Title: Pastor Hallin
Author: Gustaf af Geijerstam
Translator: Gertrud Ingeborg Klett
Release date: February 22, 2020 [eBook #61480]
Language: German
Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1911 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen sowie Schreibvarianten bleiben gegenüber dem Original unverändert, sofern der Sinn des Texts dadurch nicht beeinträchtigt wird.
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Roman von
Gustaf af Geijerstam
S. Fischer, Verlag, Berlin
Autorisierte Übertragung
aus dem Schwedischen von Gertrud Ingeborg Klett.
Alle Rechte vorbehalten.
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Erstes Kapitel | |
Zweites Kapitel | |
Drittes Kapitel | |
Viertes Kapitel | |
Fünftes Kapitel | |
Sechstes Kapitel | |
Siebentes Kapitel | |
Achtes Kapitel | |
Neuntes Kapitel | |
Zehntes Kapitel | |
Elftes Kapitel | |
Zwölftes Kapitel | |
Dreizehntes Kapitel | |
Vierzehntes Kapitel | |
Fünfzehntes Kapitel | |
Sechzehntes Kapitel | |
Siebzehntes Kapitel | |
Achtzehntes Kapitel | |
Neunzehntes Kapitel | |
Zwanzigstes Kapitel |
Eine kleine Studentenbude in Upsala. Ein trübes Morgenlicht fällt durch das einzige Fenster und scheint auf ein ungemachtes Schlafsofa und einen ganz mit Büchern und Papieren übersäten schmalen Schreibtisch. Die Lampe brennt; ihr Schein wird matter und matter vor der zunehmenden Tageshelle.
Den Schlafrock eng um sich gezogen sitzt im Schaukelstuhl neben dem Schreibtisch ein junger Mann und liest eifrig. In seiner schmalen weißen Hand hält er ein Kollegheft; sein von einem kurzen, weichen Bart bedecktes Gesicht beugt sich über die beschriebenen Blätter. Während er liest, bewegen sich lautlos und hastig seine Lippen. Er sieht nicht, daß das Tageslicht draußen die Lampe längst unnötig macht, trotzdem die Sonne nicht durch das dichte Gewölk dringt. Es ist fast hell in der Stube, so hell es Mitte Januar überhaupt werden kann. Aber er sieht es nicht.
Nachdem er eine Zeitlang gelesen hat, steht er auf und geht ein paar Schritte durchs Zimmer. Er dehnt die Brust, tut ein paar tiefe Atemzüge und trocknet sich mit dem Taschentuch den Schweiß ab, der seine Stirn bedeckt. Aber er sieht nicht, daß es draußen hell ist, sondern setzt sich still wieder an die Arbeit, indem er den Schaukelstuhl so nach der Lampe zu dreht, daß er beim Lesen gut sieht.
Ein Beobachter hätte in seinem Gesicht vergeblich nach wirklichem Interesse gesucht. Es lag darin derselbe Ausdruck wie bei einem überanstrengten Schuljungen, der gerade eine schwere Aufgabe lernt. Er legte das Buch aufs Knie, murmelte das, was er sich soeben eingeprägt hatte, auswendig vor sich hin, und fing dann an, laut herzusagen, während er mit der freien Hand auf dem Arm des Schaukelstuhls den Takt dazu schlug.
Dann saß er wieder still und lernte mechanisch, bis die Uhr, die neben ihm auf dem Schreibtisch lag, auf Neun wies. Da erhob er sich, schaute zum Fenster hinaus, und als er wieder ins Zimmer blickte, merkte er plötzlich, wie unnatürlich bleich das Petroleumlicht dem Tageslicht gegenüber war. Er schraubte die Lampe herunter, löschte sie aus und begann mit dem Kollegheft in der Hand im Zimmer auf und ab zu gehen. Gleich darauf klopfte es an die Tür, und eine Frauenstimme rief:
„Bist du fertig?“
Der junge Mann legte das Heft aufgeschlagen auf den Schreibtisch und begann vor dem kleinen viereckigen Spiegel, der über der Kommode hing, seine Toilette in Ordnung zu bringen.
„Guten Morgen, Tante... Gleich!“
Er vertauschte den Schlafrock gegen einen Rock aus billigem grauem Tuch und ging hinaus ins Eßzimmer, das neben seiner Stube lag.
Eine ältere Dame stand wartend vor dem gedeckten Frühstückstisch, auf dem die Teemaschine dampfte und pustete.
„Guten Morgen, lieber Junge!“ sagte sie.
Sie betrachtete ihn eine Weile ängstlich forschend: „Schrecklich, wie müde und mitgenommen du aussiehst! Bist du wieder seit sieben Uhr auf?“
Der junge Mann setzte sich mit niedergeschlagener Miene an den Tisch.
„Es ist ja jetzt bald vorüber; wenn ich nur durchs Examen komme!“ sagte er.
„Ja, wenn’s nur schon vorüber wäre!“ sagte seufzend die alte Dame. „Du reibst dich ja vollständig auf auf die Weise. Was glaubst du, daß deine Mutter sagen wird, wenn sie dich wiedersieht?“
Der junge Mann zuckte die Achseln und trank schweigend[S. 7] seinen Tee. Nach einer Weile fragte er: „Weißt du, ob es sehr kalt ist heute, Tante?“
Sie warf einen Blick zum Fenster hinaus.
„Es scheint recht rauh“, erwiderte sie. „Es hat geschneit heut Nacht. Du mußt dich schon warm anziehen, wenn du ausgehst.“
Und als er gefrühstückt hatte, begleitete sie ihn ins Vorzimmer, um nachzusehen, ob er auch seinen Überzieher ordentlich zuknöpfte.
Ernst Hallin ging die Järnbrostraße hinab und schlug den Weg nach der Flusterpromenade ein. Fünf Jahre war er jetzt in Upsala, und in all diesen Jahren hatte er denselben Spaziergang gemacht gleich nach dem Frühstück. Ehe sein Freund Simonson das Staatsexamen gemacht und angefangen hatte, zu „praktizieren“, hatte ihn der immer in der Wohnung abgeholt und auf dem Spaziergang begleitet. Aber seit Simonson letztes Frühjahr Upsala verlassen hatte, war er immer allein gegangen, nicht zum Vergnügen, sondern weil es notwendig war, wenn er vormittags studieren wollte.
Seit ebenso vielen Jahren, als er diesen Spaziergang machte, wohnte er auch bei seiner Tante, Fräulein Edla Lund.
Fräulein Lund war eigentlich garnicht Ernst Hallins Tante. Sie war überhaupt nicht mit ihm verwandt. Aber er nannte sie Tante, weil sie eine Freundin seiner Mutter war, die Freundin, der seine Mutter den Sohn anvertraut hatte, als sie sich entschließen mußte, ihn zum erstenmal in die Welt hinaus zu schicken.
Fräulein Lund war eine fromme Dame, die nur einen einzigen Pensionär — eben Ernst Hallin — und im übrigen einen Kosttisch für Studenten hatte. Außerdem war sie Mitglied der christlichen Gesellschaft in Upsala, teilte ihr Interesse zwischen dem Kosttisch, der ihren Leib, und halbtheologische Lektüre, die ihre Seele speiste. Als die populärtheologischen Vorlesungen Mode wurden, gehörte sie zu deren[S. 8] ständiger Zuhörerschaft. Sie besaß einen kleinen Feldstuhl, den sie immer bei sich trug, damit sie nicht stehen mußte. Und alles, was das alte Fräulein an unverbrauchtem Muttergefühl besaß, hatte sie in diesen fünf Jahren über Ernst Hallin ausgeschüttet, den sie hegte und pflegte, für den sie handelte und dachte, den sie vergötterte und verwöhnte.
Ernst Hallin ging mit langen, etwas wiegenden Schritten seinen gewohnten Weg hinunter nach der Flusterpromenade. Es war trüb und rauh außen, bloß wenige Spaziergänger waren zu sehen, und wer sich blicken ließ, hatte es eilig, hastete mit den Händen in den Taschen und tief zwischen die Achseln geducktem Kopf durch die Straßen, wo der frisch gefallene Schnee von den Trottoirs gefegt war und auf beiden Seiten des Fahrdamms hoch in den Rinnsteinen lag.
Er vermied die Straßen am Fluß, um nicht die Neue Brücke und die „akademische Ecke“ passieren zu müssen, wo immer viele Leute waren, und wählte statt dessen die Trädgårdsstraße, durch die er ungestört hinab zur Flusterpromenade gelangen konnte. Er wollte allein sein. Sonst kam er nicht rechtzeitig heim, und eine halbe Stunde später als gewöhnlich bedeutete drei Seiten zu wenig im Kollegheft.
Er dachte mit Unbehagen daran, daß ihm nur noch so kurze Zeit in Upsala blieb. Während seiner ganzen Studienzeit hatte er sich so wohl gefühlt hier. Das Studentenleben liebte er nicht, und vor dem Wirtshaus hegte er einen Abscheu, den er von daheim geerbt hatte. Aber Upsala liebte er. Es ließ sich so gut ruhig arbeiten in dieser Stadt. Wenn man nicht wollte, so brauchte nichts, kein Ding des äußeren Lebens, nichts von der Welt draußen einem dazwischen zu kommen und einen zu stören. Ruhig, friedvoll und still konnte man in der glatten gleichmäßigen Flut des Studierens und Lernens versinken. Die Welt ringsum war wie verschwunden und tot. Die Studierlampe verblaßte erst vor dem Tageslicht.
Und er hatte studiert. Wie friedlich und wohltuend waren nicht die ersten Jahre gewesen! Ohne Hast hatte er sein Pensum durchgenommen, die Vorlesungen besucht, Kolleg nachgeschrieben, Privatstunden genommen, die Bibel im Urtext gelesen, gearbeitet und seine Examina gemacht. Daneben hatte er noch alles mögliche lesen können, was ihn interessierte. Keine leichte Tagesliteratur oder unruhvolle Streitschriften, sondern die Kirchenväter, weitläufige Kirchengeschichten, Abhandlungen über die Gottheit Christi oder über den Glauben, Schilderungen aus dem Leben heiliger Männer, und Weltgeschichte, im Licht des Christentums gesehen. Oder auch hatte er die alten Dichter, manchmal auch einen oder den anderen neueren, der seiner Ansicht nach auf irgendeine Art dem Christentum nahstand, gelesen.
Es war eine seltsame Zeit, voll aufeinanderfolgender neuer Eindrücke und wechselnder reicher Gedanken. Je einförmiger die Tage hingingen, desto inhaltsreicher erschienen sie ihm und desto leichter kam er zurecht mit seinen Zweifeln.
Denn Ernst Hallin dachte mit einer Mischung von Furcht und Stolz daran, daß er Zweifel gehabt hatte, Zweifel, die er, wie Augustinus und andere heilige Streiter der Kirche, stetig aus seinem aufrührerischen Herzen herauszuarbeiten suchte. Das war ein Geheimnis, das er tief in sich barg, und bei seiner anspruchslosen Art hätte niemand ahnen können, wie tief er im innersten auf alle die Kinder der Welt, die nie eine derartige Leidensgeschichte durchgemacht hatten, herabsah.
Jetzt aber, da er im Begriff stand, seine Studien abzuschließen, war diese Zeit gleichsam vergessen — verschwunden. Jetzt ward er von unwillkommenen prosaischen Gedanken heimgesucht, die ihn Tag und Nacht quälten. Das Allersonderbarste dabei war, daß die Zweifel gar nicht so ganz erstickt waren, wie er in den glücklichen und ruhigen Tagen seiner Studienzeit geglaubt hatte. Nun er keine Zeit mehr hatte,[S. 10] sie täglich und stündlich einzulullen, nun kamen sie in den neuesten, trivialsten Erscheinungen und beunruhigten ihn.
Und zu allem andern hin trug er noch eine ständig wachsende Angst mit sich herum vor dem Tag, der immer näher rückte, dem Tag, an dem er als fertiger Mensch ins Leben hinaustreten sollte.
Fertig!
Ja, er wußte ja, daß er fertig werden mußte. Der Vater hatte es ihm geschrieben. In einem Jahr wurde sein jüngster Bruder Student. Und der Vater hatte nicht die Mittel, zwei Söhne auf der Universität zu unterhalten.
Der Schnee lag weiß auf den Bäumen der Promenade. Er deckte die Sträucher in den Anlagen, daß sie aussahen, wie poröse runde Schneehügel, über dem ganzen Gelände lag es gleich einer ausgebreiteten weißen Decke, und der Himmel hing voll grauen treibenden Gewölks.
Ernst Hallin sah heute nichts von der Natur. Er dachte in einer Art seltsamer, halbwacher Reflexion an die Armut, von der er eigentlich gar nicht wußte, was sie überhaupt war, er, der ja doch seiner Lebtag noch nie selber für sich hatte zu sorgen brauchen. Und dabei fiel ihm die Heimat ein, Gammelby, wo der Vater ein armer Gymnasiallehrer war, der seit mehr als zwanzig Jahren am Gymnasium dort unterrichtete. Und in ihm erwachte das Religionsgefühl für die Heimat.
Als er auf der Promenade so weit gekommen war, daß er das Ende vor sich sah, blieb er stehen und zog die Uhr. Es war über Zehn. Er kehrte um und ging, etwas gebückt und mit eiligen Schritten, heimwärts. Unterwegs begegnete er ab und zu einem, der in der gleichen Absicht wie er hier herumlief — um ein bißchen frische Luft zu schöpfen vor dem Im-Zimmer-Hocken. In der nebligen Morgenluft strichen sie an ihm vorüber, ohne daß er sie auch nur bemerkt hätte. Er dachte bloß noch daran, so schnell wie möglich heimzukommen, wieder[S. 11] in seinen Schlafrock zu schlüpfen und sich dann in seinen Schaukelstuhl zu setzen, um zu studieren, zu studieren bis zum Mittagessen.
So viel war noch durchzunehmen, so viel mußte getan werden. Es war fast, als würde es immer mehr, je länger er studierte. Und er hatte solche Angst, vielleicht etwas versäumt zu haben, daß ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand, so oft er nur an das Examen dachte, das vor ihm lag. Und das, trotzdem er ja wußte, daß das Examen eigentlich nur noch eine Formsache war, trotzdem jedermann ihm sagte, er könne gar nicht durchfallen.
Sachte zog er im Vorzimmer den Mantel aus und ging durch das Eßzimmer in seine Stube. Dort vertauschte er die Stiefel gegen ein Paar Filzschuhe, hüllte sich in den Schlafrock und setzte sich in den Schaukelstuhl.
Aber ehe er zu arbeiten begann, erwartete ihn noch ein Genuß. Aus einer Ecke hinter dem Schreibtisch nahm er eine lange Holzpfeife, zündete sie an und ließ ein paar Minuten lang den Rauch um sich qualmen.
Hierauf griff er aufs neue nach dem Kollegheft, das noch aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag, begann genau da, wo er am Morgen aufgehört hatte, und bald ging der Schaukelstuhl in gleichmäßigem Takt über die Dielen des Fußbodens, während Ernst Hallin sich eifrig bemühte, das Niedergeschriebene seinem Gedächtnis einzuprägen.
Derselbe Ausdruck uninteressierten Auswendiglernens wie am Morgen lag auf seinem Gesicht. Nachdem die erste Stunde so vergangen war, erhob er sich aus dem Schaukelstuhl und ging ungeduldig ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann steckte er sich eine frische Pfeife an und stellte sich ans Fenster. Auf seinem Gesicht lag ein unsagbar müder, gequälter Ausdruck. Seine Gesundheit war immer schwach gewesen, und die Arbeit des letzten Jahres hatte ihn stark mitgenommen. Im ersten Jahre nach dem Abiturientenexamen war er so[S. 12] kränklich gewesen, daß er nicht einmal nach Upsala konnte. Er vermochte nicht mehr als eine, höchstens zwei Stunden zu studieren, ohne daß seine Stirn sich mit Schweiß bedeckte, eine matte Schläfrigkeit seinen ganzen Körper überfiel, und in seinem Gehirn sich eine seltsame Leere fühlbar machte, die ihn beunruhigte und erschreckte. Bücher, die ihn interessierten, konnte er haufenweise lesen, ohne daß er sich dabei unwohl fühlte. Das einförmige Dreschen und Bohren, das war es, was ihn aufrieb. Eine einzige Fähigkeit — das Gedächtnis — bis aufs äußerste anstrengen, während die andern alle ruhten — das wars, was ihm einen Knacks gegeben hatte! Aber er wußte — er mußte weitermachen; er nahm die Arbeit wieder vor, ging im Zimmer auf und ab und las laut, um die Gedanken besser wachzuhalten. Ab und zu blieb er am Fenster, am Schreibtisch oder mitten in der Stube stehen, schlug mit der Hand in die Luft, stampfte dazu auf den Boden und drosch so wieder und immer wieder eine schwierige Stelle, die nicht festsitzen wollte, durch. Manchmal schlug er sich, damit es besser haften sollte, zu wiederholten Malen mit dem Heft vor die Stirn. Schließlich lief er, das Heft auf dem Rücken haltend, mit Sturmesschritten im Zimmer auf und ab, während er halblaut die Worte des Kollegs dazu murmelte.
Und trotzdem vermochte er seine Gedanken nicht zusammen zu halten. Mitten drin, während er suchte, sich den Inhalt des Kollegs äußerlich ins Gedächtnis zu prägen, diese alten, bekannten Dinge, die er seit Jahren wußte, konnten seine Gedanken plötzlich, wie aus Müdigkeit oder Unvermögen, zu etwas anderem weggleiten. Er dachte auf einmal ans Examen, grübelte darüber nach, was für ein Gefühl es wohl sein mochte, bestanden zu haben und heim zu dürfen! Wie würde das sein? In ein paar Tagen würde er es wissen. Dann dachte er daran, wie die Mutter daheimsitzen und sich ängstigen, und daß er nun bald wieder bei den Seinen sein würde.
Oder auch flog ihm ein anderes Bild durchs Gehirn, irgend etwas, das er auf der Straße gesehen hatte, eine Szene zwischen ein paar Hunden, der Rektor Magnificus, den er vor der Domkirche getroffen hatte, oder eine bleiche Schöne im langen Mantel und koketten Federbarett, die ihm Augen gemacht hatte, als er vor ein paar Tagen die Karolinenhöhe hinaufgegangen war. Während er auf dem Läufer, der quer durchs Zimmer gelegt war, auf und ab ging, setzte er manchmal die Füße in gewissen berechneten Zwischenräumen, trat nur auf gewisse Farben und zählte, wieviele Schritte es dabei von der Wand zum Fenster waren. Dann kehrte er um und versuchte, die Füße genau auf dieselben Stellen zu setzen, auf die er zuvor getreten war. Oder auch er trommelte mit den Fingern Melodien und bemühte sich, sie so herauszukriegen, daß sie gleich ausgingen, so daß, wenn er mit dem Daumen anfing, sie beim kleinen Finger aufhörten.
Ohne zu lesen, ohne zu denken, ohne sich überhaupt nur bewußt zu sein, daß die Zeit verstrich, konnte er dann wieder im Schaukelstuhl sitzen und träumen oder heftig im Zimmer umherlaufen, die Hände in den Hosentaschen, mit flatterndem Schlafrock, bis er dann plötzlich instinktiv vor der Uhr stehen blieb, die auf dem Schreibtisch lag, und sah, daß es fast halb Zwei war.
Sofort ergriff er wieder das Heft und lernte, als gälte es das Leben — bis zum Mittagessen.
Fräulein Edla Lund machte sich inzwischen in ihrer Wohnung zu schaffen und besorgte das Essen. Bald war sie draußen in der Küche, bald innen im Eßzimmer. Nicht eine Minute kam sie zum Sitzen, wie sie sagte.
Aber ihre größte tägliche Sorge war, wie sie sich möglichst still verhielte, damit ihr lieber Kandidat drinnen in Ruhe arbeiten konnte. Wurde er auch nur im geringsten gestört, so war es ihm unmöglich, zu lesen und zu denken, das wußte sie.[S. 14] Darum achtete sie genau darauf, daß die Tür hinaus in die Küche geschlossen war, damit in der Stube des Kandidaten gewiß kein Laut klappernden Kochgeschirrs zu vernehmen wäre. Sie selber ging auf dünnen, weichen Schuhen leicht wie eine Katze hin und her und machte die Türen so sorgsam und vorsichtig zu, daß nicht einmal das Einschnappen des Schlosses durch seine geschlossene Tür dringen konnte. Wenns ans Tischdecken ging, so besorgte sie das immer selber, und es war ganz merkwürdig, wie gut sie gelernt hatte, mit Silber und Porzellan zu hantieren, ohne zu klappern.
So still war es in dem alten Haus an der Järnbrostraße, als wäre man mit einmal auf den Kirchhof draußen versetzt. Der einzige Laut, der hörbar wurde, war der Schritt des Kandidaten, wenn er auf der Matte in seiner Stube auf- und abwanderte, oder das Knarren des Schaukelstuhls, wenn er über eine unebene Diele ging.
Wenn es drei Uhr war, begann es an der Vorzimmertür zu läuten, und die Mittagsgäste stellten sich nacheinander ein. Um ein Viertel nach Drei waren alle da, und Fräulein Lund klopfte wieder an Ernst Hallins Zimmertür.
„Es ist angerichtet.“
Bald darauf standen alle andächtig hinter ihren Stühlen und beteten das Tischgebet. Das dauerte eine gute Weile, und nachdem man sich gesetzt hatte, schwieg im Anfang alles, gleichsam über das Gebet nachdenkend, während Fräulein Lund die Suppe ausschöpfte.
Außer Ernst Hallin und der Wirtin bestand die Gesellschaft aus drei jungen Kandidaten der Theologie und einem Kandidaten der Philosophie, einem Pietisten. Fräulein Lund nahm nur Studenten, die christlich gesinnt waren.
Ernsts Freund, Pastor Simonson, hatte früher auch zu dieser Gesellschaft gehört; er hatte es immer am besten verstanden, das Gespräch in Gang zu halten. Er hatte immer[S. 15] eine ganze Menge Gesprächsstoff, brachte theologische Fragen aufs Tapet während des Essens und hielt selber kleine improvisierte Vorträge, um diese Fragen zu entscheiden. Mit einem Wort — er war die Seele der Gesellschaft gewesen.
Seitdem er fort war, fand sich viel schwerer ein Gesprächsstoff. Jeder einzelne saß stumm, nur mit seinem Teller beschäftigt, da, und statt der früheren lebhaften Debatten hörte man jetzt bloß vereinzelte abgebrochene Bemerkungen oder kurze Fragen und Antworten.
Wenn das Essen zu Ende war, versammelten sich auf eine Weile alle im Zimmer der Wirtin, das auf der anderen Seite des Eßzimmers lag, um den Kaffee zu nehmen.
Es war ein feines, hübsches Zimmer, mit einem Teppich auf dem Fußboden und alten Gravüren an den Wänden. Die Möbel waren zum großen Teil altmodisch, im Empirestil, mit vergoldeten Kanten und geraden, schmalen Beinen. Unter einem hohen, vergoldeten Spiegel stand ein eingelegtes Bureau mit Bronzehandgriffen, und zu beiden Seiten des Tisches standen weiche, altmodische Lehnsessel. Über dem ganzen Zimmer lag ein starker Lavendelduft, der schwächer auch in der übrigen Wohnung bemerkbar war und dem Eintretenden, der von außen die Vorzimmertür öffnete, entgegenschlug.
Für Ernst Hallin hatte dieser Duft eine Bedeutung erlangt, die eng verknüpft war mit seinem Heimatsgefühl. Er genoß ihn ganz unbewußt, und wenn er nach der Arbeit nervös war, beruhigte er ihn stets. Manchmal kam ihm eine solche Sehnsucht danach, daß er sich irgend etwas außerhalb seines Zimmers zu schaffen machte, nur um ihn besser zu riechen.
Er war wenig gesellig und verstand sich nicht auf den Verkehr mit andern. Deshalb saß er schweigend in Fräulein Lunds Zimmer und ließ die andern reden, ohne überhaupt zuzuhören, was sie sagten. Waren sie alle gegangen, so zog er sich zum[S. 16] zweiten Mal zum Ausgehen an, um seinen Spaziergang zu machen, ehe er sich aufs neue an die Arbeit setzte.
Diesmal gings in den Karolinenpark. Der war so nah bei der Hand, und abends zog es ihn am meisten dorthin. Die großen, astreichen Bäume verdichteten die Dämmerung noch mehr, und die Nähe des Kirchhofs hatte für ihn etwas Stimmungsvolles, Wohltuendes.
Hier waren seine Gedanken am freiesten.
Weich von Gemüt, gewöhnt, sich selber zu hätscheln, hatte er einen gewissen Hang zur Melancholie. Es kam vor, daß er ihr geradezu aus Genußsucht nachging, wenn sie nicht von selber kam.
Über eine Stunde lang pflegte er hier einsam auf dem breiten Weg, der längs der steinernen Kirchhofmauer hinlief, umherzuwandern. Wenn er dann wieder heim kam, setzte er sich aufs neue vor die brennende Lampe und studierte.
Abends, wenn die Lampe angezündet war, fühlte er sich stets ruhiger, als wenn er bei Tageslicht studierte. Er war dann gezwungen, vor seinem Buch stillzusitzen, und die zerstreuungssüchtigen Gedanken waren ganz von selbst fort. Es war so warm und ruhig im Zimmer; über den Blättern des Buchs stieg der Rauch von der einzigen Zigarre auf, die er täglich zu rauchen pflegte.
In diesen Stunden arbeitete er immer am besten.
Wenn es halb acht Uhr war, erhob er sich und machte aufs neue „Gesellschaftstoilette“. Dann hatte er sich müde studiert, die Gedanken verlangten darnach, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, — er hielt es nicht länger aus. Und er fühlte sich frischer und lebenslustiger jetzt als den ganzen Tag über. Mit einem Seufzer der Befriedigung löschte er sein Licht und ging hinüber in das kleine Zimmer auf der andern Seite der Eßstube, wo Fräulein Lund schon bei der brennenden Lampe saß und auf ihn wartete.
Da ließ er sich häuslich nieder und war so lebendig und heiter, als hätte er das Büffeln und Schinden überhaupt ganz vergessen. Er hatte die Tante aufrichtig lieb und redete mit ihr, wie er mit seiner Mutter nie hatte reden können!
An solchen Abenden hatte er auch seine Zweifel bekannt. Fräulein Lund hörte ihn an und verstand ihn und freute sich, daß sie einer suchenden Seele von Nutzen sein durfte.
Sie saß im Sofa mit ihrem Strickzeug, und ihr ein bißchen dickliches, freundliches Gesicht lachte ihm liebevoll entgegen, als er eintrat.
„Ist Schluß für heute?“ fragte sie.
„Ja“, antwortete er und ließ sich in den einen Lehnstuhl niedersinken. „Jetzt ist Schluß.“
Als er eine Weile so gesessen hatte, nahm er vom Tisch Ibsens „Brand“.
„Wollen wir weitermachen?“ fragte er.
Die alte Dame nickte; Ernst Hallin wandte das Buch nach dem Lampenlicht und begann zu lesen.
Mit milder, wohllautender Stimme las er das gewaltige Gedicht von einem Menschen, der nicht leben kann in der Stadt. Er träumte sich selber hinein in diesen Konflikt, der unlösbar ist, er kämpfte in der Phantasie den Kampf der gewaltigen Gedanken; und er glaubte, das Urteil eines christlichen Asketen über die elenden Menschenkinder zu lesen.
Als er einen Akt gelesen hatte, legte er das Buch nieder; es ward still in dem kleinen Zimmer.
„Das ist Christentum!“ sagte er endlich.
Das alte Fräulein nickte; und sie redeten lange davon, was Ibsen mit Brand gemeint hätte.
Dann gingen sie ins Eßzimmer und tranken Tee. Ganz von selber kam das Gespräch wieder ins gewöhnliche Geleise. Sie redeten von dem bevorstehenden Examen, dem nahen Scheiden, von Gammelby und von Ernsts Elternhaus.
Gammelby liegt auf einer weiten Fläche; auch da, wo die Fläche jäh zum Berghang aufbiegt, geht noch die Stadt mit, und auf dem Gipfel des Hügels liegen schöne neue Häuser zwischen Gärten. Unten, am Fuß des Hügels, dehnt sie sich weit und breit verästet aus, als wäre sie zu beiden Seiten um die Große Straße ausgequollen, die vom Burghof, wo die Statthalterei liegt, sich hinüber erstreckt bis zum Tor, bei dem eine alte Brücke über den Fluß führt.
Die Stadt ist voll von kleinen Gassen und Quergassen, winkligen, wunderlichen, phantastischen Gäßchen mit langen, verwitterten Zäunen, über die dürre Apfelbäume ihre nackten Zweige strecken. Schmal sind die Gassen da; dicht unter den Fenstern sind die Rinnsteine; im Sommer, wenn es warm ist, steht da verdorbenes Wasser und stinkt, und der Geruch dringt in die niederen Häuser, die in langen Reihen, ein Stadtviertel neben dem andern, zu beiden Seiten der Großen Straße stehen.
Hier kehrt das Unglück ein in den Heimstätten der Armen; die Kinder sterben an ansteckenden Krankheiten. Und die klugen Leute sagen, dies sei das einzige und wahre Hilfsmittel der Natur gegen die Volksvermehrung.
Aber wenn der Winter kommt, liegt der Schnee dick zwischen den Häusern. Wo der Schneepflug gefahren ist, drängen dichte Wälle sich hoch gegen die Fensterrahmen, und mitten auf der Gasse läuft ein schmaler Pfad, grau getrampelt von groben Schuhen. Aus den großen Schornsteinen der kleinen Häuser steigt der Rauch; und schlecht steht’s um die, die kein Holz in ihren Herd zu schieben haben.
Hier wohnt die Bevölkerung, von der die ganze Stadt lebt. Hier wohnen die Fabrikarbeiter, die Zimmerleute, die Flößer und die Arbeiter auf den großen Holzplätzen. Hier sind die[S. 19] großen Höfe, auf denen Familien, vom Großvater her, seit mehr als hundert Jahren wohnen. Die Männer haben die großen Holzflöße den gewaltigen Strom hinab geleitet oder haben in der dumpfen Luft der Fabriken geschafft. Und die Weiber haben neue Arbeiter geboren, die die Alten, wenn sie gingen, ersetzen sollten. Neue Arbeiter sind herzugezogen aus anderen Gegenden des Landes, seit die Eisenbahn geht, immer lebhafter ist der Verkehr geworden, immer mehr Fabriken sind erstanden.
Und es ist, als nähme der reinliche, reiche Teil der Stadt seine Schmuckheit und seinen Wohlstand von diesem schmutzigen Stadtteil.
Neben der Großen Straße und um den Markt herum liegen die feinen Gebäude, grade, starre Steinhäuser mit schön geschmückter Front, Seite an Seite mit den alten, gemütlichen Holzbauten, die gleichsam bucklig vor Alter dastehen und mit großen, dunklen Fensteraugen auf den steifen Baustil hinausstarren, der sie mit all seinen Neuzeits-Bequemlichkeiten verdrängen will.
Hier sind die Straßen gut gehalten, die Trottoirs sind mit glatten Steinen gepflastert, winters sind sie gefegt, und die Arbeiter führen in großen Karren den überflüssigen Schnee fort.
Auch ihr kleines Villenviertel hat die Stadt. Droben am Hang, wo die Birken schlank und weißstämmig und licht mit langen, fließenden Zweigen in der Frühlingssonne stehen, liegen kleine Häuschen im Schweizerstil und blinken fröhlich durch das Laubwerk. Daneben sieht man große, lustige Holzhäuser mit Terrassen und Erkern, die aussehen, als wären sie tatsächlich bloß dazu da, um recht wunderlich auszusehen. Zu oberst, auf einsamer Höhe, liegt eine Steinvilla, die einen viereckigen Aussichtsturm mit einer Flagge darauf hat.
Hier wohnen die reichen Kaufleute mit ihren Familien, die wohlhabenden Fabrikbesitzer, der Bankdirektor; nicht bloß[S. 20] alte, ehrwürdige Familien wohnen hier, sondern auch manch junger Haushalt hat zwischen den Alten Platz genommen. Die reichen Familien haben untereinander geheiratet, sich mit einander assoziiert gegenseitig für einander gebürgt, so daß der ganze Geldhaufen sich auf ein paar Wenige gesammelt hat, die ihn nun gemeinsam besitzen; und diese Wenigen halten gut zusammen; denn sie wissen, Einigkeit macht stark.
Diese Wenigen sind es aber auch, die der Stadt das geschenkt haben, was man ihren Wohlstand nennt; von ihnen kommen die Möglichkeiten zu einem kleinen, wohlgeordneten Gemeinwesen. Zu Tausenden haben sie Bretter, gewaltige Holzflöße hinausgeschifft, haben Sägewerke gebaut, Fabriken angelegt, die Eisenbahn zustande gebracht. Daß all dies auf Kosten anderer geschah, das war eine Sache, über die sich in Väterzeiten niemand den Kopf zerbrach. Man gab jedem das Seine und behielt ohne Skrupel die großen Überschüsse des allgemeinen Verdienstes. Und aus diesen Überschüssen bildeten sich die großen Reichtümer der Familien.
Es ging fröhlich zu in den großen Kaufmannshäusern der alten Tage, und die Vornehmen, die sich in der Residenz des Landshöfdings versammelten, mochten gern ihren Kreis für sich bilden. In den alten Kaufmannsfamilien wurden dafür große, fröhliche Feste abgehalten, bei denen drei Tage lang gegessen und getrunken ward. An Weihnachten zogen die Feste von einem Haus zum andern, und altes Weihnachtsbier wechselte ab mit Wein aus den großen Fässern, die tief in den reichen Kellern verborgen lagen.
Aber in der letzten Zeit hatte viel sich geändert. Ein neues Geschlecht wuchs auf mit neuen Gedanken über das Leben und neuen Forderungen. Das neue Geschlecht legte Gas- und Wasserleitung an, schaffte eine Heizvorrichtung für die Kirche, rief Eisenbahngesellschaften und Aktienbanken ins Leben. Und[S. 21] die neuen Lebensbedingungen brachten eine neue Lebensweise mit sich.
Aber eins blieb sich doch gleich. Das waren die großen Feste. Das lag an der kargen Natur hoch oben im Norden, die als Gegengewicht gegen den langen traurigen Winter forderte, daß im Haus Freude sein müsse um jeden Preis! Darum wird auch in den Städten des Nordens mehr gegessen und getrunken als in der ganzen übrigen zivilisierten Welt. Denn die unmäßigen Schmausereien sind nichts anderes als ein gewaltsamer Versuch, dem Menschen um jeden Preis die Freude zu schaffen, die die Natur ihm zu versagen scheint. Der Winter, der lange, dunkle Winter hat sie gelehrt, sich zu berauschen, weil ja doch übergenug Zeit da ist, den Rausch auszuschlafen. Der Winter, der lange, kalte, hat sie gelehrt, wochenlang beim Mahl zu schwelgen, weil die Arbeit ja doch ruhen muß. Der Winter mit seinem Frost und Schnee setzt den Nordländer neben dem Bewohner des Südens zurück. Denn tatsächlich können wir drei Jahre leben, solange er eins lebt.
Aber im Winter wie im Sommer steht die Kirche offen; und winters drängt sich das Volk ins Gotteshaus, und des Priesters düstre Lehre gewinnt Seelen zu Tausenden; und die Menschen, die auf Erden alles missen, verträumen die Erinnerung an ihr Leid und ihr Entbehren im Gedanken an das Land der Seligkeit, das sie dereinst, wenn der Tod die gefürchteten Tore der Befreiung geöffnet hat, aufnehmen wird.
Einsam liegt die alte gotische Domkirche auf dem großen grünen Platz, das Rathaus auf der einen Seite, das Gymnasium auf der andern; in der Kirche versammeln sie sich alle, vornehm und gering, arm und reich. Dorthin gehen die Armen, Männer und Weiber, die Männer in dunkeln Röcken, mit roten oder blauen wollenen Tüchern um den Hals und schwarzen, wunderlichen Zylindern oder dicken Mützen, die Weiber in Hauben oder schwarzseidenen Tüchern, das abgenutzte Gesang[S. 22]buch, das sie in Händen halten, fromm in das saubere Baumwolltaschentuch eingewickelt. In langen, dunkeln Reihen sitzen sie da, auf der einen Seite die Weiber, auf der andern die Männer, und wenn der Name Gottes oder Jesu genannt wird, so neigen sich die Frauen, wenn sie stehen, oder beugen das Haupt, wenn sie sitzen. Weiter vorn in der Kirche und in der Mitte muß man sich seinen Platz kaufen; da sitzen die feinen Damen und einige wenige Herren. Denn die feinen Herren gehen nicht oft in die Kirche. Aber Damen und Herren halten sich streng unter sich abgeschlossen, ganz wie ihre Häuser an der großen Hauptstraße der Stadt oder droben am Waldsaum, wo die Villen hervorschauen. Da sind die Bänke des Bischofs, des Landeshöfdings, die Bank des Dompropstes, die Bänke der Landeskanzlei, der Geistlichen, der Lehrer, die Bänke des Bürgermeisters und der Stadträte. Und an hohen Festtagen ist alles voll von feinen Röcken und Pelzen, von kahlen oder wohlfrisierten Köpfen, davor auf der Bank eine lange Reihe von schwarzen Hüten. Hier sitzen Herren und Damen durcheinander. An gewöhnlichen Sonntagen freilich ist es mager bestellt mit Herren, und die feinen Damen mit ihren Töchtern sitzen ziemlich vereinsamt in den Bänken, an denen der Name des Inhabers auf einem weißen Schild angeschlagen steht.
Und die Zeit geht ihren Lauf, mit kurzen Sommern und langen Wintern, mit Arbeit, Kirchenbesuch und Gastereien.
Grade in solchen Städten findet man leicht einen kleinen Kreis, der gleichsam eine Welt für sich ausmacht. Das ist der Kreis, der sich aus den „akademisch Gebildeten“ zusammensetzt, aus Männern der Schule und der Kirche, die manchmal auch gern einen oder den andern Auserwählten aus andern Lagern unter sich aufnehmen. Und hier wie anderswo möchte dieser Kreis gern eine Art Bildungsaristokratie innerhalb der größeren Gesellschaft bilden, was sich hier, wie[S. 23] anderswo, bei näherer Beobachtung meist ein bißchen komisch ausnimmt.
Dieser Kreis lebt von Erinnerungen an die Universität; seine Mitglieder haben ihre besten Jahre in Lund oder Upsala verbracht; dort haben sie geschwärmt, haben große Träume geträumt von einem Leben im Dienste des Geistes, von dort sind sie übergesiedelt in irgendeine Kleinstadt, wo — bestenfalls — die ersten zehn Jahre zur Bezahlung der Jugendschulden verwendet wurden; und die Wissenschaft war vergessen und das Alter kam, eh sie nur merkten, daß die Jugend entflohen war.
Kaufleute, Industrielle hegen eine heimliche Bewunderung für sie, ihrer „Gelehrsamkeit“ wegen. Aber in praktischen Fragen verachten sie ihr Urteil und nennen sie Bücherwürmer.
Innerhalb dieser Kreise entstehen und entwickeln sich Menschen, die an jedem andern Ort als in einer nordischen Kleinstadt unmöglich wären. Die Söhne gehen aus der Kleinstadt auf die Universität und kommen oft von dort wieder zurück, um ein Leben zu leben, das ganz dem ihrer Väter gleicht. Die Töchter bleiben meist daheim; ist das Glück ihnen hold, so heiraten sie. Und wie dieser ganze Kreis von Kirchen- und Schulmännern, die in solchen kleinen Städten noch eng zusammenhalten, sich durch eben diese Kleinstadtverhältnisse, in denen er lebt, bildet, so bilden sich auch die einzelnen Persönlichkeiten durch diesen Kreis, in dem sie leben und sich entwickeln.
Zwei Elemente sind’s, die sie, zusammenwirkend, hervorbringen und formen: die Kleinstadt, und daß sie innerhalb dieser Kleinstadt einer besonderen Kaste angehören. Und die meisten von ihnen sind ihr ganzes Leben lang von der Armut gefesselt gewesen, die ein Gemeingut der großen Masse unserer sogenannten „Standespersonen“ ist.
Der Gymnasiallehrer „Adjunkt“ Hallin gab Latein in der Untersexta, der untersten Klasse der alten Lateinschule, die in das neue, stattliche Gymnasium übergesiedelt war. Die Fragen kamen scharf, wie Stockschläge; die Antworten schlängelten sich vorsichtig kriechend einher wie schwanzwedelnde Hunde.
„Hör mal, Lundberg! Das ist doch zu merkwürdig, daß du dir nie den Unterschied zwischen cado und caedo merken kannst! Wie war das? Cado, cecidi, casum — casum, sag’ ich — cadere. Also — sprich es nach. Wie war es?“
Der Delinquent Lundberg war ein kleines, schweräugiges, schläfriges Individuum von vollen einundzwanzig Jahren, das sich aus irgend einem unbekannten Grund darauf steifte, noch sein Maturum zu machen. Er warf einen raschen, forschenden Blick nach dem Katheder, um zu erspähen, ob der Adjunkt schlechter Laune war oder nicht. Und als er nichts besonders Beunruhigendes entdeckte, antwortete er phlegmatisch und mit leiser Stimme: „Cado, cecidi, casum, cadere.“
„Lauter!“ schrie der Adjunkt. „Kannst du nicht laut sprechen? Ich rede die ganze Stunde und muß schreien, daß ich ganz heiser werde. Und du kannst dich keine fünf Minuten lang anstrengen. Noch einmal! Und lauter!“
Lundberg wiederholte mit lauter Stimme.
„Na also! Jetzt war’s recht. Weiter. Wie ist’s mit caedo?“
Lundberg packte mit verzweiflungsvollem Griff die Lehne der Bank und schielte seitwärts, um die Nachbarn zum Einblasen aufzumuntern.
Aber es war eine alte Geschichte — Einblasen gab’s nicht bei Adjunkt Hallin. Er sagte das auch selber, und es war sein beliebtester Zeitvertreib während der einförmigen Stunden, irgendeinen zu erwischen, der so unvorsichtig war, einem andern[S. 25] zu helfen oder mit den Augen um Hilfe zu flehen. Er war im Grunde voller Freude, wenn er seine Detektivfähigkeiten zeigen konnte; aber er unterdrückte das Lächeln, das um seine Lippen spielte, und äußerte in mildem, leisem Ton: „Hör mal, Lundberg, findest du wirklich so ganz was besonders Interessantes an dem kleinen Petterson da neben dir links?“
Allgemeines Gekicher in der ganzen Klasse. Die vorderen Bänke drehen sich um und betrachten sich den unglücklichen Lundberg, der mit niedergeschlagenen Blicken dasteht und das Lächeln zu verbergen sucht, das um seine Mundwinkel spielt. Denn nun wußte die ganze Klasse mit Sicherheit: der Adjunkt war guter Laune.
„Na,“ fährt der Adjunkt fort, „kannst du nicht antworten? Findest du was Interessantes an Petterson? Wie? Nicht? Na! Willst du dann vielleicht gütigst versuchen, dein an Petterson gescheitertes Interesse auf das unglückselige Verb caedo zu übertragen? Mit ae.“
Lundberg legte die Hände auf den Rücken und antwortete schwerfällig: „Caedo, cecídi, caesum, caedere.“
„Na also, es geht ja. Siehst du. Weiter jetzt! Das dritte in der Reihe!“
Auch dies ward abgetan, worauf der Adjunkt einen großen Seufzer ausstieß, als sei ihm eine ungeheure Last vom Herzen gefallen.
„Setzen, Lundberg! Und vergiß das nicht, bis wir uns nächstesmal wiedersehen! Der Nächste. Flott jetzt, übersetz’ den letzten Paragraphen, damit wir fertig werden, eh es läutet. Vorwärts! Es ist ein langer Satz. Qui quum usw.“
Und der Nächste übersetzte, rein und fließend, mit Hilfe des alten Kalmodin, zog Subjekt und Prädikat aus und konjugierte die Verben, leicht, rasch, sicher und ruhig.
Und grade als er fertig war, hörte man von Korridor zu Korridor auch das Bimmeln der Glocke; der Adjunkt erhob[S. 26] sich, und im Nu entstand ein unerhörter Lärm. Pultdeckel wurden auf- und zugeschlagen, Bücher zugeklappt, auf den Boden geworfen, wieder aufgehoben und in Riemen zusammengeschnallt. Am Kleiderständer herrschte ein wildes Gedränge; Mäntel und Mützen wurden heruntergerissen, mit der vollkommensten Mißachtung des Futters und der Aufhänger. Droben am Katheder stand ein dienernder, dicker Bauernjunge und half dem Adjunkt in den Mantel. Er hatte das das ganze Semester durch getan, damit er am Schluß ein gutes Zeugnis kriegen und versetzt werden sollte.
Plötzlich, eben als die Ersten Hals über Kopf zur Tür hinaus stürzen wollten, schlug der Adjunkt das spanische Rohr auf den Tisch, daß das Tintenfaß hüpfte und alle Jungens mit der Mütze in der Hand stehen blieben.
„Eine neue Seite zum nächstenmal!“ rief er.
„Und nicht zu vergessen — wer cado oder fallo nicht kann, kommt Sonntag vormittag zu mir nachhaus!“
Damit nahm der Adjunkt seinen Hut und ging mit raschen Schritten durchs Zimmer. Vor ihm rasten schon sechs, acht Stück der Allerhungrigsten die Treppe hinunter, hinaus auf die Lange Straße, die sich von der Schule durch die ganze Stadt bis hinaus zum Tor erstreckte.
Es war ein windiger, kalter Januartag; der Adjunkt trug einen dicken Winterüberzieher, den er bis zum Halse hinauf zugeknöpft hatte. Auf dem Kopf hatte er seine Pelzmütze, die tief in die Stirn gezogen war, in der Hand das unvermeidliche spanische Rohr und unter dem Arm einen Haufen blauer, mit einer Schnur umwickelter Hefte.
Langsam bog er um die Ecke des Schulhauses in eine Straße ein, die zu dem freien Platz um die Domkirche führte. Als er auf den Platz gelangte, stand er einen Augenblick still und holte tief Atem. Er machte ein paar unbewußte Bewegungen mit den Schultern, als wolle er seine Brust dehnen; dann senkte[S. 27] er den Kopf noch tiefer als zuvor. Mit langsamen, ein bißchen schleppenden Schritten ging er weiter, indem er mit dem Stock Furchen in den Schnee zog, und seine Lippen bewegten sich, als spräche er mit sich selber.
Wohl zum hundertstenmal während der letzten Wochen beschäftigte ihn der Gedanke, wo er die fünfzig Kronen hernehmen sollte, die seine Frau zu einem neuen Mantel brauchte. Für vierzig Kronen bekam er vielleicht einen ganz guten. Aber wenn er vierzig beschaffen konnte, konnte er grade so gut auch fünfzig beschaffen, und für fünfzig Kronen bekam man doch einen viel besseren.
Weihnachten hatte schrecklich viel gekostet. Man hatte ja freilich ausgemacht, man wollte einander keine Geschenke machen. Aber als die Ferien anfingen, als man zu backen und scheuern und rüsten begann, als alle Menschen einander frohe Weihnachten wünschten und Weihnachtsgedanken und Weihnachtsjubel sich in jedes Gemüt zu schleichen begannen, da sagte der Adjunkt Hallin einen Tag vor dem heiligen Abend zu seiner Frau: „Ernst sitzt jetzt in Upsala, ganz allein vor dem Examen. So ganz ohne Gruß von daheim kann man ihn doch nicht lassen? Und Gustaf macht im Frühling übers Jahr auch sein Maturitas. Wer weiß, wie lang wir sie noch an Weihnachten daheim haben werden? Wollen wir nicht doch ein paar Überraschungen kaufen, damit die Kinder doch wissen, daß Weihnachten ist?“ Und so kaufte man denn eine feine Reisetasche für Ernst und ein neues Kleid für die zweiundzwanzigjährige Selma, die Lehrerin an der städtischen Mädchenschule war. Und Gustaf erhielt sein eigenes Konversationslexikon, damit er das von Papa nicht mehr zu benützen brauchte.
Als man erst im Zug war, wurde auch noch mehr gekauft — bloß ein „paar Kleinigkeiten, nur so viel, daß man überhaupt Pakete zum Auspacken hatte!“ Papa kaufte ein paar Sachen für Mama und Mama für Papa. Und ein paar Flaschen Wein[S. 28] mußten doch auch da sein, und ein Weihnachtsschinken und Konfekt und Mandeln und Rosinen und Christbaumschmuck und Nüsse und Feigen und Punsch.
Wenn schon mal Weihnachten war, so mußte es auch gefeiert werden. Und niemand war froher als der Adjunkt. Er schrieb Verse auf die Weihnachtspakete, tat wer weiß wie geheimnisvoll und war überhaupt von morgens bis abends in Tätigkeit.
Aber dann kam der erste Januar. Die Miete mußte bezahlt werden, und die Rechnungen liefen ein. Es blieb ihnen recht wenig zum Leben übrig, bis der Adjunkt sein nächstes Quartalgehalt bekam. Dazu sollte Ernst in diesen Tagen sein Examen machen und dann heimkommen, um daheim in der Stiftsstadt seine Ordination zu feiern; da mußte es zu Hause immerhin ein bißchen besser zugehen, als sonst, damit der große Junge auch gewiß nichts entbehrte. Und zu allem hin hatte der Adjunkt erfahren, daß seine Frau notwendig einen neuen Wintermantel brauchte. Vor Weihnachten hatte sie nichts sagen mögen. Man hatte ja so wie so so viele Ausgaben. Und er hatte gar nichts davon gemerkt, daß der alte so schlecht war; er verstand sich ja so wenig auf Frauenkleider. Darum kam es jetzt auch wie ein Unglück über ihn, daß er auch noch diese fünfzig Kronen beschaffen sollte. An all das dachte er, während er über den Kirchplatz nach seiner Wohnung ging.
Besonders heiter sah er nicht aus, wie er so langsam mit seinen vierundzwanzig Heften unterm Arm durch den Schnee stapfte. Sein Vollbart war grau; tiefe Falten lagen um die lebhaften Augen, die durch eine goldene Brille blinkten. Ohne aufzusehen ging er zu seiner Haustüre hinein, und mit sehr zerstreuter Miene erschien er am Mittagstisch.
Grade vor ihm war Selma heimgekommen. Sie kam aus der Mädchenschule, wo sie am Vormittag drei Stunden gegeben hatte, und auch sie hatte einen Haufen blaueingebundener Hefte[S. 29] mit sich. Als der Adjunkt ins Zimmer trat, ging sie ihm entgegen und gab ihm einen Kuß.
„Wie geht’s heut, Papa?“
„Danke, gut, Kleine! Ich bin bloß schrecklich hungrig!“ Gleich darauf erschien in der Tür zum Eßzimmer Frau Hallins Kopf.
„Ist Gustaf noch nicht da? Die Fleischklöße werden ganz kalt.“ Im selben Augenblick hörte man ein heftiges Türzuschlagen, und ein aufgeschossener, blonder junger Mensch mit roten Wangen und lebhaften grauen Augen stürzte herein. Er war mager, das hellbraune Haar lag in einer dicken Locke auf seiner Stirn, sein ganzes Gesicht sah außergewöhnlich aufgeweckt aus, und um die Lippen lag ein Zug frühreifer Ironie, der aber doch absolut nichts Anmaßendes hatte.
„Na, da bist du ja!“ sagte der Adjunkt. „Geh rasch auf dein Zimmer und wasch dich. Mama sagt, das Essen wird kalt!“
Gustaf ging langsam auf seine Stube, nachdem er die Vermutung ausgesprochen hatte, das Essen würde ihm ja doch nicht zuerst angeboten werden, weshalb er ja auch grad so gut ein bißchen nach den andern kommen könne.
Das war eines der ständigen Streitobjekte zwischen Vater und Sohn. Den Vater kränkte es, wenn zu Tisch nicht alle versammelt waren, weil er es als einen Beweis für die verhaßte Selbständigkeit der Jugend ansah, wenn die Kinder zu spät kamen. Aber er hatte sich daran gewöhnt, und nur wenn er wegen irgendetwas anderem schlechter Laune war, beachtete er es überhaupt noch.
Heute nun lagen ihm die fünfzig Kronen und der Mantel im Sinn. Vater, Mutter und Tochter standen mit gefalteten Händen um den Tisch.
„Ich glaube, es hat keinen Zweck, daß wir auf Gustaf warten,“ sagte Frau Hallin.
Der Adjunkt bewegte ungeduldig die Achseln, legte wie ein Märtyrer den Kopf auf die Seite und faltete die Hände, zum[S. 30] Zeichen, daß man anfangen sollte zu beten. Eine Weile standen alle mit gesenkten Häuptern da; dann setzten sie sich.
Es war ein kleiner runder Tisch. Der Adjunkt saß seiner Frau gegenüber; zwischen ihnen saßen die Kinder, sodaß das Ganze eine Art Viereck bildete. Das Tischtuch war nicht ganz tadellos weiß; mitten auf dem Tisch stand ein alter Aufsatz von schwarzem Holz mit einem Salzfaß auf jeder Seite. Vor jedem Gedeck stand ein Trinkglas — die Gläser waren alle sehr klein — vor dem Platz der Mutter eine Flasche Wasser, vor dem des Adjunkten eine kleine Flasche Bier und eine Schnapsflasche. Der Adjunkt goß sich ein Gläschen voll ein, aß eine Scheibe Brot ohne Butter, leerte sein Glas und nahm sich dann von den Fleischklößen, die das Mädchen eben herumbot.
