Title: Grundfragen der Soziologie
Author: Georg Simmel
Release date: June 30, 2019 [eBook #59838]
Language: German
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Sammlung Göschen
(Individuum und Gesellschaft)
Von
Georg Simmel
Berlin und Leipzig
G. J. Göschen’sche Verlagshandlung G. m. b. H.
1917
Alle
Rechte,
insbesondere
das
Übersetzungsrecht,
von
der
Verlagshandlung
vorbehalten.
Druck von Georg Reimer in Berlin.
Seite
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Erstes Kapitel. Das Gebiet der Soziologie
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Zweites Kapitel. Das soziale und das
individuelle Niveau (Beispiel der Allgemeinen Soziologie)
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Drittes Kapitel. Die Geselligkeit (Beispiel der
Reinen oder Formalen Soziologie)
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Viertes Kapitel. Individuum und Gesellschaft in
Lebensanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts (Beispiel der
Philosophischen Soziologie)
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Die Aufgabe, über die Wissenschaft Soziologie Auskunft zu geben, findet ihre erste Schwierigkeit darin, daß ihr Anspruch auf den Titel einer Wissenschaft keineswegs unbestritten ist; und daß, wo ihr dieser selbst zugestanden wird, über ihren Inhalt und ihre Ziele sich ein Chaos von Meinungen ausbreitet, deren Widersprüche und Unklarheiten den Zweifel, ob man es hier überhaupt mit einer wissenschaftlich berechtigten Fragestellung zu tun hat, immer von neuem nähren. Nun wäre der Mangel an einer unbestrittenen, grenzgesicherten Definition zu verschmerzen, wenn wenigstens eine Summe einzelner Probleme vorläge, die, in andern Wissenschaften nicht oder nicht erschöpfend behandelt, die Tatsache oder den Begriff der „Gesellschaft“ als ein Element enthielten und darin ihren gemeinsamen Berührungspunkt besäßen. Wären sie dann auch in ihren sonstigen Inhalten, Richtungen, Lösungsarten so verschieden, daß man sie nicht gut als einheitliche Wissenschaft behandeln könnte, so würde doch der Begriff Soziologie ihnen eine vorläufige Unterkunft gewähren, es stünde wenigstens äußerlich fest, wo man sie zu suchen hätte — wie etwa der Begriff Technik durchaus legitim für einen ungeheuren Bezirk von Aufgaben gilt, ohne daß es Verständnis und Lösung der einzelnen gerade viel förderte, daß ein gemeinsamer Charakterzug ihr an diesem Eigennamen teilgibt. Allein selbst diese schmale Verknüpfung mannigfaltigster Probleme, die immerhin eine in tieferer Schicht auf[S. 6]zufindende Einheit verspräche, scheint an der Problematik des einzig zusammenhaltenden Begriffes zu zersplittern, des Begriffes Gesellschaft — an der Problematik, mit der jene prinzipielle Leugnung einer Soziologie überhaupt sich beweisen möchte. Und es ist merkwürdigerweise einerseits eine Abschwächung, andrerseits eine Übersteigerung dieses Begriffes, an die solche Beweise geknüpft wurden. Alle Existenz, so hören wir, komme ausschließlich den Individuen, ihren Beschaffenheiten und Erlebnissen zu, und „Gesellschaft“ sei eine Abstraktion, unentbehrlich für praktische Zwecke, höchst nützlich auch für eine vorläufige Zusammenfassung der Erscheinungen, aber kein wirklicher Gegenstand jenseits der Einzelwesen und der Vorgänge an ihnen. Wenn ein jedes von diesen in seiner naturgesetzlichen und historischen Bestimmtheit erforscht sei, so bliebe für eine davon gesonderte Wissenschaft überhaupt kein reales Objekt mehr übrig. Ist für diese Kritik die Gesellschaft sozusagen zu wenig, so ist sie für eine andere gerade zu viel, um einen Wissenschaftsbezirk abzugrenzen. Alles, was Menschen sind und tun, so heißt es nun andrerseits, geht innerhalb der Gesellschaft, durch sie bestimmt und als ein Teil ihres Lebens vor sich. Es gebe also überhaupt keine Wissenschaft von menschlichen Dingen, die nicht Wissenschaft von der Gesellschaft sei. An Stelle der künstlich gegeneinander isolierten Einzelwissenschaften historischer, psychologischer, normativer Art habe also die Gesellschaftswissenschaft zu treten und in ihrer Einheit zum Ausdruck zu bringen, daß alle menschlichen Interessen, Inhalte und Vorgänge durch die Vergesellschaftung zu konkreten Einheiten zusammengingen. Ersichtlich aber nimmt diese Bestimmung, die der Soziologie alles geben will, ihr ebensoviel fort wie die andere, die ihr nichts geben will. Denn da Rechtswissenschaft und Philologie, die Wissenschaft von der Politik und die von der Literatur, die Psychologie und die Theologie und alle andern, die den Bezirk des Menschlichen[S. 7] unter sich aufgeteilt haben, ihre Existenz fortsetzen werden, so ist nicht das geringste dadurch gewonnen, daß man die Gesamtheit der Wissenschaften in einen Topf wirft und diesem das neue Etikett: Soziologie — aufklebt. Die Gesellschaftswissenschaft befindet sich also, unterschieden von andern, wohlgegründeten Wissenschaften, in der ungünstigen Lage, zunächst ihr Recht auf Existenz überhaupt beweisen zu müssen — freilich auch in der günstigen, daß dieser Beweis über die sowieso nötige Aufklärung ihrer Grundbegriffe und ihrer besonderen Fragestellung gegenüber der gegebnen Wirklichkeit führt.
Es ist zunächst ein Irrtum über das Wesen der Wissenschaft, aus der angeblich allein realen Existenz der „Individuen“ zu folgern, daß jedes, auf deren Zusammenfassungen gehende Erkennen sich spekulative Abstraktionen und Irrealitäten zum Objekt mache. Unser Denken faßt vielmehr allenthalben die Gegebenheiten zu Gebilden, als Gegenständen der Wissenschaft, in einer Weise zusammen, die in dem unmittelbar Wirklichen gar kein Gegenbild findet. Niemand scheut sich, von der Entwicklung z. B. des gotischen Stiles zu sprechen, obgleich es nirgends gotischen Stil als aufzeigbare Existenz gibt, sondern nur einzelne Werke, in denen die Stilelemente doch nicht greifbar gesondert neben den individuellen Elementen liegen. Der gotische Stil als einheitlicher Gegenstand historischer Erkenntnis ist ein aus den Realitäten erst herausgewonnenes geistiges Gebilde, aber selbst keine unmittelbare Realität. Wir wollen unzählige Male gar nicht wissen, wie individuelle Dinge sich im einzelnen verhalten, sondern wir formen aus ihnen eine neue, kollektive Einheit, wie wir, nach dem gotischen Stil, seinen Gesetzen, seiner Entwicklung fragend, nicht einen einzelnen Dom oder Palast beschreiben, trotzdem wir den Stoff jener jetzt erfragten Einheit aus diesen Einzelheiten gewinnen. So fragen wir weiterhin etwa, wie sich „die Griechen“ und „die Perser[S. 8]“ in der Schlacht bei Marathon benommen haben. Hätte die Auffassung recht, die nur Individuen als Wirklichkeiten anerkennt, so wäre die geschichtliche Erkenntnis dann und erst dann an ihrem Ziele, wenn wir das Verhalten jedes einzelnen Griechen und jedes einzelnen Persers kennten, somit seine ganze Lebensgeschichte, aus der sein Verhalten in der Schlacht psychologisch begreiflich wird. Allein selbst die Erfüllung dieses phantastischen Anspruchs würde unserer Fragestellung nicht genügen. Denn deren Gegenstand ist überhaupt nicht dieser und jener Einzelne, sondern: die Griechen und die Perser — offenbar ein ganz anderes Gebilde, durch eine gewisse geistige Synthese zustande kommend, nicht aber durch die Beobachtung der als einzelne betrachteten Individuen. Sicher ist jedes von diesen durch eine von der jedes andern irgendwie abweichende Entwicklung zu seinem Verhalten geführt worden, wahrscheinlich hat sich keines wirklich genau so wie das andere benommen; und in keinem liegt das mit dem andern Gleiche und das von ihm Abweichende in Sonderung nebeneinander, sondern beides bildet die unzertrennliche Einheit des persönlichen Lebens. Dennoch formen wir aus allen zusammen jene höheren Einheiten: die Griechen und die Perser, und die kürzeste Besinnung zeigt, daß wir fortwährend mit solchen Begriffen die individuellen Existenzen übergreifen. Wollten wir, weil diese allein „Wirklichkeiten“ wären, all jene geistigen Neubildungen aus unserem Erkenntnisbezirk ausschalten, so würde er seiner unbezweifeltsten und legitimiertesten Inhalte verlustig gehen. Die eigensinnige Behauptung: es gäbe doch nun einmal nur menschliche Individuen, und sie allein seien deshalb die konkreten Gegenstände einer Wissenschaft, kann uns nicht hindern, von der Geschichte des Katholizismus oder der Sozialdemokratie, von Städten und Reichen, von der Frauenbewegung und der Lage des Handwerks und tausend andern Gesamtereignissen[S. 9] und Kollektivgebilden zu sprechen — und nicht anders von der Gesellschaft überhaupt. So ausgedrückt ist sie freilich ein abstrakter Begriff, aber jede der unzähligen Ausgestaltungen und Gruppierungen, die er umfaßt, ist ein erforschbares, erforschenswertes Objekt, das keineswegs aus den einzeln aufgewiesenen individuellen Existenzen besteht.
Doch könnte dies noch immer eine Unvollkommenheit unseres Erkennens, eine nur vorläufige Unvermeidlichkeit sein, die ihren prinzipiellen Abschluß, erreichbar oder nicht, in dem Wissen um die Individuen, als die endgültig konkreten Wesenheiten, suchen müßte. Allein, genau angesehen, sind auch die Individuen keineswegs letzte Elemente, „Atome“ der menschlichen Welt. Die allerdings vielleicht unauflösbare Einheit, die der Begriff Individuum bedeutet, ist überhaupt kein Gegenstand des Erkennens, sondern nur des Erlebens; die Art, wie ein jeder sie an sich und am Andern weiß, ist keiner sonstigen Art des Wissens vergleichlich. Was wir wissenschaftlich am Menschen erkennen, sind einzelne Züge, vielleicht nur je einmal vorhanden, vielleicht auch in gegenseitiger Beeinflussung stehend, ein jeder aber relativ isolierte Betrachtung und Herleitung fordernd. Diese Herleitung führt für einen jeden auf unzählige Einflüsse der physischen, kulturellen, personalen Umwelt, von überall her angesponnen, in unabsehliche Zeitweiten reichend. Nur indem wir diese Elemente so herauslösen und begreifen und sie auf immer einfachere, tiefer und weiter zurückliegende reduzieren, nähern wir uns dem wirklich „Letzten“, d. h. im strengen Sinne Realen, das aller höheren geistigen Zusammenfassung erst zugrunde liegen soll. Denn für diese Betrachtungsweise „existieren“ die Farbenmoleküle, die Buchstaben, die Wasserteilchen; aber das Gemälde, das Buch, der Fluß sind nur Synthesen, als Einheiten bestehen sie nicht in objektiver Realität, sondern nur in einem Bewußtsein, das sie sich treffen läßt. Ersichtlich aber sind auch[S. 10] jene angeblichen Elemente hochzusammengesetzte Gebilde. Und wenn nun wahrhafte Realität nur den wahrhaft letzten Einheiten zukommt, nicht aber den Erscheinungen, in denen diese Einheiten eine Form finden, alle Form vielmehr, die immer eine Verbindung ist, nur von einem verbindenden Subjekt hinzugefügt wird, — so liegt auf der Hand, daß die anzuerkennende Realität uns in völlige Unfaßbarkeit entgleitet; und dann ist es ein ganz willkürlicher Grenzstrich, der diese Zurückgliederung am „Individuum“ beendet, da doch auch dieses der immer weiterstrebenden Analyse als eine Zusammensetzung aus einzelnen Qualitäten und Schicksalen, Kräften und historischen Hergeleitetheiten erscheinen muß, die im Verhältnis zu ihm ebenso die elementaren Wirklichkeiten sind, wie die Individuen selber im Verhältnis zur „Gesellschaft“.
Der angebliche Realismus also, der jene Kritik am Begriff der Gesellschaft und demnach auch an dem der Soziologie übt, läßt gerade alle erkennbare Realität verschwinden, weil er sie ins Unendliche hinausrückt, im Ungreifbaren sucht. Tatsächlich muß das Erkennen nach einem ganz andern Strukturprinzip begriffen werden, nach einem, das dem gleichen äußeren Erscheinungskomplex eine ganze Anzahl verschiedenartiger, aber gleichmäßig als definitiv und einheitlich anzuerkennender Objekte des Erkennens entnimmt. Man wird dies am besten mit dem Symbol der verschiedenen Distanz von jenem Komplex bezeichnen, in die sich der Geist stellt. Wenn wir einen räumlichen Gegenstand in zwei Meter, in fünf, in zehn Meter Abstand vor uns sehen, so gibt das jedesmal ein anderes Bild, jedesmal ein solches, das in seiner bestimmten Art und nur in dieser „richtig“ sein kann, und gerade innerhalb dieser auch Falschheiten Raum gewährt. Würde z. B. ein ganz detailliert gesehener Ausschnitt eines Gemäldes, wie ihn die größte Augennähe gibt, in diejenige Anschauung eingefügt, die einer Ent[S. 11]ferntheit von ein paar Metern entspricht, so würde diese letztere dadurch völlig verwirrt und gefälscht werden — obgleich man aus oberflächlicheren Begriffen heraus eben diese Detailschauung für „wahrer“ als das Fernbild halten könnte. Allein auch die ganz nahe Wahrnehmung hat noch irgendeine Distanz und deren untere Grenze ist gar nicht festzulegen. Das von einem Abstand aus, welches er auch sei, gewonnene Bild hat sein Recht für sich, es kann durch kein von einem andern her entstehendes ersetzt oder korrigiert werden. So nun sehen wir, an einen gewissen Umfang menschlicher Existenz „nahe“ herantretend, jedes Individuum in seinem genauen Sich-Abheben vom anderen; nehmen wir den Blickpunkt aber weiter, so verschwindet das einzelne als solches, und es entsteht uns das Bild einer „Gesellschaft“ mit eigenen Formen und Farben, mit der Möglichkeit, es zu erkennen und zu verkennen, in keinem Fall aber geringer berechtigt als jenes, in dem die Teile sich gegeneinander absetzen, oder ein bloßes Präliminarstadium dieses. Der bestehende Unterschied ist nur der zwischen verschiedenen Erkenntnisabsichten, denen verschiedene Distanznahmen entsprechen.
Ja, man könnte das Recht der gesellschaftswissenschaftlichen Betrachtung in seiner Unabhängigkeit davon, daß alles reale Geschehen sich nur an Einzelwesen vollzieht, noch radikaler begründen. Es ist nicht einmal wahr, daß mit der Erkenntnis der individuellen Ereignisreihen die unmittelbare Wirklichkeit ergriffen wäre. Diese Wirklichkeit nämlich ist zunächst als ein Komplex von Bildern gegeben, als eine Oberfläche von kontinuierlich aneinandergesetzten Erscheinungen. Wenn wir dieses allein wirklich primäre Dasein in Schicksale von Individuen gliedern, die einfache Tatsächlichkeit der Erscheinungen auf einzelne Träger zurückbeziehen und gleichsam in ihnen als in Knotenpunkten sammeln, so ist auch dies eine nachträgliche geistige Formung des unmittelbar vorliegenden Wirklichen,[S. 12] die wir nur aus fortwährender Gewohnheit wie ganz selbstverständlich und mit der Natur der Dinge selbst gegeben vollziehen. Sie ist, wenn man will, genau so subjektiv, aber auch, da sie ein gültiges Erkenntnisbild ergibt, genau so objektiv, wie die Zusammenfassung des Gegebenen unter der Kategorie der Gesellschaft. Nur die besonderen Zwecke des Erkennens entscheiden, ob die unmittelbar erscheinende oder erlebte Realität auf ein personales oder auf ein kollektives Subjekt hin befragt werden soll — beides sind gleichmäßig „Standpunkte“, die sich nicht wie Wirklichkeit und Abstraktion zueinander verhalten, sondern die, als Arten unserer Betrachtung, beide von der „Wirklichkeit“ abstehen — von der Wirklichkeit, die als solche überhaupt nicht Wissenschaft sein kann, sondern erst vermittels solcher Kategorien die Form der Erkenntnis annimmt.
Noch aber ist von einem ganz andern Standpunkte her zuzugeben, daß die menschliche Existenz nur an Individuen wirklich ist, ohne daß die Gültigkeit des Gesellschaftsbegriffes darunter litte. Faßt man diesen in seiner weitesten Allgemeinheit, so bedeutet er die seelische Wechselwirkung zwischen Individuen. An dieser Bestimmung darf nicht irre machen, daß gewisse Grenzerscheinungen sich ihr nicht ohne weiteres fügen: wenn zwei Personen sich flüchtig anblicken oder sich an einer Billettkasse gegenseitig drängen, so wird man sie darum noch nicht vergesellschaftet nennen. Allein hier ist die Wechselwirkung auch eine so oberflächliche und vorüberfliegende, daß man in ihrem Maße auch von Vergesellschaftung reden könnte, bedenkend, daß solche Wechselwirkungen nur häufiger und intensiver zu werden, sich mit mehren, generell gleichen zu vereinen brauchen, um diese Bezeichnung zu berechtigen. Es ist ein oberflächliches Haften an dem — für die äußere Praxis freilich ausreichenden — Sprachgebrauch, wenn man die Benennung als Gesellschaft nur der dauernden Wechselbeziehung vorbehalten will, nur derjenigen, die sich zu einem be[S. 13]zeichenbaren Einheitsgebilde objektiviert hat: zu Staat und Familie, Zünften und Kirchen, Klassen und Zweckverbänden usw. Außer diesen aber besteht eine unermeßliche Zahl von kleineren, in den einzelnen Fällen geringfügig erscheinenden Beziehungsformen und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen, die, indem sie sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen sozialen Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zustande bringen. Die Beschränkung auf jene gleicht der früheren Wissenschaft vom inneren menschlichen Körper, die sich auf die großen, festumschriebenen Organe: Herz, Leber, Lunge, Magen usw. beschränkte und die unzähligen, populär nicht benannten oder nicht bekannten Gewebe vernachlässigte, ohne die jene deutlicheren Organe niemals einen lebendigen Leib ergeben würden. Aus den Gebilden der genannten Art, die die herkömmlichen Gegenstände der Gesellschaftswissenschaft bilden, ließe sich das in der Erfahrung vorliegende Leben der Gesellschaft durchaus nicht zusammensetzen; ohne die Dazwischenwirkung unzähliger, im einzelnen weniger umfänglicher Synthesen würde es in eine Vielzahl unverbundener Systeme auseinanderbrechen. Fortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt. Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken und daß sie aufeinander eifersüchtig sind, daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen, daß sie sich ganz jenseits aller greifbaren Interessen sympathisch oder antipathisch berühren, daß die Dankbarkeit der altruistischen Leistung eine unzerreißbar bindende Weiterwirkung bietet, daß einer den andern nach dem Wege fragt und daß sie sich füreinander anziehen und schmücken — all die tausend von Person zu Person spielenden momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegen[S. 14]den oder folgenreichen Beziehungen, aus denen diese Beispiele ganz zufällig gewählt sind, knüpfen uns unaufhörlich zusammen. Hier liegen die Wechselwirkungen zwischen den Elementen, die die ganze Zähigkeit und Elastizität, die ganze Buntheit und Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so rätselhaften Lebens der Gesellschaft tragen. Alle jene großen Systeme und überindividuellen Organisationen, an die man bei dem Begriff von Gesellschaften zu denken pflegt, sind nichts anderes als die Verfestigungen — zu dauernden Rahmen und selbständigen Gebilden — von unmittelbaren, zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin und her gehenden Wechselwirkungen. Sie gewinnen damit freilich Eigenbestand und Eigengesetzlichkeit, mit denen sie sich diesen gegenseitig sich bestimmenden Lebendigkeiten auch gegenüber- und entgegenstellen können. Aber Gesellschaft in ihrem fortwährend sich realisierenden Leben bedeutet immer, daß die Einzelnen vermöge gegenseitig ausgeübter Beeinflussung und Bestimmung verknüpft sind. Sie ist also eigentlich etwas Funktionelles, etwas, was die Individuen tun und leiden, und ihrem Grundcharakter nach sollte man nicht von Gesellschaft, sondern von Vergesellschaftung sprechen. Gesellschaft ist dann nur der Name für einen Umkreis von Individuen, die durch derartig sich auswirkende Wechselbeziehungen aneinander gebunden sind und die man deshalb als eine Einheit bezeichnet, gerade wie man ein System körperlicher Massen, die sich in ihrem Verhalten durch ihre gegenseitigen Einwirkungen vollständig bestimmen, als Einheit ansieht. Nun kann man sich dem letzteren gegenüber darauf versteifen, nur die einzelnen materiellen Stücke seien die echte „Realität“, ihre wechselseitig erregten Bewegungen und Modifikationen seien als etwas nie Handgreifliches gewissermaßen nur Realitäten zweiten Grades; sie hätten ihren Ort eben nur in jenen Substanzstücken, die sogenannte Einheit sei nur die Zusammenschau[S. 15] dieser stofflichen Sonderexistenzen, deren empfangene und ausgeteilte Impulse und Formungen doch in einer jeden verblieben. In demselben Sinne kann man freilich dabei bleiben, die eigentlichen Realitäten seien doch immer nur die menschlichen Individuen. Gewonnen wird dadurch nichts. Gesellschaft ist dann allerdings sozusagen keine Substanz, nichts für sich Konkretes, sondern ein Geschehen, ist die Funktion des Empfangens und Bewirkens von Schicksal und Gestaltung des einen von seiten des andern. Nach dem Greifbaren tastend, fänden wir nur Individuen, und zwischen ihnen gleichsam nur leeren Raum. Die Folgen dieser Betrachtung werden uns später beschäftigen; aber wenn sie die „Existenz“ in einem engeren Sinne auch wirklich nur den Individuen übrig läßt, so muß sie doch auch das Geschehen, die Dynamik des Wirkens und Leidens, mit der diese Individuen sich gegenseitig modifizieren, als etwas „Wirkliches“ und Erforschbares stehen lassen.
Jede Wissenschaft zieht aus der Totalität oder der erlebten Unmittelbarkeit der Erscheinungen eine Reihe oder eine Seite unter Führung je eines bestimmten Begriffes heraus, und nicht weniger als alle andern handelt die Soziologie legitim, wenn sie die individuellen Existenzen zerlegt und nach einem nur ihr eigenen Begriff wieder neu zusammenfaßt, und also fragt: Was geschieht mit den Menschen, nach welchen Regeln bewegen sie sich, nicht insofern sie die Ganzheit ihrer erfaßbaren Einzelexistenzen entfalten, sondern sofern sie vermöge ihrer Wechselwirkung Gruppen bilden und durch diese Gruppenexistenz bestimmt werden? So darf sie die Geschichte der Ehe behandeln, ohne das Zusammenleben einzelner Paare zu analysieren, das Prinzip der Ämterorganisation, ohne einen Tag auf dem Bureau zu schildern, die Gesetze und Resultate des Klassenkampfes ergründen, ohne auf den Verlauf eines Streiks oder die Verhandlungen über einen Lohn[S. 16]tarif einzugehen. Gewiß sind die Gegenstände solcher Fragen durch Abstraktionsprozesse zustande gekommen; aber damit unterscheiden sie sich nicht von den Wissenschaften wie Logik oder theoretische Nationalökonomie, die gleichfalls unter der Anleitung durch bestimmte Begriffe — dort des Erkennens, hier der Wirtschaft — zusammenhängende Gebilde aus der Wirklichkeit zustande bringen, und Gesetze und Evolutionen an ihnen entdecken, während diese Gebilde als isolierte Erfahrbarkeiten gar nicht bestehen.
Steht so die Soziologie auf einer Abstraktion aus der vollen Wirklichkeit — hier unter Führung des Begriffes Gesellschaft vollzogen — und ist dennoch der Vorwurf der Irrealität hinfällig, der von der behaupteten alleinigen Realität der Individuen herkam, so schützt diese Einsicht sie auch vor der Überspannung, die ich zuvor als eine nicht geringere Gefährdung ihres Bestandes als einer Wissenschaft erwähnte. Da der Mensch in jedem Augenblick seines Seins und Tuns durch die Tatsache, daß er ein gesellschaftliches Wesen ist, bestimmt sei, so schienen alle Wissenschaften vom Menschen sich in die Wissenschaft vom gesellschaftlichen Leben zurückzuschmelzen: alle Gegenstände jener Wissenschaften seien nur einzelne, besonders geformte Kanäle, durch die das gesellschaftliche Leben, einziger Träger aller Kraft und alles Sinnes, rinne. Ich zeigte, daß damit nichts anderes erlangt sei, als ein neuer, gemeinschaftlicher Name für all die Erkenntnisse, die in ihren besonderen Inhalten und Benennungen, Richtungen und Methoden ganz ungestört und selbstgesetzlich weiterbestehen werden. Ist dies also auch eine irrige Dehnung der Vorstellung von der Gesellschaft und der Soziologie, so liegt ihr doch eine an sich bedeutsame und folgenreiche Tatsache zugrunde. Die Einsicht: der Mensch sei in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt, daß er in Wechselwirkung mit andern Menschen lebt — muß allerdings zu einer[S. 17] neuen Betrachtungsweise in allen sogenannten Geisteswissenschaften führen.
