrichtig wie Sie, wenn auch halb scherzend, jedenfalls aber traurig scherzend. Ich liebe die Menschheit, sagte er, doch wundere ich mich über mich selbst: je mehr ich die Menschheit im allgemeinen liebe, desto weniger liebe ich die Menschen im einzelnen, das heißt, als einzelne Personen genommen. In Gedanken, sagte er, bin ich nicht selten zu ganz sonderbaren Absichten, der Menschheit zu dienen, gekommen, und vielleicht wäre ich wirklich fähig gewesen, mich für die Menschen kreuzigen zu lassen, wenn das, sagen wir, irgendwie unbedingt vonnöten gewesen wäre; indessen aber könnte ich nicht einmal zwei Tage lang mit irgend jemandem in einem Zimmer leben, was ich aus mehrfacher Erfahrung weiß. Kaum daß jemand bei mir ist, so verletzt er schon meine Persönlichkeit, meine Eigenliebe und beeinträchtigt meine Freiheit. In vierundzwanzig Stunden kann ich den besten Menschen hassen: den einen, weil er langsam ißt bei Tisch, den anderen, weil er Schnupfen hat und sich immer schnauben muß. Und so werde ich, sagte er, sofort ein Menschenfeind, sobald ich nur mit Menschen in Berührung komme. Dafür aber wurde, je mehr ich die Menschen im einzelnen haßte, meine Liebe zur Menschheit im allgemeinen immer größer und leidenschaftlicher.“

„Aber was soll man denn tun? Was soll man denn in diesem Falle tun? Das ist doch zum Verzweifeln!“

„Nein, denn auch das genügt, daß Sie sich darum grämen. Tun Sie, was in Ihren Kräften steht, und auch das wird Ihnen angerechnet werden. Sie haben schon vieles getan, denn Sie haben sich so tief und aufrichtig selbst erkannt! Wenn Sie aber auch mit mir nur deswegen so aufrichtig gesprochen haben, um von mir nur ein Lob zu hören für Ihre Aufrichtigkeit, so werden Sie natürlich mit Ihrer werktätigen Liebe nichts erreichen, so wird alles nur in Ihren Gedanken bleiben, und das ganze Leben wird wie ein Phantom vorüberfliehen. Dann werden Sie natürlich auch das jenseitige Leben vergessen und sich schließlich vielleicht irgendwie beruhigen.“

„Sie haben mich vernichtet! Erst jetzt, erst in diesem Augenblick, da Sie sprachen, begriff ich, daß ich wirklich nur Ihr Lob für meine Aufrichtigkeit erwartete, als ich Ihnen sagte, ich würde Undankbarkeit nicht ertragen können. Sie haben mich ganz begriffen, und Sie haben mich mir selbst erklärt!“

„Sagen Sie das jetzt wirklich ganz aufrichtig? Nun, dann kann ich Ihnen sagen: Jetzt, nach solch einem Bekenntnis, glaube ich, daß Sie aufrichtig und im Herzen ein guter Mensch sind. Wenn Sie auch das Glück nicht erreichen sollten, so denken Sie daran, daß Sie auf einem guten Wege sind, und bemühen Sie sich, nicht von ihm abzugehen. Die erste Bedingung ist: vermeiden Sie die Lüge, jede Lüge, die Lüge vor sich selbst ganz besonders. Geben Sie acht auf Ihre Lüge und beobachten Sie sie in jeder Stunde, in jeder Minute. Desgleichen vermeiden Sie Launenhaftigkeit, sich selbst sowohl als anderen gegenüber. Das, was Ihnen im Herzen schlecht erscheint, wird schon allein dadurch, daß Sie es in sich bemerken, geläutert. Meiden Sie die Furcht, obgleich Furcht nur die Folge jeder Lüge ist. Lassen Sie sich niemals durch Ihren eigenen Kleinmut vom Werben um Liebe abschrecken, sogar Ihre eigenen, schlechten Handlungen in der Beziehung brauchen Sie nicht so sehr zu fürchten. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nichts Beruhigenderes sagen kann, denn die werktätige Liebe ist im Vergleich zur schwärmerischen Liebe etwas Grausames und Abschreckendes. Die schwärmerische Liebe lechzt nach einer schnellen Heldentat, die man in kurzer Zeit vollbringen kann, und zwar unbedingt so, daß alle sie beachten. Dabei kommt es wirklich so weit, daß man bereit ist, das Leben hinzugeben, wenn es nur nicht lange dauert, sondern schnell vollbracht ist, wie auf der Bühne, und alle es sehen und loben. Die werktätige Liebe dagegen, die ist Arbeit und Ausdauer, für einige sogar eine ganze Wissenschaft. Ich aber sage Ihnen, in derselben Minute, in der Sie sich mit Entsetzen gestehen, daß Sie sich trotz all Ihrer Bestrebungen nicht nur dem Ziele nicht genähert, sondern sich von ihm scheinbar noch entfernt haben – in diesem Augenblick, das sage ich Ihnen, werden Sie mit einemmal das Ziel erreichen und über sich klar die wundertätige Kraft des Herrn fühlen, die Kraft Gottes, der Sie immer geliebt hat und Sie die ganze Zeit unsichtbar lenkt. Verzeihen Sie, aber ich muß jetzt gehen, man erwartet mich. Auf Wiedersehen.“

Die Dame weinte.

Lise, Lise, o segnen Sie sie, segnen Sie sie!“ bat sie erregt.

„Nun, Ihr Töchterchen zu lieben, lohnt sich gar nicht. Ich habe sehr wohl gesehen, wie unartig sie die ganze Zeit gewesen ist,“ sagte scherzend der Staretz. „Warum haben Sie die ganze Zeit über Alexei gelacht?“

Lise hatte sich tatsächlich die ganze Zeit nur mit dieser kleinen Spitzbüberei beschäftigt. Sie hatte es schon längst bemerkt, daß Aljoscha verlegen wurde, wenn sie ihn ansah, und daß er sich immer bemühte, sie nicht anzusehen; nun, und das fand sie ungeheuer interessant. Aufmerksam wartete sie und suchte sie, seinen Blick zu erhaschen. Aljoscha aber, der den unverwandt auf ihn gerichteten Blick nicht ertragen konnte, bezwang sich, bezwang sich wieder, und plötzlich, – plötzlich blickte er doch selbst, von einer unbezwingbaren Kraft angezogen, zu ihr hin, worauf Lise ihm natürlich sofort triumphierend ins Gesicht lachte. Aljoscha wurde immer verlegener und ärgerte sich immer mehr über sich selbst. Zu guter Letzt wandte er sich ganz von ihr ab und versteckte sich halbwegs hinter dem Rücken des Staretz. Doch schon nach kurzer Zeit wandte er sich, wieder von dieser unbezwingbaren Kraft angezogen, vorsichtig ein wenig zur Seite, um zu sehen, ob er betrachtet werde oder nicht, und da sah er denn, daß Lise, die sich ganz über die Armlehne ihres Stuhles bog, ihn von der Seite betrachtete und krampfhaft den Augenblick erwartete, da er sich nach ihr umsehen werde; als sie aber dann seinen Blick auffing, lachte sie so lustig auf, daß selbst der Staretz nicht ernst bleiben konnte.

„Sie Unart Sie, warum machen Sie ihn denn so verlegen?“

Lise wurde plötzlich ganz unerwarteterweise feuerrot, ihre Augen blitzten auf, ihr Gesichtchen aber wurde furchtbar ernst, und dann kam es in heißer, unwilliger Klage hastig, erregt aus ihr heraus:

„Ja, aber warum hat er alles vergessen? Er hat mich auf den Armen getragen, als ich klein war, und wir haben zusammen gespielt! Und später hat er mich lesen gelehrt, ist deswegen zu uns gekommen, wissen Sie das auch? Und als er vor zwei Jahren fortfuhr, sagte er noch, er würde nie vergessen, daß wir ewige Freunde sind, ewige, ewige Freunde! Und jetzt fürchtet er mich auf einmal! Werde ich ihn denn beißen oder aufessen? Warum will er nicht zu mir kommen, warum spricht er nicht mit mir? Warum will er nicht zu uns kommen? Oder erlauben Sie es ihm nicht? Wir wissen doch, daß er sonst überall hingeht. Ich kann ihn doch nicht dazu zwingen, er muß von selbst kommen; er hätte selbst daran denken müssen, wenn er es nicht vergessen hat. Nein, er kommt nicht, er sucht jetzt hier sein Seelenheil! Wozu haben Sie ihm diesen langschößigen Lappen angezogen? ... Er wird ja fallen, wenn er läuft ...“

Und plötzlich bedeckte sie das Gesicht mit der Hand und lachte, lachte unbezwingbar, unaufhörlich ihr gezogenes, nervöses, schüttelndes und unhörbares Lachen.

Der Staretz hatte sie lächelnd angehört, und zärtlich segnete er sie; als sie aber darauf seine Hand küssen wollte, preßte sie diese plötzlich an ihre Augen und brach in Tränen aus:

„Seien Sie nicht böse auf mich, ich bin so dumm, bin überhaupt nichts wert ... Aljoscha hat vielleicht recht, ganz recht, wenn er zu einer so Dummen nicht kommen will.“

„Ich werde ihn ganz bestimmt zu Ihnen schicken,“ versprach ihr lächelnd der Staretz.

V.
Und es geschehe also

Die Abwesenheit des Staretz aus der Zelle dauerte im ganzen vielleicht nur fünfundzwanzig Minuten. Es war schon halb eins, doch Dmitrij Fedorowitsch war noch immer nicht gekommen, obgleich sich alle nur seinetwegen versammelt hatten. Trotzdem schien man ihn fast ganz vergessen zu haben, und als der Staretz wieder in die Zelle trat, fand er seine Gäste in lebhaftem Gespräch vor. An diesem Gespräch beteiligten sich vor allen anderen Iwan Fedorowitsch und die beiden Priestermönche. Auch Miussoff mischte sich in das Gespräch ein, dem Anscheine nach sogar sehr hitzig, doch hatte er wieder kein Glück: er blieb ersichtlich zweitrangig, und man antwortete ihm nur wenig, so daß dieser neue Umstand seine ganze sich anstauende Reizbarkeit nur noch verstärkte. Es gab aber noch einen anderen Grund, warum er so reizbar war; er hatte nämlich auch früher schon Iwan Fedorowitsch im Wissen zu überbieten gesucht; doch da es ihm immer mißlungen war, konnte er dessen gewisse Nachlässigkeit ihm gegenüber um so weniger kaltblütig ertragen:

„Bis jetzt wenigstens bin ich auf der Höhe alles dessen gewesen, was in Europa das Fortgeschrittenste war; diese neue Generation aber will uns einfach ignorieren,“ dachte er empört bei sich. Fedor Pawlowitsch, der doch freiwillig sein Wort gegeben hatte, sich auf den Stuhl zu setzen und hinfort zu schweigen, schwieg tatsächlich eine gewisse Zeitlang, beobachtete aber mit einem kleinen, maliziös-spöttischen Lächeln seinen Nachbar Miussoff, dessen Reizbarkeit ihn augenscheinlich freute. Er hatte sich schon längst vorgenommen, diesem gewisse Dinge heimzuzahlen, und wollte jetzt die Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, beugte sich zum Ohr seines Stuhlnachbars und neckte ihn, halblaut flüsternd, geflissentlich noch einmal:

„Warum gingen Sie denn vorhin nach dem ‚küßte es liebend‘ nicht fort, und warum ließen Sie sich dazu herab, in so unanständiger Gesellschaft zu bleiben? Ich werd’s Ihnen sagen, warum: Weil Sie sich erniedrigt und beleidigt fühlten, und so blieben Sie denn, um zur Rache Ihren Verstand leuchten zu lassen. Und jetzt werden Sie für keinen Preis früher fortgehen, als bis Sie Ihren Verstand gezeigt haben.“

„So fangen Sie schon wieder an? Ich gehe sofort!“

„Als letzter, als letzter werden Sie fortgehen, Pjotr Alexandrowitsch!“ neckte noch einmal Fedor Pawlowitsch. Das war fast im selben Augenblick, als der Staretz wieder eintrat.

Das Gespräch verstummte sofort; doch der Staretz, der wieder seinen alten Platz einnahm, blickte alle so freundlich an, als wolle er sie mit dem Blick auffordern, doch fortzufahren. Aljoscha aber, der jeden Ausdruck seines Gesichtes kannte, sah deutlich, daß er furchtbar müde und überanstrengt war. In der letzten Zeit seiner Krankheit war er schon mehrere Male vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen. Sein Gesicht war fast ebenso bleich wie vor einer Ohnmacht, und seine Lippen wurden ganz blaß. Doch augenscheinlich wollte er die Versammelten nicht fortschicken, und zwar schien er dabei noch ein besonderes Ziel zu haben – welch eines nur? Aljoscha beobachtete ihn gespannt.

„Wir sprechen über seinen ungemein interessanten Artikel,“ sagte der Priestermönch Pater Jossiff, der Bibliothekar, zum Staretz, und wies dabei auf Iwan Fedorowitsch. „Er bringt in diesem Artikel viel Neues vor, doch kommt es, glaube ich, auf dasselbe hinaus. Bei Gelegenheit der Erörterung der kirchlich-zivilen Justizfrage, und des Umfanges ihrer Berechtigung, hat er mit einem kleinen Zeitungsartikel dem Geistlichen geantwortet, der über diese Frage ein ganzes Buch geschrieben hat.“

„Leider habe ich Ihren Artikel nicht gelesen, aber ich habe von ihm gehört,“ sagte der Staretz, der Iwan Fedorowitsch aufmerksam anblickte.

„Er nimmt einen interessanten Standpunkt ein,“ fuhr der Pater-Bibliothekar fort. „Wie es scheint, verneint er in der Frage der kirchlichen Ziviljustiz die Trennung von Kirche und Staat.“

„Das ist sehr interessant; aber in welchem Sinne meinen Sie das?“ fragte der Staretz Iwan Fedorowitsch.

Der antwortete ihm; doch tat er es nicht etwa mit einer herablassenden Höflichkeit, wie Aljoscha noch vor kurzem befürchtet hatte, sondern bescheiden und zurückhaltend, mit augenscheinlicher Zuvorkommenheit und offenbar ohne jeden Hintergedanken:

„Ich gehe von der Überzeugung aus, daß diese Verwechselung der Elemente, d. h. des Wesens der Kirche mit dem Wesen des Staates, beide als einzelne Begriffe genommen, natürlich ewig sein wird, obgleich sie überhaupt nicht sein dürfte, und man die beiden niemals nicht nur in ein normales, sondern selbst nicht einmal in ein einigermaßen befriedigendes Verhältnis wird bringen können, da die ganze Sache sich auf einer Lüge aufbaut. Ein Kompromiß zwischen dem Staate und der Kirche in Fragen, wie zum Beispiel der des Gerichts, ist meines Erachtens schon allein ihrem Wesen nach unmöglich. Der Geistliche, dem ich in meinem Artikel entgegnet habe, behauptet, daß die Kirche im Staat eine ganz genaue und bestimmte Stellung einnehme. Ich aber antwortete ihm, daß die Kirche im Gegenteil den ganzen Staat in sich einschließen müßte, nicht aber in ihm nur eine bestimmte Ecke einnehmen sollte, und daß dies, wenn es jetzt aus bestimmten Gründen unmöglich ist, dem Wesen der Dinge nach doch unbedingt das feste und erste Ziel der ganzen Weiterentwicklung des Christentums sein müßte.“

„Das ist vollkommen richtig,“ sagte fest, doch nervös, Pater Paissij, der schweigsame und gelehrte Priestermönch.

„Der reinste Ultramontanismus!“ rief Miussoff aus, der vor Ungeduld ein Bein über das andere schlug.

„Ach, wir haben ja nicht einmal Berge!“ meinte Pater Jossiff, worauf er, zum Staretz gewandt, fortfuhr: „Er antwortet unter anderem auch auf folgende, grundlegende und wesentliche Behauptungen seines Gegners, des Geistlichen – beachten Sie es wohl. Erstens, sagt der Geistliche: ‚Es kann und darf sich kein einziger gesellschaftlicher Verband die Macht, über die bürgerlichen und politischen Rechte seiner Mitglieder zu verfügen, aneignen.‘ Zweitens: ‚Die Macht des Kriminal- und Zivilgerichts darf nicht der Kirche gehören, denn die ist mit ihrem Wesen als göttliche Einrichtung und als Verband der Menschen zu religiösen Zwecken unvereinbar,‘ und schließlich drittens: ‚Daß die Kirche kein Reich von dieser Welt sei‘ ...“

„Das allerunwürdigste Wortspiel für einen Geistlichen!“ unterbrach wieder ungeduldig Pater Paissij. „Ich habe dieses Buch gelesen, auf das Sie geantwortet haben,“ sagte er zu Iwan Fedorowitsch, „und ich war nicht wenig erstaunt über die Worte des Geistlichen, daß die Kirche ‚kein Reich von dieser Welt‘ sei. Wenn sie nicht von dieser Welt wäre, so könnte sie folglich überhaupt nicht auf der Welt existieren. Im heiligen Evangelium sind die Worte: ‚nicht von dieser Welt‘ nicht in diesem Sinne gebraucht. Mit solchen Worten aber zu spielen, geht nicht an. Unser Herr Jesus Christus ist doch nur deswegen gekommen, um die Kirche gerade hier auf Erden zu gründen. Das Himmelreich ist natürlich nicht von dieser Welt, sondern im Himmel, doch kann man in dasselbe nicht anders eingehen als durch die Kirche, die auf der Erde gegründet und errichtet ist. Und darum sind alle Wortspiele in diesem Sinne unmöglich und unwürdig. Die Kirche aber ist in Wahrheit Herrschaft hier auf Erden und ihr ist bestimmt, zu herrschen, und ihr Ziel kann zweifellos nur eines sein: Ihre Herrschaft über die ganze Welt auszudehnen, – wie es uns auch die Verheißung sagt ...“

Er verstummte plötzlich, als ob er sich bezwingen wollte. Iwan Fedorowitsch, der ihm höflich und aufmerksam zugehört hatte, fuhr mit ungewöhnlicher Ruhe wie vorher bereitwillig und offenherzig, zum Staretz gewandt, in seiner Erklärung fort:

„Der ganze Gedanke, den ich in meinem Artikel entwickelt habe, besteht darin, daß das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten auf der Erde bloß in Gestalt einer Kirche erschien und auch nur Kirche war. Als aber das heidnische römische Imperium christlich werden sollte, war es ja nur natürlich, daß es, indem es christlich wurde, die Kirche bloß in sich aufnahm, selbst aber fortfuhr, in äußerst vielen Dingen wie früher ein heidnischer Staat zu bleiben. Und im Grunde genommen, hätte es zweifellos anders überhaupt nicht geschehen können. Es blieb in Rom, als Imperium genommen, gar zu viel von der alten Zivilisation und der heidnischen Weisheit übrig, wie zum Beispiel die Ziele und Grundsätze des Imperiums selbst. Die Kirche Christi jedoch konnte, als sie in den Staat eintrat, natürlich nichts von ihrem Grundgedanken, diesem Stein, auf dem sie stand, aufgeben oder abtreten und konnte also nur ihre Ziele verfolgen, die ihr einmal vom Herrn selbst gesetzt und angewiesen waren, wie unter anderem: Die ganze Welt und damit folglich auch das ganze frühere heidnische Imperium in Kirche zu verwandeln. So muß denn also – versteht sich, vom zukünftigen Ziel der Kirche gesprochen – nicht die Kirche sich einen bestimmten Platz im Staate suchen, wie ‚jeder andere gesellschaftliche Verband‘ oder wie ‚ein Verband der Menschen zu religiösen Zwecken‘ – so drückt sich der geistliche Autor, dem ich entgegnete, über die Kirche aus –, sondern im Gegenteil, jeder Erdenstaat müßte sich zum Schluß vollkommen in Kirche verwandeln und nichts anderes werden als bloß Kirche, und sich dann natürlich von allen seinen Zielen, die mit den Zielen der Kirche nicht übereinstimmen, einfach abwenden. Das alles würde den Staat als solchen in nichts erniedrigen, ihm weder seine Ehre noch seinen Ruhm als Großmacht nehmen, noch würde es den Ruhm seiner Herrscher schmälern, sondern würde den Staat nur von dem falschen, noch heidnischen und irreführenden Weg auf den richtigen und wahren Weg stellen, auf den einzigen, der zu ewigen Zielen führt. Darum hätte der Autor des Buches über die Grundlagen des kirchlich-zivilen Gerichts ganz richtig geurteilt, wenn er bei seiner Untersuchung und Feststellung dieser Grundlagen dieselben als einen zeitlichen, in unserer sündigen, noch unvollendeten Zeit notwendigen Kompromiß und sonst nichts weiter behandelt hätte. Sobald aber der Autor dieser ‚Grundlagen‘ sich erdreistet, zu erklären, daß seine Grundlagen, die er jetzt aufstellt, und die teilweise Pater Jossiff soeben aufzählte, unerschütterliche, elementarische und ewige seien, geht er direkt gegen die Kirche vor und gegen ihre heilige, ewige und unerschütterliche Bestimmung. Das ist der ganze Standpunkt meines Artikels.“

„Das heißt also, kurz gesagt,“ begann wieder Pater Paissij, jedes Wort betonend, „nach gewissen Theorien, die sich in unserem neunzehnten Jahrhundert nur zu deutlich ausgeprägt haben, soll sich die Kirche in Staat verwandeln – gleichsam aus einer niedrigeren Form in eine höhere –, um darauf ganz in ihm zu verschwinden, indem sie vor der Wissenschaft, dem Zeitgeist und der Zivilisation zurücktritt, ihnen also einfach Platz macht. Wenn sie das aber nicht will und sich dem widersetzt, so wird ihr im Staat gleichsam nur eine gewisse Ecke eingeräumt, und selbst die nur unter Aufsicht. Und das geschieht jetzt überall in den gegenwärtigen europäischen Ländern. Nach der russischen Auffassung und Zuversicht dagegen soll sich nicht die Kirche in Staat verwandeln, wie aus einem niedrigeren in einen höheren Typ, sondern der Staat soll sich vorbereiten, einzig und allein Kirche und nichts weiter als das zu werden. Dieses sei sein Endziel. Und also geschehe es, Amen!“

„Nun, ich muß gestehen, Sie haben mich jetzt wieder etwas ermutigt,“ sagte Miussoff und schlug ein Bein übers andere. „Soweit ich es verstehe, handelt es sich also um die Verwirklichung irgendeines Ideals, eines unendlich fernen, bei der Wiederkunft des Herrn. Nun, dagegen habe ich nichts. Ein wunderschöner utopischer Traum von der Abschaffung der Kriege, Diplomaten, Banken usw. Etwas, was sogar wie Sozialismus aussieht. Ich aber dachte schon, daß das alles Ernst sei, und die Kirche jetzt bereits über Kriminalfragen richten, zu Ruten und Zwangsarbeit und vielleicht sogar zur Todesstrafe verurteilen solle.“

„Wenn es nur ein einziges kirchlich-ziviles Gericht gäbe, so würde die Kirche auch jetzt nicht zur Zwangsarbeit oder zur Todesstrafe verurteilen. Das Verbrechen und seine Auffassung müßten sich dann selbstverständlich ganz verändern, natürlich allmählich, nicht plötzlich und nicht sofort, immerhin ziemlich bald ...“ sagte ruhig, und ohne mit der Wimper zu zucken, Iwan Fedorowitsch.

„Meinen Sie das etwa im Ernst?“ Miussoff blickte ihn aufmerksam an.

„Wenn alles Kirche wäre, so würde die Kirche den Verbrecher oder den Ungehorsamen ausschließen, nicht aber Köpfe fällen,“ fuhr Iwan Fedorowitsch fort. „Nun frage ich Sie aber, wohin würde dann der Exkommunizierte gehen? Dann müßte er ja nicht nur von den Menschen, wie jetzt, sondern auch von Christus fortgehen. Dann würde er sich mit seinem Verbrechen nicht nur gegen die Menschen, sondern auch gegen die Kirche Christi vergangen haben. Das ist natürlich im strengsten Sinne auch jetzt so, doch ist es immerhin nicht offiziell erklärt, und so findet sich denn heute der Verbrecher sehr häufig mit seinem Gewissen auf diese Weise ab, indem er sich sagt: ‚Habe wohl gestohlen, greife aber nicht die Kirche an, bin Christus kein Feind.‘ Das sagt sich heutzutage fast ausnahmslos jeder Verbrecher. Wenn aber die Kirche an Stelle des Staates getreten ist, dann könnte er es sich schwerlich sagen, es sei denn, daß er die ganze Kirche auf der ganzen Welt verneinte: ‚Alle irren sich, alle sind vom richtigen Wege abgekommen, alle sind Pseudokirche, nur ich allein, der Mörder und Dieb – bin die wahre christliche Kirche.‘ Das aber sich zu sagen, ist doch sehr schwer und verlangt ungeheure Bedingungen, setzt Umstände voraus, die es nicht häufig gibt. Jetzt nehmen Sie andererseits jene Auffassung des Verbrechens, wie sie die Kirche hat: Wird sich dann die allgemeine Auffassung des Verbrechens nicht ändern müssen, im Vergleich zur gegenwärtigen, fast heidnischen Auffassung, wird sie sich dann nicht vielmehr aus der Idee, das kranke Glied mechanisch abtrennen zu müssen, wie es jetzt zum Schutze der Gesellschaft getan wird, wahrhaft und nicht nur scheinbar in die Idee der Wiedergeburt des Menschen, seiner Auferstehung und Rettung verwandeln ...“

„Was soll denn das jetzt wieder bedeuten? Ich höre wieder auf, zu verstehen,“ unterbrach Miussoff, „wieder irgendeine Phantasie! etwas Formloses, aus dem man überhaupt nicht klug werden kann. Wie meinen Sie das – ‚ausschließen‘ und was soll das für eine Exkommunikation sein? Ich vermute stark, daß Sie einfach nur zu scherzen belieben, Iwan Fedorowitsch.“

„Aber genau genommen ist es ja auch jetzt ganz dasselbe,“ sagte plötzlich der Staretz, und sofort wandten sich aller Blicke ihm zu, „denn wenn es jetzt keine Kirche Christi gäbe, so hätte der Verbrecher keinen einzigen Halt nach dem Verbrechen und nicht einmal die Möglichkeit einer Buße, das heißt, einer wirklichen und nicht, wie Sie sagten, mechanischen Buße, die in der Mehrzahl der Fälle nur das Herz erbittert – sondern die wirkliche Buße, die einzige abschreckende und die einzige friedenbringende Buße, die in der Erkenntnis des eigenen Gewissens liegt.“

„Erlauben Sie, wie meinen Sie das?“ erkundigte sich mit dem lebhaftesten Interesse Miussoff.

„Ich meine das so,“ begann der Staretz. „Alle diese Verschickungen, die Zwangsarbeit und früher noch die Körperstrafe verbessern niemanden, und vor allem schrecken sie keinen einzigen Verbrecher ab; die Zahl der Verbrechen verringert sich nicht etwa, sondern vergrößert sich noch immer. Das müssen Sie mir doch vollkommen zugeben. Und so ergibt sich, daß die Gesellschaft auf diese Weise keineswegs beschützt ist, denn wenn auch das schädliche Mitglied mechanisch abgetrennt und weit fortgeschickt wird, aus den Augen, aus dem Sinn, so wird es doch sofort durch einen anderen Verbrecher, vielleicht sogar durch zwei Verbrecher, ersetzt. Wenn es etwas gibt, das die Gesellschaft in unserer Zeit beschützt und sogar den Verbrecher selbst bessert und in einen anderen Menschen verwandelt, so ist das wiederum nur das Gebot Christi, das sich in der Erkenntnis des eigenen Gewissens kundtut. Nur wenn er sich seine Schuld als Sohn der Gemeinschaft Christi, das heißt, der Kirche, eingesteht, sieht er auch seine Schuld vor der Gemeinschaft selbst, das heißt, vor der Kirche, ein. Somit ist denn der gegenwärtige Verbrecher einzig vor der Kirche fähig, seine Schuld anzuerkennen, nicht aber vor dem Staat. Und darum, wenn nun das Gericht der Gemeinschaft als Kirche gehören würde, dann würde dieselbe wissen, wen sie aus der Verbannung zurückführen und wieder aufnehmen könnte. Jetzt jedoch entfernt sich die Kirche, da sie wohl die Möglichkeit allein des sittlichen Verurteilens, nicht aber ein aktives Gericht hat, von der aktiven Buße des Verbrechers ganz von selbst. Sie schließt ihn nicht aus und verläßt ihn nie mit ihrem väterlichen Trost. Ja, sie bemüht sich sogar, mit dem Verbrecher die ganze christliche, kirchliche Gemeinschaft zu erhalten: Sie läßt ihn zum Gottesdienst, zum Abendmahl zu, sie gibt ihm Almosen und verhält sich zu ihm mehr wie zu einem Verführten, als wie zu einem Schuldigen. Und was würde mit dem Verbrecher geschehen, o Gott! wenn auch die christliche Gemeinschaft, das heißt die Kirche, ihn ebenso verstoßen würde, wie ihn das bürgerliche Gesetz verstößt und ausschließt? Was würde mit ihm geschehen, wenn jedesmal und sofort nach der Strafe des staatlichen Gesetzes auch die Kirche ihn mit der Ausschließung strafte? Eine größere Verzweiflung kann es ja gar nicht geben, wenigstens nicht für den russischen Verbrecher, denn die russischen Verbrecher sind noch gläubig. Doch übrigens, wer kann es wissen: vielleicht würde dann etwas ganz Furchtbares geschehen: das verzweifelte Herz des Verbrechers würde vielleicht völlig den Glauben verlieren, und was dann? Doch die Kirche zieht sich als zärtliche und liebende Mutter freiwillig von einer aktiven Bestrafung zurück, da der Schuldige auch ohne ihre Strafe durch das staatliche Gericht sowieso schon gar zu grausam bestraft ist, ihn aber wenigstens irgend jemand bemitleiden muß. Vor allem deswegen, weil das Gericht der Kirche das einzige ist, welches nichts als die Wahrheit enthält und sich infolgedessen wesentlich und sittlich mit keinem einzigen anderen Gericht, nicht einmal zu einem provisorischen Kompromiß, vereinigen kann. Hierbei kann man sich nicht auf Vergleiche einlassen. Der ausländische Verbrecher, sagt man, bereue selten, denn sogar die jetzt sich verbreitenden Lehren bestärken ihn in dem Gedanken, daß sein Verbrechen kein Verbrechen sei, sondern nur eine Auflehnung gegen die ungerecht unterdrückende Macht. Die Gesellschaft scheidet ihn vollkommen mechanisch durch die über ihn triumphierende Macht aus und begleitet diese Ausscheidung noch mit Haß – wenigstens sagen sie in Europa selbst so von sich –, mit Haß und vollster Gleichgültigkeit für ihres Bruders weiteres Schicksal. So geschieht denn dort alles ohne das geringste kirchliche Mitleid, denn in vielen Fällen gibt es dort überhaupt keine Kirchen mehr, es gibt dort nur noch Kleriker, Kirchendiener und prachtvolle Kirchengebäude; die Kirchen selbst jedoch streben dort schon längst nach dem Übergang aus der niedrigeren Form der Kirche in die höhere Form des Staates, um in ihm ganz zu verschwinden. So ist es, glaube ich, wenigstens in den lutherischen Ländern. In Rom aber wird ja schon seit tausend Jahren an Stelle der Kirche der Staat verkündet. Darum also hält sich der Verbrecher selbst nicht mehr für ein Glied der Kirche und verbleibt als Ausgestoßener in der Verzweiflung. Wenn er aber in die Gesellschaft zurückkehrt, so geschieht dies nicht selten mit solch einem Haß, daß die Gesellschaft ihn ganz von selbst wieder ausstößt. Womit das endet, können Sie sich selbst sagen. In vielen Fällen könnte es scheinen, daß es auch bei uns dasselbe sei: Doch das ist es ja gerade, daß es bei uns außer dem staatlichen Gericht noch die Kirche gibt, die niemals die Verbindung mit dem Verbrecher, als mit ihrem lieben und immer noch teuren Sohne, aufgibt. Und überdies gibt es bei uns noch – und wenn auch meinetwegen nur geistig – das Gericht der Kirche, das jetzt allerdings noch nicht in Tätigkeit ist, doch immerhin für die Zukunft lebt; und wenn es sich auch nur im Geiste erhält, so wird es doch vom Verbrecher selbst fraglos durch den Instinkt seiner Seele schon jetzt anerkannt. Und auch das ist ganz richtig, was hier vorhin gesagt wurde: Wenn das Gericht der Kirche wirklich und in seiner ganzen Macht eingeführt werden würde, das heißt, wenn die ganze Gesellschaft sich ausschließlich in Kirche verwandeln sollte, so würde nicht nur das Gericht der Kirche selbst auf die Besserung des Verbrechers in einer Weise einwirken, wie es jetzt ganz undenkbar ist, sondern es würden sich vielleicht auch die Verbrechen in unglaublichem Maße verringern, im Verhältnis zu früher gesprochen. Und auch darüber kann kein Zweifel bestehen, daß die Kirche den zukünftigen Verbrecher und das zukünftige Verbrechen in vielen Fällen ganz anders auffassen würde, als man es jetzt auffaßt, und daß sie es verstehen würde, den Ausgestoßenen zurückzuführen, den Böses Sinnenden zu warnen und den Gefallenen wieder aufzurichten. Allerdings,“ fuhr der Staretz lächelnd fort, „vorläufig ist ja die christliche Gesellschaft noch selbst nicht fertig und steht nur auf den sieben Gerechten; da aber diese nicht aussterben werden, so bleibt sie immerhin unerschütterlich in der Erwartung ihrer vollständigen Verwandlung aus der Gesellschaft, als einer fast noch heidnischen Verbindung, in die einzige ökumenische und herrschende Kirche. Und also geschehe es, und wenn auch zu Ende der Zeiten, denn nur diesem allein ist vorherbestimmt, in Erfüllung zu gehen! Und wozu sich durch die lange Zeit verwirren lassen, das Geheimnis der Zeiten und des Endzieles liegt in der Allwissenheit Gottes, in seiner Vorsehung und seiner Liebe. Und was nach menschlichem Ermessen sehr weit entfernt ist, das kann nach der Vorherbestimmung Gottes vielleicht schon vor der Tür stehen. Hoffen wir, daß dieses also ist! Amen!“

„Amen, Amen!“ wiederholte andächtig und streng Pater Paissij.

„Sonderbar, höchst sonderbar!“ meinte Miussoff nicht etwa heftig, wohl aber wie mit einem heimlichen, sagen wir – Unwillen.

„Was scheint Ihnen denn so sonderbar?“ erkundigte sich vorsichtig Pater Jossiff.

„Ja, was bedeutet denn das eigentlich?“ fuhr Miussoff sofort auf, als ob er sich plötzlich nicht mehr zurückhalten wollte. „Der Staat wird auf der Erde beseitigt, die Kirche aber wird zum Staate erhoben! Das ist ja nicht mehr Ultramontanismus, das ist einfach Erz-Ultramontanismus! Das hat sich selbst Papst Gregor der Siebente nicht einmal träumen lassen!“

„Verzeihung, Sie haben es gerade umgekehrt aufgefaßt!“ sagte streng Pater Paissij. „Nicht die Kirche verwandelt sich in Staat, beachten Sie das wohl. Das ist Rom und sein Ideal. Das ist die dritte Versuchung des Teufels! Sondern im Gegenteil: Der Staat verwandelt sich in Kirche, erhebt sich bis zur Kirche und wird Kirche auf der ganzen Erde, – was dem Ultramontanismus Roms und Ihrer Auffassung vollkommen entgegengesetzt und nur die große Bestimmung der Rechtgläubigkeit auf Erden ist. Von Osten her kommt das Licht.“

Miussoff schwieg bedeutsam. Seine ganze Gestalt drückte ungewöhnliche persönliche Würde aus. Ein ungemein herablassendes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Aljoscha hatte alles mit stark klopfendem Herzen verfolgt. Dieses ganze Gespräch regte ihn bis in die Grundtiefen auf; zufällig blickte er zu Rakitin hinüber: der stand unbeweglich auf seinem alten Platz an der Tür und beobachtete und hörte aufmerksam zu, obgleich er den Blick gesenkt hielt. Doch an der lebhaften Farbe seines Gesichts erriet Aljoscha, daß auch Rakitin vielleicht nicht weniger als er selbst erregt war; Aljoscha wußte, was ihn erregte.

„Gestatten Sie mir, meine Herren, Ihnen eine kleine Geschichte zu erzählen,“ sagte plötzlich eindringlich und mit gewissermaßen besonders würdevoller Miene Miussoff. „Es war vor etlichen Jahren in Paris, kurz nach der Dezemberrevolution, da traf ich einmal, als ich im Hause eines sehr hochstehenden Mannes – er war damals einer von der Regierung – meine Aufwartung machte, da traf ich, wie gesagt, dort in seinen Empfangsräumen einen ungemein interessanten Herrn. Dieses Individuum war nicht gerade Detektiv, aber doch so etwas in der Art eines Direktors, sagen wir, eines ganzen Kommandos politischer Detektivs – in seiner Art ein ganz einflußreicher Mann. Nun, ich knüpfte mit ihm ein Gespräch an, da er mich ungemein interessierte, und da er nicht als Bekannter, sondern als untergebener Beamter mit einer gewissen Art von Rapporten gekommen war, so teilte er mir, da er sah, wie ich bei seinem Vorgesetzten empfangen wurde, seinerseits einige Amtsgeheimnisse mit – nun, versteht sich, nur bis zu einem gewissen Grade, das heißt, er war eher nur höflich als gerade aufrichtig, so wie die Franzosen höflich zu sein verstehen, um so mehr, als er in mir einen Ausländer erkannte. Doch ich begriff ihn sehr gut. Das Gespräch drehte sich um die sozialistischen Revolutionäre, die damals verfolgt wurden. Ich übergehe die Hauptpunkte des Gesprächs; ich will nur eine sehr interessante Bemerkung, die er plötzlich fallen ließ, wiedergeben: ‚Diese Sozialisten, Anarchisten, Atheisten und Revolutionäre fürchten wir nicht sonderlich,‘ sagte er, ‚wir beobachten sie nur, und im übrigen sind uns alle ihre Schachzüge bekannt. Unter ihnen aber gibt es, wenn auch nicht viele, so doch einige besondere Leute: das sind Christen, die an Gott glauben, zu gleicher Zeit aber auch Sozialisten sind. Sehen Sie, die sind es, die wir am meisten fürchten; das ist ein gefährliches Volk! Der christliche Sozialist ist viel gefährlicher als der atheistische Sozialist.‘ Diese Worte frappierten mich auch damals schon; jetzt aber, hier bei Ihnen, meine Herren, sind sie mir wieder eingefallen ...“

„Das heißt, daß Sie sie auf uns anwenden und auch in uns Sozialisten sehen?“ fragte gerade heraus, ohne alle Umschweife Pater Paissij.

Doch bevor noch Miussoff an eine Antwort denken konnte, öffnete sich die Tür, und Dmitrij Fedorowitsch, der sich so unverzeihlich verspätet hatte, trat ein. Man hatte ihn, wie es schien, ganz vergessen, und sein plötzliches Erscheinen rief im ersten Augenblick sogar ein gewisses Erstaunen hervor.

VI.
Wozu lebt solch ein Mensch?

Dmitrij Fedorowitsch, mittelgroß, mit einem sympathischen Gesicht, war erst achtundzwanzig Jahre alt, sah jedoch weit älter aus. Er war muskulös, und man konnte ihm eine bedeutende körperliche Kraft ansehen, doch drückte sich in seinem Gesicht zugleich etwas Krankhaftes aus. Er war mager, die Wangen waren eingefallen, und er hatte eine sonderbare, ungesunde, bleiche Farbe. Seine ziemlich großen, dunklen, etwas hervorstehenden Augen blickten scheinbar in fester Beharrlichkeit und doch gewissermaßen unbestimmt. Selbst wenn er erregt war oder gereizt sprach, gehorchte sein Blick, wie es schien, nicht seiner inneren Stimmung und drückte etwas anderes aus, zuweilen sogar etwas, was seinen Worten oder der Situation gar nicht entsprach. „Es ist schwer zu sagen, woran er eigentlich denkt,“ äußerten sich zuweilen Menschen, die mit ihm gesprochen hatten. Andere wiederum, die in seinen Augen etwas Nachdenkliches, Trauriges sahen, waren erstaunt, ihn ganz plötzlich lachen zu hören, was von seinen heiteren, spielerischen Gedanken in dem Moment zeugte, als seine Augen noch so düster und trübe geblickt hatten. Übrigens war sein etwas krankhaftes Aussehen noch aus einem besonderen Grunde begreiflich: man sprach ja allgemein von dem ungewöhnlich unruhigen und flotten Leben, dem er sich gerade in der letzten Zeit bei uns ergeben hatte. Man sprach auch von den unglaublichen Zornausbrüchen, zu denen er sich in den Streitigkeiten mit seinem Vater wegen des ihm vorenthaltenen Geldes hatte hinreißen lassen; in der Stadt liefen darüber sogar mehrere Anekdoten um. Es ist wahr, daß er auch schon von Natur reizbar war, „von unregelmäßigem, veränderlichem Gemüt,“ wie sich unser Friedensrichter Ssemjon Iwanowitsch Katschaljnikoff in einer Gesellschaft einmal charakteristisch über ihn äußerte. Er war tadellos und elegant gekleidet: in einem zugeknöpften Gehrock, mit schwarzen Handschuhen, den Zylinder in der Hand, trat er ein. Als Offizier, der erst vor kurzem seinen Abschied genommen hatte, trug er einen Schnurrbart und ein glattrasiertes Kinn. Sein dunkelblondes Haar war kurzgeschoren und an den Schläfen etwas nach vorn gekämmt; er hatte einen energischen Gang, schritt weit aus wie eben ein Frontoffizier. Er blieb auf der Schwelle stehen und, nachdem sein Blick alle Anwesenden überflogen hatte, schritt er entschlossen auf den Staretz zu, in dem er sofort die Hauptperson erraten hatte. Er verneigte sich tief vor ihm und bat ihn um seinen Segen. Der Staretz erhob sich und segnete ihn. Dmitrij Fedorowitsch küßte ihm ehrerbietig die Hand und sagte darauf ungewöhnlich erregt, fast gereizt:

„Verzeihen Sie, bitte, daß ich Sie so lange habe warten lassen. Der Diener Ssmerdjäkoff, den mein Vater zu mir geschickt hatte, sagte mir auf meine wiederholte Frage nach der Zeit des Besuches zweimal in der bestimmtesten Weise, daß er zu 1 Uhr angesagt worden sei, und jetzt erfahre ich plötzlich ...“

„Beunruhigen Sie sich nicht,“ unterbrach ihn der Staretz, „Sie haben sich etwas verspätet; aber das hat ja nichts zu sagen ...“

„Ich bin Ihnen sehr dankbar und habe auch von Ihrer Güte nicht weniger erwartet.“

Nachdem er dies hervorgestoßen, verbeugte sich Dmitrij Fedorowitsch noch einmal vor ihm, darauf aber wandte er sich zu seinem Vater und machte vor ihm plötzlich eine ehrerbietige und tiefe Verbeugung. Man sah ihm an, daß er sich diese Höflichkeit vorgenommen hatte und sie wirklich aufrichtig meinte, da er es für seine Pflicht hielt, wenigstens auf diese Weise seine Ehrerbietung sowie seine guten Absichten auszudrücken. Fedor Pawlowitsch aber, der zuerst vor Überraschung nicht recht wußte, wie ihm geschah, fand sich nach einem Augenblick doch wieder auf seine Art: Er sprang hastig von seinem Stuhl auf und antwortete seinem Sohne auf die Höflichkeit mit ganz genau solch einer Verbeugung. Sein Gesicht wurde plötzlich wichtig und bedeutsam, was ihm einstweilen ein entschieden böses Aussehen verlieh. Dmitrij Fedorowitsch begrüßte schweigend mit einem kurzen Gruß die übrigen Anwesenden und ging dann mit seinen großen, gleichmäßigen Schritten zum Fenster, wo er sich auf den einzigen freien Stuhl setzte, nicht weit vom Pater Paissij, und sitzend vorgeneigt, sofort dem unterbrochenen Gespräch zuhören zu wollen schien.

Die ganze Unterbrechung hatte nicht mehr als zwei Minuten gedauert, und so war es nur selbstverständlich, daß das Gespräch wieder aufgenommen wurde. Diesmal hielt es Miussoff nicht für nötig, auf die bestimmte und fast gereizte Frage des Paters zu antworten.

„Gestatten Sie, dieses Thema abzubrechen,“ sagte er mit einer gewissen gesellschaftlichen Nachlässigkeit. „Zudem ist dieses Thema doch etwas schwierig; sehen Sie, Iwan Fedorowitsch lächelt über uns: er muß wahrscheinlich etwas besonders Interessantes auf diese Frage zu antworten haben. Fragen Sie daher, bitte, ihn.“

„O, nichts Besonderes, außer der kleinen Bemerkung,“ entgegnete sofort Iwan Fedorowitsch, „daß der europäische Liberalismus, im allgemeinen, und sogar unser russischer liberaler Dilettantismus schon längst und nicht etwa selten die Endresultate des Sozialismus mit denen des Christentums verwechseln. Diese unsinnige Folgerung ist natürlich ein charakteristischer Zug; übrigens verwechseln den Sozialismus mit dem Christentum, wie man sieht, nicht nur die Liberalen und Dilettanten, sondern mit ihnen in vielen Fällen auch noch die Gendarmen, versteht sich, nur die ausländischen. Ihre Pariser Geschichte ist wirklich recht charakteristisch, Pjotr Alexandrowitsch!“

„Im übrigen bitte ich nochmals um die Erlaubnis, dieses Thema abzubrechen,“ wiederholte Miussoff, „dafür aber werde ich Ihnen eine äußerst interessante und charakteristische Geschichte von Iwan Fedorowitsch erzählen. Vor nicht länger als fünf Tagen erklärte er in einer hiesigen vornehmlich aus Damen bestehenden Gesellschaft während eines Disputs feierlichst, daß es auf der ganzen Erde entschieden nichts gäbe, was den Menschen veranlassen könnte, Seinesgleichen zu lieben, daß solch ein Naturgesetz: der Mensch muß die Menschheit lieben – überhaupt nicht vorhanden und, wenn es bis jetzt auf der Erde trotzdem Liebe gäbe, dieses nicht nach dem Naturgesetz, sondern einzig darum so sei, weil die Menschen noch an ihre Unsterblichkeit glaubten. Iwan Fedorowitsch fügte bei der Gelegenheit noch en parenthèse hinzu, daß darin gerade das ganze Naturgesetz bestünde, so daß, wenn man im Menschen den Glauben an seine Unsterblichkeit vernichtete, in ihm nicht nur die Liebe, sondern überhaupt jede lebendige Kraft zur Fortsetzung des irdischen Lebens versiegen würde, und nicht nur das: es würde dann nichts Unsittliches mehr geben, sagte er, alles würde dann erlaubt sein, sogar die Menschenfresserei. Und auch damit war’s noch nicht genug: er schloß mit der Behauptung, daß sich für jede Privatperson, wie hier zum Beispiel ich, die weder an Gott noch an ihre Unsterblichkeit glaubt, das sittliche Gesetz der Natur in das volle Gegenteil des früheren religiösen Gesetzes verwandeln müsse, und daß ein Egoismus sogar bis zum Verbrechen dem Menschen nicht nur erlaubt sein, sondern für ihn als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich gar edelster Ausweg in seiner Lage anerkannt werden müsse. Nach diesem Paradoxon, meine Herren, können Sie auf das übrige schließen, was unser lieber paradoxer Exzentriker, Iwan Fedorowitsch, proklamiert und vielleicht auch noch zu proklamieren beabsichtigt.“

„Erlauben Sie,“ rief plötzlich ganz unerwartet Dmitrij Fedorowitsch dazwischen, „habe ich recht gehört: ‚Das Verbrechen muß nicht nur erlaubt sein, sondern sogar als unvermeidlicher und vernünftigster Ausweg aus der Lage eines jeden Gottlosen anerkannt werden!‘ War es so oder nicht?“

„Genau so,“ sagte Pater Paissij.

„Das werde ich mir merken!“

Und Dmitrij Fedorowitsch verstummte ebenso plötzlich, wie er sich in das Gespräch hineingemischt hatte. Alle blickten ihn neugierig an.

„Ist das von den Folgen, die der Verlust des Glaubens der Menschen an die Unsterblichkeit ihrer Seele haben würde, wirklich Ihre Überzeugung?“ fragte plötzlich der Staretz Iwan Fedorowitsch.

„Ich habe das einmal behauptet. Es gäbe keine Tugend, wenn es keine Unsterblichkeit gibt.“

„Selig sind Sie, wenn das Ihr Glaube ist, oder aber maßlos unglücklich!“

„Warum denn unglücklich?“ fragte Iwan Fedorowitsch lächelnd.

„Weil Sie selbst aller Wahrscheinlichkeit nach weder an die Unsterblichkeit Ihrer Seele glauben, noch daran, was Sie von der Kirche und über die Kirchenfrage geschrieben haben.“

„Vielleicht haben Sie recht ... Aber immerhin habe ich doch nicht nur gescherzt ...“ gestand plötzlich sonderbarerweise Iwan Fedorowitsch, wobei er übrigens flüchtig errötete.

„Nicht nur gescherzt, das ist wahr; diese Idee hat sich in Ihrem Herzen noch nicht entschieden, und so quält sie das Herz. Doch auch der Märtyrer liebt es zuweilen, mit seiner Verzweiflung zu spielen, gewissermaßen gleichfalls aus Verzweiflung. Vorläufig spielen auch Sie aus Verzweiflung, wenn Sie Zeitungsartikel schreiben und in Gesellschaften disputieren, ohne dabei selbst an Ihre Dialektik zu glauben, über die sie bei sich mit wehem Herzen lachen ... Dieses Problem ist in Ihnen nicht gelöst, und darin besteht Ihr großes Leid, denn es heischt unerbittlich eine Lösung ...“

„Aber kann es denn in mir überhaupt gelöst werden? Gelöst im positiven Sinne?“ fuhr Iwan Fedorowitsch fort, sonderbar zu fragen, wobei er immer noch mit einem unerklärlichen Lächeln auf den Staretz blickte.

„Wenn es sich nicht im positiven Sinne lösen kann, so wird es sich auch niemals im negativen Sinne lösen, Sie kennen doch selbst diese Eigenschaft Ihres Herzens, darin besteht seine ganze Qual. Danken Sie dem Schöpfer, daß er Ihnen ein höheres Herz gegeben hat, das fähig ist, sich mit dieser furchtbaren Frage zu quälen, ‚trachtend nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist, denn unser Leben ist im Himmelreich‘. Gebe Gott, daß Ihr Herz noch auf Erden seine Lösung finde, und möge Gott Ihre Wege segnen!“

Der Staretz erhob die Hand und wollte schon von seinem Platz aus das Zeichen des Kreuzes über Iwan Fedorowitsch machen. Doch der erhob sich plötzlich, trat zu ihm und empfing den Segen; darauf küßte er ihm die Hand und kehrte stumm zu seinem Platz zurück. Der Ausdruck seines Gesichts war entschlossen und ernst. Diese Handlung, sowie das ganze vorhergegangene sonderbare Gespräch mit dem Staretz, das man von Iwan Fedorowitsch niemals erwartet hätte, schienen alle durch ihre Rätselhaftigkeit und fast Feierlichkeit stutzig zu machen, so daß das Schweigen eine ganze Minute andauerte. Auf Aljoschas Gesicht drückte sich beinahe Schrecken aus. Da aber zuckte Miussoff plötzlich mit den Achseln, und sofort sprang auch der alte Karamasoff auf.

„Göttlicher, heiligster Staretz!“ rief er pathetisch aus, auf Iwan Fedorowitsch weisend. „Das ist mein Sohn, Leib von meinem Leib, mein liebster Leib! Das ist mein ehrerbietigster, sozusagen Karl Moor, jener dort aber, mein Sohn Dmitrij Fedorowitsch, der jetzt erst eingetreten ist und gegen den ich bei Ihnen mein Recht suche – das ist der unehrerbietigste Franz Moor – beide aus Schillers ‚Räubern‘ –, ich selbst aber, ich selbst bin in diesem Falle natürlich der regierende Graf von Moor! Jetzt urteilen Sie! Und retten Sie! Wir bedürfen nicht nur Ihrer Gebete, sondern auch Ihrer Weissagungen.“

„Reden Sie, ohne dabei den Narren zu spielen, und beginnen Sie nicht mit Beleidigungen Ihrer Angehörigen,“ sagte der Staretz mit schwacher, erschöpfter Stimme. Ersichtlich wurde er immer müder, und seine Kräfte verließen ihn fast wahrnehmbar.

„Diese unwürdige Komödie habe ich schon vorausgeahnt!“ rief unmutig Dmitrij Fedorowitsch, der gleichfalls aufsprang. „Verzeihen Sie, ehrwürdiger Vater,“ wandte er sich an den Staretz, „ich bin nur ein ungebildeter Mensch und weiß sogar nicht einmal, wie man Sie anreden muß, man hat Sie aber betrogen, und es war von Ihnen eine viel zu große Güte, uns hier zu empfangen. Mein Vater will es nur zu einem Skandal bringen, wozu er den nötig hat – das weiß ich nicht; doch wird er dabei schon auf seine Rechnung kommen. Er hat bei allem, was er tut, seine besondere Rechnung; übrigens glaube ich zu wissen, wozu ...“

„Natürlich beschuldigen sie mich alle, alle beschuldigen sie mich!“ rief seinerseits der alte Karamasoff; „auch Pjotr Alexandrowitsch beschuldigt mich! Das haben Sie getan, Pjotr Alexandrowitsch, das haben Sie ...!“ rief er plötzlich, sich zu Miussoff umdrehend, heftig, obgleich es diesem gar nicht eingefallen war, ihm zu widersprechen. „Man beschuldigt mich, ich soll das Geld meiner Kinder in meine Stiefel gesteckt haben und allen das Fell über die Ohren ziehen. Aber erlauben Sie, gibt es denn etwa kein Gericht? Dort würde man Ihnen, Dmitrij Fedorowitsch, nach Ihren eigenen Quittungen, Briefen und Kontrakten sofort verrechnen, wieviel Sie besaßen, wieviel Sie durchgebracht haben und wieviel Ihnen übrigbleibt! Warum vermeidet es Pjotr Alexandrowitsch, die Sache vors Gericht zu bringen? Dmitrij Fedorowitsch ist ihm doch kein Fremder! Er tut’s aber nicht, weil alle auf mich loshacken; Dmitrij Fedorowitsch jedoch ist mir in Summa noch schuldig, und nicht etwas, sondern viele Tausende, was ich mit allen Dokumenten beweisen kann! Die ganze Stadt schnattert ja von seinen überall bekannten Trinkgelagen! Dort aber, wo er in Garnison stand, dort hat er tausend oder zweitausend Rubel hinausgeworfen, um ehrsame Mädchen zu verführen; ja ja, das wissen wir, Dmitrij Fedorowitsch, samt allen sekreten Ausführlichkeiten, – das kann ich gleichfalls beweisen ... Heiligster Vater, werden Sie’s glauben: hat das edelste aller Mädchen bestrickt, eine Tochter aus gutem Hause, mit einem Kapital, die Tochter seines früheren Kommandeurs, eines tapferen, verdienten Obersten, der schon Orden und sogar die Anna mit den Schwertern am Halse trug, hat das Mädchen mit einem Heiratsantrag kompromittiert; jetzt ist sie hier, ist Waise, seine Braut; er aber geht vor ihren Augen mit einer hiesigen Kurtisane. Und wenn auch diese Dame mit einem ehrenwerten Menschen in sozusagen bürgerlicher Ehe gelebt hat, so ist sie doch, was den Charakter anbetrifft, sehr unabhängig, ist für alle eine uneinnehmbare Festung, als ob sie eine rechtmäßige Frau wäre; denn sie ist tugendhaft – ja! meine heiligen Väter, sie ist tugendhaft! Und Dmitrij Fedorowitsch will nun diese Festung mit goldenem Schlüssel öffnen, weswegen er sich denn jetzt auf das Geld, das ich ihm schulden soll, versteift, es herauspressen will; inzwischen aber hat er schon Tausende ihretwegen verzettelt. Ihretwegen borgt er ununterbrochen Geld, und unter anderem auch bei wem, was glauben Sie wohl? Soll ich’s sagen oder nicht, Mitjä!“

„Schweigen Sie!“ schrie Dmitrij Fedorowitsch. „Warten Sie, bis ich hinausgegangen bin; aber in meiner Gegenwart dürfen Sie sich nicht unterstehen, das edelste Mädchen, die Tochter meines Kommandeurs, zu beschimpfen ..., allein schon, daß Sie überhaupt nur ein Wort von ihr gesagt haben, ist eine Schmach für sie ... Das erlaube ich nicht!“

Er war atemlos.

„Mitjä! Mitjä!“ rief schwachnervig der Alte und preßte sich Tränen aus den Augen. „Wozu gibt es denn einen Vatersegen? Was aber dann, wenn ich dich verfluche?“

„Unverschämter Heuchler!“ schrie ihn Dmitrij Fedorowitsch wütend an.

„Das sagt er dem Vater, dem Vater! Was wird er dann noch den anderen sagen? Meine Herren, stellen Sie sich vor: Hier ist ein armer, doch ehrenwerter Mensch, ein verabschiedeter Hauptmann; er hat Unglück gehabt und den Abschied bekommen, doch nicht durch ein Urteil, sondern ohne seiner Ehre verlustig zu gehen; wohnt hier mit seiner zahlreichen Familie. Vor drei Wochen aber hat ihn unser Dmitrij Fedorowitsch im Restaurant am Bart gepackt und ihn an diesem selben Bart hinaus auf die Straße gezogen, wo er ihn dann öffentlich durchgeprügelt hat, und das nur darum, weil jener in einer gewissen Angelegenheit mein heimlicher Bevollmächtigter ist.“

„Nichts als Lüge! Von außen sieht es wie Wahrheit aus, doch inwendig ist nichts als Lüge!“ rief Dmitrij Fedorowitsch zitternd vor Wut. „Ich will meine Handlungen nicht rechtfertigen; ja, ich gestehe selbst vor allen Menschen: Ich habe wie ein Tier an diesem Hauptmann gehandelt, und meine tierische Wut tut mir jetzt leid, ich schäme mich deswegen; aber dieser Hauptmann, Ihr Bevollmächtigter, war zu dieser selben Dame gegangen, von der Sie äußerten, daß sie eine Kurtisane sei, und hatte ihr in Ihrem Namen vorgeschlagen, sie solle alle meine Wechsel, die sich in Ihren Händen befinden, nehmen und sie einklagen, um mich auf diese Weise, wenn ich mit meiner Vermögensabrechnung Ihnen zu sehr auf den Hals rücke, einfach ins Gefängnis zu bringen. Und Sie machen mir jetzt meine Gefühle für diese Dame zum Vorwurf, während Sie sie doch selbst gelehrt haben, mich zu fangen! Sie erzählte es ja Allen ganz offen; sie hat es mir selbst erzählt und sich dabei über Sie lustig gemacht! Ins Gefängnis aber wollen Sie mich nur darum bringen, weil Sie ihretwegen auf mich eifersüchtig sind, weil Sie selbst begonnen haben, sich mit Ihrer gemeinen Liebe dieser Dame zu nähern, und das weiß ich wiederum durch sie selbst, und sie hat es mir wiederum lachend – hören Sie! – über Sie lachend erzählt. Da sehen Sie jetzt, meine heiligen Väter, wie dieser Mensch ist, dieser dem ausschweifenden Sohne Vorwürfe machende Vater! Meine Herren, verzeihen Sie mir meinen Zorn; aber ich ahnte ja schon, daß dieser verschlagene, hinterlistige Greis Sie alle hier zusammengerufen hat, um es zu einem Skandal zu bringen. Ich kam her, um zu verzeihen, wenn er mir seine Hand entgegengestreckt hätte, und selbst um Verzeihung zu bitten! Da er aber hier nicht nur mich beleidigt hat, sondern auch das edelste Mädchen, deren Namen ich aus Hochachtung nicht unnütz aussprechen will, so entschloß ich mich, sein ganzes Spiel aufzudecken, obgleich er doch mein Vater ist ...“

Er konnte nicht weitersprechen. Seine Augen blitzten, und er atmete schwer. Doch auch die anderen in der Zelle Anwesenden waren erregt. Außer dem Staretz erhoben sie sich alle von ihren Plätzen; die beiden Priestermönche blickten streng drein, warteten aber ab, was der Staretz sagen werde. Der war ungewöhnlich bleich, doch nicht vor Aufregung, sondern infolge seiner krankhaften Schwäche.

Ein flehendes Lächeln lag auf seinen Lippen; zuweilen erhob er die Hand, wie um die Tobenden aufzuhalten, und natürlich hätte eine Bewegung von ihm genügt, um den ganzen Auftritt zu beenden; aber er schien es selbst nicht zu wollen, schien noch irgend etwas abzuwarten und beobachtete nur aufmerksam, als ob er noch etwas begreifen wollte, als ob er sich über irgend etwas noch nicht klar geworden sei. Endlich unterbrach Miussoff, der sich endgültig erniedrigt und beschimpft fühlte, das Schweigen.

„An diesem Skandal sind wir alle schuld!“ sagte er erregt, „doch immerhin habe ich mir so etwas nicht träumen lassen, als ich herkam, obgleich ich wußte, mit wem ich es zu tun hatte ... Dem muß sofort ein Ende gemacht werden! Ehrwürden, glauben Sie mir, daß mir alle hier zutage gekommenen Einzelheiten nicht bekannt waren; ich hätte sie nicht für möglich gehalten, erst jetzt erfahre ich zum erstenmal ... Der Vater ist auf den Sohn eifersüchtig wegen eines Weibes, das ein unanständiges Leben führt, und verabredet sich selbst mit diesem gemeinen Geschöpf, den Sohn ins Gefängnis zu bringen! ... Und in solch einer Gesellschaft hat man mich herzukommen gezwungen ... Ich bin betrogen worden! Und ich erkläre hiermit, daß ich nicht weniger als alle anderen betrogen worden bin ...“

„Dmitrij Fedorowitsch!“ rief plötzlich mit einer ganz sonderbaren, ihm ganz fremden Stimme Fedor Pawlowitsch: „Wenn Sie nicht mein Sohn wären, so würde ich Sie unverzüglich fordern ... auf Pistolen, auf drei Schritt Distanz ... übers Schnupftuch, übers Schnupftuch!“ schrie er, mit den Beinen stampfend.

Es kommt zuweilen vor, daß alte Lügner, die sich ihr ganzes Leben lang verstellt haben, plötzlich vor Erregung tatsächlich zittern und weinen – wenn sie sich in ihrer Verstellung schon gar zu sehr verrannt haben –, ungeachtet dessen, daß sie sich selbst noch im selben Augenblick – oder noch vor einer Sekunde – haben zuflüstern können: „Du bist ja doch ein Lügner, alter schamloser Narr; bist ja auch jetzt ein Komödiant trotz deines ganzen ‚heiligen‘ Zornes.“

Dmitrij Fedorowitschs Gesicht verfinsterte sich unheimlich, und mit unbeschreiblicher Verachtung blickte er auf seinen Vater.

„Ich glaubte ... ich glaubte,“ sagte er sonderbar leise und zurückhaltend, „ich würde mit meinem Schutzengel, mit meiner Braut, in die Heimat zurückkehren, um ihn hier im Alter zu pflegen, und jetzt sehe ich vor mir nur einen ausschweifenden Lüstling und den gemeinsten Komödianten!“

„Auf Pistolen!“ schrie wieder der Alte atemlos, und Speichel spritzte bei jedem Wort von seinen Lippen. „Sie aber, Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, merken Sie sich, mein Verehrtester, daß es vielleicht in Ihrer ganzen Sippe – weder jetzt noch früher – kein höheres und ehrenwerteres – hören Sie, ehrenwerteres – Weib jemals gegeben hat als dieses ‚gemeine Geschöpf‘, wie Sie jene Dame vorhin zu nennen wagten! Sie aber, Dmitrij Fedorowitsch, haben gegen dieses ‚gemeine Geschöpf‘ Ihre Braut eingetauscht, somit also selbst gefunden, daß Ihre Braut nicht einmal deren Schuhsohlen wert ist, derart ist also dieses Geschöpf!“

„Welch eine Schmach!“ entrang es sich dem Pater Jossiff.

„Ja, eine Schmach und eine Schande ist es!“ rief plötzlich Kalganoff, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, mit seiner brechenden und vor Erregung zitternden Stimme und wurde über und über rot.

„Wozu lebt solch ein Mensch!“ stieß fast außer sich vor Wut, fast brüllend, Dmitrij Fedorowitsch hervor, wobei er ganz absonderlich die Schultern hob, so daß er beinahe gekrümmt aussah. „Nein, sagt mir doch, kann man es noch länger zulassen, daß er mit seiner Person die Erde schändet?“ Er blickte sich, auf seinen Vater weisend, im Kreise um. Er sprach langsam und gemessen.

„Hört ihr, hört ihr, Mönche, den Vatermörder!“ damit stürzte sich Fedor Pawlowitsch auf den Pater Jossiff. „Das ist die Antwort auf Ihr ‚welch eine Schmach!‘ Was ist eine Schmach? Dieses ‚gemeine Geschöpf‘, dieses Weib, das ein ‚unanständiges Leben führt‘, ist vielleicht heiliger als ihr selber, meine Herren Hieromonachen, die ihr hier euer Seelenheil sucht! Sie ist vielleicht in ihrer Jugend gefallen, als Opfer ihrer Umgebung; sie hat eben ‚viel geliebt‘; jenem Weibe aber, das ‚viel geliebt‘ hatte, wurde von Christus alles vergeben ...“

„Christus hat ihr nicht für diese Liebe vergeben ...“ stieß ungeduldig der sonst so sanfte Pater Jossiff hervor.

„Nein, für diese, für diese selbe, hört ihr, Mönche, gerade für diese! Ihr sucht hier in Sauerkraut euer Seelenheil und glaubt, daß ihr Gerechte seid! Ihr eßt bloß Gründlinge, pro Tag ’nen einzigen Gründling, und glaubt mit Fischfleisch Gott zu kaufen!“

„Unmöglich, unmöglich!“ hörte man in der Zelle von allen Seiten.

Doch diese ganze, bis zur Unanständigkeit getriebene Szene sollte in der unvorhergesehensten Weise enden. Plötzlich erhob sich der Staretz von seinem Platz. Aljoscha gelang es noch, obgleich er vor Angst um ihn und um die anderen seine Geistesgegenwart ganz verloren hatte, ihn beim Aufstehen mit der Hand zu stützen. Der Staretz schritt der Richtung nach auf Dmitrij Fedorowitsch zu, und als er bei ihm angelangt war, dicht vor ihm stand – fiel er plötzlich vor ihm auf die Knie nieder. Aljoscha glaubte zuerst, er sei vor Schwäche zu Boden gefallen, doch das war es nicht. Nachdem der Staretz niedergekniet war, verneigte er sich vor Dmitrij Fedorowitsch in einer vollen, deutlichen, bewußten Verbeugung und berührte sogar mit der Stirn den Boden. Aljoscha war so verwundert, daß er ihm nicht einmal half, aufzustehen. Ein schwaches Lächeln schimmerte kaum merklich auf seinen Lippen.

„Verzeihen Sie, verzeihen Sie alle!“ sagte er, sich nach allen Seiten hin vor seinen Gästen verneigend.

Dmitrij Fedorowitsch stand eine Weile wie vom Schlag gerührt: vor ihm eine Verbeugung bis zur Erde – was war das? ... „O Gott!“ stammelte er endlich und stürzte, das Gesicht mit den Händen bedeckend, aus dem Zimmer hinaus. Ihm folgten hastig alle anderen Gäste, die in der Verwirrung ganz vergaßen, sich noch vom Staretz zu verabschieden. Nur die beiden Priestermönche baten ihn wieder um seinen Segen.

„Was war denn das für eine Verbeugung bis zur Erde, wohl wieder mal was Symbolisches?“ versuchte der plötzlich aus irgendeinem Grunde ganz zahm gewordene Fedor Pawlowitsch ein Gespräch zu beginnen; übrigens wagte er nicht, seine Frage an jemanden persönlich zu stellen. In diesem Augenblick verließen sie gerade die Einsiedelei.

„Für eine Irrenanstalt und Verrückte bin ich nicht verantwortlich,“ entgegnete sofort Miussoff bissig, „dafür aber verzichte ich auf Ihre Gesellschaft, Fedor Pawlowitsch, und das, glauben Sie mir, ein für allemal! Wo ist denn dieser Mönch ...?“

„Dieser Mönch“, d. h. jener, der sie zum Prior zu Tisch gebeten hatte, ließ nicht auf sich warten. Als sie hinaustraten, sahen sie ihn an der Treppe stehen, als ob er sie die ganze Zeit erwartet hätte.

„Haben Sie die Güte, verehrter Pater,“ sagte Miussoff gereizt zu ihm, „mich gehorsamst Seiner Hochwürden zu empfehlen, mich selbst aber, Miussoff, zu entschuldigen, da ich infolge plötzlich eingetretener und unvorhergesehener Umstände unmöglich die Ehre haben kann, trotz meines aufrichtigen Wunsches, an seiner Mahlzeit teilzunehmen.“

„Aber dieser unvorhergesehene Umstand – das bin ja ich!“ griff sofort Fedor Pawlowitsch auf. „Hören Sie, Pater, Pjotr Alexandrowitsch will ja bloß nicht mit mir zusammen hingehen, sonst aber würde er mit Handkuß hingehen! Und Sie werden’s auch, Pjotr Alexandrowitsch; haben Sie die Güte, zum Pater Prior zu gehen, und – ich wünsche Ihnen vorzüglichen Appetit! Denn ich bin es, der sich zurückzieht, nicht Sie. Zu Hause, zu Hause werde ich essen, hier aber fühle ich mich unfähig dazu, Pjotr Alexandrowitsch, mein allerliebster Anverwandter!“

„Ich bin nicht Ihr Anverwandter und bin es nie gewesen, Sie niedriger Mensch!“

„Das habe ich ja absichtlich gesagt, um Sie so ein wenig zu necken, da Sie sich so gern von der Verwandtschaft lossagen wollen, obgleich Sie doch immer mein lieber Verwandter bleiben, da helfen Ihnen keine Finten, kann’s Ihnen in den Kirchenbüchern nachweisen. Dir, Iwan, werde ich schon zur rechten Zeit die Pferde herschicken; bleib also hier, wenn du willst. Ihnen aber, Pjotr Alexandrowitsch, gebietet sogar der Anstand, jetzt zu seiner Hochehrwürden zu gehen; man muß doch seine Entschuldigung machen für das, was wir dort beide losgeschossen haben ...“

„Ja, ist es denn auch wahr, daß Sie zurückfahren wollen? Lügen Sie nicht wieder einmal?“

„Pjotr Alexandrowitsch, wie sollte ich das, nach allem, was geschehen ist! Habe mich hinreißen lassen! Bin aber erschüttert! Und man schämt sich doch, weiß Gott. Meine Herrschaften, der eine hat ein Herz wie Alexander der Große, der andere aber – wie ein Schoßhündchen Fidelka. Nun, ich habe letzteres. Habe Angst bekommen! Wie soll ich denn noch nach solch einer Eskapade zu einem Mittagsmahle gehen und Klostersaucen schlecken? Schäme mich, kann nicht, entschuldigen Sie mich!“

„Weiß der Teufel, wie aber, wenn er mich wieder betrügt!“ dachte nachdenklich Miussoff, der stehen geblieben war und mit fragend mißtrauischem Blick der Gestalt des sich entfernenden alten Narren folgte. Da wandte sich jener noch einmal um, und da er Miussoffs beobachtenden Blick bemerkte, warf er ihm eine Kußhand zu.

„Und Sie? Werden Sie zum Prior gehen?“ fragte Miussoff schroff Iwan Fedorowitsch.

„Warum denn nicht? Und zudem hat mich der Prior gestern noch besonders eingeladen.“

„Zum Unglück fühle ich mich wirklich fast verpflichtet, zu diesem verfluchten Mittagsmahl zu gehen,“ fuhr Miussoff mit derselben Gereiztheit bitter fort, ohne weiter zu beachten, daß der kleine Mönch dabei war und alles hörte. „Man muß dort wenigstens seine Entschuldigung machen wegen der Geschichten, die wir hier angerichtet haben, und erklären, daß nicht wir es gewesen sind ... Was meinen Sie?“

„Ja, man muß erklären, daß nicht wir es gewesen sind. Und mein Vater wird ja nicht dabei sein,“ meinte Iwan Fedorowitsch.

„Das fehlte noch! Mit Ihrem Vater! Dieses verfluchte Mittagsmahl!“

Einstweilen gingen sie doch alle drei. Der kleine Mönch schwieg und spitzte die Ohren. Unterwegs, als sie durch das Wäldchen gingen, bemerkte er nur einmal, daß Seine Hochwürden schon lange warteten und sie sich um eine ganze halbe Stunde verspätet hätten. Er erhielt aber keine Antwort. Miussoff blickte haßerfüllt Iwan Fedorowitsch von der Seite an:

„Und er geht auch wirklich hin, als wäre überhaupt nichts vorgefallen!“ dachte er bei sich. „Eherne Stirn und Karamasoffsches Gewissen!“

VII.
Der Seminarist und Streber

Aljoscha führte seinen Staretz in das kleine Schlafgemach und ließ ihn sich auf das Bett niedersetzen. Es war ein kleines Zimmer, in dem nur die notwendigsten Möbel standen. Das eiserne Bett war klein und schmal, und auf ihm lag anstatt einer Matratze nur eine Filzdecke. In der Ecke unter den Heiligenbildern stand sein Lesepult, und auf ihm lagen ein Kreuz und die Bibel. Der Staretz sank erschöpft auf das Bett; seine Augen glänzten, und er atmete nur schwer. Nachdem er sich gesetzt hatte, richtete er seinen Blick auf Aljoscha und betrachtete ihn aufmerksam, als ob er über etwas nachdächte.

„Geh, mein Liebling, geh, Porfirij wird hier bei mir bleiben, du aber mußt dich beeilen. Du bist dort nötig, geh zum Prior, bediene beim Essen.“

„Bitte, erlauben Sie mir, hier zu bleiben,“ bat Aljoscha leise.

„Du bist dort nötiger. Dort herrscht kein Friede. Du wirst dich nützlich machen können. Wenn die Dämonen sich erheben, so sprich ein Gebet. Und wisse, mein Sohn“ (der Staretz liebte es, ihn so zu nennen), „daß auch hinfort nicht hier dein Platz ist. Denk daran, Jüngling. Wenn es Gott gefallen wird, mich in die Ewigkeit abzurufen – so gehe fort aus dem Kloster. Verlaß es ganz.“

Aljoscha fuhr zusammen.

„Was hast du? Nicht hier ist jetzt dein Platz. Ich segne dich zu deiner großen Aufgabe in der Welt. Lang ist noch deine Wanderschaft, mein Sohn. Und auch heiraten wirst du müssen, Jüngling, du mußt es. Alles wirst du ertragen müssen, bis du wieder da anlangst, von wo du ausgegangen bist. Und du wirst viel zu tun haben. Doch an dir zweifle ich nicht und darum schicke ich dich. Christus ist mit dir. Bewahre du ihn, so wird auch er dich bewahren. Großes Leid wirst du erfahren, und in diesem Leid wirst du glücklich sein. Und hier hast du mein Vermächtnis: Suche im Leid das Glück. Arbeite, arbeite unermüdlich. Behalte hinfort meine Worte, denn wenn ich auch noch mit dir sprechen werde, so sind doch nicht nur meine Tage, sondern selbst meine Stunden gezählt.“

Im Antlitz Aljoschas drückte sich wieder eine mächtige Bewegung aus. Seine Mundwinkel zitterten.

„Was hast du nur wieder?“ fragte sanft lächelnd der Staretz. „Mögen weltliche Tränen ihre Sterbenden begleiten, hier aber freuen wir uns des in die Ewigkeit Eingehenden. Wir freuen uns und beten für ihn. Geh jetzt. Ich muß beten. Gehe und beeile dich. Sei bei deinen Brüdern. Nicht nur bei einem, sondern bei beiden, mein Sohn.“

Der Staretz erhob die Hand zum Segen. Aljoscha wagte nicht, zu widersprechen, obwohl er so gern bei ihm geblieben wäre. Auch wollte er noch fragen, und schon schwebte ihm die Frage auf der Zunge, was diese Verbeugung bis zur Erde vor seinem Bruder Dmitrij bedeuten sollte? – Aber er wagte es nicht. Er wußte, daß der Staretz es ihm auch ungefragt gesagt haben würde, wenn es möglich gewesen wäre. Also hatte er es selbst nicht gewollt. Diese Verbeugung aber hatte auf Aljoscha einen furchtbaren Eindruck gemacht; er glaubte blind, daß in ihr ein geheimnisvoller Sinn lag – eine geheimnisvolle und vielleicht entsetzliche Bedeutung. Als er aus der Einfriedung der Einsiedelei trat, um noch zur rechten Zeit ins Kloster zum Mittagsmahl des Priors zu gelangen, natürlich, nur um bei Tisch zu bedienen, zog sich ihm plötzlich schmerzhaft das Herz zusammen, und er blieb stehen: In seinen Ohren erklangen von neuem die Worte des Staretz, die seinen nahen Tod verkündet hatten. Was aber der Staretz vorhersagte und noch dazu mit solch einer Bestimmtheit, das mußte auch in Erfüllung gehen – dieser Glaube war für Aljoscha heilig. Wie aber sollte er dann ohne ihn bleiben, wie ihn nicht mehr sehen, wie ihn nicht mehr hören? Und wohin sollte er dann gehen? Nicht weinen und das Kloster verlassen, o Gott! Lange schon hatte Aljoscha nicht mehr so großes Leid empfunden. Er schritt schneller durch den Wald, der die Einsiedelei vom Kloster trennte, und da ihn seine Gedanken fast erdrückten, blickte er hinauf in die Wipfel der hundertjährigen Kiefern zu beiden Seiten des schmalen Waldwegs. Es war nicht weit bis zum Kloster: fünfhundert Schritt, nicht mehr. Zu dieser Tageszeit hätte er eigentlich niemanden treffen können, doch plötzlich erblickte er bei einer Wegbiegung Rakitin, den Seminaristen, der jemanden zu erwarten schien.

„Wartest du etwa auf mich?“ fragte Aljoscha, als er ihn erreicht hatte.

„Hast’s erraten,“ antwortete Rakitin. „Du begibst dich zum Prior. Ich weiß; bei ihm gibt es heute wieder ein Essen. Seitdem er damals den Bischof und den General Pachatoff aufgenommen, weißt du noch, hat es bei ihm solch ein Mahl nicht mehr gegeben. Ich werde nicht dabei sein, du aber geh mal hin, um die Saucen zu reichen. Sage mir aber vorher eines, Alexei: Was hat diese Vision des Staretz zu bedeuten? Das ist es, was ich dich fragen will.“

„Welch eine Vision?“

„Nun, diese Verbeugung vor deinem Brüderlein Dmitrij Fedorowitsch. Und wie er noch mit der Stirn auf den Boden knallte!“

„Du sprichst vom Staretz Sossima?“

„Von wem denn sonst?“

„Knallte? ...“

„Ach so, hab mich unehrerbietig ausgedrückt. Nun, meinetwegen. Aber was hat denn diese Vision zu bedeuten?“

„Ich weiß es nicht, Mischa, was sie zu bedeuten hat.“

„Das konnte ich mir ja denken, daß er’s dir nicht erklären würde. Gescheites steckt dabei natürlich nichts dahinter; wie’s scheint, wieder nur die ewigen Heilsdummheiten. Aber das Kunststück wurde absichtlich gemacht. Jetzt werden alle Kirchenschwalben in der Stadt losschnattern, und dann wird’s vom einen zum anderen durch das ganze Gouvernement gehen: ‚Was hat wohl diese Vision zu bedeuten?‘ Der Alte ist ja wirklich mit Seherkraft begabt: hat ein Kriminalverbrechen gewittert. Es stinkt bei euch.“

„Was für ein Kriminalverbrechen?“

Augenscheinlich wollte Rakitin etwas sagen.

„Dasselbe, das in eurer Familie begangen werden wird. Und zwar wird es zwischen deinen Brüdern und deinem reichen Papachen unbedingt dazu kommen. Und so hat denn Sossima auf alle zukünftigen Fälle mit der Stirn den Fußboden berührt. Was dann später auch geschehen mag, jedenfalls wird’s heißen: ‚Ach, das hat doch der heilige Staretz prophezeit,‘ – obgleich, sage doch selbst, was soll denn das für eine Prophezeiung sein? Nein, das war sozusagen eine sinnbildliche, eine allegorische Handlung, und weiß der Teufel, was noch! Man wird’s ausposaunen und behalten: Hat das Verbrechen vorausgesehen, den Verbrecher erkannt. Alle sich blödsinnig stellenden Stadtverrückten tun dasselbe: Bekreuzen sich vor der Schenke, auf die Kirche aber werfen sie Steine. So tut’s auch dein Staretz: Den Gerechten mit dem Knüppel raus, dem Mörder aber eine Verbeugung bis zur Erde.“

„Was für ein Verbrechen? Welch einem Mörder? Was sagst du?“ Aljoscha stand wie erstarrt, da blieb auch Rakitin stehen.

„Welch einem? Als ob du’s nicht wüßtest? Ich könnte wetten, daß du schon selbst daran gedacht hast. Aber wart mal, das ist ja ganz interessant: Hör, Aljoscha, du sagst doch immer die Wahrheit, wenn du dich auch immer zwischen die Stühle setzt: hast du daran gedacht, oder hast du nicht daran gedacht, antworte?“

„Ich habe daran gedacht,“ antwortete Aljoscha leise. Selbst Rakitin wurde etwas verlegen.

„Was du sagst? Also auch du hast schon daran gedacht?“ rief er erstaunt.

„Ich ... ich ... nicht gerade, daß ich gedacht habe,“ murmelte Aljoscha, „als du aber jetzt anfingst, so sonderbar darüber zu sprechen, da schien es mir, daß ich selbst daran gedacht habe.“

„Siehst du, und wie deutlich du das ausdrückst! Also heute hast du beim Anblick deines Papachen und deines Brüderleins Mitjenka an ein Verbrechen gedacht? Also täusche ich mich doch nicht?“

„Aber wart, wart doch,“ unterbrach ihn erregt Aljoscha, „woraus schließt du das alles? ... Und vor allen Dingen: Warum beschäftigt dich das so?“

„Zwei verschiedene Fragen auf einmal, doch sind sie beide verständlich. Ich werde jede einzeln beantworten. Woraus ich das schließe? Nichts würde ich hieraus schließen, wenn ich deinen Bruder Dmitrij Fedorowitsch heute nicht ganz erkannt hätte, ganz plötzlich, und ganz und gar durchschaut hätte. An so einem einzigen Zuge begriff ich mit einem Schlage den ganzen Menschen. Bei diesem allerehrlichsten, doch wollüstigen Menschen gibt es eine Grenze, die man nicht überschreiten darf, oder er spießt mit seinem Messer selbst das Papachen auf. Papachen aber ist ein stets besoffener und zügelloser Wüstling, niemals und in nichts wird er maßzuhalten verstehen, wie er es nie verstanden hat – sie werden sich beide nicht beherrschen und plumps, beide in den Graben purzeln ...“

„Nein, Mischa, nein, wenn es nur das ist, so ... so hast du mich beruhigt. Dazu wird es nicht kommen.“

„Warum aber zitterst du am ganzen Körper? Weißt du was? Mag er auch ein ehrlicher Mensch sein, der Mitjenka – er ist dumm, aber ehrlich; aber, aber er ist ein Wollüstling. Das ist die richtige Bezeichnung für sein ganzes inneres Wesen. Und das hat er vom Vater, der hat ihm seine gemeine Lüsternheit vermacht. Ich muß mich immer nur über dich wundern, Aljoscha: Wie bist du noch so ganz Knabe? Du bist doch auch ein Karamasoff! Ist doch in eurer Familie die Sinnlichkeit bis zur chronischen Entzündung gesteigert. Nun, und diese drei Wollüstlinge beobachten jetzt einer den anderen ... mit Messern in den Stiefelschäften. Drei sind mit den Köpfen aneinandergestoßen, du aber bist vielleicht der vierte.“

„Aber in ihr täuschst du dich. Dmitrij ... verachtet sie,“ sagte Aljoscha fast zusammenzuckend.

„Wen, Gruschenka etwa? Nein, mein Lieber, die verachtet er nicht! Wenn er sogar seine Braut gegen sie eingetauscht hat, so verachtet er sie nicht. Hier ... hier, weißt du, ist etwas, was du noch nicht verstehen kannst. Wenn sich der Mensch in irgendeine Schönheit, in den weiblichen Körper oder selbst nur in einen Teil des weiblichen Körpers verliebt – ein Wollüstling kann das wohl verstehen –, so gibt er für ihn seine eigenen Kinder hin, verkauft Vater und Mutter, Rußland und das Vaterland. Ist er ehrlich, so wird er stehlen gehen; ist er sanftmütig, so wird er morden; ist er treu – verraten. Puschkin, der Sänger der Weiberfüßchen, hat diese Füßchen in Gedichten besungen, andere besingen sie nicht, können aber auf diese Füßchen nicht ohne Erregung blicken. Und nicht nur auf die Füßchen ... Hier, mein Lieber, hilft keine Verachtung – selbst wenn er Gruschenka verachtete. Oder gut, er verachtet sie, kann sich aber doch nicht losreißen.“

„Das verstehe ich,“ platzte ganz unvermutet Aljoscha heraus.

„Was du sagst? Mußt es ja wirklich verstehen, wenn es so plötzlich und so unverhofft aus dir herausfährt!“ rief schadenfroh Rakitin. „Es kam ja fast ganz aus Versehen aus dir heraus. Um so wertvoller das Geständnis: Also bereits bekanntes Thema für dich, hast schon darüber nachgedacht, über die Wollust! Ach, du unberührtes Mädchen! Du, Aljoscha, bist ein Duckmäuser, still und verschwiegen, schön, du bist ein Heiliger, gebe es zu, aber du bist verschlossen, und der Teufel mag wissen, woran du schon gedacht hast, was dir alles schon bekannt ist! Bist ’ne Jungfer und bist schon in solche Tiefen hinabgestiegen! Ich beobachte dich schon lange. Auch du bist ein Karamasoff, ein echter Karamasoff – also haben doch die Herkunft und der Stamm etwas zu bedeuten! Nach dem Vater Wollüstling, nach der Mutter geistesschwacher Heiliger. Warum zitterst du? Oder sage ich die Wahrheit? Weißt du was: Gruschenka hat mich gebeten, ‚bring ihn – das heißt also, dich – bring ihn her, ich werde ihm die Kutte abziehen.‘ Und wie sie noch gebeten hat: Bring ihn und bring ihn! Ich frage mich nur, wodurch du für sie so interessant bist? Weißt du, auch sie ist ein ungewöhnliches Weib!“

„Grüße sie und sage ihr, daß ich nicht kommen werde,“ sagte Aljoscha mit einem verzogenen Lächeln. „Du, Michail, sprich aus, was du vorhin sagen wolltest, ich werde dir dann auch meine Gedanken sagen.“

„Was ist hier auszusprechen, es ist doch klar. Das Ganze, mein Lieber, ist eine alte Geschichte. Wenn auch du schon in dir den Wollüstling fühlst, was ist dann dein Bruder Iwan, dein leiblicher Bruder? Auch er ist doch ein Karamasoff, darin besteht ja euer ganzes Karamasoffsches Problem: Wollüstlinge, Besitzgierige und Heilige! Dein Bruder Iwan schreibt jetzt vorläufig scherzweise aus irgendeiner theologischen, allerdümmsten, unbekannten Berechnung Zeitungsartikel, ist aber dabei Atheist, und diese Gemeinheit gesteht er zum Überfluß noch selbst ein, dieser dein Bruder Iwan. Außerdem will er seinem älteren Bruder die Braut abspenstig machen und wird, wie’s scheint, auch dieses Ziel erreichen. Und wie noch: mit Mitjenkas eigener Erlaubnis – denn Mitjenka tritt ihm ja selbst seine Braut ab, um sie vom Halse zu haben und von ihr schneller ganz zu Gruschenka übergehen zu können. Und das alles bei seiner edlen Denkweise und Uneigennützigkeit, vergiß das nicht! Der Teufel soll aus euch klug werden: Mitjä sieht seine Gemeinheit selbst ein und rennt doch mit dem Kopf voran in sie hinein! Höre weiter. Nun aber kommt der Alte und kreuzt Mitjenkas Weg – der Vater! Der ist doch jetzt plötzlich wie besessen hinter Gruschenka her; bei ihm fließt ja schon der Geifer aus den Mundwinkeln, wenn er sie bloß von weitem sieht; hat er doch nur ihretwegen in der Zelle diesen Skandal gemacht, weil Miussoff sich erdreistete, sie ein gemeines Geschöpf zu nennen; ist wie ein Kater in sie verliebt. Früher diente sie ihm bloß für Geld zu gewissen dunklen Trinkstubengeschäftchen, jetzt aber hat er sie entdeckt und ist wie rasend geworden, drängt sich täglich mit Anträgen, natürlich mit unanständigen, an sie heran. Nun und auf diesem Wege werden sie dann aneinanderprallen, das Papachen mit dem Söhnchen. Gruschenka aber entscheidet sich noch für keinen von beiden, macht vorläufig noch Winkelzüge und führt sie beide an der Nase herum, überlegt sich, welcher vorteilhafter wäre; denn wenn man dem Papachen auch viel Geld abzapfen könnte, so heiratet er dafür doch nicht, und womöglich wird er zum Schluß noch knickerig und hängt den Beutel höher oder schließt ihn ganz. In diesem Falle hat auch Mitjenka seinen Wert: Geld hat er zwar nicht, dafür aber ist er fähig, zu heiraten. Ja, dazu ist er fähig! Die Braut zu verlassen, Katerina Iwanowna, die schön, wunderschön, reich, adlig und die Tochter eines Obersten ist, und Gruschenka zu heiraten, die gewesene Maitresse eines alten, ausschweifenden Krämers, des Stadthaupts Ssamssonoff. Aus alledem kann wirklich ein Kriminalverbrechen zustande kommen, und darauf wartet nur dein Bruder Iwan, dann würde er in der Wolle sitzen: würde Katerina Iwanowna, nach der er vor Sehnsucht vergeht, erwerben und dazu noch die Sechzigtausend ihrer Mitgift schnappen. Für einen Habenichts, wie er, ist das für den Anfang sehr verlockend. Und vergiß dabei nicht: nicht nur, daß er Mitjä damit nicht beleidigt, er verpflichtet ihn sich noch bis zum Grabe. Ich weiß doch, daß Mitjä selbst noch in der vergangenen Woche im Gasthaus geschrien hat, nachdem er sich in Gesellschaft von Zigeunerinnen angetrunken, daß er seiner Braut, der Katjenka, nicht wert sei, sein Bruder Iwan aber, der sei es! Und was Katerina Iwanowna anbetrifft, so wird sie solch einen Bezauberer, wie Iwan Fedorowitsch, schließlich doch nicht verschmähen; sie schwankt ja schon jetzt zwischen beiden. Wodurch hat nur dieser Iwan euch alle dermaßen bestrickt, daß ihr ihn ausnahmslos so ehrfurchtsvoll verehrt? Er lacht doch einfach über euch: sitze in der Wolle, denkt er, und wärme mich auf eure Rechnung!“

„Woher weißt du das? Warum sprichst du so überzeugt?“ fragte plötzlich Aljoscha schroff und runzelte die Stirn.

„Warum fragst du das jetzt, und warum fürchtest du meine Antwort schon im voraus? Gibst damit doch selbst zu, daß ich die Wahrheit gesagt habe.“

„Du magst ihn nicht; Iwan läßt sich nicht durch Geld verlocken.“

„Was du sagst? Und die Schönheit Katerina Iwanownas? Da handelt es sich nicht um Geld allein, obgleich sechzigtausend Rubel ein verlockendes Sümmchen sind.“

„Iwan denkt höher; ihn werden auch Tausende nicht anlocken. Iwan sucht nicht Geld, nicht Wohlleben. Vielleicht sind es Qualen, die er sucht.“

„Was soll denn das bedeuten? Ach, ihr Edelleute!“

„Ja, Mischa, seine Seele ist stürmisch, sein Verstand liegt in Fesseln; er trägt große, noch unentschiedene Gedanken mit sich. Er ist einer von denen, die nicht Millionen brauchen, sondern Probleme lösen müssen.“

„Literarischer Diebstahl, Aljoscha! Du kopierst deinen Staretz in schönen Phrasen. Und was für ein Rätsel euch dieser Iwan aufgegeben hat!“ sagte Rakitin mit unverhohlener Bosheit. Sein Gesicht veränderte sich sogar, und seine Lippen verzogen sich. „Und das Rätsel ist dazu noch dumm, ’s ist dabei nichts zu erraten! Streng dein Gehirn etwas an und denk mal nach, dann wirst du’s einsehen. Sein Artikel ist lächerlich und absurd. Und hörtest du vorhin seine dumme Theorie: ‚Gibt es keine Unsterblichkeit der Seele, so gibt es auch keine Tugend, folglich ist alles erlaubt.‘ – Und Mitjenka, weißt du noch, wie der ausrief: ‚Das werde ich mir merken!‘ – Wahrlich – eine verlockende Theorie für Spitzbuben ... Ich schimpfe wieder, das ist dumm ... nicht für Spitzbuben, sondern für schuljungenhafte Aufschneider – mit ‚unergründlicher Gedankentiefe‘. Ein Prahlhänschen, und der ganze Kern: ‚Einerseits ist es unmöglich, zuzugeben, und andererseits – ist es unmöglich, nicht anzuerkennen!‘ Seine ganze Theorie ist eine Gemeinheit. Die Menschheit wird in sich selbst die Kraft finden, für die Tugend zu leben, sogar ohne dabei an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben! In der Liebe zur Freiheit, zur Gleichheit, Brüderlichkeit wird sie sie finden ...“

Rakitin ereiferte sich dermaßen, daß er sich kaum noch beherrschen konnte. Doch plötzlich brach er ab, als ob ihm etwas eingefallen wäre.

„Nun genug,“ meinte er mit schiefem Lächeln. „Warum lachst du? Denkst wohl, daß ich ein Hundsfott bin?“

„Nein, ich dachte nicht einmal daran, das zu denken. Du bist klug, aber ... laß gut sein, ich lächelte nur so aus Dummheit; ich verstehe, daß du dich ereiferst, Mischa. Aus deiner Erregung habe ich erraten, daß du selbst nicht gleichgültig bist gegen Katerina Iwanowna, und das, Freund, habe ich schon längst vermutet; darum aber liebst du auch meinen Bruder Iwan nicht. Bist du eifersüchtig auf ihn?“

„Und auf ihr Geld? Sag nur, was du denkst.“

„Nein, das werde ich nicht sagen; ich will dich nicht beleidigen.“

„Glaub’s, weil du es sagst. Aber der Teufel hole euch alle mitsamt eurem lieben Iwan! Kein einziger von euch will’s begreifen, daß man ihn auch ohne Katerina Iwanowna nichts weniger als lieben kann. Und warum soll ich ihn denn lieben, Teufel noch eins! Würdigt er mich doch dessen, sogar persönlich über mich zu schimpfen. Warum soll ich dann kein Recht haben, auch über ihn zu schimpfen?“

„Ich habe noch nie gehört, daß er etwas über dich gesagt hat, weder Gutes noch Schlechtes; er spricht überhaupt nicht von dir.“

„Ich aber habe gehört, daß er mich vor drei Tagen bei Katerina Iwanowna, was das Zeug hält, heruntergerissen hat – dermaßen also interessiert er sich für meine Wenigkeit. Und wer auf wen eifersüchtig ist – das weiß ich nicht! Er hat geruht, den Gedanken auszudrücken, daß ich, wenn ich mich nicht bald für die Karriere des Erzbischofs entscheide und mich nicht als Mönch einkleiden lasse, unbedingt nach Petersburg fahren würde, um dort an einer großen Zeitung anzukommen, unbedingt in die kritische Abteilung, um etwa zehn Jahre zu schreiben und dann das Blatt auf meinen Namen zu überführen. Darauf würde ich’s weiter herausgeben, und zwar unbedingt mit einer liberalen und atheistischen Tendenz, mit sozialistischer Färbung, doch dabei wohl auf der Hut sein, das heißt also, im Grunde weder auf dieser noch auf jener Seite stehen und den Eseln Sand in die Augen streuen. Das Ende meiner Karriere wäre nach der Weissagung deines lieben Brüderchens: daß die sozialistische Färbung mich nicht hindern würde, die Abonnementsgelder zurückzulegen und mit ihnen bei passender Gelegenheit unter Anleitung irgendeines Juden zu spekulieren, bis ich mir ein kapitales Haus in Petersburg aufgebaut habe, um in dasselbe die ganze Redaktion überzuführen und in die übrigen Etagen Mieter aufzunehmen. Er hat sogar den Platz fürs Haus schon bestimmt: an der neuen Steinbrücke, die jetzt, wie es heißt, in Petersburg vom Liteinyj auf die Wyborger Seite projektiert wird ...“

„Ach, Mischa, das wird doch auch genau so sein, aufs Wort genau!“ rief plötzlich Aljoscha aus und lachte fröhlich auf.

„Ah – auch Sie ergehen sich in Sarkasmen, Alexei Fedorowitsch?“

„Nein, nein, ich scherzte nur, verzeih! Ich habe ganz anderes im Sinne. Aber erlaube: Wer hat dir das so bis in alle Einzelheiten erzählen können, von wem hättest du das hören können? Persönlich konntest du doch nicht bei Katerina Iwanowna sein, als er von dir sprach?“

„Ich war allerdings nicht bei ihr, dafür aber war Dmitrij Fedorowitsch dort, und so hörte ich es denn später mit eigenen Ohren von ihm, das heißt, wenn du willst, er sagte es nicht mir, sondern ich hörte es, unfreiwillig natürlich, denn ich saß in Gruschenkas Schlafzimmer und konnte nicht hinausgehen, solange er sich im vorderen Zimmer befand.“

„Ach richtig, ich hatte es fast vergessen, sie ist ja mit dir verwandt.“

„Verwandt? Gruschenka, diese Gruschenka mit mir verwandt?“ schrie Rakitin, ganz rot im Gesicht. „Du hast wohl den Verstand verloren! Deinem Gehirnkasten scheint ja die Vernunft völlig abhanden gekommen zu sein!“

„Wie, ist sie denn wirklich nicht mit dir verwandt? Ich habe es so gehört ...“

„Wo hast du das hören können? Nein, ihr, meine Herren Karamasoff, ihr spielt euch ja wahrlich als große, erhabene, alte Edelleute auf, während doch dein Vater als Narr von einem fremden Tisch zum anderen lief und Gnadenbrot aß! Gut, ich bin bloß ein Popensohn und vor euch Adligen nur eine Blattlaus, aber beleidigt mich deshalb nicht so sorglos auf Schritt und Tritt! Auch ich habe eine Ehre, Alexei Fedorowitsch. Ich kann nicht mit Gruschenka verwandt sein, mit einer öffentlichen Dirne, das bitte ich zu begreifen!“

Rakitin war ungewöhnlich gereizt.

„Verzeih mir, um Gottes willen, ich konnte das doch nicht ahnen, und zudem – wieso ist sie denn eine öffentliche? Ist sie etwa ... so eine?“ fragte plötzlich errötend Aljoscha. „Ich versichere dir, ich habe es so gehört, daß du mit ihr verwandt sein sollst. Du gehst so oft zu ihr und hast mir dabei selbst gesagt, daß du mit ihr kein ... Liebesverhältnis hast ... Ich hätte daher nie gedacht, daß du sie so verachtest! Und hat sie das denn wirklich verdient?“

„Wenn ich sie besuche, so kann ich dazu meine Gründe haben; das mag dir genügen. Was aber die Verwandtschaft anbetrifft, so wird dein Brüderchen oder vielleicht sogar das Papachen eher dich mit dieser Verwandtschaft beglücken, als daß ich mit ihr verwandt wäre. So, da sind wir ja. Schieb mal jetzt in die Küche ab. O! was ist denn das, was hat das zu bedeuten? Etwa zu spät gekommen? Aber so schnell konnten sie doch nicht abspeisen? Oder haben hier wieder die Karamasoffs etwas Schönes angerichtet? Bestimmt wird’s so sein! Da kommt ja auch schon dein Papachen und hinter ihm Iwan Fedorowitsch. Kommen beide vom Prior heraus. Da ruft ihnen ja noch Pater Issidor etwas von der Treppe nach. Ah, und auch dein Vater schreit jetzt und fuchtelt mit den Armen, schimpft natürlich. Ah, und da fährt ja schon Miussoff in seinem Wagen fort, siehst du, dort fährt er. Und da läuft ja auch noch Maximoff – aber dort gibt’s unbedingt einen Skandal! Haben wohl überhaupt nicht gespeist! Oder sollten sie womöglich den Prior verprügelt haben? Oder selbst verprügelt worden sein? Das wäre was! ...“

Rakitin hatte es erraten. Es war tatsächlich zu einem Skandal gekommen, zu einem unerhörten und ganz unerwarteten Skandal. Und alles war „aus Begeisterung“ geschehen.

VIII.
Der Skandal

Als Miussoff, Iwan Fedorowitsch und Kalganoff beim Prior eintraten, ging in ersterem als aufrichtigem, anständigem und feinfühligem Menschen eine in ihrer Art sehr delikate Veränderung vor sich: Er schämte sich plötzlich, sich noch zu ärgern. Er sagte sich, daß er den elenden Fedor Pawlowitsch im Grunde viel zu gering schätzen müßte, um seinetwegen die Kaltblütigkeit zu verlieren, wie er es in der Zelle des Staretz leider getan hatte. „Wenigstens sind die Mönche hier an nichts schuld,“ entschied er bei sich, als er die Treppe hinaufstieg, „und wenn auch hie anständige Leute sind – dieser Pater Nikolai, dieser Prior, ist, glaube ich, gleichfalls von adliger Herkunft –, warum soll ich dann nicht liebenswürdig und höflich mit ihnen sein? ... Werde nicht streiten, kann ja sogar beistimmen, nehme sie mit Liebenswürdigkeit und ... und ... beweise ihnen zum Schluß, daß ich nicht zur Gesellschaft dieses Aesop, dieses Narren, dieses Pierrot gehöre, und ebenso hereingefallen bin, wie sie alle ...“

Das umstrittene Recht auf das Waldfällen und den Fischfang (wo sich dieser Wald und diese Flußstelle befanden, wußte er selbst nicht einmal), beschloß er, ihnen endgültig abzutreten, ein für allemal, und das sofort (um so mehr, als das Ganze nur sehr wenig kostete), und alle seine Klagen gegen das Kloster zurückzuziehen.

Diese guten und wohlgemeinten Vorsätze verstärkten sich noch mehr in ihm, als sie in das Speisezimmer des Priors eintraten. Übrigens war es nicht gerade ein Speisezimmer, da der Prior nur zwei Zimmer bewohnte, allerdings viel größere und bequemere als der Staretz. Doch die Einrichtung zeichnete sich ebensowenig durch Luxus aus: die Möbel waren aus rotem Holz mit Lederbezug, alt, Fasson der zwanziger Jahre; der Fußboden war sogar ungestrichen; dafür aber glänzte alles vor Sauberkeit, und vor den Fenstern standen viele teure Blumen. Das Schönste war in diesem Augenblick gewissermaßen der Tisch: das Tischtuch war blendend weiß, und alles, was darauf stand, glänzte gleichfalls vor Sauberkeit; drei Sorten prachtvoll gebackenes Brot, zwei Flaschen Wein, zwei Flaschen Met vom vorzüglichen Klosterhonig und eine große Glaskanne mit Kwas,[8] der im Kloster selbst gebraut wurde und in der ganzen Umgegend berühmt war. Schnaps gab es nicht. Rakitin wußte später zu erzählen, daß zu diesem Diner fünf Gänge bereitet worden waren: Es gab Sterletsuppe mit Fischpiroggen, dann einen ganz besonders zubereiteten Fisch, darauf in Scheiben gebratenen roten Fisch, Gefrorenes und Kompott, und zum Schluß noch eine süße Speise in der Art eines Blanc-manger. Das alles hatte Rakitin herausgeschnüffelt, war sogar zu diesem Zweck in die Küche des Priors gegangen, wo er noch von früher her seine Verbindungen hatte. Er hatte nämlich überall Verbindungen und verstand, alles zu erfahren, was er erfahren wollte. Er hatte ein unruhiges, neidisches Herz. Über seine ziemlich gute Begabung wußte er selbst vollkommen Bescheid, doch vergrößerte er sie noch in seinem Eigendünkel. Er wußte, daß er in seiner Art bestimmt ein Tatmensch sein werde; doch quälte Aljoscha, der ihm sonst sehr zugetan war, besonders das eine, daß sein Freund Rakitin unehrlich war und sich das entschieden nicht selbst eingestand, im Gegenteil, da er wußte, daß er niemals Geld vom Tisch stehlen würde, sich tatsächlich für einen über alles erhaben ehrlichen Menschen hielt. Daran konnte nicht nur Aljoscha, sondern überhaupt niemand etwas ändern.

Rakitin war als tieferstehende Persönlichkeit natürlich nicht zur Tafel eingeladen, dafür aber waren es Pater Jossiff und Pater Paissij und mit ihnen noch ein dritter Priestermönch. Sie erwarteten bereits im Speisezimmer den Prior, als Miussoff, Kalganoff und Iwan Karamasoff eintraten. Desgleichen wartete noch abseits stehend der Gutsbesitzer Maximoff. Der Prior trat zur Begrüßung der Gäste bis in die Mitte des Zimmers vor. Es war ein hochgewachsener, magerer, noch kräftiger, alter Mann mit stark ergrautem, dunklem Haar, das ein langes, einfaches, doch bedeutendes Gesicht umrahmte. Schweigend begrüßte er die Gäste, die aber traten diesmal alle auf ihn zu, um den Segen zu empfangen. Miussoff beabsichtigte sogar, seine Hand zu küssen, doch der Prior zog noch vorher ganz unauffällig seine Hand so fort, daß es nicht zum Kusse kam. Dafür aber küßten sie Kalganoff und Iwan Karamasoff in der offenherzigsten und einfachsten Weise.

„Wir müssen sehr um Entschuldigung bitten, Ew. Hochehrwürden,“ begann Miussoff lächelnd, doch immerhin in wichtigem und höflichem Ton, „daß wir allein kommen, ohne den gleichfalls von Ihnen eingeladenen Fedor Pawlowitsch; er war gezwungen, von Ihrer Aufforderung abzusehen, und nicht ohne Grund. In der Zelle beim ehrwürdigen Staretz Sossima ließ er sich, durch den unglücklichen Streit mit seinem Sohne aufgebracht, zu einigen durchaus unpassenden Worten hinreißen ... kurz, zu durchaus unanständigen Äußerungen ... was Ew. Hochehrwürden, wie es scheint“ (er warf einen Blick auf die beiden Priestermönche), „schon bekannt sein dürfte. Und darum, weil er selbst, wie gesagt, sich schuldig fühlt und aufrichtig bereut, schämte er sich, der freundlichen Aufforderung Folge zu leisten, und so bat er uns, mich wie seinen Sohn Iwan Fedorowitsch, Ihnen, Hochehrwürden, sein ganzes aufrichtiges Bedauern sowie seine Reue auszudrücken ... Kurz, er hofft, es später wieder gutmachen zu können, und läßt Sie jetzt nur um Ihren Segen und um gütiges Vergessenwollen des Vorgefallenen bitten ...“

Miussoff verstummte. Als er die letzten Worte seiner Tirade sprach, war er mit sich bereits vollkommen zufrieden, ja, er war es sogar dermaßen, daß von seinem ganzen Zorn in seiner Seele nicht einmal eine Spur nachblieb. Er liebte wieder aufrichtig die Menschheit. Der Prior, der ihm mit ernster Miene zugehört hatte, neigte ein wenig das Haupt und sagte zur Antwort:

„Es tut mir aufrichtig leid um den Abwesenden. Vielleicht hätte er uns beim Mahle liebgewonnen, wie auch wir ihn. Ich bitte, meine Herren.“

Da geschah es aber, daß Fedor Pawlowitsch seinen letzten Streich spielte. Ich muß bemerken, daß er tatsächlich schon fortfahren wollte und wirklich die Unmöglichkeit empfand, nach seinem schmachvollen Betragen in der Zelle des Staretz zum Prior zur Tafel zu gehen, als ob nichts geschehen wäre. Es ist zwar nicht anzunehmen, daß er sich gar so sehr schämte oder selbst beschuldigte; vielleicht war sogar ganz das Gegenteil der Fall; doch wie dem auch war, jedenfalls fühlte er, daß es nicht anging, zur Tafel zu erscheinen. Als aber sein alter Wagen bei der Herberge vorfuhr und er sich anschickte, einzusteigen, fiel ihm plötzlich etwas ein: Es waren seine eigenen Worte, die er beim Staretz gesprochen hatte: „Es scheint mir immer so, wenn ich irgendwo eintrete, daß ich gemeiner als alle bin, und daß mich alle für einen Narren halten, und so denke ich denn: wart, werde jetzt absichtlich den Narren spielen, denn ihr seid doch alle bis auf den letzten, ohne Ausnahme, dümmer und gemeiner als ich.“ Er wollte sich an allen für seine eigenen Schändlichkeiten rächen. Und da fiel ihm auch noch ein, wie man ihn früher einmal gefragt hatte: „Warum hassen Sie denn diesen Menschen so sehr?“ und wie er darauf in einem Anfall seiner Narrenschamlosigkeit geantwortet hatte: „Warum? Sehen Sie: Er hat mir nichts getan, das ist wahr, dafür aber habe ich ihm eine gewissenlose Gemeinheit angetan, und kaum war es geschehen, da haßte ich ihn auch schon gerade deswegen.“ Als ihm jetzt diese Worte einfielen, lachte er in minutenlangem Nachdenken leise und boshaft vor sich hin. Seine Augen blitzten, und sogar die Lippen zitterten. „Wenn du angefangen hast, mußt du auch beenden,“ sagte er plötzlich entschlossen. Sein geheimstes Gefühl in diesem Augenblick hätte man in folgenden Worten ausdrücken können: „Jetzt kannst du dich ja doch nicht mehr rehabilitieren, geh einfach und spuck sie bis zur letzten Schamlosigkeit an: Seht, schäme mich nicht vor euch, und weiter nichts!“ Dem Kutscher befahl er, zu warten, er selbst aber kehrte mit schnellen Schritten ins Kloster zurück und begab sich geradeswegs zum Prior. Er wußte zwar noch nicht genau, was er machen würde, doch wußte er, daß er seiner nicht mehr mächtig war und sich – nach dem geringsten Anstoß – sofort bis zur letzten Grenze der Gemeinheit hinreißen lassen werde, – übrigens, nur bis zur letzten Grenze der Gemeinheit, keineswegs aber bis zu einem Verbrechen oder bis zu einem Ausfall, für den ihn das Gericht verurteilen könnte. In der Beziehung verstand er sich immer zu beherrschen, worüber er sich sogar selbst bei manchen Gelegenheiten nicht wenig wunderte.

Er erschien also im Speisezimmer des Priors gerade in dem Augenblick, als das Gebet beendet war und alle zum Tisch traten. Er blieb auf der Schwelle stehen, betrachtete die Anwesenden und lachte ein langes, schamloses, boshaftes Gelächter, wobei er allen verwegen in die Augen blickte.

„Und die glauben, ich sei fortgefahren!“ rief er laut durch den ganzen saalartigen Raum.

Einen Moment blickten ihn alle unverwandt an, und plötzlich fühlten sie alle, daß sofort etwas Widerliches, Ungereimtes geschehen und zweifellos einen Skandal nach sich ziehen werde. Miussoff verfiel denn auch in einer Sekunde aus der edelsten Stimmung in die grimmigste Wut. Alles, was sich in seinem Herzen schon besänftigt hatte, erhob sich mit einem Schlage und brauste auf:

„Nein, das ist zu viel!“ schrie er auf, „nein, das ertrage ich nicht ... auf keinen Fall!“

Das Blut schoß ihm in den Kopf. Er verwirrte sich sogar im Satz, doch war es ihm jetzt nicht mehr um die Ausdrucksformen zu tun. Er griff nach seinem Hut.

„Was kann er auf keine Weise?“ fragte Fedor Pawlowitsch. „‚Erträgt es nicht und kann es nicht!‘ – was ist denn das, was er nicht kann? Ew. Hochehrwürden, soll ich eintreten oder nicht? Empfangen Sie den Gast?“

„Bitte, von ganzem Herzen,“ entgegnete der Prior. „Meine Herren! Darf ich mir erlauben,“ fügte er plötzlich hinzu, „Sie von ganzem Herzen zu bitten, ihren zufälligen Streit zu vergessen und sich in Liebe und verwandtschaftlicher Eintracht nach einem Gebet zu Gott an unserer bescheidenen und friedlichen Tafel zu vereinigen ...“

„Nein, nein, unmöglich,“ rief Miussoff ganz außer sich.

„Wenn es Pjotr Alexandrowitsch unmöglich ist, so ist es auch mir unmöglich, auch ich will dann nicht bleiben. Mit diesem Vorsatz bin ich hergekommen. Von jetzt ab werde ich überall mit Pjotr Alexandrowitsch zusammen sein: Wenn Sie fortgehen, Pjotr Alexandrowitsch, so gehe auch ich, bleiben Sie – bleibe auch ich. – Mit der verwandtschaftlichen Eintracht haben Sie ihn am meisten verletzt, Hochehrwürden: Er will mich doch nicht als seinen Anverwandten anerkennen. Nicht wahr, von Sohn? Da ist ja auch von Sohn. Guten Tag, von Sohn.“

„Sie ... sagen das zu mir?“ fragte stotternd der verwunderte Gutsbesitzer Maximoff.

„Versteht sich, zu dir!“ schrie Fedor Pawlowitsch, „zu wem denn sonst? Hochehrwürden kann doch nicht Herr von Sohn sein!“

„Aber auch ich bin doch nicht von Sohn, ich bin Maximoff.“

„Nein, du bist von Sohn. Ew. Hochehrwürden wissen wahrscheinlich nicht, wer von Sohn ist? Es gab mal solch ’nen Kriminalprozeß: Er wurde in einem unzüchtigen Hause –, so, glaube ich, benennt ihr hier die Bordelle – ermordet und beraubt und trotz seines ehrwürdigen Alters in einen Kasten eingepackt, letzterer vernagelt, und aus Petersburg per Eisenbahn als Frachtgut nach Moskau expediert. Während der Verpackung aber sangen die ausgelassenen Tänzerinnen entsprechende Lieder und schlugen die Harfen wundervoll dazu, äh, wollte sagen: sie spielten, spielten auf dem Klavier dazu. Und dieser selbe von Sohn ist er, er! Er ist einfach von den Toten auferstanden, nicht wahr, von Sohn?“

„Wie? Was? Was soll das bedeuten?“ ertönten Stimmen aus der Gruppe der Priestermönche.

„Gehen wir!“ rief Miussoff Kalganoff zu.

„Nein, nein, erlauben Sie!“ hielt Fedor Pawlowitsch sie auf und trat noch einen Schritt vor. „Erlauben Sie mir, daß ich mich ausspreche. Dort in der Zelle hat man mich verleumdet, soll mich unehrerbietig aufgeführt haben, und die Unehrerbietigkeit soll gerade darin bestanden haben, daß ich ihnen die paar Worte von den Gründlingen gesagt habe. Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, mein Anverwandter, liebt es, daß in der Rede plus de noblesse que de sincérité sei, ich aber liebe es umgekehrt, daß in meiner Rede plus de sincérité que de noblesse ist, und – überhaupt, der Teufel hole die noblesse! Nicht wahr, von Sohn? Erlauben Sie, ehrwürdiger Prior, wenn ich auch ein Narr bin und selbst freiwillig den Narren spiele, so bin ich doch ein Ritter von Ehre und will es rund heraussagen. Ja, ich bin ein Ritter von Ehre, in Pjotr Alexandrowitsch steckt aber nur – kondensierte Eigenliebe und weiter nichts. Vielleicht bin ich nur deswegen hierhergefahren, um das hier zu besehen und mich auszusprechen. Ich habe einen Sohn, der hier sein Seelenheil finden will: Ich bin sein Vater, sorge mich um ihn und muß mich auch sorgen. Bis jetzt hörte ich nur zu und verstellte mich und beobachtete im geheimen, jetzt aber will ich den letzten Akt der Vorstellung spielen. Wie ist’s denn bei euch? Was bei euch einmal fällt, das liegt auch schon. Was einmal gefallen ist, das hat ewig zu liegen. Was denn sonst? Ich aber will mich erheben. Heilige Väter, die Beichte ist ein großes Sakrament, für das auch ich andächtige Ehrfurcht empfinde, und ich bin bereit, mich ihm in Demut zu unterwerfen. Und da muß ich plötzlich in der Zelle sehen, wie hier alle auf den Knien liegen und laut beichten. Ist es denn erlaubt, laut zu beichten? Von den heiligen Kirchenvätern ist die Ohrenbeichte eingeführt, und nur so wird eure Beichte ein Sakrament sein, und so ist es von alters her gebräuchlich. Denn sonst, wie soll ich ihm in Gegenwart aller so einfach erklären, daß ich zum Beispiel dieses und jenes ... nun, eben dieses und jenes, Sie verstehen doch? ... Mitunter ist es schon unanständig, es auch nur zu sagen. Das ist doch ein Skandal! Nein, Pater Prior, mit Euch kann man ja noch Sektierer werden ... Bei der ersten Gelegenheit schreibe ich an den Synod, meinen Sohn Alexei nehme ich aber fort von hier.“

Eine Anmerkung. Fedor Pawlowitsch hatte irgendwo die Glocken läuten gehört. Es hatten sich nämlich boshafte Klatschereien verbreitet, die schließlich selbst zum Erzbischof gedrungen waren (nicht nur in unserem Kloster, sondern auch in anderen, wo sich das Startzentum festgesetzt hatte): daß die Startzen viel zu sehr geachtet würden, sogar zum Nachteil des Ansehens der Äbte, und unter anderem, daß die Startzen die Beichte mißbrauchten usw. usw. Kurz, es waren ganz unsinnige Beschuldigungen, die denn auch alsbald bei uns, wie überall, von selbst vergessen wurden. Aber der dumme Teufel, der Fedor Pawlowitsch ergriffen hatte und ihn jetzt an den Nerven irgend wohin, immer weiter und tiefer in einen schmachvollen Abgrund zog, flüsterte ihm plötzlich diese verjährte Anschuldigung zu, und Fedor Pawlowitsch sprach sie sofort aus, obgleich er selbst nicht wußte, noch sich überhaupt denken konnte, um was es sich dabei eigentlich handelte. Auch verstand er nicht einmal, die Sache richtig auszudrücken, und zudem hatte diesmal niemand in der Zelle des Staretz gekniet oder gar laut gebeichtet, so daß Fedor Pawlowitsch selbst nichts von dem gesehen haben konnte und nur die alten Gerüchte und Klatschereien, deren er sich dunkel erinnerte, nachsprach. Kaum jedoch hatte er seine dumme Bemerkung gemacht, als er auch schon fühlte, daß er ganz gehörigen Unsinn gesagt hatte, und so wollte er plötzlich allen Anwesenden, am meisten aber sich selbst, beweisen, daß er durchaus keinen Unsinn gesagt habe. Und obgleich er selbst vorzüglich wußte, daß er mit jedem weiteren Wort zu dem Gesagten noch mehr und noch dümmeren Unsinn hinzufügen werde, konnte er sich doch nicht bezwingen und flog hinab, wie auf einer Rutschbahn.

„Welch eine Niedertracht!“ rief Miussoff empört aus.

„Verzeihen Sie,“ sagte plötzlich der Prior. „Es ist gesagt: ‚Und viele redeten wider mich und brachten sogar unsaubere Sachen wider mich vor; als ich aber alles gehört, sprach ich bei mir selbst: Diese Arznei ist von Christus gesandt, um meine eitle Seele zu heilen.‘ Und darum danken auch wir Ihnen demütig, unser werter Gast.“

Und er verneigte sich tief vor ihm.

„Ta–ta–ta! Scheinheiligkeit und alte Phrasen! Alte Phrasen und alte Heuchelei! Alte Lüge und die alten Faxen der Verbeugungen bis zur Erde! Wir kennen diese Verbeugungen! ‚Einen Kuß auf die Lippen und einen Dolch ins Herz,‘ wie in Schillers Räubern. Ich will keine Falschheit, Väter, ich liebe die Wahrheit! Die aber liegt nicht in den Gründlingen, und das habe ich verkündet! Sie, meine Heiligen, warum fasten Sie denn eigentlich? Warum erwarten Sie dafür Belohnungen im Himmelreich? Für so eine Belohnung würde ja auch ich fasten! Nein, mein heiliger Mönch, sei lieber im Leben wohltätig, bringe lieber, anstatt daß du dich hier zu fertig gebackenen Broten zurückziehst, der Menschheit Nutzen, und ohne dafür noch eine Belohnung dort oben zu erwarten, – das dürfte wohl etwas schwieriger sein. Ew. Hochehrwürden, ich verstehe gleichfalls, schön zu reden. Aber was haben Sie denn hier aufgetischt?“ fragte er, sich plötzlich unterbrechend, und trat näher. „Hm! Portwein, keine üble Nummer, Honig, wahrscheinlich von den Gebrüdern Jelissejeff,[9] ach, ihr heiligen Väter! Das sieht anders aus als Gründlinge! Und auch die Flaschen haben sie nicht vergessen, he–he–he! Wer aber hat das alles hergebracht? Das ist ja der russische Bauer, der Arbeitssklave, der die wenigen Kopeken, die er mit seinen schwieligen Händen verdient, von seinem Munde und seiner Familie abspart, um sie herzubringen trotz der schreienden Not unseres Staates! Nein, ihr, meine heiligen Väter, ihr saugt ja das Volk aus!“

„Das ist von Ihnen wirklich schon mehr als unwürdig,“ sagte Pater Jossiff. Pater Paissij schwieg hartnäckig. Miussoff stürzte hinaus, und ihm folgte Kalganoff.

„Nun, meine Heiligen, nach Pjotr Alexandrowitsch gehe auch ich! Werde nie mehr herkommen, und wenn ihr mich auch auf den Knien darum bätet, komme nicht! Habe euch tausend Rubel geschenkt, da habt ihr jetzt wieder die Ohren gespitzt, he–he–he! Nein, mehr gibt’s nicht! Ich räche mich für meine vergangene Jugend, für meine ganze Erniedrigung!“ rief er in einem Anfall gespielter Empfindsamkeit aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Viel hat dieses liebe Kloster in meinem Leben bedeutet! Viel bittere Tränen habe ich seinetwegen vergossen! Ihr habt meine Frau, die Klikuscha, gegen mich aufgehetzt! Ihr habt mich in sieben Kirchen verflucht, habt’s in der ganzen Umgegend verbreitet! Jetzt Strich drunter, meine Väter, heutzutage ist man liberal, jetzt haben wir das Jahrhundert der Dampfschiffe und Eisenbahnen! Nicht tausend, nicht hundert Rubel, nicht hundert Kopeken bekommt ihr mehr von uns zu sehen!“

Noch eine Anmerkung: Niemals hatte unser Kloster etwas Besonderes in seinem Leben bedeutet, und niemals hatte er seinetwegen irgendwelche Tränen vergossen. Er aber ließ sich dermaßen hinreißen, daß er einen Augenblick fast selbst daran glaubte; ihm traten vor Rührung Tränen in die Augen, doch in derselben Sekunde fühlte er, daß es für ihn Zeit war, kehrtzumachen. Der Prior senkte ein wenig den Kopf und sagte auf seine boshafte Lüge wieder mit eindringlicher Stimme:

„Es ist wiederum gesagt: ‚Ertrage freudig das dir zugefügte Unrecht, lasse dich dadurch weder verwirren, noch nähre deswegen Haß gegen deinen Widersacher‘. Also werden auch wir tun.“

„Weiß schon, ‚und halte noch die andere Backe hin!‘ und so weiter, der ganze Gallimatthias! Man kennt doch den Rummel! Aber jetzt gehe ich. Meinen Sohn Alexei nehme ich mit väterlicher Vollmacht ein für allemal von hier fort. Iwan Fedorowitsch, mein gehorsamster Sohn, erlauben Sie, Ihnen zu befehlen, mir zu folgen! Und, von Sohn, was hast du noch hier zu suchen? Komm mit mir in die Stadt! Bei mir ist es lustiger. Im ganzen nur ’ne lumpige Werst, und dafür gibt’s anstatt Fastenbutter Ferkelbraten mit Kartoffelbrei; werden nicht übel schmausen; verspreche dir guten Kognak und nachher noch Likörchen; habe auch Mamurowka[10] ... Ei, von Sohn, versäume doch dein Glück nicht!“

Schreiend und gestikulierend ging er hinaus. Und da erblickte ihn denn Rakitin und machte Aljoscha auf ihn aufmerksam.

„Alexei!“ rief ihm der Vater von weitem zu, als er ihn erblickte, „heute noch ziehe ganz zu mir über, auch das Kissen und das Federbett schlepp mit – daß von dir hier keine Spur mehr nachbleibt, hörst du!“

Aljoscha blieb ganz erstarrt stehen und verfolgte nur schweigend und aufmerksam, was vor seinen Augen geschah. Fedor Pawlowitsch kletterte inzwischen in seinen Wagen, und nach ihm schickte sich schweigend und sichtlich geärgert auch Iwan Fedorowitsch an, einzusteigen, ohne sich vorher von Aljoscha zu verabschieden, oder sich auch nur nach ihm umzuwenden. Da aber kam es noch zu einer lächerlichen und fast unglaublichen Szene, die den ganzen unerhörten Skandal gleichsam abschloß. Plötzlich erschien am Wagentritt der Gutsbesitzer Maximoff. Er war atemlos herangelaufen, um sich nicht zu verspäten. Rakitin und Aljoscha sahen, wie er lief. Er beeilte sich dermaßen, daß er in der Angst, zurückzubleiben, den einen Fuß schon auf den Wagentritt setzte, obgleich auf ihm noch der linke Fuß Iwan Fedorowitschs stand, und, mit der einen Hand sich an den Bockrand klammernd, mehrmals hopste, um schneller einzusteigen.

„Ich auch, ich auch, auch ich komme mit!“ rief er, immer hopsend, unter dünnem, fröhlichem Gelächter mit einem seligen Gesicht, und natürlich zu allem bereit. „Nehmen Sie auch mich mit!“

„Na, habe ich’s nicht gesagt, daß das von Sohn ist!“ rief triumphierend Fedor Pawlowitsch. „Der echte, von den Toten auferstandene von Sohn! Wie hast du dich denn von dort losgerissen? Was hast du denn dort vorvonsohniert? Und wie hast du nur dem schönen Mahle den Rücken gekehrt? Dazu muß man doch eine eherne Stirn haben! Ich habe sie, über deine aber, Bruder, wundere ich mich! Nun, spring herein, hop! Laß ihn, Wanjä,[11] es wird lustiger sein! Er kann sich hier irgendwie vor den Füßen hinlegen. Wirst du vor den Füßen liegen, von Sohn? Oder soll man ihn neben dem Kutscher unterbringen? ... Spring mal auf den Bock, von Sohn.“

Doch Iwan Fedorowitsch, der sich inzwischen schon gesetzt hatte, stieß plötzlich Maximoff mit aller Kraft vor die Brust, so daß der weit zurückflog. Es war nur ein Zufall, daß er nicht hinfiel.

„Fahr zu!“ rief Iwan Fedorowitsch wütend den Kutscher an.

„Aber, was fällt dir ein? Was sollte denn das bedeuten? Warum hast du ihn so fortgestoßen?“ fuhr zwar Fedor Pawlowitsch sofort auf, doch der Wagen rollte schon davon. Iwan Fedorowitsch antwortete nicht.

„Sieh mal einer an, wie du bist!“ brummte Fedor Pawlowitsch nach zwei Minuten Schweigen und schielte nur vorsichtig auf seinen Sohn. „Hast selbst diesen ganzen Klosterbesuch ausgedacht, selbst alles angestiftet, selbst gutgeheißen, warum ärgerst du dich denn jetzt?“

„Sie haben wirklich genug Blödsinn geschwatzt, erholen Sie sich doch etwas,“ schnitt ihm Iwan Fedorowitsch grob das Wort ab.

Fedor Pawlowitsch schwieg wieder etwa zwei Minuten lang.

„Ein Gläschen Kognak wäre jetzt nicht übel,“ bemerkte er bedeutsam. Doch Iwan Fedorowitsch antwortete wieder nicht.

„Nun, wenn wir ankommen, wirst auch du eins trinken.“

Iwan Fedorowitsch schwieg immer noch.

„Aber Aljoscha werde ich doch aus dem Kloster nehmen, obgleich das Ihnen, mein ehrerbietigster Karl von Moor, sehr unangenehm sein wird.“

Iwan Fedorowitsch zuckte verächtlich mit den Achseln, wandte sich von ihm ab, und blickte auf die Landstraße. Darauf wurde während der ganzen Fahrt kein Wort mehr gesprochen.

Drittes Buch.
Die Wollüstlinge

I.
In der Bedientenstube

Das Haus Fedor Pawlowitsch Karamasoffs lag nicht im Zentrum der Stadt, doch war es auch nicht gerade sehr weit davon entfernt. Es war schon ziemlich alt, machte aber trotzdem einen guten Eindruck: es war einstöckig, mit einem spitzen Giebel, grau angestrichen und hatte ein rotes Blechdach. Übrigens konnte es noch lange so stehen. Im Inneren war es geräumig und gemütlich. Es gab in ihm viel verschiedene Dach- und Rumpelkammern, eigenartige Verstecke und ganz unvermutete Treppchen. Auch Ratten gab es in ihm, doch Fedor Pawlowitsch konnte sich nicht recht über sie ärgern. „’S ist doch immerhin nicht so langweilig am Abend, wenn man allein bleibt,“ pflegte er zu sagen. Er aber hatte wirklich die Angewohnheit, die Dienstboten für die Nacht in das Nebengebäude auf dem Hof zu schicken und sich dann allein im großen Hause einzuschließen. Dieses Nebengebäude auf dem Hof war gleichfalls groß und gemütlich; in ihm wurde das Essen gekocht, obgleich auch das große Haus eine Küche hatte, doch Fedor Pawlowitsch konnte den Küchengeruch nicht vertragen, und so wurden denn die Speisen im Winter wie im Sommer über den Hof gebracht. Überhaupt war das Haus für eine große Familie gebaut, und man hätte das Fünffache an Herrschaft und Dienerschaft bequem in ihm unterbringen können; doch damals wohnten im großen Hause nur Fedor Pawlowitsch und sein zweiter Sohn, Iwan Fedorowitsch, und im Nebengebäude nur die drei Bedienten: der alte Grigorij, seine Frau, die alte Marfa, und der Diener Ssmerdjäkoff, ein noch junger Mensch. Ich sehe, daß ich etwas ausführlicher von diesen drei Dienstboten berichten muß. Von dem alten Grigorij Wassiljewitsch Kutusoff habe ich übrigens schon gesprochen; das war ein strenger, starrköpfiger Mensch, der hartnäckig und unablenkbar seine Ziele verfolgte, wenn nur so ein Ziel aus irgendwelchen Gründen – häufig aus erstaunlich unlogischen – vor ihm als unwandelbare Wahrheit erschien. Überhaupt war er ein ehrlicher, unbestechlicher und treuer Diener. Sein Weib, Marfa Ignatjewna, wollte nach der Aufhebung der Leibeigenschaft unsäglich gern von Fedor Pawlowitsch fortgehen und nach Moskau ziehen, um dort irgendein kleines Geschäft zu gründen (sie hatten beide ein kleines Kapital), und kam ihrem Mann immer wieder mit diesem Plan, wenn sie sich auch sonst stets widerspruchslos vor seinem Willen beugte; Grigorij aber behauptete, daß das Weib lüge, „denn jedes Weib ist unehrlich“, und daß es ihnen nicht zustände, den früheren Herrn, wie er auch sein mag, zu verlassen, denn „das ist jetzig also unsere Pflicht“.

„Begreifst du auch, was das ist – Pflicht?“ wandte er sich an Marfa Ignatjewna.

„Was Pflicht ist, das schon, Grigorij Wassiljewitsch; aber wo hier etwas von Pflicht sein soll, davon begreife ich nichts,“ antwortete Marfa Ignatjewna.

„Nun, so begreif’s dann nicht; es bleibt doch so, wie’s ist. Schweig aber lieber.“

Und dabei blieb es denn auch: sie zogen nicht fort, und Fedor Pawlowitsch bestimmte für sie ein Monatsgehalt, zwar kein großes, aber er zahlte es doch aus. Zudem wußte Grigorij, daß er auf seinen Herrn einen gewissen Einfluß hatte; das fühlte er, und so war es auch in der Tat: der schlaue und eigensinnige Fedor Pawlowitsch, der, wie er sich selbst ausdrückte, „in manchen Lebensdingen“ einen sehr festen Charakter bewies, war zu seiner eigenen nicht geringen Verwunderung wiederum äußerst charakterschwach in gewissen anderen „Lebensdingen“. Er wußte selbst ganz genau, in welchen Dingen er es war; wußte es, und fürchtete sich vor vielem. In diesen gewissen „Lebensdingen“ hieß es, auf der Hut sein, und dann war es schwer, ohne einen zuverlässigen Menschen auszukommen; Grigorij aber war der zuverlässigste von allen. Es kam sogar vor, daß Fedor Pawlowitsch mitunter auch Prügel verabfolgt wurden, und zwar gehörige, und dann hatte ihm immer Grigorij herausgeholfen und nachher eine Predigt gehalten. Doch Prügel allein schreckten Fedor Pawlowitsch nicht: es gab dagegen höhere Fälle, und sogar sehr zarte und verzwickte, in denen Fedor Pawlowitsch selbst nicht einmal imstande gewesen wäre, dieses ungewöhnliche Bedürfnis nach einem treuen und nahestehenden Menschen, das er dann augenblicks in sich fühlte, zu erklären. Das waren fast krankhafte Augenblicke: Der verderbte und in seiner Wollust oftmals wie ein böses Insekt grausame Fedor Pawlowitsch empfand zuweilen, wenn er trunken war, eine geistige Angst und eine moralische Erschütterung, die beinahe physisch, wenn man sich so ausdrücken kann, auf seine Seele wirkten. „Die ganze Seele sitzt mir dann zitternd in der Kehle,“ äußerte er sich zuweilen über diese sonderbaren Anwandlungen. Und in diesen Augenblicken liebte er es, wenn irgendwo in der Nähe, es brauchte nicht einmal in seinem Zimmer zu sein, meinetwegen auch nur im Nebengebäude auf dem Hof, ein ihm ergebener Mensch war, einer, der aber keineswegs ihm glich, nicht verdorben, sondern ehrlich und streng war, der selbst die ganze Liederlichkeit mit ansah und alle Geheimnisse kannte, doch aus Ergebenheit und Anhänglichkeit alles zuließ, und – die Hauptsache – keine Vorwürfe machte und mit nichts drohte, weder mit dem Diesseits noch mit dem Jenseits, im Notfalle ihn aber beschützte – vor wem? Vor irgendeinem Unbekannten, doch Furchtbaren und Gefährlichen. Es mußte unbedingt gerade ein anderer Mensch sein, ein alter und freundschaftlicher, den brauchte er, um ihn im „kranken Augenblick“ rufen zu können, natürlich nur, um sein Gesicht zu sehen, meinetwegen auch ein Wort mit ihm zu wechseln, irgendein nebensächliches: ärgerte er sich deswegen nicht, dann werde es dem Herzen leichter, ärgerte er sich aber, nun, dann wurde man etwas trauriger! Es kam vor – übrigens nur äußerst selten –, daß Fedor Pawlowitsch sogar mitten in der Nacht über den Hof zu Grigorij ging und ihn auf einen Augenblick zu sich rief. Der kam dann auch; doch Fedor Pawlowitsch sprach mit ihm dummes Zeug und entließ ihn bald wieder, nicht selten sogar noch mit einer spöttischen Bemerkung oder einem Scherz, selbst aber legte er sich, kräftig ausspuckend, schlafen und schlief dann den Schlaf eines Gerechten. Auch nach der Ankunft Aljoschas geschah mit Fedor Pawlowitsch etwas Ähnliches. Aljoscha „eroberte sein Herz“ sofort durch den einen Umstand, daß er „lebte, alles sah und nichts verurteilte“, und außerdem noch durch das Unglaubliche: daß er nicht die geringste Verachtung für ihn, den Alten, zeigte, sondern im Gegenteil, immer freundlich war und eine ganz natürliche, offenherzige Anhänglichkeit an ihn, der sie doch so wenig verdient hatte, zu haben schien. Das war für den alten Herumtreiber und familienlosen Wüstling eine Überraschung, die ihn ganz stutzig machte: nein, das kam für ihn, der bis dahin nur Unzucht geliebt hatte, doch zu unerwartet! Als Aljoscha in das Kloster ging, gestand er sich, daß er etwas begriffen hatte, was er bis dahin nicht hatte begreifen wollen.

Ich erwähnte schon einmal, wie Grigorij, der Diener, Adelaida Iwanowna, die erste Frau Fedor Pawlowitschs und die Mutter Dmitrij Fedorowitschs gehaßt, und wie er dagegen die zweite Frau, die Klikuscha Ssofja Iwanowna, sogar gegen seinen Herrn verteidigt hatte und überhaupt gegen jeden, der es sich einfallen ließ, ein leichtfertiges oder schlechtes Wort über sie zu sagen. Sein Mitleid mit dieser unglücklichen Frau ließ es ihn allmählich als seine heilige Pflicht empfinden, sie zu beschützen, so daß er auch noch nach zwanzig Jahren keine einzige schlechte Anspielung, einerlei von wem, ertragen konnte. Äußerlich war Grigorij ein kalter Mensch mit ziemlich wichtiger Miene, der nur wohlbedachte, niemals leichtsinnige Worte sprach, wofern er überhaupt sprach. Unmöglich war es gleichfalls, nach dem Äußeren zu schließen, ob er seine ebenso wortkarge, ihm stets ergebene Marfa Ignatjewna liebte oder nicht; er aber liebte sie wirklich, und sie fühlte das wohl. Diese Marfa Ignatjewna war nicht nur keine dumme Frau, sondern war vielleicht sogar klüger als ihr Mann, oder wenigstens in Lebensfragen weit vernünftiger; indessen unterwarf sie sich ihm widerspruchslos schon gleich zu Anfang der Ehe und achtete ihn selbstverständlich wegen seiner, wie sie meinte, geistigen Überlegenheit. Bemerkenswert ist, daß sie beide ihr ganzes Leben lang auffallend wenig miteinander sprachen, es sei denn über die notwendigsten alltäglichen Dinge. Grigorij bedachte alles allein, und Marfa Ignatjewna hatte schon längst ein für allemal begriffen, daß ihr Mann ihrer Ratschläge nicht bedurfte, dafür aber ihr Schweigen zu schätzen wußte und das auch für ihr Bestes hielt. Schlagen tat er sie eigentlich nicht, abgesehen von einem einzigen Ausnahmefall. Im ersten Jahr der Ehe Adelaida Iwanownas mit Fedor Pawlowitsch waren einmal auf dem Gutshof die damals noch leibeigenen jungen Mädchen und Weiber versammelt worden, um der Herrschaft vorzutanzen und zu singen. Der Chor begann „Auf grünen Wiesen und Auen“, und plötzlich sprang Marfa Ignatjewna, die damals noch ein junges Weib war, vor und tanzte die „Rußkaja“ in einer ganz besonderen Weise, nicht so, wie das Volk sie tanzt, sondern wie es ihr früher, als sie noch Leibeigene der reichen Miussoffs gewesen war, zu den Theateraufführungen im Herrenhause ein aus Moskau bestellter Ballettmeister gezeigt hatte. Grigorij sah, wie sein Weib tanzte; doch nach einer Stunde belehrte er sie eines Besseren, indem er auf sie einhieb und sie an den Haaren zog. Damit war das Prügeln abgetan; es wiederholte sich niemals mehr, denn Marfa Ignatjewna hatte sich geschworen, nie wieder die „Rußkaja“ zu tanzen.

Kinder schenkte ihnen Gott leider nicht; sie hatten zwar einmal ein Kleines gehabt, aber das war alsbald gestorben. Grigorij jedoch liebte kleine Kinder sehr und verheimlichte das nicht einmal, das heißt, er schämte sich nicht, es zu zeigen. Den kleinen dreijährigen Dmitrij Fedorowitsch hatte er, als dessen Mutter fortgelaufen war, zu sich genommen und hatte sich mit ihm fast ein ganzes Jahr lang abgegeben, ihn eigenhändig gekämmt, gewaschen und im kleinen Waschtrog gebadet. Darauf hatte er sich auch mit den zwei anderen Kleinen, Iwan und Aljoscha, abgeplagt, was ihm später die Ohrfeige von der Generalin eintrug; doch davon habe ich ja schon gesprochen. Das eigene Kindchen aber erfreute ihn nur mit der Hoffnung, solange Marfa Ignatjewna noch schwanger war. Als aber der Junge geboren wurde, da erfüllte er sein Herz mit Angst und Trauer: denn das Kind hatte sechs Finger. Als Grigorij das sah, war er dermaßen erschrocken und erschüttert, daß er bis zur Taufe kein Wort mehr sprach und in den Garten ging, um dort mit sich allein zu sein. Es war gerade Frühling, und so grub er denn im Gemüsegarten Beete. Am dritten Tage mußte das Kind getauft werden; Grigorij hatte inzwischen Zeit gehabt, sich zu bedenken. Als er ins Haus trat, wo sich schon die ganze Verwandtschaft und die Gäste versammelt hatten und sogar Fedor Pawlowitsch in höchsteigener Person als Pate erschienen war, erklärte er plötzlich, daß man das Kind „eigentlich überhaupt nicht taufen sollte“ – verbreitete sich jedoch nicht weiter über seine Meinung, sondern blickte nur stumpf und aufmerksam auf den Popen.

„Warum nicht?“ erkundigte sich in heiterer Verwunderung der Geistliche.

„Weil ... das ist ein Drache ...“ brummte schließlich Grigorij.

„Wieso, was für ein Drache?“

Grigorij schwieg eine Zeitlang.

„Eine Verwechslung der Natur ...“ murmelte er, wenn auch sehr undeutlich, so doch fest überzeugt; augenscheinlich wollte er sich nicht darüber aussprechen.

Man lachte natürlich und taufte das arme Kind. Grigorij betete eifrig, änderte aber seine Meinung über das Neugeborene nicht im geringsten. Übrigens verhinderte er nichts, nur bemühte er sich in den ganzen zwei Wochen, die das schwächliche Kindchen lebte, dasselbe überhaupt nicht zu bemerken, und verließ, so oft er nur konnte, das Haus. Als aber der Knabe nach zwei Wochen am Milchfieber starb, da legte er ihn sorgfältig in den kleinen Sarg, blickte ihn in tiefer Trauer an, und als sein kleines Grab zugeschüttet wurde, da kniete er nieder und verneigte sich vor dem Grabe. Seit der Zeit sprach er lange Jahre kein einziges Mal von seinem Kinde, und selbst Marfa Ignatjewna wagte nicht, in seiner Gegenwart ihres toten Kleinen zu erwähnen; konnte sie aber sonst mit irgend jemandem von ihrem „Kindchen“ sprechen, so tat sie es immer nur flüsternd, selbst wenn Grigorij überhaupt nicht im Hause war. Es fiel ihr auf, daß Grigorij Wassiljewitsch seit jener Beerdigung sich ganz besonders mit „Religiösem“ zu beschäftigen begann, das Leben der Heiligen las, doch nur still für sich, wozu er dann seine silberne Brille mit den großen, runden Gläsern aufsetzte. Nur selten las er laut vor, höchstens zur Fastenzeit. Er liebte das Buch Hiob sehr, wußte sich von irgend jemandem die mystischen „Predigten unseres von Gott erleuchteten Paters Issaak Ssirin“ zu verschaffen, las sie unermüdlich jahrelang, verstand so gut wie überhaupt nichts davon und schätzte vielleicht gerade darum dieses Buch am meisten. In der letzten Zeit begann er sich für die Geißler[12] zu interessieren, von denen sich einige in der Nachbarschaft eingefunden hatten. Er war sichtlich erschüttert, fand es aber doch nicht für richtig, zu einem anderen Glauben überzutreten. Seine Belesenheit „in göttlichen Dingen“ äußerte sich nur auf seinem Gesicht in einem noch wichtigeren Ausdruck.

Vielleicht war er auch zum Mystizismus geneigt. Und da mußte es noch geschehen, daß ihn nach der Geburt seines sechsfingrigen Sohnes und dessen Tode eine ganz sonderbare Überraschung erwartete, die, wie er sich selbst äußerte, in seiner Seele auf ewig einen „Stempel“ hinterließ. Es war in der Nacht desselben Tages, an dem der kleine Sechsfingrige begraben worden war, als Marfa Ignatjewna plötzlich erwachte und das Weinen eines neugeborenen Kindes zu vernehmen glaubte. Sie erschrak und weckte ihren Mann. Grigorij horchte hinaus, meinte aber, daß eher jemand stöhne, „wahrscheinlich ein Weib“. Er erhob sich und kleidete sich an. Es war eine ziemlich dunkle Mainacht; als er auf die Treppe hinaustrat, hörte er deutlich, daß das Gestöhn aus dem Garten kam. Die Hoftür aber zum Garten wurde jeden Abend verschlossen, anders jedoch, als durch diese Tür oder unmittelbar aus dem Hause, konnte man nicht in den Garten gelangen, denn er war von einem hohen, starken Zaun umgeben. Grigorij kam zurück, nahm den Gartenschlüssel und die Laterne und ging schweigend hinaus in den Garten, ohne auf das Entsetzen Marfa Ignatjewnas zu achten, die immer noch behauptete, sie höre das Weinen eines kleinen Kindes, und das sei bestimmt ihr Söhnchen, das sie rufe. Hier hörte er deutlich, daß das Gestöhn aus ihrem kleinen Badehause, das nicht weit von der Hoftür im Garten stand, kam, und daß es wirklich eine Frauenstimme war. Als er die Tür des Häuschens öffnete, bot sich ihm ein Schauspiel, das ihn erstarren machte: die Stadtverrückte, die sich überall herumtrieb und allen bekannt war, namens Lisaweta Ssmerdjäschtschaja, die auf unerklärliche Weise in dieses Badehaus gekommen war, hatte gerade ein Kind geboren. Das Neugeborene lag neben ihr, sie aber wand sich in Todeskrämpfen. Sie sprach nichts, sie konnte ja überhaupt nicht richtig sprechen. Doch von ihr muß ich etwas mehr erzählen.

II.
Lisaweta Ssmerdjäschtschaja

Hier gab es einen besonderen Umstand, der Grigorij tief erschütterte und ihn in einem früheren, unangenehmen, wenn nicht ekelhaften Verdacht bestärkte. Diese Lisaweta war sehr klein von Wuchs, „zwei Arschin und vielleicht noch eine Kleinigkeit war das Mädchen hoch“, wie mitleidig einige unserer gottesfürchtigen Greisinnen nach ihrem Tode sagten, wenn sie ihrer gedachten. Ihr zwanzigjähriges, gesundes, breites und rotwangiges Gesicht war vollkommen idiotisch, der Blick ihrer Augen unbeweglich und unangenehm, wenn auch ruhig. Sie ging im Sommer wie im Winter barfuß und nur in einem hanfleinenen Hemde. Ihr fast schwarzes, ungewöhnlich dickes Haar war so kraus wie die Wolle eines Schafes und stand wie eine große Mütze auf ihrem Kopf; außerdem war es voller Schmutz, Erdstückchen und Blätter, Holzspänchen und Stroh- und Grashälmchen, denn sie schlief immer auf der Erde. Ihr Vater war ein obdachloser, heruntergekommener, kranker Kleinbürger Ilja, der trank und schon viele Jahre als Arbeiter bei einem wohlhabenden Kleinbürger diente. Lisawetas Mutter war vor langer Zeit gestorben. Der ewig kranke und wütende Ilja schlug seine Tochter ganz unbarmherzig, wenn sie ihm unter die Augen kam; doch geschah das nur selten, denn sie lebte überall in der Stadt herum, als geistesschwaches, heiliges Gotteskind. Alle Welt, die Wirtsleute ihres Vaters, der Vater selbst und sogar viele Mitleidige, meistens Kaufmannsfamilien und Kaufmannsfrauen, versuchten nicht einmal, Lisaweta etwas anständiger anzukleiden, um sie nicht so im Hemd herumlaufen zu lassen; nur im Winter zogen sie ihr immer einen Schafpelz und Stiefel an; sie aber, die sich alles ruhig anziehen ließ, ging dann gewöhnlich zur Kirchentür und zog sich dort alles wieder aus, was man ihr angezogen hatte – ob es nun ein Tuch, ein Rock, ein Pelz oder sonst was war –, ließ es daselbst vor der Kirche liegen und ging dann wieder nur mit dem Hemd bekleidet fort. Einmal, als der neue Gouverneur unsers Gouvernements auch unser Städtchen besuchte, fühlte er sich in seinen besten Gefühlen tief gekränkt, als er diese Lisaweta erblickte, und wenn er auch einsah, daß es eine Geistesschwache war, wie ihm sofort gemeldet wurde, so meinte er doch, daß ein junges Mädchen, das nur in einem Hemde herumlaufe, den Anstand verletze: darum dürfe das in Zukunft nicht mehr vorkommen. Doch der Gouverneur fuhr wieder fort, und Lisaweta ließ man, wie sie war. Schließlich starb auch ihr Vater, und sie wurde als Waise den Gottesfürchtigen noch lieber. Man schien sie tatsächlich zu lieben, selbst die Straßenjungen neckten sie nicht, und doch sind unsere kleinen Jungen, besonders die Schulrangen, eine naseweise, unverfrorene Bande. Sie trat in fremde Häuser ein, doch niemand schrie sie an oder wies ihr die Tür, im Gegenteil, man war immer gut zu ihr und gab ihr stets etwas. Gab man ihr Geld, so brachte sie es sofort in irgendeine Armenbüchse an der Kirche oder am Gefängnis; gab man ihr auf dem Markt einen Kringel oder ein Weißbrot, so gab sie es sofort dem ersten kleinen Kinde, das sie erblickte, oder sie blieb gar vor einer unserer reichsten Damen stehen und gab es der; und die Damen nahmen es dankend und sogar freudig entgegen. Sie selbst aber nährte sich nur von Schwarzbrot und Wasser. Zuweilen trat sie in einen teuren Laden ein und setzte sich; überall lag teure Ware, sogar loses Geld, doch niemandem fiel es ein, auf sie achtzugeben, denn alle wußten, daß man Tausende auf den Ladentisch legen konnte, daß sie aber keine Kopeke anrühren werde. In die Kirche ging sie nur selten; sie schlief entweder vor der Kirchentür, oder sie kletterte über einen Flechtzaun (bei uns gibt es noch heute viel solcher Zäune) und schlief dann in einem Gemüsegarten. Nach Haus, das heißt ins Haus jener Kleinbürger, bei denen ihr Vater diente, ging sie ungefähr nur einmal in der Woche, im Winter jedoch täglich zur Nacht, und dann schlief sie entweder im Flur oder im Kuhstall. Man wunderte sich, daß sie solch ein Leben aushalten konnte; doch sie hatte sich schon daran gewöhnt; wenn sie auch klein von Wuchs war, so war sie doch ungewöhnlich stark gebaut. Einige behaupteten, sie täte das alles nur aus Stolz, doch fand das keinen rechten Glauben; sie konnte ja nicht einmal richtig sprechen, nur zuweilen bewegte sie die Zunge und stieß irgendwelche lallende Laute hervor – wo konnte da von Stolz die Rede sein! Und so geschah es denn einmal (es ist schon lange her), daß in einer warmen und hellen Septembernacht bei Halbmond, zu einer nach unseren Begriffen sehr späten Stunde, eine stark angeheiterte Gesellschaft, etwa fünf oder sechs Herren, aus dem Klub durch die Hinterstraßen nach Hause ging. Zu beiden Seiten der Straße zogen sich niedrige Zäune hin, hinter denen die Gemüsegärten der an den größeren Straßen stehenden Häuser lagen; diese Hinterstraße jedoch führte zu einer kleinen Brücke über einen breiten, versumpften Graben, der bei uns wohl das Flüßchen genannt wurde. Da bemerkte unsere lustige Gesellschaft am Zaun zwischen Nesseln und Salbei die schlafende Lisaweta. Die Herren blieben lachend stehen und begannen in nicht wiederzugebender Weise über sie zu witzeln. Einer von ihnen, ein junger Milchbart, stellte plötzlich die exzentrische Frage: „Könnte irgend jemand, einerlei wer, dieses Tier für ein Weib halten, meinetwegen jetzt gleich usw.“, womit er ein ganz unmögliches Thema anschlug. Alle meinten darauf mit stolzem Widerwillen, daß dies undenkbar wäre. Doch in dieser angeheiterten Gesellschaft befand sich auch Fedor Pawlowitsch, und sofort sprang er vor und behauptete, man könne sie wohl für ein Weib halten, sogar sehr, und daß es hierbei sogar eine gewisse Art von Pikanterie gäbe, usw. usw. Es ist wahr, damals drängte er sich schon gar zu absichtlich in die Rolle des Narren; er liebte es sehr, die anderen zu belustigen und dabei den Gleichstehenden zu spielen, in Wirklichkeit aber war er doch der echte Ham unter ihnen. Das war gerade in der Zeit, als er aus Petersburg die Nachricht von dem Tode seiner ersten Frau erhalten hatte und darauf mit dem Trauerflor am Hut dermaßen trank und sich so unanständig aufführte, daß sich viele, selbst die Liederlichsten, bei seinem Anblick unangenehm berührt fühlten. Die Bande lachte natürlich über die unerwartete Behauptung Fedor Pawlowitschs; einer von ihnen versuchte, ihn noch mehr aufzustacheln, doch die anderen schimpften nun erst recht, natürlich immer unter allgemeiner Heiterkeit, und endlich gingen sie alle ihres Weges. Später schwor Fedor Pawlowitsch, daß auch er damals mit den anderen fortgegangen sei; vielleicht war er es auch, das weiß niemand genau und kann es auch nicht wissen, doch nach fünf oder sechs Monaten sprach man allgemein und aufrichtig empört davon, daß die Lisaweta schwanger sei. Man fragte und riet, auf wen die Sünde fiele, wer der Schänder wäre? Und da verbreitete sich denn in der ganzen Stadt das Gerücht, daß es gerade Fedor Pawlowitsch Karamasoff sei. Woher aber war dieses Gerücht gekommen? Von jenen Herren, die sie damals bemerkt hatten, war zurzeit nur noch ein einziger in der Stadt, und das war ein schon bejahrter Staatsrat, ein Vater erwachsener Töchter, der es bestimmt nicht verbreitet haben würde, selbst wenn er etwas Positives gewußt hätte; die übrigen Kumpane waren aber alle verreist. Doch das Gerücht fuhr fort, hartnäckig gerade auf Fedor Pawlowitsch hinzuweisen. Der machte sich natürlich nicht viel daraus; Kaufleuten und einfachen Bürgern hätte er darauf überhaupt nicht geantwortet. Damals war er stolz und sprach nur in seiner Gesellschaft von höheren Beamten und Edelleuten, die er so vorzüglich zu unterhalten verstand. Da trat denn Grigorij heftig für seinen Herrn ein und verteidigte ihn nicht nur gegen alle Klatschereien, sondern geriet sogar seinetwegen in ernsten Streit, überzeugte aber schließlich doch viele von Fedor Pawlowitschs Unschuld in diesem Falle. „Sie, diese elende Herumtreiberin, ist selbst an allem schuld,“ behauptete er steif und fest, und der Schänder sei niemand anderes als der „Schrauben-Karp“ (ein in der ganzen Stadt berüchtigter Verbrecher, der gerade zu der Zeit aus dem Gefängnis unserer Gouvernementsstadt entsprungen war und sich darauf in unserer kleinen Kreisstadt herumgetrieben hatte). Diese Beschuldigung schien glaubwürdig, denn man erinnerte sich noch des Entsprungenen; erinnerte sich, daß er gerade in jenen Herbstnächten die Stadt unsicher gemacht und drei Menschen überfallen und beraubt hatte. Doch all diese Erörterungen verminderten keineswegs die Sympathie für die arme Idiotin, im Gegenteil, sie verstärkten sie nur noch; alle beschützten sie und taten ihr Gutes. Und Frau Kondratjewa, eine wohlhabende Kaufmannswitwe, richtete es so ein, daß Lisaweta schon Ende April ganz bei ihr blieb und bis zur Entbindung bei ihr bleiben sollte. Sie wurde unermüdlich bewacht; trotzdem gelang es ihr am Abend des letzten Tages, heimlich zu entkommen. Wie sie in ihrem Zustande über den hohen, starken Zaun in den Karamasoffschen Park hatte klettern können, ist ein Rätsel geblieben. Wahrscheinlich ist es ganz natürlich geschehen, denn Lisaweta, die wie eine Katze über die Zäune kletterte, um in fremden Gemüsegärten zu nächtigen, wird wohl ebenso auch auf den hohen Zaun Fedor Pawlowitschs gekommen und dann zu ihrem Unglück heruntergesprungen sein, trotz ihres Zustandes. Grigorij stürzte nach dem ersten Schreck zurück zu Marfa Ignatjewna, die er zur Hilfe in das Badehaus schickte, selbst aber lief er zu einer alten Hebamme, die in der Nachbarschaft wohnte. Das Kind wurde gerettet, doch Lisaweta starb schon beim ersten Morgengrauen. Grigorij nahm das Neugeborene, brachte es ins Haus, hieß Marfa Ignatjewna sich hinsetzen und legte ihr dann das Kind auf den Schoß, an die Brust: „Eine Waise ist Gotteskind und unser aller Kind, für uns beide aber erst recht unser Kind. Das hat unser totes Söhnchen geschickt, und geboren ist es von einem Teufelssohn und einer Gerechten. Nähre es, und weine jetzt nicht mehr.“ Und so erzog denn Marfa Ignatjewna den kleinen Jungen. Er wurde Pawel getauft und allmählich, ohne daß es jemand bestimmt hätte, ganz von selbst Fedorowitsch gerufen. Fedor Pawlowitsch hatte nichts dagegen einzuwenden und fand das alles sogar sehr spaßhaft, obgleich er immer noch fortfuhr, seine Vaterschaft zu verneinen. In der Stadt gefiel es, daß er das Kind angenommen hatte. Später dachte sich Fedor Pawlowitsch auch noch einen Familiennamen für den Jungen aus: er nannte ihn Ssmerdjäkoff nach dem Spitznamen seiner Mutter Lisaweta Ssmerdjäschtschaja.[13] Also dieser Ssmerdjäkoff wurde dann Fedor Pawlowitschs Koch und zweiter Diener; er lebte in dem Nebengebäude auf dem Hof zusammen mit dem alten Grigorij und der alten Marfa. Eigentlich müßte ich noch vieles gerade über ihn sagen, doch will ich jetzt nicht die Aufmerksamkeit meines Lesers zu sehr für die Dienstboten in Anspruch nehmen, daher gehe ich jetzt wieder zu meinen Hauptpersonen über; wird sich doch über Ssmerdjäkoff noch später, im Verlauf der ganzen Geschichte, einiges sagen lassen.

III.
Die Beichte eines heißen Herzens.
In Versen

Als Aljoscha den Befehl seines Vaters, mit allen Kissen und Federbetten das Kloster zu verlassen, vernommen hatte, blieb er in nicht geringer Verwunderung zurück. Ich will damit nicht sagen, daß er etwa wie ein Pfosten stehen blieb, nein, er ging sogar noch in die Küche des Priors, um dort zu erfahren, was sein Vater oben angestiftet hatte. Dann erst machte er sich auf den Weg, in der Hoffnung, unterwegs mit sich über alles ihn Quälende ins reine zu kommen. Der Befehl seines Vaters, mit „Kissen und Federbetten nach Hause zu kommen“, schreckte ihn nicht im geringsten. Er begriff nur zu gut, daß dieser Befehl, der ihm so laut zugerufen worden war, nur „in der Hitze“ gegeben sein konnte, sozusagen zur Verschönerung, – etwa in der Art, wie vor kurzem ein Kleinbürger an seinem Namenstage aus Wut darüber, daß man ihm nicht mehr Schnaps gegeben, in Gegenwart der Gäste plötzlich seine eigenen Teller und Schüssel zerschlagen, seine, wie seines Weibes Kleider zerrissen, die eigenen Möbel zertrümmert und die Fensterscheiben eingeschlagen hatte. Am nächsten Tage bedauerte natürlich der nüchtern gewordene Kleinbürger seine zerschlagenen Tassen und Teller ... Aljoscha wußte, daß auch sein Vater ihn am nächsten Tage wieder zurück ins Kloster gehen lassen werde oder vielleicht schon nach wenigen Stunden. War er doch überzeugt, daß der Vater nicht ihn, sondern einen anderen hatte kränken wollen. Aljoscha war sogar fest überzeugt, daß niemand in der Welt ihn jemals würde beleidigen wollen, und es auch nicht könne. Das war für ihn ein Axiom, das er ohne Bedenken angenommen hatte, und so machte er sich denn in dieser Hinsicht ohne die geringste Sorge auf den Weg.

Doch in diesem Augenblick quälte ihn eine ganz andere Angst, die um so quälender war, als er sie sich nicht recht erklären konnte: Es war die Angst vor einem Weibe, und zwar gerade vor Katerina Iwanowna, die ihn in dem von Lisa Chochlakoff überbrachten Brief so inständig zu ihr zu kommen bat, nicht nur bat, sondern verlangte. Dieser Brief nun und die Notwendigkeit, zu ihr zu gehen, hatten sofort ein quälendes Gefühl in seinem Herzen hervorgerufen; und den ganzen Morgen, je mehr die Zeit vorrückte, desto heftiger quälte ihn dieses Gefühl, trotz aller darauffolgenden Szenen in der Zelle des Staretz, wie auch später bei der Abfahrt des Vaters. Nicht die Ungewißheit, wovon sie mit ihm sprechen werde, und was er ihr antworten sollte, ängstigte ihn; auch nicht das Weib überhaupt fürchtete er in ihr: O, Frauen kannte er natürlich wenig, immerhin hatte er von Kindesbeinen an bis zum Eintritt ins Kloster nur bei Frauen gelebt. Er fürchtete gerade Katerina Iwanowna. Er fürchtete sie bereits seit dem Augenblick, da er zum erstenmal bei ihr gewesen war. Nun kam aber noch das hinzu, daß er sie im ganzen nur zwei, oder genau genommen, dreimal gesehen und nur einmal, wenn auch ganz zufällig, ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Er erinnerte sich ihrer als eines schönen, stolzen, gebieterischen Mädchens. Doch nicht ihre Schönheit verwirrte ihn, sondern etwas ganz anderes. Und gerade die Unerklärlichkeit seiner Angst verstärkte diese in ihm noch. Daß die Absichten des jungen Mädchens edel waren, wußte er: Sie wollte seinen Bruder Dmitrij, der sich ihr gegenüber schon vergangen hatte, retten, und zwar wollte sie das nur aus Hochherzigkeit. Doch trotz dieser Erkenntnis und aller Gerechtigkeit, die er diesen guten und edlen Gefühlen unbedingt widerfahren lassen mußte, lief ein Frösteln über seinen Rücken, als es ihm einfiel, daß er schon bald bei ihr sein werde.

Er überlegte hin und her und sagte sich, daß er seinen Bruder Iwan Fedorowitsch, der ihr so nahe stand, nicht bei ihr antreffen werde: Iwan war jetzt bestimmt bei seinem Vater. Dmitrij dagegen würde er ganz sicher nicht antreffen, und er ahnte es, warum nicht. Also würde ihr Gespräch unter vier Augen stattfinden. Er wäre aber doch so gern noch vor diesem schrecklichen Gespräch zu seinem Bruder Dmitrij gegangen. Ohne den Brief zu zeigen, hätte er mit ihm über einiges sprechen können. Doch Dmitrij wohnte weit ab und war jetzt bestimmt nicht zu Hause. Aljoscha blieb einen Augenblick stehen, dann aber entschloß er sich. Er schlug hastig ein Kreuz, wie er es immer zu tun pflegte, und ein flüchtiges Lächeln erschien auf seinen Lippen; dann ging er mit festen Schritten weiter zu der gefürchteten Dame.

Er wußte, wo sie wohnte. Doch wenn er durch die Große Straße, über den Platz usw. gegangen wäre, so wäre es ein sehr weiter Weg gewesen. Unser kleines Städtchen ist nämlich sehr zerstreut gebaut, zwischen den Häusern ziehen sich oft große Gärten hin, und so sind denn auch die Entfernungen nicht gering. Zudem erwartete ihn doch der Vater, der vielleicht seinen Befehl noch nicht vergessen hatte, infolgedessen aber, wenn Aljoscha nun nicht sofort zu ihm kam, leicht gereizt und eigensinnig werden konnte! Darum mußte sich Aljoscha sehr beeilen. Diese letzte Erwägung brachte ihn auf den Gedanken, den Weg abzukürzen, nämlich durch die Hinterstraßen zu gehen, die er schon wie seine fünf Finger kannte. Dieses „durch die Hinterstraßen“ bedeutete aber fast ohne Straßen gehen, längs einsamer Gemüsegärten und zuweilen selbst unter Hindernissen, da es über kleinere Zäune klettern oder durch fremde Höfe gehen hieß, wo ihn übrigens ein jeder kannte und freundlich grüßte. Auf diese Weise kürzte er den Weg bis zur Großen Straße um die Hälfte. Hier kam er an einer Stelle sogar sehr nahe am väterlichen Hause vorüber, da er längs dem Nachbargarten, der zu einem alten, kleinen, schiefen Häuschen mit vier Fenstern gehörte, gehen mußte. Die Besitzerin dieses Häuschens war, wie Aljoscha wußte, eine städtische Kleinbürgerin, eine halbgelähmte Greisin; sie lebte hier mit ihrer Tochter, einer bereits zivilisierten Kammerzofe, die in der Großstadt bei Generälen gedient hatte, jetzt aber schon seit einem Jahre bei der alten Mutter sich aufhielt und in aufgeputzten Kleidern einherstolzierte. Mutter und Tochter waren nun sehr verarmt, und so gingen sie denn als Nachbarn täglich in die karamasoffsche Küche, wo sie Suppe und Brot bekamen. Marfa Ignatjewna gab es ihnen gern. Und die Tochter kam wohl zum Essen holen, verkaufte aber kein einziges ihrer teuren Kleider, von denen eines sogar eine riesenlange Schleppe haben sollte. Dieses letztere hatte Aljoscha ganz zufällig von seinem Freunde Rakitin gehört, dem wirklich alles in der Stadt bekannt war, und hatte es, nachdem er es gehört, natürlich sofort wieder vergessen. Doch als er jetzt am Garten dieser Nachbarin vorüberging, fiel ihm plötzlich wieder die Schleppe ein; er erhob seinen nachdenklich gesenkten Kopf und ... hatte eine ganz unerwartete Begegnung.

Hinter dem Zaun stand, auf irgend etwas hinaufgestiegen, bis zur Brust über dem Zaunrand, sein Bruder Dmitrij Fedorowitsch, der ihm mit den Armen aus allen Kräften irgendwelche Zeichen machte, ihn augenscheinlich heranwinkte, doch wie es schien, nicht nur zu rufen, sondern auch nur ein Wort laut zu sprechen sich fürchtete. Aljoscha ging schnell zum Zaun.

„Gut, daß du selbst aufblicktest, sonst hätte ich dich womöglich noch anrufen müssen,“ flüsterte ihm hastig und erfreut Dmitrij Fedorowitsch zu. „Spring rüber! Schnell! Ach, wirklich großartig, daß du gekommen bist. Ich habe die ganze Zeit nur an dich gedacht ...“

Aljoscha war gleichfalls erfreut, nur wußte er nicht, wie er es anstellen sollte, über den Zaun zu kommen. Doch Mitjäs Reckenhand ergriff schon seinen Ellenbogen, um beim kühnen Sprung zu helfen. Aljoscha nahm seine Kutte auf und sprang mit der Gewandtheit eines barfüßigen Straßenbengels über den Zaun.

„So, famos, gehen wir!“ stieß Mitjä leise entzückt hervor.

„Wohin?“ fragte gleichfalls leise Aljoscha, der sich nach allen Seiten umblickte und sich in einem völlig verlassenen Garten sah, in dem außer ihnen niemand zu sehen war. Der Garten war klein, doch immerhin war das Häuschen mehr als fünfzig Schritt von ihnen entfernt. „Aber hier ist doch kein Mensch, warum flüsterst du?“

„Warum ich flüstere? Ach, ja, Teufel noch eins!“ rief plötzlich Dmitrij Fedorowitsch mit voller, lauter Stimme: „Ja, warum flüsterte ich nur? Da siehst du’s selbst, wie dumm man zuweilen ist. Ich bin heimlich hergekommen und bewache ein Geheimnis. Die Erklärung wird gleich folgen. Da nun hierbei so viel Geheimnis war, fing ich auch geheimnisvoll, wollte sagen, nur ganz leise zu sprechen an und flüsterte wie ein Esel, während das doch gar nicht nötig ist. Gehen wir! Siehst du, dorthin! Bis dahin sei still. Ach, küssen will ich dich!

Heil dem Höchsten in der Welt,

Heil dem Höchsten auch in mir ...

Das habe ich vorhin die ganze Zeit hier auf der Bank wiederholt, bevor du kamst ...“

Der Garten war ziemlich groß und nur ringsum am Zaun mit Bäumen bepflanzt, mit Apfelbäumen, Ahorn, Linden und Birken. In der Mitte des Gartens war ein freier, grüner Platz, eine Wiese, von der im Sommer einige Pud Heu geerntet wurden. Vom Frühling bis zum Herbst wurde dieser Garten von der Besitzerin für ein paar Rubel vermietet. Es waren dort auch einige Beete mit verschiedenen Sträuchern: Stachelbeeren, Johannisbeeren und Himbeerstauden, doch zogen die sich gleichfalls längs des Zaunes hin, und beim Hause waren dann noch ein paar Gemüsebeete. Dmitrij Fedorowitsch führte seinen Bruder in die vom Hause entfernteste Ecke des Gartens. Dort bemerkte Aljoscha plötzlich zwischen alten Linden, dichtem Holundergebüsch und spanischem Flieder eine uralte, schiefe Laube, unter deren Bretterdach, das nicht mehr grün, sondern schon schwarz war, man immerhin noch vor dem Regen hätte Schutz finden können. Diese Laube war, Gott weiß wann, vielleicht vor fünfzig Jahren gebaut worden, von dem früheren Besitzer des Häuschens, Alexander Karlowitsch von Schmidt, einem Oberstleutnant a. D., wie man sich erzählte. Doch alles war schon verfault: Die Bohlen wackelten, und es roch nach feuchtem Holz. In der Mitte stand auf eingerammtem Pfosten ein noch etwas grüner Tisch, um den auf gleichfalls eingerammten Pflöcken drei Bänke standen. Aljoscha war sofort die gehobene Stimmung seines Bruders aufgefallen – als sie jetzt in die Laube traten, bemerkte er auf dem Tisch eine halbe Flasche Kognak und ein Gläschen.

„Ja, das ist Kognak!“ sagte Mitjä lachend, „du aber fragst dich schon: ‚Sollte er wieder trinken?‘ Glaube nicht dem Phantom.

Glaube nicht der stumpfen Masse,

Oh, vergiß die Zweifel alle ... usw.

Ich trinke nicht, ich ‚nasche‘ bloß, wie dein Freund, das Schwein Rakitin, sagt, der angehende Staatsrat. Setze dich. Aljoscha, ich würde dich jetzt am liebsten einfach so nehmen und an mein Herz pressen, aus allen Kräften würde ich dich an mich drücken, denn ... im Grunde – begreifst du das? – im Grunde – behalte das! – liebe ich auf der ganzen Welt nur dich allein!“

Er sprach die letzten Worte fast wie in einem Rausch, wie in Verzückung.

„Nur dich allein und dann noch eine ‚Niederträchtige‘, in die ich mich verliebt habe, und durch die ich verloren bin. Doch sich verlieben, heißt nicht lieben. Sich in jemanden verlieben kann man auch, wenn man ihn haßt. Behalte das! Jetzt spreche ich vorläufig noch mit heiterer Miene! Setze dich dorthin, hinter den Tisch. Ich werde mich hierher neben dich setzen, dich betrachten und die ganze Zeit sprechen. Du sollst schweigen, ich aber werde alles erzählen, denn jetzt ist es Zeit dazu. Aber, weißt du, ich glaube, es ist doch besser, wenn wir leise sprechen, denn hier ... hier ... können überall die unerwartetsten Ohren horchen. Ich werde alles erklären. Wie gesagt: Erklärung folgt. Warum nur sehnte ich mich nach dir, warum nur erwartete ich dich in all diesen Tagen? – Ich habe mich hier doch schon seit fünf Tagen verankert. – Alle diese Tage? Weil ich nur dir allein alles sagen kann, dir allein, das ist es ja, denn ich brauche dich, denn morgen werde ich aus den Wolken herabfliegen, denn morgen wird das Leben enden und neu beginnen ... Hast du es jemals gefühlt, oder weißt du, wie das ist, wenn man im Traum von einem Berge in ein tiefes, dunkles Loch fällt? Nun, auch ich fliege jetzt hinab, doch nicht im Traum. Fürchte mich aber nicht, und auch du sollst dich nicht fürchten. Das heißt, ich fürchte mich wohl, aber es ist – so süß. Das heißt, nicht süß, sondern ein Rausch des Entzückens ... Ach, nun hol’s der Teufel, einerlei, was das ist. Stark oder schwach oder weibisch – einerlei! Besingen wir lieber die Natur! Sieh, wieviel Sonne hier ist, der Himmel so rein, so hell und hoch, die Blätter sind noch alle grün, ganz wie im Sommer. Vier Uhr nachmittags, diese Stille! ... Wohin wolltest du gehen?“

„Zum Vater, und zuerst wollte ich noch zu Katerina Iwanowna gehen.“

„Zu ihr und zum Vater! Herrgott! Das ist mir mal ein Zusammentreffen! Ja, warum rief ich dich denn, warum ersehnte ich dich, warum dürstete und lechzte ich denn mit allen Ecken und Kanten meiner Seele gerade nach dir? Um dich von mir gerade zum Vater und dann zu ihr, zu Katerina Iwanowna, zu schicken und damit die ganze Geschichte zu beenden, mit ihr wie mit ihm! Ich hätte ja einen jeden schicken können, aber ich wollte nur einen Engel schicken. Und siehe, du wolltest von selbst zu ihr und zum Vater gehen!“

„Wolltest du mich wirklich schicken?“ fragte hastig mit einem krankhaften Gesichtsausdruck Aljoscha, fast gegen seinen Willen.

„Wart, – du wußtest es doch. Ich sehe schon, daß du bereits alles begriffen hast. Aber sage noch nichts, schweige. Bedaure nicht und weine nicht!“

Dmitrij Fedorowitsch erhob sich nachdenklich und legte den Finger an die Stirn:

„Sie muß dich selbst gerufen haben, sie hat dir einen Brief geschrieben oder vielleicht sonst etwas, darum wolltest du zu ihr gehen, denn sonst wäre es dir doch nicht eingefallen?“

„Ja, sie hat mir geschrieben, hier,“ sagte Aljoscha und zog den Brief aus der Tasche. Mitjä durchflog ihn schnell.

„Und du gingst durch die Hinterstraßen! O Götter, ich danke euch, daß ihr ihn durch die Hinterstraßen und mir in die Arme führtet, wie das goldene Fischlein dem alten, törichten Fischer im Märchen. Höre, Aljoscha, Freund und Bruder. Jetzt will ich dir alles sagen. Denn irgend jemandem muß man es doch sagen. Dem himmlischen Engel habe ich es schon gesagt, jetzt muß ich es auch dem irdischen Engel sagen. Das bist du. Du wirst es anhören, du wirst dann urteilen, und du wirst verzeihen ... Gerade das aber habe ich nötig, daß mir ein höheres Wesen verzeiht. Höre: Wenn sich zwei Wesen plötzlich von allem Irdischen losreißen und irgendwohin in etwas Unbekanntes fliegen, oder wenigstens einer von ihnen, und kurz vorher, also – vor dem Aufbruch oder dem Verderben zum anderen geht und ihm sagt: Tue das und das für mich, etwas, worum man sonst nie bittet oder höchstens auf dem Sterbebett, – würde der es dann wirklich verweigern ... wenn er sein Freund, sein Bruder ist?“

„Ich werde es tun,“ sagte Aljoscha, „sage nur, was es ist, und sage es etwas schneller.“

„Schneller ... Hm. Beeile dich nicht so, Aljoscha. Du beeilst dich und bist unruhig. Jetzt hat’s keine Eile mehr. Jetzt ist die Welt in eine neue Bahn gelenkt. Ach, Aljoscha, schade, daß du noch nie bis zur Begeisterung gedacht hast! Doch, übrigens, was sage ich? Du sollst etwa nicht bis zur Begeisterung gedacht haben! Wovon rede ich Dummkopf?

‚Edel sei der Mensch!‘

– Wer hat das gesagt?“

Aljoscha beschloß zu warten. Er sah ein, daß er jetzt hier vielleicht am nötigsten war. Mitjä sann einen Augenblick nach, den Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt. Beide schwiegen sie.

„Ljoscha,“ sagte plötzlich Mitjä, „nur du allein wirst nicht lachen! Ich würde am liebsten meine ... Beichte ... mit Schillers Hymne an die Freude beginnen ... Aber ich verstehe kein Deutsch, weiß nur, daß sie ‚An die Freude!‘ heißt. Denk nicht, daß ich betrunken bin und darum so schwatze. Ich bin durchaus nicht betrunken. Kognak ist Kognak, doch ich brauche zwei Flaschen, um mich anzutrinken, –

Silen der feiste, kahlköpfige,

Ritt trunken auf stolperndem Esel ...

ich aber habe noch keine Viertelflasche getrunken und bin nichts weniger als Silen. Bin nicht trunken, wohl aber bin ich stark, denn ich habe auf ewig meinen Entschluß gefaßt. Verzeih mir die dummen Gedichte ... Heute wirst du mir vieles verzeihen müssen und nicht nur Gedichte. Beunruhige dich nicht, ich bin ganz ruhig und werde sofort zur Sache kommen. Will aus meiner Seele keine Mördergrube machen. Wart, wie war doch dieses Gedicht ...“

Er erhob den Kopf, sann ein wenig nach, und plötzlich begann er begeistert:

Scheu in des Gebirges Klüften

Barg der Troglodyte sich;

Der Nomade ließ die Triften

Wüste liegen, wo er strich.

Mit dem Wurfspieß, mit dem Bogen

Schritt der Jäger durch das Land;

Weh dem Fremdling, den die Wogen

Warfen an den Unglücksstrand!

Und auf ihrem Pfad begrüßte,

Irrend nach des Kindes Spur,

Ceres die verlass’ne Küste,

Ach, da grünte keine Flur!

Daß sie hier vertraulich weile,

Ist kein Obdach ihr gewährt;

Keines Tempels heitre Säule

Zeuget, daß man Götter ehrt.

Keine Frucht der süßen Ähren

Lädt zum reinen Mahl sie ein,

Nur auf gräßlichen Altären

Dorret menschliches Gebein.

Ja, so weit sie wandernd kreiste,

Fand sie Elend überall,

Und in ihrem großen Geiste

Jammert sie des Menschen Fall.

Ein Schluchzen rang sich aus Mitjäs Seele heraus, und er umklammerte Aljoschas Hand.

„Freund, mein Freund, gesunken ist der Mensch, tief gesunken! Der Mensch hat so viel Qualen auf der Erde zu ertragen, hat so viel im Leben zu leiden! Glaub nicht, daß ich nur ein Narr im Offiziersrock bin, einer, der Kognak trinkt und ausschweifend lebt. Freund, denke ich doch fast an nichts anderes, als an diesen erniedrigten Menschen – wenn ich nicht lüge. Gott, laß mich jetzt nicht lügen, nicht mich selbst loben! Ich denke an diesen Menschen, weil ich selbst so ein Mensch bin.

Daß der Mensch zum Menschen werde,

Stift er einen ew’gen Bund

Gläubig mit der frommen Erde,

Seinem mütterlichen Grund ...

Nur sage mir jetzt: Wie soll ich mich auf ewig mit der Erde verbinden? Ich küsse doch nicht die Erde, ich schneide ihr doch nicht die Brust auf; oder soll ich etwa ein Bauer werden und pflügen oder ein Hirt? Ich gehe und lebe und weiß nicht: Bin ich in Schande und Gestank geraten oder ins Licht und in die Freude? Siehst du, das ist mein Unglück, denn alles auf der Welt ist Rätsel! Und wenn es vorkam, daß ich mich in die tiefste, allertiefste Schmach der Ausschweifung warf (das aber kam so häufig vor, daß es eigentlich ununterbrochen geschah), so sagte ich immer dieses Gedicht von der Ceres vor mich hin. Ob es mich besser machte? Niemals! Denn ich bin ein Karamasoff. Und wenn ich schon einmal in den Abgrund fliege, so fliege ich mit dem Kopf voran und den Fersen nach oben, und ich bin sogar zufrieden damit, daß ich in einer so erniedrigenden Stellung falle, und finde das schön für mich. Und siehe: Gerade in dieser Schmach und Schande stimme ich dann plötzlich die Hymne an. Mag ich verflucht sein, mag ich niedrig und gemein sein, doch laßt auch mich den Saum jenes Gewandes küssen, in das sich mein Gott hüllt; mag ich auch zur selben Zeit dem Teufel folgen, so bin ich doch dein Sohn, Herr, und liebe dich und fühle eine Freude, ohne die die Welt nicht stehen und nicht sein könnte.

Freude trinken alle Wesen

An den Brüsten der Natur;

Alle Guten, alle Bösen

Folgen ihrer Rosenspur.

Küsse gab sie uns und Reben,

Einen Freund, geprüft im Tod;

Wollust ward dem Wurm gegeben

Und der Cherub steht vor Gott.

Doch nun Schluß mit den Gedichten! Ich vergoß vorhin Tränen, aber du, laß mich ruhig weinen. Mag das auch eine Dummheit sein, über die alle lachen würden, nur du lache nicht. Wie deine Augen brennen, Ljoscha! Doch nun, wie gesagt, Schluß mit den Gedichten. Ich will dir jetzt von dem Wurme erzählen, von diesem selben, den die Erde mit Wollust beschenkt hat ... Weißt du, mein Freund, dieser Wurm, das bin ja ich, ich selbst, und das ist ganz speziell nur von mir gesagt. Und wir alle, wir Karamasoffs, sind alle so, und auch in dir, du keuscher Knabe, lebt dieser Wurm und gebiert schon Stürme in deinem Blut. Das – sind Stürme, denn die Wollust ist – Sturm, mehr als Sturm! Die Schönheit ist ein furchtbares und schreckliches Ding! Furchtbar, weil sie unbestimmbar ist, und bestimmen kann man sie nicht, weil Gott nur Rätsel gegeben hat. Hier nähern sich die Ufer; hier leben alle Widersprüche beisammen. Weißt du, Freund, ich bin sehr ungebildet, aber ich habe viel darüber nachgedacht. Es gibt so furchtbar viel Geheimnisse! Zu viele Rätsel bedrücken den Menschen auf Erden. Da heißt es, sie lösen, so gut man’s kann, und trocken aus dem Wasser kommen. Die Schönheit! Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand – meistens sind es sogar Männer mit edlem Herzen und hohem Verstand – mit dem Ideal der Madonna beginnt und bei dem Weibe Sodoms endet. Noch furchtbarer aber ist, wer mit dem Ideale Sodoms in der Seele doch das Ideal der Madonna nicht verneint, nach der sein Herz lechzt und glüht; wahrlich, wahrlich, es glüht und sehnt sich nach ihr, wie in der Jugend, in den noch lasterlosen Jahren. Nein, weit ist der Mensch, sogar allzuweit, ich würde ihn enger machen. Weiß der Teufel, was er eigentlich ist! Was dem Verstande Schmach scheint, erscheint dem Herzen gewöhnlich als Schönheit. Ist denn in Sodom Schönheit? Glaube mir, für die übergroße Mehrzahl der Menschen sitzt sie gerade in Sodom, – wußtest du schon um dieses Geheimnis oder nicht? Schrecklich ist das eine, daß die Schönheit nicht nur etwas Furchtbares, sondern auch etwas Geheimnisvolles ist. Hier ringen Gott und Teufel, und der Kampfplatz – ist des Menschen Herz ... Übrigens, das ist ja immer so: Was einem weh tut, davon redet man. Höre, jetzt komme ich zur Sache.

IV.
Die Beichte eines heißen Herzens.
In Prosa

Ich führte dort ein wüstes Leben. Papa sagte vorhin beim Staretz, ich hätte mehrere Tausende für die Verführung ehrsamer Mädchen verschwendet. Das ist eine schweinische Verleumdung, niemals habe ich das getan. Was aber auch geschah, so bedurfte es ‚dazu‘ – eigentlich nie Geld. Geld, das ist bei mir – accessoire, ich weiß nicht was, es muß nur vorhanden sein. Heute ist eine vornehme Dame meine Liebe, morgen an ihrer Stelle ein kleines Straßenmädel. Ich liebe diese wie jene, werfe das Geld mit vollen Händen hinaus, bestelle Musik, Zigeuner. Wenn sie welches braucht, gebe ich natürlich auch ihr, denn sie nehmen es, und wie noch, das muß man allerdings zugeben, und zufrieden sind sie und dankbar. Viele Damen haben mich geliebt, nicht alle, aber doch viele, viele; ich aber liebte immer Winkelgassen, einsame, dunkle Sackgassen, – dort, dort gibt es Abenteuer, dort findet man Unerwartetes, dort wachsen berauschende Blumen im Schmutz. Ich meine das allegorisch, Freund. In unserem Städtchen gab es solche Winkelgassen nicht in Wirklichkeit, dafür aber gab es sie in anderer Beziehung. Wenn du wärest, was ich bin, so würdest du begreifen, was diese letzteren bedeuten. Ich liebte die Ausschweifung, liebte auch den Schmutz der Ausschweifung. Ich liebte die Grausamkeit; bin ich denn kein blutsaugendes Tier, kein bösartiger Wurm? Wie gesagt – bin Karamasoff! Einmal im Winter arrangierte die ganze Gesellschaft ein Picknick; wir fuhren in Troiken hinaus; in der Dunkelheit, im Schlitten begann ich das kleine Händchen des jungen Mädchens, das bei mir saß, zu drücken, und zwang sie zu Küssen. Sie war die Tochter eines Beamten, ein armes, liebes, sanftes Ding war’s. Sie erlaubte es, vieles erlaubte sie in der Dunkelheit. Die arme Kleine glaubte wohl, daß ich am nächsten Tage zu ihnen kommen würde, um einen Heiratsantrag zu machen, denn vor allen Dingen schätzte man mich doch als Heiratskandidaten. Ich aber sprach darauf fünf Monate kein Wort mehr mit ihr, keine Silbe. Wohl sah ich, wie an Tanzabenden – wir taten doch überhaupt nichts anderes als tanzen – aus der Saalecke mich ihre Augen verfolgten, o, ich sah, wie sie brannten – im Feuer heiligen Unwillens. Doch dieses Spiel ergötzte meine Wollust, ergötzte den Wurm, den ich in mir nährte. Nach fünf Monaten heiratete sie einen Beamten und fuhr fort ... in Haß und – vielleicht immer noch in Liebe zu mir. Jetzt leben sie glücklich. Hatte ich doch niemandem etwas davon gesagt, das behalte, ich hatte sie nicht in üblen Ruf gebracht; denn wenn ich auch niedrige Wünsche habe und das Niedrige liebe, so bin ich doch nicht ehrlos. Du errötest, und deine Augen blitzen wieder. Nun, es ist auch genug für dich – genug von diesem Schmutz. Und das ist doch alles noch so: pauldekocksche Blümchen, obgleich der grausame Wurm schon wuchs, schon in der Seele wucherte. Hier gibt es ein ganzes Album Erinnerungen, Freund. Mag Gott ihnen, den lieben Kleinen, Gesundheit schicken! Ich liebte es, beim Abschied ohne Groll auseinanderzugehen. Und niemals erzählte ich etwas, keine einzige brachte ich in schlechten Ruf. Doch genug. Glaubst du wirklich, daß ich dich nur wegen dieser Dummheiten hergerufen habe? Nein, ich werde dir eine interessantere Geschichte erzählen; doch wundere dich nicht, daß ich mich nicht vor dir schäme und scheinbar noch froh bin.“

„Das sagst du jetzt, weil ich erröte,“ bemerkte Aljoscha plötzlich. „Nicht wegen deiner Worte erröte ich und nicht wegen deiner Taten, sondern weil ich dasselbe bin, was du bist.“

„Wer, – du? Nun, da hast du etwas weit vorbeigetroffen.“

„Nein, durchaus nicht so weit,“ sagte eifrig Aljoscha. (Augenscheinlich hatte er diesen Gedanken schon lange gehabt.) „Es sind ein und dieselben Stufen; ich bin noch auf der niedrigsten, du aber bist schon oben, sagen wir, auf der dreißigsten. So sehe ich die Sache an, jawohl, es ist ein und dasselbe, vollkommen gleich. Wer die unterste Stufe betritt, der wird unbedingt auch einmal auf die oberste treten.“

„So ist es wohl am besten, sie überhaupt nicht zu betreten?“

„Wer es kann, ja – der sollte sie überhaupt nicht betreten.“

„Du aber – kannst du das?“

„Ich glaube, nicht.“

„Schweig, Aljoscha, schweig, Liebling, ich möchte deine Hand küssen, so, aus Rührung. Dieser Racker Gruschenka ist wirklich ein Menschenkenner – sie sagte mir vor nicht langer Zeit, sie werde dich irgendeinmal fressen! Doch ich schweige schon, schweige schon! Gehen wir jetzt von dem Häßlichen, diesem Fliegenschmutz, zu meiner Tragödie über, die gleichfalls von Fliegen beschmutzt ist, ich meine, von Gemeinheiten aller Art. Die Sache ist nämlich die: Wenn der Alte auch beim Staretz das von der Verführung ehrsamer Mädchen gelogen hat, so war es doch im Grunde in meiner Tragödie genau so – nur war es das einzige Mal, und auch da kam es nicht dazu. Der Alte aber weiß von dieser Geschichte nichts: Ich habe sie niemandem erzählt; du bist der erste, der sie hört, natürlich abgesehen von unserem Bruder Iwan, Iwan weiß alles. Er weiß es schon längst; aber Iwan ist ein – Grab.“

„Iwan ein – Grab?“

„Ja.“

Aljoscha hörte mit größter Spannung zu.

„In jenem Bataillon, im Linienregiment, in dem ich nach dem Duell stand, war ich doch gewissermaßen unter Aufsicht, selbst als Fähnrich wurde ich wie etwa ein Verschickter behandelt. Das Städtchen aber nahm mich mit offenen Armen auf. Geld verschwendete ich sehr viel; man glaubte, daß ich reich sei, und ich glaubte es ja auch selbst. Aber, weißt du, ich gefiel ihnen, wie es schien, noch durch etwas anderes. Wenn sie auch die Köpfe schüttelten, so liebten sie mich doch wirklich aufrichtig. Plötzlich aber hatte mein Oberstleutnant etwas gegen mich. Er suchte mir immer etwas anzuhängen, ich aber war vollkommen im Recht, und die ganze Stadt stand für mich, so konnte er mich nicht allzusehr schikanieren. Natürlich lag die Schuld an mir; ich erwies ihm absichtlich nicht die schuldige Ehrerbietung; war stolz. Dieser alte Starrkopf, der übrigens durchaus kein übler Mensch, sondern ein gutmütiger, gastfreier, älterer Herr war, hatte zweimal geheiratet, doch beide Frauen waren schon gestorben. Die erste war einfacher Herkunft gewesen und hatte ihm nur eine Tochter hinterlassen, die gleichfalls ziemlich einfach aussah; sie war damals schon ein vierundzwanzigjähriges Mädchen und lebte mit ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter, beim Vater. Die Tante war eine schweigsame Person, ihre Nichte jedoch, also die älteste Tochter meines Oberstleutnants, war das temperamentvolle Gegenteil. Weißt du, Liebling, ich sage gern ein gutes Wort, wenn ich an jemanden zurückdenke: Niemals habe ich einen Frauencharakter gesehen, der prächtiger gewesen wäre als der Charakter dieses Mädchens, Agafja hieß sie, Agafja Iwanowna. Ja, und an sich sah sie gar nicht übel aus, für russischen Geschmack – hochgewachsen, stark, fest gebaut, prachtvolle Augen, das Gesicht allerdings etwas einfach. Sie heiratete nicht, obgleich zwei bei ihr ansprachen, sie lehnte vielmehr ab, verlor aber nicht ihr heiteres Gemüt. Wir traten uns beide näher – doch nicht in diesem Sinne, nein, es war rein, einfach freundschaftlich. Bin ich doch häufig Frauen ganz sündenlos nähergetreten, eben wie ein Freund. Schwatzte mit ihr so aufrichtig, Herrgott! – sie aber lachte nur. Viele Frauen lieben solche Aufrichtigkeit, behalte das, sie aber war doch noch ein junges Mädchen, was mich ungemein amüsierte. Und dann noch eines: Man konnte sie unmöglich gnädiges Fräulein nennen. Sie und ihre Tante lebten beim Vater, doch wie soll ich sagen, sie erniedrigten sich selbst freiwillig, stellten sich jedenfalls mit der ganzen übrigen Gesellschaft nicht auf gleichen Fuß. Alle hatten sie gern und hatten sie nötig, denn was die Schneiderkunst anbetrifft, war sie eine Autorität: hatte wirklich Talent; Geld nahm sie natürlich nicht für ihre Hilfe, machte man ihr aber Geschenke, so nahm sie diese an und freute sich. Der Oberstleutnant aber, o – der! Der war die erste Persönlichkeit der Stadt, lebte auf großem Fuß, gab Diners und Bälle. Als ich hinkam, sprach man gerade in der ganzen Stadt davon, daß bald auch seine zweite Tochter, die schönste aller Schönheiten, aus der Hauptstadt zum Besuch nach Hause kommen werde, da sie dort soeben ihr aristokratisches Institut verlassen hätte. Diese zweite Tochter nun – das war Katerina Iwanowna, sein einziges Kind von der zweiten Frau. Diese seine zweite Frau war aus vornehmem Hause gewesen, Tochter eines angesehenen Generals, glaube ich; doch hatte sie, wie ich genau weiß, kein Geld in die Ehe gebracht. Also mußte sie dafür eine gute Verwandtschaft gehabt haben und vielleicht noch irgendwelche Hoffnungen auf Erbschaften, aber bar jedenfalls nichts. Damals war sie, wie gesagt, schon tot, und er war Witwer. Als aber dann die Tochter ankam, nur zum Besuch, nicht auf immer, belebte sich sofort die ganze Stadt, sogar unsere vornehmsten Damen – zwei Exzellenzen, die Frau des Obersten und alle, die nach ihnen kamen, rissen sich geradezu um sie. Sie war die Königin der Bälle; man arrangierte für sie Ausfahrten, Schlittenpartien, lebende Bilder zum Besten armer Gouvernanten usw. Ich schwieg, ich führte mein Leben unverändert so fort, und gerade damals schoß ich so ein besonderes Stückchen los, daß die ganze Stadt auf dem Kopf stand. Ich sehe, sie mißt mich einmal so mit dem Blick, auf dem Balle beim Batteriekommandeur war’s; ich aber ließ mich noch immer nicht vorstellen: Nun, verschmähte es, ihre Bekanntschaft zu machen. Erst nach einiger Zeit ließ ich mich vorstellen, begann ein Gespräch; sie antwortete kaum, verzog nur spöttisch verächtlich die Lippen. Warte, denke ich, dafür werde ich mich rächen! Vor allen Dingen fühlte ich, daß Katjenka nicht etwa ein unschuldiges Pensionsdämchen war, sondern eine Persönlichkeit mit Charakter, ein stolzes, doch wirklich edles Weib, und zwar ein kluges und gebildetes – ich aber war weder klug noch edel. Du glaubst, ich beabsichtigte damals ihr einen Heiratsantrag zu machen? Fiel mir nicht ein! Ich wollte mich ganz einfach dafür rächen, daß sie mich, der ich doch solch ein famoser Bursche war, absichtlich nicht beachtete. Inzwischen ging mein Leben unverändert weiter, lebte in dulci jubilo. Schließlich gab mir mein Oberstleutnant drei Tage Stubenarrest, und gerade in dieser Zeit schickte mir der Alte von hier aus sechstausend Rubel, nachdem ich den formellen Verzicht auf alles und jedes geleistet hatte, ich meine, daß wir quitt seien und daß ich nichts mehr verlangen werde. Ich begriff damals keinen Deut von der ganzen Geldgeschichte mit dem Vater. Offen gestanden, bis ich herkam, begriff ich noch immer nichts, vielleicht bis zu diesen letzten Tagen, vielleicht aber begreife ich auch heute noch nichts davon. Doch zum Teufel damit, davon später. Damals aber, als ich diese Sechstausend erhalten hatte, erfuhr ich plötzlich durch einen Freund – er schrieb mir einen Brief – eine für mich ungemein interessante Sache, nämlich, daß man mit unserem Oberstleutnant nicht ganz zufrieden war, daß man ihn sogar im Verdacht hätte, das Regimentsgeld zu anderen Zwecken zu verwenden, kurz – seine Feinde bereiteten ihm eine Überraschung vor, und wirklich, alsbald kam der Divisionsgeneral und wusch ihm ganz unglaublich den Kopf. Ziemlich kurze Zeit darauf, bekam er den Befehl, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Ich will mich hier nicht weiter bei den Einzelheiten aufhalten, wie alles herauskam, und so weiter und so weiter, er hatte wirklich viele Feinde. Man bemerkte sofort, daß alle ungemein kühl gegen ihn und seine ganze Familie wurden und sich dann plötzlich von ihm zurückzogen. Nun, und so kam es denn zu meinem ersten ‚Scherz‘: Zufällig treffe ich Agafja Iwanowna, mit der ich immer gut Freund war, und plötzlich sage ich zu ihr: ‚Wissen Sie, Ihrem Vater fehlen viertausendfünfhundert Rubel Krongelder.‘ – ‚Was sagen Sie? Wie kommen Sie darauf? Vor kurzem war noch der General hier, und es fehlte doch nichts ...‘ – ‚Damals nicht, doch jetzt fehlen sie in der Kasse.‘ Sie erschrak natürlich furchtbar: ‚Ängstigen Sie mich, bitte, nicht; wer hat es Ihnen gesagt?‘ – ‚Beunruhigen Sie sich nicht,‘ sage ich, ‚ich werde es niemandem sagen, Sie wissen doch selbst, daß ich in der Beziehung ein Grab bin, doch hören Sie, was ich Ihnen in dieser Angelegenheit noch sagen will, nur so „auf alle Fälle“: Wenn man von Ihrem Vater die viertausendfünfhundert Rubel verlangt, er sie aber nicht hat, so schicken Sie lieber, anstatt ihn auf seine alten Tage noch vors Gericht und dann als Soldat nach Sibirien zu bringen, schicken Sie dann lieber Ihre Schwester Katerina Iwanowna heimlich zu mir; man hat mir gestern mein Geld gesandt, ich würde ihr dann gerne die viertausendfünfhundert geben und das Geheimnis hoch und heilig bewahren.‘ – ‚Ach,‘ sagte sie, ‚wie gemein Sie sind,‘ – sie sagte es gerade so – ‚wie niederträchtig gemein! Wie wagen Sie es, so etwas zu sagen!‘ Sie ging maßlos empört fort; ich aber rief ihr noch einmal nach, daß ich das Geheimnis heilig halten werde. Diese beiden Weiber, die Agafja und ihre Tante – das schicke ich voraus –, erwiesen sich in dieser ganzen Geschichte als die reinen Engel; die Schwester aber, die stolze Katjä, wurde von ihnen geradezu vergöttert, sie erniedrigten sich freiwillig vor ihr, waren fast ihre Kammerzofen. Selbstverständlich hatte ihr damals Agafja diese Geschichte – ich meine, unser Gespräch – sofort wiedererzählt. Das erfuhr ich später ganz genau. Sie verheimlichte es also nicht vor ihr! Nun wohl, das aber war’s ja gerade, worauf ich rechnete.

„Da kommt nun mit einemmal der neue Major an, um das Bataillon zu übernehmen. Übernimmt es; doch siehe, der alte Oberstleutnant wird plötzlich krank, kann sich nicht bewegen, sitzt zweimal vierundzwanzig Stunden zu Haus und – übergibt nicht die Kasse. Unser Doktor Krawtschenko versicherte später, er sei wirklich krank gewesen; nur hatte ich schon längst unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit etwas anderes erfahren: daß die Summe jedesmal nach der Revision auf einige Zeit verschwand, und zwar schon seit vier Jahren. Der Oberstleutnant lieh sie nämlich dem ehrlichsten Menschen der Welt, unserem Kaufmann Trifonoff, einem alten Witwer mit langem Bart und goldener Brille. Jener fuhr dann auf die Jahrmärkte, setzte dort das Geld in Umsatz und händigte hernach dem Oberstleutnant die ganze Summe ungeschmälert wieder ein, brachte ihm Geschenke und Delikatessen mit, und mit den Delikatessen auch die Prozente. Diesmal aber – ich erfuhr es ganz zufällig von einem dummen Bengel, dem Söhnchen Trifonoffs, ja, seinem Söhnchen und Erben, dem verderbtesten Jungen, den die Welt je hervorgebracht –, diesmal aber war Trifonoff zurückgekehrt und hatte nichts wiedergegeben. Der Oberstleutnant stürzte natürlich zu ihm: ‚Wie, ich habe nichts von Ihnen erhalten,‘ war dessen Antwort, ‚und wie hätte ich überhaupt etwas von Ihnen erhalten können?‘ Nun, und da saß denn unser Oberstleutnant zu Haus, den Kopf mit einem Handtuch umwickelt; alle drei bemühten sie sich um ihn, legten ihm Eis an die Schläfen. Da kommt plötzlich eine Ordonnanz mit dem Buch und dem Befehl: ‚Sofort die Kasse übergeben, binnen zwei Stunden.‘ Er unterzeichnete – ich habe diese Unterschrift später selbst gesehen –, erhob sich, sagte, er wolle seine Uniform anziehen, ging in sein Schlafzimmer, nahm seine zweiläufige Jagdflinte, lud sie, nahm eine gute Soldatenkugel, zog den rechten Stiefel aus, stützte sich mit der Brust auf die Flinte und begann mit dem Fuß den Hahn zu suchen. Agafja aber, der meine Worte nicht aus dem Sinn gekommen waren, hatte schon so etwas Ähnliches erwartet und war zur rechten Zeit herangeschlichen. – Sie stürzte natürlich hinein, ergriff ihn hinterrücks: die Kugel flog in die Decke und verwundete niemanden. Nun, und dann kamen auch die anderen hinzugelaufen, ergriffen ihn, nahmen ihm die Flinte fort, hielten ihn fest ... Das erfuhr ich alles erst später ausführlich. Ich saß gerade zu Hause; es dämmerte bereits. Ich wollte ausgehen, hatte mich angezogen, frisiert, mein Taschentuch parfümiert, nahm schon meine Mütze, als plötzlich die Tür aufgeht, und – vor mir steht in meiner Wohnung Katerina Iwanowna ...

„Es gibt sonderbare Zufälle: Niemand hatte es damals in der Dämmerung auf der Straße bemerkt, daß sie zu mir gekommen war. Ich aber wohnte bei zwei uralten Beamtenwitwen; zwei ehrerbietige, alte Weiber waren’s, gehorchten mir in allem und schwiegen später über diesen Besuch auf meinen Befehl wie zugenäht ... Natürlich begriff ich sofort alles. Sie trat herein und sah mich unbeweglich an. Ihre dunklen Augen blickten entschlossen, fast sogar herausfordernd, doch auf den Lippen und um den Mund herum, das sah ich, lag Unentschlossenheit.

„‚Meine Schwester hat mir gesagt, Sie würden viertausendfünfhundert Rubel dafür geben – wenn ich selbst sie abholen käme ... ich selbst zu Ihnen. Ich bin gekommen ... geben Sie! ...‘ Sie konnte nicht mehr, der Atem blieb ihr stehen; sie erschrak, die Stimme versagte ihr, und die Mundwinkel und die Linien um die Lippen erzitterten. Aljoschka, hörst du – oder schläfst du?“

„Mitjä, ich weiß, daß du die ganze Wahrheit sagen wirst,“ stieß Aljoscha erregt hervor.

„Ja, die werde ich sagen ... Wenn ich die ganze Wahrheit sagen soll, so war es so, ich werde mich selbst nicht schonen. Der erste Gedanke war – ein Karamasoffscher. Weißt du, einmal hatte mich eine giftige Spinne gebissen, zwei Wochen lag ich darauf im Fieber; nun, so fühlte ich auch jetzt, wie eine giftige Spinne in mein Herz biß. Das heimtückische Insekt, begreifst du? Ich maß sie mit dem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. Hast du sie gesehen? Schön ist sie! Doch nicht das machte damals ihre Schönheit aus. Schön war sie in jener Stunde dadurch, daß sie edel, ich aber ein Schuft war, daß sie stolz in ihrem hochherzigen Opfer für den Vater vor mir stand, ich aber ein scheußliches Insekt vor ihr war. Und von mir, dem Schuft und niedrigen Insekt, hängt sie ganz ab, ganz, ganz und gar, mit Seele und Leib. Ganz, wie sie dort vor mir steht. Ich sage dir, Freund: Dieser Gedanke, dieser Gedanke der giftigen Spinne packte mein Herz dermaßen, daß es vor Qual vergehen wollte ... Man sollte meinen, einen Kampf hätte es überhaupt nicht mehr geben können: einfach wie eine boshafte Tarantel verfahren, ohne jedes Mitgefühl ... Ich glaubte zu ersticken. Hör, ich wäre doch sofort, am nächsten Tage schon, zu ihnen gefahren und hätte um ihre Hand gebeten, um das alles sozusagen in der anständigsten Weise zu decken, und somit hätte niemand etwas Schlechtes sagen können. Denn wenn ich auch ein Mensch mit niedrigen Begierden bin, so bin ich doch ehrenhaft, so habe ich doch meine Ehre. Und plötzlich, in derselben Sekunde, flüsterte mir etwas ins Ohr: ‚Aber morgen wird doch solch eine, wenn du mit dem Heiratsantrag kommst, dich überhaupt nicht empfangen, wird dich durch den Kutscher vom Hof treiben lassen‘: ‚Erzähl es doch der ganzen Stadt, wenn du willst, ich fürchte dich nicht!‘ – Ich blickte sie an: Meine Stimme hatte nicht gelogen: so würde es sein, selbstverständlich, genau so. Daß man mich morgen hinauswerfen werde, konnte ich schon jetzt an ihrem Gesichte sehen. Die Wut kochte in mir auf; mich überkam die Lust, das Gemeinste, Schweinischste zu begehen, wie es etwa die elende Krämerseele eines Ladenkaufmanns fertig gebracht hätte: sie spöttisch anzublicken und gleich hier noch, so lange, wie sie vor mir stand, ein paar Worte zu sagen, so mit einer gewissen Intonation, wie es nur ein Kaufmann zu sagen versteht:

„‚Was – viertausend! Das fehlte noch! Ich habe doch nur gescherzt! Sie sind wirklich gar zu leichtgläubig, meine Gnädigste; zweihundert Rubelchen würde ich, nun, meinetwegen, noch mit Vergnügen und sehr gerne geben, aber viertausend, Fräuleinchen, sind doch kein Geld, das man für so leichtsinnige Sachen zum Fenster hinauswirft. Haben sich unnütz zu bemühen geruht.‘

„Sieh, ich hätte dann natürlich alles verloren; sie wäre fortgelaufen, doch dafür wäre es teuflische Rache gewesen und hätte für alles andere entschädigt. Ich hätte freilich mein ganzes Leben lang vor Reue geweint. Aber nur jetzt ihr dieses Stückchen spielen! Glaubst du mir, kein einziges Mal war es mit mir geschehen, noch mit keinem einzigen Weibe, daß ich sie in solch einer Minute gehaßt hätte – doch glaube mir, sieh, ich bekreuze mich: auf diese aber blickte ich drei oder fünf Sekunden lang so haßerfüllt, mit solch einem Haß – mit demselben wütenden Haß, von dem es bis zur Liebe, zur sinnlosesten, wahnsinnigsten Liebe – nur ein Haarbreit ist! Ich trat ans Fenster, preßte die Stirn an das befrorene Glas, und ich weiß noch, das Eis brannte wie Feuer auf meiner Stirn. Ich hielt sie nicht lange auf, hab keine Angst, Bruder. Ich wandte mich wieder um, ging zum Tisch, schloß das Schubfach auf und nahm die fünftausendrublige Banknote au porteur (sie lag in meinem französischen Lexikon). Ich zeigte sie ihr schweigend, schob sie in ein Kuvert, überreichte es ihr, öffnete ihr selbst die Tür zum Vorzimmer, trat darauf einen Schritt zurück und verneigte mich tief vor ihr in der ehrerbietigsten, aufrichtigsten Weise, glaub es mir! Sie fuhr zusammen, blickte mich starr eine Sekunde lang an, wurde dann furchtbar bleich, wie ein Handtuch, und plötzlich – gleichfalls ohne ein Wort zu sagen, doch nicht mit einem Ruck, sondern so weich kniete sie gerade vor mir nieder, verbeugte sich leise tief, tief – und – berührte mit der Stirn den Boden! Nicht etwa schulmädchenhaft, nein – russisch! Sie erhob sich und lief hinaus. Als sie hinausgelaufen war – weißt du, ich hatte den Säbel schon umgeschnallt –, riß ich meinen Säbel aus der Scheide und wollte mich erstechen. Warum? – Das weiß ich nicht, und es wäre natürlich eine furchtbare Dummheit gewesen, aber wahrscheinlich vor Begeisterung. Begreifst du auch, daß man sich vor Begeisterung, einer gewissen Art von Begeisterung, töten kann? Doch ich erstach mich nicht, ich küßte nur die Klinge und schob sie wieder in die Scheide – was ich übrigens jetzt auch nicht zu erwähnen brauchte. Ich glaube sogar, daß ich soeben in der Erzählung aller dieser Kämpfe etwas weitschweifig gewesen bin, um mich herauszustreichen. Aber ... nun schön, meinetwegen, mag’s auch so gewesen sein, der Teufel hole alle Spione des Menschenherzens! Das ist also meine ganze ‚Geschichte‘ mit Katerina Iwanowna. Jetzt wissen davon Iwan und du – und sonst niemand.“

Dmitrij Fedorowitsch erhob sich, tat erregt ein paar Schritte hin und her, zog sein Taschentuch heraus, trocknete sich die Stirn, setzte sich darauf wieder hin, doch nicht auf den früheren Platz, sondern an der anderen Tischseite, so daß Aljoscha sich seitlich zu ihm wenden mußte.

V.
Die Beichte des heißen Herzens.
„Kopfüber hinab“

Jetzt kenne ich die erste Hälfte dieser Geschichte,“ sagte Aljoscha.

„Die erste Hälfte verstehst du: Das ist ein Drama und spielte sich dort ab. Die zweite Hälfte jedoch ist eine Tragödie und wird sich hier abspielen.“

„Von der zweiten Hälfte verstehe ich vorläufig noch nichts,“ sagte Aljoscha.

„Und ich etwa? Glaubst du, daß ich etwas davon verstehe?“

„Wart, Dmitrij, hier ist vor allem eines von Wichtigkeit: Sag mir, du bist doch verlobt, auch jetzt noch verlobt mit ihr?“

„Ich verlobte mich mit ihr nicht gleich darauf, sondern ungefähr erst nach drei Monaten. Am nächsten Tage, nachdem sie bei mir gewesen war, sagte ich mir, daß die Geschichte erledigt und abgetan sei, daß es eine Fortsetzung nicht mehr geben werde. Jetzt noch mit einem Heiratsantrag zu kommen, schien mir taktlos, niedrig. Ihrerseits ließ sie in den ganzen sechs Wochen, die sie noch in der Stadt verlebte, kein Wort von sich hören. Das heißt, abgesehen von dem einen Mal: am nächsten Tage kam nämlich ihre Stubenmagd heimlich zu mir und übergab mir, ohne ein Wort zu sagen, einen kleinen Packen. Draufgeschrieben war nur die Adresse: Dem und dem. Ich machte es auf: der Rest von den Fünftausend. Sie hatte ja im ganzen nur viertausendfünfhundert nötig gehabt, und beim Verkauf der Banknote war es ungefähr auf einen Verlust von zweihundert und einiges herausgekommen. Sie schickte mir im ganzen, ich glaube, zweihundertsechzig Rubel zurück, ich weiß es nicht mehr genau, und sonst nichts, nur das Geld – keinen Brief, kein Wörtchen, keine Erklärung. Ich durchsuchte das ganze Papier nach irgendeinem Bleistiftzeichen – n–nichts! Nun, ich lebte inzwischen für mein übriges Geld flott drauflos, so daß auch der neue Major gezwungen war, mir einen Verweis zu geben. Der Oberstleutnant aber übergab glücklich die Kasse zur nicht geringen Verwunderung seiner Kameraden, denn niemand hatte von ihm den Besitz der ganzen Summe erwartet. Er übergab sie, erkrankte aber gleich darauf, lag drei Wochen, dann kam plötzlich Gehirnerweichung hinzu, und nach fünf Tagen war er tot. Man beerdigte ihn mit allen militärischen Ehren, denn er hatte noch nicht den Abschied bekommen. Katerina Iwanowna, ihre Schwester und Tante fuhren nach Moskau, schon am zehnten Tage nach der Beerdigung. Und da erst, vor der Abfahrt, am selben Tage, an dem sie fortfuhren (ich hatte sie nicht gesehen und nicht begleitet), erhalte ich einen kleinen Brief, blau, teures Papier, und auf dem ganzen Bogen steht nur eine einzige Zeile, mit der Bleifeder geschrieben: ‚Ich werde Ihnen schreiben, warten Sie. K.‘ Und das war alles.

„Das übrige laß mich dir kurz in zwei Worten erklären. In Moskau veränderten sich ihre Verhältnisse mit Blitzesschnelle und ebenso unerwartet, wie es in arabischen Märchen zu geschehen pflegt. Eine alte Generalin, ihre reichste Verwandte, verlor plötzlich ihre beiden nächsten Nichten, beide starben in ein und derselben Woche an den Pocken. Die erschütterte Alte freute sich über Katjä, als hätte sie in ihr eine leibliche Tochter gefunden und veränderte das Testament sofort zu ihren Gunsten. Doch das war für die Zukunft, vorläufig aber werden ihr achtzigtausend Rubel sofort blank und bar ausgezahlt – das wäre deine Aussteuer, mach damit, was du willst. Hysterisches Frauenzimmer, habe sie später in Moskau beobachtet. Nun und: plötzlich erhalte ich per Post viertausendfünfhundert Rubel – bin natürlich wie vom Schlage gerührt. Nach drei Tagen kommt der versprochene Brief. Ich habe ihn auch jetzt bei mir, ich habe ihn immer bei mir; ich werde auch mit ihm sterben – willst du, daß ich ihn dir zeige? Du mußt ihn unbedingt lesen: Sie bietet sich als Braut an, bietet sich selbst an, sagt: ‚Ich liebe Sie sinnlos, wenn Sie mich auch nicht lieben, einerlei, seien Sie nur mein Mann. Fürchten Sie nichts – ich werde Ihre Freiheit in nichts beeinträchtigen, werde nur eines Ihrer Möbel sein, der Teppich, auf dem Sie gehen ... Ich will Sie ewig lieben, ich will Sie vor sich selbst retten ...‘ Aljoscha, ich bin es nicht wert, diese Zeilen auch nur wiederzugeben, mit meinen gemeinen Worten und in einem gemeinen Ton, meinem immer gemeinen Ton, von dem ich mich niemals habe losmachen können! Dieser Brief durchdrang mich bis in alle Ewigkeit – und tut er es nicht heute noch? Ist mir denn heute leicht zumut? Damals schrieb ich ihr sofort die Antwort. Ich konnte unmöglich selbst nach Moskau fahren. Schrieb sie mit Tränen; nur einer Sache schäme ich mich maßlos: Ich erwähnte, daß sie jetzt reich sei – ich, der ich doch nur ein bettelarmer Soldat war – erwähnte das Geld! Ich hätte das stillschweigend ertragen müssen, aber die Feder schrieb es von selbst. Gleich darauf, am selben Tage noch, schrieb ich nach Moskau auch an Iwan und erklärte ihm alles, so gut es brieflich ging, in sechs Bogen, und bat ihn, zu ihr zu gehen, schickte ihn zu ihr. Warum blickst du mich so an? Nun ja, Iwan verliebte sich in sie, ist auch jetzt noch in sie verliebt, ich weiß es genau. Eurer Meinung nach beging ich eine Dummheit, und so urteilt auch die ganze Welt, vielleicht aber wird gerade diese Dummheit uns alle retten! Ach! Siehst du denn nicht, wie sie ihn verehrt, wie hoch sie ihn achtet? Kann sie denn überhaupt, wenn sie uns beide vergleicht, solch einen wie mich lieben, und das noch nach allem, was hier vorgefallen ist?“

„Ich bin überzeugt, daß sie gerade so einen wie dich liebt und nicht so einen wie ihn.“

„Sie liebt ihre eigene Hochherzigkeit, aber nicht mich,“ kam es plötzlich fast ingrimmig über Dmitrij Fedorowitschs Lippen. Er lachte kurz auf, doch schon nach einer Sekunde blitzten seine Augen, und er schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch.

„Ich schwöre es dir, Aljoscha,“ rief er, in einer furchtbaren Wut auf sich selbst, „glaub es mir oder glaub es mir nicht, doch so wahr, wie Gott heilig und Christus unser Herr ist, schwöre ich dir, daß ich, wenn ich auch soeben über ihre Gefühle lachte, doch weiß, daß diese ihre Gefühle ebenso rein sind wie die Gefühle eines himmlischen Engels! Das ist ja die Tragödie, daß ich das genau weiß! Was will es besagen, daß der Mensch ein wenig deklamiert? Deklamiere ich denn etwa nicht? Und doch bin ich aufrichtig, ehrlich aufrichtig. Was aber Iwan anbetrifft, so begreife ich doch, mit welch einem Fluch er jetzt auf die Fügung der Natur blicken muß, und das noch bei seinem Verstande! Wem – bedenke doch nur – wem der Vorzug gegeben wird! Dem Scheusal, diesem Wüstling, der selbst als Verlobter, und obwohl ihn alle beobachten, von seinem wüsten Leben nicht lassen kann – und das vor den Augen seiner Braut, seiner Braut! Und nun wird solch einer, wie ich, vorgezogen, und Er wird verschmäht! Und warum nur? Weil das Mädchen aus Dankbarkeit ihr Leben und ihr Schicksal vergewaltigen will! O Sinnlosigkeit! Ich habe Iwan in diesem Sinne niemals etwas gesagt, und Iwan hat natürlich auch zu mir mit keiner Silbe davon gesprochen, nie, nie etwas erwähnt. Doch das Schicksal wird entscheiden, und der Würdige wird an die Stelle des Unwürdigen treten, und der Unwürdige wird auf ewig in der Winkelgasse verschwinden – in seiner schmutzigen Winkelgasse, und dort wird er im Schmutz und Gestank freiwillig und mit Entzücken zugrunde gehen. Ach, wieder rede ich fades Zeug, meine Worte sind alle so abgenutzt, stelle sie immer irgendwie aufs Geratewohl. Doch so, wie ich es bestimmt habe, so wird es sein. Ich in die Winkelgasse, und sie muß Iwan heiraten.“

„Erlaube, Mitjä,“ unterbrach ihn Aljoscha ungewöhnlich erregt. „Du hast mir bis jetzt noch immer nicht das eine erklärt: Du bist doch mit ihr verlobt, bist doch ihr Verlobter? Wie willst du dann die Verlobung aufheben, wenn sie, deine Braut, es nicht will?“

„Ja, ich bin ihr Verlobter, die Verlobung wurde in Moskau gleich nach meiner Ankunft gefeiert, wie es sich gehört, in großer Gala, mit Heiligenbildern und so: comme il faut. Die Generalin segnete mich, und – was glaubst du wohl – beglückwünschte sogar Katjä: Du hast eine gute Wahl getroffen, ich kenne ihn ganz. Und denk doch, Iwan liebte sie nicht, und sie wünschte ihm auch kein Glück. In Moskau besprach ich noch vieles mit Katjä; ich sagte ihr, wer ich bin, beschönigte nichts, sprach aufrichtig und edel. Sie hörte bis zum Schluß zu, nun, und:

‚Süße Verwirrung gab es,

Und manch zärtliches Wort ...‘

„Nun, es gab auch stolze Worte. Sie rang mir damals das große, heilige Versprechen ab, mich zu bessern. Ich gab das Versprechen. Und nun ...“

„Was?“

„Und nun habe ich dich hergerufen und über den Zaun gelockt, heute, heutigen Datums – behalt das! – um dich heute noch zu Katerina Iwanowna zu schicken, und ...“

„Und?“

„Und ihr durch dich sagen zu lassen, daß ich niemals mehr zu ihr kommen werde – und ihr meinen Abschiedsgruß sende.“

„Wie ist das nur möglich?“

„Aber darum schicke ich doch dich, anstatt daß ich selbst hingehe, weil das unmöglich ist, denn wie sollte ich ihr selbst das sagen?“

„Aber wohin willst du denn?“

„In die Winkelgasse.“

„Zu Gruschenka?“ rief Aljoscha und sah ihn erschrocken und traurig an. „So hat Rakitin vielleicht doch die Wahrheit gesagt? Ich glaubte, daß du nur so zu ihr gingest, und das wäre alles.“

„Und das als – Verlobter? Meinst du das im Ernst? Wie ist denn das möglich, wenn man solch eine Braut hat, und ... und so öffentlich? Nein, meine Ehre habe ich noch, sei unbesorgt. Sowie ich zu Gruschenka zu gehen begann, hörte ich sofort auf, Katjäs Verlobter und ein Ehrenmann zu sein, das begreife ich doch selbst. Warum siehst du mich so an? Ja, siehst du, ich ging ganz zuerst hin, um sie zu prügeln. Ich erfuhr es aus sicherer Quelle, daß dieser Gruschenka von Papachens Anwalt, jenem rotbärtigen Hauptmann, mein Wechsel übergeben worden war, damit sie ihn einklage, um mich still zu machen. Und so begab ich mich denn zu Gruschenka, um sie zu verprügeln. Ich hatte sie auch früher schon flüchtig gesehen. Sie frappiert nicht sonderlich. Von dem alten Kaufmann wußte ich, der jetzt zum Überfluß noch krank, halb gelähmt ist, ihr aber doch ein bedeutendes Sümmchen hinterlassen wird. Auch wußte ich, daß sie Geld zu verdienen liebt, sogar viel verdient, ihr Geld zu hohen Prozenten verleiht, daß sie schlau und erbarmungslos ist. Ich ging, um sie zu schlagen und – blieb bei ihr. Das Gewitter zog auf, der Blitz schlug ein, die Seuche steckte mich an, und ich bin ihr anheimgefallen. Weiß ich doch, daß jetzt alles aus ist, daß es jetzt nie mehr etwas anderes geben wird. Der Ring der Zeiten ist vollendet; das ist alles. Damals aber befanden sich gerade, wie vom Verhängnis geschickt – in meiner Tasche, in meiner, obgleich ich doch nichts mehr besaß, dreitausend Rubel. Wir fuhren dann sofort nach Mokroje, das ist fünfundzwanzig Werst von hier. Ich bestellte Zigeuner und Zigeunerinnen hin, Champagner, ließ dort allen Bauern, Weibern, Mädeln Champagner geben, bis sie betrunken waren, warf die Tausende hinaus. Nach drei Tagen war alles durchgebracht. Du glaubst, ich hätte etwas erreicht? Nicht einmal an sich herankommen ließ sie! Ich sage dir: Gruschenka, der Racker, hat solch eine Linie, die sich selbst an ihrem Füßchen wiederholt, sogar im kleinen Zehchen des linken Fußes. Hab selbst gesehen und geküßt, aber das ist auch alles – ich schwöre es dir! Sie sagt: ‚Wenn du willst, werde ich dich heiraten, denn du hast ja nichts. Versprich mir, daß du mich nicht schlagen und mir alles zu tun erlauben wirst, was ich will, dann werde ich dich vielleicht heiraten,‘ und lacht. Auch jetzt lacht sie!“

Dmitrij Fedorowitsch erhob sich plötzlich, fast jähzornig und war wie trunken. Seine Augen wurden rot von andringendem Blut.

„Und du willst sie wirklich heiraten?“

„Sobald sie will, ... sofort – will sie nicht! So bleibt es denn, wie es ist; werde Hofknecht bei ihr werden. Du ... du, Aljoscha ...“ rief er, blieb vor ihm stehen, ergriff ihn an den Schultern und schüttelte ihn plötzlich aus aller Kraft, „– weißt du auch, du unschuldiger Knabe, daß das Fieberwahn ist, sinnloser Fieberwahn? Jawohl, hier ist Tragödie! So höre denn, Alexei, ich kann wohl ein niedriger Mensch sein, mit niedrigen, verderblichen Leidenschaften, doch ein Dieb, ein Taschendieb, ein kleiner, schmutziger Taschendieb kann Dmitrij Karamasoff nie und nimmer sein! Nun, und so wisse denn jetzt, daß ich ein Dieb bin, ein gemeiner Taschendieb! Gerade kurz vordem, als ich zu Gruschenka ging, um sie durchzuprügeln, ruft mich am selben Morgen Katerina Iwanowna zu sich und bittet mich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, damit es vorläufig niemand erfahre (warum es niemand erfahren darf, weiß ich nicht, augenscheinlich aber war’s wohl so nötig), und bittet mich, in die Gouvernementsstadt zu fahren, und von dort aus durch die Post dreitausend Rubel nach Moskau an Agafja Iwanowna zu schicken, und zwar darum aus der Gouvernementsstadt, damit man es hier nicht erführe. Mit diesen Dreitausend ging ich zu Gruschenka, und mit eben diesem Gelde fuhren wir nach Mokroje. Später tat ich so, als ob ich tatsächlich in die Gouvernementsstadt gefahren wäre, schickte ihr aber keine Postquittung zu, ließ sagen, ich hätte das Geld abgeschickt und würde bald selbst mit der Quittung kommen, habe sie aber bis heute noch nicht hingebracht – ‚hab’s vergessen!‘ Nun aber – nun gehst du heute hin und sagst ihr: ‚Er hat mich beauftragt, Ihnen seinen Abschiedsgruß zu überbringen.‘ Sie wird dich wohl fragen: ‚Und das Geld?‘ Da könntest du ihr denn sagen: ‚Er ist ein niedriger Wollüstling, ein Mensch mit unbezähmbaren Leidenschaften. Er hat damals Ihr Geld nicht abgeschickt, sondern durchgebracht, denn er konnte sich als niedriges Tier nicht zügeln.‘ Und du könntest noch hinzufügen: ‚Doch ist er deswegen kein Dieb, hier sind Ihre Dreitausend, er schickt Ihnen das Geld zurück, übersenden Sie es selbst Agafja Iwanowna, mich aber beauftragte er Ihnen seinen Abschiedsgruß zu überbringen.‘ ‚Ja, aber,‘ wird sie dich fragen: ‚Und wo ist das Geld?‘“

„Mitjä, du bist unglücklich, das ist wahr! Aber doch nicht so sehr, wie du denkst, töte dich nicht durch Verzweiflung, töte dich nicht!“

„Ach, du glaubst, ich würde mich erschießen, wenn ich nicht irgendwoher die Dreitausend bekomme, um sie ihr zurückzugeben? Das ist es ja, daß ich mich nicht erschießen werde! Ich habe jetzt nicht die Kraft dazu, später vielleicht einmal, jetzt aber werde ich zu Gruschenka gehen ... Bin sowieso verloren!“

„Und was willst du bei ihr?“

„Werde ihr Gemahl sein, wenn sie mich dessen für würdig hält – wenn aber ihre Liebhaber kommen, werde ich ins andere Zimmer gehen. Werde die schmutzigen Galoschen ihrer Freunde reinigen, den Ssamowar anblasen, ihr Laufbursche sein ...“

„Katerina Iwanowna wird alles verstehen,“ sagte Aljoscha plötzlich sehr ernst, „sie wird die ganze Tiefe dieser Qual verstehen und alles verzeihen. Sie hat einen klaren Verstand und ein großes Herz, sie wird begreifen, daß man unglücklicher als du nicht sein kann.“

„Nein, sie wird nicht verzeihen,“ meinte Mitjä lächelnd. „Hier, Freund, handelt es sich um etwas, das kein Weib verzeihen kann. Weißt du aber, was jetzt das Beste wäre?“

„Was?“

„Ihr die Dreitausend zurückzugeben.“

„Aber woher sie nehmen? Hör, Mitjä, ich habe zweitausend, Iwan wird auch noch tausend geben, da hast du die drei, nimm sie und gib sie ihr.“

„Haha, wann werden denn diese Dreitausend hier ankommen? Du bist ja noch nicht einmal mündig, und doch mußt du unbedingt, un–be–dingt heute noch zu ihr gehen und meinen Gruß bestellen, einerlei, ob mit oder ohne Geld, denn länger kann ich das nicht so hinziehen – wie die Dinge jetzt liegen, ist es ganz unmöglich. Morgen wär’s schon zu spät, viel zu spät. Alexei, geh zum Vater!“

„Zum Vater?“

„Ja, bevor du zu ihr gehst, geh noch zum Vater. Er hat Dreitausend bereit liegen, erbitt sie von ihm.“

„Aber er wird sie doch nicht geben, Mitjä.“

„Fehlte noch, daß er sie gibt, ich weiß, daß er nichts geben wird. Weißt du, Alexei, was Verzweiflung ist?“

„Ich weiß es.“

„Hör: Juridisch schuldet er mir nichts mehr. Ich habe schon alles von ihm bekommen, alles, ich weiß es. Aber moralisch schuldet er mir noch, das ist doch wahr, nicht? Denn nur dank der Achtundzwanzigtausend meiner Mutter hat er die Hunderttausend verdienen können. Mag er mir jetzt nur Dreitausend von den ganzen Achtundzwanzigtausend geben, nur drei, und er würde meine Seele aus der Hölle erlösen, es wird ihm für viele Sünden angerechnet werden! Ich aber würde, wenn er noch diese Dreitausend geben wollte, nie mehr etwas von ihm erbitten, ich gebe dir mein Wort darauf, – er würde nichts mehr von mir hören. Ich gebe ihm zum letztenmal Gelegenheit, sich als Vater zu erweisen. Sage ihm, daß ihm Gott selbst noch diese letzte Gelegenheit schickt.“

„Aber er wird doch ganz bestimmt nichts geben, Mitjä.“

„Ich weiß es, daß er nichts geben wird, weiß es selbst ganz genau. Und jetzt erst recht nicht. Ich weiß sogar noch viel mehr: Erst jetzt, erst in diesen Tagen, vielleicht erst gestern, hat er es im Ernst erfahren (unterstreich das im Ernst), daß Gruschenka vielleicht wirklich nicht scherzt und mich vielleicht wirklich heiraten will. Er kennt diesen Charakter, kennt diese Katze. Nun, sage doch selbst, soll er mir jetzt zum Überfluß auch noch Geld geben, er, der doch selbst ihretwegen schon den Verstand verloren hat? Aber auch das ist noch nicht alles, ich weiß noch mehr: Ich weiß, daß bei ihm seit fünf Tagen dreitausend Rubel bereit liegen, in Hundertrubelscheine ausgewechselt, und in einem großen Kuvert unter fünf Siegeln, das noch mit einem roten Bändchen kreuzweis umbunden ist. Siehst du, wie genau ich alles weiß! Und auf dem Kuvert steht geschrieben: ‚Meinem Engel Gruschenka, wenn sie zu mir kommen will,‘ das hat er selbst draufgekratzt heimlich in der Stille, und niemand weiß, daß bei ihm dieses Geld bereit liegt, außer dem Diener Ssmerdjäkoff, an dessen Ehrlichkeit der Alte mindestens ebenso fest glaubt wie an seine eigene Existenz. Und jetzt erwartet er Gruschenka schon seit drei oder vier Tagen, hofft, daß sie nach den Dreitausend kommen wird, hat er ihr es doch sagen lassen, und sie hat darauf geantwortet: ‚Vielleicht, ja vielleicht werde ich kommen.‘ Aber wenn sie jetzt zum Alten kommt, wie kann ich sie dann heiraten? Begreifst du jetzt, warum ich hier heimlich sitze, und wem ich auflauere?“

„Doch nicht Gruschenka?“

„Ja, Gruschenka. Hier in diesem Hause hat sich Foma eine Kammer gemietet, bei diesen liederlichen Weibsbildern. Foma ist unser gewesener Soldat, stand in meiner Kompagnie. Er dient ihnen jetzt gewissermaßen, wacht in der Nacht, und am Tage geht er Birkhühner schießen, und davon lebt er. Ich habe jetzt hier bei ihm Anker geworfen. Doch weder er noch die beiden Weiber wissen es, daß ich hier auf der Lauer sitze.“

„Nur Ssmerdjäkoff weiß es?“

„Nur er allein. Er wird es mir denn auch sagen, wenn sie zum Alten kommt.“

„Und er hat dir auch das vom Kuvert gesagt?“

„Ja, er. Aber das ist das größte Geheimnis. Selbst Iwan weiß weder von dem Gelde noch sonst etwas. Der Alte aber will Iwan unbedingt auf zwei oder drei Tage nach Tschermaschnjä schicken: Es hat sich ein Käufer für den Wald gefunden, will ihn für Achttausend fällen, und so bittet denn der Alte himmelhoch Iwan: ‚Hilf mir, fahr selbst hin,‘ – damit wäre er ihn auf zwei-drei Tage los. Er will nämlich, daß Gruschenka in seiner Abwesenheit kommt.“

„Dann erwartet er sie also auch heute?“

„Nein, heute wird sie nicht kommen, aller Voraussicht nach. Sie wird bestimmt nicht kommen!“ rief Mitjä plötzlich erregt. „Auch Ssmerdjäkoff glaubt, daß sie nicht kommen wird. Der Alte trinkt jetzt wieder, sitzt mit Iwan bei Tisch. Geh, Alexei, bitte ihn um diese Dreitausend ...“

„Mitjä, Lieber, was ist mit dir!“ rief Aljoscha aufspringend und blickte erregt in das entstellte Gesicht Dmitrij Fedorowitschs. Einen Moment glaubte er schon, daß jener irrsinnig geworden sei.

„Was hast du? Ich bin nicht wahnsinnig,“ sagte Dmitrij Fedorowitsch, und sein Auge blickte aufmerksam und fast triumphierend den Bruder an. „Ja, ich schicke dich zum Vater und weiß, was ich tue: Ich glaube an ein Wunder.“

„An ein Wunder?“

„An ein Wunder der Vorsehung Gottes. Gott kennt mein Herz. Er sieht meine ganze Verzweiflung. Er sieht alles. Sollte Er wirklich das Grauenvolle zulassen? Aljoscha, ich glaube an ein Wunder, geh!“

„Ich werde gehen. Wirst du hier warten?“

„Ja. Ich weiß, daß du nicht so bald zurückkommen wirst, das kann man doch nicht gleich, nach dem ersten Wort! Er ist jetzt betrunken. Ich werde hier sitzen und warten, drei Stunden, vier Stunden, fünf, sechs, sieben Stunden ... Nur mußt du wissen, daß du heute, und wenn auch um Mitternacht, zu Katerina Iwanowna gehen wirst, mit oder ohne Geld, um ihr zu sagen: ‚Er schickt Ihnen seinen Abschiedsgruß.‘ Ich will, daß du es ihr gerade mit diesen Worten sagst: ‚Abschiedsgruß‘.“

„Mitjä! Plötzlich aber kommt Gruschenka heute ... oder wenn nicht heute, dann morgen ... oder übermorgen?“

„Gruschenka? Werde sehen, werde hineinstürzen und verhindern ...“

„Wenn aber ...“

„Und wenn aber, dann schlage ich tot. So überlebe ich es nicht.“

„Wen willst du erschlagen?“

„Den Alten. Sie werde ich nicht erschlagen.“

„Dmitrij, was redest du!“

„Ich weiß es doch nicht, weiß es selbst nicht ... Vielleicht werde ich ihn auch nicht erschlagen, vielleicht aber doch. Ich fürchte, er wird mir in dem Augenblick zu widerlich werden mit seinem Gesicht. Ich hasse sein Doppelkinn, seine Nase, seine Augen, sein schamloses Gelächter. Ich fühle schon den Ekel. Das ist es, was ich fürchte. Und so werde ich mich denn nicht bezwingen können ...“

„Ich gehe, Mitjä. Ich glaube, daß Gott es lenken wird, nach seinem besseren Wissen, damit das Entsetzliche nicht geschehe.“

„Ich aber werde hier sitzen und auf das Wunder warten. Doch wenn das Wunder nicht geschieht, so ...“

Nachdenklich ging Aljoscha zu seinem Vater.

VI.
Ssmerdjäkoff

Er traf seinen Vater noch beim Mittagessen an. Der Tisch war wie gewöhnlich im Saal gedeckt, obgleich es im Hause auch ein großes Speisezimmer gab. Dieser Saal war jedoch der größte Raum im ganzen Hause und mit einem etwas unmodischen Prunk ausgestattet. Die Möbel waren sehr alt, in Weiß und Gold, mit rotem, altem, halbseidenem Bezug. An den Pfeilern zwischen den Fenstern waren Spiegel eingesetzt in alten, geschnitzten, verschnörkelten und gleichfalls weiß-goldenen Rahmen. Die Wände, deren weiß-goldene Papiertapeten schon an vielen Stellen Risse hatten, schmückten zwei große Porträts: das eine das Bildnis irgendeines Fürsten, der vor etwa dreißig Jahren unser General-Gouverneur gewesen war, und das andere – irgendeines Erzbischofs, der gleichfalls nicht mehr lebte. In der vorderen Ecke hingen einige Heiligenbilder, vor denen zur Nacht das Lämpchen angezündet wurde ... weniger aus Frömmigkeit, vielmehr um zu verhüten, daß es in der Nacht im Zimmer ganz dunkel wurde. Fedor Pawlowitsch ging sehr spät zu Bett, erst um drei oder vier Uhr morgens, bis dahin aber ging er entweder im Zimmer herum, oder er saß im Lehnstuhl und sann. Das war ihm so zur Gewohnheit geworden. Nicht selten schlief er ganz allein im großen Hause, da er zur Nacht alle Dienstboten in das Nebengebäude schickte, doch blieb jetzt in letzter Zeit der Diener Ssmerdjäkoff bei ihm und schlief dann im Vorzimmer auf der Truhe. Als Aljoscha eintrat, war das Mittagessen schon beendet, es wurden bereits eingemachte Früchte und Kaffee gereicht. Fedor Pawlowitsch liebte nach dem Essen Süßigkeiten und Kognak als Abschluß. Iwan Fedorowitsch saß auch noch bei Tisch und trank seinen Kaffee. Die beiden Diener, Grigorij und Ssmerdjäkoff, waren gleichfalls zugegen. Die Herrschaft wie die Dienerschaft war ersichtlich ungewöhnlich heiter gestimmt. Fedor Pawlowitsch lachte laut; Aljoscha hörte schon im Vorzimmer ein schreiendes, ihm von früher so gut bekanntes Gelächter und sagte sich sofort, daß sein Vater, nach der Art dieses Gelächters zu urteilen, noch längst nicht betrunken, sondern vorläufig nur aufgeräumt war.

„Ah, da kommt auch er, da ist er ja!“ rief Fedor Pawlowitsch ungeheuer erfreut über Aljoschas Kommen. „Gesell dich zu uns, setz dich, hier, so, willst du ein Täßchen Kaffee, – das ist doch Fastengetränk, ganz heiß, vorzüglich, sieh! Kognak biete ich dir gar nicht an, zu profan für dich, oder willst du, willst du doch? Wart, ich werde dir lieber ein Likörchen geben, pikfein! sage ich dir. – Ssmerdjäkoff, geh mal schnell, sieh im Schränkchen, auf dem zweiten Brett rechts, – fix!“

Aljoscha wollte auch für den Likör danken, doch sein Vater ließ ihn kaum zu Wort kommen.

„Einerlei, er wird sofort gebracht, sofort, sofort, wenn nicht für dich, dann für uns,“ unterbrach er ihn strahlend. „Doch halt, hast du überhaupt zu Mittag gegessen?“

„Ja, ich habe schon gegessen,“ sagte Aljoscha, der in Wirklichkeit nur ein Stück Brot in der Küche des Priors genossen und Kwas dazu getrunken hatte. „Aber heißen Kaffee würde ich ganz gern trinken.“

„Das ist brav von dir! Er wird Kaffee trinken! Soll man ihn nicht noch schnell heiß machen? Nein, nein, nicht nötig, er kocht ja noch jetzt. Es is’ ’n tadelloser Mokka, Ssmerdjäkoffscher! In Pasteten und Piroggen ist Ssmerdjäkoff ein wahrer Künstler, sag ich dir, richtig: und auch noch in Fischsuppe, das ist wahr. Du mußt einmal unbedingt zu Fischsuppe kommen, melde dich aber vorher an ... Ach! ganz verschwitzt, da fällt mir soeben ein, ich befahl dir doch vorhin, heute noch samt Kissen und Federbetten zu mir überzusiedeln? He–he, hast die Federbetten mitgeschleppt, wie? He–he–he! ...“

„Nein, ich habe sie nicht mitgebracht,“ sagte Aljoscha gleichfalls lächelnd.

„Ah – nun, aber ’nen Schreck hast du doch vorhin bekommen, gesteh’s nur, wie, nicht? Ach du, mein Herzensjunge, wie könnte ich dich nur beleidigen! Weißt du, Iwan, ich kann’s nicht ansehen, wenn er einem so in die Augen blickt und dabei lacht, kann’s wahrhaftig nicht! Mein ganzes Zwerchfell beginnt gleich über ihn zu lachen, ich liebe ihn doch! Aljoschka, laß mich dir meinen väterlichen Segen geben.“

Aljoscha erhob sich, doch Fedor Pawlowitsch hatte sich schon besonnen.

„Nein, nein, nicht jetzt, jetzt werde ich dich nur einmal bekreuzen, so, setz dich. Jetzt gibt’s aber ’nen Heidenspaß, gerade auf dein Thema, wirst dich krank lachen! Bei uns hat endlich einmal Bileams Esel das Maul aufgetan, und wie noch, und wie noch, ach Gott!“

Als Bileams Esel erwies sich der Diener Ssmerdjäkoff. Es war das ein noch ziemlich junger Mann von etwas über vierundzwanzig Jahren. Er war sehr menschenscheu und schweigsam. Doch nicht etwa scheu im gewöhnlichen Sinne oder verschämt, nein, dem Charakter nach war er sogar hochmütig und anmaßend, ja, er schien sogar alle zu verachten. Ich sehe mich veranlaßt, gerade bei dieser Gelegenheit schon einiges über ihn zu sagen. Erzogen hatten ihn Marfa Ignatjewna und Grigorij Wassiljewitsch, doch der Knabe wuchs „ohne jede Dankbarkeit“ auf, wie sich Grigorij über ihn äußerte, als scheues, mißtrauisches Kind. In seiner Kindheit liebte er es sehr, Katzen zu erhängen und sie dann mit großen Zeremonien zu beerdigen. Zu diesem Zweck nahm er sich ein Bettuch um, das wohl das Meßgewand ersetzen sollte, und sang und schwenkte irgend etwas über der toten Katze wie ein Weihrauchfaß. Alles das tat er heimlich, so daß es niemand sehen konnte. Einmal überraschte ihn doch Grigorij bei dieser feierlichen Handlung und bestrafte ihn schmerzhaft. Der Junge schlich sich in die Ecke und schielte von dort eine ganze Weile lang nur mißtrauisch auf seine Erzieher. „Er liebt uns nicht, diese Mißgeburt,“ sagte Grigorij zu Marfa Ignatjewna, „scheint gar niemanden zu lieben. Bist du überhaupt ein Mensch,“ wandte er sich plötzlich an den Jungen, „nein, du, du bist kein Mensch, du bist aus Badstubennässe entsprossen, jetzt weißt du, wer du bist!“ Wie sich später herausstellte, konnte ihm Ssmerdjäkoff diese Worte nie verzeihen. Grigorij brachte ihm das Schreiben und Lesen bei, und als der Knabe zwölf Jahre alt wurde, begann er ihn in biblischer Geschichte zu unterrichten. Doch das gute Vorhaben sollte ein schnelles Ende nehmen. In der zweiten oder dritten Stunde erlaubte sich der Knabe plötzlich zu lächeln.

„Was fehlt dir?“ fragte Grigorij sofort und blickte ihn streng über die große, runde Brille an.

„N–nichts ... Gott der Herr schuf die Welt am ersten Tage, die Sonne aber, den Mond und die Sterne erst am vierten. Wie konnte es dann am ersten Tage Tag sein, wenn es dunkel war?“

Grigorij erstarrte. Der Junge blickte spöttisch seinen Lehrer an. In seinem Blick lag sogar etwas hochmütig Herausforderndes. Das war zu viel für Grigorij.

„Wie es sein konnte? So konnte es sein!“ schrie er seinen Schüler an und gab ihm zur Erklärung eine schallende Ohrfeige. Der Junge ertrug die Ohrfeige, ohne ein Wort zu sagen, zog sich aber wieder auf einige Tage in seinen Winkel zurück. Da aber geschah es, daß er, gerade als eine Woche nach dieser Ohrfeige vergangen war, zum erstenmal einen Anfall der Fallsucht bekam, von der er nicht mehr geheilt werden sollte. Als Fedor Pawlowitsch das erfuhr, veränderte er plötzlich sein Verhalten zu dem Knaben. Früher schien er ganz gleichgültig auf ihn zu blicken, obgleich er ihn nie schimpfte und ihm, wenn er ihn auf dem Hofe traf, gewöhnlich ein paar Kopeken gab. Zuweilen schickte er gut gelaunt vom Tisch etwas Süßes für den Jungen, aber das war auch alles. Doch als er von der Krankheit erfuhr, begann er sofort für ihn zu sorgen, ließ den Arzt rufen, ließ ihn behandeln. Nur zeigte sich leider, daß nichts dabei zu machen war. Im Durchschnitt hatte er ungefähr einen Anfall monatlich, und zwar zu verschiedenen Zeiten. Die Anfälle waren verschieden stark, zuweilen leicht, zuweilen sehr heftig. Fedor Pawlowitsch verbot Grigorij strengstens, den Jungen körperlich zu bestrafen und erlaubte von da ab, daß der Knabe auch zu ihm ins Herrenhaus kam. Ihn irgend etwas lernen zu lassen, verbot er vorläufig gleichfalls. Einmal aber, als der Knabe schon fünfzehn Jahre alt war, bemerkte Fedor Pawlowitsch, daß er sich am Bücherschrank herumtrieb und sich bemühte, durch das Glas die Titel zu entziffern. Fedor Pawlowitsch hatte im Hause eine ziemliche Menge alter Bücher, doch hatte ihn noch niemand mit einem Buch in der Hand gesehen. Er übergab sofort den Bücherschrankschlüssel dem kleinen Ssmerdjäkoff. „Da, nimm, lies soviel du willst, kannst mein Bibliothekar sein; das ist immerhin besser, als daß du dich auf dem Hof herumtreibst. Sieh mal, dieses Buch kannst du lesen,“ – und Fedor Pawlowitsch gab ihm Gogols „Abende auf dem Meierhof bei Dikanka“.

Der Junge las das Buch, blieb aber unbefriedigt von dem Werk, lachte kein einziges Mal, im Gegenteil, beendete es eher mürrisch und verstimmt.

„Nun? Gefällt es dir denn nicht?“ erkundigte sich Fedor Pawlowitsch.

Ssmerdjäkoff schwieg.

„Sprich, Esel.“

„Alles das ist unwahr geschrieben,“ brummte schließlich Ssmerdjäkoff mit einem halben Lächeln.

„Noch was Neues! Äh, zum Teufel mit dir, bist doch ’ne Dienerseele. Wart, hier hast du Ssmaragdoffs ‚Allgemeine Geschichte‘, darin ist nichts gelogen, lies mal das.“

Doch Ssmerdjäkoff las von Ssmaragdoffs „Allgemeiner Geschichte“ kaum die ersten zehn Seiten, als ihm auch dieses Buch langweilig erschien. Und so schloß sich denn der Bücherschrank wieder für ihn. Bald darauf meldeten aber Marfa und Grigorij ihrem Herrn, daß Ssmerdjäkoff seit einiger Zeit ein furchtbarer Mäkler geworden sei: Sitzt bei Tisch, nimmt den Löffel und beginnt plötzlich in der Suppe zu suchen und zu suchen, rückt den Teller hin, rückt ihn her, nimmt einen Löffel voll, hebt ihn auf, hält ihn gegen das Licht, läßt die Suppe langsam vom Löffel auf den Teller zurückfließen.

„Was? Ist eine Schabe drin?“ fragt Grigorij.

„Eine Fliege vielleicht,“ bemerkt Marfa.

Doch der Sauberkeit liebende Jüngling antwortete nie, und mit dem Brot, dem Fleisch und allen Speisen geschah dasselbe: Auf einmal hebt er an der Gabel ein Stück Fleisch empor, betrachtet es wie unterm Mikroskop, scheint lange unschlüssig zu sein, bis er sich endlich doch entschließt, das Stück in den Mund zu befördern. „Sieh doch, was das für ein Herr wird,“ brummte zuweilen Grigorij bei seinem Anblick. Als Fedor Pawlowitsch von dieser neuen Eigenschaft Ssmerdjäkoffs hörte, beschloß er sofort, ihn Koch werden zu lassen und zur Erlernung dieser Kunst nach Moskau zu schicken. Ssmerdjäkoff blieb etliche Jahre in Moskau und kehrte dann stark verändert wieder zurück. Er war auffallend gealtert, ganz unverhältnismäßig zu seinen Jahren, sein Gesicht war runzelig und gelb geworden, er glich beinahe einem Sektierer. Innerlich war er jedoch derselbe, der er vor der Fahrt nach Moskau gewesen war: War ebenso ungesellig und empfand auch nicht das geringste Bedürfnis nach Umgang mit anderen Menschen. Wie wir später erfuhren, soll er auch in Moskau stets geschwiegen haben; die Stadt selbst hatte ihn sehr wenig angezogen, und so hatte er denn auch nur sehr wenig von ihr gesehen, das meiste gar nicht beachtet. Einmal soll er auch im Theater gewesen sein, doch hieß es, daß er verstimmt und unzufrieden mit dem Gesehenen heimgekehrt sei. Dafür aber kam er bei uns gut gekleidet wieder an, in einem reinen, schwarzen Überrock und mit guter Wäsche. Er bürstete seine Kleider sorgfältigst zweimal täglich, und seine kalbledernen Stiefel putzte er mit einer ganz besonderen, englischen Wichse so lange, bis sie wie Spiegel glänzten. Er erwies sich als vorzüglicher Koch. Fedor Pawlowitsch setzte ihm denn auch ein festes Monatsgehalt aus, das Ssmerdjäkoff aber restlos für Kleider, Pomaden, Parfüm usw. verbrauchte. Was das weibliche Geschlecht anbetraf, so schien er es nicht weniger zu verachten als das männliche, war im Umgang mit ihm sehr zurückhaltend, wenn nicht gar unnahbar. Fedor Pawlowitsch begann aber bald noch mit anderen Augen seinen Ssmerdjäkoff zu betrachten. Die Sache war nämlich die, daß die Anfälle seiner Krankheit häufiger und stärker auftraten als früher und an diesen Tagen das Essen von Marfa Ignatjewna zubereitet werden mußte, was Fedor Pawlowitsch durchaus nicht mehr paßte.

„Warum hast du denn jetzt die Anfälle so oft?“ fragte er seinen neuen Koch mit einem aufmerksamen Seitenblick auf ihn. „Wenn du vielleicht irgendeine heiraten würdest; willst du, ich werde dich verheiraten!“

Auf solche Reden antwortete Ssmerdjäkoff kein Wort, er erbleichte nur vor Unwillen. Fedor Pawlowitsch gab ihn schließlich auf. Vor allen Dingen hatte er sich ein für allemal überzeugt, daß Ssmerdjäkoff ehrlich war und nie etwas stehlen werde. Er hatte nämlich einmal in etwas stark angeheitertem Zustande auf seinem eigenen Hof drei Hundertrubelscheine verloren, die er kurz vorher erhalten hatte, doch vermißte er sie erst am nächsten Tage; als er sie aber in allen Taschen zu suchen begann, bemerkte er plötzlich, daß sie alle drei auf seinem Schreibtisch lagen. Wie waren sie dorthin gekommen? Ssmerdjäkoff hatte sie gefunden und hingelegt. „Nun, mein Lieber, solch einen wie du habe ich denn doch noch nicht gesehen,“ meinte Fedor Pawlowitsch und schenkte ihm zehn Rubel. Ich muß hinzufügen, daß er nicht nur von seiner Ehrlichkeit überzeugt war, sondern ihn auch noch aus einem unbekannten Grunde liebte, obgleich jener ihn ebenso scheel ansah wie alle anderen, und ihm gegenüber ebenso wortkarg war. Nur selten begann er von selbst zu sprechen. Wenn damals jemand bei seinem Anblick gefragt hätte: Wofür interessiert sich eigentlich dieser Mensch, was hat er am häufigsten im Sinn, so hätte man es wirklich nicht sagen können. Währenddessen aber kam es vor, daß er im Hause oder auf dem Hof oder auch auf der Straße plötzlich tief nachdenklich stehen blieb und so zuweilen ganze zehn Minuten lang dastand. Ein Physiognomiker hätte gesagt, daß es weder Nachdenklichkeit noch Grübelei war, sondern so eine gewisse Kontemplation. Von dem Maler Kramski gibt es unter anderem ein sehr bemerkenswertes Bild: es heißt „Der Beschauliche“. Mitten auf dem verschneiten Waldwege steht in einem alten Mäntelchen und in alten Bastschuhen ein Bäuerlein, steht ganz allein, und als ob er ganz in Gedanken versunken wäre, doch er denkt nichts, er ist nur „beschaulich“. Würde man ihn stoßen, so würde er zusammenfahren und einen, wie aus dem Schlaf erwachend, ansehen, ohne jedoch etwas zu verstehen. Zwar würde er sofort zu sich kommen, doch wollte man ihn fragen, woran er gedacht, als er stand, so würde er es bestimmt nicht sagen können – dafür aber wird er zweifellos die Empfindung, die er während der Zeit seiner „Beschaulichkeit“ gehabt, auf ewig in seinem Innern behalten. Diese Empfindungen sind ihm teuer, und sicher sammelt er sie in sich auf, ohne es auch nur zu wissen – warum und wozu weiß er bestimmt gleichfalls nicht: Vielleicht macht er sich dann plötzlich auf und pilgert nach Jerusalem zum Heiligen Grabe, vielleicht aber ergreift ihn auch die Sehnsucht nach dem Heimatdorf, oder vielleicht geschieht das eine wie das andere. Solcher Menschen gibt es viele im Volk. Und einer von denen war nun zweifellos Ssmerdjäkoff, und bestimmt sammelte er gleichfalls gierig seine Eindrücke, fast ohne selbst zu wissen, warum.

VII.
Die Kontroverse

Aber siehe da, plötzlich tat Bileams Esel das Maul auf. Das Thema war ein ganz sonderbares, zufälliges: Grigorij hatte am Morgen, als er beim Kolonialwarenhändler Lukjanoff einkaufte, durch diesen von einem russischen Soldaten gehört, der irgendwo fern an der Grenze bei den Asiaten, in deren Gefangenschaft er geraten war, den Märtyrertod für seinen Glauben erduldet hatte. Seine Peiniger hatten von ihm unter Androhung der größten Foltern verlangt, vom Christentum zum Islam überzutreten, er aber hatte sich die Haut abziehen lassen und war, den Namen Christi preisend, gestorben. Die Nachricht von dieser Heldentat hatte gerade in den Morgenblättern gestanden. Grigorij nun erlaubte sich, bei Tisch das Gehörte zu erzählen. Fedor Pawlowitsch sah es auch früher schon nicht ungern, wenn Grigorij, nachdem er alles serviert hatte, noch bei Tisch stehen blieb, denn er liebte es, beim Dessert zu sprechen oder zu scherzen, und wenn er allein speiste, so tat er es eben mit Grigorij. Diesmal war er besonders gut gelaunt. Als er nun beim Kognak die erwähnte Geschichte von dem gemarterten Soldaten hörte, meinte er, man müsse diesen Märtyrer sofort heilig sprechen und seine abgezogene heilige Haut in irgendein Kloster bringen, und schloß mit dem Ausruf: „Wie das Volk und Geld anziehen würde!“ Grigorij runzelte die Stirn, da er sah, daß Fedor Pawlowitsch sich nicht im geringsten rühren ließ, sondern wie gewöhnlich mit seiner Religionsspötterei begann – als plötzlich Ssmerdjäkoff, der an der Tür stand, spöttisch lächelte. Ssmerdjäkoff hatte auch früher häufig zum Schluß der Mahlzeit mit Grigorij im Zimmer gestanden, seit der Ankunft Iwan Fedorowitschs jedoch war er ausnahmslos jedesmal erschienen.

„Was hast du?“ fragte Fedor Pawlowitsch, der das Lächeln bemerkt und sofort erraten hatte, daß es sich auf Grigorij bezog.

„Ich erlaube mir nur zu meinen,“ sagte Ssmerdjäkoff plötzlich mit ganz unerwartet lauter Stimme, „daß, wenn die Tat des lobenswerten Soldaten auch sehr gewaltig ist, wie ich meine, es doch hinwiederum keine Sünde gewesen wäre, wenn er sich in besagter Bedrängnis beispielsweise von Christi Namen und von seiner eigenen Taufe losgesagt hätte, um auf selbige Weise sein Leben für gute Taten zu erhalten, mit welchen er im Laufe der Jahre seine Kleinmütigkeit auskaufen könnte.“

„Wie soll denn das keine Sünde sein? Du faselst, mein Lieber, dafür kommst du direkt in die Hölle, wo man dich noch wie Hammelbraten rösten wird,“ widersprach ihm Fedor Pawlowitsch.

In dem Augenblick trat Aljoscha ein, und Fedor Pawlowitsch freute sich ungemein über sein Kommen.

„Ein Thema für dich, für dich!“ rief er fröhlich kichernd Aljoscha zu.

„Geröstetwerden wie Hammelbraten? Das ist nicht so, und es wird mir dort nichts dafür geschehen, und nach aller Gerechtigkeit muß dort auch nichts Derartiges sein,“ bemerkte Ssmerdjäkoff solide überzeugt.

„Wie das, nach aller Gerechtigkeit?“ fragte Fedor Pawlowitsch noch lustiger und versetzte Aljoscha mit dem Knie unter dem Tisch heimlich einen Stoß.

„Ein gemeiner Mensch ist er, und das ist alles!“ platzte plötzlich Grigorij heraus und blickte dabei Ssmerdjäkoff offen in die Augen.

„In betreff des gemeinen Menschen gedulden Sie sich etwas, Grigorij Wassiljewitsch,“ entgegnete ruhig und zurückhaltend Ssmerdjäkoff, „und bedenken Sie lieber selbst, daß ich, wenn ich einmal in die Gefangenschaft der Henker der Christenheit gefallen bin und sie von mir verlangen, den Namen Gottes zu verfluchen und mich von meiner heiligen Taufe loszusagen, ich also durch meine eigene Vernunft zu selbiger Tat ermächtigt bin, denn hierbei kann von Sünde gar keine Rede sein.“

„Das hast du ja schon gesagt, schwatz nicht so viel, sondern beweise!“ rief Fedor Pawlowitsch.

„Suppendreher!“ stieß Grigorij verächtlich zwischen den Zähnen hervor.

„In betreff des Suppendrehers gedulden Sie sich gleichfalls, und bedenken Sie es lieber, ohne zu schimpfen, selbst, Grigorij Wassiljewitsch. Denn kaum, daß ich zu meinen Peinigern sage: ‚Nein, ich bin kein Christ, und ich verfluche meinen wahrhaftigen Gott,‘ so bin ich auch schon in selbigem Augenblick von Gottes höchstem Gericht verurteilt und ganz speziell verdammt und von der heiligen Kirche ausgeschlossen, ganz wie eine Heide, und das sogar in demselben Moment, nicht nur Augenblick, wie ich dieses – nicht nur ausspreche, sondern nur bloß denke auszusprechen, so daß hierbei noch keine Viertelsekunde verstreicht, bevor ich schon ausgeschlossen bin. Ist es so, oder ist es nicht so, Grigorij Wassiljewitsch?“

Er wandte sich mit sichtlicher Genugtuung immer an Grigorij, obgleich er nur auf die Frage Fedor Pawlowitschs antwortete, und das auch sehr gut begriff, doch tat er absichtlich so, als ob ihm Grigorij diese Fragen stellte.

„Iwan!“ rief plötzlich Fedor Pawlowitsch, „beug dich ganz nah zu mir. Das macht er alles nur deinetwegen, will, daß du ihn lobst. Und du lob ihn auch.“

Iwan Fedorowitsch hörte vollkommen ernst die begeisterte Mitteilung seines Vaters an.

„Wart, Ssmerdjäkoff, halt noch einen Augenblick das Maul,“ rief wieder Fedor Pawlowitsch. „Iwan, beug dich wieder zu mir.“

Iwan Fedorowitsch beugte sich wieder mit dem ernstesten Gesicht zu ihm.

„Ich liebe dich ganz ebenso wie Aljoschka. Glaub nicht, daß ich dich vielleicht nicht liebe. – Kognak?“

„Meinetwegen.“

„Nun, bist ja schon gehörig angetrunken,“ dachte Iwan Fedorowitsch, der seinen Vater scharf anblickte, bei sich. Den Diener Ssmerdjäkoff aber beobachtete er sehr interessiert.

„Du bist auch jetzt verflucht!“ platzte wieder Grigorij heraus. „Wie wagst du überhaupt ...“

„Schimpf nicht, Grigorij, schimpf nicht!“ unterbrach ihn Fedor Pawlowitsch.

„Gedulden Sie sich nur noch kurze Zeit, Grigorij Wassiljewitsch, und hören Sie weiter, da ich noch nicht geendet habe. Denn also, wenn mich Gott verflucht, bin ich doch schon in demselben Moment gleich einem Heiden und meiner Taufe ledig, als ob ich nie getauft gewesen wäre. Ist nun wenigstens das so oder nicht?“

„Komm zum Schluß, zum Schluß, mein Lieber,“ rief Fedor Pawlowitsch, der mit Genuß aus seinem Gläschen nippte.

„Wenn ich aber zu selbiger Zeit schon nicht mehr Christ war, so habe ich alsomit auf die Frage: ‚Bin ich Christ oder nicht?‘ nicht gelogen, denn ich bin dann doch schon von Gott selber meines Christentums entbunden, von wegen meines bloßen Gedankens, noch bevor ich ein Wort zu meinen Peinigern gesprochen habe. Wenn ich aber alsomit auf diese Weise des Christentums entbunden bin, mit welcher Gerechtigkeit wird man dann noch in jener Welt von mir Verantwortung dafür verlangen, daß ich Christum verleugnet habe, während ich doch schon vor meiner Verleugnung, schon für den bloßen Gedanken, der doch ganz von selber kommt, meiner Taufe entbunden war? Wenn ich aber nicht mehr Christ bin, kann ich mich doch alsomit auch nicht von Christus lossagen, denn was man nicht hat, das kann man auch nicht fortwerfen. Denn sagen Sie doch selbst, Grigorij Wassiljewitsch, wer wird denn von einem heidnischen Tataren, meinetwegen selbst im Himmelreich, dafür Rechenschaft fordern, daß er nicht als Christenkind geboren ist, und wer wird ihn dort dafür strafen, wenn man noch bedenkt, daß man von einem Ochsen nicht zwei Felle abziehen kann. Wird doch der allmächtige Gott, selbst wenn er ihn nach seinem Tode danach fragt, ihn nur ganz wenig bestrafen, denke ich – da es doch nicht gut geht, daß er gar nicht strafen wird –, ich meine, wenn Gott der Herr es sich selbst überlegt, daß der Sohn doch nichts dafür kann, daß er von heidnischen Eltern auf die Welt gekommen und Heide geworden ist. Gott der Herr kann doch nicht den Tataren vergewaltigen, ihn nehmen und schlankweg sagen, daß auch er Christ gewesen sei? Das hieße dann doch, daß der Allerhalter die reinste Unwahrheit sagt. Kann denn aber der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erde auch nur ein einziges erlogenes Wort sagen?“

Grigorij war sprachlos und starrte nur mit weit aufgerissenen Augen auf den Redner. Wenn er auch nicht recht verstand, was er sagte, so begriff er plötzlich von diesem ganzen Gerede doch so viel, daß er mit dem Ausdruck eines Menschen dastand, der plötzlich mit der Stirn an eine Wand gestoßen ist. Fedor Pawlowitsch trank sein Gläschen aus und lachte ein helles, halbtrunkenes Lachen, als Ssmerdjäkoff geendet hatte.

„Aljoschka, Aljoschka, wie findest du das! Sieh doch einer, als was für ein Kasuist der sich entpuppt! Iwan, er muß irgendwo bei Jesuiten in der Schule gewesen sein. Sag mir doch, du mein stinkender Jesuit, du Jesuitssmerdjätschij – na, ’s kommt doch auf eins heraus –, wo hast du das gelernt? Nur laß dir gesagt sein, daß du lügst, mein lieber Kasuist, du lügst wie gedruckt, wie gedruckt! Weine nicht, Grigorij, wir werden ihn sofort aufs Haupt schlagen. Hör jetzt, Esel, und antworte dann: Schön, du bist vor deinen Peinigern im Recht, aber innerlich hast du dich doch von deinem Glauben damit losgesagt, und du sagst ja selbst, daß du noch in selbiger Stunde verflucht wirst, wenn du aber schon einmal verflucht bist, so, was glaubst du wohl, wird man dir dann noch in der Hölle dafür wie einem braven Jungen das Köpfchen streicheln? Was meinst du dazu, du mein lieber Jesuit?“

„Das ist so, wie es ist; es ist doch klar, daß ich mich dann in mir selber gleichfalls von der Kirche losgesagt habe, aber trotzdem kann hierbei keine spezielle Sünde sein, oder wenn, dann doch nur eine kleine und äußerst alltäglich gewöhnliche.“

„Wie das, äußerst alltäglich gewöhnliche?“

„Du lügst, Verfluchter!“ stieß Grigorij ingrimmig hervor.

„Urteilen Sie doch selbst, Grigorij Wassiljewitsch!“ Ruhig und gemessen, mit dem vollen Bewußtsein des Sieges und doch mit einer gewissen Großmut dem geschlagenen Gegner gegenüber, fuhr Ssmerdjäkoff in seiner Auseinandersetzung fort. „Urteilen Sie doch selbst: es steht doch in der Bibel geschrieben: Wenn Sie einen Glauben auch nur von der Größe eines Senfkörnchens haben und dabei diesem Berge sagen, daß er ins Meer rutschen soll, selbiger Berg es unverzüglich tun werde, dieweil Sie es so befehlen. Wenn ich alsomit ein Ungläubiger bin, Sie aber, Grigorij Wassiljewitsch, ein so gewaltiger Gläubiger sind, daß Sie mich wegen meiner besagten Ungläubigkeit sogar mannigfach beschimpfen, so versuchen Sie es doch, sagen Sie diesem Berge, daß er nicht bis ins Meer – nun, bis zum Meer ist es sehr weit von hier –, sondern meinetwegen auch nur in unser stinkendes Flüßchen, das hier hinterm Garten fließt, rutschen soll, dann werden Sie selber sehen, noch im selben sogenannten Moment, daß nichts von der Stelle rutscht und alles so bleibt, wie es war und ist, wieviel Sie auch schreien wollten. Das aber bedeutet, daß auch Sie nicht in der vorgeschriebenen Weise glauben und nur andere dafür alleweil mannigfach beschimpfen. Und wenn man hinwiederum nimmt, daß heutzutage niemand, nicht nur Sie allein nicht, sondern überhaupt niemand, angefangen sogar von den Allerhöchsten bis zum letzten Bauernkerl, einen Berg ins Meer rücken kann, außer vielleicht irgendeinem einzigen Menschen auf der ganzen Welt – zwei wären schon viel –, und auch die suchen vielleicht dort irgendwo in der ägyptischen Wüstenei als Einsiedler ihr Heil, so daß man sie vielleicht überhaupt nicht finden kann ... also wenn es so ist, wenn alle anderen sich als Ungläubige erweisen, also wird dann all diesen anderen gegenüber, außer diesen beiden Einsiedlern, Gott der Herr in seiner großen Barmherzigkeit, die doch so bekannt ist, wohl Gnade vor Recht walten lassen? Alsomit hoffe auch ich, daß Gott der Herr mir verzeihen wird, wenn ich einmal gezweifelt habe und darüber Tränen der Reue vergieße.“

„Halt!“ schrie plötzlich Fedor Pawlowitsch in der größten Begeisterung dazwischen, „also daß es zwei solche gibt, die den Berg von der Stelle rücken können, nimmst du schließlich doch an? Iwan, behalte das, schreib’s auf: Hierin hat sich das ganze russische Volk geäußert!“

„Ja, das haben Sie richtig bemerkt, daß das ein russischer Zug im Volksglauben ist,“ stimmte Iwan Fedorowitsch mit beifälligem Lächeln zu.

„Ah, du gibst es zu! Also ist es so, wenn sogar du es zugibst! Aljoschka, das ist doch wahr? Genau so ist doch der russische Glaube?“

„Nein, Ssmerdjäkoff hat durchaus keinen russischen Glauben,“ sagte Aljoscha ernst und überzeugt.

„Ich rede nicht von seinem Glauben, sondern nur von diesem einen Zug, von diesen zwei Einsiedlern, nur von diesem einen kleinen Zug: Das ist doch russisch, aber echt russisch!“

„Ja, dieser Zug ist allerdings ganz russisch,“ meinte Aljoscha lächelnd.

„Hör, Bileams Esel, dein Wort ist ’nen Rubel wert, werde ihn dir noch heute geben, doch im übrigen lügst du trotzdem, das sage ich dir, lügst wie gedruckt! Laß es dir jetzt gesagt sein, Dummkopf, daß wir alle hier im Leben bloß aus Leichtsinn nicht glauben, wir haben keine Zeit dazu: erstens wächst uns die Arbeit schon über den Kopf, und zweitens hat uns Gott nur wenig Zeit gegeben, hat im ganzen für den Tag nur vierundzwanzig Stunden bestimmt, so daß man ja nicht einmal Zeit zum Ausschlafen hat, von Bereuen schon gar keine Rede. Du aber hast dort vor den Quälgeistern deinen Glauben in einem Augenblick verleugnet, da du an nichts anderes mehr als nur an deinen Glauben zu denken hattest, als es gerade hieß, deinen Glauben zeigen! Das ist doch so, mein Lieber, denke ich?“

„So ist es schon, aber urteilen Sie selbst, Grigorij Wassiljewitsch, daß es doch um so mehr erleichtert, je mehr es so ist. Denn wenn ich im selbigen Moment so wahrhaftig glaube, wie es geboten ist zu glauben, dann wäre es wirklich Sünde, wenn ich für meinen Glauben keine Qualen auf mich nehmen wollte, und zu den verfluchten Mohammedanern übertreten würde. Aber dann würde es doch überhaupt nicht bis zum Foltern kommen, denn dann brauchte ich doch nur im selbigen Moment zu dem Berge zu sagen: erdrücke den Henker, und der Berg würde ihn sofort wie eine Wanze plattdrücken, und ich würde fortspazieren, als ob nichts gewesen wäre, lobsingend und den Namen Gottes preisend. Wenn ich es aber in diesem selbigen Moment versuchte und absichtlich dem Berg zuschrie: ‚erdrücke meine Henker‘, der Berg sie aber nicht erdrückt, wie soll ich dann, sagen Sie doch selbst, wie soll ich dann nicht zweifeln, und dazu noch in einer so furchtbaren Stunde der gewaltigen Todesangst? Und überdies weiß ich dann noch, daß ich des Himmelreichs sowieso nicht in der Vollkommenheit teilhaftig werde – sintemal sich doch der Berg auf mein Wort hin nicht gerührt hat, alsomit heißt es, daß man meinem Glauben droben doch nicht gerade sonderlich glaubt, und mich alsomit nicht gar so große Belohnungen daselbst erwarten – warum soll ich mir dann überdies, und schon ohne jeden Vorteil für mich, noch meine Haut abziehen lassen? Denn selbst wenn sie mir meine Haut schon bis zur Hälfte abgerissen haben, so wird doch der Berg auf mein Wort oder Geschrei nicht von der Stelle rücken. Aber in solch einem Moment können einen doch nicht nur Zweifel befallen, sondern kann man sogar vor Angst selbst den Verstand verlieren, so daß ein Überlegen und jegliches Denken ganz und gar unmöglich wird. Wodurch bin ich dann so besonders sündig, wenn ich, dieweil ich weder hier noch dort dafür Belohnung sehe, wenigstens mir meine Haut bewahre? Darum aber nähre ich im Vertrauen auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes die Hoffnung, daß mir alsomit ganz verziehen werden wird ...“

VIII.
Beim Gläschen

Der Streit war beendet, doch sonderbar: der so gut aufgelegte Fedor Pawlowitsch wurde plötzlich verdrießlich. Er ärgerte sich und goß sich wieder einen Kognak hinter die Binde – es war schon ein ganz überflüssiges Gläschen.

„Ach, packt euch, ihr Jesuiten allesamt, hinaus!“ schrie er mit einem Male die Dienstboten an. „Scher dich, Ssmerdjäkoff. Werde dir heute den versprochenen Rubel geben, jetzt aber marsch. Sei nicht traurig, Grigorij, schieb ab zu Marfa, sie wird dich trösten, schlafen legen ... Die Kanaillen lassen einen wirklich nicht in Ruhe ein Stündchen nach dem Essen sitzen,“ schimpfte er verstimmt, als sich die Dienstboten auf seinen Befehl sofort zurückgezogen hatten. „Ssmerdjäkoff kriecht jetzt jeden Tag nach dem Essen her. Du bist es, der ihn so interessiert. Womit hast du es ihm denn angetan?“ fragte er Iwan Fedorowitsch.

„Eigentlich mit nichts,“ entgegnete der, „es ist ihm eingefallen, mich zu verehren; er ist eine Lakaienseele, ein echter Ham. Übrigens fortschrittlicher Humus, wenn die Zeit kommt.“

„Fortschrittlicher?“

„Es wird andere und bessere geben, aber auch solche wird es geben. Zuerst werden es solche sein, nach ihnen aber bessere.“

„Und wann wird denn die Zeit kommen?“

„Anbrennen wird die Rakete, aber vielleicht doch nicht aufsteigen. Vorläufig liebt das Volk noch nicht sonderlich diesen ‚Suppendrehern‘ zuzuhören.“

„Das ist’s ja, solch ein Bileams Esel denkt und denkt, und – der Teufel mag wissen, was sich der Kerl schließlich zusammendenkt.“

„Speichert Gedanken auf,“ meinte Iwan lächelnd.

„Sieh, ich weiß zum Beispiel, daß er auch mich nicht leiden kann, ganz wie alle anderen, dich ganz genau so wenig, obgleich dir scheint, es sei ihm eingefallen, dich ‚zu verehren‘. Aljoschka natürlich schon längst nicht, den verachtet er einfach. Aber er stiehlt nicht, er klatscht nicht, hält das Maul wie festgenäht, trägt nichts auf den Markt zum Durchhecheln, macht seine Pasteten einfach großartig, und zudem – ach, zum Teufel mit ihm, nein, wirklich, lohnt es sich denn überhaupt, über ihn zu sprechen!?“

„Natürlich lohnt es sich nicht.“

„Und was da seine Gedanken anbetrifft, die er sich im stillen macht, so im allgemeinen gesagt, muß man den russischen Bauer einfach versohlen, merk dir das. Das hab ich immer behauptet: Unser Bauer ist ein Spitzbube, es lohnt sich nicht, ihn zu bedauern; gut, daß er auch jetzt noch zuweilen versohlt wird. Unser Vaterland ist stark geworden durch die Birkenrute. Wenn sie die Wälder abholzen, wird auch Rußlands ganze Kraft flöten gehen. Ich, weißt du, bin immer für die klugen Leute. Jetzt hat man aufgehört, die Bauern zu prügeln, hält sich für zu klug dazu, und so prügeln sich jetzt die Kerls selbst untereinander. Oh, sie täten gut, wenn sie das Prügeln aufrechterhielten. Mit welch einem Maß du missest, wird dir wieder gemessen werden, oder wie es da ... Kurz und gut, es wird wieder gemessen, das ist ja die Hauptsache. Rußland aber ist nichts als eine Schweinewirtschaft. Mein Lieber, wenn du wüßtest, wie ich Rußland hasse ... das heißt, nicht Rußland, aber alle diese Laster ... meinetwegen auch ganz Rußland. Tout cela c’est de la cochonnerie. Weißt du, was ich liebe? Ich liebe Witz und Scharfsinn!“

„Sie haben schon wieder ein Glas ausgetrunken. Das sollten Sie lieber nicht mehr tun.“

„Wart, ich werde gleich noch eins trinken, und dann noch eins, und dann meinetwegen Schluß. Nein, wart, du hast mich unterbrochen. In Mokroje fragte ich einmal auf der Durchfahrt einen Alten, er aber sagt mir: ‚Am meisten lieben wir es,‘ sagt er, ‚Mädels zu Prügelstrafe zu verurteilen, und dreschen lassen wir sie dann immer von den Burschen. Am nächsten Tage aber nehmen sich die Burschen dann immer die zur Braut, die sie am Tag vorher gedroschen haben, und so haben denn schließlich die Mädels auch nichts dagegen.‘ He, wie findest du diesen Marquis de Sade, Wanjä? Aber sag, was du willst, es steckt doch Scharfsinn darin. Sollen wir nicht mal hinfahren, es uns anzusehen? Was? Aljoschka, warum wirst du so rot? Schäm dich nicht, Kindchen. Schade, daß ich vorhin beim Prior nicht zu Tisch blieb, hätte den Mönchen von diesen Dorfmädels erzählen müssen. Aljoschka, sei nicht bös, daß ich deinen Prior kränkte. Weißt du, mein Lieber, mich packt zuweilen die Wut. Denn wenn Gott ist, wenn er wirklich existiert, – nun ja, natürlich, dann bin ich schuldig und werde es verantworten müssen, aber wenn es Ihn überhaupt nicht gibt, wozu braucht man sie dann noch, diese deine Patres? Dann ist’s doch viel zu wenig, sie zu köpfen, halten sie doch die ganze Entwicklung auf! Wirst du’s mir glauben, Iwan, das peinigt meine besten Gefühle. Nein, du glaubst es mir nicht, ich sehe es an deinen Augen. Du glaubst den Leuten, wenn sie sagen, daß ich im ganzen nur ein Hansnarr sei. Aljoscha, glaubst du mir, daß ich im ganzen nicht nur ein Narr bin?“

„Ich glaube es, daß Sie nicht nur das sind.“

„Und ich glaube dir, daß du es glaubst, und daß du aufrichtig sprichst. Du blickst mich aufrichtig an und sprichst auch aufrichtig. Iwan aber nicht. Iwan ist hochmütig ... Aber trotzdem würde ich mit deinem Kloster ein Ende machen. Diese ganze Mystik einfach beseitigen und auseinanderjagen, um alle diese Esel zur Vernunft zu bringen. Und wieviel Silber, wieviel Gold dabei in den Münzhof kommen würde!“

„Wozu denn beseitigen?“ fragte Iwan.

„Damit die Wahrheit schneller durch die Wolken bricht und überall erstrahlt, siehst du jetzt, warum!“

„Aber wenn diese Wahrheit erstrahlt, so wird man doch Sie als ersten berauben und dann ... beseitigen.“

„Wieso? Ach, natürlich, weiß der Teufel, du hast recht! Ich Esel!“ fuhr Fedor Pawlowitsch sofort auf, und schlug sich leicht mit der Hand vor die Stirn. „Nun, dann mag also dein liebes Kloster stehen bleiben so lang es will, Aljoschka, wenn’s so ist. Weißt du auch, Iwan, daß das von Gott dann wahrscheinlich unbedingt absichtlich so eingerichtet worden ist? Iwan, sag: gibt es Gott oder gibt es ihn nicht? Wart: sage deine Überzeugung, sag es im Ernst! Warum lachst du wieder?“

„Ich lache nur, weil Sie selbst vorhin eine scharfsinnige Bemerkung machten über Ssmerdjäkoffs Glauben an die zwei Einsiedler, die einen Berg versetzen könnten.“

„Ja, bin ich denn jetzt ihm ähnlich?“

„Sogar sehr.“

„Nun, schön, also bin auch ich ein Russe, so habe auch ich einen russischen Zug, aber auch dich, mein Philosoph, kann man auf solch einem Zuge ertappen. Willst du, soll ich? Wetten wir, daß ich dich morgen noch auf solch einem ertappe! Aber trotzdem sag, gibt es Gott oder gibt es Ihn nicht? Nur im Ernst! Ich will es jetzt im Ernst wissen.“

„Nein, es gibt keinen Gott.“

„Aljoschka, gibt es einen Gott?“

„Es gibt einen Gott.“

„Iwan, aber gibt es Unsterblichkeit, nun, dort, irgendeine, nun, meinetwegen eine ganz kleine, klitzekleine?“

„Nein, auch Unsterblichkeit gibt es nicht.“

„Überhaupt keine?“

„Überhaupt keine.“

„Das heißt, eine absolute Null oder doch etwas? Vielleicht ist doch noch etwas? Das ist doch immer noch nicht Nichts!“

„Eine absolute Null.“

„Aljoscha, gibt es Unsterblichkeit?“

„Ja, es gibt eine Unsterblichkeit.“

„Gott und Unsterblichkeit?“

„Ja, Gott und Unsterblichkeit.“

„Hm! Wahrscheinlicher ist, daß Iwan recht hat. Herrgott, wenn man bloß bedenkt, wieviel der Mensch Glauben hingegeben hat, wieviel Kräfte aller Art er ganz umsonst für diese Idee vergeudet hat, und das schon so viele Jahrtausende! Wer macht sich denn so lustig über den Menschen, Iwan? Zum letztenmal noch einmal, aber jetzt positiv: gibt es einen oder nicht? Ich frage zum letztenmal!“

„Und zum letztenmal – nein.“

„Wer macht sich denn so lustig über uns Menschen, Iwan?“

„Der Teufel vielleicht,“ meinte Iwan Fedorowitsch lächelnd.

„Ja, gibt es denn einen Teufel?“

„Nein, auch einen Teufel gibt es nicht.“

„Schade. Weiß der Teufel noch eins, was ich mit demjenigen machen würde, der zum erstenmal Gott ausgedacht hat! Ihn einfach zu erhängen wäre ja viel zu wenig!“

„Dann würde es überhaupt keine Kultur geben, wenn man sich nicht Gott ausgedacht hätte.“

„Nicht geben? Ohne Gott, meinst du?“

„Ja. Und auch Ihren Kognak gäbe es dann nicht. Aber jetzt werde ich doch die Flasche fortstellen müssen.“

„Wart, wart, wart, mein Lieber, noch ein einziges kleines Gläschen. Ich habe Aljoschka gekränkt. Du ärgerst dich doch nicht, Alexei? Du mein lieber Alexeitschik, bist doch mein einziger Alexeitschik!“

„Nein, ich ärgere mich nicht. Ich kenne Ihre Gedanken. Ihr Herz ist besser, als Ihr Kopf.“

„Was, mein Herz soll besser sein als mein Kopf? Großer Gott, und wie er das noch sagt!? Iwan, liebst du Aljoschka?“

„Ich liebe ihn.“

„Ist recht so, sollst ihn auch lieben.“ (Fedor Pawlowitsch war bereits stark berauscht.) „Hör, Aljoscha, ich sagte deinem Staretz vorhin eine Grobheit. Nun, ich war erregt. Aber in diesem Staretz steckt doch Scharfsinn, er kann wirklich geistreich sein, was meinst du, Iwan?“

„Warum nicht.“

„Doch, doch, il y a du Piron là dedans. Das ist ein Jesuit, ein russischer, versteht sich. Als edles Wesen, das er ist, kocht in ihm dieser gewisse verborgene Unwille darüber, daß er sich verstellen muß ... den Heiligen spielen.“

„Aber er glaubt doch an Gott.“

„Nicht für ’ne halbe Kopeke! Und du wußtest das nicht? Er sagt es doch allen selbst, das heißt, nicht allen, sondern nur allen klugen Leuten, die zu ihm kommen. Dem Gouverneur Schulz hat er ganz offen gesagt: ‚credo, weiß aber selbst nicht, woran.‘“

„Unmöglich!“

„Genau so, sag ich dir. Aber ich achte ihn sehr. Es ist etwas Mephistophelisches in ihm, oder richtiger, etwas aus Lermontoffs ‚Helden unserer Zeit‘ ... Arbenin oder wie der Kerl da heißt ... das heißt, sieh mal, er ist ein Lüstling; er ist dermaßen Lüstling, daß ich auch jetzt noch für meine Tochter zittern würde, oder für meine Frau, wenn sie zu ihm beichten ginge. Weißt du, wenn er davon erzählt ... Einmal, vor drei Jahren, lud er uns zu sich zum Tee ein, Tee mit einem pikfeinen Likörchen (die Damen schicken ihm alles zu), wie er aber dann von den alten Zeiten zu erzählen begann, da haben wir uns nur den Leib gehalten vor Lachen ... Besonders wie er eine Halbgelähmte geheilt hätte. ‚Wenn’s nur meine Füße erlaubten,‘ sagte er, ‚würde ich Ihnen ein gewisses Tänzchen vortanzen‘ ... Nun, wie? Wie findet ihr ihn? ‚Hab in meinem Leben den Leuten nicht wenig blauen Dunst vorgemacht,‘ sagt er. Vom Kaufmann Demidoff hat er sich runde Sechzigtausend eingezogen.“

„Wie, gestohlen?“

„Der brachte sie zu ihm wie zu einem heiligen Menschen: ‚Verwahr sie, morgen ist bei mir Haussuchung.‘ Nun, der verwahrte sie denn auch. ‚Du hast doch,‘ sagt er darauf, ‚die Sechzigtausend für die Kirche gespendet.‘ Sagte ihm: ‚Ein Schuft bist du.‘ ‚Nein,‘ sagt er, ‚bin kein Schuft, bin nur eine weit angelegte Natur‘ ... Übrigens, das war nicht er ... Das war ein anderer. Ich hab sie nur verwechselt ... ohne es selbst zu bemerken. Nun, jetzt noch ein Gläschen und dann Schluß, nimm die Flasche fort, Iwan. Ich habe gelogen, warum hast du mich nicht unterbrochen, Iwan ... und gesagt, daß ich lüge?“

„Ich wußte, daß Sie es selbst sagen würden.“

„Du lügst, das hast du aus Bosheit nicht getan, nur aus Bosheit. Du verachtest mich. Du bist hergekommen zu mir und verachtest mich jetzt in meinem eigenen Hause.“

„Ich werde sehr bald fortfahren; der Kognak ist Ihnen nicht gerade zuträglich.“

„Ich hab dich himmelhoch gebeten, nach Tschermaschnjä zu fahren ... auf ein, zwei Tage, du aber fährst nicht.“

„Morgen, wenn es Ihnen so sehr darum zu tun ist.“

„Wirst ja doch nicht fahren. Du willst hier auf mich aufpassen, mich bespionieren, siehst du, was du willst, eine böse Seele bist du, und darum wirst du auch nicht fahren.“

Der Alte hörte nicht auf. Er hatte jene Phase der Trunkenheit erreicht, in der viele bis dahin friedliche Trinker sich plötzlich ärgern wollen.

„Was siehst du mich an? Was hast du für Augen? Deine Augen sehen mich an und sagen mir: ‚Betrunkene Fratze.‘ Mißtrauisch sind deine Augen, mit Verachtung blicken deine Augen ... Du bist hergekommen, weil du was ganz Besonderes im Sinne hast. Sieh, Aljoscha blickt einen an, und seine Augen strahlen dabei; der hat keine Hintergedanken. Aljoscha verachtet mich nicht. Aljoscha, du sollst Iwan nicht lieben!“

„Ärgern Sie sich nicht über meinen Bruder! Hören Sie endlich auf, ihn zu beleidigen!“ sagte plötzlich Aljoscha heftig.

„Was, wieso – ich, nun, meinetwegen. Ach, mein Kopf schmerzt. Nimm den Kognak fort, Iwan, zum drittenmal sag ich es dir schon.“ Er verstummte, wurde nachdenklich, und allmählich verzog sich sein Gesicht zu einem schlauen, breiten Lächeln. „Sei nicht bös, Iwan, ärgere dich nicht über den alten Taugenichts. Ich weiß, daß du mich nicht liebst, aber trotzdem ärgere dich nicht. Wofür sollte man mich auch lieben. Wenn du nach Tschermaschnjä fährst, werde ich dich besuchen, Delikatessen mitbringen. Ich werde dir dort ein Mädel zeigen, ich habe sie mir schon längst gemerkt. Vorläufig ist sie noch ein Barfüßchen. Aber laß dich dadurch nicht abschrecken, verachte sie nicht, die Barfüßchen – Perlen, sag ich dir!“

Und er drückte schmatzend einen Kuß auf seine Handfläche.

„Für mich,“ begann er plötzlich ganz belebt, als sei er im Augenblick nüchtern geworden, sobald er nur auf sein Lieblingsthema kam, „für mich ... Ach ihr! Kinderchen! Kleine Ferkelchen seid ihr! Für mich ... hat es sogar in meinem ganzen Leben kein einziges verächtliches Weib gegeben, das ist die Regel, an die ich mich halte! Könnt ihr das begreifen? Ach, wie sollt ihr denn das begreifen können: bei euch fließt ja noch Kindermilch anstatt Blut in den Adern, seid ja doch noch nicht mal aus dem Ei gekrochen! Nach meiner Überzeugung kann man in jedem Weibe ungewöhnlich viel, hol’s der Teufel, Interessantes finden, etwas, das man bei keiner einzigen anderen wiederfinden kann, – nur muß man es zu finden verstehen, das ist der Haken! Dazu gehört eben ein Talent! Unmögliche hat’s für mich überhaupt nicht gegeben: schon allein das, daß sie Weib ist, schon allein das – ist die Hälfte des Ganzen ... aber wie sollt ihr das begreifen! Selbst in den alten Jungfern findest du zuweilen noch so etwas, daß du dich über die übrigen Esel nur wundern kannst, wie sie sie nur haben alt werden lassen, ohne es überhaupt zu bemerken! Die Barfüßigen und Ausrangierten muß man ganz zuerst in Erstaunen setzen, – siehst du, so muß man sie anfassen. Und du wußtest das noch nicht? In Erstaunen muß man sie setzen, in eine Verwunderung, die zum Entzücken wird, die sie schließlich wie Begeisterung durchdringt, daß sich solch ein vornehmer Herr in solch einen Schmutzfink, wie sie, hat verlieben können. ’s ist wahrhaftig schön, daß es immer Hamiten und Herren auf der Welt geben wird, dann wird es auch immer solch eine kleine Scheuermagd geben, und immer auch einen Herrn für sie, das aber ist doch alles, was zum Lebensglück nötig ist! Wart ... hör mal, Aljoschka, mit deiner verstorbenen Mutter machte ich es ebenso, ich setzte sie gleichfalls in Erstaunen, nur kam es dabei anders heraus. Bin lange Zeit nicht zärtlich zu ihr, dann aber, wenn die Minute kommt – falle ich plötzlich vor ihr nieder, krieche auf den Knien vor ihr herum, küß ihr die Füßchen und bringe sie jedesmal, jedesmal – erinnere mich dessen noch wie heute – zu solch einem kleinen Lachen, solch einem trockenen, hellen, nicht lauten, nervösen ganz besonderen Lachen. Nur sie allein hatte solch ein Lachen. Ich weiß, daß damit bei ihr immer die Krankheit anfängt, daß sie morgen als Klikuscha rufen wird, und daß dieses kleine, trockene Lachen nichts weniger als Begeisterung bedeutet ... nun, einerlei, wenn auch Betrug, aber immerhin doch Begeisterung. Seht ihr, was das heißt, in allem so etwas zu finden verstehen! Einmal, weiß ich noch, war Beljäwski – ein hübscher, steinreicher Junge, hatte sich in sie verliebt und kam daher häufig zu uns ... Na ja, was ich sagen wollte, dieser Beljäwski also gab mir plötzlich in meinem eigenen Hause eine Ohrfeige, und zwar in ihrer Gegenwart. Als sie das sah, solch ein Lamm, – ich dachte, sie schlägt mich tot! ‚Jetzt bist du beschimpft,‘ schreit sie, ‚beschimpft, du hast von ihm eine Ohrfeige bekommen! Du hast mich,‘ sagt sie, ‚an ihn verkauft ... Wie hat er es wagen können, dich in meiner Gegenwart zu schlagen! Wage es nicht mehr, zu mir zu kommen, nie mehr, nie mehr! Geh sofort, fordere ihn auf Pistolen‘ ... So daß ich sie damals zur Beruhigung ins Kloster schleppen mußte, die heiligen Väter stellten sie durch Gebete wieder her. Aber, bei Gott, das hatte ich doch nicht von meiner kleinen Klikuscha erwartet! Nur einmal, höchstens einmal, es war noch im ersten Jahr: sie betete damals schon gar zu viel, besonders an den Feiertagen der Muttergottes, dann jagte sie sogar mich fort, in mein Kabinett – schlafen. Ich dachte, wart, werde diese ganze Mystik aus ihr heraustreiben! ‚Siehst du,‘ sage ich, ‚siehst du, das ist dein Heiligenbild, sieh, hier ist es, sieh, ich hab es abgenommen: und jetzt sieh, du hältst es für wundertätig, ich aber werde es jetzt gleich hier vor deinen Augen anspucken, und nichts wird dafür mit mir geschehen!‘ ... Wie sie das sah, Herrgott, denke ich: jetzt wird sie mich totschlagen! Sie aber sprang nur auf, krampfte die Hände zusammen, dann bedeckte sie mit ihnen das Gesicht, erzitterte am ganzen Körper und fiel zu Boden ... einfach so ... Aljoscha, Aljoscha! Was hast du, was fehlt dir?“

Der Alte sprang erschrocken auf. Aljoschas Gesicht hatte sich seit dem Augenblick, da der Vater von seiner Mutter zu sprechen begann, allmählich verändert. Er wurde rot, seine Augen flackerten auf, und die Lippen erzitterten ... Der trunkene Alte schwatzte weiter, daß ihm der Speichel von den Lippen spritzte, und bemerkte nichts davon – bis zu dem Augenblick, da mit Aljoscha plötzlich etwas sehr Sonderbares geschah, und zwar wiederholte sich bei ihm genau dasselbe, was der Alte gerade von seiner „Klikuscha“ erzählte. Aljoscha sprang plötzlich auf, krampfte die Hände zusammen, bedeckte dann mit ihnen das Gesicht und fiel wie vom Blitz getroffen zurück auf den Stuhl; er erbebte plötzlich von einem hysterischen Anfall erschütternder Tränen und schluchzte lautlos. Die ungewöhnliche Ähnlichkeit mit der Mutter frappierte den Alten ganz besonders.

„Iwan, Iwan! Gib schnell Wasser,“ rief er erregt. „Das ist ganz wie sie, ganz genau so wie sie, wie damals seine Mutter! Bespritz ihn ein bißchen mit dem Wasser, so machte auch ich es mit ihr. Er weint wegen seiner Mutter ... wegen seiner Mutter ...“

„Ich glaube, seine Mutter war auch meine Mutter, was meinen Sie wohl?“ stieß plötzlich in unbezwingbarer, zorniger Verachtung Iwan Fedorowitsch hervor.

Der Alte fuhr zusammen vor seinem lodernden Blick. Doch da geschah etwas sehr Sonderbares, allerdings nur auf eine Minute: der Alte schien wirklich vergessen zu haben, daß die Mutter Aljoschas auch die Mutter Iwans war ...

„Wie das – deine Mutter?“ murmelte er verständnislos. „Wie meinst du das? Von welch einer Mutter sprichst du? ... ja, war sie denn auch ... Ach, richtig! Teufel! Sie ist ja auch deine! Ach, Teufel! Nun, das, mein Lieber, das war mir ganz entfallen, verzeih, ich aber glaubte, Iwan ... He–he–he!“

Ein trunkenes, halb sinnloses Lächeln zog wieder sein Gesicht in die Breite. Da hörten sie plötzlich vom Vorzimmer her Geräusch und Gepolter und lautes Geschrei: die Saaltür flog auf, und herein stürzte Dmitrij Fedorowitsch. Der Alte warf sich entsetzt zu Iwan:

„Er schlägt mich tot, er schlägt mich tot! Beschütz mich, beschütz mich!“ rief er heiser und klammerte sich angstvoll an den Rock seines Sohnes Iwan Fedorowitsch.

IX.
Die Wollüstlinge

Gleich nach Dmitrij Fedorowitsch stürzten auch Grigorij und Ssmerdjäkoff in den Saal. Sie waren es gewesen, die sich ihm im Vorzimmer entgegengestellt hatten, um ihn nicht hereinzulassen (infolge der ausdrücklichen Anweisung Fedor Pawlowitschs, die dieser schon vor etlichen Tagen gegeben hatte). Grigorij benutzte es, daß Dmitrij Fedorowitsch unschlüssig stehen blieb, um sich im Saale umzublicken, und lief zu der Tür, die dem Eingange gegenüber lag, und die zu den anderen Zimmern, dem Kabinett und dem Schlafzimmer Fedor Pawlowitschs führte: er schloß beide Türflügel und stellte sich dann mit ausgebreiteten Armen davor, als ob er bereit gewesen wäre, diesen Eingang bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Als Dmitrij Fedorowitsch das bemerkte, stieß er einen heiseren, kurzen Schrei aus und stürzte sich auf Grigorij.

„Also dort ist sie! Dort hat man sie versteckt! Fort, Schuft!“

Er wollte Grigorij fortreißen, doch der stieß ihn zurück. Außer sich vor Jähzorn, holte Dmitrij Fedorowitsch weit aus und schlug den alten Diener mit aller Kraft aufs Haupt. Grigorij brach zusammen und fiel zu Boden, Dmitrij Fedorowitsch aber, der über ihn hinwegsprang, stieß die Tür auf und stürzte in die anderen Zimmer. Ssmerdjäkoff blieb im Saal zurück, war bleich und zitterte, und hielt sich ganz fern in einer Ecke.

„Sie ist hier!“ schrie Dmitrij Fedorowitsch. „Ich habe selbst gesehen, wie sie um die Hausecke bog, nur konnte ich sie nicht einholen. Wo ist sie? Wo ist sie?“

Dieser Schrei: „Sie ist hier!“ machte einen unglaublichen Eindruck auf Fedor Pawlowitsch. Die ganze Angst und der höllische Schrecken verließen ihn mit einemmal.

„Halt ihn, halt ihn!“ gröhlte er und jagte Dmitrij Fedorowitsch nach.

Grigorij hatte sich inzwischen erhoben, doch schien er noch nicht recht zu sich zu kommen. Iwan Fedorowitsch und Aljoscha liefen eilig ihrem Vater nach. Da hörte man im dritten Zimmer etwas fallen und klirrend zerschlagen: es war eine große Vase (keine von den teueren), die auf einem hohen Marmorsockel stand, und die Dmitrij Fedorowitsch beim Vorüberlaufen umgeworfen hatte.

„Pack ihn!“ schrie der Alte heiser. „Zu Hilfe! Polizei!“

Doch Iwan Fedorowitsch und Aljoscha holten schon den Alten ein und brachten ihn mit Gewalt in den Saal zurück.

„Wozu laufen Sie ihm nach! Damit er Sie unfehlbar erschlägt!“ rief Iwan Fedorowitsch zornig seinem Vater zu.

„Wanjetschka, Ljoschetschka, sie soll hier sein, hier, Gruschenka! Er sagt, er habe sie selbst gesehen, habe gesehen, wie sie hergelaufen ist ...“

Er verschluckte sich. Er hatte diesmal Gruschenka gar nicht erwartet, und nun machte ihn die plötzliche Nachricht, daß sie gekommen sei, ganz verrückt. Er zitterte am ganzen Körper und schien völlig von Sinnen zu sein.

„Sie haben es doch selbst gesehen, daß sie nicht gekommen ist!“ rief Iwan Fedorowitsch ärgerlich.

„Aber vielleicht doch durch jenen Eingang?“

„Aber jener Eingang ist doch verschlossen, und der Schlüssel steckt, soviel ich weiß, in Ihrer eigenen Tasche ...“

Da erschien Dmitrij Fedorowitsch wieder im Saale. Er hatte natürlich jenen Eingang verschlossen gefunden, und der Schlüssel befand sich tatsächlich in Fedor Pawlowitschs Tasche. Die Fenster aller Zimmer waren gleichfalls geschlossen: folglich konnte Gruschenka unmöglich hinausgegangen sein.

„Halt ihn!“ schrie sofort Fedor Pawlowitsch kreischend auf, als er Dmitrij wieder erblickte. „Er hat dort bei mir im Schlafzimmer Geld gestohlen!“

Und im Augenblick hatte er sich von Iwan losgerissen, um sich wieder auf Dmitrij Fedorowitsch zu stürzen. Der erhob aber seine Hände und packte plötzlich den Alten an den beiden letzten Haarbüscheln, die ihm noch an den Schläfen geblieben waren, riß ihn kräftig zur Seite und schleuderte ihn dann aus aller Kraft zu Boden, worauf er dann dem Liegenden noch zwei-, dreimal mit dem Stiefelabsatz ins Gesicht schlug. Der Alte stöhnte ächzend. Doch schon bändigte Iwan Fedorowitsch seinen älteren Bruder, obgleich er längst nicht so stark war wie dieser und riß ihn fort vom Vater. Aljoscha half ihm dabei noch mit seiner kleinen Kraft, indem er den Bruder von vorne umklammerte.

„Mitjä, Wahnsinniger, du hast ihn ja totgeschlagen!“ rief Iwan.

„Das hat er auch verdient!“ schrie atemlos Dmitrij. „Wenn ich ihn aber noch nicht totgeschlagen habe, so werde ich ihn noch totschlagen. Werdet ihn nicht davor bewahren können!“

„Dmitrij, geh sofort hinaus!“ rief Aljoscha gebieterisch.

„Alexei! Sag du mir, dir allein werde ich glauben: War sie hier, oder war sie nicht hier? Ich habe selbst gesehen, wie sie am Zaun aus der Querstraße hierher einbog. Ich rief sie an, und da lief sie fort ...“

„Ich schwör es dir, daß sie nicht hier war, es hat sie hier überhaupt niemand erwartet!“

„Aber ich hab sie doch selbst gesehen ... Dann muß sie wohl ... Ich werde sofort erfahren, wo sie ist ... Leb wohl, Alexei! Dem Äsop jetzt von Geld kein Wort, zu Katerina Iwanowna aber unverzüglich, und sage unbedingt: ‚Er schickt seinen Abschiedsgruß! Gerade Abschiedsgruß, und seinen ergebensten Diener!‘ Beschreibe ihr die Szene!“

Inzwischen hatten Iwan und Grigorij den Alten aufgehoben und in einen Lehnstuhl gesetzt. Sein Gesicht war blutig, doch war er noch bei Besinnung und fing gierig die Schreie Dmitrijs auf. Er glaubte immer noch, daß Gruschenka sich irgendwo im Hause versteckt habe. Dmitrij Fedorowitsch warf noch einmal beim Fortgehen einen haßerfüllten Blick auf ihn.

„Ich bereue dein Blut nicht!“ rief er ihm zu, „hüte dich, Alter, und vergiß das nicht, denn auch ich werde etwas nicht vergessen! Verfluche dich, und sage mich von dir auf ewig los ...“

Damit verließ er das Zimmer.

„Sie ist hier, sie ist bestimmt hier! Ssmerdjäkoff, Ssmerdjäkoff,“ krächzte kaum hörbar der Alte und winkte mit dem Zeigefinger Ssmerdjäkoff zu sich heran.

„Sie ist nicht hier, begreifen Sie es doch, Sie verrückter Alter,“ schrie ihn plötzlich wutbebend Iwan Fedorowitsch an. „So, jetzt wird er auch noch ohnmächtig! Wasser, ein Handtuch! Schlaf nicht, Ssmerdjäkoff!“

Erschrocken lief Ssmerdjäkoff nach dem Wasser. Fedor Pawlowitsch wurde schließlich ins Schlafzimmer gebracht, ausgekleidet und ins Bett gelegt; dann bekam er noch eine kalte Kompresse auf den Kopf, der mit einem Handtuch umbunden wurde. Ganz schwach vom Kognak, von der starken Erregung und schließlich von den Schlägen, schloß er, sowie er das Kissen berührte, die Augen und schlief wahrscheinlich sofort ein. Iwan Fedorowitsch und Aljoscha kehrten wieder in den Saal zurück. Ssmerdjäkoff trug die Scherben der zerschlagenen Vase hinaus, Grigorij aber stand in finsterem Schweigen am Tisch.

„Solltest nicht auch du dich lieber ins Bett legen und ein nasses Handtuch um den Kopf wickeln?“ wandte sich Aljoscha an Grigorij. „Tu’s nur, wir werden hier bei ihm bleiben; Dmitrij hat dich so unvorsichtig geschlagen ... gerade auf den Kopf.“

„Er hat mich geschlagen!“ sagte Grigorij finster und deutlich vor sich hin.

„Er hat auch den Vater geschlagen, nicht nur dich!“ bemerkte mit etwas spöttisch verzogenen Lippen Iwan Fedorowitsch.

„Ich habe ihn eigenhändig gebadet ... Er aber hat mich geschlagen!“ wiederholte Grigorij.

„Weiß der Teufel, wenn ich ihn nicht fortgezogen hätte, würde er ihn ja womöglich noch totgeschlagen haben. Wieviel brauchte es denn, um ihn totzuschlagen?“ raunte Iwan Fedorowitsch Aljoscha zu.

„Gott behüte davor!“ sagte Aljoscha.

„Warum soll er denn davor behüten,“ fuhr Iwan mit boshaft verzogenem Gesicht in demselben Geflüster fort. „Das eine Geschmeiß wird das andere Geschmeiß verschlingen, und damit geschieht ihnen beiden recht!“

Aljoscha fuhr zusammen.

„Ich werde selbstverständlich einen Totschlag nicht zulassen, wie ich ihn auch heute verhindert habe. Bleib du hier, Aljoscha, ich werde hinausgehen, mein Kopf schmerzt.“

Aljoscha ging ins Schlafzimmer zum Vater und saß an seinem Bett hinter dem Schirm ungefähr eine ganze Stunde. Plötzlich öffnete der Alte die Augen und blickte lange schweigend Aljoscha an; er schien sich des Vorgefallenen zu erinnern und nachzudenken. Mit einemmal aber drückte sich eine ganz ungewöhnliche Erregung in seinem Gesichte aus.

„Aljoscha,“ flüsterte er ängstlich, „wo ist Iwan?“

„Auf dem Hof, er klagte über Kopfschmerzen. Er bewacht uns.“

„Gib mir den kleinen Spiegel, sieh, dort steht er!“

Aljoscha gab ihm einen kleinen, dreiteiligen Spiegel, der auf der Kommode stand. Der Alte warf einen neugierigen Blick hinein und betrachtete sich dann aufmerksam: Die Nase war ziemlich stark geschwollen, und auf der Stirn war über der linken Augenbraue ein großer, blutunterlaufener Fleck.

„Was sagt Iwan? Aljoscha, mein Lieber, du mein einziger Sohn, weißt du, ich fürchte mich vor Iwan, ich fürchte Iwan mehr als Dmitrij. Nur dich allein fürchte ich nicht!“

„Sie brauchen sich auch vor Iwan nicht zu fürchten, Iwan ärgert sich nur, aber er wird Sie verteidigen und beschützen.“

„Aljoscha, aber er? Wollte zu Gruschenka laufen! Mein Engel, sag mir die Wahrheit; war Gruschenka vorhin hier, oder war sie nicht hier?“

„Niemand hat sie hier gesehen. Das war nur ein Selbstbetrug von ihm; sie ist überhaupt nicht hier gewesen!“

„Aber Mitjä will sie doch heiraten, denk nur, heiraten!“

„Sie wird ihn nicht nehmen.“

„Wird nicht, wird nicht, wird nicht, wird bestimmt nicht, um keinen Preis! ...“ rief der Alte freudig belebt immer wieder, als ob man ihm nichts Angenehmeres hätte sagen können. In der Begeisterung ergriff er Aljoschas Hand und preßte sie krampfhaft an sein Herz. In seinen Augen erglänzten sogar Tränen. „Das Heiligenbild, weißt du, dieses von der Mutter Gottes, von dem ich vorhin erzählte, nimm du lieber an dich, nimm es mit, wohin du willst. Und ich erlaube dir auch, wieder ins Kloster zurückzugehen ... ich scherzte ja nur, sei nicht bös. Mein Kopf schmerzt, Aljoscha ... Ljoscha, beruhige du mein Herz, sei ein Engel, sag die Wahrheit!“

„Sie fragen noch immer, ob sie hier war oder nicht?“ fragte Aljoscha traurig.

„Nein, nein, nein, ich glaube dir, nur höre: Geh selbst zu Gruschenka, oder versuch sie sonst irgendwie zu sehen; frag sie schnell, so schnell als möglich, errat es selbst mit deinen Augen: Zu wem will sie, zu mir oder zu ihm? Wie? Was? Kannst du’s, oder kannst du’s nicht?“

„Wenn ich sie sehen sollte, werde ich sie fragen,“ sagte Aljoscha halblaut und ein wenig verwirrt.

„Nein, sie wird es dir nicht sagen,“ unterbrach ihn der Alte, „sie ist zu schlau dazu. Sie wird schließlich noch dich zu küssen anfangen und sagen, daß sie dich will. Sie ist eine Betrügerin, sie ist schamlos, nein, du darfst nicht zu ihr gehen, darfst nicht, hörst du!“

„Und es wäre auch wirklich nicht gut, Papa, wirklich nicht.“

„Wohin schickte er dich vorhin, rief dir noch zu: ‚Geh hin!‘ als er hinauslief?“

„Er schickte mich zu Katerina Iwanowna.“

„Nach Geld? Er will Geld haben?“

„Nein, nicht nach Geld.“

„Er hat kein Geld, keine Kopeke. Weißt du, Alexei, ich werde mich noch in dieser Nacht bedenken, du aber geh jetzt. Vielleicht triffst du auch sie ... Nur komme du morgen unbedingt wieder her, morgen früh, unbedingt. Ich werde dir morgen ein Wörtchen sagen; wirst du kommen?“

„Gut, ich werde kommen.“

„Wenn du aber kommst, dann mach so, als ob du von selbst kämest, um mich zu besuchen. Sag niemandem, daß ich dich gerufen habe, und Iwan sag kein Wort davon!“

„Gut.“

„Aber jetzt geh, mein Engel, vorhin tratst du für mich ein, werd es dir mein Lebtag nicht vergessen. Morgen aber werde ich dir etwas sagen ... nur muß ich noch etwas nachdenken.“

„Wie fühlen Sie sich denn jetzt?“

„Morgen, morgen steh ich auf, werde ganz gesund sein, ganz gesund, ganz gesund! ...“

Als Aljoscha über den Hof ging, fand er seinen Bruder Iwan auf der Bank an der Hoftür. Er saß und schrieb mit der Bleifeder etwas in sein Notizbuch. Aljoscha teilte ihm mit, daß der Vater aufgewacht und bei voller Besinnung sei und ihm erlaubt habe, zur Nacht wieder ins Kloster zurückzukehren.

„Aljoscha, es würde mir sehr lieb sein, dich morgen früh zu treffen,“ sagte, sich erhebend, Iwan ungemein freundlich – mit einer Liebenswürdigkeit, die Aljoscha ganz unerwartet kam.

„Ich werde morgen bei Chochlakoffs sein,“ sagte Aljoscha, „und vielleicht werde ich dann auch zu Katerina Iwanowna gehen, wenn ich sie jetzt nicht antreffen sollte ...“

„Und jetzt gehst du also zu Katerina Iwanowna? Um den ‚Abschiedsgruß‘ zu überbringen?“ fragte Iwan plötzlich lächelnd. Aljoscha wurde verlegen.

„Ich habe, glaube ich, alles aus seinen Worten, die er dir noch zurief, erraten – und noch aus einigen früheren Äußerungen ... Dmitrij hat dich bestimmt gebeten, zu ihr zu gehen und zu sagen, daß er ... nun ... nun ... mit einem Wort, seine ‚Reverenz‘ macht?“

„Wanjä! Womit wird diese ganze furchtbare Geschichte mit dem Vater und Dmitrij noch enden?“ fragte Aljoscha angstvoll seinen Bruder.

„Das läßt sich nicht voraussagen. Mit nichts vielleicht; die Geschichte wird verjähren. Dieses Frauenzimmer ist ein – Tier. Jedenfalls muß man den Alten im Hause bewachen und Dmitrij nicht ins Haus lassen.“

„Iwan, erlaube mir, noch etwas zu fragen: Hat denn wirklich jeder Mensch das Recht, wenn er auf die übrigen Menschen blickt, zu entscheiden, wer von ihnen es wert ist zu leben, und wer es nicht mehr wert ist?“

„Wozu hier die Frage nach der Würdigkeit hineinmischen? Diese Frage wird in den Herzen der Menschen meistens durchaus nicht auf Grund der Würdigkeit entschieden, sondern auf Grund ganz anderer, viel natürlicherer Dinge. Was aber das Recht betrifft – wer hat denn nicht das Recht, zu wünschen?“

„Doch nicht den Tod des anderen?“

„Und warum schließlich nicht auch den Tod? Und warum sich denn selbst belügen, wenn alle Menschen so leben und am Ende auch anders überhaupt nicht leben können. Fragst du das wegen meiner Worte: ‚Das eine Geschmeiß wird das andere verschlingen!‘ Erlaube dann, in solch einem Falle auch dich zu fragen: Hältst du auch mich wie Dmitrij für fähig, das Blut des Äsop zu vergießen, nun, sagen wir, ihn zu erschlagen, wie?“

„Was fällt dir ein, Iwan! Nicht mit einem einzigen Gedanken habe ich daran gedacht! Und auch Dmitrij halte ich nicht für fähig ...“

„Nun, auch dafür hab Dank,“ sagte Iwan lächelnd. „Wisse, daß ich ihn immer beschützen werde, doch meinen Wünschen lasse ich im gegebenen Falle die vollste Freiheit. Also auf Wiedersehen bis morgen. Verurteile und betrachte mich nicht als einen Verbrecher,“ fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Sie drückten sich so fest die Hand, wie sie es vorher noch nie getan hatten. Aljoscha fühlte, daß sein Bruder sich als erster ihm einen Schritt näherte, und daß er das unbedingt mit einer bestimmten Absicht tat.

X.
Beide zusammen

Als Aljoscha das Haus seines Vaters verließ, fühlte er sich noch niedergeschlagener und bedrückter, als er vorhin bei seinem Eintritt gewesen war. Sein Verstand schien ihm gleichsam ganz zerstückt und zerstreut zu sein, und zu gleicher Zeit fühlte er, daß er sich fürchtete, das Verstreute zu vereinigen und sich über die allgemeine Ursache und Bedeutung aller quälenden Widersprüche, die er an diesem Tage empfunden hatte, klar Rechenschaft abzulegen. Es war ein bedrückendes, unerklärliches Gefühl, das fast an Verzweiflung grenzte, und das Aljoscha noch nie in seinem Herzen empfunden hatte. Über allen anderen quälenden Zweifeln und Rätseln stand wie ein Berg die eine verhängnisvolle, unlösbare Frage: Womit wird es zwischen dem Vater und dem Bruder dieses furchtbaren Weibes wegen enden? Jetzt war er selbst Augenzeuge gewesen und hatte sie beide in ihrer Eifersucht gesehen. Doch unglücklich, wirklich und furchtbar unglücklich konnte nur Dmitrij sein: ihn erwartete zweifellos großes Leid. Nun aber erwies sich auch, daß es noch andere Menschen gab, die all dieses gleichfalls anging und vielleicht noch viel mehr anging, als Aljoscha sich früher gedacht hatte. Es stellte sich plötzlich sogar etwas Rätselhaftes heraus. Sein Bruder Iwan war ihm einen Schritt näher getreten, was er solange schon gewünscht hatte, und siehe, jetzt fühlte er plötzlich, daß ihn diese Annäherung erschreckte. Und jene Frauen? Wie sonderbar: vorhin war er so unruhig und befangen gewesen, als er sich zu Katerina Iwanowna aufgemacht hatte, nun aber beeilte er sich selbst, schneller zu ihr hinzukommen, ganz als ob er erwartete, bei ihr Rat zu finden. Und doch war es jetzt schwerer, den Auftrag auszurichten als vorhin: die Geldangelegenheit war endgültig entschieden, und Dmitrij, so sagte sich Aljoscha, würde sich jetzt für ehrlos und hoffnungslos verloren halten und darum sich auch in nichts mehr zügeln, sondern sich geradeaus, kopfüber in den Abgrund stürzen. Und zudem hatte er noch befohlen, Katerina Iwanowna auch die letzte Szene zu erzählen.

Es war schon sieben Uhr und es dunkelte bereits, als Aljoscha bei Katerina Iwanowna eintrat. Sie hatte ein sehr geräumiges und bequemes Haus an der Großen Straße gemietet. Aljoscha wußte, daß sie zusammen mit zwei Tanten wohnte; doch war die eine nur die Tante ihrer Stiefschwester Agafja Iwanowna. Das war jene schweigsame Person, die im Hause ihres Vaters, des Oberstleutnants, damals, als sie aus dem Institut nach Hause zum Besuch gekommen war, sie wie eine Magd bedient hatte. Die andere Tante dagegen war eine vornehme, doch gleichfalls arme Dame, eine Moskowiterin. Es hieß, daß sie beide in allen Dingen Katerina Iwanowna gehorchten und bei ihr nur als „Anstandsdamen“ wohnten. Katerina Iwanowna jedoch gehorchte nur ihrer Gönnerin, der alten Generalin, die krankheitshalber in Moskau geblieben war, und der sie wöchentlich zwei Briefe mit ausführlichen Nachrichten über sich schreiben mußte.

Als Aljoscha in das Vorzimmer trat und die Zofe, die ihm die Tür geöffnet hatte, ihn anzumelden bat, schien man im Saal von seiner Ankunft schon zu wissen (vielleicht hatte man ihn vom Fenster aus gesehen), nur hörte Aljoscha noch ein Geräusch wie von hastig forteilenden Frauenschritten und Kleiderrauschen: vielleicht liefen zwei oder drei Frauen aus dem Zimmer. Es schien ihm sonderbar, daß er durch seinen Besuch solch eine Aufregung hervorrief; er wurde aber sofort gebeten, in den Saal einzutreten. Es war das ein großes, elegant, durchaus nicht nach provinziellem Geschmack reich möbliertes Zimmer: kleine Sofas, Couchetten, Chaiselongues, kleine und große Tische waren geschmackvoll gruppiert; an den Wänden hingen Gemälde, Vasen und Lampen standen auf den Tischen und auf besonderen Ständern viele Blumen. Da die Dämmerstunde schon vorrückte, war es etwas dunkel im Saal; Aljoscha bemerkte aber doch auf dem Sofa, auf dem man augenscheinlich noch vor kurzem gesessen hatte, einen seidenen Überwurf und auf dem Tisch davor zwei unausgetrunkene Tassen Schokolade, Biskuit, eine Kristallschale mit blauen Weintrauben und eine andere mit Konfitüren. Es mußte jemand zu Gast gewesen sein. Aljoscha erriet, daß er einen Besuch gestört hatte und runzelte die Stirn; da aber wurde auch schon eine Portiere zurückgeschlagen, und Katerina Iwanowna trat mit schnellen Schritten auf ihn zu und streckte ihm beide Hände entgegen. Im selben Augenblick brachte das Mädchen zwei brennende Lichte und stellte sie auf den Tisch.

„Gott sei Dank, daß auch Sie endlich gekommen sind! Den ganzen Tag habe ich Gott gebeten, er möge Sie doch endlich zu mir schicken! Setzen Sie sich, bitte.“

Die Schönheit Katerina Iwanownas hatte Aljoscha schon früher frappiert, als ihn sein Bruder Dmitrij auf ihren ausdrücklichen Wunsch ihr vorgestellt hatte. Zu einem Gespräch war es damals zwischen ihnen nicht gekommen. Katerina Iwanowna hatte geglaubt, er sei verlegen geworden, und hatte daher, gleichsam um ihn zu schonen, die ganze Zeit nur mit Dmitrij Fedorowitsch gesprochen. Aljoscha hatte geschwiegen, beobachtet und vieles sehr gut erkannt. Ihn hatten das sichere Auftreten, die stolze Liebenswürdigkeit, das Selbstbewußtsein des hochmütigen Mädchens in Erstaunen gesetzt, und Aljoscha fühlte, daß es wirklich so war, daß Dmitrij nichts vergrößerte oder übertrieb. Er fand ihre großen, dunkelbraunen, feurigen Augen wundervoll und fand, daß sie besonders gut zu ihrem länglichen, blaß-gelblichen Gesicht standen. Doch war in diesen Augen, wie in den Linien der wundervoll geschnittenen Lippen etwas, in das sich sein Bruder wohl verliebt haben konnte, doch das er vielleicht nicht lange lieben werde. Diese Beobachtung teilte er dann auch seinem Bruder mit, als der nach dem Besuch in ihn drang und ihn bat, nicht zu verheimlichen, welch einen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte.

„Du wirst mit ihr glücklich sein; aber vielleicht ... wird es kein ruhiges Glück werden.“

„Das ist’s ja; solche Menschen bleiben wie sie sind, die geben sich nicht mit ihrem Schicksal zufrieden. Also du glaubst, daß ich sie nicht ewig lieben werde?“

„Nein, vielleicht wirst du sie ewig lieben; aber vielleicht wirst du mit ihr nicht immer glücklich sein.“

Als Aljoscha damals seine Meinung geäußert hatte, war er vor Ärger über sich, daß er den Bitten seines Bruders Gehör gegeben und so „dumme“ Gedanken ausgesprochen hatte, heftig errötet, denn sofort, nachdem er es getan, war ihm seine Äußerung furchtbar dumm erschienen, und es war ihm sehr peinlich gewesen, daß er so vorwitzig über eine Frau geurteilt hatte. Um wieviel größer war nun seine Verwunderung, als er jetzt schon beim ersten Blick auf die ihm entgegentretende Katerina Iwanowna fühlte, daß er sich damals vielleicht sehr versehen hatte. Ihr Gesicht strahlte diesmal von unverfälschter, offenherziger Güte, von gerader, lebhafter Herzlichkeit. Von dem ganzen früheren „Stolz und Hochmut“, die Aljoscha das erstemal so betroffen gemacht hatten, war jetzt nur noch eine kühne, edle Energie und ein gewisser klarer, mächtiger Glaube an sich selbst zu bemerken. Schon nach dem ersten Blick auf sie, schon nach den ersten Worten begriff Aljoscha, daß ihr die ganze Tragik ihres Verhältnisses zu dem von ihr so geliebten Menschen durchaus kein Geheimnis war, daß sie vielleicht schon alles wußte, alles. Und doch lag soviel Licht auf ihrem Antlitz, soviel Glaube an die Zukunft. Aljoscha fühlte sich plötzlich im Ernst vor ihr schuldig, und es war ihm fast, als ob er es mit Absicht geworden wäre. Sie hatte ihn sofort besiegt und angezogen. Außerdem fiel ihm auch schon nach ihren ersten Worten auf, daß sie sehr erregt war, was bei ihr nur selten vorkam; es war eine Erregung, die beinahe sogar einer Art Begeisterung glich.

„Ich habe Sie darum so sehnsüchtig erwartet, weil ich jetzt nur von Ihnen allein die ganze Wahrheit erfahren kann, nur von Ihnen allein!“

„Ich bin gekommen ...“ begann Aljoscha verwirrt, „ich ... er hat mich geschickt –“

„Ah, er hat Sie also geschickt; nun, das ahnte ich ja. Jetzt weiß ich alles, alles!“ rief Katerina Iwanowna mit aufblitzenden Augen aus. „Warten Sie, Alexei Fedorowitsch, ich werde Ihnen zuerst sagen, warum ich Sie so erwartete. Sehen Sie, ich weiß vielleicht viel mehr als Sie selbst; ich brauche nicht Nachrichten von Ihnen, sondern etwas anderes: ich will Ihre eigene, persönliche Meinung, ich will den Eindruck wissen, den er zuletzt auf Sie gemacht hat; ich will, daß Sie mir ganz aufrichtig sagen, ohne jede Ausschmückung, ganz brutal sogar (o, so brutal, wie Sie nur wollen!), wie Sie ihn jetzt, nach Ihrem heutigen Wiedersehen, selbst beurteilen. Das wird vielleicht noch besser sein, als wenn ich, zu der er nicht mehr kommt, mich persönlich mit ihm aussprechen würde. Verstehen Sie, was ich von Ihnen will? Jetzt sagen Sie mir, womit er Sie zu mir geschickt hat (ich wußte ja, daß er Sie zu mir schicken werde!); sprechen Sie ganz einfach, sagen Sie alles, bis aufs letzte Wort! ...“

„Er sagte mir, ich soll Ihnen ... seinen Abschiedsgruß überbringen und sagen, daß er nicht mehr kommen werde ... und grüßen läßt.“

„Seinen Abschiedsgruß? Hat er das so gesagt, so sich ausgedrückt?“

„Ja!“

„Vielleicht flüchtig, nebensächlich, ohne so genau ans Wort zu denken?“

„Nein, er befahl gerade, ich solle dieses Wort überbringen: ‚seinen Abschiedsgruß‘. Er bat mich dreimal darum, damit ich es nicht vergesse.“

Katerina Iwanowna schoß das Blut ins Gesicht.

„Helfen Sie mir jetzt, Alexei Fedorowitsch; jetzt bedarf ich Ihrer Hilfe: Ich werde Ihnen zuerst sagen, was ich denke, und Sie sollen mir dann nur sagen, ob Sie es für richtig halten oder nicht. Also hören Sie: Wenn er Ihnen ganz flüchtig gesagt hätte, mir seinen Abschiedsgruß zu überbringen, ohne auf dem Wort zu bestehen, ohne es zu unterstreichen, so wäre alles aus ... Das wäre das Ende! ... Wenn er aber so besonders auf diesem Wort bestand, wenn er Sie so besonders beauftragt hat, mir gerade den Abschiedsgruß zu überbringen – so muß er sehr erregt, vielleicht außer sich gewesen sein. Er entschloß sich vielleicht erst und erschrak vor seinem Entschluß! Er ist nicht festen Schrittes von mir fortgegangen, sondern hat sich hinab in den Abgrund gestürzt. Die ausdrückliche Betonung dieses Wortes kann ja nur Prahlerei gewesen sein.“

„Ja, ja!“ bestätigte Aljoscha lebhaft, „jetzt scheint es mir auch so.“

„Wenn das aber so ist, dann ist er noch nicht verloren! Er ist nur sehr verzweifelt; aber ich kann ihn noch retten. Warten Sie: Hat er zu Ihnen nicht noch etwas von Geld gesprochen, von dreitausend Rubeln?“

„Er hat nicht nur davon gesprochen, sondern das war es gerade, was ihn am meisten bedrückte. Er sagte, er sei jetzt ehrlos geworden, und jetzt wäre schon alles einerlei,“ antwortete Aljoscha erregt, da er fühlte, wie sich von neuem Hoffnung in seinem Herzen erhob, und daß es möglicherweise wirklich noch eine Rettung für seinen Bruder gab. „Aber wie ... wissen Sie denn etwas von diesem Geld?“ fragte er erschrocken und verstummte plötzlich.

„Schon lange und ganz genau. Ich telegraphierte nach Moskau und erfuhr sofort, daß man das Geld nicht erhalten hatte. Er hatte also damals das Geld nicht abgeschickt! Aber ich schwieg. In der vorigen Woche erfuhr ich dann, wie sehr er gerade damals das Geld nötig gehabt hatte, und wie sehr er es noch jetzt nötig hat ... Ich verfolge ja doch nur ein einziges Ziel: Er soll wissen, zu wem er immer zurückkehren kann, und wer sein treuester Freund ist. Er aber will nicht glauben, daß ich das bin; er will mich nicht einmal näher kennen lernen; er sieht auf mich nur wie auf ein – Weib. Diese ganze Woche hat mich nur die eine furchtbare Sorge gequält: Was soll ich tun, damit er sich nicht der Verausgabung dieser Dreitausend vor mir schämt? Oder mag er sich auch schämen, vor allen, vor sich selbst; aber vor mir soll er sich nicht schämen. Gott gesteht er doch alles, ohne sich zu schämen. Warum weiß er noch immer nicht, wieviel ich für ihn ertragen kann? Warum, warum kennt er mich nicht; wie wagt er es, mich noch immer nicht zu kennen, nach allem, was schon geschehen ist? Ich will ihn auf ewig retten; mag er mich meinetwegen als seine Braut vergessen! Und nun fürchtet er sich vor mir – wegen seiner Ehre? Ihnen alles zu sagen, hat er sich doch nicht gefürchtet; warum habe ich denn bis jetzt noch nicht dasselbe Vertrauen verdient?“

Die letzten Worte sprach sie mit Tränen in den Augen; Tränen rollten ihr über die Wangen.

„Ich muß Ihnen noch mitteilen,“ sagte Aljoscha mit zitternder Stimme, „was, kurz bevor ich herkam, geschehen ist.“

Und er erzählte ihr die ganze Szene; erzählte, daß ihn Dmitrij zum Vater mit der Bitte um Geld geschickt hatte, wie er aber dann selbst hereingestürzt war, den Vater verprügelt und ihm, Aljoscha, dann noch einmal und eindringlich befohlen hatte, den „Abschiedsgruß“ zu überbringen ... – „Und darauf ging er zu jener ...“ fügte Aljoscha leise hinzu.

„Und Sie glauben, daß ich das nicht überwinden kann? Er glaubt, daß ich’s nicht kann? Aber er wird sie ja nicht heiraten!“ Sie lachte nervös auf. „Kann denn ein Karamasoff ewig in dieser Leidenschaft bleiben? Das ist Leidenschaft, aber nicht Liebe. Er wird sie nicht heiraten, denn sie wird ihn nicht heiraten ...“ sagte sie wieder mit sonderbarem Lachen.

„Er wird sie vielleicht doch heiraten,“ sagte Aljoscha traurig, den Blick zu Boden gesenkt.

„Ich sage Ihnen, er wird sie nicht heiraten! Dieses Mädchen – ist ein Engel, wissen Sie das auch? Wissen Sie das?“ rief plötzlich in ganz auffallender Begeisterung Katerina Iwanowna. „Das ist das phantastischste aller phantastischen Geschöpfe! Ich weiß, wie bezaubernd sie ist, aber ich weiß auch, wie gut sie ist, wie charakterfest, wie edel. Warum sehen Sie mich so an, Alexei Fedorowitsch? Wundern Sie meine Worte, oder glauben Sie mir vielleicht nicht? Agrafena Alexandrowna, mein Engel!“ rief sie plötzlich jemandem zu, zur Tür des Nebenzimmers gewandt, „kommen Sie her zu uns, hier ist ein lieber Mensch, Aljoscha Karamasoff, er weiß alles, zeigen Sie sich ihm!“

„Ich wartete die ganze Zeit hinter der Portiere nur darauf, daß Sie mich rufen,“ antwortete darauf eine weiche, etwas süßliche Frauenstimme.

