Title: Shakespeare (Volume 1 of 2)
Author: Gustav Landauer
Editor: Martin Buber
Release date: May 6, 2016 [eBook #52012]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
Credits: Produced by Mark C. Orton, Itay Perl, Reiner Ruf, and the
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Anmerkungen zur Transkription:
Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert bzw. ergänzt. Einige altertümliche Wortformen wurden vom Autor offenbar in illustrativer Absicht eingefügt; diese Begriffe wurden nicht verändert. Unterschiedliche Schreibweisen wurden nicht vereinheitlicht.
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Die Originalausgabe enthält lediglich am Ende des zweiten Bandes ein Inhaltsverzeichnis für beide Bände, welches in der vorliegenden elektronischen Fassung der Übersichtlichkeit halber vom Bearbeiter zusätzlich an den Beginn dieses ersten Teiles gestellt wurde. Die Links zu den entprechenden Seiten sind nur innerhalb des vorliegenden ersten Teiles aktiv.
Gesperrt gedruckte Passagen im Original werden hier in Fettdruck hervorgehoben, Antiquaschrift in der Buchausgabe wird kursiv wiedergegeben.
Gustav Landauer
Erster Band
1922
Literarische Anstalt Rütten & Loening
Frankfurt am Main
Alle Rechte, besonders die der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1920 Literarische Anstalt
Rütten & Loening, Frankfurt a. M.
Im letztwilligen Auftrag des Verfassers
herausgegeben von
Martin Buber
6. bis 10. Tausend
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
Erster Band | |
Seite | |
Vorwort | V |
Romeo und Julia | 1 |
Der Kaufmann von Venedig | 42 |
König Johann | 91 |
Julius Cäsar | 139 |
Hamlet | 189 |
Troilus und Cressida | 256 |
Othello | 303 |
Zweiter Band | |
Maß für Maß | 1 |
Macbeth | 48 |
König Lear | 80 |
Antonius und Cleopatra | 130 |
Timon | 160 |
Coriolan | 189 |
König Zymbelin und Das Wintermärchen | 238 |
Der Sturm | 269 |
Die Sonette | 318 |
Shakespeares Persönlichkeit | 371 |
Gustav Landauer hat an diesem Werk etwa vom Frühjahr 1917 bis zum November 1918 gearbeitet. Es entstand aus einer Reihe von zwanzig Vorträgen, die er in Berlin gehalten hatte.
Als das entscheidend Neue in diesen Vorträgen und in dem Werk, das sie zusammenfaßt, hat Landauer selbst das Prinzip der Freiheit bezeichnet. „Freilich in keinerlei politischem, auf Zustände abzielendem Sinn“, sagt er davon in einem Brief vom Juni 1917; „nichts liegt Shakespeare ferner; Freiheit vielmehr im Menschlichen, Privaten, zumal in dem Verhältnis, das Shakespeares immerwährendes Problem ist, dem zwischen Trieb und Geist. Freiheit von Formeln, Konventionen theoretischer wie moralischer Art.“
Über das Wesen seiner Betrachtungsart spricht sich Landauer in Briefen an den Verlag so aus:
„Ich gehe an Shakespeare nicht irgend literarhistorisch heran, sondern gerade so wie an philosophische, politische, soziale Probleme unserer Zeit: um der Lebendigkeit und des innersten Kerns unseres menschlichen Lebens willen.
In allen diesen Vorträgen, in denen ich mich so tief, wie es mir möglich ist, in den Dichter und seine jeweilige Welt hinein begebe, ruht im Grunde die Frage nach dem Sinn und der Aufgabe des Lebens...
Man muß das Rätsel der Welt und ihrer Prozesse im tiefsten Innern der Menschen zu suchen gewohnt sein, im Verhältnis des Ichs zu sich selbst. Ich bringe Shakespeare und seine Art, die Menschen nicht bloß in ihrer Beziehung zu den anderen, sondern in ihrem verräterischen Verhältnis zu sich selbst zu erkennen, in allernächste Beziehung zu Spinozas Ethik und — da er sich nicht in Abstraktionen bewegte, sondern in Anschauung — zu Rembrandts Kunst...
Vor allem aber hoffe ich, bei allem, was Jugend und Wachstum in sich hat, das Zentrum des Lebens zu treffen und nicht oberflächlich zu berühren, wo Denken, Fühlen und Wollen so zusammentreffen, daß die ernste ringende Sehnsucht nach der Einheit dieser Lebenskreise aus innerem Gewissen fließt... Denn Wissen und Denken allein tun’s nicht; all unser Leben ist viel zu sehr in Fakultäten und Bezirke geteilt, und auch das öffentliche Leben kann nur im Intimsten Heilung und Erneuerung finden.“
Welche Bedeutung das Shakespeare-Werk in Landauers Leben hatte, geht aus zwei anderen Briefstellen hervor. Am 26. Dezember 1918 schreibt er an den Verlag: „Bleibe ich bei Kräften, so soll trotz allem Aktuellen der Shakespeare bald fertig sein. Denn keiner wie der stärkt mich in dieser Zeit.“ Und am 11. Januar 1919: „Es steht so, daß mir die Revolution wieder die Frische und Arbeitskraft gegeben hat, die ich zu dieser Hauptarbeit brauche; daß mir aber in den letzten zwei Monaten und auch noch für die nächste Zeit die Revolution die Zeit genommen hat, daran zu arbeiten.“
Die Zeit zur Vollendung des Werkes war ihm jedoch nicht gegönnt — er fiel in der Revolution, in München, am 2. Mai 1919.
Von den zwanzig Vorträgen hat er den ersten, der einleitend „Die Zeit“ darstellte, den vierten („Die Lustspiele“), den fünften und sechsten („Die Königsdramen“) — bis auf „König Johann“ — und den Schlußvortrag („Shakespeares Persönlichkeit“) nicht mehr ausgearbeitet. In den Gedankengang des letzteren aber gewähren die Notizen, nach denen er gesprochen wurde und die am Schlusse des Buches mitgeteilt werden, einen Einblick.
Einige Vorträge hat Landauer noch selbst zum Druck vorbereitet. Bei der Korrektur der übrigen mußten mehrere Schreibfehler und Ungenauigkeiten richtiggestellt werden; doch ist keine Änderung erfolgt, von der nicht aus guten Gründen angenommen werden durfte, daß sie der Absicht des Verfassers entsprach.
Herausgeber und Verlag
Romeo und Julia ist Shakespeares populärstes Stück; das Grundthema ist sprichwörtlich geworden und hat andere Fälle ähnlicher Art, wie Hero und Leander, Pyramus und Thisbe, Tristan und Isolde, die zwei Königskinder, von denen das deutsche Volkslied in allen Mundarten singt, zurückgedrängt; kommt im Leben oder in der Dichtung tragische Liebe zwischen Kindern feindlicher Häuser vor, so ist es ein neuer Fall des typischen Erlebnisses von Romeo und Julia. Dabei sind die vielfachen Behandlungen, die der Stoff vor Shakespeare fand, ganz ohne Mitwirkung; sie sind verschollen und interessieren nur noch literarhistorisch in bezug auf Shakespeares Stück; und was nach Shakespeare kam, Werke der Musik vor allem, bezog alle Süßigkeit und Leidenschaftsgewalt von dem Dichter.
Was diese Liebestragödie so jung und lebendig macht und alle Zeiten und Völker, alle Altersstufen und Stände, Mädchen und Knaben, Männer und Frauen, schlichte Handwerker und Weise rühren und erschüttern läßt, hat Lessing mit endgültigen Worten in der Hamburger Dramaturgie ausgesprochen in einer der Bemerkungen, die Shakespeares entscheidenden Einfluß auf die Revolution des Gefühls in Deutschland begründet haben: „Ich kenne nur eine Tragödie, an der die Liebe selbst hat arbeiten helfen; und das ist Romeo und Julie von Shakespeare.“
Die älteste Geschichte, die uns von Romeo und Julia in Verona berichtet, hat den Italiener Luigi da Porta zum Verfasser und ist 1524 erschienen. Weite Verbreitung fand die Erzählung durch die Fassung, die ihr 1554 Bandello in seiner Novellensammlung gab. Wahrscheinlich auf dem Umweg über eine französische Vorlage kam die Geschichte nach England und wurde 1562 in einem epischen Gedicht von Arthur Brooke, 1567 in Paynters Novellensammlung „Palast des Vergnügens“ behandelt. Diese beiden[S. 2] Fassungen sind Shakespeares Quellen, und, wie gewöhnlich, hält er sich, was die äußere Handlung angeht, treu an die Vorlage; was, vom reichen Episodenwerk abgesehen, an der Haupthandlung neu dazu gekommen ist, dreht sich um die eine Gestalt, die so gut wie ganz Shakespeares Erfindung zu sein scheint: Mercutio. Aber von irgend welcher Charakteristik, irgend welchem Versuch, ins Innere der Menschenseele hineinzuleuchten, ist in den Novellen nichts zu finden, und ebensowenig etwas von der Gegenüberstellung gesellschaftlicher Sphären oder gar von Liebesstimmung und romantischem Zauber; es ist, wie es die Art dieser Erzählungen ist, welche Fülle mitteilen, alles Abenteuer, Anekdote, traurige Geschichte, arger Zufall.
Ob an der Geschichte irgend etwas Wahres ist, wissen wir nicht; da aber Masuccio schon 1476 einen sehr ähnlichen Vorfall aus Siena berichtet, und da Dante zwar die Capelleti und Montecchi kennt, beide aber als Ghibellinen nennt und von ihrer Feindschaft so wenig etwas weiß wie von dem Liebespaar, ist es nicht eben wahrscheinlich. Daß im Jahre 1595 der Historiker oder Geschichtenerzähler Girolamo della Corte die Sache als wirklichen Vorfall berichtet, beweist so wenig etwas wie Julias Steinsarg, der heute noch in Verona gezeigt wird.
Shakespeares Stück ist zuerst 1597 in einer jener Quartausgaben erschienen, die häufig nicht vom Dichter selbst herrühren werden; sie mögen auf Regiebücher, Rollen der Schauspieler, manchmal etwa auch auf eine Art stenographischen Raub während der Aufführungen zurückgehen. Wie die Verhältnisse des Theaterdichters damals waren, mußte er oft mehr an der Geheimhaltung als am Druck seiner Stücke interessiert sein. So ist dieser erste Druck von Romeo und Julia verstümmelt, der zweite, der ähnlich entstand und 1599 erschien, berichtigt einiges, manchmal kann man nur sagen, er bringt eine andere Fassung, die bald besser, bald schlechter ist. In der von Shakespeares Freunden 1623 ver[S. 3]anstalteten Gesamtausgabe, der Folio, findet sich dann der Text im großen ganzen so, wie er uns vertraut ist.
Will man nun, wie mit einem Sprung, in die Seelen des Menschenpaares, das Shakespeare hier darstellt, hinein kommen, will man sie in ihrem eigenen Kern überraschen, so bereite man sich zu dieser schnellen Reise, indem man etwa an eine so ganz andere Julie, an Strindbergs Adelsfräulein, und in dieser modernen Sphäre an Gestalten Dostojewskijs oder auch an die Mädchen und Frauen und Männer in Jean Pauls Titan denkt. Wie zweifelhaft und gespalten, wie innen von den Verhältnissen gefärbt, wie hin und her gerissen und zusammengesetzt sind diese Menschen! Das erste Kennzeichen, eine wesentliche Voraussetzung dieses Gedichts ist die Einfachheit, die Eindeutigkeit, die Seelenfestigkeit des Menschenpaares, dessen Schicksal berichtet wird. Wie die olympischen Götter bei Homer zwar in die mannigfachsten und verworrensten Geschehnisse verstrickt sein können, jeder und jede aber in unverrückbarer Sicherheit, wie ein Sternbild am Himmel, in ihrer repräsentativen Individualität stehen, so lebt der Gotteszwang des Menschlichen, den wir Freiheit nennen, in Romeo und Julia von dem Augenblick an, wo der Zug der Liebe zwischen ihnen waltet. Die Handlung ist kompliziert, die Charaktere sind einfach. Das gilt keineswegs durchweg so für Shakespeare; wer wird einen Hamlet oder Macbeth oder auch Lear, ganz abgesehen von den Parolles, Edmund, Jago, einfache Seelen nennen wollen? So viel wird man zwar sagen dürfen, daß die feste Geradheit und Sicherheit, mit der sich in jedem Moment Art und Richtung des Menschen ausspricht, bei allen Gestalten Shakespeares größer ist als bei den Menschen, die unsre Dichter heute zu schildern haben; Geist, Sprache, Mimik, Gestikulation, der Ausdruck mit einem Wort ist bei seinen Menschen wie ein gewachsenes Stück Natur; triebhaft, leidenschaftlich, wie mit einem Löwensatz deckt sich jedesmal der Ausdruck mit dem Willen;[S. 4] jedesmal, aber die Momente, die Verfassungen und Stimmungen der einzelnen können mannigfach verschieden und untereinander in Mißklang sein. Auch von Gestalten dieses unsres Stückes gilt, daß sie keineswegs ganz selbstsicher und eindeutig sind; Mercutio ist es sein ganzes Leben lang nicht, er hadert mit sich wie mit der Welt; am alten Capulet nagt irgendwo ein Wurm, der ihn nicht zur Ruhe und zur Einheit kommen läßt; wollte man sich den nun zur sanften Stille und Beschaulichkeit gediehenen alten Franziskaner, den Bruder Lorenzo näher ausgestalten, so stieße man gewiß auf mancherlei Zwiespältigkeit; und Romeo selbst, solange er noch als Liebesüchtiger in der Welt irrt, ist das Urbild des Schwankens und der Zerfahrenheit. Sowie aber, beim ersten Blick, die Liebe ihn erfaßt, ist er zu sich gekommen und ganz bei sich und so eins mit sich, wie die Liebe ihn eins mit Julia macht. Und in der Tat: wer sich nicht liebt, wie sollte der lieben können? Und umgekehrt: da Liebe Lust ist, die im geliebten Wesen die Welt freudig umarmt, was sollte sie eher hervorbringen, als die stolze Art, in der der Mensch sich zu sich bekennt und auf sich selber steht?
Ein Schicksal wird dargestellt: das Erlebnis der Liebe in der Welt des Streits.
Die Jugend, die zum Leben erwacht, Mann und Weib, die zusammenfliegen wie getrennte Teile in Sehnsucht zur Erfüllung und Ganzheit, werden getrennt von der widrigen Umgebung.
So wie es hier gesagt ist, liegt Notwendigkeit in diesem Schicksal: „sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu breit“ — und die breiten Gewässer, die sie trennen, sind eben das, was sich der Liebe in der Welt entgegensetzt: der Haß und der Streit. Aber ist es denn so in diesem Stück? in dieser Handlung, die der Dichter von der Überlieferung übernommen hat? Ist, was die letzte tragische Wendung herbeiführt, nicht vielmehr ein Zufall? Und ist das Stück also in diesem Sinne ein Schicksalsdrama,[S. 5] daß grausame Verkettungen, für die keinerlei menschliche Leidenschaften und Einrichtungen haftbar gemacht werden können, die Entscheidung bringen? Ja, noch mehr könnte man sagen wollen: weder die Art von Romeos und Julias Liebe trägt die Schuld an dem unglücklichen Ausgang, noch die Umgebung des Hasses, in die diese Liebe gestellt ist; und nicht einmal dürfte man behaupten, daß ein boshaft-teuflisches oder unbegreiflich-göttliches Regiment die Welt so eingerichtet habe, daß es der Liebe im allgemeinen so ergehe; sondern es wäre nur ein abenteuerlicher Unglücksfall von keinerlei typischer Bedeutung. Hätte Lorenzos Bote Romeo rechtzeitig erreicht — — oder hätte Julia ein weniger gewagtes Mittel zur Flucht gewählt — —, so wäre ja in der Tat alles anders gekommen und hätte am Ende — vielleicht — doch glücklicher ausgehn können.
Darauf ist zunächst zu erwidern: der Dichter ist nicht der Erfinder; und Shakespeare ist ganz gewiß kein Erfinder von Fabeln. Im allgemeinen wird man bei Betrachtung der Literatur aller Völker sagen können, daß das die größten Dichtungen sind, bei denen der letzte Former einen fertigen, im Hauptsächlichen unantastbar und heilig gewordenen Stoff vorfindet; der große Dichter erfindet Motive und findet so den Sinn einer überlieferten Fabel; er erfindet nicht das Geschehnis. Dumas Vater wäre, wenn es aufs Erfinden ankäme, einer unsrer gewaltigsten, Dostojewskij einer unsrer kleinsten Dichter; ihm wie Tolstoj genügte ein dürrer Tatsachenbericht in der Gerichtszeitung oder ein Ereignis, das Bekannte berichteten. Ist schließlich Faust eine höhere, weniger aufs Nationale und Zeitliche beschränkte Dichtung als Wilhelm Meister, der im Entscheidenden denselben Sinn birgt, so darum, weil Faust durch Überlieferung zum Mythosstoff geworden, der Roman eine um des Sinns willen individuell erfundene Geschichte ist; und in denselben Zusammenhang gehört, daß die Teile in Goethes Roman die besten sind, die aus dem eigenen Leben des Dichters geflossen sind.
In Romeo und Julia liegt eine bekannte Geschichte vor, die gegeben ist; die sogar als historisch wahr geglaubt wurde. Der Dichter hat das Amt zu deuten; nicht nach dem Was fragen wir ihn; das ist uns wie ihm überliefert und bekannt; er soll uns das Wie sagen. Wie war es eigentlich? Was ging bei diesem wunderbaren Erlebnis in den lebendigen Seelen der Menschenkinder vor, denen es zum Los fiel? Und wie war das Verhältnis dessen, was Zufall, besondere Verkettung und Mißgeschick, was feindliche Umwelt, was Art und Wesen dieser Seelen selbst zu diesem Schicksal beitrugen? War es am Ende so, daß ein Blitzstrahl vom Himmel dieses Paar erschlug und daß doch unser tiefstes Mitwissen sagt: sie mußten in jedem Fall sterben; das Leben in dieser schnöden Welt war ihnen nicht möglich, der Tod, der plötzlich und wie von außen herniederfuhr, war für sie und für unser Mitgefühl wie eine Erlösung?
Das jedenfalls ist das Merkmal dieser Art Dichtung, daß nicht das Gewöhnliche und Übliche, nicht das, was abstrakt logisch aus gegebenen Voraussetzungen zu schließen ist, sondern das Außerordentliche, das Wunderbare die Fabel bildet. Man kann dieses Element in Shakespeares Drama je nach dem Gesichtspunkt das epische, das romantische oder das irrationale nennen; immer geht es darum, daß das Schicksal nicht aus dem Charakter fliegt wie eine Kugel aus dem Lauf oder das Resultat aus der Rechnung; daß die Katastrophe auch nicht aus der Intrige folgt wie der Knall auf die Zündung, sondern daß noch etwas Unvorhergesehenes dazu kommt, daß ein unauflösbarer Rest bleibt, daß es zugeht wie im Leben und in der Natur. Mit ästhetischen Gesetzen abstrakt-mechanischer Art, wie zum Beispiel dem der tragischen Schuld, oder empirisch-gewohnheitsmäßiger Art, daß im letzten Akt etwa kein neues Ereignis mehr plötzlich entscheidend dazu treten darf, kommt man Shakespeare nicht bei. Die Natur ist nicht mechanisch.
Vielleicht aber gibt es ein Naturgesetz, das uns zu der Shakespearischen Tragödie, zur Art dieses Dichters, Charakter, Schicksal und Ungefähr mit einander zu verflechten, eine Analogie bietet. Ist man im Gebirge über eine gewisse Grenze hinaufgestiegen, so trifft man auf Bäume, denen das Leben immer schwerer und schließlich unmöglich gemacht ist. Ihre Wurzeln suchen, da kein Humus mehr haftet, in den Ritzen der Felsen vergebens nach genügender Nahrung; sie sind den tobenden Stürmen ausgesetzt; die Gesamtmenge Wärme, die ihnen im Lauf des Jahres zukommt, ist für ihre Bedürfnisse zu niedrig; sie müssen zugrunde gehn. Sterben sie nun an diesem Verhältnis des Innen zum Außen, ihrer Bedürfnisse zu den Bedingungen, die sich versagen? Sterben sie an dieser Negation, daß ihnen die Lebensbedingungen fehlen? An dem Verdikt, das eine Intelligenz ausspricht: so kann man nicht leben? Ja und nein; denn es kommt in jedem Fall noch etwas dazu. Sie würden sterben müssen; sie sind dem Tod geweiht von der Logik der Tatsachen; aber ehe sie am Ende angelangt sind, machen sich aussaugende Schmarotzer, deren sie sich, wenn sie bei genügenden Kräften wären, erwehren würden, ihre Schwäche zunutze, zehren an ihrem Leben, und nicht am Mangel der rechten Lebensbedingungen, sondern ermordet von der Schar dieser kleinen Feinde gehen sie zugrunde. Man kennt das Moos und die Flechten, die an Stamm und Zweigen dieser letzten Bäume hängen wie greise Bärte; man weiß auch von den kleinen Schädlingen, die das Werk der Vernichtung vollenden. So ist es überall in der Natur; keine Pflanze, kein Tier und kein Mensch stirbt an Alter oder Hunger oder Entkräftung oder gebrochenem Herzen; es kommt immer noch etwas dazu. Wenn sie aber schon an Blinddarm- oder Lungenentzündung oder sonst einer Krankheit, am massenhaft überhand nehmenden Leben kleiner Feinde, kleiner Zufälle zugrunde, zum Ende gingen, so sind sie doch an Alter oder Hunger oder[S. 8] Entkräftung oder gebrochenem Herzen gestorben. Hamlet ist im Zweikampf mit Laërtes zugrunde gegangen, den er in einer Aufwallung tragischer Laune provozierte, es ist wahr; dieser Zweikampf war vom König in einer Intrige angezettelt, es ist auch wahr; und Hamlet mußte im Konflikt zwischen seiner Natur und seiner Umgebung irgendwie zugrunde gehen, das ist gewiß wahr. Irgendwie — aber die Natur und die Geschichte und Shakespeare sind nicht so arm, wie das abstrakt mit ein paar dürftigen Motiven haushaltende und kalkulierende Theatertalent, das den Punkt zur geraden Linie und seine gerade Linie mit dem logischen Schlußpunkt zur Strecke bringt. Das Einfache ist, wie das Sprüchlein sagt, das Siegel der Wahrheit; aber nur insofern, als Wahrheit eben eine vereinfachende Tätigkeit des Menschengeistes, aber nicht Wirklichkeit ist. Und das Gesetz des kleinsten Kraftmaßes gilt allenfalls nur in einer Welt, der man vorher Üppigkeit, Verschwendung und Überfluß, immer neue Einfälle, Auswege und Überraschungen bewilligt hat.
So wird allerdings in dem Drama, das uns zuinnerst ergreifen soll, das besondere Erlebnis, das vorgeführt wird, irgendwie in Einklang stehen mit den besonderen Naturen, an denen es sich vollzieht. Aber es wird keine mechanische, keine logische, keine restlos auf eine Formel zu bringende Übereinstimmung sein. Und es wird in vielen Dramen — nicht in allen —, wird in einer bestimmten Gattung in der Tat so sein, daß eine geheimnisvolle Stimme in uns spricht wie unser eignes Gewissen: das Schicksal dieser Menschen und ihr Charakter stehen in einer sicheren Beziehung. Ja, es ist so; aber nicht so, daß sie beide auf eine Schnur zu reihen sind; daß wir diesen Zusammenhang mit Händen greifen oder verstandesmäßig fassen können. Es bleibt alles in der Ahnung, im Gefühl; und zu alle den Klarheiten, Nüchternheiten und ästhetischen Geboten verhält sich die Dichtung nicht anders, als die thematische Verschlingung und Auflösung in der Musik sich zur Mathematik verhält. In[S. 9] der Musik ist alles und nichts mit Zahlen auszudrücken; und in der Dichtung wie im Leben ist alles und nichts begrifflich zu verstehen.
Romeo und Julia gehört durchaus zu der tragischen Gattung, die wir eben nannten; Schicksal und Charakter dieses Menschenpaares stehen in einem innigen Zusammenhang. Und wenn gesagt wird, alles wäre anders gekommen, wenn Julia ein weniger gewagtes Mittel gewählt hätte, so ist zu erwidern: dann wäre sie eine andere gewesen. Denn mit diesem Wort: Gewagt! haben wir aus der Seele ihrer Menschen heraus das Thema dieser Dichtung: ein schwermütiger, weltschmerzlicher Jüngling, ein spröd knospendes Mädchenkind, beide werden kühn durch die Übergewalt plötzlicher Liebe.
Eine selige Blindheit überfällt sie sofort: in der Welt gibt es nunmehr nur noch sie beide; vorher irrten sie tastend in der Welt; jetzt ist die Welt aufgegangen in ihnen. Sie sehen einander und sind verwandelt in die glühende, blühende Gewalt der Innigkeit; ihre Begrüßung wird zum Gedicht; wie die Strophen und Reime des Sonetts, das sich aus ihrer holden Paarigkeit zusammenfügt, sich mehr als jede andre Form in einander verschlingen, so flechten sich ihre Hände, ihre Blicke, ihre Lippen zusammen. Das Leben wird ihnen sofort zum Spiel des Suchens und Findens, und so kühn wie der Jüngling in der Werbung ist, so kühn ist das Mädchen in der Gewährung. Detorquet ad oscula cervicem, wie Horaz so lieblich graziös dichtet: sie wendet, wie er küssen will, den Hals weg, den Küssen entgegen.
Nur einmal wieder hat die frei sich hingebende, reine, jungfräuliche, kühne Liebe diese Sprache der Unschuld gefunden, in Faust und Gretchen; einmal freilich schon vorher, wenn auch nur aus dem Munde des Mädchens: im Hohen Liede der Hebräer.
Und in freier Kühnheit, mit dem Wagemut der Nachtwandler tun die jungen Liebenden in Verona weiter, was[S. 10] sie vom allmächtigen Zwang der Liebe unterjocht erleiden: Romeo springt nachts über die Mauer in den Garten des Feinds seines Hauses. Julia, die das volle Bewußtsein der furchtbaren Not dieser Liebe hat — ihr erstes Wort ist: Weh mir! —, vertraut in lautem Hinausreden der Sternennacht ihre Liebe, und diese Sprache der Liebe ist uns so notwendig zu dieser Saat der Gestirne gehörig wie das nimmermüde Sprudeln des Quells oder das Aufrauschen der Bäume.
Und nun, wo sie erfahren haben, wer sie sind, in welche tödliche Feindschaft hinein diese unentrinnbare Liebe sich ihren Platz gesucht hat, wo sie alles wissen und alles ahnen, was kommen muß, wiederholen sie als die, die sie sind, die Werbung und die Hingabe: sehend und doch blind akzeptieren sie, vollstrecken sie ihr Los. Sie haben es einander angetan, sie tun sich ihr Schicksal gemeinsam an; sie wollen ihr Gefühl, sie tun ihr Leiden. Sie sind, als Liebende in einer Welt, die Feindschaft oder Fremdheit zur Bedingung macht, in einer Ausnahmelage, wie Flüchtige, die wissen, den Häschern können sie nicht entrinnen; und darum kann sich ihre Liebe der Zucht der Langsamkeit, dem schmerzlichen Sehnen und gezwungen-freiwilligen Warten, in das sie sich sonst wohl gefunden hätte, nicht bequemen. Julia spricht:
In all dieser die Verwegenheit nicht scheuenden Freiheit ihrer Liebe aber bleibt Julia immer ganz natürlich, ganz holdes Weib; ihre Liebe kennt keine von anderswoher als von der Liebe selbst geholte Freiheit; sie hat nichts irgend Emanzipiertes an sich. Sie weiß ja, wie sich’s gehört:
In allem strengen Ernst, der das Schicksal und die Zukunft weiß, hat sie ganz die leichte frohe Heiterkeit, die zur Liebe gehört. Und das ist der einzige Zauber dieser Szene: das Wissen um die Tragik ist in ihnen, zumal in Julia, und doch dabei die beseligte Freudestimmung; ihre Seelen sind stark genug, daß sie ganz der Liebe und ganz auch zugleich dem sichern Gefühl hingegeben sind,
Gleich nach dieser schäkernden Erinnerung an die Sitte und den Brauch jung keimender Liebe kommt der tiefe Ernst wieder über sie:
Julia Capulet hat in dieser Szene durchaus die Führung, sie umfaßt das Schicksal dieser Liebe ganz in Geist und Gemüt; sie spricht ihr das Motto:
Den stärksten Eindruck von der unausrottbar festgewurzelten Feindschaft, die zwischen den beiden Familien herrscht, bekommt man dadurch, daß es den Liebenden gar nicht in den Sinn kommen kann, an die Möglichkeit einer gütlichen Verständigung, einer Versöhnung ihrer Häuser zu denken. Sofort kommt es ihnen, und Julia spricht es zuerst aus, daß nur ein Weg offen steht: heimliche Vermählung.
Romeo eilt zu seinem väterlichen geistlichen Freund, dem Bruder Lorenzo, und überwindet bei ihm alle Hindernisse; der, weil er Romeo lieb hat, weil ihm der neue Geist, das Feuer, die Echtheit, die nun endlich in dem Jüngling von der Liebe geweckt worden sind, gar wohl gefallen, und noch aus einem Grund, gibt gern nach: er, dem es gelungen ist, Natur und Vernunft mit den äußeren Formen des gläubig-frommen Lebens zu versöhnen, er, der mild gewordene Südländer, dem die leidenschaftliche Geschlechtsliebe, die innige Gattenliebe und die allgemeine gütige[S. 12] Menschenliebe in ein Reich gehören, er hofft, woran das Liebespaar selbst nicht zu glauben und zu denken vermag: auf die Versöhnung der Feinde durch die Liebenden; dazu ist aber nötig, daß die Feinde gar nicht erst in die Lage kommen, Einspruch zu erheben; sie müssen vor die vollendete Tatsache, daß das unzerreißbare Band, das Sakrament der Ehe das junge Paar umschließt, gestellt werden.
Hier zuckt etwas auf, was nun das Schicksal der beiden, vor allem Julias, in allem Ferneren begleitet: tragische Ironie. Es kommt ja in der Tat so, wie der gute, weltkluge und weltfromme Bruder hofft: die feindlichen Familien werden sich um der Liebe Romeos und Julias willen die Hand zur Versöhnung reichen; aber wie anders wird es aussehn, wenn wir am Ende sind, als Lorenzo jetzt wähnt! Das begegnet uns nun das ganze Stück hindurch: ein Doppelsinn der Worte wie der Vorgänge; die Gestalten auf der Bühne meinen recht zu verstehen; wir aber blicken hinter die Geheimnisse und vernehmen verborgenen Sinn.
Julias Gestalt steht darum mehr im Mittelpunkt der Handlung, weil der Dichter in seiner Darstellung der Liebe, die aus Haß und Streit erwächst, alles an die Familie des liebenden Mädchens und die Absichten dieser Familie mit ihr anschließt. Was bei den Montagues vorgeht, bleibt alles unsrer Ahnung überlassen, bis ganz zuletzt am Schluß: da ist es ein genialer Zug des Dichters, wie er uns jetzt, wo alles Licht auf Romeo den Mann gesammelt ist, mit einem raschen Blick seine gramvolle Häuslichkeit erschließt: Romeos Mutter ist vor Kummer über die Verbannung des guten Sohnes, der — so fühlen wir im Augenblick — ihr ein und alles war, gestorben.
Aber die Liebe des Geschlechts ist so ausschließlich wie die Liebe des gotterfüllten Heiligen zu dem Geist, der ihn ganz und ungeteilt fordert; und auch dieser gute Sohn hat von dem Augenblick an, wo in der Welt des Hasses die Liebe zu ihm kam, jeden Gedanken an das Elternhaus von sich[S. 13] gestoßen und irgendwie bei sich zu seiner Mutter gesagt: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen! Auch von ihm hören wir, unmittelbar vor der Trauung, Worte, die besagen, wie er dies Liebesglück aufs Äußerste setzt und bereit ist, mit der Weihe der Liebe die Weihe des Todes zu empfangen:
Die Trauung geht so heimlich vor sich, daß auch wir sie nicht mitmachen. Es ist bei der Aufführung Sache der Regie, den Schluß des zweiten Aktes, wie Romeo und Julia sich bereiten, zusammen zum Altar zu gehn, so zu gestalten, daß es sich uns sinnfällig einprägt: von nun an, bei allem, was nun kommt, sind sie vor Gott und ihrem Gewissen Mann und Frau. Shakespeare vermeidet nicht nur kirchliche Szenen, sondern legt auch sonst gern, was dem innerlich schon ganz Vollendeten nur noch den äußeren Abschluß gibt, hinter die Szene; und so viel er sich in den genrehaften Nebenszenen für Milieuschilderung und Späße Zeit läßt, so gerade, knapp und ohne Aufenthalt geht er auf die Hauptszenen los, um denen alle Breite der Entladung zu lassen: zu Dekorativem bleibt keine Zeit, und wir sehen später das feierliche Leichenbegängnis der vermeintlich gestorbenen Julia so wenig wie jetzt ihre Trauung.
Was die Dienerszenen angeht, auf die wir eben geführt wurden, so ist zu sagen: daß das Stück breit und roh mit einem Streit unter diesem Gefolge anhebt, ist vorzüglich, und eine jammervolle Kläglichkeit ist es dagegen, wenn Goethe in seiner Theaterbearbeitung mit der Vorbereitung des Festes beginnen läßt, und in dem dekorativ-opernhaften Stil der Maskenaufzüge, die er für sein Hof- und Offiziantenpublikum mit der linken Hand nur so hinschrieb, singen läßt:
Eine Art Entschuldigung für Goethe ist, daß er nur eine Theaterbearbeitung für sofortige Zwecke machte und dabei wie sonst gegen sein Weimarer Publikum herzliche Verachtung mit einigem Recht bezeigen mochte; daß überdies seine ängstliche und enge Auffassung von dem, was theatermöglich und theaternotwendig sei, auch aus seiner Verhunzung der eignen Stücke, vor allem des Götz hervorgeht. Eine solche Entschuldigung gibt es dagegen, hier sei’s angefügt, für Schillers Bearbeitung des Macbeth nicht. Das ist eine eigne, mit großer Liebe verfertigte Übersetzung nicht nur ins Deutsche, sondern ins Schillerische, und Schiller hatte ohne Frage die Absicht, was Shakespeare schlecht gemacht hatte, zu verbessern und auf die ideale Höhe zu heben. Goethe, der sich selbst solche Greulichkeiten erlaubte, wie die, von der wir hier ausgehen, und der in seiner klassizistischen Zeit über komische Elemente in der Tragödie Gedanken hatte, die sein Egmont und sein Faust uns sofort widerlegen, hat später selbst diese Macbethbehandlung Schillers abscheulich genannt. Und das ist sie auch.
Im Vergleich zu solchen gänzlich überflüssigen, undramatischen, aufgeklebten Zutaten, wie sie Goethe anbrachte, bekommen die Rüpelszenen, die Wortwitze, die diesmal besonders zahlreichen Zoten, allersaftigste darunter, einen tiefen Sinn. Geben wir von vornherein für dieses bei aller Meisterschaft im wesentlichen doch noch jugendliche Stück ruhig zu: hier sind für die Zwischenszenen der Erholung Zugeständnisse an Mode und Publikumsgeschmack, und sie wuchern etliche Male geil ins Abgeschmackte. Aber wir täten sehr unrecht, dabei stehenzubleiben. Noch mehr als einmal werden wir Gelegenheit haben zu sehen, wie Shakespeare mit ganz einziger Kunst die überlieferte Mode der Ausdrucksmittel für die Ziele seines Dramas verwendet, wie er den Zwischenaktspaß der Clowne mit dem Zentrum und Sinn des Dichtwerks in enge Verbindung setzt. Hier bilden die Dienerszenen das Gegenstück zur Romantik, zur hohen[S. 15] heroischen Liebesgesinnung. Die Liebe erwächst im Milieu nicht nur des Zorns, sondern auch der niedrigen Albernheit. Und wie könnte es denn der Liebe, die das natürlichste Weltprinzip, die der Magnetismus und der Kitt der Welt ist, so übel in dieser Welt ergehen, wenn nicht der Streit der Großen ausgefochten würde von der behaglich und roh mitgehenden Niedrigkeit des Volks! Solche Bedeutung seiner Gegenüberstellungen sagt uns Shakespeare freilich nie mit ausdrücklichen Worten; es ist wunderbar, wie er, der wortgewaltigste und in leidenschaftlicher Entladung so wortreiche Dichter, wortkarg und zugeschlossen in allem ist, was eine schlau hinzugefügte Erklärung zu dem wäre, was er uns sinnfällig zeigt; darum aber hat er auch diese schlafwandlerische Sicherheit, dieses dramatische Tempo, das sich durch nichts aufhalten läßt, diese unzerstörbare Frische, die alles Geistige zu einem Stück Natur macht, zu einem Trieb unsrer Seele, darum wirkt er, wenn er mit dem Allerhöchsten des Geistes zu uns spricht, so fest und rauschend, als ob er ungebildet und unliterarisch, ein Mann aus dem Volk und ein wunderbar tönendes Gottestier aus der Natur wäre.
Im Gegensatz zu der unnatürlichen und ungeistigen Wut, Wildheit und Niedrigkeit, die sie umringt, ist Romeos und Julias Liebe ganz Natur und gar nichts in ihr, was sich gegen die Natur verginge. Es ist eine Atmosphäre um sie, die das Wort aus uns hervorruft, das man schon immer fand, wenn man von Shakespeares romantischer Seite sprach: sweet, süß und hold. Bei diesem jungen Paar und seiner Liebe muß uns die Stimmung umschmiegen, wie sie auch August Wilhelm Schlegel, der als Liebender dies Liebesdrama wonnig übersetzt und kritisch aufbauend erfaßt hat, beschrieben hat: wir sind in einer Stimmung der Blüte und des Dufts; in balsamische Nacht gehüllt und von Vogelsang umgeben; herzhafte Sinnlichkeit und herzinnige Empfindung trägt uns als eine warme Woge dahin; diese[S. 16] Liebe ist Wollust, aber voll inniger, alle Grenzen sprengender Sehnsucht. Die Dichtung ist Rosenduft, der Musik geworden ist, ist Knospe, die zum Lied erblüht, ist Himmelsbläue, die von der ganz Hellen, heiteren Verfärbung des Lichts sich tragisch anspannt bis zum dunkelsten Nachtblau. Italien lebt in diesem Gedicht.
Welches Problem hätte ein moderner Dichter in dem Grundmotiv gefunden: die Kinder feindlicher Familien sind von Jugend auf im Haß gegen einander aufgewachsen; über zwei Feinde kommt nun die Liebe, die sexuelle Begier wie der Dieb in der Nacht; in ihren Seelen ist Kampf und Schwanken zwischen Haß und Liebe; in der Liebe hassen, im Haß lieben sie; der Liebeshaß wird daraus. Nichts von alledem hier bei Shakespeare. Daß der Liebe der Tod benachbart ist, das zittert freilich durch dieses Stück; daß es aber auch eine Sorte Liebe gibt, der die Mordlust verwandt ist, solche Mordlust auch, die sich gegen den begehrten Gegenstand wendet, auch das wird Shakespeare wissen und gestalten; aber die Seelen Romeos und Julias in ihrer Liebe wissen von solchem Greuel nichts. Ihre Liebe ist frei in Spinozas allerhöchstem Sinn; was sonst Besitztrieb ist, ist hier Hingabe; ihre Liebe ist Harmonie und schweift darum in der Nähe der Freiwilligkeit und Einung, die Tod, freier Tod heißt. Aufgehen im Höchsten, Wegfließenlassen alles eignen Wesens; aber von Haß und Mordgier weiß sie nichts, und wenn die Kinder je von Gedanken und Regungen der Feindschaft angesteckt gewesen sein sollten, so haben sie’s jetzt beim ersten Blick auf einander, der Liebe war, abgrundtief vergessen.
Und diese Empfindung stößt nun, wo sie in aller Welt nichts will als da sein, leben, fühlen, einander beglücken, Gemeinschaft und all das Unnennbare, wohin das Geschlecht und das Kindbegehren sich als Seelenfülle und Geistestriumph wandelt und reckt, diese Liebe stößt mit der widrigen Welt zusammen und ihrem Streit, ihren Interessen, Zwecken, Wüten und Strafen.
Ehe Romeo freilich Julien gesehen hat, wie er fast untergetaucht war in dieser Welt und mühsam nach Atem rang, der lechzende, noch nicht zu sich erwachte, traumbefangene Jüngling, jetzt eben noch hat er in Schwermut und wahrem Weltschmerz gemeint: gerade das wäre die Liebe, so ein wild törichtes Ding, das dem Haß, dem Krieg aufs nächste verwandt sei. Er gerät auf den Schauplatz, wo eben wieder einmal der Streit der beiden Parteien gewütet hat, und meint als einer, dem das, was er für Liebe hält, mehr zu schaffen macht als der dumme Mordzank, der ihn von außen zur Teilnahme aufruft:
Und weiter:
So kann er sich nicht genug tun in solcher Zusammenstellung von Gegensätzlichkeiten, die in der Welt nicht beisammen sein sollten, aber tatsächlich beisammen sind; auf dieser Vorstufe kennt er die Haßliebe von seinem Gefühl her und von der Art, wie Rosalinde diesem Gefühl begegnet. Aber was in ihm ist, ist gar nicht die Liebe, sondern das Suchen nach der Liebe, jene allgemeine Liebe des Adoleszenten, die sich an die erste Begegnende anheftet, weil sie Sehnsucht nach einer Liebe, Sehnsucht nach Glück und Befriedigung ist. Liebe ist nur erwiderte, beglückte Liebe; Liebe ist Paar, ist der gegenseitige Zug zwischen Mann und Weib, dessen letztes Geheimnis ist, daß nicht der eine den andern, sondern daß ein nach Dasein begehrendes Drittes sie beide erfassen[S. 18] will. So ist er im Zustand der Unbefriedigung, der Einseitigkeit, zerstreut und bitter, zu ausfallenden und satirischen Betrachtungen, zur Philosophie geneigt. Bei den Freunden steht er im Ruf, kein rechter Mann zu sein, und er ist es auch noch nicht. Mercutio, der Bittere, der nie das Glück gefunden, aber Überlegenheit und Lachen gelernt hat, ein Mann, der im geheimen, von Haus aus ein Träumer und Dichter, vor der Welt aber ein Zyniker ist, hält ihn für einen der modernen Französlinge.
Und nun ist die echte, die erwiderte Liebe gekommen, und er wird süß und reif. Und stand er vorher, in einer Umgebung, der der Schwerterkampf alles ist, im Ruf der feigherzigen, girrenden Wort- und Modespielerei, so ist jetzt erst recht und in Wahrheit der Geist des Friedens über ihn gekommen. Indem er ein Mann geworden ist, der, wenn’s sein muß, bis zum Letzten für sich einsteht, der an sich halten kann und der Leidenschaft des Augenblicks die Zügel schießen lassen darf, ist mit dem Geist der Liebe auch die Vernunft und überlegene Ruhe über ihn gekommen. Feinde? Er hat keine; hat gegen die, die vor der Konvention des Hasses dafür gelten, so wenig wie gegen alle Welt, zu der er sich jetzt in freundwillig-liebenswürdiger Stimmung neigt; im Gegenteil, ein besonderes Band soll ihn jetzt zu den angeblichen Feinden hinziehen: sie sind ja Juliens nächste Verwandte, seine neue Familie!
Da entwickelt sich denn diese prachtvoll aufgebaute Szene, wo alles so bis zum Feinsten und Letzten motiviert ist, daß keine Frage aufkommen kann.
Tybalt, der Neffe des Grafen Capulet, der Ruhm der Familie, ein starker, rauher Mann, „kein papierner Held“, wie Mercutio ihn im Gegensatz zu Romeos verzärteltem Wesen gepriesen hat, kommt des Wegs, schon vorher aufs äußerste gereizt — es gehört nicht viel dazu, etwas in ihm will sich reizen lassen —, weil er auf dem Ball seines Oheims den Feind Romeo an der Stimme erkannt hat.
Und da ist Mercutio, einer, wie er sich selber beschreibt, „den der Teufel plagt, um andre zu plagen“, dazu noch durch Romeos seltsam unbegreifliches Wesen — er weiß ja nicht, welch wundersames Erlebnis den jungen Freund zauberhaft verwandelt hat — und durch die Hitze besonders gereizt, nah am Gipfel der Streitlust. Und nun muß er hören, wie Romeo auf die groben, frechen Herausforderungen Tybalts nichts als gute, liebevolle Worte zurückgibt, er, der Parteigänger der Montagues, soll so jämmerliche Feigheit, denn dafür muß er’s nehmen, von dem Sohn des Hauses mitanhören? Und so rasseln Tybalt der Kriegsmann und Mercutio der Weltwütige aneinander, und durch Romeos, des Friedfertigen, zur Liebe Erwachten, Dazwischentreten fällt Mercutio, sein Freund, der für ihn und seine Ehre den Kampf aufgenommen hatte.
Er muß sterben und eilt sich, ehe er dahingeht, mit seinem letzten Atemzug den Fluch über die Sinnlosigkeit dieses Lebens und Sterbens hinauszubrüllen: „Hol’ der Henker eure beiden Häuser!“ Was? Ist denn das eine Wirklichkeit? euer Streit? euer Wüten und Morden? Und dafür soll ein lebendiger Mensch sein Leben lassen?!
Nun aber, wo Tybalt ihm den Freund, der um seinetwillen sich zum Kampf reizen ließ, umgebracht hat, ist der Augenblick gekommen, wo Romeo der Mann sich die Erlaubnis gibt, alle Überlegung zu lassen und momentweise der Leidenschaft, dem Erbe der Geschlechter, der Rache Raum zu geben. Er muß, er will Mercutios Tod rächen, will im Alten stehen und diesmal Besinnung und Beherrschung nicht aufkommen lassen; wenn’s ans Letzte geht, gilt das wilde Bluterbe mehr als alle Vernunft; er muß es in dieser Sekunde tun, obwohl er mit einem Blick, rund und nett zusammengefaßt, alles, alles, was nun anhebt, voraus schaut:
Es folgen hintereinander vier Szenen, deren Zusammenhang, Komposition, Ausdrucksgewalt, Stimmung und Steigerung zum ganz Meisterhaften des Meisters gehört; drei große, und zwischen der zweiten und dritten noch eine ganz kurze: Julia erfährt Romeos Verbannung; Romeo — bei Lorenzo — erfährt seine Verbannung, — und dann das erste und letzte, das einzige Liebesbeisammensein der beiden, die nun Vermählte sind; vorher aber für uns schnell die Ankündigung des neuen Konflikts, eine ungeheure Steigerung; wir bedurften nichts mehr zur Tragik und erwarteten nichts mehr, obwohl auch das sorgsam vorbereitet war: der Vater will die Tochter sofort verheiraten.
Welch ein Crescendo der Handlung! Ihm aber entspricht das Crescendo der Gefühle, wie nun alles, was herausführt aus dieser Welt der Wut und der bedrückenden Willkür, sei’s auch am Rande des Todes vorbei, zum Selbstverständlichen wird.
Die erste dieser Szenen führt uns in Julias Zimmer. Es ist erst später Nachmittag, dieselbe Sonne brennt noch herab, unter der der arme Mercutio, der eben erst so unter dem Leben litt und nun tot ist, gestöhnt hat. Julia hat nur eines im Sinn: sie lechzt nach der Nacht. Da soll ihr Mann zum ersten Mal zu ihr kommen, heimlich auf der Strickleiter zu ihr steigen. In dem, was sie spricht, hat der Dichter, noch stark unter dem Einfluß der euphuistischen Modesprache stehend, wilde, kühne und gesuchte Gleichnisse aufeinander getürmt; aber es kommen so gewaltig innige Naturtöne daraus hervor, daß es ist, als ob seelenvollste, sehnsüchtigste Wollust und Brunst wie ein quellend emporspritzender Strahl den Schuttberg der Konvention durchbräche. Und wie dient diese reiche, üppige Sprache dazu, dem darstellenden Künstler das Material in den Mund zu geben, mit dem er verteilen, schattieren, abtönen kann; wie nötigen ihn diese fernher geholten Bilder, da bei Shakespeare nichts verstandesmäßig geziert, alles leidenschaftlich triebhaft[S. 21] gebracht wird, die erstaunliche Rede nicht aufzusagen, sondern aus dem Schweigen, dem Ringen, dem Zittern und Versuchen zu gebären! Und wie wahr, wie schön ist das, was diese Sprache zum Ausdruck bringt! Julia kann gar nicht anders, sie muß das Wirkliche in Bilder verwandeln. Sie tut, was der brünstige Hirsch, was die leidenschaftlich singende Nachtigall tut, in Menschenart. Diesem Mädchen brennen Sinne und Leib nach dem Beischlaf; aber sie hat ihr Naturverlangen in der Phantasieform der Seelenekstase. Da es brennender Tag in ihr und um sie ist, ruft ihre verlangende Schwärmerei die erlösende Nacht herauf; schon sieht sie sich wohlig von ihr eingehüllt; ihr wildes Begehren wandelt sich in anbetende Vision und Ahnung: schon sieht sie den Lauf ihres Liebeslebens vollendet, Romeo tot: in der unsäglichen Saat der Gestirne am Nachthimmel schaut sie sein Unsterbliches leuchtend zerteilt. Und immer neue Bilder der Nacht will sie schauen und festhalten und in ihnen die Innigkeit befriedigten Verlangens, auf das sie wartet. Es ist, wie wenn Kinder vor der Tür stehen, hinter der ihnen eine strahlende Bescherung bereitet wird; um das Warten zu ertragen, malen sie sich den Glanz und den Jubel aus, der kommen soll.
Und nun öffnet sich die Tür, und die Amme stürzt herein. Die Strickleiter trägt sie in der Hand; man brauchte sie zwar noch gar nicht, aber es war ihr wohl ein schmatzendes Vergnügen gewesen, dieses Werkzeug der Liebe durch ihre fetten Hände zu ziehen und es lüstern zu beäugeln. Und da hat die schauderhafte Nachricht sie überrascht; mit den Stricken in den Händen bricht sie plötzlich in Julias Sehnsuchtsträume ein mit dem Schreckensruf: Er ist tot! er ist tot, er ist tot!
Welch ein Typus, diese Amme! Welch ein Gegenstück zu Julia! Wir kennen sie schon lange gut, so daß wir jetzt im Augenblick ihres Auftretens zu all dem Scharfen, Schweren, das die Handlung nun bringt, dieses Gegenüber zweier[S. 22] Formen der Verbindung von Wollust und Menschenseele ins Gefühl bekommen. Saftig, zum Greifen echt steht sie vor uns da. Dumm, gutmütig, schwatzhaft, charakterlos, kupplerisch, schmeichlerisch, feig und also vor allem: komisch! Ein Weib, das ganz gemein am Leben hängt; immerzu schweifen ihr die Gedanken um das Fleischliche der Liebe; aber nichts ist ihr irgend erreichbar von der Seele, der Tapferkeit oder gar der Todesnähe der Liebe.
Die also bringt jetzt die Botschaft. Und bringt sie so dumm, daß Julia zuerst glauben muß, Romeo sei tot. Dann kommt’s endlich heraus: er lebt schon, aber er hat den Repräsentanten von Julias Familie, hat Tybalt erschlagen.
Gestehen wir’s nur: Julia erlebt einen Augenblick des Zweifels. Das hat er tun können? jetzt? heute? schnell zwischen Vermählung und Brautnacht?
Das ist Shakespeares Größtes, und damit vor allem ist er der Einzige, daß er in die Menschen, die er gestaltet, mit einer Liebe ohnegleichen eingeht, daß er ihr heilig Innigstes, ihr süßestes Geheimnis erfaßt und daß auch noch seine verehrende Liebe zu diesen Kostbarkeiten der verborgensten Seele mitschwingt; daß aber all dieses Erkennen des unbefleckbar Guten im Menschen ihn nicht abhält, zugleich mit einer unerbittlichen Grausamkeit ohnegleichen die bösesten Geheimnisse in der Menschenbrust aufzudecken, wobei auch noch seine ganze Verzweiflung, seine tiefe Melancholie mitschwingt.
Julia liebt ja Romeo nur — kennt sie ihn denn? Kennen einander denn die Menschen? weiß einer vom andern? hat denn die Liebe, zugleich die beste und die gefährlichste Art der Erkenntnis, feste Zuversicht in sich? die Ruhe der Unerschütterlichkeit? Werden wir nicht einem adligen Naturkind, einem gereiften Manne begegnen, der von seiner innig Geliebten das Schlimmste zu glauben imstande ist: Othello? Aber Julias erkennender Liebe hat Schreck, Angst, der Schlag, der unmittelbar auf den höchsten Aufschwung ihrer[S. 23] Einsamkeit gefolgt war, nur einen Augenblick lang das Gleichgewicht geraubt. Sowie die Amme einstimmen will — welch ein Thema für ihre alte Sklavinnenseele: die Männer sind alle gemein! — hat sie wieder gläubige Gewißheit: Nein, er ist ein Mann von Ehre. Und der Magdranküne der Alten stellt sich die hingegebene Unterwerfung der liebenden Frau und das stolze Gefühl des Mädchens entgegen, das fast vergessen hatte, daß es schon eine Ehefrau ist: er ist ja mein Gemahl. Und wie denn, mehr und mehr kommt die Erleichterung der Tränen über sie: um Tybalts Tod soll sie weinen, wenn Romeo lebt?
Das aber währt nur einen Augenblick. Jetzt erst werden ihr die Worte zur Vorstellung, jetzt erblickt sie ihr wahres Elend: Romeo, ihr angetrauter Gemahl, auf den ihre Seele wartet, ist verbannt.
Man gewahre die Situation. Der Haß der beiden Familien ist so überliefert, so feststehende Einrichtung, daß sie nichts andres vor sich hat sehen können als heimliche Ehe, heimliche, gestohlene Stunden der Liebe. Sie ist in der väterlichen Gewalt, und sie kennt ihren Vater, und nun Verbannung des Gemahls durch den Machtspruch des Fürsten um einer Schreckenstat willen, die den Haß aufs äußerste verschärfte. Sie sieht nichts vor sich als ein Leben, getrennt von ihm. Auf eine freie, öffentliche Ehe wäre ja höchstens, und dann kaum, zu hoffen, wenn der Vater, wenn die Eltern nicht mehr lebten. Ihr Weh, ihre Empörung, ihre durchgreifende, kühne Liebe gewahrt das sofort und macht vor solchen Gedanken nicht Halt:
Die Sonne neigt sich nun hinab; was soll sie noch aufbleiben? was soll sie noch am Leben? Sie will zu Bett, — was hatte ihrer da gewartet, — und nun? Die Leere, die verzweifelte Öde, den Tod wird sie umarmen. Da weiß die Amme — ihre Finger spielen ja immer noch mit den Stricken — aber bessern Rat. Zum Abschied wenigstens soll Romeo noch kommen. Sie weiß ihn schon zu finden; gewiß ist er bei Bruder Lorenzo geborgen. Und dahin trottet sie jetzt, um den Gebannten ins Brautbett zu rufen.
Während sie auf dem Weg ist, wir werden immer noch vor ihr bei Romeo sein — aus einer früheren köstlichen Szene kennen wir ja ihren gespreizt watschelnden Gang, sie wird sich nicht überstürzen, und soweit ihre eifrige Teilnahme, die aus Gutmütigkeit und Lüsternheit stammt, sie antreibt, wird sie, die ohne fortwährende äußere sinnliche Anregung leer wäre wie ein Sack, von allerlei interessanten Begegnungen aufgehalten werden — indessen mögen uns Gedanken und Fragen im Kopf herumgehen, die nie hochkommen können, solange die Gewalt des Vorgangs uns umfängt. So zu lieben, so mit Leib und Seele, wahrhaft mit dem Leben an einem andern zu hängen, der Mann am Weibe, das Weib am Manne, einzelner Mensch an einzelnem Menschen, ist es denn so wichtig? ist es denn nicht etwas schaurig Verstiegenes, was da die Ära der christlichen Seele gebracht, das Mittelalter ausgebildet, die Renaissance mit der Freiheit ihres Individualismus noch gesteigert hat und was von Shakespeare aus noch mehr die Seelen umklammern wird, zu Rousseau, zu Werther, zu Jean Paul und Kleist hin? Daß diese romantische, heroische, mystische Liebe wirklich ist, wissen wir alle, und insofern hat auch der kühl ernüchterte Teil unsres Geistes mit Shakespeare nicht zu rechten, wie wir freilich auch wissen dürfen, daß es zu dieser Wirklichkeit nie gekommen wäre ohne die Phantasiekraft des Triebs, welche die Dichter so erzeugt hat, wie die Dichter wiederum diese Naturkraft der Verklärung heben, ausbilden,[S. 25] steigern. Aber wenn es auch wirklich ist, soll es uns so ergreifen, daß es in uns übergeht, in uns immerzu wächst? Es ist die Frage nach dem Recht des Dunklen, Unbewußten, Unvernünftigen, sprachlos Unsäglichen; nach dem Recht des Triebs nicht nur, sondern auch seiner Vermählung mit dem Allerhöchsten des Geistes. Immer werden die Stunden der Klarheit und Zweckhaftigkeit kommen, wo der Gott in uns, der aus Trieb und Geschlecht geboren ist, sich gegen seinen Vater empört und nichts sein will als schlacken- und flammenloser, abgeklärter, lichter Geist. Und vielleicht kommt einst — mir scheint sie aus allerlei Zeichen der Zeit zu drohen — die Stunde der Menschheit, wo die Besinnung die Sinnlichkeit, wo der Geist den Trieb, wo der Gott das Tier, wo der Mensch sich selbst ums Leben bringt. Hier ist diese Frage hochgelassen worden, nicht um sie im Vorübergehen, zwischen zwei Szenen Shakespeares zu lösen, sondern um zu sagen: dies ist eine Frage, die auch Shakespeare nicht fremd ist, die an den Kern seines Wesens rührt, die ihm nie Ruhe lassen wird, und wir werden noch genug hören von seinen mannigfaltigen Fassungen dieser Frage, von seiner Qual und seinem Spiel, seinem Zorn und seiner Freiheit um diese Frage herum. Einstweilen mag noch einmal Julias Monolog zu uns sprechen, mag dem stechenden Bohren unsres Intellekts das Dunkel bringen, das uns not und wohl tut, und mag uns erinnern, warum wohl, was sich gar nicht klar von selbst versteht, der Liebesakt Beischlaf, die Nacht die göttliche Freundin der Liebe ist.
Und nun zu Romeo! Er hat sich in der Tat, wie die Amme gewittert hat, bei Lorenzo in der Zelle verborgen und soll nun in dem Augenblick, wo die Szene einsetzt, erfahren, was wir schon wissen, wessen Wirkung auf ihn wir nun miterleben sollen: der Spruch des Fürsten lautet Verbannung.
So fahrig er vordem war, jetzt fällt an ihm vor allem die eindeutige Bestimmtheit der Leidenschaft auf. Jeden Einwand schneidet er ab:
Und drum wäre es besser tot sein als ohne Julia, in der Fremde, leben. Denn mit ihm lebt seine Phantasie, er ist ein Dichter, jedes Kleinste stellt sich ihm vor, um den Schmerz zu erhöhen: jeder Hund, jede Katze, jede Maus, jede Fliege darf sie sehen, sie berühren — — nur Romeo nicht!
Dazu kommt die Amme. Und wie sie nun in männlicher Gestalt dasselbe Elend trifft, das sie zu Hause verlassen, ist sie doch wie aufs Herz und auf den Mund geschlagen; sie wird ganz menschlich, ganz knapp und beinahe vernünftig. Wenn’s die Darstellerin recht macht, ist das ein köstlicher Zug, um uns aus tiefster Seele die Teilnahme heraufzuholen; denn der Abglanz, den etwas wirft, wirft einen ganz besonders tiefen Glanz darauf zurück. Vernünftig ist sie freilich nur beinahe, ganz kann sie ja nicht. Juliens Zustand schildert sie so verkehrt, daß Romeo meinen muß, wie es nur einen verschwindenden Augenblick lang war, was die Phantasie seines Gewissens aber für das Recht der Gattin erklärt: sie zürne ihm als Tybalts Mörder.
Er war schon ohnedies in verzweifelter Raserei; das tut das Letzte. Das alles nur, weil er ein Montague ist! Um eines Namens willen soll das höchste, lieblichste Glück, das einzige seines Lebens schwinden, jetzt eben, wo die Erfüllung gewinkt hat. Den Namen will er mit dem Degen aus seinen Eingeweiden wühlen; in Liebesverzweiflung und Tollheit der Phantasie ist er daran, sich zu töten.
Da hält ihn Bruder Lorenzo, der das Wort nimmt und es nicht so schnell wieder hergibt und stark in Herz und Vernunft hinein zu ihm redet, zurück. Er begegnet ihm mit dem herrlichen Appell an die Männlichkeit.
Dieser Franziskaner der Hochrenaissance ist eine von Shakespeares schönsten, bezeichnendsten Gestalten. Er ist ein Weltweiser und Weltpriester, der einen starken und süßen Erquickungs- und Heiltrank gegen jede, ja gegen jede Trübsal kennt: Philosophie. Er ist ganz weltlich; Erde und Himmel, Sinnenliebe und Vernunft und Höheres als Vernunft, alles gehört ihm zusammen und trifft sich im Innern des rechten, des beherrschten und maßvollen Menschen. Er ist ein seelenvoller Rationalist, voller Humanität; wie er ein Kenner der Natur und ihrer Heilkräfte ist, so ist er ein Seelenkenner und Seelenbändiger.
Wie schön und wie selten ist’s, wenn ein Mensch auf den andern, wenn Besonnenheit des Freundes auf den leidenschaftlich Rasenden wahrhaft wirken kann! Hier erleben wir’s: Lorenzo hat in weise aufgebauter Rede, wie’s die Wärme der Teilnahme ihm eingab, alles zusammengetragen, was Romeo an Glück und an Aufgabe im Leben noch hat; der Jüngling besänftigt sich. Er darf noch einmal, gleich jetzt, zu Julien; er darf auf die Zeit hoffen.
Wir begleiten ihn mit unsrer Hoffnung und Furcht; denn wär’s nicht auch so genug der Gefahr? Aber da fällt, für uns, noch nicht für die Liebenden, in der kurzen Zwischenszene, der neue, der schwere Schlag. Wie wir eben Lorenzos Zelle verließen, war die Sonne gerade gegangen; jetzt ist es tiefe Nacht, die Kerzen brennen im Gemach des Grafen Capulet; heute ist einmal nur ein einziger Gast da, Graf Paris, der Verwandte des Fürsten. Wir wissen schon von früher, daß er sich um Julia bewirbt; früher hat Capulet ihn vertröstet, das Kind ist noch so jung, noch nicht vierzehn Jahre; jetzt aber auf einmal hat er’s selber eilig. Ja, sie soll ihn nehmen; sie soll heiraten, jetzt gleich, sofort.
Diese Nebengestalt des alten Capulet ist mit ein paar Meisterstrichen, die auf vier Szenen verteilt sind, völlig rund gezeichnet; nehmen wir die Stellen so zusammen, wie sie in jeder Miene und jedem Ton des rechten Darstellers immerzu[S. 28] beisammen sind, so gewahren wir nicht bloß die Person, sondern auch ihre wichtige Stelle in der innern wie äußern Handlung des Stücks. In seiner Jugend war er ein flotter Bursch; jetzt ist er ein Philister, dem nichts Unangenehmes in den Weg kommen soll, der irgend etwas Nagendes mit Festen und Schmäusen zur Ruhe bringen und nicht spüren will und der sich um alles kümmert und in alle Töpfchen guckt. Aus dem Schlaf macht er sich so wenig wie aus dem Alleinsein; er braucht Übertäubung, Geschäftigkeit, Gesellschaft; bei alledem ist er ein Hauspascha, der keinerlei Widerspruch verträgt. Daß die Tochter — wie er meint — so leidenschaftlich um Tybalt trauert, ist ihm lästig; solchen Schmerz begreift er nicht:
Weg mit der traurigen Geschichte; frohe Mienen will er um sich haben, keine Leichenbittergesichter; zur guten Stunde meldet sich der treffliche Freiersmann wieder, heiraten soll sie, schnell, gleich, sofort.
Und sofort soll sie’s erfahren. Es ist zwar schon tief in der Nacht,
aber die Gräfin, ehe sie nach all den Erregungen dieses wilden Tages endlich zu Bett gehen darf, soll der Tochter doch schnell noch ihr bevorstehendes Glück melden, und wenn sie sie aus dem Schlafe stören müßte.
Aber, wir wissen’s im voraus, Julia braucht nicht geweckt zu werden. Wir empfinden in diesen beiden Szenen, wie der tyrannische Vater die Tochter zur raschen Heirat verspricht, und wie Julia mit ihrem Gemahl, Tybalts Mörder, in selig schmerzlicher Liebe ruht, die tragische Ironie der Gleichzeitigkeit. Ist ja doch auch sonst in diesem Stück alles ein einziger zeitlicher Zusammenhang stürmischen Tempos: der Streit; das Dazwischentreten des Fürsten und sein Gespräch mit Capulet am Vormittag des ersten Tages; der[S. 29] Entschluß zum Fest, die Vorbereitungen und Einladungen am Nachmittag; das Fest selbst, Romeo erblickt Julia zur Nacht; späte Nacht nach dem Fest, Romeo im Garten, Julia auf dem Balkon; am frühen Morgen des zweiten Tages ist Romeo bei Lorenzo; im Anschluß daran die Verabredung mit der Amme; am Nachmittag geht Julia angeblich zur Beichte, in Wahrheit zur Trauung; noch am selben Nachmittag erfolgt der Zusammenstoß mit Tybalt; gegen Abend sind wir bei den verzweifelten Ausbrüchen erst Julias, dann Romeos, und nun ist wieder tiefe Nacht: erst vierundzwanzig Stunden sind vergangen, seit Romeo und Julia einander ihre Liebe gestanden haben, und was hat die Liebe inzwischen erlebt! Wir kennen sogar die Wochentage, an denen diese Handlung vor sich geht, da der Wichtigtuer Capulet sie aufzählt: Am Sonntag war der Streit, die Bedrohung jedes neuen Streites mit Todesstrafe und die Begegnung der Liebenden; am Montag die Trauung und Tybalts Tod; am Donnerstag soll Juliens Hochzeit mit Graf Paris sein, da findet man sie am frühesten Morgen tot und trägt sie alsbald in die Gruft; Freitag zur Nacht ist die Tragödie zu Ende: Lorenzo, der vorausgesagt hat, daß Julia nach zweiundvierzig Stunden aufwachen wird, täuscht sich nicht.
So kommen wir denn also, während die Gräfin als unterwürfige Frau sich auf den Weg zur Tochter macht, in das Ende der Liebesnacht hinein, zum allerschwersten Abschied der Liebenden für lange, unbestimmte Zeit. Liebe und Weh wird ihnen zum Wechselgesang; ihr Abschied zum Tagelied. In dieser Nacht haben die Liebenden, was die Welt ihnen angetan, was die Liebe ihnen bereitet, in Harmonie gebracht und wie in Poesie verwandelt; schon aber ahnen wir draußen die Schritte neuer, heftigster Wirklichkeit der Eingriffe der Gewalt und des Streites.
Sie will ihn noch nicht lassen —
er drängt, Eile tut grimmig not,
Und dann kann-will er nicht gehn, obwohl er klar sieht und sich über nichts täuscht; der Wahnsinn des Liebesheroismus kommt über ihn:
Und nun drängt sie, fort, nur fort:
Welch ein Liebesduett! Für sie ist alles Unheil, alles Trennende mit dem Licht des Tages, alle Seligkeit mit der Nacht verbunden; heller und heller wird’s, das bedeutet ihnen und sie sprechen es aus: Dunkler und dunkler!
Und nun — in diesen Abschied hinein — meldet die Amme, daß die Gräfin zu solcher Stunde, zwischen Nacht und Morgengrauen, zur Tochter kommt. Was bevorsteht, welche Gestalt das Schicksal annimmt, ahnen sie nicht; aber sie ahnen das Schicksal.
Und Romeo erwidert:
Und sofort, nachdem Romeo gegangen, atemlos, ohne Pause kommt die Wendung: Julia, die jetzt eben von dem Mann ihrer Liebe, der sie eilends verlassen mußte, zur Frau Geschaffene, erfährt, daß die Konvention und die väterliche Gewalt sie zur Ehe bestimmt.
Indem sie sich nun im Gespräch mit der Mutter verstellen muß, folgen für uns hintereinander die Wendungen des Doppelsinns, der tragischen Ironie. Die Gräfin redet von Juliens Schmerz um den Freund und meint Tybalt damit; wie glücklich ist Julia, die nun von Liebe und Leid auf[S. 31]geschlossen ist und ganz Äußerung, ganz Lied und Schrei sein möchte, vom Schmerz um den Freund, um Romeo mit der, die sie geboren hat, reden zu dürfen, ohne daß die es versteht; die Gräfin ruft um Rache; Julia wünscht, für die Mutter in höchster Rachbegier, für sich in Angst um den Geliebten:
und etwas in uns, das mitschwingt, singt leise eine noch höhere Melodie mit:
Dann folgt die Eröffnung des elterlichen Beschlusses; Juliens kalte, fremde, grundlose Ablehnung; der Vater kommt dazu, er vernimmt das Erstaunliche: sein Kind, seine einzige Tochter soll ihm entgegentreten, wenn er ihr Glück beschlossen hat! Es kommt zum furchtbaren Zornausbruch, zum Zerreißen aller Bande, zum väterlichen Fluch. Sie soll gehorchen — und wir wissen ja, sie kann nicht gehorchen, wissen ja, sie hat weit Schlimmeres verbrochen, als der Vater mit schlimmster Strafe bedroht — gehorchen oder verstoßen sein:
Und auch die seit langem verschüchterte, sklavische Mutter, die nichts von Julias Weigerung begreift, ist ganz hart und erbarmungslos.
Kann es für Julia in dieser Lage noch Rat geben? Die Amme weiß hundsgemeinen; und wenn wir für einen Augenblick aus der hohen Sphäre Juliens in unsre niedere Wirklichkeit blicken, dürfen wir sagen: so, die Liebe zu verraten, den Eltern zu gehorchen, die gute Partie zu wählen, machen’s die Mädchen in so ähnlicher Lage oft genug. Julia weiß nur einen, der helfen kann: Romeos Freund, den Heiligen, den Weltweisen, den Vater Lorenzo:
Und nun stehen wir wieder vor der Frage, von der wir ausgegangen sind: hätte es nicht glimpflichere Mittel gegeben, als den Trunk, der so gefährlich mit dem Tode spielt?[S. 32] O ja, gewiß. Aber der verständigen Frage gebührt zunächst verständige Antwort. Der Trunk ist, gerade wenn man’s nur so verständig überlegt und alle tatsächlichen Verhältnisse in Betracht zieht, gar kein übles Mittel, Julia noch rechtzeitig aus dem Hause zu führen. Und daß selbst ganz kühler Verstand kleine, nichtige und dann doch entscheidende, unvorhergesehene Störungen und Zwischenfälle übersieht, daß es in der Welt so zugeht, daß die Rechnung der Klügsten vom Zufall wie von einer an Geist höheren Gewalt vereitelt wird, das wissen wir. Der Trunk schadet ja in Wahrheit gar nicht; was ihn angeht, gelingt alles, wie es Lorenzo sich ausgedacht hat. Auch darf Julia ihm und seiner Arznei durchaus vertrauen; er ist ein guter, zuverlässiger Kenner der Natur. Gleich bei seinem ersten Auftreten war er am frühen Morgen vom Kräutersuchen gekommen:
Diese Worte, in denen Lorenzo seine liebenswürdig-optimistisch-pantheistische Naturanschauung ausdrückt, können uns aber schon zu einer ernsthafteren Antwort auf die Frage rüsten. Mütterliche Liebe und tödliche Kräfte findet er gleichermaßen in der Natur; und aus dem tödlich Gefährlichen bereitet er seine heilsamen Tränklein, wie er mit einem Trotzdem alles Vernichtende der Natur zu guter Letzt zum Heilsamen umdeutet. Jetzt vermißt er sich, mit dem Tode zu spielen, um der Liebe das Leben zu retten, einer Liebe, die von den Lebendigen so furchtbar mißhandelt wird, die so gewaltig Meisterin aller andern Lebenstriebe geworden ist, daß Julia in die Schar der heroisch Liebenden eingegangen ist, die diese verwandte Nähe von Gut und Böse, von Hölle[S. 33] und Himmel, von Liebe und Tod ganz anders sehen als der zu sanftem Frohsinn Resignierte, der rationalistisch-optimistische Mönch. Wie nah liegt ihnen, liegt Julia in ihrer Situation, in ihrer Verfassung dies nämliche Spielen mit dem Tod, das der Berater nur wählt, um sie in äußerm Sinn zu retten. Was sie aber daran wie magisch anziehen muß, ist die symbolische Kraft dieses Mittels: dies Ergehen der Liebe am Rande des Grabes, dies verzweifelte Spiel mit der Gefahr, dieses Eintauchen im Tod, um ein neues Leben zu beginnen. O ja, das will sie, dahin lockt es sie, weil das ihr von innen her Bedürfnis ist: diesem Leben entsterben; ganz Neues beginnen; kein Kind dieser Eltern mehr sein, für sie für immer tot; wie er’s ihr angedroht, soll der Vater sie als tot beklagen müssen; durch die Todespforte eingehen, wie in den Himmel, in ein andres Land, ein neues Reich, das ihr das Reich der Liebe sein soll.
Was ihr für zwei volle Tage und Nächte bevorsteht, wenn sie nun Lorenzos Rat folgt, das ist ja der Tod. Sie will ihn sich antun, will bei den Toten im Gewölbe liegen, den Ahnen ihres Geschlechts, dann ist sie aus der Familie der lebenden Capulet freigelassen, und niemand auf der Welt hat mehr Anspruch auf sie als ihr Geliebter. Und wie stellt sich ihre, stellt sich des Dichters Phantasie dieses Schauerliche leibhaft vor: die Totengebeine, die Grabesschrecken, das Gespenstische! Das Große, das die antiken Dichter von Homer bis auf Euripides haben, daß sie schon mit ihrem Olymp spielen können und doch noch nah genug an den Stimmungen des Glaubens stehen, diesen Vorzug hat auch Shakespeare, was die christlich-mittelalterlichen Vorstellungen angeht: kraftvoll steht er im Alten und Neuen zugleich.
Mit der Kühnheit, zu der die liebende Julia gekommen ist, mit der Todnachbarschaft dieser Liebe steht der von Grauen umschwebte Weg, den sie zur Rettung wählt, völlig in Einklang. Daß aber dann Lorenzos Botschaft an Romeo nicht abgeht, und daß diese Bestellung aus Gründen unterbleibt,[S. 34] die nicht in die Handlung verwebt, nicht durch kleine Motivzüge vorbereitet sind, das trifft uns noch ganz zuletzt wie ein furchtbar neuer und ganz unvorbereiteter Schlag. Es ist das so, wie es in der Chronik, der Novelle, dem Abenteuerroman durchaus in Ordnung ist, wo es etwa heißt: „Nun traf es sich aber zum Unglück — —.“ Im Drama jedoch sind wir gewohnt, sei’s auch nur für die Ahnung, die Menschenseele und ihre Motive und wiederum das Schicksal und die Glieder seiner Kette einander irgendwie angenähert zu finden. Darf man also sagen, es sei, so sehr die innere Handlung, der Sinn ganz in uns eingehe, an dieser Stelle der äußern Handlung doch ein Rest des chronikalischen Rohstoffs unverarbeitet geblieben, so trifft das nur den Bau, nicht den Inhalt dieser Szenen. Es ist früher vorausgesagt worden, inwiefern dieses irrationale oder romantische Element des plötzlichen Eingreifens von Mächten, die wir, weil sie nicht in den Kram unsrer Begriffe und Rechenmethoden passen, Zufall nennen, für die Tragödie so gut am Platze ist wie für die epische Dichtung. Der rohe Ausweg der meisten Bühnen, die Szene des Bruders Johannes, wie er Lorenzo mitteilt, der Brief an Romeo habe nicht befördert werden können, einfach als etwas Unangenehmes wegzulassen, ist um so dümmer, als er gar nichts nützt: die Sache bleibt doch so, wie die Szene berichtet. Diese Szene in der finstern Zelle des Mönchs, wo seiner optimistisch menschenfreundlichen Vernunft vom dunkeln unsinnigen Schicksal der alles entscheidende Streich versetzt wird, muß vielmehr geheimnisvoll, raunend, gespenstisch gebracht werden. Dieser Bruder Johannes, den wir für diese zwei Minuten zum ersten und einzigen Mal erblicken, muß zugleich als der bieder beflissene, beschränkte Handlanger des Weisen und als der gepreßte, ahnungslos dienende Gesell des unbegreiflich vernichtenden, dämonischen Zufalls wirken. Das so zu verstehen, als eine kleine, huschende Unterstreichung und grotesk unsinnige äußere Erscheinungs[S. 35]form der tief innen im Menschlichen verankerten Tragik, wird uns um so leichter, als ja die gewaltige Szene Romeos in Mantua vorausgegangen ist; was wir jetzt nachträglich erfahren, der Grund, warum Romeo nur Julias Tod, aber nicht, daß sie lebt und von ihm gerettet und geflüchtet werden soll, mitgeteilt erhielt, verstärkt unser Nachgefühl für das, was wir eben miterlebten, versichert uns, daß Romeos Entschluß unwiderruflich ist, und macht es uns wahrscheinlich, daß Romeo, den wir auf der eiligen Reise nach Verona wissen, die letzte Lösung schneller bringen wird als Lorenzo, der nun in höchster Gefahr, wir ahnen es, zu spät zu Julias und damit zu Romeos Rettung aufbricht. Er, der Kluge, ahnt noch nichts von der höchsten Gefahr, von dem Tod, in dem sich die Liebe bergen muß; er, der sich so sicher ist, daß sein und seiner guten Mutter Natur Todestränklein der Liebe das Leben rettet, fürchtet noch immer nur Unannehmlichkeiten, zumal für die arme Julia, die
Romeo also, der Verbannte, hat inzwischen schon in Mantua die Nachricht erhalten: Julia ist tot. Zum Wundervollsten gehört, wie die Kürze dieser Szene aus Romeos heroischer Mannesart sich ergibt. Bei Capulets hatten wir, als Julia wie tot auf ihrem Bett gefunden wurde, die wortreichen, tränenreichen Klagen der unglücklichen Eltern, die Julias rechte Eltern nicht waren, des trauernden Bräutigams, der Julias Erkorener nicht war, mitangehört, ohne einen Augenblick zu vergessen, daß Julia noch lebt; und in dieser Stimmung hatte die Verstellung, mit der Bruder Lorenzo sie wortreich mehr zur Ruhe wies als tröstete, für uns einen tieferen Sinn, eine Rechtfertigung:
der Konvention habt ihr sie geopfert, sagt er für uns Mitwisser, seht ihr, da ist sie erhöht, wohin ihr ihr nicht folgen könnt; bereitet ihr eine schöne, prunkvolle Leichenfeier, dann bleibt ihr in eurer Rolle;
auch das verstehen Lorenzo und wir anders und bestimmter als die, an die es sich wendet.
Hier aber, wo wir bei Romeos kurzer, tragischer Entschlossenheit sind, vergessen wir ganz den Zusammenhang und nehmen alles voraus: ja, Julia ist tot; Romeo kann nicht leben.
Er erfährt von dem treuen Diener Balthasar, der in größter Eile hergeritten ist, um die traurige Botschaft zu überbringen: Julia ist tot. Kein Wort der Klage kommt über seine Lippen, nicht ein Ausruf des Schmerzes, keine Sekunde Wühlen und Verweilen in dem, was ist. Sonst wohl ist er der Dichter, der in Schmerz oder Wonne sich Bilder malt und das Wirkliche festhält und ausgestaltet; jetzt ist er ganz, sofort, im Nu zum Willen hin umgeschaltet, zum Sollen: hart, entschlossen, sachlich, nüchtern, trocken wie zur gegebenen Pflicht wendet er sich dem Tode zu.
Du willst uns trennen, unfaßbares Schicksal? Nein. Du sollst es nicht vermögen. Du tust deinen Willen, fragst nicht, ob wir dich verstehn; ich tu meinen Willen auch, frage dich nicht, ob du’s erlaubst. Das alles und mehr liegt in seinem kurz gefaßten Sätzchen. Der Welt und dem Leben wird gekündigt, und nun das Praktische. Was ist zu tun? Daß er an ihr Grab muß, um im Tode mit ihr vereint zu sein, versteht sich ihm von selbst. Pferde mieten; ein Brief ist zu schreiben — gewiß an die Mutter —; und wie soll man sterben? Gift —
Und nun ruft er den Dichter in sich, den er so gewaltsam zurückgedrängt hat, im Gegenteil gegen sich selbst zu Hilfe: um nur ja nicht, was unwürdig, unmännlich, liebearm wäre, seinem Schmerz sich hinzugeben — jedes Wort, jede Vorstellung, jede Träne wäre eine Erleichterung, eine Erweichung —, klammert sich seine Phantasie an das fürchterliche Genrebild dieses zerlumpten, heruntergekommenen[S. 37] Apothekers an und malt es liebevoll, welthaßerfüllt ins einzelne aus.
Hier haben wir ein ganz prachtvolles Beispiel dafür, wie Shakespeares Komposition und Motivierungskunst äußere Handlung, Charakteristik, letzten Sinn und Stimmung in der Ausnützung eines einzigen Moments verflicht: der Apotheker muß allerärmst und elendest sein, damit wir sofort verstehen, daß so einer ohne weiteres dem verzweifelten Manne das Gift verkaufen wird; damit wir in dieser verzweifelten Ausmalung, durch das überzeugendste Kunstmittel also — indirekt — Romeos Verzweiflung erleben; damit wir schließlich in einer wunderschönen letzten Gipfelung hinter dem Gipfel die ganze Vornehmheit Romeos erfahren.
Ja, er ist so einer, der aus tiefem Grunde ohne Julia, ohne die Liebe nicht leben kann: weil die Welt ist, wie sie ist; jetzt ist es nicht, wie wir ihn wohl zu Beginn des Stückes noch sahen, der weibische Weltschmerz des unfertigen Jünglings, der die Welt gar nicht kennt; in dieser Woche ist er ein Mann geworden, der entschlossen Nein zur Welt sagt und ihr den Rücken kehrt; in Julia hatte er, gefördert vom weltliebenden Bruder Lorenzo, das Symbol und die repräsentierende Bürgschaft umschließen wollen, daß die Liebe eine Stätte in der Welt habe; indem er den Apotheker ansieht, schaut er den Repräsentanten und das Opfer der lieblosen Welt und ihrer Geschöpfe:
Und wie er ihm das Geld für das Gift reicht, erweitert sich seine Objektivität, seine Verallgemeinerung des eignen Leids noch mehr, dringt sein Blick noch tiefer in die Verkettung der Erbärmlichkeit der Menschen und ihrer Einrichtungen ein:
Ihm persönlich hat ja das Geld nichts getan: er aber denkt jetzt, wo er nicht mehr leben kann, ans Ganze. Und da, mit diesem letzten, alles einzelne zu Einem verschweißenden Blick des wie schon Sterbenden, erkennt er: hängt nicht aller Krieg und Streit der Menschen, jede Fehde, auch die Fehde der Montecchi und Capuletti mit hohlem Schein und umgehängtem Gepränge, mit Konventionen, mit Gier und Besitz, mit Egoismus zusammen? Rollt nicht die Lüge gleißend über die Welt hin, wie das Geld, das ein Mittel zum Leben sein sollte und zu jeder Niedertracht verführt? Nein wahrlich, ohne die Liebe läßt sich’s nicht leben!
Wir wissen, wie er stirbt; von Blitzen, die aus dem Nächtigen leuchten, von tragischer Ironie umwittert; wir erleben mit, wie schwer ihm das Sterben gemacht wird, wie er bis zum Letzten vom boshaften Schicksal genarrt, wie er gezwungen wird, als Mann die Gewalttat zu üben, wo er als Mann der Liebe leben und sterben will: Graf Paris droht ihm auf dem Friedhof, vor Julias Totengewölbe, den Tod an, ihm, der nichts will als sterben; er, der an der Leiche der Geliebten das Gift trinken will, soll ein Leichenschänder sein; er, der den Haß versöhnen wollte, soll aus Familienfeindschaft selbst eine tote Jungfrau — sein ehelich Gemahl — mit Gemeinheit beschmutzen wollen; und bei all der unbegreiflichen Verkennung haben wir jetzt, an dieser Stätte, unverrückbar wieder in Gedächtnis und Erwartung und möchten es ihm ins Ohr flüstern: Julia lebt, bald wird sie erwachen! Aber wir und das Mitleid haben keine Stimme; es waltet die Unerbittlichkeit, die die Liebenden in dem Augenblick, als sie allererst ihre Liebe erkannten, vor Augen sahen. Wie lang ist’s her? Eine Ewigkeit; ein paar Tage! So wie Romeo, in dem die Liebe Männlichkeit und Fried[S. 39]fertigkeit zugleich erweckt hat, Tybalt gebeten und beschworen hatte, ihn zu lassen, so redet er jetzt dem Gegner, den er nicht kennt — und wenn er ihn kennte, wüßte er nicht um seine Beziehungen zu Julia —, redet Julias Gemahl ihrem Bräutigam gut zu, ihm den Weg nicht zu versperren; vergebens, auch das bleibt ihm nicht erspart; er muß sich seines Lebens wehren, um so sterben zu dürfen, wie’s seine liebende Phantasie verlangt; und Paris fällt.
Julia lebt, bald wird sie erwachen! Das ist vielleicht die tragischste Ironie: er hat sich den Weg zu ihrer Leiche erkämpft, er blickt auf die tote Geliebte, die wie noch lebend aussieht:
Warum? O, wir wissen, warum. Die Zeit ihres Erwachens ist nun gekommen, schon steigt ihr Blut wieder zum Antlitz empor, schon mögen leichte Träume sie umschweben, und wie er nun, an ihrer Brust, im Kusse, auf ihren Lippen stirbt — da dürfen wir denken, daß dieser Kuß des um ihres Todes willen sterbenden Freundes sie vollends zum Leben, zum Tode erweckt!
Hat in der Welt dieser Verstrickungen, dieser tragischen Ironie, hat in dieser Dichtung des jungen Shakespeare, in der sich schon all die pessimistische Bitterkeit seiner reifen Zeit gegen Menschen und Weltordnung aufrichtet, der Zufall, dessen Bosheit der optimistische Rationalist Lorenzo nicht mit in seine Rechnung zog, nicht seinen guten, bitterbösen Platz?
Julia erwacht und ist sofort ganz hell, ganz wach. Durch den langen Todesschlaf hindurch hat nur das Gedächtnis ihrer Liebe gelebt:
So redet sie den guten Helfer an, der das Ganze so klug, so ganz richtig berechnend eingerichtet; sie ist, wo sie nach seinem Plan sein sollte, von wo Romeo und Vater Lorenzo sie wegbringen sollten.
Der ist jetzt eben gekommen; in verzweifelter Eile ist er über die Gräber gestolpert und kann ihr nun in einem Schmerze, in dem auch die Klage über den Gott, der solches tut, nicht fehlt, nur sagen: Auch Romeo ist da; aber nicht mehr als Lebender.
Wir wissen, wie sie stirbt; wie dann Lorenzo, dem Chor einer antiken Tragödie vergleichbar, als ein Mann, der mit dem Schicksal der Welt wie mit seinen, des immer wieder gläubig Vertrauenden, eignen immer wiederkehrenden Enttäuschungen vertraut ist, groß und gefaßt vor Fürst und versammeltem Volk alles, was wir wissen — wie schmerzlich wohl wie in einem Adagio tut uns diese Wiederholung —, noch einmal zusammenfaßt und so den Vorgang einprägsam zur Höhe des Sinnbilds, zum Mythus erhebt: Dies ist das Schicksal Romeos und Julias; wir wissen, wie dieses Sinnbild: die Liebe Romeos und Julias in dieser Welt des Haders, wie dieses Heiligenbild des liebenden Paares gleich ein Liebeswunder vollbringt: an den Leichen versöhnen sich die Feinde, die Erben des Hasses der Geschlechter: die Liebe hat sich opfern müssen, um die Menschen vom Haß zu erlösen.
Von seiner Zeit und, sie darin als ihr Größter repräsentierend und fortführend, mit ihr gemein hat Shakespeare die wilde, frisch anhebende Stärke und Gewalt; alles, was einmal hieratisch, starr, gebunden war, ist nun entfesselt, erweicht und rund und voll, plastisch und lebendig bewegt geworden; der Individualismus, die große, persönliche Gebärde der Renaissance und des Barock ist da, die ganze Ausdrucksgewalt; aber vereint damit, mit all dieser Freiheit[S. 41] und Unmittelbarkeit, ist, was die Zeit der Gebundenheit und Verbundenheit, der christlichen Seele, der innigen Gotik gebracht hat: ganz inniglich hold Seelenvolles, jetzt aber in frei unschuldsvoller, lebendiger Sinnlichkeit.
Prometheus, Luzifer — der Feuer- und Lichtbringer — und Maria, die naturdurchdringende, hingegebene, liebende, kreatürlich-göttliche Weltseele: das süße Meisterstück aus Shakespeares Jugendzeit kündet uns an, daß das beides in Einheit beisammen, zur Einheit sich suchend von nun an in der Welt sein soll.
Es ist etwas Eigentümliches mit Titeln und Namen: sie nähren sich so sehr von dem eigentlichen Inhalt, den sie bezeichnen, und von den Stimmungen, die diesen Inhalt umschweben, daß die wörtliche Bedeutung manchmal fast bis zum Letzten verloren geht. Bei der Friedrichstraße in Berlin denkt man an das Leben, das dort durchzieht, aber an keinen Friedrich. Ich habe einmal beim Eingang zu einem Konzertsaal an einem Abend, an dem Schuberts Unvollendete auf dem Programm stand, einen Engländer die Worte The unfinished symphony mit so verzückter Betonung und so einem Auskosten jeder Silbe sprechen hören, daß ich den Klang nie wieder vergessen kann: mit keinem Gedanken dachte der Musikfreund daran, daß das Werk seinen Namen von der beklagenswerten Tatsache herleitete, daß der Meister die Symphonie liegen ließ und nicht fertig machte, sondern Die Unvollendete bezeichnet ihm schlechtweg einen Gipfel der Vollendung.