Die großen Inhalte des geschichtlichen Lebens: die Sprache wie die Religion, die Staatenbildung wie die materielle Kultur wußte man noch im 18. Jahrhundert wesentlich nur auf die „Erfindung“ einzelner Persönlichkeiten zurückzuführen, und wo Verstand und Interessen des Einzelmenschen dazu nicht auszureichen schienen, blieb nur der Appell an transzendente Mächte übrig — zu denen übrigens das „Genie“ jener einzelnen Erfinder eine Mittelstufe bildete: denn mit dem Geniebegriff drückte man eigentlich nur aus, daß die bekannten und begreiflichen Kräfte des Individuums zu der Produktion der Erscheinung nicht zulangten. So war die Sprache entweder die Erfindung Einzelner oder ein göttliches Geschenk, die Religion — als geschichtliches Ereignis — die Erfindung schlauer Priester oder göttlicher Wille, die sittlichen Gesetze entweder von Heroen der Masse eingeprägt oder von Gott verliehen, oder von der „Natur“ — einer nicht weniger mystischen Hypostasierung — den Menschen mitgegeben. Aus dieser ungenügenden Alternative hat der Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Produktion erlöst. All jene Gebilde erzeugen sich in den Wechselbeziehungen der Menschen, oder manchmal auch sind sie derartige Wechselbeziehungen, die also aus dem für sich betrachteten Individuum freilich nicht herleitbar sind. Neben jene beiden Möglichkeiten ist eben nun die dritte gestellt: die Produktion von Erscheinungen durch das gesellschaftliche Leben, und zwar im zweifachen Sinne, durch das Nebeneinander wechselwirkender Individuen, das in jedem erzeugt, was doch aus ihm allein nicht erklärbar ist, und durch das Nacheinander der Generationen, deren Vererbungen und Überlieferungen mit dem Eigenerwerb des Einzelnen unlösbar verschmelzen, und es bewirken, daß der gesellschaftliche Mensch, im Unterschied gegen alles untermenschliche Leben, nicht nur[S. 18] Nachkomme, sondern Erbe ist. Durch das Bewußtwerden der sozialen Produktionsart, die sich zwischen die rein individuelle und die transzendente einschiebt, ist eine genetische Methode in alle Geisteswissenschaften gekommen, ein neues Werkzeug zur Lösung ihrer Probleme — mögen diese den Staat oder die Kirchenorganisation, die Sprache oder die sittliche Verfassung betreffen. Die Soziologie ist nicht nur eine Wissenschaft mit eigenen, gegen alle andern Wissenschaften arbeitsteilig abgegrenzten Objekten, sondern sie ist eben auch eine Methode der historischen und der Geisteswissenschaften überhaupt geworden. Um sie auszunutzen, brauchen diese Wissenschaften ihren Standort durchaus nicht zu verlassen, sie brauchen nicht, wie jene phantastische Überspannung des Soziologiebegriffes forderte, zu Teilen der Soziologie zu werden. Diese vielmehr akklimatisiert sich jedem besonderen Forschungsgebiet, dem nationalökonomischen wie dem kulturgeschichtlichen, dem ethischen wie dem theologischen. Damit aber verhält sie sich nicht wesentlich anders als seinerzeit die Induktion, die als neues Forschungsprinzip in alle möglichen Problemgruppen eindrang und den darin feststehenden Aufgaben zu neuen Lösungen verhalf. So wenig aber daraufhin Induktion eine besondere Wissenschaft ist oder gar eine allbefassende, so wenig ist es, auf diese Momente hin, die Soziologie. Soweit sie sich darauf stützt, daß der Mensch als Gesellschaftswesen verstanden werden muß, und daß die Gesellschaft der Träger alles historischen Geschehens ist, enthält sie kein Objekt, das nicht schon in einer der bestehenden Wissenschaften behandelt würde, sondern nur einen neuen Weg für alle diese, eine Methode der Wissenschaft, die gerade wegen ihrer Anwendbarkeit auf die Gesamtheit der Probleme nicht eine Wissenschaft mit eignem Inhalt ist[1].
Und eben weil die Methode diese Allgemeinheit besitzt, bildet sie ein gemeinsames Fundament für einzelne Problemgruppen, die zuvor gewisser Aufklärungen entbehrten, die der einen nur von der andern kommen können; der Gemeinsamkeit des Vergesellschaftetseins, das die Kräfte der Individuen sich gegenseitig bestimmen läßt, entspricht die Gemeinsamkeit der soziologischen Erkenntnisweise, vermöge deren dem einen Problem eine Lösungs- oder Vertiefungsmöglichkeit mit einem inhaltlich ganz heterogenen Erkenntnisgebiet zukommt. Ich erwähne nur einige Beispiele, die von dem Allersingulärsten zu dem Allerallgemeinsten aufführen. Der Kriminalist kann etwa über das Wesen der sogenannten „Massenverbrechen“ mancherlei von einer soziologischen Untersuchung über die Psychologie des Theaterpublikums lernen. Denn hier ist der Gegenstand eines kollektiv-impulsiven Verhaltens noch jederzeit genau feststellbar, und dieses verläuft in der sozusagen abstrakten, genau umgrenzten Sphäre der Kunst; damit wird — sehr bedeutsam für jenes Schuldproblem — die Bestimmbarkeit des Einzelnen durch eine aktuell zusammenbefindliche Masse, das Ausschalten der individuellen und der objektiven Werturteile durch das „Mitgerissenwerden“ so rein experimentell und beweiskräftig beobachtbar, wie kaum je sonst. — Der Religionsforscher wird vielfach geneigt sein, das Leben der religiösen Gemeinde, die Opferwilligkeit innerhalb ihrer auf Grund der Hingebung an ein allen gemeinsames Ideal, die Formung des gegenwärtigen Lebens durch die Hoffnung auf einen vollkommenen, über das Leben der aktuellen Individuen hinausliegenden Zustand — er wird geneigt sein, dieses auf die Kraft des religiösen Glaubensinhaltes zu schieben. Wenn[S. 20] ihm nun nahegebracht wird, daß etwa eine sozialdemokratische Arbeiterschaft dieselben Züge des gemeinsamen und des gegenseitigen Verhaltens ausbildet — so kann diese Analogie ihn einerseits lehren, daß das religiöse Verhalten nicht ausschließlich an die religiösen Inhalte gebunden, sondern eine allgemein menschliche Form ist, die sich nicht nur an transzendenten Gegenständen, sondern an manchen andern Gefühlsveranlassungen ganz ebenso realisiert. Andrerseits aber wird er das für ihn Wesentlichere einsehen, daß auch das in sich geschlossene religiöse Leben Momente enthält, die nicht spezifisch religiös, sondern sozial sind, bestimmte Arten der gegenseitigen Gesinnung und Praxis, die freilich mit der religiösen Stimmung organisch verwachsen, aber erst, indem sie soziologisch herausanalysiert werden, erkennen lassen, was denn an dem religiösen Verhalten als die rein religiösen — und als solche gegen alles Soziale gleichgültigen — Elemente gelten dürfe. — Endlich ein letztes Beispiel für die gegenseitige Befruchtung der Problemgruppen durch das gemeinsame Anteilhaben ihrer Gegenstände an dem menschlichen Vergesellschaftetsein. Der Historiker der politischen oder der allgemeinen Kulturgeschichte ist jetzt vielfach geneigt, die Konfigurationen z. B. der inneren Politik auf die entsprechenden wirtschaftlichen Verfassungen und Vorgänge als auf ihre zureichende Ursache zurückzuführen. Wird dies nun etwa auf den starken Individualismus in den politischen Konstitutionen der italienischen Frührenaissance angewandt, derart, daß diese aus der Befreiung des Wirtschaftsverkehrs von zünftigen und kirchenrechtlichen Fesseln erklärt werden, so wird er einer Beobachtung des Kunsthistorikers eine neue Wendung dieser Auffassung verdanken können. Der Kunsthistoriker stellt schon am Anfang der hier fraglichen Epoche die ungeheure Ausbreitung der Porträtbüsten und ihren naturalistisch-individuellen Charakter fest und zeigt damit, wie die öffentliche Wertung ihren Akzent von dem, was den Menschen[S. 21] gemeinsam ist und was deshalb leicht in etwas abstraktere und ideellere Sphären rückt, auf das geschoben hat, was dem einzelnen zukommt, auf die Bedeutung der persönlichen Kraft, auf das Übergewicht des Konkreten vor dem allgemeinen, καθ’ ὅλον geltenden Gesetz. Dies legt den Gedanken nahe, daß jene wirtschaftliche Wendung ihrerseits schon eine Äußerungsweise einer fundamentalen, soziologischen sei, die ihre Ausgestaltung auch als eine bestimmte Kunst und als eine bestimmte Politik gefunden hat, ohne daß eine von diesen unmittelbar die andere verursachte. So verhelfen diese soziologischen Analogien überhaupt vielleicht zu einer tieferen, den historischen Materialismus überwindenden Auffassung: vielleicht sind die Wandlungen der Geschichte, ihrer eigentlich wirksamen Schicht nach, solche der soziologischen Formen: wie sich die Individuen und die Gruppen zueinander verhalten, wie das Individuum zu seiner Gruppe, wie die Wertbetonungen, die Akkumulierungen, die Prärogativen unter den sozialen Elementen als solchen hin und her rücken — das ist vielleicht das eigentliche epochale Geschehen, und wenn die Wirtschaftsart alle andern Kulturprovinzen nach sich zu bestimmen scheint, so ist die Wahrheit dieses verlockenden Scheines die, daß die Wirtschaft selbst durch soziologische Verschiebungen bestimmt ist, die von sich aus ebenso alle andern kulturellen Gestaltungen bestimmen; daß auch die Wirtschaftsform nur ein „Überbau“ über den Verhältnissen und Wandlungen der rein soziologischen Struktur ist, die die letzte historische Instanz bildet und alle andern Lebensinhalte freilich in einem gewissen Parallelismus mit dem wirtschaftlichen gestalten muß. —
Von diesen Erwägungen aus öffnet sich, über den bloßen Begriff der Methode hinaus, der Blick auf den ersten prinzipiellen Problemkreis der Soziologie. Aber wenn er auch fast das ganze Feld menschlicher Existenz umfaßt, so verliert er dadurch nicht den Charakter jener immerhin einseitigen Abstrak[S. 22]tion, den keine Wissenschaft abstreifen kann. Denn so sozial bestimmt, gleichsam von Gesellschaftlichkeit durchdrungen jeder Punkt der wirtschaftlichen und geistigen, der politischen und rechtlichen, ja der religiösen und allgemein kulturellen Sphäre sei, so verwebt sich doch diese Bestimmung an einem jeden innerhalb des vollen Erlebens mit andern, die aus andern Dimensionen stammen. Vor allem mit denen der reinen Sachlichkeit. Es ist immer irgendein Sachgehalt, technischer oder dogmatischer, intellektueller oder physiologischer Art, der die Entwicklung der sozialen Kräfte trägt und der durch seinen eigenen Charakter, seine Gesetze und seine Logik diese Entwicklung in bestimmten Richtungen und Schranken hält. Jede gesellschaftliche Arbeit, die sich an irgendeiner Materie vollzieht, muß sich deren Naturgesetzlichkeit fügen, jede intellektuelle Leistung bindet sich, mit welchen Schwankungen auch immer, an Denkgesetze und Verhalten von Objekten, jede Reihe von Schöpfungen auf künstlerischem oder politischem, rechtlichem oder medizinischem, philosophischem oder überhaupt erfinderischem Gebiet hält eine gewisse Ordnung ein, die uns aus den sachlichen Verhältnissen ihrer Inhalte — Steigerung, Anknüpfung, Differenzierung, Kombination usw. — verständlich wird. Hier ganz beliebige Schritte zu tun, beliebige Abstände zu überspringen, beliebige Synthesen zu vollziehen vermag kein menschliches Wollen und Können, sondern dieses folgt einer gewissen inneren Logik der Dinge selbst. So könnte man die Kunstgeschichte als eine durchaus verständliche Entwicklung aufbauen, indem man die Kunstwerke für sich allein und gänzlich anonym in ihrer Zeitordnung und stilistischen Evolution vorführte, entsprechend die Rechtsentwicklung als das Nacheinander der Institutionen und Gesetze, die wissenschaftliche Produktion durch die bloße Aufreihung, eine historische oder eine systematische, der in ihr gewonnenen Resultate usw. Und hier ebenso, wie wenn man ein Lied auf seinen[S. 23] musikalischen Wert, eine physikalische Theorie auf ihre Wahrheit, eine Maschine auf ihre Zweckmäßigkeit hin ansieht, zeigt es sich, daß jeder menschliche Lebensinhalt, auch wenn er nur innerhalb der Bedingtheit und durch die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens realisiert wird, eine von diesem ganz unabhängige Betrachtungsweise gestattet. Innerhalb der Reihe der Sachen selbst und gemessen an ihrer eigenen Idee haben sie einen Sinn, ein Gesetz, ein Wertmaß, das jenseits des sozialen wie des individuellen Lebens steht und eine eigene Feststellung, ein eigenes Verständnis ermöglicht. Der vollen Wirklichkeit gegenüber ist freilich auch dies eine Abstraktion, da kein Sachgehalt sich durch seine eigene Logik verwirklicht, sondern es nur durch die geschichtlichen und seelischen Kräfte vermag; was dasteht, ist eine dem Erkennen unmittelbar gar nicht erfaßbare Einheit, und was wir Sachgehalt nennen, ist eine Aufnahme von einer einseitigen Kategorie her.
Unter der Leitung einer entsprechenden erscheint die Menschheitsgeschichte als Verhalten und Erzeugnis von Individuen. Wie man das Kunstwerk auf seine rein artistische Bedeutung hin ansehen und in die objektive Reihe der Kunsterzeugnisse überhaupt einstellen kann, als wäre es „vom Himmel gefallen“ — so mag man es auch aus der Persönlichkeit und der Entwicklung, aus dem Erlebnis und den Tendenzen seines Schöpfers heraus begreifen, als einen Pulsschlag oder ein unmittelbares Ergebnis des individuellen Lebens, aus dessen Kontinuität es sich, in dieser Richtung gesehen, überhaupt nicht herauslöst. Gewisse Kulturtatsachen mögen sich dieser Blickeinstellung leichter als andere bieten, vor allem die Kunst und alles, woran der Hauch des Schöpfertums noch fühlbar ist; prinzipiell aber ist dies Getragensein von dem tätigen und aufnehmenden, dem typischen oder einzigartigen Subjekt eine der Möglichkeiten, jene Einheit alles menschlichen Erzeugens in die Verständlichkeit zu übersetzen, es erscheint als eines der Momente,[S. 24] die in jedem mitwirken und nach deren Gesetz sich gleichsam eine Ebene bilden läßt, auf die man das Ganze projizieren kann.
Der Zweck dieser Ausführungen liegt in der Erkenntnis, daß neben dem gesellschaftlichen Leben als begründender Kraft und umfassender Formel des menschheitlichen Lebens auch noch Herleitung und Deutung des letzteren aus dem sachlichen Sinn seiner Inhalte und auch noch aus dem Wesen und der Produktivität der Individuen als solcher besteht — vielleicht auch noch aus anderen, bisher nicht entschieden herausgearbeiteten Kategorien. Diese Zerlegungen und Konstruktionsarten unseres unmittelbaren, als Einheit von all diesem empfundenen Lebens und Schaffens, liegen in der gleichen Schicht und haben das gleiche Recht. Infolgedessen — und darauf kommt es jetzt an — kann eine einzelne von ihnen nicht beanspruchen, uns den alleinigen und allein ausreichenden Weg der Erkenntnis zu führen, also auch nicht die, die von der gesellschaftlichen Form unseres Daseins bestimmt ist. Auch sie ist nur eine einseitige, die andern ergänzend und von ihnen ergänzt. Aber freilich, unter diesem Vorbehalt kann sie prinzipiell der Ganzheit menschlicher Existenz eine Erkenntnismöglichkeit gewähren. Die Tatsachen der Politik wie der Religion, der Wirtschaft wie des Rechts, der Kulturstile als ganzer und der Sprache und unzählige andere können danach befragt werden, wie sie, jenseits individuell verantwortlicher Leistungen wie objektiv-sachlicher Bedeutung, als Leistungen des Subjekts Gesellschaft begreiflich, als Entwicklungen dieses Subjekts darstellbar sind; und es machte den Erkenntniswert davon keineswegs illusorisch, wenn über das Wesen dieses Subjekts auch keine völlig erschöpfende und völlig unstrittige Definition bestünde. Es ist nun einmal eine Eigentümlichkeit unseres Geistes, daß er auf begrifflich noch unsicheren Fundamenten doch ein sicheres[S. 25] Gebäude aufführen kann: physikalische und chemische Feststellungen leiden nicht unter der Dunkelheit und Problematik des Begriffes der Materie, rechtliche nicht unter dem Streit über das Wesen des Rechts und seiner ersten Grundsätze, psychologische nicht darunter, daß das „Wesen der Seele“ uns durchaus fragwürdig ist. Wenn demnach die „soziologische Methode“ angewendet wird, um den Verfall des Römerreiches oder das Verhältnis von Religion und Wirtschaft bei den großen Kulturvölkern, um die Entstehung des deutschen Nationalstaatsgedankens oder die Herrschaft des Barockstils zu entwickeln, d. h. wenn solche Geschehnisse oder Zustände als Summierungen ununterscheidbarer Beiträge, als Ergebnisse der Wechselwirkung von Individuen, als Lebensstadien überindividueller Gruppeneinheiten erscheinen — so mag man diese nach soziologischer Methode geführten Untersuchungen als Soziologie bezeichnen.
Allein aus ihnen erhebt sich, durch eine weitere Abstraktion, die man wohl als Ergebnis einer höchst differenzierten Wissenschaftskultur charakterisieren kann, eine Problemgruppe von im engeren Sinne soziologischer Natur. Wenn nämlich alle möglichen Tatsächlichkeiten des Lebens daraufhin betrachtet werden, daß sie sich innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe und durch sie vollziehen, so muß es Gemeinsamkeiten ihres Vollzuges geben (wenn auch, gemäß den verschiedenen Umständen, nicht allenthalben die gleichen), Charakterzüge, die daraufhin und nur daraufhin hervortreten, daß sich das gesellschaftliche Leben als Ursprung oder Subjekt jener Ereignisse zeigt. Dahin gehören Fragen wie die: ob sich etwa in den geschichtlichen Entwicklungen der allerverschiedensten Art, die sich nur in ihrem Getragensein durch je eine Gruppe begegnen, ein gemeinsames Gesetz finden läßt, ein nur auf diese Tatsache zurückführbarer Rhythmus? So hat man z. B. behauptet, alle historischen Evolutionen realisierten sich, auf ihrer[S. 26] ersten Stufe, in einer ungeschiedenen Einheit vielfacher Elemente, führten auf der zweiten zu einer differenzierten Verselbständigung dieser, nun gegeneinander entfremdeten, und zeigten auf der dritten eine neue Einheit, die aber jetzt in dem harmonischen Ineinandergreifen der in ihrer Besonderheit erhaltenen Elemente bestünde; kürzer: der Weg aller voll ausgelebten Entwicklungen ginge von der undifferenzierten Einheit über die differenzierte Mannigfaltigkeit zu der differenzierten Einheit. Oder, man erblickt in allem historischen Leben einen von organischer Gemeinsamkeit zu mechanischem Nebeneinander fortschreitenden Prozeß; Besitz, Arbeiten, Interessen erwüchsen zunächst in der Solidarität der Individuen, die das Gruppenleben tragen, verteilten sich dann aber auf egoistische Personen, von denen jede nur das Ihre suche und sich nur aus dieser Gesinnung heraus mit anderen verbinde; jenes erste sei die Darstellung eines unbewußten, nur im Gefühl offenbarten Willens unseres tiefsten Wesens, während das andere ein Produkt der Willkür und des berechnenden Verstandes sei. Oder: man glaubte eine feste Beziehung zwischen der geistigen Weltanschauung jeder bestimmten Epoche und ihrem sozialen Zustande festzustellen, indem beides gewissermaßen nur zwei Äußerungen der biologischen Entwicklung seien. Die menschliche Erkenntnis durchlaufe im großen drei Stadien: das theologische, das die Naturerscheinungen aus der Willkür irgendwelcher Wesen erklärt, das metaphysische, in dem die übernatürlichen Ursachen zwar durch gesetzmäßige ersetzt werden, aber durch mystische und spekulative wie die „Lebenskraft“, die „Naturzwecke“ usw., endlich das positive, das die heutige experimentelle und exakte Wissenschaft darstellt. Durch diese Stadien entwickle sich jeder Wissenszweig hindurch, und die Beobachtung hiervon enträtsle uns also die in alle möglichen Gebiete sich verzweigende soziale Entwicklung.
Ferner reihen sich in diese Kategorie Fragen ein wie die[S. 27] nach den Bedingungen der Macht von Gruppen, in ihrem Unterschied gegen die der Macht von Individuen. Die Bedingungen der letzteren sind unmittelbarer anschaulich: Intelligenz, Energie, geeigneter Wechsel von Konsequenz und Biegsamkeit — obgleich auch gewisse noch dunkle Kräfte bestehen müssen, die die historische Mächtigkeit von Erscheinungen wie Jesus auf der einen, Napoleon auf der andern Seite eigentlich begründen, und die durch Benennungen wie Suggestionskraft, Prestige usw. keineswegs geklärt sind. In den Machtübungen der Gruppen, sowohl ihren Individuen wie andern Gruppen gegenüber, wirken außer solchen noch andere Energien: Fähigkeit zu straffer Konzentration ebenso wie zur Auflösung in individuelle Sonderbetätigungen, bewußter Glaube an führende Geister wie dumpfe Expansionstriebe, parallele Egoismen der Einzelnen wie aufopfernde Hingabe an das Ganze, fanatischer Dogmatismus wie überallhin prüfende geistige Freiheit. Alles dies wirkt nicht nur zu dem Aufstieg — und, negativ gewendet, zum Verfall — politischer Volkseinheiten, sondern aller möglichen wirtschaftlichen und religiösen, parteimäßigen und familiären Gruppierungen; aber immer geht die Frage hier nicht auf das Zustandekommen der Vergesellschaftung als solcher, sondern auf die induktiv festzustellenden Schicksale von Gesellschaft, als eines schon zustande gekommenen Subjekts.
Eine andere Frage, die sich gegenüber allen soziologisch betrachteten Zuständen und Ereignissen erhebt, ist die: Wie denn das kollektive Verhalten, Handeln, Gedankenbilden dem Werte nach zu den entsprechenden, aus Individuen unmittelbar hervorgehenden Äußerungen stehe? Welche Unterschiede des Niveaus, an irgendwie idealen Maßstäben gemessen, zwischen den sozialen Erscheinungen und den individuellen bestehen? So wenig wie für die vorige Frage wird für diese die innere, grundlegende Struktur der Gesell[S. 28]schaft zum Problem; vielmehr diese Struktur wird schon vorausgesetzt, die Lebenstatsachen werden von ihr aus betrachtet, und die Frage ist: Welche allgemeinen Züge treten an diesen Tatsachen hervor, wenn sie in diese Blickrichtung eingestellt sind? Das zweite Kapitel der vorliegenden Blätter wird die Untersuchung auf das Niveauproblem, als auf ein Beispiel dieses soziologischen Typs — man könnte ihn den der „allgemeinen Soziologie“ nennen — wenden.
Die wissenschaftliche Abstraktion legt noch von einer anderen Richtung her eine Linie durch die volle Konkretheit der gesellschaftlichen Erscheinungen, alles das verbindend, was in einem gleich zu erörternden, mir eigentlich als ganz entscheidend erscheinenden Sinne „soziologisch“ ist, und dies zu der Einheit einer Erkenntnisweise bringend — obgleich es in der Wirklichkeit in dieser Isoliertheit und Wiederzusammenfügung nicht besteht, sondern aus der Lebenseinheit eben dieser Wirklichkeit durch einen herzugebrachten Begriff herausabstrahiert ist. All jene gesellschaftlichen Tatsachen sind doch, wie schon erwähnt wurde, nicht nur gesellschaftliche, es ist immer ein Sachgehalt sinnlicher oder geistiger, technischer oder physiologischer Art, der gesellschaftlich getragen oder produziert oder fortgepflanzt wird und so das Gesamtgebilde des sozialen Lebens ergibt. Aber diese gesellschaftliche Formung solcher Inhalte muß doch auch für sich in einer arbeitsteiligen Wissenschaft erforschbar sein, gerade wie die geometrische Abstraktion die bloßen Raumformen der Körper erforscht, die doch nur als Formen materieller Inhalte empirisch vorliegen. Kann man sagen, Gesellschaft sei Wechselwirkung unter Individuen, so wäre: die Formen dieser Wechselwirkung zu beschreiben, Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft im engsten und eigentlichsten Sinne der „Gesellschaft“. War der erste Problemkreis erfüllt von dem ganzen geschichtlichen Leben, soweit es gesellschaftlich geformt ist, immer aber diese Gesell[S. 29]schaftlichkeit als Ganzes umgreifend, so dieser zweite von den Formen selbst, die aus der bloßen Summe lebender Menschen Gesellschaft und Gesellschaften machen. Diese Forschung — man könnte sie die „reine Soziologie“ nennen — zieht aus den Erscheinungen das Moment der Vergesellschaftung, induktiv und psychologisch von der Mannigfaltigkeit ihrer Inhalte und Zwecke, die für sich noch nicht gesellschaftlich sind, gelöst, wie die Grammatik die reinen Formen der Sprache von den Inhalten sondert, an denen diese Formen lebendig sind. Tatsächlich finden wir an gesellschaftlichen Gruppen, welche ihren Zwecken und ihrer ganzen Bedeutung nach die denkbar verschiedensten sind, die gleichen formalen Verhaltungsweisen der Individuen zueinander. Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit des Zusammenschlusses nach innen und des Abschlusses nach außen und unzähliges Ähnliches findet sich an einer staatlichen Gesellschaft wie an einer Religionsgemeinde, an einer Verschwörerbande wie an einer Wirtschaftsgenossenschaft, an einer Kunstschule wie an einer Familie. So mannigfaltig auch die Interessen sind, aus denen es überhaupt zu diesen Vergesellschaftungen kommt — die Formen, in denen sie sich vollziehen, können dennoch die gleichen sein. Und nun andrerseits: das inhaltlich gleiche Interesse kann sich in sehr verschiedenartig geformten Vergesellschaftungen darstellen, z. B. das wirtschaftliche Interesse realisiert sich ebenso durch Konkurrenz wie durch planmäßige Organisation der Produzenten, bald durch Abschluß gegen andere Wirtschaftsgruppen, bald durch Anschluß an sie; die religiösen Lebensinhalte fordern, inhaltlich die identischen bleibend, einmal eine freiheitliche, ein andermal eine zentralistische Gemeinschaftsform; die Interessen, die den Beziehungen der Geschlechter zugrunde liegen, befriedigen sich in der kaum übersehbaren Mannigfaltigkeit der Familienformen usw.