Die Portiere wurde zurückgeschlagen und ... Gruschenka trat lachend ins Zimmer. Sie näherte sich dem Tisch. Aljoscha fühlte, daß ihn etwas durchzuckte. Er umklammerte sie geradezu mit seinem ganzen Blick und konnte die Augen nicht mehr von ihr abwenden. Das also war sie, sie, dieses furchtbare Weib, – das „Tier“, wie sich vor einer halben Stunde Iwan über sie geäußert hatte. Und nun stand vor ihm, wie es auf den ersten Blick schien – das gewöhnlichste und einfachste Geschöpf, ein gutes, liebes Wesen, zwar ein hübsches Weib, aber eines, das so ähnlich allen anderen hübschen, doch „gewöhnlichen“ Frauen war. Allerdings war sie schön, sogar sehr schön, – eine russische Schönheit, wie sie von vielen so leidenschaftlich geliebt wird. Sie war ziemlich groß, doch etwas kleiner als Katerina Iwanowna (da diese schon von sehr hohem Wuchs war), in der Gestalt recht voll, mit weichen, gleichsam „lautlosen“ Körperbewegungen, als ob dieselben, wie ihre Stimme, gleichfalls so sonderbar, fast süßlich ausgearbeitet wären. Sie kam nicht wie Katerina Iwanowna ins Zimmer, – mit munteren, festen Schritten; nein, unhörbar näherte sie sich ihnen. Keinen Schritt hörte man auf dem Fußboden. Weich ließ sie sich auf den Lehnstuhl nieder, weich rauschte ihr prächtiges schwarzes Seidenkleid, und verzärtelt hüllte sie ihren vollen, wie Schaum weißen Hals und ihre breiten Schultern in einen teuren schwarzen Schal. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, und ihr Gesicht drückte auch genau dieses Alter aus. Ihr Teint war sehr weiß, und nur ihre Wangen hatten einen blaßrosa Schimmer. Das Gesicht war vielleicht etwas zu breit, und der untere Kiefer trat ein wenig vor. Die Oberlippe war schmal und fein, doch die Unterlippe war voller und fast wie geschwollen. Aber ihr prachtvolles, reiches, dunkelblondes Haar, die dunklen, feingezeichneten Augenbrauen und ihre wundervollen graublauen Augen mit den langen Wimpern hätten selbst den gleichgültigsten und zerstreutesten Menschen, einerlei wo, in der Volksmenge, beim Spaziergang, im Gedränge auf der Straße gezwungen, plötzlich vor diesem Gesicht stehenzubleiben und es auf lange in der Erinnerung zu behalten. Am meisten machte Aljoscha der naive, gutmütige Ausdruck dieses Gesichts betroffen. Sie blickte ihn an wie ein Kind, freute sich über irgend etwas wie ein Kind, und sie „freute“ sich gerade, als sie sich ihnen näherte, wie wenn sie mit kindlich ungeduldiger, zutraulicher Neugier etwas Besonderes erwarte. Ihr Anblick machte das Herz froh, – das fühlte Aljoscha. Es war noch etwas in ihr, worüber er sich nicht hätte Rechenschaft geben können, vielleicht weil er es nicht verstand, etwas, das aber auch ihm sich unbewußt mitteilte, nämlich wiederum diese Weichheit, Zärtlichkeit der Körperbewegungen, diese katzenhafte Unhörbarkeit ihrer Schritte. Und doch war es eine starke, volle Gestalt. Unter dem weichen Schal zeichneten sich breite, volle Schultern ab, eine hohe, noch ganz jugendliche Brust. Dieser Körper hatte vielleicht die Formen der Venus von Milo, obgleich er auch jetzt schon in den Verhältnissen etwas übertrieben sein mußte, – das konnte man ahnen. Kenner russischer Frauenschönheit hätten vielleicht bei Gruschenkas Anblick gesagt, daß solche frische, noch jugendliche Schönheiten schon mit dreißig Jahren die Harmonie verlieren, daß auch das Gesicht dann schon verschwommen aussieht, daß um die Augen herum und auf der Stirn ungewöhnlich schnell kleine Fältchen entstehen und die Gesichtsfarbe ihre Zartheit verliert und rot wird. Mit einem Wort, daß es eine flüchtige Schönheit war, eine Augenblicksschönheit, die man so häufig gerade bei der russischen Frau findet. Doch daran dachte Aljoscha natürlich nicht in diesem Augenblick. Nur – wie bezaubert er auch war, so fragte er sich doch mit einer gewissen unangenehmen Empfindung: Warum zieht sie die Worte so in die Länge, warum kann sie nicht natürlich sprechen? Sie tat es augenscheinlich, weil sie diese gezogene und verstärkt-süßliche Aussprache schön fand. Das war natürlich nur eine dumme Angewohnheit schlechten Tones, die von ihrer geringen Bildung und von Kindheit an falschen Auffassung des Vornehmen zeugte. Und doch erschien Aljoscha diese singende Aussprache der Worte fast wie ein unmöglicher Widerspruch zu diesem kindlich-offenherzigen und gutmütig-freudigen Gesichtsausdruck, zu diesem stillen, glücklichen Leuchten ihrer Kinderaugen! Katerina Iwanowna zog sie sofort auf den Lehnstuhl neben sich und küßte sie entzückt mehrmals auf ihre lachenden Lippen. Sie schien in sie geradezu verliebt zu sein.

„Wir sehen uns heute zum ersten Male, Alexei Fedorowitsch,“ sagte sie ganz berauscht; „ich wollte sie kennen lernen, sie sehen, ich wollte selbst zu ihr gehen, sie aber kam schon auf meine erste Bitte zu mir. Ich wußte es ja, daß wir beide alles sofort gutmachen würden, alles! Mein Herz fühlte es voraus ... Man bat mich himmelhoch, diesen Schritt zu unterlassen, aber ich ahnte ja, daß hier die Rettung war, und täuschte mich nicht. Gruschenka hat mir jetzt alles erzählt und erklärt, alle ihre Absichten; sie ist wie ein guter Engel zu mir gekommen und hat mir Ruhe und Freude gebracht ...“

„Sie haben mich nicht verachtet, liebes, wertes Fräulein,“ sagte Gruschenka in ihrem gezogenen, singenden Tone und immer noch mit demselben freudigen Lächeln.

„Sagen Sie mir nie mehr, nie mehr so etwas, Sie schlimme Zauberin! Sie und verachten! Sehen Sie, ich werde gleich noch einmal ihre Lippen abküssen. Sie sind bei Ihnen ganz wie geschwollen, also damit sie noch mehr anschwellen, küsse ich sie, und werde sie wieder küssen, und wieder ... Sehen Sie, wie sie lacht, Alexei Fedorowitsch, wirklich, das Herz lacht einem, wenn man diesen Engel ansieht ...“ Aljoscha war rot im Gesicht und zitterte. Es war ein bebendes, unmerkliches Zittern.

„Sie hätscheln mich, liebes Fräulein, ich aber bin Ihrer Liebkosung vielleicht gar nicht wert.“

„Nicht wert! Sie soll ihrer nicht wert sein!“ rief wieder mit derselben Begeisterung Katerina Iwanowna. „Wissen Sie auch, Alexei Fedorowitsch, daß wir ein phantastisches Köpfchen haben, ein eigenwilliges, aber stolzes, überstolzes Herzchen haben! Wir sind edel, Alexei Fedorowitsch, wir sind großmütig, wissen Sie das auch? Wir waren nur unglücklich. Wir waren nur zu schnell bereit, einem unwürdigen oder vielleicht auch nur leichtsinnigen Menschen jedes Opfer zu bringen. Es war einmal einer, gleichfalls ein Offizier, wir gewannen ihn lieb und gaben ihm alles; das war schon vor langer Zeit, vor fünf Jahren war’s, er aber vergaß uns, er heiratete eine andere. Jetzt ist er verwitwet, jetzt hat er geschrieben und kommt schon her – und wissen Sie auch, daß wir ihn allein, nur ihn allein die ganze Zeit über geliebt haben, bis auf den heutigen Tag! Er wird herkommen, und Gruschenka wird wieder glücklich sein, doch all diese fünf Jahre lang war sie unglücklich. Und wer kann ihr denn etwas vorwerfen, wer kann sich ihrer Zuneigung rühmen? Nur dieser eine gelähmte Greis, dieser Kaufmann, – aber er war eher unser Vater, unser Freund und Beschützer. Er fand uns damals in der Verzweiflung, in Qualen, verlassen von dem, den wir über alles liebten ... sie wollte sich ja damals ertränken, der Alte hat sie doch gerettet, gerettet!“

„Sie verteidigen mich schon gar zu sehr, mein liebes Fräulein, Sie übertreiben,“ sang wieder Gruschenka.

„Ich verteidige? Wie soll ich darauf kommen, und darf hier überhaupt jemand etwas zu verteidigen wagen? Gruschenka, mein Engel, geben Sie mir Ihr Händchen, ach, sehen Sie doch, Alexei Fedorowitsch, dieses kleine, weiche, reizende Händchen! – Es hat mir Glück gebracht und mich wieder aufgerichtet und dafür werde ich es gleich küssen, so, so und so!“ Und sie küßte dreimal ganz verzückt Gruschenkas wirklich reizendes, vielleicht nur etwas zu volles Händchen. Gruschenka ließ es unter nervösem, doch hellem, reizendem Lachen geschehen: es war ihr augenscheinlich sehr angenehm, daß das „liebe Fräulein“ ihre Hand küßte.

„Vielleicht ist das doch etwas zu viel der Begeisterung,“ fuhr es flüchtig Aljoscha durch den Sinn. Er errötete. Sein Herz war die ganze Zeit so sonderbar unruhig.

„Beschämen Sie mich doch nicht, indem Sie mir so in Alexei Fedorowitschs Gegenwart die Hand küssen.“

„Ja, wollte ich Sie denn damit beschämen?“ fragte Katerina Iwanowna etwas verwundert, „ach, meine Liebe, wie falsch Sie mich verstehen!“

„Und Sie verstehen mich vielleicht auch gar nicht so, liebes Fräulein, ich bin vielleicht viel schlechter, als ich hier vor Ihnen scheine. Im Herzen bin ich schlecht; bin eigensinnig. Den armen Dmitrij Fedorowitsch habe ich damals aus reiner Spottlust gefesselt.“

„Aber jetzt retten Sie ihn doch selbst! Sie haben es mir doch versprochen. Sie werden ihm vernünftig zureden, werden ihm sagen, daß Sie einen anderen lieben, schon lange, und daß er Sie heiraten will ...“

„Ach nein, das habe ich Ihnen nicht versprochen. Sie haben es nur selbst gesagt, ich aber – ich habe Ihnen so etwas gar nicht versprochen.“

„Dann habe ich Sie wohl nicht recht verstanden,“ sagte Katerina Iwanowna etwas leiser und schien ein wenig zu erbleichen, „Sie versprachen ...“

„Ach nein, Sie Engel, davon habe ich nichts versprochen,“ unterbrach Gruschenka sie leise und ruhig, immer mit demselben heiteren, unschuldigen Ausdruck. „Und da sehen Sie jetzt gleich, wertes Fräulein, wie schlecht und eigensinnig ich bin. Wenn ich etwas will, so tue ich es auch. Vorhin habe ich Ihnen vielleicht etwas versprochen, jetzt aber denke ich: Plötzlich gefällt er mir wieder, Mitjä, meine ich, – gefiel er mir doch schon einmal sehr; fast eine ganze Stunde lang gefiel er mir. Und jetzt werde ich vielleicht gehen und ihm sofort sagen, daß er fortan bei mir bleiben soll ... Sehen Sie, wie unbeständig ich bin ...“

„Vorhin sprachen Sie ... ganz anders ...“ murmelte Katerina Iwanowna kaum hörbar.

„Ach, vorhin! Aber mein Herz ist doch zärtlich und dumm. Und wenn man nur bedenkt, was er meinetwegen ertragen hat! Und plötzlich komme ich nach Hause, und es tut mir leid um ihn, – was dann?“

„Ich hatte nicht erwartet ...“

„Ach, Fräulein, wie gut und edel Sie jetzt im Vergleich zu mir erscheinen. Sehen Sie, jetzt werden Sie mich dummes Geschöpf nicht mehr lieben, weil ich solch einen Charakter habe. Geben Sie mir Ihr liebes Händchen, Sie Engel,“ bat sie zärtlich und nahm fast andächtig die Hand Katerina Iwanownas. „Nun, liebes Fräulein, werde auch ich Ihr Händchen nehmen und ebenso küssen, wie Sie meine Hand küßten. Sie küßten dreimal, ich aber müßte sie Ihnen dreihundertmal dafür küssen, um es quittzumachen. Und so mag es denn auch sein; dann aber, wie Gott will, vielleicht werde ich ganz Ihre Sklavin werden und Ihnen alles sklavisch zu Gefallen tun. Wie Gott will, so mag es sein, ohne alle Besprechungen und Versprechungen untereinander. Ihr Händchen, Ihr liebes Händchen, Fräulein, Ihr Händchen! Mein liebes Fräulein, Sie – Sie unglaubliche Schönheit!“

Sie zog wirklich die Hand an ihre Lippen, allerdings mit einer sonderbaren Absicht: um die Küsse zu „quittieren“! Katerina Iwanowna zog ihre Hand nicht fort. Mit scheuer Hoffnung vernahm sie die letzten Worte und das so sonderbar geäußerte Versprechen Gruschenkas, ihr vielleicht alles „sklavisch“ zu Gefallen tun zu wollen. Sie blickte ihr angestrengt in die Augen. Sie sah in diesen Augen immer denselben offenherzigen, zutraulichen Ausdruck, immer dieselbe klare Munterkeit ... „Sie ist vielleicht nur sehr naiv,“ dachte Katerina Iwanowna einen Augenblick mit neuer Hoffnung im Herzen. Gruschenka zog inzwischen langsam die Hand immer höher an ihre Lippen. Doch kurz vor ihren Lippen zögerte sie plötzlich und hielt inne, als ob sie über etwas nachdachte.

„Aber wissen Sie was, Sie Engel,“ sagte sie plötzlich mit der zärtlichsten, süßesten Stimme, „wissen Sie was: Ich werde Ihr Händchen jetzt einfach nicht küssen.“ Und sie lachte ein kleines, heiteres Lachen.

„Wie Sie wollen ... Was sagen Sie?“ fuhr Katerina Iwanowna jäh auf.

„So behalten Sie denn das zur Erinnerung, daß Sie meine Hand geküßt haben, ich aber die Ihre nicht.“ Es blitzte etwas in Gruschenkas Augen. Sie blickte aufmerksam Katerina Iwanowna an.

„Unverschämte!“ stieß plötzlich Katerina Iwanowna hervor, als ob sie mit einemmal etwas begriffen hätte; sie wurde feuerrot und sprang auf. Ohne sich zu beeilen, erhob sich auch Gruschenka.

„So werde ich es denn auch gleich Mitjä erzählen, wie Sie mir dreimal die Hand geküßt haben, ich aber die Ihre überhaupt nicht. Und wie er darüber lachen wird!“

„Hinaus, Sie gemeines Geschöpf, hinaus!“

„Ach, schämen Sie sich, Fräulein, ach, schämen Sie sich, das steht Ihnen wohl gar nicht zu, liebes Fräulein.“

„Hinaus, feile Dirne!“ schrie Katerina Iwanowna. Jeder Nerv zitterte in ihrem verzerrten Gesicht.

„Also schon feil. Sind Sie doch selbst als junges Mädchen in der Dämmerung zu Herren nach Geld gegangen, um Ihre Schönheit zu verkaufen, das weiß ich doch, weiß ich doch!“

Katerina Iwanowna stieß einen kurzen Schrei aus und wollte sich auf sie stürzen, aber Aljoscha gelang es noch, sie mit aller Gewalt zurückzuhalten:

„Kein Wort mehr, keinen Schritt! Sagen Sie nichts, antworten Sie nicht, sie geht ja schon fort, sie wird sogleich fortgehen!“

In dem Augenblick stürzten auf ihren Schrei hin die beiden Tanten in den Saal und nach ihnen das Stubenmädchen. Alle liefen sie zu ihr und umringten sie.

„Ja, ich gehe,“ sagte Gruschenka, die vom Sofa ihren Umwurf nahm. „Aljoscha, mein Lieber, begleite mich!“

„Gehen Sie, gehen Sie doch schneller fort!“ bat Aljoscha flehend.

„Lieber Aljoschenka, begleite mich! Ich werde dir unterwegs ein schönes, schönes Wörtchen sagen! Ich habe ja nur für dich, Aljoschenka, diese Szene gespielt. Begleite mich, Liebling, wirst später damit zufrieden sein.“

Aljoscha wandte sich von ihr ab. Gruschenka lief hell lachend aus dem Hause.

Katerina Iwanowna hatte einen Nervenanfall. Sie schluchzte, konnte nicht atmen, glaubte zu ersticken. Alle bemühten sich um sie.

„Ich habe Sie gewarnt,“ sagte ihr die ältere Tante, „ich habe Sie immer wieder von diesem Schritt abzuhalten versucht ... Sie sind viel zu heißblütig, wie kann man nur als Dame so etwas tun! Sie kennen diese Geschöpfe nicht; von dieser aber sagt man, sie soll die Schlimmste von allen sein ... Nein, Sie sind viel zu eigenwillig!“

„Das ist ja ein Tiger!“ schrie Katerina Iwanowna außer sich. „Warum hielten Sie mich zurück, Alexei Fedorowitsch, ich hätte sie durchgeprügelt, durchgeprügelt!“

Sie hatte nicht die Kraft, sich vor Aljoscha zusammenzunehmen, vielleicht wollte sie es auch nicht einmal.

„Peitschen muß man sie, auf dem Schafott, durch den Henker, öffentlich! ...“

Aljoscha zog sich erschrocken zur Tür zurück.

„Aber, o Gott!“ rief plötzlich Katerina Iwanowna, die Hände ringend. „Er! er hat so unmenschlich sein können, so unmenschlich! Er hat dieser Dirne erzählt, was dort war, damals, an jenem schrecklichen, entsetzlichen, verfluchten, ewig verfluchten Tage! ‚Sind doch Ihre Schönheit verkaufen gegangen, liebes Fräulein!‘ Und sie weiß das! Ihr Bruder ist ein Schuft, Alexei Fedorowitsch!“

Aljoscha wollte etwas sagen, aber er fand kein einziges Wort. Sein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz.

„Gehen Sie fort, Alexei Fedorowitsch! Ich schäme mich, mir ist so furchtbar zumut! Morgen ... ich flehe Sie an, kommen Sie morgen! Verurteilen Sie mich nicht, verzeihen Sie, ich weiß noch nicht, was ich mit mir machen werde.“

Aljoscha trat auf die Straße. Er wankte beinahe. Er wollte gleichfalls weinen wie sie. Da kam ihm das Stubenmädchen nachgelaufen.

„Das gnädige Fräulein hat vergessen, Ihnen diesen Brief von Fräulein Chochlakowa zu übergeben; er lag bei ihr seit dem Mittag.“

Aljoscha nahm ganz mechanisch das kleine rosa Kuvert und steckte es, ohne es selbst zu gewahren, in die Tasche.

XI.
Noch ein verlorener Ruf

Das Kloster war nur etwas über eine Werst von der Stadt entfernt. Aljoscha schritt eilig aus auf der zu dieser Stunde ganz einsamen Straße. Die Nacht brach schon an: auf dreißig Schritt konnte man die Gegenstände nur schwer unterscheiden. Ungefähr auf der Hälfte des Weges kam ein Kreuzweg. Dort am Kreuzweg stand an einem einsamen Silberweidenbaum eine Menschengestalt. Kaum hatte Aljoscha den Kreuzweg betreten, als die Gestalt sich vom Baume loslöste, ihm entgegenstürzte und mit grimmig wilder Stimme rief:

„Den Beutel oder das Leben!“

„Ach, das bist du, Mitjä!“ sagte höchst erstaunt Aljoscha, der zuerst doch etwas zusammengefahren war.

„Ha–ha–ha! Das hattest du wohl nicht erwartet? Ich fragte mich: Wo soll ich dich erwarten? Bei ihrem Hause? Von dort aber führen drei Wege hierher, und ich könnte dich verfehlen. Endlich kam ich darauf, hier zu warten, denn hier muß er unbedingt vorübergehen, dachte ich, einen anderen Weg gibt’s nicht zum Kloster. Nun, sag die Wahrheit, schone mich nicht ... Was ist mit dir?“

„Nichts, Mitjä ... ich, nur so, vom Schreck. Ach, Dmitrij! Vorhin – dieses Blut unseres Vaters ...“ Aljoscha schluchzte auf; er hatte schon lange in Tränen ausbrechen wollen, jetzt aber war ihm, als ob etwas in seiner Seele plötzlich zerrisse. „Du hättest ihn beinahe erschlagen ... Du verfluchtest ihn ... und jetzt ... hier ... jetzt scherzest du noch ... Beutel oder Leben!“

„Ach ja, nun – was? Unpassend, nicht? Paßt nicht zu meiner Lage?“

„Ach nein, nicht das ... ich war nur so ...“

„Wart, bleib stehn. Sieh die Nacht, sieh, wie dunkel die Nacht ist, die Wolken, sieh, wie dunkel, und welch ein Wind sich erhoben hat! Ich hatte mich hier unter der Weide versteckt, erwartete dich, und plötzlich ein Gedanke (bei Gott!): Wozu sich denn noch weiter plagen, worauf noch warten? Hier ist eine Weide, ein Taschentuch hast du, ein Hemd hast du, eine Schlinge läßt sich im Augenblick zusammendrehen, kannst sie noch obendrein anfeuchten und – nicht mehr die Erde belasten, sie nicht mehr durch dein niedriges Leben entehren! Da höre ich, ein Mensch kommt – du! Herrgott, es war ganz, als ob plötzlich etwas zu mir niederfliege: also gibt es doch noch einen Menschen, den auch ich liebe, da kommt, da ist er, dieser Mensch, mein liebstes, kleines Brüderchen, das ich am meisten auf der Welt liebe, das einzige, was ich wirklich so, so lieb habe! Ja: so lieb warst du mir plötzlich, ich liebte dich so in diesem Augenblick, daß ich dachte: Werfe mich sofort an seinen Hals und küsse ihn! Da kam aber dieser dumme Gedanke: Werde einen Scherz machen, ihn erschrecken. Und da schrie ich denn wie ein alter Esel: ‚Den Beutel oder das Leben‘! Verzeih die Narrheit – das ist doch nur Unsinn, in der Seele ist es auch bei mir – ... anständig ... Nun aber, zum Teufel damit, sag, wie es dort war? Was sagte sie? Schlag mich nieder, zermalme mich, brauchst mich nicht zu schonen! Sie geriet wohl außer sich?“

„Nein, nicht das ... Es war dort ganz anders, Mitjä. Dort ... Ich traf sie beide zusammen an.“

„Wen denn, was für beide?“

„Gruschenka war bei Katerina Iwanowna.“

Dmitrij Fedorowitsch erstarrte.

„Unmöglich!“ stieß er hervor, „du phantasierst! Gruschenka bei ihr?“

Aljoscha erzählte ihm alles, was er von dem Augenblick an, da er bei Katerina Iwanowna eingetreten war, gesehen und gehört hatte. Er erzählte zehn Minuten lang, allerdings nicht gleichmäßig und zusammenhängend, aber er verstand es, alles klar darzustellen; er hob die bedeutungsvollen Worte hervor, die wichtigsten Bewegungen, und gab häufig nur durch eine kurze Bemerkung deutlich seine eigenen Gefühle wieder. Dmitrij hörte schweigend zu, blickte starr mit einer sonderbaren Unbeweglichkeit vor sich hin, doch Aljoscha sah, daß er schon alles begriffen hatte und den ganzen Zusammenhang verstand. Sein Gesicht wurde, je mehr die Erzählung verrückte, nicht etwa nur finster, nein, drohend. Er hatte die Stirn gerunzelt, preßte die Zähne zusammen; sein unbeweglicher Blick wurde gleichsam noch unbeweglicher, starrer, furchtbarer ... Um so unerwarteter war es, als sich plötzlich mit unglaublicher Hastigkeit sein ganzes Gesicht, das bis dahin zornig und wild gewesen war, veränderte; die zusammengepreßten Lippen öffneten sich, und Dmitrij Fedorowitsch lachte das allerunbezwingbarste, natürlichste Lachen. Er schüttelte sich buchstäblich vor Lachen; lange Zeit konnte er überhaupt nicht sprechen vor Lachen.

„Und hat die Hand auch richtig nicht geküßt! Nicht geküßt, und ist so fortgelaufen!“ rief er in geradezu krankhaftem Entzücken, – in schamlosem Entzücken könnte man vielleicht sagen, wenn dieses Entzücken nicht so ungekünstelt gewesen wäre. „Also sie schrie, sie sei ein Tiger! Das ist sie ja auch, ein Tiger! Also aufs Schafott soll man sie bringen? Ja, ja, das müßte man, das muß man, das ist auch meine Meinung, daß man es tun muß, schon lange müßte man’s! Siehst du, Bruder, meinetwegen aufs Schafott, aber vorher muß man noch geheilt werden. O, ich erkenne die Königin der Unverschämtheit, hierin ist sie ganz enthalten, ganz, in diesem Händchen hat sie sich ganz ausgesprochen, hierin liegt das ganze infernale Weib. Das ist die Königin aller infernalen Weiber, die man sich in der Welt nur denken kann! In seiner Art kann’s einen wirklich entzücken! Also sie lief nach Haus? Ich wollte schon ... Ach, dann werde ich ... schnell zu ihr eilen! Aljoschka, sei mir nicht böse, ich gebe ja vollkommen zu, daß es zu wenig wäre, sie zu erdrosseln ...“

„Aber Katerina Iwanowna?“ fragte Aljoschka traurig.

„Auch die durchschaue ich, ganz und gar durchschaue ich sie jetzt, wie noch nie zuvor! Das ist eine wahre Entdeckung aller vier Erdteile, aller fünf! Solch ein Schritt! Das ist gerade diese selbe Katjenka, das Pensionsmädel, das mit dem hochherzigen Entschluß, den Vater zu retten, sich nicht fürchtete, zu einem dummen rohen Offizier in der Dämmerung zu laufen, wobei sie riskierte, so unsagbar beleidigt zu werden! Doch unser Stolz! das Bedürfnis zu wagen! das Schicksal herauszufordern! diese Herausforderung ins Unermeßliche! Du sagst, die Tante hat sie aufgehalten? Diese Tante, weißt du, ist selbst eine eigenmächtige Person, ist doch die leibliche Schwester jener moskauschen Generalin; sie hat früher die Nase noch höher getragen als Katjä, aber da wurde ihr Mann wegen Bestehlung der Kronkasse verurteilt, verlor alles, verlor sein ganzes Hab und Gut – und seine stolze Frau Gemahlin senkte darauf etwas den Ton, hat ihn auch seit der Zeit nicht wieder erhoben. Also sie hat Katjä zurückgehalten, und die hat natürlich nicht auf sie gehört. ‚Kann alles besiegen,‘ denkt sie, ‚alles ist mir untertan; wenn ich will, bezaubere ich auch Gruschenka,‘ und – hat sich natürlich selbst geglaubt, hat sich selbst aufgestachelt, wer ist denn jetzt daran schuld? Du glaubst, sie hat mit Absicht als erste das Händchen der anderen geküßt, Gruschenkas Hand, aus schlauer Berechnung? Nein, sie hatte sich wirklich, wirklich in Gruschenka verliebt, das heißt, nicht in Gruschenka, sondern in ihre eigene Idee, in ihre Phantasie, darum, siehst du, weil das, sozusagen, ihre Idee war, ihre eigene Phantasie. Liebling, Aljoscha, wie bist du nur von ihnen losgekommen, wie hast du dich gerettet? Bist wohl einfach fortgelaufen, mit aufgenommenen Rockschößen? Ha–ha–ha!“

„Dmitrij, es ist dir, glaub ich, nicht einmal aufgefallen, wie beleidigend das für Katerina Iwanowna ist, daß du Gruschenka von jenem Tage erzählt hast? so daß die ihr jetzt ins Gesicht hat schleudern können: ‚Sie sind doch selbst zu Herren Ihre Schönheit verkaufen gegangen!‘ Bruder, gibt es denn überhaupt noch eine größere Beleidigung als diese?“

Am meisten quälte Aljoscha der Gedanke, daß sein Bruder sich gleichsam über Katerina Iwanownas Erniedrigung zu freuen schien, obgleich das natürlich ganz ausgeschlossen war.

„Ach, Teufel!“ Dmitrij Fedorowitschs Gesicht verfinsterte sich plötzlich unheimlich, und er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Erst jetzt verfiel er darauf, obgleich Aljoscha alles erzählt, nichts verschwiegen hatte, auch Katerina Iwanownas Schrei nicht: „Ihr Bruder ist ein Schuft!“ – „Ja, wirklich, es kann sein, daß ich Gruschenka von jenem ‚verhängnisvollen Tage‘, wie Katjä sagt, erzählt habe. Ja, richtig, ich hab’s ihr erzählt, ich weiß, ich weiß! Das war damals in Mokroje, ich war betrunken, die Zigeunerinnen sangen ... Aber ich schluchzte doch, ich schluchzte doch selbst, ich lag auf den Knien, ich betete zu Katjä, und Gruschenka begriff das doch. Sie begriff damals alles, ich weiß noch, sie weinte selbst ... Äh, Teufel! und konnte es denn jetzt anders sein? Damals weinte sie, jetzt aber ... Jetzt ‚den Dolch ins Herz‘! So sind die Weiber!“

Er verstummte und dachte nach.

„Ja, ich bin ein Schuft! Das steht nun fest!“ sprach er plötzlich mit düsterer Stimme vor sich hin. „Einerlei, geweint oder nicht geweint! Kannst dort melden, daß ich die Bezeichnung annehme, – wenn das zu trösten vermag. Und nun genug, leb wohl, wozu so viel schwatzen!! Heiteres gibt es nicht. Du gehst deinen Weg, ich den meinen. Und ich will dich auch nicht mehr sehn, bis zu irgendeiner letzten Minute. Leb wohl, Alexei!“ Er drückte Aljoscha fest die Hand und ging, immer noch mit gesenktem Kopf, als ob er sich losgerissen hätte, mit schnellen Schritten in die Stadt zurück. Aljoscha blickte ihm nach; er glaubte noch nicht, daß er wirklich fortging.

„Wart, Alexei, noch ein Bekenntnis! Dir allein werde ich es sagen!“ rief plötzlich Dmitrij Fedorowitsch und kehrte zurück: „Sieh mich an, sieh mich aufmerksam an, sieh hier, hier – bereitet sich eine furchtbare Ehrlosigkeit vor.“ (Als er dieses „sieh hier“ sagte, schlug er sich in einer so sonderbaren Weise mit der Faust auf die Brust, als ob diese Unehre gerade auf seiner Brust läge oder dort sich verberge, auf einem bestimmten Fleck, in einer Tasche vielleicht, oder in etwas eingenäht am Halse hinge.) „Du kennst mich nun schon: Ich bin ein Schuft, ein erklärter Schuft! Doch wisse, was ich auch getan habe, früher, jetzt, oder noch später tun werde, – nichts, nichts kann sich in der Gemeinheit mit dieser Ehrlosigkeit vergleichen, die ich gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick hier, hier auf meiner Brust trage, gerade hier, sieh hier, – die schon geschieht und sich vollzieht, und die aufzuhalten vollkommen in meiner Macht liegt, merk dir das, ich kann sie aufhalten oder ausführen! Nun, so wisse denn, daß ich sie ausführen und nicht aufhalten werde. Heute in der Laube erzählte ich dir alles: nur das eine erzählte ich dir nicht, denn selbst ich hatte keine genügend eherne Stirn dazu! Ich kann noch stehen bleiben; wenn ich stehen bleibe, kann ich noch morgen die ganze Hälfte der verlorenen Ehre wiedergewinnen, aber ich werde nicht stehen bleiben, ich werde das gemeine Vorhaben ausführen, und so sei du hinfort Zeuge, daß ich im voraus und wissentlich sage: Verderben und Finsternis! Zu erklären ist nichts, wirst es schon zur rechten Zeit erfahren. Stinkende Winkelgasse und ein infernales Weib! Leb wohl. Bete nicht für mich, bin’s nicht wert, und es ist auch gar nicht nötig, nicht nötig ... bedarf dessen überhaupt nicht! Fort! ...“

Und er entfernte sich plötzlich, diesmal aber kehrte er nicht mehr zurück. Aljoscha ging zum Kloster.

„Wie, wie werde ich ihn denn nie mehr wiedersehen? was sagte er?“ fragte er sich, und es schien ihm undenkbar, daß er ihn nicht mehr wiedersehen werde. „Morgen noch muß ich ihn unbedingt zu sehen versuchen, ich werde ihn schon finden, werde ihn unbedingt aufsuchen! Was wollte er nur damit sagen? Was meinte er? ...“


Er ging von außen um das Kloster herum und dann durch den Kiefernwald geradeswegs zur Einsiedelei. Ihm wurde bald aufgemacht, obgleich man dort sonst zu so später Stunde niemanden mehr einzulassen pflegte. Sein Herz zitterte, als er in die Zelle des Staretz trat: – Warum, warum nur war er fortgegangen, warum hatte ihn jener ‚in die Welt‘ geschickt? Hier war Ruhe, hier war das Heil, dort aber – war Unruhe, dort war Finsternis, in der man sich sofort verirrte und verlor ... –

In der Zelle befanden sich der Novize Porfirij und der Priestermönch Paissij, der den ganzen Tag in jeder Stunde einmal kam, um sich nach dem Befinden des Staretz zu erkundigen, mit dem es, wie Aljoscha mit Schrecken hörte, immer schlechter wurde. Sogar die übliche allabendliche Unterweisung der Brüderschaft hatte diesmal nicht stattfinden können. Gewöhnlich versammelte sich des Abends nach dem Gottesdienst die Brüderschaft des Klosters noch vor dem Schlafengehen in der Zelle des Staretz, und ein jeder beichtete ihm dann laut seine Vergehen, seine sündigen Gedanken und Träume, die er am Tage gehabt, Versuchungen und sogar Streitigkeiten mit den anderen, falls solche vorgekommen waren. Viele beichteten kniend. Der Staretz erließ die Sünden, versöhnte, unterwies und belehrte, legte Bußen auf, segnete und entließ. Gegen diese „Beichte“ der Brüderschaft erhoben sich aber die Gegner der Startzen; sie sagten, das sei eine Profanation der Beichte als Sakrament, obgleich es in diesem Falle doch etwas ganz anderes war. Man machte die geistliche Obrigkeit sogar darauf aufmerksam, daß solch ein Beichten nicht nur zu nichts führe, sondern tatsächlich und mit Fleiß in Sünde und Versuchung bringe und Anstoß gäbe. Man sagte, vielen Brüdern sei dieses Beichten lästig, doch wollten sie sich nicht absondern und kämen nur zu dem Staretz, damit man sie nicht böser Gedanken verdächtige und für stolz hielte. Man erzählte sich sogar, daß einzelne aus der Brüderschaft auf dem Wege zum Staretz unter sich abmachten: „Ich werde sagen, daß ich mich heute morgen über dich geärgert habe, und du bestätige es,“ – damit man etwas zu beichten hätte und auf diese Weise loskäme. Aljoscha wußte, daß das wirklich zuweilen vorkam. Auch wußte er, daß es unter der Brüderschaft einige Mönche gab, die darüber sehr ungehalten waren, daß sogar die Briefe, die die Einsiedler von ihren Verwandten erhielten, zuerst zum Staretz gebracht wurden, der sie dann erbrach und noch vor dem betreffenden Adressaten las. Es wurde natürlich vorausgesetzt, daß alles freiwillig und aufrichtig geschah, von Herzen kam, aus freier Ergebung und um der Erlösung willen – doch in Wirklichkeit geschah es gar manches Mal sehr wenig von Herzen, im Gegenteil, sogar mit Falschheit und erheuchelter Demut. Doch die Älteren und Erfahreneren der Brüderschaft bestanden darauf, da sie der Meinung waren: „Wer aufrichtig in diese Mauern eingetreten ist, um hier seine Erlösung zu finden, für den wird das alles nur Heil bringen und von großem Nutzen sein; wem aber das lästig ist, und wer darüber murrt, der ist überhaupt kein Mönch und ganz umsonst ins Kloster gekommen – der gehört in die Welt. Vor der Sünde und dem Teufel kann man sich nicht nur in der Welt, sondern selbst im Gotteshause nicht schützen – folglich braucht man mit der Sünde nicht Nachsicht zu haben.“

„Er ist sehr erschöpft, jetzt ist er eingeschlafen,“ flüsterte Pater Paissij Aljoscha zu, nachdem er ihn gesegnet hatte. „Man kann ihn nur schwer aufwecken; aber man braucht ihn ja auch nicht zu wecken. Vor fünf Minuten erwachte er von selbst, bat, der Brüderschaft seinen Segen zu überbringen, und ließ sie bitten, für ihn Nachtgebete zu sprechen. Am Morgen will er noch einmal das heilige Abendmahl nehmen. Er gedachte deiner, Alexei, fragte, ob du fortgegangen seiest, und man sagte ihm, daß du in der Stadt wärest. ‚Dazu habe ich ihm meinen Segen gegeben: dort ist sein Platz vorläufig, nicht hier,‘ – also sprach er von dir. Liebend gedachte er deiner, mit sichtlicher Sorge; erkennst du auch, wessen du gewürdigt worden bist? Warum hat er dir das nur bestimmt, eine Zeitlang draußen in der Welt zu bleiben? Er sieht wohl etwas voraus in deinem Schicksal! Behalte aber, Alexei, wenn du nun auch in die Welt zurückkehrst, daß es doch nur eine von deinem Staretz dir auferlegte Buße ist, und daß du es nicht zu eitlem Leichtsinn und zu weltlicher Freude tun sollst ...“

Pater Paissij ging hinaus. Aljoscha wußte jetzt, daß die Todesstunde des Staretz nicht mehr fern war, wenn er auch noch einen oder zwei Tage leben konnte. Und so beschloß er sofort, am nächsten Tage, trotz der Versprechen, die er seinem Vater, Chochlakoffs, seinem Bruder Iwan und Katerina Iwanowna gegeben hatte, überhaupt nicht aus dem Kloster zu gehen, um bei seinem Staretz bis zu dessen Tode bleiben zu können. Sein Herz erglühte in Liebe zu ihm, und er machte sich bittere Vorwürfe, daß er in der Stadt einen Augenblick ganz hatte vergessen können, wer hier im Kloster auf dem Sterbebett lag – der Mensch, den er vor allen am meisten verehrte und am höchsten achtete. Er ging leise in die kleine Schlafzelle des Staretz, kniete dort nieder und verneigte sich vor dem Schlafenden bis zur Erde. Der schlief still und ruhig; gleichmäßig und fast unmerklich atmete er; sein Antlitz war gleichfalls ruhig.

Aljoscha kehrte in das vordere Zimmer zurück – in dasselbe, in dem der Staretz am Morgen den Besuch empfangen hatte –, zog seine Stiefel aus und legte sich fast ganz angekleidet auf das kleine, schmale Ledersofa, auf dem er schon seit langer Zeit in jeder Nacht schlief, nur legte er sich noch sein Kopfkissen unter. Das Federbett aber, das sein Vater ihm befohlen hatte, nach Haus mitzunehmen, brauchte er schon seit langer Zeit nicht mehr. Er nahm nur seine Kutte ab und bedeckte sich mit ihr an Stelle einer Bettdecke. Doch vorher kniete er jedesmal nieder und betete lange. In seinem heißen Gebet bat er Gott nicht etwa, ihm seine Verwirrung zu erklären, nein, er sehnte sich nur nach der freudigen Rührung, der früheren Rührung, die immer seine Seele so erfreut hatte, nach der Preisung Gottes, aus der gewöhnlich sein ganzes Abendgebet bestand. Diese Freude, die ihn dann überkam, brachte ihm einen leichten und ruhigen Schlaf. Als er jetzt wieder betete, berührte er plötzlich ganz aus Versehen den kleinen, harten Brief in seiner Tasche, den ihm Katerina Iwanownas Stubenmädchen auf der Straße übergeben hatte. Es verwirrte ihn zwar ein wenig, doch betete er ruhig zu Ende; darauf – nach einigem Schwanken – erbrach er das Kuvert: in ihm lag ein Brief an ihn, unterschrieben „Lise“. Es war dieselbe junge Tochter der Frau Chochlakoff, die am Morgen beim Staretz so sehr über Aljoscha gelacht hatte.

„Alexei Fedorowitsch,“ schrieb sie, „ich schreibe Ihnen ganz heimlich, niemand weiß es, auch Mama nicht, und ich weiß selbst, daß es nicht gut ist. Aber ich kann nicht mehr leben, wenn ich Ihnen nicht das sage, was in meinem Herzen aufgestiegen ist, das aber darf niemand außer uns beiden bis zur rechten Zeit erfahren. Doch wie soll ich Ihnen nur das sagen, was ich Ihnen so gern sagen will? Das Papier, sagt man, nicht, und ich weiß selbst, daß es nicht richtig ist. Aber und daß es ganz ebenso errötet, wie ich jetzt über und über erröte. Lieber Aljoscha, ich liebe Sie, liebe Sie schon von Kindheit an, schon seit Moskau, als Sie noch gar nicht so waren wie jetzt, und ich liebe Sie fürs ganze Leben. Natürlich mit der Bedingung, daß Sie das Kloster verlassen. Was unser Alter anbetrifft, so werden wir so lange warten, wie es das Gesetz verlangt; bis dahin werde ich bestimmt, unbedingt gesund sein, werde gehen und tanzen können. Darüber lohnt sich kein Wort zu verlieren.

Sehen Sie, wie ich alles bedacht habe; nur eines kann ich mir nicht vorstellen: was Sie von mir denken werden, wenn Sie das lesen? Ich lache immer und bin unartig, und heute noch habe ich Sie geärgert; aber ich versichere Ihnen, ich habe, bevor ich zu schreiben begann, vor der Mutter Gottes gebetet, und auch jetzt bete ich und weine beinahe.

Mein Geheimnis ist jetzt in Ihren Händen; ich weiß nicht, wie ich Sie morgen, wenn Sie zu uns kommen, ansehen soll. Ach, Alexei Fedorowitsch, was dann, wenn ich mich wieder nicht beherrschen kann und wie ein albernes Geschöpf bei Ihrem Anblick abermals zu lachen anfange? Sie werden mich dann doch für eine schändliche Spötterin halten und meinem Brief gar keinen Glauben schenken, und darum flehe ich Sie an, Lieber, falls Sie nur etwas Mitleid mit mir haben: wenn Sie morgen eintreten, so sehen Sie mir nicht gar zu offen in die Augen, weil ich, wenn ich Sie sehe, vielleicht unbedingt plötzlich zu lachen anfangen werde. Zudem werden Sie noch immer in diesem langen Kittel stecken ... Sogar jetzt läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich daran denke; darum aber sehen Sie mich, wenn Sie hereinkommen, einige Zeit überhaupt nicht an; sehen Sie auf Mama oder zum Fenster hinaus ...

Da habe ich Ihnen jetzt einen Liebesbrief geschrieben; mein Gott, was habe ich getan! Aljoscha, verachten Sie mich nicht, und wenn es etwas sehr Schlechtes ist und ich Sie betrübt habe, so verzeihen Sie mir. Jetzt ist das Geheimnis meines vielleicht auf ewig verlorenen guten Rufes in Ihren Händen.

„Ich werde heute unbedingt weinen. Auf Wiedersehen! Bis zu diesem schrecklichen Wiedersehen! Lise.

P. S. Aljoscha, nur kommen Sie unbedingt, unbedingt, unbedingt! Lise.“

Aljoscha las in großer Verwunderung, las zweimal, dachte dann nach, und plötzlich lachte er leise und herzlich auf. Doch schon fuhr er zusammen, selbst dieses Lachen schien ihm sündhaft. Aber nach einem Augenblick lachte er von neuem vor sich hin, ebenso still und ebenso glücklich. Langsam schob er den Brief wieder in das kleine, rosa Kuvert, bekreuzte sich dann und legte sich schlafen. Die Unruhe seiner Seele war vergangen. „Herrgott, erbarme dich ihrer aller, beschütze die Unglücklichen, die im Sturm kämpfen, und lenke Du sie. Die Wege sind in deiner Hand; wäge Du und lenke ihre Wege zum Besten, und errette sie. Du bist die Liebe, Du wirst allen auch Freude senden!“ flüsterte Aljoscha sich bekreuzend und sank in sanften Schlaf.

Viertes Buch.
Ausbrüche

I.
Pater Ferapont

Frühmorgens, noch vor Sonnenaufgang, wurde Aljoscha geweckt. Der Staretz war aufgewacht und fühlte sich sehr schwach, wollte trotzdem aufstehen und sich in seinen Lehnstuhl setzen. Er war bei voller Besinnung; sein Gesicht jedoch war, wenn auch sehr ermüdet, hell und klar, fast könnte man sagen – freudig, und der Blick ruhig, heiter und willkommenheißend. „Möglich, daß ich den begonnenen Tag nicht überleben werde,“ sagte er zu Aljoscha; darauf wollte er unverzüglich beichten und das Abendmahl nehmen. Sein Beichtvater war von jeher Pater Paissij; nach dem Empfang der beiden Sakramente begann die letzte Ölung. Die Priestermönche versammelten sich, und die Zelle füllte sich allmählich mit den Bewohnern der Einsiedelei. Inzwischen wurde es Tag. Da kam man auch aus dem Kloster zu ihm. Nach dem Frühgottesdienst wollte der Staretz sich von allen verabschieden, und er küßte einen jeden. Da die Zelle so klein war, gingen die früher Gekommenen hinaus, um den neu Ankommenden Platz zu machen. Aljoscha stand neben dem Staretz, der sich wieder in den Lehnstuhl gesetzt hatte. Er sprach und lehrte so viel er konnte; seine Stimme war allerdings schwach, aber doch noch ziemlich fest. „Ich habe euch so viel Jahre gelehrt und daher so viel gesprochen, daß mir das Sprechen gewiß zur Gewohnheit geworden ist, doch euch durch Sprechen zu unterweisen – das ist so stark in mir eingewurzelt, daß mir Schweigen vielleicht sogar schwerer fallen würde als das Reden, meine Lieben – selbst jetzt, bei meiner Schwäche,“ scherzte er mit gerührtem Blick auf die sich zu ihm Drängenden. Aljoscha erinnerte sich noch später dessen, was der Staretz damals gesagt hatte. Wohl sprach er noch deutlich und sogar mit ziemlich fester Stimme, doch seine Rede war schon etwas zusammenhanglos. Er sprach über vieles; wie es schien, wollte er alles aussprechen, vor dem Tode alles noch einmal sagen, alles im Leben Unausgesprochene, und nicht nur allein um der Predigt willen, sondern gleichsam aus dem Verlangen heraus, seine Freude und seine Begeisterung mit allen und allem zu teilen, noch einmal im Leben sein Herz auszuschütten ...

„Liebet einander,“ lehrte der Staretz (wie sich Aljoscha dessen später erinnerte). „Liebet Gottes Volk. Sind wir doch, weil wir uns hier in diesen Mauern eingeschlossen haben, nicht heiliger als die Weltlichen; im Gegenteil, ein jeder Hergekommene hat sich allein schon dadurch, daß er hergekommen ist, im Herzen eingestanden, daß er schlechter ist als die Weltlichen und alles und jedes auf Erden. Und je länger der Einsiedler in diesen Mauern lebt, um so aufrichtiger und tiefer muß er dies erkennen; denn tut er es nicht, so hat er wahrlich keine Ursach gehabt, herzukommen. Wenn er aber zu dieser Erkenntnis gekommen ist, daß er nicht nur schlechter als alle Weltlichen, wohl aber noch vor allen Menschen für alle und alles schuldig ist, an allen Sünden der Menschen im allgemeinen wie im einzelnen, dann erst wird der Zweck unserer Absonderung erreicht sein. Denn wisset, meine Lieben, daß ein jeder von uns schuldig ist für alle und alles auf der Welt, das ist unanfechtbar – und nicht nur durch die allgemeine Weltschuld, sondern ein jeder einzeln für alle Menschen und für jeden Menschen auf dieser Erde. Diese Erkenntnis ist die Krone des Lebens sowohl jedes Einsiedlers wie jedes Menschen in dieser Welt – sind doch die Mönche keine anderen Menschen als die Weltlichen, wohl aber sind sie solche, die den Menschen auf Erden als Beispiel dienen sollten. Dann erst, wenn alle das verstanden haben, wird sich unser Herz in dieser unendlichen, allumfassenden Liebe weiten, die keine Sättigung, also auch keinen Tod kennt. Dann wird ein jeder von euch die Kraft haben, die ganze Welt durch seine Liebe zu erkaufen und mit seinen Tränen die Sünden der Welt abzuwaschen ... Ein jeder gehe seinem Herzen nach, ein jeder beichte sich selbst unermüdlich. Vor eurer Sünde fürchtet euch nicht, selbst wenn ihr sie erkannt habt; tragt nur Sorge, daß die Reue nicht vergehe, doch sollt ihr mit Gott nie Handel treiben. Und wiederum sage ich euch: Seid nicht stolz, weder vor den Geringen noch vor den Mächtigen. Haßt auch nicht, die euch verleugnen, euch schmähen und verleumden; haßt nicht die Atheisten, nicht die Lehrer des Bösen, nicht die Materialisten, sogar die Schlechten von ihnen nicht, nicht nur die Guten nicht, denn auch unter den Schlechten sind viele Gute, besonders in unserer Zeit. Gedenkt ihrer im Gebet also, wie ich euch sage: Vater unser, errette und behüte alle, die niemand haben, der für sie betet; erlöse auch die, welche nicht zu dir beten wollen. Und fügte noch hinzu: Nicht aus Stolz oder Hochmut bitte ich dich, Vater, also, denn ich selbst bin der Schlechten Schlechtester ... Liebet Gottes Volk, lasset nicht die Herde von Fremdlingen forttreiben, denn wahrlich, ich sage euch, wenn ihr in Faulheit und eurem geringschätzenden Hochmut einschlaft oder gar in verderblichem Eigennutz, so werden sie von allen Seiten kommen und euch eure Herde abspenstig machen. Verkündet unermüdlich dem Volke das heilige Evangelium ... Treibt nicht Wucher ... Hängt euer Herz nicht an Gold und Silber, trachtet nicht danach, sucht nicht, es zu erraffen ... Glaubt und haltet das Banner hoch, und erhebt es hoch, hoch ...“

Der Staretz sprach übrigens abgerissener, als es hier wiedergegeben ist und wie es Aljoscha später niedergeschrieben hat. Zuweilen hörte er ganz auf zu sprechen, als ob er wieder Kräfte sammelte, doch war er ersichtlich in innerer Ekstase. Man hörte ihm mit tiefer Rührung andächtig zu, obgleich sich viele über seine Worte wunderten und sie unklar fanden. Später erinnerte man sich wieder dieser Worte. Als Aljoscha auf einen Augenblick die Zelle verließ, war er erstaunt über die allgemeine Erregung und Erwartung der sich in und vor der Zelle drängenden Brüderschaft. Diese Erwartung äußerte sich bei vielen in ungewöhnlicher Spannung, bei anderen wiederum in feierlicher Stimmung. Alle erwarteten sie, daß etwas Großes sofort nach dem Verscheiden des Staretz geschehen werde. Diese Erwartung war sogar von einem gewissen Standpunkt aus unernst, doch selbst die Strengsten der Brüderschaft konnten sich nicht enthalten, sie zu teilen. Am strengsten war das Gesicht Pater Paissijs. Aljoscha verließ die Zelle, da ihn der aus der Stadt gekommene Rakitin geheimnisvoll durch einen Klosterbruder hatte herausrufen lassen. Rakitin übergab ihm einen sonderbaren Brief von Frau Chochlakoff. Sie teilte Aljoscha eine wichtige und sehr zur rechten Zeit gekommene Nachricht mit. Am Tage vorher war nämlich mit vielen anderen Weibern aus dem Volke auch ein altes Mütterchen aus der Stadt, die Unteroffizierswitwe Prochorowna, zum Staretz gekommen. Sie hatte den Staretz gefragt, ob sie für ihren Sohn Wassenjka, der fern nach Sibirien, nach Irkutsk, gefahren war, und von dem sie schon seit einem Jahr keine Nachricht erhalten hatte, eine Seelenmesse solle lesen lassen; worauf ihr der Staretz so etwas streng verboten und gesagt hatte, daß eine Seelenmesse für einen Lebenden ebensogut wie Zauberei wäre. Darauf hatte er ihr wegen ihrer Unwissenheit verziehen und zum Schluß noch hinzugefügt, „als ob er im Buche der Zukunft gelesen“ (schrieb Frau Chochlakoff in ihrem Brief), „daß ihr Sohn Wassjä am Leben sei und alsbald entweder selbst zu ihr kommen oder einen Brief schicken werde und sie nach Haus gehen und alles erwarten solle. Und was glauben Sie wohl!“ schrieb Frau Chochlakoff in ihrer Begeisterung: „– Die Prophezeiung ist buchstäblich in Erfüllung gegangen, und sogar noch mehr als das!“ Kaum war sie nach Haus zurückgekehrt, als man ihr einen aus Sibirien angekommenen Brief übergeben hatte. Und das wäre noch nicht alles: In diesem Brief, der auf der Reise in Jekaterinenburg geschrieben war, teilte der Sohn Wassjä seiner Mutter mit, daß er mit einem anderen Beamten nach Rußland zurückkehre und vielleicht schon nach drei Wochen „seine Mutter zu umarmen“ hoffe. Frau Chochlakoff bat Aljoscha eindringlich, dieses neue „Wunder der Prophezeiung“ dem Prior sowie der ganzen Brüderschaft mitzuteilen. „Alle sollen das erfahren, alle, alle!“ – Damit schloß sie ihren Brief. Dieser Brief war sehr schnell geschrieben; die Eile und Erregung der Schreiberin sprachen aus jeder Zeile. Aber Aljoscha brauchte der Brüderschaft nichts mehr mitzuteilen; alle wußten es schon. Rakitin hatte dem Klosterbruder nach der Bitte, Aljoscha herauszurufen, noch den Auftrag gegeben, untertänigst Seiner Hochehrwürden dem Pater Paissij zu melden, er, Rakitin, habe ihm eine Sache von solcher Wichtigkeit mitzuteilen, daß er nicht um eine Minute die Mitteilung hinausschieben dürfe, für seine Dreistigkeit aber kniend um Verzeihung bäte. Da nun der Klosterbruder zuerst zu Pater Paissij mit Rakitins Bitte gegangen war, so blieb Aljoscha nichts mehr übrig, als sofort dem Pater den Brief als bestätigendes Dokument zu übergeben. Und siehe, selbst dieser strenge, mißtrauische Mensch konnte nicht ganz sein Gefühl verbergen, nachdem er die Nachricht von dem „Wunder“ mit finsterem Gesicht gelesen hatte. Seine Augen blitzten auf, und die Lippen lächelten stolz und überzeugt.

„Wer weiß, was wir noch erleben werden?“ entfuhr es ihm plötzlich gleichsam gegen seinen Willen.

„Ja, was werden wir noch erleben, was werden wir noch erleben?“ wiederholten in der Runde die Mönche. Doch Pater Paissij, dessen Gesicht sich von neuem verfinstert hatte, bat alle, wenigstens „bis dahin“ niemandem laut davon Mitteilung zu machen: „bis es sich bestätigt – denn viel ist doch auch Leichtgläubigkeit in den Menschen, und vielleicht ist alles ganz natürlich geschehen,“ fügte er vorsichtig hinzu, als ob er damit sein Gewissen beruhigen wollte; doch bemerkten alle sehr wohl, daß er selbst an seine Einwendung nicht glaubte. Selbstverständlich wurde das „Wunder“ noch in derselben Stunde im ganzen Kloster bekannt, und auch viele Weltliche, die zur Liturgie in die Klosterkirche gekommen waren, erfuhren es. Am meisten aber war der kleine Mönch „vom heiligen Silvester“ aus Obdorsk über das Wunder erstaunt. Er hatte am Tage vorher zusammen mit Frau Chochlakoff auf den Staretz gewartet, und als sie von ihrer „geheilten“ Tochter gesprochen, den Staretz ungewöhnlich ernst gefragt, wie er solches tun könne. Jetzt aber war er wie vor den Kopf gestoßen und wußte kaum noch, woran er eigentlich glauben sollte. Er hatte nämlich am Abend vorher, nach dem Gespräch mit dem Staretz Sossima auf der Galerie, den Klosterpater Ferapont in seiner abgesonderten Zelle hinter dem Bienengarten besucht und von ihm einen ungewöhnlichen und beängstigenden Eindruck davongetragen. Dieser Pater Ferapont war derselbe alte Einsiedler, der große Schweiger und Faster, dessen ich schon einmal erwähnt habe: als Gegner des Staretz Sossima und des Startzentums überhaupt, das er für eine schädliche und leichtsinnige Neuerung hielt. Diesen aber als Gegner zu haben, war sehr gefährlich, obgleich er, als Schweiger, fast überhaupt nicht sprach. Gefährlich war er vor allem dadurch, daß ihm viele aus der Brüderschaft seine Gegnerschaft lebhaft nachempfanden und viele von den weltlichen Besuchern ihn für einen großen Gerechten und Glaubenseiferer hielten, obschon sie in ihm einen unzweifelhaft Geistesschwachen nicht verkennen konnten. Aber diese heilige Geistesschwäche nahm sie gerade am meisten für ihn ein. Dieser Pater Ferapont ging z. B. nie zum Staretz Sossima. Zwar lebte auch er in der Einsiedelei, doch wurde er mit den dort üblichen Regeln nicht weiter belästigt, da er sich ja doch wie ein Geistesschwacher benahm. Er war etwa fünfundsiebzig Jahre alt, wenn nicht mehr, und lebte bei der Zaunecke hinter dem Bienengarten der Einsiedelei in einer alten, morschen Holzzelle, die dort schon vor langer Zeit, noch im vorigen Jahrhundert, für einen gleichfalls großen Faster und Trappisten, den Pater Jonas, erbaut worden war. Dieser Pater Jonas war hundertfünf Jahre alt geworden, und noch jetzt erzählte man sich im Kloster wie in der Umgegend merkwürdige Geschichten von ihm. Pater Ferapont hatte endlich durchgesetzt, daß man ihm erlaubte, sich in diese einsame Zelle zurückzuziehen, und so lebte er denn schon sieben Jahre in dieser kleinen Hütte, die aber von innen auffallend einem kleinen Bethaus glich, da alle Wände mit vielen, vielen geschenkten Heiligenbildern behangen waren und vor ihnen Tag und Nacht viele, viele geschenkte Lämpchen brannten, die mit Öl zu füllen, anzuzünden, sie zu besorgen und nach ihnen zu sehen, Pater Feraponts einzige Arbeit war. Er aß, wie man erzählte (und es war auch wahr), nur zwei Pfund Brot in drei Tagen, nie mehr; das wurde ihm alle drei Tage von dem daselbst im Bienengarten wohnenden Bienenwärter gebracht; doch auch mit diesem wechselte Pater Ferapont nur höchst selten ein paar Worte. Diese vier Pfund Brot und Sonntags das Abendmahlbrötchen, das ihm der Prior jedesmal pünktlich nach dem Hochamt schickte, waren die ganze Nahrung, die er in einer Woche zu sich nahm. Das Wasser dazu wurde ihm täglich im Kruge gebracht. Zur Liturgie oder zum Gottesdienst kam er nur selten. Fromme Pilger, die ihn besuchten, sahen, daß er zuweilen den ganzen Tag im Gebet auf den Knien lag und kein einziges Mal aufblickte. Ließ er sich einmal mit jemandem in ein Gespräch ein, so war er immer sehr lakonisch, jedenfalls sehr sonderbar und gewöhnlich sehr grob. Es kam wohl zuweilen vor – allerdings nur äußerst selten –, daß er selbst mit den Pilgern zu sprechen begann; doch sprach er dann meistenteils nur ein paar sonderbare Worte zu ihnen, die den armen Leuten viel zu denken gaben, da sie stets rätselhaft blieben, denn Pater Ferapont ließ sich durch keine Bitten mehr bewegen, eine Erklärung zu seinem Ausspruch zu geben. Die Priesterwürde besaß er nicht; er war nur ein gewöhnlicher Mönch. Unter den einfachen Leuten hatte sich das Gerücht verbreitet, daß Pater Ferapont mit den himmlischen Geistern in Verbindung stehe und mit ihnen rede, darum aber im Verkehr mit den Menschen schweige; doch glaubten daran nur die Allerungebildetsten. Der kleine Mönch aus Obdorsk nun hatte sich gegen Abend in den Bienengarten gewagt und war dann nach der Angabe des Bienenwärters, eines gleichfalls sehr schweigsamen und mürrischen Mönches, in der Richtung zur Zaunecke auf die Suche nach der Hütte Pater Feraponts gegangen. „Kann sein, daß er dir was sagt, kann aber auch sein, daß du nichts von ihm zu hören bekommst,“ sagte ihm der Bienenwärter. Das Mönchlein näherte sich nach seinen eigenen Worten in großer Angst und Ehrfurcht. Es war schon eine ziemlich späte Stunde. Pater Ferapont saß diesmal an der Tür der Zelle auf einer niedrigen, kleinen Bank. Über ihm rauschte sacht im Abendwind der Wipfel einer mächtigen, alten, uralten Ulme. Abendkühle schlich sich heran. Der kleine Obdorsksche Mönch fiel vor dem Gebenedeiten nieder, verneigte sich vor ihm bis zur Erde und bat ihn um seinen Segen.

„Willst du nicht, daß auch ich vor dir niederfalle, Mönch?“ fragte Pater Ferapont. „Erhebe dich!“

Das Mönchlein erhob sich gehorsam.

„Segne mich und sei gesegnet. Setz dich neben mich. Von woher hat’s dich hergeführt?“

Was am meisten das arme Mönchlein in Erstaunen setzte, war, daß Pater Ferapont trotz seines so strengen Fastens und seines hohen Alters, ein dem Ansehen nach wirklich noch starker Mann war, daß er sich jedenfalls ganz gerade hielt, doch von Wuchs, nicht im geringsten gebeugt war und ein, wenn auch mageres, so doch gesundes, frisches Gesicht hatte. Zweifellos besaß er auch noch eine bedeutende körperliche Kraft. Gebaut war er geradezu athletisch, und trotz seines hohen Alters war er noch nicht einmal ganz ergraut; er hatte sogar sehr dichtes Haupt- und Barthaar, das früher ganz schwarz gewesen sein mußte; hatte große, leuchtende, graue Augen – doch sperrte er die Augenlider so weit auf, daß es einem sofort auffiel. Das O sprach er stets stark betont und als deutliches O aus.[14] Gekleidet war er in eine lange, sackartige Kutte aus grobem „Sträflingstuch“, wie man diesen Stoff früher nannte, und mit einer dicken Schnur umgürtet. Der Hals und die Brust waren bloß. Ein beinahe schwarzes Hemd von gröbster Leinwand, das monatelang nicht von seinem Körper kam, blickte unter dem Kittel hervor. Es hieß, daß er unter diesem Kittel dreißigpfündige Ketten trug. Seine nackten Füße staken in alten, fast gänzlich auseinanderfallenden Schuhen.

„Ich komme aus der kleinen Obdorskschen Mönchsherberge des heiligen Silvester,“ antwortete demütig der kleine Mönch, doch blickten seine flinken Äuglein wohl etwas ängstlich, aber immerhin recht neugierig den Einsiedler an.

„Kenn ihn; hab bei ihm gewohnt. Was macht er jetzt, ist er gesund?“

Diese sonderbare Frage machte das Mönchlein nicht wenig betreten; es begann etwas zu stottern ...

„Einfältige Menschenkinder seid ihr! Wie haltet ihr das Fasten ein?“

„Unsere Speiseregel ist nach alter Einsiedlersatzung folgende: Während der großen Fastenzeit vor Ostern gibt es am Montag, Mittwoch und Freitag nichts, am Dienstag und Donnerstag für die Brüderschaft weiße Brote, Gerstentrank mit Honig, Schellbeeren oder gesalzenen Kohl und Hafermehlbrei. Am Sonnabend Weißkohl, Erbsen, Grütze mit Hanfsaft, alles in Öl. In der Woche zum Kohl noch getrockneten Fisch und Grütze. In der Karwoche aber vom Montag bis zum Sonnabend, also sechs Tage, nichts als Brot und Wasser und rohes Kraut, und auch das nur mit Enthaltsamkeit. Dann kann man wieder so essen wie in der ersten Fastenwoche; aber am heiligen Karfreitag wird nichts gegessen, und also auch am heiligen Sonnabend fasten wir bis zur dritten Morgenstunde, und dann dürfen wir etwas Brot mit Wasser und jeder je ein Gläschen Wein trinken. Am heiligen Gründonnerstag aber essen wir Gekochtes ohne Öl, trinken Wein mit etwas Trockenkost dazu; denn also ist auch auf dem heiligen Konzil zu Laodicäa gesagt worden: ‚Wenn ihr die ganze heilige Fastenzeit einhaltet, dann aber einen der letzten vier Tage freigebt, so habt ihr die ganze heilige Fastenzeit geschändet.‘ So ist es bei uns. Was aber ist das im Vergleich zu Euch, großer Vater,“ fügte das Mönchlein, dreister geworden, hinzu, „denn Ihr genießet doch das liebe runde Jahr und auch zu den heiligen Osterfeiertagen, wenn doch alle essen, nur Brot und Wasser, und was an Brot bei uns nur auf zwei Tage reicht, das genügt Euch für alle sieben Herrgottstage der Woche. Wahrlich, sie ist wunderbar, Eure so große Enthaltsamkeit.“

„Und die Pfefferschwämme?“ fragte plötzlich Pater Ferapont.

„Pfefferschwämme?“ fragte das Mönchlein erstaunt.

„Nun ja; ich werde auch noch von ihrem Brot fortgehen, brauch’s überhaupt nicht, gehe in den Wald, werde dort von Pfefferschwämmen oder Beeren leben; sie aber gehen hier nirgends fort von ihrem Sauerteig, sind also dem Teufel untertan, daß sie an ihn gebunden bleiben. Heutzutage reden die Unflätigen, es sei unnütz, so viel zu fasten. Das kommt alles nur von ihrer Unersättlichkeit und ihrem stinkenden Hochmut.“

„Ach ja, das ist wohl wahr!“ meinte das Mönchlein seufzend.

„Hast du aber bei ihnen auch die Teufel gesehen?“ fragte Pater Ferapont.

„Bei welchen ‚ihnen‘?“ erkundigte sich vorsichtig und schüchtern das Mönchlein.

„Im vergangenen Jahr ging ich am Karfreitag hinauf zum Prior, das war denn auch das letztemal, seitdem bin ich nie mehr dort gewesen. Sah, bei dem einen sitzt er auf der Brust, versteckt sich unter der Kutte, nur die Hörner gucken noch raus; beim anderen sitzt er in der Tasche, lauert nur noch vorsichtig mit flinken, kleinen Augen, hat Angst vor mir; beim dritten hat er sich im Bauch niedergelassen, an der unflätigsten Stelle seines Leibes; dem vierten hat er sich einfach an den Hals gehängt, und der trägt ihn wie nichts, bemerkt ihn überhaupt nicht.“

„Ihr ... Ihr seht so etwas?“ erkundigte sich das Mönchlein wieder.

„Sag ich dir doch, daß ich sie sehe, durch und durch sogar. Als ich dann langsam vom Prior fortging, da, sieh – sitzt einer hinter der Tür, will sich dort vor mir verstecken, solch ein fester Junge, eine oder anderthalb Arschin groß oder noch größer, mit einem dicken, dunkelbraunen, langen Schwanz, das Ende aber vom Schwanz war zwischen die Türspalte geraten – da war ich nicht dumm und knallte die Tür zu und klemmte seinen Schwanz ein. Wie er quiekte, wie er um sich schlug! Ich aber machte das Zeichen des Kreuzes dreimal nacheinander und kreuzte ihn einfach tot. Er krepierte denn auch auf der Stelle, wie eine plattgedrückte Spinne. Jetzt muß dort das Aas in der Ecke wohl schon verwest sein und stinken, sie aber sehen es weder, noch riechen sie es. Ein Jahr lang bin ich nicht mehr dort gewesen; nur dir hab ich’s gesagt, weil du doch ein Fremdling bist.“

„Furchtbar sind Eure Worte! Aber wie, großer, gebenedeiter Vater,“ – das Mönchlein wurde etwas mutiger – „ist es wahr, was man sich in fernen Gauen Rußlands von Euch erzählt, daß Ihr, wie es heißt, sogar mit dem Heiligen Geiste in fortwährendem Verkehre stehet?“

„Wenn er kommt, kommt’s vor.“

„Wie kommt er denn?“

„Geflogen kommt er.“

„In welcher Gestalt denn?“

„Als Vogel.“

„Also der Heilige Geist in Gestalt einer Taube?“

„Manchmal der Heilige Geist, manchmal der Heilgeist. Der Heilgeist ist was anderes, der kann auch als ein anderer Vogel herniederfahren: als Schwälbchen, als Stieglitz, als Meise.“

„Aber wie unterscheidet Ihr ihn denn von einer gewöhnlichen Meise?“

„Er spricht.“

„Aber wie spricht er denn? In welcher Sprache?“

„In menschlicher.“

„Aber was sagt er denn zu Euch?“

„Heute sagte er, daß ein Esel mich besuchen und dumme Fragen stellen werde. Willst wahrlich nicht wenig wissen.“

„Furchtbar sind Eure Worte, gebenedeiter, heiligster Vater,“ sagte das Mönchlein kopfschüttelnd; doch in seinen erschrockenen Äuglein lag ein bißchen Mißtrauen.

„Siehst du hier diesen Baum?“ fragte nach einigem Schweigen Pater Ferapont.

„Jawohl, heiliger Vater.“

„Deiner Meinung nach ist’s eine Ulme, meiner Meinung nach aber ist’s ein ganz anderes Ding.“

„Was ist es denn?“ Das Mönchlein schwieg in vergeblicher Erwartung.

„Meistens in der Nacht,“ sagte plötzlich nach längerem Schweigen Pater Ferapont. „Siehst du diese zwei großen Äste? In der Nacht streckt Christus von dort seine Arme mir entgegen und sucht mich mit diesen Armen, das sehe ich deutlich, und ich zittere. Furchtbar, o furchtbar!“

„Was ist denn dabei furchtbar, wenn es Christus selbst ist?“

„Er kann mich doch erfassen und emportragen.“

„Lebendig?“

„Hast du denn von Elias nichts gehört? Er umfaßt einen und trägt einen fort ...“

Obschon der kleine Obdorsksche Mönch nach diesem Gespräch nicht wenig nachdenklich in die ihm angewiesene Zelle eines der Klosterbrüder kam, so fühlte er sein Herz doch mehr zum Pater Ferapont als zum Staretz Sossima hingezogen. Das arme Mönchlein war vor allen Dingen fürs Fasten, und da sollte es, seiner Meinung nach, niemanden weiter wundernehmen, wenn solch ein Faster, wie Pater Ferapont, auch „Wunderbares erschaute“. Seine Worte waren allerdings etwas absonderlich gewesen, aber wer konnte denn außer Gott wissen, was sich in ihnen verbarg, in diesen Worten, und doch konnte man allen anderen um Christi willen Einfältigen kein einziges solcher Worte und keine einzige solcher Taten nachrühmen. An den eingeklemmten Teufelsschwanz war er nicht etwa im bildlichen, sondern im buchstäblichen Sinn des Wortes mit ganzer Seele und mit wahrem Vergnügen zu glauben bereit. Außerdem war er immer sehr voreingenommen gegen das Startzentum gewesen, das er bis jetzt nur vom Hörensagen kannte und wie viele andere gleichfalls für eine schädliche Neuerung hielt. Noch war er keinen ganzen Tag im Kloster gewesen, als er schon das geheime Murren einiger freimütiger Klosterbrüder wider das Startzentum vernommen hatte. Zudem war er schon von Natur ungewöhnlich neugierig und für alles interessiert, weshalb er denn auch immer umherschnüffelte und überall spionierte. Das war nun der Grund, warum ihn die Nachricht von dem neuen „Wunder“, das der Staretz Sossima vollbracht haben sollte, so erregte. Aljoscha erinnerte sich später, daß er in der Menge, die sich vor der Zelle des Staretz drängte, mehrmals die kleine Gestalt des herumschnüffelnden Gastes vom heiligen Silvester bemerkt hatte, wie der Kleine von Gruppe zu Gruppe ging, überall horchte und fragte. Doch damals beachtete er ihn nicht weiter; erst später fiel es ihm wieder ein ... Und war ihm doch auch an jenem Tage nicht darum zu tun: dem Staretz Sossima, der sich wieder sehr müde gefühlt und sich hingelegt hatte, war plötzlich, schon im Einschlafen, Aljoscha eingefallen, und so hatte er ihn sofort zu sich rufen lassen. Aljoscha eilte zu ihm. Beim Staretz befanden sich gerade nur Pater Paissij, der Priestermönch Pater Jossiff und der Novize Porfirij. Der Staretz schlug seine müden Augen auf, blickte Aljoscha aufmerksam an und fragte ihn plötzlich:

„Erwarten dich nicht die Deinen, mein Sohn?“

Aljoscha erschrak und stotterte etwas.

„Bedürfen sie nicht deiner? Hast du gestern nicht jemandem versprochen, heute hinzukommen?“

„Ja ... meinem Vater ... den Brüdern ... auch anderen ...“

„Siehst du, geh unbedingt hin, sei nicht traurig. Wisse, daß ich nicht sterben werde, ohne in deiner Gegenwart mein letztes Wort hier auf Erden gesagt zu haben. Dir werde ich dieses Wort sagen, dir vermache ich es, dir, mein geliebter Sohn, denn ich weiß, daß du mich liebst. Jetzt aber geh zu denen, welchen du versprochen hast zu kommen.“

Wie schwer es Aljoscha auch war, jetzt fortzugehen, so gehorchte er doch widerspruchslos. Aber die Verheißung, das letzte Wort des Staretz hier auf Erden zu hören, und zwar als ein Vermächtnis an ihn, Aljoscha, erschütterte und begeisterte seine Seele. Er beeilte sich, schneller in die Stadt zu gehen, um schneller wieder zurückkehren zu können. Da sprach noch Pater Paissij, als Aljoscha mit ihm die Zelle des Staretz verließ, einige Worte zu ihm, die einen tiefen und unerwarteten Eindruck auf ihn machten.

„Denke daran, Jüngling,“ sagte der Pater, „daß die weltliche Wissenschaft, die zu einer großen Macht geworden ist, namentlich im letzten Jahrhundert alles niedergerissen hat, was uns Himmlisches in den Büchern der Heiligen vermacht worden. Nach einer grausamen Analyse scheint bei den Gelehrten dieser Welt vom ganzen früheren Heiligtum überhaupt nichts übriggeblieben zu sein. Sie haben es aber stückweise analysiert, doch der Geist des Ganzen ist ihnen entgangen. Man kann sich wirklich nur wundern, wie blind sie in der Beziehung sind. So steht denn das Ganze auch jetzt noch unerschüttert vor ihnen, und die Geister der Hölle können ihm nichts anhaben. Hat es denn nicht neunzehn Jahrhunderte gelebt, lebt es denn nicht auch jetzt noch in Regungen der Seelen einzelner wie in den Bewegungen ganzer Volksmassen? Sogar in den Regungen dieser selben, die alles zerstört haben, in den Seelen der Atheisten, lebt es wie früher unzerstört und unerschütterlich fort. Denn auch die, die sich vom Christentum losgesagt haben und gegen dasselbe eifern, haben in ihrem Innersten doch das Wesen dieses selben Christus behalten, denn bis jetzt ist weder ihre Weisheit, noch die Glut ihres Herzens fähig gewesen, ein anderes, höheres Ideal des Menschen und seiner Menschenwürde hervorzubringen, als das von Christus gegebene. Was sie aber an Versuchen hervorgebracht haben, ist nichts als Mißgestalt. Behalte das besonders, Knabe, denn dein scheidender Staretz hat dich für die Welt bestimmt. Vielleicht wirst du, wenn du dieses großen Tages gedenkst, auch meiner Worte gedenken, die ich dir von Herzen als Geleit gebe, denn jung bist du, die Welt aber ist voll schwerer Versuchungen, und ihnen sind deine Kräfte nicht gewachsen. Jetzt geh, mein verwaister Junge.“

Mit diesen Worten segnete ihn Pater Paissij. Als Aljoscha das Kloster verließ und noch all diese unerwarteten Worte überdachte, begriff er plötzlich, daß er in diesem sonst so strengen Mönche einen neuen herzlichen Freund und ihn heiß liebenden neuen Führer gefunden hatte – ganz, als ob sein Staretz ihm Pater Paissij als Vermächtnis hinterlassen wollte. „Vielleicht ist auch wirklich so etwas zwischen ihnen verabredet worden,“ dachte Aljoscha. Die unerwarteten und lehrreichen Worte Pater Paissijs, die er soeben vernommen hatte, zeugten jedenfalls von dem Anteil desselben: Er beeilte sich offenbar, den jungen Geist zum Kampf mit den Versuchungen zu wappnen und die ihm anvertraute junge Seele unter seinen Schutz zu nehmen.

II.
Beim Vater

Ganz zuerst ging Aljoscha zu seinem Vater. Als er sich dem Hause näherte, fiel ihm ein, daß ihn der Vater gebeten hatte, möglichst vorsichtig einzutreten, damit sein Bruder Iwan es nicht höre oder sonstwie bemerke. „Warum wohl?“ fragte sich Aljoscha. „Wenn er mir allein etwas heimlich zu sagen hat, warum soll ich denn deswegen heimlich eintreten? Vielleicht hatte er es gestern in der Erregung anders gemeint, sich aber nur nicht richtig ausgedrückt,“ dachte er schließlich. Trotzdem war er froh, als ihm Marfa Ignatjewna, die ihm die Hofpforte aufschloß (Grigorij war, wie sich zeigte, unwohl und lag zu Bett), auf seine Frage mitteilte, daß Iwan Fedorowitsch schon vor zwei Stunden fortgegangen sei.

„Und der Vater?“

„Sind aufgestanden, trinken Kaffee,“ antwortete Marfa Ignatjewna etwas trocken.

Aljoscha trat ein. Der Alte saß in Hausschuhen und in einem alten Mantel allein am Tisch und sah zum Zeitvertreib, übrigens ohne große Aufmerksamkeit, irgendwelche Rechnungen durch. Er war ganz allein im Hause; Ssmerdjäkoff war einkaufen gegangen. Doch die Rechnungen schienen ihn nicht sonderlich zu beschäftigen. Er war allerdings früh aufgestanden und versuchte, munter zu sein, denn er wollte auf keinen Fall krank scheinen, doch sah er noch müde und angegriffen aus. Seine Stirn, auf der sich über Nacht die blutunterlaufenen Flecke noch verdunkelt hatten, war mit einem roten Tuch umwunden. Die Nase war gleichfalls über Nacht gehörig angeschwollen, und auch auf ihr zeichneten sich einige weniger bedeutende blutunterlaufene Flecke ab, die dem Gesicht entschieden ein ganz besonders gereiztes und böses Aussehen verliehen. Der Alte wußte das auch selbst und blickte daher dem eintretenden Aljoscha nichts weniger als freundlich entgegen.

„Der Kaffee ist kalt,“ sagte er kurz, „biete ihn dir auch nicht an. Ich sitze heute selbst auf dem Trockenen, das heißt, werde nichts als Fastenfischsuppe genießen, fordere daher auch niemanden zum Essen auf. Wozu hast du dich herbemüht?“

„Um mich nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen,“ sagte Aljoscha.

„So, und außerdem hab ich dir gestern befohlen, herzukommen. Solch ’n Blödsinn. Hast aber umsonst geruht, dich zu bemühen. Übrigens wußt ich’s ja, daß du dich sofort ranschleppen wirst ...“

Alles, was er sprach, sagte er im feindseligsten Tone. Er erhob sich vom Stuhl und blickte besorgt in den Spiegel (vielleicht zum vierzigstenmal an diesem Morgen), um wieder seine Nase zu betrachten. Auch versuchte er, das rote Tuch auf der Stirn zurechtzuzupfen, damit es etwas hübscher aussähe.

„Ein rotes ist doch immerhin etwas besser, im weißen sieht man ja sofort wie ein wandelndes Lazarett aus,“ bemerkte er bissig. „Nun, wie ist’s denn dort bei dir? Was macht dein Alter?“

„Es geht ihm sehr schlecht; er wird vielleicht heute noch sterben,“ antwortete Aljoscha; doch der Vater hörte ihm schon nicht mehr zu und hatte auch seine Frage sofort wieder vergessen.

„Iwan ist fortgegangen,“ sagte er plötzlich. „Er macht jetzt Mitjka mit aller Gewalt die Braut abspenstig – einzig darum lebt er hier,“ fügte er mit boshaft verzogenen Lippen hinzu und blickte Aljoscha an.

„Hat er das wirklich Ihnen selbst gesagt?“ fragte Aljoscha.

„Jawohl und schon vor langer Zeit. Was glaubst du wohl: vor nicht weniger als drei Wochen hat er’s selbst ausgesprochen. Ist doch nicht hergekommen, um mich heimlich aufzuspießen! Zu irgendeinem Zweck muß er doch gekommen sein?“

„Warum, weshalb reden Sie so?“ fragte Aljoscha erschrocken und verwirrt.

„Um Geld bittet er mich nicht, das ist wahr; aber er wird ja auch von mir keinen Heller zu riechen bekommen. Ich, mein liebster Alexei Fedorowitsch, ich beabsichtige nämlich, möglichst lange hier in dieser Welt zu leben, das lassen Sie sich ein für allemal gesagt sein, damit Sie’s nur wissen; darum aber brauche ich jede Kopeke, und je länger ich lebe, um so nötiger habe ich sie,“ fuhr er fort, im Zimmer auf und ab schreitend, die Hände in den Taschen seines breiten, gelben, befleckten Sommermantels. „Jetzt bin ich immerhin noch ein Mann, hab’ erst fünfundfünfzig auf dem Buckel; und will mich noch mindestens zwanzig Jahre zu den Männern zählen. Wenn ich dann alt werde und widerlich – dann werden sie doch nicht mehr gutwillig zu mir kommen; nun, und dann wird man’s eben mit den Gelderchen machen müssen. Also baue ich jetzt vor und sammle, sammle – für mich allein, mein verehrter Herr Sohn, damit Sie’s nur beizeiten wissen; denn ich beabsichtige in meiner Liederlichkeit bis zu meinem Ende zu leben, das lassen Sie sich gesagt sein. Liederlich zu leben, ist doch am schönsten; alle schimpfen darüber, und doch leben sie alle ebenso, bloß tun sie es alle heimlich, ich aber tue es öffentlich. Wegen dieser meiner Offenherzigkeit schimpfen ja jetzt sämtliche Schweine über mich. Für dein Paradies aber danke ich untertänigst, das kann mir gestohlen werden, damit du’s nur weißt, mein lieber Alexei Fedorowitsch; und ’s wäre ja auch für einen anständigen Menschen unanständig, dorthin zu kommen, selbst wenn es so etwas geben würde. Meiner Meinung nach schläft man einfach ein und wacht nicht mehr auf, und weiter gibt es nichts. Wollt ihr meiner noch gedenken, Seelenmessen für mich lesen lassen, na, meinetwegen, wenn’s euch Spaß macht; wollt ihr nicht, na, dann hol euch allesamt der Teufel. Das ist meine ganze Philosophie. Gestern bei Tisch redete Iwan nicht schlecht, wenn wir auch alle betrunken waren. Iwan ist ein Prahlhans, und von so ’ner großen Gelehrsamkeit oder Bildung merk ich nichts bei ihm ... er lächelt bloß und macht sich innerlich lustig über dich, versteht aber zu schweigen – das ist alles, was er kann.“

Aljoscha hörte zu und schwieg.

„Warum spricht er nicht mit mir? Spricht er aber mal mit mir, so verstellt er sich ... ’n Schuft ist dein Iwan! Gruschenka aber werde ich heiraten, sobald ich nur will. Denn mit Geld in der Tasche braucht man nur zu wollen, mein verehrter Alexei Fedorowitsch, und alles geschieht, was man will. Das aber ist es ja, was Iwan fürchtet, und darum bewacht er mich hier, damit ich nicht heirate, und darum hetzt er auch Dmitrij, daß er Gruschenka nehme. Auf diese Weise will er mich von Gruschenka fernhalten – als ob ich ihm Geld hinterließe, wenn ich sie nicht heirate! – und andererseits, wenn Mitjka die Gruschenka heiratet, so fällt ihm noch dessen reiche Braut zu; siehst du jetzt, was für Berechnungen er hat! ’n Schuft ist dein ganzer Iwan!“

„Sie sind heute noch von dem gestern Erlebten gereizt; Sie müßten sich etwas erholen, zu Bett gehen,“ sagte Aljoscha.

„Sieh, wenn du mir das sagst,“ bemerkte plötzlich der Alte, als ob es ihm zum erstenmal aufgefallen wäre, „dann ärgere ich mich nicht über dich; auf Iwan aber, wenn er mir dasselbe gesagt hätte, würde ich sofort spinnwütend geworden sein. Nur mit dir allein bin ich ein paar Augenblicke lang gut gewesen, denn sonst bin ich ja doch ein böser Mensch.“

„Nein, Sie sind kein böser Mensch, Sie sind nur ein verdorbener Mensch,“ sagte Aljoscha lächelnd.

„Hör, ich wollte schon diesen Räuber Mitjka heute einsperren lassen, und eigentlich weiß ich auch jetzt noch nicht genau, was ich tun werde. Heutzutage ist es ja wohl höchst modern, Väter und Mütter für ein Vorurteil zu halten; aber nach dem Gesetz, glaube ich wenigstens, ist es selbst in unserer aufgeklärten Zeit noch nicht schwarz auf weiß erlaubt, seine Väter an den Haaren zu reißen, auf dem Fußboden herumzuschleifen und mit den Absätzen ins Gesicht zu treten, dazu in deren eigenem Hause! Und dann sich noch zu brüsten, später wiederzukommen, um einen ganz totzuschlagen, dazu alles in Gegenwart von Zeugen! Ich könnte ihn, wenn ich wollte, für das Gestrige sofort einsperren lassen.“

„Aber Sie werden es doch nicht tun?“

„Iwan riet mir ab. Ich pfeife natürlich auf Iwan; aber mir ist dabei etwas anderes eingefallen ...“

Er näherte sich Aljoscha, beugte sich zu ihm nieder und fuhr in geheimnisvollem Geflüster fort:

„Lasse ich den Schuft festsetzen, so erfährt sie es und läuft sofort zu ihm; hört sie dagegen, daß er mich, den schwachen Greis, halb totgeschlagen hat, so ist es möglich, daß sie ihm den Rücken kehrt und mich besuchen kommt ... Wir kennen doch die Weiber – immer das Entgegengesetzte! Itsch, dann erst recht! Ich kenne sie wie meine fünf Finger! Aber willst du nicht ’nen kleinen Kognak? Trink mal ’n bissel Kaffee; er ist zwar nur lauwarm, aber er kann dir nicht schaden; werde dir ein Viertelgläschen hineingießen, das gibt dem Zeug ’nen andern Geschmack.“

„Nein, danke, nicht nötig. Dieses Brötchen werde ich mir in die Tasche stecken, wenn Sie erlauben,“ sagte Aljoscha und steckte sich ein Dreikopeken-Franzbrot in die Tasche seiner Kutte. „Und auch Sie sollten heute lieber keinen Kognak trinken,“ meinte er mit einem etwas besorgten Blick auf das Gesicht des Vaters.

„Du hast recht, er reizt nur und gibt keine Ruh. Aber ein einziges Gläschen ... Ich nehm ihn aus dem Schränkchen ...“

Er zog seine Schlüssel aus der Tasche und schloß das Schränkchen auf, goß sich ein Gläschen ein und schloß dann das Schränkchen wieder zu.

„So, Schluß damit. Von einem Kognak werde ich doch nicht krepieren.“

„Sie sind davon immerhin schon freundlicher geworden,“ meinte Aljoscha lächelnd.

„Hm! Dich liebe ich auch ohne Kognak; mit Schuften aber bin auch ich ’n Schuft. Wanjka will nicht nach Tschermaschnjä fahren – warum nicht? Mich bespionieren will er: ob ich Gruschenka viel gebe, wenn sie kommt. Alle sind Schufte! Und diesen Iwan erkenne ich überhaupt nicht an, will nichts von ihm wissen, kenne ihn überhaupt nicht! Von wo mag solch einer nur hergekommen sein? Gar nicht wie unsereiner; weiß der Teufel, was der Kerl für eine Seele hat. Und als ob ich ihm etwas hinterlassen werde! Nicht mal ’n Testament werde ich hinterlassen, damit ihr’s nur wißt, meine Verehrtesten! Mitjka aber, den schlag ich platt wie eine Schabe. Wenn diese schwarzen Biester nachts in mein Zimmer kommen, so knacke ich sie immer mit dem Pantoffel: es knallt, daß es eine wahre Freude ist, wenn man drauftritt und sie platzen. So wird auch dein Mitjka platzen, wenn ich ihn plattdrücke. Sage ‚dein Mitjka‘, weil du ihn ja so ins Herz geschlossen hast. Sieh, du liebst ihn; ich aber fürchte mich deshalb nicht, weil du ihn liebst. Wenn ihn aber Iwan liebte, so würde ich für mich, weil der ihn liebt, Angst bekommen. Aber Iwan liebt niemanden, Iwan ist kein Mensch wie wir; solche Menschen, wie Iwan, das, weißt du, sind nicht Menschen, das ist aufgewirbelter Staub ... kommt ein Wind, so wird der Staub verweht ... Gestern kam mir eine Dummheit in den Kopf, als ich dir befahl, heute herzukommen; wollte durch dich etwas von Mitjka erfahren ... wenn man ihm Eintausend, nun, sagen wir Zweitausend, hinschmisse, er hat doch nichts – ob er sich dann wohl dazu verstehen würde, sich von hier zu packen, aber ganz und gar, auf fünf Jahre oder besser auf fünfunddreißig, und ohne Gruschenka, versteht sich, sich vielmehr ganz von ihr loszusagen, was meinst du?“

„Ich ... ich werde ihn fragen ...“ stotterte Aljoscha leise. „Wenn Sie alle Dreitausend geben würden, so wäre es vielleicht möglich, daß er ...“

„Du lügst! Und jetzt ist es überhaupt nicht nötig zu fragen! Hab mich anders bedacht. Das war nur so’n dummer Gedanke, der mir gestern in die Dachstube kletterte. Nichts gebe ich, nicht einmal zu riechen kriegt er was, meine Gelderchen brauche ich für mich allein!“ Der Alte wurde wütend und fuchtelte mit den Armen. „Werde ihn auch ohnedem wie ’ne Schabe plattdrücken. Sag du ihm nichts, sonst faßt er womöglich noch Hoffnung. Und auch du hast hier nichts bei mir zu suchen, schieb mal ab! Und diese seine Braut, die Katerina Iwanowna, die er so sorgfältig die ganze Zeit vor mir verbirgt, wird die ihn nun nehmen oder nicht? Du gingst doch gestern zu ihr, wie?“

„Sie will ihn um keinen Preis verlassen.“

„Ja, gerade solche werden ja von den zärtlichen Damen geliebt, solche Durchgänger und Schufte! Taugen nichts, das sag ich dir, diese blassen Fräulein; da ist doch ganz was andres so’n ... Na, du solltest mal sehn, wenn ich seine Jahre hätte und mein damaliges Gesicht – denn mit achtundzwanzig Jahren war ich hübscher als er –, so würde ich ganz genau so wie er siegen und Triumphe feiern. Solch eine Kanaille! Aber Gruschenka kriegt er doch nicht, kriegt er doch nicht! ... Werde ihn vernichten, zu Dreck machen!“

Bei den letzten Worten wurde er wieder wild.

„Aber jetzt kannst auch du dich packen, hast nichts hier bei mir zu suchen,“ sagte er barsch.

Aljoscha trat zu ihm, um sich zu verabschieden, und küßte ihn auf die Schulter.

„Was soll das?“ fragte der Alte etwas verwundert. „Werden uns doch noch sehen. Oder glaubst du, daß wir uns nicht mehr sehen werden?“

„Durchaus nicht, ich tat es nur so, ganz zufällig.“

„Nun ja, auch ich sagte es nur so ...“ Der Alte blickte ihn an. „Hör mal, hör,“ rief er ihm plötzlich noch nach; „komm einmal zur Fischsuppe her, werde eine kochen lassen, eine besondere, pikfeine, nicht so wie heute, komm bestimmt! Komm morgen, hörst du, unbedingt morgen!“

Kaum war Aljoscha hinausgegangen, als der Alte wieder zu seinem Schränkchen trat und sich noch ein halbes Gläschen hinter die Binde goß.

„Jetzt aber Schluß!“ murmelte er, räusperte sich krächzend, schloß das Schränkchen wieder zu und steckte den Schlüssel in die Tasche; darauf ging er ins Schlafzimmer, legte sich erschöpft aufs Bett und schlief im Augenblick fest ein.

III.
Die kleinen Schuljungen

Gott sei Dank, daß er mich nicht nach Gruschenka gefragt hat,“ dachte seinerseits Aljoscha, als er das Haus des Vaters verließ und sich zu Frau Chochlakoff auf den Weg machte, „sonst hätte ich ja schließlich von der gestrigen Begegnung mit Gruschenka erzählen müssen.“ Aljoscha fühlte es schmerzlich, daß die Widersacher sich über Nacht mit neuen Kräften von neuem erhoben und ihre Herzen sich mit dem anbrechenden Tage von neuem verhärtet hatten. „Der Vater ist gereizt und wütend, er hat sich jetzt etwas ausgedacht und scheint dabei bleiben zu wollen. Und Dmitrij? Der wird über Nacht gleichfalls einen Entschluß gefaßt haben und wird wahrscheinlich ebenso gereizt und wütend sein ... und wer weiß, was er sich noch ausgedacht hat ... O, unbedingt muß ich mir heute noch die Zeit nehmen, ihn, einerlei wo, aufzusuchen. Ja, das muß ich unbedingt tun ...“

Doch Aljoscha hatte nicht lange Zeit zum Nachdenken: unterwegs stieß ihm etwas zu, das anscheinend nicht so wichtig war, ihn aber doch ungewöhnlich erschütterte. Kaum war er über den großen Platz gegangen und in eine Nebenstraße eingebogen, um in die Michailoff-Straße zu gelangen – die von der Großen Straße nur durch einen kanalartigen Graben getrennt war (unsere ganze Stadt ist von derartigen Kanälen oder breiten Gräben durchzogen), als er unten am Graben, nicht weit von einer Brücke, eine Gruppe kleiner Schüler, Jungen von etwa neun bis zwölf Jahren bemerkte. Sie waren auf dem Heimweg aus der Schule und trugen ihre Ränzchen auf dem Rücken oder hatten lederne Büchersäcke an Riemen über die Schulter gehängt; einige waren nur in Jäckchen, andere in Mäntelchen, und ein paar von ihnen hatten hohe Stulpenstiefelchen an, mit Falten in den Stiefelschaften, auf die kleine Knaben stets sehr stolz sind, doch die eigentlich nur wohlhabende Eltern, die ihre Kinder verwöhnen, kaufen können. Die ganze kleine Gesellschaft sprach äußerst lebhaft: man schien sich zu beraten. Aljoscha konnte niemals teilnahmslos an kleinen Kindern vorübergehen (in Moskau war er immer stehen geblieben, um sie zu beobachten), und obwohl er am meisten die Dreijährigen liebte, so gefielen ihm doch auch kleine Schuljungen von zehn Jahren sehr. Darum aber verspürte er jetzt große Lust, so sehr er auch in Sorge war, zu ihnen zu gehen und mit diesen Jungen etwas zu sprechen. Er näherte sich ihnen und betrachtete ihre rosigen, lebhaften Gesichtchen; plötzlich fiel ihm auf, daß ein jeder von ihnen einen Stein in der Hand hielt, einige sogar zwei. Zugleich bemerkte er, daß auf der anderen Seite des Kanals, ungefähr dreißig Schritt von der erregten Gruppe, am Zaun noch ein Knabe stand, gleichfalls ein kleiner Schüler, der auch solch ein Büchertäschchen trug, etwa zehn Jahre alt war oder etwas jünger, ein bleicher kränklicher Kleiner mit dunklen, blitzenden Augen. Er stand und beobachtete aufmerksam die Gruppe der sechs anderen kleinen Schüler, die offenbar seine Schulkameraden waren, doch mit denen er in Fehde zu liegen schien. Aljoscha trat zu ihnen heran und sagte, an einen blonden rotbackigen Knaben in schwarzem Jäckchen sich wendend, indem er ihn betrachtete:

„Als ich solch eine kleine Büchertasche trug, wie du sie hast, trug man sie auf der linken Seite, um bequem mit der rechten Hand hineinlangen zu können; du aber trägst die Tasche auf der rechten Seite, so kannst du sie doch nicht so leicht erreichen.“

Aljoscha hatte ganz unbeabsichtigt mit dieser sachlichen Bemerkung begonnen, ohne zu wissen, daß ein Erwachsener, wenn er das Zutrauen eines Kindes oder gar einer ganzen Gruppe Kinder gewinnen will, gerade so ernst und sachlich beginnen und sie unbedingt als vollkommen gleichstehend behandeln muß; Aljoscha hatte aus dem Instinkt heraus das Richtige getroffen.

„Aber er ist doch ein Linkpfot,“ antwortete sofort ein anderer Knabe, ein gesunder, mutiger Junge von etwa elf Jahren. Die Augen der übrigen fünf richteten sich forschend auf den Jüngling in der Mönchskutte.

„Er – er wirft auch die Steine mit der linken Hand,“ bemerkte ein dritter.

In dem Augenblick flog auf die Gruppe ein Stein, streifte nur leicht den „Linkpfot“, war aber geschickt und kräftig geschleudert worden. Er kam von dem kleinen Knaben, der auf der anderen Seite des Grabens stand.

„Gib ihm eins, ziel aber gut, Ssmuroff!“ riefen sofort alle erregt dem „Linkpfot“ zu.

Doch Ssmuroff (der „Linkpfot“) ließ nicht lange warten und zahlte sofort heim; er zielte und schleuderte seinen Stein auf den Knaben jenseits des Grabens, traf ihn aber nicht: der Stein schlug an den Zaun. Der Knabe jenseits des Grabens schleuderte sofort noch einen Stein auf die feindliche Gruppe und traf diesmal – Aljoscha ziemlich schmerzhaft an der Schulter: er hatte auch ersichtlich gerade auf ihn gezielt. Seine Taschen waren voll von Steinen, das konnte man auf dreißig Schritt an seinen abstehenden Paletotseiten erkennen.

„Er hat auf Sie gezielt, absichtlich gerade auf Sie! Sie sind doch ein Karamasoff, nicht wahr, ein Karamasoff?“ schrien unter erregtem Lachen die Knaben. „Jetzt aber alle auf einmal! Eins, zwei, drei!“

Und sechs Steine flogen auf Kommando aus der Gruppe über den Graben. Ein Stein traf den Jungen am Kopf und er fiel hin, doch sprang er im Augenblick wieder auf und fing an, wie rasend geworden, seine Steine auf die Feinde zu schleudern. Es begann ein lebhaftes Bombardement; es zeigte sich, daß auch einige von den Sechsen Steine vorrätig in den Taschen hatten.

„Was fällt euch ein! Schämt ihr euch nicht! Sechs gegen einen, ihr könnt ihn ja totschlagen!“ rief Aljoscha erschrocken aus.

Er sprang schnell vor, den fliegenden Steinen entgegen, um so mit seinem Körper den Kleinen jenseits des Grabens zu schützen. Drei oder vier von den Jungen hielten eine Minute lang inne.

„Er hat selbst angefangen!“ rief ein Kleiner in einer roten Bluse mit hoher Kinderstimme, „er ist ein Schuft, er hat neulich Krassotkin mit dem Federmesser gestochen, so daß Blut floß. Krassotkin wollte nur nicht klagen gehn, ihn aber muß man durchprügeln ...“

„Warum das? Ihr neckt ihn wahrscheinlich?“

„Ha! jetzt hat er Sie wieder mit einem Stein in den Rücken getroffen! Er kennt Sie!“ schrien die Kinder. „Jetzt zielt er nur auf Sie, nicht auf uns! Nun aber alle Mann hoch, schieß gut, Ssmuroff!“

Und wieder begann das Bombardement, diesmal aber recht erbittert. Da schlug ein Stein den kleinen Knaben vor die Brust: er schrie auf und lief weinend den Berg hinauf zur Michailoff-Straße. In der Gruppe erhob sich sofort ein Triumphgeschrei: „Acha hat Angst bekommen, läuft fort, Bastwisch!“

„Sie wissen nicht, Karamasoff, was das für ein gemeiner Junge ist, ihn totschlagen wäre noch viel zu wenig,“ sagte der Knabe in der Jacke, anscheinend der älteste von den Sechsen.

„Wieso?“ fragte Aljoscha, „petzt er etwa?“

Die Knaben tauschten gleichsam spöttische Blicke untereinander aus.

„Gehen Sie auch in die Michailoffstraße?“ fragte derselbe Knabe. „So holen Sie ihn doch ein ... Sehen Sie, er ist wieder stehen geblieben, er wartet und sieht gerade auf Sie.“

„Ja, er sieht gerade auf Karamasoff, auf Karamasoff!“ riefen sofort auch die anderen.

„Fragen Sie ihn, ob er solch einen Badequast, solch einen rötlich-gelben Lindenbastwisch, mit dem man scheuert oder sich wäscht, ob er solch einen Bastwisch liebt? Hören Sie, fragen Sie ihn gerade so!“

Alle lachten. Aljoscha blickte sie an, und sie blickten wiederum ihn an.

„Gehn Sie nicht, er wird Sie hauen,“ sagte ihn warnend der kleine Ssmuroff.

„Nach dem Bastwisch werde ich ihn nicht fragen, denn wahrscheinlich neckt ihr ihn aus irgendeinem Grunde gerade damit, aber ich werde ihn fragen, warum ihr ihn so haßt ...“

„Fragen Sie nur, fragen Sie nur!“ war die lachende Antwort.

Aljoscha ging über die Brücke und dann den Berg hinauf, längs dem Zaun, gerade auf den von seinen Kameraden geächteten Knaben zu.

„Seien Sie vorsichtig!“ schrien ihm noch die anderen warnend nach, „er hat keine Angst vor Ihnen, er wird Sie plötzlich stechen, hinterrücks ... wie er Krassotkin gestochen hat.“

Der Knabe erwartete ihn, ohne sich zu rühren. Als Aljoscha sich ihm näherte, sah er vor sich einen Knaben von höchstens neun Jahren, eines von den schwächlichen und kleinen Kindern, mit einem bleichen und mageren, länglichen Gesichtchen, mit großen, dunklen und böse ihm entgegenblickenden Augen. Sein Mäntelchen war schon ziemlich alt und vertragen und viel zu eng und zu knapp: er war aus ihm bereits ganz herausgewachsen. Die bloßen Hände hingen aus kurzgewordenen Ärmelchen heraus. Auf dem rechten Knie hatten die Höschen einen großen Flecken, und der rechte Stiefel hatte vorn bei der großen Zehe ein großes Loch, das stark mit Tinte eingeschmiert war. Beide Taschen seines Mäntelchens waren voll von Steinen. Aljoscha blieb zwei Schritt vor ihm stehen und blickte ihn fragend an. Der Kleine, der an Aljoschas Augen erriet, daß dieser ihn nicht schlagen werde, schien sich ein wenig zu schämen, und er begann sogar ungefragt zu sprechen:

„Ich bin allein, und sie sind sechs ... Ich werde sie alle ganz allein verprügeln,“ sagte er mit blitzenden Augen.

„Der eine Stein muß dich sehr schmerzhaft getroffen haben,“ bemerkte Aljoscha.

„Ich aber habe Ssmuroff an den Kopf getroffen!“ rief der Knabe triumphierend.

„Sie sagten mir, daß du mich kennst und aus einem besonderen Grunde absichtlich auf mich mit den Steinen geworfen hättest?“ fragte Aljoscha.

Der Knabe blickte ihn finster an.

„Ich kenne dich nicht. Kennst du mich denn?“ fuhr Aljoscha in seinen Fragen fort.

„Gehn Sie fort!“ schrie ihn plötzlich der Knabe gereizt an, ohne aber sich selbst vom Platz zu rühren, als ob er noch etwas erwartete, und wieder blitzten seine dunklen Augen böse auf.

„Gut, ich werde fortgehen,“ sagte Aljoscha, „nur kenne ich dich nicht, und du sollst nicht glauben, daß ich dich etwa necken will. Deine Kameraden sagten mir, wie du geneckt wirst, ich aber will dich wirklich nicht necken, nun, leb wohl!“

„Kuttenmönch, hosenloser Kuttenmönch!“ höhnte der Knabe geflissentlich und verfolgte ihn immer noch mit demselben boshaften, herausfordernden Blick; er stellte sich auch schon in Positur, da er offenbar glaubte, Aljoscha werde sich unbedingt auf ihn stürzen – doch Aljoscha blickte sich nur einmal nach ihm um und ging. Er hatte aber noch nicht drei Schritte gemacht, als ihn ein ziemlich großer Stein, der größte, den der Knabe gehabt hatte, schmerzhaft in den Rücken traf.

„Also hinterrücks? Dann ist es also wahr, was sie von dir gesagt haben, daß du hinterrücks überfällst?“ fragte Aljoscha, der stehen geblieben war und sich zurückwandte, doch diesmal schleuderte der Knabe mit wahrer Wut wieder einen Stein auf Aljoscha und würde ihn gerade ins Gesicht getroffen haben, wenn Aljoscha nicht den Arm zum Schutz erhoben hätte: so schlug der Stein an seinen Ellenbogen.

„Schämst du dich nicht! Was habe ich dir getan?“ rief Aljoscha.

Der Knabe wartete schweigend und herausfordernd, wie es schien, nur darauf, daß Aljoscha sich jetzt auf ihn stürzen werde; als er aber sah, daß dieser es selbst jetzt nicht tat, geriet er wie ein kleines Tier außer sich vor Wut. Er stürzte sich auf Aljoscha und packte, noch bevor dieser sich rühren konnte, mit beiden Händen dessen linke Hand und biß krampfhaft in den Mittelfinger. Wie Klammern hielten die kleinen Zähne den Finger (etwa zehn Sekunden lang) fest. Aljoscha schrie auf vor Schmerz und versuchte mit aller Gewalt seinen Finger herauszuziehen. Endlich ließ ihn der Knabe los und sprang geschwind auf die frühere Entfernung zurück. Das Fleisch des Fingers war durchgebissen, gerade beim Nagel, tief, bis auf den Knochen, und blutete stark. Aljoscha zog sein Taschentuch hervor und umwickelte fest seine verwundete Hand. Eine gute Minute lang war er damit beschäftigt.

Während dieser ganzen Zeit erwartete der Knabe stillschweigend, was nun kommen werde. Da erhob endlich Aljoscha seinen stillen Blick und richtete ihn auf den Knaben.

„Nun gut,“ sagte er, „du hast mich schmerzhaft gebissen, nun ist es genug. Jetzt sage mir aber, was ich dir getan habe?“

Der Knabe blickte ihn verwundert an.

„Ich kenne dich nicht, ich sehe dich zum erstenmal,“ fuhr Aljoscha ebenso ruhig fort, „aber es kann doch nicht sein, daß ich dir nichts Böses getan habe, denn umsonst würdest du mir doch nie solch einen Schmerz zugefügt haben. So sag doch, was ich dir getan und womit ich das von dir verdient habe?“

Statt zu antworten, fing der Knabe laut zu weinen an, und plötzlich lief er fort. Aljoscha ging ihm langsam nach in die Michailoffstraße, und lange noch sah er, wie weit vor ihm der Knabe lief, ohne sich umzusehen und ohne im Laufen innezuhalten, und wie er wahrscheinlich immer noch laut weinte. Er nahm sich fest vor, sobald er die Zeit hätte, den Kleinen aufzusuchen und die Erklärung seines sonderbaren Hasses zu fordern.

IV.
Bei Chochlakoffs

Er erreichte indessen bald das Chochlakoffsche Haus. Es war ein zweistöckiges, hübsches, herrschaftliches Steingebäude, eines der schönsten Häuser in unserem Städtchen. Obgleich Frau Chochlakoff größtenteils im Nachbargouvernement lebte, wo sie ein Gut hatte, oder in Moskau, wo sie ein Haus besaß, so behielt sie doch auch in unserem Städtchen dieses von ihrem Vater oder Großvater geerbte Haus und wollte es weder vermieten noch verkaufen. Und wenn das Gut, das sie in unserem Gouvernementskreise besaß, auch das größte von ihren drei Gütern war, so lebte sie doch nur sehr selten in unserem Städtchen. Sie kam Aljoscha schon im Vorzimmer entgegen.

„Sagen Sie doch, haben Sie meinen Brief mit der Nachricht von dem Wunder erhalten?“ begann sie erregt in ihrer nervösen Weise.

„Ja, ich habe ihn erhalten.“

„Sagen Sie doch, haben Sie ihn auch allen gezeigt, allen davon erzählt? Er hat der Mutter den Sohn wiedergegeben!“

„Er wird heute sterben,“ sagte Aljoscha.

„Ich weiß, ich habe es schon gehört, o, wieviel ich mit Ihnen zu sprechen habe! Über alles, alles das, mit Ihnen oder einerlei mit wem. Nein, nein, nur mit Ihnen, nur mit Ihnen allein! Und wie schade, daß ich ihn auf keine Weise mehr sehen kann! Die ganze Stadt ist erregt, alle sind in großer Erwartung. Aber jetzt: Wissen Sie auch, daß Katerina Iwanowna augenblicklich bei uns ist?“

„Ach, das trifft sich gut!“ sagte Aljoscha erfreut. „Dann kann ich sie ja hier bei ihnen sprechen, sie bat mich gestern, heute zu ihr zu kommen.“

„Ich weiß alles, ich weiß alles! Ich habe alles ganz genau erfahren, was gestern bei ihr geschehen ist ... und alle diese entsetzlichen Geschichten mit diesem ... Geschöpf! C’est donc tragique, ich würde an ihrer Stelle, – ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle getan hätte! Aber Ihr Bruder, ich meine Dmitrij Fedorowitsch, was sagen Sie zu dem? – O Gott, Alexei Fedorowitsch, ich, ich komme ganz aus dem Konzept. Stellen Sie sich vor: jetzt sitzt hier bei uns Ihr Bruder, nicht jener, nein, der andere, Iwan Fedorowitsch, er sitzt dort und spricht mit ihr: o, es ist ein feierliches Gespräch ... Und wenn Sie sich nur denken könnten, was jetzt zwischen ihnen geschieht, – Katerina Iwanowna vergewaltigt sich, das ist ganz schrecklich, das ist, ich werde Ihnen sagen, was das ist: Das ist ein grausames Märchen, an das man unmöglich glauben kann! Beide stürzen sie sich ins Unglück, beide wissen das ganz genau, und beide finden sie Vergnügen daran, sich unglücklich zu machen, es scheint ihnen Genuß zu bereiten! Ach, wie ich Sie erwartet habe, wie ich Sie ersehnt habe! Ich, wissen Sie, ich kann das nicht mehr ertragen! Ich werde Ihnen gleich alles erzählen, aber jetzt noch was anderes, und das ist die Hauptsache, – ach Gott, ich hatte es beinahe ganz vergessen, daß das die Hauptsache ist. Sagen Sie doch, warum bekam Lise jetzt wieder ihre hysterischen Anfälle? Als sie nur hörte, daß Sie zu uns kämen, begann sofort der Anfall.“

„Mama, das ist jetzt vielleicht mit Ihnen der Fall, aber nicht mit mir,“ ertönte plötzlich irgendwoher Lisas hohes Stimmchen: Die Tür zum Nebenzimmer zeigte eine kleine, kleine Spalte, und die Stimme klang genau so, wie wenn jemand furchtbar gern lachen will, doch mit aller Gewalt das Lachen unterdrückt. Aljoscha hatte diese Spalte schon früher bemerkt und war überzeugt, daß Lise ihn von ihrem Stuhl aus durch ebendiese Spalte beobachtete, obgleich er sie nicht sehen konnte.

„Schäme dich, Lise, schäme dich ... es ist schon möglich, daß ich von deinen eigensinnigen Launen noch krank werde, aber, wissen Sie, Alexei Fedorowitsch, sie ist so krank, die ganze Nacht war sie krank, fieberte und stöhnte! Nur mit genauer Not habe ich noch den Morgen und Doktor Herzenstube erwarten können. Er sagte, er könne es nicht begreifen, und man müsse abwarten. Dieser Herzenstube sagt jedesmal, wenn er kommt, er könne es nicht begreifen. Wie Sie sich aber dem Hause näherten, schrie sie auf, bekam ihren Anfall und befahl der Magd, sie hierher in ihr früheres Zimmer zu schieben ...“

„Aber Mama, ich wußte ja gar nicht, daß er sich dem Hause näherte, ich wollte durchaus nicht deswegen in dieses Zimmer geschoben werden.“

„Du solltest nicht lügen, Lise, ich habe selbst gesehen, wie Julija mit der Nachricht zu dir gelaufen kam, daß Alexei Fedorowitsch zu uns käme; sie hatte ja die ganze Zeit auf deinen Befehl Wache gestanden.“

„Liebstes Mamachen, das ist wirklich furchtbar wenig scharfsinnig von Ihnen. Wenn Sie mir aber einen großen Gefallen erweisen wollen, so sagen Sie, bitte, liebste Mama, dem sehr geehrten Herrn Alexei Fedorowitsch, daß er schon allein dadurch, daß er heute zu uns kommt, nach allem, was gestern geschehen ist, und obgleich man sich hier über ihn lustig macht, nur beweist, wie wenig gewitzigt er ist.“

„Lise, du erlaubst dir wirklich unerhört viel! Ich versichere dir, daß ich endlich zu strengen Maßregeln greifen werde. Wer soll denn über ihn lachen? ich freue mich so sehr darüber, daß er gekommen ist – ich habe ihn so nötig, er ist mir ganz unentbehrlich! Ach, Alexei Fedorowitsch, wenn Sie wüßten, wie unglücklich ich bin!“

„Aber was fehlt Ihnen denn, liebste Mama?“

„Ach, immer deine Kapricen, Lise, deine Unbeständigkeit, deine Krankheit, diese furchtbare Nacht, dein Fieber, dieser fürchterliche, ewige Herzenstube; ach, das Schreckliche ist ja, daß er ewig, ewig und ewig hier sitzt! Und überhaupt alles, alles ... Und dann kommt noch dieses Wunder hinzu! O, Sie wissen nicht, Alexei Fedorowitsch, wie mich dieses Wunder erschüttert hat! Und jetzt noch hier in meinem Salon diese ganze Tragödie; nein, nein, das kann ich nicht ertragen, das kann ich nicht, ich sage es Ihnen im voraus, daß ich es nicht kann! Oder vielleicht ist es auch nur eine Komödie und keine Tragödie ... Sagen Sie, wird der Staretz Sossima noch bis morgen leben? Ach Gott! Was ist heute mit mir! Ich schließe beständig die Augen und sehe ja selbst ein, daß ich Unsinn rede, leeren Unsinn.“

„Ich würde Sie sehr bitten,“ unterbrach Aljoscha sie plötzlich, „mir ein kleines Stück Leinwand zu geben, um meinen Finger zu verbinden. Ich habe ihn stark verletzt, und jetzt tut er mir unerträglich weh.“

Aljoscha wickelte das Taschentuch ein wenig los: Große Blutflecke waren durch das ganze Tuch gedrungen. Frau Chochlakoff schrie auf, schloß krampfhaft die Augen und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

„Gott, wieviel Blut! Wie furchtbar!“

Doch sowie Lise durch die Spalte Aljoschas blutiges Taschentuch sah, riß sie sofort die Tür auf, daß die mit der Klinke krachend an die Wand schlug.

„Kommen Sie her, kommen Sie her zu mir,“ rief sie gebieterisch und eigensinnig, „jetzt aber ohne Dummheiten! Gott! Warum standen Sie nur so lange, warum sagten Sie kein Wort? Mama, er hätte verbluten können! Wo haben Sie das gemacht, wie nur? Ganz zuerst Wasser, Wasser! Man muß die Wunde waschen; den Finger einfach in kaltes Wasser stecken, damit der Schmerz betäubt wird, und dann einfach drinhalten ... Ach, schneller, schneller Wasser, Mama, in die kleine Schale. Aber schneller doch!“ rief sie nervös. Sie war maßlos erregt; Aljoschas Wunde hatte sie heftig erschreckt.

„Soll man nicht nach Herzenstube schicken?“ fragte Frau Chochlakoff ängstlich.

„Mama, Sie werden mich noch töten! Ihr Herzenstube wird kommen und wieder nur sagen, daß er es nicht begreifen kann! Wasser, Wasser! Mama, gehen Sie um Gottes willen selbst und machen Sie Julija Eile, die bleibt immer irgendwo stecken; jetzt wird sie vielleicht ertrunken sein samt ihrem Wasser! Aber schneller doch, Mama, ich sterbe sonst ...“

„Aber das ist doch nicht so gefährlich!“ rief Aljoscha aus, den wiederum der Schreck der Damen erschreckte.

Da kam auch schon die Zofe mit dem Wasser. Aljoscha tauchte den Finger hinein.

„Mama, bringen Sie um Gottes willen Scharpie und diese trübe Flüssigkeit – ach, wie heißt sie doch, mit der man kühlt, wenn man sich geschnitten hat? Wir haben sie, ich weiß es genau; Mama, Sie wissen es doch auch, wo diese Flasche ist, in Ihrem Schlafzimmer, rechts im kleinen Medizinschränkchen, dort ist eine große Flasche und Scharpie ...“

„Ich werde alles sofort bringen, Lise, nur schrei nicht so und rege dich nicht auf. Sieh, wie mutig Alexei Fedorowitsch sein Unglück trägt. Aber wo haben Sie sich nur so entsetzlich verletzt?“

Frau Chochlakoff ging eilig hinaus, um die Sachen zu bringen. Darauf hatte Lisa nur gewartet.

„Vor allem antworten Sie mir auf eine Frage,“ sagte sie hastig zu Aljoscha, „wo haben Sie sich so verletzt? Ich habe dann noch von ganz anderem mit Ihnen zu sprechen. Nun?“

Aljoscha begann sofort, da er fühlte, daß ihr die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter kostbar war, von der Begegnung mit den Schuljungen zu erzählen, natürlich nur in großen Zügen, ohne alles Nebensächliche. Als Lise zu Ende gehört hatte, schlug sie die Hände zusammen.

„Aber wie konnten Sie nur, wie konnten Sie sich nur, und dazu noch in der Kutte, mit Schulbuben einlassen!“ rief sie zornig aus, ganz, als ob sie ein Recht auf ihn besäße. „Nach alledem sind Sie ja selbst ein kleiner Junge, der allerkleinste, den es überhaupt nur geben kann! Aber Sie müssen mir unbedingt diesen scheußlichen Frechling aufsuchen, denn hier steckt sicherlich ein Geheimnis dahinter ... Jetzt das zweite, doch vorher noch eine Frage. Können Sie, trotz des Schmerzes, von ganz dummen Sachen reden, aber vernünftig reden?“

„Das kann ich sehr gut, und ich fühle ja auch gar keinen so großen Schmerz mehr im Finger.“

„Das kommt daher, daß Ihr Finger im Wasser ist. Aber man muß jetzt neues Wasser nehmen, denn es wird ja sofort warm. Julija, bring sofort ein Stück Eis aus dem Keller und eine neue Schale mit Wasser. So, jetzt sind wir sie los, nun schnell zur Sache: Bitte, lieber Alexei Fedorowitsch, geben Sie mir geschwind den Brief zurück, den ich Ihnen gestern übergeben ließ, schnell, denn Mama kann ja sofort zurückkommen, schneller doch! – ich will nicht ...“

„Ich ... ich habe ihn nicht bei mir.“

„Das ist nicht wahr, Sie haben ihn schon bei sich. Ich wußte es ja, daß Sie so antworten würden. Sie haben ihn in der Tasche. Ich habe diesen dummen Scherz die ganze Nacht so furchtbar bereut. Geben Sie ihn mir sofort zurück!! Sofort!“

„Ich ... ich habe ihn im Kloster gelassen.“

„Aber Sie müssen mich ja unbedingt für ein kleines Mädchen halten, für ein ganz kleines Baby, nach einem so dummen Brief! Ich bitte Sie sehr um Verzeihung für den dummen Scherz; aber den Brief müssen Sie mir unbedingt zurückbringen, wenn Sie ihn wirklich nicht bei sich haben – heute noch bringen Sie ihn mir, hören Sie, unbedingt, unbedingt!“

„Heute kann ich unmöglich kommen; ich kehre ins Kloster zurück und werde zwei, drei, vielleicht auch vier Tage nicht herkommen können, denn der Staretz Sossima ...“

„Vier Tage, das fehlte noch! Hören Sie, sagen Sie – Sie haben wohl furchtbar über mich gelacht?“

„Nicht ein bißchen habe ich gelacht.“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich an alles sofort geglaubt habe.“

„Sie beleidigen mich!“

„Wieso? Nicht im geringsten. Ich glaubte sofort, als ich ihn durchlas, daß alles auch so geschehen werde, denn ich muß nach dem Tode des Staretz Sossima sofort das Kloster verlassen. Darauf werde ich noch ein Jahr das Gymnasium besuchen und dann mein Abiturium machen, und wenn Sie das gesetzliche Alter erreicht haben, heiraten wir uns einfach. Ich werde Sie lieben. Ich habe zwar noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken; aber ich denke doch, daß ich eine bessere Frau als Sie nicht finden kann, und der Staretz hat mir befohlen, zu heiraten ...“

„Aber ich bin doch eine garstige Mißgeburt; man schiebt mich ja seit sechs Monaten im Rollstuhl!“ sagte Lisa mit verlegenem Lachen, und ihr Gesichtchen wurde rot.

„Ich selbst werde Sie im Rollstuhl schieben; übrigens bin ich überzeugt, daß Sie bis dahin schon gesund sein werden.“

„Aber Sie sind ja verrückt!“ fuhr Lisa nervös fort. „Aus einem kleinen Scherz solch einen Unsinn zu machen! ... Ach, da ist ja auch Mamachen ... vielleicht sehr zur rechten Zeit gekommen. Mama, wie Sie sich immer verspäten, wie kann man nur alles so langsam machen! Julija kommt schon aus dem Keller mit dem Eis zurück!“

„Ach, Lise, wenn du doch nicht immer so schreien wolltest, das ist wirklich das Furchtbarste. Von diesem Schreien werde ich ... was kann ich denn dafür, wenn du die Scharpie an einen anderen Ort getan hast ... Ich suchte und suchte ... Ich vermute stark, daß du sie absichtlich vorher versteckt hast ...“

„Aber wie konnte ich’s denn wissen, daß er mit einem gebissenen Finger ankommen würde, sonst, allerdings – hätte ich es vielleicht wirklich mit Absicht getan. Meine liebe Engelsmama, Sie fangen wirklich an, außerordentlich scharfsinnige Sachen zu sagen.“

„Ach, meinetwegen; aber denk doch nur, Lise, welche Erschütterung das für die Nerven ist, dieser gebissene Finger und alles andere noch dazu! Lieber Alexei Fedorowitsch, mich töten nicht die Einzelheiten, nicht irgend so ein Herzenstube, sondern alles zusammen, das Ganze, das ist es, was mich umbringt!“

„Ach, Mama, lassen Sie doch den armen Herzenstube in Ruh,“ sagte Lisa lachend, „geben Sie mir nur schneller die Scharpie und das Wasser. Das ist einfach Bleiwasser, Alexei Fedorowitsch, mir ist jetzt der Name wieder eingefallen; es ist ganz großartig zu Kompressen. Mama, stellen Sie sich nur vor, er hat sich unterwegs auf der Straße mit kleinen Schuljungen geprügelt, und einer von ihnen hat ihn gebissen; nun, sagen Sie doch selbst, ist er nicht nach alledem selbst ein kleiner Knabe, ein ganz – ganz kleiner, und kann man ihm daraufhin wohl erlauben zu heiraten, denn, denken Sie sich doch nur, Mama, er will schon heiraten! Stellen Sie sich ihn nur als Ehemann vor, ist das nicht zum Lachen, ist das nicht ganz entsetzlich!“

Und Lise lachte wieder ihr nervöses, leises Lachen und blickte schelmisch zu Aljoscha auf.

„Wie denn das, Lise, wen soll er denn jetzt heiraten? Solche Scherze sind sehr unpassend für dich ... Und denk doch nur, wenn dieser Junge vielleicht die Tollwut gehabt hat!“

„Ach, Mama! Gibt es denn überhaupt tollwütige Kinder?“

„Warum nicht, du tust wirklich, als ob ich eine Dummheit gesagt hätte. Den Jungen hat vielleicht ein toller Hund gebissen, und nun beißt wiederum der Junge. Sehen Sie doch, wie gut sie Ihren Finger verbunden hat, ich hätte das nie so gut gemacht. Schmerzt er noch sehr?“

„O, nur noch ein wenig.“

„Fürchten Sie vielleicht das Bleiwasser?“ erkundigte sich Lise.

„Nun, genug, Lise, ich habe es vielleicht doch etwas übereilt gesagt: das vom tollwütigen Knaben – du mußt natürlich gleich spotten. – Ach, fast hätte ich’s vergessen: Katerina Iwanowna bat mich sofort, als sie nur hörte, daß Sie gekommen seien, flehentlich, flehentlich, Sie zu ihr zu bringen; sie erwartet Sie sehr!“

„Ach, Mama! Gehen Sie doch allein zu ihr; er kann wirklich nicht sofort hingehen, er leidet viel zu sehr.“

„Aber gar nicht; ich kann sehr gut zu ihr gehen ...,“ sagte Aljoscha.

„Wie! Sie gehen? Also so sind Sie, so sind Sie?“

„Wieso? Ich werde doch, sobald ich dort fertig bin, sogleich wieder herkommen, und dann können wir weitersprechen, so viel Sie wollen. Ich möchte Katerina Iwanowna sobald wie möglich sprechen, da ich frühzeitig ins Kloster zurückkehren will.“

„Mama, nehmen Sie ihn nur und bringen Sie ihn fort. Bemühen Sie sich nicht, Alexei Fedorowitsch, nachher noch zu mir zu kommen, gehen Sie nur sofort ins Kloster, dorthin gehören Sie ja! Ich aber will jetzt schlafen, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.“

„Ach, Lise, das ist ja nur Scherz von dir; aber wirklich, wie wäre es, wenn du jetzt etwas schlafen würdest?“ meinte Frau Chochlakoff.

„Ich weiß nicht, wodurch ich ... Ich werde gern noch drei Minuten hierbleiben, wenn Sie wollen, sogar fünf,“ stotterte Aljoscha.

„Sogar fünf! So bringen Sie ihn doch schneller fort, Mama, das ist ja ein Monstrum!“

„Lise, du bist wohl nicht recht gescheit! Gehen wir, Alexei Fedorowitsch, sie ist heute gar zu kapriziös, ich fürchte mich, sie zu reizen. O, welch ein Jammer, mit einem nervösen Kinde zusammenzuleben! Aber sie ist vielleicht wirklich während des Gesprächs mit Ihnen schläfrig geworden. Wie haben Sie sie nur so schnell eingeschläfert, und wie glücklich sich das trifft!“

„Ach, Mama, das haben Sie ganz reizend gesagt, dafür gebe ich Ihnen einen Kuß!“

„Und ich dir gleichfalls, Lise. Hören Sie, Alexei Fedorowitsch,“ sagte darauf Frau Chochlakoff in erregtem, geheimnisvollem Flüsterton, als sie mit Aljoscha zum Salon ging, „ich will Ihnen nichts, nichts sagen, Sie werden es gleich selbst sehen, was dort vor sich geht – das ist ja ganz entsetzlich, entsetzlich, die phantastischste Komödie tragischer Art: sie liebt Ihren Bruder Iwan Fedorowitsch, redet sich aber selbst aus allen Kräften ein, daß sie Ihren Bruder Dmitrij Fedorowitsch liebe. Das ist doch furchtbar! Ich werde zusammen mit Ihnen hineingehen, und wenn man mich nicht fortschickt, bis zum Schluß dort bleiben.“

V.
Im Empfangssalon

Doch im Salon schien die Unterredung schon beendet zu sein; Katerina Iwanowna war sehr erregt, sah aber entschlossen aus. Als Aljoscha und Frau Chochlakoff eintraten, hatte sich Iwan Fedorowitsch gerade zum Aufbruch erhoben. Sein Gesicht war ein wenig bleich, und Aljoscha blickte ihn unruhig an. Er fühlte es, daß jetzt wenigstens eines der beängstigenden Rätsel, die ihn schon seit längerer Zeit ununterbrochen gequält hatten, seine Lösung finden mußte. Schon seit einem Monat hatte er von vielen Seiten und zu mehreren Malen gehört, daß sein Bruder Iwan Katerina Iwanowna liebe und vor allen Dingen sie seinem älteren Bruder abspenstig zu machen trachte. Bis zu diesem Tage war das Aljoscha unglaublich und unmöglich erschienen, doch hatte er nicht den Gedanken abschütteln können und hatte darunter nicht wenig gelitten. Er liebte beide Brüder und fürchtete daher um so mehr solch eine Nebenbuhlerschaft. Und nun hatte ihm Dmitrij selbst gesagt, daß er sich über diese Nebenbuhlerschaft Iwans geradezu freue, und daß sie ihm, Dmitrij, in vielem sogar sehr zustatten käme. Was hatte er damit sagen wollen? Doch nicht, daß es ihm auf diese Weise leichter würde, Gruschenka zu heiraten? Das schien Aljoscha der letzte und verzweifelteste Schritt zu sein, den sein Bruder tun könnte. Außerdem war Aljoscha noch bis zum letzten Augenblick in der Szene, die Gruschenka bei Katerina Iwanowna, wie sie sagte „seinetwegen“, d. h. Aljoschas wegen gespielt hatte, immer noch überzeugt gewesen, daß Katerina Iwanowna seinen Bruder Dmitrij leidenschaftlich und unwandelbar liebte.

Doch nach jenem Auftritt und dem Gespräch mit Dmitrij am Kreuzweg, glaubte er es nicht mehr. Außerdem hatte ihm noch immer aus irgendeinem, ihm selbst unerklärlichen Grunde geschienen, daß sie solch einen Menschen wie Iwan überhaupt nicht lieben könnte, daß sie vielmehr gerade seinen Bruder Dmitrij lieben müsse, gerade diesen, und zwar mit allen seinen Fehlern, gerade so, wie er war, trotz der ganzen Ungeheuerlichkeit solch einer Liebe. Doch nach der Szene mit Gruschenka hatte es ihm plötzlich anders geschienen. Die Bemerkung Frau Chochlakoffs: „sie vergewaltigt sich“, hatte ihn fast zusammenzucken gemacht, denn genau dasselbe hatte auch er sich in der Nacht, als er aufgewacht war – wahrscheinlich auf einen unbewußten Traum hin – gesagt: „Sie vergewaltigt sich, sie vergewaltigt sich ja!“ Geträumt aber hatte ihm die ganze Nacht hindurch von jener Szene bei Katerina Iwanowna. Und die offen und bestimmt ausgesprochene Behauptung Frau Chochlakoffs, Katerina Iwanowna liebe seinen Bruder Iwan, „vergewaltige“ sich aber absichtlich aus Laune oder aus sonst einem unerklärlichen Grunde und betrüge und quäle sich selbst mit ihrer Liebe zu Dmitrij, die sie aus Dankbarkeit für ihn empfinden wolle – diese plötzliche Behauptung hatte Aljoscha stutzig gemacht. „Vielleicht liegt in diesen Worten wirklich die ganze Wahrheit,“ dachte er. Aber in welch einer Lage befand sich dann sein Bruder Iwan? Aljoscha fühlte gewissermaßen instinktiv, daß ein Charakter wie Katerina Iwanowna herrschen wollte, herrschen aber konnte sie nur über einen Menschen wie Dmitrij, niemals aber über einen Menschen wie Iwan. Denn nur Dmitrij konnte sich ihr ergeben (wenn auch erst nach langer Zeit), was Aljoscha ihm sogar „zu seinem eigenen Glücke“ wünschte; bei Iwan dagegen war das ganz ausgeschlossen: der konnte sich nicht ergeben, und dem würde solch eine Unterwerfung auch kein Glück bringen. Diese Auffassung von Iwan hatte sich ganz unfreiwillig in Aljoscha entwickelt. Und nun, als er in den Salon eintrat, flogen ihm in einem Augenblick wieder alle diese Zweifel und Bedenken und Gedanken durch den Sinn. Es tauchte in ihm auch noch ein anderer Gedanke auf: „Wie aber, wenn sie keinen von beiden liebt, weder den einen noch den anderen?“ Doch Aljoscha schämte sich seiner Gedanken und hatte sich ihretwegen jedesmal Vorwürfe gemacht, wenn sie ihm im letzten Monat wieder und wieder gekommen waren. „Was verstehe ich denn von Liebe und von Frauen, und wie kann ich nur solche Schlüsse ziehen,“ sagte er sich vorwurfsvoll, wenn er wieder Ähnliches gedacht hatte. Und doch war es unmöglich, nicht daran zu denken. So erriet er denn gleichfalls instinktiv, daß diese Nebenbuhlerschaft im Schicksal seiner beiden Brüder eine der wichtigsten Fragen war, von der vieles abhing. „Das eine Geschmeiß wird das andere Geschmeiß verschlingen,“ hatte Iwan am Tage vorher in der Gereiztheit vom Vater und vom Bruder Dmitrij gesagt. Also war Dmitrij in seinen Augen ein Geschmeiß, und das vielleicht schon lange? Oder sollte er es nicht erst seit dem Augenblick geworden sein, da Iwan Katerina Iwanowna kennen gelernt hatte? Diese Worte waren ihm natürlich halb aus Versehen entschlüpft, doch um so bedeutungsvoller waren sie dann, wenn er sie vielleicht gegen seinen Willen laut ausgesprochen hatte. Wenn das aber wirklich so war, wie konnte man dann auf eine friedliche Lösung hoffen? Gab es dann nicht noch neue Ursachen zu Haß und Feindschaft in ihrer Familie? Und vor allen Dingen, wen sollte er, Aljoscha, dann bedauern, und was einem jeden von ihnen wünschen? Er hatte sie beide lieb; doch was sollte er ihnen inmitten so furchtbarer Widersprüche raten? In diesem Labyrinth konnte man sich ja noch ganz und gar verlieren! Aljoschas Herz aber konnte die Ungewißheit nicht ertragen, denn seine Liebe wollte immer gleich aktiv eingreifen. Passiv zu lieben, verstand er nicht: hatte er etwas liebgewonnen, so wollte er auch sofort helfen. Um aber hier zu helfen, mußte er zuerst die Wahrheit wissen, mußte er ein festes Ziel vor sich sehen; doch statt dessen sah er nur Unklarheit und Irrwege. „Vergewaltigungen der eigenen Person und ein Vergewaltigenwollen des Schicksals“ – das war es! Doch was konnte er davon verstehen? Verstand er doch nicht einmal das erste Wort in diesem ganzen Durcheinander!

Als Katerina Iwanowna Aljoscha erblickte, sagte sie hastig und freudig zu Iwan Fedorowitsch, der sich schon erhoben hatte, um fortzugehen:

„Ach, noch einen Augenblick! Bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick. Ich will vorher noch die Meinung desjenigen hören, zu dem ich von ganzem Herzen das größte Zutrauen habe. Und Katerina Ossipowna, auch Sie möchte ich bitten, nicht fortzugehen,“ sagte sie zu Frau Chochlakoff. Sie hieß Aljoscha neben sich Platz nehmen. Frau Chochlakoff setzte sich ihr gegenüber neben Iwan Fedorowitsch.

„Jetzt habe ich alle meine Freunde hier, alle, die ich nur besitze,“ begann sie mit warmer Stimme, in der Tränen zu zittern schienen, und Aljoscha fühlte, wie sich sein Herz sofort wieder ihr zuwandte. „Sie, Alexei Fedorowitsch, Sie waren gestern Zeuge dieser ... furchtbaren Stunde. Sie sahen, wie ich war. Sie haben es nicht gesehen, Iwan Fedorowitsch, er aber hat es mit eigenen Augen gesehen. Was er gestern von mir gedacht hat, das weiß ich nicht; ich weiß nur, daß ich, wenn sich heute dasselbe wiederholen sollte, auch heute dieselben Gefühle, dieselben Worte und dieselben Absichten äußern würde. Sie erinnern sich wohl noch meiner Absichten, Alexei Fedorowitsch, Sie selbst hielten mich ja noch von der Ausführung einer derselben zurück ...“ (Als sie das sagte, errötete sie und ihre Augen blitzten auf.)

„Ich sage es Ihnen ganz offen, Alexei Fedorowitsch, daß ich mich mit nichts von dem, was geschehen ist, aussöhnen kann. Hören Sie, Alexei Fedorowitsch, ich weiß nicht einmal, ob ich ihn jetzt liebe. Er tut mir jetzt leid; das aber ist ein schlechtes Zeichen für Liebe. Wenn ich ihn noch liebte, wenn ich noch fortführe, ihn zu lieben, so würde er mir jetzt vielleicht nicht leid tun, sondern ich würde ihn wahrscheinlich hassen ...“

Ihre Stimme bebte, und Tränen blitzten an ihren Wimpern. Aljoscha fuhr innerlich zusammen: „Dieses Mädchen ist offenherzig und kann nicht lügen,“ sagte er sich, „und ... und sie liebt Dmitrij nicht mehr!“

„Das ist richtig, das haben Sie vollkommen richtig bemerkt, Katerina Iwanowna,“ sagte Frau Chochlakoff eifrig.

„Warten Sie noch ein wenig, liebe Katerina Ossipowna, das Wichtigste habe ich noch nicht gesagt; ich habe noch nicht alles ausgesprochen, was ich in dieser Nacht beschlossen habe. Ich fühle es, daß mein Entschluß vielleicht furchtbar ist – furchtbar für mich; aber ich fühle auch schon im voraus, daß ich ihn um keinen Preis, um nichts in der Welt verändern werde, in meinem ganzen Leben nicht! So wird es sein! Mein lieber Freund Iwan Fedorowitsch, mein einziger, hochherziger Ratgeber, den ich in der Welt habe, stimmt mir in allem bei, und auch er hat als tiefer Herzenskenner meinen Entschluß gebilligt ... Er kennt ihn.“

„Ja, ich billige ihn,“ sagte mit leiser, doch fester Stimme Iwan Fedorowitsch.

„Aber ich will, daß auch Aljoscha – ach, verzeihen Sie, Alexei Fedorowitsch, daß ich Sie einfach Aljoscha genannt habe – ich will, daß auch Alexei Fedorowitsch mir jetzt sagt, hier gleich, in Gegenwart meiner beiden Freunde, ob ich recht habe oder nicht. Ich habe das instinktive Vorgefühl, daß Sie, Aljoscha, mein lieber Bruder Sie – denn Sie sind ja doch mein lieber Bruder,“ fuhr sie wieder begeistert fort und erfaßte seine kalte Rechte mit ihrer heißen Hand, „ich fühle es im voraus, daß Ihr Urteilsspruch, Ihre Billigung mir, trotz meiner Qualen, Ruhe geben wird, denn nach Ihrem Urteilsspruch werde ich verstummen und mich ergeben – das fühle ich im voraus!“

„Ich weiß nicht, wonach Sie mich fragen,“ sagte Aljoscha errötend, „ich weiß nur, daß ich Sie liebhabe und Ihnen in diesem Augenblick mehr Glück wünsche als mir selbst ... Aber ich verstehe doch nichts von diesen Dingen ...“ beeilte er sich aus irgendeinem Grunde hinzuzufügen.

„In diesen Dingen, Alexei Fedorowitsch, in diesen Dingen ist jetzt die Hauptsache – Ehre und Pflicht, und ich weiß nicht, was noch; ja es ist etwas Höheres, etwas, das vielleicht sogar höher ist als selbst die Pflicht. Das Herz sagt mir von diesem unbezwingbaren Gefühl, das mich übermächtig mit sich fortzieht. Es läßt sich übrigens alles in zwei Worten ausdrücken; ich habe mich schon entschlossen: Selbst wenn er jenes ... Geschöpf heiraten sollte,“ fuhr sie feierlich fort, „dem ich niemals, niemals verzeihen kann, so werde ich ihn doch nicht verlassen! Von nun an werde ich ihn niemals, niemals mehr verlassen!“ sagte sie gleichsam mit einer gesprungenen Note in gezwungener, fast müder Begeisterung. „Ich will damit nicht sagen, daß ich mich ihm überallhin nachschleppen, mich beständig in seinen Weg, vor seine Augen drängen, ihn quälen werde – o nein, ich werde in eine andere Stadt ziehen, einerlei wohin, aber ich werde ihn mein ganzes Leben, mein ganzes Leben lang nicht aus dem Auge lassen. Wenn er aber mit jener unglücklich wird, und das wird ja bestimmt sofort geschehen, so kann er zu mir kommen und in mir einen Freund und eine Schwester finden ... natürlich nur eine Schwester ... Und das dann auf ewig, und er wird sich endlich überzeugen, daß diese Schwester in der Tat seine Schwester ist, die ihn wirklich liebt und ihm ihr ganzes Leben geopfert hat. Ich werde es erreichen, werde es durchsetzen, daß er mich endlich kennen lernt und mir alles, ohne sich zu schämen, gesteht!“ stieß sie erregt, fast außer sich hervor. „Ich werde sein Gott sein, zu dem er betet – wenigstens das ist er mir für seinen Verrat und für alles, was ich gestern durch ihn erlitten habe, schuldig. Und so mag er denn sein Lebelang sehen, daß ich ihm mein ganzes Leben lang treu bleibe und mein Wort, das ich ihm einmal gegeben habe, halte, halte, obgleich er mir untreu ist und mich verraten hat. Ich werde ... ich werde mich in ein Mittel zu seinem Glück verwandeln, und das fürs ganze Leben ... oder – wie soll ich das sagen – in ein Instrument, in eine Maschine, die sein Glück schafft, fürs ganze Leben, für mein ganzes Leben, und damit er es hinfort sein ganzes Leben lang erfährt! Das ist mein Entschluß! Iwan Fedorowitsch billigt ihn und stimmt mir in allem vollkommen bei.“

Atemlos endete sie. Vielleicht hatte sie ihren Gedanken viel würdiger, geschickter und natürlicher ausdrücken wollen, nun aber hatte sie ihn gar zu eilig, gar zu nackt ausgedrückt. Viel war dabei jugendliche Ungeduld, vieles verriet auch noch die ertragene Kränkung und das Bedürfnis, sich stolz zu zeigen; das alles fühlte sie selbst: ihr Gesicht verfinsterte sich, und der Ausdruck ihrer Augen ward nicht gut. Aljoscha bemerkte es sofort, – Mitleid erhob sich in seinem Herzen. Und da tat gerade noch Iwan Fedorowitsch das seinige hinzu.

„Ich habe vorhin nur meine Meinung geäußert,“ sagte er. „Bei jeder anderen wäre das alles verstellt, gezwungen, bei Ihnen aber ist es das nicht. Eine andere wäre dabei unaufrichtig, Sie aber sind aufrichtig, und somit haben Sie recht. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll; ich sehe nur, daß Sie aufrichtig sind, im höchsten Grade aufrichtig, und darum sind Sie auch im Recht ...“

„Aber doch nur in diesem Augenblick! – Und dieser Augenblick ist ja doch nichts anderes als die Folge der gestrigen Beleidigung!“ unterbrach plötzlich Frau Chochlakoff, deren Absicht augenscheinlich gewesen war, sich nicht einzumischen, die es aber nun doch nicht mehr ausgehalten und sich mit einer sehr richtigen Bemerkung in das Gespräch hineinmischte.

„Ganz recht,“ sagte Iwan in einem fast verwegenen Tone und doch, als ob er sich plötzlich darüber geärgert hätte, daß er unterbrochen worden war, „Sie haben vollkommen recht, gnädige Frau: bei einer anderen wäre das nur der Einfluß der gestrigen Erregung und würde nur eine Minute andauern, bei Katerina Iwanowna aber wird dieser Augenblick eben ihr ganzes Leben lang andauern. Was für andere nur Versprechen ist, das ist für sie lebenslängliche, vielleicht schwere, doch unermüdliche Erfüllung ihrer Pflicht. Und das Gefühl dieser Pflichterfüllung wird ihr genügen. Ihr Leben, Katerina Iwanowna, wird von nun an in marternder Beobachtung und Zergliederung der eigenen Gefühle, der eigenen Heldentat und des eigenen Leides bestehen, doch späterhin wird sich dieses Leid mildern, und Ihr Leben wird sich dann in ein angenehmes Betrachten verwandeln, in ein unaufhörliches Betrachten des ein für allemal gefaßten und erfüllten stolzen Vorsatzes, der in seiner Art tatsächlich stolz, jedenfalls aber verzweifelt ist, doch den Sie auf sich genommen haben. Und dieses Denken daran wird Sie schließlich vollkommen befriedigen und Sie mit allem übrigen aussöhnen ...“

Er sprach dies mit einer gewissen Bosheit, sagte es mit Absicht gerade so, und vielleicht wollte er seine Absicht auch nicht einmal verbergen, d. h., daß er dies so absichtlich spöttisch sagte.

„O Gott, das ist ja wieder nicht das!“ seufzte Frau Chochlakoff.

„Alexei Fedorowitsch, aber so sagen Sie doch! Es quält mich, ich will wissen, was Sie dazu sagen!“ rief Katerina Iwanowna erregt und brach plötzlich in Tränen aus. Aljoscha erhob sich von seinem Platz.

„Das ist nichts, nichts!“ fuhr sie weinend fort, „das kommt nur von der Erregung, von der schlaflosen Nacht; aber bei zwei so treuen Freunden, wie Sie und Ihr Bruder, fühle ich mich noch stark ... denn ich weiß ... Sie beide werden mich nie verlassen.“

„Leider muß ich vielleicht morgen schon nach Moskau fahren und Sie auf lange verlassen ... Und leider läßt sich das nicht mehr ändern ...“ sagte plötzlich Iwan Fedorowitsch.

„Morgen, nach Moskau!“ Das ganze Gesicht Katerina Iwanownas verzerrte sich plötzlich. „Aber ... ach Gott, wie glücklich sich das trifft!“ rief sie auch schon im selben Augenblick mit vollkommen veränderter Stimme, und im selben Augenblick hatte sie auch schon ihre Tränen verscheucht, so daß von ihnen nicht einmal eine Spur blieb ... In einem einzigen Augenblick ging mit ihr diese erstaunliche Veränderung vor sich, eine Veränderung, die Aljoscha nicht wenig in Verwunderung setzte: an Stelle des armen, beleidigten Mädchens erschien plötzlich ein Weib vor ihm, das vollkommen seiner mächtig war und mit irgend etwas sogar ungemein zufrieden schien – ganz, als ob sie sich über irgend etwas plötzlich sehr gefreut hätte.

„O, ich meine natürlich nicht, daß Sie uns verlassen, natürlich meinte ich das nicht so,“ versuchte sie gleichsam ihren unbedachten Ausruf mit freundlichem Gesellschaftslächeln zu verbessern, – „ein Freund, wie Sie, kann das ja auch gar nicht mißverstehen. Im Gegenteil, ich bin nur zu unglücklich darüber, daß ich Sie entbehren muß!“ Sie wandte sich plötzlich zu Iwan Fedorowitsch, ergriff ungestüm seine beiden Hände und drückte sie warm. „Ich freue mich nur deswegen darüber, weil Sie jetzt persönlich in Moskau meiner Tante und Agascha meine ganze Lage, dieses ganze Entsetzen, in dem ich mich befinde, werden schildern können, Agascha gegenüber natürlich ganz aufrichtig, Tantchen aber schonender – so, wie nur Sie allein es verstehen. Sie können sich ja nicht vorstellen, wie unglücklich ich gestern und heute morgen war: ich weiß es wirklich nicht, wie ich diesen furchtbaren Brief schreiben soll ... denn in einem Brief das wiederzugeben, das ist ja ganz unmöglich ... Jetzt aber fällt es mir viel leichter, alles zu schreiben, denn Sie werden dort bei ihnen sein und alles erklären. O, wie mich das freut! Und nur deswegen freue ich mich darüber, das glauben Sie mir doch. Selbst sind Sie mir natürlich unersetzlich ... Ich werde sofort den Brief schreiben,“ sagte sie plötzlich, und sie erhob sich schon, um ins andere Zimmer zu gehen.

„Aber Aljoscha! Aber die Meinung Alexei Fedorowitschs, die Sie so gern erfahren wollten?“ rief Frau Chochlakoff, sie aufhaltend. Etwas Böses und Feindseliges klang durch ihre Worte.

„Das habe ich auch nicht vergessen,“ – Katerina Iwanowna blieb sofort stehen – „aber warum sind Sie heute so feindselig zu mir, Katerina Ossipowna?“ fragte sie mit bitterem, heißem Vorwurf. „Was ich gesagt habe, das tue ich auch. Ich brauche unbedingt seine Meinung, ja, ich bedarf sogar seines Urteils! So wie er sagt, wird es auch sein – sehen Sie, wie sehr mich im Gegenteil nach Ihren Worten verlangt, Alexei Fedorowitsch ... Aber, was haben Sie?“

„Das hätte ich nie gedacht, nie für möglich gehalten!“ sagte Aljoscha traurig, doch sehr erregt.

„Was, was nicht gedacht?“

„Er fährt nach Moskau, Sie aber sagen, das freue Sie – das haben Sie absichtlich ausgerufen! Darauf aber begannen Sie sofort zu erklären, daß Sie sich nicht darüber freuten, sondern es bedauerten, daß ... Sie einen Freund verlieren, – aber auch das haben Sie absichtlich so vorgespielt ... wie im Theater, in der Komödie vorgespielt! ...“

„Was? ... Im Theater? ... Was sagen Sie?“ fragte Katerina Iwanowna maßlos verwundert; sie erglühte plötzlich und zog die Brauen zusammen.

„Aber wie sehr Sie ihm auch versichern, daß Sie den Freund in ihm vermissen werden, Sie behaupten ihm doch offen ins Gesicht, daß das Glück darin bestehe, daß er fortfährt ...“ sagte ganz atemlos Aljoscha.

„Wovon reden Sie, ich weiß nicht ...“

„Ich weiß es selbst auch nicht ... Es ist plötzlich wie eine Erleuchtung über mich gekommen ... Ich weiß, daß ich das nicht gut ausdrücke, aber ich werde trotzdem alles sagen,“ fuhr Aljoscha mit zitternder und halb versagender Stimme fort. „Meine Erleuchtung besteht darin: Ich sehe, daß Sie meinen Bruder Dmitrij vielleicht überhaupt nicht lieben ... von Anfang an nicht ... und auch Dmitrij Sie vielleicht überhaupt nicht liebt ... von Anfang an überhaupt nicht ... und Sie nur sehr achtet ... Ich, wirklich, ich weiß nicht, wie ich wage, das alles zu sagen, aber irgend jemand muß doch die Wahrheit sagen ... denn hier will es ja niemand tun.“

„Was für eine Wahrheit?“ rief Katerina Iwanowna, und Zorn klang durch ihre Stimme.

„Diese Wahrheit,“ stotterte Aljoscha atemlos, „lassen Sie sofort Dmitrij herrufen – ich werde ihn schon finden –, und mag er dann herkommen, Sie an der Hand nehmen, darauf Iwans Hand erfassen und ihre beiden Hände vereinigen. Denn Sie quälen Iwan nur darum, weil Sie ihn lieben ... und quälen ihn, weil Sie Dmitrij zu lieben glauben ... ihn aber nicht wirklich lieben ... Sie haben es sich nur so eingeredet ...“

Aljoscha stockte und verstummte.

„Sie ... Sie ... Sie kleiner Schwachsinniger!“ stieß Katerina Iwanowna bleich und mit zuckenden Lippen hervor. Iwan Fedorowitsch lachte plötzlich laut auf und erhob sich. Seinen Hut hatte er schon in der Hand.

„Du täuschst dich, mein guter Aljoscha,“ sagte er mit einem Gesichtsausdruck, den Aljoscha noch nie an ihm gesehen hatte, – mit dem Ausdruck einer echt jugendlichen Herzlichkeit und eines starken, unbezwingbar aufrichtigen Gefühls, „niemals hat Katerina Iwanowna mich geliebt! Die ganze Zeit über hat sie gewußt, daß ich sie liebe, obgleich ich ihr kein einziges Mal ein Wort von meiner Liebe gesagt habe – sie hat es gewußt, hat aber nie mich geliebt. Ihr Freund bin ich gleichfalls nie gewesen, nicht einen einzigen Tag lang: das stolze Weib bedurfte meiner Freundschaft nicht. Sie wollte mich bei sich haben, um sich ununterbrochen rächen zu können. Sie rächte sich an mir für alle Beleidigungen, die sie ununterbrochen, an jedem Tage dieser ganzen Zeit durch Dmitrij erfuhr, Beleidigungen von ihrer ersten Begegnung an; denn auch ihre erste Begegnung mit ihm ist in ihrem Herzen als Beleidigung zurückgeblieben. Ja, so ist ihr Herz. Diese ganze Zeit habe ich nur ihr zugehört, wie sie von ihrer Liebe zu ihm gesprochen hat. Jetzt fahre ich fort, doch lassen Sie es sich gesagt sein, gnädiges Fräulein, daß Sie wirklich nur ihn allein lieben. Und je mehr er Sie kränken wird, desto mehr werden Sie ihn lieben. Das ist Ihre ganze Selbstvergewaltigung. Sie lieben ihn geradeso, wie er ist, als Ihren Beleidiger lieben Sie ihn. Wenn er sich bessern würde, so würden Sie ihn verlassen, und Sie würden sofort aufhören, ihn zu lieben. Jetzt aber bedürfen Sie seiner, um ununterbrochen an Ihre große Treue denken zu können und ihm seine Untreue vorzuwerfen. Alles das kommt nur von Ihrem Stolz. O, hierbei ist natürlich auch viel Unterwürfigkeit und Selbsterniedrigung, doch tun Sie es trotzdem nur aus Stolz ... Ich bin noch zu jung und habe Sie gar zu leidenschaftlich geliebt. Ich weiß, daß ich Ihnen das nicht zu sagen brauchte, es wäre meinerseits stolzer und würdiger, Sie einfach so zu verlassen; und es wäre auch nicht so kränkend für Sie. Aber ich fahre ja weit fort und werde niemals mehr wiederkehren. Ich gehe doch auf ewig ... Ich will nicht neben einer sich selbst Vergewaltigenden leben ... Übrigens verstehe auch ich mich nicht mehr auszudrücken ... Leben Sie wohl, Katerina Iwanowna, Sie haben kein Recht, sich über mich zu ärgern, denn ich bin hundertmal mehr bestraft als Sie: bestraft schon allein dadurch, daß ich Sie nie mehr sehen werde. Deshalb nochmals: leben Sie wohl. Ich bedarf Ihres Händedrucks nicht. Sie haben mich viel zu bewußt gequält, als daß ich Ihnen jetzt verzeihen könnte. Später werde ich verzeihen, doch jetzt brauchen Sie mir Ihre Hand nicht zu geben ... Den Dank, Dame, begehr ich nicht,“ fügte er plötzlich mit einem erzwungenen Lächeln hinzu und zeigte somit ganz unerwarteterweise, daß auch er Schiller so gelesen hatte, daß er ihn auswendig behalten, was Aljoscha früher nie geglaubt hätte. Iwan verließ das Zimmer, ohne sich selbst von Frau Chochlakoff, der Hausfrau, zu verabschieden. Aljoscha wollte ihm nachstürzen.

„Iwan!“ rief er ganz verloren seinem Bruder nach, „Iwan, komm zurück! Ach, jetzt wird er ja um keinen Preis mehr zurückkehren!“ rief er in verzweiflungsvoller Erkenntnis. „Aber das ist meine Schuld, ich habe es dazu gebracht! Iwan sprach boshaft, er sprach erregt, ungerecht und böse ... Er muß wieder herkommen, er muß zurückkommen, er muß! ...“ versicherte Aljoscha immer noch wie ein Halbwahnsinniger.

Katerina Iwanowna ging plötzlich ins Nebenzimmer.

„Das war großartig von Ihnen, Sie haben wie ein Engel gehandelt!“ flüsterte ihm in erregter Begeisterung Frau Chochlakoff zu. „Ich werde alles in Bewegung setzen, damit Iwan Fedorowitsch nicht fortfährt ...“

Ihr Gesicht strahlte vor Freude, was Aljoscha nicht geringen Kummer verursachte. In dem Augenblick kehrte Katerina Iwanowna aus dem Nebenzimmer zurück. Sie hatte zwei Hundertrubelscheine in der Hand.

„Ich habe eine große Bitte an Sie, Alexei Fedorowitsch,“ begann sie, sich direkt an Aljoscha wendend, mit anscheinend ruhiger, gleichmäßiger Stimme, als wäre wirklich nichts geschehen. „Vor einer Woche, – ja, ich glaube vor einer Woche – hat Dmitrij Fedorowitsch eine unüberlegte und ungerechte Tat begangen, eine schändliche Tat. Es gibt hier ein Lokal, ein Gasthaus oder so etwas ähnliches. Dort hat er einen verabschiedeten Offizier getroffen, einen Hauptmann, den Ihr Vater mit irgendwelchen Dingen beschäftigt. Dmitrij Fedorowitsch hatte sich nun aus irgendeinem Grunde über diesen Hauptmann geärgert, ihn am Bart gepackt und in Gegenwart aller Gäste in dieser erniedrigenden Weise hinaus auf die Straße gezogen, und man sagt, der Sohn dieses Hauptmanns, ein kleiner Junge, der das hiesige Gymnasium besucht, habe es gesehen und sei die ganze Zeit neben ihnen hergelaufen und habe laut geweint und für den Vater gebeten, und sei zu allen auf der Straße gelaufen, um sie zu bitten, seinen Vater doch zu verteidigen, doch die Leute hätten nur gelacht ... Verzeihen Sie, Alexei Fedorowitsch, ich kann nicht ohne heftigen Unwillen dieser schmachvollen Handlung, die er begangen hat, gedenken ... das ist wieder eine dieser Handlungen, zu denen sich nur Dmitrij Fedorowitsch in seinem Zorn hinreißen lassen kann ... und in seinen Leidenschaften! Ich kann nicht einmal alles so wiedergeben, ich kann es nicht ... Ich finde nicht die richtigen Worte. Ich habe mich jetzt nach dem Beleidigten erkundigt und erfahren, daß er ein sehr armer Mensch ist. Sein Familienname ist Ssnegireff. Er hat sich im Dienst irgendwie vergangen und daraufhin den Abschied bekommen ... Ich verstehe das nicht zu erzählen ... und jetzt ist er mit seiner ganzen Familie hier, mit kranken Kindern und einer, ich glaube, irrsinnigen Frau und lebt in furchtbarer Armut. Er war schon früher in dieser Stadt, er soll hier Schreiber gewesen sein. Plötzlich aber ist er unbeschäftigt! Ich habe jetzt meinen Blick auf Sie geworfen, das heißt, ich dachte – ach, ich weiß nicht, ich verwirre mich die ganze Zeit –, sehen Sie, ich wollte Sie bitten, mein bester Alexei Fedorowitsch, zu ihm zu gehen, unter einem Vorwande natürlich, zu diesem Hauptmann, – o Gott! ich komme immer aus dem Konzept, – und zart, vorsichtig, – geradeso, wie nur Sie allein es zu sagen verstehen“ (Aljoscha errötete plötzlich), „ihm diese Unterstützung zu übergeben, hier, diese zweihundert Rubel ... Oder nein, wie soll ich mich ausdrücken? Sehen Sie, das soll nicht eine Zahlung sein, um ihn zu beschwichtigen, damit er keine Klage einreicht – ich glaube, er soll dies beabsichtigt haben –, sondern einfach Mitleid, aus dem Wunsch zu helfen ... von mir, von mir, der Braut Dmitrij Fedorowitsch, nicht von ihm ... O, Sie werden es schon verstehen ... Ich würde selbst zu ihm fahren, aber Sie werden es viel besser machen als ich. Er wohnt in einer kleinen Straße, in der Seestraße, im Hause der Kleinbürgerin Kalmykowa ... Ich bitte Sie, Alexei Fedorowitsch, tun Sie das für mich, ich ... ich bin jetzt etwas ... müde. Auf Wiedersehen ...“

Sie wandte sich so hastig um und verschwand so schnell hinter der Portiere, daß Aljoscha nichts mehr sagen konnte, – und er wollte ihr doch noch so vieles sagen. Er wollte sie um Verzeihung bitten, wollte sich beschuldigen – kurz, etwas sagen wollte er, denn sein Herz war voll von dem, und er wollte sie unter keiner Bedingung so verlassen. Aber schon ergriff ihn Frau Chochlakoff an der Hand und zog ihn hinaus. Im Vorzimmer hielt sie ihn wieder wie vorhin auf.

„Sie ist stolz, sie quält sich selbst, aber sie ist gut, großmütig, hochherzig!“ flüsterte sie ihm zu. „O, wenn Sie wüßten, wie ich sie liebe, besonders zuweilen, und wie ich mich jetzt wieder über alles, alles freue! Lieber Alexei Fedorowitsch, Sie wissen ja noch gar nicht alles! So hören Sie denn, daß wir alle, alle, – ich, ihre beiden Tanten, – kurz, alle, sogar Lise, schon einen ganzen Monat lang nur dieses eine wünschen und durchsetzen wollen, daß sie sich von Ihrem geliebten Dmitrij Fedorowitsch, der nichts von ihr wissen will und sie überhaupt nicht liebt, lossagt und Iwan Fedorowitsch heiratet, den gebildetsten und prächtigsten jungen Mann, der sie mehr als alles auf der Welt liebt. Wir haben doch hier eine ganze Verschwörung gebildet, und ich fahre vielleicht nur deswegen noch nicht fort ...“

„Aber sie weinte doch, sie ist doch wieder beleidigt!“ unterbrach sie Aljoscha.

„Glauben Sie nicht den Tränen einer Frau, Alexei Fedorowitsch, in solchen Fällen bin ich immer gegen die Frauen und für die Männer.“

„Mama, Sie verderben ihn,“ ertönte Lisas Stimmchen durch die Türspalte.

„Nein, ich bin die Ursache dieses Unglücks, ich trage die Schuld an allem!“ wiederholte der untröstliche Aljoscha, schämte sich wegen seines Ausfalls und bedeckte seine Augen mit der Hand.

„Im Gegenteil, Sie haben wie ein Engel gehandelt, wie ein Engel, ich bin bereit, Ihnen das hunderttausendmal zu wiederholen!“

„Mama, wieso hat er wie ein Engel gehandelt?“ ertönte wieder Lisas Stimme.

„Es schien mir plötzlich, als ich sie beide so sah,“ fuhr Aljoscha fort, wie wenn er Lisa überhaupt nicht gehört hätte, „daß sie Iwan liebt, und so sagte ich denn auch diese Dummheit ... Aber was wird jetzt daraus werden!“

„Was, woraus, woraus soll etwas werden?“ rief Lisa wieder ungeduldig durch die Tür. „Mamachen, Sie wollen mich sicherlich umbringen! Ich frage schon zum hundertstenmal, Sie aber antworten mir überhaupt nicht!“

In dem Augenblick kam die Zofe hereingelaufen ...

„Gnädige Frau, das Fräulein fühlt sich sehr schlecht ... sie weint ... und schlägt um sich ...“

„Was, was ist da los?!“ klang Lisas erregte Stimme durch die Tür. „Mama, ich werde sofort einen Anfall bekommen, aber nicht Katjä!“

„Lise, um Gottes willen, schrei nicht so, töte mich nicht! Du bist noch zu jung, du darfst noch nicht alles erfahren, wovon Erwachsene sprechen, ich werde dir später alles erzählen, was ich dir davon erzählen kann. O Gott! ich komme schon, ich komme schon ... Ein hysterischer Anfall? Das ist vorzüglich, daß sie diesen Anfall hat! Gerade das war ja nötig! In solchen Fällen bin ich immer gegen die Frauen, gegen alle diese hysterischen Anfälle und Frauentränen. Julija, lauf sofort zurück und sage, daß ich schon zu ihr eile! Und daß Iwan Fedorowitsch so fortgegangen ist, das ist ihre eigene Schuld! Aber er wird ja nicht fortfahren. Lise, um Gottes willen schrei nicht so! Ach, du schreist ja gar nicht, nur ich rege mich so auf, verzeih deiner Mama, aber ich bin ganz entzückt, ganz entzückt davon, entzückt sage ich Ihnen! Sie haben auch bemerkt, Alexei Fedorowitsch, als was für ein junger, leidenschaftlicher junger Mann sich Iwan Fedorowitsch vorhin plötzlich erwies! Ich glaubte immer, er sei ein so gelehrter Akademiker, und plötzlich ist er so glühend-temperamentvoll, so offenherzig und jung, geradeso – so unerfahren und jung, das war wirklich so reizend an ihm, ganz als ob Sie es gewesen wären ... Und wie er noch diese deutschen Worte zitierte – aber ganz wie Sie! Ach, ich laufe, ich eile schon! Gehen Sie, beeilen Sie sich, diesen Auftrag auszuführen und kommen Sie schnell zurück! Lise, brauchst du nicht etwas? Halt ihn nur keine Minute auf, er wird gleich zu dir zurückkehren.“

Frau Chochlakoff eilte schließlich wirklich fort. Aljoscha wollte, bevor er fortging, noch einmal die Tür zu Lisas Zimmer öffnen.

„Auf keinen Fall!“ rief ihm Lise empört zu, „jetzt unter keiner Bedingung mehr! Sprechen Sie so, durch die Tür. Für was für eine Heldentat werden Sie zum Engel erhoben? Nur das allein will ich wissen.“

„Für eine furchtbare Dummheit, Lise! Auf Wiedersehen!“

„Unterstehen Sie sich nicht, so fortzugehen!“ rief Lisa empört.

„Lise, ich habe großes Herzeleid! Ich werde sofort zurückkommen, aber ich habe großen, großen Kummer!“

Und er verließ schnell das Zimmer und das Haus.

VI.
In der Stube

Er hatte wirklich ein ernstes Herzeleid, eines, wie er es bis dahin nur selten empfunden. Er hatte sich so dumm in fremde Angelegenheiten hineingemischt und noch dazu in Liebesangelegenheiten! „Aber was verstehe ich denn von solchen Sachen, wie kann ich mich nur in solche Angelegenheiten hineinmischen?“ wiederholte er vorwurfsvoll und immer wieder errötend wohl schon zum hundertstenmal. „Ach, die Schande wäre ja noch nichts, die Schande ist nur wohlverdiente Strafe; das Furchtbare ist nur, daß ich die Ursache neuen Unglücks bin ... Und der Staretz hat mich doch geschickt, um zu versöhnen und zu vereinigen. Vereinigt man denn etwa so?“ Bei diesem Gedanken fiel ihm plötzlich wieder ein, wie er „die Hände vereinigt“ hatte, und heiße Scham stieg in ihm auf. „Wenn ich auch alles aufrichtig getan habe, so muß ich künftig doch klüger sein,“ schloß er plötzlich – und lächelte nicht einmal über diese Folgerung.

Der Auftrag Katerina Iwanownas führte ihn in die Seestraße, da aber Dmitrij Fedorowitschs Wohnung gerade auf dem Wege dorthin lag, beschloß Aljoscha, zuerst noch zum Bruder zu gehen, obgleich er ahnte, daß er ihn nicht zu Hause antreffen werde. Er vermutete sogar, daß Dmitrij sich jetzt vielleicht absichtlich vor ihm versteckte, trotzdem wollte er ihn unbedingt aufsuchen, einerlei wo. Die Zeit aber drängte. Der Gedanke an den sterbenden Staretz hatte ihn seit der Stunde, da er aus dem Kloster gegangen war, keinen Augenblick verlassen.

Es fiel ihm wieder ein, was Katerina Iwanowna von dem Hauptmann erzählt hatte, und wieder fragte sich Aljoscha, ob nicht jener kleine Knabe, der die Schule besuchte und laut weinend neben dem Vater einhergelaufen war, als Dmitrij ihn am Barte gezogen hatte – ob das nicht derselbe kleine Junge sein konnte, der ihn in den Finger gebissen hatte? Wäre das doch die Antwort gewesen auf seine Frage, wodurch er ihn beleidigt hätte. Schließlich war Aljoscha fast überzeugt davon, ohne eigentlich selbst zu wissen warum, daß jener Knabe der Sohn des beleidigten armen Hauptmanns sei. Mit solchen nebensächlichen Gedanken zerstreute er sich und brauchte nicht mehr an das von ihm angestiftete „Unglück“ zu denken und sich mit Vorwürfen zu quälen, sondern konnte etwas Gutes tun. Und bei diesem Gedanken beruhigte er sich schließlich. Als er dann beim Einbiegen in die Querstraße zu Dmitrij plötzlich Hunger verspürte, nahm er aus seiner Kuttentasche das Franzbrot, das er beim Vater eingesteckt hatte, und aß es unterwegs auf. Das stärkte wieder ein wenig seine Lebensgeister.

Der Bruder war natürlich nicht zu Hause. Die Hauswirte – ein alter Tischlermeister, dessen Sohn und die alte Frau – blickten Aljoscha etwas mißtrauisch an. „Er nächtigt schon den dritten Tag nicht hier, es ist möglich, daß er ausgefahren ist,“ antwortete der Alte auf Aljoschas wiederholte Frage. Da sah Aljoscha ein, daß jener offenbar auf einen gegebenen Befehl nicht antworten wollte. Auf seine Frage: „Ist er vielleicht bei Gruschenka, oder versteckt er sich bei Foma?“ (Aljoscha fragte absichtlich so indiskret), blickten ihn alle drei nur höchst erschrocken an. „Müssen ihn wohl gern haben, wenn sie so zu ihm halten,“ dachte Aljoscha, „das ist gut.“

Endlich fand er auch in der Seestraße das Haus der Kleinbürgerin Kalmykowa, ein altes schiefes Häuschen, das nur drei Fenster zur Straße hatte. Der Eingang führte durch den schmutzigen Hof. Als Aljoscha durch die Pforte trat, sah er gerade in der Mitte des Hofes einsam eine unangebundene Kuh stehen. Links vom Flur wohnte die alte Hausbesitzerin mit ihrer gleichfalls alten Tochter; beide waren taub, wie es schien. Auf seine mehrmals wiederholte Frage nach dem Hauptmann wies schließlich die eine von ihnen, die erraten hatte, daß man zu ihren Mietern wollte, auf die gegenüberliegende Tür. Die Wohnung des verabschiedeten Hauptmanns war also tatsächlich in diesem Hause. Aljoscha wollte schon die eiserne Klinke ergreifen und die Tür aufmachen, als ihm plötzlich die ungewöhnliche Stille, die hinter der Tür herrschte, auffiel. Katerina Iwanowna hatte ihm doch gesagt, daß der Hauptmann verheiratet sei und eine ganze Familie habe. „Entweder schlafen sie alle, oder vielleicht haben sie gehört, daß ein Fremder eingetreten ist, und warten jetzt, daß ich eintrete; ich werde doch lieber zuerst klopfen,“ dachte er und klopfte an die Tür. Die Antwort kam aber erst nach einiger Zeit, vielleicht erst nach einer halben Minute.

„Wer da?“ schrie jemand mit lauter und absichtlich wütender Stimme.

Aljoscha machte die Tür auf und trat über die Schwelle. Er befand sich in einer zwar sehr großen Bauernstube, die aber doch von Menschen und verschiedenem Hausgerät ganz eingenommen war. Links stand ein großer russischer Ofen. Von diesem Ofen war zum linken Fenster durch das ganze Zimmer eine Schnur gezogen, auf der verschiedene Lappen hingen. An beiden Wänden rechts und links stand je ein Bett, mit gehäkelter Decke überdeckt. Auf dem Bette links war aus vier Kopfkissen ein ganzer Berg errichtet; von diesen vier, die alle in Kattunbezügen staken, war eines immer kleiner als das andere. Dagegen lag auf dem Bett an der rechten Wand nur ein einziges ganz kleines Kissen. In der vorderen Ecke war ein kleiner Raum durch einen Vorhang abgeteilt, oder richtiger, durch ein Bettuch, das gleichfalls über einer quer vor die Ecke gezogenen Schnur hing. Hinter diesem Vorhang blickte ein drittes, auf einer Truhe und einem vorgeschobenen Stuhl aufgeschlagenes Bett hervor. Ein einfacher viereckiger Bauerntisch war von der vorderen Ecke zum mittleren Fenster geschoben. Alle drei Fenster, von denen jedes nur vier kleine, grüne, von Staub und Regen trübe Fensterscheiben hatte, ließen nicht gerade viel Licht herein und waren zudem so dicht geschlossen, daß man die Zimmerluft als recht drückend empfand. Auf dem Tisch stand eine Bratpfanne mit dem Rest von einem unsauberen Rührei, ein angebissenes Stück Brot und außerdem eine Halbliterflasche, in der nur noch ein wenig von dem übriggeblieben war, was viele Menschen über ihr Leid hinwegbringt. Auf einem Stuhl neben dem Bett links saß eine Frau in einem einfachen Kattunkleide; doch sah sie wie eine Dame aus. Sie war sehr mager und etwas gelblich im Gesicht; ihre stark eingefallenen Wangen verrieten sofort, daß sie krank sein mußte. Am meisten aber fiel Aljoscha der Blick dieser armen Dame auf: er war ungemein forschend und zu gleicher Zeit äußerst hochmütig. Während der ganzen Zeit, in der Aljoscha mit dem Hauptmann sprach, gingen ihre großen braunen Augen unveränderlich stolz und fragend von einem der Sprechenden zum anderen. Neben dieser Dame stand am linken Fenster ein junges Mädchen mit einem nicht gerade schönen Gesicht und dünnem, rötlichem Haar; es war ärmlich, doch sehr sauber gekleidet. Feindselig betrachtete sie den eingetretenen Aljoscha. Rechts, gleichfalls zwischen Bett und Fenster, saß noch ein drittes weibliches Wesen. Das schien ein armes Geschöpf zu sein, gleichfalls ein junges Mädchen, von zwanzig Jahren, doch war es verwachsen und lahm, d. h. ihre Füße waren verdorrt, wie Aljoscha später erfuhr. Ihre Krücken standen neben ihr in der Ecke zwischen der Wand und dem Bett. Die auffallend schönen und guten Augen des armen Mädchens blickten Aljoscha ruhig und sanftmütig an. Am Tisch saß, das Rührei verzehrend, ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren, mittlerer Größe, augenscheinlich ein schwächlicher Mensch mit rötlichem Haar und einem rötlichen, spärlichen Bärtchen, das auffallend einem zerfaserten Lindenbastwisch glich (dieser Vergleich und besonders das Wort „Bastwisch“ zuckten Aljoscha aus irgendeinem Grunde schon beim ersten Blick auf diesen Bart durch den Sinn, dessen erinnerte er sich noch später). Offenbar hatte dieser selbe Herr auch das „Wer da?“ gerufen, da außer ihm nur Frauen im Zimmer waren. Als aber Aljoscha etwas vortrat, sprang der Herr von der Bank, auf der er am Tisch gesessen hatte, auf und flog, sich mit einer durchlöcherten Serviette den Mund wischend, Aljoscha entgegen.

„Ein Mönch, der für ein Kloster bittet – der ist zu den Richtigen gekommen!“ sagte laut das am linken Fenster stehende Mädchen.

Doch der Herr, der Aljoscha entgegengestürzt war, drehte sich im Augenblick auf dem Hacken um und antwortete mit erregter, vor Aufregung fast stockender Stimme:

„Nein, verehrteste Warwara Nikolajewna, diesmal täuschen Sie sich, Verehrteste, haben es nicht erraten! Gestatten Sie“ – damit wandte er sich geschwind wieder zu Aljoscha – „mich nach der Ursache Ihres Besuches meines ... ‚Inneren‘ zu erkundigen?“

Aljoscha betrachtete ihn aufmerksam, da er ihn zum erstenmal sah. Es war etwas Eckiges, Hastendes, Gereiztes an ihm. Er hatte wohl Schnaps getrunken, doch war er nicht betrunken. Sein Gesicht drückte eine gewisse äußerste Frechheit aus, und zu gleicher Zeit – das war wirklich sonderbar – offenbare Feigheit. Er glich einem Menschen, der sich lange Zeit unterworfen und vieles erlitten hat, plötzlich aber vorspringt und auftrumpfen will. Oder richtiger: einem Menschen, der einen maßlos gern schlagen will, und der doch sehr fürchtet, daß man ihn schlagen könnte. In seinen Reden und dem Klang seiner ziemlich schrillen Stimme lag ein gewisser mißratener Humor, der bald boshaft, bald ängstlich war, nie im Ton blieb und immer wieder abbrach. Die Frage nach dem Besuch des „Inneren“ stellte er gleichsam am ganzen Körper zitternd und so nah auf Aljoscha zutretend, daß der unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Gekleidet war der Herr in einen dunklen, nankingartigen Überzieher, der sehr schlecht zusammengenadelt und überall geflickt war. Die Beinkleider dagegen waren auffallend hell, wie sie niemand mehr trug, und aus sehr dünnem, karriertem Stoff; unten waren sie stark verknüllt, außerdem sehr kurz, ganz als wäre er aus ihnen wie ein kleiner Junge herausgewachsen.

„Ich bin ... Alexei Karamasoff ...“ antwortete Aljoscha.

„Das begreifen wir vortrefflich,“ unterbrach ihn sofort der Herr, womit er zu verstehen gab, daß er ihn schon kannte. „Ich dagegen bin Hauptmann Ssnegireff; trotzdem wäre es wünschenswert, die Ursache Ihres Besuches ...“

„Ich ... bin nur so hergekommen ... Ich wollte eigentlich von mir aus Ihnen ein paar Worte sagen ... Wenn Sie es nur gestatten ...“

„In diesem Falle – bitte, hier ist ein Stuhl, geruhen Sie, Platz zu nehmen, wie man in den alten Komödien sagt ...“ und der Hauptmann ergriff mit hastiger Bewegung einen gewöhnlichen Bauernstuhl und stellte ihn fast in die Mitte des Zimmers; darauf zog er noch für sich irgendeinen Stuhl herbei und setzte sich Aljoscha gegenüber, und wieder rückte er so nah heran, daß ihre Knie sich fast berührten. Er blickte ihm unbeweglich ins Gesicht.

„Ich bin Nikolai Iljitsch Ssnegireff, gewesener Hauptmann der russischen Infanterie, und wenn ich auch durch meine Laster in Schimpf und Schande geraten bin, so bleibe ich doch gewesener Hauptmann. Eigentlich sollte ich jetzt eher sagen: Hauptmann Sslowojerrssoff[15] und nicht mehr Ssnegireff, denn in der zweiten Hälfte meines Lebens habe ich begonnen, das ‚S‘ anzuhängen.[16] Ja, das lernt man in der Erniedrigung.“

„Das ist schon so,“ meinte Aljoscha lächelnd, „nur fragt es sich, ob man es unwillkürlich oder absichtlich lernt?“

„Bei Gott, unwillkürlich. Zeitlebens habe ich nicht so gesprochen, plötzlich aber fiel ich, und als ich aufstand, sprach ich das ‚S‘ zu Ende der Worte. Das geschieht durch eine höhere Macht ... Ich sehe, daß Sie sich für zeitgenössische Fragen interessieren. Wodurch nun habe ich solch ein Interesse erregt, denn ich lebe, wie Sie sehen, so, daß ich Gäste im allgemeinen nicht empfangen kann.“

„Ich bin ... in derselben Angelegenheit gekommen ...“

„In derselben Angelegenheit?“ unterbrach ihn der Hauptmann ungeduldig.

„Wegen jener Angelegenheit mit meinem Bruder Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte Aljoscha ungeschickt.

„Welch eine Angelegenheit meinen Sie? Doch nicht wegen jener selben? Also wegen des Lindenbastwischs, des Badebastwischs?“ Er rückte plötzlich noch näher, so daß er diesmal Aljoscha tatsächlich mit den Knien berührte. Seine Lippen preßten sich ganz absonderlich zusammen; sie wurden so schmal wie ein Bindfaden.

„Was für ein Badebastwisch?“ stotterte Aljoscha.

„Nein, Papa, er ist gekommen, um sich über mich zu beklagen!“ rief plötzlich das Aljoscha schon bekannte Stimmchen seines kleinen Feindes aus der Ecke hinter dem Vorhange. „Ich habe ihn vorhin in den Finger gebissen.“

Der Vorhang wurde zur Seite gezogen, und Aljoscha erblickte seinen kleinen Feind aus der Michailoffstraße auf einem Bettchen, das man dort in der Ecke unter den Heiligenbildern auf der Truhe und dem Stuhl aufgeschlagen hatte. Der Knabe war mit seinem Mäntelchen und einem alten, wattierten Deckchen zugedeckt. Er schien nicht ganz wohl zu sein und, nach den brennenden Augen zu urteilen, Fieber zu haben. Doch jetzt blickte er furchtlos Aljoscha an. „Zu Hause kriegst du mich nicht!“ sagte sein Blick.

„Was hat er gebissen? Wie, einen Finger?“ fragte der Hauptmann erschrocken und wollte schon aufspringen. „Hat er Ihren Finger gebissen?“

„Ja, meinen. Vorhin bewarfen er und seine Mitschüler sich auf der Straße mit Steinen; er war allein, sie aber waren ganze sechs. Als ich darauf zu ihm trat, warf er einen Stein auf mich und dann noch einen. Ich fragte ihn, was ich ihm denn getan hätte; er aber stürzte sich auf mich und biß mich schmerzhaft in den Finger, warum, weiß ich nicht.“

„Werde ihn sofort durchhauen! Sofort, im Augenblick!“ Der Hauptmann sprang erregt von seinem Stuhl auf.

„Aber ich beklage mich doch nicht, ich erzählte es doch nur ... Ich will durchaus nicht, daß Sie ihn dafür durchhauen! Und er ist ja, glaube ich, krank ...“

„Und Sie dachten, daß ich ihn wirklich bestrafen werde? daß ich Iljuschetschka nehmen und ihn sofort vor Ihren Augen schlagen werde, zu Ihrer Genugtuung? sofort? hier auf der Stelle?“ Der Hauptmann wandte sich mit einer Gebärde zu Aljoscha, als wolle er sich auf ihn stürzen. „Es tut mir leid, mein Herr, um Ihren Finger; aber wollen Sie nicht, daß ich, eher als daß ich Iljuschetschka schlage, sofort alle meine vier Finger, hier auf der Stelle, vor Ihren Augen abhacke, sehen Sie, mit diesem Messer, um Ihnen Genugtuung zu gewähren? Vier Finger, denke ich, werden zur Stillung Ihres Rachedurstes genügen, oder wollen Sie auch noch den fünften dazu? ...“

Er verstummte, als ob ihm plötzlich die Stimme versagt hätte. Jeder Nerv seines Gesichtes ging und zuckte, doch blickte er Aljoscha herausfordernd an. Er schien seiner selbst nicht mehr mächtig zu sein.

„Ich glaube jetzt alles zu verstehen,“ sagte Aljoscha, der sitzen blieb, leise und traurig. „Ihr Junge ist also ein guter Knabe, der seinen Vater liebt und mich als Bruder Ihres Beleidigers gebissen hat ... Das sehe ich jetzt wohl ein,“ sagte er nachdenklich. „Mein Bruder Dmitrij Fedorowitsch bereut seine Handlung, das weiß ich, und wenn er nur zu Ihnen kommen könnte, oder besser, wenn er Sie dort in demselben Lokal wieder treffen könnte, so würde er Sie in Gegenwart aller um Verzeihung bitten ... Wenn Sie es wünschen.“

„Also: ‚er hat das Bärtchen ausgerissen und darauf um Verzeihung gebeten‘ – was will man mehr; er hat alles wieder gut gemacht, nicht wahr?“

„O nein, im Gegenteil, er wird alles tun, was Sie wollen, und wie Sie es wollen!“

„Das heißt also, wenn ich Seine Erlaucht bitten würde, in demselben Lokal – ‚Zur Hauptstadt‘ heißt es – oder auf dem Großen Platz gefälligst vor mir niederzuknien, so würde er es tun?“

„Ja, er würde niederknien.“

„Sie entwaffnen mich, Sie rühren und entwaffnen mich! Bin nur gar zu geneigt, die Großmut Ihres Herrn Bruders zu empfinden. Gestatten Sie mir, Ihnen meine Familie vorzustellen: meine beiden Töchter und mein Sohn – mein ganzes Nest. Wenn ich nun sterbe, wer wird sie dann noch lieben? Solange ich aber noch lebe – wer kann mich garstiges Kerlchen außer ihnen lieben? Etwas Großes hat Gott damit für einen jeden kleinen Menschen von meiner Art geschaffen, Verehrtester. Denn, nicht wahr, auch ein Mensch wie ich, muß jemanden zum Lieben haben ...“

„Da sagen Sie ein wahres Wort!“ meinte Aljoscha herzlich.

„Ach, hören Sie doch endlich auf, den Hampelmann zu spielen, Papa! Es braucht nur irgendein Dummkopf herzukommen, so erniedrigen Sie sich sofort!“ rief ganz unerwartet das Mädchen am Fenster ihrem Vater mit gereizter Stimme und verächtlicher Miene zu.

„Gedulden Sie sich noch einen Augenblick, Warwara Nikolajewna, und lassen Sie mich im Stil bleiben,“ rief ihr der Vater, wenn auch in befehlendem Tone, so doch mit billigendem Blicke zu. „Das ist nun einmal so ihr Charakter,“ fügte er darauf, zu Aljoscha gewandt, hinzu.

„‚Kein einziges Ding in dieser Welt fand seine Billigung!‘ wie der Dichter sagt; nur müßte er sich in diesem Falle im Femininum ausdrücken: ‚fand ihre Billigung‘. Jetzt aber gestatten Sie mir, Sie auch meiner Frau vorzustellen: hier, Arina Petrowna, zwar nur eine lahme Dame – von dreiundvierzig Jahren –, die Füße tragen sie nur wenig, gehört zu den Einfachen, Verehrtester. Arina Petrowna, glätten Sie Ihre Züge: – Alexei Fedorowitsch Karamasoff, erheben Sie sich, Verehrtester.“ Damit ergriff er Aljoschas Hand und zog ihn mit einer Kraft, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, in die Höhe, noch bevor der sich besinnen konnte. „Sie werden einer Dame vorgestellt, da müssen Sie sich erheben. Das ist nicht jener Karamasoff, Mamachen, der ... hm, und so weiter, sondern sein Bruder, der sich durch demütige Tugenden auszeichnet. Gestatten Sie, Arina Petrowna, gestatten Sie, Mütterchen, Ihnen vorläufig die Hand zu küssen.“

Und er küßte ehrerbietig, sogar zärtlich die Hand seiner Frau. Das Mädchen am Fenster wandte der Szene unwillig den Rücken zu. Der hochmütig-fragende Gesichtsausdruck der Frau dagegen verwandelte sich plötzlich in einen ungewöhnlich freundlichen.

„Guten Tag; setzen Sie sich, Herr Tschernomasoff,“ sagte sie.

„Karamasoff, Mütterchen, Karamasoff – wir sind einfache Leute,“ flüsterte er wieder Aljoscha zu.

„Nun, Karamasoff oder wie sonst, ich sage immer Tschernomasoff ... Setzen Sie sich doch! warum hat er Sie nur belästigt? Eine lahme Dame, sagte er, das ist wohl wahr, denn wenn ich auch meine Füße noch habe, so sind sie doch wie die Eimer geschwollen, ich selbst bin gänzlich verdorrt. Früher war ich so dick, jetzt aber bin ich, als ob ich eine Nadel verschluckt hätte ...“

„Wir sind einfache Leute, einfache Leute,“ sagte noch einmal der Hauptmann.

„Papa, ach Papa!“ sagte plötzlich das bucklige Mädchen, das bis dahin geschwiegen hatte, und bedeckte das Gesicht mit dem Taschentuch.

„Spielt wieder den Bajazzo!“ stieß die andere am Fenster hervor.

„Sehen Sie, was es für Neuigkeiten bei uns gibt,“ sagte die Mama, auf die Töchter weisend, „ganz wie vorüberziehende Wolken; sind die Wolken vorübergezogen, so beginnt von neuem unsere Musik. Früher, als mein Mann noch Militär war, kamen viele Gäste zu uns. Ich will das ja nicht mit dem vergleichen, was jetzt ist. Wenn einmal einer jemanden liebt, so soll er ihn auch lieben. Da kam denn auch die Frau des Diakons zu mir und sagte: Alexander Alexandrowitsch ist in der Seele der beste Mensch, Nastassja Petrowna aber, sagt sie, ist die wahre Höllenbrut. – Nun, antwortete ich, das kommt darauf an, wer wen vergöttert, du aber bist wohl nur ein kleines Häufchen, stinkst jedoch gehörig. – Dich aber, sagte sie, muß man unterm Daumen halten. – Ach du, sage ich, du schwarzer Schleppsäbel, wen bist du hier belehren gekommen? – Ich, sagte sie, ich lasse reine Luft herein, du aber bist unreine Luft. – Frage doch, sage ich ihr, frage doch alle Herren Offiziere, ob in mir schlechte Luft ist, oder was sonst für eine? Und das sitzt mir seit der Zeit so sehr auf dem Herzen, daß ich noch vor einigen Tagen – ich saß ganz so wie jetzt – diesen General hier eintreten sah, denselben, der auch zu Ostern schon hier war: Was, frage ich ihn, Exzellenz, kann man wohl einer vornehmen Dame reine Luft zulassen? – Ja, antwortete er, man müßte hier wirklich ein Klappfenster oder die Tür ein wenig aufmachen, denn auch mir scheint es, daß die Luft hier bei Ihnen nicht sehr frisch ist. Nun, und so sind sie alle. Und was haben sie nur an meiner Luft auszusetzen? Tote riechen doch noch viel schlechter. Ich sagte darauf: Werde eure Luft nicht mehr verderben, werde mir Schuhe bestellen und fortgehen. Meine Lieben, meine Täubchen, macht doch eurer leiblichen Mutter keine Vorwürfe! Nikolai Iljitsch, mein Väterchen, oder mache ich es dir denn nicht recht? Alles, was ich habe, ist doch, daß Iljuschetschka aus der Schule heimkehrt und mich liebt. Gestern hat er mir noch einen Apfel mitgebracht. Verzeiht, verzeiht, meine Lieben, eurer leiblichen Mutter, verzeiht mir Einsamen, aber wodurch ist euch nur meine Luft so zuwider geworden?“

Und die arme Irrsinnige brach in Tränen aus, in Strömen flossen ihre Tränen herab. Der Hauptmann sprang sofort eilig zu ihr hin.

„Mütterchen, Mütterchen, Täubchen, laß gut sein, laß gut sein! Bist doch nicht einsam. Alle lieben dich, alle vergöttern dich!“ Und wieder küßte er ihre Hände und streichelte ihr Gesicht; und plötzlich nahm er die Serviette und begann ihre Tränen abzuwischen. Aljoscha schien es, daß auch seine Augen feucht erglänzten. „Nun, Verehrtester, haben Sie gesehen, gehört?“ fragte er plötzlich, fast jähzornig Aljoscha und wies dabei auf die arme Schwachsinnige.

„Ich sehe und höre,“ sagte Aljoscha leise.

„Papa, Papa! Wie kannst du nur mit ihm ... Laß ihn doch, Papa!“ rief plötzlich der Knabe, der sich auf seinem Lager erhoben hatte und den Vater mit heißem Blick ansah.

„Wann werden Sie endlich aufhören, Ihre dummen Possen zu spielen, die doch nie zu etwas Gescheitem führen! ...“ rief ihm aus derselben Ecke bereits ganz aufgebracht Warwara Nikolajewna zu und stampfte mit dem Fuße auf.

„Diesmal sind Sie vollkommen im Recht, wenn Sie außer sich geraten, Warwara Nikolajewna, und ich werde Sie gern zufriedenstellen. Nun, nehmen Sie mal Ihre Mütze, Alexei Fedorowitsch, und auch ich werde meinen Hut nehmen, und gehen wir, Verehrtester. Ich muß noch ein ernstes Wörtchen mit Ihnen reden, nur außerhalb dieser Wände. Sehen Sie dieses sitzende Mädchen – das ist meine Tochter Nina Nikolajewna, ich vergaß es, Sie ihr vorzustellen: ein leibhaftiger Engel Gottes ... der zu uns Sterblichen herniedergeflogen ist ... wenn Sie das nur begreifen können ...“

„Er zittert ja am ganzen Körper, als ob er Krämpfe hätte,“ stieß Warwara Nikolajewna wieder unwillig hervor.

„Und diese dort, die jetzt vor Unwillen über mich mit den Füßchen stampft und mich vor kurzem Bajazzo betitelte – das ist gleichfalls ein leibhaftiger Engel Gottes, und sie hat mich auch ganz richtig benannt. Doch gehen wir jetzt, Verehrtester, dem muß man ein Ende machen ...“

Sie gingen hinaus auf die Straße.

VII.
Und in frischer Luft

Hier ist die Luft frisch und rein: in meinem Hause aber ist es wirklich nicht frisch – sogar in keiner Beziehung. Gehen wir langsam, Verehrtester. Gern würde ich Sie für mich interessieren.“

„Und auch ich habe Wichtiges mit Ihnen zu sprechen ...“ bemerkte Aljoscha, „nur weiß ich nicht, wie ich anfangen soll.“

„Wie sollten Sie denn nichts zu besprechen haben! Wären Sie doch sonst nie zu mir gekommen. Oder sind Sie vielleicht nur gekommen, um sich über den Jungen zu beklagen? Das ist doch unwahrscheinlich. Ach, bei der Gelegenheit: ich konnte Ihnen dort nicht alles so erklären, aber hier werde ich Ihnen alles sagen. Sehen Sie, der Bastwisch war noch vor einer Woche viel dichter – ich rede von meinem Bärtchen; dieses Bärtchen heißt ja der Bastwisch, so haben es die Schuljungen doch benannt. Nun, sehen Sie, wie mich da Ihr Bruder Dmitrij Fedorowitsch Karamasoff am Barte zog, wegen nichts und wieder nichts, er suchte einfach Händel, und ich kam ihm in die Quere – da zog er mich hinaus auf den Großen Platz, und da kamen gerade die Schuljungen aus der Schule und unter ihnen auch Iljuscha. Wie der mich so am Bart gezogen erblickte, stürzte er zu mir: ‚Papa!‘ schreit er, ‚Papa!‘ hält mich, umarmt, umklammert mich, will mich befreien, losreißen, schreit meinem Beleidiger zu: ‚Verzeihen Sie, verzeihen Sie, das ist doch mein Papa, mein Papa, verzeihen Sie ihm!‘ – fleht, wie ich sage ‚Verzeihen Sie!‘ – umklammert ihn mit seinen kleinen Ärmchen und küßt, küßt seine Hand ... Ich weiß, ich weiß noch, was für ein Gesichtchen er in diesem Augenblick hatte, habe es nicht vergessen und werde es auch nie vergessen! ...“

„Ich schwöre Ihnen,“ sagte Aljoscha sofort, „mein Bruder wird Ihnen in der aufrichtigsten Weise sein tiefes Bedauern, seine Reue beweisen, meinetwegen kniend auf demselben Platz; ich werde ihn dazu zwingen, oder er wird nicht mehr mein Bruder sein!“

„Ach so, dann war das also nur ein Projekt. Dann ging das nicht von ihm aus, sondern wurde nur von Ihnen in einer heißen Regung Ihres guten Herzens gesagt. Ja, dann hätten Sie es aber auch so darstellen sollen. Nein, Verehrtester, da lassen Sie mich zuerst einmal alles sagen, zumal ich die ritterliche Offiziershaltung Ihres Bruders nicht verheimlichen will, o nein, denn die hat er damals tatsächlich bewiesen. Als er nämlich endlich meinen Bart losließ und mich freigab, sagte er: ‚Wir sind beide Offiziere, wenn du einen Sekundanten finden kannst, einen anständigen Menschen, so schick ihn zu mir – werde dir Satisfaktion geben, wenn du auch ein Schurke bist!‘ Sehen Sie, das sagte er! Das war wahrhaft ritterlicher Geist! Wir entfernten uns damals, Iljuscha und ich, doch dieses Bild ist auf ewig in Iljuschenkas Seele geblieben. Wie soll ich mich denn mit ihm duellieren! Sagen Sie sich doch selbst, Sie sind doch soeben in meiner Wohnung gewesen – was haben Sie gesehen? Drei Damen sitzen dort, von denen ist die eine ohne Füße und schwachsinnig, die andere ohne Füße und verwachsen, die dritte aber hat Füße und ist beinahe gar zu klug, ist Studentin und will unbedingt wieder nach Petersburg, um dort an den Ufern der Newa die Rechte der russischen Frau zu suchen. Von Iljuscha rede ich schon gar nicht, der ist erst neun Jahre alt, mutterseelenallein. Wenn ich aber nun sterbe – was soll dann mit meinem ganzen Nest werden, nur das allein frage ich Sie? Wenn ich ihn nun fordere und er mich erschießt, was dann? Was soll dann aus ihnen werden? Oder, was noch schlimmer wäre, wenn er mich zum Krüppel schießt? Arbeiten und verdienen ist dann ausgeschlossen, der Mund aber bleibt, und wer wird ihn dann füttern, diesen Mund, und wer wird sie dann alle ernähren? Oder sollte ich Iljuscha anstatt in die Schule täglich betteln schicken? Da sehen Sie, was das für mich bedeuten würde: ihn zum Duell herauszufordern. Ein dummes Wort ist das und weiter nichts.“

„Er wird Sie um Verzeihung bitten, er wird sich dort mitten auf dem Platz vor Ihnen bis zur Erde verneigen!“ rief Aljoscha mit aufflammendem Blick aus.

„Ich wollte die Sache vor Gericht bringen,“ fuhr der Hauptmann fort, „aber blättern Sie doch den Kodex durch und fragen Sie sich dann, wieviel ‚Schadenersatz‘ ich für persönliche Beleidigung von dem Beleidiger bekommen würde? Und da läßt mich noch plötzlich Agrafena Alexandrowna zu sich rufen und sagt: ‚Wage nicht, daran auch nur zu denken! Wenn du ihn vors Gericht bringst, so werde ich dafür sorgen, daß es alle Welt erfährt, warum er dich am Bart gezogen hat: wegen deiner Schurkereien, und dann wird man dich verklagen.‘ Sieht doch nur Gott allein, durch wen besagte Schurkerei entstanden ist, auf wessen Befehl ich damals wie ein kleiner Kaufmann gehandelt habe, ob nicht etwa auf ihre eigene und Fedor Pawlowitschs Anordnung? ‚Und zudem,‘ sagte sie, ‚werde ich dich fortjagen und dir hinfort nichts mehr von mir zu verdienen geben. Meinem Kaufmann werde ich es gleichfalls sagen‘ – so nennt sie ihn, den Alten –, ‚dann wird auch er dich nicht mehr beschäftigen.‘ Und so denke ich denn, wenn auch der Kaufmann mich fortjagt, was soll dann aus mir werden, wo kann ich dann noch verdienen? Sind mir doch jetzt nur noch diese beiden geblieben, da Ihr Vater Fedor Pawlowitsch Karamasoff mir nicht nur sein Vertrauen entzogen hat, sondern mich aus einem nebensächlichen Grunde, nachdem er sich meine Quittungen gesichert hat, obendrein noch verklagen will. Infolgedessen bin ich denn still geworden, und mein ‚Inneres‘ – haben Sie gesehen. Doch jetzt erlauben Sie zu fragen: Hat er Ihnen wirklich schmerzhaft in den Finger gebissen, Iljuscha meine ich? In seiner Gegenwart konnte ich mich nicht entschließen, auf dieses Gespräch einzugehen.“

„Ja, sehr schmerzhaft, er war aber sehr gereizt. Er hat sich für Sie an mir, als an einem Karamasoff, gerächt, das ist mir jetzt vollkommen klar. Aber wenn Sie gesehen hätten, wie er seine Schulkameraden mit Steinen bewarf, und wie die ihm darauf antworteten! So etwas ist sehr gefährlich; sie können ihn totschlagen, es sind doch dumme Kinder; der Stein fliegt und kann den Kopf treffen.“

„Und hat auch schon getroffen, nur nicht den Kopf, wohl aber die Brust: etwas über dem Herzen hat er einen blauen Fleck. Er kam weinend nach Haus, stöhnte, und jetzt ist er davon krank geworden.“

„Aber er greift sie ja zuerst an, fällt als erster über sie her! Er will sich für Sie rächen. Die Jungen sagten, er habe einen Mitschüler, Krassotkin, mit dem Federmesser in die Seite gestochen ...“

„Ich weiß, die Sache kann gefährlich werden. Krassotkin ist der Sohn eines hiesigen Beamten, da kann man noch Unannehmlichkeiten haben ...“

„Ich würde Ihnen raten,“ fuhr Aljoscha fort, „ihn eine Zeitlang überhaupt nicht in die Schule zu schicken, bis er sich beruhigt ... dieser Zorn wird ja vergehen ...“

„Zorn!“ griff der Hauptmann sofort das Wort auf, „Sie haben es richtig benannt. Er ist ein kleines Wesen, aber sein Zorn ist um so größer. Sie kennen noch nicht alles; erlauben Sie, daß ich Ihnen die ganze Geschichte erzähle. Die Sache ist nämlich die, daß ihn seit der Zeit alle Jungen in der Schule ‚Bastwisch‘ zu necken begonnen haben. Kinder sind in der Schule ein unbarmherziges Volk; einzeln sind sie die reinen Engel Gottes, zusammen aber sind sie erbarmungslos. So haben sie ihn denn geneckt, in ihm aber ist der edle Sinn erwacht. Ein gewöhnlicher Knabe ist ein gleichgültiger Sohn – der hätte sich in diesem Falle geduckt, würde sich seines Vaters geschämt haben. Iljuscha dagegen hat sich gegen alle für den Vater erhoben; für den Vater und für die Wahrheit, für die Gerechtigkeit. Denn was er damals, als er Ihrem Bruder die Hand küßte und ihn anflehte: ‚Verzeihen Sie meinem Papa!‘ – was er damals empfunden hat, das weiß nur Gott allein ... und ich. So lernen unsere Kinderchen – das heißt, nicht Ihre, sondern unsere, die Kinder der Verachteten, der anständigen Bettler, ja, so lernen unsere Kinderchen die Wahrheit auf Erden schon mit neun Jahren kennen. Wie sollten das die Reichen! Die kommen zeitlebens nicht bis zu dieser Tiefe! Mein Iljuscha aber hat in demselben Augenblick, als er dort auf dem Platz die Hand küßte, in demselben Augenblick hat er die ganze Wahrheit durchlebt. Diese Wahrheit durchdrang ihn und erfüllte ihn auf ewig!“ sagte erregt und leidenschaftlich der Hauptmann und schlug sich dabei mit der rechten Faust in die linke Hand, als ob er damit zeigen wollte, wie die „Wahrheit“ seinen Iljuscha durchdrungen und erfüllt hatte. „... An jenem Tage hatte er Fieber und phantasierte die ganze Nacht. Er sprach nur wenig mit mir, schwieg endlich ganz, nur bemerkte ich – wie er aus der Ecke auf mich sieht, sieht und sich immer mehr zum Fenster neigt und tut, als lernte er seine Aufgaben, aber ich sehe ja doch, daß er nicht Aufgaben im Sinn hat. Am nächsten Tage trank ich mich an vor Leid, weiß nicht mehr viel von diesem Tage, bin ein sündiger Mensch. Mütterchen hatte auch angefangen zu weinen – Mütterchen habe ich sehr lieb – nun, und so hatte ich mich denn berauscht. Sie, Verehrtester, verachten Sie mich nicht: In Rußland sind die Trinker die besten Menschen. Die allerbesten Menschen sind bei uns die allerbetrunkensten. Ich lag also am zweiten Tage und weiß nicht mehr viel von Iljuscha; gerade an diesem Tage aber hatten die Schüler ihn zu necken begonnen: ‚Bastwisch‘, haben sie ihm zugeschrien, ‚dein Vater ist am Bastwisch auf den Großen Platz hinausgezogen worden, du aber bist nebenhergelaufen und hast um Verzeihung gebeten.‘ Am dritten Tage kam er wieder aus der Schule, nur sehe ich – er ist gar nicht mehr zu erkennen, ganz bleich. Was fehlt dir? frage ich. Er schweigt. Nun, im Zimmer kann man nicht gut reden, da mischen sich gleich Mütterchen und die Mädchen hinein – zudem hatten die Mädchen alles gleich am ersten Tage erfahren. Warwara Nikolajewna begann schon zu brummen: ‚Bajazzo, kann er denn je etwas Vernünftiges tun?‘ – ‚Ganz recht,‘ antwortete ich ihr, ‚können wir denn je etwas Vernünftiges tun?‘ Damit machte ich mich los. In der Dämmerstunde ging ich dann mit dem Jungen spazieren. Sie müssen nämlich wissen, daß wir an jedem Abend so spazieren zu gehen pflegten, denselben Weg, den wir jetzt gehen, von unserer Hoftür bis zu jenem großen, einsamen Stein, der dort so verwaist am Zaune liegt, dort, wo die Stadtweide beginnt: es ist ein einsamer und schöner Platz zum Sitzen. Wir gehen also, Iljuscha und ich, sein Händchen ist in meiner Hand, wie gewöhnlich; solch ein winzig kleines Händchen hat er, so dünne, kalte Fingerchen – hat doch ein so schwaches, kränkliches Brüstchen. ‚Papa,‘ sagt er, ‚Papa!‘ – Was? frage ich, sehe schon, seine Äuglein blitzen. – ‚Papa, wie hat er dich nur ... Papa!‘ – Was ist dabei zu machen, Iljuscha? sage ich. – ‚Versöhne dich nicht mit ihm, Papa, söhne dich nicht mit ihm aus. Die Schüler sagen, er habe dir dafür zehn Rubel gegeben.‘ – Nein, Iljuscha, sage ich, ich werde unter keiner Bedingung von ihm Geld nehmen. Wissen Sie, sein ganzes Körperchen erzitterte; er ergriff mit beiden Händchen meine Hand und küßte sie immer wieder. – ‚Papa,‘ sagte er, ‚Papa, fordere ihn zum Duell; in der Schule sagen sie, du seiest ein Feigling und würdest ihn nicht fordern, vielmehr zehn Rubel von ihm nehmen.‘ – Zum Duell, Iljuscha, kann ich ihn nicht fordern, antwortete ich und erklärte ihm kurz, wie ich es auch Ihnen soeben erklärt habe, warum ich es nicht kann. Er hörte mir aufmerksam zu: ‚Papa,‘ sagte er, ‚Papa, aber trotzdem söhne dich nicht mit ihm aus, ich werde groß werden, ihn dann fordern und totschlagen!‘ Seine Äuglein glänzen und brennen. Nun, ich bin doch sein Vater, muß ihm doch ein Wort der Wahrheit sagen: Es ist Sünde, sage ich, zu töten, und wäre es im Zweikampf. – ‚Papa,‘ sagt er, ‚Papa, ich werde ihn niederwerfen, wenn ich groß bin, ich werde ihm seinen Säbel mit meinem Säbel aus der Hand schlagen, werde mich auf ihn stürzen, ihn niederwerfen, werde meinen Säbel über ihm schwingen und ihm sagen: Könnte dich sofort erschlagen, aber ich verzeihe dir, da hast du’s!‘ – Sehen Sie, sehen Sie, Karamasoff, was in seinem Köpfchen inzwischen vorgegangen war, in diesen zwei Tagen! An diese Rache hat er ja Tag und Nacht gedacht, hat wahrscheinlich auch nur davon phantasiert. Nun kam er verprügelt aus der Schule heim; das erfuhr ich aber erst vor drei Tagen, und Sie haben recht: ich werde ihn nicht mehr in diese Schule schicken. Ich weiß, daß er allein gegen die ganze Klasse kämpft und noch selbst alle herausfordert. Er ist in Zorn geraten, sein Herzchen hat sich entflammt – mir wurde bange um ihn. Darauf gehen wir wieder spazieren. – ‚Papa,‘ sagt er plötzlich, ‚Papa, die Reichen sind doch die Stärksten in der Welt?‘ – Ja, Iljuscha, sage ich, es gibt in der Welt keinen Stärkeren als einen Reichen. – ‚Papa, dann werde ich reich werden, werde Offizier werden und alle niederschlagen; der Zar wird mich belohnen, ich werde dann wiederkommen, und dann wird niemand mehr wagen ...‘ Darauf schwieg er ein wenig, seine Lippen aber zuckten immer noch. – ‚Papa,‘ sagt er plötzlich, ‚wie schlecht doch unsere Stadt ist, Papa!‘ – Ja, sage ich, Iljuschetschka, unsere Stadt ist nicht sehr gut. – ‚Papa, wollen wir in eine andere Stadt fahren, in eine gute,‘ sagt er, ‚wo man uns gar nicht kennt.‘ – Ja, das wollen wir, Iljuscha, laß mich nur erst ein wenig Geld zusammensparen. Ich freute mich über die Gelegenheit, ihn von seinen traurigen Gedanken ablenken zu können, und so begannen wir denn beide, uns auszumalen, wie wir in eine andere Stadt übersiedeln würden, wie wir uns ein Pferdchen und einen Wagen kaufen wollten. Mütterchen und die Schwestern setzen wir hinein und decken sie gut zu, selbst aber gehen wir nebenher: hin und wieder setze ich auch dich hinein, ich aber gehe nebenher, denn man muß doch das eigene Pferdchen schonen, alle können sich doch nicht hineinsetzen, und so ziehen wir dann in eine andere Stadt. Das entzückte ihn förmlich, und besonders, daß es unser eigenes Pferdchen sein würde, mit dem wir fortzogen. Sie wissen doch, daß ein russischer Junge bereits zusammen mit einem Pferdchen geboren wird. Lange schwatzten wir; Gott sei Dank, dachte ich, jetzt habe ich ihn etwas zerstreut und beruhigt. Das war vorgestern abend. Gestern abend aber zeigte sich etwas ganz anderes. Am Morgen war er wieder in die Schule gegangen und so finster zurückgekehrt, gar zu finster. Am Abend nahm ich ihn bei der Hand und brachte ihn hinaus, spazieren: er schweigt, spricht kein Wort. Ein Wind hatte sich erhoben, und die Sonne hatte sich versteckt; ein Herbsttag war’s bereits, und es dunkelte auch schon. Wir gingen, und beiden war uns traurig zumut. – Nun, mein Junge, frage ich, wie werden wir uns denn auf den Weg machen? – wollte ihn auf das Gespräch von unserer Reise in die andere Stadt bringen. Er schweigt. Nur seine Fingerchen waren in meiner Hand zusammengezuckt. Schlimmes Zeichen, denke ich. Und so kamen wir, wie jetzt, zu diesem Stein, ich setze mich auf ihn; am Himmel aber sahen wir Drachen steigen, etwa dreißig an der Zahl, sie summen, und ihre Schwänze klatschen. Jetzt ist doch die Drachenzeit. Sieh mal, Iljuscha, sage ich, es ist auch für uns Zeit, unseren vorjährigen Drachen steigen zu lassen. Ich werde ihn wieder instand setzen; wo hast du ihn nur gelassen? – Mein Junge schweigt, blickt zur Seite, steht schräg von mir abgewandt. Da kam mit einemmal ein Windstoß und wirbelte den Sand auf ... Und plötzlich warf er sich an mich, umklammerte mit seinen Ärmchen meinen Hals und preßte mich an sich. Wissen Sie, wenn kleine Kinder schweigsam und stolz sind und lange ihre Tränen zurückhalten, so sind es ja, wenn das Leid zu groß wird und sie dann einmal in Tränen ausbrechen, so sind es ja nicht mehr Tränen, die sie weinen, nein, wie Bäche strömt es aus ihren Augen. Und so flossen denn seine warmen Tränenströme über mein Gesicht. Er schluchzte wie im Krampf, sein ganzes Körperchen bebte; er preßte mich an sich, ich saß auf dem Stein. ‚Papachen,‘ rief er, ‚Papachen, liebes Papachen, wie hat er dich nur so erniedrigt!‘ Da schluchzte auch ich auf; und wir saßen und schluchzten zusammen. – ‚Papachen,‘ sagt er, ‚Papachen!‘ – Iljuscha, sage ich ihm, mein Iljuschetschka! Niemand hat uns gesehen, nur Gott allein sah uns, vielleicht wird er es in mein Schuldbuch eintragen. Überbringen Sie Ihrem Bruder meinen Dank. Nein, Verehrtester, meinen Jungen werde ich nicht zu Ihrer Genugtuung bestrafen!“

Er schloß wieder in seinem boshaft mokanten Ton. Aljoscha aber fühlte doch, daß der Hauptmann schon Zutrauen zu ihm gefaßt hatte, daß dieser Mensch nicht so geredet hätte, falls er mit einem anderen zusammen gewesen wäre. Das gab Aljoscha, dessen Seele vor heimlichen Tränen bebte, wieder Hoffnung und Mut.

„Ach, ich würde mich so gern mit Ihrem Jungen anfreunden!“ sagte er warm. „Wenn Sie es so machen könnten ...“

Der Hauptmann murmelte etwas vor sich hin.

„Aber jetzt handelt es sich nicht darum, nicht darum, hören Sie mich an,“ fuhr Aljoscha erregt fort, „hören Sie! Ich habe einen Auftrag an Sie: Mein Bruder Dmitrij Fedorowitsch, derselbe, der Sie beleidigt hat, hat auch seine Braut, von der Sie wohl schon gehört haben, beleidigt. Ich habe das Recht, zu Ihnen von dieser Beleidigung zu sprechen; ich muß es sogar tun, denn sie selbst hat mir, nachdem sie von Ihrer Beleidigung und Ihren unglücklichen Verhältnissen erfahren, sie selbst hat mir soeben – vorhin vielmehr – den Auftrag gegeben, Ihnen diese Unterstützung von ihr zu überbringen ... nur von ihr allein, nicht von Dmitrij Fedorowitsch, der sie verlassen hat, nein, nein, und auch nicht von mir, seinem Bruder, oder von sonst jemandem, sondern von ihr, von ihr allein! Sie läßt Sie aufrichtig bitten, von ihr diese Hilfe anzunehmen ... Sie sind beide von ein und demselben Menschen beleidigt ... Sie hat sich auch erst dann Ihrer erinnert, als sie von ihm eine ebenso große Beleidigung erfahren hatte –, von demselben, der auch Sie beleidigt hat ... Sie kommt mit ihrer Hilfe wie eine Schwester zum Bruder ... Sie hat mich beauftragt, Sie zu überreden, von ihr diese zweihundert Rubel anzunehmen ... wie von einer Schwester, die Ihre Not kennt. Niemand wird etwas davon erfahren, Sie brauchen also keine häßlichen Klatschgeschichten zu fürchten ... hier sind die zweihundert Rubel, und ich schwöre es Ihnen, Sie müssen sie annehmen, oder ... oder alle Menschen müssen fortan untereinander Feinde sein! Aber es gibt doch in der Welt auch Brüder ... Sie haben ein edles Herz ... Sie müssen das annehmen, Sie müssen es tun!“

Und Aljoscha hielt ihm die beiden neuen Hundertrubelscheine hin. Sie waren an dem großen, einsamen Stein am Zaun stehen geblieben, ringsum war kein Mensch zu sehen. Die regenbogenfarbenen Scheine machten auf den Hauptmann, wie es schien, einen erschütternden Eindruck: er fuhr zusammen, doch drückte sich auf seinem Gesicht zuerst nur maßloses Erstaunen aus; solch einen Ausgang des Gesprächs hatte er nicht erwartet. Daß ihm von irgend jemand eine Unterstützung, und noch dazu eine so bedeutende, zuteil werden konnte – das hätte er nie für möglich gehalten. Er nahm die beiden Scheine, konnte aber noch nicht antworten; etwas ganz Neues drückte sich in seinem Gesichte aus.

„Das mir? mir? so viel Geld? Zweihundert Rubel! Väterchen! Ich habe doch schon seit vier Jahren nicht mehr soviel Geld gesehen – Herrgott! Und er sagt, als Schwester ... ist das denn wirklich wahr, ist denn das wahr?“

„Ich schwöre Ihnen, daß alles, was ich Ihnen gesagt habe, wahr ist!“ Der Hauptmann errötete.

„Hören Sie mich, mein Liebling, hören Sie, wenn ich das nun annehme, so werde ich doch deswegen kein Schuft sein? In Ihren Augen, Alexei Fedorowitsch, werde ich es doch nicht sein? Nein, Alexei Fedorowitsch, hören Sie mich an,“ stotterte er, sich übereilend, und berührte Aljoscha immer wieder mit beiden Händen. „Sie sagen, sie schickt mir das als ‚Schwester‘, um mich zu überreden; aber bei sich – werden Sie mich nicht verachten, wenn ich es annehme, wie?“

„Aber nein doch, warum sollte ich dies tun? Ich schwöre Ihnen bei meinem Seelenheil, daß ich’s nicht tun werde. Und niemand wird etwas davon erfahren: außer Ihnen nur ich, sie und noch eine Dame, ihre beste Freundin ...“

„Ach was, Dame! Hören Sie, Alexei Fedorowitsch, hören Sie mich zu Ende; jetzt müssen Sie mich aber anhören, denn Sie können sich ja gar nicht denken, was diese zweihundert Rubel für mich bedeuten,“ fuhr der Arme, bebend vor Erregung, fort. Er schien mehr und mehr in eine geradezu wilde Begeisterung zu geraten. Er sprach halb besinnungslos, beeilte sich aber sehr, als ob er gefürchtet hätte, man würde ihn vielleicht nicht alles sagen lassen. „Abgesehen davon, daß es von der so verehrten und heiligen ‚Schwester‘ ehrlich erworben ist, kann ich jetzt, wissen Sie das auch, unser Mütterchen und Ninotschka, meinen verwachsenen Engel, meine Tochter, meine ich, gesund machen! Doktor Herzenstube kam einmal aus reiner Güte zu mir, untersuchte sie beide eine ganze Stunde lang: ‚Davon‘, sagte er, ‚begreife ich nichts‘, aber ein gewisses Mineralwasser, das auch hier in der Apotheke zu haben ist – er hat den Namen aufgeschrieben – würde ihr doch zweifellos Erleichterung bringen, und auch Fußbäder hat er angeordnet. Das Mineralwasser aber kostet dreißig Kopeken, und trinken soll sie ungefähr vierzig Flaschen. So nahm ich denn das Rezept und legte es auf das Regal unter die Heiligenbilder, dort liegt es heute noch. Und Ninotschka, sagte er, sollte man noch in einer gewissen Lösung baden, heiße Bäder und zweimal täglich, morgens und abends. Aber wie sollten wir denn solche Bäder machen, bei uns, in unserem Zimmer, ohne Dienstboten, ohne Hilfe, ohne Geschirr und ohne Wasser? Ninotschka aber ist ganz rheumatisch, das habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt; in der Nacht schmerzt ihr die ganze rechte Seite; oh, wie sie sich quält; aber was glauben Sie wohl, sie ist ganz still, unser Engelchen, nimmt alle Kraft zusammen, um nicht zu stöhnen, uns nicht aufzuwecken oder auch nur Sorgen zu machen. Wir essen, was wir gerade haben, was man so zusammenbekommt; sie aber nimmt immer das letzte Stückchen, was man eigentlich nur noch Hunden vorwerfen könnte. Und der Blick, mit dem sie’s tut, sagt noch förmlich: ‚Bin dieses Stückchen nicht wert, ich nehme es euch fort, lebe nur euch zur Last.‘ Sehen Sie, das ist es, was ihr Engelsblick sagen will. Wenn wir sie bedienen, quält es sie: ‚Bin es doch nicht wert, ich bin doch ein unnützer Krüppel, bin doch ganz überflüssig und nur allen im Wege auf der Welt!‘ Sie soll es nicht wert sein, sie, die uns doch durch ihre Engelsgüte von Gott Verzeihung erbittet ... wäre doch ohne sie, ohne ihr sanftes Wort, die Hölle bei uns ... sogar Warjä ist durch sie sanfter geworden. Aber Warwara Nikolajewna verurteilen Sie auch nicht, die ist gleichfalls ein Engel, hat gleichfalls viel erduldet. Sie kam im Sommer her und hatte sich noch sechzehn Rubel erspart, mit Stunden verdient, um damit im September, also jetzt, nach Petersburg zurückfahren zu können. Wir aber haben ihr Geld verlebt, und nun hat sie nichts, womit sie zurückfahren könnte. Und auch abgesehen davon, kann sie nicht fahren, da sie doch wie ein Sträfling für uns arbeiten muß ... haben wir sie doch wie ein Pferd gesattelt, um auf ihr zu reiten: sie wartet allen auf, flickt, wäscht, fegt das Zimmer aus, bringt das Mütterchen zu Bett – Mütterchen aber ist irrsinnig, Verehrtester, Mütterchen weint beständig, Mütterchen ist krank! ... Aber für diese zweihundert Rubel kann ich doch eine Dienstmagd annehmen, begreifen Sie das auch, Alexei Fedorowitsch, kann ich meine Lieben gesund machen, kann ich meine Studentin nach Petersburg schicken, kann ich Rindfleisch kaufen, eine neue Diät einführen ... Herrgott, das ist doch! ...“

Aljoscha war selig, daß er soviel Glück hatte bringen können, und daß der Arme einwilligte, das Geld zu nehmen.

„Halt, Alexei Fedorowitsch, halt!“ Jenem schien plötzlich ein neuer Gedanke zu kommen, und wieder begann er in seiner sich überhastenden, besinnungslosen Weise weiterzusprechen. „Wissen Sie auch, daß wir jetzt, Iljuscha und ich, wirklich unseren Plan ausführen können? Wir werden uns einen verdeckten Wagen und ein Pferdchen kaufen, einen kleinen Rappen, er wollte unbedingt einen Rappen haben, und so ziehen wir denn ab, wie wir vor drei Tagen beschlossen. Ich habe im K-schen Gouvernement einen bekannten Advokaten, einen Jugendfreund, der, hat man mir gesagt, würde mir, wenn ich hinkäme, eine Stelle als Schreiber geben; wer kann’s denn wissen, vielleicht wird er auch wirklich was geben ... Nun, dann setzen wir Mütterchen und Ninotschka hinein, Iljuschetschka laß ich kutschieren, selbst aber gehe ich zu Fuß nebenher, und so würden wir fortziehen ... Herrgott, und wenn man nur noch eine einzige verlorene Schuld hier ausgezahlt bekäme, so würde es vielleicht wirklich dazu reichen!“

„Es wird reichen, es wird reichen!“ versicherte Aljoscha freudig. „Katerina Iwanowna wird Ihnen noch mehr geben, soviel Sie wollen, und auch ich habe Geld, nehmen Sie, soviel Sie brauchen, wie von einem Bruder, einem Freunde; später können Sie es ja wiedergeben ... Sie werden doch reich werden, bestimmt sogar! Und wissen Sie, das ist das Beste, was Sie sich ausgedacht haben, in ein anderes Gouvernement zu fahren! Das ist wirklich eine Rettung für Sie und besonders für Ihren Jungen! Nur sobald als möglich, vor der Kälte noch, vor dem Winter. Dann werden Sie uns von dort schreiben, und wir werden Brüder bleiben ... Nein, das ist kein Traum!“

Aljoscha wollte ihn fast umarmen, dermaßen glücklich war er. Doch da blickte er ihn an und blieb erschrocken stehen: Der Hauptmann stand mit vorgestrecktem Hals, vorgeschobenen Lippen, mit bleichem Gesicht, das plötzlich einen ganz wahnsinnigen Ausdruck hatte, und bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen, es war aber kein Laut zu hören. Er bewegte nur immer noch die Lippen – es war so sonderbar.

„Was haben Sie!“ fragte Aljoscha zusammenfahrend.

„Alexei Fedorowitsch ... ich ... Sie ...“ murmelte stockend der Hauptmann und blickte ihn so seltsam und wild und doch stier an, als ob er sich entschlösse, sich in einen Abgrund zu stürzen, und doch schienen seine Lippen gleichsam zu lächeln. „Ich ... Sie ... Soll ich Ihnen nicht ein kleines Kunststück zeigen!“ stieß er plötzlich in schnellem, entschlossenem Geflüster hervor; seine Worte stockten nicht mehr.

„Was für ein Kunststück?“

„Ein kleines Kunststück, so ein kleines Stückchen,“ fuhr der Hauptmann immer noch flüsternd fort; sein Mund verzog sich auf die linke Seite, das linke Auge kniff sich zusammen, und unverwandt blickte er Aljoscha an, als ob er sich mit seinem Blick in ihn einhaken wolle.

„Was fehlt Ihnen, was haben Sie, was für ein Stückchen?“ fragte Aljoscha aufs äußerste erschrocken.

„Solch eines, sehen Sie!“ stieß plötzlich der Hauptmann heiser hervor.

Und er nahm beide Scheine, die er die ganze Zeit, während des ganzen Gesprächs, an einem Eckchen zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gehalten hatte, zeigte sie ihm – und plötzlich packte er sie wie in rasender Wut und knitterte und preßte sie in der rechten Faust zusammen.

„Sehen Sie, sehen Sie!“ schrie er Aljoscha bleich und rasend zu, erhob die Faust und schleuderte die beiden zerknitterten Scheine in den Sand. – „Sehen Sie!“ schrie er wieder auf sie hinweisend, „nun, dann sehen Sie! ...“

Und plötzlich begann er in wilder Wut mit dem Stiefelabsatz auf das Geld zu stampfen, und bei jedem neuen Stoß schrie und stöhnte er auf:

„Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld!“ Und mit einem Ruck sprang er zurück und stellte sich in Positur vor Aljoscha: Sein ganzer Mensch drückte unbeschreiblichen Stolz aus.

„Sagen Sie denen, die Sie gesandt haben, daß der Bastwisch seine Ehre nicht verkauft!“ schrie er, mit ausgestrecktem Arm. Er wandte sich schnell um und lief zurück; doch schon nach ein paar Schritten drehte er sich um und winkte mit der Hand einen Gruß zu. Und wieder lief er keine fünf Schritt, als er sich nochmals umwandte: diesmal aber war sein Gesicht nicht vom Lachen verzerrt, sondern zuckend von Tränen überströmt, und mit weinender, schluchzender Stimme schrie er ihm noch zu:

„Was sollte ich meinem Jungen sagen, wenn ich von Ihnen das Geld für unsere Schande angenommen hätte?“ Und nachdem er das geschrien hatte, lief er immer weiter, diesmal ohne sich wieder umzuwenden. Mit unerträglichem Weh blickte ihm Aljoscha nach. O, er begriff es, daß jener bis zum letzten Augenblick selbst nicht gewußt hatte, daß er das Geld ihm vor die Füße werfen werde. Der Fortlaufende wandte sich kein einziges Mal mehr um, und Aljoscha wußte es auch, daß er sich nicht mehr umwenden würde. Ihm folgen oder ihn rufen, wollte er nicht. Als aber jener seinen Blicken entschwunden war, hob er die beiden Scheine auf. Sie waren nur sehr zerknittert, plattgedrückt und in den Sand hineingetreten, sonst aber ganz heil. Sie knisterten, als Aljoscha sie auseinanderfaltete und glättete. Darauf faltete er sie wieder zusammen, steckte sie in die Tasche und begab sich zu Katerina Iwanowna, um von dem Geschehenen zu berichten.

Fünftes Buch.
Pro und Contra

I.
Das Verlöbnis

Frau Chochlakoff hatte Aljoscha ungeduldig erwartet und kam ihm daher wieder im Vorzimmer entgegen. Sie hatte es furchtbar eilig, denn es war etwas sehr Wichtiges geschehen: Der hysterische Anfall Katerina Iwanownas hatte mit einer Ohnmacht geendet, darauf war „eine beängstigende, eine unglaubliche Schwäche“ über sie gekommen, sie hatte sich hingelegt, die Augen geschlossen und zu phantasieren begonnen. „Jetzt hat sie Fieber,“ fuhr Frau Chochlakoff eilig fort, „ich habe nach den Tanten und nach Herzenstube geschickt. Die Tanten sind schon hier, aber Herzenstube noch nicht. Sie sitzen alle in ihrem Zimmer und warten. Was daraus noch werden mag! Sie ist besinnungslos! Denken Sie, wenn das nun Nervenfieber wird!“

Frau Chochlakoff sah tatsächlich erschrocken aus. „Das ist aber jetzt ernst, wirklich ernst!“ fügte sie immer wieder hinzu, als ob alles, was mit Katerina Iwanowna früher geschehen war, nicht ernst gewesen wäre. Aljoscha hörte ihr sorgenvoll zu. Er wollte auch von seinem Erlebnis erzählen, doch sie unterbrach ihn bereits nach den ersten zwei Worten: sie habe keine Zeit – und bat ihn daher, zu Lise zu gehen und sie bei ihr zu erwarten.

„Ach, liebster Alexei Fedorowitsch,“ flüsterte sie ihm plötzlich ins Ohr, „Lise hat mich soeben maßlos in Erstaunen gesetzt, aber sie hat mich auch gerührt, und darum verzeiht ihr mein Herz alles. Denken Sie sich nur: Kaum waren Sie fortgegangen, da bereute sie auch schon aufrichtig, sich über Sie gestern und heute, wie sie sagt, lustig gemacht zu haben. Dabei hat sie es ja gar nicht getan, sie hat doch nur gescherzt. Aber sie bereute es so aufrichtig, wirklich, bis zu Tränen, daß ich ganz erstaunt war. Niemals hat sie früher, wenn sie mir gegenüber ungezogen gewesen war, etwas ernstlich bereut; sie hat es immer nur so scherzend getan. Und Sie wissen doch, sie lacht ja fortwährend über mich. Aber nun ist sie plötzlich ernst geworden, ganz, ganz ernst. Sie schätzt Ihre Meinung so hoch, Alexei Fedorowitsch, und wenn Sie können, so seien Sie nicht gekränkt, erheben Sie keine Ansprüche. Ich tue ja auch nichts anderes, als daß ich sie schone, denn sie ist doch solch ein kluges Geschöpfchen, – werden Sie’s mir glauben? Sie sagte soeben, Sie wären von Kindheit an ihr Freund gewesen, – ‚der einzige Freund meiner Kindheit‘, – stellen Sie sich doch so etwas vor, der ‚einzige‘, – und ich? Was bin ich ihr denn gewesen? Sie hat in der Beziehung ganz außerordentlich feine Empfindungen und Erinnerungen, und zuweilen drückt sie sich in einer Weise aus, wie man es nie für möglich halten würde. So sagte sie mir zum Beispiel noch vor kurzem: Bei uns im Garten stand eine große Tanne, – das heißt, vielleicht steht sie auch jetzt noch dort, also ist kein Grund vorhanden, sich in der vergangenen Zeitform auszudrücken. Nun, Tannen sind doch keine Menschen, sie verändern sich nicht so schnell. Und was glauben Sie, Alexei Fedorowitsch, da sagt sie mir plötzlich: ‚Mama, ich habe diese Tanne immer nur als Traum gesehen‘, oder so ungefähr, sie drückte sich anders aus, – die Tanne ist doch nur ein Baum, sie aber drückte sich so aus, daß etwas ganz Besonderes dabei herauskam, und schwatzte mir darüber so befremdlichen Unsinn vor, daß ich lieber gar nicht versuchen will, alles wiederzugeben. Ich habe es auch schon vergessen. Nun, auf Wiedersehen, ich bin einfach erschüttert, ich werde wohl noch bestimmt den Verstand verlieren. Ach, Alexei Fedorowitsch, ich habe ja schon zweimal im Leben den Verstand verloren, und man hat mich dann wieder hergestellt. Gehen Sie zu Lise. Ermuntern Sie sie, wie Sie das immer so vorzüglich verstehen. Lise,“ rief sie, zu Lisas Zimmertür tretend, „ich habe dir Alexei Fedorowitsch, den du so beleidigt hast, wiedergebracht, und ich versichere dir, er ärgert sich nicht im geringsten, im Gegenteil, er wundert sich noch, wie du so etwas von ihm hast denken können!“

Merci, Mama, treten Sie ein, Alexei Fedorowitsch.“

Aljoscha trat ein. Lise blickte etwas verlegen drein und errötete plötzlich über und über. Sie schien sich irgendeiner Sache zu schämen, und so begann sie denn, wie es in solchen Fällen gewöhnlich geschieht, schnell von etwas ganz Nebensächlichem zu sprechen, als ob sie sich im Augenblick wirklich nur für dieses Nebensächliche interessierte.

„Alexei Fedorowitsch, Mama hat mir inzwischen die ganze Geschichte mit den zweihundert Rubeln und Ihrem Auftrag ... an diesen armen Offizier erzählt, und auch diese schmachvolle Geschichte, wie er beleidigt worden ist: und wissen Sie, wenn Mama auch entsetzlich zerstreut erzählt – sie springt immer von einem aufs andere über – ich habe doch zugehört und geweint. Sagen Sie, wie haben Sie ihm das Geld übergeben, wie hat er es angenommen, und was macht er jetzt, der Arme? ...“

„Das ist es ja, daß er es nicht angenommen hat, hier handelt es sich um eine ganze Tragödie ...“ antwortete Aljoscha, der auch seinerseits tat, als dächte er nur an das Erlebte, nur daran, daß der Hauptmann das Geld nicht angenommen hatte; Lise aber bemerkte nur zu gut, daß auch er zur Seite blickte und sich absichtlich bemühte, von Nebensächlichem zu sprechen. Aljoscha setzte sich also an den Tisch und begann zu erzählen. Da aber verließ ihn seine Verlegenheit, schon nach den ersten Worten, und es gelang ihm, auch Lise mit sich fortzureißen. Er sprach unter dem Einfluß eines echten Gefühls und der erlebten starken Eindrücke, und er erzählte gut und anschaulich. Auch früher, schon in Moskau, war er zu Lise gekommen und hatte ihr, der Kleinen, gern von dem erzählt, was mit ihm geschehen war, oder was er gelesen hatte, oder sie hatten beide von ihren Kindererlebnissen gesprochen. Zuweilen hatten sie sich auch zusammen ganze Geschichten ausgedacht, doch waren das gewöhnlich nur lustige Geschichten gewesen, über die sie dann beide herzlich lachen konnten. So fühlten sie sich denn jetzt gleichsam in jene Zeit zurückversetzt. Lise war sehr ergriffen von seiner Erzählung. Aljoscha hatte es verstanden, mit warmen Worten die Gestalt des kleinen ‚Iljuschetschka‘ zu schildern. Als er alles ausführlich beschrieben hatte, auch das letzte, wie der Unglückliche das Geld mit den Füßen in die Erde gestampft hatte, schlug Lisa die Hände zusammen und unterbrach ihn erregt:

„So hat er das Geld nicht bekommen, so haben Sie ihn einfach fortlaufen lassen! Mein Gott, warum liefen Sie ihm nicht nach, warum holten Sie ihn nicht ein ...“

„Nein, Lise, es ist besser, daß ich ihm nicht nachgelaufen bin,“ sagte Aljoscha, erhob sich und schritt im Zimmer besorgt auf und ab.

„Wieso besser, warum denn besser? Jetzt haben sie nichts zu essen und werden umkommen!“

„Sie werden nicht umkommen, denn diese zweihundert Rubel werden ihnen doch nicht entgehen. Morgen wird er sie nehmen. Morgen wird er sie bestimmt nehmen,“ sagte Aljoscha nachdenklich. „Wissen Sie, Lise,“ sagte er, vor ihr stehen bleibend, „ich habe hierbei einen großen Fehler begangen, doch selbst dieser Fehler ist, wie ich sehe, gut und nützlich gewesen.“

„Was für einen Fehler? Und weshalb soll er gut und nützlich sein?“

„Das werde ich Ihnen sofort erklären. Dieser Hauptmann ist ein ängstlicher Mensch mit einem schwachen Charakter. Er hat ein gequältes, doch nur allzu weiches Herz. Jetzt denke ich so: Was hat ihn denn plötzlich so beleidigt, daß er sogar das Geld zerstampfte, denn ich versichere Sie, er wußte selbst bis zum letzten Augenblick nicht, daß er es zerstampfen werde. Jetzt sehe ich ein, daß ihn vieles kränken konnte – es hätte ja in seiner Lage auch anders gar nicht sein können ... Vor allen Dingen mußte ihn schon das allein kränken, daß er sich in meiner Gegenwart so sehr über das Geld gefreut hatte. Hätte er sich nicht so sehr darüber gefreut, hätte er seine Freude nicht so offen gezeigt, hätte er sich verstellt, sich geziert, so wie andere es tun, nun dann hätte er es vielleicht noch ertragen und das Geld angenommen. So aber hatte er sich nun einmal gar zu unverhohlen gefreut, und das war es, was ihn kränkte. Ach, Lise, er ist ein aufrichtiger und guter Mensch, das ist ja das ganze Unglück in solchen Fällen! Während der ganzen Zeit, da er sprach, war seine Stimme so schwach, so haltlos, und er sprach so schnell, so schnell, er schien gleichsam zu kichern, oder vielleicht weinte er auch schon ... ja, er weinte, dermaßen groß war sein Glück ... Und auch von seinen Töchtern erzählte er ... und auch von der Anstellung, die man ihm in einer anderen Stadt versprochen haben soll ... Und kaum hatte er sein ganzes Herz ausgeschüttet, als er sich plötzlich dessen schämte – daß er mir so seine ganze Seele gezeigt hatte. Und da mag er mich denn geradezu gehaßt haben. Er gehört zu den übermäßig verschämten Armen. Am meisten aber kränkte ihn, daß er mich so schnell zu seinem Freunde gemacht, sich mir so schnell ergeben hatte. Zuerst hatte er mich stolz angefahren, wie aber dann das Geld kam, war er mir fast um den Hals gefallen. Ja, das war es, was ihn kränkte, geradeso mußte er seine Erniedrigung empfinden, und da mußte ich dann auch noch meinen Fehler begehen. Ich sagte ihm plötzlich, er werde noch mehr Geld bekommen, wenn das zur Reise nicht reichen sollte, und auch ich würde ihm von meinem Gelde so viel geben, wie er wolle. Das aber machte ihn sofort stutzig: Warum, fragte er sich wohl, warum kommt denn nun auch er noch mit seinem Gelde? Wissen Sie, Lise, es ist überaus kränkend für einen erniedrigten Menschen, wenn sich plötzlich alle als seine Wohltäter aufspielen ... habe ich sagen gehört. Der Staretz hat es einmal bemerkt. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, aber auch mir ist es schon aufgefallen. Ich selbst fühle ja gleichfalls so. Sehen Sie, wenn er auch bis zum letzten Augenblick nicht wußte, daß er die Scheine zurückweisen werde, so ahnte er es doch schon die ganze Zeit über, davon bin ich überzeugt. Darum war ja sein Entzücken auch so groß, weil er das alles ahnte ... Und wenn das alles auch sehr traurig ist, so ist es doch gut so. Ich glaube sogar, daß es besser überhaupt nicht hätte kommen können ...“

„Warum hätte es denn besser überhaupt nicht kommen können?“ fragte Lise, die Aljoscha äußerst verwundert anblickte.

„Darum, Lise, weil er sonst, wenn er das Geld genommen und nicht zurückgeschleudert hätte, zu Hause vielleicht bereits nach einer Stunde über seine Erniedrigung in Tränen ausgebrochen wäre. Das würde er sogar bestimmt getan haben. Er würde geweint haben und wäre am nächsten Tage, womöglich schon vor Sonnenaufgang, eilends zu mir gekommen, um das Geld wie vorhin zurückzuschleudern. Jetzt aber ist er stolz und triumphierend fortgegangen, wenn er auch weiß, daß er sich ‚ins Verderben gestürzt hat‘. Gerade deshalb ist aber jetzt nichts leichter, als ihn, wenn möglich morgen schon, zu überreden, dieselben zweihundert Rubel anzunehmen, denn nun hat er doch seine Ehre bewiesen, hat das Geld uns Reichen vor die Füße geworfen! Er konnte doch nicht wissen, als er die Scheine in die Erde stampfte, daß ich sie ihm morgen wiederbringen werde. Und doch hatte er dieses Geld so maßlos nötig. Wenn er jetzt auch stolz ist, so wird ihm doch heute noch bewußt werden, welch eine Hilfe er zurückgewiesen hat. In der Nacht wird er noch mehr daran denken, ihm wird davon träumen, und am nächsten Morgen wird er womöglich am liebsten mich um Verzeihung bitten wollen. Da aber komme ich wieder zu ihm ... Ich kann ihm sagen: Sie sind ein stolzer Mensch, Sie haben es bewiesen, aber jetzt nehmen Sie das Geld und verzeihen Sie uns. Und dann wird er freudig annehmen!“

Aljoscha schloß ganz begeistert, und Lise klatschte vor Freude in die Hände.

„Ach, das ist wahr, jetzt begreife ich es! Ach, Aljoscha, woher wissen Sie nur das alles? So jung sind Sie, und doch wissen Sie schon, was in der Seele vorgeht ... Ich hätte das alles nie so ausgedacht ...“

„Vor allen Dingen muß man ihn jetzt überzeugen, daß er mit uns allen auf gleichem Fuße steht, wenn er auch von uns Geld annimmt,“ fuhr Aljoscha in seiner Begeisterung fort, „und nicht nur auf gleichem Fuß mit uns, sondern sogar auf höherem Fuß ...“

„‚Auf höherem Fuß‘! – Sie drücken sich prachtvoll aus, Alexei Fedorowitsch, aber fahren Sie fort, reden Sie nur ruhig weiter.“

„Ich ... ich habe es vielleicht nicht ganz richtig gesagt, ich meinte, auf ... auf gleicher Stufe ... aber das hat nichts zu sagen, denn ...“

„Ach, natürlich nicht! Gar nichts hat das zu sagen! Verzeihen Sie, Aljoscha, Sie Lieber ... Wissen Sie, bis jetzt habe ich Sie fast gar nicht geachtet ... das heißt, natürlich habe ich Sie geachtet, aber nur so – ‚auf gleichem Fuß‘, wie Sie sagen, von nun an aber werde ich Sie als hoch über mir stehend achten ... Lieber Aljoscha, seien Sie nicht böse, daß ich so rede,“ unterbrach sie sich sofort mit heißem Gefühl. „Ich bin nur ein lächerliches kleines Ding, aber Sie, Sie! ... Hören Sie, Alexei Fedorowitsch, liegt nicht in unseren ganzen Erwägungen, das heißt in Ihren ... nein, lieber doch in unseren, – liegt hierin nicht Verachtung für ihn, für diesen Unglücklichen ... darin, daß wir jetzt seine Seele so zerpflücken, ganz wie von oben herab, nicht? Ich meine, wenn wir so überzeugt sind, daß er das Geld morgen nehmen wird, wie?“

„Nein, Lise, hierin liegt keine Verachtung,“ entgegnete Aljoscha überzeugt, und als ob er auf diese Frage vorbereitet gewesen wäre, „auch ich habe mich auf dem Wege hierher dasselbe gefragt. Wo soll denn da Verachtung sein, wenn wir ebenso sind wie er, wenn alle so sind wie er? Denn auch wir sind nicht besser. Oder wenn wir auch besser sein sollten, so wären wir an seiner Stelle doch ebenso ... Ich weiß nicht, wie Sie sind, Lise, ich aber denke von mir, daß ich in vielen Dingen ein kleinliches Herz habe. Er aber hat kein kleinliches, sondern ein sehr zartfühlendes Herz ... Nein, Lise, hierin kann keine Verachtung für ihn liegen! Wissen Sie, Lise, mein Staretz sagte einmal: Man muß die Menschen ausnahmslos wie kleine Kinder warten, manche von ihnen aber wie Kranke in den Hospitälern ...“

„Ach, Alexei Fedorowitsch, Liebster, wollen wir beide die Menschen wie Kranke warten?“

„Wollen wir das, Lise, ich bin bereit, nur bin ich selbst noch nicht ganz reif dazu; zuweilen bin ich so ungeduldig, und zuweilen bin ich wieder wie mit Blindheit geschlagen. Mit Ihnen ist es eine andere Sache.“

„Ach, das glaube ich nicht! Alexei Fedorowitsch, Sie wissen nicht, wie glücklich ich bin!“

„Wie gut es ist, daß Sie das sagen, Lise.“

„Alexei Fedorowitsch, Sie sind bewundernswert gut, aber zuweilen scheinen Sie gerade ein Pedant zu sein ... und doch sind Sie gar kein Pedant, wenn man Sie genauer betrachtet. – Gehen Sie, öffnen Sie vorsichtig die Tür und sehen Sie nach, ob Mamachen nicht horcht,“ flüsterte ihm Lise plötzlich nervös und eilig zu.

Aljoscha ging zur Tür, öffnete sie und meldete, daß niemand horche.

„Kommen Sie her, Alexei Fedorowitsch,“ sagte Lise mehr und mehr errötend, „geben Sie mir Ihre Hand, – so. Hören Sie, ich muß Ihnen ein großes Geständnis machen: Den gestrigen Brief habe ich Ihnen nicht im Scherz geschrieben, sondern im Ernst ...“

Und sie bedeckte ihre Augen mit der Hand. Man sah es ihr an, daß sie sich fürchterlich schämte, dieses Geständnis gemacht zu haben. Plötzlich erhob sie seine Hand und küßte sie ungestüm dreimal.

„Ach, Lise, das ist doch herrlich,“ rief Aljoscha freudig aus. „Ich war ja auch vollkommen überzeugt, daß Sie ihn im Ernst geschrieben haben.“

„Überzeugt! – das ist doch wirklich!! ...“ Und sie schob plötzlich seine Hand zurück, übrigens ohne sie dabei loszulassen; sie errötete und lachte ein kleines, glückliches Lachen. „Ich küsse ihm die Hand, und er sagt dazu: ‚Das ist doch herrlich‘!“

Doch ihr Vorwurf war etwas ungerecht, denn Aljoscha war nicht weniger verwirrt und erregt als sie.

„Ich würde Ihnen gern immer gefallen, Lise, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll,“ stotterte er so gut es ging, und errötete gleichfalls.

„Aljoscha, Liebling, Sie sind kalt und beleidigend. Man denke doch nur: Er geruht, mich zu seiner Gattin zu erwählen, und dabei beruhigt er sich auch! Er ist bereits überzeugt, daß ich ihm im Ernst geschrieben habe, – wie finden Sie das! Aber das ist doch eine erklärte Frechheit – sehen Sie denn das nicht ein?“

„Aber ist denn das schlecht, daß ich davon überzeugt war?“ fragte Aljoscha wieder lachend.

„Ach, Aljoscha, im Gegenteil, ganz furchtbar gut ist das,“ sagte Lise, die zärtlich und glücklich zu ihm aufblickte.

Aljoscha stand immer noch vor ihr, seine Hand in ihrer Hand. Plötzlich beugte er sich nieder und drückte einen Kuß gerade auf ihre Lippen.

„Was ... Was fällt Ihnen ein?“ rief Lise erschrocken.

Aljoscha verlor seine letzte Fassung.

„Verzeihen Sie, wenn es nicht so ... Ich ... ich war vielleicht furchtbar dumm ... Sie sagten, ich sei kalt, und ... und da faßte ich mir ein Herz und küßte ... Nur sehe ich jetzt, daß es dumm herausgekommen ist ...“

Lise lachte auf und verbarg das Gesicht in den Händen.

„Und in dieser Kutte!“ kam es unter Lachen aus ihr heraus.

Doch plötzlich hörte sie auf zu lachen und wurde ganz ernst, fast streng.

„Nein, Aljoscha, mit dem Küssen wollen wir noch warten, denn wir verstehen es beide noch nicht – warten aber müssen wir noch sehr lange,“ schloß sie plötzlich. „Sagen Sie lieber, warum Sie mich, solch ein dummes Ding, solch ein krankes dummes Ding, nehmen, Sie, der Sie so klug sind, der so viel denkt, alles bemerkt und sogleich begreift? Ach, Aljoscha, ich bin furchtbar glücklich, weil ich Ihrer gar nicht wert bin!“

„Hören Sie, Lise: In den nächsten Tagen werde ich das Kloster ganz verlassen. Wenn man aber in der Welt lebt, so muß man heiraten, das weiß ich doch auch. Und so hat auch Er es mir befohlen. Wen sollte ich sonst nehmen, wenn nicht Sie ... und wer würde mich denn außer Ihnen nehmen? Wer wäre denn besser als Sie? Das habe ich schon bedacht. Erstens kennen Sie mich von Kindheit an, und zweitens besitzen Sie viele Fähigkeiten, die ich überhaupt nicht habe. Ihre Seele ist heiterer als die meine, und Sie sind unschuldiger als ich, ich aber habe schon vieles berührt ... Sie ... Sie wissen es nicht, aber auch ich bin doch ein Karamasoff! Was liegt daran, daß Sie lachen und scherzen und auch über mich lachen und sich lustig machen? Ich freue mich so darüber ... Aber Sie lachen nur als kleines Mädchen, doch im Herzen denken Sie wie eine Märtyrerin ...“

„Wie eine Märtyrerin? Wieso das?“

„Ja, Lise. Zum Beispiel Ihre Frage vorhin: ‚Liegt darin nicht Verachtung für jenen Unglücklichen, wenn wir seine Seele so zerpflücken?‘ – Das kann nur jemand fragen, der sich selbst martert ... Sehen Sie, es ist mir unmöglich, das auszudrücken. Wem aber solche Fragen in den Sinn kommen, der ist fähig, zu leiden ... In diesem Rollstuhl müssen Sie schon vieles durchdacht haben ...“

„Aljoscha, geben Sie mir Ihre Hand, warum haben Sie sie fortgezogen?“ sagte Lise leise mit einer ganz sonderbaren, von Glück gleichsam geschwächten, matten Stimme. „Hören Sie, Aljoscha, wie werden Sie sich kleiden, wenn Sie das Kloster verlassen haben, was für einen Anzug werden Sie tragen? Lachen Sie nicht und seien Sie mir nicht böse, das ist sehr, sehr wichtig für mich.“

„An den Anzug habe ich noch nicht gedacht, Lise, aber ich werde tragen, was Sie wollen.“

„Ich will, daß Sie ein dunkelblaues Sammetjackett tragen, eine weiße Weste und einen weichen grauen Filzhut ... Aber sagen Sie, glaubten Sie mir vorhin wirklich, als ich sagte, ich liebte Sie nicht, und mich von meinem gestrigen Brief lossagte?“

„Nein, ich glaubte Ihnen nicht.“

„O, Sie unerträglicher, Sie unverbesserlicher Mensch!“

„Ich ... ich wußte, daß Sie mich ... ich glaube, lieben, aber ich tat, als ob ich nicht glaubte, daß Sie mich lieben, damit es Ihnen ... bequemer sei ...“

„Das ist ja noch schlimmer! Ach, schlimmer, und doch am aller, allerbesten! Aljoscha, ich liebe Sie ganz furchtbar! Vorhin, als ich Sie erwartete, dachte ich so: Ich werde von ihm meinen gestrigen Brief zurückverlangen, und wenn er ihn ruhig hervorzieht und ihn mir wiedergibt – wie man das doch immerhin von ihm erwarten kann – so bedeutet es, daß er mich überhaupt nicht liebt, nichts fühlt, einfach nur ein dummer, unwürdiger Knabe ist ... und ich verloren bin. Sie aber hatten den Brief in der Zelle gelassen, und das gab mir wieder Mut. Nicht wahr, Sie haben ihn doch deswegen in der Zelle gelassen, weil Sie vorausfühlten, daß ich ihn zurückverlangen werde, also um ihn nicht herausgeben zu müssen? Nicht wahr? Darum doch? Das war doch so?“

„Ach, Lise, gar nicht so, ich habe ihn doch bei mir, und auch vorhin hatte ich ihn, hier in dieser Tasche, hier ist er.“

Und Aljoscha zog lachend den Brief aus der Tasche und zeigte ihn ihr, – doch nur von weitem.

„Nur gebe ich ihn nicht heraus, sehen Sie ihn so von ferne.“

„Wie? Dann haben Sie also vorhin gelogen, Sie, ein Mönch, und Sie haben gelogen?“

„Möglich, daß ich gelogen habe,“ sagte Aljoscha lachend, „ich habe gelogen, um ihn nicht zurückgeben zu müssen. Er ist mir sehr teuer,“ fügte er plötzlich leise hinzu und errötete wieder, „Jetzt wird ihn niemand mehr von mir bekommen: Jetzt gehört er mir für mein ganzes Leben!“

Lise blickte ihn verzückt an.

„Aljoscha,“ stammelte sie glückselig, „sehen Sie an der Tür nach, ob Mamachen nicht horcht.“

„Gut, Lise, ich werde nachsehen, aber wäre es nicht doch besser, nicht nachzusehen? Warum Ihre Mutter so einer Niedrigkeit verdächtigen?“

„Wieso Niedrigkeit? Welch einer Niedrigkeit? Es ist doch ihr volles Recht, ihre Tochter zu belauschen – aber keine Niedrigkeit!“ Lise wurde feuerrot. „Seien Sie überzeugt, Alexei Fedorowitsch, daß ich, wenn ich Mutter wäre und eine Tochter wie mich hätte, unbedingt an den Türen lauschen würde.“

„Wirklich, Lise? Das ist nicht recht.“

„Ach, mein Gott, was ist denn dabei Schlechtes? Wenn sie ein Gespräch zweier Fremden belauschen würde, so wäre das eine Niedrigkeit, aber hier hat sich ihre leibliche Tochter mit einem jungen Manne eingeschlossen ... Hören Sie, Aljoscha, damit Sie es wissen, ich werde auch Sie belauschen, sobald wir nur getraut sind. Ich werde sogar alle Ihre Briefe aufmachen und alles lesen ... Das sei Ihnen im voraus gesagt ...“

„Ja ... natürlich, wenn das so ist ...“ stotterte Aljoscha, „nur ist das nicht gut ...“

„Ach, welch eine Anmaßung! Aber Aljoscha, wollen wir uns nicht gleich am ersten Tage zanken, – ich werde Ihnen lieber die ganze Wahrheit sagen: Es ist natürlich sehr häßlich, andere zu belauschen, und natürlich habe nicht ich recht, sondern Sie, doch trotz alledem werde ich horchen.“

„Tun Sie, was Sie wollen. Aber Sie werden ja bei mir doch nichts auszuhorchen haben,“ sagte Aljoscha lächelnd.

„Aljoscha, werden Sie sich mir auch unterwerfen? Das muß man gleichfalls im voraus besprechen.“

„Sehr gern, Lise, und sogar unbedingt, aber nur nicht im Wichtigsten. Wenn Sie einmal in der Hauptsache mit mir nicht einverstanden sein sollten, werde ich trotzdem tun, was mir die Pflicht gebietet.“

„So muß es auch sein! So hören Sie denn, daß auch ich, im Gegenteil, nicht nur im Hauptsächlichsten mich zu unterwerfen bereit bin, sondern mich Ihnen in allem unterwerfen werde und Ihnen das jetzt schwöre, – in allem und mein ganzes Leben lang!“ rief Lise leidenschaftlich aus, „und ich werde glücklich sein, das zu tun, glückselig! Und das ist noch nicht alles! Ich schwöre Ihnen noch, daß ich Sie niemals belauschen werde, kein einziges Mal, niemals, daß ich keinen einzigen Ihrer Briefe aufbrechen werde, denn Sie haben recht und nicht ich. Und wenn ich auch noch so sehr horchen wollte – ich weiß, daß ich es furchtbar wollen werde –, so werde ich es doch nicht tun, werde es nicht tun, weil Sie das unedel finden! Sie sind jetzt gleichsam meine Vorsehung ... Hören Sie, Alexei Fedorowitsch, warum waren Sie in diesen Tagen so traurig, und auch gestern und heute? Ich weiß, daß Sie Sorgen und Kummer haben, aber ich sehe auch, daß Sie außerdem noch ein ganz besonderes Leid haben, – ein geheimes vielleicht, nicht?“

„Ja, Lise, ich habe auch geheimes Leid,“ sagte Aljoscha traurig. „Ich sehe, daß Sie mich lieben, hätten Sie das doch sonst nicht erraten.“

„Was ist denn das für ein Leid? Können Sie es nicht sagen?“ fragte Lise in schüchterner Bitte.

„Ich werde es sagen, Lise ... später ...“ sagte Aljoscha verwirrt. „Jetzt würde es ganz unverständlich sein ... Und ich würde es auch gar nicht zu sagen verstehen.“

„Ich weiß, daß Sie außerdem noch der Gedanke an Ihre Brüder quält, an Ihren Vater?“

„Ja, auch an meine Brüder ...“ sagte Aljoscha wie in Gedanken versunken.

„Ich liebe Ihren Bruder Iwan Fedorowitsch nicht,“ bemerkte plötzlich Lise.

Aljoscha vernahm diese Bemerkung mit einiger Verwunderung, doch fragte er sie nicht weiter nach der Ursache.

„Meine Brüder stürzen sich ins Unglück,“ fuhr er niedergeschlagen fort, „und mein Vater tut dasselbe. Und zusammen mit sich bringen sie auch noch andere ins Unglück. Das ist die ‚Karamasoffsche Erdkraft‘, wie sich Pater Paissij vor kurzem ausdrückte, das ist die grimmige, entfesselte, rohe, rasende Erdkraft ... Und ich weiß nicht einmal, ob Gottes Geist über dieser Kraft schwebt – selbst das weiß ich nicht! Ich weiß nur, daß auch ich ein Karamasoff bin ... Ein Mönch soll ich sein? Bin ich ein Mönch, Lise? Sie sagten doch noch vor einem Augenblick so etwas Ähnliches, wie ... ich sei ein Mönch?“

„Ja, ich sagte es.“

„Aber ich ... ich glaube ja vielleicht gar nicht an Gott.“

„Sie – glauben nicht? – was ist mit Ihnen?“ fragte leise und vorsichtig Lise. Doch Aljoscha antwortete nicht auf ihre Frage. Es war hier in diesen so unerwartet hervorgestoßenen Worten etwas gar zu Geheimnisvolles und gar zu Persönliches, vielleicht sogar Aljoscha selbst Unklares, etwas, das ihn zweifellos quälte.

„Und jetzt, jetzt verläßt mich auch noch mein Freund, mein Staretz liegt im Sterben. Wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten, Lise, wie meine Seele mit diesem Menschen zusammenhängt! Und nun bleibe ich allein ... Ich werde zu Ihnen kommen, Lise ... Hinfort wollen wir zusammen ...“

„Ja, zusammen, zusammen! Von nun an sind wir fürs ganze Leben zusammen! ... Ljoscha, küssen Sie mich noch einmal, ich erlaube es ...“

Und Aljoscha beugte sich zu ihr nieder und küßte sie.

„... Jetzt gehen Sie, Christus ist mit Ihnen!“ Und Lise bekreuzte ihn. „Gehen Sie zu ihm, so lange er noch lebt. Ich habe Sie grausam lange aufgehalten. Ich werde heute für ihn und für Sie beten. Aljoscha, wir werden glücklich sein! Werden wir glücklich sein, werden wir?“

„Ich glaube, wir werden es sein, Lise.“

Als Aljoscha Lise verließ, wollte er, ohne sich von Frau Chochlakoff zu verabschieden, das Haus verlassen. Doch kaum war er ins Vorzimmer getreten, als vor ihm auch schon Frau Chochlakoff stand. Bereits nach dem ersten Wort erriet Aljoscha, daß sie ihn hier absichtlich erwartet hatte.

„Alexei Fedorowitsch, das ist doch entsetzlich!“ rief sie erregt. „Das sind kindische Dummheiten und nichts als Kapricen. Ich hoffe, daß Sie es nicht etwa ernst nehmen ... Dummheiten, nichts als Dummheiten!“

„Nur sagen Sie das nicht ihr,“ sagte Aljoscha, „es würde sie nur aufregen, das ist ihr jetzt schädlich.“

„Das ist ein vernünftiges Wort von einem vernünftigen jungen Mann! Ich verstehe Sie doch recht, wenn ich annehme, daß Sie nur aus Mitleid mit ihrem krankhaften Zustande, um sie nicht durch Widerspruch zu reizen, darauf eingegangen sind?“

„O nein, durchaus nicht. Ich habe es vollkommen ernst gemeint,“ sagte Aljoscha fest.

„Aber das ist doch unmöglich, undenkbar! Ich werde Sie überhaupt nicht mehr empfangen, und Lise bringe ich sofort ins Ausland, das sage ich Ihnen!“

„Aber warum das?“ fragte Aljoscha, „das ist doch noch so fern, wir werden vielleicht noch ganze anderthalb Jahre warten müssen.“

„Ach, Alexei Fedorowitsch, das ist natürlich wahr, und in anderthalb Jahren werden Sie sich mit ihr natürlich tausendmal zanken und schließlich doch auseinandergehen. Aber ich bin so unglücklich, so unglücklich! Wenn es auch nur Dummheiten sind, so vernichtet es mich doch geradezu! Ich bin ja absichtlich hierher ins Vorzimmer gekommen, um Sie zu treffen. Ich habe alles gehört, ich habe kaum an mich halten können! Also das ist die Erklärung aller Schrecken dieser Nacht und aller Anfälle gestern und heute! Der Tochter Liebe ist wahrlich der Mutter Tod. Ich kann mich jetzt begraben lassen. Doch nun zur Hauptsache: Was ist das für ein Brief, den sie Ihnen geschrieben hat? Zeigen Sie ihn mir sofort, sofort!“

„Nein, das ist nicht nötig. Sagen Sie bitte, wie geht es Katerina Iwanowna, ich muß es unbedingt wissen.“

„Sie liegt noch in Fieberphantasien, sie ist noch nicht zu sich gekommen; ihre Tanten sind hier und seufzen bloß; Herzenstube kam her, erschrak aber dermaßen, daß ich nicht wußte, was ich mit ihm anfangen sollte, – ich wollte schon zu einem anderen Doktor schicken. Ich habe ihn in meiner Equipage nach Hause bringen lassen. Und plötzlich, zur Vollendung des Ganzen, noch Sie mit diesem Brief! Es ist ja wahr, daß noch anderthalb Jahre bis dahin sind. Ich beschwöre Sie, im Namen alles Heiligen und Großen, im Namen Ihres sterbenden Staretz – zeigen Sie mir diesen Brief, Alexei Fedorowitsch, mir, der Mutter! Wenn Sie wollen, halten Sie ihn mit Ihren eigenen Fingern fest, und ich werde ihn nur so in Ihren Händen lesen.“

„Nein, gnädige Frau, ich werde ihn nicht zeigen, auch wenn Lise es erlaubte, würde ich ihn nicht zeigen. Ich werde morgen wiederkommen, und wenn Sie wollen, können wir dann vieles besprechen, jetzt aber – leben Sie wohl!“

Und damit eilte Aljoscha die Treppe hinab auf die Straße.

II.
Ssmerdjäkoff mit der Gitarre

Er hatte auch wirklich keine Zeit, noch länger da zu bleiben. Schon als er Lisa verließ, hatte ihn der Gedanke beschäftigt, wie und wo er seinen Bruder Dmitrij, der sich ersichtlich vor ihm verbarg, finden oder wenigstens ihm auflauern könnte. Es war nicht mehr früh; es war schon drei Uhr nachmittags. Er sehnte sich gar sehr nach dem Kloster und nach dem „großen“ Sterbenden, doch das Bedürfnis, seinen Bruder Dmitrij zu sprechen, überwog alles. Mit jeder Stunde wuchs in ihm die Überzeugung, daß sich eine unheimliche Katastrophe unaufhaltsam näherte, ja schon auszubrechen drohte. Was das für eine Katastrophe sein sollte, und was er seinem Bruder eigentlich sagen wollte, wußte er vielleicht selbst nicht einmal. „So mag denn meinetwegen mein Staretz in meiner Abwesenheit sterben, wenigstens werde ich mir dann nicht zeitlebens den Vorwurf machen müssen, daß ich nicht gerettet habe, wo ich hätte retten können, daß ich vorübergegangen bin, um schneller nach Haus zu kommen. Suche ich ihn aber auf, dann erfülle ich auch so sein großes Gebot.“

Aljoschas Plan bestand darin, daß er seinen Bruder mit List fangen wollte – denn wo sollte er sich wohl nach ihm erkundigen, wo ihn suchen, wenn er sich vor ihm versteckte? Zu diesem Zweck schien ihm das schlauste zu sein, über jenen Zaun der Nachbarin zu klettern und den Bruder dort in der Laube, wo er am vorhergehenden Tage mit ihm gesessen hatte, zu erwarten oder zu überraschen. „Falls er nicht dort sein sollte,“ dachte Aljoscha, „werde ich ganz still, damit mich niemand bemerkt, und meinetwegen bis zum Abend da sitzen und ihn erwarten. Denn wenn er auch heute Gruschenka auflauern will, wie gestern, so ist es sehr leicht möglich, daß er wieder in die Laube kommt ...“ Übrigens dachte Aljoscha nicht allzuviel über die Einzelheiten des Planes nach, er beschloß nur, ihn auszuführen, und wenn er auch bis Mitternacht warten müßte ...

Es gelang ihm alles sehr glücklich: Er kletterte fast auf derselben Stelle über den Zaun, wo er das vorige Mal, mit Mitjäs Hilfe, hinübergesprungen war, und kam unbemerkt in die Laube. Er wollte nicht gesehen werden, weder von Foma noch von der Hausbesitzerin oder deren Tochter, da sie alle seinen Bruder auf dessen Befehl vorzeitig benachrichtigen konnten, daß er ihn suchte und erwartete. In der Laube war kein Mensch. Aljoscha setzte sich auf denselben Platz nieder, auf dem er am Tage vorher gesessen hatte, und begann zu warten. Er betrachtete die Laube, und sie erschien ihm aus irgendeinem Grunde „viel älter und zerfallener als gestern“. Der Tag war übrigens ebenso klar. „Sieh, wieviel Sonne!“ hatte Dmitrij gesagt. Auf dem grünen Tisch zeichnete sich von dem Glase ein klebrig-glänzender Kreis ab: Dmitrij mußte wohl den Kognak ein wenig verschüttet haben. Leere und gar nicht zur Sache passende Gedanken schlichen ihm durch den Sinn, wie das ja gewöhnlich in der Zeit langweiligen Wartens zu geschehen pflegt, z. B. die Fragen: warum hatte er sich genau auf denselben Platz gesetzt, auf dem er gestern gesessen hatte? warum nicht auf einen anderen Platz? Und plötzlich wurde ihm unsäglich schwer zumute: das Herz tat ihm weh von der aufregenden Ungewißheit. Doch hatte er kaum eine Viertelstunde gesessen, als plötzlich, ganz in der Nähe, ein Gitarrenakkord erklang. Irgendwo im Gebüsch, vielleicht nur zwanzig Schritte von der Laube entfernt, bestimmt nicht weiter, mußte jemand sitzen oder sich soeben hingesetzt haben. In Aljoscha tauchte flüchtig die Erinnerung an eine Bank auf, die er gestern, als er den Bruder verlassen hatte, links von der Laube gesehen hatte: eine kleine, niedrige, grüne alte Gartenbank im Gebüsch am Zaun. Auf ihr schien sich nun jemand niedergelassen zu haben. Oder waren es sogar zwei? Wer konnte das sein? Da begann plötzlich eine Männerstimme in süßlichem Falsett zu den Gitarrenakkorden ein Couplet zu singen:

„Wenn sie mich nicht li–iebte,

Frag ich, was mir nütz–te

Zarenkron und Mütze?

Großer Gott beschütze

Sie und mich,

Sie und mich,

Sie und mich.“

Die Stimme brach ab. Es war ein Lakaientenor, und der ganze Vortrag des Couplets war dienstbotenhaft. Die andere Stimme, eine Frauenstimme, sagte plötzlich zärtlich und gleichsam schüchtern, aber mit übertriebener Geziertheit:

„Warum sind Sie denn so lange nicht zu uns gekommen, Pawel Fedorowitsch, warum verachten Sie uns denn so?“

„Das ist nicht gesagt,“ antwortete die Männerstimme, wenn auch höflich, so doch vor allem mit selbstbewußter und nachdrücklicher Würde.

Ersichtlich hatte der Mann das Übergewicht, während das Frauenzimmer zu schäkern schien.

„Der Mann – das scheint ja Ssmerdjäkoff zu sein,“ dachte Aljoscha, „wenigstens nach der Stimme zu urteilen; die Frauensperson aber ist wohl die Tochter dieser Hausbesitzerin, dieselbe, die in Moskau gedient hat, Kleider mit langen Schleppen trägt und sich von Marfa Ignatjewna Suppe holt ...“

„Ach, ich liebe über alles schöne Gedichte, und besonders, wenn sie am Ende klappen,“ sagte wieder die Frauenstimme. „Warum fahren Sie denn nicht fort?“

Da begann wieder die Männerstimme:

„Meine stärkste Stütze

In dieser Sündenpfütze

Ist die Geliebte mein.

Großer Gott beschütze

Sie und mich,

Sie und mich,

Sie und mich.“

„Das vorige Mal kam das noch besser heraus,“ meinte die Frauenstimme. „Sie sangen ‚ist das Liebchen mein‘. So klang es noch viel hübscher. Sie haben es wohl vergessen?“

„Gedichte sind Unsinn,“ schnitt Ssmerdjäkoff den begeisterten Erguß kurz ab.

„Ach, nein, ich liebe sie so sehr!“

„Alles, was in Reimen ist, ist abgeklärter Unsinn. Bedenken Sie doch selbst: Wer in der Welt spricht denn alleweil in Reimen? Und wenn wir alle anfangen wollten, in Reimen zu sprechen, und wenn auch meinetwegen gar auf Befehl der Obrigkeit, wieviel Gescheites würden wir dann wohl alsomit sagen können? Nein, Marja Kondratjewna, Gedichte sind nichts Vernünftiges.“

„Ach wie Sie klug sind in allem, wie Sie alles wirklich zu erklären wissen!“ sagte die Frauenstimme noch zärtlicher schmeichelnd.

„Nicht nur das würde ich können und nicht nur das würde ich wissen, sondern ganz gewaltig viel mehr, wenn ich nicht selbiges Los von Kindesbeinen an hätte. Ich würde jeden im Duell mit einer Pistole sogar totschießen, der mir zu sagen wagte, daß ich kein edler Mensch sei, weil ich sozusagen ohne Vater von der, die man die ‚Stinkende‘ nannte, entstanden bin. Man hat mir das auch in Moskau alleweil unter die Nase gerieben, da es sich auch dorthin von hier selbentlich, dank Grigorij Wassiljewitsch, hinverbreitet hatte. Grigorij Wassiljewitsch aber wirft mir vor, daß ich für meine Geburt nicht alleweil demütig Gott danke; ‚du hast ihr‘, sagt er, ‚den ganzen Mutterleib aufgerissen‘. Meinetwegen Mutterleib, aber ich hätte mit Handkuß erlaubt, mich im Mutterleib zu töten, unter der Bedingung, daß ich dann gar nicht auf diese Welt geboren worden wäre. Auch auf dem Markt wird von selbigem gesprochen, und auch Ihre Mutter hat in ihrer Unvornehmheit angefangen mir zu erzählen, daß sie den Weichselzopf auf dem Kopf gehabt hätte und im ganzen nur zwei Arschin und eine Kleinigkeit groß gewesen sei. Warum denn ‚und eine Kleinigkeit‘, wenn man doch ‚und etwas drüber‘ sagen kann, wie es alle Leute tun? Sie wollen es wohl mitleidig ausdrücken, aber das ist doch sozusagen nur bäuerische Weinerlichkeit, bäuerisches Gefühl und sonstig nichts. Kann denn ein russischer Bauer für einen gebildeten Menschen überhaupt Gefühle haben? Wegen seiner Unbildung kann er überhaupt nichts fühlen. Und von Kindesbeinen an ist es mir, wenn ich dies ‚und eine Kleinigkeit‘ höre, als müßt ich auf die Wände rennen. Ich hasse ganz Rußland, Marja Kondratjewna.“

„Ach, sagen Sie so was nicht! Wenn Sie ein Junkerchen oder ein Husarchen wären, würden Sie das nicht sagen, sondern den Säbel herausziehen und ganz Rußland verteidigen.“

„Ich will nicht nur kein Junker sein, ich will sogar, daß alle Soldaten abgeschafft werden.“

„Und wenn der Feind kommt, wer wird uns dann verteidigen?“

„Das ist auch gar nicht nötig. Im Jahre zwölf dieses selbigen Jahrhunderts gab es einen großen Heereszug nach Rußland von dem Kaiser Napoleon, dem französischen, dem Ersten, dem Vater des jetzigen, und es wäre mannigfach gut gewesen, wenn uns diese selben Franzosen damals besiegt und uns sich unterworfen hätten: Eine kluge Nation hätte dann eine äußerst dumme unterworfen und sich einverleibt. Dann würden hier jetzt ganz andere Gesetze und Ordnungen sein.“

„Als ob dort bei ihnen alles so viel besser wäre, als bei uns! Ich würde gar manchen von unseren Stutzerchen nicht einmal gegen drei junge Engländer eintauschen,“ sagte schäkernd Marja Kondratjewna, die diese Worte wahrscheinlich mit den süßesten Blicken begleitete.

„Das kommt drauf an, wie es wem gefällt.“

„Und Sie sind doch selbst wie ein echter Ausländer, da seh’ Sie doch einer nur an, aber ein ganzer Ausländer, das sage ich Ihnen ohne Beschönigung!“

„Wenn Sie was wissen wollen, so lassen Sie sich gesagt sein, daß in der Verderbnis die Ausländer wie die Inländer alle durch die Bank gleich sind. Alle sind sie dieselbigen, nur daß der dortige in Lackstiefeln geht, unser hiesiger aber in seiner Armut stinkt und darin nicht einmal was Schlechtes sieht. Das russische Volk muß man versohlen, wie neulich Fedor Pawlowitsch sehr richtig gesagt hat, wenn auch er mit all seinen Kindern ein verrückter Mensch ist und bleibt.“

„Aber Sie haben doch selbst gesagt, daß Sie den Iwan Fedorowitsch so achten?“

„Er aber hat von mir geäußert, daß ich ein stinkender Lakai sei. Er denkt von mir, daß ich ein Revolutionär werden könnte; da irrt er sich aber bloß gewaltig. Hätte ich so eine gewisse Summe in meiner Tasche, so wäre ich schon längst nicht mehr hier. Dmitrij Fedorowitsch ist schlechter als jeder Lakai durch sein Betragen wie auch durch seinen Verstandesrang und seine Bettelarmut, und nichts versteht er zu machen, und doch wird er obendrein noch von allen geachtet. Ich bin meinetwegen nur ein Suppendreher, aber wenn’s gut geht, kann ich in Moskau auf der Petrowka ein Café-Restaurant eröffnen. Denn ich mache alles, wie man sagt: speziell. Von ihnen aber versteht in ganz Moskau keiner, außer den Ausländern, etwas speziell zu machen. Dmitrij Fedorowitsch ist ein lumpiger Bummler, wenn er aber den höchsten Grafensohn fordert, so wird sich der mit ihm schlagen – wodurch ist er denn alsomit besser als ich? Wohl weil er beispielsohne dümmer ist als ich. Allein wieviel Geld hat er durchgebracht, ohne daß er etwas dafür bekommen hätte!“

„Ach, ein Duell muß wohl furchtbar schön sein, denke ich,“ sagte plötzlich Marja Kondratjewna.

„Was soll denn dabei schön sein?“

„Ach, es ist doch so schrecklich und tapfer, besonders wenn junge Offizierchen mit Pistolen in den Händen der eine auf den anderen wegen irgendeiner schießen. Das ist doch einfach ein Bild! Ach, wenn man doch uns Mädchen zusehen lassen würde, ich würde so schrecklich gern zusehen!“

„Gut, wenn man noch dem anderen was aufbrennt, aber wenn man selbst was gerade in die Schnute kriegt, so ist es dann ein dummes Gefühl. Sie, Marja Kondratjewna, würden natürlich fortlaufen.“

„Was, Sie würden fortlaufen?“

Doch Ssmerdjäkoff geruhte nicht zu antworten. Nach minutenlangem Schweigen wurde wieder auf der Gitarre ein Akkord gegriffen, und die Falsettstimme sang ein anderes Couplet:

„Wozu soll ich mich denn mühen,

Es wird doch nie genügen ...

Ich will mein Leben le–e–eben

Und mich zum Herrn erhe–e–ben,

Und habe ich erst Kronen,

In Residenzen wohnen;

Werde mich niemals grämen,

Mir nichts zu Herzen nehmen ...“

Hier ereignete sich aber etwas Unerwartetes: Aljoscha nieste plötzlich. Auf der Bank wurde es im Augenblick still. Aljoscha erhob sich und ging zu ihnen. Es war tatsächlich Ssmerdjäkoff, der sich in Gala geworfen, pomadisiert, parfümiert und frisiert hatte – viel fehlte nicht, daß er sich auch Locken eingelegt – und dessen Stiefel wieder spiegelblank geputzt waren. Die Gitarre lag neben ihm auf der Bank. Das Frauenzimmer war Marja Kondratjewna, die Tochter der Hausbesitzerin; sie hatte ein hellblaues Kleid mit einer zwei Ellen langen Schleppe an; es war ein noch junges Mädchen; sie wäre eigentlich ganz nett gewesen, nur hatte sie ein gar zu rundes Gesicht und gar zu viel Sommersprossen.

„Wird mein Bruder Dmitrij Fedorowitsch bald zurückkehren?“ fragte Aljoscha möglichst ruhig.

Ssmerdjäkoff erhob sich langsam von der Bank, und Marja Kondratjewna folgte seinem Beispiel.

„Woher soll denn ich alleweil wissen, wann Dmitrij Fedorowitsch kommen? Ich will nicht sagen, wenn ich Dmitrij Fedorowitschs Wächter wäre,“ antwortete Ssmerdjäkoff leise, gemessen und ungeheuer nachlässig.

„Ich habe nur so gefragt, wissen Sie es nicht vielleicht ganz zufällig?“ erklärte Aljoscha.

„Von ihrem Verbleiben weiß ich nichts, dieweil ich davon auch nichts wissen will.“

„Aber mein Bruder hat mir gesagt, daß gerade Sie ihn von allem unterrichteten, was im Hause geschieht, und ihm auch versprochen hätten, ihn zu benachrichtigen, wenn Agrafena Alexandrowna käme.“

Ssmerdjäkoff erhob langsam mit unerschütterlicher Ruhe seinen Blick und sah Aljoscha an.

„Wie aber habt Ihr geruht hierherzugelangen, da doch selbige Gartenpforte schon seit einer Stunde mit der Fallklinke verschlossen ist?“ fragte er mit aufmerksamem Blick auf Aljoscha.

„Ich bin aus der Quergasse über den Zaun gekommen und direkt in die Laube gegangen. Sie werden mich, hoffe ich, entschuldigen,“ sagte er zu Marja Kondratjewna gewandt, „ich wollte meinen Bruder so schnell als möglich treffen.“

„Ach, was haben wir Ihnen zu entschuldigen,“ sagte Marja Kondratjewna sofort in süßlich singendem Ton, da Aljoschas höfliche Entschuldigung sie nicht wenig schmeichelte, „und geht doch auch Herr Dmitrij Fedorowitsch auf diese Manier in die Laube, wir wissen es zuweilen gar nicht, er aber sitzt schon dort.“

„Ich wollte ihn hier erwarten, da ich ihn unbedingt sprechen muß – können Sie mir nicht sagen, wo er heute ist? Glauben Sie mir, daß ich ihn in einer sehr wichtigen Angelegenheit suche.“

„Das pflegt er uns nicht zu sagen, wo er ist,“ sagte Marja Kondratjewna eilfertig.

„Obwohl ich nur aus Bekanntschaft hierher komme,“ begann wieder Ssmerdjäkoff, „so haben Dmitrij Fedorowitsch mich doch auch hier alleweil unmenschlich bedrängt mit ihren immerwährenden Fragen nach dem Herrn: Was und wie ist es mit ihm, wer kommt hin, und wer geht fort, und ob ich nicht noch was anderes zu sagen habe. Zweimal haben sie mir sogar mit dem Tode gedroht.“

„Wie das, mit dem Tode?“ fragte Aljoscha erstaunt.

„Was macht denn ihnen das aus bei ihrem Charakter, den Ihr gestern selbst zu beobachten geruhtet. ‚Wenn du Agrafena Alexandrowna hinein läßt‘, sagen sie, ‚und sie hier übernachtet, – so bist du der erste, der das mit dem Leben bezahlt‘. Ich habe so große Angst vor ihnen, daß ich sie, wenn ich nicht so große Angst vor ihnen hätte, schon der Polizei angezeigt haben würde. Kann doch kaum Gott wissen, was sie noch alles mit einem machen werden.“

„Vor kurzem hat er ihm noch gesagt: ‚Im Mörser werde ich dich zerstampfen‘,“ fügte Marja Kondratjewna eifrig hinzu.

„Nun, wenn er ‚im Mörser‘ gesagt hat, so sind das doch nur Worte ...“ meinte Aljoscha. „Wenn ich ihn jetzt bloß treffen könnte, so würde ich ihm auch darüber etwas sagen können ...“

„Ich kann Euch nur eines mitteilen,“ sagte plötzlich Ssmerdjäkoff, als ob er sich inzwischen anders bedacht hätte. „Ich bin hier nur von wegen meiner langen Nachbarbekanntschaft, und warum sollte ich denn nicht herkommen? Andererseits haben Iwan Fedorowitsch mich heute schon in aller Herrgottsfrühe in ihre Wohnung in die Seestraße geschickt, ohne Brief, damit, daß Dmitrij Fedorowitsch aufs Wort hin unbedingt in dieses hiesige Gasthaus am Großen Platz kommen sollen, um mit ihnen zusammen zu speisen. Ich ging alsomit, doch Dmitrij Fedorowitsch waren nicht zu Hause, es war aber schon acht Uhr. ‚Er war hier, ist aber ganz ausgegangen‘, – mit genau den selbigen Worten antworteten mir die Hausleute. Es war wie eine Verschwörung von beiden Seiten. Jetzt sitzen sie vielleicht in selbiger Minute in dem Gasthaus mit Iwan Fedorowitsch, da auch der junge Herr nicht nach Haus speisen gekommen sind, und der Herr allein vor einer Stunde gespeist haben und jetzt schlafen. Aber ich bitte doch nachdrücklichst, ihnen von mir und von selbigem, was ich gesagt habe, anderweitig keinerlei Mitteilung zu machen, dieweil sie für nichts und wieder nichts mich totschlagen können.“

„Wie, Iwan hat Dmitrij ins Gasthaus bestellt?“ fragte Aljoscha hastig, als hätte er nicht recht verstanden.

„Wie gesagt.“

„In das Gasthaus ‚Zur Hauptstadt‘ am Großen Platz?“

„Jawohl, in selbiges.“

„Das ist sehr gut möglich!“ sagte Aljoscha erregt. „Danke, Ssmerdjäkoff, diese Mitteilung ist sehr wichtig für mich, ich werde sofort hingehen.“

„Aber ich bitte, nichts von mir zu sagen,“ bat Ssmerdjäkoff noch einmal.

„Nein, nein, ich werde tun, als ob ich zufällig hinkäme, beunruhigen Sie sich nicht.“

„Aber wohin gehen Sie, ich werde Ihnen die Gartenpforte aufmachen,“ rief ihm Marja Kondratjewna nach.

„Nein, von hier ist es näher, ich springe wieder über den Zaun.“

Diese Nachricht hatte Aljoscha geradezu erschüttert. Er eilte hin. Da es aber nicht anging, daß er in der Mönchskutte eintrat, so beschloß er, sich an der Tür nach ihnen zu erkundigen und sie herausrufen zu lassen. Doch siehe, kaum näherte er sich dem Gasthaus, als plötzlich ein Fenster aufgestoßen wurde und sein Bruder Iwan ihn heranrief:

„Aljoscha, kannst du nicht zu mir hereinkommen, oder geht es nicht? Du würdest mir einen großen Gefallen erweisen.“

„Natürlich kann ich, nur weiß ich nicht, ob es in meiner Kutte angeht ...“

„Das hat nichts zu sagen, ich habe hier ein ganzes Zimmer für mich, komm herein, ich gehe dir entgegen ...“

Nach einer Minute saß Aljoscha seinem Bruder gegenüber. Iwan war allein und speiste zu Mittag.

III.
Die beiden Brüder

Es war übrigens doch kein einzelnes Zimmer, das Iwan für sich eingenommen hatte. Es war nur eine mit Schirmen abgeteilte Ecke am Fenster des ersten Zimmers, an dessen Seitenwand sich das Büfett befand. Nur konnten die vorübergehenden Gäste die am Fenster Sitzenden nicht sehen. Wohl aber sah man von dort aus die Kellner am Büfett vorüberhuschen. Von Gästen saß in diesem Zimmer in einer entfernteren Ecke vor seinem Teeglase nur ein alter Herr, ein gewesener Offizier. Dafür herrschte in allen anderen Räumen der gewöhnliche Gasthauslärm, die Rufe nach den Kellnern, das Aufkorken der Bierflaschen, das Kicksen der Billardbälle und das Geklimper einer Spieluhr. Aljoscha wußte, daß Iwan sonst nie in dieses Lokal ging und für Gasthäuser überhaupt nichts übrig hatte. „Also ist er jetzt nur deswegen hier, um Dmitrij zu treffen,“ dachte Aljoscha. Aber Dmitrij war nicht zu sehen.

„Soll ich dir eine Fischsuppe bestellen oder was sonst, du kannst doch nicht von Tee allein leben,“ fragte Iwan heiter, der sich ersichtlich sehr darüber freute, daß er Aljoscha hereingelockt hatte. Er hatte schon gespeist und trank nur noch Tee.

„Bestell mal beides, Fischsuppe und Tee, ich habe nämlich gehörigen Hunger,“ sagte Aljoscha erfreut.

„Und nachher Kirschenmus? Das kannst du hier haben. Weißt du noch, wie du als kleiner Junge bei Polenoffs auf Kirschenmus geschliffen warst?“

„Dessen erinnerst du dich noch? Gut, bestelle also auch Kirschenmus, ich mag es auch jetzt noch.“

Iwan klingelte nach dem Kellner und bestellte Fischsuppe, Tee und die eingemachten Kirschen.

„Ich erinnere mich unserer ganzen Kindheit, Aljoscha, ich erinnere mich deiner bis zum elften Jahre, ich war damals vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Fünfzehn und elf, das ist ein so großer Unterschied, daß selbst Brüder in diesen Jahren fast nie Kameraden sind. Ich weiß nicht einmal, ob ich dich liebte: In Moskau habe ich an dich in den ersten Jahren überhaupt nicht gedacht. Und dann später, als auch du nach Moskau kamst, haben wir uns, glaube ich, wohl nur ein einziges Mal irgendwo getroffen. Nun lebe ich hier schon seit mehr als drei Monaten, und noch haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Morgen werde ich fortfahren, und so dachte ich denn, als ich vorhin allein hier am Fenster saß: Wo könnte ich ihn wohl treffen, um mich von ihm zu verabschieden? – und da gingst du gerade vorüber.“

„Wolltest du mich wirklich so gerne sehen?“

„Ja, Aljoscha, sehr, ich wollte dich einmal kennen lernen und dich auch mit mir bekannt machen. Und mich dann von dir verabschieden. Meiner Meinung nach ist es am besten, sich vor der Trennung kennen zu lernen. Ich habe gesehen, wie du mich in diesen ganzen drei Monaten beobachtet hast. Lag doch in deinen Augen eine immerwährende Erwartung, das aber ist es, was ich nicht ertragen kann, und darum näherte ich mich dir nicht. Dann aber lernte ich dich achten: Fest steht das Menschlein! Ja, ja. Und merk dir, Aljoscha: Ich lache jetzt zwar, aber ich rede deswegen nicht minder ernst. – Du stehst doch fest, nicht? Ich liebe Menschen, die fest stehen, einerlei worauf sie stehen, und wenn sie auch so kleine Knaben sind wie du. Dein erwartungsvoller Blick wurde mir mit der Zeit durchaus nicht zuwider; im Gegenteil, ich gewann ihn schließlich lieb, deinen erwartenden Blick. Ich glaube, du liebst mich, Aljoscha?“

„Ja, ich liebe dich, Iwan. Dmitrij sagt von dir: Iwan ist – ein Grab! Ich aber sage von dir: Iwan ist ein Rätsel. Du bist auch jetzt noch ein Rätsel für mich, trotzdem habe ich schon einiges an dir begriffen, und zwar seit heute morgen!“

„Und das wäre?“ fragte Iwan lachend.

„Wirst du dich nicht ärgern?“ fragte Aljoscha gleichfalls lachend.

„Nun?“

„Einfach, daß du ganz genau so ein junger Junge bist wie alle anderen dreiundzwanzigjährigen Jungen, ein ebenso junger, jugendlicher, frischer und prächtiger Junge, ein ... ein ... nun, ein milchbärtiger kleiner Knabe! Was, hab ich dich jetzt sehr gekränkt?“

„Im Gegenteil, du hast mich durch die Richtigkeit deiner Bemerkung sogar frappiert!“ sagte sofort heiter und offenherzig Iwan. „Wirst du mir glauben, daß ich heute, seitdem ich sie verlassen habe – nach dem Gespräch bei ihr – die ganze Zeit nur an diese meine dreiundzwanzigjährige ‚Milchbärtigkeit‘, wie du sagst, gedacht habe! Und nun beginnst du gerade damit, als ob du’s erraten hättest. Ich saß hier ganz allein am Fenster, und weißt du, was ich mir sagte? Nehmen wir an, ich hörte auf, an das Leben zu glauben, an den Menschen, den ich liebgewonnen habe, an die Ordnung der Dinge, nehmen wir an, ich überzeugte mich sogar, daß alles ein gesetzloses, verfluchtes und vielleicht vom Teufel beherrschtes Chaos ist, und daß mich alle Schrecken der menschlichen Verzweiflung überfallen, – so würde ich doch leben wollen, leben! Und da meine Lippen einmal diesen Becher berührt haben, so – das weiß ich! – werde ich mich nicht früher von ihm losreißen, als bis ich ihn ganz, bis auf die Neige geleert habe! Übrigens, wenn mein dreißigstes Jahr kommt, werde ich den Becher bestimmt von mir werfen, selbst wenn ich ihn nicht bis auf die Neige geleert haben sollte, und fortgehen ... ich weiß nicht wohin. Doch bis zu meinem dreißigsten Jahre, das weiß ich unerschütterlich, wird meine Jugend alles besiegen, – jede Enttäuschung, jede Verzweiflung, jeden Widerwillen vor dem Leben. Ich habe mich oftmals gefragt: Gibt es wohl in der Welt eine Verzweiflung, die diesen rasenden, wütenden und vielleicht unanständigen Lebensdurst in mir besiegen könnte? – und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß es wahrscheinlich keine solche Verzweiflung gibt, das heißt wiederum nur bis zu meinem dreißigsten Jahre, dann werde ich selbst nicht mehr wollen ... so scheint es mir wenigstens. Dieser Lebensdurst, dieses Lechzen nach Leben wird von vielen schwindsüchtigen, hungrigen Moralisten und besonders von holden Dichtern niedrig genannt. Er ist allerdings ein echt Karamasoffscher Zug, das ist wahr, und auch in dir steckt dieser Lebensdurst, aber warum soll er denn gemein sein? Es steckt noch so ungeheuer viel Zentripetalkraft in unserem Planeten. Leben will man, Aljoscha, und ich lebe, wenn auch wider die Logik. Mag ich auch an die Ordnung der Dinge nicht glauben, so sind sie mir doch teuer, die klebrigen hellen Blättchen, die sich im Frühling an feuchten Ästen lösen, teuer ist mir der hohe blaue Himmel, teuer gar mancher Mensch, den man gar manches Mal, wirst du’s mir glauben, ohne zu wissen, warum, liebhat. Teuer ist mir manch eine Menschentat, an die zu glauben man vielleicht schon längst aufgehört hat, die aber das Herz in alter Erinnerung immer noch hoch und heilig hält ... Da kommt deine Fischsuppe. Nun, laß sie dir gut schmecken, sie wird hier vorzüglich zubereitet ... Ich will nach Europa fahren, Aljoscha, ich werde von hier aus geradenwegs hinfahren. Ich weiß es ja, daß ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch! Teure Tote liegen dort begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde – wenn auch mit der vollen Überzeugung im Herzen, daß das alles schon längst ein Friedhof ist, und in keinem Fall mehr als das. Und nicht aus Verzweiflung werde ich weinen, sondern einfach aus dem einen Grunde, weil mir meine Tränen Glück sein werden. Ich werde mich an der eigenen Empfindung berauschen. Die kleinen, klebrigen Frühlingsblätter, den hohen blauen Himmel liebe ich! Hier handelt es sich nicht um Verstand, nicht um Logik, hier liebt man mit dem ganzen Innern, mit dem ganzen Eingeweide, mit dem ganzen Leibe, seine ersten jungen Kräfte liebt man! ... Aljoschka, begreifst du etwas von meinem Gerede, oder ist dir alles unverständlich?“ fragte Iwan plötzlich auflachend.

„O, ich verstehe nur zu gut: Mit dem Innersten, mit dem ganzen Eingeweide will man lieben, – das hast du wundervoll gesagt, und es freut mich furchtbar, daß du so leben willst,“ sagte Aljoscha freudig. „Ich glaube, alle müssen in der Welt zuerst das Leben lieben lernen.“

„Und das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens?“

„Unbedingt. Vor der Logik muß man das Leben lieb gewinnen, wie du sagst, unbedingt muß es vor der Logik geschehen, nur dann werde ich auch den Sinn des Lebens begreifen. Das habe ich schon lange geahnt. Die Hälfte deiner Arbeit ist bereits getan, und die eine Hälfte deines Lebens ist erworben, Iwan: Du liebst das Leben. Jetzt mußt du dich um deine zweite Hälfte bemühen, und du bist gerettet.“

„Du bist schon beim Retten, aber ich gehe ja vielleicht überhaupt nicht unter! Und worin besteht sie denn – diese zweite Hälfte?“

„Darin, daß du deine Toten auferweckst, die – vielleicht niemals gestorben sind. Reich mir bitte den Tee. Oh, es freut mich so, Iwan, daß wir miteinander reden.“

„Aber Aljoscha, du bist ja, wie ich sehe, geradezu begeistert. Nun ich liebe ganz außerordentlich solche professions de foi, wie die unsrigen, gerade von solchen ... Novizen. Ein fester Mensch bist du, Alexei. Ist es wahr, daß du das Kloster verlassen willst?“

„Ja, es ist wahr. Mein Staretz schickt mich in die Welt.“

„Dann werden wir uns wohl noch sehen in dieser Welt, vor jenem dreißigsten Jahr, wenn ich beginnen werde, mich von meinem Becher loszureißen. Der Vater will sich von seinem Becher nicht vor dem siebzigsten Jahre losreißen, träumt womöglich von achtzig Jahren, hat es mir sogar selbst ganz offen gesagt, und zwar im Ernst, obgleich er doch ein ... Narr ist. Fußt auf seiner Wollust und steht auf ihr, als ob sie ein Stein wäre ... allerdings gibt es ja nach dem dreißigsten Jahre schwerlich etwas anderes, worauf man sich stellen könnte ... Aber bis zum siebzigsten Jahre ist es gemein, bis zum dreißigsten Jahre geht es noch: Man kann wenigstens einen ‚Schimmer von Adel‘ bewahren, wenn auch durch Selbstbetrug. Hast du heute nicht Dmitrij gesehen?“

„Nein, ihn nicht, aber ich habe Ssmerdjäkoff gesehen und gesprochen.“ Und Aljoscha erzählte eilig und ausführlich sein Gespräch mit Ssmerdjäkoff. Iwans Gesicht wurde allmählich immer finsterer beim Zuhören, und er ließ sich vieles wiederholen.

„Nur bat er mich, nicht Dmitrij zu sagen, daß er es mir mitgeteilt hat,“ fügte Aljoscha hinzu. Iwan zog die Brauen zusammen und verfiel in Nachdenken.

„Runzelst du wegen Ssmerdjäkoff die Stirn?“ fragte Aljoscha.

„Ja, seinetwegen. Doch zum Teufel mit ihm, aber Dmitrij wollte ich tatsächlich sehen, nur ist es jetzt nicht mehr nötig ...“ brummte Iwan unwillig.

„Wirst du denn wirklich so bald verreisen?“

„Ja.“

„Aber sag doch, – Dmitrij und der Vater? Womit wird das enden?“ fragte Aljoscha erregt, doch nur halblaut.

„Du fängst schon wieder davon an! Was geht das mich an? Bin ich denn etwa der Wächter meines Bruders?“ stieß Iwan kurz und gereizt hervor. Doch plötzlich lächelte er bitter. „Die Antwort Kains auf Gottes Frage nach dem erschlagenen Bruders, wie? Das denkst du wohl jetzt, nicht? Ach, hol’s der Teufel, ich kann doch wahrhaftig nicht als ihr Wächter hier bleiben! Ich habe hier beendet, was ich zu tun hatte, und fahre. Oder glaubst du vielleicht gar, daß ich auf Dmitrij eifersüchtig bin, weil es mir in diesen ganzen drei Monaten nicht gelungen ist, ihm seine schöne Katerina Iwanowna abspenstig zu machen? Ach ... Äh, zum Teufel, ich habe meine Gründe gehabt, hier zu bleiben. Nun habe ich hier alles beendet, und so fahre ich auch unverzüglich. Was ich beendet habe, das weißt du, du warst ja Augenzeuge.“

„Du meinst – vorhin mit Katerina Iwanowna?“

„Ja, mit ihr; ich machte mich einfach los. Und was ist denn dabei? Was geht mich Dmitrij an? Dmitrij hat nichts damit zu tun! Ich hatte ganz Persönliches mit Katerina Iwanowna zu erledigen. Du weißt doch selbst, daß Dmitrij sich so aufgeführt hat, als ob er sich mit mir verabredet hätte. Ich habe ihn doch um nichts gebeten, er aber hat sie mir freiwillig und feierlich ‚übergeben‘ und hat mir noch seinen Segen geschenkt. Das klingt ja wirklich fast lachhaft. Nein, Aljoscha, nein, wenn du wüßtest, wie leicht ich mich jetzt fühle! Ich saß hier und speiste, und, wirst du’s mir glauben, wollte mir schon Champagner bestellen, um die erste Stunde meiner Freiheit zu feiern. Pfui Teufel, fast ein halbes Jahr lang, – und mit einem Schlage hat man sich von allem befreit! Nein, hätte ich gestern auch nur ahnen können, daß man nur zu wollen braucht, und daß es einen nichts kostet, zu beenden!“

„Sprichst du von deiner Liebe, Iwan?“

„Von meiner Liebe ... wenn du willst, ja. Ich hatte mich in ein junges, stolzes Pensionsfräulein verliebt. Ich quälte mich mit ihr und sie quälte mich. Hatte mich da hinein verbissen ... und plötzlich bin ich von allem befreit. Vorhin bei Chochlakoffs sprach ich erregt, als ich aber hinaustrat, da lachte ich auf – und du kannst mir glauben, daß ich fröhlich lachte. Nein, wirklich!“

„Du sprichst auch jetzt so heiter,“ bemerkte Aljoscha, der sich aufmerksam in das Gesicht des Bruders hineinsah.

„Woher sollte ich auch wissen, daß ich sie überhaupt nicht liebte! Ha–ha–ha! Und da hat es sich nun erwiesen! Aber wie sie mir doch gefallen hat! Wie sie mir sogar heute gefiel, vorhin, als ich die Predigt hielt! Und weißt du, auch jetzt gefällt sie mir maßlos, – und doch fällt es mir so leicht, sie zu verlassen. Du glaubst wohl, ich wolle renommieren?“

„Nein. Nur war das vielleicht keine Liebe.“

„Aljoschka,“ sagte Iwan lachend, „laß dich nicht auf Erörterungen über Liebe ein! Für dich schickt sich das nicht. Vorhin – ja, vorhin, da gingst du durch, Brüderchen, o jeh! Übrigens habe ich vergessen, dich dafür abzuküssen ... Wie sie mich aber gequält hat! Ach, habe wahrlich neben einer gesessen, die sich vergewaltigte. Sie wußte doch, daß ich sie liebte! Und auch sie liebte mich, aber nicht Dmitrij,“ behauptete Iwan lachend. „Ihre Liebe zu Dmitrij hat sie sich nur eingebildet. Alles, was ich ihr vorhin sagte, ist lautere Wahrheit. Nur besteht jetzt die Hauptsache darin, daß sie vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre brauchen wird, um zu erraten, daß sie Dmitrij überhaupt nie geliebt hat, sondern nur mich liebt, mich, den sie foltert. Ja, wer kann es wissen, vielleicht wird sie’s auch niemals erraten, trotz der heutigen Lehre nicht. Nun, um so besser, daß ich aufgestanden und fortgegangen bin. Übrigens, was macht sie jetzt? Was ging dort vor, als ich fortgegangen war?“

Aljoscha erzählte ihm von dem hysterischen Anfall und was ihm Frau Chochlakoff gesagt hatte: daß sie bewußtlos sei, Fieber habe und phantasiere.

„Ist das aber auch wahr, was die Chochlakoff sagt?“

„Es scheint, ja.“

„Man muß sich erkundigen. An hysterischen Anfällen ist übrigens noch niemals jemand gestorben. Und mag sie sie doch haben, Gott hat dem Weibe liebend die Hysterie geschickt. Ich werde nie mehr hingehen. Wozu sich wieder aufdrängen!“

„Aber du sagtest ihr doch, daß sie dich nie geliebt hätte?“

„Das habe ich absichtlich gesagt. Aljoschka, weißt du, ich werde Champagner bestellen, trinken wir auf meine Freiheit. Nein, wenn du wüßtest, wie froh ich bin!“

„Nein, Iwan, trinken wir lieber nicht,“ sagte Aljoscha, „und zudem bin ich doch etwas traurig gestimmt.“

„Ja, du bist bereits seit langer Zeit traurig gestimmt, das sehe ich schon längst.“

„Und du wirst also bestimmt morgen früh fortfahren?“

„Morgen früh? Ich habe nicht gesagt, daß ich in der Früh fahren werde ... Doch übrigens, vielleicht auch in der Früh. – Wirst du’s mir glauben, daß ich nur deswegen hier gespeist habe, um nicht mit dem Alten zusammen zu speisen, dermaßen zuwider ist er mir geworden. Allein seinetwegen wäre ich schon längst fortgefahren. Warum beunruhigt es dich übrigens so, daß ich verreise? Wir haben jedenfalls bis zu meiner Abfahrt noch Gott weiß wieviel Zeit. Eine ganze Ewigkeit Zeit, die ganze Unsterblichkeit.“

„Aber, wenn du morgen fortfährst, wo ist dann die Ewigkeit?“

„Was geht das uns beide an!?“ fragte Iwan lachend. „Haben wir doch noch Zeit, auszusprechen, was wir uns zu sagen haben, und weswegen wir hier zusammengekommen sind! Warum siehst du mich so erstaunt an? Antworte mir: Zu welch einem Zweck sind wir hier zusammengekommen? Um von der Liebe zu Katerina Iwanowna zu sprechen, oder von dem Alten und Dmitrij? Oder vom Auslande? Von der verhängnisvollen Lage Rußlands? Vom Empereur Napoléon? Nun, deswegen etwa?“

„Nein, nicht deswegen.“

„Also begreifst du es selbst, weswegen. Den anderen mag so etwas gleichgültig sein, uns aber, uns ‚Milchbärten‘, ist es nicht einerlei, wovon wir reden. Wir müssen vor allen anderen Dingen, die aus der Ewigkeit in die Ewigkeit reichenden Probleme lösen, das ist unsere Sorge. Ganz Jung-Rußland tut doch heutzutage nichts anderes, als über die ewigen Fragen philosophieren. Gerade heutzutage, gerade jetzt, wo alle Alten sich plötzlich an die praktischen Fragen gemacht haben. Warum hast du mich in diesen drei Monaten so erwartungsvoll angesehen? Um mich zu befragen: ‚Woran glaubst du, oder glaubst du überhaupt nicht‘, – das war es doch, was Ihre Blicke fragten, Alexei Fedorowitsch, oder war es das mit nichten?“

„Nun ja, meinetwegen war es das,“ sagte Aljoscha lächelnd. „Du machst dich doch nicht lustig über mich, Bruder?“

„Ich mich lustig machen? Ich werde doch mein kleines Brüderchen, das mich drei Monate lang so erwartungsvoll angeblickt hat, nicht betrüben wollen. Aljoscha, sieh mich einmal ganz offen an: Sieh, ich bin doch genau solch ein kleiner Knabe wie du, nur mit dem einen Unterschiede, daß ich kein Novize bin. Wie pflegen denn unsere russischen Knaben bis jetzt zu handeln? Die meisten, meine ich. Nun, hier haben wir zum Beispiel das nach Speisedüften riechende Lokal, und da kommen sie denn zusammen und setzen sich in eine Ecke. Haben sich bis dahin zeitlebens nicht gekannt, und wenn sie das Gasthaus verlassen, werden sie sich wieder vierzig Jahre lang nicht kennen. Wovon werden sie nun sprechen, wenn sie diesen einen Augenblick in der Gasthausecke erhascht haben? Selbstverständlich von den Weltfragen: Gibt es einen Gott? gibt es Unsterblichkeit? Diejenigen aber von ihnen, welche an Gott nicht glauben, nun, die sprechen über Sozialismus und Anarchismus, über die Umgestaltung der ganzen Menschheit durch einen neuen Staat, so daß es schließlich auf den reinen Teufel hinauskommt, – das sind doch alles dieselben Fragen, nur vom anderen Ende. Und welch eine unglaubliche Menge der originellsten russischen Jungen tut heutzutage nichts anderes, als über diese ewigen Fragen reden! Habe ich nicht recht?“

„Ja, für die echten Russen sind die Fragen, ob es einen Gott und ob es Unsterblichkeit gibt oder, wie du soeben sagtest, die Fragen vom anderen Ende, natürlich die wichtigsten Fragen, die allem anderen vorangehen, – so muß es auch sein,“ sagte Aljoscha, der seinen Bruder immer noch mit demselben stillen, forschenden Lächeln betrachtete.

„Sieh, Aljoscha, ein russischer Mensch zu sein, ist zuweilen gar nicht klug, doch etwas Dümmeres als das, womit sich jetzt die russischen Knaben beschäftigen, kann man sich nicht einmal vorstellen. Nur einen russischen Knaben, den Aljoscha, den liebe ich trotzdem über alles.“

„Wie nett du das eingefädelt hast,“ sagte Aljoscha auflachend.

„Nun, sag also, womit wir beginnen sollen? Es soll geschehen, wie du befiehlst. – Mit Gott? – Ob Gott existiert, nicht?“

„Womit du willst, damit beginne, meinetwegen auch ‚vom anderen Ende‘. Du erklärtest doch gestern beim Vater, daß es Gott nicht gäbe,“ sagte Aljoscha mit plötzlich forschendem Blick in die Augen des Bruders.

„Gestern bei Tisch neckte ich dich absichtlich damit – um den Alten war es mir nicht zu tun – und ich sah es wohl, wie deine Augen aufblitzten. Doch jetzt bin ich gar nicht abgeneigt, nochmals mit dir auf dieses Thema einzugehen. Ich meine das vollkommen im Ernst. Ich möchte gern, daß wir uns nähertreten, Aljoscha, denn ich habe keinen Freund. Ich will es einmal versuchen. Nun, stelle es dir mal vor, vielleicht erkenne auch ich Gott an,“ sagte Iwan lachend. „Das hattest du wohl nicht erwartet, was?“

„Ja, natürlich, wenn du nur auch jetzt nicht scherzest!“

„Scherze? Das fragst du, weil man gestern beim Staretz sagte, daß ich scherze. Sieh, mein Liebling, im siebzehnten Jahrhundert lebte ein großer Sünder, und der hat von Gott gesagt: S’il n’existait pas, il faudrait l’inventer. Und tatsächlich hat sich der Mensch Gott ausgedacht. Doch nicht das ist sonderbar, nicht das wäre wunderbar, daß Gott tatsächlich existiert, wohl aber ist wunderbar, daß solch ein Gedanke – der Gedanke von der Unentbehrlichkeit Gottes – in den Kopf eines so wilden und bösartigen Tieres, wie es der Mensch ist, hat kommen können: dermaßen heilig, dermaßen rührend, dermaßen weise ist er, und dermaßen große Ehre macht er dem Menschen. Was nun mich dabei anbetrifft, so habe ich schon vor langer Zeit beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, ob der Mensch Gott oder Gott den Menschen geschaffen hat. Auch werde ich, versteht sich, nicht etwa anfangen, alle zeitgenössischen Axiome der russischen Knaben durchzunehmen – Axiome, die alle ohne Ausnahme aus europäischen Hypothesen entstanden sind; denn was dort Hypothese ist, das ist bei unseren russischen Knaben sofort Axiom, und nicht nur bei den Knaben, sondern auch bei deren Professoren, denn auch die russischen Professoren sind jetzt sehr häufig selbst nichts anderes als solche kleinen russischen Knaben. Darum übergehe ich alle Hypothesen. Worin besteht aber nun unsere Aufgabe? Nun, versteht sich, darin, daß ich dir so schnell wie möglich mein ganzes Wesen erkläre, das heißt, was ich für ein Mensch bin, woran ich glaube, worauf ich hoffe! Nicht wahr, das ist es doch? Nun, und darum erkläre ich denn auch, daß ich Gott einfach und einwandlos akzeptiere. Einstweilen aber gilt es noch eines zu vermerken: Wenn Gott ist, und wenn er tatsächlich die Erde geschaffen hat, so hat er sie, wie wir genau wissen, nach der Geometrie des Euklid geschaffen, den menschlichen Verstand nur mit dem Vermögen begabt, bloß die drei Ausdehnungen des Raumes zu begreifen. Währenddessen aber hat es Mathematiker und Philosophen gegeben, und es gibt ihrer auch heutzutage noch welche, und es sind das sogar die Besten, die leider bezweifeln, daß das Weltall – oder sagen wir noch größer, – daß alles Sein nur nach Euklids Geometrie erschaffen sei, ja, sie erdreisten sich sogar, zu denken, daß zwei parallele Linien, die doch nach Euklid nie und nimmer und unter keiner Bedingung auf Erden zusammenlaufen können, vielleicht doch irgendwo in der Unendlichkeit zusammenlaufen. Weißt du, Liebling, ich sage mir nun, wenn ich selbst das nicht begreifen kann, wie soll ich dann noch etwas von Gott begreifen können, das ist doch dann viel zu hoch für mich. Bescheiden bekenne ich, daß ich nicht die geringsten Fähigkeiten zur Lösung solcher Probleme besitze; ich habe nur einen euklidischen, einen irdischen Verstand, und wie soll man daher über etwas urteilen, was nicht von dieser Welt ist? Und auch dir, mein Freund, rate ich, nie darüber nachzudenken, vor allem nicht über Gott: Ob es ihn gibt oder nicht gibt? Das sind Fragen, an die unser Verstand überhaupt nicht heranreicht, da sein Begriffsvermögen nur für das Erfassen der drei Ausdehnungen geschaffen ist. Und so akzeptiere ich denn gern nicht nur Gott allein, sondern ich akzeptiere auch seine Allwissenheit und sein Ziel, – das uns vollkommen unbekannt ist – und glaube an das Gesetz und den Sinn des Lebens, glaube auch an die ewige Harmonie, in der wir, wie es heißt, alle aufgehen werden, glaube an das Wort, zu dem das Weltall strebt, und das selbst bei Gott war und selbst Gott ist, nun, und so weiter, und so weiter bis ins Unendliche. Hat man sich doch in der Beziehung wahrlich nicht wenig Worte ausgedacht. Aber es scheint ja, daß auch ich bereits auf einem guten Wege bin – nicht? Nun, so laß dir denn kurz gesagt sein, daß ich im Endresultate diese Gotteswelt – nicht akzeptiere, und wenn ich auch weiß, daß sie existiert, so gebe ich doch nicht zu, daß sie existiert. Nicht Gott akzeptiere ich nicht, verstehe mich recht, sondern die von ihm geschaffene Welt akzeptiere ich nicht, und kann ich nicht akzeptieren. Ich werde mich deutlicher ausdrücken: Ich bin meinetwegen überzeugt, daß das Leid vernarben und sich glätten wird, daß die ganze beleidigende Komik der menschlichen Widersprüche wie ein armseliges Trugbild verschwinden wird, wie eine garstige Erfindung eines schwächlichen, nur atomgroßen euklidischen Menschenverstandes, und daß schließlich im Weltfinale, im Moment der ewigen Harmonie etwas dermaßen Kostbares geschehen und erscheinen wird, daß es für alle Herzen ausreicht, zur Stillung allen Unwillens, zur Sühne aller von Menschen begangenen Greuel, zur Sühne alles durch sie vergossenen Blutes, daß es ausreichen wird zur Möglichkeit nicht nur der Vergebung, sondern auch der Rechtfertigung alles dessen, was mit den Menschen geschehen ist, – schön, schön, mag das alles erscheinen und sein, ich aber akzeptiere das nicht und will es auch nicht akzeptieren! Mögen sich sogar die Parallellinien treffen, und mag ich das auch selbst sehen, sehen und sagen, daß sie sich getroffen haben, so werde ich es doch trotzdem nicht annehmen. Sieh, das ist mein Wesen, Aljoscha, das ist meine These. Ich habe absichtlich unser Gespräch so begonnen, wie man es dümmer nicht gut hätte beginnen können, aber ich habe es mit meiner Beichte geendet, denn nur sie allein wolltest du doch hören. Nicht von Gott wolltest du etwas erfahren, sondern hören wolltest du, wovon dein Bruder, den du doch liebhast, geistig lebt. Und so habe ich es dir denn gesagt.“

Iwan schloß seine lange Predigt plötzlich mit einem ganz unerwarteten und ganz eigentümlichen Gefühl.

„Warum hast du so begonnen, ‚wie man es dümmer nicht gut hätte beginnen können‘?“ fragte Aljoscha, der, in Gedanken verloren, seinen Bruder betrachtete.

„Ja, so, erstens um des Russizismus’ willen: Die russischen Gespräche über diese Themata werden doch alle so geführt, wie es dümmer nicht gut denkbar wäre. Und zweitens, weil man um so näher zur Sache kommt, je dümmer man tut. Je dümmer, um so klarer. Dummheit ist kurz und gut und einfach, Klugheit aber macht Finten und versteckt sich. Klugheit, das heißt, der Verstand, ist ein Schuft. Die Dummheit dagegen ist offenherzig und ehrlich. So habe ich dir meine Verzweiflung gezeigt, und je dümmer die Darstellung war, um so vorteilhafter für mich.“

„Wirst du mir erklären, weswegen du die Welt ‚nicht akzeptierst‘?“ fragte Aljoscha.

„Versteht sich, es ist ja kein Geheimnis, und dahin führt doch unser Gespräch. Du, mein lieb Brüderlein, ich will dich doch nicht etwa verführen oder von deinem festen Stand wegrücken – ich wollte mich vielleicht nur selbst durch dich heilen ...“ Und Iwan lächelte so sonderbar, ganz wie ein kleiner, frommer Knabe. Niemals noch hatte Aljoscha an ihm solch ein Lächeln gesehen.

IV.
„Empörung“

Ich muß dir ein Geständnis machen,“ begann Iwan: „Ich habe nie begreifen können, wie man seine Nächsten lieben kann. Gerade die Nächsten kann man, meiner Meinung nach, unmöglich lieben; lieben kann man höchstens noch die Fernen. Ich habe einmal irgendwo von ‚Iwan dem Barmherzigen‘, einem Heiligen, gelesen, daß er, als einmal ein hungriger und durchfrorener Mann des Weges kam und ihn bat, sich bei ihm erwärmen zu dürfen – daß er sich da zusammen mit ihm auf das Lager gelegt habe, um ihn in der Umarmung zu erwärmen und ihm in seinen von einer scheußlichen Krankheit faulenden und übelriechenden Mund zu hauchen. Ich bin überzeugt, daß er es aus Selbstvergewaltigung getan hat, aus sich selbst vergewaltigender Lüge, aus pflichtschuldiger Liebe, aus sich selbst auferlegter Buße. Um einen Menschen lieben zu können, muß er sich verborgen halten, denn kaum zeigt er sein Gesicht – so ist die Liebe auch schon verschwunden.“

„Darüber hat Staretz Sossima mehr als einmal gesprochen,“ bemerkte Aljoscha, „auch er sagte, daß das Gesicht eines Menschen nicht selten diejenigen, welche im Lieben noch unerfahren sind, zu lieben hindere. Aber es gibt trotzdem viel Liebe in der Menschheit, und sogar fast Christi Liebe ähnliche. Das weiß ich, Iwan ...“

„Nun, ich aber weiß das vorläufig noch nicht und kann es daher auch nicht begreifen, und mit mir kann es eine unzählige Menge Menschen gleichfalls nicht begreifen. Die Frage besteht nur darin, ob das von den schlechten Eigenschaften der Menschen herrührt? oder ob es nur einfach daher kommt, daß die Natur des Menschen so geschaffen ist? Meiner Meinung nach ist Christi Liebe zu den Menschen in ihrer Art ein auf Erden unmögliches Wunder. Nun, er war ein Gott. Wir aber sind keine Götter. Nehmen wir zum Beispiel an, ich kann tief leiden, aber ein anderer kann nie erfahren, bis zu welch einem Grade ich leide, denn er ist eben ein anderer und nicht ich, und außerdem läßt sich der Mensch nur selten herbei, einen anderen als Leidenden anzuerkennen – ganz als ob es sich dabei um einen Rang handelte. Warum nun tut er es nur nicht, was meinst du wohl? Nun, weil ich vielleicht schlecht rieche, weil ich ein dummes Gesicht habe, oder weil ich ihm einmal auf den Fuß getreten bin. Und zudem ist zwischen Leiden und Leiden ein Unterschied: Gewöhnliches Leiden, das mich erniedrigt, Hunger zum Beispiel, das wird mein Wohltäter noch gelten lassen, doch ein etwas höheres Leiden, zum Beispiel für eine Idee, wird er nur in äußerst seltenen Fällen zugestehen, denn er wird bei meinem Anblick wahrscheinlich sofort finden, daß mein Gesicht durchaus nicht demjenigen gleicht, welches er sich in der Phantasie von einem Menschen, der für diese oder jene Idee leidet, gemacht hat. Und so entzieht er mir denn unverzüglich alle seine Wohltaten, tut das aber nicht etwa, weil er ein böses Herz hat. Bettler, namentlich ‚edle‘ Bettler, sollten sich eigentlich nie zeigen und lieber durch die Zeitungen Almosen bitten. Abstrakt kann man noch den Nächsten lieben und zuweilen sogar aus der Ferne, in der Nähe aber fast nie. Wenn alles wie auf der Bühne sich abspielen würde, wie im Ballett, wo die Bettler in seidenen Lumpen und zerrissenen Spitzen graziös tanzend um Almosen bitten, nun, dann kann man noch an ihnen Gefallen finden. An ihnen Gefallen finden, immerhin, aber nicht sie lieben. – Doch genug davon. Ich wollte dir nur meinen Standpunkt erklären ... Ich wollte mit dir von den Leiden der ganzen Menschheit sprechen, doch es ist besser, wir begnügen uns mit den Leiden der Kinder allein. Das wird den Umfang meiner Beweisführung ungefähr um das Zehnfache verringern. Es ist schon besser, nur von den Kindern zu reden. Für mich ist das natürlich unvorteilhafter. Aber, erstens, Kinder kann man auch in der Nähe lieben, sogar schmutzige, sogar häßliche ... Übrigens finde ich, daß kleine Kinder nie häßlich sind. Und zweitens werde ich schon allein deswegen nicht über die Großen reden, weil es sich bei ihnen, abgesehen davon, daß sie abstoßend und der Liebe unwürdig sind, um Vergeltung handelt: Sie haben den Apfel gegessen und Gut und Böse erkannt und sind ‚wie Gott‘ geworden. Und auch jetzt noch fahren sie fort, ihn zu essen. Die Kleinen aber haben noch nichts gegessen und sind vorläufig noch ganz schuldlos. Liebst du kleine Kinder, Aljoscha? Ich weiß, daß du sie liebst, und du wirst verstehen, warum ich jetzt nur von ihnen sprechen will. Wenn auch sie auf Erden unglaublich leiden, so geschieht das natürlich wegen ihrer Väter; sie werden für ihre Väter, die den Apfel vom Baume der Erkenntnis gegessen haben, bestraft. Aber das ist doch eine Erklärung aus einer anderen Welt, denn hier auf Erden ist sie dem Menschenherzen unbegreiflich! Ein Unschuldiger kann doch nicht für einen Schuldigen leiden, und dazu noch solche Unschuldige! Wundere dich über mich, Aljoscha, auch ich liebe kleine Kinder unsäglich. Überhaupt kannst du dir merken, daß grausame, leidenschaftliche, sinnliche, kurz – karamasoffsche Naturen gerade Kinder mitunter ungeheuer lieben können. Kinder unterscheiden sich, solang sie Kinder sind, also ungefähr bis zum siebenten Jahr, ganz unglaublich von erwachsenen Menschen, ganz als ob sie andere Wesen wären, eine ganz andere Natur hätten. Ich kannte einen Mörder im Gefängnis: Er hatte in seinem Leben ganze Familien in den Häusern geschlachtet, in die er nachts eingebrochen war, um zu stehlen, und da hatte er natürlich auch Kinder nicht verschont. Als er aber im Gefängnis saß, liebte er sie dermaßen, daß diese Liebe allen geradezu wunderlich schien. Immer stand er am Fenster seiner Zelle und blickte auf die kleinen Kinder, die im Gefängnishof spielten. Einen kleinen Knaben hatte er einmal an sein Fenster gelockt und schließlich hatten sich die beiden rührend angefreundet ... Weißt du noch nicht, wozu ich das alles sage, Aljoscha? Der Kopf tut mir weh, und ich bin, ich weiß nicht warum, traurig.“

„Du siehst auch so sonderbar aus und redest so wunderlich,“ bemerkte Aljoscha, „als ob du geistesabwesend wärst.“

„Bei der Gelegenheit fällt mir ein, was mir vor kurzem ein Bulgare in Moskau erzählte,“ fuhr Iwan Fedorowitsch fort, als hätte er die Bemerkung des Bruders gar nicht gehört. „Er schilderte, wie die Türken und Tscherkessen dort allerorten hausen, da sie einen allgemeinen Aufstand der Slawen befürchten, – das heißt, wie sie brandschatzen, morden, Frauen und kleine Mädchen vergewaltigen, wie sie die Gefangenen mit den Ohren an die Zäune nageln, damit sie sie bis zum nächsten Morgen, an dem sie gehängt werden sollen, nicht zu bewachen brauchen, und so weiter, – alles kann man kaum erzählen. Man spricht zuweilen von der ‚tierischen‘ Grausamkeit des Menschen, doch ist das höchst ungerecht und für die Tiere wirklich beleidigend: Ein Tier kann niemals so grausam sein wie der Mensch, so ausgesucht, so künstlerisch grausam. Ein Tiger zerreißt und frißt bloß, und das ist schließlich alles, was er versteht. Es würde ihm niemals einfallen, die Ohren seiner Opfer anzunageln und diese eine Nacht lang so angenagelt stehen zu lassen, oder sich eine gleich große Folter, die er mit seinen Mitteln ausführen könnte, zu ersinnen. Diese Türken haben übrigens mit besonderer Wollust Kinder gequält, haben sie mit Dolchen aus dem Mutterleibe herausgeschnitten, haben Säuglinge in Gegenwart der Mütter in die Luft geworfen und mit den Bajonetten aufgefangen. Daß es vor den Augen der Mütter geschah, war ja das Hauptvergnügen. Ein kleines Bild hat auf mich am meisten Eindruck gemacht. Stell dir vor: Ein Säugling auf den Armen seiner zitternden Mutter, um sie herum die eingedrungenen Türken. Sie haben sich ein lustiges Späßchen ausgedacht: Sie liebkosen das Kleine, lachen, um es zu erheitern, was ihnen auch gelingt: der Säugling lacht mit. Da hält ein Türke seine Pistole vor das Köpfchen des Kleinen. Der Knabe lacht fröhlich, streckt die Ärmchen dem blanken Ding entgegen, um es zu erfassen, und plötzlich drückt der Künstler den Hahn ab, ihm gerade ins Gesicht, und zerschmettert ihm das Köpfchen ... Raffiniert, nicht wahr? Übrigens sagt man, die Türken liebten Süßigkeiten sehr.“

„Bruder, was soll das, warum redest du davon?“ fragte Aljoscha.