So ähnlich steht es, wenn wir den Namen hören oder sprechen: Der Kaufmann von Venedig. Wir denken deswegen doch nicht ausschließlich oder in erster Linie an Antonio, den königlichen Kaufmann; manchem wird er zunächst gar nicht in den Sinn kommen. Wären wir aber einig darüber, welche Vorstellungen und Stimmungen, welche Personen und welche Vorgänge, welcher wie zum Traum gewordene Gesamtgehalt und Sinn uns mit diesem Titel zu Bewußtsein kommt, so brauchte ich kaum mehr etwas zu sagen.
Wir sind aber keineswegs einig, wiewohl sicher ist, daß die Gestalt Shylocks und die Gerichtsszene, damit auch Porzia als Richter und ihre Entscheidung aus dem Gewoge der Erinnerungen am stärksten hervorstechen. Über das Stück als Ganzes aber, seinen Zusammenhang und seinen Sinn[S. 43] ist nach Hamlet vielleicht mehr als über irgend ein anderes Shakespeares geschrieben und gestritten worden.
Zum ersten Mal erwähnt finden wir Shakespeares Kaufmann von Venedig im Jahre 1598; die erste Quartausgabe, die wir kennen, stammt vom Jahre 1600.
Bei der Umschau nach Shakespeares Quellen kommen wir sofort an das Grundproblem heran, das das Stück aufgibt. Es sind nämlich in dem Stück verschiedene Motive in eines verwoben, und wir wissen nichts davon, daß Shakespeare sie alle schon irgendwo beisammen gefunden hätte. Die Behauptung, Shakespeare habe hier ein älteres Stück bearbeitet, hängt ganz in der Luft; keine Überlieferung sagt etwas über das Vorhandensein eines solchen Stückes.
Die wesentlichen Motive sind folgende:
Das zu 2. genannte Motiv der Kästchenwahl ist in keiner der Überlieferungen mit dem Stoff verbunden; es hat vielmehr seine eigene Geschichte im Zusammenhang ganz anderer Fabeln. So findet es sich z. B. in der mittelalterlichen Geschichtensammlung Gesta Romanorum, deren englische Fassung als gedrucktes Buch vorhanden und Shakespeare ganz sicher bekannt war; auch Boccaccio hat eine ähnliche Geschichte.
Dieses Motiv ist von Shakespeare in die Geschichte des Rechtshandels aufgenommen worden, weil ein entsprechendes Motiv, das an seiner Stelle war, dramatisch unbrauchbar und auch sonst zu unedel war. Auch auf der Vorstufe nämlich, von der gleich zu reden ist, bewarben sich viele[S. 44] Freier um eine Dame mit einer schwierigen Leistung: die Leistung aber war nicht die Wahl eines Kästchens, sondern der durch einen Schlaftrunk erschwerte Beischlaf. Das mußte weg, und so kam die Kästchenwahl in die Handlung.
Schon in einer andern Geschichte der Gesta Romanorum sind die zu 1. und 3. genannten Motive beisammen. Aber der Geldgeber ist da noch kein Jude. Wir brauchen darauf nicht weiter einzugehen, weil die Erzählung, die in enger Verbindung mit Shakespeares Stück steht, bekannt ist. Das ist eine um 1378 verfaßte, 1554 italienisch gedruckte Erzählung, die einer Sammlung mit dem Titel Il Pecorone (Der Dummkopf) von Giovanni Fiorentino angehört. In dieser salzlosen, lediglich stofflich wirkenden Geschichte läßt sich die Dame von Belmont, eine ungeheuer reiche, über ein Land gebietende Erbin unter der Bedingung umwerben, die oben erwähnt wurde. Ein junger Venetianer läßt sich von seinem Pflegevater dreimal Schiffe ausrüsten, um den Sieg davonzutragen. Erst das dritte Mal gelingt es ihm; inzwischen ist aber der Pflegevater durch den Vertrag um das Stück Fleisch in die Gewalt des Juden von Mestri gekommen, bei dem er seinem Pflegesohn zu Liebe Geld unter so seltsamer Bedingung aufgenommen hatte. Die Dame von Belmont befreit ihn verkleidet mit ihrem Rechtsgutachten; der Jude bekommt kein Geld und kein Fleisch, wird aber weiter nicht behelligt. Das Nebenmotiv, daß der junge Mann nun den Gelehrten mit einem Ring seiner Gattin bezahlt, und die lustige Verwicklung, die daraus entsteht, ist auch schon da. Die Namen, die genannt werden, sind andere; die Dame heißt nur die Dame von Belmont; der Jude wird gar nicht mit Namen genannt.
Die Steigerung, daß die Tochter des Juden ins Lager seiner Feinde übergeht, das Jessikamotiv, ist nirgends überliefert.
So ist also bei Shakespeare eine Fabel, die schon vorher im Äußern uneinheitlich und nur etwa durch das Motiv der überlegenen Klugheit der Frau zusammengehalten war,[S. 45] durch neue Zutaten noch verwickelter geworden. Und es erhebt sich die Frage: Warum hat er diese ineinander verstrickten Handlungen gewählt? Was hat er damit gewollt? So leicht wie A. W. Schlegel, der nonchalant meinte, die Shylock-Handlung sei so schmerzlich ängstlich, daß „für Aufheiterung und Zerstreuung“ gesorgt werden mußte, wollen wir es uns nicht machen, zumal wir mit Schlegel finden, daß das Stück zu Shakespeares vollendetsten Werken gehört. Zu solcher beruhigenden Erklärung würden wir uns erst entschließen, wenn uns gar kein Sinn und Zusammenhang dieses Vielfachen aufgehen könnte. Da wir aber wissen, daß ganz besonders die Stücke des Dichters, deren Handlung polymythisch, aus mehreren Handlungsteilen zusammengesetzt ist, mit diesem ihrem Parallelismus Sinnspiele sind, dürfen wir mit guter Hoffnung an die Untersuchung gehen.
Von den vielen Versuchen, das Stück auf eine Formel zu bringen, nenne ich einige. Horn findet, das Stück verkünde die rein christliche Idee von der versöhnenden Liebe und der vermittelnden Gnade im Gegensatz zum Gesetz und zum sogenannten Recht. — Ulrici erinnert an den Satz: Summum jus, summa injuria. — Der Hegelianer Rötscher findet die Dialektik, den Entwicklungsprozeß des abstrakten Rechts dargestellt: das Buchstabenrecht bringt sich selbst zur Aufhebung. — Gervinus will geistvoll und kräftig zeigen, daß das Stück in all seinen Teilen darauf ausgehe, das Verhältnis des Menschen zum Besitz darzustellen. — Kreyßig findet im Zusammenhang der verschiedenen Elemente der Handlung eine ganz andere Lehre als alle bisher genannten: dauerndes Gedeihen nämlich sei nur durch Maßhalten zu erlangen; der starre Idealismus, den er in Antonio verkörpert findet, sei kaum minder gefährlich als die verhärtete Selbstsucht.
Ins Gebiet der Auslegung gehört auch die Auseinandersetzung zwischen Juristen, zu der Rudolf von Jhering[S. 46] Veranlassung gab. In seiner Schrift „Der Kampf ums Recht“ trat er von 1877 an nebenbei dafür ein, daß der Prozeß gegen Shylock zu revidieren sei: dem Mann sei Unrecht getan worden, Porzias Entscheidung beruhe auf einem elenden und nichtigen Kniff. Das führte zu einer Polemik mit dem Rechtsphilosophen Kohler, der im Gegenteil, ähnlich wie Rötscher und auch Simrock, fand, Porzias Entscheidung bedeute einen Sieg in der Entwicklung der Rechtsgeschichte; „die Sonne des Fortschritts“ leuchtete ihm aus diesem Ausgang des Prozesses hervor.
Ich meine, man muß hier durchaus das alte Motiv, das man bei den verschiedensten Völkern in Märchen und Novellen findet, und die Anwendung unterscheiden, die Shakespeare davon gemacht hat. Die überraschende, erlösende Entscheidung, die das Motiv überall bringt: Gut, Gläubiger, du sollst das Pfund Fleisch haben, das das Gesetz oder der Vertrag dir zuspricht, aber kein Tropfen Blut soll um einer Schuldforderung willen vergossen werden, birgt wohl in der Tat den Sinn, wie ihn Simrock und Kohler darin gefunden haben: der Kampf einer milderen Rechtsauffassung gegen eine alte, die nun als grausam empfunden wird, spricht sich darin aus. Das Volksdenken und so auch das Volksrecht arbeitet nicht gleich mit der absoluten Negation; man sagt nicht, eine unbezahlte Schuld darf unter keinen Umständen zum Tode des Schuldners führen, das alte Gesetz ist abgeschafft; sondern man macht zunächst durch Interpretation die Anwendung unmöglich. Der Vorgänger des neuen Gesetzgebers ist der kluge Richter.
Schuldenmachen und Diebstahl war in alten Rechten überall nicht gesondert. Schwerer Diebstahl kann in England noch heute mit dem Tode bestraft werden. Motive, auf die man bei Dickens und Balzac noch häufig stößt, kommen uns heute beinahe schon so barbarisch vor wie das Motiv Shakespeares: daß man Schulden halber auf Kosten des Gläubigers bis zur Bezahlung ins Gefängnis gesetzt werden konnte.
In der alten Zeit aber, in der das Motiv entstand, handelte es sich nicht, wie bei Shakespeare, um einen besonderen unter Ausnahmebedingungen entstandenen Vertrag, sondern um eine der üblichen Rechtsordnung ganz gemäße Vereinbarung. Das römische Zwölftafelgesetz bestimmt: Wenn ein Schuldner dem Gläubiger zugeschrieben ist und nach sechzig Tagen und dreimaligem Ausruf keine Zahlung erfolgt, darf der Schuldner getötet oder als Sklave verkauft werden. Das entspricht so sehr dem Rechtsgefühl, daß die absonderlichsten Spezialfälle vorgesehen werden: mehrere Gläubiger dürfen den Körper zerhacken (in partes secare), und es wird ausdrücklich bestimmt, daß, wenn einer der Gläubiger sich ein größeres Stück herausschneidet, als ihm zukäme, das nicht als Betrug angesehen werden solle. Im deutschen Recht darf der Gläubiger den Schuldner verstümmeln; so z. B. gestattet ein altnorwegisches Gesetz dem Gläubiger, daß er dem Schuldner, der nicht für ihn arbeiten will, so viel Fleisch abhauen darf, als er Lust hat, oben oder unten.
In unserm Stück nun liegt der Fall völlig anders. Es handelt sich nicht um so ein grausames Gesetz; das sind längst vergangene Zeiten. Nur in der Erinnerung des Volkes leben noch Traditionen, Geschichten, daß es so etwas einmal gegeben hat. Und so macht Shylock in seiner Tücke, für einen Fall, mit dem die ausschweifende Phantasie seines Hasses zunächst nur spielt, lachend, indem er sich erbietet, Bassanio unter Bürgschaft des reichen Antonio ohne Zinsen ein Darlehen zu gewähren, diesen Vorschlag: einen Vertrag zu schließen, auf Grund dessen Shylock, wenn er sein Geld nicht zum Termin zurückerhält, Anspruch auf ein Pfund Fleisch aus Antonios Leib erhält. Die beiden stehen einander so gegenüber, daß er, mit wildestem und vorerst ganz ohnmächtigem Haß geladen, in dem Augenblick, wo der mächtige Feind sich zum ersten Mal mit ihm einläßt, in seiner Phantasie das Bild der[S. 48] unwahrscheinlichsten Möglichkeit auftauchen sieht und mit ihr zugleich das Bild der Grausamkeit, wie sie einmal Rechtens war und seinem Haß einen Ausdruck bietet: Ha, wenn du mir verfallen wärest wie ein kriegsgefangener Sklave aus fremdem Stamm! Antonio aber denkt nur an eine der kuriosen juridischen Formen, für die es, zumal in England, Beispiele gibt. Für ihn noch viel weniger als für Shylock kommt der Gedanke, er werde den Betrag, so hoch er auch ist, nicht zahlen können, in Betracht; aber schön, der ekle Jude hat eine Laune, er, der Wucherer, will keine Zinsen nehmen, aber er will das streng bindende Versprechen, sein Geld wieder zu erhalten, will es in uralter Form, an die die Erinnerung noch spukt; das kann man machen. Antonio ist reich und hat viele Freunde; er besinnt sich gar nicht; die Hauptsache ist, nicht länger als nötig mit dem Juden zu tun zu haben und Bassanio dem Freund in schöner, wichtiger Sache schnell helfen zu können. So wie das Volksdenken und Volksrecht ein altes Gesetz nicht leicht negiert, sondern es erst im Sinne des neuen Rechtsgefühls interpretiert, so muß das, was eigentlich Nichts sein soll, eine Form annehmen: etwas ganz Kleines. Wenn Meister Eckhart in seinem schöpferisch ringenden Denken vom unendlich Kleinen sprechen will, sagt er etwa: eine Mücke. Der Maler Whistler verklagt den Kunstkritiker Ruskin wegen einer herabwürdigenden, schädigenden Kritik auf Schadenersatz; der Richter stellt sich ganz auf Ruskins Seite, will Whistler abweisen, wie er ihn nur abweisen kann, und verurteilt Ruskin, einen Penny als Schadenersatz zu zahlen. Er sagt nicht: Nichts sollst du haben; er sagt: Ganz, ganz klein bemesse ich deinen Schaden; aber dein Recht sollst du haben. So ähnlich hier, für Antonios Auffassung: da wir den Fall, daß das Geld nicht zur Zeit bezahlt wird, gar nicht erwarten, soll in den Vertrag, damit’s nur ein richtiger Vertrag wird, etwas eingesetzt werden, was es[S. 49] ja wirklich vor Urzeiten einmal gegeben hat, etwas heute ganz Unmögliches.
Wenn es denn aber wirklich, fast wider aller, fast auch wider Shylocks Erwarten, Ernst wird, da handelt es sich nicht um ein altes, längst überwundenes Gesetz, sondern um ein unverbrüchliches, um das oberste aller Gesetze: Verträge müssen erfüllt werden. Wenn’s vertraglich stipuliert ist, kann auch das urälteste Recht wieder lebendig werden. Nur daß dann auch erwidert werden darf: Nimmst du’s mit dem Vertrag so ernst, so buchstäblich, so wundere dich nicht und beklage dich nicht, daß auch der Richter es macht wie du: Blut ist kein Fleisch; auf Fleisch hast du vertraglichen Anspruch, auf Blut nicht. In dem Volksdenken, wie wir alle es noch im Gefühl haben, wie es also entscheidend ist für unsre Teilnahme, haben wir nicht die analysierende, sprachkritische Methode moderner Wissenschaft, sondern da gelten die Worte in voller Kraft: Blut ist Blut, Fleisch ist Fleisch; das ist eindeutig, einfach, nicht zusammengesetzt. Shylock sträubt sich auch gar nicht; er fügt sich sofort; ihm ist mit seiner Münze gedient worden.
So viel von den juristischen Voraussetzungen, die nebensächlich sind und darum von vornherein zu erledigen waren. Sie sind nur insofern nicht ganz unwichtig, als sie unsre, der Zuschauer, Psychologie berühren. Wir müssen wissen, warum es sich so verhält, wie es tatsächlich ist: daß wir jedesmal diesen Vorgang, den unser Verstand gern absurd nennen möchte, atemlos mit gespanntester Teilnahme gläubig, glauben wollend miterleben. Das kommt von Shakespeares Gestaltungskraft in erster Linie, kommt von dem Anteil, den wir an Shylock nehmen, und zu dieser Gestalt haben wir uns darum jetzt sofort zu wenden; vorher aber war noch dieses andre zu erledigen, darzutun, daß es sich um einen Vertrag handelt und daß die Ehrfurcht vor dem Vereinbarten und Geschriebenen in uns noch genugsam lebendig ist, uns mit ganzer Seele dabei[S. 50] sein zu lassen, wenn der dämonische Kampf der getretenen und sich aufbäumenden Niedrigkeit die Form der Rechtstücke annimmt. Denn, wir sehen es noch, zwischen Antonio und Shylock steht es nicht anders als zwischen Proserpina und dem Reich der Toten: hätte sie nicht in die Frucht der Unterwelt gebissen, wie hätte sie, die Lebendige, je Pluto verfallen können? Und so: was hat Antonio mit dem niedrigen Unhold zu tun? Er will ihn um irgend eines Dings seiner edeln Oberwelt willen als Mittel benutzen? Er rührt ihn an? Er reicht ihm den Finger? Er schließt einen Vertrag mit ihm? So ist er auch auf Shylocks Boden, auf den Boden dieses Vertrags getreten; er hat dem Dämon Macht, Macht in dieser besondern juridischen Form über sich gegeben, denn er hat nicht mit einem Mittel zu tun, das sich brauchen und dann wieder wegwerfen läßt, sondern mit einem lebendigen Wesen, das er gerufen, zu dem er sich hinabbegeben hat und das ihn nun umklammert, wie’s die äußerste, fast unmögliche, fast nur toll spielende Phantasie sich’s im Hasse geträumt hat.
Nun also zu diesem Unhold von ganz drunten, zu diesem Juden aus dem Ghetto von Venedig, und zu allererst zu seinem Namen, über den dürfte man sich mehr wundern, als es gemeiniglich geschieht. Dieser Jude in Venedig trägt einen Namen, der ohne Zweifel ein englischer ist. Aber wir sind in Italien; die Männer heißen Antonio, Bassanio, Lorenzo, Gobbo und immer weiter mit o; die Frauennamen enden auf a: Porzia, Nerissa, auch des Juden Tochter, die dann ins Reich der andern aufgenommen wird, Jessika. Ein anderer Jude im Stück heißt Tubal, das ist für einen italienischen Juden ganz in Ordnung. Aber Shylock? Man hat zwar an einen Namen erinnern wollen, der sich im ersten Buch Mose findet: Salah oder Selach; aber was wäre damit geholfen, selbst wenn man überflüssiger Weise annähme, Shakespeare hätte daran gedacht? Er hätte ja trotzdem den Namen nicht ins Italienische,[S. 51] sondern ins Englische verwandelt genommen. Und dazu hat der Name, der sich dem holden Klang der andern Namen des Stücks so ungefüg entgegensetzt, für den Engländer Bedeutungserinnerungen in sich: shy heißt scheu, argwöhnisch, schlau, scharf, lauter moralische Eigenschaften des Gedrückten; lock ist ein Verschluß, ein verschlossener Raum, eine Spelunke, eine Diebshöhle; und wenn wir dem Juden für einen Augenblick den Namen Scheuloch geben, so haben wir so eine ähnliche Empfindung wie der Engländer, der erstmals, ohne den Inhalt der Person Shylock schon zu kennen, den Namen mitten unter gesittet und schön klingenden Italienernamen im Personenverzeichnis fände. In der Gerichtsszene, gleich nach Porzias Auftreten, wird der Name auch mit so einer besonderen Betonung von Porzia in den Mund genommen. Der Doge ruft die Prozeßparteien auf: Antonio, alter Shylock, tretet vor. Der fremde Rechtsgelehrte — Porzia — hat keinen Zweifel, wer von den beiden, die sich nun präsentieren, Antonio und wer der Jude ist; aber sie fragt noch einmal ausdrücklich: Ist Euer Name Shylock? und er hat’s mit starkem Klang zu bestätigen: Shylock ist mein Name.
Man könnte vielleicht zur Erklärung vermuten wollen, Shylock sei ein Name gewesen, der unter englischen Juden üblich war. Aber da hätte man etwas übersehen, was auch sonst für unsere Betrachtung des Stücks wichtig ist: es gab in England keine Juden, seit Jahrhunderten schon nicht mehr; 1290 unter Eduard I. wurden sie vertrieben und erst 1652 unter Cromwell wieder zugelassen. Unser Stück mit seiner genauen Kenntnis nicht nur des jüdischen Charakters, sondern auch italienischer Lebensgewohnheiten ist eines der stärksten Argumente der Forscher, die beweisen wollen, Shakespeare müsse in Italien gewesen sein. Beweisen läßt es sich bei alledem nicht; es ist möglich. Sicher ist, daß er im Rom Julius Cäsars nicht war und[S. 52] auch nicht auf Prosperos Insel; ein paar armselige Bücher und dazu noch die vielfachen Gespräche, von denen wir so wenig wissen wie von seinen Reisen, die wir aber mit größerer Sicherheit vermuten dürfen, mußten ihm dafür genügen. Was die Juden angeht, so verweist man überdies auf Marlowes Juden von Malta, einmal, um zu zeigen, daß da noch ein englischer Dichter aus Shakespeares Zeit wäre, der den jüdischen Charakter getroffen hätte; dann auch, um zu sagen, Shakespeare hätte davon das und jenes herübergenommen, wäre davon beeinflußt. J. L. Klein aber hat unübertrefflich gezeigt, daß Marlowe es gar nicht verstanden hat, einen Juden hinzustellen; sein „Jude“ ist noch nicht einmal ein Mensch, sondern ein gräßlicher Theaterwüterich mit einigen allerdings großartigen Zügen ausschweifender Phantasie und dichterischer Sprache; und was die Beeinflussung angeht, so steht es damit etwa wie mit dem Verhältnis von Marlowes Eduard II. zu Shakespeares Richard II., welche beiden Stücke mit einander zu vergleichen und Marlowes Königsdrama gar höher zu stellen man neuerdings in England wie in Deutschland die Verwegenheit unsicherer Neuerungssüchtiger gehabt hat: die Vergleichung ergibt nur, wie sich das tief Menschliche zum interessant Puppenhaften, die Aufdeckung der innersten Seele zur schönen Rhetorik, die höchste Tragik zur pathetischen Sprache verhält.
Shylock ist ein Mensch; Shylock ist ein Jude!
Lichtenberg in seinen prächtigen Briefen aus London berichtet von einem Schauspieler, der gleich bei den ersten Worten, die Shylock zu sprechen hat: Three thousand ducats, die Zischlaute dieser paar Silben so „leckerhaft gelispelt“ habe, daß man sofort den Eindruck des Geizes, der Geldgier, der schmutzigen Gesinnung, erhalten habe. Es könnte jedoch in diese Worte noch mehr gelegt werden: bei dieser Erwägung steigt ihm schon das ganze Bedenken, die ganze schwindelnde Möglichkeit auf, die sich an dieses[S. 53] Geldgeschäft mit dem Verhaßten anknüpfen kann. Die Hexen, die erwarten, daß Macbeth sich mit ihnen einlassen wird, können nicht teuflischer jubeln als etwas drunten in Shylock bei der Wahrnehmung: Antonio der Hochmütige sucht ihn auf und braucht ihn.
Man ist nur fähig, ihn zu verstehen, wenn man von vornherein beachtet, wie der alte Mann, in dem so vieles unterdrückt und aus der Richtung gerückt ist, dieses beides beisammen hat: Wirklichkeitssinn, so daß ihm nichts gilt als Tatsachen und die Mittel, sie sich zu beschaffen, und aber Phantasie ganz ausschweifender Art. Ist indessen dieses beides nicht vereint in dem Mittel, um das Shylocks Gedanken immerzu schweifen? Gibt es etwas Wirklicheres und Phantastischeres als das Geld? So ist auch die Art, wie er spricht, seltsam eindringlich zusammengeschweißt aus kurzer, harter, trockener Sachlichkeit und lebendig gestaltender Bildkraft. Er erwägt immer noch, ob er das Geld hergeben soll, und während er über die Sicherheit spricht, die Antonios Schiffe gewähren, wenn sie auf hoher See schwimmen, tauchen allerlei unglaubliche Möglichkeiten schon vor seinen Blicken auf:
„Schiffe sind nur Bretter, Matrosen sind nur Menschen: es gibt Landratten und Wasserratten, Wasserdiebe und Landdiebe, ich meine Korsaren; und dann haben wir die Gefahr von Wind, Wellen und Klippen.“
Er sieht die Schiffe vor Augen, auf dem weiten Ozean, da und dort, und erwägt gleich an einer dunklen Stelle seines Wesens, zu der er doch seinen hellen Verstand zuläßt, alles, was kommen kann. Er ist ein Phantasiemensch; noch einen anderen wesentlichen Zug des Künstlers werden wir an ihm kennen lernen; und Intellekt hat er einen wunderbar starken, geradlinigen; was aber, was in aller Welt ist aus diesen gewaltigen Gaben geworden? Wie steht er vor uns, wie steht er vor diesen Christen?
Es ist oft genug behauptet worden, ursprünglich und nach Shakespeares Meinung und nach der Art jener Aufführungen hätte man über diese Gestalt des Juden gelacht. Aber es ist nicht wahr, und es gehört eine absonderliche Roheit dazu, es zu meinen. Wer lesen kann, was da steht, wer hören kann, was zu ihm spricht — und bei aller Entwicklung haben sich doch die gedruckten Worte von Shakespeares Text nicht verändert — der weiß: da sollte nicht gelacht werden und konnte kein Lachen aufkommen. Nein, er macht es uns nicht möglich, und wir haben keinen Grund, über ihn zu lachen; er macht es uns freilich auch unmöglich, mit ihm zu lachen. Ihm aber nämlich klingt oft ein Lachen bösester Art als Unterton mit, wenn er mit seiner alten, hohen, scharfen Stimme, mit der Schärfe und Galle in seiner Art, sich auszudrücken, mit menschenfeindlichem, verächtlichem Humor und mit vernichtender Logik seinen erhabenen Verächtern vorhält, wie sie selber sind. Er lacht; uns vergeht das Lachen, mit ihm wie über ihn.
Antonio, der einmal jünger und heftiger war als er jetzt ist — sie leben ja ihrer Lebtag schon immer in Venedig, auf dem Rialto, zusammen, aber wer weiß, gegen den Juden wird der innerlich Vornehme sich auch heute noch gehen lassen — hat ihn Bluthund genannt, hat ihn angespieen, hat ihm Fußtritte versetzt: und jetzt? jetzt kommt er? jetzt —
Und wie spürt Shylock, daß all dieser Schimpf nicht ihm allein gilt, weil er ist, wie er ist, sondern seinem Stamm! Sind wir Juden aber nicht dieselben Menschen, mit denselben Organen wie die Christen? Und er stellt die furchtbaren, die endgültigen Fragen, die zu hören es alle Zeit alle empfindenden Menschen mit Schauder durchrieselt haben muß, und uns nur darum mehr als Shakespeares Zeitgenossen, weil wir die Begleitempfindung haben: sie holen heute, nach dreihundert Jahren, noch ihre lebendige Kraft[S. 55] nicht bloß aus der Sprachgewalt des Dichters, sondern aus den Zuständen, die im wesentlichen heute noch sind wie damals, — die Fragen:
„Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“
Und hier lernen wir ihn zum zweiten Mal als eine künstlerische Natur kennen; in der Rache ist er ein Künstler. Seine Rache ist, obwohl er’s selber nur in erhöhter Stimmung weiß, ganz und gar Selbstzweck; sie befriedigt sich schwelgerisch in sich. Was er für einen Grund hat, Antonios Fleisch zu wollen? Er braucht keinen besonderen Grund; er will keinen!
Weiter begreift er nichts; will’s nicht begreifen; aber — so sagt doch einmal, ihr dort droben, die ihr mit Verachtung auf mich herunterschaut — seid ihr denn anders?
Jetzt sind wir in der Lage, ganz zu verstehen, warum dieses bis an die Grenzen des Menschenmöglichen gehende Motiv uns so fraglos hinnimmt, so in allen Tiefen erschüttert. Weil wir selbst, weil die Zustände unserer Gesellschaft es sind, an die Shylock sich mit seinen Worten ebenso wendet wie an die edeln Venetianer, die zugleich ein adliges Leben[S. 56] im Geiste, Spiel und schönen Luxus, ein Leben der Kaufmannschaft und ein Leben der Sklavenhalterei führen. Auch hier ist des Dichters Amt vor allem wieder die Deutung; die Fabel, daß der Jude auf sein Recht pocht und das Pfund Fleisch des Schuldners haben will, ist da, wie Agamemnon da ist, der seine Tochter geopfert hat; Shakespeare aber zeigt uns, wie es in dem Juden aussieht, wie er sich gegen seine Umgebung stellt, wie diese Stunde, wo er den Repräsentanten seiner Feinde vor Gericht zieht, um das Recht zu haben, er, der Rechtlose, ihn zollweise zu morden, die in tollen, ungeglaubten Träumen ersehnte Stunde seines fürchterlichen Triumphes ist.
Diese Dinge, Shylocks Haß gegen die Christen, sein Versuch, diesen Haß zu befriedigen, der ihm keineswegs ganz mißlingt, denn er, der Jude, darf seinen Haß vor dem Dogen von Venedig in Wahrung seines Rechts hinausschreien, und die Gründe zu diesem Haß, sie sind der Intensität nach stärker als alles andre im Stück; sowie wir das Buch weglegen oder das Theater verlassen, verflüchtigt sich das andre alles wie Spiel und Traum, dies aber bleibt wie böse, arge, harte, undurchdringliche Wirklichkeit. Und so soll es sein; so hat es dieser Dichter in seinem Traumspiel komponiert, und daß wir auf dieses Intensitätsverhältnis achten, ist schon ein wesentlicher Gewinn zum Erfassen des Sinnes, um dessentwillen diese Vorgänge ineinander geflochten sind.
Der Schauspieler Schildkraut, dessen Judentum offenbar aufs stärkste menschlich erzittert, wenn er diese Rolle spielt, macht durchweg den Versuch, Grelles zu mildern und sympathische Züge an Shylock hervorzukehren. So unternimmt er es mit einer Kunst, der das Unmögliche beinahe gelingt, Shylocks Klage um die von der Tochter mitgenommenen Diamanten und Juwelen so zu bringen, als ob der Vater von den Schätzen zwar unermüdlich plappernd und jammernd spräche, dabei aber nur die ent[S. 57]flohene Tochter schmerzlich im Sinne hätte. Etwas ist schon daran; aber zu je größerer Härte wir uns schmieden, um so näher kommen wir solchen Gestalten Shakespeares. Für diesen seelisch Getretenen und Gefallenen ist das alles ganz ein und dasselbe: Geld — Juwelen — die Erinnerung an seine Jugend und Lea, die gestorbene Frau, die Tochter, das alles ist sein Leben, und weiter kennt er kein Leben als sein Haus und sein Geschäft. So weiß er nach der Flucht der Tochter nicht, worüber er zuerst klagen soll. Solanio, der darüber berichtet, charakterisiert sein Benehmen als „verwirrte Leidenschaft“ und erzählt, wie es „seltsam wild und durcheinander“ aus seinem Munde gehe:
Hier kommt mitten aus Kummer und Wut der Hohn auf die Feinde und vor allem die grimmige und doch humoristische Selbstverhöhnung heraus, die man an dem Juden, wie er durch den Druck geworden ist, so gut kennt. Die Dukaten, die er den Christen mit seinen Geschäften so durchtrieben abgenommen hat, in Jahren und Jahren, die sind nun in einem Augenblick mitsamt der Tochter zu den Christen zurückgekehrt! Diese Verschmelzung seiner Liebe zu Dingen von Geldwert und seiner Liebe zum Kind, die dem alten Mann ganz selbstverständlich ist, kommt für die Zuhörer des Jammers so grotesk heraus, daß die Gassenbuben hinter ihm herschreien: „Die Stein, die Tochter, die Dukaten!“
Das wird berichtet, und dann sehen wir Shylock nur nachträglich im Gespräch über den Fall mit Freunden des Entführers aus Antonios Kreis und mit dem Stammesgenossen Tubal. In meiner Erinnerung aus früher Zeit aber steht sehr lebhaft eine Szene, wie Shylock unmittelbar nach Jessikas Flucht zurückkehrt und mit einem Licht in der Hand rufend, jammernd, brüllend das ganze Haus treppauf, treppab durchsucht. Virtuosen haben sie eingelegt,[S. 58] die Szene ist von Shakespeare nicht verfaßt. Hätte er sie gedichtet, so stünde uns außer dem inneren Grund noch die äußere Veranlassung lebhaft vor Augen, warum Shylock die geraubten Schätze und die Flucht des einzigen Kindes immer verwirrt beisammen hat: daß die Tochter nicht bloß gelegentlich, sondern als Flüchtige das Haus verlassen hat, merkt er an der wüsten Sichtbarkeit, daß die Kästen leer und ausgeraubt sind. Wir treffen das übrigens öfter bei Shakespeare, wie ein Höhepunkt des Vorgangs nur in den Bedingungen und Folgen gezeigt wird. Hier mag noch mitsprechen, daß Shylock nicht gar zu sehr in die Mitte gerückt werden darf und daß die Schauplätze und das Weiterführen der verschiedenen Elemente der Handlung fast symmetrisch abwechseln, wie wir bald näher zu betrachten haben. Aber vielleicht gehört diese Weglassung noch in einen tieferen Zusammenhang, von dem J. L. Klein gelegentlich spricht; gelegentlich — sein eigentliches Werk über Shakespeare hat der genialste aller Shakespearekundigen ja nicht mehr schreiben können. Klein weist darauf hin, daß Shylock im Gegensatz zu den anderen Bösewichten, die Shakespeare darstellt und die sich alle mit sich selbst auseinanderzusetzen haben — Jago, Edmund, Richard III., der König im Hamlet, Macbeth — nie einen Monolog hält. Wir sehen ihn nur als einen, der reagiert; als den Juden im Verkehr mit der Welt, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist. Er ist nichts mehr als Verkehr; er kann nicht mit sich allein umgehen. Vermöchte er es, täte er es, er mit seinen reichen verschütteten Gaben wäre ein anderer als der er erscheint, er wäre er selbst, er käme zu sich. Ein bloßes Mittel — Geld — ist ihm Zweck geworden, weil ihm die Welt nicht erlaubt, er selbst zu sein und sich von sich aus in die Welt hinein Aufgaben zu setzen. Und was für seine Psychologie gilt, trifft auch seine Rolle in der Ökonomie des Stücks; er ist nur das grobe Mittel, um das Zarte, Feine, Duftige, um das es im übrigen geht,[S. 59] in Bewegung zu setzen; er ist das negative Element im Stück wie Mephisto im Faust, nur daß es Shakespeare vermocht hat, uns am Innern dieses seines Unholds qualvoll ernsten Anteil nehmen zu lassen.
Der Streit, weniger ob das Stück ein Lustspiel ist oder nicht, als vielmehr, ob Shylock ein tragischer oder ein komischer Charakter ist, wirft eine der Fragen auf, die für Shakespeares Dimensionen zu schubfachmäßig eng sind. Daher kommt es, daß die Vertreter beider Auffassungen Richtiges und Falsches durcheinander vorbringen. So hat Rümelin, der sich ganz für die Komik entscheidet, ein trockener, kritischer, höchst verständiger Kopf, bei alledem etwas sehr Richtiges bemerkt, dem er freilich keineswegs gewachsen sein konnte. Das Stück, sagt er, grenzt an die Gattung der Feenmärchen. „Der Dichter führt hier in die sonnenhelle Handlung ein auf den ersten Anschein grausiges Element herein“, so eine Art Knecht Rupprecht. Wie nah sich das mit der Wahrheit berührt, will ich noch zeigen. Wenn aber Rümelin fortfährt: „Der Dichter hat ihm aus seinem reichen Schatz nur gleichsam en passant einige tiefere Motive zugeworfen“, so muß man bei diesem en passant doch sagen, daß so ein Mann wie Rümelin nicht Ehrfurcht genug vor dem hat, was über den Verstand des bloß Verständigen hinausgeht. Er hat keine Ahnung davon, mit welcher bewußten, geistig-denkerischen, planvollen Lenkung und Komposition der mehr als Verständige, der Dichter, sein Werk aufbaut. Es gilt schlechtweg beides: in dieser Dichtung haben wir zugleich ein Spiel der Lust und höchste Tragik, haben wir tiefste Entlarvung nicht nur Shylocks, sondern auch derer auf der andern Seite, bei denen wir Zuschauer stehen, aus Shylocks, hie und da auch aus Lanzelot Gobbos Munde. Wer nicht um eigener Absichten willen gewisse Teile der Dichtung unterschlägt, dem kann hier keine Frage kommen: Shylock steht ganz klar, in schärfster Helle im Stück, und wir dürfen wohl, weniger bei der Helligkeit der[S. 60] verständigen Kritiker als bei der Helle, in der Shylock steht, daran denken, daß Helle und Hölle das nämliche Wort ist; denn das Helle, grelle Licht, das rembrandtisch auf diesen Dunklen fällt, entspricht dem Zustand seines Innern: indem ihm die Eingeweide, die Herz, Seele, Gemüt heißen, zu schwarzer, gallig gebeizter Kohle verbrennen, schlägt ihm die helle Flamme in den Kopf empor. Hell und scharf umrissen steht er da: unser Abscheu ist ihm ebenso sicher wie unser tiefstes Mitgefühl; unser Unrechtgeben ebenso wie unser Rechtgeben; und das ist das einzig Große an Shakespeares Menschendarstellung, die hier nicht bloß einen einzelnen Menschen, sondern in dieser einmalig repräsentativen Ausprägung den Zustand eines gedrückten Volkes darstellt.
Dieser Zustand, wir erleben es schaudernd und mit einem innigen Mitgefühl, das noch mehr als diesem Geprägten, Preisgegebenen, Fertigen, Verlorenen den verschütteten Möglichkeiten seines Gleichen gilt, macht schlecht, gemein, wild, gierig, reaktiv; wir fühlen von diesem Beispiel aus weiter und erleben: daß der Druck so wirkt, das gilt für alle Getretenen, nicht bloß für Juden, auch für den Pöbel, wie er in Krawallen und Revolutionen auf die Straße steigt, auch für das moderne Proletariat; empfinden wir aber darum das Unrecht, das geschehen ist und noch geschieht, weniger, weil es wirksam war? Ja, Shylock löst mit ewig gültigen Worten, die er selbst spricht, sein eigenes Rätsel: er ist das Produkt niederträchtiger Behandlung; er ist niederträchtig.
Nicht das also ist eine Frage, ob Shylock eine tragische oder eine komische Gestalt — zu nennen sei; das wird allezeit nicht von Shakespeare, sondern von Takt und Herz des Namengebers oder Beurteilers abhängen; Shylock ist Shylock, als Produkt der Verhältnisse ein gieriger und unbarmherziger Wucherer, als Produktiver, der sein Eigenes der Wucht der Umstände und Bewirkungen entgegensetzt,[S. 61] reaktiv, rachebegierig, rachefroh, boshaft, witzig. Aber nach ganz anderm ist zu fragen: Was hat Shylock in diesem Stück zu tun, oder was hat der Rahmen um diese Gestalt für eine Bedeutung? Was ist der Zusammenhang und Sinn des Ganzen? Was hat Porzias Reich und die seltsame Art, wie sie aus der Zahl ihrer Bewerber den Würdigen herauszufinden hat, mit dem Konflikt zwischen Antonio und Shylock zu tun? Denn mit der äußeren Begründung der Überlieferung, daß eben Antonio sich für Bassanio verbürgt, der für seinen Freierzug Geld braucht, werden wir uns bei Shakespeare nicht so leicht zufrieden geben. Es ist zwar wahr, was Friedrich Theodor Vischer sagt, daß Shakespeare es sich in den Lustspielen manchmal leichter gemacht hat, aber bei einem Drama, in dem ein Shylock in engste Beziehung zu allen anderen Hauptgestalten gesetzt ist, wollen wir an eine bloß äußerlich-lockere Verbindung nicht glauben. Wir wollen vielmehr zusehen, ob nicht eine innere Beziehung zwischen dem alten Juden und dem jungen Venetianervolk da ist, ob nicht Gestalten im christlichen Lager, Antonio, Bassanio und die andern, sowie Shylock einen doppelten Sinn, ein doppeltes Gesicht haben.
Meiner Auffassung des Kaufmanns von Venedig, wie ich sie bisher angebahnt habe und nun aussprechen will, am nächsten kommen von den Beurteilern, die ich kenne, zwei Dichter, Heinrich Heine und Otto Ludwig. Von Menschen dieser Art, die Dichter, aber nicht bloß Dichter waren, die eine edle Vereinigung von Phantasie und Denken in sich beherbergten, rührt bei weitem das Beste her, was über Shakespeare geschrieben wurde, von Lessing, Herder und Goethe angefangen über Schlegel zu Julius Leopold Klein und Friedrich Theodor Vischer; und von Beurteilern unserer Tage haben mir Oscar Wilde, Strindberg, Hofmannsthal und Gundolf in gelegentlichen Bemerkungen oder zusammenhängenden Werken mehr gegeben als die meisten Shakespeareforscher der Zunft.
Otto Ludwig in den „Studien“, die von Haus aus nur Auseinandersetzungen des Dichters mit sich selbst zur Erlernung des Handwerks sind, deutet auf eine entscheidend wichtige Seite in unserm Stück mit einer bloß formalen Bemerkung über die Komposition: „Welche Idealität, Befreiung von allem Bedürfnis, welche leichte Grazie ist im Stücke, seine Wirkung eine wunderbar harmonische.“ Schon halten wir inne, denn wenn das wahr ist, wie steht nun auf einmal Shylock für uns in einem solchen Stück da, wie als Entgegensetzung, als Feind, als Unhold! Denn „Idealität, Befreiung von allem Bedürfnis, leichte Grazie, Harmonie“, all diese Ausdrücke bezeichnen gerade das Gegenteil seines Wesens. Er ist der völlige Knecht des Bedürfnisses, er ist nichts als Bedürfnis, ist das absolute Bedürfnis, gerade weil sein Bedürfen keine Relation zu Gründen, Zwecken und Entbehrungen eingeht; er ist nie in Not und führt für seine Person ein einfaches, frugales und geiziges Leben; Lanzelot Gobbo klagt genug darüber. Genau so steht es um seinen Realismus; er ist so sehr lediglich den Wirklichkeiten und dem universalen Mittel zu ihrer Erlangung zugewandt, daß er der absolute Realist ist; der Altkäufler, der Knochen, Lumpen, Papier, Gebisse, Knöpfe, Metalle, Haar, Stühle, Tische und Betten kauft, ist immer noch wählerisch; Shylock ist es nur um das zu tun, was alles vertritt; er nimmt an nichts einzelnem Interesse. Ein Idealist wäre er nur insofern zu nennen, als der Realismus, wenn er so absolut wird, mit seiner Allesgier von hinten an den Verzicht auf jeden Genuß grenzt; das Wort Geiz umschloß einmal die beiden Bedeutungen der Habgier und der Knausrigkeit, obwohl der Habgierigste alles haben und der Knausrigste andern und sich selbst nichts gönnen will. Wie Shylocks Wuchersinn so sehr grandioser Wahn ist, daß er allerdings subjektiv der Uneigennützigkeit ähnlich sieht, so überschreitet er mit seinem Rachedurst die Schranken des duldenden und im Kleinen kriechenden[S. 63] Judentums so weit, daß er mit seiner Mordgier, die das Mittel des Betrugs und der Hinterlist in kaufmännisch-juridischer Einkleidung nicht verschmäht, allerdings wiederum die Grenze des Heroischen erreicht. Aber, davon haben wir noch mehr zu sagen, nichts fehlt ihm so entscheidend wie die beiden andern Eigenschaften, die Otto Ludwig dem Stück nachsagt, in das er wie ein schwarzer Block hineinragt: leichte Grazie und Harmonie. Otto Ludwig aber fährt fort und sagt noch etwas, was nur Technisches zu beleuchten scheint und doch sehr aufklärend für den letzten Sinn und Zusammenhang des Stückes ist: „Was den Bau betrifft, so ist auch darin keine Spur jenes mühsamen Ernstes, der die Phantasie scheucht und lähmt. Es ist, als hätte die Phantasie die Folge der Szenen bestimmt und alles geordnet.“
Heinrich Heines Bemerkungen zu Shakespeare, Gedachtes, Empfundenes, Geschautes und oberflächlich oder zu Augenblickszwecken des Witzes und der Bosheit Hingeworfenes, Gutes, Mäßiges und Schlechtes, finden sich in der Sammlung „Shakespeares Mädchen und Frauen“, die er auf Anregung eines Verlegers zu einem Buch mit Illustrationen schrieb. Bei Gelegenheit des Kaufmanns von Venedig erzählt er uns zunächst von der Britin, die in einer Aufführung des Stückes nach der Gerichtsszene über Shylock in heftiges Weinen ausbrach und dann ausrief: „Dem armen Mann geschieht Unrecht!“ Und dann fährt er, zur Zeit unter dem Einfluß des Junghegelianismus und der Revolutionsstimmung stehend, fort: „Shakespeare hegte vielleicht die Absicht, zur Ergötzung des großen Haufens einen gedrillten Werwolf darzustellen, ein verhaßtes Fabelwesen, das nach Blut lechzt und dabei seine Tochter und seine Dukaten einbüßt und obendrein verspottet wird... Aber der Genius des Dichters, der Weltgeist, der in ihm waltet, steht immer höher als sein Privatwille.“ Das Stück sei also zur „Justifikation einer unglücklichen Sekte[S. 64]“ geworden, sagt er, um auch das dann gleich noch zu erweitern: „Von Religionsverschiedenheit ist in diesem Stücke nicht die geringste Spur.“ „Sein Drama zeigt uns eigentlich weder Juden noch Christen, sondern Unterdrücker und Unterdrückte, und das wahnsinnig schmerzliche Aufjauchzen dieser letzteren, wenn sie ihren übermütigen Quälern die zugefügten Kränkungen mit Zinsen zurückzahlen können.“
Was können wir damit anfangen? Die Unterscheidung zwischen dem Privatwillen des Dichters und dem in ihm und gegen ihn waltenden Weltgeist mache ich so nicht mit. Der Dramatiker ist dadurch viel mehr als jeder andere Dichter ein Künstler und also auch ein Handwerker und also auch ein denkend Entscheidender, daß er sein Werk planvoll zu bauen, zu komponieren hat. Was die Phantasie an Gesichten schaut, was ihm aus der Empfindung rhythmisch zuströmt, muß er organisieren und verteilen; und Shakespeares Werke zeigen, daß er getan hat, was seines Handwerks war. Einem derben, rohen, auch pöbelhaften Geschmack hat er oft Genüge getan, ohne daß man deswegen sagen dürfte, sein Publikum wäre der große Haufen gewesen. Das Publikum, das er im Sinne hatte und an das er sich oft genug episodisch wie ein Erzieher wendete, war die Jugend des Adels und des gehobenen, literarisch gebildeten Bürgertums; in diesen Kreisen steckte freilich noch ungebrochene Kraft und volkstümliche Derbheit genug.
Nicht so also dünkt es mich, daß Shakespeare der unbedenkliche Theaterdichter „zur Ergötzung des großen Haufens“ ein blutgieriges Ungeheuer schildern wollte, das überwunden und mit Schmach fortgeschickt wurde, daß ihm aber unter der Hand der Weltgeist, sein Genius, den Repräsentanten einer unterdrückten Schicht daraus machte; und doch — ich habe es, als ich an Rümelin erinnerte, schon gesagt — ist an dieser doppelten Bedeutung Shylocks[S. 65] etwas daran. Heine versteht nicht recht, welche Rolle in Stimmung und Sinn des Ganzen die Gestalten zu spielen haben und wie vielfache Lichter Shakespeare auf die Gestalten wirft; er wäre zur Unterscheidung des Fabelungetüms für den Pöbel und der real geschauten Judengestalt für eine tief bohrende Geschichtsanschauung nicht gekommen, wenn er in diesen Zusammenhang etwas hineingenommen hätte, was er selbst sehr deutlich sah, nur leider bei Gelegenheit eines andern Stahlstichs. Wie er nämlich nicht an Jessika, sondern an Porzia anknüpft, da bemerkt er sehr wohl, wie der Dichter in diesem Stück zwei Sphären einander gegenüberstellt, die Welt „des heitern Glücks im Gegensatz zum düstern Mißgeschick“: Porzia ist ihm die Repräsentantin „jener Nachblüte des griechischen Geistes“, der Renaissance, im Gegensatz zu Shylock, dem Repräsentanten „des starren, ernsten, kunstfeindlichen Judäa“. Wer Heine kennt, weiß, daß er hier, in diesem Gegensatz, nicht eigentlich das alte Judäa meint, er spielt vielmehr Heidentum und Griechentum gegen den nazarenischen, den unsinnlich-strengen Geist des Christentums aus, von dem er sich selber eingeengt und gelästert fühlte, so daß schließlich beinahe herauskäme, daß Porzia die Vertreterin einer heidnisch-griechischen Renaissance, Shylock ein Repräsentant christlichen Geistes wäre; und wer wollte leugnen, daß Shylock ein Produkt und insofern allerdings ein repräsentatives Kennzeichen einer gewissen kirchlich-christlich-abendländischen Richtung ist? Wichtiger fast noch als diese, immer nur mit Einschränkungen giltige, in Rubriken scheidende Geschichtsauffassung sind die Attribute, die Heine für Sprache und seelische Haltung Porzias und wiederum Shylocks findet. In Porzias Reich ist „lauter Licht und Musik“; sie und ihre Sprache ist blühend, rosig, reinklingend, freudewarm, sie lebt in schönen Bildern aus der Mythologie; Shylock ist trübe, keifend, häßlich, krampfhaft, ätzend, seine Sprache ergeht[S. 66] sich in Gleichnissen aus dem Alten Testament. Das ist ganz trefflich geschaut; und wenn Heine nun zusammengenommen hätte, was er an verschiedenen Stellen aus dem Ärmel schüttelt, so hätte er erkannt, daß das Wesentliche am Kaufmann von Venedig gerade das ist: daß eine heitere, obere Welt der Freiheit, der Leichtigkeit, des Adels dargestellt wird, in die eine finstere, unheimliche, höllische Macht von unten auf einbricht; daß aber diese furchtbare Störung und Bedrohung Gegendruck auf Druck, daß sie reaktiv ist; daß der fabelhafte Werwolf, der da in den Gefilden der Seligen seinen Rachen aufsperrt, der von Natur aus geistig und seelisch bedeutende Repräsentant einer getretenen, unterdrückten Klasse ist; daß also in das Reich der Schönheit das Häßliche als eigene Schuld der Gehobenen einbricht und daß darum diese vom Schicksal Bevorzugten auch keineswegs einheitlich auf einer Ebene stehen; es geht stufenweise hinauf bis zur höchsten und reinsten Verkörperung des Lichtes, der Farbe, der Wärme und Harmonie, bis zu der Frauengestalt Porzia.
Hier bei diesem Stück vor allem müssen wir, um den Zusammenhang des Ganzen und den Sinn der Dichtung zu erfassen, vom Dichter ausgehen. Zum Suchen und dann auch Finden des Sinns werden wir gezwungen, wenn wir die Gestalten, die mit so seltsam verschiedenen Vorgängen in ein Drama, in ein paar Abendstunden des Schauens und Hörens zusammengebracht sind, nicht als Kinder der Natur nehmen, die voll und rund dastehen, sondern als Kunstgeschöpfe, als Reliefgestalten, deren Hintergrund nicht ein zufälliger Ausschnitt der Wirklichkeitswelt, sondern der Sinn eines schöpferisch geplanten Kunstwerks bildet. Wir müssen uns den Dichter vergegenwärtigen, wie ihm beim Betrachten eines Stoffes etwas aufgeht, wie er ihn ausgestaltet, weitet, strafft, ausbaut, mit Motiven unterlegt, mit Episoden erfüllt, mit Parallel- und Nebenhandlungen ausstattet, wir müssen den Dichter gewahren,[S. 67] wie er sitzt und sich ergeht, wie er in die Natur rennt und schlaflos träumt, wie er schaut, ändert, verwirft, wählt, baut; und dann kehren wir zum Stück zurück und fragen uns: Was ist da in dem bunten Vielerlei das eine, das den Dichter erfaßt und nicht losgelassen hat, was hat er gewollt? Was Unaussprechliches, Geschautes, Erfühltes hat er aus Vision und Sehnsucht, aus Druck und Schwung in leidenschaftlich wühlender, dann wieder innig beseligter, aber immer beherrschter Produktion zur Gestalt erhoben? Was hat er, der ein Todfeind der großen Mode seiner Zeit, der Allegorie, war, an tiefem Sinn in der Form von Vorgängen, die zwischen lebendig geschauten Gestalten geschehen, dargestellt? Wir müssen den Dichter gewahren, wie es ihm die Hände ballt, wie seine Arme sich wie ins unendlich Zerrinnende ausbreiten und dehnen, wie sein Gesicht aufleuchtet und sich in strenge Falten zusammenzieht; mit einem Wort, wir dürfen uns keine Ruhe lassen, bis wir, was in unser Gefühl so leicht und schön als Einheit eingeht, doch noch irgendwie in Worten der Begriffssprache ausdrücken können.
Nehmen wir die Höhepunkte des Stückes zusammen: Shylocks tiefst heraufgeholte Reden, Vorsätze, Taten der Reaktion auf zugefügtes Unrecht — Porzias himmlisch sich ergießende Rede von der Gnade — Lorenzos Worte von der Musik — Bassanios ernste Rede bei der Kästchenwahl — Antonios Stellung als königlicher Kaufmann und seine Haltung und seine Worte des Adels, der Ehre, der Humanität und Liberalität — die in diesem Stück, besonders zum Schluß bedeutsam hervortretenden Sentenzen, vor allem aus Porzias Mund — die Szenenfolge seltsam eindringlicher, beredter Art, der man den künstlerischen Plan ansehen muß, wenn man nicht blind ist — wirkt nicht das Ganze wie ein mehrsätziges Musikstück, wo jeder Satz seine eigenen Themen hat und wo doch die seelische, die geistige Einheit da ist? Und gleich bemerken wir, das[S. 68] Besondere dieser Symphonie ist, daß das Finale nach der gewaltigen Anspannung und befreienden Erlösung, die der vierte Akt bringt, ein Scherzo ist, in dem sich das derb Burleske und geistreich prickelnd Spielende und das ätherisch Geisterhafte seltsam durchdringen.
Das ist, wir haben es schon berührt, nichts Seltenes bei Shakespeare, daß verschiedene Handlungen in einander verschränkt sind. Das größte Beispiel dafür ist der König Lear, wo die drei Handlungen: Lear und seine Töchter — Gloster und seine Söhne — der Glosterbastard Edmund und Lears Töchter aufs kunstvollste und zu tiefem Sinn ineinandergeschoben sind. Und dieses Beispiel ist uns darum so wichtig, weil es in diesem Falle feststeht, daß erst Shakespeare zwei ganz getrennte Geschichten planvoll zusammengebracht hat. Nicht bloß zwei verschiedene Handlungen, sondern zwei verschiedene Sphären sind in Heinrich IV. und auch in andern Stücken neben und gegen einander gestellt; drei Stücke aber gehören aufs engste zusammen, weil es ihnen nicht bloß um verschiedene Schichten der Gesellschaft, sondern um das Verhältnis des Geistigen zum Ungeistigen in den mannigfachsten Abstufungen geht. Diese drei Stücke sind der Sommernachtstraum, der Sturm und der Kaufmann von Venedig. Immer neu hat Shakespeare angesetzt, um die Hölle zur Erde, das Irdische zur Reinigung, die Menschen zum Himmlischen aufsteigen zu lassen: und den Namen Divina Commedia würde jede einzelne dieser drei sehr ernsthaften, sehr sinnvollen Komödien verdienen. Der Sommernachtstraum, der Kaufmann und der Sturm sind drei Gestaltungen des Selben und Nämlichen, das mit einem Worte heißt: Excelsior! Aus den Niederungen und dem abgründlich Dämonischen hinauf über die verschiedensten Grade ins freie Reich des Spieles, des Geistes, der Geister; ins Reich der Seele und der Musik.
Die Einheit, die der Kaufmann von Venedig für unser Gefühl ohne Zweifel in sich birgt, liegt nicht in der Hand[S. 69]lung, wiewohl sie so kunstvoll verflochten ist, daß jede Person mit jeder schließlich in Berührung tritt; liegt auch nicht in einem Charakter, der im Mittelpunkt stünde; denn Shylock und Porzia halten einander die Wage, und wenn im fünften Akt Shylock ganz ausgeschieden ist, zittert die Erinnerung an ihn immer noch in uns nach; die Einheit liegt noch weniger in einem moralischen oder rechtsphilosophischen oder rechtsgeschichtlichen Satz, der illustriert werden sollte; sie liegt in der durch alle Reiche schwebenden Stimmung, in der sich der Sinn birgt.
Porzia, die Herrin von Belmont, ist nicht bloß eine reiche Erbin, zu der die Freier strömen, unter ihnen Bassanio, dessen Armut zu Antonios Großmut und seinem Konflikt mit Shylock überleitet, was Porzia wiederum zum rettenden Eingreifen für Bassanios gefährdeten Freund bringt; das ist nur die äußere Verbindung der Fabelteile; Porzia ist die Repräsentantin des erhöhten Reichs des Geistes, die Königin dieses Reichs, die Aspasia der Renaissance, die Heitere, die Seelenvolle, die Kluge und Weise und neckend Spielende; die Gestalt, in der Menschenadel, männliche gelehrte Wissenschaft und Logik und Entschiedenheit des Handelns in Einklang steht mit der innigen, gnadevollen Beseeltheit der Frau: der harmonische, der ganze, der klingende, strahlende, der holde Mensch.
Ihr gegenüber steht, ganz drunten im untersten Bezirk, der Unhold. Er kann nie zu ihr hinaufkommen; die Leiter fehlt, die aus Streben der Sehnsucht, aus Wohlgefallen an ihrer Erscheinung, an ihrem Reich bestehen müßte. Nichts davon hat Shylock der Jude; er kreist um sich selbst und sein Schicksal, er wird von nichts außer sich, über sich, zur Anziehung, zum Schwunge, zur Gegenseitigkeit und Liebe gebracht; er ist fürs Leben geprägt und verdorben, ist fertig und gestempelt. Das Große aber an Shakespeares Erkenntnis ist, daß dieser Teufel nicht einfach der Teufel ist, sondern daß er geworden ist, was er ist, durch Schuld[S. 70] vor allem derer, die — im Gegensatz zu ihm — noch wandelbare Menschen sind und also in Porzias Reich, ins Reich der Gnade kommen dürfen.
Wandelbar sind sie alle noch und dürfen also bei ihren Lebzeiten, in ihrer eigenen Individualität hinaufgebildet oder wenigstens, da ihr Wesen zu Zeiten den Aufschwung zu Reinheit, Seligkeit, Freiheit und Anmut gewährt, geduldet werden. Sie brauchen nicht wie der ein für allemal fertige, der unsaubere Guß Shylock mit ihrer Verwandlung auf den Löffel des Knopfgießers warten; für sie gibt es, und für Shylock nicht, — einen fünften Akt, eine mondbeglänzte Zaubernacht, ein Reich der Romantik. Was unterscheidet sie, mögen sie sonst sein, wie sie wollen, von Shylock?
Musik!
Das sagt, das singt in dem Nachspiel, dem Finale, dem fünften Akt, der nur aus einer einzigen Szene besteht, der Liebende, der sie aus dem düstern Reich entführt, emporgehoben hat, zu Shylocks Tochter. Shylock ist weg, sein Name wird nicht mehr genannt, auf all das greuliche Erlebnis mit ihm wird nur von ferne, wie huschend hingedeutet; alles, was ihn angeht, ist aufgelöst ins Allgemeine. In dieser Form aber wird das wahre, wird das tiefste und letzte Gericht über ihn gehalten. Nicht im Gerichtssaal des Dogen von Venedig, nicht in Porzias Juristenverkleidung, nicht in der Welt der Masken, wo’s Konventionen,[S. 71] Paragraphen, Judentaufen gibt, sondern in der Mondnacht, in der Natur, im Reich der Geister und der Hoffnung, wo auch die Gewöhnlichen sich über die Schranke ihres Alltags geschwungen haben, wird dem Hoffnungslosen das endgiltige Urteil gesprochen. Shylock ist der harte, der stöckische, der wütige Mann, auf keinen wie ihn passen diese Ausdrücke dumpf, düster, er ist voller affections und darum treasons, stratagems, spoils, er ist der Mann, „der nicht Musik hat in ihm selbst“. Das Urteil, das wahre, jenseits aller vergänglich geschichtlichen Einkleidungen, lautet, daß er ist, der er ist, und daß er bleibt, was er so geworden ist, daß Wandlung nicht mehr möglich ist. Er ist ein Mann nur von Verstand und Trieben und also, mit Spinozas Unterscheidung gesagt, ein in sich gebundener, stöckischer Knecht, kein mit seines Gleichen verbundener Freier; in sich gebunden und doch zugleich in sich, mit sich zerfallen; denn die höhere Sphäre, die erst zur Einheit ruft, die aus dem Verstand die Ratio, die Beschauung und Weisheit, den universalen Geist, aus den Trieben die Emotion, das Gefühl, die Empfindungsseligkeit zu machen vermag, die die Gier in die Sehnsucht, die Wut ins Heroische wandelt, die fehlt völlig. Die andern haben wohl zumeist das eine Element gemeinen Trieblebens, das Shylock fehlt: gemeine Genußsucht, Beziehung aufs Glück in niedriger Gestalt; sie aber sind wie im freien Feld des Werdegangs, sind Repräsentanten der Jugend, und selbst von so unterer Stufe aus ist ihnen wie ihrem Volke keine Entwicklung abgeschnitten; der alte Shylock aber ist in die Ecke gesetzt, der große Bann ist über ihn ausgesprochen, es gibt keinen Fortgang für ihn. Die andern alle, selbst der melancholische Antonio, den die Einsamkeit auch gefährlich angeweht hat, können noch irgendwie zur Heiterkeit kommen, zu der Lust, die Erlösung und Gemeinschaft ist; Shylocks böses Lachen ist der Ausdruck seiner gänzlichen Absonderung und Verstoßung, des gräßlichen[S. 72] Widerspruchs, in dem er zur Welt steht und den er in der Welt gewahrt.
Wie ist nun dieser Sinn, diese innere Handlung, die zwischen den Sphären und Personen waltet, in die äußere Handlung, die von einer Verkoppelung zweier Novellen stammt, umgesetzt worden? Wie drückt sich die zwischen Licht und Finsternis in allen Schatten und Farben sich ergehende Stimmung in der Folge der Szenen aus? In welchen Vorgängen tritt die Beziehung der vier Hauptgestalten — Shylock, Antonio, Bassanio und Porzia — und der Nebengestalten zu einander und zum Grundmotiv hervor?
Die erste Szene des Stücks führt uns in eine Straße Venedigs. Nehmen wir die Szenen in Belmont — in Porzias Haus und Garten — für sich, so spielen alle venezianischen Szenen mit Ausnahme der großen Gerichtsszene und einer winzigen Szene zwischen Shylock und seiner Tochter auf öffentlichen Straßen und freien Plätzen. Freie Luft und Licht weht durch dieses Stück; aber auch die dunkle, scharfe Silhouette Shylocks hebt sich von dieser Freiheit ab; in der Öffentlichkeit geschieht sein Keifen, Wüten und tückisches Mordplanen. In dem ersten Bild haben wir den alternden, männlichen Junggesellen Antonio mit seinen jugendlichen Kameraden. Lust zu Heiterkeit und zu Festen äußert sich; aus Antonio aber vor allem Schwermut, die so wenig Einzelgründe für sich kennt, wie Shylocks allgemeiner Haß mehr braucht als Auslösungen; Antonio sieht ja die Welt, er lebt ja in ihr; die scherzhaft geäußerte, unglaubliche Vermutung, er sei verliebt und darum gedrückt, wird mit einem Pfui zurückgewiesen; verliebt? nein, das paßt nicht zu ihm. So wie er über alle Welt Handel treibt, so hat er Sympathie zu aller Welt, und Trauer kommt zu ihm aus aller Welt; aber an eines vermag er sich nicht zu schenken. Bassanio sein Freund vermag es und muß es: er liebt Porzia, die Schöne, die Tugendreiche, die Erbin, die Herrin von Belmont; von allen vier[S. 73] Himmelsrichtungen segeln die Freier an ihre Küste; wie eine Mythosgestalt steht sie in dieser ersten Beschreibung, ehe wir sie kennen lernen, da; um sie glücklich zu werben, dürfte er hoffen, wenn er nur die Mittel hätte, den Zug zu ihr würdig auszurüsten. Antonio ist fabelhaft reich, aber knapp an Geld; was er hat, der Großhändler, schwimmt auf hoher See; der Kredit also muß in Bewegung gesetzt werden; denn helfen will er. Schon also sind für unsere Erwartung die drei Kreise beisammen: Antonio und Bassanio — Porzia — der Geldverleiher.
Die zweite Szene führt dann in das andere Reich, nach Belmont; Heiterbucht dürften wir den Namen für Porzias Landschaft übersetzen. Da ist gleich die Mischung, die für Shakespeares romantische Spiele so bezeichnend ist wie für den Geist unsrer deutschen Frühromantiker: heiter geistreich und märchenhaft innig. Mit Witz wird geplaudert; das Fabelhafte, daß Freier aus aller Welt gekommen sind, ist Anlaß, daß die beiden Mädchen, die so munter zu einander gesellt sind, Porzia und ihre Gesellschafterin Nerissa, den Neapolitaner, den Pfalzgrafen, den Franzosen, den Engländer, den Schotten, den immer betrunkenen Deutschen aus Sachsenland überlegen ironisch mustern. Erst andeutend hören wir von der Bestimmung des Vaters, von der Kästchenwahl; hören und teilen Nerissas Hoffnung, daß diese Wahl Porzia den Gatten sichert, der sie wahrhaft liebt und der sie verdient; und ebenso leise deutet sich ihre Neigung zu Bassanio, die Erwartung, er möge zur Werbung kommen, an.
Der Schauplatz verwandelt sich: wir sind wieder in Venedig. Da haben wir die andre Werbung, die Werbung um Shylock. Mit dem Wucherer, mit dem Geldjuden lassen sich die Vornehmen ein, Bassanio und Antonio. Der ganze furchtbare Gegensatz tut sich auf und wird dann von Shylock mit einer schnellen Leichtigkeit überbrückt, die zeigt, welches Talent auch er zu Spiel und Ironie hätte, wenn er nicht[S. 74] in die Finsternis gebannt wäre, wo er schmiedet, unheimliche Pläne schmiedet; seine infernalische Phantasie und Schlauheit, die ohne jede eigne Heiterkeit an einen Scherz, ja an eine Anwandlung von Großmut glauben läßt, bringt es zustande, daß der Vertrag unterschrieben, daß der Schein ausgestellt wird.
Und nun wieder nach Belmont! Jetzt sehen wir, was es mit den Kästchen auf sich hat: der Mann, der für Porzia, dies edle Frauenbild, bestimmt ist, soll sich auf das, was dem Manne zukommt, aufs rechte Wählen, auf die rechte Entscheidung verstehen; und wer sich da nicht bewährt, soll nie wieder um eine Frau werben dürfen. Der erste Bewerber zeigt sich uns, der Prinz von Marokko: sein kriegerisch renommistisch bombastisches Wesen und Porzias überlegen höfliche Ironie und Gelassenheit, die getrost darauf baut, daß ihr Schicksal ihr Schicksal sein werde, begegnen einander.
Sofort aber wird das wieder abgebrochen, und in Venedig, in den nächsten vier Szenen, beginnt eine neue Handlungsreihe, in der es um Shylocks Schicksal geht. Keine Spur menschlichen Verhältnisses ist durch das Geldgeschäft zwischen Shylock und Antonios Kreis angesponnen worden; niemand hat menschliche Beziehungen zu Shylock. Nicht Lanzelot Gobbo, sein Diener, der junge Kerl aus dem Volk mit dem derben Mutterwitz; er verläßt den knausrigen Herrn, geht ins Lager Bassanios über und hilft bei der Entführung der Tochter. Nicht Jessika, diese Tochter: die Schlauheit, die Verstellungskunst hat sie vom Vater geerbt; die Lieblosigkeit, die er gegen sie und ihre Mutter gewiß nicht, wohl aber gegen die ganze Christenwelt übt, hat sie auch überkommen: aber sie wendet sie gegen ihn und liebt, jung, leichtfertig und sehnsüchtig, niedrig und schwärmerisch zugleich, einen Jüngling aus dem andern Reich. Ein Fest bereiten sie wieder vor, diese Übermütigen; Shylocks ganze Abneigung gegen die Heiterkeit dieser Renaissancemenschen, dieser Christen, gegen ihre Maskeraden und Toll[S. 75]heiten und den Lärm, den sie Musik nennen, drückt sich aus; und gerade zu diesem heiteren Fest trägt Jessika die Fackel und flieht von der Stätte des Hasses und der Gier zu zweckloser, spielerisch-farbiger, berauschter, gliederlösender Freude und Liebeslust. Und in derselben Nacht bricht Bassanio zur Fahrt übers Meer, zur Werbung auf.
Nun wieder Belmont. Der Marokkaner trifft seine Wahl. Gold, Silber und Blei, so geht’s abwärts, wenn man auf die Fassung, das Material der Kästchen sieht; aber er achtet nicht darauf, daß die Steigerung umgekehrt ist, wenn man auf den Inhalt der Sprüche hört. Wir vernehmen’s: Gold — „Wer mich erwählt, gewinnt, was mancher Mann begehrt“, es trifft die Wirklichkeit, besagt aber nichts über die Würdigkeit des begehrend Wählenden. Das aber wählt er und bekommt zur Antwort, der prunkende, protzige Fürst: Es ist nicht alles Gold, was glänzt.
Verwandlung: Venedig. Shylocks Verzweiflung über Tochter und Geld und Juwelen lernen wir im Bericht kennen. Was für eine Wirklichkeit, grell, häßlich, mit aller Gewaltsamkeit der Realität gestopft, gegen die heiter flüchtige, wie immaterielle Phantasiewelt in Belmont. Dort wie hier hat einer das Gold erwählt; dort wie hier ein geschlagener Mann; aber welche Unvergleichlichkeit! Schon bangt uns um Antonio, aus dessen Kreis der Räuber kam, der Jessika samt Shylocks Schätzen gestohlen hat:
Eine Wolke kommt näher; es laufen Gerüchte um, dem Antonio sei ein Schiff untergegangen. Und zugleich steigert sich die seelische Bedeutung des schwermütigen Mannes für uns; wir erfahren, daß er sein ganzes Herz an Bassanio gehängt hat; daß ihm das Liebesglück des Freundes repräsentativ ist, wie sonst nur dem Liebenden sein eigenes Glück; in einer strahlenden und doch dunkeln Abendbeleuchtung steht er da.
Wir sind gespannt; aber der Dichter bricht ab. Wir müssen mit ihm rasch übers Meer, nach Belmont, zur Kästchenwahl. Der Prinz von Arragonien trifft seine Wahl. Silber: „Wer mich erwählt, bekommt so viel, als er verdient.“ Wir sind schon höher oben; schon ist eine Beziehung da zwischen Entscheidung und innerem Wesen des Wählenden; bedächte der Prinz nur, daß wer seines eigenen Verdienstes selber sicher sein will, es ermessen muß an seiner eigenen Hingabe und Opferfähigkeit! Denn freilich, was das Urteil über den Wert der andern angeht, was haben wir eher zu fragen, als ob sie ihr Amt verdienen? Da sagt er in einer der sentenziösen Reden, die in Porzias Reich an ihrer Stelle sind, schon prachtvolle Dinge; im Objektiven, im Kritischen paßt er hierher:
Und so wählt er als Selbstgerechter, wie mancher Mann, der sich nur darum für würdig hält und nur so zur Entscheidung schreitet, daß er sich besser weiß als die meisten andern. So aber kann Porzia nie die Seine werden; so darf er nie um ein Weib freien. Er geht; und nun wird Bassanio gemeldet; und wir sind begierig, Antonios Freund von uns aus nah kennen zu lernen; noch haben wir ihn kaum[S. 77] im Ernste gesehen. Ist er der, dem Porzia zuteil werden darf? Ist er der, um dessentwillen die Gefahr Antonio näher und näher rücken darf?
So kehren wir nach Venedig zurück; wir kennen nun schon den Aufbau des Stücks: der Kreis, in dessen Mitte Shylock sich bäumt, soll erst durch Bassanio zu Porzias Reich in Beziehung gesetzt werden, bis diese zur Rettung verkleidet aufbrechen muß, um den Unhold zu überwinden. Einstweilen werden die einen und die andern Dinge getrennt von einander fortgeführt und jeweils wieder abgebrochen. Heiter ernst, sinnig bedeutsam geht es in Belmont zu; mit Wirklichkeiten so nah gequält, wie dort mit Märchenhaftem ins Ferne und Allgemeine entrückt, sind wir auf den Straßen Venedigs. Jetzt hören wir — zu Beginn des dritten Aktes — Schreckhaftes von Antonios Verlusten; zugleich aber, nun wir ahnen, was kommen kann, reckt sich Shylock gewaltig in die Höhe: hier, an dieser Stelle, spricht der Jude, der Nichts-als-Jude, der Repräsentant seines Volkes, der Erbe, der alle Unterdrückung, Mißhandlung, Beschimpfung und Schmach in seinem vergifteten Blute kochen fühlt. Und dazu der neue Grund: seine Tochter, seine Dukaten; und die neue, o, gewiß, seit der Jugendzeit die erste Hoffnung für diesen Mann, die nichts mit Besitzgier zu tun hat: die Rache, mit der er phantastisch gespielt hat, könnte zu wirklichem Ernst werden! Und in einander verfilzt empfindet der Unselige den fast körperlichen Schmerz bei Tubals Nachrichten von der Tochter und das Jauchzen seines Herzens bei den Mitteilungen über Antonios gefährdete Lage; und schon empfinden wir voraus, wie er das Messer, das ihm jetzt durchs Herz fährt — Antonio aber hat es gewetzt, Antonio ist ihm der Führer des Kreises, aus dem Lorenzo kam —, wie er es wollüstig grausam gegen Antonio wenden wird. Das Traurigste an diesem aus der Welt, aus Licht und Sonne der Gemeinschaft und der Achtung verstoßenen Mann ist doch vielleicht, daß er auch aus[S. 78] seinem eigenen Herzen gestoßen ist, daß er in seinen eigenen Motiven nicht eindeutig, nicht sicher ist. Sein Verstand kennt sich in seinen Trieben nicht aus, sie mißleiten einander gegenseitig, er steht keineswegs immer rein in der Rache; er hegt den gewinnsüchtigen Nebengedanken: Wenn Antonio — durch juridischen Mord — aus dem Wege geräumt ist, „so kann ich Handel treiben, wie ich will“.
Und wieder die Verwandlung, wieder hin nach Belmont, und diesmal ganz besonders von Nacht zu Licht. Das ist die große Bassanioszene. Beide, Porzia und Bassanio, erleben jetzt ihre Steigerung ins Hohe. Sie haben wir bisher fast nur von der anmutig klaren, neckisch heiteren Seite kennen gelernt; und in der Art, wie ihre Liebe sich jetzt von vornherein verrät, fehlt das dunkle, trübende Element der Leidenschaft: die herzliche Innigkeit äußert sich in der Form des hellen Geistes; das Wunderseltene geschieht, daß Wärme und Licht beisammen sind. So drückt sich denn in all diesen Belmontszenen die Handlung in der Form der schönen, zur Wohlredenheit gewandelten Sprache aus; immer, wenn Shakespeare die höchste Sphäre gestaltet, werden wir nicht mehr durch ausbrechende Natur bis ins Mark hinein erschüttert, der Trieb geht in Geist, die Aktion in Sprache, die Sprache in Musik über. So tritt denn auch hier diese letzte Steigerung hinzu; während Bassanio in inniger Versenkung, kaum hoffend, daß er der Berufene sei, im vollen Gefühl der repräsentativen Bedeutung des Augenblicks, mit sich zu Rate geht, wohin er seine Entscheidung schlagen soll, ertönt auf Porzias Geheiß im Hintergrund Musik, und eine Frauenstimme, vom Chor begleitet, singt ein Lied.
Eben die Frage, die Porzia aufgibt. Wir müssen sie aber noch in Shakespeares Original vernehmen; Schlegel hat hier nicht alles zum Ausdruck bringen können:
Fancy: die Einheit von Liebe, Lust, Laune und Phantasie — das ist das Reich, in dem wir bei Porzia sind.
Man macht, da es so überaus schön wäre, diese entscheidende Stelle in deutscher Schönheit ohne Minderung des Sinns zu vernehmen, den Versuch, den Beginn dieses Lieds von der Wiege der Liebe sich von dem modernen Verbesserer Schlegels, von Gundolf singen zu lassen, der mit feierlich abweisender Gebärde so anspruchsvoll auftritt, — und fällt in den Abgrund:
Ich würde diese kümmerlich-kecke Verballhornung, die gleich kläglich am Inhalt wie an der Stimmung wie sogar am Rhythmus scheitert, nicht anführen, wäre es mir so ähnlich nicht beinahe jedesmal gegangen, wenn ich Grund hatte, mich nach einer Verbesserung Schlegels umzusehen: oft hatte Gundolf dann, was Schlegel schlecht oder ungenügend gemacht hatte, zufrieden stehen lassen; hatte er auch Anstoß genommen, so war seine Fassung eine Verschlechterung.
Von Tönen gewiegt, von Liebesphantasiegeist umklungen geht Bassanio an seine Entscheidung. Er spricht seine große Rede von der Echtheit und dem Schein. Der Schein herrscht in der Welt: im Recht wie im Gottesdienst; das Laster tritt als Tugend auf, die Falschheit putzt sich als Schönheit aus. So verwirft er das lockend schimmernde Gold; das Silber ebenfalls, das ihm — den Münzverhältnissen der Zeit entsprechend — vor allem der Vertreter des feilen Geldes, „gemeiner bleicher Botenläufer von Mann zu Mann“ ist. Er wählt das Blei, dessen Inschrift wir kennen: „Wer mich erwählt, der gibt und wagt sein Alles dran.“ Goldnes und silbernes Kästchen verheißen Gewinnen und Erlangen; das bleierne fordert Hingabe und wagemutiges[S. 80] Opfer. Die Liebe wird dem gewonnen, der gebend wagt, der sich tapfer verliert.
Und nun das holde Liebesglück, und das Gegenspiel auf einer, wenn schon niedrigeren, doch immer anmutigen Stufe: Graziano und Nerissa werden ein Paar; Bassanio empfängt Porzias Ring mit dem Gebot, ihn nie von der Hand zu geben. Dann kommen die andern Freunde aus Venedig; Lorenzo gibt Shylocks Tochter, Jessika das schöne Heidenkind, Porzia in Obhut; und es ragt nun die Sphäre der gräßlichen Wutwirklichkeit in Fancys Reich: die Nachrichten aus Venedig sind da; Antonio ist ruiniert, alle Schiffe auf allen Meeren gescheitert; der Schein ist verfallen; Shylock will sein Recht, will kein Geld mehr, selbst wenn man es hätte; Bassanio eilt — in argem Schuldgefühl — mit Porzias reichen Mitteln zu Hilfe. Vorher haben sie sich — wir Zuschauer sind nicht dabei, es ist keine Zeit mehr zu Festen — in Eile vermählt.
Der Schauplatz verwandelt sich: Antonio, der schon von Shylock ins Gefängnis geworfen ist, hat sich vom Schließer zu ihm führen lassen, um ihn um Aufschub, Geduld, um Gnade zu bitten. Nichts da; er will den Schein.
Antonio faßt sich dann; er weiß, das Recht muß seinen Lauf haben; was sollte aus der großen Handelsstadt Venedig werden, wenn die Fremden nicht die Gewähr hätten: hier wird streng nach dem geschriebenen Recht, nach dem Wortlaut der Verträge gerichtet? Und überdies: lebenssatt war er schon immer; sei’s drum! Ihm liegt nur noch daran, daß der Freund sieht: er tritt bis zum letzten, mit seinem Leben, für ihn ein. Nun, wo die Not da ist, kann auch er der ziellos melancholische, passive Mann, sich einem einzigen, dem Freunde, hingeben.
Wir sind — ich wage es zu sagen — in einer wohligen Spannung. Selbst wenn wir nicht jeden Teil des Stückes[S. 81] aus dem Ganzen heraus empfingen, zum Beginn und zur Mitte schon das Ende dazu nähmen, selbst wenn wir wären, wie wir uns immer wieder spielend anstellen: solche, die den Verlauf allererst kennen lernen, — selbst dann wüßten wir aus der immer, regelmäßig dazwischen tretenden Einkehr in Porzias Reich: das Äußerste darf, kann nicht geschehen; Traum, Geist und Spiel müssen zur rechten Zeit kommen und die Wirklichkeit der Affekte verscheuchen; das Wort muß kommen, die menschliche Rede, die Redelichkeit — wie man im Mittelalter die Ratio nannte —, und muß sieghaft über dem Trieb, dem Schein, dem Buchstaben stehen. Und schon sind wir wieder in Belmont und von sanfter, heiterer Hoffnung erfüllt: Porzia mit Nerissa bricht in Männerkleidung auf nach Venedig. Und auch nachher noch bleiben wir eine Szene weiter in Belmont; wir kommen in Porzias Garten; wir hören aus dem Mund der erwachenden und wachsenden Jessika, die aus dem nächtigen Haus ins Reich des Lichts verpflanzt worden ist, Porzias höchstes Lob:
Und zugleich — wohl zu beachten — wird die Gelegenheit benutzt, um von Lanzelot Gobbo in derbem Spaß die äußerliche Bekehrung zum Christentum verspotten zu lassen.
Und nun nach Venedig in den Gerichtssaal, zu der einen großen Szene, die den vierten Akt füllt; denn das ganz kurze Nachspiel, das zum Finale überleitet, schließt, ohne daß Zeit dazwischen liegt, an die Gerichtsszene an.
Eine gewaltiger aufgebaute Szene kennt die dramatische Literatur nicht; sie wäre nur mit einem vollendeten Satz Beethovens, etwa aus einem der letzten Quartette, zu vergleichen. Die Dissonanz wird zu einem fast unerträglichen Gipfel geführt, und in all diese scharfen, gehackten, schneidenden Rufe einer trotz allem fast gerechtfertigten[S. 82] Häßlichkeit kommt die Engelsstimme in Porzias Kavatine von der Gnade.
Kaum ist der junge berühmte Rechtsgelehrte aufgetreten, hören wir aus seinem Mund die in ihrem Widerspruch seltsam starken Worte:
Shylock kennt kein solches Muß, und mit der Verstandeslogik der Herzensdummheit fragt er, was oder wer ihn zwingen solle, vom Recht zu lassen.
So aber war’s nicht gemeint; o nein, da hast du schon recht; äußerlich kann dich nichts zur Gnade zwingen. Gnade ist eine Gabe; man ist begnadet, wenn man Gnade üben kann.
Das Mystische in der augustinischen Gnadenwahl erklingt in wonnig freier Anwendung aus dieser Rede (ganz verkehrt von Horn, Shakespeare darum zum Verfechter einer theologischen Lehre zu machen!):
Porzia selbst mit ihrem Geist anmutiger Natur ist solch eine Begnadete, wie Shylock ein Enterbter ist; und Bassanio hat sie erringen dürfen, weil er die Entscheidung getroffen hat, zu geben, von Herzen zu geben, und sein Alles dran zu wagen.
Aber gleich hebt wieder die Hölle an, die Pein ist kaum mehr zu ertragen; das scharfgewetzte Messer bohrt sich gegen uns wie gegen Antonio; und er, um dessen Leben es geht, spricht aus, was wir empfinden:
Das Arge gipfelt sich zum Ärgsten, wie in einem der falschen Schlüsse bei Beethoven oder Bruckner, bis endlich bei den Worten Porzias
die Melodie der Teufelei mitten in sich selbst umbiegt und sich, obwohl sie ihre Tonfolge beibehält, rhythmisch verwandelt; denn hier, bei diesem von Porzia auf die Spitze getriebenen Recht, spüren wir: da spielt überlegener Geist mit dem, der im wütigen Ernst und doch dabei im kalten Formalismus des Rechts über die Grenzen des Menschenmöglichen zu gehen vermag: der Teufel der Buchstabengrausamkeit soll an sich selbst scheitern, soll durch sich besiegt werden: dem Rechtsanspruch soll sein Recht werden; der Frauengeist, der hier mit der männischen Wut ringt, die die Maske männlicher Logik angenommen hat, trägt diese nämliche Maske virtuos; aber so wie hinter Shylocks Logik der Haß steckt, so birgt sich in des Rechtsgelehrten Logik Porzias frauenhafte Liebesentscheidung. Und schon hier, vor der letzten glücklichen Wendung, taucht leise, von fern, durchs Gewittergrollen hindurch, die Stimme des Scherzes, der neckischen Lustigkeit auf.
Antonio nimmt mit herzergreifenden Worten seinen Abschied von Bassanio, für dessen Glück er jetzt geopfert werden soll: Empfehlt mich Eurem edlen Weib...
Da wird in einem kurzen Quintett ein aus Ernst und Spiel wunderbar gemischtes Zwischensätzchen eingelegt: Bassanio und Graziano beteuern in leidenschaftlichem Ausdruck der Freundschaft, vor der, wo der Freund in Gefahr ist, alles, alles andre versinken muß, sie würden Leben, Weib und alle Welt opfern, um Antonio zu retten; Porzia und Nerissa — der Richter und der Schreiber — machen heiter böse Bemerkungen dazu, wie nur sie selbst und wir sie verstehen, und Shylock, dessen Ghettoseele nichts über die Familie[S. 84] geht, fügt seine Stimme ein mit Haß und Verachtung gegen solche Christenmänner und Christenehen und mit seinem Jammer um die Tochter, die in jenes Lager gelaufen ist.
Und dann kommt die große Wendung, durch Heiterkeit vorbereitet, und sie ist Heiterkeit, wie sie der Liebe entstammt: ein Pfund Fleisch, nicht mehr, kein Tröpfchen Blut.
Wundervoll, wie der überlegene Intellekt Shylocks gleich versteht, was er in der Sprache des Gemüts so gar nicht begriffen hatte: der Interpretation seines eignen Gesetzes fügt er sich sofort; mit seinem Schein und dessen Wortlaut hatte er Antonio in die Schlinge gelockt; jetzt hat ein Geist, der noch heller ist als seiner, das Opfer aus der Schlinge befreit. Sein Geld möchte er noch haben; er begehrt es kleinlaut; wie er’s nicht bekommen kann, will er nichts als nach Hause gehn. Er hat morden wollen und darf am Leben bleiben; bleibt auch vor Entblößung bewahrt; daß er zur Taufe gezwungen wird, ist eine Konzession dieser Gestalten Shakespeares oder auch des Dichters selbst an die Zeit, seinen Spaßmacher aber hat er schon im voraus darüber spotten lassen; und von der ganz andern Taufe mit heilig seligem Geist, auf die es dem Dichter ankommt, vernehmen wir erst im Finale. In der Art aber, wie Shylock abgeht und aus dem Stück verschwindet, liegt Größe: nichts hier von äußerlicher Tragik, nichts von Mord und Totschlag oder Selbstmord oder auch nur einer jammervoll pathetischen Rede: er ist vernichtet, ist völlig zu nichts geworden und geht still nach Hause. Er ist nicht wohl; wir glauben es ihm; er wird dahinsterben.
Wenn der Erlöser in die Hölle herniederstiege, oder wenn bei einem Erwachen der Menschen die Uhren alle den Tag ankündigten, die Sonne aber wollte nicht kommen und Nacht lagerte lange Stunden lang, man vermeint, für immer über der Erde, und nun dränge überwältigend der erste Lichtstrahl hervor: von der Art ist das Gefühl der Erleich[S. 85]terung, das uns und die Venezianer bei Porzias Richterspruch überkommt. Da brauchen wir wahrlich nicht als erheiterndes Nachspiel den ernsthaften Streit der juristischen Doktoren über das Recht, das diese Frau gesprochen hat; die Heiterkeit, Amor, amor dei intellectualis hat hier zu Recht erkannt. Die Heiterkeit ist damit, daß zwei Frauen aus fernem Land kamen und den Graus verjagten, daß die Männer, gar noch die eigenen Männer, nichts merkten, auf die Bühne getreten; was soll der Streit, ob tragisch oder komisch? Hier wird dargestellt, auf welchen Geistes Wegen unter Menschen die Tragik zu Lust wird. Wie haben sich alle Elemente der zuvor so getrennten Handlung an dieser Gerichtsstätte aufs schönste, aufs ungezwungenste vereinigt! In fancy, in Lust und Liebe und Laune hat sich nun alles Düstere und Lastende aufgelöst; und Laune, Leichtsinn und Neckerei, im Verein mit Verklärung und Liebe, bilden darum den Schluß. Noch im Gerichtssaal und dann sofort nachher auf der Straße leiten Porzia und Nerissa die lustige Art ein, wie sie sich ihren Männern zu erkennen geben wollen: ein bißchen müssen die doch im Ernst dafür gestraft werden, daß sie in leidenschaftlicher Inbrunst bereit waren, ihr Alles, diesmal aber nicht bloß ihr Eigen, auch ihre Frauen daran zu wagen, um den Freund zu erretten. So müssen sie den Rettern, die kein anderes Zeichen der Dankbarkeit annehmen, die Ringe, die sie von ihren Frauen haben und nie von der Hand lassen sollen, schenken. Der letzte Satz der Symphonie wird so vorbereitet, der ein wundersames Scherzo ist, ein Scherzo molto cantabile e serafico. Sweet Shakespeare, der süße, der holde Dichter hat ihn gedichtet. Nach dieser befreienden Erlösung war nur eine Steigerung noch möglich: mit dem letzten Sinn des Stückes in den verschwimmenden Duft des Allgemeinen, in die Einheit von Seele und Geist, von Herz und Kopf, von Geist und Natur. Von diesem Naturgeistgefühl sind wir nun in der Gartenlandschaft von[S. 86] Belmont sofort umfangen; wir sind in der höchsten, reinsten Geistersphäre. Nacht; Mondschein; Musik ertönt. Lorenzo und Jessika walten als Gäste der noch abwesenden Gebieterin im Haus. Von beider Sinn ist in dieser Landschaft des Geistes wie ein einengender Reifen gesprungen; sie waren leichtfertig bis zur Frivolität; die Leichtigkeit haben sie bewahrt und das Spielerische, aber nun sind sie der erniedrigenden Umgebung der Zwecke und Mittelchen ledig, sie brauchen nicht mehr gegen die Gemeinheit reagieren; sie sind schwärmerisch und begeistert geworden. In der Art der Wechselgesänge des Volks, mit Erinnerungen an die heitere Fabelwelt der antiken Mythologie sprechen sie einander im Duett jugendlich frei und leicht ihre Liebe und Freude zu, und dann kommt von Lorenzos Lippen der wundervolle Hymnus auf die Musik; Herder hat nichts Schöneres und Tieferes seinen „Stimmen der Völker in Liedern“ als Motto mitgeben können:
Ich habe es unternehmen müssen, an dieser entscheidenden Stelle, die zum Gipfel der Dichtung führt, die überlieferte Übersetzung, die falsch ist, zu ändern, und habe für den Zweck dieser Darstellung keine Scheu getragen, zu tun, was ich in einer Übersetzung des zusammenhängenden Dichtwerks vermiede: ich habe an einer Stelle den[S. 87] Kommentar verdeutlichend in die Übersetzung gelegt und habe mir nichts daraus gemacht, daß dieser Vers dabei einen Fuß zuviel bekommen hat[1].