Wie also die Form die identische sein kann, in der die divergentesten Inhalte sich vollziehen, so kann umgekehrt auch der Stoff beharren, während das Miteinander der Individuen, das ihn trägt, sich in einer Mannigfaltigkeit von Formen bewegt; wodurch denn die Tatsachen, obgleich in ihrer Gegebenheit Stoff und Form eine unlösbare Einheit des sozialen Lebens ausmachen, deren Trennung zum Zweck des soziologischen Problems: der Feststellung, systematischen Ordnung, psychologischen Begründung und historischen Entwicklung der reinen Formen der Vergesellschaftung, legitimieren. Eine Spezialwissenschaft ist die Soziologie hier nicht, wie bei der ersten Problemgruppe, nach ihren Gegenständen, wohl aber nach ihrer eindeutig umgrenzten Fragestellung gegenüber diesen Gegenständen. Das dritte Kapitel dieser Skizze wird an der Erscheinung der „Geselligkeit“ einerseits ein einzelnes Beispiel, andrerseits ein Symbol des Gesamtbildes dieser Art von Untersuchung bieten[2].
Die Einstellungen gegenüber den gegebenen Tatsachen, die das jetzige Stadium der Wissenschaft verlangt, machen zuletzt noch einen dritten Bezirk von Fragen an die Tatsache Gesellschaft kenntlich. Insofern sie sich gleichsam an deren obere und untere Grenze anschließen, sind sie freilich nur im weiteren Sinne als soziologische zu bezeichnen, ihrem eigenen Charakter nach aber als philosophische. Ihren Inhalt nur bildet jene einfache Tatsache — wie die Natur und die Kunst, aus denen wir unmittelbar Naturwissenschaft und Kunstwissenschaft entwickeln, doch auch die Gegenstände der Naturphilosophie und Kunstphilosophie hergeben, deren Interessen[S. 31] und Methoden in einer andern Schicht des Denkens liegen, derjenigen, wo jede tatsächliche Einzelheit nach ihrer Bedeutung für die Ganzheit von Geist, Leben, Dasein überhaupt und nach ihrer Legitimation von diesen Ganzheiten her befragt wird.
Wie also jede andere exakte, auf das unmittelbare Verständnis des Gegebenen gerichtete Wissenschaft, ist auch die soziale von zwei philosophischen Gebieten eingegrenzt. Das eine umfaßt die Bedingungen, Grundbegriffe, Voraussetzungen der Einzelforschung, die in dieser selbst keine Erledigung finden können, da sie ihr vielmehr schon zugrunde liegen; in dem andern wird diese Einzelforschung zu Vollendungen und Zusammenhängen geführt und mit Fragen und Begriffen in Beziehung gesetzt, die innerhalb der Erfahrung und des unmittelbar gegenständlichen Wissens keinen Platz haben. Jenes ist die Erkenntnistheorie der fraglichen Einzelgebiete, dieses ihre Metaphysik. Die Aufgaben der einzelnen Sozialwissenschaften: die Lehre von der Wirtschaft und den Institutionen, die Geschichte der Sitten und die der Parteien, die Bevölkerungstheorie und die Erörterung der beruflichen Gliederung, könnten gar nicht behandelt werden, wenn nicht gewisse Begriffe, Axiome, Verfahrungsweisen indiskutabel vorausgesetzt würden. Wenn wir nicht ein Maß egoistischer Gewinn- und Genußsucht, aber auch eine Beschränkbarkeit dieses Maßes durch Zwang, Sitte, Moral annähmen; wenn wir uns nicht das Recht zusprächen, von den Stimmungen einer Masse als Einheit zu reden, obgleich viele ihrer Elemente nur äußerlich mitmachen oder dissentieren; wenn wir nicht die Entwicklung innerhalb einer Kulturprovinz daraufhin für begriffen erklärten, daß wir sie als eine aufsteigende, einer psychologischen Logik folgende, in uns nachbilden können — so würden wir unzählige Tatsachen gar nicht zu einem sozialen Bilde formen können. In all diesem und sehr vielem Ähnlichen[S. 32] liegen Verfahrungsweisen des Denkens vor, mit denen es an den Rohstoff der einzelnen Geschehnisse herantritt, um aus ihm sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, wie das Denken die äußeren Erscheinungen von gewissen Voraussetzungen über Raum, Stoff, Bewegung, Zählbarkeit aus ergreift und ohne diese niemals aus jenen die Wissenschaft der Physik zustande bringen könnte. Die einzelne soziale Wissenschaft pflegt mit Recht diese Basis ihrer selbst fraglos hinzunehmen; ja, sie kann sie innerhalb ihrer selbst gar nicht behandeln, weil sie ersichtlich alle übrigen Sozialwissenschaften hinzunehmen müßte. Hier also tritt die Soziologie als die Erkenntnistheorie der sozialen Sonderwissenschaften ein, als die Analyse und Systematik der Grundlagen, die in diesen formend und normierend wirken.
Wie diese Fragestellungen unter die konkreten Erkenntnisse vom sozialen Dasein hinuntergehen, so gehen andere über diese hinaus: sie versuchen durch Hypothese und Spekulation den unvermeidlich fragmentarischen Charakter dieser wie jeder Empirie zu einem geschlossenen Gesamtbilde zu ergänzen; sie ordnen die chaotisch zufälligen Ereignisse in Reihen, die einer Idee folgen oder einem Zweck zustreben; sie fragen, wo das gleichgültig-naturgesetzliche Abrollen der Ereignisse einem Sinn der Einzelerscheinungen oder des Ganzen Raum gäbe; sie behaupten oder sie bezweifeln — beides gleichmäßig einer überempirischen Weltanschauung entspringend —, daß diesem ganzen Spiel der gesellschaftlich-geschichtlichen Erscheinungen eine religiöse Bedeutung, eine erkennbare oder zu ahnende Beziehung zu dem metaphysischen Grunde des Seins einwohne. Im besonderen ergeben sich hier Fragen wie diese: Ist die Gesellschaft der Zweck der menschlichen Existenz oder ein Mittel für das Individuum? Liegt der definitive Wert der sozialen Entwicklung in der Ausbildung der Persönlichkeit oder in der der Assoziation? Ist Sinn und[S. 33] Zweck überhaupt in den gesellschaftlichen Gebilden als solchen vorhanden oder realisieren diese Begriffe sich nur an der Einzelseele? Zeigen die typischen Entwicklungsstadien der Gesellschaften eine Analogie mit kosmischen Evolutionen, so daß es eine allgemeine Formel oder Rhythmus von Entwicklung überhaupt gäbe — z. B. den Wechsel von Differenzierung und Integrierung —, der sich an den gesellschaftlichen wie an den materiellen Tatsachen gleichmäßig offenbart? Werden die sozialen Bewegungen vom Prinzip der Kraftersparnis, werden sie von materialistischen oder von ideologischen Motiven gelenkt? Dieser Typus von Fragen ist ersichtlich nicht auf dem Wege der Tatsachenfeststellung beantwortbar; vielmehr handelt es sich um die Deutung festgestellter Tatsachen und darum, das Relative und Problematische der bloßen sozialen Wirklichkeit zu einer Gesamtanschauung zu führen, die mit der Empirie nicht konkurriert, weil sie ganz andern Bedürfnissen als diese dient.
Es liegt auf der Hand, daß die Problembehandlung auf diesem Gebiet von der Verschiedenheit der Weltanschauungen, von individuellen und parteimäßigen Wertschätzungen, von letzten, unbegründbaren Überzeugungen mehr abhängig ist, als innerhalb der beiden andern, von den Tatsächlichkeiten enger umgrenzten Bezirke der Soziologie. Darum würde die Behandlung einer Einzelfrage als Beispiel nicht die an dieser Stelle erforderte Objektivität zeigen können, nicht in gleichem Maße wie bei den andern den ganzen Typus gültig veranschaulichen. Es scheint mir deshalb rätlicher, im letzten Kapitel eine Linie hierher gehöriger Theorien in derjenigen — von der allgemeinen Geistesgeschichte getragenen — Entwicklung zu zeichnen, die sie, durch mannigfache Gegensätze hindurch, innerhalb einer bestimmten Epoche gefunden hat.
[1] Ich entnehme die letzten Sätze, sowie noch einige andere meinem größeren Werke: Soziologie; Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), das manche der auf diesen Blättern berührten Gedanken ausführlicher und namentlich mit breiterer Begründung auf geschichtliche Tatsachen behandelt.
[2] Ich darf wohl darauf hinweisen, daß mein bereits erwähntes Werk: Soziologie — die „Formen der Vergesellschaftung“ in der mir zur Zeit erreichbaren, wenngleich in keiner Weise abschließenden Vollständigkeit darzustellen sucht.
(Beispiel der Allgemeinen Soziologie.)
Als in den letzten Jahrzehnten die Vergesellschaftung, das Leben der Gruppen als Einheiten, zum Gegenstand eigentlich soziologischer Erörterung wurde — also nicht das geschichtliche Schicksal oder die praktische Politik der einzelnen, sondern dasjenige, was ihnen, eben weil sie „Gesellschaften“ sind, gemeinsam ist — war es eine nächstliegende Frage, welche Wesenszüge dieses Subjekt Gesellschaft überhaupt von denen des individuellen Lebens als solchen unterschieden. In äußerlicher Hinsicht liegen die Differenzen auf der Hand, z. B. die prinzipielle Unsterblichkeit der Gruppe gegenüber der Vergänglichkeit des Einzelmenschen, die Möglichkeit der Gruppe, wichtigste Elemente in einem Umfange auszuscheiden, ohne darüber zugrunde zu gehen, der entsprechend für das Einzelleben Vernichtung bedeuten würde, und ähnliches. Jene auftauchenden Fragen aber waren innerlicher, wenn man will: psychologischer Natur. Ob man nun die jenseits ihrer Individuen stehende Einheit der Gruppe für eine Fiktion oder eine Realität hält — um der Deutung der Tatsachen willen muß man sie so behandeln, als ob sie ein Subjekt mit eigenem Leben, eigener Gesetzlichkeit, eigenen Charakterzügen wäre. Und die Unterschiede eben dieser Bestimmungen von denen der individuellen Existenz als solcher fordern ihre Verdeutlichung, um das Recht der soziologischen Fragestellung zu begründen.
Hier hat man nun die Behauptung aufgestellt — von der aus sich viele Linien zur Feststellung jener Differenzen ziehen lassen — daß die Handlungen von Gesellschaften eine unvergleichlich größere Zweckmäßigkeit und Treffsicherheit hätten, als die von Individuen. Der Einzelne werde von wider[S. 35]sprechenden Empfindungen, Antrieben und Gedanken hin und her gezogen, er wisse zwischen den Möglichkeiten seines Verhaltens keineswegs immer mit subjektiver Sicherheit, geschweige denn mit objektiver Richtigkeit zu entscheiden; die soziale Gruppe dagegen, auch wenn sie ihre Aktionsrichtungen oft wechselte, wäre doch in jedem Augenblick für die jeweilige schwankungslos entschlossen und ginge geradeswegs vorwärts, vor allem, sie wüßte stets, wen sie für ihren Feind und wen für ihren Freund zu halten hätte. Zwischen Wollen und Tun, Mitteln und Zwecken einer Allgemeinheit bestehe eine geringere Diskrepanz als bei Individuen. In diesem Verhältnis also erschienen die letzteren als „frei“, während die Handlungen einer Masse „naturgesetzlich“ bestimmt seien. Und so bestreitbar diese Formulierung ist, so übersteigert sie doch nur eine tatsächliche, höchst bemerkenswerte Differenz der beiden Erscheinungen.
Sie entsteht daraus, daß die Ziele des öffentlichen Geistes, einer Kollektivität überhaupt, denjenigen entsprechen, die sich im Individuum als dessen fundamental einfache und primitive darzubieten pflegen. Darüber kann nur die Macht, die sie durch die Ausdehnung ihres Bereiches gewinnen, und die höchst komplizierte Technik, mit der namentlich das moderne öffentliche Wesen jene Ziele durch Verwendung individueller Intelligenzen realisiert, täuschen. In demselben Maße, in dem der Einzelne in seinen primitivsten Zwecken schwankungslos und irrtumslos ist, in eben dem Maße ist es die soziale Gruppe überhaupt. Die Sicherung der Existenz, der Gewinn neuen Besitzes, die Lust an der Behauptung und Erweiterung der eigenen Machtsphäre, der Schutz des Erworbenen — dies sind grundlegende Triebe für den Einzelnen, in denen er sich mit beliebig vielen andern zweckmäßigerweise zusammenschließen kann. Weil der Einzelne in diesen prinzipiellen Strebungen nicht wählt noch schwankt, kennt auch die soziale Strebung, die[S. 36] jene vereinigt, keine Wahl oder Schwankung. Es kommt hinzu, daß, wie der Einzelne bei rein egoistischen Handlungen klar bestimmt und zielsicher handelt, die Masse es bei allen ihren Zielsetzungen tut; sie kennt nicht den Dualismus zwischen selbstischen und selbstlosen Trieben, in dem das Individuum oft ratlos steht und der es so vielfach zwischen beiden hindurch ins Leere greifen läßt. Zutreffend hat man das Recht, also die erste und wesentliche Lebensbedingung großer wie kleiner Gesamtheiten, als das „ethische Minimum“ bezeichnet. Die Normen, die für den Bestand des Ganzen, wenn auch nur notdürftig, ausreichen, sind demnach für das Individuum gerade nur das Minimum, mit dem es äußerlich als soziales Wesen existieren kann; hielte es nur sie ein, bände es sich nicht darüber hinaus an eine große Anzahl weiterer Gesetze, so würde es eine ethische Abnormität, eine ganz unmögliche Existenz sein.
Hiermit ist ein Niveauunterschied zwischen der Masse und dem Einzelnen angedeutet, der nur dadurch entstehen und begriffen werden kann, daß in dem Einzelnen selbst die Qualitäten und Verhaltungsweisen, mit denen er „Masse bildet“ und die er in den Gesamtgeist hineingibt, sich von den andern sondern lassen, die gleichsam sein Privateigentum ausmachen und mit denen er sich als Individuum von dem Bezirk des mit allen Geteilten abscheidet. Jener erstere Teil seines Wesens aber kann ersichtlich nur aus den primitiveren, im Sinne der Feinheit und Geistigkeit niedrigeren Wesenselementen gebildet werden. Und zwar zunächst darum, weil nur diese mit relativer Sicherheit in einem jeden vorhanden sind. Wenn nämlich die Organismenwelt eine allmähliche Entwicklung durch die niedrigsten Formen hindurch zu den höheren durchmacht, so sind die niedrigeren und primitiveren Eigenschaften jedenfalls die älteren; sind es aber die älteren, so sind es auch die verbreiteteren, weil die Gattungserbschaft um so sicherer[S. 37] jedem Individuum überliefert wird, je länger sie sich schon erhalten und gefestigt hat. Kürzlich erworbene Organe, wie die höheren und komplizierteren es in höherem Grade sind, erscheinen stets variabler, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, daß jedes Exemplar der Gattung schon an ihnen teilhaben wird. Das Alter der Vererbung einer Eigenschaft ist das Band, das zwischen der Niedrigkeit und der Verbreitung derselben eine reale Beziehung knüpft. Aber es steht nicht nur die Vererbung im rein biologischen Sinne in Frage. Auch die in Worten und Erkenntnissen, in Gefühlsrichtungen und Willens- und Urteilsnormen objektiv gewordenen geistigen Elemente, die als Traditionen, bewußte und unbewußte, in die Einzelnen eingehen, tun das um so sicherer, um so allgemeiner, je fester und selbstverständlicher sie in die Geistigkeit einer sich zeitlich entwickelnden Gesellschaft eingewachsen sind, d. h. je älter sie sind. In demselben Maße aber sind sie auch unkomplizierter, gewissermaßen grobkörniger, den unmittelbaren Äußerungen und Notwendigkeiten des Lebens näherliegend. Sobald seelische Inhalte in das Verfeinerte, Differenzierte aufsteigen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich in jedermanns Besitz finden, und rücken sie in das andere Gebiet: das — mehr oder weniger — individuelle, dasjenige, das der Einzelne nur zufällig noch mit andern teilt. Wir verstehen aus diesem Grundverhältnis das die ganze Kulturgeschichte durchziehende Phänomen: daß einerseits das Alte als solches eine besondere Schätzung genießt, andrerseits aber gerade das Neue und Seltene als solches. Über das erstere bedarf es nicht vieler Worte. Vielleicht indes verdankt das von jeher Bestehende und Überlieferte seine Schätzung nicht nur der Patina des Alters und ihrem mystisch-romantischen Reize, sondern gerade dem hier betonten Umstande, daß es zugleich das am allgemeinsten Verbreitete, am sichersten in jedem Individuum[S. 38] Wurzelnde ist; innerhalb eines jeden wohnt es in oder nahe der Schicht, in der die instinktiven, unbeweisbaren und unwiderleglichen Wertungen entstehen. Wenn im frühen Mittelalter über einen vor Gericht strittigen Gegenstand zwei einander widersprechende Königsurkunden vorgezeigt wurden und allgemein dann die ältere Kraft haben sollte, so wirkte dabei wohl weniger die Überzeugung von der größeren Gerechtigkeit der älteren, als das Gefühl, daß sie durch ihr längeres Bestehen die Bestimmung, was denn gerecht sei, in einem weiteren Bezirk verbreitet und gefestigt hat, als die jüngere es schon vermochte; sie wird höher geschätzt, weil dieses längere Bestehen die reale Ursache davon ist, daß sie dem Gerechtigkeitsgefühl der Majorität entspricht. Nimmt man aber überhaupt an — was man trotz aller zuzugebenden Ausnahmen doch wohl muß — daß das Ältere auch das Einfachere und Unspezialisiertere, weniger Gegliederte ist, so ist es eben nicht nur um dieser Beschaffenheit willen der größeren Allgemeinheit zugänglich, sondern es ist dies auch schon, bloß weil es das Ältere ist, also das jedem Einzelnen mit größerer Sicherheit äußerlich und innerlich Überlieferte und deshalb ein selbstverständlicher Berechtigtes und Werttragendes.
Aber die gleiche Voraussetzung macht auch die umgekehrte Schätzung verständlich. Lessings Ausspruch: „Die ersten Gedanken sind jedermanns Gedanken“ bedeutet nichts anderes, als daß die instinktiv, d. h. aus den gesichertsten — weil am längsten in uns lebenden — Schichten aufsteigenden Gedanken die sind, die eben darum in der größten Allgemeinheit verbreitet sind. Und dies begründet seinen abschätzigen Ton solchen Gedanken gegenüber, jenseits deren ihm offenbar erst die wertvolleren beginnen, in denen Individualität und Neuheit sich in untrennbarer Wechselwirkung zeigen. In Indien finden wir die soziale Stufenordnung der Gewerbe von ihrem Alter abhängig: die jüngeren sind in der Regel die höher geachteten —[S. 39] doch wohl aus dem Grunde, daß sie die komplizierteren, feineren, diffizileren und deshalb nur der individuellen Begabung zugängigeren sein müssen. Der Grund für die Schätzung des Neuen und Seltenen liegt in der „Unterschiedsempfindlichkeit“ unserer seelischen Verfassung. Was unser Bewußtsein auf sich ziehen, unser Interesse erregen, unsere innere Bewegtheit steigern soll, muß sich irgendwie von dem Selbstverständlichen, Alltäglichen, in uns und außer uns Gewohnten abheben. Vor allem wird die praktische Bedeutung der Menschen füreinander durch Gleichheit und Verschiedenheit bestimmt. Die Gleichheit mit andern ist zwar als Tatsache wie als Tendenz von nicht geringerer Wichtigkeit als die Unterscheidung gegen sie, und beide sind in den mannigfaltigsten Formen die großen Prinzipien für alle äußere und innere Entwicklung, so daß die Kulturgeschichte der Menschheit schlechthin als die Geschichte des Kampfes und der Versöhnungsversuche zwischen ihnen aufgefaßt werden kann; allein für das Handeln innerhalb der Verhältnisse des Einzelnen ist doch der Unterschied gegen die Andern von weit größerem Interesse als die Gleichheit mit ihnen. Die Differenzierung gegen andere Wesen ist es, was unsere Tätigkeit großenteils herausfordert und bestimmt; auf die Beobachtung ihrer Verschiedenheiten sind wir angewiesen, wenn wir sie benutzen und die richtige Stellung unter ihnen einnehmen wollen. Der Gegenstand des praktischen Interesses ist das, was uns ihnen gegenüber Vorteil oder Nachteil verschafft, aber nicht das, worin wir mit ihnen übereinstimmen, das vielmehr die selbstverständliche Grundlage vorschreitenden Handelns bildet. Darwin erzählt, er habe bei seinem vielfachen Verkehr mit Tierzüchtern nie einen getroffen, der an die gemeinsame Abstammung der Arten geglaubt habe; das Interesse an derjenigen Abweichung, die die von ihm gezüchtete Spielart charakterisiere und ihr den praktischen Wert für ihn verleihe, fülle das Bewußtsein so aus, daß für die Gleichheit[S. 40] in allen Hauptsachen mit den übrigen Rassen oder Gattungen kein Raum darin mehr vorhanden sei. Dieses Interesse an der Differenziertheit des Besitzes erstreckt sich begreiflich auch auf alle andern Beziehungen des Ich. Man wird im allgemeinen sagen können, daß bei objektiv gleicher Wichtigkeit der Gleichheit mit einer Allgemeinheit und der Individualisierung ihr gegenüber für den subjektiven Geist die erstere mehr in der Form der Unbewußtheit, die letztere mehr in der der Bewußtheit existieren wird. Die organische Zweckmäßigkeit spart das Bewußtsein in jenem Falle, weil es in diesem für die praktischen Lebenszwecke nötiger ist. Das Interesse an der Differenziertheit ist sogar groß genug, um sie praktisch auch da zu erzeugen, wo eigentlich kein sachlicher Grund dazu vorliegt. So bemerkt man, daß Vereinigungen — von gesetzgebenden Körperschaften bis zu Vergnügungskomitees — die durchaus einheitliche Gesichtspunkte und Ziele haben, nach einiger Zeit in Parteien auseinandergehen, die sich zueinander verhalten, wie die ganze sie einschließende Vereinigung etwa zu einer von radikal andern Tendenzen bewegten. Es ist, als ob jeder Einzelne seine Bedeutung so sehr nur im Gegensatz gegen andere fühlte, daß dieser Gegensatz künstlich geschaffen wird, wo er von vornherein nicht da ist, ja wo die ganze Gemeinsamkeit, innerhalb deren nun der Gegensatz gesucht wird, auf Einheitlichkeit andern Gegensätzen gegenüber gegründet ist.