„Ich meine, wenn der Teufel nicht existiert und ihn folglich der Mensch erdacht hat, so hat er ihn nach seinem Bilde geschaffen.“

„In dem Falle also ebensogut wie Gott.“

„Es ist bewundernswert, wie du die Worte zu verdrehen verstehst, wie Polonius im Hamlet sagt,“ bemerkte Iwan lachend. „Du hast mich beim Wort gefangen; meinetwegen, es freut mich. Dann muß ja der Gott auch danach sein, wenn ihn der Mensch sich zum Bilde, zum Bilde des Menschen geschaffen hat! Du fragst mich, was das soll? Sieh mal, ich bin ein Liebhaber und Sammler gewisser Tatsachen und, glaub mir, ich hebe aus Zeitungen, Büchern, Broschüren oder einerlei woraus eine gewisse Art von Geschichten auf. Ich habe schon eine ganze Sammlung von solchen Blättern. Die Türken sind natürlich auch aufgehoben. Doch das sind immerhin Ausländer, aber ich habe auch heimatliche Geschichten, die sogar noch besser sind als die türkischen. Weißt du, bei uns gibt es viel Prügel, viel Ruten- und Peitschenhiebe, und das ist national. Bei uns sind angenagelte Ohren undenkbar, wir sind doch immerhin Europäer, aber Ruten und Peitschen sind etwas, das zu uns gehört und uns nicht genommen werden kann. Im Auslande, scheint es, schlägt man jetzt überhaupt nicht mehr. Haben sich nun die Sitten dort dermaßen geläutert, oder haben sich die Gesetze dort so ausgearbeitet, daß der Mensch den Menschen, wie es scheint, nicht mehr prügeln darf, ich weiß es nicht. Doch dafür haben sie sich mit etwas anderem entschädigt, etwas gleichfalls rein Nationalem, das bei uns, sollte man meinen, unmöglich wäre, obgleich es übrigens auch hier schon Wurzel schlägt, besonders seit der Zeit, da die religiöse Bewegung in unserer höheren Gesellschaft begonnen hat. Ich habe eine prächtige kleine Broschüre, eine Übersetzung aus dem Französischen. Es ist eine Art Bericht darüber, wie in Genf vor nicht langer Zeit, vor etwa fünf Jahren, ein Räuber und Mörder, namens Richard, ein, glaube ich, dreiundzwanzigjähriger Bursche, der sich kurz vor dem Tode zum Christentum bekehrt hatte, hingerichtet wurde. Dieser Richard war als uneheliches Kind schon mit sechs Jahren von den Eltern irgendwelchen Schweizer Hirten geschenkt worden, und die hatten ihn erzogen, um ihn dann später zur Arbeit zu gebrauchen. Er wuchs auf wie ein wildes kleines Tier, die Hirten ließen ihn nichts lernen, schickten ihn schon mit sieben Jahren, um die Herde zu hüten, hinaus in die Feuchtigkeit und Kälte, fast ohne Kleider und ohne Nahrung. Und natürlich sah niemand von den Hirten etwas Schlechtes darin, oder dachte jemand darüber nach, oder bereute man etwas, im Gegenteil, alle hielten sie sich für vollkommen berechtigt, ihn so zu behandeln, denn Richard war ihnen wie ein Gegenstand geschenkt worden, und sie fanden es nicht einmal für nötig, ihn zu ernähren. Richard hat selbst ausgesagt, daß er in jenen Jahren, wie der verlorene Sohn in der biblischen Geschichte, gern von den Trebern gegessen hätte, die die Schweine fraßen, doch man gab ihm nicht einmal die zu essen und schlug ihn, wenn er sich etwas davon stahl. Und so verbrachte er seine Kindheit und Jugend, bis er groß wurde und stehlen ging. Dieser Wilde begann in Genf als Tagelöhner Geld zu verdienen, vertrank natürlich alles, lebte wie ein Ungeheuer und erschlug und beraubte schließlich irgendeinen alten Mann. Er wurde ergriffen, gerichtet und zum Tode verurteilt. Dort ist man ja nicht sentimental. Doch siehe, im Gefängnis umringten ihn alsbald Pastoren und alle Anhänger christlicher Brüderschaften, wohltätige Damen usw. usw. Ihm wird im Gefängnis das Beten und Schreiben beigebracht, ihm wird das Evangelium erklärt, ihm wird ins Gewissen geredet, er wird überzeugt, bedrängt, gepreßt, gedrückt und geknetet, bis er schließlich selbst sein Verbrechen feierlich eingesteht. Er ist bekehrt, er schreibt an die Richter, daß er ein Auswurf des Menschengeschlechts sei, und daß der Herr ihn endlich erleuchtet und gesegnet habe. Ganz Genf gerät in Wallung, das ganze wohltätige, hochehrsame Genf regt sich auf! Alles, was sich zu den Höheren und Wohlerzogenen zählt, stürzt hin ins Gefängnis zu Richard. Er wird geküßt und umarmt: ‚Du bist unser Bruder,‘ heißt es, ‚siehe, der Herr hat dich erleuchtet, die Gnade des Herrn ruht auf dir!‘ Richard aber weint nur vor Rührung. ‚Ja, ja, die Gnade des Herrn ruht auf mir! Früher in meiner Kindheit und Jugend freute ich mich nur auf Schweinefraß, jetzt aber hat mich der Herr erleuchtet, und ich sterbe im Herrn!‘ – ‚Ja, ja, Richard, stirb im Herrn, du hast Blut vergossen und mußt dafür im Herrn sterben. Wenn du auch nicht die Schuld daran trägst, daß du den Herrn früher überhaupt nicht kanntest, damals, als du die Schweine um das Futter beneidetest, und als man dich dafür schlug, daß du es von den Schweinen stahlst – was sehr unrecht von dir war, denn stehlen ist verboten –, aber du hast Blut vergossen und mußt dafür sterben.‘ Und siehe, der letzte Tag bricht an. Der schwach gewordene Richard ist in Tränen aufgelöst und wiederholt nur ununterbrochen: ‚Das ist mein schönster Tag, ich gehe heut ein zum Herrn!‘ – ‚Ja,‘ singen sofort die Pastoren, Richter und die wohltätigen Damen, ‚ja, das ist dein glücklichster Tag, denn du gehst ein zum Herrn!‘ Und alles zieht hin zum Schafott, zu Fuß und in Equipagen, als Geleit des Schinderkarrens, in dem Richard zum Schafott gefahren wird. Schließlich kommt man an. ‚Stirb, Bruder,‘ schreit man ihm von allen Seiten zu, ‚gehe hin in Frieden, stirb im Herrn, denn Sein Segen ruht auf dir!‘ Und siehe, der von Bruderküssen bedeckte Bruder Richard wird auf das Schafott geschleppt, sein Kopf wird auf die Guillotine gelegt und hübsch brüderlich abgekappt – dafür, daß sich der Segen Gottes über ihn ergossen hatte. Nun, das ist charakteristisch! Diese Broschüre ist ins Russische von irgendwelchen Aufklärungsbeflissenen aus der höheren Gesellschaft übersetzt und zur Bildung und Unterweisung des russischen Volkes mit Tageszeitungen und anderen Blättern und Monatsheften unentgeltlich versandt worden. Was diese Geschichte von Richard so bemerkenswert macht, ist das Nationale. Bei uns ginge es nicht gut an, den Kopf des Bruders bloß deswegen zu fällen, weil er erst jetzt unser Bruder geworden ist, und weil der Segen Gottes sich über ihn ergossen hat. Doch dafür haben wir etwas anderes, das jenem kaum nachsteht. Bei uns gibt es die historische, unmittelbarste und einfachste Strafe durch Hiebe. In der Tat, das Peitschen scheint vielen von uns ein Vergnügen zu sein. Nekrassoff erzählt in einem seiner Gedichte, wie ein Bauer sein Pferd mit der Peitsche auf die Augen schlägt, ‚auf die frommen Augen‘. Nun, wer hat das nicht gesehen, das ist doch echt russisch. Er beschreibt, wie das schwache Tier, dessen überladene Fuhre im grundlosen Wege stecken geblieben ist, anzieht und anzieht und doch nicht weiter kann. Der Bauer peitscht es, peitscht es, ohne zu wissen, was er tut. Unbarmherzig, trunken vom Prügeln, peitscht er immer weiter: ‚Und wenn du auch krepierst, aber zieh, zieh’s heraus!‘ Das Pferd zieht und zieht, und da fängt er an, das arme schutzlose Tier auf die weinenden, die ‚frommen Augen‘ zu schlagen. Außer sich zog das Tier und zog die Fuhre heraus, zitternd, ohne zu atmen, irgendwie seitwärts und fast springend, ganz unnatürlich und schimpflich, – Nekrassoff hat es geradezu grausam geschildert. Und das ist doch schließlich nur ein Pferd, und Pferde hat Gott zum Prügeln gegeben. So wenigstens haben es uns die Tataren erklärt, und zum Andenken haben sie uns dann die Knute geschenkt. Aber man kann doch auch Menschen peitschen. Und da prügelt nun ein intelligenter gebildeter Herr mit dem Einverständnis seiner Madame sein eigenes Töchterchen, ein Kind von sieben Jahren, prügelt es mit Ruten, – ich habe mir alles ausführlich notiert: Der liebe Papa freut sich, daß die Ruten spitze Enden haben: ‚Werden schärfer ziehen,‘ sagt er, und so beginnt er denn, sein Töchterchen zu prügeln. Ich weiß, es gibt viele Leute, die beim Prügeln mit jedem Schlage immer mehr in Eifer geraten, denen das Schlagen schließlich zum Genuß, zur Wollust wird. Sie schlagen eine Minute lang, schlagen fünf Minuten, zehn Minuten lang, je länger desto stärker, desto wütender, desto schmerzhafter. Das Kind schreit, bis es nicht mehr schreien kann, es keucht nur noch: ‚Papa, Papa!‘ Und diese Geschichte war nun durch irgendeinen teuflisch unanständigen Zufall vor Gericht gekommen. Es wird ein Verteidiger angenommen. Unser Volk hat nicht umsonst den Advokaten ein ‚gemietetes Gewissen‘ benannt. Der Verteidiger schreit zur Rechtfertigung seines Klienten: ‚Herrgott, was ist das doch für eine gewöhnliche, in jeder Familie täglich vorkommende Geschichte: Der Vater hat seine Tochter bestraft! Und so etwas bringt man heutzutage, zur Schmach unserer Zeit, vors Gericht!‘ Die Geschworenen ziehen sich zurück und beschließen die Freisprechung des Angeklagten. Das Publikum gröhlt vor Freude darüber, daß man einen Peiniger freigesprochen hat. – Ach, schade, daß ich nicht zugegen war, ich hätte sofort vorgeschlagen, zu Ehren dieses Vaters ein Stipendium auf seinen Namen zu stiften! ... Ja, diese kleinen Bilder sind ganz vorzüglich. Doch von Kindern habe ich noch bessere Geschichten, habe sehr viel solcher Geschichten von kleinen Märtyrern, Aljoscha. Zum Beispiel: Ein kleines fünfjähriges Mädchen wird seinen Eltern plötzlich verhaßt. Es sind ‚ehrenwerte, gebildete und wohlerzogene Leute vom Beamtenstande‘. Sieh, ich behaupte nochmals positiv, daß sie eine besondere Eigenschaft vieler Menschen ist, diese Vorliebe für das Foltern kleiner Kinder: gerade daß es Kinder sind, ist für sie die Hauptsache. Zu allen anderen Subjekten der Menschheit verhalten sie sich wohlwollend und freundlich, wie alle gebildeten und humanen Europäer, doch Kinder zu quälen lieben sie ganz ungemein, und aus diesem Grunde lieben sie auch die Kinder. Hier ist es wohl gerade die Schutzlosigkeit dieser kleinen Geschöpfe, die sie fasziniert, diese engelgleiche Zutraulichkeit des Kindes, das nicht fortlaufen kann und niemanden hat, an den es sich klammern könnte, – das ist es gerade, was das böse Blut des Peinigers erhitzt. Versteht sich, in jedem Menschen verbirgt sich das Tier, – im Zorn, in der wollüstigen Erregung durch die Schreie des gefolterten Opfers, in der sinnlosen Wut, in der Reizbarkeit der durch eigene Verderbnis zugezogenen Krankheiten, wie Podagra, Leberleiden und so weiter. Diesem armen fünfjährigen Mädchen wurden von seinen ‚gebildeten‘ Eltern die verschiedensten Foltern zugedacht. Die Kleine wurde geschlagen, geprügelt, mit den Füßen gestoßen, – kurz, ohne selbst zu wissen weswegen, bedeckten diese Eltern den Körper ihres Kindes mit blauen Flecken. Zuletzt gelangten sie noch zu einer höheren Art von Folter: Sie schlossen das arme kleine Ding für die ganze Nacht in den kalten Abtritt ein, weil, wie sie sagten, die Kleine in der Nacht nicht gebeten habe, sie aufs Töpfchen zu setzen – als ob ein fünfjähriges kleines Wesen in seinem festen Kinderschlaf davon erwachen könnte! Und dafür haben sie ihm das Gesicht mit Kot beschmiert und es gezwungen, diesen Kot zu essen, ja, dazu hat die Mutter, versteh mich recht, die Mutter ihr Kind gezwungen! Und diese Mutter hat schlafen können, während ihr Kindchen an dem kalten, gemeinen Ort war und weinte! Verstehst du das, Aljoscha, wenn das kleine Wesen, das noch nicht begreifen kann, was mit ihm geschieht, dort im Örtchen in Dunkelheit und Kälte hockt und sich mit seinem kleinen, kleinen Fäustchen an seine schluchzende, magere kleine Kinderbrust schlägt und mit unschuldigen, frommen Tränen zu seinem ‚lieben Gottchen‘ betet, damit er es beschütze, – verstehst du das, Aljoscha, du mein Freund und Bruder und demütiger Gottesdiener, der du bist – begreifst du, wozu diese Sinnlosigkeit nötig und geschaffen ist? Ohne sie, sagt man, könnte der Mensch auf der Welt nicht leben, denn ohne sie würde er nie Gut und Böse erkannt haben. Aber wozu dieses Teufels Gut und Böse erkennen, wenn das so viel kostet? Ist doch dann die ganze Erkenntniswelt nicht diese Kindertränen zum ‚lieben Gottchen‘ wert. Ich rede nicht von den Leiden der Großen. Die haben den Apfel vom Baume der Erkenntnis gegessen und – zum Teufel mit ihnen, aber die Kinder, die Kinder! Quäle ich dich, Aljoschka? Du bist ja ganz geistesabwesend, wie es scheint. Ich werde aufhören, wenn du willst.“

„Tut nichts, ich will mich gleichfalls quälen,“ murmelte Aljoscha.

„Nur eines noch, nur noch ein einziges Bild! Es ist gar zu charakteristisch, und ich habe es erst vor ganz kurzer Zeit gelesen in einer der beiden großen Sammlungen, im ‚Archiv‘ oder im ‚Altertum‘ glaube ich, ich weiß es nicht mehr genau, – ich muß nachschlagen, habe vergessen, wo es war. Es datiert aus der Zeit der strengsten Leibeigenschaft, noch zu Anfang des Jahrhunderts. Ach, Heil unserem Zar-Befreier! – Es lebte damals zu Anfang des Jahrhunderts ein General, ein General mit guten Verbindungen, ein steinreicher Gutsbesitzer, doch einer von jenen Leuten – die allerdings auch damals bereits selten geworden waren –, die, wenn sie sich aus dem Dienst zurückzogen, fast überzeugt waren, sich das Recht über Leben und Tod ihrer Leibeigenen verdient zu haben. Solche gab es damals. Also dieser General lebt auf seinem Gute mit etwa zweitausend leibeigenen Seelen, lebt natürlich pompös, trätiert seine ärmeren Gutsnachbarn wie seine Freischlucker und Hofnarren. Seine Meute besteht aus Hunderten von Hunden, und die Zahl der Rüdenknechte ist nicht viel geringer als hundert, alle sind sie uniformiert und beritten. Und siehe, eines Tages verletzt ein kleiner, kaum achtjähriger Junge beim Spielen den Fuß des Lieblingsjagdhundes seiner Exzellenz. ‚Warum lahmt denn plötzlich mein Lieblingshund?‘ erkundigt sich der General. Es wird ihm berichtet, daß, nun, so und so, dieser Knabe den Hund mit einem Stein am Fuß getroffen habe. ‚Ah, also der ist es,‘ sagt der General mit einem entsprechenden Blick auf den Knaben. ‚Nehmt ihn.‘ Man nahm ihn, nahm ihn von der Mutter fort und steckte ihn in die Arrestkammer. Am nächsten Morgen ritt der General mit allem Drum und Dran zur Jagd, alle Gäste um ihn herum, Rüdenwärter und Piköre, Jägermeister, alle beritten und in Livree, und die Hunde gekoppelt. Das ganze Hofgesinde war versammelt, und vorn vor allen anderen steht die Mutter des schuldigen Knaben. Da wird der Knabe aus der Arrestkammer gebracht. Es ist ein trüber, kalter, nebliger Herbsttag, wie geschaffen zur Jagd. Der General befiehlt, den Knaben zu entkleiden; der Kleine wird bis auf die Haut entkleidet, er zittert, ist fast ganz bewußtlos vor Angst, wagt kaum zu atmen ... ‚Hetzt ihn!‘ kommandiert plötzlich der General, und ‚lauf, lauf!‘ schreien dem Kleinen die Piköre zu, – der Knabe läuft ... ‚Packt ihn!‘ brüllt der General und hetzt auf den kleinen laufenden Knaben seine ganze wilde Hundeschar. Vor den Augen der Mutter hetzte er das Kind zu Tode, und die Hunde zerrissen es in Stücke! ... Der General wurde, glaub ich, unter Kuratel gestellt ... Nun, was hätte man wohl anders mit ihm tun sollen? Erschießen? Zur Befriedigung des sittlichen Gefühls erschießen? Sag doch, Aljoschka!“

„Ja, erschießen!“ sagte Aljoscha leise, mit einem blassen, gleichsam verzerrten Lächeln, den Blick zum Blick des Bruders erhebend.

„Bravo!“ rief Iwan triumphierend, als ob ihn die Antwort geradezu entzückt hätte, „wenn schon du es sagst, dann muß es auch so richtig sein! ... Ach, du Asket! Da sieh doch einer, was für ein kleiner Teufel in deinem Herzen sitzt, Aljoscha Karamasoff!“

„Ich habe eine Dummheit gesagt, aber ...“

„Das ist es ja, daß darauf ein ‚aber‘ folgt!“ fiel ihm Iwan lebhaft ins Wort. „Weißt du auch, du kleiner Knabe, daß die Dummheiten auf Erden nur allzu nötig sind? Auf Unsinn beruht die Welt, und ohne ihn würde auf ihr vielleicht überhaupt nichts geschehen. Ich weiß, was ich weiß!“

„Was weißt du?“

„Ich begreife nichts,“ fuhr Iwan wie im Fieber fort, – es war, als ob er irre redete – „und ich will jetzt auch nichts begreifen. Ich will bei der Tatsache bleiben. Ich habe schon längst beschlossen, nicht begreifen zu wollen. Sobald ich etwas begreifen will, entstelle ich sofort die Tatsachen, jetzt aber will ich bei der Tatsache bleiben.“

„Warum quälst du mich so?“ stieß Aljoscha plötzlich klagend hervor, – „wirst du es mir denn nicht endlich sagen?“

„Natürlich werde ich es dir sagen; deswegen habe ich doch alles das erzählt, um es dir sagen zu können. Teuer bist du mir, Alexei, ich gönne dich niemandem, ich kämpfe um dich, ich trete dich nicht deinem Sossima ab!“

Iwan schwieg eine Zeitlang, und sein Gesicht ward über die Maßen traurig.

„Höre mich an: Ich habe nur die kleinen Kinder genommen, damit es augenscheinlicher sei. Von den übrigen Tränen der Menschen, mit denen die Erde von ihrer Kruste bis zum Mittelpunkt der Achse durchtränkt ist, will ich weiter kein Wort reden, ich habe das Thema absichtlich beschränkt. Ich bin, sagen wir, eine Wanze und gestehe mit meiner ganzen Erniedrigung ein, daß ich nicht begreifen kann, wozu alles so eingerichtet ist. Die Menschen tragen, wie sich erweist, selbst an allem die Schuld: Ihnen ward das Paradies gegeben, sie aber wollten Freiheit und raubten das Feuer vom Himmel, obgleich sie wußten, daß sie dadurch unglücklich würden. Also ist kein Grund vorhanden, sie zu bemitleiden. O, nach meinem armseligen, irdischen, euklidischen Verstande weiß ich nur das eine, daß es Leiden gibt, Schuldige aber nicht, daß sich bei allem eines aus dem anderen gerade und einfach ergibt, daß alles fließt und sich aufwägt, – aber das ist nur eine euklidische Ente, das weiß ich doch, und ich kann doch nicht einwilligen, danach zu leben! Was habe ich davon, daß keine Schuldigen vorhanden sind, und daß sich alles gerade und einfach eines aus dem anderen ergibt, und daß ich das weiß! Ich brauche Vergeltung oder ich vernichte mich!! Und die Vergeltung nicht irgendwo und irgendwann in der Unendlichkeit, sondern noch hier auf Erden, so daß ich sie selbst sehen kann. Ich habe geglaubt, also will ich auch mit eigenen Augen sehen, und wenn ich zu der Stunde schon tot bin, so soll man mich auferstehen lassen – denn es wäre doch, wenn alles ohne mich geschehen sollte, gar zu kränkend für mich. Will ich doch nicht dazu gelitten haben, um mit meinen Verbrechen und meinen Leiden für irgendeinen Anderen die zukünftige Harmonie zu düngen. Ich will mit meinen Augen sehen, wie das Reh arglos neben dem Löwen ruht, und wie der Ermordete aufsteht und seinen Mörder umarmt. Ich will dabei sein, wenn alle plötzlich erfahren, warum und wozu alles so gewesen ist. Auf diesem Wunsch beruhen alle Religionen der Erde. Ich aber glaube. Doch da sind nun die kleinen Kinder, was soll ich mit ihnen anfangen? Das ist eine Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. Zum hundertstenmal sage ich dir: Solcher Fragen gibt es in Unmenge, doch ich habe nur die Kinder allein genommen, denn hierbei ist das, was ich zu sagen habe, unwiderlegbar klar. Höre mich: Wenn alle leiden müssen, um damit die ewige Harmonie zu erkaufen, so sag mir doch bitte, was das mit den kleinen Kindern zu tun hat? Es bleibt unbegreiflich, warum auch sie leiden müssen, und warum auch sie durch Leiden die Harmonie erkaufen sollen. Warum sind auch sie zu Material gemacht, um für irgend jemanden die zukünftige Harmonie zu düngen? Die Solidarität der Menschen in der Sünde begreife ich sehr wohl, ich begreife auch die Solidarität in der Vergeltung – aber doch nicht mit kleinen Kindern Solidarität in der Sünde! Und wenn die Wahrheit wirklich darin besteht, daß sie mit ihren Vätern in allen Verbrechen derselben solidarisch sind, so ist diese Wahrheit, versteht sich, nicht von dieser Welt und ist für mich unbegreiflich. Manch ein Spaßvogel wird wohl sagen, daß es schließlich auf dasselbe hinauskäme: das Kind werde groß und hätte dann selbst übergenug Zeit zum Sündigen. Aber dieser kleine Knabe wurde doch schon im achten Lebensjahre von Hunden zerrissen ... O, Aljoscha, ich will nicht lästern! Ich begreife doch, wie groß die Erschütterung des Weltalls sein wird, wenn alles im Himmel, auf der Erde und unter der Erde in einen einzigen Lobgesang zusammenfließt, wenn alles, was lebt, und was gelebt hat, ausruft: ‚Gerecht bist du, o Herr, denn offenbar sind jetzt deine Wege!‘ Wenn selbst die Mutter den Peiniger, der ihren Sohn von Hunden hat zerreißen lassen, umarmt und alle drei mit Tränen singen: ‚Gerecht bist du, o Herr,‘ – dann, ja dann ist die Krone alles Wissens und Erkennens erworben, dann wird alles seine Erklärung finden. Hier aber ist nun für mich der Haken, denn gerade das ist es, was ich nicht annehmen kann. Und daher beeile ich mich, solange ich noch auf Erden bin, meine Maßregeln zu ergreifen. Denn sieh, Aljoscha, es ist doch möglich, daß ich, wenn ich diesen Augenblick noch erlebe oder von den Toten auferweckt werde, um das alles zu sehen, – daß auch ich dann beim Anblick der Mutter, die den Peiniger ihres Sohnes umarmt, mit allen anderen zusammen ausrufe: ‚Gerecht bist du, o Herr!‘ Ich aber will das nicht ausrufen. Und darum beeile ich mich, solange es noch Zeit ist, Maßregeln zu ergreifen, und darum danke ich von vornherein für jede höhere Harmonie. Ist sie doch keine einzige Träne jenes gequälten kleinen Kindes wert, das sich mit der kleinen Faust an die kleine Brust geschlagen und zu seinem ‚lieben Gottchen‘ gebetet hat. Sie ist es nicht wert, denn diese Kindertränen sind unausgelöscht geblieben. Sie aber müssen ausgelöscht werden, oder sonst gibt es keine Harmonie. Aber womit, womit kannst du sie auslöschen? Ist das überhaupt möglich? Was tut es schließlich, daß sie gerächt werden? Was tue ich mit der Rache, wozu nützen mir die Höllenqualen der Peiniger, was kann die Hölle hierbei wieder gutmachen, wenn das Kind schon zu Tode gequält ist? Und wo bleibt dann die Harmonie, wenn es noch eine Hölle gibt? Ich will verzeihen und umarmen und will nicht, daß noch gelitten wird. Und wenn die Leiden der Kinder zur Ergänzung jener Summe von Leid, die zum Kauf der Wahrheit erforderlich ist, hinzugerechnet werden müssen, so behaupte ich im voraus, daß die Wahrheit diesen Preis nicht wert ist. Ich will nicht, daß die Mutter den Peiniger ihres Sohnes umarmt! Wie darf sie es wagen, ihm zu vergeben? Wenn sie will, kann sie für sich vergeben – mag sie ihm ihr unermeßliches Mutterleid und alle ihre Schmerzen verzeihen: doch die Leiden ihres von Hunden zerrissenen Kindes darf sie nicht verzeihen, dazu hat sie kein Recht, und wenn auch ihr Kind selbst dem Peiniger vergibt! Wenn das aber so ist, wenn man nicht verzeihen darf, wo ist dann die Harmonie? Gibt es in der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte, das das Recht hätte, zu verzeihen? Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich keine. Lieber bleibe ich bei ungerächten Leiden. Lieber bleibe ich bei meinem ungerächten Leiden und in meinem heiligen unstillbaren Zorn, selbst wenn ich nicht im Recht wäre. Ist doch diese Harmonie gar zu teuer eingeschätzt! Wenigstens erlaubt es mein Beutel nicht, so viel für den – Eintritt zu zahlen. Darum aber beeile ich mich, mein Eintrittsbillett zurückzustellen. Und wenn ich ein Mann von Ehre bin, so ist es meine Pflicht, dies sobald als möglich zu tun. So tue ich es denn auch. Nicht Gott ist es, den ich ablehne, Aljoscha, ich schicke ihm nur die Eintrittskarte ergebenst zurück.“

„Das ist Empörung,“ sagte Aljoscha leise mit gesenktem Blick.

„Empörung? Dieses Wort wünschte ich nicht von dir zu hören,“ sagte Iwan empfindsam mit tiefem Blick auf den Bruder. „Kann man denn in der Empörung leben? Ich aber will leben. Sage mir offen, ich rufe dich an, antworte: Nehmen wir an, du selbst solltest das Gebäude des Menschenschicksals errichten mit dem Ziel, zum Schluß alle Menschen zu beglücken, ihnen endlich Ruhe und Frieden zu geben, doch zu dem Zweck stünde dir unvermeidlich bevor, und wär’s auch nur ein einziges kleines Wesen zu Tode zu quälen, sagen wir, dasselbe kleine Kind, das sich mit der kleinen Faust an die kleine Brust schlug – auf dessen ungerächten Tränen solltest du dieses Gebäude errichten, – würdest du es übernehmen, unter dieser Bedingung der Baumeister des großen Gebäudes zu sein? Sage es mir und lüge nicht!“

„Nein, ich würde es nicht übernehmen,“ sagte Aljoscha leise.

„Und kannst du glauben, daß die Menschen, für die du baust, einwilligen werden, ihr Glück auf Grund des ungerecht vergossenen Blutes jenes zu Tode gehetzten Knaben zu empfangen? und daß sie dann ewig glücklich sein können?“

„Nein, das kann ich nicht glauben ... Ach, Iwan,“ sagte Aljoscha plötzlich mit aufleuchtenden Augen, „du fragtest vorhin: Gibt es in der ganzen großen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte, das das Recht hätte, zu verzeihen? Aber dieses Wesen gibt es, und es kann alles vergeben, allen und für alles, denn es selbst hat sein unschuldiges Blut für alle und alles hingegeben. Du hast ihn vergessen, auf ihm aber wird sich das Gebäude errichten und ihm wird man zurufen: ‚Gerecht bist du, o Herr, denn deine Wege sind jetzt offenbar.‘“

„Ach, das ist es ja, der ‚Einzige Sündenlose‘ und ‚Sein Blut‘! Nein, ich habe ihn nicht vergessen, im Gegenteil, ich wunderte mich die ganze Zeit, warum du ihn noch nicht vorführtest, denn gewöhnlich ist Er das erste, was deinesgleichen in allen derartigen Diskussionen nennen ... Weißt du, Aljoscha, – du brauchst nicht zu lachen, die Sache ist ernst –: Ich habe einmal, so etwa vor einem Jahr, ein Poem verfaßt. Wenn du noch zehn Minuten mit mir verlieren wolltest, so könnte ich es dir vielleicht erzählen.“

„Wie, du hast ein Gedicht geschrieben?“

„O nein, ist mir nicht eingefallen,“ antwortete Iwan lachend. „Ich habe in meinem ganzen Leben bestimmt nicht einmal zwei Verse zusammengebracht. Dieses ‚Poem‘ habe ich mir ganz einfach ausgedacht, und, ohne es niederzuschreiben, behalten. Oh, ich habe es mir mit Begeisterung ausgedacht! Du wirst also mein erster Leser sein oder sagen wir Zuhörer. Nein, wirklich, warum soll sich der Autor einen Zuhörer entgehen lassen, und wenn es nun noch gar der einzige in Frage kommende ist,“ meinte Iwan lächelnd. „Soll ich also erzählen oder nicht?“

„Ich bin sehr gespannt,“ sagte Aljoscha.

„Nun, mein Poem heißt; ‚Der Großinquisitor‘, – ein unsinniges Ding, aber ich will es dir nun einmal erzählen.“

V.
„Der Großinquisitor“

Natürlich geht es auch hier nicht ohne Vorrede ab, ich meine, ohne ein literarisches Vorwort, – hol’s der Kuckuck!“ begann Iwan lachend, „und schließlich, was bin ich denn für ein Dichter! ... Also – die Handlung spielt bei mir im sechzehnten Jahrhundert, damals aber – dir muß das übrigens schon aus der Schule bekannt sein –, damals war es allgemein gebräuchlich, die himmlischen Mächte in poetischen Darstellungen auf die Erde zu bringen. Von Dante will ich nicht weiter reden. In Frankreich waren es die Schreiber der Gerichtshöfe, die Passionsbrüderschaften und in den Klöstern die Mönche, die ganze Vorstellungen gaben, in denen auf der Szene die Madonna, Engel, Heilige, Christus und selbst Gott dargestellt wurden. Damals war das alles naiv gemeint. In Victor Hugos Notre Dame de Paris wird unter Ludwig XI., zur Feier der Geburt des Dauphins, in Paris, im Saale des Hotel de Ville, unentgeltlich dem Volke eine erbauliche Vorstellung gegeben, unter dem Titel: ‚Le bon jugement de la très sainte et gracieuse Vierge Marie‘, in der sie persönlich erscheint und ihr bon jugement verkündet. Auch bei uns in Moskau wurden früher, vor Peter, eben solche dramatische Aufführungen veranstaltet, vornehmlich nach Stoffen aus dem Alten Testament. Und so gab es denn auch damals, als diese dramatischen Aufführungen so beliebt waren, überall solche Geschichten, sogenannte ‚Poeme‘ und ‚Gedichte‘, in denen je nach Bedarf Heilige, Engel und womöglich alle himmlischen Mächte mitwirkten. In unseren Klöstern wurden diese Werke vielfach übersetzt und abgeschrieben, oder man verfaßte ganz neue – und weißt du auch, wann bereits? Zur Zeit des Tatarenjochs![17] Es gibt zum Beispiel ein Klosterpoem – natürlich aus dem Griechischen: ‚Der Gang der Mutter Gottes durch die Hölle‘, von einer Kühnheit der Phantasie, die der danteschen wirklich nicht nachsteht. Die Mutter Gottes steigt hinab in die Hölle, und der Erzengel Michael führt sie ‚durch die Qualen‘. Sie sieht jeden Sünder in seiner Pein. Unter anderem gibt es dort auch eine äußerst bemerkenswerte Kategorie von Sündern in einem brennenden See: diejenigen, welche in diesem See bereits so weit versunken sind, daß sie nicht mehr herausschwimmen können, von denen heißt es, daß ‚Gott sie bereits vergäße‘ – es ist ein Ausdruck von ungewöhnlicher Tiefe und Kraft. Und siehe, die erschütterte Mutter Gottes fällt weinend vor dem Throne des Höchsten nieder und bittet ihn um Vergebung für alle, die sie dort in der Hölle gesehen hat, für alle ohne Ausnahme. Ihr Gespräch mit Gott ist ungemein interessant. Sie fleht; sie hört nicht auf zu flehen; und wie Gott auf die durchbohrten Hände und Füße ihres Sohnes weist und sie fragt: ‚Wie soll ich seinen Peinigern vergeben?‘ – da befiehlt sie allen Heiligen, allen Märtyrern, allen Engeln und Erzengeln mit ihr zusammen niederzuknien und um die Begnadigung aller ohne Ausnahme zu flehen. Es endet damit, daß sie von Gott die Einstellung der Qualen in jedem Jahr vom Karfreitag bis zum Pfingstsonntag erbittet, und da ertönt aus der Hölle der Dank und der Lobgesang der Sünder, die laut zu ihm rufen: ‚Gerecht bist du, o Herr, da du also gerichtet hast.‘ Von der Art wäre nun auch mein Poem gewesen, wenn ich es in jener Zeit verfaßt hätte. Bei mir erscheint auf der Szene Er. Allerdings spricht Er kein Wort, Er erscheint nur und geht vorüber. Fünfzehn Jahrhunderte sind seit Seinem ersten Erscheinen vergangen, seit der Zeit, da Er den Menschen versprach, wiederzukommen und sein Reich auf Erden zu errichten, fünfzehn Jahrhunderte seit der Zeit, da Er, wie sein Jünger uns berichtet, zu uns sagte, als Er noch unter ihnen wandelte: ‚Wahrlich, ich komme bald. Von jenem Tage aber und der Stunde weiß nicht einmal der Sohn, nur mein himmlischer Vater weiß es.‘ Doch die Menschheit erwartet Ihn in demselben Glauben und mit derselben Sehnsucht wie früher. Was sage ich! – in noch größerem Glauben erwartet sie Ihn, denn fünfzehn Jahrhunderte sind schon seit der Zeit vergangen, da der Himmel dem Menschen ein Unterpfand gab ...

‚Was das Herz dir saget, daran glaube:

Der Himmel gibt kein Unterpfand den Menschen.‘

Es ist wahr, es gab damals viele Wunder. Es gab Heilige, die wunderbare Heilungen vollbrachten, und zu manchen frommen Einsiedlern stieg die Himmelskönigin herab, wie wir aus vielen Lebensgeschichten wissen. Doch auch der Teufel schlief nicht: und siehe, in der Menschheit erhoben sich Zweifel an der Wahrheit dieser Wunder. Und da verbreitete sich im Norden, in Deutschland, eine furchtbare neue Ketzerei. Ein großer Stern, ‚ähnlich einer Leuchte – das heißt also, der Kirche – fiel in die Quellen der Wasser, und siehe, das Wasser ward bitter‘. Die Sekten begannen gotteslästerlich die Wunder zu leugnen. Aber um so glühender glauben die Treugebliebenen. Die Tränen der Menschen steigen nach wie vor zu Ihm empor, man erwartet Ihn, man liebt Ihn, man hofft auf Ihn, wie früher ... Und siehe, so viele Jahrhunderte haben die Menschen in feurigem Glauben zu Ihm gebetet und Ihn angerufen: ‚Unser Herr und Gott, erscheine uns!‘ daß Er in Seinem unermeßlichen Mitleid zu den Flehenden herabsteigen will. War Er doch auch schon vordem herabgestiegen und zu gar manchen Gerechten, Märtyrern und heiligen Einsiedlern gegangen, wie wir es aus deren Lebensgeschichte wissen. Tjutscheff hat, vollkommen überzeugt, daß es so war, folgenden Vers geschrieben:

‚Unter der Last des dreiendigen Kreuzes,

Inmitten der beiden verdammten Schächer,

Ging Christ der König, wie ein Verbrecher,

Der die Erde segnete.‘

Was natürlich auch so war, das sage ich dir von mir aus. Und siehe, Er will in seiner Barmherzigkeit wenigstens auf einen Augenblick zum Volke hinabsteigen, zu dem sich quälenden, dem leidenden, schmutzig-sündigen, doch kindlich Ihn liebenden Volke. Die Handlung spielt bei mir in Spanien, in Sevilla, zur Zeit der schrecklichsten Inquisition, als zum Ruhme Gottes täglich Scheiterhaufen auf zum Himmel flammten, und endlos, bei flackerndem Fackelschein,

‚In mächtigen, grausigen Zügen

Die Ketzer zogen zum Autodafé.‘

Er kam natürlich nicht so zu den Menschen, wie Er nach Seiner Verheißung zu Ende der Zeiten in Seiner himmlischen Herrlichkeit erscheinen wird: plötzlich, wie ein Blitz von Morgenrot zu Abendrot. Nein, Er will nur auf einen Augenblick Seine Kinder wiedersehen, und zwar gerade dort, wo die Scheiterhaufen der Ketzer prasseln, wo Flammenzungen Menschenblut lecken. In Seiner unermeßlichen Barmherzigkeit wandelt Er noch einmal in derselben Menschengestalt, in der Er vor fünfzehn Jahrhunderten dreiunddreißig Jahre lang unter den Menschen erschienen war. Er erscheint auf den ‚heißen Plätzen‘ der südlichen Stadt, in der noch am Vorabend in Gegenwart des Königs, des ganzen Hofes, aller Granden, Kardinäle und der schönsten Hofdamen, in Gegenwart der zahlreichen Bevölkerung Sevillas, durch den greisen Kardinal, den Großinquisitor, auf einmal fast ein ganzes Hundert Ketzer ad majorem gloriam Dei verbrannt worden war. Unmerklich ist Er plötzlich erschienen, und siehe, – sonderbar – alle erkennen Ihn. Das könnte eine der besten Stellen des Poems sein, ich meine, warum Ihn alle erkennen. Eine unbezwingbare Macht zieht das Volk zu Ihm hin; es umringt Ihn und wächst mehr und mehr um Ihn an und folgt Ihm, wohin Er geht. Er aber wandelt stumm unter ihnen mit einem stillen Lächeln unermeßlichen Mitleids. Eine Sonne der Liebe brennt in Seinem Herzen. Strahlen der Erleuchtung und der Kraft fließen aus Seinen Augen, und jeden, über den sie sich ergießen, machen sie vor Gegenliebe erbeben. Er streckt ihnen Seine Hände entgegen, Er segnet sie, und von der Berührung Seiner Hände, ja auch nur von der Berührung Seines Gewandes geht heilende Kraft aus. Da ruft aus der Menge ein Greis, der von Geburt an blind ist, Ihn, der vorübergeht, laut an: ‚Herr, heile mich, auf daß auch ich dich schaue.‘ Und siehe, es fällt wie Schuppen von seinen Augen, und der Blinde sieht Ihn. Das Volk weint und küßt die Erde, auf der Er gestanden hat. Kinder streuen vor Ihm Blumen; sie singen und rufen: ‚Hosianna!‘ ‚Das ist Er, Er selbst!‘ raunt sich das Volk immer lauter und lauter zu, ‚das muß Er sein, das kann kein anderer sein als Er!‘ – Da bleibt Er vor dem Portal der Kathedrale von Sevilla stehen. Man trägt gerade unter Weinen und Wehklagen einen weißen offenen Kindersarg in den Dom: in ihm liegt das tote siebenjährige Töchterchen eines vornehmen Bürgers, sein einziges Kind. Es liegt in weißen Blumen gebettet. ‚Er wird dein Kind erwecken‘, ruft man aus der Menge der weinenden Mutter zu. Aus der Kathedrale tritt dem Sarge ein Pater entgegen: er bleibt verwundert stehen und runzelt die Brauen. Da aber wirft sich die Mutter des toten Kindes klagend Ihm zu Füßen und sagt: ‚Bist du es, so erwecke mein Kind!‘ und flehend hebt sie ihre Hände zu Ihm empor. Die Prozession bleibt stehen, der kleine Sarg wird vor dem Portal der Kathedrale Ihm zu Füßen gelegt. Voll Mitleid blickt er auf das tote Kind, und seine Lippen murmeln leise: ‚Talitha kumi‘ – ‚stehe auf, Mädchen‘. Und das Mädchen erhebt sich im Sarge, setzt sich und blickt lächelnd mit weit offenen verwunderten Augen um sich. Ihre Hände pressen die weißen Rosen, mit denen sie im Sarge gelegen hat, an die Brust. Im Volke Bestürzung, Schreien, Schluchzen und – siehe da, da geht ... im selben Augenblick geht an der Kathedrale der greise Kardinal, der grausame Großinquisitor vorüber. Es ist ein fast neunzigjähriger Greis, hoch und aufrecht noch schreitet er, sein Gesicht ist vertrocknet und runzlig, die Augen sind eingefallen, sie liegen tief, doch noch glimmt in ihnen ein unheimliches Feuer, das unerwartete Funken sprühen kann. Nicht in seinen prächtigen Kardinalsgewändern geht er vorüber, in den leuchtenden Farben, in denen er gestern vor dem Volke erschienen war, als er die Feinde des römischen Glaubens den Flammen übergab. – Nein, in diesem Augenblick trägt er nur seine alte, grobe Mönchskutte. Ihm folgen in angemessener Entfernung seine dunklen Gehilfen und Sklaven und die ‚heilige‘ Wache. Nun bleibt er stehen vor dem Volk und beobachtet aus der Ferne. Er sieht alles, er sieht, wie der Sarg vor Seine Füße gestellt wird, er sieht, wie das Mädchen aufersteht, und sein Gesicht verfinstert sich. Er runzelt die grauen, buschigen Brauen, und sein Blick erglüht unheilverkündend. Er streckt seine Hand aus und befiehlt den Wachen, Ihn zu ergreifen. Und siehe, so groß ist seine Macht, und dermaßen unterwürfig und zitternd gehorsam ist ihm das Volk, daß es vor den Wachen wortlos zurückweicht und diese, inmitten der Grabesstille, Hand an Ihn legen und Ihn fortführen läßt. Und jäh beugt sich die ganze Menge, wie ein Mann, bis zur Erde vor dem greisen Großinquisitor. Der aber segnet schweigend das kniende Volk und geht stumm vorüber. Die Wache jedoch führt den Gefangenen in ein enges, dunkles, gewölbtes Verlies im alten Palaste des Heiligen Tribunals und schließt ihn dort ein. Der Tag vergeht, es wird Nacht: ‚dunkle, dumpfe, atemanhaltende, lautlose, sevillanische Nacht‘. Die Luft ist schwül von Lorbeer- und Orangenduft. Und da, inmitten der tiefen, lautlosen Nacht öffnet sich die eiserne Tür des Verlieses, und er, der Greis, der Großinquisitor tritt langsam mit der Leuchte in der Hand über die Schwelle. Er ist allein, hinter ihm schließt sich die Tür. Er steht und blickt lange schweigend in Sein Gesicht. Endlich tritt er unhörbar näher, stellt die Leuchte auf den Tisch und fragt Ihn:

„‚Bist Du es? Du?‘ Und da er keine Antwort erhält, fügte er schnell hinzu: ‚Antworte nicht, schweige. Was könntest du auch sagen? Ich weiß nur zu gut, was Du sagen würdest. Aber Du hast nicht einmal das Recht, zu dem noch etwas hinzuzufügen, was von Dir schon früher gesagt worden ist. Warum also bist Du gekommen, uns zu stören? Denn du bist gekommen, uns zu stören! Das weißt Du selbst. Aber weißt Du auch, was morgen sein wird? Ich weiß nicht, wer Du bist und will es auch nicht wissen: Bist Du Er, oder bist Du nur Sein Ebenbild? Doch morgen noch werde ich Dich richten und Dich als den ärgsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und dasselbe Volk, das heute noch Deine Füße geküßt hat, wird morgen auf einen einzigen Wink meiner Hand zu Deinem Scheiterhaufen hinstürzen, um gierig die glühenden Kohlen zu schüren, – weißt Du das? Ja, vielleicht weißt Du es,‘ fügt er in Nachdenken versunken hinzu, ohne aber auch nur auf eine Sekunde den durchdringenden Blick von seinem Gefangenen abzuwenden.“

„Ich verstehe nicht ganz, Iwan, – was soll das?“ fragte lächelnd Aljoscha, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte. „Ist das einfach uferlose Phantasie, oder ist es irgendein Irrtum des Alten, ein unmögliches qui pro quo?“

„Nimm meinetwegen das letztere an,“ sagte Iwan lachend, „wenn dich unser zeitgenössischer Realismus bereits dermaßen verwöhnt hat, daß du nichts Phantastisches mehr ertragen kannst. Wenn du willst, also qui pro quo, mag es meinetwegen so sein. Es ist ja wahr,“ sagte er, sichtlich erheitert, „der Alte ist doch ein neunzigjähriger Greis und hat vielleicht schon längst über seinen Ideen den Verstand verloren. Der Gefangene aber hat ihn wohl durch sein Aussehen betroffen gemacht, wie? Oder schließlich konnte es ja auch einfach Fieberwahn sein, die Halluzination eines neunzigjährigen Greises kurz vor dem Tode – oder auch nur eine Nachwirkung der Erregung vom vergangenen Tage. Aber kann es denn uns beiden nicht ganz gleich sein, ob es qui pro quo oder uferlose Phantasie ist? Hier handelt es sich doch nur darum, daß der Alte sich endlich aussprechen muß! Er muß doch wenigstens einmal das laut aussprechen, worüber er runde neunzig Jahre geschwiegen hat.“

„Und der Gefangene schweigt gleichfalls? Sieht ihn an und sagt kein Wort?“

„Kein einziges Wort, und so muß es sogar unbedingt sein,“ sagte Iwan wieder lachend. „Der Alte sagt Ihm doch selbst, daß er nicht einmal das Recht habe, etwas zu dem hinzuzufügen, was er schon früher gesagt hat. Wenn du willst, so liegt gerade darin der Grundzug des römischen Katholizismus. Wenigstens fasse ich ihn so auf. Mit anderen Worten: ‚Du hast alles dem Papst übergeben, und folglich liegt jetzt alles beim Papst, Du aber komme überhaupt nicht wieder, störe uns wenigstens nicht mehr!‘ In diesem Sinne reden sie ja nicht nur, sondern schreiben sie sogar, wenigstens die Jesuiten. Ich habe es selbst in den Schriften ihres Gottesgelahrten gelesen. ‚Hast Du das Recht, uns auch nur eines der Geheimnisse jener Welt, aus der Du gekommen bist, aufzudecken?‘ fragt Ihn mein Greis, und er gibt Ihm statt Seiner die Antwort auf die eigene Frage: ‚Nein, dieses Recht hast Du nicht, denn das hieße Neues zu dem, was Du schon früher gesagt hast, hinzufügen, und den Menschen die Freiheit nehmen, für die Du so eingestanden bist, als Du noch auf Erden warst. Alles, was Du Neues verkünden könntest, würde ein Eingriff in die Glaubensfreiheit der Menschen sein, denn es würde als Wunder erscheinen, und die Freiheit ihres Glaubens war Dir damals vor anderthalb Jahrtausenden das Teuerste. Warst Du es nicht, der damals so oft sagte: „Ich will euch frei machen“? Jetzt hast Du sie gesehen, diese freien Menschen!‘ fügt der Greis plötzlich mit nachdenklichem, spöttischem Lächeln hinzu ... ‚Ja, dies zu erreichen, war schwer, es hat uns viel gekostet,‘ fährt er dann fort, ohne seinen strengen Blick von Ihm abzuwenden, ‚doch wir haben es schließlich vollendet, in Deinem Namen. Anderthalb Jahrtausende haben wir uns mit dieser Freiheit gequält, doch jetzt ist das überwunden und gut überwunden. Du glaubst nicht, daß es gut überwunden ist? Du blickst mich milde und sanftmütig an und würdigst mich nicht einmal Deines Unwillens? So höre denn, daß gerade jetzt diese Menschen mehr denn je überzeugt sind, vollkommen frei zu sein. Sie haben uns eigenhändig ihre Freiheit gebracht und sie gehorsam und unterwürfig uns zu Füßen gelegt. Doch das ist unser Werk. Oder war es das, was auch Du wolltest, war es diese Freiheit? ...‘“

„Ich verstehe wieder nicht,“ unterbrach ihn Aljoscha, „ist das von ihm ironisch gesagt, will er sich über Ihn lustig machen?“

„Fällt ihm nicht ein. Er rechnet es sich und den Seinen vollkommen im Ernst zum Verdienst an, daß sie – endlich einmal! – die Freiheit besiegt haben, und daß sie dies nur zu dem einen Zweck getan hatten, um die Menschen glücklich zu machen. ‚Denn erst jetzt‘ – er meint natürlich die Inquisition – ‚ist es zum erstenmal möglich, auch an das Glück der Menschen zu denken. Der Mensch war als Empörer geschaffen; können aber Empörer glücklich sein? Du wurdest gewarnt,‘ sagt der Greis zu Ihm, ‚Du littest nicht Mangel an Warnungen und Fingerzeigen, doch Du achtetest der Warnungen nicht, und Du verschmähtest den einzigen Weg, auf dem man die Menschen hätte glücklich machen können, Du verwarfst ihn. Doch zum Glück gingst Du fort und übergabst die Arbeit uns. Du verhießest, Du bestätigtest es durch Dein Wort, Du gabst uns das Recht, zu binden und zu lösen, und kannst es Dir selbstverständlich nicht einfallen lassen, dieses Recht uns jetzt wieder abzunehmen. Warum also bist Du gekommen, uns zu stören?‘“

„Was bedeutet das: ‚Du littest nicht Mangel an Warnungen und Fingerzeigen‘?“ fragte Aljoscha.

„Dieser Punkt ist der wichtigste, über den mußt Du den Alten sich aussprechen lassen,“ sagte Iwan. „Und der Alte fuhr fort zu Ihm:

„‚Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins, der große Geist sprach zu Dir in der Wüste. Und wie die Schriften uns überliefern, hat er Dich versucht. War das so? Und wäre es möglich, etwas Wahreres zu sagen als das, was er Dir in seinen drei Fragen vorlegte, und was Du verwarfst, und was in den Schriften „Versuchungen“ genannt wird? Doch ich sage Dir, wenn jemals auf Erden ein wirkliches, ein nie wieder dagewesenes, wahrlich gewittermäßiges Wunder sich begeben hat, so war es dasjenige an jenem Tage, am Tage dieser drei Versuchungen! Gerade in der Erscheinung dieser drei Fragen bestand das Wunder. Wenn es möglich wäre, sich vorzustellen, nur zur Probe und zum Beispiel, daß diese drei Fragen des furchtbaren Geistes aus den Büchern spurlos verschwänden, und daß man sie also von neuem erdenken und formen müßte, um sie wieder in die Schriften einzutragen, und zu dem Zweck alle Weisen der Erde, Herrscher, Priester, Gelehrte, Philosophen, Dichter versammelte und zu ihnen sagte: Löst die Aufgabe, erdenkt und formt drei Fragen, doch solche, die nicht nur der Größe dieses Ereignisses gleichkommen, sondern die noch außerdem in drei Worten, nur in drei menschlichen Sätzen die ganze zukünftige Geschichte der Welt und der Menschheit ausdrücken – was meinst Du wohl, könnte die ganze Weisheit der Erde zusammengenommen und vereint etwas ersinnen, das an Kraft, Macht und Tiefe jenen drei Fragen, die Dir der mächtige und kluge Geist in der Wüste tatsächlich vorgelegt hat, auch nur annähernd ähnlich wäre? Schon allein an diesen Fragen, an dem Wunder ihrer sichtbaren Gestaltung, begreift der Mensch, daß er es nicht mit einem menschlichen fließenden Verstande zu tun hat, sondern mit einem ewigen und absoluten Geist. Denn wahrlich, in diesen drei Fragen ist die ganze weitere Menschengeschichte gleichsam in ein einziges Ganzes zusammengefaßt und vorhergesagt, und sind kundgetan drei Dinge, in denen alle unlösbaren historischen Widersprüche der menschlichen Natur zusammentreffen. Damals konnte man das noch nicht wissen, denn das Zukünftige war unbekannt. Jetzt aber, da anderthalb Jahrtausende vergangen sind, sehen wir, daß in diesen drei Fragen alles dermaßen richtig erraten und vorausgesagt ist, daß sich nichts weder zu ihnen hinzufügen noch von ihnen abstreichen läßt.‘

„‚Entscheide selbst, wer damals recht hatte: Du oder jener, der Dich damals befragte? Erinnere Dich der ersten Frage. Ihr Sinn, wenn auch nicht ihr Wortlaut war folgender: „Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit irgendeiner Freiheitsverheißung, die sie in ihrer Einfalt und angeborenen Stumpfheit nicht einmal begreifen können, vor der sie sich fürchten, und die sie schreckt, – denn für den Menschen und die menschliche Gemeinschaft hat es niemals und nirgends etwas Unerträglicheres gegeben als die Freiheit! Siehst Du dort jene Steine in dieser nackten, verdorrten Wüste? Verwandle sie in Brote, und die Menschheit wird Dir wie eine Herde nachlaufen, wie eine edelmütige und gehorsame Herde, wenn sie auch ewig zittern wird vor Furcht, Du könntest Deine Hand zurückziehen, und Deine Brote hätten dann ein Ende.“ Du aber wolltest den Menschen nicht der Freiheit berauben, und Du verschmähtest den Vorschlag, denn was ist das für eine Freiheit, dachtest Du, wenn der Gehorsam mit Broten erkauft wird? Und Deine Antwort war: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein ...“ Aber weißt Du auch, daß im Namen dieses Erdenbrotes der Erdgeist sich gegen Dich erheben, mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird, und alle ihm folgen und ausrufen werden: „Wer gleicht ihm wohl? er gab uns das Feuer vom Himmel!“ Weißt Du auch, daß, wenn Jahre, Jahrhunderte vergangen sind, die Menschheit durch den Mund ihrer Weisheit und Wissenschaft verkünden wird, daß es Verbrechen überhaupt nicht gibt, und folglich auch keine Sünde, dafür aber Hungrige. „Sättige sie zuerst, dann kannst Du von ihnen Tugenden verlangen!“ werden sie auf ihre Fahne schreiben, die sie gegen Dich erheben, und durch die Dein Tempel stürzen wird. An der Stelle Deines Tempels wird sich ein neues Gebäude erheben, wird der furchtbare babylonische Turm gebaut werden, und obgleich auch der, ganz wie der frühere, nicht vollendet werden wird, so hättest Du doch diesen neuen Turm vermeiden und die Leiden der Menschen um tausend Jahre abkürzen können, – denn zu wem sonst, wenn nicht zu uns, sollen sie kommen, nachdem sie sich tausend Jahre lang mit ihrem Turme abgequält haben! Sie werden uns dann wieder unter der Erde hervorsuchen, uns, die in den Katakomben sich Verbergenden – denn man wird uns wieder verfolgen und martern –, sie werden uns finden und uns anflehen: „Sättigt uns, denn die, so uns das Feuer des Himmels versprachen, haben es uns nicht gegeben.“ Und dann werden wir ihren Turm auch vollenden, denn vollenden wird derjenige, der den Hunger stillt, den Hunger aber stillen werden nur wir, in Deinem Namen, und wir werden lügen, daß es in Deinem Namen geschehe. Oh, niemals, niemals werden sie aus eigener Kraft ihren Hunger stillen können! Keine Wissenschaft wird ihnen Brot geben, solange sie frei bleiben, und so wird es denn damit enden, daß sie ihre Freiheit uns zu Füßen legen und sagen werden; „Knechtet uns, aber macht uns satt.“ Sie werden schließlich begreifen, daß Freiheit zusammen mit genügend Brot nicht für jeden erreichbar ist, denn niemals, niemals werden sie verstehen, untereinander zu teilen! Desgleichen werden sie sich überzeugen, daß sie auch niemals werden frei sein können, denn sie sind kraftlos, lasterhaft, niedrig, und sind Empörer! Du versprachst ihnen himmlisches Brot, ich aber frage Dich nochmals: Kann sich dieses Brot in den Augen des schwachen, ewig verderbten und ewig undankbaren Menschengeschlechts mit irdischem Brote messen? Und wenn Dir um des himmlischen Brotes willen Tausende und Zehntausende nachfolgen, was soll dann mit den Millionen und Milliarden von Wesen geschehen, die nicht die Kraft haben, das Erdenbrot um des Himmelsbrotes willen zu verachten? Oder sind dir nur die Zehntausende der Großen und Starken teuer, die übrigen Millionen aber, die unzählig sind wie der Sand am Meer, die Schwachen, doch Dich Liebenden, sollen die dann nur zum Material für die Großen und Starken dienen? Nein, uns sind auch die Schwachen teuer. Sie sind lasterhaft und sind Empörer, aber zum Schluß werden sie gehorsam werden. Sie werden sich über uns wundern und uns für Götter halten, weil wir, die wir uns an ihre Spitze stellen, eingewilligt haben, die Freiheit zu ertragen, diese Freiheit, die ihnen solche Furcht einflößt, und weil wir einwilligen, über sie zu herrschen, – ja so furchtbar wird es ihnen zum Schluß werden, frei zu sein! Wir aber werden sagen, wir gehorchten Dir und herrschten nur in Deinem Namen. Wir werden sie wieder betrügen, denn Dich werden wir nicht mehr zu uns einlassen. Und in diesem Betruge wird unser Leiden bestehen, denn wir werden lügen müssen. Das war es, was diese erste Frage der Wüste bedeutete, und was Du im Namen der Freiheit, die Du über alles stelltest, verschmähtest. Währenddessen aber lag in der Frage das große Geheimnis dieser Welt. Hättest Du die „Brote“ angenommen, so hättest Du die Menschen von ihrer ewigen Seelenangst erlöst, denn du hättest diese eine Frage, die wichtigste jedes einzelnen Menschen wie der ganzen Menschheit, die so sehnsüchtig nach Antwort verlangt, beantwortet, – die Frage: „was sollen wir anbeten?“ Es gibt keine unaufhörlichere und quälendere Sorge für den Menschen, als, wenn er frei bleibt, etwas zu finden, vor dem er sich beugen kann. Doch sucht der Mensch sich nur vor so etwas zu beugen, das bereits keinem Zweifel an seine Anbetungswürdigkeit unterworfen ist, auf daß alle Menschen sofort gleichfalls bereit seien, dasselbe gemeinsam anzubeten. Denn die Sorge dieser kläglichen Geschöpfe besteht nicht nur darin, etwas zu finden, was dieser oder jener anbeten kann, sondern unbedingt so etwas, das alle sofort gleichfalls anbeten wollen, unbedingt alle zusammen! Gerade dieses Bedürfnis der gemeinsamen Anbetung ist seit Anfang der Zeiten die größte Qual des Menschen gewesen, ob wir ihn als einzelnes Wesen oder als ganze Rasse nehmen. Um der gemeinsamen Anbetung willen haben sich die Menschen gegenseitig in grausamen Kämpfen zerfleischt. Sie schufen Götter und riefen einander zu: „Verlaßt eure Götter und kommt, um die unsrigen anzubeten, oder Tod und Verderben euch und euren Göttern!“ Und also wird es sein bis zum Ende der Welt, selbst dann, wenn aus der Welt die Götter verschwinden: gleichviel, dann wird man sich vor Götzen niederwerfen. Du kanntest dieses Geheimnis der menschlichen Natur, Du konntest es unmöglich nicht kennen, doch Du verschmähtest das einzige Positive, das Dir vorgeschlagen wurde, um alle zu zwingen, sich widerspruchslos vor Dir zu beugen: das irdische Brot, und Du verschmähtest es um der Freiheit und des himmlischen Brotes willen. So siehe doch, was Du weiter getan hast. Und wieder alles im Namen der Freiheit! Ich sage Dir, der Mensch kennt keine quälendere Sorge als die, einen zu finden, dem er möglichst schnell jenes Geschenk der Freiheit, mit dem er als unglückliches Geschöpf geboren wird, übergeben kann. Doch die Freiheit der Menschen erobert nur der, der ihr Gewissen beruhigt. Mit dem Brote wurde Dir eine unbestreitbare Macht angeboten: gibst Du Brot, so wird sich der Mensch vor Dir beugen, denn es gibt nichts Positiveres als Brot; wenn aber zu gleicher Zeit irgendein anderer hinter Deinem Rücken sein Gewissen erobert – oh, dann wird er selbst Dein Brot verlassen und jenem folgen, der sein Gewissen umstrickt. Darin hattest Du recht. Denn das Geheimnis des menschlichen Seins liegt nicht in dem bloßen Leben, sondern im Zweck des Lebens. Ohne eine feste Vorstellung zu haben, wozu er leben soll, wird der Mensch nie einwilligen, zu leben, und er wird sich eher vernichten, als daß er auf Erden leben bliebe – selbst dann, wenn auch um ihn herum Brote in Fülle wären. Das ist nun einmal so. Aber was ergab sich aus Deiner Weigerung? Anstatt die Freiheit der Menschen unter Deine Herrschaft zu beugen, hast Du sie ihnen noch vergrößert! Oder hattest Du vergessen, daß Ruhe und selbst der Tod dem Menschen lieber sind als freie Wahl in der Erkenntnis von Gut und Böse? Es gibt nichts Verführerisches für den Menschen als die Freiheit seines Gewissens, doch gibt es auch nichts Quälenderes für ihn. Und siehe, anstatt fester Grundlagen zur Beruhigung des menschlichen Gewissens, ein für allemal – wähltest Du alles, was es Ungewöhnliches, Rätselhaftes und Unbestimmtes gibt, nahmst Du alles, was über die Kräfte der Menschen ging und handeltest daher, als ob Du sie überhaupt nicht geliebt hättest. Wer aber war es, der das tat? Der, der gekommen war, Sein Leben für sie hinzugeben! Anstatt Dir die menschliche Freiheit zu unterwerfen, hast Du sie noch vergrößert, hast Du sie vervielfacht und hast mit ihren Qualen das Seelenreich des Menschen auf ewig belastet. Dich gelüstete nach freier Liebe des Menschen, auf daß er Dir frei folge, bezaubert und gebannt durch Dich. Statt nach dem festen alten Gesetz, sollte der Mensch hinfort mit freiem Herzen selbst entscheiden, was Gut und was Böse ist, wobei er nur Dein Vorbild als einzige Richtschnur vor sich hatte. Aber hast Du wirklich nicht daran gedacht, daß er schließlich doch auch Dein Vorbild und Deine Wahrheit verwerfen und sie bestreiten wird, wenn man ihn mit einer so furchtbaren Last, wie der Freiheit der Wahl, bedrückt? Die Menschen werden ausrufen, daß die Wahrheit nicht in Dir sei, denn es war unmöglich, sie in größerer Verwirrung und Qual zurückzulassen, als Du es getan hast, da Du ihnen soviel Sorgen und unlösbare Aufgaben hinterließest. Auf diese Weise hast Du selbst den Grund zum Sturze Deiner Herrschaft gelegt, und so beschuldige denn auch niemanden außer Dir. Was aber wurde Dir angeboten? Es gibt drei Mächte, es sind die einzigen drei Mächte auf Erden, die das Gewissen dieser kraftlosen Empörer zu ihrem Glück auf ewig besiegen und bannen können, – das sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität. Du verwarfst das eine, wie das andere und auch das dritte, und zeigtest dies deutlich im Beispiel. Als der furchtbare und wissende Geist Dich auf die Zinne des Tempels führte und zu Dir sprach: „Wenn Du wissen willst, ob Du Gottes Sohn bist, so stürze Dich hinab, denn es ist gesagt von Ihm, daß Engel Ihn auffangen und tragen würden, damit Er seinen Fuß an keinen Stein stoße: Du wirst dann erfahren, ob Du Gottes Sohn bist, und wirst dann beweisen, wie groß Dein Glaube an Deinen Vater ist“. Du aber wiesest die Versuchung von Dir, Du unterlagst ihr nicht und stürztest Dich nicht hinab. Oh, natürlich, Du handeltest stolz und mächtig wie ein Gott, aber sind denn die Menschen, sind denn diese schwachen Geschöpfe mit den Empörerinstinkten, – sind denn das Götter? Oh, Du wußtest gar wohl, daß Du, wenn Du nur einen Schritt getan hättest, nur eine Bewegung, um Dich hinabzustürzen, Du sofort Gott versucht und Deinen ganzen Glauben an ihn verloren hättest und an der Erde zerschellt wärest, an derselben Erde, die zu retten Du gekommen warst, und der kluge Geist, der Dich versuchte, hätte seine Freude daran gehabt. Ich aber frage Dich nochmals: Gibt es denn viele solcher wie Du? Und hast Du wirklich nur einen Augenblick glauben können, daß auch die Menschen einer ähnlichen Versuchung widerstehen würden? Ist denn die Natur des Menschen so geschaffen, daß er das Wunder zurückweisen und selbst in so furchtbaren Lebensaugenblicken, in den Augenblicken seiner fundamentalen, schrecklichsten und quälendsten Seelenfragen, mit der freien Entscheidung seines Herzens auskommen könnte? Oh, Du wußtest, daß Deine Tat in den Schriften aufbewahrt werden würde, und daß sie die letzte Tiefe der Zeiten und die letzten Grenzen der Erde erreichen wird, und Du hofftest, daß der Mensch, wenn er Dir folgt, mit Gott bleiben und des Wunders nicht bedürfen werde. Doch Du wußtest nicht, daß der Mensch, sobald er das Wunder verwirft, sofort auch Gott verwirft, denn der Mensch sucht nicht so sehr Gott, als er Wunder sucht. Und da der Mensch nicht die Kraft hat, ohne Wunder auszukommen, so wird er sich neue Wunder schaffen, bereits selbst ausgedachte Wunder, und wird das Wunder der Zauberer, die Hexerei alter Weiber anbeten, wenn er auch hundertmal Empörer, Ketzer und ein Gottloser ist. Du stiegst nicht herab vom Kreuze, als man Dir mit Spott und Hohn zurief: „Steige herab vom Kreuze, und wir werden glauben, daß Du Gottes Sohn bist“. Du aber stiegst nicht herab, weil Du wiederum den Menschen nicht durch ein Wunder zum Sklaven machen wolltest, weil Dich nach freier und nicht nach durch Wunder erzwungener Liebe verlangte. Dich dürstete nach freier Liebe, nicht nach knechtischem Entzücken vor der Macht, die ihm ein für allemal Furcht eingeflößt hat. Aber auch hierin hast Du die Menschen gar zu hoch eingeschätzt, denn Sklaven sind sie, das sage ich Dir, wenn sie auch als Empörer geschaffen sind. Blicke um Dich und urteile selbst: Da sind nun anderthalb Jahrtausende vergangen, gehe hin und sieh sie Dir an: Wen hast Du bis zu Dir emporgehoben? Ich schwöre Dir, der Mensch ist schwächer und niedriger geschaffen, als Du von ihm geglaubt hast. Wie soll er denn dasselbe erfüllen, was Du erfüllt hast? kann er das überhaupt? Da Du ihn so hoch einschätztest, handeltest Du, als ob Du kein Mitleid mehr mit ihm gehabt hättest, denn Du verlangtest gar zu viel von ihm, – und wer war es, der das tat? Derselbe, der ihn mehr als sich selbst liebte! Hättest Du ihn weniger geachtet, so hättest Du auch weniger von ihm verlangt, das aber wäre der Liebe näher gekommen, denn seine Bürde wäre leichter gewesen. Er ist schwach und gemein. Was will es besagen, daß er sich jetzt allerorten gegen unsere Macht empört und auf seine Empörung stolz ist? Das ist der Stolz eines Kindes, eines unreifen Schulknaben. Das sind kleine Kinder, die sich in der Klasse empört und den Lehrer hinausgejagt haben. Aber auch der Triumph der Schulkinder wird ein Ende haben, und er wird ihnen teuer zu stehen kommen. Sie werden die Tempel einäschern und die Erde mit Blut überschwemmen. Und die dummen Kinder werden schließlich ahnen, daß sie doch nur kraftlose Empörer sind, die ihre eigene Empörung nicht ertragen können. Sie werden sich unter dummen Tränen gestehen, daß derjenige, welcher sie als Empörer geschaffen hat, zweifellos sich über sie hat lustig machen wollen. Sie werden sich das in Verzweiflung sagen, und ihre Worte werden eine Gotteslästerung sein, die sie noch unglücklicher machen wird, denn die menschliche Natur erträgt keine Gotteslästerung, und zu guter Letzt straft sie sich selbst dafür. Also ist nichts als Unruhe, Verwirrung und Unglück den Menschen zuteil geworden, nachdem Du soviel für ihre Freiheit gelitten hast! Dein großer Prophet sagt in der Allegorie seiner Vision, er hätte alle gesehen, die in der ersten Auferstehung auferstehen würden, und es seien je zwölftausend aus jedem Stamm gewesen. Doch wenn es ihrer nur so wenige waren, so waren auch sie gewissermaßen nicht Menschen, sondern Heilige, sondern Götter. Sie haben Dein Kreuz erduldet, sie haben jahrzehntelang hungrige, nackte Wüste ertragen, sich nur von Heuschrecken und Wurzeln genährt, – und, versteht sich, Du kannst nun stolz auf diese Kinder der Freiheit, der Freiheit in der Liebe und der Freiheit im großen Opfer um Deines Namens willen, hinweisen. Vergiß aber nicht, daß ihrer im ganzen nur wenige Tausende waren, und noch dazu – Götter! Wo aber sind die übrigen? Worin besteht die Schuld der übrigen schwachen Menschen, daß sie nicht dasselbe haben ertragen können, was die Starken ertragen haben? Worin liegt die Schuld der schwachen Seele, daß es über ihre Kräfte geht, so furchtbare Geschenke anzunehmen? Kamst Du denn wirklich nur zu den Auserwählten und für die Auserwählten? Wenn das wahr ist, so ist es ein Geheimnis, das nicht wir durchschauen können. Wenn es aber ein Geheimnis ist, so waren auch wir im Recht, das Geheimnis zu verkünden und sie zu lehren, daß nicht die freie Entscheidung ihrer Herzen und nicht die Liebe wichtig ist, sondern eben das Geheimnis, dem sie blind gehorchen müssen, und sei es auch gegen ihr Gewissen. Und so haben wir getan. Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität aufgebaut. Und die Menschen freuten sich, daß sie wieder wie eine Herde geführt wurden, und daß von ihren Herzen endlich das ihnen so furchtbare Geschenk, das ihnen soviel Qual gebracht hatte, genommen wurde. Waren wir im Recht, als wir so lehrten und handelten? Sprich! Haben wir denn nicht die Menschheit geliebt, da wir so bescheiden ihre Kraftlosigkeit erkannten, liebevoll die Bürde des Menschen erleichterten und seiner schwachen Natur sogar die Sünden erließen? Warum nun bist Du gekommen, uns zu stören? Und warum blickst Du mich so stumm und tief mit Deinen stillen Augen an? Sei zornig. Ich will Deine Liebe nicht, denn ich selbst liebe Dich nicht. Und was sollte ich wohl vor Dir verbergen? Oder weiß ich nicht, mit wem ich rede? Was ich Dir zu sagen habe, ist Dir schon bekannt, das lese ich in Deinen Augen. Und sollte ich etwa unser Geheimnis vor Dir verbergen? Vielleicht willst Du es gerade von meinen Lippen vernehmen? So höre denn: Wir sind nicht mit Dir, sondern mit ihm, das ist unser Geheimnis! Schon lange sind wir nicht mit Dir, sondern mit ihm, schon seit acht Jahrhunderten. Es sind nun acht Jahrhunderte her, da wir von ihm das nahmen, was Du unwillig von Dir wiesest, jene letzte Gabe, die er Dir anbot, als er Dir alle Erdenreiche zeigte: Wir nahmen von ihm Rom und das Schwert der Cäsaren, und wir erklärten, daß nur wir allein die Herren dieser Welt seien, die einzigen Herrscher der Erde, wenn wir auch unser Werk bis jetzt noch nicht vollendet haben. Doch wessen Schuld ist das? Oh, unser Werk ist bis jetzt nur im Anfangsstadium, immerhin ist es schon begonnen worden. Lange noch wird man auf die Vollendung des Werkes warten müssen, und viel wird die Erde inzwischen leiden, doch wir werden unser Ziel erreichen und werden Cäsaren sein, und dann werden wir an das universale Glück der Menschen denken. Und doch hättest Du auch damals schon das Schwert der Cäsaren nehmen können. Warum verwarfst Du diese letzte Gabe? Hättest Du diesen dritten Ratschlag des mächtigen Geistes angenommen, so hättest Du alles geschaffen, was der Mensch auf Erden sucht: hättest ihm gegeben, vor wem er sich beugen, wem er sein Gewissen einhändigen kann, und auf welche Weise sich endlich alle Menschen zu einem einzigen, einstimmigen Ameisenhaufen vereinigen könnten. Denn das Bedürfnis nach der universalen Vereinigung ist die dritte und letzte Qual der Menschen. In der Gesamtheit hat die Menschheit immer danach gestrebt, sich unbedingt welteinheitlich einzurichten. Viel große Völker mit großer Geschichte hat es gegeben, doch je höher diese Völker standen, um so unglücklicher waren sie, denn um so stärker erkannten oder empfanden sie die Notwendigkeit der allweltlichen Vereinigung der Menschen. Große Eroberer, die Timur und die Dschingis-Chan, zogen wie Wetterwolken mit Wirbelsturm über die Erde, in dem Bestreben, die Welt zu erobern, und auch sie drückten, wenn auch unbewußt, dasselbe mächtige Bedürfnis der Menschheit nach der allgemeinen und weltumfassenden Vereinigung aus. Hättest Du das Schwert und den Purpur des Herrschers genommen, so hättest Du die Weltherrschaft begründet und der Welt den Frieden gegeben. Denn wahrlich, wer sollte wohl sonst über die Menschen herrschen, wenn nicht diejenigen, in deren Händen ihr Gewissen und ihre Brote sind? Und so nahmen wir das Schwert der Cäsaren, da wir es aber nahmen, verwarfen wir natürlich Dich und folgten ihm. Oh, es werden noch Jahrhunderte des Unfugs ihres freien Verstandes, ihrer Wissenschaft und der Menschenfresserei vergehen – denn wenn sie ihren babylonischen Turm ohne uns beginnen, werden sie mit der Menschenfresserei enden. Dann aber wird das Tier zu uns herankriechen, und es wird uns die Füße lecken, und sie mit den blutigen Tränen seiner Augen netzen. Und wir werden uns auf das Tier setzen und den Kelch erheben, und auf ihm wird geschrieben stehen: „Geheimnis!“ Doch dann erst, dann erst wird für die Menschen die Herrschaft der Ruhe und des Glücks beginnen. Du bist stolz auf Deine Auserwählten, doch Du hast eben nur Auserwählte, wir aber werden Allen Ruhe geben. Und das ist noch nicht alles, o nein: wie viele von diesen Auserwählten, von den Starken, die Auserwählte hätten werden können, ermüdeten schließlich in der Erwartung Deiner, und brachten und bringen die Kraft ihres Geistes und die Glut ihres Herzens auf ein anderes Ackerfeld und endigen damit, daß sie gegen Dich, gerade gegen Dich ihre freie Fahne erheben. Doch Du selbst hast diese Fahne erhoben. Bei uns jedoch werden Alle glücklich sein, und sie werden sich weder empören noch sich gegenseitig vernichten, wie sie es in Deiner Freiheit allerorten tun. Oh, wir werden sie überzeugen, daß sie bloß dann frei sein werden, wenn sie sich von ihrer Freiheit zu unseren Gunsten lossagen und sich uns unterwerfen. Nun sage: Werden wir recht haben, oder wird das gelogen sein? Nein, sie werden sich selbst überzeugen, daß wir recht haben, denn sie werden sich erinnern, bis zu welchem Entsetzen in Sklaverei und Verwirrung sie Deine Freiheit gebracht hat. Die Freiheit, der freie Geist und die Wissenschaft werden sie in so dunkle Klüfte und Abgründe führen und vor solche Wunder und undurchdringliche Geheimnisse stellen, daß die einen von ihnen, die Ununterwürfigen doch Wilden, sich selbst vernichten werden, die Ununterwürfigen doch Schwachen dagegen sich gegenseitig vernichten, und die übrigen, die Dritten, die Kraftlosen und Unglücklichen zu uns herankriechen und zu unseren Füßen aufstöhnen werden: „Ja, ihr hattet recht, ihr allein besaßt Sein Geheimnis, und wir kehren zu euch zurück ... rettet uns vor uns selbst“. Wenn sie von uns Brote erhalten, werden sie natürlich erkennen, daß wir nur ihre Brote, die von ihren eigenen Händen geschaffenen Brote von ihnen nehmen, um sie wiederum unter ihnen zu verteilen, also ihnen ohne jedes Wunder Brot geben. Sie werden sehen, daß wir nicht Steine zu Broten machen – doch wahrlich, mehr noch als über das Brot werden sie sich darüber freuen, daß sie es aus unseren Händen erhalten! Denn nur zu gut werden sie sich erinnern, daß früher, ohne uns, sich selbst die Brote, die sie schufen, in ihren Händen bloß in Steine verwandelten, daß aber, als sie zu uns zurückkehrten, selbst die Steine in ihren Händen zu Broten wurden. Nur zu gut, nur zu gut werden sie zu schätzen wissen, was es heißt, sich ein für allemal zu unterwerfen! Solange die Menschen das nicht begreifen, werden sie unglücklich sein. Wer hat am meisten zu diesem Unverständnis beigetragen? Sprich! Wer hat die Herde zerstückt und sie auf unbekannten Wegen versprengt? Doch die Herde wird sich wieder zusammenfinden und sich von neuem unterwerfen, und dann für immer, für immer. Dann werden wir ihnen ein stilles, bescheidenes Glück geben, das Glück kraftarmer Kreaturen, als die sie geschaffen sind. Oh, wir werden sie schließlich überzeugen, daß sie gar kein Recht haben, stolz zu sein. Du hast sie emporgehoben und damit gelehrt, stolz zu sein. Wir aber werden ihnen beweisen, daß sie kraftarm, daß sie nur armselige Kinder sind, doch daß das Kinderglück süßer als jedes andere ist. Sie werden schüchtern werden und werden zu uns aufblicken und sich in Angst an uns schmiegen wie die Küken an die Bruthenne. Sie werden uns entsetzt anstaunen und werden stolz darauf sein, daß wir so mächtig und so klug sind, und daß wir eine so wilde, tausendmillionenköpfige Herde beruhigt haben. Entkräftigt werden sie vor unserem Zorne zittern, ihr Geist wird kleinmütig, ihre Augen werden tränenreich werden wie die Augen der Kinder und Weiber, doch ebenso leicht wie zu Tränen, werden sie auf unseren Wink zu Frohsinn und Heiterkeit, zu heller Lustigkeit und glücklichen Kinderliedern übergehen. Ja, wir werden sie zwingen zu arbeiten, doch in den arbeitsfreien Stunden werden wir ihnen das Leben wie ein Spiel gestalten, mit Gesängen, Chören und unschuldigen Tänzen. Oh, wir werden ihnen sogar die Sünden vergeben – sie sind doch schwach und kraftlos – und sie werden uns wie Kinder dafür lieben, daß wir ihnen zu sündigen erlauben. Wir werden ihnen sagen, daß jede Sünde ausgekauft werden kann, wenn sie nur mit unserer Erlaubnis begangen worden ist; die Erlaubnis aber zum Sündigen geben wir ihnen nur darum, weil wir sie lieben, und die Strafe für diese Sünden nehmen wir meinetwegen auf uns. Wir werden sie auch in der Tat auf uns nehmen, sie aber werden uns dafür vergöttern wie ihre Wohltäter, die vor Gott ihre Sünden tragen. Und sie werden vor uns keinerlei Geheimnisse haben. Wir werden ihnen erlauben oder verbieten mit ihren Frauen und Geliebten zu leben, Kinder zu haben oder nicht zu haben – immer je nach ihrem Gehorsam –, und sie werden sich uns freudig und fröhlich unterwerfen. Selbst die quälendsten Geheimnisse ihres Gewissens, – alles, alles werden sie zu uns tragen, und wir werden ihnen verzeihen, und sie werden mit Freuden unserer Entscheidung glauben, denn sie wird sie von der großen Sorge und den furchtbaren gegenwärtigen Qualen einer persönlichen und freien Entscheidung erlösen. Und alle werden glücklich sein, alle Millionen Wesen, außer den Hunderttausend, die über sie herrschen. Denn nur wir, wir, die wir das Geheimnis hüten, nur wir werden unglücklich sein. Es wird Tausende von Millionen glücklicher Kinder geben und nur hunderttausend Märtyrer, die den Fluch der Erkenntnis von Gut und Böse auf sich genommen haben. Still werden sie sterben, still werden sie verlöschen in Deinem Namen und hinter dem Grabe nur den Tod finden. Doch wir werden das Geheimnis bewahren und werden die Menschen zu ihrem Glück durch himmlische und ewige Belohnung anlocken. Denn selbst wenn es dort, in jener Welt, ein Etwas geben sollte, so wird es doch, versteht sich, nicht für solche wie sie sein. Man redet und prophezeit, daß Du kommen und von neuem siegen werdest, daß Du mit Deinen Auserwählten, Deinen Stolzen und Mächtigen kommen wirst. Wir aber werden dann sagen, daß sie nur sich selbst, wir aber alle gerettet haben. Man sagt, daß die Buhlerin, die auf dem Tiere sitzt und in ihren Händen das Geheimnis hält, beschimpft werden wird, daß die Kraftarmen sich wieder empören, den Purpur der großen Buhlerin zerreißen und ihren „scheußlichen“ Leib entblößen werden. Dann aber werde ich mich erheben und, zu Dir gewandt, auf die Tausende von Millionen glücklicher Kinder, die die Sünde nicht gekannt haben, hinweisen. Und wir, die ihre Sünden auf uns genommen haben, um sie glücklich zu machen, wir werden dann vor Dich hintreten und Dir sagen: „Verurteile uns, wenn Du es kannst und wagst“. Wisse, daß ich keine Furcht vor Dir habe. Wisse, daß auch ich in der Wüste war, daß auch ich mich einst von Heuschrecken und Wurzeln nährte, daß auch ich die Freiheit, mit der Du die Menschen gesegnet hattest, segnete, und auch ich mich vorbereitete, zur Zahl Deiner Auserwählten zu gehören, zur Zahl der Mächtigen und Starken, mit dem lechzenden Wunsch, „die Zahl zu ergänzen“. Doch ich erwachte und wollte nicht mehr dem Wahnsinn dienen. Ich kehrte zurück und gesellte mich zur Schar derer, die Deine Tat verbessern. Ich ging fort von den Stolzen und kehrte zurück zu den Demütigen, zum Glücke derselben. Was ich Dir sage, wird also geschehen, es wird alles in Erfüllung gehen, und unser Reich wird erstehen. Und ich sage Dir nochmals: Morgen noch wirst Du diese gehorsame Herde sehen, die auf meinen ersten Wink zu Deinem Scheiterhaufen stürzen wird, um das Feuer zu schüren. Denn auf den Scheiterhaufen bringe ich Dich dafür, daß Du gekommen bist, uns zu stören. Und wahrlich, wenn es einen gegeben hat oder gibt, der am meisten den Scheiterhaufen verdient hat, so bist Du es, Du! Morgen noch werde ich Dich verbrennen. Dixi‘!“

Iwan hielt inne. Seine Worte hatten ihn mit sich fortgerissen, und er war fast in Begeisterung geraten. Als er aber geendet hatte, lächelte er plötzlich wieder.

Aljoscha hatte ihm schweigend zugehört, doch zum Schluß hin, offenbar nicht wenig erregt, mehrmals den Bruder unterbrechen wollen, sich aber jedesmal bezwungen. Als nun Iwan plötzlich verstummte, fiel er sofort ein, – heftig und hastig, wie ein Mensch, der sich lange hat zurückhalten müssen:

„Aber ... das ist doch absurd!“ stieß er hervor, und errötete. „Dein Poem ist ein Lob Jesu, aber keine Schmähung ... wie du es gewollt hast. Und wer wird dir das von der Freiheit glauben? Muß man sie denn so, so auffassen? Ist denn das die Auffassung der Rechtgläubigkeit? ... Das ist Rom, und nicht einmal ganz Rom, das ist nicht wahr, – das sind die Schlechtesten des Katholizismus, das sind Inquisitoren, Jesuiten! ... Und solch einen phantastischen Menschen, wie es dein Inquisitor ist, gibt es überhaupt nicht. Was sind das für Sünden der Menschen, die sie auf sich nehmen? Was sind das für Träger des Geheimnisses, die da irgendeinen Fluch zum Glücke der Menschen auf sich genommen haben? Wer hat jemals so etwas gesehen? Wir kennen die Jesuiten, wir wissen, was dahintersteckt ... Aber sind sie denn das, als was du sie schilderst? – Nicht die Spur! – Sie sind einfach die römische Armee für das zukünftige, allesvereinende Weltreich mit dem Imperator, dem römischen Kirchenoberhaupt an der Spitze ... das ist ihr Ideal, aber ohne alle Geheimnisse und erhabenes Leid ... Der allergewöhnlichste Wunsch nach Macht, nach schmutzigen Erdengütern, Knechtung ... in der Art eines zukünftigen Leibeigenschaftsrechtes, damit sie sozusagen Gutsbesitzer werden können. Das ist alles, was sie wollen. Sie glauben vielleicht überhaupt nicht an Gott. Dein leidender Inquisitor ist nichts als Phantasie ...“

„Aber wart, wart doch,“ sagte Iwan lachend, „sieh mal, wie du dich ereiferst! Phantasie, sagst du, schön! Natürlich ist’s Phantasie. Einstweilen aber erlaube: Glaubst du wirklich, daß diese ganze katholische Bewegung der letzten Jahrhunderte – Mittelalter und so weiter – tatsächlich nichts anderes gewesen ist als das Verlangen nach Macht, nur um der schmutzigen Erdengüter willen? Hat dich das nicht vielleicht Pater Paissij gelehrt?“

„O nein, nein, im Gegenteil, Pater Paissij sprach einmal sogar ein wenig in deinem Sinne ... übrigens es war doch nicht dasselbe, selbstverständlich nicht ganz dasselbe,“ verbesserte sich Aljoscha.

„Das ist immerhin eine kostbare Nachricht, trotz deines ‚selbstverständlich nicht ganz dasselbe‘. Ich frage dich ausdrücklich, warum du annimmst, daß Jesuiten und Inquisitoren sich nur zum Erwerb niedriger materieller Güter verbündet haben. Warum glaubst du, daß es unter ihnen keinen einzigen Gequälten gibt, der von großem Leid und von der Liebe zur Menschheit gepeinigt wird? Sieh: nimm an, daß sich unter allen diesen, die lediglich materielle, schmutzige Güter wollen, nur ein Einziger fände, nur ein Einziger wie mein greiser Inquisitor, der in der Wüste von Gewürm und Wurzeln gelebt hat, gegen sich gewütet hat und vor Verzweiflung außer sich geraten ist, im Kampf gegen sein Fleisch, um frei zu werden und vollkommen zu sein, der aber sein ganzes Leben die Menschheit geliebt hat, und der plötzlich erkennt und sich überzeugt, daß es keine große sittliche Glückseligkeit sein kann, die Vollkommenheit des Willens zu erreichen und zu gleicher Zeit einsehen zu müssen, daß die Millionen der übrigen Gottesgeschöpfe bloß zum Spott Geschaffene bleiben, daß sie niemals die Kraft haben werden, sich mit ihrer Freiheit zurechtzufinden, daß aus den armseligen Empörern niemals Riesen zur Vollendung des Turmes hervorgehen werden, daß nicht für solche Gänse der große Idealist von seiner Harmonie geträumt hat. Da er aber alles das begriffen hatte, kehrte er zurück und schloß sich den ... klugen Leuten an. Glaubst du wirklich, daß das niemals hat geschehen können?“

„Wem schloß er sich an, welchen klugen Leuten?“ griff Aljoscha sofort heftig, fast zornig das Wort auf. „Kein einziger von ihnen besitzt da so eine besondere Klugheit und überhaupt nichts von heiligen Geheimnissen ... Es sei denn höchstens ihre Gottlosigkeit, die wäre noch allenfalls ihr ganzes Geheimnis. Dein Inquisitor glaubt nicht an Gott, sieh, das ist sein ganzes Geheimnis!“

„Nun ja! Endlich hast du es erraten. Es ist allerdings so; sein ganzes Geheimnis liegt tatsächlich nur darin. Aber ist denn das keine Qual, sagen wir, für einen Menschen wie er, der sein ganzes Leben daran gesetzt hatte, durch die Wüste ein Auserwählter zu werden, und der sich von seiner Liebe zur Menschheit doch nicht heilen konnte? An seinem Lebensabend überzeugt er sich, daß nur die Ratschläge des großen furchtbaren Geistes das Leben der kraftarmen Empörer, dieser unvollkommenen, zum Spott geschaffenen Probewesen wenigstens einigermaßen erträglich machen könnten. Und siehe, nachdem er sich davon überzeugt hat, sieht er ein, daß man nach der Weisung dieses klugen Geistes, des furchtbaren Geistes der Zerstörung und des Todes vorgehen muß – daß man Lüge und Betrug annehmen und die Menschen bereits wissentlich in Tod und Verderben treiben muß, wobei es aber heißt, sie auf dem ganzen Wege betrügen, damit diese armseligen Blinden nicht merken, wohin sie geführt werden, und sich wenigstens auf dem Wege für glücklich halten. Und vergiß nicht, daß der Betrug im Namen desjenigen geschieht, an dessen Idealgestalt der Greis sein Leben lang so leidenschaftlich geglaubt hat! Meinst du, daß das kein Unglück sei? Und wenn es auch nur einen einzigen solchen gäbe, an der Spitze dieses ganzen Heeres, ‚das nur um des Besitzes schmutziger Güter willen nach Macht verlangt‘, – genügte dann wirklich nicht ein einziger solcher zur ... Tragödie? Oh, ich sage dir, es genügte, daß ein einziger solcher an der Spitze stände, auf daß die Idee, die Rom mit allen seinen Herren und Jesuiten solange leitet, die höhere Idee Roms, endlich zum Ausdruck käme. Ich sage dir ganz offen: Ich bin fest überzeugt, daß das der einzige Mensch wäre, der unter denen, die an der Spitze der Bewegung stehen, nie ermüden würde. Wer weiß, vielleicht hat es unter den römischen Kirchenoberhäuptern auch solche gegeben. Und wer weiß, vielleicht lebt dieser verfluchte Greis, der so starrsinnig und eigenartig die Menschheit liebt, auch jetzt in einer ganzen Schar vieler ebensolcher einzelner Greise – lebt durchaus nicht zufällig, sondern aus Übereinstimmung, in einem geheimen Bunde, der schon vor langer Zeit zur Wahrung des Geheimnisses, zu seiner Beschützung vor den unglücklichen und kraftarmen Menschen zu dem Zweck gegründet ist, diese Menschen glücklich zu machen. Das gibt es unbedingt. Es muß so sein. Wenn ich mich nicht täusche, haben auch die Freimaurer etwas von der Art dieses Geheimnisses in ihrer Grundidee, und ich glaube sogar, daß sie nur deswegen von den Katholiken so gehaßt werden, weil diese in ihnen Konkurrenten sehen: die Teilung der Einheit ihrer katholischen Idee wittern – während es doch eine einzige Herde unter einem einzigen Hirten werden soll ... Übrigens habe ich, wenn ich meinen Gedanken verteidige, den Anschein eines Autors, der deine Kritik nicht ertragen kann. Genug davon.“

„Du bist wahrscheinlich selbst Freimaurer!“ stieß plötzlich Aljoscha hervor. „Du glaubst nicht an Gott,“ fügte er darauf traurig und bedrückt hinzu. Zugleich schien ihm, daß der Bruder ihn etwas spöttisch betrachtete.

„Aber womit endigt denn deine Tragödie?“ fragte er, den Blick zu Boden gesenkt. „Oder ist sie schon aus?“

„Den Schluß hatte ich mir eigentlich so gedacht: Nachdem der Inquisitor verstummt ist, wartet er noch eine Zeitlang auf das, was der Gefangene ihm antworten wird. Sein Schweigen lastet schwer auf ihm. Er hatte gesehen, wie der Gefangene ihn anhörte, und wie tief und still Er ihm in die Augen blickte, offenbar ohne etwas entgegnen zu wollen. Der Greis aber will, daß Er ihm etwas sage, und wäre es auch etwas Bitteres, Furchtbares. Doch siehe, Er nähert sich schweigend dem Greise und küßt ihn leise auf seine blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist Seine ganze Antwort, die Antwort, die den Alten zusammenfahren macht. Und siehe, da zuckt etwas an den Mundwinkeln des großen, greisen Inquisitors: er geht zur Tür des gewölbten Verlieses, öffnet sie und sagt zu Ihm: ‚Geh und komme nie wieder ... komme überhaupt nicht mehr ... niemals, niemals!‘ Und er läßt Ihn hinaus auf die ‚dunklen, schweigenden Plätze der Stadt‘. Und der Gefangene geht hinaus.“

„Und der Alte?“

„Der Kuß brennt in seinem Herzen, doch er bleibt bei seiner früheren Idee.“

„Und auch du mit ihm, auch du?“

Iwan lachte auf.

„Aber das ist doch Unsinn, Aljoscha, das ist doch nur das sinnlose Poem eines einfältigen Studenten, der nie in seinem Leben auch nur zwei Verse hat schreiben können. Warum bist du denn so traurig? Oder glaubst du vielleicht gar, daß ich etwa gleich zu ihnen fahren will, zu den Jesuiten, um mich der Schar anzuschließen, die Sein Werk verbessert? O Gott! – was geht das mich an? Ich habe dir doch gesagt: Nur bis zum dreißigsten Jahre, und dann – den Becher fortgeschleudert!“

„Und die krausen, klebrigen Frühlingsblätter, und die teuren Gräber, und der hohe, blaue Himmel, und die Geliebte? Wie willst du denn leben, womit wirst du sie denn lieben?“ fragte Aljoscha traurig. „Ist denn das möglich, mit solch einer Hölle in der Brust und in den Gedanken, – ist denn das möglich? Nein, du fährst gerade hin, um dich ihnen anzuschließen ... wenn aber nicht, so wirst du dich selbst töten, denn du wirst es nicht länger aushalten!“

„Es gibt eine Kraft, die alles aushält!“ sagte Iwan halblaut mit kaltem Lächeln.

„Was ist das für eine Kraft?“

„Die Karamasoffsche ... die Kraft der Karamasoffschen Gemeinheit.“

„Heißt das – in Ausschweifung untergehen, die Seele in Sittenverderbnis erwürgen, ja? heißt es das?“

„Meinetwegen auch das ... aber nur bis zum dreißigsten Jahre werde ich es ... vielleicht noch ... vermeiden, dann aber ...“

„Wie das vermeiden? Auf welche Weise vermeiden? Wodurch willst du dem entgehen? Mit deinen Anschauungen ist das unmöglich.“

„Wiederum auf Karamasoffsche Weise.“

„Ah! – ‚alles ist erlaubt‘? Nicht? Das ist’s doch – alles ist erlaubt?“

Iwans Gesicht verfinsterte sich, und er wurde plötzlich seltsam bleich.

„Du hast es also richtig nicht vergessen – das gestern gefallene Wort, das Miussoff so kränkte ... und das Dmitrij so naiv und auffallend wiederholte?“ fragte er mit einem verzogenen Lächeln. „Ja, meinetwegen: ‚alles ist erlaubt‘ – wenn das Wort einmal gesagt ist. Ich nehme es nicht zurück. Mitjäs Redaktion war übrigens gar nicht so übel.“

Aljoscha blickte ihn schweigend an.

„Aljoscha, ich glaubte, wenn ich fortfahre, auf der ganzen Welt wenigstens dich zu haben,“ sagte Iwan plötzlich mit ganz unerwartetem, tiefem Gefühl, „aber jetzt sehe ich, daß auch in deinem Herzen kein Platz für mich ist, mein lieber Mönch du! Von der Formel: ‚alles ist erlaubt‘ sage ich mich nicht los, nun, und deswegen sagst du dich von mir los, ist es nicht so, ja?“

Aljoscha stand auf, trat zu ihm und küßte ihn stumm und leise auf den Mund.

„Das ist literarischer Diebstahl!“ rief nach dem Kuß Iwan, der plötzlich ganz begeistert zu sein schien. „Das hast du aus meinem Poem gestohlen! Aber ... habe Dank. – Komm, gehen wir, Aljoscha, es ist Zeit für mich wie für dich.“

Sie gingen hinaus, doch unten an der Treppe blieben sie stehen.

„Hör, Aljoscha,“ sagte Iwan mit fester Stimme, „ich werde die klebrigen Frühlingsblätter nur in der Erinnerung an dich lieben. Es genügt mir, daß du hier irgendwo bist, und daß ich das Leben noch leben will. Genügt dir das? Wenn du willst, kannst du das für eine Liebeserklärung nehmen. Jetzt aber – geh du nach rechts und ich nach links. Es ist genug geredet, hörst du? Das heißt, ich meine, falls ich morgen nicht abreisen sollte – ich werde aber wahrscheinlich bestimmt fahren – und wir uns noch irgendwie treffen sollten, so bitte ich, mit mir über alle diese Themata kein Wort mehr zu reden. Ich bitte dich ausdrücklich darum. Und auch über Dmitrij, darum bitte ich dich besonders, rede kein Wort mehr, sprich mir nie mehr von ihm,“ fügte er plötzlich gereizt hinzu. „Ich denke, wir haben uns darüber nichts mehr zu sagen, nicht wahr? Und jetzt werde ich dir auch meinerseits ein Versprechen dafür geben: Wenn ich um das dreißigste Jahr herum den ‚Becher fortschleudern‘ will, so werde ich kommen und dich, wo du auch sein solltest, doch noch einmal aufsuchen, um noch einmal mit dir zu reden ... und wär’s auch aus Amerika, das wisse. Ich werde mit bestimmter Absicht kommen. Es wird auch sehr unterhaltsam sein, dich dann wiederzusehen, wie du sein wirst. Das Versprechen ist doch genügend feierlich? Wir nehmen vielleicht wirklich auf sieben oder auf zehn Jahre Abschied voneinander. Nun, geh jetzt zu deinem Pater Seraphicus, er liegt ja im Sterben. Stirbt er in deiner Abwesenheit, so wirst du dich womöglich noch über mich ärgern, daß ich dich solange aufgehalten habe. Also auf Wiedersehen. Weißt du, küsse mich noch einmal. So. Und nun geh ...“

Iwan wandte sich brüsk um und ging seinen Weg, ohne sich noch nach dem Bruder umzukehren.

„So ging auch Dmitrij gestern abend von mir fort,“ dachte Aljoscha, „nur geschah es doch in einer ganz anderen Weise ...“ Diese sonderbare kleine Beobachtung schoß wie ein Pfeil durch Aljoschas traurigen Sinn und verlor sich in einem sorgenvollen, die Gedanken lähmenden Gefühl. Er wartete noch ein wenig und blickte dem Bruder nach. Da fiel ihm plötzlich auf, daß sein Bruder Iwan gleichsam schaukelnd, schwankend ging, und daß seine rechte Schulter, von hinten gesehen, scheinbar niedriger als die linke war. Das hatte Aljoscha sonst nie bemerkt. Doch plötzlich drehte auch er sich um und eilte fast laufend zum Kloster. Es dämmerte bereits stark, und Aljoscha fühlte, wie sich mit der wachsenden Dunkelheit Angst in seinem Herzen erhob. Es war etwas Neues in ihm, das wuchs und wuchs, doch er hätte nicht sagen können, was es war. Es hatte sich wieder ein Wind erhoben, und in den Kronen der uralten Kiefern rauschte es schaurig, als er durch den Wald zur Einsiedelei schritt.

„‚Pater Seraphicus‘ – diesen Namen hat er von irgendwo hergenommen, woher aber?“ dachte Aljoscha flüchtig. „Iwan, armer Iwan! Und wann werde ich dich jetzt wiedersehen? ... Da ist die Einsiedelei, Herrgott! Ja, ja, er, Pater Seraphicus wird mich retten ... vor ihm! ... wird mich auf ewig erlösen!“

In seinem späteren Leben erinnerte er sich noch oft dieses Abends, und jedesmal fragte er sich verwundert, wie er nach seiner Trennung von Iwan so vollständig Dmitrij hatte vergessen können, obgleich er ihn doch am Vormittag, nur wenige Stunden vorher, unbedingt aufzusuchen beschlossen hatte, selbst wenn er dann nicht mehr zur Nacht ins Kloster zurückgekommen wäre.

VI.
Ein vorläufig noch sehr unklares Gespräch

Iwan Fedorowitsch ging, als er sich von Aljoscha getrennt hatte, nach Hause zu Fedor Pawlowitsch. Aber sonderbar – ihn überfiel plötzlich eine qualvolle Seelenangst, die mit jedem Schritt, mit dem er sich dem Vaterhause näherte, wuchs und wuchs und immer unerträglicher wurde. Doch nicht die Seelenangst an sich war sonderbar, sondern das, daß Iwan Fedorowitsch sich auf keine Weise zu erklären vermochte, was die eigentliche Ursache derselben sein konnte. Es war auch früher nicht selten vorgekommen, daß ihn solche Stimmungen plötzlich überfallen hatten, und so wäre es weiter nicht auffallend gewesen, daß diese – ich möchte sagen – Schwermut in einem Augenblick wiederkam, als er gerade mit allem, was ihm hier teuer war, gebrochen hatte und als er sich anschickte, kurz zur Seite abzubiegen und einen neuen, ihm ganz unbekannten Weg zu betreten und wieder allein ins Leben zu gehen – ein einsamer suchender Wanderer mit großen Hoffnungen, doch ohne zu wissen, auf was er hoffte, der viel, gar zu viel vom Leben erwartete, doch der selbst nicht bestimmen konnte, worin seine großen Hoffnungen und seine zehrenden Wünsche bestanden. Und doch quälte ihn in diesem Augenblick, obwohl die Angst des Neuen und Unbewußten auf seiner Seele lag, etwas ganz anderes. „Oder sollte es nicht wieder der Ekel vor dem Vaterhause sein?“ dachte Iwan! „Das wäre möglich, das könnte es sein. Wenn ich auch heute zum letztenmal über diese verhaßte Schwelle trete, so ist es doch deswegen nicht weniger ... Aber nein, auch das ist es nicht. Oder sollte es vielleicht der Abschied von Aljoscha sein, und das Gespräch mit ihm?“ Das konnte es allerdings sein, ein Gefühl wie: „So viele Jahre habe ich geschwiegen, mit keinem Menschen zu sprechen geruht, und nun plötzlich habe ich so viel dummes Zeug geschwatzt.“ Es konnte jugendlicher Unwille, jugendliche Unerfahrenheit und jugendlicher Ehrgeiz sein, Ärger darüber, daß er nicht verstanden hatte, sich auszudrücken, dazu in einem Augenblick, da Aljoscha ihm zuhörte, Aljoscha, auf den sein Herz zweifellos große Hoffnungen setzte. Gewiß war es teilweise auch das, was ihn bedrückte, dieses Gefühl mußte sogar unbedingt in ihm nagen, aber auch das war noch nicht alles, auch das nicht. „Eine Schwermut bis zur Übelkeit,“ sagte er sich, „bin aber unfähig, mir zu erklären, was ich will. Das einzige wäre – nicht mehr zu denken!“

Doch trotz des Versuches, „nicht zu denken“, verließ ihn die Angst nicht. Das Ärgerlichste an ihr war, daß sie ganz zufällig, völlig äußerlich zu sein schien. Das fühlte er qualvoll. Ein Wesen oder ein Gegenstand oder so etwas Unerklärliches stand irgendwo in seiner Nähe oder lebte hier irgendwo: wie zuweilen etwas vor dem Auge flimmert und man sich lange, sei es bei der Arbeit oder während eines hitzigen Gespräches, dessen nicht bewußt wird, obgleich es einen unbewußt die ganze Zeit ärgert, reizt und sogar quält, bis man sich schließlich besinnt und den Gegenstand beseitigt, zuweilen irgendein leeres, dummes Ding, ein Tuch, das auf dem Fußboden liegt, oder ein Buch, das nicht in den Schrank gestellt ist, oder etwas Ähnliches. So, in der schlechtesten und gereiztesten Stimmung näherte sich Iwan Fedorowitsch dem Vaterhause, als er plötzlich, etwa fünfzehn Schritt von der Hofpforte, aufblickend, erriet, was ihn so gequält und erregt hatte.

Auf der Bank am Hoftor saß, um sich an der kühlen Abendluft zu erfrischen, der Diener Ssmerdjäkoff, und Iwan Fedorowitsch begriff in derselben Sekunde, als er ihn erblickte, daß dieser Diener Ssmerdjäkoff in seiner Seele gesessen hatte, und daß gerade diesen Menschen seine Seele nicht ertragen konnte. Schon vorhin, bei der Erzählung Aljoschas von seiner Begegnung mit Ssmerdjäkoff im Nachbargarten, hatte etwas Finsteres und Widerwärtiges sich ihm ins Herz gebohrt und sofort seine Wut entfacht. Während des folgenden Gespräches hatte er dann Ssmerdjäkoff auf eine Weile vergessen. Trotzdem war der Gedanke an diesen Diener in seiner Seele geblieben, und kaum hatte er sich von Aljoscha getrennt und den Weg zum Vaterhause eingeschlagen, da war auch die vergessene Empfindung wieder über ihn gekommen. „Kann mich denn dieser elende Kerl wirklich dermaßen beunruhigen!“ dachte er und heiß überströmte ihm die Wut.

Doch diese Wut hatte noch einen besonderen Grund. Ihm war dieser Mensch in der letzten Zeit tatsächlich verhaßt geworden, besonders in den letzten Tagen. Es war ihm sogar aufgefallen, wie sich sein Haß auf diesen Diener immer noch vergrößert hatte. Vielleicht vergrößerte sich dieser Haß gerade deswegen so überwältigend, weil er zu Anfang sich ganz anders zu ihm verhalten hatte. Damals, d. h. kurz nachdem er bei uns angekommen war, hatte Iwan Fedorowitsch sich plötzlich ganz besonders für diesen Ssmerdjäkoff interessiert und ihn sogar sehr originell gefunden. Er hatte ihn selbst daran gewöhnt, mit ihm zuweilen ein Gespräch anzuknüpfen, sich aber stets über seine gewisse Einfalt, oder vielleicht nicht so sehr Einfalt als innere Unruhe gewundert, ohne dabei zu begreifen, was „diesen Weltbeschauer“ so unaufhörlich und unablässig beunruhigen konnte. Sie sprachen über Philosophisches, sprachen über alles Mögliche – unter anderem auch darüber, wie es am ersten Tage hatte Tag sein können, da die Sonne, der Mond und die Sterne doch erst am vierten Tage geschaffen worden waren, kurz, wie man das alles zu verstehen hätte. Aber Iwan Fedorowitsch überzeugte sich gar bald, daß es Ssmerdjäkoff dabei gar nicht um Sonne, Mond und Sterne zu tun war, daß Sonne, Mond und Sterne, wenn sie auch einen relativ interessanten Gesprächsstoff abgaben, für Ssmerdjäkoff vielmehr nebensächliche Dinge waren, und daß er mit diesen Gesprächen etwas ganz anderes bezwecken wollte. Wie dem aber nun auch sein mochte, jedenfalls begann sich allmählich bei jeder Gelegenheit eine grenzenlose Eigenliebe in Ssmerdjäkoffs Worten zu äußern. Obendrein war dies eine Eigenliebe, die sich gekränkt und erniedrigt glaubte. Das mißfiel Iwan Fedorowitsch sehr. Und damit hatte dann sein Haß angefangen. Späterhin waren die Familienszenen dazwischen gekommen, die ganze Geschichte mit Gruschenka und die Zänkereien zwischen Dmitrij und dem Vater. Sie hatten auch darüber gesprochen, doch obwohl Ssmerdjäkoff über diese Angelegenheiten stets sehr erregt sprach, war es doch unmöglich, festzustellen, was er dabei eigentlich selbst wünschte oder zu wem er hielt. Ja, über die Unlogik und den Widerspruch mancher seiner Wünsche, die er zuweilen ganz wie aus Versehen aussprach, und die alle gleich unklar waren, mußte man sich geradezu wundern. Ssmerdjäkoff stellte seine Fragen immer halbwegs und indirekt, dachte sie sich augenscheinlich schon früher aus, wozu er das aber tat, – das erklärte er nicht. Gewöhnlich verstummte er mitten in seinem interessiertesten Gespräch, oder er ging plötzlich auf ein ganz anderes Thema über. Doch vor allem anderen, was Iwan Fedorowitsch ärgerte und in ihm schließlich einen so großen Widerwillen hervorrief, war es eine gewisse widerliche und besondere Familiarität, die sich der Diener ihm gegenüber, je länger desto unverschämter, herausnahm. Oh, versteht sich, nicht daß er sich erlaubt hätte, unhöflich zu sein! Im Gegenteil, er war immer ungewöhnlich ehrerbietig, aber es hatte sich mit der Zeit so gemacht, daß Ssmerdjäkoff, Gott weiß warum, sich für solidarisch mit Iwan Fedorowitsch zu halten begann, in einem Tone redete, als ob zwischen ihnen beiden etwas Verabredetes wäre, etwas Geheimes, das irgend einmal von beiden angedeutet, wenn auch nicht ausgesprochen worden wäre, das aber nur ihnen allein bekannt war, von den anderen um sie herumkriechenden Sterblichen dagegen überhaupt nicht begriffen werden konnte. Doch wurde sich Iwan Fedorowitsch noch lange nicht klar über den wahren Grund seines wachsenden Widerwillens, und erst in der letzten Zeit erriet er endlich, um was es sich dabei handelte.

Mit einer ekelhaften Empfindung wollte er jetzt stumm und ohne Ssmerdjäkoff anzublicken an ihm vorüber durch die Fußpforte eintreten, als sich Ssmerdjäkoff plötzlich langsam von der Bank erhob, – und schon allein an dieser Bewegung erriet Iwan Fedorowitsch sofort, daß jener ein besonderes Gespräch mit ihm wünschte. Iwan blickte ihn an und blieb stehen, und eben das, daß er so plötzlich stehen geblieben und nicht vorübergegangen war, wie er noch vor einer Sekunde beabsichtigt hatte, machte ihn erzittern vor Wut. Zornig und angeekelt blickte er in Ssmerdjäkoffs blutarmes Gesicht, das der Physiognomie eines verschnittenen Sektierers nicht unähnlich war, trotz der kunstvoll mit dem Kamm bearbeiteten Haare und des kleinen aufgedrehten Lockenbüschels. Sein linkes, etwas zugekniffenes kleines Auge zwinkerte und lächelte, ganz als ob es sagen wollte: „Warum willst du vorübergehn? Du wirst ja doch nicht vorübergehn, du siehst doch selbst ein, daß wir beide, wir zwei Klugen, etwas zu besprechen haben.“ Iwan Fedorowitsch erzitterte.

„Fort, Hund, was habe ich mit dir zu schaffen, Rüpel!“ schwebte es Iwan auf den Lippen, doch zu seiner größten Verwunderung sprach er etwas ganz anderes aus:

„Schläft der Vater noch, oder ist er schon aufgestanden?“ fragte er mit leiser und fast freundlicher Stimme, und ebenso unerwartet für sich selbst, setzte er sich plötzlich auf die Bank. Auf einen Augenblick überkam ihn geradezu Angst, und dieser plötzlichen Angst erinnerte er sich noch später. Ssmerdjäkoff stand vor ihm, die Hände auf dem Rücken, und blickte ihn voll Selbstvertrauen fast streng an.

„Geruhen noch zu schlafen,“ antwortete er langsam, ohne sich im geringsten zu beeilen, und mit dieser Langsamkeit schien er gleichsam ausdrücken zu wollen: „Hast selbst angefangen zu sprechen, nicht ich.“ – „Nur wundere ich mich alleweil über Euch, Herr,“ fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, schlug geradezu geziert die Augen nieder, setzte den rechten Fuß vor und spielte mit der Spitze des spiegelblank geputzten Stiefels.

„So, und warum wunderst du dich denn über mich?“ stieß Iwan Fedorowitsch schroff und rauh hervor, obgleich er sich aus allen Kräften bezwang, denn er hatte plötzlich mit Ekel begriffen, daß er die größte Neugier für das, was der Diener sagen werde, empfand und auf keinen Fall fortgehen werde, ohne sie befriedigt zu haben.

„Warum fahrt Ihr, Herr, nicht nach Tschermaschnjä?“ fragte Ssmerdjäkoff, der plötzlich wieder aufsah und familiär lächelte. – Sein linkes, etwas zugekniffenes Auge aber schien zu sagen: „Und worüber ich lächle, mußt du selbst begreifen, wenn du ein kluger Mensch bist.“

„Warum soll ich denn nach Tschermaschnjä fahren?“ fragte Iwan Fedorowitsch verwundert.

Ssmerdjäkoff schwieg eine Weile.

„Sogar der Herr Fedor Pawlowitsch haben Euch so drum gebeten,“ sagte er schließlich langsam und als ob er selbst seine gegebene Antwort nicht schätzte, – also ungefähr: „Mache es mit einem nebensächlichen Grunde ab, nur um etwas zu sagen“ –.

„Äh, Teufel, sprich deutlicher, was willst du?“ schrie ihn Iwan Fedorowitsch zornig an, von der Sanftmut zur Grobheit übergehend.

Ssmerdjäkoff setzte den rechten Fuß neben den linken, richtete sich etwas strammer auf, fuhr aber fort, ihn mit derselben Ruhe und mit demselben Lächeln anzublicken.

„Wesentliches habe ich nichts zu sagen ... ich meinte nur so beiläufig ...“

Wieder trat Schweigen ein. Sie schwiegen etwa eine Minute lang. Iwan Fedorowitsch wußte, daß er sofort geärgert aufstehen und fortgehen müßte, Ssmerdjäkoff aber stand vor ihm, als ob er wartete und dachte: „Ich will jetzt nur sehen, ob du dich ärgerst oder nicht.“ Wenigstens schien es Iwan Fedorowitsch so. Er machte eine Bewegung, um aufzustehen. Darauf hatte aber Ssmerdjäkoff nur gelauert.

„Ganz schrecklich ist meine Lage, Herr, ich weiß gar nicht, wie ich mir helfen soll,“ sagte er sofort, doch sprach er bereits fest und deutlich, und beim letzten Worte seufzte er auf. Iwan Fedorowitsch blieb sitzen.

„Beide sind sie ganz kindisch geworden, ganz wie die allerkleinsten Kinder,“ fuhr Ssmerdjäkoff fort. „Ich rede von dem alten Herrn und Dmitrij Fedorowitsch. Der alte Herr werden jetzt aufstehen, und von selbigem Augenblick an geht dann das Fragen los: ‚Ist sie noch nicht gekommen? Warum ist sie nicht gekommen?‘ – Und das geht dann so weiter bis Mitternacht und noch weiter. Und wenn Agrafena Alexandrowna[18] nicht gekommen sind, sintemal sie wohl wahrscheinlich überhaupt niemals zu kommen gedenken, so werden der Herr morgen früh wieder anfangen: ‚Warum ist sie nicht gekommen? Weshalb ist sie nicht gekommen? Wann wird sie kommen?‘ – Ganz als ob das meine Schuld ist, sozusagen. Und hinwiederum andererseits kommen, sobald es dunkler wird, oder auch schon früher, Dmitrij Fedorowitsch mit der Flinte in die Nachbarschaft: ‚Paß auf, Kanaille,‘ sagen sie, ‚wenn du sie durchläßt und mich nicht benachrichtigst, falls sie gekommen ist, so bist du der erste, den ich totschieße‘. Und ist die Nacht vergangen, so fangen auch Dmitrij Fedorowitsch, ganz wie der alte Herr, mich qualvoll zu quälen an: ‚Warum ist sie nicht gekommen, wird sie sich bald sehen lassen‘? – Ganz als ob es hinwiederum auch vor ihnen meine Schuld wäre, daß ihre Dame nicht gekommen ist. Und derartig ärgern sie sich alleweil, und mit jeder Stunde, und mit jedem Tage wird ihre Wut immer noch gewaltiger, so daß ich mitunter schon daran denke, mir vor lauter Angst das Leben zu nehmen. Ich, Herr, ich kann mich nicht auf solche Menschen verlassen.“

„Warum hast du dich darauf eingelassen? Warum hast du Dmitrij Fedorowitsch alles hinterbracht?“ fragte Iwan Fedorowitsch gereizt.

„Aber wie sollte ich denn nicht? Und ich hab mich auch gar nicht hineingemischt, wenn ich die volle Wahrheit sagen soll. Ich habe vom ersten Anfang an alleweil geschwiegen, dieweil ich nicht wagte, zu antworten, Dmitrij Fedorowitsch aber haben mich ungefragt gezwungen, ihr Diener zu sein, und jetzt kennen sie für mich nur ein Wort: ‚Schlage dich platt, Kanaille, mausetot, wenn du sie hineinläßt!‘ Ich bin sicher, Herr, daß ich morgen einen langen Anfall haben werde.“

„Was für einen langen Anfall?“

„So einen langen Anfall, einen ungewöhnlich langen. Mehrere Stunden oder einen ganzen Tag und noch einen anderen Tag womöglich. Einmal hatte ich ihn drei Tage lang, dieweil ich damals vom Wäscheboden gefallen war. Es hört auf – fängt aber wieder an. Ich konnte an all diesen drei Tagen nicht zu klarer Besinnung kommen. Fedor Pawlowitsch schickten nach Herzenstube, dem hiesigen Arzt, der legte mir Eis auf die Schläfen und gebrauchte noch ein anderes dummes Mittel ... Ich hätte davon sterben können.“

„Soviel ich weiß, kann man bei dieser Krankheit nicht voraussagen, daß man dann und dann einen Anfall bekommen wird. Wie kannst du also sagen, daß du morgen einen haben wirst?“ erkundigte sich mit ganz besonderer und gereizter Neugier Iwan Fedorowitsch.

„Das stimmt genau, daß man es nicht vorauswissen kann.“

„Und zudem hattest du ihn damals nur darum, weil du vom Boden gefallen warst.“

„Auf den Boden gehe ich jeden Tag, ich kann alsomit auch morgen von der Bodentreppe herabfallen. Oder wenn nicht von dort, dann kann ich ja auch in den Keller hinabfallen, dieweil ich auch in den Keller täglich von wegen der Wirtschaft gehen muß.“

Iwan Fedorowitsch blickte ihn lange scharf an.

„Du faselst, wie ich sehe, und ich verstehe dich wohl nicht recht,“ sagte er halblaut, doch drohend, „willst du dich morgen etwa verstellen und drei Tage lang einen Anfall vorspielen? Wie?“

Ssmerdjäkoff, der zu Boden sah und wieder mit der Stiefelspitze des rechten Fußes spielte, stellte sich nun auf den rechten Fuß und schob statt seiner den linken Fuß vor, erhob den Kopf und sagte lächelnd:

„Selbst wenn ich dieses Stückchen machen könnte, also mich verstellen, dieweil es für einen geübten Menschen gar nicht schwer ist, so bin ich doch vollauf berechtigt, selbiges Mittel zur Rettung meines Lebens vom Tode zu gebrauchen, dieweil wenn ich krank bin und Agrafena Alexandrowna zum alten Herrn kommen, Dmitrij Fedorowitsch dann doch nicht von einem kranken Menschen fragen können: ‚Warum hast du es mir nicht gesagt?‘ Sie werden sich von selbst schämen, dann noch einen kranken Menschen das zu fragen.“

„Äh, Teufel!“ schrie ihn plötzlich Iwan Fedorowitsch mit wutentstelltem Gesicht an. „Was zitterst du immer um dein Leben! Du weißt doch, daß diese Drohungen Dmitrij Fedorowitschs nichts zu bedeuten haben, nur leere Worte sind! Dich wird er nicht totschlagen, da sei du unbesorgt! Totschlagen wird er, aber nicht dich!“

„Wie eine Fliege, und zwar mich vor allen anderen. Aber mehr als das fürchte ich noch das Weitere: daß man mich dann sozusagen für ihren Helfershelfer hält, wenn sie was ganz Verrücktes mit ihrem Vater getan haben.“

„Warum soll man denn dich für seinen Helfershelfer halten?“

„Dieweil ich ihnen selbige Zeichen als großes Geheimnis mitgeteilt habe.“

„Was für Zeichen? Wem mitgeteilt? Zum Teufel, so sprich deutlicher!“

„Ich muß wirklich gestehen, daß ich hier ein Geheimnis habe mit dem alten Herrn,“ sagte Ssmerdjäkoff langsam in pedantischer Ruhe. „Wie Ihr selbst zu wissen geruht – wenn Ihr nur geruht, es zu wissen – hat sich der Herr seit einigen Tagen zur Gewohnheit gemacht, zur Nacht oder sogar schon am Abend von innewendig die Türen alleweil zuzuschließen. Ihr geruhtet, Euch in letzter Zeit immer früh nach oben zurückzuziehen, und gestern geruhtet Ihr, überhaupt nicht auszugehen, und alsomit könnt Ihr auch wohlmöglich überhaupt nicht wissen, wie akkurat und besorgt der alte Herr sich jetzt zur Nacht einschließen. Und selbst wenn Grigorij Wassiljewitsch kommt, so machen sie nur höchstens dann noch auf, wenn sie ihn vorher gut an der Stimme erkannt haben. Aber Grigorij Wassiljewitsch kommt nicht, denn ich bediene sie jetzt ganz allein in ihren Zimmern, – so haben sie es selbst bestimmt seit dem Momente, da sie diesen Einfall mit Agrafena Alexandrowna haben, zur Nacht aber entferne auch ich mich aus dem großen Hause, dieweil selbiges ihre eigne Anordnung ist, und dann muß ich bis Mitternacht aufpassen, herumgehn auf dem Hof und warten, ob sie kommen, dieweil der Herr sie schon seit mehreren Tagen wie wahnsinnig erwarten. Denken aber tun sie dabei so: ‚Sie,‘ sagt der Herr, ‚fürchtet ihn‘, – also den Dmitrij Fedorowitsch, den sie immer Mitjka nennen, ‚und darum wird sie etwas später durch die Hinterstraßen zu mir kommen; du aber‘, sagen sie zu mir, ‚mußt sie bis Mitternacht und noch drüber hinaus erwarten. Und wenn sie kommt, so komm schnell zur Gartentür gelaufen und klopf an die Tür oder an das Fenster vom Garten aus, die ersten zwei Male etwas leiser, sieh so: Eins-zwei, und dann gleich darauf dreimal etwas schneller: Tuck-tuck-tuck. Dann‘, sagen sie, ‚werde ich sofort wissen, daß sie gekommen ist, und dir leise die Tür aufmachen.‘ Und dann haben sie mir noch ein anderes Zeichen für den Fall mitgeteilt, wenn etwas Besonderes geschehen sollte, zuerst zweimal schnell: Tuck-tuck, und dann, nach einer kleinen Weile, noch einmal viel stärker: Tuck. Dann, sagen sie, würden sie sofort begreifen, daß etwas Besonderes geschehen ist, und daß ich sie sprechen muß, und werden mir gleichfalls aufmachen. Und ich werde dann eintreten und melden. Das alles für den Fall, daß Agrafena Alexandrowna nicht selbst kommen können und irgendeine Nachricht schicken. Und dann können auch Dmitrij Fedorowitsch kommen, also muß ich auch dann benachrichtigen, daß sie in der Nähe sind. Der alte Herr fürchten sich gewaltig vor Dmitrij Fedorowitsch, so daß ich selbst dann, wenn Agrafena Alexandrowna gekommen sind und sie sich mit ihr eingeschlossen haben, Dmitrij Fedorowitsch aber mittlerweile irgendwo in der Nähe auftauchen, daß ich auch dann sofort melden muß, nach selbigem zweiten Zeichen, also dreimal geklopft. So bedeutet denn das erste Zeichen, fünfmal geklopft: ‚Sie ist gekommen‘, und das zweite Zeichen, dreimal geklopft – ‚dringend nötig‘. So haben sie selber es mir mannigfach vorgemacht und angezeigt und buchstäblich so erklärt. Und da nun in der ganzen Welt nur ich und sie von diesen Zeichen wissen, so werden sie ohne jede Bedenklichkeit und ohne zu fragen oder anzurufen, aufmachen, denn auch laut zu rufen haben sie gewaltige Angst. Und selbige Zeichen sind nun auch dem jungen Herrn Dmitrij Fedorowitsch bekannt geworden.“

„Wieso, wodurch bekannt geworden? Hast du sie ihm mitgeteilt? Wie konntest du es wagen!“

„Nur von wegen meiner gewaltigen Angst. Und wie hätte ich denn hinwiederum wagen können, ihnen selbiges zu verheimlichen? Dmitrij Fedorowitsch drohen mir jeden lieben Tag: ‚Du betrügst mich‘, sagen sie, ‚du verheimlichst etwas! Ich werde dich zu Brei schlagen, werde dir beide Beine ausreißen!‘ Und da machte ich ihnen denn Mitteilung von selbigen geheimen Zeichen, damit sie wenigstens meine treue Ergebenheit sehen und sich alsomit vergewissern, daß ich sie nicht betrüge und alles gehorsamst vermelde.“

„Wenn du glaubst, daß er die Kenntnis dieser Zeichen benutzen will, um hineinzukommen, so mußt du doppelt acht geben, hörst du, und ihn auf keinen Fall hereinlassen!“

„Wenn ich aber selber einen Anfall habe, wie soll ich sie dann nicht hereinlassen, selbst wenn ich mich erdreisten könnte, sie nicht hereinzulassen, da ich doch weiß, wie verzweifelt sie sind?“

„Zum Teufel, warum bist du so überzeugt, daß du einen Anfall bekommen wirst? Machst du dich etwa über mich lustig?“

„Wie sollte ich wohl wagen, über Euch zu lachen, und ist denn einem nach Lachen zumut, wenn man solche Angst hat? Ich fühle es voraus, daß ich einen Anfall bekommen werde, habe solch ein Vorgefühl, von bloßer Angst werde ich ihn bekommen.“

„Äh, Teufel! Wenn du krank bist, wird Grigorij wachen. Bereite ihn darauf vor, der wird dich schon gut ersetzen.“

„Von den Zeichen darf ich Grigorij Wassiljewitsch ohne ausdrücklichen Befehl des Herrn unter keinen Umständen etwas sagen. Und was Ihr sagt: von mich ersetzen, so hat er sich akkurat heute erkältet, und Marfa Ignatjewna will ihn alsomit morgen gewaltig kurieren. Sie haben es vorhin beide besprochen. Und dieses Kurieren ist sehr knifflich: Marfa Ignatjewna hat solch einen Salzbranntweinaufguß mit Kräutern, deren sämtliche Wirkungen sie kennt, und mit dieser Geschichte wird Grigorij Wassiljewitsch dreimal im Jahr kuriert, wenn er nämlich kreuzlahm wird. Dann nehmen sie ein grobes Handtuch, tunken es in diesen Kräuteraufguß, und dann reibt Marfa Ignatjewna eine halbe Stunde lang Grigorijs Rücken, so daß selbiger ganz rot wird und anschwillt. Und darauf gibt sie ihm den Rest mit einem gewissen Gebet zu trinken, aber nicht alles, etwas behält sie noch für sich zurück, das sie dann selber austrinkt. Und alsomit legen sich beide schlafen und schlafen lange und gewaltig fest. Und am nächsten Morgen ist Grigorij Wassiljewitsch immer gesund, Marfa Ignatjewna aber hat immer nachher Kopfschmerzen. Alsomit wird Grigorij Wassiljewitsch morgen, wenn Marfa Ignatjewna ihr Vorhaben ausführt, nichts hören, und so kann denn auch von einem Dmitrij Fedorowitsch nicht Einlassen gar keine Rede sein. Schlafen wird er.“

„Welch ein Blödsinn!“ schrie ihn Iwan Fedorowitsch zornig an. „Das trifft ja alles wie absichtlich zusammen: Du bewußtlos nach dem epileptischen Anfall und Grigorij und Marfa in festem Schlaf! – Oder steckst du vielleicht dahinter, daß sich alles so vorzüglich trifft?“, stieß er plötzlich kurz hervor und zog drohend die Brauen zusammen.

„Wie soll ich dahinter stecken ... und wozu sollte ich das zu tun versuchen, wenn doch hier alles nur von Dmitrij Fedorowitsch abhängt und von ihren Absichten ... Wollen sie was anstiften, so wird es alsomit auch geschehen, wenn hinwiederum nicht, so werde doch ich nicht absichtlich sie herrufen, um sie zu ihrem Erzeuger hineinzuschicken.“

„Aber warum soll er denn zum Vater kommen, und dazu noch heimlich, wenn Agrafena Alexandrowna, wie du selbst sagst, überhaupt nicht kommen wird?“ fuhr Iwan Fedorowitsch, bleich vor Wut, fort. „Du sagst doch selbst, daß sie nicht zu ihm kommen will, und auch ich war die ganze Zeit über, die ich hier verbracht habe, überzeugt, daß der Alte nur phantasiert, und daß dieses Geschöpf nie zu ihm kommen wird. Warum nun soll sich Dmitrij mittels dieser Zeichen zum Alten hineinschleichen wollen? Sprich! Ich will deine Gedanken wissen!“

„Ihr geruht doch selber zu wissen, warum sie kommen werden, wozu hier meine Gedanken? Können sie doch schon aus Wut allein kommen oder auch aus Argwohn, beispielsweise, wenn ich krank bin. Dann wissen sie, daß ich nicht aufpassen kann, und werden vielleicht wie gestern in die Zimmer laufen, um sich alsomit zu vergewissern, ob ihre Dame nicht irgendwie von ihnen unbemerkt gekommen ist. Auch wissen sie ganz genau, daß der Herr ein großes Kuvert bereit liegen haben, und daß da drin dreitausend Rubel sind, und daß der Herr das Kuvert mit drei großen Siegeln verlackt und mit einem Bändchen kreuzweise umbunden und eigenhändig draufgeschrieben haben: ‚Meinem Engel Gruschenka, wenn sie zu mir kommen will‘, und daß sie darauf nach drei Tagen noch hinzugefügt haben ‚und Küchelchen‘. Das aber ist es nun, was gefährlich werden kann.“

„Blödsinn!“ stieß Iwan Fedorowitsch wutbebend hervor. „Dmitrij wird nicht Geld rauben gehn und dabei noch den Vater erschlagen. Er hätte ihn vielleicht gestern ihretwegen aus besinnungsloser Eifersucht erschlagen können, aber Geld stehlen – das tut ein Dmitrij Fedorowitsch nicht!“

„Sie brauchen aber jetzt Geld, brauchen es ganz gewaltig! Ihr wißt ja nicht einmal, wie nötig sie es haben,“ erklärte ungewöhnlich ruhig und auffallend deutlich Ssmerdjäkoff. „Und selbige Dreitausend halten sie noch dazu für ihr Geld, und so haben sie selber mir sogar mannigfach erklärt; ‚Diese Dreitausend ist er mir so gut wie schuldig‘, haben sie zu mir gesagt. Und zu alledem bedenkt doch selbst, Herr, daß Agrafena Alexandrowna, wenn sie nur wollen, den Herrn zwingen werden, sie zu heiraten, den alten Herrn Fedor Pawlowitsch, das ist doch so wie es ist, muß man sagen, die reinste abgekochte Wahrheit, wenn sie nur selber wollen, und es kann doch sein, daß sie wirklich wollen werden. Ich sag doch nur so selbentlich, daß sie nicht kommen werden, sie aber wollen vielleicht noch viel mehr als Dreitausend, sie wollen vielleicht geradeswegs Gnädige werden. Ich selber weiß, daß der Kaufmann Ssamssonoff ihr in aller Aufrichtigkeit gesagt hat, das wäre sogar äußerst wenig dumm, und daß sie darauf gelacht haben. Und sie sind gleichfalls eine Dame, die äußerst wenig dumm sind. Einen Habenichts, wie es doch Dmitrij Fedorowitsch sind, kann ihr nicht passen zu heiraten. Wenn man alsomit jetzt bedenkt, Herr, daß dann weder für Dmitrij Fedorowitsch, noch selbst für Euch, Herr, mitsamt Euerm Brüderchen Alexei Fedorowitsch so gut wie nichts nach dem Tode des Vaters verbleiben wird, kein einziger runder Rubel, dieweil Agrafena Alexandrowna sie nur deswegen heiraten werden, um alles für sich verschreiben zu lassen, alles, was es nur an Kapitalien gibt, so bedenkt doch selbst, wie es ist. Stirbt aber der alte Herr jetzt, da doch noch nichts davon geschehen ist, so kriegt jeder von Ihnen sofort blank und bar, wie man sagt, mindestens seine Vierzigtausend sicher, sogar Dmitrij Fedorowitsch, der ihnen jetzt so gewaltig verhaßt ist, da sie ein Testament noch nicht gemacht haben ... Und das alles weiß Dmitrij Fedorowitsch wie dreimal drei.“

Es war, als ob sich in Iwan Fedorowitschs Gesicht etwas verzerrte. Er zitterte am ganzen Körper. Und plötzlich stieg ihm dunkelrot das Blut ins Gesicht.

„Warum also rätst du mir daraufhin, nach Tschermaschnjä zu fahren?“ unterbrach er Ssmerdjäkoff. „Was wolltest du damit sagen? Du siehst doch, was geschehen wird, wenn ich fahre!“

Iwan Fedorowitsch atmete schwer.

„Das ist vollkommen richtig,“ sagte wohlüberlegt, leise und überzeugungsvoll Ssmerdjäkoff, der nicht aufhörte, Iwan Fedorowitsch aufmerksam und unverwandt zu beobachten.

„Wieso vollkommen richtig?“ fragte, nur mit Mühe sich bezwingend, Iwan Fedorowitsch, und seine Augen blickten drohend.

„Ich meinte selbiges nur, weil ich Mitleid hatte mit Euch, Herr. An Eurer Stelle würde ich das alles hier liegen lassen, wie es ist, und fortgehen ... das ist doch besser, als bei solch einer Geschichte dabei sitzen ...“ antwortete Ssmerdjäkoff, indem er scheinbar mit der größten Offenheit in die unheimlich drohenden Augen Iwan Fedorowitschs blickte.

Beide schwiegen eine Weile.

„Du bist, glaube ich, ein riesengroßer Idiot und außerdem, versteht sich, der gemeinste Schurke!“ sagte Iwan Fedorowitsch langsam und erhob sich von der Bank.

Er wollte darauf durch das Fußpförtchen auf den Hof gehen, doch plötzlich blieb er stehen und wandte sich um zu Ssmerdjäkoff. Es geschah etwas Sonderbares: Plötzlich, wie im Krampf, hatte Iwan Fedorowitsch die Zähne zusammengepreßt und die Fäuste geballt und – noch einen Augenblick, und er hätte sich auf Ssmerdjäkoff gestürzt. Der aber, der es sofort bemerkt hatte, fuhr zusammen und bog erschrocken den Oberkörper zurück. Doch der Augenblick verging glücklich für Ssmerdjäkoff, und Iwan Fedorowitsch wandte sich schweigend, als ob er plötzlich in Zweifeln befangen wäre, zur Pforte.

„Ich werde morgen nach Moskau fahren, wenn es dich interessiert, – morgen in der Früh, – das ist alles!“ sagte er plötzlich boshaft, laut und langsam, und als er es gesagt hatte, fragte er sich verwundert, was ihn veranlaßt haben mochte, Ssmerdjäkoff das zu sagen, und auch später noch stellte er sich oftmals diese Frage.

„Das ist auch das allerbeste,“ griff Ssmerdjäkoff sofort auf, ganz, als hätte er nur darauf gewartet, „und wäre es nur, daß man Euch in Moskau mit dem Telegraphen beunruhigen und zurückrufen könnte, in irgend so einem besonderen Fall.“

Iwan Fedorowitsch blieb wieder stehen und wandte sich von neuem brüsk zu Ssmerdjäkoff zurück. Doch mit dem schien etwas Sonderbares geschehen zu sein: seine ganze Familiarität und Nachlässigkeit waren mit einemmal verschwunden; sein ganzes Gesicht drückte ungewöhnliche Aufmerksamkeit und Erwartung aus – doch war es diesmal zaghafte, furchtsame, knechtische Erwartung. „Wirst du nicht noch etwas sagen, nicht noch etwas hinzufügen?“ fragte förmlich sein unverwandter, sich an Iwan Fedorowitsch gleichsam festsaugender Blick.

„Und aus Tschermaschnjä würde man mich etwa nicht zurückrufen ... in irgend so einem besonderen Fall?“ schrie ihn plötzlich Iwan Fedorowitsch an, ohne selbst zu wissen, warum er so die Stimme erhob.

„Auch aus Tschermaschnjä würde man ... beunruhigen ...“ murmelte Ssmerdjäkoff fast flüsternd, und als hätte er sich ganz verloren, doch fuhr er dabei unverwandt fort, aufmerksam, ungeheuer aufmerksam Iwan Fedorowitsch gerade in die Augen zu blicken.

„Nur ist Moskau weiter und Tschermaschnjä näher, so tut es dir wohl um das verfahrene Geld leid, nicht? wenn du mir nach Tschermaschnjä zu fahren zuredest, oder tue ich dir etwa leid, weil ich dann einen so großen Umweg mache?“

„Genau so ...“ murmelte Ssmerdjäkoff, widerlich lächelnd, mit fast tonloser Stimme – und wieder war er angespannt bereit, sofort rechtzeitig zurückzuspringen.

Doch zu Ssmerdjäkoffs höchster Verwunderung ging Iwan Fedorowitsch auflachend zur Pforte und trat, immer noch lachend, durch sie ein. Wer aber sein Gesicht gesehen hätte, der würde sich bestimmt gesagt haben, daß er nicht etwa lachte, weil ihm froh zumut war. Und auch ihm selbst wäre es unmöglich gewesen, zu erklären, was damals, in jener Minute mit ihm geschehen war. Bewegte er sich und ging er doch, als ob sich seine Glieder krampften.

VII.
„Mit einem klugen Menschen ist auch das Reden ein Vergnügen“

Und wie er ging, so sprach er auch. Als er in den Saal trat und dort den Vater erblickte, rief er ihm sofort, heftig mit der Hand abwinkend, zu:

„Ich gehe zu mir nach oben, komme nicht zu Ihnen, auf Wiedersehen!“ Und damit ging er vorüber, bemüht, den Vater nicht anzusehen. Möglich, daß der Alte ihm in diesem Augenblick gar zu widerlich war. Doch diese zeremonielose Kundgebung des feindlichen Gefühls verblüffte selbst Fedor Pawlowitsch. Der Alte schien ihm tatsächlich etwas sagen zu wollen und ihm zu diesem Zweck in den Saal entgegengekommen zu sein. Als er jedoch diesen unliebenswürdigen Gruß hörte, blieb er schweigend stehen und blickte nur spöttisch dem Sohne so lange nach, bis der auf der Treppe zum oberen Stock verschwunden war.

„Was fehlt ihm?“ fragte er hastig den gleich nach Iwan Fedorowitsch eingetretenen Ssmerdjäkoff.

„Scheinen sich über was zu ärgern, wer kann aus ihnen klug werden?“ brummte der ausweichend.

„Na, dann zum Teufel mit ihm! Mag er sich doch ärgern, wenn es ihm Vergnügen macht. Gib den Tee her und mach dann, daß du fortkommst, fix. Was gibt es Neues?“

Und es begannen dieselben Fragen, über die sich Ssmerdjäkoff soeben bei Iwan Fedorowitsch beklagt hatte, d. h. Fragen, die sich alle auf den erwarteten Besuch bezogen. Nach einer halben Stunde wurde das Haus sorgfältig verschlossen, und der verrückte Alte spazierte allein durch die Zimmer, – in zitternder Erwartung, daß sofort, im Augenblick, die fünf verabredeten Schläge ertönen würden. Von Zeit zu Zeit blickte er durch die Fenster hinaus, doch sah er dort nichts außer der Nacht.

Es war schon sehr spät, aber Iwan Fedorowitsch schlief noch immer nicht. Die Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Spät erst legte er sich in dieser Nacht zu Bett, erst nach zwei Uhr morgens. Doch will ich nicht unternehmen, den ganzen Gang seiner Gedanken wiederzugeben, es ist auch noch nicht an der Zeit, in diese Seele einzudringen. Und selbst wenn ich jetzt versuchen wollte, seinen Zustand zu schildern, so fiele es mir doch sehr schwer, da es nicht Gedanken waren, die ihn quälten, es war vielmehr etwas Unbestimmbares und vor allen Dingen etwas ihn maßlos Erregendes, was ihn peinigte. Es war ihm, als hätte er jeden Halt verloren. Auch quälten ihn verschiedene sonderbare und ganz unerwartete Wünsche, z. B.: kurz nach Mitternacht wandelte ihn plötzlich unwiderstehlich die Lust an, in das Nebengebäude auf den Hof zu gehen und Ssmerdjäkoff durchzuprügeln. Doch hätte man ihn gefragt, warum er das wollte, so wäre er bestimmt nicht imstande gewesen, auch nur einen einzigen Grund genau anzugeben, außer vielleicht den einen, daß dieser Diener ihm so verhaßt geworden war wie der größte Beleidiger, den man sich in der Welt denken könnte. Und andererseits wurde seine Seele in dieser Nacht nicht nur einmal von einer ganz unerklärlichen und erniedrigenden Zaghaftigkeit ergriffen, die ihn immer wieder ganz plötzlich überfiel, und von der er – das fühlte er – geradezu auch alle körperliche Kraft verlor. Sein Kopf tat ihm weh, und vor seinen Augen flimmerte es. Etwas Verhaßtes lag beklemmend auf seiner Seele, ganz als hätte er sich vorgenommen, sich an jemandem zu rächen. Er begann sogar, Aljoscha zu hassen, wenn er an sein Gespräch mit ihm dachte, und er haßte in manchen Minuten qualvoll auch sich selbst. An Katerina Iwanowna vergaß er beinahe zu denken, worüber er sich nicht wenig wunderte, um so mehr, als er am Morgen, wie er sich noch sehr gut erinnerte – da er so stolz bei Chochlakoffs gesagt hatte, daß er am nächsten Tage auf immer verreisen werde – sich selbst im geheimsten Innern gesagt hatte: „Das ist ja Unsinn, du wirst ja doch nicht fahren, und es wird dir durchaus nicht so leicht sein, dich von allem hier loszureißen, wie du jetzt prahlend sagst.“ Wenn Iwan Fedorowitsch später an diese Nacht zurückdachte, so war für ihn die unangenehmste Erinnerung, daß er sich plötzlich vom Diwan erhoben und leise, als hätte er furchtbare Angst, daß man ihn hören könnte, die Tür zur Treppe geöffnet hatte, um hinunterzulauschen, wie dort unten in den großen Räumen Fedor Pawlowitsch umherging. Lange hatte er so gestanden und gehorcht, ganze fünf Minuten lang, in einer sonderbaren Erwartung mit zurückgehaltenem Atem und klopfendem Herzen, doch warum er das tat, warum er horchen ging, – das wußte er in dem Augenblick selbst nicht. Diese seine Handlung nannte er später „abscheulich“, und in der verborgensten Tiefe seines Herzens hielt er sie für die niedrigste Tat seines Lebens. Gegen den Vater empfand er aber in diesen Minuten nicht den geringsten Haß, nur interessierte es ihn aus einem unbekannten Grunde über die Maßen, wie der Alte dort unten umherging, und was er wohl denken und tun möchte. Er stellte sich vor, wie der Vater in die dunklen Fenster blickte und plötzlich mitten im Zimmer stehen blieb und wartete, wartete, – ob nicht jemand klopfte. Zweimal ging Iwan Fedorowitsch zu diesem Zweck zur Treppe. Als aber alles still wurde, und Fedor Pawlowitsch sich hingelegt hatte, ungefähr um zwei Uhr morgens, da kleidete auch Iwan Fedorowitsch sich aus, um zu Bett zu gehen – mit dem Wunsch, bald einzuschlafen, da er sich nach allen Qualen unerträglich müde fühlte. Und so war es auch. Er schlief ganz plötzlich fest ein, schlief die ganze Nacht traumlos und erwachte früh am Morgen, ungefähr um sieben Uhr, als es schon hell war.

Als er die Augen aufschlug, fühlte er zu seiner Verwunderung einen ganz ungewöhnlichen Zustrom von Energie. Er erhob sich schnell, kleidete sich an, zog darauf seinen Koffer hervor und begann, ohne Zeit zu vertrödeln, selbst seine Sachen zu packen. Die Wäsche war gerade am Tage zuvor von der Wäscherin gebracht worden, und Iwan Fedorowitsch lächelte sogar bei dem Gedanken, wie alles sich traf und nichts seine plötzliche Abreise aufhielt. Plötzlich konnte man die Abreise sehr wohl nennen, denn wenn er auch Katerina Iwanowna, Aljoscha und später Ssmerdjäkoff gesagt hatte, daß er am nächsten Tage fortfahren werde, so hatte er doch am Abend – dessen erinnerte er sich genau – beim Schlafengehen kein einziges Mal an die Abreise gedacht, und noch viel weniger, daß er am Morgen, ohne sich zu bedenken, als erstes eigenhändig seinen Koffer packen werde. Endlich war alles fertig, sowohl der Koffer, wie die Reisetasche. Es war schon neun Uhr, als Marfa Ignatjewna wie gewöhnlich kam, um zu fragen, wo der junge Herr den Tee trinken würde, bei sich oben oder unten im Saal. Iwan Fedorowitsch ging diesmal nach unten; er sah geradezu heiter aus, wenn auch an ihm, in seinen Worten und Bewegungen, etwas Nervöses, eine gewisse Hast auffiel. Er begrüßte freundlich den Vater, erkundigte sich sogar nach dessen Befinden, und plötzlich, ohne die ganze Antwort des Vaters abzuwarten, teilte er mit, daß er in einer Stunde nach Moskau abfahren werde – und zwar auf immer – und daher bäte, die Pferde anspannen zu lassen. Der Alte vernahm diese unerwartete Mitteilung ohne das geringste Zeichen von Verwunderung, vergaß sogar höchst unhöflicherweise die Abfahrt des Sohnes zu bedauern – statt dessen belebte er sich gleich darauf ungemein, da ihm im Zusammenhang damit eine dringende eigene Angelegenheit eingefallen war.

„Ach du! Sieh mal einer an, wie du bist! Hast gestern kein Wort davon gesagt ... nun, einerlei, aber weißt du was, mein Liebster, tu mir den Gefallen, Wanjä, und fahr noch vorher nach Tschermaschnjä! Du brauchst doch von der Station, von Wolowje, nur nach links abzubiegen, im ganzen lumpige zwölf Werst, und du bist da!“

„Unmöglich, das kann ich nicht: Bis zur Eisenbahn sind achtzig Werst, und der Zug nach Moskau verläßt die Station um Punkt sieben abends – komme also knapp hin.“

„Nun, dann kommst du morgen oder übermorgen hin, ’s ist doch wahrhaftig egal! Heute aber fahr nach Tschermaschnjä! Ist es denn viel, um was ich dich bitte, und du beruhigst deinen Vater! Wenn ich hier nicht gebunden wäre, würde ich schon längst hingerutscht sein, denn die Sache drängt, sag ich dir, und ist wirklich nicht so ohne, ich aber habe jetzt hier ... mit einem Wort, die Zeit erlaubt es nicht ... Sieh, ich habe dort meinen Wald in zwei Distrikten, in Begitschewo und in Djätschkinoje. Maßloffs, Vater und Sohn, Kaufleute, bieten mir für das Abholzen nur achttausend Rubel; im vorigen Jahr aber bot ein Aufkäufer zwölftausend, es war aber kein Hiesiger, das ist der Haken! Denn die Hiesigen haben keine Abnahme, und die beiden Maßloffs wuchern mit Hunderttausenden! Was sie anbieten, das muß man auch nehmen, denn von den Hiesigen wagt niemand, sie zu überbieten und ihnen was vor der Nase wegzufangen. Nun aber erhielt ich am vorigen Donnerstag von dem Popen Iljinskij einen Brief, in dem er mir mitteilte, daß Gorstkin hingekommen sei, – das ist gleichfalls ein Aufkäufer, ich kenne ihn, nur ist das Wertvolle an der Sache das, daß er kein Hiesiger ist, sondern aus Pogreboje, das heißt also so viel, daß er die Maßloffs, Vater und Sohn, alle beide nicht fürchtet, da er, wie gesagt, kein Hiesiger ist. Elftausend hat er gesagt, würde er für das Abholzen geben, begreifst du jetzt? Hier aber wird er, wie der Pope schrieb, nur eine Woche bleiben. Wenn du nun hinfahren würdest, könntest du mit ihm die ganze Angelegenheit abmachen ...“

„Schreiben Sie doch dem Popen, der kann es ja gleichfalls abmachen.“

„Aber der versteht doch so etwas nicht, das ist es ja! Dieser Gottesknecht hat ja keine Augen! Sonst ist er ein goldener Mensch, würde ihm ohne zu zögern sofort Zwanzigtauseud ohne Quittung zum Aufbewahren einhändigen, aber zu sehen versteht er nicht, wirklich als ob er gar kein Mensch wäre! Jede lahme Krähe macht ihm ein X für ein U vor. Dabei ist er ein gelehrter Mensch! Dieser Gorstkin aber ist dem Ansehen nach ein Bauer, geht in blauem Wams herum, nur ist er dem Charakter nach ein vollendeter Schuft, das ist ja unser gemeinsamer Jammer! Der Kerl lügt, das ist das Verflixte! Mitunter lügt er dir Dinge vor, daß du dich nur wundern kannst, warum er es tut. Vor drei Jahren log er mir vor, daß seine Frau gestorben sei und er schon eine andere geheiratet habe, und dabei war davon keine Silbe wahr, denk dir nur! Seine Frau lebte damals unverändert weiter, lebt auch heutigen Tages noch und prügelt ihn alle drei Tage einmal. So handelt es sich denn jetzt darum, zu erfahren, ob er wirklich die Wahrheit sagt, daß er kaufen und Elftausend geben will.“

„So werde auch ich nichts ausrichten können, ich habe auch keine Augen.“

„Halt, mein Sohn, wart, du wirst schon dazu taugen, ich werde dir alle Zeichen sagen, von Gorstkin, denn, weißt Du, ich habe schon lange mit ihm zu tun. Sieh: Man muß bei ihm immer auf den Bart sehn. Er hat so’n kleines, gerupftes, rotblondes Bärtchen. Wenn nun dieses Bärtchen zittert, er sich aber beim Sprechen ärgert – dann ist’s gut, dann redet er die Wahrheit, will ein Geschäft machen. Streichelt er aber das Bärtchen mit der linken Hand und lächelt er dabei, – nun, dann will er begaunern, dann macht er Finten. In die Augen sieh ihm niemals, aus denen wird kein Teufel klug, dunkel ist das Wasser, wie gesagt, ein Erzspitzbube, – sieh nur auf den Bart. Er nennt sich Gorstkin, heißt aber gar nicht Gorstkin, sondern Ljägawyj,[19] aber rede ihn nicht so an, sonst fühlt er sich sofort beleidigt. Wenn du also mit ihm gesprochen hast und siehst, daß er es ernst meint, so schreibe mir sofort. Schreibe nur: ‚Der Kerl lügt nicht‘. Das genügt. Nur mußt du auf elftausend bestehen, wenn es aber nicht anders geht, so kannst du noch ein Tausend ablassen, mehr aber unter keiner Bedingung. Denk nur: Acht und elf – das ist ein Unterschied von dreitausend. Diese Dreitausend habe ich so gut wie gefunden, denn so bald läuft einem kein neuer Käufer in die Finger, Geld aber habe ich grad bis zum Halsabschneiden nötig. Wenn du mir dann schreibst, daß die Sache ernst ist, so werde ich von hier schnell hinfahren, hier irgendwie die Zeit noch dazu herausquetschen. Was aber hat es für einen Zweck, überhaupt hinzufahren, wenn sich schließlich alles nur als Hirngespinst des Popen erweisen kann? Nun, fährst du?“

„Ich habe wirklich keine Zeit, ersparen Sie es mir ...“

„Ach du, aber so tu mir doch den Gefallen, werde es dir nicht vergessen! Herzlos seid ihr alle samt und sonders, das ist das Ganze, was dahintersteckt! Was macht es dir denn aus, ob du einen oder zwei Tage früher ankommst? Wohin fährst du denn jetzt? – nach Venedig? Nun, in diesen zwei Tagen wird dein Venedig nicht versinken. Ich würde sonst Aljoscha schicken, aber was versteht denn Aljoschka von solchen Dingen? Ich bitte einzig und allein dich darum, weil ich weiß, daß du ein kluger Mensch bist. Das sehe ich doch, wie soll ich denn das nicht sehen? Zwar handelst du nicht mit Wald, aber du hast ein gutes Auge. Hier heißt es ja bloß sehen; meint es der Kerl ernst oder faselt er wieder mal? Ich sage dir, sieh auf den Bart: Zittert das Bärtchen, so ist’s gut, dann meint er’s ernst.“

„Sie wollen also à tout prix, daß ich dahin, in dieses verfluchte Nest fahre, nach Tschermaschnjä?“ fragte Iwan Fedorowitsch zornig und lächelte boshaft.

Fedor Pawlowitsch bemerkte die Bosheit nicht oder wollte sie nicht bemerken, beachtete aber sofort das Lächeln.

„Du fährst also, wirst hinfahren? Wart, dann schreib ich schnell noch ’n paar Zeilen, die du mitnehmen kannst.“

„Ich weiß nicht, ob ich hinfahren werde, ich weiß es noch nicht; werde mich unterwegs entscheiden.“

„Ach was, unterwegs, entscheide dich jetzt! Nun, mein Täubchen, entscheide dich, du fährst doch? Wenn du mit ihm gesprochen hast, so schreibe mir nur zwei Zeilen und gib den Zettel dem Popen ab, er wird ihn mir sofort rüberschicken. Und dann fahr wohin du willst, schieb meinetwegen ab nach Venezien. Zurück zur Station kann dich der Pope mit seinen Pferden fahren ...“

Der Alte war entzückt; im Augenblick hatte er das Zettelchen bekritzelt, dann bestellte er die Pferde, bestellte auch einen Imbiß, Kognak. Wenn der Alte sich über irgend etwas freute, so wurde er sofort sehr gesprächig und mitteilsam, diesmal aber schien er sich zu bezwingen. Dmitrij Fedorowitsch zum Beispiel erwähnte er mit keinem Wort. Die bevorstehende Trennung selbst, vom zweiten Sohn, rührte ihn nicht im geringsten. Er schien sogar nicht einmal recht zu wissen, wovon er sprechen sollte, was Iwan Fedorowitsch sehr wohl bemerkte. „Muß ihm doch genügend lästig geworden sein,“ dachte er bei sich.

Erst als der Alte den Sohn auf die Treppe hinausbegleitete, wurde er etwas rührselig und bekundete sogar die Absicht, ihn zu küssen. Doch Iwan Fedorowitsch streckte ihm schnell die Hand zum Abschied entgegen, sichtlich bemüht, etwaige Liebesergüsse zu vermeiden, was der Alte denn auch sofort begriff, und weshalb er den Kuß unterließ.

„Nun, fahr mit Gott, mit Gott!“ rief er ihm von der Treppe zu. „Wirst doch noch einmal im Leben wieder herkommen, nicht? Na, komm nur, werde mich freuen. Nun, Gott mit dir!“

Iwan Fedorowitsch stieg in den Wagen.

„Nun, leb wohl, Iwan, schimpf nicht zu sehr über mich!“ rief ihm der Vater noch zum letztenmal nach.

Die Dienerschaft hatte sich zum Abschied gleichfalls eingefunden: Ssmerdjäkoff, Marfa und Grigorij. Iwan Fedorowitsch schenkte jedem von ihnen zehn Rubel. Als er sich schon in den Wagen gesetzt hatte, trat noch Ssmerdjäkoff an den Schlag, um den Fußteppich zu ordnen.

„Siehst du ... ich fahre nach Tschermaschnjä ...“ kam es plötzlich ganz von selbst über Iwan Fedorowitschs Lippen, für ihn jedenfalls ebenso unerwartet, wie am Tage vorher bei der Hofpforte die Mitteilung, daß er nach Moskau fahren werde – doch diesmal stieß er es mit einem sonderbar nervösen Lachen hervor. Dieses Lachens und dieser Worte erinnerte er sich später noch oft.

„Alsomit haben denn die Leute recht, wenn sie sagen, mit klugen Menschen sei auch das Reden ein Vergnügen,“ antwortete Ssmerdjäkoff mit fester Stimme, und sein Blick schien Iwan Fedorowitsch durchdringen zu wollen.

Die Pferde zogen an, und der Wagen rollte davon. Die Seele Iwan Fedorowitschs war traurig, doch gierig blickte er ins Land, auf die Felder und Hügel und Bäume, und auf einen Zug wilder Gänse, die hoch, hoch über ihm am klaren Himmel nach Süden zogen. Und plötzlich wurde ihm so wohl zumut. Er versuchte, mit dem Kutscher ein Gespräch zu beginnen, und wartete schon neugierig, was der antworten werde, doch nach einer Minute wurde er sich bewußt, daß die ganze Antwort ihm entgangen war – daß er dem Kutscher überhaupt nicht zugehört hatte. Er verstummte, und auch so war es schön: die Luft war so rein und klar und frisch, der Himmel so hoch und hell. Er sah vor sich die Gestalten Aljoschas und Katerina Iwanownas, aber er lächelte still, winkte ihnen leise ab, und die Schemen verschwanden.

„Auch ihre Zeit wird kommen,“ dachte er.

Die erste Station erreichten sie ziemlich bald, wechselten dort die Pferde und fuhren dann weiter nach Wolowje.

„Warum ist es ein Vergnügen, mit einem klugen Menschen zu reden, was hat er damit sagen wollen?“ fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf, und der Atem blieb ihm stehen. „Und warum sagte ich ihm, daß ich nach Tschermaschnjä fahre?“

Nach einiger Zeit kamen sie in Wolowje an. Iwan Fedorowitsch stieg aus, und alsbald umringten ihn die Fuhrleute. Er befahl Postpferde anzuspannen und vereinbarte dann auch sofort den Preis für die zwölf Werst bis nach Tschermaschnjä. Er ging ins Stationsgebäude, drehte sich dort einmal um, warf auch einen Blick auf die Stationshalterin, und plötzlich ging er wieder zurück zur Vorfahrt.

„Nicht nötig nach Tschermaschnjä! Ich fahre nicht hin. Werde ich aber nicht zu spät zur Eisenbahn kommen? Der Zug geht um sieben ab.“

„Wird noch grade gehn. Befehlen der Herr anzuspannen?“

„Ja, sofort. Wird nicht jemand von euch morgen in die Stadt fahren?“

„Wie denn nicht? Mitrij wird bestimmt hinkommen.“

„Kannst du mir nicht einen Dienst erweisen, Mitrij? Geh’ zu meinem Vater, zu Fedor Pawlowitsch Karamasoff, und sage ihm, daß ich nicht nach Tschermaschnjä gefahren bin. Kannst du das tun?“

„Warum denn nicht? Kenne den Herrn Fedor Pawlowitsch schon lange.“

„Hier hast du ein Trinkgeld, denn er könnte dir vielleicht keines geben,“ sagte Iwan Fedorowitsch gut gelaunt und lachte.

„Das ist schon wahr, er würde wohl nichts geben,“ sagte Mitrij gleichfalls lachend. „Danke, Herr, werde gehen, werde bestimmt hingehen ...“

Um sieben Uhr abends stieg Iwan Fedorowitsch in den Zug ein, der ihn nach Moskau brachte.

„Fort mit allem Gewesenen, Strich drunter, jetzt ist es abgeschlossen, das frühere Leben und die frühere Welt, in der ich gelebt habe, und daß kein Ruf, kein Echo mehr aus ihr zu mir herüberklinge! Hinein in die neue Welt, in das neue Leben und ohne jemals zurückzuschauen!“

Doch an Stelle des frohen Jubels erhob sich in seinem Herzen so großes Weh, wie er es in seinem Leben noch nie empfunden hatte. Die ganze Nacht konnte er nicht schlafen: Gedanken jagten Gedanken; der Waggon flog ratternd dahin, und erst beim Morgengrauen, kurz vor der Einfahrt in Moskau, war es ihm, als ob er plötzlich erwachte.

„Ich bin ein Schuft!“ murmelte er vor sich hin.

Fedor Pawlowitsch dagegen blieb sehr zufrieden zurück, als das Söhnchen abgefahren war. Ganze zwei Stunden lang fühlte er sich beinahe glücklich und kippte von Zeit zu Zeit einen Kognak. Doch plötzlich geschah etwas sehr Ärgerliches und für alle Hausbewohner Unangenehmes, was Fedor Pawlowitsch sofort in große Unruhe versetzte: Ssmerdjäkoff war nämlich aus irgendeinem Grunde in den Keller gegangen und von der Treppe hinuntergefallen. Es war noch ein Glück, daß Marfa Ignatjewna sich gerade auf dem Hof befand und es rechtzeitig hörte. Den Fall hatte sie zwar nicht gesehen, dafür aber hatte sie den Schrei gehört, den Schrei eines Epileptikers, der im Anfall hinstürzt. Ob ihn nun der Anfall beim Hinabsteigen getroffen hatte und er dann bewußtlos die Treppe hinuntergestürzt war, oder ob der Anfall durch den Sturz und die Erschütterung verursacht worden war, – das ließ sich natürlich nicht feststellen, doch fand man ihn schon auf dem Boden des Kellers in Krämpfen liegen, Schaum vor dem Munde. Man glaubte zuerst, er müsse sich wenigstens ein Glied, einen Arm oder ein Bein gebrochen oder beschädigt haben, doch siehe: „Gott hatte ihn beschützt,“ wie Marfa Ignatjewna sagte; er hatte sich nicht den geringsten Schaden zugefügt, nur war es schwer, ihn aus dem Keller in Gottes freie Natur hinaufzuschaffen. Man bat aber die Nachbarn um Hilfe und brachte ihn dann, so gut es ging, nach oben. Fedor Pawlowitsch wohnte persönlich dieser ganzen umständlichen Prozedur bei und half sogar eigenhändig; jedenfalls war er nicht wenig erschrocken und sehr besorgt. Der Kranke kam nicht sobald zur Besinnung. Die Anfälle hörten wohl zeitweilig auf, doch kamen sie immer wieder, und so meinten schließlich alle, daß der Anfall ebenso lange andauern werde wie im vorigen Jahre, als er vom Hausboden herabgefallen war. Man erinnerte sich, daß er damals Eisumschläge auf die Stirn und den Scheitel bekommen hatte, und beschloß daher, jetzt dasselbe Mittel anzuwenden. Eis fand sich noch im Keller, und Marfa Ignatjewna machte ihm die Umschläge. Fedor Pawlowitsch aber schickte zu Herzenstube, der auch sofort kam. Nachdem er den Kranken sorgfältig untersucht hatte (er war der sorgfältigste und aufmerksamste Arzt im ganzen Gouvernement), erklärte er, daß der Anfall ein „außerordentlicher“ sei und „Gefahr drohen könne“, daß er, Herzenstube, vorläufig noch nicht alles begreife, daß er aber morgen früh, falls diese Mittel nicht helfen sollten, sich entschließen werde, andere anzuwenden. Der Kranke wurde in sein Zimmer gebracht und zu Bett gelegt. Grigorijs und Marfas Schlafstube war nur durch eine dünne Wand von Ssmerdjäkoffs Zimmer getrennt, so daß Marfa Ignatjewna sofort hören konnte, wenn es dem Kranken vielleicht schlecht gehen sollte. Der arme Fedor Pawlowitsch aber hatte an diesem Tage ein Unglück nach dem anderen zu ertragen: das Essen hatte Marfa Ignatjewna zubereitet, und so fand Fedor Pawlowitsch, daß die Suppe im Vergleich zu Ssmerdjäkoffs Meisterwerken „das reine Spülwasser“ sei, und das Huhn erwies sich als dermaßen vertrocknet, daß für ihn ganz ausgeschlossen war, es durchzukauen. Marfa Ignatjewna aber entgegnete auf die bitteren, wenn auch gerechten Vorwürfe des Herrn, daß das Huhn sowieso sehr alt gewesen sei und sie das Kochen nicht bei Professoren gelernt habe. Und am Abend kam dann noch ein neues Unglück hinzu: Fedor Pawlowitsch wurde gemeldet, daß Grigorij, der sich vor zwei Tagen erkältet hätte, völlig kreuzlahm zu Bett liege. Fedor Pawlowitsch trank daher seinen Abendtee möglichst früh und schloß sich dann allein im Hause ein. Er war durch die fieberhafte Erwartung ungewöhnlich erregt. Er war nämlich überzeugt, daß Gruschenka an diesem Abend ganz bestimmt kommen werde, da ihm Ssmerdjäkoff schon am Morgen gesagt hatte, sie hätte versprochen, „unfehlbar heute zu kommen“. Das Herz des unruhigen Alten schlug erwartungsvoll; er ging erregt in seinen großen einsamen Räumen umher und blieb immer wieder lauschend und aufhorchend mit klopfendem Herzen stehen. Er mußte auf der Hut sein; konnte doch Dmitrij Fedorowitsch irgendwo in der Nähe ihr auflauern, und so hieß es, wenn sie ans Fenster klopfte (Ssmerdjäkoff hatte ihm schon vor drei Tagen versichert, daß er ihr ausführlich gesagt hätte, wo und wie sie klopfen sollte), so hieß es dann sofort, die Tür öffnen und sie keine Sekunde lang warten lassen, damit sie nur um Gotteswillen nicht vor irgend etwas Angst bekäme und fortliefe. Besorgt und unruhig wartete Fedor Pawlowitsch. Noch nie hatte sein Herz in so süßer Hoffnung geschwelgt: es war doch so gut wie sicher und bestimmt, daß sie diesmal kommen werde! ...

Sechstes Buch.
Ein russischer Mönch

I.
Der Staretz Sossima und seine Gäste

Als Aljoscha mit Schmerz und Aufregung im Herzen die Zelle des Staretz betrat, blieb er im ersten Augenblick vor Verwunderung stehen: statt einen sterbenden Kranken vorzufinden, der vielleicht schon besinnungslos war (wie er die ganze Zeit gefürchtet hatte), erblickte er ihn plötzlich im Lehnstuhl sitzend, wenn auch anscheinend etwas erschöpft und schwach, so doch jedenfalls mit frohem Antlitz, und umgeben von Gästen, mit denen er eine ruhig heitere Unterhaltung führte. Übrigens war er erst eine viertel Stunde vor Aljoschas Ankunft aufgestanden. Die Gäste hatten sich schon früher in der Zelle versammelt und auf sein Erwachen gewartet, denn Pater Paissij hatte ihnen gesagt, daß der Lehrer sich gewiß noch erheben werde, um sich noch einmal mit allen, die seinem Herzen teuer waren, auszusprechen, wie er dies selbst am Morgen gewünscht und versprochen hatte. An dieses Versprechen, wie überhaupt an jedes Wort des sterbenden Staretz glaubte Pater Paissij unerschütterlich, so daß er sogar dann, wenn er ihn schon bewußtlos und sterbend gesehen und gleichwohl sein Versprechen, noch einmal aufzustehen, gehabt hätte, ja daß er dem Tode selbst nicht geglaubt, sondern immer noch erwartet haben würde, der Sterbende werde sich erheben und sein Versprechen halten. Am Morgen aber hatte ihm der Staretz vor dem Einschlafen gesagt: „Ich werde nicht früher sterben, als bis ich noch einmal vorher, ihr Geliebten meines Herzens, eure lieben Gesichter geschaut und vor euch meine Seele ausgeschüttet habe.“ Die vier Mönche, die sich zu dieser letzten Unterhaltung beim Staretz eingefunden hatten, waren seine Freunde, die innig an ihm hingen: die beiden Priestermönche Pater Jossiff und Pater Paissij und der Priestermönch Pater Michail. Es war das der Vorsteher der Einsiedelei, eigentlich noch kein alter Mann, auch war er nicht gerade sehr gelehrt, dafür aber ein fester Charakter mit schlichtem, unerschütterlichem Glauben und von strengem Äußeren; sein Herz war von tiefster Güte durchdrungen, die er jedoch äußerlich fast wie aus einem gewissen Schamgefühl heraus zu verbergen suchte. Der vierte Gast war ein kleines, altes, einfaches Mönchlein aus niedrigstem Bauernstande, Bruder Anfim, der kaum lesen und schreiben konnte, still und schweigsam war, selten mit jemandem sprach, der Demütigste aller Demütigen. Er hatte das Aussehen eines Menschen, der durch etwas Großes und Schreckliches, für seinen Geist Unfaßliches auf ewig erschreckt worden ist. Diesen gleichsam vor Furcht bebenden Menschen liebte der Staretz Sossima sehr und behandelte ihn stets mit außergewöhnlicher Hochachtung. Trotzdem hatte Pater Anfim vielleicht in seinem ganzen Leben mit niemandem weniger geredet als mit dem Staretz, obgleich er viele Jahre mit ihm allein als Pilger durch das heilige Rußland gewandert war. Das aber war schon vor langer Zeit gewesen, ungefähr vor vierzig Jahren, als der Staretz Sossima erst seine Laufbahn als Mönch in einem armen, fast ganz unbekannten Kostromaschen Kloster begonnen hatte. Bald darauf begleitete ihn Pater Anfim auf seinen Wanderungen zum Sammeln von Opfergaben für ihr armes Klosters. Sie alle, der Staretz wie seine Gäste, hatten sich im zweiten Zimmer der Zelle versammelt, in dem auch das Bett stand. Dieses Zimmer war, wie ich schon einmal erwähnte, sehr klein, so daß alle vier (außer dem Novizen Porfirij, der die ganze Zeit über stand) um den Lehnstuhl des Staretz auf den Stühlen, die aus dem ersten Zimmer herbeigebracht waren, kaum Platz fanden. Draußen dunkelte es bereits, und das Zimmer wurde nur durch die Lämpchen und Wachslichte vor den Heiligenbildern erleuchtet. Als der Staretz Aljoscha erblickte, der beim Eintreten an der Tür stehen geblieben war, lächelte er freudig und streckte ihm die Hand entgegen.

„Sei gegrüßt, mein Stiller, sei gegrüßt, mein Lieber, da bist ja auch du! Ich wußte doch, daß du kommen würdest.“

Aljoscha trat auf ihn zu, verbeugte sich vor ihm bis zur Erde und brach in Tränen aus. Sein Herz wollte zerspringen; seine Seele erbebte, und am liebsten hätte er laut aufgeschluchzt.

„Was tust du? warte noch mit dem Weinen,“ sagte der Staretz lächelnd und legte ihm die rechte Hand auf den Scheitel, „siehe, ich sitze und plaudere hier, vielleicht werde ich noch zwanzig Jahre leben, wie es mir gestern die Gute, Liebe aus Wyschegorje, mit dem Töchterchen Lisaweta auf dem Arme, gewünscht hat. Herr, segne sie und ihr Töchterchen Lisaweta!“ (er bekreuzte sich). „Porfirij, hast du die Gabe dorthin gebracht, wie ich es dir befahl?“ Ihm waren die sechzig Kopeken eingefallen, die ihm seine opferfreudige Verehrerin mit der Bitte übergeben hatte, sie „einer, die ärmer ist als ich“, zu spenden. Solche Spenden, die man sich freiwillig auferlegt, müssen durchaus durch eigene Arbeit erworben werden, um ein Bußopfer zu sein. Der Staretz hatte Porfirij damit noch am selben Abend zu einer armen Bürgersfrau geschickt, einer Witwe mit Kindern, die durch einen Brand alles verloren hatte. Porfirij meldete sofort, daß er die Sache besorgt und das Geld, wie er beauftragt war, „von einer unbekannten Wohltäterin“ überbracht habe.

„Steh auf, mein Lieber,“ wandte sich der Staretz wieder zu Aljoscha, „laß mich dich ansehen. Warst du bei den Deinen und sahst du deinen Bruder?“

Aljoscha schien es sonderbar, daß er so bestimmt nur nach einem von seinen Brüdern fragte – aber nach welchem? Folglich hatte er ihn gestern wie auch heute nur um dieses Bruders willen fortgeschickt.

„Den einen der Brüder habe ich gesehen,“ antwortete Aljoscha.

„Ich meine den von gestern, den älteren, vor dem ich niederfiel.“

„Den habe ich gestern gesehen, heute aber konnte ich ihn nicht finden,“ sagte Aljoscha.

„Suche ihn eiligst auf, morgen gehe wieder hin, beeile dich, laß alles andere bleiben und beeile dich. Vielleicht gelingt es dir noch, etwas Schrecklichem vorzubeugen. Denn wisse: ich bin gestern wegen des großen Leidens, das ihn in Zukunft erwartet, vor ihm niedergefallen.“

Er verstummte plötzlich und versank in Gedanken. Sonderbar waren seine Worte. Der Pater Jossiff, der Zeuge des gestrigen Kniefalls gewesen war, und der Pater Paissij tauschten einen Blick aus. Aljoscha aber konnte nicht an sich halten:

„Mein Vater und mein Lehrer,“ stieß er in ungewöhnlicher Aufregung hervor, „unklar sind mir Eure Worte ... Welch ein Leiden erwartet ihn?“

„Frage nicht. Mir schien gestern etwas Schreckliches ... In seinem Blick konnte man sein ganzes Schicksal lesen. Nur ein Blick war es, und in diesem Augenblick erschrak ich in meinem Herzen über das, was dieser Mensch sich selbst bereitet. Ein- oder zweimal in meinem Leben habe ich diesen Gesichtsausdruck gesehen ... einen Gesichtsausdruck, der das ganze Schicksal dieser Menschen kennzeichnete, und wehe! das sie auch ereilte. Ich habe dich zu ihm geschickt, Alexei, denn ich dachte, daß das Bruderantlitz ihn retten könnte. Doch alles kommt vom Herrn, auch alle unsere Geschicke. ‚Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.‘ Denke daran, mein Sohn. Dich aber, Alexei, habe ich oft in Gedanken um deines Blickes willen gesegnet, damit du es weißt,“ sagte der Staretz, und ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen. „Oft denke ich von dir: Du wirst wie ein Einsiedler aus diesen Mauern hinausgehen in die Welt. Viele Gegner wirst du haben, aber selbst deine Feinde werden dich lieben. Viel Leid wird dir das Leben bringen, doch nur durch Leid wirst du glücklich sein, und nur um des Leidens willen wirst du das Leben segnen, und du wirst auch andere zwingen, es zu segnen – was das wichtigste ist. Siehe, das bist du. Meine Väter und Lehrer,“ wandte er sich gerührt lächelnd an seine Freunde – „bis zu dieser Stunde habe ich niemandem gesagt, auch ihm selbst nicht, warum der Anblick dieses Jünglings mir so lieb war. Jetzt werde ich es sagen: Sein Antlitz war mir eine Erinnerung und eine Prophezeiung. In der Morgenröte meiner Tage, als ich noch ein ganz kleines Kind war, hatte ich einen älteren Bruder; es war ein Jüngling, der mit siebzehn Jahren starb. Später, als ich mein Leben begann, überzeugte ich mich immer mehr, daß dieser Bruder in meinem Schicksal gleichsam ein Hinweis zu etwas Höherem gewesen war, denn wäre er in meinem Leben nicht gewesen, so wäre ich vielleicht nie auf den Gedanken gekommen, die Mönchskutte zu wählen und diesen Weg zu betreten, der mir jetzt so teuer ist. Diese Erscheinung kreuzte in meiner Kindheit meinen Weg, und siehe, am Ende meiner Tage tritt sie wie wiedererstanden aufs neue mir entgegen. Wunderbar ist es, meine Väter und Lehrer, daß Alexei, auch wenn er dem Antlitze nach ihm weniger ähnlich wäre, geistig ihm doch so gleicht, daß ich ihn oft für jenen Jüngling, für meinen Bruder gehalten habe, der am Ende meiner Tage mir geheimnisvoll erschienen ist, zur Erinnerung und zur Erleuchtung. Ich habe mich selbst oft über diesen meinen Gedanken gewundert. Merke es dir, Porfirij,“ wandte er sich an den bedienenden Novizen. „Oft sah ich auf deinem Gesicht Unmut darüber, daß ich Alexei mehr liebte als dich. Jetzt weißt du, warum das geschah, doch liebe ich auch dich. Wisse, ich war oft betrübt, daß du darüber grolltest. Euch aber, liebe Gäste, will ich von diesem Jüngling, meinem Bruder erzählen, denn seine Erscheinung war in meinem Leben die teuerste, die prophetischste und die ergreifendste. Mein Herz ist von Rührung ergriffen, und mir ist, als durchlebte ich in dieser Minute nochmals mein ganzes Leben ...“


Hier muß ich bemerken, daß dieses Gespräch des Staretz mit seinen Gästen, am letzten Tage seines Lebens, später von seinen Anhängern aufgeschrieben und aufbewahrt worden ist. Alexei Fedorowitsch Karamasoff schrieb es einige Tage nach dem Tode des Staretz aus dem Gedächtnis nieder. Ob er nun bloß das letzte Gespräch von damals aufgeschrieben oder einiges aus den früheren Erzählungen seines Lehrers noch hinzugefügt hat, das kann ich nicht feststellen. In der Niederschrift zieht sich das Gespräch des Staretz ununterbrochen hin, als ob er sein Leben den Freunden in der Form einer Erzählung wiedergegeben hätte, während es sich doch in Wirklichkeit ohne Zweifel anders verhalten hat. Die Unterhaltung an diesem Abend war eine allgemeine gewesen; denn wenn auch die Gäste ihren Meister nur wenig unterbrachen, so mischten sie sich doch zuweilen in das Gespräch ein, teilten auch ihre Meinungen und Erlebnisse mit, abgesehen davon, daß der Staretz ununterbrochen seine Erzählung gar nicht hätte zu Ende führen können, da er viel zu erschöpft war, die Stimme ihm versagte und er sich von Zeit zu Zeit aufs Bett legen mußte, um sich zu erholen, während die Gäste ihren Platz nicht verließen. Ein- oder zweimal wurde die Unterhaltung durch Lesen des Evangeliums unterbrochen. Pater Paissij las vor. Bemerkenswert ist auch noch, daß niemand von ihnen ahnte, wie nahe sein Ende war – daß er noch in dieser Nacht sterben werde. Er hatte an diesem letzten Abend seines Lebens nach einem tiefen Nachmittagsschlaf neue Kräfte geschöpft, die ihn während des langen Gespräches mit seinen Freunden aufrecht erhielten. Doch waren es, wie sich erwies, seine letzten Kräfte gewesen ... Aber davon später. Jetzt will ich nur mitteilen, daß ich mich hier bei der Erzählung des Staretz auf die Niederschrift Alexei Fedorowitsch Karamasoffs beschränke, ohne auf alle Einzelheiten der Unterhaltung mit seinen Gästen einzugehen. So ist sie übersichtlicher und nicht so ermüdend, obgleich, ich wiederhole es, Aljoscha sie nicht wörtlich wiedergegeben hat.

II.
Aufzeichnungen aus dem Leben des in Gott verschiedenen Priestereinsiedlermönches, des Staretz Sossima, zusammengestellt nach dessen eigenen Worten von Alexei Fedorowitsch Karamasoff.
Biographische Aufzeichnungen

a) Vom jungen Bruder des Staretz Sossima

Inniggeliebte Väter und Lehrer. Ich wurde hoch im Norden, in einem entfernten Gouvernement, geboren, in der Stadt W. Mein Vater war Edelmann, doch weder von hohem Adel, noch von hohem Rang. Er starb, als ich zwei Jahre alt war, und ich erinnere mich seiner nicht. Er hinterließ meiner Mutter ein nicht sehr großes Wohnhaus und ein Kapital, das für sie und ihre Kinder zum Leben ausreichte. Sie hatte nur uns beide: mich, Sinowij, und meinen älteren Bruder Markell. Er war acht Jahre älter als ich, war reizbar und heftig, doch nichtsdestoweniger gut und zartfühlend, verschlossen, besonders zu Hause, sowohl gegen mich, gegen meine Mutter und gegen die Dienstboten. Im Gymnasium war er ein guter Schüler, aber mit seinen Mitschülern verstand er sich nicht, obgleich er mit ihnen auch nicht gerade in Feindschaft lebte, wie die Mutter behauptete. Ein halbes Jahr vor seinem Tode, als er schon siebzehn Jahre alt war, ging er häufig zu einem einsamen Menschen, der, aus Moskau als politischer Verbrecher verbannt, in unserer Stadt lebte. Dieser Verbannte war kein geringer Gelehrter und ein berühmter Philosoph der Universität. Warum er Markell liebte und ihn bei sich empfing, weiß ich nicht. Jedenfalls verbrachte Markell bei ihm alle Abende. Den ganzen Winter hindurch besuchte er ihn, bis man schließlich den Verbannten auf dessen Bitte an die Petersburger Universität berief, denn er hatte gute Protektion. Die großen Fasten begannen, aber Markell weigerte sich, zu fasten, und er machte sich über das Fasten nur lustig: „Das ist doch nichts als Unsinn, denn es gibt ja gar keinen Gott,“ sagte er. Meine Mutter und die Dienstboten waren darüber entsetzt, und auch ich war es; wenn ich auch erst neun Jahre alt war, so erschrak ich doch sehr, als ich diese Worte hörte. Unsere vier Dienstboten waren als Leibeigene und alle auf den Namen eines uns bekannten Gutsbesitzers gekauft.[20] Ich erinnere mich noch, wie Mütterchen eine von diesen vier, die Köchin Afimja, ein hinkendes, ältliches Weib, für sechzig Rubel verkaufte und an ihrer Stelle eine Freie annahm. In der sechsten Woche der Fasten wurde mein Bruder krank. Er war schon immer kränklich gewesen, hatte eine schwache Brust, war zart gebaut und neigte zur Schwindsucht; klein von Wuchs war er gerade nicht, aber schmal und schwächlich; sein Gesicht dagegen war wohlgebildet. Wahrscheinlich hatte er sich erkältet. Der Doktor kam und flüsterte bald darauf meinem Mütterchen zu, daß es die Schwindsucht sei und er den Frühling wohl nicht überleben werde. Die Mutter weinte, bat aber schüchtern den Bruder – um ihn nicht zu erschrecken –, er möge durch Fasten und Kirchenbesuch sich zum Abendmahl vorbereiten, denn damals konnte er noch ausgehen. Als er das hörte, wurde er zornig und lästerte das Gotteshaus, indessen dachte er doch nach: Er erriet sofort, daß er gefährlich krank war, und daß die Mutter ihn nur darum bat, zum Abendmahl zu gehen, weil er noch bei Kräften war. Übrigens wußte er selbst schon lange, daß er krank war, schon ein Jahr vorher hatte er einmal bei Tisch mir und der Mutter kaltblütig gesagt: „Ich bin unter euch gar nicht wie ein Bewohner dieser Erde, vielleicht werde ich schon im nächsten Jahre nicht mehr leben,“ ganz als ob er seinen Tod prophezeit hätte. Es vergingen zwei, drei Tage, und die Passionswoche begann. Und siehe, der Bruder ging vom Dienstagmorgen an zur Beichte. „Ich tue es nur deinetwegen, Mütterchen, nur um dich zu erfreuen und zu beruhigen,“ sagte er zu ihr. Die Mutter weinte vor Freude und vor Leid: „Nah muß sein Ende sein, wenn sich in ihm eine solche Umwandlung vollzogen hat,“ sagte sie. Aber nicht lange mehr konnte er in die Kirche gehen, so daß die Beichte und das Abendmahl im Hause vollzogen werden mußten. Es kamen heitere und klare Tage, voll Licht und Duft; es waren späte Ostern. In den Nächten schlief er schlecht und hustete – ich erinnere mich dessen noch –, am Morgen aber kleidete er sich immer an und setzte sich in einen weichen Lehnstuhl. So sehe ich ihn noch jetzt vor mir: still sitzt er da und lächelt, zwar ist er krank, aber sein Blick ist strahlend. Seelisch hatte er sich ganz verändert – eine wunderbare Veränderung hatte sich in ihm vollzogen! Seine alte Kinderfrau trat einmal zu ihm ins Zimmer und sagte: „Erlaube, mein Täubchen, daß ich auch bei dir das Lämpchen vor dem Heiligenbilde anzünde.“ Früher erlaubte er es nicht und hatte das Lämpchen sogar ausgelöscht. „Zünde an, meine Liebe, zünde es an. Ein Ungeheuer war ich, als ich es dir verbot. Du zündest das Lämpchen an und betest zu Gott, und ich freue mich über dich und bete gleichfalls. Folglich beten wir beide zu einem Gott.“ Sonderbar schienen uns diese Worte; die Mutter ging in ihr Zimmer und weinte immerfort, nur wenn sie zu ihm kam, wischte sie sich die Augen ab und machte ein frohes Gesicht. „Mütterchen, weine nicht, mein Liebes,“ sagte er gar manches Mal, „ich lebe ja noch lange mit euch, kann mich noch mit euch freuen, sieh, welch eine Freude ist doch das Leben!“ – „Ach, mein Lieber, was ist denn das für eine Freude für dich, wenn du die ganze Nacht im Fieber liegst und hustest, daß dir die Brust zerspringt.“ – „Mama,“ antwortete er ihr, „weine nicht, das Leben ist ein Paradies, und alle sind wir im Paradiese, wir wollen es nur nicht erkennen; wenn wir es aber erkennen könnten, so würden wir morgen im Paradiese sein.“ Und alle wunderten sich über seine Worte, so sonderbar und bestimmt sprach er sie aus; und sie weinten alle vor Rührung. Auch Bekannte kamen zu uns. „Meine Lieben,“ sagte er zu ihnen, „meine Teuren, wodurch habe ich verdient, daß Sie mich lieben, warum lieben Sie mich denn, und warum habe ich das früher nicht gewußt und geschätzt?“ Den Dienstboten sagte er, wenn sie zu ihm kamen: „Meine Lieben, meine Guten, warum bedient ihr mich, bin ich es denn wert, daß man mich bedient? Wenn Gott sich meiner erbarmte und mich leben ließe, so würde ich selbst euch dienen, denn ein jeder soll dem anderen dienen.“ Als Mütterchen dies hörte, schüttelte sie den Kopf und sagte: „Das kommt von deiner Krankheit, daß du so sprichst!“ – „Mama, du meine Freude, gewiß muß es Diener und Herren geben, möge ich aber auch einmal der Diener meiner Diener sein und ihnen dienen, wie sie mir. Ja, und ich sage dir, Mütterchen, jeder von uns ist in allem vor allen schuldig, und ich bin es mehr als alle anderen.“ Die Mutter lächelte darüber, weinte und lächelte: „Nun, weshalb solltest du denn von allen am meisten schuldig sein? Da gibt es Mörder und Räuber, worin kannst du denn so gesündigt haben, daß du dich mehr als alle anderen beschuldigst?“ – „Mütterchen, du mein leibliches Mütterchen, mein eigenes Herzblut (liebe, ganz ungewohnte Worte sagte er damals), meine Liebe, meine Freudige, ich sage dir, in Wahrheit ist ein jeder in allem und vor allen schuldig. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, aber ich fühle es, fühle es bis zur Qual. Wie haben wir nur so leben und uns kränken können und es nicht gewußt?“ So erhob er sich jeden Morgen immer freudiger und immer mehr von Liebe überwältigt und verklärt. Wenn der Doktor kam, Doktor Eisenschmidt, ein Deutscher, scherzte er mit ihm: „Nun, Doktor, werde ich noch einen Tag auf der Welt erleben?“ – „Nicht nur einen Tag, noch viele Tage werden Sie leben,“ antwortete ihm manches Mal der Doktor, „und Monate und Jahre werden Sie noch leben.“ – „Wozu denn noch Monate und Jahre!“ rief er aus. „Wozu da die Tage zählen. Dem Menschen genügt ja ein einziger Tag, um das ganze Glück zu erfahren. Meine Lieben, warum streiten wir uns, warum tun wir wichtig voreinander, warum vergeben wir nicht einander? – Gehen wir lieber gradeswegs in den Garten, lustwandeln wir und freuen wir uns, lieben wir einander und lobpreisen wir unser Leben! ...“ „Ihr Sohn ist nicht von dieser Welt,“ sagte der Doktor zur Mutter, wenn die ihn zur Tür begleitete, „durch die Krankheit verfällt er in Phantasien.“ Die Fenster seines Zimmers gingen auf den Garten hinaus; der Garten war schattig, voll alter Bäume, und an den Bäumen sproßten Frühlingsknospen, und die ersten Vögel zwitscherten und sangen vor seinem Fenster. Er freute sich über sie, und plötzlich begann er auch, sie um Verzeihung zu bitten: „Gottes Vöglein, selige Vöglein, vergebt auch ihr, daß ich auch euch gegenüber gesündigt habe.“ Das nun konnte niemand mehr von uns verstehen; er aber weinte vor Freude: „Ja,“ sagte er, „so groß war der Ruhm Gottes um mich her: Vögel, Bäume, Wiesen und Himmel, nur ich allein lebte in Sünde und schändete alles, weil ich die Schönheit der Welt und den Ruhm des Herrn nicht beachtete.“ „Zu viel Sünden nimmst du auf dich,“ sagte oft weinend die Mutter. „Mütterchen, meine Freude,“ sagte er ihr darauf, „ich weine ja nicht vor Kummer; vor Freude weine ich. Ich selbst will vor ihnen schuldig sein. Alles das kann ich dir nicht erklären, denn ich weiß nicht, wie ich sie lieben soll. Möge ich doch schuldig sein vor allen, dafür aber wird man mir vergeben, siehe, und das ist ein Paradies. Bin ich denn jetzt nicht im Paradiese?“

Und was gäbe es nicht noch alles zu berichten von ihm! und auszulegen! Ich erinnere mich noch, daß ich einmal ganz allein bei ihm war. Es war zur Abendstunde, die Sonne beleuchtete mit letzten schrägen Strahlen das ganze Zimmer. Als er mich erblickte, winkte er mich zu sich heran. Und ich ging zu ihm; er aber faßte mich mit beiden Händen an den Schultern, sah mir mit rührender Liebe ins Gesicht, sagte nichts, sah mich nur minutenlang an: „Nun,“ sagte er dann, „gehe jetzt, spiele und lebe für mich!“ Ich ging damals hinaus, um zu spielen, aber im späteren Leben dachte ich oft mit Tränen daran, wie er mir befohlen hatte, für ihn zu leben. Viele solcher wunderbaren und schönen Worte, die uns damals unverständlich blieben, hat er noch gesprochen. Er starb in der dritten Woche nach Ostern bei voller Besinnung, obgleich er schon aufgehört hatte, zu sprechen, doch bis zum letzten Augenblick veränderte er sich nicht: freudig strahlten seine Augen, mit seinen Blicken suchte er uns, lachte er uns zu, und rief er uns. In der Stadt sprach man viel über seinen Tod. Das alles erschütterte mich damals nicht allzu tief, obgleich ich sehr weinte, als man ihn beerdigte. Ich war ja jung, ein Kind war ich noch, aber in meinem Herzen blieb die Erinnerung daran zurück. Es mußte erst die Zeit kommen, da sie auferstehen und Antwort geben sollte. Und so geschah es denn auch.

b) Von der Heiligen Schrift im Leben des Staretz Sossima

So waren wir denn allein, meine Mutter und ich. Bald kamen gute Bekannte mit ihrem Rat zu uns: „Ihnen ist nur ein Sohn verblieben,“ sagten sie zu meiner Mutter, „arm sind Sie nicht, Sie haben ein gewisses Vermögen, warum sollten Sie nicht Ihren Sohn nach Petersburg schicken, damit er, da er aus guter Familie ist, dort seine Karriere mache?“ Und sie beredeten meine Mutter, mich nach Petersburg in die Kadettenschule zu bringen, damit ich später in die Kaiserliche Garde eintreten könnte. Meine Mutter konnte sich zuerst nicht recht dazu entschließen: wie sollte sie sich von dem letzten und einzigen Sohne trennen? Indessen entschloß sie sich endlich doch dazu, wenn auch unter vielen Tränen, aber sie glaubte dadurch mein Glück zu fördern. Sie brachte mich nach Petersburg, und ich wurde in die Kadettenschule aufgenommen. Ich sollte meine Mutter nicht mehr wiedersehen, denn nach drei Jahren starb sie; die ganzen drei Jahre hat sie nur um ihre beiden Söhne getrauert. Aus meinem Elternhaus habe ich die allerteuersten Erinnerungen, denn keine Erinnerung ist dem Menschen so teuer, als die der ersten Kindheit in seinem Elternhause, und das ist fast immer so, wenn in der Familie nur etwas Liebe und Einigkeit herrscht. Ja, selbst aus der schrecklichsten Familie kann man die teuersten Erinnerungen bewahren, wenn nur die Seele selbst fähig ist, das Wertvolle zu finden. Zu den Erinnerungen aus meinem Vaterhause gehören auch die Erinnerungen an die biblischen Geschichten, die ich, obwohl ich noch ein kleines Kind war, sehr zu hören liebte. Ich besaß damals eine Biblische Geschichte mit schönen Bildern und mit dem Titel: „Hundertundvier biblische Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament“. Und aus diesem Buch lernte ich das Lesen. Und noch jetzt steht sie hier auf meinem Bücherbrett, und ich bewahre sie als teures Andenken auf. Aber noch bevor ich das Lesen erlernt hatte, noch vor meinem achten Jahre, hatte ich ein geistiges Erlebnis. Meine Mutter brachte mich allein (ich weiß nicht, wo mein Bruder damals war) am Montag der Karwoche zum Abendmahl in die Kirche. Der Tag war hell, und ich erinnere mich noch jetzt, als ob ich es vor mir sähe, wie der Weihrauch aus dem Räucherfaß leise aufstieg, von oben aber aus den schmalen Fenstern der Kuppel über uns das Licht Gottes sich ergoß, und wie der emporsteigende Weihrauch sich mit den Sonnenstrahlen vermischte. Eine heilige Empfindung durchschauerte mich, und zum erstenmal nahm ich bewußt das Wort Gottes in mich auf. Ein Knabe mit einem großen Buche trat in die Mitte der Kirche vor, so groß war das Buch, daß er es, wie mir schien, nur mit Mühe tragen konnte. Er legte es aufs Pult nieder, schlug es auf und fing zu lesen an, und plötzlich begriff ich etwas davon, und ich begriff zum erstenmal in meinem Leben, daß in der Kirche gelesen wurde. „Es war ein Mann im Lande Uz, der war sehr gottesfürchtig, und er besaß großen Reichtum, viele Kamele und Schafe, und seine Kinder lebten in Freuden, und er liebte sie sehr und betete zu Gott für sie, auf daß sie nicht sündigten in ihrem Frohsinn. Da trat eines Tages zusammen mit den Engeln auch der Böse vor den Thron des Herrn, und er sagte zum Herrn, er habe alles Land durchzogen, über und unter der Erde. Und Gott der Herr fragte ihn: Hast du auch meinen Knecht Hiob gesehen? Und Gott rühmte sich vor dem Satanas seines großen treuen Dieners. Da lachte der Böse über die Worte Gottes und sprach: „Übergib ihn mir, und du wirst sehen, daß dein treuer Knecht murren und deinen Namen verfluchen wird.“ Und da übergab Gott seinen Gerechten, seinen geliebten treuen Diener dem Teufel, und der Teufel ging hin und vernichtete seine Kinder, seine Herden und seinen ganzen Reichtum, wie mit einem Donnerschlag Gottes. Da zerriß Hiob seine Kleider und warf sich hin zur Erde und rief: „Nackt bin ich hervorgegangen aus meiner Mutter Leibe, nackt fahre ich wieder dahin, der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobt von nun an bis in alle Ewigkeit!“

Meine Väter und Lehrer, verzeiht mir meine Tränen, denn meine ganze Kindheit steht wieder auf in mir, und ich atme wieder, wie ich damals mit meiner kleinen Kinderbrust atmete, und ich fühle wie damals Erstaunen, Rührung und Freude. Und die Kamele beschäftigten meine Phantasie, und der Satan, der so zu Gott sprach, und Gott, der seinen Knecht dem Unglück überlieferte, und der Knecht, der da ausrief: „Nackt hast Du mich geschaffen, nackt sterbe ich, Dein Name, o Herr, sei gelobt!“ und darauf der leise und süße Kirchengesang: „Erhöre mein Gebet,“ und der aufsteigende Thymianrauch aus dem Weihrauchfasse des Priesters, und dann das Gebet auf den Knien. Seit der Zeit – und noch gestern las ich sie – kann ich diese heilige Erzählung nicht ohne Tränen lesen. Wieviel Großes, Geheimnisvolles und Unbegreifliches liegt darin! Später hörte ich stolze Worte von Spöttern und Lästerern darüber: „Wie konnte Gott seinen Lieblingsknecht dem Teufel ausliefern, ihm seine Kinder nehmen, ihn mit Krankheit und Wunden schlagen, so daß er mit Scherben den Eiter aus seinen Wunden und Beulen herausbringen mußte, und warum und wozu? Um sich etwa vor dem Satan rühmen zu können: „Sieh, was er um meinetwillen leiden kann!“ Aber das Große in ihm bleibt uns ein Geheimnis, das vergängliche Irdische und die ewige Wahrheit kreuzen sich hier. Die ewige Gerechtigkeit steht über dem irdischen Recht. Hier ist es der Schöpfer, der in den ersten Tagen seiner Schöpfung nach jedem Tagewerk sagt: „Es ist gut, was ich geschaffen habe“ der Schöpfer, der Hiob sieht, und dieses sein Geschöpf lobt. Und Hiob, Gott lobend, dient nicht nur ihm, sondern er dient auch der ganzen Schöpfung Gottes, von Geschlecht zu Geschlecht, von Jahrhundert zu Jahrhundert, denn das war doch seine Bestimmung. Mein Gott, was für ein Buch das ist, und welche Weisheit es enthält! Welche Wunder enthält die Heilige Schrift, und welche Kraft ist in ihr den Menschen gegeben! Welche Auslegung der Welt und des Menschen und der menschlichen Charaktere, und alles ist gezeigt und erwiesen bis in die Ewigkeit aller Zeiten. Und welch gelöste und offenbarte Geheimnisse: und Gott richtet Hiob wieder auf, schenkte ihm wieder Reichtum, und es vergehen viele Jahre, und er hat wieder neue Kinder, andere Kinder, die er liebt. Mein Gott: „Wie konnte er,“ sollte man meinen, „diese neuen lieben und die anderen, die ersten, vergessen? Wie konnte er, wenn er an sie dachte, vollkommen glücklich sein mit den neuen, wie lieb er diese auch haben mochte?“ Und doch ist es möglich, ist es möglich: der alte Kummer – das große Geheimnis des Menschenlebens – verwandelt sich allmählich in eine stille, freudige Rührung; an Stelle des jungen, kochenden Blutes tritt die Ruhe demütigen klaren Alters. Ich preise den täglichen Aufgang der Sonne, und mein Herz jubelt ihm wie früher zu, und doch liebe ich jetzt mehr ihren Untergang, ihre langen schrägen Strahlen mit ihren stillen, versöhnenden, rührenden Erinnerungen, mit den lieben Bildern aus meinem ganzen langen und gesegneten Leben – und über alledem schwebt die friedenspendende, allvergebende Gerechtigkeit Gottes! Mein Leben geht zu Ende, ich weiß und fühle es, doch fühle ich auch mit jedem sich neigenden Tage, wie mein Leben dieser Erde mit einem neuen, unendlichen, unbekannten, aber schon neu heraufkommenden Leben zusammenfließt, dessen Vorgefühl meine zitternde, bebende Seele mit Entzücken erfüllt. Mein Geist leuchtet, und mein Herz weint vor Freude ... Meine Freunde und Lehrer, hörte ich nicht des öfteren und jetzt in der letzten Zeit mehr denn früher, wie bei uns die Priester des Herrn, und besonders die vom Lande, sich überall mit Tränen über ihren geringen Unterhalt und ihre geringe Stellung beklagen; gerade heraus sagen sie (ich habe es selbst gelesen), daß sie nicht mehr imstande wären, dem Volke die Schrift auszulegen, denn ihr Unterhalt wäre so gering, und wenn die Lutheraner oder andere Ketzer ihnen die Herde abtrünnig machten, so möchten sie es nur tun, sie hätten keine Kraft mehr, sie aufzuhalten. „Herr!“ denke ich, „möge Gott ihnen doch ein besseres Gehalt geben“ (denn gerecht sind ihre Klagen), aber in Wahrheit sage ich: Wenn jemand daran schuld ist, so sind zur Hälfte wir es selbst! Denn möge er recht haben, daß er dazu keine Zeit mehr finden kann, da er arbeiten muß und ihn Notdurft peinigt – doch nicht die ganze Zeit braucht er zu arbeiten, eine Stunde in der Woche wird er Zeit finden, um an Gott zu denken. Und doch nicht das ganze runde Jahr über hat er zu arbeiten! Möge er einmal in der Woche bei sich die Kinder zur Abendstunde versammeln – und wenn das die Eltern hören, so kommen auch die Eltern mit. Auch keine besonderen Gebäude hat man dazu nötig, nein, einfach in deine Stube nimm sie; fürchte dich nicht, sie werden deine Stube nicht verunreinigen, nur auf eine Stunde versammeln sie sich ja in ihr. Schlage die Heilige Schrift auf und lies sie ihnen vor, ohne hohe Worte und ohne Hochmut und Überhebung, bescheiden und von Herzen kommend, und freue dich, daß du liest und sie dich hören und verstehen, weil du selbst die Worte lieb hast. Unterbrich dich nur selten, nur um dem einfachen Volk ein Wort, das ihm unverständlich ist, zu erklären; beunruhige dich nicht, sie werden alles verstehen, alles versteht das rechtgläubige Herz! Lies ihnen von Abraham und Sarah, von Isaak und Rebekka; davon, wie Jakob zu Laban ging und im Traume Gott sah und mit ihm kämpfte. Das wird auf den einfachen, gottesfürchtigen Mann einen tiefen Eindruck machen. Lies ihnen vor, und besonders den Kindern, wie die Brüder ihren leiblichen Bruder, den lieben Knaben Joseph, den späteren großen Seher und Propheten, in die Sklaverei verkauften, dem Vater aber sagten sie, daß die Tiere seinen Sohn zerrissen hätten, und zeigten ihm seine mit Blut befleckte Kleidung. Lies ihnen vor, wie darauf die Brüder nach Ägypten fuhren, um Brot einzukaufen, und Joseph, der große Schatzmeister, von ihnen nicht erkannt, sie quälte, beschuldigte und den Bruder Benjamin als Pfand zurückbehielt: „Ich liebe euch, und liebend quäle ich euch.“ Denn sein ganzes Leben hatte er ununterbrochen daran gedacht, wie sie ihn dort in der heißen Wüste beim Brunnen den Händlern verkauft hatten, wie er die Hände gerungen, geweint und die Brüder gebeten hatte, ihn doch nicht als Sklaven in ein fremdes Land zu verkaufen. Und siehe da, wie er sie nach so vielen Jahren wiedersieht, liebt er sie von neuem grenzenlos, und er quält sie in seiner Liebe. Wie er schließlich die Qualen seines Herzens nicht mehr ertragen kann, hinausgeht, sich auf sein Lager wirft und in Tränen ausbricht; nachdem er aber sein Gesicht gekühlt hat, tritt er strahlend und reich gekleidet wieder zu ihnen und ruft ihnen zu: „Brüder, ich bin Joseph, euer Bruder!“ Und lies weiter, wie der greise Jakob sich freute, als er erfuhr, daß sein lieber Knabe noch lebe und in Ägypten sei, wie er sogar sein Vaterland verließ und auf fremder Erde starb und bei seinem Tode das große Wort aussprach, das während seines ganzen Lebens in seinem Herzen geruht hatte: daß aus seinem Stamme, aus dem Stamme Juda, der Erlöser und der Friedensfürst der Welt kommen werde! Meine Väter und Lehrer, verzeiht mir und ärgert euch nicht, daß ich darüber wie ein Kind rede, was ihr schon lange wißt, und was ihr selbst hundertmal vollkommener zu lehren wüßtet. Nur aus Begeisterung rede ich dieses, und vergebt mir meine Tränen, denn ich liebe dieses Buch! So möge auch er, der Priester des Herrn, weinen, und er wird sehen, wie die Herzen der Zuhörer ihm darauf antworten werden. Es genügt ein winziges Samenkorn, das er in die Seele des einfachen Mannes legt, und es wird nicht sterben, sondern in seiner Seele durch das ganze Leben hindurch fortwirken; es wird wie ein heller Punkt, wie eine große Erinnerung inmitten der Finsternis und des Abschaumes seiner Sünden stehen bleiben. Und es ist nicht nötig, nicht nötig, alles zu erläutern und zu erklären; je einfacher ihr es sagt, desto besser versteht er es. Oder glaubt ihr, daß der einfache Mann etwa nichts davon verstehen könne? Versucht es doch, lest ihm die rührende und ergreifende Geschichte von der schönen Esther oder die wunderbare Erzählung vom Propheten Jonas im Bauche des Walfisches vor. Vergeßt auch nicht die Gleichnisse des Herrn, vorzugsweise nach dem Evangelium Lucas (so habe ich es gemacht) und dann aus der Apostelgeschichte die Bekehrung Sauls (gerade das, durchaus das). Und schließlich aus den heiligen Legenden, wenn auch nur die Lebensgeschichte Alexeis des Gottesknechtes und der Ägyptischen Mutter Maria, die groß ist unter den Großen, die freudige große Dulderin, Gottseherin und Kreuzesträgerin – und ihr werdet sein Herz mit diesen einfachen Erzählungen durchdringen. Nur auf eine Stunde in der Woche, trotz des geringen Gehaltes, nur auf eine kleine Stunde ruft sie zu euch. Und jeder, der so tut, wird selbst erfahren, daß unser Volk gut und dankbar ist und ihm hundertfältig danken wird; der Sorgfalt und der gütigen Worte des Priesters wird es gedenken und aus Dankbarkeit wird es ihm freiwillig auf seinem Acker Hilfe leisten, und auch im Hause wird es ihm helfen und wird ihm mehr Achtung zollen als früher – und siehe, da wäre ihm denn auch schon sein Gehalt erhöht. Die Sache ist so schlicht und einfach, daß man sich manchmal geradezu scheut, sie auszusprechen, denn die Leute lachen darüber, und dennoch ist sie so wahr! Wer an Gott nicht glaubt, glaubt auch nicht an ein Gottesvolk. Wer aber an ein Gottesvolk glaubt, der wird auch sein Allerheiligstes erschauen, auch wenn er bis dahin nicht daran geglaubt hat. Nur das Volk und seine aufsteigende geistige Kraft kann die Atheisten, die sich von der heimatlichen Erde losgelöst haben, wieder zu ihr zurückführen. Und was ist das Wort Christi ohne Beispiel? Ohne Gottes Wort geht das Volk unter, denn seine Seele dürstet nach dem Wort und nach der Empfängnis alles Schönen. In meiner Jugend, es ist schon lange her, vor vierzig Jahren, durchwanderte ich mit dem Pater Anfim ganz Rußland, um fürs Kloster Almosen zu sammeln, und wir nächtigten mit Fischern zusammen am Ufer eines großen schiffbaren Flusses. Zu uns setzte sich ein wohlgestalteter Jüngling, dem Aussehen nach ein Bauer von achtzehn Jahren; er hatte sich beeilt, an Ort und Stelle zu sein, um am nächsten Morgen die Kaufmannsbarke stromhin an der Leine zu schleppen. Ich sah, daß er mit guten, klaren Augen in die Welt schaute. Die Nacht war hell, ruhig und warm, eine Julinacht; vom breiten Strome erhob sich der Nebel und erfrischte uns; von Zeit zu Zeit plätscherte ein Fisch, die Vögel waren verstummt, alles war ruhig und erhaben, als betete die Natur zu Gott. Nur wir beide, dieser Jüngling und ich, schliefen nicht, sondern sprachen von der Schönheit und dem großen Geheimnis dieser Gotteswelt. Jedes Hälmchen, jeder Käfer, die Ameise und die goldene Biene, alle kennen sie zum Verwundern ihren Weg, ohne Vernunft zu besitzen, und zeugen von dem Geheimnis Gottes, indem sie es ununterbrochen selbst erfüllen. Auch das Herz des lieben Jünglings war entzündet. Er vertraute mir an, daß er den Wald liebe und die Vögel des Waldes. Er war Vogelfänger, kannte ihren Ruf und verstand es selbst, sie anzulocken. „Besseres als den Wald kenne ich nicht,“ sagte er, „ja, und alles ist gut.“ – „Wahrlich,“ antwortete ich ihm, „alles ist gut und vollkommen, denn alles ist Wahrheit. Siehe, sage ich zu ihm, das Pferd, dieses große Tier, das dem Menschen am nächsten steht, oder den Stier, der ihn ernährt und für ihn arbeitet, wie er ernst und nachdenklich aussieht! Betrachte seine Augen: welche Demut, welche Anhänglichkeit an den Menschen, der ihn oft unbarmherzig schlägt, welch eine Gutmütigkeit, welch eine Zutraulichkeit und welche Schönheit liegt in diesem Blick des Tieres! Rührend ist es zu wissen, daß sie keine Sünde begehen, denn alles ist vollkommen, und alles außer den Menschen ist sündlos, und Christus ist mit ihnen eher als mit uns.“ „Ja, haben sie denn auch Christus?“ fragte der Jüngling. – „Wie könnte es anders sein,“ sagte ich zu ihm, „denn für alle ist das Wort, die ganze Schöpfung und jegliches Geschöpf. Jedes Blättchen strebt zum Wort, preist Gott und weint zu Christo, sich selbst unbewußt, allein schon durch das Geheimnis seines sündenlosen Daseins. Siehe,“ sagte ich zu ihm, „im Walde haust der schreckliche Bär, der grausam und wild und doch ganz schuldlos ist.“ Und ich erzählte ihm, wie einmal ein Bär zu einem großen Heiligen kam, der im Walde in einer kleinen Zelle sein Leben fristete, und der große Heilige ging furchtlos zu ihm hinaus und gab ihm ein Stück Brot: „Gehe hin, Christus sei mit dir,“ sagte er zu ihm, und das grimme Tier war sanft und gehorsam und tat ihm nichts zuleide. Es rührte den Jüngling, daß er ihm nichts zuleide getan hatte, und daß auch Christus mit ihm wäre. „Ach, wie ist das schön, und wie ist doch alles Göttliche gut und wunderbar!“ Er saß da und dachte tief und glücklich nach. Ich sah, daß er es begriffen hatte. Er schlief neben mir ein; leicht und sündlos war sein Schlaf. Herr, segne die Jugend! Und ich betete daselbst für ihn, bevor ich einschlief. Herr, sende Frieden und Licht deinen Menschen.

c) Erinnerungen des Staretz Sossima aus den Knaben- und Jugendjahren seines weltlichen Lebens. Das Duell.

In der Kadettenanstalt zu Petersburg blieb ich fast acht Jahre, und in der neuen Umgebung traten viele meiner Kindheitseindrücke zurück, doch habe ich sie selbst dort nie ganz vergessen. Zum Ersatz dafür nahm ich so viel neue Angewohnheiten und sogar Anschauungen in mich auf, daß ich mich alsbald in ein wildes, grausames und albernes Wesen verwandelt hatte. Die Formen der Höflichkeit und des weltlichen Umgangs eignete ich mir zusammen mit der französischen Sprache an, die Soldaten aber, die uns in der Anstalt bedienten, wurden von meinen Kameraden nicht höher als das Vieh geachtet, und auch von mir nicht. Ich mißachtete sie vielleicht sogar am meisten von allen anderen Kameraden, denn ich war der Empfänglichste von ihnen. Als wir als Offiziere die Anstalt verließen, waren wir bereit, für die sogenannte Ehre unseres Regiments unser Blut zu vergießen; die wahre Ehre aber kannte niemand von uns, und wenn sie uns jemand erklärt hätte, so würden wir sie verlacht haben. Man prahlte mit Liederlichkeit, Trunkenheit und Wildheit. Ich kann nicht sagen, daß alle diese jungen Leute schlecht gewesen wären, nein, sie waren gut, aber sie führten sich nur schlecht auf, und von ihnen allen führte ich mich am schlechtesten auf. Die Hauptsache war, daß ich Geld hatte, und so lebte ich denn nur fürs Vergnügen, stürmte mit vollen Segeln ins Leben hinein, ohne meine jugendlichen Begierden zu zügeln. Aber eines ist wunderbar: ich las damals mit vielem Vergnügen Bücher, nur die Bibel habe ich nie aufgeschlagen, doch trennte ich mich niemals von ihr, ich führte sie überall mit mir: wahrlich, ich bewahrte dieses Buch auf, ohne zu wissen für welchen Tag, für welche Stunde, welchen Monat oder welches Jahr. So war ich schon seit vier Jahren Leutnant, als ich in der Stadt K. ankam, wohin unser Regiment verlegt worden war. Die Gesellschaft dieser Stadt war sehr lustig, gastfrei und reich. Man empfing mich überall äußerst liebenswürdig, denn ich war sehr lebhaft, und man hielt mich obendrein für reich, was in dieser Welt nicht wenig zu bedeuten hat. Da ereignete sich aber etwas, was den Anfang zu allem übrigen bildete. Ich verliebte mich in ein junges und schönes Mädchen, die Tochter geachteter Eltern; sie war klug und hatte einen edlen Charakter. Es war eine angesehene Familie, die Vermögen hatte und nicht geringen Einfluß besaß; ich wurde freundlich und zuvorkommend in ihrem Hause aufgenommen. Auch schien mir, daß das junge Mädchen mir wohlgeneigt war – und mein Herz flammte auf. Später kam ich zu der Überzeugung, daß ich sie gar nicht so sehr geliebt hatte, sondern nur ihren hohen Verstand und ihren Charakter verehrte, wie es auch nicht anders sein konnte. Meine Eigenliebe verhinderte aber, daß ich damals um ihre Hand anhielt; ich konnte mich nur schwer von meinem liederlichen und freien Junggesellenleben in so jungen Jahren trennen, besonders da ich zum Überfluß selbst Geld besaß. Indessen machte ich ihr aber Andeutungen. Auf jeden Fall schob ich einen entscheidenden Schritt noch hinaus. Da erhielt ich eine Abkommandierung auf zwei Monate in einen anderen Kreis. Als ich wieder zurückkehrte, erfuhr ich, daß das junge Mädchen sich mit einem reichen Gutsherrn aus der Nachbarschaft verheiratet hatte, einem jungen, wenn auch mir an Jahren überlegenen Mann, der obendrein zu reichen Familien in Petersburg Verbindungen hatte, was mir fehlte, und dazu ein sehr liebenswürdiger und gebildeter Mann war, während ich fast gar keine Bildung besaß. Ich war so betroffen von dieser unerwarteten Tatsache, daß ich fast meine Sinne verlor. Die Hauptsache bestand aber darin, daß, wie ich erfuhr, der junge Gutsbesitzer schon lange mit ihr verlobt gewesen war – ich selbst war ihm mehrere Male in ihrem Hause begegnet. So blind war ich also von meinen Vorzügen überzeugt gewesen, daß ich nichts von alledem bemerkt hatte! Das war es, was mich jetzt vor allem beleidigte. Wie, alle hatten es gewußt, nur ich allein hatte nichts davon gewußt? Eine schreckliche Wut packte mich. Ich errötete vor Scham, wenn ich daran dachte, wie oft es meinerseits fast zu einem Liebesgeständnis gekommen war, und da sie mich weder unterbrochen, noch gewarnt hatte, so hatte sie sich also, dachte ich bei mir, nur über mich lustig gemacht. Später freilich gestand ich mir ein, als ich mir alles klar ins Gedächtnis zurückgerufen, daß sie keineswegs über mich gelacht hatte, sondern stets bemüht gewesen war, solche Gespräche scherzend abzubrechen und auf anderes überzugehen. Doch damals hatte ich nicht die nötige Ruhe, um mir das einzugestehen: alles brannte in mir vor Rachedurst. Mit Verwunderung denke ich noch jetzt daran zurück. Diese Rachsucht und mein Zorn waren für mich selbst bis zum äußersten schwer zu ertragen, weil ich, als ein lebhafter und leichter Charakter, niemals lange auf irgend jemanden böse sein konnte. Damals aber nährte ich sie künstlich und stachelte sie in mir auf, bis ich schließlich widerlich und albern wurde. Ich wartete nun darauf, und es gelang mir auch, meinen „Gegner“ einmal in einer zahlreichen Gesellschaft, bei einem ganz nebensächlichen Anlasse, zu beleidigen. Ich verlachte eine seiner Meinungsäußerungen über eine damals wichtige Begebenheit, und wie viele behaupteten, soll es mir tatsächlich gelungen sein, ihn gewandt und geistreich zu verspotten. Ich zwang ihn zu einer Erklärung, und dabei verhielt ich mich so grob zu ihm, daß er meine Herausforderung sofort annahm, ungeachtet des großen Abstandes zwischen mir und ihm, da ich jünger und viel niedriger im Range war als er. Hernach erfuhr ich denn, daß er aus Eifersucht auf mich meine Herausforderung zum Duell sofort angenommen hatte. Er war auch früher schon, als er noch verlobt war, auf mich eifersüchtig gewesen, und so dachte er: „Wenn sie erfährt, daß ich eine Beleidigung von ihm ertragen habe, ohne ihn zum Duell herauszufordern, so wird sie mich verachten und ihre Liebe zu mir wird erkalten.“ Einen Sekundanten hatte ich bald zur Stelle, einen Kameraden, einen Leutnant unseres Regiments. Obgleich damals Duelle streng bestraft wurden, so waren sie doch bei dem Militär geradezu Mode, – bis zu solch einem Wahnsinn können sich manchmal Vorurteile festsetzen. Es war Ende Juni, unser Rendezvous war auf den nächsten Tag um sieben Uhr morgens außerhalb des Städtchens festgesetzt worden. Da ereignete sich in Wahrheit etwas Verhängnisvolles mit mir. Am Abend, als ich angetrunken und wütend nach Hause zurückkehrte, ärgerte ich mich über meinen Burschen Afanassij und schlug ihm mit ganzer Kraft zweimal ins Gesicht, so daß er blutete. Er diente schon lange bei mir, und es war auch schon früher vorgekommen, daß ich ihn geschlagen hatte, aber niemals noch hatte ich es mit einer so tierischen Roheit getan. Und glaubt es mir, meine Lieben, vierzig Jahre sind seitdem vergangen, aber noch jetzt denke ich mit Qual und Scham daran zurück. Ich legte mich schlafen und schlief drei Stunden. Als ich aufwachte, fing es gerade an zu tagen. Ich erhob mich sofort, denn ich wollte nicht mehr schlafen, ging ans Fenster, öffnete es – und lehnte mich zum Garten hinaus. Die Sonne ging gerade auf, es war warm und wundervoll, die Vögel zwitscherten. Warum, dachte ich, empfinde ich in meiner Seele etwas Schmutziges und Niedriges? Etwa deshalb, weil ich im Begriff war, Blut zu vergießen? Nein, denke ich, das ist es nicht. Vielleicht, weil ich den Tod fürchte und fürchte erschossen zu werden? Nein, das ist es auch nicht, das ist es erst recht nicht ... Und plötzlich wußte ich, um was es sich handelte: ich hatte gestern abend Afanassij geschlagen! Plötzlich sehe ich alles vor mir, als ob die Szene sich von neuem wiederholte: er steht vor mir, und ich schlage ihn mit voller Kraft ins Gesicht, er aber hält seine Hände an den Hosennähten, den Kopf gerade, die Augen, wie in der Front, geradeaus gerichtet. Bei jedem Schlage fährt er zusammen, und doch wagt er nicht, zum Schutze seine Hände zu erheben – und ich lasse mich so gehen und schlage einen anderen Menschen. Wie mit spitzen Nadeln stach es in mein Herz. Mir schwindelte. Die Sonne aber leuchtete so hell, die Blättchen blitzten feucht vom Tau, und die Vögel, die Vögel lobten Gott ... Ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen, warf mich aufs Bett und schluchzte laut auf. Da erinnerte ich mich denn der Worte meines Bruders Markell, die er vor seinem Tode zu den Dienstboten gesagt hatte: „Ihr, meine Lieben, Teuren, warum dient ihr mir, und warum liebt ihr mich? Bin ich dessen wert, daß ihr mir dient?“ „Ja, bin ich denn dessen wert?“ ging es mir durch den Kopf. In der Tat, wodurch bin ich wert, daß ein anderer Mensch, so einer, wie ich es bin, das Ebenbild Gottes – daß er mir dient? Und zum erstenmal in meinem Leben ging mir diese Frage durch den Sinn ...

„Mütterchen, mein eigenes liebes Herzblut, in Wahrheit ist jeder vor allen schuldig, nur wissen es die Menschen nicht, wenn sie es aber wüßten, so würde sofort das Paradies auf Erden sein.“ „Herrgott, wie sollte das nicht wahr sein,“ denke ich und weine, „wahrlich, ich bin von allen Menschen auf der Welt der Schuldigste und Schlechteste!“ Und vor mir tauchte die ganze Wahrheit auf mit ihrem ganzen Licht. Was war ich im Begriff zu tun? Einen guten, klugen, edlen Menschen zu töten, der mir gegenüber keine Schuld hatte, und seine Frau auf ewig ihres Glückes zu berauben und sie zu quälen und gleichfalls zu vernichten! So lag ich auf dem Bett, das Gesicht in die Kissen gepreßt, und ich gewahrte nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich tritt mein Kamerad, der Leutnant, der mein Sekundant sein sollte, mit dem Pistolenkasten unterm Arm, bei mir ein: „Gut,“ sagte er, „daß du schon angekleidet bist, es ist Zeit zum Aufbruch.“ Ich fuhr auf und konnte mich gar nicht fassen. Wir traten hinaus, um in den Wagen einzusteigen. „Warte hier einen Augenblick,“ sagte ich zu ihm, „ich laufe nur auf einen Moment hinein, habe mein Portemonnaie vergessen.“ Und ich lief in die Wohnung zurück, geradeswegs in die Kammer Afanassijs: „Afanassij,“ sage ich, „ich habe dich gestern zweimal ins Gesicht geschlagen, verzeihe es mir.“ Er fuhr zusammen, als hätte ich ihn erschreckt, er sieht mich erstaunt an – und ich sah, daß das zu wenig war, und plötzlich fiel ich, so wie ich war, in Uniform und Epauletten, vor ihm hin und mit der Stirn berührte ich die Erde: „Vergib mir!“ sagte ich. Da erstarrte er einfach: „Euer Wohlgeboren, Väterchen, Herr, was tun Sie ... bin ich es denn wert!“ und er brach in Tränen aus; gerade wie ich es getan hatte, bedeckte nun auch er mit beiden Händen sein Gesicht, wandte sich ab zum Fenster, und sein Körper wurde vom Weinen erschüttert. Ich lief hinaus zu meinem Kameraden, stieg in den Wagen und schrie dem Kutscher zu: „Fort!“ „Ich habe einen Sieger gesehen,“ rief ich meinem Kameraden zu „siehst du, hier steht er vor dir.“ Ein solches Entzücken hatte mich gepackt, ich lachte während der ganzen Fahrt und sprach und sprach, ich weiß nicht mehr, was ich sprach. Er sieht mich an: „Nun, Bruder,“ sagte er zu mir, „du bist ein ganzer Kerl, wirst der Uniform Ehre machen.“ So kamen wir am Orte an. Die anderen waren schon dort und erwarteten uns. Man stellte uns auf zwölf Schritt Distanz. Er hatte den ersten Schuß. Ich stand vor ihm, fröhlich, gerade mit dem Gesicht zu ihm, unbeweglich, Auge in Auge, sah ihn liebevoll an, und ich wußte, was ich tat. Er schoß ab, die Kugel schrammte ein wenig meine Wange und streifte mein Ohr. „Gott sei Dank,“ rief ich, „Sie haben keinen Menschen getötet!“ erhob meine Pistole, kehrte mich zurück und warf sie mit einem Bogen in den Wald: „Dahin,“ rief ich – „gehörst du!“ Darauf wandte ich mich an meinen Gegner: „Geehrter Herr,“ sagte ich, „verzeihen Sie mir dummen, jungen Menschen, daß ich Sie absichtlich beleidigt habe, und Sie durch mich jetzt gezwungen waren, auf mich zu schießen. Ich bin zehnmal schlechter als Sie und vielleicht sogar noch mehr. Berichten Sie das, bitte, der Dame, die Sie vor allen anderen Menschen auf der Welt am meisten achten.“ Kaum hatte ich das gesagt – so schrien sie alle drei. „Aber ich bitte Sie,“ sagte mein Gegner sehr geärgert, „wenn Sie nicht schießen wollen, wozu haben Sie uns denn hierher bemüht?“ – „Gestern war ich noch dumm, heute aber bin ich schon klüger,“ antwortete ich ihm lächelnd. „Was Sie von gestern sagen, glaube ich Ihnen, was Sie aber von heute sagen, so weiß ich noch nicht, ob ich Ihrer Meinung beistimmen kann.“ – „Bravo,“ rief ich aus und klatschte in die Hände, „auch darin bin ich mit Ihnen einverstanden, habe es verdient!“ – „Werden Sie schießen, mein Herr, oder nicht?“ – „Ich werde nicht schießen,“ antwortete ich, „aber wenn Sie wollen, so schießen Sie noch einmal, nur besser wäre es für Sie, nicht zu schießen.“ Die Sekundanten riefen, besonders der meinige: „Wie können Sie das Regiment so beschimpfen, daß Sie vor dem Schuß stehend um Verzeihung bitten? Wenn ich das gewußt hätte!“ Da stand ich nun vor ihnen; ich lachte aber nicht mehr: „Meine Herren,“ sagte ich, „ist es denn wirklich so erstaunlich in unserer Zeit, einen Menschen zu treffen, der seine Dummheit bereut und öffentlich seine Schuld eingesteht?“ – „Aber doch nicht vor dem Schuß!“ schrie wieder mein Sekundant. – „Das ist es ja,“ antwortete ich ihm, „das ist ja freilich sehr wunderlich, ich hätte gleich meine Entschuldigung machen sollen, als wir hierherkamen, noch vor Ihrem Schuß, und Sie nicht zu einer so großen und todbringenden Sünde zwingen sollen, aber wir haben uns in der Welt so sinnlos eingerichtet, daß mir anders zu handeln unmöglich war, ich mußte erst Ihren Schuß auf zwölf Schritt Distanz aushalten, um Ihnen allen meine Meinung darüber sagen zu können. Hätte ich es aber vor dem Schuß, als wir hier zusammentrafen, gesagt, so hätten Sie einfach geurteilt: Dieser Feigling, die Pistole hat ihm Angst gemacht! Meine Herren,“ rief ich plötzlich von ganzem Herzen aus, „sehen Sie um sich, auf diese Götterwelt: Der Himmel ist klar und die Luft ist rein, wie zart ist das Gras, wie schön und sündlos ist die Natur, nur wir, nur wir allein sind gottlos und dumm und verstehen nicht, daß das Leben ein Paradies ist – wenn wir es nur verstehen wollten, so würde die Erde in ihrer ganzen Schönheit zum Paradiese, und wir würden einander umarmen und vor Freude weinen ...“ Ich wollte noch weiter fortfahren, konnte aber nicht, der Atem ging mir aus, so selig, so jugendlich war mir zumute, das Herz voller Glück, wie ich es in meinem ganzen Leben nicht empfunden hatte. „Alles das ist sehr vernünftig und ehrenwert,“ sagte mein Gegner „und jedenfalls sind Sie ein origineller Mensch ...“ „Lachen Sie nur, später werden auch Sie mich loben,“ rief ich ihm lachend zu. – „Ich bin bereit, Sie schon jetzt zu loben, erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Hand reiche, denn es scheint, daß Sie wirklich ein aufrichtiger Mensch sind.“ – „Nein,“ sagte ich, „jetzt ist das nicht nötig, später, wenn ich besser sein und Ihre Achtung verdient haben werde, dann reichen Sie mir Ihre Hand.“ Wir kehrten nach Haus zurück; mein Sekundant schimpfte mich während der ganzen Fahrt tüchtig aus, ich aber – küßte ihn. Sofort erfuhren es alle meine Kameraden und versammelten sich noch am selben Tage, um über mich Gericht zu halten: „Er hat das Regiment beschimpft, er soll seinen Abschied einreichen!“ Einige verteidigten mich und meinten: „Den Schuß hat er doch abgewartet.“ – „Ja, aber die anderen Schüsse hat er eben gefürchtet und daher um Verzeihung gebeten.“ – „Aber, wenn er die Schüsse gefürchtet hätte,“ erwiderten die Verteidiger, „so hätte er erst aus seiner Pistole geschossen und dann um Verzeihung gebeten, er aber warf sie geladen in den Wald! Nein, dem liegt etwas anderes zugrunde, etwas Originelleres.“ Ich hörte ihnen zu; mir war so heiter zumut, wenn ich sie so anschaute: „Meine lieben Freunde und Kameraden, sorgen Sie sich nicht um meinen Abschied; ich habe ihn schon eingereicht, heute morgen, und sobald ich ihn erhalte, gehe ich sofort ins Kloster – darum habe ich es getan.“ Als ich das kaum ausgesprochen hatte, lachten alle bis auf den Letzten laut auf: „Ja, wenn du uns das nur gleich mitgeteilt hättest, so wäre uns ja alles klar geworden, einen Mönch kann man doch nicht verurteilen!“ Sie lachten und hörten gar nicht auf damit, aber nicht spöttisch, sondern freundlich und heiter lachten sie. Und alle liebten sie mich plötzlich, sogar meine heftigsten Ankläger, und den ganzen Monat, solange ich meinen Abschied noch nicht erhalten hatte, trugen sie mich fast auf den Händen: „Ach, du Mönch,“ sagten sie. Und jeder hatte für mich ein freundliches Wort. Sie beredeten mich und bedauerten mich sogar: „Was machst du aus dir?“ – „Nein,“ sagten sie, „er ist tapfer, er hat den Schuß nicht gefürchtet und auch selbst hätte er geschossen, ihm hatte aber die Nacht vorher geträumt, daß er Mönch werden sollte, und daher ist alles gekommen.“ Dasselbe geschah mit mir auch in der Gesellschaft. Früher hatte man mich nicht sonderlich beachtet, obgleich man mich überall freundlich empfangen hatte, jetzt aber kannten mich alle und luden mich täglich zu sich ein: sie lachten dabei über mich, aber sie liebten mich. Ich muß noch bemerken, daß, obwohl allgemein in der Gesellschaft und öffentlich über das Duell gesprochen wurde, die Obrigkeit die Sache geflissentlich übersah; da mein Gegner ein naher Verwandter unseres Generals war, und da die Sache so günstig und ohne alles Blutvergießen verlaufen war, ganz wie ein Scherz, und da ich zudem meinen Abschied eingereicht hatte, so faßte man denn auch wirklich die ganze Sache nur als Scherz auf. Ich sprach daher ganz offen über die Sache, ungeachtet ihres Gelächters, denn ich wußte, ihr Lachen war nicht böse, sondern gut gemeint. Dieses Gespräch war an den Abenden besonders beliebt; in der Damengesellschaft hörte man mir gerne zu, und die Damen forderten auch ihre Männer auf, mir zuzuhören. „Wie ist denn das möglich, daß ich allen gegenüber schuldig bin?“ fragte mich ein jeder und lachte mir ins Gesicht, „wie soll ich denn zum Beispiel Ihnen gegenüber schuldig sein?“ – „Ja, wie sollten Sie das wohl wissen,“ antwortete ich ihnen, „da die ganze Welt schon seit langem einen anderen Weg eingeschlagen hat, und die Lüge als Wahrheit anerkannt ist, und daher auch ein jeder vom anderen solche Lüge verlangt. Einmal im Leben habe ich aufrichtig gehandelt, und da erscheine ich nun Ihnen allen als Geistesschwacher: obgleich Sie lieb zu mir sind, so lachen Sie doch alle über mich.“ – „Wie sollte man Sie, so wie Sie sind, nicht lieben?“ sagte laut die Hausfrau und lächelte mir zu. Es war bei ihr eine zahlreiche Gesellschaft versammelt. Und plötzlich sehe ich, löst sich aus der Gesellschaft eine Dame und tritt auf mich zu. Es war dieselbe junge Dame, um derentwillen es zum Duell gekommen war, und die ich mir noch vor kurzer Zeit als Braut zugedacht hatte. Ich hatte es nicht bemerkt, daß auch sie sich im Salon befand. Sie kam auf mich zu und reichte mir die Hand: „Erlauben Sie, bitte, Ihnen zu sagen, daß ich nicht über Sie lache, im Gegenteil, mit Tränen in den Augen danke ich Ihnen, und ich drücke Ihnen meine Hochachtung aus, die ich für Sie wegen Ihrer Tat empfinde.“ Da kam auch ihr Mann auf mich zu, reichte mir die Hand, und die ganze Gesellschaft umringte mich und drückte mir somit ihr Mitgefühl aus. Es fehlte nicht viel, so hätten sie mich alle umarmt. Mir war sehr froh zumute. Damals fiel mir aber besonders ein Herr auf, ein älterer Herr, der auch zu mir herangetreten war, den ich wohl dem Namen nach kannte, doch mit dem ich noch nie ein Wort gewechselt hatte.

d) Der geheimnisvolle Gast

Schon seit langer Zeit nahm er in unserer Stadt eine angesehene Stellung ein; er wurde von allen geachtet, war reich und als wohltätig bekannt. Er hatte ein ansehnliches Kapital dem Krankenhause wie dem Waisenhause übergeben und tat im geheimen viel Gutes, was erst später, nach seinem Tode, bekannt wurde. Er zählte ungefähr fünfzig Jahre, hatte ein strenges Aussehen und war sehr wortkarg; mit seiner jungen Frau, von der er drei unmündige Kinder hatte, war er seit zehn Jahren verheiratet.

Am Abend darauf saß ich bei mir zu Hause, als plötzlich meine Tür sich öffnete und dieser Herr bei mir eintrat. Ich muß hierbei bemerken, daß ich nicht mehr in meiner früheren Wohnung lebte; als ich den Abschied eingereicht hatte, nahm ich mir eine Wohnung mit Bedienung bei einer alten Dame, einer Beamtenwitwe. Der Umzug in diese Wohnung war nur darum geschehen, weil ich Afanassij noch am selben Tage, gleich nach dem Duell, in die Kompagnie zurückschickte, denn ich schämte mich nach dem Vorgefallenen, ihm in die Augen zu sehen, – so sehr ist ein weltlich erzogener Mensch verbildet, daß er sich sogar einer gerechten Tat schämen kann.

„Ich habe Ihnen schon einigemal und in verschiedenen Häusern mit großem Anteil zugehört,“ sprach der bei mir eintretende Herr, „so daß ich wünschte, endlich mit Ihnen persönlich bekannt zu werden, um mich noch eingehender mit Ihnen zu unterhalten. Können Sie mir diesen großen Gefallen erweisen?“ – „Mit dem größten Vergnügen, und ich rechne es mir zu einer ganz besonderen Ehre an,“ antwortete ich ihm darauf, selbst aber erschrak ich, solch einen Eindruck hatte das auf mich gemacht. Denn wie gern man mich auch angehört und wie sehr man mir allgemeine Anteilnahme gezeigt hatte, so war doch noch niemand mit solchem Ernst und aus innerer Überzeugung an mich herangetreten. Dieser aber kam sogar zu mir in die Wohnung. Er setzte sich. „Ich erkenne eine große Charakterstärke in Ihnen,“ fuhr er fort, „denn Sie haben sich nicht gefürchtet, der Wahrheit zu dienen, und das noch in einer Sache, in der Sie riskierten, die Verachtung aller auf sich zu ziehen.“ – „Ihr Lob scheint mir etwas zu groß,“ sagte ich zu ihm. – „Nein, durchaus nicht,“ antwortete er mir, „glauben Sie, solch eine Handlung zu begehen, ist viel schwerer, als Sie denken. Damit haben Sie mich in Erstaunen gesetzt, und darum bin ich zu Ihnen gekommen. Beschreiben Sie mir, bitte, wenn meine Neugier Sie nicht verletzt, was Sie in diesem Moment empfanden, als Sie sich entschlossen, bei dem Duell um Entschuldigung zu bitten, wenn Sie sich dessen noch erinnern können. Halten Sie meine Frage nicht für leichtfertig, denn wenn ich Ihnen solch eine Frage stelle, so habe ich dabei einen geheimen Zweck, den ich in der Folge Ihnen mitteilen werde, wenn es Gott gefallen sollte, uns einander noch näher zu führen.“

Die ganze Zeit, während der er sprach, sah ich ihm gerade in die Augen, und plötzlich fühlte ich zu ihm ein unbegrenztes Vertrauen, und gleichfalls empfand ich auch meinerseits eine ganz ungewöhnliche Neugier, denn ich fühlte, daß er in seiner Seele ein ungewöhnliches Geheimnis barg.

„Sie fragen mich, was ich in jener Minute empfand, als ich meinen Gegner um Verzeihung bat? Ich werde Ihnen besser alles das von Anfang an erzählen, was ich einem anderen nicht erzählen würde.“ Und ich erzählte ihm, was sich mit mir und Afanassij zugetragen, und wie ich mich vor ihm zur Erde niedergeworfen hatte. „Aus alledem können Sie ersehen,“ schloß ich meine Erzählung, „daß es mir schon während des Duells leichter zumute war, da ich ja meinen Weg bereits betreten hatte: jawohl, deshalb war auch alles Weitere gar nicht mehr schwer, sondern leicht und freudvoll für mich.“

Er hatte mich angehört und sah mich freundlich an: „Das alles,“ sagte er, „interessiert mich außerordentlich, und ich werde noch öfter zu Ihnen kommen.“ Seit der Zeit kam er denn auch jeden Abend zu mir, und wir hätten uns gewiß sehr befreundet, wenn er mir nur von sich etwas erzählt hätte. Er erzählte aber von sich kein Wort, sondern fragte immer nur mich aus. Ungeachtet dessen hatte ich ihn sehr lieb gewonnen; ich schilderte ihm alle meine Empfindungen und dachte bei mir: Was gehen mich schließlich seine Geheimnisse an, ich sehe ja ohnedem, daß er ein rechtschaffener Mensch ist. Dazu ist er ein so ernster Mensch, viel älter als ich, und doch kommt er zu mir, einem Jüngling, ohne sich an meinem Alter zu stoßen. Und viel Nützliches lernte ich aus den Gesprächen mit ihm, denn er war ein sehr intelligenter Mensch. „Daß das Leben ein Paradies ist,“ sagte er einmal zu mir, „darüber habe ich schon lange nachgedacht,“ und plötzlich fügte er hinzu: „Das ist es ja, woran ich eigentlich immer denke.“ Darauf sah er mich an und lächelte: „Ich bin mehr als Sie davon überzeugt,“ sagte er, „Sie werden später erfahren, warum.“ Als ich das hörte, dachte ich bei mir: Sicher will er mir was anvertrauen. „Das Paradies ist in jedem von uns verborgen, auch in mir verbirgt es sich jetzt und wenn ich will, wird es morgen in Wirklichkeit in mir erstehen und dann für mein ganzes Leben andauern.“ Ich betrachtete ihn: gerührt und geheimnisvoll sah er mich an, als ob er eine Antwort von mir erwartete. „Was das anbelangt,“ fuhr er fort, „daß jeder Mensch vor allen und in allem schuldig ist, abgesehen von seinen eigenen Sünden, so haben Sie darüber ganz richtig geurteilt, und es ist zu verwundern, wie Sie diesen Gedanken in seinem ganzen Umfange erfaßt haben. Wahrlich, es ist so: daß, sobald nur die Menschen diesen Gedanken begriffen haben werden, das Himmelreich nicht nur in der Vorstellung, sondern in Wirklichkeit beginnen wird.“ – „Aber wann,“ rief ich voll Leid aus, „wann wird das geschehen und wird das überhaupt je geschehen können? Wird das nicht immer nur ein Traum bleiben?“ – „Sehen Sie, da haben Sie schon keinen Glauben daran, Sie prophezeien es nur, aber selbst glauben Sie nicht daran. Ich sage Ihnen, daß dieser Traum, wie Sie es nennen, in Erfüllung gehen wird, glauben Sie es mir. Aber es wird noch nicht so bald geschehen, denn jeder Vorgang vollzieht sich nach seinem Gesetz. Dieser Vorgang ist ein seelischer, ein psychologischer. Um die Welt zu etwas Neuem umzugestalten, ist erforderlich, daß auch die Menschen sich umgestalten und einen anderen Weg betreten. Keine Brüderschaft kann früher sein, als bis tatsächlich ein jeder dem anderen ein Bruder geworden ist. Durch keine Wissenschaft und durch keine äußeren Hilfsmittel werden die Menschen lernen, ihre Rechte und ihre Güter zu verteilen, ohne sich gegenseitig zu kränken. Immer wird Alles für Jeden zu wenig sein, immer werden sie murren, sich gegenseitig beneiden und zu vertilgen suchen. Sie fragen, wann das andere sein wird? Es wird sein, aber zuerst muß die Periode der menschlichen Absonderung und Isolierung überwunden werden.“ – „Welcher Isolierung?“ fragte ich ihn. – „Derselben, die jetzt überall herrscht, besonders in unserem Jahrhundert. Noch ist nicht alles dazu reif, noch ist die Zeit nicht gekommen. Jeder strebt jetzt danach, seine Person abzusondern, ein jeder möchte in sich selbst die Fülle des Lebens erfahren, indessen ergibt sich aus all seinen Anstrengungen nicht die Fülle des Lebens, sondern vollständiger Selbstmord, statt Selbstbestimmung eben: vollständige Isolierung. Alle sondern sich in unserem Jahrhundert zu Einzelexistenzen ab; jeder isoliert sich in seiner Höhle, jeder entfernt sich vom anderen, verbirgt sich und verbirgt, was er hat, und es endet damit, daß er die Menschen abstößt und die Menschen ihn abstoßen. Er scharrt sich ein Kapital zusammen und denkt: „Wie stark bin ich jetzt, jetzt bin ich gesichert,“ und der Unsinnige weiß nicht einmal, daß er, je mehr er ansammelt, desto mehr in eine selbstmörderische Ohnmacht verfällt. Denn er hat sich daran gewöhnt, nur auf sich selbst zu hoffen, und er hat sich als Isolierter vom Ganzen abgetrennt, er hat seine Seele gelehrt, nicht an die Hilfe der Menschen zu glauben, weder an die der Menschen, noch an die der Menschheit, und er zittert nur davor, daß er sein Geld und die durch dasselbe erworbenen Rechte verlieren könnte. Der Menschengeist will allgemein heutzutage nicht einsehen, daß die wahre Sicherheit des Individuums nicht in seiner persönlichen isolierten Kraft besteht, sondern im Zusammenhang mit der Gesamtheit der Menschen. Aber gewiß wird es so sein, und die Stunde wird kommen, wo diese furchtbare Isolierung aufhören wird, und man wird plötzlich begreifen, wie unnatürlich es gewesen ist, sich voneinander abzusondern. Und der Geist der Zeit wird ein anderer sein, und man wird an ihm erkennen, wie lange man in der Finsternis gelebt hat, ohne das Licht zu erblicken. Dann wird auch das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen ... Bis zu der Zeit aber muß dieses Zeichen behütet werden, und wenn es auch nicht anders geht, so muß doch von Zeit zu Zeit wenigstens ein Mensch durch sein Beispiel die Seele aus dieser Isolierung befreien und ihr den Weg zur allgemeinen Bruderliebe zeigen, und wenn er auch damit sich dem aussetzt, daß er als Geistesschwacher verschrien wird – wenn nur der große Gedanke nicht stirbt!“

In solchen begeisterten und flammenden Gesprächen verbrachten wir unsere Abende miteinander. Ich vernachlässigte sogar die Gesellschaft und erschien nur mehr selten in ihr, zumal es auch aufhörte, Mode zu sein, sich mit mir zu beschäftigen. Ich sage das nicht, um damit die Gesellschaft zu verurteilen, denn man fuhr fort, mich zu lieben und gegen mich freundlich zu sein, doch muß man nicht vergessen, wie sehr die Mode die Gesellschaft beherrscht. An meinem geheimnisvollen Gast aber hing ich schließlich mit Begeisterung, denn abgesehen von den Genüssen, die mir die Unterhaltung mit ihm bereitete, fühlte ich, daß er sich mit irgendeinem Gedanken trug und sich vielleicht zu irgendeiner großen Tat vorbereitete – vielleicht gefiel es ihm, daß ich äußerlich für sein Geheimnis keine Neugier bekundete, weder direkt noch indirekt ihn danach fragte. Aber es schien mir, daß ihn selbst immer mehr und mehr der Wunsch quälte, mir etwas anzuvertrauen. Es war schon ein ganzer Monat vergangen, seitdem er mich besuchte: „Wissen Sie auch,“ fragte er mich da, „daß man viel über uns in der Stadt spricht und sich darüber wundert, daß ich Sie so oft besuche? Aber mögen sie, bald wird sich doch alles offenbaren.“ Zuweilen überfiel ihn plötzlich eine außerordentliche Aufregung, und dann stand er jedesmal auf und ging fort. Zuweilen wiederum sah er mich lange und durchdringend an, und ich dachte schon: „Jetzt wird er gleich etwas sagen –“ und plötzlich ging er dann auf etwas ganz Gleichgültiges und Alltägliches über. Oft beklagte er sich auch über Kopfschmerzen. Und einmal, ganz unerwartet kam es: als er lange begeistert über etwas gesprochen hatte, erbleichte er plötzlich, sein Gesicht verzerrte sich, und er starrte mich an.

„Was haben Sie,“ fragte ich erschrocken, „ist Ihnen schlecht?“ Er hatte sich kurz vorher wieder über Kopfweh beklagt.

„Ich ... wissen Sie ... ich ... habe einen Menschen ermordet.“

Er sprach es aus und lächelte, selbst aber war er weiß wie Kreide. Warum lächelt er? fuhr es mir durchs Herz, ohne das Gehörte noch ganz begriffen zu haben. Und ich fühlte, wie auch ich erbleichte.

„Was sagen Sie da?“ rief ich ihm zu.

„Sehen Sie,“ antwortete er mir mit einem schwachen Lächeln, „wie schwer mir wurde, das erste Wort zu sagen. Jetzt habe ich es getan und damit den Weg betreten. Und nun möge es kommen!“

Lange wollte ich ihm nicht glauben, und nicht mit einem Male konnte ich ihm alles glauben. Erst als er drei Tage nacheinander bei mir gewesen war und mir alle Einzelheiten mitgeteilt hatte, glaubte ich es. Ich hielt ihn für wahnsinnig, aber schließlich mußte ich mich doch von der Tat überzeugen lassen, wenn auch mit großer Verwunderung und großem Schmerz. Er hatte vor vierzehn Jahren ein furchtbares Verbrechen begangen an einer jungen und schönen Frau, der Witwe eines Gutsbesitzers, die in unserer Stadt ein eigenes Haus besaß, in das sie gelegentlich einkehrte. Er fühlte zu ihr eine große unbezwingliche Liebe, gestand ihr diese Liebe und wollte sie bereden, ihn zu heiraten. Aber ihr Herz gehörte schon einem anderen, einem hohen und angesehenen Offizier, der damals im Felde stand, und dessen baldige Ankunft sie erwartete. Sie schlug daher seinen Antrag ab und bat ihn, sie nicht mehr zu besuchen. Da war er, der alle Zimmer ihres Hauses gut kannte, in der Nacht vom Garten aus und über das Dach, mit unerhörter Kaltblütigkeit und alles aufs Spiel setzend, zu ihr eingedrungen. Ein so außergewöhnliches Unternehmen, mit der größten Kaltblütigkeit ausgeführt, gelingt ja fast immer. Durch das Dachfenster war er auf den Boden des Hauses gelangt und über eine kleine Bodentreppe zu ihr in die Wohnzimmer gedrungen: er hatte einmal bemerkt, daß die Tür dieser kleinen Treppe durch die Nachlässigkeit der Dienstboten unverschlossen geblieben war. Er hoffte auf diesen Zufall, und siehe da, es war so. Er schlich sich durch die Wohnzimmer bis in ihr Schlafgemach, wo das Lämpchen vor dem Heiligenbilde brannte. Und als ob es beabsichtigt gewesen wäre, waren beide Stubenmädchen ohne Erlaubnis zu einem Namensfeste in der Nachbarschaft fortgeschlichen. Die übrige Dienerschaft schlief in der Gesindestube und in der Küche, die sich in der unteren Etage befand. Beim Anblick der Schlafenden entbrannte in ihm die Leidenschaft, und zu gleicher Zeit wurde sein Herz von einer rachsüchtigen und eifersüchtigen Wut ergriffen, und wie ein Besinnungsloser und Trunkener stürzte er sich auf sie und bohrte ihr das Messer mitten ins Herz, so daß sie nicht einmal aufschreien konnte. Darauf richtete er es mit der teuflischsten und verbrecherischsten Berechnung so ein, daß der Verdacht auf die Dienerschaft fallen mußte. Es widerte ihn nicht an, ihren Geldbeutel zu nehmen, ihre Kommode mit den Schlüsseln, die er unter ihrem Kopfkissen fand, aufzuschließen und ihr nur diejenigen Sachen zu entnehmen, die auch ein dummer Diener genommen hätte, das heißt, die Wertpapiere ließ er liegen und nahm nur das bare Geld, nahm einige schwer goldene Sachen, die anderen aber, die zehnmal wertvolleren doch kleineren Schmuckgegenstände nahm er nicht. Darauf nahm er sich noch etwas zum Andenken, aber davon später. Nachdem das geschehen war, hatte er das Haus auf demselben Wege verlassen. Weder am folgenden Tage, als sich die Nachricht vom Morde verbreitete, noch jemals später, war es jemandem in den Sinn gekommen, den wirklichen Mörder zu verdächtigen! Auch von seiner Liebe zu ihr wußte niemand, denn er war immer verschlossen und wortkarg gewesen, und einen Freund, dem er die Tat hätte mitteilen können, besaß er nicht. Man zählte ihn einfach zu den Bekannten und nicht einmal zu den nahen Vertrauten der Ermordeten, denn er hatte sie in den letzten Wochen gar nicht besucht. Man verdächtigte vielmehr sofort ihren leibeigenen Diener Pjotr, und alle Umstände schienen diesen Verdacht zu bestätigen. Der Diener hatte gewußt, und die Verstorbene hatte es ihm nicht verheimlicht, daß sie auch ihn unter der Anzahl Rekruten, die sie von ihren Leibeigenen zu stellen hatte, in den Militärdienst zu schicken beabsichtigte. Zudem war er unverheiratet und ein schlechter Charakter. Man hatte gehört, wie er aus Wut und angetrunken in einer Kneipe gedroht hatte, sie zu erschlagen. Zwei Tage vor ihrem Tode war er entlaufen und hatte sich in der Stadt herumgetrieben. Am anderen Tage nach dem Morde fand man ihn auf der Landstraße vor der Stadt steif betrunken liegen, mit dem Messer in der Tasche, und dazu war noch seine rechte Handfläche mit Blut befleckt. Er versicherte, daß er Nasenbluten gehabt hätte, aber man glaubte es ihm nicht. Die Mägde gestanden ihre Schuld ein, daß sie auf dem Feste gewesen wären, und daß die Treppentür bis zu ihrer Rückkehr unverschlossen geblieben sei. Und eine Menge ähnlicher Anzeichen ergaben sich noch, so daß man daraufhin den unschuldigen Diener hinter Schloß und Riegel brachte. Doch siehe, schon nach einer Woche erkrankte er an einem Nervenfieber und starb besinnungslos im Krankenhause. Und damit endete die Sache. Man ergab sich dem Willen Gottes, und alle, das Gericht wie die Obrigkeit, waren fest überzeugt, daß den Mord niemand anders als der verstorbene Diener vollführt hätte – der aber war dem Gericht Gottes überliefert worden!

Der geheimnisvolle Gast, der damals schon mein Freund geworden war, sagte mir, daß er zu Anfang gar keine Gewissensbisse empfunden hätte. Wohl litt er sehr, aber nur, weil er das geliebte Weib ermordet hatte, weil sie jetzt nicht mehr lebte, weil er, indem er sie getötet, auch seine Liebe getötet hatte, während die Leidenschaft in seinem Blut noch fortbrannte. An das unschuldig vergossene Blut, an den Mord habe er damals gar nicht gedacht. Der Gedanke, daß sein Opfer die Gattin eines anderen hätte werden können, schien ihm so unmöglich, und daher war er vor seinem Gewissen vollständig überzeugt, daß er anders gar nicht hätte handeln können. Am Anfang quälte ihn ein wenig die Gefangennahme des Dieners, aber dessen Krankheit und Tod beruhigten ihn wieder. Glaubte er doch, daß dieser Tod nicht etwa durch den Schreck oder die Angst erfolgt war, sondern infolge einer Erkältung, die er sich an den Tagen, als er betrunken die ganze Nacht über auf feuchter Erde gelegen, zugezogen hatte. Die gestohlenen Sachen und das Geld beunruhigten ihn gleichfalls nicht, denn den Diebstahl hatte er ja nur zur Ablenkung des Verdachts vollführt. Die gestohlene Summe war unbedeutend, und bald darauf gab er diese Summe und noch viel mehr zur Errichtung einer Wohltätigkeitsanstalt in unserer Stadt. Das hatte er alles nur getan, um sein Gewissen über den Diebstahl zu beruhigen – und bemerkenswert ist, daß dies tatsächlich ihn auf lange Zeit beruhigte: wenigstens beteuerte er es mir. Er selbst stürzte sich damals in eine große geschäftliche Tätigkeit, übernahm schwierige und mühevolle Aufträge, die ihn zwei Jahre lang ganz in Anspruch nahmen, und da er einen starken Charakter hatte, so vergaß er das Vorgefallene ganz; wenn es ihm aber einfiel, so bemühte er sich einfach, nicht daran zu denken. Er tat viel für die Armen, und für unsere Stadt. Auch in den Residenzen, Moskau und Petersburg, zeichnete er sich durch seine Wohltätigkeit aus und wurde daher zum Vorstand von Wohltätigkeitsvereinen gewählt. Aber schließlich erlag er doch den vielen Qualen, die fast über seine Kräfte gingen. Da gefiel ihm ein reizendes und kluges Mädchen, und er heiratete sie bald darauf in der Hoffnung, daß das Eheleben ihn seine Qual vergessen machen werde, und daß auf diesem neuen Wege, in eifriger Pflichterfüllung gegen seine Frau und seine Kinder, seine alten Erinnerungen verblassen würden. Aber gerade das Gegenteil seiner Erwartungen traf ein. Schon im ersten Monat seiner Ehe quälte ihn ununterbrochen der Gedanke: „Meine Frau liebt mich – wenn sie es aber wüßte!“ – Als sie sich zum erstenmal guter Hoffnung fühlte und es ihm mitteilte, da wurde alles in ihm aufgewühlt: „Einem Kinde habe ich das Leben gegeben, und einem anderen Menschen habe ich es genommen.“ Es kamen die Kinder: „Wie wage ich es, sie zu lieben, sie zu erziehen und sie zu belehren, wie kann ich ihnen von Tugend reden: ich, der ich doch Blut vergossen habe.“ Die Kinder wuchsen prächtig heran, er wollte sie liebkosen, aber – „ich konnte nicht in ihre hellen unschuldigen Augen sehen, ich war dessen nicht würdig.“ So quälte ihn grausam und bitter das Blut des unschuldig erschlagenen Opfers, das vernichtete, junge Leben. Ihr Blut schrie nach Rache. Schreckliche Träume verfolgten ihn. Aber sein starkes Herz ertrug standhaft die Qualen. „Ich sühne vielleicht meine Schuld durch meine geheimen Qualen.“ Aber auch diese Hoffnung war vergebens: je länger, desto qualvoller wurden seine Leiden. In der Gesellschaft wurde er wegen seines wohltätigen Wirkens hoch geehrt, obgleich ihn alle wegen seines strengen und düsteren Charakters fürchteten. Je mehr sie ihn jedoch achteten, desto unerträglicher wurde es ihm. Er gestand mir, daß er sich habe töten wollen. Doch gleichzeitig tauchte in ihm eine Idee auf, eine Idee, die er zuerst für unmöglich und wahnsinnig hielt, die sich aber zuletzt so in seinem Herzen festsetzte, daß er sich von ihr nicht mehr losreißen konnte. Er gedachte plötzlich hinauszugehen und vor allem Volk zu erklären, daß er einen Menschen ermordet habe. Drei Jahre lang trug er sich mit dieser Idee, in den verschiedensten Arten tauchte sie in ihm auf. Schließlich wurde es bei ihm zur festen Überzeugung, daß seine Seele erst dann, wenn er sein Verbrechen eingestanden haben würde, Heilung und auf immer Ruhe finden werde. Trotz dieser Überzeugung aber empfand er in seiner Seele einen Schrecken bei der Frage, wie das Geständnis auszuführen sei? Da ereignete sich zufällig meine Duellgeschichte. „Dank Ihrem Beispiel,“ sagte er, „habe ich mich jetzt dazu entschlossen.“

Ich blickte ihn an.

„Ist es möglich?“ sagte ich fast erschrocken und schlug die Hände zusammen, „dieser geringe Vorfall hätte Sie zu solch einem Entschluß gebracht?“

„Meinen Entschluß trage ich bereits seit drei Jahren mit mir herum,“ antwortete er mir. „Ihre Tat hat ihm den letzten Anstoß gegeben. Angesichts Ihres Beispiels habe ich mir schon bittere Vorwürfe gemacht, ich habe Sie beneidet,“ sagte er zu mir, und seine Stimme klang hart.

„Man wird Ihnen nicht glauben,“ bemerkte ich, „vierzehn Jahre sind seitdem vergangen.“

„Ich habe Beweise, schlagende Beweise. Ich werde sie vorweisen.“

Ich brach in Tränen aus und küßte ihn.

„Über eines entscheiden Sie nur, über eines!“ rief er (ganz als ob jetzt alles nur von mir abhing): „Meine Frau, meine Kinder! Meine Frau stirbt vielleicht vor Kummer, und die Kinder, wenn sie auch den Adel und das Vermögen nicht verlieren, so bleiben sie doch auf ewig die Kinder eines gestempelten Sträflings. Und das Andenken, welch ein Andenken hinterlasse ich in ihren Herzen?“

Ich schwieg.

„Und sich von ihnen trennen, sie auf immer verlassen? Auf immer, auf immer!“

Ich saß da und wußte keine Antwort. Ich murmelte nur ein Gebet vor mich hin.

„Was sagen Sie?“ Er sah mich fragend an.

„Gehen Sie,“ antwortete ich, „und sagen Sie es den Leuten. Alles vergeht, nur die Wahrheit allein bleibt bestehen. Ihre Kinder werden heranwachsen und begreifen, wieviel Hochherzigkeit in Ihrem großen Entschlusse gelegen hat.“

Er verließ mich damals, scheinbar ganz entschlossen. Aber länger als zwei Wochen kam er dann wieder jeden Abend zu mir, und immer noch konnte er sich nicht dazu entschließen. Das ermüdete mein Herz. Eines Abends aber kam er und sagte:

„Ich weiß –, daß für mich sofort das Paradies anbrechen wird, sobald ich es gestanden habe. Vierzehn Jahre habe ich in der Hölle gelebt. Ich will das enden. Ich will das Leiden jetzt freiwillig auf mich nehmen und anfangen zu leben. Mit der Unwahrheit kommt man wohl bis ans Ende der Welt, eine Rückkehr gibt es aber nicht mehr. Jetzt wage ich weder meinen Nächsten, noch selbst meine Kinder zu lieben. Mein Gott, vielleicht werden die Kinder einmal begreifen, was mich dieses Leid gekostet hat, und mich nicht verurteilen! Gott ist nicht in der Macht, sondern in der Wahrheit.“

„Alle werden Ihre Tat begreifen,“ sagte ich zu ihm, „wenn nicht sofort, so doch später, denn Sie haben dann der Wahrheit gedient, der höheren Wahrheit, nicht der irdischen ...“

Und wieder ging er fort, als ob er sich darüber beruhigt hätte, und doch kam er am nächsten Tage bleich und erbittert wieder und sagte spöttisch:

„Jedesmal, wenn ich zu Ihnen komme, sehen Sie mich fragend an: ‚Also wieder nicht?‘ Warten Sie, verachten Sie mich nicht zu sehr. Nicht so leicht ist es, wie es Ihnen scheint. Ich werde es vielleicht überhaupt nicht tun. Sie werden mich doch nicht anzeigen, wie?“

Ich aber, oh, nicht, daß ich gewagt hätte, ihn fragend anzusehen, – ich wagte überhaupt nicht, ihn anzusehen! Ich war bis zur Erschöpfung gequält, und meine Seele war voller Tränen. Die Nächte verbrachte ich schlaflos.

„Ich komme soeben,“ fuhr er fort, „von meiner Frau. Begreifen Sie das, was einem eine Frau ist? Als ich fortging, riefen die Kinder mir nach: ‚Adieu, Papa, komme bald wieder, wir wollen dann zusammen unsere Kinderbücher lesen.‘ Nein, das verstehen Sie nicht! Fremdes Leid macht nicht gescheit.“

Seine Augen blitzten, seine Lippen zitterten. Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß alle Sachen darauf klirrten, – diese Heftigkeit sah ich an ihm zum erstenmal.

„Ja, ist es denn nötig?“ schrie er auf, „ist es denn nötig? Niemand ist doch meinetwegen verurteilt worden, niemand meinetwegen in die Zwangsarbeit verschickt worden! Der Diener starb an einer Krankheit. Für das vergossene Blut aber bin ich durch meine eigenen Marter und Qualen übergenug gestraft worden. Und man wird es mir ja überhaupt nicht glauben, trotz aller Beweise! Ist es denn nötig, daß ich es tue, ist es denn nötig? Für das vergossene Blut bin ich bereit, mich mein ganzes Leben lang zu quälen, wenn ich nur meine Frau und meine Kinder nicht vernichte. Ist es denn gerecht, sie zu zerschmettern? Irren wir uns da nicht? Wo ist denn da die Wahrheit? Und werden die Menschen diese Wahrheit verstehen und anerkennen, sie schätzen und ehren?“

„Großer Gott!“ dachte ich bei mir, „an die Achtung der Menschen denkt er in solch einer Minute!“ So leid tat er mir damals, daß ich wohl sein Los hätte teilen mögen, um es ihm zu erleichtern. Ich sah, daß er wie rasend war, und ich erschrak, als ich nicht nur mit dem Verstande allein begriff, sondern auch mit ganzer Seele fühlte, was solch ein Entschluß kostet.

„Entscheiden Sie über mein Geschick!“ sagte er plötzlich zu mir.

„Gehen Sie hin und gestehen Sie,“ flüsterte ich ihm zu. Meine Stimme versagte mir fast, doch flüsterte ich es ihm mit Bestimmtheit zu. Ich nahm vom Tisch das Evangelium in russischer Übersetzung und zeigte ihm Johannes, Kapitel XII, Vers 24: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein, stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.“ Diesen Vers hatte ich kurz vor seinem Eintritt gelesen.

Er las ihn: „Das ist wahr,“ sagte er, aber er lächelte bitter. „Ja,“ sagte er, nachdem er lange geschwiegen hatte, „es ist unheimlich, was man in diesem Buche findet. Es ist aber leicht, diese Sprüche anderen vorzulesen. Und wer hat das geschrieben, doch nicht etwa Menschen?“

„Der Heilige Geist,“ sagte ich.

„Sie haben gut reden,“ sagte er und lächelte haßerfüllt. Ich nahm wieder das Buch, schlug es an einer anderen Stelle auf und zeigte ihm Ebräer, Kapitel X, Vers 31. Er las:

„Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“

Er las es und schleuderte das Buch von sich. Er zitterte am ganzen Körper.

„Ein schrecklicher Vers,“ sagte er. „Wahrlich, Sie haben ihn gut ausgesucht!“ Er erhob sich vom Stuhl: „Nun,“ sagte er, „leben Sie wohl, vielleicht werde ich nicht mehr zu Ihnen kommen – im Paradiese werden wir uns wiedersehen. Schon vierzehn Jahre sind es also, daß ich in die Hände des lebendigen Gottes gefallen bin, das kann ich wahrlich von diesen vierzehn Jahren sagen! Morgen werde ich diese Hände bitten, daß sie mich freigeben.“

Ich wollte ihn umarmen und küssen, aber ich wagte es nicht, so verzerrt war sein Gesicht; es wurde mir schwer, ihn anzusehen. Er ging hinaus. „Mein Gott,“ dachte ich, „wohin geht dieser Mensch!“ Ich warf mich auf die Knie hin vor das Muttergottesbild und betete. Es verging wohl eine halbe Stunde, als ich mich endlich mit Tränen in den Augen vom Gebet erhob; es war schon spät abends, gegen Mitternacht. Plötzlich sah ich, wie die Tür sich wieder öffnete und er eintrat. Ich war erstaunt.

„Wo sind Sie gewesen?“ fragte ich ihn.

„Ich,“ sagte er, „... ich habe, glaube ich, etwas vergessen ... mein Taschentuch, glaube ich. Nun, und wenn ich auch nichts vergessen habe, erlauben Sie mir, mich zu setzen ...“

Er setzte sich. Ich stand vor ihm. „Setzen Sie sich gleichfalls.“ Ich setzte mich. So saßen wir etwa drei Minuten, er sah mich starr fixierend an, und plötzlich lächelte er, stand auf, umarmte mich und küßte mich.

„Behalte es im Gedächtnis,“ sagte er, „wie ich zum zweitenmal zu dir gekommen bin. Hörst du, behalte es!“

Zum erstenmal nannte er mich du. Er ging fort. „Morgen,“ dachte ich.

Und so war es auch. Ich aber wußte an jenem Abend nicht, daß er den Tag darauf seinen Geburtstag feierte. In der letzten Zeit war ich gar nicht ausgegangen und hatte es von niemandem erfahren können. An diesem Tage pflegte sich die ganze Stadt bei ihm zu versammeln. Auch dieses Mal gab es eine große Gesellschaft. Und siehe, nach dem großen Festessen, stellte er sich in die Mitte des Zimmers, in den Händen hält er ein Papier – die formelle Anzeige an die Obrigkeit. Da aber alle hohen Gerichtspersonen bei ihm versammelt waren, so las er den Bericht den Anwesenden laut vor, – die ganze Beschreibung seines Verbrechens bis in alle Einzelheiten! „Als einen Auswurf des Menschengeschlechts scheide ich mich selbst aus der Mitte der Menschen, Gott hat mich heimgesucht,“ – damit schloß er seine Anschuldigung. – „Ich will dafür leiden.“ Darauf breitete er die gestohlenen Gegenstände auf dem Tisch aus, die Beweise seines Verbrechens, die er vierzehn Jahre lang bei sich aufbewahrt hatte. Die Goldsachen der Erschlagenen, mit denen er den Verdacht von sich abgelenkt hatte, das Medaillon und das Kreuz, die er ihr vom Halse genommen – im Medaillon das Bild ihres Verlobten; ferner ihr Notizbuch und zwei Briefe: der Brief ihres Verlobten an sie, mit der Nachricht seiner baldigen Rückkehr, und ein Brief von ihr, den sie angefangen, aber nicht beendigt hatte, und der auf dem Schreibtisch liegen geblieben war, um am nächsten Tage abgesandt zu werden. Beide Briefe hatte er an sich genommen – weshalb? Und weshalb hatte er sie vierzehn Jahre lang aufbewahrt, statt sie als Beweisstücke zu vernichten? Und was geschah darauf? Alle gerieten in Verwunderung und in Schrecken, und niemand wollte es glauben, obgleich sie ihm alle mit großer Aufmerksamkeit und Neugier zugehört hatten, wenn auch mehr wie einem Kranken. Nach einigen Tagen wurde denn auch von allen behauptet, daß der unglückliche Mensch seinen Verstand verloren habe. Die Obrigkeit und das Gericht mußten die Sache, ob sie wollten oder nicht, aufnehmen, aber auch sie zögerten: denn obwohl die vorgewiesenen Sachen und die Briefe zu denken gaben, kam man doch zu dem Schluß, daß, wenn die Dokumente sich auch als richtig erweisen sollten, man ihn schließlich nicht nur auf Grund dieser Dokumente verurteilen konnte. Denn die Sachen hätte er ebensogut als ihr Bekannter und Vertrauensmann von ihr erhalten können. Übrigens hörte ich später, daß die Sachen von vielen Bekannten und Verwandten der Ermordeten erkannt worden wären. Aber wieder war es auch dieses Mal der Sache nicht bestimmt, zu einem Abschluß zu kommen. – Fünf Tage nachher erfuhren wir alle, daß er erkrankt war, und man meinte allgemein, es sei ein Herzleiden; auch wurde bekannt, daß seine Frau alle Doktoren zusammenberufen hatte, damit sie ihn auf seinen Geisteszustand hin untersuchten. Deren Urteil aber lautete – Geistesstörung. Ich sagte niemandem etwas von dem, was ich wußte, obgleich man mich über ihn ausfragen wollte; als ich ihn aber zu besuchen wünschte, da überhäufte man mich mit Vorwürfen, besonders seine Gemahlin tat es: „Sie sind es, der ihn so erschüttert hat, wenn er auch schon früher immer finster war, so ist doch allen seine ungewöhnliche Erregung, sein sonderbares Benehmen in jüngster Zeit aufgefallen. Sie haben ihn ins Verderben gestürzt, haben ihn beeinflußt, er hat den ganzen Monat nur bei Ihnen gesessen.“ Und nicht nur seine Frau, nein, alle in der Stadt stürzten sich auf mich und beschuldigten mich. „Das alles haben Sie getan.“ Ich schwieg, und in meinem Herzen freute ich mich; ich erkannte die Gnade Gottes gegen ihn, der sich aus eigener Kraft aufgerichtet hatte. An eine Geistesstörung glaubte ich selbstverständlich nicht. Schließlich ließ man mich zu ihm: er hatte darauf bestanden – um sich von mir zu verabschieden. Ich trat zu ihm ins Zimmer und bemerkte sofort, daß nicht nur seine Tage, sondern seine Stunden gezählt waren. Er war schwach, gelb, und seine Hände zitterten; er atmete schwer, doch sein Blick war freudig und gerührt.

„Es ist vollbracht! lange schon habe ich mich danach gesehnt mit dir zu sprechen, warum kamst du nicht?“

Ich sagte ihm nicht, daß man mich nicht vorgelassen hatte.

„Gott erbarmt sich meiner und ruft mich zu sich. Ich weiß, daß ich sterbe, aber Freude und Friede fühle ich jetzt nach so viel Jahren zum erstenmal in meinem Herzen. Sofort erschloß sich in meiner Seele das Paradies, sobald ich’s nur ausgeführt hatte! Jetzt wage ich wieder, meine Kinder zu lieben und zu liebkosen. Man glaubt mir nicht, weder meine Frau noch meine Richter. Meine Kinder werden mir niemals glauben. Darin sehe ich Gottes Gnade zu meinen Kindern. Ich sterbe und mein Name bleibt für sie unbefleckt. Und ich fühle schon im voraus den ewigen Gott, und mein Herz freut sich wie im Paradiese ... Ich habe meine Schuldigkeit getan ...“

Er konnte nicht weiter sprechen, er atmete schwer, heiß drückte er mir die Hand, und mit glänzenden Augen sah er mich an. Doch lange konnten wir nicht zusammen bleiben; seine Frau kam immer wieder ins Zimmer, um nach uns zu sehen. Doch konnte er mir noch zuflüstern:

„Erinnerst du dich, wie ich das letztemal zu dir kam, um Mitternacht? Ich befahl dir, das zu behalten. Weißt du, warum ich wieder bei dir eintrat? Ich wollte dich erschlagen!“

Ich schrak zusammen.

„Ich kam – damals – von dir. In der Dunkelheit wanderte ich durch die Straßen und kämpfte mit mir. Und plötzlich haßte ich dich so sehr, daß mein Herz es kaum ertragen konnte. ‚Jetzt,‘ dachte ich, ‚ist er der einzige, der es weiß und mein Richter ist, und jetzt kann ich gar nicht mehr meiner Strafe entgehen.‘ Nicht, daß ich fürchtete, du würdest mich verraten, daran habe ich mit keinem Gedanken gedacht, aber ich sagte mir: ‚Wie werde ich ihm noch in die Augen sehen können, wenn ich es nicht morgen tue?‘ Und wenn du auch am Ende der Welt wärest, es wäre mir einerlei, so lebtest du doch, und der Gedanke, daß du lebst und alles weißt und mich verurteilst, dieser Gedanke wäre mir unerträglich gewesen. Ich haßte dich, als wärest du der Grund zu allem, und als wärest du an allem schuld. Ich kehrte damals zu dir zurück, denn ich wußte, auf deinem Tisch lag dein Dolch. Ich setzte mich und bat dich, dich gleichfalls zu setzen, und ich überlegte es mir noch eine Minute lang. Wenn ich dich aber getötet hätte, so wäre ich dieses Mordes wegen zugrunde gegangen, selbst wenn ich von meinem früheren Verbrechen nichts gesagt hätte. Doch daran dachte ich nicht und wollte ich auch in dieser Minute nicht denken. Ich haßte dich und wollte mich für alles an dir rächen. Aber Gott besiegte den Teufel in meinem Herzen. Wisse aber, daß du dem Tode nie näher gewesen bist.“

Nach einer Woche starb er. Seinem Sarge folgte die ganze Stadt. Der Oberpriester hielt eine gefühlvolle Rede. Nach seinem Tode aber wandte sich die ganze Stadt gegen mich, man trieb es sogar so weit, daß man mich nicht mehr empfing. Einige wiederum, und zuerst waren es eben nur einige, später aber wurden es mehr und mehr, fingen an, seinen Aussagen zu glauben; sie kamen zu mir und fragten mich mit großer Neugier und Freude: der Mensch freut sich doch so über den Fall des Gerechten und dessen Schande. Ich aber schwieg und verließ bald darauf die Stadt. Nach fünf Monaten fand mich Gott für würdig, den einzigen festen und wunderbaren Weg zu betreten, und ich segnete den Fingerzeig, der mich auf diesen Weg gewiesen hatte. Doch seiner gedenke ich fortwährend, und ich schließe ihn bis auf den heutigen Tag in meine Gebete ein.

III.
Aus den Gesprächen und Predigten des Staretz Sossima

e) Einiges über den russischen Mönch und seine Bedeutung

Meine Väter und Lehrer, was ist ein Mönch? In unseren Tagen wird das Wort in der aufgeklärten Welt von einigen mit Spott, von anderen sogar als Schimpfwort gebraucht. Und leider, es ist nur zu wahr, es gibt unter den Mönchen viele Müßiggänger, Tagediebe, Wollüstlinge und gewöhnliche Landstreicher. Auf diese weisen die gebildeten weltlichen Leute hin: „Ihr seid Faulenzer und unnütze Glieder der Gesellschaft,“ sagen sie, „ihr lebt von fremder Arbeit und seid schamlose Bettler!“ Indessen gibt es doch so viele unter den Mönchen, die fromm und demütig sind, die die Einsamkeit suchen, und die nach Stille und Gebet verlangt. Auf diese weist man nicht hin, sondern übergeht sie mit Schweigen. Wie sehr aber werden sie sich wundern, wenn ich sage, daß von den Gebeten dieser Demütigen und nach Einsamkeit und Stille sich Sehnenden die Rettung Rußlands ausgehen wird. Denn in Wahrheit werden sie sich in der Stille vorbereitet haben „auf den Tag und die Stunde, auf den Monat und auf das Jahr“. Das Vorbild Christi bewahren sie herrlich und unverfälscht in seiner göttlichen Reinheit und Wahrheit dort in ihrer Einsamkeit auf, so wie es uns von unseren alten Kirchenvätern, Aposteln und Märtyrern überliefert worden ist, und wenn es nötig werden wird, so werden sie es der weltlichen, zusammenstürzenden Wahrheit entgegenstellen. Das ist ein großer Gedanke. Im Osten wird dieses Licht aufgehen.

So denke ich über den Mönch, und sollte das wirklich falsch, sollte das wirklich anmaßend sein? Seht auf die Weltlichen und auf alle, die sich über das Gottesvolk erheben, ist in ihnen nicht die Wahrheit Gottes verloren gegangen? Sie haben die Wissenschaft und in der Wissenschaft nur das, was den Sinnen unterworfen ist. Die geistige Welt, die höhere erhabenere Hälfte des menschlichen Wesens, wird vollständig geleugnet und wird mit einer gewissen Genugtuung und sogar mit Haß ganz und gar abgeschafft. Besonders in letzterer Zeit hat die Welt die Freiheit proklamiert, aber was sehen wir in ihrer Freiheit? Nichts als Sklaverei und Selbstmord! Denn die Welt sagt: „Hast du Bedürfnisse, so befriedige sie, denn du hast dieselben Rechte wie die Reichen und Vornehmen. Fürchte dich nicht, sie zu befriedigen, sondern vermehre und steigere sie noch.“ Das ist die gegenwärtige Lehre der Welt. Darin sieht man jetzt die Freiheit. Und was ergibt sich aus diesem Recht auf die Vergrößerung der Bedürfnisse? Bei den Reichen die Isolierung und der geistige und seelische Selbstmord. Bei den Armen dagegen – Haß und Totschlag, denn die Ansprüche wurden ihnen allerdings gegeben, doch die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse wurden ihnen nicht angewiesen. Man versichert, daß die Welt sich immer mehr vereinheitlichen und zu einer brüderlichen Gemeinschaft ausbilden werde dadurch, daß die Entfernung jetzt abgekürzt ist und der Gedanke durch die Luft vermittelt wird. Oh, glaubt nicht an diese Einheit der Menschen! Wenn man die Freiheit als Unbeschränktheit und schnelle Befriedigung seiner Wünsche auffaßt, so verdirbt man seine Natur, denn man ruft in sich eine Menge sinnloser und dummer Wünsche und Gewohnheiten hervor, und die alleralbernsten Einfälle. Man lebt nur, um sich gegenseitig zu beneiden, zur Befriedigung der Wollust und des Hochmuts. Diners, Ausfahrten, Equipagen, Auszeichnungen, Sklaven, Diener, Untergebene zu haben, wird zu einem so unumgänglichen Bedürfnis, daß man sogar sein Leben, seine Ehre, seine Menschenliebe opfert, nur um dieses Bedürfnis zu befriedigen, und man nimmt sich womöglich das Leben, wenn man das nicht mehr tun kann. Auch bei denjenigen, die nicht reich sind, sieht man dasselbe. Die Armen aber betäuben ihre unbefriedigten Wünsche und ihren Neid mit Branntwein. Es wird aber noch dahin kommen, daß diese sich, statt an Branntwein, an Blut betrinken werden. Jetzt frage ich euch: Ist denn solch ein Mensch frei? Ich kannte einen „Kämpfer für die Idee“, der mir selbst erzählte, daß er, als man ihm im Gefängnis den Tabak entzog, dermaßen durch diese Entbehrung gequält worden sei, daß er, wenn er gekonnt hätte, hingegangen wäre, um seine Idee „für Tabak“ zu verkaufen. Solch einer also „geht für die Menschheit kämpfen“. Wie weit geht er damit, und wozu ist er fähig? Vielleicht noch zu einer raschen Tat, denn Ausdauer wird er nie haben. Und ist das nicht merkwürdig, wie sie, statt in Freiheit zu kommen, in Sklaverei verfallen, und statt der Bruderliebe und der Einigung der Menschheit zu dienen, geraten sie im Gegenteil nur, wie in meiner Jugend mein geheimnisvoller Gast dies schon behauptete, in Vereinsamung und Isolierung. Daher stirbt in der Welt das Bewußtsein, daß man im Dienste der Menschheit steht, vollständig aus. Der Vorstellung von Brüderlichkeit und innerer Zusammengehörigkeit der Menschen begegnet man in Wahrheit nur mit Spott, denn wie sollen sie von ihren Gewohnheiten lassen? Wohin will so ein Unfreier mit all seinen unzähligen Bedürfnissen, die er sich selbst ausgedacht hat? Nur in die Isolierung führt es ihn! Und was hat er mit dem Ganzen zu schaffen? Erreicht haben sie damit nichts anderes, als daß sie an Besitz wohl reicher, an Freude aber ärmer geworden sind.

Etwas anderes ist es mit der Laufbahn des Mönches. Über den Gehorsam, über Fasten und Gebet lacht man, während gerade in ihnen der Weg zur wirklichen und wahrhaften Freiheit zu finden ist. Ich vernichte in mir die überflüssigen und unnötigen Bedürfnisse, meinen selbstherrlichen und stolzen Willen geißle ich und bezwinge ich durch Gehorsam, und erreiche mit Gottes Hilfe die Freiheit des Geistes und mit ihr die Geistesfreudigkeit! Wer von ihnen wird fähiger sein, einer großen Idee zu dienen – der isolierte Reiche oder der von jeglicher Tyrannei seiner Gewohnheiten und seines Besitzes Befreite? Dem Mönche macht man seine Vereinsamung zum Vorwurf: „Du rettest dich in das Kloster, vergißt aber dabei, brüderlich deinem Mitmenschen zu dienen.“ Sehen wir doch zu, wer mehr Bruderliebe betätigt. Die Isolierung ist nicht bei uns, sondern bei ihnen, nur sehen sie das nicht ein. Von uns aber sind (und das schon von alters her) diejenigen gekommen, die für das Volk gewirkt haben, warum sollte es auch jetzt nicht solche unter uns geben? Unsere demütigen Faster und großen Schweiger werden sich erheben und große Taten vollführen. Vom Volke wird Rußlands Rettung kommen. Das russische Kloster war von jeher mit dem Volke. Wenn das Volk abgesondert lebt, so leben auch wir in der Absonderung. Das Volk glaubt auf unsere Weise, und eine ungläubige Kraft, sei sie noch so aufrichtigen Herzens und genialen Geistes, kann bei uns in Rußland nichts erreichen. Behaltet das. Das Volk, wenn es dem Atheisten begegnet, wird ihn bewältigen und wird sich als einiges rechtgläubiges Rußland gegen ihn aufrichten. Bewahrt das Volk und bewahrt sein Herz, in der Stille erzieht es. Das wäre die Aufgabe unseres Mönches, denn sein Volk ist das Gottträger-Volk.

f) Einiges über Herren und Diener: Kann es zwischen Herr und Diener eine geistige Bruderschaft geben?

Mein Gott, wer kann sagen, daß es im Volke keine Sünde gäbe! Die Flamme der Vernichtung und des Verderbens vergrößert sich sichtbar und stündlich. Auch ins Volk dringt die Isolierung: Wucherer und Freischlucker treten auf, der Händler und Kaufmann will immer mehr geehrt sein, bemüht sich, den Gebildeten zu spielen, ohne Bildung zu besitzen, und vernachlässigt darum mit Absicht die alten Volksbräuche und schämt sich des Glaubens seiner Väter. Er fährt zu Fürsten zum Besuch und ist dabei doch nichts anderes als ein verdorbener Bauer. Das Volk hat sich der Trunksucht ergeben: es ist durch sie wie angefault und kann sich nicht mehr davon losreißen. Wieviel Grausamkeit sehen wir oftmals im Verhalten des Mannes zu seiner Familie, seiner Frau und sogar den Kindern gegenüber: alles das kommt von der Trunksucht. In den Fabriken habe ich neunjährige Kinder gesehen, schwächlich, abgezehrt, gekrümmt und schon verdorben. Stickige Räume, das Getöse der Maschinen und den ganzen Gottestag über Arbeit, häßliche, unanständige Reden und Branntwein, Branntwein! Ist es denn das, was die Seele eines so kleinen Kindes bedarf? Es hat Sonne nötig und Spiele und in allem ein gutes Beispiel und Liebe, wenn auch nur ein Tröpfchen Liebe zu ihm. Auf daß es geschehe, Mönche, auf daß die Quälerei der Kinder aufhöre, erhebt euch schneller und predigt dagegen. Gott wird Rußland retten, denn wenn das Volk auch verdorben ist und sich von der Schande und Sünde nicht losmachen kann, so weiß der Einfache doch, daß Gott seine Sünde verflucht, und daß er schlecht handelt, wenn er sündigt. So daß unser Volk trotz allem unerschütterlich an die Wahrheit glaubt, Gott anbetet und über seine Sünden weint. Nicht so aber ist es bei den Höheren. Die wollen sich nach der Wissenschaft und nach ihrem eigenen Verstande, doch vor allem ohne Christus, hier auf Erden einrichten und behaupten daher, es gäbe kein Verbrechen, es gäbe keine Sünde. Und in ihrer Art haben sie auch recht: wenn es keinen Gott gibt, wie kann es dann ein Verbrechen geben? In Europa erhebt sich schon das Volk gegen die Reichen, und ihre Rädelsführer predigen die Gewalt und das Blutvergießen und behaupten, daß ihr Zorn ein gerechter sei. Doch verflucht sei ihr Zorn, denn er ist grausam, d. h. ohne Barmherzigkeit. Rußland aber wird Gott der Herr erretten, wie er es schon oft errettet hat. Aus dem Volk wird die Rettung kommen, aus seinem Glauben und seiner Demut. Meine Väter und Lehrer, bewahret den Glauben des Volkes, denn er ist kein leerer Traum: mein ganzes Leben lang bin ich von seiner Größe, von seiner herrlichen und aufrichtigen Würde ergriffen gewesen. Ich habe es selbst gesehen und habe gestaunt, ich kann es bezeugen trotz der Finsternis und des ärmlichen und unansehnlichen Aussehens unseres Volkes. Es ist nicht kriechend trotz seiner zwei Jahrhunderte langen Sklaverei, die es unter den Tataren durchgemacht hat. Frei ist sein Äußeres und sein Betragen, frei ist es, ohne einen dabei zu beleidigen. Und nie ist unser Volk rachsüchtig und nie neidisch. „Du bist bedeutend, bist reich, bist klug und talentvoll – möge Gott dich segnen. Ich achte dich, doch wisse, daß auch ich ein Mensch bin. Darin, daß ich dich neidlos achte, darin besteht meine eigene Menschenwürde vor dir.“ In Wahrheit ist es so, denn wenn sie sich auch nicht so auszudrücken verstehen, so handeln sie doch danach, ich selbst habe es gesehen, ich selbst habe es erfahren, und glaubet mir: je ärmer und niedriger unser russischer Mann ist, um so eher ist in ihm diese herrliche Wahrhaftigkeit zu finden. Die Reichen von ihnen, die Wucherer und Schmarotzer, sind auch schon verdorben, und vieles, vieles ist von unserer Unachtsamkeit und Nachlässigkeit gekommen. Aber Gott wird seine Kinder erretten, denn groß ist Rußland in seiner Demut. Ich träume von unserer Zukunft, und schon sehe ich sie emporsteigen. Und es wird so sein, daß unser verderbtester Reicher sich seines Reichtums vor dem Armen schämen wird, und der Arme wird seine Demut verstehen und wird ihm mit Freuden den Vorrang lassen, der ihm zukommt, und seine edle Scham mit Wohlwollen vergelten. Glaubet mir, so wird es enden; darauf geht es hinaus. Die Gleichheit besteht in der menschlichen, geistigen Würde, und das wird man nur bei uns verstehen. Wenn es Brüder gibt, dann wird es auch eine Brüderschaft geben, früher aber werden sie nie miteinander teilen. Das Vorbild Christi bewahren wir, und es wird wieder wie ein kostbares Juwel der ganzen Welt leuchten ... Und also geschehe es!

Meine Väter und Lehrer, ich erlebte einmal etwas sehr Rührendes. Auf meiner Wanderschaft traf ich in der Gouvernementsstadt K. meinen früheren Burschen Afanassij, den ich seit der Zeit, ungefähr seit acht Jahren, als wir auseinander gegangen waren, nicht wieder gesehen hatte. Er sah mich zufällig in einem Kaufhause, erkannte mich und stürzte auf mich zu. Mein Gott, wie lief er herbei, und wie freute er sich: „Väterchen, Herr sind Sie denn das wirklich? Täuschen mich nicht meine Augen?“ Er führte mich zu sich. Er hatte schon den Dienst verlassen, war verheiratet und hatte zwei Kinderchen. Er lebte mit seiner Frau von einem kleinen Kramladen, den sie im Kaufhause besaßen. Das Zimmerchen, in das er mich führte, war ärmlich, aber sauber und hell. Er nötigte mich, Platz zu nehmen, stellte den Ssamowar auf, schickte nach seiner Frau, ganz als ob es für ihn ein Feiertag wäre, daß ich zu ihm gekommen war. Er führte mir seine Kinder zu: „Segne sie, Väterchen,“ bat er. – „Kommt es mir einfachem demütigem Menschen denn zu, andere zu segnen,“ antwortete ich ihm, „ich werde zu Gott für sie beten. Auch für dich, Afanassij Pawlowitsch, bete ich; seit jenem Tage bete ich täglich für dich zu Gott, denn durch dich ist alles so gekommen, wie es jetzt ist.“ Und ich erklärte ihm das, so gut ich konnte. Wie war dem Menschen wohl zumute: er konnte immer noch nicht fassen, daß ich, der ich jetzt vor ihm in solch einer Gestalt und Kleidung stand, sein früherer Herr und sein junger Leutnant war. – Er fing sogar zu weinen an. „Warum weinst du,“ fragte ich ihn, „du unvergeßlicher Mensch, freuen sollte sich deine Seele über mich, mein Lieber, denn freudig und hell ist mein Weg.“ Viel sprach er nicht, aber er seufzte und schüttelte wehmütig den Kopf. „Wo ist denn Ihr Reichtum geblieben?“ Ich antwortete ihm: „Habe ihn dem Kloster gegeben, wir leben dort alle in Gemeinschaft.“ Nach dem Tee verabschiedete ich mich von ihnen, und plötzlich brachte er mir fünfzig Kopeken fürs Kloster, und was sehe ich, andere fünfzig Kopeken steckte er mir noch heimlich in die Hand und beeilte sich dabei zu sagen: „Das ist für Sie, den sonderbaren Wanderer, es kommt Ihnen vielleicht zustatten, Väterchen.“ Ich nahm das Geld, verbeugte mich vor ihm und vor seiner Frau und ging erfreut davon. Auf dem Wege dachte ich noch: „Jetzt werden wir beide, er bei sich und ich unterwegs, seufzen und lächeln, in der Freude des Herzens den Kopf wiegen, daran denkend, wie Gott uns zusammengeführt hat.“ Seit der Zeit habe ich ihn nicht wieder gesehen. Ich war sein Herr, er war mein Diener gewesen, nun aber, nachdem wir uns fromm und in Liebe geküßt hatten, hatte sich in uns die große Menschenvereinigung vollzogen. Ich habe viel darüber nachgedacht und jetzt frage ich mich: Ist es denn wirklich so undenkbar, daß diese große Einigung voll Herzenseinfalt sich einmal überall in unserem Rußland vollziehen könnte? Ich glaube daran, daß sie sich vollziehen wird, und daß die Zeit schon vor der Tür steht.

Über die Diener füge ich aber noch folgendes hinzu: Früher in meiner Jugend ärgerte ich mich viel über sie: die Köchin hatte zu heiß angerichtet oder der Bursche die Kleider nicht genügend rein gebürstet. Aber plötzlich leuchtete der Gedanke meines lieben Bruders in mir auf, den ich in meiner Kindheit oftmals von ihm aussprechen gehört hatte: „Bin ich wert, daß ein anderer mich bedient, und habe ich das Recht, ihn wegen seiner Armut und Unwissenheit schlecht zu behandeln?“ Ich war erstaunt damals, wie die allereinfachsten und klarsten Gedanken uns so spät in den Sinn kommen. Ohne Diener kann die Welt nicht auskommen, aber du sollst so handeln, daß dein Diener freier im Geiste ist, als er wäre, wenn er nicht dein Diener sein würde. Und warum soll ich nicht meinem Diener ein Diener sein, und zwar so, daß er fühlt, daß ich es ohne jeglichen Stolz oder Hochmut meinerseits bin – und ohne in ihm Mißtrauen zu erwecken? Warum soll ich zu meinem Diener nicht sein wie zu einem Verwandten, und warum soll ich ihn nicht ganz in meine Familie aufnehmen und mich dessen freuen? Das ist auch jetzt schon ausführbar und würde zur Grundlage der großen zukünftigen Einigung der Menschen dienen, in der der Mensch sich keine Diener suchen und nicht mehr wünschen wird, seinesgleichen sich dienstbar zu machen, wie er jetzt tut, sondern im Gegenteil, aus allen Kräften wünschen wird, allen ein Diener nach dem Evangelium zu werden. Und ist das wirklich nur ein Traum, daß der Mensch schließlich seine Freude in Fortschritten der Erleuchtung und Mildtätigkeit finden wird und nicht an den grausamen Freuden der Üppigkeit, Unzucht, Hoffart, Prahlerei und in der Überhebung des einen über den anderen? Ich glaube fest daran, daß diese Zeit nicht mehr fern ist. Man wird wohl lachend fragen: wann wird denn diese Zeit kommen, und wird sie dann auch diesem Traume ähnlich sein? Ich aber denke, daß wir mit dem Vorbild Christi diese große Tat vollführen werden. Wieviel Ideen gibt es doch auf der Erde und in der Geschichte der Menschheit, die noch vor zehn Jahren undenkbar waren, und die doch plötzlich auftauchten, als für sie die geheimnisvolle Stunde geschlagen hatte, und die sich dann über die ganze Erde verbreiteten. So wird es auch bei uns sein, unser Volk wird die Welt erleuchten, und die ganze Welt wird sagen: „Der Stein, den die Baumeister verwarfen, ist zum Eckstein geworden.“ Und die Spötter sollte man fragen: Wenn das bei uns nur Träume sein sollen, wie werdet ihr dann euer Gebäude nur mit eurem Verstande und ohne Christus aufbauen? An ihre Versicherung, daß auch sie auf ihrem Wege schließlich zur Einigung der Menschheit gelangen werden, glauben in Wahrheit nur die Einfältigsten unter ihnen, und über diese Einfältigkeit kann man sich wirklich nur wundern, denn wahrlich ihre phantastischen Träume bauen sich auf keiner einzigen Tatsache auf. Sie denken alles ohne Christum gerecht aufzubauen, aber sie werden damit enden, daß sie die Welt mit Blut überschwemmen, denn Blut schreit nach Blut, und das Schwert wird nur durch das Schwert vergehen. Und wenn die Verheißung Christi nicht wäre, so würden sie sich auf Erden gegenseitig bis auf die zwei letzten Menschen vertilgen. Auch diese letzten Zwei würden nicht verstehen, sich in ihrem Stolze zu bändigen, so daß der Letzte den Vorletzten vernichten würde und zuletzt sich selbst. So würde es geschehen, wenn die Welt nicht durch die Verheißung Christi um der Frommen und Demütigen willen erhalten bliebe. Damals nach dem Duell, sprach ich, noch in der Offiziersuniform, in der Gesellschaft einmal über diese Frage, und ich erinnere mich, alle waren sie erstaunt über mich: „Was, sollen wir unsere Dienstboten auf das Sofa setzen und ihnen den Tee reichen?“ Ich gab ihnen aber zur Antwort: „Warum denn nicht, und wenn es auch nur ein einziges Mal geschieht?“ Sie lachten darüber. Ihre Frage war leichtsinnig, und meine Antwort war unklar, aber ich denke, etwas Wahres war doch in ihr enthalten.

g) Vom Gebet, von der Liebe und von der Berührung mit anderen Welten

Jüngling, vergiß nicht das Gebet. Jedesmal, wenn dein Gebet aufrichtig ist, taucht eine neue Empfindung in dir auf und mit ihr ein neuer Gedanke, den du früher nicht gekannt hast; er wird dich von neuem stärken, und du wirst begreifen, daß Gebet Erziehung ist. Vergiß auch nicht, jeden Tag und so oft du nur kannst, also zu beten: „Herr, erbarme dich aller, die vor dich hintreten.“ Denn in jeder Stunde und in jedem Augenblick verlassen Tausende von Menschen ihr Leben auf dieser Erde, und ihre Seelen treten vor Gott – und viele von ihnen scheiden einsam von dieser Erde, von niemand gekannt, in Kummer und Trauer, daß sich niemand um sie bekümmert, ja, nicht einmal gewußt hat, ob sie gelebt haben oder nicht. Und siehe, vom anderen Ende der Welt erhebt sich dein Gebet zu dem Herrn und bittet um die Seelenruhe des Verlassenen, obgleich du ihn nicht kanntest und er nicht dich. Wie wird es aber seiner Seele sein, wenn er in dem Augenblick, da er in Furcht vor Gott steht, fühlt, daß auch für ihn jemand betet, und daß auf der Erde ein menschliches Wesen lebt, das auch ihn lieb hat? Ja, und auch Gott wird milde auf euch beide schauen, denn hast selbst du mit ihm Mitleid, um wieviel mehr wird er Mitleid haben, der so unendlich viel mildtätiger und mitleidiger ist als du? Und er wird ihm vielleicht um deinetwillen vergeben. Brüder, vor der Sünde der Menschen schreckt nicht zurück, liebet den Menschen auch in seiner Sünde, denn das ist das Ebenbild der göttlichen Liebe und das Höchste der Liebe. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, das ganze All, wie jedes Sandkörnchen. Jedes Blättchen, jeden Strahl Gottes liebet. Liebet die Tiere, liebet jegliches Gewächs und jegliches Ding. Wenn du jedes Ding lieben wirst, so wird sich dir das Geheimnis Gottes in den Dingen offenbaren. Ist dir dies offenbar geworden, so wirst du jeden Tag immer mehr und mehr die Wahrheit erkennen. Und schließlich wirst du die ganze Welt mit allumfassender Liebe umspannen. Liebet die Tiere, denn Gott hat ihnen den Urgrund des Denkens und harmlose Freudigkeit verliehen. Stört sie nicht, quält sie nicht, nehmet ihnen nicht die Freude, handelt dem Gedanken Gottes nicht zuwider. Der Mensch überhebe sich nicht den Tieren gegenüber, sie sind sündlos, du aber, Mensch, mit deiner Größe, du versetzest mit deinem Erscheinen die Erde in Fäulnis und läßt Spuren der Verwesung hinter dir, und leider tut das fast jeder von uns! Besonders liebet aber die Kinder, denn sie sind sündlos wie Engel. Sie leben zu unserer Freude, zur Reinigung unserer Herzen als Hinweis und Beispiel für uns. Wehe dem, der ein Kind kränkt. Mich lehrte der Pater Anfim die Kinder lieben; er ist gut und schweigsam. Auf unserer Wanderschaft kaufte er ihnen für die wenigen Kopeken, die man ihm schenkte, Pfefferkuchen und Zuckerwerk; er konnte an ihnen nicht vorübergehen, ohne daß sein Herz erbebte. So ist der Mensch. Vor gar manchem Gedanken bleibt man im Zweifel befangen stehen, besonders wenn man die Sünden der Menschen sieht, und man fragt sich: „Soll man es mit Gewalt anfassen oder mit demütiger Liebe?“ Entscheide dich immer für „demütige Liebe.“ Wenn du dich ein für allemal dazu entschlossen hast, so wirst du die ganze Welt bezwingen. Die „demütige Liebe“ ist eine furchtbare Kraft; sie ist die allergrößte Kraft, und ihresgleichen gibt es nicht. Jeden Tag, jede Stunde und jede Minute gib acht auf dich, damit dein Antlitz rein sei. Wenn du böse mit einem schlechten Wort und haßerfüllter Seele an einem Kinde vorbeigehst, das du vielleicht nicht einmal beachtet hast, und es sieht dein häßliches und verzerrtes Antlitz – siehe, so prägt es sich in sein schutzloses Herzchen ein. Du weißt es nicht einmal und hast doch Schlechtes in sein Herz gesät, und der schlechte Same wird aufgehen, und das alles nur, weil du in der Gegenwart des Kindes nicht auf dich acht gegeben hast, und weil du keine umsichtige und tatkräftige Liebe in deinem Herzen hegtest. Brüder, die Liebe ist eine große Lehrerin, man muß verstehen, sie zu erwerben; das aber ist sehr schwer – man muß sie teuer erkaufen durch lange andauernde Arbeit, denn nicht zufällig und auf einen Augenblick muß man lieben, sondern fortwährend und ewig. Zufällig kann jeder lieben, sogar der Bösewicht kann zufällig lieben. Mein Bruder bat die Vöglein um Verzeihung. Das scheint einem sinnlos, und doch tat er recht, denn alles ist wie ein Ozean, alles fließt und berührt sich. An einem Ende der Welt verursachst du eine Bewegung, und am anderen Ende der Welt hallt sie wider. Mag es sinnlos sein, die Vöglein um Verzeihung zu bitten, doch den Vögeln, den Kindern, ja, allen Tieren wäre es leichter in deiner Nähe, wenn du selbst besser und begeisterter wärest, und wenn auch nur um ein wenig mehr als sonst. Alles ist wie ein Ozean, sage ich euch. Wärest du besser, so würdest du auch zu den Vöglein beten, in Begeisterung und Verzückung, gequält von deiner allumfassenden Liebe, und du würdest bitten, daß sie dir deine Sünde verzeihen. Halte fest deine Begeisterung, wie sinnlos sie den Menschen auch scheine.

Meine Freunde, bittet Gott um Fröhlichkeit, seid fröhlich wie die Kinder, wie die Vögel des Himmels. Und die Sünde der Menschen soll euch nicht bekümmern in eurer Tätigkeit, und fürchtet euch nicht, daß sie euch an der Vollendung eurer Tat hindern könnte, saget nicht: „Stark ist die Sünde, stark ist die Ehrlosigkeit, stark ist die schlechte Umgebung, wir stehen allein und sind machtlos, die schlechten Einflüsse werden uns verderben und uns an der Vollendung unseres guten Werkes hindern.“ Laßt solch eine Verzagtheit fern von euch sein, meine Kinder! Dafür gibt es nur eine Rettung. Mache dich selbst für die Sünden der Menschen verantwortlich. Ja, mein Freund, es ist in Wahrheit so, wenn du dich nur aufrichtig für alle und alles verantwortlich machst, so wirst du auch einsehen, daß es in der Tat so ist, daß du allen gegenüber für alle schuldig bist. Wenn du aber deine Faulheit und deine Ohnmacht den Menschen zur Last legst, so wirst du in satanischen Hochmut verfallen und wider Gott murren. Vom satanischen Hochmut denke ich folgendes: Es ist schwer, ihn hier auf Erden immer zu erkennen, darum können wir ihm so leicht verfallen, selbst wenn wir meinen, groß und gut zu handeln. Ja, viele der stärksten Regungen und Gefühle unserer Natur können wir, solange wir auf Erden sind, nicht durchschauen und erkennen, aber lasse dich nicht verführen zu denken, daß das zu deiner Rechtfertigung dienen könnte, denn der ewige Richter fragt dich nicht nach dem, was du nicht erreichen, sondern nach dem, was du erreichen konntest. Du wirst dich noch selbst davon überzeugen, wenn du das berücksichtigst, und du wirst alles richtig erkennen und mit niemandem mehr hadern. Wahrlich wir irren auf der Erde herum, und wenn wir das Vorbild Christi nicht hätten, so würden wir uns gänzlich verirren und schließlich umkommen wie das Menschengeschlecht vor der Sintflut. Vieles auf der Erde ist uns verborgen, dafür ist uns aber das geheimnisvolle Bewußtsein der lebendigen Bande mit einer anderen Welt verliehen, mit einer höheren und erhabeneren Welt, denn unsere Gedanken und Gefühle hier auf Erden wurzeln in anderen Welten. Darum behaupten auch die Philosophen, daß man das Wesen der Dinge hier auf Erden nicht erkennen könne. Gott nahm die Samen, die er auf unsere Erde säte, aus anderen Welten, und es erwuchs ihm sein Garten, und alles ist aufgegangen, was aufgehen konnte, und alles, was wahrhaft lebendig ist, ist nur durch das Bewußtsein der Berührung mit den anderen geheimnisvollen Welten lebendig; wenn sich dieses Gefühl abschwächt, oder wenn es abstirbt, so stirbt auch das Lebendige in dir. Dann wirst du auch dem Leben gegenüber gleichgültig und kannst es sogar hassen. Also denke ich.

h) Kann man Richter über seinesgleichen sein? Vom Glauben bis ans Ende

Vergiß vor allem nicht, daß du niemandes Richter sein kannst. Es kann niemand auf Erden eher ein Richter eines Verbrechers sein, als bis er eingesehen hat, daß er genau solch ein Verbrecher ist wie dieser, der vor ihm steht, und daß er am Verbrechen des vor ihm Stehenden mehr als Alle schuld ist. Wenn er das erkannt hat, dann erst kann er Richter sein. Wie unsinnig das auch scheinen mag, so ist es doch die einzige Wahrheit. Denn wäre ich selbst gerecht, so stünde vielleicht vor mir kein Verbrecher. Vermagst du aber das Verbrechen des vor dir stehenden und des von deinem Herzen verurteilten Verbrechers auf dich zu nehmen, so tue es, ohne zu zögern, und leide für ihn; ihn selbst aber entlasse ohne jegliche Vorwürfe. Und wenn das Gesetz dich selbst zum Richter über ihn bestimmt, so sollst du in diesem Sinne wirken, denn er wird fortgehen und sich viel bitterer noch verurteilen, als das Gericht es vermocht hätte. Geht er aber deiner Güte unempfindlich fort und lacht er über dich, so ärgere dich nicht darüber, denn das bedeutet nur, daß seine Zeit noch nicht gekommen ist. Und sollte sie auch nie für ihn kommen, so ist es gleichgültig. Wenn nicht er, so wird ein anderer erkennen und erleiden und wird sich selbst verurteilen und beschuldigen, und so wird dem Recht Genüge getan werden. Glaube daran, glaube unverbrüchlich daran, denn gerade hierin liegt die ganze Zuversicht und der ganze Glaube der Heiligen.

Wirke unermüdlich. Wenn du in der Nacht aus dem Schlafe erwachst und dir sagen mußt: „Ich habe nicht getan, was ich hätte tun sollen,“ so erhebe dich sofort und tue es. Wenn dich böse und gefühllose Menschen umgeben und über dich lachen und dich nicht hören wollen, so falle vor ihnen nieder und bitte sie um Vergebung, denn du bist in Wahrheit selbst schuld daran, daß sie dich nicht anhören wollen. Wenn du aber mit den Verbitterten nicht mehr reden kannst, so diene ihnen schweigend und in Demut, ohne je deine Hoffnung zu verlieren. Wenn aber alle dich verlassen und mit Gewalt dich von sich stoßen und dich von allem ausschließen, so falle zur Erde nieder und küsse die Erde, netze sie mit deinen Tränen, und die Erde wird aus deinen Tränen Frucht bringen, obgleich dich niemand gesehen noch gehört hat in deiner Einsamkeit. Glaube bis ans Ende, und wenn es auch sein sollte, daß alle sich vom Glauben abwendeten und nur du allein treu bliebest, so bringe auch dann deine Opfer und lobe Gott. Und wenn sich dann noch einer wie du zu dir gesellt – siehe, dann ist bei euch die ganze Welt, die Welt der lebendigen Liebe: umarmt euch beide in Begeisterung und lobet Gott, denn, wäre es auch nur in euch beiden, so hat sich doch die Wahrheit Gottes bewährt.

Wenn du selbst sündigst und zu Tode betrübt bist wegen deiner Sünden, oder wenn du plötzlich in Sünde verfällst, so freue dich über den anderen, über den Gerechten, freue dich, daß, während du sündigtest, er gerecht blieb.

Wenn die Bosheit der Menschen dich bis zum Unmut und unerträglichen Kummer aufreizt, so daß in dir der Wunsch sich erhebt, Rache an den Bösewichtern zu nehmen, so fürchte dich am meisten vor diesem Gefühl, gehe sofort und suche dir Qualen, als wenn du allein an der Bosheit der Menschen schuldig wärest. Nimm die Qualen auf dich und erleide sie, und dein Herz wird sich beruhigen, und du wirst verstehen, daß du selbst schuld hast, denn du hättest als einziger Reiner den Bösewichtern leuchten können, und du hast nicht geleuchtet. Wenn du aber hättest leuchten können, so hättest du mit deinem Licht anderen den Weg erleuchtet, und derjenige, der die böse Tat vollführt hat, hätte sie in deinem Lichte unterlassen. Und selbst, wenn du ihnen geleuchtet hättest, und wenn du siehst, daß du die Menschen mit deinem Licht nicht retten kannst, so verzweifle nicht an der Kraft des himmlischen Lichtes; glaube daran, daß es sie, wenn nicht jetzt, so doch später retten wird. Wenn aber auch sie nicht gerettet werden, so werden es ihre Kinder, denn dein Licht stirbt nicht, wenn auch du schon gestorben bist. Der Gerechte geht dahin, doch sein Licht bleibt. Sie bekehren sich ja immer erst nach dem Tode des Bekehrers. Das Menschengeschlecht erkennt seine Propheten nicht an und läßt sie umkommen, aber seine Märtyrer liebt es und diejenigen, die seinetwegen gepeinigt wurden. Du arbeitest für das Ganze, du schaffst für das Kommende. Lohn suche du nie, denn ohnehin ist dein Lohn hier auf Erden groß: diese Freudigkeit im Geiste erlangt nur der Gerechte. Fürchte nicht den Vornehmen und nicht den Mächtigen, und sei immer ein Weiser und Begeisterter.

Halte Maß und halte die Frist ein und lerne erkennen. Wenn du allein bleibst, so bete. Liebe die Erde und bedecke sie mit deinen Küssen. Küsse die Erde unermüdlich, liebe unersättlich, liebe alle und liebe alles, suche die Begeisterung und die Ekstase der Liebe. Benetze die Erde mit deinen Tränen der Freude und liebe diese deine Tränen. Und halte diese deine Begeisterung hoch, denn sie ist ein großes Geschenk Gottes, das nicht vielen verliehen wird, sondern nur den Auserwählten.

i) Von der Hölle und vom höllischen Feuer.
Eine mystische Betrachtung

Meine Väter und Lehrer, was ist die Hölle? Ich denke, sie ist der Schmerz darüber, daß man nicht mehr zu lieben vermag. Nur einmal wird im unendlichen Sein, außerhalb von Zeit und Raum, einem geistigen Wesen mit seinem Erscheinen auf der Erde die Fähigkeit verliehen, sich zu sagen: „Ich bin, und ich liebe.“ Einmal, nur einmal war ihm der Augenblick tätiger, lebendiger Liebe und dazu ein Leben hier auf Erden gegeben worden, und mit ihm Zeit und Gelegenheit. Dieses glückliche Wesen aber wies diese unschätzbare Gabe von sich, schätzte sie nicht, liebte nicht, spottete der Liebe und blieb gefühllos. Nachdem dieses Wesen gefühllos von der Erde geschieden war, schaute es Abrahams Schoß und redete mit Abraham, wie uns das Gleichnis vom Reichen und von Lazarus lehrt, und schaute das Paradies und konnte zum Herrn eingehen. Da fing es den Abgeschiedenen zu quälen an, daß er zum Herrn kommt, ohne geliebt zu haben, und mit denen zusammen treffen muß, die er zu lieben verschmäht hatte. Denn nun sah er klar und sagte zu sich selbst: „Jetzt habe ich die Erkenntnis, aber wie es mich auch dürstet zu lieben, ich kann meine Liebe jetzt doch nicht mehr betätigen, kann ihr kein Opfer mehr bringen, denn mein Erdenleben ist nun zu Ende, und Abraham wird nicht kommen, um auch nur mit einem Tropfen lebendigen Wassers (das wäre die Verleihung des früheren tätigen Erdenlebens) die Flamme meines Liebesdurstes zu kühlen, in der ich jetzt brenne, nachdem ich auf Erden zu lieben verschmäht hatte. Zeit und Leben gibt es jetzt nicht mehr. Froh wäre ich, mein Leben für andere hinzugeben, aber auch das kann ich ja nicht mehr, denn vorüber ist dieses Leben, das ich der Liebe hätte zum Opfer bringen können, und jetzt liegt ein Abgrund zwischen jenem Leben und diesem Sein.“ Man spricht vom Höllenfeuer im materiellen Sinne; ich will dieses Mysterium nicht erforschen und fürchte mich davor, aber wenn es wirklich eine materielle Flamme geben sollte, so könnte man sich in Wahrheit darüber freuen, denn ich denke daß eine physische Qual doch auf einen Augenblick die viel schrecklichere geistige Qual vergessen macht. Und die Menschen von dieser seelischen Qual zu erlösen, das ist unmöglich, denn es ist keine äußere, sondern eine innere Qual. Und wenn es möglich wäre, sie ihnen zu nehmen, so, denke ich, würden sie nur noch bitterer leiden. Denn wenn die Gerechten aus dem Paradiese beim Anblick ihrer Qualen ihnen auch verzeihen und sie in ihrer unendlichen Liebe zu sich nehmen würden, so würden sie damit ihre Qualen nur vergrößern und die Flamme ihres Durstes nach tätiger Liebe, die ihnen nicht mehr möglich ist, nur noch anfachen. In der Schüchternheit meines Herzens denke ich indessen, daß gerade das Bewußtsein dieser Unmöglichkeit ihnen schließlich zur Erleichterung dienen müßte, denn indem sie die Liebe der Gerechten, ohne sie erwidern zu können, annehmen müssen, werden sie in ihrer Demut und Ergebung ein Abbild der tätigen Liebe, die sie auf der Erde verschmäht haben, oder eine ihr ähnliche Betätigung finden ... Ich bedaure es, meine Brüder und Freunde, daß ich mich darüber nicht klarer auszudrücken vermag, aber wehe denen, die auf Erden sich selbst vernichteten, wehe den Selbstmördern! Ich denke, unglücklicher als diese kann keiner mehr werden. Uns wird verboten, für sie zu beten, und die Kirche wendet sich öffentlich von ihnen ab. Ich aber denke im Geheimen meiner Seele, daß man auch für sie beten kann. Um der Liebe willen wird Christus nicht zürnen. Für diese habe ich innerlich mein ganzes Leben lang gebetet, das vertraue ich euch an, meine Väter und Lehrer, und noch jetzt bete ich für sie jeden Tag.

Oh, in der Hölle gibt es auch solche, die stolz und grausam gelebt haben, trotz ihrer Erkenntnis der ganzen Wahrheit; sie sind furchtbar, die sich ganz und gar und auf immer dem Satan ergeben haben, und seinem stolzen Geiste. Für diese ist die Hölle etwas Freiwilliges und Unersättliches; sie sind aus eigenem freien Willen Märtyrer, und sie verfluchen sich selbst, indem sie Gott und das Leben verfluchen. Sie nähren sich von ihrem böswilligen Hochmut, wie ein Verhungernder in der Wüste sein Blut aus dem eigenen Körper aussaugt. Sie sind unersättlich bis in alle Ewigkeit. Sie weisen die Vergebung Gottes zurück und fluchen Gott, der sie ruft. Den lebendigen Gott können sie nicht ohne Haß erkennen, und sie verlangen, daß man das Leben Gottes vernichte, daß Gott sich selbst und seine ganze Schöpfung vernichte. Und sie werden ewig im Feuer ihres Zornes schmachten und nach Tod und Nichtsein verlangen. Doch nie wird der Tod ihnen Erlösung bringen.

Hier endigt die Handschrift Alexei Fedorowitsch Karamasoffs. Ich wiederhole, daß sie nicht vollständig, sondern nur bruchstückartig ist. Die lebensgeschichtlichen Nachrichten umfassen nur die erste Jugend des Staretz. Seine Bekenntnisse und Meinungen sind wohl zu einem Ganzen zusammengestellt, doch sind sie zu ganz verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Anlässen ausgesprochen worden. Alles, was der Staretz in seinen letzten Stunden geredet hat, ist nicht Wort für Wort wiedergegeben. Man erhält nur einen Begriff von Geist und Art seiner Unterhaltung, der sich aus dem Zusammenhange mit seinen früheren Gesprächen, die in der Handschrift Alexei Fedorowitschs angegeben sind, ganz von selbst ergibt. Der Tod des Staretz kam in der Tat ganz unerwartet. Wenn auch alle, die an jenem Abend versammelt waren, wußten, daß sein Tod nahe war, so hatten sie doch keineswegs erwartet, daß er so plötzlich eintreten werde. Im Gegenteil, seine Freunde waren, wie ich schon vorhin bemerkte, überzeugt, da sie ihn in dieser Nacht so munter und gesprächig sahen, daß sein Gesundheitszustand sich gebessert habe, und wäre es auf kurze Zeit. Wie sie später mit Verwunderung berichteten, hatten sie noch fünf Minuten vorher sein nahes Ende nicht geahnt. Doch plötzlich fühlte er, sagten sie, einen starken Schmerz in der Brust: er erbleichte und preßte seine Hand aufs Herz. Alle erhoben sich von ihren Plätzen und drängten sich zu ihm heran; er aber, obgleich er litt, sah sie noch alle mit einem Lächeln an, ließ sich vom Sessel auf den Fußboden gleiten und kniete nieder; darauf beugte er sein Haupt bis auf die Erde, breitete die Arme aus, und als hätte er in freudiger Begeisterung die Erde geküßt und dazu gebetet, wie er selbst gelehrt hatte, so ging sein Geist ruhig und freudig in die Ewigkeit ein. Die Nachricht von seinem Tode verbreitete sich sofort in der Einsiedelei und gelangte auch ins Kloster. Diejenigen, die ihm am nächsten gestanden, und diejenigen, denen es ihrem Range nach zukam, kleideten die Leiche nach altem Brauch. Die ganze Brüderschaft versammelte sich darauf in der Hauptkirche. Und schon vor Tagesanbruch hatte sich das Gerücht vom Tode des Staretz auch in der Stadt verbreitet. Schon am Morgen sprach die ganze Stadt vom Ereignis, und eine Menge Menschen strömte hin zum Kloster. Aber davon will ich im nächsten Buche erzählen, jetzt jedoch möchte ich nur im voraus erwähnen, daß noch nicht ein Tag vergangen war, als sich etwas ganz Unerwartetes ereignete, etwas, das im Kloster wie in der Stadt einen so sonderbaren Eindruck hinterließ, daß man selbst jetzt noch, nach so vielen Jahren, in unserem Städtchen eine außerordentlich lebhafte Erinnerung an diesen für viele so aufregenden Tag bewahrt.

Siebentes Buch.
Aljoscha

I.
Der Verwesungsgeruch

Die Leiche des entschlafenen Staretz Sossima wurde zur Bestattung in der vorgeschriebenen Weise hergerichtet. Die verstorbenen Mönche und Einsiedler werden bekanntlich nicht gewaschen, denn es heißt im großen Ritualbuch: „Wenn jemand von den Mönchen zum Herrn eingeht, so reibe der dazu auserwählte Mönch den Körper des Entschlafenen mit warmem Wasser ab, wobei er mit dem Schwamme (mit einem griechischen Schwamme) auf die Stirn, auf die Brust, auf die Hände, Füße und Knie des Verstorbenen das Zeichen des Kreuzes mache, und das sei alles.“ Beim Staretz Sossima verrichtete diesen letzten Liebesdienst Pater Paissij eigenhändig. Nach der Abreibung zog er ihm das Mönchsgewand an und legte ihm den Priestermantel um, wozu er diesen, wie es die Vorschrift verlangt, etwas einschnitt, um damit die Leiche kreuzweise umwickeln zu können. Über den Kopf der Leiche zog er die Kapuze mit dem achtarmigen Kreuz. Doch wurde die Kapuze offen gelassen und das Gesicht mit schwarzem Flor bedeckt. In die Hände des Entschlafenen legte man ein Bild des Heilands. So wurde er gegen Morgen in seinen Sarg gebettet, der schon lange für ihn bereit gestanden hatte. Den Sarg beabsichtigte man aber den ganzen Tag in der Zelle stehen zu lassen, in demselben ersten größeren Zimmer, in dem der Verstorbene seine Gäste empfangen hatte. Da der Staretz ein höheres Gelübde als die anderen Priestermönche abgelegt hatte, so mußten diese wie auch die Priesterdiakonen an seinem Sarge nicht die Psalmen, sondern die Evangelien lesen. Gleich nach der Seelenmesse begann Pater Jossiff mit dem Lesen, da Pater Paissij den ganzen Tag und die ganze Nacht lesen wollte. Vorläufig jedoch war er sowohl, wie der Vorsteher der Einsiedelei, zu beschäftigt und mit anderem in Anspruch genommen. Es tat sich nämlich, je länger desto mehr, unter den Klosterbrüdern und auch unter den Weltlichen, die aus der Stadt in Scharen herbeiströmten, eine außergewöhnliche, ja sogar unerhört „ungebührliche“ Aufregung und ungeduldige Erwartung kund. Der Vorsteher und Pater Paissij taten alles, um die erregten Gemüter zu beruhigen. Als es Tag wurde, kamen aus der Stadt sogar Kranke, die noch andere Kranke herbeischleppten, besonders ihre kranken Kinder, als hätten sie dazu gerade diesen Tod abgewartet. Augenscheinlich hofften sie auf eine Heilkraft, die, wie sie glaubten, nicht ausbleiben und sich vielleicht unverzüglich nach dem Verscheiden des Staretz an seinem Sarge kundtun werde. Da sah man denn wieder einmal, wie sich alle bei uns daran gewöhnt hatten, den entschlafenen Staretz schon bei Lebzeiten für einen unzweifelhaft großen Heiligen zu halten. Und es waren das durchaus nicht nur Leute aus dem einfachen Volke, die mit ihren Kranken ankamen. Diese ungeheure Erwartung der Gläubigen äußerte sich fast wie eine Forderung, und zwar so unverhohlen, daß sie für Pater Paissij geradezu etwas Anstößiges hatte. Wohl hatte er Ähnliches vorausgefühlt. Aber dieser Andrang übertraf denn doch seine Erwartungen. Den aufgeregten Mönchen, denen er begegnete, sagte er daher mit ernstem Tadel: „Die Erwartung eines höheren Ereignisses so unverhohlen zu zeigen, ist eine Leichtfertigkeit, die höchstens bei einem Weltlichen verzeihlich wäre, sich für uns aber nicht geziemt.“ Doch man hörte wenig auf ihn, was er selbst sehr gut merkte und sich auch mit Unruhe im Herzen eingestand. Auch mußte er sich sagen, und es wäre nicht recht, dies hier zu verheimlichen, daß er bei sich in der Tiefe seines Herzens fast dasselbe erwartete, obschon er in der allzu aufdringlichen Erwartung der anderen nichts als Leichtsinn sah. Einige von den Gesichtern, die er in der Zelle erblickte, waren ihm ganz besonders unangenehm; sie erweckten in ihm ein gewisses Vorgefühl und peinliche Bedenken. So bemerkte er in der Zelle des Entschlafenen unter den sich herbeidrängenden Klosterbrüdern geradezu mit einem seelischen Widerwillen (worüber er sich selbst Vorwürfe machte) die Anwesenheit Rakitins und des Mönches aus dem fernen Obdorskschen Kloster, der sich immer noch bei ihnen aufhielt; alle beide schienen sie dem Pater irgendwie verdächtig, obgleich sie nicht die einzigen waren, die man hätte verdächtigen können. Der Obdorsksche Mönch fiel unter den übrigen Aufgeregten durch seine ganz besondere Geschäftigkeit auf: man konnte ihn überall antreffen, und überall hatte er etwas zu fragen und zu horchen, überall flüsterte er etwas mit geheimnisvoller Miene. Der Ausdruck seines Gesichtes war ungeduldig, und er schien sehr ungehalten darüber zu sein, daß das Erwartete noch immer nicht eintraf. Was aber Rakitin anbelangt, so war er im besonderen Auftrage Frau Chochlakoffs so früh in der Einsiedelei erschienen. Diese gute, doch leider charakterschwache Dame, die in die Einsiedelei nicht zugelassen werden konnte, war, als sie kaum erwacht und die Nachricht vom Tode des Staretz vernommen hatte, von einer so unbezwingbaren Neugier ergriffen worden, daß sie sofort Rakitin beauftragt hatte, an ihrer Stelle alles zu beobachten und sie „brieflich sofort und in jeder halben Stunde von allem zu unterrichten“. Sie hielt Rakitin für einen sehr gottesfürchtigen und gläubigen jungen Mann – so gut verstand er es, mit den Menschen umzugehen und sich jedem nach Wunsch anzupassen, wenn er darin nur den kleinsten Vorteil für sich erblickte.

Der Tag war klar und hell, und von den anwesenden Pilgern versammelten sich viele an den Gräbern der Einsiedelei, die am zahlreichsten in der Nähe der Kirche lagen, aber auch sonst in der ganzen Einsiedelei verstreut waren. Pater Paissij erinnerte sich plötzlich, als er durch die Einsiedelei schritt, Aljoschas, und es fiel ihm auf, daß er ihn schon lange, fast seit der Nacht, nicht mehr gesehen hatte. Kaum aber hatte er an ihn gedacht, als er ihn auch schon in der entferntesten Ecke der Einsiedelei, am Zaun, bemerkte, sitzend, auf dem Grabstein eines in hohem Alter verstorbenen Mönches, der seiner Taten wegen weit bekannt war. Er saß mit dem Rücken zur Einsiedelei, das Gesicht dem Zaune zugekehrt, als wolle er sich hinter dem Denkmal verbergen. Als Pater Paissij sich ihm näherte, bemerkte er, daß Aljoscha sein Gesicht mit beiden Händen bedeckt hielt und bitterlich weinte. Er zitterte vor Schluchzen am ganzen Körper. Pater Paissij blieb eine Weile bei ihm stehen.

„Genug, mein lieber Sohn, laß gut sein, mein Freund,“ sagte er schließlich mitleidig zu ihm. „Warum tust du das? Freue dich und weine nicht! Oder weißt du denn nicht, daß von allen Tagen dieser sein größter Tag ist? Wo ist er denn jetzt, in diesem Augenblick? Vergegenwärtige es dir nur!“

Aljoscha erhob sein Gesicht, das, wie bei einem kleinen Kinde, von den Tränen ganz geschwollen war; doch ohne ein Wort hervorzubringen, wandte er sich wieder um und bedeckte es von neuem mit seinen Händen.

„Nun, meinetwegen,“ sagte Pater Paissij nachdenklich, „meinetwegen, weine denn, Christus hat dir diese Tränen geschickt. Diese Tränen der Rührung dienen nur zur Erhöhung deiner Seele und zur Erheiterung deines lieben Herzens,“ fügte er noch bei sich hinzu, als er Aljoscha verließ und liebevoll an ihn dachte. Übrigens beeilte er sich, von ihm fortzukommen, denn er fühlte, daß er sonst gleichfalls zu weinen anfangen werde. Inzwischen verging die Zeit; die Feierlichkeiten und Seelenmessen nahmen ordnungsgemäß ihren Fortgang. Pater Paissij traf wieder Pater Jossiff am Sarge des Verstorbenen an und löste ihn jetzt im Evangelienlesen ab. Es war aber noch nicht drei Uhr nachmittags geworden, als sich etwas ereignete, was ich schon am Ende des vorigen Buches erwähnt habe, etwas uns allen so Unerwartetes und das außerdem noch so entgegengesetzt der allgemeinen Zuversicht war, daß, ich wiederhole es, die ausführlichsten und albernsten Legenden von diesem Ereignisse sich bis auf den heutigen Tag in bewundernswert frischer Erinnerung, sowohl in unserer Stadt, als in der ganzen Umgegend, erhalten haben. Ich füge hier noch einmal von mir persönlich hinzu, daß es mir widerwärtig ist, dieses albernen, ärgerlichen und im Grunde genommen leeren und selbstverständlichen Ereignisses Erwähnung zu tun, und ich würde es bestimmt unterlassen, wenn es nicht auf die Seele und das Herz des späteren Haupthelden meiner Erzählung, Aljoscha, in gewisser Weise einen so außerordentlichen Einfluß gehabt hätte. Dies Ereignis führte gleichsam zu einem Bruch in seiner Seele, zu einem Wendepunkt in seinem Leben, und es festigte seinen Geist, indem es ihn zum erstenmal auf ein bewußtes Ziel hinwies.

Als man noch vor Tagesanbruch die zur Bestattung bereitete Leiche des Staretz in den Sarg legte und ihn in das erste Zimmer, in dem er früher empfangen hatte, brachte, da wurde unter den Anwesenden die Frage laut, ob es nötig wäre, das Fenster des Zimmers zu öffnen? Diese Frage, die irgend jemand nur beiläufig gestellt hatte, wurde nicht weiter beachtet und blieb ohne Antwort. Wenn man sie auch allgemein gehört hatte, so war sie höchstens von einigen der Anwesenden als Abgeschmacktheit bemerkt worden, da allen die Voraussetzung, die Leiche dieses Entschlafenen könne verwesen und ihr daher Verwesungsgeruch entströmen, eine Annahme zu sein schien, die nur Bedauern, wenn nicht Spott verdiene. So blieb die Frage unbeantwortet, da sie doch nur tadelnswerter Kleingläubigkeit entsprungen sein konnte. Man erwartete durchaus das Gegenteil. Und siehe, bald nach dem Mittag begann etwas, was von den Ein- und Ausgehenden zuerst nur schweigend und für sich im stillen bemerkt wurde, da jeder sich fürchtete, dem anderen seinen aufsteigenden Gedanken mitzuteilen – etwas, das sich aber um drei Uhr nachmittags schon so deutlich und unzweifelhaft bemerkbar machte, daß die Nachricht davon sich im Augenblick durch die ganze Einsiedelei und unter allen Pilgern und Gästen verbreitete und sogleich auch ins Kloster drang und die Verwunderung aller Mönche hervorrief. In kurzer Zeit erreichte sie auch die Stadt, wo sie alle, Gläubige wie Ungläubige, in höchste Aufregung versetzte. Die Ungläubigen freute es, und was die Gläubigen anbelangt, so fanden sich viele unter ihnen, die sich noch mehr darüber freuten als die Ungläubigen, denn: „die Menschen lieben den Fall des Gerechten und seine Schmach,“ wie der verstorbene Staretz mehr als einmal in seinen Unterweisungen gesagt hatte. Die Sache war kurz folgende: In der kleinen Zelle, in der der Tote aufgebahrt lag, begann sich mit der Zeit immer mehr Verwesungsgeruch bemerkbar zu machen, zuerst natürlich nur sehr wenig, doch um drei Uhr nachmittags war ein Zweifel nicht mehr möglich, und dabei nahm der Geruch immer noch zu. Ein solches Ärgernis, wie es sich jetzt auf so grobe Weise kundtat, war schon lange nicht mehr vorgekommen, ja aus der ganzen Vergangenheit unseres Klosters konnte man sich keines ähnlichen Falles erinnern. Die Folgen dieses Ereignisses waren fast unglaublich. Später, nach vielen Jahren, konnten sich einige unserer vernünftigeren Mönche, wenn sie sich dieses Tages bis in alle Einzelheiten erinnerten, nicht genug darüber wundern, wie dieses Ärgernis in solchem Maße hatte um sich greifen können. Denn auch früher schon war es vorgekommen, daß den Leichen mancher Mönche, die einen reinen und gerechten Lebenswandel geführt hatten und als gottesfürchtige Startzen gestorben waren, trotzdem Verwesungsgeruch entströmt war, ohne daß dadurch Ärger oder die geringste Aufregung hervorgerufen worden wäre. Freilich hatte es in unserem Kloster auch einige gegeben, die in hohem Alter verstorben waren, und von deren Leichen nach der Überlieferung kein Verwesungsgeruch ausgegangen sei. Diese Überlieferungen machten einen geradezu mysteriösen Eindruck auf die Brüderschaft, und die Mönche bewahrten sie im Gedächtnis wie etwas Herrliches und Wunderbares, wie die Verheißung eines noch größeren Ruhmes, der in Zukunft aus den Gräbern dieser „Heiligen“ aufsteigen werde, „wenn nach dem Willen Gottes die Zeit dazu kommt“. Besonders lebendig war das Andenken an den Staretz Hiob, der erst mit hundertundfünf Jahren gestorben und ein berühmter Glaubenseiferer, ein großer Faster und Schweiger gewesen war. Er war schon zu Anfang dieses Jahrhunderts gestorben, und sein Grab wurde mit besonderer und außerordentlicher Hochachtung allen zum erstenmal ins Kloster gekommenen Pilgern gezeigt, und geheimnisvoll wurde an ihm mancher großen Hoffnung Erwähnung getan. Es war dies dasselbe Grab, auf dem Pater Paissij Aljoscha sitzend angetroffen hatte. Wie an diesen an Altersschwäche verstorbenen Startzen, war auch die Erinnerung an einen vor nicht allzulanger Zeit verstorbenen Startzen, den großen Staretz Warssonofij, noch lebendig, denselben, von dem der Staretz Sossima die Startzenwürde übernommen hatte, und der noch bei Lebzeiten von allen das Kloster besuchenden Pilgern für schwachsinnig gehalten worden war. Von diesen beiden erhielt sich die Überlieferung, daß sie in ihren Särgen wie Lebende gelegen hätten, daß sie ganz unverwest begraben worden wären, und daß ihr Antlitz im Sarge geradezu geleuchtet habe. Manche wollten sich sogar noch auf das bestimmteste erinnern, daß ihren Leichnamen Wohlgeruch entströmt sei. Aber ungeachtet aller dieser Erinnerungen, ist doch schwer, zu erklären, warum beim Sarge des Staretz Sossima eine so alberne und boshafte Erregung sich kundtat. Was meine persönliche Meinung anbelangt, so meine ich, daß hierbei die verschiedensten Gründe und Ursachen zusammentrafen: wie zum Beispiel die eingewurzelte Feindschaft gegen das Startzentum, als eine schädliche Neuerung, wie sie im Kloster und in den Köpfen und Herzen vieler Mönche gehegt wurde. Dann freilich war es hauptsächlich der Neid auf die Heiligkeit des Entschlafenen, an die schon zu dessen Lebzeiten so fest geglaubt wurde, daß es geradezu verboten schien, dagegen zu sprechen. Denn obgleich der selige Staretz – nicht so sehr durch Wunder, als gerade durch Liebe – so viele an sich gezogen und um sich eine ganze Welt von Liebe geschaffen hatte, so hatte er sich nichtsdestoweniger, oder sogar gerade dadurch um so mehr Neider und infolgedessen auch erbitterte Feinde, offene und geheime, und nicht nur unter den Mönchen, sondern auch unter den Weltlichen geschaffen. Niemandem hatte er etwas Böses getan. Aber siehe da, es hieß doch: „Warum wird er für heilig gehalten?“ Schon allein diese eine Frage schuf, da sie immer von neuem wiederholt wurde, einen ganzen Abgrund von unersättlicher Bosheit. Darum glaube ich, daß viele, als sie von der Verwesung seines Körpers hörten und von der Schnelligkeit, mit der sie eintrat – es war noch nicht ein Tag nach seinem Verscheiden vergangen – sich unbändig freuten. Unter denen aber, die dem Staretz ergeben waren und ihn bis dahin geachtet hatten, gab es auch solche, die sich durch dieses Ereignis fast persönlich gekränkt und beleidigt fühlten. Die Begebenheiten trugen sich folgendermaßen zu.