Wir Menschen, so also tönt es uns aus diesem Hymnus entgegen, wir Menschen in unserm unsterblichen Teil haben Teil an der Harmonie der Sphären, an der Himmelsmusik, in der Weltgeist und Natur eins sind; unser Leib aber, der die Seele ins Gefängnis des kotigen Lebens und irdischen Todes einsperrt, läßt uns die Harmonie draußen und in uns drinnen nicht hören.
Aber: Komm, Jessika! Dieser Zuruf des Liebenden an Shylocks Tochter in diesem Ewigkeitszusammenhang, dieser Ruf zum gemeinsamen Aufstieg
ist mir die ergreifend schönste Stelle der ganzen Dichtung. Das ist Jessikas wahre Taufe im Geist; das ist der Aufstieg der Tochter Shylocks aus der Entwürdigung des Ghetto, im Flug über alle geschichtlich relativen Stufen hinweg, zur Höhe der vom Geist beflügelten, im Geist einigen Menschheit. Wie sie noch auf den Straßen Venedigs war und nur im Maskenfest die glühende Fackel der Liebe schwang, da war noch Schlacke genug in ihr wie in ihrem fröhlich-leichtsinnigen Liebsten; aber jetzt sind sie in Belmont, sind drüben, sind droben: da ist keine Rede mehr von Assimilation und solchen Nebengedanken aus der Relativität und Anpassung; sie ist von Shylock weg zu Porzia gebracht worden: mit Lorenzo zusammen ist sie in das Reich der Freiheit und des Geistes aufgenommen worden.
Und nun folgt eben die Stelle von dem Manne, der, solange er in seinen Kotleib eingesperrt ist, drunten und draußen bleiben muß, von dem Manne, der nicht Musik[S. 88] hat in ihm selbst, der also, wir haben es jetzt eben vernommen, nicht am Himmel, am Ewigen, an der Unsterblichkeit im Leben schon teil hat.
Wie man diese Worte, die durch ihren Anschluß an die Stelle von der Sphärenmusik der Himmelsgestirne und unsterblichen Seelen so klar sein sollten, nicht hat verstehen können, wie sie nicht zur Erkenntnis des wahren Sinns und Zusammenhangs der Dichtung geleitet haben, ist schwer zu fassen. Aber selbst Friedrich Theodor Vischer, gewiß nicht der erste beste, aber freilich eine tragikomische Mischung aus Dichter, freiem Denker und Philister, nimmt die Worte als gelegentlich eingeflochtene Sentenz zum Lob der Musik, so nach Art von „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang...“ und fügt, zu seinen Hörern gewandt, schnurrig-knurrig hinzu: „Ist wohl etwas stark, und Sie könnten vielleicht auch sagen ungerecht, aber desto unzweifelhafter ist damit seine große Liebe zur Musik dargetan.“ Ach ja —!
Während die Musik immer weiterspielt, treten im Hintergrund Porzia und Nerissa auf. Porzia sieht zwischen den Bäumen das Licht vom Hause her schimmern und spricht als erstes Wort, das wir bei ihrer Rückkehr von der Rettungsreise von ihr hören, einen der sinnend seelenvollen Sätze, die den Kern der Dichtung treffen; denn so wortgewaltig in dem Teil der Dichtung, der um Shylock herum die Triebe zur Handlung bringt, die Leidenschaften auftreten, so handlungsmächtig und handlungdeutend sind in Porzias Teil die Worte; sie sagt:
Sie waren, so wähnte man bisher im Haus, auf einer Wallfahrt, um für ihre Männer, die nach Venedig zur fast unmöglichen Rettung des Freundes gefahren waren, zu beten. Wir aber wissen: nicht die Männer haben helfen können,[S. 89] und nicht aufs Gebet hin hat der Himmel geholfen, sondern durch die Geistestat dieser jungen Frau.
Die Art aber, wie das nun bekannt wird, was sie Großes getan hat, führt zu keiner Ruhmesverherrlichung und zu einer Beschämung der Männer nur in neckischem Spiel. Wir sind in dem Geisterreich der Freiheit, wo Seele und anmutiger, nur durch die Grazie in Schranken gehaltener Witz beisammen sind, und wir brauchen die lässig frohe Abspannung nach der hohen Spannung so nötig. Die bekommen wir in dem Nachspiel mit den Ringen; hier ist der fortwährende Doppelsinn der Reden nicht tragische Ironie, sondern Lust: wir Zuschauer sind ja eingeweiht und lassen die Männer da droben vergnüglich eine Weile zappeln. So wird denn keck genug — die Gatten mußten sich ja um Antonios willen vor ihrer Liebesvereinigung trennen — mit dem Liebesakt Scherz getrieben: nie kommst du in mein Bett, bis ich den Ring habe (ich hab’ ihn ja schon); oder gar: ich nehme den Richter in mein Bett (freilich, ich bin’s ja selber).
Noch ein tieferer Sinn aber scheint mir in der Heiterkeit und der Art, wie hoher Geist sich hier auf den Wegen fröhlichen Spieles dem Alltag nähert, zu liegen: wie könnten die andern alle, die noch gar kein Recht auf dieses Reich haben, die alle noch fehlbare oder oberflächliche und übermütig-verwegene Menschen sind, die nichts zur Rettung gewußt haben, wie könnten sie gedemütigt sein von der Hoheit dieser Frau, in der Natur und Geist sich zur Schönheit verbunden haben! Aber des Höllengrauses wird nun höchstens noch mit leisen Hindeutungen gedacht: es wird alles in Freude und Liebe und Spiel, in fancy verwandelt.
Sofern wir reif sind für die Landung in Belmont, wo bohrend tiefgreifende Losungen und Spaltungen aus[S. 90] unsrer wie Shakespeares Zeit keine Geltung haben, reif für seine feste Härte und hochfliegende Liebe, so bringt uns kaum ein andres Stück Shakespeares zu so persönlicher Dankbarkeit gegen den Dichter, der recht von Herzen nachsichtig und gütig gegen uns allesamt gewesen ist, gleichviel, wer wir sind. Wir empfinden dann: hat er Bassanio, Antonio, Lorenzo, Jessika, Graziano und Menschen noch minderen Grades eingelassen, so hat er auch uns die Pforte nicht zugesperrt. Wir sind es, wir, denen Shylocks Wut und Marterschrei nachtönt, wir sind es, die weiter leben, gedeihen und wachsen müssen wie dürfen, obwohl der Alte an uns verdorben ist und an uns, wie ein verwundetes Tier, das sich verkrochen hat, dahinstirbt, wir sind all diese Gut-Schlechten, Lustigen, Schwermütigen, Wankenden, Wandelbaren; wir — ob Männer ob Frauen, ob Juden ob Christen, zumal aber das junge Volk — wir dürfen in Arbeit und Spiel unser selbst harren und auf das Reich hoffen, das Reich der gebundenen und losgelassenen Seelen, der Schönheit und Freiheit, der Gnade und Harmonie.
Komm, Jessika!
[1] Nachträglich sehe ich mit Vergnügen, daß auch der zuverlässige Shakespearephilolog Conrad Hense (dem es übrigens offenbar umgekehrt geht wie nach Lessings Epigramm Klopstock: er wird mehr gelesen als — zitiert, von den Fachgenossen nämlich) die Stelle richtig übersetzt und auch sonst meiner Auffassung recht nahe kommt.
König Johann ist ein wehvoll schönes, grimmig starkes Stück Shakespeares und überdies der Zugang zu einem der wichtigsten Probleme der Shakespeareforschung. Immer wieder, bei dem und jenem Stück, stößt man auf die Behauptung, Shakespeare habe da ein früheres Drama bearbeitet. Das ist manchmal sicher und manchmal wahrscheinlich; jedesmal aber bin ich bei näherer Betrachtung, ohne daß ich den Wunsch hatte, es möchte so sein, darauf gekommen, das Wahrscheinlichste sei, daß Shakespeare selbst der Verfasser auch der früheren Fassung, die nicht mehr vorhanden ist, sei. Erhalten sind aber die früheren Fassungen für zwei Stücke, für die Zähmung der Widerspenstigen und für König Johann. Was die erstgenannte Posse angeht, so unterlasse ich es, ausführlich die Gründe anzugeben, warum ich beide Fassungen für ein und dasselbe Stück desselben Autors, Shakespeares nämlich, halte; es ist ein unbedeutendes Nebenprodukt, das ein szenischer Meister und großer Sprachkünstler dem rohen Geschmack eines Theaterpublikums, das einen starken Happen vertrug, hingeworfen hat, und rangiert in Shakespeares des Schauspielers Werk nicht allzuviel höher als der Bürgergeneral in dem des Theaterdirektors Goethe. Bei König Johann aber das Verhältnis des alten Stückes zu Shakespeares Bearbeitung zu untersuchen, ist von hohem Interesse nicht nur für diese Historie, sondern für unsere Kenntnis Shakespeares. Es verlangt eine Entscheidung von uns, von der unser Verständnis für den Entwicklungsgang Shakespeares wesentlich abhängt.
Das ältere Stück, The Troublesome Raigne of Iohn King of England, Die wirrenreiche Regierung Johanns Königs von England, erschien zuerst 1591 ohne Nennung eines Verfassers. Das ist für diese Ausgaben von Theaterstücken nichts Ungewöhnliches, und zumal von Shakespeare trug vor 1598 kein Druck eines Stückes seinen Namen; die Verlorene[S. 92] Liebesmüh in der Ausgabe von 1598 ist das dritte Buch, das mit Nennung des Verfassers William Shakespeare erschien; die beiden andern aber waren seine beiden Gedichte Venus und Adonis und die Lucretia, zu denen nun also ein Spiel kam, von dem man sagen darf, daß es besonders literarisch war, besondere Ansprüche an die Bildung, die modische Bildung seines Publikums stellte. Just in demselben Jahre 1598 aber nannte Francis Meres Shakespeare, indem er ihn als einen Plautus und Seneca zugleich bezeichnete, als den Verfasser von einem ganzen Dutzend Stücke, sechs Komödien und sechs Tragödien, und dieses Dutzend wurde ausdrücklich nur als Beispiel für des Dichters ausgezeichnete und umfassende Kunst angeführt. Ob diese Stücke, auf die sich Meres berief, bis dahin schon alle im Druck erschienen waren, so wie wir von einigen Quartausgaben ohne Nennung des Verfassers haben, können wir nicht sagen; jedenfalls kennen wir keineswegs von allen so frühe Drucke, und eines, die Gewonnene Liebesmüh, kennen wir überhaupt nicht. König Johann ist in der Zahl der sechs Tragödien genannt; von welchem Stück aber spricht Meres da?
Im Jahre 1611 wird der König Johann von einem andern Buchhändler zum zweiten Mal herausgegeben; aber es ist keineswegs unser König Johann, den wir in Shakespeares Werken finden, sondern immer noch das alte zweiteilige Stück vom Jahre 1591. Diesmal aber stand auf dem Titel: Geschrieben von W. Sh. Einige Jahre nach Shakespeares Tod, 1622, gab ein dritter Verleger die dritte uns bekannte Auflage heraus und ließ auf den Titel drucken: Von William Shakespeare. Ein Jahr darauf erschien die große Gesamtausgabe von Shakespeares dramatischen Werken, und in ihr erschien zum ersten Mal das uns bekannte Stück Shakespeares mit dem Titel Leben und Tod König Johanns, und will man dieses Stück in größter Kürze kennzeichnen, so hat man zu sagen: Es ist ganz und gar das alte Stück in völlig neuer Bearbeitung.
Wie irgend jemand bei diesem Sachverhalt behaupten kann, Shakespeare habe dieses frühe Stück, wie es uns vorliegt, als das Werk eines andern bearbeitet, geht über meinen Begriff.
Zu den Leichtgläubigen und denen, die in zweifelhafte, apokryphe Werke verliebt sind, gehöre ich nicht. Weder für den Lokrin, noch für den Thomas Lord Cromwell kann ich anerkennen, daß diese Stücke von Shakespeare sein müssen; sie können von ihm sein. Lokrin ist 1595 erschienen, und als Verfasser wird W. S. angegeben. Alfred Neubner in seinem Buch Mißachtete Shakespearedramen (1907) hat das große Verdienst, sich gegen das landläufige Gerede von der Lügenhaftigkeit der Quartausgaben gewendet zu haben und uns ein Bild von dem hohen Stand des Verlagswesens und Verlagsrechts im damaligen England gegeben zu haben. Auch ich bin überzeugt, daß sich auf dieser Stufe sozialer und juridischer Einrichtungen nur in seltenen Ausnahmefällen jemand erlaubte, auf dem Titelblatt eines Buches zu lügen; im Verlagsregister gar — das gar nicht fürs Publikum bestimmt war — war weder ein Grund noch eine Möglichkeit dazu da; das hat Neubner trefflich gezeigt. Im Falle des Lokrin nun ist ins Verlagsregister kein Verfassername eingetragen, wie es ja sehr häufig unterblieb, und von W. S. mit Tieck und Neubner zu behaupten, diese beiden Buchstaben können nur entweder William Shakespeare oder Wentworth Smith bedeuten, bringe ich nicht übers Herz. Was wissen wir, wer alles in dieser üppigen Zeit des Dramenwachstums Stücke schrieb, ohne daß sein Name uns bekannt wurde! Wo wir doch ein so Shakespeare ebenbürtiges Stück haben, wie den Eduard III., von dem kein Mensch sagen kann, es müsse von Shakespeare sein! Mir wäre es überaus wichtig zu wissen, ob der Lokrin Shakespeare zum Verfasser hat; es könnte sehr wohl sein, und gewiß hätte ich nichts dagegen. Es wäre dann vielleicht — denn das späte Erscheinen der Ausgabe, die wir haben, beweist nichts — das früheste[S. 94] Werk, das wir von Shakespeare kennten. Die Sprache ist schwülstig und bildüberladen ohne gleichen, durch fernhergeholte, mythologische Gleichnisse und Anspielungen müssen wir uns durchschlagen wie durch Urwaldgestrüpp, bei alledem aber ist die Sprache edel, geistig bedeutend, leidenschaftlich, manchmal innig und des Verfassers des Titus Andronikus ganz würdig. Und das nämliche gilt für Handlung, Komposition und Motivierung. Die Werbung Lokrins um Estrild kann etwas an Richard III., die strophische Sprache der gereimten Stellen an Venus und Adonis erinnern. Es ist ein Ungetüm, das bei aller außerordentlichen dichterischen Begabung seines Verfassers keine eigene Bedeutung hat; eine Probe, ja eine Verheißung könnte es sein. Wie interessant, wenn es von Shakespeare wäre, wenn man sagen müßte: aus dieser Häufung mythologischer Gelehrsamkeit hat er sich zur Selbstbeschränkung und Sachlichkeit derart hinaufgearbeitet, daß er manche seiner Erforscher instand setzte, zu behaupten, er wäre ein ganz ungebildeter Kerl gewesen! Aber das muß alles dahingestellt bleiben, da seine Verfasserschaft nicht erwiesen ist; und der Shakespearekunde erlaubt dieses Stück nicht den kleinsten Schluß.
Und wie interessant gestaltete sich unsere Kenntnis von Shakespeares Entwicklungsgang weiter, wenn nun auch die Tragödie Thomas Lord Cromwell von ihm wäre, die in allem das reine Gegenteil von Lokrin ist! Ich habe mich vorhin sehr schroff von Der Widerspenstigen Zähmung abgewandt; aber genialisch ist dieses schlechte Stück im ganzen und in wie vielen Einzelzügen; ich werde von Shakespeares Perikles, Fürst von Tyrus, das in der Anlage dem Cromwell verwandt ist, nicht allzuviel Gutes zu sagen wissen, aber in der Sprache, in den Szenen der niedrigen Sphäre, in manchem charakteristischen Zug ist es Shakespeares würdig. Im Thomas Cromwell aber kann ich nicht gerade Genie entdecken. Es ist eine biedere, sehr kindliche Chronikaktion und erinnert weder in den tragischen noch in den komischen Par[S. 95]tien an irgend etwas, was wir sonst von Shakespeare kennen. Das aber wende ich keineswegs gegen seine Verfasserschaft ein; was wissen wir von seinen Möglichkeiten, Versuchen, Abwegen, Anfängen! Wäre das Stück von ihm, so könnte er diesen kindlich volksmäßigen Stil sich zur Übung im Einfachen, zum Abgewöhnen des Metaphern- und Mythologieschwulstes verschrieben haben. Aber es ist wieder kein genügender Beweis da. Wir kennen keine frühere Ausgabe als die von 1602, und die ist anonym; dann folgt 1613 eine andre, die W. S. als Verfasser nennt. Achtlos Vorbeigehen kann man an solcher Angabe nicht; aber durchschlagend ist sie wahrlich auch nicht.
Wie anders aber liegt der Fall bei dem frühen König Johann! Da ist vor allem zu sagen: es spricht gar nichts dagegen. Bei den andern zweifelhaften oder wenigstens angezweifelten Stücken, auch bei denen, die zu Shakespeares Lebzeiten mit seinem vollen Namen erschienen sind, dem Perikles, dem Londoner Verlorenen Sohn und dem Trauerspiel in Yorkshire, muß in der Tat gefragt werden, warum sie 1623 in die große Gesamtausgabe nicht aufgenommen wurden. Diese Frage ist freilich keineswegs eine Abweisung; es wäre sehr wohl möglich, daß Shakespeare selbst verfügt hat, diese Stücke als zu schlecht wegzulassen, oder daß Shakespeares Freunde sie von sich aus um deswillen nicht aufgenommen haben; oder es kann noch andere Gründe geben; aber beim frühen König Johann kann nicht einmal die Frage zugelassen werden: solche Philologen waren Heminge und Condell gewiß nicht, daß sie außer dem vollendeten Stück auch noch eine verworfene Fassung, die genial genug, aber doch eben im Vergleich mit dem meisterlichen Drama minderen Wertes war, aufgenommen hätten. Ich weiß im Augenblick nicht, ob auf der Abschrift von Wilhelm Meisters Theatralischer Sendung, die man in Zürich fand, der Verfassername stand; aber wenn darauf gestanden hätte: von J. W. G. — so wäre das genau der Fall des frühen Dramas König Johann von[S. 96] W. Sh., nur daß dieses öffentlich im Druck erschienen, die Sendung von einer fremden Hand geschrieben ist. Man könnte das als eine Übertreibung zurückweisen wollen; der Wilhelm Meister sei von Goethe erfunden; König Johann aber ein historischer Stoff, den jeder behandeln könne. Allerdings: den jeder behandeln kann und den der Bischof John Bale ums Jahr 1550 in einer Art behandelt hatte, die in keinem Zug an die beiden Fassungen eines Stückes erinnert, die uns hier vorliegen. Der Gang der Handlung, der szenische Aufbau, die Anlage der Charaktere, das Gegeneinanderwirken der Personen, die Motivierung, die Einteilung des Dialogs, wie eine Rede ihre Replik ruft, das alles ist in dem frühen Stück die Erfindung, das schöpferische Werk eines großen Dichters, und niemand leugnet, daß das Stück, das als das Shakespeares in den Werken steht, der Vorlage in alledem folgt, entweder beibehaltend oder umgestaltend; das wird allerseits zugegeben, daß Shakespeare diesem früheren bedeutenden Stück Szene für Szene gefolgt ist. Ich kann mir also nicht helfen: entweder hat Goethe mit seinem Wilhelm Meister ein Werk der Bäbe Schultheß frei bearbeitet, oder Shakespeares König Johann ist in beiden Fassungen von ihm. Denn so ist es: wir haben ein Stück in zwei Fassungen, die beide bedeutend sind, und so, wie es Leute gibt, die die Theatralische Sendung dem vollendeten Meister und Gottfried Kellers Gedichte in der ersten Fassung ihrer letzten Feilung und Rundung vorziehen, so haben sich auch welche gefunden, denen der erste König Johann lieber ist; ich aber gehöre zu ihnen in diesem Fall so wenig wie in den andern; es ist nicht meine Sache, den Meister mit seiner Schulzeit meistern zu wollen. Aber wir haben jedenfalls die erste Fassung und die Mitteilung aus dem Jahre 1611, sie sei von W. Sh., und aus dem Jahre 1622, sie sei von William Shakespeare. Als dann das Jahr darauf dasselbe Stück durchgeackert und umgekrempelt in der Folioausgabe erstmals erschien, konnte wahrhaftig niemand auf den närrischen Ein[S. 97]fall kommen, unter uns Späteren könnte es gelehrte Leute geben, die Shakespeare die geniale Neubearbeitung allein ließen, die geniale Konzeption aber absprächen! Selbst wenn uns nicht erst W. Sh., dann William Shakespeare als Verfasser genannt wäre, müßten wir sagen: das ist von Anfang bis zu Ende ein Stück in zwei Fassungen; und die erste muß so von Shakespeare sein wie die Geschichte Gottfrieds von Berlichingen von Goethe. Und ich sage ehrlich und möchte das zugunsten mancher Shakespeareforscher aussprechen, daß ich überzeugt bin, im neunzehnten Jahrhundert hätte keiner, der den Sachverhalt prüfte, das frühere Stück mehr Shakespeare absprechen können, wenn nicht Tiecks Eintreten für diese Urheberschaft gewesen wäre! Denn das mußte in der Tat bedenklich und vorurteilsvoll machen, da Tieck besinnungslos so ziemlich alles, was kindlich, unfertig und schlecht war, begeistert Shakespeare zuschrieb, sowie es aus der Zeit stammte und keinen Verfassernamen aufwies! Aber man hätte Tieck so wenig blind zur Autorität für noch gegen Tiecks Meinungen machen dürfen; hätte vielmehr erkennen müssen, daß es z. B. für seine Behauptung, das Drama von König Leir und seinen drei Töchtern sei von Shakespeare verfaßt, äußere Gründe so wenig wie innere gibt, daß aber der erste König Johann aus äußern wie innern Gründen von ihm verfaßt sein muß.
Zugegeben, es gibt auf diesem Gebiet keinen absoluten Beweis; das lehren die falschen Wanderjahre und ähnliche Mystifikationen. Selbst zur allergrößten Wahrscheinlichkeit muß noch ein Entschluß kommen, damit sie Gewißheit werde. Wir haben hier einen solchen Fall allergrößter Wahrscheinlichkeit; ich entschließe mich zu der Erklärung: Es ist gewiß, daß der erste König Johann Shakespeares erste Fassung dieses Stückes ist, und brauche zu diesem Entschluß nicht mehr Kraft aufzuwenden als zu der Überzeugung, daß die in Fräulein von Göchhausens Handschrift überlieferten Faustszenen eine frühe Fassung von Goethes Faust sind.
Haben wir uns aber zu dieser Gewißheit entschlossen, so ergeben sich daraus die wichtigsten Schlüsse. Eben das steht nun fest, womit als einer angeblichen Unmöglichkeit Shakespeares Autorschaft bestritten werden sollte: daß der Dichter auf einer frühen Stufe seiner Produktion in einer Art, die wir sonst nirgends an ihm kennen, eine ausgeprägt aktuell politische, nationale, antipapistische Tendenz in sein Werk eingelassen hat. Aber es geht wahrhaftig nicht an, unumstößliche Tatsachen entscheidender Art für unerheblich zu erklären oder zu ignorieren, weil man an seinem fertigen Bild Shakespeares keine Änderung leiden mag. Ich muß umgekehrt vorgehen: ich bekomme zu dem Bild des immer Wachsenden neue, wertvollste Züge, weil ich um Tatsachen nicht herumkomme. Auch ich bin von diesen Zügen ungemein überrascht; aber weder meine Überraschung noch mein Widerstreben dünkt mich ein Gegenargument objektiver Art.
Zunächst ist zu sagen, daß Shakespeare bei der Neugestaltung seines Stückes — wann er sie vornahm, ist nicht auszumachen — nichts eigentlich von den Motiven fallen ließ; er hat nur vieles, was im sichtbaren Vordergrund stand, in den Hintergrund des Berichts oder Auftrags oder der Erwähnung gedrängt, hat Licht und Schatten neu verteilt, hat ganze Szenen durch eine kurze Dialogstelle ersetzt und hat so in einer unvergleichlich ursprünglichen und kräftigen Nachschöpfung des schon einmal Geschaffenen seinem Stück einen neuen Sinn gegeben. Das Antipäpstliche ist noch da, weitaus stärker auch in der klassischen Fassung des König Johann als in irgend einem andern Stück Shakespeares; auch auf das Nationale hat der Dichter keineswegs verzichtet; hat er auch die gewaltig trompetende Schlußszene der frühen Fassung nicht mehr brauchen können und sich um seines neuen Sinns willen mit einer verhalten und sogar matt verrinnenden begnügt, so ist doch der allerletzte Schluß noch da, aus dem der Bastard wie aus dem Rahmen des Stücks heraus an die[S. 99] Rampe tritt und wie der Sprecher eines Epilogs dem Publikum, dem englischen Volk zuruft:
Der Unterschied ist nur der, daß all dieses Elisabethische, Nationale, Antikatholische in der ersten Fassung, die noch durchaus chronikalischen Charakter hat, den wesentlichen Sinn des Stückes bildet und überall Erinnerungen an den glorreichen Sieg über die Spanier, den Untergang der Armada mit sich trägt; daß es dagegen in der klassischen Gestaltung einem höheren Sinn untergeordnet ist. Ich will es nicht behaupten, aber es wäre möglich, daß Shakespeare, als er diesem Stück die Vollendung schuf, im Sinne trug, daß es zu dem großen Zyklus der englischen Historien, der ihm zusammengewachsen war, den Prolog bildete. Jedenfalls ist dieser König Johann nunmehr auch von innen her eine Art Auftakt oder Vorspiel zu dem großen Zyklus: sein Thema ist dasselbe: was erst eine kraftvolle nationale Chronik mit schon erstaunlichen Einblicken ins Innere handelnder Menschen war, ist jetzt bis zur Schlußwendung ganz auf den einen Gegensatz gestellt: Politik und Menschlichkeit. Mit Ausnahme der allerletzten Schlußrede hat der Dichter nunmehr, selbst wenn er große Schönheiten opfern mußte, alles direkte Aussprechen streng verpönt; der Charakter ist den Menschen angegossen, und keiner kann heraustreten aus seiner Rolle; die päpstliche Politik und ihre Verworfenheit ist mit einer vorher nicht erreichten Schärfe gezeichnet, aber nicht minder scharf König Johann, König Philipp von Frankreich, der Dauphin Louis, die Königin-Mutter Eleonore als Träger der Politik. Und ihnen stehen gegenüber Konstanze und Arthur, in denen auch Politik wäre, wenn nicht das Unglück in ihnen säße; und so tritt in ihr das zügellos leidenschaftliche und leidende Weib, in ihm das unschuldige Kind als Menschlichkeit der Politik gegenüber. Hubert ist der loyal knechtische Dienstmann, der[S. 100] von der Menschlichkeit überwunden wird; und der herrliche Bastard der Naturmensch und Naturritter, dessen Bestimmung es ist, mit Gesellschaft, Mode, Politik in Beziehung zu treten, in der er doch in seiner Kraftnatur, so viel äußere Änderungen, Erhöhungen er auch mitmacht, so sehr er auch Feldherr und Ratgeber der Krone wird, immer er selbst bleibt.
Mit einem Wort zu sagen: in der frühen Fassung ist Shakespeare in einem Stadium, das wir nur von diesem Stück her an ihm als eine Durchgangsstufe kennen, im Stadium Schiller nämlich; in der klassischen erst ist er zu sich, zu Shakespeare gekommen.
Ich gehe gleich mitten hinein und gebe ein Beispiel, das mich überaus bezeichnend dünkt. In ihrem Feldzug um die englische Krone und ihre Länder ist es für jeden der streitenden Könige überaus wichtig, die Stadt Angers zu besetzen. Die Bürger erklären — in beiden Fassungen —, sie bewahrten die Stadt für ihren rechtmäßigen König; wer aber recht habe, das müsse sich erst erweisen. So kommt es zur Schlacht, die jeder der Könige gewonnen zu haben behauptet und die gerade darum nach dem Bedünken der Bürger von Angers, unter deren Mauern sie gewütet hat, unentschieden geblieben ist. Sie weigern sich erneut, einem von beiden die Tore zu öffnen, und diese steife Hartnäckigkeit der Bürgersleute bringt den ritterlichen Bastard zu dem köstlichen Vorschlag, die feindlichen Könige sollten zunächst ihre Macht vereinigen, um die eigensinnige Stadt gemeinsam zu berennen und einzunehmen. Diese Gelegenheit, wo überhaupt von einer Einigung der streitenden Parteien erstmals die Rede ist, ergreift nun — immer in beiden Fassungen — der Sprecher der Bürger, um einen überraschenden Vorschlag zur friedlichen Verständigung anzubringen, der dem ganzen Handel die entscheidende Wendung gibt: Der Dauphin Louis und König Johanns Nichte, die junge Prinzessin Blanca von Kastilien, sollen sich heiraten. Das wird dann akzeptiert, und[S. 101] es kommt — in beiden Fassungen — zunächst zu einem Bunde zwischen England und Frankreich auf Kosten des jungen Arthur, um dessen Thronansprüche willen Frankreich angeblich den Krieg führt. In der ersten Fassung nun werden dem Bürger, der den Vorschlag macht, innig schöne Worte für den Frieden gegen den Krieg in den Mund gegeben, Worte der Bürgerlichkeit gegen das Kriegsmorden:
Diese schönen menschlichen Erwägungen im Zusammenhang einer ganz schnöden Aktion politischer Berechnung konnte der schärfer in die Welt blickende reife Shakespeare nicht mehr brauchen. Für das menschlich Empfundene dieser Betrachtung hat er gewiß noch so viel Sinn gehabt wie früher; aber gerade wegen dieses Charakters taugte sie ihm nicht an die Stelle. Statt dessen spricht der kluge politische Bürger in Worten eines feierlichen, klingenden, bilderreichen, wunderschön färbenden, aber inhaltlich leeren Pathos, wie sie für die Vorbereitung eines prunkvollen höfischen Zeremoniells am Platze sind, und der von dieser politischen Klugheitsniedertracht angewiderte Bastard bekommt Gelegenheit, in seinem humoristisch sich äußernden Zorn über die bombastischen Tiraden zu spotten, ohne daß unsre menschliche Empfindung getroffen wird.
Damit ist schon etwas über das Verhältnis des Sprachausdrucks in den beiden Fassungen gesagt. Darum steht es sehr merkwürdig. Die Sprache im frühen König Johann ist im allgemeinen überaus schlicht, plan, ungeziert, sachlich, dem ruhigen, ungehobenen Prosaton angenähert. Dazwischen aber drängen sich allenthalben Stellen ganz andrer[S. 102] Art, mythologisch, schwülstig, ohne daß sie irgendwie von der Situation oder dem Charakter des Redenden erfordert werden, so daß man merkt: der Dichter will sich in diesem Chronikdrama einen früheren ins Bombastische gesteigerten Stil abgewöhnen, ein paar Verse lang kommt ihm aber immer wieder die reich geschmückte Rede dazwischen. So redet der König von Frankreich mit einem Mal von Titan und den Mähnen seines Gespanns, dem Bastard flüstert Alekto etwas ins Ohr, Morpheus und Mars geben eine Gastrolle, Konstanze beschwört den Mythus von Briareus, und dies alles ohne die geringste innere Notwendigkeit oder Möglichkeit.
Im klassischen König Johann gebietet Shakespeare kraftvoll und überlegen über alle reichen Möglichkeiten seiner Sprache. Wir sehen es gleich in der ersten Szene; wo beim frühen Versuch alles ganz gut von statten ging und eine angemessene Sprache wie von selber lief, da ist diesmal bei der Umgestaltung ein wahrhafter Souverän am Werk. Zuerst waren zum Eingang ein paar Reden von König Johann und seiner Mutter da, die sich so anhören, als beginne jetzt gerade das Regiment Johanns. Das bleibt nun ganz dahingestellt; die Reden fallen weg. Dann wird in der ersten Fassung die französische Gesandtschaft vorbereitet und eingeführt, worauf König Johann mit der üblichen Redensart den Gesandten begrüßt:
Weg damit, sagt der neu schaffende Dichter. Wir kennen seine unnachahmliche zugreifende Art, sofort ins Thema zu führen, aus andern Stücken; so nun auch hier. Der Gesandte Frankreichs steht vor dem Thron, und der König fragt ohne weiteres in einem einzigen Vers:
Und dann hebt der Gesandte, der das Ultimatum überbringt, mit gemessenen Worten an, und im dritten Vers fällt schnei[S. 103]dend das Wort von der erborgten Majestät des Manns, der da auf dem Thron sitzt. Statt dessen fiel die erste Fassung hier aus der rhythmischen Sprache in eine bureaukratische Prosa zur Aufzählung der Forderungen; breit und fast behaglich wird gesagt, der allerchristlichste König habe Arthur, den Sohn und Erben von Johanns älterem Bruder, in Schutz und Vormundschaft genommen; das kommt jetzt straff, wie ein fester Hieb heraus:
und wo er früher ganz England und was dazu gehört, „zum Besten besagten Arthurs“ verlangte, ruft er jetzt schwungvoll:
Dann fängt im ersten Text Johann mit seiner Antwort zu rechten und die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen an; da würde er selber ja gar nichts übrig behalten und dergleichen. Jetzt weiß Shakespeare, wie ein König spricht, der, mag er sonst sein, wie er will, als Machthaber, als Herr, als Stolzer sich bei solcher Gelegenheit zeigt:
Diese knappe Frage ist seine Antwort.
Nichts ist bewundrungswürdiger, als Shakespeare hier bei der Arbeit zu sehn; nichts widerlegt auch besser das Gerede von dem unbewußten Schaffen des Genies im allgemeinen und dieses „Wilden“ im besonderen. Wahr ist freilich, daß der besonnene, überlegende, ordnende Kunstverstand, der da die Poesie kommandierte, nicht selber tüftelnd und berechnend ans Werk ging, sondern den Enthusiasmus und die Liebe, die sich phantasiestark in die Gestalten hineinversetzte, erst in die Tiefen des eigenen Herzens sandte. Verwandelt der Dichter das zu Gedehnte und Gemächliche in Spannkraft und Knappheit, so gönnt er ein anderes Mal der Leidenschaft die volle Wucht und Breite zur Entladung. Wie der Bastard vor den Mauern Angers’ den Königen den Rat[S. 104] gibt, ihre Macht gegen die frechen Krämerseelen da drinnen zu vereinigen, da tut er es in der ersten Fassung, obwohl sein Charakter in der Skizze auch da schon angelegt ist, wie ein rascher Mann, der einen famosen Einfall hat, übrigens aber mit der schuldigen Zurückhaltung:
Da ist einmal der Mann und dann als ein gemäßes, passendes Gewand die Sprache, in der er sich ausdrückt; das geschieht geziemend, und es ist nichts dagegen zu sagen. Wie aber ist Mann und Sprache, Situation, Herz und Ausdruck zusammengeschmolzen in dem herrlichen Katarakt, der sich in der endgültigen Form an dieser Stelle ergießt! Wie haben wir da in dieser einen einzigen Rede den ganzen Kraftkerl, seine Natur, seinen Geist und die Neuheit seiner Rolle, in der er sich trotz aller Zwiespältigkeit zwischen Natur und Politik, die er sehr wohl empfindet, so treuherzig behagt! Wie sind wir nun jetzt erst aus der gewöhnlichen Welt einer chronikalischen Dürre emporgehoben in die Wunderwelt, wo die Romantik aus dem tiefsten Innern, aus der geistgetriebenen Leidenschaft quillt! Wollten wir bei der Vergleichung dieser beiden Fassungen etwa an das Wunder denken, das Goethe vollbrachte, als er die rhythmische Prosa seiner Iphigenie in die ewigen Verse verwandelte, so hätten wir noch viel zu wenig getan; diese Iphigenie in all ihrer genialen, wunderschön menschlichen Konzeption müßte erst im kümmerlichen Stil eines Mannes aus der Aufklärungsgegend, so zwischen Bodmer und Gottsched, verfaßt gewesen sein, damit die Vergleichung ein rechtes Bild gäbe; eher dürfen wir der Verwandlung gedenken, die Kleist, wenn’s zum Tiefsten kam, Molières Amphitryon angedeihen ließ; nur daß hier das Überwältigende ist, daß Shakespeare nicht das Werk eines[S. 105] andern, sondern sich selbst so übergewaltig in die Höhe riß. Jetzt ruft der Bastard:
In dieser hitzigen, aber urgesunden Ekstase, der der Humor und der Spott gegen die andern wie gegen sich selbst nicht fehlt, kommt der Natursohn, dem ritterliche und gelehrte und moderne Bildung nicht fehlt, ohne das geringste aus fernen Zonen oder gar der Mythologie entnommene Gleichnis aus (denn die leidige Fortuna ist nur Übersetzernot; die englische fortune gehört der Volkssprache an). Hier an Ort und Stelle, in der Sinnenkraft der Situation, holt er sich die Gleichnisse, die seine Leidenschaft braucht: die Bürger auf den Mauern, die zusehen, wie die Heere um den Tod werben, sind Publikum in einer Tragödie; und wenn er[S. 106] ein Bild braucht für Öde und Vernichtung, so fällt ihm in der Wut und dem Ringen um den Ausdruck nichts Besseres ein als die leere Luft. Im übrigen, was liegt in diesem Moment seinem Zorn über die Kälte dieser verstockten Stadt näher als eben die steinernen Mauern und die donnernden Geschütze, die sie umstürzen sollen?
Wie dann die Bürgerpolitik über die Ritterlichkeit siegt, da ist in beiden Fassungen der Bastard zornig: das erste Mal aus persönlichem Interesse, weil er selbst sich mit der Hoffnung geschmeichelt hatte, Blanca zur Gemahlin zu bekommen; jetzt aber, weil zwei Arten, das gesamte Leben, das private wie das öffentliche, zu führen, gegen einander prallen. Shakespeare hat aus dem König Johann ein ganz männliches Stück gemacht, in dem die Geschlechtsliebe nur in der Vergangenheit, bei der Erzeugung des Bastards, eine auch nicht eben empfindsame Rolle spielen darf. Ursprünglich, in der jugendlichen Fassung, war’s anders: da hatte Blanca in einer überaus zarten, mädchenhaften Wendung anzudeuten, daß ihr Herz nur allzu gern dem Vorschlag zustimmte, aber um der Sittsamkeit willen um Schonung und Frist bat. Jetzt ist sie kein Bürgermädchen mehr, sondern eine Prinzessin, die sich frei und politisch, mit den in solchen Fällen üblichen festlichen Worten in die Situation findet. Wie aber dann die Ehe vollzogen ist und nun durch das Eingreifen des Kardinals mit einem Mal die Parteien sich wieder feindlich trennen, da wird die furchtbare menschliche wie politische Situation, wo Blanca mit Gesinnung und Herzen als Fürstin und Gattin in beide Lager gehört, zur Gestaltung gebracht. Wie Shakespeare jetzt alles episodische Geranke wegschneidet und den Sinn nie vom Geschehnis überwuchern läßt, so schafft er sich den Raum, um sein großes Thema in alle Verzweigungen wachsen zu lassen.
Die Fügung der Handlung, die Szenenfolge, die Situationen, die Charaktere, das alles stammt aus der Konzeption des jungen Shakespeare, wobei es unentschieden bleiben muß,[S. 107] aus welchen Quellen außer Holinsheds Chronik er etwa schöpfte. Wollte man bis in die kleinen Einzelvorgänge hinein die Handlung, die Aufeinanderfolge der Ereignisse, die Beziehungen der Personen zu einander erzählen, so wäre es fast gleich, ob man sich an die frühe oder die klassische Fassung hielte. Dabei aber ist kein Stein an seiner Stelle geblieben, ist keine Replik und kein Satz geblieben, wie sie erst waren. Ob man die große Episode des Bastards im ersten Akt oder die Verzweiflungsausbrüche Konstanzens oder das Auftreten des Kardinals oder das Schicksal des jungen Arthur oder König Johanns Ende nimmt, immer ist es im äußern Verlauf dasselbe, ist auch dieselbe Innerlichkeit schon angelegt, ist es im alten schon schön und interessant und stark, so daß man kaum etwas vermißt und befriedigt ist, und kann sich vor Staunen und Beglücktheit dann nicht lassen, wenn man die Steigerung, Verstärkung, Verfeinerung in der neuen Gestalt erlebt.
Im ersten Akt kommen gleich nach der Abfertigung des französischen Gesandten die beiden Brüder Faulconbridge an den Hof. Sie streiten ums Vatererbe, weil der jüngere den älteren für einen Bastard des verstorbenen Königs Richard Löwenherz erklärt. In der ersten Fassung kommt die Mutter gleich mit, ist dabei, wie der Streit vor den König gebracht wird, wird um das befragt, was sie am besten wissen muß, und leugnet. Diese Peinlichkeit vermeidet Shakespeare in der neuen Gestalt; nur die Brüder treten am Hof auf. Darum verzichtet er aber auf die Mutter doch nicht; wann hätte er je ein Motiv fallen lassen? Nun aber reitet sie atemlos auf ihrem Klepper hinterher, wie sie erfährt, daß die Brüder ihre Ehre an den Königshof getragen haben, und kommt an, nachdem alles entschieden ist; und der Bastard, der sich frei seinen Vater, den großen König, erwählt hat, ist in so strahlendem, zeugungskräftigem Glück, daß er seine Mutter nicht minder zwingend zum Bekenntnis der Wahrheit verführt, als einst König Richard das junge Weib[S. 108] zur Liebe verführt hatte, um dann in die himmlisch menschlichen, kindlich naiven und verwegenen Worte der Lust an sich, seinem Wesen, seiner Herkunft und seinem Zeugungsakt auszubrechen:
In der ersten Fassung kam es nachträglich auch zu diesem Geständnis der Mutter; aber durch wieviel gedehnte Reden wurde die Schlagkraft der Szene abgeschwächt! Auch zuerst schon hatte Shakespeare die Idee, der Königssohn solle durch eigenen Entschluß, man möchte sagen: in posthumer Selbstzeugung von sich aus seinen Vater bestimmen; und es war nicht übel, wie Konvention und die große Naturehre in ihm stritten, bis er in einer Art von hingerissener Eingebung mit Zungen redete: er möchte um Hab und Gut und Sitte willen sagen, er sei ein Faulconbridge, und wird wie von einem Dämon zu dem jubelnden Bekenntnis gezwungen, er sei der Bastard König Richards. Jetzt ist alles viel knapper, fester, sicherer; er steckt mit so saftiger Realität in seiner Adelsnatur, dieser flämische Kraftkerl, der aus einem Bilde von Rubens ausgebrochen zu sein scheint, daß so eine Art zitternde Mystik nicht mehr am Platze ist. Und überdies, ging es dem jungen Shakespeare nur um den Fortgang der jeweiligen Handlung, so ist der reife bei der Kunst angelangt, die die besondere Shakespearische ist und die nach ihm nie wieder einer so erreicht hat: die Gestalten sich gegenseitig beleuchten zu lassen, die Handlung aus den Charakteren zu spinnen und zugleich die Charaktere durch die Handlung zu modellieren. Hier treten drei Hauptspieler hervor: König Johann, seine Mutter Eleonore, der Bastard. Schon mit ein paar Worten, die zwischen den Empfang Chatillons und den Bruderstreit eingeschoben sind, haben der König und seine Mutter sich gegenseitig aufgehellt; da sieht man sie nicht in einer Staatsszene, sondern in rasch geflüsterten politischen Intimitäten; die Mutter zugleich eine Natur und ein[S. 109] Kopf; sie will das Regiment führen und hat darum den einzig noch überlebenden Sohn zum König gemacht, damit nicht die ihr widerwärtige Schwiegertochter Konstanze in Ausübung der Vormundschaft für Arthur, das Kind ihres ältesten Sohnes, statt ihrer ans Ruder kommt; sie steht in ihrem Willen und in der Macht, hat aber Frische genug, um zu wissen und gelegentlich zu sagen, daß es faul um das Recht steht. Das irgend einem oder auch nur sich selber zuzugeben, ist der König viel zu dürr und phantasielos; er kann nicht die Standpunkte wechseln, hat nicht die Umfänglichkeit, mit dem Munde zu lügen und doch innerlich in der Wahrheit zu sein; er hat die Lüge ein für allemal angezogen wie einen ledernen Panzer, den er nicht ablegt und der mit seiner Haut verwachsen ist. So bewährt er sich denn auch — wovon allem die erste Fassung nichts weiß — in der Faulconbridge-Szene, die er zur feierlichen Gerichtsszene gestalten will, als ein ausgezeichnet dürrer Jurist; das ist so ein Fall in seiner Kniffligkeit, der ihm, der Lust nicht kennt, Vergnügen macht: ein in der Ehe geborener Bankert ist ein eheliches Kind; das setzt er, der König, wo es um einen Sohn seines großen Bruders gehen soll, den baß erstaunten Landjunkern haarklein auseinander. Von alledem faßt der Bastard nichts weiter, als daß sein sogenannter Vater nicht die Kraft hatte, ihn zu enterben; das leuchtet ihm sehr ein; hatte der Schwächling doch auch nicht die Kraft, ihn zu zeugen und seine Frau bei der Treue zu halten. Die resolute Königin-Mutter, der der prächtige Kerl gefällt und die in jedem Zug ihren geliebten Sohn erkennt, muß eingreifen, um das trockene Gestrüpp der Juristerei wegzuhauen; sie erkennt in dem jungen Menschen die echte Natur, den Adel, das kriegerische Feuer: den will sie als Enkel haben, wo jetzt der Streit gegen das andre zarte Enkelkind, den Sohn Konstanzes, anheben soll, der soll der Kämpe ihrer Puppe, des Königs Johann, werden; und nun, wo sie entschieden und Philipp dazu gebracht hat, sich jubelnd als Bastard ihres Sohns zu erklären,[S. 110] ist der König wieder ganz in seiner Rolle, die er würdig ausfüllt: er schlägt den wilden Sprößling seines Hauses feierlich als Sir Richard Plantagenet zum Ritter.
In der Skizze ist diese Prachtgestalt auch schon in der ersten Fassung angelegt. Aber wie bekommt sie nun erst das strotzende Renaissancegeblüt, wie wird sie nun zu einer der strahlendsten, eigensten Gestalten Shakespeares. Ganz und gar das Gegenstück zu seinem königlichen Oheim ist der Bastard; auch er, nach der eigenen Erklärung des Juristenkönigs, ein Erbe mit zweifelhaftem Recht, auch er ein Erbe ohne Land; aber er ist alles, was Johann nicht ist: frei, kindlich, lustig, ehrenhaft, wahr; er wird freveln können und in der Zivilisationssphäre, in die er nun hineinkommt, nah genug mit Verdorbenheit in Berührung kommen und wird sich, zumal in der dienstbaren Treue zu dem Mann, der ihn zum Ritter geschlagen und zum Königssproß gemacht hat, von Verschuldung nicht frei halten; aber er bleibt, wozu es der König nie bringen wird, eine Natur. Das war so recht eine Frage für ihn, die Frage seiner Großmutter, die ihm wahrhaft verwandt ist, nur daß ihr Teil frauenhaft starke List ist, wo er als tapferer Haudegen dreinschlägt, die Frage:
Das brachte die rechte Saite in Schwung: ein Königssproß und dazu auf nichts gestellt als auf sich selber:
Er ist so eine von den elementaren Naturen, die in jeglichem Element, selbst im Verbrechen und im Schmutz, unschuldig und rein sind; seine Stärke und Freiheit ist seine Reinheit, weil er von der Welt nichts braucht, was außen anhängt, kein Gut, keinen Schmuck, keinen Schein; er braucht nur Platz zur Entfaltung seiner Kraft. Darum freut er sich so[S. 111] kindlich seiner Abkunft, weil die ihm sein Ich bestätigt und ihm versichert, seine herrliche Gestalt, in der er mit Stolz drinsteht, sei kein Kleid, kein außen an ihm baumelnder Zufall, sondern er selber in seinem ererbten Adelswesen. Daß er in der Gesellschaft nie ganz anerkannt sein wird, daß immer etwas Wildwüchsiges, Frevelhaftes an ihm sein wird, das tut ihm keinen Abbruch; das ist ihm grade recht, daß seine Ritterlichkeit nicht Sitte, sondern Natur ist. Der Konvention spottet er, und sein Ursprung soll ihm Lebensmaxime sein, als ob er ihn sich selbst aus freier Selbstbestimmung als sein eigener Erzeuger erwählt hätte; er ist der echte Mann der schamlosen Lust, die Frohgefühl und freier draufgehender Wille zugleich ist:
In diesem herausgejubelten Ich bin ich! steckt aber nur eine fast tolpatschige Kraft und Freude an dem strotzenden Leben, das er in sich spürt; bei all seiner Unbedenklichkeit hat er nicht einen Funken von Jagos ichsüchtiger Bosheit oder jenes andern Richards, Richards III. aggressiver Menschenscheu und Isolierung. Ja, so sehr dieser seiner Naturkraft Witz und behende Klugheit mitgegeben sind, so sehr er mit Willen geladen ist, der junge Mann hat kein Ziel und keine Richtung und will nichts für sich. Es macht ihm Spaß, wenn er einen Einfall hat, den man als politisch deuten könnte; aber er ist eine Herrennatur ohne Herrschtrieb, wie er ein Adelsmann ohne Grundbesitz ist; der echte Ritter, der einen Herrn braucht, gar kein Prinz, gar keine Königsnatur. Drum liegt ihm in all seiner leidenschaftlichen Ausschweifung auch die Treue so gut; drum ist er bei aller schnell fassenden Gescheitheit doch so kritiklos und unwählerisch, wenn er sich erst einmal einem[S. 112] ergeben hat, drum hat Eleonore mit ihrer Liebe, die bei ihr nie ohne Eigennutz ist, einen so guten Griff getan, als sie ihn zum Kämpen ihres Sohnes Johann und damit zu ihrem eigenen erwählt hat.
In der ersten Fassung scheint der junge Dichter von der Vorstellung noch nicht loszukommen, daß jedes Stück seine Clowneinlagen braucht und daß der Bastard in all seiner Herrlichkeit doch auch der verwandelte Spaßmacher des Stücks zu sein hat. Ein wenig von dieser ursprünglichen Nebenbestimmung merkt man der Gestalt auch in der klassischen Fassung noch an. Eine sehr ernste Untersuchung könnte das sein, den zu lebendigen Menschen verwandelten Spaßmachern in Shakespeares Tragödien nachzugehn, vom Narren im Lear, der dann so plötzlich aus dem Stück zurücktritt, weil Edgar seine Rolle übernimmt, bis zu Hamlet, der in den Szenen verstellten Wahnsinns am Hof sein eigener Clown ist! Wundervoll aber hat es Shakespeare schon das erste Mal verstanden, die lustige Einlage zu einem notwendigen Stück der Handlung zu machen. Das ist die burleske antikatholische Szene, die Shakespeare dann radikal getilgt hat: der Bastard im Kloster, wie er im Dienste König Johanns den Mönchen ihr Geld abnimmt. Dies zugleich stark aufgetragen Tendenziöse und roh Humoristische scheint Shakespeare später so schlecht in das Stück gepaßt zu haben, daß er auf die Sichtbarkeit der Gewalt, die den Mönchen angetan wird, ganz verzichtet hat. Wohl erhält der Bastard den Auftrag zu diesen gewaltsamen Eintreibungen, und schon vor Beginn des ersten Feldzugs hören wir jetzt von Johann:
aber, wenn am Schluß nun ebenfalls wiederum nur berichtet, fast nur vermutet wird, der König sterbe an Gift, das ihm ein Mönch beigebracht habe, während wir in der ersten Fassung auch die Vorbereitungen zu dieser tückischen Ermordung und die Vergiftung selbst mit Augen gesehen hatten, so ist[S. 113] kein Zweifel, daß Shakespeare Gründe der innern Handlung und der künstlerischen Komposition hatte, warum er diese Motive zwar im Stück ließ, aber aus der Sichtbarkeit und Eindringlichkeit verbannte. Wie aus der Entfernung klingt es uns ins Ohr, daß dieser König als Kirchenfeind, Erpresser und Tyrann von einem Mönch getötet worden ist; das andre Motiv, das auch schon in der ersten Fassung da ist, daß er auch ohnedies ein müder, siecher, vom Tode gezeichneter Mann ist und daß er stirbt, weil kein Leben mehr in ihm ist, ist uns so greifbar nah gebracht, daß die Vergiftung wie eine nebensächliche Begleiterscheinung daneben fast verschallt. In der ersten Fassung hat Shakespeare den größten Wert auf das Tatsächliche der Geschichte gelegt, und fast nur nebenbei, wie ohne seine Absicht und durch das Wunder seiner Persönlichkeit ist ihm noch nicht alles, aber schon so vieles ins Menschliche geraten; jetzt ist er seiner Kraft, seiner Mission und damit seines Ziels bewußt und zeigt im Urindividuellen das Menschenschicksal, im geschichtlich Besonderen das Allgemeingültige.
Man hat sich viel darüber aufgehalten, daß Shakespeare in dieser Historie das, was uns an der Regierung König Johanns das wichtigste ist, die Kämpfe im Innern, die zum Fundament der englischen Verfassung, zur Magna Charta geführt haben, gar nicht beachtet. Man soll uns erst den nennen, der sie in der Zeit sonst beachtet hat. Die innern Kämpfe selbst zwischen dem König und den Herren bilden einen wichtigen Teil der Handlung des Stückes; die Bedeutung, die das Verfassungsinstrument für die Folgezeit hatte, hat Shakespeare so wenig gekannt wie die andern Autoren der Zeit; er sah nur den Kampf um die Macht, und als die Repräsentanten dieses Machtstreits hat er die Staaten England und Frankreich, die Kirche und ihre Prälaten, die großen weltlichen Herren und die auf ihre Selbstbestimmung trotzenden Städte eingeführt und hat gezeigt, zu welch seltsamen hin und her gehenden Bündnissen diese Machtverteilung führte.[S. 114] Ich will keineswegs behaupten, Verfassungskämpfe seien kein Gegenstand für ein Drama; der Dichter kann jeden Widerstreit in seiner menschlichen und menschheitlichen Bedeutung aufzeigen; eher könnte man die Frage aufwerfen, ob nicht, wenn noch ein paar Jahrhunderte verstrichen sind, die Geschichte der vereinfachenden Darstellung Shakespeares am Ende recht geben könnte: daß es in dem Streit, gleichviel, was für Worte und abstrakte Formeln dazwischen geschoben und als Gewand angetan wurden, um nichts andres ging als um die Macht. Wir heutigen Tags, die wir in diesen Kämpfen drinstehen, glauben und wollen, daß es um die Einschränkung der Macht ging, der Macht überhaupt und damit um die Begründung einer freieren Bewegung in der Gesellschaft; sollte sich aber herausstellen, daß es nur um die Einschränkung der Macht der andern und um die Aufrichtung neuen unterdrückenden und beraubenden Regiments ging, dann wäre Shakespeare, ohne Rücksicht darauf, daß seine Nichtbeachtung auf Unkenntnis beruhte, mit seiner vereinfachenden Darstellung vor den Jahrtausenden gerechtfertigt.
Ihm geht es um den großen, fast möchte man ganz bitter sagen: um den ewigen Streit zwischen Politik und Menschlichkeit. Wir sehen, wie der König von England je nach seinem Interesse und der Situation gegen die Kirche geht und mit der Kirche geht; wie der König von Frankreich um seiner Herrschaftsinteressen willen das Recht des bei Seite geschobenen Prinzen Arthur verficht, und wie er ihn dann schnöde fallen läßt, sowie er seine Interessen besser durch friedliche Verständigung wahren kann, und wie er dieses neue Bündnis mit England dann sofort wieder aufgibt, wenn er glaubt, in neuem Bündnis mit dem Papst noch besser abzuschneiden oder im andern Fall vom Papst schwer geschädigt zu werden; wir sehen, wie die englischen Großen abwechselnd mit ihrem König für die Einheit des Reichs, gegen ihren König und landesverräterisch mit dem Fremden[S. 115] verbunden für ihre Unabhängigkeit und wider die Tyrannei, und dann wieder mit ihrem König gehen. Und wir sehen, wie all dieser Machtstreit bei jeglicher Stellungnahme ein Gewand großer Worte und scheinbar allgemein gültiger Grundsätze findet, in das er sich einhüllt, und wie er immer mit menschlichen Sympathien und Antipathien, mit menschlichen Regungen und Glaubens- oder Aberglaubensvorstellungen, mit Überzeugungen und Leidenschaften verquickt ist. Wie oft in seinen Geschichtsdramen hat es Shakespeare auch hier wundervoll verstanden, das, was in der wirren Wirklichkeit zeitlich auseinandergerissen ist — die Regierungszeit König Johanns, die er vorführt, umfaßt 17 Jahre —, als einen einzigen lückenlosen Zusammenhang und rundes Gebilde darzustellen, wo man innen im Fluß der Zeit zu stehen scheint und darum nicht ermessen kann, wie lange sie dauert.
Dies Stück gehört, worüber man nicht zu staunen braucht, bei den meisten unter unsern Shakespeare-Autoren zu den unbeliebten; es geht da immer noch nach Sympathien zu, die man den Gestalten entgegenbringt, und sie mögen das grelle Rot, das zarte Rosa, das pechdunkle Schwarz, aber nicht das Grau dieses Königs Johann. Ja, er ist grau wie Asche oder fahl wie Leder und Leber, dieser ungeniale unter den Usurpatoren; gerade dieses Bild sollte uns diesmal gezeigt werden, und ich meine, wir Menschen, um deren Seelenerschütterung und Lebensführung willen der gewaltige Mann Shakespeare gelebt und an uns und unsern Einrichtungen gelitten und geschaut und gedichtet hat, hätten Wertvolles eingebüßt, wenn dieser kahle Herrscher in Shakespeares Skala der Könige gefehlt hätte. Echt und temperamentvoll ist Johann nur in seinem Haß gegen die mit allen Mitteln des Geistes und der Phantasie arbeitende gewaltige Konkurrenzmacht der weltlichen Herrschaft, den Papst und die Kirche; und der Halt, den er in seinem Innern hat, die Achse seines Wesens zermürbt in dem Augenblick, wo er sich, um die[S. 116] Krone auf dem Kopf zu behalten, diesem Todfeind seines Wesens und seines Reiches unterwerfen muß. Der Mann, der zu Unrecht auf dem Thron sitzt, kennt, was ganz zu seiner Rolle eines trockenen und seiner Natur nach unkriegerischen Usurpators paßt, keinen angelegentlicher eingesetzten und der Verehrung empfohlenen Götzen als das juridische Recht — wie schändlich und wie unabweislich, daß man eine solche Wortfolge braucht, um vom Recht das Recht zu unterscheiden! —, und so wie klingendere und farbigere Herrscher sich als den obersten Kriegsherrn oder den Hort der Künste und Wissenschaften fühlen, so erfaßt er sich als den höchsten Richter seines Landes. Gleich zu Beginn des Stücks bekamen wir eine Probe seiner Rechtsprechung; und aus dem Herzen, soweit er nur so etwas hat, kommen ihm die Worte, in denen er — in der ersten Fassung — gegen den Anspruch der ultramontanen Macht die nationale Gerichtsbarkeit aufrichtet:
Auch in der endgültigen Gestalt sind die Worte, die der König gegen Roms Zehnten und Zinsen, gegen das schnöde Ablaßwesen und das Feilhalten von Pfründen spricht, sehr stark; mit zäher Kraft und im Ton völliger Unnachgiebigkeit verficht er die weltliche Oberhoheit des nationalen Königtums, das sein Recht in sich selber trägt, so daß kein Papst sich zwischen den König und den Himmel drängen darf; wie er dann im Krieg mit dem Papst und dessen Schwert, dem allerchristlichsten König, ins Gedränge kommt, ist es ihm lieber, sich die Krone von den großen Herren Englands befestigen, noch einmal aufsetzen zu lassen, als vom Statthalter Gottes auf Erden; und sein Abfall von sich selbst, sein Ende von innen her ist besiegelt, wie er dann doch, da er um jeden Preis, selbst um den der Würde, die Krone behalten will, diese[S. 117] Krone, äußerlich demütig, innerlich knirschend, dem Papst zur Verfügung stellt und sich zum dritten Mal von dessen Legaten krönen läßt. Und welch tragische Ironie, daß in dem Augenblick, wo er sich mit der Kirche ausgesöhnt hat, zu der Krankheit, die an dem Unterwühlten und Galligen zehrt, noch aus einem Haß heraus, der schon nicht mehr zeitgemäß ist, das Gift des Mönches kommt! Man erinnert mit Recht immer daran, daß die begeistert nationale wie die antikatholische Richtung des Stückes von dem Sieg der Engländer über die Spanier, vom Untergang der Armada befeuert wurde; ruft doch — in der ersten Fassung — am Schluß der Dichter mit seinem Kriegshelden, dem Bastard, ganz aus dem Stück ausbrechend:
Aber man darf auch darauf hinweisen, daß ganz Europa voll dieser revolutionär-ständischen Kämpfe war und daß ein Jahr nach dem großen Sieg, 1589, der französische König Heinrich III., der auch in schwierigstem Kampf um seine Krone abwechselnd päpstlich und antipapistisch war, ganz so starb, wie einst König Johann gestorben sein sollte: ermordet von einem Mönch. Sehr wahrscheinlich, daß diese Tat geschah, ehe Shakespeare das Drama dichtete, das 1591 erschien. Annähernd zwei Jahrzehnte später, noch zu Shakespeares Lebzeiten also, fiel, auch das darf erwähnt werden, der nächste französische König, Heinrich IV., unter Umständen, die der Ermordung Johanns noch ähnlicher waren: wiederum unter dem Dolch eines Fanatikers aus verspäteter Rache, nachdem sich der König mit den Katholiken und den Ständen, mit denen er im Krieg gelegen war, schon versöhnt hatte.
Will man zusehen, wie der größte szenische Meister sich in seinem Handwerk vervollkommnet hat, so studiere man, wie er in der klassischen Fassung die größte politische Klugheit, die mit Menschlichem gar keine Berührung mehr hat, und[S. 118] eine lodernde Leidenschaft, die vom Politischen ausgehend ganz ins Menschliche versprüht, in eine Szene zusammengebracht hat, wie die Politik des Kardinals Pandulpho und die Racheschreie und Triumphrufe der Mutter Konstanze sich beide zugleich gegen König Johann richten, der noch eben am Ziel all seiner politischen Wünsche schien. Auch Konstanze ist, in ihrer Natur wie ihren Erlebnissen, gleich allen andern Gestalten der Dichtung, von vornherein so angelegt, wie wir sie kennen. Aber der Dichter hat ihre Situationen geändert, und zwar bei den beiden hintereinander folgenden Gelegenheiten jeweils im umgekehrten Sinne. Wo zuerst der überraschende Vorschlag der Bürger von Angers kommt, dem Streit der Könige auf Arthurs Kosten durch die politische Heirat ein Ende zu machen, da ist in der ersten Fassung Konstanze und ihr junger Sohn dabei, und beide, zumal Konstanze, haben durch Rufe der Entrüstung und des leidenschaftlichen Zorns die Verhandlungen zu stören und auf ihr klägliches Los aufmerksam zu machen. Jetzt sind sie entfernt, und die Schamlosigkeit des Kompromisses drängt sich uns stärker auf, wenn König Philipp erleichtert feststellt, daß die beiden, die er jetzt eben verrät, nicht anwesend sind. Vor allem aber ist der Ausbruch der Leidenschaft, der vorher mehr wie verzettelte Bosheit wirkte, jetzt gesammelt in einen rasenden Erguß nachträglicher Ohnmacht, und innig schön ist es, wenn das Kind, dem jetzt eben alles geraubt wurde, das Kind, um dessentwillen die Mutter geschmäht und gepeinigt wird, sie doch zu besänftigen sucht. Wie unvermutet, wie gewaltig aber steigert sich diese Szene im Zelt des Königs von Frankreich noch ferner! Mitten hinein in diesen Ausbruch des Mutterschmerzes und der zügellosen Wut über den Verrat des Franzosenkönigs kommt der feierliche Hochzeitszug aus der Stadt Angers zurück: die Neuvermählten, die beiden verbündeten Könige und die verhaßte Königin-Mutter, deren Politik nun gesiegt hat. König Philipp feiert in schwülstigsten Pompworten diesen hohen[S. 119] Festtag, bis Konstanze mit Worten, die so vom Pathos des Leidens und der Leidenschaft geschwellt sind, wie die des Königs von falschem Lügenpathos geschwollen waren, mit ihrem stürmisch wehenden Fluch dazwischenfährt, der als Wutgebet gen Himmel schreit:
Shakespeare, der seine großen Szenen immer wie nach musikalischen Prinzipien baut und die Gesetze der Symphonie vorwegzunehmen scheint, trennt diesen Fluch von seiner Erfüllung, indem er unmittelbar neben das Furioso ein kleines, leichtes Scherzo setzt: den humoristischen Zusammenstoß zwischen dem Herzog von Österreich und dem Bastard, womit überdies eine abschweifende Episodenszene der frühen Fassung genial ersetzt ist. Und nun, wo unser flutendes Mitfühlen angenehm abgeebbt ist, tritt mit einem Mal der Kardinal Pandulpho auf, und nach der rasenden und der humoristisch gebändigten Wut — denn wir wissen, was für wilde Gründe zur Rache König Richards natürlicher Sohn gegen dessen Mörder Österreich hat — bringt der Legat des Papstes die diabolische Ruhe einer fast genial zu nennenden politischen Klugheit und damit für Frau Konstanze die Erfüllung ihres Fluchs, dazu noch im Namen des Himmels: er verflucht den Ketzer Johann und tut ihn in den Bann, erklärt ihn für vogelfrei und fordert Frankreich zum Zerreißen des Bündnisses und zum Krieg gegen den Tyrannen auf. Da war Shakespeare in der ersten Fassung wieder in den bureaukratisch-chronikalischen Prosaton verfallen; dem jugendlichen Dichter war es noch nicht gegeben, die dürre Gemeinheit der Politik in rhythmischer Sprache zum Ausdruck zu bringen; er brachte nur eine trockene, karge[S. 120] Sachlichkeit zwischen den beiden Königen und dem Kardinal zustande. Welcher Reichtum jetzt; wie hat er schon vorher die Stimmen einzeln eingeführt, um sie nun zu einer vielfältigen Ensembleszene zusammenzubringen! Wie er bei ihrer großen Enttäuschung Konstanze nicht dabei sein ließ, um ihren Zorn unmittelbar darauf gesammelt zu bringen, so hat er sie jetzt auf der Bühne gelassen, auf daß sie unmittelbar nach dem Ausbruch der Wut ihren Triumph ausströmen lasse, und so kommt es zu dem Duett zwischen Pandulpho und Konstanze, wo sie den glatt geordneten, pathetisch höflichen Fluch des Papstes durch ihren, der einer natürlich menschlichen Empfindung entstammt, überbietet; und die beiden feindlichen Weiber, Eleonore und Konstanze, geraten für einen Augenblick noch an einander, und Österreich und der Bastard fahren wieder rasch gegen einander los, und der Konflikt Blancas, der Neuvermählten, zeigt sich mit huschender Tragik an: und all dies Gewoge, das uns immer neu fesselt, hat der szenische Zauberer, so sehr es in sich selbst mannigfache Bestimmung hat, dazu noch uns vor Ohren und Sinn gebracht, damit wir durch es hindurch das Schweigen und den Kampf des Königs von Frankreich mit sich selbst vernehmen sollen. In der ersten Fassung war der Dichter an dieser Stelle noch ganz unbeholfen und genügsam: kaum hatte der Kardinal sein Sprüchlein gesagt, so fügte sich Frankreich dem Papst und trennte sich von Johann. Jetzt ringt er mit sich, und wie er schließlich Worte findet, hält er an den Legaten eine bewegliche Ansprache, der es an Menschlichkeit nicht fehlt. Jetzt eben führt er dem Gesandten des Statthalters Gottes vor Augen, haben sie, die beiden Könige, einander Treue, Frieden und Freundschaft geschworen, nach blutigstem Gemetzel; soll denn im Namen Gottes dies göttlich Schöne wieder entsetzlichem Morden weichen? Er beschwört den Kardinal, einen milderen Ausweg zu finden. Der Kardinal merkt, daß der schwankende König nicht eigentlich einen sanfteren Weg begehrt, sondern[S. 121] eine mildere Benennung für den Treubruch, Watte aus Worten, in die sich die Abtrünnigkeit einwickeln läßt, ein System von Begriffen oder eine Gesellschaft von Vorgängen, so daß er sich nicht wie ein ausgestoßener Verruchter, sondern wie ein Mann in bester Gesellschaft fühlen darf. Das liefert ihm der Kirchenfürst mit einer so blendenden Virtuosität, wie sie nur die Übung in spitzfindigster Scholastik gewährt. Er setzt dem König auseinander, er habe Falsches, Unrechtes beschworen, das seinem ersten, obersten Eid, der Kirche gehorsam zu sein, zuwider sei. Nimmt man sich etwas Falsches vor, so ist das beste Mittel dagegen, es nicht zu tun. Wer gegen die Religion schwört, ist meineidig, wenn er den Eid hält; und überdies, er erachtet es nun doch für nötig, dem Widerstrebenden außer der milden Salbe den Reiz robuster Drohung zu verabreichen: wenn er nicht gehorsam ist, kommt Bann und Fluch über ihn wie über Johann. Und das alles in ruhigster, logischer Sachlichkeit und doch in dem hohen, getragenen, rhythmischen Ton des Einlullens und Bezauberns. Und wieder kommen die andern Stimmen dazwischen: der Dauphin, ein unbedenklicherer junger Kriegsmann und Politiker, der den ganzen Vorteil ins Auge faßt, ruft zum Krieg, die junge Frau klagt, Österreich und der Bastard reizen einander, Konstanze bettelt, der Kardinal droht kurz mit dem Fluch, da ist endlich — so kunstvoll ist die Szene gebaut, daß wir endlich sagen dürfen, wo es um plötzlichen Bruch der eben beschworenen Treue geht — der König entschlossen: der Krieg hebt wieder an. Von all diesen Retardationen und Steigerungen, von all dieser Seelenkunde und Kunst des Komponierens weiß die erste Fassung, die in diesen Teilen nicht viel mehr als dramatisierte Chronik ist, nichts. Dann aber wendet sie mehrere Szenen auf, um das wechselnde Hin und Her des sofort einsetzenden Krieges zu schildern: der Bastard tötet Österreich im Einzelkampf und hält einen Monolog an seiner Leiche; die Königin-Mutter wird gefangen und von Konstanze verhöhnt; aber das Glück[S. 122] wendet sich, Eleonore wird befreit und dafür Arthur von den Engländern gefangen. In der Umarbeitung geht Shakespeare stracks aufs Ziel los; auf die Gefangennahme Arthurs kommt alles an; die gibt der Handlung die neue Wendung; er gibt von den Wechselfällen der Kämpfe nichts auf, tut aber das alles jetzt zum Erstaunen in zehn Versen ab. Er hat keine Freude an kriegerischen Vorgängen auf der Bühne; sie sind nicht darzustellen und offenbaren keine Innerlichkeit; sie gehören bei diesen Stoffen zum Fortgang der Handlung; aber, wo es geht, läßt er lieber von ihnen berichten, als daß er sie darstellt. Mit einer fast lustigen Sicherheit vollbringt der Geübte diese virtuose Verkürzung und hat doch noch Zeit, die Naturen seiner Menschen dabei rasch zu beleuchten: der unkriegerische König befürchtet, seine Mutter könnte, so wie der Kampf jetzt steht, in Gefangenschaft geraten; derweile hat der tapfere Draufgänger, der Bastard, sie schon wieder befreit.
So eng Shakespeare dieses Äußere zusammengedrängt hat, so breit schafft er sich nun Raum für die beiden Szenen, die im englischen und französischen Lager die politische wie menschliche Folge aus diesen Vorgängen ziehen und die auf der Vorstufe nur karge Skizze geblieben waren. König Johann kann nicht zweifeln, daß nun, wo der Prätendent in seine Hand gefallen ist, der Krieg erst recht anhebt; er schickt den Bastard voraus nach England, um die Klöster zu plündern: er braucht Geld und holt es beim Feind im eigenen Land. Arthur — der in der ersten Fassung noch nicht annähernd in der Zartheit wie in der klassischen als unschuldsvolles, ganz unpolitisches Kind erfaßt war, der vielmehr dem Usurpator ins Gesicht zu sagen hatte, er, das Kind, sei der echte König von England, und nur die Macht habe gesiegt, nicht das Recht — Arthur denkt jetzt nur an den Schmerz, der seine arme Mutter foltern wird. Der König aber, der ihn, um dessentwillen er keine Ruhe auf dem Thron findet, nun in der Gewalt hat, sinnt auf ganz anderes. Plump,[S. 123] phantasielos, ohne Einblick in die verwirrt ineinander geflochtenen Interessen und ohne Voraussicht des Kommenden empfindet er nur, daß der Knabe Arthur an allem Unheil schuld ist und daß er ihn in seiner Gewalt hat. Sterben soll er, und sein ergebener Dienstmann und Kämmerer Hubert ist der rechte Mann, ihn so in Gewahrsam zu halten, daß er nicht lebendig aus dem Kerker kommt. Das möchte er nun dem Mann beibringen: Zeit verlieren will er nicht, gerade heraus sagen will er es auch nicht, die gefällige Kunst andeutender, euphemistischer Rede ist ihm nicht gegeben: so redet er ganz erbarmenswürdig, fast schwitzend heilloses Kauderwelsch zusammen, bis Hubert ihm versichert, er sei zu jeder Tat für seinen König bereit, und wenn’s um seinen Tod ginge. Das war das rechte Wort: Tod; nun macht der König ihm mit genügender Deutlichkeit verständlich, das Kind müsse sterben. Der Getreue sagt’s mit einem gestammelten Wort zu; der König ist fürs erste beruhigt; er weiß, auf den Mann kann er sich verlassen.
Und nun kommt, was mir die entscheidend wichtigste Szene des ganzen Stücks ist; auch sie ist in der Anlage schon in der ersten Fassung vorhanden; aber vergleicht man das mit dem, was daraus geworden ist, so meint man, der Dichter hätte sich damals nur rasch die Punkte notiert, die er später ausgestalten wollte; sieht man dann näher zu, so ist man noch erstaunter, in dieser Kärglichkeit doch noch so viel überflüssige Worte und abscheulich unwahrhafte gelehrte Gleichnisse zu finden.
Hier ist eines der Beispiele, die uns zeigen, wie Shakespeare auf der Bühne sehr häufig nur zu seinem Recht kommt, wenn — gleichviel übrigens, ob zwei Akte oder sonst zwei Szenen an einander stoßen — die Szenen pausenlos auf einander folgen; oft nicht darum, weil die Handlung fortgeführt wird, sondern weil das nämliche Geschehnis von einer andern Seite gezeigt wird und so die Szenen in ihrer Gegensätzlichkeit Licht auf einander werfen. Die dekorative Kunst ist nur[S. 124] insoweit bei Shakespeare am Platz, als sie die geistige Bedeutung nicht verrückt oder hemmt; sie darf uns nicht ablenken, weder durch ihr Vorhandensein, noch durch ihr Fehlen, noch durch archaischen oder gar parodistischen Aufputz.
Kaum haben wir vernommen, durch welch schreckliche Zurüstung König Johann zu Sicherheit gekommen ist und wie er sich anschickt, mit seinem jungen Gefangenen nach England heimzukehren, sind wir bei der schweren Gedrücktheit im Lager der Franzosen, wo nur einer den Kopf hoch trägt: der Kardinal Pandulpho. Und gleich kommt, einer Rasenden, einer Irren gleich, die Haare in wilder Auflösung, Konstanze herbei. Welche Verzweiflung! Welch ein Ausdruck der Verzweiflung! Und wie wissen wir schaudernd, welchen Rechtes diese Todesnot ist! Jetzt eben haben wir den Stich ins Herz empfunden, daß der holde Knabe um ruchloser Politik willen sein Leben lassen soll, und jetzt eben ruft die Mutter als einzigen Tröster den Tod herbei. In was für Tönen! Keines der gräßlichen, keines der wilden, keines der verzückten Bilder ist zu viel, wie sie den Tod als Geliebten ruft, wie sie sein Knochengerippe küssen will, wie sie sich all das Ekle des Untergangs schauerlich ausmalt und wünscht; man muß an die Sprechkunst größter Darsteller und Darstellerinnen denken, um zu wissen: in der Ekstase des Schmerzes bedarf die Schauspielkunst des überhitzten und verstiegenen Barocks der Worte, weil die Leidenschaftsrede Stoff im Mund haben muß, um das Unsägliche, das Unartikulierte zu formen. Und was sie nur immer sagt und seufzt und heult, alles ist aus ihrer äußern und innern Situation, alles aus ihrer Lebenserfahrung einer leidenschaftlich getriebenen Frau und Mutter. Inniglich schämt man sich bei dieser reinsten Wahrheit, bei dieser Fülle des Geistes, die in der Nacktheit des Menschlichen steht, des jungen, unreifen Shakespeare, der Konstanze in diesem Momente auch, um ihre äußerste Seelennot auszudrücken, noch von Dido und Trojas Untergang hatte fabeln lassen. Ihr Leben ist aus, und wir[S. 125] werden sie nicht wiedersehen; wie Kassandra in Troilus und Cressida die erschütternde Klage um Hektors Tod noch bei seinem Leben und vor seinen Ohren anstimmt, so zeigt der Dichter uns Konstanze nicht mehr nach Arthurs Tod: jetzt sieht sie ihn wie einen von Kerkerluft gräßlich Entstellten und Sterbenden und Auferstehenden; auch wenn sie nun aus all ihrer Qual heraus in den Himmel eingehen darf, wird sie ihr zartes, in Pein gestorbenes Kind drüben nicht einmal mehr finden, nicht mehr erkennen. Die Ekstatikerin, deren Fluch vor kurzem so ganz anders, als ihre Leidenschaft geschaut hatte, in Erfüllung gegangen war — denn nie hätte sich die Heiße träumen lassen, daß ein Bote des Himmels wie dieser Kardinal aussehen könnte! —, sieht auch jetzt das düstere Los ihres Knaben wie im zweiten Gesicht und sieht es in keinem Zug so, wie es in der Wirklichkeit bevorsteht, sondern in traumhaft-fiebrischer Verwandlung; sie weiß in ahnender Gewißheit: ihr Sohn muß sterben; von den Umständen weiß sie nichts.
Die Menschen, denen sie ihr Leid zuruft, weil andre nicht da sind, haben keinerlei Trost für sie. Sie empfindet durchaus, daß die ihre eigenen Sorgen ganz andrer Herkunft haben und daß sie von ihnen mehr zur Ruhe gewiesen als getröstet wird. Zumal dieser Kirchenfürst mit seiner unerschütterlichen, unergründlichen Ruhe, dieser Pfaffe, der nie Vater gewesen und für sie darum kein Mensch unter Menschen ist, kann sie nur aufreizen und erbittern. Und wie sie dann in Verzweiflung von diesen kalten Rechnern in die Einsamkeit ihres Grams geflohen ist, erfahren wir, und zugleich wird die Seele von Entsetzen und der Geist von Bewunderung ergriffen, wie recht sie empfunden hat. Nie hat die Bühne einen größeren, einen unmenschlicheren Politiker getragen als den Kardinal Pandulpho; gegen ihn werden so respektable Rechner wie Mephisto, Oranien, Octavio Piccolomini gefühlvolle Seelen und pfuschende Anfänger. Was der Überschwang des Mutterschmerzes ahnungsvoll[S. 126] geschaut hat, das erkennt der genieverwandte, diabolische Verstand dieses trockenen Italieners mit zweifelloser Sicherheit und stellt es in seine Rechnung: König Johann wird Arthur ermorden. Schön. Dann ist also der Dauphin Louis durch seine Heirat mit Blanca von Kastilien der Thronberechtigte; Johann wird umsonst gemordet haben. Und dieser ungeheure Frevel wird das Volk und die Großen seines Landes gegen diesen Ketzer, den die Kirche in Bann getan hat und der nun als niedrigster Mörder dasteht, in Aufruhr bringen. Noch nicht sicher, daß Johann den Mord vollbringt? Frankreichs Armee lande nur erst in England; dann tut er ihn sicher. Jetzt plündert der wild ruchlose Bastard drüben in England Kirchen und Klöster aus und lacht und höhnt noch dazu; ganz England wird aufstehn und sich Frankreich verbünden, wenn nur erst das kleinste Heer drüben landet. Viel starke, schlagkräftige Worte, die der jugendliche Shakespeare gegen den Papismus hatte sprechen lassen, sind nun gestrichen; sie wiegen wie Luft gegen diese unerhörte Darstellung der päpstlichen, der zu ihrer höchsten Höhe und raffiniertesten Reinheit gediehenen Politik. Die ausgedehnte Burleske, in der wir unter zynischsten Scherzen den Bastard in den Klöstern hausen sahen, ist fort; welch allergenialster Griff, sie durch diese Voraussage des politischen Rechenmeisters zu ersetzen! Alles, was das Stück noch weiter bringt, wird vorausgesagt und unsere Spannung dadurch nicht vermindert, sondern gesteigert, alles, nur eines nicht, was wir dann bald merken: der Kardinal, der so seine Karten auf den Tisch gelegt hat, die Ermordung des echten Königs durch den angemaßten Träger der Krone in die Rechnung stellt und so Frankreichs Thronerben für ein Recht, das erst aus diesem Mord erstehen soll, in den Krieg nach England hinüber lockt, hat sein letztes Geheimnis und seinen eigentlichen Plan für sich behalten: mit Hilfe dieses Franzosenkrieges und des Schlimmsten, was es für England gibt, der Landung einer Armee auf der Insel, soll Johann mürbe[S. 127] gemacht und als anerkannter König von England der ergebene Knecht der Kirche werden, der seine Krone aus den Händen des Papstes empfängt.
Und der Vorhang fällt und geht wieder auf; Hubert ruft seinem Knecht zu:
Prinz Arthurs Schicksal soll sich erfüllen; und wiederum kommt es ganz so, wie vorausgesagt wurde, und ganz anders. Was indessen zwischen dem König und Hubert vorgegangen ist, erfahren wir nicht genau; die Phantasie hat Spielraum. Daß der harte und botmäßige Diener bei dem gräßlichen Auftrag erschrocken war, hatten wir an seiner kleinlauten Antwort bemerkt. Er will dem König den Dienst tun, von dem der meint, das Reich brauche ihn; aber er sieht sich vor. Er läßt sich den Auftrag schriftlich geben und sorgt dafür, daß Mitwisser da sind, die bestätigen können, er habe auf Befehl des Königs gehandelt; auch lautet der Befehl nicht mehr unbedingt auf Arthurs Tod; er darf bei der furchtbaren Prozedur sterben: die beiden Augen sollen ihm mit glühendem Eisen ausgebrannt werden; überlebt der zarte Knabe das auch, so ist’s mit dem Königtum jedenfalls aus.
Bisher hatten wir den Prinzen, der von Anfang an im Mittelpunkt der Handlung stand, fast nur aus der Liebe seiner Mutter und aus der gütigen Art, wie man sonst mit ihm umging, kennen gelernt; der Haß König Johanns gilt nur seiner Stellung, ganz und gar nicht seinem Wesen, für das der Finstere keinen Blick und keinen Sinn hat. Worte haben wir in diesen drei Akten nur ganz wenige von Arthur gehört; hie und da in einer Szene ein, zwei Verse, im ganzen sind es ihrer zehn, nicht mehr. Aber immer waren es Worte holder Zartheit, kindlicher Fürsorge; immer nur Menschliches, nie ein politisches Wort; die Unbedachtheit der ersten Fassung, die ihn manchmal als jungen Fürsten und Prätendenten hat sprechen lassen, ist ganz getilgt worden. Ein kindlicher Mensch ist dieser Prinz Arthur, um den zwei[S. 128] Staaten sich auf Tod und Leben bekriegen und in England die Revolution ausbricht; von seinem Rang, seiner Bestimmung, seinem Recht weiß er; aber in Gemüt und Willen lebt ihm nichts von dem allem. Jetzt, in der Zeit seiner Gefangenschaft und des täglichen Umgangs mit seinem Wärter Hubert hat er Liebe zu ihm gefaßt, wie ihm Umgang und Liebe fast eins sind; er plaudert harmlos mit dem finstern Mann, während wir schon wissen, was der ihm nun antun soll: er wünscht sich gar nichts als Freiheit; wenn er dann kein Prinz wäre, sondern ein Schafhirt, wollte er ganz vergnügt sein. Daß er der Sohn seines Vaters ist, daher kommt all das Unheil und die Verfolgung seines Oheims; selbst hier im Kerker wollte er lustig sein, wenn er nicht fürchten müßte, daß sein Oheim dann noch böser auf ihn würde. Ja, wäre er nur Huberts Sohn; dann könnte er in Gottes Namen bleiben, wo er ist, und hätte nichts Übles mehr zu befürchten und wäre froh, wenn Hubert ihm ein wenig gut sein wollte.
Einem Kinde, das so zu einem spricht, die Augen auszubrennen, fällt auch dem Treuesten der Treuen, dem dumpfsten der Knechte schwer. Hubert erschrickt in tiefster Seele; er sagt nichts, aber der Knabe fragt ihn mit einem Male, ob er krank sei, warum er so bleich sei. Ein bißchen krank, das möchte er ihm fast wünschen; dann könnte er die Nacht bei ihm wachen und ihn pflegen. Kaum wüßte ich etwas Grausigeres als Zeichen für die Doppelmöglichkeit des gespaltenen Menschen, für das Ineinander von Bös und Gut, von politischer Botmäßigkeit und freiem, natürlichem Menschengefühl, als was nun folgt: Hubert stürzen die Tränen aus den Augen, und zugleich reicht er Arthur ein Papier: in der Brutalität der Verlegenheit eröffnet er dem Kind durch einen amtlichen Wisch auf einen Schlag das grauenhafteste Schicksal.
Konstanze und Arthur! Das weiblichste Weib und das kindlichste Kind! die wildeste Fassungslosigkeit und die mildeste[S. 129] Fassung, die ausschweifendste Leidenschaft und die flehentlichste Innigkeit. Die Mutter schlug sich die Brüste, raufte die Haare, schrie ihre Not gen Himmel, weil der Sohn gefangen und damit in Gefahr für Leib und Leben war. Jetzt ist es so weit; hat sie ihr Kind nicht gekannt? hat sie nicht gewußt, daß ein Engel in ihm wohnt und daß, wer ein Mensch ist, ihm kein Leides tun kann? Doch, sie hat es wohl gewußt, aber sie wußte auch, daß, wer vom Teufel der Politik besessen ist, kein Mensch mehr ist. Jetzt soll es sich zeigen, ob Hubert, der, einer der Großen Englands wird es bald aussprechen, nur Kot, nur der letzte Knecht der herrschenden Gewalt ist, noch Menschliches genug in sich trägt. Arthur hebt zu sprechen an; Arthur bittet um sein Leben. Seine Innigkeit ist so beredt wie die Leidenschaft der Mutter; auch er kennt die Hemmung und Scham der Konvention nicht. Fast klingt es, als wollte er ebensosehr den alten Mann vor dem Entsetzlichen, das er sich selbst antun will, wie sich vor der Blendung bewahren. In der ursprünglichen Fassung spricht er das in ungeschickten, dogmatischen Worten ausdrücklich aus. Schnell entschlossen hätte Hubert es tun können; aber nun, wo das Kind aus Herzensgrund heraus zu ihm redet und immer nur redet, wo es ihn an seine unbedeutenden Kopfschmerzen erinnert und wie Arthur ihn gepflegt hat, wo immer wieder die zitternde, zarte Stimme des Knaben von den Augen, den Augen spricht, wo selbst die Dinge im Bund mit der Menschlichkeit zu stehen scheinen und das Eisen zu erkalten beginnt, wo der Knecht des Knechtes erleichtert, weil er bei der Tat nicht helfen mußte, fortgegangen ist, nun ist’s zu spät, nun kann’s Hubert nicht mehr tun. An keinerlei Mythologie, keine antike, keine christliche hat Shakespeare in dieser Szene reiner Menschlichkeit erinnert; nichts von den Geboten Gottes oder von Sünde hat Arthur in seinen Bitten vorgebracht, und das einzige, was er aus dem Bereich der Vorstellungen, die man religiös nennt, sagte, waren die Worte der Ergebung:
In einem freien Sinn aber, im Sinn dessen, was Goethe Weltfrömmigkeit genannt hat, gibt es keine frömmere, keine religiösere Szene als diese, und während Arthur das Fürstenkind Menschliches, nur Menschliches redet, liegen uns die menschlichen, nur menschlichen, die göttlichen Worte im Ohr: Es sei denn, daß ihr werdet wie die Kinder —. Hubert ist mit dem Kind wieder zum Kind geworden; er hat den Mut, dieser Knecht, ein Mensch zu sein. Großer Mut gehört dazu; er wird nun den Prinzen verborgen halten; er wird ungehorsam sein und den König belügen; er wird sagen, die Untat sei getan und das Kind darin gestorben.