Daß das Neue, Seltene oder Individuelle (ersichtlich sind dies nur drei verschiedene Seiten eben desselben Grundphänomens) als das wertmäßig Erlesene gilt, wie es die Kultur- und Sozialgeschichte in unzähligen Wiederholungen zeigt, soll hier nur sein Gegenstück beleuchten: daß die Eigenschaften und Verhaltungsweisen, mit denen der Einzelne, weil er sie mit den andern teilt, Masse bildet, als die wertmäßig niedrigeren auftreten. Hier liegt das vor, was man die sozio[S. 41]logische Tragik schlechthin nennen könnte. Der Einzelne mag noch so feine, hochentwickelte, durchgebildete Qualitäten besitzen — gerade je mehr das der Fall ist, desto unwahrscheinlicher wird die Gleichheit und also die Einheitsbildung gerade dieser mit den Qualitäten anderer, desto mehr strecken sie sich nach der Dimension der Unvergleichbarkeit hin, auf desto niedrigere, primitiv sinnlichere Schichten reduziert sich das, worin er sich mit Sicherheit den andern angleichen und mit ihnen eine einheitlich charakterisierte Masse formen kann. So konnte es geschehen, daß von dem „Volk“, der „Masse“ mit Verachtung gesprochen wurde, ohne daß doch die Einzelnen sich dadurch getroffen zu fühlen brauchten, weil tatsächlich kein Einzelner damit gemeint war: sowie man den Einzelnen als solchen und als ganzen ansieht, so besitzt er sehr viel höhere Qualitäten jenseits derer, die er in die Kollektiveinheit hineingibt. Dieses Verhältnis ist von Schiller klassisch formuliert worden: „Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig. Sind sie in corpore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus.“ Unter stärkerer Betonung des Momentes der Individualitäten, die, nach ganz verschiedenen Seiten auseinandergehend, eben nur die niedrigst gelegenen Abschnitte der Persönlichkeiten als ihren Treffpunkt übriglassen, hat Heine das Verhältnis ausgesprochen: „Selten habt ihr mich verstanden, Selten auch verstand ich euch. Nur wenn wir im Kot uns fanden, Dann verstanden wir uns gleich.“ Diese Niveaudifferenz zwischen dem Subjekt Individuum und dem Subjekt Masse erstreckt sich durch die gesellschaftliche Existenz so weit hin und so folgenreich, daß es lohnt, noch einige Äußerungen gerade solcher Persönlichkeiten heranzuziehen, deren historische Stellungen, sonst äußerst verschieden, ihnen allen besonders reiche Erfahrungen überprivater Verhältnisse zubrachten. Solon soll ausgesprochen haben: jeder seiner Athener sei ein schlauer Fuchs, wenn er sie aber auf der Pnyx zu[S. 42]sammenhabe, sei es eine Herde Schafe. Der Kardinal Retz bemerkt in seinen Memoiren, wo er das Verfahren des Pariser Parlaments zur Zeit der Fronde beschreibt, daß zahlreiche Körperschaften, wenn sie auch noch so viel hochstehende und gebildete Personen einschließen, doch bei gemeinschaftlichem Beraten und Vorgehen immer wie der Pöbel handeln, d. h. durch solche Vorstellungen und Leidenschaften wie das gemeine Volk regiert werden. Ganz ähnlich wie Solon äußert sich Friedrich der Große, seine Generale seien die vernünftigsten Leute, wenn er mit jedem allein spräche, versammle er sie aber zu einem Kriegsrat, so seien sie Schafsköpfe. Das Entsprechende meint offenbar der englische Historiker Freeman mit der Bemerkung, das Unterhaus sei zwar hinsichtlich des Ranges der zusammensetzenden Persönlichkeiten eine aristokratische Körperschaft, sei es aber versammelt, so benehme es sich gänzlich wie ein Demokratenhaufe. Der beste Kenner der englischen Gewerkvereine hat festgestellt, daß deren Massenversammlungen oft die törichtesten und verderblichsten Beschlüsse fassen, so daß die meisten Vereine sie zugunsten von Delegiertenversammlungen aufgegeben haben. Das bestätigen Beobachtungen, die, inhaltlich unbedeutend, nicht nur durch ihre Massenhaftigkeit soziologisch wichtig werden, sondern auch weil sie immerhin Symbole auch historisch wichtigster Zustände und Geschehnisse sind. So können Essen und Trinken, die ältesten und in geistiger Hinsicht wesenlosesten Funktionen, das Vereinigungsmittel, oft das einzige, höchst heterogener Personen und Kreise bilden; so zeigen selbst gebildete Herrengesellschaften die Tendenz, sich in der Erzählung niedriger Zoten zu ergehen; so wird die ungemessenste Fröhlichkeit und das reserveloseste Vereinigtheitsgefühl in jüngeren Kreisen immer durch solche Gesellschaftsspiele erreicht, die den primitivsten und geistig anspruchslosesten Charakter tragen. Darum verdirbt die Notwendigkeit, es größeren Massen zu Dank zu[S. 43] machen, überhaupt sich ihnen dauernd zu exponieren, so leicht den Charakter: sie biegt das Individuum von seiner individuellen Ausbildungshöhe zu dem Punkt herunter, auf dem es sich allen, d. h. jedem beliebigen, zuordnet. Wenn man es am Journalisten, am Schauspieler, am Demagogen bedenklich findet, daß sie „die Gunst der Masse suchen“, so wäre das noch nicht ohne weiteres ein berechtigter Vorwurf, wenn diese Masse aus der Summe der ganzen personalen Existenzen bestünde, die zu verachten durchaus kein Grund vorliegt. Aber tatsächlich ist sie gar nicht dies, sondern ein neues Gebilde, das sich nicht aus den jeweils vollständigen Individualitäten ihrer Teilnehmer, sondern aus denjenigen Wesensteilen eines jeden herstellt, in denen er mit andern koinzidiert und die also keine andern als die primitivsten, in der organischen Entwicklung zuunterst stehenden sein können. Dieser Masse und dem Niveau, das jedem ihrer Elemente zugängig sein muß, dienen jene geistig und ethisch gefährdeten Persönlichkeiten, nicht aber jedem ihrer Elemente für sich. Es ist klar, daß bei diesem Niveau all die Verhaltungsweisen ausgeschaltet sind, die eine Mehrheit nebeneinander wirksamer Vorstellungsreihen voraussetzen. Alle Handlungen von Massen vermeiden deshalb die Umwege, sie gehen, erfolgreich oder nicht, in der kürzesten Linie auf ihre Ziele los und werden jeweils von einer Idee, und zwar einer möglichst einfachen, beherrscht: die Wahrscheinlichkeit ist zu gering, daß jedes Mitglied einer größeren Masse einen mannigfaltigeren, und zwar den identischen, Gedankenkomplex in Bewußtsein und Überzeugung trägt. Da nun aber angesichts der Kompliziertheit unserer Verhältnisse jede einfache Idee eine radikale, vielerlei andere Ansprüche negierende sein muß, so begreifen wir daraus die Macht der radikalen Parteien in Zeiten, wo die großen Massen in Bewegung gesetzt sind, und die Schwäche der vermittelnden, für beide Seiten des Gegensatzes Recht fordernden. Außerordent[S. 44]lich charakteristisch für den Unterschied des griechischen und des römischen Naturells ist es, daß die griechischen Stadtbürger als einheitliche Masse unter dem unmittelbaren Eindruck des Redners abstimmten, die Römer aber nach festen, gewissermaßen als Individuen auftretenden Gruppen: centuriatim, tributim usw. Daher die verhältnismäßige Ruhe und Verständigkeit der römischen Beschlüsse und die häufige Maß- und Besinnungslosigkeit der griechischen. Aus jener seelischen Homophonie der Menge folgen aber auch gewisse negative Tugenden, deren Gegenteil eine Mehrheit gleichzeitig bewußter Gedankenketten voraussetzt: die Menge lügt nicht und heuchelt nicht. Freilich fehlt ihr aus der gleichen seelischen Verfassung heraus im allgemeinen auch jedes Bewußtsein von Verantwortung.
Nimmt man eine genetische und systematische Stufenfolge der seelischen Äußerungen an, so wird man doch wohl das Gefühl (natürlich nicht alle Gefühle) für die primäre, fundierend allgemeine, gegenüber dem Intellekt halten. Lust und Schmerz sowie gewisse triebhafte Gefühle, die der Erhaltung des Ich und der Gattung dienen, haben sich jedenfalls vor allem Verfahren mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen entwickelt. An der Ausbildung des Intellekts offenbart sich deshalb vor allem jenes Zurückbleiben des sozialen hinter dem individuellen Niveau, während sich innerhalb des Gefühlsbezirkes das Gegenteil zeigen kann. Es ist gar kein Widerspruch gegen die angeführten Abschätzungen des in corpore-Verhaltens, wenn Carl Maria von Weber über das große Publikum sagt: „Der einzelne ist ein Esel und das Ganze ist doch Gottes Stimme.“ Denn das ist die Erfahrung des Musikers, der das Gefühl der Masse anruft, nicht ihre Intellektualität. Darum hat auch, wer auf die Massen wirken wollte, es jederzeit durch Appell an ihre Gefühle, aber sehr selten durch noch so bündige theoretische Darlegungen erreicht.[S. 45] Insbesondere gilt dies gegenüber räumlich zusammenbefindlichen Massen. Hier besteht etwas, was man Kollektivnervosität nennen könnte: eine Empfindlichkeit, eine Leidenschaft, eine Exzentrizität ist großen Massen oft eigen, die sich vielleicht kaum an einem einzelnen ihrer Mitglieder, wenn es in diesem Augenblick allein stünde, zeigen würde. Schon an den herdenweise lebenden Tieren ist dies beobachtet: der leiseste Flügelschlag, der kleinste Sprung eines einzelnen artet oft in einen panischen Schrecken der ganzen Herde aus. Die oft ungeheure Wirkung flüchtiger Anregungen, die einer Masse gegeben werden, das lawinenartige Anschwellen geringster Impulse von Liebe und Haß, die sachlich oft ganz unbegreifliche Erregtheit einer Masse, in der sie besinnungslos vom Gedanken zur Tat stürmt und die den Einzelnen ohne weiteres mitreißt — dies geht doch wohl auf gegenseitige Beeinflussung durch schwer feststellbare Ausstrahlungen des Gefühls zurück, die, weil sie zwischen jedem und jedem stattfinden, schließlich in jedem eine weder aus ihm selbst noch aus der Sache erklärbare Erregtheit aufsummen. Es ist eine der belehrendsten, rein soziologischen Erscheinungen: das Individuum fühlt sich von der ihn umwogenden „Stimmung“ der Masse wie von einer äußeren Gewalt hingenommen, gleichgültig gegen sein individuelles Sein und Wollen — und dabei besteht doch diese Masse ausschließlich aus solchen Individuen, nichts als deren reinste Wechselwirkung liegt vor und entfaltet eine Dynamik, die durch ihre Größe als etwas Objektives erscheint und jedem seinen eigenen Beitrag verbirgt; tatsächlich reißt er doch selbst mit, indem er mitgerissen wird. Eine solche Höchststeigerung des Gefühls vermöge des bloßen Zusammenseins zeigt wie in einem Schulbeispiel ein Bericht über die Quäker. Obgleich die Innerlichkeit und der Subjektivismus ihres religiösen Prinzips eigentlich jeder Gemeinsamkeit des Gottesdienstes widerstreitet, findet diese dennoch statt, indessen oft so,[S. 46] daß sie stundenlang schweigend zusammensitzen; und nun rechtfertigen sie diese Gemeinsamkeit dadurch, daß sie uns dienen könne, uns dem Geiste Gottes näher zu bringen: da dies aber für sie nur in einer Inspiration und nervösen Exaltation besteht, so muß offenbar das bloße, auch schweigende Beieinandersein diese hervorrufen. Ein englischer Quäker am Ende des 17. Jahrhunderts beschreibt ekstatische Erscheinungen, die an einem Mitglied der Versammlung vorgehen, und fährt fort: in Kraft der Verbindung aller Glieder einer Gemeinde zu einem Leibe teile sich häufig ein solcher Zustand eines einzelnen allen mit, so daß eine ergreifende fruchtbare Erscheinung zutage gefördert werde, die schon viele dem Verein unwiderstehlich gewonnen habe. Daß die Erhöhung der Emotionalität — als wäre die Zahl der einander sinnlich Nahen gewissermaßen der Multiplikator der vom Individuum mitgebrachten Gefühlspotenz — vor allem über die Intellektualität dieses Individuums hinwegflutet, lehren unzählige Fälle. Hundertfach lachen wir alle im Theater oder in Versammlungen über Witze, über die wir im Zimmer nur die Achseln zucken würden, bei welchen beschämend harmlosen Scherzen verzeichnen selbst die Parlamentsberichte: Heiterkeit! Und nicht nur die kritischen Hemmungen des Verstandes, sondern auch die der Moral sind leicht in diesem soziologischen Rauschzustand aufgehoben. Er allein erklärt die sogenannten Massenverbrechen, an denen nachher jeder einzelne Teilnehmer sich für unschuldig erklärt — mit gutem subjektiven Gewissen und auch nicht ohne objektives Recht, da die Überbetontheit der Gefühlsschwingung jene bestimmte und gewohnte Proportion der seelischen Kräfte zerstört, die der Träger der einheitlich dauernden Persönlichkeit und damit der Verantwortlichkeit ist. Daß eben diese Hingerissenheit einer Menge auch nach einer ethisch wertvollen Seite, einer edeln Begeisterung, einer unbegrenzten Opferwilligkeit hin gehen kann,[S. 47] hebt die Verschobenheit und Unzurechnungsfähigkeit solchen Zustandes nicht auf, sondern zeigt um so klarer, daß er uns jenseits der Wertnormen stellt, zu denen das individuelle Bewußtsein sich, praktisch wirksam oder nicht, schon emporentwickelt hatte.
Nach allem früher Gesagten kann man die Bildung eines sozialen Niveaus in die wertmäßige Formel fassen: Was allen gemeinsam ist, kann nur der Besitz des am wenigsten Besitzenden sein. Dies symbolisiert sich schon in dem äußerlichen Sinn des „Besitzes“. In England wurde 1407 offiziell anerkannt, daß die Initiative für Geldbewilligungen dem Unterhaus gehören solle; und ausdrücklich nennt der Verfassungshistoriker der Zeit als das Grundmotiv dafür, daß es dem ärmsten der drei Stände zustehe, das Höchstmaß der Leistungen der Allgemeinheit zu bestimmen. Was alle gleichmäßig geben, kann nur die Quote des Ärmsten sein. Hier liegt auch der rein soziologische unter den Gründen, aus denen der Usurpator, der eine schon ständisch geteilte Gesellschaft unterwerfen will, sich auf die untersten Schichten zu stützen pflegt. Denn um sich gleichmäßig über alle zu erheben, muß er sie nivellieren. Dies aber läßt sich nicht so erreichen, daß die Tieferen erhoben, sondern nur, daß die Höheren auf deren Standort herabgedrückt werden. Es ist deshalb durchaus täuschend, wenn man das Niveau einer als Einheit angesehenen, praktisch als Einheit wirkenden Gesamtheit ein „durchschnittliches“ nennt. Der Durchschnitt würde bedeuten, daß die Standhöhe der einzelnen Individuen gleichsam addiert und das Resultat durch ihre Anzahl dividiert sei. Dies würde eine Erhöhung der Tiefststehenden unter ihnen involvieren, die nicht zu leisten ist. Ganz nahe vielmehr dem Niveau dieser letzteren befindet sich das der Gesamtheit, insofern alle seine Träger mit gleichmäßigen Seinswerten, gleichmäßiger Wirksamkeit an ihm beteiligt sein sollen. Nicht bei dem „Mittel“, sondern der[S. 48] unteren Grenze der Teilhaber zu liegt der Charakter des Kollektivverhaltens; und wenn ich mich nicht täusche, hat diese Tatsache den Sprachgebrauch innerlich schon richtiggestellt, indem wir unter „Mittelmäßigkeit“ keineswegs den wirklichen Wertdurchschnitt einer Totalität von Existenzen oder Leistungen, sondern eine recht tief unter diesem bleibende Wertqualität verstehen.
Da dieser enge Rahmen nur für kurze Strecken soziologischer Wege, nicht aber für ihren Abschluß Raum hat, die Frage an seine Inhalte also nicht auf endgültige Entscheidung über diese, sondern nur auf Form und Methode ihrer Behandlung geht, so deute ich nur noch zwei der mannigfachen Einschränkungen und Gegenbegriffe an, die dies allgemeine Schema der sozialen Niveaubildung findet. Zunächst wird dieses Niveau praktisch fast niemals an dem allertiefsten seiner Träger festgelegt, sondern, wie ich schon andeutete, tendiert es nur zu diesem hin, bleibt aber meistens etwas oberhalb seiner. Denn irgend etwas von Widerstand — freilich in sehr verschiedenem Maße — pflegt sich gegen die kollektivistische Senkung doch seitens der höherstehenden Elemente zu melden, und er summiert sich zu einem gewissen Haltmachen der Gesamtaktion vor dem tiefstmöglichen Wertgrade.
Tiefergreifend ist eine andere Einschränkung, die das — selbst prinzipiell als richtig anerkannte — Schema findet. Dieses besagte doch: das gleichmäßige Haben und Sein aller kann nur ein solches sein, das sich an dem das Wenigste habenden, das Geringste seienden Gliede findet. Steht also die Herstellung des Gebildes Masse, die Niveauausgleichung sonst verschiedener Persönlichkeiten in Frage, so kann sie nur durch das immer mögliche Herabsteigen der Höheren, nicht aber durch das selten oder nie mögliche Heraufsteigen aller Tieferen geschehen. Dieser psychologisch gewendete Mechanismus ist indes nicht unbezweifelbar. Jenes Herabsteigen des Höheren[S. 49] ist tatsächlich nicht immer möglich. Die ganze Erwägung ruhte nämlich auf dem — natürlich ganz rohen und problematischen — Bilde der seelischen Struktur, daß verschiedene Schichten in ihr gleichsam übereinandergebaut sind: die primitiven, ungeistigen, welche biologisch die gefestetsten und also allenthalben vorauszusetzen sind — und darüber die dem Inhalte nach selteneren, jüngeren, schließlich ganz verfeinerten, die bis zu völliger Individualität differenziert sind. Und nun schien eine Tatsächlichkeit so ausdrückbar, daß selbst bei höchster Ausbildung der letzteren ihre bewußte oder unbewußte Ausschaltung geschehen und das Verhalten des Individuums ausschließlich von den ersteren her bestimmt werden kann, wodurch dann ein einheitlicher Gesamtgeist aus nun gleichmäßigen Beiträgen erzeugbar wird. Allein, dies mag manchmal oder oft geschehen, immer geschieht es nicht. In manchen Naturen sind jene niedrigeren Schichten mit den höheren zu so fester, individueller Einheit verbunden, daß der als physische Analogie verführerische Ausdruck: der Mensch könne zwar immer leicht heruntersteigen, schwer aber und oft gar nicht herauf — unzutreffend wird. Auf ethischem Gebiet ist dies ohne weiteres einsichtig. Erscheinen hier Qualitäten wie Genußgier und Grausamkeit, Habsucht und Verlogenheit als die tiefsten Stufen der seelischen Schichtung, so ist es für den edleren Menschen, selbst wenn er von Rudimenten oder Uneingeständlichkeiten solcher Art nicht frei wäre, einfach unmöglich, sich in seinem Handeln auf dies Niveau zu begeben, ja selbst zugunsten harmloserer Niveausenkung überhaupt seine höheren Qualitäten abzustellen. Solche Unmöglichkeit gilt weit über das Ethische hinaus. Der Kammerdiener versteht freilich den Helden nicht, weil er sich nicht zu dessen Höhe erheben kann; aber der Held versteht auch den Kammerdiener nicht, weil er nicht zu dessen Untergeordnetheit herabsteigen kann. Es ist ein höchst bezeichnender Unterschied zwischen den Menschen,[S. 50] ob sie überhaupt imstande sind, ihre wertvollsten Kräfte und Interessiertheiten vor den niederen schweigen zu lassen, wie zweifellos und in welchem Maße diese auch in ihnen vorhanden seien. Das ist jedenfalls einer der Hauptgründe, aus denen zu allen Zeiten gewisse vornehme und geistige Persönlichkeiten sich dem öffentlichen Leben ferngehalten haben, insbesondere da sie wohl selbst angesichts einer möglichen Führerrolle empfanden, was ein großer Politiker einmal im Hinblick auf seine Partei so formulierte: „Ich bin ihr Führer, also muß ich ihnen folgen.“ Einen höheren Gesamtwert solcher abstinenten Persönlichkeiten zeigt dies noch nicht, trotz des auf das gleiche Grundverhältnis zurückgehenden Bismarckschen Wortes, daß „die Politik den Charakter verdirbt“. Eher verkündet es eine gewisse Schwäche und Mangel an Selbstsicherheit in den höheren Schichten der Persönlichkeit, wenn sie es nicht wagt, sich so weit auf das soziale Niveau hinabzubegeben, wie es für den Kampf dagegen — der immer ein Kampf dafür ist — erfordert wird. Ersichtlich aber wird dadurch, daß die Menschen des höchsten individuellen Niveaus so oft die Berührung mit dem sozialen scheuen, die allgemeine Hebung des letzteren hintangehalten.
(Beispiel der Reinen oder Formalen Soziologie.)
Das Grundmotiv, das, nach der Bezeichnung im einleitenden Kapitel, eine „reine Soziologie“ als besonderen Problemkreis konstituierte, muß jetzt im Übergang zu einer exemplifizierenden Anwendung noch einmal formuliert werden. Denn jenes Motiv bestimmt nicht nur als das allgemeine, mit vielen anderen geteilte Forschungsprinzip dieses[S. 51] Beispiel, sondern es gibt selbst unmittelbar den Stoff für den jetzt zu schildernden Anwendungsfall her.
Jenes entscheidende Motiv ist von zwei Begriffen her festgelegt: daß man von jeder menschlichen Gesellschaft zwischen ihrem Inhalt und ihrer Form unterscheiden kann, und daß sie selbst ganz allgemein die Wechselwirkung unter Individuen bedeutet. Diese Wechselwirkung entsteht immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen. Erotische Instinkte, sachliche Interessiertheiten, religiöse Impulse, Zwecke der Verteidigung wie des Angriffs, des Spieles wie des Erwerbes, der Hilfeleistung wie der Belehrung und unzählige andere bewirken es, daß der Mensch in ein Zusammensein, ein Füreinander-, Miteinander-, Gegeneinanderhandeln, in eine Korrelation der Zustände mit anderen tritt, d. h. Wirkungen auf sie ausübt und Wirkungen von ihnen empfängt. Diese Wechselwirkungen bedeuten, daß aus den individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine „Gesellschaft“, wird. Ich bezeichne nun alles das, was in den Individuen, den unmittelbar konkreten Orten aller historischen Wirklichkeit, als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andere und das Empfangen ihrer Wirkungen entsteht — dieses bezeichne ich als den Inhalt, gleichsam die Materie der Vergesellschaftung. An und für sich sind diese Stoffe, mit denen das Leben sich füllt, diese Motivierungen, die es treiben, noch nicht sozialen Wesens. Weder Hunger noch Liebe, weder Arbeit noch Religiosität, weder die Technik noch die Funktionen und Resultate der Intelligenz bedeuten ihrem unmittelbaren Sinne nach schon Vergesellschaftung; vielmehr, sie bilden diese erst, indem sie das isolierte Nebeneinander der Individuen zu bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander gestalten, die unter den allgemeinen Begriff der Wechselwirkung ge[S. 52]hören. Die Vergesellschaftung ist also die in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener — sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden — Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen.
Auf diesen Sachverhalt nun wendet sich eine geistige Funktionsweise von höchst weitgreifender Bedeutung an. Wenn praktische Verhältnisse und Notwendigkeiten die Menschen dahin führen, das der Welt abzugewinnende Material des Lebens durch die Kräfte der Intelligenz, des Willens, des Gestaltungstriebes, der Gefühlsbewegungen zu bearbeiten, seinen Elementen um der Zwecke des Lebens willen bestimmte Formen zu geben, und wir es in diesen nun erst als Lebenselement betätigen und benutzen —, so entheben sich jene Kräfte und Interessen dann in eigentümlicher Weise dem Dienste des Lebens, der sie ursprünglich emporgezogen und verpflichtet hatte. Es findet eine Verselbständigung gewisser Energien derart statt, daß sie sich nicht mehr an den Gegenstand heften, den sie formten und damit den Zwecken des Lebens gefügig machten, sondern sie spielen nun gewissermaßen frei in sich selbst, um ihrer selbst willen, und schaffen oder ergreifen eine Materie, die ihnen jetzt eben nur zu ihrer eigenen Betätigung, Verwirklichung dient. So scheint alles Erkennen ursprünglich ein Mittel im Kampf ums Dasein zu sein; das wahre Verhalten der Dinge zu wissen, ist für die Erhaltung und Förderung des Lebens von unübersehlichem Nutzen. Wissenschaft aber bedeutet, daß sich das Erkennen nicht mehr zu dieser praktischen Leistung hergibt, sondern ein Eigenwert geworden ist, sich von sich aus seine Gegenstände wählt, sie nach seinen inneren Bedürfnissen gestaltet und über seine Selbstvollendung nicht hinausfragt. Weiter: Die Formung[S. 53] anschaulicher und unanschaulicher Realitäten nach räumlichen Geschlossenheiten, nach Rhythmus und Klang, nach Bedeutung und Organisation ist sicher zunächst den Forderungen unserer Praxis entsprungen. Sobald diese Formen aber Selbstzwecke werden, aus eigener Kraft und eigenem Recht heraus wirksam, von sich aus und nicht um der Verflechtung in das Leben willen auswählend und schöpferisch — steht die Kunst da, ganz vom Leben getrennt und ihm nur entnehmend, was ihr dient und durch sie gleichsam zum zweiten Male erzeugt wird, obgleich die Formen, in denen sie dies tut und in denen sie sozusagen besteht, sich an den Forderungen und der Dynamik des Lebens erzeugt haben. Dieselbe Drehung bestimmt das Recht in seinem Wesen. Aus den Erfordernissen für die Existenz der Gesellschaft heraus werden gewisse Verhaltungsweisen der Individuen erzwungen oder legitimiert — sie sind gültig und geschehen in diesem Stadium ausschließlich um solcher Zweckmäßigkeit willen. Das ist aber nicht mehr der Sinn ihrer Verwirklichung, sobald das „Recht“ dasteht; denn nun sollen sie nur geschehen, weil sie eben „Recht“ sind, gleichgültig gegen das sie ursprünglich zeugende und beherrschende Leben, bis zum fiat justitia, pereat mundus. Obgleich also das dem Recht gemäße Verhalten in dem sozialen Lebenszweck wurzelt, so hat doch das Recht in seiner Reinheit keinen „Zweck“, weil es nun nicht mehr Mittel ist, sondern, von sich aus und nicht erst auf Legitimation durch eine höhere Instanz hin, bestimmt, wie der Lebensstoff geformt werden soll. Und nun vollzieht sich vielleicht in der weitestgreifenden Weise diese Achsendrehung — von der Bestimmtheit der Lebensformen durch seine Materie zu der Bestimmung seiner Materie durch die zu definitiven Werten erhobenen Formen — in alledem, was wir Spiel nennen. Die realen Kräfte, Nöte und Impulse des Lebens erzeugen die für dieses zweckmäßigen Formen unseres Verhaltens, die dann im Spiel oder viel mehr als Spiel[S. 54] zu selbständigen Inhalten und Reizen werden: das Jagen und Erlisten, die Bewährung der physischen und der geistigen Kräfte, den Wettbewerb und das Gestelltsein auf die Chance und die Gunst unbeeinflußbarer Mächte. Alles dieses ist jetzt dem Flusse des bloßen Lebens enthoben, von dessen Materie, an der sein Ernst haftet, entlastet und wählt oder schafft nun als das von sich aus Entscheidende die Gegenstände, an denen es sich bewähre und rein darstelle; damit gewinnt das Spiel seine Heiterkeit, aber auch jene symbolische Bedeutung, die es von allem bloßen Spaß unterscheidet. Hier liegt, was an der Analogie zwischen Kunst und Spiel gerechtfertigt ist. Mit beiden haben die Formen, die die Realität des Lebens entwickelte, dieser gegenüber autonome Reiche gegründet; es gibt ihnen ihre Tiefe und ihre Kraft, daß sie von ihrem Ursprung her immer noch mit Leben geladen sind, und wo sie dessen entleert sind, werden sie zu Künstelei und Spielerei — allein ihr Sinn und Wesen liegt eben in jener kompromißlosen Wendung, mit der die von der Lebenszweckmäßigkeit und der Lebensmaterie erzeugten Formen sich von diesen lösen und selbst zu Zweck und Materie ihrer selbständigen Bewegtheit werden, von jenen Realitäten gerade nur aufnehmend, was sich der neuen Gerichtetheit fügen und in dem Eigenleben jener Formen aufgehen kann.