Die Tür ging auf und Gustaf trat ein. Er legte beide Hände auf den Stuhlrücken, verbeugte sich mit einem hastigen Kopfnicken, zog den Stuhl zurück und setzte sich, zugleich mit einer raschen Bewegung die Serviette über die Knie legend. Die Mutter schüttelte den Kopf und bestrafte ihn für das zu kurze Tischgebet mit einem vorwurfsvollen Blick, der Gustaf herzlich amüsierte. „Ach so, heut gibt’s wieder Fleischklöße!“ bemerkte er. Der Adjunkt war nach und nach in etwas bessere Laune gekommen. Das Appetit-Gläschen und das warme Essen hatten ihn aufgetaut, und er war eben im Begriff, etwas Lustiges von der Schule zu erzählen, was er stets im Vorrat hatte, als Gustaf sich unglücklicherweise über die Fleischklöße ausließ. Augenblicklich kamen ihm wieder die fünfzig Kronen in den Sinn, diese verwünschten fünfzig Kronen, und durch eine nicht ganz klare Ideenverbindung kam ihm dann der Gedanke, wie unzufrieden doch Kinder mit allem wären, wie ihre armen Eltern arbeiteten und sich abrackerten, und die Kinder dann das Essen bekrittelten, das die Eltern mit Mühe und Schweiß für sie erarbeitet hatten. All das sagte er auch dem Sohn, in einem väterlich-ermahnenden Ton, der den ganzen Tisch zum Schweigen brachte,[S. 31] aber mit einer Logik, die ein Lächeln auf des Sohnes Gesicht hervorrief.
Als der Vater geendet hatte, bemerkte Gustaf, den die Schwester vermittels Zublinseln und Grimassen vergeblich zum Schweigen zu bringen suchte: „Ich versteh nicht, was du willst, Papa. Ich hab ja doch sechs Fleischklöße auf meinem Teller!“
Selma lachte hell auf. Sie mochte den Vater gewiß nicht gern reizen, wenn er über irgend etwas ärgerlich war, und das Gezänke bei Tisch war ihr gradezu verhaßt. Aber sie konnte nicht anders. Es war ihr unmöglich, ihren Ernst zu bewahren; und so lachte sie laut auf. Die Mutter versuchte vergeblich, mit ein paar beruhigenden Worten den Sturm abzulenken. Der Adjunkt war böse und es war ihm ein Bedürfnis, die andern durch seine üble Laune herabzustimmen, — ein Bedürfnis, das allen Menschen eigentümlich ist, die von täglichen kleinen Widerwärtigkeiten heimgesucht werden.
„Ich kann mir nicht helfen,“ brach er los, „aber es macht mir nun einmal zum mindesten einen traurigen Eindruck, wenn meine Kinder es so offenbar an Respekt mir gegenüber fehlen lassen! Daß Selma ihren Bruder noch unterstützt, wenn er sich schlecht aufführt, das hatte ich nicht erwartet; daß Gustaf gradezu unverantwortlich dreinhaut, das ist ja freilich nichts Neues.“ Gustaf sah schweigend vor sich nieder, um seinen Gesichtsausdruck zu verbergen, und murmelte etwas vor sich hin, was er nicht laut zu sagen wagte. Er wollte kein weiteres Gezänke. Im stillen grübelte er darüber nach, ob er nun Schelte gekriegt hatte, weil er die Fleischklöße bekrittelt oder weil er zu viel davon genommen hatte. Und er gelobte sich im stillen, wenn das nächste Gericht käme, würde er das mit einer so abgezirkelten Mäßigkeit genießen, daß es dem Adjunkten in der Seele weh tun müsse!
Inzwischen entkorkte der Adjunkt die Bierflasche und schenkte sich ein Glas voll ein. Den Rest ließ er für Selma und Gustaf[S. 32] übrig. Diese Sparsamkeit war etwas, was Gustaf tief verachtete; er leerte gewöhnlich sein Glas mit scherzhafter Anstrengung und stieß nachher ein langgezogenes „Ah“! aus, als wolle er andeuten, daß es seine schwachen Kräfte übersteige. Heute begnügte er sich damit, das Bierglas so hastig zu leeren, als wäre es nur ein Fingerhut voll. Eh er es niedersetzte, guckte er ernsthaft hinein, wie um nachzusehen, ob nicht noch etwas drin sei.
Frau Hallin, die den Frieden wiederherstellen wollte, hatte inzwischen begonnen, von Ernsts Heimkehr zu sprechen. Sie fragte den Adjunkten, ob er schon daran gedacht hätte, wo Ernst wohnen solle. Sollte er in des Vaters Stube schlafen? Oder sollte man nachts eine eiserne Bettstelle im Wohnzimmer aufschlagen? Aber der Adjunkt machte bloß eine abwehrende Handbewegung und sagte: „Frag doch mich nicht! Ich hab doch nichts zu sagen hier im Haus!“
Nach und nach taute er aber doch ein bißchen auf. Ein Wort gab das andere; man sprach davon, wie es werden würde, wenn Ernst heimkam; man war neugierig, ob er wohl ein gutes Zeugnis mitbringen würde, ob er recht mager wäre vom vielen Studieren usw. Selma mischte sich sehr lebhaft ins Gespräch und schwatzte mit. Frau Hallin wurde ernsthaft, als das Gespräch auf den Sohn kam.
„Wann glaubst du, daß die Ordination ist?“ fragte sie ihren Mann.
Jedoch der Adjunkt war noch immer schlechter Laune. „Das ist noch nicht bestimmt“, sagte er und machte eine abweisende Handbewegung.
Aber das Gespräch war doch nach und nach lebhaft und allgemein geworden. Die Frage, wo Ernst wohnen sollte, ward eifrig erörtert. Der Vater bestand darauf, er solle im Wohnzimmer schlafen. Die Mutter erklärte sehr bestimmt, er müsse in des Vaters Zimmer schlafen; und die Geschwister stimmten[S. 33] ihr bei. Er mußte sich doch auf die Probepredigt und so allerlei ähnliches vorbereiten. Da konnte er ungestört arbeiten, die ganzen Nachmittage lang, solange der Adjunkt in der Schule war. Während des Gesprächs war eine friedlichere Stimmung entstanden. Der Adjunkt gab in der Frage um das Zimmer nach und begnügte sich damit, noch einmal die Besorgnis auszusprechen, es möchte doch zu umständlich sein. Frau Hallin drang eifrig darauf, daß jeder auch seine Arbeit möglichst im voraus tun sollte, damit man, wenn Ernst heimkam, ein bißchen frei wäre. Sie würde backen und noch einmal Weihnachtsbier machen. Ernst tat ihr so leid. Er hatte natürlich in Upsala kein Weihnachtsbier bekommen! Selma erklärte, sie würde sich diese Woche tüchtig hinter ihre Hefte setzen, damit sie dann frei wäre. Gustaf schwieg und sah verärgert aus. Nur als vom Weihnachtsbier die Rede war, flog ein Ausdruck der Zufriedenheit über seine Züge. Wenn es Weihnachtsbier gab — das wußte er — so brauchte er wenigstens nicht von den Resten aus Vaters Bierflasche zu leben!
Jetzt nahm Frau Hallin selber die Teller ab, und als sie mit dem zweiten Gericht hereinkam, leuchteten Gustafs Augen ganz merkwürdig auf. Mit triumphierender Miene packte er seinen Löffel und sah dabei ganz kannibalisch aus. Denn es gab Apfelgrütze, warme, süße, frische Apfelgrütze mit kalter Milch; das war das Lieblingsgericht der ganzen Familie. Alle nahmen sie sich große Portionen, und als Gustaf an die Reihe kam —, nun er hätte sicher neue Vorwürfe vom Adjunkten geerntet, wenn er selber nicht sich mindestens ebensoviel auf den Teller geschöpft hätte! Und eine lange Weile hörte man nichts als schmatzende Zungen, kratzende Löffel und gurgelnde Milch.
Das Dankgebet nach Tisch ward sehr viel fröhlicher gebetet, und als Gustaf dem Vater nach Tisch dankte, klopfte ihm der Adjunkt versöhnlich auf die Achsel, ohne daß der Sohn auch nur ein Wort zu sagen brauchte. Dann trank man im Wohn[S. 34]zimmer Kaffee, und der Adjunkt erzählte dort seine Schulgeschichten, die er während des Mittagessens hatte verschlucken müssen.
Eine Weile später war der Adjunkt auf seine Stube gegangen. Ein Stündchen lag er auf dem Sofa und ruhte aus — die Zeitung auf dem Bauch. Dann saß er am Schreibtisch, und die Feder machte rote Bogen und Striche und wütete in falschen Lateinsätzen, während er selber seinen alten Cavallin im Verein mit Georges um Rat fragte. Und auf ihrem Stübchen saß Selma und tat dasselbe mit ihren französischen Aufgabeheften. Gustaf hatte sein Zimmer oben unterm Dach, eine Treppe hoch, dem des Vaters gegenüber. Es war ein kleines Zimmerchen, eigentlich nur ein Verschlag. Da saß er in seinem Schaukelstuhl und dampfte aus einer langen Pfeife, während er seine etwas geteilte Aufmerksamkeit der Repetition der griechischen Verben auf μι widmete.
Und in der Wohnstube drunten saß Frau Hallin und nähte bei der Lampe. Die Stunden verrannen; es schlug acht Uhr; und der Teetisch versammelte die zerstreuten Glieder der arbeitenden Familie wieder um sich.
Am folgenden Tag ging der Adjunkt zehn Minuten früher als sonst zur Schule. Er wollte gern seinen Freund Bruhn sprechen, eh die andern kamen. Von ihm konnte er ganz gewiß die fünfzig Kronen entlehnen. Bruhn war Professor und Junggesell, lebte sehr zurückgezogen und hatte stets Gelder auf der Bank, die er im Winter zusammensparte, um im Sommer reisen zu können.
Aber als der Adjunkt ins Lehrerzimmer kam, war es leer; kein Bruhn war zu sehen.
Es war kühl in dem großen Raum; das kalte Licht der Gasflammen brach sich gegen den flackernden Schein des Kachelofens. Der große Tisch mit den hochlehnigen Sesseln darum erstreckte sich durch die ganze Länge des Zimmers und gab ihm das Aussehen eines Gerichtssaals, während die Karten, die an den Wänden hingen, und die Schränke zwischen den Fenstern bezeugten, daß hier die Götter der Weisheit und Gelehrsamkeit das Szepter führten.
Der Adjunkt trat zum Ofen und wärmte sich die Hände. Dann lauschte er eifrig. Sie fingen doch nicht schon mit Orgelspielen an droben? Dann sangen sie ihren Choral, und die Morgenandacht war aus. Und dann kamen sie, einer nach dem andern, der Rektor, die Professoren, die jungen, unverheirateten Lehrer, die natürlich nicht zu begreifen vermochten, daß ein alter, verheirateter Mensch Sorgen haben konnte! Die Jungens würden nach Karten und physikalischem oder anatomischem Lehrmaterial aus- und einlaufen. Vor der Pause würde er Bruhn dann nicht mehr treffen. Und nachher kam so leicht etwas dazwischen.
Die Tür ging auf; zwei junge Lehrer traten ein. Der eine war ein kleiner, energischer Mann mit funkelnden, hellblauen Augen und einem scharfen Zug um den Mund. Er war stellvertretender Lehrer in Schwedisch und Latein. Der andere hieß Ephraim Simonson. Auch er war klein von Wuchs. Etwas Raubvogelhaftes lag in seinem Gesicht, seine Augen waren klein und beweglich und rasch und liefen eifrig hin und her, als beobachte er stets. Unten an dem spitzigen Kinn hing ein flachsfarbener Bart, und um das ganze Gesicht lief ein Rahmen dünnen Haars von derselben Farbe wie der Bart. Die Nase war schmal und gebogen und wölbte sich über ein paar dünnen Lippen, die, wenn er schwieg, sehr fest zusammengepreßt waren, sich aber, wenn er redete, rasch, mit eigentümlichem kurzem Schnalzen öffneten, während die Augen dann einen scharfen,[S. 36] stechenden Ausdruck erhielten. Er war Theologe und außerordentlicher Lehrer an der Schule; sein Fach war Religion.
Als der Adjunkt die beiden erblickte, bewölkte sich sein Gesicht und er machte eine ungeduldige Bewegung mit den Schultern. Aber Simonson war ein Studienkamerad von Ernst, und den andern mochte er ganz gern wegen seines jugendlichen Wesens und seiner frischen Upsalageschichten. Er konnte nichts anderes machen, als freundlich grüßen. Die Herren schüttelten einander die Hand, und Simonson sagte etwas vom Wetter. Der Adjunkt bemerkte, es sei kalt im Lehrerzimmer, und so sei es gewesen in all den achtzehn Jahren, seit er hier wäre. Der Stellvertretende stand schweigend da und führte ein paarmal die Hand zum Munde, um das Gähnen zu verbergen.
Jetzt kam Bruhn. Er war ein großer, breitschultriger Mann, von einem Äußern, das unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sein Gesicht war ganz durchfurcht von Linien, er war kahl, aber der nackte Teil seines Kopfes sah aus, als wäre er nur eine Fortsetzung der Stirn, und mitten auf der Stirn war eine große, unförmliche Beule, die im Verein mit den tiefliegenden Augen und starken Augenbrauen dem ganzen Gesicht ein Gepräge kolossaler Gedankenkraft gaben, einer Kraft, die sicher und fest verschlossen war. Das ganze Äußere war höchst ungepflegt. Über einer abgetragenen Weste, die bedenklich ins Grüne spielte, hing ein zottiger, graugesprenkelter Bart, in dem sich sehr deutlich Schnupftabaksreste bemerkbar machten. Der Rock war an den Nähten sehr verschossen, ein paar Knöpfe waren, wie es schien, gewaltsam abgerissen, und unten an den Hosen hatten die großen, schiefgetretenen Stiefel einen ganzen Saum von Wollfäden ausgefranst, die um ihn her hingen und schleiften.
Nachdem er ins Zimmer getreten war, zog er mit einer eckigen Bewegung den Überzieher aus und hängte — oder schmiß — ihn auf den Kleiderständer, warf dann den Hut mit[S. 37] einem Klatsch auf einen Sessel und nickte den Anwesenden zu, ohne ihnen die Hand zu geben. Pastor Simonson machte eine Grimasse, sobald er den Professor erblickte. Der Ankömmling ging zum Ofen, spreizte die Beine und stellte sich mit dem Rücken gegen das Feuer. Die Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt; den einen Rockschoß hielt er unterm Arm. Als er eine Weile so dagestanden hatte, zog er eine silberne Schnupftabaksdose heraus und schnupfte geräuschvoll, daß der Tabak in langen Streifen über Bart und Weste rann. Worauf er wieder seine Lieblingsstellung einnahm.
„Hat jemand von den Herren gestern die Zeitung gelesen?“ bemerkte er schließlich. „Ich möchte wohl wissen, ob’s in Rußland irgendwas Neues gibt!“
Der Stellvertretende hatte die Zeitung gelesen und belehrte ihn, daß nichts darin stünde.
„So, also lebt er noch!“ sagte der Professor und wechselte die Füße vor dem Feuer. „Es interessiert mich, das Land!“ Eine Weile war es still im Zimmer. Niemand schien so früh am Morgen Sinn für Politik zu haben.
Plötzlich hörte man vom Oberstock her den singenden, eintönigen Laut der Orgel; er ward stärker und stärker, spann sich zum Akkord, zu kunstvollen Läufen aus und endete in einem Choral, in den die schrillen Stimmen der Kleinen bis zu den rauhen Mutationsstimmen der Großen energisch einstimmten.
Professor Bruhn machte eine sonderbare Bewegung mit Körper und Gesicht, die aussah wie eine einzige große Grimasse.
„Satansmusik!“ äußerte er.
Der Adjunkt Hallin warf dem Kollegen — der beiden jungen Lehrer wegen — einen warnenden Blick zu. Pastor Simonson mißbilligte durch seine ganze Haltung, seinen ganzen Gesichtsausdruck die unpassende Äußerung; der andere Lehrer schien es komisch zu finden; man sah es seinem Gesicht an, wie er sich über den wunderlichen Kauz am Kachelofen amüsierte.
Professor Bruhn kümmerte sich keineswegs um die Warnung, die im Blick des Adjunkten lag; ruhig fuhr er in seinen Bemerkungen fort.
„Eine Satansmusik! sag ich! Ist’s etwa ein Verbrechen, wenn man das sagt? Ist vielleicht die Orgel, die da droben in dem alten Saal steht, und vor der Petterson sitzt und aus Haeffners Choralbuch spielt, so was ganz besonders Heiliges? Spielt man vielleicht jetzt Gottes Wort? Und wird es etwa heiliger darum, daß die Jungens hinter ihren Choralbüchern dazu grinsen?“
Pastor Simonsons Nasenflügel bebten. Er hegte eine Antipathie gegen Bruhn; denn er ahnte instinktiv in ihm den Gegner und hielt ihn außerdem für roh und ungeschliffen. Auch führte er lieber selber das Wort.
„Für mich“, sagte er, „hat der Ton der Orgel immer etwas Ehrwürdiges, auch wenn man sich — in künstlerischer Hinsicht — eine vollendetere Ausführung vorstellen könnte.“
Professor Bruhn schneuzte sich.
„O!“ sagte er ruhig. „Das ist ja eine sehr interessante Erklärung!“
Der junge Lehrer lachte laut auf, und Pastor Simonson sah aus, als ertrage er mit christlicher Geduld eine unerhörte Verunglimpfung.
Plötzlich verstummte die Orgel oben. Eine kleine Weile herrschte Schweigen.
„Glauben Sie, daß die Jungens jetzt beten, Herr Pastor? Wenn sie auch ihre Choralbücher unter der Nase haben?“ fragte Professor Bruhn und nahm eine gewaltige Prise.
„Ja“, erwiderte der junge Pastor mit einer Stimme, die vor Verdruß bebte. „Ich möchte es zum mindesten glauben.“
„Ach so“! sagte Professor Bruhn. „Na — ich nicht!“
Inzwischen hörte man von droben das Scharren von Bänken, die zur Seite geschoben, das Trampeln von Füßen, die unge[S. 39]duldig ausgestreckt wurden und den Boden stampften. Man hörte, wie die großen Doppeltüren aufgerissen wurden, hörte den taktfesten Schritt der kleinen Füße der unteren Klassen, der immer ungeregelter wird. Eine heitere Knabenstimme drang ab und zu ins Lehrerzimmer, ein helles Lachen, das durch den Korridor klang und ein Echo weckte. Mehr wurden es, immer mehr, und als sich schließlich noch der feste Schritt der älteren Jungens mit dem der Kleinen mischte, da ging bald alles über in ein unordentliches, wirres Geräusch von Stimmen, Trampeln, Lachen, Schreien, Gedränge, Gepuffe, Türzuwerfen. Als die Schar am Lehrerzimmer vorbeikam, ward es stiller, aber als sie an der gefahrvollen Stelle vorüber waren, nahm der Lärm wieder zu. Und durch all das Unwesen hörte man die Stimme des Religionslehrers, der an der Treppe mit seinem Stock aufs Geländer schlug und rief: „Wollt ihr wohl Ordnung halten, ihr da drunten!“
Und während all des Unwesens stand der Professor Bruhn und lachte in sich hinein, ein glucksendes, sarkastisches Lachen, als wollte er sagen: jetzt nehmen sie wieder Schaden an ihrer Seele — nach all dem Gebet und Choralsingen!
Pastor Simonson merkte das freilich nicht. Er hatte Professor Bruhn den Rücken zugewandt und redete mit ein paar älteren Lehrern, die inzwischen gekommen waren.
Es war mittlerweile fünf Minuten über Sieben geworden; alle machten sich fertig, in ihre Klassenzimmer zu gehen. Der Religionslehrer kam pustend vor Zufriedenheit ins Lehrerzimmer. Fünf Schüler aus den obersten Klassen hatte er entdeckt, die beim Beten gefehlt hatten. Derartige Beweise von Scharfsinn bildeten seinen Stolz und seine Freude im Leben. Er wußte die ganze Liste auswendig, und während einer von den älteren Schülern das Gebet las, stand er, den Hut vor den Augen, und rechnete die ganze Zeit über nach, ob auch alle da wären. Da es in der Schule etwa zweihundert Schüler gab,[S. 40] mußte er wohl oder übel eine gewisse Fertigkeit im Rechnen entwickeln. Er lernte auch täglich seine Aufgabe besser, und es war sein höchster Ehrgeiz, daß er die ganze Schule, die Kleinsten mitinbegriffen, inspizieren konnte, eh das Frühgebet zu Ende war. Die Abwesenden behielt er treulich im Gedächtnis, und nach beendeter Andacht ging er stets in die Klassenzimmer, aus denen ein Unglücksvogel gefehlt hatte, schnüffelte mit seiner langen Nase herum und fragte den Delinquenten wohlwollend: „Wo warst du denn heute?“ Der Angeredete versuchte dann immer, beschämt auszusehen; aber es glückte nur selten. Denn die ganze Schule wußte, welch einen Genuß diese Inquisitionsbesuche dem Professor Kumlander bereiteten. Heute war er ganz besonders zufrieden. Er hatte fünfe erwischt, von denen einer bis jetzt noch nie zu spät gekommen war, und mit dem alten Norbeck in der Tasche schlurfte er zufrieden und krummbucklig davon, um in der Siebenten seine Stunde zu geben.
Adjunkt Hallin war der einzige, der es nicht besonders eilig hatte. Sonst war er immer einer von den ersten, die in ihre Klasse gingen. Heute aber saß er ganz eigensinnig da und guckte in ein Exemplar des Cavallinschen Lexikons. Er wartete darauf, daß Professor Bruhn sich auf den Weg machen sollte, damit er eine Gelegenheit erwischte, mit ihm zu reden. Aber der Professor hatte es auch gar nicht eilig; er stand noch immer vor dem Ofen und wärmte sich; und Adjunkt Hallin wurde nachgerade nervös. Denn der Rektor war keineswegs liebenswürdig, wenn er merkte, daß die Lehrer die Zeit für die Stunden nicht pünktlich einhielten.
Dennoch — er mußte sich die Geschichte vom Hals schaffen. Er seufzte tief auf und sah einen Augenblick lang aus, wie ein ganz alter, lebensmüder Mann. Aber er blieb sitzen und wartete, bis die letzten fort waren. Und noch immer stand der Professor in derselben Stellung am Kachelofen. „Daß er sich[S. 41] auch hat mit dem verwünschten Pastor zanken müssen!“ dachte der Adjunkt. „Jetzt ist er natürlich schlechter Laune!“
„Gehst du nicht in deine Klasse?“ sagte er laut. Es wurde ihm immer schwer, eine derartige Angelegenheit einzuleiten.
„Meine verdammte Lauffrau hat mich eine Stunde zu früh geweckt! Schließlich kann ich ja grad so gut hier philosophieren, wie anderswo!“ lautete die Antwort.
Und Bruhn machte eine ungeduldige Bewegung mit den Achseln und warf den Kopf herum.
Adjunkt Hallin saß eine Weile ganz still da und blätterte im Cavallin. Es wurde doch mit jedem Jahre schwerer, um Geld zu bitten, wenn auch manche behaupteten, der Anfang wäre das schlimmste. Schließlich legte er das Buch weg, erhob sich und sagte mit gedämpfter Stimme, als wolle er eine lange Einleitung machen: „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“
Professor Bruhn ließ den Rockschoß fallen und holte die Schnupftabaksdose heraus, die er von nun an unaufhörlich zwischen den Fingern drehte.
„So!“ sagte er. „Und was denn?“
„Weihnachten hat recht viel gekostet heuer.... Und in ein paar Tagen kommt Ernst heim.... Am ersten habe ich die Miete bezahlen müssen.... Ich hätt’ mich ja ganz gut einrichten können.... aber es kamen unerwartete Ausgaben.... könntest du mir fünfzig Kronen leihen bis zum nächsten Quartal?“
Der erste Teil der Rede ward langsam, in eigentümlich scharfem Ton, leise und mit beinah zitternder Stimme gesprochen. Der letzte Satz dagegen kam heftig und überstürzt heraus, ungefähr, wie wenn man eine schlechtschmeckende Arznei nimmt.
Professor Bruhns Gesichtsausdruck veränderte sich ganz plötzlich. Er brach in ein gutmütiges, geräuschvolles Lachen aus und machte die fürchterlichsten Grimassen, während die Schnupftabaksdose wie ein Ball in seinen Händen tanzte.
„Bist du ein verdammt komischer Kerl, Hallin!“ sagte er. „Gehst wie die Katze um den heißen Brei herum und mühst dich ab und schwitzst, wegen fünfzig Kronen! Selbstverständlich kannst du sie haben; mir liegen sie ja bloß da. Ich geh gleich und hole sie; dann hast du sie in der Pause.“
Und Professor Bruhn lachte immer lauter vor seinem Kachelofen, trampelte mit beiden Füßen auf den Boden, wand sich aus purer guter Laune und wiederholte in einem fort: „So ein komischer Kauz! Fünfzig Kronen! Hahaha! Das kommt davon, wenn man verheiratet ist! Jawohl!“ Und dabei sah er aus, wie ein vergnügter Tanzbär.
Adjunkt Hallin fühlte sich plötzlich wie ein ganz anderer Mensch. Er war froh, daß es so leicht und gut abgelaufen war. Er hatte seine fünfzig Kronen und war wieder ein freier Mann. Und er lachte und schüttelte Bruhn freundschaftlich am Arm.
„Dank dir, Kamerad“, sagte er. „Aber sag, warum warst du denn gegen unsern jungen Kollegen, den Pastor, so ausfällig?“
Professor Bruhn hielt plötzlich mitten in seiner Frohlaune inne; sein Gesicht sah auf einmal ganz anders aus. Die Augen hatten einen fast grimmigen Ausdruck und er schlug mit der rechten Hand in die Luft, daß man fürchten mußte, der Arm würde aus dem Schulterblatt gehen.
„Kollege!“ sagte er. „Meinst du, so einen jungen Hund nehm’ ich als Kollegen? Noch vor fünf Jahren war er mein Schüler. Er taugte nichts, verstand nichts, wußte nichts. Dann ist er fünf Jahre lang in Upsala gewesen und hat es zu einem jämmerlichen Examen gebracht. Und dann kommt er hierher und legt los, als hätt’ er mittlerweile alle Weisheit der Welt mit Löffeln gefressen! Meinethalben — ich gönn ihm ja seinen Glauben! Mag er ein Idiot sein — meinethalben! Aber aus meinem Bereich soll er wegbleiben. Hab ich nicht recht? War die Musik nicht unter der Kanone? Na also, warum braucht er mit mir anzubändeln? Kann ich dafür?“
Professor Bruhn war keineswegs gut auf Pfarrer zu sprechen und versagte es sich im allgemeinen nicht, seiner Antipathie sehr freien Lauf zu lassen. Besonders wenn er ärgerlich war bediente er sich einer fast affektierten, regelrechten und grammatikalischen Redeweise, die ihm gleichsam zur zweiten Natur geworden war. Diese Redeweise klang um so komischer, als er sie immer mit den kräftigsten Flüchen vermischte. Er redete heftig und lange und ging schließlich zu einem stillen, inwendigen Gebrumm über.
Der Adjunkt sah ein bißchen geniert aus.
„Mein Sohn ist ja auch Theologe!“ sagte er endlich.
„Ja — aber der ist aus ganz anderem Stoff!“ sagte der Professor heftig. „Freilich — er kann sich ja auch verändert haben. Man kann ja nie wissen.“
Er schwieg, wie beschämt ob seiner eigenen Grobheit.
„Es wird am besten sein, du gehst in deine Klasse!“ sagte er dann plötzlich. „Das Geld kriegst du in der Pause.“ Hallin blickte rasch in den Schulhof hinaus. Über die Staffel, die zwischen Eisengeländern zur Schule hinaufführte, schritt soeben ein ungewöhnlich kleiner Mann von intelligentem, gewecktem Aussehen. Seine kleinen, scharfen Augen sahen sich lebhaft um, sein Stock stieß energisch gegen die Staffel, und er setzte die Füße auf eine Weise, die ein cholerisches Temperament andeutete.
„Ich danke dir!“ sagte der Adjunkt. Und indem er seinen Virgil zur Hand nahm, ging er hastig in den Korridor hinaus. Es gelang ihm auch, in seine Klasse zu schlüpfen, noch ehe der Rektor in den Korridor trat. Professor Bruhn aber stellte sich wieder vor dem Ofen auf — mit gespreizten Beinen — den linken Rockschoß unter dem Arm und die Hände in den Hosentaschen.
Als Frau Hallin am Nachmittag allein war, legte sie eine Weile den Kopf auf den Tisch und weinte. Schwere, bittere Tränen, hervorgepreßt von der Sorge, die am schwersten und[S. 44] bittersten ist und am meisten schmerzt, weil sie Tag für Tag da ist, weil nichts sie verscheucht: die Sorge ums tägliche Brot. Sie verstand so wohl den Grund der Mißstimmung ihres Mannes, es tat ihr so weh, wenn die böse Laune über ihn kam und er mit den Kindern haderte. Denn sie wußte ja, die Kinder konnten ihn nicht verstehen, wie sie ihn verstand. Sie hatten ihn ja nicht gesehen, als er sich ihr anverlobte, mit ihr das Leben zu leben, das so reich und so herrlich vor ihnen lag! Sie hatten ihn nicht gesehen, wie er jung und schön, im Bräutigamsstaat, sie durch all die gaffenden Leute in der Kirche zum Altar führte! Sie hatten ihn nicht gesehen, wie er, jung, voller Hoffnung, wie ein lustiger Junge umhergesprungen war und ihr geholfen hatte, alles in ihrem neuen Heim einzurichten. Sie glaubten bloß, er sei ein krittliger, engherziger alter Mann, der ihre Freude störte und für nichts Sinn hatte als für das Niedrige und Kleinliche. Denn die Kinder beurteilen die Alten unrecht — vielleicht urteilen auch die Alten dafür wieder unrecht. Aber sie fühlte dies alles nicht klar; sondern ihre Tränen rannen, wie so oft zuvor, weil ihr das Leben so seltsam ungerecht vorkam im Vergleich zu dem, was sie früher gelernt hatte, daß es sein sollte. Und das Sonderbare war — man lernte auch später nichts Besseres! Wenn sie jetzt darüber nachdachte, so ganz im allgemeinen, so war es noch genau wie vor dreißig Jahren, als ihre frohen Mädchenträume um ein helles, freundliches Heim geflattert waren, in dem zwei Menschen für einander lebten, in dem es immer ruhig war und fröhlich, wie auch des Lebens Stürme draußen tobten. Aber weshalb war es nicht so? Weshalb nicht? Weshalb?
Ihre Tränen rannen, schwer und bitter; sie sah alt und müde aus. Es quälte sie so schrecklich, daß ihr Mann ihretwegen Sorgen haben sollte. Wie sie auch sparte — nie wollte es reichen. Sie dachte daran, wie die Kinder immer scherzten über diese übertriebene Sparsamkeit, wie sie es nannten. Begriffen sie[S. 45] denn nicht, daß man nur ihretwillen sparte? Um ihnen vorwärts zu helfen? Damit sie etwas lernen, etwas Rechtes werden sollten?
Sie trocknete hastig ihre Tränen, und während ihre Lippen noch von unterdrücktem Weinen zitterten, ging sie hinaus ins Vorzimmer und holte ihren alten Mantel herbei, breitete ihn auf den Tisch unter der Lampe aus und prüfte ihn.
Viele Jahre lang hatte er gedient, und oft war er so untersucht worden. Der Stoff war recht gut. So einen Stoff kriegte man nicht so leicht wieder. Zuerst war er ganz grade, ohne Garnierung, bis hinab zu den Füßen gegangen — weite Ärmel hatte er gehabt. Dann hatte man die weiten Ärmel in enge umgewandelt, und hatte den Stoff zum Ausbessern benützt. Man sah das Geflickte gar nicht, wenn man den Muff darüber hielt. Dann hatte sie Seidenaufschläge um die Ärmel und die Kanten gesetzt, und schließlich hatte sie aus dem langen Mantel einen kurzen gemacht, der dicht unter den Hüften schloß. Aber jetzt legte sie ihn hoffnungslos beiseite. Er war so abgenützt, daß das Licht durch die Stelle über der Brust schien; an den Ellenbogen war er schon fast zerrissen, und ein paar von den Knopflöchern konnte man unmöglich mehr ausbessern. Mit einem Seufzer hängte sie den Mantel wieder auf und setzte sich an ihre Arbeit. Ihre Tränen trocknete sie, fest entschlossen, daß niemand beim Abendessen sehen sollte, daß sie geweint hatte.
Aber als der Adjunkt aus der Schule heimkam und ihr die fünfzig Kronen gab, da kam das alte Gefühl wieder über sie. Sie weinte, während sie den Schein in der linken Hand hielt, als wolle ihr das Herz brechen, und bückte sich nieder und küßte ihres Mannes Hand, als müsse sie ihn um Verzeihung bitten.
Der Adjunkt zog seine Hand zurück und strich ihr über die Stirn. Es war ihm immer ein Schmerz, wenn er sie so sah. Und mit einer etwas erzwungenen Stimme sagte er: „Weine[S. 46] doch nicht. Es hilft ja doch nichts. Denk lieber daran, daß Ernst jetzt bald heimkommt!“
Sie blickte ihn voll Dankbarkeit an, weil er versuchte, etwas zu sagen, das ihr Freude machte. Aber wider Willen drängten sich ihr die Tränen hervor.
„Und wenn er dann eine feste Anstellung hat,“ fuhr der Adjunkt fort, „so wird das immerhin eine Erleichterung.“ Frau Hallin nickte. Und die tägliche Sorge ward für diesmal beiseite gelegt.
Der Gymnasiallehrer Hallin war der Sohn eines Pastors, der ein paar Meilen südlich von Gammelby ein großes Pastorat gehabt hatte. In der ganzen Familie waren überhaupt immer viele Geistliche gewesen; und alle hatten sie zu dem Stift Gammelby gehört, und alle hatten sie ihr Teil gehabt an den Gütern dieser Welt. Der alte Propst war ein recht gedeihlicher Mann, das wußte alle Welt, und daß man im Pastorat gut und behaglich lebte, das sah man dem Propst und seiner Frau Propstin deutlich genug an.
Wenn nur nicht die vielen Kinder gewesen wären! Aber es schien, als wolle Gottes Segen in dieser Beziehung überhaupt kein Ende nehmen. Jedes liebe geschlagene Jahr war bei Propstens Kindtaufe; und wären die Kinder alle am Leben geblieben — die Zahl wäre weit über die Zehne hinausgewachsen. So waren es, als der Propst starb, neun.
Das Vermögen reichte natürlich nicht so weit; wenn die Söhne mit der Schule fertig waren, mußte der Propst Geld aufnehmen, um ihnen auf der Universität und der landwirtschaftlichen Hochschule weiterzuhelfen. Und als der Alte nicht mehr da war, wunderten sich noch alle höchlich darüber, daß[S. 47] er mit seinem guten Pastorat so große Schulden hatte machen können. Jene von den Söhnen, die mit ihren Studien noch nicht fertig waren, mußten nun selber mit Schuldenmachen anfangen, damit sie zu Ende studieren konnten.
Adjunkt Erik Hallin war der dritte der Söhne. Daheim, wo alles reichlich zuging, hatte er sich Gewohnheiten zugelegt, die während der Universitätszeit keineswegs eingeschränkt wurden, und er kam von Upsala zurück mit viertausend Kronen Schulden, die sich in den zwei Jahren seit des Vaters Tod so angesammelt hatten.
Also jetzt galt’s sparen! Er erhielt eine Anstellung als Hilfslehrer an einer fünfklassigen Lateinschule mit ein paar hundert Kronen Gehalt, kam bald in den Ruf eines guten Lehrers und erteilte in fast allen seinen freien Stunden Privatunterricht. Man rechnete ihm nach, daß er im Durchschnitt täglich zehn Stunden gab. Und im ersten Jahr sparte er wirklich so viel, daß er fünfhundert Kronen an seinen Schulden abbezahlen konnte.
Dann verliebte und verlobte er sich, bewarb sich um die Gymnasiallehrerstelle in Gammelby, erhielt sie und heiratete.
In dieser Zeit, jung, fröhlich, glücklich verlobt, ganz mit Zukunftsplänen beschäftigt, konnte er natürlich keine Schulden bezahlen. Es war noch alles mögliche, daß er bei der Einrichtung nicht noch neue dazu machte. Aber das tat er nicht, wenigstens keine, die der Rede wert waren. Nur ein paar hundert Kronen für Möbel, die in den ersten zwei Jahren abbezahlt werden mußten.
Sie wurden auch abbezahlt; der Möbelhändler konnte selbstverständlich nicht warten.
Dann wurde Ernst geboren; und ein paar Jahre später Selma. Dann kam ein Junge, der gleich nach der Geburt starb, und ein paar Jahre darauf Gustaf.
Mit jedem Jahr stiegen die Bedürfnisse und die Ausgaben,[S. 48] und in all den einundzwanzig Jahren seit seiner Verheiratung hatte er nicht mehr als zweitausend Kronen abbezahlen können. Jetzt war er sechsundfünfzig Jahre alt und noch immer nicht schuldenfrei. Noch waren fünfzehnhundert Kronen zu bezahlen. Und wenn sie bezahlt waren wieviel Zeit blieb ihnen beiden dann noch übrig zum ruhig und frei leben? Ob sie dann überhaupt noch die Kraft dazu hatten?
Aber daran dachten sie jetzt nur noch selten. Oder vielmehr — sie hatten es sich abgewöhnt, darüber nachzudenken. Denn das waren gefährliche, aufrührerische Gedanken, die nur Leid und Bitterkeit brachten, Gedanken, die sie aus der Ruhe des täglichen Lebens aufscheuchten und die Kraft zur Arbeit lähmten. Wenn der Adjunkt manchmal doch auf diese Gedanken geriet, so war seine Frau immer gleich bei der Hand und verjagte sie. Murren, das war nicht recht, und der liebe Gott hatte gewiß seine ganz besonderen Absichten mit ihnen, wenn er ihnen Lasten auferlegte und sie Wege führte, die sie in ihrer Jugend nicht hatten gehen wollen. Denn das Entbehren ist der Weg zum Himmel.
Und die Jahre gingen über sie weg und schufen sie um und lehrten sie, das Leben so zu leben, wie es kam und wie es war. Frau Hallin magerte nach ihren Wochenbetten immer mehr ab, ihre Stirn furchte sich, die Augen hatten nicht mehr den Glanz von früher. Sie ging fleißig in die Kirche, besonders wenn ein gewisser Geistlicher predigte, und las täglich in der Bibel und im Thomas a Kempis.
Es kam ihr vor, als würde alles, was sie zu tragen hatte, leichter für sie, wenn sie nur so recht klar einsähe, daß es eben so sein mußte. Und wenn das Haushaltungsgeld nicht reichen wollte, oder sie sich bedrückt und gequält fühlte von all dem tagaus, tagein In-der-Küche stehen, Essenkochen, Zimmeraufräumen und Nachmittage lang vor einem ganzen Berg Wäsche Sitzen, die ausgebessert werden mußte, da legte sie zwischendurch oft[S. 49] die Arbeit aus der Hand und holte sich ihre Bibel mit all den zahllosen Buchzeichen und angestrichenen Stellen. Und dann las sie ein paar Kapitel aus Davids Psalmen, las, wie der Herr den Gerechten, der auf ihn hoffet, nicht verläßt, wie des Gerechten Feinde dereinst zu Schanden werden müssen. Ganz unbewußt umschrieb und änderte sie diese Worte so, daß sie auf ihre Verhältnisse paßten, auf die täglichen Sorgen, die auf ihr lasteten. Ihre Kümmernisse und Mühsale, ihre schwere Arbeit und aufrührerischen Gedanken — all das ward ihr zu Feinden, und sie selber war der Gerechte, den der Herr dereinst erlösen würde und in das Land führen, da kein Leid und Weinen mehr den Frieden stört, der höher ist denn alle Vernunft.
Wenn sie das Buch zugeschlagen hatte, schloß sie auf eine Weile die Augen. Und wenn sie sie wieder öffnete, ging sie mit verdoppeltem Eifer an die Arbeit, und auf ihrem Gesicht lag ein stiller, fast glücklicher Ausdruck.
Der Adjunkt war besser dran. Zwar ging er nur selten aus. Es war dies ein Sparsamkeitsgrundsatz, den er sich zugelegt hatte und den er nur selten übertrat. Aber wenn er in seiner Schule war, vergaß er die kleinen häuslichen Kümmernisse meist. Er hatte ein heiteres Temperament; sobald er unter Menschen kam, ließ er sich mitreißen, ward lebendig und aufgeräumt. Er war draußen ein ganz anderer Mensch als der schwersinnige, ein bißchen reizbare Mann, der er daheim sein konnte.
Frau Hallin litt ganz besonders darunter, daß sie glaubte, ihren Kindern nicht nah genug zu stehen. Ernsts Briefe schienen ihr, besonders in der letzten Zeit, außergewöhnlich kühl und zurückhaltend. Er schrieb ja wohl freundlich; aber er erzählte nichts von dem, was sie wissen wollte, nichts von sich selber, wie ihm zumute war, nun er ins Leben hinaustreten, ein Diener des Herrn werden sollte. Wie oft las sie seine Briefe, wieder und wieder, erwog den Sinn jeder Zeile, buchstabierte und zerlegte jedes Wort, ob sie vielleicht darin den Schlüssel zum rich[S. 50]tigen Verständnis finden möchte! Denn in erster Linie wollte sie Mutter sein. Dies Wort stand vor ihr in einer Bedeutung, die mehr war als eine bloß religiöse. Denn für sie bedeutete es vor allem: ihre Kinder zum Herrn führen! Und manche heimliche Träne weinte sie in Furcht und Zittern um ihrer Kinder Seelen! Eine reine Mutterfreude hatte sie eigentlich nie gekannt; die war bei ihr zu stark vermischt mit Furcht. Die Furcht kam daher, daß sie wußte, nur ein Weg war der rechte. Wer diesen Weg nicht ging, der war verloren. Und darum weinte sie über ihre Kinder, weinte und betete manch einsame Stunde, schon als sie sie noch in ihrem Schoß wiegte und ihrem tiefen, kinderruhigen Schlummer lauschte. In der letzten Zeit hatte sie am meisten Angst um Ernst ausgestanden. Sie zählte die Tage, bis er heimkommen mußte. Weshalb war er so kurz und knapp in seinen Mitteilungen über sich selbst? Ahnte er denn nicht, wie sie sich danach sehnte, etwas von ihm zu hören, wie sie mit fieberhaftem Eifer seine Briefe öffnete, als wäre sie ein junges Mädchen, das einen Brief vom Liebsten erhält? Ahnte er es denn nicht? Und ging es denn nicht um mehr als Leben und Sterben? Ging es nicht um das ewige Heil seiner Seele?
Von all dem wagte sie ihrem Sohn direkt nichts zu schreiben. Sie fürchtete, sie könnte ihn dadurch von sich stoßen. Aber sie war täglich von diesen Empfindungen gepeinigt; ganz besonders kamen sie dann über sie, wenn irgend sonst etwas auf ihr lastete. Manchmal hatte sie das Gefühl, als müßte all das Schwere und Drückende nur eine gerechte Strafe des Herrn sein, weil sie eine so schlechte Mutter war. Selma verstand sie am wenigsten von ihren Kindern. Sie war so kalt, bezeugte den Eltern so wenig Freundlichkeit, meinte Frau Hallin. Auch so still war sie, tat ihre Arbeit, machte nie auch nur das geringste Wesen aus sich, und wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, saß sie meist in ihrer Stube und las. Frau Hallin mochte die Bücher, die sie las, oft gar nicht. Das hatte manchmal sogar schon zu Auf[S. 51]tritten zwischen Mutter und Tochter geführt. Aber sie endeten immer damit, daß Selma tat, was sie wollte. Und jetzt war es so, daß, wenn Frau Hallin auf dem Tisch der Tochter ein Buch liegen sah, sie es nur in die Hand nahm, das Titelblatt ansah, seufzte und es wieder weglegte. Manchmal hatte sie Tränen in den Augen, wenn sie hinausging.
Als Selma zwanzig Jahr alt war, war sie einmal zum Vater gegangen und hatte gesagt, sie wolle fort von daheim. Der Adjunkt war ganz bestürzt gewesen und hatte keine bestimmte Antwort gegeben. Er würde mit Mama sprechen, hatte er gesagt. Frau Hallin verstand, wie die Sache zusammenhing. Es war die Welt, die Selma lockte, die Welt mit all ihren Gefahren, Freiheiten und Verführungen.
Das Resultat war, daß Selma daheim bleiben sollte, bis sie mündig wäre. Und als sie mündig war, wurde nicht mehr von der Sache gesprochen. Der Adjunkt verschaffte ihr ohne weiteres eine Anstellung in der städtischen Mädchenschule.
Seit der Zeit aber war gleichsam ein stummer Kampf zwischen Selma und den Eltern.
Auf Gustaf glaubte Frau Hallin sich noch am meisten verlassen zu können. Er war noch so ganz Kind; freilich kann niemand wissen, wo und wie der Versucher seine Fallstricke für die schwachen Menschenkinder auslegt. Aber der Junge war immer heiter und zufrieden, nörgelte natürlich hie und da, war aber gleich wieder gut, und wenn er sich mit Mutter oder Schwester neckte, war das so lustig, daß Frau Hallin oft lachen mußte, daß ihr die Tränen in die Augen kamen. Er war das Nesthäkchen, der Liebling, das Zuckerbengelchen, wie Papa ihn nannte, wenn er bei guter Laune war; er durfte auch ab und zu noch, wenn es niemand sah, auf Mutters Schoß sitzen, obgleich er schon ein großer Junge und ihr ein gut Stück über den Kopf gewachsen war.
Es war eigen mit den Kindern, besonders mit den Söhnen.[S. 52] Sie hatten alle ein großes Freundschaftsbedürfnis, und hatten gute Freunde gesucht und gefunden. Aber sie waren meist außerhalb des Hauses mit ihnen zusammen. Sie besuchten die Freunde in deren Familien; das Umgekehrte kam gar nicht vor, das Hallinsche Haus war nie ein Sammelpunkt für die Freunde der Kinder. Und die Eltern hatten immer zu klagen, daß sie in ihren freien Stunden so wenig von den Kindern sahen.
Frau Hallin konnte das gar nicht verstehen. Sie wußte, sie liebte ihre Kinder, mehr vielleicht als irgendeine andere Mutter in ihrem Bekanntenkreis. Sie hatte sie mit einer warmen Zärtlichkeits-Atmosphäre umgeben, einer Atmosphäre, die vielleicht nur zu warm war, sodaß sie allzu empfindsam waren, wenn sie sie einmal missen mußten. Und trotzdem hatte sie das instinktive Empfinden, daß ihre Kinder sich mit den Jahren immer mehr von ihr entfernten, daß sie ihre Befriedigung außerhalb des Vaterhauses suchten, sei es nun in lärmendem Kinderspiel oder in dem unbegrenzten Bedürfnis der Jugend, Menschen zu finden, mit denen sie sich frei aussprechen, all das rätselvolle, wechselnde Leben bereden konnten, das sich mit jedem Jahr in ihren jungen Gemütern entwickelte und nach Nahrung schrie. Es gab Tage, an denen sie die Kluft zwischen den Kindern und ihrem Vaterhaus stärker ahnte als sonst; dann tat sie alles, um ihnen Freude zu machen. Sie kochte ihnen ihre Lieblingsgerichte, sie zwang den Vater, guter Laune zu sein, bat sie, abends ihre Freunde einzuladen, und war selber eitel Sonnenschein und Lächeln.
Solche Tage waren Freudentage für die Kinder; da fühlten sie noch mehr als sonst, wie sie an der Mutter hingen. Und sie selber fühlte sich auch so froh. Denn sie glaubte, nach einem derartigen Versuch wäre der Anfang zu einer ernsthaften Annäherung gemacht und die Kinder würden sich mehr ans Vaterhaus anschließen.
Aber das war nicht der Fall. Und dann kam die Nieder[S. 53]geschlagenheit über sie und eine Bitterkeit, die ihr harte Worte auf die Lippen legte und sie antrieb, den Kindern Vorwürfe zu machen, deren Ursache sie nicht begreifen konnten. Sie bereute diese Vorwürfe nachher immer, bereute sie bitterlich. Denn sie begriff, daß ein einziger derartiger Ausbruch in einem jugendlichen Gemüt länger lebt, als die Erinnerung an wer weiß wie viele Wohltaten, wer weiß wie viel Freundlichkeit. Und wenn sie manchmal über ihr Verhältnis zu ihren Kindern nachdachte und sich die ganze Sache einmal so recht menschlich, ohne den lieben Gott darein zu mischen, vorstellte, da konnte sie manchmal das Gefühl haben, als ginge ihr vielleicht die geheimnisvolle Kunst ab, ihre Kinder zu verstehen und sie durch das bloße Verstehen, ohne jede Anstrengung, ans Vaterhaus zu fesseln. In solchen Stunden ahnte sie, was die Kinder entbehrten. Aber sie wußte auch, das konnte sie ihnen nie geben. Nie, ihrer Lebtag nicht! Denn was nützte es den Menschen, so er die ganze Welt gewänne, und nähme doch Schaden an seiner Seele?
Über ihre Lippen kam dieser Gedanke auch nie, nicht einmal im Augenblick, wenn sie ganz deutlich sah, was es war. Sie schob ihn von sich; sie zwang sich, ihn in der Tiefe ihres Herzens zu begraben. Ihr Leben hatte sie gelehrt, daß der Gedanke Sünde war. Und wenn die Sehnsucht nach dem Vertrauen ihrer Kinder allzu stark ward, so fand sie tausend Arten, sich ihnen zu nähern; sie konnte sich geradezu demütigen, um das zu gewinnen, wonach sie so eifrig strebte. Nicht bloß ihre Liebe. Nein. Die besaß sie. Daran hatte sie nie gezweifelt. Aber ihr Vertrauen.
Und manchmal, wenn sie mit ihrem Mann allein war, geschah es, daß sie ganz vorsichtig über all dies mit ihm sprach; und wenn er dann nicht gerade irgendeine äußere Sorge hatte, die ihn drückte, so konnte auch er ganz ernst werden und mit einem merkwürdigen Blick vor sich hin sagen: „Ja, die Kinder entwachsen einem. Es ist wohl der Lauf der Natur.“
Meist aber schüttelte er nur den Kopf und sagte, es habe keinen Sinn, sich mit Einbildungen herumzuschlagen. Man habe schon so genug Widerwärtigkeiten.
Aber auch er wußte wohl, daß er nicht die Wahrheit sprach. Was den Kindern fehlte, das war die Freudigkeit, die Freiheit. Die Freiheit, die macht, daß man natürlich ist und sich wohlfühlt in seiner Umgebung, wie der Baum, die Pflanze in gutem Erdreich, die Freiheit, die die Naturanlagen lenkt und entwickelt, ohne sie zu hemmen; die Freiheit kann nirgends gedeihen, wo nicht die Freude daheim ist. Denn Freude macht frei, Freude veredelt, Freude macht glücklich.
Die pietistische Scheu der Mutter vor der Welt und allem, was von der Welt war, die war es, die die Freiheit aus dem Haus scheuchte. Und die Freude floh vor etwas anderem — vor den kleinen, drückenden, wirtschaftlichen Sorgen — sie verscheuchten die starken Mächte des blühenden Lebens. Die beiden hatten einen Bund geschlossen — und was die Geldsorgen verschonten, das raffte der Pietismus hinweg.
Vor diesem doppelten Rätsel saß Frau Hallin manch einen Abend ohne Antwort, grübelte und grübelte, während sich immer wieder die Tränen hervordrängten. Es war so schwer, so schwer, das pochende Herz im Glauben zur Ruh zu legen, so deutlich und klar auch das Wort der Schrift lautete: „Hoffe auf den Herrn! Er wird’s wohl machen!“
Adjunkt Hallin hätte die fünfzig Kronen auch recht gut von seinem Bruder, dem Professor der lebenden Sprachen, entlehnen können. Der Professor war reich verheiratet und freute sich immer, wenn er dem ärmeren Bruder gefällig sein konnte. Zudem waren die Brüder seit ihrer Kindheit gut Freund ge[S. 55]wesen, und nichts war darum natürlicher, als daß der eine dem andern half.
Die Freundschaft zwischen dem Professor und dem Adjunkt Hallin war im Gymnasium fast sprichwörtlich, und manch einer von den Schuljungens grüßte freundlicher als sonst oder blieb stehen und blickte den beiden nach, wenn sie in den Pausen Arm in Arm in dem großen Schulkorridor, auf dem geräumigen Hof oder unter den hohen Ulmen auf und ab gingen, die auf dem grünen Plan zwischen Schule und Kirche schattige Alleen bildeten.