Nicht oft genug kann ich es wiederholen, weil selbst die, die es wissen, kaum davon reden: alles, auch diese Szene ist in der anfänglichen Konzeption schon da. Aber wie arg, wie kläglich, wie elend war dieser Anfänger, der seine Gesamtgestalt, den Aufbau des Werks, das Verhältnis der Personen zu einander so groß und sicher umrissen hat, in allem Sprachlichen noch gebunden, gelähmt, gefälscht und nicht zu sich und zur Freiheit gekommen! Ein Beispiel, wie in dieser ersten Fassung die beiden in epigrammatisch zugespitzten, gereimten Wechselreden puppenhaft mit einander rechten:
König Johann hat sich, feige und dummschlau, wie er ist, von den Ständen des Reichs die Krone gerade jetzt noch einmal aufs Haupt setzen lassen, damit, wenn nun die Nachricht von Arthurs Tod einträfe, keine Rede mehr von der Notwendigkeit einer Thronfolge sein könnte. Das macht aber bei den Herren sehr böses Blut, sie dringen gewaltig mit Einwänden und Vorwürfen auf ihn ein, geben deutlich zu verstehen, daß sie an seine Anerkennung Bedingungen knüpfen — in der ersten Fassung ist ausdrücklich von den Wünschen der Gemeinen die Rede —, und als obersten Wunsch nennen sie nun in dringenden Worten die Freilassung Arthurs. Im selben Augenblick tritt Hubert herein, in größter Verlegenheit, weil Arthur lebt und er sagen will, der Prinz sei tot; und gerade diese Beklemmung deuten die Herren, die schon von seinem Auftrag erfahren haben, als das böse Gewissen des Mordknechtes. Aus dem Mund des Königs, dem Hubert seine Nachricht zugeflüstert hat, erfahren sie das Arge, das sie erwarteten: Prinz Arthur ist plötzlich gestorben. Nun bricht der Unmut ohne Rückhalt und grob aus; eine Verschwörung ist schon im Gange, die Landung der Franzosen wird erwartet; sie trennen sich von dem König, den sie jetzt eben widerwillig, unter seinem Druck, wieder gekrönt hatten. Und nun kommt Schlag auf Schlag, der Usurpator und Mörder wird vom Glück verlassen: die Nachricht vom Tod seiner Mutter, deren Geschöpf er war, trifft ein; der Bote kommt, der richtig die Landung einer französischen Armee meldet; im Volke gärt es, unheimliche Gerüchte und Prophezeiungen laufen um; die Frevel gegen Kirche und Klöster scheinen Himmel und Erde in Aufruhr gebracht zu haben. Das ist das Schlimmste, was zu fürchten ist: Aufruhr im Innern in Verbindung mit dem auswärtigen Krieg. König Johann möchte vor allem die Großen Englands besänftigen; ohne sie, wenn sie gar gegen ihn gehen, fühlt[S. 132] er sich verloren: er will Hubert als Mörder ihrem Zorn zum Opfer bringen. Wie er gegen ihn losfährt und nun, wo Arthurs Tod ihn in solche Not bringt, ernsthaft beklagt — so aber ist der Mensch! —, daß ein flüchtiger Wunsch, wie er meint, an die ausdrückliche Vollmacht denkt er nicht, so schnell einen niederträchtig verbrecherischen, mordbereiten Diener gefunden habe, da atmet Hubert tief und beglückt auf: er gesteht, daß der Knabe noch lebt. Darüber ist Johann in der neuen Situation wahrhaft glücklich, das kann ihn fürs erste noch retten; fürs weitere muß der Armselige, der nur pfuschen und flicken kann, dann die Zukunft sorgen lassen. Eiligst wird Hubert mit der erwünschten Nachricht den Herren nachgeschickt; nun aber kommt der schrecklichste Schlag: Hubert lügt, lügt offenbar aufs frechste und höhnischste, und ohne Frage im Auftrag des elenden Tyrannen: er bringt seine Botschaft in dem Augenblick an die Herren, wo der klägliche Leichnam des armen Kindes vor ihren Füßen liegt. Nur wir Zuschauer wissen, wie alles zusammenhängt, wie das Schicksal zu Werke gegangen ist: der zarte Knabe hat sich, in der Furcht vor der Wiederholung des verbrecherischen Anschlags, als Schiffsjunge verkleidet, flüchten wollen, ist beim Sprung von der hohen Mauer auf einen Stein gefallen und liegt nun da als ein Ermordeter, den die ungeheure trotzige Verwegenheit des Tyrannen wie ein Aas auf die Straße geworfen hat. Was die Politik des Königs gewollt, beschlossen, befohlen hat, hat kein Mensch vollbringen können; das Schicksal hat es ausrichten müssen, welches in seiner abgründlichen Zweideutigkeit der Menschenpläne spottet und den Schlag zugleich gegen das Opfer und den Opferer richtet. Wohl möglich übrigens, daß diese Erzählung, der Prinz sei auf die Art gestorben, eine Ausrede vorstellt, um einen englischen König in der Geschichte von der schlimmsten Anklage zu reinigen; denn in der politischen Geschichte gilt nicht der Vorsatz, sondern die vollzogene Tat; wohl möglich auch, daß Shakespeare von dieser Überlieferung nicht anders[S. 133] gedacht hat; wie wunderbar, wenn die Szene der Innigkeit, in der Arthurs holde Kindlichkeit in Hubert dem Mordknecht die Menschlichkeit wachruft, dieses Ursprungs wäre!
Kardinal Pandulpho ist eilig von Frankreich herübergekommen, und der König in seiner Not macht schnell seinen Frieden mit dem Papst, legt noch einmal die Krone nieder und läßt sie sich von dem Legaten wieder aufsetzen, der dafür verspricht, den Sturm, den er beschworen hat, wieder zu besänftigen und Frankreichs Heere zum Rückzug zu bewegen. Shakespeare hat in diesem Schlußakt den Stoff aufs äußerste, mehr als gut war, zusammengedrängt; über einige Zusammenhänge bekommen wir rechte Klarheit nur, wenn wir die erste Fassung zu Hilfe nehmen. Es geht jetzt wieder um kriegerische Aktion, denn weder die englischen Stände noch der Dauphin Louis geben so schnell nach, wie Johann und der Kardinal gehofft hatten; der energische Louis ist ein anderer Mann als der König Philipp; sein Zorn flammt auf, wie er merkt, daß Pandulpho ihn nur wie eine holzgeschnitzte Figur in seinem Spiel hatte benutzen wollen; er hat Ansprüche geltend gemacht, hat den Kriegszug gerüstet, die englischen Herren haben sich ihm angeschlossen, das Volk, wo er einzog, hat ihm zugejubelt, der Krieg soll weitergehn. Mit dieser Haltung eines Fürsten, der seine Politik auf Ehre und Waffentat stellt, verdient er sich die Achtung des Bastards, der, einer der wenigen, die beim König ausgehalten haben, nun ganz die Führung des Unternehmens in seiner Hand hat.
Vom natürlichen Sohn König Richards und dann von der größten aller irdischen Majestäten, vom Tod, aus fällt zum Schluß ein Schimmer von einem fast verklärenden Licht auf diesen König Johann. Der Bastard hält treu zu ihm, nicht bloß um der persönlichen Anhänglichkeit willen; könnte er treulos sein, er hätte Gründe genug: er durchschaut des Königs unkriegerisch feige Art; er hat den tiefsten Abscheu vor dem Anschlag, der seinen Vetter Arthur in den Tod getrieben[S. 134] hat; die Unterwerfung gar unter den Papst empfindet er als Schmach für England. Aber um Englands, um der Einheit des Reiches willen muß er sich, wenn so ein Bedenklicher wie Johann den Thron einnimmt, den idealen König erfinden, der das Reich zusammenhält und dem er dient. Jetzt ist das Schlimmste da,
nun gilt es das Ganze, das Höchste, die Volksgemeinschaft. Mit ungeheurer Kraft rafft er zusammen, was sich nur sammeln läßt, und stützt sich vor allem auf die rebellischen, der Kirche aufsässigen Elemente im Volk. Und die kleine Minderzahl, die mit ihm zum König hält, reißt er zu Taten der Entschiedenheit und zu begeistertem Streit hin, so daß der Kampf unentschieden hin und her geht.
Shakespeare aber, so sehr sein Herz bei denen ist, die für die Einigkeit der Gemeinschaft, für das Reich eintreten, und so sehr sein Sprecher der Bastard ist, wird doch auch den Rebellen, die in dieser furchtbaren Lage um des Reiches und der Ehre willen Englands Schicksal von dem eines gesunkenen Königs in freier Entschließung zu trennen sich unterstehen, durchaus gerecht. Als Sprecher der Rebellen tritt der Graf von Salisbury hervor, dessen Patriotismus sich, obwohl er auf der Gegenseite steht und das Bündnis mit dem Landesfeind eingegangen ist, nicht minder glühend äußert als der des Bastards. Was er freilich, der als Revolutionär den Krieg gegen das eigene Land führen muß, vertritt, ist nicht so strahlend und unentwegt kriegerisch wie die Gesinnung des Bastards; es ist eine Ritterlichkeit, die schon mit Zügen des Bürgerlichen und Humanen verbunden ist:
Die Kriegstaten des Bastards und seiner Schar, Naturkatastrophen, die Politik des Kardinals, der Zweifel im Herzen der Rebellen, alles wirkt zusammen, um das Kriegsglück unsicher ins Schwanken zu bringen; und in dem Augenblick, wo der müde, verbrauchte König das Gift des Mönchs getrunken hat und im Sterben liegt, will die Wage zu seinen Gunsten ausschlagen: die Rebellen, die erfahren haben, daß der Dauphin Louis im Fall seines Siegs mit so gefährlichen Großen, die selbständig gegen den König aufstehen, gründlich aufräumen will, kehren zur Treue gegen Johann zurück. Auch diese Wendung hat Shakespeare in der Umgestaltung derart verkürzt, daß wir keinen inneren Anteil an ihr nehmen, ja, kaum mit dem Erfassen des Sachverhalts folgen können. Die ursprüngliche Fassung hat da manches, worauf wir ungern verzichten, zumal die große Rede des sterbenden Grafen Melun, der, selbst von englischer Abstammung, den englischen Herren die Pläne seines Fürsten verrät und sie eindringlich zur Umkehr mahnt:
Hier hat Shakespeare in einer fatalen Eile nur die nackten Tatsachen gelassen, die ohne die Gefühlswerte in seinem[S. 136] Drama nie eine Bedeutung haben können. Er eilt der Schlußszene zu: König Johanns Tod und der Apotheose Englands.
Der Usurpator stirbt einen grauenhaften Tod. Er, dem vor allem die Sphäre der Phantasie, die Liebenswürdigkeit und, wie er von sich selbst sagte, die Lust fehlte, ist jetzt, wo ihn der Brand des Gifts verzehrt, wie von einem Fieber ergriffen, das unter Qualen ein Scheinleben in ihm hervorruft, wie er es nie gekannt hat: er wälzt sich auf seinem Lager und rast und singt in seltsamen Tönen. König Johann singt! Dann kommt er, wo’s ganz zu Ende geht, wieder zu klarer Besinnung und sieht das Reich zerstört und unmittelbar vor dem Untergang durch seine Schuld. Die großen Herren, die wieder da sind, setzen all ihre Hoffnung auf seinen Sohn, der ihm als Heinrich III. folgen soll und nun zum ersten Mal, als einer, der mit den Greueln nichts zu tun hatte, auf der Bühne steht:
Zum Ohr König Johanns gelangt kein Trost irgend einer Art; die letzte Nachricht, die der Hort des Reichs, der Bastard, bringt, meldet neues Unheil und höchste Gefahr; dann stirbt dieser König. Und unmittelbar darauf kommen die besseren Nachrichten: der zähe Kardinal hat Frankreich zum Frieden vermocht, der ehrenvoll genug ist; die Heere der Fremden rüsten zur Heimfahrt; die meerumgürtete Insel wird wieder frei sein. Der Aufschwung, der nun zum Schluß kommt, ist nicht mehr so jugendlich enthusiastisch wie in der frühen Fassung, wo auch der Prinz von Frankreich, der als Eroberer übers Meer gekommen war, noch auftritt, um England seinen Tribut der Verherrlichung darzubringen, und zum englischen Helden, dem Bastard gewandt, die Worte spricht, die auch Shakespeares mahnende Worte ans Volk und die Adelsherren Englands sind:
Diese Wendung zum Festspielabschluß war als Krönung eines Dramas, dessen wesentlicher Sinn noch die Darstellung eines Stückes englischer Geschichte war, ganz am Platz. Jetzt, wo es um die große Konfrontation von Politik und Menschlichkeit ging, mußte das Grau, das von König Johann, der grelle Schatten, der von dem so ruhigen und gefesteten, wie morallosen Kardinal Pandulpho her über das Stück fiel, auch auf die Erleichterung, Hoffnung und Begeisterung des Schlusses einwirken. So ist eine Mischung aus Mattigkeit und Erhöhung entstanden, zu der noch als drittes Element etwas kam, was bei vielen Abschlüssen Shakespeares zu bemerken ist: eine konventionelle Übung, die zum Ende Pauken und Trompeten, Reimpaare und eine Art Befriedigung, Versöhnung, poetische Gerechtigkeit bringt, welche nicht immer zu der hohen Wahrheit und scharfen Bitterkeit der Einsicht in Menschenlos und Menschenseelen paßt, die das Stück uns gegeben hat. Shakespeare hat in dieser Tyrannentragödie, wie so oft, seinen eigenen Rahmen gesprengt; er ist zu einer Höhe der Kritik und Entlarvung gelangt, der seine Zeit nicht nur, der auch er selbst, wenn er aus dem Reich des Geistes zu seiner Gewöhnlichkeit zurückkehrte, nicht gewachsen war; und so ist der allerletzte Schluß einer mehr als nationalen, einer Menschheitstragödie ein patriotisches Festspiel, aus der tragischen Darstellung der Machtpolitik schließlich der prachtvolle Aufruf zu einer Politik des nationalen Gemeinwesens geworden. Damit aber ist der König Johann, wie Shakespeare ihn aus einem jugendlich genialen, jugendlich unfertigen Werk — nehmt alles nur in allem! — zu einem Meisterwerk umgeschaffen hat, der rechte Prolog zu dem Zyklus seiner englischen Historien[S. 138] geworden, in denen allen er von den wilden Kämpfen um Englands Macht und Einheit ausgeht, allewege zu den Königen steht, die das Symbol und die Vertretung dieser einigen Volksmacht sind, um immer wieder, wenn der Genius wie ein Dämon ihn packt und über sich selbst hinaufreißt, aus der Historie zum Ewigen, aus England zur Menschheit, aus der Chronik zum Mythos und aus der Herrlichkeit des Helden zur Liebe zu kommen.
Von einer Buchveröffentlichung der Tragödie Julius Cäsar bei Shakespeares Lebzeiten wissen wir nichts; der erste Druck, den wir kennen, geschah in der Folioausgabe von 1623. Wir wissen aber, daß das Stück 1601 bekannt war; aus diesem Jahr stammt ein Gedicht von Weever (Märtyrerspiegel), in dem die hintereinander folgenden Ansprachen von Brutus und Marc Anton ans römische Volk erwähnt werden, so wie sie durchaus Shakespeares Erfindung sind. Vermutlich gehörte das Stück damals zum Neuesten; wir haben keinen Grund, die Abfassung höher hinauf zu rücken.
Shakespeares Quelle für dieses Stück ist in allem Wesentlichen Plutarch, und zwar die drei Biographien Cäsars, Brutus’ und Marc Antons. Plutarchs Lebensbeschreibungen waren 1579 englisch in der recht guten Übersetzung von Thomas North erschienen. In Plutarch hatte Shakespeare einen nicht unwürdigen Vorarbeiter. Ist es auch eine arge Übertreibung, wenn Jean Paul ihn den biographischen Shakespeare der Weltgeschichte nennt, so ist doch richtig, daß er nicht Ereignisse mitteilt, sondern Gestalten darstellt; daß er die Geschehnisse um eine tragende Gestalt aufbaut; daß es ihm nicht um diese äußeren Taten, sondern um das Ethos und die Seelenverfassung seiner Helden geht. Er wählt, wie Emerson, representative men und will sie in ihrem inneren Wesen zeigen. Damit hat er in Zeiten der Vorbereitung und rebellischen Gärung starken Einfluß geübt; man fand in den Männern der Antike, so wie er sie darstellte, große Männer der Reinheit, Einfachheit, Heldenhaftigkeit und Aufopferung; und mancher Jüngling empfand in der Zeit, die der französischen Revolution voranging, wie Karl Moor, wenn er ausruft: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säculum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen.“ Dabei ist aber nicht zu leugnen, daß seine[S. 140] Gestaltungskraft gering und seine Psychologie kindlich ist und daß er die Anekdoten, die er zusammenlas, recht wahllos und unorganisch vor uns ausschüttet.
Die Situation, in die wir bei Beginn des Dramas hineinkommen und die Shakespeares gebildetem Publikum, für das die Antike ein wichtiges Element des gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens und überdies höchste Mode war, noch vertrauter war als uns, ist folgende: Rom ist schon lange nicht mehr bloß Rom oder Italien, ist nicht einmal mehr bloß das große Mittelmeerreich; es ist ein Weltreich; Cäsar selbst ist nach Germanien und Britannien gegangen. Ist es so nach außen auf Macht gestellt, so konnte sich auch der bürgerliche Republikanismus in Einrichtungen, Sitten, Gesinnungen nicht rein erhalten; das Reich stützt sich auf den Soldaten; einzelne Männer rivalisieren um die Herrschaft; die Imperatoren, die militärischen Befehlshaber, begehren auch den Staat in die Hand zu bekommen. So hat es seit langem Bürgerkrieg gegeben. Julius Cäsar, der große General, hat Pompejus, hat auch des Pompejus Söhne besiegt; deren Anhänger sind teils willig, teils unwillig in sein Lager übergegangen. Die Formen und der Apparat der Republik sind noch da; aber mit Benutzung eben dieser Einrichtungen, auf die Legionen und die Volksgunst gestützt, ist Cäsar Selbstherrscher. Die Gefahr aber ist, daß die Macht der Legionen vorwiegend in den Provinzen und auf den Schlachtfeldern wirksam ist; Cäsars Stellung und, es zeigt sich, sein Leben, ist von der Stimmung und den Zuständen der Hauptstadt, ihren Parteien, Bürgern, Beamten und der großen Volksmenge abhängig.
Wenn das Stück einsetzt, scheint Cäsar die Frucht gerade für reif, sein Unternehmen für genügend vorbereitet, seine Stellung für ganz überlegen zu halten; oder er ist immer noch so, wie er früher war, ein Mann, der durch Verwegenheit einschüchtert und siegt: er ist im Begriff, sich zum König[S. 141] ausrufen zu lassen und damit seiner tatsächlichen Macht die äußere Form, der Republik den letzten Stoß zu geben und eine neue Ära der römischen Geschichte zu beginnen.
Ein Teil des Volks, der den berufenen Volksvertretern, den beiden Tribunen Flavius und Marullus anhängt, ist gegen diese grundstürzende Änderung; wir gewahren, wie Casca, der dann einer der Verschworenen ist, seine Hand mit im Spiele hat.
Erst soll so eine Art Generalprobe abgehalten werden, die nun keineswegs nach Wunsch verläuft. Das Instrument soll gestimmt werden; der Versuch fällt aber recht unglücklich aus. Beim Luperkalienfest bietet Antonius Cäsar die Krone an; Cäsar weist sie zurück, und das Volk bestürmt ihn nicht, sie doch zu nehmen, sondern jauchzt über seine republikanische Haltung. „Bei jedem Zurückschieben jauchzten meine ehrlichen alten Freunde“, sagt Casca bei seinem Bericht über den Vorfall; und gerade daraus ist zu schließen, daß das Volk — ein Teil des Volks, der bestimmend wirkte — parteimäßig bearbeitet war. Nun kompromittiert sich Cäsar bedenklich; er hatte ja selbst die Krone zurückgewiesen; bei dem Jauchzen des Volks aber kam die Wut über ihn und mit der Wut ein Anfall seines Leidens; er gerät in die krankhafte Ekstase, reißt „das Wams auf“, um dem Volk Brust und Hals anzubieten, wenn es etwa von seiner opferwilligen Großmut noch nicht zufriedengestellt sein sollte, und fällt in Krämpfen nieder. Daß das bei dieser Gelegenheit geschah, ist nicht überliefert; es ist Shakespeares Erfindung.
Ein paar Tage nachher erst, in der Senatssitzung an den Iden des März, am 15., soll die wirkliche Übertragung der Krone erfolgen. Da aber wird er vorher getötet.
Ein gebietender Staatsmann also wird unmittelbar vor einer entscheidenden Wendung seiner Laufbahn, die er selbst mit Hilfe seiner Partei zustande bringen will, durch politischen Mord getötet. Da erhebt sich die Frage: König werden ist[S. 142] eine große Sache; und das Wort allein besagt schon viel; aber es sagt doch nicht alles; was war sein Ziel? Hatte er eins oder war er nur vom Machtwillen besessen? Was wollte er aus Rom machen? Wie hätte sein ferneres Wirken seine bisherige Laufbahn, seine Vergangenheit und Gegenwart beleuchtet?
Der Dramatiker weiß immer genau so viel, als er will. Es ist sehr wichtig und man muß gut darauf achten, in welche Ecke sich der Dichter mit seiner Lampe stellt, wohin er das Licht fallen läßt, und was er im Dunkeln läßt. Diesmal entschloß sich Shakespeare, nichts zu wissen. Cäsar steht vor uns in dem Licht und Schimmer dieser Unbestimmtheit. Wir sehen eine unsichere, reiche, fruchtbare oder gefährliche Möglichkeit. Wir sehen nicht, was er plante; wohl aber, was die Verschwörer argwöhnten. Das Bild, das dann, nach der Ermordung, Antonius entwirft, ist nicht eigentlich dazu bestimmt, daß wir es für treu nehmen, das Volk soll daran glauben; es geht aus einer wundersamen Mischung von echtem Schmerz und wohlberechnender Demagogie hervor; es stellt nicht den Cäsar vor, wie er zweckhaft bei seinem Leben und Wirken war, sondern wie er jetzt als Mittel benutzt wird.
Solange er uns lebendig vor Augen steht, sehen wir ihn pomphaft, gebieterisch, launisch, willkürlich. Sein Privatestes macht er zu einer öffentlichen Angelegenheit; er will es so, will es wenigstens nicht lassen; er bietet ganz das Bild eines Mannes, der mit ungemeiner Kraft des Geistes und Willens von unten nach höchst oben gekommen ist und nun dabei ist, das Maß zu verlieren.
Gleich sein erstes Auftreten — es gehört zum Erstaunlichsten in der ganzen dramatischen Literatur. So tritt Cäsar auf: ein festlicher Zug kommt; Musik wird gespielt, Fanfaren ertönen; nun naht sich Cäsar mit seinen Angehörigen und Freunden, darunter seine Frau Calpurnia, in deren Gesellschaft sich unter andern — ohne daß sie etwas zu reden hat —[S. 143] Portia, die Frau von Cäsars Freund Brutus, befindet. In diesem Zug geben sie Marc Anton das Geleite, der halb nackt ist. Es ist Luperkalienfest. Plutarch berichtet: „Viele junge Patrizier und selbst hohe Würdenträger laufen dabei nackend durch die Stadt und schlagen zum Scherz und Lachen nach denen, die ihnen in den Weg kommen, mit rauhen Fellen. Die vornehmsten Frauen gehen ihnen dann absichtlich entgegen und halten wie in einer Schule die Hände den Schlägen hin, weil sie glauben, daß dadurch bei Schwangeren die Geburt erleichtert, bei Unfruchtbaren aber die Fruchtbarkeit befördert werde.“ Das mit den rauhen Fellen ist so eine eigene Sache; Plutarch hat entweder den alten Brauch nicht mehr verstanden oder — er hat auch sonst Schulmeistereigenschaften — er war zu zimperlich, um ihn in den rechten Zusammenhang zu bringen. Hier geht uns das aber weiter nichts an; es ist nur zu sagen, daß Shakespeare an diese allgemeine Aufklärung Plutarchs seine besondere Erfindung anknüpft. Mitten in die Fanfaren hinein ruft Cäsar laut: „Calpurnia!“ Casca, mit einem gewissen innern Grimm über Cäsars asiatische Despotenmanieren, vielleicht auch um die Anwesenden auf diese Manieren recht aufmerksam zu machen, heißt die Musik schweigen: „Still da! Cäsar spricht!“ Und nun fordert Julius Cäsar vor versammeltem Volk seine Frau auf, sich beim Wettlauf dem dahinrennenden Antonius in den Weg zu stellen, damit etwa der Fluch der Unfruchtbarkeit von ihr genommen werden könne; Calpurnia gebietet er’s ganz kurz; gegen Antonius ist er höflicher, und zu ihm gewandt fügt er auch diese Begründung bei. Von Antonius bekommen wir eine völlig unterwürfige Antwort zu hören, aus der zugleich Verehrung und unbedingte Gefolgschaft herausklingen soll:
Diesem Auftritt entnehmen wir nun zunächst, daß dem Cäsar überaus viel an Nachkommenschaft liegt; gewiß an[S. 144] dem männlichen Erben; an dem Tag, wo er seinen Staatsstreich inszenieren wollte, mußte ihm der Gedanke an die Dynastie besonders im Kopfe herumgehen. Und hier kann uns zum ersten, nicht zum letzten Mal auffallen, daß dieser Julius Cäsar Shakespeares auch in charakteristischen Einzelzügen eine ganz unleugbare Ähnlichkeit mit Napoleon hat; das kommt gewiß daher, daß Napoleon eine cäsarische Natur hatte; kommt erst recht daher, daß Julius Cäsar das Vorbild des Korsen war, dem dieser nacheiferte und das er geradezu kopierte; mit Plutarch war er überaus vertraut und ebenso mit Voltaires Mort de César, auf welche Tragödie Shakespeares Stück einigen Einfluß übte. Aber die Ähnlichkeit mit gewissen Einzelzügen, die ganz und gar Shakespeares Eigentum sind, spricht doch vor allem auch für Shakespeares Divination, mit der er den Typus des cäsarischen Menschen hinstellte.
So gute Gründe nun also Cäsar zu seinem Wunsch hat, noch einen Leibeserben zu bekommen — einstweilen ist sein junger Neffe Octavius von ihm adoptiert worden —, so wirkt doch der Auftritt, den er da unmittelbar vor einer großen Entscheidung öffentlich in einer sehr intimen Sache hervorruft, vor allem als Hybris, als Übermut; irgend etwas in ihm nötigt ihn, die Grenzen des bürgerlich Üblichen im Stil des unumschränkten Gebieters zu überschreiten. Diesen Eindruck macht die Szene besonders im Zusammenhang mit der Parallelszene, die nun folgt. Die Trompeten blasen wieder, und wiederum ist ein Ruf zu hören; diesmal ist es aber nicht Cäsar, sondern im Gegenteil, aus der Menge ruft jemand Cäsar mit Namen an. Cäsar gebietet nun persönlich Schweigen. „Cäsar neigt sein Ohr.“ Und aus der Menge heraus kommt der Ruf, den wir so kurz und scharf im Deutschen nicht nachbilden können:
Auf Cäsars Frage, wer der Mann sei, gibt Brutus — das ist das erste Wort, das wir von ihm hören — die Erklärung:
Cäsar läßt ihn vortreten, fragt ihn, was er gesagt habe, und von den Lippen des Mannes kommt noch einmal, als wisse er nur diese Worte:
Cäsar fragt nicht weiter, will nichts mehr hören:
Wir könnten sagen: der Mann, Julius Cäsar, ist zwar abergläubisch, der erste Vorfall hat es gezeigt; aber er ist doch noch mehr stolz. Aber wir brauchen gar nicht anzunehmen, daß er die Warnung lediglich für die Worte eines Träumers, Traumdeuters oder Propheten der Art nimmt. Er weiß ja, was er an den Iden des März vorhat. Er will rasch abbrechen und die Warnung verächtlich nehmen, weil der Warner, gleichviel, was er weiß, von Dingen spricht, von denen durchaus nicht die Rede sein darf, zumal jetzt, unmittelbar vor der Generalprobe! Wohl möglich auch, daß Cäsar in Brutus’ Worten eine besondere Betonung gehört hat.
So ziehen sie weiter, und im Hintergrund, so daß wir nur Volksrufe und Musik hören können, während bei uns sich Brutus und Cassius zum ersten Mal aussprechen, ereignet sich jetzt der Vorgang, daß Antonius Cäsar die Krone anbietet. Was da indessen vorgeht, wissen wir noch nicht. In dem Augenblick aber, wo zu Cäsars Zorn — wie wir bald erfahren — das Volk jubelt — wir hören’s —, weil Cäsar die Krone zurückschiebt, spricht Brutus die Befürchtung aus, das Volk wähle ihn zum König. Was also für diesen Zeitpunkt auf der Tagesordnung steht, weiß Brutus ganz wohl; aber die Volksstimmung, die Verteilung des Einflusses, ist schwankend und ungewiß. Cassius, der Brutus mit bestimmten Absichten zurückgehalten hat, geht, da er sich in dem Freund seit einiger Zeit nicht mehr recht auskennt, da er überdies von Natur und als Politiker zu Mißtrauen neigt, behutsam, allmählich, vorbereitend, im Reden horchend und mit Blicken forschend auf sein Ziel los; von den[S. 146] kleinen Menschlichkeiten Cäsars spricht er, von Zügen, die Brutus gewiß alle gut kennt, die ihm aber in diesem Augenblick in die Überlegung rufen sollen: Was für eine gesunkene Zeit! sollen wir mitsinken? sollen wir sie sinken lassen? So ein Menschlein! Gibt’s keine Männer mehr? Brauchen wir den zum König? Brauchen wir einen König?
Darüber kommt Cäsar zurück; noch voller Grimm; und wie er sich musternd, herrisch, mißtrauisch in der Runde umsieht, fällt sein Blick auf den hageren Cassius:
Wir sind für einen Moment in Shakespeares Werkstatt, wenn wir darauf acht haben, daß Cäsar bei Plutarch eine so ähnliche Bemerkung über Cassius und Brutus macht. Obwohl er in diesem Augenblick Cassius und Brutus beisammen stehen läßt, hat der Dichter das klug geändert; denn gerade zu Brutus hat Cäsar allergrößtes Vertrauen, hat ein liebevoll freundschaftliches Verhältnis zu ihm; wir aber, auch wenn wir gar nichts von Plutarch wüßten, dürfen dabei denken: Einiges, was Cäsar hier und im weiteren sagt, trifft auch auf Brutus zu, auf den es keineswegs gemünzt ist: bald sollen wir ihn kennen lernen als einen, der kaum mehr Schlaf kennt, der viel liest. Andres aber wieder, was Cäsar zur Kennzeichnung gefährlicher Unzufriedener sagt, trifft in der Tat auf Brutus nicht zu, und daran kann Cäsars fortlebender Geist dann seine Rache anschließen: Brutus ist kein „großer Prüfer“, er „durchschaut das Tun der Menschen“ nicht; und ganz gewiß liebt er die Musik und kann gut lächeln.
Nun sehen wir Cäsar lange nicht mehr; die fürchterliche Nacht vom 14. auf den 15. verbringen wir mit den Verschwörern, zumal mit Cassius und Brutus. Das ist ein ungeheuerlicher Märzsturm; ein Gewitter mit furchtbaren Entladungen; es ist, als wolle eine Welt versinken; und Casca, der trotzdem[S. 147] in dieser Entscheidungsnacht auf die Straße muß, meint zu Cicero entsetzt und bedeutsam:
Es geschehen Zeichen; man muß Vorbedeutungen annehmen. Die Toten stehen auf, solche Erscheinungen wenigstens haben die Menschen in dieser Nacht; sie sehen die Toten mit feurigen Leibern in den Straßen gehen und in den Wolken kämpfen. Dinge der Art sind bei Plutarch zu finden; aber das Rechte hat erst Shakespeare aus seinem Farbentopf dazu gegeben; bei Plutarch ist alles in kindlicher Verwunderung und Kopfschütteln und pädagogischem Fingerdrohen stecken geblieben; erst Shakespeare bringt in diese Wunderzeichen die Magie, das Grauen hinein: es ist eine Weltwende; in dieser Nacht walten dämonische Mächte zwischen Himmel und Erde, zwischen den Gedanken der Menschen auch und ihren Entschlüssen zur Tat.
Das dürfen wir nie aus dem Sinn verlieren: Cäsar wie seine Gegner, die sich in dieser Schreckensnacht erst fest zum Bund zusammenfinden, sind in diesen Stunden, wo noch alles in ihren Willen gestellt ist, in gleicher Lage: dem, der die Krone will, wie denen, die sein Leben wollen, fließt jetzt eben die Entscheidung von innen nach außen, aus Hirn und Herzen in die Unwiderruflichkeit dessen hinein, was die Hände, was die Taten tun. Cäsar hat das Datum für seinen Staatsstreich und damit für seinen Tod selbst festgesetzt; und jetzt zittern die Verschworenen, die innen und außen gerüstet sind, er könne das Programm noch ändern wollen.
Cäsar sehen wir am frühen Morgen nach dieser Nacht. Noch im Nachtgewand tritt er auf. Calpurnia hat schwer geträumt und deutet den Traum auf Cäsars Tod.
Unmittelbar vor diesem Gespräch Cäsars mit seiner Gattin hatten wir zwischen Nacht und Tag die erhabene Szene des Römerehepaars Brutus und Portia. Hier ist es ganz anders:[S. 148] Cäsar ist launisch, willkürlich. Sie beschwört ihn, heut nicht auszugehn. Er antwortet hart, hochmütig, in der Pose, die er in der Öffentlichkeit braucht und die er nun auch zu Hause nicht abzulegen scheint:
Wir hören es nicht bloß hier, er redet gern in der dritten Person von sich. Das tun diese Römer wohl auch sonst; aber ist das nicht gerade das Kennzeichen dieses Mannes, daß er die harte, rauhe, soldatische Art römisch-republikanischen Wesens in eine andere Tonart gesetzt hat? Hier darf man sagen, daß der Ton die Musik macht, und sein Ton ist selbstherrlich. Das ist auch die echte Römersprache, wie wir sie von den andern her kennen, wenn er sagt, er begreife gar nicht, wie man sich fürchten könne:
Das ist die Sprache der Vergangenheit; nicht nur der Vergangenheit Roms, auch seiner eigenen. So furchtlos war der große General in seinen Kriegszügen gewesen, trotz allen Anwandlungen des schwächlichen, zur Krankheit geneigten Leibes, an die jetzt, wo er hassen will, Cassius sich erinnert; so rauh ergeben in alles, was kommen kann, war der Mann, den Brutus liebt.
Daß er jetzt nicht mehr derselbe, nicht mehr der Mann seiner Römerworte ist, sehen wir gleich mit eigenen Augen. Es wird nun berichtet, die Auguren hätten im Opfertier kein Herz gefunden. Ein ganz schlechtes Zeichen. Innerlich schwankt er schon; aber er will’s nicht zeigen.
Es geht ja nicht bloß um eine Senatssitzung; es geht um seinen großen Entschluß, zu dem alle Vorbereitungen getroffen sind. Soll er ihn aufschieben? Oder gar noch einmal bedenken? Der Mann jüngst, der ihn beim Luperkalien[S. 149]fest warnte — diese entsetzliche Nacht — Calpurnias Träume — das Ergebnis der Opferschlachtung — — Da verfällt die verängstigte Frau auf den Ausweg, auf den auch die Schulkinder kommen, wenn sie Angst vor der Schule haben: er soll sagen lassen, er sei heute nicht wohl; der zuverlässige Marc Anton soll’s bestellen. Plötzlich, unvermittelt gibt er nach; als festen Entschluß eines Mannes, der tun kann, was er will, bestimmt er:
und fügt, betonend, daß seine Nachgiebigkeit sein eigener Wille sei, daß er aber gar nicht selber an Furcht denke, daß er nur ihr und ihrer ganz grundlosen Anwandlung zu Willen sei, hinzu:
So sagt er bei Shakespeare wirklich, und dieses beides ist in dem Satz und muß in schwebendem Widerspruch betont werden: ihre Weiberlaune und sein Cäsarenwillen, der ohne Rücksichten selbstherrlich entscheidet: Du Weib hast die Laune; ich will, — was du begehrst.
Die Verschworenen aber haben in ihrer nächtlichen Beratung den Fall schon vorgesehen. Sie kennen ihn und wissen, wie der nüchterne Mann sich nun verwandelt hat; und im voraus haben sie bedacht, die ungeheuerlichen Erscheinungen der Nacht könnten ihn vom Kapitol fernhalten:
Und wirklich haben wir neulich beim Luperkalienfest gehört, wie er ausdrücklich verordnete:
und konnten dabei an Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht denken und an seine Stellung zum katholischen Kultus und zu allerlei Privataberglauben.
So kommt denn gerade im rechten Augenblick einer der Verschworenen zu Cäsar ins Haus, Decius Brutus, der[S. 150] sich schon darauf vorbereitet hat, wie er im Notfall Cäsar auf die rechte Art aufs Kapitol bringen wird: durch Schmeichelei nämlich. Cäsar bringt’s doch nicht über sich, sich mit Krankheit zu entschuldigen; wie’s drauf ankommt, verwehrt ihm der Stolz die Ausrede: ganz einfach, er wolle nicht kommen. Dann rückt er aber doch, indem er vertraulich zu dem wichtigen Römer spricht, mit Calpurnias Traum heraus. Den deutet ihm Decius nun aufs schmeichelhafteste: Rom saugt belebendes Blut aus ihm; das ist die Sprache, die Cäsar wohltut wie ein warmes Bad; und dazu fügt er noch die Nachricht, gerade heute wolle der Senat Cäsar die Krone verleihen. Man darf nun zwar annehmen, daß das für Cäsar keineswegs eine Neuigkeit war; neu war nur der Umstand, daß die große Überraschung, die auch wie eine Überraschung für Cäsar aussehen sollte, in den Kreisen der Politiker schon bekannt war und, wie es aus Decius’ Worten hervorzugehen schien, sehr freundlich aufgenommen wurde. Wenn er nun nicht käme!
Cäsar wird ganz heiter, und wie nun noch andre angesehene Römer ihn abholen kommen — die meisten sind in der Verschwörung —, wie er gar den untadeligen Ehrenmann, den Unbestechlichen, den als Anhänger zu haben so viel wert ist, Marcus Brutus, so früh morgens schon bei sich sieht, um ihm das Ehrengeleite zu geben, da gelten keine Träume und Weissagungen mehr, da gilt nur die Politik. So ziehen sie aufs Kapitol.
In der Szene, die den Einzug aufs Kapitol und sofort daran anschließend die Senatssitzung bringt, ist die Bühne zweistöckig. Oben sitzt in feierlicher Haltung der Senat; unten naht Cäsar mit seinem großen Ehrengeleite; viel Volks ist auf dem Weg. In der Menge gewahrt Cäsars scharfer Blick den Wahrsager von jüngst und ruft ihm, stolz aufgerichtet, ohne sich auf seinem Gang aufhalten zu lassen, spöttisch überlegen zu:
um die Antwort nachgerufen zu erhalten, die mehr unser Ohr trifft, die wir alles wissen und für Cäsar fürchten, als seines:
In diesem Augenblick will ihm der Sophist Artemidorus, dem die Sache zugetragen worden ist, die ganze Verschwörung in einer Bittschrift entdecken. Eine Bittschrift! Nun zittern wir für die Verschworenen, wie wir sonst für Cäsar zittern; die Gefahr liegt so nahe, daß der Mann mit den monarchischen Allüren die Bittschrift gnädig aufnimmt und sofort überfliegt. Aber auch die Verschworenen haben ein Bittgesuch bei der Hand, und in einer dunklen Ahnung faßt sich Decius Brutus, der Gewandte, schnell und übergibt es Cäsar jetzt schon auf der Straße mit den raffinierten Worten:
Wohltuend devote Sprache und dazu der Wink: ein Monarch macht sich nicht auf der Straße gemein, er läßt sich Zeit. Wie nun gar der Sophist drängt, sein Gesuch gehe Cäsar persönlich an und sei überaus wichtig und eilig, ist die Gefahr vorbei; in der großartigen Haltung des Herrschers, der vor allem als Diener des Staats auftritt, entscheidet Cäsar:
Nun schreiten sie alle, Cäsar an der Spitze, feierlich hinauf. Der Senat erhebt sich von den Sitzen. Es folgt die wohlvorbereitete Szene; Cäsar bereitet keine Überraschung; die Verschworenen haben ihn richtig beurteilt; ihr Programm wird durch nichts gestört. Sie überreichen ein Bittgesuch um Rückberufung eines politisch Verbannten. Cäsar weist es in der hochmütigsten, herrischsten Haltung ab. Sie werden dringender, sie werden flehender, sie knien; er spricht verächtlich von hündischem Bücken und Schmeicheln; aber wie er der Schmeichelei zugänglich sein kann, haben wir noch[S. 152] wie zuckersüßen Geschmack in der Erinnerung. Standhaft nennt er sich wie den Polarstern; aber wir haben seine Laune und sein Hin- und Herschwanken erlebt. Jetzt aber klingt es: wer ihn umstimmen will, könnte ebenso gut den Olymp, den ewigen Thron der Götter versetzen wollen. Da kommt, im Schein und in der Wahrheit, die Verzweiflung über die Verschworenen; sie drängen näher, sie knien alle, selbst Brutus, selbst Cassius, — sie brauchen die eigene Scham, sie brauchen die Abweisung, um aus dem Augenblick heraus, wie in einer Affekthandlung, tun zu können, was der Verstand beschlossen hat: sie dringen auf ihn ein; der Mord geschieht. Alle stechen sie nach ihm mit ihren Dolchen und Schwertern.
In Shakespeares Original aber stehen die sprichwörtlichen Worte lateinisch:
Ein kleiner, uns unerträglicher Rest der damals grassierenden Mode, unaufhörlich lateinische Brocken in die Dramen zu bringen.
Hier sei gesagt: Keine Gestalt war den Gebildeten der Zeit, die Shakespeare als sein Publikum voraussetzte, und sogar dem Volk, diesem politischen Volk vertrauter als die Julius Cäsars. Er war als der Kaiser, von dem alle andern den Namen genommen hatten, als der Mann, der von unten auf zum höchsten Rang emporgestiegen war und im Augenblick seiner letzten Erhöhung fallen mußte, wie von einem Nimbus umgeben. So sah ihn, wenn er irgendwo das Beispiel der Größe brauchte, auch Shakespeare. Um so wundervoller erweist sich seine Individualisierungskunst und seine Unabhängigkeit, daß er, wo er Cäsar in die Mitte eines Dramas stellte, ihn nicht als repräsentative Gestalt betrachtete, sondern als lebendige Person in einem kritischen Punkt ihrer Entwicklung. Der Mann und der Fürst, den Rom, dieses Rom, wie es jetzt geworden war, brauchte, der[S. 153] repräsentativ, führend und zusammenhaltend für dieses Reich war, über welchem der Geist der Republik nicht mehr waltete, wird Julius Cäsar aber sofort mit seinem Tode. Denn das ist das Thema dieses Stückes, das mit Fug für seine Gesamtheit, für alle fünf Akte Julius Cäsar heißt: Der geborene Herrscher eines Reichs, den dieses Staatswesen so, wie es war, brauchte, wird ermordet; sein weiterlebender Geist wendet das Schwert, bis seine Mörder es sich selbst in die Brust stoßen. Dies ist Schicksal; so, unentrinnbar, ist sein Weg. Shakespeare aber läßt das Schicksal wirken, indem — nirgends tragischer als hier — die Charaktere aus ihrer Freiheit heraus handeln. Irgendwie, auf verschiedenen Wegen, auf verschiedenen Stufen der Reinheit zum Äußersten gebrachte römische Männer unternehmen es, die Republik wieder herzustellen: es ist der letzte Versuch; die nach Geist und Charakter die Führung haben, sind die letzten Römer. So waltet in diesem Drama die tragische Ironie nicht so sehr im einzelnen, wie im ganzen.
Indem die Verschwörer Brutus gewinnen, daß er die Tat und die Verantwortung auf sich nimmt, hat ihr Unternehmen hohe Rechtfertigung erlangt. Nicht bloß er, auch die andern alle, zumal Cassius, trotz ihren mehrdeutigen Naturen und Motiven, stehen mit ihrer Tat ganz anders da, als sonst die großen Mörder bei Shakespeare. Julius Cäsars Wegräumung, obwohl sie äußerlich als Meuchelmord erscheint, den eine überwältigende Schar gegen einen einzelnen Wehrlosen verübt, hat doch bei Shakespeare mit dem revolutionären Staatsakt, der in England wenige Jahrzehnte nach Shakespeares Tod zur Hinrichtung Karls I. führte, mehr Ähnlichkeit, als mit den vielen dynastischen und feudalen Mordtaten, wie sie uns in Shakespeares andern Tragödien begegnen. Brutus ist wie Macbeth der Mörder, an dem sich[S. 154] die Tat rächt; auch ihn scheint zu nächtlicher Stunde der Geist des Ermordeten aufzusuchen, wie Banquo zu Macbeth kommt. Aber man scheut sich fast, dieses Wie auszusprechen; so ganz anders sind nicht nur die Personen, sondern die seelischen und politischen Verhältnisse, um die es dem Dichter geht. In den Stücken der englischen und schottischen Sage und Geschichte, die Shakespeare behandelt, wird von triebhaften, schlackenreichen Naturen nicht eigentlich Politik gemacht; es geht alles in der privaten Sphäre vor sich, auch wenn es um die Macht geht. Und Shakespeare zeigt, schon in der zweiten Hälfte unsres Stückes, ganz besonders aber in Antonius und Cleopatra, wie im Verfall des römischen Gemeinwesens, der Republik, die privilegierten Personen gerade dadurch, daß die öffentliche Freiheit, für die die letzten Römer eingetreten waren, und mit ihr die Ordnung zugrunde ging, wieder ihre ursprüngliche, primitive, wilde Freiheit inmitten raffinierter Zivilisation und öffentlicher Tyrannei erlangten und wie dadurch das Ende der antiken Kultur und ihr Übergang zur feudalen Welt vorbereitet wurde.
In diesem unserm Römerdrama also geht es um Politik auf einer hohen Stufe, um erhabene, ideale Verhältnisse, und die Ruhe, Planmäßigkeit und Überlegung, mit der der Mord vorbereitet wird, ist ein Kennzeichen dafür, daß wir hier nicht in der Welt der Triebhaftigkeit und des Personalismus, sondern der Ratio, der Staatsräson sind. Es wird hier nicht egoistisch, nicht in verächtlicher Wut gemordet; die Tat geschieht nicht ohne Liebe, nicht ohne Achtung zu ihrem Opfer. Die Heimlichkeit, in der die Verschwörer sich nächtlich zusammenfinden, hat weitaus mehr vom Charakter der Öffentlichkeit an sich als die lauten, rückhaltlosen Streitrufe feudaler Helden; und das Wort Tagung ist für diese Nachtversammlung fast nicht zu vermeiden. Die da zusammenkommen, tun es in dem Glauben, Richtungen im Staat zu vertreten, berufene Vertreter zu sein; ihre Tragik ist[S. 155] gerade, daß sie sich darin irren, daß sie Vertreter eines nicht mehr vorhandenen Volkes, Führer ohne Heer sind.
Hier also wird eine vollendete und nunmehr absteigende Welt geschildert im Gegensatz zu jener andern, die Shakespeare in den englischen Geschichts- und Sagendramen behandelte, in der die Lebenstriebe noch oder wieder reicher, verworrener, wilder funktionieren. Brutus und Cassius geht es um die öffentlichen Zustände; so politische Köpfe auch König Johann und Heinrich IV. zum Beispiel sind, so sind sie doch vom Dichter in eine Welt gestellt, in der sich Staat und Person des Herrn gar nicht trennen lassen.
Mit alledem ist gesagt, daß über den Königs- und Sagendramen das feudal-dynastische, über diesem Römerdrama aber in der Tat das republikanische Prinzip steht. Goethe mag vorwiegend an die Volksszenen gedacht haben, vor allem aber hatte er die prachtvolle Lebendigkeit der Gestalten im Sinn, wenn er meint, Shakespeare schildere keine Römer, sondern „lauter eingefleischte Engländer“. Richtig ist gewiß, daß er in diesem Stück so wenig wie in einem andern die gelehrten Absichten seiner akademisch-literarischen Zeitgenossen teilte. Er ging nicht im entferntesten darauf aus, fremdartige oder interessante Verhältnisse zu schildern oder seine Menschen irgendwie historisch zu maskieren. Ganz und gar ging es ihm, wie immer, um das Grundwesen der Menschen in seinen mannigfaltigen Abstufungen; nur daß er diesmal in der allgemeinen Sphäre wie vor allem in seinen Hauptgestalten Brutus, Portia und Cassius das öffentliche Pathos, die ideale, innig-leidenschaftliche und rationale Teilnahme am Gemeinwesen als wesentliche Elemente im geistigen Leben aufzeigte. Daran liegt wenig, ob man diese Gestalten Römer oder Engländer nennt; wichtig aber ist zu beachten, daß das Römertum, wie es in den Staats- und Freiheitsbewegungen der Zeit, in den Schriften der Monarchomachen und Montaignes und dann Miltons und so vieler anderer von entscheidender Bedeutung war, in Shakespeares[S. 156] Julius Cäsar in der Tat seinen lebendig-dramatischen Ausdruck fand.
Solche Fragen aber, wie die, ob Shakespeare in einem Stück Römer oder Engländer dargestellt habe, sind darum immer schief, weil er das äußere Kostüm, wohin ich — ich weiß, was ich sage — auch zufällig-geschichtliche, zufällig-nationale Varietäten rechne, nur als Mittel für seine höheren Zwecke brauchen konnte. Man könnte sagen, daß noch nie einer das italienische Naturell, daß noch nie einer die Vermählung des römisch-republikanischen Staatsgedankens mit erhabenen Seelen so wundervoll getroffen habe, und es wäre doch von Shakespeares Wesentlichem damit nichts gesagt. Kaum ein Stück Shakespeares aber erinnert mich gerade so, wie Julius Cäsar, an seine Gemeinschaft weder mit Römern noch Engländern, sondern mit Rembrandt und Beethoven. Das rührt, ich glaube, an entscheidend Wesentliches, jedenfalls aber an unsäglich schwer mit Worten zu Vermittelndes. Vergegenwärtigen wir uns zunächst dieses Trio Shakespeare, Rembrandt, Beethoven durch drei ihrer repräsentativen Werke, und sagen: Brutus — der Mann mit dem Goldhelm — die Eroica oder noch besser die fünfte, die C-Moll-Symphonie. Da haben wir eine menschliche Größe und Ausdrucksgewalt, die, so persönlich sie ist, so rein und hoch Allgemeines wie endgültig formt. Für alle drei sind zusammenfassende Beziehungen wie Renaissance oder Barock oder gar Empire hergehörige und nicht unwichtige, aber ganz ungenügende Abgrenzungen; alle drei gehören weit mehr unter einander als mit ihren Stilgattungen zusammen. Was in diesen Werken sich äußert, ist das Tiefste, Schwerste und Erhabenste, ist die inständigste Not und die größte Herrlichkeit unsrer Zeit, unsrer eigenen und besonderen, in der Shakespeare nicht minder ein Gipfel ist als Beethoven. Was sich da äußert, ist Heldentum in Melancholie; klare, scharfumrissene, aktive Naturen, die es nun aber doch nicht läßt, in die Welt und ihr Leid zu verdämmern; ein leidenschaft[S. 157]licher Aufwärts- und Vorwärtsdrang, dessen Melodie aber umwogt ist von der Stimmung des Untergangs. Das ist mir im Letzten und Höchsten Shakespeare, wie es mir Rembrandt und Beethoven sind, und kaum irgendwo bemächtigt es sich meiner so wie in dieser Tragödie der letzten Römer: Kraft, ungemeine Kraft ist da, Kraft des Alten, Gewesenen und dazu schon Kraft der Erneuerung, — darin verflößt aber und nicht davon zu trennen das ganze Weh des Untergangs, der ein Übergang ist, wie es so ähnlich ja wohl Nietzsche ausdrückt, das Leid unsrer Zeiten.
Dessen eine Gestalt ist mir das Helldunkelgemälde dieser letzten Römer. Wenn man gut zusieht und die Stimmung, die das Rom um die Wende der neuen Zeitrechnung in Parallele setzt mit den Zuständen in der Seele unsres öffentlichen Lebens, schon beinahe mitbringt, so können wir auch bei Plutarch, dem Historiker der untergehenden, schon fast vergangenen Antike, diese Verbindung von heroischen Naturen mit leidvoller Philosophie finden. Aber das ist doch kaum anders, als daß in dem Stoff, worin die Vision des Dichters ihre Entdeckungen macht, alles schon der Möglichkeit nach gegeben sein muß, was der Vollender dann zur Wirklichkeit macht.
Die Repräsentanten dieses unsres eignen, dieses Römergeistes, von denen wir hier das Allgemeine gesagt haben, sind Brutus und Cassius; diese beiden stehen von Anfang an bei einander im Vordergrund, und Cassius verdient es durchaus, neben Brutus zu stehen. Shakespeares Kunst, Menschen der gleichen Richtung und desselben Wollens nebeneinander zu stellen und sie nicht durch grobe Gegensätzlichkeit, sondern durch Nuancen zu unterstreichen, bewährt sich nirgends so wundervoll wie in der Macbeth-Tragödie in dem Ehepaar Macbeth und hier in dem Freundespaar Brutus und Cassius. Cassius hat mehr Schlacke, mehr Affekt als Brutus, er hat nicht seine makellose Reinheit, seine Unpersönlichkeit; dafür hat er aber auch ein schießenderes Temperament und mehr[S. 158] politischen Verstand. Brutus macht seine Entscheidungen gern, auf sich selbst harrend, sein selbst gewiß, im Unbewußten ab; er läßt die Dinge reifen; er braucht die flackernde Zündung durch gesellige Aussprache nicht. Cassius ist hitzig, was in ihm gärt und ihn treibt, läßt er viel rascher hochschießen als Brutus. So ist er es denn auch, der sich Brutus eröffnend, lockend nähert, ihm sein eigenes Innere, seinen Kampf, seine Qual ohne Scheu zur Sprache bringt und erklärt.
Es ist aber nicht so, daß das, was aus Cassius so schnell hochkommt, ebenso rasch wieder verpuffte oder daß er irgendwie unbeständig, unzuverlässig wäre. So stark in ihm Leidenschaft, Wildheit, Zorn arbeiten, so sind sie doch durchaus in den Zusammenhang einer Geistesrichtung eingeordnet, die Gesinnung heißt. Und in der Gesinnung ist er der Freund und Genosse des Brutus und seiner würdig. Nicht von einem politischen Meinungssystem ist hier die Rede, wie man es schließlich wechseln könnte, ohne in Schmach zu fallen, sondern von einem Gefüge von Anschauungen und Willensrichtungen, die unveräußerlich sind, weil sie aus einem Grundtrieb ihrer Natur hervorgehen, aus dem Grundtrieb noch dazu, aus dem das römische Gemeinwesen erwuchs. Was sie beide treibt, heißt mit einem Wort Freiheit. Sie wollen keinem Menschen dienen, keinem untertan sein, keinen als höher verehren. Sie fühlen sich dem Besten ebenbürtig und dulden keinen Gebieter über sich. Sie haben nicht den Freiheitsdurst der Unterdrückten, mit dem Neid in Verbindung stehn kann; sie haben die männliche Freiheitsliebe derer, die nicht in Unterdrückung sind und auch nicht hineinkommen wollen, die Freiheitsliebe, der die Eifersucht nicht immer fern bleibt. Zu dieser Haltung gehört eigener Adel, Stolz, Selbstgefühl, und das ist ihr Teil. Es ist ein durchaus aristokratischer Republikanismus, der sich vom philosophischen Denken, vor allem vom Stoizismus genährt hat. Cassius bringt, was ihrer beider Grundprinzip, Grundtrieb ist — denn bei diesen[S. 159] Männern der Gesinnung sind Seele und Geist untrennbar in einander gewachsen — in Kürze zum Ausdruck, wenn er zu Brutus in dem Augenblick, wo er sich entschließt, frei heraus zu ihm zu sprechen, sagt:
Der so spricht, ist ein Mann, der sich schon mannigfach um den Staat verdient gemacht hat, ein bewährter Feldherr; der Zorn, der bei ihm nah bei der Eifersucht wohnt, daß ihn einer überflügeln soll, ist auch dabei; der Grundzug seines Wesens aber, nach dem er auch die andern Menschen und die Erfordernisse des Gemeinwesens beurteilt, ist wilde, entschlossene, den Himmel herausfordernde, tapfere Furchtlosigkeit.
Darum sehen wir ihn am größten, am herrlichsten in der Entsetzensnacht; da wird er elementar wie der Wettersturm.
In dieser Nacht wandelt Brutus schlaflos, sinnend auf und ab; auf den äußeren Sturm achtet er kaum und wendet sich, um den Sturm in seiner Brust zu bezwingen, den Büchern zu; Cäsar liegt zu Bett, möchte schlafen, wird aber durch die Traumreden und Schreie seiner Frau gestört; Casca, ein Mann, in dem die arretierte Stimmung des Gedrückten nach der Rebellion lechzt, die ihm das Feuer seiner Jugend wiedergeben soll, ein Mann von Chamforts Art, ist entsetzt „in Furcht und Zittern“; Cassius aber fühlt sich auflodernd in seinem Element:
Cassius ist eine von den leidenschaftlichen, nimmersatten Naturen, die genau das, was sie schon überflüssig im Innern haben, fortwährend von außen in sich hineinholen müssen. Er ist wie einer der Trinker, die das äußere Rauschmittel nicht darum suchen, weil sie in sich still und gedrückt wären, sondern weil der Rausch schon ohnedies in ihnen lebt.
Je nach Natur und Gesinnung sucht in den Erscheinungen dieser Nacht jeder ein anderes Zeichen; nur Brutus kümmert sich darum gar nicht. Cassius bezieht alles auf seine eigene Natur und auf das Objekt seines großen Hasses; und diesen Feind, Julius Cäsar, sieht er im Bilde dieser taumelwütigen Nacht ganz so, wie er selbst, Cassius, wäre, wenn er von innen und außen dazu gekommen wäre, die Rolle des Alleinherrschers zu spielen und das Maß zu verlieren; der Cäsar, den wir selbst vor Augen sehen, und der noch genug von der Nüchternheit, Ruhe, Strenge, Bestimmtheit beibehalten hat, die ihn so hoch gebracht haben, ist ein ganz anderer, als der trunken hassende, vom Exzeß der Natur berauschte Cassius ihn sich gestaltet:
Niemand aber, nichts ist imstande, Männern wie Cassius die Freiheit zu nehmen. Wer eines kennt, der ist frei und bleibt frei, einmal für alle. Das ist das große Geheimnis dieser stoischen Römer, das sie in immer neuen Wendungen einander aussprechen und versichern, und das nur darum so fest und sicher zum Worte wird, weil es sich mit ihrem Denken und ihrer Lebensführung verschmolzen hat: das ist der Tod, die Möglichkeit, durch[S. 161] eignen Entschluß zu sterben. Herrlich bringt es Cassius zum Ausdruck:
Da, wie in dieser Nachtstunde der gewaltige Sturm aus Cassius so zu ihm spricht, als wäre er zugleich ein wild wehendes Blasen und eine unbewegliche Standfestigkeit, da wird auch der gepreßte Casca fortgerissen und richtet sich auf und steht wieder auf sich; das Feuer seiner Jugend erwacht; der Gedanke an den Tod bringt ihm die Liebe zu dem Leben, das man selber bestimmt: Das kann auch ich! ruft er aus und ist, er, der bisher nur ein hämischer Nörgler, ein aphoristischer Satiriker war, zur Tat entschlossen, für die Verschwörung gewonnen.
Nichts kennzeichnender für Cassius, als diese seine Sprachgewohnheiten, von denen wir hier Proben erhalten haben, Wendungen, wie: was mich betrifft, ich für mein Teil und dergleichen. Wie hat es diesem selbstherrlichen Individualismus, der durch das leidenschaftliche Temperament, mit dem er verbunden ist, immer gefährlich nahe daran ist, zu Ehrsucht und Tyrannei auszuarten, wie hat es ihm gut getan, daß er sich mit der republikanischen Gesinnung und einer männlichen Philosophie verbunden hat, die den Trieben den Zaum der Besinnung anlegt und das Leben von seiner festen Begrenztheit aus zugleich zur höchsten Leistung und zur Bescheidung bringt. Mögen doch die Historiker, die in Wahrheit über diese Personen und diese Zusammenhänge[S. 162] über gar kein besseres Material verfügen als Shakespeare, mögen sie in einer Gewohnheit, die ihrer Methode und meist auch ihren Naturen entspringt, nichts derart Großes im Innern solcher Männer, denen der Verlauf der Geschichte, wie man so sagt, Unrecht gab, anerkennen, dieser Cassius mit all seinen saftigen Menschlichkeiten ist ein großer Kerl und ein ganz echter Römer. Wir können nicht einmal sagen, das Furiose, das leidenschaftlich Ausbrechende, das Shakespeare ihm leiht, habe erst die Renaissance und das Barock gebracht. So ein Barock kennt auch das späte Rom; mit Vergil hebt es an; und gerade der Mann, der diese stoische Lehre, die Cassius’ Leben ins innerste geadelt hat, zur erhabensten Prägung gebracht hat, Seneca, von dem wir und Shakespeare Worte der Art haben, wie: Qui potest mori, non potest cogi, was schiert mich Zwang, der ich sterben kann, gerade er gilt — und galt in Shakespeares Zeit unangezweifelt — als der Verfasser so mancher Tragödienszenen, die nach Aufbau, Steigerung und einer nicht bloß gewalttätigen, sondern manchmal gewaltigen Sprache in der ganzen Antike Shakespeare am nächsten kommen. Ich denke nicht daran, Seneca, den Tragödiendichter, in die Nachbarschaft von Aischylos und Sophokles zu bringen, die uns in diesem Zusammenhang nichts angehen, weil Shakespeare sie nicht gekannt hat; aber ich bringe ihn auf eine sehr ansehnliche Stufe auf dem Wege zwischen Euripides und Marlowe; ganz und gar lebendige Menschen auf die Beine zu stellen, hat weder Seneca noch Marlowe vermocht; aber durch die leidenschaftliche und innig bewegte, gewaltig freie Sprache das innerste Gefühl von Menschen zu offenbaren, ist auch Seneca, wenn’s zum Höchsten kam, gelungen; und wäre es die Aufgabe dieser Vorträge — sie ist es nicht —, Dichter und Stellen ihrer Werke zum Beleg zusammenzusuchen, die auf Shakespeare Einfluß geübt haben können, so wäre Seneca ein recht umfangreiches Kapitel zu widmen.
So wie der wütige und gefaßte, der ausbrechende und entschlossene, der kühne Cassius zu Casca gesprochen hat, so — dürfen wir denken — hat er einen nach dem andern gewonnen. Er ist kein Mann des Volks und der Volksrede; er wirkt, indem er die einzelnen erst studiert und dann bearbeitet und erschüttert. Dazu ist er, dessen Natur es so leicht hat, ihr Inneres zur Äußerung zu bringen, und der von der edeln Schamlosigkeit des Künstlers, die innersten Eingeweide bloßzulegen und sich in Ekstase zu zeigen, genug hat, besonders geeignet. Er ist durchaus die Seele der Verschwörung; er aber, wie all die andern, fühlen sich der Aufgabe nicht gewachsen, fühlen ihr Unternehmen nicht gerechtfertigt, wenn nicht die personifizierte Reinheit zu ihnen tritt, ihr Herz und ihr Haupt wird. Das ist Brutus.
Ehe Cassius ihn weckt, ist Brutus zurückgezogen, in sich gekehrt, brütend. Die Zustände, die Ereignisse, die Stimmung in Rom, das alles hat zu ihm gesprochen; und etwas Bestimmtes bohrt und kämpft in ihm. Aber er weiß nicht deutlich, was es ist; er will es nicht wissen. Auch er, er ganz besonders, ist so einer von denen, die aus dem Grunde leben (wir haben früher von ihnen vernommen); er ist einer, der sich nur schwer, nur seufzend entschließt, planvoll aus sich herauszugehn und sich ein Ziel zu stecken. Und auch er ist einer, dem die Zeit etwas aufbürdet, dem er nicht gewachsen ist.
Immer wieder hat man bei Brutus an Hamlet erinnert; man hat recht daran getan. Die Gestalten wie die Stücke sind einander benachbart; Shakespeares ganze Liebe gilt Brutus, wie er offenbar an Hamlet hängt.
Brutus weiß, daß etwas in ihm zu einer großen Entscheidung drängt, daß etwas von außen näher und näher rückt, was er wie einen Eingriff in sein Eigenstes nicht dulden darf. Er weiß, daß das, was abzuwehren ist, das Gemeinwesen angeht,[S. 164] in dem Punkt angeht, wo sein eigenes Herz Roms Herz ist. Das ist der ungeheure Zwiespalt: er ist von Haus aus eine private Natur, die aber ihrer adligen Anlage nach privat zu sein nur ertrüge, wenn draußen die Menschen frei und glücklich wären. Er ist der Politiker, der aus der Philosophie in die Politik kommt; aber aus einer Philosophie, die mit seinem Leben verwachsen ist. Nicht so bloß, daß er mit dem Herzen denkt; so vielmehr, daß sein Denken sich nicht zufrieden gibt, ehe die äußere Wirklichkeit ihm entspricht. Aus einem stillen, sanften, aber zähen Sinnen heraus kommt er zur Aktivität.
Cassius knirscht über den Zwang, über die Änderung auch seiner Stellung im Vergleich zu früher, nicht durch etwas hauptsächlich, was ihm geschieht, dadurch allein schon, daß einer über alle, über ihn auch erhöht sein soll. Brutus kann vor allem den Gedanken, es bereite sich die Tyrannis vor und man könne in Rom die Luft der Freiheit nicht mehr atmen, nicht ertragen. Ihm geht es um die Wiederherstellung. Nicht umsonst erinnert man ihn immer wieder an den, der als sein Ahnherr gilt, an jenen andern Brutus, der den Tarquinius vertrieben hat.
Fortwährend fliegen ihm solche kleine Briefchen zu — Brutus, schläfst du? und dergleichen. Ehrgeiz wecken sie gar nicht in ihm; er hat keinen; sie schmeicheln auch nicht seiner Eitelkeit; aber sie treffen seine Verantwortung; sie sagen ihm, daß es in der Tat um etwas geht, wo der einzelne aufgerufen wird; daß es ans Leben, ans Element des Lebens geht; und vor allem: sie bestärken ihn in seinem Glauben an einen Geist, der in ihm, aber nicht in den Massen lebt, an ein republikanisches Rom, das in Wahrheit gar nicht mehr da ist. Denn — eine entscheidend schwere Verantwortung haben sie mit diesem demagogischen Mittel auf sich genommen — Cassius und seine Mitverschworenen haben all diese Stimmen aus dem Volk arrangiert, um lauter Stacheln ins Fleisch des schwer beweglichen Mannes zu setzen.
Wie dieses Volk in Wahrheit heruntergekommen ist, wie es knetbarer Ton in den Händen der Demagogen ist, das sieht Brutus nicht, aber wir sehen es und wissen, wie Brutus sich täuscht und wie er getäuscht wird.
Er täuscht sich oft und ist das geeignete Objekt dazu, betrogen zu werden. Darin ist er ganz und gar keine Hamletnatur. Er wäre es, wenn ihm so wie Hamlet die Augen über die Welt aufgingen. Nachdem Hamlet erst über seine ursprünglichen Grenzen hinausgetrieben ist, nachdem er auf die schaurigste Art genötigt wurde, sich auf die Welt einzulassen und Menschen zu beobachten, über deren Elendigkeit er sonst am liebsten weggeblickt hätte, entwickelt er Witz, Schärfe, Polemik, Weltkenntnis intuitiver Art; er ist dann einer der Goetheschen Männer des Aperçu, denen ein Fall für tausend gilt. Gerade darum aber, weil Brutus in der Täuschung über die Umgebung lebt, ist er in der ursprünglichen Vornehmheit geblieben, die es für unanständig hält, aus Erfahrungen zu lernen. Ihn gehn die gerade lebenden Römer nichts an, er schaut das Römertum im großen und allgemeinen, ihm ist solche Zusammenfassung und Möglichkeit eine wahrere Wirklichkeit als zufällig vorhandene und zufällig verderbte individuelle Exemplare der Gattung. So kann er tun, was Hamlet nicht vermag: er führt ein hohes, glückliches Privatleben, und er kann sich aus dem Allgemeinen seiner Anschauung und aus der Befriedigung seiner privaten Sphäre heraus zur Tat wenden.
Er ist einer, der aktiv träumt, der seine Denkgebilde, guten Wünsche für die Menschheit und Gesichte hinausprojiziert und draußen leibhaft als Wirklichkeit oder wenigstens Bereitschaft gewahrt, und ist so zugleich ein fühlender Grübler und eine handelnde Natur. Es gibt in der Natur und also auch in Shakespeares Menschenwelt alle Kombinationen von Eigenschaften, die unsre abstrakte Sprache als Gegensätze von einander trennt; Brutus vereinigt Beschaulichkeit und Heroismus.
So vertraut er den Menschen und glaubt an das Gute in ihrer Natur, das bei der Wiederherstellung des Gemeinwesens sich auch ganz wieder aufrichten müsse. Im großen ganzen hat er recht: es ist dabei nur vorauszusetzen, die Republik und republikanische Erziehung wären ohne Zugeständnis schon erkämpft und durchgeführt. Das Absolute hat immer recht, — wenn es rein in sich bleibt und sich nicht auf die Relativitäten einläßt. Sowie es das aber tut, fängt sein schweres Unrecht, sein Irrtum an, und es wird der Doktrinarismus daraus. So kommt es, daß Brutus immer wieder — gegen Cassius’ Rat — in der Politik wie in der Kriegführung entscheidende Fehler macht. Cassius aber und die andern fügen sich ihm, wo es nur irgend geht: aus Ehrfurcht vor seiner Reinheit. Denn was wäre ihr Unternehmen von vornherein und im Ablauf, wenn die republikanische Tugend nicht die Führung hätte!
Von dem Augenblick an, wo Cassius eindringlich, schonungslos zu ihm gesprochen hat, weiß Brutus mit einem Mal oben alles, was bisher in ihm geschwärt und gesonnen hat. Nun muß also entschieden, nun muß die Stimmung zum Wort und damit — für ihn — zum Beschluß und zur Tat werden. Daß nur ja dieses Wort nicht von außen zu ihm kommt; das darf nicht sein! Aus ihm selbst, aus ihm allein muß es hochsteigen. Er bricht, ohne sich irgend entscheidend geäußert zu haben, das Gespräch ab; vereinbart wird nur, sie sehen sich bald wieder, und er weiß: bis dahin wird er mit sich im reinen sein.
Er macht nun alles in der Stille mit sich ab. Schlaf findet er keinen mehr. Irgendwo in ihm ist der Entschluß schon gefaßt, und er erträgt die Zwischenzeit nicht. Es bohrt, es wühlt; er starrt finster ins Leere, wo etwas Furchtbares schon sein sollte; er wird von allem in seiner Umgebung gestört; er verhält sich wie wohl ein Dichter, in dem das Werk fertig wortlos ruht, und der sich scheut, an die Gestaltung zu gehn. Bis dann, in der Schreckensnacht, wo es draußen[S. 167] tobt, für ihn die Entscheidung und damit die Ruhe da ist. Was draußen vorgeht, merkt er gar nicht. Aber er ist nun so weit und spricht es sich aus, und damit, daß dieser Mann in nächtlichem Alleinsein in seinem Garten dieses Wort spricht, ist es, als wäre die Tat schon vollbracht:
Im Jahre 1803 hat Goethe den Julius Cäsar in Weimar aufführen lassen, unter anderm auch in der Erwägung, dieser Eindruck könnte für seinen Freund Schiller, der am Tell arbeitete, von Bedeutung sein. Schiller kam denn auch sofort „in die tätigste Stimmung“. Nicht zu leugnen, daß die Hauptsituation im Tell, daß auf der einen Seite eine Verschwörung sich bildet, auf der andern ein einzelner Mann steht, der für sich den Tod des Tyrannen beschließt, von Julius Cäsar vorweggenommen ist. Der Unterschied ist nur der, daß Tell — „Ich lebte still und harmlos“ — durch äußere Vergewaltigung zur Privatrache getrieben wird, daß Brutus aber keinerlei Privatrechnung mit Cäsar zu bereinigen hat, daß er im Gegenteil ihm bis zuletzt menschlich nahesteht und ihn lieb hat. Wenn Schiller etwas der Art zu behandeln gehabt hätte, er hätte sich die Szene zwischen den beiden Freunden nicht entgehen lassen und wir hätten eine neue, noch furchtbarere Arie „Max, bleibe bei mir...“ in die deutsche Literatur bekommen, wozu dann das Duett zwischen Cäsar und Brutus, das der Räuber Moor zur Laute singt, eine Vorübung gewesen wäre. Für den harten, keuschen Shakespeare gibt es nichts der Art. Ein solches Gespräch könnte gar nichts ändern; mit dem Bilde Cäsars, wie er nun geworden ist und mit Notwendigkeit sich weiter verwandeln wird, hat Brutus sich auseinanderzusetzen; es geht ums Gemeinwesen, nichts andres gilt. Erst wenn der Entschluß gefaßt ist, wie Brutus sich den Verschworenen angeschlossen hat, kommt seine Liebe zu Cäsar zu einem erschütternden Ausdruck; aber nicht im entferntesten in der Form des Bedenkens; er liebt Cäsar, indem er ihn opfert.[S. 168] Aber die Tat und ihre Ausführung muß denn auch von diesem Geist der Liebe gefärbt werden; die Liebe zur Person muß sich verwandeln in die Reinheit der Sache:
Und viel später, im Streit, sagt Cassius sehr wahr zu ihm:
Ja, so ist es: Haß aus Sachlichkeit und persönliche Liebe kann Brutus in reicher Seele so in einem Punkt vereinigen, wie Antonius echten Schmerz aus Liebe und Politik aus Berechnung.
Daß Brutus aus seiner unterirdischen Besinnung mit dem Beschluß erwacht: Cäsar muß fallen, steht mit seiner ungemeinen Achtung vor Cäsar in genauer Verbindung. In Cäsar, in ihm allein, ist ihm der ganze Geist, den wir heute Cäsarismus nennen, verkörpert. Ein Opfer muß fallen, damit Roms Freiheit wiederersteht; Cäsar muß dieses Opfer sein, weil in ihm, dem überlegenen Staatsmann, der Geist der Gewaltherrschaft konzentriert und nur mit seinem Leben auszurotten ist; damit aber soll es genug sein. Ein einziger Mensch soll getötet werden, damit die Freiheit wieder lebe; gerade das, diese Umkehrung des monarchischen Gedankens, ist es, was Brutus fasziniert. Darin sind Cäsar und Brutus einig: Cäsar ist für sie der König des Reiches; wozu ich berufen bin, muß ich in Wirklichkeit werden, sagt sich Cäsar und strebt nach der Krone; du also, du allein mußt fallen, erwidert Brutus. Wäre es nicht so, wären noch andere gefährlich, könnte man von den Römern erwarten, daß sie nicht sofort zur Freiheit zurückkehrten, wenn ihnen der Untergang Cäsars verkündigt wird, wie wäre dann ihre Tat gerechtfertigt? Wäre dann nicht die Zeit der Republik[S. 169] vorbei? Alle andern, auch Antonius, dürfen am Leben bleiben; sie sind nichts, wenn ihnen das Haupt genommen ist, in dem allein der Königsgedanke lebendige Kraft hatte.
Das ist sein ungeheurer Irrtum. Für Shakespeares Kunst aber, uns mit bis ins Feinste lebendigen Menschen umgehen zu lassen, weiß ich kein leuchtenderes Zeichen als dieses: daß man den Drang verspürt, aus innerster Teilnahme mit seinen Menschen zu rechten. In diesem Moment der Entscheidung wollte ich zu Brutus zu reden versuchen, wollte ihm Dinge sagen, wie ich sie dem großen Tolstoi, wie ich sie manchen russischen Revolutionären gegenüber auf der Zunge hätte: daß man das Absolute denken, aber nicht tun kann. Cassius wird sehr bedenklich bei Brutus’ Worten der Geringschätzung, mit denen er Antonius das Leben schenkt; er versucht auch, dagegen zu streiten; und in der Tat, wenn Brutus von Antonius meint:
so sehen wir gleich nachher, daß er wesentliche Grundzüge des Mannes, sein leicht erregtes Gefühl und seine Liederlichkeit, ganz richtig beurteilt; andere Züge, die wir dann am Werk, am Werk der Vernichtung gegen die Verschwörer sehen werden, gewahrt er aber nicht und sieht vor allem nicht, daß Rom so heruntergekommen ist, daß eine Zeitlang wenigstens Antonius in seiner ganz ändern und niedrigeren Art die Rolle Cäsars spielen kann. Brutus ist kein Staatsmann, kein Rechner; er ist zu gar nichts Schlechtem imstande und ahnt in seinem Studio nicht, daß die Zeiten und die Mittel, sie zu beherrschen, sich arg verändert haben. Er fürchtet Cäsar und nur Cäsar, weil er an ihm Größe und Adel kennen gelernt hat, die nun vom Weg republikanischer Tugend abgeirrt sind; er sieht nicht, daß in der Politik beweglichem Volk gegenüber Größe, Adel, Tugend auch geschauspielert[S. 170] werden können, besonders von so einer glänzenden Komödiantennatur wie Antonius, der die Wahrheit in den Dienst der Lüge, den echten Schmerz in den Dienst der Politik stellen kann.
Brutus kennt die Welt um so weniger, als alles, was ihn in seiner Sphäre umgibt, rein und edel ist. Wir sehen es auch an den Fernerstehenden: im Umgang mit ihm müssen sie sich von ihrer saubersten Seite zeigen; er sieht immer nur die Sonntagsseite der Menschen, nicht bloß, weil er so rein und ohne den Schmutz des Mißtrauens in den Augen blickt, sondern weil sie im Umgang mit ihm besser sind als sonst; jeglicher hat ja so viele Möglichkeiten! Und der Brutuscäsar, dem er sich als Freund gab, war gewiß auch ein anderer als der Cäsar, wie er sonst mit den Menschen umging; und Brutus mußte ihn von da ab allmählich in anderm Lichte sehen, wo Cäsar so sehr ein öffentliches Leben führte, daß der Unterschied von dem, der in vertrauten Stunden mit ihm sprach, mehr und mehr sichtbar wurde. Brutus hat den Magnetismus des Guten, das Gute anzuziehen; wie hätte er ein solcher Mann zugleich der Betrachtung und der lebendigen Tat, der Schwermut und der Aktion werden können, wenn er nicht das Glück gehabt hätte, seinen Umgang zu finden. Er lebt in einer Atmosphäre der Reinheit: da ist sein Oheim — dann auch sein Schwiegervater — Cato, dessen junger trefflicher Sohn, Portia seine Frau, bis hinab zu seinen Dienern; es ist alles Treue und Ehre, Poesie und Musik, was ihn umgibt.
Sein Weib steht so hoheitsvoll neben ihm, daß er der Schweigsame, der alles mit sich allein abgemacht hat und sogar in diesen produktiven Tagen der letzten Entscheidung hie und da unwirsch geworden ist, ihr schließlich das furchtbare Geheimnis anvertrauen darf. Nur das ist für sie beide wahre Ehe, wenn sie ohne Einschränkung auch geistige Gemeinschaft haben. Was für ein anderes Paar — nicht etwa als Macbeth und seine Frau; nie vermöchte man, Brutus[S. 171] und Portia so wie diese ein Mörderehepaar zu nennen, obwohl sie es dem Wortsinne nach sind —, aber als Cäsar und seine Calpurnia, an deren Liebe wir gewiß eher glauben als an ihre Würde im Verkehr mit einander und gegenseitige Achtung; wie anders auch als Percy und sein Weibchen! Es wird kein Zufall sein, daß Shakespeare jener andern hohen adligen Frau, die ebenbürtig an Geist ihre Frauenseele in den Streit der Männer trägt, ohne Anhalt in den Quellen den Namen Portia gegeben hatte:
Nur sehr ungern entschließt Brutus sich, sie zur Mitwisserin dessen zu machen, was erst geschehen soll; ist es getan, so wird er der erste sein, Rom die Tat zu verkündigen; auch möchte er ihr gegenüber nur schweigen, weil er weiß, daß die Pein um ihrer Liebe zu ihm willen fast über ihre Kraft geht. Denn nie ist innig überwältigender gezeigt worden, wie die männlichste Kraft des Geistes, die so zu Willen wird, daß sie den Körper verwunden und schließlich aus dem Weg räumen kann, mit der weiblichsten Schwäche der Seele und der Physis vereint leben kann; ja, wie sie schließlich in den Tod geht, weil ihre Gemeinschaft mit dem geliebten Manne so groß ist, daß sie sein Schicksal voraus erlebt und sich in Verzweiflung, in einer Stunde der Wut tötet, ehe es sich erfüllt hat — wer ist da ein solcher Virtuos der Abstraktionsanalyse, daß er sich zu entscheiden getraut, ob ihre zerbrechende Frauenseele oder ihr starker Geist über ihrem Ende gewaltet hat?
Daß Brutus und Cassius Männer, ganze Männer sind, zeigen sie es am kraftvollsten in ihrem Ende? Nein, ich gestehe, ihre Männlichkeit leuchtet mir am trefflichsten aus ihrer Haltung nach ihrer Tat hervor. Brutus, den wir immer gesetzt, in sich gekehrt, wie mit einem Druck auf Kopf und Herzen gesehen haben, wird aufgeräumt. Heroische Lust kommt über ihn; er hat die Ehrsucht ermordet; nun stellt er sich vor allem andern selber dem Tode.
Ja sogar, er ist adlig genug und sachlich genug und liebevoll genug, um in dieser Welt, in der Worte nicht im geringsten die Haut ritzen, in der nur Taten töten, unmittelbar nachdem er den Dolch in die Brust seines Freundes gestoßen hat, einen Scherz auf Kosten dieses seines Opfers zu wagen, einen solchen freilich, der ernste Bedeutung hat. Cassius hat gerufen, mit dem Leben sei auch die Todesfurcht zu Ende; Brutus schließt daran an:
So, so stolz, so selbstbewußt, so freudevoll haben sie nie gelebt wie in dem Augenblick, diese Männer! Sie wissen, sie sind nicht Hinz und Kunz, jetzt eben hat die Geschichte, hat der Geist der Menschheit durch sie gewaltet. Bis in die spätesten Zeiten
Die Leiche, die da unten zu Füßen der Pompejusstatue liegt, ist ihnen nur noch die Brücke auf dem Weg zur Wiederherstellung. Trunken vor Stolz und Lust — wir hätten nie zuvor geahnt, daß der Stille je berauscht sein könnte — taucht Brutus die Hände, die Arme tief in Cäsars Blut, färbt sein Schwert mit dem echten Farbstoff der Revolution rot und bricht in den Jubelruf aus, den wir nicht übersetzen können:
Kein Bürgerkrieg mehr; mit der wiedergewonnenen Freiheit soll das weite römische Reich, soll die zivilisierte Menschheit ein Reich des Friedens bilden.
So bis an die äußersten Grenzen gehen konnte nur Shakespeare. Was ist die fassungslose Todesfurcht des roman[S. 173]tischen Helden, des Prinzen von Homburg — die überdies, in Liebe und Ehrfurcht vor Deutschlands größtem Dramatiker sei’s gesagt, von Shakespeare stammt — gegen Brutus, der seine Arme bis zu den Ellbogen jauchzend ins Blut seines Ermordeten taucht und doch Brutus bleibt? Und wenn man nun in feuriger Sympathie bei diesen todbereiten Tyrannenmördern ist, die in dem einen Augenblick der Rast, den sie sich gönnen, sich so bis aufs Letzte der Stimmung ihres tatgewordenen Willens hingeben, dann kommt Antonius, von demselben Dichter in dieses nämliche Stück gestellt, und dreht einem das Herz dermaßen im Leibe um, daß man sich in überströmendem Mitgefühl ganz zu ihm und zu Cäsar neigt, daß man Julius Cäsar nicht mehr sieht, wie er sich vor unsern Augen bewegt hat und wie ihn die Verschwörer sehen, sondern wie Marc Anton ihn schildert.
Wo war Antonius in der Zeit? Er hatte sich willig von einem der Verschworenen beiseite nehmen und beschäftigen lassen und war dann in höchster Eile nach Hause geflohen. Denn ganz sicher, ob es nicht auch ihm das Leben kosten würde, konnte er keineswegs sein. Wer aber scharf zusieht und weiß, daß bei Shakespeare nichts umsonst steht und nichts ohne Grund weggeblieben ist, der gewahrt deutlich genug in überaus feinen Zügen, was übrigens auch Plutarch andeutet und was geschichtlich sehr wahrscheinlich ist, daß Marc Anton die Ermordung Cäsars geschehen ließ, begünstigte und Cäsar in Sicherheit wiegte. Er machte es, wie so manchmal Politiker, nach dem Rezept von Shakespeares Kardinal Pandulpho: er ließ andere für sich morden und wartete seine Zeit ab, um dann mit den Mördern fertig zu werden, die sein Werk getan, ohne es zu ahnen.
Nach einiger Zeit traut er sich heraus, schickt aber vorsichtig erst seinen Diener vor, um den Herren der Situation in[S. 174] seinem Namen zu huldigen und sie zu fragen, ob er kommen dürfe und Näheres erfahren. Brutus ist noch ganz in der Begeisterung, in der man die Welt umarmen möchte, und läßt ihm sehr freundliche Dinge sagen. Cassius traut ihm gar nicht; und wie nun Antonius da ist und sich in wundersamer Mischung auf jeden Fall sehr lebendig zeigt, beeilt sich Cassius, ihm zunächst eine hervorragende Stellung in der Provisorischen Regierung zu versprechen. Wie nun aber gar Brutus unbedacht edelmütig dem Antonius zusagt, er dürfe, wie’s alter Brauch, dem toten Freunde bei der Schaustellung der Leiche die Rede halten, da nimmt ihn Cassius beiseite und beschwört ihn dringend und wiederholt, ihre große Sache dieser Gefahr nicht auszusetzen. Aber Brutus hat gar kein Bedenken; er verläßt sich auf seine Römer und auf die guten Gründe der Tat, die er ihnen, ehe Antonius zu Worte kommt, vorlegen wird.
Brutus redet in schlichter, wiewohl keineswegs formloser Rede. Es ist Prosa, aber man sollte meinen, nichts könnte von tieferer Wirkung sein als diese Sachlichkeit, diese gedrängte Inbrunst, dieser Aufbau in Wiederholungen und Steigerungen, diese Einheit von Intimem und Öffentlichem, und vor allem: diese zweifellose Wahrhaftigkeit. „Weil Cäsar mich liebte, wein’ ich um ihn; weil er glücklich war, freue ich mich; weil er tapfer war, ehr’ ich ihn; aber weil er herrschsüchtig war, erschlug ich ihn... Wer ist hier so niedrig gesinnt, daß er ein Knecht sein möchte? Ist es jemand, er rede, denn ihn habe ich beleidigt...“
Feuer und Flamme sind denn auch die römischen Bürger, die ihn hören; und am liebsten machten ihn die, die bestätigen, daß sie keineswegs Knechte sein möchten, sofort zum neuen Cäsar! Dann aber — während Brutus geht, um an anderer Stelle zu sprechen — kommt Antonius an die Reihe.
Ganz falsch wäre es, seinen Schmerz, wie er ihn zunächst im Kreis der Verschworenen und nun öffentlich an Cäsars[S. 175] Leiche zum Ausdruck bringt, mit plumpem Wort erheuchelt zu nennen. Diese einfache Sprache dürfen wir nicht reden, wenn wir bei Shakespeare und der Natur sind; so geht’s in der tief verworrenen Seele eines vielfältig gespaltenen Menschen nicht zu.
Wir haben schon von Brutus gehört, daß Marc Anton ein sentimentaler Mensch ist. Wie wird er denn nicht echten Schmerz empfinden und echte Tränen weinen, wenn der väterliche Freund und Wohltäter aus vielen Wunden blutend tot vor ihm liegt? Vorher hatte er wohl geahnt, was kommen werde, hatte mit dem Gedanken gespielt und ihn in seine Rechnung gezogen; als unverwüstlich gesunder Mann kann er sich leidenschaftliches Gefühl und äußerste Kälte so wie liederliche Ausschweifung und entbehrungsreiches Feld- und Lagerleben erlauben: jetzt ist’s letzter Ernst, da gibt er sich schrankenlos und doch noch sich selbst und sein Publikum belauernd dem Gefühl hin. Anschaulich hat er nun den großen Mann kläglich tot, gemeuchelt vor Augen, und kommt auch unser Wort Schauder oder Schauer keineswegs von schauen, sondern von dem schüttelnden, bebenden Zucken unsres Leibes, so erleben wir doch in Wahrheit das Schaudern, das der Menschheit bestes Teil ist, wenn wir die Wirklichkeit nackt schauen, so daß zwischen unserm Gefühl und dem Grund zu diesem Gefühl gar keine Spanne mehr ist: wir sehen das Leid und Erbarmen mit Augen.
Aber er ist ein Mann, der sich in der Hand hat; der sich erstaunlich, bis zur Exzessivität loslassen kann und sich doch nicht verliert. Brutus hat ihn weit unterschätzt; auf die Größe der Lasterhaftigkeit versteht sich der Mann der Bürgertugend nicht.
Das ganze Gespräch mit den Verschwörern, eingeschlossen seine erschütterte Klage vor dem Toten, ist für Antonius, der sich immer noch ein Stockwerk aufsetzen kann, zugleich eine Zeit der Besinnung und der Einübung. Bei seiner ersten Annäherung hatte Cassius sehr gradezu den unschulds[S. 176]vollen Brutus gefragt, ob er sein eignes Gesicht sehen könne, und Brutus hatte erwidert:
Das weiß Antonius aber ganz anders. Tränen vergießen in wahrhaftem Schauer und doch zugleich sich selber beobachten und sich für die Wiederholung merken, wie jeder Muskel in Bewegung gesetzt wird, das kann er und muß es können, da er ein geborener und geübter Schauspieler ist. So hat er, als er erstmals an der Leiche Julius Cäsars stand, mit den Mördern zusammen, und dann auch, als er ein paar Augenblicke mit ihr allein war und ekstatisch der Zorn und der Schmerz und der Rachedurst hervorbrach, dabei doch schon seine große Leichenrede einstudiert.