Kaum hatte sich der Verwesungsgeruch bemerkbar gemacht, so konnte man schon am Mienenspiel der Mönche, die in die Zelle des Entschlafenen eintraten, erkennen, warum sie kamen. Sie traten ein, blieben eine Weile stehen, und beeilten sich dann, so schnell als möglich den anderen, der draußen wartenden Menge, die Nachricht zu bestätigen. Die einen von den Wartenden wiegten kummervoll das Haupt, andere aber konnten ihre Genugtuung nicht mehr verbergen, und die Schadenfreude sprach triumphierend aus ihren boshaften Blicken. Und niemand rügte sie, niemand wollte ein gutes Wort für den Toten einlegen, was doch sonderbar war, denn dem entschlafenen Staretz war immerhin über die Hälfte der Klosterbrüderschaft ergeben gewesen. Die Vorsehung aber schien selbst zu wollen, daß die Minderheit die Oberhand behielt. In kurzer Zeit erschienen in der Zelle auch weltliche Spione, die Gebildeten, die Klostergäste. Das einfache Volk ging nicht hinein, wenn es auch an der Pforte der Einsiedelei in ganzen Scharen gedrängt stand. Wahr ist, daß nach drei Uhr nachmittags, als die ärgerliche Nachricht sich schon verbreitet hatte, der Besuch der weltlichen Gäste sehr zunahm. Viele von den Weltlichen, die an diesem Tage vielleicht gar nicht erschienen wären und sogar überhaupt nicht die Absicht gehabt hatten, ins Kloster zu fahren, waren jetzt aus Neugier gekommen; unter ihnen befanden sich auch einige Persönlichkeiten von höherem Range. Übrigens wurde äußerlich der Anstand noch nicht verletzt, und Pater Paissij fuhr fort, mit strengem Gesicht und lauter Stimme fest und vernehmlich die Evangelien zu lesen, obgleich er schon lange die Unruhe um sich bemerkt hatte. Und schließlich drangen die Stimmen auch bis zu seinen Ohren, zuerst nur leise, doch allmählich immer vernehmlicher und kühner: „Da sieht man, daß das Urteil Gottes anders ist als das Urteil der Menschen!“ hörte er plötzlich neben sich sagen; ein Weltlicher, ein städtischer Beamter, hatte diese Worte ausgesprochen, ein schon älterer Mann, der sehr gottesfürchtig war und nun laut das wiederholte, was die Mönche sich untereinander schon seit Stunden zugeflüstert hatten. Das Schlimme aber war, daß sich in diesen Worten allmählich fast ein Triumph kundtat. Bald darauf wurde die mühsam bewahrte Haltung durchbrochen, und es schien sogar, daß alle sich geradezu berechtigt fühlten, sie zu durchbrechen. „Wie kommt das nur,“ sagten einige von den Mönchen, anfänglich noch bedauernd, „sein Körper war doch nicht fleischig und fett, er war doch so hager, nur Haut und Knochen, wo kann da der Geruch herkommen?“ – „Also kann das nur ein Fingerzeig Gottes sein ...“ fügten eilig andere hinzu, und ihre Meinung wurde sofort widerspruchslos angenommen. Man wies besonders darauf hin, daß der Leichengeruch bei einem gewöhnlichen und sündigen Sterblichen sich erst viel später hätte einstellen müssen, wenigstens nicht mit einer dermaßen auffallenden Schnelligkeit, im äußersten Falle nach vierundzwanzig Stunden. „Dieser ist aber der Natur zuvorgekommen, folglich kann es nichts anderes sein als ein Fingerzeig Gottes. Ja, ja, ein Hinweis Gottes ist es!“ Diese Auslegung machte einen großen Eindruck. Der bescheidene Pater Jossiff, der Liebling des Verstorbenen, wandte sich an etliche der Rädelsführer mit der Behauptung, daß es nicht überall so wäre, und daß es in der Rechtgläubigkeit ein solches Dogma gar nicht gäbe, wonach die Leichen der Gerechten nicht verwesen dürften, und daß das nur ein Vorurteil sei, da man an den allerrechtgläubigsten Orten, auf dem Athos zum Beispiel, an dem Verwesungsgeruch der Gerechten gar keinen Anstoß nähme und das Nichtverwesen der Leichen durchaus nicht das Hauptmerkmal der Verherrlichung der Geretteten sei, sondern die Farbe ihrer Knochen, nachdem die Leichen schon viele Jahre in der Erde gelegen hätten. „Wenn dann die Knochen gelb wie Wachs sind, so ist das das Zeichen, daß Gott den Entschlafenen verherrlicht hat; wenn sie aber nicht gelb sind, sondern schwarz, so bedeutet es, daß Gott ihn solchen Ruhmes nicht für würdig gefunden. So ist es auf dem Athos, an diesem großen Ort, wo die Rechtgläubigkeit sich von alters her unerschütterlich in der leuchtendsten Reinheit erhalten hat,“ schloß Pater Jossiff. Doch die Rede des frommen Paters machte gar keinen Eindruck; sie rief sogar spöttischen Widerspruch hervor: „Das ist alles nur Gelehrsamkeit und Neuerung, das lohnt sich gar nicht anzuhören,“ behaupteten die Mönche unter sich. „Bei uns ist alles nach dem Alten; als ob es heutzutage noch nicht genug Neuerungen gäbe! Soll man denn alles nachahmen?“ fügten andere hinzu. „Wir haben nicht weniger Heilige gehabt als sie. Die sitzen dort und haben unter dem Türkenjoch alles vergessen. Bei denen ist die Rechtgläubigkeit schon längst getrübt, sie haben nicht einmal mehr Glocken,“ meinten die Spötter. Pater Jossiff entfernte sich betrübt, um so mehr, als er selbst auch nur halb an seine Worte glaubte. Mit Schrecken aber bemerkte er, daß eine immer mächtigere Bewegung um sich griff und sogar der Ungehorsam sein Haupt erhob. Wie Pater Jossiff verstummten allmählich auch alle anderen vernünftigen Stimmen. Und siehe, bald waren alle, die den verstorbenen Staretz geliebt hatten und in frommem Gehorsam der Forderung des Startzentums gefolgt waren, maßlos erschrocken, und wenn sie sich begegneten, wagten sie kaum, einander anzublicken. Dagegen erhoben die Feinde des Startzentums stolz ihre Häupter: „Vom verstorbenen Staretz Warssonofij ist nicht nur kein Verwesungsgeruch ausgegangen, ihm ist sogar Wohlgeruch entströmt,“ sagten sie schadenfroh und fast triumphierend, „denn er hat nicht nur dem Startzentum gedient, sondern war selbst ein Gerechter.“ Die Folge davon war, daß sie den jüngst Verstorbenen zu verurteilen und zu beschuldigen anfingen: „Er hat nicht richtig gelehrt; er lehrte, daß das Leben eine große Freude und nicht eine Demütigung in Tränen sei,“ sagten einige von den Unintelligenteren. „Er glaubte nach der neuen Mode, und materielles Feuer in der Hölle erkannte er nicht an,“ fügten andere noch Unverständigere hinzu. „Im Fasten war er nicht streng, er erlaubte sich Süßigkeiten, den Tee trank er gerne mit Kirschenmus, die Damen schickten ihm alles zu. Darf denn ein Einsiedler Tee trinken?“ hörte man einige neidische Stimmen ausrufen. „Stolz aufgebläht saß er da,“ bemerkten immer erbitterter die Schadenfrohen, „für einen Heiligen hielt er sich, man warf sich vor ihm auf die Knie, und er nahm das als etwas Selbstverständliches hin.“ „Das Sakrament der Beichte hat er mißbraucht,“ tuschelten in boshaftem Geflüster die heftigsten Gegner des Startzentums, und das waren die ältesten und in ihrem Gottesdienst strengsten Mönche, aufrichtige Faster und große Schweiger, die zu Lebzeiten des Staretz geschwiegen hatten, jetzt aber plötzlich ihren Mund auftaten, was ganz besonders gefährlich war, da ihre Worte einen starken Einfluß auf die jüngeren, in ihren Anschauungen noch nicht gefestigten Mönche hatten. Sehr eifrig horchte der Obdorsksche Gast, der Mönch vom heiligen Silvester, auf alles, was man sprach, indem er tief aufseufzte und den Kopf hin und her wiegte: „Pater Ferapont hat gestern gerecht geurteilt, wie ich sehe,“ dachte er bei sich. Und siehe, da erschien Pater Ferapont plötzlich in eigener Person, um eine noch größere Verwirrung zu verursachen.

Wie ich schon früher erwähnt habe, verließ er nur selten seine kleine hölzerne Zelle im Bienengarten, ja er erschien sogar oft lange Zeit nicht einmal in der Kirche zum Gottesdienst, was man jedoch ihm, als einem Schwachsinnigen, nicht weiter nachtrug. Und schließlich wäre das auch nicht gut angegangen. Denn einem so großen Faster und Schweiger gegenüber, der Tag und Nacht betete (und oft auf den Knien liegend einschlief), wäre es geradezu kleinlich gewesen, die Einhaltung der Regeln, die für die übrigen vorgeschrieben waren, zu verlangen, wenn er sie nicht selbst einhalten wollte. „Er ist heiliger als wir alle und vollführt Schwereres, als die Regel verlangt,“ sagten dann die Mönche, „und wenn er nicht in die Kirche geht, so bedeutet das, daß er selbst besser weiß, wann er dahin zu gehen hat, er hat seine eigene Regel.“ Um die Möglichkeit solcher Unwillensäußerungen von seiten der Mönche zu vermeiden, hatte man Pater Ferapont denn auch ganz in Ruhe gelassen. Der Staretz Sossima liebte, wie allen bekannt war, den Pater Ferapont nicht sehr. Nun war die Nachricht, „daß das Urteil Gottes nicht dasselbe sei wie das der Menschen“, und daß dieses sogar „der Natur zuvorgekommen“ wäre, auch bis zu Pater Feraponts Zelle gedrungen. Es ist anzunehmen, daß der erste, der ihm diese Nachricht überbracht hatte, der Obdorsksche Mönch gewesen war, der ihn noch gestern besucht und tief erschüttert verlassen hatte. Ich muß auch noch erwähnen, daß Pater Paissij, der laut und vernehmlich am Sarge die Evangelien las, und daher nichts hören und sehen konnte von dem, was außerhalb der Zelle vor sich ging, in seinem Herzen doch das Hauptsächlichste richtig ahnte, da er seine Umgebung durch und durch kannte. Er war keineswegs aus der Fassung gebracht, sondern erwartete alles, was noch kommen werde, vollkommen furchtlos, wenn er auch dabei keinen Augenblick aufhörte, gespannt die Entwicklung der Aufregung zu verfolgen. Plötzlich vernahm er vom Vorzimmer her einen außergewöhnlichen Lärm, ungebührlich, anstößig in dieser ernsten Stunde. Die Zellentür wurde geräuschvoll aufgestoßen, und auf der Schwelle erschien – Pater Ferapont. Hinter ihm her drängten sich unten an der Treppe, wie man aus der Zelle deutlich sehen konnte, viele ihn begleitende Mönche, unter denen sich auch Weltliche befanden. Sie traten indessen nicht ein und wagten auch nicht, auf die Treppe zu steigen; sie erwarteten nur, was Pater Ferapont sagen und tun werde. Ungeachtet ihrer Vermessenheit, fühlten sie doch mit einem gewissen Schrecken, daß dieser große Schweiger nicht umsonst gekommen war. Als Pater Ferapont auf der Schwelle erschien, erhob er seine beiden Hände: und da lugten hinter seinem rechten Arm die scharfen und neugierigen Äuglein des Obdorskschen Gastes hervor, der allein aus überwältigender Neugier Pater Ferapont auf die Treppe gefolgt war. Die anderen waren schon beim Geräusch der wuchtig geöffneten Tür zurückgeschreckt und drängten sich nun, von plötzlicher Angst ergriffen, noch mehr zurück. Pater Ferapont hielt die Hände empor, und plötzlich brüllte er laut:

„Austreibend werde ich dich austreiben!“ und sofort begann er, sich nach allen vier Seiten wendend, zu den Wänden und vier Ecken des Zimmers das Kreuzeszeichen zu machen. Diese Handlung Pater Feraponts verstanden alle, die ihn begleiteten, denn sie wußten, daß er immer so tat, wohin er auch kam, und daß er sich auch nicht früher hinsetzte, noch ein Wort sagte, bevor er die unreine Macht ausgetrieben hatte.

„Weiche Satan, weiche hinaus!“ wiederholte er bei jedem Kreuzeszeichen. „Austreibend, treibe ich dich hinaus!“ brüllte er von neuem. Er war in seiner groben Mönchskutte und mit einem Strick umgürtet. Aus dem sackleinenen Hemde blickte seine mit grauen Haaren bewachsene Brust hervor. Er war barfüßig. Sobald er seine Hände erhob, rasselten und klirrten die schrecklichen Ketten, die er unter der Kutte trug. Pater Paissij unterbrach das Lesen, trat auf ihn zu und stellte sich in Erwartung vor ihn hin.

„Warum bist du gekommen, ehrenwerter Pater? Warum verletzest du den Anstand? Warum bringst du die fromme Herde in Verwirrung?“ fragte er und blickte ihn streng an.

„Wessentwillen ich gekommen bin? Wen fragst du? Wie glaubst du?“ schrie Pater Ferapont, der sich wie ein Einfältiger gebärdete. „Um hier eure Gäste, die unflätigen Teufel, auszutreiben. Ich sehe, daß sich hier ohne mich viele angesammelt haben. Mit einem Birkenquast will ich sie ausfegen!“

„Unreines willst du austreiben, selbst aber dienst du vielleicht dem Unreinen,“ sagte unerschrocken Pater Paissij. „Und wer kann von sich sagen, daß er ‚heilig‘ sei, etwa du, Vater?“

„Aas bin ich, aber kein Heiliger! In den Lehnstuhl setze ich mich nicht, und ich lasse mir nicht Verbeugungen machen wie einem Götzen!“ donnerte Pater Ferapont. „Heutzutage richten die Menschen den heiligen Glauben zugrunde. Der Verstorbene, euer Heiliger dort“ – dabei wandte er sich zur Menge und wies auf den Sarg – „hat die Teufel nicht anerkannt. Nur Abführmittel gab er gegen die Teufel. Die aber haben sich bei euch vermehrt, wie die Spinnen in den Ecken. Er selbst stinkt jetzt. Darin sehen wir einen großen Fingerzeig Gottes!“

Es war in der Tat einmal zu Lebzeiten des Staretz Sossima vorgekommen, daß einem Mönche die unreine Macht zuerst im Traume und später auch im Wachen erschienen war. Als er das voll Entsetzen dem Staretz mitgeteilt hatte, da war ihm von diesem ununterbrochenes Gebet und verstärktes Fasten angeraten worden. Als aber auch das nicht helfen wollte, da hatte der Staretz gesagt, er solle das Fasten und Beten nicht aufgeben, doch außerdem noch eine gewisse Arznei zu sich nehmen. Das hatte bei sehr vielen Ärgernis erregt, und sie hatten untereinander viel darüber gesprochen und die Köpfe geschüttelt, am meisten von ihnen aber war Pater Ferapont, dem einige der Tadler eiligst die in diesem besonderen Falle „außergewöhnliche“ Anordnung des Staretz mitgeteilt hatten, ungehalten gewesen.

„Weiche von hier, Vater!“ sagte befehlend Pater Paissij. „Nicht Menschen können darüber urteilen, nur Gott kann es tun. Vielleicht ist das ein Hinweis, den weder du, noch ich, noch sonst jemand zu begreifen imstande ist. Gehe fort von hier und bringe die Herde nicht in Verwirrung!“ wiederholte er mit fester Stimme.

„Das Fasten hat er nicht eingehalten, das dem Range eines Einsiedlers zukommt, deshalb ist uns dieser ‚Hinweis‘ geworden. Das ist klar und es zu verheimlichen ist Sünde!“ Der aus Rand und Band geratene Fanatiker konnte sich noch immer nicht beruhigen. „Mit Konfekt hat er sich verführen lassen, die Damen haben es ihm in ihren Taschen mitgebracht, süßen Tee hat er geschlürft, seinen Bauch hat er vergöttert, hat ihn mit Süßigkeiten angefüllt, wie seinen Geist mit anmaßenden Gedanken ... Darum hat er den Schimpf erlitten ...“

„Leichtfertig sind deine Worte, Vater!“ sagte mit erhobener Stimme Pater Paissij. „Ich bewundere dein Fasten und deinen Glaubenskampf, doch leichtfertig sind deine Worte, wie ein Jüngling redest du, der in der Welt noch unselbständig ist und von jungem Verstande. Gehe fort von hier, Vater, ich befehle es dir!“ rief drohend zum Schluß Pater Paissij.

„Ich gehe schon!“ murmelte Pater Ferapont einigermaßen verwirrt, doch seine Wut verließ ihn nicht. „Gelehrte seid ihr! Mit eurem hohen Verstande erhebt ihr euch über meine Nichtigkeit. Ich kam hierher mit geringen Kenntnissen, doch jetzt habe ich alles vergessen, was ich gewußt habe, Gott selbst hat mich Geringen vor eurer Gelehrtheit beschützt ...“

Pater Paissij stand festentschlossen dicht vor ihm. Pater Ferapont schwieg, und plötzlich wurde er traurig, stützte die eine Wange in die Hand, betrachtete den Sarg des entschlafenen Staretz und sagte in singendem Tone:

„Über ihm wird man morgen ‚Helfer und Beschützer‘ singen, den schönsten Kanon, über mir aber, wenn ich krepiere, nur ‚Welche Lebenswonne‘, das kleine Verslein!“ sagte er wehmütig und mit Tränen in den Augen. „Hoffärtig und aufgeblasen sind sie, das ist hier ein leerer Ort!“ schrie er plötzlich wieder wie wahnsinnig und winkte mit der Hand ab, kehrte sich um und schritt schnell die Stufen der Treppe hinab. Die unten wartende Menge wich zurück; einige folgten ihm, andere zögerten noch, denn die Tür der Zelle stand offen. Pater Paissij war Pater Ferapont auf die Treppe gefolgt und sah ihm nach. Der besessene Greis konnte sich noch immer nicht beruhigen: Kaum war er zwanzig Schritte gegangen, als er sich plötzlich zur Seite, zur untergehenden Sonne wandte, beide Hände erhob und, als ob man ihn niedergemäht hätte, mit großem Geschrei zur Erde niederfiel:

„Mein Gott hat gesiegt! Christus hat gesiegt über die untergehende Sonne!“ schrie er wie rasend, erhob die Hände zur Sonne, fiel mit dem Gesicht auf die Erde und weinte mit lauter Stimme wie ein kleines Kind. Er bebte am ganzen Körper und breitete seine Hände über die Erde aus.

Alles stürzte zu ihm, Ausrufe wurden laut, lautes Weinen ihm zur Antwort ... Ekstase ergriff alle.

„Seht, wer der Heilige ist! Seht, wer der Gerechte ist!“ ließen sich jetzt bereits ohne jegliche Scheu Stimmen vernehmen. „Seht, wer Staretz sein sollte!“ fügten noch andere erbost hinzu.

„Er will kein Staretz sein ... er selbst erkennt sie nicht an ... wird dieser verfluchten Neuerung nicht dienen ... ihre Dummheiten wird er nicht nachahmen,“ riefen wieder andere Stimmen, und wie weit das noch gegangen wäre, ist schwer zu sagen, wenn nicht gerade in diesem Augenblick die große Glocke angefangen hätte, zum Gottesdienst zu läuten. Da begannen alle sich zu bekreuzen. Auch Pater Ferapont erhob sich, bekreuzte sich und ging dann, ohne sich umzusehen und immer noch vor sich hinmurmelnd, in seine Zelle. Ihm folgten einige Mönche, doch waren es nur wenige; die Mehrzahl ging auseinander oder eilte zum Gottesdienst. Pater Paissij übergab den Lesedienst an Pater Jossiff und ging hinunter. Das ekstatische Geschrei des Fanatikers konnte ihn nicht wankend machen, aber sein Herz war betrübt, und er grämte sich um irgend etwas, – dessen ward er sich selbst bewußt. Er blieb plötzlich stehen und fragte sich: „Woher diese Trauer bis zur völligen Niedergeschlagenheit?“ und mit Erstaunen erkannte er, daß diese plötzliche Trauer von einem ganz kleinen und besonderen Zufall herrührte. Er hatte in der Menge, die sich am Eingang der Zelle drängte, unter den übrigen Erregten, auch Aljoscha bemerkt, und er erinnerte sich, daß er sofort bei seinem Anblick einen Stich im Herzen gefühlt hatte. „Ja ist denn dieser Jüngling wirklich meinem Herzen so wert,“ fragte er sich ganz verwundert. In demselben Augenblick ging Aljoscha an ihm vorüber, als eilte er irgendwohin, doch ging er nicht in der Richtung zur Kirche. Ihre Blicke begegneten sich. Aljoscha aber wandte schnell seine Augen ab und blickte zu Boden. An seiner Miene erkannte Pater Paissij sofort, daß für den Jüngling der Augenblick einer großen Umwandlung gekommen war.

„Hast auch du dich hinreißen lassen?“ rief Pater Paissij aus, „ist es möglich, daß auch du zu den Kleingläubigen gehörst?“ fügte er traurig hinzu.

Aljoscha blieb stehen, sah unsicher und unbestimmt Pater Paissij an, wandte aber schnell seine Augen von ihm ab und senkte den Blick wieder zu Boden. Er stand halb abgewandt, ohne sich zum Fragenden umzuwenden. Pater Paissij beobachtete ihn aufmerksam.

„Wohin eilst du?“ fragte er ihn wieder. „Es wird zur Messe geläutet.“

Aljoscha gab keine Antwort.

„Oder willst du das Kloster verlassen, ohne um Erlaubnis und ohne um den Segen zu bitten?“

Aljoscha lächelte plötzlich verzerrt und warf einen sonderbaren, sehr sonderbaren Blick dem fragenden Pater zu, dem er von seinem verstorbenen Lenker, dem früheren Beherrscher seiner Seele und seines Geistes, von seinem inniggeliebten Staretz, anvertraut worden war. Und ohne Antwort, wie vorhin, winkte er nur mit der Hand ab, als ob er sich um eine Ehrerbietung nicht mehr kümmern wollte, und verließ mit schnellen Schritten die Einsiedelei durch das Eingangstor.

„Wirst noch zurückkehren!“ murmelte leise Pater Paissij vor sich hin und blickte ihm in kummervoller Verwunderung nach.

II.
Solch ein Augenblick

Pater Paissij irrte sich nicht, wenn er annahm, daß sein „lieber Junge“ wiederkehren werde, und vielleicht hatte er, wenn auch nicht ganz, so doch scharfsinnig genug Aljoschas Seelenstimmung erraten. Ich muß aber gestehen, daß es mir nichtsdestoweniger schwer wird, die Ursache dieser sonderbaren augenblicklichen Seelenstimmung des jungen und von mir so inniggeliebten Helden meines Romanes zu erklären. Auf die traurige Frage Pater Paissijs: „Solltest auch du zu den Kleingläubigen gehören?“ kann ich jedoch mit Bestimmtheit für Aljoscha antworten: Nein, er gehörte nicht zu den Kleingläubigen. Nein, hier war sicher das Gegenteil der Fall: seine ganze Verwirrung kam daher, daß er nur zu sehr glaubte. Eine große Verwirrung war es aber, und alles, was sich ereignete, war so quälend für ihn, daß er sogar nach langer Zeit diesen kummervollen Tag für einen der schwersten und verhängnisvollsten Tage seines Lebens hielt. Wenn man aber fragen wollte: „Sollte wirklich sein ganzer Kummer und seine Seelenunruhe davon herrühren, daß der Leichnam seines Staretz, statt sofort unmittelbare Heilkraft zu offenbaren, im Gegenteil, so früh in Verwesung übergegangen war,“ so antworte ich ohne zu zögern: Ja, so ist es in der Tat gewesen. Nur möchte ich den Leser bitten, nicht gleich über den reinen Sinn meines Jünglings zu lachen. Ich habe nicht die Absicht, seinen einfältigen Glauben durch sein jugendliches Alter zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Ich tue gerade das Entgegengesetzte und versichere hiermit, daß ich für ihn aufrichtige Hochachtung empfinde. Zweifellos wäre mancher andere Jüngling, der schon verstanden hätte, mit Vorsicht solche Herzenseindrücke zu empfangen, der verstanden hätte, nicht heiß, sondern nur lau zu lieben – wenn auch mit richtigem, so doch für sein Alter gar zu reiflich überlegendem und daher billigem Verstande –, solch ein Jüngling, sage ich, wäre dem entgangen, was mit meinem Jüngling geschah. Nur ist, meiner Meinung nach, in manchen Fällen denn doch achtbarer, sich so hinreißen zu lassen (denn wenn es auch unvernünftig ist, so geschieht es doch nur aus übergroßer Liebe), als sich überhaupt nicht hinreißen zu lassen. Und das besonders noch im Jünglingsalter! ... Denn hoffnungslos und billig ist der Geist eines beständig überlegenden Jünglings, – das ist meine Meinung. „Aber,“ rufen da vielleicht die vernünftigen Leute aus, „es kann doch nicht ein jeder Jüngling an solche Vorurteile glauben, und Ihr Jüngling kann doch kein Vorbild für andere sein.“ Darauf kann ich nur erwidern: Ja, mein Jüngling gehörte nicht zu den Kleingläubigen, er glaubte heilig und unerschütterlich, und dennoch werde ich nicht für ihn um Entschuldigung bitten.

Sehen Sie: wenn ich auch vorhin sagte (vielleicht etwas zu voreilig), daß ich jene Stimmung meines Jünglings weder erklären, noch entschuldigen oder rechtfertigen werde, so sehe ich jetzt doch ein, daß einige Erläuterungen zum Verständnis meiner weiteren Erzählung unbedingt erforderlich sind. Hier handelte es sich nicht um Wunder. Nicht um eine Erwartung von Wundern, die in ihrer Ungeduld leichtfertig gewesen wäre, handelte es sich dabei. Auch nicht für den Triumph seiner Überzeugung verlangte Aljoscha Wunder (das war erst recht nicht der Fall) oder etwa für den Sieg einer vorgefaßten Idee über eine andere, – o nein, auch das war es nicht. Nein, über allem anderen und an erster Stelle stand für ihn die Person, nur die Person seines geliebten Staretz, die Person des Gerechten, die er mit solcher Vergötterung liebte und ehrte. Das war es gerade, daß die ganze Liebe, die sein junges und reines Herz zu „Jedem und Allem“ während des ganzen vergangenen Jahres gehegt, sich fast nur auf diesen einen Menschen bezogen hatte, auf seinen entschlafenen und über alles geliebten Staretz. Dieses Wesen hatte so lange als unbestreitbares Ideal vor ihm gestanden, daß alle seine jungen Kräfte und alle seine Bestrebungen sich ausschließlich nur diesem Ideal zuwandten und er in manchen Minuten sogar „Alles und Jedes“ vergaß. Später erinnerte er sich noch, daß er an diesem schweren Tage selbst seinen Bruder Dmitrij, um den er sich noch am Abend vorher so gesorgt, ganz vergessen hatte; und so vergaß er auch, dem Vater Iljuschas die zweihundert Rubel zu überbringen, wie er es noch am Abend vorher begeistert beschlossen hatte. Und nicht um Wunder war es ihm zu tun, sondern nur um „die höhere Gerechtigkeit“, die seinem Glauben nach verletzt worden war. Ja, das war es, was so grausam sein Herz verwundet hatte. Und was war denn dabei so wunderlich, daß diese „Gerechtigkeit“ in ihm, wie die Dinge nun einmal lagen, zur Erwartung eines Wunders wurde, das unverzüglich von dem irdischen Staube seines vergötterten Staretz ausgehen werde? Das erwarteten doch alle im Kloster, selbst die, vor deren großem Verstande Aljoscha sich beugte, wie zum Beispiel Pater Paissij. Und so war es denn auch mit Aljoscha: ohne weiter durch irgendwelche Zweifel beunruhigt zu werden, nahmen seine Erwartungen dieselbe Form an, die die Erwartungen aller anderen hatten. Und lange schon hatte sich diese Erwartung in seinem Herzen zur vollen Überzeugung entwickelt, – lebte er doch schon ein ganzes Jahr lang im Kloster, in der unmittelbaren Nähe des Staretz. Gerechtigkeit, Gerechtigkeit erwartete er und nicht Wunder! Und siehe da – der, welcher nach seiner Zuversicht von allen auf der Welt am meisten erhöht werden sollte, derselbe erntete jetzt, statt ihm gebührender Ehre, nur Schmach und Spott! Warum? Wer hatte gerichtet? Wer konnte so richten? – Das waren die Fragen, die sein unerfahrenes und naives Herz quälten. Er konnte es nicht, ohne gekränkt zu sein, und nicht ohne Erbitterung ertragen, daß der Gerechteste aller Gerechten der lächerlichen und boshaften Verspottung durch eine so leichtfertige und weit unter ihm stehende Menge preisgegeben war. Nun, und mögen sich auch keine Wunder ereignen, möge das Erwartete sich auch nicht gleich verwirklichen – aber warum diese Unehre, dieser Schimpf, warum diese sofortige Verwesung, „die der Natur sogar zuvorgekommen ist,“ wie die boshaften Mönche sagten? Warum dieser „Fingerzeig Gottes“, auf den sie zusammen mit Pater Ferapont im Triumph hinwiesen, und warum glaubten sie, daß sie das Recht hätten, so zu urteilen? Wo blieb denn die Vorsehung und ihr Fingerzeig? Warum hält sie sich „im notwendigsten Augenblick“ verborgen, geradezu als wenn sie sich selbst den blinden und tauben und unbarmherzigen Naturgesetzen unterordnen wollte, dachte Aljoscha.

Das war es, warum sein Herz blutete, und wie ich schon sagte, handelte es sich für ihn zuerst um den über alles geliebten Menschen, um die Person des Staretz, die jetzt beschimpft und entehrt worden war! Mag dieser Kummer meines Jünglings leichtfertig und unverständig gewesen sein, doch wiederhole ich zum drittenmal: Ich bin froh, daß er in solch einer Minute nicht zu verständig war, denn der Verstand kommt schon mit der Zeit bei jedem nicht gar zu dummen Menschen; doch wenn in einer so außergewöhnlichen Minute im Herzen eines Jünglings sich keine Liebe erweist, wann soll sie dann kommen? Bei der Gelegenheit will ich noch eine sonderbare Erscheinung nicht verschweigen, die an diesem für Aljoscha verhängnisvollen und verwirrenden Tage in seinem Kopfe auftauchte. Dieses neue, sich kundgebende Etwas bestand in einigen quälenden Eindrücken, die in der Erinnerung an sein gestriges Gespräch mit Iwan in ihm auftauchten. Und das noch gerade jetzt! Oh, nicht daß sie die Grundlagen seines Glaubens in seiner Seele wanken gemacht hätten! Er liebte seinen Gott und glaubte unerschütterlich an ihn, wenn er sich auch jetzt gegen seinen Urteilsspruch aufgelehnt hatte. Doch immerhin war in seiner Seele eine trübe und quälende Erinnerung an das Gespräch mit seinem Bruder zurückgeblieben, und plötzlich stieg sie wieder in seiner Seele auf und nahm ihn allmählich mehr und mehr gefangen.

Als es zu dämmern begann, bemerkte Rakitin, der durch das Wäldchen der Einsiedelei auf das Kloster zuging, Aljoscha unter einem Baum liegend: er lag mit dem Gesicht zur Erde, unbeweglich und wie schlafend. Rakitin trat zu ihm und rief ihn an.

„Du hier, Alexei? Ja, ist es denn mit dir ...“ rief er verwundert aus, doch stockte er mitten im Satz.

Er wollte sagen: „Ist es denn mit dir schon so weit gekommen?“

Aljoscha sah ihn nicht an, doch an einer kurzen Bewegung erriet Rakitin sofort, daß er ihn gehört und verstanden hatte.

„Was ist denn mit dir passiert?“ fuhr er verwundert fort zu fragen.

Aber seine Verwunderung machte auf seinem Gesichte bald einem Lächeln Platz, das immer spöttischer wurde.

„So hör doch, ich suche dich bereits seit zwei Stunden. Du warst dort plötzlich verduftet. Aber was tust du denn hier? Was machst du für heilige Dummheiten? Sieh mich doch wenigstens an ...“

Aljoscha erhob seinen Kopf, setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm. Er weinte nicht, doch sein Gesicht drückte Leiden aus, und seinen Augen sah man die Erregung an, in der er sich befand. Er sah übrigens nicht zu Rakitin auf, sondern blickte zur Seite.

„Hör mal, dein Gesicht hat sich ja ganz verändert. Von deiner berühmten früheren Engelskeuschheit ist nichts mehr zu sehen. Hast dich wohl über irgend jemanden geärgert, nicht? Hat man dich etwa gekränkt?“

„Laß mich!“ sagte Aljoscha plötzlich, vermied es aber, ihn anzusehen und winkte nur müde mit der Hand ab.

„Oho, also so sind wir! Man fängt also schon wie die übrigen Sterblichen an, anzuschnauzen. Und das soll ein Ebenbild der Engel sein! Nun, Aljoschka, du hast mich aber in Erstaunen gesetzt, das laß dir gesagt sein! Ich spreche jetzt aufrichtig. Schon lange wundere ich mich hier über nichts mehr. Übrigens habe ich dich doch immer für einen gebildeten Menschen gehalten ...“

Endlich sah ihn Aljoscha an, tat es aber so zerstreut, als ob er ihn gar nicht verstanden hätte.

„Bist du denn wirklich darum so, weil dein Alter stinkt? Glaubtest du denn im Ernst, daß er alte Wunder wieder auffrischen werde?“ fragte Rakitin, in immer größere Verwunderung geratend.

„Ich glaubte, glaube, will glauben und werde glauben und was willst du noch?“ fragte Aljoscha, gereizt auffahrend.

„Aber ganz und gar nichts, mein Täubchen. Pfui, Teufel, an diesen Rummel glaubt ja selbst ein dreizehnjähriger Schuljunge nicht mehr. Übrigens, Teufel ... Du hast dich also über deinen Gott geärgert, hast dich jetzt empört? – Um eine Rangerhöhung seid ihr gekommen, habt keinen Orden zu den Feiertagen gekriegt! Ach, ihr!“

Aljoscha sah Rakitin lange mit halbzugekniffenen Augen an, und plötzlich blitzte etwas in seinen Augen auf ... es war aber nicht Wut über Rakitin.

„Ich empöre mich nicht gegen meinen Gott, nur ‚will ich seine Welt nicht annehmen‘,“ sagte Aljoscha mit einem verzerrten Lächeln.

„Wie willst du denn diese Welt nicht annehmen?“ Rakitin dachte ein wenig über das Gesagte nach. „Was ist nun das wieder für ein Gallimatthias?“

Aljoscha schwieg.

„Na, genug von den Dummheiten, jetzt zur Sache: Hast du heute gegessen oder nicht?“

„Ich weiß nicht ... ich glaube.“

„Du mußt dich unbedingt stärken, nach deinem Gesicht zu urteilen. Wenn man dich ansieht, packt einen ja das wahre Mitleid. Du hast ja auch in der Nacht nicht geschlafen; wie ich hörte, habt ihr da eine Sitzung gehabt. Und darauf dieses ganze Drunter und Drüber und Gequack noch dazu ... Du wirst wohl höchstens ein Stückchen Hostie gekaut haben. Ich habe bei mir in der Tasche ein Stück Wurst, habe sie mir in der Stadt, auf dem Wege hierher, auf alle Fälle eingesteckt, aber du wirst wohl keine Wurst ...“

„Gib sie her.“

„Ah! Also so bist du! Also schon ganz Aufruhr, Barrikaden! Nun, Bruder, es gibt Sachen, die doch nicht so ganz zu verachten sind. Gehen wir zu mir ... Ich möchte mir selbst ein Schnäpschen hinter die Binde gießen, bin todmüde. Für Schnaps würdest du dich natürlich nicht entschließen ... oder würdest du nicht schließlich auch ein Gläschen trinken?“

„Gib auch Schnaps.“

„Sieh mal an! Das ist ja wunderbar, Bruder!“ Rakitin betrachtete ihn neugierig. „Nun, so oder so, Schnaps und Wurst, das ist eine herrliche Sache, das muß man nicht versäumen. Komm, gehen wir!“

Aljoscha erhob sich schweigend von der Erde und folgte Rakitin.

„Wenn das dein Bruder Wanitschka sehen würde, der würde sich wundern! Übrigens, dein Brüderchen Iwan Fedorowitsch ist heute morgen nach Moskau gefahren, weißt du das?“

„Ich weiß es,“ sagte Aljoscha teilnahmslos. Und plötzlich tauchte vor seinem Geiste die Gestalt seines Bruders Dmitrij auf, aber es war nur ein Auftauchen, und obgleich er sich dabei einer sehr eiligen Sache, einer Sache, die keine Minute länger aufgeschoben werden durfte, irgendeiner Schuld, einer furchtbaren Verpflichtung erinnerte, so machte diese Erinnerung doch auf ihn durchaus keinen Eindruck, sie reichte nicht bis in sein Herz und verflog im selben Augenblick wieder aus seinem Gedächtnis. Später aber erinnerte sich Aljoscha deutlich dieses Augenblicks.

„Dein Brüderchen Wanitschka hat sich über mich einmal geäußert, ich sei ‚ein untalentierter liberaler Sack‘. Auch du hast einmal nicht an dich halten können und hast mir zu verstehen gegeben, daß ich ‚unehrlich‘ sei ... Schön! Ich werde aber jetzt einmal auch eure Begabung und Ehrenhaftigkeit auf die Probe stellen.“ (Den Schluß murmelte Rakitin leise vor sich hin.)

„Pfui Teufel, hör mal!“ sagte er wieder laut „gehen wir um das Kloster herum und auf dem Fußpfad gerade zur Stadt ... Hm! Ich muß übrigens zur Chochlakowa gehen. Stelle dir vor: Ich schrieb ihr alles, was sich bei uns ereignet hatte, und sie antwortet mir mit einem Briefchen – diese Dame liebt über alles, Briefchen zu schreiben –, daß sie von einem so ehrenwerten Greise, wie der Staretz Sossima, nie eine solche Handlung erwartet hätte! Sie hat tatsächlich ‚eine solche Handlung‘ geschrieben. Sie ist also gleichfalls empört über ihn. Ach, ihr alle! Halt!“ rief er wieder und blieb plötzlich stehen, packte Aljoscha an der Schulter und hielt ihn auf: „Weißt du, Aljoscha,“ er sah ihm fragend in die Augen, ganz unter dem Eindruck eines plötzlich in ihm auftauchenden Gedankens, und obgleich er äußerlich lächelte, so fürchtete er sich doch, seinen unerwarteten und neuen Gedanken laut auszusprechen, – so wenig wagte er, an die für ihn wunderbare und unerwartete Stimmung Aljoschas zu glauben, in der er ihn jetzt sah. „Aljoschka,“ sagte er endlich schüchtern und vorsichtig. „Aljoschka, weißt du, wohin wir jetzt am besten gehen?“

„Mir ist es gleich ... wohin du willst.“

„Gehen wir zu Gruschenka, was? Kommst du?“ fragte Rakitin, fast zitternd in erregter Erwartung.

„Gehen wir zu Gruschenka,“ antwortete sofort und ruhig Aljoscha.

Dieses ruhige und schnelle Einverständnis kam so unerwartet für Rakitin, daß er fast zurückschrak.

„Nun ja, warum auch nicht!“ meinte er verdutzt, griff aber plötzlich Aljoscha unter den Arm und zog ihn schnell mit sich fort, in großer Angst, daß dieser seinen Entschluß ändern könnte. Sie gingen schweigend zur Stadt. Rakitin fürchtete sich sogar, zu sprechen.

„Froh wird sie sein, riesig froh ...“ murmelte er, doch verstummte er wieder.

Doch nicht nur, um Gruschenka eine Freude zu bereiten, führte er Aljoscha zu ihr. Er war ein „gediegener“ Mensch, – ohne ein für ihn vorteilhaftes Ziel unternahm er nichts. Hierbei verfolgte er nun einen doppelten Zweck: erstens, sich zu rächen, – das heißt „die Schande des Gerechten“ und „den Fall“ Aljoschas „vom Heiligen zum Sünder“ zu erleben, worüber er sich schon im voraus freute. Und zweitens verfolgte er ein für sich sehr vorteilhaftes, materielles Ziel, wovon später noch die Rede sein wird.

„Also, solch ein Augenblick ist das,“ dachte er bei sich boshaft frohlockend, „wollen wir ihn am Schopf fassen, diesen Augenblick, denn er wird uns sehr gelegen kommen.“

III.
Das Zwiebelchen

Gruschenka wohnte in der belebtesten Gegend der Stadt, in der Nähe der Kathedrale. Sie hatte bei einer Frau Morosoff, einer Kaufmannswitwe, auf dem Hof ein kleineres hölzernes Nebenhaus gemietet. Das Haus, in dem Frau Morosoff selbst wohnte, war ein großes zweistöckiges Steingebäude und sah von außen eigentlich recht unschön aus. In ihm lebten, außer der alten Besitzerin, noch deren zwei Nichten, die gleichfalls schon alte, ledige Damen waren. Frau Morosoff hatte es nicht nötig, ihr Haus auf dem Hofe zu vermieten, aber alle wußten, daß sie Gruschenka nur darum als Mieterin aufgenommen hatte, um ihrem Verwandten, dem Kaufmann Ssamssonoff – dem offiziellen Protektor Gruschenkas – einen Gefallen zu erweisen. Man sagte damals, daß der eifersüchtige Alte seine „Favoritin“ nur aus dem einen Grunde bei der Morosowa untergebracht hätte, weil er vor allem auf die scharfen Augen der Alten, die auf die Aufführung der neuen Mieterin achtgeben sollten, gerechnet habe. Alsbald aber sah er ein, daß die scharfen Augen ganz überflüssig waren, und auch die Morosowa gab schließlich auf, Gruschenka mit einer Aufsicht zu belästigen. Ja, es waren schon vier Jahre seit der Zeit vergangen, als der Alte das schüchterne, bescheidene, bleiche und magere achtzehnjährige Mädchen, das immer nachdenklich und traurig war, aus der Gouvernementshauptstadt in dieses Haus gebracht hatte. Die Lebensgeschichte des jungen Mädchens kannte man übrigens in unserer Stadt nur wenig und ganz ungenau; in der letzten Zeit, und selbst dann, als sich viele für diese „Schönheit“, zu der sich Agrafena Alexandrowna in den vier Jahren entwickelt hatte, zu interessieren begannen, konnte man noch immer nichts Genaues über sie erfahren. Es verbreitete sich nur das Gerücht, daß das siebzehnjährige Mädchen, wie es hieß, von irgendeinem Offizier verführt und sofort verlassen worden sei. Der Offizier wäre fortgefahren und hätte darauf irgendwo eine andere geheiratet. Kurz, Gruschenka war in Armut und Schande zurückgeblieben. Auch sprach man darüber, daß Gruschenka vom Alten zwar aus armen Verhältnissen gezogen wäre, trotzdem aber aus einer achtbaren Familie stamme. Ihr Vater sei ein Diakon oder etwas in der Art gewesen. In diesen vier Jahren war aus der empfindsamen, beleidigten und mageren kleinen Waise eine stolze, prächtige russische Schönheit geworden, eine Frau mit kühnem und entschlossenem, vielleicht frechem, doch jedenfalls stolzem Charakter, ein Weib, das in Geldsachen sehr bewandert, dabei geizig und vorsichtig war, und das verstanden hatte, rechtmäßig oder unrechtmäßig – wie viele von ihr behaupteten –, ein kleines Kapital für sich zusammenzuscharren. In einem aber stimmten alle überein: daß es sehr schwierig war, sich Gruschenka zu nähern, und daß sich außer ihrem Protektor, dem Alten, in diesen vier Jahren niemand rühmen konnte, ihre Geneigtheit errungen zu haben. Das war Tatsache, denn diese Geneigtheit zu erwerben, danach strebten nicht wenig Liebhaber, besonders in den zwei letzten Jahren. Doch alle Versuche schlugen fehl, und einige von den Unternehmungslustigen waren gezwungen, sich lächerlich und schimpflich zurückzuziehen, infolge des unbesieglichen und hohnvollen Widerstandes der charakterfesten jungen Person. Man wußte auch, daß diese junge Person, besonders im letzten Jahr, sich auf das eingelassen hatte, was man allgemein „Geschäfte“ nennt, und darin außerordentliche Fähigkeiten bewies, so daß zu guter Letzt viele sie eine wahre Jüdin nannten. Nicht nur, daß sie etwa Geld auf Prozente verliehen hätte, man erzählte sich sogar, daß sie zum Beispiel in Gemeinschaft mit Fedor Pawlowitsch Karamasoff seit einiger Zeit Wechsel zu Spottpreisen aufkaufte, zu zehn für hundert, und dann beim Verkauf einen Rubel auf zehn Kopeken verdiente. Der kranke Ssamssonoff, der im letzten Jahr des Gebrauches seiner geschwollenen Beine gänzlich beraubt war – Witwer und Tyrann seiner erwachsenen Söhne –, und der sicher einige hunderttausend Rubel besaß, ein unerbittlicher und geiziger Mensch, verfiel vollständig dem Einfluß seiner Schutzbefohlenen, die er anfangs „auf Fastenöl“, das heißt ganz knapp, hatte halten wollen, wie die Spötter meinten. Doch Gruschenka hatte verstanden, sich seiner Bevormundung zu entziehen, indem sie dem Alten unbedingtes Vertrauen auf ihre Treue einflößte. Dieser Alte (jetzt ist er schon lange tot) war ein großer Geschäftsmann und gleichfalls ein bemerkenswerter Charakter. Er war geizig und hartherzig wie ein Kieselstein, und obgleich Gruschenka auf ihn einen großen Einfluß ausübte, so daß er ohne sie kaum noch leben konnte (was besonders in den zwei letzten Jahren der Fall war), so ließ er ihr doch nicht ein größeres Kapital zuschreiben, und selbst wenn sie ihm gedroht hätte, ihn zu verlassen, so wäre er unerbittlich geblieben. Dafür hatte er ihr aber ein kleines Kapital angewiesen, über dessen geringe Höhe man später sehr erstaunt war. „Du bist ein Weib, das nicht auf den Kopf gefallen ist,“ soll er zu ihr gesagt haben, nachdem er ihr an achttausend Rubel geschenkt hatte, „verdiene selbst damit, doch wisse, daß du außer deinem jährlichen Unterhalt bis zu meinem Tode nichts mehr bekommst, auch in meinem Testament werde ich dir nichts vermachen.“ So hielt er denn sein Wort. Als er starb, hinterließ er alles seinen Söhnen, die er sein ganzes Leben lang mit Weib und Kind auf einer Stufe mit den Dienstboten bei sich gehalten hatte; Gruschenka war nicht einmal im Testament erwähnt. Alles das wurde erst in der Folge bekannt. Mit Ratschlägen dagegen, wie Gruschenka mit ihrem Kapital zu verfahren habe, kargte er nicht, und er half ihr sogar bei den „Geschäften“. Als Fedor Pawlowitsch Karamasoff, der anfangs nur aus Gründen eines gelegentlichen „Geschäfts“ mit Gruschenka zusammengetroffen war, sich sterblich in sie verliebte und ihretwegen fast kindisch wurde, da lachte der alte Ssamssonoff, der sich schon in den letzten Lebensstadien befand, herzlich darüber. Bemerkenswert ist noch, daß Gruschenka zu ihrem Alten während der ganzen Dauer ihres Verhältnisses vollkommen und von ganzem Herzen aufrichtig war, und zwar war sie das auf der ganzen Welt nur ihm gegenüber. Als aber in der letzten Zeit auch Dimitrij Fedorowitsch mit seiner Liebe auftauchte, da lachte der Alte nicht mehr. Im Gegenteil, er riet Gruschenka ernst und streng: „Wenn du einen von beiden wählst, so wähle den Alten, aber nur mit der Bedingung, daß der alte Schuft dich unfehlbar heiratet und dir im voraus einiges Kapital verschreibt. Doch mit dem Leutnant lasse dich nicht ein, daraus wird nichts.“ Das war der Rat, den der alte Wollüstling Gruschenka gegeben hatte. Er fühlte schon damals seinen nahen Tod voraus, und ein paar Monate nach diesem Gespräch starb er denn auch. Ich will hier noch bemerken, daß bei uns in der Stadt damals viele von der ungeheuerlichen Nebenbuhlerschaft der Karamasoffs, Vater und Sohn, wußten, deren Gegenstand Gruschenka war, aber ihre wirkliche Beziehung zu beiden, zum Vater wie zum Sohne, verstand wohl kaum jemand. Sogar die beiden Dienstmädchen Gruschenkas sagten später (nach der Katastrophe, von der weiterhin die Rede sein wird) vor Gericht aus, daß Agrafena Alexandrowna Dimitrij Fedorowitsch nur aus Furcht empfangen habe, weil er ihr gedroht hätte, sie zu töten. Sie hielt zwei Dienstmädchen: eine alte, kranke und harthörige Köchin, die bereits bei ihren Eltern gedient hatte, und deren Enkelin, ein munteres Mädchen von zwanzig Jahren, das ihr Stubenmädchen war. Gruschenka lebte sehr sparsam, und auch ihre Wohnung war durchaus nicht reich ausgestattet. Sie bewohnte nur drei Zimmer, die von der Hausbesitzerin mit alten Möbeln, Fasson der zwanziger Jahre, eingerichtet waren.

Als Rakitin und Aljoscha bei ihr eintraten, war es draußen schon fast dunkel, doch war trotzdem in den Zimmern noch nicht Licht gemacht. Gruschenka lag in ihrem Empfangszimmer auf einem großen, plumpen Diwan, der mit bereits abgenutztem und hier und da durchlöchertem Leder überzogen war. Unter ihrem Kopf hatte sie zwei weiße Daunenkissen, die sie von ihrem Bett genommen haben mochte. Sie lag auf dem Rücken und hatte beide Hände unter den Kopf geschoben. Gekleidet war sie, als wenn sie Besuch erwartet hätte: sie trug ein schwarzes Seidenkleid, im Haar hatte sie einen duftigen Spitzentuff, der ihr vorzüglich stand, und um die Schultern hatte sie sich einen kostbaren Spitzenschal geschlungen, der vorne mit einer schweren Goldbrosche zugesteckt war. Mit bleichem Gesicht und heißen Lippen lag sie da und schien ungeduldig jemanden zu erwarten; ihre rechte Fußspitze klopfte nervös an die Seitenlehne des Diwans. Rakitins und Aljoschas Eintritt rief im Hause eine kleine Aufregung hervor: Sie hörten schon im Vorzimmer, wie Gruschenka schnell vom Diwan aufsprang und erschrocken laut fragte: „Wer ist da?“ Das Stubenmädchen empfing die Gäste und rief sofort ihrer Herrin zu:

„Nichts, nichts! Das ist nicht er, das sind andere!“

„Was ist mit ihr?“ murmelte Rakitin und führte Aljoscha an der Hand ins Gastzimmer.

Gruschenka stand immer noch ganz erschrocken am Diwan. Eine schwere Flechte ihres dunkelblonden Haares löste sich und fiel auf ihre rechte Schulter herab, aber sie beachtete es nicht und steckte sie auch nicht eher auf, bevor sie sich vergewissert hatte, wer die Gäste waren.

„Ach, das bist du, Rakitka? Wie du mich erschreckt hast. Aber mit wem kommst du denn da? Wer ist das? Herrgott, sieh, wen du da mitgebracht hast!“ rief sie aus, als sie Aljoscha bemerkte.

„Befiehl mal, daß man Licht macht!“ sagte Rakitin in dem nachlässigen Tone eines intimen Bekannten, der sich das Recht herausnehmen kann, im Hause Anordnungen zu treffen.

„Licht ... natürlich, Licht ... Fenjä, bring ihm ein Licht ... Nun, du hast also Zeit gefunden, ihn herzubringen!“ rief sie wieder aus und nickte Aljoscha zu. Darauf wandte sie sich zum Spiegel und brachte schnell mit beiden Händen ihre Haarflechte in Ordnung.

Sie schien aber unzufrieden zu sein.

„Paßt es dir etwa nicht?“ fragte Rakitin sofort beleidigt.

„Du hast mich erschreckt, Rakitka, das ist’s!“ Gruschenka wandte sich sofort mit einem Lächeln zu Aljoscha. „Fürchte dich nicht, Aljoscha, mein Täubchen, ich freue mich furchtbar über dich, mein unerwarteter Gast. Aber du, Rakitka, du hast mich erschreckt: Ich dachte nämlich, Mitjä bräche wieder ein. Ich habe ihn nämlich vorhin betrogen, ich habe ihm das Ehrenwort abgenommen, daß er mir glauben werde, und habe ihn dann doch belogen. Ich sagte ihm, daß ich zu Kusjma Kusjmitsch, zu meinem Alten, gehe, um den ganzen Abend bis in die Nacht hinein mit ihm Geld zu zählen. Ich gehe jede Woche einmal auf einen ganzen Abend zu ihm, um mit ihm seine Rechnungen zu ordnen. Wir schließen uns dann ein: er klappert auf dem Rechenbrett, und ich sitze und trage in die Bücher ein; er hat nur zu mir allein Zutrauen. Mitjä glaubte mir, daß ich dort bleiben werde, ich aber habe mich hier zu Hause eingeschlossen, sitze nun und warte auf eine gewisse Nachricht. Wie hat euch die Fenjä nur hereingelassen! Fenjä, Fenjä! Lauf schnell zur Hofpforte und sieh nach, ob nicht Dmitrij Fedorowitsch in der Nähe ist. Vielleicht hat er sich irgendwo versteckt und lauert mir auf. Wie den Tod fürchte ich ihn!“

„Niemand ist dort, Agrafena Alexandrowna, ich habe mir schon die Augen aus dem Kopf gesehen, ich laufe doch alle Augenblick hinaus, um ein wenig zu lauern. Ich habe selbst solche Angst!“

„Sind die Fensterläden geschlossen, Fenjä? Man muß auch die Vorhänge herunterlassen, so!“ Sie ließ selbst die schweren Vorhänge herab. „Sonst kommt er noch auf das Licht hin sofort herbeigelaufen. Ja, Aljoscha, heute fürchte ich deinen Bruder sogar sehr.“

Gruschenka sprach lauter als sonst, und wenn sie auch unruhig zu sein schien, so war sie doch wie in einem Freudenrausche.

„Warum fürchtest du denn gerade heute Mitjenka?“ erkundigte sich Rakitin. „Du bist doch, scheint es, sonst nicht ängstlich von Natur. Er tanzt ja sowieso nach deiner Pfeife.“

„Ich sage dir doch, ich erwarte eine Nachricht, eine goldene, kleine Nachricht, so daß Mitjenka jetzt hier ganz überflüssig ist. Außerdem hat er es mir ja gar nicht geglaubt, daß ich bei Kusjma Kusjmitsch bleiben werde. Das fühle ich. Wahrscheinlich sitzt er jetzt bei Fedor Pawlowitsch an der Hinterstraße im Nachbargarten, um mir aufzulauern. Nun, wenn er sich dort festgesetzt hat, um so besser, dann wird er nicht hierher kommen. Mitjä hat mich ja selbst hinbegleitet zu Kusjma Kusjmitsch; ich sagte ihm, daß ich bis Mitternacht bei ihm bleiben werde, und daß er durchaus um Mitternacht kommen solle, um mich abzuholen. Er ging fort, ich saß ungefähr zehn Minuten beim Alten, dann kehrte ich schnell wieder zurück. Ach, wie ich lief, und wie ich mich fürchtete, ihm zu begegnen!“

„Und jetzt hast du dich aufgeputzt! Sieh mal an, was hast du denn da für ein feines Ding im Haar?“

„Wie du neugierig bist, Rakitka! Ich sage dir ja, ich erwarte so eine gewisse kleine Nachricht. Kommt diese kleine Nachricht, so springe ich auf und fliege davon, daß ihr mich hier kaum gesehen haben werdet. Siehst du, darum habe ich mich aufgeputzt, um dann gleich bereit zu sein.“

„Und wohin willst du dann fliegen?“

„Wenn du viel weißt, wirst du schnell alt.“

„Na, sieh mal an! Du bist ja ganz aus dem Häuschen vor Freude ... Habe dich noch niemals so gesehen. Hast dich ja angekleidet wie zum Ball,“ sagte Rakitin, sie kritisch betrachtend.

„Als ob du was von Bällen verständest.“

„Und du etwa?“

„Ich habe mir doch einmal einen Ball angesehen, vor drei Jahren, als Kusjma Kusjmitsch seinen Sohn verheiratete. Ich saß auf der Empore und sah zu. Ach, Rakitka, aber soll ich mich etwa mit Dir unterhalten, wenn solch ein Prinz hier steht! Sieh, das ist ein Gast! Aljoscha, mein Täubchen, wenn ich dich ansehe, so kann ich’s nicht glauben ... Herrgott, wie bist denn du hergekommen! Offen gestanden, ich hätte es nicht erwartet, nicht geahnt, und früher niemals daran geglaubt, daß du kommen könntest. Wenn es nicht in solch einer Minute wäre, so wäre ich außer mir vor Freude! Setze dich hier auf den Diwan, hierher, so, du mein zarter, goldener Neumond! Ich kann es noch gar nicht fassen ... Ach du, Rakitka, wenn du ihn doch gestern oder vorgestern gebracht hättest! ... Aber ich freue mich auch heute. Vielleicht ist es auch besser jetzt, in solch einer Minute ...“

Sie setzte sich mutwillig neben Aljoscha auf den Diwan und sah ihn in freudigem Entzücken an. Und sie freute sich tatsächlich, sie log nicht, wenn sie es sagte. Ihre Augen blitzten und ihre Lippen lachten, aber gutherzig und fröhlich lachten sie. Aljoscha hätte ihr solch eine fröhliche Gutmütigkeit gar nicht zugetraut ... Bis zum gestrigen Tage hatte er sie nur wenig gesehen und sich von ihr die abschreckendste Vorstellung gemacht. Auch gestern war er ganz unter dem Eindruck ihres boshaften und heimtückischen Betragens bei Katerina Iwanowna gewesen, und daher war er jetzt ganz erstaunt, in ihr plötzlich ein vollkommen anderes und für ihn unerwartetes Wesen zu finden. Und wie sehr er auch von seinem eigenen Kummer niedergedrückt war, so blieben seine Augen doch aufmerksam auf sie gerichtet. Auch ihre Manieren hatten sich seit gestern, wie es schien, sehr gebessert: Sie hatte nicht mehr die Süßlichkeit in der Aussprache, diese gezierten und gemachten Bewegungen ... Alles war einfach und herzlich an ihr, ihre Bewegungen rasch, ungezwungen, vertrauenerweckend, nur war sie ersichtlich sehr aufgeregt.

„Herrgott, was heute für Sachen passieren, nein wirklich!“ plapperte sie wieder weiter. „Und warum nur freue ich mich so über dich, Aljoscha, ich weiß es selbst nicht. Wenn du mich fragtest, so würde ich es nicht zu sagen wissen.“

„Was, du solltest es nicht wissen, warum du dich freust!“ Rakitin lächelte. „Warum hast du mich denn unaufhörlich gebeten, ihn herzubringen? Mußt doch einen Grund gehabt haben, denke ich.“

„Früher hatte ich einen Grund, jetzt aber ist das vorüber, jetzt ist ein Anderes – – ... Ich werde euch sofort etwas vorsetzen. Ich bin wieder zu mir gekommen, Rakitka. Setz dich, Rakitka, warum stehst du? Oder sitzest du schon? Ach, Rakituschka versteht schon für sich zu sorgen! Siehst du, Aljoscha, jetzt sitzt er uns dort gegenüber und ist beleidigt, weil ich dich zuerst gebeten habe, Platz zu nehmen. Ach, empfindlich ist mir der Rakitka, unglaublich empfindlich!“ Gruschenka lachte. „Sei nicht böse, Rakitka, heute bin ich gut. Warum sitzest du so traurig da, Aljoschka, fürchtest du mich etwa?“ Mit fröhlichem Lachen sah sie ihm in die Augen.

„Er hat großen Kummer. Es hat keine Rangerhöhung gegeben,“ brummte Rakitin.

„Was für eine Rangerhöhung?“

„Sein Staretz stinkt.“

„Wie, wer stinkt? Was du für einen Unsinn schwatzest! Du willst wohl wieder irgendeine Gemeinheit damit sagen. Schweig, Dummkopf. Aljoscha, laß mich auf deinen Knien sitzen, sieh so!“ Im Augenblick sprang sie auf und setzte sich ihm lachend auf die Knie, und wie ein Kätzchen umfaßte sie mit dem rechten Arm zärtlich seinen Hals. „Ich werde dich wieder froh machen, du mein gottesfürchtiger Knabe! Erlaubst du mir wirklich, auf deinen Knien zu sitzen, bist du nicht böse? Sag nur, und ich werde sofort abspringen.“

Aljoscha schwieg. Er saß und wagte nicht sich zu rühren; er hörte wohl ihre Worte: „Sag nur, und ich werde abspringen,“ aber er antwortete ihr nicht, er war förmlich erstarrt. Doch ging in ihm nicht etwa das vor sich, was man wohl hätte erwarten können, oder was Rakitin, der ihn von seinem Platze aus gierig beobachtete, annahm. Der große Kummer in seiner Seele verschlang alle übrigen Gefühle, die jetzt in seinem Herzen hätten auftauchen können, und wenn er in diesem Augenblick fähig gewesen wäre, sich über seine Gefühle Rechenschaft abzulegen, so hätte er sich gestehen müssen, daß er gegenwärtig gegen jegliche Verführung oder Verlockung gepanzert war. Nichtsdestoweniger wunderte er sich doch unwillkürlich über eine neue und sonderbare Empfindung, die mit einem Male in seinem Herzen auftauchte: Dieses Weib, dieses „schreckliche“ Weib, flößte ihm nicht im geringsten jene Furcht ein, die ihn früher beim Gedanken an eine Frau überfallen hatte – wenn jemals einer in seiner Seele aufgetaucht war –, im Gegenteil, diese Frau, die er am meisten von allen gefürchtet hatte, und die jetzt auf seinen Knien saß und ihn umarmt hielt, erweckte in ihm ein ganz anderes, unerwartetes und besonderes Gefühl, das Gefühl einer ungewöhnlichen, noch nie so empfundenen herzensreinen Anteilnahme, und alles das ohne jegliche Furcht, ohne den geringsten früheren Schrecken. Das war es, was ihn hauptsächlich in Erstaunen setzte.

„Genug jetzt mit dem Unsinnschwatzen,“ rief Rakitin dazwischen, „laß mal lieber Champagner reichen, das ist jetzt deine Pflicht und Schuldigkeit, wie du selbst am besten weißt!“

„Du hast recht, ich bin dir jetzt welchen schuldig. Ich habe ihm doch Champagner für den Fall versprochen, daß er dich zu mir brächte. Na, mal los, holen wir den Champagner, ich werde mittrinken! Fenjä, Fenjä, bring den Champagner, die Flasche, die Mitjä hier gelassen hat, schnell! Wenn ich auch geizig bin, die Flasche gebe ich doch, aber nicht deinetwegen, Rakitka, du bist bloß ein Giftpilz, er aber ist ein Prinz! Und wenn auch meine Seele jetzt nicht dazu aufgelegt ist, einerlei, ich trinke mit euch, auch ich möchte einmal ausgelassen sein!“

„Was ist denn das für ein Augenblick, und was für eine ‚Nachricht‘ erwartest du denn, wenn man fragen darf, oder ist das ein Geheimnis?“ Rakitin brachte das Gespräch wieder darauf zurück und gab sich dabei aus allen Kräften den Anschein, als bemerke er die Nasenstüber nicht, die ihm Gruschenka verabfolgte.

„Ach, warum soll das ein Geheimnis sein, du weißt es doch schon,“ sagte Gruschenka unwillig und drehte ihren Kopf zu Rakitin zurück, wobei sie sich ein wenig von Aljoscha abwandte, doch blieb sie auf seinen Knien sitzen und hielt seinen Hals immer noch umschlungen: „Mein Offizier ist da, mein Offizier kommt!“

„Ich weiß, daß er kommt, aber ist er denn schon hier?“

„In Mokroje ist er; von dort aus wird er mir einen reitenden Boten schicken. Er hat mir geschrieben, vorhin erhielt ich den Brief. Ich sitze jetzt hier und erwarte den Boten.“

„Also das ist’s! Warum aber in Mokroje?“

„Das zu erzählen wäre zu weitläufig, und außerdem genügt das für dich.“

„Und ... und, der Mitjenka, der ... o weh! Weiß er das, oder weiß er es nicht?“

„Ob er’s weiß? Nichts weiß er! Wenn er es wüßte, so würde er mich totschlagen. Aber jetzt fürchte ich nichts mehr, nichts, auch sein Messer nicht. Schweig, Rakitka, erinnere mich nicht mehr an Dmitrij Fedorowitsch: Er hat mir das Herz müd gequält. Und ich möchte an all das nicht mehr denken. Hier, an Aljoschetschka will ich denken, Aljoschetschka will ich ansehen ... Ja, lache nur über mich, mein Täubchen, freue dich über meine Dummheit, über meine Freude lache nur! Er lächelt, er lächelt! Wie freundlich er mich ansieht! Weißt du, Aljoscha, ich dachte immer, daß du wegen vorgestern ... wegen des Fräuleins ... mir böse bist. Ich war ein Scheusal, ich weiß ... Aber es ist doch gut so, wie es gekommen ist. Und schlecht war es, und gut war es,“ sagte Gruschenka nachdenklich lächelnd, und ein harter Zug erschien plötzlich trotz des Lächelns auf ihrem Gesicht. „Mitjä sagte mir, daß sie geschrien habe: ‚Peitschen sollte man sie!‘ Ich hatte sie gar zu sehr beleidigt. Sie rief mich zu sich, wollte mich besiegen, mit ihrer Schokolade verführen ... Nein, es ist doch gut so, wie es gekommen ist,“ sagte sie nochmals und lächelte wieder. „Aber ich fürchte immer noch, daß du böse ...“

„Ja, das ist wahr,“ wandte sich Rakitin in ernster Verwunderung an Aljoscha. „Sie fürchtet dich, Aljoscha, dich Küchel!“

„Für dich ist er ein Küchel, Rakitka, weil du kein Gewissen hast! Ich aber liebe ihn mit meiner ganzen Seele! Glaubst du mir, Aljoscha, daß ich dich mit meiner ganzen Seele liebe?“

„Ach, du schamloses Geschöpf! Sie macht dir eine Liebeserklärung, Aljoscha.“

„Und wenn es so wäre, was ist denn dabei, daß ich ihn liebe?“

„Und dein Offizier? Und die goldene Nachricht aus Mokroje?“

„Das ist etwas für sich, und das hier ist auch etwas für sich.“

„Sieh mal, das ist wieder einmal echte Weiberlogik!“

„Ärgere mich nicht, Rakitka,“ fiel Gruschenka ihm heftig ins Wort, „das ist etwas ganz anderes. Aljoscha liebe ich auf eine andere Art. Es ist wahr, Aljoscha, früher dachte ich auch mit einem häßlichen Gedanken an dich. Ich bin ja ein niedriges Geschöpf, ein wildes Geschöpf bin ich, aber zuweilen habe ich doch auf dich wie auf mein Gewissen gesehen. Immer habe ich gedacht: Wie muß so einer, wie du, mich schlechtes Geschöpf verachten! Noch vorgestern dachte ich es, als ich von dem Fräulein nach Hause kam. Ich habe schon so lange an dich gedacht, Aljoscha, und Mitjä weiß es, ich habe ihm alles gesagt. Mitjä versteht das sehr gut. Glaub mir, Aljoscha, ein anderes Mal, wenn ich dich ansehe, so schäme ich mich, so vergehe ich vor Scham ... Und seit wann ich an dich zu denken angefangen habe, weiß ich nicht einmal, ich erinnere mich dessen nicht mehr ...“

Fenjä trat ein und stellte einen Untersetzer mit drei gefüllten Champagnergläsern und einer aufgekorkten Champagnerflasche auf den Tisch.

„Der Champagner ist da!“ meldete Rakitin. „Hör mal, du bist ja heute so erregt, daß du, wenn du ein Glas getrunken hast, womöglich noch zu tanzen anfangen wirst.“

„Pfui, Schweinerei,“ rief er aus, als er den Champagner näher betrachtete; „Die Alte hat die Flasche in der Küche aufgekorkt und den Pfropfen nicht wieder aufgesetzt ... außerdem ist er warm. Nun, meinetwegen, ich trinke ihn auch so.“

Er schenkte sich ein, stürzte ein Glas hinunter und goß sich ein zweites ein.

„Champagner bekommt man nicht alle Tage,“ sagte er und leckte sich die Lippen –, „nun, Aljoscha, nimm ein Glas und zeige, was du kannst. Worauf sollen wir trinken? Auf das Paradies? Nimm ein Glas, Gruscha, trink auch du aufs Paradies!“

„Warum willst du denn aufs Paradies trinken?“

Sie nahm ein Glas, auch Aljoscha nahm das seinige, trank aber keinen Schluck und stellte es wieder zurück.

„Nein, es ist besser, ich trinke nicht,“ sagte er leise lächelnd.

„So hast du nur geprahlt!“ rief sofort Rakitin höhnisch lachend.

„Wenn er nicht trinkt, so will auch ich nicht trinken,“ sagte Gruschenka, „und ich will auch gar nicht ... Trink du allein, Rakitka, die ganze Flasche schenke ich dir. Wenn Aljoscha trinkt, dann werde auch ich trinken, sonst aber nicht.“

„Sind das aber Kälberzärtlichkeiten!“ schimpfte Rakitin voll Hohn. „Dabei sitzest du noch auf seinen Knien! Er hat wenigstens einen Kummer, was aber hast du? Er revoltiert gegen seinen Gott, er wollte sogar schon Wurst essen ...“

„Wieso?“

„Sein Staretz ist doch heute gestorben, Staretz Sossima, der Heilige!“

„Der Staretz Sossima ist gestorben?“ fragte Gruschenka betroffen, „Herrgott, und ich wußte es nicht!“ Sie bekreuzte sich andächtig. „Gott, und was tue ich ... ich ... ich sitze auf seinen Knien!“ fuhr sie plötzlich erschrocken auf. Sofort sprang sie von seinen Knien herab und setzte sich auf den Diwan.

Aljoscha sah sie lange und erstaunt an: In seinem Gesicht schien etwas aufzuleuchten.

„Rakitin,“ sagte er plötzlich mit lauter und fester Stimme, „spotte nicht, daß ich mich gegen meinen Gott empöre. Ich möchte gegen dich keinen Groll hegen, darum sei auch du besser. Ich habe einen Schatz verloren, wie du nie einen besessen hast, und du kannst darum auch nicht über mich urteilen. Sieh lieber einmal her auf sie: Hast du bemerkt, wie sie mich geschont hat? Ich kam hierher und dachte, eine böse Seele zu finden –, und es zog mich hierher, weil ich selbst schlecht und böse war. Statt dessen habe ich eine aufrichtige Schwester ... eine liebende Seele gefunden ... Sie hat mich gleich geschont ... Agrafena Alexandrowna, ich spreche von dir. Du hast meine Seele wieder aufgerichtet.“

Aljoschas Lippen bebten, und sein Atem stockte. Er hielt inne.

„Das wäre ja beinahe, als ob sie dich gerettet hätte!“ Rakitin lachte boshaft auf. „Dabei wollte sie dich doch verschlingen, weißt du denn das nicht?“

„Schweig, Rakitka!“ Gruschenka sprang plötzlich auf, „schweigt alle beide! Jetzt werde ich alles sagen: Du, Aljoscha, schweige, denn bei deinen Worten packt mich die Scham, weil ich schlecht und nicht gut bin –, siehst du, so ist’s! Und du, Rakitka, schweig, denn du lügst ja doch nur. Ich hatte einmal, das ist wahr, den schlechten Gedanken, ihn zu verschlingen, wie du sagst, aber jetzt lügst du, jetzt ist das nicht mehr der Fall ... Und daß ich jetzt von dir kein Wort mehr höre, Rakitka!“

Gruschenka sagte es in außergewöhnlicher Erregung.

„Ihr seid beide nicht recht gescheit!“ schimpfte Rakitin, der bald sie, bald Aljoscha verwundert ansah. „Ihr habt ja vollständig den Verstand verloren! Ich bin, wie’s scheint, hier in ein Irrenhaus geraten. Es wird nicht mehr lange dauern, und ihr werdet zu weinen anfangen!“

„Ja, ich werde weinen, werde weinen!“ sagte Gruschenka. „Er hat mich seine Schwester genannt, und das werde ich ihm nie vergessen! Aber sieh, Rakitka, wenn ich auch schlecht bin, so habe ich doch vielleicht ein Zwiebelchen gegeben!“

„Was für ein Zwiebelchen? – Pfui Teufel, sie sind ja faktisch übergeschnappt!“

Rakitin wunderte sich über ihre verzückte Begeisterung und fühlte sich gekränkt, obgleich er sich hätte sagen müssen, daß sich bei beiden alles, was ihre Seelen erschütterte, in dieser Minute zusammenfand, wie das nicht oft im Leben geschieht. Doch Rakitin, der sonst sehr feinfühlig in allem war, was ihn selbst betraf, war sehr roh im Verständnis der Empfindungen und Gefühle seiner Nächsten, teilweise wohl aus jugendlicher Unerfahrenheit, teilweise aber auch aus großem Egoismus.

„Siehst du, Aljoschetschka,“ sagte Gruschenka nervös auflachend, und sie wandte sich wieder zu ihm, „ich prahle vor Rakitka, daß ich ein Zwiebelchen gegeben hätte, vor dir aber werde ich nicht damit prahlen, dir werde ich es aus einem anderen Grunde erzählen. Es ist nur eine Legende, aber eine schöne, ich habe sie bereits als Kind gehört, von meiner Matrjona, die noch jetzt bei mir als Köchin dient. Also: Es lebte einmal ein altes Weib, das war sehr, sehr böse und starb. Diese Alte hatte in ihrem Leben keine einzige gute Tat vollbracht. Da kamen denn die Teufel, ergriffen sie und warfen sie in den Feuersee. Ihr Schutzengel aber stand da und dachte: Kann ich mich denn keiner einzigen guten Tat von ihr erinnern, um sie Gott mitzuteilen? Da fiel ihm etwas ein, und er sagte zu Gott: ‚Sie hat einmal,‘ sagte er, ‚aus ihrem Gemüsegärtchen ein Zwiebelchen herausgerissen, und es einer Bettlerin gegeben.‘ Und Gott antwortete ihm: ‚Nimm,‘ sagte er, ‚dieses selbe Zwiebelchen, und halte es ihr hin in den See, so daß sie die Wurzeln zu ergreifen vermag, und wenn du sie aus dem See herausziehen kannst, so möge sie ins Paradies eingehen, wenn aber das Pflänzchen abreißt, so soll sie bleiben, wo sie ist.‘ Der Engel lief zum Weibe und hielt ihr das Zwiebelchen hin: ‚Nun,‘ sagte er zu ihr, ‚faß an, wir wollen sehen, ob ich dich herausziehen kann.‘ Und er begann vorsichtig zu ziehen – und zog sie beinahe schon ganz heraus; da bemerkten es aber die anderen Sünder im See, und wie sie das sahen, klammerten sie sich alle an sie, damit man auch sie mit ihr zusammen herauszöge. Aber das Weib war böse, sehr böse und stieß sie mit ihren Füßen zurück und schrie: ‚Nur mich allein soll man herausziehen und nicht euch, es ist mein Zwiebelchen und nicht eures.‘ Wie sie aber das ausgesprochen hatte, riß das kleine Pflänzchen entzwei. Und das Weib fiel in den Feuersee zurück und brennt dort noch bis auf den heutigen Tag. Der Engel aber weinte und ging davon. So lautet die Legende, Aljoscha, und ich habe sie Wort für Wort auswendig behalten, weil ich selbst dieses sehr, sehr böse Weib bin. Vor Rakitka prahlte ich, daß ich das Zwiebelchen gegeben hätte, aber dir sage ich etwas anderes: Ich habe in meinem ganzen Leben nur ein Zwiebelchen gegeben, und das ist die einzige gute Tat, die ich vollbracht habe. Lobe mich nicht, Aljoscha, halte mich nicht für gut, ich bin schlecht und sehr, sehr böse, und wenn du mich lobst, muß ich mich schämen. Ach, jetzt bereue ich schon alles! Weißt du, Aljoscha, ich habe dermaßen gewünscht, dich zu mir heranzulocken, daß ich Rakitka keine Ruhe gelassen habe, daß ich ihm fünfundzwanzig Rubel versprochen habe, wenn er dich zu mir brächte. Warte, Rakitka, schweig!“ Sie ging mit raschen Schritten zum Tisch, zog ein Schiebfach heraus, suchte nach ihrer Börse und entnahm ihr dann einen Fünfundzwanzigrubelschein.

„Was fällt dir ein! Bist wohl ganz verrückt geworden!“ Rakitin war nicht wenig verdutzt.

„Nimm nur, Rakitka, das ist meine Schuld, wirst es doch nicht abschlagen, hast ja selbst so viel verlangt!“ Und sie warf ihm den Schein zu.

„Warum denn schließlich abschlagen,“ brummte Rakitin, tapfer bemüht, seine Verlegenheit zu verbergen. „Das kommt mir sogar sehr gelegen. Die Dummköpfe sind ja doch nur zur Ausnutzung für die Klugen da.“

„Aber jetzt schweige, Rakitka, jetzt werde ich etwas erzählen, was nicht für deine Ohren bestimmt ist. Setze dich dorthin in den Winkel und schweige; du liebst uns nicht, das weiß ich, so schweige denn.“

„Wofür sollte ich euch denn lieben?“ schimpfte Rakitin, ohne seine Wut zu verbergen. Den Fünfundzwanzigrubelschein steckte er in die Tasche, schämte sich aber doch sehr vor Aljoscha. Er hatte darauf gerechnet, diesen Lohn nachher zu erhalten, so daß Aljoscha gar nichts davon erfahren hätte. Darum nämlich war er so wütend. Bis dahin hatte er noch für ratsam gefunden, Gruschenka nicht zu sehr zu widersprechen, ungeachtet aller Zurechtweisungen, die sie ihm erteilte, und die nur zu deutlich verrieten, daß sie über ihn eine gewisse Macht hatte. Jetzt aber tat er sich keinen Zwang mehr an.

„Wenn man liebt, so muß man eine Veranlassung dazu haben, was aber habt ihr beide denn für mich getan?“

„Man muß auch für nichts und wieder nichts lieben können, so wie Aljoscha liebt.“

„Wieso liebt er dich denn, und was hat er dir denn getan, daß du damit so prahlst?“

Gruschenka stand mitten im Zimmer und sprach erregt; in ihrer Stimme klang schon eine hysterische Note.

„Schweig, Rakitka, du verstehst nichts von uns! und wage es nicht, mich Du zu nennen, ich erlaube es dir nicht, – seit wann hast du dir diese Frechheit überhaupt herausgenommen? Sitz in der Ecke und schweige, du bist mein Lakai! Aber dir, Aljoscha, werde ich jetzt über mich die lautere Wahrheit sagen, damit du weißt, was für ein niedriges Geschöpf ich bin! Nicht Rakitka, sondern dir werde ich es sagen. Ich wollte dich verderben, Aljoscha, das ist die ganze Wahrheit; so sehr wollte ich es, daß ich Rakitka mit Geld bestach, damit er dich herbrächte. Und weißt du, warum ich das so sehr wollte? Du, Aljoscha, wußtest nichts davon, du wandtest dich von mir ab oder senktest die Augen, wenn du an mir vorübergingst, ich aber schaute dir nach und fing an, alle über dich auszufragen. Dein Gesicht aber behielt ich in meinem Herzen: ‚Er verachtet mich, er will mich nicht einmal ansehen,‘ dachte ich. Und es überkam mich zuletzt ein Gefühl, über das ich mich selbst wunderte. Warum fürchtete ich so einen kleinen Knaben? Ach was, ich werde ihn einfach – verschlingen und ihn dann nachher auslachen. Ich wurde zuletzt ganz wütend. Glaubst du, niemand hier wagt zu sagen, daß man Agrafena Alexandrowna mit schlechten Absichten kommen darf; ich habe dort meinen Alten, an ihn bin ich auf ewig gebunden und verkauft; der Satan hat uns getraut, aber sonst – niemand! Als ich dich aber sah, entschloß ich mich – dich zu verschlingen. Und so verschlinge ich dich denn und werde dich hinterher auslachen. Siehst du, was für ein wildes Tier ich bin, ich, die du deine Schwester genannt hast! Siehst du, und jetzt ist mein Verführer gekommen, der mich entehrt hat; ich sitze jetzt hier und erwarte von ihm eine Nachricht. Weißt du aber auch, was jener für mich bedeutet? Fünf Jahre sind jetzt vergangen, vor fünf Jahren brachte mich Kusjma her, – und so lebte ich denn hier und versteckte mich vor allen Leuten, damit sie mich nicht sahen und nichts von mir hörten; ein mageres, dummes Kleines war ich! Da saß ich nun und weinte, und schlief die Nächte nicht und dachte: Wo mag er jetzt sein, mein Verführer? Er lacht jetzt vielleicht mit der anderen über mich! Wenn ich ihn doch nur einmal sehen, ihm begegnen könnte! Dann würde ich es ihm aber heimzahlen, ja, dann würde ich es ihm bezahlen! In der Nacht, in der Dunkelheit schluchzte ich in meine Kissen hinein und dachte unablässig daran, zerriß mein Herz und tränkte es mit verzweifelter Wut: ‚Ich werde es ihm bezahlen, ich werde es ihm schon bezahlen!‘ So war es, so schrie ich in die Nacht hinein. Ja, wenn ich mir das plötzlich vorstellte, daß ich ihm nichts würde antun können, und daß er jetzt vielleicht über mich lacht oder aber überhaupt nicht mehr an mich denkt und mich ganz vergessen hat, so warf ich mich aus dem Bett auf den Fußboden und schüttelte mich und wälzte mich vor ohnmächtiger Wut und vor ohnmächtigen Tränen! Am nächsten Morgen stehe ich auf wie ein wütendes Tier; ich wäre froh gewesen, die ganze Welt verschlingen zu können. Darauf, was denkst du wohl, habe ich angefangen mir ein Kapital zusammen zu scharren, ich wurde unbarmherzig und gleichgültig gegen alles, mein Körper nahm zu und wurde schön – glaubst du aber, daß ich auch an Vernunft zunahm? Haha! Niemand auf der ganzen Welt weiß oder sieht was von mir! Und wenn die nächtliche Dunkelheit wieder anbricht, so liege ich, wie dasselbe kleine, dumme Mädchen vor fünf Jahren, auf meinem Bett und knirsche mit meinen Zähnen und weine die ganze Nacht: ‚Ich werde ihn schon, ich werde ihn schon ...!‘ denke ich dann wieder. Hast du jetzt alles gehört? Nun, wirst du mich aber jetzt verstehen, wenn ich dir sage, daß mir, als ich vor einem Monat plötzlich von ihm einen Brief erhielt, mit der Nachricht, daß er kommt, daß er Witwer ist und mich wiedersehen möchte –, daß mir da der Atem stehen blieb! Herrgott, denke ich da plötzlich: also er kommt und pfeift mir zu, ruft mich, und ich krieche wieder zu ihm wie ein geschlagenes Hündchen, das sich schuldig fühlt! So denke ich bei mir und traue mir selbst nicht: ‚Bin ich niedrig, oder bin ich nicht so niedrig, werde ich zu ihm laufen, oder werde ich nicht zu ihm laufen?‘ Und es packte mich eine Wut auf mich selbst, die mich den ganzen Monat nicht verließ, schlimmer noch als vor fünf Jahren. Siehst du jetzt, Aljoscha, was ich für eine Wütende, Rasende bin?! Die ganze Wahrheit habe ich dir soeben gesagt. Mit Mitjä habe ich mich amüsiert, um nicht an jenen zu denken. Schweig, Rakitka, du hast nicht über mich zu urteilen, dir habe ich es nicht erzählt. Ich lag jetzt hier, bevor ihr kamt, wartete und dachte – und beschloß mein Schicksal, und niemals werdet ihr erfahren, was in meinem Herzen vorging. Nein, Aljoscha, sage deinem Fräulein, daß sie mir wegen vorgestern nicht böse sein soll! ... Niemand auf der ganzen Welt weiß, was in mir jetzt vorgeht, und wer soll es denn auch wissen! ... Vielleicht nehme ich ein Messer mit, wer kann es wissen ...“

Als Gruschenka das ausgesprochen hatte, konnte sie nicht mehr an sich halten: sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, warf sich auf den Diwan in die Kissen und weinte wie ein kleines Kind. Aljoscha erhob sich von seinem Platz und ging zu Rakitin.

„Mischa,“ sagte er, „sei nicht böse. Du bist von ihr beleidigt worden, sei aber nicht böse. Hast du gehört, was sie gesagt hat? Man kann von der Seele des Menschen nicht zu viel verlangen, man muß barmherziger sein.“

Aljoscha kamen diese Worte ganz von selbst über die Lippen. Er mußte seinem Herzen Luft machen, und darum wandte er sich an Rakitin. Wenn Rakitin auch nicht dagewesen wäre, so hätte er sie trotzdem ausgerufen. Rakitin sah ihn aber spöttisch an, und Aljoscha verstummte.

„Du bist heute mit deinem Staretz geladen, und jetzt schießest du ihn auf mich ab, du Gottesknecht Aljoschetschka!“ sagte Rakitin mit haßerfülltem Lächeln.

„Spotte nicht, Rakitin, lache nicht so und sprich nicht vom Verstorbenen: Er war höher als alle auf der Welt!“ rief Aljoscha mit unsicherer Stimme. „Ich habe nicht als Richter zu dir gesprochen, sondern als der erste, der gerichtet werden muß. Was bin ich vor ihr? Ich kam hierher, um ins Verderben zu gehen, und sagte mir: ‚Meinetwegen, meinetwegen, mir soll’s recht sein!‘ so kleinmütig war ich. Sie aber hat nach fünf Jahren Qual, nur weil irgend jemand kam und ihr ein aufrichtiges Wort sagte – alles verziehen, alles vergessen, und weint! Ihr Beleidiger ist zurückgekehrt und ruft sie, und sie verzeiht ihm alles, eilt freudig zu ihm und wird das Messer nicht mitnehmen, nein, wird es nicht mitnehmen! Ich bin nicht so. Ich weiß nicht, ob du auch so bist, Mischa, aber ich bin nicht so. Ich habe soeben eine Lehre von ihr erhalten ... Sie ist in ihrer Liebe größer als wir ... Hast du auch früher schon dasselbe von ihr gehört, was sie soeben gesagt hat? Nein, du hast es nicht gehört; wenn du es gehört hättest, so hättest du schon längst alles verstanden ... auch die andere Beleidigte würde ihr vergeben. Und sie wird ihr vergeben, sobald sie es nur erfährt ... und sie wird es erfahren ... Diese Seele ist noch nicht zur Ruhe gekommen ... man muß sie schonen ... in ihrer Seele könnte ein Schatz ...“

Aljoscha verstummte, atemlos. Rakitin sah ihn trotz seiner Wut verwundert an. Niemals hätte er von dem stillen Aljoscha eine solche Rede erwartet.

„Du entpuppst dich ja als großer Advokat! Hast dich wohl in sie verliebt, wie? Agrafena Alexandrowna, unser Faster hat sich direktement in dich verliebt, du hast ihn besiegt!“ schrie er mit frechem Lachen.

Gruschenka erhob ihren Kopf aus den Kissen und sah Aljoscha mit einem gerührten Lächeln an, das ihr tränengeschwollenes Gesicht erhellte.

„Laß ihn, Aljoscha, mein Cherub, siehst du, wie er ist, du hast dich an den Rechten gewandt. Ich, Michail Ossipowitsch,“ sagte sie zu Rakitin, „wollte dich um Verzeihung bitten, weil ich dich gekränkt habe, aber jetzt will ich es nicht mehr tun. Aljoscha, komm zu mir, setz dich neben mich,“ rief sie ihn mit glücklichem Lächeln zu sich. „Sieh, so, setze dich her, sage du mir“ (sie ergriff seine Hand und sah ihm lächelnd ins Gesicht). „Sage du mir: Liebe ich ihn, oder liebe ich ihn nicht? Meinen Beleidiger, meine ich, liebe ich ihn, oder liebe ich ihn nicht? Ich lag hier, bevor ihr kamt, allein in der Dunkelheit und fragte mein Herz: Liebe ich ihn, oder liebe ich ihn nicht? Entscheide du, Aljoscha, jetzt ist es Zeit, wie du bestimmst, so wird es geschehen. Soll ich ihm vergeben, oder soll ich ihm nicht vergeben?“

„Du hast ihm doch schon vergeben,“ sagte Aljoscha lächelnd.

„Ja, sofort habe ich ihm vergeben,“ entgegnete Gruschenka nachdenklich. „Was für ein niedriges Herz! Ich trinke auf mein niedriges Herz!“ Sie ergriff ein Glas, leerte es bis auf den Grund, hob es in die Höh und warf es mit Wucht zu Boden. Die Scherben klirrten. Ihr Lächeln war grausam in diesem Augenblick.

„Vielleicht habe ich ihm aber doch noch nicht vergeben!“ sagte sie drohend wie zu sich selbst, und ihr Blick haftete am Boden. „Vielleicht hat mein Herz erst angefangen zu verzeihen. Ich kämpfe ja noch mit meinem Herzen. Ich, siehst du, Aljoscha, ich habe die Tränen meiner fünfjährigen Qual liebgewonnen ... Vielleicht liebe ich nur mein Leid, meine Kränkung, und liebe ihn überhaupt nicht!“

„Na, ich möchte jetzt nicht in seiner Haut stecken!“ meinte Rakitin.

„Und wirst auch nie in seiner Haut stecken, Rakitka, nie! Du wirst mir die Stiefel putzen, Rakitka, dazu kann ich dich gebrauchen, aber solch eine wie ich wirst du niemals zu sehen bekommen ... Ja, und vielleicht auch er nicht ...“

„Er? Warum hast du dich denn so aufgeputzt?“ neckte schadenfroh Rakitin.

„Wirf mir nicht den Putz vor, Rakitka, du kennst mein Herz noch nicht! Wenn ich will, so zerreiße ich ihn, sofort zerreiße ich ihn, in dieser Minute!“ rief sie laut. „Du weißt noch nicht, wozu diese Toilette dienen soll, Rakitka! Vielleicht nur, um zu ihm zu gehen und ihm zu sagen: ‚Hast du mich schon so gesehen oder noch nicht?‘ Er hat mich doch als siebzehnjähriges, mageres und abgezehrtes Ding verlassen. Da werde ich mich zu ihm setzen, ihn berücken und anfachen: ‚Hast du gesehen, wie ich jetzt bin,‘ werde ich ihm sagen, ‚nun, und dabei bleibt es, mein werter Herr, kannst dir die Lippen lecken, mehr gibt es nicht!‘ siehst du, wozu diese Toilette noch dienen kann, Rakitka,“ schloß Gruschenka mit bösem Lachen. „Ich bin ein wütendes, ein schlechtes Geschöpf, Aljoscha. Wenn ich will, so zerreiße ich meinen Putz in Fetzen, verstümmle ich meine Schönheit, verbrenne mir das Gesicht und zerschneide es mit dem Messer und gehe betteln. Wenn ich will, so gehe ich jetzt nirgendwohin und zu niemandem und schicke morgen Kusjma alles zurück, was er mir geschenkt hat, all sein Geld, und gehe hin, um mein ganzes Leben lang Tagelöhnerin zu sein! ... Du denkst wohl, daß ich es nicht tun würde, Rakitka, nicht wagen würde, das zu tun? Ich werde es tun, werde es tun, sofort werde ich es tun, reizt mich nur nicht ... ihn aber werde ich fortjagen, dem will ich ... der soll mich nicht zu sehen bekommen!“

Die letzten Worte rief sie außer sich. Wieder konnte sie sich nicht beherrschen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, warf sich in die Kissen und schüttelte sich vor Schluchzen. Rakitin erhob sich von seinem Platz:

„Es ist Zeit,“ sagte er, „es ist schon spät, man wird uns nicht mehr ins Kloster einlassen.“

Gruschenka sprang sofort auf.

„Ist es möglich, daß du schon fortgehn willst, Aljoscha!“ fragte sie in trauriger Bestürzung: „Was hast du jetzt aus mir gemacht? Du hast alles in mir wachgerufen, hast mein Herz zerrissen und nun – wieder diese Nacht, in der ich allein bleiben muß!“

„Er kann doch nicht bei dir nächtigen? Doch wenn du es willst – meinetwegen! Ich werde dann allein fortgehen,“ witzelte Rakitin wieder in seiner häßlichen Weise.

„Schweig, du böse Seele,“ schrie Gruschenka wütend, „niemals hast du mir solche Worte gesagt, wie Aljoscha sie heute zu mir gesprochen hat!“

„Was hat er dir denn gesagt?“ erkundigte sich Rakitin gereizt.

„Ich weiß nicht mehr was, ich kann dir nicht sagen, was er mir gesagt hat, aber mein Herz hat es gefühlt, er hat mir mein Herz um- und umgekehrt ... Er hat mit mir als erster und einziger Mitleid gehabt, siehst du, das ist es! Warum bist du, mein Schutzengel, nicht früher zu mir gekommen!“ Sie fiel wie außer sich vor ihm auf die Knie nieder. „Ich habe mein ganzes Leben lang solch einen wie dich erwartet, gerade daß so einer wie du kommen und mir alles verzeihen werde! Und ich habe geglaubt, daß irgend jemand auch mich lieben wird, mich Schlechte, und nicht nur um den Preis meiner Schande ...“

„Was habe ich dir denn Gutes getan?“ fragte Aljoscha gerührt lächelnd, beugte sich zu ihr nieder und erfaßte ihre beiden Hände: „Nur ein Zwiebelchen habe ich dir gegeben, nur ein kleines Zwiebelchen, und nur das, nur, nur das! ...“

Und als er das gesagt hatte, rollten ihm selbst die Tränen über die Wangen. In diesem Augenblick hörte man im Flur ein Geräusch: jemand trat ins Vorzimmer ein; Gruschenka sprang auf vor Schreck. Fenjä stürzte mit Lärm und Geschrei ins Zimmer.

„Herrin, Täubchen, der Bote ist angekommen!“ rief sie freudig. „Ein Wagen aus Mokroje ist gekommen, Timofeij mit einer Troika, sofort werden die Pferde gewechselt ... Ein Brief, ein Brief, hier ist der Brief!“

Sie hielt den Brief in der Hand und schwenkte ihn die ganze Zeit in der Luft. Gruschenka riß ihr den Brief aus der Hand und trat zum Licht. Es war nur ein Zettelchen, einige Zeilen; in einem Augenblick hatte sie es gelesen.

„Er ruft mich!“ sagte sie erbleichend, und ihr Gesicht verzerrte sich zu einem schmerzlichen Lächeln, „er pfeift! Nun, kriech heran, Hündchen!“

Doch nur einen Augenblick stand sie unentschlossen da; plötzlich stieg ihr das Blut in die Wangen, und ihre Augen flackerten auf.

„Ich gehe!“ rief sie plötzlich aus. „Meine fünf Jahre! Lebt wohl! Leb wohl, Aljoscha, mein Schicksal ist entschieden ... Fort mit euch, fort, alle, damit ich euch nicht mehr sehe! ... Gruschenka beginnt ihren Flug ins neue Leben ... Auch du, Rakitka, gedenke meiner im guten. Vielleicht gehe ich in den Tod! Ich bin ja wie betrunken!“

Sie verließ sie plötzlich und lief in ihr Schlafzimmer.

„Nun, jetzt hat sie keine Zeit mehr für uns,“ brummte Rakitin. „Gehen wir, sonst beginnt womöglich wieder dieses Weibergeschrei. Diese hysterischen Tränen sind mir schon zum Ekel geworden ...“

Aljoscha ließ sich mechanisch hinausführen. Auf dem Hof stand ein Wagen: man spannte die Pferde aus, machte sich geschäftig am Wagen zu tun, eine Laterne wurde hin und her getragen. Durch das offene Hoftor wurden gerade die neuen drei Pferde gebracht. Kaum aber waren Aljoscha und Rakitin auf die Treppe hinausgetreten, als sich Gruschenkas Schlafzimmerfenster öffnete, und sie mit heller Stimme Aljoscha nachrief:

„Aljoschetschka, grüße deinen Bruder Mitjenka, und bitte ihn, daß er meiner nicht im bösen gedenke. Thu’s mit diesen Worten: ‚Ein Schuft hat Gruschenka bekommen, und nicht du hast sie bekommen, der Edelste von allen!‘ Ja, und füge auch noch hinzu, daß ihn Gruschenka ein Stündchen lang geliebt hat, im ganzen vielleicht ein Stündchen lang geliebt – und daß er sich dieses Stündchen sein ganzes Leben lang erinnern soll, so habe Gruschenka gesagt ... sein ganzes Leben lang! ...“

Ihre Stimme ging in Schluchzen über. Das Fenster wurde zugeschlagen.

„Hm, hm!“ brummte Rakitin und lachte dann laut auf. – „Deinem Bruder Mitjenka hat sie den Todesstoß versetzt, und jetzt befiehlt sie ihm noch dazu, sein ganzes Leben lang daran zu denken! Ist das aber eine Bestie!“

Aljoscha antwortete nichts darauf. Es war, als ob er es gar nicht gehört hätte. Er ging schnell neben Rakitin her, wie wenn er Eile hatte. Er war in tiefes Nachdenken versunken und ging ganz mechanisch. Rakitin fühlte plötzlich einen fast körperlichen Schmerz in seinem Innern, als wenn an ihm eine frische Wunde berührt worden wäre. Er hatte etwas ganz anderes vorhin erwartet, als er Aljoscha zu Gruschenka führte; und nun hatte sich dieses so ganz Unerwartete ereignet. Nein, nicht das hatte er gewünscht!

„Ihr Offizier ist ein Pole,“ sagte er schließlich, da er nicht mehr an sich halten konnte, „und jetzt ist er nicht einmal mehr Offizier, sondern bloß ein Zollbeamter, hat in Sibirien gedient, irgendwo dort an der chinesischen Grenze. Ein jämmerliches, kränkliches Kerlchen scheint es zu sein. Hat seine Stelle verloren, sagt man ... Er hat gehört, daß Gruschenka ein Kapital haben soll, nun, und da ist er denn zurückgekehrt. Das ist das ganze Wunder.“

Aljoscha schien wieder nicht zuzuhören. Rakitin fuhr fort:

„Nun, was, hast du eine Sünderin bekehrt?“ fragte er boshaft lachend. „Eine Verirrte auf den Weg der Wahrheit geführt? Die sieben Teufel ausgetrieben etwa? Da haben sich ja eure erwarteten Wunder erfüllt!“

„Hör auf, Rakitin,“ unterbrach ihn Aljoscha gequält.

„Jetzt verachtest du mich wohl wegen der fünfundzwanzig Rubel? Habe sozusagen den Freund verkauft ... Du bist aber doch nicht Christus, und ich nicht Judas ...“

„Ach, Rakitin, ich versichere dir, ich hatte das schon ganz vergessen,“ sagte Aljoscha, „du hast mich jetzt selbst daran erinnert ...“

Da aber wurde Rakitin grob vor Wut.

„Hol euch alle und einen jeden der Teufel!“ brüllte er. „Zum Teufel, warum habe ich mich mit dir abgegeben! Möchte dich von Stund an nicht mehr kennen! Geh allein ins Kloster, dorthin gehörst du!“

Und er kehrte sich auf dem Hacken um und bog in eine andere Straße ein. Aljoscha blieb in der Dunkelheit allein stehen. Er trat aus der Stadt hinaus und ging übers Feld auf das Kloster zu.

IV.
Die Hochzeit zu Kana in Galiläa

Nach der Klosterregel war es sehr spät, als Aljoscha bei der Einsiedelei anlangte; der Pförtner ließ ihn auf einem besonderen Wege ein. Es hatte schon neun Uhr geschlagen, die Stunde der Ruhe und Erholung nach einem für alle so aufregenden Tage. Schüchtern öffnete Aljoscha die Tür und trat in die Zelle des Staretz, wo jetzt sein Sarg stand. Außer Pater Paissij, der einsam am Sarge die Evangelien las, und dem jungen Novizen Porfirij, der, müde von der gestrigen nächtlichen Unterhaltung und von den heutigen Aufregungen, im anderen Zimmer auf dem Fußboden in festem, jugendlichem Schlafe lag, war niemand in der Zelle. Pater Paissij hatte wohl gehört, daß Aljoscha eingetreten war, doch blickte er nicht einmal auf. Aljoscha ging von der Tür rechts in die Ecke, kniete nieder und fing an zu beten. Seine Seele war übervoll, aber es waren nur trübe, unklare Empfindungen in ihm, von denen keine sich klärte, sondern die eine verdrängte die andere, wie in stillem, gleichmäßigem Kreislauf. Im Herzen aber war ihm süß und sonderbar zumute, und er wunderte sich nicht einmal darüber. Wieder sah er vor sich den Sarg, und in ihm seinen teuren Toten. Doch in seiner Seele fühlte er nicht mehr wie am Morgen das quälende, nagende Leid. Gleich beim Eintritt fiel er vor dem Sarge wie vor einem Heiligtum in die Knie, doch Freude, Freude war in seinem Herzen und in seinen Gedanken. Das eine Fenster der Zelle stand offen, und es war eine frische, kalte Luft im Zimmer. „So muß denn der Geruch noch stärker geworden sein, wenn man das Fenster geöffnet hat,“ dachte Aljoscha. Doch dieser Gedanke an den Verwesungsgeruch, der ihm noch vor kurzem so schrecklich und entehrend erschienen war, erweckte in ihm keine Trauer mehr und keinen Unwillen. Er begann, leise zu beten, bald aber fühlte er selbst, daß er nur mechanisch betete. Bruchstücke von Gedanken tauchten in seiner Seele auf, erglühten wie Sternchen und verlöschten wieder und machten anderen Platz. Doch in seiner Seele erhob sich etwas Ganzes, Festes, Tröstendes, und er wurde sich dessen immer mehr bewußt. Von Zeit zu Zeit fing er von neuem leidenschaftlich ein Gebet an, denn er wollte danken und lieben ... Doch kaum hatte er das Gebet begonnen, so gingen seine Gedanken auch schon auf etwas anderes über, er verfiel in Nachdenken, vergaß das Gebet und auch das, was es unterbrochen hatte. Er fing an zuzuhören, was Pater Paissij las, aber den Ermüdeten überkam allmählich der Schlaf.

„Und am dritten Tage war eine Hochzeit zu Kana in Galiläa,“ las Pater Paissij, „und die Mutter Jesu war da. Jesus aber und seine Jünger waren auch auf die Hochzeit geladen ...“

„Hochzeit? Was ist das ... eine Hochzeit ...,“ ging es wie ferner Glockenklang durch Aljoschas Gedanken. „... Auch sie ist voll Glück auf ein Fest gefahren ... Nein, sie nahm nicht das Messer, nein, sie nahm es nicht ... Das war nur ein verzweifeltes Wort ..., solche Worte muß man durchaus verzeihen, durchaus. Sie erleichtern die Seele ... Ohne sie wäre es den Menschen zu schwer, ihr Leid zu tragen ... Rakitin bog in eine Nebenstraße ein. Er wird noch jetzt an die Kränkungen denken ... er wird immer in eine Nebenstraße gehen ... Aber der Weg ... der Weg ist doch groß, gerade und hell, kristallrein, und die Sonne am Ende des Weges ... Wie? ... Was liest er?“

„... Und da es an Wein gebricht, spricht die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein ...“ hörte Aljoscha ihn lesen.

„Ach ja, ich habe da etwas überhört, und wollte es doch nicht, ich liebe diese Stelle so. Die Hochzeit zu Kana, das erste Wunder ... Ach, dieses Wunder, dieses herrliche Wunder! Nicht das Leid, nein, die Freude der Menschen suchte Jesus auf, als er sein erstes Wunder vollbrachte, zur Freude verhalf er ihnen. ‚Wer die Menschen liebt, der liebt auch ihre Freude,‘ – das wiederholte der Verstorbene immer, diesen Ausspruch habe ich am häufigsten von ihm gehört ... Ohne Freude kann man nicht leben, sagt Mitjä ... ja, Mitjä ... Alles, was aufrichtig und schön ist, das ist voll von Allverzeihung und Vergebung: das hat auch wieder Er gesagt ...“

„... Jesus spricht zu ihr: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter spricht aber zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut ...“

„Das tut ... Freude, Freude für die armen Menschen ... Selbstverständlich waren sie arm, wenn es ihnen sogar zur Hochzeit an Wein gebrach ... Die Historiker schreiben ja, daß am See Genezareth und an allen jenen Orten die ärmste Bevölkerung gelebt habe, die man sich nur denken kann ... Und noch ein anderes großes Herz eines anderen großen Wesens, das Herz seiner Mutter wußte, daß er nicht nur wegen seiner großen Tat gekommen war, sondern daß seinem Herzen auch die einfältige von Herzen kommende Freude irgendwelcher kleinen, geringen, aber treuherzigen Leute, die ihn freundlich zu ihrer Hochzeit geladen hatten, zugänglich sei. ‚Meine Stunde ist noch nicht gekommen,‘ sagt er mit stillem Lächeln (sicherlich hat er still gelächelt) ... Ja, er ist doch nicht darum auf die Welt gekommen, um auf den Hochzeiten Armer den Wein zu vermehren. Aber er ist doch zu ihrer Hochzeit gegangen und hat es auf ihre Bitte hin getan ... Ach so, er liest wieder ...“

„... Und Jesus spricht zu ihnen: Füllet die Krüge mit Wasser. Und sie füllten sie bis zum Rande.

Und er spricht zu ihnen: Schöpfet nun und bringet es dem Speisemeister. Und sie brachten es.

Als aber der Speisemeister den Wein kostete, der Wasser gewesen war, und wußte nicht, von wannen er kam (die Diener aber wußten es, die das Wasser geschöpft hatten), ruft der Speisemeister den Bräutigam.

Und spricht zu ihm: Jedermann gibt zum ersten guten Wein, und wenn sie trunken sind, alsdann den schlechteren; du aber hast den guten Wein bis zuletzt behalten ...“ las Pater Paissij.

„Aber was ist das, was ist das? Warum erweitert sich das Zimmer? ... Ach, ja, es ist doch Hochzeit, Hochzeit ... ja ... Sieh, da sind die Gäste, dort sitzt ja das junge Paar und zu beiden Seiten die fröhlichen Gäste ... Wo ist der Speisemeister? Wer aber ist das? Wer? Wieder wird das Zimmer größer ... Wer erhebt sich dort am großen Tisch? Wie ... Auch er ist hier? Aber er ist doch im Sarge ... Aber er ist es, er ist hier, ... er steht auf, er hat mich gesehen, er kommt hierher ... Herrgott! ...“

Ja, zu ihm, zu ihm kam er, der hagere kleine Alte, mit den feinen Runzeln im Gesicht, freudig und verklärt lächelnd. Der Sarg ist nicht mehr da, und er ist im selben Gewande, in dem er noch gestern unter ihnen gesessen hatte, als die Gäste zu ihm gekommen waren. Das Antlitz ist freudig, die Augen glänzen.

„Wie ist denn das möglich? – er ist also auch auf dem Feste, ist auch zur Hochzeit zu Kana in Galiläa geladen? ...“

„Ja, mein lieber Sohn, auch ich bin eingeladen und berufen,“ ertönte hinter ihm eine leise Stimme. „Warum hast du dich hierher zurückgezogen, so daß man dich nicht sehen kann ... komme auch du zu uns.“

Das ist seine Stimme, die Stimme des Staretz Sossima ... Ja, und wie soll es sie denn nicht sein, da er es ist, der da ruft? Der Staretz reichte Aljoscha die Hand, und der erhob sich von den Knien.

„Freuen wir uns,“ fuhr der kleine hagere Greis fort, „trinken wir neuen Wein, den Wein neuer, großer Freude, siehst du, wieviel Gäste hier sind? Sieh, hier ist der Bräutigam und hier die Braut, und hier ist der hochweise Speisemeister, der den neuen Wein kostete. Warum wunderst du dich über mich? Ich habe ein Zwiebelchen gegeben und sieh, jetzt bin ich hier. Und viele hier haben nur ein Zwiebelchen gegeben, nur ein kleines, einziges ... Und wie steht es mit dir, du mein stiller, bescheidener Jüngling? Hast du heute verstanden, das Zwiebelchen einer armen Hungernden zu geben? Beginne, mein Lieber, beginne dein Werk, mein Bescheidener! ... Siehst du unsere Sonne, siehst du Ihn?“

„Ich fürchte mich ... ich wage nicht, hinzusehen ...“ flüsterte Aljoscha.

„Fürchte Ihn nicht. Schrecklich ist Er uns in Seiner Größe, furchtbar in Seiner Höhe, aber unendlich barmherzig ist Er zu uns in Seiner Liebe, und Er freut sich mit uns, Er hat Wasser in Wein verwandelt, damit die Freude der Gäste nicht aufhöre. Neue Gäste erwartet Er, und ununterbrochen ruft Er neue herbei, und so geht es bis in die Ewigkeit. Neuen Wein trägt man auch uns auf, siehst du, wie man die Gefäße trägt ...“

Es war Aljoscha, als brenne etwas in seinem Herzen und erfülle es mit unsäglichem Schmerz. Tränen der Begeisterung lösten sich aus seiner Seele ... Er breitete seine Arme aus, schrie auf und erwachte ...

Wieder der Sarg, das geöffnete Fenster und das leise, würdige, gleichmäßige Lesen der Evangelien. Aljoscha hörte nicht mehr, was gelesen wurde. Sonderbar, er war auf den Knien eingeschlafen, und auf den Füßen stehend erwachte er, und plötzlich, als wenn es ihn von der Stelle gerissen hätte, trat er mit drei festen, schnellen Schritten an den Sarg heran. Er berührte sogar die Schulter Pater Paissijs, doch merkte er es nicht einmal. Der erhob seinen Blick vom Buch und richtete ihn auf Aljoscha, senkte ihn aber sofort wieder, denn er begriff, daß mit dem Jüngling etwas Sonderbares vorging. Aljoscha sah wohl eine halbe Minute lang auf den Sarg, auf den bedeckten, unbeweglich im Sarge ausgestreckten Leichnam, mit dem Heiligenbild auf der Brust und der Kapuze mit dem achtarmigen Kreuze auf dem Haupte. Soeben hatte er seine Stimme gehört, und sie tönte noch fort in seinen Ohren. Er horchte noch hin, er erwartete noch einen Laut ... Doch plötzlich wandte Aljoscha sich um und verließ die Zelle.

Er blieb nicht auf der Treppe stehen, sondern eilte hinunter auf den Rasen. Seine von Jubel erfüllte Seele dürstete nach Freiheit, nach Raum und Weite. Über ihm wölbte sich weit, breit und unabsehbar die Himmelskuppel, übersät mit stillen, flimmernden Sternen. Vom Zenit bis zum Horizont zog sich noch, undeutlich schimmernd, der neblige Streifen der Milchstraße. Eine kühle und bis zur Unbeweglichkeit stille Nacht umfing die Erde. Die weißen Türme und goldenen Kuppeln der Kathedrale hoben sich mattleuchtend vom saphirblauen Nachthimmel ab; die schönen Herbstblumen im Garten der Einsiedelei schliefen noch dem Morgen entgegen. Es war, als wenn die irdische Stille mit der Stille des Himmels zusammenflösse und das Geheimnis der Erde sich mit dem der Gestirne berühre ... Aljoscha stand und schaute empor ... und plötzlich, als hätte ihn ein wuchtiger Schlag getroffen, warf er sich zur Erde nieder.

Er wußte nicht, warum er sie umfing. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, warum es ihn so unwiderstehlich verlangte, sie zu küssen: und er küßte sie weinend, schluchzend, und tränkte sie mit seinen Tränen, und wie außer sich schwur er, wie verzückt, sie zu lieben, zu lieben bis in alle Ewigkeit! „Tränke die Erde mit deinen Freudentränen und liebe diese deine Tränen,“ hallte es in seiner Seele wider. Warum weinte er? Oh, er weinte in seiner Begeisterung sogar über die Sterne, die aus dem unendlichen Raume zu ihm herniederblickten, und „er schämte sich seiner Verzückung nicht.“ Ihm war, als träfen von all diesen zahllosen Welten Gottes unsichtbare Fäden in ihm zusammen, und seine ganze Seele erbebte „in der Berührung mit anderen Welten“. Er wollte allen alles vergeben und um Verzeihung bitten, oh! nicht für sich, sondern für alle, für alles und jedes! „Für mich werden andere bitten,“ erklang es in seiner Seele. Und mit jedem Augenblick fühlte er immer deutlicher, wurde es ihm immer mehr bewußt, daß etwas Festes und Unerschütterliches, wie dieses Himmelsgewölbe, in seine Seele einzog, – wie eine Idee sich seines Verstandes bemächtigte, und zwar für sein ganzes Leben und bis in alle Ewigkeit. Als schwacher Jüngling war er noch zur Erde niedergefallen, als ein fürs ganze Leben gewappneter Kämpfer erhob er sich wieder – das fühlte er, und dessen wurde er sich plötzlich bewußt in diesem Augenblick seiner großen Begeisterung.

Sein ganzes Leben lang, niemals, niemals konnte Aljoscha diesen Augenblick vergessen ... „Jemand hat in dieser Stunde meine Seele heimgesucht,“ sagte er in festem Glauben an seine Worte ...

Nach drei Tagen verließ er das Kloster, gehorsam den Worten seines verstorbenen Staretz, der ihm befohlen hatte, „in der Welt zu leben“.

Achtes Buch.
Mitjä

I.
Kusjma Ssamssonoff

Dmitrij Fedorowitsch, dem Gruschenka „vor ihrem Flug ins neue Leben“ als letzten Gruß zu überbringen befohlen hatte, daß er „ewig dieses Stündchens ihrer Liebe“ gedenken solle, war zur selben Zeit, ohne von ihrem Vorhaben etwas zu ahnen, gleichfalls in großer Unruhe und Sorge. In den zwei letzten Tagen hatte er sich in einem unbeschreiblichen Zustande befunden, so daß es tatsächlich zu der „Gehirnentzündung“ hätte kommen können, an die er in manchen Augenblicken schon fest glaubte. Am Tage vorher hatte Aljoscha ihn vergeblich gesucht, und auch Iwan hatte ihn vergeblich im Gasthaus erwartet. Mitjäs Hauswirte verheimlichten auf seinen Befehl alles, was sich auf ihn bezog. Er aber trieb sich in diesen zwei Tagen überall herum. Er „kämpfte mit seinem Schicksal, um sich zu retten“, wie er sich später ausdrückte. Er verließ in einer dringenden Angelegenheit sogar die Stadt, obgleich es ihm schrecklich war, Gruschenka auch nur eine Stunde außer Aufsicht lassen zu müssen. Ich will nur die notwendigsten Tatsachen aus der Geschichte dieser Tage angeben; es waren dies die beiden letzten Tage vor jener furchtbaren Katastrophe, die so entscheidend in sein Leben eingreifen sollte.

Wenn es auch wahr ist, daß Gruschenka ihn ein Stündchen lang aufrichtig geliebt hatte, so hatte sie ihn doch zu gleicher Zeit wahrhaft grausam und schonungslos gequält; die größte Qual bestand aber für ihn darin, daß er ihre Absichten nicht erraten konnte. Sie im Guten oder mit Gewalt zu etwas zu bewegen, war gleichfalls unmöglich: sie hätte sich ihm auf diese Weise niemals ergeben, und sich, vielleicht auf immer erzürnt, ganz von ihm abgewandt, – das begriff er damals nur zu gut. Dabei fühlte er ganz richtig, daß sie sich selbst in einem Kampf, in einer seltsamen Unentschlossenheit befand, daß sie sich zu etwas entschließen wollte und doch nicht konnte – und darum ahnte er ganz mit Recht, und sein Herz stand ihm still bei diesem Gedanken, daß Gruschenka in manchen Augenblicken ihn und seine Leidenschaft geradezu hassen mußte. So war es denn auch. Warum jedoch Gruschenka trauerte, das konnte er nicht verstehen. Er glaubte, es handele sich für sie nur um die Frage, für wen sie sich entschließen sollte: für ihn, Mitjä, oder für Fedor Pawlowitsch. Hier muß noch auf eine auffallende Tatsache hingewiesen werden: Mitjä war fest überzeugt, daß Fedor Pawlowitsch durchaus Gruschenka eine rechtmäßige Ehe antragen werde (wenn er es nicht schon getan hatte), und glaubte keine Minute daran, daß der alte Wollüstling im Ernst nur mit dreitausend Rubeln davonzukommen hoffte. Darum konnte ihm aber auch zuzeiten scheinen, daß alle Qual Gruschenkas und ihre ganze Unentschlossenheit nur davon herrühre, daß sie nicht wußte, wen von beiden sie wählen sollte, und wer von ihnen für sie vorteilhafter sei. Sonderbar war nur, daß er die bevorstehende Rückkehr „des Offiziers“, jenes in Gruschenkas Leben so bedeutungsvollen Menschen, den sie mit solcher Aufregung und Furcht erwartete, überhaupt nicht beachtete und in diesen Tagen nicht einmal an ihn dachte. Auch Gruschenka hatte in den letzten Tagen ganz darüber geschwiegen. Indessen wußte er davon: Gruschenka selbst hatte ihm vor einem Monat von diesem Brief erzählt, und zum Teil war ihm sogar der Inhalt des Schreibens bekannt. Damals hatte Gruschenka in einem Augenblick gereizter Bosheit Mitjä diesen Brief gezeigt. Doch zu ihrer Verwunderung hatte diese Nachricht schon damals auf ihn fast überhaupt keinen Eindruck gemacht. Warum sie es nicht tat, ist sehr schwer zu erklären: vielleicht einfach darum nicht, weil Mitjä, der durch den schrecklichen Kampf mit seinem leiblichen Vater um dieses Weib niedergedrückt war, sich nichts Gefährlicheres und Schrecklicheres, als was er bereits vor Augen hatte, mehr vorstellen konnte. An einen Bräutigam, der plötzlich nach fünfjähriger Abwesenheit wieder auftauchte, konnte er einfach nicht glauben, und besonders daran nicht, daß der Betreffende nun bald tatsächlich erscheinen sollte. Außerdem war im ersten Brief dieses „Offiziers“, den Gruschenka Mitjä gezeigt hatte, die Ankunft desselben nur ganz unbestimmt angedeutet gewesen. Der Brief war sehr unklar, sehr hochtrabend verfaßt, und hatte eigentlich nichts anderes enthalten, als verschnörkelte Redewendungen. Ich muß dazu bemerken, daß Gruschenka die letzten Zeilen des Briefes, in denen etwas Bestimmteres über seine Wiederkehr gesagt war, verheimlicht hatte. Außerdem erinnerte sich Mitjä noch später, daß auf Gruschenkas Gesicht sich unwillkürlich stolze Verachtung ob dieser Nachricht aus Sibirien ausgedrückt hatte – wenigstens glaubte er so etwas damals bemerkt zu haben. Auch hatte ihm Gruschenka von ihren näheren Beziehungen zu diesem neuen Nebenbuhler nichts mitgeteilt. Auf diese Weise vergaß er denn den Offizier allmählich vollständig. Er dachte nur daran, daß es, wie die Sache sich auch wenden sollte, doch unvermeidlich, und zwar sehr bald, zu einem entscheidenden Zusammenstoß zwischen Fedor Pawlowitsch und ihm kommen werde, und da von diesem Zusammenstoß zweifellos Gruschenkas Entscheidung abhing, so ersehnte er ihn ebenso ungeduldig, wie er ihn fürchtete. So erwartete er denn in unerträglicher Qual jeden Augenblick den Entschluß Gruschenkas, und glaubte immer noch, daß er ganz plötzlich und in höherer Eingebung erfolgen werde. – Vielleicht würde sie ihm plötzlich sagen: „Nimm mich, ich gehöre dir auf ewig,“ und alles hätte dann ein Ende. Er würde sie dann nehmen und sofort ans andere Ende der Welt bringen. Oh, so weit, so weit als möglich würde er sie fortbringen, wenn auch nicht ans Ende der Welt, so doch mindestens ans andere Ende Rußlands. Er würde sich dort unverzüglich mit ihr trauen lassen und sich ungekannt und ungenannt ansiedeln, so daß niemand etwas von ihnen wußte, weder hier, noch dort, noch sonstwo. Dann, oh, dann, beginnt sofort ein neues Leben! Von diesem anderen, erneuten und unbedingt „tugendhaften“ Leben („durchaus, durchaus tugendhaft!“) träumte er ununterbrochen und wie in Verzückung. Er sehnte sich nach solcher Auferstehung und nach jenem neuen Leben. In diesem „unreinen Pfuhl“, in den er durch seinen eigenen Willen geraten war, ekelte es ihn dermaßen, daß er, wie sehr viele in solchen Fällen, mit der Veränderung des Wohnortes alles zu verändern glaubte. Nur nicht diese Menschen, nur nicht diese Verhältnisse, nur fort von diesem verfluchten Ort und – alles wird wiedergeboren werden, alles wird von neuem beginnen! Daran glaubte er unerschütterlich, und das war es, wonach er sich sehnte.

Aber dies alles war nur im Falle einer glücklichen Lösung des ganzen Gruschenka-Problems möglich. Es konnte aber auch eine andere, eine schreckliche Lösung bevorstehen. Wie, wenn sie ihm plötzlich sagte: „Geh fort, ich habe mich soeben für Fedor Pawlowitsch entschieden, ich werde ihn heiraten, dich habe ich nicht nötig.“ Was dann? ... Mitjä wußte übrigens nicht, was dann sein werde, bis zur letzten Stunde wußte er es nicht, das muß zu seiner Verteidigung gesagt sein. Irgendwelche bestimmte Absichten hatte er nicht, an ein Verbrechen dachte er auch nicht. Er ließ sie nur nicht aus den Augen; er spionierte und quälte sich, oder aber – er bereitete sich auf den glücklichen Ausgang vor. Jeden anderen Gedanken verscheuchte er ganz. Und nun kam für ihn noch eine neue Qual hinzu: es erhob sich eine neue, nebensächlichere, doch gleichfalls verhängnisvolle Sorge.

Wenn sie ihm nämlich sagte: „Ich bin dein, bringe mich fort von hier,“ wie sollte er sie dann fortbringen? Wo hatte er die Mittel dazu, das Geld? Gerade in diesen Tagen waren seine Einkünfte, die aus den Abzahlungen Fedor Pawlowitschs bestanden, und die er ununterbrochen im Laufe so vieler Jahre erhalten hatte, völlig versiegt. Allerdings hatte ja Gruschenka Geld, aber Mitjä war in dieser Hinsicht mehr als stolz. Mit seinen eigenen Mitteln wollte er sie fortführen und das neue Leben beginnen, nicht mit ihren. Er vermochte sich nicht einmal vorzustellen, daß er von ihr Geld annehmen könnte, und litt bei dem Gedanken die schrecklichsten Qualen. Über diesen wunden Punkt werde ich mich weiter nicht verbreiten und ihn auch nicht weiter untersuchen; ich will nur gesagt haben, welcher Art seine Seelenverfassung in diesen Tagen war. Vielleicht kam sie, ohne daß er sich dessen bewußt wurde, von den Qualen seiner geheimen Gewissensbisse um das entwendete Geld Katerina Iwanownas her. In den Augen der einen bin ich schon ein Schuft, soll ich es auch noch in den Augen der anderen werden? dachte er damals, wie er selbst später gestand. „Ja, wenn Gruschenka das erfährt, so wird sie nichts von einem solchen Schufte wissen wollen. Woher aber nun die Mittel nehmen, wie sich dieses verhängnisvolle Geld verschaffen? Nichts wird zustandekommen, alles werde ich verlieren, und einzig und allein darum, weil ich kein Geld habe! Oh, Schmach!“

Ich muß hier vorgreifen: Das war es ja, daß er vielleicht wußte, wo dieses Geld zu haben war, vielleicht sogar wußte, wo es lag! Ausführlicheres darüber werde ich dieses Mal noch nicht sagen, das wird sich später von selbst ergeben. Doch worin sein Hauptunglück bestand, darüber will ich, wenn er sich auch der Ursache desselben nicht ganz bewußt war, wenigstens meine Meinung äußern. Um diese irgendwo liegenden Mittel nehmen zu können, um das Recht zu haben, sie zu nehmen, war es unbedingt nötig, die Dreitausend Katerina Iwanowna zurückzuerstatten, – „sonst bin ich ein Taschendieb, ein Schuft, und mein neues Leben will ich nicht als Schuft beginnen.“ Das waren Mitjäs Gefühle, und darum beschloß er auch, wenn es sein müßte, die ganze Welt umzudrehen, doch diese Dreitausend Katerina Iwanowna unter allen Umständen zurückzugeben, was es auch koste. Den endgültigen Entschluß faßte er erst in den letzten Stunden, nämlich nach seinem letzten Gespräch mit Aljoscha, am Abend auf dem Wege zum Kloster, nachdem Gruschenka Katerina Iwanowna beleidigt hatte. Mitjä hatte nach der Erzählung Aljoschas sofort eingesehen, daß er wirklich als „Schuft“ gehandelt hatte, und befohlen, Katerina Iwanowna zu sagen, daß er die Bezeichnung annehme, „wenn das sie trösten könne“. Als er in dieser Nacht vom Bruder fortgegangen war, hatte er sich in seiner Verzweiflung gesagt, daß es für ihn besser wäre, „jemanden zu erschlagen, zu berauben, doch unbedingt die Schuld an Katjä zu tilgen“. „Mag ich lieber vor dem Toten und Geplünderten als Mörder und Dieb dastehen, und vor allen Menschen, – lieber will ich nach Sibirien geschickt werden, als daß ich Katjä das Recht gebe, von mir zu sagen, daß ich sie betrogen, ihr Geld gestohlen, und daß ich mit ihrem Geld Gruschenka entführt und ein neues Leben begonnen habe! Das kann ich nicht ertragen!“ So dachte Mitjä wutknirschend und glaubte, wie erwähnt, nicht ohne Grund, daß es zu jener „Gehirnentzündung“ kommen werde. Einstweilen aber kämpfte er noch ...

Sonderbar: schien es doch, daß ihm bei einem solchen Entschluß außer Verzweiflung nichts anderes übrigblieb; denn wo sollte er plötzlich dieses Geld hernehmen, ein Hungerleider wie er? Trotzdem aber glaubte und hoffte er bis zum Schluß, hoffte er die ganze Zeit über, daß er diese Dreitausend erhalten werde, daß sie, wenn nichts anders, ihm vom Himmel in den Schoß fallen würden. So aber ergeht es allen, die, wie Dmitrij Fedorowitsch, in ihrem Leben nur Geld verausgabt und ein durch Erbschaft und ohne Mühe erhaltenes Geld verschwendet haben, davon aber, wie man Geld verdient, sich überhaupt keine Vorstellung machen können.

Nachdem er Aljoscha damals verlassen hatte, waren ihm die phantastischsten Gedanken wie ein Sturmwind durch den Kopf gezogen. So kam es denn, daß er mit dem allerunglaublichsten Unternehmen anfing. Ja, es kommt vor, daß solchen Leuten in solcher Lage die phantastischsten Unternehmungen gerade die möglichsten scheinen. Er entschloß sich plötzlich, zum Kaufmann Ssamssonoff, dem Protektor Gruschenkas, zu gehen, und ihm einen Plan vorzulegen, um sich auf diese Weise sofort das nötige Geld zu verschaffen. Den kommerziellen Wert seines Projektes bezweifelte er nicht im mindesten. Was ihn peinlich beschäftigte, war viel mehr die eine Frage: wie der alte Ssamssonoff diesen Schritt aufnehmen werde, wenn er ihn nicht ausschließlich von der kommerziellen Seite betrachten sollte. Mitjä kannte diesen Kaufmann nur dem Ansehen nach: bekannt mit ihm war er nicht, noch nie hatte er mit ihm gesprochen. In Mitjä jedoch hatte sich schon lange die Überzeugung festgesetzt, daß dieser alte Wollüstling, dessen Stunden bereits gezählt waren, nichts dagegen haben würde, wenn Gruschenka einen „zuverlässigen Menschen“ heiraten wollte, ja, daß er sogar selbst wünschen werde, ihr dazu zu verhelfen, besonders wenn sich eine so gute Gelegenheit bot. Nach dem Hörensagen oder aus einigen Worten Gruschenkas entnahm er wohl, daß der Alte für Gruschenka Fedor Pawlowitsch vorgezogen hätte. Vielleicht werden viele Leser meiner Erzählung diese Hoffnung Mitjäs auf eine solche Hilfe und die Absicht, die Braut gewissermaßen aus den Händen ihres früheren Beschützers zu empfangen, sehr wenig feinfühlig von Dmitrij Fedorowitsch finden. Ich kann dazu nur eines bemerken: daß die Vergangenheit Gruschenkas von ihm als etwas ganz Abgetanes angesehen wurde. Er sah auf diese Vergangenheit mit unendlichem Mitleid, und in der Glut seiner Leidenschaft glaubte er, daß von dem Augenblick an, wenn Gruschenka ihm sagen werde, daß sie ihn liebe und mit ihm gehen wolle, sofort eine andere Gruschenka und er zusammen mit ihr gleichfalls ein anderer Dmitrij Fedorowitsch sein würde, ohne alle Laster und nur noch mit Tugenden begabt; beide würden sie einander alles vergeben und ihr Leben ganz von neuem beginnen. Was aber Kusjma Ssamssonoff anbelangt, so zählte er ihn zu den „verhängnisvollen“ Menschen in Gruschenkas früherem verunglückten Leben, den sie indessen nie geliebt hatte, und der – und dies war die Hauptsache – auch schon „Vergangenheit“ war, so daß er für ihn überhaupt nicht mehr da zu sein schien. Und außerdem konnte ihn Mitjä jetzt auch gar nicht mehr für einen Mann halten: wußte doch jedermann in der Stadt, daß die Beziehungen dieser „Ruine“ zu Gruschenka nur noch väterlicher Art und durchaus nicht mehr die von früher waren, und zwar schon lange nicht mehr, fast schon seit einem Jahr. Jedenfalls war von seiten Mitjäs viel Herzenseinfalt dabei, denn bei all seinen Lastern war er doch ein gutmütiger Mensch. Infolge dieser Herzenseinfalt war er denn auch unter anderem fest überzeugt, daß der alte Kusjma, jetzt, da er sich vorbereitete, in die andere Welt abzugehen, aufrichtige Reue wegen seiner Vergangenheit mit Gruschenka empfände, und daß Gruschenka nun keinen besseren Gönner, noch zuverlässigeren Freund haben könnte als gerade diesen harmlos gewordenen Alten.

Am Tage nach seinem Gespräch mit Aljoscha auf dem Felde (nach welchem Mitjä die ganze Nacht nicht hatte schlafen können), erschien er um zehn Uhr morgens im Hause Ssamssonoffs und ließ sich bei ihm anmelden. Es war ein altes, düsteres, sehr großes, zweistöckiges Haus mit einem Anbau und Nebengebäuden auf dem Hof. In der unteren Etage lebten die beiden verheirateten Söhne Ssamssonoffs mit ihren Familien, eine alte Schwester von ihm und eine unverheiratete Tochter. Im Anbau des Hauses waren zwei seiner Kommis untergebracht, von denen einer wiederum Vater einer zahlreichen Familie war. Alle diese Familien lebten eingeengt und eingezwängt in ihren kleinen Wohnungen, doch den ganzen oberen Stock seines Hauses bewohnte der Alte allein und erlaubte nicht einmal, daß seine Tochter bei ihm wohnte, die ihn pflegte, und zu bestimmten Stunden und auf die immerwährenden Rufe jedesmal zu ihm von unten nach oben laufen mußte, ungeachtet ihrer schwachen Brust. Dieser obere Stock bestand aus einer Menge großer Paradezimmer, die auf alte, kaufmännische Art ausgestattet waren: mit langen, langweiligen Reihen plumper angestrichener Sessel und Stühle aus rotem Holz an den Wänden, mit kristallenen Kronleuchtern in Überzügen, mit alten, trüben Spiegeln zwischen den Fenstern. Alle diese Zimmer waren unbewohnt, denn der kranke Alte hatte sich in ein einziges kleines Zimmer zurückgezogen, in ein abgelegenes, kleines Schlafzimmer, wo ihm eine alte Magd, die ihre Haare mit einem Tuch umwickelt trug, und ein Bursche, der auf der Truhe im Vorzimmer schlief, aufwarteten. Wegen seiner geschwollenen Füße konnte der Alte überhaupt nicht mehr allein gehen und erhob sich daher sehr selten aus seinem Ledersessel; die Alte, die ihm aufstehen half, führte ihn dann ein- oder zweimal durch das Zimmer. Er war streng und wortkarg; selbst mit der Alten sprach er kaum. Als man ihm den „Hauptmann“, wie der Alte Dmitrij Fedorowitsch zu nennen pflegte, meldete, befahl er, ihn abzuweisen. Aber Mitjä bestand darauf und bat, ihn noch einmal anzumelden. Kusjma Kusjmitsch erkundigte sich ausführlich beim Burschen nach dem Besuch: „Wie sieht er aus? Ist er nicht betrunken? Ist er vielleicht aufgebracht?“ und erhielt zur Antwort, daß er „nüchtern“ sei, aber auf keinen Fall fortgehen wolle. Der Alte befahl, ihn noch einmal abzuweisen. Da schrieb Mitjä, der das alles vorausgesehen und sich für den Fall mit Bleistift und Papier versorgt hatte, auf eine Karte: „In einer sehr dringlichen Angelegenheit, die Agrafena Alexandrowna betrifft,“ und schickte sie dem Alten. Nach einigem Nachdenken befahl der Alte dem Burschen, den Gast in den Saal zu führen; die Alte aber schickte er zum jüngeren Sohn nach unten, mit der Weisung, der möge sofort sich zu ihm nach oben begeben. Dieser jüngere Sohn, ein Mann von fast sieben Fuß Länge und von außergewöhnlicher Kraft, mit glattrasiertem Gesicht und in deutscher Kleidung (Ssamssonoff selbst trug einen russischen Leibrock und einen langen Bart), erschien sofort und ohne ein Wort zu reden. Alle zitterten sie vor dem Vater. Der Vater hatte den jungen Mann nicht etwa aus Furcht vor dem „Hauptmann“ rufen lassen, denn er war nichts weniger als furchtsam, sondern vielmehr, um auf jeden Fall einen Zeugen zugegen zu haben. In Begleitung des Sohnes und des Burschen, die ihn unter den Armen gestützt hielten, erschien der Alte endlich im Saal. Man sollte meinen, daß auch er eine genügend starke Neugier empfinden mußte. Der Saal, in dem Mitjä wartete, war ein sehr großes, dunkles, die Seele des Menschen bedrückendes Gemach, mit zwei übereinanderliegenden Fensterreihen und mit einer Galerie; die Wände waren marmorartig bemalt, und an der Decke hingen drei große Kristall-Kronleuchter in Überzügen. Mitjä saß auf einem kleinen Stuhl neben der Tür und wartete in nervöser Ungeduld. Als der Alte in der gegenüberliegenden großen Tür erschien, sprang Mitjä sofort vom Stuhl auf und ging ihm mit seinen festen Offiziersschritten entgegen. Er war gut gekleidet: in zugeknöpftem Gehrock, einen schwarzen, englischen Hut in der Hand und in schwarzen Handschuhen, fast genau so, wie er am Tage vorher beim Staretz zur Familienversammlung erschienen war. Der Alte erwartete ihn stehend, würdig und streng, und Mitjä fühlte sofort, daß jener ihn, solange er auf ihn zuging, musternd betrachtete. Das Gesicht Kusjma Kusjmitschs war in der letzten Zeit ganz aufgeschwollen und setzte Mitjä etwas in Erstaunen: seine untere und ohnehin schon dicke Lippe glich jetzt geradezu einem hängenden, dicken Fleischlappen. Würdig und schweigend verneigte er sich vor dem Gast und wies ihm einen Sessel neben dem Diwan an; er selbst aber ließ sich – von seinem Sohne gestützt und schwer ächzend – Mitjä gegenüber auf dem Diwan nieder. Mitjä empfand, als er die Anstrengung des Alten sah, in seinem Herzen sofort etwas wie zartfühlende Reue wegen seiner Belästigung eines so würdigen, kranken Greises.

„Womit kann ich Ihnen gefällig sein, mein Herr,“ fragte endlich der Alte, nachdem er sich gesetzt hatte, langsam, deutlich, streng, doch in höflichem Tone.

Mitjä fuhr zusammen und wollte schon vom Stuhl aufspringen, besann sich aber und blieb sitzen. Darauf fing er sofort mit lauter Stimme, sich überstürzend, mit unruhigen Gesten und in großer Aufregung zu reden an. Es war, wie wenn ein Mensch an der letzten Grenze angelangt ist, unmittelbar vor dem Untergang steht und noch einen letzten Ausweg sucht, – gelingt es ihm nicht, ihn zu finden, so springt er sofort ins Wasser. Alles das begriff der alte Ssamssonoff sofort, doch sein Gesicht blieb unveränderlich und kalt wie das eines Götzenbildes. Mitjä wußte nicht recht, wie er ihn anreden sollte.

„Der sehr geehrte Kusjma Kusjmitsch,“ begann er endlich, „wird wohl schon oft genug von meinen Streitigkeiten mit meinem Vater, Fedor Pawlowitsch Karamasoff, gehört haben, der mich des Erbes meiner leiblichen Mutter beraubt hat ... da ja die ganze Stadt davon spricht ... denn hier reden doch alle von Dingen, die sie nichts angehen ... Außerdem hätten Sie von Gruschenka ... pardon: von Agrafena Alexandrowna ... der von mir hochgeehrten und hochgeachteten Agrafena Alexandrowna ...“ So begann Mitjä und verwirrte sich schon bei den ersten Worten. Doch ich will hier nicht seine ganze Rede wortwörtlich wiederholen, sondern nur den Inhalt derselben. Zunächst ging’s folgendermaßen weiter: Mitjä hätte sich schon vor drei Monaten „absichtlich“ mit einem Advokaten aus der Gouvernementsstadt beraten, „mit dem berühmten Advokaten Pawel Pawlowitsch Korneplodoff. Sie werden diesen Namen wahrscheinlich schon gehört haben? Ein kluger Kopf, ein fast staatsmännischer Verstand ... er kennt Sie ... er hat Ihrer im besten Sinne erwähnt ...“ Mitjä verlor schon wieder den Faden. Aber das hielt ihn nicht im geringsten auf, er überhastete sich und strebte immer weiter. Dieser Korneplodoff hätte nun, nachdem er die Dokumente, die Mitjä ihm stellen konnte, zur Durchsicht verlangt (von den Dokumenten sprach Mitjä sehr unklar, und er beeilte sich offenbar, über diesen Punkt hinwegzukommen), ihm gesagt, daß man in betreff des Gutes Tschermaschnjä, das Mitjä mütterlicherseits zukam, tatsächlich einen Prozeß gegen den alten Lüstling beginnen könne ... „denn es sind doch nicht alle Türen verschlossen! Wer soll es denn sonst wissen, wenn nicht die Juristen, wo man durchschlüpfen kann!“ Mit einem Wort, man könne noch auf eine Abzahlung von sechstausend, sogar siebentausend Rubel von seiten Fedor Pawlowitschs hoffen. Denn Tschermaschnjä sei immerhin nicht weniger als fünfundzwanzigtausend wert, „das heißt achtundzwanzig – was sage ich –, dreißig, dreißigtausend, Kusjma Kusjmitsch, und denken Sie sich doch, ich hab nur siebzehntausend von ihm ausgezahlt erhalten! ... Ich habe die Sache damals nur deswegen liegen lassen, weil ich nichts mit dem Gericht zu tun haben wollte, doch als ich herkam, fiel ich geradezu aus den Wolken: Er bereitete eine Gegenklage vor!“ (Hier verwirrte sich Mitjä von neuem und übersprang daher auch diesen Punkt.) „Mit einem Wort, wollen Sie vielleicht, sehr geehrter Kusjma Kusjmitsch, alle meine Ansprüche auf dieses Gut übernehmen, und mir dafür nur dreitausend Rubel geben ... Sie können dabei in keinem Falle etwas verlieren, dessen versichere ich Sie bei meiner Ehre, sondern Sie können statt dreitausend, sechs- bis siebentausend gewinnen ... Die Hauptsache ist aber, daß man die Sache so schnell als möglich erledigt, wenn möglich sogar heute schon ... Ich werde Ihnen beim Notar, oder wie da ... Mit einem Wort, ich bin zu allem bereit, ich werde Ihnen alle Dokumente einhändigen, die Sie nur wollen, alles unterschreiben ... und wir würden dieses Papier sofort aufsetzen, und wenn es nur möglich, ja wenn es nur irgend möglich ist, sogleich heute alles erledigen ... Sie würden mir die Dreitausend geben ... Denn welcher Kapitalist hier in der Stadt könnte sich mit Ihnen messen? ... und Sie würden mich retten vor ... mit einem Wort, Sie würden meinen Kopf retten, um einer hochherzigen ... Ich hege die edelsten Gefühle zu einer gewissen Dame, die Sie nur zu gut kennen, und die Sie väterlich beschützen. Es sind hier, wenn Sie wollen, drei mit den Köpfen zusammengestoßen, denn das Schicksal – das ist etwas Grausames! Der Realismus, Kusjma Kusjmitsch, der Realismus! Da man Sie aber schon seit langem ausschließen muß, so bleiben nur noch zwei Köpfe ... pardon, ich drücke mich vielleicht nicht ganz geschickt aus ... ich bin kein Literat. Das heißt, der eine Kopf, das bin ich, und der andere – das ist das Ungeheuer! Und so wählen Sie denn. Alles liegt jetzt in Ihren Händen ... drei Schicksale und zwei Lose ... Verzeihen Sie, ich habe mich versprochen ... doch Sie verstehen schon ... ich sehe es an Ihren ehrwürdigen Augen, daß Sie verstanden haben ... Wenn Sie aber nicht verstehen wollen, so ist es heute noch aus mit mir!“

Mitjä hielt plötzlich in seiner sinnlosen Rede inne und erwartete eine Antwort auf seinen dummen Vorschlag. Bei der letzten Phrase hatte er plötzlich gefühlt, daß nun alles verloren war – und hauptsächlich, daß er einen schrecklichen Unsinn zusammengesprochen hatte. „Sonderbar, als ich herkam, schien mir alles so klar und gut, und jetzt ist alles Unsinn!“ ging es ihm plötzlich durch seinen hoffnungslosen Kopf. Die ganze Zeit, während er sprach, saß der Alte unbeweglich da und beobachtete ihn mit einem eisigen Ausdruck. Nachdem er ihn eine Weile auf seine Antwort hatte warten lassen, sagte er endlich im kühlsten und teilnahmlosesten Tone:

„Entschuldigen Sie, aber mit solchen Sachen befassen wir uns nicht.“

Mitjä fühlte, daß seine Füße schwach wurden.

„Was soll ich jetzt tun, Kusjma Kusjmitsch?“ murmelte er erblassend. „Was glauben Sie, jetzt bin ich doch verloren?“

„Entschuldigen Sie ...“

Mitjä stand noch immer da und starrte vor sich hin, und plötzlich bemerkte er, daß im Gesicht des Alten etwas zuckte. Er schrak zusammen.

„Sehen Sie, mein Herr, solche Sachen – passen mir nicht,“ sagte langsam der Alte, „mit dem Gericht und mit den Advokaten, das ist das reine Unglück! Doch wenn Sie wollen, ich kenne einen Menschen, an den Sie sich damit wenden könnten ...“

„Mein Gott, wer ist das? ... Sie retten mich, Kusjma Kusjmitsch!“ stotterte Mitjä.

„Er ist kein Hiesiger, und auch jetzt befindet er sich nicht hier. Er ist Bauer, handelt mit Wald und heißt Ljägawyj. Mit Fedor Pawlowitsch verhandelt er schon ein Jahr lang wegen des Waldes von Tschermaschnjä; sie können mit dem Preis nicht übereinkommen, wie Sie vielleicht gehört haben. Jetzt ist er wieder hergekommen und hält sich beim Popen Iljinskij auf, zwölf Werst von der Station Wolowje entfernt, im Dorfe Iljinskoje. Er hat auch an mich in dieser Angelegenheit geschrieben, das heißt, er hat mich wegen des Waldes um Rat gefragt. Fedor Pawlowitsch wollte selbst hinfahren. Wenn Sie jetzt Fedor Pawlowitsch zuvorkommen und dem Ljägawyj dasselbe vorschlagen, was Sie mir vorgeschlagen haben, so könnte er ...“

„Ein genialer Gedanke!“ unterbrach ihn Mitjä begeistert. „Gerade ihm, gerade ihm muß man das in die Hand geben! Er will den Wald kaufen, man verlangt einen hohen Preis von ihm, und da, da gibt man ihm ein Dokument mit dem Anrecht auf den ganzen Besitz in die Hände, hahaha!“ Und Mitjä lachte plötzlich sein trockenes, kurzes Lachen, und zwar so unerwartet, daß Ssamssonoff mit dem Kopf zurückzuckte.

„Wie soll ich Ihnen dafür danken, Kusjma Kusjmitsch!“ stieß Mitjä aufgeregt hervor.

„Ich bitte, nicht der Mühe wert,“ erwiderte Ssamssonoff mit einem Kopfneigen.

„Sie wissen gar nicht, Sie haben mich gerettet, mein Vorgefühl hat mich zu Ihnen geführt ... Also, auf zu diesem Popen! Ich eile, ich fliege sofort ... Ich habe auf Ihre Krankheit keine Rücksicht genommen ... Aber ich werde es Ihnen nie vergessen! Ein russischer Mensch sagt Ihnen das, Kusjma Kusjmitsch, ein russischer Mensch!“

„Sehr wohl.“

Mitjä wollte bereits die Hand des Alten ergreifen, um sie zu schütteln, doch etwas Böses blitzte in dessen Augen auf. Mitjä ließ seine Hand sinken, machte sich aber seines Argwohns wegen sofort Vorwürfe. „Er ist ermüdet ...“ ging es ihm durch den Sinn.

„Für sie! Für sie! Kusjma Kusjmitsch! Sie verstehen mich doch, alles ist ja für sie!“ rief er plötzlich laut durch den ganzen Saal, verbeugte sich, drehte sich auf dem Hacken hastig um und ging mit denselben raschen, gleichmäßigen Schritten, ohne sich umzukehren, dem Ausgang zu. Er zitterte vor Begeisterung. „Alles war schon verloren, da hat mich mein Schutzengel gerettet! ... Und wenn schon selbst solch ein Geschäftsmann wie dieser Alte –, welch ein edler Greis, welch eine Haltung! – mir diesen Ausweg zeigt, so ... so ist doch wenigstens schon der Weg gefunden! Ich werde sofort hinfahren. Vor der Nacht bin ich dann wieder zurück, und die Sache ist erledigt. Der Alte hat sich doch nicht über mich lustig machen wollen?“ So dachte Mitjä bei sich, als er in seine Wohnung eilte. Es konnte ihm auch gar nicht anders scheinen: entweder, es war ein sachlicher Rat (von solch einem Geschäftsmann!) mit Sachkenntnis gegeben, oder – oder aber der Alte hatte sich wirklich über ihn lustig gemacht! Leider war der zweite Gedanke der richtige. Später, lange nachher, als die ganze Katastrophe schon geschehen war, gestand der alte Ssamssonoff selbst lachend, daß er sich über den „Hauptmann“ tatsächlich lustig gemacht hatte. Er war ein böswilliger, kalter und höhnischer Mensch, und dazu war er noch voller krankhafter Abneigungen. Die begeisterte Stimmung des „Hauptmanns“, die dumme Überzeugung dieses „Verschwenders und Verschleuderers“, daß er, Ssamssonoff, auf so einen „wilden Plan“ hereinfallen könnte, die Eifersucht wegen Gruschenka, um derentwillen dieser „Herumtreiber“ zu ihm gekommen war, um für irgendeinen wilden Blödsinn Geld zu erhalten – ich weiß nicht, was in dem Alten in jenem Augenblick aufstieg, als Mitjä vor ihm stand und fühlte, daß seine Füße schwach wurden, und er sinnlos ausrief, daß er verloren sei: aber in dieser Minute sah der Greis mit unendlicher Wut auf ihn und nahm sich vor, ihn zum besten zu haben. Als Mitjä hinausgegangen war, befahl Kusjma Kusjmitsch, bleich vor Zorn, seinem Sohn, dafür zu sorgen, daß von diesem Herumtreiber hinfort selbst nicht der Schatten mehr vor seine Augen komme, nicht einmal auf den Hof solle man ihn lassen, geschweige denn ...

Er beendete seine Drohung nicht, doch der Sohn, der ihn oft im Zorn gesehen hatte, erzitterte vor Furcht, denn so war der Vater noch nie gewesen. Noch eine ganze Stunde nachher bebte der Alte vor Wut, und zum Abend hin erkrankte er und schickte nach dem Arzt.

II.
Ljägawyj

So mußte sich Mitjä denn aufmachen, doch Geld, um die Pferde zu bezahlen, besaß er nicht: im ganzen hatte er noch zwei Zwanzigkopekenstücke, das war aber auch alles, was ihm von seinem früheren Wohlstande verblieben war. Aber bei ihm zu Haus lag noch eine alte silberne Uhr, die schon längst zu gehen aufgehört hatte. Er nahm sie und brachte sie zu einem Uhrmacher, einem Juden, der seinen kleinen Laden am Markt hatte. Der gab für sie sechs Rubel. „So viel? Das hatte ich gar nicht erwartet!“ rief Mitjä entzückt aus (er war die ganze Zeit über noch begeistert), steckte sich die sechs Rubel ein und eilte nach Haus. Zu Hause borgte er von seinen Hauswirten noch drei Rubel dazu; sie gaben sie ihm mit Vergnügen, ungeachtet dessen, daß es ihr letztes Geld war – so sehr liebten sie ihn. Mitjä erzählte ihnen sofort in seiner Begeisterung, daß sein Schicksal sich jetzt entscheiden werde, erzählte ihnen in großer Eile fast seinen ganzen „Plan“, den er soeben noch Ssamssonoff vorgelegt hatte, darauf den Rat Ssamssonoffs, alle seine Hoffnungen usw. usw. Die Hauswirte waren auch schon früher in viele seiner Geheimnisse eingeweiht worden und betrachteten ihn als einen zu ihnen Gehörigen, und durchaus nicht als stolzen Herrn Leutnant. Nachdem er auf diese Weise also neun Rubel zusammengebracht hatte, schickte er nach Postpferden, um zur Station Wolowje zu fahren. Auf diese Weise konnte später die Tatsache festgestellt werden, daß Mitjä „am Tage vor dem Ereignisse keinen Kopeken besessen hatte, und daß er, um sich das Geld, das er zur Fahrt nötig hatte, zu verschaffen, seine Uhr verkauft und drei Rubel von den Hauswirten geborgt hatte, und das alles vor Zeugen.“

Ich hebe diese Tatsache schon jetzt hervor, später wird sich erklären, warum ich es tue.

Wenn nun Mitjä auch während der ganzen Fahrt bis zur Station Wolowje, vor Freude darüber, daß jetzt endlich sich alles lösen und „alle diese Gemeinheiten“ ein Ende nehmen würden, förmlich berauscht war, so zitterte er trotz alledem vor Angst bei dem schrecklichen Gedanken: „Was wird Gruschenka während meiner Abwesenheit tun? Wenn sie sich nun gerade heute entschließt, zum Vater zu gehen?“ Darum hatte er ihr auch nicht gesagt, daß er fortfahren werde und den Hauswirten strengstens verboten, zu verraten, wohin er sich begeben hatte, falls jemand kommen sollte, um nach ihm zu fragen. „Ich muß unbedingt, unbedingt noch heute abend zurückkehren,“ sagte er sich immer wieder, „und diesen Ljägawyj müßte man eigentlich mitschleppen, damit man alle Formalitäten sofort erledigen kann ...“ So träumte Mitjä mit bangem Herzen, doch leider sollten sich diese Träume nicht nach seinem „Plane“ verwirklichen. Erstens: er verspätete sich, da er von der Station Wolowje einen Nebenweg eingeschlagen hatte. Der Nebenweg war aber nicht zwölf, sondern achtzehn Werst lang. Zweitens traf er den Iljinskijschen Popen nicht zu Haus, da jener auf ein benachbartes Gut gefahren war. Als Mitjä ihm mit seinen müdegejagten Pferden auf das Gut nachfuhr und ihn endlich fand, wurde es schon Nacht. Das „Väterchen“, dem Äußeren nach ein bescheidener und liebenswürdiger Mensch, erklärte sofort bereitwillig, daß dieser Ljägawyj sich wohl zuerst bei ihm aufgehalten habe, doch jetzt sich in Ssuchoj Possjolok, wo er Wald kaufe, beim Buschwächter befinde, und dort in dessen Hütte übernachten werde. Auf die inständigen Bitten Mitjäs, ihn sofort zu diesem Ljägawyj zu bringen und ihn dadurch zu „retten“, weigerte sich das Väterchen zuerst, schließlich aber willigte es doch ein, ihn nach Ssuchoj Possjolok zu führen, da es augenscheinlich selbst eine große Neugierde empfand. Zum Unglück riet er aber Mitjä, mit ihm zu Fuß dahin zu gehen, da es nur etwas mehr als eine Werst entfernt sei. Mitjä, versteht sich, willigte sofort ein und ging mit seinen langen Schritten drauflos, so daß das arme Väterchen fast hinter ihm herlaufen mußte. Es war das noch kein alter, doch ein sehr vorsichtiger Mensch. Mitjä sprach sofort wieder begeistert mit ihm über seine Pläne, verlangte voll Unruhe seinen Rat in betreff Ljägawyjs und sprach überhaupt den ganzen Weg. Das Väterchen hörte ihm aufmerksam zu, riet ihm aber wenig. Auf die Fragen Mitjäs antwortete es ausweichend: „Ich weiß es nicht, ich, ich weiß es nicht, wie soll ich das wissen“ usw. Als Mitjä von seinen Streitigkeiten mit Fedor Pawlowitsch wegen seiner Erbschaft erzählte, erschrak das Väterchen sogar, da es in irgendwelchen Dingen von Fedor Pawlowitsch abhängig war. Mit Verwunderung fragte der Pope übrigens Mitjä, warum er diesen Holzhändler Gorstkin „Ljägawyj“ nannte, und er erklärte Mitjä ausführlich, daß jener, wenn er auch Ljägawyj hieße, sich doch nicht Ljägawyj nenne; mit diesem Namen kränke man ihn bis aufs Blut, und Mitjä solle ihn nur ja Gorstkin anreden, denn sonst würde aus der Sache nichts werden, und „er würde Sie überhaupt nicht anhören“, schloß das Väterchen. Mitjä war darüber sehr verwundert und erklärte ihm, daß Ssamssonoff selbst jenen Holzhändler so genannt habe! Als der Priester das hörte, brach er das Gespräch sofort ab, obgleich es besser gewesen wäre, wenn er Mitjä seinen Verdacht mitgeteilt hätte: daß Ssamssonoff, wenn er ihn zu diesem Bauer, als zu „Ljägawyj“ geschickt hat, sich über ihn nur habe lustig machen wollen, und daß dabei etwas nicht ganz in Ordnung sein müsse. Doch Mitjä hatte keine Zeit, jetzt „an solche Kleinigkeiten“ zu denken. Er beeilte sich, schritt weit aus, und erst, als er in Ssuchoj Possjolok angelangt war, erriet er, daß sie nicht eine Werst, wohl aber drei Werst gegangen waren; das ärgerte ihn ein wenig, aber er schwieg darüber. Sie traten in die Hütte. Der Buschwächter, ein Bekannter des Väterchens, wohnte in der einen Hälfte der Hütte, in der anderen, in der „guten Stube“, rechts vom Flur, hatte sich Gorstkin einquartiert. Sie traten in die gute Stube, und es wurde für sie sofort ein Talglicht angezündet. Die Stube war stark geheizt. Auf einem Tannenholztisch stand ein verlöschter Ssamowar, ein Teebrett mit Tassen, eine geleerte Flasche Rum, ein fast geleerter Liter Branntwein und Reste von Weizenbrot. Der Angereiste selbst lag ausgestreckt auf einer Holzbank, hatte seinen zusammengerollten Überrock statt eines Kissens unter den Kopf geschoben und schnarchte laut. Mitjä war einen Augenblick unentschlossen. „Man muß ihn wecken! Meine Angelegenheit ist zu wichtig, und ich habe es so eilig, ich muß heute noch zurückfahren,“ sagte Mitjä in seiner Erregung; das Väterchen und der Wächter standen dabei, schweigend, und keiner äußerte seine Meinung. Mitjä ging zum Schlafenden und versuchte ihn zu wecken, rüttelte ihn kräftig, aber der Schlafende wachte nicht auf. „Er ist betrunken!“ rief Mitjä erschrocken aus, „was soll ich jetzt tun, mein Gott, was soll ich jetzt tun!“ Und plötzlich begann er in seiner Ungeduld den Schlafenden an den Händen und Füßen zu zerren, seinen Kopf zu schütteln, ihn aufzuheben und auf die Bank zu setzen, doch seine ganze lange Liebesmüh war umsonst: der Betrunkene brummte und grunzte nur und fing schließlich an kräftig, wenn auch undeutlich zu schimpfen.

„Nein, besser, Sie schieben es noch auf,“ sagte endlich das Väterchen, „er ist augenblicklich nicht imstande ...“

„Er hat den ganzen Tag getrunken,“ berichtete nun auch der Buschwächter.

„Mein Gott!“ rief Mitjä ganz verzweifelt, „wenn Sie nur wüßten, wie sehr die Sache drängt, in welch einer Verzweiflung ich mich jetzt befinde!“

„Aber es wäre auch für Sie besser, bis zum Morgen zu warten,“ meinte wieder das Väterchen.

„Bis zum Morgen? Erbarmen Sie sich, das ist unmöglich!“ Und in seiner Verzweiflung wollte er sich wieder auf den Betrunkenen stürzen, um ihn zu wecken, doch ließ er sofort davon ab, da er die Nutzlosigkeit dieser Anstrengung einsah. Der Pope schwieg, der verschlafene Wächter stand mit düsterer Miene da.

„Herrgott, welche furchtbaren Tragödien die Wirklichkeit doch mit den Menschen aufführt!“ rief Mitjä verzweifelt aus. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er stand schweigend da. Das Väterchen benutzte den Augenblick, um ihm noch einmal vernünftig zuzureden: daß, wenn es ihm auch gelänge, den Schlafenden aufzuwecken, dieser in seiner Betrunkenheit doch nicht zu solch einem Gespräch fähig sein werde, „und da Ihre Sache von so großer Wichtigkeit ist, so wäre es besser, sie bis zum Morgen aufzuschieben ...“ Mitjä breitete nur die Arme aus und schickte sich wohl oder übel drein.

„Väterchen, ich werde mit dem Licht hierbleiben und werde einen Augenblick zu erhaschen versuchen. Wenn er aufwacht, werde ich sofort beginnen ... Das Licht werde ich dir bezahlen,“ sagte er zum Wächter gewandt, „für das Nachtlogis gleichfalls, wirst noch an Dmitrij Karamasoff denken. Was wird aber nun aus Ihnen, Väterchen, ich weiß nicht, wo Sie bleiben sollen, wo Sie sich hinlegen könnten ...“

„Nein, ich gehe zu mir nach Haus. Ich werde auf seiner Stute zurückreiten,“ sagte das Väterchen, auf den Wächter weisend. „Leben Sie wohl, ich wünsche Ihnen guten Erfolg.“

Und so geschah es denn auch. Der Pope ritt auf der kleinen Stute davon, froh darüber, daß er sich endlich von der Sache losgemacht hatte. Doch schüttelte er noch lange nachdenklich sein Haupt und dachte unruhig darüber nach, ob es nicht besser wäre, morgen frühzeitig seinen Gönner Fedor Pawlowitsch von diesem bemerkenswerten Fall zu benachrichtigen, „denn ist die Stunde, in der er es erfährt, ungünstig, so kann er noch wütend werden und seine Güte zu mir einschränken.“ Der Waldwächter kratzte sich hinterm Ohr und ging schweigend in seine Kammer. Mitjä setzte sich auf die Bank, um, wie er gesagt hatte, den Augenblick zu erhaschen! Schwermut breitete sich wie Nebel über seine Seele; es war eine tiefe, lähmende Schwermut! Und doch gaben ihm die Sorgen keine Ruh. Er saß da und grübelte und konnte sich trotzdem nicht klar und schlüssig werden. Das Licht brannte nieder; ein Heimchen zirpte hin und wieder, und in dem geheizten Zimmer wurde es unerträglich beklemmend. Plötzlich sah er einen Garten vor sich, einen Gang hinter dem Garten, im Hause des Vaters öffnete sich geheimnisvoll eine Tür, und durch die Tür schlüpfte Gruschenka ... Er sprang auf.

„Die Tragödie!“ sagte er zähneknirschend, mechanisch ging er zum Schlafenden und betrachtete ihn. Es war ein hagerer, noch nicht alter Bauer mit länglichem Gesicht, rötlichen Locken und einem langen, dünnen roten Bart, in einem Kattunhemd und in schwarzer Weste, aus deren Tasche die silberne Kette einer silbernen Uhr heraushing. Mitjä betrachtete diesen Menschen mit unbeschreiblichem Haß, und es war ihm aus irgendeinem Grunde besonders widerwärtig, daß er Locken hatte. Hauptsächlich aber war für ihn beleidigend, daß er, Mitjä, jetzt hier bei ihm stehend warten mußte, mit dieser unaufschiebbaren Angelegenheit, dabei noch so viel opferte, so viel wagte und so gequält war, während dieser Faulpelz, „von dem jetzt mein ganzes Schicksal abhängt, schnarcht, als ob nichts wäre, als befände er sich auf einem anderen Planeten. Oh, Ironie des Schicksals!“ rief Mitjä verzweifelt aus, verlor plötzlich ganz den Kopf und stürzte sich wieder auf den Menschen, um ihn zu wecken. In einer Art Raserei riß er ihn herum, stieß ihn, schlug ihn, doch als er nach fünf Minuten nichts erreichte, kehrte er in kraftloser Verzweiflung wieder auf seine Bank zurück und setzte sich wieder hin.

„Dumm, dumm ist es!“ murmelte er. „Und ... wie ist das alles ehrlos!“ fügte er plötzlich noch aus irgendeinem Grunde hinzu. Ihm tat der Kopf entsetzlich weh: „Sollte ich es nicht ganz aufgeben? Fortfahren?“ dachte er einen Augenblick. „Nein, ich bleibe lieber bis zum Morgen. Jetzt bleibe ich erst recht! Wozu bin ich denn hergekommen? Ja, und wie soll ich denn jetzt von hier fortkommen? Oh, ich Esel!“

Der Kopfschmerz wurde aber immer stärker. Unbeweglich saß er da, und unversehens war er sitzend eingeschlafen. Wahrscheinlich hatte er zwei bis drei Stunden geschlafen. Als er erwachte, glaubte er, sein Kopf müsse zerspringen, er hätte schreien mögen vor Schmerz. In seinen Schläfen hämmerte das Blut, und in den Ohren summte es. Zuerst konnte er noch lange nicht zu sich kommen: nicht begreifen, was mit ihm eigentlich geschehen war. Endlich begriff er, daß im überheizten Zimmer ein schrecklicher Dunst war, und daß er vielleicht hätte sterben können. Der betrunkene Bauer aber lag und schnarchte wie zuvor; das Licht war heruntergebrannt und drohte zu erlöschen. Mitjä stürzte wankend hinaus in den Flur und in die Stube des Wächters. Der erwachte sofort, doch als er hörte, daß in der anderen Stube Dunst sei, machte er sich zwar sofort auf, um hinzugehen, nahm aber diese Tatsache mit sonderbarem Gleichmut auf, was Mitjä äußerst erstaunte und beleidigte.

„Aber er ist vielleicht gestorben, gestorben, und was dann ... was dann?“ schrie ihn Mitjä außer sich an.

Man öffnete die Tür, das Fenster, das Ofenrohr. Mitjä schleppte einen Eimer voll Wasser aus dem Flur und befeuchtete sich den Kopf, und als er darauf ein Handtuch gefunden hatte, steckte er es ins Wasser und legte es dem Ljägawyj auf die Stirn. Der Wächter verhielt sich gleichgültig zu allem, was geschah. Als er das Fenster geöffnet hatte, sagte er mürrisch: „So, ist schon gut,“ und ging wieder fort. Er überließ Mitjä eine Blechlaterne. Mitjä mühte sich noch eine halbe Stunde um den Betrunkenen, machte ihm Kompressen um den Kopf und beabsichtigte im Ernst, die ganze Nacht über nicht mehr zu schlafen, doch gequält und ermüdet setzte er sich wieder auf eine Minute hin, um etwas aufzuatmen, und im selben Augenblick fielen ihm auch schon die Augen zu: ganz unbewußt streckte er sich auf der Bank aus und – schlief wie ein Toter.

Er erwachte sehr spät. Es war schon etwa neun Uhr morgens. Die Sonne schien hell durch die beiden Fensterchen in die Stube. Der lockige Bauer von gestern saß bereits angekleidet auf der Bank. Vor ihm stand ein kochender Ssamowar und ein neuer Liter Branntwein. Der gestrige, alte Liter war schon geleert und der neue Liter bis zur Hälfte ausgetrunken. Mitjä sprang auf und bemerkte sofort, daß der verfluchte Bauer wieder betrunken war, schwer betrunken. Er sah ihn eine Minute lang starr an. Der Bauer betrachtete ihn gleichfalls schweigend mit einem schlauen Blick und beleidigender Ruhe, wenn nicht gar mit verächtlichem Hochmut. So schien es wenigstens Mitjä. Er stürzte auf ihn zu.

„Erlauben Sie, sehen Sie ... ich ... Sie werden wohl schon von dem Buschwächter in der Stube drinnen gehört haben: ich bin der Leutnant Dmitrij Karamasoff, der Sohn des alten Karamasoff, von dem Sie hier Wald kaufen wollen.“

„Das lügst du,“ sagte bestimmt und ruhig der Bauer.

„Wieso lüge ich? Sie kennen doch Fedor Pawlowitsch?“

„Gar keinen Fedor Pawlowitsch kenne ich,“ sagte der Bauer mit schwerlallender Zunge.

„Aber den Wald, den Wald wollen Sie doch von ihm kaufen! Wachen Sie doch auf, besinnen Sie sich doch! Das Väterchen, Pawel Iljinskij, hat mich hergebracht ... Sie haben an Ssamssonoff geschrieben, und er hat mich zu Ihnen geschickt ...“

Mitjä holte tief Atem.

„Du lügst!“ wiederholte Ljägawyj langsam, deutlich und mit steifer Zunge. Mitjä fühlte, daß ihm die Füße kalt wurden.

„Erbarmen Sie sich, das ist doch kein Spaß! Sie haben vielleicht einen Rausch ... Sie wissen vielleicht nicht was Sie sagen ... sonst ... sonst verstehe ich nichts!“

„Du bist ein Färber!“

„Erbarmen Sie sich, ich bin doch Karamasoff, Dmitrij Karamasoff, ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen ... einen vorteilhaften Vorschlag ... sehr vorteilhaft ... und gerade in betreff des Waldes ...“

Der Bauer strich sich wichtig den Bart.

„Nein, du hast die Lieferung übernommen, und bist als Schuft daraus hervorgegangen. Ein Schuft bist du!“

„Ich versichere Ihnen, daß Sie sich irren!“ Mitjä rang fast die Hände vor Verzweiflung. Der Bauer strich sich immer noch den Bart, und plötzlich kniff er listig die Augen zusammen.

„Nein, weißt du, was du mir zeigen kannst? Zeige mir solch ein Gesetz, nach dem es erlaubt ist, Gemeinheiten zu machen, hörst du! Ein Schuft bist du, verstehst du, was ich dir sage?“

Mitjä wandte sich finster von ihm ab, und plötzlich war es ihm, als wenn ihn „etwas vor die Stirn schlug,“ wie er sich selbst später ausdrückte. „Plötzlich kam eine Erleuchtung über mich, ein Licht ging mir auf, und ich verstand alles.“ Er stand und konnte nicht begreifen, wie er als einsichtiger Mensch sich mit solch einer Dummheit hatte befassen, wie er sich die ganze Zeit mit diesem Ljägawyj hatte abgeben können. „Und ich habe ihm noch den Kopf gekühlt!“ ... „Betrunken ist der elende Kerl, betrunken bis zum Delirium, und er wird noch eine ganze Woche trinken – wie lange soll ich da warten? Wie aber, wenn Ssamssonoff mich absichtlich hergeschickt hat? Wie, wenn sie ... Oh, mein Gott, was habe ich getan! ...“

Der Bauer saß da, betrachtete ihn und schmunzelte. Unter anderen Umständen hätte Mitjä diesen Dummkopf aus Wut vielleicht erschlagen; in diesem Augenblick fühlte er sich aber so schwach wie ein Kind. Still ging er zur Bank, nahm seinen Mantel, zog ihn schweigend an und ging zur Stube hinaus. Den Buschwächter fand er in der anderen Stube nicht vor, es war niemand da. Er nahm aus seiner Tasche Kleingeld, an fünfzig Kopeken, und legte es auf den Tisch – für das Nachtlager, für das Licht und „die Störung“. Als er aus der Hütte hinaustrat, sah er, daß ringsherum nur Wald war und sonst nichts. Er ging aufs Geratewohl weiter, ohne darüber nachzudenken, ob man nach rechts oder nach links von der Hütte abbiegen mußte; gestern abend hatte er in der Eile nicht auf den Weg geachtet. Er fühlte gegen niemanden Haß in seiner Seele, nicht einmal Ssamssonoff konnte er hassen. Er schritt auf dem schmalen Waldwege gedankenlos und wie verloren einher, „mit einer verlorenen Idee“ und kümmerte sich überhaupt nicht darum, wohin er ging. Ihn hätte ein Kind überwältigen können, dermaßen müde war er plötzlich, sowohl körperlich wie seelisch. Indessen fand er sich doch irgendwie aus dem Walde heraus – plötzlich lagen vor ihm unabsehbare Strecken abgeernteter kahler Felder. „Welch eine Verzweiflung, welch ein Tod ringsum!“ sagte er vor sich hin und schritt weiter, immer weiter ...

Da kam ein Fuhrmann mit einem alten kleinen Kaufmann auf diesem Nebenwege dahergefahren. Mitjä erkundigte sich bei ihnen nach dem Weg, und da hörte er denn, daß die beiden auch nach Wolowje fuhren. Sie kamen mit dem Preis überein, und Mitjä wurde als Reisegefährte mitgenommen. Nach drei Stunden kamen sie an. Auf der Wolowjeschen Station bestellte Mitjä sofort Postpferde zur Rückkehr in die Stadt, und da erst fühlte er einen unerträglichen Hunger. Während die Pferde angespannt wurden, bereitete man ihm einen Eierkuchen. Er verzehrte ihn sofort, aß ein großes Stück Brot, es fand sich auch noch Wurst dazu, die er gleichfalls aufaß: dazu trank er drei Schnäpse. Als er sich so gestärkt hatte, wurde er wieder munter, und auch in seiner Seele wurde es heller. Er jagte in die Stadt zurück und feuerte den Postknecht zu noch größerer Schnelligkeit an. Und plötzlich kam ihm eine gute Idee, die sich alsbald zu einem neuen „unwandelbaren“ Plan entwickelte, nämlich, wie er sich noch vor dem Abend dieses verfluchte Geld verschaffen könnte. „Und sich vorzustellen, nur vorzustellen, daß wegen dieser lumpigen dreitausend Rubel ein Mensch zugrunde gehen soll!“ rief er mit Verachtung aus. „Heute noch muß es sich entscheiden!“ Und wenn ihn nicht fortwährend der Gedanke an Gruschenka und daran, was alles inzwischen geschehen sein konnte, gequält hätte, so wäre er vielleicht wieder ganz heiter geworden. Doch der Gedanke an sie bohrte sich wie ein scharfes Messer in seine Seele. Endlich langte er wieder in der Stadt an, und sofort eilte er zu Gruschenka.

III.
Die Goldgruben

Es war dies jener Besuch Mitjäs bei ihr, von dem sie Rakitin und Aljoscha am Abend desselben Tages mit Schrecken erzählt hatte. Sie erwartete damals schon seit einiger Zeit den berittenen Boten aus Mokroje und war daher sehr froh, daß Mitjä weder gestern noch heute zu ihr gekommen war, und vielleicht vor ihrer Abfahrt überhaupt nicht wiederkommen würde. Und nun plötzlich überraschte er sie. Das Weitere ist uns bekannt. Um ihn los zu werden, überredete sie ihn, sie zu Kusjma Ssamssonoff zu begleiten, zu dem sie, wie sie sagte, unbedingt gehen mußte, um „Geld zu zählen“, und als Mitjä sie dann begleitet hatte, nahm sie ihm das Wort ab, sie um Mitternacht wieder abzuholen, um sie nach Haus zu bringen. Mitjä war mit dieser Abmachung sehr zufrieden: „Sie wird bei Kusjma sitzen, und folglich nicht zum Vater gehen ... wenn sie nur die Wahrheit sagt,“ fügte er sofort hinzu. Doch schien ihm dieses Mal, daß sie nicht log. Seine Eifersucht war von der Art, daß er während der Trennung von dem geliebten Weibe sich Gott weiß was für Schrecken ausdachte: was alles mit ihr geschieht und wie sie ihm „untreu“ ist. Doch kaum ist er dann – erschüttert, zerschmettert, und fest überzeugt, daß alles verloren sei, daß sie ihn schon verraten habe – wieder bei ihr angelangt: so sind nach dem ersten Blick in ihr Gesicht, in das lachende, fröhliche und zärtliche Gesicht der Geliebten, wieder alle Qualen vergessen, er schöpft wieder Hoffnung, verliert sofort jeglichen Verdacht, schämt sich seiner Eifersucht und schilt sich ihretwegen. Nachdem er Gruschenka zu Ssamssonoff begleitet hatte, ging er zu sich nach Haus. Oh, er hatte heute noch soviel zu erledigen! Aber seinem Herzen war doch ein wenig leichter. „Nur muß ich noch sehen, daß ich von Ssmerdjäkoff sofort erfahre, ob sie nicht gestern abend beim Alten gewesen ist, bei Fedor Pawlowitsch ... unbedingt!“ ging es ihm durch den Kopf. So gelang ihm also noch nicht einmal, bis zu seiner Wohnung zu gehen, als die Eifersucht in seinem unruhigen Herzen schon wieder aufloderte.

Eifersucht! „Othello ist nicht eifersüchtig, er ist vertrauensselig,“ hat Puschkin gesagt, und schon allein diese eine Bemerkung zeigt die ungewöhnliche Tiefe unseres großen Dichters. Othellos Seele ist nur zermalmt, und seine ganze Weltanschauung hat sich getrübt, denn er hat „sein Ideal verloren“. Aber Othello wird sich nicht verstecken, wird nicht spionieren, nicht auflauern: er ist vertrauensselig! Im Gegenteil, man mußte ihn darauf bringen, ihn geradezu darauf stoßen, ihn mit aller Gewalt dazu anfachen, damit er auf einen Verrat verfiel. Anders ist es mit dem Eifersüchtigen. Man kann sich die ganze Schmach und die sittliche Erniedrigung gar nicht ausdenken, zu der ein Eifersüchtiger fähig ist, und in die er ohne jegliche Gewissensbisse verfallen wird. Oh, nicht, daß es etwa nur gemeine und schlechte Seelen wären! Im Gegenteil, mit reiner Liebe und großer Selbstaufopferung im Herzen, kann der Eifersüchtige sich zu gleicher Zeit unter Tischen verstecken, die gemeinsten Leute bestechen und sich mit den letzten Gemeinheiten eines Spionentums befreunden. Othello hätte sich niemals mit einem Verrat aussöhnen können – er hätte verziehen, nie aber sich ausgesöhnt – obgleich seine Seele unschuldig und gut wie die Seele eines Kindes war. Anders der wahre Eifersüchtige. Es ist schwer, sich vorzustellen, wonach er sich wieder aussöhnen, und was er alles verzeihen kann! Der Eifersüchtige verzeiht von allem am ehesten, und das wissen auch die Frauen. Der Eifersüchtige ist fähig (versteht sich, nach einer furchtbaren Szene), alles zu verzeihen, sogar einen fast erwiesenen Verrat, sogar Umarmungen und Küsse, die er selbst gesehen hat, wenn er nur zu gleicher Zeit hoffen kann, daß es „zum letztenmal“ gewesen ist, und daß sein Gegner von Stund an verschwinden, ans andere Ende der Welt fortfahren wird, oder daß er selbst sie irgendwohin entführen kann, an einen Ort, wo es seinem furchtbaren Gegner unmöglich ist, sie zu erreichen. Versteht sich, die Aussöhnung dauert nur eine Stunde, denn wenn der Gegner auch wirklich auf immer verschwindet, so wird er doch morgen einen anderen, einen neuen Gegner finden, und er wird aufs neue eifersüchtig sein. Und was liegt ihm so an dieser Liebe, und was ist diese Liebe wert, die so gehütet und belauscht, die so bewacht werden muß? Das ist eine Frage, die ein Eifersüchtiger überhaupt nicht versteht, und doch gibt es unter ihnen Männer, die wirklich hochherzig sind. Bemerkenswert ist darum, daß dieselben hochherzigen Menschen in irgendeinem Kämmerlein lauschend und spähend stehen können; obgleich sie nur zu gut mit ihrem „hohen Herzen“ die ganze Schmach begreifen, in die sie sich freiwillig selbst begeben haben, so werden sie doch in dieser Minute, wenigstens während sie da im Kämmerlein stehen, gar keine Gewissensbisse empfinden. Bei Mitjä, wenn er Gruschenka sah, verlor sich die Eifersucht ganz, und für den Augenblick war er voll Vertrauen und Anständigkeit und verachtete sich selbst wegen seiner schlechten Gefühle. Aber das bedeutete nur, daß in seiner Liebe zu dieser Frau etwas Höheres lag und nicht nur eine Leidenschaft für jene „Körperbiegung“, wie er es selbst geglaubt und wovon er noch mit Aljoscha gesprochen hatte. Sobald aber Gruschenka verschwunden war, begann Mitjä wieder, sie aller Niedrigkeiten des Verrats zu verdächtigen. Und dabei fühlte er dann nicht die geringsten Gewissensbisse.

So loderte denn auch jetzt die Eifersucht wieder in ihm auf. Vor allen Dingen mußte er sich beeilen und sich für jeden Fall etwas Geld verschaffen. Die gestrigen neun Rubel waren für die Fahrt aufgegangen, und ganz ohne Geld, das wußte er, konnte man ja keinen einzigen Schritt tun. So hatte er denn auch unterwegs, zusammen mit seinem neuen Plane, überlegt, von wo er sich dieses Geld verschaffen konnte. Er besaß noch zwei gute Duellpistolen mit Patronen, und wenn er sie bis jetzt noch nicht versetzt hatte, so hatte er dies nur darum nicht getan, weil er sie von allen seinen Sachen am meisten liebte. Im Gasthaus „Zur Hauptstadt“ hatte er flüchtig einen jungen Beamten kennen gelernt, von dem er wußte, daß er ein unverheirateter, wohlhabender Mensch war, der bis zur Leidenschaft Gewehre, Pistolen, Revolver, Degen kaufte, sie an den Wänden seines Zimmers aufhing, um sie dann seinen Bekannten zu zeigen und damit zu prahlen, daß er Meister im Erklären der verschiedenen Systeme sei, wie man sie laden, wie man sie abfeuern müsse usw. Mitjä dachte denn auch nicht lange darüber nach und begab sich sofort zu ihm, um seine Pistolen für zehn Rubel zu versetzen. Der Beamte bat Mitjä hocherfreut, sie ihm ganz zu verkaufen, doch Mitjä willigte nicht ein. Dieser gab ihm die zehn Rubel und erklärte ihm, daß er keine Prozente dafür nehmen werde. Sie schieden als Freunde. Mitjä beeilte sich, zu Fedor Pawlowitsch oder vielmehr in die Laube am Gartenzaun zu gelangen, um so schnell als möglich mit Ssmerdjäkoff zu sprechen.

Auf diese Weise konnte man später wieder die Tatsache feststellen, daß Mitjä drei oder vier Stunden „vor dem Ereignisse“ (von dem später die Rede sein wird), keine Kopeke Geld besaß, und daß er für zehn Rubel einen Lieblingsgegenstand versetzte, nach drei Stunden aber – Tausende in den Händen hatte ... Doch ich greife vor.

Bei Marja Kondratjewna (der Nachbarin Fedor Pawlowitschs) erwartete ihn eine Nachricht, die ihn sehr erregte: er erfuhr, daß Ssmerdjäkoff krank war. Er hörte die Geschichte vom Sturz in den Keller an, von der Ankunft des Doktors, von den Bemühungen Fedor Pawlowitschs um den Kranken, und mit großem Interesse vernahm er von der Abfahrt Iwan Fedorowitschs nach Moskau. „Wahrscheinlich passierte er die Station Wolowje früher als ich,“ dachte Dmitrij Fedorowitsch, aber die Krankheit Ssmerdjäkoffs beunruhigte ihn doch sehr. „Wie wird es denn jetzt sein, wer wird jetzt für mich aufpassen, wer wird es mir melden?“ fragte er sich. Gierig begann er die Frauen auszufragen, ob sie gestern abend nichts bemerkt hätten. Diese verstanden sehr gut, um was es sich für ihn handelte, und beruhigten ihn vollkommen: „Niemand war da,“ sagten sie, „nur Iwan Fedorowitsch nächtigten im Hause, alles war in der größten Ordnung.“ Mitjä überlegte. Selbstverständlich mußte er auch heute aufpassen, aber wo? – Hier oder beim Ssamssonoffschen Hause? Er beschloß, dies hier wie dort zu tun, je nach den Umständen, zunächst aber, zunächst ... Die Sache war nämlich die, daß es jetzt „diesen Plan“ auszuführen galt, den „neuen und richtigen“ Plan, den er sich auf der Fahrt ausgedacht hatte, und der sich nun nicht mehr aufschieben ließ. Mitjä entschloß sich, eine Stunde für ihn zu opfern ... „In einer Stunde werde ich alles erfahren, alles erledigt haben, und dann begebe ich mich sofort zu Ssamssonoffs, erfahre dort beim Hofknecht, ob Gruschenka da ist, komme dann sofort wieder hierher und bleibe bis elf Uhr hier, darauf hole ich sie von Ssamssonoff ab und bringe sie nach Haus.“

Er begab sich in seine Wohnung, wusch sich, kämmte sich und bürstete seine Kleider, kleidete sich an und ging darauf zu Frau Chochlakoff. Ja, leider – das war sein ganzer Plan. Er hatte beschlossen, diese Dame um dreitausend Rubel anzugehen. Und wieder war in ihm ein ungewöhnliches Vertrauen aufgetaucht, daß sie ihm seine Bitte nicht abschlagen werde. Vielleicht wird man sich darüber wundern, warum er, wenn er zu ihr solch ein Zutrauen hatte, dann nicht schon früher zu jemand aus seiner Bekanntschaft gegangen war, statt zu Ssamssonoff, der zu einer so ganz anderen, ihm fremden Gesellschaftsschicht gehörte, daß er nicht einmal gewußt hatte, wie er ihn anreden sollte. Die Sache verhielt sich aber so, daß er im letzten Monat die Bekanntschaft mit Frau Chochlakoff ganz vernachlässigt hatte und auch früher nur wenig mit ihr bekannt gewesen war; zudem wußte er, daß sie ihn nicht mochte, daß sie ihn haßte, lange schon, und zwar nur darum, weil er der Verlobte Katerina Iwanownas war, während sie plötzlich dringend wünschte, daß Katerina Iwanowna nicht ihn, sondern „den lieben ritterlichen Iwan Fedorowitsch mit dem exquisiten Auftreten“ heirate. Die Manieren Mitjäs dagegen gefielen ihr nicht. Auch hatte Mitjä über sie gelacht und einmal sogar von ihr geäußert, daß diese Dame „ebenso lebhaft wie ungebildet“ sei. Und siehe da, nun war ihm auf dem Wege der Gedanke gekommen: „Wenn sie so dagegen ist, daß ich Katerina Iwanowna heirate, – er wußte, daß diese ihre Abneigung fast hysterisch war – warum sollte sie mir da nicht die dreitausend Rubel geben, damit ich mit dem Gelde auf immer von hier fortgehe und auf diese Weise Katjä verlasse? Wenn solche verwöhnten Damen, wie die Chochlakoff einmal ihre Kapricen bekommen, so geben sie sich ja doch nicht eher zufrieden, als bis sie ihren Willen durchgesetzt haben. Zudem ist sie ja so reich,“ dachte Mitjä. Was nun den „Plan“ anbelangt, so war er derselbe, das heißt, er sah die Abtretung seiner Rechte auf Tschermaschnjä vor, nur diesmal nicht als kaufmännisches Geschäft, wie gestern bei Ssamssonoff. Auch wollte er diese Dame nicht wie Ssamssonoff mit der Möglichkeit, drei oder vier Tausend dabei zu gewinnen, anlocken, sondern es sollte nur eine anständige Sicherstellung für seine Schuld sein. Bei diesem Gedanken geriet Mitjä wieder in Begeisterung, – aber so geschah es ja immer mit ihm, bei allen seinen Unternehmungen und plötzlichen Entschlüssen. Jedem neuen Gedanken ergab er sich bis zur Leidenschaft. Nichtsdestoweniger fühlte er plötzlich, als er die Treppe zum Hause der Frau Chochlakoff hinaufstieg, ein Frösteln im Rücken. In dieser Sekunde wurde ihm bewußt und geradezu mathematisch klar, daß es seine letzte Hoffnung war, und daß ihm dann, wenn auch dieser Versuch nicht gelang, in der ganzen Welt nichts mehr verblieb, „als jemandem den Hals umzudrehen, um ihm nur die dreitausend Rubel zu rauben – und weiter nichts“ ... es war halbacht Uhr, als er die Türklingel zog.

Am Anfang schien ihm das Glück hold zu sein. Kaum hatte er sich anmelden lassen, als er auch schon mit außergewöhnlicher Bereitwilligkeit sofort empfangen wurde. „Ganz als hätte sie mich erwartet,“ dachte Mitjä bei sich, und kaum war er in den Salon eingetreten, als ihm die Dame des Hauses auch schon eilig entgegentrat und ihm geradeheraus erklärte, daß sie ihn tatsächlich erwartet habe ...

„Ich habe Sie erwartet, oh, wie ich Sie erwartet habe! Und ich hätte doch gar nicht annehmen können, daß Sie zu mir kommen würden, sagen Sie sich doch selbst, Dmitrij Fedorowitsch, wundern Sie sich über meinen Instinkt, ich erwartete Sie schon den ganzen Morgen, und ich war überzeugt, daß Sie heute kommen würden.“

„Das ist allerdings sonderbar, gnädige Frau,“ bemerkte Mitjä erstaunt und setzte sich etwas schwerfällig, „doch ... ich komme in einer sehr wichtigen Angelegenheit ... die wichtigste aller wichtigsten ... das heißt, gnädige Frau, wichtig ist sie nur für mich, und ich ...“

„Ich weiß es, Dmitrij Fedorowitsch, daß die Sache wichtig ist, oh, das sind bei mir nicht irgendwelche Vorgefühle oder Ansprüche auf Wunder – haben Sie schon vom Staretz Sossima gehört? – hier, hier handelt es sich um Mathematik. Sie mußten kommen, nach alledem, was sich mit Katerina Iwanowna zugetragen hat. Sie konnten nicht anders, Sie mußten zu mir kommen! Das war doch Mathematik!“

„Das ist der Realismus des Lebens, gnädige Frau, das ist es! Aber erlauben Sie – indessen, ich wollte ...“

„Ganz recht, der Realismus des Lebens, Dmitrij Fedorowitsch. Auch ich bin jetzt nur noch für den Realismus, denn was Wunder betrifft, so bin ich gründlich geheilt. Haben Sie schon gehört, daß der Staretz Sossima gestorben ist?“

„Nein, gnädige Frau, ich höre es zum erstenmal,“ sagte Mitjä ein wenig erstaunt. Vor seinem Geist tauchte die Gestalt Aljoschas auf.

„Heute in der Nacht ist er gestorben, und stellen Sie sich vor ...“

„Gnädige Frau,“ unterbrach sie Mitjä, „ich kann mir nur vorstellen, daß ich mich in der verzweifeltsten Lage befinde, und wenn Sie mir nicht helfen, so stürzt alles zusammen, und ich selbst bin verloren. Verzeihen Sie mir, bitte, den trivialen Ausdruck, ich bin aber wie im Fieber ...“

„Ich weiß, ich weiß, daß Sie wie im Fieber sind, ich weiß alles, Sie können ja auch gar nicht in einem anderen Seelenzustande sein, und was Sie mir darüber auch noch zu sagen hätten, ich weiß alles im voraus. Ich habe mir schon längst Ihr Schicksal vorgestellt, Dmitrij Fedorowitsch, ich verfolge es und versuche, es zu begreifen ... Oh, glauben Sie mir, ich bin ein erfahrener Seelenarzt, Dmitrij Fedorowitsch ...“

„Gnädige Frau, wenn Sie ein erfahrener Arzt sind, so bin ich ein erfahrener Kranker,“ – Mitjä mußte sich schon anstrengen, um liebenswürdig zu bleiben – „und ich fühle es voraus, wenn Sie sich sogar bemühen, mein Schicksal zu verfolgen, so werden Sie mich auch vor meinem Untergang bewahren, und darum erlauben Sie mir endlich, Ihnen meinen Plan vorzulegen, mit dem ich gewagt habe, bei Ihnen zu erscheinen ... Ihnen zu sagen, was ich von Ihnen erwarte ... Ich bin gekommen, gnädige Frau ...“

„Lassen Sie das, das ist nebensächlich. Und was meine Hilfe anbelangt, so sind Sie nicht der erste, dem ich zu etwas verholfen habe, Dmitrij Fedorowitsch. Sie haben vielleicht von meiner Cousine Beljmjossoff gehört? Ihr Mann war so gut wie verloren; es stürzte bei ihm alles zusammen, wie Sie sich soeben ausdrückten, Dmitrij Fedorowitsch, und was glauben Sie, ich riet ihm, ein Gestüt anzulegen, und jetzt geht es ihm großartig. Verstehen Sie etwas von Pferdezucht, Dmitrij Fedorowitsch?“

„Nicht das geringste, gnädige Frau, ach Gott, nicht das geringste!“ rief Mitjä in nervöser Ungeduld und wollte sich schon erheben. „Ich bitte Sie nur, meine Gnädigste, mich anzuhören, gestatten Sie mir nur, daß ich zwei Minuten spreche, damit ich Ihnen zuerst mein ganzes Projekt vorlegen kann, um dessentwillen ich gekommen bin. Außerdem ist meine Zeit kostbar, ich habe Eile! ...“ sagte Mitjä hastig, denn er fühlte, daß sie sofort wieder zu sprechen anfangen würde. „Ich bin aus Verzweiflung ... in der letzten Minute der Verzweiflung ... gekommen, um Sie um Geld zu bitten ... um von Ihnen dreitausend Rubel zu borgen, unter der Garantie, unter der sichersten Garantie, gnädige Frau ... Erlauben Sie, daß ich Ihnen ...“

„Das tun Sie alles später, später!“ Frau Chochlakoff winkte mit der Hand ab – „Sie können mir ja nichts Neues sagen, ich weiß alles schon im voraus, wie ich Ihnen bereits gesagt habe. Sie bitten um eine Summe, Sie haben dreitausend Rubel nötig, aber ich werde Ihnen mehr geben, unendlich mehr, ich werde Sie retten, Dmitrij Fedorowitsch, aber sie müssen mich vorher anhören!“

Mitjä sprang auf. „Gnädige Frau, sollten Sie wirklich so gütig sein!“ rief er ganz begeistert und ergriffen aus. „Herrgott, Sie haben mich gerettet. Sie retten einen Menschen, gnädige Frau, vor dem Selbstmorde, vor der Pistole ... Meine ewige Dankbarkeit ...“

„Ich gebe Ihnen unendlich, unendlich mehr als dreitausend!“ beteuerte Frau Chochlakoff mit strahlendem Lächeln, sehr erfreut über Mitjäs Begeisterung.

„Unendlich? So viel ist ja nicht einmal nötig. Nötig sind nur die verhängnisvollen Dreitausend, ich bin aber meinerseits bereit, als Garantie für diese Summe ... mit einem Wort, zu garantieren, abgesehen von einer unermeßlichen Dankbarkeit ... Ich will Ihnen den Plan vor ...“

„Genug, Dmitrij Fedorowitsch, gesagt, getan,“ schnitt ihm Frau Chochlakoff mit dem erhabenen Triumph einer Wohltäterin das Wort ab. „Ich habe Ihnen versprochen, Sie zu retten, und ich werde es auch tun. Ich rette Sie wie meinen Schwager Beljmjossoff. Was meinen Sie zu Goldgruben, Dmitrij Fedorowitsch?“

„Zu Goldgruben, gnädige Frau? Ich habe niemals daran gedacht ... ich weiß nicht ...“

„Dafür aber habe ich für Sie daran gedacht! Ich habe hin und her gedacht. Einen ganzen Monat habe ich mit diesem Gedanken an Sie gedacht. Ich habe Sie mir hundertmal daraufhin angesehen und mir gesagt: Das ist ein energischer Mensch, der müßte in die Goldgruben. Ich habe sogar ihren Gang studiert und mich überzeugt, daß Sie viele Goldadern finden werden.“

„Aus meinem Gang schließen Sie das, gnädige Frau?“ Mitjä lächelte.

„Warum denn nicht, selbstverständlich aus Ihrem Gang. Leugnen Sie etwa, daß man den Charakter eines Menschen nach seinem Gang beurteilen kann? Die Naturwissenschaft bestätigt es gleichfalls. Oh, ich bin jetzt ganz und gar Realistin, Dmitrij Fedorowitsch. Ich bin seit dem heutigen Tage, nach dieser ganzen Geschichte im Kloster, die mich so aufgeregt hat, vollkommene Realistin und möchte mich am liebsten in eine praktische Tätigkeit stürzen. Ich bin geheilt ... J’en ai assez. ‚Genug!‘ wie Turgenjeff sagt.“

„Aber, gnädige Frau, diese Dreitausend, mit denen Sie mich so großmütig ...“

„Die werden Ihnen nicht entgehen, Dmitrij Fedorowitsch,“ unterbrach ihn sofort wieder Frau Chochlakoff, „diese Dreitausend haben Sie so gut wie in der Tasche, und nicht dreitausend, sondern drei Millionen, Dmitrij Fedorowitsch, in der allerkürzesten Zeit! Ich werde Ihnen alles sagen. Sie werden Goldgruben finden und Millionen verdienen, dann werden Sie zurückkehren und hier eine Tätigkeit beginnen und werden hier auch uns zugute kommen. Muß man denn immer alles den Juden überlassen? Sie werden große Gebäude aufführen und die verschiedensten Unternehmungen machen. Sie werden den Armen helfen, und die werden Sie segnen. Jetzt leben wir im Jahrhundert der Eisenbahnen, Dmitrij Fedorowitsch. Sie werden berühmt und dem Finanzministerium unentbehrlich werden, da es uns jetzt doch so an Geld gebricht. Das Fallen des Kreditrubels raubt mir den Schlaf, Dmitrij Fedorowitsch, von der Seite kennt man mich noch gar nicht.“

„Gnädige Frau, oh, meine Gnädigste!“ unterbrach sie Dmitrij Fedorowitsch wieder mit einem beunruhigenden Vorgefühl, „ich werde Ihrem Rat gewiß Folge leisten, Ihrem gewiß sehr klugen Rat, gnädige Frau ... ich werde mich vielleicht hinbegeben, vielleicht ... in Ihre Goldgruben ... und werde in den nächsten Tagen noch einmal zu Ihnen kommen, um darüber zu reden ... aber die Dreitausend, die sie mir so großmütig ... Oh, Sie würden mich erlösen, und wenn es möglich wäre, vielleicht heute schon ... Das heißt, sehen Sie, ich habe jetzt keinen Augenblick Zeit zu verlieren, keine Stunde ...“

„Genug davon, Dmitrij Fedorowitsch, hören Sie mich!“ unterbrach ihn Frau Chochlakoff hartnäckig. „Zuerst eine Frage: Werden Sie zu den Goldgruben fahren oder nicht? Sie müssen sich jetzt definitiv entscheiden, antworten Sie mathematisch!“

„Ich fahre, gnädige Frau, ich fahre schon ... Ich fahre, wohin Sie wollen, gnädige Frau ... jetzt aber ...“

„Warten Sie!“ rief Frau Chochlakoff wieder dazwischen, sprang auf und eilte zu ihrem prächtigen Schreibtisch mit seinen unzähligen kleinen Schubfächern und riß ein Fach nach dem anderen auf, indem sie sich beim Suchen sehr beeilte.

„Dreitausend!“ dachte Mitjä, und es wurde ihm fast schwach zumut, „und das sofort, ohne jegliche Papiere, ohne jede Garantie. Oh, das ist anständig gehandelt! Eine großartige Frau, wenn sie nur nicht so gesprächig wäre.“

„Hier!“ rief freudig erregt Frau Chochlakoff, die zu Mitjä zurückkehrte, „hier, das war es, was ich suchte!“

Es war ein kleines silbernes Heiligenbild an einer Schnur, eines von denen, die man zusammen mit dem Kreuz trägt.

„Das ist aus Kiew, Dmitrij Fedorowitsch,“ fuhr sie andächtig fort, „aus den Reliquien der Heiligen Warwara. Erlauben Sie mir, es Ihnen selbst um den Hals zu hängen und Sie damit für Ihr neues Leben und zu Ihren neuen Unternehmungen zu segnen.“

Und sie legte ihm tatsächlich das Heiligenbild um den Hals. In großer Verwirrung beugte sich Mitjä vor und half ihr dabei, so gut es ging, und schob es dann mit vieler Mühe durch den Stehkragen auf die Brust.

„So, jetzt können Sie fahren!“ rief Frau Chochlakoff aus und setzte sich feierlich wieder auf ihren Platz.

„Gnädige Frau, ich bin so gerührt ... und ich weiß gar nicht, wie ich danken soll ... für solche Gefühle, aber ... wenn Sie wüßten, wie teuer mir jetzt die Zeit ist! Die Summe, die Sie in Ihrer Großmut mir ... Oh, gnädige Frau, wenn sie schon einmal so gut sind, so rührend großmütig zu mir,“ rief Mitjä plötzlich begeistert aus, „so erlauben Sie mir, Ihnen alles zu sagen ... was Sie übrigens schon lange wissen ... Ich liebe ein Wesen ... Ich bin Katjä untreu geworden ... Katerina Iwanowna wollte ich sagen ... Oh, ich habe unmenschlich und ehrlos an ihr gehandelt, doch habe ich mich in die andere verliebt ... in ein Wesen, das Sie, Gnädigste, das Sie vielleicht verachten ... da Sie von ihr vielleicht alles wissen, von der ich aber nicht mehr lassen kann, und darum muß ich jetzt die dreitausend ...“

„Lassen Sie das alles, Dmitrij Fedorowitsch!“ unterbrach ihn Frau Chochlakoff in entschiedenstem Tone, „lassen Sie das, und besonders die Frauen. Ihr Ziel – sind die Goldgruben, und Frauen dahin mitzunehmen, lohnt sich nicht. Später, wenn Sie zurückkehren, reich und berühmt, so finden Sie sicher eine Herzensfreundin in der höchsten Gesellschaft. Das wird dann schon ein Mädchen aus der neuen Generation sein, mit Kenntnissen und ohne Vorurteile. Bis zu der Zeit wird die Frauenfrage, von der jetzt alles spricht, schon gelöst sein, und eine neue Frau wird auferstehen ...“

„Gnädige Frau, das ist es ja nicht – nicht das ...“ Dmitrij Fedorowitsch legte fast schon flehend beide Hände zusammen.

„Gerade das, Dmitrij Fedorowitsch, gerade das, das haben Sie nötig, danach streben Sie, ohne es selbst zu wissen. Gegen die Frauenfrage habe ich nichts einzuwenden, ich bin sogar ganz dabei, Dmitrij Fedorowitsch. Die weibliche Ausbildung und die politische Rolle der Frauen in der Zukunft – sehen Sie, das ist mein Ideal. Ich selbst habe eine Tochter, und von der Seite kennt man mich noch wenig. Ich habe in der Angelegenheit dem Schriftsteller Schtschedrin geschrieben. Dieser Schriftsteller hat mich über die Bedeutung der Frau so aufgeklärt, daß ich ihm im vorigen Jahre einen anonymen Brief geschrieben habe, nur zwei Zeilen: ‚Ich umarme und küsse Sie, mein Schriftsteller, im Namen der zeitgenössischen Frau. Fahren Sie fort, so zu wirken.‘ Ich unterschrieb: ‚eine Mutter‘. Ich wollte zuerst ‚eine zeitgenössische Mutter‘ unterschreiben, doch dann entschloß ich mich, einfach ‚eine Mutter‘ zu schreiben; es lag mehr sittliche Schönheit darin. Und das Wort ‚zeitgenössisch‘ hätte ihn an die Revue ‚der Zeitgenosse‘ erinnern können – das aber ist für ihn in Anbetracht der heutigen Zensur eine unangenehme Erinnerung ... Ach, mein Gott, was haben Sie?“

„Gnädige Frau,“ rief Mitjä endlich und rang die Hände in stummer Verzweiflung, „Sie werden mich noch zum Weinen bringen, gnädige Frau, wenn Sie das, was Sie so großmütig versprochen haben, noch aufschieben ...“

„Weinen Sie nur, Dmitrij Fedorowitsch, weinen Sie nur! Das sind schöne Gefühle ... Ihnen steht ein so schwerer Weg bevor! Die Tränen werden Ihnen Erleichterung bringen, später, wenn Sie zurückkehren, werden Sie sich freuen. Sie müssen direkt aus Sibirien zu mir kommen, um sich mit mir zusammen zu freuen ...“

„Doch erlauben Sie auch mir,“ brüllte Mitjä auf ... „zum letzten Male flehe ich Sie an, sagen Sie mir, bitte, kann ich heute die versprochene Summe erhalten? Wenn nicht, wann kann ich dann kommen, um sie zu empfangen?“

„Welch eine Summe, Dmitrij Fedorowitsch?“

„Die versprochenen Dreitausend ... die Sie so großmütig waren ...“

„Dreitausend? Sie meinen – Rubel! O nein, ich habe keine dreitausend bei mir,“ erwiderte Frau Chochlakoff in ruhiger Verwunderung. Mitjä erstarrte ...

„Wie haben Sie denn ... soeben ... äußerten Sie ... Sie sagten sogar, daß sie schon so gut wie in meiner Tasche wären ...“

„O nein, Sie haben mich nicht recht verstanden, Dmitrij Fedorowitsch. Wenn das so ist, so haben Sie mich gar nicht verstanden. Ich sprach doch von den Goldgruben ... Es ist wahr, ich versprach Ihnen mehr, unendlich mehr als dreitausend, ich verstehe jetzt alles, aber ich meinte doch nur die Goldgruben.“

„Und das Geld? Die Dreitausend?“ rief Dmitrij Fedorowitsch ganz von Sinnen aus.

„Oh, wenn Sie darunter Geld verstanden haben, ich habe es nicht. Ich habe jetzt gar kein Geld, Dmitrij Fedorowitsch, ich streite soeben mit meinem Verwalter um Geld, und in diesen Tagen habe ich selbst von Miussoff fünfhundert Rubel geliehen. Nein, nein, Geld habe ich nicht bei mir. Und wissen Sie, Dmitrij Fedorowitsch, wenn ich es auch hätte, so würde ich es Ihnen doch nicht geben. Erstens borge ich nie Geld. Geld borgen, heißt sich Feinde machen. Und Ihnen hätte ich es unter keinen Umständen gegeben, aus Liebe zu Ihnen, um Sie zu retten, hätte ich Ihnen keines gegeben, denn Sie haben nur das eine nötig: die Goldgruben, die Goldgruben, die Goldgruben ...“

„Oh, daß doch der Teufel!“ brüllte Mitjä auf und schlug vor Wut aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch.

„Ach, ach mein Gott!“ schrie Frau Chochlakoff ängstlich auf und flog in die fernste Ecke des Empfangssalons.

Mitjä spuckte nur einmal wütend aus und eilte mit großen Schritten aus dem Zimmer, aus dem Hause, hinaus auf die Straße, in die Finsternis. Er ging wie ein Irrsinniger und schlug sich mit der Hand fortwährend auf die Brust, – auf dieselbe Stelle, auf die er sich vor zwei Tagen, als er spät abends in der Dunkelheit zu Aljoscha nochmals zurückgegangen war, bei seinen letzten Worten immer wieder geschlagen hatte. Was dieses Schlagen auf die Brust und gerade auf diese Stelle bedeutete, und was er damit sagen wollte, war vorläufig noch ein Geheimnis, das keine Menschenseele kannte, und das er damals nicht einmal Aljoscha verraten hatte. In diesem Geheimnis lag für ihn mehr als Schande: das war sein Untergang und sein Selbstmord – so hatte er es beschlossen –, wenn er nicht irgendwoher diese dreitausend Rubel erhielt, um sie Katerina Iwanowna abzugeben, und damit von seiner Brust, „von dieser Stelle auf der Brust“, die Schmach, die er auf ihr trug und die sein Gewissen bis zum Wahnsinn quälte, abwerfen konnte. (Es wird dem Leser späterhin erklärt werden, was das zu bedeuten hatte.) Jetzt aber, nachdem seine letzte Hoffnung untergegangen war, wankte dieser körperlich so starke Mann wie ein Wahnsinniger durch die Dunkelheit. Und noch war er nicht weit gegangen, als er plötzlich in Tränen ausbrach und wie ein kleines Kind schluchzte. Er ging weiter und wischte sich, ohne zu wissen, was er tat, mit der Hand die Tränen ab. So kam er auf den großen Platz, und plötzlich fühlte er, daß er mit dem ganzen Körper an etwas angeprallt war. Das schrille Geschrei eines alten Weibes, das er fast umgeworfen hatte, brachte ihn wieder zur Besinnung.

„Jesus Marie, kannst einen noch so totschlagen! Wo hast du deine Augen, Strolch!“

„Wie, sind Sie es?“ fragte Mitjä, der in ihr trotz der Dunkelheit die alte Dienstmagd Kusjma Ssamssonoffs zu erkennen glaubte.

„Und wer sind Sie denn, Väterchen?“ fragte die Alte sofort mit ganz veränderter Stimme. „Ich kann in dieser Dunkelheit nicht die Hand vor den Augen sehn.“

„Sie leben doch bei Kusjma Kusjmitsch, nicht wahr, Sie dienen doch bei ihm?“

„Jawohl, Väterchen, wollte soeben nur mal zu Prochorytsch bißchen hinübergehen ... Aber dich, Väterchen, kann ich ganz und gar nicht wiedererkennen.“

„Sagt mir doch, Mütterchen, ist Agrafena Alexandrowna augenblicklich noch bei ihm?“ fragte Mitjä bebend vor Erwartung. „Ich hatte sie zu ihm hin begleitet.“

„Jawohl, Väterchen, sie kam heute wieder mal zu ihm, saß ein Weilchen und ging dann wieder fort.“

„Wie? Sie ist fortgegangen?“ schrie Mitjä. „Wann ging sie fort?“

„Als sie gekommen war, sie saß nur ein Minutchen bei uns, erzählte dem alten Herrn ein Märchen, erheiterte ihn und ging dann wieder fort; hatte es sehr eilig.“

„Du lügst, verfluchtes Weib!“ brüllte Mitjä.

„Jesus Marie!“ stotterte die Alte erschrocken, doch von Mitjä war schon jede Spur verschwunden. Er lief bereits so schnell er nur konnte zu Gruschenka. (Das war kaum eine Viertelstunde nach ihrer Abfahrt.) Fenjä saß mit ihrer Großmutter, der Köchin Matrjona, in der Küche, als plötzlich der „Herr Hauptmann“ hereinstürzte. Als sie ihn erblickte, schrie sie auf vor Schreck.

„Du schreist also?“ brüllte Mitjä das entsetzte Mädchen an. „Wo ist sie?“ Doch noch bevor Fenjä eine Antwort finden konnte, stürzte er ihr plötzlich zu Füßen.

„Fenjä, um Christi unseres Herrn willen, sage, wo ist sie?“

„Väterchen, Erbarmung, ich weiß nichts, Täubchen Dmitrij Fedorowitsch, ich weiß gar nichts, schlagen Sie mich tot, ich weiß nichts ... Sie sind doch selbst zusammen mit ihr fortgegangen ...“

„Sie ist zurückgekommen! ...“

„Täubchen, ist nicht zurückgekommen, ich schwöre dir bei Gott, ist nicht zurückgekommen!“

„Du lügst,“ schrie Mitjä sie an, „schon aus deiner Angst kann ich schließen, wo sie ist! ...“

Er stürzte hinaus. Die erschrockene Fenjä war froh, daß sie so billig davongekommen war, begriff aber sehr gut, daß sie das nur seiner Eile zu danken hatte. Aber noch im Fortstürzen setzte er Fenjä und die alte Matrjona durch eine gar zu unbegreifliche Tat in Erstaunen. Auf dem Küchentisch stand nämlich ein Mörser mit einer messingnen kleinen, etwa nur zwanzig Zentimeter langen Mörserkeule. Mitjä, der mit der einen Hand schon die Tür geöffnet hatte, ergriff nun plötzlich diese Mörserkeule, steckte sie sich in die Seitentasche – und fort war er.

„Großer Gott, er will jemanden totschlagen!“ rief Fenjä erschrocken aus und schlug die Hände zusammen.

IV.
In der Dunkelheit

Wohin eilte er?

„Wo kann sie denn sein, wenn nicht beim Vater? Von Ssamssonoff ist sie geradeswegs zu ihm gegangen, das ist doch klar! Die ganze Intrige, der ganze Betrug liegt doch auf der Hand ...“

Das waren die Gedanken, die wie ein Wirbelsturm durch seinen Kopf stoben. Doch nicht in den Nachbargarten zu Marja Kondratjewna wollte er laufen, nein: „Dorthin ist es überflüssig, ganz überflüssig ... nicht das geringste Geräusch ... sonst könnten sie es sofort sagen ... Marja Kondratjewna gehört natürlich auch zur Verschwörung. Ssmerdjäkoff gleichfalls ... alle sind sie bestochen ... gekauft ...“ Und im Augenblick veränderte er seinen Plan; er machte einen großen Umweg durch eine Nebengasse, lief durch die Dmitrowskistraße, dann über die kleine Brücke und gelangte in eine einsame Querstraße, die an keinem einzigen Hause, sondern nur an Gärten vorüberführte. Auf der einen Seite zog sich der Flechtzaun eines Gemüsegartens hin und auf der anderen der hohe starke Bretterzaun, der den ganzen Karamasoffschen Besitz einschloß. Hier suchte er sich zum Überklettern eine bequemere Stelle aus, und zwar war dies wahrscheinlich dieselbe, wo nach der Überlieferung, die ihm bekannt war, auch die Lisaweta Ssmerdjäschtschaja übergeklettert war. „Wenn selbst die hinübergekommen ist,“ flog es ihm plötzlich – Gott weiß warum – durch den Sinn, „wie soll es mir dann nicht gleichfalls gelingen?“ Er trat einen Schritt zurück und machte dann einen Satz in die Höhe – es gelang, er bekam mit der Hand den oberen Rand des Zaunes zu fassen, zog sich mit einem energischen Ruck hinauf und setzte sich oben rittlings auf den Zaun. Nicht weit vom Zaun stand das Badehäuschen, doch sah er von seinem Platze aus auch die erhellten Fenster des Herrenhauses. „Richtig! Das Schlafzimmer des Alten ist erleuchtet, sie ist dort!“ Er sprang sofort in den Garten hinab. Obgleich er wußte, daß Grigorij krank war und vielleicht auch Ssmerdjäkoff, und daß ihn folglich so leicht niemand hören konnte, so nahm er sich doch unwillkürlich in acht, blieb nach dem Sprung regungslos stehen und lauschte lange. Doch überall war totes Schweigen; es herrschte die atemlose Ruhe einer völlig windstillen Nacht; kein Blatt, kein Lüftchen regte sich.

„... Und es flüstert nur die Stille ...“

Dieser Vers fiel ihm plötzlich ein, doch ebenso schnell vergaß er ihn auch wieder. „Wenn nur niemand gehört hat, wie ich herabgesprungen bin? Es scheint aber doch nicht.“ Nachdem er so eine Weile gestanden hatte, ging er vorsichtig weiter, immer auf dem Rasen, da auf den Wegen der Kies geknirscht hätte. Er ging hinter Bäumen und Gebüsch vorsichtig weiter, setzte immer nur leise einen Fuß vor und horchte auf jeden seiner Schritte. So kam er nach ungefähr fünf Minuten zum erleuchteten Fenster. Er erinnerte sich, daß dort unter den Fenstern einige hohe, dichte Holunder- und Schneeballensträucher standen. Die Ausgangstür, die an der linken Seite der Gartenfassade des Hauses lag, war sorgfältig verschlossen und verriegelt, wovon er sich beim Vorübergehen absichtlich und genau überzeugte. Endlich erreichte er die Sträucher vor den Fenstern und versteckte sich vorsichtig hinter ihnen. Er wagte kaum zu atmen. „Jetzt muß man etwas warten,“ dachte er, „vielleicht hat doch jemand meine Schritte gehört ... damit er sich dann beruhigt ... nur muß ich mich in acht nehmen, daß ich nicht huste oder niese ...“

Er wartete etwa zwei Minuten lang, aber sein Herz schlug so heftig, daß er nach Atem rang. „Nein, das Herzklopfen wird nicht vorübergehen,“ dachte er, „ich kann nicht länger warten.“ Er stand hinter einem Strauch im Dunkeln, doch die andere Seite des Strauches war hell beleuchtet durch den Lichtschein, der aus dem Fenster in den Garten fiel. „Schneeballen, Mehlbeeren, wie rot sie sind!“ flüsterte er, ohne zu wissen, warum, leise vor sich hin. Vorsichtig, mit schleichenden, unhörbaren Schritten näherte er sich dem Fenster und hob sich auf die Fußspitzen. Das ganze kleine Schlafzimmer Fedor Pawlowitschs lag vor ihm wie auf der Handfläche. Es war kein großes Zimmer und obendrein in der ganzen Breite durch einen vielteiligen roten „chinesischen“ Bettschirm – so nannte ihn Fedor Pawlowitsch – in zwei Hälften geteilt. „Der Chinesische,“ zuckte es durch Mitjäs Gedanken, „und hinter dem Bettschirm ist Gruschenka.“ Er betrachtete Fedor Pawlowitsch. Der hatte einen neuen seidenen Schlafrock an – so hatte ihn Mitjä noch nie gesehen – und um den Leib war er mit einer seidenen Schnur, an der seidene Quasten hingen, gegürtet. Unter dem Kragen des Schlafrocks sah man die feinste Wäsche von teurem holländischem Linnen, und vorne auf der Brust war das Hemd mit goldenen Knöpfen geschlossen. Kopf und Stirn waren mit demselben rotseidenen Tuch, in dem ihn am Morgen auch Aljoscha gesehen hatte, umbunden. „Hat sich in Gala geworfen,“ dachte Mitjä. Fedor Pawlowitsch stand in der Nähe des Fensters, augenscheinlich in Gedanken versunken. Plötzlich hob er den Kopf, horchte ein wenig und trat, da er nichts Verdächtiges gehört hatte, an den Tisch, goß sich ein halbes Gläschen Kognak ein und kippte es. Darauf seufzte er tief, so daß sich die ganze Brust hob, stand wieder eine kleine Weile nachdenklich auf demselben Fleck, ging dann gleichsam zerstreut zum Pfeilerspiegel, schob mit der rechten Hand ein wenig die rote Binde von der Stirn hinauf und begann seine blauen Flecke und Beulen zu betrachten, die noch nicht vergangen waren. „Er ist allein,“ dachte Mitjä, „nach allem zu urteilen muß er allein sein.“ Fedor Pawlowitsch wandte sich vom Spiegel ab, und plötzlich trat er zum Fenster; er blickte hinaus in den dunklen Garten. Mitjä war sofort zurückgesprungen.

„Sie schläft bei ihm vielleicht schon – hinter dem chinesischen Schirm?“ Dieser Gedanke fuhr ihm wie ein Blitz durchs Herz. Da wandte sich Fedor Pawlowitsch zurück und ging fort vom Fenster. „Nein, er hat durch das Fenster nach ihr ausgeschaut, sie ist also nicht bei ihm! Warum sollte er denn sonst ans Fenster treten und hinaussehen? ... Nein, die Ungeduld verzehrt ihn ... und nur darum ist er ans Fenster getreten.“ Mitjä schlich sich wieder zum Fenster und sah wieder hinein. Der Alte saß schon am Tisch und war, wie es schien, sehr niedergeschlagen. Endlich legte er beide Arme auf den Tisch und stützte den Kopf in die rechte Hand, während die linke auf dem Tisch liegen blieb. Mitjä beobachtete ihn gierig.

„Er ist allein, ganz allein,“ sagte er sich wieder. „Wenn sie bei ihm wäre, würde er ein anderes Gesicht machen.“ Doch sonderbar: in seinem Herzen erhob sich darob, daß sie nicht beim Alten war, ein ganz unsinniger Ärger. „Nicht deswegen, weil sie nicht hier ist,“ sagte er sich sofort als Antwort auf dieses Gefühl, kaum daß es ihm zum Bewußtsein gekommen war, „sondern weil ich doch auf keine Weise genau erfahren kann, ob sie hier ist oder nicht.“ Später erinnerte sich Mitjä, daß seine Gedanken in diesen Minuten ungewöhnlich klar und deutlich gewesen waren, daß er sich alles bis auf das letzte Tüpfelchen genau überlegt hatte. Aber der Druck, der sich infolge der Ungewißheit, ob sie nun da sei oder nicht, und infolge seiner Unentschlossenheit auf seine Seele legte, vergrößerte sich von Sekunde zu Sekunde und wurde unerträglich. Und plötzlich entschloß er sich: er streckte die Hand aus und klopfte leise an den Fensterrahmen. Er klopfte das „Zeichen“, das zwischen dem Alten und Ssmerdjäkoff verabredet war: zuerst zweimal etwas leiser und dann dreimal schneller tuck-tuck-tuck – das Zeichen, das „Gruschenka ist gekommen“ bedeuten sollte. Der Alte fuhr zusammen, hob den Kopf, sprang auf und stürzte zum Fenster. Mitjä hatte sich schon aus dem Lichtschein in die Dunkelheit zurückgezogen. Fedor Pawlowitsch öffnete geschwind das Fenster und steckte den Kopf heraus.

„Gruschenka, bist Du es? Wo bist Du denn?“ fragte er mit gerader bebender Stimme in freudig-ängstlichem Flüstertone. „Sag doch, wo Du bist, mein Herzblatt, mein Engelchen, wo bist Du denn?“ Vor Erregung klappte seine Stimme über.

„Er ist allein!“ sagte sich Mitjä – jetzt erst war er wirklich überzeugt.

„Wo bist Du nur?“ fragte wieder der Alte und steckte den Kopf noch weiter zum Fenster hinaus, so daß auch die Schultern mit aus dem Fenster ragten, und blickte sich nach allen Seiten, nach links und rechts um. „So komm doch her, mein Engelchen, ich habe auch ein Geschenkchen für dich bereit, komm nur, ich werde es dir zeigen!“

„Aha, damit meint er das Paket mit den Dreitausend,“ dachte Mitjä.

„Aber wo bist Du nur? ... Oder ist sie bei der Tür? Warte, ich werde sofort aufmachen ...“

Und der Alte kroch fast aus dem Fenster, um durch die Dunkelheit besser nach rechts zur Tür sehen zu können. Noch eine Sekunde – und er wäre unbedingt zur Tür gelaufen, um sie für Gruschenka aufzumachen, ohne ihre Antwort abzuwarten. Mitjä betrachtete ihn von der Seite und rührte sich nicht. Das ganze ihm so verhaßte Profil des Alten, das herabhängende Doppelkinn, die Hakennase, die fleischigen, in süßer Erwartung lächelnden Lippen, alles das war von links aus dem Zimmer grell durch die Lampe beleuchtet. Eine unbändige, sinnlose Wut raste plötzlich in Mitjäs Herzen auf: „Da ist er, mein Nebenbuhler, mein Peiniger, der Quälgeist meines Lebens!“ Wie eine heiße Welle überkam ihn plötzlich diese sinnlose Wut, von der er vor vier Tagen in der Laube, wahrscheinlich in einem Augenblick der Vorahnung, zu Aljoscha gesprochen hatte, als Antwort auf dessen Fragen: „Wie kannst du nur sagen, daß du den Vater erschlagen wirst?“

„Ich weiß es ja nicht, ich weiß es nicht,“ hatte er damals gesagt, „vielleicht werde ich ihn auch nicht erschlagen, vielleicht aber doch. Ich fürchte, daß mir sein Gesicht in dem Augenblick gar zu widerlich sein wird. Ich hasse sein Doppelkinn, seine Nase, seine Augen, seinen schamlosen Spott. Mich überkommt dann ein unerträglicher persönlicher Ekel. Das ist es, was ich fürchte, denn in dem Augenblick werde ich mich nicht beherrschen können.“

Und der persönliche Ekel wurde von Sekunde zu Sekunde unerträglicher, als er so stand und das Profil des Alten betrachtete. Er war seiner Sinne nicht mehr mächtig, und plötzlich riß er die messingne Mörserkeule aus der Tasche hervor ...


„Gott jedoch beschützte mich,“ sagte Mitjä später. Kurz vorher war der Kranke Grigorij Wassiljewitsch erwacht. Am Abend war an ihm das bewußte Heilmittel, von dem Ssmerdjäkoff Iwan Fedorowitsch erzählt hatte, angewandt worden, d. h. Marfa Ignatjewna hatte ihm mit jenem starken geheimnisvollen Kräuteraufguß eine halbe Stunde lang den Rücken gerieben und ihm dann mit einem bestimmten Gebet das Übriggebliebene zu trinken gegeben, worauf er eingeschlafen war. Marfa Ignatjewna aber hatte dann noch den Rest ausgetrunken und war, da sie sonst nie Spirituosen trank, von diesem einen Schluck Branntwein wie eine Tote eingeschlafen. Nun aber war Grigorij ganz unerwarteterweise wieder aufgewacht. Er besann sich zuerst ein wenig und setzte sich im Bett auf, fühlte aber sofort einen heftigen Schmerz im Kreuz. Darauf dachte er wieder etwas nach, stand aber dann auf und kleidete sich schnell an. Vielleicht fühlte er Gewissensbisse, weil er geschlafen hatte, während doch das Haus „in einer so gefährlichen Zeit“ unbewacht war. Denn Ssmerdjäkoff lag, vom Anfall völlig entkräftet, regungslos im Nebenzimmer. Marfa Ignatjewna rührte sich gleichfalls nicht. „Ist schwach geworden,“ dachte Grigorij und ging ächzend hinaus auf die Treppe. Eigentlich wollte er nur „ein wenig sehn“, da er nicht imstande war, zu gehen, die Schmerzen im Kreuz und im rechten Bein wurden gar zu heftig. Da aber fiel ihm ein, daß er das Pförtchen, das vom Hof in den Garten führte, nicht verschlossen hatte. Grigorij war der genaueste und pünktlichste Mensch, der nur einmal eingeführte Ordnung und langjährige Gewohnheit kannte. Hinkend und schmerzgekrümmt stieg er die Treppe hinab und ging zur Gartenpforte. Richtig, sie war weit offen. Er trat in den Garten ein: vielleicht hatte er irgendeinen Verdacht geschöpft oder einen Laut gehört ... als er aber nach links blickte, sah er den Lichtschein aus dem Zimmer des Herrn und das offene, leere Fenster, – es blickte niemand mehr hinaus.

„Warum ist es offen? Jetzt ist nicht mehr Sommer,“ dachte Grigorij. Und plötzlich, gerade im selben Augenblick, huschte etwas Sonderbares im Garten vorbei. Ungefähr vierzig Schritt vor ihm schien in der Dunkelheit ein Mensch vorüberzulaufen, wie ein Schatten huschte er durch den Garten.

„Herrgott!“ stammelte Grigorij, und dann stürzte er besinnungslos, alle Kreuzschmerzen vergessend, dem gespenstischen Schatten nach. Er nahm aber einen kürzeren Weg zum Zaun, der Garten war ihm offenbar bekannter als dem Flüchtling, der zuerst die Richtung nach dem Badehäuschen einschlug, dann um das Häuschen herumlief und zum Zaun stürzte ... Grigorij verfolgte ihn, ohne ihn aus dem Auge zu lassen, und lief, was er laufen konnte. Er erreichte den Zaun in dem Augenblick, als der Flüchtling schon hinüberkletterte. Außer sich schrie Grigorij auf, stürzte zum Zaun und klammerte sich mit beiden Händen an den Fuß des auf dem Zaune Sitzenden.

Da! Seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen! Er erkannte ihn, das war er, „der Unmensch, der Vatermörder!“

„Vatermörder!“ schrie der Alte, und der Schrei hallte durch die lautlose Nacht über die ganze Umgegend hin. Doch das war auch alles, was er noch schreien konnte: plötzlich stürzte er, schwer getroffen, zusammen. Mitjä sprang wieder in den Garten hinab und beugte sich über den am Boden Liegenden. Die messingne Mörserkeule, die er noch in der Hand hatte, warf er mechanisch zur Seite in das Gras. Sie fiel etwa zwei Schritt von Grigorij hin, doch nicht ins Gras, sondern auf den Weg, gerade auf die sichtbarste Stelle. Er untersuchte hastig den Liegenden. Der Kopf des Alten war ganz von Blut überströmt. Mitjä befühlte den Kopf von allen Seiten. Er erinnerte sich später deutlich, daß er sich in dieser Minute unbedingt hatte „vollkommen überzeugen“ wollen, was mit dem Alten geschehen war: ob er ihm den Schädel eingeschlagen oder ihn durch den Schlag auf den Scheitel nur betäubt hatte. Aber das Blut strömte, strömte unaufhörlich und benetzte wie ein warmer Strom Mitjäs bebende Finger. Er erinnerte sich später auch noch, daß ihm eingefallen war, sein reines Taschentuch, das er vor dem Gang zu Frau Chochlakoff zu sich gesteckt hatte, aus der Rocktasche hervorzuziehen, um damit sinnloserweise das Blut von der Stirn und dem Gesicht des Alten abzuwischen. Aber auch das Taschentuch war im Augenblick von Blut durchtränkt.

„Gott, warum habe ich das getan?“ sagte sich Mitjä, wie aus einem Traum erwachend. „Wenn ich ihm schon den Schädel eingeschlagen habe, wie soll ich mich dann überzeugen ... Ach, ist denn jetzt nicht alles einerlei!“ fügte er plötzlich hoffnungslos hinzu, „– habe ich ihn erschlagen, dann habe ich ihn erschlagen ... Bist mir in den Weg gekommen, Alter, so liege denn!“ sagte er laut vor sich hin, und plötzlich stürzte er wieder zum Zaun, sprang hinab in die Nebenstraße und lief fort. Das blutdurchtränkte Taschentuch hielt er noch zusammengeballt in der rechten Faust, und so steckte er es beim Laufen in die hintere Rocktasche. Er lief, so schnell er konnte, und einige wenige Fußgänger erinnerten sich später, in dieser Nacht einen wie wahnsinnig laufenden Menschen gesehen zu haben. Er stürzte zum Hause der Morosowa, wo Gruschenka wohnte.

Fenjä war inzwischen, oder vielmehr gleich nach seinem Fortgange, zum Oberhofknecht Nasar Iwanowitsch gelaufen und hatte ihn zitternd angefleht, den „Hauptmann um Christi willen weder heute noch morgen hereinzulassen“. Nasar Iwanowitsch hatte sie ruhig angehört und versprochen, ihre Bitte zu erfüllen, doch war er bald drauf zur Herrin gerufen worden, und so hatte er seinen Neffen, einen Burschen von etwa zwanzig Jahren, der erst vor kurzem vom Lande eingetroffen war, auf dem Hof zurückgelassen, hatte aber vergessen, ihm etwas von Fenjäs Bitte in betreff Karamasoffs zu sagen. Als Mitjä das Hoftor erreicht hatte, klopfte er heftig. Der Bursche erkannte ihn sofort: Mitjä hatte ihm schon des öfteren ein gutes Trinkgeld gegeben. Er riß sofort die Tür auf und beeilte sich, lächelnd zu melden, daß Agrafena Alexandrowna nicht zu Haus sei.

„Wo ist sie denn, Prochor?“ fragte Mitjä und blieb stehen.

„Sie ist doch vorhin fortgefahren, so vor zwei guten Stunden, nach Mokroje, mit Timofei, dem Kutscher, der Herr kennen ihn wohl.“

„Fortgefahren? Warum?“ schrie Mitjä.

„Das kann ich nicht wissen, zu einem Offizier, heißt es, der hat sie rufen lassen und auch die Pferde von dort nachgeschickt ...“

Mitjä ließ ihn stehen und lief wie ein Halbwahnsinniger zu Fenjä.

V.
Der plötzliche Entschluß

Sie saß mit ihrer Großmutter in der Küche, beide wollten sie gerade schlafen gehen. Im Vertrauen auf Nasar Iwanowitsch hatten sie die Küchentür wieder nicht verriegelt.

Da stürzte Mitjä hinein, warf sich auf Fenjä und packte sie an der Kehle.

„Sage sofort, wo sie ist, mit wem ist sie in Mokroje!“ brüllte er außer sich.

Beide Weiber schrien auf.

„Ach, ich werde alles sagen, ach, Täubchen Dmitrij Fedorowitsch, werde gleich alles sagen, nichts verheimlichen,“ stammelte schnell, doch mit steifer Zunge, die tödlich erschrockene Fenjä, „sie ist nach Mokroje zum Offizier gefahren.“

„Zu was für einem Offizier?“ brüllte Mitjä.

„Zu ihrem früheren Offizier, zu demselben, zu ihrem früheren, den sie vor fünf Jahren gehabt hat, der sie verlassen hat und fortgefahren ist,“ stotterte, immer noch sich überstürzend, Fenjä so schnell, wie sie nur konnte.

Dmitrij Fedorowitschs Hände, mit denen er ihren Hals zusammengepreßt hatte, sanken herab. Er stand schweigend vor ihr, bleich wie ein Toter, doch an seinen Augen sah man, daß er alles mit einem Male begriffen hatte, alles, alles bis aufs Letzte hatte er begriffen und alles Unausgesprochene erraten. Doch war es der armen Fenjä natürlich nicht um diese Beobachtungen zu tun – ob er alles begriffen hatte oder nicht. Wie sie bei seinem Eintritt auf der Truhe gesessen hatte, so blieb sie auch jetzt sitzen; sie zitterte am ganzen Körper – hielt nur die Hände wie zum Schutz vor sich erhoben, und schien in dieser Stellung erstarrt zu sein. Der Blick ihrer angsterweiterten Pupillen war regungslos auf sein Gesicht geheftet. Seine beiden Hände waren rot von Blut, und auf der Stirn und der rechten Wange war sein Gesicht gleichfalls mit Blut besudelt; er hatte sich wahrscheinlich beim Laufen mit den blutigen Händen den Schweiß von der Stirn gewischt. Fenjä war einer Ohnmacht nahe. Die alte Matrjona, die zuerst mit einem Schrei aufgesprungen war, starrte ihn gleichfalls wie eine Irrsinnige an. Dmitrij Fedorowitsch stand ungefähr eine Minute lang, und dann setzte er sich, ohne recht zu wissen, warum, neben Fenjä auf einen Stuhl nieder.

Er saß und sah vor sich hin: er schien nicht zu denken, sondern gleichsam nur erschrocken, durch den Schreck gelähmt zu sein. Es war ihm alles so klar wie der Tag: dieser Offizier – er wußte von ihm, hatte von ihm gehört, wußte ja alles ganz genau, Gruschenka hatte ihm selbst alles erzählt. Er wußte auch, daß dieser Offizier ihr vor einem Monat einen Brief geschrieben hatte. Also einen Monat, einen ganzen Monat hatte sich alles im geheimen hinter seinem Rücken abgespielt, einen ganzen Monat, bis zur Ankunft dieses neuen Menschen – er aber hatte nicht einmal an ihn gedacht! Wie war das nur gekommen, wie war das möglich gewesen, daß er nicht mehr an ihn gedacht hatte? Wie war es doch nur gekommen, daß er damals diesen Offizier so ganz vergessen hatte? – gleich nachdem sie es ihm erzählt hatte? Das war die Frage, die wie ein Ungeheuer vor ihm stand. Und er schaute es an, dieses Ungeheuer, und der Schreck rief in ihm ein Gefühl wie Kälte hervor.

Und plötzlich begann er zu sprechen. Er wandte sich zu Fenjä und sprach leise und sanft: wie ein ruhiger und lieber Knabe sprach er zu ihr, ganz als hätte er völlig vergessen, wie sehr er sie erschreckt, beleidigt und gepeinigt hatte. Er fragte sie mit erstaunlicher, in seiner Verfassung unglaublicher Logik, und Fenjä, die zwar immer noch scheu auf seine blutigen Hände schielte, antwortete mit gleichfalls erstaunlicher Bereitwilligkeit auf jede Frage, die er an sie stellte, als wenn sie sich beeilen wollte, ihm die ganze „wahrhaftige Wahrheit“ zu sagen. Allmählich fing sie geradezu mit einer gewissen Freudigkeit an, ihm auch Ungefragtes zu erzählen, doch tat sie es nicht etwa, um ihn zu quälen, sondern als wollte sie sich beeilen, ihm von Herzen dienstlich zu sein. Sie erzählte ihm alles, was am Tage geschehen war, erzählte ausführlich von Aljoschas und Rakitins Besuch, wie sie, Fenjä, Wache gestanden hatte, wie ihre Herrin abgefahren war, und vorher noch Aljoscha durch das Fenster einen Gruß an ihn, Mitjenka, bestellt hatte, daß er nicht vergessen solle, „daß sie ihn ein Stündchen lang geliebt habe“. Als Mitjä von diesem Gruß hörte, lächelte er, und auf seinen bleichen Wangen erschien eine helle Röte. Da fragte ihn Fenjä, deren ganze Angst wieder vergangen war:

„Aber was haben Sie denn für Hände, Täubchen Dmitrij Fedorowitsch, sie sind ja ganz blutig!“

„Ja,“ sagte Mitjä mechanisch, blickte zerstreut auf seine Hände und vergaß sie sofort wieder, und mit ihnen auch Fenjäs Frage. Er versank wieder in Schweigen. Er war nun schon seit etwa zwanzig Minuten in der Küche. Sein erster Schreck war vergangen, doch wurde er ersichtlich von einem verzweifelten Entschluß beherrscht. Er erhob sich vom Stuhl und lächelte nachdenklich.

„Herr, was ist denn mit Ihnen geschehen?“ fragte Fenjä, die wieder auf seine Hände wies, – sie sagte es so mitleidig, als wäre sie jetzt im Leid der einzige ihm nahestehende Mensch.

Mitjä warf nochmals einen Blick auf seine Hände.

„Das ist Blut, Fenjä,“ sagte er und blickte sie mit einem sonderbaren Ausdruck an, „das ist Menschenblut. Gott, warum ist es nur vergossen worden! Aber ... Fenjä ... hier gibt es einen Zaun“ (er blickte sie an, als wollte er ihr ein Rätsel aufgeben), „ein hoher Zaun, der dem Ansehen nach schrecklich aussieht, aber ... morgen, wenn der Tag erwacht, ‚wenn die Sonne sich goldrot erhebt‘, dann ... dann wird Mitjä Karamasoff über diesen hohen Zaun springen ... Du weißt nicht, Fenjä, welchen Zaun ich meine, nun, tut nichts ... einerlei, wirst es morgen erfahren und dann alles begreifen ... jetzt aber leb wohl! Ich will nicht stören, werde mich fortschaffen, werde verstehen, mich rechtzeitig fortzuschaffen ... Ach, lebe, lebe, du meine Freude! Hast mich ein Stündchen geliebt, so vergiß denn auch fernerhin nicht Dmitrij Karamasoff, Mitjenka ... Sie nannte mich doch immer Mitjenka, weißt du noch, Fenjä?“

Mit diesen Worten verließ er plötzlich die Küche. Doch dieses Fortgehen erschreckte Fenjä noch mehr, als es sein unerwartetes Wiedererscheinen getan hatte, trotz der zusammengepreßten Kehle. –

Genau zehn Minuten danach trat Dmitrij Fedorowitsch bei jenem jungen Beamten, Pjotr Iljitsch Perchotin, bei dem er seine Pistolen versetzt hatte, ein. Es war schon halb neun Uhr und Pjotr Iljitsch, der zu Hause seinen Tee getrunken hatte, war gerade im Begriff, nach sorgfältiger Toilette in das Gasthaus „Zur Hauptstadt“ zu gehen, um dort Billard zu spielen. Mitjä war noch zur rechten Zeit gekommen, um ihn anzutreffen. Als der ihn aber erblickte und die Blutflecken auf dem Gesicht bemerkte, fragte er ihn erschrocken:

„Nanu, was ist denn mit Ihnen passiert?“

„Ich bin wegen meiner Pistolen gekommen und habe Ihnen das Geld gebracht. Ich danke Ihnen. Nur bitte schnell, Pjotr Iljitsch, ich habe es sehr eilig.“

Pjotr Iljitsch jedoch kam aus dem Erstaunen nicht heraus, er wunderte sich immer mehr; in Mitjäs rechter Hand bemerkte er einen Packen Geldscheine, und das Auffallende dabei war, daß er dieses Geld so in der Hand hielt und so damit eintrat, wie sonst niemand Geld zu halten und einzutreten pflegt. Er hatte alle Scheine in der rechten Hand und hielt die Hand gerade vor sich, als wenn er sie jedem zeigen wollte. Der Knabe, den Perchotin als Bedienten bei sich hatte, sagte später aus, daß Mitjä auch ins Vorzimmer so mit dem Gelde eingetreten sei, wahrscheinlich also auch auf der Straße die Hand ebenso gehalten hatte. Es waren alles Hundertrubelscheine, lauter regenbogenfarbene, und er hielt sie mit blutbeschmutzten Fingern. Späterhin, bei dem Verhör, das man anstellte, antwortete Perchotin auf die Frage, wieviel Scheine es gewesen wären, daß er dies nicht genau sagen könne: vielleicht zweitausend Rubel, vielleicht aber auch dreitausend, denn das Paket sei recht groß gewesen, „ziemlich fest“, doch wolle er nicht darauf bestehen, da ein Irrtum in solchen Dingen sehr leicht möglich sei, besonders wenn man nicht häufig so viel Geldscheine, so als Paket in der Hand gehalten, gesehen hat. Was ihm aber an Dmitrij Fedorowitschs Verfassung aufgefallen war, das drückte er später folgendermaßen aus: „Er war damals, wie mir schien, nicht recht bei Sinnen, doch nicht etwa betrunken, sondern – wie soll ich sagen? – er war gleichsam in Ekstase, war sehr zerstreut, zu gleicher Zeit aber sehr – ich möchte sagen: konzentriert, wie wenn er beständig an ein und dasselbe gedacht hätte, wie wenn er etwas vergeblich zu erfassen gesucht hätte und es ihm dabei doch unmöglich gewesen wäre, sich zu etwas zu entschließen. Er beeilte sich sehr, antwortete schroff und sonderbar; in manchen Augenblicken jedoch schien er keineswegs traurig oder bedrückt, sondern sogar heiter zu sein.“ –

„Aber was ist denn mit Ihnen passiert, was haben Sie nur?“ fragte Perchotin nochmals, indem er den Gast immer noch scheu betrachtete. „Haben Sie sich verwundet, sind Sie gefallen? Sehen Sie doch hier, wie Sie aussehen!“

Er ergriff ihn am Ellenbogen und zog ihn vor den Spiegel. Als Mitjä sein mit Blut besudeltes Gesicht erblickte, fuhr er zusammen und runzelte zornig die Stirn.

„Ach zum Teufel! Das fehlte gerade noch,“ stieß er brummend hervor, legte schnell das Geld aus der rechten Hand in die linke und griff mit der rechten hastig nach dem Taschentuch in der hinteren Rocktasche. Aber das Tuch war ganz blutdurchtränkt: kein einziger weißer Fleck war zu sehen, und es war nicht nur trocken geworden, sondern war buchstäblich hart getrocknet und wollte sich daher nicht auseinanderfalten lassen. Mitjä schleuderte es wütend fort.

„Hol’s der Teufel! Haben Sie nicht irgendeinen Lappen hier ... zum Abwischen?“

„So haben Sie sich nicht verletzt? Aber wo haben Sie sich denn so mit Blut besudelt? Wollen Sie sich nicht lieber waschen, ach, selbstverständlich, kommen Sie, hier ist der Waschtisch.“

„Waschen? Ja, das ist gut ... nur wohin soll ich denn das tun?“ Und er hielt in einer ganz sonderbaren Hilflosigkeit Perchotin die Geldscheine hin und blickte ihn dabei so fragend an, als müßte jener bestimmen, wohin er sein Geld legen sollte.

„Das Geld? Stecken Sie es doch in die Tasche, oder legen Sie es hier auf den Tisch; es wird schon nicht verloren gehn.“

„In die Tasche? Ja, in die Tasche. Das ist gut. ... Nein, sehen Sie mal, das ist doch alles Unsinn!“ sagte er plötzlich laut, gleichsam aus der Zerstreutheit erwachend. „Sehen Sie: wir wollen zuerst diese Sache erledigen, ich meine die Pistolen, Sie geben sie mir zurück, und hier ist Ihr Geld ... denn ich habe sie sehr nötig ... und Zeit – Zeit habe ich keinen Augenblick. –“ Damit nahm er den obersten Hundertrubelschein und hielt ihn Perchotin hin.

„So viel werde ich nicht herauszugeben haben,“ bemerkte der, „haben Sie nicht kleineres Geld?“

„Nein,“ sagte Mitjä, der wieder das Geldpaket betrachtete, aber er schien es selbst nicht genau zu wissen, und so blätterte er mit den Fingern die ersten zwei, drei Scheine zurück. „Nein, es sind nur solche,“ sagte er und blickte Perchotin wieder fragend an.

„Wie sind Sie denn plötzlich so reich geworden?“ fragte jener. „Warten Sie, ich werde den Jungen zu Plotnikoffs schicken, die schließen ihr Geschäft immer etwas später, – dort wird man es noch auswechseln. He, Mischa!“ rief er in das Vorzimmer.

„Zu Plotnikoff! Das ist großartig!“ rief Mitjä begeistert, als hätte ihn mit einem Male ein großer Gedanke erleuchtet. „Mischa,“ wandte er sich zum eingetretenen Jungen, „lauf zu Plotnikoff und sage, daß Dmitrij Karamasoff sofort hinkommen wird ... Doch hör, hör, daß sie Champagner, sagen wir drei Dutzend Flaschen einpacken, wie damals, als ich nach Mokroje fuhr ... Ich nahm damals vier Dutzend mit“ (damit wandte er sich plötzlich zu Perchotin), „sie wissen schon, hab keine Bange, Mischa, aber hör: daß sie den Käse nicht vergessen, die Straßburger Pasteten, geräucherte Forellen, Schinken und Kaviar, kurz und gut, alles, was sie da haben, so ungefähr für hundert, hundertzwanzig Rubel wie damals ... Aber hör noch: daß sie auch die Süßigkeiten nicht vergessen, Birnen, Wassermelonen, etwa zwei oder drei oder vier, halt, nein, von Wassermelonen genügt eine, dafür aber viel Schokolade, Karamellen, Ziehbonbon – kurz, alles, was ich auch damals nach Mokroje mitnahm, mit dem Champagner zusammen für dreihundert Rubel ... Nun, und auch jetzt soll es genau so viel sein. Aber vergiß nichts, Mischa, wenn du nur Mischa ... Er heißt doch Mischa, nicht wahr?“ unterbrach er sich, zu Perchotin gewandt.

„Warten Sie doch,“ unterbrach ihn Perchotin, der ihn unmutig angehört und beobachtet hatte, „bestellen Sie das lieber selbst, wenn Sie hinkommen, der Junge wird doch nur alles verwechseln.“

„Verwechseln, ja, das sehe ich, er wird alles verwechseln. Ach, Mischa, ich wollte dich fast abküssen für den kleinen Dienst ... Wenn du es nicht verwechselst, gebe ich dir zehn Rubel, spring aber schnell hinüber ... Champagner ist die Hauptsache, daß sie den Champagner einpacken und Kognak und Portwein und Rheinwein, kurz, alles wie es damals war ... Sie wissen schon, wie es damals war!“

„Aber so hören Sie doch auf!“ unterbrach ihn Perchotin ungeduldig. „Lassen Sie doch den Jungen endlich hinlaufen, er kann dort das Geld wechseln und sagen, daß sie noch nicht schließen sollen, und Sie gehen dann selbst hin und bestellen persönlich alles, was Sie wollen ... Geben Sie Ihren Hundertrubelschein, marsch, Mischa, lauf, daß deine Beine fliegen!“

Perchotin wollte, wie es schien, den Jungen absichtlich schnell aus dem Zimmer haben, denn dieser stand mit offenem Munde vor dem Gast und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf dessen blutbefleckte Stirn und die blutigen bebenden Hände mit dem Geldpaket und begriff vor Angst und Erstaunen wahrscheinlich kaum die Hälfte von dem, was Mitjä ihm sagte.

„So, jetzt kommen Sie und waschen Sie sich,“ befahl Perchotin kurz. „Legen Sie das Geld auf den Tisch, oder stecken Sie es in die Tasche ... So, nun kommen Sie. Aber ziehen Sie sich doch den Rock aus.“ Und er half ihm, sich seines Rockes zu entledigen, doch plötzlich schrie er auf.

„Was, Donner! Ihr Rock ist ja gleichfalls blutig!“

„Das ... das kommt nicht vom Rock ... Nur ein wenig hier am Ärmel ... und das hier ist, wo das Taschentuch gelegen hat. Es ist aus der Tasche durchgesickert. Ich habe mich bei Fenjä auf das Taschentuch gesetzt, und da ist denn das Blut durchgesickert,“ erklärte Mitjä sofort mit geradezu rührender Vertrauensseligkeit.

Perchotin hörte mit finsterer Stirn zu.

„Das sind ja schöne Geschichten! ... Sie haben wohl eine Prügelei gehabt?“ brummte er.

Darauf begann das Waschen. Perchotin hielt die Kanne und goß das Wasser über. Mitjä beeilte sich und seifte daher die Hände nur wenig ein. (Seine Hände zitterten, wie Perchotin sich später erinnerte.) Da befahl ihm Perchotin sofort, die Hände besser einzuseifen und stärker zu reiben. Er war Mitjä bereits überlegen und wurde es mit jeder Minute mehr. Bei der Gelegenheit will ich noch bemerken, daß der junge Mann von Charakter nichts weniger als schüchtern war.

„Da, unter den Nägeln haben Sie das Blut noch nicht genügend abgerieben; so, jetzt waschen Sie sich das Gesicht, hier, höher, noch höher: bei der Schläfe, beim Ohr ... Und Sie wollen in diesem Hemde fahren? Wohin fahren Sie denn? Sehen Sie doch, die ganze Manschette des rechten Ärmels ist mit Blut – ...“

„Ja, mit Blut,“ bemerkte Mitjä, der die Hand hob, um den Hemdärmelaufschlag zu betrachten.

„So wechseln Sie die Wäsche.“

„Keine Zeit. Ich, sehen Sie, ich werde ...“ fuhr Mitjä, der sich schon Gesicht und Hände getrocknet hatte und sich wieder den Rock anzog, mit derselben Zutraulichkeit fort, „ich werde hier den Hemdärmelrand einfach so umbiegen, man wird es unter dem Rock gar nicht sehen ... So, sehen Sie, nicht wahr?“

„Jetzt sagen Sie, wo Sie sich so zugerichtet haben? Haben Sie sich mit jemandem geprügelt? Im Gasthaus vielleicht? Etwa wieder mit dem Hauptmann, wie damals? Sie haben ihn wohl wieder am Bart gezogen?“ fragte Perchotin vorwurfsvoll. „Oder wen haben Sie sonst noch geprügelt ... oder am Ende gar totgeschlagen?“

„Unsinn!“ sagte Mitjä.

„Wieso Unsinn?“

„Ach, das ist doch ganz überflüssig,“ sagte Mitjä plötzlich lächelnd. „Ich habe soeben eine Alte auf dem großen Platze erdrückt.“

„Erdrückt? Eine Alte?“

„Einen Alten!“ schrie Mitjä lachend, mit offenem Blick in Perchotins Gesicht, und zwar so laut, als wenn jener taub gewesen wäre.

„Teufel noch eins, eine Alte, einen Alten ... Haben Sie jemanden totgeschlagen?“

„Wir haben uns wieder versöhnt. Wir prallten zusammen – und versöhnten uns ... an einem anderen Ort. Wir gingen als Freunde auseinander. Ein dummer Alter ... aber er hat mir verziehen ... jetzt hat er mir bestimmt schon verziehen ... Wäre er aufgestanden, so hätte er mir nicht verziehen,“ fügte Mitjä plötzlich, mit den Augen zwinkernd, hinzu. „Nur, wissen Sie, zum Teufel mit ihm, hören Sie, Pjotr Iljitsch, zum Teufel mit ihm, das ist jetzt ganz überflüssig! Jetzt in dieser Stunde will ich nicht!“ Mitjä brach in bestimmtem Tone kurz ab.

„Ich wollte Sie nur fragen, was für ein Vergnügen es Ihnen macht, mit fremden Menschen anzubinden ... wie Sie auch damals wegen solcher Lappalien mit diesem Hauptmann anbändelten ... zuerst eine Prügelei und dann ein Gelage – das ist Ihr ganzer Charakter! Drei Dutzend Flaschen Champagner! – Was fangen Sie denn damit an?“

„Bravo! Geben Sie jetzt die Pistolen. Bei Gott, ich habe keine Zeit. Ich würde gern mit dir etwas sprechen, mein Täubchen, wie Fenjä sagt, aber ich habe keine Zeit. Und es ist auch nicht nötig, es ist zu spät zum Sprechen. Ah! wo ist denn das Geld, wo habe ich es hingelegt?“ fragte er erstaunt und begann die Hände in die Tasche zu stecken.

„Auf den Tisch haben Sie es doch selbst gelegt ... dort, da liegt es ja. Hatten Sie es vergessen? Sie gehen ja mit Ihrem Gelde wahrlich so um, als wäre es Kehricht oder Wasser. Hier sind Ihre Pistolen. Sonderbar, um sechs versetzten Sie sie für zehn Rubel, und jetzt scheinen Sie ja Tausende in den Fingern zu haben. Wieviel sind es denn, zwei oder drei?“

„Drei, natürlich,“ sagte Mitjä lachend und steckte das Geld in die Hosentasche.

„Aber so werden Sie es doch verlieren. Haben Sie etwa Goldgruben geerbt?“

„Goldgruben? Goldgruben! Hahaha!“ Mitjä lachte, lachte unbändig. „Perchotin, sagen Sie, Liebster, wollen Sie nicht in den Goldgruben nach Gold graben? Dann wird Ihnen eine hiesige Dame sofort Dreitausend vorschießen, damit Sie nur hinfahren. Mir hat sie sie vorgeschossen, dermaßen liebt sie die Goldgruben! Kennen Sie Frau Chochlakoff?“

„Ich bin ihr nicht vorgestellt, aber ich habe sie gesehen und auch von ihr gehört. So hat sie Ihnen diese Dreitausend gegeben? Ist’s möglich?“ Perchotin blickte ihn ungläubig an.

„Wissen Sie, wenn morgen die Sonne goldrot emporsteigt, wenn der ewig junge Phöbus, Gott preisend und lobsingend, im Sonnenwagen am Himmel emporjagt, – so gehen Sie zu ihr, zu Frau Chochlakoff, und fragen Sie sie, ob sie mir die Dreitausend vorgeschossen hat oder nicht? Erkundigen Sie sich mal!“

„Ich kenne Ihre Beziehungen nicht ... wenn Sie so sagen, dann wird sie sie Ihnen wohl gegeben haben ... Und Sie gehen jetzt, nachdem Sie das Geld erhalten haben, anstatt nach Sibirien Gold graben, für alle drei ... Ja, wohin wollen Sie denn jetzt eigentlich fahren?“

„Nach Mokroje.“

„Nach Mokroje? Aber es ist doch Nacht!“

„Es war einmal ein Mann, der war in allem Meister, doch sieh, da ward er dumm und saß dann fest im Kleister,“ sagte plötzlich Mitjä.

„Wieso im Kleister? Mit Dreitausend in der Hand sitzt man nicht im Kleister.“

„Ich rede nicht von den Tausenden. Hol sie der Teufel, die Tausende! Ich rede von des Weibes Herz:

‚Weibersinn ist leicht und flatterhaft,

Kennt keine Treu und ist nicht tugendhaft.‘

Ich bin mit Ulysses vollkommen einverstanden; das hat er gesagt.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Betrunken, wie?“

„Nein, nicht betrunken, aber schlimmer als das.“

„Mein Geist ist trunken, Pjotr Iljitsch, geistig bin ich trunken, aber genug, genug davon!“

„Was tun Sie, Sie laden die Pistole?“

„Ja, ich lade die Pistole.“

Mitjä, der den Pistolenkasten geöffnet und das Pulverhorn genommen hatte, schüttete bereits vorsichtig die Ladung hinein und schlug sie dann sorgfältig fest zu. Darauf nahm er die Kugel, doch bevor er sie hineinschob, hielt er sie zwischen zwei Fingern zum Licht, um sie zu betrachten.

„Warum betrachten Sie die Kugel?“ fragte sofort Perchotin, der ihn unruhig und besorgt beobachtete.

„Nur so. Ein plötzlicher Einfall. Wenn du dir vorgenommen hättest, diese Kugel dir in den Kopf zu jagen, würdest du sie dann, wenn du die Pistole ladest, betrachten, oder würdest du sie so einfach hineinstoßen?“

„Warum sollte ich sie denn betrachten?“

„Wenn sie in dein eigenes Hirn eindringen soll, so ist es doch interessant, zu sehen, wie sie eigentlich aussieht ... Aber übrigens, was rede ich für einen Unsinn, das war nur so ein dummer Gedanke. So, fertig.“ Er hatte die Kugel mit Werg festgestampft. „Pjotr Iljitsch, lieber Pjotr Iljitsch, das war ja nur Unsinn, wenn du wüßtest, was für ein Unsinn! Gib mir mal jetzt ein Stückchen Papier.“

„Da ist Papier.“

„Nein, glattes, reines, auf dem man schreiben kann. Ja, solches.“ Und Mitjä ergriff eine Feder, die auf dem Tisch lag und schrieb schnell zwei Zeilen auf das Papier, das er dann zweimal zusammenfaltete und in die Westentasche steckte. Die Pistolen legte er zurück in den Kasten, verschloß ihn mit dem kleinen Schlüssel, und nahm ihn dann vom Tisch. Er blieb vor Perchotin stehen, blickte ihn lange an und lächelte gedankenverloren.

„Gehen wir jetzt,“ sagte er.

„Wohin wollen Sie? Nein, hören Sie, das geht nicht ... Sie wollen sich diese Kugel wahrscheinlich in Ihren Kopf jagen ...“ sagte Perchotin unmutig.

„Die Kugel war doch Unsinn! Ich will leben! Ich liebe das Leben! Das laß dir gesagt sein. Den goldlockigen Phöbus liebe ich, und ich liebe sein heißes Licht ... Pjotr Iljitsch, lieber Mensch, verstehst du, den Weg freizugeben?“

„Wie das, den Weg freizugeben?“

„Ich meine, aus dem Wege zu treten. Dem geliebten und gehaßten Wesen den Weg freizugeben? Und daß auch das Gehaßte lieb werde, – so muß man den Weg freizugeben verstehen! Und ihnen sagen: Gott mit euch, geht, geht vorüber, ich aber ...“

„Sie aber?“

„Genug, gehen wir.“

„Weiß Gott, ich muß jemanden rufen, damit man Sie nicht dorthin läßt.“ Perchotin blickte ihn scharf an. „Warum wollen Sie denn jetzt nach Mokroje?“

„Dort ist ein Weib, hörst du, ein Weib! So. Das mag dir als Erklärung genügen. Genug. Gehen wir!“

„Hören Sie, Karamasoff, Sie sind ein wilder Mensch, aber Sie haben mir immer, ich weiß nicht warum, gefallen ... ich beunruhige mich Ihretwegen.“

„Ich danke dir, Bruder. Ich bin wild, sagtest du? Ja, die Wilden, die Wilden! Ich habe es ja immer gesagt: die Wilden! Ah, das ist Mischa, ich hatte ihn schon ganz vergessen.“

Mischa war atemlos mit dem ausgewechselten Gelde eingetreten und meldete, daß bei Plotnikoff alle Kommis und Jungen bereits Flaschen, Fisch und Tee „zusammenschleppten“ und alles sofort fertig sein werde. Mitjä nahm einen Zehnrubelschein und reichte ihn Perchotin und einen anderen Zehnrubelschein wollte er dem Jungen geben.

„Nicht! Das verbiete ich Ihnen!“ Perchotin hielt ihn sofort auf. „In meinem Hause dürfen Sie das nicht ohne meine Erlaubnis tun, und es wäre auch nur eine schlechte Erziehung für den Jungen ... wenn ich es erlauben wollte. Stecken Sie Ihr Geld ein, nicht dorthin, stecken Sie es in diese Tasche, werden es sonst verlieren. Morgen werden Sie es vielleicht nötig haben, und dann müßten Sie wieder Ihre Pistolen versetzen. Warum wollen Sie es denn in die Seitentasche stecken? So werden Sie es doch nur verlieren!“

„Hör, lieber Mensch, fahren wir zusammen nach Mokroje?“

„Wozu soll ich dorthin fahren?“

„Hör, ich werde sofort eine Flasche bestellen, trinken wir auf das Leben! Ich will auf das Leben trinken, aber mit dir zusammen will ich trinken. Ich habe doch noch nie mit dir getrunken, nicht wahr?“

„Meinetwegen, das kann man im Gasthaus besorgen, gehen wir hin, es war gerade meine Absicht, zu einer Partie Billard hinzugehen.“

„Nein, dazu haben wir keine Zeit, aber wir können bei Plotnikoff trinken, im Hinterzimmer. Willst du, ich werde dir ein Rätsel zum Raten aufgeben?“

„Nun, gib’s nur auf.“

Mitjä zog aus der Westentasche den soeben geschriebenen Zettel hervor, faltete ihn auseinander und zeigte ihn ihm. Mit deutlicher und großer Handschrift stand darauf geschrieben:

„Ich strafe mich für mein durchlebtes Leben und bestrafe damit mein Leben.“

„Nein, weiß Gott, ich muß jemanden rufen, ich werde sofort ...,“ murmelte Perchotin vor sich hin, als er den Zettel gelesen hatte.

„Wirst keine Zeit mehr dazu haben, mein Täubchen, gehen wir und trinken wir. Nun, rechtsum kehrt, vorwärts – marsch!“

Die Kolonialwarenhandlung von Plotnikoff lag an derselben Straße, nur ein paar Häuser weit von Perchotins Wohnung, gerade an der Straßenecke. Es war die größte Delikatessenhandlung in unserer Stadt. Die Inhaber waren reiche Kaufleute, und das Geschäft ging nicht so übel. Es war dort alles zu haben, was auch in der Großstadt jedes größere Kolonialwarengeschäft hat: Weine von den Brüdern Jelissejeff, Früchte, Zigarren, chinesischer Tee, Zucker, Kaffee usw. Es waren immer drei Kommis und zwei Laufburschen beschäftigt. Obwohl unser Bezirk verarmt, der Handel zurückgegangen war und die Gutsbesitzer fortzogen, so blühte doch dieses Kolonialwarengeschäft nach wie vor und vergrößerte sich noch mit jedem Jahr, denn die Zahl der Käufer dieser Gegenstände verringerte sich nicht, sondern wuchs eher. Dmitrij Fedorowitsch wurde ungeduldig erwartet. Man erinnerte sich noch gar zu gut, wie er vor vier Wochen ebenso plötzlich Weine, Delikatessen und Süßigkeiten bestellt hatte, Ware für mehrere hundert Rubel bar (auf Kredit hätte man ihm natürlich nichts gegeben), und ebensogut wußte man, daß er auch damals ebenso wie jetzt einen ganzen Packen Hundertrubelscheine in der Hand gehalten hatte, wußte, wie er mit dem Gelde umgegangen war, wie großartig er alles bestellt hatte, ohne je nach einem Preise zu fragen, ohne nachzudenken oder nachdenken zu wollen, wieviel Ware er nahm. Sprach doch die ganze Stadt nachher, daß er damals, als er mit Gruschenka nach Mokroje gefahren war, in einer Nacht und an dem folgenden Tage dreitausend Rubel ausgegeben hatte und ohne einen roten Heller zurückgekommen war. Ein ganzes Zigeunerlager, das sich damals bei uns niedergelassen hatte, war von ihm hinbestellt worden, und dieses schlaue Volk, hieß es, hätte ihm in der Trunkenheit unzähliges Geld abgezapft und seine teuren Weine wie Flußwasser (nur mit anderen Folgen) getrunken. Man erzählte sich lachend, wie er in Mokroje schmutzige Bauernkerle mit Champagner und die Dorfmädel und Weiber mit teurem Konfekt und Straßburger Pasteten traktiert hatte. Desgleichen lachte man, besonders im Gasthaus „Zur Hauptstadt“, über Mitjäs aufrichtiges Eingeständnis (natürlich lachte man ihm nicht ins Gesicht, denn das wäre etwas zu gefährlich gewesen), daß er von Gruschenka für diese ganze „Eskapade“ nichts als die Erlaubnis erhalten hatte, „einen Kuß auf ihr Füßchen drücken zu dürfen und weiter nichts“.

Als Mitjä und Perchotin sich dem Laden näherten, sahen sie, daß vor der Tür eine Troika hielt; der Wagen war mit einem Teppich bedeckt und die Pferde mit Glocken und Schellen geschmückt. Andrei, der Kutscher, ging auf und ab und wartete auf Mitjä. Im Laden hatte man eine Kiste bereits „erledigt“ und wartete nur noch auf Mitjäs Erscheinen, um sie zu vernageln und auf den Wagen zu heben. Perchotin wunderte sich.

„Aber wo hast du so schnell die Troika hergenommen?“ fragte er erstaunt.

„Als ich zu dir ging, traf ich ihn unterwegs, ich meine den Andrei, und da befahl ich ihm, sofort anzuspannen und hier vorzufahren. Wozu Zeit verlieren? Das vorige Mal fuhr ich mit Timofei, aber diesmal ist mir Timofei mit meiner Zauberin vorausgefahren. He, Andrei, werden wir sehr viel später ankommen?“

„Höchstens ein Stündchen, Herr, werden sie früher ankommen als wir, und selbst nicht mal das!“ versicherte Andrei eilfertig. „Ich habe Timofei abfahren sehen, ich weiß, wie der fahren wird. Die fahren nicht wie wir, Herr, wie sollen die denn so wie wir fahren! Mehr als eine Stunde kommen sie sicherlich nicht früher an!“ beteuerte Andrei eifrig. Es war ein noch nicht alter, rothaariger und hagerer Mann im Leibrock. Seinen Mantel trug er auf dem linken Arm.

„Fünfzig Rubel Trinkgeld, wenn wir nur eine Stunde später hinkommen.“

„Für eine Stunde bin ich sicher! Ach, Herr, die werden nicht mal ’ne halbe Stunde früher ankommen, von ’ner ganzen schon ganz zu schweigen!“

Mitjä war zwar sehr beschäftigt mit dem Anordnen, doch gab er seine Befehle auffallend zerstreut, er sprach sie fast nie zu Ende. Perchotin fand es geboten, sich in die Sache einzumischen.

„Für vierhundert Rubel, nicht weniger als für vierhundert, damit es ganz genau so viel ist, wie damals,“ kommandierte Mitjä. „Vier Dutzend Flaschen Champagner, keinen Tropfen weniger!“

„Wozu soviel, wer wird das austrinken? Halt!“ rief Perchotin. „Was ist das für eine Kiste? Was ist hier eingepackt? Diese Kiste soll für vierhundert Rubel Weine und Delikatessen enthalten?“

Ihm wurde aber sofort von den dienstbeflissenen Kommis in höflichster Redeweise auseinandergesetzt, daß in dieser ersten Kiste nur ein halbes Dutzend Flaschen Champagner und „alle möglichen notwendigen Konserven und sofort nötige Delikatessen“ eingepackt seien, sowie Schokolade, Früchte, Kaviar, Lachs usw., daß aber der „große Bedarf“ sofort eingepackt und noch in dieser Stunde mit einer anderen Troika abgeschickt werden würde, so wie es auch das vorige Mal geschehen sei, und daß also die Sachen für den „großen Bedarf“ höchstens eine Stunde später als der Herr in Mokroje ankommen würden.

„Nur nicht später als nach einer Stunde, und möglichst viel Schokolade und Makronen, die werden von den Mädels am liebsten gegessen,“ setzte Mitjä noch eifrig hinzu.

„Nun gut, also noch Makronen. Aber was fängst du mit vier Dutzend Flaschen Champagner an? Eines genügt vollkommen!“ sagte Perchotin geärgert.

Er erkundigte sich nach den Preisen, verlangte die Rechnung und wollte sich nicht beruhigen. Kurz, er rettete im ganzen etwa hundert Rubel. Es endete damit, daß alles in allem nur für dreihundert Rubel Ware eingepackt werden sollte.

„Ach, zum Teufel!“ Perchotin bedachte sich eines anderen. „Was geht das mich an! Tu mit deinem Gelde, was du willst, wenn du es so mühelos bekommen hast!“

„Komm her, mein lieber Nationalökonom, komm her, ärgere dich nicht.“ Damit zog ihn Mitjä in das Hinterzimmer. „Man wird uns sofort eine Flasche herbringen. Ach was, fahren wir zusammen hin, du bist ein lieber Mensch, ich liebe solche wie du.“

Mitjä setzte sich auf einen geflochtenen Stuhl vor einen kleinen Tisch, der mit einem äußerst befleckten Tischtuch bedeckt war. Perchotin ließ sich ihm gegenüber auf irgendeiner anderen Sitzgelegenheit nieder. Im selben Augenblick wurde auch schon der Champagner gebracht. Es wurde noch gefragt, ob die Herren nicht Austern wünschten, „prima Qualität, letzte Sendung ...“

„Ach, zum Teufel mit den Austern, ich will sie nicht, nicht nötig,“ stieß Perchotin geradezu wütend hervor.

„Ja, wir haben keine Zeit zum Austernschlürfen,“ meinte Mitjä, „und ich habe auch keinen Appetit auf Austern. Weißt du, Freund,“ sagte er plötzlich gefühlvoll, „ich habe niemals diese ganze Unordnung geliebt.“

„Wer liebt denn überhaupt so etwas! Vier Dutzend, das ist doch wirklich ... für Bauernkerle!“

„Ich rede nicht davon. Ich meinte die höhere Ordnung. Es ist keine Ordnung in mir, keine höhere Ordnung ... Aber ... das ist jetzt vorüber, wozu noch darüber trauern. Das kommt jetzt zu spät, hol’s der Teufel, wenn er will! Mein ganzes Leben war Unordnung, jetzt muß man einmal Ordnung schaffen. Hm, du glaubst wohl, daß ich Witze reißen will?“

„Du phantasierst im Fieber, aber machst keine Witze.

‚Heil dem Höchsten in der Welt,

Heil dem Höchsten auch in mir!‘

– Diese Worte haben sich einmal, irgend einmal aus meiner Seele gerungen, nicht als Gedicht, nein, es waren Tränen ... Ich habe sie selbst gedichtet ... natürlich nicht damals, als ich den Hauptmann am Bärtchen zog ...“

„Wie kommst du auf ihn?“

„Wie ich auf ihn zu sprechen komme? Unsinn! Alles nähert sich dem Ende, alles gleicht sich aus, ein Strich – und das Fazit.“

„Nein, weiß Gott, mir kommen deine Pistolen nicht aus dem Sinn.“

„Auch die Pistolen sind Unsinn! Trink und phantasiere nicht. Ich liebe das Leben, habe es gar zu lieb, so lieb, daß es fast schon niedrig ist. Doch genug davon! Auf das Leben, Täubchen, auf das Leben laß uns trinken, ich schlage einen Toast auf das Leben vor! Warum bin ich nur so zufrieden mit mir? Ich bin ein niedriger Mensch, aber ich bin zufrieden mit mir. Und doch – es quält mich, daß ich niedrig und trotzdem mit mir zufrieden bin. Ich segne die Schöpfung, ich bin bereit, Gott zu segnen und seine Schöpfung, aber ... man muß ein scheußliches Insekt vernichten, damit es nicht mehr umherkriecht, nicht anderen das Leben verdirbt ... Trinken wir auf das Leben, Bruder! Was gibt es Schöneres als das Leben? Nichts, nichts! Auf das wogende Leben und auf eine Königin aller Königinnen!“

„Schön, trinken wir auf das Leben, und meinetwegen auch auf deine Königin.“

Sie tranken jeder ein Glas. Mitjä war trotz seiner Begeisterung und Ekstase gewissermaßen traurig – als wenn eine Sorge hinter ihm stünde und er sie nicht loswerden könnte.

„Mischa ... das ist doch dein Mischa, der soeben eintrat? Mischa, Täubchen, Mischa, komm her, trink dieses Glas auf Phöbus, den goldlockigen Jüngling, der morgen ...“

„Warum gibst du ihm Champagner!“ rief Perchotin gereizt und versuchte ihn aufzuhalten.

„Nun, erlaub doch, laß doch, warum willst du es nicht? – laß, ich will.“

„Ach nun!“

Mischa trank das Glas aus, machte einen schönen Bückling und lief fort.

„So wird er es länger behalten,“ meinte Mitjä. „Ein Weib liebe ich, ein Weib! Was ist das Weib? Die Königin der Erde! Traurig ist mir zumut, Pjotr Iljitsch. Weißt du noch, wie Hamlet sagt: ‚Mir ist so schwer ums Herz, so schwer, Horatio ... Ach, armer Yorik!‘ Dieser Yorik bin vielleicht ich. Ja, jetzt bin ich Yorik, und ein Schädel später.“

Perchotin hörte zu und schwieg; da verstummte auch Mitjä.

„Was ist das da für ein Hündchen?“ fragte er plötzlich zerstreut einen Kommis, als er in der Ecke ein kleines Bologneserhündchen mit schwarzen Augen bemerkt hatte.

„Das gehört Warwara Alexejewna, unserer Gnädigen,“ entgegnete der Kommis höflich, „sie hat es vorhin hergebracht und hier vergessen, da wird man es ihr zurückbringen müssen.“

„Ich habe einmal ein ähnliches gesehen ... im Regiment ...“ sagte Mitjä gedankenverloren, „nur hatte es sich die Hinterpfötchen gebrochen ... Pjotr Iljitsch, ich wollte dich noch fragen, gut, daß es mir einfällt: Hast du je in deinem Leben gestohlen – oder nie?“

„Was soll das?“

„Nein, ich frage dich nur so. Ich meine, aus der Tasche eines anderen Menschen etwas Fremdes? Ich rede nicht von der Staatskasse, die wird natürlich von allen gerupft und auch von dir, versteht sich ...“

„Geh zum Teufel.“

„Ich meine aber Fremdes: gleich aus der Tasche, aus dem Portemonnaie?“

„Von meiner Mutter habe ich einmal einen Zwanziger gestohlen, ich war ein neunjähriger Knabe. Ich nahm ihn leise vom Tisch und verbarg ihn in der Faust.“

„Nun, und?“

„Nun, nichts weiter. Drei Tage verwahrte ich ihn, dann schämte ich mich, gestand es und gab ihn zurück.“

„Nun, und dann?“

„Das ist doch klar: ich wurde gedroschen. Aber wozu fragst du, hast du etwa selbst gestohlen?“

„Hab’ gestohlen,“ sagte Mitjä mit einem verschmitzten Lächeln.

„Was hast du gestohlen?“

„Von meiner Mutter einen Zwanziger, ich war ein neunjähriger Knabe, nach drei Tagen gab ich ihn zurück.“

Als er das gesagt hatte, erhob er sich plötzlich.

„Herr, wollen wir uns nicht beeilen?“ ertönte von der Tür Andreis Stimme.

„Ist alles bereit? Gehen wir!“ Mitjä fuhr unmutig auf. „Noch das letzte Wort und ... Dem Andrei einen Schnaps auf den Weg! Und auch ein Glas Kognak für ihn außer dem Schnaps! Dieser Kasten (mit Pistolen) kommt unter den Sitz. Leb wohl, Pjotr Iljitsch, denk nicht schlecht von mir!“

„Aber du kommst doch morgen zurück?“

„Unbedingt.“

„Werden der Herr vielleicht jetzt die kleine Nota begleichen?“ fragte freundlich ein flink herbeigesprungener Kommis.

„Ach, ja, natürlich! Versteht sich!“

Und wieder zog er alle Scheine aus der Tasche heraus, nahm die obersten drei regenbogenfarbenen und warf sie auf den Ladentisch. Dann eilte er hinaus. Ihm folgte unter Bücklingen und mit guten Wünschen auf die Reise das ganze Personal. Andrei räusperte sich und sprang auf seinen Platz. Doch kaum wollte Dmitrij einsteigen, als plötzlich Fenjä auftauchte. Sie kam atemlos herangelaufen, schlug die Hände flehend zusammen und stürzte mit einem Schrei vor Mitjä auf die Knie nieder.

„Väterchen Dmitrij Fedorowitsch, Täubchen, bringen Sie sie nicht um! Und ich, ich habe Ihnen alles erzählt in der Angst! ... Und auch ihn bringen Sie nicht um, das ist doch der Frühere, ihr Liebster! Er wird jetzt Agrafena Alexandrowna heiraten, er ist doch nur deswegen aus Sibirien zurückgekehrt ... Täubchen Dmitrij Fedorowitsch, richten Sie nicht fremdes Leben zugrunde!“

„Aha, das also ist es! Nun, da kann er ja was Schönes anrichten!“ brummte Perchotin vor sich hin. „Jetzt begreife ich ... jetzt hat alles seine Erklärung ... Dmitrij Fedorowitsch, gib mir mal sofort die Pistolen her, wenn du ein Mensch sein willst,“ rief er ihm laut zu, „hörst du!“

„Die Pistolen? Wart, mein Täubchen, ich werde sie unterwegs in den Graben werfen,“ sagte Mitjä. „Fenjä, stehe auf, liege nicht so vor mir auf den Knien. Niemanden wird Mitjä, dieser dumme Mensch, zugrunde richten, hinfort niemanden mehr. Und noch eines, Fenjä,“ rief er ihr, bereits einsteigend, zu, „ich habe dich vorhin gekränkt und habe dir weh getan, verzeih es mir und vergib dem Bösewicht ... willst du es aber nicht vergeben, nun dann meinetwegen auch nicht! Jetzt ist doch schon alles einerlei! Fahr zu, Andrei, geschwind!“

Andrei zog die Leine an und knallte mit der Peitsche: Glocken und Schellen ertönten.

„Leb wohl, Pjotr Iljitsch! Dir die letzte Träne! ...“

„Er ist nicht betrunken und schwatzt doch wie im Delirium!“ dachte Perchotin bei sich, als die Troika wie der Wind um die Ecke gebogen und verschwunden war. Er hatte sich vorgenommen, so lange zu warten, bis man die zweite Troika mit den übrigen Vorräten abgeschickt hätte, denn er sagte sich, daß man bei der Gelegenheit wahrscheinlich tüchtig betrügen wollte; doch plötzlich drehte er sich ärgerlich um und begab sich zu seiner Billardpartie.

„Ein Esel, wenn auch sonst ein netter Junge ...“ brummte er unterwegs vor sich hin. „Von einem gewissen Offizier, diesem Vormaligen der Gruschenka, habe ich gehört. Nun, wenn er jetzt zurückgekehrt ist ... Ach, die verfluchten Pistolen! Zum Teufel, was geht das schließlich mich an, ich bin doch nicht seine Kindermagd! Mag er doch! Aber es wird ja nichts geschehen. Hunde, die bellen, beißen nicht. Solche Leute trinken und prügeln sich, prügeln sich und versöhnen sich. Sind denn das Tatmenschen? Doch was war das mit dem ‚ich werde den Weg freigeben, strafe mich für mein Leben‘? Ach was, Geschwätz. Er hat doch wahrlich nicht wenig ähnliches Zeug geredet, wenn er betrunken war. Jetzt aber war er wirklich nicht betrunken. ‚Mein Geist ist trunken‘ – schönen Stil lieben die Schufte. Ach, was geht das mich an, bin doch nicht seine Kindermagd. Und das Prügeln stets erstes Lebenselement! Sein ganzes Gesicht war mit Blut besudelt. Und das ganze Taschentuch ... Pfui Teufel, jetzt liegt es bei mir auf dem Fußboden ... Schweinerei!“

In der schlechtesten Gemütsverfassung erreichte er endlich das Gasthaus „Zur Hauptstadt“ und begann sofort die Partie. Das Spiel zerstreute ihn. Man begann darauf eine zweite Partie, und plötzlich ließ er im Gespräch mit seinem Partner die Bemerkung fallen, daß Dmitrij Karamasoff wieder Geld in Fülle besitze, etwa dreitausend Rubel, daß er es selbst gesehen habe, und daß Mitjä wieder nach Mokroje zu einem Gelage mit Gruschenka gefahren sei. Diese Nachricht wurde mit erstaunlicher Aufmerksamkeit aufgenommen. Und alle sprachen sonderbarerweise vollkommen ernst darüber, keineswegs scherzend oder gleichgültig. Sie unterbrachen sogar das Spiel.

„Dreitausend? Woher hat er die denn plötzlich bekommen?“

Man begann ihn auszufragen. Daß Frau Chochlakoff ihm das Geld gegeben habe, wurde stark bezweifelt.

„Oder hat er vielleicht den Alten beraubt?“

„Weiß der Teufel, dreitausend! Da muß irgend etwas nicht in Ordnung sein.“

„Hat er sich denn nicht immer gerühmt, daß er den Vater erschlagen werde, das haben wir doch alle gehört! Und gerade von dreitausend Rubeln sprach er das letztemal ...“

Perchotin hörte zu, und seine Antworten wurden immer trockener und knapper. Vom Blut, das Mitjä an den Händen und auf dem Gesicht gehabt hatte, sagte er nichts, obgleich er auf dem Wege zum Gasthaus eigentlich beabsichtigt hatte, auch davon zu erzählen. Man begann die dritte Partie, und das Gespräch über Mitjä verstummte allmählich. Nachdem aber Perchotin die dritte Partie beendet hatte, wollte er nicht weiter spielen; er legte das Queue hin und ging fort, ohne zu Abend zu essen. Als er auf den Platz hinaustrat, blieb er, in Zweifel befangen und verwundert über sich selbst, stehen. Er hatte beschlossen, sofort zu Fedor Pawlowitsch Karamasoff zu gehen, um dort zu erfahren, ob nicht etwas Besonderes geschehen war.

„Ach was,“ dachte er, „ich soll dort wegen irgendeiner Dummheit, denn mehr wird ja doch nicht dahinter stecken, fremde Menschen aus dem Schlafe wecken und womöglich noch einen Skandal hervorrufen. Teufel! was geht das mich an!“

In hundsgemeiner Stimmung begab er sich geradeswegs nach Hause, doch plötzlich fiel ihm Fenjä ein. „Ich Esel, warum erkundigte ich mich nicht bei ihr, dann würde ich jetzt alles wissen.“ Und das eigensinnige Verlangen, mit ihr zu sprechen, wurde so stark in ihm, daß er auf halbem Wege kurz entschlossen kehrtmachte und sich zum Hause der Morosowa, wo Gruschenka wohnte, begab. Beim Hoftor angelangt, klopfte er, und der Laut, der in der nächtlichen Stille erschallte, weckte ihn wieder auf: er ernüchterte und ärgerte ihn zugleich. Zudem rührte sich nichts: alles schien im Hause zu schlafen. „Und auch hier wird es schließlich nur auf einen Skandal hinauskommen!“ dachte er fast mit einem Schmerz in der Brust. Doch anstatt fortzugehen, begann er von neuem zu klopfen, und zwar klopfte er vor Wut aus aller Kraft. Der Lärm schallte durch die ganze Straße. „Ich werde sie doch noch wachrütteln, zum Trotz!“ brummte er, und mit jedem Schlag wuchs sein Ärger, und mit jedem Schlage klopfte er lauter, immer lauter.

VI.
„Ich fahre!“

Inzwischen raste die Troika auf der Landstraße dahin. Bis nach Mokroje waren es etwas mehr als zwanzig Werst, doch Andrei jagte dermaßen, daß er in einer Stunde anzukommen hoffen konnte. Die scharfe Fahrt schien Mitjä zu beleben. Die Nacht war still und fast kalt; am klaren Himmel flimmerten lautlos die großen, hellen Sterne. Es war dieselbe Nacht und vielleicht auch dieselbe Stunde, in der Aljoscha zur Erde niederfiel und „in Verzückung schwor, die Erde bis in alle Ewigkeit zu lieben“. Doch in Mitjäs Seele war Unruhe, dunkle Unruhe. Und wenn auch viele Gefühle in seiner Seele miteinander rangen, so strebte doch sein ganzes Wesen nur zu ihr, zu ihr, seiner Königin, zu der ihn die rasenden Tiere brachten, – um sie noch einmal, zum letztenmal, zu sehen! Ich will hier nur noch eines sagen, wenn man es mir auch vielleicht nicht glauben wird: Dieses eifersüchtige Herz empfand für den neuen Nebenbuhler, für diesen plötzlich aus der Erde aufgetauchten sogenannten „früheren Offizier“, nicht den geringsten Haß. Jeder andere Nebenbuhler, wäre ein solcher neben ihm aufgetaucht, hätte ihn vor Eifersucht rasend gemacht, und vielleicht hätte er dann wieder seine Hände mit Blut besudelt, – doch für diesen, für diesen „ihren Ersten“ empfand er nicht einmal ein feindseliges Gefühl. Allerdings hatte er ihn noch nicht gesehen, aber: „Hier ist es ihr Recht und auch seines; hier ist es ihre erste Liebe, die sie in den ganzen fünf Jahren nicht vergessen hat, hier kann niemand mehr etwas streitig machen. Fünf Jahre lang hat sie ihn geliebt, und ich – warum habe ich mich zwischen sie zu drängen versucht? Was hatte ich dabei zu tun? Tritt zur Seite, Mitjä, und gib den Weg frei! Und was will ich jetzt noch? Jetzt ist ja auch ohne den Offizier alles aus! Selbst wenn er gar nicht wieder aufgetaucht wäre – es ist ein für allemal alles zu Ende ...“

Ungefähr in diesen Worten würde er seine Empfindungen ausgedrückt haben, wenn er nur imstande gewesen wäre, zu denken. Denken aber war ihm unmöglich. Sein ganzer Entschluß war eigentlich ohne jeden Gedanken entstanden, in einer Sekunde war er aufgetaucht, sofort gefühlt und wortlos, gedankenlos mit allen Folgen von ihm als selbstverständlich aufgenommen worden. Das war in der Küche bei Fenjä schon bei deren ersten gestammelten Worten geschehen. Und doch war trotz des gefaßten Entschlusses Unruhe in seiner Seele; selbst die Entschlossenheit brachte keine Ruhe. Gar zu vieles stand hinter ihm und quälte ihn. Und eben dies kam ihm zuweilen so sonderbar vor. Er hatte doch schon eigenhändig seinen Urteilsspruch geschrieben: „Ich strafe mich für mein durchlebtes Leben,“ und der Zettel war doch hier in seiner Westentasche, und die Pistole war doch schon geladen, und er hatte ja schon beschlossen, wie er morgen den ersten lichten Strahl des „goldlockigen Phöbus“ begrüßen werde – und doch konnte er das Gewesene, das hinter ihm stand und ihn quälte, nicht abschütteln, das fühlte er bis zum körperlichen Schmerz, und der Gedanke daran hatte sich wie Verzweiflung an seine Seele festgesogen. Es kam ein Augenblick, in dem er die Pistole herausreißen und aus dem Wagen springen wollte, um alles sofort zu beenden, ohne auf den goldlockigen Phöbus zu warten. Aber auch dieser Augenblick verging wie ein Funken. Und die Troika jagte, „die Entfernung verschlingend“, und in dem Maße, wie er sich ihr näherte, verscheuchte der Gedanke an sie mehr und mehr alle anderen, ihn zerrenden Schreckgespenster. Oh, er wollte sie nur einmal noch sehen, nur noch einmal, und wenn auch nur von ferne, flüchtig! „Sie ist jetzt mit ihm zusammen, nun, so werde ich denn sehen, wie sie jetzt mit ihm zusammen ist, mit ihrem früheren Liebsten, das ist ja alles, was ich will.“ Und noch niemals hatte sich in ihm so viel Liebe zu diesem Weibe, das so verhängnisvoll für ihn geworden war, in seinem Herzen erhoben, so viel neue, noch nie empfundene Gefühle, Gefühle, die für ihn selbst ganz unerwartet kamen, Gefühle, die wie Gebete fromm und bis zur Weichheit zärtlich waren. „Ich werde den Weg freigeben und vergehen! Und ich vergehe auf Erden!“ sagte er sich in einem Anfall hysterischer Ekstase.

Fast eine Stunde lang jagten sie schon. Mitjä schwieg, und Andrei, der sonst recht gesprächig war, hatte auch noch kein Wort gesprochen, ganz, als hätte er sich gefürchtet zu sprechen, und trieb nur seine „Renner“ an, seine braune, hagere, wilde Troika. Da schrie ihm plötzlich Mitjä entsetzt zu:

„Andrei! ... Aber wenn sie schon schlafen?“

Dieser Gedanke war ihm ganz plötzlich gekommen, denn vorher hatte er an diese Möglichkeit überhaupt nicht gedacht.

„Ja, es ist wohl anzunehmen, daß sie sich schon hingelegt haben.“

Mitjä runzelte finster die Stirn, ein krankhaftes Gefühl erfaßte ihn. „Nein, wirklich, was dann, wenn er ankommt ... mit diesen Gefühlen ... und sie schlafen bereits ... und auch sie schläft vielleicht gleichfalls ... im selben Hause ...?“ Ein böser Gedanke stieg in seinem Herzen auf.

„Schneller, Andrei, jage!“ schrie er außer sich.

„Aber es kann auch sein, daß sie sich noch nicht hingelegt haben,“ meinte Andrei nach einem Weilchen Nachdenken. „Timofei sagte, daß sich ihrer dort viele versammelt haben ...“

„Auf der Poststation?“

„Nein, nicht dort; bei Plastunoffs, im Einkehrhaus, also sozusagen in der Herberge, das wäre so eine freie Station für die Reisenden, ohne Post.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber was sagst du da von vielen, die sich dort versammelt hätten? Wie viele? Wer das?“ Mitjä war durch die unerwartete Nachricht außergewöhnlich erregt.

„Timofei erzählte so. Alles Herren: aus der Stadt zwei, was für welche, weiß ich nicht, aber sie sollen aus der Stadt sein und dann noch zwei andere, angereiste, wie er sagte, und wer kann wissen, vielleicht noch jemand, ich hab ihn nicht viel ausgefragt. Sie haben angefangen Karten zu spielen, sagte er.“

„Karten?“

„So ist denn wohl möglich, daß sie noch nicht schlafen, wenn sie Karten zu dreschen angefangen haben. Was wird es denn jetzt viel an der Zeit sein, gut, wenn es elf ist.“

„Schneller, Andrei, so jage doch!“ schrie ihm Mitjä abermals zu.

„Nur möchte ich gern fragen, Herr,“ begann nach kurzem Schweigen Andrei, „weiß nur bloß nicht, wie ich das machen soll, damit der Herr sich nicht ärgert.“

„Was?“

„Vorhin fiel Fedossja Markowna vor dem Herrn auf die Knie und bat, ihre Herrin und noch jemand nicht umzubringen ... So denk ich denn, ich bringe ihn jetzt wohl hin ... Verzeiht, Herr, ich fragte nur so aus Gewissensangst, vielleicht habe ich was Dummes gesagt.“

Mitjä faßte ihn plötzlich hinterrücks an den Schultern.

„Du bist doch ein Kutscher? Ein Kutscher, nicht wahr?“ fragte er erregt.

„Nun ja, wie man’s nimmt, eigentlich ein Fuhrmann ...“

„Weißt du nicht, daß man ausbiegen und anderen den Weg freigeben muß? Oder glaubst du, daß man drauflosfahren muß, wenn auch die anderen dabei in den Graben stürzen oder unter deine Räder kommen? Nein, Andrei, überfahre niemanden! Man darf nicht Menschen überfahren, man darf den Menschen nicht das Leben zerstören. Wenn du aber ein Leben zerstört hast, so strafe dich selbst ... wenn du es verdorben hast, wenn du nur jemandem das Leben verdorben hast – so richte dich und verschwinde!“

Diese Worte sprudelten wie im Krampf aus ihm hervor. Andrei wunderte sich über den Herrn, setzte aber doch das Gespräch fort.

„Da hat der Herr ein wahres Wort gesagt: Das darf man nicht, einen Menschen überfahren, auch quälen nicht, und wenn’s auch nur ein Vieh ist, denn auch ein Vieh ist als Vieh von Gott geschaffen, selbst so ein Pferd. Mancher aber jagt wie blind drauflos, und wenn’s dann halten heißt, dann ist’s zu spät, er jagt dir schnurstracks ...“

„In die Hölle?“ fiel Mitjä ein und lachte darauf sein unerwartetes, eigenartig kurzes Lachen. „Andrei, du goldene Seele, sag!“ Mitjä faßte ihn wieder hinterrücks an den Schultern, „sag, wird Dmitrij Karamasoff schnurstracks in die Hölle kommen oder nicht, was meinst du?“

„Das kann ich nicht wissen, Täubchen, das wird von Euch abhängen, denn Ihr seid doch bei uns, wie ... Seht, Herr, als Gottes Sohn ans Kreuz geschlagen war und starb, da ging er vom Kreuz schnurstracks in die Hölle und befreite alle Sünder, die sich dort quälten. Und da ächzte die Hölle, weil, wie sie glaubte, hinfort niemand mehr hinkommen werde, also keine Sünder mehr. Und da sagte der Herr zur Hölle: ‚Ächze nicht, Hölle, denn es werden hinfort viele Reiche und Herrscher und Richter und Mächtige und Würdenträger zu dir kommen, und du wirst hinfort wiederum genau so gefüllt sein, wie du es von Ewigkeit warst, bis daß ich wiederkomme.‘ Und das ist wahr, das hat der Herr genau so gesagt ...“

„Eine Volkslegende, prachtvoll! Zieh dem Linken eins über, Andrei!“

„Das ist schon so, Herr, für wen die Hölle bestimmt ist,“ – Andrei zog dem Linken eins über – „der kommt hinein, und was für welche hineinkommen, das hat der Herr damals der Hölle vorausgesagt. Aber Ihr seid doch für mich wie ein klein Kindchen ... so kommt Ihr mir immer vor ... Und wenn der Herr auch jähzornig ist, das ist wohl wahr, so wird doch Gott Euch für Euer gutes Herz vergeben.“

„Und du, vergibst du mir, Andrei?“

„Was habe ich Euch denn zu vergeben, Herr, Ihr habt mir doch nichts Schlechtes getan.“

„Nein, für alle, für alle du allein, jetzt gleich, sofort, hier im Wagen, auf der Fahrt, vergibst du mir für alle? Sprich, du Volksseele!“

„Ach Herr! Es wird einem ganz bange, Euch zu fahren. Eure Worte sind heute ganz wunderlich ...“

Mitjä hörte nicht, was Andrei brummte. Er betete wie wahnsinnig und flüsterte angstvoll vor sich hin.

„Vater unser, nimm mich in meiner ganzen Gottlosigkeit, aber richte mich nicht! Ruf mich nicht vor deinen Richterstuhl, laß mich ohne Gericht vorübergehn ... Richte mich nicht, denn ich habe mich selbst gerichtet. Richte mich nicht, denn ich liebe Dich, Herr! Niedrig bin ich, aber ich liebe Dich; schickst Du mich in die Hölle, so werde ich Dich auch dort lieben, werde auch von dort zu Dir emporschreien, daß ich Dich ewig, ewig liebe ... Doch laß auch mich zu Ende lieben ... jetzt hier zu Ende lieben, nur noch fünf Stunden bis zum ersten warmen Strahl Deines Lichts ... Denn ich liebe die Königin meiner Seele! Ich liebe sie, und ich kann nicht anders als sie lieben. Du siehst mich doch ganz, Du kennst mich ganz, Du weißt doch, wie ich bin! Richte mich nicht, ich habe mich schon gerichtet; ich werde vor ihr niederstürzen und sagen: Es war recht von dir, daß du an mir vorübergingst ... Lebe wohl und vergiß dein Opfer, beunruhige dich niemals meinetwegen!“

„Mokroje!“ rief Andrei und wies mit der Peitsche nach vorn.

Im bleichen Dunkel der Sternennacht hoben sich vor ihnen schwarze, kleine Häusermassen aus der Erde empor; stellenweise lagen sie dichter, stellenweise verstreuter. Das Dorf Mokroje zählte etwa zweitausend Einwohner. Zu dieser Stunde lag es schon in tiefem Schlaf, nur hier und da blitzten noch ein paar bescheidene Lichter durch die Nacht.

„Jage, jage, Andrei, ich komme angefahren!“ rief Mitjä wie im Fieber.

„Sie schlafen noch nicht!“ sagte Andrei, und wies mit der Peitsche auf das Plastunoffsche Haus, das gleich bei der Einfahrt ins Dorf lag, und dessen sechs Fenster, die auf die Straße sahen, hell erleuchtet waren.

„Sie schlafen nicht!“ griff Mitjä jubelnd auf. „Jage, Andrei, galoppiere, fahre donnernd vor! Damit sie hören, wer angefahren kommt! Ich! Ich komme angefahren!“ rief Mitjä atemlos, außer sich.

Andrei setzte seine dampfende, abgejagte Troika in Galopp und jagte tatsächlich donnernd zur Vorfahrt. Mitjä sprang vom Wagen. Der Hauswirt war schon im Begriff gewesen, schlafen zu gehen, doch hatte er plötzlich von ferne das Wagenrollen vernommen und war daher neugierig auf die Treppe hinausgetreten, um zu sehen, wer zu so später Stunde so wild daher jagte.

„Trifon Borissytsch, bist du es?“ fragte Mitjä.

Trifon Borissytsch beugte sich vor, blickte angestrengt durch das Dunkel und eilte dann geschwind in unterwürfigem Entzücken die Treppe hinab, dem Gaste entgegen.

„Väterchen, Dmitrij Fedorowitsch! Seid Ihr es wirklich, den wir sehen?“

Dieser Trifon Borissytsch war ein starkgebauter und gesunder Mann, mittelgroß, mit einem etwas dicken Gesicht, das gewöhnlich eine strenge und wichtige Miene annahm, besonders im Verkehr mit den Mokrojaner Bauern, doch dafür die Fähigkeit besaß, den Ausdruck ganz unverhofft schnell in das Gegenteil zu verwandeln, sobald Trifon Borissytsch einen Verdienst witterte. Gekleidet war er stets auf russische Bauernart: er trug ein russisches Hemd mit seitlichem Schluß und ein ärmelloses Wams. Er besaß bereits ein bedeutendes Kapital, doch hatte er noch viel höhere Ziele im Sinn. Ungefähr die Hälfte der Mokrojaner Bauern schuldete ihm. Er aber ließ von ihnen auf Grund ihrer Schulden, von denen sie sich nie befreien konnten, sein Land, das er von Gutsbesitzern pachtete oder auch kaufte, unentgeltlich bearbeiten. Er war Witwer und hatte vier erwachsene Töchter; die eine von ihnen war schon Witwe, lebte daher mit ihren zwei kleinen Kindern, seinen Enkeln, bei ihm, und arbeitete für ihn wie eine Tagelöhnerin. Die zweite Tochter hatte einen kleinen Beamten, irgendeinen aufgedienten Schreiber geheiratet, und in einem der Zimmer des Absteigequartiers hing unter den Familienbildern auch die Miniaturphotographie dieses Beamten in Uniform und mit Achselklappen. Die beiden jüngeren Töchter zogen sich zu Kirchenfesten, oder wenn sie zu Besuch gingen, hellblaue oder hellgrüne Kleider an, die nach französischer Mode genäht waren: Kleider mit langen Schleppen und gerafften Taillen und Röcken. Doch das hinderte nicht, daß sie am nächsten Morgen wie auch an Werktagen beim ersten Hahnenschrei aufstanden, mit Birkenbesen die Zimmer ausfegten, das Waschwasser hinaustrugen und die Betten machten. Trifon Borissytsch aber liebte es noch trotz der bereits erworbenen Tausende von leutseligen Gästen ein Überflüssiges zu nehmen, und da er von Dmitrij Fedorowitsch vor kaum einem Monat zwei-, wenn nicht ganze dreihundert Rubel verdient hatte, so begrüßte er ihn natürlich hocherfreut, – glaubte er doch schon in der Art, wie der Gast angefahren kam, eine Gewähr für guten Verdienst zu sehen.

„Väterchen Dmitrij Fedorowitsch, können wir Euch wieder beherbergen?“

„Halt, Trifon Borissytsch,“ begann Mitjä, „zuerst die Hauptsache: Wo ist sie?“

„Agrafena Alexandrowna?“ Der Wirt verstand ihn sofort und blickte ihm scharf ins Gesicht. „Ja, auch sie ist hier ... sitzt mit ...“

„Mit wem, mit wem?“

„Es sind Durchreisende ... Der eine ist Beamter, wahrscheinlich ein Pole, nach der Sprache zu urteilen, und er hat auch die Pferde nach ihr geschickt. Und der andere, der mit ihm ist, ist sein Freund oder sein Reisebegleiter, wer kann das wissen; sind in Zivil ...“

„Nun, und leben sie flott, auf großem Fuß – reiche Leute?“

„Ach wo! ganz kleine Leute, Dmitrij Fedorowitsch.“

„Kleine? Und die anderen?“

„Die sind aus der Stadt, nur zwei Herren ... Sie sind aus Tschernaja zurückgekommen und vorläufig hiergeblieben. Der eine, der junge, muß wohl ein Verwandter von Herrn Miussoff sein, nur habe ich seinen Namen vergessen ... und den anderen werdet Ihr wohl auch kennen: der Gutsbesitzer Maximoff, er sagt, er sei ins Kloster gefahren, jetzt aber fährt er mit diesem Verwandten von Herrn Miussoff ...“

„Und das ist die ganze Gesellschaft?“

„Die ganze.“

„Halt, Trifon Borissytsch, sage jetzt das Wichtigste: Was macht sie, wie ist sie?“

„Ja, sie ist vorhin angekommen und sitzt jetzt mit ihnen.“

„Ist sie fröhlich? Lacht sie?“

„Nein, sie scheint nicht gerade sehr fröhlich zu sein ... Sitzt sogar ganz gelangweilt, wie es scheint. Hat dem jungen Herrn das Haar gekämmt ...“

„Dem Polen, dem Offizier?“

„Nein, das ist doch kein junger Herr und doch auch gar kein Offizier; nein, dem jungen Herrn, dem Verwandten von Herrn Miussoff ... nur habe ich vergessen, wie er heißt ...“

„Kalganoff?“

„Richtig! Herr Kalganoff!“

„Gut, ich werde schon selbst sehen. Spielen sie Karten?“

„Haben gespielt und dann aufgehört, haben schon Tee getrunken, und der Beamte hat Liköre verlangt.“

„Halt, Trifon Borissytsch, ich werde schon alles selbst sehen, aber jetzt zurück zur Hauptsache: sind keine Zigeuner hier?“

„Von Zigeunern ist jetzt nichts zu hören, Dmitrij Fedorowitsch, die Obrigkeit hat sie vertrieben, aber es gibt hier ein paar Juden, die spielen auf Zimbeln und Geigen, nicht weit von hier, in Roshdestwenskoje, man könnte sofort nachschicken, wenn’s beliebt. Sie würden sofort kommen.“

„Nachschicken, unbedingt nachschicken!“ rief Mitjä belebt. „Und auch die Mädchen zum Chor, wie damals, die Marja unbedingt, auch Stepanida, Arina. Zweihundert Rubel für den Chor!“

„Ach, für solches Geld kann ich dir, Väterchen, das ganze Dorf auftreiben, wenn sie auch jetzt schon alle schnarchen. Aber sind sie denn das wert, Väterchen Dmitrij Fedorowitsch, diese Bauern und Dorfmädels? Für so ein gemeines Pack so viel Geld hinzuschleudern! Unser Bauer und teure Zigarren rauchen, Gott, was versteht er denn davon! Du aber, Väterchen, hast ihnen von der besten Sorte gegeben! Er stinkt ja nur, der Räuber! Und die Mädels, das sind doch alles Lausefratzen! Ich werde für dich, Väterchen, meine eigenen Töchter unentgeltlich aufwecken, von so viel Geld gar nicht zu reden, sie sind nur gerade schlafen gegangen, aber ich werde sie schon mit einem Rippenstoß wachkriegen und singen machen! Ach, Väterchen, hast die Bauernkerle mit Champagner traktiert – wo soll das hin!“

Trifon Borissytschs Bedauern war etwas überflüssig: er hatte damals eigenhändig sechs Flaschen Champagner im Keller versteckt und unter dem Tisch einen Hundertrubelschein aufgehoben und in der Faust behalten.

„Trifon Borissytsch, ich habe hier doch etwas mehr als tausend Rubel durchgebracht, weißt du noch?“

„Väterchen, natürlich! haben vielleicht ganze Dreitausend hier in Mokroje gelassen!“

„Nun, so wisse denn, daß ich auch jetzt dasselbe tun werde, siehst du?“

Und damit zog er wieder das ganze Paket Geldscheine aus der Hosentasche und hielt sie dem Wirt unter die Nase.

„Jetzt höre mich und mach die Ohren auf: nach einer Stunde kommt der Wein an, die Delikatessen, Pasteten, Süßigkeiten – alles sofort nach oben. Diese Kiste, die hier im Wagen ist, gleichfalls sofort nach oben, aufbrechen und den Champagner sofort in Eis hereinbringen ... Aber vor allem den Chor, die Mädels, die Marja unbedingt ...“

Er wandte sich zum Wagen zurück und zog unter dem Sitz den Pistolenkasten hervor.

„Hier, Andrei, die Abrechnung! Hier, fünfzehn Rubel für die Fahrt und hier fünfzig Rubel Trinkgeld ... für deine Bereitwilligkeit, für deine Liebe ... Gedenke des Herrn Karamasoff!“

„Habe Angst, Herr!“ sagte Andrei schwankend, „für fünf Rubel Trinkgeld besten Dank, aber mehr nehm’ ich nicht, Trifon Borissytsch ist Zeuge. Verzeiht, Herr, mein dummes Wort ...“

„Was fürchtest du?“ Mitjä maß ihn mit dem Blick. „Nun, hol dich der Teufel, wenn’s so ...“ und er warf ihm die fünf Rubel zu. „Jetzt, Trifon Borissytsch, führ mich so leise hinein, daß ich sie vorher alle sehen kann, ohne dabei von ihnen gesehen zu werden. Wo sind sie denn, im blauen Zimmer?“

Trifon Borissytsch warf einen etwas furchtsamen Blick auf Mitjä, tat aber sofort gehorsam, wie ihm geheißen war: vorsichtig führte er ihn in den Flur, ging dann allein in das große erste Zimmer, das neben dem blauen Zimmer, in dem die Gäste saßen, lag, und brachte das Licht hinaus. Darauf führte er Mitjä leise hinein und brachte ihn in die dunkelste Ecke, von wo aus er ungehindert die Gäste, ohne selbst gesehen zu werden, betrachten konnte. Doch Mitjä stand dort nicht lange und konnte auch fast überhaupt nichts sehen: er erblickte sie – sein Herz begann zu klopfen, und vor seinen Augen flimmerte es. Sie saß an einer Seite des Tisches in einem Lehnstuhl, und neben ihr, auf dem Sofa, saß der nette, noch ganz junge Kalganoff; sie hatte seine Hand erfaßt und lachte, wie es schien. Kalganoff aber, der sie gar nicht ansah, sprach laut und fast ärgerlich zu Maximoff, der Gruschenka am Tisch gegenüber saß. Maximoff wiederum lachte herzlich. Auf dem Sofa saß außerdem noch er und neben ihm, auf einem Stuhl, mehr an der Wand, ein anderer Unbekannter. Jener auf dem Sofa saß in auffallend ungenierter Pose und rauchte eine Pfeife; es schien Mitjä, daß es ein untersetztes Männchen von nicht hohem Wuchse war, der ein breites Gesicht hatte und sich über irgend etwas ärgerte – mehr konnten seine flimmernden Augen nicht unterscheiden. Sein Freund jedoch, der andere Unbekannte, schien von ungewöhnlich hohem Wuchs zu sein. Das war alles, was er sah. Er rang nach Atem. Er hatte noch keine ganze Minute gestanden, als er seinen Pistolenkasten auf die Kommode stellte und sich zu der Gesellschaft ins blaue Zimmer begab – eiskalt am ganzen Körper und fast besinnungslos.

„Ach!“ rief Gruschenka erschrocken aus; sie war die erste, die ihn bemerkte.

VII.
Der Erste und Unbestrittene

Mitjä trat mit seinen großen, strammen Offiziersschritten sofort bis dicht an den Tisch heran.

„Meine Herren,“ begann er laut, doch hielt er beinahe bei jedem Worte inne, „ich ... ich – oh nichts! Fürchten Sie nichts!“ rief er, sich plötzlich zu Gruschenka wendend, die sich im Lehnstuhl ängstlich zu Kalganoff bog, dessen Hand sie krampfhaft umklammerte. „Ich ... ich bin gleichfalls ... auf der Durchreise. Ich bleibe nur bis zum Morgen. Meine Herren, gestatten Sie einem vorüberfahrenden Reisenden ... mit Ihnen die Zeit bis zum ... Morgen zu verbringen? Nur bis zum Morgen, zum letztenmal in diesem Zimmer mit Ihnen zusammen?“

Die letzten Worte sprach er zum wohlbeleibten Männlein mit der Pfeife gewandt. Dieser setzte würdig seine Pfeife ab und sagte streng:

„Pane,[21] wir sein hier privatim. Hier befienden sich aber noch merrere ander Ziemer ...“

„Ach, das sind Sie, Dmitrij Fedorowitsch, das ist ja herrlich!“ rief plötzlich Kalganoff dazwischen. „So setzen Sie sich doch her zu uns, guten Tag!“

„Guten Abend, teurer Mensch ... Sie sind unschätzbar! Ich habe Sie immer gern gehabt ...“ erwiderte Mitjä freudig und streckte ihm sofort die Hand entgegen.

„Au, wie stark Sie drücken! Sie haben mir beinahe alle Finger zerbrochen,“ sagte Kalganoff lachend.

„So drückt er einem immer die Hand,“ griff fröhlich, doch noch mit etwas schüchternem Lächeln Gruschenka auf. Sie hatte sich, wie es schien, inzwischen überzeugt, daß Mitjä nicht Händel suchte, und blickte ihn mit großer Teilnahme, wenn auch immer noch mit einer gewissen Unruhe, aufmerksam an. Es fiel ihr etwas Neues an ihm auf, das sie noch nie bemerkt hatte, und das sie jetzt gerader ängstigte – hätte sie doch auch nie von ihm erwartet; daß er in einem solchen Augenblick so hereintreten und so sprechen werde.

„Guten Abend,“ sagte bescheiden und süßlich von links her der Gutsbesitzer Maximoff. Mitjä wandte sich sofort eilig zu ihm.

„Ach, ich hatte ganz vergessen, daß auch Sie hier sind, verzeihen Sie!“ Er schüttelte ihm die Hand. „Es freut mich sehr, daß Sie gleichfalls hier sind. – Meine Herren, ich ...“ (Er wandte sich von neuem zu dem Pan mit der Pfeife, da er ihn für die Hauptperson hielt) „Ich bin hergeeilt ... Ich wollte den letzten Tag und die letzte Stunde hier in diesem Zimmer verbringen, in diesem Zimmer ... wo ich schon einmal meine Göttin angebetet habe! Verzeihung, Pane!“ rief er erregt, als wüßte er selbst kaum, was er sagte. „Ich bin hergeeilt und habe mir geschworen ... oh, fürchten Sie nichts, es ist meine letzte Nacht! Trinken wir, Pane, zum Friedensschluß! Der Wein wird sofort gebracht ... Hier, damit bin ich gekommen.“ – Er zog plötzlich sein ganzes Geld hervor. – „Erlauben Sie, Pane! Ich will Musik, Fröhlichkeit, Lachen haben, alles wie früher ... Aber der Wurm, der unnütze Wurm wird über die Erde kriechen und verschwinden und vergehen! Meines Freudentages will ich in meiner letzten Nacht gedenken! ...“

Er glaubte zu ersticken. Ach, vieles, vieles wollte er sagen, doch es kamen fast nur abgerissene, sonderbare Ausrufe aus ihm heraus. Der Pan blickte unbeweglich ihn, seinen Packen Kassenscheine, Gruschenka, und nochmals ihn an und war ersichtlich vor den Kopf gestoßen.

„Wenn erlaubt meine Kruléwa ...“ begann er, doch Gruschenka unterbrach ihn sofort.

„Was ist das: Kruléwa! Soll das etwa Königin bedeuten? Wie lächerlich sich doch diese Leute mit ihrem Sprechen machen! Setz dich, Mitjä, wovon redest du, was wolltest du sagen? Bitte, schrecke mich nicht. Du wirst mich doch nicht ängstigen? Wenn du es nicht tust, werde ich mich sehr darüber freuen, daß du gekommen bist ...“

„Ich, ich schrecken?“ rief Mitjä plötzlich laut, seine Hände erhebend. „– Oh, geht vorüber, geht, ich trete aus dem Wege, ich werde nicht dazwischen treten! ...“ Und plötzlich fiel er, ganz unerwartet für alle, und am unerwartetsten natürlich für sich selbst, auf einen Stuhl nieder und brach in Schluchzen aus ... Er kehrte sich ab zur anderen Wand und umklammerte mit den Armen die Stuhllehne so fest, als wenn er sie krampfhaft an sein Herz pressen wollte.

„Da haben wir’s, da haben wir’s, wie du wirklich bist!“ sagte Gruschenka vorwurfsvoll. „Ganz so kam er auch einmal zu mir: fängt plötzlich an zu sprechen, ich aber verstehe nichts. Und einmal begann er ebenso zu schluchzen, und jetzt hier zum zweitenmal – solch eine Schande! Warum weinst du denn? Das fehlte noch, deswegen zu weinen! Es ist doch wahrlich kein Grund dazu vorhanden!“ fügte sie plötzlich rätselhaft hinzu, mit einer gewissen Gereiztheit jedes Wort betonend.

„Ich ... ich weine nicht ... Nun, freuen wir uns!“ Im Augenblick hatte er sich auf dem Stuhl umgedreht und lachte auch schon: es war aber nicht sein gewöhnliches kurzes Lachen, sondern ein ganz eigentümlich unhörbares, langes, krampfhaftes und erschütterndes Lachenwollen.

„Nun, nun, schsch! – lach nicht so ... Aber sei fröhlich, nun, sei doch fröhlich!“ beredete ihn Gruschenka. „Ich bin sehr froh darüber, daß du gekommen bist, Mitjä, hörst du, daß ich mich sehr darüber freue? Ich will, daß er hier bei uns bleibt,“ sagte sie befehlerisch scheinbar zu allen, doch galten ihre Worte eigentlich nur dem Pan auf dem Sofa. „Ich will es, ich will es! Wenn er fortgeht, so gehe auch ich fort, ganz einfach!“ fügte sie mit plötzlich glühendem Blick hinzu.

„Was wollen meine Kruléwa, is Gesetz,“ sagte der Pan und küßte ihr galant die Hand. „Ich biete die Pan zu sein von unser Kompagnie!“ sagte er liebenswürdig zu Mitjä. Mitjä sprang sofort wieder auf, offenbar mit der Absicht, nochmals eine Rede zu halten, aber es kam etwas anderes über seine Lippen.

„Trinken wir, Pane!“ stieß er nur kurz hervor. Alle brachen darüber in Lachen aus.

„Gott! Und ich glaubte schon, daß er wieder reden will!“ rief Gruschenka nervös aus. „Hörst du, Mitjä, daß du nicht mehr so aufspringst! ... Daß du Champagner mitgebracht hast, ist großartig. Ich werde mittrinken, Liköre kann ich nicht ausstehen. Das beste aber ist doch, daß du selbst gekommen bist, es war hier sterbenslangweilig ... Oder bist du gekommen, um hier wieder, wie damals, durchzugehen? Aber so steck doch das Geld ein! Wo hast du so viel Geld hergenommen?“

Mitjä schob die Geldscheine, die er immer noch in der Faust gehalten hatte, und die von allen, besonders von den Polen, bemerkt worden waren, hastig und verwirrt in die Tasche. Er errötete. Da brachte der Wirt den Champagner herein. Mitjä ergriff die Flasche, war aber so zerstreut, daß er nicht wußte, was er mit ihr anfangen sollte. Kalganoff nahm sie ihm lachend ab und schenkte an seiner Stelle ein.

„Noch, noch eine Flasche!“ rief Mitjä dem Wirt zu, ergriff sein Glas und stürzte es hinab, ohne vorher mit dem Pan, den er doch zum Friedenstrunk aufgefordert hatte, anzustoßen, oder auf die anderen zu warten. Sein ganzes Gesicht veränderte sich im Augenblick. Der feierliche, fast tragische Ausdruck, mit dem er eingetreten war, veränderte sich in einen geradezu kindlichen. Es war, als hätte sich der ganze Mensch besänftigt und ergeben. Schüchtern und freudig blickte er alle an, fast könnte man sagen, mit dem dankbaren Ausdruck eines schuldigen Hundes, den man wieder gestreichelt und ins Zimmer gelassen hat. Er schien alles vergessen zu haben und betrachtete alle Anwesenden geradezu verzückt mit einem kindlichen Lächeln, das zuweilen von einem kurzen nervösen Lachen unterbrochen wurde. Gruschenka konnte er nicht anders als lachend ansehen, und er setzte sich mit seinem Stuhl ganz nah zu ihr. Allmählich hatte er sich auch die beiden Polen genauer angesehen, doch ohne sich dabei etwas zu denken. Der Pan auf dem Sofa frappierte ihn durch seine sonderbare Haltung, den polnischen Akzent und, vor allen Dingen, – durch die Pfeife. „Nun, was ist denn dabei, es ist doch sehr gut so, daß er die Pfeife raucht,“ meinte Mitjä schließlich bei sich. Das etwas aufgedunsene Gesicht des vielleicht schon vierzigjährigen Polen mit der auffallend kleinen Nase, unter der das spärliche, gefärbte kohlschwarze Schnurrbärtchen zu zwei Nadelspitzen zusammengedreht war, rief in Mitjä gleichfalls nicht das geringste Bedenken hervor. Selbst die jämmerliche Perücke des Pans, die in Sibirien angefertigt war, an den Schläfen mit auffallend albern nach vorn gekämmtem Haar, erregte weiter keinen Verdacht in ihm. „Es muß wohl so sein, wenn man eine Perücke trägt,“ überlegte er in seliger Stimmung. Der andere Pan, der an der Wand saß und jünger war als der auf dem Sofa, blickte frech und herausfordernd die ganze Gesellschaft an und hörte mit stummer Verachtung der Unterhaltung zu: doch auch dieser junge Mann fiel Mitjä nur durch seine Länge auf, die sich allerdings sehr grotesk neben der Kürze des älteren Pans ausnahm. „Wenn der sich erhebt, kann er sich ja den Schädel an der Decke einschlagen,“ zuckte es Mitjä flüchtig durch den Sinn. Ebenso flüchtig dachte er auch daran, daß der lange Pan, der wahrscheinlich der Freund und Gehilfe des kleinen Pan auf dem Sofa war, gewissermaßen sein Leibwächter zu sein schien, und daß der Kleine natürlich über den Langen das Kommando führte. Aber auch das schien Mitjä wunderschön, und er hatte nichts dagegen einzuwenden. In dem „gestreichelten Hunde“ war jede Rivalität erstorben. Von Gruschenkas rätselhaften Worten hatte er noch nichts begriffen, ebensowenig wie er sich nach der Ursache ihrer ganzen Veränderung gefragt hatte. Er sagte sich nur mit langsam, doch, wie er glaubte, laut klopfendem Herzen, daß sie ihm „verziehen“ und ihn zu sich, ganz dicht an ihren Stuhl, herangewinkt hatte. Er glaubte zu vergehen vor Glück und wollte aufjauchzen, als er sah, wie sie das Glas hob und einen kleinen Schluck Champagner schlürfte. Das allgemeine Schweigen fiel ihm ganz plötzlich auf, und er blickte gleichsam erwartungsvoll alle Anwesenden an: „Aber warum sitzen wir denn so stumm, warum wird nichts gesprochen?“ schien sein lächelnder Blick zu fragen.

„Er hat die ganze Zeit gefaselt, und wir haben hier alle gelacht,“ sagte da Kalganoff, auf Maximoff weisend, als hatte er Mitjäs Blick verstanden.

Mitjä wandte seinen Blick sofort Kalganoff zu und dann sogleich zur Seite zum Gutsbesitzer Maximoff.

„Gefaselt?“ fragte er mit seinem kurzen, gehackten Lachen, als wäre er über irgend etwas sehr erfreut. „Ha – ha!“

„Ja. Stellen Sie sich vor, er behauptet, daß in den zwanziger Jahren unsere ganze Kavallerie Polinnen geheiratet habe. Das ist doch der unglaublichste Unsinn, habe ich nicht recht?“

„Polinnen?“ fragte Mitjä, der bereits in ausgesprochener Begeisterung war.

Kalganoff begriff sehr gut Mitjäs Beziehungen zu Gruschenka, erriet auch ihr Verhältnis zum Pan, aber das Ganze interessierte ihn nicht sonderlich, vielleicht sogar überhaupt nicht; ihn interessierte am meisten Maximoff. Er war ganz zufällig mit ihm hergekommen und den beiden Polen hier im Gasthaus zum erstenmal begegnet. Gruschenka jedoch kannte er schon von früher: er war sogar einmal mit einem seiner Freunde bei ihr gewesen. Damals hatte er ihr nicht gefallen. Hier aber war sie sehr nett zu ihm: vor Mitjäs Ankunft hatte sie ihm sogar den Kopf gestreichelt, doch hatte er sich dazu sehr gleichgültig verhalten. Er war ein noch ganz junger Mann von kaum zwanzig Jahren, stets nach der Mode gekleidet, hatte ein nettes, zartes Gesicht und prächtiges, dunkelblondes, dichtes Haar. In diesem Gesichtchen lagen wundervolle, hellblaue Augen, mit einem klugen, zuweilen sogar über seine Jahre hinaus tiefen Ausdruck, obgleich der junge Mann manches Mal ganz wie ein Kind blicken und reden konnte, was ihn aber, ungeachtet dessen, daß er es selbst sehr wohl wußte, nicht im geringsten genierte. Überhaupt war er sehr eigenartig, sogar eigensinnig, wenn auch immer freundlich. Zuweilen lag in seinem Gesichtsausdruck etwas Starres und Hartnäckiges: er blickte einen an, hörte einem zu, schien aber dabei ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein. Bald wurde er gleichgültig und träge, bald wiederum regte er sich wegen einer scheinbar ganz bedeutungslosen Sache mehr als nötig auf.

„Denken Sie sich, ich führe diesen Menschen schon vier Tage lang mit mir herum,“ fuhr er fort, die Worte gleichsam aus Trägheit in die Länge ziehend, doch tat er es nicht mit einer unangenehmen Geziertheit, sondern ganz natürlich, „... seit jenem Tage, als wir im Kloster waren – Sie wissen doch noch –, und Ihr Bruder ihn aus dem Wagen hinausstieß und er zurückflog. Damals interessierte er mich gerade durch diesen Umstand, und ich nahm ihn aufs Gut mit, aber er lügt die ganze Zeit, so daß man sich wirklich für ihn schämen muß. Ich bringe ihn jetzt zurück ...“

„Pan habben Pani polska[22] garr niecht gesenn, err sackt was garr niecht kann sein,“ bemerkte der Pan mit der Pfeife zu Maximoff. Er sprach das Russische ganz gut, wenigstens viel besser, als er sich anstellte, sprach aber die russischen Worte, wenn er sie überhaupt gebrauchte, stets mit möglichst hartem polnischen Akzent aus.

„Aber ... ich – ich war doch selbst mit einer polnischen Pani verheiratet!“ verteidigte sich Maximoff stotternd.

„Aber haben Sie denn etwa in der Kavallerie gedient? Sie sagten es doch von unserer Kavallerie! Sind Sie denn je Kavallerist gewesen?“ mischte sich sofort Kalganoff ein.

„Ha – ha, natürlich, ist er denn ein Kavallerist?“ fragte lachend Mitjä, der gierig zuhörte und seinen fragenden Blick sofort jedem zuwandte, der zu sprechen begann, als hätte er Gott weiß was von jedem zu hören erwartet.

„Nein, sehen Sie mal,“ sagte Maximoff, sich zu ihm wendend, „ich – ich rede nicht davon, daß diese kleinen Panénki ... niedlich sind ... wenn sie mit unseren Ulanen Masurka tanzen ... und wenn sie abgetanzt hat, so springt sie ihm sofort auf die Knie, wie ein Kätzchen ... ein weißes ... und der – der Pan-oijez und die Pani-matka sehen’s und erlauben’s ... jawohl, und erlauben’s ... und der Ulan geht morgen ansprechen ... jawohl ... und hält um ihre Hand an, hi – hi!“ Und Maximoff kicherte.

„Pan laidak!“ brummte plötzlich der lange Pan auf dem Stuhl, und schlug das eine lange Bein über das andere lange. Mitjä fiel der riesige Schmierstiefel mit der dicken und schmutzigen Sohle besonders auf. Überhaupt waren beide Pane recht schmierig gekleidet.

„Warum soll er denn ein Strolch sein? Warum schimpft er?“ fragte Gruschenka sofort ärgerlich.

„Pani Agrippina, Pan hat in Pollen nur gesenn Bauermätchen, niecht vornemme Pani,“ bemerkte der Pan mit der Pfeife zu Gruschenka.

„Das ist sicker!“ meinte der lange Pan verächtlich.

„Das fehlt noch! So lassen Sie ihn doch sprechen! Warum stören Sie die Menschen beim Reden? Mit Ihnen ist es wenigstens nicht langweilig,“ sagte Gruschenka bissig.

„Ick större niecht, Pani,“ bemerkte bedeutsam der Pan auf dem Sofa mit einem langen Blick auf Gruschenka, verstummte wichtig und begann dann wieder an seiner Pfeife zu saugen.

„Aber nein, nein, der Pan hat ja ganz recht bemerkt, daß er keine Polinnen kennt!“ fiel wieder erregt Kalganoff ein, als hätte es sich um weiß Gott was für eine wichtige Sache gehandelt. „Er ist ja überhaupt nicht in Polen gewesen, wie kann er dann über Polen sprechen? Sie haben doch nicht in Polen geheiratet, nicht wahr?“

„N – nein, im-im Smolenskschen Gouvernement. Nur hatte der Ulan sie schon früher von dort mi-mi-mitgebracht, meine Frau, meine zukünftige, mitsamt der Pani-matka und der Tante und noch einer Verwandten mit einem erwachsenen Sohn, da-da-das aber war wirklich aus Polen, aus-aus Polen ... und er trat sie mir ab. Das war ein Leutnant, ein-ein sehr hübscher junger Mann. Zuerst hatte er sie selbst heiraten wollen, aber dann heiratete er sie doch nicht, denn es hatte sich inzwischen erwiesen, daß sie lahm war ...“

„Dann haben Sie eine Lahme geheiratet?“ fragte Kalganoff lachend.

„Eine Lahme. Das-das hatten sie mir beide verheimlicht und mich so ein bißchen betrogen. Ich-ich dachte, daß sie nur hüpfte ... sie hüpfte immer und ich dachte, daß sie vor lauter Freude ...“

„Vor Freude darüber, daß Sie sie heiraten wollten?“ schrie fast vor Lachen Kalganoff mit seiner hellen Kinderstimme.

„Jawohl, vor Freude. Doch da kam es heraus, daß sie es aus einem-einem ganz anderen Grunde tat. Später, als wir getraut waren, gestand sie mir alles gleich nach der Trauung, am-am selben Abend, und bat sehr gefühlvoll um Verzeihung; über eine Pfütze, sagte sie, sei sie in jungen Jahren gesprungen und habe sich dabei das Füßchen beschädigt, hi – hi!“

Kalganoff lachte sein jubelndes Kinderlachen und sank vor Lachen ganz zurück an die Lehne des Sofas. Da lachte auch Gruschenka, durch sein Lachen angesteckt. Mitjä schien den Gipfel des Glücks erreicht zu haben.

„Wissen Sie, wissen Sie, jetzt hat er einmal die Wahrheit gesagt!“ rief Kalganoff Mitjä zu. „Und wissen Sie, er ist zweimal verheiratet gewesen, – das war seine erste Frau, seine zweite Frau aber hat ihn verlassen und lebt auch jetzt noch, wissen Sie das schon?“

„Ist’s möglich?“ fragte Mitjä erstaunt und wandte sich hastig zu Maximoff. Auf seinem Gesicht drückte sich maßlose Verwunderung aus.

„Jawohl, sie verließ mich, ich-ich habe diese Unannehmlichkeit gehabt,“ bestätigte Maximoff bescheiden. „Mit einem Mßjö. Aber die Hauptsache: sie hatte sich vorher mein ganzes Gütchen auf ihren Namen verschreiben lassen. Du, sagte sie, bist ein gebildeter Mensch, du wirst auch so dein Brot finden. Und damit saß ich denn. Mir sagte einmal ein ehrenwerter Erzbischof: ‚Deine erste Frau war lahm, deine zweite war aber gar zu leichtfüßig,‘ hihi!“

„Hören Sie doch, hören Sie doch!“ fuhr Kalganoff auf, „wenn er auch lügt – und er lügt viel –, so lügt er doch nur, um andere zu erheitern: das ist doch nicht niedrig, nicht wahr? Wissen Sie, ich liebe ihn zuweilen. Er ist ein niedriger Mensch, aber er ist so natürlich, nicht? Was meinen Sie? Andere sind niedrig aus Berechnung, um daraus irgendeinen Nutzen zu ziehen, er aber tut es ganz aufrichtig, von Herzen, von Natur. Denken Sie sich, so behauptet er zum Beispiel – wir haben uns gestern die ganze Zeit unterwegs darüber gestritten –, er behauptet, Gogol hätte in seinen ‚Toten Seelen‘ über ihn geschrieben. Wissen Sie noch, dort kommt auch ein Gutsbesitzer Maximoff vor, den Nosdreff durchgeprügelt hat, weswegen dieser dann vor Gericht kommt: ‚Wegen persönlicher Beleidigung des Gutsbesitzers Maximoff in betrunkenem Zustande,‘ – nun, Sie wissen doch! Und was glauben Sie wohl, denken Sie sich, er behauptet nun, daß er das gewesen sei, daß man ihn durchgedroschen habe! Nun, sagen Sie doch selbst, ist denn das überhaupt möglich? Tschitschikoff[23] fuhr spätestens in den zwanziger Jahren, zu Anfang der zwanziger Jahre umher, so daß die Jahre überhaupt nicht stimmen können. Wie konnte man ihn also damals durchpeitschen! Das ist doch ganz ausgeschlossen, ganz unmöglich! Nicht?“

Es war schwer zu sagen, warum sich Kalganoff so aufregte, jedenfalls tat er es aufrichtig. Mitjä teilte sein Interesse von ganzem Herzen.

„Nun, wenn man ihn aber gleichfalls durchgeprügelt hat!“ rief er lachend.

„Nicht gerade, daß ich-ich durchgeprügelt worden wäre, sondern nur so ...“ versuchte Maximoff einzuwenden.

„Wieso nur so? Da heißt es doch entweder oder?“

„Ktura godsina, Pane?“ (Wieviel Uhr ist es?) fragte mit gelangweilter Miene der Pan mit der Pfeife den Pan auf dem Stuhl.

Der zuckte mit den Achseln; sie besaßen beide keine Uhr.

„Was soll das wieder heißen?“ fuhr Gruschenka sofort auf. „Lassen Sie doch wenigstens andere reden! Wenn Sie sich langweilen, so sollen sich die anderen wahrscheinlich mitlangweilen!“ Sie schien absichtlich Streit mit ihnen zu suchen.

Es war das erstemal, daß dies Mitjä flüchtig auffiel. Doch nun antwortete der Pan mit sichtlicher Gereiztheit:

„Pani, iech habbe niechts gesackt dagegen, keine Wort.“

„Ach, schon gut, du aber erzähl weiter,“ rief Gruschenka Maximoff zu. „Warum seid ihr denn alle verstummt?“

„Hier-hierbei ist nichts zu erzählen, denn es-es sind doch nur Dummheiten,“ griff eilfertig Maximoff auf, – sichtlich sehr zu erzählen bereit, doch anstandshalber etwas geziert – „und Gogol hat doch alles nur allegorisch gemeint, und so sind auch alle Familiennamen allegorisch. Nosdreff hieß doch gar nicht Nosdreff, sondern Nossoff, und Kuwschinnikoff ist ganz unkenntlich, denn er hieß Schkwornjeff. Nur Fenardi hieß tatsächlich Fenardi, bloß war er kein Italiener, sondern ein Russe, Petroff hieß er, und Mamsell Fenardi war sehr nett, die Beinchen in Trikot, reizende Beinchen, und das Röckchen war so kurz und ganz mit Pailetten benäht, und sie drehte sich auf der Fußspitze, nur dauerte das nicht vier Stunden, sondern nur vier Minuten ... und sie bestrickte alle ...“

„Aber weswegen gab es denn die Prügel, warum wurdest du denn durchgeprügelt?“ schrie ihn lachend Kalganoff an.

„Wegen Piron,“ antwortete Maximoff.

„Wegen Piron? Wer ist denn das?“ fragte Mitjä in seliger Stimmung.

„Das ist ein bekannter französischer Schriftsteller, Piron. Wir zechten alle, es – es war eine große Gesellschaft, wir tranken Wein. Zur Jahrmarktszeit. Sie hatten mich dazu eingeladen, und ich begann zuerst mit Epigrammen: ‚Bist du es, Boileau? Welch lächerlich Gewand!‘ Boileau aber antwortet, er begebe sich auf einen Maskenball, das heißt, er geht in eine Badstube, hi – hi, und da bezogen sie es auf sich. Ich aber sagte schnell ein anderes, das allen Gebildeten gut bekannt ist, ein etwas scharfes:

‚Ein Faun bin ich und Du bist Sappho,

Die Dichterin, die hehre,

Doch fandst Du leider noch immer nicht,

Den geraden Weg zum Meere.‘

Doch sie ärgerten sich darüber noch mehr und fingen an, mich deswegen auf höchst unanständige Weise zu schimpfen, ich aber wollte es wieder gutmachen und erzählte zu meinem Pech, um meine Aktien zu verbessern, eine sehr gebildete Anekdote von Piron, wie man ihn in die Académie Française nicht hat aufnehmen wollen, und wie er daraufhin für seinen Grabstein ein Epitaphium geschrieben hat:

Ci-gît Piron qui ne fut rien

Pas même un académicien.

Und da nahmen sie mich denn und prügelten mich durch.“

„Aber wofür denn, weswegen?“

„Wegen meiner Bildung. Als ob es wenig Gründe gäbe, warum die Menschen einen durchprügeln können,“ schloß Maximoff bescheiden und lehrhaft zugleich.

„Ach, genug davon, wie dumm das ist, ich will nichts mehr davon hören. Ich dachte, es wäre was Lustiges,“ sagte plötzlich Gruschenka mißgestimmt. Mitjä erschrak und hörte sofort auf zu lachen. Der lange Pan erhob sich vom Stuhl und begann, die Hände auf dem Rücken, mit der hochmütigen Miene eines Menschen, der sich in solcher Gesellschaft langweilt, durch das Zimmer zu spazieren, aus einer Ecke in die andere.

„Der stampft aber!“ bemerkte Gruschenka mit einem verächtlichen Blick auf den Langen.

Mitjä wurde unruhig, und zudem bemerkte er noch, daß der Pan auf dem Sofa gerade ihn gereizt anblickte.

„Pane,“ rief Mitjä ihm zu, „trinken wir, Pane! Und auch der andere Pan soll trinken: Trinken wir, Panowe!“

Er stellte schnell drei Gläser zusammen und schenkte ein.

„Auf Polens Wohl, Panowe, ich trinke aufs Wohl Ihres Polen, meine Herren, auf das Polenland!“ rief Mitjä laut.

„Bardso mi to milo, Pane“ (das ist mir sehr angenehm, mein Herr) „wirr trinken mit Sie,“ sagte würdevoll und doch wohlgeneigt der Pan auf dem Sofa und nahm sein Glas.

„Und auch der andere Pan, wie heißt der Kerl? – Heda, helleuchtender Edelmann, nimm dein Glas!“ rief Mitjä sich umdrehend.

„Pan Wrublewskij,“ sagte der Pan auf dem Sofa.

Der Pan Wrublewskij trat, auf seinen langen Beinen schaukelnd, an den Tisch und nahm stehend das Glas.

„Auf Polen, Panowe, Hurra!“ rief Mitjä mit erhobenem Glase.

Alle drei tranken sie die Gläser aus. Mitjä ergriff die Flasche und füllte von neuem die drei Gläser.

„Jetzt auf Rußlands Wohl, Panowe, und trinken wir Brüderschaft!“

„Schenk auch uns ein,“ sagte Gruschenka, „auf Rußlands Wohl will auch ich trinken.“

„Ich gleichfalls,“ sagte Kalganoff.

„Und auch ich-ich würde gern ... auf Rußland, unser Russéjuschka, unser Mütterchen,“ sagte Maximoff kichernd.

„Alle, alle!“ rief Mitjä begeistert. „Heda, Wirt, noch Flaschen her!“

Es wurden von den sechs mitgenommenen noch drei hereingebracht. Mitjä schenkte sofort ein.

„Auf Rußlands Wohl, Hurra!“ rief er stolz.

Alle tranken, außer den beiden Polen, und Gruschenka leerte ihr Glas auf einen Zug. Von den Polen jedoch berührte keiner das Glas.