In der Schule gingen sie unter dem Namen „die Brüder“. Und obgleich man schwerlich auffallendere Kontraste hätte finden können, hatten sie ihr Leben lang, von den Schuljahren an, stets treulich zusammengehalten. Beide hatten — nur mit einem Semester Zwischenraum — ihr Examen gemacht, und als der eine Adjunkt am Gymnasium zu Gammelby wurde, bewarb sich der andere ebenfalls um eine Anstellung dort, sobald eine solche frei war — und erhielt sie auch. Der einzige Unterschied war, daß der ältere Bruder binnen kurzem zum Professor avanzierte, während der jüngere keinerlei Hoffnung auf eine derartige Beförderung zu haben schien. Das gute Verhältnis zwischen den Brüdern ward jedoch dadurch keineswegs gestört. „Abel hat es auch verdient,“ sagte der Adjunkt immer. „Er war allen anderen Mitbewerbern überlegen.“ Wenn sie sich morgens in der Schule sahen, grüßte der Professor seinen Bruder mit einem heiteren: „Guten Morgen, Erker!“ Immer war es der Professor, der zuerst grüßte. Und der Adjunkt schielte über die angelaufenen Brillengläser weg und sagte: „Guten Morgen, Kain.“
Es war dies ein alter Scherz zwischen den Brüdern, der immer wieder aufgefrischt wurde. Der Professor hatte als Kind seinen Bruder einmal die Treppe hinuntergestoßen, daß der Kleine fast das Genick gebrochen hatte. Wie der Kleine[S. 56] drunten lag und schrie, daß es im ganzen Hause widerhallte, und Abel außer sich vor Schreck hinuntersprang, um nach ihm zu sehen, hörte Erik einen Augenblick mit Schreien auf und stieß zwischen zwei Schluchzern heraus: „Du hättest Kain heißen sollen!“ Und brüllte dann wieder weiter.
Als die Knaben älter wurden, erzählten die Eltern ihnen die Geschichte. Und seitdem nannte der jüngere Bruder, wenn er zärtlich sein wollte, den älteren Kain. Das war zu einem Schmeichelnamen geworden.
Die Gymnasiasten kannten die Geschichte natürlich, und die zwei Brüder hießen seit Jahren bei ihren Schülern nicht anders als Kain und Abel.
Professor Hallin hatte ein flottes Junggesellenleben geführt, manche behaupteten, ein zu flottes, und wenn er von seinen Ferienreisen im Ausland zurückkam, die er „der Sprachen wegen“ machte und zu denen er sich irgendwie immer die Mittel zu verschaffen wußte, brachte er einen Hauch vom Luxus und von der Eleganz der großen Welt mit, die ihn zum Löwen der kleinen Stadt machten. Wenn er gewollt hätte, er hätte wer weiß wie oft heiraten können.
Er gehörte zu denen, die „Glück haben“. Alles, was er wollte, erreichte er auch ganz merkwürdig rasch. Er nahm das Leben leicht; Sorgen — wenn er überhaupt solche hatte — schüttelte er ab wie eine Möve, die ins Wasser taucht und ihre Schwingen schüttelt, so daß auch nicht ein Tropfen an dem glänzenden Gefieder hängen bleibt. Er machte Schulden über Schulden, ohne auch nur daran zu denken, die immer höher anwachsenden Summen einmal zurückzubezahlen, und als er volle vierzig Jahre alt war und die Gläubiger zu drängen begannen, verlobte er sich ganz plötzlich mit einem der reichsten Mädchen in der Stadt, einer Großkaufmannstochter. Der Schwiegervater bezahlte die Schulden, und die Neuvermählten zogen nach der Hochzeit in ein neues Steinhaus an der[S. 57] Langen Straße, das der Konsul Bergmann dem jungen Paar überließ.
Nach der Hochzeit änderte sich das Verhältnis zwischen den zwei Brüdern in gewissem Sinn. Nicht als ob ihre Freundschaft Einbuße erlitten hätte. Aber die beiden Schwägerinnen kamen von Anfang an nicht miteinander aus, und, wie das meist so ist, — die Antipathie zwischen ihnen nahm mit den Jahren eher zu als ab. Darum entlehnte auch der Adjunkt nicht gern Geld von seinem Bruder, sondern benützte ihn, wenn es nötig war, lieber als Bürgen. Das brauchte dann die Schwägerin nicht zu wissen.
Die Frau des Adjunkten hatte im Grunde niemals die „Schwäche ihres Mannes für seinen Bruder“, wie sie es nannte, verstehen können. Sie sah in ihm eine verlorene Seele, ein Weltkind, und im Anfang ihrer Ehe, als der Adjunkt noch jung war, hatte sie große Angst, der Professor könne einen bösen Einfluß auf ihren Erik haben. Denn er war der einzige, dem es ab und zu gelang, den Adjunkt zu einem fröhlichen Junggesellenabend zu verlocken. Er kam manchmal nachmittags zum Bruder auf seine Stube, und sie hörte ihn dort lachen, mit seinem lustigen, schallenden Gelächter, sie hörte, wie die zwei Brüder miteinander kicherten und flüsterten; und dann kam der Adjunkt und sagte, er würde ausgehen und würde wahrscheinlich zum Abendbrot nicht nach Hause kommen. Frau Hallin sah den Professor so ziemlich für den leibhaftigen Bösen an! —
Als er dann eine so reiche Heirat machte — er heiratete zwei Jahre später als der Adjunkt — da konnte sie es nicht lassen, immerwährend Vergleiche zu ziehen zwischen dem reichen, wohlversorgten Haushalt des Schwagers und ihren eigenen, dürftigen und bedrückten Verhältnissen; und sie verwunderte sich manchmal darüber, daß Gott seine Gaben so ungleich unter die Menschen verteilt. Ihr war, als könne ihr Mann[S. 58] gar nicht anders, als auch vergleichen und bereuen, daß er es nicht gerade so gemacht hatte, wie der Bruder. Vor allem aber beklagte sie den Schwager. Hätte der eine weniger weltliche und oberflächliche Frau bekommen, so wäre auch er vielleicht durch den stillen Einfluß des Weibes zum Herrn gezogen worden.
Es wäre vielleicht zu viel gesagt, wollte man behaupten, daß Frau Hallin ihre Schwägerin um ihren Reichtum geradezu beneidete. Aber ganz frei von einem derartigen Gefühl war sie doch nicht. Sie bildete sich immer ein, die Schwägerin sehe auf sie alle herab, ganz besonders auf sie, und es quälte sie, wenn sie wußte, daß ihr Mann sich in irgend einer Sache an seinen Bruder gewandt hatte. Die Professorin ihrerseits meinte wieder, die Schwägerin wolle sich ihr überlegen zeigen. Sie redete immerzu von den Kindern, und von der Freude, die sie ihr machten, und die Professorin hatte ganz den Eindruck, als solle das ein Hieb sein auf sie. Denn die Kindererziehungsmethode der Professorin war tatsächlich nicht gerade die beste. Dafür hegte sie auch einen stillen, aber tiefen Haß gegen die Frau des Adjunkten. Einerseits wußte sie, daß ihr jene in vielem überlegen war, und andererseits fühlte sie, sobald die beiden Schwägerinnen einmal nachmittags allein beieinander saßen, die unausgesprochene und darum um so aufreizendere Kritik der anderen.
Und wenn sich das manchmal zu einem ziemlich lauten Meinungsaustausch zwischen den zwei Frauen steigerte, so drehte sich das Gespräch sicher um Kindererziehung oder Religion.
Professor Hallin versuchte stets, diesen Verhältnissen gegenüber ein Auge zuzudrücken. Er lud die Familie des Bruders bei jeder nur möglichen Gelegenheit ein, und obgleich es für Frau Hallin ein Kummer war, so vertraut in einem Haus verkehren zu müssen, in dem alles so ganz das Gepräge der Welt[S. 59]lichkeit trug, wollte sie ihren Mann doch nicht durch Absagen betrüben. Sie versuchte bloß, wenigstens die Kinder so viel wie möglich von der Familie des Bruders fernzuhalten, vielleicht, weil sie ahnte, daß dort manches von dem vorhanden war, was sie daheim vermißten.
Professor Hallin hatte schon in jungen Jahren recht viel Anlage zur Rundlichkeit gehabt; und während sein Bäuchlein immer mehr wurde, begann das Haar über der Stirn immer weniger zu werden. Mit den Jahren ward das Bäuchlein immer runder und das Haar immer spärlicher, und schließlich war er ein korpulenter, kahlköpfiger Mann, der sich an der Natur dadurch rächte, daß er beständig über seine eigene Trägheit und Korpulenz scherzte. Denn mit den Jahren machte seine Korpulenz ihn tatsächlich immer träger. Besonders viel Energie hatte er überhaupt nie besessen. Aber einen guten Vorrat von Lebensluft hatte er gehabt, und als er ein paar Jahre verheiratet war, nahm er seine frühere Gewohnheit des Reisens wieder auf, erst in Gesellschaft seiner Frau, dann allein. Er behauptete, es geschehe, um das Stillsitzen im Winter auszugleichen und dann natürlich „der Sprachen wegen“.
Wenn er im Herbst heimkam, war er meist ziemlich abgemagert. Er sah jünger aus, und in seinem ganzen Wesen lag etwas von dem früheren Schwerenöter. Aber wenn’s auf den Winter zuging, ward er wieder der Alte. Fast immer gutgelaunt wanderte er zur Schule und wieder zurück, gab seine Stunden, lebte sein Familienleben und ließ sich seine Mahlzeiten schmecken. Und wenn sich die Gelegenheit bot, konnte er ein Bonmot loslassen, über das alle Welt lachte, das die Frau des Adjunkts aber nie anhören konnte, ohne das heitere, rötliche Gesicht des Schwagers und seine fette, unförmliche Figur, die aussahen, als wären sie immer vollgepfropft mit gutem Essen, verstohlen und mit einem Gefühl der Verachtung zu betrachten.
„Wenn man schon nicht liegen kann — dann wenigstens sitzen!“ hatte der Professor einmal gesagt, als irgend jemand ihm einen Stuhl anbot. Und das Wort war in der ganzen Stadt sprichwörtlich geworden.
„Wenn man nicht liegen kann — dann wenigstens sitzen!“
Nichts war dem Professor Hallin in seiner Eigenschaft als Schulmann auch so peinlich, als das Frühaufstehen am Morgen. Und nie war er so schlechter Laune, als wenn er früh morgens, den Schlafrock um die rundliche Gestalt gezogen, eine Kerze in der Hand, sich aus dem Schlafzimmer in seine Stube verfügte, um sich anzukleiden und zur Schule zu gehen. Ganz besonders schlimm war es an den Tagen, an denen er um sieben Uhr zur Schule mußte und bis neun Uhr Stunde hatte. An solchen Tagen nahm er gleich nach dem Mittagessen seine Kaffeetasse mit sich auf sein Zimmer, und zwei Minuten nachdem er die Tür geschlossen hatte, hörte man aus dem sogenannten Studierzimmer derbe Nasenlaute, die den Bewohnern des Hauses unzweifelhaft mitteilten, daß der Professor der wohlverdienten Ruhe genoß. „Papa schläft!“ sagte dann Mama zu den kleinen, unbändigen Mädchen. Und die unbändigen kleinen Mädchen gingen auf den Zehen durchs Zimmer, und so oft ein Streit entstehen wollte, so oft jemand an einen Stuhl stieß oder unvorsichtig aufschrie, war sogleich eins der Kleinen bei der Hand, hob drohend den Finger auf und sagte flüsternd und feierlich: „Papa schläft! Schsch! Papa schläft!“
Und Mama, die im Sofa saß und nähte, sagte: „So ist’s recht! Denkt daran, daß Papa schläft! Der arme Papa! Er hat es so nötig! Arbeitet und plagt sich für uns alle!“
Und Fräulein Gabrielle, die verlobt war, flüsterte dem Bräutigam ins Ohr: „Axel, jetzt schläft Papa!“ Und ihre Augen, die wie kleine scharfe Nadeln glänzten, liebkosten mit einem Blick den weichen Leutnantsschnurrbart, der sich über vollen Lippen wölbte. Er schlang dann resigniert den Arm[S. 61] um ihre Taille, und sie schlichen heimlich in ihr kleines Mädchenstübchen. Der Leutnant setzte sich in das schmale Sofa, sie hüpfte auf sein Knie, und — die Arme um seinen Hals geschlungen — die Lippen auf seinen Mund gepreßt, flüsterte sie: „Papa schläft!“
Es ist nicht so unmöglich, daß der Leutnant Papa manchmal beneidete. Seine geliebte Gabrielle oder Gabby, wie er sie in zärtlichen Augenblicken nannte — so hatte sich nämlich Gabrielle in den unschuldigen Kindheitstagen selber genannt — hatte eine große Schwäche für Zärtlichkeiten. Ihrem Axel anderthalb Stunden lang auf dem Schoß zu sitzen, das hielt sie für etwas ganz Normales und Natürliches. Der Professor pflegte manchmal — zum Entsetzen seiner Frau — zu sagen, diese Art Vergnügen könne dem Leutnant unmöglich besonders angenehm sein. Für Gabrielle sei es ja etwas anderes. Für sie habe es doch mehr den Reiz der Neuheit.
Im übrigen genossen die Kinder des Professors Hallin in gewisser Beziehung recht reichlich die Vorteile, die die Kinder des Adjunkten entbehrten. Ihre Freiheit hatten sie, vielleicht mehr, als ihnen gut war, und ihre kindliche Freude wurde nur selten durch ungebührliche Eingriffe seitens der Eltern gestört.
Es kam ganz darauf an, wie der Tag gerade war.
Wenn zum Beispiel der kleine achtjährige Erik draußen auf dem Hof in jugendlichem Übermut eines von Mamas Kücken in einer Weise mißhandelt hatte, wie es die Natur des Tierchens eben nicht aushielt, und Papa Miene machte, dem Sohn eine gelinde Züchtigung zu verabfolgen, so konnte es geschehen, daß die Professorin sehr energisch dazwischentrat und mit einer Stimme, die vor Bewegung zitterte, sagte: „Abel! Und du willst ein Vater sein? Antworte mir, Abel! Du.. willst.. ein.. Vater.. sein?“
„Ja, Schatz,“ antwortete dann der Professor in liebens[S. 62]würdigstem Ton. „Ich hoffe doch, mich darin nicht zu irren!“
„Abel!“ erwiderte die Professorin mit Aplomb, „ich verbitte mir derartige unanständige Illusionen!“ Die Professorin war keineswegs ganz zuverlässig in der Anwendung von Fremdwörtern.
„Wenn ich wäre wie du,“ fuhr sie fort, „so wäre ich vielleicht meiner Sache nicht so ganz sicher. Weißt du noch, warum Marie im Frühjahr vor einem Jahr weg mußte?“ Dies kam im Flüsterton, damit der kleine Erik es nicht hören sollte. „Freilich, du weißt es nicht mehr. Aber ich weiß es noch. Und ich erlaube nicht, daß meine Kinder von ihrem unnatürlichen Vater mißhandelt werden! Ich bin die Mutter! Merk dir das: Und so lange ich lebe, sollen meine Kinder unter dem Schutz einer Mutter stehen! Wenn ich einmal tot bin, kannst du sie ja schlagen; ich weiß wohl, du wirst’s auch tun! Aber noch lebe ich!“ und die Professorin warf den Kopf in den Nacken mit einer Bewegung, die schlecht zu ihrem vorhergehenden Pathos stimmte.
Dann antwortete der Professor: „Ja, lieber Schatz, daran habe ich nie gezweifelt!“
Aber er war doch geschlagen, und Erik konnte Mamas Kücken in Ruhe weiter ins Jenseits befördern.
Ein andermal konnte es geschehen, daß es Erikchen gelungen war, ein Loch in die neuen Hosen zu reißen. Die Professorin hatte sich just in der Sofaecke zurechtgesetzt und hoffte, wenigstens fünf Minuten lang in Ruhe an ihrer weißen Decke weiterhäkeln zu können. Im selben Augenblick kommt Klein Erik ins Zimmer, und das wachsame Mutterauge entdeckt unten, wo der Kittel aufhört, einen Streifen nackter Haut, der neben etwas Weißem herausschimmert. Mit resignierter Miene legt sie ihre Arbeit hin und befiehlt dem Kleinen, näherzukommen. Der Junge, der nichts ahnt, kommt; weil aber im[S. 63] Gesicht der Mutter etwas Drohendes liegt, wird er bedenklich und beguckt sich verstohlen von oben bis unten. Immerhin geht er zur Mutter hin und pflanzt sich vor ihr auf.
„Dreh dich um!“ sagt die beleidigte Mutter mit ihrer feierlichsten Stimme.
Klein Erik beginnt zu ahnen, von welcher Seite die Gefahr droht; doch dreht er sich gehorsam um. Dann hört er, wie die Mutter hinter seinem Rücken die Hände zusammenschlägt; und unwillkürlich blickt er sich erschrocken um.
„Steh still, Junge!“ kommt es aus dem gefühlvollen Mutterherzen; und dabei packt sie ihn am Arm, daß die Gelenke krachen. „Kannst du nicht still stehen, damit ich nachsehen kann?“ Einen Augenblick lang verstummt sie, während ihre Finger den Riß untersuchen.
„Herrgott im Himmel! Und ganz neue Hosen! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht wie ein Wilder herumtollen? Wie oft hab ich dir’s nicht gesagt! Antworte, Junge!“
Klein Erik weiß nichts zu antworten. Er steht bloß und schweigt, blickt abwechselnd auf seine Mutter und schielt nach dem Ende seines Rückgrats, bis ihn die Mutter plötzlich von sich schiebt, zu ihres Mannes Zimmer hinüber geht, die Tür öffnet und ruft: „Abel, komm einmal her!“
Der Professor kommt, im Schlafrock, in der einen Hand eine Zigarre, in der anderen einen französischen Roman. Die Professorin packt den Missetäter am Schlafittich, zerrt ihn mitten ins Zimmer und kehrt sein Hinterteil dem Oberhaupt der Familie zu.
„Was sagst du dazu, Abel? Die neuen Hosen, die er gestern zum erstenmal angehabt hat!“
„Verwünscht noch Eins!“ sagt der Professor.
„Abel“, sagt die Professorin, „verschon mich mit deinem Fluchen in Gegenwart der Kinder. Ich dachte, du hättest denn doch was anderes zu sagen, wenn du siehst, wie dein[S. 64] Kind sich seiner Mutter gegenüber aufführt! Aber du kümmerst dich natürlich um nichts! Du brauchst sie ja nicht zu flicken. Herrgott, was das dir gut täte, wenn du auch nur ein einziges Mal seine Hosen flicken müßtest! Da würdest du dich schon drum kümmern, wenn er sie zerreißt!“
„Vielleicht kann er gar nichts dafür!“ sagt der Professor. „Man kann die Jungens ja doch nicht am Strick führen!“
Die Professorin schreitet majestätisch zum Sofa und setzt sich. „Erik“, sagt sie, „geh ins Kinderzimmer und sag Ida, sie soll dir die Samthosen anziehen. Die kannst du ja dann auch zerreißen, wenn du willst! Du hörst doch — Papa sagt es ja. Jedenfalls bring mir die, die du jetzt anhast; vielleicht kann ich sie flicken, eh du die andern kaputt gerissen hast!“
Erik geht ab. Die Professorin sitzt mit gefalteten Händen im Sofa und wiegt sich hin und her.
„Glaubst du, daß dies die richtige Art ist mit den Kindern?“ fragt der Professor.
„Abel!“ antwortet die gekränkte Gattin. „Ich weiß ja wohl, was ich tue, ist überhaupt nie recht. Aber ich meine, ein bißchen energischer könntest du denn doch auftreten, wenn deine Kinder so wenig Rücksicht für ihre Mutter zeigen. Ich bin ja eine Null hier im Hause, Abel, das weiß ich wohl, wenn du auch das bißchen, was wir haben, mir zu verdanken hast! Und was aus meinen armen Kindern werden soll, wenn sie nicht einmal lernen sollen, was Zucht und Ordnung heißt, das weiß der liebe Gott. Und der weiß auch, wie schwer es eine arme Mutter hat, wenn sie die Sorge für die Erziehung der Kinder ganz allein tragen muß. Ich wollte bloß, ich könnte mehr leisten. Aber ich fühl’s, es zehrt an meiner Kraft, und ich kann nur jeden Abend zu Gott beten, Abel, daß dir nicht noch einmal die Reue kommt, wenn es zu spät ist!“
Die Professorin weint und der Professor geht auf sein Zimmer und macht die Tür hinter sich zu.
Wenn die Kinder Streit haben, schreit wohl manchmal eins in überquellender gerechter Entrüstung: „Wart du nur, ich sag’s der Mama!“
Aber die Drohung hat keine besondere Wirkung. Das andere antwortet bloß: „Ach was, die Mama!“
So ganz unmöglich ist es nicht, daß die Frau Adjunkt am Ende doch recht haben könnte, wenn sie sagt: „Was ich besonders mißbillige an Aurora ist ihre Art mit ihren Kindern. Sie sind von einer Eigenwilligkeit, daß einem wild und weh wird vom bloßen Mitansehen. Wenn das nur gut geht!“
Einmal aber war der Konflikt zwischen den Ehegatten doch schärfer als gewöhnlich. Das war, als Gabrielle heim kam, und den Eltern mitteilte, Leutnant Hagelin habe ihr einen Antrag gemacht.
Der Professor fragte bloß: „Hast du ihn lieb?“
Und Gabrielle antwortete: „Ich weiß nicht, Papa. Aber ich glaube.“
Sie wurde auf ihr Zimmer geschickt, und die Ehegatten blieben allein zurück.
Nun lag aber die Sache so: die Professorin war schon längst darauf bedacht gewesen, ihre erste Mutterpflicht zu erfüllen, das heißt, für ihre unerfahrene Tochter einen Mann auszuwählen. Leutnant Hagelin, der finanziell sehr schlecht stand, und der gehört hatte, daß, wer die Tochter haben will, der Mutter den Hof machen muß, hatte in seinem Verkehr mit der Professorin diese goldene Regel nach Kräften befolgt. Die Folge davon war, daß der Leutnant, nach einer kurzen Debatte zwischen der Professorin und ihrem Mann, der den Leutnant nicht ausstehen konnte, zum Abendbrot zu Hallins eingeladen wurde, und nach ein paar Wochen bei den Eltern um Gabrielle anhielt.
Als nun die Gatten allein waren, um zu beraten, faßte sich der Professor ein Herz, warf seiner besseren Hälfte in scharfen Worten vor, sie habe den Leutnant ins Haus gezogen,[S. 66] und gab dazu eine auf Tatsachen begründete Schilderung seines Charakters, die mit Leichtsinn begann und mit der Geldheirat schloß.
Die Professorin schlug nur die Augen nieder und sagte: „Sag mal aufrichtig, lieber Abel, hättest du mich geheiratet, wenn ich kein Geld gehabt hätte?“
Auf dies blieb der Professor die Antwort schuldig; und die Professorin fuhr im selben weichen Ton fort: „Siehst du, lieber Abel! Eine Ehe kann glücklich werden, auch wenn die Frau Geld hat und der Mann keins. Oder ist unsere Ehe etwa nicht glücklich gewesen?“
Doch, natürlich war sie glücklich gewesen. Das konnte der Professor unmöglich leugnen. So stand denn seine Frau auf, schlang ihre Arme um seinen Hals und sagte mit Tränen in den Augen: „Du wirst es doch unserer geliebten Gabby nicht mißgönnen wollen, daß sie gerade so glücklich wird, wie ihre Mutter!“ Nein, das konnte der Professor ihr nicht mißgönnen, und so kriegte Gabrielle ihren Leutnant. Der Leutnant kam täglich ins Haus, Gabrielle war überglücklich, und die Schwiegermama schwebte im siebenten Himmel. Nur die kleinen Schwestern ärgerten die große Schwester ab und zu und störten sie, wenn sie allein sein wollte.
Und Papa konnte manchmal in seiner brutalen Art vor sich hinfluchen und sagen: „Pfui Teufel, was ist das ekelhaft, dies ewige Geschleck immer mit ansehen zu müssen!“
Die Sonne schien durchs Wohnzimmerfenster; ihre Strahlen glitzerten zwischen den Nippes auf der Etagere. Es waren ihre allerletzten Strahlen, die hereinguckten und Abschied nahmen. Denn es war schon vier Uhr Nachmittag;[S. 67] binnen kurzem würde Dämmerung sich über die kleine Stadt senken, um Fünf war es dunkel; dann brannte die Lampe auf dem Tisch und sammelte alle Glieder der Familie um den Ehrengast des Tages. Denn um zwei Uhr heute war Ernst heimgekommen, und obgleich nur ein Jahr verflossen war, seit er zuletzt zuhause gewesen, hatten sie doch alle ein Gefühl, als hätte man sich lange, lange nicht mehr gesehen.
Die Familie war um den Sofatisch im Wohnzimmer versammelt. Die Kaffeemaschine blitzte, blank und frisch geputzt; und der Adjunkt ging heiter und geschäftig eben selber ins Eßzimmer, um vom Buffet die Kognakflasche und Gläser zu holen.
Der junge Theologe war den Seinen fast ein bißchen fremd geworden. Er war unruhig, als quäle es ihn die ganze Zeit über, daß er nichts zu sagen hatte. Unter einer rahmenlosen Brille glänzten ein Paar große, etwas matte Augen hervor, die einen nach innen gekehrten, aber doch nicht abwesenden Blick hatten; unter den Augen lagen dunkle Schatten, die ihnen einen Ausdruck von Müdigkeit gaben. Die Stirn war weiß und wohlgeformt; vom Scheitel, der mitten über den Kopf lief, fiel das braune Haar schlicht und glatt zu beiden Seiten nieder. Jetzt eben hatten seine Augen etwas Forschendes, als läge hinter allem, was er tat oder sagte, der Gedanke: Wie hat das Leben sich hier gestaltet, solange ich fort war? Wie hat diese Zwischenzeit sie verändert?
Ein ganzes Jahr lang war er nicht daheim gewesen. Und damals hatte sein Besuch bloß ein paar Tage gedauert. Es war nicht anders möglich, als daß er sich ein klein bißchen fremd fühlte unter diesen Menschen, die für ihn die nächsten waren. Selma war alt geworden, fand er — auf dem besten Weg zur alten Jungfer. Gustaf war gewachsen und sah manchmal sogar ganz männlich aus. Seine Flegelei war eigentlich nur noch eine Maske, die er vornahm, weil man an sie gewöhnt war[S. 68] und sie sozusagen von ihm erwartete. Der Vater hatte ein paar graue Haare mehr und ging vielleicht ein bißchen mehr gebückt. Aber die Mutter! In ihre Züge war etwas Scharfes gekommen, das Ernst früher nie bemerkt hatte.
Er saß neben der Mutter, und ein paarmal beugte er sich vor und streichelte wie in Gedanken ihre Hand. Und jedesmal merkte er, wie sie, ängstlich und voll Furcht, daß man es bemerke könnte, in seinen Zügen forschte.
„Na also, erzählt doch ein bißchen!“ sagte Ernst schließlich. „Wie ist es euch ergangen im letzten Jahr? Sagt doch was!“ Frau Hallin lächelte.
„Eigentlich ist das Erzählen an dir!“ meinte sie. „Du kommst aus der großen Welt, in der sich alles mögliche ereignet. Hast viel gesehen und viel gehört. Hier passiert nichts. Du weißt ja, wie es hier ist. Vater hat seine Arbeit, und Selma auch, und Gustaf auch, und ich hab auch meine Arbeit — drunten in der Küche und mit euren zerrissenen Kleidern. Hier ist nichts passiert, seit Gabrielle sich verlobt hat. Das war gerade vor Weihnachten.“
Ernst verzog den Mund. Ein humorvoller Zug kam in sein Gesicht. „Na, ist sie immer gleich befriedigt von ihrem Leutnant?“ Der Adjunkt lachte, und Gustaf stieß einen kurzen Laut aus, der den allerhöchsten Grad von Ekel und Verachtung ausdrücken sollte. Aber Frau Hallin nahm mit ungewöhnlichem Eifer das Wort: „Ja, freilich, es ist auch heut noch dasselbe Getue mit dem Leutnant. Weißt du, ich glaube, eigentlich ist es Mama Aurora, die in ihn verliebt ist, und nicht Gabrielle. Sie küssen sich ja freilich reichlich viel. Aber schließlich kriegt man auch das satt. Du sollst bloß Aurora sehen! Wie die vor ihm scherwenzelt und dienert! Ganz extra gekocht wird, wenn diese Perle zum Essen da ist, und wenn er nicht genug ißt, so vergießt Aurora fast Tränen. Äh! der versoffene Kerl! Er sieht aus, als müßte er jeden Augenblick bersten vor Fett!“ Sie[S. 69] schwieg einen Augenblick und fuhr dann, als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, fort: „Aber was wissen wir Menschen? Wenn es Gottes Wille ist, so kann auch dies ihnen zum Besten dienen.“
Verstohlen blickte sie nach Ernst hin, wie um seine Gedanken zu erraten. Der aber sah fort und schien ihre letzte Äußerung gar nicht gehört zu haben.
Gustaf ergriff sein Kognakglas und hielt es dem Adjunkten zum Füllen hin.
„Nein, Junge — zwei Kognaks zum Kaffee — das gibt’s nicht vor Maturitas!“ lachte der Adjunkt.
Gustaf stellte das Glas auf den Tisch und setzte eine gleichgiltige Miene auf.
„Wenn das Geschleck nicht wäre, möcht ich ganz gern an des Leutnants Stelle sein“, bemerkte er.
Alle lachten, und Ernst blickte mit einem Gefühl des Wohlbehagens in das offene, intelligente Gesicht des Bruders, in dem immer ein gewisser Humor gleichsam auf der Lauer lag. Er empfand die Befriedigung, die über einen kommt, wenn man in eine Umgebung zurückversetzt ist, in der man aufgewachsen ist und sich entwickelt hat, eine Umgebung, die durch das bloße Wiedersehen einem die Ruhe der Gewohnheit gibt, die so viel bedeutet im Leben. Er schloß die Augen und strich sich mit der Hand über die Stirn. Ein schmerzhaftes Empfinden durchzuckte ihn. Da stand er nun vor dem Ziel, auf das er so viele Jahre lang hingearbeitet hatte. Die Studienzeit war zu Ende; das Leben sollte beginnen. Aber er hatte gar keine Lust, in dies Leben hinauszutreten, eher eine Art von Scheu, als vor etwas Fremdem, Unbekanntem, das auf ihn wartete, voll von drohenden Gefahren. Er wünschte fast, er hätte noch ein bißchen warten, sich wenigstens ein Jahr lang noch bedenken können. Er brauchte ja doch Zeit, ehe er einen so entscheidenden Schritt tat und als Geistlicher ins Leben hinaustrat!
Geistlicher? Das Heimatgefühl, das ihn erwärmt hatte, begann zu weichen; ein Gefühl unendlicher Leere erfüllte seine Seele. Er würde von all dem reden; und der Vater würde verwundert aussehen, und die Mutter würde weinen, und alle würden sie mit Bibelsprüchen antworten, mit allem möglichen, das sie aus Büchern genommen hatten! Und er — er brauchte doch gerade jetzt einen Menschen! Einfach einen ehrlichen, guten Alltagsmenschen, der ihn verstünde! Er vergaß, wo er war, und ehe er daran dachte, was er tat, seufzte er tief auf.
Die Mutter legte ihm die Hand aufs Knie und blickte angstvoll zu ihm auf: „Was ist mit dir? Du siehst gar nicht wohl aus!“
Des Sohnes Gesundheit war ihre ständige Sorge. Seit sie wußte, daß er schwach auf der Brust war und daß vielleicht einmal ein Lungenleiden bei ihm zum Ausbruch kommen und sein Leben kurz abschneiden könnte, hatte sie keine Ruhe mehr. Es war ihr eine solche Beruhigung jetzt, daß sie ihn wieder unter ihrer Obhut hatte, daß sie sich nicht mehr zu ängstigen brauchte, ob er auch genug aß und sich warm genug anzog!
Der junge Mann fuhr bei ihrer Frage zusammen und sah sich um, verlegen, daß er sich hatte ertappen lassen.
„Danke, es geht mir ganz gut!“ sagte er. „Ich bin bloß ein bißchen müde.“
„Muß man dich jetzt Herr Pastor nennen?“ fragte Gustaf plötzlich mit neugieriger Miene.
Ein allgemeines Lachen brach los. Gustaf hatte doch auch immer zu wunderbare Einfälle! Und mit dem Lachen senkte sich eine stille, warme Ruhe über das Gemüt des ältesten Sohnes. Er dachte an die Tage, da er noch ein Kind gewesen war, als die Mutter ihnen ihre Lieblingsspeisen gekocht hatte und sie ihre Freunde einladen durften, und ein Gefühl der Zufriedenheit und Freude überkam ihn.
Selma betrachtete inzwischen den Bruder forschend; irgend etwas in seinem Aussehen störte sie. Er sah unmännlich aus.[S. 71] Etwas Energieloses, Müdes lag schon in der Art, wie er sich in den Stuhl zurück lehnte. Verstohlen betrachtete sie ihre eigene volle Figur, ihre kraftvollen Glieder, und dachte: Wenn ich ein Mann geworden wäre und mir meinen Weg im Leben selber suchen dürfte!
Der Bruder paßte viel besser zum Haushammel, fand sie. Der Adjunkt dachte allerlei alte Gedanken aus alten Zeiten.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie merkwürdig mich das berührt, daß du jetzt Geistlicher bist!“ sagte er. Seine Stimme hatte einen ungewöhnlich weichen Klang, und die Augen unter der Brille glänzten. „Es war meines alten Vaters großer Kummer, daß keiner von uns diesen Weg einschlug. Und ich hab’s oft bereut, daß ich’s nicht getan hab,“ schloß er seufzend.
Er dachte an seine ärmlichen finanziellen Verhältnisse und hustete ein paarmal, um seine Stimme wieder zu klären. Frau Hallin blickte wieder nach dem Sohn hin, um zu sehen, was er wohl denken mochte. Der aber sagte gar nichts; und in der Dämmerung konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen.
Ja, ja, dachte er. Es ist wohl am besten so, wie es ist. Sein aufrührerisches Herz mußte sich beugen; und Gott hatte verheißen: dem, der Vater und Mutter ehrte, sollte es wohlergehen auf Erden.
Eine lebhafte Bewegung ergriff ihn; und fast hoffte er, alle Zweifel, die ihn noch quälten, müßten jetzt verstummen, nun er wieder daheim war. Ja, alles würde gut werden! Jetzt hieß es bloß, vorwärts gehen, vorwärts auf dem Weg, der vor ihm lag. Nicht zu viel denken, nicht grübeln! Wenn er bloß die dummen Gedanken los würde....
Die Lampe kam. Selma hatte sie angezündet. Das grelle Licht tat ihnen allen in den Augen weh; eine Weile saßen sie mit der Hand vor dem Gesicht da. Dann wirkte der Lampenschein belebend; das Gespräch kam besser in[S. 72] Fluß. Alle drängten sich um Ernst, alle wandten sich ihm zu, alle hatten sie ihm irgend was zu erzählen. Der Adjunkt brachte ein paar von seinen letzten Anekdoten an, die die übrigen Glieder der Familie schon einen ganzen Monat lang gehört hatten, so oft Besuch da war; und als er sie erzählt hatte, fragte er Ernst, ob er nicht ein paar neue Upsalaer Anekdoten wisse, zum Beispiel von Ribbing oder Svedelius. Da aber Ernst nicht aussah, als wäre er dazu besonders aufgelegt, verzichtete der Adjunkt und erzählte selber weiter. Frau Hallin erzählte auch. Sie sprach von allerhand Bekannten, von einem Diner beim Bischof und einem Souper beim Dompropst und fing dann wieder von der Familie des Schwagers und der Verlobung an. Selma sagte nicht viel, half nur aus, wenn die Mutter etwas vergaß. Und Gustaf brachte ein paar wenig respektvolle Anekdoten von seinen geliebten Lehrern aufs Tapet, die der Adjunkt aus Gewissenhaftigkeit manchmal zu stoppen versuchte, und die er doch mit heimlichem Vergnügen anhörte. Ganz besonders freute es ihn, wenn Gustaf erzählte, wie sie Onkel Abel an der Nase herumführten. Die Anekdoten merkte sich der Adjunkt immer ganz besonders, um später den Bruder damit zu erbauen.
So ging der Abend hin. Als man zu Nacht gegessen hatte, wurde Abendandacht gehalten. So wurde es zehn Uhr, und der Adjunkt drang eifrig darauf, daß man zu Bett gehen sollte.
„Denkt doch, morgen müssen wir um Sieben aufstehen!“ sagte er.
Frau Hallin umarmte den heimgekehrten Sohn und sah ihm lange ins Gesicht, um zu ergründen, was es nun eigentlich war, was sie so gar nicht recht wiedererkannte.
„Denk auch dran, daß du wieder daheim bist!“ sagte sie...
„Geh mit Papa. Du schläfst in seinem Zimmer.“
Und als alle fort waren, saß sie noch eine Weile bei der Lampe, ehe sie sie löschte. Sie wußte nicht so recht, woran es[S. 73] eigentlich lag. Aber sie hatte sich die Heimkehr des Sohnes ganz anders gedacht.
Das Studierzimmer des Adjunkten Hallin lag unter dem Dach. Eine Holztreppe führte hinauf. Der Adjunkt ging voraus, der Sohn folgte. Schwatzend tasteten sie sich durchs Dunkel, der Adjunkt langte den Schlüssel herunter, der an seinem gewohnten Platz über der Tür lag, und sie traten ein.
Durch das Fenster erblickte man den beschneiten Domplatz, über den hartgestampfte Wege führten und wo die Ulmen ihre nackten, knackenden Zweige im Februarsturm bogen.
Ernst war es wunderlich zu mut. Wie oft hatte er das Verlangen gehabt, hierher, in dies Zimmer, zu gehen und mit dem Vater zu sprechen, vertraulich, wie mit einem Freund. Aber im Erziehungsprogramm des Vaters hatte etwas derartiges nicht gestanden, und heut, wo der Vater es vielleicht selber wünschte, heut wußte er nicht mehr, wo er anfangen sollte.
Der Adjunkt zündete die Kerze an, ließ den Vorhang herab und fing an, sich auszukleiden. Ernst setzte sich in die Sofaecke; sein langgezogenes Gesicht sah im matten Schein der Kerze ganz graubleich aus.
„Gehst du noch nicht zu Bett?“ fragte der Adjunkt.
„Ich glaube, ich möchte noch eine Weile aufbleiben!“
„Ich denke, du bist müde!“
„Nein, nicht einmal. Das ist schon vorüber.“
Der Vater fuhr fort, sich auszukleiden. Er zog seine Pantoffeln an und fuhr in seinen Schlafrock; jetzt war er fertig. Ernst lächelte. Er hatte dies Bild so oft gesehen; und es war ihm ein Genuß, daß er es jetzt wiedersah.
„Morgen schlaf’ ich recht lang!“ sagte er.
Der Adjunkt zog den Schlafrock über der Brust zusammen und ging.
Lang saß Ernst noch da, gerade so, wie der Vater ihn ver[S. 74]lassen hatte. Ohne eigentlich zu wissen, was er tat, stand er nach einer Weile auf und zog die Gardine hoch. Die Kerze stellte er weg, damit er den Platz vor dem Haus deutlich sehen konnte.
Es war ganz dunkel draußen. Eine einzige Gaslaterne warf über den Bürgersteig und die Straße vor dem Fenster einen gelben Schein, der im Sturm erzitterte; die Äste der Ulmen schlugen prasselnd aneinander; ein seltsames Stöhnen und Seufzen ging über den alten Domplatz.
Das war sein täglicher Weg gewesen, ehe er das Abiturientenexamen gemacht hatte. Unter den großen Ulmen, die schattend um den alten Dom aufragten. Am liebsten war er abends da gegangen, wenn die Sonne sich in farbenreichen, mystischen Nuancen in den bunten Fenstern der Kirche brach. Stundenlang war er da auf und ab gegangen, bis die Sonne sank und Dämmerung sich über die kleine Stadt senkte. Wenn die Kirchentür offen war, ging er auch manchmal hinein und stand, an eine Bank gelehnt, lang in träumende Andacht versunken. In mächtigen Reihen wölbten sich über ihm die steinernen Pfeiler, die das spitze Dach trugen. Durch die hohen Spitzbogenfenster schien die Tageshelle und mischte Licht und Schatten phantastisch ineinander. Und zu hinterst, im Chor, drängen sich die Sonnenstrahlen in Bündeln durch das bunte Glas der Seitenfenster, spiegelten ihre Farben auf Wand und Säulen wider, brachen gleich einem schimmernden Lichtweg über den Altar, warfen seltsame Reflexe auf das Antlitz des Erlösers, der mit dem Kelch in der Hand darüber stand, und tränkten den Boden unter seinen Füßen und um den Altar her mit einer rotleuchtenden Lichtflut.
Mit dem alten Dom waren die Jünglingsträume des jungen Geistlichen ganz merkwürdig verschmolzen; und als er nun dasaß und in die Nacht hinausschaute, versuchte er sich vor allem seine alte Domkirche ins Gedächtnis zu rufen. Die[S. 75] Hände vor die Augen gepreßt, die Ellbogen auf den Fenstersims gestemmt, saß er da und starrte hinaus ins Dunkel. Er vermochte nichts anderes zu sehen, als die dunklen Umrisse des gewaltigen Baus. Und doch gedachte er so lebhaft der Abende, da er einsam durch die Alleen um die Kirche gewandert war oder an weichen Sommerabenden auf einer der grüngestrichenen Bänke im Schatten der Ulmen gesessen hatte. Ganz besonders lebhaft erinnerte er sich des Frühlings.
Des Frühlings!
Einsam war er gewesen — immer — seine ganze Jugend lang! Mit ein paar Schulfreunden hatte er freilich verkehrt. Aber einsam war er doch gewesen. Bei seiner Schwächlichkeit hatte er an den Spielen der gleichaltrigen Knaben nie teilnehmen können. Er hatte ganz für sich allein gelebt, hatte gelesen und gegrübelt, gegrübelt und gelesen. Immer hatte der Gedanke ihn begleitet, daß er doch nicht alt, daß er nicht einmal ein reifer Mann werden würde. Und mit einer fast kränklichen Angst hielt er den bösen Gedanken fest, daß er wahrscheinlich sterben müsse, ohne daß nach ihm irgend etwas noch daran erinnern würde, daß er überhaupt je gelebt hatte. Er glaubte an ein anderes Leben; er glaubte, nicht besonders am Erdenleben zu hängen. Und doch brannte und glühte, ohne daß er es wußte, in ihm eine Liebe zum Leben, zu allem, was Leben war, eine Liebe, die um so stärker und glühender war, je weniger er dies Leben genossen hatte, dies Leben, das er mit all der überreizten Empfänglichkeit der Schwindsüchtigen für die Eindrücke der wirklichen Welt umfaßte.
Darum verweilte er auch besonders bei den Frühlingserinnerungen. Er hatte nie den lauernden Feind in seiner Brust vergessen können; im Gegenteil, der Frühling brachte ihm stets eine Melancholie, so stark und zu gleicher Zeit so unreflektiert, daß er manchmal, wenn er nach seinem längeren Spaziergang, an allen Gliedern zerschlagen, heimkam und in[S. 76] seinen Kleidern den Duft der frischen Luft, der feuchten Erde auf seine Stube brachte, zu seiner eigenen Überraschung sich dabei ertappte, daß er still und unaufhaltsam vor sich hinweinte, wie ein Kind, das auf die Fragen der Erwachsenen nach der Ursache seiner Tränen nur antworten kann: „Ich weiß nicht!“
Aber er genoß den Frühling, genoß das aufkeimende Leben, das Gras, das leise hervordrängte, die Leberblümchen, die die Marktweiber in Körben zum Verkauf anboten, die Bäume, die knospten, den Himmel, der so warm blau war, von weißen, weichen Wolken durchzogen, die laue Luft, die Sonne, die zwischen den Häuserreihen brannte, die Vögel, die auf den Zweigen der Ulmen um den alten Dom her saßen und zwitscherten. Die Vögel, die liebte er ganz besonders, konnte mit der Freude eines Kindes ihren Spielen zusehen, ihrem Gezwitscher lauschen und beobachten, wie sie sich paarten und Nester bauten.
Draußen heulte der Wind, fuhr lärmend durch den Schornstein und pfiff durch die Ritzen der Fensterscheiben. Drunten auf der Straße hatte er ein Blechschild in Bewegung gesetzt, das mit unaufhörlichem Geklapper hin und her schwang.
Und wie Ernst Hallin so, die alte Kirche vor sich, dasaß, war ihm fast, als müsse er vor ihr Rechenschaft ablegen. Wie war er zurückgekommen? Es kam ihm vor, als wäre er eben erst als Jüngling hier gewesen, und jetzt saß er da — als Mann, bereit, ins Leben hinauszutreten. Als Mann. War er wirklich ein Mann? Bereit, ins Leben hinauszutreten. Durfte er sich „bereit“ nennen?
Ein leises Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Er war ganz erschrocken. Seine Gedanken hatten ihn so weit fortgeführt, daß er fast vergessen hatte, wo er saß und wie spät es schon war. Jetzt fiel ihm das alles plötzlich wieder ein, und mit einer Stimme, die ein bißchen härter klang, als just nötig gewesen wäre, fragte er: „Wer ist da?“
Die Tür öffnete sich und Gustaf steckte fragend den Kopf herein. Er war ohne Kragen und hielt eine Pfeife in der Hand, aus deren Deckel ein leichter Rauch aufstieg.
„Darf ich hereinkommen?“ fragte er.
Aber als er das Licht, das Ernst in die hinterste Ecke gestellt hatte, und die aufgezogene Gardine und den Stuhl am Fenster erblickte, ward seine Miene unschlüssig; er betrachtete den Bruder zweifelnd und fragte: „Stör’ ich dich? Soll ich lieber wieder gehen?“
Gustaf war eine ganz andere Natur als der Bruder. Er war zehn Jahre jünger als Ernst, und manchmal, in gewissen Augenblicken, sah es fast aus, als gehöre er einer ganz anderen Generation an. Er machte niemals viel Wesens aus sich selber Und seinen Ansichten, aber er hatte mit seinen siebzehn Jahren seine Anschauungen für sich, so klar und so ausgebildet, wie ein Mensch aus seines Vaters Generation das geradezu als Ungebührlichkeit betrachtet hätte. Nicht einmal Ernst ahnte, was in diesem Augenblick in dem jüngeren Bruder vorging.
Es hatte Gustaf stets unangenehm berührt, daß der Bruder Geistlicher werden sollte. Und in diesem Augenblick hatte der Junge das Gefühl, als habe er den älteren in einer Stunde des Gebets überrascht. Er fand, die Szene sei recht gut arrangiert — die Gardine aufgezogen, damit man die Kirche sehen konnte — und dann am Fenster sitzen und zu Gott beten! Schließlich war es ja allerdings nur Einbildung; es war ja viel zu dunkel, als daß man die Kirche hätte sehen können! Er hatte dem Bruder gegenüber ein Gefühl, das fast an Verachtung streifte.
Ernst verstand zwar den Gedankengang des jüngeren Bruder nicht ganz; aber so viel ahnte er doch, daß der andere sich darüber wunderte, daß die Gardine aufgezogen war und er da am Fenster saß, statt zu Bett zu gehen. Er fühlte sich geniert, wie einer, der sich in einer Situation ertappt sieht, die einen Beigeschmack[S. 78] von Kindischem hat. Darum ließ er rasch die Gardine nieder und stellte die Kerze auf ihren gewöhnlichen Platz zurück.
„Ich hab’ am Fenster gesessen und hinausgeschaut,“ sagte er. „Weißt du, auf dem Platz da drunten bin ich immer spazieren gegangen.“
Und Ernst lächelte fast scheu, in der Furcht, der Bruder möchte ihn nicht verstehen; Gustaf dagegen seufzte erleichtert auf und dachte voll Befriedigung: „Ach so, ja, das ist was anderes!“
Laut sagte er: „Ich dachte bloß, ich wollte auf einen kleinen Schwatz zu dir kommen.“
Aber es wollte irgendwie kein Gespräch in Gang kommen. Die Brüder saßen einander gegenüber, als wären sie sich ganz fremd; beide fühlten es, es war eine Kluft zwischen ihnen, die nicht so leicht zu überspringen war.
Als Gustaf nach einer Weile auf sein Zimmer ging, war in ihm ein Empfinden, das ihn gleichzeitig freute und verwirrte. Er hatte immer gemeint, allen Geistlichen müsse etwas Gemeinsames anhaften, großen und kleinen, alten und jungen, mageren und fetten, wohlbestallten Propsten und halbverhungerten Vikaren. Aber dies „Geistliche“ konnte er bei seinem Bruder noch nicht entdecken. Und er dachte mit dem ironischen Lächeln, das ihm eigen war, wenn er sich allein wußte, darüber nach, ob dies „Geistliche“, das er zu seiner Freude beim Bruder einstweilen noch vermißte, überhaupt erst mit den Jahren kam und wie bald es wohl kommen würde. Vielleicht war es etwas Sakramentiges, das sich in der Ordination mitteilte. Aber da fiel ihm Pastor Simonson von der Schule ein. Bei dem fand sich dieses undefinierbare „Geistliche“ in hohem Maße. Und der war weder alt noch ordiniert. Gustaf kam endlich auf den Schluß, es müsse wohl etwas sein, das von außen käme. Was es war, wußte er nicht. Aber er war froh, daß es beim Bruder nicht vorhanden war. Und er beschloß, diese Entdeckung bei[S. 79] Gelegenheit auch seinen besten Freunden in der Schule anzuvertrauen. Denn er fühlte wohl, es schadete seiner Stellung unter den Kameraden, daß er einen Bruder hatte, der Geistlicher war.
Frau Hallin hatte eine kleine Schwäche, die mit den Jahren zunahm. Im Gegensatz zu ihrem jüngsten Sohn hatte sie nämlich eine ganz besondere Vorliebe für Geistliche, und so oft der Weinberg des Herrn in Gammelby mit einem neuen Arbeiter gesegnet ward, machte sie es immer irgendwie möglich, ihn binnen kurzem in ihren Verkehr zu ziehen.
„Hat Mama wieder mal einen neuen Pastor am Bändel?“ war Gustafs ständige Frage an die Schwester, wenn er ab und zu nachmittags heimkam und durch die offene Wohnzimmertür den Klang einer männlichen Stimme vernahm, die in tiefen Gutturaltönen mit der Mutter redete. Wenn er nachher die Mutter selber sah, pflegte er in teilnehmendem Ton zu fragen, wie der Pastor heiße. Die Mutter argwöhnte auch immer die Ironie, die in der Frage lag, antwortete aber stets, als wäre sie ganz in Ernst gestellt.
Der Umgang mit Geistlichen war ihr zu einem wahren Bedürfnis geworden. Sie hielt das für eines der wirksamsten Mittel zur Erhaltung ihres geistigen Lebens, und sie war unerschöpflich erfinderisch darauf bedacht, daß die Quelle nicht versiegte.
Hallins verkehrten auch mit Bischofs, und ein großer Trost war ihr die Erinnerung, daß der Bischof einmal in einem Gespräch darüber, wie man erfolgreich gegen den gefährlichen Geist der Zeit ankämpfen sollte, zu ihr gesagt hatte, wenn die Streiter der Kirche viele solche Bundesgenossen daheim hätten,[S. 80] wie sie, würde der Streit ihnen leichter werden! Sie bewunderte nämlich den Bischof, weil er in ihren Augen der Gnade näher stand als ein gewöhnlicher Geistlicher. Und doch hegte sie in ihrem Herzen manchmal gewisse Zweifel, die ihr aber nie über die Lippen gekommen wären. Wenn sie die hohe, stattliche Gestalt erblickte, auf deren Brust bei festlichen Gelegenheiten das goldene Kreuz funkelte, wenn sie die herrische, gebieterische Miene sah, die Stimme hörte, die sie gewöhnlich „männlich“ nannte, und die ihr doch manchmal fast roh klang, wenn sie die fleischigen, schwellenden Lippen und den kalten Blick der grauen Augen sah, die oft fast ein bißchen höhnisch unter den grauen buschigen Augenbrauen hervorschauten, da konnte ihr wahrhaftig manchmal fast der sündhafte Gedanke kommen: Ist der Mann das, was der Herr meinte, wenn er vom Kreuzaufsichnehmen redete? Sie machte sich freilich immer die bittersten Vorwürfe, wenn sie solchen Gedanken in sich Raum gegeben hatte. Denn es steht einem wahren Christen nicht an, die Werkzeuge zu tadeln, die der Herr auserkoren hat, sein Werk zu fördern!
Ihr Herz zog sie viel mehr zum Dompropst von Gammelby. Wenn der am Sonnabendnachmittag zu ihr kam und sie Gelegenheit fand, ihm manches von dem anzuvertrauen, was sie beschäftigte, oder ihn über eine dunkle Stelle in der Heiligen Schrift zu Rate zu ziehen, über die sie lang einsam nachgedacht hatte, während die Nadel emsig in ihren fleißigen Fingern ab und zu ging, da überkam sie ein Friede, eine Ruhe, die viele Tage lang noch vorhielten. Der Dompropst war ein frommer Christ und ein guter Mensch. Sein Blick war so mild und sein Lächeln so licht, daß es das lange hagere Gesicht mit dem dunkeln Backenbart und den hervorstehenden Backenknochen fast schön machte. Und sie konnte nicht anders, sie mußte zugeben, daß er in ganz anderer Weise als der Bischof ein Diener des Geistes war.