Sie ist ganz Shakespeares Eigentum; nichts davon ist überliefert. Daß Shakespeare die „Bürgerkriege“ des Appian gekannt hat, die 1578 englisch erschienen, ist recht wahrscheinlich; aber er hat weder die dort berichtete lange langweilige Rede des Brutus noch die Leichenrede des Antonius ihrem Inhalt nach irgend benutzt. Marc Antons Leichenrede bei Shakespeare ist das bewunderungswürdigste Meisterstück dieser einzigen Gattung: der untrennbaren Verbindung von Schmerzenspathos und Demagogie größter Art. Es waltet darin eine Steigerung, eine langsame Umwandlung des Standpunkts, ein Schwung und eine Klugheit ohnegleichen. Er knüpft da an, wo Brutus aufgehört hat, und eine Zeitlang klingt es fast, als rede einer der Mitverschworenen weiter. So hören sie ihn gespannt an; in den Worten vom edeln Brutus, und daß er gesagt habe, Cäsar sei voll Herrschsucht gewesen, liegt noch nicht die leiseste Ironie; auch noch nicht bei der zweiten, der dritten Wiederholung; diese Zusammenstellung, daß der Wert der Aussage des Brutus von dem Glauben an seine Ehrenhaftigkeit abhänge, soll sich nur einprägen. Im ferneren tut er, was seine besondere Aufgabe ist, was ihm ausdrücklich bewilligt worden ist: er ist der Klageredner.[S. 177] Und trauern — zu trauern werdet ihr euch doch wohl getrauen, die ihr Cäsar geliebt habt! Da wird er lebhaft, ausfallend, die Tränen steigen ihm auf; er macht die erste Kunstpause, während deren die Bürger ihre Erregung gegenseitig steigern. Nun hebt er wieder an, mit neuer, ganz weich gewordener Stimme. Der große Appell ans Mitleid kommt nun, die Möglichkeit, die Bürger zur Empörung zu entflammen, darf in scharfen Worten laut werden, da sie abgewiesen wird, und nun schließt sich sofort an den Preis der tapfern, majestätischen, weltgebietenden Größe, die nun Staub ist, die Anstachelung des betrogenen Egoismus: er hebt Cäsars Testament in die Höhe. Aber er will es nicht vorlesen, er macht sie leidenschaftlich begierig, es zu hören, und jetzt darf er es wagen — beim siebenten Mal — von den ehrenwerten Männern keck und scharf in einem deutlich aggressiven Ton zu reden, den „ehrenwerten Männern, von deren Dolchen Cäsar fiel“. Das Volk ist wild geworden; er macht die zweite Pause, er ruft in den Tumult hinein, daß Cäsar sie, sie selber zu Erben eingesetzt habe, und bereitet sich, vom Testament — lange kein Wörtchen mehr zu sagen. Er steigt hinab, um ihnen Cäsars Leiche und seine Wunden zu zeigen, seine Mörder einzeln zu nennen, seine Taten bei hochberühmten Namen genannt ins Gedächtnis zu rufen. Er braucht Aufruhr der wildesten Gefühle, sofortigen Aufruhr, Mord und Brand! Und wie sie schon alle in Tränen aufgelöst und von Gram und Wut fast erstickt sind, da hat er ihnen ja nur erst Löcher in einem Mantel gezeigt; jetzt enthüllt er ihnen den nackten, kläglichen, mit Blut besudelten Leib. Das haben die Verräter getan! Nun ist die Rachewut da, und die Begeisterung so groß, daß er den Inhalt des Testaments noch schließlich dreingeben kann: zu allererst hätte der karge Teil, der auf jeden Bürger fällt, kaum einen Eindruck gemacht, und ebensowenig die Gärten jenseits des Tiber, die nun der Stadt Rom gehören sollen — nun aber hat er alles getan, was er zugesagt, die Rede ist rund und geschlossen, kein[S. 178] Zweifel bleibt; es beginnt Morden, Brennen, Plündern, der Pöbel steigt auf die Straßen, und Antonius hat ihn, hat die ganze Bevölkerung Roms fast in der Hand. Die Revolution, die mit dem innigen Ruf: Friede! begonnen hatte, verwandelt sich in den Bürgerkrieg. Wie’s in Rom zugeht, was für ein Ding eine Revolution ist, die nicht vom Geiste geführt, sondern von der Demagogie losgelassen ist, erleben wir in einem einzigen kleinen Beispiel: die taumelnde, mordsüchtige Menge kennt einen Cinna als einen der Verschworenen und bekommt einen harmlosen Dichter desselben Namens unter die Hände; der Irrtum wird aufgeklärt; aber sie wollen einen Cinna, sie wollen ein Opfer haben: reißt ihn in Stücke! Was kann die Geschichte noch neues bringen? Shakespeare hat Napoleon, er hat auch die humoristisch wild niedermetzelnden Volkshaufen der Septembermorde gekannt.
Brutus und Cassius müssen aus Rom fliehen. Antonius, der viel zu klug ist, um sich für einen Cäsar zu halten, und der sich überdies die gewaltige Anspannung nach Cäsars Tod nicht bloß gegen die Verschworenen, sondern vor allem auch gegen den jungen Octavius zugemutet hat, tut sich, nunmehr im Besitz der größten Popularität und der Macht des Augenblicks, sofort mit diesem Adoptivsohn Julius Cäsars und mit dem einflußreichen — weil reichen — Bürger Lepidus zum Triumvirat zusammen. Manchmal möchte man einen Augenblick innehalten, um sich zu besinnen, daß das ja nicht bloß Geschehnisse sind, wie sie sich aufs reichste und sicherste aus den vom Dichter gestalteten Charakteren ergeben, sondern daß es umgekehrt ist: alle äußern Tatsachen sind die überlieferte Geschichte, zu der Shakespeare den psychologischen Schlüssel gegeben hat. Vorläufig hat Antonius in dem Dreimännerregiment die Führung. Er[S. 179] ist ein besserer, unmenschlicherer Politiker als Brutus: das große Morden setzt ein, die Proskriptionslisten werden aufgesetzt. Sie spielen gegen einander die Gerechten, bestimmen ihre nächsten Verwandten gegenseitig mit zum Tod; es ist in ihrem Verkehr eine Mischung aus Verstellung und offener Schamlosigkeit: Cäsars Testament nehmen sie eilig vor und verkürzen, wo es geht, die Legate. Aber Antonius und Octavius fangen schon an, mit einander zu ringen, ihr Gegensatz kündigt sich an. In der militärischen Szene zu Beginn des fünften Akts wird es schon so weit sein, daß sich die Überlegenheit des jungen Octavius zeigt. Das Weitere erfahren wir dann in dem Stück, das anschließt: Antonius und Cleopatra.
Brutus und Cassius müssen weit in die Ferne ziehen, um Völker auszuheben und den Krieg für die Freiheit zu führen. Wieviel Zeit vergeht, bis wir wieder zu ihnen stoßen, was alles der Dichter wegließ, was er im Plutarch sehr wohl fand, darnach fragen wir nicht. Wir sind in Shakespeares idealer Zeit, die sich nach dem inneren Ablauf richtet. Es geht nur noch ums Ende; das römische Volk, das Brutus träumte, ist nicht da; ihre Sache ist verloren. Aber sie sind Römer und kämpfen, als ob sie siegen könnten.
Wie es aber in ihnen aussieht, das erfahren wir sofort, wenn wir sie wieder vor uns haben; im Lager von Sardes in Kleinasien ist es. Die Kraft ihrer Nerven ist nahe am Ende; sie haben sich lange nicht gesehen, haben in verschiedenen Teilen des Landes operiert, Botschaften, die hin und her gingen, haben sie in ihrer verzweifelten Lage gegen einander erbittert, und nun, wo sie zusammenkommen, bricht leidenschaftlicher Streit aus. Der Gegensatz der beiden Naturen und ihrer Beziehung zu ihrer Lage offenbart sich; Brutus hat Cassius mannigfache Praktiken zweifelhafter und unsauberer Art vorzuwerfen; Cassius beklagt sich bitter, daß Brutus seinen politischen und militärischen Maßnahmen fortwährend hindernd in den Weg tritt. Es ist nun zu sagen, daß Brutus[S. 180] ein ideales Ganze geschaut hat und es im wahren Sinne des Wortes mit einem Schlag, mit dem Schlag, der Cäsar traf, herstellen wollte. Es ging aber nicht so, Cassius hatte es vorausgesehen, hatte allerdings auch — zu dem guten Zweck — das unheilige Mittel angewandt, Brutus über die Lage zu täuschen. Wie auch immer, sie waren nun auf den Weg der Politik und des Krieges gedrängt worden, hatten ihn beschritten, und wer darin nur reine und edle Mittel anwendet, ist ein Edler, ist Brutus; wer aber auch andre nicht verschmäht, ist ein Politiker wie Cassius. Ohne Unreinheit vielfacher Art ist weder Politik noch Krieg irgend möglich; und wenn es Cassius’ Schuld ist, daß er ein Politiker ist, so ist es Brutus’ Verhängnis oder Schuld, daß er, ohne es zu sein, sich in die Politik begeben hat. Darum, weil Cassius hie und da völlig Schmutziges tut oder duldet, ist er noch durchaus kein Unedler. Wie denn könnten wir — wir heute gar! — nur einen Augenblick das Leben ertragen, wenn wir die Menschen, das geheime Sein, das Wesen, die wahre Art, die Möglichkeiten der Menschen nach dem beurteilen müßten, was sie in ihrer Rolle tun! Das zumal lernen wir in tiefster Seele von Shakespeare: so gar, so unsäglich, so unendlich viel birgt die Wahrheit unsres schlechtweg unergründlichen Innern, und so gar, so unsäglich, so unendlich viel geben wir den äußern Anforderungen der Verhältnisse in unserm Verhalten nach, daß keiner uns kennt, keiner uns gerecht wird, der uns nach unserm Tun beurteilt. Wonach aber, wonach in aller Welt soll man die Menschen beurteilen, wenn nicht nach dem Tun? Die Antwort ist längst gegeben, und es gibt keine andre: Richtet nicht! Nach unsrer Liebe, die ihre Phantasiekraft ins Innere der andern hineinschickt und sie sieht, als wären wir sie, wir in unsrer schwächsten oder in unsrer schönsten Stunde, danach mit den Menschen umzugehn wäre das Beste.
Zu liebevoller Nachsicht oder nur zu liebenswürdigen Formen sind die beiden großen Römer in dieser Stunde nicht[S. 181] gleich imstande. Sie leiden unter der noch nicht recht klar bewußten Stimmung, daß alles verloren ist, sie selber und mit ihnen ihre hohe Sache. Aber nachdem sie sich böse Dinge gesagt und sich durch den Zorn erleichtert haben, ebbt es ab, sie schämen sich, sie kommen einander entgegen, sie klären Mißverständnisse, an denen die Entfernung schuld war, auf und versöhnen sich schließlich von ganzem Herzen. Und dann läßt Brutus Wein bringen, und sie sitzen noch für einen Augenblick beisammen. Und nun erst, wo sie einander wieder ganz gut sind, erfahren wir, die wir vorher doch über den so veränderten, so dem Affekt nachgebenden Brutus gestutzt hatten, was Entsetzliches in ihm bohrt. Hier wird Shakespeare ganz anbetungswürdig, und wer seine innig schöne Seele nicht zu lieben verstünde, hier müßte er’s lernen und könnte knien vor diesem Menschen.
Ihre Seelen haben sich nun entspannt; es kommt Erleichterung, kommt so etwas wie Heiterkeit in Schwermut, kommt das Gespräch.
So, in diesem Zusammenhang, erfahren wir Portias Tod; wir hatten nichts mehr von ihr gehört, seit sie in fieberhafter[S. 182] Erregung und Angst an den Iden des März auf der Straße stand und auf Nachricht wartete. Plutarch, der alles in gehöriger oder ungehöriger Folge der Geschehnisse oder der moralischen Lehren aneinander reiht, erzählt ihr Ende, wie er eben dran kommt; bei Shakespeare erleben wir’s so.
Und wie erhellen die beiden einander in diesem Augenblick! Brutus, der alles nach innen, tief hinunter ins Schweigen drängt, sich immer noch mehr und noch mehr komprimiert und endlich, ein einziges Mal, da er allzu viel geladen hat, platzt; und Cassius, der, wie er’s erfährt, wie vor einem Wunder steht: er ist ja gerade der Künstler der Äußerung, wie Brutus des Schweigens; Portia ist tot, ich hab’ ihn aufs äußerste gereizt, und ich lebe noch! er hat mich nicht erwürgt?
Man meint, dies wäre ein letzter Höhepunkt; aber bei Shakespeare geht’s immer noch höher hinauf und wir halten’s aus. Kaum eine andre Szene bei Shakespeare ist so geheimnisvoll, so ahndevoll, so schwermütig, aber auch so kunstvoll aufgebaut wie diese: der Zwist der beiden Freunde, die bis an die Grenze der Menschheit zusammen gegangen sind — Portias Tod überwältigend mitgeteilt als Erklärung für den Zustand, in dem wir Brutus’ Gemüt gesehen haben — dann, um uns durch Einfacheres zu beruhigen, der Kriegsrat, der uns in einer nicht so geweihten Zone berührt, aber äußerst interessiert; denn wie liebenswürdig zuvorkommend sind nun Cassius und Brutus gegen einander, und wie geschieht gerade dadurch von neuem ein großer Fehler, der entscheidende, der das Ende herbeiführt: Cassius gibt dem Brutus in einer strategischen Sache von entscheidender Wichtigkeit, die er viel richtiger beurteilt, nach, und so wird der Beschluß gefaßt, nicht in Erwartung des Feindes zu verharren und sich zu verstärken, sondern ihm mit der Kühnheit, die Brutus, wenn er handelt, immer und jetzt, in seiner Seelenverfassung, erst recht braucht, bis Philippi entgegenzuziehen und dort die Entscheidung zu suchen. Darüber ist es spät geworden;[S. 183] Cassius und die andern Heerführer verlassen Brutus’ Zelt; noch klingt uns sein „Gute Nacht, mein guter Bruder“ im Ohr, mit dem er sich von Cassius verabschiedet; nun ist Brutus allein mit den treuen Seelen, die ihn bedienen; wie gut ist er zu ihnen, wie entschuldigt er sich bei dem Knaben Lucius, daß auch der einmal unter seinen Nerven ein bißchen hat leiden müssen; er läßt sich von ihm ein Lied zur Laute singen, der Knabe schläft darüber ein; Schlaf liegt über dem ganzen Heerlager; Brutus wacht.
Da tritt eine erschreckende Erscheinung, ein gewaltiger Dämon ins Zelt. Er ist als nichts Bestimmtes zu erkennen, nicht einmal der Art nach.
Die Zwischenbemerkung, die von der ersten, der Nachlaßausgabe an durch, soviel ich weiß, alle Ausgaben und Übersetzungen geht: „Es tritt auf der Geist Cäsars“, stammt, wie so ziemlich alle diese Bemerkungen, die meist richtig sind, nicht von Shakespeare. Diesmal ist sie sehr irreführend. Shakespeare folgt an dieser Stelle Plutarch ganz getreu. Da heißt es: „Brutus sah nach dem Eingang hin und erblickte eine seltsame, fürchterliche Gestalt von ungeheurer Größe, die schweigend neben ihm stand.“ Doch hatte er das Herz zu fragen: „Wer bist du? ein Mensch oder ein Gott? zu welchem Ende kommst du zu uns?“ Die Erscheinung antwortete: „Ich bin, Brutus, dein böser Genius, bei Philippi wirst du mich wiedersehen.“ Ohne sich zu entsetzen, erwiderte Brutus: „Gut, ich werde dich sehen.“
Genau dem entspricht das Gesicht, die Anrede und Antwort bei Shakespeare:
[Wir dürfen denken: von den vielen durchwachten Nächten],
[eigentlich: einer der Götter, some god, und so auch im weitern],
Die Antwort der Erscheinung übersetzt Schlegel:
Engel, weil er ein zweisilbiges Wort braucht; es heißt spirit: Dein böser Geist; Engel darf hier nicht gesagt werden, weil ja eben die Frage war: bist du aus dem Bezirk der Götter, der Engel oder der Teufel? Und die Erscheinung erwidert, als sagte sie: Ich bin keins von den dreien; ich bin dein böser Genius, Brutus.
Und nun weckt Brutus den Knaben im Zelt — „Die Saiten sind verstimmt“, mit diesen ahndevoll schweren Worten erwacht er — und die andern Diener und stellt fest, daß niemand außer ihm die Erscheinung bemerkt hat. Er ist sofort entschlossen, an dem Plan, nach Philippi hinüberzuziehen, nichts zu ändern; am Morgen soll aufgebrochen werden.
Nicht die sichtbare Anschauung, sondern allein des Brutus eigne düstere Auslegung im Gemüt sagt ihm — bei Shakespeare —, was er dann bei Philippi, nachdem die Erscheinung tatsächlich wiedergekehrt ist, ausspricht. Da sieht er: alles ist vorbei; die Freiheit war ein schöner Traum, sie ist nicht wieder herzustellen; hier liegt Cassius vor ihm, von eigener Hand getötet, und so wie Cassius im Augenblick seines Freitods aus heller Einsicht in den Zusammenhang heraus gerufen hatte:
so erkennt Brutus jetzt in Worten der Klarheit:
Und erst daraufhin, ein paar Szenen weiter, trotz allem hat er kühn weiter gekämpft, jetzt aber, wo alles verloren ist, sucht er reihum einen Freund und Diener, der bereit ist,[S. 185] ihm beim Freitod zu helfen — jetzt deutet sich ihm sein nächtliches Erlebnis, das sich — wir sahen’s nicht — wieder zur Nachtzeit im Lager vor Philippi wiederholt hat; jetzt versteht seine Erkenntnis, was sich da als Verkündung vor sein Gemüt gestellt hat.
Er deutet, er begreift, er sagt die überwältigend schwere Geschichtswahrheit im Bilde: dieser mein böser Genius, der da vor mich trat, das war der Geist, das war der gespenstisch in der Welt, in der Menschheit, wer weiß, für wie lange nunmehr noch weiterlebende Geist Cäsars, den ich, Brutus, umbringen zu können vermeinte und der nun mich und die Freiheit der Welt vernichtet; diesmal heißt es zum erstenmal: the ghost of Cæsar, Cäsars Gespenst:
Klassisch ist diese Römertragödie: kurz und fest, lakonisch, römisch in der Sprache; es ist selten Zeit zu lyrischem Verweilen; ein in die Breite und Tiefe ungeheuer wallender Stoff ist meisterhaft geballt, verteilt und gebändigt, und hier gelang aufs reichste und eindringlichste die Verwandlung der Geschehnisse ins Drama. Es ist bekannt, wie Goethe einmal in einem Wort, das sehr ernst genommen werden soll, behauptet hat, die Bedeutung der Stücke Shakespeares liege nicht in der dramatischen Handlung, sondern in der Sprache. Wahr ist, daß Shakespeare darauf ausging, das Innerste der Menschen, vor allem das geheime Triebleben so lange anzubohren, bis es spritzend sich als Sprache ergoß; wahr ist, daß oft die Handlung nur als Mittel dient, die Gestalten sich gegenseitig aufschließen und beleuchten zu lassen; wahr ist auch, daß überall da, wo der Geist den Trieb überwindet und leuchtend über ihm steht, dieser Geist das Wort ist, das Wort, das beflügelt, licht, verklärt, still über dem wilden Chaos der Affekte sich in Schwebe hält. Wahr[S. 186] ist aber auch, daß Shakespeare dazu noch ein Meister der dramatischen Situation ist. In diesem Drama nun findet sich all das, was Shakespeares Bedeutung ausmacht, beisammen und hält sich gegenseitig in Ausgeglichenheit die Wage. Sechs Hauptpersonen, Cäsar, Brutus, Cassius, Portia, Antonius und das römische Volk beleuchten und erschließen einander in unser innerstes, fühlendes Verstehen hinein; wir erfassen die öffentlichen Zustände und Handlungen und das große Leben der Geschichte in der intimsten Verborgenheit der Einzelseelen; und wir verkehren hier in Brutus, Portia und Cassius in verschiedenen Abstufungen mit erhabenen Seelen, deren Triebkraft Ideen sind, deren Tapferkeit und Aktivität aus dem Wort, das ihnen Gesetz geworden ist, aus der Gesinnung, aus der Erkenntnis, daß das Leben des einzelnen keinen Pfifferling wert ist, wenn es nicht im Dienst der Sache, der Menschheit steht, aus dem Geiste immerzu ihre Nahrung zieht. Und all diese ergreifende, beglückende, erhöhende Schau ins Innere der Menschen und der Geschichte ist umgesetzt in dramatische Situation, in eine ungeheure Lebendigkeit für unsre Sinne; es ist uns bei alledem, als lebten wir nur in der Außenwelt, in Zusammenstößen, Gegensätzen, Eruptionen und Katastrophen: gleich zu Beginn die Revolutionsstimmung und leidenschaftlich demagogische Gebärde im Auftreten der Volkstribunen — das Luperkalienfest mit seinen mannigfachen Zusammenstößen und den Vorgängen auf und hinter der Bühne — die Nacht des Entsetzens mit Cassius’ leidenschaftlichem Ausbruch — in derselben Nacht die Verschworenen vermummt in Brutus Garten, und dann, die Turmuhr hat eben drei geschlagen, Brutus’ innig leidenschaftliches Gespräch mit Portia — Cäsars Ermordung auf dem Kapitol in Anwesenheit des im ersten Aufruhr unbewegt würdevoll oben sitzenden und dann in Panik grotesk auseinanderstiebenden Senats — der Diener des Octavius, der dem Antonius eine Botschaft bringt und mitten in der Rede erschüttert, herzerschütternd[S. 187] abbricht, weil er bei einem verlorenen Seitenblick Cäsar tot daliegen sieht:
— unmittelbar anschließend die gewaltigen Volksszenen auf dem Forum, die Rede des Brutus, die des Antonius an Cäsars Bahre, wo die Rede ganz und gar zur sinnlich greifbaren Aktion wird — die große Szene im Zelt des Brutus, wo die Tonleiter des Menscheninnern so vollkommen durchgespielt wird und doch alles bewegteste, völlig leibliche Aktion ist — die wechselnden Situationen der Schlacht von Philippi, der verhängnisvolle Zufall, der über Cassius die letzte Verzweiflung bringt, unerwartet die Handlung, die schon auf dem Gipfel scheint, noch höher hinauftreibt — wie ein Meteor aufsteigend und verlöschend als Mitstreiter der republikanischen Helden der junge Cato, ein Zeichen, daß der Geist, der Brutus und Cassius erfüllt, mit ihnen und ihren Getreuen denn doch nicht sterben soll — der Freitod des Cassius, des Titinius, des Brutus — und schließlich die Apotheose des Brutus aus dem Mund des Antonius:
Sanft war sein Leben! — Lassen wir’s in diesem Punkt nur bei der schönen Übersetzung Schlegels; aber fügen wir hinzu, daß es im Original heißt:
und daß das sanft und adlig in einem bedeutet — derselbe Ausdruck, den Ben Jonson in dem Widmungsgedicht der Gesamtausgabe von Shakespeare gebraucht, den er persönlich gut gekannt hat: Gentle Shakespeare!
Adlig sanft war Brutus und doch eine Naturkraft, ein Mann und ein Held.
Auch in Antonius, wir haben es gesehen, sind die Elemente gemischt — wie vielfältig und seltsam, als Bild einer untergehenden Welt des Adels, das werden wir später noch sehen. Denn der Antonius, den in wesentlich anderm Stil, im Stil seiner letzten Periode, Shakespeare in Antonius und Cleopatra behandelt hat, ist genau derselbe Mensch, und wir werden dabei sein, wie der Sieger über Brutus weiterlebt und untergeht.
Hamlet ist Shakespeare noch einmal. Womit zunächst gemeint ist: was dieses Stück an Rätselhaftem birgt, kommt nicht vom Innern, sondern vom Äußern. So wahrhaft unendlich viel auch darüber geschrieben und gestritten worden ist, ich stehe nicht an, von vornherein zu sagen, daß für unser intuitives Erfassen nichts klarer, unmittelbarer einleuchtend ist als der Sinn dieses Stückes und damit das Wesen Hamlets. Abstrakt ausdrücken läßt sich die Art dieses Individuums schwerer, weil es eben ein Individuum ist; und es kommt noch dazu, daß Hamlet ein unbequemes und aufreizendes Individuum für den Typus Mensch ist, der zumeist sich mit ihm publizistisch beschäftigt hat, so daß seine Vieldeutigkeit insofern nicht in ihm, sondern in der Enge seiner Beurteiler liegt; wer zwar literarhistorisch mit der größten konventionellen Verachtung von Rosenkranz und Güldenstern spricht, in seiner übrigen Stellung zu öffentlichen, zu menschlichen Angelegenheiten gleich denen, mit denen Prinz Hamlet sich beschäftigt, aber durchaus ins Lager dieser würdigen Mitglieder der nationalliberalen Partei gehört, wird diesen Zwiespalt auch irgendwie in seine Beurteilung Hamlets hineintragen.
Ein ungeheures Rätsel, mit dem die Menschheit niemals fertig werden wird, ist Shakespeare. Mir scheint aber, und ich hoffe zu zeigen, daß ein und derselbe Mensch im Reiferwerden und im Auf und Ab der Stimmungen durch sein ganzes Werk hindurchgeht; mir scheint also, daß das Innere dieses Mannes so gut zu erfassen ist wie sein Werk. Eine abgeschlossene Dichtung, ein Werk der Literatur und des Druckes kann keine unklar verschwimmenden, in Nachbarbezirke hinüberlaufenden Grenzen haben, muß klar und bestimmt sich in seiner Eigenart gegen alles andere abheben; es ist gar nicht möglich, daß ein solches Erzeugnis jahrhundertelang unklar und zweideutig bleibt, es sei denn,[S. 190] es liege diese Unklarheit und Zweideutigkeit entweder im Inhalt der Dichtung, wo dann klar und unzweideutig diese Eigenschaft der Unklarheit und Zweideutigkeit zu erkennen sein müßte, oder in den Beurteilern. Das äußere Leben des Genies aber, alles, was nicht in seinen Werken steht, bleibt uns, selbst wenn wir es so in Tag um Tag und oft Stunde um Stunde verfolgen können wie das Goethes, immer nur abgerissen bekannt; wie nun gar bei Shakespeare, wo die kümmerlichen und zweifelhaften Nachrichten und Dokumente uns mehr verwirren als erhellen!
So also wie mit Shakespeare selbst, meine ich, steht es noch einmal mit seiner Tragödie Hamlet. Ihr Sinn und Wesen ist klar; sofern aber trotzdem, wie ich auch finde, gewisse Rätsel und Dunkelheiten da sind, stecken sie nicht in dem Innern, das dargestellt wird, sondern in der Beziehung dieses Seelenvorgangs und geistigen Gehalts zu den äußern Geschehnissen der Handlung. Und ich sage es getrost noch anders: wir haben es nicht mit einem Stück Leben zu tun, das sich in Dunkelheit verbirgt, nicht mit der Natur, die sich ihr Rätsel mit Kommentaren so wenig wie mit Hebeln und Schrauben abzwingen läßt, sondern mit einem gedruckten Text, der auf Seite 1 beginnt und mit dem Schlußpunkt endet. Bleibt da hie und da in der Verbindung zwischen Sinn und Aktion etwas unsicher und wacklig, so dürfen wir nicht bloß an die Unergründlichkeit dieses Dichters denken, dem unser Begriffsverstand nicht beikommt, sondern noch an andre Möglichkeiten, an die Mangelhaftigkeit der Drucküberlieferung des Werks sowohl wie an seine Entstehungsgeschichte und Unvollkommenheit. Kein Mensch in der Welt kann geneigter sein als ich, Shakespeare zu nehmen wie eine Naturkraft; wenn’s aber ans haarscharfe Unterscheiden geht, wird man doch zugeben müssen, daß er keine ist, sondern eine Kreatur wie wir alle. Womit auch gesagt ist, daß der Prinz Hamlet keine Kreatur ist wie wir alle; daß wir nicht, wie es so oft geschieht, von den[S. 191] Zügen, mit denen der Dichter seine Gestalten ausstattet, auf Grund einer natürlichen Psychologie auf andere kommen dürfen, die sich daraus nach unsrer Menschenkenntnis ergeben müssen; die Grenze der Kunstgestalt ist nicht, wie bei lebendigen Menschen, die Natur, sondern der Geist, das Wollen und Können des Dichters. Ich gebe ein plumpes Beispiel, ich ersinne es, bin aber überzeugt, daß man sich auf diesem Gebiet nichts ausdenken kann, was nicht schon irgendwo Wirklichkeit ist. Wenn also zum Beispiel die Frage aufgeworfen würde, was Hamlet in Wittenberg getrieben hat, welche philosophischen und gelehrten Einflüsse da auf ihn gewirkt haben, so müßte zu allernächst mit der Frage geantwortet werden, ob Shakespeare darüber Verfügungen getroffen, ob er etwas davon gewußt, ob ihn die Frage interessiert hat.
Wir müssen also diesmal auf die Entstehungsgeschichte des Stückes und auf das Verhältnis des Dramas zum überlieferten Stoff besonders aufmerken; stoßen wir dabei auf Rätsel, die unlösbar sind, so sind auf sie vielleicht gerade manche Rätsel, die das Stück zu raten gibt, zurückzuführen.
Der Stoff entstammt einer altnordischen Sage, deren Charakter ganz anders ist als der des Stückes: es geht wild, heidnisch, urkräftig, bäurisch-kriegerisch darin zu wie in den isländischen Sagas. Zuerst finden wir die Sage von Saxo Grammaticus aufgezeichnet, der am Ende des zwölften Jahrhunderts seine Dänische Geschichte geschrieben hat, die im lateinischen Text im 16. Jahrhundert öfter gedruckt wurde. Gekürzt, aber sonst treu, findet sich die Geschichte in den Histoires tragiques von Belleforest (1530–1583), die Shakespeare für andre Stücke benutzt hat. Übrigens ist daraus, wahrscheinlich schon um 1580 herum, die Sage auch als Einzeltext, als Volksbuch in englischer Sprache erschienen.
Was darin nun berichtet wird, ist in Kürze folgendes: König Horwendill ist von seinem Bruder Fengo auf einem[S. 192] Gelage öffentlich niedergehauen worden. Amleth, der Sohn des Ermordeten, rächt den Tod seines Vaters mit schlauer List: er stellt sich wahnsinnig; äußert aber manchmal sehr scharfe Worte, die den Verdacht erregen. Damit er sich in der Sinnenlust verraten soll, bringt man ihn mit einer Schönheit zusammen. Er wird aber rechtzeitig gewarnt und genießt die Schöne, ohne sich zu verraten. Nun versucht man es auf andre Art und veranstaltet ein Gespräch mit seiner Mutter, um es zu belauschen. In verstellter Tollheit tötet er den Lauscher durch eine Decke durch, schneidet den Leichnam in kleine Stücke, kocht sie und wirft sie den Schweinen vor. Seiner Mutter gegenüber gebraucht er starke Worte, die sie erschüttern; sie kehrt zur Tugend zurück. Darauf versucht es der Oheim-König, Amleth mit Hilfe des Königs von Britannien umbringen zu lassen. Zwei Höflinge überbringen diesem Britenkönig die nötigen brieflichen Mitteilungen auf einer Runentafel. Amleth ändert aber den Text, so daß die Begleiter getötet werden. Er heiratet die Tochter des Britenkönigs, kehrt nach Dänemark zurück und vollführt unverzüglich aufs wildeste seine Rache. Das Volk wählt ihn zum König; und seine weiteren Abenteuer gehen uns hier nichts mehr an. Er fällt schließlich in einem seiner Kriege.
Die Ermordung von Hamlets Vater durch den eigenen Bruder und die Rolle der eignen Mutter bei dieser Untat und nachher finden sich also in der Überlieferung. Aber nichts von raffiniert heimlichem Mord; nichts also auch von einer Erscheinung als Geist. Der verstellte Wahnsinn des Rächers ist eine besondere Schlauheit für die Vorbereitung der Rachetat, so wie sich dieser Zug auch in der Sage vom älteren Brutus findet. Mich dünkt dieser Zug, den Shakespeare übernahm und umgestaltete, in der Sagenüberlieferung nicht recht verständlich; ich vermute, daß ein noch älteres Sagengut verschüttet und verstümmelt ist: der Wahnsinnige ist bei allen Völkern einmal sakrosankt[S. 193] gewesen; er durfte tun, was er wollte; so hätte es großen Sinn, sowohl für Amleth, sich geistesgestört zu stellen, wie für seine Verfolger, vor allem herausbringen zu wollen, ob er wirklich wahnsinnig sei. Die Schöne, die Hamlet aushorchen soll, ist zu Ophelia geworden; der Lauscher ist Polonius; von der gräßlichen Art, wie sein Leichnam weggebracht wird, ist in Shakespeares Stück immer noch das unwürdige, heimliche Begräbnis übrig. Die Reise nach England mit der Bestimmung, die sie hatte, Amleths schlaue Rettung, der Untergang der beiden Höflinge, die zu Rosenkranz und Güldenstern wurden, durch die Brieffälschung, das alles findet sich bei Shakespeare wie in der ursprünglichen Sage.
Nun ist es aber diesmal sicher, daß ein dramatisches Zwischenglied da ist. Wir wissen von der Existenz eines älteren Hamlet-Dramas, das nicht erhalten ist; und wir wissen auch, daß in ihm solche Teile der äußern und innern Handlung waren, die in der Sagenüberlieferung fehlen. Von den schlüssigen Beweisen für die Existenz dieses Stückes führe ich nur folgendes an. Thomas Nash schreibt um 1587 oder 89: die englische Übersetzung des Seneca liefere auch ungelehrten Leuten treffliche Sentenzen, „und wenn ihr so einen an einem frostigen Morgen darum angeht, so wird er euch mit ganzen Hamlets oder besser gesagt Handvolls von tragischen Reden versehen“. Um 1596 läßt Thomas Lodge drucken: der neidische Kritiker wandle meistens in Schwarz daher und sehe so bleich aus „wie die Maske des Geistes, die so erbärmlich wie ein Austernweib ‚Hamlet räche‘ auf dem Theater schreit“.
Daß das noch nicht unser Hamlet, wie wir ihn haben, sein kann, steht nach innern und äußern Daten fest. Aber man merkt aus den Anspielungen, daß in diesem Stück der überlieferte Stoff schon in wesentlichem so geändert war wie in unserm: besonders gehäufte „tragische Reden“ fielen auf, und der Ermordete erschien als Geist, mußte also auch[S. 194] Grund zu dieser Wiederkehr haben; die heimliche Art der Ermordung wird diesem Stücke schon angehören. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, aber auch nicht für beweisbar, daß der Verfasser dieses Rachedramas, das an Seneca erinnerte, der sehr junge Shakespeare war; um die Zeit von Titus Andronicus oder gar noch früher müßte er es geschrieben haben. Häufig wird in unsrer Zeit Thomas Kyd als Verfasser bezeichnet; wie mir scheint, ganz ohne Grund. Richtig ist, daß manche Züge in Shakespeares Hamlet, die Geistererscheinung zu Beginn des Stücks, das Schauspiel im Schauspiel an die „Spanische Tragödie“ erinnern, die man diesem Kyd zuschreibt; aber es ist wahrscheinlicher, daß ein Anfänger sich davon beeinflussen ließ, als daß Kyd seine Motive wiederholte. Ich glaube also, daß es ein Stück von einem Unbekannten, der Shakespeare selbst sein kann, gab, das eine Vorstufe zu unserm Hamlet vorstellt, in sehr wesentlichen Punkten aber noch davon abwich; vor allem glaube ich, daß in diesem Stück Hamlet seine Rache noch, wie es überliefert ist, mit großer Frische und wilder Kraft, nach Art seines Verhaltens auf der Reise nach England, ausgeführt hat. In dieser Annahme bestärkt mich eine Eintragung ins Register der Londoner Buchhändlergilde, die der Verleger Jakob Roberts im Sommer 1602 vornehmen ließ: „Ein Buch Die Rache Hamlets, Prinzen von Dänemark, wie jüngst aufgeführt von den Schauspielern des Lord Kammerherrn.“ Das war die Gesellschaft, zu der Shakespeare gehörte; die also hatte um 1602 herum ein Stück aufgeführt, das noch den Namen Die Rache Hamlets verdiente. Ein Exemplar eines solchen Buches ist uns nicht erhalten; ich vermute, daß es gar nicht erschienen ist, daß vielmehr um diese Zeit herum Shakespeare die entscheidende Umarbeitung vornahm. 1603 jedenfalls erschien bei einem andern Verleger zwar, gedruckt aber von einem J. R. „Die tragische Geschichte von Hamlet, Prinzen von Dänemark. Von William Shakespeare. Wie sie[S. 195] zu wiederholten Malen gespielt wurde von Seiner Hoheit Schauspielern in der Stadt London wie auch an den beiden Universitäten Cambridge und Oxford und an andern Orten.“ Von dieser Ausgabe sind zum Glück zwei Exemplare auf uns gekommen. Nun ist es also nicht mehr die Rache, sondern die Tragische Geschichte, und ist in der Hauptsache unser Hamlet. Aber Abweichungen wichtiger Art sind noch da, die man keineswegs, wie es manchmal geschieht, auf Liederlichkeit der Herausgeber, Raubdruck und dergleichen zurückführen kann. Der Text ist merklich verschieden; Wichtiges fehlt; manche Szenen sind anders gestellt; es findet sich eine ausdrückliche Beteuerung von Hamlets Mutter, sie sei an der Ermordung ihres Gemahls unschuldig, während das in der endgültigen Fassung ganz dahingestellt bleibt; Polonius führt noch den Namen Corambis, der Diener Reynaldo heißt Montano und mehr dergleichen. Ich möchte annehmen, daß das Stück Shakespeare nicht so leicht losließ, daß es nach der entscheidenden Umgestaltung zwar aufgeführt und auch gedruckt wurde, daß Shakespeare aber weiter daran arbeitete, bis dann 1604 das Resultat erschien, nämlich in allem wesentlichen unser Hamlet; der Text, den die Herausgeber der Nachlaßausgabe 1623 aufnahmen, weicht zwar auch wieder von der Quarto von 1604 ab; diese geringfügigen Unterschiede deuten aber auf keine entscheidende Umarbeitung hin, sondern nur auf bessere und schlechtere Druckvorlagen; vielfach hat die Quarto den besseren Text.
Ich nehme also drei Stufen an, wenn es nicht gar vier sind: die erste kannten Nash und Lodge aus Aufführungen; wir kennen sie nicht und wissen nicht, ob sie der junge Shakespeare oder ein andrer Dramatiker verfaßt hat. Leicht möglich, daß, was 1602 gedruckt werden sollte, schon eine Umarbeitung war; aber es hieß noch Hamlets Rache. 1603 erschien dann die Tragische Geschichte als Tragödie Shakespeares und 1604 eine Umarbeitung, die unsern Text bringt.
Nun ist zu fragen, ob man dem Stück diese Entstehungsgeschichte anmerkt. Ja, sage ich, das möchte ich allerdings behaupten. In den zwei letzten Akten ist die Führung der äußern Handlung nicht immer auf der Höhe der Charakterentwicklung. Hamlets Fahrt nach England, die Episode mit den Seeräubern, sein Verrat an Rosenkranz und Güldenstern und seine wilde Freude über diesen grausamen Streich: all das ist teils eine mühsame und doch lässige Art, die Sache äußerlich vom Fleck zu bringen, teils paßt es nicht zu der tiefen Erfassung von Hamlets innerm Leben und wird auch im weitern für die innere Entwicklung gar nicht benutzt. Hier ist Rohstoff, der treu nach der Überlieferung dramatisierte Geschichte ist, aber in Shakespeares eigentliche Arbeit, in die Deutung des Innern, nicht einging. Ebenso stimmt in den Szenen, die den Zweikampf zwischen Laërtes und Hamlet vorbereiten, nicht alles. Da sind zwei verschiedene Fassungen lose genug mit einander verbunden worden, und ich meine, man sieht die Nähte noch. Einmal geht es um die Wette, die der König als Intrige vorbereitet hat, und dann um den Wettstreit ganz andrer Art, den Hamlet herbeigeführt hat, wer Ophelien am meisten liebe und betrauere, Hamlet oder Laërtes. Von dem, was zwischen den beiden an Opheliens Grab vorgegangen ist, weiß die ganze lange Prosaszene, die folgt, nichts, weder die Botschaft des Königs, deren Überbringer Osrick ist, noch das nachfolgende Gespräch zwischen Hamlet und seinem Freund Horatio; in dem Augenblick erst, wo die Verse einsetzen, sind wir wieder in der eigentlichen Fortsetzung unsres Stückes. Noch wichtiger dünkt mich ein Punkt, der die Vorgeschichte angeht, aber tief in die Handlung eingreift: die Ermordung des alten Königs Hamlet steht mit dogmatisch-christlichen Motiven einer Art und Anwendung in Verbindung, die nicht shakespearisch ist. Wo bei Shakespeare ist es denn sonst, ist es denn sogar am heroischen Schluß dieser Hamlet-Tragödie selbst von der geringsten Bedeu[S. 197]tung, daß man in seinen Sünden dahinfährt? „Ohne Nachtmahl, ungebeichtet, ohne Ölung“?
Man kann sich aber schon denken, wie dieses Motiv in die erste Fassung des Stückes kam. Es war in der Überlieferung nicht recht klar, warum die Rache für eine aller Welt bekannte Mordtat besser gelingen sollte, wenn der Rächer sich wahnsinnig stellte. Dabei aber war gerade dieser verstellte Wahnsinn das Grundmotiv der Sage und mußte einen Mann wie Shakespeare — wenn er, wie ich am liebsten annehme, ohne es freilich irgend beweisen zu können, schon das ursprüngliche Drama verfaßt hat — am meisten anziehen. Die Verstellung war jedenfalls neu zu motivieren; und so kam, nehme ich an, die Art der Ermordung in das Stück, die so heimlich und raffiniert war, daß der Mord als Todesursache allen verborgen blieb, und daß der Tote wiederkommen mußte, um die erste Nachricht davon zu bringen; die Aussage eines Gespenstes aber ist, gar noch unter Menschen, die rationalistische Neigungen haben, kein rechter Beweis; in der Maske des Wahnsinns konnte nun Hamlet, der seinen Charakter sowieso gründlich zu verändern hatte, Anstalten treffen, den Täter zu überführen. Hatte aber ein Ermordeter als Gespenst umzugehn, so mußte auch das motiviert werden; nicht alle Ermordeten sprengen den Bann des Grabes: er war also im Fegefeuer und hatte keine Ruhe, weil er in seinen Sünden dahingefahren war. Daß so ähnliche Motive aber im Stück weiter spuken, daß Hamlet dann den Mörder nicht aus seinem Gebet heraus in den Himmel spedieren will, ist zwar auch eine befremdlich äußerliche Anwendung des nämlichen dogmatischen Motivs; sie aber brauchen wir doch nicht ausschließlich der Jugendlichkeit Shakespeares oder dem Gedankenkreis eines andern Verfassers zur Last zu legen, da sie in das Gebiet der Bedenklichkeiten und Zögerungen Hamlets gehört.
Noch etwas in der äußern Handlung dünkt mich auf die allmähliche Entstehung und Umwandlung des Stücks[S. 198] hinzuweisen. Prinz Hamlet scheint mit dem Dichter älter geworden zu sein. Mit seinem Alter stimmt etwas nicht in dem Stück, wie wir es haben; da steht es wacklig. Nach dem Eindruck, den wir am Anfang von Hamlet bekommen, nach der Art, wie er als verwaister Sohn am Hof steht, wie gar niemand daran denkt, ihn zum König zu machen, wie zwischen Ophelia und Laërtes, Ophelia und ihrem Vater von dem jungen Prinzen gesprochen wird, sollten wir ihn für ganz jung, für einen beginnenden Jüngling, für eher etwas jünger als Laërtes halten dürfen, der auch noch recht jung ist; und in der Tat wird Hamlet an einer Stelle der Quarto von 1603 als neunzehnjährig bezeichnet. Das ist getilgt worden; aber die Gründe, warum er als Neunzehnjähriger gilt, sind noch ganz unverändert da. In den Szenen aber, wo der verstellte Wahnsinn zur gewaltigsten Kritik und Polemik wird, und in den andern, wo Hamlet ein urgesunder Einsamer ist, der nur dermaßen an der Welt leidet, daß ihn der Philister auch jenseits der Bühne, auch heutigen Tags für verrückt hält, bekommt er ältere, reifere Züge, und in diesem Zusammenhang dürfte die erste Szene des fünften Akts, die Kirchhofszene, entstanden sein, wo uns in drei miteinander korrespondierenden Stellen gesagt wird, daß Hamlet dreißig Jahre alt ist. Im Jahre 1589, aus dem „Hamlets Rache“ spätestens stammt, war Shakespeare 25, 1604, dem Jahr der letzten Fassung, war er 40 Jahre alt.
Sollen wir nun etwa die fast unendlichen Deutungsmöglichkeiten vor allem der Charaktere, aber sogar auch mancher Vorgänge ebenfalls dieser Entstehungsgeschichte zur Last legen? Von Hamlet selbst erst gar nicht zu reden; man würde wirklich kaum fertig, wenn man aufzählen wollte, was er alles vorstellen soll! Aber Polonius zum Beispiel erscheint in den Beschreibungen der Ausleger in allen Spielarten, vom ungewöhnlich weisen Staatsmann bis zum vollendeten Trottel, und es wäre nicht so sinnlos wie[S. 199] vieles, was sonst zu dem Stück gesagt worden ist, wenn einer fände, die Ermahnung an Laërtes müsse einer andern Stufe der Arbeit angehören als die Haltung oder Haltungslosigkeit dieses Ministers Hamlet gegenüber in den Szenen, wo der sich verrückt stellt. Der König Claudius wird uns einmal als ein recht schöner Mann und würdiger König angepriesen; das andere Extrem sagt, er sei ein abscheuerregender Faun und verbrecherischer Lüstling. Ja, sogar Ophelia schillert, wenn wir auf ihre Kritiker hören, in allen Farben: es geht auf der schiefen Ebene vom keuschen Mädchen bis zur völlig verderbten Dirne herunter. Nicht einmal der Sinn der berühmtesten Stelle im ganzen Werk Shakespeares, des Monologs „Sein oder Nichtsein“, scheint danach festzustehen. Der romantische Immeranders Tieck wenigstens hat Zeile für Zeile bewiesen, was er so beweisen nennt, daß dieses Selbstgespräch mit keinem Gefühl und Gedanken vom Freitod, vom Selbstmord, sondern lediglich von der Tat und der Rache handle!
Hier antworte ich: Nein, diese Vieldeutigkeit ist nicht Shakespeare, nicht der Entstehung des Stückes zur Last zu legen; und verweise dabei auf das, was ich gleich zu Beginn gesagt habe. Daß man diese Gestalten in ihrer Eindeutigkeit und Bestimmtheit nicht hat erkennen können, liegt nicht an der Dichtung; es liegt vor allem an der Lebendigkeit, der unabweisbaren Individualität dieser Gestalten; restlos lassen sich bloß Typen in Worte verwandeln; durchaus nur als Werkzeug eines Dichters kommt die Sprache über das Formelhafte und Schablonenmäßige hinaus.
Nun könnte es aber doch noch scheinen, als ob einige Gestalten dieses Stückes einen Zug aufwiesen, der nicht zu ihrem Charakter stimmt; und ich selbst habe eine Zeitlang geglaubt, diesen Zug mit einem Unvermögen des jungen und einem Verzicht des reifen Dichters auf Charakterisierungskunst erklären zu sollen; ich hatte den Eindruck, manchmal wäre die Fülle von Weisheit und Polemik des[S. 200] reifen Shakespeare aufgepfropft auf eine gewisse Redseligkeit des jungen. Nie aber muß man mißtrauischer gegen sich selbst sein, als wenn man Shakespeare kritisiert; fast immer hat er seine Sache besser verstanden und hat besser aufgemerkt als wir; und so wird es auch diesmal sein.
Was hier gemeint ist, will ich sagen, indem ich zunächst Worte Tiecks anführe; was dieser Kritiker sagt, verdient immer, gehört zu werden: „Die beiden Brüder,“ sagt er, der ermordete König nämlich und sein Bruder, der Mörder, „haben unter sich und wieder mit Hamlet eine auffallende Familienähnlichkeit: alle drei hören sich gern sprechen, und sie haben die Gabe der Rede; Sentenzen, Beobachtungen und Maximen lassen sie, aber auch alle übrigen Personen des Stücks, gern hören, und diese Halbheit, die in Hamlet keinen Charakter, trotz allen Talentes, aufkommen läßt, lähmt auch mehr oder minder jede Erscheinung in dieser Tragödie.“
Tieck will, indem er von Hamlet sagt, er sei — ein Romantiker seines Stils, ein Talent nämlich, aber kein Charakter, und indem er Hamlets und seines Vaters Familienähnlichkeit mit König Claudius behauptet, zeigen, dieser letztgenannte habe sehr achtbare und ehrenhafte Qualitäten; er will ihn in seiner Art retten, wie er die Lady Macbeth gerettet hat. Der bewegliche Mann, der so viele und oft so feine Einfälle hat, merkt aber gar nicht, wie er hier einen Einfall mit einem neuen, der ihm in den Satz fährt, totschlägt: denn wie will er die Familienähnlichkeit der drei Verwandten mit dem Zug der klugen Reden beweisen, wenn er nebenbei bemerkt, auch alle übrigen Personen des Stücks hätten diesen Zug?
Einen ganz besondern Verstand, eine Neigung zu weiser Rede und allgemeinen Maximen finden wir nun außer bei Hamlet selbst in der Tat besonders an König Claudius und an Polonius. Im allgemeinen ist man in den Meisterwerken Shakespeares ganz sicher, daß, was die Personen äußern,[S. 201] nebst dem, daß es um der Situation willen und aus allgemeinen Gründen gesagt sein soll, zu ihrer Charakteristik dient oder wenigstens ihrem Charakter entspricht. In den Lustspielen nimmt es Shakespeare damit nicht so genau, vor allem aber gibt es eine Reihe Dramen einer späten Übergangszeit, wo der Dichter um der Polemik und der Lehre willen die Charakteristik fast geflissentlich hintangesetzt hat; und das ist ein Zug, der die Chronologie dieser Stücke so sehr erschwert, weil man fälschlich glaubt, ihn der Jugend ausschließlich zuweisen zu müssen. Diesen Stempel tragen der Timon, der Perikles und der Zymbelin besonders; auch das Wintermärchen ist nicht ganz frei davon. Leugnen läßt sich nun nicht, ist vielmehr wichtig zu beachten, daß der Dichter im Hamlet so ziemlich jede Situation benutzt, um Dinge aussprechen zu lassen, die für die innere Handlung, für den letzten Sinn der Tragödie, für die Beleuchtung Hamlets bedeutend sind. Einmal wird auf diesen Doppelsinn der Maximen ausdrücklich hingewiesen; da, wo Polonius der Ophelia empfiehlt, bei ihrer absichtlich herbeigeführten, zufällig aussehenden Begegnung mit Hamlet ein Buch in der Hand zu halten; er knüpft daran eine Bemerkung über fromme Heuchelei im allgemeinen, die sich auch noch auf andre Geschehnisse des Stücks beziehen soll und die der König in einem zerknirschten Murmeln mit sich selbst denn auch sofort auf sich anwendet.
Sind nun diese Äußerungen hoher Intelligenz, besonders aus dem Mund des Königs und Polonius’, lediglich um ihrer Beziehung zum Sinn willen da, widersprechen sie dem sonstigen Wesen der Sprecher? Keineswegs; Polonius ist ein kluger, erfahrener Mann und — was seine Anrede an den Sohn angeht — ein besorgter, vorsichtiger Hausvater; daneben ist er freilich nach oben willfährig ergeben, keineswegs „sich selber treu“, wie er so schön empfiehlt, und überdies vertrottelt und senil. Wir bemerken aber oft, daß ein älterer Schriftsteller zum Beispiel in seinen[S. 202] Arbeiten noch Lebendigkeit und Kraft der Gedanken und Wendungen zeigt, während er im Privatleben nicht mehr bei der Stange bleiben kann; und so scheint uns zwar ein großer Widerspruch zwischen der schönen Anrede des Ministers an den Sohn und seiner sonstigen, oft kläglichen Haltung da zu sein; aber ein Widerspruch, der für ihn, seine Stellung, seine Anbequemung an die Umstände und seine Jahre kennzeichnend ist. Was aber gar König Claudius angeht, so werde ich noch zu zeigen haben, daß sein ganz außerordentlicher Verstand, auf Grund dessen er in der Tat Worte zu sprechen hat, die ins Herz der Tragödie treffen, einen entscheidend wichtigen Zug seines Wesens bildet und daß Tieck, unbeschadet seiner recht verfehlten Absicht und Begründung, keineswegs unrecht hatte, wenn er von einer Familienähnlichkeit zwischen Hamlet und seinem Oheim sprach.
Die Worte also, die in diesem Drama den Personen aus dem Munde gehen, sind nicht immer um des Wesens dieser Gestalten und der Situation willen gesagt, sondern bergen, ohne dem Charakter der Redenden zu widersprechen, manchmal einen Hinweis auf die Bedeutung des Ganzen oder die Natur einer Hauptgestalt. Diese Verwendung der dramatischen Rede und Situation bringt die Hamlet-Tragödie in den Zusammenhang der späten Dramenreihe, die ich oben nannte und für die Zymbelin ein hervorragendes Beispiel ist, ist aber nicht auf die Entstehung des Dramas und ganz gewiß nicht auf die erste Fassung zurückzuführen.
Vor allem andern ist es jetzt, wie wir uns die alte Sage vergegenwärtigt haben, durchaus nötig, uns an den tatsächlichen Verlauf der Handlung des Dramas zu erinnern; dann erst können wir untersuchen, was dieses Drama uns soll, wie Prinz Hamlet in ihm steht; ob die Handlung nur dazu dient, das Innere dieses Menschen zum Vorschein zu bringen; oder ob sie selbst einen innern Sinn birgt.
Bei Beginn des Stückes ist es etwa zwei Monate her, daß König Hamlet plötzlich, man sagt, an einem Schlangenbiß, gestorben ist. Sein Bruder ist als Nachfolger gekrönt worden. Wenn wir dem jungen Hamlet, der aber vielleicht ein wenig übertreibt, glauben wollen, ist nur ein Monat vergangen, bis der neue König Claudius die Witwe, seine Schwägerin, geheiratet hat. Jedenfalls sind sie jetzt ein Paar, und die aus weiter Entfernung zur Leichenfeier und Krönung gekommen sind, wie Laërtes aus Frankreich, Horatio aus Wittenberg, kamen nicht viel vor der Hochzeit an. Auch Hamlet war in Wittenberg gewesen; seit wann er zurück ist, bleibt unklar; aus dem Gespräch mit Horatio scheint hervorzugehn, daß es schon etwas länger her ist, und daß er all die schweren Ereignisse im Lande mitgemacht hat. Jetzt möchte er wieder nach Wittenberg zurück, läßt es sich aber von der Mutter zu des Königs freudiger Überraschung leicht ausreden. In schwerer Stimmung, in der Gram, Empörung und Ekel sich mischen, erfährt der junge Prinz das Unglaubliche, daß der Geist seines Vaters sich zeigt. Er sucht den Ort auf, und um Mitternacht kommt das Gespenst und spricht mit ihm; es eröffnet ihm, was er jetzt geahnt zu haben glaubt: nicht von einer Schlange gestochen starb sein Vater; er ist von seinem eignen Bruder ermordet worden. Der hatte ein ehebrecherisches Verhältnis mit Gertrud, König Hamlets Frau; im Schlaf ermordete er den Bruder durch Gift, das er ihm ins Ohr träufelte. Dann wurde er König und nahm die Witwe des Bruders zur Frau, was schon an sich als Blutschande gälte. Der Geist des Vaters fordert Hamlet den Sohn zur Rache auf; die Mutter sei dem Himmel überlassen, gegen sie soll er nichts tun; aber an dem Mörder und Blutschänder soll er den Vater rächen. Wie das geschehen soll, bleibt ganz dem Prinzen anheimgestellt. Der gelobt die Rache, schon ehe er gehört hat, um was es sich im einzelnen handelt. Sofort, nachdem der Geist ausgeredet hat und gegangen ist, scheint ein Plan in Hamlet zu[S. 204] erwachen; er läßt die beiden, die den Geist in dieser Nacht noch gesehen haben, unverbrüchliche Geheimhaltung schwören; er nimmt sich vor, „ein wunderliches Wesen anzulegen“, sich wahnsinnig zu stellen. Er tut es; in dieser gräßlichen Verfassung sieht ihn auch Ophelia, der er in letzter Zeit von Liebe geredet hat, die aber auf strenges Geheiß ihres Vaters Polonius gerade jetzt mit ihm gebrochen hat. Polonius, der Oberhofmeister, denkt an Verrücktheit aus unglücklicher Liebe und meldet diese Deutung und die zugehörigen Tatsachen dem König. Der hat inzwischen schon andre Maßregeln ergriffen, um den Grund von Hamlets bedenklichem Wesen herauszubringen: zwei Schulfreunde des Prinzen, Rosenkranz und Güldenstern, sind nach Helsingör an den Hof berufen worden, um sich in sein Vertrauen zu schleichen. Hamlet bringt das aus ihnen im Gespräch heraus und sieht sich vor. Der König belauscht ein Gespräch Hamlets mit Ophelien: all das Wüste, Wirre, was er mitanhören muß, überzeugt sein böses Gewissen nicht, daß es sich um Krankheit handle; er ist überzeugt, Hamlet brüte über gefährlichen Plänen, und trifft Anstalten, ihnen zuvorzukommen.
Hamlet ist noch in Zögern und Unsicherheit, auf der Suche nach Gewißheit und Überführung. Könnte nicht, was ihm als Geist des Vaters erschien, ein Teufel gewesen sein? Da führt ihm der Zufall eine Schauspielertruppe in den Weg, die ihm von früher ergeben ist; von dieser läßt er ein kurzes Stück aufführen, das von Ehebruch und Mord, Mord durch ins Ohr eines im Garten Schlafenden geträufeltes Gift handelt; bei dieser furchtbaren Anspielung auf eine Tat, die nach des Königs Meinung niemand kennen kann, wollen Hamlet und sein Freund Horatio, zu dem er Vertrauen gefaßt und den er in alles eingeweiht hat, den König scharf ins Auge fassen. Es geschieht so, der König gerät in furchtbare Unruhe und bricht auf; Hamlet frohlockt; er ist nunmehr überzeugt, daß der Geist die Wahrheit gesprochen hat. Während der König in entsetzlicher Verfassung seinen Plan,[S. 205] Hamlet nach England zu schicken, weiter ausgestaltet und vielleicht jetzt den Entschluß faßt, ihn in England ermorden zu lassen, geht Hamlets Mutter ihre eigenen Wege: noch in dieser Nacht will sie mit dem Sohn sprechen und läßt ihn rufen. Auf dem Weg zur Königin sieht Hamlet den König im Gebet knien, so scheint es ihm; der wild verzweifelte, von Unruhe gepeinigte Mann bemüht sich freilich vergebens, Reue und Gebet aufzubringen. Hamlet will den Mörder nicht in dieser Situation umbringen; seine Rache muß schrecklicher sein. Wie er dann aber bei der Mutter ist, entschlossen, ihr unerhört ins Gewissen zu reden und für dieses Gespräch die Tür verschließt, wie die angstvolle Frau Schlimmstes befürchtet, um Hilfe ruft und der als Lauscher bestellte Polonius sich hinter dem Wandteppich regt, da glaubt Hamlet in Augenblicksdenken, es sei der König, und sticht blindlings drauflos. Er hat Polonius, Opheliens Vater, erstochen; und angesichts der Leiche hebt er nun an, in furchtbarer Eindringlichkeit der Mutter ihre Situation vorzuhalten. Mitten in seine leidenschaftliche Rede hinein kommt der Geist. Hamlet glaubt, es geschehe, um ihn zu schelten, weil er träge sei und die Rachetat noch nicht vollführt habe; der Geist mahnt ihn, nicht zu vergessen; mit der Mutter soll er reden, in deren Seele es nun kämpft. Hamlet tut es mit inniger Gewalt. Nun, nachdem es aussieht, als wäre Polonius dem Irrsinn des Prinzen zum Opfer gefallen, ist ein triftiger Grund da, ihn fortzuschaffen; er muß sofort an Bord, Rosenkranz und Güldenstern sind seine Geleiter; und jetzt erfahren wir, daß sie einen Brief bei sich haben, der den König von England, welcher dem Dänenkönig verpflichtet ist, auffordert, Hamlet umbringen zu lassen. Davon, daß das Höflingspaar von dem Inhalt dieser Botschaft etwas wüßte, erfahren wir nichts. Während Hamlets Seereise wirkt seine rasche Tat, die Polonius das Leben nahm, weiter: Ophelia, der von der Hand des Geliebten der Vater umgebracht worden ist, kommt von Sinnen und[S. 206] geht ins Wasser; ihr Bruder Laërtes, der heimkehrt, findet sie wahnsinnig und bald tot. Er ist stürmisch aus Frankreich herbeigeeilt, um den Tod des Vaters an dem König, den er für den Schuldigen hält, zu rächen. Er hat Anhang im Volk gefunden; er soll ihr König werden. König Claudius überzeugt ihn leicht, daß nicht er, sondern Hamlet die Tat begangen hat und auch an Wahnsinn und Tod der Schwester die Schuld trägt. Darüber kommt gerade von Hamlet die zunächst unbegreifliche Nachricht, daß er zurückgekehrt und schon wieder gelandet ist. Da schmieden der König und Laërtes ihren Plan gegen ihn: Laërtes ist in Frankreich ein berühmter Fechtkünstler geworden; Hamlet, der diese Kunst auch liebt, hat früher öfter den Wunsch geäußert, sich mit ihm zu messen. So wird es leicht sein, ein Kampfspiel zwischen den beiden zustande zu bringen; dabei soll Laërtes gegen den Ahnungslosen, Vertrauenden nicht mit stumpfer, sondern scharfer Klinge fechten, rät der König; Laërtes’ Rachedurst geht noch weiter: er will die Degenspitze vergiften. — Hamlet, in berechtigtem Mißtrauen, hatte auf dem Schiff den Brief an den englischen König erbrochen und erfahren, daß ihm sofort nach Ankunft der Kopf vom Rumpf getrennt werden sollte; nun fälschte er einen andern Brief, in dem der König aufgefordert wurde, die Überbringer umzubringen; bei Gelegenheit eines Kampfes mit Seeräubern richtete er es klüglich so ein, daß er gefangen wurde, Rosenkranz und Güldenstern weiter fuhren, ihrem Schicksal entgegen. Die Korsaren setzten ihn an der dänischen Küste an Land; dazu hat er sie durch die Aussicht vermocht, daß er „einen guten Streich für sie tun“ wird, womit offenbar seine Rache am König gemeint ist. Zu der ist er jetzt fest entschlossen: der Brief an den König von England hat ihm genug gesagt. Auf dem Friedhof, wo er sich mit seinem Freund Horatio bespricht, gerät er in Ophelias Beerdigung hinein; nun sie tot ist, kommt seine Liebe zu leidenschaftlichem Ausbruch, und er gerät im Grab wild[S. 207] und toll mit Laërtes zusammen. Sie werden auseinandergerissen; ihm ist zumute, als müsse er es mit Laërtes ausfechten, wer die Tote inniger geliebt. Das kommt dem König zupaß; nun wird rasch der Zweikampf vorbereitet, der Hamlet ausdrücklich als Kampfspiel zum Ausfechten einer Wette dargestellt wird. Um ganz sicher zu gehen, hält der König einen Becher mit einem Gifttrunk für Hamlet in Bereitschaft. Nun geht alles schnell: Laërtes und Hamlet verwunden sich gegenseitig mit der nämlichen vergifteten Degenspitze; die Königin trinkt aus dem Giftbecher, den der König für Hamlet zurechtgestellt hatte; erst sie, aus Ahnung, dann Laërtes aus Mitschuld fangen an zu enthüllen; nun wendet der vom Tod gezeichnete Hamlet rasch den Giftdegen, der ihm in der Hand geblieben ist, gegen den König und bringt ihn um. Der junge Fortinbras, der Prinz von Norwegen, der von seinem Kriegszug gegen Polen zurückkehrt und durch Dänemark kommt, und die englischen Gesandten, die zugleich mit ihm kommen und melden, Rosenkranz und Güldenstern seien dem Gebot des Dänenkönigs gemäß umgebracht worden, finden das Königspaar, Hamlet und Laërtes tot; vor ihnen als den Vertretern der Welt da draußen enthüllt Horatio, in welchem Zusammenhang das alles geschehen ist. Vom alten Gegensatz zwischen Norwegen und Dänemark hatten wir schon immer gehört und von Fortinbras’ Ansprüchen auf dieses Reich; jetzt soll der tapfere junge Kriegsmann König werden; sterbend hat Hamlet ihm seine Stimme gegeben.
Ich gestehe: ich habe diesen Bericht über den Verlauf der äußern Handlung nicht ohne Scham geliefert. Durch nichts kann man doch deutlicher zeigen als durch solche Zusammenstellung, daß es Shakespeare nicht auf die Erfindung, die Abenteuer, die seltsamen Ereignisse ankam, sondern auf die Ausdeutung der gegebenen Geschichte, an der er nur durch Weglassungen, Zusätze und Umbiegungen änderte, was die Motivierung notwendig machte. Sicher ist, daß ihm auch[S. 208] hier daran gelegen war, jedes Moment der Geschichte zu pressen, bis es Menschliches, Innerliches, Verborgenes leuchtend hervortreten ließ. Je mehr man aber den Gang der Handlung, wie ich ihn eben im Rohen skizziert habe, in die Einzelheiten und Übergänge verfolgt, je mehr man zu dieser Entwicklung der Ereignisse ausdeutende Worte dazu nimmt, die von den Trägern der Handlung, sei es in entscheidenden Augenblicken, sei es gelegentlich, gesprochen werden, um so sicherer erkennt man, vielleicht zu eigener Überraschung, daß diese Tragödie Hamlet in einem höchst ironischen Sinn des Wortes nebst allem, was sie sonst noch in sich birgt, eine Schicksalstragödie ist, daß also doch auch die äußere Handlung des Dramas, ganz unabhängig zunächst von Natur und Geist des Prinzen Hamlet, einen wesentlichen Teil des Sinnes ausgestaltet, um dessentwillen diese Dichtung geschrieben ist.
Ich bin davon ausgegangen, daß ich sagte, es sei für unser intuitives Erfassen nichts klarer als der innere Sinn dieses Dramas. Wenn dem so ist, wäre es ja wunderbar, wenn dieser Sinn nicht von einem Mann wenigstens schon ausgesprochen sein sollte, der sich so energisch und innig mit der Tragödie beschäftigte und der die Gabe, die man Intuition nennt, und den sprachlichen Ausdruck für das anschaulich Erfaßte so wunderbar besessen hat, von Goethe. Ganz recht; ich finde in der Tat, daß Goethe über das Stück das Wesentliche gesagt hat, vor allem auch darin, daß er diese Zweiseitigkeit hervorgehoben und Hamlet einmal als Charaktertragödie und dann als Schicksalstragödie erkannt hat. Auch über Hamlets Wesen und seine Stellung zur Welt sagt er schlechtweg Entscheidendes, wie es vom Dichter des Werther und des Tasso nicht anders zu erwarten war; und die Nachfahren, die Goethes Deutung variiert, ergänzt, verstärkt haben, hätten manchmal etwas dankbarer von ihrer aller Ahnherrn reden können; aber auch ich bin der Meinung, daß der Mann, der es nicht zu einem Hamlet, sondern bloß zu einem Werther und Tasso gebracht[S. 209] hat, das Problematische, Inkomplette, Passive, in jedem Sinn Leidende in Hamlets Stellung zur Welt zu stark betont, seine Aktivität und Energie zu wenig erkannt hat. Hier aber rede ich noch gar nicht von dieser allbekannten Deutung Goethes: „Eine große Tat, auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist“, rede gar noch nicht von Hamlets Natur und seiner Stellung zur Welt und zu seiner Aufgabe; ich rede von der Handlung des Stücks, von den seltsamen Wegen, die das Schicksal in ihm nimmt, und von Goethes Deutung nicht der Person Hamlet, sondern der Tragödie Hamlet als Totalität. Diese Äußerung Goethes, obwohl sie im Wilhelm Meister im selben Zusammenhang steht wie die immer zitierte, wird viel weniger beachtet; die eine sollte aber von der andern nicht getrennt werden; beide zusammen ergeben Goethes Auffassung, wie Hamlets Natur und der Verlauf der Ereignisse, an denen diese Natur zum Vorschein kommt, zusammen die Tragödie von Hamlet bilden. Goethe sagt: „... Es geschieht eine ungeheure Tat, sie wälzt sich in ihren Folgen fort, reißt Unschuldige mit; der Verbrecher scheint dem Abgrunde, der ihm bestimmt ist, ausweichen zu wollen, und stürzt hinein, eben da, wo er seinen Weg glücklich auszulaufen denkt. Denn das ist die Eigenschaft der Greueltat, daß sie auch Böses über den Unschuldigen, wie der guten Handlung, daß sie viele Vorteile auch über den Unverdienten ausbreitet, ohne daß der Urheber von beiden oft weder bestraft noch belohnt wird. Hier in unserm Stücke wie wunderbar! Das Fegefeuer sendet seinen Geist und fordert Rache, aber vergebens. Alle Umstände kommen zusammen und treiben die Rache, vergebens! Weder Irdischem noch Unterirdischem kann gelingen, was dem Schicksal allein Vorbehalten ist. Die Gerichtsstunde kommt. Der Böse fällt mit dem Guten. Ein Geschlecht wird weggemäht, und das andre sproßt auf.“
Daß das sich nun in der Tat so verhält, ist klar, sowie man den nackten äußern Verlauf betrachtet. Die Tat, die alles[S. 210] ins Rollen bringt, ist geschehen: König Hamlet ermordet, der Usurpator im Besitz der Witwe und des Throns. Hamlet Vater und Sohn wollen die furchtbarste Rache über den Mörder verhängen, die Königin aber schonen: das Paar geht zusammen zugrunde. Prinz Hamlet will den König erstechen und tötet Polonius. Von seinem geheimnisvollen Verhalten zu Ophelia soll in diesem Zusammenhang bloß äußerlichen Planens lieber nicht die Rede sein, irgendwie aber scheint Hamlet sie in diese Pläne hineinzuziehen, sie als Mittel zu benutzen: das Ergebnis, ihr Wahnsinn und Selbstmord, kommt ihm als furchtbare schmerzliche Überraschung. König Claudius will Hamlet in England umbringen lassen und liefert seine Boten dem Henker. Laërtes will seine Rache mit verräterischem Anschlag befriedigen; der König will sich seiner bedienen; alle beide gehen darin zugrunde. Und in dem Augenblick, wo alles gegen Hamlet geht und der nur den Zweikampf im Sinne hat, der ihm ein symbolischer Ausdruck für seine aus dem Grab aufgestiegene Liebe zu Ophelia ist, wo er gerade seiner Rachepflicht gar nicht gedenkt, vollführt er die Rache, die ihn selbst mit verschlingt.
Keineswegs ist diese Deutung, wonach das ironisch waltende, der Menschenpläne spottende Schicksal vom Dichter mit diesem Drama dargestellt wird, bloß hineingelegt oder aufgepfropft. Was wir hier mit Goethe sichtbar in dem Stück gefunden haben, läßt der Dichter am Schluß seinen Horatio, der sich anschickt, als Vermächtnis Hamlets den wahren Zusammenhang des Ganzen zu enthüllen, Fortinbras gegenüber deutlich aussprechen:
Von hier aus aber eröffnet sich uns ein Weg, von dem ironischen Schicksal, das die Tragödie darstellt, zu Hamlets zwiespältigem innern Wesen. Das Schicksal bringt nicht alles, was Menschen tun, zum Scheitern; das eine gelingt, das andre mißrät; geht es in der Welt dieses Stückes ganz wie von ungefähr, blind, willkürlich, launisch zu? Oder wird uns gerade hier ein Merkmal gezeigt, durch das wir die Unterscheidung, die Wahl des Schicksals anfangen können zu verstehen?
Es wird uns gezeigt, in einer Erkenntnis, zu der Hamlet schließlich kommt und die mit dem Geheimnis seiner reichen Natur innig zusammenhängt. Er hat sich als einen Tollen, der Thron und Reich in Gefahr bringt, nach England wegschaffen lassen; und wie er nun zurückgekehrt ist und dem Freunde berichtet, durch welche Verkettung von Zufall und eignem raschen, unüberlegten Entschluß er der größten Gefahr, der Ermordung entging, da ruft er aus:
Diese Gottheit also, die Hamlet schließlich anerkennen lernt, so daß er kopfschüttelnd gestehen muß:
scheint es besonders auf die tiefen Pläne, auf den vorbereiteten Anschlag, auf die Unternehmungen abgesehen zu haben, die vernünftiger Überlegung entstammen; diese deep plots werden vereitelt. Hingegen praised be rashness! Unser zweckbewußtes Handeln lenkt die Gottheit und wandelt es um; weit eher ist sie im Bunde mit unsrer raschen Unbewußtheit als mit unserm vernünftigen Überlegen.
Nun ist das aber ein sehr ernster Gedanke, für uns alle; und zumal für Hamlet. Denn dieses beides hat er in sich, solange er lebt, dieses beides streitet in ihm und wirkt[S. 212] manchmal zusammen: Umsicht, Überlegung, Geistigkeit, Bedenken bis zur Bedenklichkeit, und aber Energie, Aktivität, blitzschneller Entschluß, stählerne Elastizität und rasche Tat. Jetzt, wo’s zum Ende geht, ruft er aus, ruft dieser Hamlet aus, den wir beobachtet haben, dessen Selbstgespräche, Erwägungen, umständliche Anstalten, Selbstvorwürfe der Untätigkeit und Feigheit wir mitgemacht haben:
Die Raschheit, die Unbesonnenheit lobt er sich nun; er tut es in einer Stimmung, in der schmerzlichste Erkenntnis, Lust, daß er rasch sein Inneres in Tat verwandelt und also gelebt hat, und Resignation seltsam vereinigt in ihm sind. Seine aufgeräumte Lust kommt ihm nicht bloß von der raschen Befreiungstat, über die er dem Freund berichtet; noch zittert in ihm Wonne und Weh über seinen kühnen Sprung in Opheliens Grab und sein spätes, allzu spätes Bekenntnis zu seiner Liebe; wie hatte er die in Zweifel, in Erwägung, in Mißtrauen zurückgedrängt und seine Haltung gegen die Geliebte sogar in seine Rachepläne gegen den König einbezogen; jetzt, wo er alles, was ihn umschnürte, zersprengt, Überlegung und Melancholie unter sich gebracht hat, wie wohl wäre ihm, wenn es nicht zu spät wäre! Wie würde er sich in seiner tatfrohen Kraft eins mit dem Göttlichen fühlen, wenn nicht so viel schon geschehen wäre, das ihn empfinden läßt, daß er nicht mehr in der Lust des Anfangs, sondern in der Entsagung steht. So weiß er denn wohl: die Gottheit vollendet’s in ihrer eignen, unvorhergesehenen Art; die Momente, in denen er in ihr zu stehen spürt, zucken auf und verschwinden; da es für die tapfere, lustvolle Tat zu spät schon geworden ist, bleibt nur die Tapferkeit der Bescheidung übrig: sein Schicksal auf sich zu nehmen. Wie er im Begriff steht, zu dem Zweikampf zu gehn, der alles entscheiden wird, da hat er das Vorgefühl des Schicksals; es ist ihm gar übel ums Herz, er hat „eine Art von schlimmer Ahnung“; aber er sagt:
„Wir trotzen dem Augurentum; besondere Vorsehung waltet im Fall eines Sperlings. Ist’s jetzt, so ist’s nicht künftig; ist’s nicht künftig, so wird’s jetzt sein; ist’s nicht jetzt, so wird’s doch kommen: Bereitschaft ist alles; da keiner was hat von dem, was er läßt, was liegt daran, es früh zu lassen? Sei’s drum.“
Und wir wissen, wie sich die besondre Vorsehung, die Gottheit, die in die Entwürfe der Menschen eingreift und die Fäden ihrer Gespinste in göttliches Netz verwebt, gerade bei diesem Zweikampf, bei diesem Gottesgericht, in das Hamlet nun schreitet, bewährt. Einstmals, just an dem Tag, an dem Hamlet zur Welt kam, gab es einen eindeutigen Zweikampf, wo Tat mit Tat focht und der Stärkere siegte: da hatten zwei Könige — Hamlet und Fortinbras hießen sie — um ein Stück Land gestritten. Damals siegte ein Hamlet der Däne; und seitdem streift Norwegen lauernd herum und wartet auf seine Zeit. In dem Kampf aber, in dem dieser nachgeborene Hamlet jetzt steht, ist alles mehrdeutig und verworren: eine Mensur ist es zur Entscheidung einer Wette; und die Rache des Laërtes ist es; und das Bestreben Hamlets, dem Laërtes ritterliche Genugtuung zu geben und mit dem Leben für seine Liebe zu Ophelia einzustehn, die er in den Tod getrieben hat; und der Plan des Königs ist es, Hamlet aus dem Weg zu räumen. Nichts scheint in diesem Augenblick weniger im Spiel als Hamlets Rache; eher den Korsaren scheint diese seine Rache irgendwie nützen zu können als dem Machtbegehr des jungen Fortinbras; aber die Vorsehung wirft ihr Netz und hat die planenden Menschen für sich arbeiten lassen: in diesem Augenblick geht das ganze Haus Dänemark, der Usurpator, die unselige Königin, Hamlet und mit ihnen Laërtes unter, der im Volk schon als König ausersehen war; für Fortinbras, der eindeutig auf der Tat steht, und der nicht in beweglicher Unruhe geplant, sondern in Stille gewartet und seine Kraft geübt hat, ist die späte Rache und die Erfüllung da.
Hamlets Rache geschieht nicht durch ihn, sondern durch ihn hindurch, über ihn, über seine Leiche hinweg; zu Tode getroffen wendet er blitzschnell, ohne Zusammenhang mit all seinen früheren Plänen, die vergiftete Waffe gegen den Giftmörder. So führt das Schicksal ihm die Hand, und fast ist es so, als vollführte eine Leichenhand die Tat, die der Lebende nicht getan hat. Nicht getan hat; Goethe sagt: nicht tun konnte. Ist es so? Hat Goethe auch darin recht gesehen, daß er sagt, in Hamlet sei „eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist?“ Hamlet sei „ein schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen, ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht?“
Diese Auffassung ist scharf bestritten worden, und man hat rundweg geleugnet, daß irgendein Zwiespalt zwischen Denken und Tun in Hamlet bestehe. J. L. Klein, schon 1846 in einem verschollenen Journalartikel (den das Shakespeare-Jahrbuch 1895 wieder abdruckte) und unabhängig von ihm, später sich entzückt auf ihn berufend, Karl Werder in seinen Vorlesungen haben behauptet, Shakespeare stelle dar, wie Hamlet mit überlegenem Geist eine Freveltat enthülle und zu guter Letzt auch räche, die in tiefstem, schauerlichem Geheimnis verborgen sei; all sein langsames Vorgehen, die ganze Art seiner Taktik habe die besten äußern Gründe von der Welt. J. L. Klein geht dabei so weit, daß er die Erscheinung des Geistes, den außer Hamlet und vor ihm noch Horatio, Marcellus und Bernardo sehen, vollständig identifiziert mit Hamlets Divinationsgabe. Damit aber ist seine ganze Darlegung, zu wie geistvollen und tiefen Anmerkungen sie ihn auch führt, abgetan: er hat aus Shakespeares Dichtung irgend etwas, vielleicht etwas sehr Interessantes, vielleicht gar etwas trotz aller abstrakt-kritischen Ausdrucksweise Gedichtetes gemacht, aber er ist nicht in ihr geblieben.
Trotzdem kommt es sehr in Betracht, daß Hamlet selbst auf die Erscheinung und die Worte des Geistes allein hin den[S. 215] Usurpator nicht verurteilen will, daß er es darauf anlegt, den Mörder auf normale Art zu überführen; trotzdem muß wirklich gefragt werden, ob denn davon die Rede sein dürfe, Hamlet sei seiner Tat nicht gewachsen, wenn das Schicksal so eingreift, wie wir es geschildert haben.
Das aber ist gerade das Gesamtmotiv dieser Tragödie, das alles zusammenhält, daß hier die Begegnung eines außerordentlichen Schicksals und eines außerordentlichen Charakters gezeigt wird. Die ungemeine Bedeutung, die die Gestalt Hamlets für die Geistesgeschichte unsrer Völkergemeinschaft gewonnen hat, kommt daher, daß Shakespeare Hamlets Ringen mit seiner Aufgabe, seinen Kampf gegen den Usurpator und seine Gesellen, gegen die Wollustgier der Sinne und mörderisch lüsterne Niedrigkeit ausgeweitet hat zum Kampf des Geistigen gegen die Welt, die ihn erdrücken und ersticken will. Das hat Goethe ein für allemal recht gesehen, daß Hamlet einer ist, der an der Welt leidet; wer sich vorwiegend an die Kriminalgeschichte hält, wie der schlaue Detektiv Hamlet einen Mord an den Tag bringt, von dem nur der Mörder und das Grab etwas wissen, der tut letztgiltig, was ich vorhin als etwas Vorläufiges und trotzdem in Scham getan habe: er hält sich nur an den Verlauf der äußern Vorgänge und läßt außer acht, was für dieses Drama bei weitem das Wesentlichste ist: die Gedanken, die Empfindungen, das ungeheure Leiden, das im Sprachlichen, in Hamlets und nicht nur Hamlets Worten zum Ausdruck kommt. Kein Zweifel, was Shakespeare gereizt hat, diesen barbarischen, ungefügen Stoff zu behandeln, war der verstellte Wahnsinn, von dem die Überlieferung berichtete und der in jeder Hinsicht neu zu motivieren und neu zu behandeln war; und indem er diesen angenommenen Wahnsinn in Verbindung brachte einmal mit den dämonischen Abgründen der Unterwelt und des wild Untermenschlichen der stinkenden Wollust, dann mit dem Weltschmerz so innig gewaltiger Art, daß ihn der Dutzendmensch für echten[S. 216] Wahnsinn hält, hat er diesem Stoff erst seinen ewigen Gehalt, dieser Gestalt erst ihre tragische und zugleich scharf polemische Prägung gegeben. Wahr ist auch, was Goethe gesehen hat, daß diese Passion Hamlets seltsame Übergänge hat zur Passivität, wiewohl nicht zu leugnen ist, daß Goethe in diesem Betracht nicht alles gewahrt hat und den mit stärksten Energien geladenen Dänenprinzen zu sehr vergoethet, vermeistert, verwerthert und veregmontet hat. Und überdies ist es am Ende gar zu einfach und traditionell gedacht, die Hamlet auferlegte blutige Rache als große Tat und seine Haltung zu ihr als Mangel an sinnlicher Stärke zu bezeichnen.
Wollen wir in diesem Punkt klar sehen, wollen wir mit Sicherheit erkennen, wie Hamlet empfindet, wie er denkt, ob er, wenn schon nicht der Rachetat, die der grimmige Vater als umgehendes Gespenst noch von ihm fordert, so doch dem Schicksal gewachsen ist; wie er zur Tat steht, was der Dichter mit ihm darstellt, was der Sinn dieser tragischen Gestalt ist, so ist das Eigentümliche, daß wir, ehe wir ihm selbst, seiner Haltung, seinen Unternehmungen, seinen Reden nähertreten, Winke, die diese Gestalt beleuchten, innerhalb der Dichtung auch von ganz andrer Seite erhalten. Es ist, ich habe schon darauf verwiesen, ein besondrer Zug, den diese Tragödie mit einigen andern Dichtungen Shakespeares gemein hat, daß auch von andern und in ganz andern Situationen Worte gesprochen werden, die plötzlich, blitzartig ein Licht auf den letzten Sinn der Dichtung und ihres Helden werfen.
Schon J. L. Klein und wiederum unabhängig von ihm Margarete Susman, auch sie in einem Zeitschriftaufsatz, der nicht verdient, verschollen zu gehn (Die Tat, 1915), der jedoch übrigens, wie Kleins Aufsatz, nicht in Shakespeares Dichtung bleibt, sondern gleichfalls neben seinem gewaltigen Werk, in seinem Licht und in seinem Schatten eine kleine Abstraktionsdichtung aufbaut, beide haben als[S. 217] solche Kernworte deutender Art ein paar Verse genannt, die in der Deklamation des Schauspielers vom rauhen Pyrrhus stehen. Die Verse gehören in der Tat zum Bedeutsamsten; nur haben sich Klein wie Susman, ohne aufs Original zurückzugreifen, Schlegel anvertraut, und haben so, durch eine falsche Übersetzung irregeführt, die ganze Bedeutung der Stelle nicht erkannt.
Pyrrhus in seiner Kriegs- und Zornwut will Priamus töten; der schwache Greis aber fällt schon, wie bloß das Schwert durch die Luft saust, zu Boden; in dem Augenblick stürzt krachend das brennende Ilium zusammen; in einem Moment empfindet Pyrrhus die ungeheure Gewalt des Schicksals, gegen die sein persönlicher Zornwille zu einer Winzigkeit zusammenschrumpft, da —
Like a neutral to his will and matter — keineswegs heißt das, wie Schlegel nur um des Versbaus willen sagt und Gundolf gleich andern Verbesserern achtlos stehen gelassen hat: „Und wie parteilos zwischen Kraft und Willen“. Wenden wir das Wort gleich auf Hamlet an, so findet sich ein so simpler Zwiespalt, daß er zwar die Tat will, aber unvermögend ist, sie auszuführen, wirklich nicht in ihm. Pyrrhus steht in dem Augenblick vielmehr gegen seinen eignen Willen und gegen seinen eigenen Gegenstand, gegen sein Objekt, seinen Zweck neutral; im Schwung bleibt ihm das Schwert wie festgehalten in der Luft stecken, und so ist er in diesem Augenblick nicht der Täter, nur das Bild, die Phantasiegestalt, das wie in die Unbeweglichkeit gebannte Gleichnis der Tat. In diesem sinnbildlichen Ausdruck haben wir das Verhältnis Hamlets zu seiner Aufgabe. Sowie es auf[S. 218] die Ausführung ankommt, steht er seiner eignen Sache wie ein Unbeteiligter gegenüber; er zerfällt in sich, mit sich, in zwei: in den Täter und den Betrachter, oder besser gesagt: in den, der eine auferlegte Tat zu vollbringen sich vorsetzt, und in den, der sie nicht in Wirklichkeit, sondern in der Phantasie vollendet.
Überaus erleuchtend für Hamlets innere Situation ist auch die ähnliche Lage, in die die gewaltige Ironie des Dichters Laërtes gegen Hamlet selbst versetzt. Hamlet hat den Tod seines Vaters an König Claudius zu rächen; Laërtes hat, im Bunde mit eben diesem König, den Tod seines Vaters an Hamlet zu rächen. Und zu ihm hat nun eben der König Claudius Worte zu sprechen, die uns ins Ohr gehen, als werde Hamlet ermuntert, seine Rache an diesem Sprecher selbst nicht durch Vorweggenießen, sondern durch die Tat zu befriedigen:
Es hat dem Dichter gefallen, diese Worte ungemeinen Tiefblicks König Claudius in den Mund zu geben — auf die Gefahr hin, daß Tieck oder sonst wer aus ihnen zu beweisen versuchte, ein solcher Denker könne kein brutaler Lüstling sein —, vor allem um der Ironie willen, die Shakespeares Weltleiden und Menschenhaß in diesem Stadium über alles wichtig war: beim Entwurf des Racheplans gegen Hamlet soll aus dem Munde des Unbedenklichen die Theorie der Tat ausgesprochen werden, gegen die der Phantasiemensch Hamlet in seinen Entwürfen eben gegen diesen Unbedenk[S. 219]lichen immerzu verstößt. Und wirklich ist es Hamlet, der die Qualität seines Willens so lange immerzu verbessert, bis der vollendete Wille daraus geworden ist, der Wille, der sich schwelgerisch in sich befriedigt und die Vorstellung der vollzogenen Tat schon in sich trägt.
Prinz Hamlet ist ein gefühlvoller, sinnender Jüngling, der für sich und die Welt Liebe braucht; seine Neigungen gehen auf Gelehrsamkeit und Philosophie; er war auf der Universität und will wieder hin; an Staatsangelegenheiten nimmt er nicht teil. So ist er von Haus aus in Gefahr, sich in der Welt einsam und elend zu fühlen; nun aber gar, wo der Vater, den er geliebt und verehrt hat, in fürchterlicher, abscheulicher Art plötzlich weggerafft wurde, in einer Art, daß ihn schlimme Ahnungen beschleichen; wo der Oheim, der Bruder des Vaters, aber in allem, auch in der leiblichen Erscheinung sein Widerspiel, die Krone aufsetzt und, das Unerträglichste von allem, seine geliebte, angebetete Mutter fast von der Leiche des Vaters weg zur Frau gewinnt! Daß Hamlet das als Blutschande in dreierlei Sinn empfindet, ist sicher; einmal, weil die Vorstellungen der Zeit eine solche Ehe der Witwe mit dem Schwager als lästerlich verpönen; dann, weil es ihn Verrat an der Liebe dünkt, so schnell aus dem Gedächtnis des Toten und dem Leid um ihn zur neuen Ehe, zur Hochzeit, zum Genuß zu schreiten; schließlich, weil ihm die Mutter beschmutzt und geschändet vorkommt, da sie das Lager dieses widerwärtigen Völlers und Lüstlings teilt. Sehr stark hat diese Situation Hamlets Strindberg zum Ausdruck gebracht; gewiß nimmt aus diesem unergründlichen Stück jeder das heraus, was seiner Natur gemäß ist; aber es ist nur in der Nuance unshakespearisch, wenn Strindberg sehr strindbergisch schreibt: „Er hat einen Stiefvater bekommen, und was ein Kind niemals in dem ehelichen Verhältnis bemerkt, das sieht selbst schon ein kleines Kind, wenn eine ‚Bastardehe‘ eingegangen wird: Hamlet empfindet die Erniedrigung seiner Mutter als Blutschande[S. 220] oder Unzucht...“ Sein ganzes Wesen, so schildert Strindberg in starkem Einleben Hamlets Zustand, sei in Empörung gebracht; seine Abstammung von den Ahnen sei unterbrochen, wie „von etwas Widernatürlichem, Mißgeburtartigem, Unreinem, das des Vaters Bild und die Majestät der Mutter besudelt“.