„Was soll denn das bedeuten, Panowe?“ schrie Mitjä. „Also so seid ihr?“

Da nahm Pan Wrublewskij sein Glas und sagte mit lautschallender Stimme:

„Auf Rußland in den Grenzen von siebzehnhundert und zweiundsipzick!“

„Oto bardso penkne!“ (So ist es gut!) rief sofort der andere Pan, und beide leerten sie ihre Gläser bis auf den letzten Tropfen.

„Dummes Pack!“ kam es plötzlich überzeugt aus Mitjä heraus.

„Pa – ne!!“ schrien sofort drohend die beiden Polen, wie Hähne auf Mitjä losfahrend. Besonders brauste Pan Wrublewskij auf.

„Kann man denn niecht libben seine Land?“ schrie er drohend.

„Schweigt! Keinen Streit! Daß ihr mir hier keinen Streit beginnt, verstanden!“ rief Gruschenka gebieterisch dazwischen, und sie stampfte mit dem Fuß auf.

Ihr Gesicht hatte sich gerötet, ihre Augen glühten. Das kam von dem soeben getrunkenen Glase. Mitjä erschrak maßlos.

„Panowe, Verzeihung! Es war meine Schuld, ich werde nicht mehr ... Wrublewskij, Pan Wrublewskij, ich werde nicht mehr ...“

„Aber so schweig doch du wenigstens, und setz dich endlich!“ fuhr ihn Gruschenka geärgert und heftig an.

Alle setzten sich, alle verstummten, alle blickten einander an.

„Meine Herren, ich trage die Schuld an allem!“ begann Mitjä, der von Gruschenkas Worten nichts verstanden hatte, von neuem. „Warum nur sitzen wir so? Was könnten wir beginnen ... damit es wieder lustig wird, wieder lustig?“

„Ja, es ist wahr: es ist nichts weniger als lustig,“ meinte Kalganoff träge mit brummig vorgeschobenen Lippen.

„Wie wäre es, wenn-wenn wir ein Spielchen machten wie vorhin? ...“ fragte Maximoff kichernd.

„Karten? Famos!“ griff Mitjä sofort auf. „Wenn nur die Panowe ...“

„Pusno, Pane!“ sagte gleichsam widerstrebend der Pan auf dem Sofa.

„Ja, eetwas pusno,“ meinte auch Pan Wrublewskij.

„Pusno? Was heißt das nun wieder?“ fragte Gruschenka.

„Das heißen spät, Pani, später Stunde,“ erläuterte der Pan auf dem Sofa.

„Ach! immer ist Ihnen alles zu spät, immer ist Ihnen nichts recht!“ Gruschenka war wütend. „Selbst sitzen Sie da, wie die verkörperte Langeweile, und da sollen sich wohl die anderen Ihnen zur Gesellschaft gleichfalls langweilen! Bevor du kamst, Mitjä, saßen sie dort ebenso langweilig und stumpfsinnig und ärgerten sich über mich ...“

„Meine Göttin!“ unterbrach sie der Pan auf dem Sofa, „was Göttin sackt, soll sein. Iech sehen serr gutt Ihr Ärger und so iech bien traurig. Pane, iech bien fertig,“ sagte er darauf bereitwillig zu Mitjä.

„Schön, fang an, Pane,“ rief Mitjä, der aus seiner Tasche das Geld herauszog und zwei Hundertrubelscheine vor sich auf den Tisch legte.

„Ich möchte viel an dich verspielen, Pan. Nimm die Karten, leg die Bank auf. Du hältst die Bank!“

„Karten müssen sein von Wirt, Pane,“ sagte nachdrücklich und ernst der kleine Pan.

„Das sein iemer beste Manier,“ meinte auch Pan Wrublewskij.

„Vom Wirt? Ah so, ich verstehe, gut, meinetwegen auch vom Wirt. – Ein Spiel Karten, Trifon Borissytsch!“ rief Mitjä dem Wirt zu.

Trifon Borissytsch brachte ein neues Spiel, das noch nicht entsiegelt war, und meldete Mitjä, daß die Mädchen sich schon versammelt hätten, die Juden mit den Zimbeln gleichfalls bald kommen würden, der Wagen aber aus der Stadt mit den übrigen Sachen noch nicht zu sehen sei. Mitjä sprang sofort auf und eilte ins andere Zimmer, um dort Anordnungen zu treffen. Es waren aber erst drei Mädchen gekommen, und auch die Marja war noch nicht erschienen. Überhaupt wußte er nicht, warum er eigentlich aufgestanden und hinausgelaufen war: er befahl nur, die Süßigkeiten aus der Kiste hervorzuholen und sie unter die Mädchen zu verteilen.

„Und Andrei Branntwein, eine ganze Flasche Branntwein dem Andrei,“ befahl er eilig, „ich habe ihn gekränkt.“

Da berührte ihn jemand an der Schulter: es war Maximoff, der ihm nachgelaufen war.

„Geben Sie mir fünf Rubel,“ bat er flüsternd, „ich würde gern auch ein-ein Spielchen machen, hihi!“

„Famos, vorzüglich! Nehmen Sie zehn, hier!“

Mitjä zog wieder alle Scheine aus der Tasche und suchte zehn Rubel hervor.

„Und wenn du das verlierst, so komm wieder, komm wieder ...“

„Gut, ich danke,“ flüsterte Maximoff freudig und lief zurück in den Saal.

Auch Mitjä kehrte sofort zurück und entschuldigte sich, daß er auf sich hatte warten lassen. Die Polen hatten sich schon zurechtgesetzt und entsiegelten das neue Spiel. Sie blickten bereits viel freundlicher drein, fast konnte man sagen, wohlwollend. Der Pan auf dem Sofa hatte eine neue Pfeife angeraucht und schickte sich an, die Karten zu mischen. Auf seinem Gesichte drückte sich sogar eine gewisse Feierlichkeit aus.

„Auf die Plätze, Panowe!“ kommandierte Pan Wrublewskij.

„Nein, ich werde nicht mehr spielen,“ erklärte Kalganoff, „ich habe schon vorhin fünfzig Rubel an sie verspielt.“

„Der Pan war unglicklich, der Pan kann sein widder glicklich,“ bemerkte, halb zu ihm gewandt, der Pan auf dem Sofa.

„Wie hoch spielen wir? à discrétion?“ fragte Mitjä eifrig.

„Serr woll, Pane, vielleicht hundert, zweihundert, wieviel Pan will setzen.“

„Eine Million!“ rief Mitjä auflachend.

„Pan Hauptmann haben gehert von Pan Podwyssotzkij?“

„Von welchem Podwyssotzkij?“

„In Warschawa wird gehalten Bank à discrétion von wer will. Kommt herein Pan Podwyssotzkij, sieht er tausend Gulden und sackt: ‚va banque‘. Banquier sackt zu ihm: ‚Pane Podwyssotzkij, setzen du Gold oder setzen du auf Gónor (Ehre)?‘ – ‚Auf Gónor, Pane,‘ sackt Podwyssotzkij. – ‚Serr gutt so, Pane.‘ – Der Banquier mischen taille, Podwyssotzkij nimmt tausend Gulden. – ‚Wart, Pane,‘ sackt der Banquier, nimmt Kasten heraus und gipt ein Millionn, ‚nimm, Pane, das ist dein Recknung!‘ Bank war Millionn. – ‚Das ick nickt wußte,‘ sackt Podwyssotzkij. – ‚Pane Podwyssotzkij,‘ sackt Banquier, ‚du hast setzen auf Gónor, und wir setzen auf Gónor!‘ – Podwyssotzkij nahm Millionn.“

„Das ist nicht wahr,“ sagte Kalganoff.

„Pane Kalganoff, in addeligger Kompani wird nickt so gesprochen.“

„Das glaube ich, daß ein polnischer Spieler dir so eine Million hergeben wird!“ rief Mitjä, aber er besann sich sofort: „Verzeih, Pane, bin schuldig, bin schuldig, ja, er gibt sie heraus, selbstverständlich gibt er sie heraus, eine Million, na Gónor, auf polnische Ehre! Sieh, wie gut ich po polski spreche, ha – ha! Hier, ich setze zehn Rubel auf den Buben.“

„Und ich setze ein Rubelchen aufs Dämchen, auf das nette kleine Coeur-Dämchen, auf die kleine Panénotschka, hihi!“ kicherte Maximoff, schob seine Karte vor, beugte sich dann plötzlich stark nach vorn und bekreuzte sich heimlich und schnell unter dem Tisch. Mitjä gewann. Auch das „Rubelchen“ gewann.

„Eine Ecke umgebogen!“ rief Mitjä.

„Und ich wieder ein Rubelchen, ein Simplum nach dem anderen, ganz bisselchen,“ murmelte Maximoff, selig über das gewonnene „Rubelchen“.

„Geschlagen!“ rief Mitjä. „Verdoppele auf die Sieben!“

Er verlor wieder.

„Hören Sie auf,“ sagte plötzlich Kalganoff.

„Verdoppele, verdoppele!“ rief Mitjä, doch alles, was er verdoppelnd setzte, verlor er. Die „Rubelchen“ dagegen gewannen.

„Verdoppele!“ rief Mitjä jähzornig.

„Habben zweihundert Rubel verspielt, Pane. Wollen Sie noch zweihundert setzen?“ erkundigte sich der Pan auf dem Sofa.

„Wie, schon zweihundert verspielt? Dann also noch zweihundert! Die ganzen zweihundert als Doublé!“ Und Mitjä zog sein Geld aus der Tasche und warf zwei Hundertrubelscheine auf die Dame, als plötzlich Kalganoff sie mit der Hand bedeckte.

„Genug!“ rief er mit seiner hellen Stimme.

„Was fällt Ihnen ein?“ Mitjä blickte ihn fragend an.

„Genug, ich will es nicht! Sie werden nicht mehr spielen.“

„Warum nicht?“

„Darum nicht. Spucken Sie aus und gehen Sie fort. Ich lasse es nicht zu!“

Mitjä blickte ihn verwundert an.

„Laß es bleiben, Mitjä, er hat vielleicht ganz recht, und du hast doch schon genug verloren,“ sagte Gruschenka, und ein sonderbarer Ton klang in ihrer Stimme.

Beide Polen erhoben sich sofort mit tiefgekränkter Miene.

„Scherzest du, Pane?“ fragte der kleine Pan, mit strengem Blick Kalganoff messend.

„Wie, Sie waggen so was macken?“ schrie auch Wrublewskij Kalganoff an.

„Ruhe! Un – ter – stehen Sie sich nicht, zu schreien!“ rief Gruschenka zornig. „Ach ihr krähenden Truthähne!“

Mitjä blickte alle der Reihe nach an: es war etwas im Gesichte Gruschenkas, das ihn betroffen machte ... Und plötzlich zuckte ihm wie ein Blitz etwas ganz Neues durch den Kopf, – ein ganz absonderlicher, neuer Gedanke.

„Pan Agrippina!“ begann der Kleine, rot vor Zorn, doch plötzlich trat Mitjä an ihn heran und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter.

„Hochwohlgeborener, auf zwei Worte.“

„Was Sie wollen, Pane?“

„Dorthin, in jenes Zimmer, in das andere Gemach, will dir zwei Worte sagen, wirst mit ihnen zufrieden sein.“

Der kleine Pan wunderte sich und blickte etwas ängstlich zu Mitjä auf. Übrigens war er sofort einverstanden damit, nur stellte er die eine Bedingung, daß auch Pan Wrublewskij mit ihm käme.

„Ah, der Leibwächter, nicht wahr? Meinetwegen, auch er ist dabei nötig. Sogar unbedingt!“ rief Mitjä. „und jetzt vorwärts, Panowe!“

„Wohin, wohin wollt ihr?“ fragte Gruschenka erregt.

„Wir sind im Augenblick wieder hier,“ antwortete Mitjä.

Eine gewisse Kühnheit, ein ganz unerwarteter verwegener Mut leuchtete plötzlich aus seinem Gesicht. Nein, das war nicht mehr derselbe, der vor einer Stunde eingetreten war. Er führte die Polen in das Zimmer rechts, nicht in das große, in dem sich die Mädchen zum Chor versammelten und der Tisch in aller Eile gedeckt wurde, sondern in das Schlafzimmer, in dem Koffer, Truhen und zwei Betten mit je einem Berg von Kopfkissen in Kattunbezügen standen. Hier brannte in der hinteren Ecke auf einem kleinen ungestrichenen Tisch ein einziges Licht. Der kleine Pan und Mitjä setzten sich an diesem Tisch einander gegenüber, und der lange Pan Wrublewskij setzte sich neben sie, die Hände auf dem Rücken. Beide Polen blickten streng, doch mit nicht zu verbergender Neugier drein.

„Mit was ich kann dinnen dem Pan?“ stotterte der Kleine.

„Mit folgendem, Pane, ich werde nicht viel sprechen: Hier hast du Geld“ – er zog seine Hundertrubelscheine heraus – „willst du dreitausend Rubel, so nimm sie und fahre, wohin du willst.“

Der Pan blickte ihn forschend mit weit offenen Augen an, als wäre sein Blick an Mitjäs Gesicht angewachsen.

„Dreitausend, Pane?“

„Dreitausend, Panowe, drei! Hör mich, Pane, ich sehe, daß du ein vernünftiger Mensch bist. Nimm die Dreitausend und pack dich zum Teufel und vergiß auch nicht, Wrublewskij mitzunehmen, hörst du? Aber sofort, noch in dieser Minute, und zwar auf ewig, hörst du, Pane, auf ewig. Durch diese Tür dort gehst du hinaus. Was hast du – einen Mantel, einen Pelz? Ich werde ihn herbringen. Sofort wird dir eine Troika angespannt und dann – do widsenja, Panowe, auf Nimmerwiedersehen. Nun?“

Mitjä zweifelte nicht an der Zusage. Im Gesicht des Pans zuckte es, als wenn er einen großen Entschluß gefaßt hätte.

„Und das Geld, Pane?“

„Mit dem Gelde machen wir es so: fünfhundert Rubel sofort bar für die Fahrt und als Handgeld und die zweitausendfünfhundert morgen in der Stadt – bei meiner Ehre, ich hole sie, wenn nicht anders, unter der Erde hervor!“ rief Mitjä.

Die Polen tauschten einen Blick. Der Gesichtsausdruck des Kleinen veränderte sich zum schlimmeren.

„Siebenhundert, siebenhundert, nicht fünfhundert, sofort blank und bar!“ bot Mitjä an, da er die Veränderung bemerkt hatte und etwas Ungünstiges ahnte. „Was hast du, Pane? Glaubst du nicht? Ich kann dir doch nicht sofort alle Dreitausend geben. Sonst gebe ich sie, und du kehrst womöglich morgen schon zu ihr zurück ... Und ich habe augenblicklich auch gar nicht so viel bei mir, sie liegen bei mir zu Haus in der Stadt,“ stotterte Mitjä angstvoll, ohne sich dessen klar bewußt zu sein, was er tat, da ihm der Mut mit jedem Worte immer mehr gesunken war. „Bei Gott, sie liegen dort, wohl aufgehoben, in einem Kuvert ...“

In einer Sekunde veränderte sich das Gesicht des kleinen Pans: ein Ausdruck unbeschreiblicher persönlicher Würde lag plötzlich darauf.

„Wohlen Sie niecht nooch eetwas?“ fragte er ironisch. „Pfä! Wirklich pfä!“ Und er spuckte zur Seite.

Seinem Beispiel folgte sofort Pan Wrublewskij; er spuckte gleichfalls aus.

„Du spuckst doch nur darum, Pane,“ sagte Mitjä wie ein Verzweifelter, der einsieht, daß alles verloren ist, „nur darum, weil du von ihr noch mehr zu bekommen hoffst! Schnapphähne seid ihr beide, das sage ich euch!“

„Ich bien beleidickt bies auf letzte Grad!“ rief, rot wie ein Krebs, der kleine Pan und ging schnell wie in heftigem Unwillen, und als wolle er nichts mehr hören, hinaus aus dem Zimmer. Ihm folgte, schaukelnd auf den langen Beinen, in hohen Schmierstiefeln Pan Wrublewskij. Nach ihnen verließ, verwirrt und verdutzt, auch Mitjä das Zimmer. Er fürchtete Gruschenka, denn er sagte sich, daß der Kleine wahrscheinlich sofort alles erzählen werde. Und so war es auch. Der Pan trat in den Saal und majestätisch auf Gruschenka zu, vor der er sich theatralisch aufstellte.

„Pani Agrippina, ich bien bis auf letzte Grad beleidickt!“ begann er, doch Gruschenka schien plötzlich beim ersten polnischen Wort aus der Haut zu fahren.

„Russisch, sprich russisch, daß du mir kein einziges polnisches Wort mehr zu sagen wagst!“ schrie sie ihn an. „Du hast doch früher russisch gesprochen, wie kannst du denn das in fünf Jahren verlernt haben!“

Sie wurde bleich vor Zorn.

„Pani Agrippina ...“

„Ich heiße Agrafena, Gruschenka! Sprich russisch, oder ich will kein Wort von dir hören!“

Der Pan keuchte und schwitzte vor Gónor und fuhr radebrechend und aufgeblasen in russischer Sprache fort:

„Pani Agrafena, iech gekomen bien zu vergessen Altes und es zu verzeihen, zu vergessen, was is gewesen von früher ...“

„Was zu vergessen? Was zu verzeihen? Mir zu verzeihen bist du hergekommen?“ unterbrach ihn Gruschenka aufspringend.

„Wie gesagt, Pani, ich bien niecht kleinmütig, ich bien großmütig. Abber ich warr in Erstaunen, zu sehen deine Liebhabber. Pan Mitjä hat mir gegebben in ander Ziehmer Dreitausend, daß ich soll gehen weg, ich abber habb gespuckt in Pan sein Physiognomie!“

„Was? Er hat dir für mich Geld gegeben?“ schrie Gruschenka krankhaft auf. „Ist das wahr, Mitjä? Wie hast du es gewagt? Bin ich denn käuflich?“

„Pane,“ schrie Mitjä den Kleinen an, „sie ist rein und ist mir heilig, und niemals bin ich ihr Liebhaber gewesen! Das hast du gelogen ...“

„Unterstehe dich nicht, mich vor ihm zu verteidigen!“ rief Gruschenka außer sich. „Nicht aus Tugend bin ich ehrlich gewesen, und nicht etwa, weil ich Kusjma Ssamssonoff fürchtete, nein, um vor ihm stolz sein zu können, um das Recht zu haben, ihn Schuft zu nennen, wenn ich ihn wiedersehe! Ist es möglich, daß er von dir nicht das Geld angenommen hat?“

„Er nahm es ja, nahm es doch!“ rief Mitjä auflachend. „Nur wollte er sofort alle Dreitausend haben, und ich bot ihm nur Siebenhundert als Handgeld an.“

„Aha, natürlich: er hat gehört, daß ich jetzt Geld habe, und so ist er denn zur Trauung gekommen!“

„Pani Agrippina,“ schrie der Pan, „ich bien Ritter, bien Edelmann, kein Laidack! Ich bien gekomen um dich heiraten, sehe abber neue Pani, niecht alte von früher, sondern eine, was is eigensinig und schamlos!“

„So pack dich fort, dahin, woher du gekommen bist! Ich werde sofort befehlen, daß man dich hinauswirft und dann fliegst du!“ keuchte Gruschenka besinnungslos. „Ach, dumm, dumm war ich, fünf Jahre mich deswegen zu quälen! Ach, nicht seinetwegen, nicht seinetwegen, nur aus Wut auf mich, habe ich mich gemartert! Und das ist ja gar nicht er! Sah er denn so aus? Das ist ja sein Vater, oder weiß Gott wer! Wo hast du denn diese Perücke bestellt? Jener war ein Falke, du aber bist wie ein alter Enterich ... jener lachte und sang mir Lieder vor ... Und ich, ich! – fünf Jahre lang habe ich geweint, ich dummes, niedriges, ehrloses Geschöpf, oh! ...“

Sie sank auf ihren Lehnstuhl zurück und vergrub das Gesicht in den Händen.

Da ertönte plötzlich im Nebenzimmer links der Chorgesang der endlich versammelten Dorfmädchen – es war ein lustiges Tanzlied.

„Das ist aber ein Sodom!“ brüllte plötzlich Pan Wrublewskij ziemlich akzentfrei. „Wirt, schmeiß die Unverschämten hinaus!“

„Was hast du hier zu schreien? Willst du wohl das Maul halten!“ wandte sich der Wirt mit ganz unerklärlicher Unhöflichkeit an Wrublewskij.

„Rindvieh!“ brüllte der ihn an.

„Rindvieh? Darf ich fragen, mit was für Karten du gespielt hast? Ich gab dir mein neues Spiel, du aber hast es versteckt! Mit falschen Karten spielst du! Und für falsche Karten kann ich dich jederzeit nach Sibirien transportieren lassen, weißt du das auch, denn das ist ebensogut wie falsches Papiergeld ...“

Und zum Sofa tretend, schob er die Hand zwischen die Lehne und das Polster und zog von dort ein neues Spiel Karten hervor.

„Das sind meine Karten, sehen Sie, meine Herrschaften, ganz neu, noch unentsiegelt!“ Er erhob die Hand, so daß alle das Kartenpaket sehen konnten. „Ich hab doch von der Tür aus gesehen, wie er meine Karten dorthin stopfte und seine Karten dafür herausnahm. Ein Spitzbube bist du, aber kein Pan!“

„Und ich habe gesehen, wie der andere Pan zweimal eine falsche Karte aufschlug!“ rief Kalganoff dazwischen.

„Diese Schande, so eine Schmach!“ stieß Gruschenka, vor Scham errötend, hervor. „Gott, so einer!“

„Und ich ahnte es!“ rief Mitjä.

Doch kaum hatte er es ausgerufen, als Pan Wrublewskij wütend und verwirrt sich zu Gruschenka wandte, und mit der Faust drohend, sie anschrie:

„Dirne!“

Noch aber war sein Schimpfwort nicht verhallt, als Mitjä ihn schon mit beiden Armen ergriffen und aufgehoben hatte und ihn im Augenblick hinaustrug, in dasselbe Zimmer, in dem sie vorher gesprochen hatten.

„Ich habe ihn auf den Fußboden hingelegt!“ rief er, sofort wieder eintretend, von der Tür aus, noch atemlos von der Aufregung. „Die Kanaille läßt es sich noch einfallen, zu schlagen ... aber keine Bange, der kommt von dort nicht wieder! ...“ Er schloß den einen Türflügel und rief, den anderen Türflügel noch weit offen haltend, dem kleinen Pan zu:

„Hochwohlgeborener, ist es nicht gefällig, gleichfalls hier einzutreten? Pschepróscham! Wirr bitten untertänickst!“

„Väterchen Dmitrij Fedorowitsch,“ rief klagend Trifon Borissytsch, „so nehmt ihnen doch Euer Geld ab, was Ihr verloren habt! Das ist doch ebensogut wie von Euch gestohlen!“

„Nein, ich will ihnen meine fünfzig Rubel nicht wieder abnehmen,“ sagte Kalganoff.

„Und auch ich will meine Zweihundert nicht wiedernehmen,“ rief Mitjä, „werde es auf keinen Fall tun, mag er sie zum Trost behalten.“

„Ja, ja, so ist es recht, Mitjä, ein feiner Kerl bist du!“ rief Gruschenka sofort, – ein merklich schadenfroher Ton klang in ihrem Beifallsruf.

Der kleine Pan begab sich, puterrot vor Wut, doch ohne ein Atom von seiner Würde zu verlieren, bereits zur Tür, als er plötzlich stehen blieb und sich zu Gruschenka zurückwandte:

„Pani,“ sagte er, „wenn du wohlen komen miet miech, kom, wen niecht – lebb woll!“

Und wichtig, fauchend vor Wut und Aufgeblasenheit, trat er durch die Tür. Das war ein Mann von Charakter. Trotz allem, was geschehen war, hatte er doch noch nicht die Hoffnung verloren, daß sie mit ihm gehen werde, – so hoch schätzte er sich selbst. Mitjä aber schlug krachend die Tür hinter ihm zu.

„Schließen Sie sie ein,“ sagte Kalganoff.

Doch da kreischte schon das Schloß: Die Pane hatten sich von innen eingeschlossen.

„Herrlich!“ rief boshaft und unbarmherzig Gruschenka. „Herrlich! Dorthin gehören sie!“

VIII.
Rausch

Es begann eine Orgie, ein Fest über die ganze Erde hinweg! Gruschenka war die erste, die nach Wein rief: „Trinken will ich, betrunken will ich sein, oh, ganz betrunken, so wie damals, weißt du noch, Mitjä, weißt du, als wir uns hier anfreundeten!“ Mitjä selbst war wie im Fieber, und er „ahnte sein Glück“. Übrigens wurde er von Gruschenka immer wieder fortgeschickt: „Geh, sei lustig, sag ihnen, daß sie tanzen sollen, damit sich alle freuen, auch Hund und Katze, wie im Volkslied, alles, alles, wie damals, wie damals!“

Und Mitjä stürzte fort, um alles so anzuordnen, wie sie wollte. Der Chor hatte sich im Nebenzimmer versammelt, denn das blaue Zimmer, in dem man saß, war zu klein dazu, da es durch einen Kattunvorhang in zwei Hälften geteilt war. In der zweiten Hälfte stand ein riesengroßes Bett mit weichen Daunenkissen und einem ganzen Berg von Kopfkissen in Kattunbezügen. Solche Betten gab es in jedem der vier Gastzimmer. Gruschenka setzte sich an die Tür, wohin Mitjä ihren Lehnstuhl für sie gebracht hatte: so hatte sie auch „damals“ gesessen und dem Tanz zugesehen. Von den Mädchen waren wieder dieselben gekommen; keine einzige fehlte. Die jüdischen Musikanten waren mit Geigen, Zithern und Zimbeln gleichfalls angelangt, und schließlich kam auch die erwartete Fuhre mit den übrigen Vorräten und Weinen an. Mitjä war sehr in Anspruch genommen. Im vorderen Zimmer hatten sich noch andere Zuschauer versammelt, Weiber und Männer, die sich, als die Mädchen zum Chorgesang aufgetrieben worden waren, gleichfalls erhoben hatten, da sie sich wieder einmal eine ähnlich märchenhafte Bewirtung, wie sie ihnen vor einem Monat zuteil geworden war, versprachen. Mitjä begrüßte und umarmte die Bekannten, erinnerte sich der Gesichter, entkorkte Flaschen und schenkte allen ein, die sich ihm näherten. Der Champagner schmeckte eigentlich nur den Mädchen gut, die Männer zogen ihm Rum und Kognak vor, und besonders heißen Punsch. Auf Mitjäs Befehl wurde für alle Mädchen Schokolade gekocht; drei Ssamoware kochten die ganze Nacht Wasser für Tee und Punsch, damit alle sich bewirten konnten. Mit einem Wort, es begann etwas ungeheuer Sinnloses, doch Mitjä schien gerade in seinem Elemente zu sein, und je sinnloser alles wurde, desto mehr belebte sich sein ganzes Wesen. Hätte ihn jemand von den Bauern um Geld gebeten, so würde er sofort seine ganze Barschaft hervorgezogen und nach links und rechts, ohne zu bedenken, die Geldscheine hingegeben haben. Das war denn auch wahrscheinlich der Grund, warum Trifon Borissytsch, der, wie es schien, bereits jeden Gedanken an Schlaf in dieser Nacht aufgegeben hatte, Mitjä auf keinen Augenblick verließ, sich immer in seiner Nähe zu schaffen machte, und so auf seine Art Mitjäs Interessen bewachte. Er hatte nur ein einziges Glas Punsch getrunken, war also noch vollständig nüchtern, und so trat er denn, wenn er es für nötig fand, an Mitjä heran und beredete ihn, hielt ihn auf, ließ es nicht zu, daß er den Bauern „wie damals“ Zigarren und Rheinwein gab, und – um Gottes willen! – erst recht kein Geld, und war sehr ungehalten darüber, daß diese Dorfmädchen Liköre tranken und teure Süßigkeiten aßen. „Das ist doch nichts als die reine Verlaustheit, Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte er unwillig. „Ich werde jeder von ihnen Fußtritte geben, und befehlen, sich das noch zur Ehre anzurechnen, – derart ist das Pack!“ Mitjä erinnerte ihn noch einmal an Andrei und befahl, ihm Punsch zu geben. „Ich habe ihn vorhin gekränkt,“ wiederholte er mit weicher und gerührter Stimme. Kalganoff wollte zuerst von Wein nichts wissen, und auch der Gesang gefiel ihm anfangs nicht, doch als er noch zwei Glas Champagner getrunken hatte, wurde auch er ungewöhnlich munter und guter Laune, schritt im Zimmer auf und ab, lachte, lobte alles und jedes, die Lieder sowohl wie die jüdische Musikkapelle. Maximoff, der selig und betrunken war, verließ ihn nicht auf einen Schritt. Gruschenka, die gleichfalls schon einen kleinen Rausch hatte, machte Mitjä auf Kalganoff aufmerksam: „Wie reizend er ist, was für ein prächtiger Junge!“ Und Mitjä trat sofort entzückt zu Kalganoff und küßte sein junges Knabengesicht und küßte darauf auch noch seinen treuen Begleiter Maximoff. Oh, er ahnte vieles: zwar hatte sie ihm noch nichts gesagt, was zu Hoffnungen berechtigte, und augenscheinlich bezwang sie sich sogar absichtlich, um ihm noch nichts zu sagen; nur hin und wieder fing er ihren spähenden und heißen Blick auf. Schließlich erfaßte sie plötzlich fest seine Hand und zog ihn zu sich nieder. Das war, als sie im Lehnstuhl an der Tür saß.

„Wie konntest du nur so eintreten, als du vorhin ankamst, sag? Wie konntest du so eintreten! ... Ich erschrak so maßlos. Wie konntest du mich ihm nur abtreten? Sag, wolltest du das wirklich?“

„Ich wollte deinem Glück nicht im Wege sein,“ sagte Mitjä selig. Sie wußte es auch, ohne daß er es ihr sagte.

„Nun geh ... sei lustig.“ Damit schickte sie ihn wieder fort. „So sei doch nicht traurig, ich werde dich wieder rufen.“

Und er ging abermals fort, sie aber hörte von neuem dem Gesang zu, doch ihr Blick folgte ihm unverwandt, wo er auch war oder ging, und nach einer Viertelstunde rief sie ihn wieder zu sich, und wieder eilte er selig zu ihr hin.

„So, setz dich jetzt her zu mir, erzähl mir, wie du gestern erfahren hast, daß ich hierhergefahren war. Von wem erfuhrst du es ganz zuerst?“

Und Mitjä erzählte alles, erzählte zusammenhanglos, zerstreut, erregt und sehr eigentümlich, verstummte mehrmals ganz plötzlich und zog finster die Brauen zusammen.

„Was hast du, warum runzelst du die Stirn?“ fragte sie.

„Nichts ... ich habe dort einen Kranken zurückgelassen. Wenn er wieder gesund wird, wenn ich wüßte, daß er gesund wird, oh, zehn Jahre meines Lebens würde ich dafür geben!“

„Nun, Gott mit ihm, wenn er krank ist. Und du wolltest dich wirklich morgen erschießen, du dummer Junge, und warum nur? Weißt du, gerade solche Unbesonnene, wie du, liebe ich,“ flüsterte sie mit etwas schwerer Zunge. „So würdest du für mich alles tun? Sag? Und wolltest du dich, kleiner Dummkopf, tatsächlich deswegen erschießen? Nein, weißt du, wart damit noch ein wenig, morgen werde ich dir vielleicht etwas Schönes sagen ... nicht heute, nein, morgen. Du aber würdest es wohl gern schon heute hören? Nein, heute will ich nicht ... Nun geh, geh jetzt, freue dich.“

Einmal aber rief sie ihn ganz erschrocken und besorgt zu sich.

„Was hast du? Ich sehe es, daß dich etwas bedrückt. Nein, leugne nicht, ich sehe es, ich kenne dich,“ sagte sie und blickte ihn aufmerksam mit unbeweglich offenen Augen an. „Du küßt dort wohl die Bauern ab und lachst, aber ich sehe trotzdem dieses Etwas. Nein, amüsiere dich lieber, denn ich freue mich, und so sollst du dich gleichfalls freuen ... Einen von denen, die hier sind, habe ich lieb, rat mal, wer das ist? ... Ach, sieh doch: mein Herzensjunge ist eingeschlafen, er hat wohl zu viel getrunken, der Kleine.“

Sie meinte Kalganoff. Der war auf dem Sofa mittlerweile eingenickt. Doch war er nicht vom Weine allein eingeschlafen, sondern er war traurig geworden, oder, wie er sich ausdrückte: es war ihm „langweilig“ geworden. Die Lieder der Dorfmädchen hatten ihn zum Schluß stark herabgestimmt, da sie, in Zusammenwirkung mit den genossenen Getränken, in ein für ihn gar zu Zügelloses und Unzüchtiges ausarteten. Und nicht minder die Tänze: zwei von den Mädels hatten sich als Bären verkleidet, und Stepanida, ein anderes Mädel, ging mit einem Stock voran und spielte den Bärenführer, der die beiden „zeigte“. „Munterer, Maria,“ rief sie, „oder sonst kriegst du Prügel, hier, mit diesem Stock!“ Schließlich purzelten die Bären irgendwie in ganz besonders unanständiger Weise zu Boden, was lautes Gelächter des versammelten, dichtgedrängten Publikums von Männern und Weibern hervorrief. – „Nun, nun, laßt sie doch, laßt sie doch sich amüsieren,“ hatte Gruschenka mit seligem Gesichtsausdruck gesagt, „haben sie auch einmal eine Gelegenheit, sich zu freuen, warum sollen sie es denn nicht tun? Nein, laßt sie, laßt sie, laßt sie sich ihres Lebens freuen.“ Kalganoff aber hatte dreingeschaut, als hätte er sich mit irgend etwas beschmutzt. „Nichts als eine Schweinerei, diese ganzen Volksgeschichten,“ hatte er gemeint und sich zum Sofa zurückgezogen. „Das sollen ihre Frühlingsspiele sein, wenn sie die Sonne die ganze Nacht über hüten!“ Besonders mißfallen hatte ihm ein Liedchen mit einer munteren Tanzweise, das davon erzählte, wie der Herr ausfährt und die Mädchen „probiert“:

Der Herr fuhr aus, die Mädchen zu erproben,

Ob sie lieben oder nicht?

Doch den Mädchen scheint es, daß man den Herrn nicht lieben könne, es hieß:

Der Herr, der wird mich schlagen,

Und ich kann mich dann plagen.

Darauf fährt der Zigeuner aus, doch auch ihn konnte man nicht lieben, denn:

Ach, der liebt nicht mich,

Der liebt ja nur das Stehlen,

Und ich kann mich dann grämen.

Und so fuhren viele vorüber, selbst ein Soldat; doch der wurde mit Verachtung zurückgewiesen:

Der wird nur den Ranzen tragen

und ich ...

Hier folgte ein gar zu derber Vers, der aber vollkommen offenherzig vorgesungen wurde und beim angeheiterten Publikum geradezu Furore machte. Schließlich endete es mit dem Kaufmann:

Da fuhr denn auch der Kaufmann aus

Die Mädchen zu probieren,

Ob sie lieben oder nicht?

Und da zeigte es sich, daß man ihn sogar sehr liebte, denn:

Der Kaufmann wird hübsch Handel treiben,

Und ich kann dann die Herrin bleiben.

Kalganoff war darob ganz böse geworden:

„Das ist ja ein vollkommen modernes Lied,“ hatte er laut und unwillig gesagt, „wer dichtet ihnen denn solche Lieder? Es fehlte noch, daß die Eisenbahnaktionäre und die Juden herumziehen, die Mädchen zu probieren: die würden alle besiegen.“ Und fast gekränkt hatte er gesagt, daß er sich langweile, und hatte sich auf das Sofa gesetzt, wo er dann eingeschlafen war. Sein reizendes Gesicht war etwas bleich geworden, und der Kopf war an das Kissen der Sofalehne zurückgesunken.

„Sieh doch, wie reizend er ist,“ sagte Gruschenka, als sie Mitjä zu ihm geführt hatte. „Ich habe ihm vorhin das Köpfchen gestreichelt. Wie Flachs ist sein Haar, und so dicht ...“

Sie beugte sich gerührt über ihn und küßte ihn auf die Stirn. Kalganoff schlug sofort die Augen auf und blickte sie an, erhob sich und fragte mit der besorgtesten Miene: „Wo ist Maximoff?“

„Hör doch, was seine erste Sorge ist!“ sagte Gruschenka lachend. „So sitz doch ein Weilchen mit mir. Mitjä, such ihm seinen Maximoff auf.“

Da zeigte sich, daß Maximoff jetzt die Mädchen auf keinen Augenblick mehr verließ, nur hin und wieder lief er zum Tisch, um ein Gläschen Likör zu trinken, und Schokolade hatte er schon tassenweise getrunken. Sein Gesicht war rot, die Nase blaurot, und die Augen waren feucht geworden und blickten süßlich-selig drein. Er kam sofort herbeigelaufen und meldete, daß er sogleich nach einem „besonderen Motivchen“ die Sabotière tanzen werde.

„Man hat mich doch, als ich-ich noch klein war, in diesen französischen Tänzchen unterrichtet ...“

„Nun geh, geh mit ihm, Mitjä, ich werde von hier aus zusehen, wie er dort tanzt.“

„Nein, auch ich, auch ich will ihn tanzen sehen,“ rief Kalganoff, womit er in der allernaivsten Weise Gruschenkas Einladung, neben ihr zu sitzen, verschmähte. Und so begaben sich denn alle hin, um zuzusehen. Maximoff führte tatsächlich seinen Tanz aus, doch außer Mitjä konnte er niemanden so recht entzücken. Der ganze Tanz bestand in Hopsern, wobei die Füße zur Seite geworfen wurden, so daß die Stiefelsohlen nach oben kamen, und bei jedem Sprung schlug Maximoff mit der flachen Hand auf die Sohle. Kalganoff gefiel der Tanz gar nicht, Mitjä aber umarmte den Tänzer vor Entzücken.

„Bravo, großartig! Nun, bist du müde, was? Willst du etwas? Ein Bonbon, wie? Oder willst du eine Zigarette?“

„Ein Zigarettchen, bitte.“

„Willst du nicht auch trinken?“

„Ich habe hier Likörchen ... Aber haben Sie nicht noch etwas Schokoladenkonfekt?“

„Auf dem Tisch ist doch eine ganze Fuhre, nimm was du willst, du Taubenseele!“

„Nein, ich will – will eines mit Vanille ... etwas Besonderes für alte Menschen ... hi – hi!“

„Nein, mein Freund, so etwas Besonderes gibt es nicht.“

„Hören Sie!“ sagte plötzlich der Alte, ganz zu Mitjäs Ohr gebeugt, „dies eine Mädel, die Marjuschka, hi – hi! Könnt ich nicht, wenn’s-wenn’s möglich wäre, ihre Bekanntschaft machen, dank Ihrer Güte ...“

„Oho, sieh mal einer, was dir in den Sinn gekommen ist! Nein, Freund, du faselst ...“

„Ich-ich tue doch niemandem was Schlechtes,“ flüsterte Maximoff wehmütig.

„Nun gut, gut. Aber Freund, das geht nicht, hier wird nur gesungen und getanzt ... übrigens – hol’s der Teufel! Wart ... Trink vorläufig, iß, zerstreue dich. Brauchst du Geld?“

„Später vielleicht ein bißchen,“ meinte Maximoff schmunzelnd.

„Gut, gut ...“

Mitjä brannte der Kopf. Er ging hinaus in den Flur und trat auf die obere kleine Galerie, die auch auf dem Hof einen Teil des ganzen Gebäudes umgab. Die frische Luft belebte ihn. Er stand in der Dunkelheit an die Wand gelehnt, in einer Ecke, und plötzlich faßte er sich mit beiden Händen an den Kopf. Seine zerstreuten Gedanken sammelten sich schnell, seine Empfindungen vereinigten sich zu einer einzigen Vorstellung, und alles wurde ihm klar. Eine furchtbare, grausige Erleuchtung war’s! „Wenn ich mich schon erschieße, wann soll es denn geschehen, wenn nicht jetzt?“ zuckte es ihm durch den Kopf. „Einfach den Pistolenkasten herbringen und hier, gerade hier in dieser schmutzigen, dunklen Ecke mit allem ein Ende machen.“ Eine ganze Minute lang war er unentschlossen. Vorhin, als er hergejagt war, hatte hinter ihm die Schande gestanden, begangener Diebstahl und dieses Blut, oh, dieses Blut! ... Doch da war ihm leichter zumut gewesen, oh, viel leichter! Damals hatte er doch mit allem abgeschlossen; er hatte sie verloren, hatte sie abgetreten, sie war für ihn verschwunden, untergegangen, – oh, da war es leichter gewesen, das Todesurteil an sich zu vollziehen. Wenigstens war es ihm unbedingt notwendig, ganz unvermeidlich erschienen, denn wozu dann noch leben, hatte er sich gefragt? Jetzt aber! War es denn jetzt dasselbe wie damals? Jetzt war doch schon ein Schrecknis, ein Gespenst beseitigt: der „Erste“, ihr Alleinberechtigter, dieser fatale Mensch war verschwunden. Das große Schreckgespenst war so klein geworden, so lächerlich: man hatte es im Nebenzimmer hinter Schloß und Riegel einfach eingesperrt. Und niemals wird es mehr ängstigen! Sie schämt sich seiner, und in ihren Augen hat er klar gelesen, wen sie jetzt liebt. Ach, jetzt nur leben, leben! Und da – gerade jetzt nicht leben können! Oh, verflucht! „Gott, erwecke den Toten am Zaun! Gott, mein Gott, laß diesen furchtbaren Kelch an mir vorübergehen! Hast Du doch Wunder getan, und an ebenso großen Sündern wie ich! Aber wie, wenn der Alte lebt? Oh, dann werde ich die Schande der anderen Schmach vernichten, ich werde das gestohlene Geld zurückerstatten, alles zurückgeben, aus der Erde hervorkratzen ... Es wird keine Spur mehr von der Schande übrigbleiben, außer in meinem Herzen, und dort wird sie bis in alle Ewigkeit brennen! Aber nein, nein, das sind ja unmögliche, kleinmütige Träume! Oh, Fluch!“

Und doch war es ihm, als fühlte er einen hellen Hoffnungsstrahl durch das Dunkel leuchten. Er riß sich plötzlich los von der Ecke und stürzte in die Zimmer zu ihr, wieder zu ihr, seiner Königin! „Ist denn eine Stunde, eine Minute ihrer Liebe nicht das ganze Leben wert, wenn auch in Qualen der Schmach und Schande?“ Diese wilde Frage machte sein Herz klopfen. „Zu ihr, zu ihr allein, sie sehen, sie hören und an nichts denken, alles andere vergessen, und wenn auch nur diese eine Nacht – eine Stunde, einen Augenblick lang!“ Kurz vor der Tür zum Flur, noch auf der Galerie, stieß er mit dem Wirt Trifon Borissytsch zusammen. Der kam ihm finster und besorgt vor und schien ihn zu suchen.

„Was ist – Borissytsch, suchst du mich?“

„Nein, nicht Euch,“ sagte der Wirt etwas erschrocken, wie es Mitjä schien. „Warum sollte ich Euch suchen? Aber ... wo wart Ihr denn?“

„Warum bist du plötzlich so mißgestimmt? Ärgerst du dich etwa? Wart, bald kannst du schlafen gehn ... Wie spät ist es denn eigentlich schon?“

„Es wird drei sein, vielleicht aber auch schon vier.“

„Dann machen wir ein Ende damit, dann ist es genug!“

„Aber ich bitte, es hat doch nichts zu sagen. Solange es Euch beliebt, Herr ...“

„Was hat der Kerl?“ fuhr es Mitjä durch den Sinn, und er trat eilig in das Zimmer, in dem die Mädchen tanzten. Doch Gruschenka war nicht da. Im blauen Zimmer war sie gleichfalls nicht zu sehen; nur Kalganoff allein schlummerte auf dem Sofa. Mitjä blickte hinter den Vorhang – dort war sie. In der Ecke saß sie auf einer Truhe, hatte sich mit den Armen und dem Kopf auf das daneben stehende Bett gestützt und weinte, war dabei aus allen Kräften bemüht, ihr Schluchzen zu ersticken, damit es niemand höre. Als sie Mitjä bemerkte, streckte sie ihm die Hand entgegen, und als er zu ihr stürzte, preßte sie seine Finger wie im Krampf.

„Mitjä, Mitjä, ich habe ihn doch geliebt!“ raunte sie ihm qualvoll zu, „so geliebt, diese ganzen fünf Jahre, die ganze, ganze Zeit. Sag, habe ich ihn oder habe ich nur meinen Haß geliebt? Nein, ihn! Ach, ihn! Ich lüge doch, wenn ich sage, daß ich meinen Haß und nicht ihn geliebt habe! Mitjä, ich war ja damals erst siebzehn Jahre alt, und er war damals so freundlich zu mir, so lustig und sang mir Lieder vor ... Oder sollte es mir, dem dummen Kinde, damals nur so geschienen haben? ... Jetzt aber, o Gott! – das ist ja gar nicht er, gar nicht derselbe! Und auch das Gesicht ist ein ganz anderes, ich erkannte ihn zuerst nicht einmal. Als ich mit Timofei herfuhr, dachte ich die ganze Zeit, die ganze Zeit: ‚Wie werde ich ihm entgegentreten, was werde ich ihm sagen, wie werden wir uns in die Augen blicken können? ...‘ Meine Seele wollte vergehen. Und da komme ich hier an und er – ach, als hätte er mir Spülicht übergegossen! Redet wie ein Schulmeister, alles so pedantisch, wichtig, aufgeblasen, empfängt mich so unnahbar, daß ich ganz verdutzt war. Ich wußte kein Wort zu sagen. Anfangs glaubte ich, daß er sich vor diesem anderen, seinem langen Polen, schämt. Ich saß, betrachtete sie beide und dachte: Warum verstehe ich denn plötzlich nicht mehr mit ihm zu sprechen? Weißt du, das hat seine Frau aus ihm gemacht, dieselbe, wegen der er mich damals verließ, und die er dann heiratete ... Sie, sie hat ihn dort so umgemodelt. Mitjä, diese Schande, diese Schande ertrage ich nicht! Mitjä, wenn du wüßtest, wie ich mich schäme, Mitjä, für mein ganzes Leben! Verflucht seien diese ganzen fünf Jahre, verflucht!“ Und sie brach wieder in Tränen aus und schluchzte, doch Mitjäs Hand ließ sie nicht mehr los, sie hielt sie krampfhaft fest.

„Mitjä, Liebling, wart, geh nicht fort, ich habe dir etwas zu sagen,“ raunte sie ihm plötzlich, das Gesicht zu ihm erhebend, zu. „Höre, sage du mir, wen ich liebe? Ich habe hier von allen nur einen lieb. Wer mag nun das wohl sein? Sieh, das sollst du mir sagen.“ Auf ihrem von den Tränen geschwollenen Gesicht erschien ein Lächeln, und ihre Augen glänzten im Halbdunkel. „Es kam vorhin ein Falke her, und als ich ihn erblickte, da rief mir das Herz zu: ‚Wie dumm du bist, sieh, den dort, den allein liebst du!‘ – so flüsterte mir im Augenblick das Herz zu. Du tratest ein, und alles erleuchtetest du, – du! ‚Aber was fürchtet er?‘ fragte ich mich. Denn du fürchtetest dich doch, nicht wahr, du konntest ja kaum sprechen. ‚Er kann doch nicht diesen ... diesen fürchten,‘ dachte ich, – kannst du dich denn überhaupt vor jemandem fürchten? ‚Nein, mich fürchtet er, mich, nur mich allein!‘ dachte ich. So hat dir also Fenjä erzählt, wie ich Aljoscha durch das Fenster zugerufen habe, daß ich Mitjenka im ganzen ein Stündchen geliebt hätte und nun fortführe, um einen anderen zu ... lieben? Mitjä, ach Mitjä, wie konnte ich dummes Geschöpf glauben, daß ich nach dir noch einen anderen lieben könnte! Verzeihst du mir, Mitjä? Verzeihst du mir oder nicht? Liebst du mich? Liebst du mich?“

Sie sprang auf und faßte ihn mit beiden Händen an den Schultern. Mitjä blickte ihr stumm vor Entzücken in die leuchtenden Augen, in das Gesicht, auf ihre lächelnden Lippen, und plötzlich riß er sie in seine Arme, preßte sie wie mit Klammern an sich und küßte sie, küßte sie.

„Und verzeihst du mir, daß ich dich gequält habe? Ich habe euch alle doch nur aus Haß, wegen meiner Liebe zu ihm, so gequält. Ich habe doch den Alten absichtlich, aus Bosheit um den Verstand gebracht ... Weißt du noch, wie du einmal bei mir trankst und darauf das Glas zerschlugst? Das habe ich nicht vergessen, und so habe ich heute gleichfalls mein Glas zerschlagen. Ich trank auf mein ‚niedriges Herz‘! Mitjä, mein lichter Falke, warum küßt du mich nicht? Hast mich nur einmal geküßt und bist dann erstarrt, hörst du ... Wozu mich anhören! Küß mich, küß mich stärker, so, so. Liebt man, dann soll man auch lieben! Ich werde jetzt deine Sklavin sein, mein ganzes Leben lang deine Sklavin! Süß ist es, Sklavin zu sein! ... Küß mich! Schlage mich, quäle mich, tu mir etwas an ... Ach, wirklich, du solltest mich foltern ... Nein! nicht! ... wart, später, so will ich nicht ...“ – Und sie stieß ihn plötzlich zurück. „Geh fort, Mitjä, ich werde jetzt Wein trinken, ich will mich antrinken, ich will betrunken tanzen, ich will, ich will!“

Sie riß sich von ihm los und lief fort. Mitjä folgte ihr wie im Traum. „Meinetwegen, meinetwegen ... was jetzt auch geschehen mag, – für eine Minute gebe ich die ganze Welt hin,“ fuhr es ihm wirr durch den Kopf. Gruschenka leerte auf einen Zug noch ein ganzes Glas Champagner. Sie setzte sich in den Lehnstuhl, auf ihren alten Platz und lächelte selig! Ihre Wangen glühten, die Lippen schienen zu brennen, über ihre Augen legte sich ein matter Schimmer, und der Blick blinkte verführerisch. Selbst Kalganoff schien ihn zu spüren, und er trat an sie heran.

„Hast du es gefühlt, mein Herzensjunge, wie ich dich vorhin küßte, als du schliefst?“ fragte sie ihn mit etwas schwerer Zunge. „Betrunken bin ich jetzt, siehst du ... Und du nicht? Aber warum trinkt Mitjä nicht? Warum trinkst du nicht, Mitjä? Sieh, ich habe schon getrunken, du aber trinkst nicht ...“

„Ich bin ja schon betrunken! Auch so schon trunken ... trunken von dir, jetzt aber will ich es auch noch vom Weine werden.“

Er stürzte noch ein Glas hinab und – es schien ihm selbst sonderbar – erst von diesem Glase wurde er betrunken, ganz plötzlich, bis dahin war er immer noch nüchtern gewesen. Das fühlte er jetzt deutlich, da er wirklich betrunken wurde. Von diesem Augenblicke an begann alles sich vor ihm wie im Rausch zu drehen. Er ging, lachte, sprach mit allen und tat es doch, wie ohne zu wissen, was er tat. Nur ein einziges, unbewegliches, brennendes Gefühl trug er fortwährend mit sich herum, „ganz wie eine glühende Kohle“, sagte er später. Er trat zu ihr, setzte sich neben sie hin, blickte sie an, hörte ihr zu ... Sie aber wurde ungemein gesprächig: rief alle zu sich heran, winkte plötzlich auch ein Chormädchen zu sich, und wenn die dann zu ihr kam, küßte sie sie oder machte mit der Hand das Zeichen des Kreuzes über sie. Vielleicht fehlte nur noch etwas, und sie wäre in Tränen ausgebrochen. Am meisten belustigte sie Maximoff. Der kam immer wieder zu ihr gelaufen, um ihr die Hand „und jedes Fingerchen“, wie er sagte, zu küssen, und zum Schlusse tanzte er noch zu einem alten Liede, das er selbst sang, einen Volkstanz. Mit besonderer Liebe trug er vor:

„Schweinchen macht chruchru, chruchru,

Kälbchen macht mumu, mumu,

Entlein macht quaqua, quaqua,

Gänschen macht gaga, gaga.

Doch Spätzchen ging auf frischem Heu spazieren,

Konnte nur zipzirrip, zipzirrip tirillieren,

Zipzirrip, zipzirrip tirillieren!“

„Gib ihm etwas, Mitjä,“ sagte Gruschenka, „schenk ihm etwas, er ist doch arm. Ach ihr Armen, Erniedrigten! ... Weißt du, Mitjä, ich werde ins Kloster gehen. Nein, im Ernst, einmal werde ich ins Kloster gehen. Aljoscha hat mir heute Worte fürs ganze Leben gesagt ... Ja ... Heute aber wollen wir noch tanzen. Morgen ins Kloster, heute aber noch getanzt. Ich will ausgelassen sein, ihr Guten. Nun, und was ist denn dabei? Gott wird es verzeihen. Wenn ich Gott wäre, würde ich allen Menschen vergeben. ‚Ihr meine lieben, kleinen Sünder,‘ würde ich sagen, ‚von heute ab vergebe ich euch allen.‘ Und ich werde um Verzeihung bitten. ‚Vergebt, ihr guten Leute, einem dummen Weibe.‘ Ja, genau so. ‚Ein Tier bin ich, ja, das bin ich.‘ Beten will ich. Ich habe im ganzen nur ein Zwiebelchen gegeben. Ja, ein Scheusal wie ich will beten. Mitjä, laß sie tanzen, störe sie nicht. Alle Menschen auf der Welt sind gut, alle bis auf den letzten. Es ist schön, in der Welt zu leben. Wenn wir auch schlecht sind, es ist doch schön auf der Welt. Schlecht und gut sind wir, schlecht und gut ... Nein, sagt mir, ich frage euch, kommt alle her, ich frage euch, sagt mir alle folgendes: Warum bin ich so gut? Ich bin doch gut – bin sehr gut ... Nun, darum also: Warum bin ich so gut?“

So stammelte Gruschenka, indem sie immer berauschter wurde, und zu guter Letzt erklärte sie, selbst tanzen zu wollen. Sie erhob sich aus dem Lehnstuhl und wankte.

„Mitjä, laß mich nicht mehr trinken,“ sagte sie, „ich werde bitten, gib du mir aber nichts mehr, hörst du. Wein gibt keine Ruhe. Und alles dreht sich, auch der Ofen, alles dreht, dreht sich. Tanzen will ich. Sie sollen alle herkommen, zusehen, wie ich tanze ... wie schön und gut ich tanze ... wie?“

Und sie machte bereits Ernst mit ihrer Absicht: zog ihr kleines, weißes Batisttüchlein hervor, nahm es mit zwei Fingern der rechten Hand am Zipfelchen, um es beim Tanz zu schwenken. Es sollte der Nationaltanz werden! Mitjä eilte ins vordere Zimmer, die Mädchen verstummten und bereiteten sich vor, auf den ersten Wink den Chorgesang zum Nationaltanz anzustimmen. Als Maximoff hörte, daß Gruschenka selbst tanzen wollte, ward er ganz Begeisterung und begann sofort – so gut es bei seinem Alter ging – den Kasatschock ihr entgegen zu tanzen, wozu er etwas atemlos sang:

Kleine Hexe, schlanke Beinchen,

Weiche Hüften, Ringelschweinchen!

Doch Gruschenka winkte ihm mit dem Tüchelchen ab und schickte ihn zurück.

„Sch – sch! Mitjä, warum kommen sie denn nicht? Alle sollen herkommen ... zusehen. Ruf auch jene beiden, die Eingeschlossenen ... Warum hast du sie eingeschlossen? Sag ihnen, daß ich tanze, ich will, daß auch sie zusehen, wie ich tanze ...“

Mitjä ging etwas schwankend zur verschlossenen Tür und begann mit den Fäusten bei den Panen anzuklopfen.

„He, ihr ... Podwyssotzkijs! Kommt heraus, sie will tanzen, läßt euch rufen.“

„Laidack!“ schrie zur Antwort einer von den Panen.

„Und du bist ein Oberlaidack! Ein ganz gemeiner, kleinlicher Schuft bist du, verstanden!“

„Wenn Sie doch endlich aufhören wollten, sich über Polen lustig zu machen!“ bemerkte ungehalten Kalganoff, der jetzt gleichfalls zu viel getrunken hatte.

„Schweig, Knabe! Wenn ich ‚Schuft‘ zu ihm sage, so heißt das noch nicht, daß ich es zu ganz Polen sage. Ein Schuft macht vorläufig noch nicht ganz Polen aus. Schweig, ein netter Junge bist du. Da – nimm ein Bonbon.“

„Ach, wie sie sind! Gar nicht wie Menschen. Warum wollen sie sich denn nicht versöhnen?“ sagte Gruschenka und trat vor zum Tanz.

Der Chor fiel schmetternd ein: „Auf grünen Fluren in kühlem Schatten ...“ Gruschenka warf den Kopf in den Nacken, ihre Lippen öffneten sich halb, sie lächelte, schwenkte schon das Taschentuch und plötzlich – wankte sie und blickte sich verwundert im Kreise um.

„Bin schwach ...“ sagte sie stammelnd mit einer geradezu müde gequälten Stimme, „verzeiht, bin zu schwach ... ich kann nicht ... es war meine Schuld ...“

Sie verbeugte sich vor dem Chor und machte dann nach allen vier Seiten hin eine Verbeugung.

„Meine Schuld ... Verzeiht ...“

„Hat sich bißchen angetrunken, die Herrin, bißchen angetrunken die schöne Herrin,“ ertönten unter den Zuschauern einige Stimmen.

„Haben sich etwas angeheitert,“ erklärte kichernd Maximoff den Mädchen.

„Mitjä, bring mich fort ... nimm mich, Mitjä,“ sagte Gruschenka erschöpft.

Mitjä, der schon neben ihr stand, hob sie im Augenblick hoch auf die Arme und eilte mit seiner Last zurück hinter den Vorhang. „Nun, jetzt werde ich lieber fortgehen,“ dachte Kalganoff und verließ das blaue Zimmer. Vorsichtig schloß er hinter sich beide Türflügel. Doch das Fest im Saal wurde tobend fortgesetzt, viel ausgelassener als vorher. Mitjä legte Gruschenka auf das große Bett und küßte sie, als hätte er sich im Kuß an ihren Lippen festgesogen.

„Rühr mich nicht an ...“ bat sie ihn stammelnd, mit flehender Stimme. „Rühr mich nicht an, bevor ich nicht dein bin ... Ich habe gesagt, daß ich dein bin, aber du rühr mich nicht an ... schone mich, bitte ... Nicht neben jenen, nicht in ihrer Gegenwart. Er ist hier. Widerlich ist es hier ...“

„Ich gehorche! ... Mit keinem Gedanken ... Ich bete dich an ...“ murmelte Mitjä. „Ja, widerlich ist’s hier, oh, verflucht!“

Und ohne sie aus den Armen zu lassen, kniete er neben dem Bett nieder.

„Ich weiß, du bist wohl ein Tier, aber du bist doch edel,“ sagte Gruschenka mit schwerer Zunge. „Es muß ehrenhaft sein ... von nun an wird es ehrenhaft sein ... und auch wir müssen ehrenhaft sein, auch wir wollen gut sein, keine Tiere, sondern gut ... Bring mich fort, bring mich weit fort, hörst du ... Ich will nicht hier ... nein, weit fort, weit ...“

„Oh, ja, ja, unbedingt!“ Und er preßte sie in seinen Armen. „Ich bringe dich fort, fortfliehen werden wir ... Oh, mein ganzes Leben gebe ich sofort dafür hin – wenn ich nur um dieses Blut wüßte! ...“

„Was für ein Blut?“ fragte Gruschenka verwundert.

„Nichts, nichts!“ stieß Mitjä knirschend hervor. „Gruscha, du willst, daß hinfort alles ehrenhaft sei, ich aber – bin – ein – Dieb. Ich habe von Katjä Geld gestohlen.“

„Von Katjä? Von dem Fräulein? Nein, du hast nicht gestohlen. Gib ihr, nimm von mir ... Was brauchst du? Jetzt ist alles, was mein ist – dein. Was ist uns Geld?? Wir würden es ohnehin durchbringen ... Wir sind die rechten, die es halten könnten. Wir beide aber wollen lieber gehen und die Erde pflügen. Mit diesen meinen Händen will ich die Erde aufscharren. Arbeiten muß man, sich mühen muß man, hörst du? Aljoscha hat es gesagt. Ich werde dir nicht Geliebte sein, ich werde dir treu sein, werde deine Sklavin sein, werde für dich arbeiten. Wir werden zum Fräulein gehen und sie bitten, daß sie uns verzeiht, und dann werden wir fortfahren. Und du bring ihr das Geld zurück, mich aber liebe ... Sie jedoch, hörst du, sie sollst du nicht lieben. Jetzt darfst du sie nicht mehr lieben. Wenn du sie noch liebst, werde ich sie erwürgen ... Werde ihr beide Augen mit einer Nadel ausstechen ...“

„Dich liebe ich, dich allein! Ich werde dich auch in Sibirien lieben, ewig ...“

„Warum in Sibirien? Aber warum schließlich auch nicht, meinetwegen auch nach Sibirien, wenn du willst, mir soll’s recht sein ... einerlei ... wir werden arbeiten ... in Sibirien ist Schnee ... Ich liebe es, im Schlitten über Schneefelder zu fahren ... das Pferd muß eine Glocke am Krummholz haben ... Hörst du, eine Glocke klingt ... Wo klingt nur die Glocke? Es fährt jemand ... da hat sie auch schon aufgehört.“

Erschöpft schloß sie die Augen und schien einzuschlafen. Es hatte in der Tat irgendwo in der Ferne eine Glocke geklungen, und dann – hatte sie plötzlich aufgehört zu klingen. Mitjä senkte seinen Kopf auf ihre Brust. Er merkte nicht, wie die Glocke zu klingen aufgehört hatte, hatte es auch nicht gemerkt, wie plötzlich der Chorgesang verstummt war und an Stelle des Geräusches und trunkenen Lärmes im ganzen Hause Totenstille eintrat. Gruschenka schlug die Augen auf.

„Was ist das? Habe ich geschlafen? Ja ... Glockenklang ... Ich schlief und mir träumte: es war, als wenn ich über Schneefelder fuhr ... die Glocke klang, und ich schlummerte mit offenen Augen. Es war, als führe ich mit meinem Geliebten, mit dir. Und weit, weit fuhren wir. Ich umarmte und küßte dich, schmiegte mich an dich, ich glaube, mich fror, und der Schnee schimmerte ... Weißt du, wenn in der Nacht der Schnee schimmert und der Mond scheint, und es war, als ob ich nicht auf der Erde wäre ... Da erwachte ich, und du warst bei mir, Geliebter, wie wundervoll ...“

„Bei dir,“ murmelte Mitjä und küßte ihr Kleid, ihre Brust, ihre Hände.

Und plötzlich schien ihm etwas so sonderbar: es schien ihm, als ob sie gerade vor sich hinblicke, doch nicht auf ihn, nicht in sein Gesicht, sondern über seinen Kopf hinweg, aufmerksam, unbeweglich und ganz eigentümlich starr. Und plötzlich drückte sich in ihrem Gesichte Verwunderung aus, fast Schreck.

„Mitjä,“ flüsterte sie plötzlich, „wer blickt von dort auf uns her?“

Mitjä wandte sich um und sah, daß tatsächlich jemand durch den Vorhang sie gleichsam zu beobachten schien. Ja, es schien nicht nur einer zu sein. Er sprang auf und trat auf den Beobachter zu.

„Hierher, darf ich bitten, hierher zu uns,“ sagte nicht laut, doch bestimmt und fest eine unbekannte Stimme zu ihm.

Mitjä trat hinter dem Vorhang hervor und blieb unbeweglich stehen. Das ganze Zimmer war voll von Menschen, doch nicht von denen, die noch vor kurzem dagewesen waren, sondern von ganz anderen, neuangekommenen. Ein plötzlicher Frostschauer lief ihm über den Rücken, und er fuhr zusammen. Alle diese Menschen erkannte er auf den ersten Blick. Dieser große, wohlbeleibte Herr im grauen Uniformpaletot mit der Kokarde an der runden Karakulmütze, das war der Kreisrichter, der Chef der Landpolizei, Michail Makarytsch Makaroff. Und dieser „schwindsüchtige“, saubergekleidete Stutzer, „immer in so blankgeputzten Stiefeln“ – das war der Stellvertreter des Staatsanwalts. „Er besitzt eine Uhr im Wert von vierhundert Rubeln, er hat sie mir gezeigt,“ dachte Mitjä. Und dieser jugendliche Kleine mit der Brille ... Mitjä hatte nur seinen Namen vergessen, aber er kannte auch ihn, er hatte ihn gesehen: das war der Untersuchungsrichter des Gerichtshofes, der erst vor kurzer Zeit bei uns eingetroffen war. Und dieser dort – war der Polizeimeister, Mawrikij Mawrikitsch, den kannte er ja ganz genau, – ein alter Bekannter. Aber diese dort mit den Blechschildern, was wollen denn die? Und dann noch zwei Unbekannte, Bauernkerle wahrscheinlich ... Und dort an der Tür Kalganoff und Trifon Borissytsch ...

„Meine Herren ... Was soll das, meine Herren?“ fing Mitjä an, doch plötzlich – rief er außer sich, als wäre er nicht mehr er selbst gewesen, laut, mit der ganzen Stimme:

„Ich be – grei – fe!“

Der jugendliche Kleine mit der Brille drängte sich plötzlich etwas vor und, zu Mitjä tretend, begann er, wenn auch ein wenig würdevoll, so doch gewissermaßen ziemlich eilig:

„Wir haben an Sie ... Kurz, ich bitte Sie hierher, hierher zum Sofa ... Gewisse Umstände machen es unbedingt notwendig, daß wir Sie um gewisse Erklärungen bitten.“

„Der Alte!“ schrie Mitjä außer sich auf. „Der Alte und sein Blut! ... Ich begreife!“

Und wie von einem Keulenschlage getroffen, sank er, oder richtiger gesagt fiel er auf einen Stuhl, der neben ihm stand.

„Du begreifst? Du hast es begriffen! Du Vatermörder und Ungeheuer, das Blut deines erschlagenen alten Vaters schreit hinter dir her!“ brüllte plötzlich, auf Mitjä zutretend, der alte Polizeichef ihn an.

Er war außer sich, war dunkelrot vor Zorn und zitterte am ganzen Körper.

„Aber das ist unmöglich, so geht das nicht!“ rief der kleine junge Mann. „Michail Makarytsch, Michail Makarytsch! So geht das nicht, das geht wirklich nicht so! ... Ich bitte Sie, mich allein sprechen zu lassen. Ich hätte nie von Ihnen erwartet, daß Sie so ...“

„Aber das ist ja nicht möglich, meine Herren, das ist ja Wahnsinn!“ schrie wieder der Alte. „Sehen Sie ihn an: in der Nacht, betrunken, mit einem liederlichen Mädchen, in dem Blute seines Vaters ... Wahnsinn, Wahnsinn!“

„Ich bitte Sie nochmals ernstlich, lieber Michail Makarytsch, dieses Mal Ihre Gefühle zu beherrschen,“ flüsterte dem Alten schnell der stutzerhafte Stellvertreter des Staatsanwalts zu, „anderenfalls wäre ich gezwungen, Maßregeln zu ergreifen.“

Aber der kleine Untersuchungsrichter unterbrach ihn; er wandte sich zu Mitjä und sagte mit fester Stimme, laut und wichtig:

„Herr Leutnant Karamasoff, ich muß Ihnen mitteilen, daß Sie angeklagt sind, Ihren Vater Fedor Pawlowitsch Karamasoff in dieser Nacht ermordet zu haben ...“

Er fügte noch etwas hinzu, auch der Stellvertreter des Staatsanwalts wandte noch etwas ein, doch Mitjä, der wohl ihre Worte hörte, begriff sie nicht mehr. Sein wilder Blick ging verständnislos von einem der Anwesenden zum anderen.

Neuntes Buch.
Die Voruntersuchung

I.
Der Anfang der Laufbahn des Beamten Perchotin

Pjotr Iljitsch Perchotin, den wir vor dem Hause der Kaufmannswitwe Morosoff verlassen hatten, klopfte unentwegt und mit jedem Schlage stärker an das fest verschlossene Hoftor, bis er schließlich den Hofknecht aus dem Bett geklopft hatte. Als Fenjä, die sich vor Erregung und „Gedanken“ noch nicht entschlossen hatte, zu Bett zu gehen, ein so unbändiges Klopfen am Hoftor hörte, verlor sie vor Schreck fast die Besinnung. Sie war sofort überzeugt, daß der Ruhestörer kein anderer sein konnte als Dmitrij Fedorowitsch (obgleich sie selbst gesehen hatte, wie er mit Andrei fortgefahren war), denn sie sagte sich, daß so „gebieterisch“ nur er allein klopfen könne. So stürzte sie denn unverzüglich zum Hofknecht, der sich bereits zum Hoftor begab, und bat ihn himmelhoch, nicht zu öffnen und niemanden hereinzulassen. Der Alte wurde nachdenklich, erkundigte sich aber doch nach dem Namen des Klopfenden, und als er hörte, wer es war, und daß man Fedossja Markowna (Fenjä) in einer sehr wichtigen Angelegenheit zu sprechen wünschte, entschloß er sich, das Fußpförtchen aufzuschließen. Als Perchotin mit dem Hofknecht, den Fenjä mit seiner Erlaubnis gebeten hatte, „von wegen des Bedenklichen“ mitzukommen, in die Küche eingetreten war, begann er unverzüglich sie auszufragen, und so erfuhr er denn alsbald das Wichtigste, nämlich: daß Dmitrij Fedorowitsch, als er fortgestürzt war, um Gruschenka zu suchen, die Mörserkeule ergriffen und in die Tasche gesteckt hatte, dann aber ohne dieselbe, doch mit blutigen Händen zurückgekehrt war. „Und das Blut triefte noch von ihm, triefte noch, triefte nur so von ihm!“ beteuerte Fenjä, die sich in der Aufregung dieses grauenhafte Bild wahrscheinlich ganz unwillkürlich schuf. Daß Mitjäs Hände mit Blut besudelt waren, hatte auch Perchotin gesehen, hatte ja selbst geholfen, sie reinzuwaschen, aber nicht darum handelte es sich jetzt, ob sie schnell oder langsam trocken geworden waren, sondern darum, wohin er, Dmitrij Fedorowitsch, mit der Mörserkeule gelaufen war, d. h., woraus man mit Bestimmtheit schließen konnte, daß es gerade zu seinem Vater gewesen sein mußte? Danach erkundigte sich Perchotin ausführlich, und obwohl er, genau genommen, nichts Bestimmtes erfuhr, so trug er doch die Überzeugung davon, daß Dmitrij Fedorowitsch einzig und allein zum Vater gelaufen sein konnte, und daß dort folglich „etwas“ geschehen sein mußte. „Als er aber zurückkam,“ unterbrach Fenjä erregt seinen Gedankengang, „und ich ihm alles gestanden hatte, da versuchte ich, ihn etwas auszufragen. ‚Täubchen Dmitrij Fedorowitsch,‘ sagte ich, ‚warum sind denn Ihre beiden Hände so blutig?‘ – Da antwortete er mir, daß es Menschenblut sei, und daß er einen Menschen erschlagen habe ...“ Sie sagte, er habe ihr ohne weiteres alles gestanden und habe ersichtlich bereut, doch plötzlich sei er wieder wie ein Irrsinniger hinausgelaufen. „Da setzte ich mich und fing an nachzudenken,“ fuhr Fenjä fort, „und ich fragte mich, wohin er wohl so gelaufen sein mag? Da sagte ich mir, er wird nach Mokroje fahren und dort Agrafena Alexandrowna totschlagen. So lief ich denn hinaus, um ihn vielleicht noch in seiner Wohnung anzutreffen und himmelhoch zu bitten, daß er sie nicht totschlägt, und da traf ich ihn unterwegs bei Plotnikoffs und sah, daß er gerade nach Mokroje abfahren wollte, seine Hände aber schon reingewaschen waren.“ (Die reinen Hände hatte Fenjä sofort bemerkt.) Die alte Köchin Matrjona bestätigte, so weit sie konnte, die Aussagen ihrer Enkelin. Perchotin stellte noch einige Fragen und verließ dann in noch größerer Erregung das Haus der Morosowa, als er das Gasthaus verlassen hatte.

Man sollte meinen, daß es für ihn das Nächstliegende gewesen wäre, zu Fedor Pawlowitsch Karamasoff zu gehen und sich dort zu erkundigen, ob nicht etwas Besonderes geschehen war, und dann erst, wenn sich sein Verdacht bestätigt hatte, zum Polizeichef zu gehen, wie er es sich fest vorgenommen. Aber das war so eine Sache. – Die Nacht war dunkel, das Hoftor des Karamasoffschen Hauses groß und schwer, das Klopfen nicht hörbar, und er hätte lange klopfen müssen – mit Fedor Pawlowitsch aber war er nur ganz oberflächlich bekannt. Und da würde er denn das ganze Haus aufwecken: man machte ihm auf, und es zeigte sich, daß nichts geschehen war, – und der spottlustige Fedor Pawlowitsch erzählt morgen in der ganzen Stadt die Geschichte, wie Pjotr Iljitsch Perchotin, der ihm völlig unbekannt ist, um Mitternacht zu ihm gelaufen kommt und wie ein Verrückter am Hoftor klopft, um zu erfahren, ob ihn nicht jemand totgeschlagen habe. Das aber wäre ein Skandal, und so etwas fürchtete Perchotin am meisten. Nichtsdestoweniger war die Unruhe, die ihn mit sich fortriß, so stark, daß er sich – allerdings fluchend, mit dem Fuß aufstampfend und mit einem Schimpfwort an die eigene Adresse – unverzüglich auf den Weg machte, doch diesmal nicht zu Fedor Pawlowitsch, sondern zu Frau Chochlakoff. Er beschloß, sie ohne alle Umschweife zu fragen, ob sie heute zu der und der Stunde Dmitrij Karamasoff dreitausend Rubel gegeben habe, und wenn sie dies verneinte, sofort zum Polizeichef zu gehen; falls sie es aber bejahte, alles bis auf den nächsten Tag aufzuschieben und zu sich nach Haus zurückzukehren. Nun sollte man mit Recht meinen, daß der Entschluß des jungen Mannes, in der Nacht, fast um elf Uhr, in das Haus einer ihm ganz unbekannten Dame zu gehen und sie womöglich aus dem Schlaf zu wecken, um an sie eine in ihrer Art gewiß etwas verfängliche Frage zu stellen, vielleicht noch vielmehr Aussichten bot, einen Skandal hervorzurufen, als wenn er zu Fedor Pawlowitsch gegangen wäre. Aber das geschieht bekanntlich – besonders in solchen oder ähnlichen Fallen – nicht selten mit den Entschlüssen der korrektesten und phlegmatischsten Leute. Übrigens war Perchotin in dieser Nacht nichts weniger als phlegmatisch. Sein ganzes Leben lang erinnerte er sich später, wie seine unbezwingbare Unruhe schließlich so groß geworden war, daß sie ihm Qual verursacht und ihn eigentlich gegen seinen Willen immer weiter getrieben hatte. Es versteht sich daher von selbst, daß er sich auf dem ganzen Wege zu ihr über seine Handlung ärgerte, aber: „Ich setze es durch, was es auch koste, ich setze es doch durch,“ wiederholte er mindestens zehnmal zähneknirschend vor sich hin. Und richtig – er führte auch durch, was er sich vorgenommen hatte.

Es schlug gerade elf, als er sich dem Hause Frau Chochlakoffs näherte. In den Hof wurde er ziemlich bald eingelassen, doch auf die Frage, ob die gnädige Frau schon schlafe oder noch auf sei, konnte der Hofknecht nichts Bestimmtes sagen, außer daß sie sich um diese Zeit gewöhnlich schon zurückzuziehen pflege. „Aber der Herr kann es doch versuchen; will man empfangen, so empfängt man, will man nicht, dann nicht. Nur muß der Herr sich oben anmelden.“ Perchotin stieg die Paradetreppe hinauf, doch hatte er hier einen schweren Stand. Der Diener weigerte sich, ihn anzumelden, rief aber schließlich wenigstens die Zofe heraus. Perchotin bat höflich, aber in sehr bestimmtem Tone, ihn bei der gnädigen Frau anzumelden, und unbedingt noch hinzuzufügen, daß er in einer äußerst wichtigen Angelegenheit die gnädige Frau unverzüglich sprechen müsse, sich anderenfalls nie erdreistet hätte usw. Die Kammerzofe ging. Er blieb im Vorzimmer zurück und wartete. Frau Chochlakoff schlief allerdings noch nicht, hatte sich aber schon in ihr Schlafgemach zurückgezogen. Sie war seit dem Besuch Mitjäs sehr angegriffen und fühlte schon im voraus, daß sie in dieser Nacht der Migräne, die in solchen Fällen stets einzutreten pflegte, nicht entgehen werde. Sie hörte verwundert den Bericht ihrer Zofe an, befahl aber doch gereizt, den Herrn abzuweisen, wenn auch der unerwartete Besuch eines „hiesigen Beamten“, wie die Zofe sagte, „zu dieser Stunde!“ nicht wenig ihre Neugier reizte. Doch Perchotin war diesmal hartnäckig wie ein Maulesel (mit dieser Bezeichnung bedachte er sich selbst während des Wartens). Als er die Absage vernommen hatte, bat er sehr bestimmt und nachdrücklich, ihn nochmals anzumelden, und zwar gerade mit den Worten: daß es eine „äußerst wichtige Angelegenheit sei, und die gnädige Frau es vielleicht später bedauern werde, wenn sie ihn jetzt nicht empfinge.“ „Es war mir damals geradezu, als wenn ich einen Berg unaufhaltsam hinabglitt,“ sagte er später bei der Wiedergabe jener Erlebnisse und der Schilderung seiner Empfindungen in jenen Stunden. Die Zofe betrachtete ihn nicht wenig erstaunt, ging aber doch, um ihn noch einmal anzumelden. Frau Chochlakoff war sehr betroffen durch das sonderbare Auftreten des nächtlichen Besuchers. Sie dachte nach und erkundigte sich, wie denn „dieser Mensch“ aussähe, und erfuhr, daß er „sehr anständig gekleidet, jung und sehr höflich“ sei. Ich muß hier noch bemerken, daß Perchotin als junger Mann tatsächlich gut aussah und das auch selbst von sich wußte. Frau Chochlakoff entschloß sich endlich, den Herrn zu empfangen. Sie war bereits in ihrem Hausrock und in Pantöffelchen, und so nahm sie noch einen Schal um. Perchotin wurde in den Empfangssalon gebeten, in dem sie vor kurzem auch Mitjä empfangen hatte. Er trat ein. Gleich darauf erschien auch die Hausfrau. Sie blickte ihn streng und mit etwas erstaunt fragendem Blick an. Ohne ihn aufzufordern, Platz zu nehmen, fragte sie:

„Sie wünschen?“

„Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich es gewagt habe, Sie zu so später Stunde zu belästigen. Es handelt sich um unseren gemeinsamen Bekannten Dmitrij Fedorowitsch Karamasoff,“ begann Perchotin, doch kaum hatte er diesen Namen ausgesprochen, als im Gesichte der Dame eine ungewöhnliche Veränderung vor sich ging und sie ihn heftig unterbrach:

„Wie lange, wie lange wird man mich noch mit diesem furchtbaren Menschen peinigen!“ rief sie empört. „Wie wagen Sie es, mein Herr, eine Ihnen ganz unbekannte Dame in ihrem Hause zu dieser Stunde zu beunruhigen ... bei ihr zu erscheinen, um von einem Menschen zu sprechen, der sie hier, in diesem selben Empfangssalon vor drei Stunden beinahe erschlagen wollte, wenigstens hier mit den Füßen gestampft hat und schließlich in einer Art und Weise hinausgelaufen ist, wie sonst niemand ein anständiges Haus verläßt. Wissen Sie auch, mein Herr, daß ich mich über Sie bei Ihren Vorgesetzten beklagen werde ... Ich bitte Sie, mich sofort zu verlassen ... Ich ... ich bin Mutter, ich werde sofort ... ich ... ich ...“

„Erschlagen!? So wollte er auch Sie erschlagen?“

„Ja, hat er denn sonst jemanden schon umgebracht?“ erkundigte sich Frau Chochlakoff ungestüm.

„Haben Sie die Güte, mich anzuhören, gnädige Frau, nur eine halbe Minute lang, und ich werde Ihnen in zwei Worten alles erklären,“ sagte Perchotin entschlossen. „Heute um fünf Uhr nachmittags borgte Herr Karamasoff, als Kamerad, zehn Rubel von mir, und ich weiß daher bestimmt, daß er kein Geld besaß. Und heute um neun Uhr abends kam er wieder zu mir und hielt ein Geldpaket in der Hand: es waren lauter Hundertrubelscheine, im ganzen ungefähr zwei-, wenn nicht dreitausend Rubel. Seine Hände jedoch und das Gesicht waren mit Blut befleckt, und er sprach und blickte einen an, als hätte er den Verstand verloren. Auf meine Frage, woher er so viel Geld bekommen habe, antwortete er, daß er es kurz vorher von Ihnen erhalten habe, daß Sie ihm dreitausend Rubel vorgestreckt hätten, damit er nach Sibirien in die Goldgruben fahre ...“

Eine nervöse, krankhafte Erregung drückte sich im Gesichte Frau Chochlakoffs aus.

„Mein Gott! Er hat seinen alten Vater erschlagen!“ rief sie erschrocken, die Hände zusammenschlagend. „Ich habe ihm nichts gegeben, nichts, nichts! Oh, laufen Sie, eilen Sie! ... Sprechen Sie kein Wort mehr! Retten Sie den alten Herrn, laufen Sie zu seinem Vater, oh, laufen Sie! ...“

„Erlauben Sie, gnädige Frau, so haben Sie ihm also kein Geld gegeben? Wissen Sie genau, daß Sie ihm nichts gegeben haben?“

„Nichts, nichts habe ich ihm gegeben! Ich habe es ihm abgeschlagen, denn er versteht ja mit Geld gar nicht umzugehen. Er verließ mich wutschnaubend, und hier im Salon stampfte er sogar mit den Füßen. Er wollte sich auf mich stürzen, aber ich rettete mich noch rechtzeitig, indem ich dorthin in die Ecke lief ... Und ich werde Ihnen noch sagen, wie einem Menschen, dem ich nichts mehr verheimlichen will, daß er mich sogar beinahe angespien hat, können Sie sich so etwas vorstellen? Aber warum stehen wir denn? Ach, setzen Sie sich, bitte. Verzeihen Sie, ich ... Oder laufen Sie lieber, laufen Sie, Sie müssen eilen, um den unglücklichen alten Herrn vor diesem schrecklichen Tode zu bewahren!“

„Wenn er ihn aber schon erschlagen hat?“

„Ach, mein Gott, das ist ja wahr! Aber was sollen wir denn jetzt tun? Was meinen Sie, was wir tun müssen?“

Inzwischen hatten sie beide Platz genommen. Perchotin setzte ihr in kurzen Worten, doch ziemlich deutlich den ganzen Tatbestand auseinander, oder wenigstens das, was er miterlebt hatte, erzählte ihr auch noch von seinem Gespräch mit Fenjä, und daß Mitjä die Mörserkeule mitgenommen hatte. Alle diese Einzelheiten regten die nervöse Dame in einer Weise auf, wie es stärker nicht gut möglich gewesen wäre. Sie zitterte und hielt die Hände an die Schläfen ...

„Stellen Sie sich vor, ich habe das vorausgefühlt! Ich besitze diese Fähigkeit – alles, was ich mir vorstelle, geht in Erfüllung. Und wieviel, wievielmal habe ich diesen schrecklichen Menschen angesehen und jedesmal dabei gedacht: Dieser Mensch wird mich erschlagen. Und so ist es jetzt auch gekommen ... Das heißt, wenn er jetzt auch nicht mich erschlagen hat, sondern seinen Vater, so ist das doch bestimmt nur deswegen geschehen, weil Gottes sichtbarer Finger ihn von mir abgelenkt hat. Und außerdem wird er sich geschämt haben, das zu tun, denn ich habe ihm mit diesen Händen ein kleines Heiligenbild umgehängt, hier, auf dieser Stelle, ein kleines Medaillon mit Reliquien von der heiligen Warwara ... Mein Gott, wie nah ich dem Tode in diesem Augenblick war, ohne es zu ahnen! Ich trat ganz dicht an ihn heran, und er neigte den Kopf, damit ich es ihm bequemer um den Hals legen konnte! Wissen Sie, Pjotr Iljitsch ... verzeihen Sie, ich glaube, Sie sagten, daß Sie so hießen – wissen Sie, ich glaube nicht an Wunder, aber dieses Heiligenbild und diese auf der Hand liegende wunderbare Rettung – das erschüttert mich dermaßen, daß ich wieder an alles mögliche zu glauben anfange. Haben Sie vom Staretz Sossima gehört? ... Ach, ich weiß nicht, wovon ich wieder rede ... Aber stellen Sie sich vor, dann hat er mich trotz dieses Heiligenbildes am Halse beinahe angespien ... Natürlich ist das kein Totschlag, aber immerhin ... und jetzt ist er ins Dorf gefahren! Aber wohin sollen wir jetzt, was sollen wir tun, was meinen Sie?“

Perchotin erhob sich und erklärte, daß er geradeswegs zum Polizeichef gehen und ihm alles erzählen werde, der könne dann tun, was er für gut befinde.

„Ach, das ist ein prächtiger, ein ganz prächtiger Mensch, ich kenne Michail Makarowitsch persönlich. Ja, gehen Sie unbedingt zu ihm. Wie findig Sie sind, wie gut Sie sich das ausgedacht haben. Wissen Sie, ich wäre an Ihrer Stelle bestimmt nicht darauf verfallen!“

„Aber ich bitte Sie, es ist doch ganz natürlich ... Ich bin selbst ein guter Bekannter Michail Makarowitschs,“ bemerkte Perchotin, der immer noch stand, und nicht wußte, wie er sich von der liebenswürdigen Dame schneller verabschieden sollte.

„Und wissen Sie, wissen Sie,“ unterbrach sie ihn, „Sie müssen mich unbedingt benachrichtigen von allem, was Sie dort sehen und erfahren ... und was schließlich an den Tag kommt ... und wie man ihn verurteilt, und wohin man ihn verschickt ... Sagen Sie, bei uns gibt es doch keine Todesstrafe? Aber kommen Sie, unbedingt, um mich von dem Ergebnis Ihres Gesprächs zu benachrichtigen, wenn auch um drei Uhr nachts, wenn nicht anders, auch um vier, oder gar um halb fünf ... Befehlen Sie, mich aufzuwecken, unbedingt, was es auch koste ... O mein Gott, ich werde ja überhaupt nicht einschlafen können. Oder sollte ich nicht selbst mit Ihnen fahren? ...“

„N – nein, gnädige Frau, doch wenn Sie vielleicht so freundlich wären, ein paar Zeilen zu schreiben, auf alle Fälle, daß Sie Herrn Karamasoff kein Geld gegeben haben, so wäre das vielleicht nicht überflüssig ... ich meine, auf alle Fälle ...“

„Unbedingt!“ Frau Chochlakoff eilte zu ihrem Schreibtisch. „Sie erschüttern mich einfach durch Ihre Umsicht in solchen Dingen, vraiment! ... Sie sind ein hiesiger Beamter? Das freut mich, daß Sie hier angestellt sind ...“

Und noch während sie das sprach, schrieb sie mit ihrer großen Handschrift auf einen Bogen Postpapier diese Zeilen:

„Nie in meinem Leben habe ich dem unglücklichen Dmitrij Fedorowitsch Karamasoff (ich sage unglücklich, denn das ist er jetzt) dreitausend Rubel geliehen, weder heute, noch sonst wann, niemals! Das beschwöre ich bei allem, was es Heiliges auf unserer Welt gibt.

Katerina Chochlakowa.“

„Hier! Da haben Sie es!“ Und sie überreichte es Perchotin. „Aber jetzt gehen Sie, retten Sie. Das ist eine große Tat von Ihnen.“

Und sie machte dreimal das Zeichen des Kreuzes über ihm. Darauf begleitete sie ihn noch bis zum Vorzimmer.

„Ich bin Ihnen so dankbar! Sie werden es mir nicht glauben, wie dankbar ich Ihnen dafür bin, daß Sie ganz zuerst zu mir gekommen sind. Wie kommt es, daß wir uns früher noch nicht begegnet sind? Es wird mich sehr freuen, Sie auch fernerhin in meinem Hause zu empfangen. Wie angenehm es ist, daß Sie als Beamter gerade hier Ihre Anstellung haben ... und so geschickt sind Sie in solchen Dingen ... Seien Sie überzeugt, daß ich alles, was in meiner Macht steht, für Sie tun werde ... Eine so tüchtige Kraft muß man zu schätzen wissen, und man wird es auch, man wird es auch, seien Sie überzeugt! Oh, ich protegiere immer die Jugend, ich habe ein Faible für Jugend! Unsere Jugend ist doch das Fundament unseres ganzen, jetzt so schwer niedergedrückten Vaterlandes, sie ist doch die ganze Hoffnung unseres Rußland ... Oh, gehen Sie, gehen Sie ...“

Perchotin eilte bereits fort, sonst hätte sie ihn vielleicht noch nicht so bald entlassen. Übrigens hatte sie auf ihn einen ganz sympathischen Eindruck gemacht, sogar einen so sympathischen, daß dieser Eindruck teilweise selbst seinen Ärger über diese fremde Angelegenheit, in die er sich dummerweise hineingezogen sah, milderte. Der Geschmack der Menschen ist bekanntlich sehr verschieden. So dachte denn auch Perchotin, angenehm berührt, daß Frau Chochlakoff „keineswegs so bejahrt“ sein könne: „Im Gegenteil, ich hätte sie für ihre Tochter gehalten.“

Und was wiederum Frau Chochlakoff betrifft, so war sie geradezu bezaubert durch den jungen Mann. „Wieviel Verständnis für alles Ernste, wieviel Korrektheit, und das in einem so jungen Mann unserer Zeit, und noch dazu bei solchen Manieren und solchem Äußern! Da wird nun geredet von den heutigen jungen Leuten, sie verständen nichts! Da habt ihr ein Beispiel“ usw. So kam es, daß sie das „schreckliche“ Ereignis selbst ganz vergaß. Erst als sie zu Bett ging, fiel ihr wieder ein, wie nah sie dem Tode gewesen war! „Entsetzlich, entsetzlich, wenn man daran denkt!“ flüsterte sie. Das hinderte aber nicht, daß sie alsbald in festen süßen Schlaf sank. Ich hätte mich übrigens nie entschlossen, hier von so nebensächlichen Einzelheiten zu erzählen, wenn die soeben geschilderte Begegnung Perchotins mit der jugendlichen Witwe nicht das Sprungbrett zu der ganzen Laufbahn dieses umsichtigen und korrekten jungen Beamten geworden wäre. Noch jetzt erinnert man sich seiner kopfschüttelnd und bewunderungsvoll in unserem Städtchen, und auch ich werde vielleicht noch einiges über ihn zu sagen haben, bevor ich meine lange Erzählung von den Brüdern Karamasoff abschließe.

II.
Der Alarm

Unser Kreispolizeichef Michail Makarowitsch Makaroff, ein verabschiedeter Oberstleutnant, war Witwer und ein guter Mensch. Er war vor kaum drei Jahren in unser Städtchen versetzt worden, doch hatte er bereits fertig gebracht, sich die allgemeine Sympathie zu erwerben, und zwar vor allen Dingen dadurch, daß er verstand, die Gesellschaft zu vereinigen. Er hatte immer Gäste im Hause, und es schien, daß er ohne sie überhaupt nicht leben konnte. Irgend jemand mußte unbedingt mit ihm speisen, wenn es auch nur ein einziger Gast war – ohne Gäste setzte man sich bei ihm nie zu Tisch. Er gab natürlich auch große Diners aus sehr verschiedenen, häufig etwas wunderlichen Anlässen. Wurden auch keine ausgesuchten Delikatessen geboten, so war doch die Tafel immer reich besetzt, und die Fischpasteten und alle Nationalpirogen großartig gebacken, und die Weine bestachen, wenn nicht durch die Qualität, so doch durch die Quantität. Das Billardzimmer war sogar sehr anständig ausgestattet, d. h. an den Wänden hingen in schwarzen Rahmen Bilder von englischen Rennpferden, was bekanntlich die obligatorische Billardzimmerdekoration in der Wohnung jedes unverheirateten Herrn ist. Jeden Abend wurde Karten gespielt, wenn auch nur an einem einzigen Tisch. Sehr oft jedoch versammelte sich bei ihm die ganze höhere Gesellschaft unserer Stadt mit Müttern und Töchtern zu Tanzabenden. Michail Makarowitsch war, wie gesagt, Witwer. Gleichwohl lebte er als „Familienvater“ in seinem Hause, da er seine verwitwete Tochter mit deren beiden Töchtern, also seinen Enkelinnen, zu sich genommen hatte. Diese Enkelinnen waren erwachsene junge Damen, die ihre Erziehung schon überstanden hatten. Sie waren beide von angenehmem Äußeren, waren beide heiter und unterhaltend, und so zogen sie – obwohl alle wußten, daß sie keine „Partien“ waren, da sie nichts mitbekommen sollten – doch unsere männliche Jugend der besseren Gesellschaft in das Haus ihres Großpapas.

Was nun Michail Makarowitschs Beruf anbetraf, so war es in der Beziehung nicht sonderlich gut mit seinen Kenntnissen bestellt, doch erfüllte er schließlich seine Pflicht nicht schlechter als viele andere. Wenn man aufrichtig sein soll, so war er als Mensch ziemlich ungebildet und als Beamter um die Erwerbung einer klaren Vorstellung von den Grenzen seiner administrativen Macht wenig besorgt. Gewisse Reformen der gegenwärtigen Regierung konnte er immer noch nicht recht begreifen, oder er begriff sie unter auffallenden Irrtümern. Doch geschah das weniger aus Unbegabtheit als infolge einer recht ausgeprägten Sorglosigkeit, und da er sich versicherte, nie die Zeit zu haben, hinter die Dinge zu kommen. „Ich bin, meine Herren, mit Leib und Seele Soldat, und daher ist mir alles Zivile etwas gegen den Strich,“ äußerte er über sein Beamtentum. Selbst von den Prinzipien der letzten großen Reform, der Aufhebung der Leibeigenschaft, hatte er sich noch immer keine feste und genaue Vorstellung zu machen vermocht; doch vergrößerte er von Jahr zu Jahr, und zwar unwillkürlich, und durch praktische Erfahrungen, sein diesbezügliches Wissen, da er nämlich selbst Gutsbesitzer war. Perchotin wußte, daß er bei ihm bestimmt wenigstens einen Gast antreffen werde – nur wußte er natürlich nicht, wen. Währenddessen saßen bei Michail Makarowitsch der Staatsanwalt und unser Kreisarzt Warwinskij, ein junger Mann, der erst vor kurzem aus Petersburg zu uns gekommen war, und der seine Studien an der Petersburger Universität glänzend beendet hatte. Der Staatsanwalt jedoch, oder vielmehr der Stellvertreter des Staatsanwalts, der aber bei uns allgemein nur der Staatsanwalt genannt wurde, Hippolyt Kirillowitsch, war ein bemerkenswerter Mann, noch nicht alt, etwa fünfunddreißig, neigte leider stark zur Schwindsucht, und war sehr mager, wofür dann seine kinderlose Gattin um so korpulenter war. Es hieß, daß er sehr eigensüchtig und ehrgeizig sei, doch war er, bei einem tüchtigen Verstande, in der Seele ein guter Mensch. Ich glaube, das ganze Unglück seines Charakters bestand darin, daß er von sich eine etwas höhere Meinung hatte, als seine Begabung erlaubte. Das war wohl auch der Grund, warum er immer irgendwie unruhig zu sein schien. Und dazu hatte er noch einige höhere und sogar künstlerische Ansprüche, zum Beispiel ein guter Psychologe zu sein, die menschliche Seele ganz besonders gut zu kennen und die Gabe zu besitzen, den Verbrecher und sein Verbrechen richtig zu erkennen und zu beurteilen. In bezug auf diese Fähigkeiten war er reizbar und leicht beleidigt, hielt sich sofort für im Dienst umgangen oder gar zurückgesetzt, und war immer überzeugt, daß man ihn in den „höheren Sphären“ nicht zu schätzen wisse, und daß er daselbst viele Feinde habe. In trüben Stunden versicherte er sogar, daß er zur Advokatur übertreten werde. Da kam plötzlich der Kriminalprozeß der Karamasoffs wegen des Vatermordes und rüttelte Hippolyt Kirillowitsch auf. „Das ist ein Prozeß, der in ganz Rußland bekannt werden wird,“ sagte er. Doch ich greife vor.

Im Nebenzimmer saß bei den jungen Damen auch unser junger Untersuchungsrichter Nikolai Parfenowitsch Neljudoff, der erst vor zwei Monaten aus Petersburg zu uns gekommen war. Später wunderte man sich nicht wenig darüber, daß alle diese Amtspersonen sich „gerade am Abend des Verbrechens im Hause der exekutiven Macht“ versammelt hatten. Indessen hatte sich das in ganz natürlicher Weise so getroffen: Die Frau Hippolyt Kirillowitschs, also des Staatsanwalts, litt schon den zweiten Tag an Zahnschmerzen, und so mußte der Herr Staatsanwalt doch irgendwohin vor ihrem Gestöhn flüchten. Der Kreisarzt jedoch konnte allein schon seinem Wesen nach den Abend nicht anders verbringen als am Kartentisch. Und Nikolai Parfenowitsch Neljudoff hatte es sich schon vor drei Tagen vorgenommen, an diesem Abend zu Michail Makarowitsch zu gehen, und zwar ganz zufällig, um hinterlistig die älteste Enkelin, Olga Michailowna, zu erschrecken, ihr nämlich plötzlich zu sagen, daß er um ihr „Geheimnis“ wisse: daß heute ihr Geburtstag sei, und daß sie dies absichtlich verheimlicht habe, um nicht wieder die ganze Gesellschaft zu einem Ball einladen zu müssen. Es war zu erwarten, daß man den Abend lustig verbringen werde, da Scherze über ihr Alter, über das „Geheimnis“, das er jetzt allen erzählen konnte, ihre vermutliche Angst deswegen usw. usw. genügend Stoff zum Lachen abgeben konnten. Der liebenswürdige junge Mann war in solchen Dingen ein großer Schlingel, wie ihn unsere Damen lachend nannten, und was ihm sehr zu gefallen schien. Übrigens war er gut erzogen, aus, guter Familie, hatte ein gutes Auftreten und gute Manieren, und wenn er auch ein Lebemann war, so blieb er doch ein innerlich unschuldiger und immer wohlerzogener, anständiger junger Mann. Was sein Äußeres anbelangt, so war er ziemlich klein von Wuchs und von schwächlichem, zartem Körperbau. An seinen schmalen und bleichen Fingern glänzten stets ein paar große teure Ringe. Wenn er seine Amtspflicht erfüllte, kam immer eine gewisse selbstbewußte Würde über ihn, als hielte er seine Bedeutung und seine Pflicht für etwas Heiliges. Besonders gut verstand er es, bei Verhören von Mördern und anderen Verbrechern aus dem Volke, dieselben durch seine Fragen zu verblüffen, und in ihnen, wenn auch nicht gerade Hochachtung für sich, so doch etwas wie bewunderndes Erstaunen zu erwecken.

Als Perchotin beim Kreispolizeichef eintrat, blieb er ganz verdutzt stehen: er sah sofort, daß man schon alles wissen mußte. Man hatte die Karten im Stich gelassen, alle standen und berieten sich, und auch Nikolai Parfenowitsch war von den Damen herbeigeeilt und sah ungemein kampfbereit und entschlossen aus. Perchotin wurde mit der überraschenden Mitteilung empfangen, daß der alte Fedor Pawlowitsch Karamasoff am selben Abend in seinem Hause erschlagen worden war, erschlagen und beraubt. Erfahren hatte man es vor ein paar Minuten auf folgende Weise:

Marfa Ignatjewna, die Frau des am Zaun von Mitjä verletzten Grigorij, schlief nach der eingenommenen Medizin ungewöhnlich fest in ihrem Bett und hätte wahrscheinlich bis zum Morgen so geschlafen – plötzlich aber wachte sie auf: der epileptische Schrei Ssmerdjäkoffs, der bewußtlos im Nebenzimmer gelegen hatte, war ihr durch Mark und Bein gefahren. Dieser Schrei, mit dem gewöhnlich die epileptischen Anfälle begannen, machte auf Marfa Ignatjewna stets einen so schrecklichen Eindruck, daß sie davon fast krank wurde. Sie hatte sich noch immer nicht an ihn gewöhnt, obgleich sie ihn doch oft genug gehört hatte. Halb besinnungslos sprang sie auf und stürzte in das Nebenzimmer zu Ssmerdjäkoff. Doch dort war es stockdunkel, und sie hörte nur, wie der Kranke unheimlich schnarchte und um sich schlug. Da schrie auch Marfa Ignatjewna auf, und rief ihren Mann, doch plötzlich fiel ihr ein, daß Grigorij, als sie aufgesprungen war, nicht neben ihr gelegen hatte. Sie lief zurück zum Bett und betastete es, doch das Bett war leer. „So ist er fortgegangen, – wohin?“ Sie lief hinaus auf die Treppe und rief einmal ängstlich seinen Namen. Sie erhielt natürlich keine Antwort, aber es schien ihr, als hörte sie durch die windstille Nacht irgendwoher, gleichsam fern aus dem Garten, Gestöhn zu sich dringen. Sie horchte auf: da kam es wieder durch die Nacht, und sie hörte deutlich, daß es aus dem Garten kam. „Heilige Marie, das ist ja ganz wie damals die Lisaweta im Badehäuschen!“ dachte sie erschrocken. Ängstlich stieg sie die Stufen hinab, und da erst gewahrte sie, daß das Gartenpförtchen offen war. „Sicher ist er dort, mein Lieber,“ dachte sie, und ging zum Pförtchen. Doch dort vernahm sie plötzlich ganz deutlich, daß Grigorij sie rief: „Marfa, Marfa!“ mit schwacher, angstvoller Stimme, die wie ein Gestöhn klang. „Großer Gott, beschütz uns vor Unheil,“ flüsterte sie zitternd und eilte dann hin, woher der Ruf kam, und fand ihren Grigorij. Nur fand sie ihn nicht am Zaun, wo er niedergefallen war, sondern ungefähr zwanzig Schritt vom Zaun entfernt. Später stellte sich heraus, daß er, zu sich gekommen, zu kriechen begonnen hatte, und so aus eigener Kraft, natürlich mit Unterbrechungen und unter erneuter Besinnungslosigkeit, sich so weit geschleppt hatte. Marfa Ignatjewna bemerkte sofort, daß sein Gesicht blutüberströmt war, und sie begann laut zu schreien. Grigorij konnte nur leise und zusammenhanglos stammeln: „Erschlagen ... hat den Vater erschlagen ... was schreist du, dummes Weib ... lauf, ruf ...“ Doch Marfa Ignatjewna schrie unentwegt, so laut sie konnte. Da bemerkte sie aber, daß beim Herrn das Fenster offen und das Zimmer hell erleuchtet war, und sie lief, Fedor Pawlowitsch laut zu Hilfe rufend, hin zum Fenster. Als sie aber rufend in das Zimmer sah, erblickte sie etwas Grauenvolles: der Herr lag lang ausgestreckt auf dem Fußboden, regungslos. Sein heller Schlafrock und das weiße Hemd auf der Brust waren von Blut überströmt. Das Licht auf dem Tisch beleuchtete grell die roten Blutlachen und das starre Totengesicht der Leiche Fedor Pawlowitschs. Im größten Entsetzen taumelte Marfa Ignatjewna vom Fenster zurück und stürzte, so schnell sie konnte, aus dem Garten, riß den Riegel der Pforte auf und lief in die Nebengasse zur Nachbarin, zu Marja Kondratjewna. Dort klopfte sie wie wahnsinnig an die Fensterläden, bis sie schließlich beide Frauen, die natürlich schon fest schliefen, aufweckte und diese erschrocken ans Fenster gelaufen kamen. Marfa Ignatjewna erzählte, so gut sie konnte, d. h. schreiend und heulend, das Hauptsächliche und rief sie zu Hilfe. Es traf sich, daß auch Foma gerade bei ihnen übernachtete. Er wurde im Augenblick aus dem Bett gezogen, und so liefen denn alle drei zurück an den Ort des Verbrechens. Unterwegs erinnerte sich Marja Kondratjewna, am Abend, ungefähr um neun Uhr, einen lauten, durchdringenden Schrei gehört zu haben, und wie es ihr geschienen hatte, war er aus dem Karamasoffschen Garten gekommen. Das war derselbe Schrei gewesen, den Grigorij am Zaun ausgestoßen hatte, bevor er von Dmitrij Fedorowitschs Schlage zu Boden gestürzt war – sein Schrei: „Vatermörder!“

„Ich hörte nur einen Schrei, es muß ein Mensch geschrien haben, und dann war wieder alles still,“ erzählte Marja Kondratjewna, während sie hinliefen. Im Garten hoben sie alle drei Grigorij auf und trugen ihn mit vereinten Kräften in die Leutewohnung. Sie machten sofort Licht, und da sahen sie, daß Ssmerdjäkoff noch immer um sich schlug: von den Augen im Krampf war nur das Weiße zu sehen, und Schaum stand ihm vor dem Munde. Grigorijs Kopf wurde mit Wasser und Essig gewaschen. Er kam alsbald zu sich, und seine erste Frage war: „Lebt der Herr noch, oder ist er tot?“ Da liefen denn die beiden Frauen und Foma zum Herrenhause, und erst jetzt bemerkten sie, daß nicht nur das Fenster, sondern auch die Tür, die aus dem Hause in den Garten führte, weit offen war, während der Herr sich doch schon seit einer Woche an jedem Abend fest und sorgfältig einzuschließen pflegte und sogar Grigorij strengstens verboten hatte, was auch geschehen sollte, an die Tür oder das Fenster zu klopfen. Als sie nun diese offene Tür sahen, wollte niemand zum Herrn hineingehen, „damit man nicht am Ende noch uns für die Mörder hält.“ Als sie darauf noch unentschlossen zu Grigorij zurückkehrten, befahl der sofort, unverzüglich zum Polizeichef zu laufen. So machte sich denn Marja Kondratjewna auf und lief zu Michail Makarowitsch, bei dem sie alle in nicht geringe Aufregung versetzte. Perchotin erschien vielleicht nur fünf Minuten später, so daß seine Aussagen nicht mehr vage Vermutungen waren, sondern durch das Beweismaterial, das er vorbrachte, nur noch den allgemeinen Verdacht, wer der Mörder sein konnte, verstärkten. Perchotin selbst hatte sich bis zum letzten Augenblick noch immer geweigert, daran zu glauben.

Man beschloß, energisch zu handeln. Der Gehilfe des Polizeimeisters wurde sofort beauftragt, vier Zeugen für die Haussuchung und zur Hilfeleistung aufzutreiben, und dann begab man sich zum Karamasoffschen Hause, wo man nach allen vorschriftsmäßigen Regeln, die ich hier nicht weiter erörtern will, den Tatbestand aufnahm. Der Kreisarzt, der als junger Praktikant noch für Ausnahmefälle interessiert war, hatte natürlich sofort gebeten, die Herren begleiten zu dürfen. Ich will hier nur noch kurz bemerken, daß sie Fedor Pawlowitsch tot vorfanden, mit eingeschlagenem Schädel. Womit aber war der Schädel eingeschlagen worden? Am wahrscheinlichsten wohl mit derselben Waffe, mit der der Mörder später auch Grigorij zu Boden gestreckt hatte. Man verhörte Grigorij, dem inzwischen die nötige ärztliche Hilfe zuteil geworden war, und erfuhr von ihm, in ziemlich zusammenhängender Rede, obwohl er nur leise und mit Unterbrechungen sprechen konnte, was er gesehen hatte. Daran begab man sich mit einer Laterne zum Zaun, begann dort zu suchen und fand sogleich die Mörserkeule, die auf dem Gartenwege, auf der sichtbarsten Stelle lag. Im Zimmer Fedor Pawlowitschs war keinerlei verdächtige Unordnung zu bemerken, doch hinter dem „chinesischen“ Schirm fand man vor dem Bett ein großes Kuvert von dickem Papier in Kanzleiformat, mit der Aufschrift: „Ein kleines Geschenk für meinen Engel Gruschenka, wenn sie zu mir kommen will,“ und darunter war gleichfalls von Fedor Pawlowitsch, wahrscheinlich etwas später, noch hinzugefügt, „und Küchelchen“. Auf der anderen Seite des Kuverts waren drei große Siegel von rotem Siegellack, doch das Kuvert war bereits aufgerissen und leer: das Geld war herausgenommen. Auch fand man dort noch auf dem Fußboden ein rosarotes Bändchen, mit dem das Kuvert kreuzweis umbunden gewesen war. Von den Aussagen Perchotins machte auf den Staatsanwalt und den Untersuchungsrichter besonders die eine Mitteilung großen Eindruck: daß Dmitrij Fedorowitsch sich bestimmt am Morgen erschießen werde, daß er es beschlossen, in seiner Gegenwart die Pistole geladen, den Zettel geschrieben und in die Tasche gesteckt habe usw., und daß Mitjä auf Perchotins Drohung, es jemandem anzuzeigen, lächelnd geantwortet hatte: „Kommst zu spät, mein Lieber.“ Daraus ging hervor, daß man sich so schnell als möglich nach Mokroje aufmachen mußte, um den Verbrecher, noch bevor er seine Absicht verwirklichen konnte, zu verhaften. „Das ist doch klar, das liegt doch auf der Hand!“ wiederholte der Staatsanwalt, der die ganze Zeit über sehr lebhaft war. „Das ist so echt ihre Art, ich meine, die Art der Verbrecher seines Schlages: morgen erschieße ich mich, vorher aber geh ich noch einmal durch.“ Die Schilderung, wie Mitjä bei Plotnikoff Wein und Eßwaren bestellt und mitgenommen hatte, brachte den Staatsanwalt nur noch mehr auf. „Erinnern Sie sich noch, meine Herren, jenes jungen Burschen, der den Kaufmann Oljssufjeff erschlagen hatte und für die geraubten tausendfünfhundert Rubel sich frisieren ließ und sich gleichfalls, ohne das Geld ordentlich zu verstecken, unverzüglich zu den Frauenzimmern begab.“ Einstweilen aber ging es nicht an, sich sofort nach Mokroje aufzumachen, da die Voruntersuchung im Hause Fedor Pawlowitschs, die Verhöre und Formalitäten noch nicht beendet waren. Das nahm noch viel Zeit in Anspruch, und so schickte man vorläufig Mawrikij Mawrikjewitsch Schmerzoff, der am Tage vorher in die Stadt gekommen war, um sein Monatsgehalt in Empfang zu nehmen, nach Mokroje voraus. Er wurde beauftragt, wenn er dort angekommen sei, den „Mörder“ ganz unauffällig, „damit er nicht den geringsten Verdacht schöpfe“, zu bewachen, bis die anderen nachgekommen wären, und inzwischen auch den Dorfschulzen, den Bauernamtmann und Zeugen aufzutreiben. Das tat denn auch Mawrikij Mawrikjewitsch. Er blieb inkognito und weihte nur Trifon Borissytsch, bei dem er schon oft abgestiegen war, und der ihn gut kannte, zum Teil in sein Geheimnis ein. Das war kurz vorher geschehen, als Mitjä dem Wirt in der Dunkelheit auf der kleinen Galerie begegnet war und in dessen Reden wie im ganzen Verhalten zu ihm eine Veränderung wahrgenommen hatte. So wußte weder Mitjä noch sonst jemand von den Gästen, daß er bewacht wurde. Der Pistolenkasten war von Trifon Borissytsch bereits an einem verschwiegenen Orte wohlweislich versteckt worden. Erst um fünf Uhr morgens, also noch vor Tagesanbruch, kam die Obrigkeit, der Kreispolizeichef, der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter in zwei Wagen, jeder mit einer Troika bespannt, in Mokroje an. Der Doktor war in der Stadt zurückgeblieben, da er am Morgen die Obduktion der Leiche des Erschlagenen vornehmen wollte und ihn außerdem der Zustand des kranken Dieners Ssmerdjäkoff außerordentlich interessierte.

„So heftigen und so lange andauernden Anfällen der Epilepsie, die sich im Verlaufe von ganzen achtundvierzig Stunden ununterbrochen wiederholen, begegnet man nur äußerst selten, das ist ein Fall, der der Wissenschaft gehört,“ hatte er, ganz Interesse, seinen abfahrenden Partnern gesagt, und die hatten ihn lachend beglückwünscht. Bei der Gelegenheit hatten sich auch noch der Staatsanwalt sowie der Untersuchungsrichter gemerkt, daß der Doktor in überzeugtem Tone noch hinzugefügt hatte, Ssmerdjäkoff werde den Morgen nicht mehr erleben.

Nach dieser langen, doch unvermeidlichen Erklärung kehre ich wieder zu dem Zeitpunkt meiner Erzählung zurück, wo ich sie im vorhergehenden Buche unterbrochen habe.

III.
Der Gang der Seele durch die Hölle.
Das erste Purgatorium

So saß Mitjä und sah mit wildem Blick die Anwesenden die rings um ihn standen, an, ohne zu verstehen, was man zu ihm sprach. Plötzlich stand er auf, hob die Arme empor und rief laut:

„Ich bin unschuldig! An diesem Blute trage ich keine Schuld! An dem Blute meines Vaters bin ich unschuldig ... Ich wollte ihn erschlagen, aber ich habe es nicht getan! Ich bin unschuldig!“

Doch kaum hatte er das ausgesprochen, als Gruschenka den Vorhang zur Seite riß und sich nach zwei Schritten wie gebrochen dem Polizeichef zu Füßen warf.

„Ich bin es, ich! Ich Sündige, ich trage die Schuld!“ rief sie mit einer Stimme, einer Verzweiflung, die die Seele zerriß. Ihr Gesicht war von Tränen überströmt, und in verzweifelter Selbstanklage erhob sie flehend die Hände. „Meinetwegen hat er gemordet! Ich habe ihn so weit gebracht, ich bin es, die ihn so gemartert hat! Und auch den armen Alten habe ich gequält und so weit gebracht! Ich bin die Schuldige, die Hauptschuld trage ich allein, ich bin die erste Schuldige!“

„Ja, du bist die Schuldige! Du bist die Hauptverbrecherin! Du schamloses, verderbtes Weib, du bist die Hauptschuldige!“ schrie, mit der Faust drohend, der Polizeichef sie an.

Doch er wurde sofort und fast mit Gewalt besänftigt. Der Staatsanwalt umfaßte ihn sogar mit beiden Armen.

„Das geht denn doch nicht, Michail Makarowitsch ... auf diese Weise stören Sie nur die Untersuchung ... und schaden der Sache ...“ redete er ihm zu.

„Maßregeln ergreifen, Maßregeln ergreifen, unbedingt Maßregeln!“ brauste auch Nikolai Parfenowitsch Neljudoff nervös auf, „anders ist es ganz unmöglich, entschieden ganz unmöglich! ...“

„Richtet uns zusammen!“ fuhr Gruschenka außer sich fort, immer noch auf den Knien liegend, „richtet uns zusammen hin, ich gehe mit ihm selbst in den Tod!“

„Gruscha, du! mein Leben du, mein Blut, mein Heiligstes!“ Mitjä stürzte zu ihr nieder und preßte sie in der Umarmung wild und verzweifelt an sich. „Glauben Sie ihr nicht,“ rief er, „an nichts ist sie schuldig, an keinem Blute und an nichts, nichts, nicht die geringste Schuld kann sie treffen!“

Er erinnerte sich später noch dunkel, daß ihn mehrere Männer mit Gewalt von ihr fortrissen, daß sie plötzlich hinausgebracht wurde, und daß er schließlich, schon am Tisch auf einem Stuhl sitzend, wieder zur Besinnung gekommen war. Neben und hinter ihm standen die Leute mit den Blechschildern auf der Brust. An der anderen Seite des Tisches, ihm gegenüber auf dem Sofa, saß Neljudoff, der Untersuchungsrichter, und redete ihm immer wieder zu, aus dem Glase, das vor ihm stand, etwas Wasser zu trinken. „Das wird Sie erfrischen und beruhigen, fürchten Sie sich nicht, beunruhigen Sie sich nicht,“ fügte er immer wieder äußerst höflich hinzu. Später erinnerte sich Mitjä noch, daß die großen Ringe des Sprechers ihn plötzlich lebhaft interessiert hatten, der eine Ring mit einem Amethyst und der andere mit einem hellgelben, klaren Stein von wundervollem Feuer. Und lange noch nachher erinnerte er sich verwundert, wie diese Ringe seinen Blick unwiderstehlich während dieses ganzen schrecklichen Verhörs immer wieder angezogen, und wie er sich aus irgendeinem Grunde weder von ihnen hatte losreißen, noch sie, als für seine Lage doch völlig gleichgültige Gegenstände, hatte vergessen können. Links, seitlich von Mitjä, saß auf dem Platz, wo zu Anfang des Abends Maximoff gesessen hatte, der Staatsanwalt, und rechts von ihm –, auf dem Platz, den Gruschenka eingenommen hatte, saß ein rotwangiger junger Mann in einem abgetragenen Rock, der einer Jägerjoppe glich. Vor ihm befand sich bereits ein Tintenfaß und Papier. Das war der Schriftführer des Untersuchungsrichters, den dieser aus der Stadt mitgenommen hatte. Der Polizeichef stand aber jetzt am Fenster, am anderen Ende des Zimmers neben Kalganoff, der sich dort auf einen Stuhl niedergelassen hatte.

„Trinken Sie doch Wasser!“ wiederholte sanft, vielleicht schon zum zehntenmal der Untersuchungsrichter.

„Ich habe getrunken, meine Herren ... aber ... nun, was, meine Herren, erdrücken Sie mich, richten Sie mich hin, entscheiden Sie über mein Geschick!“ rief Mitjä der ihn mit unheimlich starrem Blick aus weit offenen Augen ansah.

„Also, Sie behaupten positiv, am Tode Ihres Vaters Fedor Pawlowitsch Karamasoff unschuldig zu sein?“ fragte freundlich, doch nachdrücklich der Untersuchungsrichter.

„Ja, ich bin unschuldig! Schuld bin ich an einem anderen Blute, am Blute eines anderen alten Mannes, doch nicht am Blute meines Vaters. Und ich bereue es! Ich habe den Alten erschlagen, erschlagen und niedergestreckt ... Doch schwer ist es, dieses Blutes wegen für ein anderes Blut einstehen zu müssen, für ein furchtbares Blut, an dem ich unschuldig bin ... Es ist eine furchtbare Anklage, meine Herren ... als hätte man mich mit einem Keulenschlag auf den Kopf getroffen! Aber wer hat denn den Vater erschlagen, wer hat ihn erschlagen? Wer anders hat ihn denn erschlagen können, wenn ich es nicht war? Da muß ein Wunder geschehen sein, etwas Ungereimtes, etwas Unmögliches, Undenkbares! ...“

„Ja, das ist es nun, wer anders hätte ihn erschlagen können? ...“ begann der Untersuchungsrichter, doch der Staatsanwalt (wir wollen ihn der Kürze wegen so nennen, obgleich er nur der Stellvertreter des Staatsanwalts war) wechselte mit ihm einen Blick und sagte dann zu Mitjä gewandt:

„Sie beunruhigen sich diesmal ganz unnötigerweise wegen des Dieners Grigorij Wassiljewitsch. Ich kann Ihnen mitteilen, daß er lebt; er ist bald darauf wieder zu sich gekommen und wird trotz der schweren Verletzung, die, nach seiner und jetzt auch nach Ihrer Aussage, Sie ihm zugefügt haben, wahrscheinlich am Leben bleiben, oder vielmehr bestimmt, wenigstens nach der Aussage des Arztes.“

„Er lebt? So ist er nicht erschlagen?“ schrie Mitjä wie wahnsinnig auf und hob die Hände empor. Sein ganzes Gesicht strahlte. „Mein Herr und mein Gott, ich danke Dir für das Wunder, das Du für mich, den Sünder und Missetäter hast geschehen lassen, daß Du mein Gebet erhört hast! ... Ja, ja, auf mein Gebet hin ist es geschehen – ich habe doch die ganze Nacht gebetet!“

Und er bekreuzte sich dreimal. Er war ganz atemlos vor Freude.

„Nun und von diesem Grigorij haben wir die so wichtigen Aussagen gegen Sie erhalten, daß ...“ wollte der Staatsanwalt fortfahren, doch Mitjä sprang plötzlich vom Stuhl auf und unterbrach ihn:

„Auf einen Augenblick, meine Herren, um Gottes willen, nur auf eine Minute; ich will nur schnell zu ihr laufen ...“

„Erlauben Sie! Das ist unmöglich! In diesem Augenblick ist das ganz ausgeschlossen!“ rief mit einer Stimme, die vor Erregung ganz schrill klang, der Untersuchungsrichter, der sofort gleichfalls aufgesprungen war. Mitjä wurde von den Männern mit den Blechschildern auf der Brust ergriffen, doch setzte er sich bereits von selbst wieder auf seinen Stuhl.

„Wie schade! Ich wollte ja nur auf einen Augenblick zu ihr ... um ihr zu sagen, daß es abgewaschen ist, daß es verschwunden ist, dieses Blut, das die ganze Nacht mein Herz gequält hat, daß ich jetzt nicht mehr ein Mörder bin, wie ich glaubte! Meine Herren, sie ist doch jetzt meine Braut!“ sagte er plötzlich begeistert, ganz verzückt und jubelnd, während seine seligen Blicke von dem einen zum anderen gingen. „Oh, ich danke Ihnen, meine Herren! Wenn Sie wüßten, was diese Mitteilung für mich ist! Sie haben mich von den Toten auferweckt! ... Dieser Greis – der hat mich doch auf den Armen getragen, mich als dreijähriges Kind im Waschtroge gebadet, als mich alle vergessen hatten, er war wie ein leiblicher Vater zu mir! ...“

„Also, Sie ...“ wollte wieder der Untersuchungsrichter beginnen.

„Gestatten Sie, meine Herren, nur noch eine Minute!“ unterbrach Mitjä von neuem; er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Nur einen Augenblick, um mich etwas zu sammeln, nur einmal aufzuatmen, meine Herren. So etwas erschüttert einen unglaublich, der Mensch ist doch kein – Trommelfell, meine Herren!“

„Würden Sie nicht etwas Wasser trinken ...“ forderte wieder der Untersuchungsrichter ein wenig zerstreut auf.

Da ließ aber Mitjä auch schon die Hände sinken, und lachend lehnte er sich zurück. Sein Blick war wieder munter, und der ganze Mensch schien sich in dieser einen Minute verändert zu haben. Auch sein ganzer Ton und seine ganze Haltung waren verändert: er saß wieder als Gleichgestellter unter ihnen, wie er vielleicht gestern, als noch nichts geschehen war, mit diesen seinen früheren Bekannten irgendwo in der Gesellschaft zusammengesessen hätte. Übrigens muß ich hier noch bemerken, daß er zu Anfang seines Aufenthaltes bei uns im Hause des Polizeichefs sehr herzlich empfangen worden war; doch später, besonders im letzten Monat, hatte Mitjä seine Besuche in diesem Hause fast ganz eingestellt; und so hatte denn Michail Makarowitsch bei Begegnungen, z. B. auf der Straße, stets eine wichtige Miene gemacht und seinen Gruß eigentlich nur aus Höflichkeit erwidert, was von Mitjä sehr wohl bemerkt worden war. Mit dem Staatsanwalt war er nur ganz oberflächlich bekannt, doch der Gemahlin desselben – es war eine nervöse und phantastische Dame –, hatte er zuweilen seine Aufwartung gemacht, wenn es auch immer nur höchst ehrerbietige und rein gesellschaftliche kurze Visiten gewesen waren. Eigentlich hatte er selbst nicht recht gewußt, warum er zu ihr ging, doch hatte sie ihn jedesmal sehr freundlich empfangen und für ihn ein Interesse gezeigt, das sich bis zur letzten Zeit nicht verringert hatte. Mit dem jungen Untersuchungsrichter Nikolai Parfenowitsch Neljudoff hatte er aus Mangel an einer Gelegenheit noch nicht Freundschaft geschlossen, doch war er auch mit ihm zusammengekommen und hatte sogar zweimal mit ihm gesprochen – beide Male über das weibliche Geschlecht.

„Sie, Nikolai Parfenowitsch, sind ja, wie ich sehe, ein famoser Untersuchungsrichter,“ begann Mitjä lachend, „aber ich werde Ihnen jetzt selbst bei der Sache behilflich sein. Oh, meine Herren, jetzt bin ich ja erlöst, – Grigorij lebt! ... Und tragen Sie es mir nicht nach, daß ich mich so ohne Umstände und gerade heraus an Sie wende. Zudem bin ich noch ein wenig betrunken, das gestehe ich ganz offen ein. Ich glaube, ich hatte die Ehre, Nikolai Parfenowitsch ... die Ehre und das Vergnügen, bei meinem Verwandten Miussoff Ihre Bekanntschaft zu machen ... Das heißt, meine Herren, ich erhebe ja keinen Anspruch auf völlige Gleichstellung mit Ihnen ... Ich begreife doch, als was ich in diesem Augenblick vor Ihnen sitze. Auf mir ruht ... wenn Grigorij gegen mich ausgesagt hat ... so ruht, – nun, versteht sich, es lastet auf mir ein schrecklicher Verdacht! Entsetzlich, entsetzlich! – ich verstehe das doch vollkommen! Aber zur Sache, meine Herren, ich bin bereit, und wir werden das alles im Augenblick erledigen, denn, nicht wahr, wenn ich weiß und Ihnen sage, daß ich unschuldig bin, so kann doch alles sofort erledigt werden! Nicht wahr, meine Herren?“

Mitjä sprach rasch und viel, er sprach unruhig, doch von ganzem Herzen aufrichtig – als hielte er seine Zuhörer für seine besten Freunde.

„Also: wir können somit niederschreiben, daß Sie die gegen Sie erhobene Anklage radikal zurückweisen?“ fragte Neljudoff, der Untersuchungsrichter, eindringlich, und diktierte darauf, zum Schreiber gewandt, halblaut, was dieser zu notieren hatte.

„Niederschreiben? Sie wollen das niederschreiben? Nun, so schreiben Sie nieder, soviel Sie wollen ... ich habe nichts dagegen, Sie haben mein volles Einverständnis. Meine Herren ... Nur, sagen Sie ... Halt, nein, warten Sie, schreiben Sie so: Ihn trifft die Schuld an ... nun, an Gewalttätigkeiten, schweren Verletzungen, die er dem armen Alten zugefügt hat, darin bekennt er sich schuldig. Nun und dann noch für mich, in meinem Inneren, in der Tiefe des Herzens bin ich schuldig, – aber das ist nicht mehr nötig, aufzuschreiben“ (er wandte sich an den Schreiber), „das sind bereits meine privaten Angelegenheiten, das geht Sie, meine Herren, nichts mehr an, diese tiefsten Herzensgeheimnisse, das heißt ... ‚Was aber die Ermordung des alten Vaters betrifft‘ – schreiben Sie – ‚so ist er – unschuldig!‘ Das ist Wahnsinn, das ist vollkommener Wahnsinn! ... Ich werde es Ihnen beweisen, und Sie werden sich sofort überzeugen. Sie werden noch lachen, meine Herren, Sie werden noch über Ihren Verdacht lachen! ...“

„Beruhigen Sie sich, Dmitrij Fedorowitsch,“ – damit erinnerte ihn der Untersuchungsrichter an seine Aufführung und wollte offenbar durch die eigene Ruhe die Erregung des anderen besänftigen. „Bevor wir das Verhör fortsetzen, würde ich, vorausgesetzt, daß Sie einwilligen zu antworten, gerne nochmals von Ihnen die Bestätigung der Tatsache vernehmen wollen, daß Sie den verstorbenen Fedor Pawlowitsch, wie es scheint, nicht geliebt und mit ihm fortgesetzt Streit gehabt haben ... Wenigstens haben Sie hier vor ungefähr einer Viertelstunde, wenn ich mich nicht täusche, selbst etwas Derartiges geäußert: daß Sie sogar die Absicht gehabt hätten, ihn zu erschlagen. ‚Ich habe ihn nicht erschlagen, aber ich wollte ihn erschlagen!‘ riefen Sie aus, soviel ich mich dessen erinnere.“

„Ich soll das ausgerufen haben? Nun ja, das kann sehr wohl sein! Meine Herren, allerdings, zum Unglück wollte ich ihn erschlagen, sogar mehreremal habe ich es gewollt ... zum Unglück, leider!“

„Also, Sie wollten es. Würden Sie nicht auch bereit sein, uns zu erklären, welches die Ursachen Ihres Hasses auf Ihren Vater waren?“

„Was ist da zu erklären, meine Herren!“ sagte Mitjä mit finsterem Gesicht, zuckte mit der einen Schulter und senkte den Blick zu Boden. „Ich habe doch meine Gefühle wahrlich nicht verborgen, die ganze Stadt spricht ja davon, – alle Menschen im Gasthause haben es gehört. Noch vor ein paar Tagen habe ich es im Kloster, in der Zelle des Staretz Sossima erklärt ... Und am Abend desselben Tages habe ich den Vater noch verprügelt und beinahe totgeprügelt, und dann noch geschworen, wiederzukommen und ihn ganz zu erschlagen, und alles in Gegenwart von Zeugen ... Oh, Zeugen gibt es zu Tausenden! Habe ich doch den ganzen Monat zu allen davon gesprochen, alle sind Zeugen! ... Die Tatsache liegt ja auf der Hand, die Tatsache spricht, schreit, aber – die Gefühle, meine Herren, die Gefühle, um die es sich dabei handelt, die sind etwas anderes. Sehen Sie, meine Herren“ (Mitjäs Gesicht verfinsterte sich), „ich glaube, daß Sie nicht berechtigt sind, mich nach meinen Gefühlen zu fragen. Für Sie bin ich natürlich überführt, ich begreife das sehr gut, aber das – das geht nur mich etwas an, das ist meine Sache, meine innere, intime Angelegenheit, jedoch ... da ich auch früher schon meine Gefühle nicht verheimlicht habe ... im Gasthause zum Beispiel, und allen und jedem davon gesprochen habe, so ... so werde ich auch jetzt kein Geheimnis daraus machen ... Sehen Sie, meine Herren, ich begreife sehr gut, daß in diesem Falle schwere Beweise gegen mich vorliegen: ich habe allen gesagt, daß ich ihn totschlagen werde, und plötzlich ist er erschlagen: wer soll es nun getan haben, wenn nicht ich? Ha – ha! Ich entschuldige Sie, meine Herren, ich entschuldige Sie vollkommen. Bin ich doch selbst ganz betroffen, denn wer kann ihn schließlich in diesem Falle erschlagen haben, wenn nicht ich? So verhält es sich doch, nicht wahr? Wenn ich es nicht getan habe, wer dann, wer dann? Meine Herren,“ rief er plötzlich unruhig, „ich will es wissen, ich verlange von Ihnen, daß Sie mir sagen, meine Herren: Wo ist er erschlagen worden? Wie erschlagen, womit und wie? Sagen Sie es mir!“

Sein fragender Blick ging zwischen dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter hin und her.

„Wir fanden ihn auf dem Fußboden seines Schlafzimmers ausgestreckt auf dem Rücken liegen. Die Schädeldecke war eingeschlagen,“ sagte der Staatsanwalt.

„Grauenvoll!“ Mitjä fuhr plötzlich zusammen und bedeckte das Gesicht, den Arm auf den Tisch stützend, mit der rechten Hand.

„Wir fahren also fort im Verhör,“ begann wieder der Untersuchungsrichter. „Also: Was war die Ursache Ihres Hasses auf Fedor Pawlowitsch? Ich glaube, Sie haben öffentlich gesagt, daß es Eifersucht gewesen sei?“

„Nun ja, Eifersucht, und nicht nur Eifersucht allein.“

„Und Streit wegen Geld?“

„Nun ja, auch wegen Geld.“

„Und, wenn ich mich nicht täusche, handelte es sich dabei um dreitausend Rubel, die angeblich als ihr Erbteil Ihnen nicht ausgezahlt worden seien?“

„Was für Dreitausend! Mehr, viel mehr!“ rief Mitjä auffahrend, „mehr als sechs, mehr als zehn vielleicht. Ich habe es allen gesagt, überall erzählt! Aber ich hatte schon beschlossen, nun, meinetwegen, mich mit Dreitausend zufrieden zu geben. Diese Dreitausend hatte ich dermaßen nötig, dermaßen ... so daß ich diese dreitausend Rubel, die er, das wußte ich, unter seinem Kopfkissen für Gruschenka bereit hielt, einfach als mein Geld betrachtete, das er von mir gestohlen hatte. Ja, meine Herren, ich hielt es für mein Eigentum, für mein gestohlenes Eigentum ...“

Der Staatsanwalt tauschte mit dem Untersuchungsrichter einen bedeutsamen Blick aus, und es gelang ihm noch, diesem einen kleinen Wink zu geben.

„Auf diesen Punkt werden wir noch später zurückkommen,“ bemerkte sofort der Untersuchungsrichter, „vorläufig erlauben Sie nur, gerade das zu notieren: daß Sie das Geld in jenem Kuvert gleichsam als Ihr Eigentum angesehen haben.“

„Schreiben Sie es nur auf, meine Herren, ich begreife ja sehr gut, daß das wiederum ein Verdachtsmoment gegen mich ist. Aber ich fürchte keine Verdachtsmomente und rede selbst wider mich. Hören Sie, ich selbst! Sehen Sie, meine Herren, Sie halten mich, scheint es, für einen ganz anderen Menschen, als ich bin,“ fügte er finster und traurig hinzu. „Mit Ihnen spricht ein Edelmann, ein Mensch, der wirklich edel ist, das ist das Wichtigste – das bitte ich nicht zu vergessen –, ein Mensch, der eine Unmenge von Schändlichkeiten begangen hat, dessen Gesinnung aber immer edel gewesen und geblieben ist. Ich meine, wenn man mich als Menschen nimmt ... im tiefsten Inneren, nun, mit einem Wort ... Nein, ich verstehe mich nicht auszudrücken ... gerade das hat mich mein ganzes Leben lang gequält, daß ich mich nach dem Edlen gesehnt habe, sozusagen ein Märtyrer des Edlen gewesen bin, ein Mensch, der das Edle mit der Laterne gesucht hat, mit der Laterne des Diogenes, und doch habe ich mein ganzes Leben lang nur Schändlichkeiten begangen, wie wir es ja alle tun, meine Herren ... das heißt, nein, wie ich allein, meine Herren, nicht wie wir alle, sondern wie ich allein, ich versprach mich, wie ich allein, ich allein, meine Herren! ... Mein Kopf tut mir weh,“ sagte er gequält, und seine Brauen zogen sich wie im Schmerz zusammen. „Sehen Sie, meine Herren, mir gefiel sein Äußeres nicht, das Ehrlose an ihm, seine Prahlereien, und daß er alles Heilige unter die Füße trat, sein verhöhnender Spott und seine Gottlosigkeit, – scheußlich, scheußlich! Aber jetzt, da er tot ist, denke ich anders.“

„Inwiefern anders?“

„Nicht anders, aber es tut mir leid, daß ich ihn so gehaßt habe.“

„Sie wollen wohl sagen, daß Sie Reue empfinden?“

„Nein, nicht gerade Reue, schreiben Sie das nicht auf. Ich bin selbst nicht gut, meine Herren, ja, ich bin auch nicht gerade sehr schön, und darum hatte ich gar kein Recht, ihn widerlich zu finden, das ist es! Das können Sie meinetwegen aufschreiben.“

Nachdem Mitjä das gesagt hatte, wurde er plötzlich auffallend traurig. Er war schon seit einiger Zeit immer finsterer geworden. Und da, gerade in diesem Augenblick, kam wieder etwas Unerwartetes dazwischen. Man hatte nämlich Gruschenka zwar aus dem Zimmer entfernt, doch nicht sehr weit fortgebracht: nur in das dritte Zimmer von dem blauen Zimmer, in dem das Verhör stattfand. Es war das ein kleiner einfenstriger Raum, der gleich neben dem großen Zimmer lag, in dem der Chor gesungen und die Mädchen getanzt hatten. Dort saß sie inzwischen, und nur Maximoff war bei ihr. Dieser war über die Maßen betroffen und hatte unglaubliche Angst, weswegen er sich denn auch an sie geradezu angeklammert hatte, als wäre sie seine einzige Rettung. Vor ihrer Tür stand nur ein Bauer mit einem runden Blechschild auf der Brust. Gruschenka weinte, doch plötzlich, als ihr Leid übergroß wurde, sprang sie auf und stürzte mit dem lauten Schrei: „Wehe mir, wehe mir!“ hinaus aus dem Zimmer zu ihrem Mitjä. Das geschah so unerwartet, daß niemand die Geistesgegenwart hatte, sie sofort aufzuhalten. Als Mitjä ihren Schrei hörte, erzitterte er zuerst, dann sprang er wie außer sich auf und stürzte ihr entgegen. Doch man ließ sie wieder nicht zusammen kommen, sie konnten sich nur einen Augenblick sehen. Drei oder vier Männer hielten ihn mit aller Gewalt zurück: er riß seine Arme los, stieß, schlug, aber vergeblich. Auch sie war ergriffen worden, und er sah nur noch, wie sie mit einem Schrei die Arme ihm entgegenstreckte, als sie hinausgebracht wurde. Nachdem dieser Zwischenfall vorüber war, fand er sich, als er zur Besinnung kam, wieder auf seinem Platz gegenüber dem Untersuchungsrichter und heftig auffahrend schrie er ihn an:

„Was hat sie Ihnen getan? Warum quälen Sie sie? Sie ist unschuldig, ganz unschuldig! ...“

Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter beruhigten ihn. So verging einige Zeit, etwa zehn Minuten. Da trat Michail Makarowitsch (der Polizeichef) wieder ein und sagte laut und sichtlich erregt zum Staatsanwalt:

„Sie ist entfernt, sie ist jetzt nach unten gebracht, – gestatten Sie mir, meine Herren, nur ein Wort zu diesem Unglücklichen zu sagen? In Ihrer Gegenwart, meine Herren, in Ihrer Gegenwart!“

„Bitte,“ entgegnete der Untersuchungsrichter, „in diesem Falle haben wir nichts dagegen einzuwenden.“

„Dmitrij Fedorowitsch, höre, mein Sohn,“ begann Michail Makarowitsch zu Mitjä gewandt, und sein Gesicht drückte aufrichtiges, fast väterliches Mitleid mit dem Unglücklichen aus. „Ich habe deine Agrafena Alexandrowna nach unten begleitet und sie dort den Wirtstöchtern übergeben, und außerdem ist noch dieses alte Männchen, der Maximoff, beständig bei ihr, und ich habe ihr zugeredet, hörst du? habe ihr zugeredet und sie beruhigt, ihr erklärt, daß du dich jetzt rechtfertigen mußt, daß sie dich darum nicht stören soll, da sie dich sonst aufregen würde und du dich verwirren und falsch gegen dich aussagen könntest, verstehst du? Na, mit einem Wort, ich habe ihr zugeredet, und sie hat es begriffen. Sie ist ein kluges Weib, sie ist gut, sie wollte sogar mir altem Manne die Hand küssen, und sie hat für dich gebeten. Sie selbst hat mich zu dir geschickt, um dir sagen zu lassen, daß du ihretwegen ruhig sein sollst, aber es ist auch nötig, nötig, daß ich jetzt zu ihr gehe und ihr sage, daß du ruhig bist und dich ihretwegen nicht mehr aufregst. Versteh mich recht und beruhige dich hübsch. Ich fühle, daß ich ihr gegenüber schuldig bin, ich habe mich vorhin fortreißen lassen, sie hat ein echt christliches Herz, jawohl, meine Herren, das ist eine fromme Seele, die keine Schuld kennt. Also, was soll ich ihr nun sagen, Dmitrij Fedorowitsch, wirst du ruhig sein oder nicht?“

Der alte gute Mann sprach viel überflüssiges Zeug, doch Gruschenkas Leid, das aufrichtige Menschenleid hatte sein gutes Herz dermaßen ergriffen, daß ihm Tränen in den Augen standen. Mitjä sprang ungestüm auf.

„Verzeihen Sie, meine Herren, erlauben Sie, oh, erlauben Sie!“ rief er. „Michail Makarowitsch, Sie prächtiger, herzensguter Mensch, ich danke Ihnen für alles, was Sie für sie getan haben! Ich werde, ich werde ruhig sein, werde fröhlich sein, überbringen Sie ihr das in Ihrer Herzensgüte! Sagen Sie ihr, daß ich ganz heiter bin, daß ich sogar lachen werde, da ich jetzt weiß, daß sie in Ihnen einen so guten Schutzgeist hat, Michail Makarowitsch. Ich werde sofort alles erledigen, und sobald ich hier frei bin, komme ich unverzüglich zu ihr, sie wird schon sehen, sie soll nur noch etwas warten! Meine Herren,“ wandte er sich plötzlich an den Untersuchungsrichter und den Staatsanwalt, „jetzt werde ich Ihnen meine ganze Seele ausschütten, ich werde alles aufdecken, und wir erledigen dann im Augenblick die ganze Geschichte. Zum Schluß werden wir noch lachen, nicht wahr, das werden wir doch? Aber, meine Herren, dieses Weib – das ist die Königin meiner Seele! Oh, erlauben Sie mir, das zu sagen, wenigstens das muß ich Ihnen offenbaren ... Ich sehe doch, daß ich es mit Ehrenmännern zu tun habe. Sie ist mein Licht, sie ist mein Heiligtum, und wenn Sie nur wüßten! Haben Sie ihren Schrei gehört? ‚Mit dir auch in den Tod!‘ – Und was habe ich ihr gegeben, ich Bettler, ich, der ich nichts habe, nichts bin, wofür schenkt sie mir diese Liebe, bin ich denn solcher Liebe wert, bin ich plumpe, schändliche Kreatur mit dem abscheulichen Gesichte solcher Liebe wert, daß sie zusammen mit mir sogar zur Zwangsarbeit verschickt werden will? Um für mich zu bitten, warf sie sich auf die Knie, sie, die Stolze, die unschuldig, ganz und gar unschuldig ist! Wie soll ich sie nun nicht vergöttern, wie soll ich nicht aufschreien, nicht ihr entgegenstürzen, wie vorhin? Oh, meine Herren, verzeihen Sie! Doch jetzt, jetzt bin ich beruhigt.“

Er fiel auf den Stuhl zurück, und das Gesicht mit den Händen bedeckend, schluchzte er plötzlich wie im Krampf auf. Doch das waren glückliche Tränen. Er faßte sich aber sofort. Der alte Polizeichef war sehr zufrieden, und auch die Juristen schienen es zu sein: sie fühlten, daß das Verhör jetzt eine andere Wendung nehmen werde. Mitjä wurde geradezu fröhlich.

„Nun, meine Herren, jetzt gehöre ich Ihnen, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Und ... wenn nur nicht alle diese nebensächlichen Kleinigkeiten wären, so würden wir sofort ins reine kommen. Dieser verdammte Kleinkram! – Ich gehöre Ihnen, meine Herren, aber, das schwöre ich Ihnen, die Hauptsache ist beiderseitiges Zutrauen, – Ihrerseits zu mir und meinerseits zu Ihnen, – anders kommen wir nie zu Ende. Ich sage es in Ihrem Interesse. Doch jetzt zur Sache, meine Herren, zur Sache! Die Hauptbedingung: wühlen Sie sich nicht so in meine Seele hinein, quälen Sie sie nicht mit Nebensächlichem, sondern fragen Sie nur, was zur Sache gehört, fragen Sie nach den Tatsachen, und ich werde Sie sofort zufrieden stellen. Mit den unbedeutenden Details aber zum Teufel!“

Das Verhör begann von neuem.

IV.
Zweites Purgatorium

Sie glauben nicht, Dmitrij Fedorowitsch, wie sehr Sie uns durch Ihre Bereitwilligkeit ermutigen ...“ begann Neljudoff, der Untersuchungsrichter, mit belebtem Gesicht und augenscheinlich angenehm berührt, was man am Blick seiner großen, hellgrauen, etwas hervorstehenden Augen sah, die übrigens sehr kurzsichtig waren, und von denen er soeben die Brille abgenommen hatte. „Sie haben da eine vollkommen richtige Bemerkung gemacht in betreff des beiderseitigen Vertrauens, ohne das es bei Verhören von ähnlicher Wichtigkeit nun einmal nicht geht, das heißt in Fällen, wenn der Verdächtigte tatsächlich sich zu rechtfertigen hofft, wenigstens es versuchen will und wahrscheinlich auch kann. Seien Sie überzeugt, daß wir alles tun werden, was an uns liegt. Sie haben auch bereits Gelegenheit gehabt, zu sehen, wie wir die Sache führen ... Sie stimmen mir doch bei, Hippolyt Kirillowitsch?“ wandte er sich plötzlich an den Staatsanwalt.

„Oh, selbstverständlich,“ bestätigte der sofort, doch war der Ton seiner Worte etwas trocken im Vergleich zur liebenswürdigen Rede des Untersuchungsrichters.

Hier muß ich noch eine Bemerkung hinzufügen: Neljudoff, der, wie bereits erwähnt, erst vor kurzem bei uns angekommen war, hatte gleich, schon seit dem ersten Anfang seiner Tätigkeit in unserer Stadt, für unseren Hippolyt Kirillowitsch eine außerordentliche Hochachtung empfunden und war ihm von Herzen zugetan. Er war vielleicht der einzige Mensch, der einwandlos an die ungewöhnlichen psychologischen und rednerischen Begabungen unseres „zurückgesetzten“ Hippolyt Kirillowitsch glaubte, wie er auch überzeugt war, daß man ihn bei der Beförderung übersehen hatte. Er hatte von ihm schon in Petersburg gehört. Dafür war denn wiederum Neljudoff der einzige Mensch in der ganzen Welt, den unser „beleidigter“ Staatsanwalt aufrichtig liebgewann. Auf dem Wege nach Mokroje hatten sie sich schon über gewisse Punkte besprochen, und so begriff denn Neljudoffs spitzfindiger Verstand sofort die Bedeutung jeden Winkes, jeder Bewegung im Gesichte seines älteren Amtsgenossen: es genügte ihm ein halbes Wort, ein Blick, ein Augenzwinkern.

„Meine Herren,“ fuhr Mitjä geschäftig auf, „überlassen Sie es ruhig mir, alles zu erklären, ich werde alles sachgemäß darstellen, nur bitte ich Sie, mich nicht mit dem Kleinzeug zu unterbrechen.“

„Das ist natürlich das Beste. Ich danke Ihnen. Doch bevor wir dazu übergehen, bitte ich Sie, vorher nur noch eine Tatsache konstatieren zu dürfen, da sie für uns von großer Wichtigkeit ist, nämlich in betreff jener zehn Rubel, die Sie gestern abend, ungefähr um fünf Uhr, von Ihrem Freunde Pjotr Iljitsch Perchotin geborgt haben, wofür Sie ihm Ihre Pistolen als Pfand gaben.“

„Ja, ich hatte sie versetzt, meine Herren, für zehn Rubel versetzt, was ist denn dabei? Und das ist alles. Als ich von der Fahrt in die Stadt zurückgekehrt war, ging ich sofort zu ihm hin und versetzte sie.“

„Ah, Sie waren also ausgefahren? Sie hatten die Stadt verlassen?“

„Ja, ich war ausgefahren, über vierzig Werst war ich gefahren. Wie, und Sie wußten das noch nicht, meine Herren?“

Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter blickten sich flüchtig an.

„Überhaupt ... wie wäre es, wenn Sie Ihre Erzählung mit der systematischen Wiedergabe alles dessen, was Sie gestern seit dem Morgen getan haben, beginnen würden? Erlauben Sie, daß ich Sie zum Beispiel frage: warum verließen Sie die Stadt, wann sind Sie fortgefahren und wann zurückgekehrt ... und alle diese Tatsachen ...“

„Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?“ fragte Mitjä laut auflachend. „Ja, genau genommen, muß man nicht mit dem gestrigen, sondern mit dem vorgestrigen Tage beginnen, vom frühen Morgen an, dann erst werden Sie verstehen können, wie und warum ich ging und fuhr. Ich ging, meine Herren, vorgestern am Vormittag zum hiesigen Großkaufmann Ssamssonoff, um von ihm unter der besten Sicherstellung dreitausend Rubel zu borgen – ich hatte mich plötzlich zu diesem Äußersten entschlossen, meine Herren ...“

„Gestatten Sie, daß ich Sie auf einen Augenblick unterbreche,“ hielt ihn höflich der Staatsanwalt auf, „wozu hatten Sie plötzlich diese Summe nötig, und warum gerade so viel, gerade dreitausend Rubel?“

„Ach, meine Herren, es wäre wirklich besser, es ginge ohne Nebensächlichkeiten! Wie, wann und warum, und warum genau so viel und nicht so viel, und dieses ganze Drum und Dran ... man könnte es nicht einmal in drei Bänden erzählen, es wäre noch ein Epilog erforderlich!“

Mitjä sagte dies mit der gutmütigen, doch ungeduldigen Familiarität eines Menschen, der die ganze Wahrheit sagen will und die besten Absichten hegt.

„Meine Herren,“ rief er sofort, gleichsam sich besinnend, „verzeihen Sie mir die Unhöflichkeit. Ich bitte Sie nochmals, mir zu glauben, daß ich die vollste Ehrerbietung empfinde und sehr gut die gegenwärtige Situation verstehe. Glauben Sie nicht, daß ich betrunken bin. Ich bin bereits ganz nüchtern geworden. Und schließlich, was wäre denn auch dabei, das würde ja weiter nicht stören, denn bei mir ist es doch:

Ist er nüchtern, so ist er klug, d. h. dumm,

Ist er trunken, so ist er dumm, d. h. klug.

Ha – ha! Übrigens, ich sehe, meine Herren, daß mir vorläufig noch nicht zusteht, zu scherzen, – vorläufig, das heißt, bis wir ins reine gekommen sind. Erlauben Sie, daß ich die nötige Würde bewahre. Ich begreife doch, was für ein Unterschied augenblicklich zwischen uns besteht: ich sitze ja vor Ihnen als Verbrecher, bin also alles andere, nur nicht auf gleicher Gesellschaftsstufe mit Ihnen, und Ihre Pflicht ist, mich jetzt zu verhören und zu beobachten. Sie werden mir doch für die Verletzung Grigorijs nicht wie einem braven Jungen noch obendrein das Köpfchen streicheln. Es ist ja wahr! Man kann doch nicht alten Männern ungestraft den Schädel einschlagen. Sie werden mich seinetwegen, nun, sagen wir auf ein halbes Jahr, nun, auf ein Jahr ins Zuchthaus einsperren, ich weiß nicht, wie man da bei Ihnen verurteilt wird, – aber doch ohne Verlust meiner Rechte, nicht wahr, Herr Staatsanwalt? Also wie gesagt, meine Herren, ich begreife vollkommen den Unterschied ... Aber Sie müssen mir auch zugeben, daß Sie mit solchen Fragen selbst Gott den Herrn aus dem Konzept bringen könnten: wo bist du gegangen, wie bist du gegangen, wann bist du gegangen, warum bist du gegangen, und so weiter? Ich kann doch dabei nur konfus werden, und Sie fassen dann alles, was ich sage, buchstäblich als Wahrheit auf und nehmen es natürlich sofort zu Protokoll – was kommt dabei schließlich heraus? Nichts kommt dabei heraus! ... Ach, nun, hol’s der Teufel, habe ich einmal angefangen zu schwatzen, so muß ich mich auch aussprechen, und Sie, meine Herren, verzeihen Sie mir bitte, als Menschen höherer Bildung und Ehrenmänner, die Sie sind. Ich will mit der Bitte schließen: versuchen Sie doch, meine Herren, diese abgedroschenen Verhörsvorschriften in diesem Falle einmal zu vergessen. Da heißt es denn, zuerst mußt du etwas ganz Unwichtiges fragen: wie er aufgestanden ist, was er gegessen hat, wie er gespuckt, und wohin er gespuckt hat, ‚und nachdem auf diese Weise die Aufmerksamkeit des Verbrechers eingeschläfert ist‘, – ihn plötzlich mit der wichtigsten Frage verblüffen: ‚Wie hast du erschlagen, wie bestohlen?‘ Haha! Das ist doch der ganze Bürogeist, der da drinsteckt, das sind doch Ihre Regeln und Formeln, dahinter versteckt sich ja Ihre ganze Schlauheit! Aber mit solchen Kniffen können Sie höchstens Bauern fangen, – nicht mich. Ich kenne doch die Sache, ich bin doch selbst Offizier gewesen und weiß daher, wie es in den Büros hergeht. Hahaha! Ärgern Sie sich nicht, meine Herren, Sie verzeihen mir doch den Ausfall gegen die Pedanten in Ihrem Fach?“ rief er lachend und blickte sie mit einer fast wundernehmenden Gutmütigkeit an. „Das hat doch Mitjä Karamasoff gesagt, folglich kann man es verzeihen, denn einem klugen Menschen kann man es nicht verzeihen, dem Mitjä aber selbstverständlich! Haha!“

Neljudoff hörte zu und lachte gleichfalls. Der Staatsanwalt lachte zwar nicht, beobachtete jedoch Mitjä mit scharfem Blick ungeheuer aufmerksam, als wollte er sich kein einziges Wort, nicht die geringste Bewegung oder Veränderung seines Gesichtes entgehen lassen.

„So haben wir ja auch mit Ihnen zuerst angefangen,“ meinte Neljudoff immer noch lachend, „wir haben an Sie keine einzige Frage von der Art gestellt, wie: Wann sind Sie aufgestanden, was haben Sie gegessen, und so weiter, sondern wir sind gleich auf das Wesentlichste übergegangen.“

„Ich weiß, ich weiß! Ich habe es wohl verstanden und verstehe es auch zu schätzen, und noch mehr schätze ich es, daß Sie so gütig zu mir sind, was Ihrer Gesinnung nur Ehre macht. Wir drei sind hier zusammengekommen, drei Ehrenmänner, und so mag denn auch alles auf dem gegenseitigen Zutrauen gebildeter Menschen beruhen, dreier Menschen derselben Gesellschaftsklasse, die durch ihren Adel und ihre Ehre verbunden sind. Jedenfalls erlauben Sie mir, Sie in dieser Stunde meines Lebens für meine besten Freunde zu halten, gerade in dieser Stunde, da meine Ehre so erniedrigt wird. Das verletzt Sie doch nicht, meine Herren, nicht wahr?“

„Im Gegenteil, Dmitrij Fedorowitsch, Sie haben das alles so vortrefflich ausgedrückt,“ stimmte ihm der Untersuchungsrichter ernst, doch wohlwollend bei.

„Und die Nebensachen, alle diese spitzfindigen Fußangeln zum Teufel,“ rief Mitjä ganz Feuer und Flamme, „sonst kommt doch nur Unsinn heraus, nicht wahr? ...“

„Ich billige vollkommen Ihren vernünftigen Vorschlag,“ unterbrach ihn plötzlich der Staatsanwalt zu ihm gewandt, „indessen kann ich nicht von meiner Frage ablassen. Es ist für uns von gar zu großer Wichtigkeit zu wissen, wozu Sie diese Summe brauchten, warum gerade dreitausend Rubel?“

„Wozu ich sie brauchte? Nun, für dieses und jenes ... nun, sagen wir, um eine Schuld zu bezahlen.“

„An wen zu bezahlen?“

„Das zu sagen, weigere ich mich, meine Herren! Sehen Sie, ich tue es nicht etwa darum, weil ich es nicht sagen kann, oder es nicht wage und mich fürchte, denn das ist doch nur eine Kleinigkeit, die zu erwähnen sich nicht lohnt, sondern ich sage es deshalb nicht, weil es sich hier um mein Prinzip handelt: das ist mein Privatleben, und ich erlaube niemandem, sich in dasselbe einzumischen. Das ist mein Prinzip. Ihre Frage hat mit der Sache nichts zu tun, und alles, was nicht zur Sache gehört, ist meine Privatangelegenheit. Eine Schuld wollte ich abzahlen, eine Ehrenschuld, doch an wen – das sage ich nicht!“

„Gestatten Sie, daß wir dies niederschreiben,“ sagte der Staatsanwalt.

„Bitte. Schreiben Sie es geradeso: daß ich es nicht sage, nicht sage. Schreiben Sie, daß ich es sogar für ehrlos halte, das zu sagen. Weiß Gott, Sie haben aber viel Zeit zum Schreiben!“

„Gestatten Sie noch, mein Herr, Sie daran zu erinnern, falls Sie es nicht wissen sollten,“ sagte sofort mit besonderem und sehr strengem Nachdruck der Staatsanwalt, „daß Sie das volle Recht haben, auf die Fragen, die wir Ihnen vorlegen, die Antwort zu verweigern, und wir wiederum kein Recht haben, die Antworten Ihnen irgendwie abzunötigen, wenn Sie aus diesem oder jenem Grunde nicht antworten wollen. Das hängt ganz von Ihrer persönlichen Erwägung ab. Doch fällt uns hierbei die Aufgabe zu, Sie in solchem Fall auf den Schaden aufmerksam zu machen, den Sie sich selbst dadurch zufügen, wenn Sie sich weigern, die eine oder andere Aussage zu machen.“

„Meine Herren, ich ... ärgere mich ja nicht ... ich ...“ stotterte Mitjä etwas verwirrt durch den Nachdruck der Bemerkung des Staatsanwalts. „Nun ja, dieser selbe Ssamssonoff, zu dem ich damals ging ...“

Ich werde natürlich nicht die ganze Erzählung dessen, was dem Leser bereits bekannt ist, wiederholen. Dmitrij Fedorowitsch wollte alles ganz ausführlich erzählen und doch in seiner Ungeduld möglichst schnell alles abmachen. Aber je mehr er aussagte, um so mehr wurde auch aufgeschrieben, und so mußte er immer wieder unterbrochen werden. Das mißfiel ihm sehr, und er ärgerte sich, wenn auch vorläufig noch in gutmütiger Weise. Allerdings rief er zuweilen: „Meine Herren, das würde selbst einen Gott aus der Haut bringen“ oder: „Meine Herren, wissen Sie auch, daß Sie mich ganz unnütz aufreizen?“ Doch verlor er dabei noch nicht seine freundschaftliche gutmütige Stimmung. So erzählte er denn, wie Ssamssonoff ihn vor zwei Tagen „zum Narren gehabt“ hatte (das hatte er inzwischen vollkommen erraten). Die Mitteilung vom Verkauf der Uhr für sechs Rubel, um sich Geld zur Fahrt zu verschaffen, erweckte sofort das größte Interesse der Juristen, die davon noch nichts gewußt hatten, und zu Mitjäs maßlosem Ärger fanden sie es für nötig, die Tatsache ausführlich aufzuschreiben, als wiederholte Bestätigung dessen, daß er schon am Abend des vorhergehenden Tages keine Kopeke mehr besessen hatte. Mitjäs Gesicht wurde allmählich immer düsterer. Er erzählte noch von der Fahrt zum Ljägawyj und von der Nacht, die er in der dunsterfüllten Stube verbracht hatte, und kam dann auf seine Rückkehr in die Stadt zu sprechen. Hier begann er, ohne darum gebeten zu sein, ausführlich seine Eifersuchtsqualen wegen Gruschenka zu schildern. Man hörte ihm schweigend und aufmerksam zu und merkte sich besonders das eine: daß er schon seit längerer Zeit einen Beobachtungsposten in der Hinterstraße hatte, von wo aus er Gruschenka auflauerte, und daß Ssmerdjäkoff ihm Nachrichten überbrachte. Letzteres wurde ausführlich niedergeschrieben und gut behalten. Von seiner Eifersucht sprach Mitjä erregt und viel, und wenn er sich auch dessen schämte, daß er seine intimsten Gefühle so preisgab, so „schmachvoll“ an die Öffentlichkeit preisgab, so zwang er sich doch immer wieder zur Überwindung seiner Scham, um die ganze Wahrheit zu sagen. Die teilnahmlose Strenge der Blicke des Untersuchungsrichters und besonders des Staatsanwalts, die während der ganzen Zeit seiner Erzählung auf ihn gerichtet waren, verwirrten ihn schließlich ziemlich stark. „Dieser Milchbart, mit dem ich noch vor ein paar Tagen Dummheiten über die Weiber geschwatzt habe, und dieser schwindsüchtige Staatsanwalt sind es wahrlich nicht wert, daß ich so mein Innerstes aufdecke,“ ging es ihm durch den Sinn. „Oh, die Schande! Doch – ‚Trage dein Leid, mein Herz, ergib dich und schweige‘ –.“ Mit diesem Dichterausspruch überwand er seinen traurigen Gedanken und nahm sich von neuem zusammen, um fortzufahren. Als er zur Erzählung seines Besuches bei Frau Chochlakoff kam, ärgerte er sich noch nachträglich über sie und wollte schon eine kleine lustige Anekdote über diese Dame erzählen, die er vor kurzem gehört hatte, doch der Untersuchungsrichter bat ihn höflich, zu „Wesentlicherem“ überzugehen. Endlich, als er seine Verzweiflung schilderte, wie er aus dem Chochlakoffschen Hause hinausgelaufen war und einen Augenblick sogar daran gedacht hatte, wenn nicht anders, irgend jemanden zu erdrosseln, um sich diese Dreitausend zu verschaffen, wurde er wieder unterbrochen, um auch das, daß er jemanden hatte „erdrosseln“ wollen, niederschreiben zu lassen. Mitjä ließ es wortlos geschehen. Schließlich gelangte er bei dem Augenblick an, wo er plötzlich erfahren hatte, daß er von Gruschenka betrogen worden war, und daß sie Ssamssonoff, bald nach seiner Trennung von ihr vor der Haustür, wieder verlassen hatte, während er im Glauben gewesen war, daß sie bis Mitternacht beim Alten bleiben werde. „Wenn ich in dem Augenblick diese Fenjä nicht erschlug, so geschah das nur deshalb nicht, weil ich keine Zeit dazu hatte,“ entfuhr es ihm plötzlich an dieser Stelle. – Und auch das wurde sorgfältig niedergeschrieben. Mitjä wartete mit düsterem Gesicht und wollte darauf zur Erzählung übergehen, wie er zum Vater in den Garten gelaufen war, – als ihn plötzlich der Untersuchungsrichter unterbrach und aus seinem großen Portefeuille, das neben ihm auf dem Sofa lag, und das er jetzt aufschlug, eine messingne Mörserkeule hervorzog.

„Ist Ihnen dieser Gegenstand bekannt?“ fragte er Mitjä.

„Ach, ja!“ sagte er, finster lächelnd, „selbstverständlich! Geben Sie her, zeigen Sie mir ... Äh, Teufel, nicht nötig!“

„Sie haben vergessen, seiner Erwähnung zu tun,“ bemerkte der Untersuchungsrichter.

„Ach, Teufel! Ich hätte es wahrlich nicht verheimlicht, da seien Sie unbesorgt, ohne dieses Ding wäre es ja doch nicht gegangen, was meinen Sie? – Ich hatte es im Augenblick nur ganz vergessen.“

„Würden Sie die Güte haben, sachlich zu erklären, wie und wo Sie sich mit dieser Mörserkeule bewaffnet haben.“

„Zu Befehl, ich werde die Güte haben, meine Herren.“

Und Mitjä erzählte, wie er sie bei Fenjä in der Küche ergriffen hatte und dann hinausgelaufen war.

„Was beabsichtigten Sie damit zu tun, welches Ziel hatten Sie im Auge, als Sie sich mit dieser Waffe versahen?“

„Welches Ziel? Überhaupt kein Ziel! Ich nahm sie und lief hinaus.“

„Aber warum nahmen Sie sie denn, wenn Sie kein Ziel im Auge hatten?“

In Mitjä brauste der Unwille auf. Starr blickte er dem „Milchbart“ in die Augen und lächelte finster und boshaft. Der wahre Grund seiner Wut war aber eigentlich der, daß er sich immer mehr dessen schämte, so ausführlich und mit solchen Herzensergüssen „diesen Leuten“ von seiner Eifersucht erzählt zu haben.

„Äh, ich spucke darauf!“ entfuhr es ihm plötzlich.

„Sie meinten? ...“

„Nun, um mich der Hunde zu erwehren ... in der Dunkelheit ... für alle Fälle.“

„Haben Sie auch früher, wenn Sie in der Nacht hinausgingen, eine Waffe mitgenommen, wenn Sie die Dunkelheit so fürchten?“

„Ach, zum Teufel, pfui! Meine Herren, mit Ihnen kann man wirklich nicht reden!“ rief Mitjä über die Maßen gereizt und vor Wut hochrot im Gesicht. Plötzlich wandte er sich zum Schreiber und schrie ihm mit einer Stimme, die die Wut nur zu deutlich verriet, zu:

„Schreibe sofort ... sofort ... daß ich die Mörserkeule ergriffen habe, ‚um hinzulaufen und meinen Vater zu erschlagen, Fedor Pawlowitsch ... durch einen Schlag auf den Schädel!‘ Nun, sind Sie jetzt zufrieden, meine Herren? Hat jetzt Ihre liebe Seele Ruh?“ fragte er mit herausforderndem Blick auf den Untersuchungsrichter und den Staatsanwalt.

„Wir begreifen sehr gut, daß Sie diese Worte soeben in der Gereiztheit und im Ärger über uns und unsere Fragen gesprochen haben, – über die Fragen, die wir an Sie stellen, und die Sie für Fußangeln oder lächerliche Hintergedanken halten, die aber in Wirklichkeit von großer Wichtigkeit sind und nur zur Sache führen,“ gab der Staatsanwalt trocken zur Antwort.

„Aber erbarmen Sie sich, meine Herren! Ja, ich habe eine Mörserkeule ergriffen ... Nun, wozu nimmt man zuweilen, wenn man erregt ist, irgendeinen Gegenstand in die Hand? Ich weiß nicht, wozu. Ich nahm das Ding und lief hinaus. Und das ist alles. Das ist doch wirklich ... Meine Herren, passons, oder ich schwöre Ihnen, ich sage kein Wort mehr!“

Er setzte den Ellenbogen auf die Tischkante und stützte den Kopf in die Hand. So saß er, halb abgewandt von ihnen und bemühte sich, zur Wand blickend, das in ihm aufsteigende schlechte Gefühl niederzuringen. Er wollte am liebsten sofort aufstehen und erklären, daß er kein Wort mehr sagen werde, „bringen Sie mich meinetwegen aufs Schafott!“

„Meine Herren,“ sagte er plötzlich, nur mit Mühe sich bezwingend, „sehen Sie, ich höre Sie fragen, und es kommt mir dabei vor, wie ... Wissen Sie, ich habe zuweilen einen Traum, sehr oft sogar ... einen ganz besonderen Traum ... Mir träumt, daß mich jemand verfolgt, irgend jemand, vor dem ich mich entsetzlich fürchte, er verfolgt mich in der Dunkelheit, in der Nacht, sucht mich, und ich verstecke mich vor ihm hinter der Tür oder hinter einem Schrank, verstecke mich in ganz erniedrigender Weise, und die Hauptsache ist, er weiß ganz genau, wo ich mich vor ihm verstecke, aber er tut absichtlich, als wüßte er nicht, wo ich bin, er verstellt sich, um mich länger zu quälen, um sich an meiner Angst zu weiden ... Und so machen auch Sie es jetzt! Genau so!“

„Also solche Träume haben Sie?“ erkundigte sich der Staatsanwalt.

„Ja, solche Träume ... Aber wollen Sie das vielleicht nicht auch niederschreiben?“ fragte Mitjä mit boshaft verzogenem Lächeln.

„Nein, das wollen wir nicht niederschreiben, aber immerhin haben Sie doch interessante Träume.“

„Jetzt aber ist es kein Traum mehr! Das ist der Realismus, meine Herren, der Realismus des Lebens! Ich bin der Wolf, Sie sind die Jäger, nun, so hetzen Sie mich denn!“

„Sie haben ganz grundlos diesen Vergleich gemacht ...“ wollte der Untersuchungsrichter mit außerordentlich sanfter Stimme beginnen, doch Mitjä unterbrach ihn.

„Nein, nicht grundlos, meine Herren, nicht grundlos!“ Er brauste wieder auf, doch hatte er durch den Ausbruch des plötzlichen Zornes sein Herz erleichtert, und so wurde er jetzt mit jedem Wort wieder ruhiger und gutmütiger. „Sie können einem Verbrecher oder Verurteilten, den Sie mit Ihren Fragen foltern, meinetwegen nicht glauben, aber an dem edelmütigsten Menschen, meine Herren, an dem edelsten Aufschwung der Seele – das sage ich dreist! – nein! an dem dürfen Sie nicht zweifeln ... dazu haben Sie kein Recht ... aber –

‚Trage dein Leid, mein Herz,

Ergib dich und schweige!‘

Nun, was, – soll ich fortfahren?“ brach er finster ab.

„Bitte, haben Sie die Güte,“ antwortete der Untersuchungsrichter.

V.
Das dritte Purgatorium

Mitjä sprach zwar in rauhem Tone und mürrisch, doch bemühte er sich augenscheinlich, nicht das geringste zu vergessen, vielmehr alles bis ins kleinste wiederzugeben. Er erzählte, wie er über den Zaun in den Garten des Vaters hinabgesprungen war, wie er sich zum Fenster geschlichen, und was er dort gesehen hatte. Klar, bestimmt, als wolle er jedes Wort prägen, sprach er von seinen Gefühlen, die ihn in jenen Augenblicken im Garten erregt hatten, als er so krampfhaft erfahren wollte, ob Gruschenka beim Vater war oder nicht. Doch sonderbar, sowohl der Staatsanwalt wie der Untersuchungsrichter hörten ihm diesmal mit einer auffallenden Zurückhaltung zu, blickten ihn trocken an und stellten viel weniger Fragen. „Scheinen sich geärgert zu haben und gekränkt zu sein,“ dachte Mitjä, „ach nun, hol sie der Teufel!“ Als er erzählte, wie er sich entschlossen hatte, dem Vater das Zeichen zu geben, daß Gruschenka gekommen sei, um sich zu vergewissern, ob er allein war, und wie der Alte das Fenster geöffnet hatte, da beachtete keiner von den Juristen das Wort „Zeichen“, als ob sie überhaupt nicht verstanden hätten, welche Bedeutung dieses Wort hatte, so daß es selbst Mitjä auffiel. Als er dann schließlich zu dem Augenblick kam, wie er beim Anblick des beleuchteten Profils seines Vaters den Haß in sich auflodern gefühlt und die Mörserkeule aus der Tasche gerissen hatte, da hielt er plötzlich wie absichtlich inne. Er saß und blickte zur Wand und wußte, daß die anderen mit ihren Blicken gleichsam wie gebannt an ihm hingen.

„Nun, und?“ fragte der Untersuchungsrichter, „Sie rissen die Waffe heraus und ... was geschah darauf?“

„Was darauf geschah? Und darauf erschlug ich ihn – zielte genau auf den Scheitel und schlug ihm den Schädel ein ... So muß es doch gewesen sein, nach Ihrer Meinung, nicht wahr?“

Sein ganzer Zorn, der sich bereits besänftigt hatte, erhob sich im Augenblick wieder mit überwältigender Macht.

„Ja, nach unserer Meinung,“ bestätigte der Untersuchungsrichter, „nun, und nach Ihrer?“

Mitjä senkte den Blick und schwieg lange.

„Nach meiner Meinung, meine Herren, meiner Meinung nach war es so,“ sagte er leise. „Waren es jemandes Tränen, war es ein Gebet meiner Mutter zu Gott, oder umschwebte mich ein lichter Geist in jenem Augenblick – ich weiß es nicht, aber der Teufel war niedergerungen. Ich stürzte fort vom Fenster und lief zum Zaun ... Mein Vater erschrak, denn da erst bemerkte er mich: er schrie auf und sprang zurück vom Fenster, – das weiß ich noch ganz genau. Ich aber lief durch den Garten zum Zaun ... und dort war es, wo Grigorij mich einholte und mich am Bein ergriff, als ich schon auf dem Zaun saß ...“

Mitjä erhob endlich den Blick zu seinen Zuhörern. Es schien, daß diese ihn mit der ruhigsten Aufmerksamkeit betrachteten. Da war es Mitjä, als krampfte sich seine Seele vor Unwillen zusammen.

„Aber Sie, meine Herren, Sie machen sich ja jetzt nur lustig über mich!“ unterbrach er sich.

„Wie kommen Sie darauf?“ fragte der Untersuchungsrichter.

„Weil Sie mir kein Wort davon glauben, darum! Ich begreife doch, daß das der Hauptpunkt ist, zu dem ich gekommen bin: mein Vater liegt jetzt dort mit eingeschlagenem Schädel, und ich, – nachdem ich so tragisch geschildert habe, wie ich ihn erschlagen wollte und schon die Mörserkeule herausriß, – ich laufe plötzlich fort vom Fenster ... Das ist doch eine Dichtung! In Versen sogar! Da kann man jedes Wort dem braven Jungen glauben! Haha! Spötter sind Sie, meine Herren!“

Und er drehte sich mit dem ganzen Körper auf dem Stuhl herum, so daß der Stuhl in den Fugen krachte.

„Aber haben Sie vielleicht bemerkt,“ fragte plötzlich der Staatsanwalt, als ob er Mitjäs Aufregung weiter gar nicht beachtete, „haben Sie es nicht zufällig bemerkt, als Sie vom Fenster zum Zaun liefen: war die Tür, die am anderen Ende der Gartenfassade des Hauses liegt, offen oder geschlossen?“

„Nein, sie war nicht offen.“

„Nicht?“

„Sie war sogar verschlossen, und wer konnte sie denn öffnen? Warten Sie, – die Tür!“ rief er plötzlich, gleichsam sich besinnend und fast zusammenzuckend, „– haben Sie die Tür denn etwa offen vorgefunden?“

„Ja, offen.“

„Aber wer hat sie denn öffnen können, wenn Sie es nicht selbst getan haben?“ fragte Mitjä höchst verwundert.

„Die Tür stand weit offen, und der Mörder Ihres Vaters ist zweifellos durch diese Tür eingedrungen, und nachdem er ihn ermordet hatte, wieder durch dieselbe Tür hinausgegangen,“ sagte langsam und deutlich der Staatsanwalt, indem er jede Silbe gleichsam einzeln aussprach. „Das ist uns vollkommen klar. Der Mord ist ganz augenscheinlich im Zimmer verübt worden, und nicht durch das Fenster, was vollkommen deutlich aus der Lokalinspektion hervorgeht, aus der Lage des Körpers und aus allem. Über diesen Punkt kann kein Zweifel bestehen.“

Mitjä war unglaublich betroffen.

„Aber das ist doch unmöglich, meine Herren!“ rief er ganz aus der Fassung gebracht, „ich ... ich bin nicht hineingegangen ... ich, bestimmt, ich versichere Sie, die Tür war die ganze Zeit, während der ich im Garten war, und als ich aus dem Garten hinauslief, verschlossen. Ich stand nur unter dem Fenster, und das war alles, alles ... Ich erinnere mich dessen haarscharf bis zum letzten Augenblick. Und selbst wenn ich mich nicht genau erinnern würde, so weiß ich doch genau, daß das unmöglich ist, denn die Zeichen waren doch nur mir, Ssmerdjäkoff und ihm, dem Toten, bekannt, und ohne diese Zeichen hätte er niemandem auf der Welt die Tür aufgemacht.“

„Zeichen? Was sind denn das für Zeichen?“ fragte sogleich mit gieriger, fast krampfhafter Neugier der Staatsanwalt. Er hatte plötzlich seine ganze gemessene Zurückhaltung verloren.

Er fragte, als wenn er sich vorsichtig heranschleichen wollte. Er witterte eine wichtige Tatsache, die ihm noch unbekannt war, und sofort empfand er auch die größte Angst, Mitjä könnte sie ihm vielleicht nicht ganz aufdecken wollen.

„Ah – ah, und Sie wußten das nicht einmal?“ fragte Mitjä und blinzelte ihm mit mokantem Lächeln spöttisch boshaft zu. „Wenn ich das nun nicht sage? Von wem soll man das dann erfahren? Von diesen Zeichen wußten doch nur der Verstorbene, ich und Ssmerdjäkoff, das sind alle, die was davon wußten, – und noch der Himmel wußte es, aber der wird es Ihnen doch nicht sagen. Und doch – wie interessant ist dieses Pünktchen! Weiß der Teufel, was man noch alles darauf gründen könnte, ha – ha! Beruhigen Sie sich, meine Herren, ich werde es Ihnen sagen. Sie denken sich da sonst wieder Dummheiten zusammen. Überhaupt, Sie wissen gar nicht, mit wem Sie zu tun haben! Sie, meine Herren, haben es mit einem Angeklagten zu tun, der freiwillig gegen sich selbst aussagt, der zu seinem eigenen Nachteil aussagt! Ja, das ist so, denn ich bin ein Mensch von Ehre, Sie aber – sind es nicht!“

Der Staatsanwalt schluckte wortlos alle Pillen hinunter, er zitterte nur vor Ungeduld, diese neue Tatsache zu erfahren. Mitjä erzählte umständlich von den Zeichen und setzte alles genau auseinander, was damit irgendwie in Verbindung stand. Er sagte, daß Fedor Pawlowitsch sie sich für Ssmerdjäkoff ausgedacht hatte, er erklärte ihnen, was das erste Zeichen bedeuten sollte, klopfte sogar die Zeichen auf dem Tisch vor, und auf die Frage des Untersuchungsrichters, ob denn auch er, Mitjä, an das Fenster des Vaters das Zeichen „Gruschenka ist gekommen“, geklopft habe, antwortete er mit fester Stimme, daß er geradeso geklopft habe, so nämlich: tuck-tuck ... tuck-tuck-tuck, – was bedeutete: „Gruschenka ist gekommen“.

„So, jetzt denken Sie sich was Schönes zusammen!“ brach Mitjä kurz ab und wandte sich wieder mit unverhohlener Verachtung von ihnen ab.

„Und um diese Zeichen wußten nur Ihr verstorbener Vater, Sie und der Diener Ssmerdjäkoff? Und sonst niemand?“ erkundigte sich noch einmal der Untersuchungsrichter.

„Ja, der Diener Ssmerdjäkoff und dann noch der Himmel. Schreiben Sie auch den Himmel auf; das wird nicht überflüssig sein; und auch Ihnen wird Gott noch zustatten kommen.“

Natürlich begann wieder das Schreiben, doch als man damit fertig war, fragte der Staatsanwalt unvermittelt, als ob ihm ganz plötzlich ein neuer Gedanke gekommen wäre:

„Aber wenn um diese Zeichen auch Ssmerdjäkoff gewußt hat und Sie auf das bestimmteste jede Schuld am Tode Ihres Vaters von sich weisen, so fragt sich doch, ob nicht er durch das verabredete Zeichen Ihren Vater veranlaßt hat, ihm die Tür aufzumachen und dann also ... ob nicht Ssmerdjäkoff den Mord verübt hat?“

Mitjä blickte mit unsäglich spöttischem, doch zu gleicher Zeit auch sprühend haßerfülltem Blick dem Staatsanwalt in die Augen. Lange und wortlos sah er ihn so an, bis schließlich der Staatsanwalt zu blinzeln begann.

„Da haben Sie wieder den Fuchs gefangen!“ sagte Mitjä, endlich das Schweigen brechend, „und dem schlauen Tier den Schwanz eingeklemmt, haha! Ich durchschaue Sie vortrefflich, Herr Staatsanwalt. Sie glaubten wohl, daß ich sofort aufspringen und mich an das klammern werde, was Sie mir vorgesagt haben, daß ich sofort losschreien werde: ‚Ah, richtig, Ssmerdjäkoff, das ist der Mörder!‘ Gestehen Sie nur, daß Sie gerade etwas in der Art erwartet haben, gestehen Sie es, dann werde ich fortfahren.“

Doch der Staatsanwalt gestand nichts. Er schwieg und wartete.

„Sie haben sich verrechnet, ich werde nicht Ssmerdjäkoff beschuldigen!“ sagte Mitjä.

„Und Sie verdächtigen ihn nicht einmal?“

„Verdächtigen Sie ihn denn?“

„Auch dieser Verdacht ist geäußert worden.“

Mitjä blickte stumpf zu Boden.

„Meine Herren, Scherz beiseite,“ sagte er düster. „Hören Sie mich: Ganz zuerst, ja bereits in dem Augenblick, als ich von dort“ – er wies auf die Portiere – „hervorgestürzt war und Sie alle hier erblickte, zuckte mir schon dieser Gedanke durch den Kopf: ‚Ssmerdjäkoff!‘ dachte ich sofort. Darauf saß ich hier am Tisch und schrie, daß ich unschuldig bin an diesem Blut, und bei mir denke ich die ganze Zeit: ‚Ssmerdjäkoff, bestimmt Ssmerdjäkoff!‘ Und meine Seele konnte diesen Ssmerdjäkoff nicht loswerden. Und schließlich jetzt ... dachte ich plötzlich gleichfalls ‚Ssmerdjäkoff‘, aber nur einen Augenblick, gleich darauf dachte ich: ‚Nein, nicht Ssmerdjäkoff!‘ Das ist keine Tat für ihn, meine Herren!“

„Haben Sie auch keinen Verdacht an einen anderen Menschen?“ fragte vorsichtig der Untersuchungsrichter.

„Ich weiß nicht, wer oder was ... ob die Hand des Himmels oder des Teufels ihn erschlagen hat, aber ... jedenfalls nicht Ssmerdjäkoff!“ sagte Mitjä bestimmt.

„Aber warum behaupten Sie denn so überzeugt und so nachdrücklich, daß er es nicht sei?“

„Nach meiner Überzeugung, nach dem Eindruck, den er auf mich gemacht hat. Weil Ssmerdjäkoff einer der niedrigsten Menschen und ein furchtbarer Feigling ist. Oh, der ist nicht nur ein Feigling, der ist die Quintessenz aller Feigheiten in der Welt zusammengenommen, die jetzt in Menschengestalt auf zwei Beinen geht. Er ist von einem Huhn geboren ... Wenn er mit mir sprach, so zitterte er vor Angst, ich könnte ihn erschlagen, während ich ihn doch mit keinem Finger anrührte, nicht einmal die Hand erhob. Er fiel vor mir auf die Knie nieder und weinte, – er hat mir sogar einmal diese selben Stiefel geküßt, buchstäblich geküßt und mich angefleht, ihn ‚nicht zu ängstigen‘. Hören Sie, ‚nicht zu ängstigen‘ – was ist das für ein Wort? Ich habe ihn sogar beschenkt. Das ist ein kränkliches Huhn, das außerdem noch die Fallsucht hat, ein Mensch mit einem schwachen Verstande, einer, den jeder achtjährige Knabe verprügeln kann. Ist denn das überhaupt ein Mensch? Nein, Ssmerdjäkoff kann es nicht gewesen sein, meine Herren. Und auch aus Geld macht er sich nichts, er wollte nicht einmal was für seine Dienste von mir annehmen ... Und warum hätte er ihn denn erschlagen sollen? Er ist doch vielleicht sein Sohn, sein unehelicher Sohn, wissen Sie das auch?“

„Wir haben von diesem Gerücht gehört. Aber auch Sie haben doch gesagt, daß Sie Ihren Vater erschlagen wollten.“

„Ah, Sie werfen einen Stein in meinen Garten, wie man zu sagen pflegt, damit ich es nicht vergesse! Ein schmachvoller, gemeiner Stein ist es, meine Herren! Ich aber fürchte mich nicht! Meine Herren, ich verstehe nicht, wie Sie, Sie mir das ins Gesicht sagen können! Das ist niedrig von Ihnen, niedrig, weil ich selbst Ihnen gesagt habe, daß ich ihn nicht nur erschlagen wollte, sondern sogar erschlagen konnte, und ich habe noch freiwillig gestanden, daß ich ihn beinahe auch wirklich erschlagen hätte! Aber ich habe ihn doch nicht erschlagen! Davor hat mich doch mein Schutzengel bewahrt! – das ist es, was Sie noch nicht bedacht haben ... Und darum ist es niedrig, niedrig von Ihnen! Hören Sie, Herr Staatsanwalt: Ich habe ihn nicht erschlagen!

Er atmete schwer. Noch war er während des ganzen Verhörs kein einziges Mal so erregt gewesen.

„Aber was hat er Ihnen denn gesagt, der Ssmerdjäkoff?“ fragte er plötzlich auffahrend, nach einem kurzen Schweigen. „Darf ich Sie danach fragen?“

„Durchaus. Sie können uns alles fragen, was den Tatbestand betrifft,“ antwortete der Staatsanwalt mit kalter und strenger Miene, „und wir sind, ich wiederhole es, sogar verpflichtet, auf jede Ihrer Fragen einzugehen. Wir fanden den Diener Ssmerdjäkoff, nach dem Sie sich erkundigen, bewußtlos vor, in einem sehr starken Epilepsieanfall, der sich vielleicht zum zehntenmal wiederholte. Der Arzt, der mit uns gekommen war und den Kranken untersuchte, sagte uns, daß er wahrscheinlich nicht mehr bis zum Morgen leben wird.“

„Nun, dann hat der Teufel den Vater erschlagen!“ entfuhr es Mitjä plötzlich, als hätte er sich sogar bis zu diesem letzten Augenblick noch immer zweifelnd gefragt: „Ist es Ssmerdjäkoff oder nicht Ssmerdjäkoff?“

„Darauf werden wir noch später zurückkommen,“ entschied der Untersuchungsrichter, „würden Sie jetzt nicht Ihre Aussagen fortsetzen wollen.“

Mitjä bat, sich einen Augenblick erholen zu dürfen. Das wurde ihm höflich erlaubt. Nachdem er eine Weile still vor sich hingesonnen hatte, fuhr er fort. Es wurde ihm aber augenscheinlich schwer. Er war abgequält, beleidigt und moralisch erschüttert. Zudem begann der Staatsanwalt – jetzt bereits ganz absichtlich – ihn durch immerwährende „dumme“ Fragen nach den „geringfügigsten Nebensachen“ zu reizen. Kaum hatte Mitjä erzählt, wie er, auf dem Zaune sitzend, Grigorij mit der Mörserkeule auf den Kopf geschlagen hatte, da er von diesem am linken Bein festgehalten worden war, als ihn der Staatsanwalt auch schon unterbrach und ihn bat, genauer zu beschreiben, wie er auf dem Zaun gesessen hatte. Mitjä wunderte sich darüber.

„Herrgott, ich saß oben auf dem Zaun, rittlings, wie man eben auf einem Zaune sitzt: das eine Bein hier, das andere dort ...“

„Und die Mörserkeule?“

„Die Mörserkeule hatte ich in der Hand.“

„Nicht in der Tasche? Erinnern Sie sich dessen so genau? Holten Sie weit aus zum Schlage?“

„Wahrscheinlich, aber warum fragen Sie das?“

„Würden Sie vielleicht die Güte haben, sich so auf den Stuhl zu setzen, wie Sie damals auf dem Zaun saßen, und uns das anschaulich vorzumachen, wie Sie ausholten, nach welcher Seite hin, und wie Sie geschlagen haben?“

„Wollen Sie sich etwa über mich lustig machen?“ fragte Mitjä, und er maß den Staatsanwalt mit stolzem Blick von oben bis unten. Doch der zuckte mit keiner Wimper.

Mitjä wandte sich brüsk um, setzte sich rittlings auf den Stuhl und holte mit der Hand wie zum Schlage aus.

„So habe ich geschlagen! So! Was wollen Sie jetzt noch?“

„Ich danke Ihnen. Würden Sie sich jetzt vielleicht die Mühe nehmen, uns genau zu erklären: Warum Sie eigentlich nochmals hinabsprangen, zu welchem Zweck, welch eine Absicht hatten Sie, als Sie es taten?“

„Nun, Teufel ... ich sprang einfach zum verletzten Alten hinab ... Ich weiß nicht, wozu!“

„Während Sie so erregt waren? – und auf der Flucht?“

„Ja, ich war erregt und auf der Flucht.“

„Wollten Sie ihm helfen?“

„Was helfen! ... Ja, vielleicht auch helfen, ich weiß es nicht mehr.“

„Ohne zu wissen, was Sie taten? Das heißt, Sie waren wohl etwas ... gewissermaßen besinnungslos?“

„Oh, nein, durchaus nicht, ich erinnere mich des Vorganges ganz genau, bis aufs letzte. Ich sprang in den Garten zurück, um zu sehen, was ich angerichtet hatte, und ich wischte ihm das Blut mit meinem Taschentuch ab.“

„Wir haben Ihr Taschentuch gesehen. Sie hofften den Verletzten ins Leben zurückzurufen?“

„Ich weiß nicht, ob ich es noch hoffte. Ich wollte mich einfach nur überzeugen, ob er noch lebte oder nicht.“

„Aha, Sie wollten sich also überzeugen. Nun, und überzeugten Sie sich?“

„Ich bin kein Arzt, ich konnte nicht feststellen, ob er tot war oder noch lebte. Ich lief fort im Glauben, daß ich ihn erschlagen hätte – und da ist er nun wieder zu sich gekommen!?“

„Vorzüglich, ich danke Ihnen,“ schloß der Staatsanwalt. „Das war alles, was ich wissen wollte. Bitte, fahren Sie fort.“

Armer Mitjä! Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, zu sagen – obgleich er sich dessen sehr wohl erinnerte –, daß er aus Mitleid hinabgesprungen war, daß er sogar beim Anblick des vermeintlich Erschlagenen traurig vor sich hingemurmelt hatte: „Bist mir in den Weg gekommen, armer Alter, nun, so liege denn.“ Daher schloß der Staatsanwalt aus seinen Aussagen, daß Mitjä „in jenem Augenblick und trotz seiner Aufregung“ nur zu dem einen Zweck hinabgesprungen war, um sich zu überzeugen, ob der einzige Zeuge seines Verbrechens lebte oder tot war. Wie groß mußte folglich die Entschlossenheit, Kaltblütigkeit und Überlegungskraft dieses Menschen selbst in „solch einem Augenblick“ gewesen sein usw. usw. Der Staatsanwalt war sehr zufrieden. Er hatte einen nervösen Menschen „durch Kleinigkeiten so weit gereizt, daß der sich doch noch versprochen hatte“.

Mitjä fuhr gepeinigt zu erzählen fort. Er wurde aber alsbald wieder unterbrochen; diesmal vom Untersuchungsrichter.

„Wie konnten Sie zur Magd Fedossja Markowna in die Küche gehen, da Sie doch blutbefleckte Hände hatten?“

„Aber ich wußte es doch gar nicht, ich hatte es ja gar nicht bemerkt, daß ich blutig war!“ sagte Mitjä.

„Diese Aussage ist sehr glaubwürdig, das kommt sehr oft in solchen Fällen vor,“ sagte der Staatsanwalt mit einem Blick auf den Untersuchungsrichter.

„Tatsächlich, ich hatte es überhaupt nicht bemerkt, da haben Sie ganz recht, Herr Staatsanwalt,“ bestätigte Mitjä nochmals.

Darauf folgte die Erzählung von seinem plötzlichen Entschluß, sich zu „beseitigen“ und „die Glücklichen ungestört an sich vorübergehen zu lassen“. Doch konnte er nicht mehr, wie kurz vorher, von der „Königin seiner Seele“ erzählen und sein Herz aufdecken. Es wäre ihm zu peinvoll, zu qualvoll und zuwider gewesen, davon vor diesen kalten Menschen zu reden, die sich „wie Wanzen an mir festgesogen haben“. Und darum antwortete er auf die wiederholte Frage nur kurz und schroff:

„Nun, ich beschloß einfach, mich zu erschießen. Wozu sollte ich noch leben? – Diese Frage stellte sich ganz von selbst. Ihr ... Derjenige, dem ihre erste Liebe gehört hatte, ihr Beleidiger war mit seiner Liebe zurückgekehrt, um nach fünf Jahren das Vergangene wieder gutzumachen und um sie zu heiraten. Nun und da begriff ich, daß für mich alles verloren war ... Und hinter mir lag dieses Blut, das Blut Grigorijs ... Wozu da noch leben? Nun, und so ging ich denn zu Perchotin, um die versetzten Pistolen auszulösen, um sie zu laden und mir bei Sonnenaufgang eine Kugel vor den Kopf zu schießen ...“

„Und in der Nacht noch ein tolles Gelage?“

„Ja, ein tolles Gelage. Ach zum Teufel, kommen Sie schneller zu einem Schluß, meine Herren. Erschießen wollte ich mich unbedingt ... hier, nicht weit, ungefähr um fünf Uhr morgens, und in meiner Tasche lag schon der Zettel bereit ... den hatte ich bei Perchotin geschrieben, als die Pistole geladen war. Hier ist das Ding, lesen Sie. Nicht Ihnen erzähle ich das!“ fügte er plötzlich verächtlich hinzu. Er hatte das Papier aus der Westentasche hervorgezogen und auf den Tisch geworfen. Die Juristen lasen interessiert, was er am Abend vorher geschrieben hatte. Der Zettel wurde, wie es sich gehört, ins Protokoll aufgenommen.

„Und die Hände zu waschen fiel Ihnen noch immer nicht ein, selbst als Sie bei Herrn Perchotin eintraten? So fürchteten Sie also keinen Verdacht?“

„Was für einen Verdacht? Verdacht – oder nicht, das war mir ganz egal ... ich hatte doch schon beschlossen, nach Mokroje zu fahren und mich hier bei Sonnenaufgang zu erschießen, und niemand hätte vorher was erfahren oder mich daran hindern können. Denn wenn nicht dieser Zufall mit dem Vater dazwischen gekommen wäre, so hätten Sie doch nicht so bald von dem Vorgefallenen erfahren, und wären dann natürlich auch nicht hergekommen. Oh, das hat der Teufel getan, der Teufel hat den Vater erschlagen, durch den Teufel haben auch Sie es so schnell erfahren! Wie sind Sie nur so schnell hergekommen? Das ist doch wahrlich kaum glaublich!“

„Herr Perchotin hat uns mitgeteilt, daß Sie, als Sie bei ihm eingetreten sind, in der Hand ... in der blutigen Hand Ihr Geld gehalten haben ... ein ganzes Paket Hundertrubelscheine – und das hat der Knabe, der bei ihm aufwartet, gleichfalls gesehen.“

„Ja, so war es, ich erinnere mich dessen.“

„Jetzt gilt es, hier noch eine kleine Frage zu erledigen. Können Sie uns vielleicht mitteilen,“ begann äußerst milde der Untersuchungsrichter, „wo Sie plötzlich soviel Geld hergenommen hatten, da doch aus dem Tatbestand und aus der Zeitberechnung klar hervorgeht, daß Sie von Fedossja Markowna direkt zu Herrn Perchotin gegangen sind, sich also nicht vorher in Ihre Wohnung begeben haben?“

Der Staatsanwalt runzelte ein wenig die Stirn über die so auf die Spitze getriebene Frage, aber er unterbrach Neljudoff nicht.

„Nein, ich bin allerdings nicht nach Haus gegangen,“ antwortete Mitjä offenbar sehr ruhig, doch hielt er den Blick zu Boden gesenkt.

„In diesem Fall erlauben Sie wohl,“ fuhr Neljudoff gleichsam näherschleichend fort, „meine Frage zu wiederholen: Woher nahmen Sie plötzlich eine so große Summe, wenn Sie, nach Ihrer eigenen Aussage, noch um fünf Uhr ...“

„Wenn ich um fünf Uhr noch kein Geld hatte und für zehn Rubel die Pistolen bei Perchotin versetzte, dann Frau Chochlakoff um dreitausend Rubel anborgen wollte und von der nichts bekam, und so weiter die ganze Litanei,“ unterbrach Mitjä gereizt. „Ja, sehen Sie mal, meine Herren, um fünf Uhr keine zehn Rubel, und da plötzlich Tausende in den Fingern, – verdächtig, wie? Wissen Sie, meine Herren, Sie zittern ja jetzt alle beide vor Angst, ‚er könnte am Ende nicht sagen, wo er das Geld hergenommen hat, und was dann?‘ Ja, so ist es auch, meine Herren: Ich sage es nicht, Sie haben es erraten, Sie werden es nicht erfahren,“ sagte Mitjä entschlossen und bestimmt.

Die Juristen schwiegen beide eine Weile.

„Sie sehen doch ein, Herr Karamasoff, daß das zu erfahren für uns von großer Wichtigkeit ist,“ sagte schließlich ruhig und bescheiden der Untersuchungsrichter.

„Ich sehe dies vollkommen ein, aber ich sage es trotzdem nicht.“

Da mischte sich auch der Staatsanwalt hinein und erinnerte wieder daran, daß der Angeklagte zwar nicht zu antworten brauchte, wenn er das für sich für vorteilhafter hielt usw., doch hinsichtlich des Schadens, den sich der Angeklagte durch das Verschweigen seiner Geldquelle zufüge, und besonders noch, da es sich dabei um eine Frage von solcher Wichtigkeit handelte, so ...

„Und so weiter, meine Herren, und so weiter. Genug, ich habe den Sermon schon gehört!“ unterbrach Mitjä wieder ungeduldig. „Ich begreife selbst sehr gut, von welcher Wichtigkeit diese Frage ist, daß es der Hauptpunkt ist, aber ich sage es trotzdem nicht!“

„Uns kann es ja schließlich gleichgültig sein, das ist nicht unsere Sache, sondern Ihre, und Sie schaden sich dadurch nur,“ bemerkte der Untersuchungsrichter etwas gereizt.

„Scherz beiseite, meine Herren, sehen Sie: –“ Mitjä erhob den Blick und sah sie beide fest an. „Ich hab es schon gleich zu Anfang vorausgefühlt, daß wir gerade in diesem Punkt mit den Köpfen aneinanderprallen würden. Als ich meine Aussagen begann, lag alles andere noch neblig in weiter Ferne, alles wogte noch verschwommen durcheinander, und ich war sogar so naiv, daß ich mit dem Vorschlag, ‚uns gegenseitig volles Vertrauen zu schenken‘ begann. Jetzt sehe ich ein, daß von Vertrauen hier überhaupt nicht die Rede sein kann, denn wir mußten doch einmal auf diesen verfluchten Punkt stoßen. Nun, und jetzt sind wir auch glücklich da angelangt! Es geht nicht, und das genügt. Übrigens, ich mache Ihnen keine Vorwürfe, Sie können mir nicht aufs Wort glauben, das begreife ich doch!“

Er verstummte. Sein Gesicht war düster.

„Aber könnten Sie nicht, ohne im geringsten Ihren Entschluß, das Hauptsächlichste zu verschweigen, aufzugeben, könnten Sie uns nicht trotzdem wenigstens einen kleinen Wink geben oder andeuten, welcher Art die Gründe sind, die Sie zu einer so gefährlichen, für Sie gefährlichen Verheimlichung eines so wichtigen Punktes bewegen?“

Ein trauriges und gleichsam nachdenkliches Lächeln erschien auf Mitjäs Lippen.

„Ich bin sogar viel gütiger, als Sie von mir glauben, meine Herren. Ich werde Ihnen sagen, warum ich es nicht tun kann, und werde Ihnen auch den gewünschten Wink geben, obgleich Sie das eigentlich gar nicht wert sind. Hören Sie, meine Herren, ich verschweige es darum, weil darin eine Schmach für mich liegt. Jawohl, in der Antwort auf die Frage: Woher ich dieses Geld genommen habe, liegt für mich eine Schmach, mit der man selbst die Ermordung und Beraubung meines Vaters nicht vergleichen könnte – wenn ich ihn erschlagen und beraubt hätte. Das ist der Grund, warum ich es nicht sagen kann. Wegen der Schande kann ich es nicht. Wie, meine Herren, Sie wollen auch das niederschreiben?“

„Ja, das muß aufgeschrieben werden,“ sagte der Untersuchungsrichter.

„Das sollten Sie lieber nicht tun, meine Herren, das von der ‚Schmach‘. Das habe ich Ihnen doch nur aus Anständigkeit gesagt, ich hätte es nicht zu sagen gebraucht, ich habe es Ihnen sozusagen geschenkt. Und Sie wollen das gleich schwarz auf weiß niederschreiben! – Ach nun, schreiben Sie, schreiben Sie, was Sie wollen,“ brach er verächtlich und gereizt ab, „– ich fürchte Sie nicht und ... bleibe stolz vor Ihnen!“

„Und würden Sie nicht auch sagen, welcher Art diese Schmach wäre?“ fragte wieder freundlich der Untersuchungsrichter.

Der Staatsanwalt runzelte geärgert die Stirn.

„Nein, c’est fini, geben Sie sich weiter keine Mühe. Und wozu sich besudeln? Hab mich schon sowieso an Ihnen besudelt. Sie sind es nicht wert, weder Sie noch sonst jemand ... Genug davon, meine Herren, ich sage nichts mehr.“

Es war gar zu bestimmt gesagt. Der Untersuchungsrichter gab es auf, weiter in ihn zu dringen, doch da sah er am Blick des Staatsanwalts, daß dieser die Hoffnung noch nicht verloren hatte.

„Aber können Sie nicht wenigstens das eine angeben: Wie groß war die Summe, die Sie in der Hand hielten, als Sie bei Herrn Perchotin eintraten, wieviel Rubel waren es?“

„Nein, das will ich nicht angeben.“

„Herrn Perchotin haben Sie, glaube ich, gesagt, daß es dreitausend gewesen seien, die Sie angeblich von Frau Chochlakoff erhalten hätten.“

„Es ist möglich, daß ich ihm das gesagt habe. Aber genug, meine Herren, ich sage nicht, wieviel es waren.“

„Dann haben Sie wohl die Güte, zu erzählen, wie Sie hierher nach Mokroje gefahren sind, und alles, was Sie nach der Ankunft hier getan haben.“

„Ach Gott, fragen Sie das doch hier die Leute. Aber, übrigens, ich kann es ja meinetwegen auch selbst erzählen.“

Er erzählte trocken, flüchtig. Von seiner Liebe sprach er kein Wort. Dafür aber erzählte er, wie er den Entschluß, sich zu erschießen, aufgegeben hatte, „infolge der veränderten Lage der Dinge“. Er erzählte, ohne zu begründen, ohne auf die Einzelheiten einzugehen. Und auch die Juristen unterbrachen ihn nicht mehr; es waren das für sie augenscheinlich Nebensachen, die sie weniger interessierten.

„Das werden wir noch alles nachprüfen, da wir darauf beim Verhör der Zeugen zurückkommen müssen; dasselbe wird selbstverständlich in Ihrer Gegenwart stattfinden,“ sagte der Untersuchungsrichter und schloß damit das Verhör. „Jetzt aber werden Sie vielleicht so freundlich sein, alles hierher auf den Tisch zu legen, was Sie bei sich haben, und vor allem das ganze Geld, welches sich augenblicklich in Ihrem Besitze befindet.“

„Das Geld, meine Herren? Bitte, ich verstehe, daß das notwendig ist. Es wundert mich, daß Sie nicht schon früher Ihre Neugier zu befriedigen versucht haben. Allerdings, ich saß ja unter Ihren Augen, wäre ja auch nicht fortgegangen. Nun, hier ist es, mein ganzes Geld, zählen Sie mal nach, nehmen Sie. So, – das ist alles, glaube ich.“

Er durchsuchte seine sämtlichen Taschen und zog alles hervor, was er an Geldstücken fand, selbst das Kleingeld. In seiner Westentasche fand er noch zwei Zwanziger. Man zählte das Geld, und es zeigte sich, daß es nur achthundertsechsunddreißig Rubel und vierzig Kopeken waren.

„Und das ist alles?“ fragte der Untersuchungsrichter.

„Alles.“

„Sie sagten soeben, als Sie Ihre Aussagen machten, daß Sie in der Kolonialwarenhandlung von Plotnikoff dreihundert Rubel bezahlt haben. Herrn Perchotin haben Sie zehn Rubel gegeben, für die Fahrt zwanzig, hier haben Sie zweihundert verspielt, dann ...“

Der Untersuchungsrichter rechnete alles zusammen, was Mitjä noch außerdem bezahlt hatte, und Mitjä half ihm dabei bereitwillig. Jeder Kopeke erinnerte man sich, und alles wurde aufgeschrieben. Darauf rechnete der Untersuchungsrichter oberflächlich die Zahlen zusammen.

„Folglich müssen Sie mit diesen achthundert anfänglich ungefähr tausendfünfhundert Rubel gehabt haben?“

„Folglich,“ sagte Mitjä trocken.

„Wie kommt es aber, daß alle behaupten, Sie hätten viel mehr gehabt?“

„Mögen sie es doch behaupten.“

„Und Sie selbst haben es doch gleichfalls behauptet.“

„Ja, auch ich habe es behauptet.“

„Das werden wir noch kontrollieren ... beim Verhör der anderen Personen. Ihres Geldes wegen beunruhigen Sie sich nicht, es wird, wie es sich gehört, aufbewahrt werden und nach Beendigung des ganzen ... zu Ihrer Verfügung stehen, wenn es sich erweist, oder vielmehr, wenn bewiesen wird, daß Sie auf dasselbe unstreitiges Anrecht besitzen. Nun, und jetzt ...“

Der Untersuchungsrichter erhob sich und erklärte Mitjä mit fester Stimme, daß er gezwungen und verpflichtet sei, eine genaue Untersuchung und Besichtigung „sowohl Ihrer Kleider als auch alles übrigen“ vorzunehmen ...

„Bitte, meine Herren, ich kann alle Taschen umkehren, wenn Sie wollen.“

Und er machte sich allen Ernstes daran, seine Taschen umzukehren.

„Nein, Sie werden sich entkleiden müssen.“

„Was? Entkleiden? Pfui Teufel! Untersuchen Sie doch so! Geht es denn nicht auch so?“

„Das ist unmöglich, Dmitrij Fedorowitsch. Sie werden Ihre Kleider ablegen müssen.“

„Wie Sie wollen,“ brummte Mitjä, der sich schließlich mit finsterer Miene fügte, „nur bitte nicht hier, sondern wenigstens hinter dem Vorhange. Wer wird denn die Besichtigung vollziehen?“

„Natürlich hinter dem Vorhange,“ sagte der Untersuchungsrichter und nickte zum Zeichen des Einverständnisses noch mit dem Kopf. Sein junges Gesicht drückte eine ganz besondere Wichtigkeit aus.

VI.
Der Staatsanwalt

Es begann etwas, was Mitjä nie erwartet hätte, und was ihn nicht wenig in Erstaunen setzte. Nie im Leben hätte er gedacht, selbst im letzten Augenblick nicht, daß jemand so mit ihm umgehen könnte, mit Dmitrij Karamasoff! Vor allem lag darin etwas Erniedrigendes für ihn: etwas so „Anmaßendes und Nichtachtendes“ seiner Person. Es wäre weiter nicht schlimm gewesen, hätte er den Rock ausziehen müssen; man ersuchte ihn aber, sich noch weiter zu entkleiden. Und eigentlich ersuchte man ihn nicht einmal darum, sondern man befahl es ihm geradezu – was er nur zu gut fühlte. Aus Stolz und Verachtung unterwarf er sich wortlos. Außer dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt traten hinter den Vorhang, um der Durchsuchung beizuwohnen, auch noch einige Bauern, „natürlich zur Sicherheit,“ dachte Mitjä, „vielleicht aber auch zu einem anderen Zweck“.

„Was, soll ich etwa auch noch das Hemd ausziehen?“ fragte er scharf; doch der Untersuchungsrichter antwortete ihm nicht; er war mit dem Staatsanwalt in die Besichtigung des Rockes, der Beinkleider, der Weste und der Mütze vertieft, und man sah es ihnen an, daß die Untersuchung sie beide ungemein interessierte. „Die genieren sich wahrlich nicht ein bißchen,“ dachte Mitjä, „nicht einmal die nötige Höflichkeit beobachten sie.“

„Ich frage Sie zum zweitenmal: Soll ich das Hemd ausziehen oder nicht?“ fragte er noch schärfer und gereizter.

„Beunruhigen Sie sich nicht, wir werden es Ihnen sagen,“ antwortete der Untersuchungsrichter in etwas obrigkeitlichem Ton. Wenigstens schien dies Mitjä so.

Mittlerweile fand zwischen dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt eine eifrige halblaute Beratung statt. Auf dem linken Rockschoß hatten sie große Blutflecken entdeckt, die bereits ganz trocken und hart waren. Desgleichen fanden sie auch auf den Beinkleidern Blutflecke. Der Untersuchungsrichter befühlte eigenhändig in Gegenwart der Bauernzeugen den Rockkragen, die Aufschläge und alle Nähte der Kleidungsstücke, – offenbar suchte er nach etwas, und das konnte natürlich nur Geld sein. Doch das Kränkendste für Mitjä war, daß sie ihren Verdacht nicht einmal verbargen, den Verdacht, er hätte das Geld in seine Kleider einnähen können. „Sie gehen ja wirklich mit mir um, als hätten sie es mit einem Diebe und nicht mit einem Offizier zu tun,“ dachte er ingrimmig. Und ihre Gedanken teilten sie sich untereinander geradezu verblüffend offen und ungeniert mit. So lenkte zum Beispiel der Schriftführer, der gleichfalls hinter den Vorhang gekommen war, eifrig zuhörte und untersuchen half, die Aufmerksamkeit des Untersuchungsrichters auf die Mütze, die danach nicht minder sorgfältig befühlt wurde. „Wissen Sie noch, wie damals der Schreiber Gridjenka hereinfiel?“ fragte der Schriftführer. „Er fuhr im Sommer hin, um das Gehalt für die Kanzleibeamten in Empfang zu nehmen, und als er zurückkam, sagte er, er hätte das ganze Geld in betrunkenem Zustande unterwegs verloren, – und wo fand man es? Im Mützenrand: Die Hundertrubelscheine waren zu Spiralen zusammengerollt und gerade hier eingenäht.“ Beide Juristen erinnerten sich noch sehr gut des Falles Gridjenka, und so wurde denn beschlossen, Mitjäs Mütze und Kleider zur genaueren Untersuchung zurückzubehalten.

„Erlauben Sie!“ rief plötzlich Neljudoff, der Untersuchungsrichter, als er den dunklen Rand an Mitjäs rechter Manschette bemerkte. „Erlauben Sie, ist das, ist das etwa Blut?“

„Ja, Blut,“ sagte Mitjä kurz.

„Das heißt, was für ein Blut ist es? ... und warum ist der Manschettenrand so umgebogen?“

Mitjä erzählte, wie die Manschette blutig geworden war, als er Grigorij das Blut vom Gesicht abgewischt hatte, und wie er darauf beim Händewaschen bei Perchotin auf den Gedanken gekommen war, den blutigen Rand einfach umzubiegen, so gut es ging.

„Dann müssen wir auch Ihr Hemd nehmen, das ist sehr wichtig ... Es gehört zu den Beweisstücken.“

Mitjä errötete und wurde wild.

„Soll ich denn nackend bleiben?“ schrie er.

„Beunruhigen Sie sich nicht ... wir werden dem schon irgendwie abzuhelfen wissen, jetzt aber ziehen Sie bitte auch die Socken aus.“

„Sagen Sie das im Ernst?“ fragte Mitjä mit blitzenden Augen.

„Uns ist es nicht um Scherz zu tun!“ wies ihn der Untersuchungsrichter streng zurück.

„Nun, wenn es so sein muß ... werde ich ...“ brummte Mitjä, setzte sich aufs Bett und schickte sich an, seine Socken auszuziehen. Es war für ihn unerträglich: alle waren angekleidet, nur er allein war ausgekleidet und, sonderbar – entkleidet kam er sich vor ihnen fast schuldig vor, und vor allen Dingen fühlte er sich selbst mit einemmal viel niedriger als sie und gab in seinem Bewußtsein zu, daß sie nun das volle Recht hatten, ihn zu verachten. „Wenn alle entkleidet sind, so schämt man sich weiter nicht, ist man aber ganz allein entkleidet und wird man dann noch von allen besehen, so ist es – eine Schmach!“ ging es ihm immer wieder durch den Sinn. „Das ist ja ganz wie im Traum,“ dachte er, „nur im Traum habe ich zuweilen solche Schmach empfunden.“ Doch die Socken auszuziehen, war ihm eine ganz besondere Qual, denn sie waren nicht ganz rein, und auch die Unterbeinkleider waren es nicht, und jetzt konnten das alle sehen. Doch vor allen Dingen liebte er seine Füße nicht; er hatte die beiden großen Zehen aus irgendeinem Grunde sein ganzes Leben lang für mißgestaltet gehalten, besonders den einen häßlichen, platten und irgendwie dumm nach unten gebogenen Nagel der großen Zehe am rechten Fuß. Jetzt würden das alle sehen! Vor unerträglicher Scham wurde er noch gröber, und zwar absichtlich. Er riß sich selbst das Hemd vom Leibe.

„Wollen Sie nicht noch wo nachsuchen, wenn Sie sich nicht schämen?“

„Nein, vorläufig ist dies nicht nötig.“

„Wie, und ich soll hier so nackend bleiben?“ schrie er sie wild an.

„Ja, das ist vorläufig nicht zu ändern ... Setzen Sie sich solange, bitte, hierher. Sie können sich in die Bettdecke einhüllen, wenn Sie wollen, ich ... ich werde das jetzt fortbringen.“

Alle Sachen wurden den Zeugen gezeigt, man schrieb darauf das Ergebnis der Besichtigung auf, und schließlich ging der Untersuchungsrichter fort, und die Kleidungsstücke wurden ihm nachgetragen. Ihm folgte bald nachher auch der Staatsanwalt. So blieben mit Mitjä nur die Bauern zurück, die schweigsam ringsum standen und ihn nicht aus dem Auge ließen. Mitjä hüllte sich in die Decke, ihn fror. Seine nackten Füße baumelten über den Bettrand, und es wollte ihm in keiner Weise gelingen, die Decke so umzunehmen, daß sie auch die Füße bedeckte. Der Untersuchungsrichter blieb auffallend lange fort, „folternd lange“. „Der Kerl behandelt mich ja wie ein Hundejunges,“ dachte Mitjä knirschend. „Dieser Lump von Staatsanwalt ist gleichfalls hinausgegangen; bestimmt aus Verachtung: es wird ihm ekelhaft geworden sein, einen Nackten anzusehen.“ Mitjä war immer noch im Glauben, daß seine Kleider inzwischen besichtigt wurden und man sie ihm bald zurückbringen werde. Wie groß war daher sein Unwille, als Neljudoff plötzlich mit ganz anderen Kleidern, die ein Bauer ihm nachtrug, zurückkam.

„Da haben Sie jetzt auch die Kleider,“ sagte er gutgelaunt und augenscheinlich sehr zufrieden mit dem Ergebnis seines Ganges. „Herr Kalganoff opfert in diesem interessanten Fall sowohl einen Anzug wie auch ein reines Hemd für Sie. Zum Glück hatte er das alles im Koffer bei sich. Ihre Unterkleider und die Socken können Sie behalten.“

Mitjä geriet außer sich, als er das hörte.

„Ich will keine fremden Kleider!“ schrie er wütend, „geben Sie mir meine eigenen!“

„Das ist unmöglich.“

„Geben Sie mir meine! – zum Teufel mit Kalganoff und seinen Kleidern, und er selbst voran!“

Man mußte ihm lange zureden. Schließlich beruhigte er sich ein wenig. Man erklärte ihm, daß seine Kleider, da sie mit Blut befleckt waren, als Beweisstücke zurückbehalten werden mußten, daß man also nicht einmal das Recht hätte, ihm seine Kleider wiederzugeben – „im Hinblick auf den möglichen Ausgang der Sache“, was Mitjä denn auch zu guter Letzt halbwegs einsah. Er verstummte finster und überwand sich allmählich so weit, daß er sich ankleidete. Er bemerkte nur beim Anziehn der Kleider, daß sie teurer waren als seine alten Kleider, und er sagte, daß er sich nicht wolle „gnädig beschenken lassen“. Außerdem seien sie „beleidigend eng“. „Soll ich etwa eine Vogelscheuche in ihnen spielen ... zu Ihrem Ergötzen?“

Ihm wurde wieder zugeredet, daß es durchaus nicht so schlimm sei, daß er auch hierin wieder übertreibe, daß Herr Kalganoff zwar von Wuchs ein wenig größer sei, aber, wie gesagt, eben nur ein wenig, und daß höchstens die Beinkleider vielleicht etwas zu lang wären. Der Rock aber war in den Schultern tatsächlich zu eng.

„Teufel, man kann ihn ja kaum zuknöpfen,“ brummte Mitjä wütend. „Haben Sie die Güte, und lassen Sie Herrn Kalganoff unverzüglich sagen, daß nicht ich ihn um seine Kleider gebeten habe ... daß ich gegen meinen Willen zur Vogelscheuche aufgeputzt werde.“

„Herr Kalganoff begreift das sehr gut und bedauert ... das heißt, nicht seine Kleider bedauert er, sondern diesen ganzen Vorfall,“ sagte Neljudoff, nachlässig die Worte brummend.

„Er kann sich selbst bedauern! – Nun, wohin jetzt? Oder soll ich immer noch hier sitzen?“

Man bat ihn, wieder „in jenes Zimmer“ zu kommen. Mitjä trat finster vor Ärger hinter dem Vorhange hervor und bemühte sich, niemanden anzusehen. In den fremden Kleidern fühlte er sich wie beschimpft, sogar vor diesen Bauern, vor dem Dorfschulzen und diesem Trifon Borissytsch, dessen Gesicht flüchtig an der Tür auftauchte und verschwand. „Der wollte mich wohl in den neuen Kleidern sehen,“ dachte Mitjä. Er setzte sich auf seinen früheren Platz. Es kam ihm alles wie ein Albdruck, wie etwas ganz Ungereimtes vor, und er glaubte einen Augenblick, den Verstand verloren zu haben.

„Nun, was kommt jetzt? – Rutenhiebe sind ja das einzige, was gerade noch fehlte ...,“ sagte er, innerlich wutknirschend, zum Staatsanwalt.

An den Untersuchungsrichter wollte er sich überhaupt nicht mehr wenden, und er tat absichtlich, als hielte er es unter seiner Würde, mit ihm noch zu sprechen. „Der Kerl hat meine Socken betrachtet, als wäre er blind, und der Schuft hat noch absichtlich befohlen, die Socken umzukehren, um allen zu zeigen, was für unsaubere Wäsche ich habe.“

„Jetzt werden wir wohl zum Verhör der Zeugen übergehen müssen,“ sagte der Untersuchungsrichter, gleichsam als Antwort auf Mitjäs Frage.

„Ja,“ sagte der Staatsanwalt nachdenklich, als ob er gleichfalls sich noch einiges überlegte.

„Wir haben alles getan, Dmitrij Fedorowitsch, was wir für Sie tun konnten,“ fuhr der Untersuchungsrichter fort, „nachdem wir aber bei Ihnen auf eine so bestimmte Weigerung gestoßen sind, die Herkunft der bei Ihnen befindlichen Summe zu erklären, so sehen wir uns in diesem Augenblick ...“

„Was ist das für ein Stein?“ unterbrach ihn plötzlich Mitjä, wie aus tiefen Gedanken auffahrend, und er wies auf einen der großen Ringe, die die rechte Hand Neljudoffs schmückten.

„Stein?“ fragte verwundert der Untersuchungsrichter.

„Ja, dieser dort ... der Ring am Mittelfinger, mit den Adern, was ist das für ein Stein?“ fragte Mitjä ganz absonderlich gereizt und eigensinnig wie ein kleines Kind.

„Das ist ein Rauchtopas,“ sagte Neljudoff lächelnd, „wenn Sie ihn besehen wollen, so werde ich ihn abnehmen ...“

„Nein, nein, nehmen Sie ihn nicht ab!“ schrie ihn Mitjä, der sich plötzlich besonnen hatte und über sich selbst in Wut geriet, wild an. „Nehmen Sie ihn nicht ab, es ist nicht nötig ... Teufel ... Meine Herren, Sie haben meine Seele besudelt! Glauben Sie wirklich, ich würde es vor Ihnen verheimlichen, wenn ich tatsächlich meinen Vater erschlagen hätte? Glauben Sie, ich würde dann lügen, Winkelzüge machen und mich verstecken? Nein, nie würde das Dmitrij Karamasoff tun, das würde er nie ertragen, und wenn ich schuldig wäre, so, das schwöre ich Ihnen, würde ich nicht bis zu Ihrer Ankunft und dem Sonnenaufgang gewartet haben, wie ich es mir vorgenommen hatte, sondern hätte mich schon früher vernichtet, ohne die Morgenröte zu erwarten! Das fühle ich. Oh, nicht in zwanzig Jahren Leben habe ich so viel gelernt, wie ich in dieser einen verfluchten Nacht gelernt habe! ... Und wäre ich denn so, so in dieser Nacht gewesen, in diesem Augenblick jetzt hier auf dieser Stelle vor Ihnen, – würde ich so sprechen, so mich bewegen, so Sie und die Welt ansehen, wenn ich ein Vatermörder wäre ... während sogar der aus Versehen begangene Todschlag Grigorijs mir diese ganze Nacht keine Ruhe gegeben hat, – nicht etwa aus Angst, oh! nicht weil ich eine Strafe gefürchtet hätte! Aber die Schmach! Und Sie verlangen, daß ich solchen Spöttern wie Sie, die nichts sehen und nichts glauben, solchen blinden Maulwürfen und Zynikern, auch noch diese neue Schändlichkeit, die ich begangen habe, aufdecken und erzählen soll, daß ich noch diese neue Schande aufdecken soll, selbst wenn mich das sofort von Ihrer Anschuldigung befreien könnte? ... Lieber als Zwangsarbeiter nach Sibirien! Wer die Tür zu meinem Vater geöffnet hat und durch diese Tür eingetreten ist, der hat ihn auch erschlagen, der hat ihn auch bestohlen! Wer das gewesen ist – ich weiß es nicht, und es quält mich, daß ich es nicht weiß, ich weiß nur eines: Dmitrij Karamasoff ist es nicht gewesen, das sage ich Ihnen! – Und das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, doch genug, genug, lassen Sie mich jetzt in Ruhe ... Verschicken Sie mich, köpfen Sie mich, aber nur reizen Sie mich nicht mehr. Ich habe mein letztes Wort gesprochen. Rufen Sie Ihre Häscher.“

Mitjä hatte gesprochen, als wäre er fest entschlossen, nichts mehr zu sagen. Der Staatsanwalt hatte ihn die ganze Zeit scharf beobachtet, und kaum war Mitjä verstummt, da sagte er mit der kältesten und ruhigsten Miene, als handelte es sich um die gleichgültigsten Dinge:

„Gerade in bezug auf diese offene Tür, an die Sie soeben erinnerten, können wir Ihnen sehr zur rechten Zeit, nämlich gerade jetzt, eine Aussage des alten Grigorij Wassiljewitsch mitteilen, die für uns wie für Sie von großer Bedeutung ist. Der alte Diener, den Sie verletzt haben, hat uns auf unsere Fragen hin mitgeteilt, und zwar auf das bestimmteste, daß bereits in dem Augenblick, als er auf das Geräusch hin, das er, auf der Treppe stehend, im Garten zu vernehmen geglaubt hatte, zum Pförtchen gegangen und durch dieses offenstehende Pförtchen in den Garten eingetreten war – daß ihm bereits damals, noch bevor er Sie in der Dunkelheit laufen gesehen hatte, auf den ersten Blick nach links das hellerleuchtete offene Fenster und zu gleicher Zeit die viel näher zu ihm liegende offene Tür aufgefallen sei, dieselbe Tür, von der Sie behaupten, daß sie während der ganzen Zeit Ihres Aufenthaltes im Garten geschlossen gewesen sei. Ich will Ihnen nicht verheimlichen, daß Grigorij Wassiljewitsch auf das bestimmteste überzeugt ist, Sie seien aus dieser Tür herausgelaufen, obgleich er Sie natürlich nicht herauslaufen gesehen hat, da Sie erst in einiger Entfernung, inmitten des Gartens zum Zaun laufend, vor ihm aufgetaucht sind ...“

Mitjä war schon in der Mitte der Rede aufgesprungen.

„Unsinn!“ brüllte er plötzlich außer sich auf. „Das ist ein schändlicher Betrug! Er konnte keine offene Tür sehen, denn sie war damals geschlossen ... Er lügt!“

„Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß er diese Aussage nur infolge seiner festen Überzeugung gemacht hat. Er schwankt nicht, er besteht darauf. Wir haben ihm die Frage mehrmals aufs schärfste gestellt.“

„Ja, auch ich habe ihn mehreremal ausdrücklich danach gefragt,“ bestätigte eifrig der Untersuchungsrichter.

„Das ist nicht wahr, das ist aber doch nicht wahr! Das ist entweder eine Verleumdung oder die Halluzination eines Verrückten,“ schrie Mitjä, „es hat ihm einfach so geschienen, im Fieber von der Wunde, nach dem Blutverlust, als er erwachte ... und so phantasiert er noch jetzt.“

„Schön, aber er hat ja die offene Tür nicht nach der Verletzung am Zaun, als er später zu sich kam, sondern vorher, als er in den Garten trat, gesehen.“

„Aber das kann nicht sein, das ist unmöglich! Das sagt er aus Haß gegen mich, er will mich verleumden ... Er hat das nicht sehen können ... Ich bin nicht durch die Tür gegangen ...“ beteuerte Mitjä atemlos.

Da wandte sich der Staatsanwalt zum Untersuchungsrichter und sagte ihm bedeutsam:

„Zeigen Sie es.“

„Ist Ihnen dieser Gegenstand bekannt?“ fragte jener, indem er ein großes Kuvert von dickem Papier in Kanzleiformat auf den Tisch legte. Auf der anderen Seite desselben waren noch drei rote Siegel zu sehen. Das Kuvert aber war leer und an einer Seite aufgerissen.

Mitjä starrte es mit weit aufgerissenen Augen an.

„Das ... das wird wohl das Kuvert vom Vater sein,“ murmelte er, „– dasselbe, in dem diese Dreitausend lagen ... und wenn die Aufschrift, erlauben Sie: ‚und Küchelchen‘ ... da! – Dreitausend!“ schrie er auf, „Dreitausend, sehen Sie hier?“

„Natürlich sehen wir es, aber das Geld haben wir nicht mehr im Kuvert gefunden, es war leer und lag auf dem Fußboden, gleich vor dem Bett hinter dem Schirm.“

Einige Sekunden lang stand Mitjä wie vom Schlage gerührt.

„Meine Herren, das ist Ssmerdjäkoff!“ schrie er plötzlich laut. „Der hat ihn erschlagen, der hat ihn auch bestohlen! Nur er allein wußte es, wo das Kuvert beim Vater versteckt war ... Er ist es gewesen, das ist jetzt klar!“

„Aber auch Sie wußten doch um das Kuvert, und daß es unter dem Kopfkissen lag.“

„Niemals habe ich das gewußt! Ich habe es doch niemals gesehen, erst jetzt sehe ich es zum erstenmal. Ich hatte nur durch Ssmerdjäkoff davon gehört ... Er allein wußte, wo der Vater das Kuvert versteckt hatte, ich aber habe es überhaupt nicht gewußt ...“ rief Mitjä atemlos.

„Aber Sie haben es uns doch selbst vorhin gesagt, daß das Kuvert bei Ihrem verstorbenen Vater unter dem Kopfkissen gelegen habe. Sie sagten gerade unter dem Kopfkissen, folglich haben Sie doch gewußt, wo es gelegen hat.“

„So haben wir es auch niedergeschrieben!“ bestätigte der Untersuchungsrichter.

„Unsinn! Blödsinn! Ich habe durchaus nicht gewußt, daß es unter dem Kopfkissen lag. Ja, vielleicht hat es dort überhaupt nicht gelegen ... Ich habe es ganz aufs Geratewohl gesagt, daß es unter dem Kissen gewesen sei ... Aber was sagt Ssmerdjäkoff? Haben Sie ihn gefragt, wo es gelegen hat? Was sagt Ssmerdjäkoff? Das ist das Wichtigste ... Ich habe es mir einfach auf den Hals gelogen ... Ich habe es gelogen, ganz unüberlegt habe ich es gesagt, daß es unter dem Kissen gelegen habe, und Sie glauben jetzt ... Gott, Sie wissen doch, wie sich einem plötzlich etwas von der Zunge reißt, ohne zu wollen, spricht man es aus, ganz von selbst sagt es sich! Gewußt aber hat es nur Ssmerdjäkoff, nur Ssmerdjäkoff allein und sonst niemand! ... Er hat auch mir gesagt, wo es lag! Aber das ist er, er! Er hat es getan, ganz zweifellos hat er es getan; das ist mir jetzt so klar wie das Sonnenlicht!“ rief außer sich Mitjä, der verzweifelnd überzeugen wollte und zusammenhanglos sich wiederholte und überstürzte. „So begreifen Sie doch, und verhaften Sie ihn, nur schneller, schneller ... Er hat ihn erschlagen, als ich fortgelaufen war und Grigorij bewußtlos am Boden lag, das ist doch jetzt klar ... Er hat das Zeichen gegeben, und der Vater hat ihm die Tür aufgemacht ... Denn nur er allein kannte die Zeichen, wie mein Vater glaubte, und ohne Zeichen hätte mein Vater nie, nie die Tür aufgemacht ...“

„Sie vergessen aber wieder den einen Umstand,“ bemerkte mit derselben ruhigen Zurückhaltung, doch diesmal bereits wie mit dem Anflug eines Triumphgefühls der Staatsanwalt, „daß es überflüssig war, die Zeichen zu geben, wenn die Tür schon offen stand, als Sie noch im Garten waren ...“

„Die Tür, die Tür ...“ murmelte Mitjä und starrte wortlos den Staatsanwalt an; kraftlos sank er wieder auf den Stuhl.

Alle schwiegen.

„Ja, die Tür! ... Das ist ein Phantom! Gott ist gegen mich! Gott der Herr ist gegen mich!“ rief Mitjä aus, mit sinnlos gewordenem Blick vor sich hinstarrend.

„Nun sehen Sie,“ begann wichtig der Staatsanwalt, „Sie sehen doch jetzt selbst ein, Dmitrij Fedorowitsch: einerseits haben wir diese Aussage über die offene Tür, aus der Sie herausgelaufen sein müssen, – eine Aussage, die sowohl uns wie Sie stutzig macht; und anderseits – Ihr unbegreifliches, hartnäckiges und fast verzweifeltes Schweigen in betreff der Herkunft des Geldes, das sich plötzlich in Ihren Händen befindet, während Sie noch vor drei Stunden nach Ihrer eigenen Aussage Ihre Pistolen versetzt haben, um wenigstens zehn Rubel zu bekommen! Nun urteilen Sie im Hinblick auf diese Tatsache selbst: An was sollen wir glauben, und an was uns halten? Und werfen Sie uns nicht vor, daß wir ‚kalte Zyniker und Spötter‘ seien, die nicht imstande sind, den edlen Ausbrüchen Ihres Herzens zu glauben ... Versuchen Sie, sich in unsere Lage zu versetzen und die Dinge von unserem Standpunkte aus zu betrachten ...“

Mitjä befand sich in unbeschreiblicher Erregung, er war ganz bleich geworden.

„Gut!“ rief er plötzlich, „ich werde Ihnen mein Geheimnis aufdecken, ich werde Ihnen sagen, woher ich das Geld genommen habe! ... Ich werde meine Schmach aufdecken, um nachher weder Sie noch mich anklagen zu müssen.“

„Glauben Sie mir, Dmitrij Fedorowitsch,“ fiel sofort mit fast freudig gerührter Stimme Neljudoff ein, „daß jedes aufrichtige und volle Bekenntnis Ihrerseits, das Sie jetzt beim ersten Verhör ablegen, späterhin einen großen Einfluß auf Ihr Los und seine Wendung zum Guten haben kann und sogar ...“

Doch der Staatsanwalt stieß ihn unbemerkt unter dem Tisch an, und so konnte der andere noch rechtzeitig verstummen. Mitjä hatte übrigens gar nicht gehört, was jener sprach.

VII.
Mitjäs großes Geheimnis

Meine Herren,“ begann er immer noch in derselben Aufregung, „dieses Geld ... ich will alles eingestehen ... dieses Geld gehörte mir.“

Beim Staatsanwalt und Untersuchungsrichter wurden sogar die Gesichter länger: nicht das hatten sie erwartet.

„Wieso gehörte es Ihnen,“ stotterte Neljudoff, „da Sie doch noch um fünf Uhr desselben Tages nach Ihrer eigenen Aussage ...“

„Ach, zum Teufel mit fünf Uhr desselben Tages und eigene Aussage, nicht darum handelt es sich jetzt! Dieses Geld gehörte mir, mir, das heißt, es war von mir gestohlen ... das heißt also, es war nicht mein Geld, sondern gestohlenes, von mir gestohlenes Geld, und zwar waren es tausendfünfhundert Rubel, die ich die ganze Zeit bei mir hatte ...“

„Aber von wo hatten Sie das Geld denn hergenommen?“

„Vom Halse, meine Herren, hatte ich es hergenommen, hier von diesem Halse ... in ein Stück Zeug eingenäht, hing es an meinem Halse, schon lange, einen Monat lang, ja, so lange habe ich es in Schmach und Schande mit mir herumgetragen.“

„Aber von wem haben Sie es denn ... sich angeeignet?“

„Sie wollten wohl sagen: gestohlen? Sprechen Sie nur das Wort deutlich aus. Denn für mich ist es ebensogut, als hätte ich es gestohlen. Wenn Sie aber wollen, so habe ich es mir – angeeignet. Meiner Meinung nach habe ich es gestohlen. Und gestern abend, da stahl ich es denn auch in der Tat.“

„Gestern abend? Aber Sie sagten doch soeben, Sie hätten das Geld schon vor einem Monat ... erhalten!“

„Ja, aber nicht vom Vater, nicht von meinem Vater, beunruhigen Sie sich nicht, nicht von meinem Vater habe ich es gestohlen, sondern von ihr. Lassen Sie mich alles ruhig erzählen. Unterbrechen Sie mich nicht. Das ist doch schwer ... Sehen Sie: ungefähr vor einem Monat rief, mich Katerina Iwanowna Werchoffzewa zu sich, meine gewesene Braut ... Kennen Sie sie?“

„Wie sollten wir nicht, natürlich.“

„Ich weiß, daß Sie sie kennen. Sie hat die edelste Seele, die edelste aller edlen, doch haßt sie mich schon lange, lange ... und ich habe es verdient, oh, und wie noch, wie verdient!“

„Katerina Iwanowna?“ fragte verwundert der Untersuchungsrichter.

Auch der Staatsanwalt starrte ihn verwundert an.

„Oh, sprechen Sie ihren Namen nicht unnütz aus! Ich bin ein Schuft, daß ich sie nenne. Ja, ich habe wohl gesehen, wie sehr sie mich haßt ... schon lange, schon seit jenem ersten Tage, seit jener ersten Begegnung dort in meiner Wohnung ... Doch genug, genug davon, Sie sind nicht würdig, davon auch nur etwas zu wissen, und das ist auch gar nicht nötig ... Zur Sache gehört nur, daß sie mich vor ungefähr einem Monat zu sich rief, mir dreitausend Rubel einhändigte, damit ich sie ihrer Schwester und noch einer Verwandten nach Moskau schickte – als ob sie es nicht selbst tun konnte! ... und ich ... das war gerade in jener Schicksalsstunde meines Lebens, als ich ... nun, mit einem Wort, als ich mich gerade in eine andere verliebt hatte, in sie, in sie, die jetzt dort unten sitzt, Gruschenka ... Ich brachte sie damals hierher, nach Mokroje, und brachte hier in zwei Tagen die Hälfte dieser verfluchten Dreitausend durch, das heißt also tausendfünfhundert Rubel, und die andere Hälfte behielt ich zurück. Nun, und diese anderen Tausendfünfhundert, die ich zurückbehalten hatte, trug ich an meinem Halse, als Amulett ... Gestern abend aber habe ich das Geld vom Halse abgerissen und habe es durchgebracht. Der Rest von achthundert Rubeln, den Sie, Nikolai Parfenowitsch, jetzt an sich genommen haben, ist alles, was von den Tausendfünfhundert noch übriggeblieben ist.“

„Erlauben Sie, wie denn das? Sie haben doch damals hier vor einem Monat Dreitausend und nicht Tausendfünfhundert durchgebracht! Das wissen doch alle!“

„So, wer weiß es denn? Wer hat das Geld gezählt? Wem habe ich es zu zählen gegeben?“

„Aber hören Sie mal, Sie haben doch selbst allen gesagt, daß Sie runde Dreitausend durchgebracht haben.“

„Das ist wahr, daß ich es allen gesagt habe, ich habe es sogar der ganzen Stadt gesagt, und die ganze Stadt hat es nachgesprochen, und alle glaubten es, und auch hier in Mokroje glaubt man, daß es Dreitausend gewesen sind. Nur habe ich trotzdem nicht mehr als anderthalb Tausend hier verpraßt und die anderen anderthalb Tausend in das Zeugstück eingenäht. Sehen Sie, meine Herren, wie es war, woher ich dieses Geld ...“

„Das ... das ist ganz wunderbar ...“ stotterte Neljudoff.

„Gestatten Sie zu fragen,“ sagte schließlich der Staatsanwalt, „haben Sie wenigstens irgend jemandem von diesem Umstande früher Mitteilung gemacht ... das heißt, daß Sie die anderen anderthalb Tausend damals vor einem Monat zurückbehalten hatten?“

„Nein, ich habe niemandem etwas davon gesagt.“

„Das ist sonderbar. Und Sie wissen genau, daß Sie es wirklich keinem einzigen Menschen gesagt haben?“

„Keinem einzigen Menschen. Niemandem, niemandem.“

„Aber warum denn dieses Schweigen darüber? Was veranlaßte Sie, das so geheimzuhalten? Ich werde mich deutlicher aussprechen: Sie haben uns also Ihr Geheimnis aufgedeckt, das nach Ihren Worten so schmachvoll sein soll, obgleich im Grunde – natürlich nur relativ gesprochen – diese Handlung, das heißt, die Aneignung fremden Geldes, und dazu noch selbstverständlich nur eine zeitweilige Aneignung, obgleich diese Handlung – wenigstens meines Erachtens – nur eine äußerst leichtsinnige Handlung ist und längst nicht so schmachvoll – wenn man außerdem noch Ihren Charakter in Betracht zieht ... Oder nennen wir sie sogar im höchsten Grade tadelnswert und so weiter, – so ist es deswegen noch nicht eine weiß Gott wie schmachvolle Tat ... Sehen Sie, ich meine das so: Daß diese dreitausend Rubel Fräulein Werchoffzeff gehörten, das hatten in diesem Monat schon viele ohne Ihr Eingeständnis erraten, und auch ich habe schon früher von diesem Gerücht gehört ... Michail Makarowitsch hat es gleichfalls gehört. Kurz, dieses Gerücht war in der letzten Zeit ein bereits allbekannter Stadtklatsch. Und zudem sollen auch Sie, wenn ich mich nicht täusche, einem Herrn eingestanden haben, daß Sie dieses Geld von Fräulein Werchoffzeff erhalten hätten ... Darum nun wundert es mich, daß Sie bis jetzt, das heißt bis zum gegenwärtigen Augenblick, aus dieser – nach Ihren Worten – zurückgelegten Summe von tausendfünfhundert Rubeln ein so großes Geheimnis gemacht haben, und daß Sie die Aufdeckung dieses Geheimnisses vorhin für eine so große Schmach hielten ... Es ist unwahrscheinlich, daß das Eingeständnis dieses Geheimnisses Ihnen so viel Qual bereitet hätte ... Sie sagten doch noch vor einer Minute, daß Sie eher als Zwangsarbeiter nach Sibirien gehen als das Geheimnis aufdecken würden ...“

Der Staatsanwalt verstummte. Er war in Hitze geraten und hatte seinen Ärger, wenn nicht seine Wut zu verbergen vergessen. Es hatte sich zuviel davon in ihm angesammelt, und so hatte er denn auch nicht mehr an schöne Redewendungen gedacht, sondern fast verwirrt gesprochen.

„Nicht in den Anderthalbtausend lag die Schmach, sondern darin, daß ich diese Anderthalbtausend von jenen Dreitausend abgeteilt hatte,“ sagte Mitjä mit fester Überzeugung.

„Aber wie denn,“ fragte der Staatsanwalt gereizt auflachend, „was ist denn dabei so schmachvoll, wenn Sie von bereits tadelnswert oder, wenn Sie wollen, meinetwegen auch schmachvoll angeeigneten Dreitausend die Hälfte nach Ihrem Ermessen abgeteilt haben? Viel wichtiger ist doch, daß Sie sich diese Dreitausend angeeignet haben, als das, was Sie mit ihnen nachher getan haben. Übrigens, warum haben Sie denn diese Hälfte abgeteilt? Wozu, zu welchem Zweck haben Sie das getan – können Sie es uns sagen?“

„Oh, meine Herren, in dem Zweck liegt ja doch die ganze Schmach!“ rief Mitjä. „Aus Berechnung habe ich die Anderthalbtausend abgeteilt, und diese Berechnung ist ja die ganze Gemeinheit ... Und diese Gemeinheit habe ich einen ganzen Monat mit mir herumgetragen!“

„Das begreife ich nicht.“

„Dann wundere ich mich über Sie. Aber es ist wahr, ich werde mich deutlicher erklären müssen; es ist vielleicht wirklich nicht ganz klar. Hören Sie und passen Sie auf: Ich eigne mir dreitausend Rubel an, die mir, die meiner Ehre anvertraut waren, und ich bringe das ganze Geld in einer Nacht durch und komme am nächsten Morgen zu ihr und sage: ‚Katjä, ich bin schuldig, ich habe deine Dreitausend durchgebracht.‘ Nun, was, ist das schön? Nein, das ist nicht schön, – es ist unehrlich und schlecht, ich bin ein Tier oder ein Mensch, der sich sowenig bezwingen kann, daß er tierisch wird, nicht wahr? Aber ich bin doch deswegen noch kein Dieb? Doch kein bewußter Dieb, doch kein Dieb, der aus Berechnung stiehlt, das müssen Sie mir doch zugeben! Ich habe das Geld durchgebracht, aber ich habe es nicht gestohlen! Jetzt nehmen wir den zweiten noch vorteilhafteren Fall. Geben Sie gut acht auf mich, ich könnte womöglich wieder aus dem Konzept kommen. – Der Kopf geht mir irgendwie ganz absonderlich rund. – Also der zweite Fall: ich verprasse hier nur Anderthalbtausend, also die Hälfte. Am folgenden Tage gehe ich zu ihr und bringe ihr die zweite Hälfte zurück: ‚Katjä, nimm diese Hälfte von mir, dem Scheusal und leichtsinnigen Schufte, wieder zurück und schicke sie selbst nach Moskau, denn die eine Hälfte habe ich in dieser Nacht durchgebracht, also würde ich wahrscheinlich auch mit der zweiten Hälfte dasselbe tun; nimm es, um mich davor zu bewahren.‘ Nun, was wäre ich in diesem Falle? Natürlich alles mögliche, ein Tier und ein leichtsinniger Mensch, aber immerhin doch kein Dieb, kein ausgesprochener Dieb, denn wenn ich ein Dieb wäre, so würde ich bestimmt nicht den Rest zurückgebracht, sondern auch ihn mir angeeignet haben. So müßte sie sich doch sagen, daß ich, wenn ich den Rest so bald zurückgebracht habe, dann auch das andere Geld, das durchgebrachte, zurückbringen würde, daß ich mein Leben lang nur darauf bedacht sein würde, dafür arbeiten würde – jedenfalls aber das Geld mir verschaffen und ihr abgeben würde. So bin ich dann wohl ein Schuft, aber kein Dieb, kein Dieb, sagen Sie, was Sie wollen, aber kein Dieb!“

„Nun ja, zugegeben, daß das ein gewisser Unterschied ist,“ sagte mit kaltem Lächeln der Staatsanwalt, „so ist doch sonderbar, daß Sie darin einen dermaßen verhängnisvollen Unterschied sehen.“

„Ja, ich sehe darin einen dermaßen verhängnisvollen Unterschied! Ein Schuft kann jeder sein, und das ist auch, genau genommen, ein jeder. Ein Dieb aber kann nicht jeder sein, sondern nur ein Erzschuft. Ach, nun, ich verstehe nicht, mich da, wie es sich gehört, mit allen Feinheiten auszudrücken ... Ich meine, ein Dieb ist gemeiner als ein Schuft, ja, das ist meine Überzeugung. So hören Sie denn: Ich trage das Geld einen ganzen Monat mit mir herum, morgen aber kann ich mich entschließen, es abzugeben, und dann bin ich kein Schuft mehr ... und da kann ich mich nun nicht dazu entschließen, obwohl ich mir jeden Tag sage: ‚Entschließe dich, entschließe dich, Schuft‘, und so kann ich mich einen ganzen Monat lang nicht entschließen! Ist das nun schön, ist das, Ihrer Meinung nach, nun etwa schön?“

„Nun ja, das ist allerdings nicht gerade schön, das begreife ich sehr wohl, aber darüber streite ich auch nicht,“ sagte der Staatsanwalt, diesmal wieder zurückhaltend. „Und überhaupt wollen wir jede Erörterung über diese Feinheiten und Unterschiede vorläufig beiseite lassen, und, wenn es Ihnen gefällig ist, zum Sachlichen übergehen. Das aber wäre, wenn Sie uns jetzt erklären wollten, was Sie noch nicht getan haben, obgleich von uns die Frage schon gestellt worden ist: Warum teilten Sie zuerst das Geld, das heißt, warum wollten Sie die eine Hälfte der ganzen Summe aufbewahren, wenn Sie die andere hier verzettelten? Wozu, speziell zu welchem Zweck gedachten Sie diese anderen Anderthalbtausend zu verwenden? Ich bestehe ganz besonders auf dieser Frage, Dmitrij Fedorowitsch.“

„Ach, ja, in der Tat!“ rief Mitjä und schlug sich vor die Stirn. „Verzeihen Sie, ich erschwere Ihnen nur das Verständnis und vergesse ganz das Hauptsächliche zu erklären, sonst hätten Sie ja auch sofort begriffen, denn in diesem Zweck, in diesem Zweck liegt ja gerade die Schmach! Sehen Sie, hier kam immer der Alte dazwischen, der Verstorbene, und belästigte immer Agrafena Alexandrowna, und ich war eifersüchtig, da ich glaubte, daß sie zwischen mir und ihm schwankte. Und so dachte ich denn jeden Tag: Was aber dann, wenn sie sich plötzlich entscheidet, wenn sie müde wird, mich zu quälen und mir plötzlich sagt: ‚Dich liebe ich und nicht ihn, bring mich sofort ans Ende der Welt,‘ und ich habe dann nur zwei Zwanziger in der Tasche, was soll ich dann tun, womit sie fortbringen? – Dann wäre ich doch verloren gewesen! Ich kannte sie doch damals noch nicht und verstand sie auch nicht, ich glaubte, daß sie nur Geld haben wollte, und daß sie mir meine Armut nicht verzeihen würde. Und da zähle ich denn tückisch die Hälfte von den Dreitausend ab und nähe sie kaltblütig mit der Nadel ein, nähe sie mit Berechnung ein, nähe sie bei völliger Nüchternheit ein, und erst darauf, nachdem ich sie eingenäht habe, fahre ich hinaus, um nun die andere Hälfte zu verprassen! Das, meine Herren, das ist eine Gemeinheit! Haben Sie es jetzt begriffen?“

Der Staatsanwalt lachte schallend auf und der Untersuchungsrichter gleichfalls.

„Meiner Meinung nach ist das sogar sehr vernünftig und sittlich, daß Sie sich gemäßigt und nicht alles durchgebracht haben,“ meinte immer noch lachend der Untersuchungsrichter, „denn was ist denn schließlich dabei?“

„Das ist dabei, daß ich gestohlen habe, begreifen Sie das doch endlich! O Gott, Sie entsetzen mich durch Ihren Mangel an Verständnis! Die ganze Zeit, während der ich diese Tausendfünfhundert auf meiner Brust eingenäht trug, sagte ich mir an jedem Tage und in jeder Stunde: ‚Du bist ein Dieb, du bist ein Dieb!‘ Deswegen wütete ich doch den ganzen Monat, deswegen suchte ich doch Händel im Gasthaus, deswegen verprügelte ich doch meinen Vater, weil ich mich als Dieb fühlte! Selbst dem Aljoscha, meinem jüngsten Bruder, konnte ich mich nicht entschließen, von diesen Tausendfünfhundert etwas zu sagen: dermaßen fühlte ich, daß ich ein Schuft und ein Taschendieb war! Aber wissen Sie, meine Herren, daß ich trotzdem die ganze Zeit, während der ich das Geld auf meiner Brust trug, an jedem Tage und in jeder Stunde mir noch sagen konnte: ‚Nein, Dmitrij Karamasoff, du bist vielleicht doch kein Dieb.‘ Und warum nicht? – ‚Weil du morgen hingehen und Katjä die Tausendfünfhundert zurückgeben kannst!‘ Und erst gestern entschloß ich mich, dieses eingenähte Geld von meinem Halse zu reißen, als ich von Fenjä zu Perchotin ging, bis dahin hatte ich es nicht fertig gebracht. In demselben Augenblick erst, in dem ich das tat, wurde ich endgültig ein unbestreitbarer Dieb, fürs ganze Leben ein Dieb und ein ehrloser Mensch. Warum? Weil ich zusammen mit diesem Zeuge, in dem das Geld eingenäht war, auch meinen Vorsatz zerriß, zu Katjä zu gehen und ihr zu sagen: ‚Ich bin ein leichtsinniger Schuft, aber kein Dieb!‘ Begreifen Sie es jetzt, begreifen Sie es?“

„Warum entschlossen Sie sich denn gerade gestern abend dazu?“ fragte der Untersuchungsrichter.

„Warum? Lächerlich, das noch zu fragen! – Weil ich mich zum Tode verurteilt hatte, weil ich beschlossen hatte, mich um fünf Uhr morgens hier in Mokroje bei Sonnenaufgang zu erschießen. ‚Es ist doch einerlei,‘ dachte ich, ‚ob ich als Schuft oder als Ehrenmann sterbe!‘ Aber nein, das ist doch nicht einerlei, wie sich erwiesen hat! Werden Sie mir glauben, meine Herren, nicht das quälte mich heute nacht am meisten, daß ich den alten Diener erschlagen hatte und mir Sibirien drohte – und noch dazu wann? in demselben Augenblick, nachdem sie mir gesagt hatte, daß sie mich liebe, nachdem sich der Himmel wieder über mir aufgetan! Oh, das quälte wohl auch, aber doch nicht so ... doch nicht so, wie dieses verfluchte Bewußtsein, daß ich von meinem Halse doch dieses verfluchte Geld abgerissen und verschleudert hatte, daß ich – endgültig ein Dieb war! Oh, meine Herren, ich sage es Ihnen nochmals mit meinem Herzblut: Viel habe ich in dieser Nacht erkannt! Ich erkannte, daß als Schuft nicht nur zu leben unmöglich ist, sondern daß man als Schuft nicht einmal sterben kann ... Nein, meine Herren, sterben muß man ehrenhaft! ...“

Mitjä war sehr bleich. Er sah erschöpft und gemartert aus, obschon er aufs äußerste erregt war.

„Ich fange an, Sie zu begreifen, Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte langsam, mit weicher, fast mitleidiger Stimme der Staatsanwalt. „Aber alles das, verzeihen Sie, sind meiner Meinung nach nur Nerven ... sind Ihre angegriffenen Nerven und weiter nichts. Warum sind Sie denn, um sich von diesen Qualen zu befreien, und anstatt sich einen ganzen Monat damit weiterzuquälen, mit den tausendfünfhundert Rubeln nicht zu jener Dame gegangen, die sie Ihnen zuerst eingehändigt hatte? um ihr das Geld zurückzugeben und dann, nachdem Sie sich mit ihr ausgesprochen hätten, ihr alles zu erklären? und um schließlich, angesichts Ihrer damaligen Lage, die Sie uns doch so verzweifelt geschildert haben, ein anderes Arrangement zu versuchen, eines, das sich einem ganz von selbst aufdrängt ... nämlich – nach dem edelmütigen Bekenntnis aller Ihrer Fehler ... kurz, warum hätten Sie nicht die Summe, die Sie für Ihre Ausgaben nötig hatten, von ihr erbitten sollen? – eine Summe, die sie angesichts Ihrer Verzweiflung in ihrer großen Herzensgüte Ihnen bestimmt nicht verweigert haben würde, besonders wenn Sie dafür ein Dokument ausgestellt hätten oder sagen wir, selbst wenn Sie jene Rechte auf Ihr Eigentum, die Sie dem Kaufmann Ssamssonoff und Frau Chochlakoff angeboten haben, auf sie übertragen hätten? Sie halten doch diese Rechte noch bis auf den heutigen Tag für so viel wert?“

Mitjä schoß das Blut ins Gesicht.

„Ist das möglich, daß Sie mich wirklich für einen solchen Schuft halten? Sie haben das doch nicht im Ernst gesagt, das kann doch nicht sein!“ rief er empört aus, und er blickte dem Staatsanwalt in die Augen, als könnte er nicht an das glauben, was er von ihm gehört hatte.

„Ich versichere Sie, daß ich es im Ernst gesagt habe ... Warum glauben Sie, daß es nicht im Ernst gemeint sein könnte?“ fragte der Staatsanwalt seinerseits verwundert.

„Oh, wie gemein das gewesen wäre! Meine Herren, wissen Sie auch, wie Sie mich quälen! Aber, es sei drum, ich werde Ihnen alles sagen, ich werde Ihnen meine ganze Gemeinheit eingestehen ... ich tue es, um gerade Sie dadurch zu beschämen, und Sie werden sich selbst wundern, bis zu welch einer Niedrigkeit die menschlichen Gefühle in Ihren Kombinationen sinken können. So hören Sie denn, daß auch ich daran gedacht habe, an genau dasselbe, was Sie soeben aussprachen, Herr Staatsanwalt! Ja, meine Herren, auch ich habe diesen Gedanken gehabt in diesem letzten Monat, so daß ich mich fast schon entschloß, zu Katjä zu gehen, ja, dermaßen gemein war ich! Doch zu ihr zu gehen, ihr meine Untreue einzugestehen und auf Grund dieses Verrates, zur Ausführung dieses Verrates, für die bevorstehenden Ausgaben dieses Verrates, von ihr, ihr selbst, von Katjä, das Geld zu bitten – zu bitten, hören Sie, zu bitten! – und dann sie sofort zu verlassen und mit der anderen fortzufahren, mit ihrer Gegnerin, die sie haßt, und durch die sie beleidigt worden ist, und wie noch beleidigt, – Sie sind verrückt geworden, Herr Staatsanwalt!“

„Verrückt oder nicht verrückt, aber, es ist wahr, ich bedachte im Augenblick nicht ... daß hierbei die weibliche Eifersucht in Frage kam ... wenn wirklich von Eifersucht die Rede sein konnte, wie Sie behaupten ... das heißt, es konnte sich hierbei allerdings um etwas Derartiges handeln,“ meinte der Staatsanwalt lächelnd.

„Das aber wäre doch eine solche Gemeinheit gewesen!“ – Mitjä schlug fast rasend vor Zorn mit der Faust krachend auf den Tisch – „das hätte denn doch dermaßen gestunken, daß, daß ... ich weiß nicht, wie ich das nennen soll! Und wissen Sie auch, daß sie imstande gewesen wäre, mir dieses Geld tatsächlich zu geben, sie hätte es getan, hätte es sogar bestimmt getan, aus Rache hätte sie es gegeben, zur Stillung ihres Rachedurstes, aus Verachtung zu mir hätte sie es gegeben. Denn auch sie ist eine infernale Seele, ein Weib, das mächtigen Zornes fähig ist! Ich aber würde das Geld angenommen haben, oh, ich würde es genommen haben, und dann würde ich mein ganzes Leben lang ... o Gott! Verzeihen Sie, meine Herren, ich schreie ja nur deswegen so, weil ich diesen Gedanken noch vor kurzem tatsächlich gehabt habe, vor drei Tagen noch, als ich mich mit dem Ljägawyj herumplagte, und dann noch gestern, ja, noch gestern, den ganzen Tag gestern, ich weiß noch ganz genau, die ganze Zeit gestern bis zu jenem Vorfall ...“

„Bis zu welchem Vorfall?“ griff der Untersuchungsrichter sofort auf, doch Mitjä überhörte die Frage.

„Ich habe Ihnen ein furchtbares Bekenntnis abgelegt,“ sagte er finster. „So schätzen Sie es doch, meine Herren. Nein, das wäre zu wenig, zu wenig, zu wenig ist es, das nur zu schätzen, – heilig halten sollen Sie es! ... Wenn Sie es aber nicht tun, wenn auch das an Ihren Seelen vorübergeht, ohne sie zu berühren, dann ... dann achten Sie mich ja überhaupt nicht, meine Herren, das sage ich Ihnen, und ich ... ich werde vergehen vor Schande, daß ich es solchen Menschen bekannt habe, wie Sie sind! Oh, ich werde mich erschießen! Ja, ich sehe ja schon, daß Sie mir nicht glauben, ich sehe es, ich sehe es! Wie, auch das wollen Sie niederschreiben?“ rief er plötzlich angstvoll.

„Ja, das, was Sie soeben geäußert haben,“ sagte der Untersuchungsrichter, der ihn verwundert betrachtete, „daß Sie bis zum letzten Augenblick noch daran gedacht haben, zu Fräulein Werchoffzeff zu gehen, um sie um diese Summe zu bitten ... Glauben Sie mir, das ist eine Aussage von großer Wichtigkeit für uns, Dmitrij Fedorowitsch, über diesen ganzen Vorfall ... und besonders für Sie, besonders für Sie.“

„Haben Sie Erbarmen, meine Herren!“ rief Mitjä, der in der Verzweiflung die Hände erhob, „schreiben Sie doch wenigstens das nicht auf, so schämen Sie sich doch wenigstens diesmal! Ich habe mein Herz vor Ihnen in zwei Hälften gerissen, und Sie benutzen das, um mit ihren Fingern an der Rißstelle in beiden Hälften herumzubohren ... O Gott!“

In der Verzweiflung senkte er seinen Kopf und verbarg sein Gesicht in den Händen.

„Regen Sie sich nicht so auf, Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte der Staatsanwalt, „es wird Ihnen alles, was niedergeschrieben ist, vorgelesen werden, und das, womit Sie nicht einverstanden sind, können Sie dann nach ihrem Wunsch ändern. Jetzt aber will ich noch einmal meine Frage wiederholen, zum drittenmal: Haben Sie denn wirklich niemandem, keiner einzigen lebenden Seele etwas von diesem eingenähten Gelde gesagt? Ich muß Ihnen gestehen, daß es kaum möglich ist, sich das vorzustellen.“

„Niemandem, niemandem! Ich habe es Ihnen doch schon gesagt! Wenn Sie mir nicht glauben, so haben Sie ja nichts begriffen! Dann – lassen Sie mich aber auch in Ruhe.“

„Wie Sie wünschen. Aber dieser Punkt muß sich noch aufklären, und wir haben ja schließlich auch noch viel Zeit vor uns, um ihn aufzuklären. Nur bedenken Sie selbst: Wir haben vielleicht zehn, zwanzig, dreißig Zeugen, die aussagen, daß Sie, Sie selbst gesagt und sogar ausgeschrien haben, Sie hätten Dreitausend und nicht anderthalb Tausend verschleudert, und auch gestern, als Sie plötzlich im Besitze des vielen Geldes waren, haben Sie gleichfalls gesagt, daß Sie wiederum dreitausend Rubel mitgebracht hätten ...“

„Ach, nicht zehn, sondern hundert, Hunderte von Zeugen haben Sie, zweihundert, dreihundert Menschen haben das gehört, tausend Menschen!“ rief Mitjä.

„Nun sehen Sie, alle, alle sagen dasselbe. Und dieses Wort ‚alle‘ hat doch etwas zu bedeuten.“

„Nichts hat es zu bedeuten, denn ich habe nur so geschwatzt, und mir haben es die anderen einfach nachgeschwatzt.“

„Aber wozu hatten Sie denn nötig, so zu schwatzen, wie Sie sagen?“

„Das mag der Teufel wissen, wozu. Um zu prahlen, vielleicht ... so ... ‚Seht, wieviel Geld ich verschwendet habe‘ ... Vielleicht auch, um dieses eingenähte Geld zu vergessen ... ja, ja, gerade das war es, deshalb! ... Teufel ... zum wievielten Male fragen Sie mich das? Nun, ich habe Unsinn geschwatzt und damit abgemacht, hatte einmal gesagt dreitausend, und dann wollte ich nicht mehr was anderes sagen. Weshalb schwatzt denn der Mensch zuweilen Unsinn?“

„Das ist sehr schwer zu entscheiden, Dmitrij Fedorowitsch, weshalb der Mensch zuweilen Unsinn schwatzt,“ sagte der Staatsanwalt eindringlich. „Aber sagen Sie, war dieses Amulett, wie Sie es nennen, das Sie am Halse trugen, groß?“

„Nein, nicht groß.“

„Wie groß etwa?“

„Wenn Sie einen Hundertrubelschein einmal zusammenfalten, so haben Sie die Größe.“

„Wäre es nicht besser, Sie zeigten mir dieses zerrissene Zeug? Sie müssen es doch noch irgendwo bei sich haben.“

„Äh, Teufel ... welche Dummheiten ... ich weiß nicht, wo es ist.“

„Aber erlauben Sie, einstweilen: Wo und wann haben Sie es denn von Ihrem Halse abgenommen? Sie sind doch, wie Sie selbst aussagen, nicht nach Hause gegangen?“

„Als ich von Fenjä fortging, auf dem Wege zu Perchotin, unterwegs riß ich es ab und nahm das Geld heraus.“

„In der Dunkelheit?“

„Wozu braucht man denn dabei ein Licht? Ich habe das mit dem Finger in einem Augenblick getan.“

„Ohne Schere, auf der Straße?“

„Auf dem Großen Platz, glaube ich; wozu eine Schere? Es war ein altes Stück Zeug, das sofort durchriß.“

„Und wohin legten Sie es dann?“

„Dort, wo ich es durchriß, warf ich es auch fort.“

„Auf welcher Stelle?“

„Auf dem Großen Platz, habe ich Ihnen doch schon gesagt, Herrgott, auf dem Großen Platz! Der Teufel weiß, wo es gerade war. Was haben Sie nur davon?“

„Das ist sehr wichtig, Dmitrij Fedorowitsch: es handelt sich um Sachbeweise zu Ihren Gunsten, wie können Sie das nur nicht einsehen? Wer hat Ihnen denn vor einem Monat geholfen, die Sache einzunähen?“

„Niemand hat mir geholfen, ich habe selbst genäht.“

„Verstehen Sie denn zu nähen?“

„Jeder Soldat muß zu nähen verstehen – was ist denn dabei zu verstehen!“

„Wo haben Sie denn das Material hergenommen, ich meine das Zeug, in das Sie es eingenäht haben?“

„Sie wollen sich wohl lustig machen?“

„Durchaus nicht, wir sind zu nichts weniger als zum Lachen aufgelegt, Dmitrij Fedorowitsch.“

„Ich weiß nicht mehr, wo ich den Lappen hernahm, irgendwoher habe ich ihn jedenfalls genommen.“

„Wie sonderbar, daß Sie sich gerade dessen nicht entsinnen.“

„Aber bei Gott, ich weiß es nicht mehr, es ist möglich, daß ich irgend etwas von der Wäsche zerrissen habe.“

„Das ist sehr interessant: dann könnte man in Ihrer Wohnung dieses Wäschestück finden, von dem Sie das Stück abgerissen haben. Was war es denn für ein Zeug, Leinwand oder Baumwolle?“

„Der Teufel weiß, was es war. Warten Sie ... Ich, ich glaube ... ich habe es von nichts abgerissen. Es war Kattun ... Ich hatte es, glaube ich, in die Haube meiner Hauswirtin eingenäht.“

„In die Hau–be der Hauswirtin?“

„Ja, ich hatte mir diese Haube eingesackt.“

„Wie das – eingesackt?“

„Sehen Sie, ich habe tatsächlich, jetzt fällt es mir wieder ein, einmal irgendwie diese Haube genommen, um irgend was abzuwischen, vielleicht war es nur irgendein Staub, den ich abwischen wollte. Ich nahm das Ding eben an mich, denn es war doch ein Ding, das zu nichts taugte, und dann trieb sich der Fetzen dort bei mir herum, und da waren nun plötzlich diese Tausendfünfhundert, und ich wußte nicht, in was ich sie einnähen sollte ... Nun glaube ich, daß ich gerade diesen Lappen dazu nahm. Ein altes weißes Leinenstück, oder wie diese Zeuge da heißen, eines, das schon tausendmal gewaschen war.“

„Und Sie erinnern sich dessen ganz genau, Sie wissen es bestimmt?“

„Ich weiß nicht, wie bestimmt. Ich glaube, daß es dieselbe Haube war. Ach, nun, zum Teufel damit.“

„In dem Falle könnte sich Ihre Hauswirtin vielleicht erinnern, daß ihr diese Sache damals abhanden gekommen ist?“

„Ach wo, sie hat es überhaupt nicht bemerkt. Ein alter Fetzen, sage ich Ihnen doch, ein ganz altes Ding, das keine halbe Kopeke wert war.“

„Und woher nahmen Sie die Nadel und den Faden?“

„Ich breche ab, ich will nicht mehr. Genug darüber!“ sagte Mitjä, dem die Geduld riß.

„Und gleichfalls sonderbar ist, daß Sie sich so gar nicht mehr erinnern können, auf welcher Stelle des Großen Platzes Sie dieses Futteral fortgeworfen haben.“

„So lassen Sie doch heute den ganzen Platz fegen, vielleicht finden Sie es dann,“ sagte Mitjä, kurz auflachend. „Genug, meine Herren, genug,“ sagte er mit müdgequälter Stimme. „Ich sehe es doch klar: Sie glauben mir nicht! Nichts glauben Sie mir, nicht für eine Kopeke. Aber es ist das meine Schuld und nicht Ihre, ich hätte nicht so dumm von Vertrauen reden sollen. Warum, warum habe ich mich mit der Aufdeckung meines Geheimnisses beschmutzt! Und Sie, meine Herren, Sie lachen doch nur darüber, das sehe ich ja an Ihren Augen. Sie sind es, Staatsanwalt, der mich dazu gebracht hat! Singen Sie sich jetzt einen Siegeshymnus, wenn Sie es können ... Oh, seid verflucht, ihr Folterknechte!“

Sein Kopf sank herab, und er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter schwiegen beide. Nach einer Minute erhob er wieder den Kopf und blickte sie wie sinnlos an. Sein Gesicht drückte jetzt unabwendbare, unfaßbare, erdrückende Verzweiflung aus, und es war, als wäre er gleichsam in sich selbst verstummt, während er auf dem Stuhle saß und sich nicht mehr fühlte. Indessen mußte die Sache beendet werden: man mußte unverzüglich zum Verhör der Zeugen übergehen. Es war bereits acht Uhr morgens. Die Lichter hatte man schon längst ausgelöscht. Michail Makarowitsch und Kalganoff, die während der ganzen Zeit des Verhörs ein- und ausgegangen waren, verließen diesmal wieder das Zimmer. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter sahen gleichfalls sehr abgespannt aus. Der Morgen war trübe; es regnete wie aus Eimern, und der ganze Himmel war gleichmäßig grau. Mitjä blickte gedankenlos zu den Fenstern.

„Darf ich einmal zum Fenster hinaussehen?“ fragte er plötzlich den Untersuchungsrichter.

„Oh, gewiß, soviel Sie wollen,“ antwortete jener.

Mitjä erhob sich und trat ans Fenster. Der Regen peitschte gegen die kleinen grünlichen Fensterscheiben. Gerade vor dem Hause lag die schmutzige Fahrstraße, in deren Radspuren sich schmutziges, braungraues Regenwasser angesammelt hatte, und dort weiterhin im Regennebel sah man die dunklen, armen, unansehnlichen Bauernhütten, die, wie es schien, durch den Regen noch dunkler und noch trauriger und ärmer geworden waren. Mitjä erinnerte sich des „goldlockigen Phöbus“, und wie er sich bei seinem ersten Morgenstrahl hatte erschießen wollen. „Nun was, an einem solchen Morgen wäre es ja schließlich noch besser gewesen,“ dachte er mit einem bitteren Lächeln. Und plötzlich, mit einem wuchtigen Fausthieb von oben nach unten durch die Luft, wandte er sich vom Fenster zu den „Folterknechten“ zurück:

„Meine Herren!“ rief er, „ich sehe ja, daß ich verloren bin. Aber sie? Sagen Sie mir, meine Herren, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, was mit ihr geschehen wird? Es ist doch nicht möglich, daß auch sie meinetwegen ins Unglück gestürzt wird? Sie ist doch unschuldig, sie war doch gestern nicht bei voller Besinnung, als sie schrie, daß sie an allem die Schuld trage. An nichts, an nichts trägt sie eine Schuld! Es hat mich diese ganze Nacht gequält, als ich hier vor Ihnen saß ... Geht es nicht an, können Sie mir nicht sagen, was Sie jetzt mit ihr tun werden?“

„In der Beziehung können Sie vollkommen ruhig sein, Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte sofort mit sichtlicher Eilfertigkeit der Staatsanwalt, „wir haben bis jetzt keinerlei Ursache, die Dame, von der Sie reden, auch nur im geringsten sonderlich zu beunruhigen. Im weiteren Verlaufe der Sache wird sich, hoffe ich, gleichfalls erweisen ... Im Gegenteil, wir werden in der Beziehung alles tun, was in unserer Macht steht. Sie können vollkommen ruhig sein.“

„Ich danke Ihnen, meine Herren, ich wußte es, wußte, daß Sie ehrenhafte und gerechte Menschen sind, abgesehen von allem ... Sie haben mir eine Last vom Herzen genommen ... Nun, was werden wir denn jetzt machen? Ich bin bereit.“

„Ja, man wird sich beeilen müssen. Wir müssen sofort zum Verhör der Zeugen übergehen. Das muß natürlich in Ihrer Gegenwart geschehen, und darum ...“

„Sollte man nicht vorher etwas genießen, eine Tasse Tee zum Beispiel?“ unterbrach ihn Neljudoff, „wir dürften sie uns doch wohl verdient haben?“

Man beschloß, falls unten der Tee bereit wäre – was man sicher annehmen konnte, da Michail Makarowitsch hinausgegangen war – vorläufig nur ein Glas zu trinken und im Verhör fortzufahren, „unbedingt fortzufahren“, das „Frühstück“ jedoch noch hinauszuschieben, bis zu einer freieren Stunde. Der Tee war fertig und wurde ihnen im Augenblick gebracht. Mitjä dankte zuerst für den Tee, den ihm der Untersuchungsrichter freundlich anbot, dann aber bat er selbst darum und trank das Glas gierig aus. Er sah seltsam übermüdet aus. Was konnte ihm, hätte man meinen sollen, diesem Recken mit seiner bekannten Körperkraft, ein Trinkgelage und eine durchschwärmte Nacht, selbst eine wie diese, unter den stärksten seelischen Erschütterungen, ausmachen? Er selbst aber fühlte, daß er sich kaum auf dem Stuhle halten konnte, und daß von Zeit zu Zeit sich alle Gegenstände vor seinen Augen drehten. „Es fehlt nur noch ein wenig, und ich fange an zu phantasieren,“ dachte er bei sich.

VIII.
Die Aussagen der Zeugen.
„Das Kindichen“

Es begann nun das Verhör der Zeugen. Ich werde jedoch meine Erzählung nicht mehr mit derselben Ausführlichkeit fortsetzen, wie ich bisher getan habe. So werde ich denn auch übergehen, wie Neljudoff, der Untersuchungsrichter, einem jeden vortretenden Zeugen zuerst einschärfte, daß er nach Wahrheit und Gewissen auszusagen habe und späterhin seine Aussage unter dem Eide werde bekräftigen müssen. Wie man schließlich von jedem Zeugen verlangte, daß er das Protokoll seiner Aussagen unterschrieb usw., usw. Ich will hier nur noch bemerken, daß der Hauptpunkt, auf den die ganze Aufmerksamkeit der Zeugen gelenkt wurde, immer diese Frage nach der Höhe der Geldsumme war: waren es zuerst dreitausend oder anderthalbtausend Rubel gewesen, die Dmitrij Fedorowitsch hier in Mokroje vor einem Monat ausgegeben hatte, und ob es abermals drei oder nur anderthalb Tausend gewesen waren, mit denen er jetzt gekommen war. Es zeigte sich leider, daß alle Aussagen gegen Mitjä waren, alle ohne Ausnahme, ja einige von den Zeugen brachten noch neue Tatsachen vor, die Mitjäs Aussage fast verblüffend widerlegten. Als erster wurde Trifon Borissytsch verhört. Er trat ohne die geringste Scheu an den Tisch, mit einer Miene, die strengen und ernsten Unwillen gegen den Angeklagten ausdrückte, was ihm zweifellos den Anschein eines wahrheitsliebenden, sich selbst achtenden Mannes verlieh. Er sprach wenig, zurückhaltend, wartete die Fragen ab, antwortete genau und wohlbedacht. In der bestimmtesten Weise und ohne zu zweifeln sagte er aus, daß Mitjä vor einem Monat unmöglich weniger als dreitausend Rubel verausgabt haben könne, „was hier gleichfalls alle Bauern bezeugen können“, da sie es außerdem noch mit eigenen Ohren von „Mitrij Fedorowitsch“ mehrmals gehört hätten. „Wieviel Geld hat er nicht den Zigeunern hingeworfen,“ sagte Trifon Borissytsch unwillig. „Die haben ja allein an die tausend gefressen, da sei einer unbesorgt!“

„Ich habe ihnen vielleicht nicht einmal fünfhundert gegeben,“ bemerkte Mitjä finster, „nur habe ich es damals nicht gezählt, da ich betrunken war, schade darum ...“

Mitjä saß, seitdem man die Zeugen verhörte, an der einen Seite des Tisches, mit dem Rücken zum Vorhang. Er hörte finster zu und sah traurig und müde aus, als wollte er sagen: „Ach, sagt aus, was ihr wollt, mir ist jetzt alles gleich!“

„Mehr als tausend haben diese Kanaillen geschluckt, Mitrij Fedorowitsch,“ behauptete Trifon Borissytsch überzeugt. „Ihr warft doch blindlings, und das Lumpenpack hatte man bloß aufzupflücken. Das ist doch kein Menschenvolk, das sind doch nur Spitzbuben und Pferdediebe; jetzt sind sie von hier fortgejagt, sonst würden sie vielleicht selber aussagen, wieviel sie von Euch bekommen haben. Und ich habe doch selber dazumal das Geld in Euren Händen gesehen, – gezählt hab ich es ja nicht, das stimmt, Ihr habt es mir ja nicht zu zählen gegeben, – aber so nach dem Augenmaß kann ich wohl sagen, daß es ein dicker Batzen war, viel mehr als tausendfünfhundert ... was, tausendfünfhundert! Auch wir haben Geld gesehen und wissen, was Geld ist, können daher auch beurteilen ...“

In bezug auf die gestrige Summe sagte Trifon Borissytsch sofort aus, daß Dmitrij Fedorowitsch „ihm selber“, gleich nachdem er aus dem Wagen gestiegen war, gesagt habe, daß er Dreitausend mitgebracht.

„Wirklich, Trifon Borissytsch?“ sagte Mitjä, „habe ich wirklich so rund herausgesagt, daß ich Dreitausend mitgebracht hätte?“

„Jawohl habt Ihr das gesagt, Mitrij Fedorowitsch. In Andreis Gegenwart habt Ihr es sogar gesagt. Andrei ist auch jetzt noch hier, ist noch nicht fortgefahren, laßt ihn doch reinrufen. Und dort in der großen Stube rieft Ihr, als Ihr dem Chor soviel gabt, daß Ihr jetzt auch noch das sechste Tausend hierlassen wolltet, – mit den übrigen, das heißt zusammengerechnet, muß das wohl so zu verstehen sein. Stepan und Ssemjon haben’s mit eigenen Ohren gehört und auch Herr Pjotr Fomitsch Kalganoff, der dazumal akkurat neben Euch stand, wird es vielleicht behalten haben ...“

Die Aussage von dem sechsten Tausend machte einen ganz besonderen Eindruck auf die Juristen. Die neue Redaktion gefiel: drei und drei macht zusammen sechs, das bedeutet also, daß es damals dreitausend waren und auch jetzt dreitausend, da wären denn die ganzen sechstausend, – das ist doch klar.

Man befragte unverzüglich alle, die Trifon Borissytsch als Ohrenzeugen angegeben hatte, den Stepan und den Ssemjon und Andrei, und dann auch Pjotr Fomitsch Kalganoff. Die beiden Bauern und der Kutscher Andrei bestätigten die Aussage Trifon Borissytschs, ohne zu schwanken. Außerdem wurde noch nach den Äußerungen Andreis sorgfältig alles niedergeschrieben, was der von seinem Gespräch mit Mitjä zu erzählen wußte: „Wohin also werde ich, Dmitrij Fedorowitsch, kommen; in den Himmel oder in die Hölle, und wird man mir dort in jener Welt verzeihen oder nicht?“ Der „Psychologe“ Hippolyt Kirillowitsch hörte das mit einem feinen Lächeln an und empfahl zum Schluß auch diese Aussage – darüber, wohin Dmitrij Fedorowitsch kommen werde – zu dem Tatsachenmaterial hinzuzufügen.

Kalganoff, den man hatte rufen lassen, trat mit einem mürrischen und eigensinnigen Ausdruck ein und sprach mit dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter in einer Weise, als sähe er sie zum erstenmal im Leben, während er doch mit ihnen täglich bei Bekannten zusammengetroffen war. Er begann damit, daß er „nichts davon wisse und auch nichts wissen wolle“. Doch das von dem sechsten Tausend hatte auch er gehört, und er bestätigte, daß er in dem Augenblick neben Mitjä gestanden. Auf die Frage, wieviel Geld Mitjä in der Hand gehabt hätte, sagte er mürrisch: „Ich weiß nicht wieviel.“ Daß die Polen beim Kartenspiel betrogen hatten, bestätigte er gleichfalls. Auch erklärte er auf die wiederholten Fragen, daß nach der Einsperrung der beiden Polen Mitjä in der Gunst Agrafena Alexandrownas gestiegen sei, und daß sie gesagt habe, sie liebe ihn. Über Agrafena Alexandrowna äußerte er sich nur zurückhaltend und sehr achtungsvoll, als wäre sie eine Dame der besten Gesellschaft; er erlaubte sich kein einziges Mal, sie einfach „Gruschenka“ zu nennen. Trotz des unverhohlenen Widerwillens, mit dem Kalganoff antwortete, befragte ihn der Staatsanwalt unbarmherzig lange, und so erfuhr er denn erst durch ihn die Details dessen, was sozusagen den „Roman“ Mitjäs in dieser Nacht ausmachte. Mitjä unterbrach Kalganoff kein einziges Mal. Endlich wurde der arme Jüngling entlassen, und er entfernte sich sofort mit unverhohlener Wut.

Darauf wurden die Polen befragt. Sie waren in ihrem Zimmer zu Bett gegangen, doch hatte ihre Ruhe nicht lange gedauert, und geschlafen hatten sie eigentlich überhaupt nicht. Als die Autoritäten angekommen waren, hatten sie sich schnell wieder angekleidet und sorgfältig Toilette gemacht, da sie sich sagten, daß man sie gleichfalls bestimmt vernehmen werde. Sie traten würdevoll ein, doch sah man ihnen nur zu deutlich an, daß ihr Herz nicht auf der Höhe war. Der „Kommandierende“, d. h. der kleine Pan, war, wie sich herausstellte, ein verabschiedeter Beamter der zwölften Rangklasse, der in Sibirien als Viehdoktor gedient hatte und Mussjälowitsch hieß. Pan Wrublewskij jedoch stellte sich vor als „freipraktizierender Dentist“, was wir sonst gewöhnlich „Zahnarzt“ nennen. Beide wandten sich mit ihren Antworten immer an Michail Makarowitsch, obgleich der sie nichts fragte und weiterhin am Fenster stand, den sie aber wegen seiner Uniform als Polizeichef für die Hauptperson hielten und nach jedem Wort „Pane Obrist“ nannten. Erst nach mehreren Fragen und den wiederholten Hinweisen Michail Makarowitschs errieten sie endlich, daß sie sich mit ihren Antworten nur an Neljudoff, den Untersuchungsrichter zu wenden hatten. Bei der Gelegenheit zeigte sich, daß sie sogar sehr richtig Russisch sprechen konnten, abgesehen von der Aussprache einzelner Worte. Pan Mussjälowitsch begann auch von seinen Beziehungen zu Gruschenka, den früheren wie den gegenwärtigen, stolz und glühend zu erzählen, so daß Mitjä sofort außer sich geriet und schrie, so einem „Schuft“ erlaube er nicht, in seiner Gegenwart so zu sprechen! Worauf Pan Mussjälowitsch die Herrn Richter sofort auf das Wort „Schuft“ aufmerksam machte und sie bat, diese Beleidigung ins Protokoll aufzunehmen. Mitjä brauste auf vor Wut.

„Ja, ein Schuft, ein Schuft ist er! Schreiben Sie es nur auf und schreiben Sie noch hinzu, daß ich trotzdem sage, daß er ein Schuft ist!“ schrie er zornig.

Neljudoff ließ es wohl ins Protokoll eintragen, bewies aber bei diesem unangenehmen Zwischenfall die lobenswerteste Sachlichkeit und ein gutes Verständnis für die Leitung des Verhörs: nach einer strengen, kurzen Ermahnung Mitjäs brach er selbst sofort alle weiteren Fragen, die mehr die romanhafte Seite der Sache betrafen, ab und ging zum „Wesentlichen“ über. „Wesentlich“ war besonders eine Aussage der Pane, die bei den Juristen ein ungewöhnliches Interesse erweckte: die Mitteilung nämlich, daß Mitjä dem Pan Mussjälowitsch in jenem kleinen Zimmer dreitausend Rubel Abstandsgeld angeboten hatte mit dem Vorschlag: „siebenhundert sofort bar und die anderen zweitausenddreihundert morgen früh in der Stadt“, wobei er sein Ehrenwort gegeben hatte, daß das Geld morgen zur Stelle sein werde, da er es im Augenblick nicht bei sich hätte, das Geld aber in der Stadt liege. Mitjä bemerkte zuerst in der Hitze, daß er es nicht so gesagt habe: er werde ihnen das Geld morgen bestimmt in der Stadt geben. Doch auch Pan Wrublewskij bestätigte die Aussage des kleinen Pans. Da gestand Mitjä denn nach kurzem Nachdenken mürrisch ein, daß es wahrscheinlich so gewesen sein werde, wie die Polen sagten, daß er in jenem Augenblick erregt gewesen sei und vielleicht auch so gesagt habe. Der Staatsanwalt klammerte sich gleichsam an diese Aussage: jetzt war es für ihn klar (und so legte man es in der Folge auch aus), daß die Hälfte oder ein Teil der Dreitausend, die Mitjä so plötzlich in die Hände bekommen hatte, von ihm irgendwo in der Stadt versteckt sein mußte, vielleicht auch hier in Mokroje, wodurch jener allerdings bedenkliche Punkt seine Erklärung fand, daß man bei ihm nur achthundert Rubel vorgefunden hatte, – ein Umstand, der bis jetzt, wenn auch nur ein einziger und ziemlich belangloser, aber immerhin doch ein gewisser Beweis zu Mitjäs Gunsten gewesen war. Und nun stürzte auch dieser einzige Beweis zu seinen Gunsten ein. Auf die Frage des Staatsanwalts: wo er denn diese zweitausenddreihundert Rubel hergenommen hätte, um sie dem Pan zu geben, wenn er doch selbst behauptete, daß er im ganzen nur noch tausendfünfhundert besessen habe, und auf was hin er das sogar mit seinem Ehrenwort habe bekräftigen können, antwortete Mitjä ruhig und fest, daß er dem „Polacken“ morgen nicht Geld, sondern die formelle Übertragung seiner Rechte auf das Gut Tschermaschnjä habe anbieten wollen, wie er sie auch dem Kaufmann Ssamssonoff und Frau Chochlakoff angeboten hätte. Der Staatsanwalt freilich lächelte über diese „Naivität der Ausflucht“.

„Und Sie glauben, er wäre darauf eingegangen, diese ‚Rechte‘ an Stelle der baren zweitausenddreihundert Rubel anzunehmen?“

„Selbstverständlich wäre er darauf eingegangen,“ sagte Mitjä auffahrend. „Ich bitte Sie, hierbei sind doch nicht nur zwei, sondern vier, sechs, sogar zehntausend herauszuschlagen! Er hätte sofort seine kleinen Winkeladvokaten beauftragt, Polacken und Juden, und hätte nicht nur dreitausend, sondern ganz Tschermaschnjä herausgeschlagen!“

Die Aussagen Pan Mussjälowitschs wurden natürlich gleichfalls ausführlichst niedergeschrieben. Damit sahen sich die Polen entlassen. Daß sie beim Kartenspiel betrogen hatten, wurde fast gar nicht erwähnt. Neljudoff war ihnen gar zu dankbar und wollte sie daher nicht weiter mit Fragen belästigen, um so weniger, als das alles nur ein dummer Streit in der Trunkenheit gewesen sein konnte. Als ob es wenig Dummheiten in dieser Nacht gegeben hätte! ... So behielten denn die Polen die zweihundertfünfzig Rubel in der Tasche.

Darauf wurde nach dem alten Maximoff geschickt. Er erschien sehr zaghaft, näherte sich mit kleinen Schritten und sah dabei gehörig zerzaust und recht niedergeschlagen aus. Die ganze Zeit hatte er unten bei Gruschenka mäuschenstill gesessen und eine Miene gemacht, „als ob sofort Tränlein aus seinen Äuglein tröpfeln würden,“ wie später Michail Makarowitsch sagte, „und dann hätte er sie natürlich hübsch artig mit seinem blaukarierten Schnupftuch abgewischt“. Jedenfalls hatte Gruschenka ihn noch getröstet. Das alte Kerlchen bekannte sofort dem Untersuchungsrichter, daß er schuldig sei, da er von Dmitrij Fedorowitsch „zehn Rubel genommen habe, um-um-um ... ich bin doch ein ganz armer Mensch!“ und daß er bereit sei, sie ihm zurückzugeben ... Auf die direkte Frage Neljudoffs, „ob er nicht wisse, wieviel Geld Dmitrij Fedorowitsch in der Hand gehabt hatte, als er von ihm die zehn Rubel erhielt,“ antwortete Maximoff mit voller Überzeugung: „Zwanzigtausend.“

„Haben Sie früher einmal zwanzigtausend Rubel, in einer Hand gehalten, gesehen?“ fragte der Untersuchungsrichter lächelnd.

„Wie-wie denn nicht! Ich habe es genau gesehen, nur-nur waren es nicht zwanzigtausend, sondern sie-sie-sieben, als nämlich meine Frau mein Gütchen verpfändete. Sie ließ mich aber das Geld nur von weitem sehen. Es war ein-ein dickes Päckchen, alles Regenbogen. Und auch Dmitrij Fedorowitsch hatte nur Hundertrubelscheine ...“

Er wurde bald entlassen. Schließlich kam die Reihe auch an Gruschenka. Die Juristen fürchteten offenbar den Eindruck, den ihr Erscheinen auf Dmitrij Fedorowitsch machen konnte, und Neljudoff murmelte sogar ein paar Worte zu Mitjä, um ihn vorzubereiten und ein wenig zu ermahnen, worauf Mitjä nur stumm den Kopf senkte, womit er zu verstehen gab, daß er „keine Szene machen werde“. Michail Makarowitsch führte sie in höchst eigener Person ins Zimmer. Sie trat mit strengem, fast finsterem Gesichtsausdruck ein, äußerlich schien sie ganz ruhig zu sein. Sie setzte sich leise auf den ihr angewiesenen Stuhl gegenüber Nikolai Parfenowitsch Neljudoff, dem Untersuchungsrichter. Sie war sehr bleich, und wie es schien, fand sie es kalt, denn sie hüllte sich fröstelnd in ihren prachtvollen schwarzen Schal ein. Es waren die ersten Fieberschauer einer Erkältung – der Anfang der Grippe, an der sie nach dieser Nacht lange Zeit schwer krank zu Bett lag. Ihr strenges Aussehen, ihr gerader und ernster Blick und das ruhige Auftreten machten auf alle einen vorzüglichen Eindruck. Nikolai Parfenowitsch Neljudoff war eigentlich sofort „ganz hin“. Er gestand später selbst, wenn er irgendwo von der Begebenheit erzählte, daß er erst da zum erstenmal gesehen habe, „wie schön dieses Weib“ sei, denn vorher hätte er sie wohl flüchtig gesehen, aber doch immer nur für „etwas von der Art einer Kreisstadthetäre gehalten“. „Sie hat Manieren, wie eine Dame der besten Gesellschaft,“ beteuerte er einmal in der Begeisterung und zufällig gerade in einer Damengesellschaft. Man hörte ihn mit dem größten Unwillen an und nannte ihn dafür hinfort einen „verdorbenen Schlingel“, womit er sehr zufrieden war. Als Gruschenka ins Zimmer trat, streifte sie Mitjä nur einmal ganz flüchtig mit dem Blick, und diese Ruhe beruhigte dann auch ihn, der ihr zuerst erregt entgegengesehen hatte. Nach den ersten notwendigen Fragen und Vorbemerkungen stellte Nikolai Parfenowitsch, zwar etwas stotternd und betreten, aber doch mit voller Beibehaltung der größten Höflichkeit und Ernsthaftigkeit, folgende Frage: In welchen Beziehungen sie zu dem Leutnant a. D. Dmitrij Fedorowitsch Karamasoff gestanden habe, worauf sie still und fest antwortete:

„Er war mein Bekannter, als Bekannten habe ich ihn im letzten Monat empfangen.“

Auf die weiteren, interessiert gestellten Fragen erklärte sie mit voller Aufrichtigkeit, daß er ihr wohl in manchen „Stunden“ gefallen, sie ihn aber nicht geliebt, sondern nur „aus dummer Bosheit“ zum besten gehabt habe, ganz wie sie es auch mit jenem „Alten“ getan hätte. Sie sagte, sie habe gesehen, wie Mitjä auf Fedor Pawlowitsch und auf alle Welt eifersüchtig gewesen sei, doch das hätte sie nur amüsiert. Zu Fedor Pawlowitsch zu gehen, daran habe sie überhaupt nicht gedacht, da sie sich über ihn nur lustig gemacht habe. „In diesem ganzen Monat war es mir nicht um sie zu tun; ich erwartete einen anderen Menschen, der ankommen sollte, um seine Schuld an mir wieder gutzumachen ... Nur glaube ich,“ schloß sie plötzlich, „daß dieses Sie weiter nicht zu interessieren braucht, und ich Ihnen darüber nichts zu sagen habe, denn das dürfte doch nur meine persönliche Angelegenheit sein.“

Nikolai Parfenowitsch gehorchte sofort; er ließ sofort alle „romantischen“ Punkte beiseite und ging unverzüglich zum „Ernsten“ über, das heißt also zu jener Frage der dreitausend Rubel. Gruschenka bestätigte, daß von Mitjä vor einem Monat in Mokroje tatsächlich dreitausend Rubel verschleudert worden seien, und wenn sie selbst auch das Geld nicht gezählt habe, so hätte sie doch von Dmitrij Fedorowitsch gehört, daß es so viel gewesen sei.

„Hat er es Ihnen unter vier Augen gesagt oder in Gegenwart anderer, oder haben Sie nur gehört, wie er es anderen gesagt hat?“ erkundigte sich sofort der Staatsanwalt.

Gruschenka erklärte darauf, daß er es sowohl in Gegenwart anderer, als auch zu anderen gesagt, daß sie es aber auch unter vier Augen von ihm gehört habe.

„Haben Sie es einmal von ihm unter vier Augen gehört oder mehrmals?“ erkundigte sich wieder der Staatsanwalt, und er erfuhr, daß sie es mehrmals gehört hatte.

Hippolyt Kirillytsch war mit dieser Aussage sehr zufrieden. Aus dem weiteren Verhör ergab sich ferner noch, daß Gruschenka gleichfalls gewußt hatte, woher dieses Geld stammte, – daß es Dmitrij Fedorowitsch von Katerina Iwanowna gegeben worden war.

„Aber haben Sie nicht wenigstens einmal gehört, daß hier vor einem Monat nicht dreitausend, sondern weniger verschleudert worden sei, und daß Dmitrij Fedorowitsch von den Dreitausend die ganze Hälfte für sich aufbewahrt habe?“

„Nein, davon habe ich niemals etwas gehört,“ sagte Gruschenka.

Weiterhin erfuhren die Juristen von ihr noch, daß Mitjä ihr im ganzen letzten Monat häufig gesagt hatte, daß er kein Geld habe. „Er hoffte aber immer, von seinem Vater welches zu erhalten,“ schloß Gruschenka.

„Aber hat er nicht einmal in Ihrer Gegenwart gesagt ... oder vielleicht flüchtig irgendwie angedeutet,“ fiel sofort Neljudoff ein, „daß er eventuell seinen Vater erschlagen wolle?“

„Ach, leider hat er es gesagt!“ sagte Gruschenka aufseufzend.

„Einmal oder des öfteren?“

„Des öfteren hat er es gesagt, doch immer nur dann, wenn er aufgebracht oder zornig war.“

„Und haben Sie geglaubt, daß er es ausführen werde?“

„Nein, niemals habe ich das geglaubt!“ antwortete sie mit fester Stimme. „Ich habe immer auf seine edle Gesinnung gehofft.“

„Meine Herren, erlauben Sie mir,“ rief plötzlich Mitjä dazwischen, „erlauben Sie, daß ich in Ihrer Gegenwart nur ein Wort zu Agrafena Alexandrowna sage?“

„Sprechen Sie,“ – Neljudoff erlaubte es ihm.

„Agrafena Alexandrowna,“ sagte, sich vom Stuhl erhebend, Mitjä, „glaube Gott und mir: An dem Blute meines gestern erschlagenen Vaters bin ich nicht schuldig, ich bin unschuldig daran!“

Und nachdem er das gesagt hatte, setzte er sich wieder auf den Stuhl. Gruschenka erhob sich, wandte sich zur Ecke, in der das Heiligenbild hing, und bekreuzte sich andächtig.

„Gelobt seist Du, mein Herr und Gott!“ sagte sie mit ganzer Inbrunst und tief erschütterter Stimme. Und ohne sich zu setzen, wandte sie sich darauf zu Neljudoff und fügte noch laut hinzu: „Was er soeben gesagt hat, daran glauben Sie! Ich kenne ihn: Unwahres schwatzen kann er, wenn es sich um einen Scherz oder seinen Eigensinn handelt, doch wenn es sich um eine Gewissenssache handelt, so wird er nie lügen. Dann wird er stets die Wahrheit sagen, und daran glauben Sie!“

„Hab Dank dafür, Agrafena Alexandrowna, du hast mich wieder aufgerichtet,“ sagte Mitjä mit unsicherer Stimme.

Auf die Frage nach dem gestrigen Gelde sagte sie, daß sie nicht wüßte, wieviel es gewesen sei, dafür aber gehört habe, wie er zu anderen gesagt hatte, daß er wieder mit Dreitausend angekommen sei. Und was die Herkunft des Geldes betrifft, so habe er ihr allein unter vier Augen gesagt, daß er es von Katerina Iwanowna „gestohlen“ hätte, und sie habe ihm darauf geantwortet, daß es nicht „gestohlen“ sei, und daß er ihr morgen das Geld zurückgeben müsse. Auf die wiederholte Frage des Staatsanwalts, von welchem Gelde er gesagt hätte, daß es „gestohlen“ sei – von dem gestrigen oder den anderen Dreitausend vor einem Monat – erklärte sie, daß er es von jenem anderen vor einem Monat gesagt, daß wenigstens sie ihn so verstanden habe.

Endlich wurde auch Gruschenka entlassen, wobei ihr Nikolai Parfenowitsch Neljudoff noch dienstbeflissen mitteilte, daß sie, falls sie es wünschte, ungehindert jeden Augenblick in die Stadt zurückkehren könne, und daß er, falls er seinerseits irgendwie gefällig sein könnte, zum Beispiel hinsichtlich der Pferde, oder, zum Beispiel, falls sie einen Begleiter wünschte, ... seinerseits, wie gesagt, mit dem größten Vergnügen ...

„Ich danke Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit,“ unterbrach ihn Gruschenka, mit einer leichten Verneigung des Kopfes, „ich werde mit dem kleinen alten Herrn, dem Gutsbesitzer, zurückkehren, ich werde ihn in die Stadt bringen, doch vorläufig möchte ich, wenn Sie es gestatten, hier abwarten, was mit Dmitrij Fedorowitsch geschehen wird.“

Sie verließ das Zimmer. Mitjä war ruhig und schien wieder Mut und Kraft geschöpft zu haben, – doch schien das nur eine kurze Zeit so. Es überkam ihn immer wieder eine ganz sonderbare körperliche Schwäche, und je länger die Verhandlung dauerte, desto häufiger und stärker fiel ihn diese Schwäche an. Seine Augen fielen ihm fast zu vor Müdigkeit. Endlich war auch das Zeugenverhör beendet. Dann schritt man zur endgültigen Redaktion des Protokolls. Mitjä erhob sich und ging von seinem Stuhl in die Ecke zum Vorhang, wo er sich auf eine große, mit einem Teppich bedeckte Truhe hinlegte und sofort einschlief. Da hatte er einen sonderbaren Traum, der eigentlich gar nicht zu seiner Stimmung paßte. Es war ihm, als fahre er irgendwo in der Steppe, dort, wo früher vor langer Zeit sein Regiment gestanden hatte: und er fährt in einem offenen Wagen, in dem vor ihm noch der Kutscher sitzt, ein Bauer, und es schneit und regnet. Nur scheint es kalt zu sein, etwa Anfang November, und der Schnee fällt in dichten nassen Flocken und taut sofort auf, sobald er die Erde berührt. Und der Bauer knallt mit der Peitsche, und die beiden Pferde greifen tüchtig aus. Der Bauer hat einen langen Bart, er ist aber noch nicht alt, ungefähr fünfzig Jahre, und er hat einen grauen Bauernkittel an. Und da sieht er in der Ferne ein Dorf, die Hütten sind schwarz, ganz schwarz, und die Hälfte der Hütten ist abgebrannt, und es starren von ihnen nur noch die verkohlten Dachsparren durch den grauen Tag. Und vor der Einfahrt ins Dorf haben sich an der Landstraße die Bauernweiber aufgestellt, viele Weiber, eine ganze Reihe, und alle haben sie so magere und abgezehrte, ganz absonderlich braune Gesichter. Besonders die eine am Rande, eine skelettartige, hohe Gestalt: sie scheint vierzig Jahre alt zu sein, vielleicht ist sie auch nur zwanzig, ihr Gesicht ist lang, mager, und auf dem Arme trägt sie ein weinendes Kindchen, ihre Brüste aber müssen ganz ausgetrocknet sein, keinen Tropfen Milch mehr enthalten. Und das Kindchen weint und weint, und es streckt die Ärmchen aus, nackte magere Ärmchen mit kleinen Fäustchen, die vor Kälte ganz blau sind.

„Warum weinen sie? Worüber weinen sie?“ fragt Mitjä, indem er in seinem Wagen an ihnen vorüberfliegt.

„Das ist das Kindichen,“ antwortet ihm der Bauer, mit dem er fährt, „das Kindichen weint.“

Und Mitjä ist ganz verdutzt darüber, daß er es so auf seine Art sagt: „das Kindichen“, und nicht das Kindchen. Und es gefällt ihm, daß der Bauer Kindichen gesagt hat: es ist, als ob mehr Mitleid darin läge.

„Aber warum weint es?“ fragte Mitjä ungeduldig weiter, als wenn er zu dumm wäre, um es zu begreifen. „Warum sind seine Ärmchen bloß, warum wird es nicht eingewickelt?“

„Das Kindichen hat’s kalt, die Kleiderchen sind dünn und feucht, und da wärmen sie das Körperchen nicht mehr.“

„Aber warum ist das so? Warum?“ fragt immer drängender der dumme Mitjä.

„Weil sie doch arm sind, abgebrannt, Brot haben sie kein Stückchen mehr; sie bitten für den abgebrannten Ort.“

„Nein, nein,“ ruft Mitjä, als verstehe er noch immer nicht, „aber so sag mir doch: Warum stehen so die abgebrannten Mütter, warum sind sie arm, warum ist das Kindichen arm, warum ist die Steppe so nackt, warum umarmen sie sich nicht, warum küssen sie sich nicht, warum singen sie nicht fröhliche Lieder, warum sind sie so schwarz geworden von dem schwarzen Elend, warum wird das Kindichen nicht genährt?“

Und er fühlt, daß er sinnlos und unvernünftig fragt, aber er hatte unbedingt geradeso fragen wollen, und er glaubt, daß er auch geradeso habe fragen müssen. Und er fühlt noch, daß sich in seinem Herzen eine noch nie empfundene Rührung erhebt, daß er weinen möchte, daß er für alle etwas tun will, auf daß das Kindichen nicht mehr weine, auf daß auch die schwarze verhärmte Mutter des Kindichens nicht mehr weine, auf daß von diesem Augenblicke an niemand mehr eine Träne vergieße, und daß er sofort, unverzüglich so etwas tun will, ohne Aufschub oder Verzug, ohne Rücksicht oder Bedenken, mit der ganzen Karamasoffschen zügellosen Leidenschaft.

„Und ich bin bei dir, jetzt verlasse ich dich nie mehr, das ganze Leben lang gehe ich mit dir,“ ertönen neben ihm Gruschenkas liebeatmende, inbrünstige Worte.

Und da entbrennt sein ganzes Herz und strebt zu etwas Lichtem, Lichtem, und leben will er, leben, auf einem Wege will er gehen, gehen zu dem neuen ihm winkenden Lichte, nur schneller, schneller, jetzt gleich, sofort!

„Was? Wohin?“ ruft er aus, schlägt die Augen auf und setzt sich auf seine Truhe, als ob er aus einer Ohnmacht erwache, und lächelt verklärt.

Vor ihm stand, etwas zu ihm herabgebeugt, Nikolai Parfenowitsch Neljudoff und forderte ihn auf, das Protokoll anzuhören und dann zu unterzeichnen.

Mitjä erriet, daß er vielleicht eine Stunde geschlafen hatte oder noch länger, aber er hörte nicht, was Neljudoff zu ihm sprach. Es machte ihn plötzlich stutzig, daß auf der Truhe ein Kopfkissen lag und er auf ihm geschlafen hatte; vorhin aber, als er todmüde hier eingeschlafen war, da hatte er kein Kissen gesehen.

„Wer hat mir dieses Kissen unter den Kopf geschoben? Wer ist dieser gute Mensch gewesen?“ rief er mit einem begeisterten, dankbaren Gefühl und einer gleichsam vor Tränen bebenden Stimme, als hätte man ihm weiß Gott was für eine große Wohltat erwiesen.

Er hat es nie erfahren, wer dieser gute Mensch gewesen war. Vielleicht hatte es einer von den Ortsbewohnern oder der kleine Schreiber Nikolai Parfenowitschs aus Mitleid getan. Mitjä aber fühlte, wie seine ganze Seele vor Tränen gleichsam erbebte. Er trat zum Tisch und sagte, daß er alles unterzeichnest werde, was sie von ihm verlangten.

„Ich habe einen guten Traum gehabt, meine Herren,“ sagte er, und seine Worte klangen so sonderbar, und er sprach sie mit einem ganz neuen, freudeverklärten Gesicht.

IX.
Wie Mitjä fortgeführt wurde

Als das Protokoll unterzeichnet war, wandte sich Nikolai Parfenowitsch mit feierlicher Miene an den Angeklagten und verlas die „Verfügung“, – daß in dem und dem Jahre, an dem und dem Tage, an dem und dem Ort der Untersuchungsrichter des und des Kreisgerichtshofs nach dem Verhör des und des (d. h. Mitjäs), der angeklagt war, das und das verübt zu haben (alle Anklagen waren peinlich genau aufgezählt), und in Anbetracht dessen, daß der Angeklagte, der sich der Verbrechen, die ihm zur Last gelegt werden, nicht für schuldig bekenne, anderseits nichts zu seiner Rechtfertigung vorzubringen habe, während die Zeugen (die und die) und die Umstände (die und die) ihn vollständig überführen, er, der Untersuchungsrichter usw. auf Grund der und der Paragraphen des Strafgesetzbuches usw. verfüge: um dem und dem (Mitjä) die Möglichkeit zu nehmen, sich der Untersuchung und dem Gericht zu entziehen, ihn in das und das Gefängnis einzuschließen, wovon dem Angeklagten Mitteilung zu machen, die Kopie dieser Verfügung dem Vertreter des Staatsanwalts einzuhändigen sei usw. usw. Kurz, es wurde Mitjä mitgeteilt, daß er von diesem Augenblicke an ein Gefangener war, und daß man ihn unverzüglich in die Stadt führen werde, um ihn dort im Gefängnis unterzubringen. Mitjä der alles aufmerksam angehört hatte, zuckte nur mit den Schultern.

„Nun was, meine Herren, ich kann Ihnen keinen Vorwurf machen, ich bin bereit ... Ich sehe es ja ein, daß Ihnen weiter nichts zu tun übrig bleibt.“

Nikolai Parfenowitsch erklärte ihm darauf in möglichst sanfter Weise, daß ihn Mawrikij Mawrikjewitsch, der Polizeioffizier unseres Städtchens, der kurz vorher in Mokroje angekommen war, sofort in die Stadt bringen werde ...

„Einen Augenblick,“ unterbrach ihn plötzlich Mitjä und sich an alle Anwesenden wendend, sagte er mit überströmendem Gefühl: „Meine Herren, alle sind wir grausam, alle sind wir Unmenschen, alle Menschen machen wir weinen, alle Menschen, Mütter und Kinder, doch von allen – mag das jetzt so entschieden sein – von allen bin ich der allerniedrigste Unmensch. Mag das jetzt einmal gesagt sein! An jedem Tage meines Lebens habe ich mich vor die Brust geschlagen und mir vorgenommen, mich zu bessern, und doch habe ich jeden Tag wieder dieselben Scheußlichkeiten begangen. Jetzt begreife ich, daß für solche Menschen, wie mich, ein Schlag nötig ist, ein Schicksalsschlag, damit sie wie mit einer Wurfschlinge gefangen und von einer äußeren Kraft bezwungen werden. Niemals, niemals hätte ich mich aus eigener Kraft erhoben! Nun aber hat der Donner gegrollt und der Blitz hat mich getroffen. Ich nehme die Qual der Anklage und meiner öffentlichen Schmach auf mich, ich will leiden, und ich will mich durch das Leid läutern! Und das wird mir jetzt vielleicht auch gelingen – was meinen Sie, meine Herren, wird es mir gelingen? Doch nun hören Sie es noch einmal, ich sage es Ihnen zum letzten Male: Am Blut meines Vaters bin ich unschuldig! Ich nehme die Strafe nicht deshalb auf mich, weil ich ihn etwa erschlagen habe, sondern dafür, daß ich ihn hab erschlagen wollen und vielleicht auch tatsächlich erschlagen hätte ... Doch immerhin, ich will mit Ihnen kämpfen, um mein Leben kämpfen, und das kündige ich Ihnen jetzt im voraus an. Ich werde mit Ihnen bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, und dann wird Gott entscheiden! Leben Sie wohl, meine Herren, und tragen Sie es mir nicht nach, daß ich Sie während des Verhörs angeschrien habe, oh, es war mir ja noch alles so unklar ... Nach einer Minute bin ich Arrestant, doch jetzt streckt Ihnen Dmitrij Karamasoff zum letztenmal noch als freier Mensch seine Hand entgegen, zum letzten Abschiedshändedruck. Ich will mich von Ihnen verabschieden, von den Menschen will ich Abschied nehmen ...“

Seine Stimme wurde unsicher, und er streckte in der Tat seine Hand aus, doch Nikolai Parfenowitsch Neljudoff, der von allen am nächsten bei ihm stand, zog plötzlich, als ob er zusammengezuckt wäre, seine Hände zurück und kreuzte sie auf dem Rücken. Mitjä hatte es sofort bemerkt, und fuhr zusammen. Seine hingehaltene Hand ließ er im Augenblick herabsinken.

„Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen,“ stotterte Neljudoff etwas verwirrt, „wir werden sie in der Stadt fortsetzen, und ich bin natürlich meinerseits gern bereit, Ihnen jeden Erfolg zu wünschen ... zu Ihrer Rechtfertigung ... Und was Sie als Persönlichkeit betrifft, Dmitrij Fedorowitsch, so bin ich immer geneigt gewesen, Sie für einen sozusagen mehr unglücklichen als schuldigen Menschen zu halten ... Wir sind hier alle bereit, wenn ich wagen darf, im Namen aller zu reden, wir alle sind bereit, Sie für einen im Grunde edlen Menschen zu halten, der sich nur leider von einigen Leidenschaften in etwas gar zu starker Weise beherrschen läßt ...“

Die zarte kleine Gestalt Nikolai Parfenowitschs drückte zum Schluß der Rede die ganze Höhe seiner Würde als Untersuchungsrichter aus. Mitjä zuckte plötzlich der Gedanke durch den Kopf, daß dieser „dumme Junge“ ihn gleich unter den Arm fassen werde, um ihn scherzend in eine Ecke zu führen und dort ihr Gespräch über die „Mädels“, das sie vor ein paar Tagen gehabt hatten, wieder aufzunehmen. Doch – fliegen denn nicht selbst einem Verbrecher, der zum Tode geführt wird, nicht zur Sache gehörende und vielleicht gar alberne Gedanken durch den Kopf?

„Meine Herren, ich weiß, Sie sind gut, – kann ich sie noch einmal sehen, mich zum letztenmal von ihr verabschieden?“ fragte Mitjä.

„Oh, natürlich ... nur ... in Anbetracht ... mit einem Wort: Es geht nicht, daß ... unter vier Augen geht es nicht, aber in Gegenwart ...“

„Schön, meinetwegen in Ihrer Gegenwart!“

Gruschenka wurde hinaufgebeten, doch es kam nur zu einer ganz kurzen, wortkargen Abschiedsszene, die Nikolai Parfenowitsch eigentlich wenig befriedigte. Gruschenka verneigte sich tief vor Mitjä.

„Ich habe dir gesagt, daß ich dein bin und ewig dein bleiben werde. Mit dir gehe ich bis in die Ewigkeit, wohin man dich auch verschicken sollte. Leb wohl, du, der du dich unschuldig zugrunde gerichtet hast!“

Ihre Lippen bebten, Tränen blitzten an ihren Wimpern und rollten plötzlich herab.

„Gruscha, vergib mir meine Liebe, vergib mir, daß ich durch meine Liebe auch dich ins Unglück stürze.“

Mitjä wollte noch etwas sagen, doch jäh brach er ab und ging hinaus. Er wurde im Augenblick von Männern umringt, die ihn nicht aus den Augen ließen. Unten vor der Treppe, wo er noch gestern mit Andreis Troika dröhnend vorgefahren war, standen zwei Wagen bereit. Mawrikij Mawrikjewitsch, ein stämmiger, kleiner Mann mit einem aufgedunsenen Gesicht, schien durch etwas sehr gereizt zu sein, wahrscheinlich durch irgendeinen Zwischenfall oder eine unvorhergesehene Unordnung; jedenfalls schrie er wütend, und man sah ihm an, daß er sich ärgerte. So forderte er denn auch Mitjä etwas gar zu barsch auf, in den Wagen einzusteigen. „Früher, als ich ihm im Gasthause ‚zur Hauptstadt‘ Wein und alles mögliche vorsetzte, hatte der Mensch ein ganz anderes Gesicht,“ dachte Mitjä, als er einstieg. Auch Trifon Borissytsch stieg die Treppe hinab. An der Hofpforte drängten sich Leute: Bauern, Weiber, Fuhrknechte, Kutscher, und alle starrten sie Mitjä an.

„Lebt wohl, Ihr Gottesmenschen!“ rief ihnen Mitjä vom Wagen zu.

„Vergib auch du uns, Väterchen,“ hörte man zwei, drei Stimmen den Gruß erwidern.

„Nun, auch du leb wohl, Trifon Borissytsch!“

Doch Trifon Borissytsch wandte sich nicht einmal nach ihm um, vielleicht weil er gar zu beschäftigt war. Er schrie gleichfalls und gab verschiedene Befehle, denn der zweite Wagen, in dem zwei Gerichtsdiener Mawrikij Mawrikjewitsch und Mitjä begleiten sollten, war noch nicht ganz zur Abfahrt bereit. Der Fuhrknecht, der sie fahren sollte, zog vorläufig noch langsam seinen Kittel an und redete wortreich darüber, daß nicht er, sondern Akim an der Reihe sei, zu fahren. Akim aber war nicht zur Stelle; da lief man denn, um den Akim zu suchen; der Bauer bestand aber auf dem Seinen und bat, daß man warten solle.

„Ach, Mawrikij Mawrikjewitsch, dieses Bauernpack ist doch bei uns ganz ohne jedes Schamgefühl!“ rief Trifon Borissytsch kummervoll. Und zu dem Fuhrknecht: „Dir hat Akim noch vorgestern einen Fünfundzwanziger gegeben, und du hast ihn versoffen, jetzt aber reißt du wieder das Maul bis an die Ohren. Ich wundere mich nur tagaus, tagein über Ihre Güte, Mawrikij Mawrikjewitsch, hat doch dieses Lumpenpack so was nicht mal von weitem verdient. Ich weiß, was ich sage!“

„Aber wozu brauchen wir denn noch eine zweite Troika?“ mischte sich da Mitjä in die Angelegenheit ein. „Fahren wir nur ruhig in einer, Mawrikij Mawrikjewitsch, ich werde ja nicht rebellieren, nicht von dir fortlaufen, wozu also die Bedeckung?“

„Bitte, gefälligst zu begreifen, mein Herr, daß Sie nicht so zu mir zu reden haben, falls Sie es noch nicht wissen sollten. Ich verbitte mir Ihr Du und desgleichen Ihre Ratschläge, die Sie für bessere Gelegenheiten aufsparen können ...“ schrie plötzlich, wild aus sich herausfahrend, Mawrikij Mawrikjewitsch Mitjä an, – als hätte er sich über die Gelegenheit gefreut, seine Galle an ihm auslassen zu können.

Mitjä schwieg. Das Blut war ihm heiß ins Gesicht gestiegen. Nach einem Augenblick fror ihn plötzlich sehr. Der Regen hatte aufgehört, doch der trübe Himmel war ganz von Wolken bedeckt, und ein scharfer Wind blies ihm gerade ins Gesicht. „Sollte das etwa ein Fieberschauer sein?“ dachte Mitjä, der sich in den Schultern schüttelte. Endlich stieg auch Mawrikij Mawrikjewitsch ein, setzte sich gewichtig und breit hin, wobei er – als bemerke er es überhaupt nicht – Mitjä gehörig an die andere Seitenlehne preßte. Freilich war er nicht bei guter Laune, und der ihm zuteil gewordene Auftrag behagte ihm sehr wenig.

„Leb wohl, Trifon Borissytsch!“ rief Mitjä nochmals zurück, und er fühlte selbst, daß er es nicht aus Gutmütigkeit, sondern aus Bosheit, gegen seinen Willen gerufen hatte.

Doch Trifon Borissytsch stand stolz auf seiner Treppe, hielt die Hände auf dem Rücken und sah Mitjä ohne mit der Wimper zu zucken an; er blickte streng und geärgert und antwortete auf Mitjäs Gruß kein Wort.

„Leben Sie wohl, Dmitrij Fedorowitsch, leben Sie wohl!“ ertönte plötzlich die Stimme Kalganoffs, der ganz unerwartet von irgendwoher aufgetaucht war.

Er eilte zum Wagen und streckte Mitjä die Hand entgegen. Er war ohne Mütze herausgelaufen. Mitjä gelang es noch, seine Hand zu erfassen und einmal zu drücken.

„Leb wohl, du lieber Mensch, werde dich und deine Großmut nie vergessen!“ rief er ihm heiß zu.

Da zogen aber die Pferde an, und ihre Hände wurden auseinander gerissen. Die Glocken tönten ... – so wurde Mitjä fortgeführt.

Kalganoff aber lief in den Flur, setzte sich dort in eine dunkle Ecke, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte bitterlich. Lange saß er so und weinte, – er weinte, als wäre er noch ein kleiner Knabe und nicht ein zwanzigjähriger junger Mann. Oh, er war fast ganz von Mitjäs Schuld überzeugt! „Was sind denn das für Menschen, wie können denn, danach zu urteilen, die Menschen überhaupt sein!“ rief er innerlich in bitterer Schwermut, wenn nicht gar Verzweiflung. Er verlor allen Lebensmut: „Ich will überhaupt nicht mehr leben,“ sagte er grollend, und „ist denn das Leben das wert, ist es das wert?“ rief der betrübte Jüngling immer wieder aus.

Zehntes Buch.
Die Knaben

I.
Koljä Krassotkin

Anfang November. Die Kälte war bei uns schon auf elf Grad gestiegen, und dazu kam noch Glatteis. Auf die gefrorene Erde war nachts etwas trockener Schnee gefallen, und nun fegte ihn ein kalter, scharfer Wind durch die langweiligen Straßen des Städtchens und besonders über den Marktplatz in unermüdlichen Stößen vor sich her. Der Morgen ist bewölkt, doch der Schneefall hat schon aufgehört.

Nicht weit vom Marktplatz, in der Nähe der Plotnikoffschen Kolonialwarenhandlung, steht das kleine, von außen wie von innen sehr saubere Haus der Witwe des verstorbenen Beamten Krassotkin. Der Gouvernementssekretär Krassotkin war schon vor langer Zeit gestorben, vor etwa vierzehn Jahren; seine Witwe aber, ein etwa dreißigjähriges und noch immer sehr nettes appetitliches Frauchen, lebte in ihrem schmucken Häuschen „vom eigenen Kapital“. Sie lebte sittsam und bescheiden und hatte einen zärtlichen, sanften, im allgemeinen recht heiteren Charakter. Sie war bereits mit achtzehn Jahren Witwe geworden, nachdem sie mit ihrem Mann nur ein Jahr lang zusammengelebt und ihm kurz vor seinem Tode einen Sohn geboren hatte. Seit der Zeit, seit dem Tode ihres Mannes, widmete sie sich ganz der Erziehung dieses ihres einzigen Söhnchens Koljä, und wenn sie ihn auch alle diese vierzehn Jahre geradezu abgöttisch liebte, so machte sie mit ihm, versteht sich, weit mehr Leiden durch, als er ihr Freuden bereitete, da sie jeden Tag für ihn zitterte und fast verging vor Angst, er könnte sich erkalten, erkranken, sich beim Spielen Schaden tun, auf einen Stuhl klettern und herunterfallen usw. usw. Als aber Koljä die Vorschule und späterhin unser Progymnasium zu besuchen begann, da fing sie an, alle Wissenschaften zu studieren, um ihm beim Lernen helfen und mit ihm die Aufgaben durchnehmen zu können. Sie suchte mit seinen Lehrern und deren Frauen bekannt zu werden, lud sie zum Kaffee ein, sie verwöhnte und hätschelte sogar seine Schulkameraden, damit sie ihren Koljä nicht anrührten, nicht verspotteten, oder gar – Gott behüte! – verprügelten. Sie brachte es so weit, daß die Knaben schließlich über ihn lachten und ihn als „das Muttersöhnchen“ neckten. Koljä aber verstand es, sich zu verteidigen. Er war ein mutiger Junge und „furchtbar stark“, wie das Gerücht zu melden wußte, das sich bald in der Klasse verbreitete, war gewandt, charakterfest, kühn und unternehmungslustig. Er lernte gut, und es hieß sogar unter den Kameraden, daß er in der Arithmetik und allgemeinen Geschichte selbst dem Lehrer, Herrn Dardaneloff, ein Bein stellen könne. Wenn nun der Junge auch etwas „von oben herab“ war und das Nasenspitzchen oft gehörig emporreckte, so war er doch ein guter Kamerad, der sich nie überhob. Die Achtung der Mitschüler nahm er übrigens als etwas Selbstverständliches hin. Die Hauptsache war, daß er Maß hielt, daß er sich bei Gelegenheit selbst zurückzuhalten verstand, und daß er in seinem Verhalten zu den Lehrern niemals die letzte, sehr bemerkbare Grenze überschritt, über die hinaus die Streiche nicht mehr verziehen werden können, da sie dann bereits zu „Unordnung, Rebellion und Verletzung der Vorschriften“ führen. Und doch war er nichts weniger als abgeneigt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie der ausgelassenste Schulbub ausgelassen zu sein, oder vielmehr nicht so sehr ausgelassen zu sein, als etwas Besonderes anzustiften, einen ganz besonders tollen Streich zu spielen, „Extrafurore“ zu machen, sich einen „Schick“ zu geben, kurz, sich irgendwie auffallend auszuzeichnen. Vor allem war er sehr ehrgeizig. Sogar seine Mama verstand er in ein untergeordnetes Verhältnis zu sich zu bringen, ja, er beherrschte sie fast despotisch. Sie hatte sich ihm widerspruchslos untergeordnet, oh, schon lange war er der Herr im Hause! Nur den einen Gedanken konnte sie nicht ertragen: daß ihr Junge sie „wenig liebe“. Es schien ihr immer, daß ihr Koljä „nichts für sie fühle“, und so kam es denn vor, daß sie, in Tränen aufgelöst, ihm wegen seiner Kälte zu ihr Vorwürfe machte. So etwas liebte der Junge äußerst wenig, und je mehr Herzensergüsse man von ihm verlangte, um so zurückhaltender wurde er. Das geschah aber von ihm nicht absichtlich, wie es schien, sondern ganz unwillkürlich, – so war nun einmal sein Charakter. Doch die Mutter täuschte sich: er liebte seine Mama sogar sehr, nur liebte er keine „Kälberzärtlichkeiten“, wie er sich in seinem Schülerjargon ausdrückte. Sein Vater hatte viele Bücher hinterlassen, die von der Mutter in einem großen Schrank aufbewahrt wurden. Koljä machte sich bald daran, diese Bücher zu lesen. Die Mama beunruhigte das weiter nicht; sie wunderte sich vorläufig nur über ihren Jungen, wie der so ganze Stunden lang am Bücherschrank stehen und lesen konnte. Daher hatte denn Koljä in kurzer Zeit schon manches gelesen, was er in so jungen Jahren gar nicht zu wissen gebraucht hätte.

In der letzten Zeit aber hatte er ein paar Streiche gespielt, die die Mama ernstlich beunruhigten. Es waren das nicht irgendwelche sittlich bedenkliche, bösartige Stückchen, sondern wahrhaft tollkühne, halsbrecherische Wagnisse gewesen. Die Mama hatte nämlich Ende Juli, in der Ferienzeit, mit ihrem Jungen eine Verwandte besucht, deren Mann auf der nächsten Eisenbahnstation, siebzig Werst von unserem Städtchen, angestellt war. (Es war das dieselbe Eisenbahnstation, von der einen Monat darauf Iwan Fedorowitsch Karamasoff nach Moskau reiste.) Das erste, was Koljä bei seinen Verwandten tat, war, daß er sich genau die Lokomotiven besah, sich mit der Maschine gut bekannt machte, alle Räder untersuchte usw., denn er sagte sich, daß er mit diesen Kenntnissen seinen Mitschülern imponieren werde. Es fanden sich noch ein paar andere Knaben dazu, mit denen er sich anfreundete; die einen von ihnen wohnten daselbst auf der Station, die anderen in der Nachbarschaft, – im ganzen hatten sich sechs oder sieben Jungen im Alter zwischen zwölf und fünfzehn Jahren zusammengetan, darunter zwei Gymnasiasten aus unserer Stadt. Diese Jungen spielten und tollten zusammen, und siehe da, am vierten oder fünften Tage des Besuchs – Frau Krassotkin und Koljä waren nur auf etwa eine Woche hingefahren – kam es unter ihnen zu einer ganz unglaublichen Wette um zwei Rubel: und zwar handelte es sich um folgendes:

Koljä, der Jüngste unter ihnen, und daher von den anderen etwas herablassend Behandelte, hatte aus knabenhaftem Ehrgeiz oder aus unverzeihlicher Tollkühnheit vorgeschlagen, nachts, wenn der Elfuhrzug käme, so lange zwischen den Schienen zu liegen, bis der Eilzug über ihn hinweggegangen wäre. Allerdings waren verschiedene Versuche gemacht worden, die ergeben hatten, daß man sehr wohl so zwischen den Schienen liegen und sich an den Boden drücken konnte, ohne vom Zug berührt zu werden, der dann in der größten Geschwindigkeit über einen hinwegsausen werde. Trotzdem jedoch – besten Dank für das Liegen! Koljä aber behauptete steif und fest, daß er sich hinlegen und liegen bleiben werde. Er wurde zuerst ausgelacht, ein Prahlhänschen, ein Aufschneider genannt, und durch diese Neckereien nur noch mehr zu seinem Vorhaben gereizt. Das Entscheidendste dabei war, daß diese Fünfzehnjährigen schon gar zu wichtig vor ihm taten und ihn zuerst als „Kleinen“ überhaupt nicht in ihre „Clique“ hatten aufnehmen wollen, was ihm denn doch zu sehr „an die Ehre“ ging. Und so ward beschlossen, am Abend aufzubrechen und ungefähr auf eine Werst längs dem Eisenbahndamm weiterzugehen, um dann bis elf den Zug, der dort von der Station aus bereits in Gang gekommen sein würde, zu erwarten. Der Abend kam, man versammelte sich und machte sich auf den Weg. Die Nacht brach an: es war eine mondlose, nicht nur dunkle, sondern fast pechschwarze Nacht. Kurz vor elf legte Koljä sich zwischen den Schienen hin. Die übrigen fünf, die die Wette eingegangen waren, warteten zuerst mit beklommenem Herzen, zuletzt aber in Angst und Reue unten am Bahndamm im Gebüsch. Endlich, – ein Pfiff und fernes Rollen zeigten an, daß der Schnellzug die Station verließ. Da tauchten auch schon in der Nacht zwei feurige Augen auf und fauchend raste das Ungetüm heran. „Lauf Koljä! Lauf fort!“ schrien fünf angsterstickte Stimmen aus dem Gebüsch. Es war aber schon zu spät: der Zug war schon da und sauste vorüber. Die Jungen stürzten den Damm hinauf zu Koljä: er lag regungslos zwischen den Schienen. Man rüttelte ihn, rief ihn an, und versuchte ihn schließlich aufzuheben. Da stand er plötzlich von selbst auf und ging schweigend den Bahndamm hinab. Unten angelangt, erklärte er, daß er absichtlich unbeweglich liegen geblieben sei, um ihnen Angst zu machen. Doch war das nicht ganz wahrheitsgetreu: er hatte tatsächlich die Besinnung verloren, wie er später, nach langer Zeit, seiner Mama gestand. So hatte er sich denn den Ruhm, ein „Tollkühner“ zu sein, für alle Zeiten erworben. Er kehrte nur sehr bleich zur Station zurück und erkrankte am Tage darauf an einem leichten Nervenfieber, doch war er bald wieder ungemein lebhaft, lustig und zufrieden. Der Streich wurde nicht gleich bekannt; erst als er wieder zurückgekehrt war und wieder in die Schule ging, verbreitete sich die tolle Geschichte, dank den beiden Gymnasiasten, die dabei gewesen waren, unter den Schülern unseres Progymnasiums, bis sie schließlich auch der Schulobrigkeit zu Ohren kam. Da aber stürzte Koljäs Mama hin zu den Direktoren, um für ihren Sohn Verzeihung zu erflehen, und erreichte denn auch, daß der sehr geachtete und einflußreiche Lehrer Dardaneloff für ihren Jungen eintrat und ihn verteidigte, und daß man die Sache zu guter Letzt auf sich beruhen ließ, als wäre überhaupt nichts geschehen. Dieser Dardaneloff, ein unverheirateter und noch nicht alter Mann, war nämlich schon seit etlichen Jahren glühend in Frau Krassotkin verliebt und hatte ihr auch schon einmal, vor etwa einem Jahr, in der ehrerbietigsten Weise und halb vergehend vor Angst und Verlegenheit einen Heiratsantrag gemacht; sie aber hatte ihn ohne weiteres abgewiesen, da sie eine Wiederverheiratung als einen Verrat an ihrem Sohne empfunden hätte. Trotzdem hatte Dardaneloff vielleicht doch das Recht, nach gewissen Anzeichen zu schließen, daß er der hübschen Dame nicht unsympathisch war. Der tolle Streich Koljäs schien nun das Eis gebrochen zu haben, und ihm war für seine freundliche Verwendung eine leise Andeutung, daß er hoffen könne, zuteil geworden, freilich nur eine sehr entfernte. Da aber Dardaneloff, was Rücksichtnahme und Zartgefühl betraf, ein wahres Phänomen war, so genügte das vollkommen, um ihn unendlich glücklich zu machen. Den Knaben liebte er sehr, nur hielt er es für erniedrigend, sich bei ihm einzuschmeicheln, daher verhielt er sich zu ihm in der Klasse stets streng und anspruchsvoll. Und auch Koljä „hielt ihn sich in respektvoller Entfernung“. Er bereitete sich zu den Stunden ausgezeichnet vor, behauptete sich in der Klasse als zweiter Schüler, war im Umgang mit ihm etwas trocken, und die ganze Klasse glaubte, daß er in der allgemeinen Geschichte Dardaneloff sogar schlagen könne. Und tatsächlich hatte Koljä ihm einmal die Frage gestellt: Wer hat Troja gegründet? – worauf der Lehrer nur „im allgemeinen“ geantwortet hatte, von den Bewegungen der verschiedenen Völker, von ihren Wanderungen und Niederlassungen und Übersiedlungen, von der Tiefe der Zeiten, von den Mythen und Dichtungen gesprochen: doch auf die Frage, wer, d. h. welche Personen Troja gegründet hatten, darauf konnte er nicht antworten, und im übrigen fand er die Frage müßig. Die Knaben waren überzeugt, daß Dardaneloff einfach nicht wußte, wer Troja gegründet hatte. Koljä aber hatte im Ssmaragdoff, der sich gleichfalls im Bücherschrank des Vaters fand, alles Nähere über die Gründung Trojas nachgelesen. Schließlich interessierte es alle Knaben, wer nun der eigentliche Gründer Trojas war, Koljä Krassotkin aber deckte sein Geheimnis nicht auf, und so genoß er denn allein den Ruhm des Wissens.

Da kam nun dieser Eisenbahnstreich dazwischen, und Koljäs Verhalten zur Mutter erfuhr eine Veränderung. Als Anna Fedorowna (so hieß Frau Krassotkin) von der „Heldentat“ ihres Sohnes erfuhr, fiel sie beinahe in Ohnmacht vor Angst, obgleich doch keinerlei Gefahr mehr vorhanden war. Sie bekam die heftigsten nervösen Anfälle, die mit Unterbrechungen mehrere Tage lang andauerten, so daß Koljä ernstlich erschrak und ihr sein heiliges Ehrenwort gab, nie mehr ähnliche Tollkühnheiten zu begehen. Er schwur es ihr auf den Knien vor dem Heiligenbilde, schwur es beim Andenken seines Vaters, wie es seine Mama verlangte, wobei der „männliche, erwachsene“ Koljä wie ein sechsjähriger Knabe vor lauter „Gefühl“ weinte, und Mutter und Sohn sich in den Armen lagen und bis zum Abend schluchzten. Am nächsten Morgen war Koljä ebenso „gefühllos“, wie früher, nur wurde er von da an schweigsamer, bescheidener, strenger und nachdenklicher. Das hinderte freilich nicht, daß er nach anderthalb Monaten wieder einen Streich spielte, durch den sein Name sogar unserem Friedensrichter bekannt wurde. Doch davon später. Die Mutter fuhr fort zu zittern und sich zu quälen, und Dardaneloff schöpfte, im Verhältnis wie ihre Angst wuchs, immer mehr Hoffnung.