Sonst waren es meist die jüngeren Geistlichen, die sie bei sich sah. Der Bischof stand zu hoch über ihnen, als daß sie ihn, mit Ausnahme von ganz besonderen Gelegenheiten, hätten einladen können. Und der Dompropst hielt sich im allgemeinen jedem gesellschaftlichen Verkehr fern. In letzter Zeit hatte Frau Hallin viel Freude vom Umgang mit Pastor Simonson gehabt. Er war im Lauf des Jahres als Hilfslehrer am Gymnasium angestellt worden, und es war ihr nicht schwer gefallen, ihn in ihren Umgangskreis zu ziehen. Er war ja doch von Upsala her Ernsts Freund und hatte, sobald er in die Stadt gekommen war, seinen Besuch gemacht und die Grüße des Sohnes überbracht.
Seitdem kam er oft zu Adjunktens. Meist kam er nachmittags, so gegen sechs Uhr, und ward dann auch gewöhnlich aufgefordert, zum Tee zu bleiben. Zuerst saß er dann immer allein bei Frau Hallin, während die übrigen Glieder der Familie noch auf ihren verschiedenen Zimmern beschäftigt waren. Nach und nach sammelten sich alle im Wohnzimmer, jedes von seiner Arbeit weg. Gustaf hatte an solchen Tagen meist länger als gewöhnlich zu tun. Und die Mutter warf ihm immer einen mißbilligenden Blick zu, wenn er grade erst in dem Augenblick eintrat, wenn man sich zu Tisch setzte. Frau Hallin hatte immer irgendeinen religiösen Gesprächsstoff zur Hand, wenn Pastor Simonson kam. Manchmal wollte sie auch Dinge profanerer Natur wissen. So konnte sie ihn zum Beispiel fragen, wie Jünglinge, die ernstlich den Herrn suchten, in Upsala ihre Abende zubrächten. Der Pastor erwiderte darauf, das wäre sehr verschieden. Meist wohl auf ihrem Zimmer bei der Arbeit. Oder auch in irgendeiner Familie. Oder auch mit Kameraden in irgendeinem Café.
Frau Hallin machte große Augen.
In einem Café? Gingen solche Jünglinge denn überhaupt ins Café?
Ja, das heißt natürlich, nicht zu oft. Und natürlich auch nur in ganz respektable Cafés. Aber gegenwärtig gestalte sich eben der Verkehr zwischen den jungen Leuten so, daß man meist im Café zusammen wäre. Er wolle ja gewiß nicht leugnen, daß ein derartiges Leben recht viele Versuchungen mit sich brächte. Und er danke Gott, daß er ihm glücklich entronnen sei; denn er hätte gar manchmal den schädlichen Einfluß eines derartigen Lebens an sich selber empfunden und tief beklagt.
Und der Pastor kniff die Lippen zusammen, daß tiefe Falten in seinen Mundwinkeln entstanden. Frau Hallin aber kam durch diese und andere ähnliche Unterredungen auf ganz merkwürdige Gedanken. Sie fühlte sich gar nicht mehr so recht sicher in Beziehung auf Pastor Simonson.
Später kam Selma. Dann bewegte sich das Gespräch meist um die neuere Literatur, der gegenüber der Pastor gewöhnlich sehr streng war. Frau Hallin hatte, wenn Selma da war, ein sehr wachsames Auge auf die zwei jungen Leute. Sie hätte es so gern gesehen, wenn Selma sich zu einem der jungen Geistlichen hingezogen gefühlt hätte, die ins Haus kamen. Aber Selma tat leider gar nicht dergleichen. Sie verhielt sich Pastor Simonson gegenüber sehr zurückhaltend; manchmal sah es fast aus, als wären ihr die Phrasen, die er machte, geradezu unangenehm.
Frau Hallin, im Gegenteil, ertrug und duldete an diesem jungen Menschen, der Geistlicher war, manches, worein sie sich nie gefunden hätte, wenn es von profanen Lippen, zum Beispiel von denen eines der jüngeren Lehrer, gekommen wäre. Hätte einer von diesen es sich einfallen lassen, sie, wenn auch in noch so höflicher und ehrerbietiger Form, über irgend etwas zu belehren, was sie nicht wußte, — leicht möglich, daß ihm eine ziemlich scharfe Zurechtweisung zuteil geworden wäre, und daß sie ihm recht deutlich zu Verstehen ge[S. 83]geben hätte, daß junge Leute sich nicht wichtig zu machen brauchen.
Aber mit jungen Geistlichen war das ganz was anderes. Denen konnte sie in größter Andacht zuhören, während sie die Nadel ruhen ließ und nur ab und zu langsam mit dem Kopf nickte, wie um die Worte ihrem Gedächtnis besser einzuprägen; wenn sie ihnen je widersprach, geschah es mit allergrößter Ehrerbietung, fast als bitte sie um Verzeihung, daß sie überhaupt anderen Sinnes sein konnte. Ihre Einsprüche lauteten oft so demütig, als wollte sie sagen, es könne natürlich gar keine Frage sein, daß Pastor Simonson recht habe, sie möchte ihn nur bitten, sich ein bißchen deutlicher auszusprechen, damit sie ihn auch gewiß richtig verstehen könne.
Eines Abends, als Mutter und Tochter nach einem solchen Gespräch allein beisammen saßen, fragte Selma die Mutter mit vor Ärger zitternder Stimme: „Wie kannst du dich nur so herabwürdigen, Mama, und in solch einem Ton mit Pastor Simonson sprechen!“
Frau Hallin sah ganz verwundert aus. Sie begriff gar nicht.
„Mich herabwürdigen! Was willst du denn damit sagen?“
Selma ward ganz rot vor Eifer.
„Ich will damit sagen,“ erwiderte sie, „daß du mit ihm redest, als wüßte er wer weiß wie viel mehr als du und hätte wer weiß wie viel mehr Erfahrung. Mir scheint, darin liegt etwas Herabwürdigendes. Er ist doch schließlich nichts weiter, als ein gewöhnlicher Vikar! Und dazu noch wirklich ein recht gewöhnlicher!“
Und der Tochter standen wahrhaftig die Tränen in den Augen.
Aber die Mutter schüttelte bloß den Kopf und sagte:
„Wir müssen das Gute, das uns geboten wird, im wahren Sinn entgegennehmen und uns nicht zu Richtern über die Menschen aufwerfen!“
Pastor Simonson selber wußte Frau Hallins Art, seinen Worten zu lauschen, wohl zu würdigen; er dachte darum auch sehr hoch von Frau Hallins Klugheit und Menschenkenntnis. Er fand es sehr lehrreich, sich mit dieser frommen Frau zu unterhalten und Blicke in ihre verborgenen Kämpfe zu tun. Es war dies um so merkwürdiger, als Frau Hallin fast nie selber sprach, sondern den jungen Geistlichen reden ließ und meist nur dasaß und andächtig lauschte.
Mit Selma dagegen kam er nicht recht vom Fleck. Sie widersprach ihm nur selten, vor allem nie in Gegenwart der Mutter. Aber wenn er so recht lang und eifrig eine Ansicht verfochten hatte, konnte sie auf eine Art dasitzen und schweigen, die ganz wie eine eigensinnige, hartnäckige Opposition aussah. Und Opposition — das konnte der Pastor nicht vertragen.
Übrigens war Pastor Simonson in letzter Zeit seltener gekommen. Er hatte über seine Besuche in der Hallinschen Familie nachgedacht und war zu dem Schluß gekommen, wenn ein junges Mädchen im Haus wäre, müsse man, in Rücksicht auf ihren Ruf, vermeiden, Anlaß zum Klatsch zu geben. Pastor Simonson wollte gern auch aus Rücksicht auf sich selbst jedes Gerede vermeiden. Er wußte ja, wie gern man sich in einer Kleinstadt wie Gammelby grade mit der Zukunft der jungen Geistlichen beschäftigt. Er wußte auch, wie leicht ein derartiges Geschwätz das Glück zerstören kann, wenn es sich eines Tages einmal unerwartet in solider Form präsentiert. Und Pastor Simonson fand, man könne in solchen Sachen gar nicht vorsichtig genug sein.
Frau Hallin glaubte die Gründe, weshalb des Pastors Besuche in letzter Zeit seltener geworden waren, zu durchschauen und war ihm im Grund ihres Herzens dankbar für solches Zartgefühl. Aber jetzt war ja Ernst heimgekehrt, jetzt, hoffte sie, würde er wieder um so öfter kommen. Sie kannte ja ihren Ernst; sie wußte, der konnte tagelang seinen eigenen Gedanken[S. 85] nachhängen, ohne überhaupt von selber auf die Idee zu verfallen, unter Menschen zu gehen. Darum gab sie ihm ein paar deutliche Winke, um ihn zu veranlassen, seine alten Freunde aufzusuchen. Sie sehnte sich danach, ihren Sohn auch einmal so reden zu hören, wie Pastor Simonson so oft vor ihr geredet hatte. Und daheim, im Alltagsleben, wollte das nicht so recht gehen. Aber alle ihre Versuche in dieser Richtung scheiterten. Der Sohn schien ihre Andeutungen nicht zu verstehen oder kümmerte sich nicht darum.
Eines Nachmittags aber — um sechs Uhr, grad wie gewöhnlich — läutete es, und gleich darauf trat Pastor Simonson ein. Er ging, wie immer, auf Frau Hallin zu, begrüßte sie und machte sich’s dann in seinem gewohnten Stuhl bequem, während Frau Hallin das Dienstmädchen hinaufschickte, um zu fragen, ob Herr Ernst, wie er zu Hause noch immer genannt wurde, nicht herunterkommen möchte. Das Mädchen kam zurück und richtete aus: einen schönen Gruß, und ob Herr Pastor Simonson nicht ein bißchen zu Herrn Ernst auf seine Stube kommen würde. Der Adjunkt wäre ausgegangen, und so hätten sie das Reich für sich.
Frau Hallin sah etwas enttäuscht aus, beherrschte sich aber und bat den Pastor, noch eine Treppe höher zu steigen. „Bleiben Sie nicht zu lange weg!“ fügte sie hinzu.
Als Pastor Simonson in die Stube des Adjunkten kam, fand er den Freund dort auf dem Sofa sitzen. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt, und in seiner ganzen Haltung lag etwas so Schlaffes, Zusammengesunkenes, daß der Pastor schon Unrat witterte. Sollte wirklich der Geist des Zweifels Herr geworden sein...?
„Guten Tag!“ sagte er und machte ein paar Schritte auf Ernst zu.
Ernst Hallin richtete sich auf und schaute sich mit müdem und wirrem Blick um. Langsam hob er die Hand zum Kopf[S. 86] und fuhr sich mit einer seltsamen Bewegung durchs Haar. Dann erhob er sich wie ein Schlafwandler und ergriff des Freundes Hand.
„Ach so, du bist’s!“ sagte er. „Ja, es ist ja wahr. Grüß Gott! Wie geht’s dir denn?“
Es kam hastig und eintönig heraus, wie eine auswendig gelernte Aufgabe.
Der Pastor sah ihn scharf an. „Mir? Danke, gut. Ich glaube, ich kann eher fragen, wie es dir geht?“
In Ernsts Gesicht kam plötzlich ein sehr klarer und bestimmter Ausdruck.
„Mir geht es ganz gut!“ sagte er kurz. „Magst du dich nicht setzen?“
Der andere setzte sich rasch, ohne dabei den Blick vom Gesicht des Freundes zu wenden. Ernst hatte sich in der letzten Zeit sehr verändert. Die Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, und der dunkle Rand um sie war breiter und dunkler als je zuvor. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, als fürchte er sich vor dem andern. Pastor Simonson merkte, wie Ernst ihn von der Seite beobachtete und wie es um seine Mundwinkel zuckte, während er schweigend dasaß. Keine Sekunde konnte er seine Hände ruhig halten. Die langen, schmalen Finger liefen in fieberhafter Hast auf der Sofalehne hin und her; ein paarmal lachte er auch, nervös, kurz, als wolle er die Tränen zurückhalten.
Dann erhob er sich plötzlich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Manchmal blieb er stehen und betrachtete Simonson mit einem Ausdruck, in dem dieser etwas Spöttisches zu lesen glaubte. Doch sagte er nichts, sondern setzte seine Wanderung fort und blieb nur manchmal stehen, um den Pastor zu betrachten und die Finger durch den weichen Bart zu ziehen.
„Du hast mich gebeten, heraufzukommen“, sagte der Pastor.
„Ich dachte, du wolltest was von mir. — Es ist lang her,[S. 87] seit wir uns zuletzt gesehen haben!“ fuhr er dann fort, da der andere nicht antwortete.
Ernst brach ganz unmotiviert in ein heiteres Lachen aus, wurde dann aber plötzlich wieder ernst.
„Ja, es ist lang her!“ sagte er mit Betonung. „Und in einem Jahr kann sich viel ereignen. Früher haben wir uns ja gekannt. Waren es wirklich vier volle Jahre, daß wir täglich miteinander zu Mittag aßen?“
Pastor Simonson hatte fast ein Gefühl von Angst. Er begriff nicht, worauf der andere hinauswollte; und so fragte er zögernd: „Was soll das heißen: früher haben wir einander gekannt? Kennst du mich etwa jetzt nicht mehr?“
Er blickte an sich herunter und sah den schwarzen Gehrock. Und er errötete. Es war eine seiner Schwächen, daß er gern einen hochschließenden, doppelreihigen Gehrock trug, der dem Pastorenrock so ähnlich wie möglich war. Einesteils glaubte er, daß der Rock ihn gut kleide. Und dann verlieh er ihm eine gewisse Würde; und darauf legte der Pastor Wert.
Ernst sah, wie er errötete, und schwieg eine Weile lächelnd. Es sah aus, als amüsiere er sich.
„Doch, natürlich kenn’ ich dich!“ sagte er dann, das letzte Wort leicht betonend und mit einem Versuch, in seine Stimme Herzlichkeit zu legen.
Aber beide Männer fühlten in diesem Augenblick, daß etwas Feindliches zwischen sie gekommen war, und wußten, es war gekommen in dem Augenblick, in dem sie sich beide — jeder nach seiner Seite hin — entwickeln mußten. Es war, als wenn verschiedene Lebensmächte sie beherrschten, und als wenn jeder fürchtete, in dem ehemaligen Freund einen gefährlichen Gegner zu finden. Das Widerstreben gegen seine Persönlichkeit, das Pastor Simonson hinter dem seltsamen Wesen des andern ahnte, erfüllte ihn mit Verwunderung. In ihrem ganzen Kreis war immer er es gewesen, der das Wort geführt hatte.[S. 88] Auch wenn sie beide allein gewesen waren, hatte immer Pastor Simonson geredet, und Ernst hatte zugehört. Einen Augenblick kam Simonson ein ganz merkwürdiger Gedanke. Jawohl, so war es, tatsächlich! Ihm war es ja nie in den Sinn gekommen — aber Ernst Hallin hatte ihm überhaupt nie sein Vertrauen geschenkt; sondern wenn der Freund nicht widersprach, hatte er, Simonson, immer einfach angenommen, daß er ihm beistimme. Aber den Gedanken schob er denn doch von sich. Es war ihm ganz unmöglich, ihn festzuhalten. Hallin, der weiche, stille Hallin, den er immer nur in den Vorhof stellte, wenn er ihn mit sich selber verglich — Ernst Hallin, den er eigentlich nur als seinen Jünger betrachtete —, der sollte in den fünf Jahren in aller Stille und Verschlossenheit seine eigenen Wege gewandelt sein? Nein, nie und nimmer konnte er das glauben! Aber er beschloß doch, vorsichtig und aufmerksam zu sein.
Er blickte wieder nach Ernst hinüber. Der gespannte Ausdruck in des Freundes Gesicht war gewichen; er lächelte.
„Ja — jetzt muß man sich also seine milchende Kuh verschaffen — zum Lohn für die Studienjahre!“ sagte er.
Pastor Simonson sah ihn forschend an. Er wußte absolut nicht, ob der andere ironisch sprach oder ernsthaft.
Ernst Hallin schien das gar nicht zu bemerken.
„Darauf läuft’s ja doch hinaus“, fuhr er fort. „Sieh bloß meinen Vater an. Wie ein Sklave hat er gearbeitet. Achtundzwanzig Jahre oder mehr steht er jetzt im Dienst der Schule, hat geschuftet und geochst, und Hefte korrigiert und den Jungens lateinische Grammatik eingetrichtert. Fast sechzig Jahr ist er jetzt. Und ich weiß, noch immer hat er Schulden, die nicht abbezahlt sind. Ich weiß es!“ wiederholte er heftig, als hätte der andere ihm widersprochen, und sein Gesicht zuckte. „Was sagst du dazu?“ Er blieb vor Simonson stehen.
„Ach, das ist ja bei dir was ganz anderes“, sagte der. „Du bist ja doch Theologe.“
Ernst verzog keine Miene, sondern fuhr im selben Ton fort: „Ja freilich, da hast du recht. Ich werd’ Geistlicher. Die haben’s leichter, ihre Schulden zu zahlen. Und man ist ein rangierter Mann, eh man’s überhaupt ahnt! Ich hab’ daran gar nicht gedacht!“
Er setzte sich neben den andern ins Sofa und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps aufs Knie.
„Na, wie geht’s dir denn hier? Gut?“
Pastor Simonson sah ganz erleichtert aus. Wenn er von sich selber sprechen konnte, so fand er sich immer besser zurecht.
„Freilich. Mir geht’s gut hier“, sagte er. „Es geht einem immer gut, wenn man seine geordnete Arbeit hat. Ich glaube, ich darf wohl sagen, meine Vorgesetzten sind zufrieden mit mir. Ein paarmal hab’ ich auch gepredigt. Und meine letzte Predigt hat Aufsehen erregt. Der Bischof fand, es wäre gut, wenn ich sie drucken ließe. Überhaupt hat er mir viel Freundlichkeit erwiesen.“
„So, so!“ sagte Ernst zögernd. „Das freut mich.“
Aber er blickte dabei zur Seite, und über sein Gesicht flog eine hastige Röte.
„Wollen wir hinuntergehen?“ fragte er dann plötzlich.
Drunten im Wohnzimmer hatte der Adjunkt eben einen kleinen Streit mit seiner Frau gehabt.
Er hatte am Nachmittag seinen Bruder, den Professor, besucht, und als die Brüder eine Weile beieinander gesessen hatten, war der Professor aufgestanden und hatte mit seinem alten gassenjungenhaften Ton gesagt: „Du, Erker! Wie wär’s, wenn wir uns heut einen vergnügten Abend machten? Ich hab’ eine ganz verwünschte Lust dazu!“
Und er zog an seinem wohlgepflegten Backenbart und schnitt eine Grimasse, die dem Adjunkten unwillkürlich ein Lachen ablockte.
„Na, was meinst du dazu?“
Der Adjunkt lächelte — ein bißchen gezwungen, wie es dem Bruder schien.
„Ich weiß nicht recht...“
Der Professor kannte dies Lächeln. Er verstand den Bruder.
„Freilich, Ebbas strenge Grundsätze — na, usw. usw. Aber wart’ einmal. Da, stell dich hinter die Tür, so sollst du mal hören, wie das ein alter Diplomat macht!“
„Zu was soll ich mich denn hinter die Tür stellen?“
Der Professor kratzte sich am Kopf und lachte, daß sein Bauch wackelte.
„Zu was du dich hinter die Tür stellen sollst? Du bist doch ein unverbesserlicher Schafskopf! Oder ein Idiot — wie man das heutzutag nennt! Um was zu lernen, verstehst du? Also sei mal still!“
Sein wohlgenährter Körper verschwand geschmeidig durch die Tür, die er halb offen ließ.
Der Adjunkt sah recht kläglich aus, wie er so dastand. Aber neugierig war er doch. Darum blieb er und horchte. Erst war eine ganze Weile lang alles still. Er dachte schon, der Bruder hätte seine Frau gar nicht getroffen. Endlich hörte er ein Husten, das anscheinend vom Bruder kam. Dann eine sanfte Stimme, die sagte: „Du bist recht lieb, daß du mir Gesellschaft leistest!“
„Ja, siehst du, ich wollte eigentlich heut abend ein bißchen ausgehen. Eine Verabredung... ein paar Kollegen...“
Dann ein Flüstern, das nicht zu verstehen war. Und darauf die Stimme der Professorin: „Laß schon, Abel! Du weißt, ich mag keine Judasküsse! Geh nur mit deinen Kollegen! Du weißt ja, ich schlaf’ doch nicht, eh du daheim bist!“
Und dann des Professors Stimme: „Adieu, lieber Schatz! Halt gut Haus, solang ich fort bin! Schlafen wirst du schon, paß nur auf, — wenn du nur erst zu Bett bist!“
Im nächsten Augenblick witschte der Professor wieder ins Zimmer, den Finger auf die Lippen gedrückt.
„So, jetzt weißt du, wie man’s macht! Jetzt rasch, geh heim, und nachher treffen wir uns im Ratskeller! Bruhn ist[S. 91] auch da und Kumlander und noch ein paar. Heut abend ist was ganz Besonderes los, mußt du wissen!“
Der Adjunkt ging sehr eilig nach Hause an solchen Abenden. Er machte kleine, rasche Schritte; sein Gesicht hatte einen ganz besonders belebten Ausdruck. Für einen Abend wollte er einmal den Schulzwang und die Familienbürde von sich werfen! Wollte sich einmal wieder ledig fühlen und frei! Er war auch ganz sicher — seine Frau würde ihn verstehen und ihm die Freude durch kein saures Gesicht stören. Sie wußte ja, wie nötig er’s hatte, einmal so recht herauszukommen!
Mit behutsamen Schritten trat er ins Wohnzimmer, in dem seine Frau saß. Er hatte noch den Mantel an und den Stock in der Hand. Und ohne weitere Vorbereitung brachte er sein Anliegen vor; so sicher, wie vorhin auf der Straße, fühlte er sich freilich nicht mehr.
Frau Hallin sah eigensinnig auf ihre Arbeit. Um ihren Mund legte sich ein strenger Zug.
„Pastor Simonson war hier; und ich hab’ ihn auf heut abend eingeladen!“ sagte sie.
„Er hat ja Ernst!“ meinte der Adjunkt eifrig.
Frau Hallin blickte von ihrer Arbeit auf und sagte ernsthaft: „Um unsres Sohnes willen müßtest du das nicht tun!“
Ein ziemlich lebhafter Wortwechsel entspann sich. Aber der Adjunkt bestand auf seinem Recht. Er wollte ausgehen, und er würde ausgehen. Außerdem hatte er es schon versprochen. Was ging ihn überhaupt Pastor Simonson an? Es war doch gewiß keine Sünde, wenn man einmal abends ausging!
Frau Hallin setzte ihre allerverstockteste, vorwurfsvollste Miene auf und bat ihn, doch ja zu gehen. Sie hatte getan, was sie konnte! Ihrethalben konnte es die ganze Stadt wissen, daß Pastor Hallins Vater abends in den Wirtschaften hockte — in der allerschlechtesten Gesellschaft.
Frau Hallin war böse, und zwar ganz ernstlich. Es regte[S. 92] sie immer auf, wenn der Adjunkt abends fort war. Sie hatte es ja, Gott sei Dank, dahin gebracht, daß es nicht mehr oft vorkam. Daß er aber grad heute, wo Pastor Simonson da war, ausgehen wollte — das reizte sie. Denn sie war ganz sicher — der Pastor würde die Geschichte weitererzählen. Und den ganzen Abend lang würde es sie quälen, daß das grade in ihrem christlichen Haus passieren mußte!
Als auf der Treppe Schritte laut wurden, verschwand der Adjunkt. Frau Hallin hatte auf jeder Backe einen kleinen roten Fleck, als sie die Herren in Empfang nahm.
Aber sie sagte nichts, eh man zu Tisch ging. Während sie dann die Herren bat, ins Eßzimmer zu gehen, sagte sie mit einer Stimme, der sie vergeblich einen gleichgültigen Ausdruck zu geben versuchte: „Papa ist aus heut abend!“
Pastor Simonson warf einen raschen Blick auf ihr Gesicht und verstand mit einmal, weshalb die Stimmung den ganzen Abend so gedrückt war. Man führte ein sündhaftes Leben in Gammelby — mit Schwelgen und Prassen! Und er beugte in einer Art diskreten Mitleidens das Haupt.
Ernst dagegen setzte seine Mutter höchlich in Erstaunen dadurch, daß er in die Hände klatschte und heiter rief: „Das ist nett, daß Papa sich auch mal ein Vergnügen gönnt! Er hat’s nötig!“
Als das Abendbrot vorüber war, versammelten sich alle im Wohnzimmer. Eine gewisse Verstimmung lag in der Luft, und keiner hatte Lust, ein Gespräch anzufangen. Ab und zu sagte jemand ein paar Worte, wie um pflichtschuldigst zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen. Ernst sah überhaupt ganz geistesabwesend aus, und Gustaf gähnte unverhohlen.
Frau Hallin erhob sich und ging auf einen Augenblick hinaus.[S. 93] Als sie zurückkam, hatte sie Bibel und Andachtsbuch bei sich, die sie beide vor Ernst hinlegte, während sie mit einem forschenden Blick sagte: „Vielleicht liest du heute das Abendgebet, da Papa fort ist!“
Ernst fuhr zusammen. Er sah so erschrocken aus, als mute ihm die Mutter das halsbrecherischste Wagestück zu; und er blickte sich nach allen Seiten um, als erwarte er Hilfe und Unterstützung von den andern.
„Meinst du?“ fragte er halblaut. „Grad heute abend?“
„Ich meine, wir sollten auch heut abend nicht auseinandergehen, ohne Gottes Wort miteinander gelesen zu haben!“ antwortete Frau Hallin ebenfalls in einem Ton, der nicht für die andern berechnet war.
„Wir sind ja aber nicht allein!“ fuhr Ernst widerwillig fort.
„Pastor Simonson hat unserer Andacht schon öfter beigewohnt“, erwiderte Frau Hallin, indem sie sich dem jungen Pastor zuwandte.
Ernst Hallin erhob sich. Sein Antlitz war düster; er schob die Bücher von sich.
„Ich kann nicht!“ sagte er mit leiser Stimme, die aber durchs ganze Zimmer zu hören war. „Quäl’ mich nicht!“
Eine Weile hatten ihm seine Gedanken Ruhe gelassen. Jetzt brachte die Mutter sie ihm wieder so recht handgreiflich in Erinnerung. Er, der so gar nicht wußte, was er eigentlich glaubte oder dachte, er, der selber ein Suchender war, ein Tastender, ein Ringender, er sollte seinen Beruf ausüben und andern, die Suchende waren, gleich ihm, predigen?
Er entfernte sich vom Tisch, auf dem die Lampe stand, und setzte sich in den dunkelsten Winkel des Zimmers.
Pastor Simonson trat vor und nahm die Bücher an sich.
„Gestatten Sie, daß ich ein Kapitel aus der Bibel lese, Frau Hallin?“ sagte er. Es lag eine fast unmerkliche Betonung auf dem „ich“.
Frau Hallin warf ihm einen dankbaren Blick zu; aber es tat ihr weh, daß sie die Stimme eines Fremden statt der ihres Sohnes hören mußte; und Tränen flossen in ihr Taschentuch, während sie das Haupt beugte.
Warum hab’ ich es nur nicht tun können? fragte Ernst Hallin sich. Warum hab’ ich es nicht tun können? Es kam ihm selber ganz unbegreiflich vor. Er saß ganz stumm da und rang in Gedanken mit sich selbst, um der Sache auf den Grund zu kommen. Warum nur nicht! Es war doch sonderbar!
Er ward aus seinen Gedanken gerissen durch Pastor Simonsons Stimme, die leise und scharf die Einleitungsworte sprach: „Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“
Er las darauf ein Kapitel aus der Bergpredigt; die milden Worte hatten einen seltsam fremden Klang. Leblos und kalt fielen sie von seinen Lippen, als hätten sie nie eine Seele gehabt, als wären sie nie von Lippen gefallen, die von Liebe zur Menschheit, von Trauer über ihren Fall zitterten. Korrekt und starr kamen sie heraus, als trockene, dogmatische Sentenzen, die man bei der Hand haben muß, wenn es drauf ankommt.
Ernst empfand ein unsägliches Unbehagen, eine rein körperliche Qual, die für ihn ebenso unleidlich wie neu war. Als Simonson zu Ende gelesen hatte, dankte die Mutter ihm. Ernst saß in der Sofaecke. Niemand konnte sein Gesicht sehen.
Dann sagten alle Gutenacht. Pastor Simonson zog seinen Überzieher an und Gustaf begleitete ihn, um ihn zur Haustür hinauszulassen. Selma ging auf ihr Zimmer.
Ernst trat zur Mutter, um ihr Gutenacht zu sagen. Sie sah ihn einen Augenblick lang ernsthaft an, ohne ein Wort zu sprechen. Dann sagte sie: „Ernst, mit dir geht etwas vor. Aber ich weiß nicht, was.“
„Mit mir?“ erwiderte Ernst. „Nein.“
Er ging von ihr fort und durchs Zimmer.
„Ich versichere dich, Mama, es ist nichts!“ sagte er. „Was sollte es auch sein?“
Bei sich aber dachte er: Was kann sie nur damit meinen? Mit mir vorgehen? Was soll denn mit mir vorgehen? Etwas muß es ja freilich sein. Seit ich aus Upsala zurück bin, ist es in mir wie eine Unruhe. Ich muß Zeit haben — ich muß zu mir selber kommen. So kann das nicht weitergehen. Ah — was die Menschen alle mich quälen! Und ganz besonders Mama mit ihrem Inmichdringen! Wenn ich mich doch verstecken könnte, irgendwohin, wo keiner mich sieht, und wo ich keinen sehe! Unerträglich ist es hier!
Aber die Mutter ließ sich so leicht nicht abweisen. Sie ging ihm nach und legte ihm die Hand auf die Achsel.
„Sag’ mir, was es ist!“ bat sie.
Jetzt wurde Ernst heftig.
„Laß mich in Frieden!“ rief er. „Was hab’ ich denn getan? Ich hab’ die Abendandacht nicht lesen wollen. Ich weiß selber nicht, warum. Es war mir zuwider. Simonson hat es ja an meiner Statt getan. Und das war ja ebensogut. Warum läßt man mich nicht in Frieden? Siehst du denn nicht, daß ich grade das brauche, Mama? Ich ertrag’ es nicht, daß man so um mich herumgeht und lauert und mich überwacht, als wüßt’ ich selber nicht, was ich wollte! Ich bitt’ dich ganz ernstlich, Mama, laß das!“
Und mit einem freundlicheren Gesichtsausdruck als zuvor bog er sich nieder zu ihr, küßte sie und wollte gehen.
Frau Hallin blickte ihm bekümmert nach.
Er blieb stehen.
„Wenn du bloß nichts tust, was gegen Gottes Willen ist!“ sagte sie.
Ein Lächeln flog über sein Antlitz.
„Was ist das — gegen Gottes Willen?“ fragte er.
„Ernst!“ erwiderte Frau Hallin, und in ihren Augen blitzte es. „Das weißt du nicht?“
„Doch, doch!“ sagte er rasch. „Ich wollte ja nur sagen, daß ich mich davor in acht nehme!“
Und mit hastigen Schritten lief er die Treppe hinauf und in sein Zimmer. Als er Licht angesteckt hatte, saß er lange mit pochendem Herzen und hämmernden Schläfen da und grübelte darüber nach, was denn eigentlich geschehen war. Warum war er denn so heftig geworden gegen die Mutter? Und was bedeutete überhaupt das alles?
Dann dachte er plötzlich an Simonson, und etwas wie Zorn erwachte in ihm. Ja, der war anders geworden! Oder seh ich ihn vielleicht in einem so andern Licht? dachte Ernst. Sogar seine Stimme ist anders als früher. Und er sieht aus, als liefe er mit einer Maske herum! Kämmt sein Haar so glatt und kleidet sich so feierlich und spricht so herablassend mit den Frauen!
Ernst mußte lachen, als er daran dachte. Aber das Lachen verging ihm rasch.
„Er ist kein ehrlicher Mensch!“ dachte er. Aber im selben Augenblick errötete er über seinen Argwohn.
Es gärte und kochte in ihm, als wäre sein ganzes Innere in Aufruhr. Er riß das Fenster auf und atmete die frische Luft ein. Es war dunkel draußen. Aber schön war es. Erquickung für die kranken Lungen, die sich von verdorbener Luft erholten. Er zog, noch immer unschlüssig, die Uhr. Es war kaum Zehn. Durchs Fenster strömte die kühle Luft.
Mit einem hastigen Entschluß hüllte er sich in den Überzieher und zündete sich eine Zigarre an. Dann steckte er eine Streichholzschachtel zu sich, löschte das Licht und schlich mit leisen Schritten die Treppe hinab, hinaus auf die Straße.
Adjunkt Hallin schlug den Weg zum Ratskeller nach der Unterredung mit seiner Frau keineswegs so fröhlich ein, wie er vor kurzem noch von seinem Bruder nach Hause gekommen war. Seine heitere Laune war ganz weg; und er ging eigentlich bloß, weil er nicht gern umkehren mochte. Wäre nicht Pastor Simonson daheim gewesen — er wäre wahrhaftig zu Hause geblieben. Aber so schämte er sich, einen Fremden zum Zeugen seiner Niederlage werden zu lassen.
Die Luft war schwer und kalt. Grau und wolkig hing der Himmel über der Stadt. Als der Adjunkt die Lange Straße hinab ging, sah er, wie hinter der Brücke, wo die Straße endet, die Wolken sich ganz zusammenschlossen. Ab und zu fuhr ein scharfer Windstoß einher. Die grauen und roten Holzhäuser sahen feucht aus. Der Schnee, der auf der Straße lag, war an vielen Stellen ganz überdeckt von Schmutz und Unrat.
Die ganze Stadt sah zu dieser Tageszeit aus, als hätte alles, was Leben und Atem hat, sich in die Häuser zurückgezogen. An dem einen oder andern Fenster zeigte sich neben dem angelaufenen Straßenspiegel ein haubengeschmücktes Altfrauengesicht, das eifrig nach den Ereignissen draußen ausspähte. Ein kleines Stück vor sich bemerkte der Adjunkt den Laternenanzünder. Er trug eine Leiter, die er an jeder Laterne aufstellte; dann kletterte er hinauf, und gleich darauf glimmte eine gelbe Flamme durch die Dämmerung, beleuchtete Straße und Häuser und warf da und dort ihren Schein in ein Zimmer, in dem die Menschen saßen und warteten, bis das Erscheinen des Laternenmanns das Zeichen gab, daß die offizielle Dämmerstunde zu Ende und es Zeit war, die Lampe anzuzünden. Die haubenumrahmten Gesichter hinter den Spiegeln bewegten sich, und die alten Augen wurden lebendiger, wenn sie den kleinen Mann in seinem grauen Kittel und der Mütze[S. 98] langsam die Leiter emporklimmen und die Gaslaternen von Gammelby anstecken sahen.
Es war für den Adjunkt ein ganz besonderes Vergnügen, die Arbeit des Laternenmanns zu verfolgen, auf der Straße stehenzubleiben und zuzusehen, wie die Lichter sich entzündeten, eins nach dem andern, im Zickzack, erst auf der rechten Seite, dann auf der linken, die ganze Lange Straße hinunter, bis die gelben Flammen sich in einer langen Zickzacklinie bis zur Brücke hin zogen, hinter der das Dunkel anfing.
Auch jetzt blieb er eine Weile stehen und sah zu, wie die Flamme in der Dunkelheit aufloderte und ihren zuckenden Schein über Straße und Häuser warf.
Da fühlte er, wie eine Hand ihm von hintenher auf die Schulter schlug. Es war Professor Kumlander, der ihm mit seiner langen Nase ins Gesicht schnüffelte.
„Guten Abend, Hallin!“ sagte er. „Du kommst doch auch heut?“
„Ja“, erwiderte der aus seinen Betrachtungen gerissene Adjunkt. „Beabsichtige es wenigstens. Bist du denn noch nicht dort?“
Professor Kumlander war nämlich im allgemeinen keiner von denen, die zu einem Zechgelage zu spät kommen. Heut aber sah er aus wie einer, der gewichtige Gründe zum Zuspätkommen hat. Sein Gesicht trug einen verschämten und gleichzeitig befriedigten Ausdruck. Und in der Art, wie er den Kollegen betrachtete, lag etwas jungenhaft Verschmitztes. Er schlug mit seinem Stock aufs Pflaster und schnaubte ein paarmal sehr ausdrucksvoll.
„Ich habe so meine Gründe!“ sagte er.
Adjunkt Hallin sah noch immer gänzlich unbeeindruckt aus und begriff augenscheinlich nicht, worauf der andere hinaus wollte. Jetzt aber ward für Professor Kumlander die Versuchung zu stark. Mit einer Miene, die zwischen Verschämtheit[S. 99] und Selbstzufriedenheit schwankte, sagte er: „Eigentlich sollt’ ich ja nichts sagen, eh’ wir dort sind. Aber weißt du — meine Frau hat heut ein Mädelchen gekriegt!“
Der Adjunkt mußte es wohl nicht ganz schicklich finden, in lautes Gelächter auszubrechen, obwohl ihm das am nächsten lag. Jedenfalls aber sah er sehr erheitert aus. Er wußte, heut gab es einen lustigen Abend, einen, von dem man noch wochenlang zehren konnte. Wenn bei Kumlanders wieder ein Töchterchen angelangt war, — das war eine Freude für das ganze Lehrerpersonal und auch für die Schüler. Acht Jahre war der Professor verheiratet. Und jedes Jahr kriegte er ein Mädchen, und bei jedem Mädchen hatte er, all die acht Jahre her, sich gewünscht, es möchte ein Junge sein. Er rechnete es immer ganz genau aus, daß es diesmal ein Junge sein müßte. Ganz fest war er davon überzeugt; es war überhaupt gar nicht anders möglich. Alle Wahrscheinlichkeiten sprachen dafür, daß es diesmal ein Junge war. Es gab da so gewisse Anzeichen, die die Hebamme beobachtet hatte. Und der Professor flüsterte seinem Nebensitzer ein paar Worte ins Ohr. Und kurz — es war so gut wie sicher.
Und jedesmal war es ein Mädchen.
Fünfmal war es jetzt schon so gegangen. Immer war der Professor ganz unerschütterlich in seinem Glauben, immer war er gleich mitteilsam und vertrauensvoll den Kollegen gegenüber, immer ward er betrogen und immer hoffte er gleich unverdrossen auf mehr Glück das nächstemal. Weshalb es auch unter den Kollegen zum stehenden Scherz wurde, Kumlanders könnten bloß Mädchen kriegen.
Diesmal genierte er sich aber doch ein bißchen. Er wußte, heute würde es über ihn hergehen! Und mag man noch so gutmütig sein, — ein bißchen peinlich ist so was doch.
Der Adjunkt bezwang einstweilen seine Lachlust noch und fragte nur boshaft: „Na, wie ist’s denn? Achte hast du jetzt, was?“
„Quatsch!“ sagte der Professor gutmütig. „Ich bin doch überhaupt erst acht Jahre verheiratet.“
Und lachend gingen die beiden Herren die Ratskellertreppe hinab.
Daß die Herren grade heute abend zusammenkamen, das hatte Professor Hallin zuwege gebracht. Er hatte niemand gesagt, warum; denn der „Anlaß“ sollte eine Überraschung sein. Er hatte es nur eingerichtet, daß sie alle sich an diesem Abend treffen wollten, so viele von denen, die zu einem lustigen Abend gehörten, er überhaupt zusammentrommeln konnte. Daß bei Kumlanders etwas erwartet wurde, hatte er durch seine Frau erfahren. Seitdem hatte er nach besten Kräften seine Vorkehrungen getroffen. Gradezu gefiebert vor Unruhe hatte er beim Gedanken, es könnte doch möglicherweise ein Junge sein. Das hätte ja den ganzen Spaß verdorben. Vormittags war Professor Kumlander nicht in der Schule gewesen; und Professor Hallin hatte sich in einer der Pausen die Nachricht zu verschaffen gewußt, daß das große Ereignis stattgefunden hatte. Er hüpfte vor Freude, als er hörte, daß das Kleine ein Mädchen war. Professor Kumlander pflegte jeden Abend um sieben Uhr auf ein Stündchen zum Abendschoppen in den Ratskeller zu gehen; und daß er an einem so wichtigen Tag nicht ausbleiben würde, war ziemlich sicher.
Als darum Hallin und Kumlander jetzt zusammen in das kleine Nebenzimmer traten, fanden sie vor dem Sofa einen langen Tisch, auf dem heftig dampfende Groggläser winkten, und um den Tisch den ganzen Kreis der älteren Lehrer versammelt. Es mochten alles in allem etwa zehn Personen sein.
Da saß Doktor Björkén, ein langer, hagerer Magister, dessen Adlernase in dem üppigen Bart fast begraben war. Daneben Professor Eneman, ein kleiner, fetter Herr mit Glatze und Brille. Seine Augen fuhren beständig nach allen Seiten umher, als fordre er den Beifall seiner Nebensitzer heraus, und[S. 101] um seine Lippen lag ein Lächeln, das bezeugen sollte, daß ein guter Witz bei ihm stets eine gute Statt finde. Da saß der lustige alte Svartengren, ein alter Junggesell, der bloß die Augen zu verdrehen brauchte, um alle Welt zum Lachen zu bringen. Er saß da und zog die Mundwinkel vor Lachen bis an die Ohren, während sein unmäßig dicker Bauch sich wie ein Berg vom Tischrand zur Brust emporwölbte. Da saß Magister Barfoot, ein brünetter Mann mit schwarzem Spitzbart und dem Monokle im Auge. Er war ein Misanthrop und nur aus Versehen in die Gesellschaft geraten. Auf dem Sofa saß Professor Hallin, und hinter ihm waren Professor Bruhns gewaltige Figur und noch ein paar andere sichtbar.
Professor Hallin hatte „den Anlaß“ schon mitgeteilt. Er war frühzeitig gekommen und hatte seine Truppen um sich versammelt. Als darum Kumlander in der Tür erschien, erhob sich die ganze Gesellschaft und verbeugte sich ernsthaft.
„Wir gratulieren!“
„Danke! Die Herren sind sehr aufmerksam!“ erwiderte der Theologieprofessor.
„Wie geht’s der Frau?“ fragte Professor Hallin.
„Und der Kleinen?“ fiel Professor Eneman ein und machte eine liebenswürdige Bewegung mit seiner fetten, kleinen Hand.
„Mutter und Kind befinden sich den Umständen gemäß!“ antwortete der glückliche Vater mit erzwungenem Ernst.
Professor Hallin schob sich vor und umarmte den Festhammel.
„Und wie viele spendierst du heut? Sieben doch wohl, der Übereinstimmung halber! Sieben? Was?“
„Den Teufel werd’ ich!“ antwortet der unglückliche Kumlander in einem solchen Brustton der Überzeugung, daß ein allgemeines Gelächter sich erhob. „Spendier’ doch du, wenn dich danach gelüstet!“
Professor Bruhn betrachtete die Kollegen mit einem gutmütigen Lächeln, etwa wie ein Erwachsener auf Kinder herunterblickt, deren Vergnügen er nicht stören will.
„Können wir das nicht ebensogut im Sitzen abmachen?“ sagte er.
Jetzt machte man Raum für Kumlander. Er mußte auf den Ehrenplatz. Auf das Sofa gehörte er.
Er sah auch ganz so aus, als fühle er sich als Held des Tages. Die Aufmerksamkeit, die einen andern in Verlegenheit gesetzt hätte, genierte ihn nicht im geringsten. All die Scherze genierten ihn höchstens in der Phantasie. In Wirklichkeit freute ihn diese ganze Hänselei, die so grob, so alles andere eher als zartfühlend war, weit mehr, als wenn man ihn ernst genommen hätte. Als er jetzt zwischen die Professoren Eneman und Hallin gesetzt wurde, sah er ordentlich strahlend aus und mischte sich seinen Grog mit einem Selbstgefühl, als wäre er ein junger Ehemann, der sein Erstgeborenes feiert.
Es war eine Freude zu sehen, wie Professor Kumlander seinen Grog braute. Mit welch vergnügter und gleichzeitig wichtiger Miene er die Zuckerstücke in der Hand wog, eh er sie ins Glas warf. Wie dicht er das Glas an das Licht hielt, um ja genau zu sehen, daß er auch nicht zuviel, aber ja auch nicht zuwenig einschenkte. Genau einen Viertelzoll über das Geschliffene hinaus mußte es sein. Und der Zucker mußte zergehen. Kein noch so winziges Stückchen durfte zurückbleiben; sonst sah es trüb aus. Wenn dann die Mischung klar war, goß der Professor langsam und bedächtig den Kognak zu, und wenn das Getränk die richtige braune Färbung hatte, schmunzelte er übers ganze Gesicht, nahm sein Glas mit einer liebkosenden Bewegung in die Hand und sagte: „Jetzt, glaub’ ich, kann man das Gesöff trinken. Prost!“
Und er führte es mit prüfender Miene an die Lippen. Ja, es war recht. Ein winziger Tropfen Kognak noch, dann war’s[S. 103] noch besser. Und dann ein langer, wollüstiger Zug aus dem dampfenden Glas.
Einen Augenblick war es still um den Tisch. Kumlander sah sich um mit einem Gesicht, als fühle er die Verpflichtung, etwas zu sagen.
„Tja — es ist wieder ein Mädchen geworden!“ sagte er.
Natürlich platzte die ganze Gesellschaft los. Durch den Lärm hindurch hörte man Professor Hallins lärmendes, klingendes Lachen. Aber alle übertönte Bruhns gewaltiger Baß.
Dann erhob sich Professor Hallin. Alles verstummte. Er faßte sein Glas und bat ums Wort.
„Meine Herren!“ begann er mit gut gespieltem Pathos, „lassen Sie uns einen Augenblick gemeinsam andächtigen Herzens das wichtige Ereignis betrachten, das uns heute hier zusammenführt. Wir dürfen es ja wohl, ohne allzu indiskret zu erscheinen, bei Namen zu nennen. Unserem Freund Kumlander ist ein Töchterchen geboren.
Hierbei ist vor allem zu beachten, daß ein Töchterchen ihm geboren ist, mit andern Worten, daß ihm kein Junge geschenkt ward. Wenn ich daran erinnere, so tue ich es in der Hoffnung, es möchte dies auf unseres Freundes Kumlander Gefühle in keiner Weise verletzend wirken. Es soll dies keineswegs ein Mißtrauen in eine Fähigkeit ausdrücken, von der wir schon oft genug zu leuchtende Beweise empfangen haben, als daß wir Zweifel in sie setzen dürften.“
Ein kurzes Gelächter bezeugte, daß die Zuhörer dem Vortrag mit Interesse folgten.
„Es wird indessen behauptet,“ fuhr der Redner fort, „daß unser Freund Kumlander mit dieser Tatsache nicht völlig einverstanden ist. Er findet es eintönig und wünscht sich Abwechslung. Doch, meine Herren, die Geschichte lehrt uns, daß rascher Wechsel gefährlich ist, und daß man unter allen Um[S. 104]ständen gut daran tut, sich an das zu halten, was man die ‚historische Kontinuität‘ nennt.“
Diese witzige Wendung wurde nur von Professor Bruhn gewürdigt, der Bravo schrie.
„Da nun alle plötzlichen Übergänge als im höchsten Grad gefährlich bezeichnet werden müssen, so möchte ich bei dem Anlaß, zu dessen Feier wir hier zusammengekommen sind, auf einen Umstand hinweisen, der für unsern Freund Kumlander als ein ganz unbestreitbarer Vorteil zu betrachten ist. Ich habe gesagt, das Bemerkenswerte bei dieser Sache sei, daß Kumlander Vater eines Töchterchens geworden ist. Aber ich möchte zugleich noch einen zweiten beachtenswerten Umstand betonen — nämlich, daß er Vater eines Töchterchens geworden ist, das heißt nicht Vater von zweien oder dreien oder gar vieren!“ (Bravo!)
„Tja, man kann ja nie wissen! Und man muß zugeben — besser ist besser. Meine Herren! Man spricht von Shakespeare, von seiner schöpferischen Kraft, Frauentypen zu gestalten! Aber was ist das gegen Professor Kumlander? Darum, meine Herren, schlage ich vor, daß wir auf das Wohl unseres Freundes Kumlander trinken! Und zugleich mit den herzlichsten Wünschen für das Wohlergehen seiner Frau und des kleinen Neugeborenen wage ich die Hoffnung auszusprechen, es möge dies nicht das letztemal sein, daß wir aus diesem Anlaß hier versammelt sind!“
Professor Kumlander stieß mit dem Redner an und dankte ihm.
„Danke dir, Hallin! Aber ich hoffe trotzdem, daß der Anlaß nächstesmal ein anderer sein wird!“
Und indem er einen tüchtigen Schluck Grog nahm, setzte er sich wieder auf seinen Platz und zwinkerte vergnügt mit den Augen.
„Nächstesmal wird es ein Junge!“ sagte er. „Dafür will ich, hol’s der Kuckuck, schon sorgen!“
Jetzt ward das Gelächter geradezu zu einem Tumult. Dies prahlerische Versprechen war es ja, was man hatte aus ihm herauslocken wollen! Auf den Augenblick hatte Professor Hallin ja nur gewartet! Seit zwei Tagen schon hatte er sich darauf gefreut, und als es endlich so weit war, kannte sein Entzücken keine Grenzen. Er stand auf und schrie, halb erstickt vor Lachen:
„Prost, Kumlander! Sag’ das noch einmal!“
„So ist’s recht, Kumlander!“
„Nur nicht nachgeben!“
Es war wie eine Bande von losgelassenen Schuljungen. Alle schrien durcheinander, voller Freude und Ausgelassenheit. Die Feststimmung des Augenblicks ließ all die kleinen Widerwärtigkeiten des Tages vergessen, den Ärger, die Sorgen, die Einförmigkeit ihres Lebens, den Überdruß an diesem Leben, den so manche hegten, die unbezahlten Rechnungen, Schulden, Kautionen und Wechsel!
Nach einer Weile schlug Professor Hallin auf den Tisch und rief nach heißem Wasser. Ringsum wurden die Groggläser geleert und wieder frisch gefüllt.
Die Unterhaltung war jetzt allgemein geworden. Professor Eneman hielt Kumlander am Rockaufschlag fest und erzählte mit strahlenden Augen und lebhaften Gesten eine Geschichte, die sich bei der letzten Stadtratssitzung ereignet hatte. „Denk’, das haben sie gewagt — dem Bürgermeister gegenüber! Hahaha! Das tut ihm gut!“ Professor Hallin unterhielt sich mit Barfoot, der bitter und satirisch war. „Tja, wenn’s mit rechten Dingen zuginge auf der Welt, da wär’ manch einer an einem ganz andern Platz!“ Und der Magister berichtete zum zehntenmal von den Beiträgen zur Flora der Umgegend, die er aus seiner vieljährigen Praxis heraus einem Stockholmer Professor geliefert hatte.
„Und wer hat die Ehre davon? Wer, frag’ ich?“
Mit der brennenden Zigarre im Mund, und den dampfenden Grog vor sich, saß Professor Bruhn ganz allein, schaukelte sich in seinem Stuhl hin und her, und durch die gewaltigen Tabakswolken, die er von sich blies, schimmerte die mächtige Denkerstirn über einem Paar freundlich blickender, tiefliegender Augen. Dann geriet man aufs Gebiet der Anekdoten. Magister Björkén machte den Anfang. Schüchtern und unsicher, fast als fürchte er sich vor seiner eigenen Stimme, begann er eine Geschichte aus seiner Studienzeit zu erzählen. Dabei leuchteten seine Augen so hell und fröhlich über dem dichten Bart, als lebe er die glücklichen Tage der Jugend noch einmal durch, und als er fertig war und alle lachten, sah er vor sich nieder und nickte mit einem kleinen Lächeln: „Ja, das waren frohe Tage, damals! Was war man da für ein Kerl! Und was ist man später geworden!“
Jetzt fingen alle an, Studentengeschichten zu erzählen. Eine um die andere kamen sie; alte, wohlbekannte Anekdoten, die die meisten kannten und in denen oft der oder jener der Anwesenden eine Rolle gespielt hatte, zogen herauf mit ihrer Erinnerung an eine entschwundene Zeit, mit ihren heiteren Jugendstreichen, mit dem ganzen unwiderstehlichen Jugendrausch, ihren wundervollen, starken Eindrücken! Sie zogen vorüber, eine um die andere, keiner wog seine Worte, keiner machte sich Gedanken über das, was er sagte. Ein ganzes Jahrzehnt Upsala lebte wieder auf. Jeder hatte diese oder jene hervorragende Persönlichkeit gekannt, die jetzt eine Stellung im Lande einnahm, und jeder wußte Geschichten von ihr zu berichten, Geschichten, zu denen sich keiner von ihnen in nüchternem Zustand hätte bekennen mögen. Es war ganz merkwürdig, wie aufgeknöpft die alten Schulfüchse sein konnten. Wenn der eine aufhörte, fing der andere an. Ja, das waren freilich andere Zeiten gewesen! Herrgott, wie man sich verändert hatte, und wie die Jahre vergangen waren, fast ohne[S. 107] daß man es gemerkt hatte! Aber im Herzen waren sie doch noch alle Studenten, alte, fröhliche, ehrliche Bursche, solang sie lebten!