Was Hamlet das Leben an diesem Hof zur gräßlichen Pein macht, sind aber nicht bloß Gefühle, Vergleichungen dieser Art, sondern die wirklichen Äußerungen des Lebens, wie es nun an diesem Hof eingesetzt hat. Es ist, wie es der witzige König in seiner Mischung aus angenommener sentimentaler Süßlichkeit und Zynismus ausdrückt, „Leichenjubel und Hochzeitsklage“, ist überdies Wüstheit und Schlemmerei; ekelhaft in einen Sumpf zusammengepantscht sieht und hört der Jüngling, der nach reiner und stiller Umgebung lechzt, Trinkgelage, Schmäuse, rohes Lärmen, Feste der Üppigkeit und Bauchdienst jeder Art mit Kanonendonner und Kriegsrüstungen. Er, dessen Natur sich nach innen wendet, der mit auserlesenen Freunden oder in sanfter Liebe leben möchte, steht nun an diesem Hof, im Vaterhaus, in dem neuen Leben, das seine Mutter erwählt hat, als der einzige, der noch in Trauer geht, wie in einem Lager von Feinden. Seine Natur ist aber nicht so, daß er ein Wehrloser in Depression stünde; da er mit dieser Feindeswelt umgehen muß, braucht er die Waffe, die sein ist: den Geist, der sehr aktiv, aggressiv, polemisch wird, sowie man ihn mit Eingriffen der Gewöhnlichkeit oder Niedertracht aus seiner Versunkenheit reißen will, welche nur wie eine Schicht ist, unter der die Qual, das Bohren, das Fragen und Suchen in wilder Arbeit steht. So ist er nach außen abwechselnd milde, sanft, nachgiebig, abwesend und dann wieder heftig, scharf, böse. Was wirklich in ihm lebt, sein wahrhaftes Wesen und seine Situation, kann er, solange er nicht zu Horatio als einem echten Menschen und Freunde Vertrauen gefaßt hat, fast nur in der Auseinandersetzung mit sich selbst, die uns als[S. 221] Monolog gegeben wird, äußern. So ist es, noch ehe sein Vater wiederkehrt; noch ehe den Empfindsamen, Verletzlichen die fürchterlichste Botschaft aus der Unterwelt erreicht, die Nachricht von der Ermordung des Vaters, die der Tote ihm selbst bringt, die Nachricht, daß der Vater in der Unterwelt in aller Eindringlichkeit des Leibhaften die Höllenqual erleidet, die unterirdisch auch in der Seele des Sohnes tobt. Noch ehe all das zu ihm gesprochen hat, ist schier unerträglicher Weltschmerz in Hamlet; was er erlebt, ist ihm ein Beispiel des Zustands dieser Welt; leidenschaftlich äußert sich, sowie er mit sich allein ist, sein Abscheu vor dieser Welt, wie sie ist; er sehnt sich, ein geisterhaftes Wesen in ätherischer Sphäre, nur kein Mensch unter Menschen zu sein; er sinnt zum Selbstmord hin. Wie muß diesen Menschen in dieser Verfassung und Situation die Nachricht treffen, die Kunde vom Mord, die ihm auch eine entsetzliche Kunde von seiner Mutter ist; die Kunde, wie die Schmach, der Schmutz, die Qual dieser Welt mit dem Leben nicht zu Ende ist; wie die Seele, die hier nicht Stille und Frieden fand, drüben im Wirbel des Entsetzens weiter gedreht und geschleudert wird.
Dies Weiterleben des Ermordeten im höllischen Fegefeuer, die für Auserwählte sichtbare Wiederkehr des Gespenstes und seine Unterredung mit dem Sohn hat man als entsetzenvolle Wirklichkeit zu nehmen; und den möchte ich sehen, der so kühl und überzeugt Leben und Bewußtheit nur als eine Funktion einer bestimmten Formation von Stoffteilchen nimmt, daß er nicht mehr imstande ist, das Grauen vor dem Leben im Tod zugleich mit dem vor dem Tod im Leben, wie sie alle beide in diesem Stück ineinander verschlungen sind, zu empfinden. Mit diesem ihrem unlöslichen Bestandteil ist die Hamlet-Tragödie zur Dichtung einer Weltstimmung geworden, die mit dem Christentum in die Welt gekommen ist; und gerade daß Hamlet und Horatio wie ihr Dichter dazu noch im Rationalismus stehen, daß sie wie von[S. 222] etwas Ungeglaubtem, Unerhörtem durch die unmittelbare Gewalt der Sinnenwahrnehmung überwältigt werden, das hebt diese Szenen über alles Dogmatische und Abergläubische und weckt uns zu einer zugleich erhabenen und intim vertrauten Bangigkeit vor dem Ewigen, die wir so nicht bei Sophokles und nicht bei Michelangelo und nicht bei Rembrandt, und in dieser Art auch nicht bei den Dämonen der gotischen Plastik und bei Grünewald empfinden. Diese Stimmung Shakespeares, wie sie auch Claudio in Maß für Maß zum Ausdruck bringt,
diese Stimmung inmitten einer starken, gefaßten, vor keiner Ergründung zurückschreckenden, tapfer suchenden Vernunft ist ein Vermächtnis leidenschaftlicher und leidender Weltinnigkeit, das durch Shakespeare hindurch von der christlichen Ära mit lebendiger Gewalt zum Zeitalter der Wissenschaften gegangen ist.
Immer ist es bewundert und von Lessing in edel schmerzlichem Neid aufgezeigt worden, mit welcher Kunst diese Szenen gebaut sind, mit einer Kunst, wie sie nur dem innigsten und mächtigsten Gefühl für die unsägliche Tragik des ewigkeitsbewußten Tieres, das Mensch heißt, gegeben ist. Ein freier Raum, Nacht unter dem unendlichen Himmel, damit beginnt das Stück. Schildwachen lösen sich ab; genau zur Stunde, eben schlägt es zwölf Uhr. Aus den Worten, die erst gewechselt werden, dringt die Kälte dieser Nacht auf uns ein; es fröstelt uns; und das fortwährende Halt!- und Wer da?-Rufen versetzt uns in die unheimliche Stille, die ohne das walten würde. Und dann beginnt das Gespräch von dem Ding, das erschienen ist; wir hören das[S. 223] Pah des ungläubigen Rationalisten; einer, der dabei gewesen, fängt an zu erzählen, wie er’s gesehen hat, da kommt das Gespenst, sichtbar für die drei Menschen auf der Bühne, und wir sehen, wie es sich still, würdig, menschlich dahinbewegt, und wie der Rationalist den verehrten König erkennt. Und dann, wie es wieder kommt, der gewalttätige Versuch der Soldaten, die sich zur Tapferkeit gewohnt kriegerischer Art zwingen, die Erscheinung festzuhalten, und Horatios feierliche Beschwörung: das Gespenst geht schweigend weiter; und nun kräht der Hahn und es ist weg. Dieses Allerseltsamste erfährt Hamlet, nachdem wir ihn in seiner Haltung am Hof, zur Mutter, zum Oheim-Stiefvater gesehen, nachdem wir den Ausbruch seiner Qual, seine Sehnsucht, ein Geist, kein Mensch zu sein oder die Pforten des Todes frei öffnen zu dürfen, mitangehört haben. Welche Exposition ist das! Wie erlaubt sich da die Innigkeit den kühnen Griff und stellt souveräne Kunst in ihren Dienst! Und von vornherein bekommen wir das Gefühl, aus Hamlets Worten wie aus dieser Situation, daß hier die Enge einer barbarischen äußeren Handlung zum Kampfplatz des Geistes mit der triebhaft gemeinen Welt, der Seelenreinheit mit Gierschmutz und Klugheitsberechnung erweitert wird; und daß dieses Ringen des Geistes nicht nur mit allem Fratzenhaften der Tiermenschheit, sondern in rastloser Jagd „rund um die schwebende Weltkugel“, in der Unendlichkeit kosmischer Qual vor uns gestellt werden soll.
Ehe Hamlet sich nun in der folgenden Nacht dem Geist in den Weg stellt, wird in Anwendung der Technik, die Shakespeare bei reichverzweigter Handlung regelmäßig anwendet, erst noch ein neues Motiv angeschlagen. Wir erfahren in dem Gespräch Opheliens erst mit ihrem Bruder, dann mit ihrem Vater, von der aufkeimenden Liebe zwischen ihr und Hamlet. In dieser Zeit, wo er so maßlos einsam und elend war, hat er dem lieben, sanften, weichen Mädchen von seiner Neigung gesprochen und hat auch glauben dürfen, daß sie[S. 224] seine Liebe erwidere. Uns wird bange, wenn wir miterleben, wie das folgsame Kind dem Vater verspricht, seinem Befehl zu gehorchen und jeden Verkehr mit dem Prinzen abzubrechen. Die beiden Kinder, Laërtes wie Ophelia, sehen zu dem alten Polonius, ihrem Vater, mit einer Art kleinbürgerlicher Ehrerbietung auf. Er zeigt Welterfahrung, Klugheit, hat die allgemeinen Maximen rechter Lebensführung am Schnürchen und dazu eine humoristische, zwischen Güte und Heftigkeit polternde patriarchalisch befehlende Überlegenheit; es wundert uns nicht, daß die junge Brut in Kindesliebe fügsam ist. Und es wundert uns nicht, daß so eine stille, bald etwas gedrückte, bald herzhaft heitere Natur wie Ophelia den Prinzen in dieser Zeit, wo ihm der Vater durch schaurigen Tod, die Mutter in schaurigem Leben genommen wurde, anziehen mußte wie eine liebliche Gewähr, daß die Welt nicht ohne Seele ist. Auch das also soll, ohne daß er’s noch ahnt, dem Gequälten genommen werden, der sich nach einer duftigen, rein geistigen Welt sehnt und der, das Herz voll dumpfer Ahnung, nun in die kalte Winternacht schreitet, um dem Boten aus der Geisterwelt zu begegnen, der das Gespenst seines eignen Vaters sein soll.
Schon in der ersten Szene war im Anschluß an die Erscheinung eines heldischen und höchstverehrten Mannes, des Königs, als Dämon aus der Unterwelt von den Zuständen in Dänemark und der schlimmen Vorbedeutung für eine große Gärung und Schicksalswendung gesprochen worden. Jetzt, wo Hamlet in der nächsten Nacht auf das Gespenst wartet, knüpft das Gespräch an die Kanonenschüsse und Trompetenstöße an, die bei dem wüsten nächtlichen Gelage des jetzigen Königs seine Trinksprüche begleiten und die man von der Terrasse aus hört. Hamlet wird lebhaft, gebraucht starke Worte gegen dieses wilde, unvernünftige Treiben; kommt von da in eine Betrachtung allgemeiner Art; verwickelt sich in einen langen Satz, dem seine und unsre[S. 225] ganze Aufmerksamkeit gilt, — und in diesem Augenblick erscheint der Geist. Bei dieser Begegnung, wo er in der gepanzerten Gestalt, hinter dem offenen Visier Zug um Zug seinen edlen Vater erkennt, zeigt sich Hamlets Geistigkeit von einer neuen Seite: er ist tapfer. In der besondern Art tapfer, die mit kriegerischem, soldatischem Wesen, mit Bravour und harter Gewöhnung nichts zu tun hat. Wenn von jenseits der Grenzen der Natur ein dämonisches Wesen, das eine Teufelsmacht sein kann, uns winkt, darf auch den Mutigen Furcht ankommen, und so warnt Horatio den Prinzen geradezu vor dem Wahnsinn, in den dieses Gespenst, wenn er ihm folgt, ihn hineintreiben kann. Hamlet aber fühlt, daß hier ein Außerordentliches in sein Leben getreten ist, das sein Schicksal sein soll: dem will er sich stellen. Am Leben in dieser Sterblichkeit liegt ihm nichts; es ruft ihn aus der Ewigkeit; nun, das Ewige, das da von außen zu ihm getreten ist, weiß er auch in sich. Von der gestaltenden Phantasie her —
ruft Horatio aus — steigt freudige Kraft und Entschlossenheit in ihm auf.
In diese Welt der Niedrigkeit hat er nicht gepaßt. Der Ekel, der ihn bei den letzten Ereignissen erfüllte, die gräßliche Enttäuschung, die er an seiner eignen geliebten Mutter erlebte, war doch nur die äußerste Erfüllung dessen gewesen, was er von dieser Welt erwartete. Es gab da keine Stellung, keinen Beruf, keine Aufgabe für ihn. Von all den kriegerischen Vorbereitungen, die er um sich sah, hatte er sich ohne Teilnahme, ja, mit Widerwillen abgewandt; all das war ihm hineingeflochten in ein Treiben der Würdelosigkeit und des Taumels. Jetzt kommt die geistige Welt und bringt ihm Schicksal und Aufgabe. Aber in welcher Entsetzensgestalt! Welche Mission! Er wird nicht hinausgehoben aus der Wüstheit in irgendeine Sphäre der Reinheit, sondern die Wüstheit in ihrem ganzen Graus, wie sie[S. 226] ihn aufs nächste umgibt und angeht wird ihm gezeigt, auf daß er sie bekämpfe! Das von nun an sein Amt, dazu ruft ihn der Bote aus der Geisterwelt, sein eigner Vater auf: die ermordete, vergiftete Reinheit soll er an der Schnödigkeit rächen. Denn so nimmt er’s sofort: es gibt für ihn nichts Besonderes, für sich Stehendes, Privates; geht es um Dinge des Einzellebens, des Interesses, des Gewinns und Genusses, so ist er wie gelähmt; Kraft hat er nur von seinem schöpferischen Phantasiedenken her: im einzelnen muß er das Allgemeine erfassen. So wird denn sofort dies Erlebnis, das eine bestimmte, vereinzelte Tat von ihm fordert, von ihm gestaltet, ausgestaltet, geweitet; dieses Einzelne gilt ihm nur als Symbol für das Ganze. Notiert, aufgeschrieben muß es werden, damit es nie wieder vergessen wird,
Warum aber ihm gerade diese Verstrickung, dieses Schicksal, diese Aufgabe? Nicht, sich abwenden zu dürfen und irgendwo in Stille ein Leben der Reinheit und Betrachtung zu führen, sondern kühn in die Mitte des geilen Frevels greifen zu müssen und den Krieg gegen Schmutz und Ruchlosigkeit zu führen?
Er übernimmt, wozu ihn der Geist beruft; noch ehe er weiß, was geschehen ist, kommt der Entschluß und das Gelöbnis der Rache aus ihm heraus; daran will er sich nun halten, daß das sein letztes, sein einziges Geschäft hier auf Erden ist; aber er empfindet es als Fluch, daß diese greuliche Bestimmung gerade ihn traf. Er nimmt den Ruf ganz heroisch, ganz geistig, ganz phantastisch; nichts weiter soll für ihn mehr leben als diese eine Aufgabe, die er aber für etwas Totales, Riesenhaftes, Allumfassendes, endgültig Entscheidendes nimmt. Wie Philosophen und Mystiker wohl ge[S. 227]sagt haben, daß, wenn man ein Ding, und wär’s das kleinste, ganz erkennte, man damit die Welt erfaßte, und wie sie auch gesagt haben, daß das wahre Erkennen ein Tun sei und daß, wer Ein Ding recht täte, damit im Ewigen stünde, so träumt Hamlet vom ersten Augenblick an — und nur dadurch hat die Rachetat für ihn einen Sinn —, daß er diese eine Tat so vollendet, so repräsentativ tun müsse, wie eine Opfertat eines einzelnen die ganze Welt erlöst. Er nimmt diese Tat wie die eines Herkules, der mit ihr zum Christus der Menschheit, zum Reiniger der Welt würde — er, der sich bekannt hat, daß er sich für alles eher als für einen Herkules hält!
Sein Amt, er weiß es sofort nach dieser Begegnung mit dem Jenseits, verlangt die entschlossene, keinen Ekel scheuende Rückkehr aus der Abgewandtheit zur Erde und ihren Bedingungen. Das Verbrechen muß festgestellt, der Verbrecher muß gestellt, aus seinem Versteck hervorgeholt, das Geheimnis muß offenbar werden. Es ist ein Kennzeichen der einen Seite seines Wesens, wie sofort nach der Unterredung mit dem Geist der für jeden andern seltsamste, für ihn gefährlich natürliche und lockende Entschluß da ist: heisa, nun hat er sich wahnsinnig zu stellen! Was Wahrheit ist, daß er der Welt fremd, hassend, verachtend, polemisch, wütend, grimmig gegenübersteht, das soll nun in einer Verwandlung und Verstellung, die gar nicht so arg viel dazu tun und davon nehmen muß, seiner Aufgabe dienen, soll planvoll angewandt werden: wie wenig in der Tat muß er an absichtlicher Groteske und metaphorischer Ausdrucksweise dazu tun, um mit dem Ausdruck seiner wahren Meinung in dieser Welt für verrückt zu gelten!
Ausgezeichnet klärt uns wieder Strindberg, der selbst dieses tragische, groteske Verhältnis zur Welt gehabt hat und zwischen Genie und Wahnsinn gestanden ist, darüber auf, warum Shakespeares Hamlet sich wahnsinnig stellt, wozu diese Maske ihm dienen soll: „Die Erfahrung“, sagt er,[S. 228] „hat nämlich gezeigt: sobald ein Mensch als verrückt gilt, erfährt er die Geheimnisse aller Menschen. Weil sie glauben, er verstehe nichts, kommen sie in Scharen und entblößen sich bis zur Nacktheit, zeigen, ohne es zu wollen, alle ihre Gebrechen und Laster.“ Auch hier bleibt Strindberg gewiß nicht im Shakespearischen, dichtet aus eigner Kraßheit heraus selbständig weiter; aber gerade damit kommen wir dem zentralen Punkt, wo Hamlet in Shakespeare, wo der Wahnsinn, den Hamlet spielt, mit dem er spielt, in seinem Geist und seiner Stellung zu den Menschen verwurzelt ist, intim nahe. Indem Hamlet sich entschließt, kühn, zugreifend, forschend dem Mörder ganz nahe zu treten, hüllt er sich in den Mantel der Fremdheit, wie um sich nicht zu beschmutzen, um darunter er selbst zu sein; um sein Geheimnis nicht preiszugeben; um das Geheimnis des Feindes herauszulocken. Und überdies kann der Wahnsinnige ungestraft, ohne daß es auffällt und ernst genommen wird, sagen, was er will, kann Anspielungen machen und dabei beobachten.
Zu derselben Zeit, wo Hamlet vom dämonischen Jenseits her sein großes, furchtbares Schicksal empfängt, wird ihm in der kleineren, näheren Sphäre irdisch-menschlicher Innigkeit das Geschick, an dem seine Sehnsucht und Liebe so zart und zag gebaut hatte, schmerzlich, unbegreiflich, nur allzu begreiflich genommen: als gehorsame Tochter bricht Ophelia mit ihm, gibt ihm die Briefe zurück, in denen es seiner scheuen Neigung leichter gefallen war sich zu äußern als im persönlichen Verkehr, und verweigert ihm die Stunden stillen Beisammenseins, die sie in letzter Zeit manchmal gehabt hatten. Nur allzu begreiflich! Das ist ihm die Probe aufs Exempel Weib; nichts kann seiner Verallgemeinerung bessere, schmerzlicher brennende Nahrung bieten: wie die Mutter, so die Geliebte — weil sie alle so sind, die Weiber! Wie er dann Ophelia bald nachher begegnet, ist alles beisammen: seine zertrümmerte Liebe — sein Leid — seine[S. 229] Verachtung gegen sie — sein Unglaube an Frauenreinheit überhaupt — das ist auch so eine, das ist ein Weib! — sein Weltschmerz — seine Stimmung gegen die Mutter, gegen ihren Mann, den Brudermörder — sein geheimes, unsägliches Widerstreben gegen die Rolle, gegen das Eingreifen, gegen die Tat, die ihm auferlegt ist — und sein Plan, der ihm erlaubt und befiehlt zu tun, wonach seine Verzweiflung lechzt: sich wahnsinnig zu gebärden. So haben wir denn in dieser Begegnung eine der großen, ganz innigen, erschütternden Shakespeareszenen: und um diese Innigkeit noch leiser, raunender zu machen, sie von aller Wirklichkeitsroheit und Sinnenbeschränkung zu entfernen, sie aus dem Diesseits vergänglicher Bewegung ins Ewige des Geistes zu heben, hat der Dichter dieses wehvolle Bild nicht als Aktion, sondern als Sprachgebilde gebracht. Wir haben diese Szene in Opheliens Erzählung; und haben so tiefer ergreifend, als wenn wir dabei wären, die Gewißheit, wie schrecklich Hamlet sich irrt, wie rein und hold die ist, die sich liebend von ihm und vom Glück zurückgezogen hat:
Man wird mitfühlen, daß diese stumme Szene, deren Wesentliches eine Haltung und ein unsäglich tiefer Seufzer ist, nicht als Bühnenvorgang gebracht werden konnte; man wird Shakespeares Innerlichkeit kennen lernen, wenn man sich in seine produktive Stunde, in seine Konzeption hineinversetzt und gewahrt, wie er aus einer Fülle dramatischer Möglichkeiten für Hamlets Begegnung mit Ophelia nichts andres haben wollte als dieses in Sprache und nichts als Sprache gestellte stumme Bild.
Der Mann, der so für sich mit dem Wahnsinn spielt und für andre den Wahnsinnigen spielt, ist in keinem Augenblick wirklich wahnsinnig. Freilich, nimmt man den Wahnsinn ganz und gar als eine Relation zur Umwelt, sagt man in Variation eines Hamletworts: An sich ist keiner vernünftig oder wahnsinnig, erst unsre Betrachtung macht ihn dazu — so kann sich Hamlets Publikum zu Shakespeares Publikum erweitern, und dann geht es so ähnlich wie bei Lichtenberg mit dem Buch und dem Kopf — dann ist Hamlet wahnsinnig. In seinem wahren Zustand sehen wir ihn in den Selbstgesprächen, in den Unterredungen mit Horatio, den er in alles einweiht, in den Gesprächen mit den Schauspielern, in dem großen Gespräch mit der Mutter, am Grab Opheliens und am Schluß, in dem darauf folgenden Kampf mit Laërtes, und in seinem Ende.
Er ist ein an der Welt leidender und immer wieder spontan gegen Unrecht und Gemeinheit, vor allem gegen die kriecherisch verlogene, geduckte, liebedienerische Mittelmäßigkeit und talentvolle Seichtigkeit anspringender Phantasiemensch; er verallgemeinert schrankenlos, leidenschaftlich, wie es die intuitiven, impulsiven, Reinheit und Totalität begehrenden Menschen dieser Art tun — „ein Fall gilt ihm für tausend“ — er hat den Drang und die Gabe, sein tragisches Erlebnis mit der Welt im Wortbild zu formen; und ein Mann dieser Art soll nun mit seinem Instrument der Vernunft, das ihm zu Stillem, Reinem, Betrachtendem, Ordnendem gegeben[S. 231] ist, einen Racheplan entwerfen, soll den Übergang finden vom langsamen Überlegen zum Tun, von der Innerlichkeit zur Tat, wo er doch grenzenloses Mißtrauen gegen alles und alle hat, wo er sicher ist, endgültige Erfahrungen mit den Menschen gemacht zu haben, Grund zu haben, die Natur der Menschen zu verachten; sich selbst und das Erbe in seinem Blut nicht ausgenommen. Die Enttäuschung, die einer verzweifelten Erwartung entsprach, wie sie ihm die Mutter und Ophelia zumal gebracht haben, kann in ihm keinerlei Selbstzufriedenheit, Selbstgerechtigkeit wecken. Zu nichts hat er weniger Anlage; der Riß, der durch die Welt geht, fährt schneidend durch ihn selber hindurch. Wir dürfen glauben, daß er, auch ohne daß Ophelia sich von ihm zurückgezogen hätte, in der seltsamen Mischung von Verzweiflung und Wahnsinnsverstellung dem Liebesbund ein schroffes Ende gemacht hätte; er muß allein auf sich gestellt sein, an niemanden und nichts gebunden; auf sich gestellt — was für eine zweifelhafte, brüchige Stellung ihm das ist!
Kriechen zwischen Himmel und Erde, in dies feste Fleisch gebannt, in die Tierheit; und nun das Wunder der Wunder gekommen ist und die Welt des Jenseits sich ihm aufgetan hat: da ist die Hölle gekommen, die seinen Vater und mit ihm die ganze Welt in sich einsperrt, und hat ihm diese Höllenaufgabe gesandt. Daß er da, bei diesem zerreißenden Widerspruch, immer wieder in bäumende Erregung gerät, daß er nach der Umnachtung und der Bewußtlosigkeit leidenschaftlich begehrt, daß er damit spielt wie mit dem freiwilligen Tod, ist wahr, und es wäre ein Wunder, wenn es nicht so wäre; aber die Grenze zu überschreiten gelingt ihm nicht. Sein Geist ist zu stark, zu gestaltend, zu schöpferisch dazu.
Er hat eine so umfängliche Natur, und wir gewahren so gut, wie er ohne diesen Gegensatz zu einer niederträchtigen[S. 232] Welt, die ihn zu Hitze und Schärfe reizt, wäre, daß wir sagen dürfen: dieser seiner ursprünglichen Natur nach wäre er gut, geruhig, sanft, betrachtend, überlegend und in heitrer Stille überlegen; wir merken es an manchem freundlichen Wort zur lieben Mutter, an der Art, wie er zum harmlosen Plaudern geneigt ist, an seinem Verkehr mit Horatio dem Freund, mit den Schulkameraden, und vor allem an der Unterweisung, die er den Schauspielern gibt. Das wäre so sein Gebiet gewesen, alles Leben nicht in der Reaktion gegen die Menschen zu verbrauchen, sondern abseits der Menschen und damit gerade für sie in die Maske zu werfen; aber das Schicksal gönnt ihm diesen Schauplatz nicht; und so muß Hamlet als Geist, wie sein Vater auf der Terrasse seines Schlosses, so er auf den Bühnen aller Länder und Zeiten umgehn und wird noch lange keine Erlösung finden, weil die Zustände, die ihm Glück und Seelenfrieden und wahre Bestimmung und Leben geraubt haben, heute noch sind wie damals, — wo Hamlet unter Menschen die Maske des Wahnsinns und Shakespeare die Maske Hamlets annehmen mußte.
Es ist ungeheuer, wie Hamlet keinen Augenblick aus der Handlung heraustritt, wie vielmehr ihr langsamer, träger Verlauf in der Mitte des Stückes ganz auf sein Wesen zurückgeht, und wie uns dabei doch in den Szenen, in denen er am Hof den Tollen spielt, fast die Erinnerung verlorengeht, daß er’s mit König Claudius und seinen Kreaturen zu tun hat: so sehr spüren wir seine stachligen, geißelnden Reden an uns, an unsre äußern und innern Zustände gerichtet. Was sagt er alles in der Maske des Wahnsinns, was sagt Shakespeare in der Maske des tollen Hamlet den Großen, dem Hof, den Frauen, der innersten Menschennatur, der Welt! So hat sich Goethe seines Teufels bedient, um seine Bosheit anzubringen, so hat er jahrzehntelang ab und zu damit gespielt, aus den Szenen, wo Mephisto am kaiserlichen Hof ist, ein fürchterliches Pasquill zu machen;[S. 233] und wohl ist er witzig und bissig und steigt hie und da bis zu dämonischer Kraft; aber die erhabene Stärke, die Shakespeare aus der innig unlöslichen Verbindung der Polemik mit der Aktion, mit der Tragik des Menschlichen zuströmt, kann Goethes im Vergleich mit ihm gefaßte Art niemals erreichen.
Am feinsten — ganz wunderbar — sehen wir den Übergang von der Ekstase des Gequälten, die sich im Umgang gern fast menschenfreundlich hinter geistreichem Witz verbirgt, zum verstellten Wahnsinn in den Gesprächen mit Rosenkranz und Güldenstern, denen er zunächst als Jugendfreunden vertraut; dann stellt er sie, schon bedenklich geworden, doch noch in Gegensatz zur Welt der Feinde, weil sie offen bekennen, daß man sie zu ihm geschickt hat, um ihn auszuhorchen, bis er merkt: sie sind Höflinge und Lügner wie die andern, und sich gegen ihre Wanzenhaftigkeit und Beschnüffelung in die Tollheit zurückzieht.
Das Eigene an diesen Szenen, die ja doch gräßlichen Frevel und heroische Pläne und innigste Seelenqualen zur Voraussetzung haben, ist ihre kraftvolle Lustigkeit. Rosenkranz, Güldenstern, Polonius, Osrik sind lauter Instrumente, auf denen Hamlets Witz spielt. In seinem Verteidigungskampf gegen die zudringende Welt ist er durchaus aggressiv, seine Waffe ist der Geist, und, so sehr hinter all seiner Haltung das Leid steckt, so anders sein Gesicht und sein Ton wird, sowie er mit sich allein ist, so kommt doch nie etwas Schwächliches oder Wehleidiges aus ihm heraus. Es will uns beinahe natürlich dünken, daß er in diesen Witzkämpfen ein immer älteres, reiferes, überlegneres Gesicht bekommt. Nichts Krankhaftes, nichts von Verfall oder Entartung ist in ihm; seine abnorme Stellung zur Welt ist völlig sozialer, gar nicht organischer Art, kommt von der Beziehung seiner in Zartheit und Feinheit sehr gesunden Natur zu einer in Niedrigkeit gesunkenen Umwelt, keineswegs von einer aus dem Gleichgewicht geratenen Beziehung seiner Organe und[S. 234] Funktionen zu einander. Wäre diese Gesundheit nicht, er müßte wahnsinnig werden, wie es Horatio für ihn befürchtet hatte; so kann er sich mit der Sicherheit in die Tollheit begeben, jederzeit wieder freien Geistes aus ihr heraustreten zu können.
Was tut er nun in dieser Maske? Was gelingt ihm? Wie fördert er seine Rache? Wenn der zweite Akt beginnt, wo wir von seiner Tollheit zuerst in Opheliens Bericht hören und ihn dann selbst im Umgang mit Polonius und Rosenkranz und Güldenstern sehen, geht er in dieser Verfassung schon etliche Zeit herum, bis ihm die Schauspieler in den Weg laufen. Er muß inzwischen viel mit Horatio verkehrt haben, denn er hat ganzes Vertrauen zu ihm gefaßt und ihn in alles eingeweiht. Nun erwacht er wie aus einem bleiernen Schlaf, und wieder geht es blitzschnell in ihm zu. Sowie er den leidenschaftlichen Vortrag des Schauspielers vom Untergang Trojas, von Priamus’ Tod und Hekubas Jammer gehört, sowie er gesehen hat, daß dieses Gedicht, die Erregung, die Tränen des Sprachkünstlers selbst den alten phantasielosen, dürren Klugschützen Polonius ergriffen haben, kommt sein Plan vom Fleck, kommt zugleich aber auch die furchtbare Selbstanklage, daß er noch nichts für seine Rache getan hat. Im Stil des Gedichts, das er eben gehört, redet er nun mit sich selbst: leidenschaftlich, bilderreich, in immer sich steigernden Ausrufen, Beschwörungen, Beschimpfungen. Er will es bei sich durchsetzen, daß er in Wut, in Aktion gerät; er stellt sich die ganze Scheußlichkeit des Mörders vor Augen, um dann rasch seinen Grimm zu unterbrechen und sich selbst zu verhöhnen: wieder macht er ja nichts als Worte; wieder dichtet er einen Zusammenhang von Untat und Rache zusammen; wieder weiß er nicht zu handeln. Und in der Tat: wir wissen ja, wie vorhin der Plan fix und fertig vor ihm stand, gleich morgen abend vor dem König ein Theaterstückchen aufzuführen, das er kennt, dem er noch etwas mit besonders deutlichen Anspielungen[S. 235] hinzudichten will: jetzt, während er sich in gestaltende Phantasie hineinheizt und wild mit sich und mit dem Mörder zugleich in eine Kampfaktion tritt, ist es uns so, als sei etwas in ihm schon dabei, die Verse zu dichten, die morgen abend gesprochen werden sollen. Wir wissen von andern Gelegenheiten her, wie mühelos er improvisieren kann.
Wie wir ihn am Tag darauf wiedersehen, ist die Einladung an den König, der Vorstellung in den Gemächern des Prinzen Hamlet beizuwohnen, schon ergangen. Hamlet selbst aber ist von der Erregung, die ihn in seine Aufgabe gestachelt hat, schon wieder ganz ins Allgemeine vorgedrungen. Tat und Tod, die Freiheitstat, die die Welt vom Usurpator, vom Frevler, vom Tyrannen befreit, und der Freitod, der den an der Welt Leidenden vom Leben befreit, fließen ihm in eins zusammen. Seine Betrachtung „Sein oder Nichtsein“ ist so ganz ins Allgemeine gerückt, knüpft so gar nicht an sein persönliches Schicksal und seine besondere Aufgabe an, daß, wenn ein Forscher die Behauptung ausspräche, dies Stück sei von anderswoher unter Shakespeares Papieren gelegen und er hätte es hier eingefügt, weil es in der allgemeinen Grundstimmung paßte, keine Widerlegung aus dem Wortlaut möglich wäre. Nichts von allem, was Hamlet sich vorhält, um sich das schwere Leben und den schweren Tod zu vergegenwärtigen, löst Assoziationen aus seinen besonderen Verhältnissen aus, die jedem, der nicht so ins Allgemeine gebannt wäre, überaus naheliegen müßten. Er spricht von dem Tyrannen, dem Unrecht, dem Übermut, der Unterdrückung; er spricht nicht von König Claudius. Er sinnt über die Pein verschmähter Liebe; kein Wort erinnert an Ophelia. Er gedenkt mit Gram dessen, was des Menschen nach dem Tode harrt, der Träume, die im Schlaf kommen: er illustriert sich das nicht mit dem entsetzlichen Bericht des eignen Vaters aus der Unterwelt; ja, er kann die Worte von dem unentdeckten Land sprechen, aus des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt, ohne daß es ihn[S. 236] schaudernd überläuft, da ihm vor kurzem doch einer wiedergekehrt ist und ihm sein Schicksal gebracht hat. Restlose Allgemeinheit herrscht in der Betrachtung; und wenn es wirklich so wäre, daß es sich um eine Einlage handelte, so wäre dieser Zug dennoch auf Hamlets Wesen zurückzuführen; Shakespeare hat gewußt, was er tat.
Nicht dies einzige Mal treffen wir dieses echteste, dieses religiose Zeichen des Adels bei einer seiner Gestalten, daß der Mensch da, wo sein eigenes Leiden zum Höchsten steigt, gerade nicht mehr an sich, sondern ans Ganze denkt und fürs Ganze, zumal für die Unterdrückten und Beraubten leidet: Romeo zeigt sich so, nachdem mit der Nachricht von Juliens Tod sein Schicksal besiegelt ist, in dem Gespräch mit dem Apotheker; König Lear in Wettersturm, Verlassenheit und Verzweiflung findet von sich selbst zur Menschengesellschaft.
Derselbe Hamlet, der mit der größten Kühnheit die Grenze des Irdischen überschritten hat, der in der Impetuosität des Augenblicks immer sofort bereit ist, jeden Gegner herauszufordern und das Leben dran zu wagen, gesteht sich jetzt, was auch ihn feige zur Tat und zum Tod macht. Das Denken ist es, das Bewußtsein; nicht bloß das Gewissen, wie Schlegel ungenügend übersetzt hat.
Mehr ein Nichtwissen freilich als ein Wissen macht uns träge und tatlos: wir wissen nicht, was jenseits des Grabes an Schrecknissen, an Fortsetzung unser wartet; drum dulden wir die Untaten der Menschen und ihre Einrichtungen des Unrechts und der Vergewaltigung.
Wie wir’s aber immer bei Shakespeares Gestalten treffen, kann selbst Hamlet — kann oder will Shakespeare? — die an besondre Stimmung und Situation gebundene Reflexion nicht zu ihrer abstrakten Form ins ganz Allgemeine erheben. Den letzten Sinn der Gestalten und Handlungen spricht Shakespeare nie sentenziös in Sätzen aus; vermöchte[S. 237] er es, sich mit dem zu begnügen, was die deduzierende, formulierende Sprache hergibt, so hätte er keine Gestalten zu schaffen, keine Dramen zu dichten gebraucht. Wir, durch Hamlets Gestalt und Gesamterlebnis, wissen, daß Bewußtheit und Nicht-tun, Denken und Unvermögen zur Gewalttat, Geist und Gewissen noch durch eine tiefre Verknüpftheit miteinander verbunden sind als durch die heiligste Scheu vor dem Ewigen; von diesem Verhältnis aber spricht Hamlet nicht; er lebt es und stirbt es.
In seiner Stimmung der allgemeinen Trauer, des allgemeinen Abscheus ist er auch noch in dem Gespräch mit Ophelia, das unmittelbar folgt. Mit welcher Wollust redet er da zu dem Geschöpf im Wahnsinnston, das ihm der Typus der Falschheit ist; wie schleudert er ihr seine Verachtung alles Geschlechtlichen ins Gesicht! Wie springt aber auch mit ungemeiner Federkraft plötzlich die Entschlossenheit heraus, sowie ein rascher Einfall ihn an den König erinnert. Er ist ganz im Thema Mann und Weib; ganz im allgemeinen, ganz in der Wahnsinnsrolle, hinter der sich doch der Sinn seines Schicksals birgt; er gebärdet sich wie ein Racheengel, der das Amt hat, keinem Menschen mehr die Ehe zu gestatten, im übrigen gegen die schon Verehelichten milde Duldung zu üben; und wie er nun grimmig ruft:
Ich sage, wir wollen nichts mehr vom Heiraten wissen; wer schon verheiratet ist ... soll das Leben behalten; die übrigen sollen bleiben, wie sie sind,
da fällt ihm mit einemmal bei diesen Worten: „Wer schon verheiratet ist“, all sein Persönliches ein, seine Mutter und ihre entsetzliche Ehe mit dem Mörder ihres Mannes, und wie im Raubtiersprung fahren ihm die Worte dazwischen:
Einer lebt, der soll nicht mehr lange das Leben behalten; der ist verurteilt. Und dieser eine hört diese Worte, ohne daß Hamlet von der Anwesenheit des Lauschers etwas weiß.
Hamlet fühlt sich frei und leicht und froh, sowie diese schnellende Raschheit in ihm ist, die wie unmittelbar Außen- und Innenwelt, Sinnenanschauung und Willen zu einem, zum getanen Leben verbindet. Da ist er auch zweifellos sicher, daß sein Oheim der Mörder ist und nicht leben darf. Er ist aber in Gefahr, immer wieder einer Sklaverei zu verfallen, die selten ist; er ist nicht Sklave der Leidenschaft, sondern des Denkens; das Denken ist in ihm zur Leidenschaft geworden. Dieses Denken macht ihn langsam, zögernd, träge, unentschlossen; dieses Denken steigert seine Unlust am Leben und hält ihn dabei doch gerade wieder mit Bedenklichkeiten im Leben fest. Drum gilt auch seine Freude an Menschen ganz und gar den Unbekümmerten, Unbelasteten; so hat er Horatio seine Freundschaft geschenkt, dem er in entscheidendem Augenblick die strahlend schönen Worte sagt:
Eine recht stattliche Gruppe kommt zusammen, wenn man die Männer nebeneinander stellt, die bei Shakespeare zugleich von Trieb und Niedrigkeit unterjocht und hellen Verstandes sind: bei Richard III., Falstaff, Jago und Edmund Gloster ist es sogar so, daß sie in all der Häßlichkeit ihrer Gierversklavung vom Geiste her fast wie Freie und Schöne sind. Einer von denen, die von Trieb und Gier tief in den Schlamm getaucht werden, dabei aber, ohne sich Herausreißen zu können, von ihrem eminenten Verstande so etwas wie kraftloses Gewissen und untätige Reue geliefert erhalten, ist der König Claudius. Um Hamlet nun steht es so — das ist die Familienähnlichkeit zwischen Oheim und Neffen, von[S. 239] der auch Tieck etwas bemerkt hat —, daß in ihm ebenfalls der Geist keine rechte Beziehung zur Tat eingeht; sein Geist ist, wie es in der Deklamation vom rauhen Pyrrhus heißt, neutral in dem besonderen Sinne, daß er dem Schlechten zweifellos, der Tat des Guten aber ebenfalls, wie zweifelnd, widerstrebt. Denn diese Tat des Guten ist gefärbt von der Gesinnung der Zeit und der Tradition, die tief im Blute sitzt; sie ist blutrot gefärbt, weil sie durchaus blutige Rache für schändliche Tat begehrt. So schnell wie dem geübten Fechter Hamlet der Degen die Parade führt, so schnell und zweifellos, sicher wie der Instinkt bedient seine Natur in spontaner Entladung die Forderung seines Blutes; sein Geist aber paßt nicht in diese Zeit, sträubt sich und vermag die Tat des Alten nicht zu tun. Diese Mischung, die Hamlets Wesen ausmacht, ist das spezifisch, das allezeit Moderne an dieser Gestalt; modern ist Hamlet in diesem allgemeinen Sinn der Stellung zwischen zwei Zeitaltern, des Zwiespalts zwischen dem Inhalt der Blutforderung oder des Gefühls und aber des Denkens; im Sinn der lähmenden Neutralität des Geistes, der sich von dem, was dem Gefühl noch dringende Notwendigkeit ist, schon emanzipiert hat. Nur daß er’s noch nicht weiß, nicht wissen will, sich nicht zugibt; dadurch, daß das Denken zu Bedenken, die discretion, die Unterscheidung und Prüfung aller Umstände zu behutsamer Vorsicht, das Wissen zu Gewissen wird, wirkt dieser Geist tatsächlich als Hemmung; mit den Worten dagegen, die er zu sich selbst spricht, ist er wieder der Diener des Blutes und hadert mit sich selbst. Wie kennzeichnend für diese komplizierte Verfassung ist Hamlets Monolog nach der Pyrrhus-Deklamation: mit beinahe hysterischer Gewalttätigkeit will er sich zur Tat antreiben; er bringt es auch richtig bis zu den fürchterlichsten Schimpfausbrüchen und Androhungen babarischster Rachetat, um gleich darauf sich selbst auszulachen, daß er von dem Deklamator, der sich ganz in seinen Gegenstand versetzt und mit ihm eins wird, nichts andres gelernt[S. 240] hat als zu deklamieren. Erst also die Erkenntnis der schleunigen Notwendigkeit der Tat; sie führt zu Worten; dann die Erkenntnis, es dürften nun keine Worte mehr gemacht werden; die führt zu dem Bedenken, am Ende stünde noch gar nicht fest, daß der Geist ein guter Geist und sein Vater gewesen, daß sein Oheim die Untat begangen; und die Vertagung der Entscheidung bis zur Wirkung des Schauspiels, das er dem Verdächtigen aufführen will.
Nichts aber erschütternder und nichts genialer und kühner in der Komposition, als wenn nach dieser Theateraufführung die beiden Monologe zusammenstoßen: der Gebet- und Reueversuch des Königs und der Racheversuch Hamlets. Wenn das recht gespielt wird, muß es uns heiß und kalt überlaufen, da wir vor Augen und Ohren und Erkenntnis das Schicksal der Menschheit haben, wenn wir gewahren: unsägliche Verschiedenheit und unsägliche Gleichheit ist in diesen beiden, dem Vaterbruder und dem Neffen, die einander beide zu morden begehren und einander beide morden werden, weil der Bruder den Bruder, dem Sohn den Vater ermordet hat. In so ähnlich grauenhaftem Mythus stellt der antike Tragiker das unnennbare Schicksal der Menschheit dar, wie sie aus Geist und Herzen, aus Wut und Stille heraus zu leben vermeint und, Agamemnon wie Iphigenie, Klytämnestra wie Orest und all die andern mit ihrem Leben und Lieben und Hassen, mit ihrem Planen und Tun und Leiden, mit all ihrem gegenseitigen Morden nur miteinander den schauerlichen Reigen vor dem Altar des Gottes tanzen, dem sie als Opfer urlängst alle bestimmt sind. Shakespeare in seinem nämlichen grauenhaften Mythus gestaltet dasselbe, nur daß wir dabei der Menschheit so tief ins Herz und in die Abgründe des Wesens hinuntersehen, daß wir erkennen: die Götter und Dämonen, die sie necken und plagen und hetzen, wohnen in ihrem Innern. Shakespeare hat die Gebundenheit und Gefangenschaft des Menschen tiefer gezeigt, weil er seine Freiheit gezeigt hat; weil wir[S. 241] bei ihm schaudernd gewahren, daß wir alle unsre eignen Schließer, unsre eignen Knechte, unsre eignen Mörder sind, und weil wir bei ihm das ganze Räderwerk des innern Mechanismus erblicken, mit dem wir unser Herz zu unsrer Folterkammer machen.
Hamlets Denken und Planen hat diesmal das Größte getan, dessen das Denken fähig ist: es hat sich selbst aus dem Weg geräumt, hat den Denkenden an die Kühnheit gebunden. Hamlets Plan entspricht wunderbar der Natur des Königs nicht nur und der Besonderheit der Situation, sondern ebenso Hamlets eigner Natur. Er kennt sich gut genug, der eine in ihm kennt den andern gut genug, um zu wissen: führt er sich erst auf den Weg der Kühnheit, so wird er ihn wundervoll kühn zu Ende gehen. Und das tut er, und die Wirkung auf den Mörder, der seine Tat vor sich auf der Bühne sieht und von dem Sohn seines Opfers in dürren Worten ausgesprochen und kommentiert hört, die Tat, von der keine Menschenseele etwas wissen kann, das Entsetzen des Mörders darüber ist ungeheuer. Kein Zweifel nunmehr für den Rächer mehr möglich: der Mörder, der Blutschänder ist überführt. Ein wilder Jubel kommt über Hamlet; er singt, er tanzt fast, er improvisiert, sein Geist sprüht Funken, zündende Funken, er hält gar nicht mehr an sich, denkt nicht mehr daran, sich wahnsinnig zu stellen, und muß darum mit seinen Anspielungen, seinen blitzenden Zornausbrüchen, seinen Gleichnissen und Bildern denen, die nichts von dem ganzen Zusammenhang wissen, gerade toll und gefährlich erscheinen. Dann kommt die Einladung der gepeinigten Mutter an ihn, gleich jetzt, zu dieser nächtlichen Stunde, zu ihr zu kommen. Wir ahnen, wie sie ganz aufgelöst ist vor Scham und Entsetzen, wie sie nicht weiß, für wen sie zuerst fürchten soll, für sich, für den Mann, für den Sohn. Er aber ist ganz einheitlich von der Sohle zum Scheitel Flamme und Empörung: ja, er will zu ihr gehen, will mit ihr ringen, will sie schütteln.
Es kann keine entsetzlichere Rede geben von einem Sohn in dieser Kürze: was gibt es für Mütter, was für Verhältnisse des Kindes zur Gebärerin, was ist das für eine Mutter, die ins Ehebett des Mannes gestiegen ist, der dem Sohn den Vater scheußlich getötet hat! Aber selbst wenn sie die ist, die sie ist, diese Mutter, ich will kommen, die Mutter begehrt’s, das Kind gehorcht! Und wie nun der Höfling, der von allem nichts versteht, der seinen Dienst tut, ohne der allerschrecklichsten menschlichen Erschütterung dessen, an dem er mit zudringlichen Fingern nestelt, zu achten, wie diese glatte Kreatur, die nicht besser und nicht schlimmer ist als jeder Durchschnittsbeamte oder gebildete Lakai, ihm noch weiter zusetzt, da kommt, immer in Hamlets metaphorischer Sprache, die die Umgangssprache dieses dichterischen Menschen ist, wenn er in seiner Geschlossenheit steht, ein wahrhaft wonnevoller Ausbruch über die klägliche Seele gegossen; wonnevoll nicht nur für uns, auch für den in seinem Zorn überlegenen und aufgeräumten Mann selbst. Es gibt aber keinen in seinem Grunde rechten Menschen, dem die Lust und die Freiheit, gleichviel, welchen Ursprungs sie gerade sind, nicht die Güte wecken. Und so wird auch Hamlet eben dadurch, daß sein Zorn gegen sie und ihre Abgesandten aufs höchste gestiegen ist, auf diesem Gipfelpunkt gut und mild gegen seine Mutter. Er denkt der Worte des Geistes, seines Vaters: erschüttern will er sie, nicht töten. In dieser Stimmung, angeregt zum äußersten, in vollem, klarem Wissen dessen, was geschehen ist, was zu geschehen hat, macht er sich festen Schrittes auf den Weg durch die hallenden Säle des Schlosses zu dem Nachtgespräch mit der Mutter. Und da kommt er an dem König vorbei, der elend sich krümmend an seinem Altare kniet.
König Claudius möchte beten, aber er kann nicht. Und mit einer ungewöhnlichen Einsicht und dialektischen Kunst[S. 243] erklärt er sich den Grund. Sein Wille zu beten, sagt er sich, ist in diesem Augenblick stark; aber seine Schuld, nicht eine vergangene Schuld, sondern die gegenwärtige, immer fortwirkende, daß er von allem, was er frevelhaft an sich gerissen hat, nichts aufgeben, jegliches genießen will, ist stärker. Er möchte bereuen; er weiß, die Reue kann die Gnade vom Himmel herabziehen; die Gnade muß sich ergießen, wenn das Gebet der Reue sie ruft. Die Reue kann alles, nur eines nicht: Nichtreue zur Reue machen! Und er bereut ja gar nicht; Reue ist Aufgeben schuldigen Tuns, Wiedergutmachen, aktive Unschuld, und der Segen, der der Seele Ruhe schenkt, läßt sich nichts vormachen: der Himmel ist unbestechlich, Macht und Reichtum gilt vor ihm so wenig wie Heuchelei.
Da haben wir wieder das Bild des Neutralen. Dieser König, der im Zusammenhang seiner Schuld dabei ist, Hamlet umbringen zu lassen, ist in diesem Augenblick in einer ähnlichen Situation wie der, der um dieser Missetat willen ihm erst recht nach dem Leben trachtet. Aber nicht bloß die Situation ist ähnlich; er auf der Seite des Schlechten hat in sich ein ähnliches Verhältnis zwischen Verstand und Willen wie Hamlet auf der Seite des Guten. König Claudius in seinem Verstand weiß: es gibt ein Heil auch für ihn, auch jetzt noch; er trägt es in sich; er braucht nur recht zu wollen und umzukehren; aber er weiß auch, daß er dieses einzige, was not tut, nicht wollen kann.
Hamlet, der dabei steht und hinsieht, während dieses Denken des Königs in seinem dunkeln Winkel vor sich geht, weiß jetzt gewiß, daß er den Mörder seines Vaters vor sich hat. Er will ihn töten; er fühlt es als seine Pflicht; die Hand sucht nach dem Schwert; aber das Denken, das nämliche, das seinen Plan entworfen hat, der so völlig geglückt ist,[S. 244] hält ihn zurück. Es fragt nicht im geringsten, was manche Kommentatoren sagen: wie wollte er denn nachher seine Tat rechtfertigen und die Schuld des Königs beweisen? Es sagt: die Strafe wäre zu klein; am Ende käme der Mörder, wenn ich ihn in seinem Gebet töte, in den Himmel; meinen Vater hat er in all seinen Sünden umgebracht, der steht Höllenqualen in der Ewigkeit aus. Warten also heißt die Losung, bis die Rache fürchterlicher vollstreckt werden kann. Dieses Denken will nicht und macht sich Gründe vor; und im selben Augenblick, wo Hamlet die Rache aufschiebt, weil der König im Gebet mit dem Himmel vereinigt sei, sagt sich der König, für ihn gebe es keinen Himmel, weil er nicht bereuen könne. Welche Höllenironie, daß in dieser Situation Hamlet Gründe orthodox-dogmatischer Art beibringt, angeblich, um raffinierter, grausamer zu töten, in Wahrheit, um nicht zu töten, weil er es, sowie er im Denken steht, nicht vermag; daß dagegen der König, der ruchlose Sklave der Gier, in feinem Verstande und hoher Bildung vom ganz innig freien Christentum weiß: das Himmelreich ist in euch! Man denke sich die Situation umgekehrt, dann sieht man, meine ich, leuchtend klar, wie im Bilde, vor sich, was Shakespeare mit seiner Seelenergründung bedeutet: das Umgekehrte wäre eben das, was Schiller ganz sicher aus dieser Szene gemacht hätte, der schulmäßige Fall der mit Charaktermasken arbeitenden Psychologie: König Claudius hätte Gebete geplappert, weil er als Mörder im dogmatisch mechanischen Aberglauben stünde, und Hamlet hätte das Himmelreich in sich getragen und hätte sich klar gesagt, Blutrache sei für ihn ein überwundener Standpunkt. Und damit hätte man diesen Typen auf den Grund gesehen und hätte, wenn man Publikum wäre, sich dort an schönem Schwarz und noch schönerem Rosa erfreut. Shakespeare aber zeigt seine Individuen, wie sie unterwegs, wie sie zwischen den Zeitaltern, wie sie vielfach und gemischt und unergründlich sind; wie in ihnen Trieb und Geist in mannig[S. 245]fach verschiedenem Verhältnis miteinander in Streit liegen; Shakespeare zeigt vor allem eine Weltordnung so wenig wie eine poetische Gerechtigkeit, sondern eine Weltironie.
Leicht möglich, daß der reife Shakespeare, als er dieses Motiv in dem früheren Stücke fand, daß, wer im Gebet stirbt, gleichviel, wer er ist, und ununtersucht, wie er betet, in den Himmel kommt, daß er, dem solche Vorstellung weltenfern lag, das Motiv ingrimmig stehen ließ, weil für Hamlets Denken, für seinen Widerwillen, die Tat zu tun, jede Ausrede, auch die dümmste, gut genug schien; denn dieses Denken ist zwiefach: einmal tief in Verborgenheit Geist, der im Frieden und in der Liebe steht; dann aber der klug bewegliche Diener des Fühlens und Getriebenseins oder gar des noch sprachlosen Geistes selbst, wie in diesem Fall Hamlets. Und überdies bot sich eben dem bitteren Dichter hier die Gelegenheit, Hamlet und Claudius mit einander ironisch zu vertauschen: Hamlet das denken zu lassen, was Unmögliches Claudius ersehnen möchte; und diesem König in die Gedanken zu geben, was für Hamlets Gerede die tiefste Widerlegung ist. Darum mag er dann das Motiv der Orthodoxie auch schon, wo es das erste Mal auftaucht, im Bericht des Geistes stehen gelassen haben; seine Kunst und Ironie aber hat es vermocht, an der entscheidenden Stelle den Verbrecher selbst des Dichters Wahrheit über das Verhältnis von Himmel und Gebet und Sünde sagen zu lassen.
Nach dieser Begegnung, nach diesem Rückzug von der physisch rohen Tat kommt Hamlet zur Mutter, und schon draußen vor der Tür ruft er: Mutter, Mutter, Mutter! Denn nun, wo es gilt, mit Geist und Seele, mit Sprachgestaltung eine Tat zu tun, nun ist er in seinem Element. Da kommt die Begeisterung über ihn, da steht er in seiner Geschlossenheit, da ist das Denken nicht Bedenken und Hemmung, sondern Geist und Beflügelung; sein Blut wird Sprache und feurige Zornbeschwörung, von der Rede her kommt Festigkeit und Raschheit auch in seine Muskeln und seine Hand, und nun,[S. 246] wo er nicht im Plane, sondern im Gefühl und der spontanen Sicherheit des Impulses steht, ist er imstande, blitzschnell den König, der ihm in den Weg läuft, zu töten, und er tut es sofort. Freilich war’s ein Irrtum, sein blitzender Wille hat den König gestochen, und Polonius liegt als Leiche hinter dem Wandteppich, — welch wahnsinnig verworrene Welt für einen Menschen wie Hamlet! Denkt er in Ruhe und spinnt seinen Plan, so vermag er nicht zu tun; und handelt er unbesonnen, spontan, so verfehlt er sein Ziel und tötet einen, dessen Tod ihm nachher schmerzlich weh tun wird.
Jetzt aber ist er so im Feuer der tatvollen, umwandelnden, gestaltenden, schüttelnden Rede, daß er sich von dem Zwischenfall kaum unterbrechen, gewiß nicht aus der Richtung bringen läßt; er geht über seinen Totschlag an Polonius hinweg wie über eine rednerische Entgleisung. Ja, seine Stimmung ist noch gesteigert, da nun die Rede ihn zur raschen Tat befähigt hat. Wie gewaltig gestaltet er die Sprache, um sie zum Ausdruck der Wirklichkeit zu machen! Wie modelliert er die Bildnisse des Vaters und seines Mörders, mit welcher Kraft der Polemik, der Karikatur, der Liebe, der Verklärung! Wie arbeitet er an der Seele seiner Mutter, zumal nachdem der Geist gekommen ist und ihn gemahnt hat; und wie gelingt es ihm, diese leicht verführte Frau, die nie aufgehört hat, den Sohn innig zu lieben, zur echten Reue und zum Weh zu verführen, in dem höchsten Maße, das ihre Oberflächlichkeit zuläßt, und sie beinahe über sich selbst hinauszuheben. Der eine Teil der Aufgabe, die ihm der Geist übertragen hat, soll ihm nur auf seltsamsten Schicksalswegen, mit dem eignen Untergang, den sein Gefühl von Anfang an mit dieser Tat unlöslich verbunden hat, gelingen; das ist nicht die Sache, der er gewachsen ist: sich in die Welt der Schuld hineinzustellen, Böses mit Bösem zu vergelten. Aber den andern führt er durch; das ist seine Sache. Er ist kein Orest; er liebt die Mutter und hat vom Jenseits den Auftrag, sie zu schonen. In dieser Tragödie[S. 247] gibt es keinen Muttermord, sondern die Bekehrung der Mutter, die in die Ermordung des Vaters verstrickt ist, durch den Sohn. So dürfen wir, ohne jetzt im entferntesten an die äußerlich dogmatischen Rudimente zu denken, die dem Stück noch anhaften, im ganz tiefen Sinn des Wortes sagen: hier haben wir das christliche Gegenstück zum Atridenmythos der Antike: die Mutter, die nie unschuldig am Mord des Vaters heißen darf, die ihren Buhlen, den Mörder, neben sich auf den Thron gehoben hat, wird von dem Sohn nicht ermordet, sondern durch Liebe entsühnt, durch die flammende, gestaltende Sprache der Wahrheit zu Reue und Erneuerung gebracht. Orest erlebt seinen Schauder und die Verfolgung der Erinnyen nach der Tat; Hamlet, der das hat, was eins in zwei Gestalten ist: Phantasie und Liebe, hat die Qual vor der Tat, vor ihr in beiderlei Sinn.
Gertrud, seine Mutter, ist in dieser nächtlichen Unterredung, so tief es nur geht, erschüttert und umgewendet worden, sie ist von jetzt an nicht mehr ganz dieselbe; wir merken es sofort darauf in dem Gespräch mit dem Gemahl, dem sie nur, wie sie muß, berichtet, daß Hamlet den Polonius erstochen hat; sie stellt, obwohl sie es besser wissen muß, die Tat als die eines Kranken hin und berichtet, was wir glauben dürfen, was in ihrer Darstellung aber doch ein ganz andres Bild gibt, daß der Sohn jetzt um sein Opfer weine; von dem Furchtbaren, was sie durch Hamlet erfahren hat, von der Gefahr für das Leben des Gemahls, die sie ahnen muß, spricht sie kein Wort. Daß Hamlet nach England soll, ist ihr ganz recht; er darf jetzt nicht hier bleiben; gewiß hofft sie in ihrer weichen Art, es könne doch noch irgendwie alles gut werden.
Noch einmal sehen wir Hamlet dem König gegenüberstehen: wie der ihm mitteilt, daß er um seiner Untat an Polonius willen zu seiner eignen Sicherheit sofort nach England hinüber müsse. Hamlet ist wie nach übergroßer Anstrengung erschöpft; er redet fast nichts; weder in Worten noch gar[S. 248] in der Tat lehnt er sich gegen den König auf; er ist bereit, sich gleich aufs Schiff bringen zu lassen. Auf dem Weg dahin stößt er auf die Soldaten des Fortinbras, die über Dänemark nach Polen ziehen, wo sie um den Besitz irgend eines kleinen Nestes kämpfen werden. Da erwacht der Hader Hamlets mit sich, seine Verachtung gegen sich aufs neue; wir sehen ja immer, wie dieser Phantasiemensch leicht ein Gleichnis findet, das ihn wie aus dem Traume weckt und ihm vorrückt, was er tun sollte, sei’s die Deklamation eines Schauspielers oder die Tat eines Soldaten, der um einen Strohhalm sein Leben wagt. Zwei Dinge, so sagt er sich jetzt, halten den Menschen von der großen Hingabe an die Aufgabe ab, die den Tod nicht fürchtet: einmal die Liebe zum Leben, zum gemeinen Genuß, und dann
Das ist sein Fall, sagt er sich; und wiederum hält er sich nun vor, wie er immer noch beim Vorsatz und Planen bleibe, da doch alles für die Tat reif ist: Der Grund ist da, sein Wille ist da, seine Kraft ist da, und die Mittel zur Ausführung sind da. Die Tat fordern von ihm der ermordete Vater, die Schmach der Mutter, das Blut in ihm und, sagt er sich, seine Vernunft. Und eindringlich, in einer Prägung ohnegleichen ruft er sich zum Heldentum auf:
Hartnäckig also, mit der Absicht, einen neuen Plan zu entwerfen, begibt er sich auf die Reise nach England. Zunächst befreit er sich von Rosenkranz und Güldenstern und hat nun den Beweis gegen den König in Händen, daß der ihn hat so töten lassen wollen, wie die beiden Höflinge in England den Henker finden werden. Wenn wir sehr mitleidige und unpolitische Seelen sind, kann uns der Tod, den diese[S. 249] Tyrannenbedienten mit Gymnasialbildung finden, recht leid tun; sie scheinen von dem Mordplan ihres Herrn nichts gewußt zu haben, und ihre Theorie, die sie mit ebensoviel eleganter Bildung wie Schweifwedelei und höfischer Wortkunst entwickeln, daß das Leben des Monarchen viel wertvoller sei als das der Untertanen, wird in unsern Ländern mit dem Roten Adlerorden oder dergleichen, aber nicht mit dem Tode belohnt. Jedenfalls aber erschwert sich, sollte man meinen, Hamlet seine Anklage gegen den König und befleckt seine reine Rache, wenn er sich auf den Boden des nämlichen unbedenklichen Tuns stellt. Aber ich habe schon gesagt, daß ich in diesen Partien unverarbeiteten Rohstoff finde. Im Zusammenhang mit den Korsaren, die ihn befreien, scheint Hamlet nun einen neuen Plan zu entwerfen, von dem wir nichts weiter wissen.
Inzwischen hat seine rasche Tat, die Ermordung des Polonius, ihre Wirkung getan. Laërtes ist in Aufruhr zurückgekehrt; Opheliens Geist hat sich umnachtet. Zuletzt war sie viel in der Umgebung der Königin, die den herzlichen Wunsch hatte, dies „süße Kind“ möchte Hamlets Gattin werden; von Ehen, in die Macht und Staat vermengt sind, hat sie schaudernd genug.
Wer ganz sicher, greifbar sehen will, was verstellter und was echter Wahnsinn ist, der braucht nur von Hamlet zu Ophelia zu gehen. Bei ihm ist es eine Mischung von Weltschmerz, Phantasie, Tiefsinn, Gereiztheit, Spiel und eine Verstellung, die nicht mehr viel zu tun hat, um alle, selbst die liebende Ophelia, zu täuschen, nur einen nicht: König Claudius ist in seinem Schuldgefühl zu mißtrauisch und überdies selbst mit zu energischem Geist begabt, um die Bildersprache Hamlets, die in Zorn und Bosheit immer ihren seelischen Grund verrät, für Störung des Geistes zu nehmen. Wie rührend klagt dagegen Ophelia, dies einfache Gemüt, um den Geliebten, der jetzt gemütskrank geworden ist, der ihr sonst alle Tugenden und glänzenden Eigenschaften des[S. 250] Mannes repräsentiert hat. Und nun bringt sie das Unglück der Liebe, die sie in sich zurückdrängen muß, die geistreichen und also ihr gegenüber entsetzlich brutalen und doch alles Sinnliche erregenden Worte des an Weib und Geschlecht verzweifelten Geliebten, die Ermordung des Vaters durch diesen toll gewordenen Geliebten, das alles bringt sie von Sinnen. Da sehen wir, was im einfachen Gemüt, wenn es das Gleichgewicht, die Sicherheit und damit die Herrschaft, die von Sitte und Geziemendem ausgeübt wird, verloren hat, für Wirrnis und tiefe Kompliziertheit heraufkommt: was bei der Gesunden nur auf dem Weg über die Seele an die Oberfläche durfte, die Sinnlichkeit zeigt sich jetzt bloß und schamlos, wie wir sie alle unten in uns haben; viel, was ihre Ohren gehört haben, ohne daß sie nur darauf achtete, hat sich da unten gesammelt und rinnt jetzt herauf. Was haben manche Erklärer aus diesen alten sinnlichen Volksliedern, die dem armen Mädchen über die Lippen treten, für Schlüsse gezogen! Wünschen wir ihnen und ihresgleichen, wozu auch alle Aussicht besteht, daß sie nie den Verstand verlieren! Goethe hat auch hier im wesentlichen das Rechte getroffen und hat Opheliens Natur aufs schönste gedeutet; nur daß er auch sie etwas zu sanft idyllisch, zu sesenheimerisch nimmt und Shakespeares tragisch hartes Bild von dem Abgrund der Menschenseele ein wenig glatt ebnet und verlieblicht; dafür hat er in der größten dramatischen Szene, die er gedichtet hat, in Gretchens Kerkerszene mit Recht nicht vermeiden wollen, von Opheliens Wahnsinnsszene zu nehmen, was er brauchen konnte.
Die alte Frage, die Hamlets Geist nie losläßt, die Frage nach Leben und Tod, nach unsrer Aufgabe hier im Leben und nach dem Los, das unser nachher wartet, beschäftigt ihn aufs stärkste nach seiner Rückkehr aus England. Gerade ist er dem gewaltsamen Tode entronnen und nun hat er wieder den Tod vor Augen, da er auf die Ausführung seiner Tat sinnt. Am Hof läßt er sich vorerst nicht sehen, seinen[S. 251] Freund Horatio trifft er im Freien vor der Stadt, und so kommen sie zusammen auf den Kirchhof. In den Betrachtungen bitterster Art, die er da anstellt, lebt nicht mehr das Bangen vor der Ewigkeit, sondern der Schauder vor der Vergänglichkeit. Alles ist eitel; alle werden wir Würmerfraß! Diese anschauliche Erkenntnis aber gestaltet er, zumal nachdem er den Schädel Yoricks des Narren in der Hand gewiegt hat, den er, als er noch ein kleiner Bube war, so oft hat lachen und alle zum Lachen bringen hören, zu grotesk eindringlicher Stärke. Die Einsicht in den argen, höhnischen, unbegreiflichen Ernst dieser Welt macht ihn wieder produktiv und bringt ihn in gesteigerte Stimmung; und in diesem Augenblick sorgt sein Schicksal dafür, daß sein Weltschmerz persönliche Gestalt annimmt: das Grab, das der Totengräber gegraben hat, ist für Ophelia bestimmt; eben wird ihr Leichnam gebracht. Ophelia tot! Wie er Laërtes im Schmerz, um die Tote noch einmal in die Arme zu nehmen, ins offene Grab springen sieht, wie er seine hohen Worte der Klage hört, da schnellt wieder alles in ihm empor wie eine Feder, die gepreßt war und nun befreit ist. Was er verscharrt hatte, arbeitet sich mächtig hoch; er, den niemand hier erwartet hatte, zeigt sich plötzlich vor dem König und dem gesamten Hof und springt ins Grab. Laërtes muß es für tollen Hohn des Verbrechers nehmen, der ihm den Vater getötet, die Schwester in den Tod gejagt hat, und ringt mit ihm. Das wundert Hamlet erst gar nicht; er nimmt es als leidenschaftlichen Wettkampf gepeinigter Liebe:
Er steht wieder im Augenblick; er fordert mit seiner Kühnheit die Welt heraus, keinen Übergang braucht’s von einem Denken zum Tun; er ist spontan, ist der Täter, der lustvoll ein Gleichnis des Göttlichen erlebend gestalten darf. Der[S. 252] König, der ihm von dämonischer Ewigkeit her als Ziel seiner Tat gewiesen ist, steht dabei; aber was geht der fremde Kerl ihn an, wo er im Augenblick göttlichen Enthusiasmus steht?
Auf nichts weniger in der Tat achtet er in diesem Augenblick als auf diesen Mörder seines Vaters; aber doch ist dies der Moment, der alles entscheidet. Es kommt zu dem Zweikampf mit Laërtes, den des Königs Intrige schon vorbereitet hat — zu der Grundursache kommt bei Shakespeare wie in der Natur noch die Gelegenheitsursache hinzu —, und sein Schicksal vollendet sich im Untergang seines Hauses. Noch einmal vor dem eignen Ende hat der Sterbende Gelegenheit, blitzschnell gereckt und zusammengerafft seine ganze Seele in die Tat zu legen: diesmal endlich trifft’s den Usurpator. Und so ist die „Gottheit, die das Ende formt“, doch — ganz nach der tiefen Einsicht, die sein ewiger Widerpart, der Mörder, hat aussprechen dürfen — ein Göttliches, das ihm in der Brust wohnt: die Übereinstimmung zwischen Seele und Tat; und es ist gekommen, wie er es immer geahnt und so oft bedacht hat: für ihn ist Tat und Tod beisammen; um der toten Geliebten willen hat er die rasche Tat getan, die ihn vor das Schwert seines legitimen Feindes und dazu noch vor das Gift des großen Frevlers brachte; als Todgeweihter hat er die Rache vollbracht.
Ein Todgeweihter von Anbeginn und ganz unabhängig von der zufälligen Handlung, in die das Schicksal ihn hineinspielt, ist Hamlet, weil er in diese Welt der Gewalttat, Lebensgier und Feilheit nicht paßt. Der menschlich Echte, der Liebe- und Gefühlvolle und zugleich vernünftig Denkende findet sich gequält, verstoßen, vereinsamt in einer kalten, hofmäßigen, mörderischen, heuchlerischen, politischen Welt.
Nie, in keinem Augenblick hat Hamlet das Geringste mit Macht und Ehrgeiz zu tun; die kriegerischen Vorbereitungen, die er im Staate Dänemark mit ansehen muß, erfüllen ihn[S. 253] mit Ekel, und er wundert sich nicht, daß sie in häßlichen Sinnentumult und wüst trunkene Bankettstimmung eingepackt sind. Die Frage, ob nicht er thronberechtigt gewesen wäre, ob er nicht auch sein Kronrecht an dem Usurpator zu rächen habe, wird gar nicht aufgeworfen: er gehört einer solchen Welt nicht an. Hamlet ist von Natur aus stark; schwach nur in einer unmöglichen Situation; wo er eine Rolle spielen und nicht er selber sein soll, da nimmt er noch einmal eine Maske vor, um in rebellischem Trotz und polemischem Lachen leben zu können. Er ist der letzte Sproß eines wilden, auf die rohe Tat gestellten Königsstammes und ist adlig-unköniglich wie Heinrich VI. Noch bewundert und beneidet er den Helden, der in der Einheit steht; noch springt immer wieder das Heldengeblüt in ihm zur physischen Tat heraus; noch bekennt er sich nicht, daß er in einem andern Lager steht; und dies ist sein Zwiespalt und sein Schicksal: daß er eine heldische Natur ist mit neuem Inhalt, auf neuem Gebiet; ein Held und ein Geistiger, ein Held und ein Künstler; daß er es aber nicht weiß und daß an ihn von der Verschuldung seines Stammes der Ruf nach der Tat des Alten ergeht, dem sein Blut gehorcht, dem seine Phantasie nachgeht, die in dieser Rache das große Sinnbild der Heldenhaftigkeit sieht, wie diese Phantasie in allem ein Gleichnis findet; der Ruf, dem sein Geist mit dem Inhalte seines Denkens dienen will, wo er doch die Erfüllung mit der Form dieses Denkens hemmt, verzögert und von sich schiebt. Höchst königlich hätte er sich bewährt, wie es über seiner Leiche Fortinbras rühmt; ja, aber in einer neuen Welt, im Reich des Geistes, nicht im Reich der Politik und Gewalttat, nicht in dem faulen Staate Dänemark.
Sehr schön hat da wieder Strindberg etwas in Hamlet gesehen, was er selber in seinem Wesen hatte und was in der Tat in dem Stücke liegt, wiewohl es selten bemerkt wird. Strindberg war wie Hamlet ein Mann, der gegen die[S. 254] Zustände, auch gegen einzelne Menschen, wenn er sie als Repräsentanten nahm, böse und giftig sein konnte, sonst aber, im Umgang, ganz besonders hold und gütig war. Und so sagt er von Hamlet: „In der natürlichen Anlage dieses Jünglings, der wohl von Geburts wegen nicht recht zu Hause ist in diesem Gefängnis und Jammertal, gibt es einen Zug, einen rein göttlichen: daß alle Menschen für ihn gleich sind. Er verkehrt mit dem Hofnarren Yorick, mit Schauspielern, Studenten, und wenn er mit den gemeinen Totengräbern spricht, ist er höflich und nicht hochmütig. Drum wird er auch von den kleinen Leuten, dem Volk verehrt. (Auch, füge ich hinzu, mit den aufs Meer hinausgestoßenen Verbrechern, den Seeräubern, versteht er sich sofort.) Aber Hamlet ist darum kein Demagog, der vor dem Pöbel kriecht, um Macht zu erringen. Sein Standpunkt ist so universell menschlich, daß er über allem schwebt, über Thron und Hof, Gesellschaft und Gesetz...“
Shakespeares Mannesideal waren ganz gewiß Naturen wie Fortinbras und Prinz Heinz-Heinrich V., die Ritterlichkeit und Volkstum in sich vereinigten, die schön und gut in der Welt herrschten, aber die Welt ertrugen; doch schon geht er einen Schritt weiter, er, der an der Grenze zweier Zeitalter steht und daraus seine ungeheure Weite zieht, schon schildert er den geistigen Menschen der neuen Tat, den Menschen der Republik, der in dieser unsrer Welt der Vereinsamte, der Aufrührer, der Höhnische und der Dichter ist, der Worte ballen muß, weil man ihm nicht Menschengesellschaften zu formen gönnt. Schon kündet sich in Shakespeare und seinem Hamlet eine Zeit und eine Gesellschaft an, die auch für uns noch weit entrückte Zukunft ist. Und darum, weil der Zwiespalt, den er in sich und der Welt gewahrt und geißelt, unsre eigne Zerrissenheit ist, steht uns keine Gestalt Shakespeares so schmerzlich nahe wie diese. „Hamlet ist Deutschland“ — sagten die Revolutionäre im Vormärz Freiligrath nach und hatten recht; Hamlet ist die Menschheit — müssen wir[S. 255] heute noch, dürfen wir heute schon sagen. Wie sein Unvermögen, wenn er denkt, das Alte zu tun, so die Kraft seiner Kritik und seiner spontanen Tat zeigen uns den Punkt, in dem wir stehen, nicht als einen Ruhepunkt, sondern als geworden Werdendes; wir sehen, woher er kommt, und wohin er geht, und wir mit ihm.
Troilus und Cressida gehört zu Shakespeares bedeutendsten Stücken; wenn mich irgend etwas zwänge, nur fünf seiner Dichtungen besitzen zu dürfen, wäre dieses Drama dabei. Daß es heute ein im allgemeinen unbekanntes und verkanntes Werk ist, kommt in erster Linie von den starken Anforderungen an die Reife, die es stellt; in zweiter von der gewaltig gedrängten Sprache, der bisher noch keine Übersetzung genugtun konnte. Daß die Ausleger mit diesem Stück ganz besonders wenig anfangen konnten, ganz besonders übel mit ihm umgesprungen sind, ergibt sich aus dem Umstand, den ich an erster Stelle nannte. Trotzdem sollte man nicht für möglich halten, was das Drama sich von zweien unter ihnen, die sich als Bearbeiter aufgetan haben, gefallen lassen mußte. Adolf Gelber gibt einem Enthusiasmus ohnegleichen Ausdruck; findet dann Ideen darin verkörpert, die völlig Gelber und gar nicht Shakespeare sind, macht auch nicht den vergeblichen Versuch, diese Gedankengänge in Shakespeares Szenen und Worten zu finden, sondern arbeitet das Stück völlig um und dichtet ganze lange Szenen dazu! Ernst von Wolzogen dagegen — es war so ungefähr um die Zeit, wo er mit dem Überbrettl umging — empfiehlt, das Drama ja nicht zu überschätzen; es sei eine lustige Posse, nichts weiter; und so behandelt er es denn als Bierulk und wirft alles hinaus, was zu dieser Auffassung nicht paßt.
Genug davon. Ich hoffe, man wird, wenn ich mit meiner Darstellung der Dichtung fertig bin, empfinden, warum ich dieses seltsam schöne Kriegs- und Liebes- und Gesellschaftsdrama, dieses Drama der Geschichte im großen Sinne auf die Brutus- und Hamlet-Tragödie folgen, dem Othello vorausgehen lassen wollte, obwohl es ganz gewiß später verfaßt ist.
Im Druck erschienen ist Troilus und Cressida zuerst 1609; wahrscheinlich ist es auch um diese Zeit herum verfaßt[S. 257] worden. Dieser Quartausgabe ist als Vorrede die Epistel eines Herausgebers beigegeben, der unbekannt ist, der mir aber ein tieferes Verständnis für Shakespeares Wesentliches gehabt zu haben scheint, als wir es sonst bei seinen Zeitgenossen treffen. Er bezeichnet das Werk als Komödie und rühmt im allgemeinen „dieses Autors Komödien“, die, meint er, besser commodities, Sinnspiele, oder plays for pleas, Gerichtsspiele, heißen würden und „die so nach dem Leben gebildet sind, daß sie als der allgemeinste Kommentar für alle Handlungen unsres Daseins gelten können“.
Dieser Mann, der sich im Gegensatz zu dem „Leser aller Zeiten“, an den er sich wendet und den er „einen immer Lesenden“ nennt, als „niemals Schreibender“ bezeichnet, versichert ausdrücklich, das Stück sei noch nie aufgeführt worden; die Wahrscheinlichkeit, daß das wahr ist, dünkt mich sehr groß; und ich vermute darum, daß Shakespeare selbst diesmal Wert darauf legte, das Stück Lesern bekannt zu geben. Wir haben Exemplare derselben Druckausgabe, denen die Epistel fehlt und die ein anderes Titelblatt haben, auf dem nun zu lesen steht, daß das Stück von den Schauspielern des Königs im Globe-Theater aufgeführt worden sei; da dieser Titel auch die Jahreszahl 1609 trägt, ist anzunehmen, daß das Stück im selben Jahre erst gedruckt und dann aufgeführt wurde.
Auch in der ersten Gesamtausgabe, der Folio von 1623, hat das Stück sein besonderes Schicksal gehabt, das es von den anderen abhebt. Schon die Ausgabe von 1609 war im Zweifel gewesen, welcher Kategorie das Stück einzureihen sei; auf dem Titelblatt hieß es eine Historie, in der Epistel eine Komödie. Im Inhaltsverzeichnis der Folio kommt Troilus und Cressida gar nicht vor; im Text steht es als erste der Tragödien, vor Coriolan; es trägt aber keine Seitenzahlen, die Paginierung dieser Abteilung beginnt erst mit Coriolan; nur die zwei ersten Seiten des Trojanerdramas tragen die Zahlen 79 und 80. Wahrscheinlich ist die[S. 258] Aufnahme des Stücks erst nachträglich beschlossen worden, und offenbar sollte es zuerst an eine andere Stelle kommen: den Zahlen nach zwischen die Liebestragödie Romeo und Julia und die Tragödie des Menschenhassers Timon, und das wäre ein ausgezeichneter Platz gewesen; aber so, wie es jetzt dasteht, als etwas nicht Einzuordnendes, zwischen den Historien und Tragödien, vor dem ersten Römerdrama Coriolan und hinter Heinrich VIII., als ob es zugleich in der neuesten Periode der englischen Geschichte und im frühen Altertum spielte, steht es auch sehr sinnvoll da.
Was den Stoff angeht, so ist kein Zweifel, daß Shakespeare Homer gekannt hat; der war auch vorher nicht unbekannt und in einer französischen Übersetzung leicht zugänglich; jetzt aber hatte Georg Chapman, mit dem Shakespeare persönlich verkehrt haben wird, die Ilias ganz vortrefflich ins Englische übersetzt; die ersten sieben Gesänge lagen seit 1598 im Druck vor, das Ganze kam erst 1611 an die Öffentlichkeit. Von den besonderen Vorgängen des Dramas freilich, die mit Hektors Tod in unlösliche Verbindung gebracht sind, steht in der Ilias nichts; Troilus wird von Homer nur einmal flüchtig mit Namen genannt. Aber die Geschichte von Troilus und Cressida war überaus beliebt und ist in griechischen, lateinischen, mittelalterlichen Gedichten und Romanen oft behandelt worden; Troilus und Cressida gehörten zu den hochberühmten Liebespaaren. Shakespeare wird das Gedicht Filostrato (Der Liebesgeschlagene) von Boccaccio gekannt haben und ganz gewiß seine Neugestaltung durch Chaucer; Chaucer ist der Schöpfer des Kupplers Pandarus; sein Gedicht und besonders diese Gestalt waren so populär, daß pandar einfach das Wort für Kuppler wurde. Die von Caxton bewirkte Übersetzung eines französischen Romans, die aus dem Jahr 1471 stammt, wird Shakespeare auch bekannt gewesen sein.
Auf die englische Bühne sind die Gestalten des Dramas schon vor Shakespeare gekommen, so Thersites als Typus[S. 259] des Maulhelden in einem nach ihm benannten Zwischenspiel von John Heywood, das aus dem Jahr 1537 stammt, aber erst über zwei Jahrzehnte später gedruckt wurde: eine rohe und salzlose Hanswurstiade. Sehr interessant wäre es, ein Stück Troilus und Cressida von Dekker und Chettle kennen zu lernen, das von 1599 stammt und auch zur Aufführung kam, wahrscheinlich sogar 1603 von Shakespeares eigener Gesellschaft gespielt wurde; aber wir besitzen es nicht und wissen nichts weiter davon.
Die völlig freie, unbekümmerte, die klassizistische Mode seiner und jeder Zeit durchkreuzende Stellung Shakespeares zur Antike hat den Erklärern stets besondere Schwierigkeiten bereitet; oft gingen sie an das Stück heran wie an eine Verirrung, die der Entschuldigung bedurfte, oder eine Art Tempelschändung. Um so schöner ist es, daß Goethe, freilich in der Zeit, wo er mit Helena und Klassischer Walpurgisnacht selbst sich wieder einmal in neuer Art frei zur Antike stellte, mit großartig verstehender Unbefangenheit sich über das Stück äußerte, das ihm besonders am Herzen lag. So schreibt er im Jahr 1824 in dem Aufsatz „Über die Parodie bei den Alten“, der aus dem Briefwechsel mit Zelter hervorging: von einer Parodie oder Travestie Homers durch Shakespeare könne gar keine Rede sein; es handle sich um zwei innerlich von einander unabhängige Kunstwerke „mit zwiefachem Zeitsinn“: „Das englische Meisterwerk darf man betrachten als eine glückliche Umformung, Umsetzung jenes großen Werkes (der Ilias) ins Romantisch-Dramatische.“ Es sei, sagt Goethe, der von den späten Rittergedichten, die den Stoff behandelten, auch Kenntnis hatte, „ganz Original, als wenn das Antike gar nicht gewesen wäre“. Er deutet auch an, in der behutsam allgemeinen, orakelhaften Art seines Altersstils, der die Meinung nicht eigentlich ausdrücken, sondern für Eingeweihte enthalten sollte, daß Shakespeare im Gegensatz zu Homer einen Kreis von Problemen behandelte, die unserer, der neueren Zeit[S. 260] angehörten; er sagt: „Es bedurfte wieder einen eben so gründlichen Ernst, ein eben so entschiedenes Talent als des großen Alten, um uns ähnliche Persönlichkeiten und Charaktere mit leichter Bedeutenheit vorzuspiegeln, indem einer späteren Menschheit neuere Menschlichkeiten durchschaubar vorgetragen werden.“ Wer Goethe gründlich kennt, weiß, daß er damit auch darauf hindeuten will, Troilus und Cressida sei in dem großen Sinn, den er manchmal mit dem Wort verband, ein Pasquill gegen die Herrschenden. Mit einem ähnlichen Privatvergnügen empfahl er das Stück wohl 1826 Eckermann: „Wollen Sie Shakespeares freien Geist erkennen, so lesen Sie Troilus und Cressida, wo er den Stoff der Ilias auf seine Weise behandelt.“ Man muß sich gegenwärtig halten, wie hoch Homer für Goethe stand, um zu bemerken, auf welche Stufe er mit dieser Gleichsetzung Troilus und Cressida erhob. Goethe hat den Dichter dieses Stückes als Ebenbürtigen neben Homer gestellt, dessen Gestalten Shakespeare ohne die Spur eines philologischen Respektes für seine Zwecke benutzte; und Goethe hat recht daran getan.
Ich will noch einen andern, einen Zeitgenossen Shakespeares nennen, von dessen Hauptwerk Shakespeare in seiner völlig freien und selbständigen Art die Grundstimmung und Gesinnung wiederholte, ich halte für möglich — mehr sage ich nicht — mit Kenntnis dieses Werks: Cervantes. Der Don Quixote — der erste Teil, der ursprünglich keinen zweiten erwarten ließ — erschien 1605; in den nächsten Jahren gab es weitere Auflagen, auch in Mailand und Brüssel erschienen Ausgaben des Buches; die erste englische Übersetzung erschien 1612, etliche Jährchen nach Troilus und Cressida, im Druck. Daß Shakespeare spanisch gelesen hat, nehme ich nicht an, obwohl gar nichts dagegen spräche; daß er die englische Übersetzung schon vor ihrer Drucklegung gekannt hat, will ich auch nicht annehmen, obwohl auch das sein könnte; aber daß in seinem Freundeskreis von diesem[S. 261] Buch und dem Geist, der es erfüllte, gesprochen wurde, daß er darüber alles mit Leichtigkeit erfahren konnte, was er wissen wollte, ist mir sehr wahrscheinlich. Wie dem auch sei, ob mit oder ohne Kenntnis von Cervantes: Shakespeares dramatische Ilias erkläre ich für seinen Don Quixote. Die Elemente des Stückes finden sich alle schon gelegentlich in andern Stücken: eine spezifisch moderne und bürgerliche Auffassung ist aus mancher Äußerung Falstaffs und vor allem nicht bloß aus Äußerungen, sondern aus einer wesentlichen Wendung der innern Handlung im Hamlet herauszuspüren; die Liebeskritik, von den Sonetten ganz abgesehen, findet sich in manchen Lustspielen, vor allem im Sommernachtstraum; und seine Zweifel am Ritterwesen und dem ritterlichen Frauenkultus, dem Frauenkampf, dem Frauenkrieg hat er auch gelegentlich schon früher geäußert. Das Auszeichnende aber an Troilus und Cressida ist, daß diese Dinge, die hier genannt wurden, in der Mitte der Darstellung stehen und geradezu systematisch behandelt werden. Daß dazu der Don Quixote eine Anregung gegeben hat, ist möglich; mehr zu sagen verhindert mich kritische Vorsicht und dazu die Erwägung, daß ein solcher Zusammenhang in keinem Fall, auch wenn er beweisbar wäre, mehr wäre als interessant. Denn viel wichtiger ist, daß es sich um eines der allerpersönlichsten und um eines der zutiefst die Allgemeinheit und ihre Zustände und innern Halt- und Bewegungsmächte angehenden Werke Shakespeares handelt. Wie es Cervantes’ Größe ausmacht, daß er den Kampf zugleich für das Bürgertum und — kurz gesagt — für die heroisch-ideale Gesinnung des Geistigen gegen den Philister führt, so ist es die Bedeutung von Shakespeares Troilus und Cressida, daß der Dichter hier, indem er seinen grimmigen Krieg gegen die Weiber- und Brunsthelden führt, das Positive zeigt, das statt dessen die Gesellschaft neu aufbauen soll: die Freundschaft. Ich bezweifle nicht, daß diese Dinge, die in der Mitte des Stückes stehen und es in die[S. 262] nächste Beziehung zum Thema der Sonette setzen, hauptsächlich Schuld daran tragen, daß die meisten Gelehrten es mit einer gewissen Angst und Genierlichkeit zu tun bekamen, wenn sie an dieses Drama herangehen mußten. Solche prüde und also häßlich, sei’s auch nur mit Verlegenheit, mißdeutende Zimperlichkeit kann aber an den tiefen Ernst und die Hoheit der Dichtung nicht rühren.
Zu dieser inhaltlichen Schwierigkeit kommt nun noch die formale, die damit in Zusammenhang steht und hier schon berührt wurde. Ist es eine Parodie? eine Travestie? eine Satire? eine Burleske? eine Komödie? eine Tragödie? eine Tragikomödie? Daß das Stück auf keine Art eine Parodie oder Travestie Homers sei, ist mit Goethes Worten schon gesagt worden; satirische Elemente hat es genug, und einmal wird sogar etwas wie eine Parodie auftauchen, zwar nicht auf Homer, aber auf Shakespeare selbst; trotzdem scheint mir für keinen Empfindenden ein Zweifel möglich, daß der tragische Ton alles andre überklingt. Wie es sich damit verhält, soll sich zeigen, nachdem wir das Stück näher betrachtet haben.