Ich muß noch bemerken, daß Koljä in dieser Hinsicht seinen Lehrer sehr gut verstand und sogar ganz durchschaute und ihn, versteht sich, wegen dieser seiner „Gefühlsduseleien“ tief verachtete. Früher hatte er einmal die Unzartheit gehabt, diese Verachtung seiner Mama zu verstehen zu geben, und er hatte außerdem noch angedeutet, daß er sehr wohl wisse, welche Absichten Dardaneloff hege. Aber nach jenen schrecklichen nervösen Anfällen der Mutter änderte er sich auch in dieser Beziehung. Er erlaubte sich hinfort keine einzige Anspielung mehr und äußerte sich über Dardaneloff der Mutter gegenüber stets sehr achtungsvoll, was die feinfühlige Anna Fedorowna sofort mit grenzenloser Dankbarkeit in ihrem Herzen empfand, – dafür aber selbst bei der leisesten Erwähnung Dardaneloffs, etwa im Gespräch mit einem unbefangenen Gast, wenn Koljä dabei war, wie eine Rose erglühte. Koljä dagegen schaute dann mit krauser Stirn zum Fenster hinaus, oder er betrachtete umständlich und äußerst interessiert seine Stiefelspitzen, oder er rief barsch seinen „Pereswonn“ heran, ein langhaariges, zottiges und häßliches Hundevieh, das er vor einem Monat irgendwo „aufgegabelt“ und nach Haus „bugsiert“ hatte, nun im Hause wie ein großes Geheimnis hütete und keinem einzigen seiner Kameraden zeigte. Er tyrannisierte den armen Köter ganz entsetzlich, drillte ihn unermüdlich, bis er ihm alle möglichen Künste „eingefuchst“ hatte, und brachte es schließlich so weit, daß der arme Hund jedesmal heulte, wenn er in die Schule ging, und wenn er wieder zurückkehrte, vor Freude „rappeldoll“ wurde, winselte, sich auf den Rücken warf, alle Stückchen vormachte und wie besessen an ihm hinaufsprang – und das alles nicht auf Befehl, sondern aus bloßem Überschwang seiner Begeisterung und seines dankbaren Hundeherzens.

Ich habe übrigens zu erwähnen vergessen, daß Koljä Krassotkin derselbe Knabe war, der von Iljuscha, dem Sohn des verabschiedeten Hauptmanns Ssnegireff, in der Schule mit dem Federmesser in den Oberschenkel gestochen worden war, als die Schüler jenen, seines Vaters wegen, „Bastwisch“ geneckt hatten.

II.
Die Gören

Also an jenem frostigen Novembersonntagmorgen, an dem der scharfe Winterwind den trockenen Schnee durch die Straßen fegte, saß Koljä Krassotkin ganz allein zu Hause. Es hatte schon elf geschlagen, und er mußte in einer „äußerst wichtigen und positiv unaufschiebbaren Angelegenheit ausgehen“ – und da sah er sich nun gezwungen, als einziger Beschützer zu Hause zu sitzen, denn es hatte sich so gemacht, daß alle älteren Bewohner des Hauses wegen eines sehr sonderbaren und gewiß höchst seltenen Vorfalles fortgegangen waren. Im Hause der Frau Krassotkin wohnte nämlich in der zweiten, kleinen Wohnung, die nur aus zwei Wohnzimmern bestand und von der Wohnung Frau Krassotkins durch einen Korridor getrennt war, die Frau eines Doktors mit ihren zwei kleinen Kindern zur Miete. Diese Doktorsfrau war mit Anna Fedorowna in gleichem Alter und hatte sich herzlich mit ihr angefreundet; der Doktor aber war schon vor etwa einem Jahr verreist, zuerst nach Orenburg und dann nach Taschkent, und hatte nun seit einem halben Jahre nichts mehr von sich hören lassen, so daß seine Frau sich blind geweint hätte, wenn nicht die Freundschaft mit Anna Fedorowna ihr Trost und Stütze gewesen wäre. Nun, und da mußte es denn zur Krönung aller Schicksalsschläge noch geschehen, daß Katerina, die einzige Magd der „Doktorin“, in der letzten Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag ihrer Herrin zu deren Verblüffung mitteilte, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach am nächsten Morgen niederkommen werde. Wie es möglich gewesen war, daß niemand früher etwas davon gemerkt hatte, blieb allen ein Rätsel. Die erschrockene, arme Frau überlegte sich die schwierige Sache und beschloß darauf, ihre Magd, solange es noch Zeit war, zur Hebamme in eine für solche Fälle eingerichtete Anstalt zu bringen. Da sie mit ihrer Magd sehr zufrieden war und diese um keinen Preis verlieren wollte, so führte sie ihren Vorsatz auch unverzüglich aus und blieb außerdem noch vorläufig bei ihr. Darauf, am Sonntagmorgen, wurde auch Frau Krassotkin um ihre gütige Fürsprache und Protektion gebeten, da sie in diesem Falle bei gewissen Personen irgend etwas erbitten konnte. So kam es denn, daß beide Damen nicht zu Hause waren, und da auch Frau Krassotkins Magd, Agafja, auf den Markt gegangen war, mußte Koljä zeitweilig als Beschützer und Wächter der kleinen „Knirpse“ zu Hause bleiben. Diese „Knirpse“ waren die beiden Gören der Frau Doktor, ein Knabe und ein Mädel. Das Haus zu bewachen, fürchtete sich Koljä nicht, und zudem war ja noch Pereswonn bei ihm, der aber auf Befehl seines Herrn im Vorzimmer unter der Bank „tot“ liegen mußte, und der gerade deswegen jedesmal, wenn Koljä auf der „Runde durch die Zimmer“ an ihm vorüberkam, mit bittendem Blick ihn ansah und zweimal mit der Rute kräftig auf den Fußboden schlug. Leider aber hörte er noch immer nicht den rufenden Pfiff des Herrn. Koljä warf nur einen drohenden Blick auf den armen Köter, und sofort stellte sich dieser gehorsam wieder „tot“. Dafür aber waren es die beiden Gören, die sogenannten „Knirpse“, die ihn beunruhigten. Auf den Vorfall mit Katerina blickte er selbstverständlich mit der tiefsten Verachtung herab, die verwaisten „Knirpse“ dagegen liebte er sehr. Er hatte ihnen ein Kinderbuch zur Zerstreuung gebracht, denn Nastjä, das ältere, achtjährige Mädchen, konnte schon lesen, und der jüngere „Knirps“, der siebenjährige Kostjä, hörte „furchtbar gern“ zu, wenn Nastjä ihm vorlas. Koljä Krassotkin hätte sie nun allerdings noch viel unterhaltsamer zerstreuen können, zum Beispiel mit Pferdchen- oder Soldaten- oder Versteckspielen. Das war früher auch schon mehr als einmal geschehen, so daß sich das Gerücht, Krassotkin spiele zu Hause mit den Kindern der Mieterin Pferdchen, und ahme im Springen, Galoppieren und Kopfneigen kunstvoll die Allüren des Deichselpferdes der Troika nach, sogar in der Schule verbreitet hatte. Krassotkin aber war gelungen, sich voll Stolz zu verteidigen, indem er den Mitschülern seinen Standpunkt klarlegte: mit Altersgenossen, d. h. also mit Dreizehnjährigen, wäre es seiner Meinung nach allerdings eine Schmach, „in unserem Jahrhundert“ noch Pferdchen zu spielen, er aber tue es nur für die „kleinen Knirpse“, da er sie sehr gern habe, und im übrigen habe niemand das Recht, von ihm über seine Gefühle Rechenschaft zu fordern. Dafür wurde er denn auch von den beiden Kleinen geradezu vergöttert. Diesmal aber war ihm nicht nach Spielchen zu Sinn. Er war mit einer äußerst wichtigen persönlichen Angelegenheit beschäftigt: ihm stand, wie es schien, etwas fast Geheimnisvolles bevor. Inzwischen aber verging die Zeit, und Agafja, mit der die Gören sehr gut allein hätten bleiben können, wollte immer noch nicht vom Markt zurückkehren. Er war schon mehrmals über den Flur gegangen und hatte die Tür zur Wohnung der Frau Doktor geöffnet und besorgt die Kleinen betrachtet, die auf seinen Befehl artig vor dem Kinderbuch saßen und ihm jedesmal, wenn er die Tür aufmachte, mit ganzem Mund entgegen lächelten, in der Erwartung, daß er diesmal ganz sicherlich eintreten und Ihnen etwas Schönes und Lustiges vormachen werde. Koljä aber war sichtlich mit anderem beschäftigt und kam nicht herein. Da schlug es elf, und er beschloß endgültig, auf diese „verdammte Agafja“ nicht mehr länger als zehn Minuten zu warten, wenn sie aber selbst dann noch nicht gekommen wäre, einfach fortzugehen, – versteht sich, wenn ihm die „Knirpse“ vorher das Wort gegeben hatten, daß sie ohne ihn nicht Angst bekommen, nicht unartig sein und nicht weinen würden. Mit diesen Gedanken zog er seinen kleinen wattierten Wintermantel mit dem Kottikkragen an, hing sein Büchertäschchen über die Schulter und ging, trotz der wiederholten Bitten seiner Mama, „bei dieser Kälte nicht ohne Galoschen auszugehen,“ in bloßen Stiefeln und nur mit einem verächtlichen Blick auf seine Galoschen, zur Tür hinaus. Als Pereswonn ihn nach dem Mantel greifen sah, fing er sofort an, stärker mit der Rute auf den Boden zu schlagen, reckte nervös den Hals immer wieder wie suchend ihm entgegen und machte bereits quiekende Versuche zu einem klagenden Geheul. Koljä aber beschloß, als er diese Erregung seines Köters bemerkte, den gegebenen Befehl noch nicht aufzuheben, „da man ihn an Disziplin gewöhnen muß“, und erst als er die Flurtür öffnete, pfiff er. Pereswonn fuhr auf wie toll und sprang geradezu außer sich vor Freude zu seinem jungen Tyrannen. Koljä schritt über den Flur und öffnete die Tür zu den Knirpsen. Die saßen wie früher am Tischchen, lasen aber nicht mehr, sondern stritten sich. Diese beiden Kinder stritten häufig miteinander über verschiedene ungelöste Lebensprobleme, nur war es immer Nastjä, das ältere Mädchen, die den Sieg davon trug; dafür ging denn Kostjä jedesmal, wenn er mit ihr nicht übereinstimmen konnte, zu Koljä Krassotkin, um an ihn als an die letzte Instanz zu appellieren, und wie der dann entschied, so blieb es auch, da er für beide Teile absolute Autorität war. Diesmal schien ihm der Streit der „Knirpse“ etwas interessanter, und so blieb er an der Tür noch ein Weilchen stehen, um der Debatte zuzuhören. Die Kinder hatten natürlich sofort bemerkt, daß er wieder eingetreten war, und so setzten sie ihren Streit noch lebhafter fort.

„Niemals, niemals werde ich glauben, daß die Ammen die kleinen Kinder im Gemüsegarten zwischen den Kohlbeeten finden,“ beteuerte Nastjä, ganz Feuer und Flamme. „Jetzt ist doch schon Winter, und Kohlbeete gibt es überhaupt nicht mehr, wo soll nun die Amme das Töchterchen für Katerina hernehmen?“

„Da haben wir’s!“ dachte Koljä bei sich.

„Oder sieh, es kann doch auch so sein: die Ammen finden sie irgendwo, bringen sie aber nur denen, die verheiratet sind.“

Klein Kostjä blickte das Schwesterchen aufmerksam an, hörte tiefsinnig zu und überlegte.

„Wie dumm du bist, Nastjä,“ sagte er schließlich überzeugt, ohne sich aber dabei aufzuregen, „was kann denn Katerina für ein Kind haben, wenn sie keinen Mann hat?“

Nastjä fuhr sofort auf:

„Ach, du verstehst mich nicht,“ sagte sie gereizt, „vielleicht hat sie einen Mann gehabt, nur sitzt er jetzt im Gefängnis, und da hat sie nun ein Kind bekommen.“

„Ja, aber hat sie denn einen Mann im Gefängnis?“ erkundigte sich wichtig der positive Kostjä.

„Oder nein,“ unterbrach ihn Nastjä ungestüm, indem sie ihre erste Hypothese völlig vergaß, „einen Mann hat sie nicht, da hast du recht, sie will aber gern einen Mann haben, und da hat sie angefangen zu denken, wie sie einen Mann bekommen würde, und hat immer daran gedacht, so lange daran gedacht, bis sie nun nicht einen Mann, dafür aber ein Kindchen bekommen hat.“

„Nun, das ist was anderes,“ meinte Kostjä bekehrt, „du hast das aber früher nicht gesagt, wie sollte ich es da wissen!“

„Hört mal, ihr Gören,“ unterbrach Koljä Krassotkin eintretend die Unterhaltung, „ihr seid ja, wie ich sehe, gefährliches Gewächs.“

„Und auch Pereswonn ist mit Ihnen gekommen?“ erkundigte sich selig lächelnd klein Kostjä und bemühte sich, mit seinen kleinen Fingern wie Erwachsene zu schnippen, um auf diese Weise Pereswonn heranzulocken.

„Also hört mal, ich habe ein ernstes Wort mit euch zu reden,“ hub Krassotkin gewichtig an. „Ihr könntet mir nämlich einen großen Gefallen erweisen. Agafja hat sich natürlich ein Bein gebrochen, das steht fest, sonst wüßte ich wirklich nicht, warum sie sich dermaßen verspätet. Ich aber muß in einer äußerst wichtigen Angelegenheit ausgehen, ich kann die Sache unmöglich noch weiter hinausschieben. Werdet ihr mich nun gehen lassen oder nicht?“

Die Kinder blickten sich gegenseitig besorgt an, ihre lächelnden Gesichter verwandelten sich in unruhig fragende. Übrigens begriffen sie noch nicht ganz, was man von ihnen verlangte.

„Werdet ihr nicht unartig sein in meiner Abwesenheit? Nicht auf den Schrank klettern und euch die Beine brechen? Nicht Angst bekommen und losweinen, wenn ihr allein seid?“

In den Gesichtern der Kinder drückte sich tiefes Herzeleid aus.

„Ich könnte euch dafür ein nettes Dingelchen zeigen, eine kleine messingne Kanone, aus der man mit wirklichem Pulver schießen kann.“

Die Gesichter der Kinder erhellten sich augenblicklich.

„Zei – eigen Sie uns bitte das Kanonchen,“ bat selig klein Kostjä.

Koljä Krassotkin fuhr mit der Hand in seine Büchertasche, entnahm ihr eine kleine bronzefarbene Kanone und stellte sie auf den Tisch.

„Das glaub ich, zei – ei – eigen Sie! Seht, sie rollt auf Rädern“ – er rollte die Kanone über den Tisch – „und auch schießen kann man aus ihr. Mit Schrot laden und schießen.“

„U – und schießt sie auch tot?“

„Alle schießt sie tot, nur muß man vorher zielen.“

Und Krassotkin erklärte ihnen, wohin man das Pulver schütten, wohin man das Schrotkorn stecken mußte; er zeigte ihnen ein kleines Loch, das sogenannte Zündloch, wo man das Pulver anzündete, und erzählte darauf, daß die Lafette nach dem Schuß zurückweiche. Die Kinder hörten mit runden Augen und fabelhaftem Interesse zu. Am meisten frappierte sie, wie es wohl kam, daß die Lafette nach dem Schuß zurückrollte.

„Aber haben Sie auch Pulver?“ erkundigte sich Nastjä.

„Versteht sich.“

„Oh, dann zeigen Sie uns, bitte, auch das Pulver,“ bat Nastjä gedehnt mit einschmeichelndem Kinderlächeln.

Koljä Krassotkin fuhr wieder mit der Hand in die Büchertasche und entnahm ihr eine kleine Flasche, in der tatsächlich etwas „wirkliches“ Schießpulver war. In einer kleinen Papierdüte hatte er noch ein paar Schrotkörner. Er schüttete sich sogar etwas von dem Schießpulver auf die Handfläche.

„Seht, nur darf hier kein Feuer in der Nähe sein, sonst entzündet es sich und sprengt uns alle in die Luft,“ warnte Koljä und erreichte damit einen noch größeren Effekt.

Die Kinder betrachteten das Pulver geradezu mit andächtiger Furcht, die das Vergnügen natürlich noch erhöhte. Klein Kostjä interessierte sich besonders für das Schrot.

„Schrot aber brennt nicht?“ erkundigte er sich.

„Nein, Schrot brennt nicht.“

„Schenken Sie mir etwas Schrot,“ bat er mit zärtlich-schüchterner Stimme.

„Meinetwegen, Schrot kannst du ein wenig bekommen, da nimm, nur zeige es deiner Mama nicht früher, als bis ich wieder zurückgekommen bin, sonst denkt sie, daß es Pulver sei und fällt in Ohnmacht vor Schreck oder gibt euch Ruten.“

„Mama schlägt uns niemals mit Ruten,“ bemerkte sofort Nastjä.

„Ich weiß, ich sagte es auch nur so. Eure Mama aber sollt ihr niemals betrügen, nur dieses eine Mal ... wie gesagt, nur bis ich wiederkomme. Also, kann ich nun fortgehen? Werdet ihr nicht ohne mich Angst bekommen? Werdet ihr nicht weinen, wenn ich euch allein lasse?“

„Doch, wir wer – den wo – o – ohl wei – nen,“ kam es langsam und klagend aus klein Kostjä heraus, dessen Gesicht bereits Anstalten machte, sich zum Weinen zu verziehen.

„Ja, wir werden bestimmt weinen, bestimmt!“ beteuerte auch Nastjä etwas ängstlich.

„Ach, Kinder, Kinder, wie gefährlich sind doch eure Jahre! ... Nun, nichts zu machen, ihr Küchel, man wird, weiß Gott wie lange, bei euch sitzen müssen. Zeit aber, Zeit habe ich keinen Augenblick zu verlieren!“

„A – ber werden Sie auch Pereswonn wie tot liegen lassen?“ fragte klein Kostjä halb bittend, halb neugierig.

„Ja, was ist zu machen, man wird Pereswonn vorführen müssen. Ici, Pereswonn!“

Und Koljä begann zu befehlen und ließ den Hund alle Stückchen vormachen, die er konnte. Pereswonn war ein zottiger, mittelgroßer Hofköter, dessen Fell in ganz absonderlichen graulila Farben schimmerte. Er war einäugig, das rechte Auge fehlte ihm, und das linke Ohr war eingeschnitten, so daß es zwei Spitzen hatte. Er winselte und sprang herum, ging auf den Hinterfüßen, saß, warf sich auf den Rücken, alle vier Pfoten in die Luft und lag in dieser Stellung regungslos, „wie tot“. Gerade während dieser letzten Kunstleistung öffnete sich die Tür, und Agafja, Frau Krassotkins Küchenmagd, trat mit dem überladenen Marktkorb am Arm ins Zimmer. Es war das ein vierzigjähriges, pockennarbiges Frauenzimmer. Sie blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete den Hund. Koljä unterbrach übrigens seine Vorstellung nicht eher, wie sehnsüchtig er Agafja auch erwartet hatte, als bis Pereswonn die festgesetzte Zeit auf dem Rücken gelegen hatte: dann erst pfiff er ihm. Der Hund sprang sofort wie außer sich auf und bellte und wußte sich nicht zu lassen vor Freude darüber, daß er seine Pflicht erfüllt hatte.

„Sieh mal einer an, was das für’n Hund is!“ meinte Agafja wohlwollend.

„Warum aber bist denn du Vertreterin des Weiblichen so spät zurückgekommen?“ fragte Koljä streng.

„Vertreterin des Weiblichen, – da hör doch einer man bloß! So’n kleiner Pilz, so’n Naseweis!“

„Naseweis?“

„Was denn sonst? Was geht’s denn deine Nase an, ob ich zu spät oder zu früh komme? Wenn ich zu spät komme, dann komme ich nun eben zu spät, dann heißt dies, daß es so richtig ist, daß ich zu spät komme, dann habe ich eben zu spät kommen müssen,“ brummte Agafja, die sich am Ofen zu tun machte, doch war sie weder böse noch unzufrieden, sondern im Gegenteil, sogar sehr zufrieden, als hätte es sie gefreut, mit dem kleinen Herrensohn mal ein bissel knurren zu können.

„Hör mal, leichtsinniges Frauenzimmer,“ begann Krassotkin, sich von seinem Platz erhebend, „kannst du mir schwören bei allem, was es Heiliges hier in dieser Welt gibt und außerdem womöglich bei noch etwas, daß du während meiner Abwesenheit die beiden Gören nicht aus dem Auge lassen wirst? Ich muß ausgehen.“

„Warum soll ich dir denn schwören?“ fragte Agafja gutgelaunt. „Ich werd schon sowieso auf die Knirpse aufpassen.“

„Nein, du mußt es mir bei deiner Seelen Seligkeit schwören. Sonst gehe ich nicht fort.“

„Dann nicht. Was geht’s mich an? Sitz zu Hause, wenn du willst. Draußen ist es auch schon kalt.“

„Hört mal, ihr Knirpse,“ wandte sich Koljä an die Kleinen, „Agafja wird bei euch bleiben, bis ich zurückkehre, oder bis eure Mama wiederkommt, denn auch für sie wäre es Zeit. Außerdem wird Agafja euch etwas zu essen geben. Das wirst du doch, Agafja?“

„Schon möglich.“

„Dann also auf Wiedersehen, ihr beide, ich verlasse euch mit ruhigem Herzen. Du aber, Alte,“ sagte er halblaut und mit männlichem Ernst, als er an Agafja vorüberging, „du wirst ihnen, hoffe ich, nicht wieder eure üblichen Weiberdummheiten über die Katerina vorlügen, mußt doch ihr junges Alter berücksichtigen. – Ici, Pereswonn!“

„Nu, Gott mit dir,“ brummte Agafja, diesmal aber etwas ärgerlich. „Da sieh einer an, so’n Wicht! Müßte selber noch was überkriegen für solche Worte.“

III.
Die Schüler

Koljä hörte sie nicht mehr. Endlich also konnte er gehen, Gott sei Dank! Als er hinaustrat, warf er einen spähenden Blick ringsum, zuckte einmal vor Kälte mit den Schultern, dachte: „Hm, scharfer Frost!“ und schritt die Straße entlang bis zur nächsten Querstraße, in die er rechts einbog, um auf den Marktplatz zu gelangen. Als er am letzten Hause vor dem Platz angelangt war, blieb er an der Hofpforte stehen, zog eine kleine Pfeife aus der Tasche und pfiff aus Leibeskräften, als wolle er ein verabredetes Zeichen geben. Er brauchte nicht lange zu warten: im Augenblick öffnete sich das Hinterpförtchen, und ein rotwangiger, etwa elfjähriger Junge schlüpfte geschwind auf die Straße. Er war gleichfalls in ein warmes, sauberes, elegantes Mäntelchen gekleidet. Das war der kleine Ssmuroff, ein Schüler der Vorbereitungsklasse, während Koljä Krassotkin schon in der Sexta saß, der Sohn eines wohlhabenden Beamten, dem die Eltern allem Anscheine nach verboten hatten, mit dem „tollkühnen“ Krassotkin zu verkehren. Diesmal war er denn auch offenbar heimlich davongeschlichen. Dieser Knabe war derselbe, der, wie der Leser sich vielleicht noch erinnern wird, zusammen mit anderen Schülern vor etwa zwei Monaten mit Steinen nach Iljuscha geworfen und darauf Alexei Karamasoff noch einiges über den ausgestoßenen Jungen jenseits des Grabens erzählt hatte.

„Ich habe dich jetzt genau eine Stunde lang erwartet, Krassotkin,“ sagte mit strenger Miene der kleine Ssmuroff, während sie beide dem Marktplatze zuschritten.

„Ich habe mich verspätet,“ antwortete Krassotkin würdevoll. „Es gibt Umstände. Wird man dich nicht durchbläuen, wenn man erfährt, daß du mit mir gehst?“

„Ach, so hör doch auf, als ob ich noch durchgebläut würde! Kommt auch Pereswonn mit?“

„Ja, auch Pereswonn.“

„Und du wirst ihn auch dorthin mitnehmen?“

„Ja, auch dorthin.“

„Ach, wenn’s doch Shutschka wäre!“

„Das ist unmöglich. Shutschka gibt es nicht mehr. Shutschka ist in der Finsternis des Unbekannten verschwunden.“

„Ach, aber ginge es nicht so ...“ – der kleine Ssmuroff blieb unter dem Eindruck des Gedankens mitten auf der Straße stehen – „Iljuscha sagt doch, daß Shutschka auch so zottig und grau gewesen sei, – könnte man da nicht sagen, daß Pereswonn jener selbe Shutschka sei, vielleicht wird er es auch glauben?“

„Mein Junge, scheue die Lüge, das wäre Punkt eins; selbst dann, wenn es sich um einen guten Zweck handelt, Punkt zwei. Vor allem aber will ich hoffen, daß du dort nichts von meinem Besuch hast verlauten lassen.“

„Gott behüte, ich verstehe doch, um was es sich dabei handelt. Aber auch mit Pereswonn kann man ihn nicht trösten,“ meinte Ssmuroff seufzend. „Weißt du, sein Vater, der Hauptmann, der sogenannte Bastwisch, sagte uns, daß er ihm heute ein junges Hündchen bringen werde, einen echten kleinen Bullenbeißer mit einem schwarzen Schnäuzchen. Er hofft Iljuscha damit zu trösten, nur weiß ich nicht, ob es ihm gelingen wird.“

„Wie steht es denn mit ihm, mit Iljuscha, meine ich?“

„Ach, schlecht, sehr schlecht! Ich glaube, er hat die Schwindsucht. Er ist sonst vollkommen bei Besinnung, aber er atmet so schwer, so beängstigend. Vor ein paar Tagen bat er, man solle ihn im Zimmer etwas gehen lassen; man zog ihm seine Stiefelchen an, und er ging, fiel aber schon nach den ersten Schritten hin. ‚Ach,‘ sagte er, ‚ich habe dir doch gesagt, Papa, das ist nur von den schlechten Stiefeln gekommen, in ihnen war es auch früher unbequem zu gehen.‘ Er glaubte, er sei wegen der Stiefel gefallen, aber es war doch nur aus Schwäche. Er wird keine Woche mehr leben. Doktor Herzenstube kommt häufig hin. Jetzt sind sie wieder reich, haben viel Geld.“

„Diese Banditen!“

„Wer das?“

„Diese Ärzte und das ganze medizinische Pack, im allgemeinen gesprochen ... und im einzelnen, versteht sich, noch mehr. Ich verneine die Medizin. Eine total unnütze Einrichtung. Übrigens werde ich das alles noch eingehender untersuchen. Aber was sind denn das für Sentimentalitäten, die ihr da eingeführt habt? Die ganze Klasse scheint sich ja täglich bei ihm zu versammeln?“

„Gar nicht! Es gehen bloß zehn von uns täglich hin, jeden Tag.“

„Mich wundert schließlich nur die Rolle, die Alexei Karamasoff dabei spielt: sein Bruder wird morgen oder übermorgen wegen Vatermordes verurteilt werden, er aber hat noch Zeit zu Sentimentalitäten mit kleinen Jungen.“

„Gar nicht, da ist nichts von Sentimentalitäten. Du gehst doch jetzt selbst hin, um dich mit Iljuscha zu versöhnen.“

„Versöhnen! Lächerlicher Ausdruck. Übrigens gestatte ich niemandem, meine Handlungen zu analysieren.“

„Wie sich aber Iljuscha über deinen Besuch freuen wird! Er ahnt nicht, daß du kommst. Warum wolltest du denn solange nicht zu ihm mitkommen?“ fragte Ssmuroff, der von ganzem Herzen dem kranken Iljuscha nachfühlte.

„Lieber Junge, das ist meine und nicht deine Sache. Ich gehe, weil das mein eigener freier Wille ist, euch aber hat alle ohne Ausnahme Alexei Karamasoff hingeschleppt, das ist doch wohl ein Unterschied. Und überhaupt, woraus schließt du, daß ich hingehe, um mich mit ihm auszusöhnen? Was ist das für ein dummer Ausdruck.“

„Aber uns hat ja gar nicht Karamasoff hingebracht, gar nicht er! Wir fingen ganz von selbst an, hinzugehen, zuerst allerdings noch zusammen mit Karamasoff. Und es ist auch nichts vorgekommen, gar keine Dummheiten. Zuerst ging nur einer, dann ein zweiter, dritter und so weiter. Der Vater war furchtbar froh darüber, daß wir kamen. Weißt du, er wird bestimmt den Verstand verlieren, wenn Iljuscha stirbt. Er weiß ja schon, daß Iljuscha sterben wird. Iljuscha hat nach dir gefragt, aber er hat weiter nichts hinzugefügt. Er fragt nur und verstummt dann gleich. Aber sein Vater wird den Verstand verlieren oder sich erhängen. Er hat sich ja auch früher schon wie ein Verrückter aufgeführt. Weißt du, er ist ein edler Mensch, das war damals nur ein Irrtum. An allem trägt nur dieser Vatermörder die Schuld, weil er ihn damals verprügelt hat – daraus ist jetzt alles entstanden.“

„Immerhin ist Karamasoff ein Rätsel für mich. Ich hätte schon lange seine Bekanntschaft machen können, aber ich liebe in gewissen Fällen, stolz zu sein. Zudem habe ich mir schon eine gewisse Ansicht über ihn gebildet, die es jetzt nur noch zu untersuchen und zu vervollständigen gilt.“

Koljä verstummte bedeutsam, und Ssmuroff schwieg gleichfalls. Ssmuroff blickte natürlich nur andächtig zum Älteren empor und wagte nicht einmal, daran zu denken, sich mit ihm gleichzustellen. Er war maßlos interessiert durch die Bemerkung Koljäs, er gehe aus „eigenem freien Willen“ hin, da sich hinter diesem Ausspruch sicherlich die Lösung jenes Rätsels verbarg, warum er nicht schon früher zu Iljuscha mitgekommen war, und warum er sich gerade heute dazu entschlossen hatte. Sie gingen über den Marktplatz, auf dem diesmal viele Fuhren standen und viel angetriebenes Geflügel gackerte und schrie. Die Marktweiber saßen wie gewöhnlich unter ihren Zeltdächern und verkauften ihre Ware, Weißbrot, Pfefferkuchen, Garn usw. Derartige sonntägliche Märkte werden bei uns höchst naiverweise Jahrmärkte genannt, und solcher Jahrmärkte gibt es bei uns gar viele im Jahr. Pereswonn lief in der besten Gemütsverfassung vor ihnen her, schwenkte unermüdlich bald nach rechts, bald nach links ab, um irgendwo irgend etwas zu beschnuppern. Traf er mit anderen Hunden zusammen, so blieb er mit ungewöhnlicher Bereitwilligkeit stehen, um sich mit ihnen nach allen Hunderegeln zu beriechen.

„Ich liebe es, die realen Vorgänge zu beobachten,“ sagte plötzlich Koljä. „Hast du schon beobachtet, wie die Hunde sich beschnuppern, wenn sie zusammentreffen? Das muß bei ihnen so ein Naturgesetz sein.“

„Ja, das ist wahr, wirklich lächerlich.“

„Das heißt, durchaus nicht lächerlich, das war eine falsche Bemerkung von dir. In der Natur gibt es nichts Lächerliches, obwohl manches dem Menschen mit seinen Vorurteilen auch lächerlich erscheinen mag. Wenn Hunde denken und kritisieren könnten, so würden sie in den sozialen Beziehungen der Menschen, ihrer Herren, ebensoviel, wenn nicht noch mehr, für sie Lächerliches finden, – sogar sehr viel mehr. Ich wiederhole das nur darum, weil ich fest überzeugt bin, daß es bei uns tatsächlich noch viel mehr Dummheiten gibt. Das ist, nebenbei bemerkt, ein Ausspruch von Rakitin, ein sehr bemerkenswerter sogar. Ich bin Sozialist, Ssmuroff.“

„Was ist das?“ fragte Ssmuroff naiv.

„Das ist, wenn alle gleich sind, alle sind dann einer Meinung, es gibt keine Ehen, und die Religion und alle Gesetze sind dann so, wie es jedem beliebt, nun und so weiter alles übrige. Du bist noch nicht reif dazu, für dich ist das noch zu früh ... Aber es ist heut doch gehörig kalt.“

„Ja. Zwölf Grad. Papa sah vorhin nach dem Thermometer.“

„Hast du nicht bemerkt, Ssmuroff, daß es mitten im Winter, selbst wenn es fünfzehn oder achtzehn Grad sind, gar nicht so kalt ist, wie zum Beispiel jetzt, zu Anfang des Winters bei zwölf, wenn die Kälte ganz plötzlich einsetzt und noch wenig Schnee gefallen ist? Das bedeutet, daß die Menschen sich noch nicht an die Kälte gewöhnt haben. Bei den Menschen kommt alles auf Gewohnheit an. Selbst in den staatlichen und politischen Beziehungen. Gewohnheit ist bei ihnen die erste und größte Triebfeder. Sieh doch, was das für ein komischer Kauz ist!“

Koljä wies auf einen langen Bauer im Pelz, der neben seiner Fuhre stand und vor Kälte die behandschuhten Hände zusammenschlug. Sein langer blonder Bart, der sein sympathisches Gesicht umrahmte, war vom Frost ganz bereift.

„Dieser Bauer hat einen ganz bereiften Bart!“ sagte Koljä laut, als er an ihm vorüberging.

„Viele haben heute einen bereiften Bart,“ sagte ruhig und wohlbedacht der Bauer.

„So reiz ihn doch nicht,“ bat Ssmuroff leise Krassotkin.

„Macht nichts, er wird sich nicht ärgern, er ist ein braver Mann. – Leb wohl, Matwei.“

„Leb wohl.“

„Heißt du denn Matwei?“

„Jawohl. Wußtest du es nicht?“

„Nein, ich sagte es aufs Geratewohl.“

„Nun sieh mal! Bist wohl noch Schulbub?“

„Natürlich.“

„Nun was, wirst du auch gedroschen?“

„Nicht gerade, daß – aber es kommt vor.“

„Aber dann auch feste?“

„Ohne dem geht’s nicht.“

„Ja ja!“ Der Bauer seufzte von ganzem Herzen auf.

„Leb wohl, Matwei.“

„Leb wohl, bist ’n guter Bursch, jawohl.“

Die beiden Jungen gingen weiter.

„Das war ein guter Kerl,“ sagte Koljä zu Ssmuroff. „Ich rede gern mit dem einfachen Volke. Es freut mich immer, wenn ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen kann.“

„Warum aber hast du ihm vorgelogen, daß wir in der Schule gedroschen würden?“ fragte Ssmuroff.

„Man mußte ihn doch beruhigen!“

„Wieso?“

„Sieh mal, Ssmuroff, ich mag es nicht, nochmals gefragt zu werden, wenn man mich nicht nach dem ersten Wort verstanden hat. Manches läßt sich überhaupt nicht erklären. Er glaubt, daß jeder Schüler gedroschen wird, und seiner Meinung nach muß das auch so sein: Was ist denn das für ein Schüler, der nicht seine Portion Wichse kriegt? denkt er bei sich. Und nun soll ich ihm plötzlich sagen, daß es bei uns nie Prügel gibt! Damit würde ich ihn doch tief betrüben. Übrigens kannst du das noch nicht verstehen. Wer mit dem Volk reden will, der muß vorher das Reden erlernen.“

„Nur mach diesmal, bitte, keine Geschichten, sonst kommt wieder so ein Skandal heraus, wie damals mit der Gans.“

„Hast du denn etwa Angst?“

„Lach nicht, Koljä, bei Gott, ich habe Angst. Mein Vater würde furchtbar böse werden. Man hat mir streng verboten, mit dir zu verkehren.“

„Beunruhige dich nicht, diesmal wird nichts geschehen. Guten Morgen, Natascha,“ rief er einer der Marktweiber unter einem Schutzdach zu.

„Was bin ich für eine Natascha, Marja heiß ich,“ rief die Händlerin, ein noch junges Weib, mit hoher Fistelstimme fast schreiend zur Antwort.

„Das ist gut, daß du Marja heißt, leb wohl!“

„Ach, du Galgenstrick, bist noch keine Elle lang, nicht mal auf der Erde zu bemerken und bist doch schon wie die anderen!“

„Habe keine Zeit, keine Zeit für dich, nächsten Sonntag kannst du es mir erzählen,“ rief Koljä, heftig mit der Hand abwinkend, als hätte sie mit ihm angebändelt und nicht er mit ihr.

„Was soll ich dir denn nächsten Sonntag erzählen? Hast selber angefangen und nicht ich, du Frechling,“ schrie Marja aufgebracht, „eine tüchtige Tracht Prügel hast du verdient, wir kennen dich dummen Jungen schon von früher!“

Unter den benachbarten Händlerinnen erhob sich ein Lachen, als plötzlich aus dem Bogengang der nächsten Handlung ein aufgebrachter Bursche, dem Aussehen nach ein Kleinkrämer, hervorstürzte und Koljä wütend mit der Faust drohte. Es war das kein städtischer Händler, sondern einer von den „Jahrmarktsleuten“, ein noch junger Mann in einem langschößigen blauen Bauernkittel und einer Mütze mit ledernem Schirm auf dem Kopf. Sein Gesicht war lang, blaß und pockennarbig. Er befand sich in geradezu unsinniger Erregung und konnte zuerst kaum ein Wort hervorbringen, er drohte immer nur mit der Faust.

„Ich kenne dich!“ rief er endlich, „ich kenne dich!“

Koljä sah ihn scharf an. Er konnte sich nicht recht entsinnen, was er diesem Menschen angetan, oder wo er ihn getroffen hatte. Das war aber schließlich nicht wunderlich, da er ja so unzählige Händel auf der Straße gehabt hatte.

„Du kennst mich?“ fragte er ihn ironisch.

„Ich kenne dich, ich kenne dich!“ wiederholte immer wieder der dumme Bursche.

„Nun, um so besser für dich. Ich habe keine Zeit, leb wohl!“

„Was, du wirst noch frech?“ schrie der andere auffahrend. „Du wirst obendrein noch frech? Ich kenne dich! So ein freches Luder, wie du eins bist, gibt’s ja kein zweites!“

„Das, Freund, ist jetzt nicht deine Sache, ob ich frech bin oder nicht,“ sagte Koljä von oben herab, blieb stehen und blickte ihn wieder scharf an.

„Wieso denn nicht meine Sache?“

„Sehr einfach: weil sie es nicht ist.“

„So – o? Wessen denn sonst, wenn nicht meine? Wen soll es denn sonst was angehen?“

„Das, mein Freund, geht jetzt nur Trifon Nikititsch an, aber nicht dich.“

„Was für einen Trifon Nikititsch?“ fragte in dummer Verwunderung, doch immer noch sehr aufgebracht, der Bursche und starrte Koljä verständnislos an. Koljä maß ihn mit dem Blick.

„Bist du zur Himmelfahrt gegangen?“ fragte er ihn plötzlich streng.

„Zu was für einer Himmelfahrt? Warum, wieso? Nein, ich bin nicht gegangen,“ antwortete noch verdutzter der Bursche.

„Kennst du Ssabanejeff?“ fuhr Koljä noch strenger fort zu fragen.

„Was für einen Ssabanejeff? Nein, ich kenne ihn nicht.“

„Nun, dann hol dich der Teufel, wenn du selbst ihn nicht kennst!“ brach Koljä plötzlich ab und ging, plötzlich nach rechts abschwenkend, seines Weges, als hätte er es verachtet, mit einem solchen Tölpel noch weiter zu reden, der nicht einmal Ssabanejeff kannte.

„Warte, he, du! Bleib doch stehen! Welch einen Ssabanejeff meinst du?“ rief ihm, halb sich besinnend, der Bursche in noch größerer Erregung nach. „Was sagte er eigentlich?“ fragte er plötzlich die Marktweiber, indem er sie dumm anglotzte.

Die Weiber lachten.

„Ein kluger Schlingel,“ meinte eine von ihnen.

„Was für einen Ssabanejeff? Wen meinte er damit?“ fragte immer noch erregt und völlig vor den Kopf gestoßen der Bursche.

„Ach, das wird wohl der Ssabanejeff sein, der bei Kusjmitscheffs einmal diente, ja, den wird er damit gemeint haben!“ sagte schließlich eines der Weiber.

Der Bursche blickte sie groß an.

„Bei Kusj–mi–tscheffs?“ fragte ein anderes Marktweib, „aber der hieß doch nie und nimmer Trifon? Der hieß doch Kusjma, der Bengel aber sagte doch Trifon Nikititsch, da hast du’s nun, wie soll denn das derselbigte sein?“

„Ach was, das ist weder Trifon noch Ssabanejeff, das ist Tschishoff,“ mischte sich ein drittes Weib ein, das bis dahin geschwiegen und ernst zugehört hatte. „Der hieß man aber Alexei Iwanowitsch. Tschishoff mit Familiennamen und sonstig Alexei Iwanowitsch.“

„Jawohl ich weiß es selber auch ganz genau, das kann doch niemand nicht anders sein als Tschishoff,“ bestätigte eifrig ein viertes Weib.

Der betölpelte Bursche blickte verständnislos bald die eine, bald die andere an.

„Warum aber hat er denn gefragt, ihr guten Leute, sagt mir doch wenigstens, warum er mich das gefragt hat!“ rief er schließlich halb verzweifelt aus. „‚Kennst du Ssabanejeff?‘ Der Teufel kann nun wissen, was das für’n Ssabanejeff ist!“

„So nimm doch Vernunft an, Mensch, und hör, was man dir sagt: Nicht Ssabanejeff meint er, sondern Tschishoff, Alexei Iwanowitsch Tschishoff, hast’s nu verstanden?“ schrie ihm eifrig eines der Weiber zu.

„Was Teufel für’n Tschishoff? Nu, sag doch, mach doch das Maul uff, wenn du’s weißt! Nu, was für einer?“

„Na, wen denn sonstig, wenn nicht den langen mit der roten Nase, der im Sommer hier auf dem Markt saß?“

„Aber, was Teufel geht mich denn dieser Tschishoff an, sagt mir doch wenigstens das, ihr guten Leute, was?“

„Ja, das weiß ich doch auch nicht, ich meine ja man bloß.“

„Wer kann denn wissen, was er dich angeht,“ meinte eine andere, „das mußt du selber wissen, wenn du darüber so’n Geschrei erhebst. Der Bub hat’s doch dir gesagt, nicht uns, du dummer Mensch. Oder kennst du ihn denn wirklich selber nicht?“

„Wen?“

„Nun, den Tschishoff doch, den selbigten, sollte ich meinen!“

„Ach, der Teufel hole den Tschishoff und dich noch dazu! Durchbläuen werde ich ihn, den Hund! Er hat sich über mich was lustig gemacht!“

„Was, den Tschishoff willst du durchbläuen? Da sieh dich man vor, daß du nicht selber ’ne Tracht abkriegst! Dumm bist du genug dazu.“

„Nicht den Tschishoff, doch nicht den Tschishoff, du giftiges Weibsbild, – den Frechling, diesen Bengel, werde ich durchbläuen! Der soll nur sehen, der kommt mir jetzt gerade recht! Also zum besten will er mich haben, nasführen will er mich, wart nur, ich werd dir Mores lehren!“

Die Weiber lachten. Koljä schritt schon längst mit siegesbewußter Miene davon. Ssmuroff ging neben ihm und blickte sich noch ein paarmal nach der schreienden Gruppe um. Er war gleichfalls lustig gestimmt, trotz seiner Furcht, Koljä könnte wieder eine „Geschichte“ machen und diesmal auch ihn „hereinbringen“.

„Nach was für einem Ssabanejeff fragtest du ihn?“ erkundigte er sich bei Koljä, obgleich er die Antwort schon ahnte.

„Wie soll ich’s denn wissen, nach welch einem? Jetzt haben sie was, worüber sie bis zum Abend schreien können. Ich versetze den Dummköpfen in allen Gesellschaftsschichten gern einen geistigen Nasenstüber. Da steht der Kerl immer noch wie ein Ochs am Berge. Merk dir eines, man sagt: ‚Es gibt nichts Dümmeres als einen dummen Franzosen,‘ aber weißt du, auch die russische Physiognomie kann sich sehen lassen. Nun, sag doch selbst, ist es diesem Bauern dort nicht aufs Gesicht geschrieben, daß er dumm ist, da, diesen Bauern da, meine ich, wie?“.

„Laß ihn, Koljä, gehen wir vorüber.“

„Um nichts in der Welt werde ich so vorübergehen, ich bin jetzt gerade gut dazu aufgelegt. Heda! Guten Tag, Bauer!“

Es war ein kräftiger, älterer Bauer, der langsam an ihnen vorüberging. Er hatte ein rundes, einfaches Gesicht und einen leicht ergrauten Bart. Auf den Gruß hin erhob er den gesenkten Kopf und blickte den forschen Schulbuben an. Wahrscheinlich hatte er schon etwas getrunken.

„Nun, guten Tag, wenn du nicht scherzest,“ gab der Bauer langsam zur Antwort.

„Und wenn ich scherze?“ fragte Koljä lachend.

„Wenn du aber scherzest, dann nur zu, Gott mit dir. Das tut nichts, das kann man. Scherzen kann man immer.“

„Verzeih, Freund, ich habe in der Tat gescherzt.“

„Nun, macht nichts, Gott wird dir verzeihen.“

„Aber verzeihst auch du mir?“

„Von ganzem Herzen, Kleinerchen. Geh mal nur vorwärts.“

„Ei sieh mal, wie du bist! Du bist ja, weiß Gott, ein kluger Mann.“

„Klüger als du gewiß,“ antwortete der Bauer mit derselben würdigen Ruhe.

„Wirklich?“ Koljä war etwas verdutzt.

„Verlaß dich drauf.“

„Übrigens kannst du recht haben.“

„Das will ich meinen.“

„Leb wohl, Bauer.“

„Leb wohl.“

„Die Bauern sind sehr verschieden,“ sagte Koljä zu Ssmuroff, als sie weitergingen, nach einigem Schweigen. „Woher wußte ich nur, daß ich auf einen Klugen stoßen würde? Ich bin immer bereit, im Volke Klugheit anzuerkennen.“

Da schlug es fern von der Turmuhr der Kathedrale halb zwölf. Die Knaben beeilten sich und gingen sehr schnell und fast ohne zu sprechen. Bis zur Wohnung des Hauptmanns Ssnegireff war es noch ziemlich weit. Als sie etwa noch zwanzig Schritt vom Hause entfernt waren, blieb Koljä plötzlich stehen und gab Ssmuroff den Befehl, vorauszugehen und Karamasoff zu ihm herauszuschicken.

„Man muß sich zuerst ein wenig beschnuppern,“ fügte er nur kurz hinzu.

„Aber warum denn das?“ Ssmuroff wollte ihn noch überreden, sofort mitzugehen. „Komm doch so, man wird sich furchtbar freuen. Was hat denn das für einen Witz, hier in der Kälte Bekanntschaft zu machen?“

„Es genügt, wenn ich weiß, wozu es nötig ist, daß ich ihn herausrufen lasse,“ schnitt Koljä geradezu despotisch jede weitere Einwendung ab (ein Verfahren, das er besonders gern im Verkehr mit den „Kleinen“ anzuwenden pflegte), und Ssmuroff lief sofort eilig ins Haus, um dem Befehl nachzukommen.

IV.
Shutschka

Koljä lehnte sich mit wichtiger Miene an den Zaun und erwartete Aljoschas Erscheinen. Eigentlich hatte er sich schon lange auf diesen Augenblick vorbereitet, denn im Grunde wollte er mehr als gern seine Bekanntschaft machen. Viel hatte er von ihm gehört, besonders durch die kleineren Schüler, doch hatte er sich absichtlich immer überlegen-gleichmütig gestellt, wenn man von ihm sprach, hatte sogar Aljoschas Tun „kritisiert“, was jedoch nicht hinderte, daß er aufmerksam zuhörte, wenn man von ihm sprach. Ja, er wollte ungeheuer gern Alexei Karamasoff kennen lernen, denn in allem, was er über ihn gehört hatte, war etwas ungemein Sympathisches und Anziehendes gewesen. So war denn auch dieser Augenblick am Zaun ein sehr wichtiger: vor allen Dingen durfte man sich nicht blamieren, man mußte sich eben vollkommen selbständig zeigen, denn: „Sonst könnte er merken, daß ich dreizehnjährig bin, und mich für einen ebensolchen Knaben halten wie jene Kleinen. Was hat er nur an ihnen? Sollte ich ihn das nicht vielleicht fragen, wenn er kommt? Das Gemeine ist nur, daß ich noch so klein von Wuchs bin. Tusikoff zum Beispiel, ist doch jünger als ich und trotzdem um einen halben Kopf länger. Nur mein Gesicht ist nicht so dumm. Ich bin nicht gerade schön zu nennen, ich weiß, ich habe ein scheußliches Gesicht, aber dafür ist es klug. Auch darf ich nicht gar zu freundlich sein, ich muß mich sogar unbedingt zurückhaltender zeigen, denn wenn man ihn gleich mit offenen Armen empfängt, kann er ja denken ... Pfui, das wäre aber gemein, wenn er dächte, daß ich –! ...“

So regte Koljä sich unnütz auf, während er wartete und sich aus allen Kräften bemühte, eine möglichst ungezwungene Haltung anzunehmen. Am meisten quälte ihn, daß er so klein von Wuchs war, ja, gar nicht so sehr das „scheußliche“ Gesicht, wie gerade der kleine Wuchs quälte ihn. Zu Hause hatte er schon im vorigen Jahre mit der Bleifeder ein Zeichen an der Wand gemacht, das seine Größe an dem und dem Tage angab, und seit der Zeit ging er alle zwei Monate einmal an diese Wand, um zu messen, wieviel er inzwischen gewachsen war. Doch leider wuchs er sehr langsam, was ihn bisweilen fast zur Verzweiflung brachte. Was nun sein Gesicht anbelangt, so war es durchaus nicht „scheußlich“, sondern sogar recht nett: ein weißes, etwas blasses Knabengesicht mit Sommersprossen auf dem Näschen. Seine grauen, nicht großen, doch lebhaften Augen blickten dreist in die Welt, und oftmals wurden sie dunkel von tiefem Gefühl. Die Kinnbacken waren etwas breit, die Lippen klein und ziemlich schmal, dafür aber sehr rot; die Nase war gleichfalls klein, und die Spitze guckte impertinent in die Luft: „Eine ausgesprochene Stumpfnase, das reinste Exemplar von dieser Sorte!“ sagte sich Koljä, wenn er vor dem Spiegel stand und ihm jedesmal tief verstimmt wieder den Rücken kehrte. „Und ist denn das Gesicht auch wirklich klug?“ fragte er sich mitunter, wenn er selbst daran zu zweifeln begann. Übrigens muß man nun nicht denken, daß die Sorge um seinen Wuchs und die Nase seine ganze Seele erfüllte. Nein, das war durchaus nicht der Fall. Wie schwer auch die Minuten vor dem Spiegel zuweilen waren, er vergaß sie doch schnell und auf lange Zeit, indem er sich mit Leib und Seele den „Ideen und dem wirklichen Leben“ hingab, wie er selbst seine Tätigkeit bezeichnete.

Aljoscha erschien sehr bald und trat schnell auf Koljä zu. Dieser hatte sofort bemerkt, daß Aljoscha auffallend freudig aussah. „Sollte er sich wirklich über mich so freuen?“ dachte Koljä, angenehm berührt. Bei der Gelegenheit mag noch erwähnt werden, daß Aljoscha sich in der Zwischenzeit sehr verändert hatte. Er hatte die Kutte ausgezogen und trug einen kurzen, tadellos gearbeiteten Rock, einen runden, weichen Filzhut und kurzgeschorenes Haar. Das alles stand ihm vortrefflich. Er sah geradezu schön aus. Sein anziehendes Gesicht hatte einen heiteren Ausdruck, doch war diese Heiterkeit von einer ganz eigenartigen Stille und Ruhe. Zu Koljäs Verwunderung kam Aljoscha so, wie er im Zimmer gesessen hatte, zu ihm heraus, trotz der scharfen Kälte ohne Überzieher. Augenscheinlich hatte er sich sehr beeilt.

Aljoscha streckte ihm sofort die Hand entgegen.

„Da sind Sie ja endlich! Wie wir Sie erwartet haben!“

„Ich hatte meine Gründe, die Sie sofort erfahren werden. Jedenfalls freut es mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe eigentlich schon lange auf die Gelegenheit gewartet ... ich habe viel von Ihnen gehört ...“ sagte Koljä etwas außer Atem.

„Wir wären ja auch so zusammengekommen; auch ich habe viel von Ihnen gehört; hierher aber sind Sie leider etwas zu spät gekommen.“

„Ja, sagen Sie doch, wie steht es hier?“

„Iljuscha geht es sehr schlecht, er wird nicht mehr lange leben.“

„Was? Wie ist das möglich? Aber da müssen Sie doch zugeben, Karamasoff, daß die Medizin nichts als Quacksalberei ist!“ rief Koljä aufrichtig empört.

„Iljuscha hat oft, sehr oft nach Ihnen gefragt, sogar in der Nacht, wenn er phantasierte, hat er Ihren Namen genannt. Daraus sieht man, wie lieb Sie ihm gewesen sind ... früher ... vor jenem Messerstich Außerdem gibt es noch andere Gründe, die ... Sagen Sie, ist das Ihr Hund?“

„Ja. Mein Pereswonn.“

„Und nicht Shutschka?“ Aljoscha blickte traurig und enttäuscht Koljä in die Augen. „So ist denn Shutschka wirklich ganz und gar verschwunden?“

„Ich weiß, daß Sie alle gern Shutschka wiederfinden wollten, ich habe es gehört,“ sagte Koljä mit rätselhaftem Lächeln. „Hören Sie, Karamasoff, ich werde Ihnen die ganze Sachlage erklären, ich bin ja hauptsächlich nur darum gekommen, und deswegen habe ich Sie auch herausrufen lassen, um Ihnen vorher die ganze Episode zu erzählen, ich meine, bevor wir hineingehen,“ begann Koljä lebhaft. „Sehen Sie, Karamasoff, im Frühling trat Iljuscha in die Vorbereitungsklasse ein. Nun, man weiß doch, wie die ist: Kleine, dumme Jungen, Iljuscha wurde sofort von allen geneckt. Ich beobachtete, da ich doch zwei Klassen höher sitze, alles nur aus der Ferne. Ich sah, es ist ein kleiner, schwächlicher Junge, aber er duckt sich nicht, er prügelt sich mit jedem, der ihn neckt, er ist stolz, die Augen blitzen nur so. Solche Jungen gefallen mir. Sie aber neckten ihn noch mehr. Hauptsächlich taten sie es darum, weil er damals ganz alte Kleider trug. Seine Höschen kletterten an den Beinchen hinauf und die Stiefelspitzen waren entzwei und glichen zwei hungrigen Mäulchen. Darum neckten sie ihn und machten sich über ihn lustig. Nein, das liebe ich nicht. Ich griff sofort ein und gab ihnen gehörig Extrapfeffer. Ich verhaue sie doch, sie aber vergöttern mich trotzdem, wissen Sie das schon, Karamasoff?“ – prahlte Koljä halb unbewußt. „Und überhaupt habe ich Kinder ganz gern. Mir sitzen außerdem noch zu Hause zwei Nestlinge auf dem Halse, heute haben sie mich sogar unverzeihlich lange aufgehalten. So hörten die Jungen denn auf, Iljuscha zu necken oder zu verprügeln, da ich ihn unter meine Protektion genommen hatte. Ich sah sofort, daß er stolz war, sehr stolz, das sage ich Ihnen, aber schließlich unterwarf er sich mir ganz, geradezu sklavisch. Er erfüllte jeden Befehl, den ich gab, gehorchte mir wie einem Gott, und war bald auf dem besten Wege, mich zu imitieren. In den Pausen zwischen den Stunden kam er jedesmal sofort zu mir, und wir spazierten dann zusammen. Sonntags kam er gleichfalls zu mir. Bei uns im Gymnasium lacht man darüber, wenn ein Älterer mit einem von den Kleinen geht und sich dazu noch so kameradschaftlich zu ihm verhält. Aber das ist ja nur ein Vorurteil. Es ist nun einmal mein Einfall, ich will es so, und damit basta, nicht wahr? Ich belehre ihn also, trage viel zu seiner Entwicklung bei, – und warum, sagen Sie doch selbst, warum soll ich das nicht tun, wenn er mir gefällt? Da haben wir doch zum Beispiel Sie, Karamasoff; Sie haben sich ja gleichfalls mit diesen Kindern angefreundet, das bedeutet doch, daß Sie auf die junge Generation einwirken wollen, daß Sie sie entwickeln wollen, kurz, daß Sie nützlich sein wollen, nicht wahr? Und ich muß gestehen, dieser Ihr Charakterzug, von dem ich viel gehört habe, hat mich am meisten interessiert. Übrigens zur Sache: Ich bemerkte also bald, daß in dem Jungen sich eine gewisse Empfindsamkeit, eine gewisse Sentimentalität entwickelte, ich aber, wissen Sie, bin ein ausgesprochener Feind aller Kälberzärtlichkeiten, und zwar schon von Geburt an. Und zudem sind das doch Widersprüche: er ist stolz, mir aber sklavisch ergeben, – sklavisch ergeben, und plötzlich blitzen die Äuglein auf, und er will nicht einmal mehr übereinstimmen mit mir, streitet, kriecht womöglich an der Wand hinauf! Ich habe mitunter Ideen verfochten, er aber fängt plötzlich an mir zu widersprechen, nur sind es, wie ich alsbald einsehe, nicht die Ideen, die er angreift, sondern er empört sich gegen mich persönlich, weil ich seine Zärtlichkeit mit Kaltblütigkeit erwidere. Nun, und um ihn jetzt zu erziehen, werde ich, je zärtlicher er zu mir wird, desto kälter zu ihm. Ich tat es absichtlich. Meiner Überzeugung nach mußte ich es gerade so machen. Mein Ziel war, seinen Charakter zu bilden, auszugleichen, einen Menschen aus ihm zu machen ... nun, und so weiter ... Sie verstehen mich natürlich auch ohne Worte. Plötzlich bemerke ich, er ist niedergeschlagen, den einen Tag, den zweiten, dritten – und diesmal nicht wegen der Zärtlichkeiten oder Nichtzärtlichkeiten, sondern aus einem anderen, gewichtigeren, höheren Grunde. Was ist denn das für eine Tragödie, denke ich. Ich dringe in ihn, bis ich schließlich die ganze Sache erfahre. Er war auf irgendeine Weise mit dem Diener Ihres verstorbenen Vaters, der damals noch lebte, mit dem Ssmerdjäkoff, zusammengekommen, und dieser hatte ihm, dem dummen kleinen Jungen, etwas ganz Blödsinniges gezeigt, das heißt vielmehr etwas wahrhaft tierisch Rohes – nämlich aus Brot, aus weichem, teigartigem Brot, eine Kugel zu kneten, eine Stecknadel hineinzustecken und diesen Brotball dann einem Hofhunde vorzuwerfen – einem von jenen verhungerten, die die Bissen gierig hinunterschlucken –, und dann zuzusehen, was der Hund macht. Und so hatten sie denn beide so eine Kugel fabriziert und diesem selben zottigen Hunde vorgeworfen, dem Shutschka, der dort auf dem Hof, wo er war, überhaupt nichts zu fressen bekam, und nur die ganze Nacht in den Wind hinausheulte. – Lieben Sie dieses dumme Gebell, Karamasoff? Ich kann es nicht ausstehen! – Nun, der verhungerte Hund hatte natürlich sofort zugeschnappt und hinuntergeschluckt, und dann hat er gleich zu heulen und zu winseln angefangen, ja, er hat sich immer winselnd im Kreise herumgedreht und dann plötzlich ist er winselnd und aufheulend fortgelaufen und – verschwunden. So hat es mir Iljuscha selbst erzählt. Er gestand es mir und weinte dabei, umklammerte mich und weinte herzbrechend. ‚Er lief und winselte, lief und winselte,‘ wiederholte er immer wieder, dermaßen hatte ihn dieses Bild gepackt. Das waren also Gewissensbisse bei ihm. Ich nahm es ernst. Ich wollte ihm hauptsächlich wegen des früheren Verhaltens eine Lektion erteilen, und so habe ich denn, ich muß gestehen, etwas Komödie gespielt, mich absichtlich verstellt, als wäre ich in einer Weise empört darüber, wie ich es in Wirklichkeit vielleicht gar nicht war. ‚Du hast eine niedrige, schändliche Tat begangen,‘ sage ich zu ihm, ‚du bist ein Schurke. Ich werde natürlich nicht ausposaunen, was du getan hast, aber vorläufig breche ich jeden Verkehr mit dir ab. Ich werde mir die Sache noch überlegen und dich dann durch Ssmuroff wissen lassen – durch denselben Knaben, mit dem ich heute gekommen bin, der Sie soeben herausgerufen hat, er ist mir immer ergeben gewesen –, ob ich hinfort noch mit dir Umgang pflegen kann, oder ob ich dich als einen erklärten Schuft überhaupt nicht mehr kennen will.‘ Das ging ihm schrecklich nahe. Offen gestanden, ich fühlte schon damals, daß ich vielleicht doch zu streng war, aber was sollte ich tun – das war nun einmal mein Prinzip. Darauf, am nächsten Tage, schicke ich Ssmuroff zu ihm und lasse sagen, daß ich ‚nicht mehr mit ihm sprechen werde‘ – das sagt man so bei uns, wenn zwei Kameraden ihre Freundschaft brechen. Das Geheimnis bestand aber darin, daß ich ihn nur ein paar Tage lang in Acht und Bann halten und ihm dann wieder die Hand reichen wollte, wenn ich seine Reue sehen würde. Das war meine feste Absicht. Aber was glauben Sie wohl, nachdem er Ssmuroff angehört hat, schreit er ihm mit blitzenden Augen zu: ‚Sage Krassotkin, daß ich von jetzt ab allen Hunden solche Brotkugeln mit Stecknadeln vorwerfen werde, allen, allen!‘ – Aha, dachte ich, das Kerlchen rebelliert, ein freier Geist scheint sich eingeschlichen zu haben, nun, den muß man ausräuchern. Und ich begann ihm meine tiefe Verachtung zu zeigen; wenn wir einander begegneten, wandte ich mich von ihm ab, oder ich lächelte ironisch. Da aber kam plötzlich diese Geschichte mit dem Vater dazwischen, Sie wissen doch, mit dem Bastwisch. Jetzt sehen Sie, wie er schon vorbereitet war – zu dieser ganzen Katastrophe mit dem Vater. Als aber die Knaben sahen, daß ich ihn verlassen hatte, da ging es wieder los mit dem Necken: ‚Bastwisch, Bastwisch!‘ Und da begannen denn zwischen ihnen wieder die Schlachten mit Kieselsteinen. Das tut mir jetzt schrecklich leid, denn ich glaube, damals haben sie ihn einmal furchtbar verprügelt. Eines Tages aber warf er sich auf dem Hof gegen die ganze Bande, als wir Älteren gerade nach der letzten Stunde die Schule verließen, und ich blieb etwa zehn Schritt von ihm stehen und sah ihm zu. Auf Ehrenwort, ich erinnere mich nicht mehr, ob ich damals gelächelt habe oder nicht; ich weiß nur noch, daß er mir in dem Augenblick maßlos, nein wirklich, maßlos leid tat. Noch einen Augenblick – und ich hätte mich dazwischen geworfen, um ihn zu verteidigen. Da aber erblickte er mich plötzlich; ich weiß nicht, was er in meinem Blick gesehen hat, – er riß sein Federmesser heraus, stürzte sich auf mich und stach mich in den Schenkel, hier, gerade hier am rechten Bein. Ich rührte mich nicht, ich muß gestehen, ich bin zuweilen recht tapfer, Karamasoff. Ich blickte ihn nur verächtlich an, als wollte ich mit dem Blick sagen: ‚Willst du mich vielleicht noch einmal stechen, zum Dank für meine Freundschaft, so stehe ich zu Diensten.‘ Er aber stach nicht zum zweitenmal, er hielt es nicht aus, er erschrak selbst, warf das Messer fort, weinte laut auf und lief davon. Ich petzte natürlich nicht und befahl auch den anderen, zu schweigen, damit es die Lehrer nicht erführen, und selbst meiner Mutter sagte ich es erst, als alles schon zugeheilt war. Und die Narbe war ja auch ganz unbedeutend, nur so eine etwas tiefere Schramme. Darauf höre ich, daß er am selben Tage noch eine Schlacht geliefert und Sie in den Finger gebissen hat, – aber Sie begreifen doch, in welch einer Verfassung er sich damals befand! Nun, jetzt ist es nicht mehr gutzumachen. Ich war damals sehr dumm: als er darauf erkrankte, ging ich nicht hin, um ihm alles zu verzeihen, ich meine, um mich wieder in aller Freundschaft mit ihm zu versöhnen. Das ist nun die ganze Geschichte ... nur glaube ich, daß ich es dumm gemacht habe ...“

„Ach, wie schade,“ unterbrach ihn Aljoscha erregt, „daß ich nicht früher von diesen Ihren Beziehungen zu ihm erfahren habe, sonst wäre ich schon längst zu Ihnen gekommen und hätte Sie gebeten, mit mir zusammen Iljuscha zu besuchen. Glauben Sie mir, er hat im Fieber fast nur von Ihnen phantasiert. Ich ahnte nicht, wie teuer Sie ihm sein müssen. Und haben Sie denn Shutschka wirklich nicht gesucht und nicht gefunden? Sein Vater und die Knaben haben in der ganzen Stadt nachgefragt. Wissen Sie, er hat dreimal während der Krankheit, in Tränen aufgelöst, gesagt: ‚Ich bin nur davon krank, Papa, daß ich Shutschka damals umgebracht habe, dafür bestraft mich jetzt Gott.‘ Von diesem Gedanken kann man ihn nicht abbringen! Wenn man ihm aber jetzt diesen Hund wiederbringen und ihm zeigen könnte, daß er nicht gestorben ist und lebt, so würde er vielleicht vor Freude noch gesund werden. Wir haben alle auf Sie gehofft.“

„Aber warum denn gerade auf mich? Warum sollte denn gerade ich Shutschka finden?“ fragte Koljä mit auffallender Wißbegier. „Warum hofften Sie nicht auf einen anderen?“

„Ja, es hieß, daß Sie den Hund krampfhaft suchten, und wenn Sie ihn gefunden hätten, zu Iljuscha bringen würden. Ssmuroff ließ einmal etwas in der Art verlauten. Wir bemühen uns vor allem, ihn zu überzeugen, daß der Hund lebt, daß wir ihn irgendwo gesehen hätten. Die Knaben brachten ihm ein lebendiges Häschen mit, er sah es aber nur einmal an, lächelte kaum und bat, es wieder aufs Feld zu bringen und freizulassen. Dies taten wir denn auch. Und soeben kehrte sein Vater zurück und brachte ihm einen ganz kleinen Bullenbeißer mit, er hatte ihn sich irgendwoher verschafft. Er hoffte, ihn damit zu trösten, aber es kam, glaube ich, umgekehrt heraus, denn Iljuscha wurde nur noch trauriger ...“

„Aber sagen Sie mir noch eines, Karamasoff: dieser Vater, was ist der eigentlich? Ich kenne ihn, aber was ist er im Grunde ... Ihrer Meinung nach – ein Narr, ein Bajazzo?“

„O nein. Es gibt Menschen, die das Leben in Tiefe empfinden, zu gleicher Zeit aber wie von der Welt unter die Füße getreten sind. Das Possentreiben ist bei ihnen wie eine boshafte Ironie denen gegenüber, welchen sie infolge ihrer eingefleischten Schüchternheit nicht die Wahrheit ins Gesicht zu sagen sich erdreisten können. Glauben Sie mir, Krassotkin, solches Narrenspielen ist zuweilen sehr tragisch. Für ihn gibt es jetzt außer Iljuscha nichts mehr auf der Welt. Iljuscha ist für ihn die ganze Welt. Wenn Iljuscha nun stirbt, wird er entweder geisteskrank werden oder sich das Leben nehmen. Davon bin ich so gut wie überzeugt, nachdem ich ihn jetzt wieder gesehen habe.“

„Ich verstehe Sie, Karamasoff, ich sehe, Sie kennen den Menschen gut,“ sagte Koljä ernst.

„Als ich aber vorhin den Hund bei Ihnen sah, dachte ich, daß es Shutschka sei, den Sie mitgebracht haben, und freute mich für Iljuscha.“

„Warten Sie, Karamasoff, vielleicht werden wir Shutschka noch finden ... Das hier ist mein Pereswonn. Ich werde ihn später ins Zimmer hineinlassen und mit ihm Iljuscha vielleicht mehr zerstreuen, als mit einem echten Bullenbeißer. Warten Sie, Karamasoff, Sie werden sofort etwas erfahren ... Ach, mein Gott, da halte ich Sie, ohne mir dabei etwas zu denken, hier im Freien solange auf!“ unterbrach sich Koljä plötzlich ganz erschrocken. „Sie stehen im leichten Rock bei dieser Kälte, und ich denke nicht einmal daran! Sehen Sie, sehen Sie, was für ein Egoist ich bin! Oh, wir sind alle riesige Egoisten, Karamasoff!“

„Beruhigen Sie sich, es ist allerdings kalt, aber ich erkälte mich nicht so leicht. Doch gehen wir jetzt. Bei der Gelegenheit: Wie heißen Sie? Ich weiß: Koljä, aber wie weiter?“

„Nikolai, Nikolai Iwanow Krassotkin, oder, wie man im Bureaustil sagt: Sohn des Iwan Krassotkin,“ sagte Koljä und lachte – weiß Gott, worüber. Doch plötzlich fügte er hinzu:

„Ich hasse natürlich meinen Namen Nikolai.“

„Warum denn das?“

„Er ist so trivial, so beamtenmäßig ...“

„Und Sie sind dreizehn Jahre alt?“ fragte Aljoscha.

„Das heißt, vierzehn, in zwei Wochen vierzehn, also sehr bald. Ich muß Ihnen im voraus meine größte Schwäche eingestehen, Karamasoff, dies mag das erste Bekenntnis nach der Bekanntschaft mit Ihnen sein. Ich will es nur Ihnen sagen, damit Sie sofort mein ganzes Wesen durchschauen können. Also: Ich hasse es, wenn man mich nach meinem Alter fragt, es ist sogar noch mehr als nur Haß, was ich dabei empfinde ... Und dann ... man verleumdet mich ... Da heißt es zum Beispiel, ich hätte mit den Schülern der Vorbereitungsklasse Räuber gespielt. Daß ich mit ihnen gespielt habe, ist allerdings Tatsache, daß ich es aber zu meinem Vergnügen getan hätte, ist eine entschiedene Verleumdung. Ich habe Grund anzunehmen, daß dieses Gerücht auch bis zu Ihnen gedrungen ist, aber ich versichere Ihnen: ich habe nicht zu meinem Vergnügen gespielt, sondern um den Kleinen ein Vergnügen zu bereiten, denn ohne mich verstanden sie sich nichts auszudenken. Und nun verbreiten die Klatschbasen solchen Unsinn über mich! Unsere holde Stadt sollte eigentlich ‚Klatschstadt‘ heißen, das sage ich Ihnen!“

„Und wenn Sie auch zu Ihrem eigenen Vergnügen gespielt hätten, was wäre denn dabei?“

„Aber, ich bitte Sie, zum eigenen Vergnügen! ... Sie werden z. B. doch nicht anfangen mit kleinen Kindern Pferdchen zu spielen?“

„Sehen Sie doch die Sache von einem anderen Standpunkte aus an,“ sagte Aljoscha lächelnd: „Ins Theater zum Beispiel fahren Erwachsene, im Theater aber werden doch auch nur die Erlebnisse von Helden dargestellt, zuweilen gleichfalls mit Räubern und Krieg. Ist das nun nicht ganz dasselbe, frage ich Sie, nur in einer etwas anderen Art? Wenn aber Jungen in der Erholungspause Krieg spielen oder Räuber, wie Sie sagten, – das ist doch nichts anderes als entstehende Kunst, oder das in der jungen Seele entstehende Bedürfnis nach Kunst. Und gar manchesmal werden diese Spiele viel besser komponiert als die Vorstellungen im Theater. Der Unterschied besteht bloß darin, daß man ins Theater fährt, um dort Schauspieler zu sehen, hier aber die Jungen selbst Schauspieler sind. Aber das ist ja doch nur natürlich.“

„Ist das wirklich Ihre Ansicht? Ist das Ihre Überzeugung?“ Koljä sah ihn groß und aufmerksam an. „Wissen Sie, Karamasoff, Sie haben einen außerordentlich interessanten Gedanken ausgesprochen. Wenn ich nach Haus komme, werde ich meinen Hirnkasten wegen dieser Frage etwas in Bewegung setzen. Ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, ich habe es eigentlich nicht anders erwartet, als daß man von Ihnen noch manches lernen könnte. Ja, ich bin gekommen, um von Ihnen zu lernen, Karamasoff,“ sagte Koljä zum Schluß mit männlich fester, doch nichtsdestoweniger begeisterter Stimme.

„Und ich werde von Ihnen lernen,“ sagte Aljoscha lächelnd, indem er ihm die Hand drückte.

Koljä war sehr zufrieden mit Aljoscha. Am angenehmsten berührte ihn, daß jener sich ihm gegenüber ganz wie zu einem gleichstehenden Kameraden verhielt, „wie zu dem erwachsensten Menschen“.

„Ich werde Ihnen dort in der Stube gleich ein famoses Kunststück zeigen, Karamasoff, das wird gleichfalls eine Theatervorstellung werden,“ sagte er mit etwas nervösem Lachen. „Zu dem Zweck bin ich ja eigentlich nur gekommen.“

„Gehen wir zuerst nach links zu den Hausleuten. Dort legen alle ihre Mäntel ab. Im Zimmer ist es eng und heiß.“

„Oh, das ist nicht nötig, ich bin doch nur auf einen Augenblick gekommen, ich werde so im Überzieher eintreten. Pereswonn muß hier im Flur bleiben und wie tot liegen. Ici, Pereswonn, couche-toi und stirb! – Sehen Sie, er stellt sich tot. Ich werde jetzt vorläufig allein eintreten und zuerst die Umgebung inspizieren, und dann im richtigen Moment pfeife ich: ‚ici, Pereswonn!‘ und Sie werden sehen, er wird sofort wie tollgeworden hereinsausen. Nur darf Ssmuroff nicht vergessen, rechtzeitig die Tür aufzumachen. Doch ich werde schon sehen, daß alles richtig klappt, lassen Sie mich nur machen ...“

V.
An Iljuschas Bettchen

In dem uns bekannten Zimmer, das der Hauptmann Ssnegireff mit seiner Familie bewohnte, war die Luft in diesem Augenblick ebenso drückend, wie das Zimmer selbst durch die zahlreichen kleinen Gäste eng wurde. Es saßen wieder einmal mehrere Knaben bei Iljuscha. Wenn sie auch alle, wie Ssmuroff, bereit waren, zu leugnen, daß Aljoscha Karamasoff sie zu Iljuscha geführt und alles zu ihrer Anfreundung getan hatte, so war dies doch einmal so. Seine ganze Kunst bestand in diesem Falle nur darin, daß er sie ihm alle einzeln und ohne jegliche „Kälberzärtlichkeiten“ zuführte, als geschehe es ganz unabsichtlich, womöglich halb aus Versehen. Das war für Iljuscha eine große Freude gewesen. Als er die fast zärtliche Freundschaft dieser seiner früheren Feinde sah, war er tief gerührt. Nur Koljä Krassotkin fehlte noch, und das lag wie eine drückende Last auf seinem Herzen. Wenn es in seinen bitteren Erinnerungen etwas ganz besonders Bitteres gab, so war das gerade dieser Vorfall mit Koljä, seinem früheren einzigen Freunde und Verteidiger, auf den er sich damals mit dem Messer gestürzt hatte. Das sagte sich auch der kleine, gescheite Ssmuroff, der als erster zu Iljuscha gekommen war. Koljä Krassotkin hatte aber auf Ssmuroffs entfernte Andeutung, daß Aljoscha „in einer gewissen Angelegenheit“ vielleicht zu ihm kommen werde, sofort kurz jeden weiteren Annäherungsversuch abgeschnitten, indem er Ssmuroff barsch auftrug, „Karamasoff“ zu sagen, daß er selbst wisse, was er zu tun habe, daß er niemanden um Rat bitte und im übrigen, wenn er zu dem Kranken ginge, das dann tun würde, wenn es ihm angemessen scheine – er habe dabei seine „persönliche Berechnung“. Das war vor etwa zwei Wochen gewesen. Daraufhin hatte Aljoscha es unterlassen, seine anfängliche Absicht auszuführen und zu Krassotkin zu gehen. Dafür aber war der kleine Ssmuroff zweimal von ihm zu Koljä geschickt worden. Aber Koljä hatte beide Male in der gereiztesten und schroffsten Weise abgesagt: „Sage Karamasoff, daß ich dann, wenn er zu mir kommt, überhaupt nicht zu Iljuscha gehen werde, und im übrigen bitte ich, mich nicht ewig mit dieser Sache zu belästigen.“ Selbst Ssmuroff hatte noch am Sonnabend nicht gewußt, daß es Koljäs Absicht war, an diesem Sonntag Iljuscha zu besuchen. Erst am Abend hatte Koljä ihm beim Abschied gesagt, er solle ihn am nächsten Morgen auf dem Hof erwarten, er würde mit ihm zusammen zu Ssnegireffs gehen, hatte aber streng verboten, irgend jemand von seinem Kommen zu benachrichtigen. Ssmuroff gehorchte. Der Gedanke jedoch, daß er auch den verlorenen Hund mitbringen werde, war Ssmuroff auf Grund einiger von Koljä flüchtig hingeworfener Worte gekommen. Er hatte nämlich gesagt: „Esel sind sie, wenn sie den Hund nicht finden können, vorausgesetzt, daß er noch lebt.“ Als aber Ssmuroff nach einiger Zeit schüchtern eine Anspielung darauf gemacht hatte, da war Krassotkin „höllisch wütend“ geworden. „Ich bin doch nicht so dumm, daß ich in der ganzen Stadt einen fremden Hund suche, wenn ich meinen Pereswonn habe! Und wie kann man nur so was Dummes denken, daß ein Hund, der eine Stecknadel hinuntergeschluckt hat, am Leben bleibe! Das sind ja nur Sentimentalitäten und weiter nichts!“

Inzwischen verging die Zeit. Iljuscha hatte sein Bettchen in der Ecke unter den Heiligenbildern seit ganzen zwei Wochen nicht mehr verlassen. In die Schule war er seit jenem Tage, an dem er Aljoscha in den Finger gebissen hatte, nicht mehr gegangen. Am selben Tage war er auch erkrankt, doch konnte er im ersten Monat noch allein aufstehen und etwas im Zimmer oder auch im Flur umhergehen. Schließlich aber wurde er so schwach, daß er sich ohne Hilfe seines Vaters kaum noch bewegen konnte. Der Vater zitterte für ihn, hörte sogar ganz auf zu trinken und wurde geradezu tiefsinnig vor Angst bei dem Gedanken, sein Junge könnte sterben. Wenn er ihn bei einem kurzen Gang durch die Stube unter den Armen gestützt und dann wieder ins Bettchen gelegt hatte, lief er nachher jedesmal hinaus auf den Flur, in die dunkelste Ecke, preßte dort die Stirn an die Wand und weinte ganz eigentümlich: kaum hörbar, da es ja Iljuscha nicht zu Ohren kommen durfte – doch konnte man glauben, aus diesem eintönigen Weinen seine ganze ohnmächtige Verzweiflung herauszuhören.

Wenn er dann ins Zimmer zurückkehrte, fing er gewöhnlich an, seinen lieben Jungen mit irgend etwas zu zerstreuen. Er erzählte ihm Märchen oder lustige Geschichten, oder er kopierte lächerliche Typen, die er gesehen hatte, oder er imitierte selbst Tiere, indem er ihre Laute nachzuahmen versuchte. Iljuscha jedoch litt darunter, wenn sein Vater sich in dieser Weise verstellte und Narrenpossen trieb. Er bemühte sich krampfhaft, nicht zu zeigen, daß es ihm unangenehm war, aber er sagte sich mit brennendem Weh im Herzen, daß sein Vater in der Gesellschaft erniedrigt war, und immer wieder kehrten seine Gedanken zu jenem „furchtbaren Tage“ zurück. Auch Ninotschka, Iljuschas gelähmte, bescheidene, stille Schwester, liebte es nicht, wenn der Vater sich in dieser Weise erniedrigte (Warwara Nikolajewna war schon längst wieder nach Petersburg gefahren, um dort den Vorlesungen zu folgen), dafür aber fand das geistesschwache Mamachen wahre Freude daran und lachte von ganzem Herzen, wenn ihr Mann sich wie ein Bajazzo gebärdete. Nur damit konnte man sie zerstreuen und trösten, sonst weinte sie fortwährend und beklagte sich launisch, daß alle sie vergäßen, daß niemand sie achte, daß alle sie beleidigten usw. usw. In den letzten Tagen aber hatte auch sie sich verändert. Sie sah häufiger in die Ecke zu Iljuscha hinüber und schien nachdenklicher zu sein. Sie wurde viel schweigsamer und ruhiger, und wenn sie weinte, so weinte sie still vor sich hin, damit es die anderen nicht hörten. Der Hauptmann bemerkte verwundert diese Veränderung; sie betrübte und erschreckte ihn zu gleicher Zeit. Die Besuche der Knaben paßten ihr zuerst gar nicht und ärgerten sie nur, allmählich aber gefielen ihr die fröhlichen Geschichten und das laute Geplapper der Kinder immer mehr, und bald freute sie sich dermaßen über jeden Besuch, daß sie womöglich geweint hätte, wenn die Knaben nicht mehr gekommen wären. Wenn sie etwas erzählten oder Spielchen spielten, so lachte sie vor Freude und schlug in die Hände. Zuweilen rief sie sogar einige von ihnen zu sich und küßte sie. Besonders liebte sie den kleinen Ssmuroff. Was nun den Hauptmann betrifft, so hatte der Besuch der Kinder, die in sein Haus kamen, um Iljuscha zu zerstreuen und zu erheitern, seine Seele gleich mit freudigem Entzücken erfüllt und sogar mit einer Hoffnung, Iljuscha werde nun aufhören, sich zu grämen, und vielleicht sogar schneller davon gesund werden. Oh, er zweifelte keinen Augenblick daran – trotz seiner ganzen Angst um Iljuscha –, daß sein Junge plötzlich wieder gesund werden würde. Er empfing die kleinen Gäste fast andächtig, tat für sie alles, was er konnte, bediente sie sogar und war bereit, sie auf seinem Rücken reiten zu lassen, was er dann auch ausführte; dieses Spiel gefiel aber Iljuscha nicht, und so wurde es sofort aufgegeben. Er kaufte für sie Konfekt, Pfefferkuchen, Nüsse, arrangierte ganze Teekränzchen für die Kleinen und strich ihnen selig Butterbrote. Geld hatte er während dieser ganzen Zeit übergenug. Jene zweihundert Rubel von Katerina Iwanowna hatte er genau so angenommen, wie es von Aljoscha vorausgesagt worden war. Später war Katerina Iwanowna, nachdem sie von Iljuschas Krankheit und ihren Verhältnissen Näheres gehört hatte, selbst zu ihnen gekommen, war mit der ganzen Familie bekannt geworden und hatte sogar das schwachsinnige Mamachen bezaubert. Seit der Zeit versiegten ihre Unterstützungen nicht mehr, und der Hauptmann, der in der Angst um Iljuscha seine früheren „Ehrbegriffe“ ganz vergaß, nahm das Geld gehorsam an. Doktor Herzenstube kam auf Katerina Iwanownas Ersuchen jeden zweiten Tag zu ihnen, um den Kleinen zu untersuchen, doch kam bei seinen Besuchen wenig Gescheites heraus, obgleich er ihn mit Arzeneien geradezu vollstopfte. Dafür wurde von ihnen an diesem Sonntagvormittag ein anderer Arzt erwartet, und zwar ein berühmter Professor aus Moskau. Katerina Iwanowna hatte ihn für viel Geld aus Moskau verschrieben, – doch nicht speziell für Iljuschetschka, sondern zu einem anderen Zweck, von dem weiterhin die Rede sein wird. Als er dann angekommen war, hatte sie ihn gebeten, auch Iljuscha zu besuchen, wovon der Hauptmann schon vorzeitig benachrichtigt worden war. Daß Koljä Krassotkin kommen werde, wußte er dagegen nicht und vermutete es nicht einmal, obwohl er ihn schon lange sehnsüchtig herbeiwünschte, denn er sah nur zu gut, wie sehr es Iljuscha quälte, daß gerade Koljä noch immer nicht kam. Als nun Koljä die Tür aufmachte und eintrat, standen der Hauptmann und alle Knaben dichtgedrängt an Iljuschas Bettchen und betrachteten interessiert den kleinen Bullenbeißer, den der Vater kurz vorher gebracht hatte, und der erst Sonnabend Abend auf die Welt gekommen, doch nichtsdestoweniger schon vor einer Woche gekauft worden war. Das sollte ein Ersatz sein für Shutschka, den von Iljuscha umgebrachten Hund. Iljuscha hatte schon vor drei Tagen gehört, daß er einen kleinen Hund bekommen werde, und zwar keinen gewöhnlichen, sondern einen echten Bullenbeißer (was natürlich sehr wichtig war). Nun lag er da und tat aus Zartgefühl, als freue er sich über das Geschenk, doch alle, der Vater wie die Knaben, sahen wohl, daß dieses neue Hündchen die Erinnerung an Shutschka vielleicht noch stärker in seinem Herzen hervorrief. Das kleine Hundejunge lag neben ihm auf dem Bettchen und krabbelte mit seinen dicken Beinchen; Iljuscha lächelte müde und streichelte ihn mit seiner kleinen, bleichen, abgezehrten Hand. Das kleine Tierchen gefiel ihm sogar sehr, aber ... es war doch immer noch nicht Shutschka! Ja wenn man Shutschka und das Kleine zusammen gehabt hätte, dann wäre das Glück vollständig gewesen!

„Krassotkin!“ rief da einer von den Knaben, der Koljä zuerst bemerkt hatte. Alle erschraken anfänglich, die Knaben traten auseinander und blieben zu beiden Seiten des Bettchens stehen, so daß Iljuscha plötzlich Koljä erblickte. Der Hauptmann stürzte ihm sofort dienstbeflissen entgegen.

„Bitte ... gefälligst ... unser werter Gast!“ brachte er etwas stotternd hervor. „Iljuschetschka, Herr Krassotkin ist zu dir zum Besuch gekommen.“

Doch Krassotkin, der ihm nur eilig die Hand reichte, bewies sofort seine gute Erziehung: er wandte sich von der Tür gleich zu der Frau des Hauses, zu der gelähmten Gattin des Hauptmanns, die in ihrem großen Lehnstuhl saß und im Augenblick äußerst ungehalten darüber war, daß die Knaben so dicht Iljuschas Bett umstanden und sie somit den Hund nicht sehen konnte. Er verbeugte sich ungemein höflich vor ihr, machte einen tadellosen Kratzfuß, wandte sich darauf zu Ninotschka und grüßte auch sie, als Dame, in derselben Weise. Diese Höflichkeit machte auf die kranke Frau einen sehr angenehmen Eindruck.

„Da sieht man doch gleich, daß es ein gut erzogener junger Mann ist,“ sagte sie mit einem Kopfneigen, indem sie die Hände auseinanderführte, „denn sonst, unsere übrigen Gäste, die kommen ja einer auf dem anderen angeritten.“

„Wieso, Mamachen, wieso denn einer auf dem anderen, wie meinst du das?“ fragte zwar freundlich, aber doch etwas ängstlich und betreten der Hauptmann seine Frau.

„So, sie kommen eben hereingeritten. Draußen im Flur setzt sich der eine dem anderen auf die Schultern und kommt dann so in eine wohlerzogene Familie hereingeritten, kreuzbeinig auf dem anderen. Was ist denn das für ein Gast?“

„Aber wer denn das, Mamachen, wer ist denn so hereingekommen?“

„Dieser dort ist auf jenem hereingekommen und der andere auf jenem ...“

Doch Koljä stand schon an Iljuschas Bettchen. Der Kranke erbleichte. Er richtete sich in seinem Bettchen auf und sah Koljä unbeweglich ins Gesicht. Der hatte seinen früheren, kleinen Freund schon seit zwei Monaten nicht mehr gesehen und blieb daher bei seinem Anblick ganz betroffen stehen: er hatte sich nicht denken können, daß er ein so mageres und gelbes Gesichtchen, so brennende, übernatürlich große Augen, so abgemagerte Händchen sehen werde. Mit trauriger Verwunderung bemerkte er, daß Iljuscha tief und schnell atmete, und daß seine Lippen trocken waren. Er trat auf ihn zu, reichte ihm die Hand und fragte ganz verwirrt:

„Nun, mein Freund ... wie geht es dir?“ Aber seine Stimme brach ihm plötzlich ab, es fehlte ihm an Ungezwungenheit, in seinem Gesicht zuckte etwas, seine Lippen bebten. Iljuscha lächelte ihm schmerzlich zu, konnte aber kein Wort hervorbringen. Da hob Koljä plötzlich seine Hand und strich Iljuscha über das Haar.

„Tut nichts!“ flüsterte er ihm leise zu, teils um ihn zu trösten, teils ... er wußte selbst nicht, warum er es sagte. Einen Augenblick schwiegen sie wieder.

„Wie, du hast einen jungen Hund?“ fragte Koljä plötzlich im gleichgültigsten Ton.

„Ja – a – a ...“ antwortete Iljuscha, mit tonloser leiser Stimme, als wäre er außer Atem.

„Eine schwarze Nase hat er, das bedeutet, daß er zu den bösen, den Kettenhunden gehört,“ sagte ernst und gewichtig Koljä, als ob es sich nur um den Hund und die schwarze Nase handelte. In Wirklichkeit aber bekämpfte er immer noch sein Gefühl, um nicht wie ein „Kleiner“ in Tränen auszubrechen; er konnte sich noch immer nicht beherrschen. „Wenn der groß wird, muß er an die Kette kommen, das weiß ich.“

„Er wird riesig groß werden!“ rief einer von den Knaben aus.

„Sicher!“

„Ein Bullenbeißer, der wird so groß wie ein Kalb,“ ertönten mehrere Stimmen durcheinander.

„Wie ein Kalb, wie ein echtes Kalb!“ fuhr plötzlich der Hauptmann dazwischen, „ich habe absichtlich einen so bösen ausgesucht, den allerbösesten, auch seine Eltern sind groß und böse, ungefähr so hoch vom Fußboden ... Setzen Sie sich hierher aufs Bett zu Iljuscha, oder wenn nicht dorthin, dann hier auf die Truhe. Wir bitten ergebenst, unser werter Gast ... langersehnter Gast ... Waren Sie mit Alexei Fedorowitsch zusammen?“

Krassotkin setzte sich aufs Bettchen zu Iljuschas Füßen. Er hatte sich unterwegs zurecht gelegt, womit er das Gespräch beginnen sollte, doch hatte er jetzt ganz den Faden verloren.

„Nein ... ich bin mit Pereswonn ... Ich habe jetzt einen Hund, Pereswonn. Ein slawischer Name. Er wartet dort ... wenn ich pfeife, stürzt er sofort herein. Ich habe nämlich auch einen Hund,“ – er wandte sich hastig zu Iljuscha – „erinnerst du dich noch Shutschkas, Freund?“ platzte er plötzlich mit der Frage heraus, die dem Kranken wie Feuer durch Mark und Bein fuhr.

Iljuschas Gesichtchen verzog sich. Gequält sah er Koljä in die Augen. Aljoscha, der an der Tür stand, runzelte die Stirn und wollte Koljä abwinken, daß er nicht von Shutschka sprechen solle, aber der bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.

„Wo ist ... Shutschka?“ fragte Iljuscha mit versagender Stimme.

„Nun, Bruder, dein Shutschka ist perdu! Der ist nicht mehr zu finden.“

Iljuscha schwieg, doch sah er noch einmal Koljä lange und unverwandt an. Aljoscha erhaschte einen Blick von Koljä und winkte ihm aus allen Kräften ab, der wandte sich aber wieder zurück und gab sich den Anschein, als hätte er nichts bemerkt.

„Fortgelaufen ist er und umgekommen. Wie sollte er auch nicht nach einem solchen Frühstück umkommen,“ sagte Koljä schneidend und unbarmherzig, indessen schien ihm aber doch die Stimme nicht recht zu gehorchen. „Dafür habe ich Pereswonn ... Ein altslawischer Name ... Ich habe ihn mitgebracht, ich werde ihn dir zeigen ...“

„Ist nicht nötig!“ unterbrach ihn plötzlich Iljuschetschka.

„Nein, nein, du mußt ihn durchaus sehen ... Er wird dich zerstreuen. Ich habe ihn absichtlich hergebracht ... er ist ebenso langhaarig wie jener ... Erlauben Sie, gnädige Frau, meinen Hund hereinzurufen?“ wandte er sich plötzlich an Frau Ssnegireff in großer Aufregung.

„Nicht, nicht!“ rief Iljuscha mit trauriger Stimme aus. Vorwurfsvoll blickten seine Augen.

„Würden Sie vielleicht ...“ der Hauptmann stürzte von der Kiste, auf der er an der Wand gesessen hatte, vor. „Sie würden vielleicht ... zu einer anderen Zeit ...“ stotterte er, aber Koljä, der auf dem Seinen bestand, ließ sich nicht mehr aufhalten und rief Ssmuroff zu: „Ssmuroff, öffne die Tür!“ und wie der sie geöffnet hatte, pfiff er einmal kurz dem Hunde, und Pereswonn stürzte ins Zimmer.

„Hopp, Pereswonn, mach den Diener, den Diener!“ schrie Koljä, erhob sich und zog den Hund, der auf den Hinterbeinen aufrecht stand, an Iljuschas Bett heran. Da ereignete sich aber etwas ganz Unerwartetes: Iljuscha zuckte zusammen und beugte sich mit dem ganzen Körper vor, beugte sich über Pereswonn und sah ihn wie erstarrt an:

„Das ist ja ... Shutschka!“ rief er plötzlich mit vor Freude und Leid zitterndem Stimmchen aus.

„Und was glaubtest du denn?“ rief Krassotkin mit lauter Stimme, beugte sich zum Hunde nieder, ergriff ihn und hob ihn zu Iljuscha aufs Bett.

„Sieh, Freund, sieh, dieses Auge fehlt, und hier das linke Ohr ist eingerissen, genau die Merkmale, die du mir angegeben hast. Nach diesen Merkmalen habe ich ihn denn auch gefunden. Gleich damals, so schnell wie möglich. Er gehörte ja niemandem, er war ja herrenlos!“ erklärte er, sich an den Hauptmann, an seine Frau, an Aljoscha wendend, und dann fuhr er wieder zu Iljuscha fort, – „er war bei Fedotoffs auf dem Hinterhof, er hoffte wohl da was abzukriegen, die fütterten ihn aber nicht, ein Landstreicher ist er ja, einer aus dem Dorf ... So habe ich ihn aufgefunden ... Siehst du, Freund, er hat damals dein Stück nicht hinuntergeschluckt. Denn wenn er es verschluckt hätte, dann wäre er ja doch sicher krepiert, sicherlich! Er muß es folglich zur rechten Zeit noch ausgespien haben, denn er lebt ja noch. Du hast es nur nicht bemerkt, wie er es ausspie. Ausgespien hat er es, die Stecknadel wird aber seine Zunge gestochen haben, darum hat er denn auch so gewinselt. Und du dachtest, daß er es ganz hinuntergeschluckt hätte. Er wird ja schon furchtbar gewinselt haben, das glaube ich, denn bei Hunden ist die Haut im Maule sehr zart ... zarter als beim Menschen, viel zarter!“ bestand Koljä eifrig darauf, mit heißem und vor Begeisterung strahlendem Gesicht.

Iljuscha konnte kein Wort hervorbringen. Er starrte mit seinen großen und erschrocken aufgerissenen Augen, mit offenem Munde und bleich wie ein Handtuch Koljä an. Wenn der harmlose Krassotkin nur gewußt hätte, wie gefährlich eine solche Aufregung auf die Gesundheit des kranken Knaben wirken mußte, so hätte er sich niemals zu einem solchen Stückchen entschlossen, wie er es jetzt aufführte. Doch von allen Anwesenden im Zimmer verstand dies nur Aljoscha. Der Hauptmann dagegen verwandelte sich ganz und gar in einen kleinen Knaben.

„Shutschka! Also das ist Shutschka?“ rief er mit seliger Stimme. „Iljuschetschka, das ist ja Shutschka, dein Shutschka! Mamachen, das ist ja Shutschka!“ Er fing beinahe an zu weinen.

„Und ich habe das nicht erraten können!“ rief Ssmuroff bekümmert. „Das ist wieder ganz Krassotkin! Ich sagte ja, daß er ihn finden wird, und da hat er ihn nun auch wirklich gefunden!“

„Da hat er ihn nun auch wirklich gefunden!“ wiederholte ein anderer freudig.

„Feiner Kerl, Krassotkin!“ rief ein Dritter.

„Feiner Kerl, feiner Kerl!“ riefen die Jungen jetzt alle und wollten schon applaudieren.

„Wartet, wartet!“ versuchte Krassotkin sie zu überschreien, „ich werde euch erzählen, wie es geschah! Die Sache war nämlich so und nicht anders! Ich habe ihn aufgesucht, zu mir gebracht, versteckt und einfach eingeschlossen und ihn bis auf den letzten Tag niemand gezeigt. Nur Ssmuroff allein sah ihn vor zwei Wochen, aber ich versicherte ihm, daß es Pereswonn sei, und so hat er ihn nicht erkannt. In der Zwischenzeit brachte ich ihm aber alle diese Stückchen bei; seht nur, seht nur, was er alles kann! Ich habe ihn das alles gelehrt, um ihn dir, Freund, so gut abgerichtet zu bringen. Sieh nur, Freund, wie dein Shutschka jetzt ist! Habt ihr hier nicht ein Stückchen Fleisch, er wird euch gleich ein Stückchen vormachen, daß ihr vor Lachen umfallt. – Fleisch, ein Stückchen, ist hier wirklich keines zu haben?“

Der Hauptmann stürzte durch den Flur in die Stube der Wirtsleute, wo man das Essen kochte. Koljä aber beeilte sich, um nicht seine teure Zeit zu verlieren, Pereswonn den Befehl zu geben: „Stirb!“ Der drehte sich plötzlich auf den Rücken um, streckte alle Viere in die Luft und lag unbeweglich. Die Jungen lachten, Iljuscha sah mit seinem traurigen Lächeln auf den Hund, doch am meisten von allen gefiel es dem „Mamachen“, daß Pereswonn gestorben war. Sie lachte von Herzen darüber und rief dem Hunde schmeichelnd zu:

„Pereswonn, Pereswonn!“

„Er wird sich nicht erheben, er wird sich nicht erheben!“ rief Koljä überzeugt und stolz, „wenn auch die ganze Welt ihn rufen würde. Ich aber brauche ihn nur einmal zu rufen, und sofort wird er aufspringen! Ici, Pereswonn!“

Der Hund sprang auf, sprang an ihm empor und heulte vor Freude. Der Hauptmann kam mit einem gekochten Stück Rindfleisch herbeigestürzt.

„Ist es nicht zu heiß?“ fragte geschäftig und vorsorglich Koljä, der das Stück an sich nahm. „Nein, es ist nicht heiß, Hunde lieben ja sonst nichts Heißes. Sehen Sie alle ... Iljuschetschka, sieh, so sieh doch, Freund, warum siehst du nicht? Ich habe ihn ihm gebracht, und nun will er nicht sehen!“

Das neue Kunststück bestand darin, daß dem unbeweglich dastehenden Hunde das Stück Fleisch gerade auf die Nase gelegt wurde. Das arme Tier mußte mit dem Stück Fleisch auf der Nase unbeweglich dastehen, wie sein Herr ihm befohlen hatte. Doch Pereswonn hatte nur eine kleine Minute lang auszuhalten.

„Pill!“ rief Koljä, und das Stück flog im Nu von der Schnauze ins Maul.

Das Publikum drückte natürlich begeistert seine Verwunderung darüber aus.

„Und sind Sie wirklich, sind Sie wirklich nur darum die ganze Zeit nicht gekommen, weil Sie den Hund dressieren wollten?“ rief Aljoscha vorwurfsvoll aus.

„Gerade darum!“ gestand Koljä gutmütig ein. „Ich wollte ihn in seinem Glanze zeigen.“

„Pereswonn! Pereswonn!“ rief Iljuscha dem Hunde schmeichelnd zu und schnippte mit seinen abgemagerten Fingerchen, wie man es zu tun pflegt, wenn man einen Hund zu sich heranlocken will.

„Was rufst du ihn! Er soll sofort zu dir ins Bett springen. Ici, Pereswonn!“ Koljä schlug mit der flachen Hand aufs Bett.

Und Pereswonn flog wie ein Pfeil aufs Bett zu Iljuscha. Dieser umarmte seinen Kopf mit beiden Armen, und Pereswonn leckte ihm sofort die Wange. Iljuschetschka preßte ihn an sich und versteckte sein Gesicht vor den anderen im langhaarigen Fell des Hundes.

„Mein Gott, mein Gott!“ murmelte der Hauptmann.

Koljä setzte sich wieder auf das Bett zu Iljuscha.

„Iljuscha, ich kann dir noch etwas zeigen. Ich habe dir die kleine Kanone gebracht. Erinnerst du dich noch, wie ich dir von dieser kleinen Kanone erzählte, und du ausriefst: ‚Ach, wenn ich sie doch auch sehen könnte!‘ Nun, jetzt habe ich sie dir gebracht.“

Koljä zog aus seiner Büchertasche die kleine Kanone hervor, die er auch schon den Knirpsen gezeigt hatte. Er beeilte sich sehr dabei, weil er selbst so glücklich war: Zu einer anderen Zeit würde er gewartet haben, bis der effektvolle Eindruck, den soeben Pereswonn gemacht hatte, etwas nachgelassen hätte, jetzt aber beeilte er sich, denn: „Wenn sie das so glücklich macht, so gebe ich ihnen noch mehr Glück!“ dachte er, selbst ganz trunken vor Seligkeit.

„Dieses Ding habe ich schon lange beim Beamten Morosoff gesehen, und jetzt habe ich es ihm abgenommen, – für dich, Freund, für dich! Das Ding stand bei ihm so da, ohne daß er sich etwas aus ihm machte. Er hatte es vom Bruder bekommen. Ich habe es gegen ein Buch aus Papas Schrank: ‚Der Verwandte Mohammeds oder die heilende Dummheit‘, eingetauscht. Hundert Jahre alt ist das Buch, in Moskau ist es erschienen, als es noch keine Zensur gab. Morosoff ist aber ein Liebhaber solcher Sachen. Er dankte mir noch ...“

Koljä hielt die kleine Kanone hoch, damit alle sie sehen konnten. Iljuscha richtete sich im Bett auf und betrachtete, den rechten Arm um den Hals Pereswonns geschlungen, ganz entzückt das Spielzeug. Doch der Effekt erreichte den höchsten Grad, als Koljä erklärte, daß er auch Pulver bei sich habe, und daß man sofort aus ihr schießen könne, wenn nur die Damen nichts dagegen hätten. „Mamachen“ verlangte natürlich, man möge ihr das Spielzeug näher zu betrachten geben, was sofort erfüllt wurde. Die kleine Kanone auf den blanken Rädern gefiel ihr ungeheuer, und sie rollte sie auf ihren Knien hin und her. Auf die Frage, ob sie zu schießen erlaube, gab sie sofort ihre Einwilligung, ohne übrigens zu begreifen, um was es sich handelte. Koljä zeigte das Pulver und das Schrot. Der Hauptmann übernahm, als früherer Offizier, das Laden und schüttete nur eine ganz kleine Portion Pulver in die Kanone; das Schrot bat er für ein anderes Mal aufzubewahren. Die Kanone wurde auf den Fußboden gestellt und auf eine leere Wand gerichtet, darauf stopfte man ins Zündloch drei kleine Pulverkörner und zündete sie mit einem Streichhölzchen an. Es erfolgte ein glänzender Schuß. „Mamachen“ zuckte zusammen, lachte aber sogleich auf vor Freude. Die Knaben hatten mit stummem Entzücken zugeschaut, doch am seligsten von allen war der Hauptmann: Das mußte doch seinem Iljuscha Freude bereiten! Koljä nahm die Kanone und schenkte sie unverzüglich Iljuscha, zusammen mit dem Pulver und Schrot.

„Das ist für dich, für dich!“ wiederholte er in seiner Glückseligkeit.

„Ach, schenken Sie sie mir! Nein, schenken Sie die kleine Kanone lieber mir!“ bat Mamachen plötzlich wie ein kleines Kind.

Ihr Gesicht drückte ängstliche Unruhe aus, in der Furcht, daß man sie ihr nicht schenken würde. Koljä war ganz verwirrt. Der Hauptmann wurde unruhig.

„Mamachen, Mamachen,“ rief er zu ihr laufend, „die Kanone gehört dir, dir, aber wir lassen sie nur bei Iljuscha, denn man hat sie ihm geschenkt, doch sonst wird sie dir gehören. Iljuscha wird sie dir zum Spielen geben, sie wird euch beiden zusammen gehören, beiden ...“

„Nein, ich will nicht zusammen, nein, mir soll sie gehören und nicht Iljuscha!“ bestand Mamachen auf ihrem Willen und wollte schon zu weinen anfangen.

„Mama, nimm sie für dich, nimm sie, Mama!“ rief plötzlich Iljuscha. „Krassotkin, kann ich sie meiner Mama schenken?“ wandte er sich mit bittender Miene zu Krassotkin, da er fürchtete, daß jener beleidigt sein würde, wenn er dessen Geschenk anderen gab.

„Gewiß kannst du das!“ willigte Krassotkin sofort ein, nahm die Kanone aus Iljuschas Hand und überreichte sie selbst mit der höflichsten Verbeugung dem Mamachen.

Die weinte fast vor Rührung.

„Iljuschetschka, mein Liebling, da sieht man, wer sein Mamachen liebt!“ sagte sie gerührt, und sie begann sofort wieder die Kanone auf ihren Knien hin- und herzurollen.

„Mamachen, erlaube, daß ich dir die Hand küsse!“ Ihr Gemahl lief wieder zu ihr hin und führte sofort seine Absicht aus.

„Und wer noch ein lieber junger Mann ist, das ist dieser gute Junge da!“ sagte Mamachen, auf Krassotkin weisend.

„Pulver werde ich dir soviel wie du nur willst bringen, Iljuscha. Wir machen jetzt selbst Pulver. Borowikoff weiß die Mischung: Vierundzwanzig Teile Salpeter, zehn Teile Schwefel und sechs Teile Birkenkohle, alles zusammen gemischt und gestoßen, Wasser hinzugefügt, ein weicher Teig daraus gemacht, zwischen Leder gerieben – und dann hat man das Pulver!“

„Mir hat Ssmuroff von eurem Pulver schon erzählt, aber Papa sagt, es sei kein wirkliches Pulver,“ antwortete Iljuscha.

„Wie denn, nicht wirkliches?“ Koljä errötete. „Es brennt doch. Ich weiß übrigens nicht ...“

„Nein, ich meinte nur so,“ wandte der Hauptmann ganz schuldbewußt ein. „Es ist wahr, ich habe gesagt, daß das echte Pulver nicht so zubereitet wird, doch das will nichts sagen, man kann auch so ...“

„Ich weiß es nicht, Sie müssen es besser wissen. Wir haben es in einem steinernen Pomadentopf angebrannt, es brannte vorzüglich, es brannte ganz ab, nur ein wenig Ruß blieb nach. Es war ja nur eine weiche Masse, wenn man die aber durchs Fell reibt ... Übrigens, Sie wissen es besser, ich weiß es nicht ... Aber den Bulkin hat sein Vater des Pulvers wegen durchgedroschen, hast du das schon gehört?“ wandte er sich wieder an Iljuscha.

„Ja, ich habe davon gehört,“ antwortete Iljuscha. Er hatte mit unendlichem Interesse und mit Entzücken Koljä zugehört.

„Wir hatten eine ganze Flasche Pulver zubereitet, und er hielt sie unter seinem Bett versteckt. Der Vater hatte es aber bemerkt. ‚Damit kannst du uns ja alle in die Luft sprengen,‘ hat er gesagt und ihn sofort durchgeprügelt. Und er soll sogar die Absicht gehabt haben, sich beim Gymnasialdirektor über mich zu beschweren ... Jetzt darf sein Sohn nicht mehr mit mir verkehren, jetzt darf niemand mehr mit mir verkehren. Auch Ssmuroff darf es nicht, bei allen bin ich verschrien, – man sagt, ich sei ein ‚Tollkühner‘.“ Koljä lächelte geringschätzig. „Das kommt alles von der Eisenbahnaffäre.“

„Ach ja, auch wir haben von Ihrem Stückchen gehört!“ fiel sofort der Hauptmann ein. „Wie haben Sie nur dort unten gelegen? Hatten Sie denn wirklich gar keine Angst, unter dem Eisenbahnzuge zu liegen? War es denn nicht furchtbar?“

Der Hauptmann versuchte, sich bei Koljä einzuschmeicheln.

„Nicht besonders,“ erwiderte Koljä nachlässig. „Meinen Ruhm hat mir nur diese verfluchte Geschichte mit der Gans verdorben,“ sagte er zu Iljuscha gewandt. Doch wie sehr er sich auch anstrengte, sich gleichmütig zu stellen, so konnte er sich doch nicht beherrschen und fiel immer wieder aus dem Ton.

„Ach ja, von der Gans habe ich auch gehört!“ rief Iljuscha lachend und über das ganze Gesicht strahlend. „Man hat mir davon erzählt, aber wie war es denn, ich habe nicht recht verstanden: bist du wirklich vom Richter verurteilt worden?“

„Es war eine nichtssagende Lappalie, ein dummer Scherz, aus dem man wieder einmal einen Elefanten gemacht hat,“ begann Koljä aufgeräumt. „Ich ging nämlich einmal hier über den Marktplatz, als gerade Gänse angetrieben wurden. Ich bleibe also stehen und betrachte sie. Da bemerke ich, daß neben mir ein Bursche steht, Wischnjäkoff – er ist jetzt Laufbursche bei Plotnikoffs – ja, daß er neben mir steht und mich ansieht. Und plötzlich fragt er mich: ‚Warum siehst du denn so auf die Gänse?‘ Ich blickte ihn an: eine dumme runde Fratze, der Kerl ist etwa zwanzig Jahre alt. Ich, wissen Sie, lehne das Volk nie ab. Ich habe es gern, mit dem Volke ... Jedenfalls sind wir zurückgeblieben im Vergleich zum Volke – das ist ein Axiom. Sie belieben zu lächeln, Karamasoff?“

„Gott bewahre! Ich bin ganz Ohr!“ antwortete Aljoscha mit der offenherzigsten Miene, und der argwöhnische Koljä beruhigte sich.

„Meine Theorie, Karamasoff, ist klar, und einfach,“ fuhr er wieder aufgeräumt fort. „Ich glaube an das Volk und bin immer bereit, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne es dabei im geringsten zu beschönigen, das ist sine qua ... Ja, richtig, ich erzählte ja von der Gans. Ich wende mich also an diesen Dummkopf und antworte ihm: ‚Ich denke darüber nach, was die Gans sich jetzt wohl denken mag.‘ Er sieht mich völlig blödsinnig an. ‚Was kann sich denn eine Gans denken?‘ fragt er. – ‚Nun, sieh mal,‘ sage ich, ‚dort steht eine Fuhre mit Hafer. Aus dem einen Sack fallen die Haferkörner heraus, und die Gans streckt den Hals genau vor dem Rade, ganz unten, nach den Körnern aus – siehst du sie?‘ – ‚Jawohl,‘ sagt er. – ‚Nun also,‘ sage ich, ‚wenn man nun den Wagen ein ganz klein wenig vorrückte – wird dann das Rad der Gans den Hals abschneiden oder nicht?‘ – ‚Selbstverständlich wird es ihn abschneiden,‘ sagt er und grinst übers ganze Maul, zerschmilzt einfach vor Wonne. – ‚Nun, dann los, Junge!‘ sage ich. – ‚Los!‘ sagt er. Wir brauchen uns nicht viel anzustrengen; er stellte sich ganz unauffällig an den Pferdekopf, ich zur Seite, um die Gans richtig hinzusteuern. Der Bauer aber gähnte und sprach mit einem anderen, so daß ich schließlich nichts zu dirigieren hatte: Die Gans streckte ganz von selbst den Hals wieder nach den Haferkörnern aus, genau vor dem Rade. Ich zwinkerte dem Burschen zu, er zog unmerklich ein wenig den Zaum und – kr – rack, fährt das Rad der Gans über den Hals. Natürlich mitten durch. Und da mußte es der Zufall gerade so fügen, daß im selben Augenblick alle auf uns sahen. Da war denn das Geschrei groß: ‚Das hat er absichtlich so gemacht!‘ – ‚Nein, ich habe es nicht absichtlich getan!‘ sagt der Bursch. Nun, versteht sich: ‚Zum Friedensrichter!‘ schreien sie. Auch ich wurde gepackt. – ‚Auch du warst dabei,‘ heißt es, ‚du bist der Anstifter, dich kennt ja schon der ganze Markt!‘ Mich kennt nämlich tatsächlich der ganze Markt,“ fügte Koljä selbstgefällig hinzu. „So pilgerten wir denn, alle Mann hoch, zum Friedensrichter. Auch der Leichnam unseres Opfers, die Gans, wurde mitgeschleppt. Meinem Burschen aber fiel mittlerweile das Herz in die Hosen. Er weint – weint wie ein altes Weib. Wir kamen also richtig beim Friedensrichter an. Der Viehhändler schreit: ‚Auf diese Weise kann man sie – d. h. die Gänse – ja alle um einen Kopf kürzer machen!‘ Nun, versteht sich, zuerst das Zeugenverhör. Der Friedensrichter erledigte die Sache sofort: Für die Gans dem Viehhändler einen Rubel zu zahlen, die Gans aber mag der Bursche behalten. Und daß man hinfort sich solche Scherze nicht mehr erlaube! Der Bursche aber weint immer noch wie ein altes Weib und jammert: ‚Das war nicht ich, ich bin ganz unschuldig, er hat mich dazu verleitet!‘ und will die ganze Schuld auf mich abwälzen. Ich antwortete mit voller Kaltblütigkeit, daß ich ihn zu nichts verleitet habe, daß ich nur den Grundgedanken gegeben und es bloß so als Plan ausgeheckt habe. Der Friedensrichter Nefedoff lächelte und ärgerte sich natürlich sofort darüber, daß er gelächelt hatte. ‚Ich werde Sie,‘ sagt er zu mir, ‚sofort bei Ihrem Schuldirektor anzeigen, damit es Sie weiterhin nicht mehr gelüstet, ähnliche Pläne zu machen, statt hinter den Schulbüchern zu sitzen.‘ Das hat er nun nicht getan, aber die Geschichte hat sich doch allmählich verbreitet und ist dann auf diese Weise unserer Schulobrigkeit zu Ohren gekommen – man hat dort bekanntlich sehr lange Ohren! Am meisten hat sich unser ‚Klassiker‘ Kolbassnikoff darüber empört, aber Dardaneloff ist wiederum für mich eingetreten. Dafür ist nun Kolbassnikoff wütend wie ein grüner Esel. Du, Iljuscha, du weißt doch schon, daß er sich verheiratet hat? Er hat von Michailoffs tausend Rubel Mitgift bekommen, die Braut aber hat einen Rüssel, sage ich dir, na, prima Qualität und in höchster Potenz. Die Quintaner haben denn auch sofort ein Epigramm verfaßt:

Es ging die Nachricht von Mund zu Mund:

‚Kolbassnikoff hat sich verlobt!‘

Ganz Quinta ward aber sprachlos zur Stund ...

und so weiter, – furchtbar komisch! Ich werde es dir einmal bringen. Gegen Dardaneloff aber habe ich nichts: Es ist ein Mensch mit Kenntnissen, mit reellen Kenntnissen. Solche Leute achte ich ... Das hat natürlich nichts damit zu tun, daß er mich verteidigt hat ...“

„Aber du hast ihm doch mit der Frage, wer Troja gegründet habe, ein Bein gestellt!“ bemerkte plötzlich Ssmuroff, der in diesem Augenblick auf seinen „Freund Krassotkin“ ungemein stolz war. Die Gänsegeschichte hatte ihm gar zu sehr gefallen.

„Wirklich? So ist es also wahr?“ griff sofort der Hauptmann dieses Thema auf. „Mit der Frage, wer Troja gegründet hat? Auch ich habe schon davon gehört, wie Sie ihm damit ein Bein gestellt haben. Iljuscha hat es mir damals erzählt ...“

„Er weiß alles, Papa, er weiß am meisten von uns allen!“ fiel nun auch Iljuscha stolz und freudig ein, „er tut nur so, als ob er so einer wäre, aber er ist doch bei uns in allen Fächern der erste ...“

Iljuscha blickte Koljä in grenzenlosem Glück selig lächelnd an.

„Ach, das von Troja ist doch nur Unsinn, nur ein Scherz. Ich halte diese Frage selbst für müßig,“ meinte Koljä mit stolzer Bescheidenheit.

Es war ihm inzwischen gelungen, in den richtigen Ton hineinzukommen, doch war er trotzdem etwas unruhig: Er fühlte, daß er sehr aufgeregt war und von der Gans z. B. schon gar zu lebhaft erzählt hatte. Aljoscha aber hatte während der ganzen Erzählung geschwiegen und war unerschütterlich ernst. Das nagte nun dem selbstgefälligen Knaben am Herzen. „Oder sollte er vielleicht deswegen schweigen,“ fragte er sich, „weil er mich verachtet und bei sich denkt, daß ich von ihm gelobt werden will? In dem Falle, wenn er es wagt, so etwas zu denken, werde ich ...“

„Ja, ich halte diese Frage für unbedingt müßig,“ sagte er nochmals und brach stolz ab.

„Ich weiß aber, wer Troja gegründet hat,“ sagte plötzlich ganz unerwartet ein kleiner Knabe, der bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte, überhaupt schweigsam und ersichtlich schüchtern war. Er sah sehr nett aus und schien etwa elf Jahre alt zu sein. Er hieß Kartascheff.

Koljä blickte sich verwundert und wichtig nach dem Kleinen, der bei der Tür saß, um. Die Sache war nämlich die, daß die Frage, wer nun eigentlich Troja gegründet hatte, für alle Schüler zu einem interessanten Problem geworden war. Um die Namen der Gründer zu erfahren, mußte man im Ssmaragdoff nachlesen. Den aber besaß außer Koljä niemand. Nun hatte der kleine Kartascheff, während Koljä mit anderem beschäftigt gewesen war, flugs den Ssmaragdoff, der zwischen seinen Schulbüchern gelegen hatte, aufgeschlagen und zufällig gerade die Stelle gefunden, die von der Gründung Trojas handelte. Das war schon vor verhältnismäßig ziemlich langer Zeit geschehen, aber er hatte sich immer gescheut und geschämt, den anderen Jungen zu sagen, daß er es gleichfalls wußte, und teilweise fürchtete er sich auch, da daraus leicht etwas entstehen oder Koljä ihn in Verlegenheit bringen konnte. Nun aber hatte er plötzlich nicht an sich halten können und doch gesagt, was er schon lange hatte sagen wollen.

„Na, wer denn?“ fragte Koljä von oben herab, da er dem Kleinen am Gesicht ansah, daß jener es in der Tat wußte, und er bereitete sich natürlich sofort auf die Folgen vor. In die allgemeine Stimmung war plötzlich ein Mißton gekommen.

„Troja gründeten Teukros, Dardanos, Illys und Tros,“ sagte der Junge laut, langsam und deutlich, und kaum hatte er es ausgesprochen, als er auch schon errötete – und zwar so errötete, daß er einem leidtat, wenn man ihn ansah. Die Augen aller Knaben waren unverwandt auf ihn gerichtet, etwa eine Minute lang, und dann plötzlich wandten sich aller Blicke von ihm auf Koljä. Der blickte immer noch mit verächtlicher Kaltblütigkeit auf den Kleinen.

„Das heißt, wie haben sie denn gegründet?“ geruhte er endlich zu fragen. „Und was heißt das überhaupt, eine Stadt oder ein Reich gründen? Sind sie etwa hingekommen und haben sie dann jeder einen Ziegelstein hingelegt, wie?“

Man lachte. Der schuldbewußte Kleine wurde noch röter, purpurrot. Er schwieg und war dem Weinen nahe. Koljä aber erbarmte sich seiner nicht so schnell.

„Um über solche historische Ereignisse, wie die Gründung einer Nation, reden zu können, muß man sich zuerst darüber klar werden, was das eigentlich heißt,“ sagte er streng zur Belehrung. „Übrigens messe ich diesen Altweibergeschichten keinerlei Bedeutung bei, und überhaupt achte ich die Allgemeine Geschichte nicht sonderlich,“ fügte er nachlässig hinzu, diesmal wieder zu allen gewandt.

„Wie, die Allgemeine Geschichte?“ erkundigte sich der Hauptmann fast entsetzt.

„Ja, die sogenannte Allgemeine Geschichte – das ist doch nur die Erlernung einer ganzen Reihe von menschlichen Dummheiten und weiter nichts. Achtung habe ich nur vor der Mathematik und den Naturwissenschaften,“ sagte Koljä majestätisch, indem er flüchtig zu Aljoscha hinüberblickte: es war ja nur dessen Meinung, die er hier fürchtete.

Aljoscha jedoch schwieg die ganze Zeit über und war nach wie vor vollkommen ernst. Hätte er etwas dagegen gesagt, so wäre es dabei geblieben, er aber schwieg, und dies konnte sehr wohl aus Verachtung geschehen. Der Gedanke an diese Möglichkeit machte Koljä geradezu wild.

„Und dann überhaupt – die klassischen Sprachen, zum Beispiel. Das ist doch absolut nichts anderes als Blödsinn ... Sie scheinen wieder nicht mit mir übereinzustimmen, Karamasoff?“

„Nein,“ sagte Aljoscha mit zurückhaltendem Lächeln.

„Die klassischen Sprachen sind, wenn Sie meine ganze Meinung darüber wissen wollen, eine polizeiliche Maßregel, und das ist der einzige Zweck, zu dem sie eingeführt sind!“ Koljä geriet allmählich wieder in Hitze. „Sie sind eingeführt, weil sie langweilig sind und die Fähigkeiten abstumpfen. Es war langweilig, wie sollte man es nun noch langweiliger machen? Es war sinnlos, wie sollte man es nun noch sinnloser machen? Und da dachte man sich denn die klassischen Sprachen aus. Das ist meine Meinung über die klassischen Sprachen, und ich hoffe, daß ich sie nie ändern werde,“ schloß Koljä schroff.

Auf seinen Wangen zeichneten sich zwei rote Flecke ab.

„Das ist wahr,“ sagte plötzlich der kleine Ssmuroff, der aufmerksam zugehört hatte, mit heller und überzeugter Kinderstimme.

„Und selbst ist er der Erste im Lateinischen!“ rief plötzlich ein anderer Knabe laut.

„Ja, Papa, er sagt das so, aber selbst ist er im Lateinischen der Erste in der Klasse,“ sagte gleich darauf auch Iljuschetschka.

„Was ist denn dabei?“ Koljä fand es für nötig, sich zu rechtfertigen, obgleich ihm das Lob nicht unangenehm war. „Ich lerne Latein, weil man es muß, weil ich meiner Mutter versprochen habe, das Gymnasium zu absolvieren. Und meiner Meinung nach muß man das, was man einmal tut, dann auch gründlich tun. Im Herzen aber verachte ich tief den Klassizismus und diese ganze Gemeinheit ... Sind Sie nicht mit mir einverstanden, Karamasoff?“

„Aber warum soll das denn eine ‚Gemeinheit‘ sein?“ fragte Aljoscha und lächelte wieder.

„Aber ich bitte Sie! Sämtliche Klassiker sind doch in alle Sprachen übersetzt, folglich brauchen wir ja nicht zur Erlernung der Klassiker Latein – sondern ... wegen der polizeilichen Maßregel, die darin liegt, d. h. zur Gewöhnung an das ‚du mußt, wenn du auch nicht weißt, warum und wozu‘. Und dann vor allem zur Abstumpfung der Fähigkeiten. Wie gesagt. Und das soll nun keine Gemeinheit sein?“

„Wer hat Ihnen denn das alles eingeredet?“ fragte Aljoscha verwundert.

„Erstens kann ich sehr wohl selbst darüber urteilen, ohne daß ich mir etwas einreden lasse, und zweitens, wissen Sie, hat dasselbe, was ich Ihnen soeben von den übersetzten Klassikern sagte, auch der Lehrer Kolbassnikoff in der Quinta gesagt ...“

„Der fremde Professor ist angekommen!“ sagte plötzlich Ninotschka, die die ganze Zeit geschwiegen hatte.

An der Hofpforte hielt Frau Chochlakoffs Equipage. Der Hauptmann, der den berühmten Arzt schon seit dem Morgen erwartet hatte, stürzte Hals über Kopf hinaus. Das Mamachen richtete sich auf und nahm eine feierliche Miene an. Aljoscha trat an Iljuschas Bettchen und versuchte die Kissen ein wenig zu ordnen. Die Knaben verabschiedeten sich eilig, einige von ihnen versprachen noch, am Abend wiederzukommen. Koljä rief seinen Pereswonn, und der sprang mit einem Satz vom Bett herab.

„Ich gehe noch nicht fort, ich bleibe noch hier!“ flüsterte Koljä eilig Iljuscha zu. „Ich werde im Flur warten und dann wiederkommen, wenn der Professor fortgefahren ist, mit Pereswonn wiederkommen.“

Da trat aber der Professor bereits herein – eine imposante Erscheinung im Bärenpelz mit langem, dunklem Backenbart und glänzendem rasiertem Kinn. Nachdem er über die Schwelle getreten war, blieb er zuerst ganz verdutzt stehen: Wahrscheinlich glaubte er, sich in der Tür versehen zu haben.

„Was soll denn das bedeuten? Wo bin ich denn hier hineingeraten?“ brummte er in den Bart. Er stand verständnislos an der Tür, ohne den Pelz abzuwerfen oder seine Seebärmütze, deren Schirm gleichfalls mit Seebärfell überzogen war, abzunehmen. Die vielen Menschen, die Ärmlichkeit der Stube, die in der Ecke auf einer Schnur hängende Wäsche verstimmten und befremdeten ihn sichtlich. Der Hauptmann bog sich vor ihm das Rückgrat krumm.

„Sie sind hier, hier bei uns,“ stotterte er untertänig, „hier, jawohl, bei uns, zu denen Sie ...“

„Ssnegireff?“ fragte der Professor laut und wichtig. „Herr Ssnegireff – sind Sie das?“

„Ja, ich!“

„Ah!“

Der Professor blickte sich noch einmal angeekelt im Zimmer um und warf dann seinen Pelz ab. An seinem Halse blitzte ein bedeutender Orden, der allen sofort in die Augen stach. Der Hauptmann fing den Pelz auf, und der Professor nahm die Mütze ab.

„Wo ist denn hier der Patient?“ fragte er laut und wichtig.

VI.
Frühe Entwicklung

Was meinen Sie, was wird ihm der Professor sagen?“ fragte Koljä hastig. „Aber was für eine widerliche Fratze der Kerl hat, finden Sie nicht auch? Ich kann die Medizin mit allem Drum und Dran nicht ausstehen!“

„Iljuscha wird sterben. Das ist, glaube ich, so gut wie sicher,“ antwortete Aljoscha niedergeschlagen.

„Die Kanaillen! Diese Mediziner taugen alle nichts! Aber es freut mich ungemein, Karamasoff, daß ich Sie kennen gelernt habe. Ich wollte schon lange Ihre Bekanntschaft machen. Schade nur, daß wir uns unter so traurigen Umständen getroffen haben ...“

Koljä wollte gern etwas noch Wärmeres, Herzlicheres sagen, aber er war wie unter einem Druck. Aljoscha bemerkte dies wohl, lächelte und drückte ihm die Hand.

„Ich habe schon längst gelernt, in Ihnen ein seltenes Wesen zu verehren,“ sagte Koljä verwirrt und erregt. „Ich weiß, Sie sind ein Mystiker und haben im Kloster gelebt. Ich weiß, daß Sie ein Mystiker sind, aber ... das hält mich weiter nicht ab ... Ich denke, die Berührung mit der Wirklichkeit wird Sie schon heilen ... Mit Naturen, wie die Ihrige, ist es ja immer so.“

„Wen nennen Sie einen Mystiker? Wovon heilen?“ fragte Aljoscha ein wenig verwundert.

„Nun so, ich meine Gott und das übrige.“

„Wie, glauben Sie denn etwa nicht an Gott?“

„Im Gegenteil, ich habe nichts gegen ihn. Gott ist natürlich nur eine Hypothese ... aber ... ich gebe ja vollkommen zu, daß er nötig ist ... zur Ordnung ... zur Erhaltung der Weltordnung und so weiter ... – wenn es Gott nicht gäbe, so müßte man ihn sich ausdenken,“ fügte Koljä noch hinzu, während ihm das Blut schon in die Wangen stieg.

Ihn hatte plötzlich der Gedanke durchzuckt, Aljoscha könnte jetzt denken, daß er seine Kenntnisse zeigen und sich als „Erwachsener“ aufspielen wolle. „Das will ich aber durchaus nicht!“ dachte Koljä ungehalten. Und plötzlich ärgerte er sich sehr.

„Ich muß gestehen, ich liebe es gar nicht, mich auf diese verwickelten Diskussionen einzulassen,“ meinte er kurz abbrechend, „man kann doch auch ohne an Gott zu glauben die Menschheit lieben, was meinen Sie? Voltaire hat doch auch nicht an Gott geglaubt und doch die Menschheit geliebt!“ („Schon wieder, schon wieder komme ich mit meinen Kenntnissen!“ dachte er bei sich.)

„Voltaire dürfte wohl an Gott geglaubt haben, nur, wenn ich nicht irre, zu wenig, und die Menschheit hat er, glaube ich, gleichfalls nur wenig geliebt,“ sagte Aljoscha leise und zurückhaltend, doch ganz natürlich, wie wenn er mit einem gleichaltrigen oder womöglich sogar älteren Menschen spräche.

Koljä fiel sofort diese Ungewißheit Aljoschas in seiner Meinung über Voltaire auf: und daß er gewissermaßen ihm, dem kleinen Koljä überließ, über diese Frage zu entscheiden.

„Aber haben Sie denn Voltaire gelesen?“ fragte Aljoscha.

„N–nein, nicht gerade, daß ich ihn ganz gelesen hätte ... Ich habe nur ‚Candide‘ gelesen, in einer russischen Übertragung ... in einer ganz alten, eigenartigen, furchtbar komischen Übersetzung ...“ („Schon wieder, schon wieder!“)

„Und haben Sie ihn auch verstanden?“

„O ja, alles ... das heißt ... warum glauben Sie, daß ich ihn nicht verstanden hätte? Es kommen dort natürlich viele schmutzige Gemeinheiten vor ... Ich verstehe doch, daß es ein philosophischer Roman ist, und Voltaire ihn geschrieben hat, um eine Idee durchzuführen ...“ Koljä verwirrte sich immer mehr. „Ich bin nämlich Sozialist, Karamasoff, ein unverbesserlicher Sozialdemokrat,“ sagte er plötzlich, ohne den geringsten Anlaß zu dieser Bemerkung.

„Sozialdemokrat?“ Aljoscha lachte auf. „Wann haben Sie denn dazu schon Zeit gefunden? Sie sind doch erst dreizehn Jahre alt, glaube ich?“

Koljä fühlte sich tief verletzt.

„Erstens: nicht dreizehn, sondern vierzehn, in zwei Wochen vierzehn,“ sagte er kalt, während ihm das Blut wieder in die Wangen schoß. „Und zweitens: Ich verstehe wirklich nicht, was mein Alter damit zu tun hat. Es handelt sich doch nur darum, welches meine Ansichten sind und nicht, wie alt ich bin. Nicht wahr?“

„Wenn Sie älter wären, würden Sie einsehen, von welch einer Bedeutung das Alter bei Überzeugungen ist. Mir schien es wirklich so, als wenn es nicht Ihre eigenen Worte wären, die Sie sprachen,“ antwortete Aljoscha ruhig und bescheiden, doch Koljä unterbrach ihn ungestüm.

„Ich bitte Sie! Sie verlangen Gehorsam und Mystizismus! Aber Sie müssen doch zugeben, daß der christliche Glaube nur den Reichen und Vornehmen dazu gedient hat, die niedrigeren Klassen in der Knechtschaft zu erhalten! Nicht wahr?“

„Ach ich weiß schon, wo Sie das gelesen haben, das hat Ihnen ja jemand eingeredet!“ rief Aljoscha aus.

„Ich bitte Sie, warum muß ich es denn unbedingt gelesen haben? Und so etwas hat mir so gut wie niemand eingeredet. Ich kann doch auch selbst ... Wenn Sie wollen, bin ich sogar durchaus nicht gegen Christus. Er war eine durch und durch humane Persönlichkeit, und wenn er heute, in unserer Zeit, lebte, so würde er sich sofort den Revolutionären anschließen und vielleicht eine große Rolle spielen ... Das steht fest!“

„Wo haben Sie nun das wieder aufgeschnappt? Mit welch einem Dummkopf sind Sie denn zusammengekommen?“ fragte Aljoscha verwundert.

„Ich bitte Sie! Die Wahrheit kann man nicht verbergen. Ich komme allerdings wegen einer bestimmten Angelegenheit des öfteren mit Herrn Rakitin zusammen, aber ... Das hat ja auch schon unser alter Belinskij, wie man erzählt, gesagt ...“

„Belinskij? Dessen erinnere ich mich nicht. Wenigstens hat er das nicht geschrieben.“

„Wenn er es nicht geschrieben hat, so hat er es ausgesprochen, sagt man. Das habe ich gehört ... von einem ... übrigens, zum Teufel ...“

„Haben Sie Belinskij gelesen?“

„Sehen Sie ... nein ... nicht ganz, aber ... die Stelle in seiner Kritik über Puschkins ‚Jewgenij Onégin‘, wo er auf Tatjana zu sprechen kommt: warum sie nicht mit Onégin ging, habe ich gelesen.“

„Wie das, ‚warum sie nicht mit Onégin ging‘? Ja, können Sie denn das schon ... verstehen?“

„Ich bitte Sie! Sie scheinen mich ja für den kleinen Ssmuroff zu halten?“ fragte Koljä gereizt, mit spöttischem Lächeln. „Übrigens glauben Sie, bitte, nicht, daß ich schon ganz und gar Revolutionär bin. Ich bin sehr oft nicht einverstanden mit Herrn Rakitin. Wenn ich von Tatjana rede, so bin ich noch längst nicht für die Emanzipation der Frauen. Ich bin ganz der Meinung, daß das Weib ein untergeordnetes Wesen ist und gehorchen muß. Les femmes tricotent, wie Napoleon gesagt hat,“ fuhr Koljä kurz auflachend fort, „und in diesem einen Punkte teile ich vollkommen die Überzeugung dieses pseudogroßen Mannes. Zum Beispiel finde ich auch, daß es niedrig ist, das Vaterland zu verlassen und nach Amerika zu flüchten, finde es sogar mehr als niedrig – sogar dumm. Warum nach Amerika, wenn man auch bei uns der Menschheit viel Nutzen bringen kann? Und gerade jetzt! Ein ganzer Berg fruchtbringender Tätigkeit! In dem Sinne habe ich denn auch geantwortet.“

„Wie – geantwortet? Wem? Hat Sie denn jemand schon nach Amerika aufgefordert?“

„Ich muß gestehen, daß man mich dazu bereden wollte, aber ich schlug es ab. Das ist natürlich nur unter uns gesagt, Karamasoff, hören Sie, keinem Menschen ein Wort davon, – ich sage es nur Ihnen. Ich habe durchaus keine Lust, der Dritten Abteilung[24] in die Finger zu kommen und an der Kettenbrücke Lektion zu hören.

‚Das vergißt man nicht so leicht,

Das Haus an jener Hängebrücke!‘

Sie kennen doch das Gedicht? Famos doch, nicht wahr? Worüber lachen Sie? Glauben Sie vielleicht, daß ich Ihnen alles nur vorgelogen habe?“ („Was aber dann, wenn er erfährt, daß ich in Papas Bücherschrank nur ein einziges Heft der ‚Sturmglocke‘ gefunden, und mehr als das überhaupt nicht darin gelesen habe?“ fuhr es ihm flüchtig durch den Sinn, und sein Herz zuckte zusammen.)

„Wieso? Ich lache gar nicht, und ich denke durchaus nicht, daß Sie mir etwas vorgelogen haben. Das ist es ja, daß ich es nicht so ansehe, denn alles, was Sie sagen, ist ja leider nicht gelogen! Aber nun sagen Sie, haben Sie denn Puschkin gelesen, den ‚Jewgenij Onégin ...‘ Sie sprachen doch von Tatjana?“

„Nein, ich habe ihn noch nicht gelesen, aber ich will es bald tun. Ich bin ganz vorurteilslos, Karamasoff. Ich will die Meinung jeder Partei hören. Warum fragten Sie?“

„Nur so.“

„Sagen Sie mal, Karamasoff, Sie verachten mich jetzt wohl sehr?“ fragte Koljä ganz plötzlich und reckte sich stramm vor Aljoscha empor, als wolle er sich in Positur stellen. „Haben Sie die Güte, mir ganz ohne Umschweife darauf zu antworten.“

„Ich soll Sie verachten?“ Aljoscha blickte ihn erstaunt an. „Aber weswegen denn? Es tut mir nur leid, daß eine so prächtige Natur, wie die Ihrige, die noch nicht einmal recht zu leben begonnen hat, schon von diesem ganzen rohen Unsinn verdorben worden ist.“

„Wegen meiner Natur brauchen Sie sich weiter keine Sorgen zu machen,“ unterbrach ihn Koljä nicht ohne Selbstgefälligkeit, „aber ich bin sehr argwöhnisch, das ist Tatsache. Geradezu dumm argwöhnisch. Roh und unfein argwöhnisch. Sie lächelten vorhin, und da schien es mir sogleich, daß Sie ...“

„Ach, ich lächelte doch über etwas ganz anderes. Ich werde Ihnen sagen, worüber ich lächelte: ich las vor kurzem die Äußerung eines Ausländers, eines Deutschen, der in Rußland gelebt hat, über unsere gegenwärtige lernende Jugend: ‚Zeigen Sie,‘ schreibt er, ‚einem russischen Schüler die Himmelskarte mit allen Sternen darauf, von der er bis dahin keine Ahnung gehabt hat, und er wird Ihnen morgen diese Karte korrigiert zurückgeben.‘ Überhaupt keine Kenntnisse und grenzenloser Eigendünkel, das wollte der Deutsche damit vom russischen Schüler sagen.“

„Aber das ist ja vorzüglich! das ist ja buchstäblich so!“ Koljä lachte fröhlich auf. „Das ist ja superbissimo! Bravo, Deutscher! Aber dem Tschúchna[25] ist dabei doch die gute Seite der Sache entgangen, was meinen Sie? Eigendünkel – schön, meinetwegen, das kommt von der Jugend, das vergeht, wenn es nötig ist, dafür aber haben sie den unabhängigen Geist von Kindesbeinen an, dafür haben sie die Kühnheit der Gedanken und Überzeugungen, an Stelle ihrer spießerhaften, knechtischen Andacht vor den Autoritäten ... Aber der Deutsche hat das doch gut gesagt! Bravo, Deutscher! Aber trotzdem muß man den Deutschen den Hals umdrehen. Gut, mögen sie da in ihren Wissenschaften so stark sein, wie sie wollen, aber man muß sie doch unterkriegen ...“

„Warum?“ fragte Aljoscha mit feinem Lächeln.

„Nun, ich hab’s nur so gesagt, vielleicht auch nicht. Ich bin zuweilen ein furchtbares Kind, und wenn ich mich über etwas freue, so kann ich mich nicht mehr beherrschen und schwatze womöglich den größten Unsinn zusammen. Aber hören Sie, wir reden hier beide Dummheiten, während der Doktor dort ... warum sitzt der Kerl so lange bei Iljuscha? Vielleicht untersucht er noch das ‚Mamachen‘ und die Ninotschka? Wissen Sie, diese Ninotschka hat mir sehr gefallen. Sie raunte mir plötzlich zu, als ich beim Hinausgehen an ihr vorüber kam: ‚Warum sind Sie nicht früher gekommen?‘ Und mit so einer Stimme, wissen Sie, mit so tiefem Vorwurf! Ich glaube, sie ist ein furchtbar gutes, armes Geschöpf.“

„Ja, ja! Wenn Sie öfter kommen, werden Sie sehen, was das für ein Wesen ist. Es wird Ihnen sehr gut tun, wenn Sie solche Menschen kennen lernen. Das müssen Sie, um noch vieles andere schätzen zu können, ... das werden Sie im Verkehr mit diesem Mädchen lernen,“ sagte Aljoscha warm. „Das wird Sie besser als alles andere erziehen.“

„Oh, wie ich es bedauere und wie ich mich dafür strafen möchte, daß ich nicht früher gekommen bin!“ sagte Koljä erregt.

„Ja, das ist sehr schade. Sie haben jetzt gesehen, was das für eine Freude für den armen Knaben war, und wie hat er sich gequält, während er Sie vergeblich erwartete!“

„Sprechen Sie nicht mehr davon! Sie zerreißen mir das Herz! Aber es geschieht mir jetzt ganz recht: aus Eigenliebe bin ich nicht früher gekommen, ja aus dummer Eigenliebe und gemeiner Selbstsucht, von der ich mich in meinem ganzen Leben nicht werde befreien können, obgleich ich mich seit einer Ewigkeit darum mühe. Das sehe ich jetzt deutlich. Ich bin in vielem ein Schuft, Karamasoff.“

„Nein, Sie sind eine prächtige Natur, wenn Sie auch schon früh verdorben worden sind. Ich verstehe nur zu gut, warum Sie einen so großen Einfluß auf Iljuscha haben konnten. Er ist ein krankhaft empfängliches Kind.“

„Und das sagen Sie mir?“ fragte Koljä ganz verdutzt. „Und ich, stellen Sie sich vor, ich dachte heute schon mehr als einmal, daß Sie mich verachten! Wenn Sie nur wüßten, wie teuer mir Ihre Meinung ist!“

„Sind Sie denn wirklich so argwöhnisch? So jung! Wie sonderbar: als ich Sie dort im Zimmer beobachtete, während Sie erzählten, kam mir derselbe Gedanke – ich meine: daß Sie sehr argwöhnisch sein müssen.“

„Also haben Sie das schon gedacht? Was Sie für eine Beobachtungsgabe haben, weiß Gott! Ich könnte wetten, daß es in dem Augenblick war, als ich von der Gans erzählte. Gerade da schien es mir, daß Sie mich tief deswegen verachteten, weil ich mich anscheinend beeilte, mich als tapferen Burschen aufzuspielen. Und ich haßte Sie sogar deswegen. Und später, das war vorhin hier im Flur, als ich sagte: ‚Wenn es Gott nicht gäbe, so müßte man ihn sich ausdenken,‘ schien es mir wieder, daß Sie mich verachteten, weil ich mich schon gar zu sehr beeilte, meine Bildung hervorzukehren, – und um so mehr noch, als ich diese Phrase in einem Buch gelesen habe. Aber ich schwöre Ihnen, ich beeilte mich damit nicht aus Ruhmsucht, sondern so, ich weiß nicht warum, aus Freude vielleicht, ja, bei Gott, es war, als wenn es aus Freude geschah ... obgleich es doch ein tiefbeschämender Zug ist, wenn ein Mensch vor lauter Freude anderen auf den Hals kriecht. Das weiß ich selbst sehr gut. Dafür aber bin ich jetzt überzeugt, daß Sie mich nicht verachten, daß diese Befürchtung nur eine Marotte von mir war. Oh, Karamasoff, ich bin tief unglücklich! Ich stelle mir zuweilen – weiß Gott was alles vor: daß alle über mich lachen, die ganze Welt, und dann bin ich ... dann bin ich bereit, die ganze Ordnung der Dinge zu vernichten.“

„Und quälen dabei Ihre Nächsten,“ warf Aljoscha lächelnd ein.

„Und quäle meine Nächsten, ganz recht, besonders meine Mutter. Karamasoff, sagen Sie, bin ich jetzt sehr lächerlich?“

„Aber so denken Sie doch nicht immer daran, denken Sie überhaupt nicht daran! Und was heißt das ‚lächerlich‘? Als ob der Mensch selten lächerlich ist oder scheint! Heutzutage fürchten sich fast alle begabten Menschen am meisten vor der Lächerlichkeit, und sie quälen sich deswegen und sind unglücklich. Mich wundert nur, daß Sie dasselbe schon in so jungen Jahren empfinden ... obgleich ... ich es auch schon an anderen Ihresgleichen bemerkt habe. Jetzt leiden ja schon viele, die fast noch Kinder sind, unter derselben Angst. Das ist beinahe wie ein Wahnsinn. In diese Eigenliebe hat sich der Teufel verkörpert und ist dergestalt in die ganze Generation hineingekrochen, niemand anderes als der Teufel,“ fügte Aljoscha nochmals hinzu, ohne aber dabei im geringsten zu lächeln, wie es Koljä, der ihn groß ansah, eigentlich erwartete. „Sie, Koljä, sind wie alle,“ fügte er noch hinzu, „das heißt, wie sehr viele, nur soll man nicht so sein, wie alle sind, das ist es!“

„Selbst wenn alle so sind?“

„Ja, selbst wenn alle so sind. Es ist schon viel, wenn Sie allein nicht so sind. Im Grunde sind Sie ja auch gar nicht so einer, wie alle: haben Sie sich doch soeben nicht geschämt, etwas Schlechtes und sogar Lächerliches von sich einzugestehen. Wer aber tut das heutzutage? Niemand. Man sieht ja nicht einmal mehr eine Notwendigkeit in der Selbstverurteilung. Werden Sie nicht so einer wie alle; und wenn Sie auch nur als einziger anders bleiben, so seien Sie trotzdem nicht so.“

„Großartig! Ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht. Sie sind fähig, einen zu trösten! Sie wissen ja gar nicht, wie es mich zu Ihnen gedrängt hat, Karamasoff, wie lange ich schon eine Begegnung mit Ihnen herbeigewünscht habe! Ist es wirklich wahr, daß auch Sie an mich gedacht haben? Vorhin sagten Sie es.“

„Ja, ich hatte von Ihnen gehört und habe daher auch über Sie nachgedacht ... und wenn Sie auch jetzt teilweise aus Eigenliebe fragen, so tut das nichts.“

„Wissen Sie, Karamasoff, unsere Auseinandersetzungen gleichen ja beinahe einer Liebeserklärung,“ sagte Koljä, mit etwas leiserer, gleichsam geschwächter und verschämter Stimme. „Ist das nicht lächerlich, was meinen Sie?“

„Durchaus nicht lächerlich, und wenn es auch lächerlich wäre, so tut es nichts, denn es ist gut,“ sagte Aljoscha mit hellem Lächeln.

„Aber wissen Sie auch, Karamasoff, Sie müssen zugeben, daß auch Sie sich jetzt ein wenig vor mir schämen ... Das sehe ich an Ihren Augen.“ Und Koljä lachte leise: es lag viel Schelmerei und fast eigenartiges Glück in diesem Lachen.

„Warum soll ich mich denn schämen?“

„Warum erröten Sie denn jetzt plötzlich, wenn man fragen darf?“

„Ja, daran sind Sie schuld, daß ich errötete!“ sagte Aljoscha lachend und wurde wirklich über und über rot. „Nun ja, ein wenig schäme ich mich, Gott weiß, weswegen, ich weiß es nicht ...“ stotterte er, sogar ein wenig verwirrt.

„Oh, wenn Sie wüßten, wie sehr ich Sie gerade jetzt liebe und schätze und gerade deshalb, weil Sie sich ‚weiß Gott warum‘ vor mir schämen! Weil auch Sie ganz so sind wie ich!“ rief Koljä in heller Begeisterung.

Seine Wangen glühten und seine Augen glänzten.

„Hören Sie, Koljä, Sie werden im Leben ein sehr unglücklicher Mensch sein,“ sagte plötzlich Aljoscha aus einem unbekannten Grunde.

„Ich weiß, ich weiß,“ bestätigte Koljä sofort. „Wie Sie doch alles voraus wissen!“

„Aber im ganzen werden Sie doch das Leben preisen.“

„Das ist’s ja! Hurra! Sie sind ja ein Prophet! Oh, wir werden uns noch nähertreten, Karamasoff. Wissen Sie, am meisten entzückt mich an Ihnen, daß Sie mit mir ganz wie mit einem Altersgenossen verkehren, wie mit einem Gleichstehenden. Das aber sind wir nicht, nein, das sind wir nicht: Sie stehen viel höher! Aber wir werden uns schon gut anfreunden. Wissen Sie, ich habe mir während des ganzen letzten Monats gesagt: ‚Entweder werden wir sofort Freunde auf ewig werden, oder wir werden gleich nach der ersten Begegnung als Feinde bis zum Grabe auseinandergehen!‘“

„Und als Sie sich das sagten, liebten Sie mich natürlich schon!“ Aljoscha lachte fröhlich auf.

„Ja, da liebte ich Sie schon, liebte Sie furchtbar, liebte Sie und dachte nur an Sie! Aber wie können Sie alles so voraus wissen? ... Ah! da kommt der fremde Professor, Gott, was wird er sagen? Sehen Sie doch, was er für ein Gesicht macht!“

VII.
Iljuscha

Der fremde Professor trat aus der Stube, eingehüllt in seinen Pelz und die Mütze auf dem Kopf. Er sah geärgert und angeekelt aus, als wenn er sich hier an irgend etwas beschmutzt hätte. Er warf einen flüchtigen Blick über den Flur und sah darauf Aljoscha und Koljä streng an. Aljoscha trat auf die Treppe hinaus und winkte den Kutscher heran. Die Equipage fuhr sofort an der Hofpforte vor. Der Hauptmann folgte dem Professor eilig mit gekrümmtem Rücken, und murmelte, wie es schien, Entschuldigungen. Sein Gesichtsausdruck glich dem eines zum Tode Verurteilten, und aus seinem starren Blick sprach nichts als Schreck und völlige Verständnislosigkeit.

„Exzellenz ... Exzellenz ... ich kann es nicht glauben ...“ stotterte er und konnte nicht weitersprechen. In seiner hilflosen Verzweiflung breitete er wie unsicher die Arme aus, und wie flehend hing jetzt sein starrer Blick an dem Arzt, als wenn dieser den Urteilsspruch über seinen armen Jungen noch hätte abändern können.

„Ja, wie – ge – sagt. Ich – bin – kein – Gott,“ antwortete in nachlässigem, doch gewohnheitsmäßig scharf accentierendem Tone der Professor.

„Herr Professor ... Exzellenz ... und wird er bald ... bald? ...“

„Ma – chen Sie sich auf al – les – ge – faßt.“ Der Professor betonte jede Silbe. Er senkte den Blick und machte Miene, hinauszugehen.

„Exzellenz, um Christi willen!“ rief der Hauptmann erschrocken und hielt ihn noch einmal zurück. „Exzellenz! ... also nichts, nichts, gar nichts kann ihn mehr retten?“

„Das hängt – nicht – von – mir – ab,“ erwiderte ungeduldig der Arzt, „in – dessen, hm,“ sagte er plötzlich und blieb stehen; „wenn ... Sie, zum Beispiel, Ih – ren Pa – tien – ten ... so–fort und ohne zu säumen (die Worte ‚sofort und ohne zu säumen‘ stieß der Professor nicht nur streng, sondern geradezu wütend heraus, so daß der Hauptmann zusammen fuhr) nach Sy – rakus schicken könn – ten, so ... würde infolge der wohl – tuenden, kli – ma – ti – schen Ver – än – derung ... so könn – te es viel – leicht gesche – hen ...“

„Nach Syrakus!“ stieß der Hauptmann hervor, als könne er ihn nicht begreifen.

„Syrakus liegt in Sizilien,“ sagte plötzlich Koljä wie zur Erläuterung.

Der Professor sah ihn an.

„Nach Sizilien! Um Gottes willen, Euer Exzellenz,“ sagte ganz verloren der Hauptmann, „Sie haben doch gesehen!“ Er wies mit beiden Händen auf die Umgebung. „Und Mamachen, und die Familie?“

„N – nein, die Fami – lie nicht nach Sizilien, Ihre Familie muß in den Kau – kasus, a – ber erst im Frühjahr ... Ihre Tochter muß in den Kaukasus, Ihre Gemahlin aber ... nachdem sie auch im Kau – kasus eine Kur für ihren Rheumatismus durchgemacht hat ... müßte dann so–fort nach Paris in die Irrenanstalt des Psychiaters Le – pelle – tier geschickt werden, ich könnte ihr ein Schrei – ben mit – geben, und da ... könnte sie ... vielleicht ... Bes – serung ...“

„Herr Professor, aber Herr Professor! Sie sehen doch!“ der Hauptmann wies wieder in seiner Verzweiflung mit beiden Händen auf die nackten Holzwände des Flurs hin.

„Das ist – nicht – mehr – meine Sache,“ sagte lächelnd der Arzt, „ich ha – be Ihnen nur sa – gen kön – nen, was die Wis – sen – schaft auf Ihre Fra – ge nach den letzten Hilfs – mitteln sagen kann, das üb – rige aber ... kann ich zu meinem Bedau – ern ...“

„Haben Sie keine Angst, Herr Mediziner, mein Hund wird sie nicht beißen,“ fiel ihm Koljä, da er den etwas unruhigen Blick des Professors auf Pereswonn, der auf der Türschwelle stand, bemerkt hatte, mit lauter Stimme ins Wort. Eine böse Note klang in der Stimme Koljäs. Er sagte mit Absicht „Mediziner“ statt Doktor oder Professor – wie er später selbst eingestand, „um ihn zu beleidigen“.

„Was – soll – das?“ fragte der Arzt, den Kopf erhebend, und sah Koljä erstaunt an. „Wer – ist das?“ wandte er sich plötzlich an Aljoscha, als ob der ihm Rechenschaft geben müsse.

„Das ist der Besitzer des Pereswonn, Herr Mediziner, beunruhigen Sie sich nicht wegen meiner Wenigkeit,“ schikanierte Koljä.

„Swonn?“ wiederholte der Arzt, ohne zu verstehen, was dieser Name bedeutete.

„Er scheint nicht zu wissen, wo er sich befindet. Leben Sie wohl, Herr Mediziner, wir werden uns in Syrakus vielleicht wiedersehen.“

„Wer ist dieser ...? Wer, was?“ der Arzt brauste auf vor Wut.

„Das ist ein hiesiger Schüler, Herr Professor, ein Wildfang, beachten Sie ihn nicht,“ sagte Aljoscha verstimmt. „Koljä schweigen Sie!“ rief er Krassotkin zu. „Beachten Sie ihn nicht, Herr Professor,“ wiederholte er noch ungehaltener.

„Man muß ihm Ruten geben, Ruten, Ruten!“ schrie der Arzt Krassotkin an und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf.

„Wissen Sie, Herr Mediziner, mein Pereswonn kann auch beißen!“ rief Koljä mit drohender Stimme, bleich und mit blitzenden Augen. „Ici, Pereswonn!“

„Koljä, wenn Sie jetzt noch ein Wort sagen, so werde ich mit Ihnen auf ewig brechen!“ sagte Aljoscha streng.

„Herr Mediziner, es gibt nur ein Wesen auf der ganzen Welt, das Nikolai Krassotkin befehlen kann, und das ist dieser junge Mensch da (Koljä wies auf Aljoscha): ihm gehorche ich. Leben Sie wohl!“

Koljä stürzte fort, öffnete die Stubentür und trat schnell ein. Pereswonn lief ihm sofort nach. Der Arzt stand noch lange ganz wie versteinert da und starrte Aljoscha an. Darauf spuckte er aus und ging zum Wagen, indem er laut wiederholte: „Dieser, dieser, dieser ... ich weiß nicht, was das für einer ist!“ Der Hauptmann lief ihm nach, um ihm in den Wagen zu helfen. Aljoscha trat ins Zimmer. Koljä stand schon an Iljuschas Bettchen. Iljuscha hielt ihn an der Hand und rief nach seinem Vater. Bald kehrte auch der Hauptmann zurück.

„Papa, Papa, komm her ... wir ...“ stammelte Iljuscha in ungewöhnlicher Erregung, doch außerstande, weiterzusprechen, umarmte er sie beide zusammen mit seinen mageren Ärmchen und preßte sie fest an sich, so stark, wie er es mit seiner kleinen Kraft nur konnte.

Der Hauptmann erbebte am ganzen Körper vor unterdrücktem Schluchzen, und Koljä zitterten die Lippen und das Kinn.

„Papa, Papa! Wie tust du mir leid, Papa!“ stöhnte Iljuscha.

„Iljuschetschka ... Täubchen ... der Professor sagte ... du wirst gesund ... wir werden glücklich sein ... der Professor ...“ brachte der Hauptmann mühsam hervor.

„Ach, Papa! Ich weiß ja, was der fremde Professor von mir gesagt hat ... Ich habe es doch gemerkt!“ rief Iljuscha aus und preßte sie wieder beide aus aller Kraft an sich, wobei er sein Gesicht an der Schulter des Vaters verbarg.

„Papa, weine nicht ... wenn ich sterben werde, nimm dann einen anderen guten Jungen zu dir, einen anderen ... wähle von ihnen allen den besten aus, nenne ihn Iljuscha und liebe ihn statt meiner ...“

„Schweig, mein Sohn, wirst gesund werden!“ unterbrach ihn beleidigt und geradezu barsch Krassotkin.

„Aber mich, Papa, mich vergiß nicht,“ fuhr Iljuscha fort, „komm zu meinem Grabe ... Weißt du, Papa, beerdige mich bitte dort beim großen Stein, zu dem wir beide immer zusammen gegangen sind, und besuche mich dann mit Krassotkin, am Abend ... Und Pereswonn ... Ach, wie werde ich euch erwarten ... Papa, Papa!“

Seine Stimme versagte, alle drei schwiegen sie. Ninotschka weinte leise in ihrem Lehnstuhl, und plötzlich fing auch Mamachen zu weinen an, als sie die anderen weinen sah.

„Iljuschetschka, Iljuschetschka!“ rief sie klagend. Krassotkin befreite sich aus der Umarmung Iljuschas:

„Leb wohl, mein Sohn, meine Mutter erwartet mich zum Mittagessen,“ sagte er hastig. „Wie schade, daß ich sie nicht benachrichtigt habe! Sie wird sich sehr beunruhigen ... Doch nach dem Essen komme ich sofort wieder zu dir, auf viele Stunden, bleibe dann den ganzen Abend bei dir, und werde dir viel erzählen, sehr viel. Pereswonn werde ich natürlich mitbringen, jetzt aber nehme ich ihn mit nach Haus, denn ohne mich würde er zu heulen anfangen und würde dich stören. Also dann – auf Wiedersehen!“

Er lief hinaus auf den Flur, um sich dort auszuweinen. In diesem Zustande fand ihn Aljoscha, als er hinaustrat.

„Koljä, Sie müssen durchaus Wort halten und kommen, denn sonst wird er schrecklich traurig sein,“ beredete ihn Aljoscha.

„Durchaus! Oh, wie ich mich verfluche, daß ich nicht schon früher gekommen bin!“ sagte weinend Koljä, der sich jetzt nicht mehr schämte zu weinen.

In dem Augenblick kam der Hauptmann aus dem Zimmer gestürzt und schloß sofort hinter sich die Tür. Der Ausdruck seines Gesichtes war wie der eines Wahnsinnigen, seine Lippen bebten. Er stand wie geistesabwesend vor den beiden jungen Leuten und schüttelte seine Arme hoch in die Luft:

„Ich will keinen guten Jungen! Ich will keinen anderen Jungen!“ kam es in wildem Geflüster aus ihm heraus, und er knirschte mit den Zähnen, „wenn ich dein vergäße, Jerusalem, so möge ich ...“

Er konnte nicht zu Ende sprechen. Seine Stimme stockte ihm. Kraftlos sank er vor der Holzbank in die Knie. Er preßte seinen Kopf zwischen seinen beiden Fäusten und schluchzte und winselte fast wie ein Hund, wobei er sich aber aus aller Kraft zusammenzunehmen versuchte, damit man sein Winseln in der Stube nicht höre. Koljä lief auf die Straße hinaus.

„Leben Sie wohl, Karamasoff! Sie kommen doch bestimmt?“ rief er Aljoscha schneidend und wütend zu.

„Am Abend komme ich bestimmt.“

„Was sagte er da von Jerusalem? ... Was sollte das bedeuten?“

„Das war aus der Bibel: ‚Wenn ich dein vergäße, Jerusalem‘, das heißt, wenn ich vergessen sollte, was für mich das Teuerste ist, so möge mich ...“

„Ich verstehe, genug! Kommen Sie bestimmt! Ici, Pereswonn!“ rief er barsch dem Hunde zu und eilte mit großen Schritten nach Haus.

Elftes Buch.
Iwan Fedorowitsch

I.
Bei Gruschenka

Aljoscha ging in der Richtung nach der Kathedrale. Dort am Platz lag das Haus der Kaufmannswitwe Morosoff. Gruschenka hatte nämlich am Morgen Fenjä mit der dringenden Bitte zu ihm geschickt, heute noch bei ihr vorzusprechen. Aljoscha hatte von Fenjä auf seine Fragen hin außerdem erfahren, daß ihre Herrin seit gestern in ganz besonderer Aufregung sei. In diesen zwei Monaten nach der Verhaftung Mitjäs war Aljoscha oft in das Haus der Morosowa gegangen, sowohl aus eigenem Antriebe, als auch mit Aufträgen von Mitjä. Am dritten Tage nach jenen Vorgängen in Mokroje war Gruschenka erkrankt, und darauf hatte sie beinahe fünf Wochen lang das Bett gehütet, und von diesen fünf Wochen war sie eine Woche lang besinnungslos gewesen. Sie hatte sich inzwischen stark verändert: ihr Gesicht war abgemagert und hatte in der Farbe noch immer einen etwas gelblichen Ton, obgleich sie schon seit vierzehn Tagen wieder ausgehen durfte. Aljoscha aber schien es, daß ihr Gesicht dadurch noch anziehender wurde. Er liebte es, wenn er bei ihr eintrat, ihrem ersten Blick zu begegnen. Es war, als drückte sich in ihrem Blick jetzt eine gewisse Festigkeit und seelische Tiefe aus. Er verriet eine geistige Umwandlung und eine gewisse ergebene, doch zugleich gütige und feste Entschlossenheit. Auf der Stirn zwischen den Brauen zeichnete sich eine kleine senkrechte Falte ab, die ihrem lieben Antlitz den Ausdruck in sich gesammelter Nachdenklichkeit verlieh, wenn diese Nachdenklichkeit auch zuweilen auf den ersten Blick etwas Schroffes, Strenges haben konnte. Von der früheren Flatterhaftigkeit war auch nicht eine Spur übriggeblieben. Auch wunderte sich Aljoscha darüber, daß trotz des ganzen Unglücks, das sie getroffen hatte – sie, die Braut eines Mannes, der fast im selben Augenblick verhaftet worden war, in dem sie sich einander verlobt hatten –, daß sie trotz allem, was sie bereits durchgemacht und was ihr noch bevorstand, nicht ihre jugendliche Heiterkeit verlor. In ihren früher so stolzen Augen lag jetzt eine gewisse Stille, obwohl ... obwohl in diesen Augen zuweilen ein gewisses böses Feuer aufflammen konnte, wenn eine frühere Sorge sie wieder einmal heimsuchte – eine Sorge, die in ihrem Herzen nicht erstorben, sondern sich noch mächtig vergrößert hatte. Der Gegenstand dieser Sorge war immer ein und derselbe: Katerina Iwanowna. Von ihr hatte Gruschenka während der Krankheit fast ununterbrochen phantasiert. Aljoscha begriff sehr wohl, daß sie Mitjäs wegen unglaublich eifersüchtig auf dessen frühere Braut war, – selbst jetzt noch, obwohl Katerina Iwanowna ihn kein einziges Mal während seiner Gefangenschaft besucht hatte, was ihr zu jeder Zeit freigestanden hätte. Alles das machte Aljoscha seine Aufgabe, sie zu trösten, nur noch schwieriger: denn nur ihm allein vertraute sie alles an, und ihn allein fragte sie beständig um Rat, er aber wußte oftmals wirklich nicht, was er ihr sagen sollte.

Besorgt trat er bei ihr ein. Sie war vor einer halben Stunde von Mitjä aus dem Gefängnis zurückgekehrt, und allein schon aus der schnellen Bewegung, wie sie von ihrem Lehnstuhl am Tisch aufsprang und ihm entgegeneilte, konnte er ersehen, wie ungeduldig sie ihn erwartet haben mußte. Auf dem Tisch lagen Spielkarten, die zu „Schafskopf“ ausgegeben waren. Auf dem Lederdiwan an der anderen Seite des Tisches war ein Bett aufgemacht, auf dem in Schlafrock und Nachtmütze, sichtlich krank und geschwächt, doch trotzdem freundlich lächelnd, halb liegend – Herr Maximoff saß. Dieses heimatlose, alte Kerlchen war damals, vor zwei Monaten, zusammen mit Gruschenka aus Mokroje zurückgekehrt, und seit der Zeit war er auch bei ihr geblieben. Als sie durch Regen und Schmutz endlich bei ihr angekommen waren, hatte er sich durchnäßt und eingeschüchtert auf diesen Diwan gesetzt und sie schweigend mit schüchtern bittendem Lächeln angesehen. Gruschenka, die von Leid und von dem Fieber der beginnenden Krankheit völlig zerschlagen war, hatte ihn in der ersten halben Stunde vor lauter Anordnungen und Sorgen ganz vergessen. Plötzlich hatte sie sich dann seiner wieder erinnert, sich zu ihm gewandt und ihn einmal durchdringend angesehen: da hatte er in seiner Verwirrung nichts anderes zu tun gewußt, als ganz verloren und mitleiderregend zu lächeln. Gruschenka hatte Fenjä gerufen und für ihn etwas zu essen bestellt. An jenem ganzen Tage war er ohne sich zu rühren, mäuschenstill, auf demselben Platz sitzen geblieben, so daß Fenjä, als es dunkel geworden war, ihre Herrin gefragt hatte:

„Wird er denn auch zur Nacht hier bleiben?“

„Ja, mach ihm auf dem Lederdiwan ein Bett auf,“ hatte Gruschenka gesagt.

Später erfuhr sie von ihm auf ihr Befragen, daß er „gerade jetzt“ nicht wußte, wo er eigentlich bleiben sollte. „Herr Kalganoff, mein-mein Wohltäter, hat mir direkt gesagt, daß er mich nicht mehr empfangen könne, und er-er hat mir fünf Rubel geschenkt.“

„Nun, Gott mit dir, dann bleibe hier,“ entschied Gruschenka in ihrem Kummer und lächelte ihm mitleidig zu. Dem Alten schnitt dieses Lächeln wie ein Messer ins Herz, und seine Lippen erzitterten wie von verhaltenen Tränen. Und so blieb der obdachlose Freischlucker bei Gruschenka. Selbst während ihrer Krankheit verließ er sie nicht. Fenjä und ihre Großmutter, die Gruschenkas Köchin war, schickten ihn nicht fort, sondern gaben ihm täglich gut zu essen und machten ihm abends das Bett auf dem Diwan auf. Späterhin gewöhnte sich Gruschenka an ihn, und wenn sie von Mitjä zurückkehrte (den sie sofort täglich besuchte, sobald sie sich nur, nach der Krankheit, hinauswagen durfte), setzte sie sich immer zu Maximoff an den Tisch und begann dann, um den Kummer zu verscheuchen, mit „Maximuschka“ über alle möglichen dummen Dinge zu scherzen, nur um nicht an ihr Leid denken zu müssen. Bei der Gelegenheit stellte es sich heraus, daß „Maximuschka“ auch kleine Geschichten zu erzählen verstand, und so wurde er ihr zu guter Letzt ganz unentbehrlich. Empfing sie doch außer Aljoscha, der nicht einmal an jedem Tage kommen konnte, keinen Menschen. Ihr „Kaufmann“ lag zu der Zeit schwerkrank danieder, er „ging hinüber“, wie man in der Stadt sagte, und er starb auch bald darauf, – eine Woche nach der Gerichtssitzung, die über Mitjäs Schicksal entschied. Eines Tages, drei Wochen vor seinem Tode, ließ er in der Vorahnung seines nahen Endes seine Söhne mit ihren Frauen und Kindern zu sich rufen und befahl ihnen, bei ihm zu bleiben. Was aber Gruschenka betraf, so verbot er den Dienstboten aufs strengste, sie noch zu ihm zu lassen, falls sie aber käme, sollte man ihr sagen: „Er läßt sagen, Sie mögen lange in Freuden leben und ihn ganz vergessen.“ Indessen schickte Gruschenka fast täglich zu ihm, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

„Endlich!“ rief sie freudig, als sie Aljoscha erblickte, warf die Karten sofort hin und begrüßte ihn freundschaftlich. „Maximuschka hat mir die ganze Zeit Angst gemacht, er behauptete, du würdest nicht kommen. Ach Gott, wenn du wüßtest, wie nötig du mir bist. Setz dich hierher an den Tisch. Nun, was soll ich bestellen? Kaffee?“

„Ja, meinetwegen,“ sagte Aljoscha und rückte mit dem Stuhl an den Tisch, „ich habe guten Appetit.“

„Das freut mich; Fenjä, Fenjä, schnell Kaffee!“ rief Gruschenka. „Er kocht schon lange und wartet nur auf dich. Fenjä, bring auch die kleinen Pasteten, aber die ganz heißen! Nein, Aljoscha, ich muß dir doch noch erzählen, was ich heute wegen dieser Pastetchen für ein Donnerwetter über mich habe ergehen lassen müssen. Ich brachte ihm nämlich eine ganze Portion davon ins Gefängnis, er aber, was glaubst du wohl, er stieß sie mir zurück und aß sie nicht. Eines davon schleuderte er sogar auf den Fußboden und zerstampfte es mit dem Fuß zu Brei. Darauf sagte ich ihm: ‚Ich werde sie beim Wächter lassen; wenn du sie dann nicht bis zum Abend aufgegessen hast, so bedeutet das, daß du von deiner Bosheit satt geworden bist!‘ und damit ging ich. Wir haben uns doch schon wieder gezankt. Sobald ich nur hinkomme, zanken wir uns.“

Das alles sprudelte aus Gruschenka in einem Augenblick hervor. Maximoff wurde sofort ängstlich, lächelte und schlug die Augen nieder.

„Worüber habt ihr euch denn diesmal gezankt?“ fragte Aljoscha.

„Ja, weißt du, das hätte ich mir nie gedacht, daß wir uns deswegen zanken könnten! Denk dir nur, er war auf den ‚Früheren‘ eifersüchtig! – ‚Warum unterstützest du ihn?‘ fragte er mich, ‚du hast also jetzt angefangen ihn zu unterstützen!‘ Immer muß er eifersüchtig sein, nein wirklich, ohne Eifersucht geht es schon gar nicht! Ob er schläft oder ißt – eifersüchtig ist er immer. Selbst auf Kusjma wurde er in der vorigen Woche eifersüchtig.“

„Aber er wußte doch schon lange von dem ‚Früheren‘?“

„Na selbstverständlich wußte er davon! Vom ersten Tage an hat er es gewußt! heute aber fällt es ihm plötzlich ein, darüber zu schimpfen. Man schämt sich nur zu wiederholen, was er sagt, es ist gar zu blöd! So ein Dummkopf! Als ich fortging, kam gerade Rakitka zu ihm. Vielleicht ist es Rakitka, der ihn aufhetzt, wie? Was meinst du?“ fügte sie wie zerstreut hinzu.

„Er liebt dich, das ist es, liebt dich sehr. Und dazu ist er jetzt sehr gereizt!“

„Wie sollte er denn nicht gereizt sein, wenn sich morgen alles entscheidet! Ich ging heute gerade in der Absicht hin, um ihm wegen morgen ein Wort von mir aus zu sagen, denn glaub mir, Aljoscha, ich kann noch gar nicht daran denken, was morgen sein wird! Du sagst, er sei gereizt, und ich soll etwa nicht gereizt sein? Und er kommt jetzt mit dem Polacken! So ein Dummkopf! Es fehlte nur, daß er noch auf Maximuschka eifersüchtig wird.“

„Meine Frau hat sich meinetwegen auch immer mit Eifersucht geplagt,“ bemerkte vorsichtig Maximoff seinerseits.

„Ach du!“ – Gruschenka lachte unwillkürlich. „Auf wen war sie denn deinetwegen eifersüchtig?“

„Auf die Stubenmädchen.“

„Ach, schweig, Maximuschka, ich bin heute nicht zum Lachen aufgelegt, mich kann heute eher die Wut packen. Auf die Pastetchen spitz dich lieber nicht, ich erlaube dir jetzt nicht davon zu essen, sie würden dir schlecht bekommen. Und auch Likör bekommst du nicht. Da muß man nun auch noch diesen pflegen! Wirklich, ganz als ob mein Haus eine Armenanstalt wäre,“ sagte sie lachend.

„Ich-ich weiß, daß ich Ihre Wohltaten gar nicht verdient habe, daß ich sie gar nicht wert bin,“ sagte Maximoff mit traurigem Stimmchen. „Sie-Sie sollten lieber Ihre Wohltaten anderen zuteil werden lassen, die es mehr verdient haben, die nötiger sind als ich.“

„Ach, Maximuschka, jeder ist nötig, und woran soll man denn erkennen, wer nötiger ist? ... Wenn es doch diesen Polacken überhaupt nicht geben würde! Jetzt ist es auch ihm eingefallen, krank zu werden. Ich war auch bei ihm, Aljoscha. Jetzt werde ich ihm zum Trotz Pastetchen schicken, ich hätte ihm nichts geschickt, da mir aber Mitjä so ungerechte Vorwürfe gemacht hat, so schicke ich sie ihm jetzt erst recht, zum Trotz! ... Ach, da kommt Fenjä mit einem Brief! Natürlich! Wußt ich’s doch! Wieder von den Polacken, wieder betteln sie um Geld!“

Es war tatsächlich ein Brief von Pan Mussjälowitsch, ein sehr langes und verschnörkeltes Schreiben, in dem er bat, ihm drei Rubel zu leihen. Dem Briefe war noch ein anderer Zettel beigelegt: es war ein Revers mit der Bescheinigung des Empfanges und der Verpflichtung, das Geld in drei Monaten wiederzugeben – von beiden Panen unterschrieben. Solcher Briefe mit Reversen hatte Gruschenka von ihrem „Früheren“ inzwischen eine Menge erhalten. Das hatte gleich nach ihrer Krankheit begonnen, vor etwa zwei Wochen. Sie wußte, daß beide während ihrer Krankheit gekommen waren, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Der erste Brief, den sie von ihm erhalten hatte, war sehr lang gewesen: auf einem Bogen Postpapier größten Formats geschrieben, mit einem riesengroßen Familiensiegel, im Sinn ungemein dunkel gehalten, in ungeheuer hochtrabendem Stil, so daß Gruschenka sich kaum bis zur Mitte des Briefes durchgearbeitet und ihn dann fortgeworfen hatte, ohne von diesem ganzen kunstvollen Wortbau etwas verstanden zu haben. Auch war es ihr doch damals nicht um die Polen zu tun gewesen. Nach diesem ersten Brief war am anderen Tage ein zweiter Brief gefolgt, mit der Bitte Pan Mussjälowitschs, ihm auf eine ganz kurze Frist zweitausend Rubel zu leihen. Gruschenka hatte auch auf diesen Brief nichts geantwortet. Darauf war eine ganze Reihe von Briefen gefolgt, täglich je einer, alle gleich würdig und gedrechselt, nur daß in ihnen die erbetene Summe, die stufenweise herabsank, schließlich bei hundert anlangte, dann bei fünfundzwanzig, fünfzehn, zehn Rubel, und eines Tages erhielt Gruschenka einen Brief, in dem sie um einen einzigen Rubel gebeten wurde – wiederum unter Zusendung eines Reverses, den beide unterschrieben hatten. Da hatten sie ihr leid getan, und sie hatte sich plötzlich in der Dämmerung entschlossen, selbst zu ihnen zu gehen.

Sie hatte beide Polen in der größten Misere vorgefunden, ohne Essen, ohne Holz, ohne Zigaretten und bei der Hauswirtin tief verschuldet. Die zweihundertfünfzig Rubel, die sie in Mokroje gewonnen hatten, waren sehr bald (und unbekannt wofür) draufgegangen. Indessen wurde sie zu ihrer nicht geringen Verwunderung von beiden Panen fabelhaft aufgeblasen und selbstbewußt empfangen, mit der größten Beobachtung der Etikette und mit hochtrabenden Reden. Gruschenka hatte ihnen daraufhin nur ins Gesicht gelacht und ihrem „Früheren“ zehn Rubel gegeben. Und gleich darauf war sie zu Mitjä gegangen, dem sie den ganzen Vorfall lachend erzählt hatte, und dieser hatte gleichfalls darüber gelacht. Doch seit dem Tage ließen die stolzen Pane ihr keine Ruhe: täglich bombardierten sie sie mit Briefen, die alle immer dieselbe verschnörkelte Bitte um Geld enthielten, und sie schickte ihnen jedesmal ein paar Rubel. Und nun plötzlich war es Mitjä eingefallen, deswegen eifersüchtig zu werden.

„Ich war so dumm, auf dem Wege zu Mitjä auf einen Augenblick zu ihm zu gehen, denn er ist doch jetzt gleichfalls erkrankt, mein früherer Pan,“ begann Gruschenka wieder eilig und geschäftig, „und ich erzählte es Mitjä lachend, um ihn zu zerstreuen: ‚Denk nur,‘ sagte ich, ‚mein Pole wollte mir wieder auf der Gitarre vorspielen und die alten Lieder singen, wahrscheinlich in der Hoffnung, das würde mich rühren und mich bestimmen, ihn zu heiraten.‘ Und da springt Mitjä plötzlich wie rasend auf, und das Schimpfen geht los ... Jetzt schicke ich aber zum Trotz den Polen die Pastetchen! Fenjä, wen haben Sie da geschickt, wieder das kleine Mädchen? Hier, gib ihr diese drei Rubel, und dann kannst du noch so zehn Pastetchen in Papier einschlagen und mitschicken. Du aber, Aljoscha, mußt unbedingt Mitjä erzählen, daß ich ihnen Pastetchen geschickt habe.“

„Das werde ich bestimmt nicht tun,“ sagte Aljoscha lächelnd.

„Ach, du glaubst, daß er sich quält? Das hat er doch absichtlich getan, nur um mich glauben zu machen, er sei eifersüchtig, ihm selbst aber ist es doch ganz gleichgültig,“ sagte Gruschenka bitter.

„Wieso absichtlich getan?“ fragte Aljoscha.

„Das kannst du wohl wieder, trotz deines Verstandes – nicht verstehen, Aljoschenka. Sieh, nicht das kränkt mich, daß er meinetwegen, da ich nun einmal so eine bin, eifersüchtig ist. Es würde mich viel mehr kränken, wenn er nicht eifersüchtig wäre. Ja, so bin ich. Nicht die Eifersucht kränkt mich, ich bin ja auch ein hartherziger Mensch, und ich bin selbst eifersüchtig. Mich kränkt nur, daß er mich überhaupt nicht liebt und jetzt absichtlich den Eifersüchtigen spielt, das ist es! Bin ich denn etwa blind! Da fängt er jetzt plötzlich an, mir von jener, der Katjä zu erzählen: dieses soll sie sein und wiederum jenes und dann noch was, ‚und sie hat sogar einen berühmten Arzt aus Moskau hergerufen, um mich zu retten, hat auch den besten, den berühmtesten Advokaten verschrieben‘ ... Daraus ersehe ich doch, daß er jetzt nur sie allein liebt, wenn er sie so unverschämt in meiner Gegenwart lobt. Er weiß ja selbst ganz genau, daß er sich mir gegenüber vergangen hat, und da will er nun die ganze Schuld auf mich abwälzen. Dann heißt es: ‚Du hast zuerst mit dem Polacken angefangen, folglich kann ich jetzt auch mit Katjka anfangen.‘ Ich kenne doch die Männer! Jetzt will er auf mich allein die ganze Schuld wälzen. Absichtlich hat er diese Eifersuchtsszene gespielt. Absichtlich hat er es getan, das sage ich dir, nur werde ich ...“

Gruschenka sprach nicht aus, was sie würde ... Sie beugte den Kopf auf den Arm, der auf dem Tisch lag, und weinte wie im Krampf.

„Dmitrij liebt Katerina Iwanowna nicht,“ sagte Aljoscha überzeugt.

„Nun, ob er sie liebt oder nicht liebt, das werde ich bald selbst erfahren,“ sagte Gruschenka, in deren Stimme diesmal eine drohende Note klang. Sie erhob wieder den Kopf, und ihr Gesicht war fast entstellt. Es tat Aljoscha weh, zu sehen, wie ihr sanftes, ruhig-heiteres Gesicht finster und böse geworden war.

„Sprechen wir nicht mehr von diesen Dummheiten!“ brach sie plötzlich ab. „Habe ich dich doch nicht deswegen herbitten lassen. Aljoscha, Täubchen, sag doch, was wird morgen sein, morgen? Das ist ja das einzige, was mich quält! Nur mich allein quält das doch. Wenn ich euch alle ansehe, so muß ich mir immer sagen, daß niemand außer mir daran denkt, daß es niemanden von euch allen etwas angeht. Sag, denkst du wenigstens daran? Morgen wird doch sein Urteil gesprochen! Erzähl mir, Aljoscha, wie geht es eigentlich zu in einer Gerichtssitzung? Wie wird man denn richten? Es ist doch der Diener, der erschlagen hat, der Diener Ssmerdjäkoff! Mein Gott! Man wird ihn doch nicht statt des Dieners verurteilen? Und wird denn niemand für ihn eintreten? Und den Diener haben sie wahrscheinlich überhaupt noch nicht vernommen, was?“

„Man hat ihn sehr scharf verhört,“ sagte Aljoscha nachdenklich, „aber sie scheinen alle übereingekommen zu sein, daß nicht er ihn erschlagen habe. Ssmerdjäkoff ist noch immer krank. Er ist es seit jenem Tage, seit dem epileptischen Anfall ... Er ist tatsächlich krank,“ fügte Aljoscha nochmals hinzu.

„Gott, geh doch du wenigstens zu diesem Advokaten, Aljoscha, und erzähl ihm alles unter vier Augen. Es heißt doch, er sei für dreitausend Rubel aus Petersburg hergekommen.“

„Ja, wir drei haben es zusammen getan, Iwan, Katerina Iwanowna und ich; den Doktor aber hat sie allein für zweitausend aus Moskau verschrieben. Der Advokat Fetjukowitsch hätte wahrscheinlich mehr verlangt, da aber dieser Prozeß in ganz Rußland bekannt geworden ist, da alle Tageszeitungen und Zeitschriften davon sprechen, so hat er um des Ruhmes willen eingewilligt, herzukommen, denn es ist ein gar zu berühmter Fall geworden. Ich habe ihn gestern gesprochen.“

„Nun, und? Hast du ihm alles gesagt?“ fragte sofort Gruschenka erregt.

„Er hörte mich an und sagte nichts. Das heißt, er sagte nur, er habe sich bereits eine bestimmte Meinung gebildet. Er versprach aber, meine Aussagen zu berücksichtigen.“

„Wie das berücksichtigen? Ach, das sind ja doch nur Phrasen! Phrasen von bezahlten Spitzbuben! Sie werden ihn mir nur noch ins Verderben stürzen! Aber der Doktor, wozu hat sie denn den Doktor verschrieben?“

„Als Experten. Sie wollen beweisen, daß Dmitrij verrückt sei und im Wahnsinn, also besinnungslos erschlagen habe.“ Aljoscha lächelte still vor sich hin. „Nur ist Dmitrij damit nicht einverstanden, er wird es um keinen Preis zugeben.“

„Ach, aber das ist doch wahr, wenn er ihn wirklich erschlagen hat!“ rief Gruschenka lebhaft. „Er war ja damals gar nicht bei vollem Verstande, er war ja wirklich wahnsinnig, und ich, ich Scheusal, ich allein war an allem schuld! Nur ist es gar nicht wahr, daß er erschlagen hat, er hat ihn doch gar nicht erschlagen! Und alle beschuldigen sie ihn, alle sagen, er sei es gewesen. Sogar Fenjä hat so ausgesagt, daß schließlich herauskommt, er habe es getan. Und die Aussagen der Kommis von Plotnikoffs, und jener Beamte. Und dann haben noch alle im Gasthause gehört, wie er gedroht hat! Alle, alle sind gegen ihn, und so schwatzen sie jetzt und schnattern wie die Gänse.“

„Ja, die ungünstigen Aussagen haben sich unglaublich vermehrt,“ bemerkte Aljoscha finster.

„Und Grigorij noch dazu, Grigorij Wassiljitsch! Der behauptet ja nach wie vor, daß die Tür offen gewesen sei, behauptet es steif und fest und ohne sich beirren zu lassen! Ich bin selbst einmal zu ihm gegangen, um mit ihm zu sprechen. Er schimpft einen womöglich noch obendrein aus!“

„Ja, Grigorijs Aussage ist vielleicht die verhängnisvollste für Dmitrij,“ meinte Aljoscha.

„Und was das betrifft, daß Mitjä verrückt sei, so ist er ja jetzt wirklich etwas von der Art,“ sagte plötzlich Gruschenka mit einer ganz besonders besorgten und geheimnisvollen Miene. „Weißt du, Aljoschenka, ich wollte eigentlich schon lange mit dir darüber reden: ich gehe jeden Tag zu ihm und muß mich immer mehr über ihn wundern. Sag du mir, was du über ihn denkst: was meinst du, worüber redet er jetzt immer? Zuweilen fängt er an zu sprechen und spricht, spricht – ich weiß nicht wovon, ich denke schon, nun, das wird was sehr Kluges sein, das ist zu hoch für mich, denke ich, bin wahrscheinlich zu dumm dazu. Nur spricht er jetzt immer von einem ‚Kindichen‘, das heißt, von irgendeinem kleinen Kinde, das er immer ‚Kindichen‘ nennt ... ‚Warum,‘ fragte er, ‚warum ist das Kindichen arm? Für das Kindichen muß ich jetzt nach Sibirien gehn, ich habe nicht erschlagen, aber ich muß nach Sibirien gehen!‘ Was das bedeuten soll, was das für ein ‚Kindichen‘ ist, – davon habe ich keine Ahnung! Mir rollten nur die Tränen über die Wangen, als er sprach, denn er sagte das so eigenartig, er wollte wohl selbst weinen. Als er aber sah, daß ich weinte, da küßte er mich plötzlich und bekreuzte mich mit der rechten Hand. Was hat das zu bedeuten, Aljoscha, sag du mir, was ist das für ein ‚Kindichen‘?“

„Rakitin hat sich jetzt angewöhnt, ihn zu besuchen,“ meinte Aljoscha lächelnd, „übrigens ... das kann nicht von Rakitin herrühren. Ich war gestern nicht bei Dmitrij, heute aber werde ich hingehen.“

„Nein, das ist nicht Rakitka, das ist sein Bruder Iwan Fedorowitsch, der ihn verwirrt, seitdem er zu ihm geht, das ist es, was ...“ Gruschenka stockte plötzlich.

Aljoscha sah sie ganz verdutzt an.

„Wie, Iwan geht zu ihm? Ist er denn jemals bei ihm gewesen? Mitjä hat mir doch selbst gesagt, daß Iwan noch kein einziges Mal bei ihm gewesen sei.“

„Ach ... nun, das war wieder echt von mir! Ich habe mich versprochen!“ Gruschenka war etwas betreten, und sie errötete. „Wart, Aljoscha, schweig, mag es denn auch so sein, habe ich mich einmal verraten, so will ich lieber die ganze Wahrheit sagen: Iwan Fedorowitsch ist bis jetzt nur zweimal bei Mitjä gewesen, das erstemal gleich nach seiner Rückkunft aus Moskau – er kam doch damals sofort wieder zurück, ich war noch nicht einmal gesund geworden. Und das zweitemal ist er vor einer Woche bei ihm gewesen. Mitjä aber hat er befohlen, dir nichts davon zu sagen, und überhaupt niemandem: es sollte ein Geheimnis bleiben.“

Aljoscha saß in Gedanken versunken und schien über etwas zu grübeln. Die Nachricht hatte ihn offenbar nicht wenig stutzig gemacht.

„Iwan hat mit mir kein einziges Mal über Mitjä gesprochen,“ sagte er langsam, „und überhaupt hat er in diesen zwei Monaten wenig mit mir gesprochen, und wenn ich zu ihm gegangen bin, ist er über mein Kommen stets ungehalten gewesen, so daß ich ihn jetzt seit drei Wochen nicht mehr gesprochen habe,“ sagte er gleichsam vor sich hin. „Ja ... Wenn er vor einer Woche bei Mitjä gewesen ist, so – allerdings ... in dieser Woche ist auch mir eine gewisse Veränderung an Mitjä aufgefallen ...“

„Nicht wahr? Nicht wahr?“ griff Gruschenka sofort eifrig auf. „Sie haben ein Geheimnis, sicher ein Geheimnis! Mitjä hat mir selbst gesagt, daß sie ein Geheimnis haben, und weißt du, ein solches Geheimnis, daß Mitjä sich darüber nicht mehr beruhigen kann! Früher war er doch noch so heiter, er ist es ja auch jetzt, nur, weißt du, wenn er so den Kopf schüttelt und auf und ab schreitet und sich so mit der rechten Hand in die Haare fährt und die Haare an der rechten Schläfe zupft, dann weiß ich doch, daß er etwas auf der Seele hat, das ihn beunruhigt ... ich kenne ihn doch! ... Sonst war er immer heiter – auch heute war er es!“

„Du sagtest doch, er sei gereizt gewesen?“

„Ja, gewiß, das war er, aber er war dann auch wieder heiter. Er ist eigentlich immer gereizt, plötzlich aber wird er auf eine Minute ganz heiter, und dann ist er plötzlich wieder gereizt. Und weißt du, Aljoscha, ich muß mich immer nur über ihn wundern: denk doch nur, was ihm bevorsteht, er aber kann zuweilen über die geringsten Dummheiten lachen, ganz als ob er ein kleines Kind wäre.“

„Und ist es wirklich wahr, daß er dir verboten hat, mir etwas von Iwans Besuch zu sagen? Hat er sich wirklich so ausgedrückt: ‚sage ihm nichts davon‘?“

„Ja, genau so: sage ihm nichts davon. Dich fürchtet er ja am meisten, Mitjä meine ich. Denn hier handelt es sich um ein Geheimnis, das hat er mir selbst gesagt ... Aljoscha, Täubchen, geh hin und versuch du herauszubekommen, was es ist? – was sie da für ein Geheimnis haben – und komm dann her und sag es mir!“ wandte sich Gruschenka plötzlich flehend an Aljoscha. „Erlöse mich von der Ungewißheit, sage mir alles, damit ich wenigstens weiß, was mich erwartet! Du weißt nicht, wie das ist, sein verfluchtes Schicksal zu ahnen, und doch nichts zu wissen! Geh, Aljoscha, nur deswegen habe ich dich herbitten lassen!“

„Du glaubst, daß es sich dabei um dich handelt? Dann hätte er doch dir nichts von dem Geheimnis gesagt.“

„Ich weiß nicht, um was es sich dabei handelt. Vielleicht will er es mir sagen, wagt es aber nicht. Er will mich nur vorbereiten. Ein Geheimnis, sagt er, sei es; was für ein Geheimnis aber, das hat er mir nicht gesagt.“

„Aber du, was vermutest du denn?“

„Was soll ich vermuten! Mein Ende ist gekommen, das ist es, was ich vermute. Das haben sie alle drei mir bereitet, denn hier steckt doch Katjka dahinter. Von ihr geht alles aus. ‚Katjä ist dieses und Katjä ist jenes,‘ sagt er, das bedeutet also, daß ich nicht dieses und jenes bin. Das sagt er absichtlich, das schickt er voraus – will mich vorbereiten. Verlassen will er mich, sieh, das ist sein ganzes Geheimnis! Das haben sie sich alle drei ausgedacht – Mitjka, Katjka und Iwan Fedorowitsch. Aljoscha, ich wollte dich schon lange fragen ... vor einer Woche teilte er mir auf einmal mit, daß Iwan Fedorowitsch in Katerina Iwanowna verliebt sein soll, und darum so oft zu ihr hingehe. Hat er mir die Wahrheit gesagt, oder hat er gelogen? Sage es mir auf dein Gewissen, schone mich nicht!“

„Ich werde dir die Wahrheit sagen. Iwan ist nicht in Katerina Iwanowna verliebt, so denke ich wenigstens.“

„Das habe auch ich mir damals gleich gedacht! Er belügt mich einfach wie ein Schamloser, das sehe ich jetzt vollkommen ein! Und darum spielt er auch jetzt den Eifersüchtigen, um dann später alles auf mich abwälzen zu können. Er ist doch ein dummer Junge, er versteht ja nichts zu verheimlichen, er ist doch so aufrichtig ... Aber ich werde ihn, ich werde ihn! ‚Du glaubst,‘ sagt er mir, ‚daß ich ihn erschlagen habe‘ – das sagt er mir, mir, das wirft er mir vor! Nun, Gott mit ihm! Aber diese Katjka wird noch etwas von mir zu hören bekommen vor Gericht! Ich werde ihr dort ein paar Worte sagen ... Oh, dort werde ich alles sagen!“

Und wieder weinte sie verzweifelt.

„Höre, Gruschenka, in einem kann ich dich aufs bestimmteste beruhigen,“ sagte Aljoscha und erhob sich. „Erstens, daß er dich liebt, dich mehr als alles auf der Welt liebt, und zwar dich ganz allein, das kannst du mir glauben. Ich weiß es. Ich weiß es ganz gewiß. Und zweitens erkläre ich dir, daß ich, was das Geheimnis betrifft, ihn nicht ausforschen will. Wenn er es mir heute selbst mitteilt, so werde ich ihm offen sagen, daß ich dir versprochen habe, dich davon zu unterrichten. Und dann werde ich heute noch zu dir kommen, um dir alles zu sagen. Nur ... glaube ich ... daß hier Katerina Iwanowna nicht im Spiele ist, ich glaube vielmehr, daß das Geheimnis etwas ganz anderes betrifft. Davon bin ich fest überzeugt. Und es sieht auch gar nicht danach aus, als ob es sich dabei um Katerina Iwanowna handeln könnte. Wenigstens scheint es mir nicht so. Jetzt aber leb wohl. Auf Wiedersehen.“

Er drückte ihr fest die Hand. Gruschenka weinte immer noch. Aljoscha sah, daß sie seinen Beruhigungen wenig Glauben schenkte, aber auch das war ihr schon eine Erleichterung, daß sie sich einmal hatte aussprechen können. Es tat ihm weh, sie so verlassen zu müssen, doch hatte er keine Zeit, noch länger bei ihr zu bleiben. Es stand ihm vieles bevor, was er noch vor dem Abend auszurichten hatte.

II.
Das kranke Füßchen

Ganz zuerst mußte er zu Chochlakoffs gehen. Er beeilte sich, schneller hinzukommen, um sich nicht bei Mitjä zu verspäten. Frau Chochlakoff war schon seit drei Wochen krank; der eine Fuß war ihr, weiß Gott wodurch, ein wenig geschwollen. Sie lag zwar nicht zu Bett, verbrachte aber doch die Zeit in ihrem Boudoir halbliegend auf der Chaiselongue, stets in ein reizendes, doch nichtsdestoweniger wohlanständiges Deshabillé gehüllt. Aljoscha hatte bemerkt, daß sie trotz ihrer Krankheit gerade jetzt angefangen hatte, ganz besonders Toilette zu machen: es waren ihm die vielen duftigen Spitzen, Plissees und Volants an ihren Toiletten aufgefallen, und er glaubte mit harmlosem Lächeln, die Ursache dieser Veränderung erraten zu haben, doch verscheuchte er sofort alle ähnlichen Gedanken als müßig, – verscheuchte sie, nicht ohne Unwillen über sich selbst. In den letzten zwei Monaten hatte sie nämlich, unter den übrigen Bekannten ihres Hauses, auch der junge Perchotin besucht. Aljoscha war seit vier Tagen nicht mehr bei Chochlakoffs gewesen, und als er jetzt eintrat, wollte er geradeswegs zu Lise gehen, denn er war nur ihretwegen gekommen. Sie hatte die Zofe schon am vorhergehenden Tage zu ihm geschickt, mit der dringenden Bitte, so bald als möglich zu ihr zu kommen, da sie ihn in einer „sehr wichtigen Angelegenheit“ sprechen müsse, – was aus gewissen Gründen Aljoscha nicht wenig interessierte. Doch während nun die Zofe zu Lisa ging, um ihn anzumelden, erschien mittlerweile der Diener mit der Bitte Frau Chochlakoffs – die inzwischen erfahren hatte, daß er gekommen war –, „nur auf einen Augenblick“ bei ihr vorzusprechen. Aljoscha überlegte, was er tun sollte, und sagte sich, daß es besser sei, zuerst die Bitte der Mama zu erfüllen, da sie sonst immer wieder zu Lise schicken werde. Frau Chochlakoff ruhte in einem ganz besonders schönen Gewande auf der Couchette in ihrem Boudoir und schien erregt zu sein.

„Jahrhunderte, ganze Jahrhunderte habe ich Sie nicht mehr gesehen! Eine ganze Woche ist es her, schämen Sie sich! ach! nein, richtig, – Sie waren ja vor vier Tagen, am Mittwoch, noch hier. Sie wollen jetzt wieder zu Lise! Ich bin überzeugt, daß Sie auf den Fußspitzen zu ihr schleichen wollten, damit ich es nicht hörte. Ach, lieber, lieber Alexei Fedorowitsch, wenn Sie wüßten, wie sie mich jetzt beunruhigt! Doch davon später. Zwar ist das die Hauptsache, doch trotzdem lassen Sie uns später darüber sprechen. Lieber Alexei Fedorowitsch, ich vertraue Ihnen meine Lise ganz und gar an. Nach dem Tode des Staretz Sossima – gib seiner Seele, Herr, Frieden und Ruh! (sie bekreuzte sich) – nach seinem Tode kommen Sie mir immer wie ein Einsiedler vor, so allerliebst Ihnen auch dieser neue Anzug steht. Wo haben Sie nur hier einen so vorzüglichen Schneider gefunden? Doch nein, nein, das ist nicht die Hauptsache, davon später. Verzeihen Sie, daß ich Sie zuweilen Aljoscha nenne, ich bin doch eine alte Frau,“ sagte sie mit kokettem Lächeln, „und daher ist mir vieles erlaubt, aber auch davon sprechen wir später. Ach, die Hauptsache, wenn ich nur nicht immer die Hauptsache vergäße! Bitte erinnern Sie mich daran, sobald ich mich wieder verliere, sagen Sie einfach: ‚Und die Hauptsache?‘ Ach, wie soll ich wissen, was jetzt die Hauptsache ist! Seit dem Augenblick, da Lise ihr Gelöbnis zurücknahm – ihr kindisches Gelöbnis, Alexei Fedorowitsch, Sie zu heiraten –, haben Sie natürlich eingesehen, daß alles nur die kindische Phantasie eines kranken Mädchens war, das zu lange im Fahrstuhl gesessen hat, – Gott sei Dank, daß sie jetzt wieder gehen kann! Dieser neue Doktor, den Katjä aus Moskau verschrieben hat – für Ihren unglücklichen Bruder, der morgen ... Ach, sagen Sie doch, was wird morgen sein? Ich sterbe schon beim bloßen Gedanken daran! Hauptsächlich aber vor Interesse ... Ach nein, ich wollte doch sagen, dieser Doktor war gestern bei uns, um Lise zu untersuchen ... Aber das war es ja gar nicht, was ich erzählen wollte. Sehen Sie, ich bin jetzt ganz aus dem Konzept gekommen. Ich beeile mich immer so entsetzlich. Warum ich es aber tue, das weiß ich wirklich nicht. Ich höre schon völlig auf, zu wissen ... Für mich hat sich jetzt alles zu einem einzigen Knäuel zusammengewickelt. Ich fürchte schon, daß Sie die Geduld verlieren und plötzlich hinauslaufen werden, und dann habe ich Sie zum letztenmal gesehen. Ach, mein Gott! Da sitzen wir und reden, und ich habe ganz vergessen ... Kaffee, Julija, Glafira, Kaffee!“

Aljoscha beeilte sich, für Kaffee zu danken. Er sagte, daß er soeben getrunken habe.

„Bei wem?“

„Bei Agrafena Alexandrowna.“

„Bei ... bei dieser Person? Ach, sie allein hat ja alle zugrunde gerichtet, doch übrigens, ich weiß nicht, jetzt sagt man, sie sei heilig geworden, nur finde ich, daß sie es dann etwas spät geworden ist. Besser wäre gewesen, sie wäre es früher geworden, als es not tat, denn jetzt, was für einen Nutzen kann das jetzt noch bringen? Schweigen Sie, schweigen Sie, Alexei Fedorowitsch, ich will Ihnen nur so viel sagen, daß ich wahrscheinlich nichts sagen werde. Dieser schreckliche Prozeß ... Ich werde unbedingt hinfahren, ich bereite mich schon vor, man wird mich im Lehnstuhl hineintragen. Ich kann die ganze Zeit sitzen, – Sie wissen doch, daß ich als Zeugin vorgeladen bin? Wie soll ich nur reden? Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Man muß doch einen Eid ablegen, nicht wahr?“

„Ja, aber ich glaube nicht, daß Sie so werden erscheinen können.“

„Ich kann doch sitzen! Ach, Sie bringen mich wieder aus dem Konzept. Dieser Prozeß, dieser entsetzliche Prozeß, und dann gehen alle nach Sibirien, andere heiraten wiederum, und alles vergeht so schnell, so schnell, und alles verändert sich, und schließlich ist nichts, alle sind Greise und blicken ins Grab. Nun, meinetwegen, mögen sie doch, ich bin müde. Diese Katjä – cette charmante personne, sie hat alle meine Hoffnungen vernichtet! Jetzt wird sie einem Ihrer Brüder nach Sibirien folgen, und Ihr anderer Bruder wird dann wieder ihr folgen und in der nächsten Stadt wohnen, und alle werden sie sich gegenseitig quälen. Das bringt mich um meinen letzten Verstand. Und vor allen Dingen dieses Gerede! In allen Petersburger und Moskauer Zeitungen ist darüber millionenmal gesprochen worden. Ach ja, denken Sie sich, auch von mir ist dabei die Rede, es heißt, ich sei die, ‚liebe Freundin‘ Ihres Bruders gewesen! – ich will kein häßliches Wort aussprechen, nur denken Sie sich so etwas, können Sie sich das vorstellen!“

„Das ist unmöglich! Wo hat man das geschrieben?“

„Ich werde es Ihnen sofort schwarz auf weiß zeigen. Gestern erhielt ich es – gestern las ich es selbst zum erstenmal. Sehen Sie hier, in der Petersburger Zeitung ‚Gerüchte‘. Dieses Blatt wird erst seit einem Jahr herausgegeben – da abonnierte ich auf dasselbe, denn ich liebe sehr Gerüchte, und das habe ich jetzt davon: Da, sehen Sie, was das für ‚Gerüchte‘ sind! Hier, sehen Sie hier, lesen Sie das.“

Sie reichte Aljoscha ein Zeitungsblatt, das unter ihrem Kissen gelegen hatte, und zeigte ihm die Stelle.

Sie war nicht nur verstört, sie schien plötzlich ganz gebrochen zu sein. Vielleicht hatte sich infolge dieser Zeitungsgeschichte tatsächlich alles in ihrem Kopf zu einem Knäuel zusammengeballt. Die Zeitungsente war allerdings unmißverständlich – und nicht weniger verfänglich. Sie mußte die arme Dame sehr empfindlich kränken, doch zum Glück war Frau Chochlakoff an diesem Tage nicht fähig, nur an eine Sache zu denken, und so konnte sie bereits nach einer Minute die Zeitung mit allen Klatschereien vergessen und sich mit anderem beschäftigen. Aljoscha wußte, daß man in ganz Rußland über den berühmten Karamasoffschen Prozeß sprach, und er hatte in diesen zwei Monaten unter anderen richtigen Nachrichten auch ganz unglaubliche Lügengeschichten gelesen, sowohl über die Karamasoffs im allgemeinen, wie auch speziell über sich. Z. B. hatte es an einer Stelle geheißen, daß er, Aljoscha, aus Angst, nach dem Verbrechen des Bruders Einsiedler geworden sei und sich als Trappist von der Welt abgeschlossen habe; in einem anderen Blatt war diese Nachricht in Abrede gestellt und geschrieben worden, er habe zusammen mit seinem Staretz Sossima die Klosterkasse aufgebrochen und bestohlen und sei dann entflohen. Die jetzt erwähnte Nachricht in den „Gerüchten“ war wie gewöhnlich betitelt: „Aus Skotoprigonjewsk[26] (so heißt nämlich unser Städtchen – leider! Ich habe seinen Namen lange genug verheimlicht). Zum Prozeß Karamasoff. Es war nur eine kürzere Nachricht, und über Frau Chochlakoff war direkt nichts gesagt – überhaupt waren keine Namen genannt. Es wurde mitgeteilt, daß der Vatermörder, den man jetzt unter allgemeinem Aufsehen zu richten sich anschicke, Hauptmann a. D. dieses und dieses Linienregiments, in seinem faulen Leben nichts anderes getan habe – abgesehen davon, daß er schon von Natur ein Verbrecher sei und für die Leibeigenschaft eintrete –, als daß er seine Zeit mit Liebeleien verbracht. Besonders aber hätte er „Damen, die sich in der Einsamkeit langweilten“, gefesselt. Nun hätte sich eine von ihnen, „eine von den sich langweilenden Witwen“, die sich jünger machte, obgleich sie bereits Mutter einer erwachsenen Tochter war, dermaßen in ihn verliebt, daß sie ihm noch zwei Stunden vor dem Verbrechen dreitausend Rubel angeboten hätte, allerdings unter der Bedingung, daß er mit ihr nach Sibirien entfliehe, um dort in den Goldgruben Geld zu suchen. Der Bösewicht aber, so hieß es weiter, habe vorgezogen, seinen Vater zu erschlagen und ihn um genau dreitausend Rubel zu berauben, in der Hoffnung, ungestraft zu entkommen und nicht mit den „vierzigjährigen Reizen“ seiner gelangweilten Witwe nach Sibirien ziehen zu müssen. Diese in scherzhaftem Ton gehaltene Korrespondenz schloß, wie es sich gehört, mit Äußerungen edlen Unwillens über die Unsittlichkeit des Vatermordes und der Leibeigenschaft. Nachdem Aljoscha alles interessiert gelesen hatte, faltete er das Blatt zusammen und gab es Frau Chochlakoff zurück.

„Das bin doch ich!“ rief sie sofort ganz verzweifelt aus. „Ich, ich habe ihm doch kaum eine Stunde vor dem Morde gesagt, er solle in die Goldgruben fahren, – und jetzt schreiben sie plötzlich ‚vierzigjährige Reize‘! Habe ich es denn deswegen getan? Das ist absichtlich so geschrieben! Möge ihm der ewige Richter die vierzigjährigen Reize ebenso verzeihen, wie ich ihm verzeihe, aber abgesehen davon – das ist doch ... Wissen Sie auch, wer das geschrieben hat? Das ist ja Ihr Freund Rakitin!“

„Das wäre möglich,“ sagte Aljoscha, „zwar habe ich nichts davon gehört ...“

„Er ist es bestimmt, ich weiß es genau, er, er ganz allein! Ich habe ihm doch die Tür gewiesen ... Sie kennen doch schon die ganze Geschichte?“

„Ich weiß, daß Sie ihn gebeten haben, hinfort Ihr Haus nicht mehr zu betreten, weswegen aber – das habe ich ... wenigstens von Ihnen, noch nicht gehört ...“

„Aha, dann haben Sie es also von ihm gehört? Nun was, ist er sehr empört über mich?“

„Ja, aber über wen zieht er denn nicht her? Doch warum Sie ihm eigentlich verboten haben, Sie zu besuchen, das habe ich auch von ihm nicht erfahren können. Überhaupt sehe ich ihn jetzt nur sehr selten. Ich stehe mich nicht besonders mit ihm.“

„Nun, dann werde ich Ihnen alles sagen und beichten, es ist ja nichts mehr daran zu ändern ... Ich trage nämlich selbst ein wenig Schuld an der ganzen Sache. Aber nur ein wenig, ganz, ganz wenig, so daß davon vielleicht überhaupt nicht die Rede sein kann. Sehen Sie, mein Liebling“ (auf Frau Chochlakoffs Lippen erschien plötzlich ein liebes, schelmisches und doch recht rätselhaftes Lächeln), „sehen Sie, ich vermute ... Sie verzeihen mir doch, Aljoscha, ich rede jetzt mit Ihnen wie eine Mutter ... ach nein, nein, im Gegenteil, wie mit meinem Vater ... denn Mutter paßt hierbei ganz und gar nicht ... Also sagen wir, ich rede zu Ihnen, als wenn Sie der Staretz Sossima wären, und ich ihm beichtete, ja, das wäre der beste Vergleich: Ich habe Sie doch vorhin schon einen Einsiedler genannt. Nun, also dieser arme Junge, Ihr Freund Rakitin – Gott, ich kann mich wirklich kaum über ihn ärgern! Ich ärgere mich, ja, gewiß, aber im Grunde doch nicht sehr! Kurz, dieser leichtsinnige junge Mann läßt es sich plötzlich – denken Sie sich nur! – läßt es sich plötzlich, glaube ich, einfallen, sich in mich zu verlieben. Erst später, viel später bemerkte ich es, zuerst aber, also ungefähr vor einem Monat, begann er mich häufiger zu besuchen, er kam sogar fast täglich, er hatte mir auch früher schon seine Aufwartung gemacht. Ich vermutete zuerst natürlich noch nichts ... und dann kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich, und ich fing an einiges zu bemerken – zu meiner größten Verwunderung, wie Sie sich denken können. Wie Sie wissen, empfange ich seit einiger Zeit Herrn Perchotin, Pjotr Iljitsch, Sie haben ihn doch so oft hier angetroffen. Nicht wahr, er ist doch ein ernster, würdiger Mann, trotz seiner jungen Jahre? Er kommt ungefähr in drei Tagen nur einmal – und doch könnte er weit öfter kommen. Und immer ist er elegant gekleidet. Ich liebe überhaupt sehr unsere Jugend, Aljoscha, besonders, wenn es talentvolle, wohlerzogene Menschen sind, wie zum Beispiel Sie. Er aber hat, glauben Sie mir, einen fast staatsmännischen Verstand! Und wie wundervoll er spricht. Ich werde unbedingt meinen ganzen Einfluß verwenden, um ihm die Stellung zu verschaffen, die seinen Fähigkeiten zukommt. Das ist doch ein zukünftiger Diplomat! An jenem entsetzlichen Tage hat er mich so gut wie vom Tode errettet, als er in der Nacht herkam! Nun, Ihr Freund Rakitin aber kommt immer in so greulichen Stiefeln und schiebt sie dann noch obendrein so weit auf dem Teppich vor ... mit einem Wort, er begann schon einige Andeutungen zu machen, und einmal drückte er mir beim Abschied ganz unglaublich fest die Hand. Kaum aber hatte er mir so schmerzhaft die Hand gepreßt, als mein Fuß krank wurde. Rakitin hatte auch früher schon Pjotr Iljitsch bei mir angetroffen, und glauben Sie mir, immer gingen sie wie die Kampfhähne aufeinander los, immer versuchte Rakitin, ihn irgendwie anzugreifen. Ich betrachtete sie dann nur stillschweigend und dachte mir mein Teil. Und da, eines schönen Tages saß ich allein, das heißt ich lag damals hier auf der Couchette, und plötzlich wird mir Michail Iwanowitsch Rakitin gemeldet. Er kommt, und stellen Sie sich so etwas vor – er überreicht mir ein Gedicht, das er auf meinen kranken Fuß gemacht hat, er hat das ‚kranke Füßchen‘ in Versen besungen! Warten Sie, wie war es doch:

‚Ach, wie ist doch dieses Füßchen,

Das jetzt krank sein soll, entzückend ...‘

oder so ähnlich, ich kann alles eher, als Verse behalten. Ich habe das Gedicht hier irgendwo, ich werde es Ihnen später zeigen. Und wissen Sie, es war darin nicht nur vom Füßchen die Rede, sondern es handelte sich um eine belehrende Idee, nur habe ich vergessen, um welch eine eigentlich. Nun, ich lobte natürlich das Gedicht, und er war offenbar sehr geschmeichelt. Da aber erscheint plötzlich Pjotr Iljitsch, und Michail Iwanowitsch wird finster wie die Nacht. Ich bemerkte sofort, daß er ihm sehr ungelegen kam, da er wahrscheinlich nach dem Gedicht noch anderes hatte sagen wollen. Und da nahm ich denn das Gedicht und zeigte es Pjotr Iljitsch, ohne zu sagen, wer es verfaßt hatte. Ich bin aber überzeugt, überzeugt sage ich Ihnen, daß er sofort erriet, wer der Dichter war, obgleich er auch jetzt noch immer sagt, er hätte es nicht erraten, – aber das tut er ja absichtlich. Nun, Pjotr Iljitsch lachte sofort hell auf und dann begann er zu kritisieren: ganz erbärmliche Verschen wären das, sagte er, die kann höchstens ein Seminarist verbrochen haben, und, wissen Sie, er sagte es mit so einer Sicherheit – und so überlegen urteilte er! Da aber geriet Ihr Freund, anstatt gleichfalls zu lachen, geradezu außer sich. Gott, ich glaubte schon, sie würden handgemein werden. ‚Ich habe dieses Gedicht verfaßt,‘ sagte er plötzlich. ‚Ich habe es nur zum Scherz geschrieben,‘ sagt er, ‚denn im allgemeinen halte ich es für eine Unwürdigkeit, Gedichte zu schreiben ... Nur ist mein Gedicht gut. Ihrem Puschkin will man für seine Gedichte über die Frauenfüßchen ein Denkmal errichten, mein Gedicht drückt aber noch eine besondere Idee aus. Im übrigen,‘ sagt er, ‚sind Sie ja schließlich doch nur ein Anhänger der konservativen Partei, der gegen die Aufhebung der Leibeigenschaft ist. Sie,‘ sagte er, ‚wissen überhaupt nichts von Humanität, von den zeitgenössischen Gefühlen fühlen Sie überhaupt nichts, die menschliche Entwicklung hat Sie überhaupt noch nicht berührt, Sie sind nur ein höherer Beamter, der Schmiergelder nimmt!‘ Da aber unterbrach ich ihn, das war zuviel! Pjotr Iljitsch aber blieb ganz ruhig und kühl: er blickte ihn nur spöttisch an, hörte ihm gleichmütig zu und machte dann seine Entschuldigung. ‚Ich wußte nicht, daß Sie der Verfasser sind,‘ sagte er. ‚Wenn ich es gewußt hätte, so hätte ich das Gedicht gelobt und nicht getadelt ... Die Dichter,‘ sagte er, ‚sind heutzutage alle sehr empfindlich ...‘ Kurz, eine Menge ähnlicher spöttischer Bemerkungen unter dem Anschein der höflichsten Entschuldigungen. Er hat mir später selbst erklärt, daß es Spötteleien waren, zuerst glaubte ich, er meinte es wirklich ernst damit. Ich lag hier, wie ich auch jetzt hier liege, und dachte so bei mir: was soll ich tun, soll ich nun Michail Iwanowitsch die Tür weisen dafür, daß er in meinem Hause so meine Gäste zu beleidigen wagt? Und, glauben Sie mir, ich lag, ich bedeckte die Augen mit der Hand und dachte bei mir: Soll ich es tun oder soll ich es nicht tun? Und ich konnte mich nicht entscheiden, und ich quälte mich, und das Herz klopfte: Soll ich oder soll ich nicht? Die eine Stimme sagte ja, die andere nein. Kaum aber hatte die Stimme nein gesagt – da tat ich es. Und gleich darauf fiel ich in Ohnmacht. Nun, da gab es dann natürlich eine große Aufregung. Darauf erhob ich mich und sagte Michail Iwanowitsch, es täte mir leid, ihm sagen zu müssen, daß ich ihn nicht mehr in meinem Hause empfangen könne. Und das war alles. Ach, Alexei Fedorowitsch, ich weiß ja selbst, daß es nicht gut von mir war, daß es eine erlogene Handlung von mir war, ich ärgerte mich ja gar nicht über ihn, aber es hatte mir plötzlich geschienen – daß es so plötzlich kam, war ja das ganze Verhängnis – es hatte mir geschienen, daß es sich sehr schön machen würde, wenn ich es sagte ... Nur glauben Sie mir, diese Szene war wirklich aufrichtig von mir, ich weinte sogar, und später habe ich noch tagelang darüber geweint ... Nur weiß ich nicht mehr, wie ich eines schönen Tages nach dem Essen plötzlich den ganzen Vorfall vergaß. Und da stellte er denn seine Besuche ein, seit zwei Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen, und so habe ich mich schon gefragt: Sollte er denn wirklich überhaupt nicht mehr kommen? Das war noch gestern. Und da erhalte ich plötzlich abends die ‚Gerüchte‘. Ich las sie und schlug die Hände zusammen! Wer soll denn das geschrieben haben, wenn nicht er? Er ist von mir nach Haus gegangen, hat sich hingesetzt und geschrieben, abgeschickt, und nun haben wir es hier gedruckt! Das war ja doch vor zwei Wochen! Ach, Aljoscha, es ist schrecklich, was ich rede! Und immer gar nicht davon, wovon ich eigentlich reden will! Es spricht sich ganz von selbst.“

„Ich habe heute leider sehr wenig Zeit, ich muß mich beeilen, um noch rechtzeitig zu meinem Bruder ins Gefängnis zu kommen,“ stotterte Aljoscha und machte gleichzeitig den Versuch, sich von der lebhaften Dame zu verabschieden, doch wurde er sofort von ihr unterbrochen.

„Da ist es ja! Gott sei Dank, Sie haben mich daran erinnert! Hören Sie, was ist das, ein Affekt?“

„Was für ein Affekt?“ fragte Aljoscha verwundert.

„Ein gerichtlicher Affekt. Das ist so ein Affekt, ich verstehe es selbst nicht zu erklären, aber jedenfalls wird einem dann alles verziehen. Was Sie auch verbrochen hätten – Ihnen wird sofort alles verziehen.“

„Ich verstehe nicht recht, was Sie meinen.“

„Hören Sie, hören Sie: Diese Katjä ... Ach, sie ist ein so liebes, liebes Geschöpf, nur kann ich auf keine Weise herausbekommen, in wen sie nun eigentlich verliebt ist! Vor kurzem saß sie noch bei mir, ich konnte aber nichts erraten. Um so weniger, als sie jetzt selbst anfängt mit mir so oberflächlich zu reden, sie interessiert sich jetzt scheinbar nur noch für meine Gesundheit und sonst für nichts, und so hat sie jetzt auch diesen Ton angenommen. Ich habe mir schon gesagt: Nun, Gott mit ihr, mag sie doch ... Ach ja, richtig, also der Affekt: Dieser Doktor ist jetzt angekommen ... Wissen Sie, daß er schon angekommen ist? Ach, nun, wie sollten Sie es denn nicht wissen, der die Verrückten durchschaut, Sie haben ihn doch selbst hergerufen, das heißt, nein, nicht Sie, sondern Katjä. Immer Katjä! Nun, das ist einfach so: Es sitzt ein ganz gesunder Mensch, der nicht ein bißchen verrückt ist, und plötzlich hat er einen Affekt. Er weiß sehr wohl, was er tut, er ist vollkommen bei Sinnen, doch trotzdem ist er im Affekt. Nun, so ist denn auch Ihr Bruder bestimmt im Affekt gewesen. Das hat man jetzt, vor kurzem, als die neuen Gerichte eingeführt wurden, sofort entdeckt. Das ist wiederum eine Wohltat der neuen Gerichte. Dieser Doktor war auch bei mir, um von mir zu erfahren, wie Ihr Bruder damals, kurz vor dem Morde, an jenem Abend, sich bei mir aufgeführt habe? Wie soll er denn nicht im Affekt gewesen sein? Er kommt herein und schreit: Geben Sie mir Geld, dreitausend Rubel, sofort, – und dann läuft er hinaus und erschlägt den Vater. Ich will nicht, sagt er womöglich noch, ich will nicht erschlagen, doch da ist es schon gegen seinen Willen geschehen. Deswegen wird man ihn jetzt auch freisprechen, weil er im Affekt, sozusagen gegen seinen Willen, erschlagen hat.“

„Aber er hat ja gar nicht den Vater erschlagen,“ unterbrach sie Aljoscha etwas scharf. Unruhe und Ungeduld erfaßten ihn immer mehr.

„Ich weiß, ich weiß, Grigorij hat Ihren Vater erschlagen ...“

„Was, Grigorij? Wieso?“ rief Aljoscha aufs äußerste erregt.

„Selbstverständlich, wer denn sonst? Nachdem ihn Ihr Bruder mit dem Keulenschlage zu Boden gestreckt hatte, lag er bewußtlos am Zaun, dann aber stand er auf, sah, daß die Tür offen war, ging hin und erschlug Ihren Vater.“

„Aber warum, warum?“

„Ganz einfach, weil er einen Affekt hatte. Nach dem Schlage erwachte er, bekam einen Affekt, ging hin und erschlug. Und was das betrifft, daß er diese Tat leugnet, so ist es doch sehr leicht möglich, daß er sich ihrer gar nicht mehr erinnert. Nur sehen Sie: Es wäre viel besser, wenn Dmitrij Fedorowitsch es getan hätte. Und er hat es ja auch getan, ganz abgesehen davon, daß ich sage, Grigorij hätte es getan. Aber es ist ja bestimmt Dmitrij Fedorowitsch gewesen, und das ist auch viel, viel besser! Ach, nicht deswegen besser, weil der Sohn dann den Vater erschlagen hat, das meine ich nicht, Kinder müssen, im Gegenteil, ihre Eltern immer achten, – nur wäre es trotzdem besser, wenn er es getan hätte. Dann haben Sie doch gar keinen Grund mehr, zu weinen, da er doch, ohne zu wissen, was er tat, den Vater erschlagen hat, oder richtiger, er wußte alles, was er tat, wußte aber nur nicht, was mit ihm selbst geschah. Nein, möge man ihn lieber auf Grund des Affektes freisprechen. Das wäre so human, und zudem würde man endlich einmal die Wohltat des neuen Gerichtes einsehen. Denken Sie nur, ich wußte bis jetzt noch nichts davon, als ich aber gestern davon erfuhr, traf es mich dermaßen, daß ich sofort zu Ihnen schicken wollte, um Sie herzubitten. Und dann, wenn er freigesprochen ist, werde ich ihn unverzüglich zu mir zum Diner einladen – ihn und alle meine Bekannten. Dann können wir auf das Wohl der neuen Gerichte trinken. Ich glaube nicht, daß er gefährlich sein wird, und zudem kann ich ja so viel Gäste einladen, daß man ihn im äußersten Fall bändigen könnte. Und dann könnte er in einer kleinen Stadt Friedensrichter werden oder so etwas Ähnliches, denn wer selbst vor Gericht gewesen ist, der kann am besten andere richten. Sagen Sie doch, bitte, wer ist denn jetzt in unserer Zeit nicht im Affekt? Wir sind es doch alle, ohne Ausnahme: Sie, ich, alle, alle, und wieviel andere Beispiele! Da sitzt zum Beispiel ein Mensch, singt eine Romanze, plötzlich gefällt ihm irgend etwas nicht, er nimmt eine Pistole und erschießt den ersten besten, und darauf wird er freigesprochen, und alle verzeihen ihm. Ich habe das vor kurzem gelesen. Und denken Sie, alle Doktoren geben ihm recht. Die Doktoren sprechen jetzt einen jeden frei, einen jeden. Aber ich bitte Sie, selbst Lise ist bei mir im Affekt, noch gestern habe ich ihretwegen geweint, vorgestern gleichfalls. Erst heute erriet ich, daß es bei ihr einfach ein Affekt ist. Ach, Lise machte mir soviel Sorgen! Ich glaube, sie ist ganz von Sinnen. Warum hat sie Sie hergerufen? Sie hat es doch getan, oder sind Sie von selbst zu ihr gekommen?“

„Ja, sie hat mich gerufen, und ich werde jetzt zu ihr gehen,“ sagte Aljoscha, der sich entschlossen erhob.

„Ach, lieber, lieber Alexei Fedorowitsch, das ist ja vielleicht gerade die Hauptsache!“ rief sofort Frau Chochlakoff mit Tränen in den Augen. „Gott ist mein Zeuge, daß ich Ihnen Lise von ganzem Herzen anvertraue, und es hat ja auch schließlich weiter nichts zu sagen, daß sie Sie heimlich hinter meinem Rücken zu sich ruft. Aber Iwan Fedorowitsch, Ihrem Bruder, – verzeihen Sie, daß ich es so offen sage –, nein, dem kann ich meine Tochter nicht so leichten Herzens anvertrauen, wenn ich ihn auch nach wie vor für den ritterlichsten jungen Mann halte. Und denken Sie sich nur, jetzt ist er plötzlich bei Lise gewesen, und ich habe nichts davon gewußt!“

„Wie? Was? Wann?“ fragte Aljoscha äußerst erstaunt. Er setzte sich nicht wieder hin, sondern hörte stehend zu.

„Ich werde Ihnen sofort alles erzählen, habe ich Sie doch vielleicht nur deswegen herrufen lassen, denn ich weiß wirklich nicht mehr, warum ich es eigentlich tat. Also hören Sie: Iwan Fedorowitsch ist nach seiner Rückkehr aus Moskau im ganzen nur zweimal bei mir gewesen, daß erstemal, um als Bekannter seine Visite zu machen, und das zweitemal, das war vor nicht langer Zeit, da hatte er erfahren, daß Katjä bei mir war, und so trat er denn auf einen Augenblick ein. Ich habe natürlich keine Ansprüche darauf, daß er mich oft besuche, da ich ja weiß, wieviel Scherereien er auch ohnedem schon hat, vous comprenez – toute cette affaire et la mort terrible de votre papa. Und da erfahre ich nun plötzlich, daß er wieder hier gewesen sei, nur nicht etwa bei mir, sondern bei Lise! Das war vor ungefähr sechs Tagen. Er war gekommen, hatte fünf Minuten bei ihr gesessen und war dann wieder gegangen. Ich aber erfuhr das erst nach ganzen drei Tagen durch Glafira, so daß es mich sofort stutzig machte. Ich rief Lise unverzüglich zu mir, sie aber lachte nur: er glaubte, sagte sie, daß Sie schliefen, und sprach bei mir vor, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen. So war es natürlich auch gewesen. Nur Lise, Lise, o Gott, was sie mir für Sorgen macht! Stellen Sie sich vor, plötzlich hat sie in einer Nacht – das war vor ungefähr vier Tagen, gleich nachdem, als Sie das letztemal hier waren und fortgingen – plötzlich hat sie in der Nacht einen Anfall! Warum habe ich nie solche Anfälle? Darauf hat sie noch am zweiten und dann noch am dritten Tage Anfälle, und dann – gestern war’s – plötzlich dieser Affekt! Mit einemmal schreit sie: ‚Ich hasse Iwan Fedorowitsch, ich verlange von Ihnen, daß Sie ihn überhaupt nicht mehr empfangen, daß Sie ihm verbieten, uns zu besuchen!‘ Ich war einfach starr. Und so plötzlich! Ich sagte ihr nur: Warum sollte ich denn einen so prächtigen jungen Mann nicht empfangen, der außerdem von so fabelhafter Intelligenz ist und nun noch so viel Unglück zu ertragen hat, denn alle diese Geschichten – die sind doch Unglück, aber kein Glück, nicht wahr? Und denken Sie sich, Sie lacht mir daraufhin ganz unverhohlen ins Gesicht und lacht dazu noch so, wissen Sie, so kränkend! Nun, ich sagte mir, du kannst froh sein, daß du sie wenigstens erheitert hast, jetzt werden die Anfälle vergehen, um so mehr, als ich selbst bereits beabsichtigte, Iwan Fedorowitsch wegen seiner sonderbaren Visiten bei meiner Tochter, ohne meine Erlaubnis, zur Rede zu stellen. Heute morgen erwacht Lise, ärgert sich wegen irgendeiner Kleinigkeit über Julija und schlägt sie mit der Hand ins Gesicht. Denken Sie sich – sie gibt ihr eine Ohrfeige! Das ist doch monströs! Aber hören Sie weiter. Plötzlich, nach einer Stunde, umarmt sie Julija, fällt vor ihr nieder und küßt ihr die Füße! Mir aber läßt sie sagen, daß sie überhaupt nicht mehr zu mir kommen werde, daß sie hinfort nie mehr zu mir kommen wolle. Und als ich mich selbst, so gut ich konnte, zu ihr hinbegab, da stürzte sie mir entgegen und bedeckte mich mit Küssen, und küssend drängte sie mich immer weiter zurück, so daß ich schließlich durch die Tür wieder hinaus mußte, aber sie sagte dabei kein Wort, und so war ich denn nicht klüger als zuvor. Jetzt habe ich, lieber Alexei Fedorowitsch, meine ganze Hoffnung auf Sie gesetzt. Das Glück meines ganzen Lebens ist in Ihren Händen. Ich bitte Sie ganz offen, zu Lise zu gehen. Versuchen Sie, etwas von ihr zu erfahren, so wie nur Sie allein das verstehen, und dann kommen Sie her und sagen Sie es mir, mir, der Mutter, denn Sie begreifen doch, daß ich sonst sterbe, einfach sterben muß, wenn sich das noch fortsetzt. Oder ich werde aus dem Hause laufen. Ich kann das nicht mehr ertragen. Ich habe gewiß Geduld, aber ich kann sie doch auch einmal verlieren, und dann ... was wird dann sein? Entsetzlich! Ach, mein Gott, endlich, Pjotr Iljitsch!“ rief plötzlich strahlend Frau Chochlakoff, als sie Perchotin, der sofort nach dem Diener eintrat, erblickte. „Wie Sie sich aber verspätet haben! Nun, setzen Sie sich, bitte, sagen Sie, erlösen Sie mich, nun, wie steht es mit diesem Advokaten? Wohin, wohin gehen Sie, Alexei Fedorowitsch?“

„Ich will zu Lise ...“

„Ach ja! richtig! Aber vergessen Sie nicht, vergessen Sie nicht, um was ich Sie gebeten habe! Hier handelt es sich doch um mein ganzes Leben!“

„Ich werde es nicht vergessen, wenn es nur angeht ... ich habe mich schon so verspätet,“ stotterte Aljoscha, der eiligst verschwinden wollte.

„Nein, bestimmt, bestimmt! Nicht ‚wenn es angeht‘, sonst sterbe ich!“ rief ihm Frau Chochlakoff nach, doch Aljoscha schloß bereits die Tür.

III.
Das Teufelchen

Als er bei Lisa eintrat, fand er sie halb liegend in dem Rollstuhl, in dem man sie früher, als sie noch nicht wieder gehen konnte, gefahren hatte. Sie rührte sich nicht, um ihm entgegenzutreten, aber ihr durchdringender, gleichsam scharf und spitz gewordener Blick schien ihn durchbohren zu wollen. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, und ihr Gesicht war bleich. Aljoscha wunderte sich darüber, daß sie sich in drei Tagen dermaßen verändert hatte, sie schien geradezu abgemagert zu sein. Sie reichte ihm nicht die Hand. Da trat er zu ihr und berührte selbst ihre schmalen langen Fingerchen, die regungslos auf ihrem Kleide lagen, und setzte sich dann schweigend ihr gegenüber.

„Ich weiß, daß Sie keine Zeit haben, Sie wollen ins Gefängnis zu Ihrem Bruder gehen,“ sagte Lisa scharf, „Mama aber hat Sie zwei Stunden lang aufgehalten und Ihnen von mir und Julija erzählt.“

„Woher wissen Sie das?“ fragte Aljoscha.

„Ich habe gehorcht. Warum sehen Sie mich so an? Ich will horchen, und ich horche, und es ist nichts Schlechtes dabei. Ich will mich durchaus nicht entschuldigen.“

„Sie scheinen durch etwas mißgestimmt zu sein.“

„Im Gegenteil, ich bin sehr froh. Ich habe soeben noch zum dreißigstenmal darüber nachgedacht, wie gut es ist, daß ich Ihnen abgesagt habe und nicht Ihre Frau werde. Sie taugen nicht zum Ehemann. Sie würden, wenn ich Sie heiratete, alles tun, was ich Ihnen sage. Wenn ich Ihnen dann einen Zettel gebe, um ihn dem zu überbringen, in den ich mich nach Ihnen verliebt habe, so würden Sie bestimmt hingehen und ihm den Zettel abgeben und mir womöglich noch die Antwort überbringen. Sie werden vierzig Jahre alt werden und immer noch so meine Liebesbriefe überbringen.“

Sie lachte plötzlich auf.

„In Ihnen ist heute etwas Boshaftes und zugleich doch auch Aufrichtiges,“ sagte Aljoscha, und lächelte ihr zu.

„Das Aufrichtige ist, daß ich mich nicht vor Ihnen schäme. Und nicht nur das, ich will mich nicht einmal vor Ihnen schämen, gerade vor Ihnen nicht. Aljoscha, sagen Sie, warum achte ich Sie nicht? Ich liebe Sie sehr, aber ich kann Sie nicht achten. Wenn ich Sie achtete, so würde ich doch nicht so ohne Scham mit Ihnen reden, das ist doch so?“

„Ja, das wäre so.“

„Aber glauben Sie auch, daß ich mich nicht vor Ihnen schäme?“

„Nein, das glaube ich nicht.“

Lisa lachte wieder nervös auf. Sie sprach schnell und sich überhastend.

„Ich habe Ihrem Bruder Dmitrij Fedorowitsch Konfekt ins Gefängnis geschickt. Aljoscha, wissen Sie auch, wie reizend Sie sind? Ich werde Sie schrecklich lieben, und zwar deswegen, weil Sie mir so schnell erlaubt haben, Sie nicht zu lieben.“

„Warum haben Sie mich heute zu sich gerufen, Lise?“

„Ich wollte Ihnen nur einen meiner Wünsche mitteilen, den ich jetzt beständig habe. Ich will, daß mich jemand foltere, mich heiratete und dann folterte, betröge, mich verließe und fortginge. Ich will nicht glücklich sein!“

„Sie haben die Unordnung lieb gewonnen?“

„Ach ja, ich will vor allem Unordnung! Ich will immer unser Haus anzünden. Ich stelle mir alles ganz genau vor: wie ich so heranschleiche und heimlich anzünde, unbedingt heimlich, das ist sogar die Hauptsache. Und alle kommen und löschen, das Haus aber brennt. Und ich weiß es, doch ich schweige. Ach, Dummheiten! Und wie langweilig es ist!“

Sie machte eine Handbewegung, als wenn es sie anekelte.

„Sie leben im Überfluß,“ sagte Aljoscha leise.

„Ist denn in Armut zu leben, etwa besser?“

„Ja.“

„Das hat Ihnen Ihr verstorbener Staretz in den Kopf gesetzt. Es ist aber nicht wahr. Nun gut, dann bin ich reich, und alle anderen sind arm; ich werde Schokolade und Marzipan essen und Sahne trinken, den anderen aber nichts davon geben. Ach, sprechen Sie nicht, sagen Sie nichts“ (sie winkte ihm heftig mit der Hand ab, obgleich Aljoscha nicht einmal den Mund aufgetan hatte), „Sie haben mir das alles schon früher gesagt, ich kann es ja schon auswendig. Langweilig ist es. Wenn ich arm wäre, so würde ich jemanden totschlagen, – aber auch wenn ich reich bin, werde ich jemanden totschlagen – wozu so stillsitzen! Wissen Sie, ich will Korn schneiden, Roggen will ich schneiden. Ich werde Sie heiraten, und Sie werden Bauer werden, ein richtiger, echter Landbauer; dann kaufen wir uns ein kleines Pferdchen, wollen Sie? Kennen Sie Petruscha Kalganoff?“

„Ja.“

„Er geht die ganze Zeit umher und träumt. Er sagt, warum soll man in der Wirklichkeit leben, besser ist träumen. Vorträumen kann man sich das Schönste, leben aber ist langweilig. Er wird bald heiraten, er hat auch mir seine Liebe gestanden. Verstehen Sie, Kreisel zu treiben?“

„Ja, ich glaube.“

„Sehen Sie, er ist ganz wie ein Kreisel: man stellt ihn hin, wickelt das Peitschenende ums Füßchen, zieht dann die Geschichte los, und er dreht sich, dreht sich, und man peitscht, peitscht, peitscht, damit er sich immer weiter drehe. Ich werde ihn heiraten und ihn das ganze Leben lang so treiben wie Kinder ihren Kreisel. Geniert es Sie nicht, bei mir zu sitzen?“

„Nein.“

„Es ärgert Sie schrecklich, daß ich nicht von Heiligem mit Ihnen spreche. Ich will nicht heilig sein. Sagen Sie, was geschieht mit einem in jener anderen Welt, was wird dort für die ärgste Sünde mit uns getan? Das müssen Sie doch ganz genau wissen.“

„Gott richtet,“ sagte Aljoscha, der sie aufmerksam beobachtete.

„Das ist gut, so will ich es auch haben. Ich würde hinkommen, und sie alle würden mich dort verurteilen, und ich würde ihnen dann ins Gesicht lachen. Ich will schrecklich gern etwas anzünden, Aljoscha, am liebsten unser Haus, – Sie glauben es mir nicht?“

„Warum nicht? Es gibt sogar kleine Kinder, die noch nicht einmal zwölf Jahre alt sind und doch denselben Wunsch haben. Und schließlich zünden sie auch tatsächlich etwas an. Es ist eine Art Krankheit.“

„Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, mögen das Kinder tun, davon rede ich nicht.“

„Sie halten das Böse für gut. Das ist nur eine vorübergehende Krise, an der vielleicht Ihre frühere Krankheit schuld ist.“

„Aha, Sie verachten mich also! Nein, ich will einfach nichts Gutes tun, ich will nur Böses tun, und von Krankheit ist hier keine Spur.“

„Warum wollen Sie denn Böses tun?“

„Einfach damit nichts mehr übrigbleibt. Ach, wie schön das wäre, wenn nichts mehr übrig bliebe! Wissen Sie, Aljoscha, ich nehme mir zuweilen vor, schrecklich viel Böses zu tun und alles, was es nur Schlechtes gibt, und ich werde es lange, lange ganz heimlich tun, und dann plötzlich werden es alle erfahren. Alle werden sie mich umringen und mit den Fingern auf mich weisen, ich aber werde sie alle ansehen. Das ist sehr angenehm. Warum ist das so angenehm, Aljoscha?“

„So. Das Bedürfnis etwas Gutes zu vernichten oder auch, wie Sie sagen, etwas anzuzünden. Das kommt gleichfalls vor.“

„Aber ich habe es doch nicht nur gesagt, ich werde es doch auch tun.“

„Das will ich glauben.“

„Ach, wie ich Sie dafür liebe, daß Sie gesagt haben: Das will ich glauben. Und Sie lügen ja dabei nicht einmal! Vielleicht aber glauben Sie, daß ich es Ihnen absichtlich nur so sage, um Sie zu necken?“

„Nein, das glaube ich nicht ... übrigens ist vielleicht auch dieses Bedürfnis mit im Spiel.“

„Ein wenig, ja. Ich werde Sie nie belügen,“ sagte sie plötzlich, und in ihren Augen begann ein arges, kleines Feuer zu glühen.

Was Aljoscha am meisten stutzig machte, das war ihr Ernst: nicht einmal ein Schatten von Spott oder Scherz war auf ihrem Gesicht zu sehen, was früher selbst in den „ernstesten“ Minuten nie der Fall gewesen war.

„Es gibt Augenblicke, in denen die Menschen das Verbrechen geradezu lieben,“ sagte Aljoscha, in Gedanken versunken.

„Ja, ja! Sie haben meinen Gedanken ausgedrückt, ich wollte das selbst sagen. Alle lieben es, und immer lieben sie es, immer, nicht nur in ‚Augenblicken‘. Wissen Sie, es ist, als ob sich alle einmal verabredet hätten, in diesen Dingen immer zu lügen, und seit der Zeit lügen sie auch wirklich alle. Alle sagen, sie haßten das Schlechte, im geheimen aber lieben sie es doch alle, alle!“

„Lesen Sie immer noch schlechte Bücher?“

„Ja, ich lese sie immer noch. Mama liest sie und steckt sie unters Kissen, und ich stibitze sie dann und schleppe sie zu mir.“

„Schämen Sie sich denn nicht, sich so zu verderben?“

„Ich will mich verderben. Hier gibt es einen kleinen Knaben, der zwischen den Schienen gelegen hat, während der Zug über ihn hinwegfuhr. Der Glückliche! Wissen Sie, Ihren Bruder wird man deswegen verurteilen, weil er den Vater erschlagen hat, bei sich aber finden das alle sehr gut, und es gefällt ihnen sehr.“

„Es gefällt ihnen, daß er den Vater erschlagen hat?“

„Ja, das gefällt ihnen, allen, allen! Alle sagen, daß das schrecklich sei, im geheimen aber gefällt es ihnen furchtbar. Ich bin die erste, der es gefällt.“

„In Ihren Worten liegt etwas Wahres,“ sagte Aljoscha halblaut vor sich hin.

„Ach, was Sie für Gedanken haben!“ rief Lisa ganz begeistert. „Aber Sie sind doch Mönch! Sie glauben mir nicht, wie ich Sie dafür achte, daß Sie niemals lügen. Ach, ich werde Ihnen einen lächerlichen Traum erzählen, den ich gehabt habe: mir träumt zuweilen von Teufeln; es ist, als wäre es Nacht, ich sitze allein in meinem Zimmer, auf dem Tisch brennt ein Licht. Und plötzlich sind überall Teufel, in allen Ecken und unter dem Tisch, unter den Stühlen, und sie machen sogar die Tür auf, und dort hinter der Tür ist ihrer eine ganze Schar, und sie wollen alle hereinkommen und mich ergreifen. Und schon kommen sie näher, schon fassen sie mich an – da aber bekreuze ich mich schnell, und sie weichen alle zurück, sie fürchten sich, nur gehen sie doch nicht ganz fort, sie bleiben hinter der Tür, in den Ecken, sie warten. Und plötzlich überkommt mich die Lust, laut über Gott zu spotten, und so fange ich denn an Gott zu verspotten, und da kommen sie denn wieder in hellen Haufen auf mich zu, sie freuen sich so darüber, und da fassen sie mich auch schon wieder an – ich aber bekreuze mich schnell, und da huschen sie denn wieder alle flugs zurück. Ach, so lustig ist das, der Atem bleibt einem stehen!“

„Auch ich habe zuweilen denselben Traum,“ sagte plötzlich Aljoscha.

„Ist’s möglich?“ fragte Lisa erstaunt. „Hören Sie, Aljoscha, lachen Sie nicht, das ist sehr ernst: können denn zwei verschiedene Menschen ein und denselben Traum haben?“

„Warum denn nicht?“

„Aljoscha, ich sage Ihnen, das ist furchtbar wichtig!“ Lisa war ganz unverhältnismäßig erregt und betroffen. „Nicht der Traum ist wichtig, sondern das, daß zwei verschiedene Menschen ein und denselben Traum gehabt haben. Sie sagen mir doch nie die Unwahrheit, bitte, lügen Sie auch jetzt nicht: Ist das wirklich wahr? Sie machen sich doch nicht über mich lustig?“

„Es ist vollkommen wahr, was ich Ihnen gesagt habe.“

Lisa war ganz betroffen und verstummte auf eine Weile.

„Aljoscha, kommen Sie öfter zu mir!“ sagte sie plötzlich geradezu flehend.

„Ich werde immer, mein ganzes Leben lang werde ich zu Ihnen kommen,“ antwortete Aljoscha, und seine Stimme hatte, als er sein Versprechen gab, einen festen, ernsten Klang.

„Ich kann doch nur Ihnen allein alles sagen,“ fuhr Lisa fort. „Nur mir und Ihnen sage ich alles. Von anderen Menschen nur Ihnen allein in der ganzen Welt. Und Ihnen sage ich es noch lieber als mir. Und ich schäme mich gar nicht vor Ihnen, nicht ein bißchen. Aljoscha, warum schäme ich mich nicht vor Ihnen? Aljoscha, ist es wahr, daß die Juden zu Ostern kleine Christenkinder stehlen und dann schlachten?“

„Das weiß ich nicht.“

„Ich habe hier ein Buch, darin habe ich von einer Gerichtsverhandlung gelesen: ein Jude hatte einem vierjährigen Knaben alle Fingerchen abgeschnitten, von beiden Händchen, und dann hatte er ihn gekreuzigt, einfach mit Nägeln an die Wand geschlagen. Vor Gericht aber hat er gesagt, der Knabe sei bald gestorben, ungefähr nach vier Stunden. Das ist doch sehr ‚bald‘ – nicht wahr? Er sagt noch, der Kleine habe gestöhnt, die ganze Zeit gestöhnt – er aber hat vor ihm gesessen und sich daran ergötzt. Das muß sehr schön gewesen sein.“

„Schön?“

„Ja, schön. Ich stelle mir zuweilen vor, daß ich den Kleinen so gekreuzigt hätte. Er hängt an der Wand, ich aber setze mich vor ihn hin und esse Ananaskompott. Ich esse sehr gern Ananaskompott. Sie auch?“

Aljoscha blickte sie schweigend an. Ihr bleiches Gesicht verzerrte sich plötzlich, und ihre Augen erglühten.

„Wissen Sie, als ich das von jenem Juden gelesen hatte, habe ich die ganze Nacht geweint und gezittert. Ich stellte mir vor, wie der Knabe schreit und stöhnt – vierjährige Kinder begreifen doch schon – ich aber kann den Gedanken an das Kompott nicht loswerden. Am Morgen stand ich auf und schickte einem gewissen Menschen einen Brief mit der Bitte, unbedingt zu mir zu kommen. Er kam, und ich erzählte ihm plötzlich von diesem Knaben und dem Ananaskompott, erzählte ihm alles, alles, und ich sagte ihm auch, das es ‚schön‘ sei. Da lachte er und sagte, es sei tatsächlich schön. Darauf erhob er sich und ging fort. Er hatte hier im ganzen nur fünf Minuten gesessen. Verachtete er mich, ja? Sagen Sie, sagen Sie doch, Aljoscha, verachtete er mich, oder verachtete er mich nicht?“ Sie saß steif aufgerichtet in ihrem Lehnstuhl, und ihre Augen glühten.

„Sagen Sie mir,“ fragte Aljoscha erregt, „haben Sie ihn selbst gerufen, diesen Menschen?“

„Ja, ich selbst.“

„Sie haben ihm einen Brief geschrieben?“

„Ja, einen Brief.“

„Nur um ihn das zu fragen, das von dem Kinde?“

„Nein, durchaus nicht deshalb, durchaus nicht. Als er aber eintrat, fragte ich ihn sofort, wie er das fände. Er antwortete, lachte, verbeugte sich und ging.“

„Dieser Mensch hat sich ehrenhaft Ihnen gegenüber benommen,“ sagte Aljoscha halblaut.

„Aber er hat mich verachtet? Sich über mich lustig gemacht?“

„Nein, denn er glaubt vielleicht selbst an das Ananaskompott. Er ist jetzt gleichfalls sehr krank, Lise.“

„Ja, er glaubt daran!“ Lisas Augen blitzten auf.

„Er verachtet niemanden,“ fuhr Aljoscha fort. „Nur glaubt er auch niemandem. Wem er aber nicht glaubt, den, versteht sich, den verachtet er auch.“

„Dann also auch mich? auch mich?“

„Auch Sie.“

„Das ist gut,“ sagte Lisa gleichsam knirschend. „Als er lachte und hinausging, da empfand ich zum erstenmal, daß es schön ist, verachtet zu werden. Und auch der Knabe mit den abgeschnittenen Fingern ist schön, und auch verachtet zu sein, ist schön ...“

Sie blickte Aljoscha starr in die Augen und lachte, lachte boshaft – wie in auflodernder Bosheit.

„Wissen Sie, Aljoscha, wissen Sie, ich wünschte ... Aljoscha, retten Sie mich!“ Sie sprang plötzlich auf von ihrem Rollstuhl, stürzte zu ihm und umklammerte ihn krampfhaft. „Retten Sie mich!“ entrang es sich ihr flehend und fast wie ein Gestöhn. „Kann ich denn auch nur einem einzigen Menschen in der Welt alles so sagen, wie ich es Ihnen gesagt habe? Ich habe doch die Wahrheit, die ganze, ganze Wahrheit gesagt! Ich werde mir das Leben nehmen, mich widert alles an! Ich will nicht leben, es ist alles ekelhaft! Alles, alles ist mir ekelhaft! Aljoscha, warum lieben Sie mich denn gar nicht, warum, warum lieben Sie mich nicht!“ schloß sie ganz verzweifelt.

„Doch, ich liebe dich!“ verteidigte sich Aljoscha erregt, und in seinen Worten klang ein heißer Ton.

„Werden Sie aber auch über mich weinen, werden Sie?“

„Bestimmt!“

„Ich danke Ihnen! Ich habe ja nur Ihre Tränen nötig. Die anderen alle, mögen die mich meinetwegen mit den Füßen zerstampfen, alle, alle, ohne auch nur einen einzigen Menschen auszunehmen, jawohl, alle ohne Ausnahme! Denn ich liebe niemanden. Hören Sie, nie–man–den! Im Gegenteil, ich hasse alle! Gehen Sie, Aljoscha, Sie müssen sich beeilen, zum Bruder zu kommen!“ Sie hatte sich plötzlich von ihm losgerissen.

„Aber wie werden Sie denn so zurückbleiben?“ fragte Aljoscha ganz erschrocken.

„Gehen Sie zu Ihrem Bruder, das Gefängnis wird geschlossen, gehen Sie, hier ist Ihr Hut! Küssen Sie Mitjä, gehen Sie, aber so gehen Sie doch endlich!“

Und sie schob Aljoscha beinahe mit Gewalt zur Tür hinaus. Der sah noch unentschlossen und besorgt aus, als er plötzlich fühlte, wie sie ihm ein kleines, hartes Briefchen in die Hand drückte. Unwillkürlich erhob er ein wenig die Hand und warf einen Blick auf das versiegelte Kuvert – er las: „Herrn Iwan Fedorowitsch Karamasoff.“ Aljoscha zuckte zusammen und warf einen Blick auf Lisa. Ihr Gesicht sah fast drohend aus.

„Übergeben Sie es, übergeben Sie es unbedingt!“ befahl sie außer sich, am ganzen Körper zitternd. „Tun Sie es sofort, unverzüglich! Oder ich nehme Gift! Nur deswegen habe ich Sie zu mir gerufen!“

Und heftig schlug sie die Tür zu ... nur eine kleine Spalte blieb. Aljoscha steckte den Brief in die Tasche und ging geradeswegs zur Treppe, ohne vorher noch bei Frau Chochlakoff einzutreten und sich von ihr zu verabschieden. Er hatte sie ganz vergessen. Kaum aber hatte sich Aljoscha entfernt, als Lise sofort die Tür aufriß, ihren Finger an den Türrahmen legte, die Tür wieder zuschlug und sie mit aller Gewalt gegen ihren eingeklemmten Finger preßte. Ungefähr nach zehn Sekunden vergrößerte sich die Spalte, sie zog die Hand zurück und ging langsam und leise zu ihrem Lehnstuhl, setzte sich steif aufgerichtet hin und betrachtete aufmerksam ihr blaurotes, blutunterlaufenes Fingerspitzchen und das dunkle Blut, das sie unter dem Nagel hervorgepreßt hatte. Ihre Lippen zitterten, und sie sagte leise, doch schnell vor sich hin:

„Gemein, gemein, gemein, gemein bin ich!“

IV.
Die Hymne und das Geheimnis

Es war schon sehr spät, als Aljoscha am Gefängnistor schellte. Es begann schon stark zu dunkeln – sind doch die Novembertage nicht lang. Aljoscha wußte aber, daß man ihn ungehindert zu Mitjä durchlassen werde. Vorsichtsmaßregeln werden in unserem Städtchen nicht anders als überall in der Welt beobachtet. Anfangs natürlich, als die Voruntersuchung noch nicht abgeschlossen war, da gab es noch verschiedene Schwierigkeiten zu überwinden, wenn man zu Mitjä gelangen wollte, doch mit der Zeit wurden diese Formalitäten, wenigstens für die Verwandten, bedeutend abgeschwächt, und schließlich wurden mit einigen von den Besuchern regelrechte Ausnahmen gemacht. Ja, zuweilen fanden die Zusammenkünfte in dem dazu bestimmten Zimmer so gut wie unter vier Augen statt. Übrigens wurden diese Ausnahmen doch nur mit wenigen gemacht: nur mit Gruschenka, Aljoscha und Rakitin. Gruschenka hatte das dem besonderen Wohlwollen unseres alten Polizeichefs Michail Makarowitsch zu danken. Dem Alten lagen immer noch die bösen Worte, mit denen er sie in Mokroje angeschrien hatte, auf der Seele. Später, als er den ganzen Sachverhalt erfahren hatte, änderte er seine Meinung über sie. Und sonderbar: obgleich er von Mitjäs Schuld fest überzeugt war, beurteilte er ihn, seitdem der „Verbrecher“ hinter Schloß und Riegel saß, doch viel nachsichtiger, empfand schließlich sogar fast Mitleid mit ihm. „Es war vielleicht ein herzensguter Mensch,“ meinte er, „hat sich aber durch Trunk und Ausschweifung selbst zugrunde gerichtet, ja, ja, wie’n oller Schwede bei Poltawa, jetzt ist nichts mehr zu machen!“ Was aber Aljoscha betrifft, so hatte ihn Michail Makarowitsch, der ihn schon lange kannte, aufrichtig ins Herz geschlossen, und Rakitin, der Mitjä in der Folge immer häufiger besuchte, war wiederum ein guter Bekannter von seinen Enkelinnen, die er oft besuchte; außerdem gab er im Hause des Gefängnisinspektors Privatstunden. Aljoscha war gleichfalls gut mit dem alten Inspektor bekannt, da jener gern mit ihm über „Allwissenheit im allgemeinen“ sprach. Iwan Fedorowitsch aber, oh, der! – vor dem hatte der Inspektor nicht nur unermeßlichen Respekt, vor dem fürchtete er sich geradezu, besonders was seine „philosophischen Urteile“ betraf, obwohl er selbst ein großer Philosoph war – versteht sich: „so weit der Verstand dazu ausreicht“. Für Aljoscha aber empfand er eine unbezwingliche Sympathie. Im letzten Jahre hatte sich der Alte an die apokryphen Evangelien gemacht und war dann Sonntags immer ins Kloster gegangen, um seinem jungen Freunde seine Eindrücke und Gedanken mitzuteilen. Zuweilen hatte er mit ihm und den Priestermönchen stundenlang disputiert. So hätte denn Aljoscha, wenn ihm vom Wächter der Eintritt verwehrt worden wäre, nur zum Inspektor zu gehen gebraucht, um trotz der späten Stunde noch seinen Bruder sehen zu können. Zudem hatten sich alle im Gefängnis, bis zum letzten Wächter, an ihn gewöhnt, und ein jeder von ihnen sah ihn gern. Die Wache hatte natürlich nichts dagegen, wenn er nur die Erlaubnis vom Vorgesetzten hatte. Mitjä kam, wenn er gerufen wurde, stets aus seiner Zelle in den unteren Stock, in den Raum, der für den Besuch bestimmt war. Als Aljoscha eintreten wollte, stieß er fast mit Rakitin zusammen, der Mitjä gerade verließ. Beide sprachen sie laut. Mitjä, der ihn zur Tür begleitete, lachte herzlich über irgend etwas, Rakitin aber schien etwas vor sich hin zu brummen. Es war Aljoscha besonders in der letzten Zeit aufgefallen, daß Rakitin ihn nicht gerne sah, jedenfalls vermied, mit ihm zu sprechen, und kaum seinen Gruß erwiderte. Als Rakitin jetzt plötzlich Aljoscha erblickte, runzelte er mit ganz besonders geschäftiger Miene die Stirn, blickte wie suchend zur Seite und tat, als ob er ganz mit dem Zuknöpfen seines großen Paletots, den ein warmer Pelzkragen zierte, beschäftigt wäre. Darauf machte er sich daran, seinen Schirm zu suchen.

„Wenn ich nur nichts von meinen Sachen vergesse,“ brummte er vor sich hin – einzig um etwas zu sagen.

„Gib nur acht, daß du von fremden Sachen nichts vergißt,“ witzelte Mitjä und lachte über seine Bemerkung.

Rakitin war sofort beleidigt.

„Das empfiehl lieber deinen Karamasoffs, deinen Leibeigenschaftspartisanen, aber nicht Rakitin!“ rief er aufbrausend vor Wut.

„Was fehlt dir? Ich habe doch nur gescherzt ... Pfui Teufel! So sind sie ja alle,“ sagte er darauf zu Aljoscha, indem er mit dem Kopf noch zur Seite auf Rakitin wies, der sich schnell entfernte; „er hat die ganze Zeit hier gesessen, gelacht und ist fröhlich gewesen, und dann plötzlich das reine Noli me tangere! Dir hat er nicht einmal mit dem Kopf zugenickt. Habt ihr euch beide denn ganz überworfen? Warum kommst du heute so spät? Ich habe dich vom Morgen an nicht etwa nur erwartet, ich habe mich geradezu nach dir gesehnt, wie, wie, ich weiß nicht wie! Nun, macht nichts. Wir können es ja jetzt nachholen.“

„Warum besucht er dich jetzt so oft? Hast du dich mit ihm etwa angefreundet?“ fragte Aljoscha, indem er gleichfalls mit dem Kopf auf die Tür wies, durch die Rakitin hinausgegangen war.

„Ich mich mit diesem Michail angefreundet? Nein, mein Lieber ... Dieses Schwein! Er hält mich für einen ... Schuft. Scherz verstehen diese Leute gleichfalls nicht – das ist das Charakteristischste. Niemals wird diese Sorte Menschen Scherz verstehen. Trocken sind ihre Seelen, trocken und flach und platt, ganz wie mir damals die Gefängniswände erschienen, als ich hergefahren wurde und zum erstenmal diese Mauern sah. Aber er ist nicht dumm, durchaus nicht dumm. Nun, Alexei, mein Kopf ist jetzt verloren!“

Er setzte sich auf die Bank und zog Aljoscha neben sich nieder.

„Ja, morgen wird das Urteil gesprochen. Aber hast du denn wirklich so alle Hoffnung verloren, Mitjä?“ fragte Aljoscha schüchtern und mitleidig.

„Wieso, wie meinst du das?“ Mitjä blickte ihn seltsam unbestimmt an. „Ah so, du sprichst vom Gericht! Na, zum Teufel damit! Wir haben beide bis jetzt nur über Dummheiten gesprochen, immer nur von diesem Gericht, über das Wichtigste aber habe ich geschwiegen, wenn ich mit dir zusammen war. Ja, morgen wird man über mich zu Gericht sitzen, nur habe ich nicht in der Beziehung gesagt, daß mein Kopf verloren sei. Nicht mein Kopf ist verloren, sondern das, was im Kopf war, das ist verloren. Warum siehst du mich so kritisch an?“

„Wovon redest du, Mitjä?“

„Ideen, Ideen, das ist es! Ethik! Was ist das eigentlich für ein Gewächs, die Ethik?“

„Ethik?“ fragte Aljoscha verwundert.

„Ja, das ist wohl irgendeine Wissenschaft, aber was für eine ist es nun eigentlich?“

„Ja, es gibt eine solche Wissenschaft ... nur ... ich muß gestehen, ich kann es dir nicht so ganz erklären, was für eine das ist.“

„Rakitin weiß es. Der Schuft weiß ziemlich viel ... ach nun, hol ihn der Teufel! Mönch wird er jedenfalls nicht werden. Er spitzt sich auf Petersburg. Dort, sagt er, will er Kritiken schreiben, und zwar mit einer edlen Tendenz. Nun was, meinen Segen hat er, wird vielleicht noch nützlich sein und sich eine Karriere bauen. Oh, was das Karrieremachen betrifft, darin sind diese Leute Meister! Zum Teufel mit der Ethik. Ich aber bin verloren, Alexei, ich! – begreifst du das, du Kind Gottes! Ich liebe dich am meisten von allen in der Welt. Wenn ich dich sehe, weitet sich mein Herz, begreifst du das? Was hat es dort für einen Karl Bernard gegeben?“

„Karl Bernard?“ fragte Aljoscha wiederum verwundert.

„Nein, nicht Karl, wart, wie hieß doch das Vieh? – Ach, richtig, Claude Bernard. Was ist nun das jetzt wieder? Chemie etwa, nicht?“

„Das ist wahrscheinlich ein Gelehrter,“ meinte Aljoscha, „nur muß ich wieder gestehen, daß ich dir auch von ihm nicht viel sagen kann. Ich habe nur den Namen gehört, ich weiß, daß es ein Gelehrter ist, was für einer aber, das weiß ich nicht.“

„Na, dann hol ihn der Teufel, auch ich weiß es nicht,“ schimpfte Mitjä. „Höchstwahrscheinlich ist’s irgendein Gauner und weiter nichts – wie sie es ja alle sind. Rakitin wird sich schon durchfressen. Rakitin wird selbst durch Spalten, durch die kein Floh durch kann, auch noch durchkriechen. Das ist gleichfalls so ein Bernard. Ach, diese Bernards! Weiß Gott, die vermehren sich wahrlich wie Kaninchen!“

„Aber was hast du heute?“ fragte Aljoscha ernst.

„Er will über mich, das heißt über meinen Prozeß, einen Artikel schreiben und damit in die Literatur eintreten, deswegen kommt er her, – hat es mir selbst erklärt. Das soll so eine Chose mit ’ner besonderen Tendenz werden, ungefähr: ‚Er konnte unmöglich nicht morden, die Verhältnisse seiner Umgebung zwangen ihn dazu,‘ oder so was Gutes. Und das geht so endlos weiter, er hat es mir selbst erklärt. Mit einem leisen Hauch von Sozialismus, sagt er, wird es sein. Ach, hol ihn der Teufel samt seinem ganzen leisen Hauch, mir soll’s egal sein. Iwan kann sich nicht seiner Wohlgeneigtheit erfreuen. Rakitin haßt ihn. Für dich hat er gleichfalls nichts Gutes übrig. Nun, ich jage ihn aber nicht fort, er ist trotz alledem ein gescheiter Kerl. Überhebt sich bloß unglaublich. Ich sagte ihm vorhin, als du eintratest: ‚Die Karamasoffs sind nicht Schufte, sondern Philosophen, denn alle echten Russen sind Philosophen, du aber bist, wieviel du da auch gelernt haben magst, doch kein Philosoph, sondern ein ganz gemeiner Knecht.‘ Er lachte, so gehässig, weißt du. Da sagte ich ihm: de Geschmackibus non est disputandum. Ist der Witz nicht gut? Na, wenigstens habe auch ich jetzt mal was Klassisches gesagt.“ Mitjä lachte.

„Aber sag doch, wodurch bist du denn verloren? Du sagtest es doch vorhin?“ unterbrach ihn Aljoscha.

„Wodurch verloren? Hm! Im Grunde ... wenn man so das Ganze nimmt – um Gott tut es mir leid. Sieh, dadurch bin ich verloren.“

„Wie das, warum tut es dir denn leid um ihn?“

„Nun, wart, stell dir vor: Es gibt dort in den Nerven im Kopf, das heißt dort im Gehirn, solche Nerven ... ach, nun, der Teufel hole sie! – es gibt da solche, solche Schwänzchen, nämlich an den Nerven solche Schwänzchen, nun, und sobald sie dort nur anfangen zu zappeln oder zu zippeln ... das heißt, sieh: Ich sehe zum Beispiel mit meinen Augen auf irgend etwas, sieh so, geradeaus, und sie fangen plötzlich an zu zittern, nämlich diese Schwänzchen meine ich ... wie sie aber erzittern, da erscheint denn auch der Gegenstand, das Bild, oder was es da ist, aber es erscheint nicht sofort, da vergeht noch zuerst ein Augenblick Zeit, so eine Sekunde, und dann, heißt es, tritt so ein Moment ein, das heißt, kein Moment, – der Teufel hole die Momente! – sondern ein Bild oder ein Gegenstand oder eine Handlung, – ach, nun, hol sie allesamt der Teufel! – also deswegen sehe ich und denke ich dann später ... weil so ein Schwänzchen da ist, und weil es zippelt, und durchaus nicht darum, weil ich eine Seele habe, und weil ich da so ein Ebenbild Gottes bin, das sind alles nur Dummheiten. Das hat mir dieser Michail noch gestern ganz genau erklärt, und weißt du, es war mir, als hätte er mir Feuer übergegossen. Großartig, bei Gott, ist diese Wissenschaft! Ein neuer Mensch entsteht, das begreife auch ich, Bruder ... Aber trotzdem tut es mir doch leid um Gott!“

„Tut nichts, auch das ist gut,“ sagte Aljoscha.

„Daß es mir um Gott leid tut? Die Chemie rückt ran, Brüderchen, ja, ja, die Chemie! Nichts zu machen, Ew. Hochehrwürden, Sie müssen zur Seite treten, die Chemie kommt! Von Gott aber will Rakitin nichts wissen, oh! den kann er nicht verdauen! Gott ist bei diesen Leuten der wundeste Punkt! Aber sie suchen es zu verbergen. Sie lügen. Verstellen sich. Ich fragte ihn: ‚Nun was, wirst du das gleichfalls in deine Kritiken hineinbringen?‘ – ‚Tja, soweit man’s durchläßt, deutlich wird man sich doch wohl nicht fassen können,‘ sagt er. Lacht. ‚Aber wie ist’s denn jetzt?‘ fragte ich ihn, ‚was ist denn der Mensch noch nach alledem? Ohne Gott und ohne Leben nach dem Tode? Das heißt dann doch, daß alles erlaubt ist, dann kann man ja alles machen?‘ – ‚Und du wußtest das noch nicht?‘ sagt er. Lacht. ‚Ein kluger Mensch,‘ sagt er, ‚kann alles tun, ein kluger Mensch kann auch Krebse fangen, ohne geklemmt zu werden. Nun, du aber hast erschlagen und bist hereingefallen, und jetzt kannst du im Gefängnis lebendig verfaulen!‘ Das sagt er mir, versteh, ins Gesicht! Ein geborenes Schwein! Solches Pack habe ich früher hinausgeworfen ... jetzt hört man ihnen zu. Er spricht aber auch Gescheites. Auch schreibt er nicht schlecht. Riesig klug sogar. Vor einer Woche las er mir hier einen Artikel vor, ich habe daraus drei Zeilen abgeschrieben, wart, ich habe sie, hier, hier sind sie.“

Mitjä zog eilig aus seiner Westentasche ein kleines Papier hervor und las:

„Um dieses Problem zu lösen und seinen abstrakten Sinn richtig zu erfassen, ist die erste Bedingung, daß man seine Persönlichkeit der ganzen Wirklichkeit quer entgegensetzt.“

„Begreifst du was davon?“

„Nein,“ sagte Aljoscha. Er beobachtete interessiert seinen Bruder und hörte ihm aufmerksam zu.

„Ich auch nicht. Dunkel ist es und unklar, dafür aber klug. ‚Alle schreiben jetzt so,‘ sagt er, ‚das Milieu hat sich bereits herausgebildet ...‘ Das ist es ja, sie fürchten, daß die Kollegen den Stil nicht klug genug finden könnten. Auch Gedichte schreibt das Schwein ... Denk doch nur, er hat Frau Chochlakoffs Füßchen besungen, hahaha!“

„Ich weiß, ich habe davon gehört,“ sagte Aljoscha.

„Ja? Und auch das Gedicht?“

„Nein, das Gedicht selbst habe ich nicht gehört.“

„Ich habe es hier, wart, ich werde es dir vorlesen. Du weißt noch nicht alles, ich habe es dir nicht erzählt, das ist ja eine ganze Geschichte. Der Spitzbube! Denk dir, vor drei Wochen war’s, da läßt er sich plötzlich einfallen, mich zu foppen: ‚Da bist du nun wegen lumpiger Dreitausend perdu,‘ sagt er, ‚ich aber werde mir Hundertfünfzigtausend verschaffen, werde hier eine kleine Witwe heiraten und mir dann in Petersburg ein Haus kaufen, ein großes von Stein.‘ Und er erzählt mir, daß er der Chochlakowa den Hof macht, die aber, sagt er, die von Kindheit an keinen Verstand gehabt hat, hätte ihn mit vierzig Jahren vollends verloren. ‚Sie ist fabelhaft sentimental,‘ sagt er, ‚das wird mir aber zustatten kommen. Werde sie heiraten, nach Petersburg mitnehmen und dort eine Zeitung herausgeben.‘ Und dabei wässert ihm der Mund in so gemeiner Lüsternheit, – doch nicht nach der Chochlakowa, sondern nach den Hundertfünfzigtausend. Und täglich kam er her und beteuerte, es ginge famos; sie ergibt sich, sagt er, strahlt vor Freude. Und da wird er plötzlich vor die Tür gesetzt! Perchotin hat ihn aus dem Sattel gehoben! Das hat er großartig gemacht! Ich würde diese kleine Witwe am liebsten zehnmal kräftig dafür abküssen, daß sie ihn vor die Tür gesetzt hat! Er war gerade kurz vorher bei mir gewesen, um mir dieses Gedicht vorzulesen. ‚Zum erstenmal besudle ich meine Hände,‘ sagte er, ‚schreibe Gedichte – um sie zu bezaubern, das heißt also, zu einem nützlichen Zweck. Habe ich erst der Gans das Kapital abgenommen, so kann ich später damit großen sozialen Nutzen bringen.‘ Dieses Pack hat doch für jede Gemeinheit eine ‚soziale‘ Rechtfertigung! ‚Und doch habe ich,‘ sagt er, ‚besser als dein Puschkin gedichtet, denn ich habe es fertig gebracht, in einem närrischen Gedicht ein soziales Malheur auszudrücken.‘ Was er da von Puschkin sagt, das verstehe ich schließlich. Es ist ja wahr. Ein begabter Mensch, der dabei nur Weiberfüßchen besungen hat! Wie aber Rakitin auf sein Gedicht stolz war! Eine Eigenliebe haben die Kerls! So etwas Dünkelhaftes findet man nicht leicht. ‚Zur Heilung des kranken Füßchens meines Objekts‘ – das hat er sich als Überschrift ausgedacht! Nichts zu sagen, ein kühner Mann! Hör jetzt:

Es war einmal ein kleiner Fuß,

Der eines Tags erkrankte;

Die Ärzte kamen tagtäglich ins Haus,

Doch der Fuß es ihnen nicht dankte,

– Denn er wurde nicht gesund.

Doch wie dem nun auch sein mag,

Ich will deswegen nicht trauern.

Mir tut es nur leid ums Köpfchen,

Den Fuß mag Puschkin bedauern,

– Denn er wurde nicht gesund.

Das Köpfchen fing grad an zu verstehen,

Da kam das Füßchen und störte.

Ach! mag es doch wieder gehen,

Damit das Köpfchen mich hörte!

– Denn es wäre sonst gar zu dumm ...

Ein Schwein ist der Kerl, ein geborenes Schwein, aber er hat sich dabei doch ganz flott ausgedrückt. Und er hat sogar den Kummer über das schwache Köpfchen hineingeflochten, und seine ganze ‚soziale‘ Sehnsucht, nach Petersburg zu kommen, liegt in diesem ‚Ach!‘ Wie er aber wütend war, Herrgott! daß sie ihn vor die Tür gesetzt hatte! Er knirschte selbst hier noch vor Wut!“

„Er hat sich auch schon gerächt,“ sagte Aljoscha. „Er hat einen Bericht an die ‚Gerüchte‘ geschickt, in dem er über sie herzieht.“

Und Aljoscha erzählte ihm kurz von der Nachricht aus dem Petersburger Blatt.

„Das kann allerdings nur Rakitin getan haben!“ sagte Mitjä finster, nachdem er unruhig zugehört hatte, und er biß nervös die Unterlippe. „Das ist wieder echt Rakitin! Diese Korrespondenzen ... ich weiß ... wieviel Schändlichkeiten geschrieben worden sind ... über Gruscha zum Beispiel ... Und auch über sie, über Katjä ... Hm!“

Er erhob sich und schritt besorgt im Zimmer auf und ab.

„Mitjä, ich kann heute nicht lange bei dir bleiben,“ sagte Aljoscha nach kurzem Schweigen. „Morgen ist ein unheimlich großer Tag für dich: Gottes Gericht wird sich über dir vollziehen ... und du sprichst heute, anstatt Ernstes zu reden, weiß Gott, wovon ... Das, das wundert mich ...“

„Nein, wundere dich nicht,“ unterbrach ihn Mitjä erregt. „Was soll ich denn immer wieder von diesem stinkenden Hunde reden? Haben wir denn noch immer nicht genug über den Mörder gesprochen? Ich will nichts mehr von ihm hören, von dieser Ausgeburt der Idiotin. Gott wird ihn totschlagen, das wirst du sehen, schweig!“

Anfangs trat er dicht an Aljoscha heran, und plötzlich küßte er ihn. Seine Augen brannten.

„Rakitin würde das nicht verstehen,“ fuhr er fort, als ob ihn Begeisterung erfaßt hätte, „du aber, du wirst alles verstehen. Deswegen habe ich mich auch nach dir gesehnt. Sieh, ich wollte dir schon lange hier zwischen diesen nackten Wänden vieles sagen, aber ich habe bis jetzt doch das Wichtigste verschwiegen: Es war mir immer, wenn ich davon anfangen wollte, als wäre die Zeit dazu noch nicht gekommen. So habe ich unbewußt bis zur letzten Stunde gewartet, um vor dir meine Seele aufzutun. Aljoscha, ich habe in diesen zwei letzten Monaten einen neuen Menschen in mir entdeckt, ein neuer Mensch ist in mir auferstanden! Dieser Mensch war immer in mir verborgen, doch es wäre mir nie zum Bewußtsein gekommen, daß ich ihn in mir trug, wenn Gott nicht dieses Gewitter geschickt hätte. Unheimlich ist das Leben! Aber was liegt daran, daß ich zwanzig Jahre lang dort in sibirischen Erzgruben mit dem Hammer klopfen werde, – das schreckt mich jetzt nicht mehr. Ich fürchte etwas ganz anderes, und das ist meine einzige große Angst: ich fürchte und bange, daß mich der in mir auferstandene Mensch nur ja nicht wieder verläßt! Man kann auch dort in den Erzgruben unter der Erde neben sich in genau solch einem Zwangsarbeiter und Mörder ein menschliches Herz finden, und man kann ihm dort näher treten, denn auch dort kann man leben, lieben und leiden. In diesem Zwangsarbeiter kann man doch das erfrorene Herz wieder beleben, jahrelang kann man ihn pflegen, und einmal wird man die Seele aus der dunklen Höhle zum Licht emporziehen, und dann wird er bereits ein veredelter Mensch sein, ein Mensch mit der Anschauung eines Märtyrers. Ja, so kann man Engel auferstehen machen und Helden wieder beleben! Und ihrer gibt es doch so viele dort unter der Erde, Hunderte, und wir alle haben schuld an ihnen! Warum träumte mir damals vom ‚Kindichen‘, warum gerade in jener Stunde? ‚Warum ist das Kindichen arm?‘ Das war in jenem Augenblick eine Prophezeiung! Für das ‚Kindichen‘ gehe ich hin. Denn alle sind für alle schuldig. Überall gibt es solche ‚Kindichen‘, denn es gibt ja kleine und große Kinder. Alle sind solch ein ‚Kindichen‘. Und so gehe ich denn für alle, denn irgend jemand muß doch für alle gehen! Ich habe meinen Vater nicht erschlagen, aber ich muß hingehen. Ich nehme es auf mich! Das alles ist mir erst hier aufgegangen ... hier zwischen den nackten Wänden. Ihrer aber gibt es doch viele, zu Hunderten sind sie dort unter der Erde, und alle haben sie eine Haue in der Hand. O ja, ich weiß, wir werden in Ketten sein, und wir werden keinen freien Willen haben, doch dann, in unserem großen Leid, werden wir von neuem zur Freude auferstehen, zur Freude, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, zu leben, ebensowenig wie Gott ohne sie sein kann, denn Gott gibt die Freude, das ist sein großes Privilegium ... Gott, mein Gott, erweiche den Menschen im Gebet! Wie werde ich denn dort unter der Erde ohne Gott leben? Rakitin lügt: Wenn man Gott von der Erde vertreibt, so werden wir ihn dort unter der Erde willkommen heißen! Für einen unterirdischen Zwangsarbeiter ist es unmöglich, ohne Gott auszukommen, unmöglicher als für einen Nichtzwangsarbeiter. Und dann werden wir, wir unterirdischen Sträflinge dort in den Schachten Sibiriens, aus dem Eingeweide der Erde eine tragische Hymne unserem Gotte singen, unter der Erde hervor unserem Gotte, bei dem die Freude ist! Ach, es lebe Gott, und es lebe deine Freude! – Ich liebe dich, Gott!“

Die Worte stürzten Mitjä fast atemlos über die Lippen. Er war bleich, seine Lippen zuckten, und aus seinen Augen rollten Tränen herab.

„Nein, das Leben ist groß, groß ist das Leben und voll und mächtig ist es! Leben ist auch unter der Erde!“ begann er wieder in seiner Begeisterung. „Du kannst dir nicht einmal denken, Alexei, wie ich jetzt leben will, wie, wie ich lechze nach Leben und Erkennen, welch ein Verlangen danach sich gerade hier zwischen diesen nackten Wänden in mir erhoben hat! Rakitin begreift das nicht, er will nur ein Haus bauen und dann Wohnungen vermieten. Ich aber habe dich erwartet, um dir zu sagen ... Und was ist denn das Leiden? Ich fürchte es nicht, und wenn es auch unermeßlich sein sollte. Jetzt fürchte ich es nicht, früher fürchtete ich es. Weißt du, ich, ich werde morgen vielleicht gar nicht antworten vor Gericht ... Ich glaube, ich habe jetzt so viel von dieser Kraft in mir, daß ich alles besiegen werde, alles werde ich überwinden, alles Leid, nur um mir immer wieder sagen zu können: Ich bin! Unter tausend Qualen – ich bin! Wenn ich mich auch auf der Folterbank krümme – aber ich bin! Und wenn ich auch angeschmiedet bin, so lebe ich doch, so sehe ich doch die Sonne, oder wenn ich sie auch nicht sehe, so weiß ich doch, daß sie ist! Wissen aber, daß die Sonne ist, – das ist schon ein ganzes Leben. Aljoscha, du mein Cherub, mich quälen verschiedene Philosophien, der Teufel hole sie! Bruder Iwan ...“

„Was? was wolltest du sagen von Iwan?“ fragte Aljoscha hastig, doch Mitjä überhörte die Frage ganz.

„Sieh, früher wußte ich nichts von allen diesen Zweifeln, aber es war doch schon alles in mir. Vielleicht war das der einzige Grund, weil diese unbewußten Ideen in mir tobten, warum ich trank und mich herumschlug und ins Leben stürmte. Um sie in mir zum Schweigen zu bringen, um sie zu beruhigen, zu ersticken, darum tobte ich. Iwan ist nicht wie Rakitin, er trägt eine große Idee. Iwan ist eine Sphinx und schweigt, er schweigt immer und zu allem. Mich aber quält Gott. Nur Gott quält mich. Was aber dann, wenn Er nicht ist? Was dann, wenn Rakitin recht hat, daß das nur eine künstliche Idee in der Menschheit ist? Dann, wenn Er nicht ist, dann ist der Mensch der Herr der Erde. Großartig! Wie aber wird er denn tugendhaft sein ohne Gott? Das ist die Frage! Über diese Frage komme ich nicht hinweg. Denn wen wird er dann noch lieben, dieser Mensch ohne Gott? Wem wird er dann noch dankbar sein, wem wird er dann noch eine Hymne singen? Rakitin lacht darüber. Er sagt, man könne die Menschheit auch ohne Gott lieben. Nun, dieser Rotzbub kann schließlich vieles behaupten. Nein, das verstehe ich nicht. Rakitin hat leicht, zu leben. ‚Du,‘ sagte er mir heute, ‚bemühe dich lieber um die Vermehrung der bürgerlichen Rechte der Menschen oder meinetwegen auch nur darum, daß der Preis des Rindfleisches nicht steige; damit wirst du der Menschheit einfacher und unmittelbarer eine Liebe erweisen als mit Philosophien.‘ Da wurde ich wütend. ‚Du aber,‘ sagte ich ihm, ‚wirst ohne Gott selbst noch den Preis des Rindfleisches erhöhen, wenn das nur in deiner Macht steht, wirst womöglich einen Rubel auf jede Kopeke aufschlagen.‘ Er ärgerte sich. Denn was ist Tugend? Beantworte du mir diese Frage, Alexei. Ich habe eine Tugend, und der Chinese hat eine andere – folglich: ein relatives Ding. Oder nicht? Oder nicht relativ? Hm, eine hinterlistige Frage! Lach nicht, wenn ich dir sage, daß ich ihretwegen zwei Nächte nicht geschlafen habe. Ich wundere mich jetzt nur noch über eines: Wie die Menschen so leben können und niemals darüber nachdenken. Wie beschäftigt sie alle sind! Iwan hat keinen Gott. Er hat eine Idee. Das ist zu hoch für mich. Aber er schweigt. Ich glaube, er ist Freimaurer. Ich habe ihn gefragt – er schweigt. Ich wollte aus seinem Brunnen einen Schluck Wasser trinken – er schweigt. Nur ein einziges Mal sagte er ein Wort.“

„Was sagte er?“ fragte Aljoscha gierig.

„Ich sagte ihm: Dann ist also alles erlaubt, wenn es so ist? Er runzelte die Stirn. ‚Fedor Pawlowitsch, unser Vater,‘ sagte er, ‚war zwar ein Schwein, aber er dachte doch vollkommen richtig.‘ Sieh, was er zu sagen fertig brachte. Und das war alles, was er darauf zu erwidern geruhte. Mehr habe ich nicht von ihm gehört. Das ist denn doch sauberer als Rakitin.“

„Ja,“ bestätigte Aljoscha bitter. „Wann war er bei dir?“

„Davon später, jetzt noch von etwas anderem. Über Iwan habe ich dir bis jetzt fast nichts gesagt. Ich habe es immer bis zur letzten Stunde hinausgeschoben. Wenn hier diese Sache ein Ende hat und mein Urteil gesprochen ist, dann werde ich dir etwas erzählen, alles werde ich dir dann erzählen. Hier gibt es so einen besonderen Punkt ... Und du wirst mein Richter sein in dieser Frage. Jetzt aber beginn lieber gar nicht davon, jetzt sei still ... Da sprichst du nun von morgen, vom Gericht, aber wirst du’s mir glauben, ich weiß nichts von alledem.“

„Hast du mit dem Advokaten gesprochen?“

„Ach was, Advokat! Ich habe ihm von allem gesprochen. Ein geriebener Schurke ist er, ein großstädtischer. Auch so ein Claude Bernard! Nur glaubt er mir nicht für eine halbe zerbrochene Kopeke. Er glaubt, daß ich erschlagen habe, denk dir nur, – ich weiß schon, was er glaubt, da sei du unbesorgt. ‚Warum sind Sie denn,‘ fragte ich ihn, ‚gekommen, mich zu verteidigen, wenn Sie mich für schuldig halten?‘ Nun, zum Henker mit der Bande. Auch einen Doktor hat man verschrieben, will mich für verrückt erklären. Das erlaube ich nicht! Katerina Iwanowna will ‚ihre Pflicht und Schuldigkeit‘ bis zum Schluß erfüllen. Bißchen gewaltsam!“ (Mitjä lächelte bitter.) „Die Katze! Ein grausames Herz! Sie weiß, daß ich damals in Mokroje von ihr gesagt habe, sie sei ein Weib, das ‚gewaltigen Zornes fähig ist‘! Das hat man ihr wiedererzählt. Ja, die Aussagen gegen mich haben sich vermehrt wie Sand am Meer! Grigorij besteht auf der offenen Tür. Grigorij ist ein ehrlicher Mensch, aber er ist ein Dummkopf. Viele Menschen sind nur darum ehrlich, weil sie dumm sind. Das ist ein Ausspruch von Rakitin. Grigorij ist mein Feind. Von manch einem kann man sagen, daß es vorteilhafter ist, ihn zum Feinde als zum Freunde zu haben. Das ist in bezug auf Katerina Iwanowna gesagt. Ich fürchte, oh! nichts fürchte ich so, als daß sie morgen von jener Verbeugung bis zur Erde nach den Viertausendfünfhundert erzählen wird! Bis zum Schluß wird sie mir heimzahlen, bis auf den letzten Tropfen! Ich will aber ihr Opfer nicht! Beschämen werden sie mich vor Gericht! Sie wollen, daß ich vor Scham vergehe! Wie werde ich es aushalten? Geh zu ihr, Aljoscha, bitt sie, daß sie es nicht vor Gericht sage, nur dieses eine nicht! Oder geht das nicht? Ach, Teufel, einerlei, ich werde es eben aushalten! Sie tut mir nicht leid. Sie will es ja selbst. Nicht umsonst leidet der Dieb Qualen. Ich, Alexei, ich werde meine Rede halten.“ (Er lächelte wieder bitter vor sich hin.) „Nur ... nur Gruscha, Gruscha, o Gott! Warum hat sie denn diese Qual jetzt auf sich genommen?“ rief er plötzlich mit Tränen in den Augen. „Gruscha tötet mich, der Gedanke an sie tötet mich, tötet mich! Sie war heute bei mir ...“

„Sie hat es mir erzählt. Du hast Sie heute sehr gekränkt.“

„Ich weiß. Hol mich der Teufel dafür, daß ich so einen Charakter habe. Ich wurde eifersüchtig. Als sie fortging, bereute ich es und küßte sie. Um Verzeihung bat ich nicht.“

„Warum hast du das nicht getan?“ fragte Aljoscha vorwurfsvoll.

Mitjä lachte plötzlich fast heiter auf.

„Gott behüte dich davor, du lieber Junge, daß du jemals wegen einer Schuld das geliebte Weib um Verzeihung bittest! Besonders gilt das vom geliebten Weibe, gerade vom geliebten Weibe, wie groß deine Schuld auch vor ihr sein mag! Denn das Weib – das ist, Bruder, – weiß der Teufel, was das ist, aber ich kenne sie doch gründlich, das weiß Gott! Versuche einmal, deine Schuld einzugestehen, soundso, es war schlecht von mir, verzeih, vergib – dann hagelt es Vorwürfe! Unter keiner Bedingung wird sie einfach und sofort verzeihen, sie wird dich zum Lappen erniedrigen, wird dir alles vorzählen, selbst das, was gar nicht gewesen ist, alles wird sie wieder herauskratzen, nichts wird sie vergessen, wird noch vieles von sich hinzufügen, und dann erst wird sie verzeihen. Und das ist noch die beste, die beste von allen! Das letzte wird sie dir noch abschaben und dann alles über dein armes Haupt schütten – so eine, sage ich dir, so eine Lust am Menschenschinden steckt in ihnen, in allen ohne Ausnahme, in diesen Engeln, ohne die zu leben uns unmöglich ist! Sieh, mein Täubchen, ich sage es dir aufrichtig und überzeugt: Jeder anständige Mann muß sich unter dem Pantoffel eines Weibes befinden. Das ist meine Überzeugung; das heißt, nicht Überzeugung, aber so mein Gefühl. Der Mann muß großmütig sein, das aber besudelt keinen. Selbst einen Helden erniedrigt das nicht, selbst einen Cäsar nicht! Nun, aber um Verzeihung bitte du trotzdem niemals und um keinen Preis. Behalte diese Lehre: die gibt dir dein Bruder Mitjä, der sich wegen der Weiber zugrunde gerichtet hat. Nein, ich werde ihr lieber, ohne um Verzeihung zu bitten, etwas recht Liebes tun. Ich bete sie an! Alexei, wenn sie vor mir steht, überkommt es mich immer wie Andacht! Nur sieht sie das nicht. Nein, es ist immer noch zu wenig Liebe für sie. Und wie sie mich quält! Mit ihrer Liebe quält sie mich. Früher! Früher quälten mich nur ihre Launen, das Infernale an ihr, jetzt aber habe ich ihre ganze Seele in meine Seele aufgenommen und bin durch sie zum Menschen geworden! Wird man uns auch trauen? Sonst sterbe ich vor Eifersucht. Jeden Tag sehe ich denn auch ein neues Gespenst ... Was hat sie dir über mich gesagt?“

Aljoscha erzählte alles, was Gruschenka ihm gesagt hatte. Mitjä hörte aufmerksam zu, fragte vieles zweimal und war schließlich zufrieden.

„So ärgert sie sich denn nicht darüber, daß ich eifersüchtig war?“ fragte er freudig. „Ein echtes Weib! – ‚Ich habe selbst ein grausames Herz.‘ Ach, wie ich diese Menschen liebe, die solche Herzen haben! Aber ich dulde nicht, daß man auf mich eifersüchtig ist, das erlaube ich nicht! Werden uns streiten. Aber lieben – lieben werde ich sie unendlich! Wird man uns auch trauen? Werden denn Zwangsarbeiter auch getraut? Das ist die Frage. Ohne sie aber kann ich nicht leben ...“

Mitjä schritt finster auf und ab. Es war schon fast ganz dunkel im Zimmer. Er wurde plötzlich eigentümlich unruhig und besorgt.

„Also ein Geheimnis, sagt sie, ein Geheimnis hätten wir? Also alle drei sollen wir uns gegen sie verschworen haben, und ‚Katjka‘ soll dahinterstecken? Nein, Freund Gruschenka, das ist es nicht. Hierin hast du dich getäuscht, hast es so echt auf Frauenart getan! Aljoscha, Liebling ... ich werde dir unser Geheimnis sagen ... einerlei, was draus wird!“

Er blieb stehen, blickte sich nach allen Seiten um und trat dann schnell dicht an Aljoscha, der nicht weit von ihm stand, heran und flüsterte ihm mit geheimnisvoller Miene ganz leise zu, obgleich sie niemand hören konnte: Der alte Wächter schlief in der Ecke auf der Bank, und bis zu den wachestehenden Soldaten konnte kein Laut dringen.

„Ich werde dir unser ganzes Geheimnis aufdecken!“ flüsterte Mitjä eilig. „Ich wollte es zuerst später tun, wenn das Urteil schon gesprochen ist, denn wie könnte ich mich ohne deine Zustimmung zu etwas entschließen? Du bist mir alles. Wenn ich auch sage, daß Iwan höher steht als wir, so bist doch du mein Schutzgeist. Was du sagst, wird geschehen, das werde ich tun. Vielleicht aber bist gerade du der höhere Mensch und nicht Iwan. Sieh, hier handelt es sich um eine Gewissenssache, eine höhere Gewissenssache, – ein Beschluß von solcher Wichtigkeit, daß ich selbst nie damit zurechtkommen werde, und so habe ich es denn hinausgeschoben, bis du entscheidest. Und außerdem ist es jetzt noch zu früh, man muß zuerst das Urteil abwarten. Werde ich verurteilt, gut, dann entscheide du. Jetzt aber entscheide noch nicht; ich werde dir sogleich alles sagen, du wirst alles erfahren, aber du entscheide jetzt noch nicht. Höre und schweige. Ich werde dir nicht alles ausführlich erklären, – ich werde dir nur die Idee im großen ganzen aufdecken, ohne Details, – du aber schweige. Keine Frage, keine Bewegung! Bist du damit einverstanden? Aber deine Augen, Herrgott, wohin mit denen? Ich fürchte, daß deine Augen das Urteil sprechen werden, selbst wenn du schweigst. Ich habe Angst! Aljoscha, hör jetzt: Iwan schlägt mir vor, zu entfliehen. Die Einzelheiten zum Teufel, die sage ich jetzt nicht, – alles ist vorgesehen, es kann ganz ohne Hindernisse gemacht werden. Schweig, entscheide noch nicht! Nach Amerika mit Gruscha! Ich kann doch ohne sie nicht mehr leben! Nun, versteh, wenn man sie nun dort, in Sibirien, nicht zu mir läßt? Werden denn Zwangsarbeiter getraut? Iwan sagt: Nein. Aber was werde ich denn dort ohne Gruschenka allein unter der Erde mit dem Hammer machen? Ich werde mir doch den Schädel mit diesem Hammer einschlagen! Nun aber andererseits – das Gewissen? Dann bin ich doch vor dem Leiden geflohen! Mir ward ein Fingerzeig Gottes – ich folgte ihm nicht; mir ward ein Weg der Läuterung gezeigt – ich machte linksum kehrt. Iwan sagt, daß man in Amerika ‚bei guten Vorsätzen‘ mehr Nutzen bringen könne als unter der Erde. Aber wo wird dann noch unsere unterirdische Hymne zu Gott emporgesungen werden? Was ist denn Amerika, – das ist doch wieder eitle Sorge um Erwerb. Und es gibt auch viel Schurken, denke ich, in Amerika. Und ich bin dann vor der Kreuzigung – fortgelaufen! Ich sage das dir, Alexei, weil doch nur du allein das verstehen kannst, außer dir aber niemand. Für die anderen sind das Dummheiten, krankhafte Hirngespinste, alles das, was ich dir von der unterirdischen Hymne gesagt habe. Man wird sagen, ich sei verrückt geworden oder sei ein Esel. Aber ich bin nicht verrückt, ich bin weder das eine noch das andere. Oh, auch Iwan begreift die Hymne, oh, er begreift das alles vorzüglich, nur antwortet er mir darauf nicht, er schweigt. Er glaubt nicht an die Hymne. Sprich nicht, sprich nicht, ich sehe doch, was deine Augen sagen. Du hast ja schon entschieden! Entscheide nicht, hab Erbarmen mit mir, ich kann nicht, ich kann nicht ohne Gruscha leben – wart bis das Urteil gesprochen ist!“

Mitjä sprach flehend, sprach wie ein Wahnsinniger. Er hielt Aljoscha mit beiden Händen an den Schultern gepackt, hielt ihn wie mit Klammern fest, und sein gleichsam entzündeter Blick hing flehend, bittend an den Augen des Bruders.

„Werden denn Zwangsarbeiter getraut?“ wiederholte er zum drittenmal angstvoll seine Frage.

Aljoschas Herz klopfte stark, und er hörte ihm in ungewöhnlicher Spannung zu.

„Sag mir nur eines: Besteht Iwan sehr darauf?“ fragte er stockend. „Und wer hat sich das zuerst ausgedacht?“

„Er, er hat es sich ausgedacht, er besteht darauf! Zuerst kam er überhaupt nicht zu mir, und da plötzlich kam er, vor einer Woche ungefähr, und begann gleich damit. Er besteht unglaublich hartnäckig darauf. Er bittet nicht, sondern befiehlt. Er zweifelt nicht an meiner Folgsamkeit, ungeachtet dessen, daß ich ihm, so wie jetzt dir, mein ganzes Herz aufgedeckt und auch von der ‚Hymne‘ gesprochen habe. Er hat mir alles genau erklärt, wie er es machen wird, er hat sich peinlich orientiert, aber davon später. Geradezu krankhaft will er es. Die Hauptsache ist dabei natürlich das Geld: zehntausend, sagt er, gibt er für die Flucht, und zwanzigtausend für Amerika; für zehntausend, sagt er, wird uns die Flucht ohne jede Schwierigkeit gelingen.“

„Und er hat befohlen, daß mir nichts davon gesagt werde?“ fragte Aljoscha nochmals.

„Keinem Menschen ein Wort, vor allem aber dir nicht, dir unter keiner Bedingung! Er fürchtet wahrscheinlich, daß du wie das Gewissen vor mir stehen würdest. Sag es ihm nicht wieder, daß ich es dir mitgeteilt habe! Sag es ihm bitte nicht!“

„Du hast recht,“ sagte Aljoscha, „man muß das Urteil des Gerichts abwarten und dann entscheiden. Nach dem Gericht wirst du es selbst tun; dann wirst du einen neuen Menschen in dir finden, der für dich entscheiden wird.“

„Einen neuen Menschen oder einen Bernard, und der wird dann à la Bernard entscheiden. Denn ich selbst bin, wie es scheint, ein verächtlicher Bernard!“ sagte Mitjä mit bitterem Lächeln.

„Aber Mitjä, hast du denn gar keine Hoffnung mehr, dich morgen rechtfertigen zu können? Wie ist das nur möglich?“

Mitjä zuckte mit den Achseln und schüttelte verneinend den Kopf.

„Aljoscha, mein Liebling, es ist Zeit, daß du gehst!“ sagte er plötzlich eilig, als wollte er ihn schneller forthaben. „Der Aufseher hat schon auf dem Hof gerufen, er wird gleich herkommen. Es ist spät. Wir wollen doch die Ordnung nicht stören. Umarme mich rasch, küsse mich, segne mich, Liebling, segne mich, damit ich das Kreuz morgen tragen kann ...“

Sie umarmten sich und küßten einander.

„Iwan aber,“ sagte Mitjä plötzlich, „schlägt mir wohl vor, mir zur Flucht zu verhelfen, selbst aber glaubt er, daß ich den Vater erschlagen habe!“

Ein gequältes, spöttisches Lächeln erschien auf seinen Lippen.

„Hast du ihn gefragt, ob er es glaubt?“ fragte Aljoscha.

„Nein, ich habe ihn nicht danach gefragt. Ich wollte ihn fragen, aber ich konnte es nicht, die Kraft reichte dazu nicht aus. Doch das bleibt sich ja gleich, ich sehe es ja an den Augen. Nun, leb wohl!“

Noch einmal küßten sie sich eilig, und Aljoscha verließ bereits das Zimmer, als ihn Mitjä plötzlich wieder zurückrief.

„Stell dich vor mich hin, sieh mich an.“

Und er erfaßte ihn wieder mit beiden Händen an den Schultern. Sein Gesicht wurde unheimlich bleich, so daß es selbst in der matten Dunkelheit entsetzlich anzusehen war. Die Lippen verzerrten sich, und der Blick bohrte sich starr in Aljoschas Augen.

„Aljoscha, sage du mir die volle Wahrheit, sage wie Gott dem Herrn: Glaubst du, daß ich der Mörder bin oder glaubst du es nicht? Du, du, ob du es glaubst oder nicht glaubst? Die Wahrheit sage! – Lüge nicht!“ schrie er plötzlich laut in seiner Verzweiflung auf.

Aljoscha war es, als wankte er auf den Füßen unter dem Druck der Hände des Bruders, und über sein Herz, das fühlte er, glitt etwas Scharfes, Spitzes ...

„Was ... was tust du, laß gut sein, genug ...“ stammelte er wie geistesabwesend.

„Die Wahrheit, die Wahrheit! Lüge nicht!“

„Keine Sekunde lang ... habe ich geglaubt, daß du der Mörder wärest!“ stieß Aljoscha mit schwankender Stimme fast atemlos hervor, und er erhob die rechte Hand, als wolle er Gott zum Zeugen für seine Worte aufrufen.

Wie Seligkeit breitete es sich über Mitjäs bleiches Gesicht.

„Ich danke dir ...“ sagte er langsam, als wenn er nach einer Ohnmacht aufatmete. „Du hast mich von den Toten auferweckt ... Wirst du es mir glauben: – bis zu diesem Augenblick habe ich mich gefürchtet, dich zu fragen, dich, dich! – denk nur, Liebling, dich! ... Nun, geh jetzt, geh! Gestärkt hast du mich für morgen, Gott segne dich dafür! Nun, geh ... und liebe Iwan!“ rang es sich noch als letztes Wort aus Mitjä heraus.

Als Aljoscha ihn verließ, stürzten ihm die Tränen aus den Augen. Ein solches Mißtrauen bei Mitjä, solcher Argwohn, so wenig Zutrauen selbst zu ihm, Aljoscha, – alles das deckte plötzlich vor seinen Augen einen so bodenlosen Abgrund von aussichtsloser Verzweiflung und unfaßbarem Leid in der Seele seines unglücklichen Bruders auf, wie er ihn nie geahnt, nie für möglich gehalten hatte. Tiefes, unendliches Mitleid ergriff ihn und quälte ihn so, daß er schon nach einem Augenblick davon müde gequält war. Sein Herz glaubte er zerrissen, es tat ihm unsäglich weh. „Liebe Iwan!“ klang es ihm wieder in den Ohren. Ja, ja, er ging ja schon zu Iwan. Schon seit dem Morgen wollte er zu Iwan gehen. Der quälte ihn nicht weniger als Mitjä, jetzt aber, nach allem, was ihm Mitjä gesagt hatte, jetzt quälte er ihn mehr denn je.

V.
„Nicht du, nicht du!“

Auf dem Wege zu Iwan kam er an dem Hause vorüber, in dem Katerina Iwanowna wohnte. Die Fenster waren erleuchtet. Aljoscha blieb stehen, dachte eine Weile nach, und beschloß, einzutreten. Er hatte Katerina Iwanowna seit einer ganzen Woche nicht mehr gesehen. Jetzt sagte er sich, daß er Iwan wahrscheinlich bei ihr antreffen werde, um so mehr, als es doch der Vorabend eines so entscheidenden Tages war. Als er unten geschellt hatte und in den Treppenraum trat, der durch eine chinesische, laternenartige Ampel nur matt erhellt wurde, bemerkte er, daß von oben ein Herr herabstieg. Als er sich ihm näherte, erkannte er in ihm seinen Bruder Iwan. So verließ denn jener bereits Katerina Iwanowna.

„Ach, du bist es nur,“ sagte Iwan Fedorowitsch trocken. „Nun, leb wohl. Du gehst zu ihr?“

„Ja.“

„Das würde ich dir nicht raten. Sie ist ‚erregt‘, und du würdest sie noch mehr erregen.“

„Nein, nein!“ rief plötzlich eine Stimme über ihnen. Katerina Iwanowna hatte im Augenblick die Tür aufgerissen. „Alexei Fedorowitsch, kommen Sie von ihm?“

„Ja, ich war bei ihm.“

„Hat er Sie zu mir geschickt, um mir etwas sagen zu lassen? Treten Sie bitte ein, Aljoscha, und auch Sie, Iwan Fedorowitsch, kommen Sie unbedingt zurück, unbedingt! Hö – ren – Sie!“

In Katjäs Stimme hatte etwas so Befehlendes geklungen, daß Iwan Fedorowitsch nach sekundenlangem Zögern sich doch entschloß, wieder hinaufzugehen, zusammen mit Aljoscha.

„Sie hat gehorcht!“ brummte er angehalten leise vor sich hin, Aljoscha aber hörte es doch.

„Sie gestatten, daß ich im Mantel bleibe,“ sagte er, als er in den Salon eintrat. „Ich bin nur auf eine Minute zurückgekommen, ich werde mich nicht setzen.“

„Setzen Sie sich, Alexei Fedorowitsch,“ forderte Katerina Iwanowna auf, obgleich sie selbst gleichfalls stehen blieb. Sie hatte sich in der Zwischenzeit wenig verändert, nur ihre dunklen Augen glühten und schienen zu drohen. Aljoscha erinnerte sich später, daß sie an jenem Abend außerordentlich schön gewesen sein mußte.

„Was läßt er mir sagen?“

„Nur das eine,“ sagte Aljoscha und blickte ihr offen ins Gesicht: „daß er Sie bittet, sich zu schonen und morgen vor Gericht nichts von ...“ (er stockte ein wenig) „... von dem zu sagen ... was früher zwischen Ihnen vorgefallen ist ... in der Zeit Ihrer ersten Bekanntschaft ... in jener Zeit ...“

„Ah so, Sie meinen die Verbeugung ... damals ... für das Geld!“ griff sie sofort auf und lachte stolz. „Wie, fürchtet er für sich oder für mich – hm? Er hat also gesagt, ich solle ‚schonen‘ – aber wen denn schonen? Ihn oder mich? Sagen Sie es doch, Alexei Fedorowitsch.“

Aljoscha blickte sie forschend an, bemüht, sie zu verstehen.

„Sowohl sich selbst wie auch ihn,“ sagte er leise.

„So so!“ bemerkte sie eigentümlich boshaft, und plötzlich errötete sie heiß.

„Sie kennen mich noch nicht, Alexei Fedorowitsch,“ sagte sie drohend, „– aber auch ich kenne mich noch nicht ganz. Vielleicht werden Sie mich morgen nach dem Zeugenverhör mit den Füßen zerstampfen wollen.“

„Sie werden auf Treu und Gewissen aussagen,“ erwiderte Aljoscha, „und außer der Ehrlichkeit ist nichts nötig.“

„Ein Weib ist häufig unehrlich,“ sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Noch vor einer Stunde glaubte ich, daß es mir schrecklich wäre, dieses Ungeheuer zu berühren ... als wäre er ein Scheusal ... und doch, doch ist er noch ein Mensch für mich! Ja hat er denn überhaupt erschlagen? Hat denn er es getan?“ rief sie plötzlich, fast außer sich geratend, indem sie sich hastig zu Iwan Fedorowitsch wandte.

Aljoscha begriff sofort, daß sie dieselbe Frage vielleicht noch vor zwei Minuten an Iwan gestellt hatte, und nicht zum erstens, sondern zum hundertstenmal, und daß sein Bruder deswegen fortgegangen war.

„Ich war bei Ssmerdjäkoff ...,“ fuhr sie fort, Iwan starr ins Gesicht blickend. „Du bist es, du, der mich davon überzeugt hat, daß Mitjä der Mörder sei! Nur dir allein habe ich es geglaubt!“

Iwan lächelte. Es war aber, als hätte er seine ganze Kraft dazu nötig, um dieses Lächeln zustande zu bringen. Aljoscha war bei dem unerwarteten Du zusammengezuckt. Solche Beziehungen zwischen den beiden hatte er nicht ahnen können.

„Ich denke, jetzt dürfte es genügen,“ sagte Iwan kurz. „Ich gehe. Morgen werde ich wiederkommen.“ Und damit verließ er sofort das Zimmer und ging hinaus.

Katerina Iwanowna ergriff krampfhaft Aljoschas Hände. Es lag etwas Befehlendes in ihren Worten, in ihren Bewegungen.

„Gehen Sie ihm nach! Holen Sie ihn ein! Verlassen Sie ihn keinen Augenblick,“ flüsterte sie ihm fieberhaft erregt zu. „Er ist wahnsinnig! Wie, – Sie wissen es noch nicht, daß er wahnsinnig ist? Er hat Fieber, Nervenfieber! Mir hat es der Doktor gesagt, gehen Sie, laufen Sie ihm nach ...“

Aljoscha verließ sie sofort und eilte seinem Bruder nach. Iwan Fedorowitsch war kaum fünfzig Schritt gegangen. Er blieb plötzlich stehen und wandte sich heftig zurück, als er sah, daß Aljoscha ihm nachlief.

„Was willst du?“ stieß er rauh hervor. „Sie hat dir befohlen, mir nachzulaufen, weil ich verrückt sei. Ich kenne das auswendig,“ fügte er gereizt hinzu.

„Darin täuscht sie sich natürlich, aber in einem hat sie recht: Du bist wirklich krank,“ sagte Aljoscha. „Ich habe soeben dein Gesicht bei ihr gesehen: Du siehst sehr krank aus, Iwan, und du bist es auch.“

Iwan ging weiter, ohne stehen zu bleiben. Aljoscha folgte ihm.

„Weißt du vielleicht, Alexei Fedorowitsch, wie das ist, wenn man verrückt wird?“ fragte nach einer Weile Iwan mit einer ganz anderen, leisen, gar nicht mehr gereizten Stimme, aus der plötzlich die treuherzigste Neugier hervorklang.

„Nein, das weiß ich nicht; ich nehme an, daß es sehr verschiedene Arten von Wahnsinn gibt.“

„Kann man aber auch an sich selbst beobachten, wie man verrückt wird?“

„Ich glaube, daß man sich selbst in dem Falle nicht mehr gut beobachten kann.“ Aljoscha wunderte sich.

Iwan schwieg eine Weile.

„Wenn du mit mir sprechen willst, so habe die Güte und ändere das Thema,“ sagte er plötzlich.

„Hier, um es nicht zu vergessen, ich habe diesen Brief für dich,“ sagte Aljoscha schüchtern, indem er den Brief Lisas aus der Tasche zog und ihn dem Bruder reichte. Sie näherten sich gerade einer Laterne. Iwan erkannte sofort die Handschrift.

„Ah, das ist von jenem Teufelchen!“ sagte er boshaft auflachend, und plötzlich, ohne das Kuvert aufzubrechen, zerriß er den ganzen Brief und warf die Stücke in den Wind. Die kleinen Papierstücke flatterten umher.

„Noch keine sechzehn Jahre, glaube ich, und schon bietet sie sich an!“ sagte er verächtlich und schritt weiter.

„Wieso bietet sie sich an, wie meinst du das?“ fragte Aljoscha erstaunt.

„Man weiß doch, wie verderbte Frauen sich anbieten.“

„Was fällt dir ein, Iwan, was redest du? Das ist doch ein Kind, du beleidigst ein Kind!“ verteidigte sie Aljoscha eifrig und traurig zugleich. „Sie ist krank, sogar sehr krank, sie ist vielleicht gleichfalls dem Wahnsinn nahe ... Ich konnte unmöglich dir den Brief nicht geben ... Ich, ich wollte von dir noch etwas Näheres hören ... um sie retten zu können.“

„Du wirst nichts von mir hören. Wenn sie noch ein Kind ist, so bin ich nicht ihre Amme. Schweig, Aljoscha. Sprich nicht mehr davon. An die denke ich überhaupt nicht.“

Sie schwiegen wieder.

„Jetzt wird sie die ganze Nacht zur Gottesmutter beten, damit diese sie erleuchte, wie sie morgen vor Gericht aussagen soll,“ sagte Iwan wieder ganz plötzlich und boshaft.

„Du ... du sprichst von Katerina Iwanowna?“

„Ja. Soll sie als Mitjenkas Retterin oder Verderberin erscheinen! Auf daß ihre Seele erleuchtet werde, – darum wird sie beten. Sie weiß selbst noch nicht, was sie tun soll; sie scheint noch nicht Zeit genug gehabt zu haben, um sich vorzubereiten. Auch sie hält mich für ihre Kinderfrau und will, daß ich ihr eiapopeia singe.“

„Katerina Iwanowna liebt dich, Bruder,“ sagte Aljoscha, den ein trauriges Gefühl ergriffen hatte.

„Möglich. Nur begehre ich sie nicht.“

„Sie leidet. Warum sagst du ihr dann ... zuweilen ... solche Worte, daß sie hoffen kann?“ Ein schüchterner Vorwurf lag in Aljoschas Stimme. „Ich weiß doch, daß du ihr Hoffnung gemacht hast ... verzeih, daß ich so spreche,“ fügte er ängstlich hinzu.

„Ich kann hierbei nicht so handeln, wie ich müßte: Kann nicht brechen und ihr offen alles sagen!“ sprach Iwan gereizt. „Ich muß abwarten, bis das Urteil über den Mörder gesprochen ist. Wenn ich jetzt mit ihr bräche, so würde sie aus Rache morgen vor Gericht dieses ... Scheusal seinem Schicksal überantworten, denn sie haßt ihn, und sie weiß es, daß sie ihn haßt. Hier ist doch alles Lüge, Lüge auf Lüge aufgebaut! Jetzt aber, das heißt, solange ich nicht mit ihr gebrochen habe, hofft sie immer noch und wird daher jenes Ungeheuer nicht verderben, da sie weiß, wie ich ihn herausziehen will. Wenn doch endlich dieses verdammte Urteil gesprochen wäre!“

Die Worte „Mörder“ und „Ungeheuer“ machten einen schmerzlichen Eindruck auf Aljoscha.

„Aber was hat denn Mitjä von ihr zu fürchten?“ fragte er, bemüht, zu verstehen, was Iwan meinte. „Was kann sie denn so besonders Verhängnisvolles aussagen, woraufhin er verurteilt werden könnte?“

„Das weißt du noch nicht. Sie hat ein Dokument in Händen, Mitjä hat es selbst geschrieben, das mathematisch klar beweist, daß er Fedor Pawlowitsch, unseren Vater, erschlagen hat.“

„Das ist unmöglich!“ rief Aljoscha aus.

„Wieso unmöglich? Ich habe es selbst gelesen.“

„Ein solches Dokument kann es unmöglich geben!“ wiederholte Aljoscha erregt im Eifer. „So etwas kann es nicht geben, denn nicht er ist der Mörder. Nicht er hat den Vater erschlagen, nicht er!“

Iwan Fedorowitsch blieb plötzlich stehen.

„Wer ist dann, deiner Meinung nach, der Mörder?“ fragte er kalt, und es klang ein hochmütiger Ton in seiner Frage.

„Du weißt es selbst, wer,“ antwortete Aljoscha leise und ruhig in seiner Überzeugung.

„Wer? Meinst du etwa die Fabel von dem irrsinnigen Idioten, dem Epileptiker? Meinst du Ssmerdjäkoff?“

Aljoscha fühlte, wie er plötzlich am ganzen Körper zitterte.

„Du weißt es selbst, wer,“ kam es kraftlos aus ihm heraus. Er konnte kaum atmen.

„Aber wer denn, wer?“ schrie ihn Iwan wild auffahrend an. Seine ganze Zurückhaltung war plötzlich verschwunden.

„Ich weiß nur das eine,“ sagte Aljoscha immer noch im selben kraftlosen, gleichsam betäubten Flüsterton: „– nicht du hast den Vater erschlagen.“

„‚Nicht du!‘ Was heißt das, nicht du?“ Iwan stand wie erstarrt vor seinem Bruder.

„Nicht du hast den Vater erschlagen, nicht du, nicht du!“ wiederholte Aljoscha fest.

Sie schwiegen. Lange dauerte das Schweigen.

„Ich weiß es doch selbst, daß nicht ich es getan habe, redest du im Fieber?“ sprach schließlich Iwan, und er lächelte ein bleiches, verzerrtes Lächeln.

Er hatte sich mit den Blicken gleichsam festgesogen an den Bruder. Sie standen sich beide wieder bei einer Straßenlaterne gegenüber.

„Nein, Iwan, du hast dir selbst mehrmals gesagt, daß du der Mörder seiest.“

„Wann habe ich es gesagt? ... Ich war in Moskau ... Wann habe ich es gesagt?“ stotterte Iwan mit abirrendem Blick.

„Du hast es dir mehr als einmal gesagt, wenn du in diesen schrecklichen zwei Monaten allein warst,“ fuhr Aljoscha wieder leise und deutlich fort. Er sprach aber schon, als wenn er nicht mehr bei voller Besinnung wäre, als wenn es nicht sein Wille wäre, der ihn sprechen ließ, sondern, als gehorche er einem fremden Befehle, vielleicht fast gegen seinen Willen. „Du hast dich beschuldigt und hast dir gesagt, daß der Mörder kein anderer sein könne als du. Aber nicht du hast ihn erschlagen, da irrst du dich, nicht du bist der Mörder, hörst du mich, nicht du! Mich hat Gott gesandt, dir das zu sagen.“

Beide schwiegen sie. Lange dauerte dieses Schweigen. Sie standen und blickten sich noch immer in die Augen. Beide waren sie bleich. Plötzlich überlief Iwan ein Zittern, und er packte Aljoscha krampfhaft an der Schulter.

„Du bist bei mir gewesen!“ stieß er in wutknirschendem Geflüster hervor. „Du bist bei mir gewesen, nachts, als er zu mir kam ... Gestehe es ... Hast du ihn gesehen, hast du ihn gesehen?“

„Von wem redest du ... von Mitjä?“ fragte Aljoscha verwundert.

„Ach, nicht von ihm rede ich, zum Teufel mit diesem Scheusal!“ keuchte Iwan außer sich. „Weißt du denn, daß er zu mir kommt? Wie hast du das erfahren, sprich!“

„Welcher ‚er‘? Ich weiß nicht, von wem du sprichst,“ stotterte Aljoscha erschrocken.

„Das ist nicht wahr, du weißt es ... wie hättest du sonst ... es kann nicht sein, daß du es nicht weißt ...“

Da war es, als ob er plötzlich an sich hielt. Er stand und schien nachzudenken. Ein eigentümliches, vielleicht etwas spöttisches Lächeln bog seine Lippen.

„Bruder,“ sagte endlich Aljoscha und seine Stimme bebte, „ich habe es dir nur darum gesagt, weil du meinen Worten glauben wirst, das weiß ich. Ich habe es dir fürs ganze Leben gesagt, dieses ‚nicht du‘! Hörst du, fürs ganze Leben. Und mir hat Gott auf die Seele gelegt, dir diese Worte zu sagen, selbst wenn du mich auch von nun an dein ganzes Leben lang hassen solltest ...“

Doch Iwan Fedorowitsch schien sich bereits wieder ganz in der Gewalt zu haben.

„Alexei Fedorowitsch,“ sagte er mit einem kalten Lächeln, und zum erstenmal sagte er zu seinem Bruder „Sie“, „mir ist nichts so zuwider wie Propheten und Epileptiker, besonders aber wie Abgesandte Gottes, und das wissen Sie ja auch selbst sehr gut. Von diesem Augenblicke an breche ich mit Ihnen, und zwar, denke ich, für immer. Ich bitte Sie, mich hier an diesem Kreuzweg unverzüglich zu verlassen. Übrigens ist das auch der Weg, der zu Ihrer Wohnung führt. Besonders hüten Sie sich, heute noch einmal zu mir zu kommen. Ich denke, wir haben uns verstanden?“

Er wandte sich von ihm ab und ging festen Schrittes weiter, ohne sich noch einmal umzusehen.

„Bruder,“ rief ihm Aljoscha nach, „wenn sich heute etwas mit dir ereignet, so denke an mich und meine Worte! ...“

Iwan Fedorowitsch antwortete nicht. Aljoscha blieb noch an der Straßenecke bei der Laterne stehen und sah seinem Bruder nach, bis dessen Gestalt sich in der Dunkelheit verloren hatte. Darauf kehrte auch er um und bog in die Querstraße ein, um in seine Wohnung zu gehen. Iwan Fedorowitsch und Aljoscha wohnten jeder für sich, in verschiedenen Häusern: keiner von ihnen hatte in dem vereinsamten Hause Fedor Pawlowitsch wohnen wollen. Aljoscha hatte sich ein möbliertes Zimmer in einer ärmeren Familie gemietet; Iwan Fedorowitsch dagegen, der ziemlich weit von ihm wohnte, hatte eine geräumige und komfortable Wohnung gemietet, im Flügel eines schönen Hauses, das einer wohlhabenden Beamtenwitwe gehörte. Doch in diesem ganzen Flügel bediente ihn nur eine fast taube, alte, von Gicht verzogene Dienstmagd, die schon um sechs Uhr abends zu Bett ging und um sechs Uhr morgens aufstand. Iwan Fedorowitsch wurde in diesen zwei Monaten fast wie ein Sonderling bescheiden in seinen Ansprüchen. Er blieb am liebsten ganz allein in seinen Zimmern. Ja, in dem einen Zimmer, in das er sich gewöhnlich zurückzog, räumte er sogar eigenhändig auf, und die übrigen Räume seiner Wohnung betrat er nur äußerst selten. Als er jetzt bei der Haustür angelangt war und schon den Griff der Klingel erfaßt hatte, ließ er die Hand plötzlich wieder sinken. Er fühlte, daß er immer noch am ganzen Körper bebte. Plötzlich stampfte er wütend mit dem Fuß auf, wandte sich um und ging eilig wieder fort. Er begab sich an das entgegengesetzte Ende der Stadt, das etwa zwei Werst von seiner Wohnung entfernt war, zu einem kleinen, vor Alter schief gewordenen Häuschen, dessen Balken von außen nicht einmal mit Brettern bekleidet waren. Dort wohnte Marja Kondratjewna – die frühere Nachbarin Fedor Pawlowitschs, die von Marfa Ignatjewna immer Suppe geholt, und der Ssmerdjäkoff auf der Gitarre vorgespielt hatte. Ihr früheres Haus hatte die Mutter inzwischen verkauft, und jetzt lebten die beiden Frauen in dieser kleinen Hütte am Rande der Stadt. Bei ihnen wohnte seit einiger Zeit auch Ssmerdjäkoff, der seit dem Tode Fedor Pawlowitschs sehr krank war. Zu ihm ging Iwan Fedorowitsch. Ihm war plötzlich ein Gedanke gekommen, den er nicht mehr loswerden konnte.

VI.
Erstes Wiedersehen mit Ssmerdjäkoff

Es war jetzt das drittemal, daß Iwan Fedorowitsch nach seiner Rückkehr aus Moskau zu Ssmerdjäkoff ging, um mit ihm zu sprechen. Das erstemal hatte er ihn am Tage seiner Ankunft gesprochen, und dann hatte er ihn, ungefähr zwei Wochen darauf, noch einmal besucht. Doch nach dieser zweiten Zusammenkunft hatte er seine Besuche bei Ssmerdjäkoff eingestellt, und so war denn jetzt bereits mehr als ein Monat vergangen, daß er ihn nicht mehr gesehen hatte. Iwan Fedorowitsch war damals erst am fünften Tage nach dem Tode des Vaters aus Moskau hier eingetroffen, so daß dieser inzwischen schon beerdigt worden war: die Beerdigung hatte schon am Tage vor seiner Ankunft stattgefunden. Der Grund dieser Verspätung Iwan Fedorowitschs lag darin, daß Aljoscha, der nicht wußte, wohin er telegraphieren sollte, zu Katerina Iwanowna geeilt war, um von ihr seine Adresse zu erfahren. Katerina Iwanowna aber hatte sie gleichfalls nicht gewußt, dafür aber sofort an ihre Stiefschwester nach Moskau die Nachricht telegraphiert, in der Hoffnung, daß Iwan Fedorowitsch bald nach seiner Ankunft zu ihrer Tante gehen werde. Iwan war jedoch erst am vierten Tage zu ihnen gegangen und war dann natürlich nach Empfang des Telegramms sofort zurückgefahren. Hier traf er zuerst mit Aljoscha zusammen, doch war er, nachdem er mit ihm über das Geschehnis gesprochen hatte, sehr verwundert gewesen, daß jener den Bruder nicht einmal verdächtigen wollte, sondern ohne weiteres auf Ssmerdjäkoff als auf den Mörder des Vaters hinwies – was den Überzeugungen aller übrigen gerade widersprach. Und als er darauf den Polizeichef und den Staatsanwalt gesprochen und die näheren Umstände der Verhaftung und alle anklagenden Aussagen erfahren hatte, da hatte er sich noch mehr über Aljoschas Behauptung gewundert und sich schließlich diese hartnäckige, „blinde“ Parteinahme mit dem aufs höchste gesteigerten brüderlichen Mitleid und seiner großen Liebe erklärt. Iwan wußte, wie sehr Aljoscha Mitjä liebte. Bei der Gelegenheit will ich noch ein paar Worte über die Empfindungen sagen, die Iwan für seinen Bruder Dmitrij Fedorowitsch hegte: er liebte ihn entschieden nicht, und wenn er auch zuweilen viel, viel Mitleid mit ihm haben konnte, so war doch dieses Mitleid mit großer Verachtung untermischt, einer Verachtung, die sich zuweilen bis zum Ekel steigern konnte. Mitjä war ihm physisch unangenehm, und die Liebe Katerina Iwanownas zu Mitjä rief in Iwan nur Unwillen hervor.

Am selben Tage nach seiner Rückkehr hatte er auch Mitjä im Gefängnis besucht, und dieses Wiedersehen hatte in ihm die Überzeugung von Mitjäs Schuld nicht etwa geschwächt, sondern ihn noch mehr von ihr überzeugt. Er hatte den Bruder in geradezu krankhafter Erregung angetroffen. Mitjä war ungewöhnlich gesprächig, doch sehr zerstreut und unstet gewesen, hatte sehr schroff gesprochen, immer wieder Ssmerdjäkoff beschuldigt und sich nach jedem Satz verwirrt. Am meisten hatte er von jenen dreitausend Rubeln gesprochen, die der Vater von ihm „gestohlen“ hätte.

„Dieses Geld im Kuvert gehörte mir, mir,“ behauptete Mitjä, „so wäre ich, selbst wenn ich es genommen hätte, im Recht.“

Alle Beweise, die gegen ihn sprachen, bestritt er so gut wie gar nicht, und wenn er eine Tatsache zu seinen Gunsten erklären wollte, so sprach er wiederum auffallend zerstreut und unlogisch. Überhaupt machte er stets den Eindruck, als wolle er sich nicht einmal rechtfertigen, weder vor Iwan, noch vor sonst jemandem: er ärgerte sich nur, verachtete stolz die Anklagen, fluchte und brauste auf. Über die Aussage Grigorijs in betreff der offenen Tür lachte er nur verächtlich und beteuerte, der Teufel habe sie aufgemacht, konnte aber keinen einzigen klaren Beweis diesem Zeugnisse des Dieners entgegenstellen. Ja, während dieses ersten Wiedersehens hatte er sogar Iwan Fedorowitsch beleidigt: er sagte ihm plötzlich in schneidend scharfem Tone, daß es denen nicht zustände, ihn zu verdächtigen, die selbst behaupteten, „alles sei erlaubt“. Kurz, er war sehr unfreundlich zu ihm gewesen. – Gleich nach diesem Wiedersehen war Iwan Fedorowitsch dann auch zu Ssmerdjäkoff gegangen.

Schon auf der Rückfahrt hatte er die ganze Zeit im Waggon an Ssmerdjäkoff und sein letztes Gespräch mit ihm am Abend vor seiner Abreise gedacht. Vieles hatte ihn beunruhigt, vieles war ihm verdächtig erschienen. Als er aber darauf vom Untersuchungsrichter verhört worden war, hatte er vorläufig nichts von diesem Gespräch gesagt. Er hatte das noch hinausgeschoben, um unter Umständen nach der Unterredung mit Ssmerdjäkoff darauf zu sprechen zu kommen. Ssmerdjäkoff befand sich damals im Stadtkrankenhause. Doktor Herzenstube und auch der Kreisarzt Warwinskij, den Iwan Fedorowitsch im Krankenhause antraf, antworteten ihm auf seine wiederholten Fragen auf das bestimmteste, daß die Echtheit der Ssmerdjäkoffschen Epilepsieanfälle nicht dem geringsten Zweifel unterliege, und sie wunderten sich nur über die sonderbare Frage: „hat er nicht am Tage der Katastrophe den Anfall simuliert?“ Sie gaben ihm zu verstehen, daß dieser Anfall sogar ein ganz außergewöhnlicher gewesen sei, mehrere Tage lang angedauert und sich immer noch wiederholt habe, so daß sogar das Leben des Patienten entschieden in Gefahr gewesen sei, und daß man erst jetzt, nach den ergriffenen Maßregeln, sagen könne, daß der Kranke am Leben bleiben werde, – „obgleich sehr möglich ist,“ fügte Doktor Herzenstube noch bedächtig hinzu, „daß seine Vernunft teilweise zerrüttet bleibt, wenn auch nicht fürs ganze Leben, so doch ziemlich lange.“ Aber auf die ungeduldige Frage Iwan Fedorowitschs: „Dann ist er also augenblicklich verrückt?“ wurde ihm die Antwort zuteil, daß man so etwas im vollen Sinne des Wortes nicht sagen könne, daß sich aber bereits gewisse Anormalitäten konstatieren ließen. Iwan Fedorowitsch beschloß, sich selbst davon zu überzeugen, was das für Anormalitäten wären. Im Krankenhause wurde er ohne weiteres zugelassen. Ssmerdjäkoff befand sich in einem Zimmer für nur zwei Personen und lag da auf einem harten Krankenhausbett. Daselbst befand sich noch ein anderes Bett, das ein städtischer Kleinbürger einnahm, ein gelähmter, alter Mann, der von der Wassersucht ganz geschwollen war und keine zwei Tage mehr leben konnte – die Unterredung konnte er nicht stören. Ssmerdjäkoff lächelte zweideutig, als er Iwan Fedorowitsch erblickte, in der ersten Sekunde schien er sogar etwas erschrocken zu sein. Wenigstens schien es Iwan Fedorowitsch so. Doch das war vielleicht nur eine Sekunde lang der Fall, während der ganzen übrigen Zeit überraschte ihn Ssmerdjäkoff geradezu durch seine Ruhe. Schon beim ersten Blick auf ihn überzeugte sich Iwan Fedorowitsch, daß er tatsächlich krank war: man sah es ihm an, daß er schwach war; er sprach langsam und schien gleichsam nur mit Mühe die Zunge zu bewegen; er war sehr abgemagert und im Gesicht ganz gelb. Während der Unterredung, die etwa zwanzig Minuten dauerte, klagte er über Kopfschmerz und Gliederreißen. Sein trockenes, an Kastraten erinnerndes Gesicht schien ganz klein geworden zu sein; die früher peinlich gebürsteten Schläfenhaare waren struppig und borstig, und statt des kunstvoll aufgedrehten Haarbüschels über dem Scheitel, starrte nur ein einziges mageres Strähnlein empor. Aber sein zugekniffenes linkes Auge, das beständig zu zwinkern schien, als wolle es einen Wink geben, verriet sofort den früheren Ssmerdjäkoff. „Mit einem klugen Menschen ist auch das Reden ein Genuß,“ fiel es Iwan Fedorowitsch beim Anblick dieses linken Auges ein. Er setzte sich am Fußende des Lagers auf eine kleine Holzbank. Ssmerdjäkoff bewegte seinen Körper mit leidender Miene auf dem Bett, begann aber nicht als erster zu sprechen: er schwieg, und auch sonst blickte er drein, als errege der Besuch nicht sehr seine Neugier.

„Kannst du mit mir sprechen?“ fragte Iwan Fedorowitsch, „ich werde dich nicht gar zu sehr ermüden.“

„Das kann ich sehr wohl,“ sagte Ssmerdjäkoff gleichsam kauend und mit müder Stimme. „Geruhtet Ihr schon vor langer Zeit anzukommen?“ fügte er nach einer Weile gnädig hinzu, als wolle er dem verlegen gewordenen Besucher helfen, über das Peinliche hinwegzukommen.

„Nein, erst heute ... um den Brei, den ihr hier eingerührt habt, auszulöffeln.“

Ssmerdjäkoff seufzte.

„Warum seufzt du, du wußtest es doch?“ fuhr ihn Iwan Fedorowitsch zornig an.

Ssmerdjäkoff schwieg hartnäckig.

„Wie hätte man’s denn nicht wissen sollen? Das war doch im voraus klar zu sehen. Wie aber konnte man ahnen, daß es auf selbige Manier kommen würde!“

„Was kommen würde? Du, mach keine Finten, das sage ich dir! Du hast es doch vorausgesagt, daß du beim Hinabsteigen in den Keller einen Anfall bekommen würdest? Gerade ‚in den Keller‘ hast du gesagt.“

„Habt Ihr das im Verhör schon ausgesagt?“ fragte Ssmerdjäkoff ruhig mit scheinbar nur halbem Interesse.

Iwan Fedorowitsch ärgerte sich plötzlich und geriet in Wut.

„Nein, noch habe ich nichts davon gesagt, aber ich werde es bestimmt tun. Du wirst mir, mein Lieber, noch vieles sofort erklären müssen, und wisse, daß ich nicht mit mir zu spielen erlaube!“

„Von wegen wessen sollte ich denn selbiges tun wollen, wenn ich doch meine ganze Hoffnung nur auf Euch, wie auf Gott den Herrn selber, gesetzt habe!“ sagte Ssmerdjäkoff gleichmäßig ruhig, indem er nur auf einen Augenblick die Äuglein schloß.