Und was die alten Namen alle für frohe Erinnerungen und Gelächter weckten: die St.-Eriksgasse, das Gustavianum, der Karolinenhügel und der Schloßberg, die Königsau und Fjärdingen, Åkersten und Novum, Hof und Dragarbrunn. Es waren oft recht ärmliche kleine Anekdoten. Aber sie wurden trotzdem mit größter Genauigkeit und Ausführlichkeit erzählt. Alle kannten ja die Orte, wußten von den Personen, und alle hörten all die alten Dinge immer wieder gern. Am meisten erzählte Professor Hallin. Er erzählte zu famos und hatte ein Gedächtnis, ganz was Merkwürdiges von Gedächtnis! Hatte er eine Anekdote erzählt, so kam ein anderer mit einer neuen. Aber jede zweite Anekdote erzählte doch Professor Hallin.
Dazwischen stieß irgendeiner sein Glas auf den Tisch und rief: „Prost! Es lebe der Festhammel!“
„Wir dürfen doch ‚den Anlaß‘ nicht vergessen! Prost, Kumlander! Sollst wachsen und blühen und gedeihen!“
Und dann lachten alle, daß es in der Stube widerhallte!
Adjunkt Hallin fühlte sich ganz unbändig wohl. Er hatte den Meinungsaustausch mit seiner Frau und Pastor Simonson und die Abendandacht, die ihn bei solchen Gelegenheiten daheim erwartete, ganz und gar vergessen. Er gehörte zu denen, die in einer großen Gesellschaft ungemein lebendig werden, die aber selber nicht viel reden, sondern meist still dasitzen und sich an der allgemeinen Heiterkeit freuen, mit ihren Nachbarn sich ganz lebhaft unterhalten, aber nie über den Tisch weg schreien. Er lachte über die Anekdoten, stieß mit Kumlander an, redete mit Bruhn über seinen Sohn und trank viele Groge. Und fühlte sich dabei unendlich wohl und war unbändig vergnügt. Als Professor Hallin — mit Rücksicht auf die allseitig nicht besonders glänzenden Kassenverhältnisse — vorsichtig anfragte, ob man sich zum Abendbrot einen Sherry gestatten[S. 108] oder lieber sich mit Bier und dem „Appetitschnäpschen“ begnügen wolle, war der Adjunkt der erste, der die Lippen spitzte und, dem Bruder lustig zublinzelnd, antwortete: natürlich müßte Sherry her. Heut sei doch ein Festtag. Worauf er laut auflachte, mit Kumlander anstieß und darauf in einem Zuge sein Glas Grog leerte.
Er war ein ganz anderer Mensch hier. Nicht mehr der unnatürlich barsche Lehrer, der sein cado und caedo durch die Klasse schrie, nicht mehr der um seine Würde ängstlich besorgte Vater, der aus Eitelkeit die Heiterkeit im Familienkreis eindämmte, nicht mehr der bedrückte Familienversorger, der sich mit ängstlichen Gedanken an unbezahlte Rechnungen und drängende Gläubiger herumschlug. In diesem Augenblick war Adjunkt Hallin frei von allem, was ihn in langen, langen Jahren zu dem lebensmüden, überanstrengten Menschen gemacht hatte, der er für gewöhnlich war, so frei, als existierte das alles gar nicht. Er war in diesem Augenblick weiter nichts als einfach ein Mensch, ein Mensch, der den Staub des Alltags von sich abgeschüttelt hat. Und in solchen Stunden sind wir Menschen ja so liebenswürdig, vertrauend, offenherzig und gemütlich.
Während des Abendessens zog Professor Eneman den Adjunkten in eine Ecke und teilte ihm mit, wie wohl er sich in Gammelby fühle.
„Wirklich, eine so prächtige alte Stadt! Und heut hab’ ich das Gefühl, als wär’ ich überhaupt hier geboren. Mit knapper Not hab’ ich mich heut abend frei machen können. In zwei Häusern war ich zu Mittag eingeladen, und auch zu heut abend war ich schon versagt.“
Und Professor Eneman lachte voll innigster Befriedigung, während er den Rest Büchsenhummer aufaß, den er auf seinem Teller hatte.
Professor Bruhn war den ganzen Abend über bei merkwürdig guter Laune gewesen. Er paßte sonst nicht in größere[S. 109] Gesellschaft; denn er besaß den Fehler, sich immerfort an den lächerlichen und kleinlichen Seiten anderer Leute zu stoßen. Seine große Rechtschaffenheit hatte ihm in seiner Karriere oft im Weg gestanden und ihm mehr als einen bösen Streich im Leben gespielt. Er pflegte oft mit einem Sarkasmus mitten in die Unterhaltung zu platzen, der viel zu ernst war, um amüsant zu sein. Jetzt stieß Adjunkt Hallin sein Bierglas gegen das des Professors und sagte: „Prost, Bruhn! Es tut einem gut, zu sehen, daß du auch vergnügt sein kannst!“
„Warum sollte ich nicht vergnügt sein können?“ erwiderte der mit einer Art mürrischer Freundlichkeit. „Man wird eben alt, siehst du; ganz verdammt alt wird man!“
„Du hast dich bei mir daheim schon lang nicht mehr sehen lassen“, fuhr der Adjunkt fort, um auf ein anderes Thema zu kommen.
„Hahaha!“ lachte Bruhn und nahm sich ein paar Lammkoteletten auf seinen Teller, die er stehenden Fußes zerschnitt und in großen Bissen mit dem Messer in den Mund schob. „Siehst du, ich seh’ wohl, daß deine Frau meine Junggesellenmanieren und meine Junggesellensprache nicht leiden kann. Es ist ganz logisch, siehst du. Wenn man sich nicht wohl fühlt im Familienleben, — na — so kann man ihm ja aus dem Weg gehen. Die Leute finden, daß ich nicht fein genug bin für sie. Da zieh’ ich mich ganz einfach zurück, verstehst du. Ist im übrigen auch nichts, was man nicht verschmerzen könnte.“
Der Adjunkt sagte etwas, wie, das wäre ja doch nur Einbildung.
„Nein, du!“ antwortete Bruhn. „Das bild’ ich mir nicht nur ein.“
Er nahm eine gewaltige Prise und steckte dann die Daumen in seine Armlöcher, während er sich auf den Absätzen hin und her wiegte.
„Es sind keine Einbildungen, sag’ ich dir. Ich mach’ dir und deiner Frau ja keinen Vorwurf. Wir, du und ich, können[S. 110] auch so zusammen sein. Und jedenfalls muß man mit seinen Besuchen den Leuten nicht zur Last fallen.“
Er faßte den Adjunkt am Arm und führte ihn, von den andern fort, in eine Ecke.
„Weiß der Kuckuck, was heut los ist mit mir“, sagte er. „Ich fühl’ mich ganz verdammt mitteilsam. Muß wohl ganz viele Grogs getrunken haben. Na — also ich werd’ dir was erzählen. Als ich ganz jung war, war ich einmal sehr verliebt und wollte heiraten. Sie war ein nettes kleines Ding mit blauen Augen und feinem Gesicht und kleinen Händen und all so was. Ganz verdammt fein war sie. So fein war sie, daß sie eines Tages zu mir sagte, sie könne mich nicht nehmen, weil ich ihr zu ungeschliffen sei. Hahaha! Siehst du, so geht’s einem, wenn man nicht fein genug ist! Seither hab’ ich mich mit schlechter Gesellschaft begnügen müssen — und schlechten Mädels. Aber es ist schon lang her!“ fügte er hinzu, als fürchte er, zu sentimental zu erscheinen.
Und er ging zum Tisch zurück und goß ein Glas Sherry hinunter.
Der Tisch sah recht abgegessen aus.
„Ordentlich mit Plan und Überlegung ausgeführt!“ sagte Professor Hallin zu Magister Barfoot, der durch sein Monokel aus dem linken Augenwinkel melancholische Blicke auf das Schlachtfeld warf.
Die Butterpyramide mit ihrem Gipfel von Petersilienblättern war zu einem Nichts zusammengesunken; der Kaviar zwischen den gehackten Zwiebeln war ganz verschwunden. Da und dort lagen auf einer Platte noch ein paar Scheiben kalten Fleisches, ein paar Lammkoteletten hatten sich am äußersten Rand einer länglichen Schüssel unter ein paar gedämpften Mohrrüben verkrochen; nur der Büchsenlachs und der geräucherte Aal standen noch unberührt da. Von dem frischen Lachs mit verlorenen Eiern, der vorher in feingeschnittenen Scheiben,[S. 111] Seite an Seite mit einem Haufen ebenfalls verschwundener Entrecotes, den Appetit herausgefordert hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Am Rand des Tisches stand eine Schale, auf deren Grund die Überbleibsel des geschmolzenen Gefrorenen schwammen.
„Ja, essen, das kann man hier in Gammelby, dafür ist es bekannt!“ sagte Professor Bruhn.
„Na, nun wollen wir lustig sein und weitermachen!“ schlug Professor Hallin vor und setzte sich. „Jetzt kommt der Kaffee und der Punsch.“
Der Kaffee kam, und der Punsch kam. Und alle wurden lustig und immer lustiger. Jetzt war die Reihe an Svartengren; jetzt wurde der amüsant. Vor dem Abendessen sagte der nie viel, und während des Abendessens war er mit Essen beschäftigt. Es war nicht zu glauben, was er alles in sich hineinaß. Dafür war er aber auch, wenn man beim Kaffee und Punsch angelangt war, der Vergnügungsmeister. Das erwartete die Gesellschaft von ihm. Er konnte Hühner und Katzen und Schweine nachmachen. Er wußte allerhand Lieder und trommelte „Hör uns, Svea!“ auf seinem Bauch, während er mit dem Mund die Klarinette dazu blies. Und noch eine Menge andere amüsante Kunststücke konnte er. Er war sich dessen auch wohl bewußt; und er schickte sich eben an, den Mund aufzutun, um ein paar einleitende Worte zu sagen, während er seinen dicken Bauch unter den Tisch schob. Da ging die Tür auf; und Professor Eneman, der ein bißchen auf die Straße gegangen war, um sich auszulüften, kam wieder herein. Er blieb mitten in der Tür stehen und winkte jemand, der im Korridor draußen wartete.
„Kommen Sie, junger Freund!“ sagte er und fuhr mit seiner runden kleinen Rechten durch die Luft. „Wir sind lauter gute Kameraden hier, und wir vermehren uns gern um einen neuen!“
Er zog den andern hinter sich her, und auf der Schwelle erschien Ernst Hallin. Er blieb verlegen stehen und legte die Hand über die Augen, als blende ihn der allzu grelle Lichtschein.
Adjunkt Hallin erhob sich sofort und trat auf den Sohn zu. Es lag eine gewisse aufgeräumte Würde in der Art, wie er es tat; und er fühlte sich stolz und froh, daß er den Kollegen den eben heimgekehrten Sohn vorführen konnte. Gleichzeitig erwachte aber auch eine unbehagliche Erinnerung in ihm. Ob seine Frau wohl zu Bett gegangen war, oder ob sie noch auf war und auf ihn wartete? Aber er scheuchte den Gedanken von sich und schüttelte dem Sohn herzlich die Hand. Professor Hallin tat es dem Bruder nach, und beide standen sie vor dem jungen Mann und plauderten mit ihm, während er seinen Überzieher ablegte. Eine Vorstellung war nicht nötig. Alle, die in dem kleinen Wirtszimmer saßen, waren Ernst Hallins frühere Lehrer. Er grüßte ziemlich linkisch und hatte dabei ein Gefühl wie ein Schuljunge, worüber er sich ein bißchen ärgerte. Dann holte er sich einen Stuhl und setzte sich. Man fragte ihn, was er trinken wolle.
„Ein Glas Punsch, wenn ich bitten darf!“
Und der Doktor der Philosophie, Svartengren, fuhr fort, wo er eben aufgehört hatte. Er wollte ein Lied singen.
Ernst betrachtete seine alten Lehrer mit einem wunderlichen Gefühl. Er war spazieren gegangen, über ein Stunde lang, als Professor Eneman ihn draußen fand und mit sich schleppte. Wilde, stürmische Gedanken hatten seine Seele erfüllt. Er wußte gar nicht, woher sie ihm gekommen waren.
Der Punsch, den er trank, wirkte belebend auf sein müdes Gehirn, und er fühlte eine wohltuende Wärme seinen ganzen Körper durchdringen. Er sah alle die Männer, die da um ihn hersaßen, der Reihe nach an und lächelte — ein Lächeln, das ihm selber fremd war. Wie sonderbar sie aussahen. Als hätte[S. 113] die Sonne nicht auf sie geschienen, der Sturm nicht in ihren Haaren gewühlt, der Regen nicht frisch und feucht ihr Antlitz bespült — viele, viele Jahre lang. Er sah Herren mit braunen oder grauen Bärten, mit Brillen und Kneifern, runde, dicke, fröhliche Lebemänner, magere, gelbe Bücherwürmer; eine Physiognomie, wie die eines alten Seemanns neben einer, die aussah wie die eines Pastors. Und der Trieb des Schuljungen, alles, was „Schulmeister“ heißt, zu foppen, erwachte in ihm, gleichzeitig mit einer Art von Scheu; er fand, es sei doch komisch, daß er hiersaß und mit seinen alten Lehrern Punsch trank, statt wie früher in eins der Klassenzimmer zu treten. Er hätte Lust gehabt, sich wieder auf eine Schulbank zu setzen, und wenn der Lehrer hereinkäme, ihm gemütlich zuzunicken und zu sagen: So, da bin ich wieder. Mach mit mir, was du magst. An mir ist die Schulluft nicht hängen geblieben! Das Leben hat mir frische, starke Gefühle, lebendige Interessen, Willen und Kraft gegeben. Grau ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldner Baum. Komisch von dem alten Goethe, einen goldnen Baum grün zu nennen. Aber das beweist nur, daß er selber so lang wie möglich grün sein wollte. Ja, wenn er so was Ähnliches zu ihnen sagen würde! Das wäre ein feiner Anfang für seine geistliche Laufbahn!
Aber schließlich waren das nichts als Worte. Ach nein, er würde so was ja doch nie sagen! Er hatte ja nie etwas anderes gekannt, als Schulluft.
Bücherwürmer? War nicht er selber ein Bücherwurm, ärger als jeder andere, trotzdem er so jung war?
Doktor Svartengren hatte sein Lied gesungen, ein parodistisch-sentimentales Studentenlied mit lateinischen Brocken:
Ernst hatte dies selbe Lied von den Freunden in Upsala gehört, und es kam ihm komisch vor, es hier, unter alten, gesetzten Männern, von denen die meisten schon graues Haar hatten, wiederzuhören. Gleichzeitig aber fing er doch an, sie mit andern Augen anzusehen, menschlich und weniger mit Studentenkritik. Sie gefielen ihm in ihrer Fröhlichkeit; er begann die unterdrückte Lebenslust zu verstehen, die sich hier zwischen vier Wänden Bahn brach, in einer engen, verrauchten Kneipe, weil die schwere Arbeit ums tägliche Brot sie hinderte, die Freude täglich zu Gast zu laden.
Professor Bruhn, den er so oft verspottet hatte, war sicher ein prächtiger Kerl. Und Svartengren, der ihm gegenübersaß, voll Befriedigung über den Beifall für sein Lied, und sich eben anschickte, ein zweites zu singen — wie seine Augen strahlten durch die Rauchwolken, die um ihn her qualmten!
Und sein Vater! Wie frei er aussah, wie lebhaft er sich bewegte, wie jugendlich seine Rede klang! Ohne sich zu besinnen, erhob Ernst sein Glas und trank mit einem Lächeln dem Vater zu. Aber im gleichen Augenblick errötete er über das Gefühl, das ihn dazu antrieb.
Der Adjunkt trank sein Glas aus und nickte dem Sohn auch zu. „Prosit, mein Junge! Das ist nett, daß du gekommen bist!“
Bis nach zwölf Uhr saß die Gesellschaft beisammen. Anekdoten wurden erzählt, Lieder gesungen. Als man endlich ans Aufbrechen dachte, erhob sich Professor Bruhn, der sonst nie eine Rede hielt, und bat die Anwesenden, den frohen Anlaß, der sie zusammengeführt hatte, nicht zu vergessen.
„Ich hoffe, alle Anwesenden werden sich mir anschließen und ein Hoch ausbringen auf Kumlander, und ihm danken, daß er so liebenswürdig war, uns den Anlaß zu diesem frohen Abend zu verschaffen!“
Das Hoch wurde jubelnd ausgebracht. Eine Viertelstunde darauf drehte die Kellnerin in dem leeren Zimmer das Gas aus.
Durch die dunkeln Straßen strebten einsame Gestalten ihren Wohnungen in den verschiedenen Teilen der Stadt zu. Und diejenigen, die um sieben Uhr am nächsten Morgen heraus mußten, schüttelten sich und hasteten vorwärts, um möglichst bald zu Bett zu kommen.
Aber man mußte ein bißchen vorsichtig sein. Denn Punkt zwölf Uhr nachts kam der Laternenmann und löschte die gelben flackernden Flammen aus, eine um die andere, die ganze Lange Straße hinunter. Es wurde dunkel; nur der Ruf des Nachtwächters störte noch das Schweigen in der schlafenden Stadt.
Es war wie ein stummes Übereinkommen zwischen Ernst und dem Vater, daß Frau Hallin nicht zu wissen brauchte, wo Ernst am Abend gewesen war. Das heißt, keinem von beiden wäre es eingefallen, ihr die Sache mitzuteilen. Aber als Ernst morgens zum Frühstück herunterkam, war er doch ein bißchen verlegen, fast, als hätte er etwas Verbotenes getan. Er merkte, daß die Augen der Mutter sich mit einem ängstlich fragenden Ausdruck ihm zuwandten, und er entsann sich plötzlich wieder des Auftritts zwischen ihnen vom Abend zuvor. Er hatte die ganze Nacht gut geschlafen und als er aufwachte, dachte er bloß an das Zusammensein vom gestrigen Abend. Ein angenehmes, heiteres Gefühl erfüllte ihn; und als er aufstand und zum Fenster hinausschaute, schien die Sonne über die Schneewehen auf dem Domplatz und der Himmel lachte so blau zwischen den Zweigen der Ulmen herab. Da ward ihm noch viel leichter ums Herz; er summte ein paar heitere Melodien vor sich hin, während er die Weste zuknöpfte und vor dem Spiegel seine Krawatte band.
Als er jetzt dem Blick der Mutter begegnete, fiel ihm auf[S. 116] einmal der ganze vorhergehende Abend ein. Seine heitere Stimmung verschwand und machte derselben Unruhe und Reizbarkeit Platz, die ihn den ganzen gestrigen Tag über beherrscht hatten. Er dachte wieder an den Unwillen, den er Simonson gegenüber plötzlich empfunden hatte, an seine Heftigkeit gegen die Mutter und wie rasch er dann das alles beim Glase vergessen hatte. Er wich dem Blick der Mutter aus und zwang sich, Gutenmorgen zu sagen, als wäre nichts geschehen. Dann setzte er sich allein zu seinem Frühstück. Man versammelte sich dazu nicht im Hallinschen Haus, sondern jeder kam und ging nach eigenem Belieben.
Schweigend nahm er seine Mahlzeit ein. Als er fertig war, hatte er einen unbestimmten Drang nach Einsamkeit; und mit einem Gefühl der Ungeduld dachte er an sein kleines Zimmer in Upsala, wo er wußte, er konnte immer ungestört sein. Er erhob sich und ging nach der Tür.
„Wo gehst du hin?“ hörte er die Mutter aus dem Wohnzimmer rufen.
„Auf Papas Zimmer“, erwiderte er und blieb unschlüssig stehen.
„Willst du nicht vorher zu mir kommen?“
„Doch, gern.“
Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich.
„Ich möchte wohl wissen, wie’s mit deiner Probepredigt geht“, sagte Frau Hallin.
Seiner Probepredigt? Herrgott! Sollte das Schreiben und Studieren schon wieder losgehen? Er war ja doch eben erst von Upsala gekommen.
„Es ist ja noch ein voller Monat, bis ich die halten muß“, sagte er widerwillig.
Frau Hallin sah auf ihre Arbeit.
„Aber du wirst doch jedenfalls schon daran gedacht haben. Ich möchte so gern ein bißchen wissen, wie du den Text aus[S. 117]legen willst. Ich habe ihn schon so oft durchgelesen“, fügte sie hinzu. Es lag etwas Bewegliches in ihrer Stimme.
Ernst sah verlegen aus. Ein ungeduldiger Ausdruck flog über sein Gesicht.
„Ich habe schon darüber nachgedacht“, sagte er. „Aber ich kann nicht gut über so was reden, eh’ ich’s aufs Papier gebracht habe.“
Frau Hallin sah auf und nickte. Etwas Altes kam in ihr Gesicht, das dem Sohn weh tat.
„Ich werde warten, bis du selber davon sprechen magst“, sagte sie einfach.
Mit einem Gefühl der Reue ging Ernst auf des Vaters Stube. Es bedrückte ihn unsagbar, daß er der Mutter nicht hatte anders antworten können.
Er verstand ja, daß sie seit Tagen, seit Wochen darauf wartete, daß er etwas über die Sache sagen sollte. Seit der Tag für die Predigt bestimmt war, dachte die Mutter unaufhörlich an ihn, das wußte er, und machte sich vielleicht große Vorstellungen von dem reichen geistigen Leben, das solch ein wichtiger Entschluß in ihm wecken müßte. Sie hatte kaum an etwas anderes gedacht, hatte den Text für sich durchgelesen, hatte versucht, sich auszudenken, wie er, so wie sie ihn kannte, diesen Text auffassen würde. Sie sah in ihm nur noch den zukünftigen Verkünder der Heiligen Schrift; sie erwartete von ihm, er müsse ein Streiter für die Sache Gottes werden, ein gewaltiger Erwecker, der die Gemüter bewegen und die Seelen für Gottes Reich gewinnen würde. Und es hatte sie danach verlangt, daß er von selber kommen und mit ihr reden würde, so stark danach verlangt, daß sie es nicht lassen konnte, ihn zu fragen, obwohl sie begriff, daß ihm das unangenehm sein mußte.
Er sah das alles, ganz deutlich, als ob sie selbst es ihm erzählt hätte, und trotzdem konnte er seine Unlust, daß sie ihn[S. 118] hatte ausfragen wollen, nicht überwinden. Er war so daran gewöhnt, einsam, nur mit seinen Gedanken, zu leben, daß er jeden Versuch, in ihn einzudringen, fürchtete.
Was hätte er ihr auch sagen sollen?
Ungeduldig ging er im Zimmer auf und ab.
Was sollte er sagen?
Er hatte ja die ganze Zeit her gar nicht an derartiges gedacht; und das beunruhigte ihn jetzt. An alle möglichen gleichgültigen Dinge dachte er. Alles, was er sah, interessierte ihn, fremde Menschen, mit denen er bekannt wurde, die Geschwister daheim, die Eltern, die Menschen in Gammelby, das Wetter, das Leben auf den Straßen, die Umgebung der Stadt, in der er täglich seinen Spaziergang machte. Alles interessierte ihn. Alles, bloß nicht Bücher.
Es war, als könne er sich überhaupt nicht dazu zwingen, ein Buch zu öffnen. Ganz sonderbar fremd fühlte er sich, wenn er nur etwas Gedrucktes sah. Er hatte auch lang genug studiert und gelesen. In der Schule schon hatte er seine freien Stunden zum Lesen benützt.
Und dann auf der Universität!
Bei der Tante in Upsala hatte er ja ungefähr so gelebt, wie in den letzten Jahren seiner Schulzeit. Seine einzige Zerstreuung im Lauf des Tages hatte in den zwei regelmäßigen Spaziergängen bestanden: der eine auf der Flusterpromenade nach dem Frühstück, der andere nachmittags auf den Karolinenhügel. Nun er endlich mit Studieren fertig war, da war’s, als dränge alles, was er früher in sich verschlossen, zum Schweigen gebracht hatte, hervor und wolle sich Gehör erzwingen. Durch alle Bücher hindurch, ihnen zum Trotz!
Er blieb am Fenster stehen. Draußen funkelte die Sonne auf dem Schnee, der dick über dem weiten Platz lag und um die Stämme der Ulmen runde Vertiefungen bildete. Auf das Dach brannte sie so stark, daß der Schnee, der dortlag, zu[S. 119] schmelzen begann und sachte an den Eiszapfen, die an den Rinnen hingen, herabtropfte.
Ohne weiteres Besinnen griff Ernst Hallin zu seinem gewöhnlichen Mittel, wenn er seine Gedanken verscheuchen wollte. Er beschloß, einen Spaziergang zu machen, und nahm sich fest vor, dabei an seine Predigt zu denken.
Er schlug den Weg ein, der am Villenviertel vorbei die Anhöhe hinaufführte, die sich von Norden her nach Gammelby heruntersenkt. Rasch schritt er aus; im Sonnenschein, der ihm warm entgegenglitzerte, verschwanden seine zweifelnden Gedanken; er vergaß alles, außer dem, was grade vor ihm lag.
Als er auf dem Gipfel des Abhangs angelangt war, erblickte er einen zugefrorenen See, auf dem aufrechtstehende Tannenzweige einen Fahrweg bezeichneten, der fern hinter einer Landzunge verschwand. Frischgewaschen vom Schnee, der von den Zweigen abgetropft war, mit Eiszapfen, die da und dort durch die dunkelgrünen Nadeln in der Sonne funkelten, standen die Tannen und Fichten auf den Hängen, den kleinen Inseln und Landzungen, die auf allen Seiten vorsprangen und das weiße Schneefeld des Sees unterbrachen. Ganz hinten, in der Ferne, blickte man in eine endlose Perspektive von Ufer und Wald, die im Schatten lag, während das große offene Schneefeld in den glitzernden Strahlen der Sonne glänzte.
Im Wald, auf der andern Seite der Straße, sah er ein paar Dompfaffen, die mit ihren roten Brüstchen lustig durch den Schnee flatterten; über einen hohen Stein huschte eben ein graugesprenkeltes Eichhörnchen und verschwand zwischen den dämmerigen Tannen.
Es kam ihm der Gedanke, wie ganz anders als andere Menschen er doch eigentlich sein müsse. Andere Menschen bekamen ihre Arbeit zugeteilt, griffen zu, ohne weiteres Besinnen, mit beiden Händen, und taten ihre Pflicht. Und damit war’s fertig.
Und er? Er lief herum, wochenlang, grübelte über seine Arbeit nach, bis er halb krank war, und konnte doch zu keinem Entschluß kommen. War es denn um seine Arbeit etwas so Besonderes? Predigten hatte er schon öfter geschrieben und auch selbst gepredigt. Und hatte sich dabei doch nicht so aufgewühlt, so unruhig, so zerrissen gefühlt. Er hatte sogar ganz gut gepredigt, wenn er erst in Zug gekommen war. Das wußte er.
Und daß seine Auffassung der Dogmen, der Dreieinigkeit und Versöhnung, mehr zu der Waldenströms als zu der der Kirche neigte — was tat das? Das wußte er ja schon längst. Dies bißchen Freidenkertum war eine Seelenarbeit, die ihn in einsamen Stunden stets beschäftigt hatte. Es war ein Geheimnis, auf das er fast stolz war. Er hatte es „Entwicklung“ genannt, hatte es als einen großen, ernsten Gärungsprozeß empfunden. Aber Waldenström selber war ja doch im Dienst der Kirche geblieben. Sollte er da nicht auch eintreten können?
Aber der Eid? Der Priestereid? Er schwor ja doch auf die Symbole und auf das Augsburger Bekenntnis. Bah! War es sein Fehler, daß kein Mensch Gottes Wort verkünden durfte, ohne diesen Eid zu schwören? Sollte sein Gewissen denn so viel empfindlicher sein als das der anderen? Wie oft hatte er das nicht mit Simonson besprochen, und Simonson hatte so gute Gründe angeführt, so überzeugende, klare, unwiderlegliche Gründe.
Zum Beispiel, Gottes Wort könne man ja wohl verkünden, aber man könne davon nicht leben, wenn man keine Anstellung habe. So sagte Simonson. Was für ein Mensch war das eigentlich, Simonson?
Er blieb unten am Abhang, wo eine Brücke über einen breiten Graben führt, stehen. Auf beiden Seiten des Grabens standen ein paar alte Tannen; der Graben war so tief, wie ein schmaler Bach. Dünne Eisschollen wuchsen zu beiden Seiten der Grabenränder; auf den Steinen unter der Brücke lag Schnee. Aber[S. 121] unter der Eisdecke murmelte und sprudelte Wasser, das sich Bahn brechen wollte, und da, wo das Eis Löcher hatte, sah man die lehmgelbe Flut unter dem Eis durcheilen; in der Mitte war eine lange Rinne, durch die das Wasser aufsprudelte und mit dem geschmolzenen Schnee einen großen schwarzen Fleck bildete.
Es war, als wecke ihn dies Sprudeln aus seinen Gedanken. Seine Nasenflügel weiteren sich, seine Brust schwoll, mit blitzenden Augen blieb er stehen und lauschte auf dies kleine Zeichen von Leben, das sich da durch das Schweigen des Waldes vorwärtsarbeitete. Er lehnte sich ans Brückengeländer und blickte hinab auf den dunkeln Streifen Wasser, der sich immer weiter in den Schnee hineinsaugte. Eine Lust überkam ihn, zu helfen, und mit ganz ungewohnter Lebhaftigkeit sprang er den Abhang hinunter und begann mit seinem Stock Löcher in das Eis zu hauen, damit das dunkle Wasser unbehindert aufschwellen könnte. Er arbeitete, daß er schwitzte; die helle Röte stieg ihm ins Gesicht. Er hieb Löcher um große Stücke Eis, drückte sie dann ins Wasser hinunter, brach mit den Händen große Klumpen los und warf sie ans Ufer, und fühlte die ganze Zeit über ein solches Interesse an der Sache, als beschäftige er sich mit der allerernsthaftesten und nützlichsten Arbeit. Eben wollte er einen großen Stein aufheben und ihn mitten in die Eisrinne werfen, wohin er mit dem Stock nicht reichte, als er plötzlich von der Brücke oben einen Laut vernahm; er fuhr zusammen und blickte auf.
Droben stand ein junges Mädchen und sah ihm bei seiner Arbeit zu. Als der junge Mann sie erblickte, errötete sie und schickte sich zum Gehen an. Dann besann sie sich und brach in ein helles, klingendes Lachen aus.
„Entschuldigen Sie!“ sagte sie. „Aber ich kann nicht anders! Sie haben zu komisch ausgesehen!“
Und wieder lachte sie, daß zwei kleine Grübchen in ihren Wangen sichtbar wurden; ihre Augen glänzten schalkhaft und klar, und die Zähne blitzten verführerisch zwischen den roten Lippen.
Ernst Hallin fühlte sich recht beschämt. Es war Eva Baumann, eine Freundin seiner Schwester, die er seit seiner Heimkehr noch nicht wiedergesehen hatte. Ohne ein Wort herauszubringen stand er da und sah sie an. Wie hübsch und lieb sie aussah, wie sie sich so über das Brückengeländer beugte! Die kurze Jacke umschloß eng ihre schlanke Gestalt, an der rechten Hand, die sie aus dem Muff gezogen hatte, trug sie einen schwarzen Handschuh, und zwischen dem und dem Ärmel guckte ein rundes kleines Handgelenk hervor.
Verwirrt zog er endlich den Hut und grüßte. Das junge Mädchen neigte den Kopf und lächelte wieder. Dann richtete sie sich aus ihrer gebückten Stellung auf und steckte die Hand in den Muff.
„Adieu, Herr Hallin!“ sagte sie. „Pastor Hallin müßte ich eigentlich sagen.“
Seine Verlegenheit war plötzlich verschwunden. Sie sah so unwiderstehlich lieblich aus, wie sie dastand und die Sonnenstrahlen in den ungebärdigen Nackenlöckchen spielten.
„Warten Sie doch, daß ich Sie begrüßen kann!“ rief er und kletterte den Rain hinauf. Er trat zu ihr hin und faßte ihre Hand.
Daß er das früher gar nicht bemerkt hatte, wie hübsch sie war mit ihrem frischen Lächeln und den tiefen, warmen Augen!
„Ich gehe immer diesen Weg“, sagte sie wie zur Erklärung. „Natürlich konnt’ ich ja nicht denken, daß ich Sie hier treffen würde. Willkommen wieder daheim!“ fügte sie dann hinzu.
„Danke!“
„Was machten Sie denn eigentlich da drunten?“ fuhr sie fröhlich fort.
„Nichts“, erwiderte er, indem er neben ihr herschritt. Eine Weile schwiegen sie beide. Ernst sah zu, wie sie mit kleinen, raschen, gleitenden Schritten neben ihm herging.
„Das Frühlingswetter hat mich zum Narren gehalten!“ sagte er.
„Finden Sie, daß es Frühlingswetter ist?“ Sie lachte, ein kurzes, lustiges Lachen. „Wir sind doch erst im Februar.“ „Freilich ist Frühlingswetter“, sagte er. „Merken Sie es denn nicht an der Luft? Es ist so warm in der Sonne, daß einem der Rock zu heiß wird!“
Er knöpfte den Überzieher auf und nahm den Hut ab, während er sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte.
Sie sah ihn ganz erschrocken an.
„Nehmen Sie sich in acht, Sie werden sich erkälten“, meinte sie. „Sie sind doch nicht besonders kräftig.“
Er sah sehr verwundert aus.
„Wollen Sie mich auch ermahnen?“ fragte er fast ein bißchen ärgerlich. „Alle tun es. Aber woher wissen Sie das denn eigentlich?“
„Selma und ich haben so oft von Ihnen gesprochen,“ sagte sie; sie errötete dabei und wandte das Gesicht ab.
Zusammen gingen sie zur Stadt zurück und schwatzten dabei von allem möglichen, von gemeinsamen Bekannten, von alten Zeiten, als sie sich noch auf Kinderbällen und Kindergesellschaften getroffen hatten. Sie hatte immer gefunden, Ernst wäre so sonderbar, und hatte immer Angst vor ihm gehabt, weil er so ernst war, so schrecklich ernst. Heute freilich hatte sie ihn von einer ganz anderen Seite kennen gelernt.
„Wie lustig, daß Sie so närrisch sein können, wenn Sie allein sind! Jetzt hab’ ich auch gar keine Angst mehr vor Ihnen!“ Sie beugte sich vor und blickte ihm lächelnd ins Gesicht, als wäre sie jetzt erst dahintergekommen, daß auch er ein junger Mensch von Fleisch und Blut war, wie sie.
„Sind Sie denn nie unvernünftig?“ fragte Ernst. Er war ganz erstaunt über seine eigene Stimme; er kannte sie kaum wieder, so heiter und stark klang sie.
„Ich!“
Sie warf mit einem kleinen Ruck den Kopf in den Nacken und fing an, im Schnee herumzutrippeln, als habe sie die größte Lust, zu tanzen.
„Wissen Sie, wenn ich so allein daheim bin, und Tante in der Küche draußen kocht — Sie wissen doch, ich wohne bei der Tante, wenn ich in der Stadt bin, und sie hat Schuljungens in Pension — ah — was die gräßlichen Jungens einen mit ihren Unarten plagen können! — da weiß ich wahrhaftig manchmal nicht, was ich anfangen soll! Ganz verrücktes Zeug fällt einem da oft ein! Wir Mädchen haben ja doch nichts Rechtes zu tun. Und manchmal ist mir alles so zuwider, daß ich am liebsten weinen möchte. Aber manchmal bin ich so ausgelassen und wild, daß ich wollte, ich könnte auf einem so recht tollen Pferd einmal weit fortreiten. So schnell, daß ich gar nichts mehr sähe vor mir! Hüpfen und schreien könnt’ ich aus lauter Übermut, in den Wald laufen und die Abhänge herunterrollen, oder im Sommer im See baden und ins Wasser schlagen, bis ich so müd wär, daß ich gar nicht mehr könnte! Aber das ist ja alles dummes Zeug!“
Sie waren jetzt in die Stadt gekommen, und an einer Querstraße blieb sie stehen.
„Jetzt darf ich nicht weiter mit Ihnen gehen“, sagte sie. „Adieu!“
Und sie streckte ihm die behandschuhte kleine Hand entgegen. Er nahm sie und blickte ihr in die klaren Augen.
„Kommen Sie denn jetzt gar nicht mehr zu Selma?“ fragte er. Er begriff selber nicht, wo er den Mut dazu hernahm.
„Ich weiß nicht, ob ich darf, wenn ein junger Herr im Haus ist!“ erwiderte sie.
Er sah so hilflos niedergeschlagen aus, daß sie lachen mußte.
„Es kann schon sein, daß ich doch komme!“ sagte sie ermutigend.
Dann zog sie ihre Hand aus der seinen und nickte ihm kurz zu, bog in die Querstraße ein und entfernte sich mit kleinen, munteren, trippelnden Schritten.
Er stand und sah ihr nach. Es war, als höre man Musik, wenn man sie gehen sah. Alles ward so ruhig in einem.
Und Ernst ging schnurstracks heim und schrieb bis zum Mittagessen an seiner Predigt.
Am 20. März war bei Professor Hallins große Abendgesellschaft; alle Honoratioren der Stadt waren geladen. Es war ihr Hochzeitstag, und in ihrem ganzen Bekanntenkreis war es zur Gewohnheit geworden, daß man an diesem Tag abends bei Hallins war. Landshöfdings waren da und Bischofs, ein paar von den reichen Kaufmannsfamilien, die Professoren vom Gymnasium mit ihren Familien und ein paar von den Lehrern.
„Geht Ernst heut abend mit?“ fragte Frau Hallin, als die Familie nach Tisch um den Kaffeetisch versammelt war.
„Ja natürlich“, sagte der Adjunkt. „Warum sollte er nicht mitgehen?“
„Meinst du, es macht sich gut, wenn er abends ausgeht in der Woche, eh er seine Probepredigt hält?“ fragte Frau Hallin in ihrem allerernstesten Ton.
„Ach, was tut denn das!“ erwiderte der Adjunkt.
Aber ein Blick seiner Frau ließ ihn verstummen, und er wandte sich direkt an seinen Sohn.
„Was sagst du selbst dazu?“ fragte er.
Ernst sah unschlüssig aus. Er war so gewöhnt, andere für sich entscheiden zu lassen, daß es ihm schwer ward, einen Entschluß zu fassen, der irgendwie die Wünsche anderer durchkreuzte. Aber er antwortete doch, wenngleich etwas zögernd:
„Ja, ich wollte eigentlich gehen.“
Frau Hallin äußerte nur: „Selbstverständlich mußt du in einer solchen Sache tun, wie du willst.“
Aber die ganze Familie fühlte die Gewitterwolke, die über ihnen schwebte, ohne sich zu entladen, und Ernst fing schon an, sich Gewissensbisse zu machen.
Die Sache verhielt sich nämlich so: Selma hatte ihm vor dem Essen anvertraut, es würden heut abend auch junge Leute kommen. Sie hatte es von Gabrielle gehört, die sie auf dem Weg zur Schule getroffen hatte. Sicher würde da auch Eva Baumann kommen. Denn ihre Tante verkehrte bei Professor Hallins. Und das hatte Ernst bestimmt. Er mußte gehen, koste es, was es wolle.
Er hatte in den letzten zwei Wochen ein ganz neues Leben gelebt. Seit der Begegnung an der Brücke war er ein ganz anderer. Guter Laune, heiter in der Familie, zärtlich gegen die Mutter. Und, was das Allermerkwürdigste war — er hatte seine Predigt geschrieben. Und zwar ganz ohne Anstrengung, ohne Grübelei, leicht wie ein Spiel!
Frau Hallin fing schon an, ihren bösen Ahnungen unrecht zu geben.
Daß er heut abend in die Gesellschaft gehen würde, war für ihn eine ganz abgemachte Sache. Die Mutter mochte sagen, was sie wollte. Er machte frühzeitig Toilette und war vor den anderen drunten im Wohnzimmer.
In Professor Hallins großem Salon waren die Möbelüberzüge entfernt, das weiße gestickte Tischtuch lag zierlich auf dem großen Sofatisch ausgebreitet, der Schein der Lampe widerstrahlte hell von dem Weiß, und in dem bronzenen Kronleuchter brannten alle Lichter.
Professor Hallin wanderte in Frack und weißer Krawatte durch die Zimmer und besah sich das ganze Arrangement. Niemand hätte es ihm angesehen, daß er schon über sechzig[S. 127] Jahre alt war. Der Bart war freilich grau und der Schädel kahl. Aber unter die grauen Haare mischten sich noch viele braune, und bei festlichen Gelegenheiten trug er seine Korpulenz mit einer Elastizität, als wäre sie bloß der Ausdruck jugendlicher Gesundheit und Kraft. Sein Gesicht war fast faltenlos, die Jahre schienen über ihn hinweggegangen zu sein, ohne ihn alt gemacht zu haben, und in seinen Augen blitzte eine Frohlaune, die ihn ordentlich verjüngte.
Er warf einen flüchtigen Blick über die Zimmerreihe — er wußte, bei einer solchen Gelegenheit konnte er sich auf seine Frau verlassen — und stieg dann die Wendeltreppe hinauf, die zu den Rauchzimmern führte.
Diese beiden Zimmer, ein großes und ein kleines, waren sein Stolz, der größte Luxus, den er sich selbst gestattet hatte. Er sah sich um in diesem Komfort, den er im stillen „europäisch“ nannte, und ein Gefühl von Eitelkeit beschlich ihn beim Gedanken, daß in ganz Gammelby etwas Ähnliches nicht zu finden war. Er blickte auf die Spieltische, auf denen neue, ungebrauchte Karten lagen. In den Leuchtern an den Wänden brannten neue, dicke Kerzen, und durch die Portiere, die schräg über der Tür hing, schimmerte der lichtgrüne Schein der großen Laterne, die in der Mitte des kleineren Zimmers hing.
Der alte Herr besah sich die Kognaketiketten und hielt die Punschkaraffen gegen das Licht, um zu sehen, ob sie auch ganz blank und klar wären. Dann zählte er die Gläser und machte eine Zigarrenkiste auf, die er zwischen die Mundstücke und Meerschaumpfeifen auf dem eleganten Rauchtisch setzte. Darauf stellte er sich vor einen Pfeilerspiegel, der von der Decke bis zum Fußboden reichte, und gönnte sich einen Überblick über seinen äußeren Menschen.
Er schlug den Frack zurück und drehte sich seitwärts, um zu sehen, ob sein Bauch dicker geworden wäre, seit er den Frack zuletzt angehabt hatte, glättete den Bart und rückte die Krawatte[S. 128] zurecht. Die flotte Art, wie der Professor eine Krawatte zu binden verstand, war sein Stolz. Dann nickte er seinem Spiegelbild zu und summte gedankenlos eine französische Operettenmelodie.
Mit geradem Rücken und weichen, geschmeidigen Schritten stieg er die teppichbelegte Wendeltreppe wieder hinab und trat in den Salon.
Dort stand seine Frau, mit der großen Lampe beschäftigt, die zu hoch hinaufgeschraubt war.
Die Professorin trug ein schwarzseidenes Kleid mit langer Schleppe. Es war am Hals mit einer großen goldenen Brosche geschlossen, in deren Mitte ein Stiefmütterchen aus Juwelen funkelte; am rechten Arm funkelte ein mit Perlen besetztes goldenes Armband. Die kurzen, halboffenen Ärmel ließen ein Paar volle Arme sehen, die noch die ganze weiße Weichheit der Jugend zeigten.
Als sie den Professor erblickte, ging sie zu ihm hin und legte ihm die Arme um den Hals.
„Abel!“ sagte sie.
Der Professor küßte sie flüchtig auf die Stirn und schob sie sachte von sich. Er kannte diese Gefühlsausbrüche, grad eh die Gäste kommen mußten.
„Ja, lieber Schatz,“ sagte er, „die Zeit vergeht!“
Und er warf einen Blick in den Spiegel, um zu sehen, ob auch die Hemdenbrust oder die Krawatte keinen Schaden gelitten hätten. Die Professorin segelte durch das Zimmer — mit dem eigentümlichen Gang, den kleine dicke Frauen an sich haben, besonders wenn sie Seide tragen.
„Gabrielle!“ rief sie zur Tür hinaus.
„Ja, Mama!“ klang es von einem Nebenzimmer zurück.
„Beeile dich!“ sagte die Mutter. „Ich höre Axel schon auf der Treppe.“
Professor Hallin hatte ganz plötzlich noch etwas im Rauchzimmer zu tun.
„So — muß der noch vor den andern kommen?“
Seine Frau warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und ging in die Küche, damit die Kinder sich ungestört begrüßen konnten. Die paar Minuten konnte man ihnen wenigstens gönnen!
Gabrielle kam im Sturm herausgelaufen. Sie trug ein Kleid von weißem Tüll mit rosa Schleifen. Schelmisch stellte sie sich hinter die Tür und wartete, bis der Bräutigam draußen klingelte.
Er ließ auch nicht lange auf sich warten. Fräulein Gabrielle öffnete mit behenden Fingern und sprang dann ein paar Schritte zurück, um die Wirkung zu beobachten, den ihr Anblick auf den Verlobten machen mußte. Sie verzog ungeduldig den kleinen Mund; ihre Augen glänzten unter den gebrannten Locken. Der Leutnant trat ein. Er war in Uniform. Rasch warf er den Mantel ab und stand in voller Gala, mit funkelnden Achselstücken, den Degen an der Seite, vor seiner Braut. Beide standen einen Augenblick ganz still, wie um ihr gegenseitiges Entzücken zu genießen. Gabrielle verschlang ihn förmlich mit den Blicken. Dann warf sie sich mit einem kleinen Schrei, mit einer eigenwilligen Bewegung an seine Brust und überhäufte ihn mit Küssen.
„Du bist süß, süß, süß!“ flüsterte sie dazwischen durch. „Komm auf mein Zimmer, da können wir eine Weile in Frieden sein, eh die andern kommen!“
„Meine kleine Gabby!“ sagte der Leutnant, während er ihr folgte.
Aber die unartigen kleinen Schwestern, die gehört hatten, wie Mama rief, „Axel“ sei da, waren schon fertig in ihren hellen kurzen Kleidern, weißen Strümpfen und offenen Haaren und warteten nur darauf, daß Mama in die Küche gehen sollte, um sich sachte in das kleine Eckzimmer zu schleichen, wo die Tür zu Gabrielles Zimmer halboffen stand.
„Sei still!“ sagte die zwölfjährige Elin zu der zehnjährigen Anna.
Und dann horchten sie auf die zärtlichen Liebesworte und Liebkosungen. Und wenn es so still war, daß sie diese ewigen, langen, dummen Küsse nur ahnen konnten, zwickten sie einander in den Arm und verbissen das Lachen.
„Herrje, sind die albern!“ sagte Anna.
Elin war neugieriger. Sie wollte sie auch sehen und schielte vorsichtig durch die offene Tür.
„Denk mal, sie sitzt auf seinem Schoß!“ sagte sie zu der Schwester.
Dann warteten die zwei kleinen Unschuldswürmer noch ein Weilchen, um schließlich mit lautem Lärm und dem vereinten Ruf: „Kuckuck!“ in Gabrielles Zimmer zu stürzen.
Gabrielle fuhr auf und rief außer sich:
„Herrgott, die so ungezogenen Rangen!“
Und die Professorin kam eilig aus der Küche gesegelt, um Frieden zu stiften.
„Schämen solltet ihr euch, heut, wo Gäste kommen! Hab’ ich euch nicht gesagt, ihr sollt Gabrielle nicht immer ärgern?“ Im selben Augenblick ertönte draußen die Klingel. Elin wurde hinausgeschickt, um das Zimmermädchen zu rufen, die im Korridor sein mußte. Die Professorin eilte in den Salon, um zum Empfang bereit zu sein, und Gabrielle hing sich noch einmal an den Hals des Verlobten und warf dabei einen ganz extra schwesterlichen Blick über seine Schulter nach „den ungezogenen Rangen!“
Jetzt kamen die Gäste. Im Vorzimmer herrschte ein Gedränge. Damen und Herren lösten einander vor dem Spiegel ab. Solide alte Damen in Haube und falschen Locken, alte Herren mit grauen Perücken oder glänzenden Platten und grauem Bart, mittelalterliche Herren, die meisten mit kahler Stirn und blühender Farbe, elegante junge Herren mit gradem Scheitel[S. 131] und Kneifer, mittelalterliche Damen mit schlichtem Haar und einer schwarzen Schleife auf dem Kopf, mit strengem, steifem Gesicht, die die Welt und alles, was von der Welt war, verachteten, und die nur kamen, um zu zeigen, daß sie sich in dieser Welt, die sie verachteten, auch ebensogut bewegen konnten. Und schließlich fröhliche, rosige Mädchengesichter, die lang vor dem Spiegel standen und ihn endlich mit dem Lächeln verließen, das verlangt wurde, wenn man zu einem Hochzeitstag gratulieren mußte.
Alle, die in den Salon traten, alt und jung, Herren und Damen, behielten die Handschuhe an, wie zu einem Ball; einige der Herren, die in Stockholm gewesen waren und wußten, was sich gehört, hielten den Chapeau claque unterm Arm, während sie drin mit den Damen plauderten, in einer Salonecke oder einem Türrahmen standen oder in eleganter Haltung Staffage in den bunten Räumen bildeten. Und alle kamen sie zum Gratulieren. Sie dienerten und verbeugten sich, Worte flogen hin und her, so herzlich, so heiter, als fiele es keinem im Traum ein, daß je ein Wölkchen auch nur eine Sekunde lang den heitern Himmel dieser Musterehe verschattet haben könnte. Die Damen nahmen die „liebe, liebste Aurora“ in die Arme und küßten sie auf Mund oder Wange, wie sich’s nun eben traf. „Ach Aurorachen!“ „Du siehst wahrhaftig aus wie deine eigene Tochter!“ „Seid ihr wirklich schon ganze zwanzig Jahre verheiratet?“ „Ja, wenn die Kinder nicht wären — man könnt’ es überhaupt nicht glauben!“ „Und die liebe kleine Gabrielle! Wenn man bedenkt, daß sie auch schon verlobt ist!“ „Teure Aurora, wie lieb von dir, uns einzuladen!“ „Es tut mir so leid, daß ich nicht einmal ein paar Blumen habe für dich! Aber alle meine Blumen gedeihen diesen Winter so schlecht!“ — Dies letztere war die Bischofin.
Jedoch auch ernsthaftere Glückwünsche gab es, die sich in langen, bedeutungsvollen Händedrücken, in leise geflüsterten Worten[S. 132] äußerten: „Gott segne dich, Aurora, und laß es dir wohl ergehen!“ Während die Herren ihre Gefühle bei dieser Gelegenheit etwas einförmiger ausdrückten: „Habe die Ehre!“ „Beste Glückwünsche!“ „Hoffe, daß noch viele frohe Jahre...“ „Hm... Hm...“ usw., „Hoffe, noch viele Jahre die Freude zu haben...“ „Hm... Hm...“ usw.
Die Professorin empfing alle Glückwünsche und bemaß ihre Erwiderungen nach der Anrede. Sie lächelte den Fröhlichen fröhlich zu und war wehmütig mit den Wehmütigen. Und während immer mehr Gäste hereinströmten, bewegte sie sich voll Eifer zwischen Sofa und Tür, wies allen ihre Plätze an und vergaß weder die verschiedenen Rangstufen noch die verschiedenen Antipathien.
Professor Hallin strahlte vor Vergnügen. Aufrecht und elegant schob er seine korpulente Gestalt zwischen den Schleppen der Damen und den Möbeln des Salons durch, ohne auf die einen zu treten oder an die anderen zu stoßen. Für die alten Damen hatte er artige und verbindliche Worte, für die jungen Mädchen galante Blicke und ein väterliches Achselklopfen oder Wangenstreicheln. Dem Bischof, mit dem er auf Du stand, machte er eine Verbeugung, respektvoll, wie sie sich für den Ephorus des Gymnasiums gebührte, und begleitete sie mit einem heitern Blinzeln, das dem Duzfreund galt; für seine Kollegen hatte er die zwanglose Heiterkeit, die sich kein anderer als Professor Hallin in einem Salon hätte gestatten dürfen. Er schnitt ihnen Grimassen, puffte sie in den Rücken und schlug ihnen auf die Achsel, daß es auf dem feinen Fracktuch nur so klatschte. Und für all diese harmloseren Verbrechen gegen die Schicklichkeit wie für Vergehen ernsterer Art hatte ganz Gammelby nur ein Urteil: „Herrgott, ja, es ist eben Professor Hallin!“
Adjunkt Hallins kamen etwas spät. Frau Hallin hatte ziemlich ausführlich Toilette gemacht, aus Rache, wie der Adjunkt vermutete, weil Ernst nicht hatte auf das Mitgehen verzichten[S. 133] wollen. Als sie nun aber in den Salon trat, war sie eitel Sonnenschein, küßte die Schwägerin auf beide Backen, drückte ihr die Hände und flüsterte: „Liebe, gute Aurora!“ Die Schwägerin erwiderte ihre Zärtlichkeit mit Tränen in den Augen. Sie wußten beide, daß alle Damen im Zimmer sie beobachteten. Denn ganz Gammelby wußte, daß die Schwägerinnen sich nicht gut standen. Der Gymnasiallehrer umarmte seinen Bruder herzlich. „Alles Gute, alter Kain!“ sagte er innig.