Mitten hinein in den trojanischen Krieg werden wir gestellt. Und gleich der Prolog betont scharf, um was dieser Völkerkrieg tobt: neunundsechzig Fürsten sind mit einer gewaltigen Flotte „und allen Maschinen des grausen Kriegs“ von der Reede zu Athen losgesegelt, um Troja dem Boden gleich zu machen,
And that’s the quarrel!
Sofort zu Beginn wird dieses Thema aufgenommen von dem Trojanerjüngling Troilus, dem jungen Sohne des Königs Priamus, der sich in Liebessehnsucht verzehrt. Er hat in dieser Verfassung immer wieder Stimmungen, wo[S. 263] er gar nicht begreifen kann, warum da gekämpft wird. Das Blasen der Kriegstrompeten schlägt an sein Ohr nur wie heilloser Lärm. Um Helena geht es? Ja, soll ihr etwa das viele Blut, das um sie verspritzt wird, ein Schmuck sein, soll sie davon schöner werden? Sein Werben um Cressida erlebt er wie im Traume, als ob zwischen ihm und ihr ein ungeheurer Völkerkrieg tobte, oder wie wenn sie eine Perle im fernen Indien wäre, die er nun in der weiten Welt suchen müßte.
Seine Verachtung, wie er sie jetzt gegen diesen Kampf empfindet, rührt aber vor allem auch von der Unreinheit der Liebesaffäre her, um die dieser gewaltige Völkerkrieg sich dreht. Um ein untreues Weib! Seine Liebe ist Reinheit, wenn sie auch die irrende Liebe eines Jünglings ist, wenn sie auch all ihre schöpferische Phantasie an ein reizendes Weibchen hängt, das innerlich ganz anders beschaffen ist, als er es sich zurecht träumt und als sie selber es noch weiß. Dieser Gegensatz, dem der noch unfertige Jüngling, dessen Stimmung schwankt, nur erst seinen vorläufigen Ausdruck gibt, geht in den verschiedensten Tönungen durch das ganze Stück: auf der einen Seite echte Ritterlichkeit, Männlichkeit, Heldentum, Männerfreundschaft — und auch ihre äußerste Entartung, die Päderastie, wird mit Worten stärkster Verachtung entscheidend gestreift —; auf der andern höfisches Ritterwesen, Rittermanieren, Unterjochung unter das Weib, Verderbnis durch wollüstige Sinnenliebe. Die äußern Züge des Ritterwesens, daß man, wenn man einen Zweikampf zu bestehn hat, diesem ernsten Unternehmen modisch-konventionell den Namen einer Dame als Etikett aufklebt, welcher zu Ehren der Kampf ausgefochten wird; daß man die Schleife und den Handschuh der Dame trägt; die höfische Zierlichkeit, anderseits aber auch die gute Freundschaft, die die Feinde unter einander halten, das sind alles Dinge, die allein diesem Stück angehören und sich anderswo bei Shakespeare durchaus nicht finden. Selbst Hektor, sonst[S. 264] hier bei Shakespeare die herrliche Verkörperung des männlichen Heldentums, fügt sich im Äußerlichen der galanten Sitte oder Mode.
Äneas kommt als Abgesandter der Trojaner ins Zeltlager der Griechen. Er tritt mit einer so übertriebenen, parfümierten Höflichkeit auf, daß sich selbst die Griechen baß verwundern. Und dann meldet er den Zweck seines Kommens: er ist der Träger einer Herausforderung zum Zweikampf bis zum Äußersten, zu einem Kampfspiel im Namen Hektors. Der Held will in dieser Ruhepause zwischen den Schlachten dafür einstehn, daß sein Weib „weiser, schöner, treuer“ sei als das irgend eines Griechen. Das will er mit seinem Schwerte beweisen. Wer hält dagegen? Da fangen die Griechen gleich Feuer. Sofort denken sie an ihren größten Kriegshelden Achilles — und den hat wahrscheinlich auch Hektor zum Kampf locken wollen und sich darum der Mode bequemt —, aber er sitzt ja schmollend im Zelt und macht sich mit seinem jugendlichen Busenfreund Patroklus über die Griechenfürsten und über alles in der Welt lustig. Aber wenn keiner den Handschuh aufnimmt, will’s der Fürst der Fürsten, der große Agamemnon selber tun, und selbst der überalte Nestor will dafür kämpfen,
und dafür will er, wenn’s not tut, mit seinen letzten drei Blutstropfen einstehn.
Gilt es dann aber nicht ein Kampfspiel, sondern den bösen Krieg, diesen Krieg um ein Weib, so lernen wir in den beiden Lagern den männlichen, von der oberflächlichen Sinnensklaverei freien Standpunkt in zwei sehr verschiedenen Gestalten kennen.
Nicht zum ersten Mal werden wir hier bei Shakespeare an die große Unterscheidung Spinozas erinnert zwischen dem Sinnen-, dem Affektmenschen, der ein knechtischer Sklave[S. 265] der Triebe ist, und dem freien Vernunftmenschen, der nach Grundsätzen, ruhiger Überlegung, objektiver Prüfung und freiem Entschluß handelt. Und nicht zu leugnen: das Unfreie, in Banden Geschlagene, das launisch Willkürliche, oberflächlich Wetterwendische und also Treulose wird hier dargestellt einmal in Gestalt des körperlich reizvollen, seelisch leeren, geistig unbedeutenden, koketten, dem Trieb selbst unterworfenen und zum Trieb anlockenden Weibes, in Gestalt Cressidas, und dann in Gestalt des Manns der Männer, des großen Kriegshelden Achill. Shakespeares Plan, der Sinn seiner Dichtung enthüllt sich uns, wenn wir gewahren, wie ihm der männischste Mann und das weiblichste Weib in diesem einen zusammengehören, daß sie beide treulos und ohnmächtig tierischer Wildheit preisgegeben sind, wenn er in Wut den Männerstreit, sie in Brunst den Frauenkrieg führt. Es ist Shakespeares des Individualisierungskünstlers und sehr ernsten Mannes großes Recht, daß er den tapfern Haudegen, den gewaltigen Schläger und Schmoller Homers als eine Gestalt, der aus allen Poren eigenes Leben strahlt, völlig neu aufbaut; das verschämte Erröten oder glühende Zürnen der Philologen, daß es nun zwei sehr verschiedene Achillesgestalten gibt, die unvergängliche epische Homers und die unvergängliche dramatische Shakespeares, diese Gebundenheit an ein Objekt, dessen kanonisch festgelegte Züge mit finsterer Wut und Verbissenheit gegen jeden frechen Erneuerungsversuch verteidigt werden, repräsentiert eine dritte Form der Unfreiheit: neben der weiblichen Cressidas und der männlichen Achills die zwar keineswegs sachliche, aber sächliche Sklaverei des unpersönlichen Götzendienstes.
Man könnte überdies sagen, daß diese Kämpen Homers unhistorisch vorgehn, daß Shakespeare sich gar nicht einfallen ließ, sich an Homer zu reiben, daß er durchaus nicht in die Reihe gehört, die zu Offenbach hinführt, sondern daß er romantische Sagen weiterbildete; dies ist, kenntnisreich und gut, von Wilhelm Hertzberg vor andern gesagt worden.[S. 266] Um der wissenschaftlichen Kenntnis willen soll man auf diese Zusammenhänge hinweisen; aber keineswegs zu einer Entschuldigung Shakespeares, die er nicht braucht. Wie Sophokles eine Elektra nach Aischylos gestalten durfte, wie es von Heine eine komische Frechheit war, Goethe ins Gesicht zu sagen, er schreibe einen Faust, so durfte Shakespeare nach Homer einen Achill, einen Achill nicht nach Homer gestalten.
Wie haben sich denn auch die übrigen Gestalten, die uns aus dem Epos vertraut sind, verändert, wie sind sie in einem andern Zeitsinn neugeboren worden!
Ulysses und Hektor verkörpern zwei verschiedene Stufen der männlichen Vernunft und Staatsklugheit.
Kriegsrat im Griechenlager vor Agamemnons Zelt. Schlechte Stimmung bei den Fürsten: der Krieg geht nicht vorwärts; nun liegen sie sieben Jahre vor Troja, und noch keine Aussicht auf Entscheidung. Agamemnon, in feierlicher Würde, als der Mann, der das Amt bekleidet, die Elemente zusammen zu halten, bewegt sich mahnend, ohne einen neuen Gedanken und ohne energischen Befehlswillen in den Allgemeinheiten der Erfahrung:
Eine Prüfung von Jupiter ist es gewiß, um der Unterscheidung willen: Helden und Feiglinge, Weise und Toren sollen auseinandertreten, wie die Worfel Spreu und Weizen sondert. Das ist so recht das Thema für den alten Nestor; die Rolle des Alten, der die Jugend belehren kann, gibt er nicht leicht auf:
Nun aber hebt Ulysses an. Zuerst, in einer prachtvollen Anrede, zeigt er sich als der glänzende Redner, der seine[S. 267] geistige Überlegenheit nicht auftrumpfen läßt, sondern einleitend die Bescheidenheit seiner Stellung betont: der Fürst von Ithaka redet zu dem hoheitsvollen Oberherrn aller Griechen, zu dem ehrwürdigen Greis. Dann aber sagt er frei seine Meinung heraus: allgemeine Maximen und Fügung unter den Rat der Götter bringen uns nicht vorwärts. An uns selber liegt die Schuld; das gilt es einzusehen. Das Parteiwesen hat dem Griechenheer die Kraft genommen; es fehlt an Einigkeit. Und nun tritt er gegen Laune und Willkür für Gesetz, Staatsordnung, ständische Gliederung im Volk und zwischen den Völkern ein. Wie in den Bahnen der Gestirne feste Ordnung ist, so muß es auf Erden sein.
Mit einer Großartigkeit ohnegleichen malt er den Königen, die seine Zuhörer sind, das Gegenbild, das Bild des Aufruhrs, der Auflösung an die Zeltwand. England stand, als diese Worte gedichtet, gelesen, von der Bühne herunter gesprochen wurden, in der Vorbereitungszeit seiner Revolution; nie ist in den Aufruhr der Parteien hinein, die, der Einheit vergessend, mit einander rangen, nie ist an eine oberste Gewalt hin, die in Gefahr stand, ihre Autorität zu verlieren, eine staatsmännische Rede größeren, wahrhaft kosmisch weltbürgerlichen Gehaltes und Schwunges gehalten worden als diese: und man begreift, daß Shakespeare oder einer seiner politischen Freunde Wert darauf legen mochte, dieses Sinnspiel oder play for plea, diese Dichtung, die zugleich ein Gericht und ein Plaidoyer war, sofort durch den Druck bekannt zu geben:
Und nach dieser allgemeinen Feststellung wendet sich Ulyß dem Besonderen zu. Wer ist der Repräsentant dieser Einzelwut, die sich ichsüchtig absondert und das Band zerreißt? Der große Achill, der anerkannte Kriegsheld der versammelten Völker! In dieser politischen Sphäre Shakespeares geht’s nun wahrlich nicht um den elenden Streit einer schönen Sklavin halber. Achill hat sich zurückgezogen und spottet wie ein Karikaturenmacher mit seinem Liebling Patroklus zusammen der andern Führer, weil er — und ebenso Ajax, der wiederum eine Partei für sich bildet — auf dem Boden des alten Kriegs steht, während Ulyß und unter seinem Einfluß die andern die neue Kriegführung vertreten. Diese führen den Krieg für eine gemeinsame Sache mit der Absicht, ihn durch eine günstige Vereinbarung zu beenden; Krieg ist für diese Richtung ein Mittel der Politik; für Achilles ist der Kampf Selbstzweck; nach einer Sache fragt er nicht viel; und es kommt ihm nicht sonderlich darauf an, auf welcher Seite er kämpft, wenn nur gekämpft wird; so hat er in seiner völligen Zurückgezogenheit und Feindseligkeit gegen die Verbündeten angefangen, sich gar nicht mehr innerlich zugehörig zu fühlen, und sinnt, im Zusammenhang mit einer Liebessache, der es an politischer Bedeutung nicht fehlt, auf Verrat.
Ulyß ist ein Staatsmann, der weit entfernt von einer Bekämpfung des Kriegs überhaupt ist, er stellt den Krieg als ein notwendig Vorhandenes realpolitisch in seine Rechnung; aber er ist der Techniker, der Generalstäbler im Gegensatz zu dem veralteten wüsten Dreinhauer nach Art des Ajax; und nicht viel anders als der will auch Achill mit seiner per[S. 269]sönlichen Kampflust und Tapferkeit den Krieg durchaus nicht als Staatskrieg und Vernunftkrieg auffassen.
Das nun ist aus dem listigen Ulysses der antiken Überlieferung unter Shakespeares Händen geworden. Aus Personalfabeln sind allgemeine Gesichtspunkte geworden; was entzückend kindlich war, ist jetzt bitter männlich geworden. Das hat Goethe gesehen, als er von dem zwiefachen Zeitsinn sprach: die homerischen Gestalten begegnen uns hier auf einer andern geschichtlichen Stufe. Der Epiker Homer stand noch mitten in der Ritterzeit drin und dazu in einem Ritterwesen, das genötigt war, seine Abenteuer seeräubermäßig an fremde Küsten zu verlegen, weil zu Hause nur Raum für patriarchalisches Regiment über Bauern- und Hirtenvölker war; Shakespeare will die sinkende und entartete Ritterlichkeit erhöht und gereinigt in ein ständisch gegliedertes bürgerliches Gemeinwesen aufnehmen; dieser Renaissancedramatiker, der seine Individuen in große typische Gegensätze von Gesamtheiten hineinstellt, hat ganz andere Mittel, seine Gestalten zu individualisieren und scharf, kantig gegen einander zu führen als Homer, bei dem sie sich nur so von dem episch umhüllenden Dunst der Gleichheit abheben können, wie die Farben des Regenbogens von der Wolkenwand.
So also spricht der „verschlagene“, der „vielgewandte“ Vertreter moderner Kriegskunst gegen die Männer der bloßen rohen Gewalt:
Man sieht: was in Homers kindlicher Welt ganz im Privaten und Persönlichen und klugen Auskunftsmitteln auf Grund der Einzelpsychologie stecken bleibt, ist hier zur Politik erweitert. Das nun, daß Ulysses bei Shakespeare nicht auf der Stufe der holden Fabel, des immer unterhaltenden, oft innigen und manchmal tiefsinnigen Märchens stehen bleibt, sondern ein großer Politiker ist, das und dergleichen hat man gewagt, eine Parodie auf Homer und nichts weiter zu nennen!
Dieser Ulysses repräsentiert auf der unsäglich reichen Stufenleiter des Geistes, die Shakespeare in seinen Dramen aufbaut, von Caliban und Thersites und Falstaff bis zu Hamlet und Porzia von Belmont und Brutus und Prospero, eine bestimmte Stufe, eine so ähnliche wie trotz arger Unreinheit Heinrich IV.-Bolingbroke schon gegen Richard II., wie beiderseits viel strahlender sein Sohn, Prinz Heinz, Heinrich V. in seinem Gegensatz zu Heinrich Percy, nicht unten auf der Leiter und nicht ganz oben, sondern in einer Mitte und in einem deutlich zu spürenden Aufstieg. Bei Shakespeares vollendetsten Gestalten steht einem nicht bloß stark und sicher vor Augen, was sie sind, sondern — man denke nur an Shylock — wie sie geworden sind, geworden nicht nur im kleinen Einzelleben, sondern im langen geschichtlichen Werdegang der Gesellschaften und Kulturen. Ebenso nun ist mir, als sähen wir bei solchen Gestalten wie Ulysses, Hektor, Hamlet, was es über sie hinaus in der Geschichte noch geben wird, wie sie selbst für sich zwar wundervoll sicher im Moment ihres Wesens stehen können, wie dieses Wesen aber in einem nächsten Moment der Geschichte ein andres Gefüge der Beziehungen und also gewandelt sein wird.
Wieder auf einer andern Stufe der Männlichkeit und des Geistes als bei Ulysses sind wir im nächsten, dem zweiten Akt mit dem nicht minder herrlichen Staatsgespräch, das bei den Trojanern stattfindet. Die Griechen führen ihre Kriegspolitik im Sinne der Auffassung, die wir von Ulysses gehört haben, und so hat Nestor den Trojanern den Vorschlag übermittelt, sie sollten Helena ausliefern; trotz den schweren Verlusten an Blut und Gut solle dann der Krieg ohne Anspruch auf irgend eine Entschädigung gleich beendet sein. Da ist Hektor, ein Kriegsheld wie Achill, aber ein Mensch ganz anderer Art, ein besonnener Mann, sofort der Meinung: Genug und mehr als genug Opfer für dieses Weib! Liefert sie aus! Dem gegenüber verficht Troilus der Jüngling den Standpunkt der Ritterlichkeit, der Ehre, des Ruhms. So sehr er selbst unter diesem Krieg und der Unreinheit seiner Ursache leidet, jetzt, wo’s um eine Entscheidung geht, sind alle Gefühle seiner persönlichen Liebessucht zurückgedrängt, jetzt empfindet er nur als Trojaner. Wo’s um Ehre geht, gelten keine Gründe, kein Krämerstandpunkt, kein Rechnen, wie viel man verloren hat und was man höchstens gewinnen kann.
Das sind für Hektor keine neuen Dinge, die man ihm erst von außen bringen muß, was der junge Troilus da so begeistert verficht; das Ende wird’s zeigen. Er aber will sich’s nicht nehmen lassen, zu unterscheiden, zu prüfen und selbst zu bestimmen, woran er sein alles, woran er das Leben von Zehntausenden und den Bestand der Stadt, der Burg, des Staates setzt:
Wert? gibt der Jüngling mit der ganzen Sophistik dunkler Seelenwärme zurück, die, gerade weil sie nicht aus Erwägungen entstanden, um Gründe nicht verlegen ist; Wert?[S. 272] Es gibt keinen andern Wert als unsre Wertung. Mit alledem ist Hektor längst fertig; er sucht nicht Gründe für eine Wallung; er weiß.
Hier scheidet sich klar die subjektive Willkür, die vom einmal, wenn schon blind Erwählten oder Zugefallenen nicht loslassen will, und die Besonnenheit, die Objektives, Allgemeingiltiges anerkennt; selbst der Gottesdienst ist zu prüfen, was in ihm wahrhaft Gott, was ewig verehrungswürdig ist, und was nur Dienst, nur Menschenwerk und Menschengewöhnung, freche Setzung und verhärtete Satzung ist; wo diese Übereinstimmung zwischen Verehrung und ewigem Grund zur Verehrung fehlt, da waltet Idolatrie. Der besinnungslose, von der Leidenschaft vergiftete Wille, der sich mit seiner eigenen Wertung an das eigene Gemächte klammert, ist kindische Raserei, wenn der Gegenstand der Anbetung nicht das Bildnis, das Urbild des Verdienstes ist.
Aber Troilus gibt sich noch nicht besiegt. Nichts kann ihm sein Gefühl nehmen: wo’s um Ehre geht, muß Urteil, Analyse, Erwägung des Vorteils schweigen. Er nimmt sich zusammen, sucht nach Beispielen, und das erste, das er nun in warmer Beredsamkeit anführt, liegt ihm, er ahnt nicht wie sehr, nahe genug. Wenn ich heute ein Weib nehme, von meinem Willen geleitet, von dem Willen, der wieder von den Sinnen entzündet wird, und nun, wenn ich sie erst habe, wendet sich mein Wille von ihr ab, — kann ich sie wieder los werden? Wir, im Zeitalter der Ehescheidung und Ehezersetzung, sagen ja; Troilus sagt: Nein, die Ehre verbietet’s. Und er gibt andre Beispiele, die noch näher den Fall selbst, um den es geht, Helenas Fall, berühren.[S. 273] Gibt man dem Händler die Seidenstoffe zurück, die man selber schmutzig gemacht hat? Wirft man übrig gebliebenes Essen, weil man selber voll ist, zu Müll und Kehricht? Und nun lenkt er die Blicke auf den Ursprung dieses Krieges zurück. Hat nicht das ganze Volk gejauchzt, als diese Sache anhob? Wie ging’s denn an? Wie all diese Seeräuberkriege! Die Griechen hatten irgend eine alte Tante von den Trojanern in Gefangenschaft, und Paris zog aus, um einen Rachestreich zu vollführen. Welcher Jubel begrüßte ihn, als er die schönste Griechenkönigin heimbrachte! Die Ehre fordert es, daß man bei dem bleibt, was man begonnen, als bei sich selbst. Das wäre ja freilich Diebstahl und der allerniedrigste dazu, wenn man nicht halten könnte, was man genommen hat. Haben wir Helena für ihr eignes Land ehrlos gemacht, so fordert es die Ehre, daß wir sie bei uns behalten in sicherer Hut. Man sieht, Troilus kennt in seiner Zeit der Ritterlichkeit zwar nicht die Ehescheidung, aber den Ehebruch und Eheraub, dann aber wieder nicht die Treulosigkeit des Ehebrechers gegen die, die er an sich gerissen hat.
In diesem Augenblick, wo wir in der Schwebe stehen zwischen den guten Gründen, die für die Beendigung und die für die Fortführung des Krieges sprechen, dringt der Wehruf zu uns:
Ich aber möchte mein eigenes Weinen dazu geben, darüber, daß diese erhabene Szene, daß dieses große Geschichtsdrama, diese Tragödie, in der die Vernunft von heiligen und unheiligen ererbten Gefühlen bestritten und angetastet wird, den Völkern, dreihundert Jahre nachdem der Geist des Dichters in ernster Zeugung das Werk uns gegeben hat, noch nicht lebt, daß es nicht von der Bühne herunter, kaum für verstehende Leser seine Wirkung tut. Kassandra naht in diesem Augenblick mit ihrem Wehruf und wiederholt ihn:
Und dann schwankt sie im Zustand der Verzweiflung herein und sagt Ilions Untergang voraus:
Aufs äußerste erschütternd ist es, wie jetzt Hektor sich hält. Nichts gibt es in Wahrheit für ihn, wovor die Vernunft zurücktreten müßte. Die Prophezeiung Kassandras, „die hohe Hingerissenheit der Ahnung“ in den Rufen der Schwester nimmt er ganz in seine Besonnenheit auf, und tief ernst redet er dem Bruder zu, weist ihn nachdrücklich auf seine Jugendlichkeit hin und bittet ihn, die Stimme der Vernunft und die furchtbare Warnung der Schwester zu hören. Troilus ist so beharrend, wie er feurig ist; er bleibt bei seiner Meinung; was Kassandra sagt, ist ihm nur „hirnkrankes Rasen“. Und jetzt greift auch noch der ein, den’s von Priamus’ Söhnen am nächsten angeht: Paris. Und wenn sie alle sich wendeten, so wollte er ganz allein für seine Tat weiter einstehn; Verrat an Helena, Schmach an der eignen Würde, Schimpf für ihn wäre es, wenn die Trojaner Helena hergäben! Sie ist die Krone aller Schönheit; der Kampf um sie der schimmerndste Ruhm. Und nun fällt Hektor die Entscheidung. Überzeugt ist er in nichts; lächelnd meint er, sie hätten eben gesprochen wie junges Volk, das Aristoteles für noch unreif erklärt hat, Moralphilosophie auch nur zu hören. Und noch einmal erklärt er sich: Das Recht der Natur gebietet, dem Eigentümer zurückzugeben, was ihm gehört; und es gibt kein heiligeres Anrecht als das des Gatten an sein Weib:
aber diese Vernunft, zu der er sich bekennt, und dieses Recht gewähren Sicherheit und Vorteil: und dies ist der Punkt, wo Ehre und Scham sich in ihm gegen die eigene[S. 275] Einsicht bäumen. Seine Vernunft ordnet sich keiner andern Regung, die sie von außen mit Schwall überfluten will, unter; aber das eigne Gefühl unterdrückt sie nun und weist sie fort. Seine Einsicht ist noch jung und darum schwach, unsicher, unheilig, ohne die Wurzel und den warmen, schönheitsvollen, geschwellten Gefühlsappell und Mantel der Tradition; und, den Untergang vor Augen, der, wie es das Verhältnis der vom Geist geleiteten Tat zur echten Prophetie ist, noch vermieden werden könnte, wenn Hektor beharrlich in seinem Neuen stünde, wenn der Mensch nicht aus Versklavung unter das Alte, das als heiliges Gefühl weiterlebt, seiner eignen Wahrheit untreu würde, ein Frevler an seiner Bestimmung, gibt er nach. Der Lockung der Ehre und des Ruhms, dem Ruf der Jungen, aus denen das Uralte spricht, der eigenen Kampflust auch und der Scham, mißdeutet zu werden, kann er nicht widerstehen; er gibt nach, obwohl er alles weiß, das Recht und das Ende: der Krieg soll weitergehn.
Das ist nun freilich eine Ergründung im Innersten eines Helden und Führers seines Volkes und ein Konflikt, von dem Homer nichts gewußt hat. Shakespeares Hektor ist wieder ein großes Beispiel für die Art, wie dieser Dichter, indem er innere Erlebnisse von Menschen, Zustände und Stufen der Gesellschaft und der Geschichte schildert, die nicht Zufälliges und Vergängliches, sondern Allgemeines und Bleibendes bedeuten, doch keine Typen und Schablonen, keine abstrahierten Muster hinstellt, sondern als Repräsentanten von Gattungsmäßigem einmalige, geschaute, in Besonderheit schimmernde, unvergeßliche Gestalten aufbaut. Dieser Trojanerfürst ganz besonders ist ein Mann, der zu uns her und über uns hinaus unterwegs ist: die discretion, die Vorsicht und Erwägung, die in dem aus dem Rittertum heruntergekommenen Sir John Falstaff erbärmlich persönliche Feigheit ist, so glänzender und scharfer Vernunftgründe sie sich auch bedient, will in Hektor ein nicht[S. 276] mehr egoistisches, ein Bürgerprinzip für’s Gemeinwesen werden, will aber die Ritterlichkeit, wie sie Prinz Heinz, wie sie Hektor selbst repräsentiert, mit in dieses Gemeinwesen aufnehmen und strebt so nach einer Einheit, nach einem Organismus, der für Hektor, ich glaube, der erst recht auch für uns noch unterwegs ist.
Darum ist Shakespeare der geborene Dramatiker, weil er von seiner Natur genötigt ist, die verschiedenen Standpunkte und Verkörperungen in ihrer Mannigfaltigkeit und Ergänzung zur Totalität zu sehen. Und wir wissen von andern Stücken und Gestalten her, eben von Falstaff zum Beispiel und von Shylock, daß auch die gesunkene, erbärmliche Hundsgemeinheit ihre Rolle in der Gesellschaft und ihr Recht hat. Der Tschandala, der Enterbte, der auch innerlich Versklavte hat einen Blick und eine Stimme, die etwas zu gewahren, zu sagen und zu deuten haben, so wahr in ihrer Gehässigkeit, wie es der Bevorzugte in aller vernünftigen Einsicht und Ritterlichkeit nicht kann. Befangen, in unsre Rolle und Umgebung gebannt sind wir alle; kein besserer Ausdruck für diese Bedingtheit als unser Wort Beschaffenheit, das einräumt, daß, was wir stolz und frei unsre Eigenschaft nennen, ein Geschaffenes ist; und sofern die Hohen da droben, die Helden und völlig Überlegenen, zu dem Zwang der Vorwelt und Umwelt, der sie ausmachen will, noch ein Eigenschöpferisches dazu bringen, das in die Umwelt und Nachwelt neue Bedingungen strahlt und sie zu Freien macht, dürfen auch die Originale im unteren Bezirk und im Schatten, die Getretenen, Gefallenen, Verbogenen und Verwahrlosten, die Shylock, die Falstaff und die Jago auftreten und sagen, daß so, wie sie beschaffen sind, die Freiheit aus ihnen reaktiv und in Mißgestalt nach oben spritzt. Zu diesen mißgeschaffenen und mißschöpferischen Gestalten gehört auch der Schatten der Helden, der Schimpfheld und Maulheld, der große Schmäher dieses Dramas, Thersites, der sich wiederum zu Homers Gestalt[S. 277] verhält wie Shakespeares Ulyß, Achill und Hektor zu ihren Vorbildern.
Sein Elend ist, im Innern, daß er ist, was er ist, denn er kennt seine Erbärmlichkeit gar wohl; und in der Anwendung, daß er in diesen Krieg gekommen ist, in dem er nur Angst und Abscheu empfindet; sein Trost und seine Lust, daß er an allem, was in dieser Welt groß und herrlich dasteht, die gemeine Kehrseite erblickt und aus Herzensgrund darauf schimpft. Dazu kommt, daß die vielgerühmten Helden, die gemeinschaftlich um einer großen Sache willen ausgezogen zu sein behaupten, auf einander eifersüchtig und erbost sind, daß sie ihn, der so virtuos schimpfen und herunterwürdigen kann, brauchen, daß sich besonders Ajax und Achilles um ihn reißen, wie die Großen der Renaissance um einen berühmten Pamphletisten oder die verschiedenen Reichsämter um einen korrupten und zu allem fähigen Journalisten.
Was er mit seinem Mund tut, das hat er vorher mit seinen Augen getan. Man könnte sich ein Stinktier denken, das eine Art immer weiter produzierender Geifer- und Gallenblase am Leibe hätte, in die es mit greifenden und austeilenden Gliedmaßen, mit Armen und Händen hineinlangte, um sein Gift und seinen Kot in die Welt zu spritzen. Diese Gliedmaßen nun vertritt bei Thersites nicht zuerst sein Sprachwerkzeug, sondern sein Blick. Er hat durchaus nichts Lügnerisches an sich, dieser große Beschimpfer und Schmäher, er spricht aus, was er sieht. Und dazu hat er dann noch eine im Ekelhaften großartig wühlende Phantasie, die sich ausmalt, was man noch alles in der Welt Scheußliches sehen könnte. „Agamemnon — wie, wenn der Beulen hätte? Vollauf, über und über, am ganzen Leib...“, das ist das erste, was wir von ihm hören; und er malt es sich immer anschaulicher aus, — bis ihn dann ein Lachen von der gräßlichen Vorstellung befreit: denn wenn nun aus den Löchern dieses Eitersacks die Materie herausliefe, — dann käme doch wenigstens etwas aus dem hochmögenden Herrn[S. 278] heraus; jetzt ist gar nichts in ihm! Die Kritik, die Bosheit dieses infernalischen Kerlchens nährt sich von seinen monströs ungeheuerlichen und schon fast grandiosen Geifervisionen, die ihn immerzu verfolgen; und darum ist er das Urbild der seltenen Libellisten, deren Niedertracht Natur, letzte Notwendigkeit und geradezu Zwangsvorstellung ist. Und insofern ist er in der Tat, wie es Achilles sagt, „ein privilegierter Kerl“. Daß das aber nicht sein Los allein ist, so von innen her dirigiert zu werden und wollend und scheinbar frei agierend zu müssen wie ein Hampelmann, daß er solchen Zwang, so eine erbärmliche Sklaverei, so eine Gefangenschaft in Trieben und Brunst auch an den Großen dieser Erde bemerkt, das beglückt ihn. Der schlimmste Fluch, den er einem zuschleudern kann, ist, ihm zu wünschen, was unfehlbar schon da ist: „Von deinem Blut lasse dich regieren bis zu deinem Tod!“ Gierig spürt er ihnen nach, diesen schimmernden Helden, und kommt zu dem befriedigenden Resultat: lauter Brunst und Unzucht und Liederlichkeit steckt dahinter, „lauter wollüstige Schurken!“
„Unzucht, Unzucht! Nichts als Krieg und Unzucht! Weiter ist gar nichts Mode. Hol’ sie ein brennender Teufel!“ Und was für ein Krieg gar! Um was der Streit geht! Der kalte, schneidende, geifernde Schimpf dieses Thersites spricht nur aus, was auch schon der Prolog, was Troilus als abgewandter Betrachter, was Hektor in seiner Besonnenheit gesagt hatte. „Um einen geschlitzten Unterrock“ wird Krieg geführt!
Der ganze Inhalt der Geschichte ist — ein Hahnrei und eine Hure! Ein schöner Streit, um eifersüchtige Parteien aufzuwiegeln und sich darüber zu Tod zu bluten. Die trockne Krätze falle auf das Mensch, und Krieg und Liederlichkeit verderbe alle!
In Person tritt Helena wenig auf; aber doch hat sie einen kleinen Augenblick der Einkehr, der Schwermut, der tragischen Größe. „Singe mir von Liebe!“ bittet die Schöne[S. 279] den Pandarus, der — eine komödiantisch gefühlvolle Kastratennatur — gut singen kann, und nun ertönt das Lied, aus Trauer, Wollust und Frivolität gemischt:
Tief hat sie aufgeseufzt, so tief, wie die entzückend Oberflächliche in einem schönen Moment in sich und der Wirklichkeit einkehren kann:
Kommt es nicht, wie es Nestor als Vorschlag der Griechen übermittelt hatte, zu Helenas Auslieferung, so doch zu der Cressidas, im Austausch gegen einen trojanischen General; ihr Vater Kalchas, ein trojanischer Priester, der zu den Griechen übergegangen ist, hat seine Tochter verlangt, und dem Begehren wird willfahrt. Wie sie nun von Diomedes aus Troja abgeholt wird, erleben wir aufs entschiedenste ausgeprägt die Verbindung und den Gegensatz ritterlicher Gegenseitigkeit und Freundschaft zum Krieg.
Äneas und Diomedes, die beiden Feinde, treffen sich auf einer Straße Trojas und begrüßen einander:
Dieser Gedanke wird nun mannigfach variiert:
Die Freundschaft geht so weit, daß sie einander liebevoll und schonungslos die Wahrheit sagen. Diomedes, ein sinnenfroher, leichtfertiger junger Mann, ein Draufgänger, einer, der im Leben sich wohlig in der Wollust badet, dabei aber mit dem Denken doch frei bleibt und nicht zum Sklaven der Sinnlichkeit wird, spricht sich aufs schärfste, ohne von[S. 280] einer Wolke des Hasses zur Unterscheidung zwischen Freund und Feind gebracht zu werden — Paris persönlich gegenüber — gegen Helena, Menelaus und Paris selber aus:
Cressida soll Diomedes holen; und so ist er dazu bestimmt, die Reizende im leichten Liebesspiel, ohne daß er wie Troilus Innigkeit und Phantasie und Lebensernst hinter der Sinnlichkeit herschickt, ohne daß er irgend in Empfindung versinkt, dem Knaben abspenstig zu machen. Sie aber kommt gerade von ihrer Liebesnacht mit Troilus, der ersten, die sie ihm endlich bewilligt hat. Hier nun, bei dem Abschied der Liebenden, die in dem Augenblick von dem, was über Cressida beschlossen ist, noch nichts wissen, die nur eben für diesmal ihre Liebeslust beendet sehen, haben wir entschieden eine Parodie, aber nicht auf Homer, sondern auf Romeo und Julia.
Ohne daß er’s aber weiß und möchte, ist der gute Jüngling ernüchtert; der graue Morgen ist da, und Troilus redet eine unedle, zwischen Liebesvertrautheit und Wollustvertraulichkeit, zwischen Sehnsucht und Begier und Alltag stolpernde Sprache:
Dazwischen dann wieder Liebesbeteuerungen und Klagen über die Kürze der Nacht.
Und in diese Situation kommt nun, um das Pförtchen zu öffnen, Cressidas Oheim Pandarus, nicht, wie Juliens Amme, die Vermittlerin zwischen leidenschaftlicher Liebe,[S. 281] sondern in Mannesgestalt der unmännliche Kuppler, der sie — es ist seine Natur so, er braucht das — mit seinen Lobeserhebungen, seiner Anwärmung, seinem Hin- und Hertragen erst zu einander gebracht hat; er, der immerzu neugierig ist, weil ihm alles von außen kommen muß, bedarf immer neu der Gier der andern, um in seine verhutzelte Trockenheit etwas Saft zu bekommen. Der macht nun seine schnöden Witzchen über ihre Nacht und gießt vollends kaltes Wasser auf den armen Troilus, der glaubt nicht leben zu können, wenn er seine Liebe nicht über die Befriedigung des Triebs hinaus festhalten kann.
Shakespeare hat sich in dieser und ähnlichen Szenen dieses Stücks, wie in manchen seiner romantischen Lustspiele, an die äußerste Grenze der romantischen Ironie gewagt. Nur feinste Künstler könnten auf der Bühne die Parodie so zart herausbringen, daß darüber die Realität der Gestalten und die freundwillige Liebe des Dichters zu ihnen, die humane gentleness, die selbst Cressida, besonders aber Troilus umschwebt, nicht verloren ginge. Dieser prächtige Jüngling hat ja doch, wenn schon nicht die rechte Geliebte, so doch die rechte, die leidenschaftliche Jünglingsliebe, die alle Grenzen sprengen möchte, und auch die rechten Gedanken über das Verhängnis, das Liebe heißt. Wie er mit dem bürgerlichen, sinnenden Ernst, der philosophischen Betrachtung, die die Gestalten dieses Stückes besonders auszeichnet, zu Cressida sagt, noch ehe sie sich ihm ergeben hat:
Das ist das Ungeheure in der Liebe, Jungfrau, daß der Wille unendlich und seine Ausführung beschränkt; daß die Begierde unbegrenzt und die Tat ein Sklave der Grenze ist.
Wie nah steht dieser Jüngling in seinem Gefühlsleben dem jungen Romeo, und wie so ganz anders ist doch die geistige Sphäre dieses Dramas aus Shakespeares letzter Periode als in Romeo und Julia, dem Meisterwerk seiner Jugend!
Aber wie leibhaft als Individuum und wie Herz und Geist ergreifend als Repräsentant einer Weltgesinnung steht der eine wie der andre, Romeo und Troilus vor uns da, und wie kommt man zugleich aus der Wirklichkeit und dem tiefen Sinn in die ärgerliche Nichtigkeit und talentvollste Theatralik, wenn einem einen Augenblick lang die Gedanken von Troilus, dem jungen Sohn des Kriegs, zu dem Kind des Lagers Max Piccolomini schweifen!
Auch Romeo ist zum Denken, zur Betrachtung geneigt; aber ihm kommt das Leben seines Geistes nur wie eine Blüte aus Leidenschaft und Seelengewalt geschossen und bleibt untrennbar damit verbunden; die Gestalten dieses Stücks aber, auch der junge Troilus, scheinen das Leben des Triebs und der Seele in einem Behältnis, das der Vernunft in einem andern zu haben; sie scheinen aus einem Zustand der Gesellschaft, einer Beschaffenheit des innern Menschen zu einem andern, einem neuen unterwegs zu sein. Was Troilus sinnt, will fast noch mehr von der Sinnenliebe weg als es aus ihr kommt; er denkt wie zum Übergang und zum Untergang, dieser annoch Sklave der grenzenlosen Begierde, der berufen ist, dereinst als Freier, nicht mehr als Freier und Werber um die Wollust, sondern als Freier ums Schicksal gereift und frei in den Untergang zu schreiten, er sinnt über die Liebe, wie der ewige Jüngling Faust, der triebhaft Denkende und im Empfinden zum Denken Getriebene: „Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde!“ Troilus sagt den Grund, ohne Erfahrung, wie aus der Ahnung heraus, seinen Grund, den er nun zu erleben hat: Weil der Genuß die Enttäuschung und die Begierde die Hoffnung ist; weil nur die Begier unendlich ist, die Tat, der Akt aber ein Sklave der Grenze ist.
Fast unmittelbar an den Liebesabschied der beiden schließt die Mitteilung an, daß es eine Trennung sein soll, fast wie Romeos Verbannung. Nur daß diese furchtbare Trennung[S. 283] hier dem Liebesakt, der bloß der Sehnsucht des Jünglings einzig geschienen hatte, der aber ganz gewöhnlich war, und ihrem nüchternen Abschied hintennach hinkt, während Romeos und Julias Liebe und Trennungsschmerz um und um eingehüllt war in die Tragik einer von Haß und Feindschaft zerrissenen Liebe. Auch hier fehlt es nicht an Parodie: Cressida muß fort, ins Lager der Feinde, und Troilus verspricht, sie dort unter Lebensgefahr zu besuchen. In unecht, angelesen klingenden, modischen Gewaltsworten hören wir Cressidas Beteuerungen der Treue; und dann tauschen sie, nach dem Brauch der Ritterzeit und der Ritterromane, Liebespfänder: Trag’ diese Schleife! — Und du diesen Handschuh!
Troilus läßt sich’s nicht nehmen, die Geliebte persönlich Diomedes zu übergeben, und geleitet sie bis zum Tor. Dem stolzen Griechen gegenüber, der sofort in überlegener Ruhe zu flirten anfängt, spielt der Gefangene der Liebe eine knabenhafte, leicht komische Rolle; und was uns da auffällt, wird auch der gewitzten Cressida nicht entgehen.
So kommt sie ins Griechenlager, wo sie von den galanten Fürsten, die sich auf ihren Wert verstehen, sofort mit Küssen empfangen wird. Ihr tut das sehr wohl, und sie geht mit rechtem Vergnügen auf das Spiel ein; einer aber wendet sich provozierend scharf gegen sie: Ulysses. Ihm ist, wozu die gewohnheitsmäßigen Spottreden, die bei der Gelegenheit auf Menelaus fallen, nicht einmal nötig gewesen wären, der Schatten Helenas auf den Vorgang gefallen, und in Cressida erkennt sein scharfer Blick sofort ein Weib von der Art der Ledatochter. Auch er bittet sie um einen Kuß, um sich, wie sie ihn leichten Herzens gewähren will, verächtlich abzuwenden:
Und keine Rücksicht kann ihn vom schärfsten Ausfall zurückhalten; er kennt sie durch und durch:
Kurz darauf aber das Gegenbild in der Sphäre der Männlichkeit. Bei dem ritterlichen Turnier, zu dem sich nun Trojaner und Griechen vereinigen, hören wir, wieder aus dem Mund des Menschenkenners Ulysses, die Schilderung des Jünglings Troilus, der mit zu den feindlichen Gästen gehört:
Das Mannesideal Shakespeares verkörpert auch Troilus, umwogt noch von der weichen Hülle holder Jugendeselei; aber was er zu werden verspricht, sehen wir mit Augen, wie es Ulysses bestätigt: Ritterlichkeit ist ihm mit Rationalismus vereint; Herz und Kopf wirken ebenmäßig mit einander der Harmonie zu.
Diese Schilderung steht am Eingang zu der herrlichsten Szene unter den vielen prachtvollen des Stückes: der Mannesheld Hektor der Trojaner ist mit seiner Schar Fürsten und junger Helden als Gast ins Lager der Griechen gekommen. Welche Freude waltet zwischen ihnen, und welche Mannigfaltigkeit in der Freude, und welche Steigerung durch das Bewußtsein, das immer dabei ist, daß diese liebevolle Freundschaft zwischen Feinden nur eine Kampfpause im Völkerkrieg ist.
Die Griechen haben den plumpen, schwer körperlichen, starken Streiter Ajax, der mit seiner bramarbasierenden[S. 285] geschwollenen Eitelkeit manchmal ein wenig komisch wirkt, zum Streit im Turnier mit Hektor erwählt; sie haben es getan, um Achilles zu reizen. Kann er, der ihrer Sache ganz fremd geworden ist und den die Brunst zum Verrat zieht, noch gehalten und geweckt werden, so nur durch die Eifersucht. Ulysses hat schon vorher die Griechenfürsten dazu gebracht, daß sie ihn verächtlich behandeln, und hat ihm unmittelbar danach in sehr ernster Rede ins Gewissen hinein eine Lektion gegeben; im Anschluß an ein Buch, in dessen Lektüre versenkt er an Achilles’ Zelt vorbei wandelt — es scheint ein Band Cicero oder Montaigne gewesen zu sein, derlei hat es zur Zeit von Shakespeares Trojanischem Krieg ebensowohl gegeben wie die Ethik des Aristoteles —, legt er ihm dar, wie auch der Ruhm von der Mode abhängt, und wie ein Ruhm, der sich nicht immer neu herstellt, welk und abgestanden wird:
Die Zeit ist wie ein Gasthofwirt, der die Gäste, die gehen, kalt entläßt und die neu Ankommenden schon beinahe umarmt.
Mit diesen mahnenden Betrachtungen hat er den Helden, der nur unerzogen, willkürlich, triebhaft, dem Verderben nah, aber noch nicht verloren ist, schon recht nachdenklich gestimmt. Dann aber, nachdem er ihn mit solchen allgemeinen Maximen rege gemacht hat, apostrophiert er ihn[S. 286] persönlich und schießt seinen schärfsten Pfeil ab. Die Griechen, deren geistiges Haupt ein Ulysses ist, haben, wenn sie im Krieg liegen, ihre Augen, ihre Spione überall; sie wissen sehr wohl, warum Achill sein Schmollen, seine Unzufriedenheit mit der neuen Strategie gar nicht überwinden kann: Wollust steckt dahinter! Man hat ausgekundschaftet, daß Achill des Priamus Tochter Polyxena begehrt, daß er Unterhandlungen mit Troja pflegt. Aber — und nun läßt sich der so Sittenstrenge wie Bewegliche auf den Ton ein, den Achill, Patroklus und Thersites unter einander eingeführt haben —
Damit hat er ihn verlassen, und nun soll Achilles wie ein Garnichts unter den Zuschauern stehen, wenn Hektor mit Ajax kämpft!
Gar so schlimm aber kommt’s nicht; dafür sorgt seine reckenhafte Erscheinung und die höfisch zierliche und dabei doch herzlich verehrende Art der Trojaner, vor allen des Äneas. Von ihren Kämpfen her kennen diese Ritter einander nicht; da tragen sie die geschlossenen Helme; wie aber nun Achill, bei dem die Kur schon etwas angeschlagen hat und der im Kreis der andern griechischen Fürsten steht, eine Bemerkung macht, da wendet sich Äneas sofort zu ihm:
Auch weiterhin geht es in dieser Szene ganz zu wie in den Ritterromanen; Ajax hat sich vorgenommen, den Kampf, wie’s in solchen Spielen nicht sein muß, aber nach dem Brauch sein kann, bis zum Äußersten zu führen; Hektor aber erinnert sich, daß Ajax’ Mutter eine Schwester des Priamus war (ich möchte annehmen, daß das — in der Romanüberlieferung — die Tante war, die den Trojanern von einem Griechen geraubt worden war), und gegen[S. 287] seinen Vetter kämpft er nicht im Ernst; er darf das tun; daß er für seine Person keinen Kampf scheut, weiß jeder. Und nun regt sich erst beglückte Gemeinschaft des Wesens unter ihnen; und immer geht durch alle Ritterlichkeit, Höflichkeit und herzliche Verehrung die Todesdrohung, durch Spiel der Ernst, in Heiterkeit und männlicher Fassung die Tragik durch. Agamemnon begrüßt Hektor:
Dann wendet sich Hektor zu dem, der sich als Menelaus bekannt gibt; sein freundlicher Gruß geht nicht ohne neckende Anzüglichkeit ab. Zu feierlicher Rede holt der alte Nestor aus; wie oft hat er diesen Hektor im Kampfe gesehen, hat seine Tapferkeit und seinen Edelmut bewundert, wie er sein Schwert hoch in die Luft warf, um es nicht auf einen schon zu Boden Liegenden fallen zu lassen, ganz wie Sir Launcelot, der adligste Held, in Malorys Arthur-Roman das Prinzip hat: „Einen gefällten Ritter erschlage ich nicht“; und nun sieht der alte Mann dem heldischen Manne zum ersten Mal ins Antlitz. Sie umarmen einander, und „die gute alte Chronik“, wie Hektor ihn liebevoll nennt, fährt in seiner Rede fort:
Das ist homerisch und mehr als homerisch; bei Homer wäre er streng in seiner Rolle, sich zu erinnern und die gute alte Zeit zu loben, verharrt; hier kommt die Überwältigung durch den großen Moment dazu.
Dann kommt die Reihe der Begrüßung an Ulysses. Sie kennen einander; Ulyß war schon zu Verhandlungen in Ilion. Er meidet als erstes scharfe ernste Worte nicht: Ilion muß fallen. Dann erst, nach solchen Wechselreden, erlaubt sich der Politiker das Menschliche, das nun aber aus Herzensgrund hervorbricht:
In all der Zeit hat Achill seine gierigen Blicke nicht von Hektor gewendet. Nun tritt er vor und begrüßt ihn mit raschem Wort. Auch Hektor betrachtet sich den Helden, aber höflich zurückhaltend, und ist schnell damit fertig. Achill jedoch, Hektor sagt es, nicht angenehm berührt, erdrückt ihn immerzu mit seinen Augen. Und doch weiß der Stolz des Herrlichen, der an den innern Wert denkt:
Aufs schlagendste tritt hier der Gegensatz dieser beiden Naturen hervor; Achill kann und will gar kein Hehl daraus machen, warum seine Blicke wie magnetisch von Hektors Körper angezogen werden:
In großem Zorn, aber mit einer Würde ohne gleichen erwidert Hektor:
Mit Achill ist die rohe Kampfwut durchgegangen; seine politischen Verhandlungen mit Troja, die er nicht aus Politik, sondern in der Willkür des Brünstigen und verärgert Launischen geführt hat, waren ihm beim Anblick des herrlichen Feindes ganz aus dem Sinn gekommen. Ajax, sowieso schlecht auf ihn zu sprechen, sagt es ihm gradezu:
Inzwischen hat Hektor sich ganz gefaßt und antwortet auf den plumpen, schnuppernden Raubtieranfall Achills nicht mit einer Herausforderung, sondern mit einer Bitte:
Bei dieser wunderschönen Männlichkeit überläuft es den Achill. Das überwindet ihn; das ist stärker als alles, was bisher auf ihn wirken wollte. So läßt Hektor sich die Hand darauf geben, daß sie morgen sich im Kampf treffen wollen.
Philologen! Das ist nicht bloß anders, nicht bloß uns mehr angehend, nicht bloß in Sachen des Staates, der Gesellschaft, all unsrer Problematik moderner als Homer; das ist im tiefst Menschlichen eine Stufe über ihn hinaus gebaut, das ist größer als Homer! Theatermeister! Es ist eine der erhabensten und innigsten Szenen Shakespeares; und von ihr aus ist das ganze strotzend reiche, bitter ernste, tiefsinnige, durchaus menschliche Geschichtsdrama zu erfassen.
Wir stehen mit dieser Szene am Ende des vierten Aktes. Immer wieder haben wir gesehen, wie es die Männer in beiden Lagern nehmen, daß dieser Krieg, der nicht enden will, um eine Helena, um eine Weibersache geführt werden muß. Wir haben miterlebt, wie der edle junge Troilus mit seiner Geschlechtsliebe in die Irre geht und all sein Bestes an ein kokettes, nichtiges, graziös reizvolles Frauenzimmerchen hängt; wie Achill von Wollust jeder Art, von Trieb und Unbeherrschtheit in seinem Adel angefressen ist; wir haben Pandarus, den seelisch leeren Kastratenlüstling, gesehen, der sich an andrer Leute Lustfeuer wärmt, und dagegen die Männer der Ausgeglichenheit, der Vernunft auf verschiedenen Stufen der Höhe, Ulysses und Hektor[S. 290] zumal. Da dringt in dieser Szene, wo die Feinde in hoher Stunde der Heiterkeit zusammenkommen, wo Troilus traurig schmachtend abseits steht und nur die Gier im Leibe hat, bei Gelegenheit dieses Festes zwischen den Feinden ins Zelt des Kalchas zu seiner Cressida zu kommen, wo Achills brünstige Blutgier von Hektors herrlich gefaßter Männlichkeit auf ihrem eigenen Boden seelisch überwunden wird, mit sicherer Gewalt der Sinn dieses Dramas in uns ein: hier steht Männerfreundschaft gegen Geschlechtsbrunst. Leibhaft erleben wir: was sind das, was wären das für Männer! Wehe über sie, wehe über die Welt, deren Repräsentanten sie in allen Tönungen sind, daß sie in Weiberbanden, in den Banden der Gier, der oberflächlichen und doch tiefzehrenden Sinnlichkeit, der Affekte stecken; daß sie darum einander auf Leben und Tod im Krieg gegenüberstehen. Und es liegt etwas wundervoll Tiefes darin, daß Shakespeare diesen Stoff des Krieges um Helena ergriffen hat, um diese sehr selten gewahrte Beziehung zwischen Sinnlichkeit, Gier, oberflächlicher, ungeistiger Sucht und dem Krieg aufzuzeigen. Man braucht sich nur an Porzia von Belmont und Portia, die Frau des Brutus, an Desdemona, an Cordelia, an Hermione und Miranda zu erinnern, um zu wissen: er war, viel weniger noch als Strindberg, in keinem Stadium ein Weiberfeind; aber daß gewisse Mann-Weib-Beziehungen der Urgrund männlicher Wut sind, daß auch die stiermäßige Kriegswut in Beziehung zu Brunst und Unbefriedigung, vor allem des Geistes steht, das hat er gesehen und in Troilus und Cressida dargestellt. Und er hat im selben Zusammenhang die Freundschaft als ein nicht bloß privates, sondern öffentliches und gesellschaftliches Prinzip behandelt und durch das, was er in herrlich bewegter Aktion zeigte, gefeiert. Die Freundschaft, wie sie mit Ratio, mit hellem, warmem Geist verbunden ist und über allen Affekten des Hasses und der Zornwut steht; die Freundschaft, wie sie in seiner Sonettendichtung ein so selt[S. 291]sam freies und gebundenes, kummervolles und adliges Leben führt, und wie sie in unsrer Zeit Walt Whitman als Kameradschaft, allen Nationen der Erde als Band der einzelnen, der Gruppen und damit der Gesellschaften gekündet hat. Nicht die Lotterbettfreundschaft, wie sie zwischen Achill und Patroklus eingerissen ist, wo edles Band und niedriger Trieb einander durchdringen, wo der Geschlechtstrieb in Maskierung seine Verwüstungen anrichtet; der gräßliche Fluch, den Thersites gegen alle „männliche Huren“ und „unnatürliche Sodomiter“ schleudert, wird nicht umsonst dem Patroklus gegenüber und nicht umsonst in diesem Stück geäußert, und ganz gewiß nicht umsonst in dieser Szene, mit der der fünfte Akt einsetzt, der ersten, die auf das große Bild der Freundschaft, die den Krieg überwindet, folgt. Wie hat Achilles nach dem Streit, nach Blut gelechzt, als er im Dunstkreis Hektors stand! Jetzt, unmittelbar darauf, ist ein Brief Hekubas mit einem Liebesgeschenk ihrer Tochter eingetroffen, die Brunst ist wieder da, die ihn stärker bezwingt als der Vorsatz, als das Gelöbnis, als der Handschlag, den er geleistet, sich zum Kampf zu stellen:
Er ist zum Verrat entschlossen und zum Wortbruch und will nicht mehr mit Hektor kämpfen.
Seit Cressida ins Griechenlager gekommen ist und gleich nach ihr die trojanischen Fürsten zu Gast erschienen, sind die beiden bewegten Teile der Handlung in Fluß gekommen: der Gegensatz Achills zu Hektor und das Verhältnis Troilus-Cressida. Dieses Drama gehört zu der Serie von Stücken aus Shakespeares letzter Periode, deren jedes seinen besondern Stil hat, weil er in frischer Gärung und tiefer Unbefriedigung mehr als je ein Suchender ist, der Neues auszudrücken hat und also auch immer wechselnd sich neuer Formen bedient; es gehört in dieser Hinsicht zu Timon, Perikles, Zymbelin, dem Wintermärchen, Antonius und Kleopatra und Sturm. In Troilus und Cressida kommt die[S. 292] Handlung sehr langsam in Gang; die Exposition, von Troilus, Cressida und Pandarus zu der politischen und militärischen Lage bei den Trojanern, dann zu den Griechen und ihrem Kriegsrat, zur Vorbereitung des Turniers, zu den abgesonderten Heerführern Ajax und Achill und dem zwischen beiden hetzenden und schmähenden Thersites, darauf wieder zum großen Rat Hektors mit Vater und Brüdern, zur Erziehung Achills durch Ulysses — das alles gibt mehr eine Zustandsschilderung als eine Handlung; in alledem bewegt sich als Aktion fast nur das Liebesverhältnis des jungen Paares bis zum Morgen nach ihrer Nacht und der Trennung; jetzt aber ist konzentrierteste Spannung, wir erleben die beiden Hauptteile der äußern Handlung als innerlich zusammengehörig, als Seelenvorgang und Sinn; alle Fäden sind geschlungen, und das Grundthema, das alles eint, ist aus dem Vielfachen herausgesprungen: die Ritter als Männer; die Ritter als Sklaven des Geschlechts.
Ulysses hat den stillen, von Trauer umfangenen jungen Feind Troilus in sein Herz geschlossen; er ahnt sein Geheimnis und will ihn nach seiner Art fördern; so wie der nach Lästerung lüsterne Thersites dem Diomedes auf die Sprünge gekommen ist; und so hat sich eine der wundervollen Szenen in schlüssiger Motivierung vorbereitet, die man nur mit musikalischen Gebilden vergleichen kann und die auch in Art der Musik komponiert sind. Ulysses hat Troilus mit einer Fackel zum Zelt von Cressidas Vater Kalchas geleitet; Thersites ist hinter Diomedes hergeschlichen; Diomedes hat, vom Vater begünstigt, sein nächtliches Stelldichein mit Cressida.
Da haben wir ein Quintett, das sich zusammensetzt aus dem Liebesgeflüster von Diomedes und Cressida, aus den noch leiseren Worten, die die beiden unfreiwilligen Lauscher, Troilus und Ulysses, mit einander wechseln müssen, und aus der ungeheuren Gewalt der mehr unterirdisch gekollerten[S. 293] und gekrähten als gesprochenen zynischen Solobemerkungen des Thersites.
Diomedes geht ganz kaltblütig, rationell, wie nach der Vorschrift einer Psychologie der Wollust ans Werk der Verführung: er läßt, zugleich mit dem Reiz, den sein Leib, seine Jugendlichkeit, seine Kraft und seine Begier auf das Weibchen ausübt, durchblicken, daß er sehr wohl auch ohne Cressida auskommen kann. Es lebt schon so etwas wie Wille oder, wenn es das Wort gäbe, Möchte zur Treue in ihr; sie sträubt sich nicht bloß aus Koketterie; der ferne Troilus — sie ahnt ja nicht, daß er dabei ist — tut ihr recht leid; aber Diomedes’ Nähe berückt ihre Sinne, und wie er achselzuckend gehen will, hält sie ihn zurück, klammert sich an ihn, streichelt ihn und holt ihm die Schleife zum Liebesgeschenk, die sie als Unterpfand der Treue von Troilus angenommen hatte. Dann wiederholt sie im Spiel der Buhlerei, was sie vorher im letzten Zieren des kleinen Restes ihrer bessern Natur getan hat: sie hält ihn hin, sie zieht sich zurück, sie peitscht das Geschlecht in ihm auf.
Bei alledem steht Troilus, muß es mitansehn, in all seinem unsäglichen Jünglingsschmerz. Wundervoll ist, ein Zug aus der Freundschaftswelt, der Besonnenheit und Güte, wie Ulysses ihn behütet. Erst flüstert er ihm nur mit mahnender Betonung zu: Nun — Trojaner! Dann sorgt er mit kürzesten Worten, aber so wirksam, wie’s nur dieser Menschenkenner kann, dafür, daß der Gepeinigte, der als einzelner zur Nachtzeit im Feindeslager und an einer Stelle steht, wo er nicht zu dulden ist, nicht in Wut gerate und vom unbekümmerten und aufgestachelten Feind erschlagen werde. Jetzt aber sehen wir erst, welch innig schöner Jüngling Troilus ist; er faßt sich; nicht diese ja hat er geliebt; er hat die Liebe geliebt. Seine Klage gilt der Welt, gilt dem Trug des schönen Scheins.
Aber Shakespeare ist Shakespeare; er zeigt auch hier, wo so Allerpersönlichstes, allerbitterst Erlebtes mitschwingt — Diomedes ist sein aristokratischer Freund, Troilus ist er selbst —, er zeigt im Drama immer auch die andere Seite. Wie in Troilus’ Worten:
das Leid des betrogenen Liebenden sich zur Mannesklage um das Ganze gesteigert hat, so erhebt sich Cressida in dem Augenblick, wo sie der Wollust erliegt, über sich selbst und stimmt rührend die Klage um das Los der schwachen, der zitternd auf Eingriff und Erschließung wartenden, passiv lechzenden, mit kleinen Reizen aufstachelnden Frauen an:
Und dazu kommt das greuliche Echo des lauschenden Mitgenießers Thersites, der aus der stillen Klage, in der uns die mild verzeihende Gerechtigkeit des Dichters mitklingt, die hohnvolle Anklage boshafter Weltverzweiflung macht:
Wenn ein Zwerg sich recken könnte, bei dieser Entlarvung der Menschennatur, die er wieder einmal mitansehen darf, hätte es der bissige Wicht getan. Aber auch in seiner Kleinheit liegt Größe der Dämonie, wenn die ganze Wollust des Hasses und der Schadenfreude und Schmutzfreude in ihm locker wird und er in die erwachende Gier der beiden schönen jungen Menschen hineinzischt:
Wie der Wollustteufel mit seinem fetten Steiß und seinem Kartoffelfinger diese Menschen zusammenkitzelt! Schmore, Unzucht, schmore!
Es gibt aber nichts schauderhaft Groteskes, nicht einmal von Shakespeare, was nicht von manchen unter seinen Erklärern[S. 295] noch überboten werden könnte. Ich zweifle nicht, daß schon einer nächtlicherweile Thersites gegenüber hinterm Busch gehockt ist und, um das Quintett zum Sextett hochzubringen, an dieser Stelle dazwischen gefuchtelt hat: Es hat ja aber doch zur Zeit des trojanischen Krieges in diesen Ländern noch keine Kartoffeln gegeben! Die sogenannten Anachronismen, die in diesem Stück nicht gehäufter auftreten als in andern, besonders aus Shakespeares später Zeit, aber auch zum Beispiel im Julius Cäsar, deuten keineswegs auf parodistische Absichten, sondern hier auf die besondere Lebendigkeit, mit der der Dichter die Vorgänge empfand und zur Empfindung bringen wollte. Für das Dicke, Beulenmäßige und doch dabei Gereckte, was da vor der Phantasie erstehen soll, wußte Shakespeare für uns kein geeigneteres Wort Thersites in den Mund zu legen als dieses: Kartoffelfinger; und warum sollte er es denn also nicht tun, da er nicht für Archäologen schrieb, da wir im Gegenteil durchaus wissen und spüren sollen, daß dieser trojanische Krieg und diese Seuche der Lust und der Gier unter uns wütet?
Muß ein Drama, wozu ich den Grund nicht einsehe, durchaus benannt und einer Gattung eingeordnet werden, so ist dieses keine Komödie und keine Tragödie und keine Tragikomödie zu nennen und ebenso wohl alles drei. Es bringt uns nicht Lachen oder Weinen, auch nicht bald Lachen und bald Weinen, sondern, wie im Don Quixote kommt der reife, erkennende Weltbetrachter, der seine Aktion vor uns aufführt, zu einem wehvollen Lachen, wo es denn auf die Natur des Miterlebenden ankommt, ob er — etwa — in Ergriffenheit und doch darüberstehend lacht oder ob er, noch im Stande zu lächeln, weinen muß. Das Lachen darf sogar ein böses, hartes, scharfes, grimmiges sein; zwischen Hektor und Ulysses auf der einen Seite und Thersites auf der andern ist viel Platz, und da steht Shakespeare; aber Größe muß in dem Lachen sein; denn was wir in dieser Aktion[S. 296] erleben, ist, wie sich eine große Welt, mit ihrem Willen müssend, sehend und damit blind, mit Augen sehend, mit Sinnen sehend, zugrunde richtet. Und es darf nichts Unreines in dem Lachen sein; Shakespeare hat Thersites in dem Verstehen, das nicht ohne Liebe ist, und doch in Verachtung geschaffen, er steht nicht bei ihm.
Immer wieder wird man geneigt sein, sich bei Shakespeare der Sprache, wie Spinozas, so Schopenhauers zu bedienen. Aber Shakespeare steht Spinozas Ethik um fast so viel näher als Schopenhauers, wie er Hektor gewiß näher steht als dem Bastard, den Thersites mit einer buddhistischen Nonne erzeugt hätte. Weitaus universeller und liebevoller als Schopenhauer umfaßt Shakespeare mit seinem Blick das Ganze und Vielfache der Welt, weitaus mehr als der aus Weichheit Böse hat er an sich gearbeitet, so daß er mit festerem Panzer gegürtet der Welt widersteht. Er kommt nicht bis zur fromm-feigen Bosheit der Askese und des Weltverzichts inmitten der Welt; und er kennt zweierlei Willen: den einen freilich, den Schopenhauer geschildert hat, den Willen, der der Sklave seiner Diener der Sinne ist; den andern aber auch, wie ihn Spinoza der Mensch, Fichte der Mann gekannt haben, den Willen, der männlich, fest, ritterlich die Tiere im Innern zügelt, die Diener lenkt und beim Licht der Vernunft den Weg findet. Gegen die Menschen aber, die das vermögen — Shakespeare zeigt es uns besonders auch in diesem Stück —, ist die Welt verbündet; sie siegen im Geiste, wie Hektor über Achill schon gesiegt hat, aber sie dauern selten und fallen meist. Und darum, weil er das zu tiefst geschaut, erlebt, erlitten hat und doch noch heiter resignieren konnte, darum, weil er alle Stimmungen und Lehren, die diese Weltschau ermöglicht, finden und gestalten konnte, ist Shakespeare der größte aller Dramatiker, der große Tragiker und der große Humorist; darum ist diese Dichtung eine ganze Tragödie und ein ganzes Stück befreienden Lachens.
Troilus, den Schmerz und Enttäuschung erziehen, sieht in diesem Augenblick ein, daß nichts am äußern Reiz, daß alles an der Seele liegt. Er hat Cressida, seine Cressida, in ihrem Schäferstündchen mit Diomedes gesehen und ruft sich nun, wie um aus einem Traum zu erwachen, zu:
Dann geht er aber weiter und hat das tiefe Erlebnis, das den Knaben vom Manne scheidet: Cressida zerfällt ihm nun in zwei, in das adlige Bild, das ein Ausdruck des Innern ist, das er geliebt hat und immer lieben will, und in das armselige Geschöpfchen da, das er in dieser Situation gesehen, das er niemals gekannt hat, das ihm ganz fremd ist.
Aber er hat es nicht so leicht wie Diomedes, der gewiß auch einmal, mehr als einmal er, solche Erfahrung gemacht hat und sich dann entschließen konnte, mit dem Leib im schmutzigen Fluß weiter zu schwimmen und nur den Kopf frei über Wasser zu halten. Troilus braucht ganze Reinheit; wie leicht ist es für den Jüngling, sie von der Liebe zu fordern; und wie schwer ist es für den Betrogenen, wieder ganz Verlassenen, diese Reinheit, die Liebe ist, selber zu üben. Noch ist er nicht ganz reif, bei weitem noch nicht; erst muß ein größerer, ein nicht so mit Tiertrieb und Raffgier verwachsener Schmerz über ihn kommen; und der wird nicht ausbleiben. Jetzt glüht er vor Rachsucht gegen Diomedes; den Mann, der Cressidas Schleife trägt, will er im Felde treffen; und da nun die Nachbrunst der betrogenen Liebe, der Rachedurst im Spiele ist, soll dieser Krieg nicht mehr ritterlicher Kampf, soll er Vernichtungskrieg sein.
Die Trojanerhelden sind heimgekehrt und rüsten sich zum Streit, wie ihn Hektor und Achill für heute vereinbart haben. Hektor bricht auf; vergeblich wollen ihn Andromache, seine Frau, Kassandra, Priamus selbst zurückhalten; alle haben sie böse Träume gehabt; und sie wissen, das sind keine gewöhnlichen Träume, das sind Wahrträume gewesen. Hektor nimmt diese Warnungen auch keineswegs leicht; er[S. 298] ist selbst wie von Ahnungen umwittert; er ist tief ernst; aber er hat den Griechen sein Wort verpfändet, sich heute zum Kampf zu stellen; die Ehre verlangt, daß er geht; er weiß ihr nicht, wie Achill, einen andern Wohnsitz anzuweisen als bei sich selbst.
Nun kommt Troilus dazu. Den jungen Bruder, fast noch einen Knaben, sieht Hektor heute ungern so kriegerisch gerüstet; diesmal soll es rauher Ernst werden. Aber Troilus ist wahrlich nicht in der Verfassung, sich in der Stube halten zu lassen; er will den Krieg noch viel rauher und schärfer, als Hektor ihn bisher immer geführt hat. Und so hält er ihm vor, oft habe Hektor Feinde, die im Kampf gestürzt waren, wieder aufstehen heißen; dasselbe, was Nestor bewundernd an Launcelot-Hektor bemerkt hat. Ja, das ist Hektors Art;
ruft er aus. Wie könnte er den Mordkrieg führen, wenn der nicht zugleich das schöne Spiel aller Kräfte Leibes und der Seele, der Stärke und der Geschmeidigkeit, der Derbheit und der Feinheit, der Härte und der Güte, der Unerbittlichkeit und der Vornehmheit wäre? Als ein Spiel und überdies als fair play muß der Krieg geführt werden, loyal, an selbst gegebene Gesetze gebunden und ritterlich; die Schranken des Menschenmöglichen dürfen nicht überschritten werden. Troilus aber, in der Verfassung, in der er ist, nennt das Narrenspiel; wer Waffen trägt, muß sie mit Wut und Ingrimm und giftiger Rache gegen den Feind führen. Solche Kampfesweise faßt Hektor weder noch versteht er, wie sein Troilus so reden kann:
ruft er aus und erklärt mit noch größerer Bestimmtheit und jetzt aus anderm Grund, er wünsche Troilus heute nicht im Feld zu sehen. Troilus läßt sich nicht halten, aus schmerzlicher Wut, die ihm fast die Besinnung nimmt; Hektor läßt sich nicht halten, wahrlich nicht aus Kampfgier,[S. 299] auch nicht einmal um der Rettung des Staats willen, sondern weil er den Griechen sein Wort gegeben hat, sich zu stellen. Bei alledem, bei Hektors melancholischer Ritterlichkeit und bei der sinnlich brünstigen grausamen Kriegswut des jungen Troilus hat, wer das Drama im Kreise herum, in der Beziehung aller Teile aufeinander empfindet, schon im Sinne, wie Achill bald eben das Gräßliche an Hektor tun wird, was Hektor beim Aufbruch zum Kampf als so unsäglich und unmöglich verwirft.
Unermeßlich ergreifend ist es, wie Kassandra prophetisch, im äußersten ekstatischen Versuch, Hektor zurückzuhalten, in seine Ohren hinein seinen eigenen Tod beschreibt; und was für ein innig geniales Kunstmittel ist es überdies, uns jetzt, vor dem Kampf, im Moment des Abschieds in höchst gesteigerter Wortkunst voraus erleben zu lassen, was die Bühne für die leiblich gewahrenden Sinne nicht darstellen kann:
Nach dieser ungeheuren Vorbereitung folgt die große, reichgegliederte Kampfszene, die ihrer ganz würdig ist. Ich kann mich, wie nur manchmal so bei Beethoven, nicht satt wundern über die eherne Härte dieses Organismus, dieser Weltfunktion, die Shakespeare heißt, wie er nun zum Beispiel die einzelnen Teile dieser Schlachtenszene gegen einander abtönt, wie er keineswegs in der einen Stimmung, die mit Hektors vorweggenommenem Tod so unbeschreiblich leidvoll angeschlagen wurde, bleiben muß, sondern alles vom Ganzen aus ordnet und verteilt! Wir sehen Ajax, Diomedes, Troilus hinter einander herjagen, ahnen, wie der wilde Junge[S. 300] Wunder der Tapferkeit verrichtet; wir sehen Thersites in zwei Episoden als Soldat, und er darf sich neben Falstaff sehen lassen. Erst stößt er mit Hektor in Person zusammen; und wie der den Mann in der Rüstung ritterlich fragt:
da antwortet er in ängstlich witziger Wahrheit mit unglaublich geschwinder Zungenfertigkeit:
Nein, nein, ich bin ein Schuft! Ein schäbiger, schimpfender Bube, ein ganz schmieriger Lump!
und Hektor wendet sich verächtlich ab:
Befreit und neu gestärkt schimpft Thersites hinter ihm her. Das andere Mal will ein Bastardsohn des Priamus mit ihm anbinden, den überschüttet er mit Bastardworten:
Und so feig er ist, muß er dem Gegner doch im Davonlaufen noch eine saftige Wahrheit über seine Rolle in diesem Krieg nachschreien; denn seine Bosheit ist viel stärker als seine Angst; er ist nun einmal so organisiert, daß all seine Tapferkeit im Maulwerk sitzt; so lacht er denn hinter ihm drein, von ihm weg: Haha, da will ein Hurensohn in diesem Krieg um eine Hure kämpfen!
Die Heldentaten, die Hektor verrichtet, werden wieder in der Form der Wortkunst gebracht. Agamemnon, Nestor, Ulysses berichten hintereinander, was die Trojaner unter Hektors Führung für Waffentaten tun; unter vielen andern ist Patroklus gefallen, und die Myrmidonen sind ganz zusammengehackt zu Achilles geflohen. Der war untätig im Zelt gesessen; hatte die Seinen, hatte die Verbündeten, hatte auch den Freund allein in den Kampf ziehen lassen, wir wissen, warum; jetzt, wo der Freund, der geliebte Knabe, ihm als Leichnam vor Augen liegt, kommen die Tränen, kommt die Wut, kommt die Rachgier, und alles[S. 301] andre ist wieder vergessen. „Ach, unser arm Geschlecht!“ Nicht bloß für das Geschlecht der Frauen gilt Cressidas Klage, daß wir Sklaven der Sinne, Sklaven der Augen sind. Achilles wappnet sich; er eilt ins Feld; er tritt vor Hektor; spät hat er ihn, dem er sich zum Kampf verpflichtet, gefunden, — so soll es scheinen. Nun fordert er ihn zum Zweikampf heraus. Hektor muß glauben, jetzt, am Abend der Schlacht, habe Achill, wie er selbst, große, ritterliche Taten, schwere Arbeit hinter sich, und erwidert vornehm:
Da, wie diese Höflichkeit ihn warten heißt, als ob’s um den Ritterkampf, um fair play und nicht um grimmige Rache ginge, gerät Achilles ganz außer sich. Er stürzt weg. Hektor kämpft weiter. Und hat dann genug für heute, legt Schild und schützenden Helm weg, entwappnet sich.
Da kommt Achilles herbei und mit ihm seine Myrmidonen, die er rasend geholt hat. Vergebens ruft ihm Hektor kurz und streng zu: Ich bin entwaffnet, — Grieche! Unter Achills hetzendem Anruf hauen und stechen die Myrmidonen auf ihn ein. So wird der Ritter mit Hilfe des großen Haufens von der Wut umgebracht. Und die Volksleute schreien die Heldentat übers Feld aus: Achill hat den Hektor erschlagen!
Ehre und Ruhm hatte Achilles schon vorher preisgegeben; die Rachgier für den gefallenen Freund hat den Streithelden erst ins Feld gebracht. Von Anfang an haben wir gesehen, wie dieser Mann, bei herrlichsten Anlagen, ein Gewesener, ein nie tapfer zu sich Gekommener, über sich hinaus Gekommener, wie er ein vom Trieb Umnebelter war; ein Lässig-Fauler, kein Wachsender; und so hat er auch nicht in der echten Männerehre und Freundschaftswelt gelebt, hat Wut und Wahn und Wollust des Geschlechts in die Freundschaft hinübergenommen und hat ohne alle Ritterlichkeit, der Ehre bar, den toten Freund gerächt. So[S. 302] schleift die Gier noch den Leichnam des adligen, menschlichen Helden im Triumph, an den Roßschweif gebunden, übers Feld.
Troilus lebt weiter in den Untergang Ilions hinein, den er klar voraussieht. Jetzt, wo diese hohe verehrte Gestalt, Hektor sein Bruder, so umgekommen ist, wie er selbst den Krieg knabenhaft unreif empfohlen hatte, in diesem Schmerz ist er zum Manne geläutert worden. Ohne Hoffnung, ohne Lebenslust will er aushalten und will weiter kämpfen, der wilden Art nach, als ob er nicht wüßte, daß am Ende dieses Kampfes der Untergang steht; dem Grund nach, weil er es weiß: in einem dionysischen Zorn, der der trostlosen Welt gilt.
Von Cressida ist schon lange mit keinem Wort mehr die Rede, und von Pandarus, der mit seiner widerlichen Erscheinung die Erinnerung an sie bringen will und der am bittern Schluß die niedrige Welt, die unsterblich weiter leben darf, repräsentiert, wendet sich Troilus in Ekel ab. Was liegt an der Pandaruswelt, die auf der Bühne bleibt und mit dem Publikum fraternisiert, nachdem die Helden dahingegangen sind? Was liegt noch an Cressida? Ilion geht unter; Hektor ist tot.
Die Tragödie von Othello, dem Mohren von Venedig, ist im Jahre 1622, nach des Dichters Tod also, aber vor der Gesamtausgabe, in einer Quartausgabe noch herausgekommen. Die Vorbemerkung des unbekannten Herausgebers sagt uns nur, daß das Stück etliche Male von Seiner Majestät Schauspielern im Globe- und Blackfriartheater gespielt worden sei; wann aber zuerst, erfahren wir weder daraus noch sonstwoher. Malone, ein glaubwürdiger Mann, hatte Urkunden vor sich, aus denen sich die Daten von Festen und Aufführungen am Hof ergeben; jetzt sind sie nicht mehr vorhanden, doch halte ich die Echtheit dieser Urkunden für wahrscheinlich, weil die Angaben nie einer sonst feststehenden Tatsache widersprechen; danach wäre Othello 1604 in Whitehall aufgeführt worden; eine spätere oder wesentlich frühere Entstehung anzunehmen, liegt kein Grund vor.
Shakespeares Quelle bildet eine Novelle von Giraldi Cinthio aus der Sammlung Hecatommithi, die 1565 zuerst in Sizilien, später auch in Venedig gedruckt wurde. Eine französische Übersetzung von 1584 liegt vor; von einer englischen ist keine Spur vorhanden. Der einzige Name, der in der Novelle genannt wird, ist Desdemona; sonst ist vom Mohren, so wie die Novelle den Titel Der Mohr von Venedig führt, vom Fähnrich und vom Hauptmann die Rede.
Der erste Teil von Shakespeares Handlung, die Entführung, findet sich in der Novelle nicht. Desdemona ist eben die Frau des Mohren, ist es allerdings gegen den Willen der Eltern geworden, und irgendwann nach Eingang der Ehe hat der Mohr nach Zypern zu fahren, und die Gattin begleitet ihn. Der Fähnrich begehrt Desdemona und glaubt, sie liebe den Hauptmann. Ohne daß irgendeine Intrige mitspielt — von Rodrigo weiß die Novelle so wenig wie von Brabantio —, wird der Hauptmann vom Mohren entlassen, weil er einen Soldaten verwundet hat. Die Gattin will[S. 304] die beiden wieder versöhnen, und diese Gelegenheit benutzt der Fähnrich, erst das Mißtrauen des Mohren zu erregen, und dann, mit Hilfe seines Töchterchens, Disdemonas Treulosigkeit durch das Taschentuch zu beweisen. Der Fähnrich unternimmt es, den Hauptmann in dem Augenblick zu töten, wo er aus dem Hause einer Buhlerin kommt. Dann erschlagen der Mohr und der Fähnrich gemeinsam Desdemona mit einem Sandsack, worauf sie die Decke des Zimmers zum Einsturz bringen. So bleiben sie als Täter ganz unentdeckt. Zu irgend einer spätern Zeit entsteht Feindschaft zwischen den beiden, die mit der Sehnsucht des Mohren nach seiner Toten immerhin zusammenhängt. Der Fähnrich gibt den Mohren an, ohne sich selbst zu verraten; der Mohr wird festgesetzt, gefoltert, gesteht aber in seiner Standhaftigkeit nichts. So wird er nur zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt, aber von Verwandten Disdemonas umgebracht. Noch später wird der Fähnrich in einer ganz andern Sache ergriffen und zu Tod gefoltert. Danach enthüllt seine Frau den ganzen Vorgang. „So rächte Gott die Unschuld Disdemonas.“
Der Sinn dieser Geschichte ist also: Ein Mord wird so schlau von zwei Kumpanen begangen, daß er gar nicht als Mord erkannt wird, sondern als Unglücksfall erscheint; trotzdem werden beide Mörder ihrer Bestrafung zugeführt; der eine, weil sie sich veruneinigen; der andre, weil er fortfährt, Verbrechen zu begehen. Ein völlig novellistisch behandelter Stoff also: es kommt fast gar nichts auf die Charaktere der Menschen, sehr wenig auf ihre Beziehungen untereinander, fast alles auf die hintereinander folgenden Abenteuer an: so schlau auch die bösen Menschen sind, Gott, der Novellengott der merkwürdigen Ereignisse, überlistet sie doch noch.
Shakespeare hat diesmal den Stoff ganz besonders straff zusammengezogen, hat sich keine Episode erlaubt, die nicht zur Motivierung gehörte, und hat die tragische Entwicklung und Katastrophe unmittelbar aus der einen tragischen Anlage hervorgehen lassen; neue Elemente und Ereignisse hat[S. 305] er im Lauf der Handlung nicht eingreifen lassen. Mit dem überlieferten Stoff aber hat er ganz frei geschaltet, und jedesmal, wo dieses Abenteuer erzählt: „Dann aber traf es sich“ oder „Da ereignete sich zufällig...“, zeigt er vielmehr, was sich aus den Charakteren und ihrer Situation zu einander mit Notwendigkeit ergeben muß. Dabei hat er jedoch, wie er es auch sonst tut, aus Teilen der Erzählung, die er wegwarf, immer noch Züge und Farben für sein Drama geliehen. In der Erzählung hilft das Töchterchen bei dem Taschentuchbetrug; das benutzt Shakespeare nicht; aber es hilft jemand: Jagos Frau, die er sowieso braucht; wie in der Novelle ist sie bei ihm die Person, die schließlich alles aufdeckt, wenn auch in ganz anderm Zusammenhang. So steht’s auch mit der Buhlerin; der Vorfall mit Cassios Tötung muß bei Shakespeare ganz anders verlaufen; aber die Buhlerin kann er doch gut brauchen, so wie Emilia aus äußern und innern Gründen: ist Emilia ein Gegenstück zu Desdemona, ein Hintergrund der Gewöhnlichkeit, von dem sich die Edle abhebt, und ist sie überdies für die Taschentuchintrige und die Enthüllung am Schluß nötig, so ist auch die Buhlerin noch für die sorgfältigst motivierte Taschentuchkomödie zu brauchen, dient aber außerdem dazu, daß wir deutlich im Gefühl haben, wie Cassios Verhältnis zu Desdemona ganz unverfänglich ist. Selbst der unförmliche Sandsack der Novelle ist nicht ohne Beziehung zu Desdemonas Deckbett; und auch die Verwandten Desdemonas, die in der Novelle schließlich Blutrache üben, hat Shakespeare in seinen Schluß verwoben. Die Gemeinsamkeit zwischen Othello und Jago bei der Ausführung der Tat konnte er nicht brauchen; aber Othello erlaubt Jago, ihn darüber zu beraten, und von Jago stammt der Gedanke, die Frau mit dem Bett zu ersticken; radikal getilgt hat Shakespeare Othellos Leugnen und jeglichen unedeln Fleck auf seiner Gestalt; von der Folter, der Othello in der Novelle standhält, mag übrig geblieben sein, daß Jago nach seiner Ergreifung kein Wort aus sich herauspressen läßt;[S. 306] Desdemonas Oheim meint dann zwar: „Die Folter macht Euch reden“, aber es bleibt dahingestellt, ob die Voraussage zutrifft.
Von allen Tragödien, ja, von allen Stücken Shakespeares ist Othello das einfachste: es ist eine einzige geradlinige Handlung, ein einziges Motivbündel, ohne weitere Verzweigungen. Daß aber keineswegs von einem einzigen Motiv, sondern von einem Motivbündel zu reden ist, das macht dieses einfache Stück so reich und voll; keineswegs folgt alles aus Othellos Eifersucht oder aus Jagos Haßintrige oder gar aus Rodrigos Liebessucht oder Desdemonas Entführung oder Cassios Entlassung; aber diese Geschehnisse, von denen jedes mit der besonderen Natur eines einzelnen Menschen zusammenhängt, der nur seine eigene Sache besorgt, sind um Desdemonas Gestalt herum aufs engste mit einander verbunden.
Dieses Stück, seinem äußern Verlauf nach ohne Zweifel ein Intrigenspiel und trotz dem kriegerisch-politischen Hintergrund, der diesmal ganz Hintergrund bleibt, ein bürgerliches Trauerspiel, ist, so wie es eine einheitliche Handlung hat, auch sogar der Einheit von Ort und Zeit angenähert; nimmt man den ersten Akt in Venedig als Vorspiel, so geschieht alles Folgende in unmittelbarem Zusammenhang hintereinander auf Zypern.
Die Betrachtung, wie dieser Aufbau des Stückes beschaffen ist, wird uns schon zu einer Einsicht bringen, ohne die die Tragödie und ihr Sinn völlig mißdeutet wird.
Das erste, was wir erfahren, ist Jagos Haß auf Othello; Jagos Natur fangen wir gleich an kennen zu lernen. Dann erleben wir Desdemonas Entführung durch den Mohren; sehen, wie der Vater es nimmt; hören ihn die Anklage aussprechen, es seien Zauberkünste im Werke; von der heimlichen Vermählung erfahren wir. Nun wird ein neues Motiv eingeführt: Othello wird zum Kampf gegen die Türken, zur Verteidigung Zyperns berufen. Wir sehen ihn vor dem[S. 307] Senat stehen und die Natur seiner und Desdemonas Liebe erklären; dann müssen sie eiligst, ehe die Hochzeit vollzogen werden kann, ausfahren; Desdemona wird zur Fahrt dem Schiff Jagos anvertraut; daß das äußerlich vermählte Paar bis zur Ankunft auf Zypern sein eheliches Leben nicht begonnen haben kann, wird uns ausdrücklich gezeigt. Zum Schluß dieses ersten Aktes werden wir nun noch in Jagos Plan eingeweiht, wie er Cassios Stelle erhalten und, wo möglich, seiner Gier nach Desdemona frönen will. Und von nun an auf Zypern: zu Beginn des zweiten Aktes die Erwartung, darauf die Ankunft erst Cassios, dann Jagos und Desdemonas, schließlich Othellos auf drei besonderen Schiffen. Wundervoll hat hier Verdi in seiner Oper in der musikalischen Darstellung der stürmischen Natur und des jagenden Tempos der Fahrt der einander folgenden Schiffe zu Shakespeares Tragödie ganz aus dem Geist des Dichters eine Szene neu komponiert, derengleichen wir in andern Leidenschaftstragödien Shakespeares von ihm selbst haben; die Szenen, die Shakespeare selbst Othellos Ankunft vorausgehen läßt, stehen nicht ganz auf der Höhe dieser Dichtung. Othello landet; jetzt erst lernen wir so recht seine glühende und innige Liebe kennen; die Verehrung, die Cassio für Desdemona hegt, empfinden wir auch. Jagos Plan erweitert sich, befestigt sich. Dann, jetzt erst die Hochzeitsnacht; sie wird gestört durch Cassios in Trunkenheit verübte Gewalttat. Cassio wird abgesetzt; sofort wird er von Jago an Desdemona gewiesen, die vermitteln soll; und sofort am frühen Morgen will er sich an sie wenden. Damit und mit Jagos Vorbereitungen, diese Zusammenkunft auszunutzen, schließt der zweite Akt, und zu Beginn des dritten, am frühen Morgen nach dieser Nacht also, sehen wir Cassio bei Desdemona. Jago erregt Othellos Verdacht. Und unmittelbar daran schließt sich das lange Gespräch zwischen Othello und Jago, das sich immer mehr steigert; die kurze Szene mit Desdemona und Emilia ist eingelegt; der Taschentuchbetrug leitet sich ein;[S. 308] dann wird Othellos Gespräch mit Jago wieder aufgenommen und zum letzten Gipfel emporgeführt; wir hören den Racheschwur; schon wird das Todesurteil über Desdemona und Cassio vom Mohren ausgesprochen. Welch eine Szene! Welch ein Morgen nach der Hochzeit! Aber sofort wird dem Gipfel noch ein Gipfel zugesetzt: Othello und Desdemona stoßen zusammen; er spricht vom Taschentuch, das ihr fehlt; sie von Cassios Begnadigung! Der Zorn bricht aus; Othello rennt weg; Cassio kommt wieder; Desdemona versteift sich, ihm zu helfen. Und am Schluß des Aktes hat Cassio schon das Tuch in seinem Zimmer gefunden. So vergeht dieser Tag, und der vierte Akt bringt uns in den nächsten. Durch das Gespräch zwischen Jago und Cassio und durch das Tuch erlangt Othello seine völlige Gewißheit: Desdemona ist im schnödesten Sinne schuldig. Der Gesandte Venedigs trifft ein; in seiner Anwesenheit mißhandelt der Mohr seine Gattin leiblich und seelisch. Er nimmt sie als Dirne, Emilia als Kupplerin, sich im Spiel des Hohns als den Galan, den Brecher der eignen Ehe. Er bereitet sich zum Mord. Desdemona geht auf sein Geheiß früh zu Bett. Und dann zum Schluß die Nacht dieses letzten Tages: der Anfall auf Cassio; die Ermordung Rodrigos; Desdemonas Ermordung. Emilia klärt Othello über Desdemonas Unschuld auf. Jago wird entlarvt, tötet seine Frau, wird festgenommen; Othellos Verhaftung, Verzweiflung und Selbstmord.