„Erstens,“ begann Iwan Fedorowitsch und rückte ihm näher, „ich weiß, daß man bei der Fallsucht nicht voraussagen kann, daß man dann und dann einen Anfall haben wird. Ich habe mich erkundigt, mach also keine Faxen. Tag und Stunde kann man nie voraussagen. Wie nun konntest du mir damals Tag, Stunde und auch noch das mit dem Keller voraussagen? Wie konntest du im voraus wissen, daß du im Anfall gerade in diesen Keller hinabstürzen würdest, – wenn du später den Anfall nicht absichtlich vorgespielt haben willst?“

„In selbigen Keller hatte ich sowieso mannigfach zu gehen, sogar mehrmals am Tage,“ sagte Ssmerdjäkoff, indem er die Worte langsam in die Länge zog. „Akkurat so bin ich auch vor einem Jahr vom Hausboden herabgeflogen. Und was das Vorhersagen angeht, so ist es ganz richtig, daß man nicht Tag und Stunde voraussagen kann, aber ein Vorgefühl kann man doch alleweil voraushaben.“

„Du aber hast ja sogar die Stunde richtig vorausgesagt!“

„Was meine selbige Krankheit anbetrifft, so wär’s doch am besten, Ihr erkundigt Euch, Herr, bei den hiesigen Doktoren, ob es ein echter Anfall war oder ein unechter, dieweil ich Euch über selbige Frage nichts mehr zu sagen habe.“

„Aber der Keller? Wie hast du denn den Keller vorausgewußt?“

„Was Ihr doch alleweil an diesem Keller habt! Wie ich damals so in den Keller hinabstieg, war ich in Angst und Zweifel befangen. Wie sollte ich auch selbiges nicht sein, sintemal ich doch Eurer beraubt war und auf niemandes in der ganzen Welt weder Schutz noch Schirm mehr bauen konnte. Und wie ich so in selbigen Keller hinabsteige, denke ich akkurat: ‚Jetzt wird er gleich kommen – selbigen Anfall meine ich, – was: Werde ich hinunterfallen oder nicht?‘ Und grad von selbiger Angst packte mich im Moment jene unvermeidliche Zange an den Hals, welche die Ärzte Spasmus nennen ... und so flog ich denn kopfüber. Das alles und desgleichen auch das ganze Gespräch am Vorabend mit Euch am Hoftor, wie ich Euch meine Angst mannigfach erklärte, und auch selbiges vom Keller, – das alles habe ich dem Herrn Doktor Herzenstube und dem Untersuchungsrichter Nikolai Parfenowitsch Neljudoff ganz genau erklärt, und das ist alles aufgeschrieben worden. Und was der hiesige Doktor ist, Herr Warwinskij, so hat er es den Herren erklärt, daß der Anfall auch genau so gekommen sein muß – also mit von meinem selbigen Gedanken: ‚werde ich nun hinabfallen oder nicht?‘ Und da hatte mich denn der Anfall erfaßt. So hat man es auch aufgeschrieben, daß es akkurat so hat geschehen müssen, alsomit dieweil ich so gedacht habe und von selbiger großen Angst.“

Nachdem Ssmerdjäkoff langsam seine Rede zu Ende gezogen hatte, holte er, scheinbar unter der Erschöpfung schwer leidend, tief Atem.

„So hast du das schon dem Untersuchungsrichter gesagt?“ fragte Iwan Fedorowitsch etwas verdutzt. Er hatte ihn gerade damit schrecken wollen, daß er von ihrem Gespräch am Vorabend Mitteilung machen werde, und nun erfuhr er plötzlich, daß jener schon selbst alles mitgeteilt hatte.

„Was habe ich denn zu fürchten? Mögen sie doch die ganze wahrhaftige Wahrheit aufschreiben,“ sagte Ssmerdjäkoff fest und ruhig.

„Und auch unser Gespräch am Hoftor hast du Wort für Wort wiedergegeben?“

„N–nein, n–nicht gerade Wort für Wort.“

„Und daß du einen Anfall vorzuspielen verstehst, wie du dich damals dessen vor mir rühmtest, gleichfalls nicht?“

„Nein, das habe ich alsomit gleichfalls nicht gesagt.“

„Jetzt sage du mir, warum du damals wolltest, daß ich nach Tschermaschnjä führe?“

„Dieweil ich fürchtete, daß Ihr nach Moskau fahren würdet, nach Tschermaschnjä aber war es doch alleweil näher.“

„Du lügst, du selbst hast mich noch gebeten, fortzufahren: ‚Fahrt doch,‘ sagtest du, ‚fahrt doch von der Sünde fort‘!“

„Dies habe ich damals einzig und allein von wegen meiner Freundschaft und herzlichen Ergebenheit gesagt, dieweil ich doch selbiges Unglück im Hause ahnte, alsomit geschah es denn aus Mitleid mit Euch. Nur hatte ich alleweil mit mir selber noch mehr Mitleid. Und so sagte ich denn: Fahrt fort von der Sünde – damit Ihr hinwiederum auf selbige Manier begreift, daß es im Hause sonst was geben wird und Ihr hierbliebet, um den Vater zu beschützen.“

„So hättest du es doch deutlich sagen sollen, Schafskopf!“ brauste Iwan Fedorowitsch plötzlich auf.

„Wie wäre es denn deutlicher noch möglich gewesen? Nur die Angst allein sprach in mir, und dann hättet Ihr auch darüber ungehalten sein können. Ich konnte wohl, wie sich von selbst versteht, befürchten, daß Dmitrij Fedorowitsch einen Skandal machen werde, um sich selbiges Geld, wenn nicht anders, so per Gewalt zu verschaffen, da sie doch jene Dreitausend für gerade so gut wie ihr eigenes Kapital hielten, aber wer konnte denn wissen, daß es mit solchem Mord und Totschlag endigen würde? Ich dachte alleweil, sie würden selbiges Geld, das beim Herrn unter der Matratze in einem versiegelten Kuvert lag, nur wegnehmen, sie aber haben nun noch obendrein erschlagen. Wo solltet denn auch Ihr das vorauswissen können, Herr?“

„Du sagst also, daß ich es nicht vorauswissen konnte,“ – Iwan Fedorowitsch überlegte, er strengte sich an, hinter den Sinn der Worte Ssmerdjäkoffs zu kommen – „wie hätte ich es dann aus deinen widersprechenden Andeutungen erraten sollen, und mich auf Grund derselben entschließen können, hierzubleiben? Was faselst du da?“

„Ihr hättet selbiges schon allein daraus erraten können, daß ich Euch riet, nach Tschermaschnjä, anstatt nach Moskau zu fahren.“

„Wieso hätte ich es daraus erraten können?“

„Ihr hättet es Euch sehr wohl schon allein aus selbigem Grunde sagen können, daß ich, wenn ich Euch von Moskau auf Tschermaschnjä ablenken wollte, es alsomit bedeutete, daß ich Eure Gegenwart hier möglichst in der Nähe wissen wollte, sintemal Moskau weit ist, Dmitrij Fedorowitsch dahingegen, wenn sie Euch immerhin in der Nähe wissen, nicht so sehr ermutigt sein würden. Und auch mich hättet Ihr im Fall von irgend etwas schneller verteidigen können, dieweil es von Tschermaschnjä näher ist. In selbigem Gedanken habe ich Euch dann auch auf Grigorij Wassiljewitschs Krankheit aufmerksam gemacht und desgleichen auch auf meine mannigfachen Befürchtungen von wegen der Fallsucht. Und dieweil ich Euch auch von selbigen Zeichen erzählte, mittels welcher man zum alten Herrn eindringen konnte, da sie daraufhin ohne weiteres aufgemacht hätten, und daß selbige Zeichen auch Dmitrij Fedorowitsch durch mich bekannt geworden waren, glaubte ich, daß Ihr dann selber alsomit erraten würdet, daß Dmitrij Fedorowitsch was anstellen könnten, und Ihr dann nicht etwa nur nach Tschermaschnjä, sondern überhaupt nicht verreisen würdet.“

„Der Kerl spricht ja auffallend logisch, wenn er auch seine Worte nur so kaut,“ dachte Iwan Fedorowitsch bei sich. „Von was für einer Zerrüttung der Vernunft spricht denn Herzenstube?“

Und Iwan Fedorowitsch brauste auf: „Überlisten willst du mich, Teufel du!“ Er ärgerte sich maßlos.

„Und ich muß hinwiederum gestehen, ich dachte, daß Ihr alles erraten hättet,“ erwiderte Ssmerdjäkoff mit der offenherzigsten Miene.

„Wenn ich es erraten hätte, dann wäre ich doch hiergeblieben!“ rief Iwan Fedorowitsch wieder heftig auffahrend.

„Nun ja, ich aber dachte, daß Ihr, dieweil Ihr alles erraten hättet, so schnell als möglich von der Sünde fortreistet, einzig um alsomit nur irgendwohin von ihr wegzukommen und sich in der Angst zu retten.“

„Du glaubtest, daß alle so feige sind wie du?“

„Verzeiht, ich glaubte, daß auch Ihr so seid, wie auch ich bin.“

„Natürlich, ich hätte es erraten sollen,“ sagte Iwan erregt, „und ich erriet ja schließlich auch, daß von dir irgend etwas Verfluchtes zu erwarten war ... Nur lügst du, wieder lügst du!“ rief er aufgebracht – ihm war etwas eingefallen – „weißt du noch, wie du an den Wagen herantratst und sagtest: ‚Mit einem klugen Menschen ist auch das Reden ein Genuß.‘ Also freutest du dich darüber, daß ich fortfuhr, denn sonst hättest du doch nicht meinen Entschluß gelobt!“

Ssmerdjäkoff seufzte und seufzte dann noch einmal. In sein Gesicht schien plötzlich etwas Farbe gekommen zu sein.

„Wenn ich froh war,“ sagte er mit etwas knappem Atem, „so war ich selbiges nur deswegen, weil Ihr eingewilligt hattet, wenigstens nicht nach Moskau, sondern nur nach Tschermaschnjä zu fahren; das war aber doch immerhin näher. Nur habe ich Euch selbige Worte nicht wie ein Lob gesagt, sondern vorwürfig. Das habt Ihr nur, wie’s scheint, nicht begriffen.“

„Wieso ‚vorwürfig‘ – was willst du damit sagen?“

„Daß Ihr, wiewohl Ihr alles vorausfühltet, dennoch Euren leiblichen Vater verlassen und uns allesamt nicht beschützen wolltet, dieweil man mich doch von wegen selbiger Dreitausend immer hineinziehen konnte, sozusagen, daß ich sie gestohlen hätte.“

„Der Teufel hole dich!“ fluchte wieder Iwan. „Halt! Hast du auch das von diesen Zeichen dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt mitgeteilt?“

„Alles, wie es war, habe ich mitgeteilt.“

Iwan Fedorowitsch wunderte sich wieder über ihn.

„Wenn ich mir damals irgendwelche Gedanken machte, so geschah das einzig in bezug auf dich. Daß Dmitrij Fedorowitsch jemanden erschlagen könnte, das wußte ich, daß er aber stehlen würde – das habe ich keinen Augenblick geglaubt ... Dich aber hielt ich zu jeder Gemeinheit fähig. Du sagtest mir doch selbst, daß du einen epileptischen Anfall vortäuschen könntest – wozu sagtest du mir das?“

„Nur von wegen meiner Treuherzigkeit. Und ich habe noch nie in meinem Leben einen Anfall mit Absicht gemacht oder, wie Ihr sagt, vorgetäuscht; ich sagte selbiges nur so selbentlich, ich wollte dummerweise damit großtun. Ich hatte Euch damals gar zu lieb gewonnen, und so sprach ich denn mit Euch in ganzer Aufrichtigkeit.“

„Mein Bruder aber beschuldigt gerade dich sowohl des Mordes, wie des Diebstahls.“

„Was bleibt ihnen denn sonst übrig?“ Ssmerdjäkoff lächelte bitter. „Aber wer wird ihnen denn glauben nach allen Beweisen? Grigorij Wassiljewitsch hat doch mit eigenen Augen gesehen, daß die Tür offen war, was ist da jetzt noch zu wollen! Aber was, Gott mit ihnen! Sie zittern doch für die eigene Haut ...“

Er verstummte und lag eine Weile ganz still. Plötzlich fügte er, als hätte er sich ein wenig bedacht, noch hinzu:

„Wenn man’s so nimmt, ist ja noch eines dabei zu bedenken: Dmitrij Fedorowitsch wollen alleweil die Schuld auf mich abwälzen, – das habe ich auch schon mannigfach gehört; aber wenn Ihr schon bloß das eine selbst bedenkt, selbiges, daß ich ein Meister sei im Vorspielen eines solchen Anfalles, so sagt doch selbst, ob ich Euch dies gesagt hätte, wenn ich in Wahrheit so eine Absicht in betreff Eures Vaters gehabt hätte? Wenn man schon einmal so eine Absicht hat, wer wird dann noch so dumm sein und selber so etwas aussprechen, womit man ihn doch später mit Leichtigkeit hineinlegen kann – und das dann noch dem leiblichen Sohne, erbarmt Euch! Ist denn das wahrscheinlich? Das ist doch, nach jeder Wahrscheinlichkeit, nie und nimmer möglich. Dieses Gespräch hört jetzt keine lebende Seele, außer der Vorsehung, aber wenn Ihr selbiges dem Staatsanwalt oder dem Untersuchungsrichter mitteilen wolltet, so könntet Ihr mich auf diese Manier gewaltig verteidigen: Denn was ist denn das für ein Räuber und Mörder, der noch kurz vorher so gutmütig offenherzig ist? Das wird man, denke ich, wohl ohne mannigfache Schwierigkeiten begreifen.“

„Hör mal,“ unterbrach Iwan Fedorowitsch, nicht wenig verdutzt durch die letzten klaren Worte Ssmerdjäkoffs, und indem er sich erhob, „ich verdächtige dich durchaus nicht, ich finde es sogar lächerlich, dich zu beschuldigen ... im Gegenteil, ich danke dir, daß du mich beruhigt hast. Ich gehe jetzt, aber ich werde wiederkommen. Also auf Wiedersehen und werde bald gesund. Brauchst du vielleicht irgend etwas?“

„Danke ergebenst. Marfa Ignatjewna vergißt mich nicht und besorgt mir alles, wenn ich wessen bedarf, wie sie immer in ihrer Güte tut. Und gute Menschen besuchen mich alleweil.“

„Dann auf Wiedersehen. Ich werde übrigens davon, daß du die Anfälle simulieren kannst, nichts sagen ... und auch dir rate ich, darüber zu schweigen,“ fügte Iwan Fedorowitsch plötzlich aus irgendeinem Grunde noch hinzu.

„Das verstehe ich sehr gut. Und wenn Ihr das nicht sagen wollt, so werde auch ich unser ganzes Gespräch dazumal am Hoftor nicht vermelden ...“

Iwan Fedorowitsch verließ bei diesen Worten bereits das Zimmer, und erst nachdem er schon ein Stück durch den Korridor gegangen war, wurde er sich plötzlich bewußt, daß sich in diesen letzten Worten Ssmerdjäkoffs wieder jener beleidigende Sinn einer uneingestandenen Mitwisserschaft verbarg. Schon wollte er umkehren, aber da verflog der Gedanke auch schon; er murmelte nur „Dummheiten!“ vor sich hin und verließ mit schnellen Schritten das Krankenhaus. Die Hauptsache war, daß er sich tatsächlich beruhigt fühlte, und zwar beruhigte ihn ausschließlich der eine Umstand, daß er sich überzeugt hatte, nicht Ssmerdjäkoff, sondern sein Bruder Mitjä sei der Schuldige, obgleich man meinen sollte, daß diese Überzeugung das Gegenteil bewirkt haben müßte. Warum das aber mit ihm so war, das wollte er im Augenblick nicht weiter untersuchen, er empfand sogar Ekel bei dem Gedanken, wieder in seinem Inneren wühlen und über seine Gefühle nachgrübeln zu müssen. Es war ihm, als wolle er irgend etwas schneller vergessen. In den darauf folgenden Tagen überzeugte er sich endgültig von der Schuld des Bruders, nachdem er sich von allen erdrückenden Beweisen und Zeugenaussagen eingehender hatte unterrichten lassen. Es lagen allerdings Aussagen vor, die geradezu niederschmetternd waren, so zum Beispiel die von Fenjä und deren Großmutter. Von den Aussagen Perchotins, der Plotnikoffschen Kommis, der Zeugen aus Mokroje gar nicht zu reden. Das Erdrückendste waren die kleinen unumstößlichen Tatsachen. Die Mitteilung von den geheimen Zeichen traf die Juristen fast im selben Maße, wie Grigorijs Aussage in betreff der offenen Tür. Marfa Ignatjewna behauptete auf Iwan Fedorowitschs Frage, daß Ssmerdjäkoff die ganze Nacht hinter der dünnen Bretterwand in ihrem Zimmer, ungefähr nur drei Schritt von ihrem Bett entfernt, gelegen hätte, und daß sie, wenn sie auch sonst fest geschlafen habe, doch mehrmals durch sein fortwährendes Gestöhn aufgewacht sei: „Die ganze Zeit hat er gestöhnt, die ganze Zeit,“ schloß sie überzeugt. Als Iwan Fedorowitsch Doktor Herzenstube seine Beobachtung mitteilte, nämlich, daß Ssmerdjäkoff ihm durchaus nicht irgendwie schwachsinnig erscheine, sondern nur körperlich angegriffen, rief er bei dem alten Deutschen nur ein feines Lächeln hervor. „Aber wissen Sie auch, womit er sich jetzt ganz besonders beschäftigt?“ fragte er Iwan Fedorowitsch lächelnd, „französische Vokabeln lernt er auswendig! Unter seinem Kopfkissen liegt ein Heft, in dem französische Worte mit russischen Buchstaben geschrieben sind, he – he – he!“ So gab denn Iwan Fedorowitsch schließlich alle seine Zweifel auf. An seinen Bruder Dmitrij konnte er nicht mehr ohne Ekel denken. Nur eines blieb immerhin sonderbar, daß Aljoscha trotz allem fortfuhr, so hartnäckig darauf zu bestehen, daß nicht Mitjä erschlagen habe, sondern „aller Wahrscheinlichkeit nach“ – Ssmerdjäkoff. Iwan fühlte, daß Aljoschas Meinung ihm immer sehr wertvoll war, und daß er sie hoch einschätzte – darum wunderte er sich jetzt noch mehr über ihn. Sonderbar war gleichfalls, daß Aljoscha nie mit ihm über Mitjä ein Gespräch angeknüpft, sondern immer nur auf seine Fragen geantwortet hatte. Das war ihm sogar sehr aufgefallen. Übrigens wurde er in jener Zeit noch durch etwas anderes von diesen Dingen abgelenkt. Als er aus Moskau zurückgekehrt war, hatte er sich gleich vom ersten Tage an mit allen Fibern seiner brennenden, sinnlosen Leidenschaft für Katerina Iwanowna ergeben. Es ist hier nicht der Ort, von dieser neuen Leidenschaft Iwan Fedorowitschs, die sich durch sein ganzes späteres Leben zog, zu erzählen. Das alles könnte zum Vorwurf einer neuen Erzählung, eines zweiten Romans dienen, den ich – ich weiß noch nicht recht – auch vielleicht einmal schreiben werde. Doch kann ich auch jetzt nicht ganz darüber schweigen. Vor allen Dingen muß ich bemerken, daß er, als er nachts mit Aljoscha von Katerina Iwanowna nach Haus ging und diesem sagte: „Ich begehre sie aber nicht,“ ganz einfach die nackte Unwahrheit sagte. Er liebte sie sinnlos, doch ist auch wahr, daß er sie zuweilen dermaßen haßte, daß er sie sogar hätte töten können. Es kreuzten sich hierbei viele Gefühle. Katerina Iwanowna klammerte sich jetzt nach all den überstandenen Erschütterungen, die ihr Mitjäs Verhaftung, der Verdacht, der auf ihm lag usw. verursacht hatten, an Iwan Fedorowitsch, wie an ihren einzigen Retter. Sie war gekränkt, erniedrigt, aufs äußerste beleidigt in ihren Gefühlen. Und da kehrte nun derjenige zurück, der sie früher so geliebt hatte, – oh, das wußte sie nur zu gut, – der Mensch, dessen Herz und Verstand sie immer hoch über sich selbst gestellt hatte. Aber ihre strenge Gesinnung ließ nicht zu, daß sie sich ganz als Opfer hingab, ungeachtet der ganzen Karamasoffschen Zügel- und Grenzenlosigkeit der Wünsche des Geliebten und des ganzen berauschenden Zaubers, den er auf sie ausübte. Zu gleicher Zeit aber quälte sie sich beständig mit der Reue darüber, daß sie Mitjä „verraten“ hatte, und in den erregten Augenblicken, wenn sie mit Iwan heftig stritt (und das kam häufig vor), sagte sie ihm rücksichtslos, was sie quälte. Das nun war es, was Iwan an jenem Abend im Gespräch mit Aljoscha „Lüge auf Lüge“ genannt hatte. Hierbei war allerdings vieles nur Lüge, und zwar war es dies, was Iwan Fedorowitsch am meisten reizte und aufbrachte ... doch davon später. Kurz, er vergaß auf diese Weise Ssmerdjäkoff für eine Zeitlang fast ganz. Doch siehe, es waren kaum zwei Wochen nach seinem ersten Besuch bei Ssmerdjäkoff vergangen, als ihn wieder alle diese sonderbaren Gedanken zu quälen begannen. Es genügt wohl, wenn ich sage, daß sich ihm immer wieder die Frage aufdrängte, die er nicht abschütteln konnte: warum er sich damals – in jener letzten Nacht vor seiner Abreise nach Moskau – leise wie ein Dieb zur Treppe geschlichen und gehorcht hatte, was der Vater dort unten treiben mochte? Das war es, was er sich immer wieder fragte. Und warum hatte er sich später immer nur mit Ekel vor sich selbst dieses Augenblicks erinnert, warum war ihm unterwegs am Morgen so schwer ums Herz gewesen, und warum hatte er, als er bei der Einfahrt in Moskau im Morgengrauen wie aus einem Traum erwacht war, sich gesagt: „Ein Schuft bin ich!“ Und jetzt hatte er sich auf dem Wege zu ihr eingestanden, daß er über diesen quälenden Gedanken selbst Katerina Iwanowna womöglich noch vergessen könnte, so unablässig quälten sie ihn! Und gerade, als er sich das gesagt hatte, war ihm Aljoscha auf der Straße begegnet. Er hatte ihn sofort angerufen und die sonderbare Frage an ihn gestellt:

„Erinnerst du dich noch dessen, wie ich damals, als Dmitrij nach Tisch plötzlich hereingestürzt war und den Vater verprügelt hatte, – wie ich dir auf dem Hofe sagte, daß ich das ‚Recht zu wünschen‘ für mich behielte, ... sag, dachtest du damals, daß ich den Tod des Vaters wünschte?“

„Ich dachte es,“ hatte Aljoscha leise geantwortet.

„So war es übrigens auch, es war dabei nichts zu erraten. Aber dachtest du damals nicht auch, daß ich besonders wünschte, ‚daß das eine Geschmeiß das andere Geschmeiß verschlinge‘, das heißt, daß gerade Dmitrij den Vater erschlage, und zwar je schneller, desto besser ... und daß ich sogar nicht einmal abgeneigt wäre, es selbst zu begünstigen?“

Aljoscha war ein wenig erbleicht und hatte stumm in die Augen des Bruders geblickt.

„So sag doch!“ hatte Iwan ungeduldig ausgerufen. „Ich will um alles in der Welt wissen, was du damals dachtest. Ich will die Wahrheit, die Wahrheit!“

Er hatte schwer geatmet und schon im voraus mit einer gewissen Feindseligkeit Aljoscha angeblickt.

„Vergib mir, ich habe auch das damals gedacht,“ hatte Aljoscha kaum hörbar gemurmelt und war darauf verstummt, ohne auch nur einen einzigen „mildernden Umstand“ hinzuzufügen.

„Danke!“ hatte Iwan kurz hingeworfen und war, indem er Aljoscha stehen ließ, schnellen Schrittes weitergegangen.

Seit jenem Augenblick hatte es Aljoscha geschienen, daß Iwan ihn nicht mehr liebte und sich absichtlich von ihm entfernte, so daß er selbst alsbald aufhörte, zu ihm zu gehen. Gleich nach jener Begegnung aber war Iwan Fedorowitsch plötzlich kurz entschlossen vom Wege abgebogen und hatte sich geradeswegs wiederum zu Ssmerdjäkoff begeben.

VII.
Der zweite Besuch bei Ssmerdjäkoff

Ssmerdjäkoff hatte inzwischen das Krankenhaus schon verlassen. Iwan Fedorowitsch wußte, wo er wohnte: in jenem kleinen, aus rohen Balken gezimmerten, schief gewordenen, alten Häuschen, das nur aus zwei kleinen, durch einen Flur getrennten Zimmern bestand. In dem einen Zimmer hatte sich Marja Kondratjewna mit ihrer Mutter eingerichtet, und im anderen wohnte jetzt Ssmerdjäkoff ganz allein. Unter welchen Bedingungen er dort lebte, ob er ihnen etwas dafür zahlte, oder ob er ihnen nichts zahlte, das mag Gott wissen. Später vermutete man, daß er sich in der Eigenschaft als Marja Kondratjewnas Bräutigam bei ihnen niedergelassen hatte und vorläufig unentgeltlich dort wohnte. Die Mutter wie die Tochter verehrten ihn grenzenlos und hielten ihn, wenigstens im Vergleich zu sich selbst, für ein höheres Wesen.

Iwan Fedorowitsch klopfte an die Tür. Als ihm aufgemacht wurde, sah er sich zuerst in einem kleinen, schmalen Flur, aus dem er auf Marja Kondratjewnas Weisung geradezu in die „gute Stube“ eintrat, die von Ssmerdjäkoff eingenommen wurde. In dieser „guten Stube“ befand sich ein großer Kachelofen, der stark geheizt war. Die Wände schmückten himmelblaue Tapeten, allerdings ganz zerrissene, und hinter ihnen und in den Rissen krabbelte eine erschreckende Menge großer wie kleiner Schaben, so daß man im Zimmer ein unaufhörliches, eintöniges, schließlich einschläferndes Rascheln hörte. Eingerichtet war das Zimmer selbst für eine Bauernstube ganz erbärmlich: zwei Bänke an den Wänden, zwei Stühle neben dem Tisch. Der Tisch aber war, wenn auch aus einfachen Brettern gezimmert, so doch mit einer rosagemusterten Tischdecke bedeckt. Vor jedem der zwei kleinen Fenster stand je ein Blumentopf mit Geranien. In der Ecke hing ein Schrein mit Heiligenbildern. Auf dem Tisch standen ein kleiner, messingner, stark mit Beulen bedeckter Ssamowar und ein Teebrett mit zwei Tassen. Ssmerdjäkoff hatte schon seinen Tee getrunken, und der Ssamowar war erloschen ... Er selbst saß auf der einen Bank am Tisch, saß über ein Heft gebeugt und malte mit der Feder irgendwelche Buchstaben. Ein kleines Tintenfaß stand vor ihm auf dem Tisch, desgleichen ein einfacher Metalleuchter, in dem eine Stearinkerze stak. Iwan Fedorowitsch sagte sich sofort nach dem ersten Blick auf Ssmerdjäkoff, daß jener sich vollkommen erholt hatte. Sein Gesicht war frischer, voller, die Locke über der Stirn war sorgfältig aufgedreht, und die Schläfenhaare waren glatt angekämmt. Er saß in einem bunten wattierten Schlafrock, der aber schon recht alt zu sein schien und ziemlich zerrissen war. Auf der Nase hatte er eine Brille, die Iwan Fedorowitsch früher nie bei ihm gesehen hatte. Dieser eine nichtssagende Umstand verdoppelte geradezu Iwan Fedorowitschs Gereiztheit. „Solch ein Tier, und da sitzt es nun noch mit einer Brille auf der Nase!“ dachte er wütend. Ssmerdjäkoff erhob langsam seinen Kopf und blickte aufmerksam durch die Brille den Eintretenden an; darauf nahm er die Brille ab und erhob sich von der Bank, tat es aber nichts weniger als ehrerbietig, tat es sogar mit einer gewissen Faulheit, als wenn er nur die unumgänglichste Höflichkeit beobachten wollte, ohne die es nun einmal leider nicht geht. Iwan Fedorowitsch erkannte dies sofort. Vor allem fiel ihm Ssmerdjäkoffs Blick auf, der entschieden feindlich, jedenfalls nichts weniger als willkommenheißend und sogar hochmütig war. Er schien förmlich auszusprechen: „Warum schleppst du dich denn wieder her, wir haben doch dazumal alles erledigt, was willst du denn jetzt noch?“

Iwan Fedorowitsch konnte sich kaum beherrschen.

„Heiß ist es hier bei dir,“ sagte er, noch an der Tür stehend, und riß den Mantel auf.

„Nehmt ihn ab,“ erlaubte gnädig Ssmerdjäkoff.

Iwan Fedorowitsch zog den Mantel aus und warf ihn auf die andere Bank, ergriff mit etwas zitternden Händen einen Stuhl, schob ihn mit einem Ruck an den Tisch und setzte sich. Ssmerdjäkoff war es gelungen, sich bereits früher als Iwan wieder zu setzen.

„Vor allen Dingen – sind wir allein?“ fragte Iwan Fedorowitsch streng und heftig. „Kann man uns nicht im anderen Zimmer hören?“

„Niemand wird was hören. Habt ja selber gesehen, daß ein Flur zwischen ist.“

„Hör mal, mein Lieber: was war es, was du damals faseltest, als ich dich im Krankenhause verließ? Was kautest du da von –: wenn ich nicht aussagen würde, daß du ein Meister im Vortäuschen von epileptischen Anfällen wärst, so würdest auch du dem Untersuchungsrichter unser ganzes Gespräch, das wir am Vorabend beim Hoftor hatten, gar nicht mitteilen? Was meintest du mit diesem ‚unser ganzes Gespräch‘? Drohtest du mir etwa? Was hast du damit sagen wollen? Daß ich mich mit dir verbündet hätte oder verabredet, und dich etwa jetzt fürchten könnte?“

Iwan Fedorowitsch sprach es fast jähzornig; er gab dabei mit Absicht deutlich zu verstehen, daß er jeden Winkelzug verachtete sowie jedes vorsichtige Heranschleichen, vielmehr mit offenen Karten spielen wollte. In Ssmerdjäkoffs Augen blitzte es boshaft auf, und das linke kleine Äuglein zwinkerte wieder, als wollte es prompt zur Antwort geben: „Also offene Karten willst du? – schön, soll geschehen, so offen wie du nur willst.“

„Was ich dazumal mit selbigem meinte und aussprach, war, daß Ihr sehr wohl diesen Mord voraussaht und dennoch abreistet, alsomit Euren leiblichen Vater wohlweislich opfertet und Euch selber fortbegabt, damit die Menschen nicht was Schlechtes von Euren Gefühlen dächten, vielleicht aber auch noch von manchem übrigen. – Selbiges war es, was ich dazumal der Obrigkeit nicht zu sagen Euch versprach.“

Ssmerdjäkoff sprach es zwar langsam und hatte sich augenscheinlich ganz in der Gewalt, doch in seiner Stimme lag jetzt bereits etwas Festes und Sicheres, Boshaftes und frech Herausforderndes. Geradezu unverschämt fixierte er Iwan Fedorowitsch, so daß es diesem einen Moment vor den Augen flimmerte.

„Wie? Was? Bist du verrückt geworden oder noch bei Sinnen?“

„Vollkommen alleweil bei Sinnen.“

„Aber wie sollte ich denn das wissen, daß er ermordet werden würde?“ schrie plötzlich Iwan Fedorowitsch ihn an, indem er heftig mit der Faust auf den Tisch schlug. „Und was heißt das: ‚vielleicht aber auch noch von manchem übrigen‘? – sprich, Schurke!“

Ssmerdjäkoff schwieg und fuhr fort, immer mit demselben frechen Blick Iwan Fedorowitsch zu fixieren.

„Sprich, du stinkender Hund, von was für ‚manchem übrigen‘?“ schrie dieser laut.

„Mit selbigem manchem übrigen meinte ich soeben, daß Ihr dazumal selber sehr den Tod Eures Vaters wünschtet.“

Iwan Fedorowitsch sprang auf und schlug ihn aus aller Kraft auf die Schulter, so daß Ssmerdjäkoff an die Wand zurückprallte. In einem Augenblick war sein ganzes Gesicht von Tränen überströmt, und er sagte nur: „Schämt Euch, Herr, einen schwachen Menschen so zu schlagen!“ worauf er seine Augen mit seinem baumwollenen, blaukarierten, gänzlich vollgeschnaubten Schnupftuch bedeckte und sich in stilles Weinen versenkte. Das dauerte eine gute Weile an.

„Genug jetzt! Hör auf!“ befahl schließlich Iwan Fedorowitsch barsch und setzte sich wieder auf den Stuhl. „Bring mich nicht um meine letzte Geduld.“

Ssmerdjäkoff nahm endlich seinen vollgeschnaubten Lappen von den Augen. Jeder Zug seines runzlichen Gesichts drückte die soeben erlittene Kränkung aus.

„So hast du Schurke damals geglaubt, daß ich zusammen mit Dmitrij Fedorowitsch meinen Vater erschlagen wollte?“

„Eure Gedanken konnte ich dazumal nicht wissen,“ sagte Ssmerdjäkoff gekränkt, „und somit hielt ich Euch auf, als Ihr durch das Fußpförtchen eintreten wolltet, um Euch über selbigen Punkt zu erforschen.“

„Was zu erforschen? Wie?“

„Um doch diesen selbigen Umstand zu erforschen: wollt Ihr nun, oder wollt Ihr nicht, daß Euer Vater bald erschlagen würde.“

Was Iwan Fedorowitsch am meisten empörte, war dieser hartnäckig beibehaltene freche Ton, den Ssmerdjäkoff auf einmal angenommen hatte und nicht mehr verändern zu wollen schien.

„Du bist es, der ihn erschlagen hat!“ rief Iwan plötzlich auffahrend.

Ssmerdjäkoff lächelte verächtlich.

„Daß nicht ich es getan habe, das wißt Ihr doch selber ganz genau. Und ich glaubte, daß mit einem klugen Menschen sich gar nicht mehr darüber noch zu reden lohnt.“

„Aber warum, sag, warum war damals in dir ein solcher Verdacht auf mich aufgetaucht?“

„Wie ich Euch schon mannigfach gesagt habe, einzig von wegen meiner Angst. War ich doch dazumal in so einer Verfassung, daß ich in der Angst alle beargwöhnte. Aus selbigem Grunde beschloß ich dann, desgleichen auch Euch zu erforschen, dieweil wenn auch Ihr dasselbige wie Euer Bruder Dmitrij wünscht, dachte ich, so weiß ich, daß ich alsomit verloren bin, daß die Sache so gut wie geschehen ist, und ich mit eins wie eine Fliege untergehe.“

„Hör mal, vor zwei Wochen sprachst du anders.“

„Ich habe aber vor zwei Wochen im Hospital ganz genau dasselbe gemeint. Bloß glaubte ich alleweil, daß Ihr auch ohne überflüssige Wörter verstehen würdet und ein offenes Gespräch selber nicht wünschtet, wie eben ein sehr kluger Mensch.“

„Sieh mal einer an! Aber antworte, antworte, ich bestehe darauf! Wodurch, sage, wodurch habe ich damals in deiner gemeinen Seele einen so niedrigen Verdacht erwecken können?“

„Totschlagen – so hättet Ihr das selber auf keine Manier getan, und Ihr hättet es auch nicht gewollt. Aber wollen, daß ihn ein anderer totschlage – so wolltet Ihr dies sogar sehr.“

„Und wie ruhig, wie ruhig er es noch sagt! Aber warum hätte ich denn das wünschen sollen, zu welch einer Teufelei hätte ich das nötig gehabt?“

„Wie denn so, zu was nötig? Aber die Erbschaft?“ griff Ssmerdjäkoff geradezu giftig auf, und seinen Augen sah man die Rachelust an. „Dann hättet Ihr doch, wie jeder Eurer Brüder, etwa vierzigtausend Rubel auf einen Ruck bekommen, vielleicht noch viel mehr; hätte aber Fedor Pawlowitsch selbige Dame geheiratet, so hättet Ihr mitsamt Euren Brüdern nicht einen einzigen Rubel gesehen, dieweil Agrafena Alexandrowna die ganzen Kapitalien sofort nach der Trauung auf ihren Namen hätte verschreiben lassen, sintemal sie äußerst wenig dumm sind. Und war es denn dazumal weit von der Trauung? Nur ein Härchen: selbige Dame hätten bloß gebraucht, so mit dem kleinen Fingerchen vor Fedor Pawlowitsch zu machen, und sie wären ihr noch im selbigen Moment mit heraushängender Zunge in die Kirche nachgelaufen.“

Iwan Fedorowitsch wurde es zur Folterqual, sich zu beherrschen.

„Gut,“ sagte er endlich, „wie du siehst, bin ich nicht aufgesprungen, habe ich dich nicht geprügelt, nicht dich totgeschlagen. Sprich weiter: Also deiner Meinung nach hatte ich meinen Bruder Dmitrij dazu bestimmt, auf ihn also hätte ich gerechnet?“

„Wie solltet Ihr denn nicht auf Dmitrij Fedorowitsch rechnen? Dieweil wenn sie den Vater erschlagen, gehen sie aller Adelsrechte verlustig, aller Titel und alles Besitzes und werden nach Sibirien verschickt. Alsomit wäre dann auch ihr Teil nach dem Tode des Vaters Euch und Eurem Brüderchen Alexei Fedorowitsch zugefallen, also grad zur Hälfte, alsomit hättet Ihr dann nicht nur vierzig-, sondern gleich sechzigtausend Rubel geerbt. Wie solltet Ihr nun da nicht alleweil auf Euren Bruder Dmitrij Fedorowitsch rechnen!“

„Nun, weiß Gott, ich erdulde viel von dir! Höre, du verächtliches Subjekt: selbst wenn ich damals auf irgend jemanden gerechnet hätte, so wäre das allenfalls auf dich gewesen, nicht aber auf Dmitrij, und ich schwöre dir, ich ahnte sogar eine Niedertracht von dir ... damals ... ich erinnere mich noch vorzüglich meines Eindrucks!“

„Selbiges habe auch ich eine Sekunde lang gedacht, nämlich daß Ihr auf mich rechnetet,“ sagte Ssmerdjäkoff mit spöttischem Lächeln, „so daß Ihr durch selbiges dazumal noch mehr Unrecht tatet, denn wenn Ihr solch einen Argwohn auf mich hattet und zu gleicher Zeit doch verreistet, so war es doch alsomit geradezu, als wolltet Ihr mir sagen: Du kannst den Vater erschlagen, ich fahre fort, um dich nicht daran zu verhindern.“

„Hund! Das hast du nur so aufgefaßt!“

„Und das kam alles nur durch dieses Tschermaschnjä. Erbarmt Euch! Immer wieder bat Euch Euer Vater, nach Tschermaschnjä zu fahren, Ihr aber weigertet Euch, das Haus auf die paar Tage zu verlassen und selbige Bitte zu erfüllen. Und plötzlich, einzig auf mein dummes Wort hin, seid Ihr einverstanden, hinzufahren! Und was hattet Ihr nur dazumal für einen Grund, darauf einzugehen, nach Tschermaschnjä zu fahren? Wenn Ihr also nicht nach Moskau, sondern ganz grundlos nur auf mein eines Wort hin nach Tschermaschnjä fuhrt, so hieß das doch, daß Ihr etwas von mir erwartetet.“

„Nein, ich schwöre es, nein!“ schrie Iwan wutknirschend.

„Wie denn nicht? Sonst wär’s doch ganz und gar nicht angegangen, daß Ihr, als Sohn Eures Vaters, mich nicht auf der Stelle auf selbige hiesige Polizeiwacht gebracht oder mich durchgepeitscht hättet ... oder wenigstens ohne mir ein paar Maulschellen zu langen. Ihr aber gingt noch, ganz umgekehrt, ohne auch nur eine Spur von Wut, sofort hin und tatet nach meinem dummen Wort, akkurat, was ich gesagt hatte, und fuhrt auch richtig fort, was doch ganz ungereimt war, wenn Ihr selbigen Verdacht auf mich hattet, und es alsomit Eure Pflicht war, hierzubleiben und das Leben Eures Vaters hinfort zu beschützen ... Wie sollte ich nun da nicht selbiges denken?“

Iwan saß mit finsterer Stirn da, die Fäuste wie im Krampf auf die Knie gestützt.

„Ja, schade, daß ich dir keine Ohrfeigen gab!“ Er lächelte bitter. „Dich auf die Polizei zu bringen, ging leider nicht an: es hätte mir niemand geglaubt, und ich hätte doch nichts beweisen können. Was aber die Ohrfeigen betrifft ... ach, schade, daß ich damals nicht darauf verfallen bin! Wenn sie auch verboten sind, so hätte ich doch mit Vergnügen deine Fratze zu Brei geschlagen.“

Ssmerdjäkoff betrachtete ihn fast mit Hochgenuß.

„Im sonstigen gewöhnlichen Leben,“ hub er plötzlich in demselben selbstzufrieden-doktrinären Tone an, in dem er schon einmal, am Tisch Fedor Pawlowitschs stehend, mit Grigorij Wassiljewitsch über den Glauben gestritten und ihn zum besten gehabt hatte, „im sonstigen gewöhnlichen Leben sind Maulschellen heutigentags ganz und gar durchs Gesetz verboten, und so hat alle Welt aufgehört, zu schlagen, was aber die Ausnahmefälle des Lebens angeht, so kann man alleweil sagen, daß man nicht nur bei uns, sondern in der ganzen Welt, und selbst wenn man die französische Republik nimmt, überall ganz genau so fortfährt, alleweil zu schinden, wie zu Adams und Evas Zeiten, und selbiges wird auch nie auf Erden aufhören, Ihr aber habt dazumal selbst nicht einmal in so einem Ausnahmefall zu schlagen gewagt.“

„Wozu lernst du denn jetzt französische Vokabeln?“ fragte Iwan, indem er mit einem Kopfnicken auf das Heft wies.

„Warum sollte ich sie denn nicht lernen, um auf selbige Manier meine Bildung zu erhöhen, wenn ich denke, daß auch ich in jenen glücklichen Ländern Europas vielleicht mal sein werde?“

„Höre jetzt, Teufel, was ich dir sage!“ wandte sich plötzlich Iwan Fedorowitsch mit drohendem Blick und zitternd vor Wut an ihn. „Ich fürchte deine Anschuldigungen nicht! Sage ihnen was du willst über mich. Und wenn ich dich nicht hier auf der Stelle totgeschlagen habe, so geschah das einzig darum, weil ich dich für den Mörder halte und dich noch vor die Schranken bringen will. Ich werde dich schon entlarven!“

„Meiner Meinung nach aber tut Ihr besser, wenn Ihr schweigt. Sintemal, was könnt Ihr denn gegen mich in meiner Unschuld aussagen, und wer wird Euch was glauben? Und wenn Ihr anfangt, werdet Ihr nur das erreichen, daß auch ich dann alles sage; denn wie sollte ich mich nicht selber verteidigen?“

„Du glaubst wohl, daß ich dich jetzt fürchte?“

„Mögen auch die Richter meinen selbigen Worten, die ich Euch hier soeben gesagt habe, nicht glauben, so wird man ihnen doch um so mehr im Publikum glauben, und da werdet Ihr Euch schämen müssen.“

„Das soll wohl wieder heißen: ‚Mit einem klugen Menschen ist auch das Reden ein Genuß?‘ – wie?“ fragte Iwan Fedorowitsch, innerlich wutknirschend.

„Da habt Ihr den Nagel genau auf den Kopf getroffen. Ihr werdet doch alsomit als kluger Mensch nicht Dummheiten machen.“

Iwan Fedorowitsch erhob sich. Er fühlte, wie er am ganzen Körper vor verhaltener Wut zitterte. Er zog seinen Mantel an und verließ, ohne Ssmerdjäkoff noch ein Wort zu sagen, ohne auch nur noch einen Blick auf ihn zu werfen, eilig die Stube. Die kühle Abendluft erfrischte ihn. Es war heller Mondschein. Gedanken und Gefühle wogten in ihm, und doch hatte er die Empfindung, als hielten sie ihn wie unter einem Alb gefangen. „Soll ich unverzüglich hingehen und Ssmerdjäkoff anzeigen? Was aber soll ich denn sagen? Er bleibt trotz allem unschuldig. Er wird dann nur noch mich beschuldigen. Ja, in der Tat, warum wollte ich denn damals nach Tschermaschnjä fahren? Warum, warum nur?“ fragte sich Iwan Fedorowitsch. „Ja, natürlich, ich erwartete etwas, und er hat recht ...“ Und wieder erinnerte er sich zum tausendstenmal, wie er in der letzten Nacht im Vaterhause zur Treppe geschlichen war und gelauscht hatte; doch diese Erinnerung bereitete ihm jetzt solche Folterpein, daß er stehen blieb, als wäre er von einem Speer durchbohrt worden. „Ja, ich erwartete es damals, das ist wahr! Ich wollte, ja, ja, ich wünschte, daß dieser Mord geschehe! Wie, habe ich wirklich diesen Mord gewollt? – habe ich ihn gewollt? Ssmerdjäkoff muß totgeschlagen werden! ... Wenn ich jetzt nicht wage, Ssmerdjäkoff zu erschlagen, so lohnt sich ja überhaupt nicht mehr, weiter zu leben! ...“

Iwan Fedorowitsch ging darauf, ohne bei sich zu Hause vorzusprechen, geradeswegs zu Katerina Iwanowna und erschreckte sie maßlos: Er war wie trunken, war wie ein Irrsinniger. Er erzählte ihr sein ganzes Gespräch mit Ssmerdjäkoff, er bemühte sich, kein Wort zu vergessen. Er konnte sich nicht beruhigen, wie sehr sie ihm auch zuredete; er ging im Zimmer umher und sprach so sonderbar, oft ganz zusammenhanglos und in abgerissenen, nicht zu Ende gesprochenen Sätzen. Endlich setzte er sich, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub den Kopf in den Händen. Und plötzlich murmelte er einen sonderbaren Aphorismus:

„Wenn nicht Dmitrij erschlagen hat, sondern Ssmerdjäkoff, so bin ich natürlich mit diesem solidarisch, denn ich habe ihn zur Ausführung seiner Absicht angeregt ... ich habe die Ausführung begünstigt ... Habe ich ihn dazu angeregt? – ich weiß es noch nicht. Wenn aber er erschlagen hat und nicht Dmitrij, so bin natürlich auch ich ein Mörder.“

Als Katerina Iwanowna das gehört hatte, erhob sie sich schweigend von ihrem Platz, ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine auf ihm stehende Schatulle und entnahm ihr einen Zettel, den sie vor Iwan Fedorowitsch auf den Tisch legte. (Dieser Zettel war jenes Dokument, von dem Iwan Aljoscha als von einem „mathematischen Beweise“ dessen, daß Dmitrij den Vater erschlagen habe, gesprochen hatte.) Es war das ein Brief, den Mitjä in der Trunkenheit geschrieben – am selben Abend, nachdem er am Kreuzwege vor dem Kloster mit Aljoscha zusammengetroffen war. Kurz vorher war es bei Katerina Iwanowna in Aljoschas Gegenwart zu jener Szene gekommen, in der Gruschenka sie so unverzeihlich beleidigt hatte. Mitjä war nach der Trennung von Aljoscha zu Gruschenka geeilt; ob er sie gesehen hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls aber war er sehr spät im Gasthaus „Zur Hauptstadt“ erschienen, wo er sich dann gehörig angetrunken hatte. Darauf hatte er Feder und Papier verlangt und diesen für ihn verhängnisvollen Brief geschrieben. Es war ein schwärmerischer, wortreicher und zusammenhangloser Gefühlserguß, gerade so ein echtes Werk der Trunkenheit. Der Brief erinnerte etwa an die Rede eines Betrunkenen, der, nach Hause gekommen, seiner Frau oder sonst einem Hausgenossen eifrig erzählt, wie man ihn soeben beleidigt habe, was für ein Schuft sein Beleidiger sei, was er selbst dagegen für ein prächtiger Mensch sei, und wie er jenem Schufte heimzahlen werde – alles das unglaublich wortreich und mit Eifer vorgetragen, mit Faustschlägen auf den Tisch und unter trunkenen Tränen. Das Papier, auf dem Mitjä geschrieben hatte, war ein schmutziges Stück gewöhnlichen Schreibpapiers schlechter Qualität, auf dessen Rückseite eine Rechnung stand. Der trunkenen Beredsamkeit hatte das Schreibfeld augenscheinlich nicht genügt, denn Mitjä hatte nicht nur alle Ränder und Ecken beschrieben, sondern die letzten Zeilen sogar noch quer über das bereits Geschriebene gesetzt. Der Brief lautete wie folgt:

„Verhängnisvolle Katjä! Morgen werde ich mir das Geld verschaffen und Dir Deine Dreitausend zurückerstatten. Dann leb wohl, – Du großen Zornes fähiges Weib! Doch leb wohl dann auch meine Liebe! Machen wir ein Ende damit! Morgen werde ich von allen Menschen mir das Geld zu verschaffen suchen, bekomme ich es aber nicht von den Menschen, so – das schwöre ich Dir! – werde ich zum Vater gehn und ihm den Schädel einschlagen und es von ihm unter dem Kissen hervorholen, wenn nur Iwan abreisen würde. Ich werde nach Sibirien zu den Zwangsarbeitern gehen, aber die Dreitausend werde ich Dir zurückgeben. Du aber leb wohl. Ich verneige mich vor Dir bis zur Erde, denn vor Dir stehe ich als Schuft da. Vergib mir, Katjä. Nein, vergib mir lieber nicht: dann wird sowohl mir als auch Dir leichter sein! Lieber Zwangsarbeit als Deine Liebe, denn ich liebe eine andere. Du aber hast sie heute nur zu gut erkannt, wie solltest Du da noch vergeben können!? Ich werde ihn totschlagen, der mich bestohlen hat! Ich gehe fort von Euch allen, gehe weit fort in den Osten, um von niemandem mehr etwas zu wissen. Auch von ihr nicht, denn nicht Du allein bist eine Märtyrerin, auch sie ist eine. Leb wohl!

P. S. Ich schreibe einen Fluch, und doch bete ich dich an! Das fühle ich in meiner Brust. Eine einzige Saite ist noch geblieben, und die klingt fort. Besser ist, man reißt das Herz entzwei. Ich werde mich töten, zuerst aber diesen Hund. Ich werde ihm die Drei entreißen, und sie Dir hinwerfen. Wenn ich auch als Schuft vor Dir stehe, so bin ich doch kein Dieb! Erwarte die Dreitausend. Bei dem Hunde unter dem Kissen. Ein rosa Bändchen. Nicht ich bin ein Dieb, sondern ich werde den Dieb, der mich bestohlen hat, erschlagen. Katjä, sieh nicht verachtungsvoll auf mich herab: Dmitrij ist kein Dieb, er wird nur einen Menschen erschlagen! Er hat den Vater getötet und sich selbst zugrunde gerichtet, um aufrecht stehen zu können und Deine stolze Verachtung nicht ertragen zu müssen. Und Dich nicht lieben zu müssen.

PP. S. Deine Füße küsse ich, leb wohl!

PP. SS. Katjä, bete zu Gott, daß mir die Menschen Geld geben mögen! Dann werde ich meine Hände nicht mit Blut besudeln! Gibt man es mir aber nicht – so lade ich eine Blutschuld auf mich! Töte Du mich!

Dein Sklave und Dein Feind
D. Karamasoff.“

Als Iwan dieses „Dokument“ gelesen hatte, erhob er sich taumelnd: Er war überzeugt. So war denn der Bruder der Mörder und nicht Ssmerdjäkoff. Nicht Ssmerdjäkoff – das bedeutete, nicht er, Iwan. Dieser Brief erhielt in seinen Augen fast unbewußt sofort die Bedeutung eines klaren, unanfechtbaren Beweises. Jetzt gab es für ihn keinen Zweifel mehr an Mitjäs Schuld. Bei der Gelegenheit mag noch gesagt sein, daß Iwan niemals der Verdacht gekommen war, Mitjä hätte mit Ssmerdjäkoff zusammen den Mord begangen, ganz abgesehen davon, daß die Tatsachen eine solche Annahme nicht zuließen.

Iwan war vollkommen beruhigt. Am nächsten Morgen dachte er nur noch mit Verachtung an Ssmerdjäkoff und dessen höhnische Worte. Nach ein paar Tagen wunderte er sich sogar darüber, wie ihn die Beschuldigungen dieser Dienerseele so qualvoll hatten kränken können. Er beschloß, ihn zu verachten und zu vergessen. So verging ein Monat. Iwan Fedorowitsch zog weiter bei niemandem Erkundigungen über ihn ein, nur hörte er einmal davon sprechen, daß Ssmerdjäkoff sehr krank und nicht bei vollem Verstande sei. „Der wird mit Irrsinn enden,“ hatte sich einmal unser junger Arzt Warwinskij über ihn geäußert, und Iwan Fedorowitsch hatte sich diesen Ausspruch gut gemerkt. In der letzten Woche dieses Monats aber fing er selbst an, sich gesundheitlich sehr schlecht zu fühlen. Er hatte sich auch schon von dem Doktor, den Katerina Iwanowna aus Moskau verschrieben hatte, und der ein paar Tage vor der Gerichtssitzung angekommen war, untersuchen lassen. Und gerade in dieser Zeit hatten sich seine Beziehungen zu Katerina Iwanowna aufs äußerste zugespitzt. Sie waren wie zwei erbitterte Feinde, die sich nur ineinander verliebt hatten. Katerina Iwanownas Rückfälle in ihre frühere Liebe zu Mitjä, die zwar gewöhnlich nur kurz, doch dafür um so stärker waren, konnten Iwan geradezu rasend machen. Doch eines war dabei sonderbar: Bis zu jener bereits wiedergegebenen Szene bei Katerina Iwanowna, nachdem Aljoscha, von Mitjä kommend, mit ihm zusammen eingetreten war, hatte er, Iwan, sie noch kein einziges Mal während des ganzen Monats einen Zweifel an Mitjäs Schuld aussprechen hören, trotz aller ihrer „Rückfälle“ zu Mitjä, die ihm so maßlos verhaßt waren. Bemerkenswert ist ferner noch, daß Iwan, obwohl er fühlte, wie er Mitjä mit jedem Tage immer noch mehr haßte, zu gleicher Zeit sich doch klar bewußt war, daß er ihn nicht wegen dieser Rückfälle Katjäs haßte, sondern einzig und allein deshalb, weil er den Vater erschlagen hatte! Das fühlte er, und das wußte er. Nichtsdestoweniger war er ungefähr zehn Tage vor der Gerichtssitzung zu Mitjä gegangen und hatte ihm den Vorschlag gemacht, zu fliehen, – er hatte ihm seinen ganzen Plan auseinandergesetzt. Augenscheinlich hatte er diesen Plan schon lange ausgearbeitet. Hierbei gab es außer dem Hauptgrund, der ihn dazu bewogen hatte, noch eine andere Ursache, aus der er dies tat: Es war das die noch immer nicht vernarbte Streifwunde in seinem Herzen, die von dem einen kleinen Wort Ssmerdjäkoffs zurückgeblieben war: daß es ihm, Iwan, zustatten käme, wenn man den Bruder verurteilte, da er dann statt Vierzig-, Sechzigtausend erben werde. Deshalb hatte er beschlossen, ganze dreißigtausend Rubel allein von seiner Erbschaft zu geben, um dem Bruder die Flucht zu ermöglichen. Als er aber damals von ihm aus dem Gefängnis zurückgekehrt war, hatte ihn eine traurige, düstere Erregung überfallen: Er hatte plötzlich gefühlt, und er war sich des Gefühls immer bewußter geworden, daß er die Flucht nicht nur deswegen wünschte, um für sie die Dreißigtausend zu opfern, damit die Streifwunde in seinem Herzen vernarben konnte, sondern noch aus einem anderen, halb unbewußten Grunde. „Ist es vielleicht nicht, weil in der Seele auch ich ein ebensolcher Mörder bin?“ hatte er sich damals gefragt. Etwas Fernes, doch Brennendes vergiftete seine Seele. Vor allem hatte in diesem ganzen Monat sein Stolz gelitten, doch davon später ...

... Als Iwan Fedorowitsch nach seinem Gespräch mit Aljoscha an seiner Haustür angelangt war und, schon im Begriff, die Klingel zu ziehen, plötzlich sich entschlossen hatte, nochmals – zum drittenmal – zu Ssmerdjäkoff zu gehen, da hatte er unter dem Einfluß eines jäh ihn überkommenden, bebenden Unwillens gehandelt. Es war ihm plötzlich eingefallen, wie Katerina Iwanowna soeben noch in Aljoschas Gegenwart ausgerufen hatte: „Du bist es, du, der mich überzeugt hat, daß er der Mörder ist! Nur dir allein habe ich es geglaubt!“ Als ihm diese Worte wieder einfielen, ergriff es ihn wie ein Kältegefühl, das ihn erstarren machte, und es war ihm, als würden seine Glieder steif: Nie im Leben hatte er ihr so etwas gesagt oder gar sie davon zu überzeugen gesucht, daß Mitjä der Mörder sei, er hatte doch noch in ihrer Gegenwart sich selbst verdächtigt, damals, als er von Ssmerdjäkoff gekommen war. Im Gegenteil, sie hatte ihn daraufhin von der Schuld des Bruders überzeugt: Hatte sie ihm doch das „Dokument“ gezeigt, das Mitjäs Schuld bewies! Und nun plötzlich sagt sie: „Ich bin selbst bei Ssmerdjäkoff gewesen!“ Wann ist sie bei ihm gewesen? Iwan wußte nichts davon. Also war sie dann doch nicht so überzeugt von Mitjäs Schuld! Und was hatte Ssmerdjäkoff ihr sagen können? Unbändiger Zorn erhob sich in seinem Herzen. Er begriff nicht, wie er ihr vor einer halben Stunde diese Worte hatte durchlassen können. Er hatte schon den Griff des Glockenzuges erfaßt, doch plötzlich wandte er sich zurück und begab sich zu Ssmerdjäkoff. „Vielleicht werde ich ihn heute noch erschlagen,“ dachte er bei sich.

VIII.
Der dritte und letzte Besuch bei Ssmerdjäkoff

Er hatte noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ein scharfer, trockener Wind sich erhob, wie er auch schon am Morgen und Vormittag geweht hatte, und feinen, dichten, trockenen Schnee mit sich brachte. Der Schnee fiel zur Erde, ohne auf ihr haften zu bleiben, der Wind wirbelte ihn wieder auf, und bald begann ein wildes Schneetreiben. In jenem entlegenen Stadtviertel, wo Ssmerdjäkoff wohnte, gab es fast gar keine Straßenlaternen. Iwan Fedorowitsch schritt, indem er unwillkürlich und wie in einem Triebe den Weg verfolgte, durch die Dunkelheit, ohne das Schneegestöber zu bemerken. Der Kopf tat ihm weh, und qualvoll klopfte das Blut ihm in den Schläfen. In seinen Handflächen zuckte es zuweilen wie im Krampf. Das war alles, was er fühlte. Kurz vor dem Häuschen Marja Kondratjewnas erblickte er nicht weit vor sich ein kleines betrunkenes Bäuerlein, in kurzem, altem Wams, das brummend und schimpfend im Zickzack einherwankte. Dann hörte es plötzlich mit dem Schimpfen auf und begann mit heiserer, trunkener Stimme zu singen:

„Ach, mein Wanjka fuhr nach Piter[27]

Will nicht warten hier auf ihn ...“

Nach der zweiten Strophe brach er aber ab und fing wieder jemanden zu schimpfen an, um darauf von neuem dasselbe Lied anzustimmen und wieder nach der zweiten Strophe abzubrechen. Noch bevor Iwan Fedorowitsch recht an ihn dachte, empfand er bereits einen wilden Haß auf ihn. Erst nach einer Weile kam er gleichsam zu sich, und sofort ergriff ihn unbezwingbare Lust, das Bäuerlein einfach mit der Faust niederzuschlagen. Dieses Bedürfnis nach einem wuchtigen Faustschlage ergriff ihn übermächtig. Gerade in diesem Augenblick war er ganz nahe an ihn herangekommen, und da stieß plötzlich das wankende Bäuerlein wuchtig mit der Schulter an Iwan Fedorowitsch. In rasender Wut stieß Iwan ihn zurück. Das Bäuerlein taumelte und fiel wie ein Klotz auf die hartgefrorene Erde; er stöhnte nur noch einmal: „Oh – oh, oh!“ und verstummte. Iwan trat an ihn heran. Jener lag auf dem Rücken und rührte sich nicht, schien jedenfalls besinnungslos zu sein. „Der wird erfrieren,“ dachte Iwan und ging seines Weges – zu Ssmerdjäkoff.

Im Flur flüsterte ihm Marja Kondratjewna zu, daß Pawel Fedorowitsch (Ssmerdjäkoff) sehr krank sei, daß er nicht nur zu Bett liege, sondern geradezu wie nicht bei vollem Verstande zu sein scheine und sogar den Tee habe er fortzuräumen befohlen, da er keine Lust habe zu trinken.

„Was, tobt er denn etwa?“ fragte Iwan Fedorowitsch grob.

„Ach wo! Ganz mäuschenstill ist er, nur sprechen Sie bitte nicht lange mit ihm,“ bat Marja Kondratjewna.

Iwan Fedorowitsch öffnete die Tür und trat in die Stube.

Geheizt war sie ebenso stark, wie das vorige Mal, aber es war in ihr sonst einiges verändert worden. Die eine Bank war hinausgeschafft, und an ihrer Stelle stand ein großer alter Lederdiwan, auf dem ein Bett mit ziemlich reinen weißen Kissen aufgeschlagen war. Auf diesem Bett saß Ssmerdjäkoff im selben alten Schlafrock. Der Tisch war vor den Diwan gerückt, so daß es jetzt im Zimmer sehr eng war. Auf dem Tisch lag ein dickes Buch in gelbem Umschlag, doch Ssmerdjäkoff las nicht in ihm, er saß auf dem Bett und tat, wie es schien, nichts. Mit langem, stummem Blick empfing er Iwan Fedorowitsch, ohne sich anscheinend auch nur im geringsten über dessen Erscheinen zu wundern. Er hatte sich sehr verändert, das Gesicht war mager und gelb geworden. Die Augen waren geradezu eingefallen, und die unteren Lider hatten bräunlich-bläuliche Schatten.

„Du scheinst ja tatsächlich krank zu sein?“ sagte Iwan Fedorowitsch, als er eingetreten war, und blieb stehen. „Ich werde dich nicht lange belästigen, ich bleibe im Mantel. Nur – wo kann man sich denn hier setzen?“

Er trat an das andere Ende des Tisches, schob einen Stuhl heran und setzte sich.

„Warum siehst du mich so an, warum schweigst du? ... Ich bin nur mit einer einzigen Frage gekommen und, ich schwöre es, ich werde nicht eher fortgehen, als bis du mir geantwortet hast. Ist Fräulein Werchoffzeff bei dir gewesen?“

Ssmerdjäkoff schwieg lange, betrachtete ihn nur still die ganze Zeit, doch plötzlich winkte er mit der Hand ab und wandte das Gesicht fort zur Seite.

„Was hast du?“ fragte Iwan hart.

„Nichts.“

„Was heißt das?“

„Nun ja, sie ist hier gewesen, was geht das Euch an? Laßt mich in Ruh.“

„Nein, ich werde dich nicht in Ruh lassen! Du sagst es mir sofort, wann sie hier war!“

„Ich hab sogar vergessen, an sie auch nur zu denken,“ sagte Ssmerdjäkoff mit einem verächtlichen Lächeln. Und plötzlich wandte er wieder das Gesicht zu Iwan Fedorowitsch und blickte ihn mit einem so haßerfüllten Blicke an, als wäre er vor lauter Haß bereits irrsinnig geworden. Es war derselbe Blick, mit dem er ihn auch während seines zweiten Besuches vor einem Monat sekundenlang angesehen hatte.

„Wie seht Ihr denn selber aus, warum seid Ihr denn so abgemagert?“ fragte er boshaft.

„Was geht dich meine Gesundheit an, antworte darauf, wonach du gefragt wirst!“

„Aber warum sind denn Eure Augen so gelb geworden, das Weiße vom Augapfel ist ja ganz gelb. Quält Ihr Euch denn so gewaltig?“

Er lächelte verächtlich und brach dann in lautes Lachen aus.

„Hör, ich habe dir gesagt, daß ich nicht ohne Antwort fortgehen werde!“ rief Iwan maßlos gereizt.

„Was drängt Ihr Euch mir auf? Was quält Ihr mich eigentlich?“ fragte Ssmerdjäkoff mit leidendem Ton in der Stimme.

„Ach, Teufel, was gehst du mich an! Beantworte meine Frage, und ich gehe sofort.“

„Ich hab Euch nichts zu antworten.“ Ssmerdjäkoff senkte den Blick zu Boden.

„Sei versichert, daß ich dich zwingen werde, zu antworten,“ sagte Iwan.

„Was kommt Ihr mir alleweil auf den Hals!?“ fragte Ssmerdjäkoff und blickte ihn wieder an, doch lag nicht nur Verachtung, sondern geradezu Ekel vor ihm in seinem Blick. „Wohl weil morgen die Gerichtssitzung ist? Aber man wird Euch doch wegen selbiges nichts tun, dessen könnt Ihr versichert sein! Geht nach Haus und legt Euch ruhig schlafen. Ihr braucht ja nichts zu fürchten.“

„Ich verstehe dich nicht ... warum sollte ich mich vor morgen fürchten?“ fragte Iwan verwundert, und plötzlich überkam ihm tatsächlich eine sonderbare Angst, die ihn wieder wie ein Kältegefühl erfaßte. Ssmerdjäkoff maß ihn mit dem Blick.

„Ihr ver – steht mich nicht?“ fragte er gedehnt und vorwurfsvoll. „Was doch ein kluger Mensch davon haben kann, so eine Komödie aus sich selber zu machen!“

Iwan blickte ihn stumm an. Schon allein dieser ganz unerwartet hochmütige Ton, den dieser, sein früherer Lakei, jetzt plötzlich ihm gegenüber anzuschlagen wagte! ... In solchem Tone hatte er selbst das vorige Mal noch nicht zu sprechen gewagt.

„Ich sage Euch doch, Ihr habt nichts zu fürchten. Ich werde nichts gegen Euch aussagen, und es liegt auch gar keine Verdächtigung vor ... Da sieh doch einer, wie seine Hände zittern. Von wegen was gehn Euch denn die Finger so? Geht nach Haus, nicht Ihr habt ihn erschlagen.“

Iwan fuhr zusammen, ihm fielen Aljoschas Worte ein.

„Ich weiß, daß nicht ich ...“ stotterte er.

„Ihr – wißt – es?“ griff sofort Ssmerdjäkoff gedehnt auf.

Iwan sprang auf und erfaßte ihn an der Schulter.

„Sag alles, ekelhafte Amphibie du! Sprich alles aus! Gestehe!“

Ssmerdjäkoff war nicht im mindesten erschrocken. Er blickte nur in sinnlosem Haß Iwan in die Augen; sein Blick schien sich geradezu in ihn hineinzubohren.

„Dann also habt doch Ihr ihn erschlagen, wenn’s so ist,“ flüsterte er ihm plötzlich wie in überwältigendem Haß leise zu.

Iwan sank auf den Stuhl zurück, als hätte er sich besonnen. Ein böses Lächeln erschien auf seinen Lippen.

„Du redest immer noch von dem vorigen Mal? Auch das vorige Mal sprachst du schon ...“

„Auch das vorige Mal begrifft Ihr alles, als Ihr vor mir standet, und Ihr begreift ja auch jetzt alles.“

„Ich begreife nur, daß du verrückt bist.“

„Er wird es wahrhaftig nicht überdrüssig! Wir sitzen doch Auge in Auge, wozu da, sollte man meinen, einander Sand in die Augen streuen wollen und Komödie spielen? Oder wollt Ihr noch immer alles auf mich allein abwälzen, und das noch mir ins Gesicht? Ihr habt ihn erschlagen, Ihr seid der Hauptmörder, ich aber bin nur Euer Handlanger gewesen, Euer getreuer Diener, und nur auf Euren Wunsch habe ich die Sache ausgeführt.“

„Ausgeführt? Ja, hast du ihn denn erschlagen?“

Kälte überlief Iwan. Es war ihm, als ob in seinem Hirn etwas erschüttert wurde, und er erzitterte am ganzen Körper wie von einem Frostschauer. Da erst blickte ihn auch Ssmerdjäkoff verwundert an: Wahrscheinlich machte ihn schließlich doch die Echtheit des Schreckens, den er an Iwan bemerkte, stutzig.

„Ja, habt Ihr denn wahrhaftig nichts davon gewußt?“ stotterte er ungläubig, indem er ihn mit verzogenem Lächeln anblickte.

Iwan sah ihn immer noch unverwandt an, es war, als ob ihm die Stimme abhanden gekommen wäre.

„Ach, mein Wanjka fuhr nach Piter,

Will nicht warten hier auf ihn ...“

klang es plötzlich in seinen Ohren.

„Weißt du was: Ich fürchte, daß du ein Traum bist, daß du als Gespenst hier vor mir sitzt,“ stammelte er.

„Hier ist keinerlei Gespenst, außer uns beiden, und dann ist hier noch ein gewisser Dritter. Zweifelsohne ist er jetzt hier, selbiger Dritte, zwischen uns beiden ist er.“

„Wer er? Wer ist hier noch? Welch ein Dritter?“ fragte Iwan Fedorowitsch erschrocken, indem er sich hastig umsah und mit den Augen jemanden in allen Ecken zu suchen begann.

„Dieser Dritte – das ist Gott, selbige Vorsehung meine ich, hier ist sie jetzt neben uns; nur sucht sie nicht, Ihr werdet sie nicht finden.“

„Das hast du gelogen, daß du ihn erschlagen hättest!“ rief Iwan plötzlich wie rasend aus. „Du bist entweder irrsinnig, oder du willst mich nur reizen und dich über mich lustig machen, wie das vorige Mal!“

Ssmerdjäkoff beobachtete ihn immer noch ohne die geringste Furcht, beobachtete ihn und verfolgte jede Bewegung, jeden Gesichtsausdruck geradezu gierig. Er konnte noch immer nicht von seiner Ungläubigkeit lassen, er glaubte immer noch, daß Iwan „alles wisse“ und sich nur verstelle, um „alles auf ihn allein abzuwälzen“ und ohne sich auch nur zu schämen, ihm das noch ins Gesicht zu sagen.

„Wartet mal,“ sagte er schließlich mit schwacher Stimme. Er zog langsam seinen linken Fuß unter dem Tisch hervor und machte sich daran, die Hose aufzukrempeln. Der Fuß stak in einem Pantoffel und einem langen weißen Strumpf. Ohne sich zu beeilen, band er die Hosenbänder los und schob dann seine Finger tief in den Strumpf hinein. Iwan Fedorowitsch sah ihn an – und plötzlich fuhr er wie in konvulsivischem Schreck zusammen.

„Er ist irrsinnig!“ stieß er keuchend hervor, und aufspringend prallte er zurück an die Wand, an die er sich wie in sinnlosem Entsetzen kerzengerade andrückte, mit starrem Blick auf Ssmerdjäkoff. Dieser jedoch ließ sich keineswegs verwirren, er fuhr ruhig fort, im Strumpfe zu suchen, als bemühe er sich immer noch, mit den Fingern etwas in ihm zu erfassen und herauszuziehen. Endlich hatte er es gefaßt, und nun begann er zu ziehen. Iwan Fedorowitsch sah, daß es irgendwelche Papiere sein mußten oder ein ganzes Paket Papiere. Ssmerdjäkoff zog es hervor und legte es auf den Tisch.

„Hier,“ sagte er, und seine Stimme klang geradezu sanft.

„Was?“ fragte Iwan zitternd.

„Wollt Ihr nicht selber nachsehen,“ sagte ebenso sanft Ssmerdjäkoff.

Iwan trat an den Tisch, ergriff bereits das Paket, um es aufzuwickeln, doch plötzlich zog er seine Finger zurück, als hätte er etwas Scheußliches, Furchtbares und Ekelhaftes berührt.

„Die Finger zittern Euch ja immer noch wie im Krampf,“ bemerkte Ssmerdjäkoff und wickelte dann selbst, ohne sich zu beeilen, das Papier auf. Im Umschlag lagen drei Pakete regenbogenfarbener Hundertrubelscheine.

„Hier sind alle, die ganzen Dreitausend, Ihr braucht nicht nachzuzählen. Nehmt es,“ forderte er Iwan auf, mit einem Kopfnicken auf das Geld weisend. Iwan ließ sich auf den Stuhl sinken. Er war kreidebleich.

„Du hast mich erschreckt ... mit diesem Strumpf ...“ sagte er mit ganz eigenartigem Lächeln.

„Habt Ihr es denn bis jetzt wirklich, wahrhaftig nicht gewußt?“ fragte ihn Ssmerdjäkoff noch einmal.

„Nein, ich habe es nicht gewußt. Ich habe immer gedacht, Dmitrij sei es. Bruder! Bruder! Ach!“ Er umklammerte plötzlich seinen Kopf mit beiden Händen. „Hör, sage: Hast du ihn allein erschlagen? Ohne den Bruder oder zusammen mit ihm?“

„Im ganzen nur mit Euch zusammen; mit Euch zusammen habe ich ihn erschlagen. Dmitrij Fedorowitsch aber sind ganz und gar unschuldig.“

„Gut, gut ... Von mir später. Warum zittere ich nur so? ... Ich kann kaum die Worte aussprechen ...“

„Damals wart Ihr alleweil so kühn: ‚alles‘, sozusagen, ‚ist erlaubt‘, jetzt aber sieh doch einer, wie erschrocken Ihr seid!“ stotterte Ssmerdjäkoff verwundert. „Wollt Ihr nicht Limonade trinken, ich werde sogleich bestellen. Selbige kann sehr erfrischen. Nur müßte man vorher dies hier zudecken.“

Und er wies wieder mit einem Kopfnicken auf das Geld. Er bewegte sich bereits, um aufzustehen, Marja Kondratjewna zu rufen und bei ihr die Limonade zu bestellen, doch suchte er noch nach etwas, womit er das Geld hätte zudecken können. Da er aber nichts fand, und das Taschentuch, das er zu dem Zweck hervorzog, wieder ganz vollgeschnaubt war, so nahm er vom Tisch jenes dicke gelbe Buch, das auf ihm lag, und bedeckte damit das Geld. Mechanisch las Iwan Fedorowitsch den Titel: „Die Predigten unseres von Gott erleuchteten Paters Issaak Ssirin“.

„Ich will keine Limonade! Von mir später. Setz dich und sage, wie hast du das gemacht? Sage alles ...“

„Es wäre besser, wenn Ihr den Mantel ablegtet, sonst werdet Ihr ja ganz in Schweiß geraten.“

Iwan Fedorowitsch riß seinen Mantel ab, als wäre es ihm erst jetzt eingefallen, daß er ihn noch anhatte, und warf ihn, ohne sich vom Stuhl zu erheben, auf die Bank.

„Also sprich jetzt bitte, sage alles!“

Er schien ganz ruhig geworden zu sein. Er wartete mit der vollen Überzeugung, daß Ssmerdjäkoff jetzt alles sagen werde.

„Ihr meint, wie selbiges geschehen ist?“ fragte Ssmerdjäkoff aufseufzend. „Auf die allernatürlichste Manier wurde es gemacht, auf selbige Eure Worte hin ...“

„Von meinen Worten später,“ unterbrach ihn wieder Iwan, doch sprach er die Worte bereits mit fester Stimme klar und deutlich aus, als wäre er wieder ganz Herr seiner selbst. „Erzähle nur ausführlich, wie du es gemacht hast. Alles nach der Reihenfolge. Vergiß nichts. Die Einzelheiten sind die Hauptsache, vor allem vergiß nicht die Einzelheiten. Also bitte.“

„Ihr fuhrt fort, und selbigen Tages fiel ich in den Keller ...“

„War es ein Anfall, oder stelltest du dich nur so an?“

„Versteht sich doch von selbst, daß ich mich dazumal nur so anstellte. In allem habe ich mich nur so angestellt. Ich ging selbige Treppe ruhig hinab, bis ganz nach unten und legte mich dann hin, und als ich lag, da erst stieß ich selbiges Geheul aus. Und dann schlug ich um mich, bis man mich hinaustrug.“

„Erlaub! Und auch später, am Tage nach dem Morde und die ganze Zeit im Krankenhause hast du dich verstellt?“

„Nicht die Spur! Gleich am anderen Morgen, alsomit noch vor dem Krankenhause, bekam ich einen echten Anfall, und der war so stark, wie ich einen seit Jahren nicht mehr gehabt habe. Zwei Tage lang war ich ganz und gar bewußtlos.“

„Gut, gut. Fahre fort, erzähl weiter.“

„Man legte mich auf selbiges Bett hinter der Bretterwand. Das hatte ich schon im voraus gewußt, daß man mich wiederum dorthin bringen werde, denn Marfa Ignatjewna hat mich jedesmal, wenn ich krank war, dort hinter selbige Bretterwand bringen lassen, um mich bei sich ganz in der Nähe zu haben. Sie ist alleweil sehr gut zu mir gewesen, von meiner Geburt an. In der Nacht stöhnte ich, aber nur leise. Ich erwartete Dmitrij Fedorowitsch.“

„Wieso erwartetest du ihn? Wußtest du, daß er zu dir kommen werde?“

„Warum denn zu mir? Ich erwartete, daß sie ins Haus kommen würden, denn es gab für mich überhaupt keinen Zweifel mehr daran, daß sie in selbiger Nacht kommen würden, dieweil sie mich krank wußten und keinerlei Nachrichten hatten. Also mußten sie zweifelsohne selber über den Zaun klettern, um etwas, was es auch sei, anzurichten.“

„Wenn er aber nicht gekommen wäre?“

„Dann wäre auch nichts gewesen. Ohne sie hätte ich mich auch zu nichts entschlossen.“

„Gut, gut ... sprich deutlicher, beeile dich nicht, aber die Hauptsache – laß nichts aus!“

„Ich erwartete, daß sie Fedor Pawlowitsch totschlügen ... das stand für mich alleweil fest ... sintemal ich sie schon so zubereitet hatte ... in den letzten Tagen ... Und die Hauptsache – selbige Zeichen waren ihnen bekannt geworden. Sie mußten alsomit bei ihrem Mißtrauen und Jähzorn, die sich doch in jenen Tagen noch gewaltig aufgehäuft hatten, mittels selbiger Zeichen ganz zweifelsohne in das Haus eindringen. Das war doch klar. Und so erwartete ich sie ...“

„Erlaub!“ unterbrach Iwan wieder. „Wenn er ihn aber nun erschlagen hätte, so hätte er doch das Geld genommen und wäre damit fortgegangen: das hättest du dir doch sagen müssen? Was wäre dann noch für dich übriggeblieben? Ich verstehe dich nicht.“

„Aber sie hätten doch selbiges Geld nie gefunden. Das hatte doch nur ich ihnen so gesagt, daß das Geld unter dem Kissen sei. Das war ja gar nicht wahr. Zuerst, seht mal, hatte es in der Schatulle gelegen, dann aber hatte ich Fedor Pawlowitsch gesagt, da sie doch nur mir ganz allein von der ganzen Menschheit vertrauten, daß es besser wäre, das Geld in die Ecke hinter die Heiligenbilder zu tun, denn dort würde es niemand suchen, besonders nicht, wenn einer Eile hat. Und so lag denn selbiges Paket bei ihnen dort in der Ecke hinter den Heiligenbildern. Es unter dem Kissen aufzubewahren, wäre aber doch ganz lächerlich gewesen. In der Schatulle ist es doch wenigstens verschlossen. Hier aber glauben jetzt alle, daß es unter dem Kissen gelegen hat. Man kann sich über die Dummheit der Menschen alleweil nur wundern. Also wenn nun Dmitrij Fedorowitsch selbigen Totschlag begangen hätten, so hätten sie doch nichts gefunden und wären entweder eilig fortgelaufen, da doch jedes Geräusch schrecken kann, oder sie wären arretiert worden. Alsomit hätte ich dann immer noch, am nächsten Tage oder noch in selbiger Nacht, zu den Heiligenbildern hinaufklettern und selbiges Geld nehmen und fortbringen können, und alles wäre auf Dmitrij Fedorowitsch gefallen. Darauf konnte ich immer hoffen.“

„Aber wenn er ihn nicht totgeschlagen, sondern nur durchgeprügelt hätte?“

„Wenn sie ihn nicht totgeschlagen hätten, so hätte ich das Geld selbstverständlich nicht zu nehmen gewagt, und alles wäre umsonst gewesen. Aber ich hatte hinwiederum auch solche Berechnung, daß, wenn sie ihn nur bis zur Bewußtlosigkeit schlagen, ich dann in der Zwischenzeit doch das Geld fortnehme und nachher Fedor Pawlowitsch einfach sage, daß Dmitrij Fedorowitsch und sonstig niemand das Geld genommen haben.“

„Wart ... du hast mich ganz verwirrt. So hat ihn also doch Dmitrij Fedorowitsch erschlagen, und du hast dann nur das Geld genommen?“

„Nein, nicht Dmitrij Fedorowitsch hat ihn erschlagen. Was! – ich könnte Euch ja auch jetzt noch sagen, daß Dmitrij Fedorowitsch der Mörder sei ... aber ich will jetzt nicht vor Euch lügen, denn ... denn wenn Ihr auch wirklich und wahrhaftig, wie ich selber sehe, bis jetzt noch nichts verstanden und Euch nicht vor mir verstellt habt, um die offenbare eigene Schuld auf mich zu wälzen, ganz unverschämt mir ins Gesicht, so seid Ihr doch ganz allein an allem schuld, denn Ihr wußtet von selbigem Morde und hattet mich ihn auszuführen beauftragt, selber aber verreistet Ihr, wiewohl Ihr alles wußtet. Darum will ich denn heute abend Euch ins Gesicht beweisen, daß hier der Hauptmörder nur Ihr allein seid, ich aber am allerwenigsten der Mörder bin, wenn auch ich es bin, der erschlagen hat. Der wahre aber und einzige rechtmäßige Mörder, das seid Ihr!“

„Warum, warum soll ich der Mörder sein? O Gott!“ rief Iwan, der wieder vergaß, daß er alles auf ihn Bezügliche bis zum Schluß der Unterhaltung hatte hinausschieben wollen, ganz verzweifelt aus: „Du meinst das immer noch wegen der Fahrt nach Tschermaschnjä? Halt, sage zuerst, wozu du mein Einverständnis brauchtest, wenn du die Fahrt nach Tschermaschnjä als Einverständnis angesehen hast? Wie wirst du das jetzt erklären?“

„Wenn ich erst einmal Eures Einverständnisses sicher war, so hätte ich gewußt, ob Ihr wegen selbiger Dreitausend auch kein Geschrei erheben würdet, wenn Ihr zurückkehrt – falls die Obrigkeit aus irgendeinem Grunde mich statt Dmitrij Fedorowitsch verdächtigen oder auch nur für ihren Helfershelfer halten sollte –, daß Ihr mich dann vor den anderen sogar noch verteidigen würdet ... Und wenn Euch dann das rechtmäßige Erbe zugefallen wäre, so hättet Ihr mich alsomit während des ganzen folgenden Lebens belohnen können, sintemal Ihr doch nur durch mich das Erbteil zu erhalten geruht hättet, denn wenn der Herr Agrafena Alexandrowna geheiratet hätten, so hättet Ihr doch nichts als eine lange Nase zu sehen bekommen.“

„Ah! So hattest du also die Absicht, mich auch fernerhin zu quälen, das ganze Leben lang!“ sagte Iwan, innerlich knirschend vor Wut. „Was aber dann, wenn ich nicht fortgefahren wäre und dich angezeigt hätte?“

„Was hättet Ihr denn dazumal anzeigen können? Daß ich Euch zugeredet hätte, nach Tschermaschnjä zu fahren? Das ist doch nur dummes Gerede! Und dann – Ihr wärt doch nach selbigem Gespräch entweder gefahren oder geblieben. Wärt Ihr geblieben, so wäre auch nichts geschehen, dieweil ich dann gewußt hätte, daß Ihr selbiges nicht wollt, und alsomit hätte ich auch nichts getan. Wenn Ihr aber verreistet, so vergewissertet Ihr mich auf selbige Weise dessen, daß Ihr vor Gericht nichts gegen mich auszusagen wagen würdet und mir selbige Dreitausend schenkt. Und Ihr hättet mir ja auch später nichts anhaben können, sintemal ich dann vor Gericht alles gesagt hätte. Das heißt, nicht, daß ich der Dieb oder der Mörder bin – das hätte ich nie gesagt –, sondern nur, daß Ihr selber mir zum Mord und Diebstahl zugeredet hättet, ich aber bloß nicht eingewilligt hätte. Seht Ihr jetzt, wozu ich dazumal Euer Einverständnis brauchte! Damit Ihr keine Möglichkeit habt, mich mit etwas in die Enge zu treiben, sintemal Ihr doch keinen einzigen Beweis vorführen könnt, ich hingegen wieder die Möglichkeit bekäme, Euch alleweil festlegen zu können: ich brauchte somit nur aufzudecken, wie sehr Ihr den Tod des Vaters gewünscht habt, und da habt Ihr mein Wort: im Publikum hätten mir alle geglaubt, Ihr aber hättet Euch dann Euer Leben lang schämen müssen.“

„So habe ich denn, sagst du, so habe ich denn seinen Tod gewünscht?“ fragte Iwan wiederum erbleichend.

„Zweifelsohne habt Ihr es, und mit Eurem Einverständnis habt Ihr mir selbige Tat stillschweigend erlaubt.“

Ssmerdjäkoff blickte ihn fest an. Er war sehr schwach und sprach leise und erschöpft, doch in seinem Inneren mußte etwas verborgen sein, das ihn antrieb und in ihm fortbrannte. Offenbar hatte er eine bestimmte Absicht – das fühlte Iwan.

„Fahre fort,“ sagte er, „erzähl weiter von jener Nacht.“

„Was ist denn da noch weiter zu erzählen? ... Und da liege ich denn so und höre plötzlich, wie wenn der Herr einen Schrei ausgestoßen hätte. Grigorij Wassiljewitsch war aber schon kurz vorher aufgestanden und hinausgegangen, und da höre ich, wie Grigorij auf einmal schreit, und dann ist wieder alles still, dunkel. Und so liege ich denn, warte, das Herz klopft, kann es nicht mehr aushalten. Da stand ich denn schließlich auf und ging, – sehe, rechts ist bei ihnen das Fenster nach dem Garten weit auf, ich gehe noch ein paar Schritt weiter nach links, um zu horchen, ob sie noch dort im Zimmer lebendig sind oder schon tot, und da höre ich, wie der Herr sich hin und her bewegen und stöhnen, also noch lebendig sind. Ach, denke ich! trat ans Fenster und rief den Herrn an: Ich bin es, sozusagen. Sie aber fahren auf: ‚Er war hier, er war hier, jetzt ist er fortgelaufen!‘ Also Dmitrij Fedorowitsch waren dagewesen. ‚Er hat Grigorij erschlagen!‘ – ‚Wo?‘ frage ich flüsternd. – ‚Dort, bei der Zaunecke!‘ zeigen sie und flüstern selber gleichfalls. – ‚Wartet,‘ sage ich. So ging ich denn zu selbiger Ecke und stieß denn auch dort beim Zaun auf den liegenden Grigorij Wassiljewitsch, der ganz blutüberströmt und bewußtlos war. So mußte es denn wahr sein, dachte ich sogleich bei mir, daß Dmitrij Fedorowitsch gekommen waren, und in selbigem Moment beschloß ich auch, alles zu beenden, sintemal Grigorij Wassiljewitsch, wenn er auch noch lebte, doch bewußtlos war und vorläufig nichts sehen noch hören konnte. Nur eine Gefahr war dabei, daß nämlich Marfa Ignatjewna inzwischen aufwachen könnte. Das fühlte ich wohl in diesem Moment, nur hatte mich selbige Gier schon so erfaßt, daß mir sogar der Atem wegblieb. Ich ging wieder zum Fenster des Herrn und sagte: ‚Sie sind hier, Agrafena Alexandrowna sind gekommen, sie lassen bitten, hereinkommen zu können.‘ Wie sie da am ganzen Körper zusammenfuhren, rein wie ein Kind! ‚Wo hier? Wo?‘ fragen sie, stöhnen nur noch vor Aufregung, selbst aber glauben sie noch nicht. – ‚Dort steht sie,‘ sage ich, ‚macht nur die Tür auf!‘ – Da sehen sie mich an, mir gerade ins Gesicht, ich stand draußen am Fensters, mein Gesicht war beleuchtet; und sie glauben und glauben auch wieder nicht, zu öffnen aber fürchten sie sich. ‚Jetzt fürchtet er sogar schon mich,‘ denke ich bei mir. Und – wie lächerlich: da fällt mir plötzlich ein, selbige Zeichen, die ‚Gruschenka ist gekommen‘ bedeuten, an den Fensterrahmen zu klopfen, vor ihren Augen selbiges zu klopfen. Den Worten schienen sie nicht recht zu glauben, sobald ich aber selbige Zeichen geklopft hatte, da glaubten sie sofort und liefen eilig hin, um die Tür aufzumachen. Und sie machten auch auf. Ich wollte schon eintreten, sie aber stehen noch vor, wollen mit dem Körper mir den Eingang versperren, wollen mich nicht ganz hereinlassen. – ‚Wo ist sie? Wo ist sie?‘ fragen sie, blicken mich an und zittern. Nun, denke ich, wenn er schon mich fürchtet – so ist es schon schlimm genug. Und da wurden mir auch die Füße ganz schwach von selbiger Angst, daß sie mich vielleicht nicht zu sich hereinlassen oder um Hilfe rufen würden, oder Marfa Ignatjewna herbeigelaufen kommt, oder sonstig was geschieht, ich weiß schon nicht mehr, ich stand wohl selber ganz bleich vor ihnen. Da flüstere ich ihnen denn ganz leise zu: ‚Aber dort selbentlich, dort unterm Fenster, wie, habt Ihr denn,‘ frage ich, ‚sie nicht gesehen?‘ – ‚Aber so bring sie doch her, bring du sie doch her!‘ sagen sie. – ‚Aber sie fürchten sich doch gewaltig,‘ sage ich, ‚sie haben vom Geschrei Angst bekommen, sie haben sich hinterm Gebüsch versteckt, geht, ruft sie,‘ sage ich, ‚selber aus dem Fenster.‘ Da liefen sie denn zurück, traten ans Fenster, stellten das Licht aufs Fensterbrett: – ‚Gruschenka,‘ rufen sie, ‚Gruschenka, bist du hier?‘ Selber rufen sie es, zum Fenster aber sich hinausbeugen, wollen sie nicht, keinen Schritt wollen sie von mir fortgehen, alles von wegen selbiger Angst, dieweil sie sich vor mir ganz gewaltig fürchteten, und darum wagten sie nicht, von mir fortzugehen. – ‚Aber seht doch, da sind ja Agrafena Alexandrowna,‘ sage ich, gehe zum Fenster und beuge mich selber ganz hinaus, ‚da sind sie ja, dort hinterm Holunderbusch, sie lachen Euch noch zu, seht Ihr denn wahrhaftig nicht?‘ Da glaubten sie mir mit einemmal, erzitterten am ganzen Leibe – waren doch schon gar zu gewaltig in sie verliebt. Und sie kamen ans Fenster und beugten sich selber weit hinaus. Da ergriff ich denn selbigen Briefbeschwerer, Ihr erinnert Euch seiner wohl noch, das ist doch ein Ding von drei Pfund, holte aus und hieb ihnen von hinten gerade auf den Scheitel mit der Ecke. Sie schrien nicht mal auf. Nur sanken sie plötzlich zusammen, ich aber hieb zum zweiten- und drittenmal. Beim drittenmal fühlte ich, daß ich durchgeschlagen hatte. Und da fielen sie plötzlich hin auf den Rücken, das Gesicht nach oben, ganz von Blut überströmt. Ich betrachtete mich darauf selber: ich war nicht mit Blut bespritzt. Ich wischte den Briefbeschwerer ab, legte ihn wieder hin, stieg auf einen Stuhl und nahm selbiges Geld, das hinter den Heiligenbildern lag, nahm das Geld aus dem Umschlag heraus, den Umschlag aber warf ich vor das Bett auf den Fußboden und daneben auch selbiges rosa Bändchen. Darauf ging ich in den Garten, aber mir zitterten noch immer alle Glieder. Ich ging geradeswegs zu selbigem Apfelbaum, in dessen Stamm die Höhlung ist, – Ihr kennt doch selbige Höhlung, ich aber hatte sie mir schon lange gemerkt; in ihr lag auch ein Lappen und Papier, die hatte ich auch schon lange vorbereitet. Ich wickelte selbige Summe in das Papier und dann in das Zeug und stopfte das Paket dann tief hinein. Dort hat es über zwei Wochen gelegen, erst nach dem Krankenhause nahm ich es heraus, selbige Summe meine ich. Nun, und darauf ging ich denn zurück und legte mich wieder in mein Bett und denke so in meiner Angst: ‚Wenn nun Grigorij Wassiljewitsch ganz totgeschlagen ist, so kann es verflucht gefährlich werden, ist er aber nicht ganz totgeschlagen und kommt er wiederum zu sich, so kommt alles wunderschön heraus, sintemal er dann bezeugen wird, daß Dmitrij Fedorowitsch gekommen waren und alsomit sowohl erschlagen als auch das Geld geraubt haben.‘ Und da fing ich denn an vor lauter Zweifel und Ungeduld zu stöhnen, um Marfa Ignatjewna aufzuwecken. Nun, und endlich wachte sie denn auch auf und kam zu mir gelaufen, wie sie aber sah, daß Grigorij Wassiljewitsch nicht da war, lief sie hinaus. Darauf hörte ich denn, wie sie einmal laut aufschrie im Garten. Nun, und dann ging es die ganze Nacht so weiter, ich aber war da schon ganz und gar beruhigt.“

Ssmerdjäkoff hielt inne. Iwan hatte ihm die ganze Zeit wie im toten Schweigen zugehört, ohne sich zu bewegen, ohne auch nur einmal das Auge von ihm abzuwenden. Ssmerdjäkoff dagegen hatte, während er sprach, nur von Zeit zu Zeit flüchtig zu ihm hingesehen, sonst aber immer zur Seite geblickt. Als er seine Erzählung beendet hatte, war er augenscheinlich selbst sehr erregt. Er atmete schwer. Auf seinem Gesicht trat Schweiß hervor. Doch war es unmöglich zu erraten, ob er nun Reue oder überhaupt etwas empfand.

„Wart,“ sagte Iwan, der noch ein wenig zu überlegen schien, „– aber die Tür? Wenn er die Tür erst für dich aufgemacht hat, wie hat dann Grigorij sie schon vor dir offen gesehen? Grigorij war doch vor dir in den Garten gegangen?“

Bemerkenswert ist, daß Iwan dieses mit der ruhigsten Stimme fragte, sogar in einem ganz anderen, auffallend friedlichen Tone, so daß, wenn in dem Augenblick jemand die Tür geöffnet und von der Schwelle sie gesehen hätte, dieser unbedingt geglaubt haben würde, daß sie beide vollkommen ruhig und friedlich über irgendeinen gewöhnlichen, wenn auch vielleicht interessanten Gegenstand miteinander sprächen.

„Was Grigorij Wassiljewitsch da sagt, er hätte diese Tür offen gesehen, so hat ihm das nur so geschienen,“ sagte Ssmerdjäkoff mit spöttisch verzogenem Lächeln. „Das ist ja doch, ich sage Euch, kein Mensch, sondern sozusagen eine Abart von einem störrischen Wallach. Ohne so etwas gesehen zu haben, es ist ihm ja nur so vorgekommen, besteht er darauf, und den wird kein Mensch mehr davon abbringen. Das ist nun schon so ein ganz besonderes Glück für uns beide, daß er sich so darauf versessen hat, denn auf selbige Aussage hin wird man Dmitrij Fedorowitsch zu guter Letzt doch ganz sicherlich verurteilen.“

„Höre,“ unterbrach ihn Iwan Fedorowitsch zerstreut, wie wenn sich seine Gedanken wieder verwirrt hätten und er sich bemühte, irgend etwas zu erfassen. „Höre ... ich wollte dich noch so vieles fragen, ich habe aber vergessen ... Ich vergesse immer und verwirre mich ... Ja! Sag mir wenigstens das eine: warum machtest du das Geldpaket noch im Zimmer auf, und warum ließest du das Kuvert dort liegen? Warum brachtest du es nicht so fort wie es war ...? Als du davon erzähltest, schien es mir, daß du diese Handlung für selbstverständlich und sehr richtig hieltest ... warum aber – das verstehe ich nicht ...“

„Selbiges habe ich aus einem, wie man sagt, ganz speziellen Grunde getan. Denn ein Mensch, der alles weiß und kennt, wie beispielsweise ich, der selbiges Geld schon früher gesehen hat, der vielleicht noch selber geholfen hat, das Bändchen umzubinden, und mit eigenen Augen zugesehen hat, wie das Kuvert versiegelt und mit der Aufschrift bedacht wurde, aus welchem Grunde wird dann dieser Mensch, wenn, sagen wir, er erschlagen hat, das Paket noch aufbrechen und bei seiner Eile das Geld nachzählen, wo er doch schon sowieso ganz genau weiß, was drin ist? Nein, wenn der Räuber beispielsweise einer wie ich gewesen wäre, so hätte er das Paket in die Tasche geschoben, ohne selbiges noch weiter zu untersuchen, und wäre damit verduftet. Hinwiederum hätten Dmitrij Fedorowitsch ganz anders gehandelt: sie wußten von selbigem Geldpaket nur das, was ich ihnen gesagt hatte, selber aber hatten sie es nie gesehen; alsomit hätten sie, wenn sie es, wie man meint, unter dem Kissen gefunden hätten, gleich hier an Ort und Stelle aufreißen und sich vom Inhalt überzeugen müssen, ob denn in ihm auch wahrhaftig selbige Summe drin ist. Das Kuvert aber hätten sie dort liegen lassen, ohne in der Eile nachzudenken und sich zu sagen, daß selbiges Stück Papier gegen sie als Beweis dienen kann, dieweil sie doch nicht zu stehlen gewöhnt sind, denn sie haben doch in ihrem Leben sicherlich noch nie etwas gestohlen, da sie doch ein geborener Edelmann sind. Wenn sie sich aber in diesem Fall auch entschlossen hätten, das Geld zu stehlen, so wäre selbiges für sie, also ihrer Meinung nach, doch nicht wie ein Diebstahl gewesen, sondern sozusagen: ‚Bin gegangen, um mein gestohlenes Eigentum zurückzunehmen,‘ wie sie das ja auch früher in der ganzen Stadt gesagt haben, daß sie gehen und von Fedor Pawlowitsch ihr Eigentum nehmen würden. Selbigen Gedanken habe ich auch bei meinem Verhör dem Staatsanwalt nicht gerade klar und deutlich gesagt, aber ich habe ihn mit anderen Bemerkungen, und als ob ich selber nichts davon begriffe, so geschoben und so gelenkt, daß er schließlich wie von selbst darauf kommen mußte und alsomit nicht ich es ihnen gesagt hätte, so daß der Herr Staatsanwalt sich vor lauter Freude bloß die Oberlippe geleckt hat ...“

„Und das alles, das alles hast du in dieser kurzen Zeit überlegen können?“ fragte Iwan Fedorowitsch ganz entsetzt vor Verwunderung. Wieder sah er Ssmerdjäkoff erschrocken an.

„Erbarmt Euch! Kann man denn so etwas in den paar Sekunden überlegen! Es war doch alles schon voraus überlegt.“

„Nun ... dann hat dir also der Teufel selber geholfen!“ rief Iwan Fedorowitsch aus. „Nein, du bist nicht dumm, du bist viel klüger, als ich dachte ...“

Er erhob sich vom Stuhl, offenbar in der Absicht, zur Beruhigung seiner Nerven ein paarmal im Zimmer auf und ab zu gehen. Er fühlte, daß er die beklemmende Stimmung nicht mehr ertragen konnte. Da jedoch der Tisch den Weg versperrte und er sich zwischen dem Tisch und der Wand fast hätte durchquetschen müssen, so sah er sich nur einmal wie zerstreut um und setzte sich dann wieder hin. Vielleicht war diese Hemmung, daß er nicht hatte gehen können, der Grund, warum er plötzlich dermaßen gereizt auffuhr, als wäre die Wut übermächtig in ihm geworden.

„Höre, du unseliger, du niedriger Mensch! Begreifst du denn wirklich nicht, daß ich, wenn ich dich nicht totschlage, es nur deswegen nicht tue, weil ich dich zu morgen, zur Gerichtssitzung aufbewahre! Gott sieht,“ rief Iwan aus und erhob die rechte Hand, „daß vielleicht auch ich schuldig bin, vielleicht habe ich tatsächlich den geheimen Wunsch gehabt, daß ... der Vater sterben möge, aber ich schwöre dir, so schuldig, wie du glaubst, bin ich nicht, und vielleicht habe ich dich überhaupt nicht dazu angespornt. Nein, nein, ich weiß, ich habe es nicht getan! Aber gleichviel, ich werde mich morgen selbst anzeigen, morgen vor Gericht, ich habe es schon beschlossen! Ich werde alles sagen, alles! Wir werden beide vor die Richter treten! Und was du auch gegen mich vor ihnen aussagen solltest, was du auch gegen mich bezeugst – ich nehme alles auf mich, denn ich fürchte dich nicht! Ich werde selbst alles bestätigen! Aber auch du wirst vor dem Gericht alles gestehen müssen! Du mußt, du mußt es, wir werden zusammen gehen! So wird es sein!“

Iwan sprach es feierlich und energisch, und schon allein an seinem glänzenden Blick sah man, daß es so sein werde.

„Krank seid Ihr, das sehe ich, ganz krank. Eure Augen schimmern ja ganz gelb,“ sagte Ssmerdjäkoff, doch sprach er es ohne jeden Spott, sogar eher mitleidig.

„Zusammen werden wir gehen!“ wiederholte Iwan, „willst du aber nicht mitkommen, einerlei, so werde ich allein alles bekennen.“

Ssmerdjäkoff schwieg eine Weile, als dächte er nach.

„Nichts wird von alledem geschehen, und Ihr werdet auch nicht hingehen,“ sagte er schließlich in einer Weise, als ob sein Ausspruch jeden Einwand ausschließe.

„Du verstehst mich nicht recht!“ sagte Iwan Fedorowitsch vorwurfsvoll.

„Ihr werdet Euch gar zu sehr schämen, alles von Euch einzugestehn. Und noch mehr als Ihr Euch schämen werdet, wird es unnütz sein, dieweil doch ich sagen werde, daß ich Euch nichts von alledem oder auch nur etwas Derartiges gesagt hätte, und daß Ihr entweder irgendeine Krankheit hättet – wonach es ja auch ganz aussieht – oder aber daß Euch das Brüderchen so leid täte, daß Ihr Euch für dasselbe opfern wolltet und daher das alles gegen mich ausgedacht hättet, sintemal Ihr mich alleweil nur für so viel wie eine Mücke gehalten habt, und nicht für einen Menschen. Und wer wird Euch denn glauben, und habt Ihr denn auch nur einen einzigen Beweis?“

„Hör mal, dieses Geld hast du mir doch jetzt gezeigt, um mich zu überzeugen.“

Ssmerdjäkoff nahm das Buch der „Predigten unseres Issaak Ssirin“, das das Geld bedeckte, und schob es beiseite.

„Dieses Geld nehmt an Euch und bringt es fort,“ sagte Ssmerdjäkoff, tief Atem schöpfend.

„Selbstverständlich werde ich es fortbringen! Aber warum gibst du es denn jetzt mir, wenn du dieses Geldes wegen erschlagen hast?“ Iwan blickte ihn verwundert und fragend an.

„Jetzt brauch ich es überhaupt nicht mehr,“ sagte Ssmerdjäkoff mit unsicherer Stimme und winkte müde mit der Hand ab. „Ich hatte früher einmal so einen Gedanken ... daß ich mit selbiger Summe ein anderes Leben anfangen könnte, in Moskau, oder noch besser, im Auslande ... das war einmal so eine Idee. Hauptsächlich aber darum, weil doch ‚alles erlaubt ist‘. Das habt Ihr mich dazumal ganz richtig gelehrt, und gut habt Ihr es mir erklärt: denn wenn es keinen ewigen Gott gibt, so gibt es überhaupt keine Tugend, und dann braucht man sie ja auch gar nicht. Das habt Ihr vollkommen richtig bemerkt. Das habe auch ich eingesehen.“

„Mit eigenem Verstande?“ fragte Iwan mit verzogenem Lächeln.

„Dank Eurer Führung.“

„Und jetzt hast du also angefangen an Gott zu glauben, wenn du das Geld zurückgibst?“

„Nein, das habe ich nicht angefangen,“ murmelte Ssmerdjäkoff.

„So, – warum gibst du es dann zurück?“

„Ach was ... genug davon ... das hat nichts damit zu tun ...“ Ssmerdjäkoff winkte wieder mit der Hand ab. „Ihr sagtet doch dazumal selber alleweil, daß alles erlaubt sei, warum seid Ihr dann jetzig so aufgeregt, Ihr selber, meine ich? Ihr wollt ja sogar hingehen und gegen Euch selber aussagen ... Nur wird davon nichts geschehen! Ihr werdet nichts gegen Euch aussagen!“ wiederholte Ssmerdjäkoff überzeugt und mit fester Stimme.

„Du wirst es sehen!“ sagte Iwan.

„Das kann ja gar nicht geschehen. Klug seid Ihr sehr, Geld liebt Ihr auch, das weiß ich. Achtung und Ehre liebt Ihr gleichfalls, denn Ihr seid sehr stolz. Weiberschönheit liebt Ihr über alle Maßen, am meisten aber doch, reich zu leben und vor niemandem den Hut ziehen zu müssen – das liebt Ihr sogar am allermeisten. Ihr werdet doch nicht dumm sein und Euer Leben auf alle Zeiten verpfuschen – solche Schande vor Gericht auf Euch nehmen! Ihr seid am allermeisten wie Fedor Pawlowitsch, von allen seinen Kindern seid Ihr ihm am ähnlichsten, ganz seine Seele habt Ihr.“

„Du bist nicht dumm,“ sagte Iwan gewissermaßen verwundert; plötzlich schoß ihm das Blut glühend ins Gesicht. „Ich glaubte zuerst, du seiest dumm ... du hast doch jetzt im Ernst gesprochen?“ fragte er, mit einem ganz anderen Blick als bisher Ssmerdjäkoff betrachtend.

„Nur aus Eurem selbigen Stolz habt Ihr geglaubt, daß ich dumm sei. Nehmt das Geld.“

Iwan nahm die drei Geldpakete und schob sie in die Tasche, ohne sie in etwas einzuwickeln.

„Morgen werde ich es vorweisen, wenn wir vor Gericht sind.“

„Es wird Euch dort doch niemand glauben. Als ob Ihr jetzt nicht selber Geld genug hättet, da habt Ihr eben aus dem eigenen Beutel selbige Dreitausend mitgenommen, und weiter nichts.“

Iwan stand auf.

„Ich sage es dir nochmals, daß, wenn ich dich nicht totgeschlagen habe, es nur geschehen ist, weil ich dich zu morgen noch nötig habe. Behalte das, vergiß es nicht!“

„Nun was, erschlagt mich doch. Erschlagt mich jetzt gleich,“ sagte Ssmerdjäkoff plötzlich in ganz eigentümlicher Weise, und der Blick, mit dem er Iwan anblickte, war so sonderbar. „Ihr wagt ja nicht einmal das zu tun,“ fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. „Nichts werdet Ihr mehr wagen, Ihr, die Ihr früher so mutig und verwegen waret.“

„Auf morgen!“ Iwan schritt zur Tür.

„Wartet ... zeigt es mir noch einmal.“

Iwan zog das Geld aus der Tasche und zeigte es ihm. Ssmerdjäkoff blickte es an – mehr denn zehn Sekunden lang.

„Nun, geht,“ sagte er, mit der Hand abwinkend. „Iwan Fedorowitsch!“ rief er plötzlich, ihn noch einmal aufhaltend.

„Was willst du?“ Iwan wandte sich, bereits im Fortgehen begriffen, noch einmal zu ihm zurück.

„Lebt wohl!“

„Auf morgen!“ rief wieder Iwan und verließ das Haus.

Das Schneetreiben hatte noch immer nicht nachgelassen. Das erste Stück vom Hause ging er mit festen, sicheren Schritten, doch plötzlich war ihm, als finge er zu wanken an. „Das muß etwas Physisches sein,“ meinte er bei sich lächelnd. Es war ihm, als wenn jetzt geradezu eine große Freude seine Seele ergriffen hätte. Er fühlte eine grenzenlose Festigkeit in sich: die Zweifel und Ahnungen, die ihn in den letzten langen Wochen so gefoltert hatten, waren überwunden. „Der Entschluß ist gefaßt, und ich werde ihn nicht mehr ändern,“ dachte Iwan und fühlte sich glücklich bei diesem Gedanken. In dem Augenblick stolperte er über irgend etwas und wäre beinahe gefallen. Er blieb stehen und gewahrte schließlich in der matten Dunkelheit vor seinen Füßen das von ihm niedergeworfene betrunkene Bäuerlein. Es lag auf derselben Stelle, wo es nach dem ihm versetzten Stoß hingefallen war. Regungslos und bewußtlos lag es da. Der Schnee hatte ihm schon fast das ganze Gesicht verweht. Iwan beugte sich plötzlich zu dem Liegenden nieder, erfaßte ihn und wollte ihn sich auf den Rücken laden. Da erblickte er weiter rechts Licht in einem Häuschen. Er ging hin, klopfte an den Fensterladen und bat den Kleinbürger, den Besitzer des Häuschens, der ihm die Tür aufmachte, ihm zu helfen, das Bäuerlein bis zur nächsten Wachtstube zu bringen, wofür er ihm drei Rubel versprach. Der Kleinbürger kleidete sich an und trat heraus. Ich werde nicht weiter ausführlich erzählen, wie es Iwan Fedorowitsch gelang, sein Ziel zu erreichen, den Bauer in der Wachtstube noch mit der Bedingung unterzubringen, daß sofort ein Arzt zur Untersuchung herbeigerufen werde, wozu er wieder, ohne zu zählen, Geld für die Ausgaben und „die Mühe“ gab. Ich will nur sagen, daß die Sache eine ganze Stunde in Anspruch nahm. Iwan Fedorowitsch war aber sehr zufrieden. Seine Gedanken schweiften unermüdlich umher und arbeiteten in ihm. „Wenn mein Entschluß für morgen nicht so fest gefaßt wäre,“ dachte er bei sich, und der Gedanke machte ihn fast glücklich, „würde ich mich nicht eine ganze Stunde lang mit diesem betrunkenen Bauern abgegeben haben; ich wäre vorübergegangen und hätte darauf gespuckt, daß er erfrieren könnte ... Wie gut ich mich aber beobachten kann,“ dachte er gleich darauf mit noch größerer Zufriedenheit. „Und die glaubten ja schon, daß ich wahnsinnig werden würde!“ Als er bei seiner Wohnung anlangte, blieb er plötzlich vor der unerwarteten Frage, ob er nicht sofort, unverzüglich zum Staatsanwalt gehen solle, um ihn sogleich von allem zu benachrichtigen, auf der Straße stehen. Er entschied jedoch, sich zum Hause wendend: „Morgen – alles zugleich!“ Doch sonderbar: seine ganze freudige Stimmung und die gewisse erhebende Selbstzufriedenheit hatten ihn wie mit einem Schlage verlassen. Als er dann in sein Zimmer trat, war ihm, als wenn etwas Eisiges plötzlich sein Herz berührt hätte, wie eine Erinnerung, oder richtiger, wie ein Erinnertwerden an etwas Qualvolles und Ekelhaftes, das sich gerade in diesem Zimmer befand, und zwar gerade jetzt, soeben, aber auch schon früher dagewesen wäre. Er ließ sich erschöpft auf den Diwan nieder. Die alte Dienstmagd brachte ihm den Ssamowar, er goß sich ein Glas Tee ein, rührte es aber nicht an. Die Alte schickte er fort. Er stützte den Arm auf die Seitenlehne des Diwans – ihn schwindelte. Er fühlte sich krank und völlig kraftlos. Er wollte bereits in der Diwanecke einschlummern, doch trieb ihn eine innere Unruhe wieder auf; er erhob sich und ging im Zimmer auf und ab, um den Schlaf zu verscheuchen. Mitunter schien es ihm, daß er phantasiere. Doch nicht seine Krankheit beschäftigte ihn. Er setzte sich wieder hin; und da begann er zuweilen um sich zu blicken, nicht ununterbrochen, sondern nur hin und wieder, doch je länger desto schärfer, als ob er etwas zu erspähen suchte. Das tat er immer wieder. Schließlich heftete sich sein spähender Blick aufmerksam auf einen bestimmten Punkt. Ein kurzes Lächeln erschien auf seinen Lippen, und das Blut stieg ihm vor Zorn ins Gesicht bis hinauf über die Stirn. Lange saß er so auf seinem Platz, fest mit beiden Händen den Kopf stützend, doch seine Augen spähten immer noch nach jenem einen Punkt, dorthin nach dem Diwan, der an der gegenüberliegenden Wand stand. Augenscheinlich mußte dort etwas sein, das ihn reizte, irgendein Gegenstand vielleicht, der ihn beunruhigte und quälte und doch anzog ...

IX.
Der Teufel. Iwan Fedorowitschs Alb

Ich bin kein Arzt, und doch muß ich wenigstens einiges zur Erklärung über die Natur der Krankheit Iwan Fedorowitschs sagen. Er befand sich an diesem Abend kurz vor dem Ausbruch eines Nervenfiebers, das sich schon lange in seinem zerrütteten Nervensystem vorbereitet hatte, und dem er nur infolge seiner hartnäckigen Widerstandskraft bis dahin noch nicht erlegen war. Obwohl ich fast nichts von Medizin verstehe, wage ich doch meine Vermutung auszusprechen, daß er vielleicht in der Tat durch übermäßige Willensanspannung den Ausbruch der Krankheit hinausgeschoben hatte, wahrscheinlich sogar in der Hoffnung, sie durch seinen bloßen Willen ganz zu überwinden. Er wußte, daß er nicht gesund war, doch empfand er einen heftigen Widerwillen bei dem Gedanken, in dieser Zeit krank zu werden, gerade in den bevorstehenden schicksalsschweren Stunden seines Lebens, da es hieß, Zeugnis abzulegen, kühn und entschlossen sein Wort zu sagen und „sich vor sich selbst zu rechtfertigen“. Übrigens war er auch schon einmal bei dem berühmten Moskauer Arzt gewesen, den Katerina Iwanowna gerufen hatte. Derselbe hatte ihn aufmerksam angehört und untersucht und darauf gesagt, daß er vielleicht sogar etwas wie – eine Gehirnzerrüttung habe, und war schließlich durchaus nicht erstaunt gewesen über ein gewisses Geständnis, das Iwan Fedorowitsch ihm, seinen Widerwillen und Ekel niederringend, zu guter Letzt gemacht hatte.

„Halluzinationen sind bei Ihrem Zustande sehr leicht möglich,“ hatte der Doktor gemeint, „obgleich man sie noch kontrollieren müßte ... Im übrigen müssen Sie unbedingt sofort, ohne einen Augenblick zu verlieren, mit einer ernsten Kur beginnen, denn sonst könnte es sehr schlimm werden.“ Iwan Fedorowitsch hatte aber den vernünftigen Rat nicht befolgt, hatte sich nicht hingelegt, und auch sonst nichts für seine Gesundheit getan. „Noch kann ich gehen, folglich reichen noch die Kräfte, falle ich hin – dann mag mich pflegen, wer Lust hat,“ dachte er.

So saß er denn jetzt in seinem Zimmer, wußte beinahe selbst, daß er im Fieber phantasierte, und blickte, wie ich schon vorhin sagte, angestrengt zur anderen Wand, als fixiere er dort einen Gegenstand auf dem Diwan. Dort saß plötzlich jemand! Wie und wann er hereingekommen war, das mag Gott wissen, denn als Iwan Fedorowitsch nach der Rückkehr von Ssmerdjäkoff das Zimmer betreten hatte, war niemand in demselben gewesen. Es war das irgendein Herr, oder richtiger, ein russischer Gentleman von der bekannten Sorte, jedenfalls kein sehr junger Mann mehr, einer „qui frisait la cinquantaine“, wie die Franzosen sagen, mit dunklem, ziemlich langem, dichtem, nur stellenweise leicht ergrautem Haar und keilförmig geschnittenem, gleichfalls etwas grau untermischtem Bart. Gekleidet war er in einen kurzen, augenscheinlich vom besten Schneider gearbeiteten, aber jetzt schon ziemlich abgetragenen braunen Rock, in ein Kleidungsstück, das ungefähr vor drei Jahren gearbeitet sein mochte und somit bereits ganz aus der Mode gekommen war, so daß diese Art Röcke von tonangebenden Herren seit etwa zwei Jahren nicht mehr getragen wurden. Die Wäsche, die lange Krawatte in der Art einer Schärpe, kurz, alles war so, wie es eben elegant gekleidete Gentlemen trugen, doch war die Wäsche, wenn man sie etwas näher betrachtete, schon ein wenig schmutzig und die breite Krawatte recht abgenutzt. Die karierten Hosen saßen tadellos, waren aber wiederum zu hell und irgendwie zu eng, jedenfalls trug man schon lange viel weitere, und ebenso war auch der weiße, weiche Filzhut, den der Gast denn doch etwas gar zu unsaisonmäßig mitgeschleppt hatte, nicht mehr zeitgemäß. Mit einem Wort, das Äußere hatte den Anschein von Wohlanständigkeit bei äußerst knappem Taschengelde. Man konnte glauben, daß der Gentleman jener Klasse von arbeitsscheuen Gutsherren angehörte, die zur Zeit der Leibeigenschaft ein faules Leben geführt hatten. Offenbar hatte er etwas mehr von der Welt gesehen und sich in guter Gesellschaft bewegt, hatte früher einmal Verbindungen gehabt und hielt sie vielleicht auch jetzt noch aufrecht, war aber allmählich durch seine Verarmung nach den flotten Jugendjahren und schließlich nach der Aufhebung der Leibeigenschaft zu einer Art von Schmarotzer „guten Tones“ herabgesunken, der sich als ewiger Gast bei alten Bekannten herumtreibt, die ihn dann seines verträglichen Charakters wegen freundlich bei sich leben lassen. Außerdem war er immerhin ein, nun ja, ein anständiger Mensch, den man sogar in der besten Gesellschaft an seinen Tisch setzen konnte, wenn auch, versteht sich, auf einen bescheidenen Platz. Solche Schmarotzer oder Gentlemen mit erträglichem Charakter, die zu erzählen verstehen und zu einer Partie Karten sich gut verwenden lassen (dagegen eine ausgesprochene Abneigung für jede Art von Aufträgen, mit denen man sie belästigen will, empfinden), sind gewöhnlich alleinstehende Menschen, Junggesellen oder Witwer, die mitunter sogar Kinder haben, doch werden diese Kinder dann immer irgendwo fern von ihnen erzogen, gewöhnlich bei irgendwelchen Tanten, deren aber der Gentleman in höherer Gesellschaft fast nie Erwähnung tut, gleichsam als schäme er sich dieser Verwandtschaft. Seiner Kinder entwöhnt er sich mit der Zeit fast ganz, wenn er auch noch hin und wieder, etwa zu seinem Namenstage und zu Weihnachten, Gratulationsbriefe von ihnen erhält und zuweilen sie sogar beantwortet. Die Physiognomie dieses unerwarteten Gastes war nicht gerade gutmütig, aber wiederum harmonisch und jedenfalls – je nach den Umständen – zu jedem liebenswürdigen Ausdruck bereit. Eine Uhr hatte er nicht bei sich, dafür aber trug er eine Schildpattlorgnette an einem schwarzen Bande. Den Mittelfinger der rechten Hand schmückte ein massiver goldener Ring mit einem billigen Opal. Iwan Fedorowitsch schwieg aus Wut und nahm sich vor, überhaupt nicht zu sprechen. Der Gast wartete und saß genau so, wie ein Krippenreiter sitzen würde, der soeben aus dem oberen Stock, in dem man ihm ein Zimmer zugewiesen hat, zum Tee hinabgestiegen ist, um dem Hausherrn bei Tisch Gesellschaft zu leisten, vorläufig aber noch rücksichtsvoll schweigt – da der Hausherr beschäftigt ist oder über irgend etwas mit gerunzelter Stirn nachdenkt, – jedoch zu gleicher Zeit zu jedem liebenswürdigen Gespräche bereit ist, sobald nur der Hausherr damit beginnen will. Plötzlich aber drückte sich in seinem Gesicht eine gewisse Besorgnis aus.

„Hör mal,“ sagte er hastig zu Iwan Fedorowitsch, „entschuldige, wenn ich störe, aber ich will dich ja nur daran erinnern: Du gingst doch zu Ssmerdjäkoff, um ihn über Katerina Iwanowna auszufragen, und nun bist du doch fortgegangen, ohne das Gewünschte erfahren zu haben, du hast es wohl vergessen ...“

„Ach, ja, richtig!“ entschlüpfte es Iwan, und die Sorge verfinsterte sein Gesicht. „Ja, ich vergaß es ... Übrigens ist das jetzt gleichgültig, ich habe doch alles auf morgen hinausgeschoben,“ murmelte er vor sich hin. „Du aber laß dir gesagt sein,“ wandte er sich plötzlich gereizt auffahrend an den Gast, „– ich hätte mich dessen soeben ganz von selbst erinnern müssen, denn gerade das bedrückte mir das Herz! Warum mischst du dich so vorwitzig ein? So könnte ich dir ja glauben, daß du mich darauf gebracht hast, und nicht, daß ich selbst darauf verfallen bin!“

„So glaub’s doch nicht, wenn du’s nicht willst,“ schlug der Gentleman, leise auflachend, freundlich vor. „Was ist denn das für ein Glaube, den man erzwingt? Zudem helfen doch in Glaubensdingen Beweise überhaupt nicht, besonders keine materiellen. Thomas glaubte nicht darum, weil er den auferstandenen Christus sah, sondern weil er schon früher zu glauben gewünscht hatte. Da haben wir jetzt zum Beispiel die Spiritisten ... ich habe sie sehr gern ... denk nur, sie sind überzeugt, daß sie dem Glauben nützen, weil die Teufel ihnen aus jener Welt ihre Hörner zeigen. ‚Das ist doch schon ein materieller Beweis dafür, daß es jene Welt gibt,‘ heißt es. Jene Welt und materielle Beweise – oje, oje! Und schließlich, selbst wenn der Teufel bewiesen ist, so ist doch noch längst nicht gesagt, daß damit auch Gott bewiesen ist! Ich will in die idealistische Gesellschaft eintreten, werde dort bei ihnen Opposition machen, das heißt sozusagen: ‚Bin Realist, aber kein Materialist‘, he–he!“

„Höre,“ sagte Iwan Fedorowitsch und erhob sich plötzlich von seinem Platz. „... Ich bin jetzt ganz wie ... es scheint mir, daß ich phantasiere ... selbstverständlich tue ich es ... im Fieber ... du kannst dort reden was du willst, mir ist alles gleich! Du wirst mich heute nicht mehr so in Wut bringen, wie das vorige Mal. Nur schäme ich mich irgendeiner ... Ich will im Zimmer umhergehen ... Zuweilen sehe ich dich nicht, und dann höre ich auch nicht einmal deine Stimme, ganz wie das vorige Mal, aber ich errate immer irgendwie, was du da brummst, denn du bist ich, ich, ich selbst rede und nicht du! Nur weiß ich nicht, ob ich das vorige Mal schlief, oder ob ich dich im Wachen sah? Ach was, ich werde das Handtuch mit kaltem Wasser anfeuchten und mir auf die Stirn legen, vielleicht vergehst du dann ...“

Iwan Fedorowitsch ging in die Ecke, nahm ein Handtuch, tat, wie er gesagt hatte, und begann dann mit dem nassen Handtuch um den Kopf im Zimmer auf und ab zu schreiten.

„Es gefällt mir, daß wir uns so ohne weiteres auf Du und Du stellen,“ begann wieder der Gast.

„Dummkopf!“ Iwan lachte. „Soll ich etwa anfangen zu dir ‚Sie‘ zu sagen? Ich bin jetzt bei guter Laune, nur in der Schläfe fühle ich noch einen Schmerz ... und im Oberkopf ... Aber philosophiere bitte nicht, wie das vorige Mal. Wenn du dich von hier nicht fortpacken kannst, so schwatz wenigstens etwas Amüsanteres. Kram doch deine Klatschgeschichten heraus, du bist doch ein Schmarotzer, da wärst du ja beim Klatschen in deinem Element. Daß man so einen Albdruck nicht loswerden kann, das ist doch wirklich ...! Aber ich fürchte dich nicht, ich werde dich überwinden! Man wird mich nicht in die Irrenanstalt bringen!“

C’est charmant: ‚Schmarotzer‘. Ja, ich bin gerade in meiner Art, was ich bin. Was bin ich denn sonst auf der Erde, wenn nicht ein Schmarotzer? Übrigens – bei der Gelegenheit: Ich höre dich und, offen gestanden, ich wundere mich ein wenig: Bei Gott, es scheint, daß du allmählich anfängst, mich für ein Etwas, für etwas in der Tat Vorhandenes zu halten, und nicht nur für deine bloße Phantasie, wie du das vorige Mal hartnäckig behauptetest ...“

„Keinen Augenblick akzeptiere ich dich als reale Wahrheit,“ schrie Iwan zornig und wild. „Lüge bist du, meine Krankheit bist du, du bist nichts als ein Fiebergespinst! Nur weiß ich nicht, womit ich dich vernichten könnte ... Ich sehe schon, man wird sich eine Zeitlang quälen müssen. Du bist meine Halluzination. Du bist die Verkörperung meines Ich, übrigens nur eines Teiles meines Ich ... meiner Gedanken und Gefühle, aber nur der niedrigsten und dümmsten. Von diesem Gesichtspunkte aus könntest du mich sogar interessieren, wenn ich nur Zeit hätte, mich mit dir abzugeben ...“

„Erlaube, erlaube, ich werde dich sofort überführen: Vorhin, bei der Straßenlaterne, als du plötzlich Aljoscha anfuhrst und schriest: ‚Das hast du durch ihn erfahren! Woher weißt du, daß er zu mir kommt?‘ Damit meintest du doch mich. Folglich glaubtest du doch eine kleine Sekunde lang, glaubtest du also doch, daß ich wirklich bin,“ sagte der Gentleman mit weichem Lachen.

„Ja, das war eine Schwäche der Natur ... Ich weiß nicht, schlief ich das vorige Mal, oder ging ich umher? Vielleicht sah ich dich damals nur im Traum und gar nicht in Wirklichkeit ...“

„Aber warum warst du denn vorhin so unfreundlich zu ihm, zu Aljoscha, meine ich? Er ist doch ein lieber Junge; ich bin vor ihm noch wegen des Staretz Sossima schuldig.“

„Schweig! Kein Wort von Aljoscha! Wie wagst du es überhaupt, du Lakai!“ Iwan Fedorowitsch lachte wieder.

„Du schimpfst und lachst dabei, – das ist ein gutes Zeichen. Übrigens bist du heute viel liebenswürdiger zu mir als das vorige Mal, aber ich begreife ja auch, woher das kommt: Dieser große Entschluß ...“

„Schweig von dem Entschluß!“ schrie ihn Iwan zornig an.

„Ich verstehe, verstehe schon. C’est noble, c’est charmant. Du gehst morgen hin, um deinen Bruder zu verteidigen, und opferst dich selbst ... C’est chevaleresque ...“

„Schweig! – oder ich gebe dir einen Fußtritt!“

„Zum Teil wird mich das freuen, denn mein Zweck wäre dann erreicht: Gibst du mir einen Fußtritt, so glaubst du folglich an meine Realität, denn einem Fiebergespinst verabreicht man doch keine Fußtritte. Aber weißt du, Scherz beiseite: Mir kann’s ja schließlich egal sein, schimpf nur zu, wenn du Lust hast, aber es ist doch immer besser, etwas höflicher zu sein, wäre es auch nur mir gegenüber. Denn sonst: ‚Dummkopf‘ und ‚Lakai‘ – nun, sag doch selbst, was sind denn das für Worte?“

„Indem ich dich schimpfe – schimpfe ich mich selbst!“ sagte Iwan und lachte wieder kurz auf. „Du bist ich, ich selbst, bloß mit einer anderen Fratze. Du sprichst genau das, was ich schon bei mir denke ... und bist überhaupt nicht imstande, mir etwas Neues zu sagen!“

„Wenn meine Worte mit deinen Gedanken übereinstimmen, so gereicht mir das natürlich nur zur Ehre,“ antwortete der Gentleman zuvorkommend und doch mit persönlicher Würde.

„Bloß nimmst du immer nur meine schlechten Gedanken, und vor allem – die dummen. Dumm und gemein bist du. Furchtbar dumm bist du. Nein, ich kann dich nicht ertragen! Was soll ich tun, was soll ich tun?“ murmelte Iwan wutknirschend.

„Mein Freund, ich will immerhin Gentleman sein und auch als solcher genommen werden,“ begann der Gast in einem Anfall echt schmarotzerhaften, schon im voraus nachgebenden und gutmütigen Ehrgeizes. „Ich bin arm, aber ... das heißt, ich will nicht sagen, daß ich gerade sehr ehrenhaft sei, aber ... es ist doch in der Gesellschaft gewöhnlich als Axiom angenommen, daß ich ein gefallener Engel sei. Aber, bei Gott, ich kann mir noch immer nicht recht vorstellen, auf welche Weise ich einmal ein Engel hätte sein können. Wenn ich es aber wirklich einmal gewesen sein sollte, so muß das jedenfalls schon so lange her sein, daß es, denke ich, keine Sünde sein kann, wenn ich es vergessen habe. Jetzt ist es mir nur um den Ruf eines anständigen Menschen zu tun, und ich lebe, wie es gerade kommt, indem ich mich bemühe, angenehm zu sein. Ich liebe die Menschen aufrichtig – oh, man hat mich in vielen Dingen unglaublich verleumdet! Hier, hienieden, wenn ich zeitweilig wieder einmal zu euch übersiedle, fließt mein Leben dahin, als ob es nun auch was Wirkliches wäre, und das ist es gerade, was mir am meisten gefällt. Denn ich selbst leide doch auch, ganz so wie du, unter dem Phantastischen, und darum liebe ich euren irdischen Realismus. Hier bei euch ist alles bezeichnet, alles ist festgesetzt, hier gibt es Formeln, hier gibt es Geometrie, bei uns aber sind immer nur irgendwelche unbestimmte Gleichungen! Hier gehe ich umher und sinne. Ich liebe das Sinnen. Und zudem werde ich hier auf Erden abergläubisch, – bitte lach nicht: Gerade das gefällt mir, daß ich abergläubisch werde. Ich nehme hier alle eure Angewohnheiten an: es macht mir Spaß, in die öffentliche Badstube zu gehen – kannst du dir das vorstellen? – und ich liebe es, mit Kaufleuten und Popen Schwitzbäder zu nehmen. Meine einzige Schwärmerei ist, mich zu verkörpern – aber endgültig und unwiderruflich – in irgendeine dicke, sieben Pud schwere Kaufmannsfrau und an alles zu glauben, woran sie glaubt. Mein Ideal ist – in die Kirche zu gehen und dort von ganzem und reinem Herzen einem Heiligen ein Licht stellen zu können. Bei Gott, so ist es. Dann hätten meine Leiden ein Ende. Ach, richtig, und dann habe ich noch an etwas Gefallen gefunden, das ist: mich hier bei euch zu kurieren. Im Frühling herrschten die Pocken, da ging ich denn ins Findelhaus und ließ mich gegen die Pocken impfen, – nein, wenn du wüßtest, wie zufrieden ich an jenem Tage war! Ich spendete sogar zehn Rubel für unsere malträtierten slawischen Brüder! ... Aber du hörst mir ja gar nicht zu. Weißt du, du bist heute gar nicht wie sonst.“ Der Gentleman verstummte für eine Weile. „Ich weiß, du bist gestern zu jenem Doktor gegangen ... nun, wie steht es mit deiner Gesundheit? Was hat dir der Doktor denn gesagt?“

„Schafskopf!“ schnitt Iwan kurz ab.

„Dafür bist du doch so klug. Willst du wieder schimpfen? Ich habe ja nicht gerade aus Teilnahme gefragt, sondern nur so. Meinetwegen, brauchst ja weiter nicht zu antworten. Jetzt kommt wieder die schöne Jahreszeit, in der das Rheuma zu zwicken anfängt ...“

„Schafskopf,“ sagte Iwan nochmals.

„Das ist wohl alles, scheint es, was du zu sagen weißt. Ich aber holte mir im vorigen Jahr so einen Rheumatismus, daß ich noch jetzt an ihn zurückdenken muß.“

„Kann denn der Teufel auch Rheumatismus haben?“

„Warum denn nicht, wenn ich mich zuweilen verkörpere. Verkörpere ich mich, so muß ich auch alle Folgen auf mich nehmen. Satanas sum et nihil humani a me alienum puto.

„Wie, was? Satanas sum et nihil humani ... das ist nicht dumm für einen Teufel!“

„Freut mich, daß ich es dir endlich recht gemacht habe.“

„Aber das hast du ja gar nicht von mir genommen!“ – Iwan blieb ganz betroffen stehen. – „Das ist mir niemals in den Kopf gekommen, das habe ich nie gehört oder gedacht ... Das ist sonderbar ...“

C’est du nouveau, n’est-ce pas? Diesmal will ich ehrlich sein und es dir erklären. Also höre: Im Traum, und besonders, wenn man Albdrücken hat, nun, sagen wir, sei es infolge eines verdorbenen Magens oder sonst aus einem Grunde, sieht der Mensch zuweilen dermaßen künstlerische Träume, so komplizierte und reale Wirklichkeit, solche Ereignisse oder sogar eine ganze Welt von Ereignissen, die mit dermaßen feinen Intrigen und unerwarteten Details verknüpft sind, angefangen von unseren höchsten Erscheinungen bis zum letzten Hemdknopf, daß, ich schwöre dir, selbst Ljeff Tolstoj es nicht fertigbrächte, sich so etwas auszudenken. Und dabei sind es durchaus nicht nur Schriftsteller, die solche Träume sehen, zuweilen sind es sogar die simpelsten Leute, Beamte, Popen ... In dieser Beziehung gilt es, noch manches Rätsel zu lösen. Ein Minister gestand mir sogar schlankweg, daß alle seine besten Ideen ihm während des Schlafes kämen. Nun, und so ist es denn auch jetzt. Wenn ich auch nur deine Halluzination bin, so rede ich doch, wie es auch unterm Albdruck vorkommt, mitunter ganz originelles Zeug. Ich sage sogar Dinge, die dir bis jetzt noch nicht in den Kopf gekommen sind, somit sind es denn nicht deine Gedanken, die ich ausspreche, während ich doch nur dein Alb bin und weiter nichts.“

„Du lügst. Dein Ziel ist gerade, mich zu überzeugen, daß du etwas Selbständiges bist und nicht mein Alb, und da bestätigst du nun selbst, daß du ein Traum bist!“

„Mein Freund, heute habe ich eine besondere Methode gewählt, ich werde sie dir später erklären. Wart, wo blieb ich denn eigentlich stehen, wovon sprach ich doch? Ach so! Also ich hatte mich damals erkältet, nur war das nicht bei euch, sondern noch dort ...“

„Wo dort? Sag, wirst du noch lange bei mir bleiben, kannst du nicht fortgehen?“ rief Iwan verzweifelt aus.

Er gab das Gehen auf, setzte sich wieder auf den gegenüberstehenden Diwan, stützte die Arme auf den Tisch und preßte die Fäuste an die Schläfen. Das nasse Handtuch hatte er sich schon vom Kopf gerissen und gereizt fortgeschleudert: es hatte natürlich nicht geholfen.

„Deine Nerven sind zerrüttet,“ bemerkte der Gentleman in unterhaltend-nonchalanter, doch vollkommen freundschaftlicher Weise, „du ärgerst dich sogar deswegen über mich, weil ich mich habe erkälten können. Indessen geschah es auf die natürlichste Weise. Ich eilte damals gerade zu einer diplomatischen Soiree bei einer höheren Petersburger Dame, die Frau Minister werden wollte. Nun, versteht sich: Frack, weiße Binde, Handschuhe, und dabei befand ich mich noch Gott weiß wo. Kurz, um auf die Erde zu gelangen, stand mir noch bevor, den Raum zu durchfliegen ... das ist natürlich nur ein Augenblick, aber ... braucht doch selbst ein Lichtstrahl von der Sonne bis zur Erde ganze acht Minuten, und da nun, stell dir vor, im Frack und in ausgeschnittener Weste! Allerdings können Geister nicht erfrieren, aber da ich mich nun schon einmal verkörpert hatte, so ... Mit einem Wort, man ist zuweilen leichtsinnig, und ich schoß ab. Aber dort im Weltenraum, in diesem Äther oder Wasser, wenn du willst, – ‚und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste‘ und so weiter – dort herrscht doch solch eine Kälte ... das heißt, was sag ich, Kälte! – das kann man doch überhaupt nicht mehr Kälte nennen – stell dir vor: hundertfünfzig Grad unter Null! Du kennst doch den bekannten Scherz der Dorfmädel: Bei dreißig Grad Kälte fordern sie einen Neuling auf, mit der Zunge über ein Beil zu fahren, die friert natürlich sofort an, und der Tölpel reißt sich die ganze Haut von der Zunge ab. Aber das ist doch bloß bei dreißig Grad, und nun denk dir hundertundfünfzig! Da brauchte man ja nur einen Finger ans Beil zu legen, und, ich denke, er wäre – wie nie gewesen ... wenn ein Beil nur dorthin gelangen könnte ...“

„Kann denn ein Beil dorthin gelangen?“ fragte Iwan Fedorowitsch ganz gedankenlos in der Zerstreutheit.

Er spannte seine ganze Kraft an, um seinen Fiebertraum nicht für Wirklichkeit zu halten und nicht endgültig in Wahnsinn zu verfallen.

„Ein Beil?“ fragte der Gast verwundert.

„Nun ja, was würde dort mit einem Beil geschehen?“ bestand Iwan Fedorowitsch eigensinnig und gereizt auf seiner Frage.

„Was mit einem Beil im Weltenraum geschehen würde? Quelle idée! Wenn es irgendwohin weiter fortgeriete, so, denke ich, würde es alsbald anfangen, etwa in der Gestalt eines Trabanten um die Erde zu kreisen, ohne selbst zu wissen, warum. Die Astronomen würden den Auf- und Untergang des Beiles genau feststellen und alles Weitere berechnen. Man würde es in den Kalender eintragen, und das wäre schließlich alles.“

„Du bist dumm, ganz furchtbar dumm!“ sagte Iwan widerwillig. „Sei doch wenigstens etwas klüger, wenn du faselst, sonst werde ich nicht mehr zuhören. Du willst mich durch Realismus besiegen, willst mich überzeugen, daß du bist. Ich aber will nicht glauben, daß du bist! Und ich werde es auch nicht!“

„Aber ich fasele doch gar nicht, das ist doch alles wahr. Leider pflegt die Wahrheit immer etwas wenig geistreich zu sein. Du erwartest, wie ich sehe, entschieden etwas Großes und vielleicht sogar Wundervolles von mir. Das ist sehr schade, denn ich gebe doch nur das, was ich kann ...“

„Philosophiere nicht, Esel!“

„Wo ist denn da Philosophie, wenn meine ganze rechte Seite wie gelähmt war und ich nur noch krächzend ach und weh stöhnen konnte! War natürlich bei der ganzen Medizin: die Krankheit festzustellen, verstehen sie vorzüglich, den ganzen Prozeß erzählen sie dir wie an den Fingern her, schön, aber kurieren – das gibt’s nicht. Da stieß ich bei der Gelegenheit auch auf so einen von den begeisterten Studenten. Der sagte mir: ‚Wenn Sie auch sterben werden, so werden Sie dafür doch ganz genau wissen, an welcher Krankheit Sie, im Grunde genommen, gestorben sind!‘ Und dann noch Ihre neue Angewohnheit, zu Spezialisten zu schicken: ‚Wir stellen nur die Diagnose,‘ heißt es, ‚aber fahren Sie doch zu dem und dem Spezialisten, der wird Sie dann schon kurieren.‘ Der frühere Doktor, der alle Krankheiten kurierte, ist heutzutage ganz und gar verschwunden, aber ganz, sag ich dir, jetzt gibt’s nur noch Spezialisten, die fortwährend in den Zeitungen annoncieren. Nehmen wir an: Deine Nase ist krank. Schön, man schickt dich nach Paris; dort, heißt es, ist ein europäischer Spezialist, der nur Nasen kuriert. Du kommst nach Paris, er untersucht deine Nase: ‚Ich kann Ihnen,‘ sagt er, ‚nur das rechte Nasenloch kurieren, denn die linken Nasenlöcher kuriere ich nicht, das ist nicht meine Spezialität, aber fahren Sie doch, wenn ich mit Ihnen fertig bin, nach Wien, dort wird Ihnen ein besonderer Spezialist das linke Nasenloch kurieren.‘ Was tun? Ich griff zu den Volksmitteln. Ein alter deutscher Doktor riet mir, mich in der Badstube oben auf der Schwitzbank mit Honig und Salz abzureiben. Ich ging natürlich, allein schon, um ein überflüssiges Mal in die Badstube zu kommen, oder richtiger, einzig und allein darum, schmierte mich vom Nacken bis zum Hacken kräftig ein, aber von Nutzen – keine Spur. In meiner Verzweiflung schrieb ich an den Grafen Mattei nach Mailand, der schickte mir ein Buch und Tropfen, – Gott mit ihm. Und stell dir vor: Hoffs Malzextrakt half schließlich! Ich kaufte ihn ganz zufällig, halb aus Versehen, trank anderthalb Glas, und weg war alles, wie mit der Hand, ich hätte sofort tanzen können. Ich beschloß sogleich, ihm meinen Dank durch die Zeitung zu übermitteln. Jawohl: das Gefühl der Dankbarkeit war in mir zu Wort gekommen. Und nun, was glaubst du wohl, daraus entstand wiederum eine neue Geschichte: In keiner einzigen Redaktion wollte man meine ‚Danksagung‘ annehmen! ‚Es würde sich doch zu rückständig ausnehmen,‘ hieß es, ‚niemand wird daran glauben, le diable n’existe point. Lassen Sie es doch anonym drucken.‘ Nun, dachte ich, was ist denn das für ein Dank, wenn er anonym gesagt wird? Ich scherzte noch mit dem Büropersonal: ‚Nur an Gott glauben,‘ sagte ich, ‚ist in unserem Jahrhundert zu rückständig, ich aber bin doch der Teufel, an mich kann man doch –!‘ ‚Sehr wohl,‘ sagten sie, ‚wer glaubt denn nicht an den Teufel, aber es geht trotzdem nicht, es könnte der Richtung schaden. Oder, es sei denn, daß wir es als Scherz brächten?‘ Nun, als Scherz, dachte ich, wird es nicht geistreich sein. So ist es denn nicht gedruckt worden. Und wirst du’s mir glauben, das liegt mir noch immer auf dem Herzen. Selbst meine besten Gefühle, wie zum Beispiel die Dankbarkeit, sind mir formell verboten, und zwar einzig und allein wegen meiner sozialen Stellung.“

„Fängst du schon wieder mit deiner Philosophie an?“ Iwan knirschte innerlich vor Haß.

„Gott bewahre mich davor! Aber es geht doch nicht, man muß sich doch zuweilen auch ein bißchen beklagen dürfen. Ich bin arg verleumdet worden. Da sagst du mir nun in jedem Augenblick, ich sei dumm. Daran erkennt man sofort, daß du noch ein junger Mann bist. Mein Freund, es kommt nicht immer nur auf den Verstand an. Ich habe von Natur ein gutes Herz und heiteres Gemüt, – ‚ich habe ja doch auch schon etliche Vaudevilles ...‘[28] Du scheinst mich ja entschieden für einen altgewordenen Chlestakoff[29] zu halten, indessen ist mein Schicksal ein viel ernsteres. Durch irgendeine zeitweilige Bestimmung, die mir eigentlich bis jetzt noch nicht recht in den Schädel will, bin ich dazu bestimmt, zu ‚verneinen‘, während ich doch aufrichtig gut und zur Verneinung total unbegabt bin. ‚Nein, geh mal und verneine,‘ heißt es da, ‚ohne Verneinung gibt’s keine Kritik. Was aber wäre denn das für eine Zeitung, in der es keine kritische Abteilung gäbe? Ohne Kritik gäbe es nichts als „Hosianna“. Fürs Leben aber ist „Hosianna“ allein zu wenig, dieses „Hosianna“ muß vorher unbedingt durch den Schmelzofen der Zweifel gegangen sein,‘ nun, und so weiter in dem Tone. Übrigens mische ich mich in diese ganze Sache nicht hinein, denn, schließlich, was geht’s mich an: nicht ich habe geschaffen, folglich trage auch nicht ich die Verantwortung. Na ja, da hat man denn also den Sündenbock ausgesucht, ihn gezwungen, in der ‚kritischen Abteilung‘ zu schreiben, und so gab’s dann Leben. Wir begreifen diese Komödie: Ich, zum Beispiel, verlange für mich einfach und geradezu Vernichtung. ‚Nein, du sollst leben,‘ heißt es da, ‚denn ohne dich würde es nichts geben. Wenn alles auf der Welt vernünftig wäre, so würde nichts geschehen. Ohne dich würde sich nichts ereignen, es ist aber nötig, daß es Ereignisse gibt.‘ Und so verbeiße ich denn meinen Ärger und diene, damit es Ereignisse gibt, und schaffe auf Befehl Unvernünftiges. Die Menschen aber –, die nehmen, und dazu noch bei ihrem unstreitigen Verstande, diese ganze Komödie für etwas Ernsthaftes! Darin besteht denn auch ihre Tragödie. Nun, und sie leiden natürlich, aber ... immerhin leben sie doch dafür, leben sie realiter, und nicht nur in der Phantasie! Denn gerade das Leiden – das ist ja das Leben. Was würde es ohne Leiden für Freuden geben, wo bliebe da die Befriedigung? Alles würde sich in ein endloses Gebet verwandeln. Zwar wäre das heilig, dafür aber auf die Dauer doch recht langweilig, denke ich. Nun, und ich? Ich leide, aber ich lebe doch nicht. Ich bin das X in einer unbestimmten Gleichung. Ich bin irgendein Phantom des Lebens, das alle Enden und Anfänge verloren, und schließlich sogar selbst vergessen hat, wie es sich nennen soll. Du lachst ... nein, du lachst nicht, du ärgerst dich schon wieder. Du ärgerst dich fortwährend, du verlangst immer nur Kluges, ich aber kann dir nur sagen, daß ich dieses ganze Weltenraumleben, alle Titel und Ehren hergeben würde, nur um mich in die Seele einer sieben Pud schweren Kaufmannsfrau verkörpern und Gott Lichte stellen zu können.“

„Also auch du glaubst nicht mehr an Gott?“ fragte Iwan mit gehässigem Lachen.

„Das heißt, wie soll ich dir sagen, wenn du nur im Ernst ...“

„Gibt es einen Gott oder gibt es keinen?“ schrie Iwan plötzlich wie in tierischer Wut auf.

„Ah, so fragst du im Ernst? Mein Lieber, bei Gott, ich weiß es nicht. Sieh, da habe ich ein großes Wort ausgesprochen.“

„Du weißt es nicht und siehst doch Gott? Nein, du bist nicht ein Ding für dich, du bist – ich, du bist ich und sonst nichts! Schmutz bist du, nichts als meine Phantasie bist du!“

„Das heißt, wenn du willst, bin ich mit dir ganz derselben ... Philosophie, – das wäre der richtige Ausdruck, und auch im übrigen das Richtige und Gerechte. Je pense donc je suis, das weiß ich bestimmt, und was das übrige um mich herum betrifft, alle diese Welten, Gott, und sogar der Teufel selbst, – das alles ist für mich nicht bewiesen: ob es an und für sich, sozusagen selbständig besteht, oder einzig und allein meine Emanation ist, die folgerichtige Entwicklung meines Ich, das zeitweilig und individuell existiert ... mit einem Wort: ich breche lieber kurz ab, denn es scheint, daß du sogleich aufspringen und mich prügeln willst.“

„Könntest du nicht lieber irgendeine Anekdote erzählen!“ fragte Iwan krankhaft gequält.

„Das kann ich sehr wohl. Ich habe gerade eine Anekdote, die gut zu unserem Thema paßt, oder vielmehr keine Anekdote, sondern so eine Legende. Da wirfst du mir nun Unglauben vor: ‚siehst und glaubst doch nicht.‘ Aber, mein Freund, ich bin ja doch nicht allein so, dort bei uns sind jetzt alle ganz konfus geworden, und das nur infolge eurer Wissenschaft. Solange es noch Atome gab, fünf Sinne, vier Elemente, nun, da hielt sich alles noch irgendwie im Leim. Atome gab es ja auch in der Alten Welt. Als man aber bei uns erfuhr, daß ihr dort bei euch das ‚chemische Molekül‘ und das ‚Protoplasma‘ entdeckt habt, und weiß der Teufel, was sonst noch, – da fühlte man sich bei uns sozusagen wie begossen und wurde kleinlaut. Der denkbar größte Blödsinn hub an. Vor allem – Aberglauben, Klatsch! Klatsch gibt es ja bei uns ebensoviel wie bei euch, sogar noch ein wenig mehr – und dann zum Schluß die Anzeigen! Bei uns gibt es doch auch so eine Abteilung zur Kenntnisnahme gewisser ‚Nachrichten‘. Nun also, diese verrückte Legende, noch aus dem Mittelalter – aus unserem, nicht aus eurem –, und denk nur, selbst bei uns glaubt niemand an sie, außer den sieben Pud schweren Kaufmannsfrauen, das heißt wiederum unsere Kaufmannsfrauen, nicht eure. Alles, was bei euch ist, ist auch bei uns – das will ich dir mal aus purer Freundschaft aufdecken, obgleich es eines unserer Geheimnisse und euch mitzuteilen verboten ist. Also diese Legende handelt vom Paradiese. Es war einmal, heißt es, hier bei euch auf der Erde so ein Denker und Philosoph, der ‚alles verneinte, Gesetze, Gewissen, Glaube‘, vor allen Dingen aber – das zukünftige Leben. Er starb, glaubte directement in Finsternis, Tod und Nichtsein zu geraten, aber siehst du wohl, da steht vor ihm – das zukünftige Leben. Er wunderte sich und ward ungehalten. ‚Das widerspricht meinen Überzeugungen,‘ sagte er. Nun, und dafür wurde ihm dann der Prozeß gemacht, und er wurde verurteilt ... das heißt, sieh mal, du mußt mich entschuldigen, ich gebe doch nur das wieder, was ich gehört habe, und es ist ja nur eine Legende ... Also man verurteilte ihn zu folgendem: in der Finsternis eine Quadrillion Kilometer zu durchwandern (bei uns rechnet man doch jetzt nach Kilometern), und erst wenn er diese Quadrillion Kilometer hinter sich hat, soll ihm das Paradiesestor geöffnet und alles verziehen werden ...“

„Aber was habt ihr in jener Welt sonst noch für Qualen, außer dieser Quadrillion?“ unterbrach ihn Iwan, plötzlich ganz eigentümlich belebt.

„Was für Qualen? Ach, frage lieber nicht danach! Früher gab es noch dies und das, jetzt dagegen hat man sich fast nur auf die abstrakten, auf die geistigen Qualen verlegt, so – ‚Gewissensbisse‘ und ähnlicher Blödsinn. Das ist gleichfalls von euch eingeführt, infolge der ‚Milderung‘ eurer Sitten. Und wer hat dabei gewonnen? Gewonnen haben nur die ‚Gewissenlosen‘, denn was können ihnen Gewissensbisse anhaben, wenn sie überhaupt kein Gewissen besitzen? Dafür müssen jetzt die anständigen Leute darunter leiden, die noch etwas Gewissen und Ehre im Leibe haben ... Das sind so die Reformen auf unvorbereitetem Boden, und die dazu noch nach anderen Einrichtungen kopiert werden, – nichts als Schaden kommt dabei heraus! Da ist doch das frühere Feuerlein eine ganz andere Sache ... Nun also, dieser zur Quadrillion Verurteilte stand, sah und legte sich dann quer auf den Weg hin: ‚Ich will nicht gehn, aus Prinzip werde ich nicht gehn!‘ Nimm die Seele eines russischen Atheisten und mische sie mit der Seele des Propheten Jonas, der drei Tage und drei Nächte lang im Bauche des Walfischs schmollte, – da hast du den Charakter dieses Denkers, der sich quer über den Weg legte.“

„Auf was legte er sich denn dort hin?“

„Nun, es wird doch wahrscheinlich etwas dagewesen sein, auf was man sich hinlegen konnte. Du lachst doch nicht?“

„Bravo!“ rief Iwan, immer noch in derselben angespannten Belebung. Er hörte mit auffallendem Interesse zu. „Nun, was? und liegt er auch jetzt noch?“

„Das ist’s ja, daß er nicht mehr liegt. Er lag fast tausend Jahre lang, da stand er plötzlich auf und ging.“

„So ein Esel!“ rief Iwan unwillkürlich aus und lachte nervös auf – schien aber dabei immer noch alle Sinne wie im Krampfe anzuspannen, um sich über ein gewisses Etwas klar zu werden oder zu kombinieren. „Kommt denn das nicht auf eins hinaus, ob man ewig liegt oder eine Quadrillion Kilometer geht? Das wäre doch ein Marsch von einer Billion Jahren?“

„Sogar noch viel mehr! Schade, ich habe keinen Bleistift und kein Papier bei mir, sonst könnte man es sofort berechnen. Aber er ist ja schon längst angekommen, und hier erst beginnt die Anekdote.“

„Wie das – angekommen? Wo hat er denn die Billion Jahre hergenommen?“

„Du denkst nun wieder an unsere jetzige Erde! Aber diese Erde hat sich doch vielleicht selbst schon billionenmal wiederholt. Nun, sie hat sich eben ausgelebt, ist vereist, ist gesprungen, auseinandergeplatzt, in kleine Stücke zersprengt, hat sich in ihre Grundelemente zerlegt, dann ward wieder ‚eine Feste zwischen den Wassern‘, und so weiter, dann wieder ein Komet, wieder eine Sonne, aus der Sonne wieder eine Erde, – aber diese Entwicklung hat sich doch vielleicht schon unzählige Mal wiederholt, und immer genau in ein und derselben Form, alles bis aufs Tüpfelchen genau so wie es war. Eine Langweile, sag ich dir, die geradezu kränkend unanständig ist ...“

„Schön, schön, aber was geschah dann, als er ankam?“

„Tja, kaum hatte sich ihm das Paradies erschlossen, kaum war er eingetreten, – versteh: noch war er keine zwei Sekunden im Paradiese gewesen ... nach der Uhr berechnet, nach der Uhr (obgleich seine Uhr, meiner Meinung nach, in seiner Tasche sich inzwischen schon in ihre Grundelemente hätte auflösen müssen) – also, wie gesagt, er war noch keine zwei Sekunden im Paradiese gewesen, als er schon ausrief, daß man für diese zwei Sekunden nicht nur eine Quadrillion, sondern quadrillionmal eine Quadrillion Kilometer gehen könne, auch wenn man diese womöglich noch in die quadrillionste Potenz erhöbe! Mit einem Wort, er sang sein ‚Hosianna‘, verstand aber darin nicht maßzuhalten, so daß dort einige von etwas edlerer Gesinnungsart ihm in der ersten Zeit nicht einmal die Hand reichen wollten. Der war ihnen denn doch gar zu eifrig zu den Konservativen übergegangen. Eine russische Natur. Wie gesagt: eine Legende. Als was gekauft, als das verkauft. Das also wäre noch so ein Beispiel von den bei uns verbreiteten Begriffen über diese Dinge.“

„Jetzt habe ich dich gefangen!“ rief Iwan plötzlich mit geradezu kindlicher Freude aus, als hätte er sich endlich einer bestimmten Sache erinnert. „Diese Anekdote von den Quadrillion Jahren, – die habe ich mir selbst ausgedacht! Ich war damals siebzehn Jahre alt, ich war noch im Gymnasium ... ich hatte damals diese Anekdote verfaßt und erzählte sie darauf einem Mitschüler, Korowkin hieß er, das war in Moskau ... Diese Anekdote ist so charakteristisch, daß ein anderer Autor ganz ausgeschlossen ist! Ich hatte sie nur fast vergessen ... aber jetzt habe ich mich ihrer unbewußt wieder erinnert, – sie ist mir ganz von selbst wieder eingefallen, ich selbst habe mich ihrer erinnert, und nicht du hast sie mir erzählt! Wie man sich eben zuweilen einer Sache unbewußt erinnert, wie einem plötzlich tausend Dinge einfallen, selbst wenn man zum Schafott geführt wird ... sie ist mir im Traum wieder eingefallen. Und dieser Traum bist du! Ja, nichts als ein Traum bist du, du existierst überhaupt nicht!“

Der Gentleman lachte:

„Gerade die Heftigkeit, mit der du mich ablehnst, sagt mir, daß du trotzdem an mich glaubst.“

„Nicht im geringsten! Kein Hundertstel glaube ich!“

„Aber ein Tausendstel doch. Die homöopathischen Bruchteile sind ja vielleicht gerade die stärksten. Gestehe nur, daß du, nun, sagen wir, ein Zehntausendstel doch glaubst ...“

„Keinen Augenblick!“ fuhr Iwan jähzornig auf. „Übrigens ... wünschte ich, an dich zu glauben!“ fügte er plötzlich sonderbar hinzu.

„Aha – a! Das ist mir mal ein Eingeständnis! Aber ich bin gutmütig, ich werde dir auch hierbei helfen. Also höre: Ich habe dich gefangen, nicht du mich! Ich habe dir absichtlich deine eigene Anekdote erzählt, die du so gut wie vergessen hattest, damit du jeglichen Glauben an mich verlörest.“

„Du lügst! Der Zweck deines Erscheinens ist, mich zu überzeugen ... daß du bist.“

„Stimmt. Aber das Schwanken, das Zweifeln, die Unruhe, der Kampf des Glaubens mit dem Unglauben, – das ist doch für einen gewissenhaften Menschen, wie du zum Beispiel, mitunter eine solche Qual, daß er sich lieber erhängt. Gerade weil ich weiß, daß du ein Körnchen Glauben an mich hast, tröpfelte ich dir jetzt eine gehörige Portion Unglauben ein, indem ich dir diese Anekdote erzählte. Ich lenke dich jetzt zwischen Glauben und Unglauben abwechselnd hin und her, und verfolge dabei natürlich meinen besonderen Zweck. Wie gesagt: eine neue Methode. Denn sobald du endgültig jeden Glauben an mich verloren haben wirst, wirst du sofort anfangen mir ins Gesicht zu versichern, daß ich kein Traum sei, sondern wirklich existiere. Ich kenne dich doch. Und dann werde ich eben mein Ziel erreichen. Mein Ziel aber ist ein edles. Ich werde nur ein winziges Körnchen Glauben in dich werfen, und daraus wird eine Eiche erwachsen, – und noch dazu solch eine Eiche, daß du, mit diesem Baume in der Brust, dich noch zu den Einsiedlern und den makellosen Jungfrauen wirst gesellen wollen, denn im geheimen willst du das, sogar sehr. Wirst noch Heuschrecken essen und dich in die Wüste schleppen!“

„Ah! So mühst du Folterknecht dich um mein Seelenheil?“

„Man muß doch wenigstens irgend einmal auch ein gutes Werk tun. Aber ärgern tust du dich – hü! Das tust du wahrlich, wie ich sehe.“

„Narr! ... Doch sag’: hast du schon einmal auch solche versucht, die nur von Heuschrecken leben, siebzehn Jahre lang in der Wüste beten, mit Moos bewachsen?“

„Mein Täubchen, das ist ja das einzige, was ich bis jetzt getan habe! Die ganze Erde und alle Welten vergißt du, sag ich dir, wenn du dich einmal an einen solchen geheftet hast! Ein solcher Brillant ist denn doch gar zu kostbar. Eine einzige solche Seele ist mitunter ein ganzes Sternbild wert! – wir haben doch unsere eigene Arithmetik. So ein Sieg ist dann auch etwas teuer! Stehen doch einige von ihnen in ihrer Entwicklung, bei Gott, nicht unter dir, wenn du mir das auch nicht glauben wirst. Solche Abgründe von Glauben und Unglauben können sie in ein und demselben Augenblick erfassen, daß, Hand aufs Herz, man zuweilen meint, es fehlte nur noch ein Härchen, und der Mensch fliegt hinab – ‚kopfüber mit den Beinen in die Höh‘, wie der Schauspieler Gorbunoff sagt.“

„Nun, und? Bist mit langer Nase abgezogen?“

Mon ami,“ bemerkte der Gast belehrend, „mit einer langen Nase abzuziehen, ist mitunter immerhin besser, als ganz ohne Nase, wie noch vor kurzem ein kranker Marquis, den wahrscheinlich ein Spezialist behandelt hatte, in der Beichte seinem Geistesvater, einem Jesuiten, gestand. Ich war zugegen – ganz allerliebst, sag ich dir! ‚Pater,‘ ruft er, ‚gebt mir meine Nase wieder!‘ und schlägt sich vor die Brust. – ‚Mein Sohn,‘ antwortet der alte Fuchs salbungsvoll, ‚alles geschieht nach den unerforschlichen Ratschlüssen der Vorsehung, und großes Leid zieht zuweilen einen großen, wenn auch uns Menschen zuerst unsichtbaren Vorteil nach sich. Wenn ein strenges Geschick Sie Ihrer Nase beraubt hat, so ergibt sich daraus für Sie wenigstens der Vorteil, daß Ihnen hinfort niemand mehr wird sagen können, Sie seien mit einer langen Nase abgezogen.‘ – ‚Heiliger Pater, das ist kein Trost!‘ ruft der verzweifelte Marquis, ‚ich würde im Gegenteil überglücklich sein, mein ganzes Leben lang jeden Tag mit einer langen Nase abzuziehen, wenn sie nur an der richtigen Stelle säße.‘ – ‚Mein Sohn,‘ sagt der Pater seufzend, ‚man darf nicht alle Erdengüter zugleich verlangen, das wäre schon Murren wider die Vorsehung, die Sie selbst hierbei nicht vergessen hat: denn wenn Sie so zum Herrn emporschreien, wie Sie es soeben getan haben, daß Sie mit Freuden bereit wären, Ihr ganzes Leben lang mit langer Nase abzuziehen, so hat die Vorsehung mittelbar auch diesen Ihren Wunsch schon im voraus erfüllt: denn indem Sie Ihre Nase verloren, zogen Sie doch gewissermaßen mit einer langen Nase ab ...‘“

„Pfui, wie dumm!“

„Mein Freund, ich wollte dich ja nur erheitern. Aber ich schwöre dir, das ist die echteste Jesuitenkasuistik, und du kannst mir glauben, daß ich Wort für Wort wiederhole, was ich gehört habe. Gerade dieser Fall machte mir viel zu schaffen. Der unglückliche junge Mann kehrte nach Haus zurück und erschoß sich in derselben Nacht; ich wich natürlich nicht von seiner Seite und blieb bis zum letzten Augenblick bei ihm ... Überhaupt bieten mir diese Beichtkästlein der Jesuiten die liebste Zerstreuung in traurigen Lebensstunden. Da will ich dir doch noch einen Fall erzählen, ganz kürzlich erlebte ich ihn. Zum greisen Pater kommt so eine kleine, schmucke Blondine, eine Normannin, von etwa zwanzig Jahren. Ein Stück Natur, sag ich dir, die Formen wie gedrechselt, eine Schönheit – daß ihm der Mund wässert! Sie beugt sich nieder und flüstert dem Pater durch die kleine Öffnung ihre Sünde zu. ‚Was sagen Sie, meine Tochter, sind Sie schon wieder gefallen?‘ ruft der Pater entsetzt. ‚Oh, Sankta Maria, was höre ich: schon mit einem anderen! Aber wie lange wird sich das noch fortsetzen, und schämen Sie sich denn nicht!‘ ‚Ah, mon père,‘ antwortet die Sünderin, in Reuetränen aufgelöst: ‚Ça lui fait tant de plaisir et à moi si peu de peine!‘ Nun, kannst du dir solch eine Antwort vorstellen! Da trat selbst ich zurück: das war der Schrei der Natur selbst, das ist ja, wenn du willst, sogar besser als die leibhaftige Unschuld! Ich erließ ihr denn auch sofort die Sünde und wandte mich schon zum Gehen, war aber sogleich gezwungen, wieder zurückzukehren. Wie ich höre, flüstert ihr der Pater etwas zu: er bestellt sie für den Abend zum Rendezvous! Dabei war er ein Greis, ein Kieselstein – und war doch in einem Augenblick gefallen! Die Natur, die Wahrheit der Natur nahm wieder mal das ihrige! Was, biegst du schon wieder die Nase fort, ärgerst du dich schon wieder? Ich weiß wirklich nicht, womit ich es dir zu Dank machen könnte ...“

„Verlaß mich, du klopfst in meinem Hirn wie ein Albdruck, der nicht loszuwerden ist,“ stöhnte Iwan schmerzgepeinigt – in der Ohnmacht gegen seine Vision. „Du langweilst mich, du bist unerträglich und qualvoll! Viel würde ich dafür geben, wenn ich dich hinauswerfen könnte!“

„Ich rate dir nochmals, mäßige deine Ansprüche, verlange von mir nicht ‚alles Große und Schöne‘, und du wirst sehen, wie freundschaftlich wir uns beide einleben werden,“ sagte der Gentleman eindringlich. „Du ärgerst dich ja im Grunde nur deswegen über mich, weil ich dir nicht irgendwie in rotem Lichte, ‚donnernd und blitzend‘ und mit versengten Schwingen erschienen bin, sondern mich in so bescheidener Gestalt vorgestellt habe. Du bist gekränkt, erstens in deinen ästhetischen Gefühlen und zweitens in deinem Stolze: Wie, denkst du, wie wagt zu einem so großen Manne ein so lumpiger Teufel zu kommen? Nein, in dir steckt doch noch diese romantische Ader, die schon Belinskij so verspottet hat. Was ist da zu machen, junger Mann! Als ich mich vorhin zu dir aufmachte, da dachte ich schon einen Augenblick daran, mich zum Scherz als verabschiedeten Wirklichen Staatsrat vorzustellen, der im Kaukasus gedient hat, mit dem persischen Orden des Löwen und der Sonne auf dem Frack. Aber, offen gestanden, mir fehlte der Mut dazu, denn du hättest mich doch zweifellos schon allein dafür durchgeprügelt, daß ich gewagt habe, mir nur den besagten Stern des Löwen und der Sonne anzustecken und nicht mindestens den Polarstern oder den Sirius. Und immer wieder wirfst du mir vor, daß ich dumm sei. Aber, mein Gott, ich erhebe ja gar keinen Anspruch darauf, mich mit dir, was den Verstand betrifft, irgendwie gleichstellen zu wollen. Als Mephistopheles dem Faust erschien, da sagte er von sich, daß er das Böse wolle, doch stets nur das Gute schaffe. Nun, das mag meinetwegen sein wie es will, ich dagegen bin ganz das Gegenteil. Ich bin vielleicht der einzige Mensch in der ganzen Natur, der die Wahrheit liebt und aufrichtig das Gute wünscht. Ich war zugegen, als das am Kreuz gestorbene Wort in den Himmel einging und mit sich die Seele des ihm zur Rechten verschiedenen Schächers emportrug. Ich hörte das Freudejauchzen der Cherubim, die ‚Hosianna‘ sangen, und den Donnerschrei des Entzückens der Seraphim, von dem der Himmel und das ganze Gebäude der Welten erbebten. Und sieh, ich schwöre dir bei allem, was heilig ist, ich wollte schon in den Chor einstimmen, wollte mit allen Engeln aufjauchzen: ‚Hosianna!‘ Schon drängte es aus der Brust, schon wollte es sich von der Zunge losreißen ... ich bin doch, wie du weißt, sehr sensibel und künstlerisch empfänglich. Aber die gesunde Vernunft – oh, das ist die unheilvollste Eigenschaft meiner Natur – hielt mich auch hier in den pflichtschuldigen Grenzen zurück, und ich versäumte den Augenblick! Denn was, dachte ich im selben Augenblicke, was würde die Folge meines ‚Hosianna‘ sein? Es würde sofort alles in der Welt erlöschen, und kein einziges Ereignis würde sich mehr dort zutragen. Und so war ich denn einzig und allein aus Pflichtbewußtsein in meinem Dienst und infolge meiner sozialen Stellung gezwungen, das Gute in mir zu ersticken und bei den Schweinereien zu bleiben. Die Ehre des Guten nimmt jemand restlos für sich in Anspruch, mir aber ist ausschließlich das Gemeine zugewiesen. Aber ich beneide ihn nicht wegen der Ehre, auf Kosten anderer zu leben, ich bin nicht ehrgeizig. Warum aber bin nur ich allein von allen Lebewesen der Welt den Flüchen aller anständigen Leute geweiht und sogar ihren Fußtritten, denn, wenn ich mich verkörpere, muß ich mitunter auch diese Folgen auf mich nehmen. Ich weiß ja, daß es hierbei ein Geheimnis gibt, aber dieses Geheimnis will man mir um keinen Preis aufdecken, denn es wäre möglich, daß ich dann, wenn ich erraten hätte, um was es sich handelt, mein ‚Hosianna‘ gröhlen würde: und darauf verschwände sofort das notwendige Minus, und in der ganzen Welt höbe ‚Vernünftigkeit‘ an, und damit, versteht sich, hätte alles ein Ende, sogar die Zeitungen und sonstigen Blätter, denn wer würde dann noch auf welche abonnieren. Ich weiß ja, daß ich mich zu guter Letzt aussöhnen, einmal auch meine Quadrillion abgehen und dann das Geheimnis erfahren werde. Bis dahin aber – schmolle ich, verbeiße meinen Ärger und erfülle meine Bestimmung, das ist: Tausende zu verderben, auf daß sich einer rette. Zum Beispiel, wieviel Seelen hieß es da verderben, wieviel ehrenhafte Reputationen verunglimpfen, nur um den einzigen gerechten Hiob zu ergattern, mit dem man mich damals vor Olims Zeiten noch so hundsgemein beschummelt hat! Nein, solange das Geheimnis noch nicht aufgedeckt ist, gibt es für mich zwei Wahrheiten: eine, die dort bei ihnen und mir noch völlig unbekannt ist, und dann die andere, meine Wahrheit. Und noch weiß man nicht, welche von beiden reiner sein wird ... Bist du eingeschlafen?“

„Warum nicht gar!“ stöhnte Iwan haßerfüllt. „Alles, was es nur Dummes in meiner Natur gibt, was ich schon längst überlebt, in meinem Verstande durch- und durchgekaut und wie verwestes Aas fortgeworfen habe, – das trägst du mir wieder vor, als wäre es etwas ganz Neues!“

„Also wieder war’s nicht recht! Und ich glaubte sogar, dich schon allein mit der literarischen Fassung zu gewinnen: Dieses ‚Hosianna‘ im Himmel zum Beispiel, das nahm sich bei mir doch wirklich gar nicht so übel aus? Und dann zum Schluß dieser sarkastische Ton à la Heine, wie, du findest das nicht?“

„Nein, ein solcher Lakai bin ich nie gewesen! Wie hat meine Seele einen solchen Lakai, wie du, hervorzubringen vermocht!“

„Mein Freund, ich kenne einen prächtigen, ganz reizenden russischen Junker: einen jungen Denker und großen Liebhaber der Literatur und Kunst, den Autor eines vielversprechenden Poems, das ‚Der Großinquisitor‘ betitelt ist ... Nur um ihn allein war’s mir zu tun!“

„Ich verbiete dir, auch nur ein Wort vom Großinquisitor zu sagen!“ unterbrach ihn Iwan zornig, heiß errötend vor Scham.

„Nun, aber wie steht’s denn mit der ‚geologischen Umwälzung‘? Erinnerst du dich noch? Das ist mir mal ein Dingelchen, das muß ich sagen!“

„Schweig! – oder ich schlage dich tot!“

„Wen, mich willst du totschlagen? Nein, erlaub schon, daß ich mich ausspreche. Deswegen bin ich ja überhaupt gekommen, um mir dieses Vergnügen zu bereiten. Oh, ich liebe über alles die lodernden Gedankenillusionen meiner stolzen, jungen, vor Lebensdurst bebenden Freunde! ‚Dort gibt es neue Menschen,‘ dachtest du noch im vorigen Frühling, als du dich hierher aufmachtest, ‚sie beabsichtigen alles zu zerstören und wieder bei der Menschenfresserei zu beginnen. Die Toren, warum haben sie mich nicht gefragt! Wozu da so mühevoll zerstören! Das ist ja völlig überflüssig! Man brauchte doch nur einfach die Gottidee in der Menschheit zu vernichten, und alles würde nach Wunsch gehen! Das ist es, das allein ist es, womit man beginnen muß. Diese Blinden aber, die verstehen ja überhaupt nichts. Hat die Menschheit sich erst einmal ganz und gar, das heißt, ausnahmslos von Gott losgesagt (und ich glaube daran, daß diese Periode, als Parallele zu den geologischen Perioden, eintreten wird), so wird die frühere Weltanschauung, und vor allem die ganze frühere Sittlichkeit – ohne jede Menschenfresserei ganz von selbst fallen und dem Neuen Platz machen. Die Menschen werden sich zusammentun, um alles aus dem Leben zu ziehen, was daraus nur zu ziehen ist, doch unbedingt einzig und allein zum Zweck des Glückes und der Freude bloß hier in dieser Welt. Der Geist des Menschen wird sich in göttlichem, titanischem Stolz erheben, und dann wird der Menschgott erstehen. Indem er allstündlich und dann bereits grenzenlos die Natur durch seinen Willen und durch die Wissenschaft besiegt, wird er auf diese Weise allstündlich eine so hohe Befriedigung empfinden, daß sie ihm alle früheren Hoffnungen auf die himmlischen Befriedigungen ersetzen wird. Ein jeder wird wissen, daß er ganz und gar, daß er restlos sterblich ist, daß es keine Auferstehung gibt, und er wird den Tod stolz und ruhig wie ein Gott hinnehmen. Schon allein aus Stolz wird er einsehen, daß er nicht darüber zu murren hat, daß das Leben nur einen Augenblick währt, und er wird seinen Bruder lieben ohne die Bedingung der Gegenliebe. Die Liebe wird nur während des Lebensaugenblicks andauern, dafür aber wird das Bewußtsein ihrer Kürze ihr Feuer um ebensoviel verstärken, als es früher in der Hoffnung auf die endlose Liebe im Jenseits verdünnt wurde‘ ... nun und so weiter in der Art. Ganz allerliebst!“

Iwan saß, hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und blickte zu Boden, doch allmählich fing er an, am ganzen Körper zu zittern. Die Stimme fuhr fort.

„Die Frage besteht jetzt also nur darin, dachte mein junger Denker: ob es möglich ist, daß eine solche Periode jemals anbricht, oder ob das ausgeschlossen ist. Wenn sie anbricht, so ist alles gelöst, und die Menschheit wird sich endgültig einrichten. Da dies aber, im Hinblick auf die in der Menschheit eingewurzelte Dummheit, vielleicht noch, nun ja, ganze tausend Jahre zum Durchdringen erfordern wird, so ist einem jeden, der schon jetzt die Wahrheit erkennt, im Grunde gestattet, sich völlig nach eigenem Gutdünken einzurichten, also nach neuen Grundsätzen. In diesem Sinne ist ihm ‚alles erlaubt‘. Und damit noch nicht genug: Selbst wenn diese Periode niemals anbrechen sollte, so ist doch, da es ja Gott und Unsterblichkeit sowieso nicht gibt, diesem neuen Menschen vollkommen erlaubt, Menschgott zu werden, wenn auch nur er allein in der ganzen Welt es wird. Und der kann sich dann in diesem neuen Range, versteht sich, mit leichtem Herzen über jede sittliche Schranke des früheren Knechtmenschen hinwegsetzen, wenn es nötig sein sollte. Für einen Gott gibt es kein Gesetz! Wohin Gott sich stellt – dort ist der Platz schon Gottes. Wohin ich mich stellen werde, dort wird sofort der erste Platz sein ... ‚Alles ist erlaubt‘ und damit – Punktum! Das alles ist ja sehr nett; nur fragt es sich, sollte man meinen, wozu er, wenn er nun einmal gaunern will, – wozu er da noch die Sanktion der Wahrheit haben will? – Aber so ist ja unser zeitgenössischer Russe: Ohne Sanktion kann er sich nicht einmal zu Schurkereien entschließen, dermaßen hat er die Wahrheit liebgewonnen ...“

Der Gast ließ sich offenbar immer mehr durch seine Schönrednerei fortreißen, jedenfalls erhob er die Stimme immer lauter und begann sogar, spöttisch zum Hausherrn hinüberzublicken; er konnte aber seine Rede nicht zu Ende sprechen: Iwan ergriff plötzlich wutbebend das Glas vom Tisch und schleuderte es auf den Redner.

Ah, mais c’est bête enfin!“ rief jener aus, indem er vom Diwan aufsprang und mit den Fingern die Teespritzer von seinem Rock abknipste. „Da ist ihm Luthers Tintenfaß eingefallen! Selbst hält er mich für einen Traum und wirft dabei mit Teegläsern nach mir! Das ist ja Weiberart! Also hab ich richtig vermutet, daß du dich nur so anstelltest, als hieltest du dir die Ohren zu, in Wirklichkeit aber zuhörtest ...“

Ein starkes und beharrliches Klopfen an den Fensterrahmen wurde plötzlich von draußen her hörbar. Iwan Fedorowitsch sprang vom Diwan auf.

„Hörst du, mach lieber auf,“ rief der Gast aus, „das ist dein Bruder, Aljoscha, mit der allerunerwartetsten und wichtigsten Nachricht, dafür bürge ich dir!“

„Schweig, Betrüger, ich wußte früher als du, daß es Aljoscha ist, ich habe ihn vorausgefühlt und ... selbstverständlich kommt er nicht umsonst ... ich weiß, daß er mit einer ‚Nachricht‘ kommt!“ rief Iwan wie außer sich, wie rasend.

„So mach doch auf, mach auf! Draußen tobt der Schneesturm, er aber ist doch dein Bruder. Monsieur, sait-il aussi le temps qu’il fait? C’est à ne pas mettre un chien dehors ...“

Das Klopfen dauerte fort. Iwan wollte schon zum Fenster stürzen, doch plötzlich war ihm, als wären seine Füße und Arme gefesselt. Er strengte sich aus allen Kräften an, wie um seine Fesseln zu zerreißen, aber vergeblich. Das Klopfen an den Fensterrahmen wurde immer stärker und lauter. Endlich: plötzlich zerrissen die Fesseln, und Iwan Fedorowitsch sprang auf vom Diwan. Er blickte sich wild im Zimmer um. Die beiden Lichter waren fast schon ganz heruntergebrannt, das Glas, mit dem er soeben nach seinem Gast geworfen hatte, stand vor ihm auf dem Tisch, und auf dem Diwan an der gegenüberliegenden Wand saß – niemand. Das Klopfen an den Fensterrahmen dauerte zwar noch fort, aber es war doch lange nicht so laut, wie es ihm kurz vorher im Traume geschienen hatte. Im Gegenteil, es wurde sogar sehr vorsichtig geklopft.

„Das war kein Traum! Nein, ich schwöre es, das war kein Traum, das war, das war doch Wirklichkeit!“ rief Iwan Fedorowitsch aus. Darauf schritt er zum Fenster und öffnete es.

„Aljoscha, ich habe dir doch verboten, zu mir zu kommen!“ rief er wutbebend dem Bruder zu. „Sage in zwei Worten: was willst du? In zwei Worten, verstanden?“

„Vor einer Stunde hat Ssmerdjäkoff sich erhängt,“ antwortete Aljoscha von draußen.

„Geh zur Treppe, ich werde dir sofort aufmachen,“ sagte Iwan und ging zur Eingangstür, um Aljoscha hereinzulassen.

X.
„Das hat Er gesagt!“

Als Aljoscha eingetreten war, teilte er Iwan Fedorowitsch mit, daß vor etwas mehr als einer Stunde Marja Kondratjewna atemlos bei ihm erschienen sei, mit der Nachricht, daß Ssmerdjäkoff sich das Leben genommen habe. „Ich ging hinein, um den Ssamowar abzuräumen, er aber hängt an der Wand am Nagel.“ Auf Aljoschas Frage, ob sie es schon der Polizei gemeldet habe, habe sie geantwortet: „Nein, noch nicht, niemandem, ich lief sofort los, ganz zuerst hierher zu Ihnen, zu Ihnen ganz zuerst, und ich lief so schnell ich konnte.“ Sie sei wie halb wahnsinnig gewesen, erzählte Aljoscha, und habe gezittert wie ein Espenblatt. Als Aljoscha mit ihr zusammen hingeeilt war, in die Hütte am Rande der Stadt, da hatte Ssmerdjäkoff immer noch an der Wand gehangen. Auf dem Tisch habe ein Zettel gelegen, auf den er geschrieben hatte: „Ich vertilge mich aus eigenem Wunsch und Willen, um niemanden zu beschuldigen.“ Aljoscha hatte den Zettel genau so auf dem Tische zurückgelassen, wie er ihn gefunden hatte, und war dann geradeswegs zum Polizeichef gegangen, um ihn vom Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen, – „und von ihm kam ich sofort zu dir,“ schloß Aljoscha, der aufmerksam Iwan ins Gesicht blickte. Und die ganze Zeit, während der er erzählt hatte, hatte er keinen Blick von ihm abgewandt, als hätte ihn etwas, vielleicht ein gewisser Ausdruck im Gesicht des Bruders, betroffen gemacht.

„Bruder,“ rief Aljoscha plötzlich ganz erschrocken, „du bist bestimmt schwer krank! Du stehst da und siehst aus, als wenn du überhaupt nicht verstündest, was ich spreche.“

„Das ist gut, daß du gekommen bist,“ sagte Iwan, wie in Gedanken versunken, und als hätte er Aljoschas Ausruf gar nicht gehört. „Aber ich wußte ja, daß er sich erhängt hat.“

„Durch wen?“

„Ich weiß nicht, durch wen. Aber ich wußte es. Wußte ich es? Ja, er hatte es mir gesagt. Vor kurzem noch sagte er es mir ...“

Iwan stand mitten im Zimmers, und sein Blick haftete am Boden: er sprach immer noch wie in Gedanken versunken.

„Welcher er?“ fragte Aljoscha und sah sich unwillkürlich um.

„Er ist entwischt.“

Iwan erhob den Kopf und lächelte still.

„Du hast ihn erschreckt, du Taube du. Du bist ein ‚reiner Cherub‘. Dmitrij nennt dich einen Cherub. Cherub ... Der Donnerschrei des Entzückens der Seraphim! Was ist ein Seraph? Vielleicht ein ganzes Sternbild. Vielleicht ist dieses ganze Sternbild aber auch nichts weiter als irgendein chemisches Molekül ... Gibt es ein Sternbild des Löwen und der Sonne, weißt du – das vielleicht?“

„Bruder, setz dich!“ sagte Aljoscha angstvoll. „Um Gottes willen, setz dich auf den Diwan. Du redest irre, leg dich hierher aufs Kissen, sieh so. Willst du nicht, daß ich dir ein feuchtes Handtuch um den Kopf lege? Vielleicht würde es dir davon besser werden?“

„Gib es her, es muß hier auf dem Stuhl liegen, ich warf es vorhin fort.“

„Hier ist es nicht. Aber beunruhige dich nicht, ich weiß schon, wo es hängt, da ist es,“ sagte Aljoscha, der in der anderen Ecke des Zimmers auf dem Toilettentisch ein reines, noch zusammengefaltetes, noch nicht benutztes Handtuch fand.

Iwan sah das Handtuch sonderbar an; seine Besinnung schien im Augenblick zurückzukehren.

„Wart!“ Er erhob sich. „Ich habe doch vorhin, vor etwa einer Stunde, dieses selbe Handtuch von dort, von demselben Platz genommen, mit Wasser angefeuchtet und mir um den Kopf gelegt, und dann habe ich es hierher auf den Stuhl geworfen ... wie kann es jetzt trocken sein? Ein anderes war nicht da.“

„Du hast dieses Handtuch um den Kopf gelegt?“ fragte Aljoscha.

„Ja, ich ging im Zimmer auf und ab, vor einer Stunde ... Warum sind die Lichte so herabgebrannt? Wie spät ist es?“

„Bald wird es zwölf sein.“

„Nein, nein, nein!“ schrie plötzlich Iwan auf, „das war kein Traum! Er war da, er saß dort, dort auf jenem Diwan! Als du ans Fenster klopftest, warf ich ihm das Glas an den Kopf ... dieses hier ... Wart mal, ich habe auch früher schon geschlafen und ... aber dieser Traum ist kein Traum! Auch früher kam es vor ... Weißt du, Aljoscha, ich habe jetzt Träume ... aber sie sind keine Träume, sondern ich sehe sie mit meinen Augen, sie sind Wirklichkeit: ich gehe, spreche und sehe ... dabei aber schlafe ich. Aber er saß hier, er war hier, hier auf diesem Diwan ... Er ist unglaublich dumm, Aljoscha, unglaublich dumm!“ Iwan lachte plötzlich auf und begann wieder auf und ab zu schreiten.

„Von wem redest du, Bruder? Wer ist so dumm?“ fragte Aljoscha bange.

„Der Teufel! Er hat sich jetzt angewöhnt, mich zu besuchen. Zweimal ist er schon bei mir gewesen, genau genommen sogar dreimal. Er will mich damit necken, weil ich mich, wie er glaubt, darüber ärgere, daß er nur ein einfacher Teufel ist und nicht der Satan, mit versengten Schwingen, von Donner und Blitz umgeben. Aber er ist nicht Satanas, das lügt er. Er ist ein Usurpator. Er ist einfach ein Teufel, ein lumpiger, kleiner Teufel. Er geht sogar in die Badestube. Kleid ihn aus, und du wirst sicherlich einen langen Schwanz an ihm finden, einen glatten, langen, wie an einer dänischen Dogge, eine Arschin lang, schwarzbraun ... Aljoscha, du bist wohl durchfroren, du warst draußen im Schneesturm, willst du Tee? Wie? Ist er schon kalt? Willst du, ich werde sofort den Ssamowar anmachen lassen. C’est à ne pas mettre un chien dehors ...“

Aljoscha trat eilig zum Waschtisch, tauchte das Handtuch ins Wasser, beredete Iwan, sich wieder zu setzen und legte ihm darauf das Handtuch um den Kopf. Er selbst setzte sich neben ihn.

„Was sagtest du mir vorhin von Lisa?“ begann Iwan wieder. (Er wurde sehr gesprächig.) „Mir gefällt Lisa. Ich sagte dir etwas Gemeines über sie. Das war aber gelogen, sie gefällt mir ... Ich fürchte für Katjä, für die fürchte ich morgen am meisten. Wegen der Zukunft. Sie wird mich morgen aufgeben und mit den Füßen zertreten. Sie glaubt, daß ich aus Eifersucht Mitjä ins Verderben bringen werde, also ihretwegen! Ja, das glaubt sie! Nun, darum erst recht nicht! Morgen kommt das Kreuz, aber nicht der Galgen. Nein, ich werde mich nicht erhängen. Weißt du auch, Aljoscha, daß ich mir niemals das Leben werde nehmen können! Etwa aus Niedrigkeit nicht? Ich bin kein Feigling. Aus Lebensdurst! Vor Durst, vor Sehnsucht nach dem Leben, wirklich zu leben!! Woher nur wußte ich, daß Ssmerdjäkoff sich erhängt hat? Ja richtig, er hat es mir gesagt ...“

„Und du bist fest überzeugt, daß hier jemand gesessen hat?“ fragte Aljoscha.

„Dort auf jenem Diwan, in der Ecke. Du hättest ihn sofort verscheucht. Und du hast es ja auch getan: als du erschienst, verschwand er. Ich liebe dein Gesicht, Aljoscha. Wußtest du, daß ich dein Gesicht liebe? Er aber – das bin ich, glaub mir, Aljoscha, ich selbst. Alles Niedrige, alles Gemeine und Verächtliche meines Ich! Ja, ich bin ein ‚Romantiker‘, er hat mich beobachtet ... Trotzdem ist es eine Verleumdung. Er ist unglaublich dumm, aber gerade damit nimmt er einen. Er ist schlau, tierisch schlau, er wußte, womit er mich rasend machen konnte. Er neckte mich die ganze Zeit damit, daß ich an ihn, wie er behauptet, glaube, und damit zwang er mich, ihm zuzuhören. Wie einen kleinen Jungen hat er mich betrogen. Übrigens hat er mir auch viel Wahres über mich gesagt. Ich selbst hätte mir das alles nie eingestanden. Weißt du, Aljoscha, weißt du,“ fügte Iwan plötzlich ernst und dabei auffallend vertraulich hinzu, „ich wünschte, daß er wirklich er wäre und nicht ich!“

„Er hat dich müdgequält,“ sagte Aljoscha, der den Bruder voll Mitleid ansah.

„Geneckt hat er mich! Und weißt du, geschickt hat er es getan, unglaublich geschickt. ‚Das Gewissen! Was ist das Gewissen? Ich mache es selbst. Warum aber quäle ich mich dann? Aus Gewohnheit. Aus universaler menschlicher Gewohnheit, die den Menschen seit mehr als siebentausend Jahren im Blute sitzt. So laßt uns doch endlich uns davon entwöhnen und seien wir Götter.‘ – Das hat er gesagt, das hat er gesagt!“

„Und nicht du? Nicht du?“ rief Aljoscha unwillkürlich aus und blickte dem Bruder hell in die Augen. „Nun, dann laß ihn, vergiß ihn, versuch, ihn ganz zu vergessen! Mag er alles mit sich fortnehmen, was du jetzt verfluchst, mag er dann nie mehr wiederkommen!“

„Ja, aber er ist boshaft. Verspottet hat er mich, Aljoscha. Frechheiten hat er sich mir gegenüber erlaubt!“ sagte Iwan, gleichsam zuckend unter dem Schmerz der Kränkung. „Doch er hat mich verleumdet, in vielem hat er mich verleumdet. Mir ins Gesicht log er über mich, – über mich, mir ins Gesicht! ‚Oh, du gehst jetzt hin und wirst eine Heldentat der Tugend vollführen, du wirst erklären, daß du den Vater erschlagen hast, daß der Lakai auf dein Geheiß den Vater erschlagen habe‘ ...“

„Bruder,“ unterbrach ihn Aljoscha, „besinne dich: nicht du hast ihn erschlagen. Das ist nicht wahr, was du sagst!“

„Das sagt er, er, und er weiß das. ‚Du gehst hin und wirst eine Heldentat der Tugend ausführen, glaubst aber dabei gar nicht an die Tugend – das ist es, was dich erbost und quält, deswegen bist du auch so rachsüchtig.‘ – Das hat er mir über mich gesagt, er aber weiß, was er sagt ...“

„Das sagst du, aber nicht er!“ rief Aljoscha bekümmert dazwischen. „Und du sprichst im Fieber, im Wahnsinn, du quälst dich!“

„Nein, er weiß, was er sagt. Aus Stolz sagt er, aus Stolz wirst du hingehen, du wirst dich hinstellen und sagen: ‚Ich bin es, der ihn erschlagen hat! Warum windet ihr euch vor Entsetzen? Ihr lügt! Ich verachte eure Meinung, verachte euer Grauen!‘ – Das sagt er von mir, und plötzlich fügt er hinzu: ‚Aber weißt du, im geheimen willst du, daß sie dich dafür loben: ein Verbrecher ist er, ein Mörder, aber was für hochherzige Gefühle er hat, er wollte seinen Bruder retten, und da ging er hin und bekannte sich als den Schuldigen!‘ Doch dies, Aljoscha, dies ist eine so gemeine Lüge, sag ich dir!“ schrie Iwan plötzlich aus sich heraus, und seine Augen glühten drohend. „Ich will nicht, daß diese Leibeigenen mich loben! Das hat er gelogen, Aljoscha, das hat er gelogen, das schwöre ich dir! Dafür warf ich ihm dieses Glas in die Fratze, und es zerschlug an seinem Gebiß ...“

„Wanjä, beruhige dich, höre auf!“ flehte Aljoscha angstvoll.

„Nein, er versteht es, einen zu foltern, grausam ist er!“ fuhr Iwan fort, ohne auf Aljoscha zu hören. „Ich habe es immer geahnt, warum er kommt. ‚Nun gut,‘ sagt er, ‚du gehst aus Stolz, aber es war doch immer noch die Hoffnung vorhanden, daß Ssmerdjäkoff überführt und als Zwangsarbeiter verschickt und Mitjä freigesprochen wird, und daß man dich nur moralisch verurteilt – (hörst du, Aljoscha, bei diesem Worte lachte er!) – die anderen aber werden dich trotzdem loben. Nun aber ist Ssmerdjäkoff gestorben, hat sich erhängt, wer wird jetzt noch von den Richtern dir allein aufs Wort hin glauben? Aber du gehst doch, du gehst ja hin, du wirst ja sowieso hingehen, du hast doch beschlossen hinzugehen. Aber sag doch, warum und wozu gehst du denn nach alledem eigentlich noch hin?‘ Furchtbar ist das, Aljoscha, solche Fragen kann ich nicht ertragen, Aljoscha! Wer wagt es, mir solche Fragen vorzulegen?“

„Bruder,“ unterbrach ihn Aljoscha, fast vergehend vor Angst, doch immer noch in der Hoffnung, Iwan zur Vernunft zu bringen, „wie konnte er dir denn von Ssmerdjäkoffs Selbstmord Mitteilung machen, wenn noch niemand etwas davon wußte? Und es war ja doch noch viel zu wenig Zeit vergangen, als daß es jemand schon hätte wissen können ...“

„Er hat aber davon gesprochen, er sagte es mir,“ behauptete Iwan kurz, ohne auch nur einen Zweifel aufkommen zu lassen. „Wenn du willst, hat er überhaupt nur davon gesprochen. ‚Ich will nicht sagen, wenn du an die Tugend glaubtest,‘ sagte er, ‚wenn du dir sagtest: so mag man mir nicht glauben, ich gehe aus Überzeugung, aus Prinzip. Aber du bist doch ein Schwein, wie Fedor Pawlowitsch, was ist dir Tugend? Wozu also schleppst du dich hin, wenn dein Opfer zu nichts nütze ist? Ganz einfach, weil du selbst nicht weißt: warum und wozu! Oh, viel würdest du darum geben, wenn du wüßtest, wozu du gehst! Und du glaubst, du habest dich schon entschlossen? Du hast dich also noch nicht entschlossen? Ich sage dir: Du wirst die ganze Nacht sitzen und dich fragen: soll ich oder soll ich nicht? Aber du wirst trotzdem gehen, und du weißt, daß du gehen wirst, weißt selbst, daß – zu was du dich auch entschließen solltest – die Entscheidung nicht mehr von dir abhängt. Du wirst gehen, weil du nicht wagen wirst, nicht zu gehen. Warum du es nicht wagen wirst – das errate nun selbst, da hast du jetzt ein Rätsel!‘ Er stand auf und ging. Du kamst, er aber ging fort. Aljoscha, er nannte mich einen Feigling! Le mot de l’énigme –: daß ich ein Feigling bin! ‚Denn wahrlich, anders sind jene Adler geartet, die sich über die Erde erheben und emporschwingen können!‘ Das fügte er noch hinzu, das hat er noch hinzugefügt! Und Ssmerdjäkoff hat dasselbe gesagt! ... Man muß ihn totschlagen! Katjä verachtet mich, das sehe ich schon seit einem ganzen Monat, und auch Lisa wird anfangen, mich zu verachten! ‚Du gehst, damit man dich lobe,‘ – das ist eine tierische Lüge! Und du verachtest mich gleichfalls, Aljoscha. Jetzt hasse ich dich wieder! Und den Auswurf hasse ich, den Auswurf, den Auswurf, das Ungeheuer!! Ich will das Scheusal nicht retten, mag es dort in Sibirien unter der Erde verfaulen! Er singt die Hymne! Oh, morgen werde ich hingehn, werde mich vor sie stellen und ihnen allen in die Augen speien!“

Außer sich sprang er auf, schleuderte das Handtuch fort und begann von neuem auf und ab zu gehen. Aljoscha fielen seine Worte ein, die er kurz vorher gesagt hatte: „Als ob ich im Wachen schliefe ... Ich gehe, spreche und sehe, dabei aber schlafe ich.“ Genau so geschah es auch jetzt: er ging, sah und sprach, als wenn er im Wachen schlief. Aljoscha verließ ihn nicht. Ihm kam wohl der Gedanke, zum Arzt zu laufen und diesen herzubringen, aber er wagte nicht, den Bruder allein zu lassen. Iwan schien allmählich die Besinnung zu verlieren. Er sprach ununterbrochen weiter, doch seine Rede war schon ganz zusammenhanglos. Zuletzt konnte er die Worte nur mit Mühe und nur noch undeutlich aussprechen, und plötzlich wankte er stark. Doch Aljoscha gelang es, ihn noch zur rechten Zeit zu stützen. Iwan ließ sich zum Bett führen, Aljoscha entkleidete ihn, so gut es ging, und deckte ihn zu. Darauf saß er noch etwa zwei Stunden lang am Bett und wachte. Der Kranke schlief fest, regungslos, und atmete leise und gleichmäßig. Da nahm Aljoscha ein Kissen und legte sich in den Kleidern auf den Diwan hin. Vor dem Einschlafen betete er noch für Mitjä und für Iwan. Jetzt wurde ihm auch Iwans Krankheit klar: „Die Qualen eines stolzen Entschlusses, ein tiefes Gewissen!“ Der Gott, an den er nicht glaubte, und seine Wahrheit hatten das Herz bewältigt, das sich noch immer nicht hatte ergeben wollen. „Ja,“ ging es Aljoscha durch den Sinn, als sein Kopf schon auf dem Kissen lag, „da Ssmerdjäkoff jetzt tot ist, wird niemand mehr dieser Aussage Iwans glauben; aber er wird hingehen und so aussagen!“ Aljoscha lächelte still: „Gott wird siegen!“ dachte er. „Entweder wird er im Licht der Wahrheit auferstehen oder ... im Haß untergehen, und sich dabei an sich selbst und an allen dafür rächen, daß er dem gedient hat, woran er nicht glaubt,“ fügte Aljoscha bitter und schmerzlich hinzu und betete nochmals für Iwan.

Zwölftes Buch.
Der Justizirrtum

I.
Der verhängnisvolle Tag

Am Tage nach den von mir wiedergegebenen Ereignissen wurde um zehn Uhr morgens die Sitzung unseres Bezirksgerichts eröffnet, und die Gerichtsverhandlung gegen Dmitrij Karamasoff nahm ihren Anfang.

Ich muß nun vorausschicken, daß es weit über meine Kräfte geht, alles, was sich vor Gericht ereignet hat, ausführlich oder auch nur in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben. Ich glaube, daß, wenn alles erzählt und wie es sich gehört erläutert werden sollte, ein ganzes Buch, und zwar ein umfangreiches, geschrieben werden müßte. Möge man es mir daher nicht verübeln, wenn ich nur das wiedergebe, was auf mich persönlich einen Eindruck gemacht hat, und wessen ich mich besonders erinnere. Vielleicht habe ich Nebensächliches für Hauptsächliches gehalten und die wesentlichsten Punkte ganz übersehen ... Übrigens, wie ich sehe, täte ich besser, mich nicht weiter zu entschuldigen, sondern einfach mit der Erzählung zu beginnen. Ich werde so erzählen, wie ich es verstehe, und die Leser werden zum Schluß selbst einsehen, daß ich mein möglichstes getan habe.

Doch will ich noch vorausschicken, bevor wir den Gerichtssaal betreten, was mich an diesem Tage ganz besonders in Erstaunen gesetzt hat, und eigentlich nicht nur mich allein, sondern, wie sich später gezeigt hat, alle. Jeder wußte, daß sehr viele sich für diesen Prozeß interessierten, daß alle mit Ungeduld gefragt und erwartet hatten, wann er endlich zur Verhandlung kommen werde, daß man seit zwei Monaten in unserer Gesellschaft viel über ihn gesprochen, die verschiedensten Vermutungen geäußert, sich über ihn aufgeregt und ganz Unglaubliches zusammenphantasiert hatte. Auch wußten alle, daß die Sache in ganz Rußland bekannt und berühmt geworden war. Dennoch hatte man nicht erwartet, daß sie so aufregend und in so hohem Maße erschütternd hätte werden können. Zu dieser Gerichtsverhandlung waren nicht nur aus Städten unseres Gouvernements, sondern auch aus anderen Städten Rußlands und schließlich aus Moskau und aus Petersburg viele angekommen, am meisten natürlich Juristen, aber es waren auch einige hohe Persönlichkeiten und sogar Damen unter ihnen. Alle Billette waren vergriffen. Für die höchststehenden, vornehmen und angesehenen Besucher unter diesen waren besondere Plätze, gleich hinter dem Tisch, an dem die Richter saßen, eingerichtet worden; dort sah man nun eine ganze Reihe Lehnstühle, in denen würdige Personen der Sitzung beiwohnten, was bei uns früher nie zugelassen worden war. Damen waren auffallend zahlreich zugegen, sowohl Damen aus unserer Stadt, als fremde, – ich glaube, sie machten nicht viel weniger als die Hälfte des gesamten Publikums aus. Allein der von allen Seiten zugereisten Juristen gab es so viele, daß man nicht wußte, wo man sie unterbringen sollte, da die Billette schon vor langer Zeit erbeten, geradezu erfleht und restlos verteilt worden waren. Ich habe selbst gesehen, wie man am Ende des Saales, hinter der Estrade, in aller Eile eine besondere Einfriedigung herrichtete, in die dann alle diese fremden Juristen hineingelassen wurden: und die hielten sich noch für glücklich, daß sie wenigstens stehend zuhören konnten – denn die Stühle waren, um Platz zu gewinnen, alle hinausgebracht worden. So stand denn diese dichtgedrängte Schar buchstäblich Schulter an Schulter während der ganzen Gerichtsverhandlung. Einige von den Damen, hauptsächlich von den angereisten, erschienen auf dem Chor des Saales in eleganten Toiletten, doch die Mehrzahl von ihnen hatte über dem Interesse für die Sache selbst den Putz vergessen. In ihren Gesichtern las man fieberhafte, fast krankhaft gesteigerte Neugier. Hier muß ich noch einer charakteristischen Besonderheit dieser im Saal versammelten Gesellschaft Erwähnung tun: sie bestand darin, daß – wie sich auch später durch vielfache Beobachtungen bestätigt hat – fast alle Damen, oder wenigstens die übergroße Mehrzahl von ihnen, für Mitjä und seine Freisprechung Partei nahm. Vielleicht geschah das hauptsächlich darum, weil sich von ihm die Vorstellung er sei ein Eroberer aller Weiberherzen, weit verbreitet hatte. Man wußte, daß zwei Frauen, zwei Gegnerinnen, erscheinen würden. Für die eine von ihnen, Katerina Iwanowna, interessierte man sich allgemein und ganz besonders. Man erzählte sich ungeheuer viel Außergewöhnliches über sie, hauptsächlich kursierten über ihre leidenschaftliche Liebe zu Mitjä, trotz seines Verbrechens, wahrhaft wundernehmende Geschichten, und nicht weniger sprach man von ihrem Stolz (sie hatte in unserer Stadt so gut wie niemandem Visite gemacht) und ihren „aristokratischen Verbindungen“. Man behauptete sogar, sie beabsichtige, die Regierung um die Erlaubnis zu bitten, den Verbrecher nach Sibirien begleiten zu dürfen, um sich mit ihm dort irgendwo in den Erzgruben unter der Erde trauen zu lassen. Mit nicht geringer Spannung wurde das Erscheinen Gruschenkas vor Gericht erwartet; war sie doch die „Rivalin“ Katerina Iwanownas. Mit geradezu hysterischer Neugier sah man der Begegnung der beiden entgegen – des stolzen aristokratischen Mädchens und der „Hetäre“. Übrigens war Gruschenka unseren Damen bekannter als Katerina Iwanowna. Man hatte sie, die „Vernichterin Fedor Pawlowitschs und seines unglücklichen Sohnes“, auch früher schon gesehen, und alle ohne Ausnahme wunderten sich darüber, wie Vater und Sohn sich in eine solche „ganz gewöhnliche, eigentlich überhaupt nicht hübsche russische Kleinbürgerin“ dermaßen hatten verlieben können. Kurz, es war nicht wenig gesprochen worden. Ich weiß sogar genau, daß es in unserer Stadt Mitjäs wegen zu mehreren ernsten Zwistigkeiten zwischen Eheleuten gekommen war: viele Damen hatten sich wegen der Verschiedenheit ihrer Auffassung dieser ganzen Angelegenheit mit ihren Männern aufs tragischste überworfen, und daher ist es ja schließlich nur zu begreiflich, daß die Männer dieser Damen – und es waren ihrer nicht wenige –, als sie nun im Gerichtssaal erschienen, gegen den Angeklagten nicht nur voreingenommen waren, sondern ihn in ihrer Erbitterung sogar aufrichtig haßten. Überhaupt kann man sagen, daß, im Gegensatz zum weiblichen Elemente, das ganze männliche gegen Mitjä gestimmt war. Man sah ernste, mürrisch-finstere Gesichter, viele waren sogar unverhohlen wütend, und das war noch obendrein die Mehrzahl. Allerdings kommt hinzu, daß Mitjä während seines Aufenthaltes bei uns viele Herren persönlich gekränkt oder geärgert oder womöglich eifersüchtig gemacht hatte. Natürlich waren einige von den Anwesenden sogar lustig gestimmt, und die standen denn auch dem Schicksal Mitjäs im Grunde völlig teilnahmlos gegenüber; dafür aber hatten sie für den „Fall an sich“ um so mehr Interesse. Alle waren lebhaft auf seinen Ausgang gespannt, die Mehrzahl der Männer wünschte entschieden die Bestrafung des Verbrechers, abgesehen vielleicht von den Juristen, denen es nicht um die sittliche Seite der Sache zu tun war, sondern nur um die sozusagen zeitgenössisch-juridische. Diese Herren regte denn auch am meisten die Ankunft des berühmten Fetjukowitsch auf. Sein Talent war weit und breit bekannt, und es geschah diesmal nicht zum erstenmal, daß er in die Provinz kam, um in einer so aufsehenerregenden Kriminalverhandlung die Verteidigung zu übernehmen. Nach seiner Verteidigung waren solche Prozesse immer in ganz Rußland berühmt geworden und lange in der Erinnerung geblieben. Auch über unseren Staatsanwalt Hippolyt Kirillowitsch und den Vorsitzenden des Gerichtshofes war viel gesprochen worden. Man erzählte sich, daß Hippolyt Kirillowitsch vor diesem „Zweikampf“ mit Fetjukowitsch zittere, daß sie noch von Petersburg her alte Feinde seien, bereits seit dem Anfang ihrer Laufbahn, daß unser eigenliebiger Hippolyt Kirillowitsch, der sich beständig für zurückgesetzt und durch irgend jemanden schon seit seiner Petersburger Zeit für beleidigt halte, da man sein Talent nicht in gebührender Weise anzuerkennen wisse, sich sogar mit dem Gedanken getragen habe, seiner etwas welk gewordenen Karriere durch den „Fall Karamasoff“ wieder neues Leben einzuflößen, daß ihn aber Fetjukowitschs Erscheinen erschreckt und entmutigt habe. Doch muß ich hierzu bemerken, daß diese Beurteilung seines Charakters nicht ganz zutreffend war. Unser Staatsanwalt gehörte nicht zu den Charakteren, die der Mut vor der Gefahr verläßt, sondern im Gegenteil, er gehörte zu denen, deren Eigenliebe nach Maß der Zunahme der Gefahr sich vergrößert, und denen dann womöglich noch Schwingen wachsen. Überhaupt muß ich hier bemerken, daß Hippolyt Kirillowitsch ein auffallend hitziger und krankhaft empfindlicher Mensch war. In gar manche Sache hatte er seine ganze Seele hineingelegt und sie geführt, als wenn von ihrer Entscheidung sein ganzes Schicksal und all sein Hab und Gut abhinge. Unter den Juristen wurde darüber ein wenig gelächelt, denn unser Staatsanwalt hatte gerade durch diese seine Eigenschaft einen gewissen Ruf erlangt, wenn auch gerade keinen sehr großen, so doch jedenfalls einen weit größeren, als man es im Hinblick auf seine bescheidene Stellung an unserem Gerichtshof hätte voraussetzen können. Am meisten spöttelte man wohl über seine Leidenschaft für die Psychologie. Meiner Ansicht nach haben sich alle geirrt: unser Staatsanwalt war, als Mensch und Charakter, wie mir wenigstens scheint, viel ernster, als viele von ihm glaubten. Dieser kränkliche Mensch hatte nun einmal nicht verstanden, sich eine Stellung zu schaffen; wahrscheinlich hatte er es gleich zu Anfang seiner Laufbahn versäumt, und dabei war es denn auch während des ganzen weiteren Lebens geblieben.

Was den Vorsitzenden betrifft, so läßt sich über ihn nicht viel mehr sagen, als daß er ein gebildeter, humaner Mensch war, der seine Sache und selbst die neuesten Ideen kannte. Zwar war er ziemlich ehrgeizig, doch bekümmerte er sich nicht sonderlich um seine Karriere. Das Hauptziel seines Lebens bestand darin, in jeder Beziehung wenigstens einer von den ersten zu sein. Außerdem erfreute er sich guter Verbindungen und besaß Vermögen. Den „Fall Karamasoff“ faßte er, wie sich später zeigte, recht temperamentvoll auf, doch tat er es eigentlich mehr im allgemeinen Sinne: ihn beschäftigte die Tatsache als solche, ihre Klassifikation, die Auffassung derselben als Produkt unserer sozialen Grundlagen, als Charakteristik des russischen Elements usw. usw. Zum persönlichen Charakter der Sache, zur Tragödie, die in ihr lag, wie auch zu den beteiligten Personen, angefangen vom Angeklagten, verhielt er sich ziemlich gleichgültig und rein sachlich, wie es vielleicht auch das einzig Richtige für ihn war – von seinem Standpunkte aus.

Der große Saal war schon lange vor dem Erscheinen des Gerichtshofes gepreßt voll. Dieser Gerichtssaal ist in unserer Stadt der schönste und beste: er ist sehr groß, hat eine hohe Decke und gute Akustik. Rechts von den Plätzen der Herren des Gerichtshofes, die erhöht standen, waren ein Tisch und zwei Reihen Sessel für die Geschworenen; links der Platz des Angeklagten und seines Verteidigers. Ungefähr in der Mitte des Saales stand ein Tisch, auf dem die „Sachbeweise“ lagen: der blutbefleckte weißseidene Schlafrock Fedor Pawlowitschs, die verhängnisvolle Mörserkeule, mit der, wie man mit Bestimmtheit annahm, der Mord vollführt worden war, Mitjäs Hemd mit der blutbefleckten Manschette, sein Rock, der auf der Rückseite über der Tasche (in die Mitjä damals sein blutdurchtränktes Taschentuch gesteckt hatte) große Blutflecke aufwies, ferner dieses Taschentuch, das vom Blut inzwischen ganz hart und gelb geworden war, die Pistole, die Mitjä bei Perchotin geladen hatte, und die von Trifon Borissytsch in Mokroje heimlich versteckt worden war, das Kuvert, in dem die für Gruschenka bereitgehaltenen Dreitausend gelegen hatten, und das dünne rosa Bändchen, mit dem es umbunden gewesen war, und noch verschiedene andere Gegenstände, deren ich mich nicht mehr erinnere. Und dann erst, in einiger Entfernung von diesem Tisch, begannen die Plätze fürs Publikum; doch noch vor diesen, also noch vor der Ballustrade, standen ein paar Lehnstühle für diejenigen Zeugen, die nach ihrem Verhör noch im Saale bleiben sollten. Um zehn Uhr erschien der Gerichtshof, der aus dem Vorsitzenden, einem Beisitzer und einem Friedensrichter bestand. Selbstverständlich erschien sofort auch der Staatsanwalt. Der Vorsitzende war ein wohlbeleibter, stämmiger Mann, dabei nicht einmal mittelgroß, mit einem Hämorrhoidalgesichte, etwa fünfzig Jahre alt, mit dunklem, erst leicht ergrautem Haar, das er ganz kurzgeschoren trug, und mit einem roten Ordensbande (welch ein Orden daran hing, habe ich vergessen). Der Staatsanwalt erschien mir – und nicht nur mir allein, sondern allen – auffallend bleich, sein Gesicht war fast grün. Er schien ganz plötzlich abgemagert zu sein, vielleicht in einer einzigen Nacht, denn noch vor drei Tagen war ich ihm begegnet, und da hatte er wie gewöhnlich ausgesehen. Der Vorsitzende begann mit der Frage an den Gerichtsvollstrecker: „Sind alle Geschworenen erschienen? ...“ Aber ich sehe schon, daß ich in dieser Weise nicht fortfahren kann, schon allein deswegen nicht, weil ich vieles nicht deutlich gehört habe (manches Schleierhafte habe ich versäumt, mir klarzumachen, vieles habe ich vergessen oder mir nicht genau gemerkt), doch hauptsächlich darum nicht, weil man sonst, wenn man alles genau wiedergeben wollte, wie ich schon vorhin gesagt habe, so viel darüber zu schreiben hätte, wie es mir weder Zeit noch Raum erlauben. Ich weiß von den ersten Vorgängen nur noch, daß von den Geschworenen einer- und andererseits, d. h. durch den Verteidiger und den Staatsanwalt, nur wenige ausgeschieden wurden. Der zwölf Geschworenen selbst erinnere ich mich noch sehr gut: es waren das vier von unseren Beamten, zwei Kaufleute und sechs Bauern und Kleinbürger aus unserer Stadt. In unserer Gesellschaft hatten viele, besonders Damen, schon lange vor der Gerichtssitzung nicht ohne einige Verwunderung gefragt: „Ist es möglich, daß man eine psychologisch so feine und komplizierte Sache irgendwelchen Beamten und gar Bauern zur folgenschweren Entscheidung übergibt, und was werden denn diese Leute davon verstehen?“ Es ist ja wahr, alle diese vier Beamten, die zu den zwölf Geschworenen gehörten, waren schließlich kleine Leute von niedrigem Range, Männer mit grauem Haar – nur einer von ihnen schien etwas jünger zu sein –, die in unserer Gesellschaft wenig bekannt waren, von geringem Gehalt ihr Leben fristeten, wahrscheinlich alte Frauen hatten, die man niemandem zeigen kann, und dazu eine ganze Horde vielleicht sogar barfüßiger Kinder, – Männer, für die es viel war, wenn sie sich in ihren Mußestunden mit einer Partie Karten zerstreuen konnten, und die – das versteht sich natürlich von selbst – noch nie ein Buch gelesen hatten. Die beiden Kaufleute sahen allerdings sehr ehrbar und gesetzt aus, doch waren sie eigentümlich schweigsam und unbeweglich; der eine von ihnen hatte ein glattrasiertes Gesicht und trug deutsche Kleidung, der andere hatte einen grauen Bart, und auf seiner Brust hing an einem roten Bande irgendeine Medaille. Von den Kleinbürgern und Bauern lohnt sich natürlich überhaupt nicht zu reden. Unsere Skotoprigonjewskschen Bauern sind nicht anders als alle Bauern, sie mähen sogar. Zwei von ihnen waren gleichfalls in deutscher Kleidung erschienen und sahen vielleicht gerade darum unsauberer und unansehnlicher aus als die anderen vier in schlichten russischen Röcken. So war es denn schließlich begreiflich, wenn viele sich bei ihrem Anblick fragten – wie auch ich es tat –: „Was können denn die von einer solchen Sache verstehen!“ Doch dessen ungeachtet, mußte man zugeben, daß ihre Gesichter einen ganz sonderbar tiefen und fast drohenden Eindruck machten. Sie sahen streng und finster aus.

Endlich kündigte der Vorsitzende laut den Gegenstand der Verhandlung an: den Prozeß wegen Ermordung des verabschiedeten Titularrats Fedor Pawlowitsch Karamasoff. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie er sich damals ausdrückte. Dem Gerichtsvollstrecker wurde befohlen, den Angeklagten hereinzuführen. Mitjä erschien. Alles verstummte im Saal, man hätte eine Fliege summen gehört. Ich weiß nicht wie er auf die anderen wirkte, auf mich aber machte er einen äußerst unangenehmen Eindruck. Schuld war daran vor allem, daß er als ausgesprochener Stutzer erschien, in einem nagelneuen Anzuge. Später habe ich erfahren, daß er sich in Moskau bei seinem früheren Schneider, der noch sein Maß von den früheren Anzügen besaß, die Kleider gerade zu diesem Tage bestellt hatte. Er trug schwarze Glacéhandschuhe und die eleganteste Wäsche. Er trat mit seinen langen Offiziersschritten ein, mit geradeaus gerichtetem, bis zur Starrheit geradeaus gerichtetem Blick: so ging er durch den Gang zwischen den Menschen hindurch und setzte sich mit der furchtlosesten Miene auf seinen Platz. Gleich nach ihm erschien auch sein Verteidiger, der berühmte Fetjukowitsch, und es war, als wenn ein unterdrücktes Getöse durch den ganzen Saal rauschte. Er war ein langer, hagerer Mann, mit langen dünnen Beinen, ungewöhnlich langen, bleichen, dünnen Fingern, rasiertem Gesicht, bescheiden glattgekämmtem, ziemlich kurzem Haar, und mit dünnen, hin und wieder sich halb wie zum Spott, halb wie zum Lächeln krümmenden Lippen. Dem Aussehen nach mochte er etwa vierzig Jahre alt sein. Sein Gesicht wäre vielleicht sogar angenehm gewesen, wenn seine Augen, die an sich nicht groß und nicht ausdrucksvoll waren, nicht so ungewöhnlich nahe, so nahe, wie es nur selten vorkommt, nebeneinandergestanden hätten, so daß sie nur der dünne schmale Knochen seiner länglichen dünnen Nase voneinander trennte. Mit einem Wort, diese Physiognomie hatte etwas so ausgesprochen Vogelartiges, daß sie einen geradezu frappierte. Er war in Frack und weißer Krawatte. Ich erinnere mich noch der ersten, vom Vorsitzenden an Mitjä gestellten Fragen nach seinem Namen, Stand usw. Mitjä antwortete schroff, doch mit ganz unerwartet lauter Stimme, so daß der Vorsitzende zuerst mit dem Kopf zurückzuckte und ihn einen Augenblick groß ansah. Darauf wurden die Namen derjenigen Personen verlesen, die zur Gerichtsverhandlung vorgeladen worden waren, der Zeugen und Experten. Die Liste war lang; vier von den Zeugen waren nicht erschienen: Miussoff, der schon in Paris weilte, doch seine Aussagen bereits in der Voruntersuchung gemacht hatte; Frau Chochlakoff und Maximoff waren krankheitshalber nicht erschienen, und Ssmerdjäkoff wegen plötzlichen Todes, wovon eine polizeiliche Bescheinigung vorgewiesen wurde. Diese Nachricht vom Tode Ssmerdjäkoffs rief eine starke Bewegung und erregtes Geflüster hervor. Die Mehrzahl des Publikums wußte noch nichts von seinem Selbstmorde. Was aber am meisten auffiel, das war – ein unerwarteter Ausfall Mitjäs: kaum war die Mitteilung über Ssmerdjäkoff verlesen worden, als er plötzlich von seinem Platze aus über den ganzen Saal hin laut ausrief:

„Dem Hunde gebührt ein hündischer Tod!“

Ich erinnere mich noch deutlich, wie sein Verteidiger zu ihm stürzte, und wie der Vorsitzende sich zu ihm wandte, mit der Drohung, zu strengen Maßregeln zu greifen, wenn sich ein ähnlicher Ausfall noch einmal wiederholen sollte. Abgerissen und mit ungeduldigem Kopfnicken sagte Mitjä mehrmals halblaut zu seinem Verteidiger:

„Schon gut, schon gut, ich werde nicht mehr! Es ist mir nur so entschlüpft! Ich werde nicht mehr! Schön, schön!“ sah aber dabei keineswegs aus, als bereue er es.

Dieser kurze Zwischenfall diente natürlich nicht dazu, um die Meinung der Geschworenen und des Publikums von ihm zu verbessern. Der Charakter tat sich schon kund. Unter diesem Eindruck wurde vom Sekretär des Gerichtshofes der Anklageakt verlesen.

Er war ziemlich kurz, doch nichtsdestoweniger klar und ausführlich. Es waren nur die Hauptgründe angeführt, warum der und der des Verbrechens angeklagt, warum er dem Gericht unterstellt worden sei usw. Ich muß gestehen, daß diese Verlesung der Anklage einen starken Eindruck auf mich machte. Der Sekretär hatte eine volle, tragende Stimme und las vorzüglich. Diese ganze Tragödie erschien jetzt von neuem vor allen versammelten Menschen in scharfen Umrissen, knapp zusammengefaßt und in verhängnisvollem, unerbittlichem Lichte. Gleich nach der Verlesung wandte sich der Vorsitzende zu Mitjä und fragte ihn mit lauter und eindringlicher Stimme:

„Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig?“

Mitjä erhob sich plötzlich von seinem Platz:

„Ich bekenne mich schuldig der Trunksucht, der Ausschweifung,“ rief er wieder mit einer unerwartet lauten Stimme, die diesmal fast zornig klang, „der Faulheit und Schwelgerei. Gerade in dem Augenblick hatte ich mir vorgenommen, auf ewig ein ehrenhafter Mensch zu werden, als der Schicksalsschlag mich traf! Doch am Tode des alten Karamasoff, am Tode meines Feindes und Vaters – bin ich unschuldig! Und auch an seiner Beraubung – nein! Daran trage ich keine Schuld! Nochmals nein! – und ich kann daran auch keine Schuld tragen. Dmitrij Karamasoff kann wohl ein Schuft sein, aber nie und nimmer ein Dieb!“

Nachdem er das hinausgeschrien hatte, setzte er sich wieder auf seinen Platz, sichtbar am ganzen Körper zitternd. Der Vorsitzende wandte sich von neuem mit der kurzen, doch ernsten Ermahnung an ihn, nur auf die Fragen zu antworten und sich nicht zu leidenschaftlichen Ausrufen, die nicht zur Sache gehörten, hinreißen zu lassen. Dann befahl er, mit der gerichtlichen Verhandlung zu beginnen. Hierauf wurden sämtliche Zeugen zur Vereidigung hereingeführt. Da sah ich sie denn alle. Übrigens: die beiden Brüder des Angeklagten wurden unvereidigt zur Zeugnisablegung zugelassen. Nach der Ermahnung des Geistlichen und des Vorsitzenden wurden den Zeugen die Plätze angewiesen, nach Möglichkeit nicht dicht nebeneinander. Und darauf begann man, sie einzeln aufzurufen.

II.
Die gefährlichen Zeugen

Ich weiß nicht, ob die Zeugen des Staatsanwalts und die des Verteidigers vom Vorsitzenden in zwei Gruppen eingeteilt worden waren und in einer gewissen, vorher bestimmten Reihenfolge aufgerufen wurden. Doch muß es wohl so gewesen sein, denn die ersten Zeugen, die man verhörte, waren die des Staatsanwalts. Ich wiederhole nochmals, daß ich nicht beabsichtige, das ganze Verhör Wort für Wort wiederzugeben. Zudem würde eine solche Beschreibung ganz unnötig sein, da in der Anklage- wie in der Verteidigungsrede des Staatsanwalts und des Verteidigers das ganze Ergebnis aller abgegebenen Zeugnisse gleichsam in einen Punkt unter greller und charakteristischer Beleuchtung zusammengefaßt wurden. Diese beiden bemerkenswerten Reden habe ich wenigstens zum Teil vollständig aufgeschrieben, um sie dann an gegebener Stelle anführen zu können, sowie auch eine ganz außergewöhnliche und unerwartete Episode der Verhandlung, die sich kurz vor den Plaidoyers abspielte und auf den grausamen und verhängnisvollen Urteilsspruch einen großen Einfluß hatte. Ich bemerke nur noch, daß es schon von den ersten Augenblicken der Gerichtsverhandlung an allen auffiel, wie groß im vorliegenden Prozeß die Wucht der Anklagen war, im Vergleich zu den Entlastungsbeweisen, über die der Verteidiger verfügte. Das begriffen alle, als das Verhör in diesem unheimlichen Saale begann, als die Tatsachen sich zu gruppieren anfingen, und allmählich der ganze Schrecken dieser blutigen Tat so deutlich vor unser Auge trat. Vielleicht wurde es schon nach den ersten Augenblicken allen klar, daß die Sache ja ganz unbestreitbar war, und überhaupt keine Zweifel mehr aufkommen ließ, daß im Grunde genommen irgendwelche Plaidoyers gar nicht mehr nötig waren, daß sie nur der Form wegen gehalten werden mußten, der Angeklagte jedoch „schuldig, unwiderruflich schuldig“ sei. Ich glaube sogar, daß alle Damen, die ausnahmslos die Freisprechung dieses interessanten Verbrechers wünschten, zu gleicher Zeit von seiner Schuld vollkommen überzeugt waren. Ja, wie mir schien, würden sie sich sogar beleidigt gefühlt haben, wenn man an seiner Schuld gezweifelt hätte, denn der Effekt seiner Freisprechung hätte dann nicht so groß sein können. Daß man ihn aber freisprechen werde, davon waren sie sonderbarerweise bis zum letzten Augenblick fest überzeugt. „Schuldig ist er, das ist wahr, man wird ihn aber aus Humanität freisprechen, auf Grund der neuen Ideen und neuen Gefühle, die jetzt überall aufgekommen sind“ usw. usw. Darum waren sie auch mit solcher Unruhe in der Erwartung dieser Freisprechung herbeigeeilt. Die Männer wiederum interessierte am meisten der Kampf des Staatsanwalts mit dem berühmten Fetjukowitsch. Alle fragten sich verwundert: „Was wird denn selbst ein solches Talent wie Fetjukowitsch, aus einer so verlorenen Sache, aus einem so ausgeblasenen Ei, noch machen können?“ Und man verfolgte mit angestrengter Aufmerksamkeit jeden seiner Schachzüge. Doch Fetjukowitsch blieb allen bis zum Schluß – bis zu seiner Rede – ein Rätsel. Erfahrenere Leute errieten denn auch, daß er etwas aufzustellen beabsichtigte, daß er nach einem System vorging und ein Ziel vor sich hatte, doch was für eines das war – das konnten auch sie nicht sagen. Vor allem fielen seine Sicherheit und sein Selbstvertrauen auf. Außerdem bemerkte man mit Genugtuung, daß er, trotz seines kurzen Aufenthaltes in unserer Stadt – er war erst vor drei Tagen angekommen – sich mit der Sache doch schon gründlich bekannt gemacht und sie bis in alle Einzelheiten studiert hatte. Mit wahrer Wonne erzählte man sich später, wie er alle Zeugen des Staatsanwalts „hineingelegt“ hatte, um sie nach Möglichkeit zu kompromittieren, und wie er ihren hohen Sittlichkeitsansprüchen Fallen gestellt, um auf diese Weise auch den Wert ihrer Aussagen zu untergraben. Übrigens behaupteten viele, daß er damit sozusagen nur gespielt habe, um juristisch zu glänzen, und damit keiner der Advokatenkniffe unbenutzt bliebe; war man doch überzeugt, daß alle diese Kniffe ihm trotzdem keinen großen und ausschlaggebenden Nutzen bringen konnten, und daß er selbst das wohl am besten wußte. „Gewiß hat er irgend etwas im Hinterhalte bereit, irgendeine Waffe, die er dann plötzlich im richtigen Augenblick hervorziehen wird. Anfänglich aber spielt er noch und treibt nur Mutwillen, da er ja seiner Sache sowieso sicher ist.“ Zum Beispiel, als man den früheren „Kammerdiener“ Fedor Pawlowitschs, Grigorij Wassiljewitsch, verhörte, und dieser die allerwichtigste Aussage in betreff der offenen Tür machte, da begann der Verteidiger, als an ihn die Reihe kam, den Zeugen zu verhören, dem Alten mit Fragen gehörig auf den Leib zu rücken. Ich muß dazu bemerken, daß Grigorij Wassiljewitsch, der sich weder durch das Gericht, noch durch die Anwesenheit des zahlreichen ihm zuhörenden Publikums einschüchtern ließ, mit ruhiger, fast überlegener Miene dastand. Seine Aussagen machte er mit einer Sicherheit, als hätte er mit Marfa Ignatjewna geplaudert, allenfalls nur ein wenig ehrerbietiger. Ihn aus dem Konzept zu bringen, war unmöglich. Zuerst fragte ihn der Staatsanwalt über alle Einzelheiten der Familie Karamasoff aus, wobei das Familienbild deutlich und grell hervortrat. Man hörte und sah, daß der Zeuge aufrichtig, treuherzig und unparteiisch war. Bei aller Ehrerbietung, die er für seinen ermordeten Herrn bewahrte, erklärte er doch, daß der Herr Mitjä gegenüber nicht recht gehandelt und für die Erziehung der Kinder nicht pflichtmäßig gesorgt habe. „Den kleinen Jungen hätten, wenn ich nicht dagewesen wäre, die Läuse gefressen,“ fügte er noch hinzu, als er seine Erzählung über Mitjäs Kinderjahre beendet hatte. „Auch hat der Vater den Sohn am Erbe seiner leiblichen Mutter geschädigt.“ Auf die Frage des Staatsanwalts, worauf er seine Aussage – daß der Vater seinen Sohn übervorteilt oder „geschädigt“ habe – begründe, konnte Grigorij Wassiljewitsch zur Verwunderung aller gar keine Belege angeben, doch bestand er nichtsdestoweniger fest darauf, daß die Abrechnung mit dem Sohne eine „unrichtige“ gewesen sei und der Vater diesem noch einige Tausend hätte auszahlen müssen. Ich bemerke hier zur Sache, daß diese Frage, – ob Fedor Pawlowitsch Mitjä wirklich nicht alles ausgezahlt hatte – vom Staatsanwalt mit besonderer Beharrlichkeit auch an alle anderen Zeugen, die er nur danach fragen konnte, gestellt wurde, Aljoscha und Iwan Fedorowitsch nicht ausgenommen. Doch von keinem dieser Zeugen konnte er eine genaue Aussage erhalten; alle bejahten sie die Tatsache, aber keiner von ihnen konnte irgendeinen Beweis vorbringen. Die Schilderung der Szene nach Tisch, als Dmitrij Fedorowitsch den Vater geschlagen und ihm gedroht hatte, wiederzukommen und ihn dann einfach totzuschlagen, machte einen niederschmetternden Eindruck auf das Publikum im Saal, um so mehr, als der alte Diener sie ruhig und ohne überflüssige Worte in seiner eigenartigen Sprache erzählte, so daß ihre Wiedergabe geradezu schön und packend war. Über die Kränkung, die er durch Mitjä, der ihn doch zu Boden geschlagen, erfahren hatte, bemerkte er nur, daß er sie ihm längst verziehen habe. Über den verstorbenen Ssmerdjäkoff sagte er nur aus, indem er sich bekreuzte, daß der arme zwar einige Fähigkeiten besessen habe, dafür aber dumm, von der Krankheit „geknechtet“ und dazu noch gottlos gewesen sei, und daß diese Gottlosigkeit ihn sowohl Fedor Pawlowitsch als sein Sohn Iwan Fedorowitsch gelehrt hätten. Doch auf der Ehrlichkeit Ssmerdjäkoffs bestand er fast mit Heftigkeit und erzählte sofort, wie Ssmerdjäkoff seinerzeit das verlorene Geld des Herrn gefunden und es sich nicht eingesteckt, sondern unverzüglich dem Herrn übergeben hatte, und wie der Herr ihm dafür „zehn Rubel“ geschenkt und seit der Zeit ihn in allem zu seinem Vertrauten gemacht habe. Doch blieb er auf seiner Aussage in betreff der offenen Tür der Gartenfassade mit seiner ganzen Hartnäckigkeit bestehen. Übrigens fragte man ihn so viel, daß ich mich nicht aller Aussagen erinnern kann. Endlich kam die Reihe an den Verteidiger, und der fragte ihn zuerst über das Geldpaket aus, in dem sich die „gewissen“ dreitausend Rubel für eine „bestimmte Person“ befunden haben sollten. „Haben Sie dieses Paket gesehen, Sie, der Sie als langjähriger Diener Ihrem Herrn so nahe standen?“ Grigorij antwortete, daß er es nicht gesehen und von diesem Gelde nichts gehört habe, „bis zu der Zeit, wo jetzt alle davon zu sprechen angefangen haben“. Diese Frage nach dem Geldpaket stellte Fetjukowitsch an alle, an die er sie als Zeugen nur stellen konnte, und zwar mit eben solcher Hartnäckigkeit, wie der Staatsanwalt seine Frage nach der Erbschaftsangelegenheit wiederholte, doch von allen erhielt er nur die eine Antwort, daß niemand das Paket gesehen, jedoch ein jeder seit zwei Monaten viel von ihm gehört habe. Die Hartnäckigkeit des Verteidigers in dieser Frage hatten alle gleich von Anfang an bemerkt.

„Gestatten Sie, daß ich mich jetzt an Sie mit der Frage wende,“ sagte plötzlich und ganz unerwartet Fetjukowitsch, „woraus dieser Balsam bestand, oder der sogenannte Kräuteraufguß, mit dem Sie an jenem Abend, vor dem Schlafengehen, Ihr schmerzendes Kreuz eingerieben haben, in der Hoffnung, sich damit zu kurieren?“

Grigorij sah stumpfsinnig den Fragenden an und brummte nach einigem Schweigen:

„Salbei war drin.“

„Nur Salbei? Erinnern Sie sich nicht noch irgendeiner Zutat?“

„Wegerich war auch drin.“

„Und auch Pfeffer vielleicht?“ fragte interessiert Fetjukowitsch.

„Auch Pfeffer war dabei.“

„Und so weiter. Und alles das in Branntwein?“

„In Spiritus.“

Im Saale hörte man unterdrücktes Lachen.

„Nun, was will man mehr, also sogar in Spiritus! Und nachdem man Ihren Rücken damit eingerieben hatte, tranken Sie den Rest der Flasche mit einem gewissen heilbringenden Gebet, das nur Ihrer Frau bekannt ist, aus, nicht wahr?“

„Ich habe es ausgetrunken.“

„Wieviel haben Sie denn ungefähr ausgetrunken? Ungefähr wieviel? Ein Schnapsgläschen voll oder gar zwei?“

„Ein Wasserglas voll wird es gewesen sein.“

„Sogar ein Wasserglas voll? Vielleicht waren es auch anderthalb Gläschen?“

Grigorij schwieg. Er schien etwas begriffen zu haben.

„Anderthalb Glas reinen Spiritus, – das ist gar nicht so übel, was meinen Sie? Da kann man ja selbst die Tore des Paradieses offen sehen, geschweige denn eine Tür, die in den Garten führt!“

Grigorij schwieg immer noch. Wieder hörte man unterdrücktes Lachen im Saal. Der Vorsitzende schien etwas unruhig zu werden.

„Sind Sie sicher,“ drang Fetjukowitsch immer mehr in ihn ein, „daß Sie in dieser Minute, als Sie die Tür zum Garten offen sahen, wach waren? Oder schliefen Sie vielleicht?“

„Ich stand auf den Beinen.“

„Das ist noch kein Beweis dafür, daß Sie nicht geschlafen haben.“ (Leises Gelächter im Saal.) „Hätten Sie zum Beispiel in dieser Minute sagen können, wenn jemand Sie gefragt hätte, nun, zum Beispiel, in welchem Jahr wir leben?“

„Das weiß ich nicht.“

„Im wievielten Jahre nach Christi Geburt leben wir denn jetzt, wissen Sie das wirklich nicht?“

Grigorij stand da mit verdutztem Ausdruck im Gesicht und sah seinen Quälgeist starr an. Sonderbar, er schien wirklich nicht zu wissen, in welchem Jahr er lebte.

„Vielleicht wissen Sie aber, wieviel Finger Sie an den Händen haben?“

„Ich bin hier kein freier Mensch,“ sagte Grigorij plötzlich laut und deutlich – „wenn die Obrigkeit beliebt, sich über mich lustig zu machen, so muß ich es dulden.“

Fetjukowitsch war etwas verdutzt, und der Vorsitzende mischte sich sofort ein und erinnerte den Verteidiger mit ein paar ernsten Bemerkungen daran, daß er sachlichere Fragen zu stellen habe. Fetjukowitsch hörte ihm aufmerksam zu, verbeugte sich dann würdevoll und erklärte, mit seinen Fragen zu Ende zu sein. Indessen blieb im Publikum wie auch bei den Geschworenen doch ein kleiner Zweifel an den Aussagen eines Menschen bestehen, bei dem die Möglichkeit nicht ausgeschlossen zu sein schien, daß er in einem gewissen Zustande während einer Kur die Paradiesestore offen sah, und der außerdem nicht zu sagen wußte, in welchem Jahre nach Christi Geburt er lebte; so hatte der Verteidiger immerhin sein Ziel erreicht. Doch bevor Grigorij entlassen wurde, ereignete sich noch eine kleine Episode. Der Vorsitzende wandte sich an den Angeklagten mit der Frage, ob er nicht zu den gegebenen Aussagen etwas zu bemerken habe?

„Ausgenommen die Behauptung von der Tür, hat er in allem die Wahrheit gesprochen,“ sagte Mitjä mit lauter Stimme. „Ich danke ihm, daß er mir die Läuse ausgekämmt hat, und daß er mir die Schläge verziehen hat, dafür danke ich ihm gleichfalls. Der Alte ist sein Leben lang ehrlich und dem Vater treu ergeben gewesen ... wie siebenhundert Pudel.“

„Angeklagter, wählen Sie Ihre Worte besser,“ sagte, zu ihm gewandt, streng der Vorsitzende.

„Ich bin kein Pudel,“ brummte Grigorij.

„Nun, dann bin ich der Pudel, ich!“ rief Mitjä sofort. „Wenn das beleidigend ist, so nehme ich es auf mich und bitte ihn um Verzeihung: ich war ein Tier und bin grausam zu ihm gewesen! Auch zu dem Äsop bin ich grausam gewesen!“

„Zu welchem Äsop?“ fragte wieder streng der Vorsitzende.

„Nun, dann Narr ... zu dem Vater, zu Fedor Pawlowitsch ...“

Der Vorsitzende schärfte Mitjä nochmals und bedeutend strenger ein, daß er in der Wahl seiner Ausdrücke vorsichtiger sein müsse.

„Sie schaden sich dadurch selbst in der Meinung Ihrer Richter.“

Ebenso geschickt verfuhr der Verteidiger beim Verhör des Zeugen Rakitin. Ich bemerke, daß Rakitin einer der wichtigsten Zeugen war, auf die der Staatsanwalt besonders rechnete. Es erwies sich, daß er alles wußte, bewunderungswürdig viel wußte, überall war er gewesen, alles hatte er gesehen, mit allen gesprochen. Die Lebensgeschichte Fedor Pawlowitschs und aller Karamasoffs kannte er genau. Und dann: von dem Paket mit den dreitausend Rubeln hatte er schon von Mitjä selbst gehört. Darauf wußte er ausführlich von den Ausschreitungen Mitjäs im Gasthaus „Zur Hauptstadt“ zu berichten, alle ihn kompromittierenden Worte und Gesten gab er wieder, wie z. B. die Geschichte mit dem „Bastwisch“, dem Hauptmann Ssnegireff. Doch über den wichtigsten Punkt, ob Fedor Pawlowitsch bei der Abrechnung über das Gut Mitjä noch etwas schuldig geblieben war – konnte auch er nichts aussagen, er beschränkte sich nur auf allgemeine Bemerkungen verächtlichen Charakters: „Wie kann man wissen, wer von diesen unsinnigen Karamasoffs, die sich nicht einmal selbst verstehen und begreifen können, dem anderen was schuldig geblieben ist?“ Die ganze Tragödie des vorliegenden Verbrechens stellte er dar als Produkt veralteter Sitten des Leibeigenschaftsregimes und des in Unordnung untergehenden Rußland, das schwer unter dem Mangel geeigneter Einrichtungen zu leiden habe. Kurz, er konnte einmal seine Meinungen aussprechen, und das war für ihn die Hauptsache. Bei diesem Prozeß zeichnete Rakitin sich zum erstenmal gewissermaßen aus. Auch wußte der Staatsanwalt, daß Rakitin einen Artikel für eine Zeitung über das Ereignis verfaßte, und zitierte in seiner Rede, wie wir später sehen werden, sogar einige Gedanken aus diesem Artikel – folglich mußte er ihn schon früher gelesen haben. Das Bild, das Rakitin von den Karamasoffs entworfen hatte, war sehr düster und unterstützte verhängnisvoll die Anklage. Überhaupt beeinflußte die Auslegung Rakitins das Publikum durch die Unabhängigkeit seiner Gedanken und die Tüchtigkeit seiner Gesinnung. Man hörte sogar zwei-, dreimal kurzen Applaus, besonders, als er von der Leibeigenschaft und dem unter der Unordnung leidenden Rußland sprach. Aber Rakitin machte als junger Mann doch einen kleinen Fehler, der vom Verteidiger denn auch sofort ausgenutzt wurde. Als er auf gewisse Fragen in betreff Gruschenkas antwortete, da erlaubte er sich, wahrscheinlich hingerissen von seinem Erfolge, dessen er sich freilich nur zu bewußt war, sowie von der Höhe der Standpunkte, zu denen er sich aufgeschwungen hatte, – da erlaubte er sich über Agrafena Alexandrowna etwas verächtliche Ausdrücke, wie z. B. „die Geliebte des Kaufmanns Ssamssonoff“. Viel hätte er später darum gegeben, um dieses Wörtchen rückgängig zu machen, denn an ihm wurde er sofort von Fetjukowitsch gepackt. Das konnte natürlich nur geschehen, weil Rakitin nicht für möglich gehalten hatte, daß Fetjukowitsch sich in dieser kurzen Frist mit der Sache so bis in die intimsten Einzelheiten hatte bekannt machen können.

„Gestatten Sie, daß ich mich erkundige,“ begann der Verteidiger mit dem liebenswürdigsten und höflichsten Lächeln, als die Reihe an ihn kam, – „Sie sind wohl derselbe Herr Rakitin, der die Broschüre, die von der Eparchialobrigkeit veröffentlicht worden ist, ‚Das Leben des in Gott entschlafenen Staretz Sossima‘ geschrieben hat, eine Broschüre voll tiefer und religiöser Ideen, mit einer vorzüglichen und ehrerbietigen Widmung an Se. Eminenz, die ich vor kurzem noch mit so großem Vergnügen gelesen habe?“

„Ich hatte sie nicht für den Druck bestimmt ... man hat sie später veröffentlicht,“ brummte Rakitin verdutzt und fast als schäme er sich.

„Oh, das ist vorzüglich! Ein Denker wie Sie kann und muß sogar zu jedem öffentlichen Ereignisse in solcher Weise Stellung nehmen, in so ergiebiger Weise, wie Sie es getan haben. Ihre Broschüre ist auf Veranlassung Sr. Eminenz erschienen und hat großen Nutzen gebracht ... Doch ich wollte Sie hauptsächlich fragen – Sie sagten soeben, daß Sie mit Fräulein Sswetloff so gut bekannt wären ...“

Bei dieser Gelegenheit hörte ich zum erstenmal Gruschenkas Familiennamen.

„Ich kann nicht für alle meine Bekanntschaften verantworten ... Ich bin ein junger Mann ... und wer kann denn für jeden einstehen, den er kennen lernt!“

Rakitin errötete plötzlich.

„Ich verstehe, oh, ich verstehe nur zu gut!“ rief Fetjukowitsch aus, als wäre er ganz konfus geworden, und als wolle er sich entschuldigen. „Sie konnten ja wie jeder andere in Versuchung kommen, sich für eine junge und schöne Frau, die bei sich die Blüte der hiesigen Jugend empfängt, zu interessieren. Doch ... ich wollte mich nur erkundigen, ob Ihnen – wie z. B. mir – bekannt ist, daß die Sswetloff, als sie vor zwei Monaten außerordentlich die Bekanntschaft des jüngsten Karamasoff, Alexei Fedorowitsch, zu machen wünschte, Ihnen fünfundzwanzig Rubel versprochen hat, falls Sie ihn in seiner Mönchskutte zu ihr führen würden? Das ist bekanntlich am Abend jenes Tages geschehen, der mit der tragischen Katastrophe, die der gegenwärtigen Verhandlung zugrunde liegt, endete. Sie haben Alexei Karamasoff zu der Sswetloff hingeführt und – damals die fünfundzwanzig Rubel Belohnung von ihr empfangen. Ich möchte nun von Ihnen hören, ob es sich tatsächlich so verhält?“

„Das war nur ein Scherz ... Ich sehe nicht ein, wie dieser Scherz Sie interessieren kann ... Ich habe sie nur im Scherz genommen ... um sie ihr später wiederzugeben ...“

„Also, Sie haben sie doch genommen. Und Sie haben sie bis jetzt auch noch nicht wiedergegeben ... oder sollten Sie sie ihr schon zurückerstattet haben?“

„Das sind doch Lappalien“ ... murmelte Rakitin, „auf solche Fragen kann ich entschieden nicht antworten ... Selbstverständlich werde ich sie ihr zurückerstatten ...“

Der Vorsitzende wollte wieder eingreifen, doch der Verteidiger erklärte sofort, daß er weiter keine Fragen an Herrn Rakitin zu stellen habe. Rakitin verschwand etwas begossen von der Bildfläche. Jedenfalls war der vorteilhafte Eindruck, den seine „liberale, aufgeklärte“ Rede samt seinen „hohen Standpunkten“ gemacht hatte, etwas abgeschwächt worden, und Fetjukowitsch, der ihn mit seinen Blicken begleitete, schien dem Publikum sagen zu wollen: „Seht, das sind eure ehrenwerten und hochanständigen Ankläger!“ Ich erinnere mich noch, daß auch dieser Vorfall nicht ohne eine kleine Episode von seiten Mitjäs verlief: wütend über den Ton, in dem Rakitin sich über Gruschenka geäußert hatte, rief er plötzlich von seinem Platz aus: „Bernard!“ Als der Vorsitzende nach dem Verhör Rakitins sich an den Angeklagten wandte: ob er seinerseits etwas zu bemerken hätte, sagte Mitjä so laut, daß es schallte:

„Er hat mich noch im Gefängnis angepumpt! Ein verächtlicher Bernard und Streber ist er, der an Gott überhaupt nicht glaubt und Se. Eminenz einfach betrogen hat!“

‚Mitjä‘ wurde wegen seiner unerlaubten Ausdrücke natürlich wieder ein Verweis zuteil, doch damit war Rakitin denn auch endgültig abgetan. Auch mit den anderen Zeugen, mit dem Hauptmann Ssnegireff z. B., hatte der Staatsanwalt kein Glück, dieses Mal aber aus einem ganz anderen Grunde. Er erschien in ganz unordentlicher und schmutziger Kleidung, in schmutzigen Stiefeln, und trotz aller Vorsicht und Umsicht der „Experten“ war er völlig betrunken. Auf die Fragen nach den Beleidigungen, die ihm von Mitjä zugefügt worden waren, antwortete er so gut wie nichts.

„Gott mit ihm. Iljuschetschka hat mich gebeten, nichts zu sagen. Gott wird es mir dort bezahlen ...“

„Wer hat Sie gebeten, nichts zu sagen? Von wem sprechen Sie?“

„Von Iljuschetschka, von meinem Söhnchen: ‚Papachen, Papachen, wie hat er dich erniedrigt!‘ Das sagte er mir damals am großen Stein. Jetzt wird er sterben ...“

Der Hauptmann schluchzte plötzlich auf und stürzte dem Vorsitzenden zu Füßen. Man führte ihn so schnell wie möglich hinaus. Das Publikum lachte. Der vom Staatsanwalt gewünschte Eindruck kam also nicht zustande.

Der Verteidiger fuhr in seiner Taktik fort und setzte uns immer mehr durch seine Kenntnis der kleinsten Einzelheiten in Erstaunen. So z. B. machten die Aussagen Trifon Borissowitschs einen großen Eindruck und waren für Mitjä natürlich außerordentlich ungünstig. Er zählte fast an den Fingern her, daß Mitjä bei seiner ersten Fahrt nach Mokroje, einen Monat vor der Katastrophe, nicht weniger als dreitausend Rubel verausgabt hätte, „oder nur eine Kleinigkeit weniger“. „Wieviel hat er nicht allein den Zigeunern hingeschmissen! Und unseren, unseren Bauernkerlen hat er nicht etwa halbe Rubel auf die Straße geworfen, sondern nicht weniger als zu Fünfundzwanzig-Rubelscheinen geschenkt, weniger gab’s nicht. Und um wieviel sie ihn damals einfach bestohlen haben! Wer aber stiehlt, der läßt seine Hand nicht da, wen soll man jetzt beschuldigen, wenn der Herr es noch dazu freiwillig hingeworfen hat! Denn bei uns sind die Bauern doch nur Räuber und Schurken, ihre Seele hütet doch niemand. Und den Mädels, unseren Dorfmädels, wieviel ist an die gegangen! Seit der Zeit sind sie alle bei uns reich geworden, während sie früher in Armut lebten!“ Kurz, er zählte jede Einzelheit auf und vergaß nichts auf die Rechnung zu setzen. Auf diese Weise wurde die Annahme, daß Mitjä nur Tausendfünfhundert verausgabt und die andere Hälfte zurückbehalten habe, einfach unglaubwürdig gemacht. „Ich habe sie selbst gesehen, in seinen Händen habe ich sie gesehen, wie eine Kopeke, so deutlich mit meinen eigenen Augen, wie sollte unsereiner denn das nicht beurteilen können!“ rief Trifon Borissowitsch beinahe entrüstet aus, da er mit aller Gewalt der „Obrigkeit“ gefällig sein wollte. Als aber nun das Fragen auf den Verteidiger überging, machte der überhaupt nicht den Versuch, diese Aussagen umzustoßen, sondern ging auf etwas ganz anderes über, nämlich darauf, daß der Kutscher Timofei und der Bauer Akim in Mokroje nach der ersten Prasserei, vor drei Monaten, hundert Rubel im Flur auf dem Fußboden gefunden hatten, die Mitjä im trunkenen Zustande verloren haben mußte. Sie hatten den Kassenschein Trifon Borissowitsch übergeben, und der hatte jedem von ihnen einen Rubel geschenkt. „Nun,“ fragte Fetjukowitsch, „haben Sie diese hundert Rubel Herrn Karamasoff zurückerstattet oder nicht?“ Trifon Borissowitsch redete hin und her, doch nach der Befragung der beiden Bauern bestätigte er schließlich, daß er die gefundenen hundert Rubel in Empfang genommen, fügte aber nun hinzu, daß er damals Dmitrij Fedorowitsch alles heilig zurückgegeben habe, und beteuerte bei seiner Ehre, daß der Herr sehr betrunken gewesen sei und sich daher wohl kaum dessen erinnern könne. Da er aber bis zur Aussage der Zeugen die hundert Rubel verleugnet hatte, so unterlag seine Versicherung, sie dem betrunkenen Mitjä zurückgegeben zu haben, doch noch einigem Zweifel. Auf diese Weise mußte wieder einer der gefährlichsten Zeugen, die der Staatsanwalt aufgestellt hatte, in seinem Ruf beeinträchtigt, abtreten. Dasselbe ereignete sich auch mit den Polen. Sie traten stolz und majestätisch auf, sagten laut, daß sie, erstens, beide der „Krone dienten“, und daß „Pan Mitjä“ ihnen Dreitausend angeboten habe, um ihre Ehre zu kaufen, und daß sie selbst gesehen hätten, daß er viel Geld in den Händen gehabt. Pan Mussjälowitsch mischte viel polnische Worte in seine Phrasen ein, und als er bemerkte, daß ihn das in den Augen des Vorsitzenden gewissermaßen hob, so wurde er noch aufgeblasener und drückte sich schließlich nur noch auf Polnisch aus. Doch Fetjukowitsch fing auch sie in seinen Netzen. Wie sehr auch der nochmals herbeigerufene Trifon Borissowitsch Winkelzüge machte, so mußte er doch bekennen, daß das Spiel Karten vom Pan Wrublewskij vertauscht worden war, und daß Pan Mussjälowitsch Karten überschlagen hatte. Das bestätigte zudem Kalganoff, an den jetzt die Reihe kam, und beide Pane mußten mit Schimpf und Schande und unter allgemeinem Gelächter des Publikums abziehen.

Ebenso erging es fast allen gefährlichen Zeugen. Jeden von ihnen verstand Fetjukowitsch moralisch zu vernichten und mit einer langen Nase zu entlassen. Die Juristen waren entzückt, aber sie begriffen doch nicht, was damit endgültig Großes erreicht werden konnte, denn, ich wiederhole es, alle fühlten die Unwiderlegbarkeit der Schuld, die immer tragischer und dunkler hervortrat. Doch aus der Ruhe und Sicherheit des „großen Magus“ ersahen sie, daß er seiner Sache sicher war, und sie warteten: denn nicht umsonst wird ein „solcher Mann“ aus Petersburg herkommen – das ist nicht so einer, der mit einer „langen Nase“ zurückkehrt!

III.
Die ärztliche Expertise und die Geschichte von dem einen Pfund Nüsse

Auch die ärztliche Expertise lautete wenig günstig für den Angeklagten. Doch Fetjukowitsch schien auf dieselbe auch nicht sehr gerechnet zu haben, wie sich in der Folge zeigte. Ursprünglich war sie nur deshalb vorgenommen worden, weil Katerina Iwanowna darauf bestanden und zu dem Zweck einen berühmten Arzt aus Moskau verschrieben hatte. Jedenfalls konnte sie für die Verteidigung nicht ungünstig sein. Im übrigen wirkte sie bei der Meinungsverschiedenheit der Ärzte sogar etwas erheiternd. Als Experten erschienen: Der berühmte Doktor aus Moskau, unser Doktor Herzenstube und schließlich noch unser junger Arzt Warwinskij. Die beiden letzteren waren – auf Ersuchen des Staatsanwalts – auch als Zeugen erschienen. Der erste, der in der Eigenschaft eines Experten vernommen wurde, war Doktor Herzenstube. Das war ein ergrauter und kahlköpfiger alter Herr von siebzig Jahren, ein Mann von starkem Körperbau und mittlerem Wuchs. Bei uns in der Stadt wurde er von allen sehr geachtet und geschätzt. Er war ein gewissenhafter Arzt, ein ehrenwerter, prächtiger Mensch, irgendein Herrnhuter oder „Mährischer Bruder“, ich weiß es nicht mehr ganz genau. Er lebte schon seit langer Zeit bei uns und hielt sich außerordentlich würdig. Er war gut und menschenfreundlich, behandelte arme Kranke und die Bauern unentgeltlich, ging selbst in ihre Hütten und Hundelöcher und hinterließ ihnen noch Geld für die Medizin. Doch bei alledem war er eigensinnig wie ein Maulesel. Ihn von einer Idee abzubringen, die er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, war unmöglich. Indessen war jetzt allen in der Stadt bekannt geworden, daß der angereiste Doktor während seines zwei- bis dreitägigen Aufenthalts sich einige recht beleidigende Bemerkungen in betreff der Begabung Doktor Herzenstubes erlaubt hatte. Das war nämlich so gekommen: viele in der Stadt hatten sich über die seltene Gelegenheit gefreut und waren, ohne auf das Geld zu achten (der berühmte Arzt nahm nicht weniger als fünfundzwanzig Rubel für die Visite), zu ihm gegangen, um sich untersuchen zu lassen. Diese Kranken waren aber vorher von Herzenstube behandelt worden, und der berühmte Arzt hatte nun dessen Kenntnisse außerordentlich absprechend kritisiert. Zu guter Letzt hatte er jeden Kranken, der bei ihm erschienen war, gefragt: „Wer hat denn an Ihnen hier herumgepfuscht, etwa wieder Herzenstube? He – he!“ – was Doktor Herzenstube natürlich alsbald erfahren hatte. Und so erschienen alle drei Ärzte, einer nach dem anderen, zum Verhör. Doktor Herzenstube erklärte natürlich geradeaus, daß man die geistige Abnormität des Angeklagten sofort aus allem ersehen könne. Nachdem er seine Erwägungen auseinandergesetzt hatte, die ich hier übergehe, fügte er hinzu, daß man diese Abnormität nicht nur in den früheren Handlungen des Angeklagten feststellen könne, sondern sogar jetzt, in dieser Minute, und als man ihn bat, zu erklären, woraus er das in gegebenem Augenblick ersehe, da wies der alte Doktor in seiner Gutmütigkeit ganz offen darauf hin, daß der Angeklagte beim Eintritt in den Saal ein ganz ungewöhnliches und den Umständen gar nicht angemessenes Aussehen gehabt habe. „Er schritt wie ein Soldat, die Augen waren starr geradeaus gerichtet, während es doch natürlicher gewesen wäre, daß er nach links geblickt hätte, wo im Publikum so viel Damen sitzen, denn er ist doch ein großer Liebhaber des schönen Geschlechts und hätte daher daran denken müssen, was die Damen jetzt sagen würden,“ schloß der Alte seine Rede in seiner eigenartigen Ausdrucksweise. Ich muß hinzufügen, daß er Russisch viel und gern sprach, obgleich bei ihm jede Phrase auf deutsche Art geformt schien, was ihn indessen nicht im geringsten genierte, denn er hatte die kleine Schwäche, seine russische Sprache für mustergültig zu halten, „für besser sogar, als die der Russen selbst“, und mit besonderer Vorliebe zitierte er russische Sprichwörter, wobei er jedesmal hinzufügte, daß die russischen Sprichwörter die besten und zutreffendsten der ganzen Welt seien. Ich bemerke noch, daß er im Gespräch aus Zerstreutheit oft die allergebräuchlichsten Ausdrücke vergessen konnte, die er vorzüglich wußte, doch die ihm plötzlich nicht in den Sinn kamen. Dasselbe passierte ihm übrigens auch, wenn er Deutsch sprach, und er griff dann immer mit der Hand in die Luft, gerade vor seinem Gesicht, als wolle er das verlorene Wörtchen erhaschen, und dann konnte ihn keiner dazu bringen, in seiner Rede eher fortzufahren, als bis er das ihm entfallene Wort gefunden hatte. Seine Bemerkung, daß der Angeklagte in normalem Zustande auf die Damen hätte blicken müssen, rief im Publikum ein lustiges Geflüster hervor. Alle unsere Damen hatten den Alten sehr gern, denn sie wußten, daß er, der fromm und keusch war, nur deswegen nicht geheiratet hatte, weil er zu hoch und ideal von den Frauen dachte, und sie für entschieden höhere Wesen hielt. Darum erschien diese unerwartete Bemerkung allen sehr sonderbar.

Der berühmte Moskauer Arzt erklärte seinerseits schneidend und bestimmt, daß er den geistigen Zustand des Angeklagten für unnormal halte – „sogar im höchsten Grade“. Er sprach viel und klug über den „Affekt“ und die „Manie“ und wies darauf hin, daß, nach allen Angaben zu schließen, der Angeklagte sich schon einige Tage vor der Katastrophe zweifellos im Affekt befunden habe, und wenn er die Tat vollführt haben sollte, so sei das, wenn auch nicht unbewußt, so doch unfreiwillig geschehen, da er keine Kraft mehr gehabt habe, gegen seine sittlich krankhaften Neigungen, die ihn beherrschten, anzukämpfen. Doch außer dem Affekt konstatierte der Doktor auch Manie, die seiner Meinung nach darauf hinwies, daß er schon auf dem Wege zu vollkommenem Wahnsinn gewesen sei. Ich gebe die Aussagen des Doktors mit meinen Worten wieder; er drückte sich in seiner fachmännischen Sprache sehr gelehrt aus. „Alle seine Handlungen stehen im Widerspruch zur Logik und dem gesunden Menschenverstande,“ fuhr er fort. „Ich will schon von alledem nichts sagen, was ich nicht gesehen habe, das heißt, vom Verbrechen selbst und von dieser ganzen Katastrophe, doch vor drei Tagen fiel mir im Gespräch mit ihm sein sonderbarer, unbeweglicher Blick auf, sein unerwartetes Lachen, wenn es gar nicht am Platz war, seine ewige unverständliche Gereiztheit, seltsame Worte, wie: ‚Bernard‘, ‚Ethik‘ und andere, die gar nicht angebracht waren.“ Vor allem aber sah der Doktor darin eine Manie, daß der Angeklagte ganz besonders gereizt sei, „wenn man von den dreitausend Rubeln spricht, um die er sich betrogen glaubt, während er von allen seinen anderen Fehlschlägen und erlittenen Kränkungen ganz harmlos sprechen kann“. Endlich sei er, nach den eingezogenen Erkundigungen, auch früher schon jedesmal, wenn man von diesen Dreitausend gesprochen hatte, außer sich geraten, „während man doch weiß, daß er uneigennützig und kein Egoist ist“. „Was aber die Ansicht meines gelehrten Kollegen betrifft,“ fügte der Doktor noch ironisch hinzu, nachdem er seine Rede beendet hatte, „daß der Angeklagte, als er in den Saal trat, durchaus zu den Damen und nicht gerade vor sich hin hätte blicken müssen, so sage ich nur, daß, abgesehen von der Scherzhaftigkeit dieser Ansicht, diese außerdem noch absolut falsch ist: denn, obgleich ich darin vollkommen mit ihm übereinstimme, daß der Angeklagte, als er hier in diesen Saal eintrat, in dem über sein Geschick entschieden wird, nicht starr vor sich hinsehen sollte, was durchaus ein Zeichen seines unnormalen seelischen Zustandes im gegebenen Augenblick ist, so behaupte ich doch zu gleicher Zeit, daß er nicht nach links zu den Damen, sondern nach rechts hätte sehen sollen, zu seinem Verteidiger, auf dessen Hilfe er jetzt seine ganze Hoffnung setzt, und von dessen Verteidigung sein ganzes Geschick abhängt.“ Diese seine Meinung sprach der Doktor sehr bestimmt und nachdrücklich aus. Doch wirkten die Behauptungen beider gelehrten Experten durch ihren Widerspruch ein wenig komisch, besonders noch nach der unerwarteten Folgerung des Arztes Warwinskij, der als Dritter befragt wurde. Seiner Meinung nach befand sich der Angeklagte jetzt wie früher in ganz normalem Zustande, und wenn er auch vor seiner Verhaftung außerordentlich nervös und erregt gewesen sein mochte, es könne das doch auf die alleraugenscheinlichsten Ursachen zurückgeführt werden, wie z. B. Eifersucht, Zorn, die fortwährende Betrunkenheit usw. Doch dieser nervöse Zustand brauchte absolut keinen besonderen „Affekt“ in sich zu schließen, von dem soeben die Rede gewesen war. Und was das anbelangt, ob der Angeklagte nach links oder nach rechts hätte sehen sollen, als er in den Saal trat, so mußte der Angeklagte, nach seiner „bescheidenen Meinung“, geradeaus sehen, wie er es auch getan, denn geradeaus vor ihm saßen ja der Vorsitzende und die Gerichtspersonen, von denen jetzt sein ganzes Geschick abhing, so daß er, „indem er geradeaus sah, damit bewiesen hat, wie normal der Zustand seines Geistes im gegebenen Augenblick ist“, schloß mit einigem Feuer der junge Arzt seine „bescheidene“ Aussage.

„Bravo, Doktor!“ rief Mitjä von seinem Platz aus, „genau so war es!“

Mitjä wurde natürlich wieder zum Schweigen gebracht, aber die Meinung des jungen Arztes hatte die ausschlaggebende Wirkung auf das Gericht und auch auf das Publikum, denn, wie sich nachher zeigte, waren alle mit ihm einverstanden. Übrigens sagte Doktor Herzenstube, der auch als Zeuge vernommen wurde, ganz unerwartet und ganz plötzlich noch etwas zugunsten Mitjäs aus. Als alter Einwohner unserer Stadt, der schon lange die Familie Karamasoff kannte, machte er sehr interessante Aussagen zur Entlastung Mitjäs und darauf fügte er, als wäre ihm plötzlich wieder etwas eingefallen, hinzu:

„Indessen konnte dem armen jungen Manne ein besseres Geschick zuteil werden, denn er hatte ein gutes Herz als Kind, wie auch noch später, ich weiß es genau. Ein russisches Sprichwort lautet: ‚Wenn jemand Verstand hat, so ist es gut, wenn aber ein kluger Mensch zu ihm zum Besuch kommt, so ist es noch besser, denn dann werden es zwei kluge Menschen sein und nicht nur einer ...‘“

„‚Ein Verstand ist gut, aber zwei sind besser,‘“ unterbrach ihn ungeduldig der Staatsanwalt, der die Gewohnheit des guten Alten kannte, langsam, gedehnt und umständlich zu reden, ohne sich darüber aufzuregen, daß er andere warten ließ, der, im Gegenteil, selbst sehr von seinem schwerfälligen, fröhlich-selbstzufriedenen Humor eingenommen war. Der gute Alte sprach gern viel und gut.

„Oh, ja, ja, das habe ich ja auch gesagt,“ griff der Alte beharrlich auf, „ein Verstand ist gut, aber zwei sind besser, dasselbe Sprichwort habe ich ja auch gesagt. Doch zu ihm ist niemand mit einem Verstande gekommen, und den seinen hat er selbst herausgelassen ... Wie sagt man das? Dieses Wort – wohin er seinen Verstand ... ich habe es vergessen,“ stotterte er und griff wieder vor seinem Gesicht mit der Hand danach, „ach, ja, spazieren.“

„Spazieren?“

„Nun, ja, spazieren, das habe ich ja auch gesagt. Sein Verstand ist ihm spazieren gegangen und dabei in ein so tiefes Loch gefallen, daß er sich vollständig verloren hat. Doch nichtsdestoweniger war er ein guter und gefühlvoller Junge, oh, ich erinnere mich seiner sehr wohl, wie er noch ganz klein war, von seinem Vater auf den Hinterhof hinausgeworfen, und wie er da ohne Stiefelchen umherlief, und wie die kleinen Höschen an einem Knopf hingen ...“

Eine gefühlvolle und innige Note klang in der Stimme des guten Alten. Fetjukowitsch horchte auf, als hoffe er, sich an etwas anklammern zu können.

„Ja, ja, ich selbst war damals noch ein junger Mensch ... Ich ... nun ja, ich war damals fünfundvierzig Jahre alt, ich war vor kurzem hier angekommen, und mir tat der Junge leid, und ich fragte mich: Sollte ich ihm nicht ein Pfund ... Nun, ja, ein Pfund ... Ich habe vergessen, wie man das sagt ... Pfund von dem, was die Kinder sehr lieben, wie sagt man das, – ach nun, wie ist doch das Wort ...“ (er griff wieder mit der Hand danach) „sie wachsen an Bäumen, man sammelt sie und schenkt sie allen Kindern ...“

„Äpfel?“

„O nein, nein, nein! Ein Pfund, ein Pfund ... Äpfel kauft man nicht pfundweise ... nein, sie sind alle klein, und man bekommt viele auf ein Pfund, man legt sie in den Mund und – krach! ...“

„Nüsse?“

„Nun, ja, Nüsse, das habe ich ja auch gesagt,“ bekräftigte der Doktor gelassen, als hätte er das Wort nie im Leben gesucht, „und ich brachte ihm ein Pfund Nüsse, denn dem Jungen hatte noch niemals jemand ein Pfund Nüsse gebracht, und ich hob meinen Finger auf und sagte ihm auf Deutsch: ‚Junge! Gott der Vater,‘ er lachte und sagte: ‚Gott der Vater.‘ – ‚Gott der Sohn.‘ Er lachte noch mehr und stammelte: ‚Gott der Sohn.‘ – ‚Gott der Heilige Geist.‘ Er lachte wieder und wiederholte, so gut er konnte: ‚Gott der Hei-Heilige Geist.‘ Ich ging fort, und nach drei Tagen, wie ich an ihm vorübergehe, ruft er mir zu: ‚Onkel! Gott der Vater, Gott der Sohn ...‘ – doch Gott den Heiligen Geist hatte er vergessen, ich sagte es ihm wieder vor, und er sprach es brav nach, und er tat mir wieder sehr leid. Dann brachte man ihn fort, und ich sah ihn nicht mehr. Und siehe, es vergingen dreiundzwanzig Jahre. Eines Morgens sitze ich in meinem Kabinett, schon mit weißem Haar, und plötzlich tritt ein blühender, junger Mann bei mir ein, den ich niemals wiedererkannt hätte, doch er hob den Finger und sagte lachend auf Deutsch: ‚Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist! Ich bin soeben angekommen und habe Sie aufgesucht, um Ihnen für das Pfund Nüsse zu danken, denn Sie allein haben mir ein Pfund Nüsse geschenkt.‘ Ich dachte dann an meine eigene glückliche Jugend im Elternhause und an diesen armen, kleinen Jungen ohne Stiefelchen auf dem Hof, und mein Herz drehte sich in mir um, und ich sagte zu ihm: ‚Du guter junger Mann, du hast dieses Pfund Nüsse nicht vergessen, das ich dir in deiner Kindheit geschenkt habe.‘ Und ich umarmte und segnete ihn. Und ich weinte. Er lachte, doch weinte er eigentlich gleichfalls, denn der Russe lacht manchmal dann, wenn er weinen will. Er weinte, ich habe es gesehen. Jetzt aber, wie traurig! ...“

„Und auch jetzt weine ich, Deutscher, auch jetzt weine ich, du gottesfürchtiger Mann!“ rief ihm plötzlich Mitjä von seinem Platze aus zu.

Auch diese Anekdote machte auf das Publikum einen freundlichen Eindruck. Doch das Hauptereignis zugunsten Mitjäs waren die Aussagen Katerina Iwanownas, die ich sofort wiedergeben werde. Und überhaupt, als die Reihe an die Entlastungszeugen kam, das heißt, an die vom Verteidiger gestellten Zeugen, da schien das Glück Mitjä zu lächeln, und was ganz besonders bemerkenswert war: – dies kam selbst dem Verteidiger ganz unerwartet. Doch vor Katerina Iwanowna wurde noch Aljoscha verhört, der sich plötzlich einer Tatsache erinnerte, die wirklich ein wichtiges Zeugnis gegen den Hauptpunkt der Beschuldigung sein konnte.

IV.
Das Glück lächelt Mitjä

Es geschah das sogar für Aljoscha ganz unerwartet. Er wurde unvereidigt vernommen, und ich erinnere mich, daß man sich allerseits, von den ersten Worten des Verhörs an, außerordentlich zartfühlend und sympathisch zu ihm verhielt. Da sah man deutlich, welch eines guten Rufes er sich erfreute! Aljoscha drückte sich bescheiden und zurückhaltend aus, doch aus allen seinen Aussagen brach sein heißes Mitgefühl hervor und seine ganze Liebe, die er für den unglücklichen Bruder empfand. In Beantwortung einer ihm vorgelegten Frage zeichnete er den Charakter seines Bruders als den eines vielleicht unbändigen und von Leidenschaften beherrschten Menschen, der andererseits wiederum edel, stolz und hochherzig sei, und der zu jedem Opfer bereit wäre, wenn man es von ihm verlangen würde. Er gab übrigens zu, daß der Bruder in den letzten Tagen aus Leidenschaft zu Gruschenka und als Gegner des Vaters in einer unerträglichen Lage gewesen war. Doch mit Unwillen wies er die Annahme zurück, der Bruder hätte am Vater einen Raubmord verübt, obgleich er zugeben mußte, daß diese Dreitausend bei Mitjä zu einer fixen Idee geworden waren, daß er sie durch Betrug des Vaters von seinem Erbe entwendet glaubte: während Mitjä sonst nicht im mindesten eigennützig war, so habe er von diesen Dreitausend doch nicht reden können, ohne dabei in Wut zu geraten. Über die Gegnerschaft zweier „Personen“, wie sich der Staatsanwalt ausdrückte – damit meinte er Gruschenka und Katjä –, antwortete er ausweichend, und auf einige Fragen verweigerte er jede Antwort.

„Hat Ihr Bruder Ihnen gesagt, daß er seinen Vater zu erschlagen beabsichtige?“ fragte der Staatsanwalt. „Sie brauchen darauf nicht zu antworten, wenn Sie es für nötig befinden,“ fügte er hinzu.

„Direkt hat er es mir nicht gesagt,“ antwortete Aljoscha.

„Wie dann? Etwa indirekt?“

„Er sprach einmal von seinem persönlichen Haß gegen den Vater, und daß er fürchte ... in einem Augenblick ... daß er in einem Augenblick äußersten Widerwillens ... ihn vielleicht sogar erschlagen könnte.“

„Und als Sie das hörten, glaubten Sie ihm?“

„Ich fürchte mich zu sagen, daß ich ihm glaubte. Ich war aber immer fest überzeugt, daß ein höheres Gefühl ihn in der verhängnisvollen Minute davor bewahren werde, wie es ja auch in der Tat geschehen ist, denn nicht er hat meinen Vater erschlagen,“ schloß Aljoscha mit fester, durch den ganzen Saal laut schallender Stimme.

Der Staatsanwalt fuhr zusammen wie ein Streitroß, das ein Trompetensignal hört.

„Seien Sie überzeugt, daß ich an die vollkommene Aufrichtigkeit Ihrer Überzeugung glaube, ohne dieselbe zu der Liebe, die Sie für Ihren unglücklichen Bruder empfinden, in Beziehung zu bringen. Die eigenartige Anschauung, die Sie von dieser ganzen Tragödie, die sich in Ihrer Familie abgespielt hat, haben, ist uns schon aus dem ersten Verhör bekannt. Ich will Ihnen nicht verheimlichen, daß sie im höchsten Grade persönlich ist und allen übrigen Zeugenaussagen widerspricht. Darum halte ich es auch für nötig, Sie mit allem Nachdruck zu fragen, was Ihre Gedanken darauf gebracht hat, und wodurch Sie eigentlich von der Unschuld Ihres Bruders überzeugt worden sind, und warum Sie an die Schuld der anderen Person glauben, auf die Sie schon früher hingewiesen haben?“

„Beim ersten Verhör habe ich nur auf die Fragen geantwortet,“ sagte Aljoscha ruhig und leise, „ich habe nicht ohne weiteres Anklage gegen Ssmerdjäkoff erhoben.“

„Aber Sie haben doch auf ihn hingewiesen.“

„Ich habe dies auf Grund der Aussage meines Bruders Dmitrij getan. Man erzählte mir noch vor meinem Verhör, was sich bei der Verhaftung meines Bruders zugetragen hatte, und daß er auf Ssmerdjäkoff gewiesen hätte. Ich glaube unerschütterlich daran, daß mein Bruder unschuldig ist. Und wenn nicht er den Vater erschlagen hat, so hat ...“

„So hat es Ssmerdjäkoff getan? ... Warum aber gerade Ssmerdjäkoff? Und warum sind Sie denn so von der Unschuld Ihres Bruders überzeugt?“

„Ich kann nicht anders, als meinem Bruder glauben. Ich weiß, daß er mich nicht belügen wird. Ich habe es an seinem Gesicht gesehen, daß er mich nicht belügt.“

„Nur am Gesicht? Ist das Ihr einziger Beweis?“

„Mehr Beweise habe ich nicht.“

„Und bei der Beschuldigung Ssmerdjäkoffs haben Sie auch nicht den geringsten Beweis, außer den Worten Ihres Bruders und seinem Gesichtsausdruck?“

„Nein, ich habe keinen anderen Beweis.“

Damit brach der Staatsanwalt seine Fragen an ihn ab. Die Aussagen Aljoschas waren für das Publikum eine große Enttäuschung. Über Ssmerdjäkoff hatte man bei uns schon vor der Gerichtssitzung viel gesprochen, der eine hatte dieses gehört, der andere jenes. Und von Aljoscha hatte man gesagt, daß er irgendwelche außergewöhnliche Beweise in der Hand habe, zugunsten des Bruders und für die Schuld des Dieners, und siehe da, – nichts, gar keine Beweise hatte er, außer der sittlichen Überzeugung, die doch schließlich so verständlich war, bei dem leiblichen Bruder des Angeklagten.

Darauf kam Fetjukowitsch an die Reihe. Auf die Frage: wann der Angeklagte ihm, Aljoscha, von seinem Haß gegen den Vater gesprochen und davon, daß er ihn töten könnte, und ob er das kurz vor der Katastrophe getan, etwa beim letzten Zusammentreffen usw. ... zuckte Aljoscha plötzlich zusammen, als ob er sich im Augenblick einer Sache erinnert hätte.

„Ich erinnere mich jetzt eines Umstandes, den ich ganz vergessen hatte ... damals war er mir unklar, jetzt aber ...“

Und Aljoscha erzählte, hingerissen von dem Gedanken, der ihm so plötzlich gekommen war, wie Mitjä beim letzten Zusammentreffen, am Abend, auf dem Wege zum Kloster, dort bei der einsamen Weide, sich auf die Brust geschlagen, „hoch oben auf die Brust“, und dabei einigemal wiederholt hatte, daß er noch die Möglichkeit habe, seine Ehre wieder herzustellen, daß er die Mittel dazu hier auf seiner Brust hätte, „sieh hier, hier auf meiner Brust“ ... „Ich glaubte damals,“ fuhr Aljoscha fort, „daß er, indem er auf seine Brust schlug, von seinem Herzen sprach, davon, daß er aus seinem Herzen die Kräfte schöpfen werde, die große Schande, die er nicht einmal mir zu sagen wagte, von sich abzuwälzen. Ich muß gestehen, ich dachte damals, er spräche vom Vater, und daß er vor der Schande zurückschrecke, zum Vater zu gehen und ihm irgend etwas anzutun, während er, als er damals auf seine Brust schlug, wahrscheinlich auf irgend etwas hinweisen wollte. Ich erinnere mich jetzt, daß mir damals der Gedanke durch den Kopf fuhr, daß das Herz ja doch gar nicht auf der rechten Seite und doch viel niedriger liege; er aber schlug sich ganz hoch auf die Brust, fast unter dem Halse und wies immer auf diese eine Stelle hin. Mein Gedanke erschien mir dumm, doch er hat damals wahrscheinlich gerade auf das Geld, auf die tausendfünfhundert Rubel an seinem Halse hingewiesen! ...“

„So war es!“ rief plötzlich Mitjä, vom Platze aufspringend, dazwischen. „So war es, Aljoscha, genau so, ich schlug damals mit der Faust auf die Brust, auf das Geldsäckchen!“

Fetjukowitsch stürzte sofort eilig zu ihm hin, bat ihn, sich zu beruhigen, und dann klammerte er sich unverzüglich mit seinen Fragen an Aljoscha. Aljoscha war selbst aufs äußerste erregt und sprach lebhaft seine Überzeugung aus, daß die „Schande“ aller Wahrscheinlichkeit nach darin bestanden habe, daß er diese tausendfünfhundert Rubel bei sich trug, statt sie Katerina Iwanowna, als die Hälfte seiner Schuld, zurückzugeben, daß er sich doch nicht entschließen konnte, es zu tun und das Geld zur Entführung Gruschenkas benutzen werde, wenn diese einwilligte ...

„So muß es gewesen sein, genau so,“ rief Aljoscha in großer Erregung aus. „Mein Bruder sagte mir damals, die Hälfte, die Hälfte der Schande – er rief mehreremal aus: ‚Die Hälfte!‘ – Die hätte er sofort von sich abwälzen können, doch wußte er im voraus, daß er nicht die Kraft haben werde, es zu tun!“

„Und Sie wissen genau, Sie erinnern sich ganz deutlich dessen, daß er sich gerade an der Stelle auf die Brust geschlagen hat?“ fragte ihn Fetjukowitsch gespannt.

„Klar und deutlich, denn ich dachte bei mir in dem Augenblick: warum schlägt er sich so hoch auf die Brust, das Herz liegt doch viel niedriger. Und gleich darauf erschien ich mir so dumm, weil ich an so etwas in diesem Augenblick denken konnte ... ich erinnere mich dessen ganz genau ... so dumm ... Daher ist mir soeben auch alles wieder eingefallen. Aber wie habe ich das nur vergessen können! Er wies ja nur deswegen auf diese Stelle hin, weil er damit sagen wollte, daß er die Möglichkeit hatte, tausendfünfhundert Rubel, die Hälfte der Schuld, zurückzugeben! Bei der Verhaftung in Mokroje aber hat er ausgerufen – ich weiß es, man hat es mir erzählt –, daß er es für die schmachvollste Tat seines ganzen Lebens halte, daß er diese Hälfte (gerade die Hälfte) der Schuld Katerina Iwanowna nicht abgegeben hat, um in ihren Augen kein Dieb zu sein, daß er sich nicht hat entschließen können, sie zurückzugeben, und lieber in ihren Augen ein Dieb geblieben ist! Ach, wie hat er sich gequält, wie hat er sich dieser Schuld wegen gequält!“ rief Aljoscha traurig aus.

Natürlich mischte sich der Staatsanwalt sofort in die Sache ein. Er bat Aljoscha, noch einmal zu beschreiben, wie sich das alles zugetragen hatte, und bestand auf der Frage: ob der Angeklagte, als er sich auf die Brust schlug, damit auf irgend etwas habe hinweisen wollen, oder ob er sich einfach mit der Faust auf die Brust geschlagen habe?

„Nicht nur mit der Faust!“ rief Aljoscha erregt aus, „sondern mit den Fingern hat er auf diese Stelle hingewiesen, ganz hoch ... Wie habe ich das nur bis zu diesem Augenblick so ganz vergessen können!“

Der Vorsitzende wandte sich an Mitjä mit der Frage, was er in betreff dieser Aussage zu bemerken wünsche. Mitjä bestätigte, daß alles sich so verhalten habe, daß er auf die Tausendfünfhundert hingewiesen, die er auf seiner Brust getragen, und daß es die größte Schande für ihn gewesen sei, „eine Schande, von der ich mich nicht lossagen kann, die schmählichste Handlung meines ganzen Lebens: es lag in meiner Macht, das Geld zurückzugeben, und ich habe es doch nicht getan! Ich wollte lieber in ihren Augen ein Dieb sein. Die größte Schmach bestand aber darin, daß ich wußte, was geschehen würde: daß ich das Geld nicht zurückgeben werde! Du hast recht, Aljoscha! Ich danke dir, Aljoscha!“

Damit war das Verhör Aljoschas beendet. Wichtig und bezeichnend war gerade der Umstand, daß sich ein Anhalt gefunden hatte, oder wenigstens ein ganz geringer Beweis, oder auch nur ein Schatten von einem Beweise, der immerhin andeutete, daß es das Säckchen mit den Tausendfünfhundert tatsächlich gegeben haben konnte und der Angeklagte bei der Voruntersuchung in Mokroje nicht gelogen hatte, daß die anderthalb Tausend „ihm gehörten“. Aljoscha freute sich sehr; sein Gesicht war vor Freude ganz gerötet, und als er sich auf den ihm zugewiesenen Platz setzte, wiederholte er noch für sich: „Wie habe ich es nur vergessen können, wie habe ich’s nur vergessen können! Und wie ist es mir nur plötzlich wieder eingefallen!“

Darauf begann das Verhör Katerina Iwanownas. Kaum war sie erschienen, als im Saal etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Die Damen griffen zu ihren Lorgnons und Operngläsern, die Herren bewegten sich, einige erhoben sich sogar von ihren Plätzen, um besser sehen zu können. Alle behaupteten später, daß Mitjä plötzlich „bleich wie ein Tuch“ geworden sei, als sie eingetreten war. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, bescheiden und fast schüchtern näherte sie sich dem ihr zugewiesenen Platz. Ihrem Gesicht konnte man die Aufregung nicht ansehen, aber in ihrem dunklen, umflorten Blick drückte sich Entschlossenheit aus. Später behaupteten viele, sie sei in diesem Augenblick außerordentlich schön gewesen. Sie sprach leise, aber deutlich, so daß man sie im ganzen Saale hören konnte. Sie drückte sich vollkommen ruhig aus, wenigstens gab sie sich den Anschein der größten Ruhe. Der Vorsitzende stellte seine Fragen sehr vorsichtig und außerordentlich ehrerbietig an sie, als fürchte er „gewisse Saiten“ zu berühren, als ehre er ihr großes Unglück. Doch Katerina Iwanowna erklärte selbst auf die ihr gestellten Fragen schon nach den ersten Worten, daß sie die Braut des Angeklagten gewesen sei „bis zu der Zeit, als er mich verließ“, fügte sie leise hinzu. Als man sie nach den Dreitausend fragte, die sie Mitjä übergeben hatte, damit er das Geld durch die Post an ihre Verwandten befördere, antwortete sie entschlossen: „Ich habe ihm das Geld nicht gegeben, damit er es gleich auf die Post bringe: ich wußte damals, daß er Geld brauchte ... gerade zu der Zeit ... Ich gab ihm diese Dreitausend unter der Bedingung, daß er sie im Laufe des Monats abschicke ... Er hat sich ganz unnötigerweise wegen dieser Schuld so gequält ...“

Ich werde hier nicht alle Fragen und Antworten genau wiedergeben, sondern nur den wesentlichen Sinn ihrer Aussagen.

„Ich war fest überzeugt, daß er die Dreitausend sofort ersetzen werde, so wie er das Geld von seinem Vater erhielt,“ fuhr sie fort, als Antwort auf die Fragen. „Ich bin von seiner Uneigennützigkeit, wie von seiner Ehrenhaftigkeit ... von seiner großen Ehrenhaftigkeit ... in Geldsachen, stets überzeugt gewesen. Er hoffte, vom Vater noch dreitausend Rubel zu erhalten, er hat mir oft davon gesprochen. Ich wußte, daß er mit seinem Vater entzweit war, und ich war und bin auch noch jetzt der festen Überzeugung, daß er vom Vater übervorteilt worden ist. Ich erinnere mich nicht, je eine Drohung gegen den Vater von ihm vernommen zu haben. In meiner Gegenwart hat er wenigstens nie etwas Ähnliches geäußert. Wenn er damals zu mir gekommen wäre, so hätte ich ihn sofort wegen der Dreitausend beruhigt, die er mir schuldete, doch er kam nicht mehr zu mir ... und ich selbst ... war in einer solchen Lage, daß ich ihn nicht zu mir rufen konnte ... Und ich hatte auch gar kein Recht, die Rückerstattung dieser Schuld zu beanspruchen,“ fügte sie plötzlich hinzu, und in ihrer Stimme lag eine gereizte Entschlossenheit. „Er selbst hat mir einmal eine viel größere Gefälligkeit in einer Geldsache erwiesen, und ich hatte damals den Betrag, der viel größer als Dreitausend war, angenommen, ohne zu wissen, ob ich jemals imstande sein werde, ihm meine Schuld abzuzahlen ...“

Im Ton ihrer Stimme lag etwas Herausforderndes.

„Das war wohl nicht jetzt, sondern schon zu Anfang Ihrer Bekanntschaft?“ griff Fetjukowitsch vorsichtig auf, da er sofort etwas für Mitjä Günstiges vermutete.

Hier muß ich bemerken, daß er, obgleich er zum Teil auch von Katerina Iwanowna aus Petersburg berufen worden war, doch nichts von diesem ihrem Erlebnis und den ihr von Mitjä in jener Garnisonstadt geliehenen fünftausend Rubel wußte, und ebensowenig etwas vom „Fußfall“. Sie hatte ihm nichts davon gesagt. Und ich glaube, man kann fast mit Sicherheit annehmen, daß sie selbst bis zur letzten Minute nicht gewußt hat, ob sie von dieser „Begegnung“ vor Gericht erzählen würde oder nicht, und daß sie es dann nur auf eine plötzliche Eingebung hin doch tat.

Nein, niemals werde ich diese Augenblicke meines Lebens vergessen können. Sie erzählte, sie erzählte alles, diese ganze Episode, wie auch Mitjä sie Aljoscha anvertraut hatte, auch von der „Verbeugung bis zur Erde“! Und auch davon, was sie dazu veranlaßt hatte, auch von ihrem Vater sprach sie, von ihrem Erscheinen bei Mitjä, doch mit keinem Wort und mit keiner Bemerkung wies sie darauf hin, daß Mitjä ihrer Schwester gesagt hatte: „Schicken Sie Katerina Iwanowna zu mir, ich werde ihr dann das Geld geben.“ Großmütig verschwieg sie das, und sie schämte sich nicht, es so darzustellen, als sei sie selbst aus eigenem Antriebe ... zu diesem jungen Offizier gelaufen ... in der Hoffnung, daß ... daß sie das Geld von ihm erhalten würde. Das war geradezu erschütternd. Mir wurde kalt und heiß, als ich es hörte, und der ganze Saal lag in Totenstille, jedes Wort wurde aufgefangen. Das war etwas Beispielloses. Von einem so selbstbewußten, alles verachtenden, stolzen Mädchen, wie sie es war, hätte man kaum eine solche Aufrichtigkeit, ein solches Opfer und eine solche Selbstvernichtung erwarten können. Und weshalb und für wen? Um ihren Verräter und Beleidiger zu retten, um irgend etwas, wenn auch nur etwas zu seiner Rettung beizutragen, um zu seinen Gunsten wenigstens einen guten Eindruck hervorzubringen! Und in der Tat: das Bild des Offiziers, der seine letzten fünftausend Rubel hingibt, – alles, was ihm für sein ganzes Leben noch geblieben ist – und sich ehrerbietig vor dem unschuldigen jungen Mädchen verneigt, erschien sehr sympathisch und verführerisch vor aller Augen. Doch ... mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen! Ich fühlte, was daraus entstehen würde (und was ja auch daraus entstanden ist) – welch ein Klatsch! Welche Verleumdungen! Mit boshaftem Lächeln sprach man alsbald in der ganzen Stadt, daß die Erzählung vielleicht nicht ganz wahrheitsgetreu gewesen sei, besonders an der Stelle nicht, wo der Offizier angeblich das junge Mädchen „mit einer tiefen ehrerbietigen Verbeugung“ entläßt. Man machte Anspielungen darauf, daß da wohl etwas „ausgelassen“ worden war. „Und selbst, wenn dabei auch nichts ausgelassen, wenn es auch in Wahrheit alles so gewesen ist,“ sagten unsere geachtetsten Damen, „so bleibt es immer noch zweifelhaft, ob es für das junge Mädchen wohlanständig war, so zu handeln, selbst wenn es dadurch den Vater rettete.“ Hatte nun Katerina Iwanowna bei ihrem Verstande, ihrem Scharfblick, wirklich nicht vorausgesehen und gefühlt, daß man so sprechen würde? Natürlich hatte sie das vorausgewußt, und doch hatte sie sich entschlossen, alles zu sagen! Versteht sich, diese schmutzigen Zweifel an der Wahrheit der Erzählung kamen erst später auf. Im ersten Augenblick waren alle erschüttert. Die Herren des Gerichtshofes hörten Katerina Iwanowna mit einem fast andächtigen, fast verschämten Schweigen zu. Der Staatsanwalt erlaubte sich keine einzige weitere Frage über dieses Thema. Fetjukowitsch verneigte sich tief vor ihr. Oh, er triumphierte beinahe. Viel war gewonnen: ein Mensch, der in edler Aufwallung seine letzten fünftausend Rubel hingibt, und ein Mensch, der seinen Vater in der Nacht erschlägt, um von ihm dreitausend Rubel zu stehlen – waren einigermaßen unvereinbar in einer Person. Wenigstens konnte er jetzt den Raub leugnen. Die „Sache“ stand jetzt in einem ganz neuen Lichte. Etwas wie Sympathie für Mitjä hatte sich verbreitet. Mitjä selbst aber – so erzählte man sich später –, habe sich ein- oder zweimal von seinem Platze erhoben, war dann wieder auf die Bank zurückgefallen und hatte mit beiden Händen sein Gesicht bedeckt. Als sie geendet hatte, das weiß ich noch, da rief er plötzlich, ihr beide Hände entgegenstreckend, mit schluchzender Stimme aus:

„Katjä, warum hast du mich zugrunde gerichtet!“

Und er schluchzte laut auf, beherrschte sich aber sofort wieder und rief mit fester Stimme:

„Jetzt bin ich verurteilt!“

Darauf blieb er wie erstarrt sitzen, kreuzte die Arme über der Brust und biß die Zähne zusammen. Katerina Iwanowna blieb im Saal und setzte sich auf einen Stuhl, den man ihr anwies. Sie war bleich und saß mit niedergeschlagenen Augen da. Diejenigen, die in ihrer Nähe gesessen hatten, erzählten später, sie habe lange noch wie im Fieber gezittert. Nach ihr erschien Gruschenka zum Verhör.

Ich nähere mich jetzt der Katastrophe, die sich ganz plötzlich entlud und durch die Mitjäs Sache verloren, sein Leben eigentlich erst zugrunde gerichtet wurde. Denn ich bin überzeugt, und alle Juristen haben es nachher gleichfalls ausgesprochen, daß man, wenn dieser Zwischenfall sich nicht ereignet hätte, wenigstens mildernde Umstände zugunsten des Angeklagten angenommen hätte. Doch davon später. Jetzt noch zwei Worte über Gruschenka.

Auch sie erschien ganz in Schwarz gekleidet; um die Schultern trug sie ihren wundervollen schwarzen Schal. In ihrer leichten, unhörbaren, etwas wiegenden Gangart, wie sie sonst nur volleren Frauen eigen ist, näherte sie sich der Ballustrade. Sie sah weder nach links noch nach rechts, sondern blickte unverwandt auf den Vorsitzenden. Meiner Meinung nach war sie sehr schön in diesem Augenblick und durchaus nicht zu bleich, wie die Damen später behaupteten. Man sagte auch, sie hätte ein böses Gesicht gemacht. Ich denke nur, daß sie sehr gereizt war und als sehr schwer empfand, allen diesen verächtlich-neugierigen Blicken unseres skandalgierigen Publikums ausgesetzt zu sein. Sie hatte einen stolzen Charakter, der keine Verachtung ertragen konnte, einen von denen, die, wenn sie Verachtung argwöhnen, sofort in Zorn aufflammen und eine Gegenwehr suchen. Natürlich war dabei viel Schüchternheit und innere Scham wegen dieser Schüchternheit, so daß es schließlich kein Wunder war, wenn ihre Aussagen ungleich, bald zornig, verächtlich und zuweilen gezwungen grob waren, bald wieder von Herzen kommende Worte, aufrichtige Selbstverurteilung und Selbstbeschuldigung durchklangen. Manchmal sprach sie so, als wenn sie sich in einen Abgrund stürzen wollte: „Einerlei, was dabei herauskommt, aber ich sage es doch ...“ In bezug auf ihre Bekanntschaft mit Fedor Pawlowitsch bemerkte sie nur kurz abweisend: „Das sind alles Dummheiten, bin ich denn schuld daran, daß er sich mir aufdrängte?“ Nach einer Minute aber fügte sie hinzu: „Ich bin an allem schuld, ich lachte über den einen und den anderen, über den Alten, wie auch über – diesen ... und ich habe sie beide bis dahin gebracht. Meinetwegen ist alles geschehen!“ Als man auf Ssamssonoff zu sprechen kam, sagte sie barsch und herausfordernd: „Das geht niemanden etwas an! Er war mein Wohltäter, er hat mich aufgenommen, als meine Verwandten mich aus dem Hause jagten.“ Der Vorsitzende machte sie sehr höflich darauf aufmerksam, daß sie nur auf die Fragen zu antworten habe, ohne sich in unnützen Ausführlichkeiten zu ergehen. Gruschenka errötete, und ihre Augen blitzten auf.

Das Geldpaket hatte sie nicht gesehen, sondern nur durch den „Mörder“ gehört, daß Fedor Pawlowitsch ein Paket mit dreitausend Rubeln bei sich liegen habe. „Aber das sind ja alles nur Dummheiten, ich habe darüber nur gelacht und wäre nie zu ihm gegangen.“

„Wen meinten Sie soeben mit dem ‚Mörder‘?“ erkundigte sich sofort der Staatsanwalt.

„Ich meinte den Diener, den Ssmerdjäkoff meinte ich, der seinen Herrn erschlagen und gestern sich selbst erhängt hat.“

Natürlich fragte man sie sofort, welche Gründe sie zu einer so entschiedenen Anschuldigung besitze, doch konnte auch sie keinen einzigen stichhaltigen Grund anführen.

„Das hat Dmitrij Fedorowitsch mir selbst gesagt, und ihm können Sie glauben. Seine Braut hat ihn zugrunde gerichtet, so ist es, an allem ist nur sie allein schuld,“ sagte Gruschenka zitternd vor Eifersucht und mit gereizter Stimme.

Man erkundigte sich sofort, auf wen sie denn jetzt wieder anspielte.

„Auf das Fräulein dort, auf diese Katerina Iwanowna, auf wen denn sonst! Sie hat mich damals zu sich eingeladen, hat mich mit Schokolade traktiert, um sich bei mir einzuschmeicheln. Kein Schamgefühl hat sie, das ist es ...“

Da aber wies sie der Vorsitzende streng zurück, mit der Bitte, sich in ihren Ausdrücken zu mäßigen. Ihr eifersüchtiges Herz brannte aber schon gar zu heiß, sie würde es selbst dann gesagt haben, wenn dieser Ausfall sie mit Tod und Verderben bedroht hätte.

„Bei der Verhaftung des Angeklagten in Mokroje,“ begann sofort der Staatsanwalt, „haben Sie, als Sie ins Zimmer stürzten, ausgerufen: ‚Ich bin an allem schuld, ich gehe mit ihm zusammen in den Tod!‘ Folglich waren Sie in diesem Augenblick überzeugt, daß er den Vater ermordet hatte?“

„Ich erinnere mich meiner Empfindungen, die ich damals hatte, nicht mehr genau,“ antwortete Gruschenka. „Alle schrien damals, er habe den Vater erschlagen, und ich begriff sofort, daß ich daran schuld war, daß er ihn nur meinetwegen erschlagen haben konnte. Als er mir aber darauf sagte, daß er unschuldig sei, da glaubte ich ihm sofort, glaube es auch jetzt noch und werde es immer glauben: dieser Mensch ist nicht fähig, zu lügen.“

Fetjukowitsch fragte sie, wie ich mich erinnere, unter anderem auch über Rakitin und die fünfundzwanzig Rubel aus, die sie ihm versprochen hatte, wenn er Alexei Fedorowitsch Karamasoff zu ihr brächte.

„Was ist denn dabei Wunderbares, daß er das Geld nahm!“ sagte Gruschenka verächtlich lächelnd, „er ist doch immer zu mir gekommen, um mich anzubetteln, manchmal habe ich ihm an dreißig Rubel im Monat gegeben, und eigentlich war es nur Verschwendung, denn für Essen und Trinken hatte er selbst Geld genug.“

„Aus welchem Grunde waren Sie denn so freigebig zu Herrn Rakitin?“ griff Fetjukowitsch auf, ungeachtet dessen, daß der Vorsitzende wieder eine unruhige Bewegung machte.

„Er ist doch mein Vetter. Seine Mutter und meine Mutter waren leibliche Schwestern. Er hat mich nur immer gebeten, ich solle es niemandem hier sagen, er schämt sich ja meiner so sehr!“

Dieses neue Faktum kam allen ganz unerwartet, niemand hatte etwas davon gewußt, weder im Kloster, noch in der Stadt, sogar Mitjä nicht ausgenommen. Man erzählte sich später, daß Rakitin auf seinem Stuhle vor Scham feuerrot geworden sei. Gruschenka hatte noch vor ihrem Eintritt in den Saal erfahren, daß Rakitin gegen Mitjä ausgesagt hatte, und war deshalb wütend auf ihn. Die ganze Rede des Herrn Rakitin, seine ganze edle Gesinnung, alle seine Bemerkungen über die Leibeigenschaft, über die staatliche Unordnung Rußlands – alles war jetzt vernichtet! Fetjukowitsch war sehr zufrieden. Überhaupt fragte man Gruschenka nicht allzulange, und sie konnte ja auch nichts Neues mehr mitteilen. Im Publikum hinterließ sie einen sehr unangenehmen Eindruck. Hunderte verächtlicher Blicke waren auf sie gerichtet, als sie sich nach beendetem Verhör ziemlich weit von Katerina Iwanowna auf ihren Stuhl niederließ. Mitjä hatte die ganze Zeit, während der sie verhört worden war, geschwiegen und zu Boden gestarrt, als wäre er versteinert.

Da erschien als Zeuge Iwan Fedorowitsch.

V.
Die Katastrophe

Er war schon vor Aljoscha aufgerufen worden, doch der Gerichtsvollstrecker hatte dem Vorsitzenden gemeldet, daß der Zeuge infolge plötzlichen Unwohlseins nicht sofort erscheinen könne, sobald er sich aber besser fühle, bereit sein werde, seine Aussagen zu machen. Das war übrigens von niemandem gehört worden, erst später wurde es erzählt. Sein Erscheinen wurde im ersten Augenblick fast gar nicht bemerkt: Die Hauptzeugen, besonders die beiden Gegnerinnen, waren schon verhört worden, die Neugier war vorläufig befriedigt. Im Publikum verspürte man sogar eine leichte Ermüdung. Nur einige Zeugen sollten noch vernommen werden, die aller Wahrscheinlichkeit nach nichts Besonderes mehr aussagen konnten, da doch alles schon ausgesagt worden war. Die Zeit aber rückte vor. Iwan Fedorowitsch näherte sich ganz absonderlich langsam, ohne jemanden anzusehen, den Kopf gesenkt, als dächte er stirnrunzelnd über etwas nach. Er war tadellos gekleidet, doch sein Gesicht machte, wenigstens auf mich, einen krankhaften Eindruck: es war etwas gleichsam Überirdisches in diesem Gesicht, etwas, das dem Gesichte eines sterbenden Menschen ähnlich sah. Seine Augen waren trübe. Da blieb er stehen, erhob seinen Blick und ließ ihn langsam über den ganzen Saal gleiten. Ich sah, wie Aljoscha plötzlich von seinem Stuhl aufsprang und angstvoll ein „Ach!“ hervorstieß. Ich erinnere mich dessen noch ganz genau. Doch nur wenige bemerkten es.

Der Vorsitzende erinnerte ihn zuerst daran, daß er ein unvereidigter Zeuge sei, daß er nach Belieben aussagen oder schweigen könne, doch dafür jedes Wort auf Treu und Gewissen sagen müsse usw. usw. Iwan Fedorowitsch hörte ihm zu und sah ihn mit seinem trüben Blick schweigend an. Plötzlich aber begann sein Gesicht sich allmählich zu verändern, auf seinen Lippen erschien ein Lächeln, und als der Vorsitzende vor Verwunderung zu sprechen aufhörte, da lachte er auch schon laut auf.

„Nun, und was noch?“ fragte er mit lauter Stimme.

Im Saale wurde es totenstill, man schien gleichsam etwas ... etwas vorauszufühlen!

Der Vorsitzende wurde unruhig.

„Sie ... fühlen sich vielleicht noch nicht ganz wohl?“ fragte er unsicher und suchte mit den Augen den Gerichtsvollstrecker.

„Beunruhigen Sie sich nicht, Ew. Exzellenz, ich fühle mich ganz wohl und kann Ihnen etwas sehr Interessantes mitteilen,“ antwortete ihm Iwan Fedorowitsch plötzlich völlig ruhig und ehrerbietig.

„Sie haben also eine besondere Mitteilung zu machen?“ fragte der Vorsitzende immer noch etwas mißtrauisch.

Iwan Fedorowitsch sah wieder zu Boden, zögerte einige Sekunden lang, erhob aber dann seinen Kopf und sagte gleichsam etwas stockend:

„Nein ... ich habe nichts ... Ich habe nichts Besonderes.“

Darauf wurden ihm Fragen vorgelegt. Er antwortete ersichtlich ungern, gezwungen, kurz, sogar mit offenbarem Widerwillen, der sich bei ihm mit jedem Wort noch zu steigern schien – obgleich er übrigens noch ganz verständig antwortete. Auf viele Fragen erklärte er, von den Dingen nicht unterrichtet zu sein. Auch von den Abrechnungen des Vaters mit Dmitrij Fedorowitsch wußte er nichts. „Ich habe mich nicht damit beschäftigt,“ sagte er kurz. Drohungen des Angeklagten gegen den Vater hatte er gehört. Vom Geldpaket hatte er durch Ssmerdjäkoff erfahren ...

„Alles ein und dasselbe,“ unterbrach er sich plötzlich, ersichtlich ganz erschöpft, „ich habe dem Gericht nichts Besonderes mitzuteilen.“

„Ich sehe, daß Sie sich nicht wohl fühlen und begreife Ihre Gefühle ...,“ bemerkte der Vorsitzende, und er wollte sich schon an die Parteien wenden, an den Staatsanwalt und den Verteidiger, mit der Aufforderung, wenn sie es für nötig hielten, an ihn Fragen zu stellen usw. ... als plötzlich Iwan Fedorowitsch mit erschöpfter Stimme sich an ihn wandte:

„Ew. Exzellenz, entlassen Sie mich, bitte, ich fühle mich sehr krank.“

Und mit diesen Worten, ohne die Erlaubnis abzuwarten, wandte er sich plötzlich um und wollte schon aus dem Saal gehen. Kaum aber hatte er einige Schritte gemacht, da blieb er stehen, als hätte er sich plötzlich bedacht, lächelte still und kehrte auf denselben Platz zurück, wo er soeben noch gestanden hatte.

„Ich bin, Ew. Exzellenz, wie jenes Bauernmädchen ... das da singt ... Sie kennen es ... wie war es doch: ‚Will ich – so s-pring ich, will ich nicht – so s-pring ich nicht!‘ Man lockt sie mit dem Sarafan oder mit dem blauen Brautrock, damit sie hineinspringe und man sie binde und zur Trauung führe, sie aber sagt: ‚Will ich – so s-pring ich, will ich nicht – so s-pring ich nicht ...‘ Das ist so ein Brauch bei einem unserer Volksstämme ...“

„Was wollen Sie damit sagen?“ fragte der Vorsitzende streng.

„Sehen Sie hier ...“ Iwan Fedorowitsch zog plötzlich ein Geldpaket hervor, „da ist das Geld ... dasselbe, das in dem Kuvert dort gelegen hat“ (er wies auf den Tisch mit den Sachbeweisen), „und um dessentwillen man den Vater erschlagen hat. Wohin soll ich es tun? Herr Gerichtsvollstrecker, übergeben Sie es.“

Der Gerichtsvollstrecker nahm das Paket in Empfang und übergab es dem Vorsitzenden.

„Auf welche Weise sind Sie in den Besitz dieses Geldes gelangt ... wenn das wirklich dasselbe Geld ist?“ fragte ihn der Vorsitzende verwundert.

„Ich habe es von Ssmerdjäkoff, vom Mörder, erhalten, gestern ... Ich bin bei ihm gewesen, kurz bevor er sich erhängt hat. Er hat den Vater erschlagen und nicht mein Bruder. Er hat ihn erschlagen, ich aber habe ihn zu töten gelehrt ... Wer wünscht denn nicht den Tod des Vaters? ...“

„Sind Sie bei Verstande oder nicht?“ entfuhr es unwillkürlich dem Vorsitzenden.

„Das ist es ja, daß ich bei Verstande bin ... bei gemeinem Verstande, genau so, wie auch Sie und wie alle diese ... Visagen!“ sagte Iwan, indem er sich plötzlich an das ganze Publikum wandte. „Man hat den Vater erschlagen, und plötzlich tun sie alle, als hätte es sie erschreckt!“ rief er knirschend vor Wut und in jähzorniger Verachtung aus. „Der Freund verstellt sich vor dem Freunde! Die Lügner!! Alle wünschen den Tod des Vaters. Das eine Geschmeiß verschlingt das andere Geschmeiß ... Gäbe es keinen Vatermord – so würden Sie sich alle ärgern und sofort wütend auseinandergehen ... Schauspieler! ‚Brot und Schauspiele!‘ Übrigens, auch ich bin gut! Haben Sie hier Wasser, geben Sie mir zu trinken, um Christi willen!“ Er faßte sich plötzlich an den Kopf.

Der Gerichtsvollstrecker näherte sich ihm sofort. Aljoscha sprang auf und rief angstvoll: „Er ist krank, glauben Sie ihm nicht, er ist wahnsinnig!“ Katerina Iwanowna erhob sich von ihrem Stuhle und sah starr vor Schreck Iwan Fedorowitsch an. Auch Mitjä war aufgesprungen, sah ihn mit wildem, bangem Lächeln an und hörte ihm gierig zu.

„Beruhigen Sie sich, ich bin nicht wahnsinnig, ich bin nur der Mörder!“ begann Iwan wiederum. „Von einem Mörder kann man keine schönen Reden verlangen“ ... fügte er plötzlich sinnlos hinzu und lächelte verzerrt.

Der Staatsanwalt beugte sich ersichtlich aufgeregt zum Vorsitzenden. Die Glieder des Gerichtshofes flüsterten erregt und besorgt untereinander. Fetjukowitsch spitzte die Ohren. Der ganze Saal erstarb in fieberhafter Spannung. Der Vorsitzende schien sich plötzlich zu besinnen.

„Zeuge, Ihre Worte sind unverständlich, und hier an diesem Ort unmöglich. Beruhigen Sie sich, wenn Sie können, und erzählen Sie dann ... wenn Sie wirklich etwas zu erzählen haben. Womit können Sie dieses Eingeständnis bezeugen ... wenn Sie nur nicht phantasieren?“

„Das ist es ja, daß ich keine Zeugen habe. Der Hund Ssmerdjäkoff wird aus dem Jenseits keine Beweise schicken ... im Paket. Sie wollen immer nur Pakete haben, und das eine sollte doch genügen. Nein, ich habe keine Zeugen ... Außer dem einen vielleicht ...“ fügte er – mit einem nachdenklichen Lächeln hinzu.

„Wer ist Ihr Zeuge?“

„Mit einem Schwanz, Ew. Exzellenz, das aber würde hier formwidrig sein! Le diable n’existe point! Schenken Sie ihm keine Aufmerksamkeit, er ist ja nur ein ganz elender kleiner Teufel,“ fügte Iwan gleichsam zutraulich hinzu und hörte plötzlich auf zu lachen. „Sicherlich hat er sich hier irgendwo versteckt, sehen Sie dort unter dem Tisch mit den Sachbeweisen! Wo sollte er denn sonst sitzen, wenn nicht dort? Sehen Sie, hören Sie mich an: Ich sagte ihm: ich will nicht schweigen, er aber redet von der geologischen Umwälzung ... Dummheiten! Nun, befreien Sie doch das Ungeheuer! ... Er hat eine Hymne gesungen, und das tut er, weil es ihm leicht ist! ... Was geht es mich an, ob die betrunkene Kanaille grölt ‚Ach, mein Wanjka fuhr nach Piter,‘ ich aber würde für zwei Sekunden Freude eine Quadrillion Quadrillionen geben! Sie kennen mich ja nicht! Oh, wie ist das alles dumm bei Ihnen! So nehmen Sie mich doch jetzt statt seiner! Zu irgend etwas bin ich doch hergekommen ... Warum, warum ist alles, was ist, so dumm, so dumm? ...“

Und er begann wieder langsam und wie tiefsinnig sich im Saal umzusehen. Doch jetzt war alles schon in heller Aufregung. Aljoscha sprang von seinem Platz auf und wollte zu ihm stürzen, doch da hatte der Gerichtsvollstrecker Iwan Fedorowitsch bereits am Arme gefaßt.

„Was soll denn das bedeuten?“ schrie ihn dieser an und blickte dem Gerichtsvollstrecker starr ins Gesicht, – und plötzlich packte er ihn jähzornig an den Schultern und schleuderte ihn zu Boden.

Doch da eilte schon die Polizeiwache herbei und ergriff ihn. Er aber stieß plötzlich einen rasenden Schrei aus. Und die ganze Zeit, während der man ihn bändigte und forttrug, schrie er laut unzusammenhängende Worte.

Es erhob sich ein allgemeiner Tumult. Ich erinnere mich nicht mehr genau aller weiteren Vorgänge, ich war selbst zu aufgeregt, um alles zu verfolgen. Ich weiß nur, daß, als alle sich einigermaßen beruhigt und begriffen hatten, um was es sich handelte, der Gerichtsvollstrecker einen Verweis erhielt, obgleich er dem Gerichtshof aufs bestimmteste versicherte, der Zeuge sei die ganze Zeit über gesund gewesen; der Doktor habe ihn untersucht, als ihm vor einer Stunde etwas schlecht geworden war, vor seinem Eintritt in den Saal habe er aber ganz vernünftig und zusammenhängend gesprochen, so daß etwas Derartiges vorauszusehen unmöglich gewesen wäre; und er fügte noch hinzu, daß der Zeuge selbst sogar darauf bestanden habe, die Aussage zu machen. Doch kaum fing man an, sich zu beruhigen und zu besinnen, als sich schon eine neue Szene abspielte: Katerina Iwanowna bekam einen hysterischen Anfall. Sie weinte und schluchzte laut, wollte aber nicht fortgehen: sie bat und flehte, man solle sie nicht hinausbringen, und plötzlich rief sie dem Vorsitzenden zu:

„Ich muß Ihnen noch etwas mitteilen, sofort ... sofort! ... Hier ist das Papier, der Brief ... nehmen sie ihn, lesen sie ihn, schneller, schneller! Das ist der Brief dieses Ungeheuers, dort, dieses, dieses!“ und sie wies auf Mitjä. „Er hat den Vater erschlagen, Sie werden es sofort sehen, er schreibt mir, wie er den Vater erschlagen würde! Der andere aber ist krank, schwer krank und im Delirium! Ich habe es schon vor drei Tagen bemerkt, daß er wahnsinnig ist!“

So schrie sie außer sich. Der Gerichtsvollstrecker nahm ihr das Papier ab, das er dann dem Vorsitzenden überreichte, sie aber fiel auf ihren Stuhl zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Sie schluchzte konvulsivisch und zitterte am ganzen Körper, bemühte sich aber aus aller Kraft, jeden Laut zu unterdrücken, wahrscheinlich aus Furcht, daß man sie sonst aus dem Saale bringen würde. Das Papier, das sie übergeben hatte, war derselbe Brief, den Mitjä im Gasthaus „Zur Hauptstadt“ geschrieben, und den Iwan Fedorowitsch den „mathematischen“ Beweis der Schuld Mitjäs genannt hatte. Und wehe, dieser Brief wurde denn auch als mathematisch klarer Beweis anerkannt! Wenn dieser Brief nicht gewesen wäre, so wäre Mitjä nicht zugrunde gerichtet worden, oder wenigstens wäre das nicht in so furchtbarer Weise geschehen! Ich wiederhole, es war schwer, alle Einzelheiten zu verfolgen. Auch jetzt noch erscheint mir das alles wie ein Chaos. Wahrscheinlich hat der Vorsitzende das neue Dokument darauf dem Gericht übergeben, dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und den Geschworenen. Ich erinnere mich nur noch, wie man die Zeugin zu befragen anfing. Auf die Frage, ob sie sich beruhigt habe, die der Vorsitzende sehr höflich und geradezu mitfühlend an sie stellte, rief Katerina Iwanowna eifrig aus:

„Ich bin bereit, ich bin bereit! Ich bin durchaus imstande, Ihnen zu antworten,“ fügte sie hinzu, augenscheinlich in großer Angst, daß man sie aus irgendeinem Grunde nicht anhören werde.

Man bat sie, alles ausführlich zu erklären, was das für ein Brief sei, und unter welchen Umständen sie ihn erhalten habe.

„Ich habe ihn kurz vor seinem Verbrechen erhalten, geschrieben hat er ihn zwei Tage vorher, im Gasthaus ... Sehen Sie die Rückseite, er ist auf eine Rechnung geschrieben!“ rief sie atemlos. „Er haßte mich in dem Augenblick, weil er selbst eine gemeine Handlung begangen hatte, und diesem verworfenen Geschöpf nachlief ... und vor allem, weil er mir diese Dreitausend schuldete ... Oh, diese Dreitausend kränkten ihn, weil er sich ihretwegen so erniedrigt hatte! Mit diesen Dreitausend verhielt es sich so – ich bitte Sie, ich flehe Sie an, mich anzuhören! Vier Wochen vor der Ermordung seines Vaters kam er eines Morgens zu mir. Ich wußte, daß er Geld nötig hatte, und wußte auch, wozu – gerade, gerade dazu, um dieses Geschöpf verführen und mit ihr entfliehen zu können. Ich wußte damals, daß er mir untreu geworden war und mich verlassen wollte, und ich, ich selbst, gab ihm das Geld dazu, gab es ihm unter dem Vorwande, es meiner Schwester nach Moskau zu schicken, – und als ich es ihm übergab, sah ich ihm ins Gesicht und sagte ihm, er möge es absenden, wann er, wann er es wolle, ‚wenn auch erst nach einem Monat‘. Wie, sollte er wirklich nicht verstanden haben, daß ich ihm gerade ins Gesicht sagte: ‚Du hast Geld nötig, um mit jenem Geschöpf an mir zum Verräter zu werden, so nimm hier das Geld dazu, ich gebe es dir selbst, nimm es, wenn du so ehrlos bist, daß du es nehmen kannst!‘ Ich wollte ihn prüfen! Und was glauben Sie? Er nahm es, er nahm das Geld und ging davon! Und noch in derselben Nacht hatte er es mit diesem Geschöpf verschleudert, dort, in einer Nacht ... Doch er fühlte es, fühlte es nur zu gut, daß ich alles wußte, ich versichere Sie, er fühlte auch, daß ich ihn mit dem Gelde nur hatte prüfen wollen: wird er so ehrlos sein, daß er es von mir annimmt, oder nicht? Ich hatte ihm in die Augen gesehen, und er hatte mir in die Augen gesehen und alles verstanden, alles verstanden, und er behielt es doch, behielt es doch, das Geld, und ging zu ihr!“

„Du hast recht, Katjä!“ rief plötzlich Mitjä laut. „Ich sah dir in die Augen und begriff, daß du mich ehrlos machen wolltest, und nahm trotzdem dein Geld! Verachten Sie den Schurken, meine Herren, verachten Sie ihn alle, ich habe es verdient!“

„Angeklagter,“ schrie der Vorsitzende wütend, „noch ein Wort – und ich gebe den Befehl, Sie hinauszuführen!“

„Dieses Geld quälte ihn aber,“ fuhr Katjä krampfhaft sich beeilend fort, „er wollte es mir wiedergeben, er wollte es, das ist wahr, aber er brauchte das Geld für dieses Geschöpf. Und da hat er denn seinen Vater erschlagen, das Geld aber hat er mir doch nicht wiedergegeben, sondern ist zu ihr in jenes Dorf gefahren, wo man ihn ergriffen hat. Dort hat er auch dieses Geld verpraßt, das er vom ermordeten Vater gestohlen hatte. Und am Tage vor der Ermordung des Vaters hat er mir diesen Brief geschrieben, er hat ihn in der Betrunkenheit geschrieben, das habe ich sofort begriffen, hat ihn aus Wut geschrieben, denn er wußte, er wußte zu genau, daß ich diesen Brief niemandem zeigen würde, selbst wenn er den Mord ausführen sollte. Denn sonst hätte er ihn doch nicht geschrieben! Er wußte doch, daß ich mich niemals an ihm rächen, noch ihn zugrunde richten würde. Aber lesen Sie ihn, lesen Sie ihn aufmerksam, bitte, so aufmerksam wie möglich, und Sie werden sehen, daß er im Brief alles schon im voraus beschrieben hat: Wie er den Vater erschlagen wird, und wo das Geld bei ihm liegt. Sehen Sie, bitte, lassen Sie nichts aus, dort steht eine Phrase: ‚Ich werde ihn erschlagen, wenn nur Iwan abreisen würde.‘ Folglich hat er schon im voraus alles bedacht, wie er ihn umbringen könnte!“ Katerina Iwanowna wies schadenfroh und gehässig auf diesen einen Satz hin. Oh, man sah es, daß sie sich in alle Einzelheiten dieses verhängnisvollen Briefes hineingelesen und jedes Wort in ihm studiert hatte. „Wenn er nicht betrunken gewesen wäre, so hätte er ihn nicht geschrieben, doch lesen Sie nur, alles hat er in ihm schon im voraus angegeben, alles, ganz genau, wie er es später auch wirklich ausgeführt hat, das ist das ganze Programm!“

So brachte sie, außer sich, alle ihre Anklagen vor, und jetzt verachtete sie bereits alle Folgen, die sich daraus ergeben mußten, obgleich sie dieselben schon einen ganzen Monat vorausgesehen hatte. Denn schon lange hatte sie, bebend vor Rachegefühlen, darüber nachgedacht, ob sie diesen Brief nicht vor Gericht laut vorlesen sollte? Nun stürzte sie sich ohne Bedenken „kopfüber hinab“. Der Brief wurde dann laut vorgelesen, vom Sekretär, glaube ich, und machte einen erschütternden Eindruck. Man wandte sich an Mitjä mit der Frage, ob er diesen Brief anerkenne.

„Es ist mein Brief, mein Brief!“ rief Mitjä aus. „Wenn ich nicht betrunken gewesen wäre, so hätte ich ihn nicht geschrieben! ... Aus vielen Gründen haben wir uns gegenseitig gehaßt, Katjä, aber ich schwöre es, ich schwöre es, ich habe dich auch hassend geliebt, du aber hast mich – niemals geliebt!“

Er fiel auf seinen Platz zurück und ballte die Hände in der Verzweiflung. Der Staatsanwalt und der Verteidiger begannen ein Kreuzverhör, hauptsächlich über die eine Frage, was sie dazu bewogen hatte, dieses Dokument zu verschweigen und zuerst in einem ganz anderen Sinne und Ton auszusagen.

„Ja, ja, ich habe alles gelogen, ich habe gegen meine Ehre und mein Gewissen gelogen, aber ich wollte ihn retten, gerade darum wollte ich das, weil er mich haßt und verachtet!“ rief Katjä wie eine Wahnsinnige aus. „Oh, er hat mich tief verachtet, er hat mich immer verachtet, und, wissen Sie, wissen Sie, – er hat mich von dem Augenblick an verachtet, als ich ihm damals für das Geld zu Füßen fiel. Das habe ich wohl bemerkt ... Ich habe es damals sofort gefühlt, doch wollte ich es immer nicht glauben. Wie oft habe ich in seinen Augen gelesen: ‚Immerhin bist du damals selbst zu mir gekommen.‘ Oh, er hat es nie verstanden, nie hat er verstanden, warum ich damals zu ihm gelaufen war, er ist nur fähig, mich einer Niedrigkeit zu verdächtigen! Er beurteilt alle nach sich, er denkt, daß alle so niedrig sind wie er,“ knirschte Katjä jähzornig und schon ganz außer sich. „Heiraten aber wollte er mich nur darum, weil ich die Erbschaft machte, nur darum, darum! Ich habe es immer gewußt, daß er es nur darum wollte! Oh, dieses Tier! Er war überzeugt, daß ich dieser Schande wegen ewig vor ihm zittern würde, und daß er mich darum ewig verachten und über mich herrschen könnte – das war es, warum er mich heiraten wollte! So ist es, so ist es! Ich versuchte, ihn mit meiner Liebe zu besiegen, mit einer endlosen, grenzenlosen Liebe, sogar seinen Verrat an mir wollte ich ertragen, doch er verstand das alles nicht, nichts verstand er davon. Ja, kann er denn überhaupt etwas verstehen! Das ist doch ein Ungeheuer, ein Auswurf der Menschheit! Diesen Brief brachte man mir am folgenden Tage erst gegen Abend, und noch am Morgen, am Morgen desselben Tages wollte ich ihm alles verzeihen, alles, sogar seinen Treubruch!“

Der Vorsitzende und der Staatsanwalt beruhigten sie natürlich. Ich bin überzeugt, es war ihnen selbst unangenehm, ihre Aufregung so auszunutzen und diesen Bekenntnissen zuzuhören. Ich weiß noch, wie sie zu ihr sagten: „Wir verstehen Sie, glauben Sie uns, wir fühlen Ihnen nach, wie schwer es Ihnen sein muß,“ usw. usw., aber nichtsdestoweniger wurden noch weitere Aussagen diesem hysterischen und wahnsinnigen Weibe entlockt. Sie erzählte zuletzt mit außerordentlicher Klarheit – die sich in solchen überspannten Augenblicken zuweilen, wenn auch nur vorübergehend plötzlich einstellt –, daß Iwan Fedorowitsch in diesen zwei Monaten darüber fast seinen Verstand verloren habe, wie er „dieses Ungeheuers, diesen Mörder“, seinen Bruder, retten könnte.

„Er quälte sich maßlos,“ rief sie aus, „er wollte dessen Schuld vermindern, indem er mir eingestand, er selbst hätte seinen Vater nicht geliebt und vielleicht sogar seinen Tod gewünscht. Oh, er hat ein tiefes, abgrundtiefes Gewissen! Und wie hat er sich mit diesem Gewissen gequält! Er hat mir alles aufgedeckt, alles! Täglich kam er zu mir und sprach mit mir darüber, wie mit seinem einzigen Freunde. Ich habe die Ehre, sein einziger Freund zu sein!“ rief sie plötzlich aus, und ihre Augen blitzten, als hätte sie jemanden herausgefordert. „Er ist zweimal bei Ssmerdjäkoff gewesen. Eines Tages aber kam er zu mir und sagte: wenn nicht der Bruder, sondern Ssmerdjäkoff den Vater erschlagen hat (denn man hatte doch die Fabel verbreitet, Ssmerdjäkoff sei der Mörder), so bin auch ich vielleicht schuld daran, denn Ssmerdjäkoff wußte, daß ich den Vater nicht liebte, und kann sich daher eingebildet haben, auch ich wünschte den Tod des Vaters. Da nahm ich diesen Brief und zeigte ihn ihm, und er überzeugte sich, daß sein Bruder den Vater erschlagen hatte, und das schien ihn ganz niederzuschmettern. Er konnte es nicht ertragen, daß sein leiblicher Bruder – ein Vatermörder sein sollte! Noch vor einer Woche bemerkte ich, daß er von allen diesen Qualen krank geworden war. In den letzten Tagen, wenn er bei mir war, redete er irre. Ich sah es, wie der Wahnsinn sich bei ihm vorbereitete. Er ging umher und phantasierte, das hat man ihm sogar auf der Straße angesehen. Der angereiste Doktor hat ihn vor drei Tagen auf meine Bitte hin untersucht und mir darauf gesagt, daß er einem gefährlichen Nervenfieber entgegengehe, und das alles durch ihn, durch dieses Ungeheuer! Gestern aber hat er erfahren, daß Ssmerdjäkoff gestorben ist – und das hat ihn so erschüttert, daß er wahnsinnig geworden ist ... und alles wegen dieses Ungeheuers, alles, nur um dieses Ungeheuer zu retten!“

Oh, versteht sich, so sprechen und alles so bekennen, das kann man nur einmal im Leben – vor dem Tode vielleicht, oder wenn man das Schafott schon bestiegen hat. Doch auch Katjä befand sich in diesen Minuten in einer ähnlichen Stimmung. Das war allerdings dieselbe Katjä, die damals zu dem jungen Wüstling gegangen war, um ihren Vater zu retten, dieselbe Katjä, die soeben noch vor dem ganzen Publikum stolz und keusch ihre Mädchenehre zum Opfer gebracht und von der edelmütigen Handlung Mitjäs erzählt hatte, einzig und allein, um das Schicksal, das ihn erwartete, auch nur um ein geringes zu erleichtern. Und ebenso brachte sie sich auch jetzt selbst zum Opfer, diesmal aber für einen anderen, und vielleicht wurde sie sich erst in diesem Augenblick zum erstenmal dessen bewußt, wie teuer ihr dieser andere war! Sie opferte sich aus Angst um ihn, weil sie sich plötzlich einbildete, er hätte sich zugrunde gerichtet, mit der Aussage, daß er der Mörder sei und nicht der Bruder, – sie opferte sich, um ihn zu retten, seinen Namen, seinen Ruf! Indessen war ein verhängnisvoller Zweifel aufgetaucht: hatte sie nun das über Mitjä Ausgesagte erlogen – alles das über ihre früheren Beziehungen zu ihm? Nein, nein, sie hatte ihn nicht etwa absichtlich verleumdet, als sie ausrief, Mitjä verachte sie – wegen ihrer Verbeugung bis zur Erde! Sie glaubte selbst daran, sie war fest davon überzeugt, vielleicht schon von dem Augenblick ihrer Verbeugung an, daß der treuherzige Mitjä, der sie anbetete, im Inneren über sie lache und sie verachte. Und nur aus Stolz hatte sie sich damals mit ihm verlobt, in hysterischer und plötzlich auflodernder Liebe, die jedoch mehr einem Hasse glich, als einer Liebe. Oh, vielleicht hätte sich diese krampfhafte Liebe in eine wirkliche, große Liebe verwandelt: Katjä hatte ja nichts so sehr als das gewünscht! Doch jetzt hatte Mitjä sie bis in ihre tiefste Seele durch seinen Treubruch beleidigt, ihre Seele aber verstand nicht, zu verzeihen. Der Augenblick der Rache kam für sie so unerwartet, und alles, was sich solange schon und so schmerzhaft in dem beleidigten Mädchen angesammelt hatte, brach jetzt mit einemmal und ganz unerwartet aus ihr hervor. Sie gab Mitjä preis, aber zugleich gab sie auch sich selbst preis! Und versteht sich, kaum war ihr gelungen, endlich sich auszusprechen, als die Spannung auch schon nachließ, und die Scham sie überwältigte. Wieder bekam sie einen Anfall: sie fiel schluchzend und aufschreiend hin. Man trug sie hinaus. In demselben Augenblick aber, als man sie hinaustrug, stürzte Gruschenka mit einem Aufschrei zu Mitjä, so unerwartet und so schnell, daß sie niemand mehr zurückhalten konnte.

„Mitjä!“ schrie sie, „Mitjä, sieh, jetzt hat dich deine Schlange zugrunde gerichtet! Jetzt hat sie euch allen ihr wahres Gesicht gezeigt!“ schrie sie zitternd vor Wut dem Gerichtshof zu.

Auf einen Wink des Vorsitzenden ergriff man sie, um sie aus dem Saal hinauszuführen. Doch sie wollte sich nicht ergeben, sie schlug um sich und wollte zu Mitjä stürzen. Und Mitjä sprang mit einem Schrei auf und wollte gleichfalls zu ihr hin. Sie wurden beide überwältigt.

Ich denke, unsere Zuschauer, besonders die Damen, müssen befriedigt gewesen sein: das Schauspiel war reichhaltig und aufregend genug. Darauf, erinnere ich mich, trat der Moskauer Doktor ein. Ich glaube, der Vorsitzende hatte schon früher den Gerichtsvollstrecker zu ihm hinausgeschickt, damit Iwan Fedorowitsch Hilfe geleistet werde. Der Doktor meldete dem Gericht, daß Iwan Karamasoff an einem Nervenfieber gefährlich erkrankt sei und man ihn unverzüglich fortschaffen müsse. Auf die Fragen des Staatsanwalts und des Verteidigers sagte er aus, daß der Patient vor drei Tagen selbst zu ihm gekommen sei, und daß er ihm damals den nahe bevorstehenden Ausbruch eines Nervenfiebers vorausgesagt habe, doch habe der Patient nichts für sich tun wollen. „Er war schon damals nicht mehr ganz bei gesunder Vernunft und gestand mir selbst, daß er Halluzinationen habe, verschiedenen Personen, die schon gestorben seien, auf der Straße begegne, und daß zu ihm jeden Abend der Satan zu Gaste komme,“ schloß der Doktor. Nach diesem Bericht entfernte sich der berühmte Arzt. Der Brief, den Katerina Iwanowna vorgezeigt hatte, kam zu den übrigen Sachbeweisen. Nach einer kurzen Beratung beschloß der Gerichtshof, die gerichtliche Verhandlung fortzuführen, die beiden unerwarteten Aussagen Katerina Iwanownas und Iwan Fedorowitschs aber zu Protokoll zu nehmen.