Dieser Prozeß vollzieht sich nun auch in der Trennung dessen, was ich an der gesellschaftlichen Existenz Inhalt und Form nannte. Die eigentliche „Gesellschaft“ an ihr ist jenes Miteinander, Füreinander, Gegeneinander, womit materielle oder individuelle Inhalte und Interessen durch Trieb oder Zweck eine Formung oder Förderung erfahren. Und diese Formen nun gewinnen Eigenleben, eine von allem Wurzeln an Inhalten befreite Ausübung rein um ihrer selbst und des in dieser Gelöstheit von ihnen ausstrahlenden Reizes willen; dies eben ist die Erscheinung Geselligkeit. Sicherlich[S. 55] ist es der Erfolg spezieller Notwendigkeiten und Interessen, wenn die Menschen sich in Wirtschaftsvereinigungen oder Blutsbrüderschaften, in Kultgenossenschaften oder Räuberbanden zusammentun. Allein jenseits dieser besonderen Inhalte werden alle diese Vergesellschaftungen von einem Gefühl dafür, von einer Befriedigung daran begleitet, daß man eben vergesellschaftet ist, für den Wert der Gesellschaftsbildung als solcher, ein Trieb, der auf diese Form der Existenz drängt und manchmal erst seinerseits jene realen Inhalte herbeiruft, die die einzelne Vergesellschaftung tragen. Und wie nun das, was man den Kunsttrieb nennen mag, aus den Ganzheiten der erscheinenden Dinge ihre Form gleichsam herauszieht und zu einem besonderen, eben diesem Trieb korrespondierenden Gebilde gestaltet, so löst der „Geselligkeitstrieb“ in seiner reinen Wirksamkeit aus den Realitäten des sozialen Lebens den bloßen Vergesellschaftungsprozeß als einen Wert und ein Glück heraus und konstituiert damit, was wir Geselligkeit im engeren Sinne nennen. Es ist kein bloßer Zufall des Sprachgebrauchs, daß alle Geselligkeit, auch die ganz naturalistische, wenn sie irgendwelchen Sinn und Bestand haben soll, einen so großen Wert auf die Form legt, auf die gute Form. Denn Form ist gegenseitiges Sich-Bestimmen, Wechselwirken der Elemente, wodurch sie eben eine Einheit bilden; und da nun für die Geselligkeit die konkreten, an die Zwecksetzungen des Lebens angeknüpften Motivierungen der Vereinheitlichung in Wegfall kommen, so muß die reine Form, der sozusagen freischwebende, wechselwirkende Zusammenhang der Individuen um so stärker und mit um so größerer Wirksamkeit akzentuiert werden.
Ihre bloß formale Beziehung zur Realität erspart der Geselligkeit die Reibungswiderstände dieser; aber immerhin gewinnt sie aus ihr, je vollkommener sie gerade als Geselligkeit ist, auch für den tieferen Menschen eine symbolisch spielende Fülle des Lebens und eine Bedeutsamkeit, die ein oberfläch[S. 56]licher Rationalismus immer nur in den konkreten Inhalten sucht; so daß er, da er diese hier nicht findet, die Geselligkeit nur als eine hohle Läppischkeit abzutun weiß. Es ist doch nicht bedeutungslos, daß in vielen, vielleicht in allen europäischen Sprachen Gesellschaft schlechthin eben das gesellige Zusammensein bezeichnet. Die staatliche, die wirtschaftende, die durch irgendeinen Zweckgedanken zusammengehaltene Gesellschaft ist doch durchaus „Gesellschaft“. Aber nur die gesellige ist eben „eine Gesellschaft“ ohne weiteren Zusatz, weil sie die reine, prinzipiell über jeden spezifischen Inhalt erhobene Form all jener einseitig charakterisierten „Gesellschaften“ in einem gleichsam abstrakten, alle Inhalte in das bloße Spiel der Form auflösenden Bilde darstellt.
Von den soziologischen Kategorien her betrachtend, bezeichne ich also die Geselligkeit als die Spielform der Vergesellschaftung und als — mutatis mutandis — zu deren inhaltsbestimmter Konkretheit sich verhaltend wie das Kunstwerk zur Realität. Es kommt zunächst das große, wenn man will: das größte Problem der Gesellschaft innerhalb der Geselligkeit zu einer nur innerhalb ihrer möglichen Lösung: welches Maß von Bedeutung und Akzent dem Individuum als solchem in und gegenüber dem sozialen Umkreis zukomme? Indem die Geselligkeit in ihren reinen Gestaltungen keinen sachlichen Zweck hat, keinen Inhalt und kein Resultat, das sozusagen außerhalb des geselligen Augenblicks als solchen läge, ist sie gänzlich auf die Persönlichkeiten gestellt, nichts als die Befriedigtheit dieses Momentes — allenfalls noch mit einem Nachklang von ihr — soll erreicht werden, und so bleibt der Vorgang in seinen Bedingungen, wie in seinem Ertrage ausschließlich auf seine personalen Träger beschränkt; die persönlichen Eigenschaften der Liebenswürdigkeit, Bildung, Herzlichkeit, Anziehungskräfte jeder Art entscheiden über den Charakter des rein geselligen Beisammenseins. Aber gerade darum,[S. 57] weil hier alles auf die Persönlichkeiten gestellt ist, dürfen die Persönlichkeiten sich nicht gar zu individuell betonen. Wo reale Interessen, kooperierend oder kollidierend, die Sozialform bestimmen, sorgen sie schon, daß das Individuum seine Besonderheiten und Einzigkeiten nicht allzu unbeschränkt und eigengesetzlich präsentiere; wo aber diese Bedingtheit fortfällt, muß eine andere, nur aus der Form des Beisammenseins entspringende Herabsetzung der persönlichen Zugespitztheit und Selbstherrlichkeit stattfinden, damit ein Beisammensein überhaupt möglich sei. Darum ist in der Gesellschaft das Taktgefühl von so besonderer Bedeutung, weil dies die Selbstregulierung des Individuums in seinem persönlichen Verhältnis zu andern leitet, wo keine äußeren oder unmittelbar egoistischen Interessen die Regulative übernehmen. Und vielleicht ist es die spezifischste Leistung des Taktes, den individuellen Impulsivitäten, Betonungen des Ich, geistigen und äußeren Ansprüchen die Grenze zu ziehen, die das Recht des Andern fordert.
Eine sehr merkwürdige soziologische Struktur kommt hier auf. In die Geselligkeit hat nicht einzutreten, was die Persönlichkeit etwa an objektiven Bedeutungen besitzt, an solchen, die ihr Zentrum außerhalb des aktuellen Kreises haben; Reichtum und gesellschaftliche Stellung, Gelehrsamkeit und Berühmtheit, exzeptionelle Fähigkeiten und Verdienste des Individuums haben in der Geselligkeit keine Rolle zu spielen, höchstens als eine leichte Nuance von jener Immaterialität, mit der allein die Realität überhaupt in das soziale Kunstgebilde der Geselligkeit hineinragen darf. Ebenso aber wie dies Objektive, das um die Persönlichkeit herum ist, muß nun auch gerade das rein und zutiefst Persönliche aus ihrer Funktion als Element der Geselligkeit ausscheiden: das Allerpersönlichste des Lebens, des Charakters, der Stimmung, des Schicksals hat gleichfalls im Rahmen der Geselligkeit keinen Platz. Es ist[S. 58] taktlos — weil dem hier ausschließlich dominierenden Wechselwirkungsmoment widerstreitend — bloß persönliche Stimmung und Verstimmung, Aufgeregtheiten und Depressionen, Licht und Dunkelheit des tiefsten Lebens in die Geselligkeit mitzubringen. Bis in das Äußerlichste hinein reicht dieser Ausschluß des Persönlichen: eine Dame würde in einem wirklich persönlichen, intim freundschaftlichen Beisammensein mit einem oder wenigen Männern nicht so dekolletiert erscheinen mögen, wie sie es ganz unbefangen in einer großen Gesellschaft tut. Sie fühlt sich in dieser eben nicht in dem Maße wie dort als Individuum engagiert und kann sich deshalb wie unter der unpersönlichen Freiheit der Maske preisgeben, da sie ja zwar nur sie selbst, aber doch nicht ganz sie selbst ist, sondern nur ein Element in einer formal zusammengehaltenen Vereinigung.
Der Mensch als ganzer ist sozusagen ein noch ungeformter Komplex von Inhalten, Kräften, Möglichkeiten, und je nach den Motivierungen und Beziehungen des wechselnden Daseins gestaltet er sich daraus zu einem differenzierten, grenzbestimmten Gebilde. Als wirtschaftender und als politischer Mensch, als Familienmitglied und als Repräsentant eines Berufes ist er sozusagen je ein ad hoc konstruiertes Elaborat, sein Lebensmaterial ist jedesmal von einer besonderen Idee bestimmt, in eine besondere Form gegossen, deren relativ selbständiges Leben freilich von der gemeinsamen, unmittelbar aber nicht zu bezeichnenden Kraftquelle des Ich gespeist wird. In diesem Sinne nun ist auch der Mensch als geselliger ein eigentümliches, in keiner andern Beziehung so vorkommendes Gebilde. Er hat einerseits alle Sachbedeutungen der Persönlichkeit abgetan und tritt nur mit den Fähigkeiten, Reizen, Interessen seiner reinen Menschlichkeit in die Geselligkeitsform ein. Andrerseits aber macht dies Gebilde vor dem ganz und gar Subjektiven und rein Innerlichen der Persönlichkeit Halt. Die Diskretion, die dem andern gegenüber eine erste Bedingung[S. 59] der Geselligkeit ist, ist ebenso dem eigenen Ich gegenüber erforderlich, weil ihre Verletzung in beiden Fällen die soziologische Kunstform der Geselligkeit in einen soziologischen Naturalismus ausarten läßt. Man kann also von einer oberen und unteren „Geselligkeitsschwelle“ für die Individuen sprechen. Sowohl in dem Augenblick, in dem diese ihr Zusammensein auf einen objektiven Inhalt und Zweck stellen, wie in dem andern, wo das absolut Personale und Subjektive des Einzelnen rückhaltlos in die Erscheinung tritt, ist die Geselligkeit nicht mehr das zentrale und formende, sondern höchstens noch das formalistische und äußerlich vermittelnde Prinzip.
Zu dieser negativen Bestimmung des Geselligkeitswesens durch Grenzen und Schwellen aber kann man vielleicht das positive Formmotiv finden. Kant hat es als das Prinzip des Rechts aufgestellt, daß ein jeder dasjenige Maß von Freiheit haben solle, das mit der Freiheit jedes andern zusammen bestehen kann. Bleibt man einmal bei dem Geselligkeitstriebe als dem Quell oder auch der Substanz der Geselligkeit stehen, so ist nun das Prinzip, nach dem sie konstituiert ist: jeder solle so viel Befriedigung dieses Triebes haben, wie es mit der Befriedigung eben dieses für alle andern vereinbar ist. Drückt man dies, statt von dem Triebe, vielmehr von dem Erfolge her aus, so formuliert sich das Prinzip der Geselligkeit so: jeder soll dem andern dasjenige Maximum an geselligen Werten (von Freude, Entlastung, Lebendigkeit) gewähren, das mit dem Maximum der von ihm selbst empfangenen Werte vereinbar ist. Wie nun das Recht auf jener Kantischen Basis ein durchaus demokratisches ist, so zeigt dies Prinzip die demokratische Struktur aller Geselligkeit, die freilich jede Gesellschaftsschicht nur in sich selbst realisieren kann, und die eine Geselligkeit unter Angehörigen ganz verschiedener sozialer Klassen so oft zu etwas Widerspruchsvollem und Peinlichem macht. Solche Gleichheit entsteht hier durch den Wegfall einerseits des ganz Persön[S. 60]lichen, andrerseits des ganz Sachlichen, also dessen, was die Vergesellschaftung als ihr Material vorfindet und wovon sie in ihrer Gestaltung als Geselligkeit entkleidet ist. Aber auch innerhalb der gesellschaftlich Gleichstehenden ist die Demokratie ihrer Geselligkeit eine gespielte. Die Geselligkeit schafft, wenn man will, eine ideale soziologische Welt: denn in ihr ist — das sprechen jene Prinzipien aus — die Freude des Einzelnen durchaus daran gebunden, daß auch die andern froh sind, hier kann prinzipiell niemand auf Kosten ganz entgegengesetzter Empfindungen des Andern seine Befriedigung finden — wie viele andere Lebensgestaltungen es zwar durch über sie gestellte ethische Imperative, aber nicht durch ihr unmittelbar eigenes und inneres Prinzip ausschließen. Aber diese Welt der Geselligkeit, die einzige, in der eine Demokratie der Gleichberechtigten ohne Reibungen möglich ist, ist eine künstliche Welt, aufgebaut aus Wesen, die ausschließlich jene ganz reine, durch keinen gleichsam materialen Akzent debalancierte Wechselwirkung untereinander herzustellen wünschen. Wenn wir jetzt die Vorstellung haben, in die Geselligkeit kämen wir rein „als Menschen“, als das, was wir wirklich sind, unter Abwerfung all der Belastungen, der Hin- und Hergerissenheiten, des Zuviel und Zuwenig, womit das reale Leben die Reinheit unseres Bildes entstellt, so liegt das daran, daß das moderne Leben mit objektivem Inhalt und Sachforderungen überlastet ist. Diese im geselligen Kreise von uns abtuend, glauben wir zu unserem natürlich-persönlichen Sein zurückzukehren und übersehen dabei, daß auch dies Persönliche nicht in seiner ganzen Besonderheit und naturalistischen Vollständigkeit, sondern nur in einer gewissen Reserve und Stilisierung den geselligen Menschen ausmacht. In früheren Zeiten, als dieser Mensch noch nicht so vielem Sachlichen, objektiv Inhaltlichen abgewonnen werden mußte, machte sich sein Formgesetz mehr und deutlicher seinem persönlichen Sein gegenüber gel[S. 61]tend: daher war das persönliche Benehmen in der Geselligkeit früherer Zeiten viel zeremonieller, steifer und strenger überindividuell reguliert als heute. Diese Reduktion der personalen Peripherie auf das Bedeutungsmaß, das die homogene Wechselwirkung mit andern dem Einzelnen einräumt, schwingt bis in das entgegengesetzte Extrem: ein spezifisches Verhalten in der Gesellschaft ist die Courtoisie, mit der der Starke, Hervorragende, nicht nur den Schwächeren sich gleichstellt, sondern sogar die Attitüde annimmt, als sei jener der Wertvollere und Überlegene. Wenn Vergesellschaftung überhaupt Wechselwirkung ist, so ist es deren reinster und sozusagen stilisiertester Fall, wenn sie unter Gleichen vor sich geht, wie Symmetrie und Gleichgewicht die einleuchtendsten künstlerischen Stilisierungsformen anschaulicher Elemente sind. Indem Geselligkeit also die mit dem Charakter der Kunst oder des Spieles vollzogene Abstraktion der Vergesellschaftung ist, fordert sie die reinste, durchsichtigste, am leichtesten ansprechende Art der Wechselwirkung, die unter Gleichen; sie muß sich, um ihrer fundamentalen Idee willen, Wesen fingieren, die von ihrem objektiven Inhalt so viel abgeben, die nach ihrer äußeren wie inneren Bedeutung so modifiziert werden, daß sie als gesellige gleich sind und ein jedes die Geselligkeitswerte für sich nur unter der Bedingung gewinnen kann, daß die andern, mit ihm wechselwirkenden, sie ebenso gewinnen. Sie ist das Spiel, in dem man „so tut“, als ob alle gleich wären, und zugleich, als ob man jeden besonders ehrte. Dies ist so wenig Lüge, wie das Spiel oder die Kunst mit all ihrer Abweichung von der Realität Lügen sind. Dazu wird es erst in dem Augenblick, in dem das Tun und die Rede der Geselligkeit in die Absichten und Geschehnisse der praktischen Realität eintritt — wie das Gemälde zur Lüge wird, wenn es panoramahaft die Realität vortäuschen will. Was innerhalb des eigengesetzlichen, nur in dem immanenten Spiel seiner Formen betätigten Le[S. 62]bens der Geselligkeit durchaus richtig und in der Ordnung ist, wird zur Lüge, wenn diese Erscheinung ein bloßer Schein ist, der in Wirklichkeit von Zwecken ganz anderer als geselliger Art gelenkt wird oder diese unsichtbar machen soll — wozu freilich die tatsächliche Verflechtung der Geselligkeit in die Reihen des realen Lebens leicht verführen mag.
Dieser Zusammenhang legt nahe, daß in der Geselligkeit alles das unterkommen wird, was man schon von sich aus als soziologische Spielform bezeichnen kann: vor allem das eigentliche Spiel selbst, das in der Geselligkeit aller Epochen einen breiten Raum einnimmt. Der Ausdruck des „Gesellschaftsspieles“ ist in dem tieferen Sinne bedeutsam, auf den ich vorher hinwies. Die ganzen Wechselwirkungs- oder Vergesellschaftungsformen zwischen den Menschen: das Übertreffenwollen und der Tausch, die Parteibildung und das Abgewinnenwollen, die Chancen der zufälligen Begegnung und Trennung, der Wechsel zwischen Gegnerschaft und Kooperation, das Überlisten und die Revanche — alles dieses, im Ernste der Wirklichkeit von Zweckinhalten erfüllt, führt im Spiel ein vom Reize dieser Funktionen selbst und allein getragenes Leben. Denn selbst wo das Spiel sich um einen Geldpreis dreht, ist nicht dieser, der doch auch auf viele andere Weisen zu erwerben wäre, das Spezifische des Spieles, sondern dessen Attraktionen liegen für den richtigen Spieler in der Dynamik und dem Hazard jener soziologisch bedeutsamen Betätigungsformen selbst. Das Gesellschaftsspiel hat den tieferen Doppelsinn, daß es nicht nur in einer Gesellschaft als seinem äußeren Träger gespielt wird, sondern daß mit ihm tatsächlich „Gesellschaft“ „gespielt“ wird. Weiterhin hat, in der Soziologie der Geschlechter, die Erotik ihre Spielform ausgebildet: die Koketterie, die innerhalb der Geselligkeit ihre leichteste, spielendste, aber auch weiteste Realisierung findet[3]. Dreht sich die eroti[S. 63]sche Frage zwischen den Geschlechtern um Gewähren und Versagen (deren Gegenstände natürlich unendlich mannigfaltig und abgestuft und keineswegs nur radikaler oder gar nur physiologischer Natur sind), so ist es das Wesen der weiblichen Koketterie, ein andeutendes Gewähren und ein andeutendes Versagen wechselnd gegeneinander zu spannen, den Mann anzuziehen, ohne es zu einer Entscheidung kommen zu lassen, ihn zurückzuweisen, ohne ihm alle Hoffnung zu nehmen. Die Kokette steigert ihren Reiz auf das Höchste, indem sie dem Manne die Gewährung sozusagen ganz nahe rückt, ohne daß es ihr schließlich damit Ernst wäre; ihr Verhalten pendelt zwischen dem Ja und dem Nein, ohne auf einem Halt zu machen. Sie zeichnet damit gleichsam spielend die bloße und reine Form der erotischen Entscheidungen und kann deren polare Entgegengesetztheiten in einem ganz einheitlichen Benehmen zusammenbringen, da der entschiedene und entscheidende Inhalt, der sie auf einem von beiden festlegte, prinzipiell in die Koketterie nicht eintritt. Und diese Entlastung von aller Schwere fester Inhalte und bleibender Realitäten gibt der Koketterie jenen Charakter des Schwebenden, der Distanz, des Ideellen, dessentwegen man mit einem gewissen Recht von der „Kunst“ — nicht nur von den „Künsten“ — der Koketterie spricht. Damit sie sich aber auf dem Boden der Geselligkeit als ein so heimisches Gewächs ausbreiten könne, wie die Erfahrung es zeigt, muß ihr von seiten des Mannes ein ganz besonderes Verhalten begegnen. Solange der Mann sich dem Reize der Koketterie versagt, oder solange er umgekehrt ihr bloßes Opfer ist, das von ihren Schwingungen zwischen dem halben Ja und dem halben Nein willenlos mitgeschleift wird, — so lange hat die Koketterie noch nicht die der Geselligkeit eigentlich adäquate Gestalt. Es fehlt ihr jene freie Wechselwirkung und Äquivalenz der Elemente, die das Grundgesetz der Geselligkeit ist. Diese tritt erst dann ein, wenn der Mann nach[S. 64] nicht mehr als nach diesem frei schwebenden Spiele verlangt, in dem nur wie ein fernes Symbol irgendwelches erotische Definitivum anklingt, und wenn er nicht erst aus dem Begehren oder aus der Befürchtung eines solchen den Reiz jener Andeutungen und Präliminarien zieht. Die Koketterie, wie sie gerade auf den Höhen der geselligen Kultur ihre Anmut entfaltet, hat die Wirklichkeit des erotischen Begehrens, Gewährens oder Versagens hinter sich gelassen und ergeht sich in dem Wechselspiele der Silhouetten dieser Ernsthaftigkeiten. Wo diese letzteren eintreten oder dahinter stehen, wird das ganze Geschehen sozusagen zu einer Privatangelegenheit der beiden Personen, die nun in der Ebene der Realität abläuft; unter dem soziologischen Zeichen der Geselligkeit aber, in die die eigentliche, das volle Leben in sich bindende Zentralität der Personen überhaupt nicht eintritt, ist Koketterie das neckische oder auch ironische Spiel, mit dem die Erotik gleichsam die reinen Schemata ihrer Wechselwirkungen von ihrem stofflichen oder ganz individuellen Inhalt gelöst hat. Wie die Geselligkeit die Formen der Gesellschaft spielt, so spielt die Koketterie die Formen der Erotik — eine Wesensverwandtschaft, die diese eben gewissermaßen zu einem Element jener prädestiniert.
In welchem Maße die Geselligkeit so die Abstraktion der sonst durch ihren Inhalt bedeutsamen soziologischen Wechselwirkungsformen vollzieht und ihnen, die nun gleichsam um sich selbst kreisen, einen Schattenkörper leiht, dies offenbart sich schließlich an dem breitesten Träger aller menschlichen Gemeinsamkeit, am Gespräch. Das Entscheidende ist hier als die ganz banale Erfahrung auszudrücken: daß im Ernst des Lebens die Menschen um eines Inhaltes willen reden, den sie mitteilen oder über den sie sich verständigen wollen, in der Geselligkeit aber das Reden zum Selbstzweck wird, aber nicht im naturalistischen Sinne, wie im Geschwätz, sondern in dem der Kunst des Sich-Unterhaltens, mit deren eigenen artisti[S. 65]schen Gesetzen; im rein geselligen Gespräch ist sein Stoff nur noch der unentbehrliche Träger der Reize, die der lebendige Wechseltausch der Rede als solcher entfaltet. Alle die Formen, mit denen dieser Tausch sich verwirklicht: der Streit und der Appell an die von beiden Parteien anerkannten Normen; der Friedensschluß durch Kompromiß und das Entdecken gemeinsamer Überzeugungen; das dankbare Aufnehmen des Neuen und das Ablenken von dem, worüber doch keine Verständigung zu hoffen ist — alle diese Formen gesprächhafter Wechselwirkung, sonst im Dienste unzähliger Inhalte und Zwecke des menschlichen Verkehrs, haben hier ihre Bedeutung in sich selbst, das heißt in dem Reize des Beziehungsspieles, das sie, bindend und lösend, siegend und unterliegend, gebend und nehmend, zwischen den Individuen stiften; der Doppelsinn des „Sich-Unterhaltens“ tritt in seine Rechte. Damit dieses Spiel sein Genügen an der bloßen Form bewahre, darf der Inhalt kein Eigengewicht bekommen: sobald die Diskussion sachlich wird, ist sie nicht mehr gesellig; sie dreht ihre teleologische Spitze um, sobald die Ergründung einer Wahrheit — die durchaus ihren Inhalt bilden kann — zu ihrem Zwecke wird. Damit zerstört sie ihren Charakter als gesellige Unterhaltung ebenso, wie wenn sie sich zu einem ernsthaften Streite zuspitzt. Die Form des gemeinsamen Suchens des Richtigen, die Form des Streites mag bestehen; aber sie darf den Ernst ihres jeweiligen Inhaltes so wenig zu ihrer Substanz werden lassen, wie man in ein perspektivisch wirkendes Gemälde ein Stück der dreidimensionalen Wirklichkeit seines Gegenstandes einfügen dürfte. Nicht als ob der Inhalt der gesellschaftlichen Unterhaltung gleichgültig sei: er soll durchaus interessant, fesselnd, ja bedeutend sein — nur daß er nicht an sich den Zweck der Unterhaltung bilde, daß diese nicht dem objektiven Resultat gelte, das sozusagen ideell außerhalb der Unterhaltung bestünde. Äußerlich mögen deshalb zwei Unterhaltungen ganz[S. 66] gleich verlaufen, gesellig, dem inneren Sinne nach, ist nur diejenige, in der jene Inhalte, mit all ihrem Werte und Reize, doch nur an dem funktionellen Spiele der Unterhaltung als solcher ihr Recht, ihren Platz, ihren Zweck finden, an der Form des Redetausches mit ihrer besonderen und sich selbst normierenden Bedeutsamkeit. Darum gehört zum Wesen der geselligen Unterhaltung, daß sie ihren Gegenstand leicht und rasch wechseln könne; denn da der Gegenstand hier nur Mittel ist, kommt ihm die ganze Austauschbarkeit und Zufälligkeit zu, die überhaupt den Mitteln gegenüber dem feststehenden Zwecke eignet. So also bietet, wie gesagt, die Geselligkeit den vielleicht einzigen Fall, in dem das Reden legitimer Selbstzweck ist. Denn dadurch, daß es schlechthin zweiseitig ist, ja vielleicht mit Ausnahme des „Sich-Ansehens“ die reinste und sublimierteste Zweiseitigkeitsform unter allen soziologischen Erscheinungen überhaupt, wird es zur Erfüllung einer Relation, die sozusagen nichts als Relation sein will, in der also das, was sonst bloße Form der Wechselwirkung ist, zu deren selbstgenugsamem Inhalt wird. Es ergibt sich aus diesen gesamten Zusammenhängen, daß auch das Erzählen von Geschichten, Witzen, Anekdoten, so oft es auch ein Lückenbüßer und Armutszeugnis sein mag, doch auch einen feinen Takt zeigen kann, in dem alle Motive der Geselligkeit anklingen. Denn zunächst wird damit die Unterhaltung auf einer Basis gehalten, die jenseits aller individuellen Intimität, jenseits jenes rein Personalen steht, das sich nicht in die Kategorien der Geselligkeit fügen will. Aber dennoch ist dieses Objektive nicht um seines Inhaltes, sondern um des Geselligkeitsinteresses willen vorgebracht; daß dieser gesagt und aufgenommen wird, ist kein Selbstzweck, sondern ein bloßes Mittel für die Lebendigkeit, das Sichverstehen, das Gemeinsamkeitsbewußtsein des Kreises. Es ist damit nicht nur ein Inhalt gegeben, an dem alle gleichmäßig teilhaben können, sondern es ist die Gabe eines einzelnen an[S. 67] die Gesamtheit, aber eine solche, hinter der der Gebende sozusagen unsichtbar wird: die feinste, gesellig erzählte Geschichte ist die, bei der der Erzählende seine Person völlig zurücktreten läßt; die ganz vollendete hält sich in dem glücklichen Gleichgewichtspunkt der sozusagen geselligen Ethik, in dem sowohl das subjektiv Individuelle wie das objektiv Inhaltliche sich völlig in den Dienst an der reinen Geselligkeitsform aufgelöst haben.