Dies der Aufbau; und damit, daß wir ihn scharf erfassen, schützen wir uns vor landläufigen Verkennungen nicht nur der Vorgänge, sondern geradezu der Charaktere, zwischen denen sie geschehen. Sofort also nach der heimlichen Vermählung — wieder in einem Stück Shakespeares so ein äußerlich formaler Akt, der in unsrer Abwesenheit schnell erledigt wird — folgt der Befehl des Senats zu Othellos Ausfahrt; bis dahin war Desdemona ein Mädchen im Vaterhaus gewesen; eine Stunde ist jetzt Zeit zu den Vorbereitungen des Kriegszugs und zum Abschied Othellos von der[S. 309] jungfräulichen Gattin; Desdemona folgt auf einem andern Schiff mit Jago. Dieser Sachverhalt wird uns so oft eingeschärft, daß es für jedermann außer den Kommentatoren genug sein sollte. Es ist ein wesentlicher Zug an Othello, daß er seine Sinnlichkeit seit langem im Zaume hält; ein wesentlicher Zug am Verhältnis des Mohren zu der jungen Venezianerin, daß es vor allem ein Seelenbund ist; wie nun Desdemona vor dem Senat bittet, den Gemahl begleiten zu dürfen, erklärt er sofort, er sei um ihres Wunsches willen einverstanden, keineswegs sei jugendliche Hitze dabei im Spiel, die ihm sehr fern liege; und um jeden Verdacht und jede Verführung, in seinen ernsten Kriegsgeschäften von Amor gestört zu werden, wegzuräumen, vertraut er seine Frau seinem erprobten, verheirateten Fähnrich Jago an.
Daß dieses Stündchen „of love, of worldly matters and direction“ nicht zum Höchsten der Liebe Zeit läßt, ist sicher; ein solches stürmisch-brünstiges Naschen liegt nicht in Othellos Art; es gehören andre Dinge dazu, um den Orkan, der in ihm ruht, zu entfesseln und aus dem beherrschten ruhigen Stolz des urbanen Mannes ursprüngliche Wildheit zu machen. Im zweiten Akt nach der Ankunft und der Wiederbegegnung der beiden wird dann dem Volk von Zypern feierlich angekündigt, daß der General sein Hochzeitsfest zugleich mit dem Freudenfest über den Untergang der türkischen Flotte feiern wolle; und zu Desdemona sagt Othello:
Und gleich darauf sagt der zynische Jago geradeheraus, ohne jede Blumen- oder Früchtesprache:
Er hat noch keine Liebesnacht mit ihr verlebt, und sie ist ein Bissen für Jupiter.
Und noch einmal ruft er: „Gut Glück zur Brautnacht!“ Und mit dieser Feststimmung sinnlich berauschender Art verführt er Cassio zum Trinken.
In der Novelle findet sich von alledem kein Wort. Warum Othello seine Brautnacht erst auf Zypern begeht, ist — wie alles in diesem herrlich gebauten Stück — nach außen und innen trefflich motiviert; warum will es aber der Dichter so haben? Natürlich hätte er für das Gegenteil genau so gute Motive gefunden; im Leben herrscht strikte Notwendigkeit; in der Dichtung gefühlsmäßig zwingende Glaubhaftigkeit, Wahrscheinlichkeit. Warum also? oder besser gefragt: wozu? Damit Hochzeit und Zweifel des Gatten an der Gattin und ihre Ermordung durch ihn unmittelbar auf einander folgen.
In der Tat ist der erste Akt eine Art Vorspiel, in Straffheit zusammengefaßte Exposition und Beginn einer Handlung, deren Sinn sich uns erst im weitern Verlauf erschließt. Dann sind die bräutliche junge Frau und der geprüfte und ausdauernde General, dem sie sich geschenkt, Tage und Nächte lang von wilden Wogen getrennt; und nun, wo sie sich wieder begegnen, wo ihre Ehe anheben soll, geht es Schlag auf Schlag: die Hochzeit — während die Gatten sich im Höchsten der Liebe vereinigen, ist das Volks-, Soldaten-, Offiziersfest im Gange; da wird Cassio von Jago trunken gemacht, und daraus rollt, dem Plane gemäß, den Jago noch in Venedig entworfen hat, alles: am nächsten Mittag ist Othello schon zur Ermordung der Frau entschlossen. Und noch ein Tag geht dahin — die Beweisstücke sind erdrückend beisammen, die Kette geschlossen — in der Nacht, achtundvierzig Stunden nach der Brautnacht, ermordet Othello seine junge Frau.
Das halte man sich nun vor Augen, beachte, daß es unzweifelhaft, deutlich, ausdrücklich und wiederholt vom Dichter gesagt, gezeigt, geradezu eingeschärft wird, — und versuche zu verstehen, wie es menschenmöglich ist,[S. 311] daß ein Mann wie Friedrich Theodor Vischer, der sich lang, breit und nicht untief mit dem Stück beschäftigt und die Übersetzung ganz durchgeackert hat, schreiben kann, im Othello sähen wir „die Liebe, die als gesetzliches Band konstituiert und geheiligt ist, die sichere, beruhigte, abgeklärte Eheliebe“, und fortfährt: „Seine Ehe dauert zwar erst kurz, aber sie ist behandelt wie ein schon durch Jahre tief und innig befestigter Herzensbund.“
Zuerst sage ich: So was kommt von so was, nämlich vom Vergleichen. Denn natürlich wird das von Othellos Ehe gesagt, weil wir in Romeo und Julia „das feurige Aufglühen erster bräutlicher Jugendliebe“ sehen. Aber es geht doch wirklich nicht an, daß man Gegenüberstellungen und Übergänge besorgt wie Professor Kuntze vom Karlsruher Gymnasium, der uns eines heißen Nachmittags vordozierte: „Lessing starb verhältnismäßig früh 1781; aber noch nicht so schnell versiegte seine literarische Tätigkeit; wir müssen nämlich jetzt noch seinen Nathan besprechen.“ Bedenklicher aber wird Vischers Sache doch schon, und ein Beitrag zur Psychologie der Zeugenaussage, zum eigensinnigen Nichtsehen dessen nämlich, was einem nicht in den Kram paßt, ist es, wenn man Vischers Erklärungen zu den einzelnen Szenen liest. Die Auseinandersetzung Othellos vor dem Senat, er werde sich von der Liebe in seinen Geschäften nicht stören lassen, übergeht er mit Schweigen. Ebenfalls Othellos Abschiedsworte an Desdemona. Bei der Verlesung der Proklamation durch den Herold, die dem Volk von Zypern Othellos Hochzeitsfest ankündigt, findet er zwar Zeit zu dem schwäbischen Scherz, die erlaubten Vergnügungen dürften bis elf Uhr dauern, dann sei Polizeistunde, sagt aber mit keinem Wort, was es mit dieser Hochzeit auf sich hat. Von den Worten Othellos zu Desdemona von der bis jetzt noch ungenossenen Frucht, von Jagos Äußerungen zu Cassio über die Freuden von Othellos Hochzeitsnacht keine Silbe. Wie dann Othello zu der wüsten[S. 312] Nachtszene dazukommt, weist Vischer uns mit keinem Wort darauf hin, woher er kommt. Dabei geht er beinahe sklavisch der Reihe der Szenen und der Auftritte nach Punkt für Punkt durch! Seine Prüderie mag bei diesem Vorbeisehen an Wesentlichem und bei seiner gesamten Auffassung mitspielen; ein Grund mehr, jegliche Unfreiheit, die sich an Shakespeare, den Genius der Freiheit, wagt, zum Teufel zu wünschen.
Trotzdem aber wäre es unmöglich, daß ein solcher Kenner wie Vischer sich so verrannt hätte, wenn an dem, was er völlig verkehrt behauptet, nicht doch etwas daran wäre, — nur nicht in der Ebene der äußern Tatsachen, sondern auf der Skala des seelischen Erlebens. In dem Teil der Handlung nämlich, der von Othello und auch von Jago vorwärts getrieben wird, herrscht eine so ungeheuer gesteigerte Intensität des Erlebens, ein solches südländisches und wahrhaft afrikanisches Tempo, daß, wie im Traum, schon fast die Minuten zu Jahren werden. Normalerweise wäre es so, wie es nach Vischers Worten in unserm Stück sein soll: da würde es in der Tat Jahre brauchen, bis ein Ehemann sich von Liebe zu Gleichgültigkeit und nun gar zu Haß und Ekel wendet. Diese Tragödie aber stellt gerade nicht ein irgend Normales, stellt ganz und gar keine Ehe und keine Entwicklung dar, sondern eine Katastrophe, die wie ein Geiser die Kruste durchbricht: den Zusammensturz eines Traumes in dem Augenblick, wo er sich in die Wirklichkeit wagt. In diesem Traum Othellos von seiner Ehe mit Desdemona aber waltete in der Tat das, was Vischer für diese Ehe selbst sagt, die es gar nicht gegeben hat: das war „eine sichere, beruhigte, abgeklärte Eheliebe“; es herrschte in dem bräutlichen Verhältnis der beiden, wie Othello es wünschte und hergestellt hatte, Verläßlichkeit, wie zwischen Seele und Seele. So sollte es sein, so träumte es Othello der Mann, der Beherrschte, Erfahrene, nicht mehr Junge, so ließ es sich an, ehe die arge Welt dazwischen[S. 313] kam, ehe die Ehe geschlossen wurde. So war aber nicht nur der Traum Othellos von seiner künftigen Ehe mit diesem jungen venezianischen Patrizierkind; es war sein Wahn über seine gesamte Existenz, über sein Wesen. Er hatte sich geformt und zu einem gesetzten Nobile gestaltet, bis Jago die feste Schale mit seinen Klauen aufriß und den feuerflüssigen Kern herauskochen ließ: den unterdrückten Othello, den Mohren seiner Vorfahrenkette, den Wilden, der nach Mirabeaus Wort, das wir ein andermal noch hören werden, wie in diesem Afrikaner, so in jedem Stolzen, jedem Repräsentanten der Freiheit vom Ursprung seiner Natur her steckt.
Allerdings also hat die Liebe, die zwischen Othello und Desdemona webt, schon in Venedig etwas wie Brautschaft und erprobte Ehe zugleich an sich, so wie Othello erprobt ist, bis die äußerste Probe kommt. Noch mehr dürfen wir sagen: das Verhältnis zwischen den beiden hat eine Tönung wie das zwischen Vater und Kind; er ist ein Mann, der keineswegs mehr ganz jung ist; sie ist sicher kaum älter als Julia. Wie aber alle Zivilisation nur eine Farbe, nur ein Lack oder nur eine Wohnung ist, in der man Jahre und Jahre sicher und gedeihlich wie in sich selbst beherbergt ist, bis die Stunde der Entscheidung kommt, wo das Wesen, das man im Innersten ist, sich zu äußerst und zu tiefst getrennt findet von dem Wesen, das man angenommen hat, so ruht die sittsam schöne, friedlich heitere Verläßlichkeit der Liebe zwischen Othello und Desdemona nicht auf der Einheit zweier Seelen, die es anders als für einen Nu nicht gibt, und nicht auf der Bekanntschaft, sondern gerade auf der Unbekanntschaft, auf der Fremdheit, auf der heiligen Scheu, wie sie zwischen Seelen waltet, die Sehnsucht, aber nicht Vertrautheit an einander bindet. Othello hat sich seine Ehe mit Desdemona, hat sich Desdemona geträumt; aber er kennt sie nicht. Nein, nicht so; sie ist ja im Innersten und in jeder Regung, wie seine Liebe sie[S. 314] sieht; Othello erfaßt Desdemona völlig mit der Liebe seiner Seele; er erfaßt sie, aber er kann sie nicht halten; er behält nicht, was er gewahrt; sein Verstand glaubt in der Krise nicht mehr, was sein Gefühl von ihr weiß.
Ein wesentliches Moment der Handlung also, und dazu eines, das Shakespeare neu erfunden hat, ergibt sich uns schon bei der ersten Betrachtung der Szenenfolge: sofort am Morgen nach der Hochzeitsnacht beginnt Othellos Eifersucht und steigt gleich bis zur Raserei. Cassios Rausch und Gewalttat hat Othello aus dem Bett gerufen; Cassio wird abgesetzt; sowie die Nacht verstrichen ist, naht er als Hilfesuchender Desdemona. Die Katastrophe ist ganz nahe an den Anfang, an die Entführung aus dem Vaterhaus gerückt; es ist gar keine Zeit, sich in ehelicher Liebe, in der Gemeinsamkeit auch des kleinen Alltags und in gegenseitiger Duldung kennen zu lernen; denn was für ein so ganz anderes Kennen ist das bräutliche Liebesverlangen!
Entführung — Fahrt übers Meer — Sturm — Brautnacht — Rausch — Zorn —, diese hintereinander folgenden Elemente der ersten Handlung sagen uns schon: es geht ein jagendes Tempo durch dieses Stück. Es kommt aus den Naturen der beiden, deren aktive und passive Kraft alles in Bewegung setzt: Jago und Othello. Dieser Jago hat etwas Schnelles, Schnellendes, geradlinig Stechendes an sich wie der Haß und die Logik, die aus seiner urgesunden, starken, jungen, waghalsigen und tatlustigen Jugend herausschießen. Das Bild der Geschwindigkeit, die er vor allen der Handlung versetzt, haben wir in seiner Fahrt übers Meer: viel später mit Desdemona abgefahren als sein General, schießt er mit so gutem Wind pfeilschnell dahin, daß er noch vor Othello landet. Und wie für ihn Venedig der Ausgangspunkt, Zypern das Ziel war und dazwischen nur die eine gerade Linie der Fahrt, so hat er schon von Venedig her sein Ziel und seinen Plan, der nun sofort zur Aktion wird, in der die andern die Puppen dieses über[S. 315]legenen Spielers bilden. Seine allervortrefflichste Puppe, in einem ganz andern Charakter der Natur des Lenkers wunderbar angepaßt, ist Othello: wie Jagos Teufel der schnellste der Hölle ist, so schnellt Othellos Zorn plötzlich, wie ein Quell, der aus der Erde schießt und Felsblöcke schleudert, empor.
Was hier gesagt wird, heißt mit andern Worten, daß der Dichter mit einer ungemeinen, überlegenen Kunst die Charaktere und die Situation so aufgebaut hat, daß die Katastrophe sich diesmal mit einer fast logischen Sicherheit und Notwendigkeit aus dem Zusammen der innern und äußern Voraussetzungen ergibt. Das hat sehr fein und stark der junge Herder gewahrt und ausgedrückt, indem er zunächst allgemein für Shakespeares Kunst sagt: „Wie ein Engel der Schöpfung, ein unsichtbarer himmlischer Bote der Vorsehung die Leidenschaften der Menschen gegen einander abwog und ihre Charaktere gruppierte und sie, jeden an seinen Platz in der Schöpfung setzte, und nun im Strome der Zeiten ihnen eine Schar von Gelegenheiten und Zufällen vorbeiführt, daß sie handeln; ihnen eine Menge von Umständen vorlegt, die sie bestimmen, und nun ihre Bestimmungen und Handlungen zu seinem Plane fortleitet: so Shakespeare der Nachahmer der Natur...“ Und das wendet nun Herder dermaßen auf das Stück Othello und seine treibende Kraft Jago an, daß wir in unsrer Meinung, die schon oben angedeutet wurde, bestärkt werden: dieser Jago ist ein Teufelskerl, dessen Zerstörungskunst der Schöpferkraft verwandt ist; ein Aufrührer, der viel Ähnlichkeit mit einem großen Ausführer hat; ein Genie des Entwurfs, in dem sich großer Verstand und große Natur vereint finden; die Devise Bakunins: Die Lust des Zerstörens ist eine schaffende Lust! hätte, wenn man diesen Ausdruck einer ideal allgemeinen Emotion auf real gemeinen Egoismus einengt, der Wahlspruch des jungen Verderbers sein können, dessen Muskelkraft so stark ist wie[S. 316] die Kraft seines Hirns; und größte Ähnlichkeit, nächste Verwandtschaft im Formalen seiner Anlage scheint dieser Jago mit dem dramatischen Künstler, mit seinem Schöpfer, mit Shakespeare selbst zu haben; Herder, das junge Kraftgenie, bestätigt es, wenn er ausruft: „Welche Welt und was für ein Zusammenlauf der Räder zu Einer Maschine! Was für ein Jago!... Und wie muß sich zu ihm eben ein Othello, eben ein Cassio, ein Rodrigo, eine Desdemona finden! Und wie weiß er Alles, Alles, was ihm in den Wurf kommt, zu seiner Absicht zu gebrauchen! Was wäre die Welt, wenn sie viele solche Jagos in solcher Verbindung von Charakteren und Umständen hätte?“ In der Tat ist es eigentümlich, wie Jago mit der Virtuosität des Genies in seiner Welt wiederholt, was Shakespeare getan hat, als er diese Welt und Jago als ihre treibende Kraft schuf: mit einer begrenzten Zahl von Umständen wird aufs meisterhafteste hausgehalten, und Jago wie dieser Othellodichter Shakespeare sind beide dadurch ausgezeichnet, daß sie zu rechnen, zu kombinieren, ihre Aufgabe interessant und elegant zu lösen verstehen wie nur je der Verfasser eines Intrigenstücks, daß sie aber dabei zugleich eine strotzende Fülle der Kraft, eine Üppigkeit, eine Natur haben wie die leibhaftige Renaissance.
Was nun dabei herauskommt, daß Naturen wie die des Mannes Othello, des Weibes Desdemona einem Jago in die Hände fallen, kann nicht gerade eine Behaglichkeit sein; und in der Tat wird das Ergebnis, wird die Katastrophe, wird Desdemonas Ermordung häufig schaurig, quälend, unbefriedigend genannt. Und um doch zugeben zu dürfen, man sei befriedigt, fragt man ängstlich und wahrhaft begierig nach der Schuld, der Schuld Desdemonas vor allen. Diesen Aristoteles-Schematismus — an dem Aristoteles ganz unschuldig ist — mache ich nicht mit. Für Shakespeare ist das kein Maßstab. Die Weltordnung, die gebrechliche Einrichtung der Welt, wie es so innig schön[S. 317] bei Kleist heißt, das innere Wesen der Menschen, ihre Situation zu einander, das Geschehnis, des Dichters Art, in die Welt zu sehn und gestimmt zu sein, das sind die Elemente, aus denen die Dichtung sich aufbaut; da wird’s an Furcht und Mitleid und Reinigung, an Zermalmung und Auferstehung, an Zermürbung und glühendem Guß zu Glanz und Einheit und Übereinstimmung der Seele mit sich selbst nicht fehlen.
Desdemonas eigenmächtiges Vorgehen, ihre Flucht aus dem Vaterhaus nennt Gervinus eine ganz bedeutende Schuld. Vischer summiert drei kleine Fehlerchen: die Flucht aus dem Vaterhaus; ein weibliches Übermaß von Geschäftigkeit bei ihren Fürbitten für Cassio; und ein bißchen auch noch die kleine Notlüge, daß sie nicht sage, sie habe das Tuch verloren, sondern, sie habe es verlegt! Selbst Otto Ludwig sucht und findet eine Schuld an Desdemona: „eine unbewußte, eine negative, ein — Unterlassen der Vorsicht, in ihrem Charakter begründet“. Mir fällt es nun gar nicht ein, die junge Frau gegen energische oder sanfte Vorhaltungen dieser Art zu verteidigen; sie ist ein ganz besonderes Menschenkind, hat also gewiß auch ihre besonderen kleinen Züge und Fehler, die zu ihrer besonderen Liebenswürdigkeit gehören. Bloß — diesen Tadlern geht es ja gar nicht darum, ihren Charakter zu ergründen, sondern, das Schauerliche zu mildern, wie man etwa sagt, uns mit dem Ausgang zu versöhnen, das Stück zu rubrizieren, einer erlaubten Gattung einzuverleiben und für klassisch erklären zu dürfen. Und da muß schon gesagt werden, daß diese Art Ausleger sich ein wenig wie Henkersknechte gebärden; die Parallele zwischen Jago, Shakespeare und dem Herrgott, die mir selbst recht fruchtbar scheint, treiben sie in ganz andrer Art bis zur Identifikation: nicht Jago hat Desdemona und Othello in den Tod getrieben und ist dafür zu seiner Zeit gefoltert und wahrscheinlich scheußlich hingerichtet worden; der Dichter hat sie umgebracht und[S. 318] darf es nicht getan haben, ohne dafür die Erlaubnis der Ästhetik zu haben. Weswegen sie sich eifrig daran machen, bei den schönsten, liebreichsten Menschenkindern kleine Schuld zu kleiner Schuld zu addieren; denn nach den arithmetischen Gesetzen dieser Ästhetik oder Rechenkunst muß der Grund, zum Mord anzureizen, in Jago, der Grund zu morden in Othello, und der Grund, ermordet zu werden, in Desdemona liegen. Diese Herren gestrengen Ästhetiker scheinen nur zu vergessen, daß der Herrgott uns allesamt ohne jede Ausnahme und nur selten mit ihrer Erlaubnis und ohne viel nach tragischer Schuld zu fragen gewaltsam ins Grab bringt und daß der Dichter, solange wir aus der bloßen Existenz des Individuums so viel Wesen machen, auf den gewaltsamen Tod und die Mordtat als Ausdrucksmittel höchster Steigerung angewiesen ist. Hätten die Ameisen Tragödien, so wäre der Untergang einer verlaufenen Ameise in einer menschlichen Zuckerdose wahrscheinlich kein tragischer Vorwurf, eher schon die Ausrottung einer ganzen Kolonie in einem Ameisenkrieg.
Diese Schuld-Schublade mit automatischer Guillotinevorrichtung soll man, schlage ich vor, nur für Dichter offen halten, die die Hamburger Dramaturgie gelesen und sich auf sie verpflichtet haben, zum Beispiel für Schiller, der die Liebe der Jungfrau zu Lionel ausdrücklich zu dem Zweck erfindet, damit sie ihre Schuld hat, die sie sühnen muß, — man kann von derlei Arbeiten, besonders wenn man daran denkt, daß sie in unsern Schulen jeder heranwachsenden Generation als Musterbeispiele vorgetragen werden, nicht mit zu großer Verachtung reden, gar noch, wenn man dann dazunimmt, daß Tell, der bloß der Held eines Schauspiels ist, nachdem er aus dem Hinterhalt getötet hat — gewiß kein wesentlich geringeres Vergehen als die Liebe zu einem strahlend schönen und sittlichen Engländer —, glorreich weiterleben und Kinder und Kindeskinder auf den Knien wiegen darf.
Achtbarere, intimere, verräterische Gründe hat es, wenn ein Mann wie Strindberg in Desdemonas Seele wühlt, um eine Schuld in ihr zu finden; handelten die Ästhetiker aus Leidenschaft und Abnormität, vergäßen sie sich bis zur Erniedrigung und Gemeinheit auf der Suche nach der Reinheit, im Kampf gegen die Welt, so sollte es ihnen wahrlich an Achtung und Mitgefühl nicht fehlen. Strindberg hat etwas von nicht Othellos, sondern Jagos Eifersucht und dem mit jedem Mißtrauen verbundenen schmutzigen Blick; ihm geht es um Menschliches; irre er immerhin! Wenn aber Otto Ludwig in einer Untersuchung, in der es vorwiegend um die Handwerkskünste geht, kaltblütig fragt: „Warum hat dennoch ihr (Desdemonas) furchtbarer Tod nichts Gräßliches?“, kann man dann auf eine so gräßliche Schulmeister- und Aufklärichtfrage etwas andres antworten als: Zum Donnerwetter, er hat etwas, hat viel grauenhaft Gräßliches! und wenn es nach eurer poetischen Gerechtigkeit in der Welt zuginge, müßten solche Frager wie ihr gewiß eher unter der Bettdecke erstickt werden als Desdemona! In dieser schaurigen Welt, unsrer Welt, der Welt der Menschentriebe und Menscheneinrichtungen, der Welt des Mißverhältnisses zwischen Fühlen und Denken, Seele und Geist, in unsrer Welt, in der Othello ein holdestes Mädchengeschöpf in Liebe träumt, eine überwiesene Dirne, die die Reine gespielt hat, tötet und dann an der Leiche, die als sein Opfer daliegt, erfährt, daß das in lebendiger Wirklichkeit sein holdestes Menschenkind, seine ihm anvertraute Gattin, und daß die Dirne der Traum seiner Wahnwut war, — in dieser Welt, die entstehend und zerbrechend immerdar in schwärenden Leibern unterwegs ist, während in unserm Geist die fertige und ruhende, die göttliche Vollendung lebt, ist nichts gegen eine Dichtung gesagt, wenn man ausspricht, daß sie Gräßliches birgt. Agamemnons des Iphigenienmörders Ermordung ist gräßlich, und gräßlich die Ermordung der Mörderin Klytämnestra[S. 320] — darum ist doch die Orestie das weihevoll Erhabenste, was die dramatische Literatur hat. Und höchst gräßlich ist die Verstrickung, in der Ödipus von den Mächten gefangen wird. So wenig wie zum Vergnügen ist die Tragödie zur sittlichen Befriedigung da, — es sei denn, man habe die Stufe des Ethischen, des Friedens erreicht, wo einem alle wahrhafte Gräßlichkeit der Menschen gegen einander, des Welterbes und Weltwerdens gegen die Menschen nichts mehr anhaben kann. Auf der Leiter, die zu dieser Höhe emporführt, stehen wir aber schon, wenn wir in Ataraxia, in Unerschütterlichkeit zusehen, wie in der Welt die Verkettung undurchbrechbar, wie das Geflecht der Seelenabgründe in den einen und ihrer Gegensätzlichkeit in den andern mit den Situationen unzerreißbar, wie die Notwendigkeit der Natur unentrinnbar ist. Ein so Unerschütterlicher sieht, gleich Spinoza im kleinen Mythus der Anekdote, zu, wie die Spinne die Fliege in ihr Netz bekommt, er hat „interesseloses Wohlgefallen“, wenn er gewahrt, wie der Kuddelmuddel kommunaler Nachlässigkeiten, die das Kirchendach nicht rechtzeitig zur Ausbesserung gebracht haben, und der Sturm, den die Natur in Nordostasien gebraut hat, und das Kind, das die Mutter zum Milchholen geschickt hat, so zusammentreffen, daß der Ziegelstein vom Dach das Kind zerschmettert, während der Milchtopf ganz bleibt; er hat diese nämliche Befriedigung, wenn Othello und Desdemona und Jago an einander zugrunde gehn, und er kennt eine Tragödie, die wahrlich nicht der Kraft, aber der Art nach noch über die Shakespeares hinausgeht, in der Othello und Desdemona als Lebendige verderben und Jago Doge von Venedig wird. Nicht zu wenig, sondern in äußerlichen Abschlüssen, die wenig Bedeutung haben, zu viel poetische Gerechtigkeit findet sich bei Shakespeare, der, wie vor ihm und bisher nach ihm kein zweiter, den Blick für die wahre Sach- und Lotgerechtigkeit, für die innerste Wirklichkeit nämlich des Widerstreits unsrer kausal gespaltenen Welt hatte.
Ganz besonders kunstvoll und lebendig werden wir diesmal in die Handlung und so auch wieder in die einzelnen Szenen mitten hinein geführt, so daß eine Weile der Spannung vergeht, ehe wir im Zusammenhang sind. So ist es gleich im Beginn: zwei Männer besprechen sich erregt über etwas, was ein andrer zu ihrer Unlust getan; was er getan, erfahren wir aber noch lange nicht. Und wer ist es? Ein Befehlshaber; es geht um eine Leutnantsstelle — das heißt, um den Stellvertreter dieses Kommandanten, um den Generalleutnant — der Sprechende ist enttäuscht, Wut äußert sich: ein Fremder, ein Florentiner, Michael Cassio hat die Stelle bekommen — der wird als ein zarter Mensch, ein Mann der Bücher, ein Gelehrter ohne praktische Erfahrung, ein Rechner geschildert; der Sprechende, Jago, schildert sich damit als Soldaten der Ausführung, der rohen Gewalt. In Troilus und Cressida haben wir den Gegensatz der beiden militärischen Typen, der hier nur gelegentlich zur Charakteristik dient, in entscheidend ernstem Zusammenhang getroffen. Dann erfahren wir — noch lange nicht den Namen des Feldherrn, aber verächtliche Bezeichnungen und Vergleichungen: Seine Mohrschaft — der Mohr — die Wulstlippe — ein schwarzer Bock — ein Berberhengst — und immer wieder der Mohr; man merkt, das ist, ganz unabhängig von dem entstellenden Haß der Sprechenden, ein populärer Mann, dieser Farbige, der der Admiral der Republik Venedig ist. Erst in der dritten Szene, wo wir schon lange mit ihm selbst zusammen waren, hören wir seinen Namen; da redet ihn der Doge als Othello an.
Wie ist es nun mit dieser Mohrschaft? Ist Othello ein Maure oder ein Neger? Gemeint ist er offenbar als Maure, die Bezeichnung sagt es schon; Mauritanien, das von den Arabern bewohnte Nordwestafrika, ist seine Heimat. Aber der äußern Erscheinung nach ist er eine aus ethnologischem Irrtum entstandene Phantasiegestalt: ein Araber mit[S. 322] einigen körperlichen Eigenschaften des Negers; Bezeichnungen wie „Wulstlippe“, „Dicklippe“ weisen deutlich darauf hin. Als Beweis für Shakespeares angebliche Unbildung in geographischen Dingen läßt sich aber diese Zusammenwerfung nicht verwerten; Shakespeare teilt den Irrtum seiner gelehrten Zeitgenossen; in einem Nachschlagewerk seiner Zeit heißt es ausdrücklich: „Mohr, einer aus Mauritanien, schwarzer Mohr oder Neger.“ Trotzdem ist für die Bühne keine übertrieben dunkle Färbung und keine starke Hervorkehrung der physiognomischen Negerzüge zu empfehlen; solche Fragen müssen genau so behandelt werden wie die dekorativen Elemente der Szenen; es geht auf der Bühne nicht wie in der Natur zu, wo außer dem, was zur Handlung gehört, auf jedem Schauplatz noch eine Menge andere, zufällige Dinge zu finden sind. So wenig in Desdemonas Schlafgemach ein Nachttisch mit den dazugehörigen Utensilien gehört, so wenig darf über die Absicht des Dichters hinaus Othellos Negerhaftigkeit betont werden: worauf der Dichter nicht immer die Aufmerksamkeit lenkt, das darf auch der Anblick uns nicht fortwährend aufdringlich vorführen. Findet man das richtige Maß, die Verteilung der kleinen Andeutungen nicht, so ist zu wenig gewiß besser als zu viel; es schadet nichts, wenn diese Negerzüge mehr in Jagos gehässiger Verleumdung und im Vorurteil als in grell beleuchteter Wirklichkeit leben.
Im Ganzen des Stücks und in vielen Einzelzügen stellt sich Othello als stolzer, adliger Mann dar, der einem Kulturland entstammt, zu Hause ein Fürst ist; er ist ausgestattet mit der Bildung des Geistes und des Herzens. In Venedig ist er überaus angesehen und beliebt; er weiß sich in Achtung zu setzen, gebieterisches Auftreten ist ihm zweite Natur geworden; Brabantio, einer der vornehmsten Senatoren, hat ihn gern bei sich im Hause gesehn; nur, wenn’s ans ganz Intime geht, tritt das Rassenvorurteil dazwischen.[S. 323] Am stärksten spricht es Emilia aus, Jagos Frau, die er sich im ungebildeten Volk geholt hat; gar nicht die vornehmen Venezianer, die seine Dienste brauchen, und Desdemona und Cassio, die an Seelenadel und Reinheit auf Othellos Stufe stehen.
Daß er kein Neger im üblichen Sinne und noch weniger so etwas wie ein amerikanischer Nigger ist, wie ihn maß- und geschmackloses Virtuosentum manchmal auf die Bühne stellt, ist klar; Shakespeare hat ihn wahrlich nicht als solchen gesehen; er spricht die reiche, bildkräftige, strömende Sprache der großen Gestalten des Dichters; ihn irgend etwas radebrechen zu lassen, weil Venezianisch nicht seine Muttersprache ist, ist Bönhasenalbernheit, die man höchstens auf Liebhaberbühnen vermuten sollte; solche Sprachschwierigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Nationen existieren für den Dichter nur, wenn er sie zu einem besonderen Effekt verwenden will; bei Othello darf das Geringste der Art so wenig hervortreten, wie Antonius lateinisches, Cleopatra aber ägyptisches Englisch oder Deutsch spricht; und wenn er vor dem Senat sagt:
so ist damit der Kriegsmann, der Offizier charakterisiert, nicht der Barbar; und überdies heißt ihn bei aller Aufrichtigkeit gerade weltmännische Klugheit so reden: er nimmt seine Leute gut, vor denen er als Angeklagter steht.
Einen Zug hat er ohne Frage, der in Verbindung gebracht wird mit der südlichen Zone, aus der er und sein Geschlecht stammen: sein heißes Blut, seine jähe Furchtbarkeit. Aber da gilt es, fein zu unterscheiden: auch das wird von[S. 324] Shakespeare nicht ethnologisch gefärbt, nicht als Rassenmerkmal gebracht, sondern als Eigenschaft dieses Individuums. Daß er so ist, wie er ist, kommt von seiner menschlich einmaligen Besonderheit; daß man die aber auf Afrika zurückführen kann, ist seine Stellung unter den Menschen. Diese exotische Besonderheit trägt Othello wie einen Fluch, von den Leuten her, so wie Richard III. seine körperliche Entstellung. Nicht seine gnomenhafte Gestalt und seine Deformation schafft physiologisch Richards Naturell und Charakter; sondern wie die Leute das nehmen und wie er meint, daß sie es nehmen müssen, soziale, nicht physische Zusammenhänge also isolieren ihn zum Aufrührer und Usurpator. Und so steht es mit Othello: das typisch Afrikanische ist in der individuellen Natur dieses Leidenschaftlichen, Stolzen nur so fein und unlöslich mitwirksam wie das Provenzalische bei Mirabeau, das Römische bei Coriolan, das Schottische bei Macduff; aber so wenig wie Macduff ein adliger Held ist, weil er ein Schotte ist, so wenig ist Othello, wenn die Situation danach ist, darum der umdunkelnden Wut preisgegeben, weil er ein Afrikaner ist. Daß es aber so gedeutet werden kann, daß es bei jeder Gelegenheit dem Durchschnittsmenschen und Boshaften einfällt, er entstamme ja der dunklen Rasse, das ist ein wichtiges Element in seinem Leben.
Wollen wir die Grundzüge seines Wesens nennen, so geht es uns wie bei Shakespeares Menschen immer: er scheint aus lauter Widersprüchen zusammengesetzt. In Wahrheit gibt es bei Shakespeare wie im Leben keinen reinen Charakter an und für sich, den man absolut aussprechen, auf eine abstrakte Formel bringen, als Typus für eine Gattung nehmen könnte, sondern nur bestimmte Menschen in Beziehung zu ihrer Geschichte, Umgebung und Situation. So scheint Othello, wenn wir ihn mit den paarig vereinfachenden, verfälschenden Ausdrücken unsrer Begriffssprache beschreiben wollen, besonders zart und besonders wild; besonders beherrscht und besonders unbeherrscht,[S. 325] besonders vertrauensvoll und besonders mißtrauisch. Es ergibt sich daraus nur, daß mit solchen Etiketten einem Lebendigen gegenüber nicht viel anzufangen ist; denn sowie wir solche schulmäßige Eigenschaftscharakteristik aufgeben und den Mann im Zusammenhang seiner Geschichte betrachten, wird alles zweifellos klar. Zwar gibt uns der Dramatiker keine solche zusammenhängende Geschichte; nur vereinzelte Bilder aus der Situation der Katastrophe sehen wir hier; das aber ist Shakespeares Kunst, daß aus diesen Bildern sich das äußere Leben, auch die Vorgeschichte, und das innerste Wesen ergibt.
Ein Kriegsmann, ein Seeheld, ein Weitgereister ist der Mohr; in Gefangenschaft und in Sklaverei ist er gewesen. Er ist männlich, gebieterisch, befehlskundig, frei, ungebunden:
Nun aber hat er, der Freie, sich endlich, in höheren Jahren, zu dem Ehestand entschlossen, der ihm sonst bedenklich schien als eine Art Gefangenschaft oder Sklaverei, die er in andern Formen genug kennen gelernt hatte. Das scheint er nicht viel im Leben gefunden zu haben, was er bei diesem jungen Mädchen fand: reines, uninteressiertes Mitgefühl bei einer freien, auch ihrerseits unabhängigen Natur. Auch sie vereint scheinbar Gegensätze wie er: sie ist die ganz Freie, Trotzige und die ganz Hingebende. Keineswegs hat sie sich ihm schnell gegeben: sie sind immer wieder beisammen gesessen; er hat von seinen Taten und Leiden in fernen Ländern und Meeren erzählt, sie hat zugehört; dann hat Cassio für ihn werben und ihn verteidigen müssen, wenn sie ihn tadelte; denn das tat sie, sie hat sich offenbar schwer in ihn gefunden, hat Züge an ihm gesehen, die ihr bedenklich waren, die sie erschreckten; nun aber ist er, der gebieten kann wie ein Mann und weinen wie ein weiches[S. 326] Kind, ganz der ihre, wie sie die seine ist. Wie das so gekommen ist?
Seiner Natur nach ist Othello der vertrauendste, der harmloseste, der kindlichste Mann. Er ist ehrenhaft und setzt Ehre, er ist ehrlich und setzt Ehrlichkeit voraus. So sieht ihn auch Jago:
Othello weiß auch selbst ganz gut, daß das Vertrauen in seiner Natur liegt; noch am Schluß, nachdem er die grauenhafte Tat des Mißtrauens getan, bezeichnet er sich als einen, „nicht geneigt zur Eifersucht“.
Und so sieht ihn auch Desdemona:
Gewiß ist er bei dieser Anlage seiner Natur schon oft betrogen worden; und als gebildeter Mann, der sich auf allgemeine Regeln versteht, hat er sich auch Lehren daraus gezogen. Jago, wie es seiner Art entspricht, zögert einmal bei einer entscheidenden Frage Othellos, zögert absichtlich, und da meint Othello:
Ja, die Regel kennt er schon; aber auf systematische Verstellung, auf Ränke und Intrigen versteht er sich nicht, weil er eine wahrhafte, offene und darum gläubige Natur hat. Denn wer beurteilt nicht die Menschen nach sich? Auch Jago tut’s; an wahren Seelenadel glaubt er nicht;[S. 327] und wo er seine Zeichen gar nicht übersehen kann, da setzt er ihn — wir haben es jetzt eben mit seinen Worten gehört — der Dummheit gleich. Daß der Kluge nicht mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, seinen Vorteil wahren soll, der Obere als Befehlender hinab, der Untergebene als Listiger hinauf, das begreift er nicht. Und so, von sich aus, begreift Othello nicht, daß das, was wahr aussieht, wahr klingt, nicht eben so sein soll, wie wenn er es wäre, er es spräche. Wohl weiß er von Schurken und ihren Kniffen; gewiß hat er schon mit solchen zu tun gehabt, denen man Bosheit und Verstellung am Gesicht ansah, am Ton anhörte; was für ein frischer, natürlicher, ehrlicher Bursch, ein bißchen brutal und plump, aber nichts weniger als raffiniert oder auch nur in feineren Planen geübt ist aber (wenn ihn nicht ein schlechter Schauspieler spielt) dieser Jago, wie er in seinem Umgang erscheint; darum, weil er in ihm nur einen starken, treuen, tapfern Soldaten, aber einen untergeordneten Kopf sieht, hat Othello ihn ja auch nicht als Generallieutenant, als stellvertretenden General brauchen können. Jago erscheint ihm als ungeleckter Tolpatsch; Cassio, der feine, gelehrte, der Pläne entwerfen kann, der Florentiner aus Machiavellis Land, ist geeignet zu einem so hohen Posten; dem traut der adlige Naturmensch, dem solche Bildung etwas Unvertrautes ist, dann auch im Leben zu, was er selber im Öffentlichen und Privaten nicht vermag: List, Betrug, Niedertracht.
Wie er den Menschen vertraut, so vertraut Othello auf sich; er ist stolz und zuversichtlich. Hier aber ist der Punkt, wo er nicht bleibt, was er von Natur aus ist; hier ist seine verwundbare Stelle; von hier aus beginnt alles. Daß er, der gläubigste Mann, an der Reinheit selber nicht bloß zweifeln, daß er ihr den schmutzigsten Verrat zutrauen muß, daß der Vertrauende vom Mißtrauen zerfleischt wird, bis er die Ermordung der Unschuld beschließen muß, dieses[S. 328] Entsetzliche, diesen Abfall Othellos von sich selbst zu erreichen, wird Jago nur möglich, weil der Mohr in dem einen Punkt mißtrauisch gegen sich selbst und von da aus erst mißtrauisch gegen andre ist: in dem Punkt der Liebe.
Einander nicht zu kennen, des Nächsten nie sicher zu sein, ist allgemeines Menschenlos. Ich bin ich und habe und weiß mich nicht von innen, sondern ich bin ich; sein hat kein Objekt; ich bin ich, ich bin nicht mich; und, ich bin du — wer darf es sagen? In der Geschlechtsliebe nun ist dieses allgemeine Menschenlos zugleich aufgehoben und in höhere Potenz gesteigert: in der Begattung der Leiber, der Gleichzeitigkeit und Gemeinschaft der Wonne, in die das Paar aus begehrendem Verlangen dahinsinkt, in der Wirklichkeit oder Phantasie des Dritten, in dem die Zweiheit sich eint, in der Begattung der Seelen, zu der es die Liebe als Höchstem bringt, ist für Augenblicke die Einheit da. Aber der Mensch, der einzelne im Paar, ist da nicht mehr er selbst; der Verstand begreift nichts davon, nicht einmal von der Sinnlichkeit und noch weniger von der Phantasie und verklärenden Mystik des Gefühls; der Verstand steht vor dem dunklen, rätselhaften Gattungstrieb wie vor einem Fremden, der sich des eigenen Wesens bemeistert hat; der Verstand ist das absolut Lieblose; er kann nicht lieben; er kann auch die Liebe nicht begreifen. Und er raunt dem Manne immer wieder zu: die ist es nicht, du selber bist es; dein Verlangen, deine Lust in dem Doppelsinn des Gelüstes und der Befriedigung; die ist nur das Gefäß, das Mittel deiner Lust, und so bist du für sie; ihr seid nicht eins; sie ist dir fremd; wer ist sie?
So ist es im allgemeinen, und nun kommen für diesen vertrauenden Mann noch besondere Umstände dazu. Der feinste Umstand ist von Shakespeare, dessen Gestalten ich keineswegs Züge zuschreiben will, die sie wohl haben könnten, von denen aber ihr Schöpfer nichts gewußt hat, genügend angedeutet. Othello ist nicht mehr jung und ist[S. 329] ein geprüfter Mann, der alles im Leben gefunden hat, nur kein Weib, zu dem sich seine Seele so in Verehrung neigte, daß sie seine Gattin werden mußte; an flüchtigen Liebesabenteuern hat es ihm nicht gefehlt; auch mit Frauen vom Schlage Emilias mag er sie sich gestattet haben. So wie er gewohnt ist, Wildheit, Brunst, Leidenschaft in seinem Kriegshandwerk, dem ernsten Männerberuf gerade darum zurückzudrängen, weil er des Trieblebens in tiefem Untergrund mehr als genug in sich weiß, so liebt er jetzt, wo er Desdemona in inniger Beglücktheit gefunden hat, ohne Sinnlichkeit, in dem wunderschönen, wie verzauberten bräutlichen Zustand, wo man das Begehren in sich irgendwo in starken Kräften weiß, wo oben aber rundum Stille und Seligkeit ist. Verstärkt wird das noch durch das aufschauende Kindschaftsverhältnis Desdemonas zu ihm, durch seine Väterlichkeit gegen sie. In ihr nun lebt wie in Julia in aller Sanftheit eine knospende Sinnlichkeit, ein fast trotzig begehrendes Erschlossenseinwollen. Ein wundervolles Verhältnis des ergänzenden Liebesgegensatzes, solange der hadernde, antastende Verstand nicht dazwischentritt und fragt, mäkelt, analysiert. Ich will nichts dazu dichten, will nichts davon wissen, was in Othellos Innerm in dem Augenblick der Nacht vorging, als der Lärm ihn aus dem Bett vertrieb; aber gerade, wo dieser Zusammenhang so gröblich verkannt wird, will ich das eine sagen: man weiß, welchen Sturz die Liebe keuscher Seelen, auch ohne einen trunkenen Cassio als Störenfried, in der Brautnacht erleidet; und nun stelle man sich in diesem Moment, einige Stunden, ehe Othello zum ersten Mal für uns Desdemona mit fremden, ernüchterten Blicken ansieht, dieses ungleiche Paar vor, das sich heimlich verbinden mußte, weil der berühmte und populäre General für die Liebe diesen Makel hat, ein Mohr zu sein! Das ist der zweite und bedeutendste Umstand, der zur allgemeinen Fremdheit zwischen Menschen und zumal Liebenden dazukommt,[S. 330] daß Othello aus tausendfachen Erfahrungen mit Menschen weiß: man braucht ihn, man begegnet ihm mit Achtung, zum Schluß und im Grunde ist er aber immer der Mohr; hat er solche Erfahrungen nicht immer wieder gemacht? hat nicht Desdemonas Vater, der ihn so gastlich und ehrenvoll in sein Haus geladen hatte, an eine Liebe zu ihm, dem Mohren, nicht glauben können, es sei denn durch verruchte Zauberei? So lebt von vornherein die Möglichkeit des Zweifels in ihm, des Glaubens, daß Desdemona ihn mit einem andern betrügen könne.
Aber trotz allem: sofort nach ihrer Wiedervereinigung, wo er sie so stürmisch-innig begrüßt hatte; nach ihrer endlichen Vereinigung in der Liebe! Ein solcher Sturz, ein solcher Abfall von sich selbst, eine so grauenhafte Verkennung der sichtbar Reinen und Holden wäre bei einem Othello nicht im entferntesten denkbar, wenn nicht Jagos abgefeimte Intrige dazukäme. Sich eine so geniale Verstellungskunst und tiefe Niedertracht vorstellen zu können ist Othello unfähig; überdies hat für seine Harmlosigkeit Jago gar nicht den mindesten Grund, ihm übelzuwollen oder Übles zu tun; der junge Mann — achtundzwanzig Jahre ist er alt — bekleidet eine sehr angesehene Stellung, hat das besondere Vertrauen seines Generals, zwar nicht im feinsten Militärischen, aber in allem Kriegerischen und Menschlichen; er lebt in einer Ehe, wie sie zu seiner anspruchslosen Derbheit zu passen scheint. Auch gilt Jago keineswegs für schlecht; er zeigt sich auch nicht so; was er etwa Rohes tut, wird von dem Kriegsmilieu und seiner ungeistigen Muskelnatur genügend erklärt; so sieht ihn Othello.
Wir sehen ihn ganz anders; wir wissen, welch genialer Verstellungskünstler der Mann ist; wir sind dabei, wie er sich ohne Rückhalt und Scham mit sich selbst auseinandersetzt. Man hat oft gefragt, ob so viel Selbstbewußtsein, so viel Klarheit über sich selbst in schlechten Menschen sei,[S. 331] wie in Jago. So viel Kenntnis ihres Wesens und Bekenntnis zu sich? Und man hat es als einen Fortschritt der neueren Dramatik bezeichnet, daß da das Schlechte sich ergibt, ohne daß die einzelnen Menschen Bösewichte sind oder sich gar dafür halten und erklären. Es ist nun freilich die Frage, ob da zwischen der Renaissance und unseren Zeiten bloß ein Fortschritt der dramatischen Kunst und psychologischen Erfassung vorliegt; oder ob nicht diese andere Art der Beobachtung zusammenhängt mit einer Änderung der Menschen und Zustände. Vielleicht bedurfte es einst zur Begehung des Schlechten und Verderblichen der gemeinen und bösen Gesinnung; vielleicht besteht der Fortschritt der Zeiten in unsrer Epoche darin, daß es heute weniger Handelnde und mehr Getriebene gibt, daß man heute ein niederträchtiges Milieu und verderbliche Zustände durch sich hindurchwirken läßt, ohne selbst zur Besinnung über das zu kommen, was man verrichtet, wessen man sich schuldig macht? Vielleicht ist die Verteilung der Schuld auf unendlich viele Massenteilchen, ist die ganze Massenhaftigkeit und Individualitätslosigkeit unseres Zeitalters nicht eine neue Technik unsrer Dichter, sondern ganz einfach: unsre Technik?
Wie auch immer, wir schreiben heute der Gruppe, der vererbten Überlieferung, der Gesamtheit, der Gesellschaft, dem Milieu zu, was früher als Wesen des Einzelcharakters genommen wurde. Und wenn ein Dichter Zustände unsrer Zeit darstellen will, wie zum Beispiel Hebbel in Maria Magdalena und Julia, so wirkt die Selbstzerfaserung von Gestalten, die nicht mehr in der selbsteigenen Freiheit, sondern in der Milieugebundenheit stehen, bei aller Genialität der Sprache befremdend, und es klafft ein Widerspruch, der selbst die Gestalten in solchen Dramen wie Judith und Gyges unsicher und etwas zu Abstraktionsgeburten macht, weil ihr Dichter nicht mehr fest in einer und der nämlichen Auffassung steht.
Von solcher großen Übergangserscheinung aber abgesehen, ist zum Verhältnis unserer Zeit zu Shakespeare zu sagen, daß wir diese unsre materialistische, ökonomistische Geschichts- und Gesellschaftsauffassung gar zu mechanisch angewandt, gar zu sehr den Menschen als bloßes Produkt der Verhältnisse genommen haben. Ich rede nicht nur von der Kunst, ich rede von unserm Leben. Ich rede, wenn ich von Shakespeare spreche, von unserm Leben, und von seiner Bedeutung besonders auch für uns, und rede darum von ihm. Es gibt in der Tat ohne Zweifel Produktmenschen; es gibt sie in Massen; unsre Zeit der Technik stellt diese Massen wahrhaft fabrikmäßig her; sie kommen bei ihrer Geburt aus der Fabrik und gehen in die Fabrik bis zum Tode. Aber es gab auch und gibt noch und wird geben produktive Menschen. Das große Drama hat es nicht mit dem Dutzendmenschen, sondern mit dem ungemeinen Menschen zu tun, weil typisch nicht für die Zustände auf der Oberfläche eines der Vergänglichkeit und beinahe Mode unterworfenen Gesellschaftstreibens, sondern für das Grundwesen der Gattung und die innere Beschaffenheit der Welt nicht der in fertige Form gegossene, sondern der formende Mensch ist. Es gibt freilich auch die melierten Seelen — viel Verstand und wenig Natur —, so wie der Antonio im Tasso; sie sind interessant, wiewohl nicht eben imponierend oder kurzweilig, und gehören, schon etwas herausgereckt, der Fläche an, aus der die Träger des dramatischen Elements hervorspringen.
Nähme ein Dichter unsrer Zeit also, sagen wir — um nicht gar zu sehr in die Nähe greifen zu müssen — Herrn Suchomlinoff und malte ihn in schwarzen Farben als ruchlosen, sich selbst klar überschauenden Bösewicht, so würde man — von aller andern gehässigen Beschränktheit dieser Darstellung abgesehen und die Hauptvoraussetzung für den Augenblick zugegeben — mit Recht einwenden: Nein, nein, nicht so einfach! Das Schlimmste ist, daß heute[S. 333] die Mörder gar keine Mörder sind, und daß die für millionenfache Höllengreuel Verantwortlichen keine Teufel und nicht einmal schlechte Kerle sind und sich im öffentlichen Leben für Politiker und im privaten für brav und ehrenwert halten dürfen.
Gerade darum aber, weil sie selbst, im Bösen und Guten, nicht schöpferisch, sondern Geschöpfe sind, sind die Einzelpersonen dieser Art, die keine Persönlichkeiten sind, nicht Gegenstand einer solchen Dichtung, die Repräsentanten des Schöpferischen darstellt und sich an das Schöpferische in uns, an die nachschaffende — die Dichtung nachschaffende und nach der Dichtung im Leben schaffende — Phantasie wendet.
Je bedeutender aber einer als einzelner ist, um so mehr ist er, der Wollende, ein Denkender und also auch über sich Denkender. Daß diese Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, diese Selbstschau über die eigenen Taten und Antriebe im wirklichen Leben anders vor sich geht als in den Monologen Richards III. oder Jagos, ist richtig, gehört aber in eine ganz andere Reihe der Betrachtung. Das geht nicht mehr den Inhalt an, sondern die Form. Der Monolog, wenn ihn nicht die Jungfrau von Orleans oder Tell deklamiert, sondern ein wahrhafter Dramatiker aufgebaut hat, ist eine poetische Form, in der die in unserm zerstreuten, gefühligen, traumhaft dusligen Leben pochenden, sinnenden, aufzuckenden und huschenden Gedankenfetzen im entscheidenden Moment zu einem Sprachgebilde zusammengefaßt werden; nur in Höhepunkten angewandt und nur solchen Gestalten in den Mund gegeben, die des Selbstgesprächs fähig sind, gehört er zu den Kunstmitteln des dramatischen Dichters, die dazu dienen, die Menschen in ihrem innersten Geheimnis zu zeigen.
Unsre neue, der Wissenschaft nach Inhalt wie Form angenäherte Dichtung hat im Roman, von Stendhal über Flaubert und von Balzac über Zola zu Dostojewskij, Bedeutendes geschaffen. Was das Drama angeht, so sind[S. 334] selbst die Bedeutendsten, die auch für die neuen Inhalte neue Formen gefunden haben, Ibsen und Strindberg, der Gefangenschaft einer vom Elend der Dutzendmasse gepreßten und sinkenden Zeit noch nicht in allen Stücken entronnen und trotz wertvollen Fluchtversuchen noch in vielem auf den Weg gebannt, der von Shakespeare über Iffland nach abwärts führt, und noch gelten Schillers, der für die Gefühlssprache der Begriffe und also auch für die Polemik und Rhetorik ein so herrlicher Dichter war, wie er im Drama nur Szenen, Reden und Träger politischer Rollen, aber keine Menschen aufbauen konnte, noch gelten seine prachtvollen Fragen und Antworten:
Prachtvoll ist das gefragt; aber ich will die glänzende Tirade doch nicht anführen, ohne dabei zu sagen, daß der Mann, der Herakles Shakespeare so reden ließ, es selber gewagt hat, den Bastard Edmund und das Verhältnis Othellos zu Jago derart mit Schiller zu verschneiden, daß eine Mißgeburt nicht der Natur, sondern der Kunst wie Franz Moor und eine Kläglichkeit wie die Beziehung Ferdinands zu Wurm daraus wurde, von seiner tristen Verbürgerlichung Macbeths gar nicht zu reden.
Wurm und Jago! Ein zu kombinatorischen Zwecken erfundenes unmögliches Gemächte, eine Karikatur-Arabeske, und ein saftiger Mensch!
Jago ein Mensch? Ist es denn so? Läuft so etwas denn auf zwei Beinen herum? Ein Kerl ohne einen einzigen guten Zug? das Urbild des abgefeimten Intriganten?
Gemach! Zwar verliebe ich mich nicht so in die Gestalten der großen Bösewichte Shakespeares, daß ich sie „retten“ will; aber ganz und gar ein Teufel aus der Hölle und nichts überdies ist keine einzige unter ihnen. Für Jago ist eins zu sagen, ein Entscheidendes: das Gute an ihm ist, was das Schlechte an ihm ist: daß er unten ist. Womit gemeint ist: wenn er oben, wenn er da wäre, wohin es ihn treibt, wohin er strebt, ganz oben, so hätte er alle Anlagen, als Jago der Große oder als heiliger Jago ein berühmter Monarch oder Papst zu sein. Er ist nicht an seinem Platze; er ist, mit eminenten Gaben des Kopfes und der Kraft, ein vom Schicksal Vernachlässigter. Das Schlimmste, was er tut, kommt vom Neid; nun — Neid ist keine individuelle Eigenschaft, oder all solche angeblichen Eigenschaften der Menschen sind Namen für Beziehungsgewohnheiten; Neid aber gar ist die Beziehung des Strebens, das selbst wieder keine Eigenschaft, sondern eine Beziehung ist, zu der von außen auferlegten Entbehrung. Die Fehler der Hausknechte, Kellner und Advokatenschreiber verlieren, verändern sich unglaublich schnell, wenn diese Leute Rentiers, Hotelwirte und Besitzer werden, und ich bin überzeugt, daß einer aus der großstädtischen Verbrecherklasse, dessen Spezialität der Diebstahl von Fahrrädern ist, kein einziges Rad mehr stiehlt, wenn er erst im eignen Auto fährt. Shakespeares Verbrecher, Schelme, Lumpen und Tschandalas, ob sie Jago oder Richard oder Thersites oder gar Caliban heißen, sind allesamt vortrefflich aus Erbe und Lebensstellung erklärt; nur daß ihre Persönlichkeit nicht von den Verhältnissen geschluckt wird, daß vielmehr die Umstände, die sie bedangen, in ihr Wesen aufgegangen sind.
Wenn etwas an Jago sympathisch ist, so ist es das: daß er seinen General aus ganzer Seele haßt, und daß dieser Haß nicht bloß persönliche, sondern Gründe allgemeiner Natur hat:
Und:
Er höhnt über die dienstbaren, kniebeugenden Gesellen, die in ihr Sklavenjoch verliebt sind:
Ich bin nicht, was ich bin, — es liegt alles in diesen Worten. Zunächst: man nimmt mich — allgemein — für einen Biedermann, der treu dient; hier, dir Esel Rodrigo gegenüber, zu meinem besondern Zweck, lüfte ich einmal die Maske: aber die andern halten mich für eine wackere, treue Seele, für einen dienstbaren Geist; sie sollen sich hüten! Dann — warum verstelle ich mich denn, warum betrüge ich, wozu umgarne ich? — Ich bin nicht, was ich bin, — ich bin nicht an der Stelle, die mir zukommt, die ich ausfüllen könnte, die ich haben will! Wär’ ich Othello, das heißt an seiner Stelle, ich blickte mit Verachtung auf Jago und seine Knechteskünste und Sitten; Herr wäre ich!
Für jetzt also lebt in ihm in voller Kraft der Egoismus des Unteren, das Streben; was im Wege ist, muß weggeräumt werden; und das Begleitgefühl dieses gesunden, gemeinen, durch nichts gebändigten Dranges ist die Ranküne, die Bosheit und gradezu die Lust, Streiche zu spielen, rein erscheinende Verhältnisse zu verwirren, Komplikationen zu schaffen, Menschen gegen einander zu hetzen. Das ist von der Natur sehr bequem eingerichtet, daß alles, außer[S. 337] der Arbeit, was egoistischen Zwecken dient, außerdem auch Vergnügen macht; Jago ist kein solcher Haßkünstler wie Shylock; aber hätte er bei seinen Schadengeschäften statt der elastischen Lust der Bosheit die deprimierende Unlust der Scham, so würde er sie bald aufgeben. Er ist jedoch mit voller Lust bei der Sache und ist in jeder Hinsicht ein Schamloser, was sich zumal auch auf dem Ursprungsgebiet der Scham wie der Lust zeigt. Er ist, wie man so sagt, gemein, ungewöhnlich gemein; aber in Verbindung mit dieser rohen Niedertracht und in ihrem Dienste steht ein ganz ungemeiner witziger, schneller, geübter, vor keiner Konsequenz zurückschreckender und durch seelische Hemmungen, wie ehrfürchtige Scheu oder Pietät, durch Religion also keineswegs gebändigter Verstand. Fromm ist Jago weder im Sinn irgend einer Glaubensgemeinschaft noch der zähmenden Zucht; er ist witzig und wild. So haben sich in ihm die Intellekt-Tugenden ausgebildet, die seiner Stellung entsprechen: dieser sein Witz ist scharf, stechend und aufbegehrend, besonders wenn er hochmütig und höhnisch gegen Dumme ist, er hält aber fast alle für dumm; und er arbeitet mit Logik, Berechnung, System, Ausdauer, trockener Ruhe und schneller, improvisierender Anpassung an jede Situation und jeden Zwischenfall.
Die unerhörte Wirkung der großen Szenen zwischen Jago und Othello kommt daher, daß zwei Kühnheiten, Raschheiten grundverschiedener Art zusammenstoßen und, indem die eine die andere bis aufs Blut haßt, einem Ziele zu, zur Vernichtung Desdemonas, zusammenwirken. Das sind zwei Unruhen gegen eine stille Frauenseele. Othellos Raschheit ist die Leidenschaft, die Trübung, der Affekt, die Glut und Wut der Seele, die hochschießt, sowie er sich für betrogen, für entehrt hält. Aus Othello bäumt sich ein wütiger brüllender Stier, nur daß immer wieder das Gemüt, die im Herzen getroffene Innigkeit und unter Jagos Händen die Überlegung, die Dialektik, ein Zorn, der sich[S. 338] in Denken und Planen verkleidet, dazukommt. Jago aber ist wie der flinke Stierkämpfer, der jeden Vorteil wahrnimmt, ein kaltblütiger, geschmeidiger, eleganter Schütze. In diesem Verhältnis hat Jago, der aufstrebende Plebejer mit dem Vernichtungswillen, alle aktiven Tugenden des Überlegenen; Othellos Vernichtungswille ist dem Anlaß nach eingeimpft, wiewohl das Gift nicht wirken könnte, träfe es nicht verwandte Stoffe im Blut des Mohren; Othello der General ist Jagos dienendes, mit der Ursprungswildheit seiner Natur dienendes Werkzeug, ist wie ein im Handeln leidender Knecht, der, je freier und wilder, je entfesselter er seine Tatkraft losläßt, um so wehrloser geopfert wird; dabei ist aber dem äußern Anschein nach das Verhältnis so, daß Othello als unabhängiger, gebietender Mann seine Ehre wahrt und sein Haus reinigt, daß Jago ihm nur pflichtschuldig, treu und beflissen Dienste tut.
Jagos Psychologie ist Physiologie; er ist ein vollendeter Zyniker; er nennt alles beim „rechten“, beim hundsgemeinen Namen; das wahre Wesen der Welt ist für ihn völlige Erbärmlichkeit; und so stellt er die Gemeinheit aller Menschen, in Ausnahmefällen den Edelmut als Dummheit in seine Rechnung.
Bei solchen Eigenschaften hat er es leicht und ist es ihm Bedürfnis, seinem Haß gegen den Herrn immer weiter einzuheizen; das Gerede, der Mohr habe mit seiner, Jagos, Frau Umgang gehabt, glaubt er, weil er die Menschen so beurteilt, daß so etwas ihn ohne weiteres wahrscheinlich dünkt; und überdies will er es glauben, weil dieser Glaube, für den er keinen Beweis hat und keinen braucht, ihm paßt. Dem Cassio traut er das nämliche zu. Der wahrhaft Mißtrauische und Eifersüchtige in diesem Stück ist Jago; sich selber, seiner Frau und aller Welt traut er, besonders im Geschlechtsverkehr, jede Gemeinheit, jede Unbedenklichkeit zu, wenn nur Gelegenheit da ist.
So spielt er in lüsternem Vorgenuß mit dem Gedanken, später einmal, bald einmal Desdemona zu genießen. Ihre[S. 339] holde Anmut, ihre Reinheit ist ihm ein besonders verführerischer Reiz. An eine von innen her bedingte, wesenhafte Reinheit glaubt er nicht, und so hat Desdemona etwas Unfaßbares und im Grunde Verhaßtes für ihn an sich, das ihn mehr kitzelt als begreifliche Sinnlichkeit. Überdies wird er wohl zwar nicht auf Seelenzüchtigkeit, aber auf eine gewisse physische, von strenger Aufsicht stammende Unberührtheit und Mädchenhaftigkeit viel Wert legen, wie die Männer in den orientalischen Märchen und Renaissancenovellen. Was Jago in der schauderhaften Wirklichkeit, die uns die Tragödie erleben heißt, zustande bringt, will er ursprünglich keineswegs: auf diesen Ausbruch Othellos, auf die Ermordung einer wunderschönen reizenden Frau fast unmittelbar nach der Hochzeit — wegen so was! das tun sie doch alle bei Gelegenheit! uns Hörner aufsetzen! — darauf war er nicht gefaßt. Sein Zweck ist, durch seine Verleumdung und mit Rodrigos Hilfe Cassio aus dem Wege zu schaffen; dadurch will er,
Und bei der Gelegenheit, nebenbei — denn die Karriere ist ihm die Hauptsache, das Geschlechtliche ist ihm nur eine sehr angenehme Lustbeigabe wie seine Bosheit — will er, nachdem er erst die junge Ehe erschüttert hat, in sie einbrechen und die junge Frau des alten schwarzen Esels kirre machen. „Bis zur Raserei“ will er seinen General bringen — das will er ausprobieren — er weiß ja, daß Eifersucht rasend macht, weiß es nur zu gut, hat indessen diese gemeinen Wüte immer bei bester Gesundheit überstanden, weder ihm noch dem Eheweib sind sie je ans Leben gegangen; aber wie Othello ist, wenn er rast, das weiß er nicht; er kennt ja weder die Wildheit noch den Adel des Mannes; als besonders Beherrschten, Gefaßten hat er ihn nur immer gekannt:
Jagos Verfahren ist, wie er sich’s liebt, sehr kompliziert, sehr aus Haß und Berechnung gemischt und also keineswegs vorsichtig, sondern gewagt und an der äußersten Grenze spielend: mit seiner Intrige will er es zugleich zu Othellos Vertrautem und erstem Offizier bringen und auf dem Wege zu diesem Ziel ihn peinigen bis aufs Blut. Der verwegene Kerl, dem Kopf und alle mit Saft gefüllten Gefäße vor Drang und lustig bösem Ungestüm fast platzen, hätte an all seiner Klugheit keine Freude, wenn sie bedächtig wäre. So wie er’s tut vorzugehn entspricht seiner Natur und überdies seiner allgemeinen Stellung in der Gesellschaft und der besondern Situation, wie sie sich ihm bietet: Othello hat den jungen hübschen Mann, der bei Desdemona sein Freiwerber war und vertraut mit ihr verkehrt, zu seinem ersten Offizier gemacht; jetzt eben wird die unpassende Ehe zwischen dem alternden Mohren und der blühenden Venezianerin geschlossen; da ist der närrische Rodrigo auf Jagos Veranlassung mit gespicktem Beutel mit nach Zypern gekommen, der Desdemona durchaus besitzen will und sich also trefflich zu Jagos Werkzeug eignet, — die Karten sind gemischt, das Spiel kann losgehn: Cassio ist Trumpf.
Der wird erst — der Zärtling verträgt nichts — betrunken gemacht; ein Kinderspiel für Jago in der Siegesnacht, der Hochzeitsnacht; es gibt Streit mit Rodrigo, Cassios Degen fliegt aus der Scheide, Jago sorgt dafür, daß die Sturmglocke geläutet wird, der Gouverneur von Zypern, der dazwischen tritt, wird schwer verwundet, Othello eilt herbei: Cassio wird abgesetzt. Wer weiß, ob das endgültig wäre? Bei der gutmütigen Natur des Mohren? Und[S. 341] überdies, der muß gepeinigt werden. Jago macht gern ganze Arbeit. Das Spiel ist noch nicht zu Ende. Jetzt muß Cassio Desdemona zur Fürsprecherin wählen, sofort, sowie der Tag dämmert; und wie nun Cassio, von Jagos gefügiger Frau hingebracht, bei Desdemona im Garten ist, bringt Jago Othello von ungefähr dazu:
um sich dann gleich auf die Lippen zu beißen; er will nichts gesagt haben.
In Othello wühlt es unterirdisch: er spricht zerstreut, freundlich, beherrscht weiter; aber er will bald allein sein; kaum weiß er, warum. Doch Jago läßt ihn nicht los; klug flicht er allgemeine Betrachtungen über Sein und Scheinen in ein Gespräch über Cassio. Und dabei fällt immer mal eine Andeutung; und Othello muß merken, daß der treue Gesell behutsam und schonend zu ihm spricht. Vor ein paar Stunden hatte Cassio in seiner Verzweiflung allerlei pathetische Dinge über den guten Namen gesagt; die wendet Jago jetzt Othello gegenüber an der rechten Stelle an. Dann warnt er seinen General vor der Eifersucht, noch ehe der sie im Oberbewußtsein hat.
Eifersucht? Als langen, bohrenden Zustand? Wohl gar als ekle Gewohnheit, auf dem Grunde der beinahe zur Mode gewordenen Voraussetzung der Männer, daß die Frauen sie alle zum Hahnrei machen? So eine Ehe? Nein, das ist für Othello nicht auszudenken. Darum ist er nicht so lange Junggeselle geblieben; darum hat er nicht sich einer Desdemona in heilig verehrender Liebe geneigt. Wie hatte er sie doch begrüßt, als sie nach Flucht, Trennung und Wettersturm endlich vereinigt waren?
So einer ist Othello: im höchsten Glück denkt er ans Sterben. „So absolut“ — sagt Shakespeares Original — hat seine Seele ihre Befriedigung; so absolut braucht er Liebe, ganze, ungeteilte Liebe; so unmöglich ist ihm ein Gedanke an irgendwelches Zugeständnis an Geteiltheit oder Niedrigkeit.
Aber — und da ist der Unselige schon vergiftet —
Proben will er, Beweise!
Und nun warnt Jago ganz gradezu, bieder, treuherzig:
Diabolisch erinnert er an die verächtlichen Worte, die Desdemonas eigener Vater, der sein Kind doch kennen wird, ihm mit auf den Weg gegeben hat:
Jetzt ist er an der richtigen Stelle; da bohrt er logisch weiter. Wie das junge Ding sich gut verstellen konnte, als sie jüngst mit dem Mohren aus dem Vaterhaus floh; mit dem Mohren! Sie konnte doch eigentlich so viele Landsleute, junge Leute, Männer ihrer Rasse und Farbe haben.
Dann bricht Jago wieder ab, bittet Othello, nur nicht aus der Fassung zu kommen, über solche Dinge nicht zu grübeln; damit bringt er ihn gerade dazu.
Othello will allein sein, und auch Jago hält es für gut, sein Opfer für eine Weile sich selbst zu überlassen. Es kommt zu einer kurzen Begegnung Othellos mit der Frau; er kann schon nicht mehr recht freundlich zu ihr sein, wiewohl er bei ihrem Anblick sich sagt, daß so die Treue selbst aussehen muß. In dieser knappen Szene nun ist die Ökonomie Shakespeares mit seinen Mitteln vielleicht aufs engste gespannt. Desdemona ängstigt sich über Othellos matten, gepreßten Ton und[S. 343] fragt ihn besorgt, ob ihm nicht wohl sei. Othello, der schon nicht mehr sicher ist, ob diese Teilnahme nicht erheuchelt ist, dem immer das ekelhafte Bild der gehörnten Ehemänner vorschwebt, —
gibt mit grimmiger Zweideutigkeit zur Antwort, er habe einen Schmerz auf seiner Stirn.
meint Desdemona in lieblich freier Erinnerung an die Nacht, und will ihm die Stirn mit ihrem Taschentuch verbinden; wie gern berührt sie dieses edle Haupt! Sie, an der es in ihm zweifelt, die jetzt eben mit Cassio so vertraut beisammen war, hat an die Nacht, an diese Nacht erinnert, sie will an die Stirn, an diese Stirn rühren und ein Band darum binden; er stößt sie unwillig weg und führt sie ins Haus. Desdemona, der er damit in einer Weise begegnet ist, die sie nie an ihm gekannt, nie geahnt hat, ist bestürzt, denkt nicht an das Tuch, das dabei zu Boden gefallen ist, und geht mit ihm. Das aber ist eben das Tuch, das Jago durchaus haben will, wegen dessen er — sein Plan ist schon lange fertig — seiner Frau schon auf der Überfahrt immer im Ohr gelegen hatte: auf die natürlichste Art, nicht durch irgend einen neuen Zufall, sondern im Zusammenhang mit Othellos Qual, kommt es jetzt Desdemona abhanden, wird von Emilia gefunden und sofort Jago apportiert. Wenn Shakespeare so in einem Auftritt, den er zur Fortführung der äußern Handlung nötig hat, dabei ungezwungen die seelischen Vorgänge bis ins Mark hinein weiterführt, so sehen wir, daß das vollendetste Maß der Technik nur der größten Innigkeit, dem Hineinknieen in den Vorgang zwischen den Menschen erreichbar ist; daß der raffinierteste Theatraliker der technischen Kunst des Dichters, wenn’s zum Höchsten steigt, nicht nachkommen kann.
Jago hat nun, was er braucht: die Sache; die Ecke, um die man nicht herumkommt; das Beweisstück, das unumstößlich mit der Gewalt der Sinnenwahrnehmung überführt; das corpus delicti.
Othello hat es nicht lange bei Desdemona ausgehalten; er kommt wieder in den Garten heraus und begegnet da wieder Jago. Jetzt ist er schon in voller Verzweiflung und in schlimmster Krise: kann Desdemona anders sein, als sie scheint, so möchte er wahrlich wünschen, er selbst wäre anders als er ist! Er kann es nicht ertragen, kann nicht mehr leben, wenn sie untreu, wenn sie also nicht sie selbst, wenn sie eine Dirne ist. Aber wenn er’s gar nicht wüßte? Wenn sich nichts für ihn verändert hätte? Diese greuliche Vorstellung ist sein letztes Anklammern ans liebe Leben; dann könnte er ja weiter leben mit dem holden Schein, den er für Sein nähme; im Glauben an die Liebe. Aber nun, — er sagt gar nicht mehr Wenn; er macht einen Sprung; für ihn ist der Beweis, die Entscheidung, das Ende schon da. Nicht die Vorstellung, was er ihr tun wird, lebt zuerst in der Phantasie des adligen Mannes; das Bild seines Lebens steigt auf, das nun vollendet sein muß; er nimmt Abschied. Und nun hören wir erschüttert, wie der einsame Mann bisher nichts gekannt hat, als mühvoll errungenen Frieden in seinem Innern und tapfern, rauhen Streit draußen; wir ahnen, wo er sich nun von diesem Frieden und diesem Krieg loslöst, was die süße Desdemona diesem männlichen Leben hätte bringen sollen. Wir möchten ihn beschwören, zu sich zu kommen; aber er hat sich nun schon in Tapferkeit gefaßt, ist fertig und entschlossen und will der Wahrheit und dem Tod ins Auge sehn. Indem er auf Jago losfährt, ihn an der Gurgel packt:
ist er ein verwandelter, ein schon hinübergetretener Mann; er ist in der Wolke des Zorns; er will nicht untersuchen; in dem Zwischenraum des Zweifels, des Mißtrauens, der Eifersucht hält es der Absolute nicht aus; er will den Beweis, er lechzt nach ihm; er braucht nichts andres mehr im Leben als ihn; er will sehen, was ihn vernichtet hat.
Jago liefert die Beweise überreichlich; aber er will ihn langsam foltern; er beginnt mit schmählichen Lügen, die er erfunden hat, die aber äußerst gravierend sind, sowie Jago ein ehrlicher Kerl ist; und warum soll denn einer so was erfinden? Und völlig glaubhaft gemacht werden seine Erfindungen eben durch die Kleinigkeit, die Othello zunächst von Jago erfährt: das Taschentuch, ein heiliges Andenken, ein Talisman, das erste Geschenk seiner Liebe, ist in Cassios Besitz; der hat sich den Bart damit gewischt. Othello versucht es noch einmal mit Desdemona; verlangt das Tuch von ihr. Sie ist in rechter Verlegenheit, hat es gleich vermißt, gesucht und nicht gefunden. Aber — sie ist ja ganz harmlos — seine Hartnäckigkeit, davon und von nichts anderm zu reden, nimmt sie nur als seine Auskunft, sie von ihrer lästigen Fürbitte für den entlassenen Cassio abzubringen. Und nun antwortet die Mitleidige, Eifrige, die Cassio hochschätzt und sich in ihrem sichern Urteil über den wertvollen Mann nicht beirren läßt, auf jede Frage nach dem Tuch mit immer dringlicheren Worten, die alle von Cassio handeln!
Ist’s noch nicht genug? Jago legt eine Pause ein; er braucht aus äußern Gründen Zeit, und es lüstet ihn, die Qual des Mohren, bis Cassio zum Untergang reif ist, noch eine Weile mitanzusehen. Jetzt setzt er ihm wieder mit unbestimmten Redensarten aus dem wüstesten Bereich zu; Othello muß Desdemona immer in der widerlichsten[S. 346] Situation vor Augen haben: er sieht, sieht es ganz klar, unentrinnbar: sein Weib, dieses zarte, innig scheinende Mädchen, das jetzt eben ganz die Seine geworden, ist eine Dirne, nichts Besseres. Da wird er toll. Er ist völlig wie im Delirium, redet unzusammenhängende Worte des Nichtbegreifens; die Überführung — die Beweisstücke — die Rache — all dieses Niedrige, durch das er hindurch soll — die schmierige Gemeinheit dieser Welt der Leiber und Sinne — all das geht ihm durcheinander:
Taschentuch — gestehn — — gestehn und für die Mühe gehängt — erst gehängt, dann gestehn — — — Nicht Worte schütteln mich so — ah, pfui, Nasen, Ohren und Lippen — Ist’s möglich...
Er fällt in tiefe Ohnmacht.
Und kaum ist er wieder erwacht, so erhält er den Beweis, handgreiflich, für Ohren und Augen. Er hört, und es ist nicht der leiseste Zweifel möglich, so kindisch einfach auch die Mittel sind, mit denen sich Jago diesem Leichtgläubigen, Verrannten gegenüber begnügen kann, hört, wie Cassio mit schimpflich schwatzender Vertraulichkeit zu Jago von seinem Liebesabenteuer mit Desdemona spricht. Und ein Zwischenfall, den Jago nicht vorhersehen konnte, der ihm sogar hätte gefährlich werden können, wird sofort von ihm benutzt und nimmt ihm viel Arbeit ab: Othello sieht das Tuch, sieht, wie es Cassio von einer niedrigen Buhldirne, die mit ihm keift, als sein Eigentum, als Gabe eines andern Liebchens vor die Füße geworfen erhält!
Davon, daß Desdemona von Liebe zu einem andern überwältigt wäre, ist gar keine Rede. Othello sieht vor Augen, weiß jetzt, es ist bewiesen, daß sie ein verworfenes Geschöpf, daß Cassio, den er so hoch geachtet, ganz ihresgleichen ist; die Welt entschwindet ihm; es ekelt ihn so gräßlich, wie wenn einer eine Blume pflücken will und in Kot faßt.
Nun ist entsetzliche, fassungslose Wut und Entschlossenheit, felsenfeste, zur Rache, ist Beherrschtheit und sogar unheim[S. 347]liche Ruhe seltsam in ihm beisammen. Immer wieder hält er sich ihre holde Schönheit, ihre Liebenswürdigkeit, die Stunden, die sie in Venedig zusammen verbracht, vor Augen. Daß die Welt so ist: all diese Anmut, die aus der Seele zu strahlen scheint, ist nur obendrauf gemalt, und unten ist eitel Laster und Niedrigkeit: wie schade ist es!
Als dann aber der Gesandte Venedigs eintrifft, Cassio — welcher Hohn! — zum Gouverneur auf Zypern ernannt wird und Desdemona unschuldig und frei — für Othello grauenhaft schamlos — ihrer Freude Ausdruck gibt, da schlägt er sie.
Und in der Nacht darauf bringt er sie um. Als Jago sehen mußte, wie dieser Mann aufs letzte ging und nicht anders konnte als sie töten, hatte Jago in scheinheiliger Tugend den Rat gegeben, wie er sie töten sollte: er erstickt sie mit dem Bett, auf dem sie — tausendmal, sagt Othellos wahnsinnige Übertreibung — Unzucht getrieben. Und hört und sieht nicht mehr, wie sie ist: denn er glaubt nicht mehr, kann nicht mehr glauben, daß sie ist, wie sie scheint. Wir kennen die schmerzliche Frage aus Troilus’ des jungen Kriegers Mund:
Das heißt ja nicht nur: Schönheit, wo ist deine Treue? Es heißt auch: Schönheit, wie kann man an dich glauben? Wo ist deine Verläßlichkeit? Und Othello ist jetzt in der Lage, wo er fragt: Schönheit der Seele, die du nur scheinen kannst, wo ist dein Beweis? Er hat sein alles an diese Liebe gesetzt; Desdemona war ihm, der sich nach Stille und Frieden sehnte, der sich in die Hand genommen und beherrscht hatte und in dem doch noch immer so viel Aufruhr unterirdisch drängte, wie eine Erlöserin, Erretterin, wie sein guter Engel gewesen:
So hatte er sich’s warnend, beschwörend vergegenwärtigt, als der Wurm zuerst in ihm zu nagen anfing; und nun? Nun ist das Chaos da; die ihm als Reine erschienen war, die in Wahrheit, nur weiß er’s nicht, die unverstellte Reinheit ist, die ist nur Erscheinung für ihn, nur trügerische Hülle; er glaubt an Jago, der sich verstellt: der hat so „bewiesen“, wie die Schönheit niemals beweisen kann. Der sprechende, der zerlegende Verstand hat die unsichtbare, schweigende Seele besiegt.
Und doch! Erinnern wir uns nur zur rechten Zeit, wo erschütterndes Mitleid und Erinnerung an unsre eigene bitter ernste Welt des Zerreißens uns schier umbringen will, daran, was der Dichter nie ganz vergessen lassen will: es sind ja alles nur Bilder! Das ist das beste Mittel gegen das Gefühl der Gräßlichkeit, und wir haben es mit Worten etwas andrer Herkunft schon genannt, dieses Wissen: was da stirbt, es sind nur Bilder! Was da tötet, ist nur erschaffene Gestalt! Halten wir’s doch auch im leibhaften Leben, wo wirkliche Schmerzen wirklich weh tun, nur so aus, daß wir uns sagen: Siehe, der Mensch gehet dahin, — etwas aber ist, das durch allen Tod hindurch weiterlebt, das bleibt, das ist.
Und so, nachdem wir in aller Erschütterung über dieses Traumbild des Lebens die Ruhe und Kühle wieder erlangt haben, die zugleich mit der Wärme in jeglichem vollendeten Kunstwerk und in jeder reinen Aufnahme der Kunst zu sein hat, dürfen wir uns sagen: Die Seele, die da stirbt, lebt weiter, lebt in der Tat gar, die sie tötet. Sehen wir jetzt nur ab von all dem schauderhaften Irrtum, in den Othello verstrickt ist; das ist ja nur der böse, wirre Fiebertraum des gespaltenen Lebens, — die Gesinnung, aus der heraus er handelt, trotz Betäubung, Umdunkelung, Wut, ist adlig, seelenvoll, groß, ist seiner und Desdemonas würdig.
Die Übersetzung von Baudissin-Tieck ist vielfach angetastet worden. Vischer sagt: „Grund hat es“. Gundolf, wieder ganz aus dem Zusammenhang, dem Stil, dem Sinn plumpsend: „Das ist die Tat“. Man möchte weinen über solche Undankbarkeit. Die Übersetzung von Baudissin-Tieck hat sonst der Fehler im großen und kleinen mehr als genug; hier ist sie prachtvoll, ist Schlegel, ist Shakespeare ebenbürtig. Othello geht es in Wahrheit um die Sache: so Schönes muß Sprache der Natur, muß Zeichen des Wesens, muß wahr sein; oder, wenn es nur Sprache wie des Menschenmundes — wir sagen dazu: Sprache wie Jagos — ist, wenn es nur Lüge und Schein ist, darf es nicht leben! Othello ist in diesem Augenblick vor seiner Tat zu Mute, wie es Hamlet von sich fordert, da es Rache zu nehmen gilt: der ungeheuerste Betrug darf die Erde nicht beflecken; in der Welt stimmt Entscheidendes nicht, solange diese grauenvolle Sphinx lebt; er ist berufen, die Ordnung der Welt wiederherzustellen.
Darum, weil er aus diesem Geiste heraus getötet hat, ist denn auch sein Weh, wie Emilia in echtem Schmerz um das Heilige sich über sich selbst erhebt und — ihrem Mann, den sie sonst feige fürchtet, ins Gesicht — tapfer für die Wahrheit zeugt und alles enthüllt, so groß, so gefaßt, so wie schon längst im Untergang stehend. Die Welt wird um ein edles Paar ärmer sein; aber an Tugend, an Schönheit, an liebliche Innigkeit darf man wieder glauben: es war alles ein wüster Traum. Sein Leben ersteht noch einmal, als Ganzes zusammengefaßt, vor ihm: ein Seefahrer war er, ein Reisender, vom Wind über weite Meere getrieben:
Jago!! Der Betrüger! Der Teufel! Der eigentliche Mörder! Der dunkle Othello sticht sofort wütend auf ihn los; aber der Helle weiß es dann gleich besser: Er soll leben!
Aber in Ehre will er sterben, wie er gelebt hat. Sein Wesen baut er auf, wie sie ihn schildern sollen, wenn sie nach Venedig schreiben, und nicht mit dem leisesten Gedanken kommt ihm in diesem Augenblick, wo es nur um Wesenhaftes geht, zu Sinn, er gehöre einer andern Rasse, einer andern Welt an, als alle die, an deren Achtung ihm gelegen ist: ein Mann war er und ein Kind, fest und weich, ein Herr in Ruhe, ein Knecht des Zorns, wenn die Wirrnis ihn umgarnte — — und — nun fängt er an zu erzählen, wie er im Zorn einst für die Ehre Venedigs eintrat und — alle sind gespannt, achten nur auf die Sache, nicht mehr auf den Menschen, der vor ihnen steht — und in der Gebärde des ehrenhaften, soldatischen Tötens tötet er rasch, blitzgleich sich selbst.
Und stirbt an der Brust Desdemonas, im Kuß.
Desdemona? Sollte man sie nicht dem Gefühl überlassen dürfen? Wäre von ihr zu schweigen nicht schöner als von ihr zu reden? Obwohl ein recht bekannter Kommentator von ihr gesagt hat, sie sei verzogen, eigensinnig, selbstsüchtig, undankbar, launisch, blasiert? Sie ist in Wahrheit hold und rein, stark auch, wo’s ihre Liebe gilt, obwohl sie sonst, ihr Vater sagt’s, „niemals kühn“ war,
sanft wieder, wo es gilt, den Geliebten zu schonen, ihm den Willen zu tun. Ihre Seele ist so vollendet schön, wie jene Madonnenbilder schön und vollendet sind, vor denen es der Kritiker fast nicht aushält, an ihnen gar nichts zu mäkeln zu finden. Sehr fein und richtig sagt Jago einmal von sich, daß er a critical sei; ein wenig gilt es schon auch umgekehrt, daß jeder Kritiker ein Jago ist.
Am lieblichsten und anmutigsten ist sie in ihrem letzten Gespräch mit Emilia; der Schatten des Todes liegt schon über ihrem Zubettgehn; schwermütig ahndungsvoll singt[S. 351] sie das alte Lied von der Weide und vom Weinen; aber sie muß noch plaudern; wie viel Heiterkeit, wie viel Lust hat in diesen Tagen in ihr hoch wollen und ist so unbegreiflich unterdrückt worden; wir hören, wie sie nicht um die Welt untreu sein könnte; und wie wird sie da von Emilia zurückbeleuchtet, die sich überlegt: na, die Welt, die ganze Welt —, da müßte doch jede so ein bißchen untreu sein können! Sie aber kann sich’s nicht vorstellen, sie glaubt, auch Emilia scherze nur; so wie Emilia, Jagos Frau, in Wahrheit an Keuschheit und Treue nicht glauben kann, so meint Desdemona, die sich für gar nichts Besonderes nimmt, alle Frauen müßten doch natürlich so sein wie sie.
Dabei ist sie so hold sinnlich, wie ein Mädchen aus dem Volk, wie Gretchen, deren Gestalt sie ja auch in manchem Zug zum Muster gedient hat. Als der Senat unmittelbar nach der heimlichen Vermählung den General in den Krieg schickte, fragte sie, fragte es unwillkürlich aus ihr heraus:
Der Zug steht freilich nur in der Quartausgabe; und der prüde Vischer ist froh, sagen zu dürfen, Shakespeare hätte ihn also nachträglich getilgt. Ich glaub’s im Leben nicht; die Quartausgabe ist auch sonst manchmal verläßlicher als die Folio und überdies stammt sie ja erst aus dem Jahr 1622; in jedem Fall aber, daran zweifelt auch Vischer nicht, ist der Zug echter Shakespeare; und ich sage: echte Desdemona. Sie steht zu sich selbst, kennt keine falsche Scham und keine behutsame Vorsicht: sie ist ein Naturkind, ein beseeltes Geschöpf und hat, wie manche hohe Frauengestalt italienischer Renaissance, den Geist und die Aktivität ihrer Natur und Seele. Gegen den Kriegsmann Othello hat sie sich lange gewehrt und hat kein Hehl aus dem gemacht, was ihr nicht gefiel; als sie sich dann seinem Adel und seiner innigen, fast flehentlichen Liebe neigte, als sie sah, daß ihr beschränkter Vater Schwierigkeiten machen würde,[S. 352] floh sie kühn in die Ehe; trotzig führte sie zu Ende, was sie beschlossen hatte, und setzte es vor der feierlichen Ratsversammlung durch, mit ihrem Mann in den Krieg, übers Meer zu dürfen; in ihrem Beschluß, für Cassio einzutreten, ließ sie sich von nichts beirren, eine selbständige Frau eigenen Sinnes, wie sie Shakespeare dann wieder in Hermione dem eifersüchtigen König Leontes an die Seite gegeben hat. Und wie sanft, hingebend, tragend ist sie hinwiederum bei den Unbegreiflichkeiten, Schroffheiten, bei der Mißhandlung des Gemahls. Noch sterbend denkt sie nur an den geliebten Mann, der sie, vor dem Ende hat sie ja eben noch den Zusammenhang wie von ferne geschaut, zufällig, zum Unglück hat umbringen müssen; Emilia fragt:
und mit ihrer letzten Kraft sagt die Sterbende:
Das ist Shakespeare, dem in einem und dem nämlichen Menschen die Gegensätze, in einer Desdemona Trotz und Sanftmut zusammenpassen, und der imstande ist, so lieblos unerbittlich wie liebend hingegeben in die Welt zu blicken, der das Weib als Cressida gekannt hat und als Desdemona und auch als das, was halb und unsicher, gemein und gutmütig, brav, wenn’s nicht viel kostet, und schlecht, wenn’s nicht viel kostet, dazwischen pendelt, als Emilia.
Ende des ersten Bandes