Ich werde den weiteren Verlauf der Gerichtsverhandlungen nicht ausführlich beschreiben, denn die Aussagen der übrigen Zeugen waren nur Wiederholungen oder Bestätigungen der vorangegangenen, abgesehen von einzelnen Merkwürdigkeiten. Doch, ich wiederhole es, alles Wichtige ist in der Rede des Staatsanwalts, die ich jetzt sofort wiedergeben werde, übersichtlich zusammengefaßt. Alle waren durch die letzte Katastrophe erregt und wie elektrisiert und warteten mit brennender Ungeduld auf die Lösung, auf die Auseinandersetzung der Parteien und auf das Urteil. Fetjukowitsch war durch die Aussagen Katerina Iwanownas ersichtlich sehr erschüttert. Um so mehr triumphierte der Staatsanwalt. Als die Gerichtsverhandlung beendet war, wurde eine Unterbrechung der Sitzung angesagt, dieselbe dauerte fast eine Stunde. Schließlich eröffnete der Vorsitzende die Plaidoyers. Es war, glaube ich, gerade acht Uhr abends, als unser Staatsanwalt, Hippolyt Kirillowitsch, seine Anklagerede begann.

VI.
Die Rede des Staatsanwalts. Die Charakteristik

Als Hippolyt Kirillowitsch seine Rede begann, zitterte er am ganzen Körper. Kalter, krankhafter Schweiß trat auf seiner Stirn und an den Schläfen hervor, und er fühlte, wie ihn Frostschauer und Hitze abwechselnd überkamen. So erzählte er später selbst. Er hielt diese Rede für sein Chef-dœuvre, für das Chef-d’œuvre seines ganzen Lebens. Neun Monate darauf starb er an der galoppierenden Schwindsucht. So hatte er denn so unrecht nicht, wenn er diese Rede mit dem letzten Schwanengesang verglich, denn er fühlte schon damals sein Ende voraus. In diese Rede legte er sein ganzes Herz hinein und alles, was er an Verstand und Geist besaß. Zugleich bewies er damit ganz unerwarteterweise, daß er nicht nur alle Gefühle eines guten Staatsbürgers in sich getragen, sondern sich auch mit unseren „verdammten“ Fragen – wenigstens insoweit sie an unseren armen Hippolyt Kirillowitsch im Leben und in der Praxis herangetreten waren – beschäftigt hatte. Doch den größten Eindruck machten seine Worte dadurch, daß sie aufrichtig waren: er selbst war von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Nicht auf Befehl, nicht weil ihn seine Stellung dazu zwang, klagte er ihn an. Nein, als er zur „Sühne“ aufrief, sah man ihm an, daß ihn der Wunsch, „die Gesellschaft zu retten“, erbeben machte. Selbst unser Damenpublikum, das doch schließlich Hippolyt Kirillowitsch feindlich gesinnt war, gab zu, einen außerordentlichen Eindruck davongetragen zu haben. Er begann mit einer schrillen, fortwährend gleichsam abreißenden Stimme, doch bald erstarkte sie und klang dann über den ganzen Saal hin, und so blieb sie bis zum Schluß der Rede. Als er aber seine Rede beendet hatte, war er einer Ohnmacht nahe.

„Meine Herren Geschworenen,“ begann der Ankläger, „die Kunde von der Tat, über die hier Gericht gehalten werden soll, ist wie Donnerschall durch ganz Rußland gezogen. Aber worüber, fragt es sich, ist man denn so erstaunt, weswegen braucht man sich denn so besonders zu entsetzen? Und noch dazu wir, gerade wir? Wir sind doch so gewöhnt an alles! Aber gerade darin liegt ja unser Entsetzen, daß solche dunkle Taten für uns fast aufgehört haben, furchtbar zu sein! Das ist der Grund, warum man sich entsetzen muß: daß wir uns an solche Taten schon gewöhnt haben – und nicht wegen eines einzelnen Verbrechens des einen oder anderen Individuums! Wo liegen nun die Gründe, die Ursachen unserer Gleichgültigkeit, unseres lauwarmen Verhaltens zu solchen Taten, zu solchen Kennzeichen der Zeit, die uns eine wahrlich nicht beneidenswerte Zukunft ankünden? Liegen sie etwa in unserem Zynismus oder in der frühzeitigen Erschöpfung des Geistes und der Vorstellungskraft unserer noch so jungen, doch dafür so frühzeitig gebrechlich gewordenen Gesellschaft? Oder liegen sie in unseren schwer erschütterten sittlichen Grundlagen, oder schließlich darin, daß es diese sittlichen Grundlagen vielleicht überhaupt nicht gibt? Ich will darüber nicht entscheiden, doch nichtsdestoweniger sind diese Fragen qualvoll, und jeder Bürger muß nicht nur, sondern ist sogar verpflichtet, unter ihnen zu leiden. Unsere Presse ist ja allerdings noch etwas zaghaft, aber sie hat doch schon der Gesellschaft gewisse Dienste geleistet, denn niemals hätten wir ohne sie eine einigermaßen zutreffende Kenntnis erlangt von jenen Schrecken des zügellosen Willens und der sittlichen Gesunkenheit, die sie ununterbrochen in ihren Spalten Allen kundtut, – nicht nur den Wenigen, die die Säle des neuen öffentlichen, uns von der gegenwärtigen Regierung geschenkten Gerichts besuchen. Und was lesen wir jetzt fast täglich? Oh, von Dingen, vor denen selbst diese uns jetzt vorliegende Tat erbleicht und fast zu etwas ganz Gewöhnlichem wird. Doch das Wichtigste dabei ist, daß die Mehrzahl unserer russischen, unserer nationalen Kriminalsachen gerade von etwas ganz Allgemeinem Zeugnis ablegt, von einem gewissen allgemeinen Übel, das mit uns verwachsen ist, und von dem uns zu heilen sehr schwer ist, da es eben als allgemeines Übel auftritt. Da haben wir einen jungen glänzenden Offizier aus der höheren Gesellschaft, der kaum erst sein Leben und seine Laufbahn begonnen hat. Und dieser Aristokrat geht hin und ermordet heimlich, gemein, ohne die geringsten Gewissensskrupel, einen kleinen Beamten, der teilweise sein Wohltäter gewesen war, ermordet auch dessen Dienstmagd, um sein Schulddokument und mit diesem zusammen noch das übrige bißchen Geld des kleinen Beamten zu rauben! ‚Das Sümmchen ist doch immerhin nicht zu verachten, es wird mir schon bei meinen Lebemannvergnügungen zustatten kommen oder bei meiner ferneren Laufbahn.‘ Und nachdem er sie beide erdrosselt hat, schiebt er jeder Leiche noch ein Kissen unter den Kopf und macht sich dann davon. Da haben wir einen jungen Helden, der mit Ehrenzeichen für Tapferkeit behangen ist und räuberisch auf der Landstraße die Mutter seines Anführers und Wohltäters ermordet. Indem er seine Helfershelfer zur Mitwirkung überredet, gesteht er noch selbst, daß diese Frau ihn wie einen leiblichen Sohn liebe und daher, wenn sie mit ihm reist, allen seinen Ratschlägen folgen und keine Vorsichtsmaßregeln ergreifen werde. Mag das ein Ungeheuer sein – ich wage jetzt, in unserer Zeit, nicht mehr zu sagen, daß jener ein vereinzelt dastehendes Ungeheuer sei. Ein anderer wird vielleicht nicht ermorden, denkt und fühlt aber ganz so wie jener, ist in seiner Seele ebenso verbrecherisch wie jener. In der Stille, wenn er mit seinem Gewissen allein ist, fragt vielleicht auch er sich: ‚Ja, was ist denn nun die Ehre, und ist Blut nicht nur ein Vorurteil?‘ Vielleicht wird man von mir sagen, ich sei ein kranker, ein hysterischer Mensch, ich verleumde und übertreibe maßlos, ich phantasiere. Mag sein, schön ... Gott, ich wäre der erste, der sich darüber freute, wie gern würde ich das alles sein wollen! Oh, glauben Sie mir meinetwegen nicht, halten Sie mich für einen Kranken, aber behalten Sie nur meine Worte: selbst wenn nur ein Zehntel, nur ein Zwanzigstel meiner Worte wahr ist, – so ist es schon furchtbar! Sehen Sie doch nur, meine Damen und Herren, sehen Sie doch nur, wie die heranwachsende Jugend sich bei uns erschießt – und das geschieht ohne die geringste Hamletfrage nach dem, was dort sein wird, ohne das geringste Anzeichen eines Vorhandenseins solcher Fragen, als wäre dieses Kapitel über unseren Geist und über alles, was uns nach dem Grabe erwartet, schon längst aus ihrer Natur getilgt, als wäre es schon längst begraben und mit Sand zugeschüttet. Und nehmen Sie jetzt unsere Sittenverderbnis, unsere Wollüstlinge. Fedor Pawlowitsch, das unglückliche Opfer des vorliegenden Prozesses, ist ja im Vergleich mit manchen von ihnen fast ein unschuldiges Kindlein, wir aber kannten ihn doch alle, er – ‚lebte doch unter uns‘! ... Ja, mit der Psychologie des russischen Verbrechens werden sich einmal vielleicht die hervorragendsten Geister beschäftigen, sowohl unsere als die europäischen, denn wahrlich, das Thema ist es wert. Doch diese Studien werden erst später einmal gemacht werden, dereinst, wenn die Muße dazu vorhanden und diese ganze tragische Abgeschmacktheit des gegenwärtigen Augenblicks in einen entfernteren Hintergrund zurückgetreten ist, so daß man sie klarer und leidenschaftsloser wird betrachten können, als z. B. Leute, wie ich, dies zu tun vermögen. Jetzt jedoch sind wir entweder entsetzt oder wir tun, als wenn wir entsetzt wären, im Grunde aber kosten wir mit Hochgenuß das Schauspiel, wie eben Liebhaber starker, exzentrischer Empfindungen, die in unseren zynisch-faulen Müßiggang etwas Bewegung bringen, oder schließlich, wir scheuchen die Gespenster wie kleine Kinder mit den Händen von uns fort und pressen den Kopf ins Kissen, bis die furchtbare Erscheinung vergeht, um sie darauf sofort in Heiterkeit und Spielen zu vergessen. Aber irgend einmal müssen doch auch wir unser Leben nüchtern und denkend beginnen, auch wir müssen einmal einen Blick auf uns, als auf eine Gesellschaft, werfen, auch wir müssen doch wenigstens etwas über unser gesellschaftliches Leben nachdenken, wir müssen uns doch etwas unter ihm denken oder auch nur mit dem Nachdenken beginnen. Unser großer Schriftsteller[30] der vergangenen Epoche ruft zum Schluß seines größten Werkes aus, wo er ganz Rußland mit einer Troika, die zu einem unbekannten Ziele jagt, vergleicht: ‚Ach Troika, wilde Troika, wer hat dich erdacht!‘ – und in stolzer Begeisterung fügt er noch hinzu, daß vor der jagenden Troika alle Völker ehrerbietig ausweichen werden. Schön, mag das so sein, mögen sie ausweichen, ehrerbietig oder nicht, doch meinem sündigen Blick will scheinen, daß der geniale Künstler diesen Schluß entweder in einem Anfall kindlich unschuldiger Schönträumerei geschrieben hat oder einfach aus Furcht vor der Zensur. Denn wenn man in seine Troika nur seine Helden einspannen wollte, seine Ssobakewitschs, Nosdreffs und Tschitschikoffs, so würde man mit diesen Trabern nicht weit kommen, wen immer man auch als Lenker in den Schlitten setzen wollte! Und das sind noch Traber von damals, die noch lange nicht an unsere jetzigen heranreichen. Jetzt ist man gewandter ...“

Hier wurde die Rede Hippolyt Kirillowitschs durch Applaus unterbrochen. Der Liberalismus in der Auslegung der Troika hatte gefallen. Zwar wurde nur hier und da vereinzelt ein paarmal in die Hände geklatscht, so daß selbst der Vorsitzende es nicht für nötig fand, sich mit der Drohung, den Saal räumen zu lassen, an das Publikum zu wenden, und sich nur mit einem strengen Blick auf die Ruhestörer begnügte. Doch für Hippolyt Kirillowitsch war es eine Ermunterung: bis jetzt hatte man ihm noch niemals applaudiert! So viele Jahre hatte man ihn nicht hören wollen, und da war plötzlich die Möglichkeit gegeben, zu ganz Rußland zu sprechen!

„In der Tat,“ fuhr er fort, „was ist nun diese Familie der Karamasoffs, die plötzlich eine so traurige Berühmtheit erlangt hat, sogar bis in die fernsten Gegenden Rußlands? Vielleicht übertreibe ich, aber es will mir scheinen, daß in dem Bilde dieser kleinen Familie einige allgemeine Grundelemente unserer gegenwärtigen intelligenten Gesellschaft gleichsam flüchtig festgehalten sind, – oh, nicht alle Elemente, und selbst die flüchtig darin auftauchenden erscheinen nur in mikroskopischer Gestalt, ‚wie die Sonne in einem kleinen Tropfen Wassers‘, aber es spiegelt sich doch etwas darin wieder, es spricht sich doch etwas darin aus. Nehmen wir zuerst diesen unglücklichen, zügellosen und verderbten Alten, diesen ‚Familienvater‘, der ein so trauriges Ende gefunden hat. Von Geburt ist er ein Edelmann; seine Laufbahn beginnt er als mittelloser junger Mann, der bei gastfreundlichen Bekannten sein Leben fristet. Darauf erwischt er durch die plötzliche, unerwartete Heirat ein kleines Kapital, nämlich die Mitgift seiner Frau, und entpuppt sich als geriebener Geschäftsmann, ist aber dabei ein schmeichlerischer Hausnarr mit einem Keim geistiger Begabungen, die übrigens nicht schwach waren. Vor allem aber wird er ein Wucherer. Mit den Jahren, d. h. mit dem Anwachsen des Kapitals, wird er mutiger und stolzer. Die Unterwürfigkeit und das Sicheinschmeichelnwollen verschwinden, es bleibt nur ein spöttischer, boshafter Zyniker und Wollüstling in ihm übrig. Die geistige Seite ist ganz und gar getilgt, die Lebensgier aber ist ungeheuerlich geworden. Das ganze Leben reduziert sich für ihn darauf, daß er in ihm nichts anderes mehr sieht und sucht als Lüstlingsgenüsse. Und sie lehrt er auch seinen Kindern. Von irgendwelchen geistigen Vaterpflichten sehen wir nichts. Er lacht über sie, läßt seine kleinen Kinder auf dem Hinterhof erziehen und ist froh, wenn man kommt und sie ihm fortnimmt. Er vergißt sie vollständig. Alle sittlichen oder vielmehr unsittlichen Grundsätze des Alten laufen darauf hinaus: après moi le déluge. Er ist der Typ alles dessen, was dem Begriffe, den wir von einem Staatsbürger haben, entgegengesetzt ist, die ausgesprochenste Ausscheidung, die krasseste und sogar feindlichste Absonderung von der Gesellschaft: ‚Mag meinetwegen die ganze Welt in Flammen aufgehen, wenn nur ich es gut habe.‘ Und er hat es gut, er ist vollkommen zufrieden, er will noch mit Vergnügen so weiterleben, zwanzig Jahre, dreißig Jahre! Er betrügt seinen leiblichen Sohn um dessen Geld, um das Erbteil seiner Mutter, und mit diesem Gelde, das er dem Sohne nicht auszahlt, will er ihm, seinem leiblichen Sohne, die Geliebte abspenstig machen! Nein, ich will die Verteidigung des Angeklagten nicht dem hochtalentvollen Herrn Verteidiger abtreten. Auch ich werde die Wahrheit sagen, auch ich begreife, wie groß der Zorn gewesen sein muß, den der Vater im Herzen seines Sohnes aufgehäuft hat. Doch genug, genug von diesem Vater, er hat seine Strafe erhalten. Vergessen wir nur nicht, daß das ein Vater war, und zwar einer von den zeitgenössischen Vätern. Oder betrüge ich vielleicht die Gesellschaft, wenn ich sage, daß er einer von – sogar vielen zeitgenössischen Vätern war? Leider nicht! Viele von den zeitgenössischen Vätern drücken sich nur nicht so zynisch aus, wie jener tat, denn sie sind wohlerzogener, gebildeter, im geheimsten Innern aber huldigen sie fast alle – ‚derselben Philosophie‘. Doch schön, mag ich ein Pessimist sein, meinetwegen. Wir sind doch schon übereingekommen, daß Sie mir dies verzeihen werden. Wir können also im voraus abmachen: Sie werden mir nicht glauben, und ich werde reden ... Doch abgesehen davon, erlauben Sie mir, daß ich mich ausspreche, vielleicht werden Sie einige meiner Worte behalten. Da haben wir nun die Kinder dieses Alten, dieses Familienvaters: der eine ist vor uns auf der Anklagebank, von ihm wird später die Rede sein; der anderen will ich nur flüchtig Erwähnung tun. Von diesen anderen ist der ältere einer der zeitgenössischen jungen Männer mit glänzender Bildung und einem recht starken Verstande, der aber an nichts mehr glaubt, der schon vieles, gar zu vieles über Bord geworfen und aus dem Leben ausgestrichen hat, ganz genau so, wie es auch sein Vater getan. Wir alle haben ihn gehört, unsere Gesellschaft hat ihn freundlich aufgenommen. Seine Meinungen hat er nicht verheimlicht, im Gegenteil, sogar ganz im Gegenteil, weswegen ich denn auch jetzt wage, ein wenig aufrichtig über ihn zu sprechen – doch natürlich nicht über ihn als Privatperson, sondern nur über ihn als Familienglied der Karamasoffs. Gestern endete hier, an der Peripherie der Stadt, durch Selbstmord ein kränklicher Idiot, der gewesene Diener und vielleicht der illegitime Sohn Fedor Pawlowitschs: Ssmerdjäkoff. Er hat mir in der Voruntersuchung unter hysterischen Tränen erzählt, wie dieser junge Karamasoff, Iwan Fedorowitsch, ihn durch seine geistige Haltlosigkeit entsetzt habe: ‚Alles ist ihrer Meinung nach erlaubt,‘ sagte der Arme zitternd, ‚alles, was es in der Welt nur gibt, und nichts darf hinfort mehr verboten sein, – das haben sie mir die ganze Zeit über gesagt und gelehrt.‘ Es scheint, daß der Idiot über dieser These endgültig den Verstand verloren hat, obgleich natürlich auch seine Fallsucht und diese ganz schreckliche Katastrophe, die über das Haus hereingebrochen ist, das Ihrige zu seiner Geisteszerrüttung beigetragen haben werden. Trotzdem hat dieser Idiot eine äußerst, äußerst interessante Bemerkung gemacht, die auch einem klügeren Beobachter, als er sein konnte, Ehre gemacht hätte, und eigentlich habe ich nur wegen dieser Bemerkung seiner erwähnt. ‚Wenn es einen von den Söhnen gibt,‘ sagte er mir wortwörtlich, ‚der am meisten Fedor Pawlowitsch dem Charakter nach gleicht, so sind gerade Sie es, Iwan Fedorowitsch.‘ Mit dieser Bemerkung breche ich die begonnene Charakteristik ab, da ich eine Fortsetzung derselben nach dem Gesagten für unzart halten würde. Oh, ich will keine weiteren Schlüsse ziehen und seinem jungen Leben nur Unheil verkünden, wie ein pessimistischer Unglücksrabe. Wir alle haben heute hier in diesem Saal gesehen, daß noch eine unmittelbare Kraft der Wahrheit in seinem jungen Herzen lebt, daß das Gefühl der Familienbande noch nicht durch Unglauben erstickt ist, oder durch sittlichen Zynismus, den er mehr durch Erbschaft erlangt haben mag als durch die eigene Gedankenverirrung. Und nun der andere Sohn. Oh, das ist noch ein Jüngling, ein gottesfürchtiger und demütiger, der, im Gegensatz zur finsteren, zerstörenden Weltanschauung seines Bruders, sucht, sozusagen in den ‚Grundlagen des Volkes‘ Fuß zu fassen, oder in dem, was bei uns mit diesem wohlweisen Ausdruck in gewissen theoretischen Winkeln unserer denkenden Intelligenz so genannt wird. Er, ja sehen Sie mal, er hat sich ans Kloster gehangen: viel fehlte nicht, und er hätte sich scheren lassen, wäre Mönch geworden. In ihm hat sich, wie mir scheinen will, gleichsam unbewußt schon früh jene zaghafte Verzweiflung ausgedrückt, in der sich heutzutage so viele in unserer Gesellschaft – da sie sich vor deren Zynismus und Verderbnis fürchten und dieses ganze Übel der europäischen Aufklärung zuschreiben – an den ‚Heimatboden‘, wie sie sagen, anschmiegen. Das heißt also, daß sie sich in die mütterlichen Arme des Heimatbodens flüchten. Sie sind wie Kinder, die von Gespenstern geschreckt werden, und die es dann an der verdorrten Brust der geschwächten Mutter schließlich nur noch danach verlangt, ruhig einschlafen zu können und womöglich das ganze Leben zu verschlafen, nur um nicht mehr die sie schreckenden Erscheinungen sehen zu müssen. Meinerseits wünsche ich dem guten, begabten Jüngling das Beste, wünsche ihm vor allem, daß seine jugendliche Seelenschönheit und sein Streben zu dem sogenannten Volksboden sich fernerhin nicht, wie es so oft geschieht, von der sittlichen Seite her in einen finsteren Mystizismus und von der staatsbürgerlichen in einen stumpfen Chauvinismus verwandle, – zwei Eigenschaften, die die Nation vielleicht mit noch größerem Unheil bedrohen, als es selbst die frühe Zersetzung durch eine falsch verstandene und umsonst erworbene europäische Aufklärung ist, an der sein älterer Bruder leidet.“

Für den Chauvinismus und Mystizismus wurde wieder ein paarmal in die Hände geklatscht. Hippolyt Kirillowitsch hatte sich natürlich hinreißen lassen. Im Grunde hatte das alles wenig mit der Sache zu tun, ganz abgesehen davon, daß es ziemlich unklar war. Doch der arme schwindsüchtige und verbitterte Mensch wollte sich gar zu gern wenigstens einmal im Leben aussprechen. Später meinte man bei uns, daß er sich bei der Charakterisierung Iwan Fedorowitschs von einem sogar unfeinen Gefühl habe leiten lassen, da jener ihn zwei- oder dreimal in der Gesellschaft gelegentlich eines Disputs festgelegt hatte, und Hippolyt Kirillowitsch in Erinnerung dessen die Gelegenheit benutzt habe, um sich dafür zu rächen. Ich weiß nicht, ob man recht hatte, wenn man das annahm. Jedenfalls war dies erst die Einleitung der Rede. Späterhin sprach er sachlicher.

„Und nun ist da der dritte Sohn dieses zeitgenössischen Familienvaters,“ fuhr Hippolyt Kirillowitsch fort, „er sitzt vor uns auf der Anklagebank. Vor uns liegen seine Taten, sein Leben und sein Charakter: die Zeit kam und alles rollte sich auf, alles wurde offenbar. Im Gegensatz zum ‚Europäismus‘ und dem ‚Volklichen‘ seiner Brüder, stellt er gleichsam das unmittelbare Rußland dar, – oh, nicht das ganze, nicht das ganze, und Gott bewahre uns davor, daß es das ganze sei! Und doch – hier ist es, unser Rußland, hier fühlt und hört man unser Mütterchen. Oh, wir sind ja so unmittelbar, wir sind zugleich gut und böse, in wundernehmender Mischung, wir sind Verehrer Schillers und der Aufklärung, und zu gleicher Zeit toben wir in Gasthäusern umher und reißen unseren trunkenen Zechkumpanen die Bärte aus. Oh, wir pflegen auch sonst gut und edel zu sein, nicht nur dann allein, wenn wir es selbst gut haben. Im Gegenteil, wir lassen uns sogar leidenschaftlich – gerade leidenschaftlich – für die edelsten Ideale begeistern, doch nur unter der Bedingung, daß sie sich ohne unser Dazutun erreichen lassen, daß sie von selbst vor uns auf den Tisch fallen, meinetwegen gleich vom Himmel herab, und die Hauptsache: daß es umsonst, umsonst geschehe, daß wir nichts dafür zu zahlen brauchen. Zu zahlen lieben wir ganz und gar nicht, dafür aber lieben wir sehr, zu bekommen, – in jeder Beziehung. Oh, gebt, gebt uns alle möglichen Lebensgüter – unbedingt alle möglichen, unter dem tun wir es nicht – und vor allem, setzt unserem Temperament nichts in den Weg, in keiner Beziehung, dann werden wir beweisen, daß auch wir gut und edel sein können! Wir sind nicht habsüchtig, o nein, aber einstweilen, gebt uns nur Geld, mehr, mehr, so viel wie möglich Geld, und ihr werdet sehen, wie großmütig, mit welch einer Verachtung für das verächtliche Metall, wir es in einer einzigen Nacht, während eines zügellosen Gelages, um uns werfen werden. Gibt man uns aber kein Geld, so werden wir zeigen, wie wir es uns zu verschaffen wissen, wenn wir dies nur wollen! Doch davon wird noch später die Rede sein; ich will die Reihenfolge nicht unterbrechen. Ganz zuerst sehen wir einen armen, verlassenen Knaben ‚auf dem Hinterhof ohne Stiefelchen‘, wie sich vorhin unser verehrter Mitbürger, leider ausländischer Herkunft, ausdrückte. Ich sage nochmals, – ich trete niemandem die Verteidigung des Angeklagten ab! Ich bin der Ankläger, ich will auch der Verteidiger sein. Ja, auch wir sind Menschen, auch wir verstehen nachzuempfinden, wie tief und schmerzlich sich ihm die ersten Kindheitseindrücke im Vaterhause einprägen mußten, und wir verstehen nur zu gut, wie diese dann auf seinen Charakter eingewirkt haben. Doch da sehen wir den Knaben schon als Jüngling, als jungen Mann, als Offizier. Für wilde Streiche und für die Herausforderung zum Duell wird er in eine der fernen Grenzstädte unseres gesegneten Rußlands geschickt. Dort dient er, dort lebt er wüst drauflos, und, versteht sich, – ein großes Schiff braucht ein großes Fahrwasser. Wir brauchen Mittel, zuerst und vor allem Mittel, und da kommt es denn nach langem Hin und Her zwischen ihm und dem Vater zur Abmachung, daß ihm die letzten sechstausend Rubel von der Erbschaft ausgezahlt werden sollen, dann aber auch nichts mehr. Er erhält das Geld. Beachten Sie wohl: er stellt ein Dokument aus, und es liegt außerdem noch ein Brief von ihm vor, in dem er sich von dem Rest fast lossagt und mit diesen Sechstausend die Streitigkeiten mit dem Vater wegen der Erbschaft abbricht. Darauf kommt es zu jener Begegnung zwischen ihm und dem jungen Mädchen, dessen edlen Charakter wir alle kennen. Oh, ich unterfange mich nicht, die Einzelheiten zu wiederholen, wir haben sie ja soeben gehört: hierbei handelt es sich um Ehre, um Selbstaufopferung, und ich übergehe das weitere. Die Gestalt des jungen Mannes, der zwar leichtsinnig und verderbt ist, der sich aber trotzdem vor dem wahren Edelmut, vor der höheren Idee beugt, trat außerordentlich sympathisch vor unser geistiges Auge. Doch gleich darauf wurde uns in diesem selben Saale ganz unerwartet die andere Seite gezeigt. Wiederum wage ich nicht, mich auf Vermutungen oder Untersuchungen einzulassen, warum das geschah. Dieselbe Dame, die ihn uns zuerst so sympathisch geschildert hatte, sagt uns unter Tränen lange unterdrückten Unwillens, daß er, gerade er der erste war, der sie wegen ihrer unvorsichtigen, immerhin edelmütigen, immerhin großmütigen Handlung verachtete. Bei ihm, bei dem Verlobten dieses Mädchens, erscheint früher als bei allen anderen jenes spöttische Lächeln, daß sie nur von ihm allein nicht ertragen konnte. Und als sie schon wußte, daß er ihr untreu geworden war, im Herzen ihr schon die Treue gebrochen hatte, als sie schon wußte, daß sie alles von ihm werde hinnehmen müssen, selbst seinen Treubruch – bietet sie ihm absichtlich dreitausend Rubel an und gibt ihm dabei deutlich, nur zu deutlich zu verstehen, daß sie ihm das Geld zur Ausführung des Treubruchs anbietet! ‚Wirst du es annehmen, wirst du so zynisch sein?‘ fragt sie stumm mit ihrem kritischen, prüfenden Blick. Er sieht sie an, begreift ihren Gedanken vollkommen – er hat doch selbst hier vor allen Anwesenden gestanden, daß er alles begriffen habe – und eignet sich einwandlos diese Dreitausend an und verpraßt sie in zwei Tagen mit seiner neuen Geliebten! Woran soll man jetzt glauben? Der ersten Legende – dem Ausbruch hohen Edelmuts, der ihn die letzten Mittel, die ihm noch zum Leben übrig geblieben sind, fortgeben und vor der Tugend sich verbeugen läßt, oder der so widerlichen Kehrseite der Medaille? Gewöhnlich pflegt es im Leben so zu sein, daß man bei zwei Gegensätzen die Wahrheit in der Mitte suchen muß. Im vorliegenden Fall ist es aber nicht so. Am wahrscheinlichsten ist, daß er das erstemal aufrichtig edelmütig und das zweitemal aufrichtig niedrig gehandelt hat. Warum? Weil wir eben weite Naturen sind, Karamasoffsche Naturen – darauf gehe ich ja hinaus – Naturen, sage ich, die fähig sind, alle möglichen Widersprüche in sich zu vereinigen und zu gleicher Zeit beide Abgründe zu erfassen, den Abgrund über uns, den Abgrund der höchsten Ideale, und den Abgrund unter uns, den Abgrund der schändlichsten Gesunkenheit. Erinnern Sie sich, meine Herren, des glänzenden Gedankens, den vorhin ein junger Beobachter aussprach, Herr Rakitin, der tief und eingreifend das Wesen der ganzen Familie der Karamasoffs erfaßt hat: ‚Für diese zügellosen, haltlosen Naturen ist die Empfindung der Niedrigkeit ihrer Gesunkenheit ein ebenso großes Bedürfnis, wie die Empfindung des höheren Edelmuts‘. – Und das ist wahr: gerade dieser widernatürlichen Mischung bedürfen sie jederzeit, zu jeder Stunde. Zwei Abgründe, zwei Abgründe in ein und demselben Augenblick, meine Damen und Herren, ohne diese Gleichzeitigkeit sind wir unglücklich und unbefriedigt, ist unser Leben nicht ausgefüllt. Wir sind weite Naturen, weit wie unser Mütterchen Rußland, wir umfangen alles, wir leben uns mit allem ein! ... Übrigens, meine Herren Geschworenen, wir sind jetzt auf diese Dreitausend zu sprechen gekommen und so will ich bei der Gelegenheit etwas vorgreifen. Können Sie glauben, meine Herren Geschworenen, daß er bei seinem Charakter, damals, als er das Geld erhalten hatte, und dazu noch in dieser Weise, für diese Schande, diese Schmach, diese tiefste Erniedrigung, – können Sie glauben, daß er am selben Tage fähig gewesen sei, wie er sagt, die Hälfte des Geldes in ein Zeug einzunähen und darauf die Charakterfestigkeit zu haben, dieses Geld einen ganzen Monat lang am Halse zu tragen, trotz aller Versuchungen und trotz seiner fatalen Geldverlegenheit? Weder bei wüsten Gelagen im Gasthause, noch selbst in den Stunden, als er die Stadt verlassen mußte, um sich von Gott weiß was für Subjekten dieses notwendige Geld zu verschaffen, – um die Geliebte endlich vor den Versuchungen seines Rivalen, seines alten Vaters, in Sicherheit zu bringen – selbst in diesen Augenblicken will er nicht gewagt haben, das eingenähte Geld anzurühren! Meine Herren, ist das glaubwürdig – bei diesem Charakter? Meiner Meinung nach hätte er schon allein aus dem einen Grunde, um die Geliebte vor den Versuchungen des Alten zu beschützen, sein eingenähtes Geld herausnehmen und selbst in der Stadt bleiben müssen, um sie unausgesetzt bewachen zu können, und um dann, wenn sie ihm zusagt: ‚Ich bin dein‘, unverzüglich mit ihr irgendwohin fortziehen zu können, fort aus diesen verhängnisvollen Verhältnissen. Doch nein, er rührt seinen Talisman nicht an. Und aus welchem Grunde will er dies nicht getan haben? Der erste Grund war, daß er, wenn sie ihm gesagt hätte: ‚Ich bin dein, bring mich fort, wohin du willst‘, daß er dann kein Geld zum Fortbringen gehabt hätte. Doch dieser erste Grund trat, nach den Worten des Angeklagten, weit zurück vor dem zweiten. ‚Solange,‘ sagt er, ‚so lange ich dieses Geld noch an meinem Halse trage – bin ich ein Schuft, aber kein Dieb, denn ich kann dann jederzeit zu meiner von mir beleidigten Braut gehen, kann die Hälfte der betrügerisch von ihr angeeigneten Summe zurückgeben und immer noch sagen: ‚Sieh, ich habe die Hälfte der Dreitausend durchgebracht und damit bewiesen, daß ich ein schwacher und unsittlicher Mensch bin, und, wenn du willst, sogar ein Schuft‘ (ich bediene mich der Worte des Angeklagten selbst), ‚aber wenn ich auch ein Schuft bin, so bin ich doch noch kein Dieb, denn wenn ich ein Dieb wäre, so würde ich dieses übriggebliebene Geld, die Hälfte des Ganzen, nicht zurückgebracht, sondern mir gleichfalls, wie die erste Hälfte, angeeignet haben.‘ Wahrlich – eine sonderbare Erklärung der Tatsache! Dieser Wildeste aller Wilden, dieser Leidenschaftsmensch, der so schwach ist, daß er der Versuchung, die dreitausend Rubel zu nehmen, trotz der ganzen für ihn darin enthaltenen Schmach nicht hat widerstehen können, – dieser selbe Mensch findet plötzlich so viel stoische Festigkeit in sich, daß er dieses notwendige Geld einen ganzen Monat unangetastet mit sich herumträgt! Stimmt das mit dem geschilderten Charakter auch nur ein wenig überein? Nein, und ich erlaube mir darzustellen, wie der wirkliche Dmitrij Karamasoff in solchem Falle gehandelt haben würde, selbst wenn er sich wirklich zum Einnähen der Hälfte entschlossen hätte. Schon bei der ersten Versuchung – sagen wir, um der Liebgewonnenen, mit der er bereits die erste Hälfte verpraßt hat, irgendeine Freude zu bereiten – also schon bei der ersten Versuchung hätte er zunächst, nehmen wir an, nur hundert Rubel von dem eingenähten Gelde abgeteilt, denn: ‚Wozu muß ich genau die Hälfte zurückbringen, warum genau tausendfünfhundert? Tausendvierhundert werden doch ganz dasselbe tun, denn, nicht wahr, dann kann ich doch immer noch sagen: Ich bin vielleicht ein Schuft, aber ich bin kein Dieb, da ich doch immerhin tausendvierhundert Rubel zurückgebracht habe, ein Dieb dagegen alles behalten und nichts zurückbringen würde!‘ Darauf wird er nach einiger Zeit wieder das Säckchen auftrennen und einen zweiten Hundertrubelschein herausnehmen, darauf einen dritten, darauf einen vierten und so weiter, bis er spätestens zu Ende des Monats den vorletzten Schein dem Säckchen entnommen hat, denn, nicht wahr, selbst wenn ich nur noch hundert Rubel zurückbringe, kommt es doch immer noch auf dasselbe hinaus: ‚Ein Schuft bin ich, aber ich bin kein Dieb, denn wenn ich auch zweitausendneunhundert Rubel durchgebracht habe, so bringe ich doch wenigstens das letzte Hundert zurück, ein Dieb aber würde das nicht tun.‘ Und schließlich, wenn er auch dieses vorletzte Hundert durchgebracht hätte, würde er das letzte betrachtet und sich gesagt haben: ‚Weiß Gott, es lohnt sich ja wahrlich nicht, diesen lumpigen Hundertrubelschein noch zurückzubringen! Ach was! – gehen wir auch damit noch mal durch!‘ So würde der wirkliche Dmitrij Karamasoff gehandelt haben, derjenige, den wir kennen! Die Fabel jedoch von dem Säckchen mit dem eingenähten Gelde – steht in solchem Widerspruch zu der Wirklichkeit, wie man ihn größer sich nicht gut denken könnte. Alles könnte man sich schließlich noch vorstellen, das aber nicht. Doch davon wird noch später die Rede sein.“

Darauf führte Hippolyt Kirillowitsch der Reihe nach alles an, was der gerichtlichen Untersuchung über die Vermögensstreitigkeiten zwischen Vater und Sohn bekannt geworden war, und nachdem er nochmals darauf hingewiesen hatte, daß man aus den vorhandenen Daten unmöglich ersehen könne, wer in dieser Angelegenheit den anderen übervorteilt habe, kam Hippolyt Kirillowitsch, bei Erwähnung der bei Mitjä zur „fixen Idee“ gewordenen Dreitausend, auch auf die medizinische Expertise zu sprechen.

VII.
Der Überblick

Die Expertise der Ärzte hat sich bemüht, uns zu beweisen, daß der Angeklagte nicht bei vollem Verstande und von einer fixen Idee besessen gewesen sei. Ich behaupte aber, daß er durchaus bei vollem Verstande war, und gerade das halte ich für das Schlimme in diesem Falle, denn wäre er nicht bei vollem Verstande gewesen, so würde er vielleicht viel klüger gehandelt haben. Was jedoch die Aussage betrifft, daß er von einer fixen Idee besessen gewesen sei, so würde ich mich damit in einem Punkte einverstanden erklären, nämlich in dem, auf den auch die Expertise hinweist, – in der Auffassung, die der Angeklagte von diesen Dreitausend hatte, die der Vater ihm noch schulden sollte. Nichtsdestoweniger kann man vielleicht einen unvergleichlich näherliegenden Gesichtspunkt finden, als es der ist, den Angeklagten als zum Irrsinn neigend sich vorzustellen, wenn man sich die andauernde Aufgebrachtheit des Angeklagten dieses Geldes wegen erklären will. Meinerseits stimme ich vollkommen überein mit der Meinung des jungen Arztes, der sich dahin äußerte, daß der Angeklagte sich voller und normaler Verstandeskraft erfreue und immer erfreut habe, im übrigen aber nur gereizt und erbittert gewesen sei. Und das ist das Wichtigste: Nicht die Dreitausend, nicht diese Summe an sich war der Gegenstand, der Grund der heftigen und andauernden Erbitterung des Angeklagten gegen seinen Vater, hier gab es noch eine andere, eine besondere Ursache, die seinen Zorn erregte. Das war – die Eifersucht!“

Nun begann Hippolyt Kirillowitsch äußerst weitläufig und umständlich das Bild der ganzen verhängnisvollen Leidenschaft des Angeklagten für Gruschenka aufzurollen. Er begann mit jenem Tage, an dem Mitjä sich zu dieser „jungen Person“ begeben hatte, um sie „durchzuprügeln“ – „ich drücke mich mit den Worten des Angeklagten aus,“ fügte er zur Erklärung hinzu –, „doch statt sie durchzuprügeln, ließ er sich zu ihren Füßen nieder – das ist der Anfang dieser Liebe. In derselben Zeit hat auch der Alte, der Vater des Angeklagten, auf dieselbe Person sein Auge geworfen. Das ist nun freilich ein etwas sonderbares Zusammentreffen, denn beide Herzen entbrennen zu gleicher Zeit, während beide diese Person auch früher schon gesehen und gekannt hatten, plötzlich aber entbrennen sie in der unbändigsten, wie gesagt, Karamasoffschen Leidenschaft. Und andererseits haben wir ihre eigene Aussage: ‚Ich machte mich über beide lustig.‘ Ja, sie wollte sich sowohl über den einen als über den anderen lustig machen: Früher hatte sie so etwas nicht gewollt, plötzlich aber fällt ihr diese Idee ein, – und es endet damit, daß beide besiegt ihr zu Füßen fallen. Der Alte, der das Geld wie seinen Gott verehrte, setzt sofort dreitausend Rubel aus, um sie zu verleiten, ihn in seinem Hause zu besuchen, ist aber bald so weit, daß er sich glücklich schätzen würde, ihr seinen Namen und seinen ganzen Wohlstand zu Füßen zu legen, wenn sie nur einwilligte, seine rechtmäßige Frau zu werden. Dafür haben wir die sichersten Beweise. Was nun den Angeklagten betrifft, so liegt ja seine Tragödie auf der Hand. Ja, so wirkte das ‚Spiel‘ der jungen Person. Dem unglücklichen jungen Mann wurde von seiner Zauberin nicht einmal Hoffnung gemacht, denn Hoffnung, wirkliche Hoffnung ward ihm erst im letzten, allerletzten Augenblick zuteil, als er, vor seiner Peinigerin auf den Knien liegend, seine schon von dem Blute des Vaters und Rivalen befleckten Hände zu ihr emporstreckte: genau in dieser Stellung wurde er verhaftet. ‚Mich, mich, schickt mich zusammen mit ihm zu den Zwangsarbeitern, ich habe ihn so weit gebracht, mich trifft von allen die größte Schuld!‘ rief diese Frau in aufrichtiger Reue und Verzweiflung aus, als er verhaftet wurde. Der talentvolle junge Mann, der unseren Prozeß beschrieben hat – derselbe Herr Rakitin, von dem ich heute schon einmal gesprochen habe –, schildert in wenigen knappen und charakteristischen Worten den Charakter dieser tragischen Heldin folgendermaßen: ‚Früh erlebte Enttäuschungen, der frühzeitige Betrug und Fall, der Treubruch des Verführers und Verlobten, der sie verließ, dann die Armut, die Ausstoßung aus ihrer ehrenwerten Familie, und schließlich die Protektion eines reichen Alten, den sie übrigens auch jetzt noch für ihren Wohltäter hält. Das junge Herz, das ursprünglich viel Gutes in sich barg, lernte gar zu bald Zorn und Verachtung kennen. So bildete sich auch ihr Charakter danach aus: sie fing an zu berechnen, ein Kapital zusammenzusparen, sie wurde spöttisch und rachsüchtig der Gesellschaft gegenüber.‘ Nach dieser Charakteristik wird es begreiflich, daß sie sich über den einen wie über den anderen nur in boshaftem Spiel lustig machte und sie zum besten hatte. Also in diesem Monat hoffnungsloser Liebe, sittlichen Sinkens, des Verrats an seiner Braut, der Aneignung fremden Geldes, das seiner Ehre anvertraut war, – in diesem Monat wird der Angeklagte außerdem noch aufs Äußerste gebracht, bis zur Raserei, bis zu völligem ‚Außer-sich-sein‘ durch die ewige Eifersucht! Und den Anlaß zu dieser Eifersucht gibt wer? – Der eigene Vater! Und das Wichtigste: Dieser selbe Vater lockt den Gegenstand der Liebe seines Sohnes mit denselben dreitausend Rubeln an, die der Sohn für sein Erbteil hält, das Erbe seiner Mutter, das der Alte ihm von Rechts wegen noch auszuzahlen hätte. Ja, ich gebe zu, daß so etwas schwer zu ertragen sein muß! Da konnte sich bei ihm allerdings eine ‚fixe Idee‘ bilden. Doch nicht um dieses Geld handelte es sich, sondern darum, daß an diesem Gelde mit so ekelhaftem Zynismus sein Glück zerschellen mußte!“

Hierauf ging Hippolyt Kirillowitsch, an der Hand von Tatsachen, auf die Schilderung über, wie in dem Angeklagten der Gedanke an den Vatermord entstanden und allmählich gereift war.

„Zuerst schreien wir nur in den Gasthäusern, daß wir den Vater erschlagen würden, – und das tun wir den ganzen Monat. Oh, wir lieben es, unter Menschen zu leben und diesen Menschen unverzüglich alles, selbst unsere teuflischsten Gedanken, mitzuteilen, wir teilen eben gern mit anderen, und wir verlangen – aus unbekannten Gründen –, daß diese Menschen uns auf der Stelle ihre vollste Sympathie entgegenbringen, auf unsere Sorgen und Aufregungen sofort eingehen, uns in allem beistimmen, und unserem Temperament nichts entgegensetzen.“ (Es folgte die Erzählung der Szene mit dem Hauptmann Ssnegireff.) „Fast alle, die den Angeklagten im letzten Monat gesehen und gehört haben, sagen, sie hätten schließlich gefühlt, daß es in diesem Falle nicht nur beim Schreien und Drohen bleiben würde, und daß bei einem solchen Temperament und einer solchen Wut das Wort sich sehr leicht in Tat umsetzen könnte.“ Hierauf sprach Hippolyt Kirillowitsch von der Familienversammlung im Kloster, dem Gespräch Mitjäs mit Aljoscha im Nachbargarten und von der schmachvollen Szene im Vaterhause, als der Angeklagte den bei Tisch sitzenden Vater geradezu überfallen hatte. „Es fällt mir natürlich nicht ein, zu behaupten,“ fuhr Hippolyt Kirillowitsch fort, „daß der Angeklagte vor dieser Szene schon wohlüberlegt beschlossen habe, den Vater einfach durch dessen Ermordung beiseite zu schaffen. Ich sage nur, daß dieser Gedanke dem Angeklagten nichtsdestoweniger schon mehr als einmal gekommen war, und er ihn bewußt überdacht hatte – zur Bestätigung dessen haben wir Tatsachen, Zeugen und das eigene Eingeständnis des Angeklagten. Ich muß gestehen, meine Herren Geschworenen,“ schaltete Hippolyt Kirillowitsch hier ein, „daß ich noch bis heute nicht sicher war, ob man den Angeklagten beschuldigen könne, das sich ihm, ich möchte sagen, von selbst aufdrängende Verbrechen vorher bewußt überlegt und vorgenommen zu haben. Ich war nur fest überzeugt, daß seine Gedanken sich mehr als einmal mit dieser bevorstehenden, unvermeidlichen Katastrophe, die er doch kommen sah, beschäftigt hatten, daß er den Mord vielleicht auch nur in Betracht gezogen, nur als Möglichkeit, ohne dabei den Tag und das Nähere der Ausführung zu bestimmen oder sich zu überlegen. Ja, der Meinung war ich, – aber nur bis heute, bis von Fräulein Werchoffzeff dieses neue Dokument dem Gericht unterbreitet wurde. Meine Herren Geschworenen, Sie haben ja selbst ihren Ausruf gehört: ‚Das ist der Plan, das ist das Programm der Ausführung des Mordes!‘ – mit diesen Worten bezeichnete sie den ‚trunkenen‘ Brief des unglücklichen Angeklagten. In der Tat, dieser Brief beweist, daß die Tat nach einem ‚Programm‘ und vor allem mit Vorbedacht geschehen ist. Er ist zwei Tage vor dem Verbrechen geschrieben worden, – und so haben wir jetzt den unantastbaren Beweis dafür, daß der Angeklagte achtundvierzig Stunden vor der Ausführung seines ungeheuerlichen Vorsatzes schwört, daß er, wenn er am nächsten Tage das Geld sich nicht anderswoher verschaffen könne, den Vater erschlagen werde, um von ihm das Geld zu nehmen, das unter dem Kissen in einem Kuvert liegt, ‚wenn nur Iwan abreisen würde.‘ Hören Sie es wohl: ‚Wenn nur Iwan abreisen würde!‘ Folglich ist schon alles überlegt, sind alle Umstände erwogen, und – alles ist dann so geschehen, wie er geschrieben hat! Da ist doch jeder Zweifel an der Vorbedachtheit ausgeschlossen, das Verbrechen ist mit der Absicht, das Geld zu rauben, begangen worden, das ist doch schwarz auf weiß geschrieben und unterschrieben! Der Angeklagte leugnet es nicht, daß er den Brief geschrieben hat. Man wird vielleicht sagen: Er hat ihn sicherlich in betrunkenem Zustande geschrieben. Aber das will ja nichts sagen, das macht den Brief sogar noch um so wichtiger: Er hat im trunkenen Zustande geschrieben, was er in nüchternem sich vorgenommen hat; wäre es nicht im nüchternen Zustande vorgefaßt worden, so hätte er es auch in der Betrunkenheit nicht geschrieben. Man wird vielleicht auch noch einwenden: Warum aber hat er dann seine Absicht nicht verheimlicht, warum hat er sie überall ausgeschrien? Wer sich zu so etwas mit Vorbedacht entschließt, der schweigt darüber und verbirgt die Absicht. Das ist wahr, aber er schrie ja nur dann, als er noch keine Pläne und bestimmten Absichten hatte, und nur der Wunsch vorhanden war und die Absicht erst heranreifte. Später spricht er schon weniger davon. An jenem Abend, an dem dieser Brief geschrieben wurde, nachdem er sich im Gasthaus ‚Zur Hauptstadt‘ angetrunken hatte, ist er ganz gegen seine Gewohnheit schweigsam gewesen, hat nicht Billard gespielt, hat allein und sichtlich zurückgezogen gesessen, fast mit niemandem gesprochen und nur einen hiesigen Kommis von seinem Platze vertrieben, doch hat er das fast unbewußt getan, wahrscheinlich nur aus Gewohnheit an Händeln, ohne die er, wenn er ins Gasthaus eintrat, nun einmal nicht auskommen konnte. In der Tat, erst an jenem Abend hat er vielleicht den Entschluß gefaßt, und so mag er sich denn wahrscheinlich unter anderem auch gesagt haben, daß er schon gar zu offenherzig in der ganzen Stadt ausgesprochen, gar zu unvorsichtig über seinen Vater Verfängliches geäußert habe, daß seine eigenen Worte sehr wohl den Täter vermuten ließen, wenn er jetzt die Absicht wirklich ausführte. Aber was tun? Die Worte waren gesprochen: Diese Tatsache konnte man nicht mehr ungeschehen machen. Und dann – hat schon früher der krumme Weg herausgeführt, so wird er es auch jetzt tun! Wir verließen uns auf unseren guten Stern, meine Herren! Ich muß noch zugeben, daß er viel getan hat, um diese Lösung zu vermeiden, daß er sich sehr angestrengt hat, sich das Geld auf eine andere Weise zu verschaffen. ‚Morgen werde ich jeden Menschen um dreitausend Rubel angehen,‘ schreibt er in seiner eigenartigen Sprache, ‚geben aber die Menschen sie mir nicht, so fließt Blut.‘ In der Betrunkenheit ist es geschrieben, in nüchternem Zustande ist es dann so, wie es geschrieben war, ausgeführt worden.“

Hier begann Hippolyt Kirillowitsch die ausführliche Schilderung aller vergeblichen Versuche Mitjäs, sich das Geld zu verschaffen, um das Verbrechen umgehen zu können. Er schilderte seinen Gang zu Ssamssonoff, die Fahrt zu Ljägawyj – alles nach dem Protokoll. „Müde, verspottet, hungrig kehrte er wieder zurück,“ fuhr der Staatsanwalt fort, „nachdem er auch noch seine Uhr verkauft hat (während er dabei tausendfünfhundert Rubel bei sich gehabt haben will!), gequält von der Eifersucht wegen des in der Stadt zurückgebliebenen geliebten Weibes, dabei noch mit der Angst im Herzen, daß sie in seiner Abwesenheit vielleicht zu Fedor Pawlowitsch gehen könnte oder vielleicht schon gegangen ist, – in diesem Zustande kommt er in die Stadt zurück. Doch Gott sei Dank! Sie ist nicht bei Fedor Pawlowitsch gewesen. Er begleitet sie zum Kaufmann Ssamssonoff. (Auffallend ist, daß er auf Ssamssonoff nicht eifersüchtig ist, was in diesem Falle eine äußerst charakteristische psychologische Eigentümlichkeit zu sein scheint.) Darauf eilt er auf den Beobachtungsposten an der ‚Hinterstraße‘. Dort erfährt er, daß Ssmerdjäkoff einen epileptischen Anfall gehabt hat, und daß auch Grigorij krank ist. Das Feld ist also frei und die ‚Zeichen‘ kennt er – welche Versuchung! Nichtsdestoweniger sträubt er sich noch gegen das Verbrechen: er begibt sich zu einer hochgeachteten Dame, die sich augenblicklich vorübergehend hier aufhält, zu Frau Chochlakoff. Diese Dame, die ihn schon seit längerer Zeit beobachtet und bemitleidet hat, gibt ihm einen äußerst vernünftigen Rat: dieses ganze wüste Leben, diese monströse Liebe und das Herumtreiben in den Gasthäusern aufzugeben und nach Sibirien in die Goldgruben zu fahren: ‚Dort ist das Arbeitsfeld für Ihre tobenden Kräfte, die Sie hier so unnütz vergeuden, dorthin gehören Sie mit Ihrem romantischen, abenteuerlustigen Charakter!‘ sagt sie ihm.“ Nachdem Hippolyt Kirillowitsch dann noch den Ausgang des Gespräches mit Frau Chochlakoff wiedergegeben hatte, und auch auf jenen Augenblick zu sprechen gekommen war, wie der Angeklagte auf dem Großen Platz erfahren, daß Agrafena Alexandrowna nur eine kurze Zeit bei Herrn Ssamssonoff geblieben sei, beschrieb er, wie der Unglückliche, bei seinen gereizten Nerven und seiner Eifersucht, nach dieser Nachricht – die ihm den Betrug der Geliebten so gut wie bestätigte – außer sich geraten sein mußte. Ferner lenkte er noch die Aufmerksamkeit auf einen verhängnisvollen Zufall: „Hätte die Stubenmagd Fenjä ihm gesagt, daß ihre Herrin in Mokroje bei dem ‚Früheren‘ und ‚Alleinberechtigten‘ war – so wäre das Unglück nicht geschehen. Sie aber wußte im Schreck und in der Angst nichts anderes zu sagen, als nur zu schwören und ihn einer Sache zu versichern, die er besser wußte, so daß für ihn die Lüge, und folglich auch der Betrug, vollständig bestätigt schienen. Und wenn er diese Stubenmagd dafür nicht auf der Stelle erschlagen hat, so hat sie das nur dem Umstande zu danken, daß er sofort besinnungslos Hals über Kopf fortstürzte – der Geliebten nach! Jetzt ist hier aber noch eine sehr auffallende Tatsache zu beachten: Wie außer sich er auch war, er verfiel dabei doch noch darauf, die messingne Mörserkeule mitzunehmen. Warum nahm er gerade die Mörserkeule, warum suchte er nicht irgendeinen anderen Gegenstand, warum nicht eine Waffe? Ich glaube, wenn wir uns einen ganzen Monat mit einer gewissen Absicht getragen, und uns alle Eventualitäten vorgestellt, alles erwogen und uns auf alles vorbereitet haben, so ist es sehr erklärlich, warum wir uns selbst in dieser Erregung zu helfen wissen und eine Mörserkeule sofort als Waffe erkennen, denn daß man auch mit so etwas einen Menschen erschlagen kann, das haben wir ja schon einen ganzen Monat bedacht. Darum hat er denn auch sofort den Wert dieser Mörserkeule im Augenblick, ohne nachzudenken, trotz seiner Erregung, sehr zu schätzen gewußt. So kann ich denn wohl sagen, daß der Angeklagte die Mörserkeule nicht unbewußt, nicht ohne eine gewisse Absicht ergriffen hat. Und da ist er nun im väterlichen Garten ... Zeugen sind nicht zu befürchten, tiefe Nacht, Finsternis – und Eifersucht! Der Argwohn, daß sie hier ist, bei ihm, bei seinem Rivalen, in seinen Armen, und in diesem Augenblick mit ihm zusammen über ihn selbst womöglich noch lacht – raubt ihm den Atem. Und nicht nur der Argwohn – wo kann jetzt noch von Argwohn die Rede sein! Der Betrug liegt doch auf der Hand, jeder Zweifel ist doch ausgeschlossen: Sie ist bei ihm, dort in jenem Zimmer, aus dessen Fenster der Lichtschein in den Garten fällt, sie liegt dort – bei ihm – hinter dem Bettschirm. Und da schleicht sich der Unglückliche zum Fenster, blickt ehrerbietig durch die Scheiben hinein und schickt sich sittsam drein, weil nun einmal nichts mehr daran zu ändern ist, geht vielmehr vernünftig fort, um sich vom Unheil zu entfernen, und damit nicht gar etwas Gefährliches und Unsittliches geschehe! – Davon will man uns überzeugen, uns, die wir doch den Charakter des Angeklagten kennen, die wir doch begreifen, in welch einer Gemütsverfassung er sich befand, und vor allen Dingen, nachdem wir wissen, daß ihm Zeichen bekannt waren, mittels welcher er ohne weiteres die Tür sich aufmachen lassen und ins Haus eintreten konnte!“ Hier, bei Gelegenheit der Zeichen, verließ Hippolyt Kirillowitsch vorübergehend die Anklage und kam auf Ssmerdjäkoff zu sprechen, um die Verdächtigung Ssmerdjäkoffs ein für allemal auszuschalten. Er sprach sehr sachlich darüber, und man begriff sofort, daß er trotz seiner ganzen Verachtung, die er dieser Vermutung gegenüber zur Schau trug, dieselbe doch für wichtig genug hielt.

VIII.
Über Ssmerdjäkoff

Zuerst will ich fragen: wie ist dieser Verdacht überhaupt aufgekommen?“ begann Hippolyt Kirillowitsch. „Der erste, der gesagt hat, Ssmerdjäkoff sei der Mörder, war kein anderer als der Angeklagte selbst, der die Verdächtigung im Augenblick seiner Verhaftung hinausgeschrien hat, einstweilen aber, bis zur gegenwärtigen Stunde, noch keinen einzigen Beweis für sie oder auch nur eine mehr oder weniger wahrscheinliche Begründung seines Verdachtes hat angeben können. Außerdem wird dieser Verdacht nur noch von drei anderen Personen geteilt: von den beiden Brüdern des Angeklagten und von Agrafena Alexandrowna Sswetlowa. Und von diesen drei hat Iwan Fedorowitsch Karamasoff seinen diesbezüglichen Verdacht erst heute in augenscheinlich krankhaftem Zustande geäußert und zweifellos in einem Augenblick geistiger Anormalität, wahrscheinlich in hohem Fieber. Nun wissen wir aber aufs bestimmteste, daß er während dieser letzten zwei Monate durchaus der entgegengesetzten Ansicht gewesen ist, und das hat er schon allein dadurch bewiesen, daß er uns in dieser Beziehung nicht einmal zu widersprechen versuchte. Doch darauf werden wir noch besonders zu sprechen kommen. Der jüngste Bruder des Angeklagten hat uns vorhin selbst gesagt, daß er keinerlei Beweise zur Bekräftigung seiner Beschuldigung Ssmerdjäkoffs habe, sondern lediglich nach den Worten des Angeklagten, ‚und dem Ausdruck seines Gesichts‘ zu dieser Ansicht gekommen sei. Ja, diese erdrückende Aussage ist sogar zweimal von seinem Bruder gemacht worden. Und die Aussage der Verlobten des Angeklagten ist vielleicht noch erdrückender: ‚Was der Angeklagte Ihnen sagt, daran glauben Sie, das ist kein Mensch, der lügen kann!‘ Und das sind alle vorhandenen Aussagen gegen Ssmerdjäkoff, die zudem noch von drei Personen gemacht werden, die nur zu sehr für das Schicksal des Angeklagten besorgt sind. Trotzdem aber ist die Verdächtigung Ssmerdjäkoffs sehr verbreitet, und sie ist es sogar jetzt noch. Wie ist es möglich, daran zu glauben? Wie stellt man sie sich vor?“

Hippolyt Kirillowitsch hielt es für nötig, zuerst den Charakter Ssmerdjäkoffs, „der sich wahrscheinlich in einem Anfall krankhafter Angst oder in völligem Irrsinn das Leben genommen hat,“ leicht zu skizzieren. Er schilderte ihn als schwachsinnigen Menschen, der sich nach höherer Bildung sehnte, und den philosophische Ideen, die für seinen Verstand zu hoch waren, gänzlich verwirrt hätten – „desgleichen auch gewisse zeitgenössische Auffassungen von Schuld und Pflicht, die ihm überflüssigerweise beigebracht worden waren – praktisch durch das Leben seines verstorbenen Herrn und vielleicht sogar Vaters, an dem von Schuld- und Pflichtgefühlen nichts zu sehen war, und theoretisch durch verschiedene eigenartige philosophische Gespräche mit dem ältesten Sohn aus der zweiten Ehe seines Herrn, mit Iwan Fedorowitsch, dem diese Art Zerstreuung offenbar Vergnügen bereitet hatte – vielleicht auch um die Langeweile zu vertreiben, oder aber aus dem Bedürfnis heraus, andere zu verspotten, und dem daher diese Art Philosophieunterricht die gewünschte Befriedigung geboten zu haben schien. Ssmerdjäkoff hat mir ausführlich seinen Seelenzustand in den letzten Tagen vor der Katastrophe geschildert,“ bemerkte Hippolyt Kirillowitsch beiläufig, „wir besitzen überdies noch die Aussagen des Angeklagten selbst, seines Bruders und sogar des Dieners Grigorij, also dreier Menschen, die ihn sehr gut gekannt haben. Hinzu kommt, daß Ssmerdjäkoff, der mit der Fallsucht belastet war, ‚furchtsam wie ein Huhn‘ gewesen sein soll. ‚Er fiel vor mir nieder und küßte meine Stiefel,‘ sagte uns der Angeklagte beim ersten Verhör, als er noch nicht vermutete, daß eine solche Aussage für ihn selbst nachteilig sein würde, – ‚das ist ein krankes Huhn, das die Fallsucht hat,‘ lautete sein zweiter Ausspruch über den Diener, in seiner charakteristischen Sprache ausgedrückt. Und diesen Menschen erwählt nun der Angeklagte – wie er selbst ausgesagt hat – zu seinem Vertrauten und schüchtert ihn dermaßen ein, daß jener zu guter Letzt einwilligte, für ihn zu spionieren und ihm alles zu hinterbringen. In dieser Eigenschaft eines Hausspions verrät er seinen Herrn und teilt dem Angeklagten sowohl von dem Vorhandensein des Geldpakets, wie von den verabredeten Zeichen alles Nähere mit. Warum hätte er das auch nicht tun sollen! ‚Sie wollten mich erschlagen, das sah ich dazumal ganz genau, und sie hätten mich auch erschlagen,‘ sagte er beim Verhör, und er zitterte sogar vor uns am ganzen Körper, obgleich doch sein Quälgeist schon verhaftet war und ihm folglich nichts mehr antun konnte. ‚Sie verdächtigen mich alleweil, daß ich was verheimlichte, und so bin ich denn von wegen meiner gewaltigen Angst vor ihnen immer von selbst zu ihnen geeilt, um ihnen jedes Geheimnis aufzudecken und sie alsomit von meiner Unschuld zu überzeugen, damit sie mich noch lebendig zur Buße entließen.‘ Das sind seine eigenen Worte, ich habe sie aufgeschrieben und behalten. ‚Und wenn sie mich anschrien, wie selbiges oft vorkam, so fiel ich hinwiederum zitternd auf die Knie vor ihnen.‘ Da nun Ssmerdjäkoff von Natur ein selten ehrlicher Mensch war, und daher seines Herrn volles Vertrauen genoß, so kann man annehmen, daß der unglückliche Mensch sich nicht wenig wegen seines Verrats an seinem Herrn, den er als seinen Wohltäter liebte, gequält hat. Epileptiker, die schwer unter ihrer Krankheit zu leiden haben, sollen, nach dem Ausspruch der bedeutendsten Psychiater, immer geneigt sein zu fortwährender und natürlich krankhafter Selbstanklage. Sie quälen sich wegen ihrer ‚Schuld‘ in irgend etwas und vor irgend jemandem, sie quälen sich mit Gewissensbissen, häufig ohne jede Veranlassung, sie übertreiben alles und denken sich sogar ganze Verbrechen aus, die sie begangen hätten. Und solch ein Geschöpf wird nun in der Tat schuldig, wird es aus lauter Angst nach allen Einschüchterungen, und hintergeht seinen Herrn. Außerdem ahnte Ssmerdjäkoff, daß aus den Szenen, die sich vor seinen Augen abspielten, nichts Gutes hervorgehen werde. Als der zweite Sohn Fedor Pawlowitschs, Iwan Fedorowitsch, kurz vor der Katastrophe nach Moskau abreiste, hat Ssmerdjäkoff ihn flehentlich gebeten, nicht zu verreisen, hat aber in seiner Ängstlichkeit nicht gewagt, ihm alle seine Befürchtungen klar und kategorisch mitzuteilen. Er hat sich mit Anspielungen begnügt, doch diese Anspielungen sind nicht verstanden worden. Ich muß hierzu noch bemerken, daß er in Iwan Fedorowitsch gewissermaßen seinen Verteidiger erblickte, gleichsam eine Garantie dafür, daß, solange derselbe im Hause blieb, kein Unglück geschehen würde. Erinnern Sie sich nur des einen Ausspruchs im ‚trunkenen‘ Brief Dmitrij Karamasoffs: ‚ich werde ihn totschlagen, wenn nur Iwan abreisen würde.‘ Folglich hat die Anwesenheit Iwan Fedorowitschs allen gleichsam eine Garantie für die Ruhe und Ordnung im Hause geschienen. Da aber fährt dieser fort nach Moskau, und Ssmerdjäkoff fällt – noch war keine Stunde seit seiner Abfahrt vergangen – in einem epileptischen Anfall in den Keller. Das aber ist durchaus erklärlich. Hier muß noch erwähnt werden, daß Ssmerdjäkoff, besonders in den letzten Tagen vor der Katastrophe, in denen er durch Furcht und Verzweiflung sowieso schon niedergedrückt gewesen ist, die Möglichkeit eines baldigen Anfalls sehr stark empfunden hat, da ein solcher sich meistens in Augenblicken seelischer Anspannung oder Erschütterung einzustellen pflegt. Tag und Stunde dieser Anfälle kann man natürlich nicht im voraus wissen, dafür aber kann jeder Epileptiker sehr wohl fühlen, ob er zu einem Anfall disponiert ist. Das wird auch von den Ärzten bestätigt. Und nun, kaum hat Iwan Fedorowitsch das Vaterhaus und die Stadt verlassen, als Ssmerdjäkoff, unter dem Eindruck seiner ‚Verwaistheit‘ und Schutzlosigkeit in einer häuslichen Angelegenheit in den Keller geht, und während er die Treppe hinabsteigt, bei sich denkt: ‚Werde ich nun einen Anfall bekommen, oder werde ich nicht, was aber dann, wenn ich ihn jetzt gleich bekomme?‘ Und gerade infolge dieser Stimmung, dieses Zweifels und dieser angstvollen Frage, packt ihn denn auch der Kehlkrampf, der dem Anfall stets vorangeht, und im selben Augenblick fliegt er besinnungslos die Treppe hinab und fällt auf den Boden des Kellers hin. Und nun will man gerade in diesem natürlichen Zusammentreffen eine Verdachtsmöglichkeit sehen, einen Hinweis darauf, daß er sich absichtlich krank gestellt habe! Nehmen wir an, er hat es absichtlich getan, so erhebt sich doch sofort die Frage: warum und wozu denn eigentlich? Aus welcher Berechnung, zu welchem Zweck? Von der medizinischen Wissenschaft will ich weiter nicht reden. Die Wissenschaft, kann man sagen, lügt, die Wissenschaft täuscht sich, und andere, die Ärzte haben es nicht verstanden, Echtheit von Verstellung zu unterscheiden, – schön, schön, aber antworten Sie mir einstweilen auf die eine Frage: wozu hätte er sich verstellen sollen? Etwa um – nachdem er den Mord geplant hat – durch einen Anfall schon vorher die allgemeine Aufmerksamkeit im Hause auf sich zu lenken? Sehen Sie, meine Herren Geschworenen, im Hause Fedor Pawlowitschs waren in der Mordnacht im ganzen nur fünf Menschen: erstens, Fedor Pawlowitsch – aber er hat sich doch nicht selbst erschlagen, das ist ja nur zu offenbar; zweitens, sein Diener Grigorij, aber der ist ja selbst beinahe totgeschlagen worden; drittens, die Frau Grigorijs, die Dienerin Marfa Ignatjewna, – sie sich als Mörderin ihres Herrn vorzustellen, wäre geradezu eine Schande. So bleiben folglich nur noch zwei übrig, die in Frage kämen: der Angeklagte und Ssmerdjäkoff. Da aber der Angeklagte versichert, nicht er habe erschlagen, so muß es folglich Ssmerdjäkoff getan haben, eine andere Lösung der Frage gibt es nicht, denn ein anderer Mörder läßt sich nicht auftreiben: wie man auch suchen wollte, es ist kein anderer da, auf den auch nur der leiseste Verdacht fallen könnte. Daraus, daraus also ist diese ‚schlaue‘ und erdrückende Beschuldigung des unglücklichen Idioten, der gestern seinem Leben ein Ende gemacht hat, entstanden, daraus also, beachten Sie das wohl, meine Herren Geschworenen, nur daraus! Nur aus dem einen, dem einzigen Grunde, weil man keinen anderen finden kann! Gäbe es nur einen Schatten von einem Verdacht auf irgendeinen anderen, einen sechsten, so würde – davon bin ich überzeugt – selbst der Angeklagte sich geschämt haben, einen Verdacht gegen Ssmerdjäkoff auch nur auszusprechen, denn Ssmerdjäkoff dieses Mordes zu beschuldigen, ist einfach absurd!

„Meine Herren Geschworenen, lassen wir einmal die Psychologie beiseite, lassen wir auch die medizinische Wissenschaft und selbst die Logik beiseite, wenden wir uns nur den Tatsachen zu, einzig und allein den Tatsachen, und sehen wir jetzt einmal, was uns diese Tatsachen sagen. Also: Ssmerdjäkoff ist der Mörder, und es fragt sich nur, wie er den Mord begangen hat. Allein oder zusammen mit dem Angeklagten? Untersuchen wir zunächst den ersten Fall, daß Ssmerdjäkoff allein den Mord ausgeführt hat. Wenn er ihn erschlug, so tat er das doch selbstverständlich aus einem bestimmten Grunde, zu einem besonderen Zweck, um einen gewissen Vorteil zu erreichen. Da nun aber bei ihm kein Schatten von ähnlichen Motiven, wie sie der Angeklagte hatte, mitsprechen konnte, als da sind, Eifersucht, Haß usw. usw., hätte Ssmerdjäkoff zweifellos nur des Geldes wegen erschlagen können, um sich diese dreitausend Rubel anzueignen, von denen er wußte, daß der Herr sie ins Kuvert und das Kuvert unter das Kissen gelegt hatte, da er in dem betreffenden Augenblick zugegen gewesen war. Und nun, nachdem er den Mordplan entworfen hat, teilt er unaufgefordert einem anderen Menschen – der zudem noch im höchsten Grade bei der ganzen Sache interessiert ist, nämlich dem Angeklagten – alles Nähere über das Geld und die Zeichen mit: wo das Geld liegt, was auf dem Geldpaket geschrieben steht, womit es zugebunden ist, und teilt ihm vor allen Dingen, vor allen Dingen die ‚Zeichen‘ mit, mittels deren man ins Haus zum Herrn eindringen kann. Wie nun, tat er es speziell, um sich anzugeben? Oder um sich einen Konkurrenten zu schaffen, den es vielleicht gleichfalls gelüsten könnte, hinzugehen und das Geld sich anzueignen? Aber, wird man einwenden, er hat es ihm doch nur aus Furcht mitgeteilt. Wie denn das? Ein Mensch, der sich nicht gescheut hat, eine so tierische Tat auszudenken und später auch auszuführen, – teilt solche Nachrichten mit, die in der ganzen Welt nur ihm allein bekannt sind, und die, wenn er sie nicht verrät, kein einziger Mensch in der ganzen Welt je erraten würde? Nein, wie feig der Mensch auch gewesen sein mag, wenn er selbst einen Mord geplant hätte, so hätte er doch niemals etwas auch nur entfernt Verdächtiges gesagt, am wenigsten natürlich etwas von den Zeichen und dem Geldpaket, oder gar, daß er wüßte, wo es liegt! Das hieße doch, sich im voraus ausliefern. Er hätte sich vielleicht absichtlich etwas anderes ausgedacht, hätte etwas anderes vorgelogen, wenn von ihm nun einmal durchaus Nachrichten verlangt wurden – das aber hätte er unter allen Umständen verschwiegen. Im Gegenteil – ich wiederhole es – wenn er wenigstens von dem Gelde geschwiegen, dann aber gemordet und das Geld sich angeeignet hätte, so hätte natürlich niemand ihn beschuldigen können, wenigstens nicht des Raubmordes, da außer ihm doch niemand das Geld gesehen hatte und niemand außer ihm auch nur wußte, daß es in dieser Weise bereitgehalten wurde. Und selbst wenn man ihn beschuldigt hätte, so wäre er doch immerhin nicht des Raubmordes angeklagt worden, man hätte selbstverständlich geglaubt, er habe es aus irgendeinem anderen, unbekannten Beweggrunde getan. Da nun aber niemand an ihm vorher etwas von solchen eventuellen Beweggründen bemerkt hat, dafür aber alle wußten, daß sein Herr ihn liebte und ihm volles Vertrauen schenkte, so wäre der Verdacht auf jeden anderen eher als auf ihn gefallen, ganz zuerst aber auf denjenigen, bei dem man diese Beweggründe sogar sehr voraussetzen konnte, der sogar selbst überall geschrien hat, daß er diese Motive habe, der sie nicht verheimlicht, sondern allen und jedem aufgedeckt hat. Mit einem Wort, man hätte den Sohn des Erschlagenen verdächtigt, Dmitrij Fedorowitsch. Ssmerdjäkoff wäre der Mörder und Dieb gewesen, den Sohn aber hätte man angeklagt, – ich denke, das wäre für den Mörder Ssmerdjäkoff denn doch ganz vorteilhaft gewesen? Nun, und diesem Sohne Dmitrij Fedorowitsch teilt Ssmerdjäkoff, indem er den Mord plant, alles Nähere über das Geld und die Zeichen mit, – wie logisch, wie klar das ist!!

Es kommt der Tag, an dem Ssmerdjäkoff seinen Plan ausführen will, und er bekommt einen epileptischen Anfall, d. h. er spielt einen Anfall vor. Warum, wozu tut er das? Nun, versteht sich, erstens, damit der Diener Grigorij, der eine Kur vorzunehmen gedenkt, sein Vorhaben aufschiebe und das Haus bewache. Zweitens natürlich zu dem Zweck, damit der Herr, der dann wüßte, daß er nicht bewacht wurde, und aus Angst, der gefürchtete Sohn könnte kommen, sein Mißtrauen und seine Vorsicht verdoppele. Und schließlich – und das ist natürlich der Hauptgrund – damit man ihn, Ssmerdjäkoff, unverzüglich aus seiner Stube neben der Küche, wo er sonst ganz allein schlief, und wohin ein besonderer Eingang führte, in die andere Hälfte, ganz ans andere Ende des Hauses bringe, in Grigorijs und Marfas Zimmer, um dort bei ihnen hinter dem Verschlage hingelegt zu werden, drei Schritt von ihrem Bett, wie das immer geschehen ist, wenn er einen Anfall hatte, sowohl auf Fedor Pawlowitschs Anordnung wie auf Marfa Ignatjewnas Wunsch. Und dann höchstwahrscheinlich deswegen, damit er dort hinter dem Bretterverschlage in möglichst natürlicher Weise den Kranken spielen, stöhnen, d. h. also sie die ganze Nacht immer wieder aufwecken könne – wie es nach Grigorijs und Marfas Aussagen auch geschehen ist. Und alles das, alles das nur zu dem einen Zweck: um bequemer plötzlich aufstehen und dann den Herrn erschlagen zu können!

Aber, wird man vielleicht einwenden, er hat sich gerade deswegen krank gestellt, damit man ihn, den Kranken, nicht verdächtige, dem Angeklagten aber hat er alles Nähere über das Geld und die Zeichen gesagt, um diesen zu verlocken, hinzugehen und totzuschlagen, um dann, sehen Sie mal, wenn jener schon totgeschlagen hat – und mit dem Gelde fortgegangen ist – höchstwahrscheinlich nach einigem Spektakel und Gepolter, das womöglich noch Zeugen herbeirufen könnte – um dann aufzustehen, hinzugehen und – ja was nun noch zu machen? Ganz einfach, um eben noch einmal den Herrn totzuschlagen und das schon fortgetragene Geld nochmals fortzutragen. Meine Herren, Sie lachen? Ich muß gestehen, daß ich mich schäme, solche Voraussetzungen machen zu müssen, indessen ist es gerade das, was der Angeklagte behauptet: ‚Nach mir, als ich aus dem Hause schon hinausgegangen war, Grigorij niedergeschlagen und viel Lärm gemacht hatte, ist er hingegangen und hat den Mord wie den Raub ausgeführt.‘ Hierauf läßt sich natürlich vieles erwidern. Schon allein die eine Frage, auf die ich weiter nicht eingehen will, wie Ssmerdjäkoff gleichsam an den Fingern hätte voraus berechnen und somit vorauswissen können, daß der gereizte und zum Äußersten gebrachte Sohn einzig und allein zu dem Zweck in den Garten kommen würde, um ehrfürchtig durch das Fenster ins Zimmer zu blicken, und (obgleich er die Zeichen in der Hand hat!) sehr sittsam sich wieder zurückzuziehen, und um ihm, dem Diener Ssmerdjäkoff, seine Beute zu überlassen! Meine Herren Geschworenen, ich stelle jetzt nachdrücklich die Frage: Wann war der Augenblick, in dem Ssmerdjäkoff das Verbrechen beging? Geben Sie mir diesen Augenblick an, denn ohne diese Angabe kann man ihn nicht beschuldigen.

Vielleicht aber war der Anfall echt? Der Kranke wachte plötzlich auf, hörte einen Schrei, ging hinaus – nun, und was weiter? Er sah sich um und sagte sich: Ach was, ich werde mal hingehen und den Herrn erschlagen! Woher aber konnte er wissen, was inzwischen geschehen war, er hatte doch bis dahin bewußtlos im Bett gelegen? Ich glaube, meine Herren, daß es auch für Phantasien eine Grenze gibt.

‚Ja, aber,‘ werden scharfsinnige Leute sagen, ‚wenn nun beide im Einverständnis waren, wenn beide den Mord gemeinsam begangen und das Geld geteilt haben, nun, was dann?‘

Ja, das ist allerdings eine wichtige Frage, und – die Hauptsache! – wir haben sofort schwerwiegende Verdachtsgründe, die darauf hinzuweisen scheinen. Der eine erschlägt und nimmt alle Mühen auf sich, der andere aber, der Helfershelfer, liegt auf der Seite und spielt einen epileptischen Anfall vor – um vorher in allen Argwohn zu erwecken, Argwohn im Herrn und Argwohn in Grigorij. Es wäre ungemein interessant zu erfahren, aus welchen Gründen beide Spießgesellen sich einen so verrückten Plan ausgedacht hätten. Doch vielleicht war es durchaus keine aktive Mitwirkung von seiten Ssmerdjäkoffs, sondern sozusagen nur eine passive, duldende: vielleicht hatte der eingeschüchterte Ssmerdjäkoff nur eingewilligt, nichts zu tun, um den Mord zu verhindern. Und so hat er denn, in der Voraussicht, daß man ihn schon allein deswegen bestrafen würde, daß er nicht angegeben, nicht geschrien, sich dem Morde nicht widersetzt hat, von Dmitrij Karamasoff im voraus die Erlaubnis ausgebeten, während dieser ganzen Zeit anscheinend in einem epileptischen Anfall liegen zu dürfen –: ‚Du morde dann soviel du willst, ich bleibe aus dem Spiel.‘ In diesem Falle hätte aber Dmitrij Karamasoff sich doch sagen müssen, daß ein solcher Anfall Ssmerdjäkoffs im Hause eine gewisse Unruhe, Unsicherheit und folglich größere Vorsicht veranlassen werde, und so wäre er denn selbstverständlich auf eine derartige Abmachung nicht eingegangen. Doch nehmen wir selbst an, daß er darauf eingegangen ist. Dann aber käme es doch wieder darauf hinaus, daß Dmitrij Karamasoff der Mörder, der direkte Mörder und Anstifter ist, Ssmerdjäkoff dagegen nur ein passiver Teilnehmer und selbst nicht einmal das, sondern nur ein Hehler, der den Mord aus Angst und wider Willen zugelassen hat. Diesen Unterschied hätte doch das Gericht ohne weiteres eingesehen. Was aber sehen wir? Kaum ist der Angeklagte verhaftet, so wälzt er schon die ganze Schuld auf Ssmerdjäkoff, auf ihn allein. Nicht der Teilhaberschaft mit sich beschuldigt er ihn, sondern ihn allein beschuldigt er: ‚Er hat es allein getan, er hat gemordet und geraubt, seiner Hände Tat ist es!‘ Was sind das nun für Spießgesellen, von denen der eine sofort den anderen hineinlegen will? So etwas ist doch noch nie dagewesen! Und dabei nicht zu vergessen, was für ein Risiko das für Karamasoff gewesen wäre: er ist der Hauptmörder, jener aber nicht, jener ist nur der Hehler, der während der Tat hinter dem Bretterverschlage krank im Bett gelegen hat. Und nun will der Mörder alles auf den Hehler abwälzen! Da müßte er sich doch sagen, daß der andere sich ärgern und schon allein um der Selbsterhaltung willen gar bald die ganze Wahrheit aufdecken könnte. ‚Wir haben es zusammen getan, nur habe nicht ich erschlagen, sondern er, ich habe nur aus Angst den Mord zugelassen.‘ Ssmerdjäkoff hätte sich dann doch sagen müssen, daß das Gericht den Unterschied zwischen dieser und jener Schuld sehr wohl einsehen und folglich auch einen Unterschied in der Strafe machen werde; daß man ihn zwar gleichfalls verurteilen werde, aber immerhin zu einer unvergleichlich geringeren Strafe als den Hauptmörder, der alles auf ihn allein abwälzen will. In diesem Falle hätte also Ssmerdjäkoff unwillkürlich seine geringere Schuld eingestanden und folglich auch den Haupttäter angegeben. Das aber ist nicht geschehen. Ssmerdjäkoff hat nicht die leiseste Andeutung gemacht, die auf eine derartige Abmachung schließen ließe, ungeachtet dessen, daß der Mörder immer wieder hartnäckig ihn allein beschuldigt und auf ihn als den einzigen Mörder hingewiesen hat. Ja, Ssmerdjäkoff hat beim Verhör selbst angegeben, daß er, Ssmerdjäkoff, er selbst dem Angeklagten von dem Gelde und den Zeichen Mitteilung gemacht hat, und jener ohne ihn nichts von alledem erfahren hätte. Wäre er nun wirklich sein Helfershelfer und schuldig gewesen, hätte er dann gleichfalls so offen gesagt, daß er so etwas dem Angeklagten mitgeteilt hat? Im Gegenteil, er hätte vieles zu verschweigen und die Tatsachen zu entstellen gesucht. Er aber hat nichts entstellt, nichts verheimlicht. So kann nur ein Unschuldiger handeln, der nicht zu fürchten braucht, daß man ihn der Teilhaberschaft beschuldigen könnte. Nun hat er sich gestern, wohl in einem Augenblick krankhafter Melancholie, wahrscheinlich infolge seiner starken Anfälle und dieser ganzen Katastrophe – nun hat er sich gestern Nacht erhängt. Das einzige, was er hinterlassen hat, ist ein Zettel mit den kurzen Worten in seinem eigenartigen Stil: ‚Ich vertilge mich aus eigenem Wunsch und Willen, um alsomit niemanden zu beschuldigen.‘ Nun, was hätte es ihm in dem Augenblick ausgemacht, noch hinzuzufügen: der Mörder bin ich und nicht Karamasoff? Er aber hat das nicht hinzugefügt. Ist nun glaubwürdig, daß sein Gewissen, das zu dem einen ausgereicht hat, zu dem anderen nicht ausreichte?

Und weiter: plötzlich wird hierher in diesen Saal Geld gebracht, eine Summe von genau dreitausend Rubel. ‚Das sind dieselben Dreitausend, die in jenem Kuvert, das dort auf dem Tische bei den Sachbeweisen liegt, von Fedor Pawlowitsch geraubt worden sind, ich habe sie gestern von Ssmerdjäkoff erhalten.‘ Sie, meine Herren Geschworenen, Sie erinnern sich wohl noch des betrübenden Bildes von vorhin. Ich werde die Einzelheiten hier nicht wieder auffrischen, ich erlaube mir nur ein paar Einwendungen gegen seine Behauptung zu machen, nur ein paar unbedeutende – denn diese würden, eben weil sie unbedeutend sind, nicht einem jeden einfallen, und außerdem vergessen sie sich leicht. Nehmen wir zunächst einmal an: Ssmerdjäkoff hat gestern, von Gewissensbissen gequält, das Geld herausgegeben und sich darauf erhängt. (Denn ohne Gewissensbisse hätte er das Geld nicht herausgegeben.) Selbstverständlich hat er erst gestern Abend Iwan Karamasoff zum erstenmal seine Schuld eingestanden, wie dieser ja auch vorhin selbst erklärte. Warum hätte er anderenfalls bis jetzt darüber geschwiegen? Also Ssmerdjäkoff hat eingestanden – warum aber hat er denn auf dem hinterlassenen Zettel uns nicht die ganze Wahrheit enthüllt, da er doch wußte, daß am nächsten Tage der unschuldig Angeklagte vielleicht verurteilt werden würde? Dieses Geld allein ist doch noch kein Beweis. Mir und noch zwei anderen Personen hier in diesem Saal ist zum Beispiel ganz zufällig vor einer Woche eine gewisse Tatsache bekannt geworden, nämlich, daß Iwan Fedorowitsch Karamasoff zwei fünfprozentige Bankbillette, jedes von fünftausend Rubel, zusammen folglich zehntausend Rubel, in die Gouvernementsstadt geschickt hat, um sie dort einwechseln zu lassen. Ich führe das nur an, um damit zu sagen, daß ein jeder sich Geld zu einem bestimmten Tage verschaffen kann, und daß man, wenn man genau dreitausend Rubel herbringt, damit noch nicht ausschlaggebend beweist, daß dieses Geld dasselbe Geld ist, das einmal in dem und dem Kasten oder Kuvert gelegen hat. Und dann, wie denn das – Iwan Karamasoff bleibt, nachdem er eine so wichtige Nachricht von dem wirklichen Mörder erhalten hat, ruhig zu Haus? Warum hat er es in dem Falle nicht unverzüglich mitgeteilt? Warum hat er alles bis auf den nächsten Tag hinausgeschoben? Ich glaube mich berechtigt, meine Vermutung über diese Frage auszusprechen: schon vor einer Woche hat er ihm Nahestehenden und auch dem Doktor gestanden, daß er Visionen sehe, daß er Gestorbenen zu begegnen glaube – kurz, am Vorabend des Ausbruchs der Krankheit, wahrscheinlich des Wahnsinns, erfährt er plötzlich den Tod Ssmerdjäkoffs, und er denkt sich sofort folgendes: ‚Der Mann ist jetzt tot, da kann man die Schuld auf ihn schieben, und auf diese Weise werde ich den Bruder retten. Geld aber habe ich selbst genug: ich werde davon Dreitausend nehmen und sagen, daß Ssmerdjäkoff sie mir vor dem Tode übergeben habe.‘ Sie werden sagen, es sei unehrenhaft, auch nur gegen einen Toten falsch auszusagen, es sei unehrenhaft, zu lügen, und wenn es auch zur Rettung des Bruders geschehe und sei folglich von Iwan Fedorowitsch nicht anzunehmen. Schön. Wie aber, wenn er unbewußt gelogen hat, wenn er selbst glaubt, daß es so gewesen ist, gerade nachdem er durch die Nachricht von dem Tode jenes Dieners in seinem Verstande endgültig gestört worden war? Sie haben ja die Szene vorhin gesehen, Sie haben gesehen, in welchem Zustande dieser Mensch sich befand. Wohl stand er aufrecht da und sprach, wo aber war sein Verstand? Und gleich nach dieser Aussage des irre Redenden folgte die Vorweisung des Dokuments, des Briefes, den der Angeklagte an Fräulein Werchoffzeff zwei Tage vor dem Morde geschrieben hat, mit einem so ausführlichen Programm des Verbrechens. Wozu suchen wir nun noch nach einem anderen Programm und anderen Verfassern? Die Tat ist ja Wort für Wort nach diesem Programm geschehen, und zwar hat sie kein anderer ausgeführt als einzig und allein der Verfasser desselben. Ja, meine Herren Geschworenen, ‚es ist geschehen, wie es dort geschrieben steht!‘ Nein, er ist nicht ehrerbietig und ängstlich von dem Fenster fortgelaufen, und dazu noch in der festen Überzeugung, daß die Geliebte dort bei ihm ist! Nein, das widerspricht jeder Wahrscheinlichkeit, das ist absurd. Er ist eingedrungen und hat der Sache ein Ende gemacht. Wahrscheinlich hat er in der Gereiztheit erschlagen, in auflodernder Wut, sobald er den Gegenstand seines Hasses, seinen Nebenbuhler erblickte. Und nachdem er ihn erschlagen hatte, was vielleicht mit einem einzigen Hieb seiner Hand, seiner mit der Mörserkeule bewaffneten Hand geschehen sein kann, und nachdem er sich dann nach einer genauen Untersuchung überzeugt hatte, daß sie nicht im Hause war, hat er natürlich nicht vergessen, die Hand unter das Kissen zu schieben und das Geld hervorzuziehen, dessen Umschlag jetzt hier unter den Sachbeweisstücken auf dem Tisch liegt. Ich sage das nur, um Sie auf einen, meiner Ansicht nach äußerst charakteristischen Umstand aufmerksam zu machen. Wäre der Täter ein geübter Mörder gewesen oder einer, der nur um des Geldes willen erschlagen hätte, – würde der dann das Kuvert so auf dem Fußboden liegen gelassen haben, so unbesonnen, so auffallend ein paar Schritt von der Leiche, wo es später gefunden wurde? Wenn nun Ssmerdjäkoff der Mörder um des Geldes willen gewesen wäre, – so hätte er doch das ganze Paket mitgenommen und fortgebracht und sich nicht zuerst noch die Mühe gegeben, das Paket neben der Leiche seines Opfers zu entsiegeln, da er ja genau wußte, daß gerade in diesem Kuvert das Geld war – hatte doch Fedor Pawlowitsch in seiner Gegenwart das Geld hineingeschoben und das Kuvert versiegelt. Hätte er aber das Paket mit dem Kuvert fortgebracht, so würde doch jetzt niemand sagen können, ob ein Raub stattgefunden habe oder nicht? Ich frage Sie, meine Herren Geschworenen, hätte Ssmerdjäkoff das Kuvert auf dem Fußboden liegen gelassen? Nein, so konnte nur ein Mörder handeln, der übermäßig aufgeregt war und daher nicht mehr überlegte, ein Mörder, der kein Dieb war, der bis dahin noch niemals gestohlen hatte, und der auch dieses Geld nicht wie ein Dieb ‚stiehlt‘, sondern wie einer, der sein Eigentum, das von ihm gestohlen worden ist, dem Diebe wieder abnimmt, – denn das war die Auffassung, die Dmitrij Karamasoff von diesen Dreitausend hatte, und die bei ihm zur ‚fixen Idee‘ geworden war. Und nun, nachdem er das Paket gefunden hat, das er früher nie gesehen, reißt er sofort den Umschlag auf, um sich zu vergewissern, sich zu überzeugen, ob auch wirklich das Geld darin ist, und dann läuft er, mit dem Gelde in der Tasche, aus dem Hause, ohne auch nur daran zu denken, daß er das Kuvert dort liegen gelassen hat, das verhängnisvollste Beweisstück gegen sich. Und das nur deshalb, weil Karamasoff – und nicht Ssmerdjäkoff – nicht mehr nachdenken, nicht mehr überlegen konnte! Wie sollte er das auch? Er läuft fort, er hört den Schrei des ihm nachlaufenden Dieners, der Diener erfaßt ihn, hält ihn fest und – fällt nieder, getroffen von der messingnen Mörserkeule. Der Angeklagte springt vom Zaun ‚aus Mitleid‘ zu ihm herab. Stellen Sie sich das vor, meine Herren, er versichert uns plötzlich, daß er damals aus Mitleid herabgesprungen sei, um nachzusehen, ob er ihm nicht helfen könne. Nun frage ich Sie, war der Augenblick etwa danach beschaffen, daß ein solches Mitleid wahrscheinlich ist? Nein, er sprang nur zu dem einen Zweck herab: um sich zu überzeugen, ob der einzige Zeuge seines Verbrechens tot ist oder noch lebt. Jedes andere Gefühl, jeder andere Beweggrund wäre unnatürlich! Und beachten Sie es wohl: er müht sich ernstlich um Grigorij, er wischt ihm das Blut ab, und nachdem er sich von dessen Leblosigkeit überzeugt zu haben glaubt, läuft er, ganz mit Blut besudelt, wie sinnlos wieder in das Haus des geliebten Weibes. Wie, hat er denn nicht daran gedacht, daß er blutig war und man ihn sofort verhaften könnte? Aber der Angeklagte versichert uns selbst, daß er das Blut überhaupt nicht bemerkt oder wenigstens nicht weiter beachtet habe. Und das ist sehr glaubwürdig, das ist sogar sehr möglich, denn so pflegt es ja meistens in solchen Augenblicken mit Verbrechern zu sein. In dem einen – höllische Berechnung, im anderen – überhaupt keine Überlegungskraft. Er aber dachte in jenem Augenblick nur an eines: wo war sie? Das mußte er so schnell wie möglich erfahren, und so läuft er denn wieder in ihre Wohnung und erfährt dort die unerwartetste, niederschmetternde Nachricht: sie ist nach Mokroje zu ihrem ‚Früheren, Alleinberechtigten‘ gefahren!“

IX.
Der Schluß der Rede des Staatsanwalts. Der Gipfel der Psychologie. Die jagende Troika

Hippolyt Kirillowitsch hatte augenscheinlich eine bestimmte aufbauende Methode der Auslegung gewählt, wie das ja schließlich alle nervösen Redner zu tun pflegen, die absichtlich einen streng abgezirkelten Rahmen suchen, um sich nicht zu früh hinreißen zu lassen. Hippolyt Kirillowitsch kam also nun auf den „Früheren und Alleinberechtigten“ zu sprechen, was er sehr ausführlich tat, und bei welcher Gelegenheit er noch einige in ihrer Art recht interessante Gedanken aussprach. „Dmitrij Karamasoff,“ fuhr der Staatsanwalt fort, „der auf jeden bis zur Raserei eifersüchtig gewesen war, ergibt sich vor dem ‚Früheren und Alleinberechtigten‘ widerspruchslos und fast in einem Augenblick seinem Schicksal. Das ist um so sonderbarer, als er früher dieser neuen Gefahr, die ihm in der Gestalt des unerwarteten Rivalen drohte, fast überhaupt keine Beachtung geschenkt hat. Er hatte immer geglaubt, daß es bis dahin noch weit sei, so weit ... Karamasoff aber lebt nur im Augenblick, in der Gegenwart. Wahrscheinlich hielt er ihn sogar für eine Fiktion. Nachdem er aber mit seinem kranken Herzen in einem Nu begriffen hatte, daß die Geliebte vielleicht gerade deswegen diesen neuen Rivalen verheimlicht, deswegen auch ihn noch vor ein paar Stunden betrogen hat, weil dieser neuaufgetauchte Gegner nichts weniger als Phantasie und Fiktion, sondern für sie alles war, alles, ihre ganze Lebenshoffnung – nachdem er das im Augenblick begriffen hatte, ergab er sich. Meine Herren Geschworenen, dieses in der Seele des Angeklagten plötzlich hervortretende Gefühl kann ich nicht mit Stillschweigen übergehen ... Man sollte meinen, daß er unter keinen Umständen dazu fähig gewesen wäre: doch da machte es sich plötzlich geltend in dem unabweisbaren Bedürfnis nach Wahrheit, in der Achtung vor der Frau, in der Anerkennung der Rechte ihres Herzens. Und das wann? – Im Augenblick, da er um ihretwillen seine Hände mit dem Blute seines Vaters befleckt hatte! Wahr ist ja auch wieder, daß das vergossene Blut in diesem Augenblick schon nach Rache schrie, denn er, der seine Seele und sein ganzes Erdenleben in jenem Augenblick bereits ins Unglück gestürzt hatte, er mußte sich doch in jenem Augenblick unwillkürlich fragen, was er jetzt war, was er jetzt noch für sie bedeuten konnte – für sie, die er mehr als seine Seele liebt –, im Vergleich zu jenem Früheren, der reuevoll zu diesem Weibe, das von ihm einmal zugrunde gerichtet worden war, mit neuer Liebe, ehrenhaften Anträgen und dem Gelöbnis, ein neues und nun glückliches Leben zu beginnen, zurückgekehrt war. Er aber, der Unglückliche, was konnte er ihr jetzt geben, was ihr noch anbieten? Karamasoff begriff alles in einem Augenblick, er begriff, daß sein Verbrechen ihm alle Wege versperrt hatte, und daß er jetzt ein so gut wie zum Tode verurteilter Verbrecher war, nicht aber ein Mensch, der noch ein Leben vor sich hat! Dieser Gedanke hat ihn sofort niedergedrückt und vernichtet. Und so bleibt er denn sofort auf einem verzweifelten Plane stehen, der ihm bei seinem Karamasoffschen Charakter nicht anders denn als einziger und fataler Ausweg aus seiner schrecklichen Lage erscheinen kann. Dieser Ausweg ist: der Selbstmord. Er läuft nach seinen Pistolen, die er beim Beamten Perchotin versetzt hat, und zu gleicher Zeit reißt er unterwegs, beim Laufen, sein ganzes Geld, um dessentwillen er seine Hände in Blut getaucht hat, aus der Tasche heraus. Oh, Geld braucht er jetzt mehr als alles andere: Karamasoff stirbt, Karamasoff erschießt sich, und das soll man behalten! Nicht umsonst sind wir eine poetische Natur, nicht umsonst haben wir unser Leben verlebt, als wäre es ein Licht, das man von beiden Enden zugleich brennen lassen kann. ‚Zu ihr, zu ihr – und dort, oh! dort werde ich ein Fest geben, ein Fest über die ganze Erde hin, wie es noch keines gegeben hat, damit man es behalte und sich noch lange davon erzähle. Mitten im wilden Geschrei, bei irrsinnigen Zigeunerliedern und -tänzen will ich auf ihr Wohl den Becher erheben, will ich das Wohl des vergötterten Weibes ausbringen, einen Glückwunsch zu ihrem neuen Glück, und dann – dann falle ich vor ihr nieder und zerschmettere mir vor ihren Füßen den Schädel und richte mich hin für mein Leben! Dann wird sie zuweilen an Mitjä Karamasoff denken, dann wird sie sehen, wie Mitjä sie geliebt hat, oh! und leid wird es ihr um Mitjä tun!‘ Darin liegt viel Dramatik, viel romantische Begeisterung, viel wilde Karamasoffsche Zügellosigkeit und viel Karamasoffscher Gefühlstaumel – und dann noch etwas anderes, meine Herren Geschworenen, noch etwas, das in der Seele schreit, das unermüdlich im Gehirne klopft und sein Herz tödlich vergiftet. Dieses etwas – das ist das Gewissen, meine Herren Geschworenen, das ist das Gericht des Gewissens, das ist des Gewissens unablässiges Nagen! Doch die Pistole wird alles aussöhnen, die Pistole ist der einzige Ausweg, einen anderen gibt es nicht! Dort aber ... Ich weiß nicht, ob Karamasoff in jenem Augenblick auch daran gedacht hat, ‚was dort sein wird‘, und ob Karamasoff überhaupt wie Hamlet darüber nachdenken kann? Nein, meine Herren Geschworenen, dort gibt es Hamlets, bei uns aber vorläufig noch Karamasoffs!“

Hierauf rollte Hippolyt Kirillowitsch bis in alle Einzelheiten das Bild der von Mitjä getroffenen Anstalten auf, die Szene bei Perchotin, dann bei Plotnikoffs in der Kolonialwarenhandlung und später mit Andrei. Hippolyt Kirillowitsch führte eine Menge Worte, Aussprüche, Gesten an, die alle von Zeugen bestätigt worden waren – und das Bild wirkte unglaublich auf die Überzeugung der Hörer. Am meisten wirkte die Geschlossenheit der Tatsachen. Die Schuld dieses fast besinnungslos hastenden, sich überhaupt nicht mehr in acht nehmenden Menschen trat so deutlich hervor, daß jeder Zweifel vollkommen ausgeschlossen schien. „Wozu sollte er sich auch noch in acht nehmen,“ fragte Hippolyt Kirillowitsch, „zwei- oder dreimal hat er ja seine Schuld beinahe schon ganz eingestanden, hat sie jedenfalls angedeutet, nur ohne dabei die Sätze zu Ende zu sprechen.“ (Hier folgten die Aussagen der Zeugen.) „Und dem Andrei, der ihn nach Mokroje fuhr, hat er unterwegs sogar zugerufen: ‚Weißt du auch, daß du einen Mörder fährst!‘ Ganz aussprechen konnte er sich aber doch nicht: zuerst mußte man noch nach Mokroje kommen, und dort erst konnte das Poem beendet werden. Was aber erwartet dort den Unglücklichen? Fast von dem ersten Augenblicke an sieht er und begreift er schließlich vollkommen, daß sein ‚unbestrittener‘ Nebenbuhler durchaus nicht mehr so fest im Sattel sitzt, und daß man von ihm einen Glückwunsch zu dem neuen Glück überhaupt nicht wünscht. Aber Sie kennen ja die Tatsachen aus der gerichtlichen Untersuchung. Der Triumph Karamasoffs über seinen Rivalen wird immer augenscheinlicher, wird unzweifelhaft, und da – oh, da erhebt sich in seiner Seele eine ganz neue Qual, und zwar die allerschrecklichste von allen, die seine Seele je durchlebt hat und jemals durchleben wird! Man kann in diesem Falle wahrlich sagen, meine Herren Geschworenen,“ rief Hippolyt Kirillowitsch aus, „daß die beschimpfte Natur und das verbrecherische Herz – vollständigere Rache geübt haben, als jedes andere irdische Gericht sie üben könnte! Und nicht nur das: das Gericht und die irdische Strafe erleichtern sogar die Strafe der Natur, sie sind für die Seele des Verbrechers eine Linderung, sie sind ihr unentbehrlich: sie sind die einzige Rettung vor der Verzweiflung. Ich kann mir das Entsetzen und die seelischen Leiden Karamasoffs nicht einmal vorstellen, die er durchlebt hat, als er sehen und begreifen mußte, daß sie ihn liebt, daß sie seinetwegen ihren ‚Früheren und Alleinberechtigten‘ zurückweist, daß sie ihn, ihn, ‚Mitjä‘, zu sich ruft, und mit ihm ein erneutes Leben beginnen will, daß sie ihm das ganze Erdenglück zeigt – und zwar wann? In einem Augenblick, da für ihn schon alles beendet und nichts mehr möglich ist! Bei der Gelegenheit will ich hier eine für uns sehr wichtige Bemerkung zur Erklärung des wahren Wesens der damaligen Lage des Angeklagten machen. Dieses Weib, diese Geliebte war bis zu diesem letzten Augenblick, bis zu diesem Augenblick der Verhaftung ein für ihn unerreichbares Glück gewesen, ein leidenschaftlich gewünschtes und ersehntes, doch unerreichbares Wesen. Aber warum, warum erschießt er sich nicht sofort, warum schiebt er die Ausführung seiner Absicht hinaus, warum vergißt er sogar, wo seine Pistole liegt? Weil ihn sein leidenschaftlicher Liebesdurst und die Hoffnung, ihn schon dort, dort schon stillen zu können, noch zurückhalten. Im Lärm des Festes sieht er nur seine Geliebte, die gleichfalls mit ihm trinkt, die ihm schöner und verführerischer denn je erscheint, – er geht keinen Schritt von ihr fort, er kann sich nicht sattsehen an ihr, er vergeht vor ihr. Dieser leidenschaftliche Durst konnte für eine Weile nicht nur die Angst vor der Verhaftung, sondern selbst die Gewissensbisse verscheuchen! Nur für eine Weile, oh, nur für einen Augenblick! Ich stelle mir den damaligen Seelenzustand des Verbrechers in der zweifellos sklavischen Unterordnung unter drei Elemente vor. Erstens: sein trunkener Zustand, das Toben und der Lärm, das Gestampfe des Tanzes, der Gesang der Lieder, und sie, sie, die vom Weine gerötet ist, die gleichfalls singt und tanzt, die trunken ist und ihm zulächelt! Zweitens: der entfernte ermutigende Gedanke daran, daß die Schicksalsentscheidung noch weit, weit vor ihm liegt, oder wenigstens nicht gerade ganz nahe ist – höchstens am anderen Tage, erst am nächsten Morgen könnte man kommen und ihn festnehmen. Folglich bleiben einem immer noch ein paar Stunden bis dahin, das aber ist viel, unglaublich viel! In ein paar Stunden kann man sich vieles ausdenken. Ich nehme an, daß es ihm ebenso erging, wie es einem Verbrecher ergeht, der zum Schafott oder zum Galgen geführt wird: noch hat er eine lange, lange Straße zu durchfahren, und das noch dazu im Schritt, an den Tausenden des gaffenden Volkes vorüber, darauf wird man in eine andere Straße einbiegen, und erst am Ende dieser anderen Straße liegt der furchtbare Platz! Ich glaube, dem auf dem Schinderkarren sitzenden Verurteilten muß zu Anfang seiner Fahrt zum Richtplatz unbedingt scheinen, daß noch ein unendlich langes Leben vor ihm liegt. Aber siehe da, die Häuser gehen zurück, der Karren zieht an ihnen vorüber – aber das hat noch nichts zu sagen, oh, bis zur Wegbiegung ist es ja noch so weit, er blickt immer noch ganz munter nach rechts und nach links und auf das teilnahmslos neugierige Volk, das mit den Blicken starr an ihm hängt, und es scheint ihm immer noch, daß er ebenso ein Mensch ist wie diese anderen. Da aber kommt schon die Biegung in die andere Straße, oh! das hat noch nichts, nichts zu sagen, es liegt noch eine ganze Straße vor einem. Und wieviel Häuser auch schon zurückbleiben mögen, er wird immer noch denken: ‚Es sind ja immer noch viele Häuser vor mir.‘ Und so geht es weiter bis zum Schluß, bis zum Platz. So ist es auch mit Karamasoff gewesen, denke ich. ‚Noch hat man dort zu nichts Zeit gehabt, und Mokroje ist immerhin nicht so nah, noch wird man sich etwas ausdenken können, oh, noch habe ich Zeit genug, um mir einen Verteidigungsplan auszudenken, um zu überlegen, wie ich mich da herausziehen soll, jetzt aber, jetzt – oh, wie wunderschön sie jetzt ist!‘ Dunkel und unheimlich ist es in seiner Seele, aber es gelingt ihm doch noch, die Hälfte von seinem Gelde irgendwo zu verstecken – anders kann ich mir nicht erklären, wo die übrigen Tausendfünfhundert von den Dreitausend, die er vom Vater unter dem Kissen genommen hat, geblieben sind. Er ist ja nicht zum erstenmal in Mokroje, er hat dort einmal schon zwei Tage lang gepraßt. Das alte große hölzerne Haus ist ihm gut bekannt, er kennt alle Galerien, alle Scheunen und Schuppen. Ich bin nämlich überzeugt, daß die eine Hälfte des Geldes damals irgendwo untergebracht worden ist, und zwar gerade in diesem Hause, kurz vor der Verhaftung, und wahrscheinlich in einer Spalte, in einer Ritze, unter irgendeinem verfaulten Balken, in einer Ecke vielleicht oder gar unter dem Dach. Wozu, fragen Sie? Wie, wozu? Die Katastrophe kann jeden Augenblick hereinbrechen, sofort! Wir haben es uns zwar noch nicht überlegt, wie wir ihr entgegentreten sollen, und wir haben ja auch noch keine Zeit dazu, und es klopft in unserem Hirn, und zu ihr, zu ihr zieht es uns! Nun, das Geld aber – Geld kann man in jeder Lage brauchen. Ein Mensch mit Geld ist überall ein Mensch. Vielleicht scheint Ihnen eine solche Überlegungskraft in einem solchen Augenblick unnatürlich? Aber er selbst beteuert doch, daß er vor einem Monat in einem ebenso aufregenden und schicksalsschweren Augenblick von Dreitausend die Hälfte abgezählt und in ein Stück Zeug eingenäht habe, und wenn das auch nicht wahr ist, was wir sogleich beweisen werden, so ist diese Idee doch Karamasoff bekannt, und folglich hat er sie irgend einmal schon erwogen. Und als er später dem Untersuchungsrichter versicherte, daß er vor einem Monat anderthalb Tausend in das Säckchen (das niemals existiert hat), eingenäht habe, da hatte er sich diese Geschichte vom Säckchen vielleicht erst im selben Augenblick ausgedacht, und vielleicht gerade darum, weil ihm zwei Stunden vorher bei der Abteilung der Hälfte des Geldes derselbe Gedanke gekommen war, er aber infolge einer glücklichen Eingebung dann doch vorgezogen hatte, das Geld dort irgendwo im Hause zu verstecken, wenigstens bis zum Morgen, als es bei sich zu behalten. Zwei Abgründe, meine Herren Geschworenen! Sie erinnern sich doch noch, daß Karamasoff beide Abgründe zu erfassen vermag, und beide zu gleicher Zeit! Wir haben in jenem Hause überall nach dem Gelde gesucht, aber wir haben nichts gefunden. Vielleicht ist das Geld auch jetzt noch dort, vielleicht ist es schon am Tage nach der Verhaftung verschwunden und befindet sich noch jetzt irgendwie im Besitze des Angeklagten. Jedenfalls ist er neben ihr verhaftet worden, vor ihr kniend: sie lag auf dem Bett, er hatte zu ihr seine Hände emporgestreckt und hatte in jenem Augenblick dermaßen alles andere vergessen, daß er nicht einmal die Ankunft der Obrigkeit und ihren Eintritt ins Zimmer hörte. Er hatte noch nichts zur Antwort vorbereitet. Er wurde sozusagen in seinem eigenen Bewußtsein völlig überrascht.

„Und da steht er nun vor seinen Richtern, die über sein Leben zu entscheiden haben. Meine Herren Geschworenen, es gibt Augenblicke, in denen uns bei unserer Pflicht fast Grauen packt vor Mitleid mit dem Menschen. Furchtbar ist es uns vor dem Menschen und furchtbar für ihn! Das sind die Augenblicke, in denen einen jenes tierische Entsetzen ansieht – wenn der Verbrecher schon begreift, daß alles für ihn verloren ist, doch trotzdem noch kämpft, trotzdem noch mit seinem Richter bis zur letzten Verzweiflung ringen will. Das sind die Augenblicke, in denen sich alle Instinkte der Selbsterhaltung plötzlich in ihm erheben, und er in seiner Lebensangst uns mit durchbohrendem, flehend-bittendem und leidendem Blick ansieht, wenn er unseren Blick zu erhaschen versucht, wenn er uns, unser Gesicht, unsere Gedanken erforschen, erraten will, wenn er wartet, von welcher Seite wir ihn wohl anfassen werden, und er in seinem erschütterten Gehirn tausend Pläne gebiert, – und doch scheut er sich, zu sprechen, aus Furcht, sich zu ... versprechen! Diese erniedrigendsten Augenblicke für die Seele des Menschen, dieser Gang der Seele durch alle Höllenqualen, dieser Gang durch die Purgatorien, dieser tierische Trieb der Selbstrettung – sind furchtbar anzusehen! Sie erschüttern zuweilen selbst den Richter und rufen in ihm tiefes Mitleid hervor. Dieses ganze Entsetzen haben wir damals gesehen. Ganz zuerst war er wie betäubt, und im Schreck entschlüpften ihm ein paar Worte, die ihn stark kompromittieren: ‚Blut! Ich hab’s verdient!‘ waren seine ersten Worte. Doch er bezwang sich schnell. Was er sagen, was er antworten sollte – alles das wußte er noch nicht, er hatte noch nichts vorbereitet – außer der einen ganz allgemeinen Ableugnung: ‚Am Tode meines Vaters bin ich unschuldig!‘ Das ist vorläufig sein Zaun, dort aber, hinter dem Zaun, werden wir vielleicht noch etwas arrangieren können: irgendeine Barrikade vielleicht! Er beeilt sich, indem er unseren Fragen zuvorkommen will, seinen ersten kompromittierenden Ausrufen einen anderen Sinn unterzuschieben. Er sagt, daß er sich nur an dem Tode Grigorijs schuldig erkläre. ‚An diesem Blute trage ich die Schuld, wer aber hat den Vater erschlagen, meine Herren, wer hat ihn erschlagen? Wer hat das denn tun können, wenn nicht ich?‘ Hören Sie, danach fragt er uns, uns, die mit eben dieser Frage zu ihm gekommen sind! Beachten Sie es, meine Herren, dieses kleine vorauseilende Wort: ‚wenn nicht ich‘, diese tierische Schlauheit in der Naivität, diese Karamasoffsche Ungeduld! Nicht ich habe erschlagen, so etwas darf niemand auch nur zu denken wagen. ‚Ich wollte ihn erschlagen, meine Herren, ich wollte ihn erschlagen‘, gesteht er schnell ein – oh, er beeilt sich, beeilt sich ungeheuer – ‚aber trotzdem bin ich unschuldig, nicht ich habe ihn erschlagen!‘ Er gibt uns also zu, daß er habe erschlagen wollen: Jetzt seht ihr sozusagen selbst, wie aufrichtig ich bin, nun, dafür aber glaubt mir jetzt schneller das andere, daß nicht ich erschlagen habe. Oh, in solchen Fällen kann der Verbrecher zuweilen unglaublich leichtsinnig und leichtgläubig sein. Und nun plötzlich wird an ihn, ganz wie zufällig, treuherzig die Frage gestellt: ‚Aber sollte dann nicht vielleicht Ssmerdjäkoff der Mörder sein?‘ Und es geschah, was wir erwartet hatten: Es ärgerte ihn maßlos, daß man ihm zuvorkam und so plötzlich damit überraschte, während er noch nicht Zeit gehabt hatte, sich vorzubereiten, den Augenblick zu wählen und zu benutzen, wann es am glaubwürdigsten und für ihn folglich am vorteilhaftesten sein werde, mit Ssmerdjäkoff herauszurücken. Seiner Natur gemäß warf er sich sofort aufs äußerste Gegenteil, und er fing an, uns aus allen Kräften davon zu überzeugen, daß Ssmerdjäkoff nicht habe erschlagen können, daß er zu so etwas überhaupt nicht fähig sei. Glauben Sie aber seiner scheinbaren Überzeugung nicht, sie ist nur seine Schlauheit: Er gibt die Idee, Ssmerdjäkoff auszuspielen, noch längst nicht auf. Im Gegenteil, er wird ihn schon ausspielen – denn wen sollte er sonst beschuldigen? – Nur wird er es in einem anderen Augenblick tun, da jetzt die Sache vorläufig verspielt ist. Vielleicht wird er ihn erst am nächsten Tage anbringen, oder vielleicht auch erst nach einer Anzahl Tage, in einem günstigen Augenblick, in dem er uns dann selbst plötzlich zuschreien kann: ‚Sie wissen doch noch, ich selbst habe ja mehr als Sie die Täterschaft Ssmerdjäkoffs abgeleugnet und ihn verteidigt, jetzt aber habe auch ich mich überzeugt, daß er den Mord verübt hat, nur er allein, und wie sollte er es denn nicht getan haben!‘ Vorläufig aber ergeht er sich in finsterer und gereizter Verneinung, die Unduldsamkeit und der Zorn flüstern ihm die ungeschickteste und unwahrscheinlichste Schilderung ein, wie er in das Fenster des Vaters hineingeblickt habe und ehrerbietig wieder fortgegangen sei. Das Wichtigste ist, daß er die ganze Sachlage noch nicht kennt, daß er noch nicht weiß, was der wieder zu sich gekommene Grigorij ausgesagt hat. Wir gehen zur Besichtigung und Durchsuchung über. Die Durchsuchung erzürnt, aber ermutigt ihn auch wieder: Das ganze Geld hat man doch nicht gefunden, sondern nur tausendfünfhundert Rubel. Und selbstverständlich kommt ihm erst in diesem Augenblick zornigen Schweigens zum erstenmal im Leben die Idee von dem früher eingenähten Gelde. Zweifellos fühlt er selbst die ganze Unwahrscheinlichkeit seiner Erfindung und quält sich, quält sich entsetzlich, indem er nachdenkt, wie er sie wahrscheinlicher machen könnte, ob sich die Sache nicht so erklären ließe, daß ein ganz glaubhafter Roman daraus entstehe. In solchen Fällen ist aber die erste Bedingung, daß man den Verbrecher überrumpelt, daß man ihn ganz unverhofft fängt, damit er seine vielversprechenden geheimen Pläne in der ganzen, sie bloßstellenden Offenherzigkeit darlegt, damit ihre Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten noch auffallender hervortreten. Zum Sprechen kann man den Verbrecher nur durch eines zwingen: Durch die plötzliche und anscheinend unbeabsichtigte Mitteilung irgendeiner neuen Tatsache, irgendeines besonderen Umstandes, dessen Bedeutung erdrückend ist, den er aber bis dahin noch gar nicht geahnt und auch überhaupt nicht vorausgesetzt hat. Eine solche Tatsache hatten wir schon in Bereitschaft, schon lange in Bereitschaft: Das war die Aussage des Dieners Grigorij in betreff der offenen Tür, durch die der Angeklagte aus dem Hause hinausgelaufen ist. Diese Tür hatte er ganz vergessen, und daß Grigorij sie gesehen haben könnte, daran hatte er nicht einmal gedacht. Der Effekt war denn auch danach: Er sprang plötzlich auf und schrie: ‚Ssmerdjäkoff ist es, Ssmerdjäkoff hat es getan!‘ und sofort kommt er mit seinem geheimen Entwurf heraus, und er gibt ihn in der aller unwahrscheinlichsten Form zum besten, denn Ssmerdjäkoff hätte den Alten doch nur dann erschlagen können, nachdem der Angeklagte Grigorij niedergeschlagen hatte und fortgelaufen war. Als wir ihm aber nun mitteilten, daß Grigorij die offene Tür zuvor gesehen, und beim Hinaustreten aus seinem Schlafzimmer Ssmerdjäkoff hinter dem Bretterverschlage stöhnen gehört habe – da war Karamasoff wie zerschmettert. Mein Kollege, unser ehrenwerter, scharfsinniger Nikolai Parfenowitsch, hat mir später eingestanden, daß er ihn in jenem Augenblick bis zu Tränen bemitleidet habe. Und in diesem Augenblick nun entschließt er sich, um die Sache wieder gutzumachen: erzählt uns von dem berühmten Säckchen, in das er das Geld eingenäht, und das er am Halse auf der Brust getragen haben will –: ‚So mag es denn sein, so hören Sie denn auch das!‘ Meine Herren Geschworenen, ich habe Ihnen schon gesagt, warum ich diese Erfindung von dem vor einem Monat eingenähten Gelde nicht nur für eine Anekdote, sondern für die allerunwahrscheinlichste Dichtung, die man sich im gegebenen Fall nur denken kann, halte. Ja, selbst wenn man einen Wettbewerb veranstalten wollte, in diesem Fall etwas noch Unwahrscheinlicheres sich auszudenken, so würde man gewiß nichts finden, was jene Erklärung in der Beziehung noch übertrumpfte. In einem solchen Falle kann man den triumphierenden Romantiker vor allem mittels der Details schlagen, mittels jener selben Einzelheiten, an denen die Wirklichkeit stets so reich ist, die aber von diesen unglücklichen und unfreiwilligen Dichtern, eben als völlig bedeutungslose und unnötige Kleinigkeiten, überhaupt nicht beachtet werden. Oh, in einem solchen Augenblick ist es ihnen nicht um die kleinen Einzelheiten zu tun! Ihr Verstand schafft ein grandioses Ganzes, – und da wagt man es, ihnen mit solchem Kleinzeug zu kommen! Aber gerade das ist ja die Falle, mit der man sie fängt. Man stellt dem Angeklagten kurz folgende Frage: ‚Nun, aber wo haben Sie denn das Material zum Säckchen hergenommen, wer hat denn den Sack genäht?‘ – ‚Ich habe ihn selbst genäht.‘ – ‚Und von wo haben Sie das Zeug dazu hergenommen?‘ Dadurch fühlt sich der Angeklagte bereits gekränkt, er glaubt, daß man sich mit diesem Zeuge über ihn lustig machen wolle, und zwar glaubt er das im Ernst, im Ernst, sage ich Ihnen! Aber so sind sie ja alle! – ‚Ich habe von einem meiner Hemden ein Stück abgerissen.‘ – ‚Vortrefflich. Dann werden wir morgen unter Ihrer Wäsche ein Hemd finden, von dem ein Stück abgerissen ist.‘ Und bedenken Sie doch nur, meine Herren Geschworenen, wenn wir nun dieses Hemd gefunden hätten (und wie hätte es sich denn inzwischen verlieren können, wir hätten es doch sicherlich in einem Koffer oder in der Kommode gefunden, wenn ein solches Hemd mit einer abgerissenen Ecke nur jemals auch tatsächlich existiert hätte) – das aber wäre ein Faktum, ein greifbares Faktum zugunsten des Angeklagten gewesen, ein, wenn auch schwacher Beweis für die Wahrheit seiner Aussage! Er aber scheint darauf überhaupt nicht zu verfallen. – ‚Ich erinnere mich nicht mehr, vielleicht riß ich das Zeug auch nicht vom Hemde ab ... ich glaube, ich nähte das Geld in die Haube der Hauswirtin ein.‘ – ‚In was für eine Haube?‘ – ‚Ich hatte sie einmal von ihr fortgeschleppt, sie trieb sich da irgendwo umher, ein alter Kattunlappen.‘ – ‚Und Sie erinnern sich dessen genau?‘ – ‚Nein, genau erinnere ich mich dessen nicht ...‘ Und dabei ärgert er sich über alle Maßen. Indessen, fragt man sich, wie kann er denn das so schnell vergessen haben? Gerade diese kleinen Nebensächlichkeiten prägen sich dem Menschen von allen Eindrücken, die er in gleich schrecklichen Lebensstunden empfängt, am schärfsten ein, und gerade ihrer erinnert er sich später am deutlichsten. Der Verbrecher, der zum Richtplatz geführt wird, der vergißt zuweilen alles, ein irgendwo flüchtig bemerktes grünes Dach aber, oder eine Dohle auf einem Kreuze – die behält er. Als der Angeklagte dieses Zeugsäckchen für das Geld zusammennähte, da wollte er doch nicht von den übrigen Hausbewohnern überrascht werden. Er verbarg sich vor ihnen. So müßte er sich auch noch erinnern, wie er, mit der Nadel in der Hand, voll Erniedrigung die Angst empfunden hat, es könne jemand zu ihm hereinkommen, und wie er beim ersten Geräusch aufgesprungen ist, um sich hinter dem Vorhang zu verstecken ... Doch wozu rede ich so ausführlich von diesen Nebensachen, dem sogenannten Kleinkram?“ unterbrach sich plötzlich Hippolyt Kirillowitsch. „Ich tue es ja nur darum, weil der Angeklagte nach wie vor aufs hartnäckigste auf dieser abgeschmackten Erfindung besteht, selbst heute noch! Während dieser ganzen zwei Monate hat der Angeklagte nichts mehr zu erklären vermocht, seit jener Schicksalsnacht hat er zu seinen früheren phantastischen Aussagen, die er in derselben Nacht gemacht hat, nichts mehr hinzugefügt. ‚Alles das sind, sozusagen, nur kleinliche Nebensachen, glauben Sie mir lieber auf mein Ehrenwort!‘ Oh, wie gern würden wir glauben, wie würden wir uns freuen, wenn wir daran glauben könnten, und wäre es auch nur auf das Ehrenwort hin! Sind wir denn etwa Schakale, die nach Menschenblut dürsten? Geben Sie uns, beweisen Sie uns nur eine Tatsache zugunsten des Angeklagten, und wir werden uns darüber freuen, – nur selbstverständlich eine greifbare, reale, nicht nur eine Folgerung nach dem Gesichtsausdruck des Angeklagten, die noch dazu dessen leiblicher Bruder macht, oder so eine Behauptung, daß er, als er sich mit der Hand auf die Brust schlug, damit unbedingt auf das Geldsäckchen habe weisen wollen, und das noch dazu in der Dunkelheit. Wir werden uns von Herzen darüber freuen, ich werde der erste sein, der die Anklage zurückzieht, ich werde mich beeilen, meine Anklage zurückzuziehen. Jetzt jedoch fordert die Gerechtigkeit, daß sie befriedigt werde, und ich bestehe darauf, daß es geschehe, denn wir können kein Wort von dem Gesagten zurücknehmen.“ Hippolyt Kirillowitsch ging darauf zum Schluß über. Er war wie im Fieber, er schrie nach Sühne für das vergossene Blut, für das Blut des Vaters, den der Sohn erschlagen hatte, um ihn „in der niedrigsten Weise zu berauben“. Er wies unerbittlich auf das tragische und verhängnisvolle Zusammentreffen der Tatsachen hin. „Und was Sie auch von dem Verteidiger des Angeklagten, dessen Talent weit bekannt ist, hören mögen“ (Hippolyt Kirillowitsch konnte sich diese Bemerkung doch nicht verbeißen), „ja, wie beredte und rührende Worte hier auch ertönen mögen, die es auf Ihre Sentimentalität abgesehen haben, so vergessen Sie doch nicht, daß Sie sich in diesem Augenblick im Heiligtum unserer Gerechtigkeit befinden. Vergessen Sie nicht, daß Sie die Verteidiger unserer Wahrheit sind, die Verteidiger unseres heiligen Rußland, die Verteidiger seiner Grundfesten, seiner Familie und alles Heiligen in ihm! Ja, in diesem Augenblick vertreten Sie ganz Rußland, und Ihr Urteil wird nicht nur hier in diesem Saale erschallen, nein, über ganz Rußland hin wird es erklingen, und ganz Rußland wird Ihre Worte vernehmen, wie die Worte seiner Verteidiger und Richter, und es wird durch Ihren Urteilsspruch entweder ermutigt oder niedergebeugt werden. Peinigen Sie unser Rußland nicht, meine Herren Geschworenen, enttäuschen Sie nicht seine Erwartungen! Die Troika unseres Schicksals jagt dahin – vielleicht kopfüber ins Verderben. Schon lange streckt man in ganz Rußland die Hände empor, der rasenden Troika entgegen, und man ruft alle auf, um die besessene, irrsinnige, schonungslose Jagd aufzuhalten. Und wenn die anderen Völker bisher noch vor dem blindlings daherjagenden Dreigespann zur Seite getreten sind, so haben sie das vielleicht durchaus nicht aus Ehrerbietung getan, wie es der große Dichter wünschte, sondern einfach aus Entsetzen – das sollte man sich merken. Aus Entsetzen, vielleicht aber auch aus Ekel vor ihr. Und es ist noch gut, daß sie sich abwenden, was aber dann, wenn sie aufhören, beiseite zu treten, sich vielmehr plötzlich wie eine feste Mauer vor der jagenden Erscheinung erheben, um selbst der wahnsinnigen, wilden Jagd unserer Zügellosigkeit Einhalt zu tun, um sich selbst, die ganze Aufklärung und die ganze Zivilisation zu retten! Ja, solche erregte Stimmen aus Europa haben auch wir schon vernommen. Schon beginnen sie zu ertönen. Verlocken Sie sie nicht zur Tat, fordern Sie sie nicht heraus, indem Sie den Mord des Vaters durch den leiblichen Sohn gutheißen!“ ...

Zwar hatte Hippolyt Kirillowitsch sich schon zuvor nicht wenig hinreißen lassen. Nun schloß er in dieser Weise mit dem höchsten Pathos – und, in der Tat, der Eindruck, den seine Rede hinterließ, war wirklich außerordentlich. Er selbst aber ging, kaum daß er sie beendet hatte, eiligst hinaus und, wie gesagt, im anderen Zimmer soll er beinahe in Ohnmacht gefallen sein. Das Publikum klatschte nicht Beifall, aber die ernsten Leute waren befriedigt. Nur die Damen waren es weniger, doch hatte schließlich auch ihnen seine Beredtsamkeit gefallen, um so mehr, als sie an dem Endergebnis noch immer nicht zweifelten und von Fetjukowitsch alles erwarteten: „Zum Schluß wird er das Wort ergreifen und dann selbstverständlich alle besiegen!“

Zunächst wandten sich alle Blicke zu Mitjä, und man beobachtete ihn neugierig. Während der ganzen Rede des Staatsanwalts hatte er stumm dagesessen, die Arme gekreuzt, die Zähne zusammengebissen, den Blick zu Boden gesenkt. Nur ein paarmal hatte er den Kopf ein wenig erhoben und aufgehorcht. Besonders als von Gruschenka die Rede gewesen war. Als der Staatsanwalt Rakitins Ausspruch über sie zitiert hatte, war auf Mitjäs Lippen ein verächtliches Lächeln erschienen, und er hatte ziemlich hörbar gesagt: „Ce Bernard!“ Als aber Hippolyt Kirillowitsch darauf zu sprechen gekommen war, wie er ihn in Mokroje ausgefragt und gequält hatte, da hatte Mitjä plötzlich den Kopf erhoben und mit höchster Aufmerksamkeit zugehört. An einer Stelle der Rede hatte es fast geschienen, daß er sofort aufspringen und etwas dazwischenschreien würde, doch hatte er sich bezwungen und nur einmal verächtlich mit der Achsel gezuckt. Über diesen Schlußteil der Anklagerede, besonders über die Leistung des Staatsanwalts beim ersten Verhör in Mokroje, wurde später viel in unserer Gesellschaft gesprochen und bei der Gelegenheit auch über Hippolyt Kirillowitsch gelacht: „Der gute Mann konnte doch seine Fähigkeiten nicht mit Stillschweigen übergehen,“ hieß es da, „sonst wird man ja so leicht unterschätzt!“

Die Sitzung wurde unterbrochen, aber nur auf eine sehr kurze Zeit, auf fünfzehn, höchstens zwanzig Minuten. Im Publikum unterhielt man sich währenddessen, und es wurden verschiedene Meinungen geäußert. Einige von ihnen habe ich behalten.

„Hm, eine ernste Rede,“ bemerkte mit krauser Stirn ein Herr in einer Gruppe neben mir.

„An Psychologie hat er ein gehöriges Quantum verpufft,“ meinte eine andere Stimme.

„Ja, aber es ist doch alles wahr, was er gesagt hat, unantastbare Wahrheit!“

„Ja, darin ist er Meister.“

„Er hat das Fazit gezogen.“

„Auch für uns, auch für uns hat er das Fazit gezogen!“ ließ sich eine dritte Stimme vernehmen. „Erinnern Sie sich noch, wie er zu Anfang der Rede sagte, daß alle so seien wie Fedor Pawlowitsch!“

„Und zum Schluß sagte er es noch einmal. Nur braucht es deshalb noch nicht wahr zu sein.“

„Und stellenweise war er auch etwas unklar.“

„Bißchen hitzig.“

„Aber es war doch ungerecht, wenn man’s genau nimmt, das war es schon.“

„Na, wissen Sie, das kann man schließlich doch nicht so sagen, er hat’s immerhin geschickt gemacht. Lange genug hat der Mann gewartet, jetzt hat er endlich mal die Gelegenheit gehabt, sich auszusprechen, hehe!“

„Wer weiß, was der Verteidiger sagen wird.“

In einer anderen Gruppe:

„Aber den Petersburger konnte er doch nicht ungeschoren lassen, nur war die Bemerkung ganz überflüssig: ‚Die es auf Ihre Sentimentalität abgesehen haben,‘ wissen Sie noch, kurz vor dem Schluß?“

„Ja, das war etwas ungeschickt.“

„Hatte es zu eilig.“

„Ein nervöser Mensch.“

„Ja ja, wir haben gut lachen, wie aber muß dem Angeklagten zumute sein?“

„Das ist schon wahr, wie mag es in Mitjenka aussehen!“

„Was meinen Sie, was wird der Verteidiger sagen?“

In einer dritten Gruppe:

„Was ist das da für eine Dame, diese mit dem Lorgnon, die dicke, die an der Ecke sitzt?“

„Das ist eine Generalin, eine geschiedene Frau, ich kenne sie.“

„Na ja, da geht’s natürlich nicht mehr ohne Lorgnon.“

„Altes Gerümpel.“

„Das finde ich nicht, scheint sogar ganz pikant zu sein.“

„Neben ihr, zwei Plätze weiter, sitzt eine Blondine, die ist besser.“

„Aber das haben sie doch geschickt gemacht, wie sie ihn in Mokroje geklappt haben, nicht?“

„Ja, das läßt sich nicht leugnen. Darum hat er es auch hier wieder erzählt. Und wievielmal hat er es dabei schon bei seinen Bekannten zum besten gegeben!“

„Und auch jetzt mußte es wieder herhalten. Nichts als Eigenliebe!“

„Ein gekränkter Mensch, hehe!“

„Und der sich dazu noch sehr leicht gekränkt fühlt. Viel Rhetorik, lange Phrasen.“

„Und dann will er uns schrecken, das nicht zu vergessen, will uns Angst machen. Zum Beispiel, was er da von der Troika sagte, Sie wissen doch noch? ‚Dort gibt es Hamlets, bei uns aber gibt es vorläufig noch Karamasoffs!‘ An sich war es ja ganz treffend.“

„Das hat er aus Berechnung gesagt, für die Liberalen natürlich. Der Kerl fürchtet sich!“

„Und auch den Advokaten fürchtet er.“

„Ja, weiß Gott, was Fetjukowitsch sagen wird!“

„Nun, was er auch sagen sollte, unsere Bauernköppe wird er doch nicht unter den Tisch reden.“

„Sie glauben?“

In einer vierten Gruppe:

„Was er da von der Troika sagte, war gut. – Du weißt doch noch, als er von den Völkern sprach, daß sie nicht warten würden.“

„Wieso?“

„Nun, im englischen Parlament ist schon in der vorigen Woche wegen der Nihilisten ein Mitglied aufgestanden und hat die Minister gefragt, ob es nicht Zeit wäre, in die Vorgänge der barbarischen Nation einzugreifen und ihr Bildung beizubringen – das heißt also: uns. Darauf hat Hippolyt angespielt, ich weiß es genau, daß er das gemeint hat. Noch in der vorigen Woche sprach er davon.“

„Hoho! Noch hat der Fuchs den Braten nicht!“

„Welchen Braten? Wieso noch nicht?“

„Was dann, wenn wir ihnen Kronstadt vor der Nase abschließen und ihnen kein Korn geben – wo wollen sie es dann hernehmen?“

„Aber aus Amerika! Jetzt nehmen sie alles aus Amerika!“

„Red keinen Unsinn!“

Da ertönte die Glocke, und alles stürzte zu den Plätzen. Fetjukowitsch bestieg die Tribüne.

X.
Die Rede des Verteidigers. Ein Stock hat zwei Enden

Alles war verstummt, als die ersten Worte des berühmten Redners erklangen. Alle Blicke hingen wie gebannt an ihm. Er begann ganz ohne Umschweife, einfach und überzeugt, ohne die geringste Anmaßung, ohne den geringsten Ansatz zu Schönrederei, zu überschwenglichen Tönen oder gefühlvollen Worten. Er sprach wie ein Mensch, der im engen Kreise mitfühlender Freunde das Wort ergriffen hat. Sein Organ war wundervoll, tragend und angenehm, und es schien, daß in dieser Stimme sogar etwas Aufrichtiges und Treuherziges durchklang. Doch schon nach den ersten Sätzen fühlten alle, daß der Redner sich ganz plötzlich auch zu wahrem Pathos emporschwingen und „mit ungeahnter Kraft die Herzen treffen konnte“. Er sprach vielleicht weniger regelrecht als Hippolyt Kirillowitsch, vielleicht sogar grammatikalisch nicht ganz korrekt, dafür aber auch nicht in so langen Sätzen und eigentlich sogar treffender. Nur eines mißfiel anfänglich den Damen: er krümmte immer so absonderlich seinen Rücken, namentlich zu Anfang seiner Rede; nicht, als hätte er sich verbeugt, sondern als wenn er zu seinen Zuhörern hinstrebte, wobei er immer nur die obere Hälfte seines langen Rückens nach vorn bog, ganz als wäre in der Mitte dieses langen, schmalen Rückens ein Gelenk angebracht gewesen, so daß das Rückgrat sich fast unter einem rechten Winkel biegen konnte. Zu Anfang seiner Rede sprach er wie gehackt, die Sätze ohne inneren Zusammenhang, scheinbar plan- und systemlos, indem er die Tatsachen, wie sie ihm in den Sinn kamen, aufgriff – aber zu guter Letzt entstand doch ein abgerundetes Ganzes. Seine Rede könnte man in zwei Hälften einteilen: die erste Hälfte war die Kritik, die Widerlegung der Anklage – nicht ohne boshafte und sarkastische Bemerkungen –, in der zweiten Hälfte dagegen änderte er plötzlich seinen Ton und sogar sein ganzes Verfahren: da erhob er sich zu jenem Pathos, von dem ich schon sprach, so daß der Saal, der darauf nur gewartet zu haben schien, wie vor Begeisterung erbebte. – Er trat sogleich an die Sache heran und begann damit, daß das Feld seiner Tätigkeit eigentlich in Petersburg sei; doch geschehe es deshalb nicht zum ersten Male, daß er dem Ruf in eine andere Stadt folge, um einen Angeklagten zu verteidigen; er tue dies jedoch immer nur dann, wenn er entweder von der Unschuld des Betreffenden überzeugt sei oder dieselbe im voraus als mindestens sehr wahrscheinlich annehmen zu dürfen glaube. „Dasselbe war auch diesmal der Fall. Schon aus den ersten Zeitungsnachrichten las ich etwas heraus, das mir sehr zugunsten des Angeklagten auffiel. Mit einem Wort, mich interessierte zuerst und vor allen Dingen eine bestimmte juristische Tatsache, die sich in der Gerichtspraxis allerdings häufig wiederholt, doch noch niemals, wie mir scheint, mit so charakteristischen Besonderheiten zutage getreten ist, wie gerade im vorliegenden Fall. Diese Tatsache müßte ich eigentlich erst zu Ende meiner Rede hinstellen, wenn ich alles Gesagte zusammenfasse, doch werde ich den betreffenden Gedanken schon zu Anfang meiner Rede aussprechen, denn es ist nun einmal meine Schwäche, den Gegenstand mit geradem Griff anzufassen, ohne ihn zuerst mit Winkelzügen zu umkreisen, ohne Effekte vorzubereiten und etwa die großen Eindrücke für den Schluß aufzusparen. Das ist vielleicht unklug von mir, doch dafür ist es offenherzig. Dieser mein Hauptgedanke nun, diese meine Formel geht dahin: Es gibt eine erdrückende Menge von Beweisen, die alle gegen den Angeklagten zeugen, und zu gleicher Zeit gibt es keinen einzigen Beweis, der der Kritik wirklich standhält, sobald man ihn einzeln, an und für sich, betrachtet. Als ich die Nachrichten und Gerüchte über diesen Mord in den Zeitungen weiter verfolgte, fand ich mich immer mehr in meiner Ansicht bestärkt – und da erhielt ich denn plötzlich von den Verwandten des Angeklagten die Aufforderung, seine Verteidigung zu übernehmen. Ich reiste natürlich sofort hierher und überzeugte mich hier endgültig von der Richtigkeit meiner Annahme. Ja, und so habe ich denn, um diese gefahrvolle Verkettung von Tatsachen zu zerstören und die Unbewiesenheit und das Phantastische jeder einzelnen anklagenden Tatsache klarzulegen, in diesem Prozeß die Verteidigung übernommen.“

Mit dieser Erklärung begann der Verteidiger und fuhr dann fort, wie folgt:

„Meine Herren Geschworenen, ich bin als Fremder hierhergekommen. Ich habe alle Eindrücke unvoreingenommen empfangen. Der Angeklagte, ein wilder, zügelloser Charakter, hatte mich vorher nicht beleidigt, wie er vielleicht Hunderte hier in der Stadt beleidigt hat, weswegen denn viele im voraus gegen ihn gestimmt sein mögen. Gewiß sehe auch ich ein, daß das sittliche Gefühl der hiesigen Gesellschaft sich mit Recht empört hat: Der Angeklagte ist kein ruhig lebender, kein sich mäßigender Mensch. Dessen ungeachtet hat ihn die hiesige Gesellschaft bereitwillig empfangen, und selbst im Hause des verehrten Anklägers hat er freundliche Aufnahme gefunden.“ (Bei diesen Worten ertönte leises Lachen, allerdings nur von ein paar Personen, die es außerdem noch schnell unterdrückten – doch hatten es alle gehört: man wußte in der ganzen Stadt, daß Hippolyt Kirillowitsch Mitjä nur gegen seinen Willen in seinem Hause empfangen hatte, und zwar nur aus dem einen Grunde, weil jener seiner Frau interessant erschienen war; seine Frau war eine höchst tugendhafte, wohltätige und achtbare Dame; nur war sie im Grunde ihres Wesens phantastisch, war das, was man originell nennt; und in gewissen Fällen, vornehmlich in Kleinigkeiten, widersetzte sie sich gern ihrem Gemahl; übrigens war Mitjä nur sehr selten bei ihnen gewesen.) „Nichtsdestoweniger wage ich anzunehmen,“ fuhr der Verteidiger fort, „daß selbst bei einem so unabhängigen Geiste und gerecht urteilenden Charakter, wie sie mein verehrter Widersacher besitzt, sich ein gewisses nicht zutreffendes Vorurteil gegen meinen unglücklichen Klienten herausgebildet hat. Und das ist ja auch nur zu natürlich. Der Unglückliche hat gar zu sehr verdient, daß man gegen ihn ein ungünstiges Vorurteil faßte. Das beleidigte sittliche und mehr noch, das ästhetische Gefühl pflegt mitunter unerbittlich zu sein. Gewiß haben wir in der ausgezeichneten Anklagerede eine strenge Analyse des Charakters und der Taten des Angeklagten vernommen; es lag darin ein streng kritisches Verhalten zur Sache, und vor allem wurden psychologische Tiefen vor uns aufgetan, um uns das Wesen der Sache zu erklären, in die einzudringen bei dem geringsten absichtlich und böswillig vorurteilsvollen Verhalten zur Person des Angeklagten für den Ankläger unmöglich gewesen wäre! Aber es gibt Dinge, die in ähnlichen Fällen sogar schlimmer, sogar verderblicher sind, als selbst eine absichtlich vorgefaßte Gehässigkeit im Verhalten zur Sache. Das geschieht, wenn uns zum Beispiel ein gewisses, sagen wir künstlerisches Spiel verlockt, oder das Bedürfnis nach künstlerischem Schaffen, sozusagen das Bedürfnis, einen Fall zu einem ganzen Roman auszuspinnen, besonders wenn Gott uns noch mit reichen psychologischen Gaben ausgestattet hat. Schon in Petersburg, als ich mich anschickte, hierher zu fahren, machte man mich darauf aufmerksam – was ich freilich schon wußte –, daß ich hier als Widersacher einen tiefen und feinen Psychologen antreffen werde, der sich schon des längeren durch seine Fähigkeiten einen besonderen Ruf in unserer noch jungen juristischen Welt erworben hat. Nur ist die Psychologie, meine Herren, zwar ein tiefes Ding, doch gleicht sie nicht wenig – einem Stocke mit zwei Enden.“ (Leises Gelächter im Publikum.) „Sie werden mir gewiß meinen trivialen Vergleich verzeihen. Ich rechne mich selbst nicht zu den Meistern der Redekunst. Allein ich will ein Beispiel anführen – das erste beste, das mir aus der Anklagerede einfällt: Der Angeklagte klettert nachts, auf der Flucht aus dem Garten, über den Zaun und streckt mit einem Schlage – er hatte eine kleine Mörserkeule in der Hand – den alten Diener, der ihn am Bein festhält, zu Boden. Darauf springt er sofort in den Garten zurück und müht sich während ganzer fünf Minuten um den Verletzten, weil er feststellen will, ob er ihn erschlagen hat, oder ob der Alte noch lebt. Nun will der Ankläger um keinen Preis an die Wahrheit der Aussage des Angeklagten glauben, daß er aus Mitleid zum alten Grigorij herabgesprungen sei. ‚Nein,‘ meint er, ‚in solch einem Augenblick kann man nicht so zartfühlend sein, das ist ganz ausgeschlossen, das wäre gar zu unnatürlich; er ist nur zu dem einen Zweck wieder hinabgesprungen, um sich zu überzeugen, ob der einzige Zeuge seiner Tat tot oder lebendig ist – folglich haben wir hier den besten Beweis dafür, daß er das Verbrechen verübt hat, da er aus keinem einzigen anderen Grunde, Drange oder Gefühle in den Garten zurückspringen konnte.‘ Das ist Psychologie. Doch nehmen wir jetzt dieselbe Psychologie, und wenden wir sie gleichfalls an, nur mit dem Unterschiede, daß wir sie am anderen Ende anfassen, und wie wir sehen werden, ergibt sich dann sofort etwas nicht weniger Wahrscheinliches. Der Mörder springt aus Vorsicht hinab, um sich zu überzeugen, ob der Zeuge tot oder lebendig ist, indessen hat er soeben erst im Zimmer seines von ihm erschlagenen Vaters, wie der Herr Ankläger selbst bezeugt, einen anderen ungeheuer wichtigen Zeugen hinterlassen, nämlich das zerrissene Kuvert, auf dem geschrieben steht, daß es einmal dreitausend Rubel enthalten hat. ‚Hätte er dieses Kuvert mitgenommen, so würde jetzt niemand in der ganzen Welt wissen, daß dieses Geldpaket vorhanden gewesen ist – und folglich auch niemand, daß ein Raubmord stattgefunden hat.‘ Ich zitiere den Ausspruch des Anklägers. Also ganz hat seine Überlegungskraft nicht ausgereicht, wie wir sehen: der Mensch hat den Kopf verloren, hat Angst bekommen und ist fortgelaufen, und hat sogar ein solches Beweisstück gegen sich auf dem Fußboden hinterlassen! Nachdem er aber zwei Minuten später noch einen zweiten Menschen erschlagen hat, stellt sich bei ihm sofort wie auf Wunsch die herzloseste und berechnendste Überlegungskraft und Vorsicht ein. Doch gut, gesetzt, daß es so gewesen ist, – gerade darin soll ja die größte Feinheit der Psychologie bestehen, daß man unter solchen Umständen blutdürstig und scharfsichtig wie ein kaukasischer Adler ist, im nächsten Augenblick dagegen blind und schüchtern wie ein gewöhnlicher Maulwurf. Aber wenn ich nun schon einmal so blutdürstig und grausam berechnend bin, daß ich nach dem Totschlage nur zu dem Zweck hinabspringe, um nachzusehen, ob der Zeuge meines Verbrechens tot oder lebendig ist, so fragt sich doch, denke ich, wozu ich mich mit diesem neuen, meinem zweiten Opfer ganze fünf Minuten lang abmühen sollte, wobei ich nur riskiere, mir noch andere Zeugen auf den Hals zu ziehen? Wozu sollte ich dann mit meinem Taschentuch dem Alten das Blut vom Gesichte abwischen, wenn nicht ausdrücklich zu dem einen Zweck, daß dieses Taschentuch später ein schweres Beweisstück gegen mich werden kann? Nein, wenn ich schon einmal so berechnend und grausam bin, sollte es dann nicht besser sein, den niedergeworfenen Diener mit derselben Mörserkeule noch einmal und noch einmal auf den Kopf zu schlagen, ihn endgültig zu erschlagen, um auf diese Weise, indem ich den einzigen Zeugen töte, das Herz von jeder Sorge zu befreien? Und schließlich, ich springe hinab, um zu sehen, ob der gefährliche Zeuge lebendig oder tot ist, und hinterlasse bei der Gelegenheit sofort einen anderen Zeugen, nämlich diese selbe Mörserkeule, die ich in Gegenwart zweier Frauen ergriffen habe, die alle beide jederzeit diesen Gegenstand wiedererkennen und aussagen können, daß ich ihn aus ihrer Küche mitgenommen habe und folglich wohl auch der Mörder sein werde. Und nicht etwa, daß ich sie dort im Garten vergessen oder in der Zerstreutheit aus der Hand habe fallen lassen! Nein, ich habe meine Waffe ausdrücklich fortgeworfen, denn man hat sie etwa fünfzehn Schritt von der Stelle, wo Grigorij hingefallen war, aufgefunden. Jetzt fragt sich doch, weshalb hat der Angeklagte das getan? Und dafür gibt es nur eine Erklärung: nur deshalb, weil es ihm bitter leid tat, einen Menschen erschlagen zu haben, einen alten Diener. Jawohl: deshalb, und nur deshalb hat er im Ärger mit einer Verwünschung die Mörserkeule fortgeschleudert, da sie eben die Waffe war, mit der er den Menschen getötet hatte. Anders kann es überhaupt nicht gewesen sein. Warum hätte er sie sonst mit solcher Wut so weit fortschleudern sollen, und nicht etwa ins Gebüsch, sondern zur Rasenfläche hin, wo sie dann noch auf die sichtbarste Stelle, nämlich auf den Kiesweg, gefallen ist! Wenn er aber Schmerz und Leid darüber empfinden konnte, daß er einen Menschen erschlagen hatte, nun, so empfand er diesen Schmerz und dieses Leid eben nur deshalb, weil er den Vater nicht erschlagen hatte. Hätte er vorher schon den Vater erschlagen, so wäre er nicht aus Mitleid zu dem anderen Verletzten hinabgesprungen – dann hätte er bereits ganz andere Gefühle gehabt, dann wäre es ihm nicht mehr um andere zu tun gewesen und um Mitleid mit ihnen, sondern um ihn selbst, und darum, daß er sich rettete. Und so ist es auch gewesen. Anderenfalls hätte er, wie gesagt, Grigorijs Schädel endgültig eingeschlagen und hätte sich nicht ganze fünf Minuten um ihn gemüht. Mitleid und das Verlangen, ihm zu helfen, konnten nur darum in seinem Herzen zu Wort kommen, weil sein Gewissen noch rein war. Das ist auch Psychologie. Aber wir kommen mit ihr zu einem etwas anderen Ergebnis. Ich habe absichtlich, meine Herren Geschworenen, die Psychologie zu Hilfe genommen, um an diesem Beispiel anschaulich zu beweisen, daß man mit ihr jeden beliebigen Schluß ziehen kann. Es kommt dabei nur darauf an, in wessen Händen sie sich befindet. Ja, die Psychologie kann selbst die ernstesten Männer verleiten, Romane zu dichten, mag es auch ganz unfreiwillig geschehen. Ich betone: ich rede nur von der überflüssigen Psychologie, meine Herren Geschworenen, von dem gewissen Mißbrauch, der mit ihr zuweilen getrieben wird.“

Hier hörte man wieder von ein paar Seiten leises beifälliges Lachen, das natürlich an die Adresse des Staatsanwalts ging. Ich werde nicht die ganze Rede des Verteidigers wiedergeben, sondern nur einige Stellen, die von den Hauptpunkten handelten.

XI.
Kein Geld. Keine Beraubung

Es gab in der Rede des Verteidigers einen Punkt, der alle in Erstaunen setzte, nämlich – die vollständige Ableugnung der Tatsache, daß die verhängnisvollen Dreitausend überhaupt existiert hätten, und die Schlußfolgerung daraus, daß mithin die Möglichkeit einer Beraubung überhaupt ausgeschlossen sei.

„Meine Herren Geschworenen,“ hub der Verteidiger wieder an, „im vorliegenden Fall setzt jeden unvoreingenommenen Menschen sofort eine charakteristische Besonderheit in Erstaunen, nämlich: daß der Angeklagte eines Raubmordes beschuldigt wird, wir aber zu gleicher Zeit vor der vollständigen Unmöglichkeit stehen, beweisen zu können, was nun eigentlich geraubt worden ist. Geld, sagt man, sei geraubt, dreitausend Rubel – aber haben diese denn je in Wirklichkeit existiert? Das weiß niemand. Überlegen Sie sich: erstens, woher wissen wir, daß es dreitausend waren, und wer hat sie gesehen? Sie wirklich gesehen und darauf hingewiesen, daß sie in einem Kuvert mit einer Aufschrift lagen, hat nur der Diener Ssmerdjäkoff. Und nur er allein hat schon vor der Katastrophe dem Angeklagten, sowie dessen Bruder Iwan Fedorowitsch, davon Mitteilung gemacht. Auch Fräulein Sswetlowa war davon unterrichtet. Indessen haben diese drei Personen das Geld nicht gesehen, gesehen hat es wiederum nur Ssmerdjäkoff – und da stellt sich doch von selbst die Frage: wenn es wahr ist, daß diese Dreitausend existiert haben und Ssmerdjäkoff sie gesehen hat, wann hat er sie dann zum letztenmal gesehen? Wie, wenn der alte Herr sie von dort – sie sollen ja unter dem Kopfkissen gelegen haben – fortgenommen und sie wieder in die Schatulle zurückgelegt hat, ohne es ihm zu sagen? Beachten Sie wohl, nach den Worten Ssmerdjäkoffs lag das Geld im Bett, sogar unter dem Federbett; der Angeklagte hätte es also unter dem Federbett hervorziehen müssen. Indessen war das Bett ganz unberührt, was ausdrücklich im Protokoll bemerkt worden ist. Wie konnte es nun wohl möglich sein, daß der Angeklagte das Bett gar nicht durchwühlt und dazu noch mit seinen blutigen Händen die frische, feine Bettwäsche, die eigens zu diesem Abend aufgedeckt worden war, nicht beschmutzt haben soll? Darauf sagt man uns: aber das Kuvert lag doch auf dem Fußboden! Gerade von diesem Kuvert lohnt es sich, etwas mehr zu reden. Vorhin bin ich nicht wenig erstaunt gewesen: als der verehrte Ankläger von diesem Kuvert sprach, erklärte er plötzlich selbst – beachten Sie dies wohl, meine Herren – erklärte er selbst in seiner Rede an der Stelle, wo er darauf hinwies, daß es eine Abgeschmacktheit sei, Ssmerdjäkoff des Mordes auch nur zu verdächtigen: ‚Wenn dieses Kuvert nicht dagewesen, nicht als Beweisstück liegen geblieben wäre, wenn der Mörder es mitgenommen hätte, so hätte niemand in der ganzen Welt je erfahren, daß ein solches Geldpaket existiert hat, und daß das Geld von dem Angeklagten gestohlen worden ist.‘ Also nur dieses zerrissene Stück Papier mit der Aufschrift hat nach dem Bekenntnis des Anklägers selbst die Beschuldigung des Angeklagten, einen Raubmord verübt zu haben, veranlaßt, ‚denn sonst hätte niemand gewußt, daß ein Diebstahl stattgefunden, und daß dieses Geld wirklich existiert hat.‘ Genügt es denn wirklich, dieses Stück Papier auf dem Fußboden, ist das denn wirklich ein Beweis, daß in ihm Geld gelegen, und daß dieses Geld wiederum gestohlen worden ist? ‚Aber Ssmerdjäkoff hat doch in diesem Kuvert das Geld gesehen,‘ wird uns gesagt. Wann aber, wann hat er es zum letztenmal gesehen, das ist es, was ich frage? Ich habe mit Ssmerdjäkoff darüber gesprochen, und er hat mir gesagt, daß er es zwei Tage vor der Katastrophe noch gesehen habe. Warum aber kann ich zum Beispiel nicht annehmen, daß dem alten Fedor Pawlowitsch eingefallen ist, als er ganz allein in seinem Hause eingeschlossen war, in ungeduldiger, erregter Erwartung seiner Geliebten – daß ihm da plötzlich eingefallen ist, vielleicht auch um sich die Zeit zu vertreiben, das Paket zu öffnen und das Geld herauszunehmen? ‚Ach, zum Teufel mit dem albernen Kuvert und seiner Aufschrift,‘ hat er vielleicht bei sich gesagt, ‚so wird sie mir ja überhaupt nicht glauben, daß wirklich Geld darin ist, wenn ich ihr aber dreißig Regenbogen in der Hand zeige, das wird stärker ziehen, da wird ihr der Mund wässern.‘ – Und er zerreißt die Schnur, nimmt das Geld heraus und wirft das Kuvert, wie es dem Hausherrn und Besitzer des Geldpakets niemand verbieten kann, einfach auf den Fußboden, unbekümmert um jedes Beweisstück. Meine Herren Geschworenen, was ist wohl möglicher als eine solche Auslegung des Tatbestandes? Warum sollte das unmöglich sein? Wenn sich also nur irgend etwas Ähnliches annehmen läßt, so fällt die Beschuldigung des Diebstahls ganz von selbst weg: wenn kein Geld existiert hat, so hat auch kein Raub stattgefunden. Wenn das Kuvert auf dem Fußboden ein Beweis dafür sein soll, daß das Geld sich in ihm befunden hat, warum kann ich dann nicht das Gegenteil behaupten, nämlich, daß das Kuvert deshalb auf dem Fußboden lag, weil sich in ihm kein Geld mehr befand, weil dasselbe vom Besitzer schon früher herausgenommen worden war? ‚Ja, wo aber war in dem Falle das Geld geblieben, wenn Fedor Pawlowitsch es aus dem Paket genommen haben soll – bei der Haussuchung hat man keines gefunden!‘ Zunächst hat man in seiner Schatulle einen Teil des Geldes gefunden, und dann hätte er ja schon am Morgen oder am Tage vorher über dasselbe verfügen, es auswechseln, fortschicken oder überhaupt verausgaben können und schließlich durchaus nicht für nötig befunden haben, seine Gedanken, Pläne und Handlungen Ssmerdjäkoff sofort mitzuteilen. Wenn aber schon eine Möglichkeit zu einer solchen Annahme vorhanden ist – wie kann man dann noch so hartnäckig und bestimmt den Angeklagten beschuldigen, daß der Mord von ihm um des Raubes willen ausgeführt worden sei, und daß die Beraubung wirklich stattgefunden habe? Auf diese Weise betreten wir tatsächlich das Gebiet des Romanes. Wenn man behauptet, daß die und die Sache geraubt worden ist, so muß man auch unfehlbar beweisen können, daß diese Sache wirklich existiert hat. Hier aber hat sie nicht einmal jemand gesehen. Unlängst ist in Petersburg ein junger Mensch von achtzehn Jahren, ein halber Knabe, ein kleiner Hausierer, mitten am hellen Tage mit einem Beil bewaffnet in eine Wechselbude eingedrungen und hat mit unglaublicher, in solchen Fällen allerdings typischer Dreistigkeit den Besitzer der Wechselbude erschlagen und tausendfünfhundert Rubel, die in der Kasse lagen, in seine Tasche gesteckt. Innerhalb fünf Stunden war er schon verhaftet. Außer fünfzehn Rubel, die er inzwischen verausgabt hatte, erhielt man die ganzen Tausendfünfhundert wieder. Außerdem gab ein Kommis, der erst nach dem Totschlag in die Wechselbude zurückgekehrt war, der Polizei nicht nur die gestohlene Summe an, sondern noch dazu, aus welchem Gelde, d. h. aus wieviel Regenbogen, wieviel blauen und roten Kreditbilletts, wieviel Goldgeld und so weiter sie bestanden hatte, und richtig fand man bei dem verhafteten Mörder genau das angegebene Geld wieder. Hinzu kam das volle und aufrichtige Geständnis des Mörders, daß er getötet und dieses Geld aus der Kasse herausgenommen habe. Sehen Sie, meine Herren Geschworenen, das nenne ich Beweise! Denn hierbei sehe ich das Geld, halte es gleichsam selbst in der Hand und kann ganz einfach nicht behaupten, daß es kein Geld gegeben habe. Verhält es sich in diesem Falle ebenso? Dabei handelt es sich hier um Leben und Tod, um das Schicksal eines Menschen. ‚Wie,‘ sagt man, ‚er hat doch die ganze Nacht gepraßt, hat mit vollen Händen Geld ausgestreut, er gesteht ja selbst, daß er tausendfünfhundert Rubel gehabt habe – woher kann er sie genommen haben?‘ Aber gerade dadurch, daß nur anderthalbtausend festgestellt werden konnten, die andere Hälfte der Summe aber unauffindbar, unnachweisbar blieb, wird doch bewiesen, daß dieses Geld sich niemals in dem Kuvert befunden haben kann. Nach der Berechnung der Zeit, und zwar nach der genauesten, hat es sich in der Voruntersuchung gezeigt, und es ist sogar bewiesen worden, daß der Angeklagte von den Mägden gleich zum Beamten Perchotin gelaufen ist, sich also nicht vorher noch in seine Wohnung begeben hat, ja, daß er nirgendwohin gegangen und die ganze Zeit mit Menschen zusammengewesen ist, folglich also auch nicht von den Dreitausend die Hälfte irgendwo in der Stadt versteckt haben kann. Das ist auch der Grund, warum der Ankläger auf der Annahme bestand, daß das Geld irgendwo im Dorfe Mokroje in einem Winkel der Herberge versteckt sei. Warum nicht gar in den Kellern des Udolfschen Schlosses, meine Herren! Ist diese Voraussetzung etwa nicht phantastisch, nicht romantisch? Und, beachten Sie wohl, sobald nur diese eine Annahme, daß sie in Mokroje versteckt sein können, unmöglich wird, so – fliegt die ganze Beschuldigung der Beraubung in die Luft, denn wo können diese anderthalb Tausend sonst geblieben sein? Durch welches Wunder können sie verschwunden sein, wenn es unantastbar feststeht, daß der Angeklagte nirgendwohin gegangen ist? Und mit solchen Märchen sind wir bereit, ein Menschenleben zu vernichten! Nun sagt man: ‚Immerhin kann er nicht beweisen, woher er die anderthalb Tausend, die er in der Hand gehabt, genommen hat; außerdem haben alle gewußt, daß er vor dieser Nacht kein Geld besessen hat.‘ Ich frage dagegen: wer hat das gewußt? Der Angeklagte hat doch klar und bestimmt ausgesagt, woher er das Geld genommen hat, und wenn Sie wollen, meine Herren Geschworenen, wenn Sie wollen – so kann es nichts Wahrscheinlicheres geben als diese Aussage, und außerdem nichts, was mit dem Charakter und der Seele des Angeklagten besser übereinstimmte. Der Anklage gefällt aber ihr eigener Roman gar zu sehr: ein willensschwacher Mensch, er entschließt sich, dreitausend Rubel, die ihm so beschämend von der Braut angeboten werden, anzunehmen, und natürlich ist ausgeschlossen, daß er die Hälfte davon in ein Säckchen eingenäht hat, im Gegenteil, selbst wenn er sie eingenäht hätte, so hätte er doch alle zwei Tage etwas davon herausgenommen und auch die ganze andere Hälfte auf diese Weise in einem Monat verlebt! Erinnern Sie sich bitte, diese Behauptung wurde in einem Tone aufgestellt, der jeden Widerspruch ausschloß. Wie aber, wenn sich das gar nicht so zugetragen hat, wie aber, wenn man in diesem Roman aus Dmitrij Karamasoff eine ganz andere Person gemacht hat? Darauf wird man vielleicht antworten: ‚Es sind doch Zeugen vorhanden, die gesehen haben, daß er im Dorfe Mokroje die ganzen Dreitausend, die er von Fräulein Werchoffzeff genommen, verschleudert hat, noch einen Monat vor der Katastrophe, auf einmal, wie eine einzige Kopeke, folglich kann er also nichts zurückbehalten haben.‘ Aber wer sind denn diese Zeugen? Was man diesen Zeugen aufs Wort alles glauben kann, haben wir ja schon beim Verhör gesehen! Außerdem scheint ein Stück Brot in der fremden Hand immer größer als in der eigenen. Schließlich hat keiner von den Zeugen das Geld gezählt, sondern nur nach dem Augenmaß geurteilt. Hat doch der Zeuge Maximoff ausgesagt, daß in den Händen des Angeklagten sich zwanzigtausend Rubel befunden hätten. Sehen Sie, meine Herren Geschworenen, wie die Psychologie ihre zwei Enden hat, und gestatten Sie mir daher gütigst, sie auch beim anderen Ende anzufassen: es ist zum mindesten interessant zu konstatieren, was dabei herauskommt.

Also ... Einen Monat vor der Katastrophe wurden dem Angeklagten von Fräulein Werchoffzeff zur Absendung durch die Post dreitausend Rubel anvertraut. Es fragt sich aber, ob ihm dieselben wirklich in so schmachvoller und erniedrigender Weise übergeben worden sind, wie das vorhin dargestellt wurde? Bei der ersten Aussage des Fräulein Werchoffzeff über diesen Gegenstand schien es durchaus nicht so, durchaus nicht so; in der zweiten Aussage hörten wir nur den Aufschrei der Rache und Wut und eines lange unterdrückten Hasses. Doch allein schon, daß die Zeugin das erstemal unrichtig ausgesagt hat, gibt uns die Berechtigung anzunehmen, daß die zweite Aussage gleichfalls unrichtig ist. Der Ankläger ‚will nicht, wagt es nicht‘ – das sind seine eigenen Worte – an diesen Roman zu rühren. Schön! Auch ich will nicht daran rühren, aber ich erlaube mir zu bemerken, daß, wenn die reine und sittlich hochstehende Persönlichkeit, die das sehr geehrte Fräulein Werchoffzeff unstreitig ist – wenn eine solche Persönlichkeit, sage ich, sich erlaubt, plötzlich vor Gericht ihre erste Aussage zu widerrufen, und zwar mit der Absicht, den Angeklagten zu vernichten, so ist doch klar, daß diese Aussage nicht kaltblütig und leidenschaftslos gemacht worden ist. Wird man uns nun wirklich das Recht nehmen, daraus zu folgern, daß eine rachedürstige Frau vieles übertreiben kann? Daß sie gerade die Schande und den Schimpf vergrößert hat, die mit dem Geldangebot verbunden gewesen ist? Im Gegenteil, ich bin überzeugt, das Geld war so angeboten worden, daß er es annehmen konnte, besonders da unser Angeklagter ein leichtsinniger Mensch ist. Er rechnete dabei natürlich auf das Geld, das er noch von seinem Vater zu erhalten hatte, auf die Dreitausend, die jener ihm schuldete. Das war leichtsinnig, gewiß, aber gerade infolge dieses Leichtsinns war er fest überzeugt, daß der Vater die Dreitausend ihm geben werde und müsse, daß er, wenn er sie erhalten habe, das von Fräulein Werchoffzeff ihm anvertraute Geld immer noch ersetzen und nach Moskau abschicken könne. Aber der Ankläger will es unter keiner Bedingung zulassen, daß er am selben Tage noch vom erhaltenen Geld die Hälfte habe in ein Säckchen einnähen können: ‚Ein solcher Charakter kann so etwas nicht tun.‘ Und doch hat er selbst ausgerufen, daß Karamasoff eine breit angelegte Natur sei, hat selbst ausgerufen, daß Karamasoff sich in zwei entgegengesetzte Abgründe zu gleicher Zeit versenken könne! Karamasoff ist ja doch eine Natur mit zwei Seiten, mit zwei Abgründen, so daß er selbst bei der grenzenlosesten Schwelgerei innehalten kann, weil ihn plötzlich die andere Seite, der andere Abgrund lockt. Die andere Seite aber war die Liebe – diese neue, wie Pulver aufgeflammte Liebe! Zu dieser Liebe jedoch hatte er Geld nötig, oh! viel mehr, als er nötig gehabt hätte, um mit seiner Geliebten ein Fest zu feiern! Denn sagte sie ihm: ‚Ich bin dein, ich will nicht zu Fedor Pawlowitsch,‘ so hätte er sie genommen und fortgebracht – dazu aber hatte er Geld nötig! Das war wichtiger, als sich amüsieren! Und Karamasoff soll das nicht verstanden haben? Gerade diese Sorge machte ihn ja fast krank! Was ist nun verständlicher, als daß er die Hälfte des Geldes auf alle Fälle oder vielmehr für diesen einen Fall aufbewahrte? Inzwischen aber vergeht die Zeit, und Fedor Pawlowitsch gibt ihm die Dreitausend nicht heraus, im Gegenteil, der Angeklagte erfährt sogar, daß gerade mit diesem Gelde seine Geliebte angelockt werden soll. ‚Wenn Fedor Pawlowitsch das Geld nicht auszahlt,‘ denkt er, ‚so werde ich vor Katerina Iwanowna als Dieb dastehen.‘ Und da kommt ihm denn der Gedanke, diese Anderthalbtausend, die er auf der Brust trägt, Fräulein Werchoffzeff abzugeben und ihr zu sagen: ‚Ich bin ein Schuft, aber kein Dieb!‘ Folglich hatte er einen doppelten Grund, dieses Geld wie seinen Augapfel aufzubewahren, und nicht etwa jeden Tag das Säckchen aufzutrennen und einen Hundertrubelschein nach dem anderen herauszunehmen und zu verschleudern. Warum sprechen Sie dem Angeklagten das Gefühl der Ehre ab? Nein, Ehrgefühl hat er, wenn auch oft kein richtiges, nehmen wir sogar an, ein etwas absonderliches, aber er hat trotzdem eines bis zur Leidenschaft – das hat er bewiesen! Und, siehe da, die Sache wird kompliziert, die Qualen der Eifersucht erreichen den höchsten Grad, und diese beiden Fragen werden immer quälender und quälender in dem erhitzten Gehirn des Angeklagten: ‚Gebe ich es Katerina Iwanowna zurück, womit bringe ich dann Gruschenka fort?‘ Wenn er diesen ganzen Monat so wütete, trank und sich aus dem einen Gasthaus ins andere schleppte, so tat er dies doch nur, weil er sonst nicht die Kraft gehabt hätte, diese Qualen zu ertragen. Diese Fragen spitzten sich bei ihm mit der Zeit dermaßen zu, daß sie ihn schließlich fast zur Verzweiflung brachten. Er schickte, glaube ich, seinen jüngsten Bruder zum Vater, um jenen noch zum letztenmal um die Dreitausend zu bitten, doch konnte er die Antwort nicht abwarten, er geriet außer sich, stürzte selbst hin und verprügelte den Alten in Gegenwart von Zeugen. Nach diesem Vorfall, versteht sich, kann er nicht mehr darauf rechnen, daß der Vater sie ihm geben werde. Am Abend desselben Tages schlägt er sich auf die Brust, auf die Stelle, wo das Geldsäckchen sich befindet, und schwört dem Bruder, daß er noch eine Möglichkeit habe, nicht zum Schurken zu werden, doch fühle er schon voraus, daß er ein Schuft bleiben werde, daß er die Möglichkeit, sich zu rehabilitieren, nicht benutzen werde, weil seine Charakterstärke nicht dazu ausreicht. Warum aber, warum glaubt der Ankläger nicht der Aussage Alexei Karamasoffs, die so rein, so aufrichtig, so ehrlich und unbeabsichtigt gemacht worden ist? Warum will er mich glauben machen, daß das Geld in irgendeinem Kellerwinkel des Udolfschen Schlosses sich befinde? Am selben Abend, nach dem Gespräch mit dem Bruder, schreibt der Angeklagte den verhängnisvollen Brief, und dieser Brief ist das hauptsächlichste, soll das großartigste Beweisstück dafür sein, daß der Angeklagte einen Raubmord verübt habe. ‚Ich werde alle Leute bitten, und wenn sie mir das Geld nicht geben, so erschlage ich den Vater und nehme unter dem Federbett das Paket mit dem rosa Bande, wenn nur Iwan fortführe‘ – oder so ungefähr –: das sei das regelrechte Programm eines Raubmörders, und wie sollte es das denn nicht sein? ‚Es hat sich alles so zugetragen, wie im Briefe geschrieben steht!‘ ruft der Ankläger aus. Zunächst ist der Brief in der Trunkenheit geschrieben worden, und in großer Gereiztheit; zweitens, das Geldpaket erwähnt er nur auf die Mitteilungen Ssmerdjäkoffs hin; er selbst hat es nicht gesehen; und drittens, ist der Brief geschrieben worden, nur geschrieben, ob der Mord sich aber auch so zugetragen hat – womit will man das beweisen? Hat der Angeklagte das Geld unter dem Kissen gefunden, hat er es an sich genommen, hat es dieses Geld überhaupt gegeben? Ja, und lief denn der Angeklagte wegen des Geldes zu dem Hause seines Vaters, denken Sie doch daran, vergessen Sie doch dieses eine nicht! Er ist doch Hals über Kopf hingelaufen, aber nicht, um zu rauben, sondern um zu erfahren, wo sie ist, dieses Weib, das ihn zugrunde gerichtet hat! Also ist er nicht nach dem Programme, nicht nach dem Wortlaute seines Briefes hingelaufen, nicht um zu rauben, aus Berechnung zu rauben, sondern plötzlich, unvorhergesehen, in eifersüchtigem Zorn ist er hingelaufen! ‚Ja,‘ sagt man, ‚er ist doch hingelaufen, hat totgeschlagen und wird auch das Geld genommen haben.‘ Aber, frage ich, hat er denn überhaupt erschlagen? Die Beschuldigung, daß er den Vater beraubt habe, weise ich mit Unwillen zurück: Man kann niemanden des Raubes beschuldigen, wenn man nicht ganz genau auf das Geraubte hinweisen kann, das ist ein Axiom! Hat er aber auch wirklich getötet, ohne zu rauben getötet? Ist das nachweisbar? Oder ist auch das eine Dichtung?“

XII.
Und kein Mord

Meine Herren Geschworenen, es handelt sich um ein Menschenleben, da müssen wir vorsichtiger sein. Wie wir gehört haben, hat der Ankläger selbst zugegeben, daß er bis auf den heutigen Tag, bis zur heutigen Gerichtsverhandlung, nicht gewagt habe, den Angeklagten eines vollständig bewußten und beabsichtigten Mordes zu beschuldigen, bis vorhin dieser verhängnisvolle ‚trunkene‘ Brief dem Gericht übergeben wurde! ‚Es ist geschehen, wie es dort geschrieben steht,‘ sagt die Anklage. Ich aber wiederhole noch einmal: Er ist zu ihr gelaufen, nur um zu erfahren, wo sie ist. Das ist doch eine unwiderlegbare Tatsache. Hätte er sie zu Hause gefunden, so wäre er bei ihr geblieben und hätte das im Brief Angedrohte nicht gehalten. Er ist ganz plötzlich und unvorbedachterweise hingelaufen und seines ‚trunkenen‘ Briefes hat er sich in dem Augenblick überhaupt nicht mehr erinnert. ‚Er ergriff aber die Mörserkeule,‘ wird die Anklage hier einwenden. Erinnern Sie sich doch nur, meine Herren, was für eine Psychologie einzig und allein aus dieser einen Mörserkeule entwickelt worden ist, warum er diese Mörserkeule als Waffe angesehen, als Waffe ergriffen haben soll usw. usw. Hierbei ging mir nun der allergewöhnlichste Gedanke durch den Kopf: Wie, wenn diese Mörserkeule nicht auf dem Küchentisch gelegen hätte, von wo der Angeklagte sie ergriffen hat, sondern wenn sie im Schrank gewesen wäre, – so wäre sie doch dem Angeklagten nicht in die Augen gefallen, und er wäre mit leeren Händen, ohne Waffe, davongelaufen und hätte dann überhaupt niemanden erschlagen können. Wie kann denn die Mörserkeule als Beweis dafür genügen, daß er sich vorsätzlich bewaffnet und vorsätzlich ermordet habe? Er hat in den Gasthäusern herumgeschrien, er werde den Vater erschlagen; zwei Tage vorher aber, als er diesen trunkenen Brief geschrieben, ist er ruhig gewesen und hat im Gasthause nur einen Kommis um seinen Platz gebracht, ‚denn ohne Streit konnte Karamasoff doch nicht auskommen‘. Darauf jedoch antworte ich, daß, wenn er sich schon einen Mord ausgedacht, wenn er sogar schon den ganzen Mordplan entworfen hätte, so würde er sich nicht mehr mit dem Kommis gestritten haben, ja, vielleicht wäre er dann überhaupt nicht in das Gasthaus gegangen, denn ein Mensch, der sich mit solchen Dingen beschäftigt, sucht Stille, Heimlichkeit, der möchte unsichtbar sein, damit man nichts von ihm sieht noch hört, ihn womöglich ganz und gar vergißt, und zwar nicht etwa aus Berechnung, sondern aus Instinkt. Meine Herren Geschworenen, die Psychologie hat zwei Enden, und auch wir können Psychologie treiben. Was alle diese trunkenen Schreie im Laufe des ganzen Monats anbelangt, nun, so schreien Betrunkene und Kinder immer viel, besonders wenn sie sich miteinander streiten oder zanken: ‚Ich werde dich erschlagen!‘ sagen sie schon beim kleinsten Ärger, aber gerade sie tun es hinterher nicht. Und selbst dieser verhängnisvolle Brief, – ist er denn nicht auch der Schrei eines Gereizten, der das Gasthaus in betrunkenem Zustande verläßt? Ist das nicht gleichfalls wie: ‚Ich werde euch alle totschlagen, alle ohne Ausnahme!‘ Warum sollte dem nicht so sein? Warum soll dieser verhängnisvolle Brief, warum soll er, im Gegenteil, nicht geradezu – lächerlich sein? Darum, weil man den Vater erschlagen vorgefunden hat, weil ein Zeuge den Angeklagten im Garten, bewaffnet und fortlaufend, gesehen hat und selbst von ihm niedergestreckt worden ist. Darum hat sich alles nach dem schwarz auf weiß Geschriebenen buchstäblich erfüllt, und darum ist der Brief nicht bloß lächerlich, sondern verhängnisvoll! Gott sei Dank, jetzt sind wir beim I-punkte angelangt: ‚Er ist im Garten gewesen, folglich ist er der Mörder.‘ Mit diesen beiden Sätzen: ‚er ist im Garten gewesen‘ – ‚folglich ist er der Mörder‘, scheint mir alles erschöpft zu sein, die ganze Anklage. Aber wie nun, wenn er ihn nicht erschlagen hat, obgleich er dagewesen ist? Oh, ich gebe ja zu, daß die Verkettung der Tatsachen, das Zusammentreffen aller verdächtigen Aussagen von einer gewissen Bedeutsamkeit sein kann. Betrachten Sie jedoch die Tatsachen einzeln, ohne sich von ihrer Verkettung beeinflussen zu lassen: warum, zum Beispiel, will die Anklage die Aussage des Angeklagten, daß er vom Fenster des Vaters fortgelaufen sei, unter keiner Bedingung auch nur als wahrscheinlich zulassen? Denken Sie an die Sarkasmen, die der Ankläger hier in bezug auf die Ehrerbietung und die ‚frommen‘ Gefühle gemacht hat, die sich plötzlich des Mörders bemächtigt haben sollen. Wie aber, wenn in der Tat sich etwas Ähnliches zugetragen hat: und wenn ihn auch keine Ehrerbietung veranlaßt hat, fortzugehen, so kann es doch ein gewisses heiliges Gefühl gewesen sein ...? ‚Meine Mutter muß in diesem Augenblick für mich gebetet haben,‘ sagt der Angeklagte, und behauptet, daß er fortgelaufen sei, sobald er sich überzeugt habe, daß die Sswetlowa nicht beim Vater war. ‚Er konnte sich aber doch nicht durch das Fenster überzeugen,‘ entgegnet uns die Anklage. Warum konnte er denn das nicht? Das Fenster wurde doch auf das vom Angeklagten gegebene Zeichen geöffnet. Bei der Gelegenheit kann Fedor Pawlowitsch ein Wort entschlüpft sein, ein Ausruf hat vielleicht genügt – und das hat den Angeklagten vielleicht sofort davon überzeugt, daß die Sswetlowa nicht bei ihm war. Warum muß man durchaus voraussetzen, daß eine Sache so gewesen sei, wie wir sie uns vorstellen, oder richtiger, wie wir sie uns unbedingt vorstellen wollen? In der Wirklichkeit können tausend Dinge vorübergehend auftauchen, die selbst der feinsten Beobachtung eines Romanschriftstellers entgehen würden. ‚Ja, aber Grigorij hat die Tür offen gesehen, folglich muß der Angeklagte im Hause gewesen sein, und – folglich hat er ihn erschlagen.‘ Von dieser Tür, meine Herren Geschworenen ... Sehen Sie, diese offenstehende Tür hat nur eine Person gesehen, die sich indessen zu der Zeit selbst in einem Zustande befunden hat, der ... nun – möge auch die Tür offen gestanden haben, möge der Angeklagte sie geöffnet und aus dem Gefühl der Selbsterhaltung gelogen haben, ‚was ja so verständlich in seiner Lage wäre,‘ möge er, gut, möge er ins Haus eingedrungen sein – warum muß er ihn dann auch erschlagen haben? Er kann durch die Zimmer gelaufen sein, den Vater sogar gestoßen, geschlagen haben, doch deswegen kann er noch immer, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Sswetlowa nicht bei ihm war, ohne zu erschlagen, wieder fortgelaufen sein, froh darüber, daß sie nicht da war und er den Vater nicht zu erschlagen brauchte. Darum ist er vielleicht einige Minuten später vom Zaun zum alten Grigorij, den er im Jähzorn beschädigt hatte, hinabgesprungen – eben weil er imstande war, ein reines Gefühl, ein Gefühl des Mitleids und des Bedauerns zu empfinden. Er, der soeben der Versuchung, den Vater zu erschlagen, entgangen war, und der nun in seinem reinen Herzen Freude darüber empfand, daß er den Vater nicht getötet hatte! Schön bis zum Entsetzen beschreibt uns der Ankläger den schrecklichen Zustand des Angeklagten im Dorfe Mokroje, als die Liebe sich ihm plötzlich zuwandte und ihn zu neuem Leben aufrief, und als es ihm nun zu lieben unmöglich war, weil vor seinem Bewußtsein die blutige Leiche des Vaters lag und diese Leiche auch schon das Gericht hinter ihm herschickte. Nun hat aber der Ankläger die Möglichkeit einer solchen Liebesleidenschaft in diesem Augenblick immerhin zugelassen und sie nach seiner Psychologie folgendermaßen erklärt: ‚Ein trunkener Zustand war es, noch muß der Verbrecher durch zwei Straßen fahren, bis zum Richtplatze ist noch weit‘ usw. usw. Haben Sie da vielleicht nicht eine andere Person geschaffen, Herr Ankläger? Das möchte ich Sie denn doch fragen. Sollte der Angeklagte wirklich so roh und herzlos sein, daß er in diesem Augenblick an Liebe und Winkelzüge vor Gericht denken konnte, wenn auf seinem Gewissen das Blut seines Vaters lag? Nein, nein und abermals nein! Anderenfalls hätte er, sobald er sich gesagt, daß sie ihn liebte, ‚ihn zu sich heranzog, ihm ein neues Glück verhieß,‘ – oh, ich schwöre es, dann hätte er ein zweifaches, dreifaches Bedürfnis empfunden, sich zu töten, und er hätte sich auch getötet, wenn, wie gesagt, die Leiche des Vaters vor seinem Bewußtsein gelegen hätte! O nein, dann hätte er nicht vergessen, wo seine Pistolen lagen! Ich kenne den Angeklagten: die rohe Herzlosigkeit, die ihm vom Ankläger zugesprochen wird, stimmt nicht mit seinem Charakter überein. Er hätte sich getötet, das ist sicher; er hat sich aber nicht getötet, weil ‚die Mutter für ihn gebetet hatte‘ und sein Herz unschuldig am Blute seines Vaters war. Er quälte sich in dieser Nacht in Mokroje nur um den verwundeten Grigorij und betete zu Gott, daß der Alte wieder zu sich kommen möge, daß der Schlag nicht tödlich sein möge! Warum soll man nicht diese Auslegung der Ereignisse als wahr annehmen? Welch einen sicheren Beweis haben wir dafür, daß der Angeklagte uns belügt? Aber da ist ja die Leiche des Vaters, und man wird uns sofort wieder auf sie hinweisen. Gut, er ist hinausgelaufen, ohne ihn zu erschlagen, wer aber hat dann den Alten erschlagen?

Ich wiederhole es, die ganze Logik der Anklage besteht nur in dieser Frage: wer hat erschlagen, wenn nicht er? Man sagt, daß man niemanden an seine Stelle setzen könne. Meine Herren Geschworenen, verhält es sich wirklich so? Kann man denn wirklich niemand statt seiner beschuldigen? Wir haben gehört, wie der Ankläger alle Personen, die sich in dieser Nacht im Hause befunden haben, an den Fingern aufgezählt hat. Im ganzen waren es fünf Menschen. Ich gebe vollkommen zu, daß drei von ihnen außerhalb jedes Verdachtes stehen: der Erschlagene selbst, der alte Grigorij und seine Frau. Es bleiben also nur noch der Angeklagte und Ssmerdjäkoff übrig. Und siehe da, der Ankläger behauptet mit Pathos, daß der Angeklagte nur deshalb auf Ssmerdjäkoff hinweise, weil er doch auf niemand anderen mehr hinweisen könne, daß aber, wenn noch irgendeine sechste Person oder nur ein Schatten von einer sechsten Person da wäre, der Angeklagte sofort aufgeben würde, Ssmerdjäkoff zu beschuldigen, daß er sich sogar schämen würde, einen so lächerlichen Verdacht auszusprechen, und gegen den Sechsten aussagen würde. Meine Herren Geschworenen, warum kann ich nicht genau das Entgegengesetzte behaupten? Es stehen zwei Menschen vor uns: der Angeklagte und Ssmerdjäkoff, – warum kann ich nicht sagen, daß Sie meinen Klienten nur darum beschuldigen, weil Sie niemand anders zu beschuldigen haben? Und nur darum haben Sie niemanden zu beschuldigen, weil Sie voreingenommen Ssmerdjäkoff von jedem Verdacht ausgeschlossen haben. Ja, es ist wahr, auf Ssmerdjäkoff weisen nur der Angeklagte, seine beiden Brüder und die Sswetlowa hin, sonst niemand. Aber es ist doch noch ein Etwas vorhanden, das auf ihn hinweist! Das ist eine gewisse, wenn auch unklare Gärung, eine Stimmung, eine Frage, die wie ein Verdacht durch die Gesellschaft geht: ein Gerücht verbreitet sich ... es ist da eine allgemeine Erwartung. Schließlich sind da auch noch einige sehr bemerkenswerte Tatsachen, die zeugen könnten, wenn sie auch ein wenig unbestimmt sind, was ich zugeben muß: erstens ist da dieser epileptische Anfall gerade am Tage der Katastrophe, ein Anfall, den der Ankläger so sehr zu verteidigen sich bemüht hat. Dann ist da dieser plötzliche Selbstmord Ssmerdjäkoffs am Vorabend der Gerichtsverhandlung. Und ebenso unerwartet kommt nun, heute vor Gericht, die Aussage des einen Bruders des Angeklagten, der bis dahin an die Schuld des Bruders geglaubt hatte, und der nun plötzlich das Geld bringt und Ssmerdjäkoff als den Mörder angibt. Oh, ich bin vollkommen überzeugt, genau so wie der Gerichtshof und die Staatsanwaltschaft, daß Iwan Karamasoff an einem Nervenfieber erkrankt ist, daß seine Aussage in der Tat nur ein verzweifelter, im Fieber ersonnener Versuch, seinen Bruder zu retten, sein kann, und er bloß die Schuld auf den Erhängten abwälzen wollte. Immerhin ist abermals der Name Ssmerdjäkoff genannt worden, und abermals scheint man etwas Rätselhaftes gehört zu haben. Da ist irgend etwas noch nicht zu Ende gesprochen, meine Herren Geschworenen! Da fehlt noch ein Schluß, und das letzte Wort wird vielleicht noch einmal gesagt werden! Doch lassen wir das jetzt beiseite. Es ist eine Sache, die uns noch bevorsteht. Der Gerichtshof hat nichtsdestoweniger beschlossen, die Verhandlung fortzuführen. Und so will ich denn vorläufig etwas zu der Charakteristik des verstorbenen Ssmerdjäkoff bemerken, die der Ankläger mit solchem Geschick vor uns entrollt hat. Obgleich ich das Talent meines Widersachers aufrichtig bewundert habe, kann ich nicht mit den Grundzügen dieser seiner Charakteristik übereinstimmen. Ich bin bei Ssmerdjäkoff gewesen, ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen, und ich muß gestehen, er hat auf mich einen ganz anderen Eindruck gemacht. Gesundheitlich war er schwach, das ist wahr, aber was seinen Charakter und sein Herz anbelangt – oh, da war er nicht schwach, nein, in diesen beiden Dingen war der Mensch durchaus nicht so schwach, wie der Ankläger von ihm glaubt! Auch habe ich durchaus keine Schüchternheit an ihm wahrgenommen, jene Schüchternheit, die der Ankläger für so charakteristisch an ihm hält. Treuherzigkeit habe ich an ihm erst recht nicht bemerkt, im Gegenteil, ich fand ihn schrecklich mißtrauisch, was er nur durch Naivität zu verbergen suchte. Seinen Verstand fand ich geradezu hoch entwickelt, während die Anklage ihn im Gegenteil als einen Schwachsinnigen hinstellte. Auf mich hat er einen ganz bestimmten Eindruck gemacht: ich bin mit der Überzeugung fortgegangen, daß er ein durchaus schlechter, maßlos ehrgeiziger, rachsüchtiger, ein boshafter und neidischer Mensch ist. Ich habe einige Erkundigungen über ihn eingezogen, und ich habe folgendes erfahren: Er hat seine Herkunft gehaßt, hat sich ihrer geschämt und hat vor Wut geknirscht bei dem Gedanken, daß er von der ‚Stinkenden‘ abstammte. Gegen den Diener Grigorij und dessen Frau, seine beiden Wohltäter von Kindheit an, hat er sich unehrerbietig betragen. Rußland hat er verflucht und verspottet. Er hat davon geträumt, nach Frankreich zu fahren und einen Franzosen aus sich zu machen. Er hat oft davon gesprochen, daß ihm dazu die Mittel fehlten. Mir scheint, daß er niemanden geliebt hat, außer sich selbst. Jedenfalls hat er sich bis zur Krankhaftigkeit hochgeschätzt. Bildung hat er nur in guten Kleidern, reinen Plätthemden und gewichsten Stiefeln gesehen. Er hat sich – und dafür gibt es Beweise – für den unehelichen Sohn Fedor Pawlowitschs gehalten und hat seine Stellung im Vergleich zu den ehelichen Kindern seines Herrn gehaßt: ‚Ihnen gehört alles, mir aber nichts, sie haben alle Rechte, sind die Erben, ich aber bin nur der Koch.‘ Er hat mir mitgeteilt, daß er mit Fedor Pawlowitsch zusammen das Geld ins Kuvert getan habe. Die Bestimmung dieser Summe – mit dreitausend Rubeln hätte er seine Karriere machen können – war ihm natürlich gleichfalls verhaßt. Dazu hat er noch die dreitausend Rubel in hellen regenbogenfarbenen Kreditbilletten gesehen – danach habe ich ihn ausdrücklich gefragt. Oh, zeigen Sie niemals einem neidischen und eigensüchtigen Menschen viel Geld auf einmal! Er aber hat damals zum erstenmal eine so große Summe in der Hand gehalten. Der Eindruck dieses regenbogenfarbenen Pakets konnte sich in seiner Einbildungskraft widerspiegeln, bis zur höchsten Erregung, wenn auch zunächst ohne Folgen. Der verehrte Ankläger hat mit außergewöhnlicher Feinheit alle pro und contra Annahmen der Möglichkeit, Ssmerdjäkoff des Mordes zu beschuldigen, vor uns skizziert und uns noch besonders gefragt: Wozu sollte er einen Epilepsieanfall simuliert haben? Aber er braucht ihn ja gar nicht simuliert zu haben, der Anfall konnte doch auch ganz von selbst und natürlich gekommen sein. Doch ebenso natürlich kann der Anfall dann auch wieder vorübergegangen und kann der Kranke aufgewacht sein. Nehmen wir an, er hat sich nicht sofort erholt, aber er ist vielleicht zu sich gekommen und aufgewacht, wie das bei den Fallsüchtigen häufig vorkommt. Die Anklage fragt: In welchem Augenblick hat denn Ssmerdjäkoff den Mord verübt? Diesen Augenblick festzustellen, ist außerordentlich leicht. Er ist aus tiefem Schlaf erwacht – denn er schlief doch nur: nach einem Anfalle verfällt der Epileptiker immer in einen tiefen Schlaf – genau in dem Augenblick, als der alte Grigorij den fortlaufenden Angeklagten auf dem Zaune am Fuß packte und über den ganzen Garten hin: ‚Vatermörder!‘ schrie. Dieser ungewöhnliche Schrei durch die Stille und Dunkelheit kann Ssmerdjäkoff sehr wohl aufgeweckt haben, da sein Schlaf zu der Zeit durchaus nicht mehr so fest zu sein brauchte: er hätte schon eine Stunde vorher erwachen können. Daraufhin kann er sehr wohl aus dem Bett aufgestanden und unbewußt, ohne jegliche Absicht, hinausgegangen sein, um zu sehen, was dieser Schrei auf sich hatte. In seinem Kopf ist noch krankhafter Dunst, das Bewußtsein schlummert noch, – da ist er aber schon im Garten: Er tritt an die erleuchteten Fenster heran und erfährt von seinem Herrn, der natürlich über sein Erscheinen sehr erfreut ist, die schreckliche Nachricht. Er überlegt sofort. Von dem erschrockenen Herrn erfährt er alle Einzelheiten. Und plötzlich durchzuckt sein zerstörtes und krankes Gehirn ein Gedanke, – ein schrecklicher, aber verführerischer und unabweisbarer Gedanke: den Herrn zu ermorden, die Dreitausend zu nehmen und später alles auf den jungen Herrn zu wälzen! Wen würde man verdächtigen, wenn nicht den jungen Herrn, denn er war dagewesen, das konnte man beweisen?! Eine schreckliche Gier nach Geld, nach der Beute, konnte ihn, zusammen mit der Vorstellung von der Straflosigkeit, gepackt haben. Oh, diese plötzlichen und unabweisbaren Ausbrüche stellen sich so oft bei einer sich darbietenden Gelegenheit ein – hauptsächlich bei Mördern, die sich noch vor einer Minute nicht bewußt waren, daß sie töten würden! Und nun: Ssmerdjäkoff konnte zum Herrn hineingehen und seinen Plan ausführen, aber womit, mit welcher Waffe? Mit dem ersten besten Stein, den er im Garten ergriffen hatte. Aber wozu, zu welchem Zweck? Nun, mit dreitausend Rubeln kann man doch Karriere machen! Bitte, ich widerspreche mir durchaus nicht: Das Geld kann ja doch existiert haben. Und Ssmerdjäkoff wußte sogar ganz allein, wo es zu finden war, wo es beim Herrn lag. – Aber der Umschlag des Geldes, das zerrissene Kuvert ‚auf dem Fußboden‘? Der Ankläger machte, als er vom Paket sprach, eine außerordentlich feine Bemerkung darüber, daß nur ein ungewohnter Dieb, wie z. B. Karamasoff, das Kuvert auf dem Fußboden hätte liegen lassen können, Ssmerdjäkoff dagegen niemals ein Beweisstück seines Verbrechens liegen gelassen haben würde. Meine Herren Geschworenen, als ich das hörte, fühlte ich plötzlich, daß er mir etwas bereits Bekanntes sagte. Stellen Sie sich vor: Genau dieselbe Bemerkung, diesen Hinweis darauf, daß nur Karamasoff mit dem Paket so hätte verfahren können, habe ich genau vor zwei Tagen von Ssmerdjäkoff selbst gehört, und er hat mich damit sogar in Erstaunen gesetzt: Mir fiel nämlich sofort auf, daß er sich naiv stellte, um mir diesen Gedanken aufzubinden. Ich sollte selbst zu diesem Schluß kommen. Jawohl, er hat sich ordentlich bemüht, mir diesen Gedanken einzugeben. Und jetzt frage ich: Hat er nicht auch dem verehrten Ankläger diesen Gedanken in derselben Weise eingeflüstert? Man wird sagen: Aber die Alte, die Frau Grigorijs? Sie hat doch gehört, wie der Kranke neben ihr die ganze Nacht gestöhnt hat. Es ist möglich, daß sie es gehört hat, aber die Einbildungskraft ist oft sehr stark. Ich kannte eine Dame, die sich bitter beklagte, daß die ganze Nacht ein Hund auf dem Hofe sie durch fortwährendes Bellen gestört und sie daher fast überhaupt nicht geschlafen habe. Dabei hatte das arme Tier, wie sich später herausstellte, im ganzen nur zwei oder dreimal gebellt. Aber das ist ja ganz natürlich! Der Mensch schläft, und plötzlich hört er ein Stöhnen, er erwacht und ärgert sich, daß man ihn gestört hat, schläft aber augenblicklich wieder ein. Nach zwei Stunden hört er wieder ein Stöhnen, wieder wacht er auf, und wieder schläft er ein; schließlich wieder ein Stöhnen, und zwar wiederum nach zwei Stunden, im ganzen also nur dreimal in der Nacht. Am Morgen steht er auf und beklagt sich, daß er in der Nacht ununterbrochen gestört worden sei. So muß es ihm auch durchaus erscheinen! die Zwischenräume von zwei Stunden hat er verschlafen und erinnert sich ihrer nicht, erinnert sich nur der Minuten des Erwachens, und da scheint es ihm denn, er sei die ganze Nacht gestört worden. Aber warum, warum, ruft die Anklage aus, warum hat Ssmerdjäkoff in seinem Schreiben vor dem Tode nicht alles eingestanden? ‚Zu dem einen reichte das Gewissen,‘ haben wir doch noch vor kurzem gehört, ‚zum anderen aber nicht.‘ Aber erlauben Sie: Gewissen – das ist doch schon Reue, und Reue konnte bei diesem Selbstmörder vielleicht überhaupt nicht vorhanden gewesen sein, sondern nur Verzweiflung. Verzweiflung aber und Reue sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die Verzweiflung kann boshaft und unstillbar sein, und der Selbstmörder kann in dem Augenblick, als er Hand an sich legte, diejenigen sogar doppelt gehaßt haben, die er sein ganzes Leben lang beneidet hat. Meine Herren Geschworenen, vermeiden Sie es, einen Justizirrtum zu begehen! Warum soll das unwahrscheinlich sein, was ich Ihnen soeben vorgelegt und geschildert habe? Finden Sie einen Fehler in meiner Auslegung, finden Sie, daß sie unmöglich, absurd ist? Wenn nur ein Schatten von Möglichkeit, nur ein Schatten von Wahrheit in meiner Annahme ist – so enthalten Sie sich einer Verurteilung! Und kann denn hier nur von einem Schatten die Rede sein? Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, ich glaube an meine Auslegung, die ich Ihnen soeben auseinandergesetzt habe, an meine Erklärung des Mordes! Doch hauptsächlich, hauptsächlich regt es mich auf, und der Gedanke erbittert mich geradezu, daß aus der ganzen Menge von Tatsachen, die die Anklage gegen den Angeklagten auftürmt, nicht eine einzige Tatsache bewiesen und daher unwiderruflich ist, und daß der Unglückliche nur durch die Verkettung der Tatsachen zugrunde gehen soll. Ja, diese Verkettung der Tatsachen ist schrecklich! Dieses Blut, dieses von den Fingern herabfließende Blut, die blutdurchtränkte Wäsche, die schwarze Nacht, durch die der Schrei ‚Vatermörder!‘ gellt, und der mit verwundetem Schädel am Boden Liegende, darauf diese Unmenge von Hinweisen, Gesten, Ausrufen des Angeklagten – oh, alles das kann stark beeinflussen! Kann das aber auch Ihre Überzeugung beeinflussen, kann das auch Ihre Überzeugung bestechen, meine Herren Geschworenen? Denken Sie daran, daß Ihnen die unumschränkte Macht zu binden und zu lösen gegeben ist. Doch je größer die Gewalt ist, um so schwerer ist ihre Anwendung. Nicht ein Jota werde ich von dem aufgeben, was ich soeben gesagt habe. Doch möge es sein, nehmen wir an, daß ich auf einen Augenblick mit der Anklage übereinstimme: Daß mein unglücklicher Klient seine Hände mit dem Blute des Vaters befleckt hat. Das ist nur eine Annahme, meine Herren. Ich wiederhole es, daß ich auch nicht einen Augenblick an seiner Unschuld zweifle. Aber nehmen wir einmal an, daß der Angeklagte des Vatermordes schuldig ist. So hören Sie bitte meine Rede bis zu Ende, selbst wenn ich sogar diese Annahme zulasse. Mir liegt etwas auf dem Herzen, was ich aussprechen möchte, denn ich fühle auch in Ihren Herzen und Gedanken diesen großen Kampf ... Verzeihen Sie mir dieses Wort, meine Herren Geschworenen, von Ihren Herzen und Gedanken. Doch ich möchte bis zum Ende wahr und aufrichtig bleiben. Meine Herren, seien wir es einmal alle – seien wir wahr und aufrichtig!“

An dieser Stelle wurde der Verteidiger durch ziemlich starken Applaus unterbrochen. In der Tat, seine letzten Worte hatte er in einem so ehrlich klingenden Tone gesprochen. Alle fühlten, daß er wirklich etwas zu sagen hatte, und daß das, was er jetzt sagen würde, vielleicht das allerwichtigste war. Als aber der Vorsitzende den Applaus hörte, klingelte er sofort und drohte mit erhobener Stimme an, daß er den Saal „räumen“ lassen werde, falls Ähnliches noch einmal vorkommen sollte. Alles wurde still, und Fetjukowitsch begann von neuem – diesmal mit einer geradezu beseelten Stimme, die jetzt ganz anders klang als vorhin.

XIII.
Der Übertreter des Gebots

Nicht nur die Verkettung der Tatsachen vernichtet meinen Klienten,“ hub er an, „nein, meine Herren Geschworenen, im Grunde ist es nur eine einzige Unleugbarkeit, die ihm den Hals bricht: das ist – der Leichnam des alten Vaters! Wäre es ein gewöhnlicher Mord, so würden Sie bei der Richtigkeit, Unbewiesenheit und Phantastik der sogenannten Anklagebeweise – wenn man jeden von ihnen einzeln und nicht in der Gesamtheit betrachtet –, so würden Sie, sage ich, die Anklage zurückweisen, oder Sie würden sich mindestens bedenken, das Leben eines Menschen nur auf Grund des Vorurteils, das er leider gar zu sehr verdient hat, zugrunde zu richten! Hier aber handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Mord, sondern um einen Vatermord! Das imponiert! Und zwar in einem solchen Maße, daß selbst die Nichtigkeit und Unbewiesenheit der anklagenden Tatsachen selbst dem Vorurteilslosesten nicht mehr so nichtig und nicht mehr so unbewiesen erscheinen. Wie nun einen solchen Angeklagten rechtfertigen? Wie, wenn er den Mord verübt hat und ungestraft entkommt? – Das ist es, was ein jeder sich in seinem Herzen unwillkürlich, instinktiv fragt. Ja, es ist ein schreckliches Ding, das Blut des Vaters zu vergießen, das Blut desjenigen, der mich gezeugt, geliebt, sein Leben für mich nicht geschont hat, der von meinen ersten Kinderjahren an für mich bei jeder Kinderkrankheit gezittert, sein ganzes Leben lang nur für mein Glück gearbeitet und gelitten, nur von meinen Freuden und Erfolgen gelebt hat! Ja, einen solchen Vater zu erschlagen – das wäre nicht auszudenken! Meine Herren Geschworenen, was ist ein Vater, ein wirklicher Vater, was ist das für ein Wort, was für eine unheimlich große Idee liegt in diesem großen Worte? Wir haben soeben darauf hingewiesen, was ein wahrer Vater ist, und was er sein soll. In dem vorliegenden Falle jedoch, der uns jetzt alle so beschäftigt, und der uns quält und bis ins Herz getroffen hat, in diesem vorliegenden Falle entspricht der Vater, der verstorbene Fedor Pawlowitsch Karamasoff, nicht im geringsten, nicht im allermindesten jenem Begriff von einem Vater, den wir im Herzen tragen. Das ist das Unglück. Ja, in der Tat, gar mancher Vater ist das Unglück seiner Kinder. Betrachten wir dieses Unglück jetzt etwas aus der Nähe, – und wir dürfen doch, meine Herren Geschworenen, im Hinblick auf die Wichtigkeit der bevorstehenden Entscheidung, vor nichts zurückschrecken. Gerade jetzt dürfen wir weniger denn je mit den Händen gewisse Ideen zurückscheuchen, wie Kinder oder ängstliche Frauen, um den treffenden Vergleich des verehrten Anklägers zu gebrauchen. Nun hat mein hochgeachteter Gegner – der schon mein Gegner war, noch bevor ich mein erstes Wort gesprochen hatte – hat mein Gegner mehr als einmal ausgerufen: ‚Nein, ich will die Verteidigung des Angeklagten keinem anderen überlassen –, ich bin der Ankläger, ich will auch der Verteidiger sein!‘ Das hat er, wie gesagt, ein paarmal ausgerufen, indessen hat er aber zu erwähnen vergessen, daß der Angeklagte, wenn er ganze dreiundzwanzig Jahre lang eine solche Dankbarkeit für ein einziges Pfund Nüsse im Herzen bewahrt hat, das ihm der einzige Mensch geschenkt hat, der während seines Aufenthaltes als Kind im Elternhause freundlich zu ihm gewesen ist, daß ein solcher Mensch in diesen dreiundzwanzig Jahren auch nicht hat vergessen können, wie er auf dem Hinterhofe barfüßig umhergelaufen ist, mit bloßen Beinchen und in ‚Höschen an einem Knopf‘, wie dies uns der menschenfreundliche Doktor Herzenstube geschildert hat. Meine Herren Geschworenen, wozu sollen wir noch näher dieses Unglück untersuchen und wiederholen, was doch alle schon wissen! Was hat mein Klient hier vorgefunden, als er nach Haus, zum Vater kam? Und warum, warum nur stellt man meinen Klienten als gefühllosen Egoisten, als Ungeheuer dar? Er ist gewiß zügellos, wild und wüst, und dafür verurteilen wir ihn auch jetzt. Wer aber ist schuld an seinem unglücklichen Leben, wen trifft die Schuld, daß er bei guten Anlagen eine so schlechte Erziehung erhalten hat, dieser kleine verlassene Junge mit dem prächtigen liebebedürftigen Herzen? Hat ihm denn auch nur ein einziger Mensch Vernunft beigebracht, hat ihm denn überhaupt jemand auch nur ein wenig Liebe in seiner freudlosen Kindheit gezeigt? Mein Klient ist nur unter Gottes Obhut aufgewachsen, also mit anderen Worten: wie ein wildes Tier. Vielleicht hat er sich danach gesehnt, seinen Vater nach so langer Zeit wiederzusehen, er hat vielleicht schon tausendmal, wenn er sich seiner Kindheit wie eines Traumes entsann, die widerlichen Erinnerungen verscheucht und sich mit ganzer Seele danach gesehnt, seinen Vater rechtfertigen und umarmen zu können! Und nun, was findet er hier? Mit zynischem Spott, mit Mißtrauen und Betrügereien wegen des strittigen Geldes wird er empfangen. Die Gespräche und die Lebensphilosophie, die er täglich ‚beim Kognak‘ mit anhören muß, verursachen ihm fast Übelkeit. Und alsbald sieht er, wie dieser Vater mit seinem, des Sohnes Gelde, ihm, dem Sohne, die Geliebte abspenstig machen will. Das ist mehr als ekelhaft und grausam, meine Herren Geschworenen. Und dieser selbe alte Vater beklagt sich nun bei allen über die Unehrerbietigkeit des Sohnes, sucht ihn in der ganzen Gesellschaft anzuschwärzen, mit Schmutz zu bewerfen, ihm zu schaden, wo er nur kann, er verleumdet ihn überall, und schließlich kauft er seine Wechsel auf, um ihn, seinen leiblichen Sohn, ins Gefängnis zu bringen! Meine Herren Geschworenen, diese Seelen, diese dem Anscheine nach wilden, heftigen, zügellosen Menschen, wie mein Klient, sind meistenteils sehr zärtlich, nur zeigen sie es nicht. Lachen Sie bitte nicht, lachen Sie nicht über meine Worte! Der verehrte Ankläger hat meinen Klienten vorhin in unbarmherziger Weise zu verspotten gesucht, indem er in ganz besonderer Art andeutete, daß Dmitrij Karamasoff Schiller liebe: alles ‚Schöne und Hehre‘. Ich hätte mich an seiner Stelle darüber nicht lustig gemacht, wenn ich der Ankläger gewesen wäre. Denn diese Herzen, – oh, erlauben Sie mir, daß ich diese Herzen verteidige, die so selten verstanden und so oft ungerecht beurteilt werden! Diese Herzen sehnen sich so oft nach Zärtlichkeit, Schönheit und Gerechtigkeit, sie tun es gleichsam aus Widerspruch zu sich selbst, zu ihrem wüsten Leben, ihrer Wildheit. Sie sehnen sich vielleicht unbewußt danach, aber sie sehnen sich mit ihrer ganzen Leidenschaft. Äußerlich leidenschaftlich und hart, sind sie fähig, bis zur Qual etwas liebzugewinnen, ein Weib zum Beispiel, und das lieben sie dann mit einer geistigen, einer höheren Liebe. Ich bitte Sie wiederum, nicht über mich zu lachen. Ich wiederhole: das pflegt gerade bei diesen Naturen am häufigsten vorzukommen. Nur können sie ihre Leidenschaft, die zuweilen gewiß sehr roh ist, nicht verbergen, und das ist es dann, was allen sofort an ihnen auffällt. Jawohl: das wird sofort bemerkt. Den inneren Menschen aber sieht niemand. Doch ihre Leidenschaften werden schnell gestillt, und dieser anscheinend rohe und grausame Mensch sucht in der Nähe eines edlen und schönen Wesens nur Erneuerung, sucht die Möglichkeit, sich zu bessern, gut zu werden, ehrlich und edel, oder ‚schön und erhaben‘, wie sehr dieses Wort auch verspottet werden mag. Ich habe gesagt, daß ich nicht wage, über den Roman meines Klienten mit Fräulein Werchoffzeff zu sprechen. Ich denke aber, daß mir doch ein halbes Wort über ihn gestattet sein wird. Wir alle haben vorhin gehört – nicht die Aussage, sondern nur das wahnsinnige Geschrei eines Weibes, das sich rächen will. Doch nicht ihr, oh, wahrlich nicht, ihr steht es zu, ihm einen Treubruch vorzuwerfen, denn sie, sie selbst hat ihm die Treue zuerst gebrochen. Hätte sie nur einen Augenblick Zeit gehabt, nachzudenken, so würde sie bestimmt nicht eine solche Aussage gemacht haben. Meine Herren Geschworenen, glauben Sie ihr nicht, nein, mein Klient ist kein ‚Auswurf des Menschengeschlechts‘, kein ‚Ungeheuer‘, wie sie ihn vorhin genannt hat! Der gekreuzigte Menschenfreund hat gesagt: ‚Ich bin der gute Hirt, ein guter Hirt gibt seine Seele hin für seine Schafe, auf daß kein einziges untergehe ...‘ Richten auch wir keine Menschenseele zugrunde! Ich habe soeben gefragt, was das Wort ‚Vater‘ bedeutet, und ich habe gesagt, daß es ein großes Wort, eine uns teure Benennung sei. Doch, meine Herren Geschworenen, mit einem Worte muß man ehrlich umgehen, und ich verlange, daß man jedem Dinge seinen richtigen Namen gibt, nicht aber, daß man Worte, die uns teuer sind, mißbraucht. Und darum sage ich dreist: Ein Vater, wie der erschlagene alte Karamasoff, kann nicht Vater genannt werden, er ist dieses Namens nicht wert! Die Liebe zum Vater ist, wenn sie vom Vater nicht gerechtfertigt wird, eine Albernheit, eine Unmöglichkeit. Liebe kann man nicht aus Nichts schaffen, nur Gott allein vermag aus Nichts etwas zu schaffen. ‚Väter, betrübet nicht eure Kinder‘, schreibt der Apostel aus der Fülle seines liebeglühenden Herzens heraus. Nicht wegen meines Klienten führe ich hier diese heiligen Worte an, um aller Väter willen rufe ich sie uns wieder ins Gedächtnis. Wer hat mir die Macht und das Recht gegeben, den Vätern Liebe zu lehren? Niemand. Aber als Mensch und als Staatsbürger rufe ich die Väter auf – vivos voco! Wir weilen nicht lange hier auf Erden, wir tun viel üble Taten, wir reden viel üble Worte. Darum aber sollten wir alle den geeigneten Augenblick unseres Zusammenseins benutzen, um einander ein gutes Wort zu sagen. So tue denn auch ich: solange ich an diesem Platze stehe, will ich meinen Augenblick benutzen. Nicht umsonst ist uns diese Tribüne durch höchsten Willen geschenkt worden – von ihr aus hört uns ganz Rußland. Nicht nur zu den hier versammelten Vätern rede ich, sondern allen Vätern rufe ich zu: ‚Väter, betrübet nicht eure Kinder!‘ Ja, erfüllen wir zuerst selbst das Gebot Christi – dann erst können wir auch von unseren Kindern die Erfüllung der Gebote verlangen! Andernfalls sind wir nicht die Väter, sondern die Feinde unserer Kinder, und auch sie sind dann nicht unsere Kinder, sondern unsere Feinde, und wir selbst machen sie zu unseren Feinden! ‚Mit welchem Maße du messest, wird dir wiedergemessen werden‘ – das sage nicht ich, das droht uns das Evangelium an: Mit dem Maße sollst du wiedermessen, mit dem dir gemessen wird. Wie soll man nun die Kinder anklagen, wenn sie uns mit demselben Maße wiedermessen, mit dem wir messen? In Finnland kam vor kurzem ein Mädchen, eine Dienstmagd, in den Verdacht, im geheimen ein Kind geboren zu haben. Man fing an, sie zu beobachten, und schließlich fand man auf dem Hausboden, ganz unter dem Dache, in einer Ecke unter Ziegelsteinen ihren Koffer, von dem niemand etwas gewußt hatte. Und in diesem Koffer fand man die kleine Leiche ihres neugeborenen Kindes. Im selben Koffer fand man außerdem noch die Skelette zweier schon früher von ihr geborener und, wie sie selbst eingestanden hat, von ihr im Augenblick der Geburt umgebrachter Kinder. Meine Herren Geschworenen, ist das nun eine Mutter ihrer Kinder? Wohl hat sie sie geboren, aber ist sie ihnen denn eine Mutter gewesen? Wer von uns wird wagen, sie mit dem heiligen Mutternamen zu nennen? Seien wir mutig, meine Herren Geschworenen, seien wir sogar kühn, denn wir sind verpflichtet, es zu sein, besonders in diesem Augenblick, und uns nicht vor gewissen Worten und Ideen zu fürchten, wie die Moskauer Kaufmannsfrauen, die vor ‚Metall‘ und ‚Schwefeläther‘ Angst haben.[31] Nein, beweisen wir, daß auch wir in den letzten zehn Jahren der Entwicklung fortgeschritten sind, und sagen wir gerade heraus: Der Erzeuger ist noch nicht Vater, Vater ist, wer nicht nur erzeugt, sondern den Namen Vater auch verdient hat. Oh, gewiß, es gibt auch noch eine andere Deutung, eine andere Auffassung und Auslegung des Wortes Vater, die verlangt, daß mein Vater auch dann, wenn er ein Ungeheuer ist, wenn er zum Verbrecher an seinem Kinde geworden ist, immer noch mein Vater bleibe, und zwar nur darum, weil er mich erzeugt hat. Doch diese Bedeutung ist sozusagen schon eine mystische, die ich nicht mit dem Verstande begreifen, sondern nur mit dem Glauben annehmen kann, oder richtiger gesagt, auf Treu und Glauben, wie es uns mit vielem anderen ergeht, das wir nicht begreifen können, und an das zu glauben uns lediglich die Religion gebietet. Aber ein solcher Fall mag dann außerhalb des Bereiches des wirklichen Lebens bleiben. Im Bereiche des wirklichen Lebens dagegen, das nicht nur seine besonderen Rechte hat, sondern selbst auch große Pflichten auferlegt, – in diesem Bereiche müssen wir, und sind wir sogar verpflichtet, wenn wir menschlich und Christen sein wollen, nur diejenigen Überzeugungen durchzuführen, die von der Vernunft und der Erfahrung gutgeheißen, die durch den Schmelzofen der Analyse hindurchgegangen sind. Mit einem Wort, wir haben vernünftig zu handeln und nicht unvernünftig, wie etwa im Traum und in der Phantasie, damit wir den Menschen keinen Schaden zufügen, damit wir keinen Menschen unnütz quälen und zugrunde richten. Dann, dann erst wird es eine wirklich christliche Tat sein, nicht nur eine mystische, sondern eine vernünftige und eine bereits wahrhaft menschenfreundliche Tat ...“

Bei diesen Worten erhob sich an vielen Stellen des Saales starker Applaus, aber Fetjukowitsch begann sogleich mit den Armen zu fuchteln, als flehe er darum, ihn nicht zu unterbrechen und ihn ausreden zu lassen. Im Augenblick wurde es still. Der Redner fuhr fort:

„Glauben Sie denn, meine Herren Geschworenen, daß solche Fragen unsere Kinder unberührt lassen können, wenn sie, sagen wir, schon Jünglinge sind, oder, sagen wir, wenn sie schon angefangen haben nachzudenken? Nein, das können sie nicht, und wir können auch keine unmögliche Schonung von ihnen verlangen. Der Anblick eines unwürdigen Vaters, besonders im Vergleich mit anderen, würdigen Vätern seiner Altersgenossen, veranlaßt den Jüngling unwillkürlich zum Nachdenken und gibt ihm unwillkürlich qualvolle Fragen ein. Auf diese Fragen aber wird ihm immer nur die eine Bürokratenantwort zuteil: ‚Er hat dich erzeugt, du bist Blut von seinem Blut, folglich mußt du ihn lieben.‘ Wie soll da der Jüngling nicht ernster darüber nachdenken und sich nicht unwillkürlich fragen: ‚Ja, hat er mich denn geliebt, als er mich zeugte?‘ und er wundert sich selbst immer mehr darüber. ‚Hat er mich denn um meinetwillen erzeugt? Er kannte mich doch gar nicht, er hat ja nicht einmal gewußt, welch eines Geschlechtes ich sein würde, er hat vielleicht überhaupt nicht an mich gedacht, in jenem Augenblick der Leidenschaft, die vielleicht nur vom Weine herrührte, und in dem er mir vielleicht bloß die Neigung zum Trunke vererbte. Das sind seine ganzen Wohltaten an mir ... Warum nun soll ich ihn jetzt mein ganzes Leben lang dafür lieben, daß er mich zwar erzeugt, dann aber, seit dem ersten Tage meines Lebens mich überhaupt nicht geliebt hat?‘ Diese Fragen werden Ihnen vielleicht roh und grausam erscheinen, doch fordern Sie von einem so jungen Geiste nicht Unmögliches, verlangen Sie nicht, daß er sich mäßige und in allem ebenso denke wie seine Lehrer. ‚Jage die Natur zur Tür hinaus, sie fliegt durchs Fenster wieder herein.‘ Und vor allen Dingen, ja, vor allen Dingen fürchten wir uns nicht vor ‚Metall‘ und ‚Schwefeläther‘ und entscheiden wir über die Frage so, wie es Vernunft und Nächstenliebe verlangen, und nicht so, wie mystische Begriffe vorschreiben. Wie aber soll man darüber entscheiden? Sehr einfach: Mag der Sohn vor seinen Vater hintreten und ihn nicht leichtfertig, sondern ernst und bedacht fragen: ‚Vater, sage du mir: Warum soll ich dich lieben? Vater, beweise mir, daß ich dich lieben muß.‘ Und wenn dieser Vater dann imstande und fähig ist, ihm zu antworten und zu beweisen, so wird es eine gute Familie sein, die nicht nur auf mystischem Vorurteil allein beruht, sondern auf vernünftigen, selbstbewußten und streng humanen Grundlagen. Im entgegengesetzten Falle, wenn der Vater es ihm nicht beweisen kann – so ist die Familie aufgelöst, so ist ihr Ende gekommen: Er hört auf, Vater zu sein, und der Sohn erlangt die Freiheit und das Recht, seinen Vater hinfort für einen ihm Fremden und sogar für seinen Feind zu halten. Meine Herren Geschworenen, unsere Tribüne sollte die Schule der Wahrheit und der gesunden Auffassung sein!“

Hier wurde der Redner durch unbändigen, beinahe rasenden Applaus unterbrochen. Selbstverständlich, es applaudierte nicht der ganze Saal, aber immerhin reichlich die Hälfte des ganzen Publikums. Es waren die Väter und Mütter, die Beifall klatschten. Von oben, wo die Damen saßen, hörte man Beifallsrufe, winkte man mit den Taschentüchern. Der Vorsitzende griff nach seiner Glocke und begann aus allen Kräften zu läuten. Das Benehmen des Publikums hatte ihn offenbar sehr empört. Trotzdem wagte er nicht, den Saal räumen zu lassen, wie er noch kurz vorher gedroht hatte: Selbst die ehrwürdigen, hohen Standespersonen, die hinter dem Gerichtshofe auf besonderen Lehnstühlen saßen, die alten Herren mit den Sternen auf den Röcken, selbst die applaudierten und gaben dem Redner ihren Beifall zu erkennen. So begnügte sich denn der Vorsitzende, als der Lärm sich gelegt hatte, mit der strengen Wiederholung derselben Androhung, den Saal „räumen“ zu lassen, und der triumphierende Fetjukowitsch ergriff von neuem das Wort.

„Meine Herren Geschworenen, Sie erinnern sich dieser furchtbaren Nacht, von der heute schon so viel gesprochen worden ist, in der der Sohn über den Zaun geklettert war, der des Vaters Besitztum einschloß, und wie dieser Sohn dann schließlich vor seinen Vater trat und Auge in Auge seinem Erzeuger, seinem Feinde und Beleidiger gegenüberstand. Ich behaupte, und ich bestehe mit ganzem Nachdruck darauf, daß er nicht um des Geldes willen in den Garten gelaufen war. Die Beschuldigung, er habe einen Raubmord verübt, ist vollkommen unsinnig, ist eine Ungereimtheit, wie ich vorhin schon auseinandergesetzt habe. Und auch nicht, um ihn zu erschlagen, ist er bei seinem Vater eingedrungen. Wenn er schon früher diese Absicht gehabt hätte, so würde er sich doch wenigstens mit einer Waffe versehen haben, denn diese kleine Mörserkeule hat er ja doch nur unwillkürlich ergriffen, ohne selbst zu wissen warum und wozu. Nehmen wir jetzt an, daß er das Zeichen an die Tür geklopft hat und ins Haus eingedrungen ist – ich habe ja schon gesagt, daß ich keinen Augenblick an diese Fabel glaube, – aber nehmen wir jetzt einmal an, daß es so gewesen sei! Meine Herren Geschworenen, ich schwöre Ihnen bei allem, was heilig ist: Wäre der Tote nicht sein Vater gewesen, sondern ein Fremder, der ihn gekränkt und beleidigt hat, so wäre er, nachdem er alle Zimmer durchsucht und sich überzeugt hätte, daß das geliebte Weib sich nicht im Hause befand, so wäre er, das sage ich, unverzüglich wieder hinausgelaufen, ohne dem Rivalen etwas anzutun, er hätte ihn vielleicht hart und grob angefahren, doch das wäre dann auch alles gewesen, denn er hätte weiter keine Zeit für ihn gehabt – er mußte doch erfahren, wo sie sich befand! Aber der Vater, der Vater – oh, alles hat nur der Anblick des Vaters getan, seines von Kindheit an verhaßten Feindes, seines Beleidigers, der jetzt – sein ungeheuerlicher Rivale war! Da hat ihn denn der Haß unwillkürlich überwältigt, da war keine Zeit mehr zum Überlegen; alles erhob sich in einem Augenblick! Das war ein Affekt des Wahnsinns oder völliger Sinnlosigkeit, gleichzeitig aber auch ein Affekt der Natur, die für ihre ewigen Gesetze unaufhaltbar und unbewußt Rache nimmt, wie dies die Natur ständig tut. Aber der Mörder hat auch da nicht ermordet – das behaupte ich, das rufe ich dreist aus –, nein, er hat nur in angeekeltem Unwillen mit der Hand einmal ausgeholt, ohne erschlagen zu wollen, ohne zu wissen, daß er erschlagen würde. Hätte er nicht diese verhängnisvolle Mörserkeule in der Hand gehabt, so hätte er den Vater vielleicht nur verprügelt, aber nicht erschlagen. Als er fortlief, wußte er nicht, ob der von ihm niedergestreckte alte Mann wirklich tot war. Ein solcher Todschlag ist kein Mord. Und ein solcher Todschlag ist erst recht kein Vatermord. Nein, den Todschlag eines solchen Vaters kann man nicht Vatermord nennen. Ein solcher Todschlag könnte nur aus Vorurteil Vatermord genannt werden! Und hat nun dieser Todschlag wirklich stattgefunden, ist er denn auch wirklich von dem Angeklagten ausgeführt worden? Das frage ich Sie immer und immer wieder! Das frage ich alle aus der Tiefe meiner Seele unermüdlich, immer wieder! Meine Herren Geschworenen, da werden wir ihn nun verurteilen, und er wird sich dann sagen: ‚Diese Menschen haben nichts für mich getan, nichts für meine Erziehung, meine Bildung, um mich besser zu machen, um mich zum Menschen zu machen. Sie haben mich nicht gespeist und getränkt, im Kerker haben sie den Nackten nicht besucht, und diese selben Menschen haben mich jetzt noch zur Zwangsarbeit verurteilt. Jetzt ist meine Schuld getilgt, jetzt haben wir abgerechnet, ich habe bezahlt, jetzt bin ich weder ihnen noch sonst jemandem etwas schuldig. Sie sind böse – nun, so werde auch ich böse sein. Sie sind grausam – so werde auch ich grausam sein.‘ Sehen Sie, das wird er sich sagen. Und ich schwöre Ihnen, meine Herren Geschworenen: mit Ihrer Schuldigsprechung werden Sie seine Schuld nur erleichtern, denn damit werden Sie seinem Gewissen das Schuldbewußtsein nehmen. Er wird das von ihm vergossene Blut verfluchen, aber nicht bereuen. Und zu gleicher Zeit vernichten Sie den Menschen in ihm, Sie nehmen ihm die Möglichkeit, noch ein Mensch zu werden, denn er würde dann sein Leben lang böse und blind bleiben. Oder wollen Sie ihn lieber schwer, grausam, mit der allerhärtesten Strafe bestrafen, die man sich nur denken kann, um dafür seine Seele aufzurichten und auf ewig zu retten? Wenn Sie das wollen, so erdrücken Sie ihn durch Ihre Barmherzigkeit! Sie werden sehen, Sie werden es hören, wie er zusammenzucken, und wie seine Seele erschrecken wird: ‚Mir diese Güte, mir soviel Liebe! – habe ich denn das verdient?‘ – wird das erste sein, was er ausruft. Oh, ich kenne, ich kenne dieses Herz, dieses stürmische, doch edelmütige Herz, meine Herren Geschworenen. Es wird sich vor Ihrer Tat niederbeugen, es sehnt sich nach einem großen Liebesbeweise, es wird entflammen und auferstehen, um dann nie wieder hinabzusinken. Es gibt Seelen, die in ihrer Begrenztheit die ganze Welt beschuldigen. Doch erdrücken Sie diese Seele mit Ihrer Barmherzigkeit, erweisen Sie ihr nur einmal im Leben Liebe, und sie wird ihre Tat verfluchen, denn es liegen viel, viel gute Keime in ihr. Seine Seele wird sich weiten und wird einsehen, wie barmherzig Gott ist, wie schön und gerecht die Menschen sind. Die Reue und die unermeßliche Schuld, die er von nun an abzutragen haben wird, werden ihn zuerst entsetzen und niederdrücken. Er wird nicht sagen: ‚Wir haben abgerechnet.‘ Er wird sagen: ‚Ich bin vor allen Menschen schuldig und bin der Unwürdigste unter ihnen.‘ Mit Tränen der Reue und brennender, quälender Rührung wird er ausrufen: ‚Die Menschen sind besser als ich, denn sie haben mich nicht verderben, sondern retten wollen.‘ Wie leicht ist es für Sie, diese Barmherzigkeit zu üben, denn bei dem Mangel jeder, auch nur einigermaßen glaubwürdiger Schuldbeweise, wird es Ihnen denn doch zu schwer werden, ihn schuldig zu sprechen. ‚Es ist besser, zehn Schuldige unbestraft zu entlassen, als einen Unschuldigen zu bestrafen‘ – hören Sie sie, meine Herren Geschworenen, hören Sie sie, diese erhabene Stimme aus dem vorigen Jahrhundert unserer ruhmreichen Geschichte? Wie, kommt es denn mir zu, mir geringem Menschen, Sie daran zu erinnern, daß das russische Gericht nicht nur dem Schuldigen eine Sühne auferlegen, sondern daß es den verlorenen Menschen retten will! Mag bei den anderen Völkern nach dem Buchstaben des Strafgesetzes gerichtet werden, wir aber richten nach dem Geist und der Bedeutung des Gesetzes, wir wollen die Rettung und die Wiedergeburt der Gefallenen! Und wenn es so ist, wenn Rußland und sein Gericht wirklich so ist, dann – vorwärts, Rußland! Und lassen wir uns nicht schrecken, oh, ängstigen Sie uns nicht mit rasenden Troiken, vor denen alle Völker voll Abscheu zur Seite treten! Nicht die irrsinnig jagende Troika, sondern der erhabene russische Triumphwagen wird ruhig und majestätisch ans Ziel gelangen. In Ihren Händen liegt das Schicksal meines Klienten, in Ihren Händen liegt auch das Schicksal unserer russischen Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie werden sie retten, Sie werden sie verteidigen, Sie werden beweisen, daß wir Männer haben, die sie aufrechterhalten, und daß sie in guten Händen ruht!“

XIV.
Das Urteil der Bauern

So schloß Fetjukowitsch, und der Ausbruch der Begeisterung im Zuhörerraum war dieses Mal unaufhaltsam wie ein Sturm. Niemand hätte ihm Einhalt tun können. Die Damen weinten, auch viele Männer waren dem Weinen nahe, und selbst zwei von den hohen Standespersonen vergossen Tränen. Der Vorsitzende ergab sich denn auch in die Lage und legte nur zögernd die Hand an die Glocke: „Einen solchen Enthusiasmus unterdrücken, das wäre ja ebenso gewesen, wie ein Heiligtum unterdrücken!“ sollen unsere Damen später gesagt haben. Auch der Redner war sichtlich und aufrichtig gerührt. Aber siehe da, in einem solchen Augenblick erhob sich plötzlich unser Hippolyt Kirillowitsch noch einmal, um zu entgegnen. Geärgert und höchst ungehalten blickte man ihn an. „Wie? Was soll das? Er wagt noch zu entgegnen?“ fragten sich die Damen empört. Doch selbst wenn alle Damen der Welt, und an ihrer Spitze sogar die Frau Hippolyt Kirillowitschs, sich dagegen empört hätten – es wäre unmöglich gewesen, ihn in diesem Augenblick noch aufzuhalten. Er war bleich und zitterte am ganzen Körper vor Aufregung. Die ersten Worte, die er sprach, waren völlig unverständlich: Er war atemlos, sprach alles undeutlich aus, schien sogar den Faden zu verlieren. Doch das legte sich bald. Ich will aus dieser zweiten Rede des Staatsanwalts nur einige Sätze anführen.

„... Uns wird der Vorwurf gemacht, daß wir Romane erdichten. Was aber tut denn der Verteidiger, wenn man seine Rede nicht einen Roman nennen soll, einen doppelten sogar? Es fehlte ja nur noch, daß er ihn in Versen vorgetragen hätte. Fedor Pawlowitsch zerreißt, während er die Geliebte erwartet, das Kuvert und wirft es auf den Fußboden. Es wird sogar gesagt, was er bei dieser unbegreiflichen Prozedur geredet habe. Ist das keine Dichtung? Und wo ist der Beweis dafür, daß er das Geld herausgenommen hat? Wer hat es gehört, daß er dabei gesprochen hat? Der schwachsinnige Idiot Ssmerdjäkoff wird uns als irgendein Byronscher Held geschildert, der sich an der Gesellschaft für seine illegitime Geburt rächt – oder ist das kein Poem im Byronschen Geschmack? Und der Sohn, der beim Vater eingedrungen ist, ihn erschlägt, und auch wieder nicht erschlägt, der ist ja mehr als ein Romanheld, ist selbst ein lebendiges Poem, ist eine Sphinx, die Rätsel aufgibt, welche sie freilich selbst niemals lösen wird. Wenn er erschlagen hat, so hat er erschlagen. Wer aber kann verstehen, daß er erschlagen hat und dabei doch nicht erschlagen haben soll? Dann wird uns verkündet, daß unsere Tribüne die Tribüne der Wahrheit und gesunden Auffassung sei, und siehe da, von dieser Tribüne der ‚gesunden Auffassung‘ erschallt mit der Unantastbarkeit eines Axioms die Behauptung, daß den Vatermord wirklich Vatermord nennen, nichts als Vorurteil sei! Aber, wenn das Verbot, den Vater zu ermorden, nur ein Vorurteil ist, und wenn jedes Kind seinen Vater fragen soll: ‚Vater, warum soll ich dich lieben?‘ – was wird dann aus uns werden, wo bleiben dann die Grundfesten der Gesellschaft und der Familie? Der Vatermord, sehen Sie mal, ist dasselbe, was in der Vorstellung der Moskauer Kaufmannsfrau Metall und Schwefeläther ist. Die teuersten, heiligsten Gebote in der Bestimmung und der zukünftigen Bedeutung des russischen Gerichts werden uns leichtfertig entstellt vorgemalt, nur um den einen Zweck zu erreichen: um die Rechtfertigung dessen durchzusetzen, was wir nicht rechtfertigen dürfen. Oh, erdrücken Sie ihn mit Ihrer Barmherzigkeit, ruft der Verteidiger aus, – für den Verbrecher ist das wahrhaftig alles, was er braucht! Dann können wir ja morgen sehen, wie niedergedrückt er sein wird! Und ist der Verteidiger nicht noch zu bescheiden, wenn er nur die Freisprechung des Angeklagten verlangt? Warum verlangt er nicht gleich, daß man ein Stipendium auf den Namen des Vatermörders stifte, zur Verewigung seiner Heldentat, ein Stipendium, das der Nachwelt und der jungen Generation zugute kommen könnte? Da wäre doch das Evangelium und die ganze Religion verbessert. Das ist, heißt es, alles nur Mystizismus, nur wir allein haben das wirkliche Christentum, das bereits durch die Analyse der Vernunft und gesunden Auffassung revidiert worden ist. Und siehe, man richtet vor uns einen Pseudochristus auf! Mit welchem Maß ihr messet, wird euch wiedergemessen werden, ruft der Verteidiger aus, und im selben Augenblick verkündet er, daß Christus gelehrt habe, mit demselben Maße wiederzumessen, mit dem uns gemessen wird, – und das alles von der Tribüne der Wahrheit und der gesunden Auffassung! Wir haben erst am Abend vor unserer Rede einen Blick in die Bibel geworfen, und zwar einzig und allein zu dem Zweck, um mit der Kenntnis eines immerhin ganz originellen Werkes zu glänzen, eines Werkes, das man schließlich auch zur Erreichung eines gewissen Eindruckes gebrauchen kann, je nach Bedarf, versteht sich, immer nach Bedarf! Das Gebot Christi aber ist nicht, mit demselben Maße zu messen, sondern sich davor zu hüten, so zu messen, denn also tut die böse Welt. Wir aber sollen verzeihen und auch noch die rechte Backe hinhalten, nicht aber mit demselben Maße wiedermessen, mit dem unsere Feinde messen. Ja, das hat uns unser Gott gelehrt, nicht aber, daß das Verbot für die Kinder, ihre Väter zu erschlagen, ein Vorurteil sei. Wenigstens werden wir uns nicht unterfangen, von der Tribüne der Wahrheit und gesunden Auffassung herab das Evangelium unseres Gottes zu verbessern, den der Verteidiger bloß den ‚gekreuzigten Menschenfreund‘ zu nennen geruht, das genügt ja auch vollkommen, seiner Meinung nach, im Gegensatz zum ganzen rechtgläubigen Rußland, das zu Ihm emporruft: ‚Denn wahrlich bist du unser Gott‘ ...“

Hier aber griff der Vorsitzende ein und unterbrach unseren erregten Hippolyt Kirillowitsch, indem er ihn bat, nicht zu übertreiben, die pflichtschuldigen Grenzen einzuhalten usw. usw., was die Vorsitzenden in solchen Fällen gewöhnlich sagen. Auch der Saal war unruhig geworden. Das Publikum war in Bewegung. Man hörte sogar schon einige Ausrufe des Unwillens. Fetjukowitsch entgegnete nicht einmal. Er bestieg nur die Tribüne, um mit gekränkter Stimme – die Hand aufs Herz gepreßt – ein paar würdevolle Worte zu diesem selben Publikum zu sagen. Bei der Gelegenheit tat er nur einmal noch leicht und spöttisch der „Romane“ und der „Psychologie“ Erwähnung und brachte dann noch geschickt das Zitat an: ‚Jupiter, du ärgerst dich, folglich hast du Unrecht‘ – womit er natürlich beifälliges Lachen im Publikum hervorrief, denn unser Hippolyt Kirillowitsch glich niemandem weniger, als einem Jupiter. Auf die Anschuldigung, er habe der jungen Generation gestattet, die Väter zu erschlagen, bemerkte Fetjukowitsch nur höchst überlegen, daß er auf so etwas überhaupt nicht entgegnen wolle. Und über den „Pseudochrist“ sowie über den Vorwurf, daß er Christus nicht Gott, sondern nur den „gekreuzigten Menschenfreund“ genannt habe, „was der Rechtgläubigkeit widersprechen soll und niemals von der Tribüne der Wahrheit und der gesunden Auffassung herab gesagt werden könne“, ließ Fetjukowitsch nur eine kurze Bemerkung fallen, in der er auf die „Insinuation“ hinwies. Im übrigen bemerkte er noch, daß er, als er zu uns gereist sei, wenigstens darauf gerechnet habe, die hiesige Tribüne werde gegen Beschuldigungen geschützt sein, die seiner Person gefährlich werden könnten, als Staatsbürger und treuer Untertan, der er sei ... Doch bei diesen Worten wurde auch er vom Vorsitzenden unterbrochen, und so schloß er denn seine Rede mit einer Verbeugung, unter allgemeinem, beifälligem Gemurmel des Saales. Hippolyt Kirillowitsch dagegen war, nach der Meinung unserer Damen, „endgültig aufs Haupt geschlagen“.

Darauf wurde dem Angeklagten selbst das Wort erteilt. Mitjä erhob sich, sprach aber nur wenig. Er war maßlos erschöpft, sowohl körperlich wie seelisch. Der Anschein des Selbstbewußtseins und der persönlichen Kraft, den er beim Eintritt in den Saal gehabt hatte, war jetzt fast ganz verschwunden. Es war, als hätte er an diesem Tage irgend etwas für sein ganzes Leben durchlebt, etwas, das ihn ein sehr Wichtiges gelehrt, und das er jetzt begriffen hatte, während ihm dieses Begreifen früher unmöglich gewesen war. Seine Stimme war matt, er sprach lange nicht mehr so laut wie vorhin. Aus seinen Worten aber klang etwas Neues heraus, etwas Ergebenes, Besiegtes, das sich niedergebeugt und unterworfen hatte.

„Was soll ich sagen, meine Herren Geschworenen! Ich stehe vor meinem Gericht, ich fühle Gottes Hand über mir. Das Ende des zügellosen Menschen ist gekommen! Aber ich sage Ihnen, wie wenn ich meinem Gotte beichtete: Am Blute meines Vaters bin ich unschuldig, – nein, daran habe ich keine Schuld! Zum letztenmal wiederhole ich: Nicht ich habe ihn erschlagen! Ich bin zügellos und wild gewesen, aber ich habe das Gute geliebt. In jedem Augenblick habe ich mir vorgenommen, mich zu bessern, und doch habe ich gleich einem wilden Tiere dahingelebt. Ich danke dem Staatsanwalt, er hat mir vieles über mich gesagt, was ich selbst nicht gewußt habe, aber es ist nicht wahr, daß ich den Vater erschlagen habe, darin täuscht sich der Staatsanwalt. Ich danke auch dem Verteidiger, ich habe geweint, als ich ihm zuhörte, aber es ist nicht wahr, daß ich den Vater erschlagen habe, auch die bloße Annahme ist unwahr in sich und überflüssig. Den Ärzten aber glauben Sie nicht, ich bin bei vollem Verstande, nur meine Seele leidet schwer. Wenn Sie mich verschonen, wenn Sie mich freisprechen – werde ich für Sie beten. Ich werde ein besserer Mensch werden, darauf gebe ich mein Wort, ich gebe es Ihnen, wie meinem Gott. Wenn Sie mich aber verurteilen – so zerbreche ich selbst den Degen über meinem Haupte, und nachdem ich es getan, werde ich die zerbrochenen Stücke küssen! Aber verschont mich, ihr Menschen, beraubt mich nicht meines Gottes, ich kenne mich: Ich werde wider Ihn murren! Zu schwer ist es für meine Seele, meine Herren ... laßt den Kelch an mir vorübergehen!“

Seine Stimme versagte, kaum konnte er noch die letzten Worte hervorstoßen. Fast fiel er auf seinen Platz zurück. Der Gerichtshof schritt darauf zur Aufstellung der Fragen und fragte beide Parteien nach ihren Anträgen. Ich übergehe die Einzelheiten. Endlich erhoben sich die Geschworenen, um sich zur Beratung zurückzuziehen. Der Vorsitzende war sehr ermüdet und sagte ihnen daher nur ein schwaches Geleitwort: „Seien Sie unparteiisch, lassen Sie sich nicht von den schönen Worten der Verteidigung beeinflussen, wägen Sie gerecht, vergessen Sie nicht, daß eine große Verantwortung auf Ihnen ruht“ usw. usw. Die Geschworenen entfernten sich, und die Sitzung war unterbrochen. Man konnte aufstehen, umhergehen, die verschiedenen Eindrücke austauschen, am Büfett sich etwas stärken. Es war schon sehr spät, schon nach Mitternacht, kurz vor eins, doch niemand fuhr nach Haus. Man war so aufgeregt, daß man an Schlaf nicht einmal denken wollte. Alle erwarteten bangen Herzens das Urteil, obgleich es ihnen gar nicht bange um den Richterspruch war. Die Damen wurden höchstens von ihrer mehr hysterischen Ungeduld gepeinigt, ihre Herzen aber waren ziemlich ruhig: „Oh, unfehlbar wird er freigesprochen werden!“ meinte man überzeugt, und man bereitete sich schon auf den Augenblick der großen Begeisterung vor. Ich muß gestehen, daß auch unter dem männlichen Publikum des Saales sehr viele von der Freisprechung fest überzeugt waren. Die einen freuten sich, die anderen wiederum machten mürrische Gesichter, und die dritten ließen sogar ganz niedergeschlagen die Nase hängen: Nein, die wünschten wahrlich keine Freisprechung! Selbst Fetjukowitsch soll von seinem Erfolge fest überzeugt gewesen sein. Er war umringt, man beglückwünschte ihn und streute ihm Weihrauch.

„Es gibt,“ soll er gesagt haben – wie man später erzählte, „es gibt gewisse unsichtbare Fäden, die den Verteidiger mit den Geschworenen verbinden. Sie knüpfen sich, und man fühlt sie schon während der Rede. Ich habe sie auch diesmal gefühlt. Die Sache ist unser, seien Sie unbesorgt.“

„Na, meine Herren, was meinen Sie, was unsere Bäuerlein jetzt sagen werden?“ fragte ein dicker, pockennarbiger Herr, ein Gutsbesitzer, dessen Güter in der Nähe der Stadt lagen, indem er sich zu einer Gruppe Herren gesellte, die eifrig disputierten.

„Aber es sind ja nicht nur Bauern allein. Vier von ihnen sind doch Beamte.“

„Jawohl, nichts weniger als Beamte,“ sagte hinzutretend ein Mitglied des Landtags.

„Kennen Sie den Nasarjeff, den Prochor Iwanowitsch, jenen Kaufmann mit der Medaille, den einen von den Geschworenen?“

„Was ist denn mit ihm?“

„Ein kapitaler Kopf!“

„Aber er schweigt ja immer.“

„Das tut er, aber das ist ja um so besser. Der braucht sich nicht von diesem Petersburger belehren zu lassen, der könnte selbst ganz Petersburg belehren, – zwölf Stück Kinder, bedenken Sie nur das allein!“

„Aber ich bitt’ Sie, ist denn das überhaupt möglich, daß sie ihn nicht freisprechen?“ rief in einer anderen Gruppe einer von unseren jungen Beamten aus.

„Sicherlich wird er freigesprochen werden,“ ließ sich da eine andere überzeugte Stimme vernehmen.

„Eine Schande, eine Schmach wäre es, wenn sie ihn nicht freisprächen!“ fuhr der junge Beamte sich ereifernd fort. „Mag er ihn doch erschlagen haben, aber zwischen Vater und Vater ist immerhin ein Unterschied! Und dann, er ist doch so erregt und so aufgebracht gewesen ... Er hat ja vielleicht tatsächlich mit der Mörserkeule nur einmal so geschwenkt, und der Alte hat dann ganz von selbst den Geist aufgegeben. Dumm war nur, daß sie da noch den Diener an den Haaren herbeizogen. Das ist doch eine lächerliche Verdächtigung. Ich hätte an der Stelle des Verteidigers einfach gesagt: Er hat erschlagen, ist aber unschuldig, und damit hol euch der Teufel!“

„Das hat er ja auch getan, nur hat er das ‚hol euch der Teufel‘ nicht laut hinzugefügt.“

„Nein, Michael Ssemjonytsch, beinahe hat er es hinzugefügt ...“ griff eine dritte hohe Stimme auf.

„Aber, hören Sie doch, meine Herren, man hat doch vorige Ostern die Schauspielerin freigesprochen, die der Ehefrau ihres Geliebten die Kehle durchgeschnitten hatte!“

„Sie hatte nicht ganz durchgeschnitten.“

„Das bleibt sich gleich, sie hatte schon angefangen zu schneiden!“

„Und was er da von den Kindern sagte? Großartig!“

„Großartig!“

„Ja, nichts zu sagen, das hat er gut gemacht.“

„Und dann das von der Mystik, von der Mystik, was? – das war doch!“

„Ach, lassen Sie doch die Mystik Mystik sein,“ unterbrach ihn ein anderer, „versuchen Sie mal lieber, sich in die Lage unseres Hippolyt zu versetzen, stellen Sie sich bloß mal das Leben vor, das ihn von heute ab erwartet! Morgen wird ihm ja seine Frau wegen Mitjenka die Augen auskratzen.“

„Ist sie hier?“

„Was hier! Wäre sie hier, so würde sie sie ihm schon ausgekratzt haben! Nein, mein Lieber, die sitzt zu Hause und hat glücklich Zahnweh. He – he – he!“

„Ha – ha – ha!“

In einer anderen Gruppe:

„Der Mitjenka wird ja, wie’s scheint, wahrhaftig freigesprochen werden.“

„Und die Folge davon wird sein, daß er morgen unsere ganze ‚Hauptstadt‘ auf den Kopf stellt und dann wieder mal zehn Tage lang durchgeht.“

„Tja, weiß der Teufel noch eins!“ meinte der andere kopfschüttelnd.

„Ja, Teufel hin und Teufel her, ohne Teufel geht’s nicht mehr, – ‚wo soll er denn sein, wenn er nicht hier ist?‘“

„Meine Herren, nun gut, sagen wir: Redekunst! Aber man kann doch faktisch nicht den Vätern die Köpfe einschlagen! Wie weit käme man denn damit?“

„Der Triumphwagen, der Triumphwagen, wissen Sie noch?“

„Ja, der machte aus ’nem Schlitten sofort ’nen Triumphwagen.“

„Und morgen aus einem Triumphwagen einen Schlitten – ‚je nach Bedarf, immer nach Bedarf‘.“

„Ja, heutzutage machen alles nur noch die Gewandten. Meine Herren, gibt es überhaupt noch Wahrheit und Recht in Rußland, oder gibt es sie nicht mehr?“

Da ertönte die Glocke. Die Geschworenen hatten sich genau eine Stunde beraten, nicht mehr und nicht weniger. Tiefes Schweigen trat ein, kaum, daß das Publikum sich gesetzt hatte. Ich sehe die Szene noch vor mir, wie die Geschworenen wieder eintraten – nacheinander. Endlich! Die einzelnen Fragen übergehe ich, und ich habe sie auch vergessen. Sie wurden punktweise vorgelegt. Ich erinnere mich nur noch der Antwort auf die erste und wichtigste Frage des Vorsitzenden: „Hat er vorsätzlich um des Raubes willen erschlagen?“ (oder so ungefähr, den genauen Wortlaut habe ich vergessen). Der ganze Saal schien wie erstorben zu sein. Da trat der Obmann der Geschworenen, der übrigens der jüngste von ihnen war, vor und sagte, laut und deutlich, bei der Totenstille des ganzen Saales:

„Ja. Er ist schuldig!“

Und darauf Punkt für Punkt dieselbe Antwort: Schuldig, schuldig, schuldig, und zwar ohne die geringste Milderung! Das hatte niemand erwartet! Selbst die Strengsten waren überzeugt gewesen, daß man doch wenigstens mildernde Umstände in Betracht ziehen werde. Die Totenstille des Saales dauerte immer noch an, buchstäblich, als wären alle erstarrt gewesen – sowohl diejenigen, welche die Verurteilung, wie diejenigen, welche die Freisprechung gewünscht hatten. Doch das war nur in den ersten Minuten. Dann erhob sich plötzlich ein furchtbares Chaos. Unter dem männlichen Publikum schienen viele sehr zufrieden zu sein. Einige rieben sich sogar die Hände, ohne ihre Freude zu verbergen. Die Unzufriedenen dagegen waren niedergedrückt, sie flüsterten untereinander, zuckten mit den Achseln, und schienen immer noch nicht recht zur Besinnung kommen zu können. Aber, o Gott, was geschah mit unseren Damen! Ich glaubte schon, es würde eine Revolution geben. Zuerst trauten sie ihren Ohren nicht. Dann aber hörte man von allen Seiten empörte Ausrufe: „Was soll das bedeuten? Was soll denn das heißen?“ Sie sprangen von ihren Plätzen auf. Wahrscheinlich glaubten sie, daß man alles sofort noch umändern und anders machen könne. Und in diesem Augenblick erhob sich plötzlich Mitjä und schrie noch einmal laut über den ganzen Saal hin, mit einer Stimme, die das Herz erzittern machte, und indem er die Hände vor sich ausstreckte:

„Ich schwöre es bei Gott und seinem furchtbaren Gerichte, am Blute meines Vaters bin ich unschuldig! Katjä, ich verzeihe dir! Brüder, Freunde, habt Mitleid mit der anderen! ...“

Er sprach nicht zu Ende: Er schluchzte mit lauter Stimme auf, mit einer Stimme, die an ihm ganz neu, ganz unerwartet, die weiß Gott woher gekommen war, mit einer Stimme, bei der einen das Grauen faßte. Und da hörten wir plötzlich von oben, aus der entferntesten Ecke des Chores, einen gellenden Schrei: Gruschenka hatte ihn ausgestoßen. Sie hatte schon früher die Leute angefleht, sie dorthin nach oben zu lassen, schon vor den Plaidoyers. Mitjä wurde hinausgeführt. Die Verlesung des Urteils wurde auf den nächsten Vormittag vertagt. Der ganze Saal erhob sich in erregter Hast. Ich entfernte mich und hörte den Menschen nicht mehr zu. Ich habe nur ein paar Ausrufe behalten, die ich auf der Treppe, beim Hinauseilen, auffing.

„Der kann jetzt seine zwanzig Jahre angeschmiedet Bergwerke riechen!“

„Mindestens.“

„Ja, unsere Bäuerlein haben ihren Mann gestanden.“

„Und haben unseren Mitjenka begraben!“

Epilog

I.
Pläne zu Mitjäs Rettung

Am fünften Tage nach dem über Mitjä gehaltenen Gericht kam Aljoscha schon früh morgens, schon um neun Uhr, zu Katerina Iwanowna, um mit ihr zum letztenmal über eine für sie beide sehr wichtige Angelegenheit zu sprechen, und außerdem noch mit einem Auftrage an sie. Sie empfing ihn in demselben Salon, in dem sie mit Gruschenka damals Schokolade getrunken hatte; im anstoßenden Zimmer lag Iwan Fedorowitsch noch immer bewußtlos und in Fieberphantasien. Katerina Iwanowna hatte sofort nach jener Szene vor Gericht angeordnet, den erkrankten Iwan Fedorowitsch, der das Bewußtsein verloren hatte, in ihre Wohnung zu bringen. Sie hatte sich von vornherein über jedes spätere und unvermeidliche Gerede der Gesellschaft und deren strenge Verurteilung hinweggesetzt. Die eine von ihren beiden Tanten, die bei ihr wohnten, war denn auch unverzüglich nach Moskau zurückgereist, die andere dagegen war bei ihr geblieben. Doch selbst, wenn beide Tanten fortgefahren wären, hätte Katerina Iwanowna ihren Entschluß nicht aufgegeben, sie hätte trotzdem den Kranken gepflegt und Tag und Nacht an seinem Lager gesessen. Behandelt wurde er von Warwinskij und Herzenstube; der Moskauer Doktor war schon zurückgereist, hatte sich aber geweigert, seine Ansicht über den möglichen Ausgang der Krankheit zu äußern. Die beiden anderen Ärzte sprachen Katerina Iwanowna und Aljoscha zwar immer Mut zu, aber man sah es ihnen an, daß sie selbst noch keine feste Hoffnung hatten. Aljoscha kam zweimal täglich zum kranken Bruder. Dieses Mal aber war er in einer besonderen, sehr dringenden Angelegenheit gekommen. Er fühlte schon, daß es ihm äußerst schwer werden würde, davon zu sprechen, und doch mußte er sich beeilen; er verband mit diesem Besuch noch etwas anderes – Unaufschiebbares. Und nun sprachen sie schon seit einer Viertelstunde von nebensächlichen Dingen. Katerina Iwanowna war bleich, sehr übermüdet, zu gleicher Zeit aber von krankhafter Lebhaftigkeit: sie ahnte, warum Aljoscha zu ihr gekommen war.

„Wegen seiner Einwilligung machen Sie sich keine Sorgen,“ sagte sie in sehr bestimmtem Tone. „Ob so oder so, er wird schon zu der Einsicht kommen, daß er entfliehen muß. Er muß entfliehen! Dieser Unglückliche, dieser Held, der sich für Ehre und Gewissen geopfert hat, – ich meine nicht Dmitrij Fedorowitsch, sondern den, der dort hinter der Tür liegt“ (Katjäs Augen flammten), „der hat mir schon vorher, schon vor ... jenem Tage, den ganzen Fluchtplan mitgeteilt. Sie wissen doch, daß er bereits Verbindungen angeknüpft hatte? ... Ich habe Ihnen schon einiges gesagt ... Sehen Sie, es wird das aller Wahrscheinlichkeit nach auf der dritten Etappe geschehen, wenn die Abteilung der Verschickten über den Ural nach Sibirien geht. Oh, bis dahin ist es noch weit. Iwan Fedorowitsch ist ja schon einmal zum Kommandanten der dritten Etappe gefahren. Nur weiß man jetzt noch nicht, wer der Führer der Transportabteilung sein wird, und das kann man leider nie im voraus erfahren. Morgen, ja, vielleicht morgen werde ich Ihnen den ganzen Plan ausführlich erklären. Iwan Fedorowitsch hat ihn mir am Abend vor der Gerichtssitzung für den Fall hinterlassen, daß dort irgend etwas ... Das war an jenem Abend, als wir uns gestritten hatten und Sie zu mir kamen: Sie trafen ihn auf der Treppe, und als ich Sie kommen hörte, zwang ich ihn zurückzukehren – erinnern Sie sich noch? Wissen Sie, worüber wir uns damals gestritten hatten?“

„Nein, ich weiß es nicht,“ sagte Aljoscha.

„Natürlich hat er es Ihnen damals nicht gesagt, das konnte ich mir denken. Es war gerade wegen dieses Fluchtplanes. Er hatte mir schon vor drei Tagen, am Donnerstag, das Wichtigste mitgeteilt – und gleich damals war es zwischen uns zum Streit gekommen, und so hatten wir uns während dieser ganzen drei Tage gestritten. Es geschah das nur deshalb, weil ich damals, an jenem Donnerstag, als er mir sagte, daß Dmitrij Fedorowitsch, falls er verurteilt werden sollte, ins Ausland entfliehen würde, aber nicht allein, sondern zusammen mit jenem Geschöpf, weil ich mich da plötzlich so aufregte – ärgerte, – ich werde ihnen nicht sagen, warum ... Ich weiß selbst nicht, warum, ... oder vielmehr – natürlich weiß ich es: dieses Geschöpfes wegen ärgerte ich mich damals, und zwar gerade deswegen, weil sie gleichfalls, und noch zusammen mit Dmitrij Fedorowitsch ins Ausland fahren sollte!“ Katerina Iwanownas Lippen bebten vor Zorn. „Als aber Iwan Fedorowitsch merkte, daß ich mich dieses Geschöpfes wegen ärgerte, glaubte er sofort, daß es Eifersucht sei, und daß ich folglich immer noch Dmitrij liebe. So kam es denn damals zum ersten Streit. Ich wollte keine Erklärungen geben, und um Verzeihung bitten konnte ich nicht. Es war mir zu schwer, daß Iwan mich der früheren Liebe zu diesem ... verdächtigen konnte ... Und das noch, nachdem ich selbst ihm gestanden und längst gesagt hatte, daß ich nicht Dmitrij liebe, sondern ihn, ihn ganz allein! Nur aus Wut über dieses Geschöpf habe ich mich damals geärgert! Nach drei Tagen, das war an jenem Abend, als Sie zu mir kamen, brachte er mir ein versiegeltes Kuvert, das ich sofort entsiegeln sollte, sobald ihm etwas zustieße. Oh, er hat seine Krankheit schon lange vorausgefühlt! Er teilte mir mit, daß im Kuvert der ganze Fluchtplan ausführlich, bis in alle Details, mit allen Eventualitäten enthalten sei, und daß, im Falle er sterben oder ernstlich erkranken sollte, ich dann allein Mitjä retten müsse. Zugleich übergab er mir das Geld, an zehntausend Rubel, – dasselbe, von dem der Staatsanwalt gesagt haben soll, er wisse, daß Iwan Fedorowitsch Geld habe wechseln lassen. Ich war sprachlos vor Verwunderung, daß Iwan Fedorowitsch, der meinetwegen doch immer noch eifersüchtig war und nach wie vor fest glaubte, ich liebe Mitjä, – daß er trotzdem nicht den Gedanken aufgegeben hatte, den Bruder zu retten, und mir, gerade mir dessen Rettung anvertraute! Oh, das war ein Opfer! Nein, eine solche Selbstopferung werden Sie nie ganz verstehen, Alexei Fedorowitsch! Ich wäre ihm zu Füßen gefallen, um ihn anzubeten, wenn mir nicht plötzlich der Gedanke gekommen wäre, er könne das für Freude halten, Freude darüber, daß Mitjä gerettet werden sollte – oh, bestimmt hätte er das geglaubt! Da war ich denn schon allein über die bloße Möglichkeit eines so schändlichen Gedankens so empört, daß ich wieder in Wut geriet, und statt ihm die Füße zu küssen, ihm eine neue Szene machte! Wenn Sie wüßten, wie unglücklich ich bin! Das ist mein Charakter – mein schrecklicher, unseliger Charakter! Oh, Sie werden sehen: Ich werde es noch soweit bringen, ja, ja, ich werde es bestimmt soweit bringen, daß auch er mich um einer anderen willen, mit der sich leichter leben läßt, ebenso verlassen wird, wie Dmitrij ... Das aber, nein, das werde ich nicht ertragen, dann werde ich mir das Leben nehmen! ... Als Sie damals mit ihm eintraten, wissen Sie noch, als Sie zu mir kamen und ich ihn zwang, noch einmal zurückzukommen, – da, als er mit Ihnen eintrat, da ergriff mich ein solcher Zorn wegen seines haßerfüllten, verächtlichen Blickes, mit dem er mich ansah, daß ich – Sie wissen doch noch – Ihnen plötzlich zurief, er, er allein habe mich davon überzeugt, daß sein Bruder Dmitrij der Mörder sei! Ich log es absichtlich, um ihn bis ins Herz zu kränken, denn er hat mir nie, niemals gesagt, sein Bruder sei – der Mörder. Im Gegenteil, ich selbst habe ihn davon zu überzeugen gesucht! Oh, an allem, an allem ist nur mein Charakter schuld! Ich, ich allein habe diese Szene vor Gericht veranlaßt! Wie ich mich verfluche! Er wollte mir beweisen, daß er edel sei, und wenn ich auch seinen Bruder liebe, diesen doch nicht aus Rache und Eifersucht verderben werde. Da kam er denn hin, – erinnern Sie sich noch, wie er sich den Richtern näherte? ... Oh, ich bin die Ursache des ganzen Unglücks, ich allein bin an allem schuld!“

Noch niemals hatte Katjä Aljoscha solche Eingeständnisse gemacht. Er fühlte, daß ihre Qualen in diesem Augenblick so überwältigend geworden waren, daß selbst ihr stolzes Herz unter Schmerzen seinen Stolz brach und sich, vom Leid besiegt, vor ihm in den Staub warf. Aljoscha kannte sehr wohl noch die andere, die letzte Ursache ihrer Qualen, wie sehr sie dieselbe auch in diesen fünf Tagen nach der Verurteilung Mitjäs vor ihm zu verbergen gesucht hatte. Aber es wäre ihm gar zu schmerzlich gewesen, wenn sie sich entschlossen hätte, sich soweit zu erniedrigen, sich so zu geißeln und selbst von ihrer größten Qual zu sprechen. Sie litt unerträglich unter dem Bewußtsein, Mitjä vor Gericht „überantwortet“ zu haben, und Aljoscha fühlte, daß das Gewissen sie dazu trieb, ihre Schuld gerade ihm, Aljoscha, einzugestehen, womöglich unter Tränen und Schreien und in Krämpfen, in denen sie sich das Haar gerauft und mit dem Kopf auf den Boden geschlagen hätte. Er fürchtete aber diese neue Erschütterung und wollte daher um so mehr die Märtyrerin schonen – um so schwerer freilich empfand er den Auftrag, mit dem man ihn zu ihr geschickt hatte. Doch brachte er das Gespräch wieder auf Mitjä.

„Nein, nein, seinetwegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen!“ unterbrach ihn Katjä hartnäckig und schroff. „Das dauert bei ihm nur eine Minute an, ich kenne ihn, ich kenne dieses Herz nur zu gut. Seien Sie überzeugt, daß er einwilligen wird, zu entfliehen. Die Hauptsache ist ja, daß er sich nicht sofort zu entschließen braucht. Bis dahin hat es noch Zeit. Iwan Fedorowitsch wird inzwischen wieder gesund werden und selbst alles in die Hand nehmen, so daß ich damit nichts mehr zu schaffen haben werde. Also beunruhigen Sie sich nicht, er wird schon einwilligen. Er ist ja doch auch jetzt schon einverstanden – kann er denn dieses Geschöpf verlassen? Sie aber wird nicht zu ihm in die Erzgruben zugelassen werden – wie sollte er da nicht entfliehen wollen! Hauptsächlich fürchtet er Sie. Er fürchtet, daß Sie vom moralischen Standpunkt aus seine Flucht nicht billigen werden, aber ich denke, die müssen Sie ihm schon großmütig erlauben, wenn Ihre Sanktion dazu nun einmal so unumgänglich notwendig ist,“ fügte Katjä fast gehässig hinzu.

Sie verstummte und lächelte.

„Jetzt redet er da,“ begann sie wieder, „von irgendeiner Hymne, von einem Kreuz, das er tragen muß, von einer Schuld ... Ich weiß, Iwan Fedorowitsch hat mir damals viel davon erzählt ... Ach, wenn Sie wüßten, wie er das erzählt hat!“ rief Katjä plötzlich mit überwallendem Gefühl aus. „Wenn Sie nur wüßten, wie er jenen Unglücklichen in dem Augenblick geliebt hat, als er mir von ihm erzählte, und wie er ihn im selben Augenblick vielleicht haßte! Ich aber, oh, ich hatte für seine Worte und seine Qual nur ein stolzes Lächeln übrig! Oh, du gemeines Geschöpf! Dieses gemeine Geschöpf bin ich, mich meine ich damit! Ich bin die tiefste Ursache seiner Krankheit! Jener aber, der Verurteilte – ist denn der etwa bereit zum Leiden?“ unterbrach sich Katjä plötzlich gereizt. „Und kann denn der überhaupt leiden? Solche Menschen, wie er, leiden niemals!“

Gefühle wie Haß, Ekel und Verachtung klangen aus ihren Worten hervor. Und doch war sie es gewesen, die ihn „überantwortet“ hatte, das mußte sie sich immer wieder sagen.

„Vielleicht kommt dies daher,“ dachte Aljoscha bei sich, „weil sie sich vor ihm schuldig fühlt und ihn deshalb in manchen Augenblicken sogar haßt.“ Er hätte gewünscht, daß es nur in manchen „Augenblicken“ gewesen wäre. In ihren letzten Worten hatte eine Herausforderung gelegen, das fühlte er, aber er nahm sie nicht auf.

„Ich habe Sie heute zu mir gebeten, nur um Ihnen das Versprechen abzunehmen, daß Sie ihn zur Flucht bereden werden. Oder ist es Ihrer Meinung nach tatsächlich unehrenhaft, zu entfliehen, nicht heldenmütig, oder sonst so was ... unchristlich etwa?“ fragte Katjä noch herausfordernder.

„Nein, n–nichts ... Ich werde ihm alles sagen ...“ murmelte Aljoscha vor sich hin. Plötzlich aber blickte er entschlossen auf und sah ihr in die Augen. „Er läßt Sie bitten, heute zu ihm zu kommen!“ kam er ganz unerwartet mit seinem Auftrage heraus.

Katjä zuckte zusammen und fuhr unwillkürlich zurück.

„Mich ... ist denn das möglich?“ stammelte sie erbleichend.

„Es ist wohl möglich, und es muß sogar bestimmt geschehen!“ begann Aljoscha eifrig, da er unbedingt darauf bestehen wollte. „Es ist sehr nötig. Gerade jetzt! Ich würde nicht davon angefangen haben, schon allein, um Sie nicht vorzeitig zu quälen, wenn es eben nicht so unbedingt notwendig wäre. Er ist krank, er ist wie ein Wahnsinniger, er will immer nur Sie sehen. Er bittet Sie nicht, hinzukommen und sich mit ihm auszusöhnen, sondern nur – nur, er will Sie eben noch einmal sehen! Sie können auf der Türschwelle stehen bleiben – sagt er. Seit jenem Tage hat sich vieles in ihm gewandelt. Jetzt begreift er, wie unermeßlich groß seine Schuld Ihnen gegenüber ist. Nicht um Ihre Vergebung bittet er Sie, – ‚Mir kann man nicht vergeben‘, sagt er selbst, er bittet Sie ganz einfach, sich nur einmal auf seiner Schwelle zu zeigen ...“

„Sie haben mich so plötzlich ...“ stammelte Katjä „– ich habe alle diese Tage geahnt, daß Sie damit kommen würden ... Ich habe gewußt, daß er mich rufen würde! ... Aber – es ist unmöglich!“

„Und wenn es auch unmöglich ist, so tun Sie es doch! Bedenken Sie nur das eine, daß er zum erstenmal begreift, wie sehr er Sie gekränkt hat, zum erstenmal im Leben begreift er es! Niemals vorher hat er es so im ganzen Umfange begriffen und so tief gefühlt. Er sagt: ‚Wenn sie sich weigert zu kommen, so werde ich mein ganzes Leben lang unglücklich sein.‘ Hören Sie: Ein Zwangsarbeiter, der zwanzig Jahre lang keine Sonne sehen wird, will noch glücklich sein! Haben Sie denn gar kein Mitleid? Bedenken Sie doch nur: Sie werden einen unschuldig Verurteilten besuchen,“ sagte Aljoscha stolz, „seine Hände sind rein, an ihnen klebt kein Blut! Um seines unermeßlichen zukünftigen Leidens willen besuchen Sie ihn jetzt! Kommen Sie, bringen Sie Licht in diese Finsternis ... Zeigen Sie sich nur einmal auf der Schwelle, das ist ja alles ... Das müssen Sie doch, das müssen Sie tun!“ schloß Aljoscha, unerbittlich die Worte „das müssen Sie“ betonend.

„Ich muß ... aber ich ... kann nicht! ...“ rang es sich wie ein Gestöhn aus Katjäs Seele hervor. „Er wird mich ansehen ... Ich kann nicht!“

„Ihre Blicke müssen sich noch einmal treffen. Wie werden Sie denn Ihr Leben weiterleben können, wenn Sie sich jetzt nicht entschließen?“

„Lieber das ganze Leben lang Qual!“

„Nein, Sie müssen kommen, Sie müssen es tun!“ sagte Aljoscha wieder unerbittlich.

„Aber warum denn heute, warum jetzt ... Ich kann den Kranken nicht allein lassen ...“

„Auf einen Augenblick können Sie es sehr wohl. Zu diesem Ausgang brauchen Sie doch nur wenige Minuten. Wenn Sie nicht kommen, wird er noch vor Anbruch der Nacht gleichfalls an einem Nervenfieber erkranken. Ich will Sie doch nicht belügen. Oh, so haben Sie doch Erbarmen!“

„Haben Sie vielmehr mit mir Erbarmen!“ sagte Katjä bitter, und Tränen rollten über ihre Wangen herab.

„Also Sie werden kommen!“ sagte Aljoscha überzeugt, als er ihre Tränen sah. „Ich werde vorausgehen und ihm sagen, daß Sie sogleich kommen werden ...“

„Nein, um Gottes willen, sagen Sie ihm nur das nicht!“ unterbrach ihn Katjä erschrocken. „Ich werde kommen, aber sagen Sie es ihm nicht vorher, denn ... Ich werde kommen, aber ich weiß noch nicht, vielleicht werde ich ... auch gar nicht ... eintreten ... Ich weiß noch nicht ...“

Die Stimme versagte ihr. Sie atmete schwer. Aljoscha erhob sich, um fortzugehen.

„Aber wenn ich dort ... jemanden treffe?“ fragte sie plötzlich leise, indem sie wiederum erbleichte.

„Darum ist es unbedingt nötig, daß Sie sofort kommen, damit Sie dort niemanden antreffen. Es wird niemand bei ihm sein, Sie können es mir glauben. Wir werden Sie also erwarten,“ sagte er mit fester Stimme und verließ das Zimmer.

II.
Auf einen Augenblick ward die Lüge Wahrheit

Er beeilte sich, ins Hospital zu kommen, in dem Mitjä jetzt lag. Am zweiten Tage nach seiner Verurteilung hatte Mitjä so hohes Fieber gehabt – es war natürlich ein nervöses Fieber –, daß er aus dem Gefängnis ins Stadthospital, in die Abteilung der Arrestanten, verbracht worden war, doch hatte der junge Doktor Warwinskij auf Aljoschas und vieler anderer (Frau Chochlakoffs, Lisas usw.) Bitte den Kranken nicht bei den Gefangenen, sondern in einem abgesonderten Raume untergebracht, und zwar in derselben kleinen Kammer, in der auch Ssmerdjäkoff gelegen hatte. Außerdem stand ja am Ende des Korridors ein wachhabender Soldat, und auch das Fenster war dort vergittert; so wagte denn Warwinskij schließlich nicht viel mit seiner nicht ganz gesetzlichen Nachsicht. Der junge Mann hatte ein gutes, mitfühlendes Herz. Er konnte es nachempfinden, wie schwer es einem Menschen, wie Mitjä, sein mußte, so plötzlich unter Mörder und Räuber versetzt zu werden. Er verstand, daß man sich an diese Gesellschaft wenigstens erst gewöhnen mußte. Der Besuch von Verwandten und Bekannten war sowohl vom Arzt, als vom Inspektor und sogar von unserem Polizeichef erlaubt worden – unter der Hand, versteht sich. Doch hatten Mitjä in diesen Tagen nur Aljoscha und Gruschenka besucht. Zweimal hatte auch Rakitin unbedingt zu ihm gewollt, doch Mitjä hatte Warwinskij dringend gebeten, ihn nicht zu ihm zu lassen.

Als Aljoscha eintrat, saß Mitjä in den Hospitalkleidern auf seiner feldbettartigen Schlafstelle. Er schien noch Fieber zu haben. Um den Kopf und auf der Stirn hatte er ein Handtuch, das mit Wasser und Essig angefeuchtet war. Mit einem unbestimmten Blick sah er Aljoscha an, als dieser eintrat, doch flimmerte es in seinem Blick zuerst wie ein vorübergehender Schreck.

Mitjä war seit seiner Verurteilung auffallend nachdenklich geworden. Zuweilen schwieg er halbe Stunden lang, während er dem Anscheine nach mit Mühe etwas überdachte und darüber den Anwesenden ganz vergaß. Verließ ihn aber die Nachdenklichkeit, und fing er zu sprechen an, was gewöhnlich ganz unerwartet geschah, so sprach er unbedingt nicht davon, wovon er eigentlich sprechen wollte. Zuweilen sah er den Bruder mit flehendem Blick an, und Aljoscha fühlte dann mit jeder Fiber, wie schwer er litt. Wenn Gruschenka bei ihm war, schien es ihm leichter zu sein, als wenn Aljoscha allein bei ihm saß. Und wenn er auch mit ihr kaum etwas sprach, so verklärte sich doch sein ganzes Gesicht vor Freude, sobald sie nur eintrat. Aljoscha setzte sich schweigend neben ihn auf das Lager. Mitjä hatte ihn voll Unruhe erwartet. Nun wagte er nicht, ihn etwas zu fragen. Es schien ihm undenkbar, daß Katjä einwilligen könnte, zu ihm zu kommen, und doch fühlte er gleichzeitig, daß, wenn sie nicht käme, er diesen Zustand nicht lange ertragen würde. Aljoscha begriff seine Gefühle.

Plötzlich fuhr Mitjä auf und begann geschäftig:

„Trifon Borissytsch soll sein ganzes Haus auseinanderkratzen, sagt man, er soll alle Dachsparren untersuchen, alle Bretter abreißen, die ganze ‚Galerie‘ soll er abgetragen haben. Er sucht immer noch den Schatz, diese tausendfünfhundert Rubel, von denen der Staatsanwalt behauptet, ich hätte sie dort versteckt. Kaum daß er zurückgekehrt ist, soll er sofort angefangen haben zu suchen. Na, ich wünsche ihm viel Vergnügen, dem Spitzbuben! Das hat mir hier der Wärter gestern erzählt; er ist von dort.“

„Höre, Mitjä,“ sagte Aljoscha, „sie wird kommen, nur weiß ich nicht, wann. Vielleicht kommt sie heute, vielleicht erst in den nächsten Tagen, das weiß ich nicht, aber kommen wird sie bestimmt, das weiß ich genau.“

Mitjä fuhr zusammen, wollte schon etwas sagen – sagte dann aber doch nichts. Diese Nachricht war erschütternd für ihn. Man sah ihm an, daß er noch mehr von dem Gespräch Aljoschas mit Katjä erfahren wollte, daß er sich aber nicht zu fragen getraute, sich vor einer Antwort vielmehr bis zur Pein fürchtete: Etwas Hartherziges oder Verächtliches von Katjä zu erfahren – wäre für ihn in diesem Augenblick zu grausam gewesen.

„Und höre, was sie unter anderem noch gesagt hat: Ich solle dein Gewissen wegen der Flucht unbedingt beruhigen. Und wenn auch Iwan bis dahin nicht gesund werden sollte, so wird sie allein die ganze Sache in die Hand nehmen.“

„Das hast du mir schon gesagt,“ bemerkte Mitjä in Gedanken versunken.

„Und du hast es schon Gruscha mitgeteilt,“ bemerkte Aljoscha.

„Ja,“ gestand Mitjä. „Heute wird sie nicht am Morgen kommen,“ sagte er, indem er schüchtern den Bruder anblickte. „Sie wird mich erst am Abend besuchen. Als ich ihr gestern nur andeutend sagte, daß Katjä die Sache machen werde, verstummte sie, ihre Lippen verzogen sich. Sie murmelte nur: ‚Mag sie!‘ Sie begriff, daß es wichtig ist. Ich wagte nicht weiter zu fragen. Doch begreift sie jetzt bereits, denke ich, daß jene nicht mich liebt, sondern Iwan.“

„Meinst du?“ entfuhr es Aljoscha unwillkürlich.

„Du hast recht, vielleicht auch nicht. Nur wird sie heute vormittag nicht kommen, ich habe ihr einen Auftrag gegeben ... Weißt du, Iwan wird uns alle überragen. Er muß leben, nicht wir. Er wird gesund werden.“

„Stell dir vor, Katjä zittert natürlich für ihn, und doch zweifelt sie kaum, daß er gesund werden wird,“ sagte Aljoscha.

„Dann ist sie also überzeugt, daß er sterben wird. Nur aus Angst glaubt sie, daß er gesund werden wird.“

„Iwan ist kein Schwächling, er ist von starker Konstitution. Ich hoffe gleichfalls sehr, daß er gesund wird,“ bemerkte Aljoscha sichtlich erregt.

„Ja, er wird gesund werden. Sie aber ist überzeugt, daß er sterben wird. Großen Kummer hat sie ...“

Schweigen trat ein. Irgend etwas sehr Wichtiges schien Mitjä zu quälen.

„Aljoscha, ich liebe Gruscha wahnsinnig,“ sagte er plötzlich mit bebender, tränenerfüllter Stimme.

Dort wird man sie aber nicht zu dir lassen ...“ Aljoscha griff sofort das Thema auf.

„Und was ich dir noch sagen wollte, Alexei,“ fuhr Mitjä mit einer ganz eigentümlich klangvollen Stimme fort, „wenn man mich unterwegs oder dort schlagen will – das werde ich nicht dulden, nein, ich werde sie erschlagen, und dann wird man mich erschießen. Und das soll ich zwanzig Jahre lang ertragen! Hier fängt man schon an, du zu mir zu sagen. Alle Wärter sagen zu mir du. Ich habe heute die ganze Nacht wach im Bett gelegen und über mich Gericht gehalten: Nein, ich bin nicht bereit! Ich kann es nicht auf mich nehmen, meine Kräfte reichen nicht aus! Ich wollte dort eine Hymne singen, und da kann ich nun nicht einmal das Du der Wärter verwinden! Für Gruscha würde ich alles ertragen, alles ... übrigens ausgenommen Schläge ... Aber man wird sie ja dort nicht zu mir lassen ...“

Aljoscha lächelte still.

„Hör’ mich, Bruder, ein für allemal,“ sagte er, „ich will dir einmal alle meine Gedanken über deine Flucht sagen. Du weißt, daß ich dir nichts vorlügen werde. Also höre: Du bist nicht bereit für Sibirien, und dieses Kreuz ist auch nicht für dich geschaffen. Und ich werde dir noch etwas sagen: Solch einer wie du, der nicht bereit ist, soll auch lieber gar nicht ein solches Märtyrerkreuz auf sich nehmen. Wenn du den Vater erschlagen hättest, so würde es mir leid tun, daß du dein Kreuz nicht tragen willst. Aber du bist unschuldig, und so wäre ein solches Kreuz gar zu viel für dich. Du wolltest durch die Qual den neuen Menschen in dir auferstehen machen; ich aber glaube, wenn du nur fortwährend, dein ganzes Leben lang, wohin du auch entfliehen, oder wo du hernach leben solltest – wenn du dein ganzes Leben lang an diesen anderen Menschen in dir denkst: so wird auch das für dich genügen. Wenn du diese letzten und äußersten Qualen nicht auf dich nimmst, so wird dies nur dazu dienen, daß du das Bewußtsein einer noch größeren Schuld mit dir nimmst, und dieses Schuldbewußtsein, das nie ganz endet und dich stets geleitet, wird dir fernerhin zu deiner Wiedergeburt verhelfen, und vielleicht noch eher, als wenn du wirklich nach Sibirien gingest. Denn dort würdest du das Leben nicht ertragen und würdest nur wider Gott murren und vielleicht zu guter Letzt doch noch sagen: ‚Ich habe abgerechnet‘. Der Advokat hat darin ganz recht gehabt. Nicht alle können so große Bürden tragen. Für viele sind sie ganz unerträglich. Da habe ich dir nun meine Gedanken gesagt. Vielleicht ist es wichtig für dich, zu wissen, wie ich darüber denke. Wenn für deine Flucht andere die Verantwortung tragen müßten, Offiziere, Soldaten, so würde ich dir ‚nicht erlauben‘, zu entfliehen,“ sagte Aljoscha lächelnd. „Aber man sagt und versichert sogar – der Etappenkommandant hat es Iwan ausdrücklich gesagt – daß, wenn man die Sache zu machen verstehe, auf niemanden besondere Verantwortung falle: man könne sich mit Leichtigkeit losmachen. Zwar ist das Bestechen auch in diesem Falle nicht in der Ordnung. Doch will ich darüber nicht richten oder auch nur urteilen – schon deshalb nicht, weil ich selbst, wenn Iwan und Katjä mich beauftragten, alles Nötige für deine Flucht zu tun, ohne weiteres die Bestechung auf mich nehmen würde. Das muß ich dir der Wahrheit gemäß gestehen. Wie gesagt, schon deshalb kann ich hier kein Richter sein, was du auch tun mögest. Ich will dir nur sagen, damit du dies ein für allemal weißt, daß ich dich nie verurteilen werde. Und sag doch selbst, wie könnte ich in diesem Falle wohl dein Richter sein? So, jetzt habe ich, glaub ich, alles gesagt.“

„Dafür aber verurteile ich mich selbst!“ sagte Mitjä erregt. „Ich werde natürlich entfliehen, unbedingt, das war auch ohne dich schon eine beschlossene Sache. Wie kann denn Mitjä Karamasoff nicht entfliehen? Trotzdem verurteile ich mich selbst dafür, und ich werde dort ewig zu Gott beten, er möge mir meine Sünden vergeben! So sprechen sonst wohl Jesuiten, nicht wahr? ... Sieh mal an, wie weit wir beide gekommen sind, was?“

„Ja, so reden Jesuiten,“ sagte Aljoscha lächelnd.

„Darum liebe ich dich auch so, Alexei, weil du immer die ganze Wahrheit sagst und nichts verheimlichst!“ rief Mitjä froh aus. „Sieh mal, jetzt habe ich meinen Aljoschka auf dem Jesuitenwege ertappt! Abküssen müßte man dich dafür, aber kräftig, weißt du das, Junge? Nun, so höre denn auch das übrige. Ich will dir auch die andere Hälfte meiner Seele aufdecken. Höre jetzt, was ich mir ausgedacht habe, und worüber ich mir klar geworden bin: Wenn ich nun entfliehe, mit Geld und einem Paß versehen, und, sagen wir, meinetwegen sogar nach Amerika, so ermutigt und beruhigt mich doch nur der Gedanke, daß ich nicht in die Freude, nicht in das Glück entfliehe, sondern in Wahrheit zu einer anderen Zwangsarbeit, in eine andere Verbannung, die vielleicht nicht leichter sein wird als die in Sibirien! Nein, nicht leichter, Alexei, das kannst du mir glauben, sie wird mir wahrlich nicht leichter sein! Der Teufel hole dieses Amerika, ich hasse es schon jetzt. Ich weiß, Gruscha wird dort bei mir sein, aber sieh sie doch nur einmal an: ist sie denn etwa eine Amerikanerin? Russin ist sie, bis zur letzten Nervenspitze Russin! Sie wird sich nach der Mutter, nach ihrer Heimaterde zurücksehnen, und ich werde in jeder Stunde, in jeder Minute zusehen müssen, wie sie sich meinetwegen sehnt und grämt, wie sie für mich das Kreuz trägt! Wodurch hat sie das verdient? Was hat sie verbrochen? Und wie werde denn ich dort, im amerikanischen Leben, diese leibeigene Knechtschaft ertragen, wenn die Menschen auch tausendmal besser sind als ich? Ich hasse dieses Amerika schon jetzt! Und wenn sie auch alle bis auf den letzten weiß Gott was für spitzfindige Maschinisten sind, oder sonst was – der Teufel hole sie samt und sonders, meine Leute sind es nicht, sie haben doch eine andere Seele! Ich liebe Rußland, Alexei, den russischen Gott liebe ich, wenn ich auch selbst ein Schuft bin! Dort werde ich ja umkommen!“ rief er aus, und seine Augen blitzten, während seine Stimme von verhaltenen Tränen bebte.

„Nun, jetzt höre, Alexei, wie ich bei mir beschlossen habe!“ begann er wieder, indem er seine Erregung niederrang. „Sobald wir beide dort angekommen sind, Gruscha und ich, fangen wir sofort an zu pflügen, zu arbeiten, mit wilden Bären, in der Einsamkeit, irgendwo abseits. Man wird doch auch bei ihnen einen Ort finden können, denke ich, der etwas weiter abliegt! Dort soll es ja auch noch Rothäute geben, sagt man, dort irgendwo bei ihnen ganz am Rande des Horizonts. Nun also, und zu denen werden wir dann hinziehen, zu den letzten Mohikanern. Und da machen wir uns denn sofort an die Grammatik, Gruscha und ich. Arbeit und Grammatik, und das so, sagen wir, drei Jahre lang. Und nach diesen drei Jahren werden wir besser Englisch sprechen als die echtesten eingeborenen Amerikaner. Und sobald wir die Sprache intus haben – dann ade Amerika! Wir kommen unverzüglich wieder her, nach Rußland, und zwar als amerikanische Bürger. Aber hab keine Angst, hierher in diese Stadt kommen wir natürlich nicht. Wir werden uns irgendwo weit, weit von hier verbergen, hoch oben im Norden oder vielleicht auch im Süden. Bis dahin werde ich mich schon genügend verändert haben, sie gleichfalls. Dort in Amerika kann mir ein Doktor noch irgend so eine Warze künstlich anbringen – wozu sind sie denn Mechaniker? Und kann er’s nicht, so steche ich mir ein Auge aus, lasse mir den Bart meterlang wachsen, einen grauen, versteht sich – vor Heimweh nach Rußland werde ich ja bald ergrauen. Sicherlich wird man mich dann nicht wiedererkennen, was meinst du? Wenn man mich aber erkennen und von neuem verschicken sollte, dann meinetwegen, dann will es das Schicksal so! Hier jedoch werden wir genau so wie in Amerika irgendwo in der Einöde Ackerbau treiben, und ich werde bis zum Schluß den Vollblutamerikaner spielen. Dafür werden wir dann im Vaterlande sterben können! Sieh, das ist mein Plan, und der ist unwandelbar. Billigst du ihn?“

„Ja, ich billige ihn,“ sagte Aljoscha, da er ihm nicht widersprechen wollte.

Mitjä schwieg eine Weile, dann sagte er plötzlich:

„Aber wie geschickt sie das bei der Verhandlung gedreht haben! Weiß der Teufel!“

„Und wenn sie es auch nicht entstellt hätten, du wärst doch verurteilt worden,“ sagte Aljoscha mit einem Seufzer.

„Ja, das hiesige Publikum war meiner – na, sagen wir, gar zu überdrüssig geworden. Nun, Gott mit ihnen! Aber es ist doch schwer!“ Mitjä stöhnte gequält.

Sie schwiegen wieder eine Weile.

„Aljoscha, töte mich sofort!“ rief er plötzlich leidenschaftlich aus. „Wird sie bald kommen oder überhaupt nicht – sprich! Was hat sie gesagt? Wie hat sie es gesagt?“

„Sie hat gesagt, daß sie kommen werde, nur weiß ich nicht, ob es gerade heute sein wird. Auch ihr fällt es doch schwer!“ Aljoscha blickte besorgt den Bruder an.

„Das weiß ich, das weiß ich, wie soll es ihr denn nicht schwer fallen! Ich verliere darüber den Verstand. Gruschenka sieht mich immer so an ... Sie begreift ... Gott, Herr, gib du mir Frieden! Nach wem verlange ich? Ach, nach Katjä verlangt mich! Weiß ich, nach wem mich eigentlich verlangt? Karamasoffsche Zügellosigkeit – nichts anderes! Nein, ich bin unfähig zum Leiden! Ein Schuft bin ich, und damit ist alles gesagt!“

„Da ist sie!“ rief Aljoscha aus.

In diesem Augenblick war Katjä auf der Türschwelle erschienen. Sie stand und rührte sich nicht, während ihr Blick wie verloren auf Mitjä lag. Der sprang sofort auf: man konnte ihm seinen Schreck ansehen – er wurde ganz bleich. Sofort aber erzitterte ein schüchternes, bittendes Lächeln auf seinen Lippen, und plötzlich konnte er nicht anders – er streckte ihr seine beiden Hände entgegen. Als sie das sah, stürzte sie ungestüm auf ihn zu. Sie ergriff seine Hände und setzte ihn fast mit Gewalt aufs Bett, indem sie sich selbst neben ihm niederließ; sie hielt immer noch seine Hände fest und drückte sie wie im Krampf. Zwei-, dreimal wollten sie beide etwas sagen, doch hielten sie wieder inne, und ihre Blicke hingen aneinander, schweigend, verzehrend, während auf ihren Lippen ein sonderbares Lächeln lag.

„Hast du mir verziehen, oder kannst du’s nicht?“ brachte Mitjä schließlich stockend hervor. Darauf wandte er sich zu Aljoscha und rief ihm mit freudeentstelltem Gesicht zu:

„Hörst du, was ich sie frage, hörst du!“

„Darum habe ich dich ja so geliebt, weil du von Herzen edelmütig bist!“ entfuhr es Katjä fast unfreiwillig. „Aber du bedarfst ja gar nicht meiner Verzeihung und ich auch nicht der deinigen. Ob du verzeihst oder nicht – du wirst doch mein Leben lang als offene Wunde in meinem Herzen zurückbleiben, und ich ebenso in deinem – und so muß es auch sein ...“

Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen.

„Wozu bin ich hergekommen?“ begann sie von neuem, sich überstürzend, als hätte sie die Besinnung verloren. „Um deine Füße zu umfassen, deine Hände zu drücken, sieh so, bis zum Schmerz, wie ich sie dir in Moskau gedrückt habe, weißt du noch? – um dir wieder zu sagen, daß du mein Gott bist, meine Freude, um dir zu sagen, daß ich dich unsinnig liebe!“ kam es halblaut wie unter Qualen über ihre bebenden Lippen. Und plötzlich beugte sie sich vor und küßte gierig seine Hand. Tränen stürzten aus ihren Augen.

Aljoscha stand ganz verwirrt da und sagte kein Wort. Alles hätte er eher erwartet, als das, was er jetzt sah.

„Die Liebe ist vergangen, Mitjä!“ fuhr Katjä fort, „aber teuer bis zum Schmerz ist mir das, was vergangen ist. Das sage ich dir jetzt, damit du es weißt und ewig behältst. Jetzt aber, in diesem Augenblick, mag es nur einmal sein, wie’s hätte sein können,“ sagte sie mit einem traurigen Lächeln, indem sie ihm zugleich fast freudig in die Augen blickte. „Du liebst jetzt eine andere, und auch ich liebe einen anderen, und doch werde ich dich ewig lieben, und du ebenso mich – wußtest du das schon? Hörst du, liebe mich, liebe mich dein ganzes Leben lang!“ sagte sie laut, und in ihrer Stimme lag ein drohendes Zittern.

„Ich werde dich lieben und ... weißt du, Katjä,“ – Mitjä holte nach jedem Wort tief Atem – „weißt du, vor fünf Tagen, an jenem Abend, da liebte ich dich ... Als du hinfielst und man dich forttrug, da liebte ich dich ... Mein ganzes Leben lang werde ich dich lieben! Ja, so wird es sein, so wird es ewig sein ...“

In der Weise sprachen sie miteinander: sinnlos, wie im Rausch – vielleicht sagten sie sich sogar Unwahres, aber in diesem Augenblick war alles wahr für sie, und sie glaubten selbst unverbrüchlich an ihre Worte.

„Katjä,“ rief plötzlich Mitjä, „glaubst du, daß ich ihn erschlagen habe? Ich weiß, daß du jetzt nicht daran glaubst, aber damals ... als du aussagtest ... Glaubtest du, sag, glaubtest du es damals wirklich?“

„Auch damals glaubte ich es nicht! Niemals habe ich es geglaubt! Ich haßte dich nur, und da redete ich es mir ein, gerade für diesen einen Augenblick ... Als ich die Aussage machte, redete ich es mir ein, und da glaubte ich denn ... Aber kaum daß ich meine Aussage beendet hatte, hörte ich sofort auf, zu glauben ... Das sollst du wissen! ... Ich vergaß, daß ich gekommen war, um mich zu demütigen!“ fügte sie plötzlich mit einem ganz anderen Ausdruck hinzu, der nichts mehr mit dem soeben gemachten Liebesgeständnis gemein hatte.

„Schwer hast du es, Weib!“ entfuhr es Mitjä fast unbewußt in seinem Mitleid.

„Laß mich,“ murmelte sie, „ich werde wiederkommen, jetzt ist es zu schwer! ...“

Sie erhob sich von ihrem Platze – da aber stieß sie einen Schrei aus und wankte zurück: – ins Zimmer trat ganz unvermutet mit ihrem leisen Gang Gruschenka. Niemand hatte sie erwartet. Katjä wandte sich sofort eilig zur Tür – als sie aber an Gruschenka vorübergehen wollte, blieb sie jäh stehen, erbleichte unheimlich und sagte leise, kaum hörbar, mit angehaltenem Atem:

„Vergeben Sie mir!“

Die andere blickte sie eine Zeitlang unbeweglich an und antwortete erst nach einer Weile mit haßerfüllter, mit einer wie von Haß gleichsam durchgifteten Stimme:

„Schlecht sind wir beide! Beide sind wir schlecht! Wie könnten wir vergeben, du sowohl wie ich? Rette ihn, und ich werde mein Leben lang für dich beten.“

„Wie, und vergeben willst du ihr nicht?“ rief Mitjä Gruschenka in bitterem Vorwurf fast außer sich zu.

„Sei ruhig, ich werde ihn dir retten!“ flüsterte ihr Katjä halblaut zu und eilte aus dem Zimmer.

„Und du konntest ihr nicht vergeben, nachdem sie selbst zu dir gesagt hatte: ‚vergib‘?“ rief Mitjä vorwurfsvoll aus.

„Mitjä, wage es nicht, ihr Vorwürfe zu machen! Dazu hast du kein Recht!“ rief Aljoscha heftig seinem Bruder zu.

„Ihre stolzen Lippen haben es gesagt, nicht ihr Herz,“ sagte Gruschenka wie mit einem Ekel. „Rettet sie dich, so werde ich ihr alles verzeihen ...“

Sie verstummte, als hätte sie in ihrer Seele etwas niederzuringen.

Sie konnte noch nicht recht zur Besinnung kommen. Wie sich später herausstellte, war sie ganz zufällig eingetreten; sie hatte nicht geahnt, daß sie hier irgendeinen fremden Menschen antreffen werde.

„Aljoscha, lauf ihr sofort nach!“ wandte sich Mitjä ungestüm an den Bruder. „Sag’ ihr ... ich weiß nicht was ... nur laß sie nicht so fortgehen!“

„Ich werde noch vor dem Abend zu dir kommen!“ rief Aljoscha ihm schnell zu und lief dann Katjä nach.

Er holte sie erst auf der Straße ein, als sie den Hospitalgarten bereits verließ. Sie ging sehr schnell, lief fast, beeilte sich sichtlich. Kaum aber hatte Aljoscha sie eingeholt, als sie sich sofort zu ihm wandte und hastig hervorstieß:

„Nein, vor der kann ich mich nicht demütigen! Ich habe sie um Verzeihung gebeten, weil ich mich bis zum äußersten demütigen wollte. Sie hat mir nicht verziehen ... Und ich – liebe sie dafür!“ fügte Katjä mit entstellter Stimme hinzu, und ihre Augen blitzten in wildem Haß.

„Mein Bruder glaubte, daß sie heute erst am Abend kommen würde, er hat sie durchaus nicht erwartet,“ brachte Aljoscha verwirrt hervor, „er war sogar überzeugt, daß sie nicht kommen würde ...“

„Zweifellos war er überzeugt davon. Aber lassen wir das,“ sagte sie kurz abbrechend. „Hören Sie mich an: Ich kann jetzt nicht mit Ihnen dorthin zur Beerdigung gehen. Ich habe Blumen für den kleinen Sarg hingeschickt. Geld haben sie noch, glaube ich. Sobald sie welches brauchen, werde ich wieder schicken. Sagen Sie ihnen, daß ich sie in Zukunft nie vergessen werde, sie können auf meine Hilfe rechnen. Jetzt aber verlassen Sie mich, verlassen Sie mich, ich bitte Sie darum. Sie werden sich verspäten, es wird schon zur Messe geläutet ... Verlassen Sie mich, ich bitte Sie darum!“

III.
Iljuschas Beerdigung. Die Rede am großen Stein

Er verspätete sich in der Tat. Man hatte schon lange auf ihn gewartet und sich fast schon entschlossen, den kleinen, mit Blumen bedeckten Sarg ohne ihn in die Kirche zu tragen. Es war der Sarg Iljuschetschkas, des armen kleinen Knaben. Er war am zweiten Tage nach der Verurteilung Mitjäs gestorben. Schon an der Hofpforte wurde Aljoscha von den Knaben, Iljuschas Kameraden, empfangen. Sie hatten ihn mit Ungeduld erwartet, und sie freuten sich, daß er jetzt endlich kam. Es hatten sich ihrer zwölf versammelt, und alle waren sie mit ihren Ränzlein und Büchertaschen auf der Schulter gekommen. „Papa wird weinen, verlaßt nicht Papa!“ hatte ihnen Iljuschetschka sterbend gesagt, und die Knaben erfüllten gern seine Bitte. Ihr Anführer war natürlich Koljä Krassotkin.

„Wie es mich freut, daß Sie gekommen sind, Karamasoff!“ rief er aus und streckte Aljoscha die Hand entgegen. „Hier ist es einfach furchtbar! Wirklich, es wird einem schwer, das mit anzusehen. Ssnegireff ist nicht betrunken, wir wissen es ganz genau, daß er heute nichts getrunken hat, aber trotzdem ist er wie betrunken ... Ich kann schon etwas aushalten, aber das ist doch zu entsetzlich! Karamasoff – wenn ich Sie nicht aufhalte – erlauben Sie mir noch eine Frage, bevor Sie hineingehen?“

„Was ist es denn, Koljä?“ fragte Aljoscha und blieb stehen.

„Ist Ihr Bruder schuldig, oder ist er unschuldig? Hat er den Vater erschlagen, oder hat es der Diener getan? Was Sie sagen, daran werde ich glauben. Ich habe vier Nächte wegen dieser Frage nicht schlafen können.“

„Der Diener hat ihn erschlagen, mein Bruder aber ist unschuldig,“ antwortete Aljoscha.

„Und ich habe das auch gesagt!“ rief plötzlich der kleine Ssmuroff dazwischen.

„So muß er denn als unschuldiges Opfer zugrunde gehen?“ fragte Koljä erregt. „Aber wenn er auch zugrunde geht, so ist er doch glücklich! Ich könnte ihn beneiden!“

„Was sagen Sie, wie können Sie so etwas aussprechen, und warum reden Sie so?“ fragte Aljoscha verwundert.

„Oh, wenn doch auch ich mich einmal für die Wahrheit opfern könnte,“ sagte Koljä enthusiastisch.

„Aber doch nicht in einer solchen Sache, doch nicht so schandbeladen, doch nicht so grauenvoll!“ rief Aljoscha aus.

„Freilich ... ich möchte für die ganze Menschheit sterben können. Was jedoch die Schande anbelangt, so ist mir alles gleich: Mögen unsere Namen vergehen! Ich verehre Ihren Bruder!“

„Und ich auch!“ rief plötzlich und ganz unerwartet aus der Bande derselbe Knabe, der einmal erklärt hatte, er wisse, wer Troja erbaut habe, und auch diesmal wurde er, genau so wie damals, bis über die Ohren rot. Aljoscha trat ins Zimmer. In einem hellblauen, mit weißen Rüschen geschmückten Sarge lag, die Hände gefaltet und die Augen geschlossen, Iljuscha. Die Züge seines abgemagerten Gesichtchens hatten sich gar nicht verändert und, sonderbar – die Leiche verbreitete fast gar keinen Verwesungsgeruch. Der Ausdruck seines Gesichtchens war ernst und nachdenklich. Besonders schön waren die Hände, die auf der Brust gekreuzt lagen. Wie aus Marmor gemeißelt sahen sie aus. Unter die Hände hatte man Blumen gelegt, und der ganze Sarg war von innen und von außen mit Blumen geschmückt, die Lisa Chochlakoff schon am frühen Morgen geschickt hatte. Auch von Katerina Iwanowna waren Blumen geschickt worden, und als Aljoscha die Tür aufmachte, da bedeckte der Hauptmann mit zitternden Händen gerade von neuem seinen geliebten Jungen mit Blumen. Er beachtete kaum den Eintretenden, er schien überhaupt niemanden beachten zu wollen; nicht einmal sein „Mamachen“, seine schwachsinnige weinende Frau, die immer wieder versuchte, sich auf ihren kranken Füßen aufzurichten, um ihren toten Knaben besser sehen zu können. Ninotschka wurde von den Knaben mit ihrem Stuhl aufgehoben und näher an den Sarg gerückt. Dort saß sie dann, preßte ihren Kopf an den Sarg und weinte still. Das Gesicht Ssnegireffs war sehr belebt, zu gleicher Zeit aber wie zerstreut und wie verbittert. In seinen Gesten und Worten war etwas geradezu Halbverrücktes. „Väterchen, liebes Väterchen!“ murmelte er immer wieder, auf Iljuscha starrend. Als Iljuscha noch lebte, hatte er die Gewohnheit gehabt, wenn er zu ihm liebkosend sprach, „Väterchen, liebes Väterchen!“ zu sagen.

„Papachen, gib auch mir Blumen, nimm aus seinen Händchen dort diese weiße und gib sie mir!“ bat schluchzend das schwachsinnige „Mamachen“. Gefiel ihr nun die kleine weiße Rose so sehr, die in Iljuschas Händen lag, oder wollte sie die Rose aus seinem Sarge zum Andenken aufbewahren, jedenfalls fuhr sie mit den Händen hin und her und streckte sie immer wieder wie suchend nach der Blume aus.

„Niemandem gebe ich etwas, nichts gebe ich!“ rief hartherzig Ssnegireff. „Das sind seine Blumen, aber nicht deine. Alles gehört ihm, du bekommst nichts.“

„Papa, geben Sie Mama die Blume!“ bat Ninotschka, indem sie plötzlich ihr tränenüberströmtes Gesicht erhob.

„Nichts gebe ich ihr, nichts! Sie hat ihn gar nicht geliebt. Sie hat ihm damals die kleine Kanone fortgenommen, und er hat sie ihr geschenkt,“ sagte mit schluchzender Stimme der Hauptmann, den die Erinnerung, wie Iljuschetschka seiner Mama die Kanone abgetreten hatte, überwältigte. Die arme Irrsinnige weinte leise und bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht. Als die Knaben schließlich einsahen, daß der Vater den Sarg nicht forttragen lassen werde, während es doch schon die höchste Zeit war, aufzubrechen, drängten sie sich in dichtem Haufen an den Sarg heran und schickten sich an, ihn aufzuheben.

„Ich will ihn nicht auf dem Friedhof beerdigt haben!“ fuhr Ssnegireff sofort heftig auf, „beim Stein will ich ihn beerdigen, bei unserem großen Stein! So hat es Iljuscha gewollt! Ich lasse ihn nicht forttragen!“

Er hatte auch schon früher, die ganzen drei Tage, davon gesprochen, daß er ihn beim „großen Stein“ beerdigen wolle: doch Aljoscha, Krassotkin, die Hauswirtin, deren Schwester und alle Knaben waren dagegen gewesen.

„Sieh einer, was er sich ausgedacht hat, ihn beim Stein wie einen Heiden zu beerdigen, ganz als wäre er ein Selbstmörder!“ sagte streng die alte Wirtin. „Die Friedhoferde ist geweiht. Dort wird man für ihn beten. Aus der Kirche hört man den Gesang, und der Diakon liest so laut und verständlich, daß jedes Wort bis zu seinem Grabe zu hören sein wird, ganz als ob er es an seinem Grabe lesen würde.“

Der Hauptmann winkte schließlich mit der Hand ab. Das hieß soviel wie: „Bringt ihn wohin ihr wollt!“ Die Kinder hoben den Sarg auf. Als sie an der Mutter vorüberkamen, senkten sie ihn ein wenig, damit sie von Iljuscha Abschied nehmen könne. Als sie aber das liebe Gesichtchen, auf das sie in diesen drei Tagen immer nur von weitem hinübergeblickt hatte, jetzt so nah vor sich erblickte, erzitterte sie am ganzen Körper und begann über dem Sarge hysterisch mit ihrem grauen Kopfe hin und her zu zucken.

„Mama, bekreuze ihn, segne ihn, küsse ihn!“ rief ihr Ninotschka weinend zu. Die Mama aber zuckte nur immer mit ihrem Kopf, sprachlos wie ein Automat, während ihr Gesicht von heißem Kummer verzerrt wurde, und plötzlich fing sie an, sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen. Man trug den Sarg weiter. Ninotschka drückte zum letztenmal ihre Lippen auf die Lippen ihres verstorbenen Bruders, als man ihn an ihr vorübertrug. Aljoscha wandte sich, als er aus dem Hause trat, an die Hauswirtin mit der Bitte, nach den Zurückgebliebenen zu sehen – die aber ließ ihn kaum aussprechen: „Wir wissen schon, werden bei ihnen bleiben, sind doch auch Christen!“ sagte die Alte und weinte dazu.

Bis zur Kirche war es nicht weit, im ganzen vielleicht dreihundert Schritt, nicht mehr. Der Tag war klar und still, es fror nur wenig. Die Meßglocke wurde noch geläutet. Zerstreut und geschäftig lief Ssnegireff in seinem alten, kurzen Sommermäntelchen hinter dem Sarge her, mit entblößtem Kopf, den alten Schlapphut in der Hand. Er war von einer gedankenlosen Geschäftigkeit: Plötzlich streckte er die Hand aus, um den Sarg am Kopfende zu stützen, und störte dadurch nur die Tragenden, dann lief er wieder an die Seite und versuchte dort behilflich zu sein; fiel eine Blume auf den Schnee, so stürzte er sich auf sie, um sie aufzuheben, ganz als ob von dem Verlust dieser Blume weiß Gott was abhing.

„Aber die Brotrinde, die Brotrinde haben wir vergessen!“ rief er plötzlich außer sich vor Schreck. Die Knaben erinnerten ihn daran, daß er die Brotrinde in seine Tasche gesteckt hatte. Er riß sie sofort aus der Tasche hervor, und nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß sie da war, beruhigte er sich.

„Iljuschetschka hat befohlen, Iljuschetschka,“ erklärte er sofort Aljoscha, „er lag wach in der Nacht, ich saß bei ihm, und plötzlich sagte er zu mir: ‚Papachen, wenn man mein Grab zugeschüttet hat, so wirf Brotkrümchen darauf, damit die kleinen Sperlinge herbeifliegen, ich werde dann hören, wie sie herbeigeflogen kommen, und werde froh sein, daß ich nicht ganz allein liege.‘“

„Das ist gut,“ sagte Aljoscha, „man muß des öfteren Brotkrümel hinstreuen.“

„Jeden Tag, jeden Tag!“ stotterte der Hauptmann wie neu belebt.

Endlich kam man in der Kirche an, und der Sarg wurde inmitten der Vierung hingestellt. Die Knaben blieben um ihn herum stehen, und so standen sie, tief ernst, während des ganzen Gottesdienstes. Es war eine alte ärmliche Kirche. Die Heiligenbilder waren ohne Silberschmuck. Aber ich glaube, in solchen Kirchen kann man besser beten. Nach der Messe schien Ssnegireff sich etwas zu beruhigen, obgleich ihn auch jetzt noch von Zeit zu Zeit wieder eine unbewußte, gedankenlose Geschäftigkeit erfaßte: Bald trat er an den Sarg, um das Leichentuch oder das Stirnband in Ordnung zu bringen, bald wieder, wenn ein Licht herunterfiel, lief er hin, um es aufzustellen, und machte sich schrecklich lange damit zu schaffen. Plötzlich beruhigte er sich wieder und stand unbeweglich mit stumpfsinnig-besorgtem und verständnislosem Gesichtsausdruck da. Als die Apostelgeschichte verlesen wurde, flüsterte er plötzlich Aljoscha ins Ohr, daß sie „nicht so“ verlesen werden müßte, sprach indessen seine Gedanken darüber nicht aus. Nach dem Cherubliede schickte er sich an, mitzusingen, brach aber sogleich wieder ab und warf sich auf die Knie, beugte seine Stirn auf den steinernen Fußboden der Kirche und verharrte eine geraume Zeit in dieser Stellung. Endlich schritt man zum Totenamt, und die Lichter wurden verteilt. Wieder schien der unsinnige Alte geschäftig werden zu wollen, doch der erschütternde Grabgesang machte einen unheimlichen Eindruck auf seine Seele. Er schien plötzlich in sich zusammenzusinken: Er schluchzte auf, zuerst nur stoßweise mit unterdrückter Stimme, schließlich aber weinte er laut. Als man sich von dem Toten zu verabschieden begann und sich anschickte, den Sarg zu schließen, umfing er ihn mit beiden Armen, als wolle er Iljuschetschka vor etwas beschützen, und immer wieder küßte er seinen toten Knaben auf den Mund. Man beredete ihn, und es gelang ihnen fast schon, den Vater vom Sarge loszureißen, als er plötzlich seinen Arm ausstreckte und von dem Sarge noch einige Blumen raffte. Darauf stierte er sie an, und eine neue Idee schien ihn zu ergreifen, so daß er auf einen Augenblick alles andere vergaß. Er verfiel immer mehr in Nachdenken und hatte dann auch nichts weiter dagegen einzuwenden, als der Sarg aufgehoben wurde, um zum Grabe getragen zu werden. Es war ein teures Grab, ganz nahe bei der Kirche gelegen: Katerina Iwanowna hatte es bezahlt. Nach der üblichen Zeremonie senkten die Totengräber den Sarg in die Gruft hinab. Ssnegireff beugte sich mit seinen Blumen in den Händen über dem offenen Grabe so weit vor, daß sich die Knaben erschrocken an seinen Mantel hängten und ihn zurückzogen. Er aber schien nicht mehr zu verstehen, was vor sich ging. Als man das Grab zuschüttete, wies er geschäftig auf die hinabstürzende Erde, und begann sogar zu reden, doch war unmöglich zu verstehen, was er sagte, und er verstummte dann auch bald von selbst. Man erinnerte ihn daran, nunmehr die Brotkrumen auszustreuen, und er begann denn auch sofort und in großer Aufregung ganze Stücke auf das Grab zu werfen. „Vögelchen, fliegt herbei, hier, Sperlinge fliegt herbei!“ murmelte er geschäftig. Einer der Knaben machte die Bemerkung, daß die Blumen, die er in den Händen hielt, ihm nur hinderlich seien, und daß er sie ihm zu halten geben solle. Er aber gab sie nicht, erschrak nur heftig, denn er glaubte und fürchtete, jemand wolle sie ihm fortnehmen. Nachdem er sich das Grab angesehen und man ihm noch gesagt hatte, daß er jetzt alles getan, kehrte er sich ganz unerwartet und beruhigt um und beeilte sich, nach Haus zu kommen. Seine Schritte wurden bald so eilig, daß er fast schon lief. Die Knaben und Aljoscha folgten ihm. „Für Mamachen die Blumen, für Mamachen die Blumen! Man hat Mamachen gekränkt,“ murmelte er vor sich hin. Einer der Knaben rief ihm zu, er möge doch seinen Hut aufsetzen, es sei doch kalt. Sowie er das aber hörte, warf er den Hut zornig auf den Schnee und sagte immer wieder vor sich hin: „Ich will keinen Hut, ich will keinen Hut!“ Der kleine Ssmuroff hob ihn auf und trug ihn hinter ihm her. Alle Knaben weinten, am heftigsten von allen Koljä und der Knabe, der Troja entdeckt hatte, und wenn auch Ssmuroff mit dem Hut des Hauptmanns in der Hand herzbrechend schluchzte, so fand er doch Zeit, ein Ziegelstückchen, das sich rot vom Schnee abhob, aufzuheben und nach einem schnell vorüberziehenden Flug Spatzen zu werfen ... Natürlich traf er nicht, und so lief er weinend weiter. Ssnegireff jedoch blieb plötzlich mitten auf dem Wege stehen, stand einen Augenblick, als wäre er über etwas sehr betroffen, kehrte dann um und lief zur Kirche zurück, zum Grabe. Die Knaben holten ihn aber bald ein und klammerten sich von allen Seiten an ihn. Kraftlos und wie verwundet fiel er in den Schnee, schlug um sich, schluchzte und schrie: „Väterchen, Iljuschetschka, liebes Väterchen!“ Aljoscha und Koljä hoben ihn auf und sprachen auf ihn ein, indem sie ihn zu beruhigen suchten.

„Herr Hauptmann, genug der Verzweiflung, ein tapferer Mensch ist verpflichtet, alles männlich zu ertragen,“ meinte Koljä etwas unwirsch.

„Sie werden die Blumen zerdrücken,“ sagte Aljoscha, „und Mamachen wartet auf sie, sie sitzt dort und weint, weil Sie ihr Iljuschetschkas Blumen nicht gegeben haben. Dort steht auch noch sein Bett ...“

„Ja, ja, zu Mamachen!“ Ssnegireff besann sich sofort, „man wird das Bettchen fortbringen, fortbringen!“ fügte er ganz erschrocken hinzu, als ob man wirklich schon das Bettchen fortgebracht haben könnte. Und er sprang auf und lief wieder weiter, nach Hause.

Es war nicht mehr weit bis dahin, und so liefen sie alle mit. Ssnegireff riß eilig die Tür auf und stürzte zu seiner Frau, zu der er kurz vorher noch so hartherzig gewesen war:

„Liebes Mamachen, Iljuschetschka schickt dir die Blumen, kranke Füße hast du doch!“ rief er ihr schon von der Tür aus zu und schenkte ihr die vom Frost zerstörten und verwelkten Blumen.

In demselben Augenblick erblickte er aber in der Ecke vor Iljuschetschkas Bettchen dessen Stiefel, beide nebeneinander, wie sie soeben von der Hauswirtin beim Aufräumen aufgestellt worden waren; es waren alte, rötlich gewordene, ganz abgetragene und geflickte Stiefelchen. Als er sie bemerkte, erhob er die Hände, stürzte auf sie zu, fiel vor ihnen auf die Knie nieder, ergriff einen Stiefel und preßte ihn an seine Lippen und küßte, küßte ihn gierig:

„Väterchen Iljuschetschka, liebes Väterchen, wo sind deine Füßchen, wo?“

„Wohin hast du ihn gebracht? Wohin hast du ihn gebracht?“ heulte nun auch die Irrsinnige mit herzzerreißender Stimme.

Da brach auch Ninotschka in Tränen aus. Koljä lief aus dem Zimmer, ihm folgten die anderen Knaben. Auch Aljoscha ging hinaus und folgte ihnen.

„Mögen sie sich ausweinen,“ sagte er zu Koljä, „da kann man nicht mehr trösten. Warten wir ein wenig und gehen wir dann wieder hinein.“

„Ja, man kann nicht mehr ... es ist schrecklich!“ bestätigte Koljä. „Wissen Sie, Karamasoff,“ er senkte ein wenig seine Stimme, damit ihn niemand höre, „mir ist sehr traurig zumute, wenn ich wüßte, daß man ihn auferwecken könnte, dann würde ich alles auf der Welt hingeben!“

„Ach, auch ich würde es!“ sagte Aljoscha.

„Was meinen Sie, Karamasoff, sollen wir nicht heute abend wieder herkommen? Sonst wird er sich ja betrinken.“

„Sehr möglich, daß er sich betrinken wird. Aber wir wollen beide allein kommen, um mit ihnen, mit der Mutter und Ninotschka, zusammen ein Stündchen zu sitzen, denn wenn wir wieder alle auf einmal kämen, so würden sie nur an die Beerdigung erinnert werden,“ sagte Aljoscha.

„Bei ihnen deckt jetzt die Wirtin den Tisch, wahrscheinlich zum Totenmahl, der Pope wird wohl bald kommen ... Sollen wir gleich wieder zurückgehen, Karamasoff, oder nicht?“

„Durchaus,“ antwortete Aljoscha.

„Wie das sonderbar ist, Karamasoff, ein solcher Kummer und dann plötzlich Pfannkuchen, wie unnatürlich und wie sonderbar das in unserer Religion ist.“

„Sie werden auch Lachs essen,“ bemerkte plötzlich der Knabe, der Troja entdeckt hatte.

„Ich bitte Sie im Ernst, Kartascheff, sich nicht immer mit Ihren dummen Reden einzumischen, besonders wenn man gar nicht mit Ihnen spricht und überhaupt nicht wissen will, ob Sie auf der Welt sind oder nicht,“ fiel ihm Koljä gereizt ins Wort.

Der Knabe errötete wieder bis über die Ohren, doch zu antworten wagte er nicht. Inzwischen hatten sie alle still den Fußweg eingeschlagen, und plötzlich rief Ssmuroff aus:

„Das ist der große Stein, unter dem Iljuscha beerdigt sein wollte!“

Alle blieben sie schweigend am großen Steine stehen. In Aljoscha tauchte die Erinnerung daran auf, wie Ssnegireff ihm von Iljuschetschka erzählt hatte: Wie dieser den Vater weinend umarmt und dabei ausgerufen: „Papachen, Papachen, wie hat er dich erniedrigt!“ Es war ihm, als wenn in seiner Seele etwas erzitterte. Mit ernster und würdiger Miene ließ er seinen Blick über alle diese lieben, hellen Gesichter der Schuljungen und Kameraden Iljuschetschkas gleiten, und plötzlich wandte er sich an sie:

„Meine Freunde, ich wollte euch hier, gerade an diesem Steine, ein Wort sagen.“

Die Knaben umringten ihn und sahen ihn mit erwartenden Blicken groß an.

„Meine Freunde, wir werden uns bald trennen. Ich werde nur noch eine kurze Zeit bei meinen beiden Brüdern bleiben, von denen der eine verschickt wird und der andere todkrank ist. Ich werde bald diese Stadt verlassen, und vielleicht auf sehr lange. So werden wir denn auseinandergehen, meine Freunde. Darum laßt uns hier am Steine, den Iljuscha so lieb hatte, das Versprechen ablegen – erstens Iljuscha, und zweitens uns gegenseitig nie zu vergessen. Was auch mit uns im Leben geschehen möge, und wenn wir uns auch zwanzig Jahre lang nicht sehen sollten, so wollen wir doch nicht vergessen, wie wir den armen Knaben beerdigt haben, auf den wir früher mit Steinen warfen, – erinnert ihr euch noch, bei der Brücke damals? – und wie wir ihn darauf alle so lieb gewannen. Er war ein lieber, guter und tapferer Junge. Er hielt die Ehre des Vaters hoch und litt unter der Kränkung, die dem Vater zugefügt worden war, und lehnte sich gegen sie auf. Und so wollen wir ihn, meine Freunde, unser ganzes Leben lang nicht vergessen. Und sollten wir uns auch mit den wichtigsten Dingen beschäftigen, sollten wir auch zu den höchsten Ehren gelangen oder in das größte Unglück geraten, – gleichviel, wir wollen nie vergessen, wie uns hier alle das eine Gefühl verband, das uns in der Liebe zu diesem armen Jungen besser gemacht hat, als wir es vielleicht von Natur sind. Meine Lieblinge ihr, meine Täubchen – erlaubt mir, daß ich euch so nenne, denn ihr alle scheint mir diesen hübschen schillernden Tierchen mit den munteren Äuglein so ähnlich zu sein, wenn ich eure guten, lieben Gesichtchen sehe – meine lieben Kinder, vielleicht werdet ihr nicht begreifen, was ich euch sage, denn ich rede oft sehr unverständlich, ihr werdet euch aber des Gesagten vielleicht doch einmal erinnern und meinen Worten dann beistimmen. Denn wißt, es gibt nichts, das höher, stärker, gesünder und nützlicher für das Leben wäre als eine gute Erinnerung aus der Kindheit, aus dem Elternhause. Man wird euch vieles über eure Erziehung sagen, aber eine schöne und heilige Erinnerung, die man noch aus der Kindheit sich aufbewahrt, kann oft die allerbeste Erziehung sein. Wenn der Mensch viele solcher Erinnerungen aus seiner Jugend hat, so ist er fürs ganze Leben gerettet. Und wenn auch nur eine einzige gute Erinnerung in seinem Herzen verbleibt, so kann auch diese einmal zu seiner Rettung dienen. Vielleicht werden wir später im Leben schlecht, vielleicht werden wir nicht die Kraft haben, eine schlechte Handlung zu vermeiden, wir werden vielleicht sogar über die Tränen der Menschen lachen, über Menschen, die dasselbe sagen, was Koljä vorhin ausrief: ‚Ich möchte für alle Menschen leiden‘, – ja, auch über solche Menschen werden wir vielleicht in unserer Bosheit lachen. Aber wenn wir auch noch so schlecht werden sollten, wovor Gott uns bewahren möge, so werden wir, wenn wir uns dessen erinnern, wie wir Iljuscha beerdigt, wie wir ihn in den letzten Tagen geliebt und wie wir soeben freundschaftlich an diesem Steine gesprochen haben – so wird doch selbst der Schlechteste und Spottlustigste von uns, wenn er zu einem solchen werden sollte, immerhin nicht innerlich darüber zu lachen wagen, daß er in diesem Augenblick gut und brav gewesen ist. Und nicht nur das: vielleicht wird diese Erinnerung allein ihn zurückhalten, Böses zu tun, und er wird sich besinnen und sagen: ‚Ja, ich war damals gut, tapfer und ehrlich.‘ Möge er bei sich lächeln, das tut nichts, der Mensch lacht oft über Gutes und Edles, aber er tut es ja nur aus Leichtsinn. Und ich versichere euch, meine Freunde, in dem Augenblick, in dem er lacht, wird er sich doch innerlich sagen: ‚Nein, es ist schlecht, daß ich gelacht habe, denn darüber darf man nicht lachen!‘“

„Genau so wird es sein Karamasoff, ich verstehe Sie, Karamasoff!“ rief ihm Koljä mit blitzenden Augen zu.

Die Knaben waren furchtbar aufgeregt und wollten alle etwas sagen, doch hielten sie sich noch zurück und starrten nur mit aufmerksamen Gesichtern zu dem Redner empor.

„Das sage ich nur in der Furcht, daß wir schlecht werden könnten,“ fuhr Aljoscha fort, „aber warum sollten wir denn schlecht werden, meine Freunde? Vor allem wollen wir doch gut sein, alsdann ehrlich und dann – niemals einander vergessen. Das wiederhole ich immer wieder. Ich gebe euch mein Wort, meine Freunde, daß ich niemals auch nur einen von euch vergessen werde: Kein einziges Gesicht, das ich jetzt vor mir sehe, werde ich je vergessen, und wenn auch Jahre und Jahre darüber vergehen. Soeben sagte Koljä zu Kartascheff, er wolle nichts davon wissen, ob er auf der Welt ist oder nicht. Ja, kann ich denn vergessen, daß Kartascheff auf der Welt ist, und daß er jetzt errötet, wie damals, als er Troja entdeckte und mich mit seinen lieben, guten, fröhlichen Augen ansieht? Meine Freunde, meine lieben Freunde, seien wir alle großmütig und tapfer wie Iljuschetschka, klug, tapfer und großmütig wie Koljä, und bescheiden, klug und lieb wie Kartascheff! Doch – warum rede ich nur von diesen beiden? Alle, meine Freunde, alle seid ihr mir lieb, alle schließe ich in mein Herz ein, und ich bitte auch euch, mich in euer Herz einzuschließen! Wer aber verbindet uns alle in diesem Gefühl, an das wir von jetzt ab unser ganzes Leben lang denken werden, wer, wenn nicht Iljuschetschka, der gute, der liebe Junge! Niemals werden wir ihn vergessen, eine gute Erinnerung werden wir an ihn in unseren Herzen bewahren, von jetzt an bis in alle Ewigkeit.“

„Ja, ja, bis in alle Ewigkeit,“ riefen die Knaben mit hellen Stimmen und begeisterten Gesichtern ihm zu.

„Wir wollen sein Gesicht nicht vergessen, seine Kleider, seine alten zerrissenen Stiefelchen, sein Grab und seinen unglücklichen Vater, und daß er allein gegen die ganze Klasse für diesen Vater eingetreten ist!“

„Wir werden ihn nicht vergessen!“ riefen wieder die Knaben, „er war tapfer, und er war so gut!“

„Ach, wie habe ich ihn geliebt!“ rief Koljä aus.

„Ach, Kinder, meine lieben Freunde, fürchtet das Leben nicht! Wie schön ist das Leben, wenn man etwas Gutes und Gerechtes tut!“

„Ja, ja!“ riefen die Knaben, ganz Feuer und Flamme.

„Karamasoff, wir lieben Sie!“ sagte eine Stimme, die, wie es schien, nicht mehr an sich halten konnte; wahrscheinlich war es der kleine Kartascheff.

„Wir lieben Sie, alle lieben wir Sie!“ riefen nun auch die anderen aus. Bei vielen blitzten Tränlein in den Augen.

„Hurra Karamasoff!“ schrie plötzlich Koljä. „Ist es wirklich wahr, was die Religion sagt, daß wir von den Toten auferstehen und uns alle wiedersehen werden, alle, auch Iljuschetschka?“

„Wir werden auferstehen, wir werden uns wiedersehen, und freudig werden wir uns gegenseitig alles erzählen, was wir erlebt haben,“ antwortete halb lächelnd, halb begeistert Aljoscha.

„Ach, wie wird das schön sein!“ entfuhr es Koljä ganz unwillkürlich.

„Jetzt aber machen wir Schluß mit dem Reden und gehen wir zu seinem Totenmahl. Laßt euch nicht dadurch verwirren, daß wir Pfannkuchen essen werden. Das ist ein uralter und geheiligter Brauch unserer Väter, und auch er hat sein Gutes,“ sagte Aljoscha lächelnd. „Und nun kommt! Seht, jetzt gehen wir alle Hand in Hand!“

„Und so laßt uns ewig gehen, das ganze Leben bis zum Grabe Hand in Hand! Hurra Karamasoff!“ rief noch einmal begeistert Koljä aus, und noch einmal stimmten alle Knaben in seinen Ruf ein.

Fußnoten

[1] Abkürzung von Dmitrij. E. K. R.

[2] „Klikúscha“, eigentlich die Ruferin, dem Volksglauben nach eine von unreinen Geistern Besessene – in Wirklichkeit ist diese Krankheit nur ein nervöses Frauenleiden. E. K. R.

[3] Abkürzung von Alexei. E. K. R.

[4] Etwa „Ältester“, siehe Kap. V. E. K. R.

[5] Dem Volksglauben nach nicht von Menschen gemalte Heiligenbilder. E. K. R.

[6] 1666, hervorgerufen durch die vom Patriarchen Nikon durchgesetzte Verbesserung der heiligen Bücher, deren Überlieferung fehlerhaft war. E. K. R.

[7] Kreispolizeichef. E. K. R.

[8] Säuerliches Getränk aus Schwarzbrot (oder aus gesäuertem Schwarzbrotteig) mit Malz. E. K. R.

[9] Teure Kolonialwarenhandlung in Petersburg. E. K. R.

[10] Liqueur aus nordischen kleinen Ackerbeeren. E. K. R.

[11] Abkürzung von Iwan. E. K. R.

[12] Eine uralte, weitverbreitete Sekte, deren Anhänger äußerlich den Ritus der griechischen Kirche streng beobachten, in ihren Versammlungen aber Kirche, Sakramente und Geistlichkeit verwerfen, und lehren, daß jeder durch gottgefällige Werke selbst Christus werden könne. E. K. R.

[13] „Die Stinkende“. E. K. R.

[14] Das zeigt an, daß P. Ferapont von niederem Stande war, denn gegen Norden und Osten von Moskau klingt das O im Volksmunde wie das O im Deutschen, in der maßgebenden Aussprache von Moskau jedoch ist es, wenn unbetont, sehr kurz und geht in den A-Laut über. E. K. R.

[15] Ungefähr: „Herr S-anhänger“. E. K. R.

[16] Abkürzung vom Wort ssudarj (Herr), dient als Anhängsel zum Ausdruck von Untergebenheit, meistens nur von Männern niedrigeren Standes gebraucht oder hin und wieder, wenn man sich „volklich“ ausdrücken will, auch von gebildeten. E. K. R.

[17] 1224–1480. E. K. R.

[18] Gruschenka. E. K. R.

[19] Spürhund. E. K. R.

[20] Es war verboten, Leibeigene ohne Land zu kaufen. E. K. R.

[21] Polnisch: „mein Herr“. E. K. R.

[22] Herrin, Frau der besseren Stände. E. K. R.

[23] Der Held in Gogols „Toten Seelen“, fährt umher und kauft von Gutsbesitzern „verstorbene Leibeigene“, deren Papiere noch nicht eingezogen sind – da das nur einmal alle fünf Jahre geschah –, um die für geringes Geld erstandenen toten Seelen in Petersburg für teures Geld als lebende Seelen zu verkaufen. E. K. R.

[24] Das Polizeibüro am Moika-Kanal in St. Petersburg. E. K. R.

[25] Verächtliche Benennung der Finnen und der Bevölkerung der Ostseeprovinzen, mit denen Koljä in diesem Fall die Deutschen zu identifizieren scheint. E. K. R.

[26] Ungefähr: Viehhofstadt. E. K. R.

[27] St. Petersburg (im Volksmunde). E. K. R.

[28] Mit diesen Worten gibt Chlestakoff der Frau und Tochter des Bürgermeisters zu verstehen, daß er ein Dichter sei, spricht aber den Satz nicht zu Ende, als wolle er mit seinem Können nicht großtun. E. K. R.

[29] Figur aus Gogols Lustspiel „Der Revisor“: ein junger Petersburger Geck, der auf der Durchreise in einer kleinen Stadt für den erwarteten Revisor gehalten wird, und diese Rolle zuerst halb wider Willen, später ganz auf der Höhe mit gutem Erfolg (er borgt von allen größere Summen) spielt, bis er sich dann aus dem Staube macht und – der richtige Revisor eintrifft. E. K. R.

[30] Gogol, 1809–1852. Sein letztes und größtes Werk „Die toten Seelen“. E. K. R.

[31] In einem Drama A. N. Ostrowskijs flößen diese Worte einer ungebildeten, bigotten Kaufmannsfrau, da sie nicht weiß, was sie bedeuten und sie sich das Unheimlichste unter ihnen denkt, heillosen Schrecken ein, was natürlich Anlaß zu weiteren Konflikten gibt. E. K. R.

Anmerkungen zur Transkription

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Erste Abteilung: Neunter Band
Erste Abteilung: Zehnter Band
Die Brüder Karamasoff
R. Piper & Co. Verlag, München, 1914.
Vierte Auflage

Für diese ebook-Ausgabe wurden der neunte und der zehnte Band vereinigt. Band 10 beginnt mit „Achtes Buch: Mitjä“.

Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen Bucheinbänden nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender russischer Namen wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

Alexei (Alexis)
Aljoscha (Aljoschi)
Dmitri (Dimitrij)
Fedorowitsch (Fjodorowitsch)
Katjka (Katka)
Klikuscha (Klikúscha)
Marja Kondratjewna (Maria Kondratjewna)
Porfirij (Porphirij)
Ssmerdjäschtschaja (Ssmerdjätschaja)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):