Der Professor zupfte ihn lustig am Bart und erwiderte: „Du, auf alten Bäumen wächst Moos!“
Ernst Hallin fühlte sich ein bißchen verlegen, als er in diesen Salon voller Menschen trat. Er paßte im allgemeinen nicht in große Gesellschaften. Ungeschickt und eckig, das fühlte er selbst, wünschte er dem Onkel und der Tante Glück, verbeugte sich steif vor den Damen, begrüßte einige der Herren, zog sich dann in eine Ecke zurück und sah sich um. Ein Mädchen bot auf einem Tablett Tee an, hinter ihr kam eine zweite mit einem Tablett voll Kuchen. Nicht weniger als vierzehn verschiedene Sorten, rechnete Frau Hallin aus.
Auf dem Sofa saß die Bischofin, auf ihrer einen Seite die Rektorin Ahlkvist, auf der andern die Bürgermeisterin Rundlund. Sie sprachen von einem Basar, der kürzlich abgehalten worden war zugunsten eines Magdalenenheims in Gammelby, und es wurde erzählt, als Nettogewinn wären nicht mehr als fünfundsiebzig Kronen eingegangen. Die drei Damen redeten eifrig durcheinander; die Rektorin und die Bürgermeisterin beugten sich beide zur Bischofin hin, die mit ihrer Teetasse in der Hand dasaß und bekümmert das Haupt schüttelte, während sie ihre Aufmerksamkeit zwischen dem projektierten Magdalenenheim und einem Vanillebrötchen teilte, das sie eben aß.
Die Bischofin war eine kleine magere Dame von völlig weltlichem Aussehen und völlig weltlichen Interessen. Sie sah immer aus, als stünde sie nur zum Scherz einem bischöflichen[S. 134] Haushalt vor; und ihr Mann nahm auch nicht die geringste Rücksicht auf sie, um so weniger, als sie noch dazu bedeutend jünger war als er. Schokoladefrühstücke vormittags waren ihr ganzes Entzücken, und sie war immer darauf bedacht, sich, sobald als nur möglich, zur Jugend zu gesellen. Ja, es konnte vorkommen, daß sie manchmal wagte, in allergrößter Heimlichkeit mit einem von den jüngeren Herren zu kokettieren, dem es grade gefiel, sich auf Kosten der „kleinen Bischofin“ ein bißchen zu amüsieren.
Ein Stück weit davon saß Frau Hallin und unterhielt sich mit Frau Pegrelli. Nicht als ob Frau Hallin eine besondere Vorliebe für Frau Pegrelli gehabt hätte. Sie war langweilig und pedantisch und sprach von nichts anderem als ihrem eigenen religiösen Leben. Aber sie stand in dem Ruf einer sehr frommen Frau, und man sagte, der Dompropst halte viel auf ihr Urteil und ziehe sie in vielen Dingen, die die Gemeinde betrafen, zu Rate. Und das Urteil des Dompropsts über einen Menschen war für alle Kinder Gottes in Gammelby maßgebend. Darum blickte Frau Hallin zu Frau Pegrelli auf als zu einer Seele, die weiter gediehen war in der Gnade Gottes als sie.
Sie hatte überdies heute abend ein ganz besonderes Interesse an der Unterhaltung mit dieser Frau. Frau Pegrelli war Eva Baumanns Tante, bei der das junge Mädchen ein paar Wintermonate lang wohnte, um Musikstunden zu nehmen. Und Frau Hallin wußte, daß ihr Sohn Frau Pegrelli in letzter Zeit oft besucht hatte. Zweimal war er sogar zum Abendbrot dort geblieben. Frau Hallin wollte darum ihre Mutterpflicht erfüllen und versuchen, zu ergründen, was ihr Sohn eigentlich dort triebe. War es denn möglich, daß er, der jetzt an so Ernstes zu denken hatte, den Verliebten spielte? Daß er Eva Baumann wahrhaft lieben könnte, das kam Frau Hallin gar nicht in Sinn, so wenig sie sich das bei irgendeinem andern jungen Mädchen ihres Bekanntenkreises denken konnte.
Deshalb saß sie nun neben Frau Pegrelli und unterhielt sich mit ihr über dies und jenes, über ihren Sohn, und dankte ihr für die Freundlichkeit, mit der sie ihn bei sich aufgenommen hatte. Aber sie fühlte sich durch diese Unterhaltung nur noch mehr beunruhigt.
Ernst Hallin sah, daß seine Mutter mit Frau Pegrelli sprach; er fühlte, wie er rot wurde. Er schickte sich eben an, in das kleine Zimmer zu gehen, in dem die jungen Leute versammelt waren; da hörte er Simonsons scharfe Stimme und blieb unschlüssig stehen.
Der Tee war umhergereicht worden. Herren und Damen saßen oder standen in dem großen Salon herum. Im Wohnzimmer saßen ein paar Vereinzelte, die Anekdoten erzählten und lachten, und im Speisezimmer wanderten ein paar Herren auf und ab und politisierten.
Es lag eine stille Erwartung in der Luft. Jeder saß oder stand auf seinem Platz, wie man sitzt oder steht, wenn man weiß, daß man nicht lange bleiben wird. Man hörte, wie die Damen sich ab und zu ironisch bedankten, daß die Herren ihnen so lange die Ehre ihrer Gesellschaft erwiesen. Auf den Gesichtern mancher Herren spiegelte sich deutlich eine gewisse Unruhe. Sie wechselten oft den Platz, flüsterten sich im Vorübergehen ein paar Worte ins Ohr, und einer und der andere sah heimlich auf die Uhr.
Ganz besonders unruhig sah Professor Kumlander aus. Er war von der Bürgermeisterin in ein Gespräch verwickelt worden und stand nun vor ihr und schmunzelte und verbeugte sich.
Seine Frau hätte leider noch nicht kommen können. Sie wäre noch nicht ganz so weit. Aber es ginge, Gott sei Dank, den Umständen angemessen... recht gut... hm ja... recht gut... Die Bürgermeisterin legte den Kopf auf die eine fette Schulter und lächelte kokett zu ihrem ältlichen Kavalier auf:
„Ob ihr Männer je lernen werdet, was ihr uns Frauen alles zu verdanken habt!“
Professor Eneman hatte sich zur Rektorin durchgelotst. Er stand mit gekreuzten Beinen da, die eine Hand in die Seite gestemmt, die andere auf die Sofalehne gestützt. Sein Gesicht glänzte, die gelben Zähne blitzten, während er redete und dabei unaufhörlich seine Blicke über die ganze Gesellschaft hinschweifen ließ.
Professor Bruhn saß einsam an einem kleinen Tisch im Wohnzimmer, blätterte in einem Album und schnupfte.
Endlich kam Professor Hallin die Wendeltreppe herab. Er flüsterte den Zunächststehenden lächelnd etwas ins Ohr und ging dann auf einen Haufen Herren in der Mitte des Salons zu: „Ist’s den Herren gefällig, daß wir zu dem solideren Teil des Abends übergehen?“
Eine allgemeine Bewegung entstand. Professor Kumlander brach mitten im Gespräch mit der Bürgermeisterin ab und wies mit bedeutungsvoller Miene nach dem oberen Stockwerk. Professor Eneman blieb noch eine Weile stehen und redete weiter, um zu zeigen, daß er Selbstbeherrschung besaß. Aber ganz von selbst bewegten sich seine Beine, und die Hand, die er in die Seite gestemmt hatte, machte lebhafte Gesten, wie um die Unterhaltung zu beschleunigen. Die Herren im Speisezimmer waren schon alle nach oben verschwunden, und Professor Bruhn erhob sich beim ersten Laut und sagte mit sichtbarer Erleichterung: „Na, endlich!“
Der Bischof blieb in seinem Lehnstuhl sitzen.
„Ich komme in einem Weilchen auch“, sagte er.
Nur der Bräutigam und Pastor Simonson wollten überhaupt lieber bei den Damen bleiben.
Ernst Hallin hatte sich mit einem kleinen Seufzer entschlossen, mit den Herren zu gehen. Er wußte ja, wie es da drin bei der Jugend war. Die jungen Mädchen und Herren saßen um einen[S. 137] Tisch und machten Gesellschaftsspiele. Sie warfen sich ein Taschentuch zu und sagten dabei ein Wort, auf das der andere einen Reim finden mußte; und wer keinen Reim fand, mußte ein Pfand geben. Oder sie machten Schreibspiele. Oder einer ging ins andere Zimmer, und die übrigen dachten sich irgend jemand. Dann wurde der Betreffende wieder hereingerufen und mußte durch Fragen erraten, an wen die andern gedacht hatten. Oder spielten sie Porträt und Motto, oder Ringsuchen, oder irgend so was Ähnliches.
Dazwischen hinein waren Pausen, in denen geschwatzt wurde, allerhand Geschichten, auch ein bißchen Klatsch. Und alle waren schrecklich vergnügt, redeten und schrien durcheinander, stießen mit ihren Wein- und Punschgläsern an und lachten und verführten ein Wesen, daß die Alten draußen manchmal verstummten, um ihnen zuzuhören.
Denn bei Professor Hallins, das wußten die jungen Leute alle, waren sie ungestört; keine Mama oder Tante kam da und guckte plötzlich zur Tür herein, um nachzusehen, was sie trieben. Sie blieben die ganze Zeit unter sich, und wenn das Abendessen serviert wurde, durften sie ihre Teller mit sich in den kleinen Salon nehmen und sich eine Flasche Sekt dazu erobern. Und dann stieg der Jubel aufs höchste.
Ernst Hallin hätte bei all dem so herzlich gern mitgetan. Er wäre ganz zufrieden gewesen, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, ganz still in einer Ecke zu sitzen, sich an der Freude der andern zu freuen und Eva Baumann anzusehen. Aber er brachte es nicht über sich, hineinzugehen. Der Gedanke, daß Simonson im selben Zimmer mit ihm und Eva sein sollte, war ihm unerträglich. Natürlich würde der sie beobachten. Natürlich würde er alles erraten, und würde sie mit seinen kalten Augen anblicken, daß sie gar nichts sprechen könnten.
Ernst warf einen Blick auf die Damen im Salon. Seine Mutter und Frau Pegrelli waren ins Wohnzimmer überge[S. 138]siedelt; alle andern hatten sich um den großen Sofatisch zusammengedrängt. Vor dem Tisch stand der Bischof und sagte etwas, auf das alle eifrig lauschten. Gleich darauf verbeugte er sich und deutete durch ein Lächeln an, daß er sich jetzt zu den Herren droben zurückziehen wolle.
Da fiel sein Blick auf Ernst Hallin. Sofort ging er auf ihn zu.
„Nun, Herr Pastor, gedenken Sie zur Herrenseite überzugehen, oder bleiben Sie bei den Damen?“ fragte er mit einem Lächeln, das Ernst unangenehm berührte.
„Ich glaube, ich gehe hinauf!“ antwortete er; gleichzeitig bemerkte er, daß die Mutter ihn und den Bischof beobachtete.
Er ward glühend rot, und als der Bischof ihn verwundert ansah, wurde er noch röter.
„Noch bin ich kein Vorgesetzter“, sagte der Bischof, der die Verwirrung des jungen Mannes mißdeutete.
Ernst warf einen fast feindlichen Blick auf des Bischofs derbes, gutmütiges Gesicht, stotterte ein paar Worte, blieb stehen, dienerte und wußte nicht, was er sagen sollte. Der Bischof verließ ihn unter dem Eindruck, der junge Hallin müsse ein wunderlicher Kauz sein, den man am besten einige Zeit aufs Land schickte, damit er sich beruhigte. Und beide Männer fühlten in diesem Augenblick eine gegenseitige Antipathie, über deren Ursache keiner von ihnen hätte Rechenschaft ablegen können.
Als der Bischof verschwunden war, folgte ihm Ernst langsam; er tat, als sähe er die Mutter, die ihm winkte, nicht.
Er war in sehr gereizter Stimmung. Der ganzen Gesellschaft war er feind. Warum mußten sie sich so idiotenhaft verteilen, die Herren in einem Zimmer, die Damen in einem andern und die Jugend für sich? Warum bin ich überhaupt hierhergegangen? dachte er. Und vor seiner Phantasie stand plötzlich die Tatsache, daß er nächsten Sonntag seine Probepredigt[S. 139] halten mußte. Der Text, die Einteilung der Predigt, die mit Menschen vollgepfropfte Kirche, die ganze Szene stand plötzlich leibhaftig vor ihm. Der Bischof würde in seinem Stuhl sitzen, ihn mit seiner herrischen Miene und seinen kalten Augen anblicken und das schwarze Scheitelkäppchen rücken. Und alle würden nach dem Bischof hinsehen und zu erraten suchen, was der dachte, und die Predigt danach beurteilen. Die Mutter würde dasitzen mit klopfendem Herzen. Und Eva! Vor ihr sollte er auftreten und lügen! Er fühlte den Beruf dazu gar nicht in sich, es war ihm gar kein unabweisliches Bedürfnis, Gottes Wort vor den Menschen zu verkünden! Das Ganze war eine Feigheit von ihm, eine schmachvolle, unverzeihliche Feigheit, die seine Seele in den Staub zerren und ihn ein ganzes langes, leeres, verfehltes Leben lang beschmutzen würde. Wie war denn das alles überhaupt zugegangen? Andere waren es, andere hatten ihn geleitet. Er selber hatte nie auch nur ein Wort zu sagen gehabt. Aber jetzt soll es ein Ende haben! dachte er. Es soll anders werden. Noch ist der Schritt nicht getan, noch kann ich umkehren, und ich werde es.
Er sah sich selber, wie er zum Vater ging und mutig und ruhig sagte: „Ich kann nicht Geistlicher werden“. Und in der Phantasie ward ihm so leicht ums Herz, als wäre alles schon vorüber und er ein freier Mensch.
Aber da sah er auch ein anderes Bild. Er sah sein ganzes Vaterhaus, den Vater, der sich sein Lebtag in der Schule geplackt hatte, die Mutter, die tagaus, tagein am Nähtisch saß oder in der Küche stand. Es war ein armes Heim, und reicher würde es nie werden. Viele Jahre lang hatten seine Eltern sich auf die Zeit gefreut, wenn er fertig sein würde, imstande, sich selber zu versorgen. Er wußte, wie sie es aufnehmen würden. Es würde sie nicht erzürnen. Sie würden sich nur davor beugen voller Bitterkeit, wie sie es immer, ihr ganzes Leben lang, getan hatten.
Ohne es zu wissen, hatte er sich eine Zigarre angesteckt und sich neben den Kachelofen im Rauchzimmer gestellt. Plötzlich weckte ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.
„Über was denkt man denn da so eifrig nach?“
Es war Professor Bruhn, der mit dem dampfenden Grogglas in der einen, der brennenden Zigarre in der andern Hand vor ihm stand. „Wollen wir nicht ein Gläschen miteinander trinken?“
Ernst sah sich um. Er hatte gar nicht daran gedacht, wo er sich befand. Hastig nahm er ein Glas Punsch von einem Tablett und stieß mit Bruhn an.
„Auf gestern abend!“ sagte er lächelnd.
„Ja, das war ein verdammt lustiger Abend“, sagte Bruhn.
„Es macht mir aber auch immer Spaß, die Leute in einer Abendgesellschaft wie heute zu sehen. Da nehmen sie sich recht anders aus! Gesetzt und geschniegelt und ernst, als gäb es überhaupt im ganzen Haus kein Herrenzimmer. Und sobald bloß das Wort Punsch erwähnt wird, verschwindet der ganze Haufe, als brennte ihnen der Boden unter den Füßen.“
Er sog eine Weile an seiner Zigarre. Ernst Hallin sah zerstreut vor sich hin.
„Wie ist dir denn zumut vor deiner Predigt?“ sagte Bruhn. Ernst wich den scharfen Augen aus, die ihn durchbohrend ansahen.
„Na — — so — —“ sagte er achselzuckend.
Professor Bruhn lachte.
„Ich hab’ auch einmal Pastor werden wollen“, sagte er. „Aber es ist nichts draus geworden. Es widerstand mir. Und das war recht gut. Denn später bin ich der Freidenker geworden, der ich jetzt noch bin. Und das ist eine mißliche Geschichte, wenn man dann das Pech hat, Pfarrer zu sein!“
Ernst fühlte einen Stich im Herzen; einen Augenblick lang überkam ihn die Lust, all die Gedanken, die ihn bewegten, auszusprechen. Er hatte die Empfindung, als müsse dieser barsche,[S. 141] eckige Mensch ihn verstehen und ihm raten oder ihm wenigstens ein teilnehmendes Wort sagen können. Aber während er überlegte, wie er anfangen sollte, schwand ihm die Lust, und er erwiderte irgend etwas Nichtssagendes.
„Wollen wir uns nicht setzen?“ meinte Professor Bruhn.
Sie nahmen Platz an einem Tisch, um den eine Gruppe von Herren saß und, die Groggläser vor sich, schwatzte.
Über dem ganzen Raum lag eine graue Tabakswolke, durch die die Lichter der Lampen und Leuchter mit gedämpften Flammen schienen. Mitten im Zimmer standen vier Spieltische, die alle besetzt waren. An dreien wurde Preference gespielt, am vierten Skat. An dem Tisch, an dem Ernst Hallin Platz genommen hatte, saßen ein paar Herren von der Schule und Großhändler Andersson, einer der reichsten Holzfürsten von Gammelby, mit seinem dichten Schnurr- und Backenbart, seinem goldenen Kneifer und seiner Perücke, die nie sitzen wollte.
Im innern Zimmer saß vor einem Glas Punsch der Bischof und unterhielt sich mit Rektor Ahlkvist und Professor Eneman. Der Bischof saß so, daß er durch die Tür die ganze übrige Gesellschaft überblicken konnte.
Zwischen den Tischen ging Professor Hallin umher, elegant und unermüdlich. Er unterhielt sich mit allen, stieß mit allen an, war für alle da und sah zu, daß nichts fehlte.
Es war ganz ähnlich wie vor ein paar Wochen im Ratskeller. Aber die rechte Stimmung wollte sich nicht einstellen. Das erwartete auch niemand. Die Herren unterhielten sich, tranken einander zu, rauchten und erzählten Anekdoten. Aber die Gesellschaft kam nicht recht in Zug. Man hielt sich im Zaum. Man war gesetzt, steif. Und auch das lauteste Lachen hatte gleichsam einen andern Klang.
„Man darf nicht über die Schnur hauen, damit man nachher noch präsentabel ist für die verflixten Frauenzimmer!“ sagte Professor Bruhn.
Und einförmig und träg schleppte der Abend sich hin.
Um halb neun kam der Landshöfding, ein kleiner zierlicher Mann mit glattgekämmtem Haar und Backenbart. Er war äußerst elegant gekleidet und hatte in seinem ganzen Wesen etwas vom alten Hofmann.
Nachdem er die Damen begrüßt hatte, ging er hinauf zu den Herren und nahm an einem Spieltisch Platz. Ruhig und korrekt vertiefte er sich in seine Karten, mit einer Miene, als säße er auf seiner Kanzlei.
Um halb elf fing einer um den andern an, nach der Uhr zu sehen. Als es dreiviertel war, entstand eine merkbare Bewegung unter den Herren. Man erhob sich von den Spieltischen, putzte sich die Nägel, brachte seine Toilette in Ordnung und legte die Zigarren weg.
Ab und zu verschwand einer nach der Region der Damen zu, einen Duft von Tabak und Alkohol mit sich führend, der bei den Damen ein Naserümpfen hervorrief. Mit etwas spitzer Höflichkeit sprach man seinen Dank aus, daß überhaupt jemand so liebenswürdig war und sich um „uns Damen“ kümmerte.
„Ein bißchen was zu essen soll einem schon schmecken jetzt!“ sagte Professor Kumlander und schmunzelte den Bischof, der neben ihm stand, aufgeräumt an.
Der Bischof sah auf ihn nieder mit einem Lächeln, als verzeihe er ihm die weltlichen Lüste, sei aber selber hoch erhaben über alle derartigen Schwachheiten.
„Ich glaube fast, ich fange auch an, ein wenig Hunger zu verspüren“, erwiderte er.
Einen Augenblick lang war es ganz still im Zimmer.
Plötzlich hörte man Schritte auf der Wendeltreppe und gleich darauf kam der kleine Erik gesprungen und flüsterte dem Vater laut die frohe Botschaft ins Ohr: „Mama läßt sagen, das Souper sei fertig!“
Unter den Herren entstand eine Bewegung, so lebhaft und augenfällig, daß der Professor kaum nötig gehabt hätte, die Aufforderung zu wiederholen. Aber um der Form willen tat er es doch: „Meine Herren — ein Gläschen und ein Butterbrot! Darf ich Sie bitten, die Damen zu Tisch zu führen!“
Ein geschäftiger, beherrschter Tumult erfüllte jetzt die beiden Rauchzimmer, wie einen Haufen Barsche, unter die man eine Angelschnur mit dem Köder wirft. Wer noch saß, stand auf, zog die Weste herunter, streckte die Beine. Alles drängte unwillkürlich nach der Treppe. Dann hielten alle plötzlich wieder inne. Die Rangordnung mußte eingehalten werden. Ein kurzer Streit entstand zwischen dem Bischof und dem Landshöfding. Beide Herren bekomplimentierten sich gegenseitig.
„Die weltliche Macht muß immer vor der Kirche zurückstehen!“
„Das war in früheren Zeiten... Ich bitte doch...“
Aber der kleine, zierliche Landshöfding schob den großen Bischof behende vor; und als die beiden auf der Treppe verschwunden waren, ward die Bewegung droben mit einemmal lebhaft und ungezwungen.
„Teufel, was ich hungrig bin!“
„Wer erst sein Schnäpschen intus hätte!“
Und einer dicht hinter dem andern eilten die hungrigen Herren im Gänsemarsch die Wendeltreppe hinab. Wer gewandt war und ein ausgeprägtes Selbstgefühl besaß, eilte ins Wohnzimmer und bot einer Dame den Arm. Die andern drängten sich in den Türöffnungen zusammen. Von allen Seiten strömte es in den Speisesaal, Damen, Herren und Jugend, und einen Augenblick war es so still, daß man einen Engel durchs Zimmer hätte fliegen hören können. In stummer Bewunderung vor den Gaben Gottes faltete die ganze Gesellschaft die Hände, die Damen machten einen kleinen Knix, die Herren neigten das Haupt. Und unter der Tür zum Vorzimmer stand der junge Gustaf[S. 144] Hallin und zeigte durch ein verschmitztes Lächeln, wie er sich an der allgemeinen Andacht erfreute.
Es war aber auch ein glänzendes Souper. An beiden Enden des Tisches war ein Butterbrottisch gedeckt, einer für die Herren, einer für die Damen. Da gab’s Kaviar, Anchovis, Sardellen, Zunge, rohen Lachs, verlorene Eier mit Krebsschwänzen, gebratene Kartoffeln, holländischen Hering, gebackenen Aal, Gänseleberpastete, gespickte Rebhuhnbrust.
Mitten auf dem Tisch thronte eine gewaltige Konfektschale mit Jahreszahl und Datum des wichtigen Tages. In langen Reihen glänzten die geschliffenen Gläser auf dem weißen Damasttuch, glatte hohe Rotweingläser ohne Fuß, rote Weißweingläser mit milchweißem Fuß, flache feine Sektkelche und geschliffene Sherrygläser.
Professor Hallins Soupers waren berühmt und die Kochkunst der Professorin hatte einen ausgezeichneten Ruf. Da gab’s Lachs und junge Hühner mit Tomaten, Champignonomelette, Prager Schinken mit Kastanienpuree, Krebse mit verlorenen Eiern, Blumenkohl in Butter und junges Geflügel.
„Ich kenn’ das Menü von Gustafva Björklund her“, flüsterte die Bürgermeisterin Rundlund der Rektorin Ahlkvist zu.
„Ich auch,“ erwiderte die; „aber es ist gut.“
„Als ob es eine Kunst wäre, ein gutes Souper zustande zu bringen, wenn man nicht fragen braucht, was es kostet!“ gab die Bürgermeisterin zurück und warf den Kopf in den Nacken.
Die Bischofin trat mittlerweile auf die Professorin zu.
„Aber Aurora!“ sagte sie. „Du machst zu viel Umstände für deine Gäste! Diese Unmasse von Gerichten!“
Die Professorin strahlte. Das war ihr glückseligster Augenblick. Denn nicht nur, daß es viel zu essen gab, es gab auch gut zu essen. Das wußte sie. Sie hatte jedes Gericht selber gekostet und wußte, sie brauchte sich nicht zu schämen.
Die Gäste zeigten aber auch, daß sie das Essen zu würdigen verstanden. Die späte Stunde im Verein mit den vielen Süßigkeiten, die die Damen, und dem vielen Alkohol, den die Herren vorher genossen hatten, hatte den Hunger zu unnatürlicher Höhe gesteigert.
„Ißt du dich auch satt, Erker?“ sagte der Professor, indem er dem Bruder ein Glas Rotwein zutrank.
Der Gymnasiallehrer nickte und lachte.
„Das gibt morgen ein nettes Aufstehen!“ meinte er.
Es war ein langer Streit gewesen zwischen dem Ehepaar Hallin, ob man Professor Bruhn einladen solle oder nicht. Die Professorin hatte ärgerlich erklärt, da könne man lieber gleich die ganze Geschichte bleiben lassen. Denn wenn Professor Bruhn dabei wäre, könne man sicher sein, daß er irgendeinen Skandal mache. Aber der Professor bestand darauf, Bruhn müsse eingeladen werden, und so wurde er eingeladen.
Im Verlauf des Abends sah es ganz so aus, als sollte die Professorin unrecht behalten. Professor Bruhn führte sich ganz exemplarisch auf. Er aß und trank, ließ die Damen in Frieden, und als er nach der Anstrengung des Essens ausruhte, stand er meist ganz für sich in irgendeiner Ecke, wiegte sich auf den Absätzen hin und her und drehte sich dazwischendurch mal nach der Wand, um zu schnupfen.
Er schien selber zu fühlen, daß er auf der Hut sein müsse. Jetzt eben hatte sich ein Kreis von Damen grade vor Bruhn versammelt. Es waren dieselben, die vor dem Essen von dem Basar gesprochen hatten.
Ein anderes Thema war jetzt auf dem Tapet. Pastor Simonson hatte den Vorschlag aufgebracht, man solle alle Geistlichen in Gammelby für eine gemeinsame Bibelstunde im großen Saal des Gymnasiums interessieren. Pastor Simonson selber stand mitten unter den Damen und redete mit trockener Stimme und lebhaften Gebärden. Die Damen lauschten andachtsvoll. Und[S. 146] niemand achtete auf Bruhn, der jedes Wort hörte und die entsetzlichsten Grimassen schnitt, um seine Haltung zu bewahren.
Zuletzt aber ward es ihm zuviel. Er machte einen Schritt auf die schwatzende Gruppe zu und hustete. Aller Augen wandten sich ihm zu. Der Professor hatte gar nicht beabsichtigt, etwas zu sagen; da aber alle schwiegen, so hielt er es für seine Pflicht, sich zu äußern und sagte: „Ich für mein Teil finde, es wäre schade, den einzigen Abend zu verhunzen, den man die ganze Woche über für sich hat“.
Der Professor fand, er habe sich ganz passend und maßvoll ausgedrückt. Daß eine Bibelstunde nichts Amüsantes wäre, das, fand er, war doch sonnenklar. Er war darum nicht wenig verwundert, als er merkte, welch eine Verstimmung er hervorgerufen hatte.
Zum Glück hatten bloß wenige von der Gesellschaft seine Indiskretion beachtet. Die Professorin Hallin hatte aufgepaßt und schickte jetzt ihren Mann zu Bruhn, indem sie ihre Freude darüber aussprach, daß sie doch recht gehabt hätte.
Aber auf dem Tisch standen Braten und Geflügel. Und über dem Geflügel vergaß man Bruhn.
Es war ein Essen ohne Maß und Ziel. Man überlegte es sich in guter Ruh, man aß der Reihe und Ordnung nach alle Gerichte durch, sicher, daß man überall herumkommen würde. Und obgleich alle wußten, daß sie am folgenden Tag über heut abend jammern würden, so fiel es doch keinem ein, auf dies Morgen irgendwelche Rücksicht zu nehmen.
Am meisten schwelgten wohl Gustaf Hallin und der Leutnant. Letzterer bediente seine Braut und stieß heimlich ein paarmal mit ihr in der Fensternische an, wohin sie sich geflüchtet hatten, um sich in den Pausen wieder einmal zu küssen. Später aber verzog er sich von der Damenseite und stürzte sich mit einem Eifer auf die Fleischgerichte, der zu beweisen schien, daß die Liebe einen gradezu aushungernden Einfluß auf den Menschen[S. 147] haben müßte. Und daneben zeigte er in ganz unverkennbarer Weise, wie wohl er des Schwiegervaters Weinkeller zu schätzen wußte.
Gustaf Hallin war erst spät gekommen. Er hatte seiner Mutter erklärt, er würde heute abend einmal seine Aufgaben recht ordentlich lernen, weil er ja doch nicht früh zu Bett gehen dürfte. Zum Essen käme er dann schon früh genug und hätte auch so noch ein paar langweilige Stunden zu ertragen.
Während des Essens hielt er sich an den Leutnant; er wußte, auf die Art würde er am sichersten das Beste erwischen. Der Leutnant ließ sich diesmal Gustafs Gesellschaft auch ganz gern gefallen. Er brauchte jemand, dem er zutrinken konnte; es sah schlecht aus, wenn man so ganz für sich allein trank. Im übrigen verachtete er den „Schuljungen“ ebenso tief, wie der Schuljunge die „säbelrasselnde Zuckerpuppe“ verachtete, „die zu nichts andrem gut war, als Gabrielle abzuschlecken“.
Der einzige, der nicht aß, war Ernst Hallin. Er war zu nervös und gereizt. Den ganzen Abend hatte er an Eva Baumann denken müssen. Und dennoch hatte er sich nicht überwinden können, hinunterzugehen, um sie zu sehen, sondern war wie festgenagelt bei den Herren sitzen geblieben und hatte zugehört, wie Kumlander und Svartengren ihre Studentenanekdoten erzählten.
Jetzt sah er sie. Sie stand ganz allein an einem Wohnzimmerfenster und aß Eis. Ihm war, als blicke sie nach der Seite hin, wo er stand, und mit einer plötzlichen Kraftanstrengung zwängte er sich durch die Schar von essenden und trinkenden Gästen und gelangte bis zu ihr hin.
„Guten Abend, Fräulein Eva!“ sagte er verlegen. Ihm war, als müsse sie es ihm ansehen, wie er sich nach ihr gesehnt hatte. Sie aber grüßte ganz kühl und reichte ihm nicht einmal die Hand. Ruhig schlürfte sie ihr Eis und sagte mit einer Stimme, aus der Ernst eine absichtliche Bosheit herauszuhören glaubte: „Haben Sie sich gut amüsiert heut abend?“
Er sah sie mit flehenden Augen an, wie ein Hund seinen Herrn, wenn er dessen Gedanken zu erraten sucht und für sich bitten möchte.
„Wie können Sie das glauben?“ sagte er, als hätte sie ahnen müssen, wie ihm zumute war.
Es wäre Ernst Hallin ja nie in den Sinn gekommen, zu denken, daß es Eva Baumann, der hübschen, stolzen Eva Baumann, den ganzen Abend grade so zumut gewesen sein könnte, wie ihm. Hätte er eine Ahnung davon gehabt, so wäre er vielleicht trotz allem in das Zimmer gegangen, in dem sie saß, trotz aller neugierigen Blicke, trotz Pastor Simonson, der ganzen Welt zum Trotz. Aber er wußte es nicht, hörte nur, wie sie antwortete: „Sonst wären Sie ja doch vielleicht auf den Gedanken geraten, einmal herunterzukommen!“
Vor seinen Ohren sauste es. Den Grund ahnte er nicht, aber er begriff, daß sie böse auf ihn war; und mit einem Gefühl der Zerknirschung über seine eigene Unwürdigkeit blickte er in die dunkeln Augen, die ihm entgegenstrahlten. Nie war sie ihm so schön erschienen, wie heute. Sie trug ein schwarzseidenes Kleid mit durchbrochenen Ärmeln; die ausgeschnittene Bluse ließ einen wunderbar weißen Hals sehen. Ihre Lippen bogen sich ein bißchen verächtlich und ihre Augen blickten zornig drein. Er beugte sich zu ihr vor.
„Ich weiß nicht, warum!“ sagte er. „Aber ich konnte nicht. Nicht vor all diesen Menschen.“
Seine Stimme zitterte; Tränen standen in seinen Augen. Über Evas Antlitz flog eine heftige Röte und färbte Hals, Wangen und Stirn bis hinauf zum Haaransatz; auch ihre Stimme war nicht mehr ganz so sicher, als sie erwiderte: „Still! Jetzt kommt die Rede!“
Ernst Hallin wandte sich um. Draußen im Speisezimmer hatte der Bischof ans Glas geklopft, und die Gäste hatten sich alle um den Tisch aufgestellt. Professor Hallin stand neben seiner[S. 149] Frau, die schon das Taschentuch an die Augen führte, und Gabrielle war an die Seite ihres Bräutigams geeilt und hatte ihren Arm durch den seinen geschoben.
„Meine Damen und Herren!“ begann der Bischof, und in dem großen Zimmer ward es ganz still.
Der Bischof sah mit tiefsinniger Miene in sein Glas, in dem die Sektperlen unaufhörlich zum Rand emporstiegen und verschwanden.
„Meine Damen und Herren!“
Er schlug die Augen auf und blickte über die Gesellschaft hin mit der Sicherheit, die seine Vorträge auf der Kanzel kennzeichnete.
Dann begann er über die Ehe zu sprechen, die Gott selbst eingesetzt habe. Er redete vom Heim, vom Heim des Nordens und zitierte die Dichterworte:
Besonders verweilte er bei einer Schilderung des Hallinschen Heims.
„Es ist nicht das erstemal,“ schloß er, „daß ich an diesem Tag in diesem Haus die Freude habe, ein solches Hoch auszubringen. Aber mit jedem Jahr wird dies Hoch bedeutungsvoller. Denn jedes Jahr, das vergeht, knüpft die Bande fester zwischen diesem Paar, das heute die Wiederkehr der Stunde feiert, da sie gelobten, in Treue miteinander durchs Leben zu wandern.“
„Bravo!“ rief Professor Eneman und überflog die ganze Gesellschaft mit einem funkelnden, triumphierenden Blick.
„In Lust und Leid, wie das alte Wort sagt“, fuhr der Bischof fort. „Und in unsern Tagen, da man von allen Seiten die Heiligkeit der Ehe antastet, da die Menschen nicht mehr die Bande der Familie achten, sondern selber sich an die Stelle der göttlichen Autorität setzen, grade in diesen Tagen, meine Damen und Herren, möchte ich wünschen, ich könnte ein paar von diesen Großsprechern einführen in — ich kann Gott sei[S. 150] Dank sagen, viele — unserer alten nordischen Heime und ihnen sagen: Seht dies Glück, das ihr zerstören wollt, diese Treue durch Glück und Leid“ — der Bischof sprach die Worte aus wie Hammerschläge — „die ihr abschaffen wollt!“
„Meine Damen und Herren!“ der Bischof schlug jetzt einen leichteren Ton an — „ich bitte Sie, sich mit mir zu vereinigen, unsern werten Wirten für den angenehmen Abend zu danken und ihnen gleichzeitig noch viele weitere Jahre wie das eben verflossene zu wünschen. Glück und Segen ihnen beiden!“
Die Gäste drängten sich um die Hauswirte. Frau Hallin dankte mit heißen Wangen und Tränen in den Augen. Professor Hallin versuchte einen leichten Ton anzuschlagen und verbeugte sich lächelnd nach rechts und links.
Nach dem Abendessen begannen die Gäste aufzubrechen. Eine Weile versuchte man noch, die Unterhaltung fortzusetzen. Aber der zweite Versuch erstarb ganz von selbst. Alle fühlten, der Anlaß zu der Zusammenkunft war nun vorüber. Alle waren satt und alle sehnten sich nach Hause, ins Bett.
Im Vorzimmer war wieder ein großes Gedränge; schläfrige Dienstmädchen, die seit zwei Stunden dastanden und warteten, halfen den Damen in ihre Mäntel und Pelze. Die Herren liefen noch einmal die Wendeltreppe hinauf, um sich noch eine Zigarre zu holen. Drunten vor der Tür stand Gustaf Hallin, überglücklich mit seinen zwei Zigarren, die er erschmuggelt hatte, und wartete auf die Seinen. Wenn er daheim auf seiner Stube war, wollte er rauchen! Jetzt wagte er’s nicht. Es waren so viele Lehrer um den Weg.
Als alle Gäste fort waren, ging der Professor zufällig noch einmal durchs Vorzimmer. Die Korridortür war angelehnt, und durch die Tür hörten des Professors geübte Ohren einen verdächtigen Laut, der wie ein Kuß klang.
Er blickte hinaus. Im Halbdunkel glaubte er einen Offiziersmantel zu sehen, der die Treppe hinunter verschwand. Und zur[S. 151] Tür herein kam eines der Hausmädchen, rot wie eine Päonie. „Wer ging denn da eben fort?“ fragte der Professor und legte die Sicherheitskette vor.
Das Mädchen sah ganz erschrocken aus.
„Ich weiß nicht“, sagte sie stotternd. „Ich glaube, es war der Herr Leutnant.“
Der Professor erwiderte nichts und das Mädchen verschwand eilig in der Küche.
„Pfui Teufel!“ sagte der Professor vor sich hin. Auf seinem jovialen Gesicht spielte ein pfiffiges Lächeln. „Steht die Sache so?“
Und raschen Schrittes ging er in den Salon, um seiner Frau zu helfen, die Lichter zu löschen.
Als Adjunkts auf dem Heimweg endlich allein waren, nahm Frau Hallin Ernsts Arm und fragte: „Was hast du denn mit dem Bischof gesprochen?“
Ernst Hallin erwachte plötzlich aus seinen Träumen und blickte die Mutter lächelnd an.
„Er fragte mich, ob ich einen Grog nehmen wollte“, erwiderte er.
„Ob du einen Grog nehmen wolltest?“ wiederholte sie.
„Ja. Was dachtest du denn sonst, Mama?“
Frau Hallin seufzte und ging schweigend an ihres Sohnes Arm nach Hause.
Ernst Hallin fühlte sich an diesem Abend, als er heimkam, viel zu müde zum Denken. Das Gespräch mit Eva Baumann klang in seinen Ohren nach, ohne jedoch sein Gehirn zu lebhafterer Tätigkeit zu erwecken, und er schlief bald ein und schlief tief und schwer.
Als der Adjunkt eben zur Tür hinausging, um nach der Schule zu eilen, erwachte Ernst. Eine Weile lag er ganz still und schloß die Augen; er wollte wieder einschlafen. Auf der Treppe hörte man knarrende Schritte. Dann fiel wieder Schweigen über das dunkle Zimmer.
Aber er konnte nicht wieder einschlafen. Ein unbestimmtes Unruhegefühl quälte ihn; ohne daß er wußte warum, schien es ihm, als wäre er zu einem schweren, qualvollen Tag erwacht. Heute, dachte er im Halbschlummer, wartet etwas Schlimmes auf mich. Wenn ich aufwache, wird es kommen. Sobald ich ganz wach bin, werd’ ich auch wissen, was es ist. Sie werden mich packen und quälen und an mir zerren und mich nicht aus ihren Klauen lassen. Ich muß sehen, daß ich so schnell wie möglich wieder einschlafe. Man kann gar nicht lang genug schlafen, wenn man zu etwas Schlimmem erwachen muß!
Und er schloß die Augen und bohrte den Kopf ins Kissen, um wieder einzuschlafen. Aber er konnte nicht; er lag und horchte auf die Uhr, die auf dem Nachttisch tickte. Das quälte ihn so, daß er sich aufrichtete und sie unters Kopfkissen stopfte, bloß damit er sie nicht mehr zu hören brauchte.
Und plötzlich stand der gestrige Tag vor ihm. Der ganze lange, unerträgliche Abend. Dann das Gespräch mit Eva Baumann. Er zog die Decke über den Kopf und drehte sich nach der Wand, in der Hoffnung, die Gedanken würden ihn dann verlassen. Aber sie ließen ihn nicht. Einer nach dem andern kamen sie und klopften an und wollten in sein Gehirn, um ihn zu beunruhigen und zu quälen. Und alle sagten sie das gleiche: daß er ein Esel war, ein dummer, unglaublicher, unverbesserlicher Esel!
Er hatte Eva in den letzten Monaten oft getroffen. Er war ihr begegnet, wenn sie von ihren Klavierstunden kam; hatte sie bei Selma drunten gesehen. Er war mit ihr und Selma spazieren gegangen, hatte bei Frau Pegrelli Besuch gemacht, war zum Abendbrot dort gewesen.
Die ganze Welt war ihm wie neu geschaffen, seit er Eva entdeckt hatte. Er begriff gar nicht, daß er sie früher nicht beachtet hatte. Er hatte nie so recht ernsthaft mit ihr geredet, nie über sich selber mit ihr gesprochen, nie etwas von ihr gefordert. Er hatte nur neben ihr gesessen, war neben ihr hergegangen, hatte über alles mögliche Gleichgültige mit ihr geredet. Oder er hatte sie sprechen lassen und hatte selber kein Wort gesagt. Aber in ihm war es dabei so ruhig geworden, so still, als ob nichts auf der ganzen Welt ihn je mehr aus dem Gleichgewicht reißen könnte.
Und doch war er den ganzen Abend bei einer dummen Gesellschaft gewesen und hatte kein Wort mit ihr gesprochen, sie kaum begrüßt. Es war gradezu eine Kränkung, die er ihr da zugefügt hatte; und wenn er sie jetzt wiedersah, würde alles leer und öde und gräßlich zwischen ihnen beiden sein. Kein heiteres Lächeln würde ihn begrüßen, wenn er kam, kein zutrauliches Nicken, wenn er ging. Und er konnte es nicht einmal erklären. Esel, der er war! Er würde auch gewiß keinen Versuch mehr machen! Was war da überhaupt zu erklären?
Er sah sie wieder vor sich in dem kleinen Wohnzimmer, wo ihre Tante nachmittagelang auf dem Sofa saß und strickte, mit auf die Nase gerutschter Brille und unaufhörlich sich bewegenden Lippen, als zähle sie immerwährend Maschen. Eva saß auf dem Sofa neben der Tante und unterhielt sich mit ihm, der in einem Lehnstuhl auf ihrer andern Seite saß. Ihre weichen Handgelenke bewegten sich emsig, während sie häkelte, und sie lachte ihn an mit den lebhaften Augen, die aussahen, als hätte sie ihr Leben lang keinen Zweifel und kein Kopfzerbrechen gekannt.
Er vermochte nicht länger still zu liegen, sondern stand auf und zog sich an. Die ganze Welt war ein einziger großer Wirrwarr! Es graute ihn beim Gedanken, daß er hinuntergehen mußte zu den Seinen.
Aber schließlich war er doch fertig. Und auch der Hunger machte sich geltend — er hatte am Abend vorher kaum einen[S. 154] Bissen gegessen —, und so ging er hinunter zum Frühstück. Selma saß am Frühstückstisch. Ernst bemerkte, daß sie sehr müde aussah, und mehr um seinen eigenen Gedanken aus dem Weg zu gehen, als aus dem Drang, sich um andere zu kümmern, fragte er: „Was ist mit dir?“
Selma stellte mit einer matten Bewegung das Milchglas weg, ohne zu trinken.
„Ich bin so müde!“ antwortete sie.
Es lag in ihrem Ton etwas, das Ernst veranlaßte, die Schwester genauer anzusehen. Sie war ein kräftiges, ziemlich großes Mädchen mit reichem blondem Haar, derber Gesundheit und frischen, roten Lippen. Nur ihr Teint war verräterisch durchsichtig und blaß, und ihre Hände waren fast krankhaft weiß.
„Hm!“ sagte Ernst. Er wußte nicht, was er antworten sollte. Sie sah tatsächlich gar nicht gesund aus. Vielleicht lastete auch auf ihr etwas, etwas, von dem sie nicht sprechen konnte, nicht der Mutter, nicht dem Vater, nicht Bruder oder Freund gegenüber? Ob es wohl ein Familienzug bei ihnen war, daß jedes von ihnen sein Leben für sich leben und sich vor den andern abschließen mußte?
Keinen Augenblick lang war es Ernst in den Sinn gekommen, daß seine Schwester, seine tüchtige, kräftige Schwester, die seit fünf Jahren Lehrerin an der Mädchenschule war, und eine so vortreffliche Lehrerin, die sich selber ihr Brot verdiente, etwa nicht glücklich sein könne, mit sich selber nicht fertig wurde, sondern vielleicht in aller Stille träumte — sich sehnte — fort — in eine Welt — wer weiß, in was für eine!
Aber heute hatte sein eigenes kleines Erleben ihn scharfsichtiger gemacht. Darum wollte er versuchen, ihr zu helfen.
„Liebe Selma!“ sagte er und strich ihr leise übers Haar. „Was fehlt dir?“
Die Schwester blickte vor sich nieder und errötete.
„Glaubst du, es sei besonders nett, so jahraus, jahrein bei[S. 155] den Eltern zu leben und kleine Kinder zu unterrichten?“ sagte sie hart. „Du weißt ja gar nicht, wie einsam ich bin!“ Ernst war ganz verwundert.
„Einsam?“ sagte er zögernd. „Du hast doch die Eltern. Und mich!“ fügte er hinzu.
Er fühlte ganz gut, daß das nicht wahr war, daß sie weder die Eltern noch ihn hatte, und daß das auch gar nicht genug gewesen wäre. Aber die Worte fuhren ihm heraus, ehe er sie zurückhalten konnte.
Die Schwester blickte auf. Auf ihrer Stirn lagen Falten, die sie plötzlich alt machten.
„Du bist ein Mann!“ sagte sie. „Sei froh. Du kannst deinen eigenen Weg gehen. Keiner hindert dich. Aber ich...“
Sie vermochte sich nicht länger zu beherrschen, sondern brach in heftiges Weinen aus und verließ das Zimmer.
Ernst sah ihr nach. Ein plötzlicher Instinkt sagte ihm, daß er hier zum Zeugen eines Leides geworden war, dessen Wurzel sehr tief lag; aber er wußte doch keine Antwort auf die Frage, was dieser Ausbruch eigentlich zu bedeuten habe. Nur ein Gefühl der Reue beschlich ihn, daß er immer so achtlos an der Schwester vorübergegangen war. Gewiß hatte er sie ja nicht mißachtet, aber es war ihm doch auch nie eingefallen, zu versuchen, ihr näher zu kommen.
Voll von Grübeleien und neuen Gedanken ging er auf sein Zimmer. Nach dem Mittagessen versuchte er, mit der Schwester zu reden, sie zu fragen, weshalb sie geweint hätte. Aber sie sah ganz ruhig aus und erwiderte nur, sie wäre eben ein bißchen nervös.
Das konnte Ernst nun wieder nicht verstehen. Er hatte versucht, sich der Schwester zu nähern, war zurückgewiesen worden, und seine Gedanken nahmen ihren gewöhnlichen Kreislauf um sich selber wieder auf.
Den Vormittag über war er in einer ganz eigentümlichen Stimmung gewesen. Der Eindruck vom Ausbruch der Schwester[S. 156] hatte sich mit seiner eigenen Melancholie vermischt und die wunderlichsten Gedanken in ihm hervorgerufen.
Aber jetzt schlugen diese Gedanken wieder die alte Richtung ein. Mit verdoppelter Stärke stand seine Dummheit von gestern wieder vor ihm. Ihm war plötzlich, als müsse er um jeden Preis zu Eva und alles mit ihr ins Reine bringen. Es war wie eine fixe Idee bei ihm, daß etwas da unklar war und ins Reine gebracht werden müßte. Er mußte zu ihr, sie sehen, sie sprechen, sich mit ihr versöhnen und fühlen, daß alles wieder war, wie vorher. Aber die Mutter durfte nicht sehen, daß er ausging. Sonst würde sie ihn fragen, wo er hinginge. Lügen konnte er nicht, und sagen, wohin er ginge, wollte er nicht. Wenn er nur an den forschenden Blick dachte, den sie auf ihn richten würde, wenn er antwortete: Zu Frau Pegrelli! so empfand er schon ein Unbehagen, als stünde ihm ein Unglück bevor.
Wie ein Schuljunge schlich er sich die Treppe hinunter und hinaus.
Hastig ging er die vertrauten Straßen entlang und läutete schließlich an einer Klingel, die vor einer weißen Tür ohne Schild hing. Ein zersprungener Klang kam von der alten Glocke, die drinnen gegen die Tür schlug. So stark hatte er am Glockenstrang gerissen.
Er war ganz rot im Gesicht und atmete kurz, als das Mädchen kam und öffnete. „Ist Fräulein Baumann zu Hause?“ wollte er fragen, besann sich aber und fragte mit erzwungener Ruhe nach „den Damen“.
Frau Pegrelli wäre ausgegangen, aber das Fräulein sei daheim. Ernst wäre am liebsten wieder umgekehrt. Es war ja gar nicht anders möglich, als daß sie wegen seines unverzeihlichen Betragens am Abend zuvor böse auf ihn war, und er hatte ja nichts zu seiner Entschuldigung anzuführen, nichts — außer er bekannte ihr alles... alles, was ihn bewegte, alles. Und das konnte er doch nicht. Und darum wär es am[S. 157] besten gewesen, er wäre wieder gegangen. Aber das ging auch nicht.
Er hörte sie drinnen Klavier spielen. Ein rettender Gedanke kam ihm.
„Fräulein Baumann ist gewiß beschäftigt?“ sagte er zu dem Mädchen.
„Das glaub’ ich nicht; aber ich kann ja fragen.“
„Bitte, treten Sie doch ein!“ rief da schon eine fröhliche Stimme aus dem Wohnzimmer, und als Ernst über die Schwelle trat, stand Fräulein Eva mitten im Zimmer und machte ihm einen tiefen Knix.
Ernst war aufs äußerste überrascht. Sie sah so schalkhaft und sicher aus, nicht ein bißchen böse, nur froh und heiter. Und schön. So unwiderstehlich schön! Und er stand da, unendlich linkisch, und fragte bloß: „Sind Sie mir nicht böse?“
Sie schüttelte den Kopf und lachte, und wieder sah sie dabei so sicher aus, als wüßte sie ganz genau Bescheid über ihn.
„Nein.“
„Gar kein bißchen?“
„Nein, kein bißchen.“
Eva hatte Ernst während der Zeit ihrer Bekanntschaft verstehen gelernt. Sie begriff, daß er auch nicht einen Augenblick lang den Mut haben würde, ein entscheidendes Wort in ihrem beiderseitigen Verhältnis zu sprechen. Daß sie sich selbst auf eine ganz eigene Art zu dem verschlossenen, sonderbaren jungen Theologen hingezogen fühlte, darüber war sie sich klar. Er hatte etwas so Impulsives. Einmal war er fröhlich wie ein Kind, dann wieder niedergeschlagen und lebensmüde wie ein Greis, dem das Leben nichts mehr zu bieten hat. Und sie begriff, daß etwas war, was ihn drückte und quälte; wenn man ihm das abnehmen könnte, so würde er aufrecht und frei und froh werden, so wie damals, als sie ihm von der Brücke herab zugesehen[S. 158] hatte, wie er dran arbeitete, mitten im Winter der Frühlingsflut vorwärts zu helfen.
Wäre es nicht vielleicht möglich, daß sie es war, die ihm helfen konnte? Es war etwas in ihm, das sie nicht kannte, das er sorgfältig vor ihr verbarg, und das reizte ihre Neugier, während sie es zugleich als eine Kränkung empfand, daß er, der doch so viele Interessen haben mußte, nie ein ernsthaftes Wort mit ihr sprach. Warum tat er das nicht? Warum sprach er nie über seine Zukunft? Glaubte er vielleicht, sie sei so dumm oder oberflächlich, daß sie an nichts anderes denken könne als an Spiel und Tand?
Aber irgend etwas lastete auf ihm. Und ihrer lebhaften Natur, die nach Tätigkeit dürstete, schien es, als eröffne sich ihr hier eine Möglichkeit.
Da saß er nun und sah sie mit seinen klaren, lichten Augen an, zupfte an seinem Bart und lachte vor sich hin aus hellem Behagen. Im Anfang hatte sie das verlegen gemacht, dann hatte sie sich daran gewöhnt, jetzt reizte es sie. So viel hatte sie jedoch schon gelernt, daß man mit Gewalt nichts aus ihm herauskriegte. Versucht hatte sie es schon. Aber es war immer mißlungen.