Es ist hiermit angedeutet, daß die Geselligkeit die Spielform auch für die ethischen Kräfte der konkreten Gesellschaft ist. Die großen, diesen Kräften gestellten Probleme: daß der Einzelne sich in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen und für ihn zu leben habe, daß ihm aber aus diesem wieder Werte und Erhöhungen zurückfließen müssen, daß das Leben des Individuums ein Umweg für die Zwecke des Ganzen, das Leben des Ganzen aber ein Umweg für die Zwecke des Individuums sei — den Ernst, ja die vielfache Tragik dieser Forderungen überträgt die Geselligkeit in das symbolische Spiel ihres Schattenreiches, in dem es keine Reibungen gibt, weil Schatten sich eben nicht aneinander stoßen können. Wenn es ferner die ethische Aufgabe der Vergesellschaftung ist, das Sichzusammenfinden und das Sichlösen ihrer Elemente zum genauen und aufrichtigen Ausdruck ihrer inneren, durch die Ganzheit ihres Lebens bestimmten Relationen zu machen, so löst sich innerhalb der Geselligkeit diese Freiheit und Adäquatheit von ihren konkreten und inhaltlich tieferen Bedingnissen ab; wie sich in einer „Gesellschaft“ Gruppen bilden und sich spalten, wie das Zwiegespräch in ihr sich rein nach Impuls und Gelegenheit entspinnt, vertieft, lockert, abschließt, dies ist ein Miniaturbild des Gesellschaftsideales, das man die Freiheit der Bindung nennen könnte. Wenn alles Miteinander und Auseinander das streng angemessene Phänomen innerer Wirklichkeiten sein soll, so sind diese letzteren hier fortgefallen, und[S. 68] nur jene Erscheinung ist geblieben, deren den eigenen Formgesetzen gehorsames Spiel, deren in sich geschlossene Anmut jene Angemessenheit ästhetisch repräsentiert, die der Ernst der Realitäten sonst ethisch fordert. —
Diese Gesamtdeutung der Geselligkeit wird von gewissen historischen Entwicklungen anschaulich realisiert. Im früheren deutschen Mittelalter finden wir ritterliche Bruderschaften, die von befreundeten Patrizierfamilien gebildet waren. Die religiösen und praktischen Zwecke dieser Einungen scheinen sich aber ziemlich früh verloren zu haben, und im 14. Jahrhundert sind die ritterlichen Interessen und Verhaltungsweisen ihr allein übriggebliebenes inhaltliches Spezifikum. Bald nachher aber verschwindet auch dieses, und es verbleiben nur noch rein gesellige Vereinigungen aristokratischer Schichten. Hier entwickelt sich also die Geselligkeit offensichtlich als das Residuum einer inhaltbestimmten Gesellschaft — als das Residuum, das, weil der Inhalt verloren gegangen ist, nur aus der Form und den Formen des Miteinander und Füreinander bestehen kann. Daß der Eigenbestand dieser Formen nur das innere Wesen des Spieles oder, tiefergreifend, der Kunst zeigen kann, tritt noch sichtbarer an der Hofgesellschaft des Ancien Régime hervor. Hier waren aus dem Wegfall der konkreten Lebensinhalte, die der französischen Aristokratie gewissermaßen durch das Königtum ausgesogen waren, freischwebende Formen entstanden, zu denen das Bewußtsein dieses Standes kristallisiert war — Formen, deren Kräfte, Bestimmtheiten, Relationen rein gesellig waren und keineswegs etwa Symbole oder Funktionen der realen Bedeutungen und Intensitäten der Personen und Institutionen. Das Etikettenwesen der höfischen Geselligkeit war zum Selbstzweck geworden, es etikettierte keinen Inhalt mehr, sondern hatte immanente Gesetze ausgebildet, jenen der Kunst vergleichbar, die nur aus dem Gesichtspunkt der Kunst heraus gelten und durchaus nicht den Zweck haben,[S. 69] die Wirklichkeit der Modelle, der Dinge außerhalb der Kunst, in ihr nachzubilden.
Mit dieser Erscheinung erreicht die Geselligkeit zwar ihren souveränsten, aber zugleich in die Karikatur übergehenden Ausdruck. Gewiß ist es ihr Wesen, aus den realistischen Wechselbeziehungen der Menschen die Realität auszuscheiden und nach den Formgesetzen dieser in sich bewegten, jetzt keinen Zweck außerhalb ihrer anerkennenden Relationen ihr luftiges Reich zu errichten. Allein die tief strömende Quelle, aus der dieses Reich seine Bewegtheiten speist, ist dennoch nicht in jenen sich selbst bestimmenden Formen, sondern nur in der Lebendigkeit der realen Individuen, in ihren Empfindungen und Attraktionen, in der Fülle ihrer Impulse und Überzeugungen zu suchen. Alle Geselligkeit ist nur ein Symbol des Lebens, wie es sich in dem Flusse eines leicht beglückenden Spieles zeichnet, aber eben doch ein Symbol des Lebens, dessen Bild nur so weit verändernd, wie die hier zu ihm gewonnene Distanz es fordert; gerade wie auch die freieste und phantastischste, von aller Wirklichkeitskopie entfernteste Kunst sich von einem tiefen und treuen Verhältnis zur Wirklichkeit nährt, wenn sie nicht hohl und verlogen wirken soll. Auch die Kunst steht zwar über dem Leben, aber über dem Leben. Schneidet die Geselligkeit die Fäden, die sie mit der Lebenswirklichkeit verbinden und aus denen sie ihr freilich ganz anders stilisiertes Gewebe spinnt, völlig ab, so wird sie aus einem Spiele zu einer Spielerei mit leeren Formen, zu einem unlebendigen und auf seine Unlebendigkeit stolzen Schematismus.
Aus diesem Zusammenhange wird ersichtlich, daß die Menschen über die Oberflächlichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs mit Recht und mit Unrecht klagen. Es gehört nämlich zu den wirkungsvollsten Tatsachen der geistigen Existenz, daß, wenn wir aus der Ganzheit des Seins irgendwelche Elemente zu einem eigenen Reich zusammenschließen, das nach eigenen[S. 70] Gesetzen und nicht nach denen des Ganzen verwaltet wird, dieses Reich freilich in einer völligen Abschnürung von dem Leben des Ganzen, bei aller inneren Vollendung, ein ausgehöhltes und in der Luft schwebendes Wesen zeigen kann: dann aber, oft nur durch Imponderabilien verändert, gerade in diesem Abstand von aller unmittelbaren Realität, deren tiefstes Wesen vollständiger, einheitlicher, sinngemäßer zeigen kann, als irgendein Versuch, es realistischer und ohne Distanznahme zu ergreifen. Je nachdem diese oder jene Empfindung vorliegt, wird das eigene und unter eigenen Normen ablaufende Leben, das die Oberflächen der gesellschaftlichen Wechselwirkungen in der Geselligkeit gewonnen haben, für uns eine formelhafte, bedeutungslose Unlebendigkeit sein — oder ein symbolisches Spiel, in dessen ästhetischen Reiz alle feinste, sublimierte Dynamik des gesellschaftlichen Daseins überhaupt und seines Reichtums gesammelt ist. Wir sind in der ganzen Kunst, in der ganzen Symbolik des religiösen und kirchlichen Lebens, großenteils sogar in den Formulierungskomplexen der Wissenschaft auf diesen Glauben, auf dieses Gefühl angewiesen, daß die Eigengesetzlichkeiten bloßer Erscheinungsteile, die Kombination ausgewählter Oberflächenelemente eine Beziehung zu der Tiefe und Ganzheit der vollen Realität besitzen, die, wenn auch oft nicht formulierbar, jene zum Träger und Vertreter des unmittelbar wirklichen und fundamentalen Daseins macht. Wir verstehen daraus die erlösende und beglückende Wirkung mancher dieser, aus den bloßen Formen des Daseins aufgebauten Reiche; denn in ihnen sind wir zwar vom Leben erlöst, aber wir haben es doch. Wie uns der Anblick des Meeres innerlich befreit, nicht obgleich, sondern weil in seinem Aufrauschen, um abzufließen, Abfließen, um wieder aufzurauschen, in dem Spielen und Gegenspielen seiner Wellen das ganze Leben zu dem einfachsten Ausdruck seiner Dynamik stilisiert ist, ganz frei von aller erlebbaren Wirklichkeit und aller[S. 71] Schwere der Einzelschicksale, deren letzter Sinn dennoch in dieses bloße Bild einzufließen scheint — so offenbart etwa die Kunst das Geheimnis des Lebens: daß wir uns nicht durch einfaches Wegsehen von ihm erlösen, sondern gerade indem wir in dem scheinbar ganz selbstherrlichen Spiel seiner Formen den Sinn und die Kräfte seiner tiefsten Wirklichkeit, aber ohne diese Wirklichkeit selbst, gestalten und erleben. Für so viel tiefe und den Druck des Lebens in jedem Augenblick fühlende Menschen würde die Geselligkeit nicht dies Befreiende, erlösend Heitere enthalten können, wenn sie wirklich nur das Sichflüchten vor diesem Leben, die bloß momentane Aufhebung seines Ernstes wäre. Sie mag vielfach dies nur Negative sein, ein Konventionalismus und innerlich lebloser Austausch von Formeln; so vielleicht häufig im Ancien Régime, wo die dumpfe Angst vor einer bedrohlichen Wirklichkeit die Menschen in jenes bloße Wegsehen hineintrieb, in jene Abschnürung von den Mächten des tatsächlichen Lebens. Das Befreiende und Erleichternde aber, das gerade der tiefere Mensch in der Geselligkeit findet, ist: daß das Zusammensein und der Einwirkungstausch, in denen die ganzen Aufgaben und die ganze Schwere des Lebens sich darstellt, hier in gleichsam artistischem Spiel genossen werden, in jener gleichzeitigen Sublimierung und Verdünnung, in der die inhaltbegabten Kräfte der Wirklichkeit nur noch wie aus der Ferne anklingen, ihre Schwere in einen Reiz verflüchtigend.
[3] Das Wesen der Koketterie habe ich ausführlich in meinem Buche: Philosophische Kultur — behandelt.
(Beispiel der Philosophischen Soziologie.)
Das eigentliche praktische Problem der Gesellschaft liegt in dem Verhältnis, das ihre Kräfte und Formen zu dem[S. 72] Eigenleben der Individuen besitzen. Mag die Gesellschaft an den Individuen oder noch außerhalb dieser existieren. Aber selbst wer ein eigentliches „Leben“ nur den Individuen zuerkennte und das Leben der Gesellschaft mit dem ihrer einzelnen Mitglieder identifizierte, würde eine Vielheit tatsächlicher Konflikte nicht leugnen können. Einerseits, weil die sozialen Elemente an den Individuen eben zu dem Sondergebilde „Gesellschaft“ zusammenrinnen und dieses eigene Träger und Organe gewinnt, die dem Einzelnen mit Forderungen und Exekutiven wie eine ihm fremde Partei gegenübertreten. Andrerseits ist der Konflikt gerade durch das Einwohnen der Gesellschaft in dem Einzelnen nahegelegt. Denn die Fähigkeit des Menschen, sich selbst in Parteien zu zerlegen und irgendeinen Teil seiner selbst als sein eigentliches Selbst zu empfinden, das mit andern Teilen kollidiert und um die Bestimmung seines Handelns kämpft — diese Fähigkeit setzt den Menschen, insoweit er sich als Sozialwesen fühlt, in ein oft gegensätzliches Verhältnis zu den durch seinen Gesellschaftscharakter nicht ergriffenen Impulsen und Interessen seines Ich: der Konflikt zwischen der Gesellschaft und dem Individuum setzt sich in das Individuum selbst als der Kampf seiner Wesensteile fort. Der umfassendste und tiefstgreifende Zwist zwischen der Gesellschaft und dem Individuum scheint mir nicht auf einen einzelnen Interesseninhalt zu gehen, sondern auf die allgemeine Form des Einzellebens. Die Gesellschaft will eine Ganzheit und organische Einheit sein, so daß jedes ihrer Individuen nur ein Glied ist; in die spezielle Funktion, die es als solches zu üben hat, soll es womöglich seine gesamten Kräfte gießen, soll sich umformen, bis es ganz zum geeignetsten Träger dieser Funktion geworden ist. Allein gegen diese Rolle sträubt sich der Einheits- und Ganzheitstrieb, den das Individuum für sich allein hat. Es will in sich abgerundet sein und nicht nur die ganze Gesellschaft abrunden helfen, es will die Gesamtheit seiner Fähigkeiten[S. 73] entfalten, gleichviel, welche Verschiebungen unter ihnen das Interesse der Gesellschaft forderte. Dieser Widerstreit zwischen dem Ganzen, das von seinen Elementen die Einseitigkeiten der Teilfunktion fordert, und dem Teil, der selbst ein Ganzes sein will, ist prinzipiell nicht zu lösen: man kann kein Haus aus Häusern bauen, sondern nur aus besonders geformten Steinen, keinen Baum aus Bäumen erwachsen lassen, sondern nur aus differenzierten Zellen. Diese Formulierung scheint mir den Gegensatz der beiden Parteien deshalb so weitgreifend zu umschreiben, weil sie ihn über die übliche Reduktion auf Egoismus und Altruismus vollkommen hinausführt. Denn einerseits freilich erscheint das Ganzheitsstreben des einzelnen als Egoismus, dem der Altruismus seiner Einordnung als einseitig geformten sozialen Gliedes gegenübersteht; andrerseits aber ist dieses Verlangen der Gesellschaft ein Egoismus, eine Vergewaltigung des Einzelnen durch die Vielen und ihren Nutzen, die jenen oft zu einer völligen Vereinseitigung und Verkümmerung bringt; und daß das Individuum darauf drängt, sich in sich zu vollenden, braucht keineswegs als Egoismus zu gelten, sondern kann ein objektives Ideal sein, bei dem durchaus nicht nach seinem Erfolg für das Glück und die im engeren Sinne persönlichen Interessen des Subjekts gefragt wird, ein überpersönlicher Wert, der sich an der Persönlichkeit verwirklicht.
Mit dem zuletzt Angedeuteten, sogleich weiter Auszuführenden scheint mir allerdings eine ganz wesentliche Entwicklungsstufe des kulturphilosophischen Bewußtseins erreicht, auf der auch die Ethik des Individuums, und indirekt die der Gesellschaft, ein neues Licht empfängt. Es ist die populäre Meinung, daß alle Absichten, die sich in dem undurchbrochenen Seins- und Interessenkreise des wollenden Individuums selbst halten, egoistischer Natur wären. Diese wäre nur da überwunden, wo der Wille sich auf das Wohl des Du oder der Ge[S. 74]sellschaft richte. In Wirklichkeit aber hat die tiefere Reflexion über die Lebenswerte schon lange ein Drittes festgestellt, am entschiedensten vielleicht bei Goethe und Nietzsche, wenn auch nicht in abstrakter Formulierung: daß die Vollkommenheit des Individuums rein als solche und gleichgültig gegen ihre Bedeutung für irgendwelche andere oder dieser nur zufällig verbunden, ein objektiver Wert sei, der sich aber auch ebenso unabhängig gegen den eigenen Glücks- oder Unglückszustand dieses Individuums stellen kann. Was ein Mensch nach Kraft und Vornehmheit, nach Leistungen und Harmonie der Existenz bedeutet, ist unzählige Male ohne Beziehung dazu, was er selbst oder was andere davon haben. Die Welt ist eben so viel wertvoller dadurch, daß ein in sich wertvolles, in seinem Sein vollkommenes Wesen in ihr lebt. Natürlich besteht solcher Wert unzählige Male in der praktischen Hingebung an Einzelne oder an Gesamtheiten; allein ihn darauf zu beschränken, ist ein willkürliches moralistisches Dogma. Auch gibt es eine Schönheit und Perfektion des Daseins, ein Arbeiten an sich selbst, eine leidenschaftliche Bemühung um ideale Güter, welches alles sich in das Gefühl seines Trägers keineswegs immer als Glück fortsetzt. Diese Einstellung, sozusagen von dem weltmäßigen Wert her, setzt doch nur eine entsprechende des individuellen Bewußtseins fort. Jeder höhere Mensch begehrt unzählige Male Zustände und Geschehnisse, Erkenntnisse und Werke, in deren So-Sein und Dasein er ein definitiv befriedigendes Ziel sieht. Gelegentlich mag Förderung oder Befinden Anderer solchen Willensinhalt ausmachen; notwendig aber ist dies nicht, die Sache selbst wird gewollt, nur um ihrer eigenen Verwirklichung willen, und andere daher ebenso zu opfern wie sich selbst, ist kein zu hoher Preis: jenes fiat justitia pereat mundus oder die Erfüllung des göttlichen Willens, bloß weil es der göttliche ist, der Fanatismus des Künstlers, den die Vollendung seines Werkes jede altruistische wie egoistische Rücksicht vergessen[S. 75] macht, oder der politische Idealist, den die Begeisterung für eine Verfassungsform ganz gleichgültig dagegen macht, wie sich die Individuen dabei befinden — alles dies sind Beispiele für jene, bis zu ganz unscheinbaren Inhalten herabgehende, rein objektive Wertung. Das handelnde Subjekt weiß sich selbst nur als den eigentlich zufälligen Gegenstand oder Vollbringer dieses Auftrags von der Sache her; die Leidenschaft für sie fragt hier so wenig nach dem Ich, dem Du, der Gesellschaft als solcher, wie der Wert des Weltzustandes sich etwa ausschließlich (wenn auch natürlich zum Teil) an deren Lust oder Leid messen läßt. Aber es liegt auf der Hand, daß die von Personen und Gesamtheiten, soweit sie sich als letzte Wertinstanzen fühlen, herkommenden Ansprüche mit diesen objektiven nicht ohne weiteres zusammengehen. Insbesondere, wo der Einzelne einen solchen objektiven Wert an sich selbst oder einem sozial nicht geschätzten Werk herzustellen strebt, ist es der Gesellschaft höchst gleichgültig, daß er dabei durchaus überegoistisch verfährt. Sie fordert ihn für sich und will ihn in die ihrer Ganzheit einfügsame Form bringen, oft in so harter Unverträglichkeit mit derjenigen, die er als objektiven Wert sich selbst abverlangt, wie sie nur zwischen einem rein egoistischen und einem sozialen Anspruch bestehen mag. Die mit jenen Wertungen erreichte Stufe hat freilich den Gegensatz von Egoismus und Altruismus hinter sich gelassen; aber der zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft versöhnt sich prinzipiell auch auf ihr nicht.
Einen verwandten und doch nach der letzten, weltanschaulichen Gesinnung anders orientierten Gegensatz läßt die moderne Auseinanderlegung der soziologischen Begriffe oft um dieselben materiellen Inhalte spielen. Die Gesellschaft — und ihr Repräsentant im Einzelnen, das sozial-sittliche Gewissen — verlangt unzählige Male ein Spezialistentum, das nicht nur, wie hervorgehoben, die harmonische Totalität des Menschen[S. 76] unentwickelt läßt oder zerstört; sondern inhaltlich stellt jenes sich oft ebenso feindlich zu den Eigenschaften, die man die allgemein menschlichen zu nennen pflegt. Den Unterschied zwischen dem Menschheitsinteresse und dem sozialen Interesse hat, wie es scheint, zuerst Nietzsche mit prinzipieller Deutlichkeit gefühlt. Die Gesellschaft ist eine der Formungen, in die die Menschheit die Inhalte ihres Lebens bringt; aber weder ist sie für diese alle wesentlich, noch ist sie die einzige, innerhalb deren die Entwicklung des Menschlichen sich vollzieht. Alle rein sachlichen Bedeutsamkeiten, an denen unsere Seele irgendwie teilhat, die logische Erkenntnis und die metaphysische Phantasie über die Dinge, die Schönheit des Daseins und sein Bild in der Selbstherrlichkeit der Kunst, das Reich der Religion und der Natur — alles dies, soweit es zu unserem Besitz wird, hat innerlich und seinem Wesen nach mit „Gesellschaft“ nicht das mindeste zu schaffen; die Menschheitswerte, die sich an unserem größeren oder geringeren Besitz innerhalb dieser idealen Welten messen, haben zu den sozialen Werten, mit denen sie sich freilich oft genug kreuzen, eine nur zufällige Beziehung. Andrerseits sind die rein personalen Eigenschaften: Kraft und Schönheit, Denktiefe und Gesinnungsgröße, Milde und Vornehmheit, Mut und Herzensreinheit — von einer autonomen Bedeutung, die von ihren sozialen Verflechtungen völlig unabhängig ist. Es sind Werte des menschlichen Seins und als solche von den sozialen Werten, die immer auf den Wirkungen von Personen beruhen, durchaus getrennt; sie sind freilich zugleich Elemente des sozialen Geschehens, als Wirkungen wie als Ursachen, aber dies ist nur eine Seite ihrer Bedeutung, während die andere in der bloßen, nicht über sich hinausweisenden Tatsache ihres Daseins an der Persönlichkeit besteht. Dieses, genau genommen, unmittelbare Sein der Menschen aber ist für Nietzsche der Ort, an dem die jeweilige Höhe des Menschengeschlechts sich erhebt. Ihm sind alle gesellschaftli[S. 77]chen Institutionen, alles Geben und Nehmen des Individuums, wodurch es zum Sozialwesen wird, nur Vorbedingungen oder Folgen der Beschaffenheitswerte des Einzelnen, mit denen er eine Stufe der Menschheitsentwicklung ausmacht. Alle utilitarisch-soziale Wertung hängt nicht ganz von der Eigenbedeutung der Persönlichkeit ab, sondern auch von denen, die sein Tun aufnehmen, sein Wert tritt damit aus ihm heraus, und er empfängt ihn nur zurück als den Reflex von Vorgängen und Gebilden, in denen sich seine Eigenheit mit ihm äußeren Wesen und Umständen gemischt hat. Daraufhin hat schon die Ethik, vor allem die Kantische, den Schätzungsgrund des Menschen von seinem Tun in seine Gesinnung zurückverlegt: der gute Wille, eine nicht näher zu beschreibende Beschaffenheit des letzten Quellpunktes unseres Handelns, hinter aller Erscheinung des letzteren stehend, mache unseren Wert aus, während diese Erscheinung selbst und mit ihr alle Wirksamkeiten schon eine bloße Folge seien, die jenes Wesentliche bald richtig ausdrücke, bald verzerre und so von den Mächten der Phänomenalität in ein bloß zufälliges Verhältnis zu dem Grundwert gesetzt werde. Nietzsche hat dies verbreitert oder prinzipieller gefaßt, indem er den Kantischen Gegensatz zwischen Gesinnung und äußeren Taterfolgen, der schon von sich aus den Wert des Individuums aus seiner sozialen Abhängigkeit erlöste, in den zwischen dem Sein und den Wirkungen des Menschen überführte. Das qualitative Sein der Persönlichkeiten aber dokumentiert, wohin es die Entwicklung unserer Art gebracht hat, mit ihren jeweilig höchsten Exemplaren schreitet die Menschheit über ihre Vergangenheit hinaus. Die Grenzen des bloß gesellschaftlichen Daseins, die Wertabmessung des Menschen nach seinen Wirkungen sind damit durchbrochen. Die Menschheit ist so nicht nur ein quantitatives Mehr der Gesellschaft gegenüber, sie ist nicht die Summe aller Gesellschaften, sondern eine völlig eigenartige Synthese derselben Elemente, die in andrer die[S. 78] Gesellschaften ergeben. Dem Individuum gegenüber sind beides gleichsam zwei verschiedene methodische Gesichtspunkte, von denen aus es betrachtet werden kann, die es mit verschiedenen Maßen messen und deren Ansprüche aufs härteste kollidieren können. Was uns mit der Menschheit als Ganzem verbindet und was wir als Beitrag zu ihrer Gesamtentwicklung leisten können: Religiöses und Wissenschaftliches, interfamiliäre und internationale Interessen, die ästhetische Vervollkommnung der Persönlichkeit und die rein sachliche, auf keinerlei „Nutzen“ ausgehende Produktion — alles dies mag gelegentlich auch der Gesellschaft, in die wir historisch hineingewachsen sind, förderlich sein; prinzipiell aber ist es von weit über sie hinwegsehenden Forderungen abhängig, die der Höherbildung und sachlichen Bereicherung des Typus Mensch dienen und sich bis zum Gegensatz gegen die spezielleren Ansprüche zuspitzen, wie sie von der Gruppe, die für uns „die Gesellschaft“ ist, gestellt werden. In vielen andern Beziehungen aber drängt diese Gesellschaft auf ein Nivellement ihrer Mitglieder, innerhalb ihres engeren Kreises schafft sie einen Durchschnitt, über den mit individuellen Besonderheiten der Quantität und Qualität des Lebens hinauszustreben sie ihren Elementen auf das äußerste erschwert. Die Besonderung, die sie dem menschlich Allgemeinen entgegen fordert, verbietet sie gegenüber dem sozial Allgemeinen. So ist die Persönlichkeit von zwei Seiten her bedrängt: die Gesellschaft gibt ihr ein Maß, das sie weder in der Richtung des Allgemeineren, noch in der des Individuelleren überschreiten darf. Diese Konflikte, in die der Einzelne nicht nur seiner politischen Gruppe, sondern auch der Familie wie dem Wirtschaftsverband, der Partei wie der religiösen Gemeinde gegenüber gerät, haben sich schließlich in der neueren Geschichte zu dem sozusagen abstrakten Bedürfnis nach individueller Freiheit sublimiert. Dies ist der Allgemeinbegriff, der das Gemeinsame der mannig[S. 79]fachen Beschwerden und Selbstbehauptungen des Individuums gegenüber der Gesellschaft deckte.