Sie bemühte sich daher, einen möglichst gleichgültigen Ton anzuschlagen, während sie fragte: „Übermorgen werden Sie ja predigen?“
Wäre Ernst der raffinierteste Don Juan gewesen, statt des unerfahrenen, mit Welt und Frauenherzen unbekannten jungen Mannes, der er war, er hätte auf keine geschicktere Art verfallen können, Eva Baumanns Herz zu gewinnen, als indem er sich so völlig über sich selbst ausschwieg. Im Anfang mochte sie ihn gern seiner Einfachheit halber, wie sie es nannte. Aber je mehr seine Persönlichkeit sie zu beschäftigen anfing, desto eifriger strebte sie danach, ihm auf den Grund zu kommen. Sie wollte wissen, was es war, das ihn zu manchen Stunden so geistesab[S. 159]wesend machte und zu andern so fröhlich, als wäre er aus einem bösen Traum erwacht. Als sie jetzt ihre Frage vorgebracht hatte, war sie ganz ängstlich, was darauf kommen würde. Und sie ward ganz rot vor Schreck, als sie sah, was für eine Wirkung es auf Ernst hatte.
Sein froher, sorgloser Gesichtsausdruck verschwand plötzlich, und er senkte den Kopf, damit sie nicht sehen konnte, was er dachte.
So saß er lang und schwieg.
So lange schwieg er, daß ihr angst wurde. Es war so still, daß sie ihr eigenes Herz hämmern hörte; sie wäre am liebsten davongelaufen, um sich allein auszuweinen. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte mit einer Stimme, die jeden Augenblick in Weinen umschlagen konnte: „Was ist? Warum antworten Sie denn nicht? Es ist so schrecklich, wie Sie dasitzen und schweigen!“
Er richtete sich auf und setzte sich im Stuhl zurück. Sein Blick war wie erloschen; sein ganzes Gesicht zuckte nervös. „Warum müssen Sie auch gerade davon sprechen?“ rief er. „Warum kann ich nicht wenigstens bei Ihnen damit verschont sein? Sie sind so gut zu mir gewesen, und ich war Ihnen so dankbar! Ich hab’ zu Ihnen kommen und mit Ihnen über alles sprechen können, und ich war so froh und war Ihnen so gut! Und jetzt ist’s aus. Nie wieder wird es, wie es gewesen ist.“
Sie war verwundert und zugleich ärgerlich.
„Was wollen Sie denn damit sagen: Nie wieder, wie es gewesen ist? Weil ich Sie nach Ihrer Predigt gefragt habe? Glauben Sie, ich sei eine Puppe, die Sie wegwerfen können, weil sie nicht mehr in dem Ton schreit, der Ihnen paßt? Nein, Herr Hallin, da kennen Sie mich schlecht.“
Er schüttelte den Kopf; aber der gequälte Ausdruck wich nicht aus seinem Gesicht.
„Ach, was Sie kindisch sind!“ sagte er. „Macht es Ihnen[S. 160] so viel Spaß, mich zu quälen? Sie sind doch auch vorher mit mir zufrieden gewesen, so wie ich war. Kann das nicht auch jetzt so sein?“
Er schwieg einen Augenblick und sah nachdenklich vor sich hin. „Oder vielleicht sind Sie gar nicht mit mir zufrieden gewesen?“ fragte er dann.
Ihre Neugier oder vielleicht eher ihr Verlangen, sein Geheimnis zu ergründen, erwachte aufs neue. Gleichzeitig empfand sie etwas, das sie rührte und ängstigte. Wie eine Mutter hätte sie ihn mögen in die Arme nehmen, ihn beruhigen, ihm über die Stirn streichen, die feucht von Schweiß war.
„Es bedrückt Sie etwas“, sagte sie mit ganz anderer Stimme. „Können Sie es mir nicht sagen?“
Er fuhr auf und wurde totenblaß. Seine Hände ballten sich, seine Brust keuchte.
„Nein!“ schrie er fast überlaut. „Nein, ich kann nicht. Nicht jetzt. Nicht jetzt.“
Sie verstummte und blickte weg. In diesem Augenblick durchflog sie die Ahnung, daß sie aus eigenem Antrieb einen Kummer auf sich lud, der ihr junges Leben vielleicht zu Boden ziehen würde. Aber es war Genuß in dem Gefühl, ein Genuß, dem sie nicht widerstehen konnte. Und eine Lockung.
„Warum?“ sagte sie und blickte ihm grade in die Augen. „Warum?“
Er erfaßte ihre Hände und erwiderte leise und langsam: „Doch, ich möchte gern mit Ihnen reden. Aber ich kann nicht.“ Dann ließ er sie los und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. „Sie wollen also wissen, warum ich nicht mit Ihnen darüber sprechen möchte?“ sagte er schließlich. Er blieb ein paar Schritte von ihr stehen und sprach, ohne sie dabei anzusehen:
„Nun ja, so will ich es Ihnen sagen. Vielleicht ist es ganz gut, wenn jemand es weiß. Ich wollte, ich wäre weit fort von hier, oder tot, oder nie geboren. Wenn ich doch ruhig ein[S. 161]schlafen könnte und nie wieder aufwachen! Bloß schlafen, schlafen, ohne daß ein Morgen käme und ein neuer Tag! Das möchte ich. Alles lieber, als am Sonntag auf der Kanzel stehen und den Leuten etwas vorlügen!“
„Lügen?“
Sie sah ihn voll Spannung an.
„Glauben Sie denn nicht?“
„Ich weiß nicht“, antwortete er zögernd. „Manchmal glaube ich und manchmal glaube ich nicht. Was weiß ich? Ich habe ja doch nie gelebt. Nur gelernt und gelernt und gelernt. Mein Vater schlug mir vor, ich solle Geistlicher werden. Ich sah, daß meine Mutter so froh war darüber. So entschloß ich mich, Pastor zu werden. Seither habe ich wieder gelernt, gelernt, gelernt. Was weiß ich, was ich glaube?“
Sie sah ihn bestimmt und klar an: „Dann dürfen Sie am Sonntag nicht predigen.“
„Aber das ist unmöglich. Ich habe es versprochen. Jetzt ist es zu spät.“
Sie wurde immer eifriger.
„Wie können Sie so sprechen?“ rief sie. „Das ist eine Sünde! Sagen Sie, daß Ihnen Zweifel gekommen sind, daß Sie Bedenkzeit brauchen. Schaffen Sie sich eine Weile Ruhe, und wenn Sie nicht wissen, was Sie glauben sollen, so werden Sie eben nicht Geistlicher!“
Er sah sie an und lächelte. Aber sein Lächeln war traurig und freudlos. Wie alles so einfach war für sie! Entweder — oder! Sie wußte nichts von Nebenwegen.
„Glauben Sie, das geht so leicht, Fräulein Eva?“ sagte er. „Wollen Sie, ich soll zu meinem Vater gehen, der sein ganzes Leben lang Geldsorgen gehabt hat, und ihm sagen: ‚Ich muß Bedenkzeit haben. Du mußt noch eine Weile für mich sorgen?‘ Hätte er nicht das Recht, mir zu antworten: ‚Du hast lang genug Zeit gehabt. Warum hast du dich nicht eher bedacht?‘ Aber, du[S. 162] lieber Gott, es hat mich ja keiner denken gelehrt! Und wie sollte ich zu meiner Mutter gehen, die mich mehr als alles in der Welt liebt, und sagen: ‚Ich habe keinen Glauben? Ich will eine Zeitlang Ruhe haben, um mir ihn zu verschaffen?‘ Es ist traurig, daß die Armut uns manchmal am Rechttun hindert. Aber es läßt sich nicht ändern.“
Er brach plötzlich ab, ging auf sie zu und ergriff ihre Hand. „Es war lieb von Ihnen, daß Sie mich zum Sprechen veranlaßt haben,“ sagte er. „Ich glaube, es ist am besten, wenn ich jetzt gehe.“
Sie hielt seine Hand mit ihren beiden Händen fest, und Ernst war erstaunt, welch ernster Ausdruck in ihr Gesicht gekommen war. „So dürfen Sie nicht gehen“, sagte sie. „Wie können Sie sich durch derartige Bedenken bestimmen lassen? Wenn ich an Ihrer Stelle wäre — ich würde keine Minute zögern. Sie haben sich früher nicht genügend bedacht? Ist das ein Grund, daß Sie sich auch jetzt nicht bedenken wollen? Das dürfen Sie nicht! Hören Sie, Sie dürfen nicht!“ Er zog seine Hand zurück und ging nach der Tür.
„Machen Sie mir meinen Weg nicht schwerer, als er schon ist!“ murmelte er.
„Das ist eine Feigheit, was Sie da begehen wollen“, sagte sie plötzlich mit zitternden Lippen. „Eine Feigheit, die sich an Ihrem ganzen Leben rächen wird!“
Er wandte sich um und sein Ton ward gereizt.
„Mit welchem Recht sprechen Sie so zu mir?“ sagte er. „Und wer hat Sie gelehrt, so klar und sicher zu denken? Ihr Vater ist ja ein Pastor, wie ich einer sein werde. Wissen Sie so gewiß, was er glaubt oder nicht?“
„Das gehört nicht hierher“, erwiderte sie. „Das Recht, zu reden, haben Sie selber mir gegeben. Und wenn Sie wissen wollen, wer mich denken gelehrt hat — Ihre Schwester! Sie ist älter als ich; von ihr hab’ ich gelernt, was ich Ihnen eben gesagt habe.“
Ernst dachte eine Weile schweigend nach. Selma? Wieder Selma? „Glaubt sie denn so fest?“ fragte er dann.
„Nein“, erwiderte Eva, und ein Zug von Ironie überflog ihr Gesicht. „Sie glaubt nicht. Aber sie ist sich darüber klar.“
„Was sagen Sie da?“
Diese Entdeckung schmetterte ihn fast zu Boden. Er hatte eine Schwester, die nicht glaubte! Ganz allein hatte sie sich zu der Erkenntnis durchgerungen, vor der er zurückwich. Und diese Schwester war ihm eine Fremde. Er hatte sie vernachlässigt, und sie konnte ihm jetzt nicht helfen.
Er trat noch einmal auf Eva zu und ergriff wieder ihre Hand. „Leben Sie wohl“, sagte er. „Ich muß nach Hause. Denken Sie nicht allzu schlecht von mir. Oder tun Sie das?“ fügte er hinzu.
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein. Sie sind nur schwach“, sagte sie.
„Ja“, sagte er still. „Ich bin schwach.“
Als er gegangen war, wanderte Eva lange im Zimmer auf und ab, um die Tränen niederzuringen, die hervorbrechen wollten. Ernst eilte raschen Schrittes heim. In ihm stürmten die Gedanken, und nur eins fühlte er klar: er mußte die Ruhe finden, seinen eigenen Weg zu gehen. Der Weg, den Eva ihm gezeigt hatte, der war zu schwer. Den konnte er nicht gehen. Als er in seinem Zimmer war, setzte er sich an den Schreibtisch, dem Vater gegenüber, der sich eben auf den Unterricht für morgen vorbereitete. Er nahm seine Predigt hervor, um sie noch einmal durchzugehen. Und seine Augen fielen auf die Textworte: „Sprach Jesus zu Simon Petrus: Simon, Jona Sohn, liebst du mich mehr, denn mich diese lieben? Er antwortete: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe. Sprach er zu ihm: Weide meine Lämmer!“
Ernst versank in Gedanken. Er grübelte darüber nach, was diese Worte ihm zu sagen hatten. War es ein Trost oder eine Anklage?
Er wußte es nicht.
Der Schlußchoral wurde gespielt, und der junge Pastor stieg von der Kanzel herab.
Über der Gemeinde lag ein Gefühl der Freude und des Friedens. Denn alle wußten, der Weinberg des Herrn hatte einen neuen Arbeiter gefunden, der die jungen Ranken lehren würde, gute Frucht zu tragen, und die alten ermahnen, daß sie besser trügen denn zuvor. An einem Punkt der Predigt hatte sich des Bischofs Antlitz umwölkt; das war, als Pastor Hallin davon sprach, was der Herr von denen fordert, zu denen er in Wahrheit sagen kann: Weide meine Lämmer! Denn der Pastor stellte gar so hohe Anforderungen, so jugendlich hohe Anforderungen. Aber des Bischofs Antlitz klärte sich doch wieder merklich, als der Pastor davon sprach, daß Gott barmherzig ist. Und von da an blickte er ruhig und sicher über die Gemeinde hin und zur Kanzel empor. Ja, als der Pastor Amen sagte, da nickte der Bischof sogar ein wenig mit dem Kopf, als könne er es nicht lassen, seinen Beifall zu erkennen zu geben.
Die Gemeinde war befriedigt. Viele hatten des Bischofs Nicken bemerkt, wenn auch seine Unruhe ihnen entgangen war. Und ein Seufzer der Befriedigung und des Behagens ging durch die Versammlung, als die Predigt zu Ende war, und viele, die dasaßen, freuten sich im stillen, daß Adjunkt Hallins Sohn es so gut gemacht hatte.
Der Adjunkt selber blickte schweigend vor sich nieder. Er dachte an seine Toten, seinen Vater und dessen Brüder, an seinen alten Großvater, den er als kleiner Knabe noch gekannt hatte. Er erinnerte sich so gut noch seiner schwarzen Strümpfe und Kniehosen, er entsann sich, wie zierlich und schmuck er, auf den alten Stock mit der goldenen Krücke gestützt, durch die Straßen gegangen war. Er fühlte, jetzt kam die Familie wieder ins[S. 165] rechte Geleise. Die alten Traditionen würden wieder aufleben, und in ihrem Schatten würde sein Sohn in Frieden leben und wieder sammeln, was die letzte Generation verschleudert hatte. Mit einem Seufzer dachte der Adjunkt daran, wie er selbst es hätte haben können, wenn er nicht seiner unglückseligen Lust zum Studieren nachgegeben hätte. Die alten Sprachen, die waren es, die hatten ihn zugrunde gerichtet, die hatten ihn ins Studium hineingelockt und ihm ein Leben in der Schulstube aufgezwungen, in dem er nicht einmal mehr Zeit gehabt hatte, seiner alten Liebe nachzugehen. Wäre er Pastor geworden, ja, das wäre ein ganz ander Ding gewesen. Da hätte er zwischen den Sonntagen gut Zeit gehabt, sich in seine geliebten alten Klassiker zu vertiefen. Mit einer Pfeife im Mund hätte er nachmittagelang in seinem behaglichen Studierzimmer sitzen und in ländlicher Ruhe die alte Studienzeit wieder und wieder durchleben können, bis der Tod ihn zu seinen Vätern versammelt hätte. Jetzt würde er sich auf seine alten Tage nur über den Sohn freuen können, und in das Gefühl dieser Vaterfreude mischte sich ganz unwillkürlich ein Seufzer über sein eigenes Leben.
Und zu denken, daß er ohne Geldsorgen hätte leben können, wenn er es nur verstanden hätte! Nur daran zu denken!
Und dem Adjunkt wurden die Augen feucht, während er sie aufschlug und scheu über die Versammlung hinblickte, um zu sehen, was man von seinem Sohn dachte.
Da fühlte er neben sich eine Hand, die nach seiner tastete, und er drückte diese Hand und nickte gerührt auf seine Frau herab, die über das Taschentuch, das sie vors Gesicht hielt, um ihr Schluchzen zu unterdrücken, zu ihm aufschaute. Er war voller Dankbarkeit für diese arbeitsame Hand, die so treu und unablässig tätig war und nie vergaß, die seine zu suchen. Er hustete ein bißchen, drückte nochmals die Hand seiner Frau und nahm dann die Brille ab, um sich die Augen zu wischen. Dann schneuzte er sich laut und blickte mit klaren Augen um sich.
Frau Hallin beugte sich, sobald die Predigt aus war, auf ihrem Sitz vor und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie betete alle Gebete nach Schluß der Predigt mit dem Sohn; ihre Lippen bewegten sich eifrig. Die Worte waren dieselben, wie immer, aber ihre Gedanken gingen ihren eigenen Weg; sie betete nicht die gewöhnlichen Gebete für den König, die Kriegsmacht, sie betete für ihren Sohn, betete aus ganzer Seele und legte in das Gebet all ihre Liebe für ihr Kind, das sie auf den Armen getragen, um das sie gebangt und gesorgt hatte, sein ganzes Leben lang, seit er als schwaches, kränkliches Knäblein an ihrer Brust gelegen hatte, und der sie heute so glücklich machte, wie sie kaum je gewesen war. Sie hatte keinen Gedanken für sich selber, nur ein einziges großes Gefühl von Ruhe und Seligkeit; und sie dankte ihrem Gott.
Dann nahm sie die eine Hand vom Gesicht und legte sie in ihres Mannes Hand. Und als der erste Vers des Chorals gesungen war, richtete sie sich auf und versuchte mitzusingen. Die Buchstaben sah sie nicht; aber sie wußte die Worte auswendig. Als der Gesang aus war, erhob sich der Bischof und ging in die Sakristei.
Eine aber war da, die während der ganzen Predigt einen kalten, fast strengen Ausdruck gezeigt hatte. Diese eine war Eva Baumann. Sie saß die ganze Zeit über und fixierte den jungen Pastor. Es war ihr ganz unbegreiflich, wie dieser selbe Mann, der noch vor zwei Tagen seiner selbst so unsicher, so von Zweifeln zerrissen gewesen war, jetzt so ruhig und sicher reden konnte, daß eine ganze Gemeinde ihm lauschte und seinem Wort vertraute. Sie wog jedes Wort, das er sagte; und es war nicht allein des Bischofs Antlitz, das sich umwölkte, als Pastor Hallin von des Herrn Anforderungen an die sprach, zu denen er in Wahrheit sagen konnte: Weide meine Lämmer! Ihr war, als hasse sie diesen Mann, hasse und verachte ihn so tief, wie keinen andern auf der Welt. Als er später von Gottes[S. 167] Barmherzigkeit sprach, da konnte Fräulein Eva ein kleines böses Lächeln nicht unterdrücken. Denn sie stellte in der Tat hohe Anforderungen — in allen Lebensverhältnissen. Und als er Amen sagte, da klang das Wort in ihren Ohren so falsch, daß es ihr förmlich weh tat. Sie beugte nicht das Haupt, als die Gebete gelesen wurden, sondern blieb aufrecht sitzen und sah den Pastor an und freute sich, daß er es bemerkte. Denn sie wußte, er mußte ihre Gedanken verstehen!
Ehe der Schlußchoral gesungen war, ging sie hinaus und direkt nach Hause. Sie mochte nicht antworten auf Fragen, wie ihr die Predigt gefallen habe.
Als der Segen gesprochen und der letzte Vers verklungen war, traten auch der Adjunkt und seine Frau aus der Kirchentür. Draußen auf dem freien Platz ergriff Frau Hallin ihres Mannes Arm, und Arm in Arm schritten die Gatten durch die Menschenmenge, die aus der Kirche strömte. Sie wollten es beide vermeiden, sich umzusehen; aber sie konnten es doch nicht lassen. Die Versuchung, zu sehen, wie andere am Erfolg des Sohnes teilnahmen, war zu groß. Sie folgten dem großen Strom der Kirchenbesucher, statt, wie sie gewollt hatten, in einen der Nebenwege abzubiegen, begrüßten erst ein paar Bekannte, dann noch ein paar. Auf dem Wege aus der Kirche schickte es sich ja nicht, so heranzustürzen und zu gratulieren. Aber Freunde und Bekannte drückten ihnen im Vorbeigehen die Hand, und alle warfen ihnen bedeutungsvolle Blicke zu und lächelten sie an. Jetzt kamen ihnen der Professor Hallin und seine Frau entgegen. Verwandte konnten einen auch an einem solchen Tag von der Kirche heimbegleiten. Eigentlich war die Begegnung der Mutter im Innersten unangenehm. Die Schwägerin war nicht der Mensch, den sie in diesem Augenblick gern sehen mochte. Aber es ließ sich nun einmal nicht vermeiden, und sie mußte sich in ihr Schicksal fügen.
Auch die Professorin empfand etwas wie Unbehagen, als[S. 168] sie ihren Verwandten entgegenging. Sie wußte, sie konnte sich nicht in dem religiösen Stil ausdrücken, den Frau Hallin mochte, und sie hätte es doch so gern getan. Es reizte sie, daß die Schwägerin sie so gering achtete, als ob sie nicht grade so gottesfürchtig wäre, wenn sie auch nicht reden konnte wie ein Buch.
„Liebe Ebba!“ sagte sie und drückte der Schwägerin die Hand. „Wie glücklich mußt du sein! Das war wirklich Gottes Wort, was wir heute gehört haben!“
Der Professor nahm seinen Bruder beiseite, und die beiden Herren gingen voraus.
Frau Hallin drückte ihrer weltlichen Schwägerin die Hand, so warm sie konnte; aber ihr danken — das war unmöglich.
„Möchte er seinen Erfolg doch in der rechten Weise aufnehmen!“ sagte sie.
Aber ihre Stimmung war gestört; und als sie sich von Professors verabschiedet hatte und am Arm ihres Mannes den kurzen Weg nach Hause ging, dachte sie mehr an die Schwägerin als an den Sohn. Und sie warf sich selber vor, daß sie sich von den kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens beeinflussen ließ.
Als Ernst Hallin in die Sakristei trat, hatte er zuerst nur ein Gefühl der Scham. Er konnte gar nichts anderes denken, als daß alle Menschen ihn durchschaut haben müßten, gesehen, was für ein Zweifler er war. Und dennoch hatte er nicht gezittert. Klar und deutlich hatte er alles ausgesprochen — all das, was ihm und seinem Leben das Urteil sprach.
Ganz in Gedanken trat er vor den Spiegel. Er betrachtete sein Gesicht, und etwas wie Mitleid mit sich selbst überkam ihn. Ein forschender Blick kam in seine Augen, als suche er nach irgendeinem Zug, der seine geheimen Gedanken verraten könnte. Da öffnete sich die Tür und der Bischof trat über die Schwelle. Hoch und gebieterisch, den Rock bis an den Hals zugeknöpft, das Käppchen auf dem kahlen Scheitel, stand er da und betrach[S. 169]tete den jungen Geistlichen. Etwas Drohendes lag in seiner Erscheinung, fand Ernst. Und die Kehle ward ihm ganz trocken vor Schreck.
Jetzt kommt das Urteil! dachte er. Und gleichzeitig empfand er eine Art dumpfer Ruhe. Es war ihm alles im Grunde so gleichgültig. Mochte denn kommen, was kommen wollte.
Er sah auf und begegnete dem Blick des Bischofs.
Der war aber ganz klar und ruhig, und Ernst glaubte sogar Zufriedenheit darin zu lesen.
„Ich wollte Ihnen Glück wünschen!“ sagte der Bischof. Und er streckte seine Hand aus und schüttelte die des jungen Geistlichen.
„Solche junge Kräfte können wir brauchen — wir brauchen sie, um den Kampf gegen all das Schlimme zu führen, das sich in unserer Zeit regt.“
Es dauerte eine Weile, ehe Ernst Hallin sich von seiner Überraschung erholte. Aber nach und nach begriff er doch, daß er sich über die Absichten des Bischofs getäuscht hatte. Er begriff, daß er einen Erfolg gehabt hatte, daß dieser Tag für ihn ein Tag des Triumphes war, und daß der, der ihm das jetzt sagte, der Oberste im ganzen Stift war.
Er verbeugte sich tief; eine lebhafte Röte färbte seine Wangen. Fast gegen seinen Willen überschlich ihn ein Gefühl der Befriedigung, fast des Stolzes. Er begann, sich selber über die Antipathie zu wundern, die er erst gegen den Bischof gehegt hatte. Der war ja ein so guter, freundlicher Mensch, gar kein „Prälat“, zum mindesten nicht hier, unter vier Augen.
Er sah auf und begegnete wieder dem Blick des Bischofs, der durchdringend auf ihm ruhte.
„Sie sind wahrscheinlich recht müde, Herr Kandidat“, sagte der Bischof. „Sonst möchte ich gern ein paar Worte über die Predigt sagen!“
Er setzte sich und machte eine Handbewegung, die den andern aufforderte, Platz zu nehmen.
„Da war eine Stelle in Ihrer Predigt, Herr Kandidat,“ begann er, „die mich zuerst beunruhigte. Das war, als Sie von den Anforderungen sprachen, die an die Ehrlichkeit der Diener Gottes gestellt werden. Sie waren streng, Herr Kandidat, die Jugend ist immer streng; und das schadet auch nichts, wenn man es nur in der rechten Art ist. Man muß sich, sagten Sie, ehe man sich entschließt, ein Verkünder des Gotteswortes zu werden, genau bedenken, ob man den Herrn mehr liebt als jene. Mit ‚jenen‘ meinten Sie die andern Menschen, Herr Kandidat. Das ist ganz richtig gesagt. Aber was die Hauptsache ist in unserer Zeit — man darf die Menschen nicht von der Kirche, vom Dienst der Kirche, zurückschrecken. Es wäre z. B. eine übertriebene Gewissenhaftigkeit, wenn ein junger Mann, der sich dem Herrn weihen will, davon abstünde, weil er sich in seiner Jugend seines Glaubens nicht so ganz sicher fühlt, daß er ohne Bedenken den Priestereid schwören kann. Glauben Sie mir, Herr Kandidat, viele von denen, die heute zu den Ersten der Kirche gehören, sind mit Furcht und Zittern in ihren Dienst getreten. Aber es ist etwas Großes, die Gewißheit, daß der Herr dem, der ihm dient, Kraft verleiht.“
Ernst fühlte sich jammervoll gedemütigt und klein. Es kam ihm vor, als ahne der Bischof doch etwas von dem, was in ihm vorging, und als er in das herrische Gesicht blickte, hatte er die Vorstellung, daß da der Versucher vor ihm saß, der Macht über ihn hatte. Er fühlte selbst, wie er sich vor diesem kalten Blick beugte. Und doch hätte er gleichzeitig am liebsten widersprochen, hätte frei herausgeredet, laut und offen erklärt, daß das falsch sei. Es brannte geradezu in ihm. Aber er schwieg, und in ihm erwachte aufs neue das alte Gefühl feindseligen Mißtrauens.
Er erwiderte nichts, sondern senkte nur schweigend das[S. 171] Haupt. Und der Bischof dachte bei sich selbst, daß hier der Same zu einem guten Arbeiter im Weinberge des Herrn läge. Aber noch war dieser Geist stolz und mußte gebrochen werden, noch waren seine Gedanken unstet und bedürften der Beruhigung; darum mußte er fort — irgendwohin, wo er sich sammeln konnte. Am liebsten aufs Land, wo er volle Ruhe hatte.
Der Bischof lächelte und nahm seinen Hut.
„Ich sehe, Sie sind müde, Herr Kandidat“, sagte er. „Sie sehen blaß aus. Wie steht’s mit Ihrer Gesundheit?“
„Ich habe immer eine schwache Brust gehabt“, sagte Ernst.
Beide Herren erhoben sich. Der Bischof lächelte freundlich und klopfte dem jungen Mann väterlich auf die Schulter.
„Wir müssen irgendeinen ruhigen Platz auf dem Land für Sie ausfindig machen. Das wird Ihnen körperlich gut tun — und auch seelisch“, fügte er hinzu.
Ernst versuchte einen Dank hervorzustottern; aber die Worte wollten ihm nicht über die Lippen. Der Bischof schüttelte ihm ruhig die Hand und ging.
Als Ernst allein war, zog er hastig den Überzieher an und eilte hinaus, um heim zu kommen, ehe die Leute aus der Kirche strömten.
In seinem Zimmer setzte er sich ans Fenster und blickte auf den Domplatz hinab. Die Glocken fingen an zu läuten, Menschen gingen in Scharen, lebhaft plaudernd, unter den hohen Bäumen hin, und auf den schmelzenden Schnee schien warm die Sonne.
Lange blickte er auf die Aussicht, die er so wohl kannte. Wie oft hatte er diese selben Menschen in ganz derselben Weise so daherkommen und auf der Straße um die Ecke verschwinden sehen. Jetzt sprachen die alle von ihm. Er zog sich vom Fenster zurück, hinter die Gardine, damit niemand ihn sehen sollte. Aber er fuhr fort, hinauszuschauen, als wolle er gierig nachzählen, wie viele von seinen Bekannten da wären.
Da sah er Vater und Mutter, die vom Onkel und seiner Frau Abschied nahmen und dann unter dem Fenster, wo er stand, vorübergingen. Sie blickten suchend herauf. Und Ernst trat hastig ins Zimmer zurück. Er hielt den Atem an und lauschte.
Jetzt traten sie unten ins Haus. Es war ganz still; er wußte, daß sie ihn suchten.
Zuletzt hörte er des Vaters Stimme auf der Treppe: „Bist du droben?“
Und dann Schritte, die sich näherten.
Die Tür ging auf und die Eltern traten ein. Beider Gesichter strahlten; der Mutter sah man es an, daß sie geweint hatte.
„Warum bist du denn hier?“ fragte sie. „Allein, wie gewöhnlich. Wir haben drunten überall nach dir gesucht.“
Sie umarmte ihn, während ihr die Tränen aus den Augen strömten.
„Laß mich dich ansehen“, sagte sie. „Ich kann es noch gar nicht fassen!“
Nach ihr kam die Reihe an den Vater.
„Du hast deinen Eltern eine große Freude gemacht, mein Junge. Gott segne dich!“
Und die Hand, mit der er die des Sohnes drückte, zitterte.
Ernst fühlte sich ganz unbeschreiblich glücklich. Fast kamen ihm Zweifel, ob er auch an dies Glück glauben dürfe. Aber vor allem brauchte er Ruhe, er mußte wenigstens ein paar Augenblicke ungestörte Ruhe haben. Die Freude der Eltern machte ihn seiner selbst so sicher.
Als die erste Erregung sich etwas gelegt hatte, fragte die Mutter: „Nun, und was hat der Bischof gesagt?“
„Der Bischof war sehr zufrieden“, erwiderte Ernst.
Und der Adjunkt seufzte erleichtert auf.
Professor Hallin hatte nach der Entdeckung im Vorzimmer einen harten Kampf mit seiner natürlichen Gutmütigkeit zu bestehen, ehe er sich dazu entschloß, unter diesen Verhältnissen dem ihm verhaßten Schwiegersohn denn doch den Abschied zu geben.
Einerseits schämte er sich gewissermaßen bei dem Gedanken, daß er zu seiner Frau von dieser Entdeckung sprechen sollte. Denn er war sich wohl bewußt, daß er keineswegs derjenige war, der das Recht hatte, den ersten Stein zu werfen; und wäre sein Schwiegersohn ein Kerl gewesen, den er hätte leiden mögen, ein frischer, tüchtiger, strammer Kerl, und die Professorin hätte etwa die fatale Entdeckung gemacht und sie zu einem Bruch ausnützen wollen, so würde der Professor zweifellos geantwortet haben: „Lieber Schatz, warum soll man das Mädel damit beunruhigen? Nimm dir den Jungen unter vier Augen vor und lies ihm ordentlich die Leviten, wenn du willst. Aber mach’ um Gottes willen keinen Skandal. Die ganze Sache ist nichts weiter als eine Bagatelle, über die man nur lachen kann. Du bist doch selber lang genug verheiratet, und müßtest dich auf die Männer verstehen!“ Außerdem fürchtete der Professor auch ganz im Ernst das Gerede, das die Geschichte in Gammelby herausfordern würde.
Aber andrerseits dachte der Professor doch, wenn er seine Tochter auf irgendeine Art davor bewahren könnte, ihr Leben lang an diesen widerwärtigen Menschen gekettet zu sein, an den sie ihr junges, vielleicht nicht ganz unschuldiges Herz gehängt hatte, so wäre es wohl der Mühe wert, daß man darum einen kleinen Skandal aushielte. Und schließlich — er wollte gern sein Gewissen mit ein bißchen Jesuitenmoral beschweren, wenn er nur diesen verwünschten Leutnant zukünftig nicht mehr zu sehen brauchte.
So wartete er denn auf eine Gelegenheit, diese ernsthafte Unterredung mit seiner Frau anzuschneiden. Es sah aus, als ließe sich diese Gelegenheit recht schwer finden. Denn zwei volle Tage vergingen, ohne daß der Professor auch nur eine Andeutung hätte anbringen können; und inzwischen kam und ging der Leutnant nach wie vor im Hallinschen Haus ein und aus. Es war seltsam — sooft der Professor von der Sache anfangen wollte, blieb ihm das Wort im Halse stecken. Denn er hörte schon im Geist die Anspielungen, die seine Frau anläßlich dieser heiklen Geschichte machen würde.
Am Sonntag kam der Leutnant, wie gewöhnlich, zum Essen; und dem Professor machte es ordentlich Vergnügen, während des Essens die aufgeregte Miene des Zimmermädchens zu beobachten, wenn sie servierte. Der Leutnant dagegen war heiter und unbekümmert und saß, sooft er nicht Löffel oder Gabel in Gebrauch hatte, mit Gabrielles Hand in seiner am Tisch. Nach dem Essen zog Gabrielle ihren Axel mit sich in den kleinen Salon, wo sie vor dem Kaffee ihr Schäferstündchen miteinander feierten.
Der Professor blickte ihnen ergrimmt nach.
„Heute muß es sein!“ dachte er. „Heute oder nie!“
Glücklicherweise war der Leutnant nachmittags nicht frei und verabschiedete sich zu des Professors Freude zeitig; und Gabrielle, die jeden derartigen selbständigen Schritt seitens ihres Leutnants als eine persönliche Kränkung empfand, zog sich augenblicklich in ihr Zimmer zurück, wo sie sich aufs Sofa setzte, ihr Taschentuch zerbiß und schmollte. Nicht einmal einen Kuß hatte sie ihm gegeben, als er ging. Und er war trotzdem gegangen. Und das ärgerte sie.
Die Professorin begriff nicht, weshalb ihr Mann im Wohnzimmer sitzen blieb, statt, wie gewöhnlich, auf sein Zimmer zu gehen; sie dachte eben darüber nach, wie sie ihm ein paar freundliche Worte für diese Aufmerksamkeit sagen sollte, als der Pro[S. 175]fessor ganz plötzlich aufstand und sich neben sie aufs Sofa setzte. Sein Gesicht zeigte einen ungewöhnlich feierlichen Ausdruck, und er legte ihr die Hand auf den Arm.
„Aurora,“ sagte er, „es ist eine recht böse Geschichte, über die ich heut’ mit dir sprechen muß.“
Sie sah auf und erschrak über ihres Mannes feierliches Aussehen.
„Gott, Abel, was ist denn?“
„Beruhige dich“, sagte der Professor. „Es ist eine unangenehme Geschichte, aber wenn wir sie nur klug angreifen, so wird noch alles gut. Und ich verlaß mich ganz auf meine verständige, gute kleine Frau.“
Er machte einen Versuch, den Arm um sie zu legen, aber sie entglitt ihm und faltete nervös die Hände.
„Was ist es, Abel?“ fragte sie. „Quäl mich nicht länger. Du jagst mir einen solchen Schreck ein, daß ich ganz verrückt werde. Sag’ mir doch um Gottes willen, was es ist.“
Der Professor heftete die Augen auf die gegenüberliegende Wand und sah ungeheuer ernsthaft aus.
„Es betrifft unsere Kinder, Aurora“, sagte er.
„So denk, daß ich die Mutter bin! Herrgott im Himmel, was du herzlos bist!“
„Tja“, sagte der Professor und ging mit einem Ruck grade auf die Sache los. „Eine angenehme Geschichte ist es nicht, weiß Gott. Aber Gabrielle muß mit dem Leutnant brechen. Wenigstens seh’ ich keinen andern Ausweg.“
„Sie muß mit dem Leutnant brechen?“
Die Professorin fuhr im Sofa herum und sah ihren Mann an, als wolle sie ergründen, ob er im Ernst spräche. Da sein Gesichtsausdruck keinerlei Zweifel hierüber zuließ, griff sie zu dem Mittel, daß sie immer anwandte, wenn sie nichts zu sagen wußte. Sie fing an zu weinen und stammelte unter Tränen und Schluchzen abgerissene Worte und Sätze hervor, die so[S. 176] gefühlvoll und herzbeweglich klangen, daß sie selber immer gerührt ward über ihre Weichheit, die nicht für diese harte Welt geschaffen war. Aber auf den Professor hatte das leider keine Wirkung. Er hatte im Lauf der Jahre erfahren, daß diese stürmischen Ausbrüche keineswegs so ganz ohne Berechnung erfolgten.
„Wein’ doch nicht, Aurora,“ sagte er gereizt, „sondern hör’ auf das, was ich sage.“
„Du weißt doch, ich bin kein Held, Abel. Ich ertrage nicht viel... Und was soll dann aus Gabrielle werden?... Mein Kind... unser Kind... Sie überlebt es nicht... und ihre arme Mutter wird ihr bald genug folgen...“
Das Schluchzen ward übermächtig, und die Professorin weinte so bitterlich, daß sie keinen Ton mehr herauszubringen vermochte.
Der Professor ging ruhig im Zimmer auf und ab. Er wußte, wenn sie sich müde geweint hatte, würde sie von selbst still werden, und unbewegt wartete er auf die Gelegenheit zu sprechen, die ja bald kommen mußte.
Als das Getue im Sofa ein bißchen nachließ, sagte er darum kaltblütig:
„Ich habe ihn am Donnerstag nach der Gesellschaft dabei überrascht, wie er das Zimmermädchen küßte.“
Die Professorin setzte sich im Sofa auf. Der Tränensturm war mit einem Male gänzlich verrauscht.
„Du bist doch sonst nicht so streng in solchen Dingen, Abel“, sagte sie giftig.
„Aha, nun kommt’s!“ dachte der Professor.
Laut sagte er: „Ich kann doch nicht glauben, daß du dein Kind einem Mann überlassen möchtest, der es schon vor der Hochzeit hintergeht.“
„Nein, natürlich, dir wäre es sympathischer, wenn er bis nach der Hochzeit wartete. Aber hab’ ich es nicht immer gesagt? Hab’ ich’s nicht immer gesagt?“
„Was hast du gesagt?“
Der Professor hielt in seiner Promenade inne, ganz verblüfft.
„Ich glaube wohl, daß du dich jetzt nicht mehr darauf besinnst. Du kümmerst dich ja überhaupt nicht um das, was ich sage. Das weiß ich wohl. Aber hab’ ich es nicht immer gesagt, — die Sophie ist eine gemeine Person, auf die man sich nicht verlassen kann? Hab’ ich’s nicht gesagt?“
„Doch, Schatz“, sagte der Professor sanftmütig. „Das hast du freilich. Aber was hat das damit zu schaffen?“
„Was das damit zu schaffen hat? Ich versteh’ dich nicht, Abel! Was es damit zu schaffen hat? Wär sie nicht im Haus gewesen, so wär diese ganze greuliche Geschichte gar nicht passiert. Das weiß ich. Begreifst du das denn nicht?“
Die Professorin war puterrot im Gesicht, und ihre Miene bewies deutlich, daß sie diese Logik als ganz unbestreitbar ansah. Und da der Professor von alters her wußte, daß es keinen Zweck hatte, seine Frau davon überzeugen zu wollen, daß sie unrecht habe, so begnügte er sich damit, zu erwidern: „Tja, aber liebe Aurora, es ist nun einmal geschehen. Und darum frage ich dich um deine Ansicht als Mutter, was wir in der Sache am besten tun!“
Bei diesem Appell an ihr Mutterherz sank die Professorin wieder auf das Sofa zurück und rang verzweifelt die Hände.
„Kann ich das sagen? Wie soll ich das wissen? Ich sitze da und denke an das liebe Gotteswort, das wir heut vormittag in der Kirche gehört haben, und denke an meine kleinen Lämmer, die ich geboren habe; ich dachte, Gott würde gut zu ihnen sein. Das ist schrecklich, was du da sagst, Abel. Eine Mutter kann ihrem Kind nicht den Dolch ins Herz stoßen. Das bedenk doch, Abel!“
„Nein,“ sagte der Professor, „das verlange ich auch gar nicht. Aber sie kann verhindern, daß ihre Tochter sich mit verbundenen Augen ihrem Verderben in die Arme wirft.“
Die Professorin war eine Weile ganz still. Dann schüttelte sie den Kopf und begann wieder, sich hin und her zu wiegen.
„Axel? und dabei sieht er so gut aus! Wer hätte das von ihm geglaubt!“
Jetzt kam die Reihe, den Überlegenen zu spielen, an den Professor.
„Ich“, sagte er. „Ich hab’ es geglaubt! Wer hat ihn ins Haus gezogen und die ganze Geschichte eingefädelt?“
Das hätte der Professor nicht sagen sollen.
Seine Frau krampfte sogleich wieder die Hände zusammen und verdrehte die Augen. So erregt war sie, daß sie nicht sitzen bleiben konnte, sondern aufstand und auf ihren Mann zuging. „Ich, meinst du wohl?“ sagte sie. „Kannst du ehrlich sagen, ich sei’s gewesen? Abel! Gott ist mein Zeuge — nie hab’ ich was anderes gewollt, als meiner Kinder Wohl! Soll ich auch daran schuld sein? Du willst wahrscheinlich auch behaupten, ich sei dran schuld, daß er Sophie geküßt hat!“
Bei den letzten Worten hatte die Stimme der Professorin einen etwas profaneren Klang. Aber jetzt verlor der Professor die Geduld.
„Herrgott!“ sagte er. „Kann man denn kein vernünftiges Wort mit dir reden? Verstehst du nicht, daß das eine ernste Sache ist?“
Die Professorin ließ die Arme sinken und sah ihn mit der Miene eines Opferlammes an.
„Was willst du denn, das ich tun soll?“ fragte sie. „Du weißt doch, ich gehorche dir in allem, soweit ich’s vor Gott und meinem Gewissen verantworten kann.“
„Also“, sagte der Professor, „dann geh hinein zu Gabrielle und sprich mit ihr. Ich weiß, es ist eine kitzliche Geschichte. Und darum kann auch nur eine Mutter sie in die Hand nehmen!“ schloß er voller List.
Dies letzte Argument bewegte die Professorin.
„Ich werd’s schon tun, Abel“, sagte sie. „Aber —“ und sie ballte erbost die Hände — „diese Sophie! Morgen muß sie mir aus dem Haus!“
„Meinethalben“, sagte der Professor. „Nur daß der Skandal nicht ärger wird, als notwendig ist!“
Darauf ging er auf sein Zimmer und holte sich eine Extrazigarre aus dem Wandschrank, die er sich zur Belohnung für den Sturm des Nachmittages leistete. Er freute sich, daß die Sache so abgelaufen war. Er konnte nur gar nicht begreifen, daß seine Frau ihm nicht noch mehr mit alten, längst verjährten Geschichten gekommen war! Gewiß hatte sie es in der Hitze des Gefechtes vergessen. Und er zündete sich umständlich seine Zigarre an.
Als sich abends die Familie zum Essen versammelte, erschien Fräulein Gabrielle nicht; und am folgenden Tag ward dem Professor der unangenehme Auftrag zuteil, den Leutnant brieflich zu benachrichtigen, daß man sich in Zukunft seine Besuche in der Familie verbäte. Er schrieb an Gabrielle. Aber der Brief wurde ihm uneröffnet zurückgeschickt.
Sophie hatte schon am Sonntag abend ihren rückständigen Lohn erhalten und zum nächsten Morgen war ihr gekündigt worden.
Das Drama in der Familie des Professor Hallin war ausgespielt. Aber das Gerücht machte doch die Runde in der Stadt, und trotz aller Vorsichtsmaßregeln ließ sich die Sache nicht totschweigen. Die Erbitterung gegen den armen Leutnant war so groß, daß er auf einen ganzen Monat Urlaub nehmen mußte, damit die peinliche Affäre in Vergessenheit geraten konnte.
Manche behaupteten, er wäre an jenem Abend betrunken gewesen und hätte vor allen — bei Tisch — mit dem Dienstmädchen schön getan. Andere behaupteten, es wären... Umstände ...... die ihre Entfernung dringend forderten. Alle[S. 180] aber waren darin einig, die Professorin wäre eine prächtige Frau, daß sie solche Energie entwickelt hätte, wo es galt, ihre Tochter zu retten. Und alle hatten großes Mitleid mit Gabrielle. Pastor Simonson sagte, sie trage ihr Unglück mit einer Ergebenheit, die deutlich zeige, daß sie bei dem wahren Tröster Trost gesucht und gefunden habe.
Professor Hallin überließ seiner Frau gern die Ehre der ganzen Geschichte. Er fand sein Verhalten in der Sache recht wenig „weltmännisch“, und der Beifall von Gammelby schmeichelte ihm nicht sehr. Er wußte, hätte es nicht gegolten, Gabrielle zu retten, er hätte über die ganze Geschichte bloß gelacht.
Aber als Frau Hallin ihrem Mann die Geschichte erzählte, sagte sie: „Es kommt doch nicht bloß aufs Geld an in der Welt!“
Es war ein sonniger Nachmittag Anfang Mai. Auf der Landstraße, die von Gammelby zum See führte, rollte eine altmodische Kutsche, bespannt mit zwei fetten Pastorengäulen. In der Kutsche saßen Ernst Hallin und sein Vater. Sie waren auf dem Weg nach einem Pastorat, das zwei Meilen von Gammelby lag und wo Ernst seine Laufbahn als Vikar antreten sollte.
Die Ordination war aufgeschoben worden, weil der Bischof krank und für einige Monate außerstande war, sein Amt zu versehen. Es waren Ernst zwei Stellen als Vikar angeboten worden, und er hatte wählen können. Sobald er eingekleidet war, wollte er eine davon antreten. Es hatte nicht geringe Verwunderung hervorgerufen, als er die Vikarstelle bei dem alten Propst Boklund in Sollösa annahm. Alle Welt wußte,[S. 181] daß er es bei Propst Baumann weit besser gehabt hätte, und der Adjunkt hatte alles versucht, um ihn zu überreden. Aber in diesem Punkt war Ernst unbeugsam, und so hatte man ihm schließlich seinen Willen gelassen. Die Mutter zerbrach sich den Kopf darüber, was zwischen den zwei jungen Leuten vorgefallen sein könne. Denn Ernst hatte seine Besuche bei Frau Pegrelli ganz aufgegeben, und sie brachte natürlich seinen Entschluß damit in Zusammenhang.
Ernst hatte sich nicht besonders verändert in dieser Zeit. Er war nur gefühlloser oder, wie Frau Hallin sagte, ruhiger geworden. Zu Eva war er eines Nachmittags gegangen, um sich zu verteidigen, war aber nicht angenommen worden, und seither war er nicht wieder dort gewesen.
Aber er sah noch immer ihre Augen, wie er sie damals, als er auf der Kanzel stand, auf sich gerichtet gesehen hatte. Ein Feuer brannte in ihnen, das ihn noch jetzt versengte; jedesmal, wenn er daran dachte, schoß ihm das Blut ins Gesicht; er hätte wer weiß was drum gegeben, wenn er diese Augen hätte vergessen können. Aber noch konnte er es nicht, und unaufhörlich klang es in ihm: „Das ist eine Feigheit, die Sie da begehen, eine Feigheit, die sich an Ihrem ganzen Leben rächen wird“.
Ein Hohn lag in dem Blick, ein Hohn, der ihn schmerzte und folterte, ein Hohn, dem er nicht entrinnen konnte, weil er tief in seinem Innern ein Echo fand.
Vergessen konnte er nicht, nein, aber er hatte sich daran gewöhnt, wie man sich an einen unbequem sitzenden Rock gewöhnt. Man sieht den Fehler, aber man denkt nicht mehr daran, und man tröstet sich damit, daß andere meist weniger kritisch sind, als man selbst.
So hatte Ernst gelernt, seine Schmach zu tragen, ohne mehr an sie zu denken; und als er nach dem Ort hinausfuhr, wo er seine Wirksamkeit im Dienste Gottes beginnen sollte, da war ihm fast froh zumut. Er sehnte sich danach, endlich wegzu[S. 182]kommen von allem, von der Stadt, der Ordination, den Menschen, dem Vaterhaus, vor allem dem Vaterhaus, wo man ihn ausfragte, ihn beobachtete, ihn umsorgte wie einen Kranken.
Er war noch magerer geworden als früher. Sein Blick hatte etwas Scheues, als fürchte er sich, den Menschen ins Gesicht zu sehen; und wenn er es tat, war sein Blick hart und undurchdringlich. Er hatte auch ein paar Anfälle seines alten Leidens gehabt. Der Frühling ist gefährlich für Lungenkranke, und der Frühling war dies Jahr zeitiger gekommen als sonst. Er hatte das Wasser in den großen Strömen vertieft und die Flößerei in Gang gebracht. Er hatte auf den Feldern den Schnee geschmolzen, den Landmann an die Arbeit getrieben. Hatte die Luft lau gemacht und die Erde erwärmt, und hatte blaue und weiße Leberblümchen, Schneeglöckchen und Anemonen hervorgelockt. Die Zugvögel waren in den Norden zurückgekehrt; an den Weidenbüschen schimmerte es golden. Und die Luft war voll von Gesundheit und Leben, Frische und Wärme, Duft und Vogelsang. Aber Ernst hatte den Frühling nicht gesehen. Er war gekommen, ohne seine Sinne zu wecken. Er war an ihm vorübergegangen und hatte ihn in seinen Träumen gelassen; und der junge Mann war seines Wegs gegangen, müde und gebeugt, als stecke noch der Winter in ihm. Nicht einmal die Vögel, die in den großen Ulmen vor der Kirche zwitscherten, hatte er gesehen. Er ging jetzt auch selten mehr auf den Platz vor der Kirche.
Als er jetzt auf der breiten Straße dahinfuhr, die sich auf dem steilen Hang nordöstlich über den See von Gammelby windet, da fühlte er zum erstenmal deutlich und bewußt den Duft von Erde, Wasser, Blumen und neuerschlossenen Blättern, der im Frühling die Luft erfüllt. Er holte tief Atem und schloß die Augen, als gedächte er der Gefühle und Eindrücke vergangener Tage. Alles, was einst gewesen, schien ihm wie ein Traum, ein qualvoller, schmerzlicher, langer Traum. Und er seufzte[S. 183] auf, als wäre er eben erst erwacht, mit einem Seufzer der Erleichterung und Befreiung.
Da merkte er, daß der Wagen über eine Brücke fuhr. Er sah auf und erblickte ein niederes Brückengeländer, ein paar alte Tannen und einen tiefen Graben, in dem das Eis geborsten war und das Wasser braun einherschäumte. Eine Erinnerung wachte in ihm auf; eine Erinnerung, vor der er gleichsam verging. Der Ernst Hallin, der einst hierstand und diese selbe Landschaft betrachtete, der war ein Jüngling gewesen. Der, der jetzt hiersaß, war ein alter Mann, der kaum mehr etwas mit dem andern gemein hatte.
Er sah Eva, wie sie auf der Brücke stand, rosig, lächelnd, frisch wie ein Wintertag. Ihre klaren Augen strahlten ihm entgegen, als wollten sie ihm ein gesundes, kraftvolles, freudiges Leben bieten, ein Leben, das von keiner Lüge oder Feigheit befleckt war.
Ihm war, als täte die Stelle ihm weh in den Augen; er schloß sie und lehnte sich in den Wagen zurück.
Als er wieder aufblickte, ergriff ihn wieder das vorige Gefühl. Der Frühling nahm ihn gefangen, und er überließ sich mit einer Art Wollust dem Gefühl von Freiheit und Leben, das über ihn hereinflutete und ihm Vergessenheit brachte. Das andere war wieder nichts als ein böser Traum, der entschwunden war, und die rüttelnde Bewegung des Wagens, die frische Luft, das muntere Traben der Pferde, das Peitschenknallen, die Gegend, durch die sie fuhren — alles gab ihm ein großes, fast unbeschreibliches Gefühl von Ruhe, in dem alle Gedanken einschliefen. Er fühlte sich körperlich müde von der Bewegung und der Luft, und er genoß diese Müdigkeit wie ein Ausruhen.
Der Adjunkt hatte auf ein paar Tage Urlaub genommen. Er war heiter und gesprächig und hätte am liebsten immerfort geschwatzt. Wieder einmal hinaus aufs Land zu kommen, Landmilch zu trinken und Landluft zu atmen, mit dem Propst[S. 184] von der Ernte reden und im Wald spazieren gehen, der um das Pastorat lag, das war für ihn ein Vergnügen, das er nicht oft zu kosten bekam.
Er hätte so gern recht heiter mit dem Sohn geplaudert. Aber er wagte es nicht. Wenn der Sohn so gedankenvoll war, so fürchtete der Adjunkt immer, er könnte ihn stören. Es war fast, als wäre ihm bang vor etwaigen Entdeckungen, die er lieber nicht machen mochte. So saßen Vater und Sohn nebeneinander, jeder in seiner Wagenecke, als wüßte der eine nichts von der Gegenwart des andern.
„Merkwürdig, wie alles schon ausgeschlagen hat!“ sagte der Adjunkt schließlich, gleichsam als Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
„Ja, die Birken haben schon große Knospen“, antwortete Ernst.