Es ist das 18. Jahrhundert, in dem das Bedürfnis nach Freiheit überhaupt, nach Lösung der Fesseln, mit denen die Gesellschaft als solche das Individuum als solches gebunden hat, seine stärkste Bewußtheit und Wirksamkeit fand. Diese prinzipielle Forderung ist feststellbar in ihrer volkswirtschaftlichen Einkleidung bei den Physiokraten, die die freie Konkurrenz der Einzelinteressen als die natürliche Ordnung der Dinge preisen; in ihrer gefühlsmäßigen Ausgestaltung durch Rousseau, für den die Vergewaltigung des Menschen durch die geschichtlich gewordene Gesellschaft der Ursprung aller Verkümmerung und alles Bösen ist; in ihrer politischen Formung durch die Französische Revolution, die die individuelle Freiheit so ins Absolute steigerte, um den Arbeitern sogar die Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen zu untersagen; in ihrer philosophischen Sublimierung durch Kant und Fichte, die das Ich zum Träger der erkennbaren Welt und seine absolute Autonomie zu dem sittlichen Werte schlechthin machten. Die Unzulänglichkeit der gesellschaftlich gültigen Lebensformen im 18. Jahrhundert im Verhältnis zu den materiellen und geistigen Produktivkräften der Zeit kam den Individuen als eine unerträgliche Bindung ihrer Energien zum Bewußtsein: so die Vorrechte der oberen Stände, wie die despotische Kontrolle von Handel und Wandel, die immer noch mächtigen Reste der Zunftverfassungen wie der unduldsame Zwang des Kirchentums, die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung wie die politische Bevormundung im Staatsleben und die Einengungen der Stadtverfassungen. In der Bedrücktheit durch solche Institutionen, die jedes innere Recht verloren hatten, entstand das Ideal der bloßen Freiheit des Individuums; wenn nur jene Bindungen fielen, die die Kräfte der Persönlichkeit in ihr unnatürliche Bahnen zwängen, so würden[S. 80] alle inneren und äußeren Werte, zu denen die Spannkräfte vorhanden, aber politisch, religiös, wirtschaftlich lahmgelegt waren, sich entfalten und die Gesellschaft aus der Epoche der historischen Unvernunft in die der natürlichen Vernünftigkeit überführen. Weil die Natur all jene Bindungen nicht kannte, erschien das Ideal der Freiheit als das des „natürlichen“ Zustandes. — Versteht man unter Natur das ursprüngliche Sein unserer Gattung und jedes einzelnen Menschen (unbeschadet einer Zweideutigkeit des „Ursprünglichen“: als zeitlich Ersten und als wesenhaft Fundamentalen), an das der Kulturprozeß sich ansetzt —, so suchte das 18. Jahrhundert in einer gewaltigen Synthese den End- oder Höhepunkt dieses Prozesses wieder an seinen Ausgangspunkt zu knüpfen. Die Freiheit des Einzelnen war zu leer und zu schwach, um seine Existenz zu tragen; wenn die historischen Mächte sie nicht mehr erfüllten und stützten, so leistete dies nun die Idee, daß man diese Freiheit nur recht rein und restlos zu gewinnen brauchte, um sich wieder auf dem Urgrund unseres gattungsmäßigen und persönlichen Seins zu befinden, der so sicher und fruchtbar wäre wie die Natur überhaupt.
Dieses Freiheitsbedürfnis des Individuums, das sich durch die geschichtliche Gesellschaft eingeengt und deformiert fühlte, führt aber in seiner Verwirklichung zu einem Selbstwiderspruch. Denn es ist offenbar nur dann dauernd zu realisieren, wenn die Gesellschaft aus lauter gleich starken und innerlich wie äußerlich genau gleich begünstigten Individuen besteht. Da diese Bedingung aber nirgendwo erfüllt ist, vielmehr die machtgebenden und rangbestimmenden Kräfte der Menschen durchaus von vornherein ungleich sind, qualitativ wie quantitativ, so wird jene völlige Freiheit unvermeidlich zum Ausnutzen dieser Ungleichheit seitens der Begünstigten führen, der Klugen gegenüber den Dümmeren, der Starken gegenüber den Schwachen, der Zugreifenden[S. 81] gegenüber den Schüchternen. Sind alle äußeren Hemmnisse beseitigt, so muß die Verschiedenheit der inneren Potenzen sich in einer entsprechenden Verschiedenheit der äußeren Positionen ausdrücken: die Freiheit, die die allgemeine Institution gibt, wird durch die personalen Verhältnisse wieder illusorisch, und da in allen Machtverhältnissen der einmal gewonnene Vorsprung den Gewinn eines weiteren erleichtert — wovon die „Akkumulierung des Kapitals“ nur ein Einzelfall ist —, so wird sich die Ungleichheit der Macht in raschen Progressionen erweitern und die Freiheit des so Bevorzugten immer sich auf Kosten der Freiheit des Unterdrückten entfalten. Aus diesem Grunde war die paradoxe Frage durchaus gerechtfertigt, ob nicht die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel die einzige Bedingung wäre, unter der — die freie Konkurrenz durchzuführen wäre! Nur also, indem man dem Einzelnen die Möglichkeit gewaltsam nimmt, seine eventuelle Überlegenheit über den Niederen voll auszunutzen, kann ein überall gleiches Maß von Freiheit in der Gesellschaft herrschen. Darum ist es unter Voraussetzung dieses Ideals nicht richtig, daß der Sozialismus die Aufhebung der Freiheit bedeute. Er hebt vielmehr nur dasjenige auf, was bei gegebener Freiheit zum Mittel wird, die Freiheit der einen zugunsten der andern zu unterdrücken: den Privatbesitz, der nicht nur zum Ausdruck, sondern sogar zum Multiplikator der individuell verschiedenen Kräfte wird und diese Verschiedenheit so lange zu steigern vermag, bis sich — in radikalem Ausdruck — an dem einen Pol der Gesellschaft ein Maximum von Freiheit, an dem andern ein Minimum gesammelt hat. Die volle Freiheit eines jeden kann nur bei voller Gleichheit mit jedem andern statthaben. Diese aber ist nicht nur im ganz Persönlichen unerreichbar, sondern auch im Ökonomischen, solange dieses die Ausnutzung persönlicher Überlegenheiten gestattet. Erst indem diese Möglichkeit ausgeschaltet, d. h. der Privatbesitz an Produktions[S. 82]mitteln aufgehoben wird, ist hier Gleichheit möglich, und also die von der Ungleichheit nicht abtrennbare Schranke der Freiheit beseitigt. Unleugbar tritt gerade an dieser „Möglichkeit“ die tiefe Antinomie von Freiheit und Gleichheit hervor, da sie nur durch die Versenkung beider in das Negative der Besitz- und Machtlosigkeit zu lösen ist. Es scheint, als ob damals nur Goethe sie klar durchschaut hätte: die Gleichheit, sagt er, verlange Subordinierung unter eine allgemeine Norm, die Freiheit „strebe ins Unbedingte“; „Gesetzgeber oder Revolutionärs, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatans“. Es war vielleicht ein Instinkt für diesen Sachverhalt, der der Freiheit und Gleichheit als dritte Forderung die Brüderlichkeit hinzufügen ließ. Denn verwirft man das Mittel des Zwanges, um den Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit aufzuheben, so führt nur der ausdrückliche Altruismus zu demselben Erfolge: nur durch sittlichen Verzicht auf das Geltendmachen natürlicher Vorzüge wäre die Gleichheit wiederherzustellen, nachdem die Freiheit sie vernichtet hätte. Im übrigen aber ist der typische Individualismus des 18. Jahrhunderts gegen diese innere Schwierigkeit der Freiheit völlig blind. Jene ständischen, zünftigen, kirchlichen, geistigen Bindungen, gegen die er sich wehrte, hatten unzählige Ungleichheiten zwischen den Menschen geschaffen, deren Ungerechtigkeit und deren nur äußerlich-historischen Ursprung man empfand. So schloß man, daß die Beseitigung der Institutionen, mit der diese Ungleichheiten fallen müßten, alle Ungleichheiten überhaupt aus der Welt schaffen würde. Freiheit und Gleichheit erschienen als die selbstverständlich harmonischen Seiten eines einzigen Menschheitsideals.
Dies wurde nun noch von einer tieferen geschichtlichen Strömung getragen: von dem eigentümlichen Naturbegriff in dem Geiste jener Zeit. Das 18. Jahrhundert war[S. 83] in seinen theoretischen Interessen durchaus naturwissenschaftlich orientiert: es hat, die Arbeit des 17. fortsetzend, den modernen Begriff des Naturgesetzes als das höchste Erkenntnisideal statuiert. Für dieses aber verschwindet die eigentliche Individualität, das Unvergleichliche, Unauflösliche des einzelnen Daseins. Hier besteht nur das allgemeine Gesetz, und jede Erscheinung, ein Mensch oder ein Nebelfleck in der Milchstraße, ist nur ein einzelner Fall desselben, ist selbst bei völliger Unwiederholtheit seiner Form ein bloßer Schnittpunkt und auflösbares Zusammen schlechthin allgemeiner Gesetzesbegriffe. So mindestens verstand man damals die „Natur“ — nur die Dichter verstanden sie anders. Darum steht der allgemeine Mensch, der Mensch überhaupt, im Interessenzentrum dieser Zeit, statt des historisch gegebenen, des besonderen und differenzierten. Dieser letztere ist prinzipiell auf jenen reduziert, in jeder individuellen Person lebt als ihr Wesentliches jener allgemeine Mensch, wie jedes noch so besonders gestaltete Stück Materie doch in seinem Wesen die durchgehenden Gesetze der Materie überhaupt darstellt. Damit aber ergibt sich zugleich das Recht, Freiheit und Gleichheit von vornherein zueinander gehören zu lassen. Denn wenn das Allgemeinmenschliche, sozusagen das Naturgesetz Mensch, als der wesentliche Kern in jedem, durch empirische Eigenschaften, gesellschaftliche Stellung, zufällige Bildung individualisierten Menschen besteht, so braucht man ihn eben nur von all diesen historischen, sein tiefstes Wesen überdeckenden Einflüssen und Ablenkungen zu befreien, damit als dieses Wesen das allen Gemeinsame, der Mensch als solcher, an ihm hervortrete. Hier liegt der Drehpunkt dieses Individualitätsbegriffes, der zu den großen geistesgeschichtlichen Kategorien gehört: wenn der Mensch von allem, was nicht ganz er selbst ist, befreit wird, wenn er sich selbst gefunden hat, so verbleibt als die eigentliche Substanz seines Daseins der Mensch schlechthin, die[S. 84] Menschheit, die in ihm wie in jedem andern lebt, das immer gleiche Grundwesen, das nur empirisch-historisch verkleidet, verkleinert, entstellt ist. Wenn Freiheit bedeutet, daß sich in der ganzen Peripherie des Daseins das zentrale Ich unbehindert und restlos ausdrückt, daß der Punkt des unbedingten Selbst im Menschen die Alleinherrschaft über seine Existenz besitzt, so ist dies nun derjenige, in dem alle Menschen wesentlich gleich sind, der reine Begriff der Menschheit, das Allgemeine, gegen das alle unterschiedene Individualität etwas Äußerlich-Zufälliges ist. Diese Bedeutung des Allgemeinen ist es, aus der heraus die Literatur der Revolutionszeit fortwährend von dem Volke, dem Tyrannen, der Freiheit ganz im allgemeinen spricht; derentwegen die „natürliche Religion“ eine Vorsehung überhaupt, eine Gerechtigkeit überhaupt, eine göttliche Erziehung überhaupt hat, ohne das Recht besonderer Gestaltungen dieses Allgemeinen anzuerkennen; derentwegen das „Naturrecht“ auf der Fiktion isolierter und gleichartiger Individuen beruht. Für diese Anschauung zergeht die Gemeinsamkeit im Sinne der Kollektiveinheit — der kirchlichen oder wirtschaftlichen, der ständischen oder der staatlichen (da dem Staate nur die negative Funktion des Schutzes, des Abhaltens von Störungen zukommt); es bleibt der auf sich ruhende, individuell freie Einzelmensch, und an die Stelle jener historisch-sozialen Gemeinsamkeiten tritt die Überzeugung von der Allgemeinheit der Menschennatur, die als das Wesentliche, Unverlierbare, immer Identifizierbare in jedem subsistiert, nur aufgefunden und an ihm aufgedeckt zu werden braucht, damit er vollkommen sei. Und wie sie jene Isolierung der Individuen mildert und erträglich macht, so macht sie ebenso die Freiheit sittlich möglich, indem sie die Entwicklung der Ungleichheit, die unvermeidliche Konsequenz dieser, von der Wurzel her abzuschneiden scheint. Darum kann Friedrich der Große den Fürsten als[S. 85] „den ersten Richter, den ersten Finanzmann, den ersten Minister der Gesellschaft“ bezeichnen, in demselben Atem aber als „einen Menschen wie den geringsten seiner Untertanen“. Mit alledem überträgt sich die soziologische Antinomie, von der ich ausging, in die Paradoxe der Moral: daß sie die innerste, eigenste Bewegtheit des Menschen ist und zugleich den Verzicht auf das Selbst fordert; und in die der Religion: wer seine Seele verliert, der wird sie gewinnen.
In der Philosophie Kants erlangt dieser Begriff der Individualität seine höchste intellektuelle Sublimierung. Alles Erkennen, so lehrt er, kommt zustande, indem die an sich zusammenhangslose Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zu Einheiten geformt wird. Dies ist dadurch möglich, daß der Intellekt, in dem dies sich abspielt, selbst eine Einheit, ein Ich ist. Daß wir statt vorüberhuschender Empfindungen ein Bewußtsein von Gegenständen haben, ist der Ausdruck der Vereinheitlichung, die unser Ich an jenen vornimmt, das Objekt ist das Gegenbild des Subjekts. So wird das Ich — nicht das zufällige, psychologische, individuelle, sondern das fundamentale, schöpferische, unwandelbare — zum Träger und Produzenten der Objektivität; die Erkenntnis ist in dem Maße objektiv wahr, sachlich notwendig, in dem sie von jenem reinen Ich, von der letzten Instanz in der erkennenden Seele, geformt wird. Aus dieser unerschütterlichen Voraussetzung der einen Wahrheit, der einen objektiven Welt, folgt deshalb, daß in allen Menschen das Ich, das jene bildet oder bilden könnte, immer das gleiche sein muß. So ist der Kantische Idealismus, der die erkennbare Welt zum Produkte des Ich macht und zugleich an der Einzigkeit und Immergleichheit der wahren Erkenntnis festhält, ein Ausdruck jenes Individualismus, der in allem, was Mensch ist, den unbedingt gleichen Kern sieht, der das im Tiefsten Produktive in uns allen für ebenso gleichartig — wenn auch nicht immer gleich entwickelt[S. 86] und erscheinend — halten muß, wie die erkannte Welt, die für jeden, der Mensch ist, dieselbe ist. — In derselben Tiefe, in der für Kant aus der Gleichheit der Ichs die Gleichheit ihrer Welten erwächst, wurzelt ihm ihre Freiheit. Das Ich des Idealismus, als dessen Vorstellung allein eine Welt gegeben sein kann, verkörpert die absolute Unabhängigkeit der Person von allen Bedingungen und Bestimmungen außerhalb ihrer. Indem das Ich alle bewußten Daseinsinhalte formt, darunter auch das empirische Ich, kann es nicht selbst wieder von irgendwelchen unter ihnen geformt werden. Aus allen Verflechtungen mit der Natur, mit einem Du, mit der Gesellschaft hat das Ich hier seine absolute Souveränität herausgewonnen, es steht so sehr auf sich selbst, daß sogar seine Welt noch auf ihm stehen kann. Dieses Ich müssen alle geschichtlichen Mächte schon gewähren lassen, da es überhaupt nichts über sich, ja, nichts neben sich hat und seinem Begriffe nach keinen andern Weg gehen kann, als den seine eigene Wesensform ihm vorzeichnet. Indem diese Epoche die von aller Bindung und Sonderbestimmung gelöste und deshalb immer gleiche Individualität: das Abstraktum Mensch — zur letzten Substanz der Persönlichkeit macht, steigert sie jenes Abstraktum zugleich zum letzten Werte dieser. Der Mensch, sagt Kant, ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in ihm ist heilig. Und Schiller: „Der Idealist denkt von der Menschheit so groß, daß er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten.“ Für Rousseau, der gewiß ein starkes Gefühl für die individuellen Verschiedenheiten hat, liegen diese dennoch auf der Oberfläche: je mehr der Mensch zu seinem eigenen Herzen zurückkehrt, statt der äußeren Relationen seine innere Absolutheit erfaßt, um so stärker fließt in ihm, d. h. in jedem gleichmäßig, die Quelle der Güte und des Glücks. Wenn so der Mensch wirklich er selbst ist, besitzt er eine gesammelte Kraft, die für mehr als seine Selbsterhaltung ausreicht und die[S. 87] er sozusagen auf andere überströmen kann, durch die er die andern in sich aufnehmen, mit sich identifizieren kann: wir sind also um so sittlich wertvoller, um so mitleidiger und gütiger, je mehr jeder nur er selbst ist, d. h. je mehr er jenen innersten Kern in sich souverän werden läßt, in dem alle Menschen, jenseits der Verworrenheit ihrer gesellschaftlichen Bindungen und zufälligen Einkleidungen, identisch sind. Indem das echte Individuum mehr ist als die empirische Individualität, hat es in diesem Mehr die Möglichkeit, abzugeben, seinen empirischen Egoismus zu übergreifen. Der Naturbegriff bildet hier zugleich den Knotenpunkt zwischen Natur und Ethik; seine Doppelrolle im 18. Jahrhundert kommt in Rousseau zum stärksten Ausdruck. Ich wies auf ihre Bedeutung für das Individualitätsproblem schon hin: die Natur ist nicht nur das, was eigentlich allein ist, das Substantielle in allem Flackern und Wirbeln der Geschichte, sondern sie ist zugleich das Seinsollende, das Ideal, um dessen wachsende Verwirklichung es sich erst handelt. Dies kann als widerspruchsvoll erscheinen: daß das wahrhaft Seiende ein erst noch zu erreichendes Ziel sein solle. Tatsächlich aber sind dies die beiden Seiten eines einheitlich-psychologischen Verhaltens zu mehr als einem von unseren Wertbegriffen, das wir nicht anders als in jener für die Logik nicht kommensurabeln Zweiheit ausdrücken können. Und gerade in der Besonderung zu dem Ichproblem wird die Doppelbedeutung des „Natürlichen“ am ehesten nachfühlbar. Wir fühlen in uns eine letzte Realität, die das Wesen unseres Wesens bildet und mit der sich dennoch unsere empirische Wirklichkeit nur sehr unvollkommen deckt — keineswegs nur ein über der letzteren schwebendes, phantasiehaftes Ideal, sondern in irgendeiner Form doch schon daseiend, wie mit ideellen Linien in unsere Existenz eingezeichnet, aber doch die Norm für diese enthaltend, der vollen Herausarbeitung und Ausgestaltung in dem Material unseres Daseins erst harrend.[S. 88] Im 18. Jahrhundert wird diese Empfindung höchst mächtig: daß das Ich, welches wir ja schon sind, doch ein erst zu erarbeitendes sei — weil wir es eben nicht rein und absolut sind, sondern in Verhüllungen und Entstellungen durch unsere geschichtlich-gesellschaftlichen Schicksale; und daß diese Normierung des Ich durch das Ich sittlich gerechtfertigt sei, weil jenes ideale, im höheren Sinne wirkliche Ich das allgemein menschliche sei und durch seine Erreichung die wahre Gleichheit unter allem, was Mensch ist, erreicht werde. Ganz erschöpfend hat Schiller das ausgedrückt: „Jeder individuelle Mensch trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen, idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist. Dieser reine Mensch gibt sich, mehr oder weniger deutlich, in jedem Subjekt zu erkennen.“
Die Formel des „kategorischen Imperativ“, in die Kant unsere sittliche Aufgabe zusammenfaßt, ist die tiefsinnigste Ausgestaltung dieses Begriffes der Individualität. Er stellt zuerst den ganzen moralischen Wert des Menschen auf die Freiheit. Solange wir Teile des Mechanismus der Welt, die gesellschaftliche eingeschlossen, sind, haben wir so wenig „Wert“ wie die ziehende Wolke oder das verwitternde Gestein. Erst indem wir aus einem bloßen Produkt und Schnittpunkt äußerer Kräfte zu einem aus dem eigenen Ich heraus entwickelten Wesen werden, können wir verantwortlich sein und damit ebenso die Möglichkeit der Schuld wie die des sittlichen Wertes erwerben. Innerhalb des natürlich-gesellschaftlichen Kosmos gibt es kein „Fürsichsein“, keine „Persönlichkeit“: wenn wir uns aber auf die absolute Freiheit stellen — das metaphysische Gegenbild des laissez faire — gewinnen wir zugleich Persönlichkeit und die Würde des Sittlichen. Was aber das Sittliche sei, drückt der „kategorische Imperativ“ aus: „Handle so, daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer all[S. 89]gemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Hiermit ist das Ideal der Gleichheit zum Sinne alles Sollens geworden. Aller selbstschmeichlerischen Einbildung ist vorgebeugt, als sei man zu einem ganz besonderen Handeln und Genießen berechtigt, weil man „anders als die andern“ sei: die sittliche Rechtsprechung „ohne Ansehen der Person“, die Gleichheit vor dem moralischen Gesetz ist in der Forderung vollendet, daß die eigene Handlung widerspruchslos als die notwendige Handlungsweise Aller gedacht werden könne. Die Freiheit, als der Quell aller Sittlichkeit, erhält ihren Inhalt an der Gleichheit, die absolut auf sich allein stehende, selbstverantwortliche Persönlichkeit ist eben diejenige, deren Handeln durch die prinzipiell gleiche Berechtigung aller zu ebendemselben sittlich legitimiert wird. Nicht nur: allein der freie Mensch ist sittlich, sondern: allein der sittliche Mensch ist frei, — weil nur sein Handeln jene allgemeine Gesetzlichkeit besitzt, die ausschließlich an dem unbeeinflußten, auf sich allein stehenden Ich wirklich ist. Dadurch hat der Individualitätsbegriff des 18. Jahrhunderts: die persönliche Freiheit, die die Gleichheit nicht aus-, sondern einschließt, weil die wahre „Person“ in jedem zufälligen Menschen eben die gleiche ist, — in Kant seine abstrakte Vollendung gefunden.
Im 19. Jahrhundert nun geht dieser in zwei Ideale auseinander, die man, ganz roh und vieler Einschränkungen bedürftig, als die Tendenz auf Gleichheit ohne Freiheit und auf Freiheit ohne Gleichheit bezeichnen könnte. Die erstere durchzieht den Sozialismus, freilich ohne ihn zu erschöpfen, aber doch mit tieferer Bedeutung, als seine meisten Vertreter zugeben; indem diese die mechanische Gleichmacherei energisch ablehnen, täuschen sie sich über die Rolle, die der Gleichheitsgedanke immer als Träger sozialistischer Idealbildung spielen wird. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel mag, wie ich schon hervorhob, viele individuelle[S. 90] Unterschiede zur Geltung bringen, die jetzt durch die Einrangierung in ein Klassenniveau, durch mangelhafte Ausbildung, durch Arbeitsübermaß, durch Not und Sorge verkümmern. Dennoch würde dem jetzigen Zustand gegenüber das Ausschalten der unverdienten Bevorzugungen und Zurücksetzungen durch Geburt, Konjunkturen, Kapitalansammlung, Verschiedenwertung des gleichen Arbeitsquantums usw. jedenfalls zur erheblichsten Nivellierung der ökonomischen Lagen führen. Und gemäß der strengen Abhängigkeit, die gerade für die sozialistische Theorie zwischen dem wirtschaftlichen und dem gesamten geistigen Status herrscht, müßte die relative Ausgleichung in jenem ihr Gegenbild in einer umfassenden personalen finden. Die Hauptsache aber ist, daß die je nach den Programmen verschiedenen Nivellierungsmaße doch nur die Oszillationen der Theorie um die Tatsache des Gleichheitsideales bedeuten, die zu den großen charakterologischen Bestimmtheiten der Menschheit gehört. Es wird immer einen Typus von Personen geben, deren soziale Wertgedanken mit der Gleichheit Aller schlechthin abschließen, so nebelhaft und gar nicht im einzelnen ausdenkbar dieses Ideal sei — gerade wie für einen andern Typus die Unterschiede und Distanzen einen letzten unreduzierbaren, durch sich selbst gerechtfertigten Wert der gesellschaftlichen Existenzform ausmachen. Wenn nun freilich einer der führenden Sozialisten behauptet, alle sozialistischen Maßregeln, auch die äußerlich sich als Zwänge darstellen, gingen auf Ausbildung und Sicherung der freien Persönlichkeit, zum Beispiel bedeute der Maximalarbeitstag nur das Verbot, auf die persönliche Freiheit für länger als eine bestimmte Zahl von Stunden zu verzichten, stünde also prinzipiell dem Verbote gleich, sich dauernd in persönliche Knechtschaft zu verkaufen — so zeigt das, daß er noch innerhalb des Individualismus des 18. Jahrhunderts und seines schematischen Freiheitsbegriffes steht. Vielleicht ist kein empirischer Mensch aus[S. 91]schließlich von der einen oder von der andern jener beiden Tendenzen geleitet, vielleicht würde auch die absolute Verwirklichung der einen oder der andern etwas ganz Unmögliches sein; das hindert nicht, daß sie die Grundtypen der Charakterverschiedenheiten in ihrer gesellschaftlichen Äußerungsweise sind. Wo eine von beiden einmal besteht, wird man ihren Träger durch verstandesmäßige Gründe nicht umstimmen; denn solche Tendenz geht nicht aus Zweckmäßigkeitsüberlegungen um eines höheren Endzweckes willen — z. B. des allgemeinen Glückes der der personalen Vervollkommnung oder der Rationalisierung des Lebens — hervor, so oft sie sich auch für das nachträgliche Bewußtsein so darstellen wird. Sie ist vielmehr selbst die letzte Instanz, auf der sich dann erst alle andern Absichten, Entscheidungen, Deduktionen aufbauen; in ihr drückt sich das Sein des Menschen, die Substanz seines Wesens aus. Sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen ist für ihn etwas zu Wichtiges, Weitgreifendes, Fundamentales, als daß nicht die Entscheidung, ob er ihnen gleich oder ungleich ist, sein will oder sein soll — im einzelnen wie im Prinzip — aus seinem tiefsten Wesensgrund kommen müßte. Aus den Naturen, die in dieser Weise dem ganz allgemeinen Gleichheitsideal zu tendieren, scheint mir der Sozialismus seine meisten, jedenfalls seine fanatischsten Anhänger zu beziehen. — Das Verhältnis nun, das die relative Gleichheit eines sozialisierten Zustandes zu der Freiheit zeigen würde, ist ein sehr kompliziertes. Es unterliegt einer typischen Zweideutigkeit, mit der die Differenzierung der Klassen sehr oft einheitliche, die Gesamtheit treffende Einflüsse oder Umgestaltungen heimsucht: indem nämlich die Ausbildungsstufe und die Lebensbedingungen der Gruppenteile äußerst verschiedenartig sind, wird eine gemeinsame Modifikation des Daseins an diesen Teilen äußerst verschiedenartige, ja, diametral entgegengesetzte Erfolge auslösen. Ebendasselbe Maß allge[S. 92]meiner Egalisierung, das dem unter der fortwährenden Hungerchance lebenden, von den Härten der Lohnarbeit bedrückten Arbeiter ein sehr hohes Maß von Freiheit gewähren würde, müßte für den Unternehmer, den Rentier, den Künstler, den Gelehrten, für die führenden Persönlichkeiten der jetzigen Ordnung eine mindestens ebenso erhebliche Einschränkung ihrer Freiheit bedeuten. Es ist ein formal entsprechender soziologischer Dualismus, der die Frauenfrage spaltet: dieselbe Freiheit zu wirtschaftlicher Produktivität, die von Frauen der höheren Stände ersehnt wird, damit sie zu fundierter Selbständigkeit und befriedigender Kraftbewährung kämen — eben diese ist für die Fabrikarbeiterin die fürchterliche Hemmung, ihren Pflichten und ihrem Glück als Frau und Mutter nachzugehen. Die Aufhebung der häuslich-familiären Umschränktheit läuft, auf zwei klassenmäßig verschiedene Schichten treffend, in eine völlige Wertverschiedenheit ihrer Erfolge aus. Diese Umbiegung hat also die Synthese von Freiheit und Gleichheit in der sozialistischen Strömung erlitten: der Akzent ist auf die Gleichheit gerückt, und nur daß diese von der Klasse, deren Interessen der Sozialismus vertritt, im ersten Augenblick als Freiheit empfunden werden würde, hat dieser Partei den Antagonismus beider Ideale ferngestellt.
Nun könnte freilich die Freiheitseinbuße, die der Sozialismus gewissen gesellschaftlichen Schichten auferlegen würde, nur eine Übergangserscheinung sein, nur so lange bestehend, wie die Nachwirkungen des jetzigen Zustandes noch Unterschiedsempfindungen Raum geben. Gegenüber den oben berührten Schwierigkeiten für die Vereinigung von Freiheit und Gleichheit bleibt dem Sozialismus überhaupt nichts übrig, als auf eine Anpassung an die Gleichheit zu rekurrieren, die als Gesamtbefriedigung auch die über sie hinausgehenden Freiheitswünsche zurückbildete. Indes ist das Anrufen der[S. 93] allaushelfenden Anpassung schon deshalb bedenklich, weil sie sich jeder gegenteiligen Chance nicht weniger bereitwillig leiht. Nicht weniger plausibel könnte man behaupten, daß die auf soziale Differenzen ausgehenden Freiheitsinstinkte sich an jede Verminderung des absoluten Quantums dieser Differenzen anpassen könnten. Da unsere Empfindungen von Natur auf Reizunterschiede angewiesen sind, so würden, nach einer kurzen Anpassungsperiode, die individuellen Unterschiede an die geringen Lagedifferenzen, die selbst der sozialisierteste Zustand nicht beseitigen kann, die ganz unverminderten Leidenschaften des Begehrens und des Neides, der Herrschaft und des Unterdrücktheitsgefühles knüpfen. Die Ausübung der Freiheit auf Kosten anderer fände, angesichts jener psychologischen Struktur des Menschen, selbst bei der äußersten erreichbaren Gleichheit ein unvermindert ergiebiges Ausbreitungsfeld. Und wenn man selbst die Gleichheit nur in dem Sinne der Gerechtigkeit verstünde: daß die sozialen Einrichtungen einem jeden sein Freiheitsquantum nicht mit mechanischer Immergleichheit, sondern genau im Verhältnis seiner qualitativen Bedeutung zumäßen — so würde dies doch unrealisierbar sein, und zwar auf Grund einer selten hervorgehobenen Tatsache, die indes für das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft von der tiefsten Bedeutsamkeit ist. Während jedes gesellschaftliche Leben eine Stufenfolge von Über- und Unterordnungen — schon aus technischen Gründen — fordert, und unter dieser Voraussetzung Gleichheit im Sinne der Gerechtigkeit nur bedeuten kann, daß die persönliche Qualifikation und die Stelle auf jener Skala sich genau entsprechen — ist diese Proportion überhaupt und prinzipiell unmöglich, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde: daß es immer mehr Personen gibt, die zu übergeordneten Stellungen befähigt sind, als es übergeordnete Stellungen gibt. Von den Millionen Untertanen eines Fürsten[S. 94] gibt es sicher eine große Anzahl, die ebenso gute oder bessere Fürsten sein würden; von den Arbeitern einer Fabrik sehr viele, die ebensogut Unternehmer oder wenigstens Werkführer sein könnten; von den gemeinen Soldaten sehr viele, die die volle, wenngleich latente Qualifikation zum Offizier haben. Hierin liegt die Beobachtungswahrheit des Sprichwortes: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu. Der zur Ausfüllung höherer Stellungen erforderte „Verstand“ ist eben bei vielen Menschen vorhanden, aber er bewährt, entwickelt, offenbart sich erst, wenn sie diese Stellungen einnehmen. Bedenkt man die barocken Zufälle, durch die die Menschen auf allen Gebieten in ihre Positionen gelangen, so wäre es ein unbegreifliches Wunder, daß nicht eine sehr viel größere als die tatsächliche Summe von Unfähigkeit in der Ausfüllung derselben hervortritt, wenn man nicht annehmen müßte, daß eben die Fähigkeiten zu den Stellungen in sehr großer Verbreitung vorhanden sind. Diese Inkommensurabilität zwischen dem Quantum der Befähigungen zur Überordnung und dem ihrer möglichen Betätigung erklärt sich vielleicht aus dem Unterschiede zwischen dem Charakter der Menschen als Gruppenwesen und als Individuen, den diese Blätter zuvor erörtert haben. Die Gruppe als solche ist niedrig und führungsbedürftig, weil die Individuen im ganzen nur die Allen gemeinsamen Seiten ihrer Persönlichkeit in sie hineingeben; welches immer die gröberen, primitiveren, „untergeordneten“ sind. Sobald also überhaupt gruppenmäßige Vereinigungen stattfinden, ist es zweckmäßig, daß die ganze Masse sich in der Form der Unterordnung unter Wenige organisiere. Das verhindert aber nicht, daß jeder einzelne aus dieser Masse für sich höhere, feinere Eigenschaften besitze. Nur sind diese individueller, gehen nach verschiedenen Seiten über den Gemeinbesitz hinaus und helfen deshalb der Niedrigkeit derjenigen Qualitäten nicht auf, in denen sich[S. 95] alle mit Sicherheit begegnen. Aus diesem Verhältnis folgt, daß die Gruppe als Ganzes des Führers bedarf, es also nur viele Untergeordnete und nur wenig Übergeordnete geben kann, andrerseits aber jeder einzelne aus der Gruppe höher qualifiziert bzw. öfter zu einer führenden Stellung „berufen“ ist, als er als Gruppenelement realisieren kann. Auch in der sozialen Struktur geht es nach dem Grundsatz zu: Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Mit dieser Antinomie findet sich das ständische Prinzip und die jetzige Ordnung ab, indem sie Klassen pyramidenförmig mit immer geringerer Mitgliederzahl übereinanderbauen und dadurch die Zahl der zu leitenden Stellungen „Qualifizierten“ a priori einschränken. Da es bei Gleichberechtigung aller zu allen Stellen unmöglich wäre, jeden berechtigten Anspruch zu erfüllen, so trifft die ständische und klassenmäßige Ordnung eine von vornherein beschränkende Auswahl, die sich gar nicht nach den Individuen richtet, sondern umgekehrt die Individuen präjudiziert. Ob eine sozialistische Ordnung schließlich ohne ein solches Apriori für Über- und Unterordnung auskommen würde, ist fraglich. In ihr soll einerseits, unter Wegfall jeder zufälligen Chance, nur die Begabung über die Erreichung der Positionen entscheiden, andrerseits jede Begabung sich „frei“ entwickeln, d. h. die ihr angemessene Stelle finden, infolgedessen es, nach dem eben Erörterten, mehr Über- als Untergeordnete, mehr Befehlende als Ausführende geben müßte. Bedeutet Freiheit im sozialen Sinn, daß jedes Maß individueller Kraft und Bedeutung sich in dem Mischungsmaß von Führen und Folgen innerhalb der Gruppe adäquat ausdrückt, so ist sie von vornherein ausgeschlossen: den Konflikt zwischen der individuellen Totalität des Menschen und seinem Wesen als Element der Gruppe, der jene Proportion und damit die Synthese von Freiheit und Gleichheit auf der Basis der Gerechtigkeit hindert, kann auch eine sozialistische Verfassung nicht beseitigen, weil[S. 96] er sozusagen zu den logischen Voraussetzungen der Gesellschaft überhaupt gehört.
Ich begnüge mich gegenüber dem vielbehandelten Verhältnis des Sozialismus zur individuellen Freiheit mit diesen fragmentarischen Andeutungen und skizziere jetzt die eigentümliche Form des Individualismus, die die Synthese des 18. Jahrhunderts mit ihrer Gründung der Gleichheit auf die Freiheit und der Freiheit auf die Gleichheit auflöste. An die Stelle jener Gleichheit, die das tiefste Sein der Menschen ausspricht und andrerseits erst realisiert werden soll, setzt sie die Ungleichheit — die, ebenso wie dort die Gleichheit, nur der Freiheit bedürfe, um aus ihrer vielfach bloßen Angelegtheit und Möglichkeit heraustretend, das menschliche Dasein zu bestimmen. Die Freiheit bleibt der Generalnenner, auch bei dieser Entgegengesetztheit ihrer Korrelate. Sobald das Ich im Gefühl der Gleichheit und Allgemeinheit hinreichend erstarkt war, suchte es wieder die Ungleichheit, aber nur die von innen heraus gesetzte. Nachdem die prinzipielle Lösung des Individuums von den verrosteten Ketten der Zunft, des Geburtsstandes, der Kirche vollbracht war, geht sie nun dahin weiter, daß die so verselbständigten Individuen sich auch voneinander unterscheiden wollen: nicht mehr darauf, daß man überhaupt ein freier Einzelner ist, kommt es an, sondern daß man dieser Bestimmte und Unverwechselbare ist. Das moderne Differenzierungsstreben kommt damit zu einer Steigerung, die seine soeben erst gewonnene Form wieder dementiert, ohne daß diese Entgegengesetztheit an der Identität des Grundtriebes irre machen dürfte. Er geht durch die ganze Neuzeit: das Individuum sucht nach sich selber, als ob es sich noch nicht hätte, und ist doch sicher, an seinem Ich den einzig festen Punkt zu haben. Begreiflich genug verlangt es bei der unerhörten Erweiterung des theoretischen und des praktischen Gesichtskreises nach einem solchen immer dringlicher, und kann[S. 97] ihn nun aber in keiner der Seele äußeren Instanz mehr finden. Das Doppelbedürfnis: nach zweifelsfreier Deutlichkeit und nach rätselhafter Unergründlichkeit, durch die geistige Entwicklung des modernen Menschen immer weiter auseinandergetrieben, stillt sich, als wenn es ein einziges wäre, am Ich, an dem Gefühle der Persönlichkeit — freilich kommen auch dem Sozialismus seine psychologischen Hilfskräfte einerseits aus begrifflich demonstrierendem Rationalismus, andrerseits aus ganz dunkeln, vielleicht atavistisch-kommunistischen Instinkten. Alle Verhältnisse zu Andern sind so schließlich nur Stationen des Weges, auf dem das Ich zu sich selber kommt: mag es sich den andern im letzten Grunde gleichfühlen, weil es, auf sich und seinen Kräften allein stehend, noch dieses stützenden Bewußtseins bedarf, sei es, daß es der Einsamkeit seiner Qualität gewachsen ist und die vielen eigentlich nur da sind, damit jeder einzelne an den andern seine Unvergleichbarkeit und die Individualität seiner Welt ermessen könne.
Diese Individualisierungstendenz führt also historisch, wie ich schon andeutete, über das Ideal der zwar völlig freien und selbstverantwortlichen, aber der Hauptsache nach gleichen Persönlichkeiten zu dem andern: der gerade ihrem tiefsten Wesen nach unvergleichlichen Individualität, die zu einer nur durch sie ausfüllbaren Rolle berufen ist. Im 18. Jahrhundert klingt dies Ideal schon an, bei Lessing, Herder, Lavater; den Christuskult des letzteren hat man seiner Sehnsucht, selbst Gott zu individualisieren, zugeschoben und noch eine Steigerung davon seinem Verlangen nach immer neuen Christusbildern. Seine erste volle Ausgestaltung gewinnt diese Form des Individualismus im Kunstwerk: im Wilhelm Meister. Denn in den Lehrjahren wird zum ersten Male eine Welt gezeichnet, die ganz auf die individuelle Eigenheit ihrer Individuen gestellt ist und sich nur durch diese organisiert und entwickelt, und zwar ganz unbeschadet der Tatsache, daß die Figuren als[S. 98] Typen gemeint sind; so oft sie sich in der Realität wiederholen mögen, es bleibt der innere Sinn jeder einzelnen, daß jede gerade in ihrem letzten Grunde von der andern, an die das Schicksal sie rühren läßt, unterschieden ist, daß der Akzent des Lebens und der Entwicklung nicht auf dem Gleichen, sondern auf dem absolut Eigenen ruht. In den Wanderjahren rückt das Interesse von den Menschen auf die Menschheit — nicht in dem Sinne des abstrakten Menschen überhaupt, den wir im 18. Jahrhundert herrschen sehen, sondern im Sinne der Kollektivität, der konkreten Gesamtheit der lebenden Gattung. Und nun ist es höchst interessant, wie jener auf die Unvergleichlichkeit, die qualitative Einzigkeit gehende Individualismus sich auch auf der Basis dieses Interesses geltend macht. Nicht die ganze Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft wird von der Besonderheitsforderung her gewertet, sondern die objektive Leistung der Persönlichkeit für die Gesellschaft. „Narrenpossen sind, so heißt es jetzt, eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Daß ein Mensch etwas vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an.“ Diese ganze Gesinnung ist der absolute Gegensatz zu dem Ideal der freien und gleichen Persönlichkeiten, den Fichte einmal, diese Geistesströmung in einen Satz zusammendrängend, so formuliert: „Ein Vernunftwesen muß schlechthin ein Individuum sein, aber nicht eben dieses oder jenes bestimmte“ — und in der Forderung, daß das individuelle, unterschiedlich bestimmte Ich sich im sittlichen Prozeß wieder in das reine, absolute Ich — die philosophische Kristallisierung des „allgemeinen Menschen“ des 18. Jahrhunderts — hinaufentwickle. Wie in zugespitzter Antithese hierzu hat Friedrich Schlegel den neuen Individualismus in die Formel gefaßt: „Gerade die Individualität ist das Ursprüngliche und Ewige im Menschen; an der Personalität ist so viel nicht gelegen. Die Bildung und Entwicklung dieser Indi[S. 99]vidualität als höchsten Beruf zu treiben, wäre göttlicher Egoismus.“
Dieser neue Individualismus hat seinen Philosophen in Schleiermacher gefunden. Für ihn ist die sittliche Aufgabe gerade die, daß jeder die Menschheit auf eine besondere Weise darstelle. Gewiß ist jeder einzelne ein „Kompendium“ der ganzen Menschheit, ja, noch weitergehend, eine Synthese der Kräfte, die das Universum bilden, aber ein jeder formt dieses allen gemeinsame Material zu einer völlig einzigen Gestalt, und auch hier wie bei der früheren Anschauung ist die Wirklichkeit zugleich die Vorzeichnung des Sollens: nicht nur als schon Seiender ist der Mensch unvergleichlich, in einen nur von ihm erfüllten Rahmen gestellt, sondern, von anderer Seite gesehen, ist die Verwirklichung dieser Unvergleichbarkeit, das Ausfüllen dieses Rahmens, seine sittliche Aufgabe, jeder ist berufen, sein eigenes, nur ihm eigenes Urbild zu verwirklichen. Der große weltgeschichtliche Gedanke, daß nicht nur die Gleichheit der Menschen, sondern auch ihre Verschiedenheit eine sittliche Forderung sei, wird durch Schleiermacher zum Drehpunkt einer Weltanschauung: durch die Vorstellung, daß das Absolute nur in der Form des Individuellen lebe, daß die Individualität nicht eine Einschränkung des Unendlichen sei, sondern sein Ausdruck und Spiegel, wird das Sozialprinzip der Arbeitsteilung in den metaphysischen Grund der Dinge eingesenkt. Freilich hat die in die letzten Tiefen der individuellen Natur hinabreichende Differenzierung leicht einen mystisch-fatalistischen Zug. („So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen. So sagten schon Sibyllen, so Propheten.“) Dessentwegen mußte sie dem hellen Rationalismus der Aufklärungsepoche fremd bleiben, während sie sich eben durch ihn der Romantik empfahl, zu der Schleiermacher in engster Beziehung stand. Für diesen Individualismus — man könnte ihn den qualitativen nennen[S. 100] gegenüber dem quantitativen des 18. Jahrhunderts oder den der Einzigkeit gegenüber dem der Einzelheit — war die Romantik vielleicht der breiteste Kanal, durch den er in das Bewußtsein des 19. Jahrhunderts einfloß. Wie Goethe die künstlerische, Schleiermacher die metaphysische, so schuf sie ihm die Basis des Gefühls, des Erlebens. Die Romantiker haben sich zuerst wieder nach Herder (in dem deshalb auch ein Quell der qualitativen Individualistik zu suchen ist) in die Besonderheit, Einzigkeit der historischen Realitäten hineingelebt; das Recht und die singuläre Schönheit des geschmähten Mittelalters, des Orients, den die Aktivitätskultur des liberalen Europas verachtete, haben sie tief gefühlt: in diesem Sinn will Novalis seinen „einen Geist“ sich in unendlich viele fremde verwandeln lassen und sagt, daß er „gleichsam in allen Gegenständen steckt, die er betrachtet, und die unendlichen, gleichzeitigen Empfindungen eines zusammenstimmenden Pluralis fühlt“. Vor allem aber: der Romantiker erlebt innerhalb seines inneren Rhythmus die Unvergleichbarkeit, das Sonderrecht, das scharfe, qualitative Sich-gegeneinander-Absetzen seiner Elemente und Momente, das diese Form des Individualismus ja auch zwischen den Bestandteilen der Gesellschaft sieht. Auch hier zeigt Lavater ein interessantes Vorläufertum: seine Physiognomik vergräbt sich manchmal so in das Spezielle der sichtbaren und inneren Züge des Menschen, daß er zu dessen ganzer Individualität nicht zurückgelangt, sondern an dem Interesse für dieses Individuell-Einzelnste hängen bleibt. Die romantische Seele durchfühlt eine endlose Reihe von Gegensätzen, von denen jeder einzelne im Augenblick seines Gelebtwerdens als Absolutes, Fertiges, Selbstgenugsames erscheint, um im nächsten überwunden zu werden, und genießt in dem Anderssein des einen gegen den andern das Selbst eines jeden erst ganz. „Wer nur auf einem Punkte klebt, ist nichts als eine vernünftige Auster“,[S. 101] sagt Friedrich Schlegel. Das Leben des Romantikers überträgt in das proteische Nacheinander seiner Gegensätzlichkeiten von Stimmung und Aufgabe, von Überzeugung und Gefühl das Nebeneinander des Gesellschaftsbildes, in dem jeder einzelne durch seinen Unterschied gegen den andern, durch die personale Einzigkeit seines Wesens und seiner Betätigungen erst den Sinn seiner Existenz findet — der individuellen nicht weniger als der sozialen.
Diese Auffassung und Aufgabe des Individuums weist in ihrer rein gesellschaftlichen Wendung ersichtlich auf die Herstellung eines höheren Ganzen aus den so differenzierten Elementen hin. Je eigenartiger die Leistung (aber auch die Bedürfnisse) des Einzelnen, desto dringender ist die gegenseitige Ergänzung, desto höher erhebt sich über die arbeitsteiligen Glieder der Gesamtorganismus, der aus ihnen zusammenwächst und ihre ineinandergreifenden Wirkungen und Gegenwirkungen einschließt und vermittelt. Die Besonderheit der Individuen fordert eine Verfassungsmacht, die dem Einzelnen seinen Platz anweist, aber damit auch zum Herrn über ihn wird. Darum schlägt dieser Individualismus (die Freiheit auf ihren rein innerlichen Sinn beschränkend) leicht in antiliberale Neigungen um und bildet auch so das volle Gegenstück zu dem des 18. Jahrhunderts, der aus seinen atomisierten und prinzipiell als ununterschieden gesetzten Individuen konsequenterweise gar nicht zu der Idee einer Gesamtheit als eines aus mannigfaltigen Gliedern vereinheitlichten Organismus gelangen konnte. Wodurch dieser vielmehr die freien und gleichen Elemente zusammenhält, das ist ausschließlich das über allen stehende Gesetz, dessen Bedeutung es ist, die Freiheit eines jeden so weit einzuschränken, daß sie mit der Freiheit eines jeden zusammen bestehen kann, das Gesetz, dessen Paten die Gesetzlichkeit einer mechanistisch konstruierten Natur und das Gesetz im römisch-rechtlichen Sinne waren.[S. 102] Von beiden Seiten her entgeht diesem Individualismus das konkret-soziale Lebensgebilde, das nicht aus den isolierten und gleichen Einzelnen summierbar ist, sondern sich nur aus den arbeitsteiligen Wechselwirkungen und über dieselben als eine in den Einzelnen auch nicht pro rata auffindbare Einheit erhebt.
Die Lehre von Freiheit und Gleichheit ist die geistesgeschichtliche Grundlage der freien Konkurrenz, die der differentiellen Persönlichkeiten ist die Grundlage der Arbeitsteilung. Der Liberalismus des 18. Jahrhunderts stellte den Einzelnen auf seine eigenen Füße, und nun durfte er ganz so weit gehen, wie diese ihn trugen. Die Theorie ließ die naturgegebene Verfassung der Dinge dafür sorgen, daß die unbeschränkte Konkurrenz der Einzelnen zu einer Harmonie aller Interessen zusammenging, daß das Ganze sich bei dem rücksichtslosen Streben zum individuellen Vorteil am besten befände: das ist die Metaphysik, mit der der Naturoptimismus des 18. Jahrhunderts die freie Konkurrenz sozial rechtfertigt. Mit dem Individualismus des Andersseins, der Vertiefung der Individualität bis zur Unvergleichlichkeit des Wesens ebenso wie der Leistung, zu der man berufen ist — war nun auch die Metaphysik der Arbeitsteilung gefunden. Die beiden großen Prinzipien, die in der Wirtschaft des 19. Jahrhunderts untrennbar zusammenwirken: Konkurrenz und Arbeitsteilung — erscheinen so als die wirtschaftlichen Projizierungen der philosophischen Aspekte des sozialen Individuums oder diese umgekehrt als die Sublimierungen jener ökonomisch-realen Produktionsformen; oder, vielleicht richtiger und die Möglichkeit dieser doppelten Verhältnisrichtungen begründend, entspringen sie gemeinsam einer jener tiefen Wandlungen der Geschichte, die wir nicht nach ihrem eigentlichen Wesen und Motiv, sondern nur nach den Erscheinungen erkennen können,[S. 103] die sie gleichsam in der Mischung mit den einzelnen, inhaltlich bestimmten Provinzen des Lebens ergeben.
Die Folgen freilich, die die unbeschränkte Konkurrenz und die arbeitsteilige Vereinseitigung der Individuen für deren innere Kultur ergeben haben, lassen sie nicht gerade als die geeignetsten Mehrer dieser Kultur erscheinen. Vielleicht aber gibt es über der wirtschaftlichen Form der Zusammenwirksamkeit der beiden großen soziologischen Motive — der einzigen bisher realisierten — noch eine höhere, die das verhüllte Ideal unserer Kultur ist. Lieber aber möchte ich glauben, daß die Idee der schlechthin freien Persönlichkeit und die der schlechthin einzigartigen Persönlichkeit noch nicht die letzten Worte des Individualismus sind; daß die Arbeit der Menschheit immer mehr, immer mannigfaltigere Formen aufbringen wird, mit denen die Persönlichkeit sich bejahen und den Wert ihres Daseins beweisen wird. Und wenn in glücklichen Perioden diese Mannigfaltigkeiten sich zu Harmonien zusammenordnen, so ist doch auch ihr Widerspruch und Kampf jener Arbeit nicht nur ein Hemmnis, sondern ruft sie zu neuen Kraftentfaltungen auf und führt sie zu neuen Schöpfungen.