Die Fahrt ging in gemütlichem Tempo. Es waren des Propstes eigene Kutsche und des Propstes eigene Pferde, mit denen sie fuhren, und die Pferde waren nicht gewöhnt, sich zu überanstrengen. Fett und glänzend und braun standen sie winters und sommers in ihrem Stall und fraßen ihren Hafer und ihr Heu. Mußten sie einmal eine Meile oder zwei laufen, so ging der Propst immer erst selber in den Stall hinunter und fragte Johann, ob sie in der letzten Zeit viel hätten laufen müssen, und wenn Johann grade bei guter Laune war, so antwortete er: „Nein, sie können’s schon leisten“. War er aber aus irgend einem Anlaß schlechter Laune, so machte er alle nur möglichen Einwendungen. Entweder mußte das eine Pferd frisch beschlagen oder der Wagen geschmiert werden, oder auch hatte er einen ganzen Tag lang Wasser geführt und die Pferde mußten rasten. Dann mußte der Propst parlamentieren und Johann gut zureden. Denn Johann war schon lang auf dem Hof und hatte seinen eigenen Kopf. Und in dieser Sache hatte er fast ebensoviel zu bestimmen, als der Propst.
Diese Fahrt hauptsächlich war ihm ein Dorn im Auge. Der Propst hatte nämlich angedeutet, er müsse am Sonntagabend wieder nach der Stadt zurückfahren. Und Johann fand, das wären allzu große Umstände wegen eines armen Vikars. Von so einem machte man doch sonst kein so großes Wesen, meinte er. Der Propst hatte ihm ja freilich erklärt, der Vater des jungen Pastors sei ein alter Freund von ihm, und er besuche ihn nur auf seinen, des Propstes, ausdrücklichen Wunsch. Aber Johann hatte diese Erklärung nicht gelten lassen. Er glaubte steif und fest, es wäre nichts als eine Laune des neuen Vikars. Und darum fuhr er den ganzen Weg in möglichst sachtem Tempo und ließ die Pferde jede kleinste Steigung Schritt gehen. Als sie eine Meile gefahren waren, hielt Johann mitten in einem Wald an und fütterte die Pferde.
„Es ist zuviel für sie, wenn sie zwei Tage hintereinander vier Meilen machen müssen!“ sagte er.
Der Weg führte jetzt durch Waldgegend. Von den Tannen kam ein frischer Duft und die Sonne schien warm auf das feuchte Moos unter den Bäumen.
Plötzlich brach Ernst das Schweigen.
„Bist du hier schon einmal gewesen, Papa?“ fragte er.
„Nein“, sagte der Adjunkt. „Aber ich habe dir ja gesagt, daß du nicht zu Fremden kommst. Vor zeiten saß ein Bruder meines Großvaters hier als Propst bis zu seinem Tod.“ Ernst seufzte. Es irritierte ihn stets, wenn der Gymnasiallehrer von der Familie sprach, dieser entsetzlichen Familie, der er zum Opfer gebracht wurde. Und eine unerklärliche Angst bemächtigte sich seiner.
„Ist es noch weit?“ fragte er.
„Knapp eine Viertelmeile noch,“ lautete die Antwort vom Kutschbock.
Knapp eine Viertelmeile noch! Fünfzehn Minuten! Fünfzehn armselige Minuten! Wenn sie vorüber waren, so[S. 186] würden sie dort sein. Er erinnerte sich plötzlich, daß er vor ein paar Tagen beschlossen hatte, er wolle hier auf diesem langen Weg, wo er so gut Zeit hatte, offen mit dem Vater reden und ihm alles gestehen. Er blickte zum Wagen hinaus. Und er fühlte, daß ihm die Kraft dazu fehlte. Und jetzt war die Zeit vorbei. Ein großes von Wald umgebenes Ackerfeld lag vor ihm.
„Das gehört wahrscheinlich schon zum Pastorat. Dort zwischen den Bäumen seh’ ich ein großes rotes Gebäude“, sagte der Vater.
Ernst blickte hinüber; gleichzeitig ertönte lautes Hundegebell. Der Wagen fuhr durch ein offenes Gatter und hielt vor der Treppe eines rot angestrichenen zweistöckigen Hauses mit weißen Ecken und Fensterrahmen. Auf der Schwelle stand ein kleiner alter Mann mit rötlichem Gesicht und einem Filzhut auf dem Kopf und begrüßte sie. Die Hunde verstummten sogleich. „Willkommen“, sagte der kleine Mann. Und seine kleinen, etwas schrägstehenden Augen blinzelten freundlich. „Willkommen bei uns in Sollösa!“
Auch seine Beine standen ein bißchen schräg; er bewegte ungeschickt die Hände und hustete oft. Fast nach jedem zweiten Wort kam ein kurzes Husten, das klang, als bäte er um Entschuldigung, daß er geboren sei.
„Julie,“ rief er ins Haus, „sie sind da!“
Eine stattliche, ziemlich dicke Dame zeigte sich in der Tür. Sie ging den Herren lächelnd entgegen und reichte ihnen der Reihe und Ordnung nach eine weiße, fette Hand mit langen Fingern. Wie sie so neben dem kleinen Propst stand, sah er noch kleiner aus als vorher und sie noch größer.
„Treten Sie ein“, sagte sie und ging den Herren voraus. „Bitte, treten Sie doch ein!“
Und sie traten ins Haus, während der Wagen langsam dem Stall zu rollte.
Es lag eine eigentümliche Stille über dem alten Haus,[S. 187] eine Stille, die aus dem Hause selbst zu kommen schien und sich von da über den ganzen Hof, die Nebengebäude, bis zu den Feldern und dem Wald hin verbreitete. Sie lag und brütete gleichsam hinter den dichten Gardinen und grünen Holzjalousien, schlich sich von da in die Küche, wo nie die Kasserollen rasselten, wo die Mädchen nie keiften, hinaus in den Stall, in dem die fetten Pferde friedlich ihren Hafer kauten, während große Fliegen sie schläfrig umsummten. Stille lag schwer und schläfrig über dem alten Obstgarten, wo die Äpfel-, Birn- und Pflaumenbäume im Herbst voll von Obst standen, das in Stille gereift war, über fetten Gemüseländern, wo im Sommer Erbsen wuchsen und Kohl, große runde Kohlköpfe, und wo der alte Johann das Regiment führte, während die Pferde einsam kauend im Stall standen.
Bis zum Viehstall hin breitete sich die Stille. Die Kuhmagd sang nicht, wenn sie melkte, sie schrie nicht durch den Wald, wenn sie die Kühe zusammentrieb, sondern diese kamen ganz von selber, fromm und sittig, stellten sich am Gatter auf und ließen geduldig ihre vollen Euter in den dampfenden Kübel leeren. Still standen sie auch im Stall, wedelten in einförmigem Takt mit den Schwänzen, kauten melancholisch das trockene Heu oder lagen wiederkäuend da und starrten mit großen glänzenden Augen nachdenklich die Holzbalken der Decke an. Sogar der Stier schien sich das Brüllen abgewöhnt zu haben, und wenn ab und zu ein Hahn krähte, so klang das so störend schrill in die allgemeine Stille hinein, daß die Propstin von ihrem Stuhl im Wohnzimmer, wo sie saß und häkelte, auffuhr und sich die Ohren zuhielt.
Ebenso still ging es draußen auf Feld und Wiese zu. Die Knechte schrien die Ochsen, die am Pflug gingen, nicht an, und ein Fluch wäre hier ebenso undenkbar gewesen wie ein Mord. Schweigsam und ruhig zogen sie an den Zügeln, oder gebrauchten ärgerlich und wortlos die Peitsche; und die ge[S. 188]duldigen Tiere beugten den Nacken unter dem Joch und zogen den Pflug durch die langen graden Furchen oder die Holzfuhre vom Wald heim oder die Heuwagen vor die Tür der großen, geräumigen Scheuer.
Denn dies Haus war ein heiliges Haus, und die darinnen wohnten, waren Diener des Herrn. Es lag keinerlei Heuchelei in ihrer Frömmigkeit; sie hatte nur dem ganzen Pastorat ein Gepräge aufgedrückt, als wären das Haus und seine Bewohner nicht von dieser Welt; und wenn die Bauern etwas mit dem Propst zu reden hatten und durch das grüne Gatter traten, so gingen sie immer mit sachten, zögernden Schritten über den Hof, und mancher gebeugte, grauhaarige Alte zog auf der Treppe die schweren Schuhe aus, eh er es wagte, vor die weiß angestrichene Türe zu treten, die sich so still in ihren wohlgeölten Angeln drehte.
Im Wohnzimmer mit seinen weißen Läufern, überzogenen Möbeln und halb herabgelassenen Gardinen saßen jetzt Ernst Hallin und sein Vater mit dem Propst, während die Propstin in der Küche ihre Befehle gab. Die drei Herren warteten auf das Mittagessen; sie schwiegen so lang, daß man das Ticken der alten Standuhr zählen konnte, die auf der Marmorplatte vor dem hohen Wandspiegel stand.
„Ja, es ist still und ruhig hier“, sagte der Propst endlich. „Aber der Friede des Herrn wohnt bei uns.“
Kaum ein Geräusch war im ganzen Haus vernehmbar. Durch die geschlossene Eßzimmertür drang nur ein undeutliches Klappern von Tellern, die leise aufeinander gestellt, und von Silber, das auf das Tischtuch gelegt wurde.
Der Propst hustete; denn keiner von den Herren antwortete.
„Hier wohnt der Friede des Herrn!“ sagte er ein zweites Mal. Der Adjunkt beeilte sich, die Worte durch ein Kopfnicken zu bekräftigen; Ernst hob die Gardine ein wenig und sah auf den Hof hinaus.
Vier Hunde lagen da und wärmten sich in der Sonne. Es waren zwei Hühnerhunde und zwei kolossale Hofhunde, von jeder Sorte ein Paar.
„Ja, die bewachen das Haus“, sagte der Propst und hustete. „Es ist nur schwer, ihnen das Bellen abzugewöhnen.“
„So“, sagte Ernst und fuhr fort, hinauszusehen. Der Adjunkt und der Propst fingen eine Unterhaltung über die letzten Veränderungen im Stift an.
Ernst beobachtete inzwischen, wie der Hühnerhund dalag und die große Hündin anblinzelte. Aber er wagte sich augenscheinlich nicht an sie, weil er vor dem großen Hofhund Angst hatte.
Die große Hündin blinzelte zurück; zuletzt erhob sie sich, gähnte laut auf, streckte sich und verschwand gemächlich hinter dem einen Nebengebäude.
Jetzt erhob sich auch der Hühnerhund, warf einen forschenden Blick auf den anscheinend schlafenden Hofhund, gähnte, streckte sich und verschwand ebenfalls hinter demselben Nebengebäude, aber in der entgegengesetzten Richtung.
Die verlassene Hühnerhündin und der große Hofhund lagen jetzt einsam auf dem sandigen Hofplatz.
Der Hofhund hob langsam den Kopf und blickte sich um. Er knurrte, das Fell sträubte sich auf dem kraftvollen Rücken, und mit majestätischen Schritten verschwand auch er hinter dem Nebengebäude, auf derselben Seite wie die Hündin.
Mit einer gewissen Spannung wartete Ernst auf den Tumult, der jetzt gleich die quälende Stille unterbrechen mußte.
Aber es entstand kein Tumult. Der Hühnerhund und die große Hündin kamen mit hängenden Ohren jedes von seiner Seite des Nebengebäudes und legten sich auf ihre alten Plätze in den Sand, gähnten und blinzelten ins Leere, als hätten sie nie andere als die allerunschuldigsten Absichten von der Welt gehabt.
Zuletzt kam auch der große Hofhund wieder, einsam und majestätisch, und legte sich auf seinen Platz vor der Treppe. Einmal noch hob er den Kopf und knurrte den Hühnerhund an. Dann glättete sich das Fell auf seinem Rücken, der Kopf sank zwischen die gewaltigen Vordertatzen und die Augen schlossen sich.
Ernst unterdrückte ein Lachen.
„Beißen sie sich nie?“ fragte er und errötete selbst über seine kindische Frage.
„Nein“, erwiderte der Propst und schüttelte den Kopf. „Die beißen sich nie.“
Wieder hörte man das gleichmäßige Ticken der Uhr durch die Stille. Von der Eßzimmertür zum Fenster lief ein langer Streifen von Staubwirbelchen, die in allen Regenbogenfarben spielten.
Nun öffnete sich leise die Tür; ein Dienstmädchen in schlichter Kleidung mit glattgestrichenem Haar verkündete, das Essen wäre bereit.
Im Speisezimmer wartete die Propstin und bat die Herren, vorlieb zu nehmen. Neben ihr stand eine kleine, dicke Blondine mit blauen schläfrigen Augen und zartem Teint, die sie als „meine Tochter“ vorstellte. Sie sprach während der ganzen Mahlzeit kein Wort, aß aber von allen Gerichten; und wenn die andern sich unterhielten, faltete sie die kleinen fetten Hände im Schoß, starrte die Wand an oder senkte den Kopf, daß, wo das schwarze Kleid sich um den weichen Hals schloß, eine kleine Speckfalte entstand.
Der Propst ging zu ihr hin und strich ihr übers Haar.
„Was hast du gemacht heut, Amelie?“ fragte er.
„Ich habe meine neuen Taschentücher gesäumt“, antwortete Amelie und warf von der Seite her einen Blick auf die Gäste.
„Das ist recht, mein Kind“, sagte der Propst. „Es ist des Herrn Wille, daß wir arbeiten sollen!“
Der Propst schenkte die Schnapsgläschen voll und die Mahlzeit nahm ihren Anfang.
Gottes Gaben waren reichlich vorhanden, vier volle Gerichte und ein reicher Butterbrottisch. Es gab zweierlei Wein, Rotwein und Sherry. Und zum Fleisch trank man Bier.
Man aß viel und redete wenig. Teller wurden gebracht und wieder abgenommen, Platten umhergereicht, Wein und Bier ward eingeschenkt. Still und vorsichtig bewegte sich das Mädchen mit dem glattgekämmten Haar und dem schlichten Kleid um den Tisch. Niemand lachte oder stieß mit seinem Nachbar an. Jeder trank sein Glas aus und aß seinen Teller ab, ohne dem andern auch nur einen Gedanken zu schenken. Ab und zu ward die Stimme des Propstes oder der Propstin laut, die die Gäste aufforderten, doch mehr zu essen.
Nach dem Essen verschwand der Propst auf ein Weilchen, und die Gäste blieben mit den Damen allein, bis der Kaffee serviert wurde.
„Samuel ist so an sein Mittagsschläfchen gewöhnt!“ sagte die Propstin entschuldigend. „Er sagt, es sei nötig zur Verdauung.“
Der Abend schleppte sich langsam und einförmig hin. Die Herren gingen mit dem Propst auf sein Zimmer, um eine Zigarre zu rauchen. Später mußte Amelie singen. „Amelie singt wirklich reizend“, sagte die Propstin. Sie sang Heines leidenschaftliche Lieder in der Schumannschen Musik, und sang sie vollständig ausdruckslos und rein, ohne zu wissen, was sie sang. Der Propst und die Propstin hörten andächtig zu. Der Propst hatte die Hände gefaltet.
„Ach ja, Musik ist eine herrliche Gabe Gottes!“
Nachdem man zu Abend gegessen hatte, versammelten sich alle Hausbewohner in dem großen Speisezimmer. Dort waren[S. 192] Stühle aufgestellt und Amelie ging von einem zum andern und teilte Choralbücher aus. Die Propstin brachte ihrem Mann, der im Schaukelstuhl saß, ein paar alte Bücher; und er hustete und las seinen Leuten aus der Bibel vor. Dann betete er, Gott möge das ganze Land schützen, insbesondere das Pastorat zu Sollösa. Die ruhigen Knechte und Mägde hielten die Hände vors Gesicht, während der Propst das Vaterunser und den Segen sprach.
Eine Stunde später schlief das ganze Haus. Stiller als vorher konnte es kaum sein. Nur der Hofhund und seine Hündin wachten mit einem Auge je an einer Seite der Treppe.
Dem Adjunkten Hallin und seinem Sohn war ein Gastzimmer im ersten Stock angewiesen worden. Zwei hochaufgebauschte Betten standen da mit weichen Polstern und Federkissen.
Und in Ernst erwachte eine Erinnerung. Er gedachte seiner Studentenjahre in Upsala, der guten Jahre bei Fräulein Lund. Als er einschlummerte, hatte er eine leise Empfindung von Lavendelduft.
Als Ernst aufwachte, war es schon acht Uhr. Hastig sprang er aus dem Bett, um den Vater zu wecken. Die weichen Kissen und Decken hatte sie beide wie mit einem Nebel von Stille und Schlaflust umhüllt, daß sie zehn volle Stunden geschlafen hatten. Das Hausmädchen war so still durchs Zimmer gegangen, daß sie die Schläfer nicht geweckt hatte. Aber in den Flaschen war frisches Wasser, die Kleider lagen schmuck und ordentlich ausgebürstet auf den Stühlen, die Schuhe standen blank gewichst davor, und im Ofen verglomm die letzte Glut des Holzfeuers hinter dem Eisengitter, das geräuschlos zur Vorsicht vorgesetzt worden war.
Als sie ins Wohnzimmer kamen, mußten sie eine gute Weile warten, eh jemand von den Wirten sich zeigte. Im Eßzimmer sahen sie das stille Mädchen mit dem schlichten Kleid und dem glattgekämmten Haar den Tisch decken.
Der erste, der erschien, war der Propst. Der kleine Mann sah ganz unerhört feierlich aus. Die Bäffchen saßen steif über dem halb zugeknöpften Rock und machten sein fettes Gesicht noch fetter. Sein Mund sah ganz absonderlich aus, gespitzt wie eine Tüte, und die Augen blinzelten feucht und schräg unter den dichten Augenbrauen hervor.
Er hustete und ging auf seine Gäste zu.
„Ein köstliches Wetter hat der Herr uns heute geschenkt!“ sagte er.
Die drei Herren setzten sich. Wie gewohnheitsmäßig nahmen sie ihre alten Plätze ein, Ernst saß am Fenster und blickte hinaus auf den Hof, wo die Hunde lagen und sich sonnten, die Hühnerhunde an der großen Treppe, die Hofhunde vor der Treppe, die zum Nebengebäude führte.
Jetzt kam die Propstin. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine goldene Brosche und hatte, wie der Propst, rote Augen. Sie erzählte, Amelie wäre noch nicht ganz fertig. Die arme Amelie! Sie hatte solche Angst, zu spät zur Kirche zu kommen!
„Wir haben alle ein bißchen zu lang geschlafen!“ fügte sie hinzu.
„Ja,“ sagte der Propst und hustete; „es ist Sabbat heute, der Ruhetag des Herrn!“
Langsam setzten sich alle um den Tisch, und das glattgekämmte Mädchen servierte still große Platten mit gebratenem Schinken, Beefsteak und Eiern.
Es war heute womöglich noch stiller als sonst im Pastorat. Kein Laut war zuhören im ganzen Haus; nur Löffel, Messer und Gabeln schienen in Bewegung zu sein. Aber auch sie wurden ängstlich gehandhabt, und wenn jemand ein Wort[S. 194] äußerte, so geschah es mit einer Stimme, die um Entschuldigung zu bitten schien: „Darf ich um das Salz bitten?“ „Ein bißchen Brot, wenn ich bitten darf!“ klang es halblaut. Ab und zu erklang die Stimme der Propstin, die den Gästen zusprach, doch mehr zu essen.
Nach dem Frühstück gingen alle in die Kirche, die jenseits der Straße lag.
Es war eine niedrige, altmodische Kirche, ohne Turm. Der Adjunkt und Ernst hatten sie nicht einmal bemerkt, als sie am Tag vorher daran vorbeigefahren waren. Sie lag ein bißchen abseits von der Straße auf einer kleinen Anhöhe, umgeben von einer hohen steinernen Mauer; daneben stand ein rot angestrichenes baufälliges Glockenhaus, von dem gerade der Klang der alten Glocken über die Häupter der versammelten Gemeinde hinklang.
Keinerlei Geräusch auf dem Platz vor der Kirche, trotzdem eine Menge Menschen da waren. Auf der einen Seite standen die Männer, auf der andern die Frauen. Die jungen Mädchen standen bei den Frauen, die Burschen bei den Männern. Kein Getändel, kein Geliebäugel zwischen Burschen und Mädchen; alle, die vor der Kirche standen, alt und jung, waren ganz still und unterhielten sich nur im Flüsterton, während sie auf den Propst warteten.
Der dämpfende und beruhigende Geist des Pastorats hatte sich noch bis über die Landstraße hinaus erstreckt, weit über die Anhöhe, auf der die Kirche lag und wo das rote Glockenhaus einsam seine Glocken ins schweigende Land hinausrufen ließ.
Es gab viele „Erweckte“ in der Gemeinde Sollösa. Stille, schweigsame Menschen, die den Frieden liebten und die Welt fürchteten, Menschen nach dem Herzen des Propstes, die seine Gattertore nicht zuschlugen und auf dem Kirchplatz nicht lärmten. Menschen, die nach Sollösa paßten. Heute füllten sie den Platz vor der Kirche und den ganzen Kirchhof. Um sie her[S. 195] spielte die laue Frühlingsluft, hoch über ihnen trillerten die Lerchen im klaren Sonnenlicht. Die Birken auf dem Kirchhof trugen schwellende, drängende Knospen, und in den Beeten des Pastoratsgartens standen Aurikeln und Perlhyazinthen schon fast in Blüte.
Der Propst, die Propstin und ihre Gäste kamen durch den Kirchhof herauf. Sie gingen durch das offene Gittertor die verwitterten Steinstufen hinan; und vor ihnen her ging ein Flüstern, das plötzlich jedes Gespräch verstummen machte. Ein breiter Weg bildete sich ganz von selbst vor ihnen bis zur Kirche, und ruhig wanderten die Herrschaften der Kirche zu. Die Frauen und Mädchen knixten, die Männer nahmen die Hüte ab. Aber nicht ein Wort ward gesprochen, nur freundliches Nicken und Lächeln flog hin und wieder. Als die Herrschaften durch die niedere Kirchentür verschwunden waren, setzte sich die ganze Menschenmenge in Bewegung. Ohne Lärm, ohne Gedränge füllte sie die Kirchenstühle, die Männer auf der einen Seite, die Frauen auf der andern, und still und lautlos schloß sich hinter ihnen die breite Tür, während von der geschnitzten Empore über dem Eingang die Orgel ertönte. Als der Choral gesungen war, stand der Propst vor dem Altar und betete mit zitternder, hustender Stimme:
„Heilig! heilig! heilig!“
Und die Gemeinde von Sollösa beugte das Haupt und lauschte andachtsvoll. Denn sie glaubte an ihren Propst und war stolz auf ihn.
Der Propst genoß nämlich unter den Kindern Gottes eines hohen Rufes. Er hatte ihn nicht immer gehabt. Und es war nur ein kleines Ereignis, das ihm die Gnadengabe verlieh, daß die Menschen an ihn glaubten.
Ehe er als Propst nach Sollösa kam, predigte er einmal während eines Gewitters. Und während er auf der Kanzel stand und das Gebet für die Verstorbenen betete, der Küster[S. 196] neben ihm, schlug der Blitz in die Kirche und tötete den Küster. Der Pastor selber blieb unversehrt.
Und die Frommen sagten, dies sei geschehen, weil ihr Hirte erhalten bleiben mußte für Gottes Reich.
Still, aber sicher verbreitete sich sein Ruf über das ganze Stift. Als er als Propst nach Sollösa kam, war er ihm schon vorausgegangen und hatte ihm die Herzen der Leute gewonnen. Darum lauschten sie auch seinen Worten so andächtig, als ob Gott selbst zu ihnen spräche.
Denn das war wahrlich Gottes Finger! Daran konnten alle deutlich seinen Willen und seine Absicht erkennen!
Drückend und betäubend lag die Wärme über der ganzen Kirche. Langsam schleppte der Gottesdienst sich hin, bis die Predigt begann. Und die Predigt ging ebenso langsam, und ebenso träge klangen die Choralverse durch den niedrig gewölbten Raum. Da und dort nickte ein Kopf im Schlummer, einer oder der andere lag vornübergebeugt in den Händen, die auf dem Kirchstuhl ruhten.
Niemand entfernte sich, ehe der ganze Gottesdienst zu Ende war. Erst als die letzten Akkorde des Schlußchorals verklangen, erhoben sich alle sachte von ihren Plätzen, dehnten in aller Stille ein bißchen die Glieder und blieben in den Bänken stehen, um erst die Herrschaft hinauszulassen. Dann leerte sich die Kirche, die Türen schlossen sich und der Küster ging, mit den großen Schlüsseln klappernd, heim. Auf allen Wegen und Pfaden wandelten Scharen stiller Menschen nach allen Richtungen durch das sabbatstille Land.
Im Pastorat setzten die Herren sich wieder auf ihren Platz im Wohnzimmer und warteten auf das Mittagessen. Draußen auf dem Hof schliefen die Hunde.
„Es ist gut, daß ich eine kleine Hilfe bekomme!“ sagte der Propst zu Ernst. „Und hier ist dankbares Erdreich!“
Er schneuzte sich und hustete.
„Kein Geist des Aufruhrs, Gott sei Dank! Dankbares Erdreich!“ Und durch das Zimmer klang das einförmige Ticken der Uhr.
Die Tür zum Eßzimmer ging auf und das Mädchen meldete, daß serviert sei.
Fräulein Amelie stand mit der Propstin im Eßzimmer. Sie gab den fremden Herren die Hand und knixte. Der Propst strich ihr, wie am Tage vorher, übers Haar.
„Du bist nicht in der Kirche gewesen heute“, sagte er.
„Nein“, erwiderte Amelie. „Es tat mir so leid, aber ich mochte nicht zu spät kommen und die Gemeinde stören.“
„Das ist recht, mein Kind!“ lobte der Propst.
„Du magst ja nicht, wenn man kommt, nachdem der Gottesdienst schon angefangen hat, Papa“, sagte die Propstin.
Nach dem Essen kam der Kaffee, genau wie am Tag vorher. Der Propst verschwand für ein Weilchen und ließ die Gäste mit den Damen allein.
Nach dem Kaffee reisten die Gäste ab.
„Willkommen nächstes Mal auf unserm lieben, stillen Sollösa“, sagte der Propst, als er Ernst beim Abschied die Hand drückte. Der Wagen fuhr durch den weichen Sand zum Gattertor hinaus; als er auf die Landstraße einbog, zogen die beiden Herren noch einmal die Hüte vor dem Propst, der Propstin und Fräulein Amelie, die auf der Treppe standen und winkten. Die Hunde sahen dem Wagen nach, ohne zu bellen.
Eine Weile saßen der Adjunkt und Ernst schweigend nebeneinander. Jeder war in seiner Art mit dem beschäftigt, was sie erlebt und gesehen hatten.
Schließlich sagte der Adjunkt — und seine Stimme klang wehmütig:
„Es wird recht einsam für dich hier draußen.“
Über des Sohnes Lippen flog ein Lächeln, das der Vater nicht verstand.
„Vielleicht ist es grade das, was ich brauche“, sagte er. Es lag etwas so Scheues und zugleich Bitteres in seiner Stimme, daß der Vater aufmerksam wurde. Er kannte ja den Sohn überhaupt so wenig; er hatte, während er aufwuchs, nie Zeit gehabt, sich mit ihm zu beschäftigen; und der Adjunkt liebte es im allgemeinen, sich die Dinge so einfach wie möglich zu machen. Diesmal aber drängte sich ihm doch mit unausweichbarer Gewalt der Gedanke auf, daß da etwas nicht stimmte, etwas, an dem ein Vater teilhaben müßte. Mit bekümmerter Miene sah er den Sohn an und fragte: „Was ist mit dir? Du siehst so düster aus, seitdem du wieder daheim bist. Hast du etwas auf dem Gewissen?“
Ernst konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Der Vater glaubte offenbar, er hätte etwas zu bereuen, vielleicht Schulden gemacht, schlechte Beziehungen angeknüpft oder etwas Ähnliches. Er, der fast das Leben eines Asketen geführt hatte! Dieser Argwohn kam ihm unendlich komisch vor. Er hätte jetzt um keinen Preis der Welt offen reden können, und antwortete deshalb nur mit demselben Lächeln, das er nicht zu unterdrücken vermochte: „Nichts von dem, was du glaubst, Papa, das kann ich dir versichern!“
„Gott sei Dank!“ dachte der Adjunkt.
„Man kann auch so grade genug haben!“ fügte Ernst hart hinzu. Es kam so plötzlich, daß die Worte ihm entschlüpft waren, ehe er es wußte. Eine brennende Röte ergoß sich über seine Wangen und Stirn, und er schaute zum Wagenfenster hinaus.
Der Adjunkt ward nachdenklich; eine dunkle Ahnung bemächtigte sich seiner. Gleichzeitig aber sagte er sich auch, wenn es wirklich etwas derartiges wäre, wenn der Sohn tatsächlich unzufrieden sei mit dem Beruf, den er gewählt hatte, so wäre es am besten, wenn gar nicht darüber gesprochen würde. Ein ausgesprochenes Wort war hier gefährlich. Er wußte, wie empfindlich der Sohn war, und begriff, daß der kleinste Versuch,[S. 199] auf sein Gewissen einzuwirken, in ihm die zu einer Katastrophe notwendige Energie wecken würde. Und an diese Katastrophe mochte der Adjunkt gar nicht denken.
Darum war es am besten, es wurde gar nichts zwischen ihnen gesprochen, Ernst machte die Sache mit Gott und sich selber ab. Und so schwieg denn der Vater in dem elterlichen Egoismus, der nicht mit den Kindern oder für sie leiden will.
Die alten braunen Gäule stapften gemächlich durch den hohen Wald, durch den die Sonne schräg fiel und zwischen den feuchtglänzenden Zweigen funkelte. In der Ferne härte man das einförmige Rauschen eines Bergwassers.
Ernst versank in Gedanken. Gefühle und Eindrücke arbeiteten in ihm, die ihm ganz neu waren. Es waren nicht seine alten Kämpfe und Träume. Es war nicht der kleine Kampf zwischen geistlich und nichtgeistlich. Es war auch nicht seine verschmähte Liebe, die in ihm redete. Nichts von all dem. Die Fahrt aufs Land, der kurze Weg zur Kirche, die Landluft, der Sonnenschein, die Frühlingsgewalt in den brausenden Wassern und schwellenden Knospen — all das erfüllte ihn mit einem Gefühl, das ihm ebenso neu wie unverständlich war. Wenn jemand ihn gefragt hätte, was er fühle oder denke, er hätte nichts darauf antworten können. Aber er war erregt, ohne zu wissen, weshalb, krank von Gemüt, ohne zu wissen, wovon, traurig, ohne die Ursache zu kennen. Seine ganze unterdrückte Jugend, all die erstickten Gedanken, Wünsche und Begierden waren es, die sich in ihm empörten, und Worte entschlüpften ihm, ohne Zusammenhang und ohne Sinn, deuchte ihm selbst. Und doch hätte er keins davon unterdrücken können, nicht ein einziges; so einsam hatte er immer gelebt, so unterdrückt und erstickt war jeder eigene Gedanke, jeder eigene Wille stets in ihm gewesen, daß er das Bedürfnis, das seine Seele erfüllte, gar nicht einmal verstand. Seine eigene Stimme klang ihm[S. 200] fremd, wie sie so das Leid, das die Frucht seines ganzen Lebens war, aussprach.
Und als der Adjunkt nicht antwortete, sagte er kurz und hart: „Ist es nicht sonderbar, daß wir einander überhaupt gar nicht kennen?“
„Wir kennen einander nicht?“
Der Adjunkt sah auf mit einem Blick, der noch vom Essen schwer war.
Ernst lachte laut auf. Er beugte sich vor und redete weiter, eifrig gestikulierend, mit einem Versuch, ruhig und geordnet zu sprechen; aber seine Stimme zitterte nur noch heftiger.
„Nein“, sagte er. „Wir kennen einander nicht. Als Kind hab’ ich meinen Vater nicht gekannt, als Knabe nicht, als Jüngling nicht, und auch jetzt nicht, als Mann, der ich sein sollte und nicht bin! Und auch er hat mich nicht gekannt. Sonst hätte er mich nicht so grausam verkennen können. Sonst hätte er mich nicht so gedankenlos und herzlos aufs Gratewohl ins Leben hinauswerfen können, ohne auch nur einen Augenblick danach zu fragen, ob meine Natur mich zu etwas anderem zog, oder ob sie nur schwieg und sich fügte.“
Er sprach, als habe er die Gegenwart des Vaters ganz vergessen, und fuhr dabei fort, starr vor sich hinzublicken und lebhaft zu gestikulieren.
„Warum bin ich nicht ein Bauer geworden?“ rief er. „Warum geh’ ich nicht hinter dem Pflug und grabe die Erde um und dünge und mache Heu? Warum mäh’ ich nicht und hacke Holz und arbeite und lebe, statt meinen Rücken über die Bücher zu beugen?“
Er ballte die Hand, seine lange, hagere Hand, mit einer drohenden Gebärde, in der zugleich etwas Hilfloses lag.
„Die Bücher!“ sagte er mit gedämpfter Stimme, damit der Kutscher ihn nicht hören sollte. „Wie ich sie hasse! Sie haben mein Leben zerstört, statt daß sie mich leben gelehrt haben.[S. 201] Sie haben meinen Kopf mit unnützen Dingen angefüllt und mir meine Kraft gestohlen, statt sie zu mehren. Tote sind sie, die die Lebenden beherrschen. Gespenster, die aus ihren Gräbern steigen, um die Lebenden zu schrecken, statt stillzuliegen und zu schlafen! Unheimliche Gespenster, an die wir glauben, und die uns hinter unserm Rücken auslachen, weil wir uns haben narren lassen von ihnen!“
Der Adjunkt packte ihn erschrocken am Arm.
„Du bist krank, Ernst!“ sagte er.
„Krank? Ja, ich bin krank, bin nie was anderes gewesen, als krank. Vielleicht ist’s das, was mein ganzes Unglück verschuldet hat! Vielleicht ist’s das, was mich fortgezogen hat von der frischen Luft und der Arbeit, die stählt, und mich eingeschlossen in dumpfe Zimmer, meine Brust eingedrückt, meine Schultern zusammengepreßt, mein Gesicht gebleicht hat! Warum hat man mich nicht Bauer werden lassen, frage ich? Vielleicht wär’ ich dann stark geworden! Vielleicht wär’ ich dann ein Mann geworden!“
Er entzog sich dem Griff des Vaters und lehnte sich schlaff in die Wagenecke zurück. Beide schwiegen; der eine, weil er sich erschöpft hatte, der andere, weil er nichts zu sagen wußte.
Aber im Adjunkt erwachte die ganze Liebe einer alten Pastorenfamilie für das Land mit seinem Behagen und seiner Arbeit. Und wie sonderbar seltsam des Sohnes Worte ihm auch vorkamen, und wie überzeugt er auch war, daß dies nur eine Überreiztheit war, die vorübergehen würde, so stieg in ihm doch auch noch ein anderes Gefühl auf. Immer hatte er sich gewünscht, ein kleines Eigentum zu besitzen, das er sein hätte nennen können; er pflegte oft im Scherz zu sagen, sobald er nur erst seine Schulden bezahlt habe, würde er anfangen zu sparen und ein kleines Anwesen kaufen, auf dem er seine alten Tage verbringen könnte.
Des Sohnes Worte klangen seltsam an sein Ohr. Vorwürfe[S. 202] waren es, daß der Vater nicht mit dem Sohn gelebt hatte, damit er dessen Leben verstehen möchte. Sie schmerzten und quälten ihn. Sie kamen so heftig und unüberlegt, wie von einem zornigen, erbitterten Kind. Aber der Adjunkt wurde nicht böse. Denn in ernsten Augenblicken kann es geschehen, daß sogar die Eigenliebe sich verkriecht. Er fühlte nur eine große Leere zwischen sich und dem Sohn; und er klagte sich selbst an. In ihm klangen des Sohnes Worte: Warum hat man mich nicht Bauer werden lassen? Es war ja Unsinn, das wußte er wohl. Und dennoch! Er sah auf des Sohnes magere Gestalt mit dem blassen Gesicht und der eingesunkenen Brust. Und er begriff noch deutlicher, daß es Unsinn war. Aber trotzdem quälten ihn die Worte, quälten ihn und zerrten an ihm. Ein Mitleid packte ihn, als trüge er die Schuld an dieser Schwächlichkeit; und mit einem Male kam ihm das Verlangen, alles wieder gutzumachen, in einem Augenblick wieder aufzubauen, was nur in langen Jahren aufgebaut werden kann, wenn das Gebäude sicher und fest werden soll.
Er legte seine Hand auf des Sohnes Knie und fragte mit zitternder Stimme: „Was fehlt dir? Verheimliche mir nichts!“
Ernst sah auf. Sein Atem ging kurz und hastig, wie nach einer großen Anstrengung. Und er sah so geistesabwesend aus wie gewöhnlich, als wisse er kaum von dem heftigen Ausbruch, der Geschehenes ja doch nicht mehr ungeschehen machen konnte.
„Verheimliche mir nichts!“ wiederholte der Vater.
Ernst ergriff mit bittendem Blick seine Hand.
„Verzeih!“ sagte er. „Ich bin nur müde. Es war schlecht von mir, so zu sprechen, wie ich’s getan habe.“
Der Gedanke, der sich schon vorhin dem Adjunkt aufgedrängt hatte, kam wieder. Und jetzt kam er mit solcher Gewalt, daß alle egoistischen Bedenken wichen. Mit einer plötzlichen Anstrengung sagte er: „Ist es dein Beruf, der dich quält?“
Ernst schwieg einen Augenblick und blickte zur Seite. Und[S. 203] schon bereute der Adjunkt seine Frage. Er fühlte, daß er richtig geraten hatte, und der peinigende Gedanke an die Zukunft ergriff ihn. Er dachte an des Sohnes Stellung, an das, was die Leute, was seine Frau sagen würden. Und mit lähmendem Schreck fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf:
„Und das Geld! Die Ausgabe! Neue Schulden! Neue Sorgen!“ Atemlos wartete er auf die Antwort des Sohnes.
Ernst saß ganz stumm. Jetzt war die Stunde da. Jetzt sollte es gesagt werden. Jetzt würde er es sagen. Und in der Einbildung war ihm so leicht zumut, als wäre es bereits gesagt.
Dann aber kehrten seine Gedanken in ihren gewohnten Kreislauf zurück; mit einer unerhörten Kraftanstrengung bezwang er sich, sah dem Vater in die Augen und antwortete, ohne zu zittern: „Du irrst, Papa. Ich habe meinen Beruf aus freiem Willen gewählt.“
Der Adjunkt fühlte, daß der Sohn log. Aber er wagte nicht, die Frage zu wiederholen, aus Angst, eine andere Antwort hervorzulocken. Er hatte sein möglichstes getan, um sein Gewissen zu befreien, und ein Seufzer der Erleichterung entschlüpfte ihm, während er seine Hand aus der des Sohnes zog.
„Gott sei Dank!“ sagte er leise.
Der Wagen rollte weiter. Die beiden Männer saßen lange schweigend nebeneinander, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ernst führte mit einer Bewegung, die ihm eigen war, oft die Hand zum Gesicht und zupfte an einem weichen Bart.
Der Adjunkt bemerkte es; und, um durch einen Scherz das peinliche Schweigen zu brechen, sagte er:
„Bald hast du überhaupt keinen Bart mehr zum Dranziehen.“ Ernst ließ hastig die Hand sinken und lächelte gezwungen. „Das ist wahr!“ sagte er.
Und der Wagen rollte eine Anhöhe hinauf und vor ihnen lag Gammelby. Hoch über den übrigen Gebäuden ragte der Turm der Domkirche.
Die Ordination war nun auf Anfang Juni festgesetzt. Ernst Hallin, Simonson und noch ein paar andere sollten zusammen in ihr Amt eingesetzt werden, und gleich darauf sollte Ernst nach seiner neuen Heimat, dem Pfarrhof von Sollösa, fahren.
Ernst Hallin sehnte sich nur noch danach, daß alles vorüber sein möchte. Er hatte seinen Entschluß gefaßt und wußte, daß nichts ihn mehr ändern konnte. Jetzt galt es nur noch, alles Zweifeln und Zaudern von sich fernzuhalten, damit er Ruhe hatte, bis er allein war mit sich selbst. Die Einsamkeit, das fühlte er, würde ihn heilen, ihn weniger empfindlich, kräftiger machen und ihn vor allem lehren, sich in demutvollem Genügen unter das Kreuz zu beugen, das der Herr ihm auferlegt hatte. Er fühlte mehr und mehr die Überzeugung in sich, daß der Priesterberuf gerade das war, was der Herr von ihm forderte, damit er auf Erden Frieden finden möchte; und ohne zu fragen, ohne am Willen des Herrn zu deuteln, wollte er treulich den schmalen, dornenvollen Pfad wandeln, bis er nach seiner steilen und mühevollen Wanderung vor der engen Pforte stehen würde, die zum Leben führt.
Nach dem letzten Ausbruch, als er und der Vater von dem alten Pastorat heimgefahren waren, hatte er das Gefühl gehabt, als ob ein Teil seines alten Menschen von ihm gewichen sei. Eine Art dumpfer Resignation bemächtigte sich seiner, und er erkannte, daß in dieser Resignation die Möglichkeit lag, das Leben, das ihn jetzt erwartete, zu leben. Keine andern Hoffnungen, keine andern Gedanken und Interessen durften diese Resignation verdrängen, die allein imstande war, ihn aufrechtzuhalten, wie das Rettungsboot den Schiffbrüchigen über Wasser hält. Ganz und ausschließlich mußte sie ihn beherrschen; keine unterdrückte Sehnsucht, keine verwegene irdische[S. 205] Hoffnung sollte mehr ihre frischen, gefahrvollen Winde über die stille See dieser Resignation blasen.
Er dachte auch selten an Eva Baumann. Sie war ihm nur noch eine lockende Erinnerung, die keine Macht mehr über ihn hatte. Und er konnte von ihr sprechen hören oder ihr auf der Straße begegnen, ohne daß er errötete, ohne daß es seine Gemütsruhe störte.
Dagegen hatte er sich in letzter Zeit mehr und mehr zu Simonson hingezogen gefühlt.
Simonson war so klar in allem, so klar und fertig. Er wußte Antwort auf jede Frage, Widerlegung für jeden Zweifel. Seine Stimmung war immer gleichmäßig, und Ernst fühlte sich nach einem Gespräch mit ihm stets ruhiger. Wenn er einen Nachmittag lang ihm gegenübersaß und das sichere Gesicht betrachtete, das so überzeugt schien, daß alles in der Welt war, wie es sein sollte, und der scharfen Stimme lauschte, die alle aufrührerischen Gedanken gleichsam zerkrümelte und ihn einen klaren Blick in das ganze geordnete Gemeinwesen tun ließ, das seit Jahrtausenden auf dem Grund des Christentums erwachsen war, da fühlte Ernst ganz deutlich, auf welchen gefährlichen Abwegen er gewandelt war, und er ging nach Hause, froh und gestärkt, voller Dankbarkeit gegen Gott, der ihn aus den Irrgängen seiner eigenen Gedanken errettet hatte. Es lag so viel Demut in all seiner Schwachheit, daß Pastor Simonson sich oft ganz verlegen vorkam und fast zu stottern begann, wenn er vom christlichen Sinn sprach, der alles duldet und alles erträgt.
Frau Hallin freute sich über die Veränderung des Sohnes. Sie freute sich nicht bloß aus religiösen, sondern auch aus andern Gründen. Von Anfang an war sie es gewesen, die den Adjunkt auf die religiöse Gesinnung hingeführt hatte, zu der er sich nun bekannte. Er war ein schwacher Mann, der der Führung bedurfte. Und die kleine energische Frau hatte ihn geführt, wie sie später den Sohn geführt und seine Entwicklung geleitet[S. 206] hatte. Aber im Lauf der Jahre hatte der Adjunkt auch sie beeinflußt, und seine weltliche Klugheit hatte zum Teil Frau Hallins Frömmigkeit auch ihr Gepräge aufgedrückt. Sie war mit den Jahren weniger schwärmerisch religiös und mehr orthodox kirchlich geworden. Sie hatte den inneren Zusammenhang, der zwischen gut bürgerlicher Ordnung und kirchlicher Zucht besteht, erkennen gelernt. Darum hatte sie eine Zeitlang auch gefürchtet, Ernsts Gewissenhaftigkeit könne ihn möglicherweise auf Abwege führen und ihn widerspenstig machen gegen die Obrigkeit, die Gott in seiner heiligen Kirche eingesetzt hat, um sie gegen die Macht des Unglaubens zu schirmen. Und so freute sie sich jetzt, als sie bemerkte, wie er von Tag zu Tag ruhiger und weniger vergrübelt wurde. Sie dankte Gott, daß er ihr Kind bewahrt hatte; und sie merkte wohl, daß sie in dieser Sache in Pastor Simonson einen treuen Bundesgenossen hatte, und freute sich auch darüber.
Es war ein Nachmittag gegen Ende Mai. Der Adjunkt war schlechter Laune und verschwand frühzeitig ärgerlich auf seinem Zimmer.
Es war ganz unvermutet gekommen. Der Adjunkt war beim Essen schweigsam gewesen und hatte unfroh ausgesehen; die wenigen Worte, die er sagen mußte, hatte er in leidendem Ton von sich gegeben. Da versuchte es Gustaf, den die gedrückte Stimmung peinigte und der die andern gern zum Lachen brachte, damit er selber herzhaft lachen konnte, mit einer Schulanekdote, die unglücklicherweise ein bißchen naseweis mit dem König Salomo umsprang. Der Vater, der für gewöhnlich selbst großes Gefallen an Geschichten hatte, die auf die Bibel und die Geistlichkeit gingen, erstere hauptsächlich, wenn es sich um das Alte Testament handelte, erteilte Gustaf einen scharfen und umständlichen Rüffel über diese Art von den heiligen Männern der Schrift zu sprechen. Gustaf antwortete hierauf, er habe nie gehört, daß Salomo, der 1000 Weiber gehabt und eins der[S. 207] sinnlichste und anstößigsten Gedichte geschrieben habe, die man lesen könne, ein heiliger Mann gewesen sei. Aber da fing der Adjunkt an: er wisse ja schon lang, daß Gustaf seinen Kinderglauben verloren habe; und schloß damit, daß er den Mangel an Ehrfurcht vor dem Heiligen, und besonders den Mangel an Ehrfurcht vor den Eltern, beklagte, der in letzter Zeit ständig zutage komme.
Nach dem Essen ging der Gymnasiallehrer, ohne ein Wort zu sagen, in sein Zimmer hinauf, und Frau Hallin folgte ihm mit bekümmerter Miene, nachdem sie Gustaf eine Extraermahnung erteilt hatte, Papa doch ja nicht zu reizen, wenn er niedergeschlagen und verstimmt wäre. Der arme Papa! Er hatte so viele Sorgen, von denen die Kinder ja nichts wußten.
Jetzt waren die drei Geschwister allein und ein verlegenes Schweigen entstand. Es war einer der letzten Tage, ehe Ernst das Elternhaus verlassen sollte. Nächsten Sonntag war Ordination, und nach der Ordination sollte er gleich reisen. Alle wünschten, ihm das Elternhaus noch so freundlich und heiter als möglich zu machen, wie das vor einer Trennung stets ist. Darum war es doppelt ungemütlich, wenn eine derartige Szene die Eintracht störte. Denn in dieser Familie, in der jedes einzelne Mitglied sein Leben für sich lebte, ohne sich um die andern zu kümmern, bemühte man sich bei feierlichen Gelegenheiten um so mehr, recht zartfühlend und rücksichtsvoll zu sein. Eine gemeinsame Erbittertheit gegen den Vater gärte in allen drei Geschwistern. Alle fühlten sie, aber keines sagte was.
Gustaf war der erste, der das Schweigen brach. Er lehnte sich in den Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. „In einem Jahr bin ich endlich Student! Da kommt man endlich hier heraus!“ sagte er.
Ernst sah den Bruder vorwurfsvoll an.
„So darfst du nicht reden“, ermahnte er.
Selma sah vor sich nieder und wurde blutrot. Ihr war der Mangel an Sympathie zwischen Eltern und Geschwister gradezu eine Qual; und sie mochte nicht gern noch Öl ins Feuer gießen. Aber sie konnte nicht länger schweigen.
„Laß Gustaf sagen, was er will!“ sagte sie. „Er ist kein Kind mehr. Wenn er den Eltern gegenüber schweigen soll und uns gegenüber schweigen, gegen wen soll er sich da aussprechen?“
„In dem Verhältnis zu seinen Eltern bleibt man doch wohl immer Kind!“ sagte der junge Pastor.
Selma schüttelte den Kopf, wie über eine alte Schulleier, die sie müde war, anzuhören. Sie vergrub beide Hände in ihr dickes blondes Haar und schlug sie dann mit einer Miene der Verachtung zusammen.
„Ja, wenn man sich als Kind fühlte, wenn sie irgend etwas dazu täten, daß man sich so fühlen könnte. Aber sag einmal ehrlich: Bist du je daheim glücklich gewesen? Bist du’s jetzt? Hast du gar nicht gemerkt, wie wir aneinander vorbeilaufen, wie im Irrenhaus in ‚Peer Gynt‘:
Und kannst du dir wirklich, wenn du auch Geistlicher bist, vorreden, daß es der Fehler der Kinder ist, wenn sie alles Zutrauen zu den Eltern verloren haben? Läufst du nicht selber unter uns herum und schweigst und grämst dich? Keins von uns weiß, was du denkst; keinem fällt es ein, dich danach zu fragen. Ich bin auch allein mit meinen Gedanken und glaube, daß es draußen, außerhalb der unsern, eine Welt gibt, wo ich ein besserer, nützlicherer Mensch hätte werden können, als ich’s jetzt bin, daheim, wo ich bis zu meinem Tod leben soll! Und Gustaf! Freilich, er ist Freidenker, wie alle jungen Leute heutzutage, — ich übrigens auch —. Aber wenn man einmal ehrlich über die Sache reden wollte — was glaubst du, daß die Folge[S. 209] wäre? Das Leben hier im Haus würde nur noch unerträglicher werden, als es schon ist.“
Sie stand auf und ging mit festen, starken Schritten im Zimmer auf und ab.
Ernst sah unsicher vom einen zum andern.
„Ist das wahr?“ fragte er.
Gustaf lächelte. Es lag nichts Herausforderndes in seinem Lächeln, nichts Selbstbewußtes. Nur Verwunderung, daß der ältere Bruder etwas so Einfaches nicht wußte.
„Es kann ja doch gar nicht anders sein“, sagte er.
„Aber — in deinem Alter...“
Ernst brach ab.
„Ich habe nichts dazu getan“, sagte Gustaf. „Es kam von selbst. Wenn man Hunger hat, so ißt man. Und von der Speise bildet sich frisches Blut. Es ist dasselbe...“
Selma blieb vor Ernst stehen und sah ihm grad in die Augen.
„Glaubst du?“ fragte sie.
Ernst wollte der Frage ausweichen, aber die Schwester ließ ihn nicht los.
„Ja“, sagte er schließlich, lauter als notwendig war. „Aber du — wenn du dich von hier wegsehnst — was bindet dich?“ Selma konnte ein Lachen nicht zurückhalten.
„Sieh mal, wie gut es ist, wenn man einmal miteinander redet“, sagte sie. „Nicht einmal das weiß er, obschon es das große Ereignis meines Lebens ist. Was mich bindet? Nun ja, ich ging einmal zu Papa und sagte ihm, ich möchte eine Zeitlang fort, nach Stockholm oder irgendwohin, um ein bißchen mehr zu sehen und zu lernen — und ein bißchen mehr zu leben“, fügte sie bitter hinzu. „Aber er wollte es nicht. Ich weiß, daß er und Mama die Sache miteinander berieten. Aber dann baten sie mich, und Mama weinte, und ich gab nach und blieb.“
„Aber warum wollten sie denn nicht?“
All das war Ernst etwas ganz Neues.
„Warum?“ wiederholte Selma. „Lieber Ernst, was du blind bist! Nun, weil die Welt schlecht ist und mir meinen Glauben nehmen würde. Und darum schließt man einen ein, bis man so stumpf wird, daß man überhaupt alles glaubt. Das ist ihre Taktik. Und manchmal hilft sie ja auch. Aber manchmal kommt es auch vor, daß eins oder das andere sich trotzdem aufrecht hält. Wie lang, das weiß freilich Gott. Das ist die Familientyrannei unsrer Zeit, und sie ist niedriger, gemeiner und kleinlicher, als es die alte, die auf Faustrecht gegründet war, je war.“
Ihre Augen leuchteten; sie setzte sich hart in einen Stuhl.
„Es tut einem ordentlich wohl, sich mal aussprechen zu können“, sagte sie.
„Ja, aber es hat so wenig Zweck“, bemerkte Gustaf.
„Wir werden sehen!“ erwiderte die Schwester.
Ernst erhob sich und ging hinauf in sein und des Vaters Zimmer. Auf all das hatte er keine Antwort. Aber das fühlte er, daß zwischen ihm und den Geschwistern etwas Gemeinschaftliches war, ein gemeinsamer Mangel, den sie deutlicher erkannten als er, unter dem sie aber alle litten.
Als er auf der Treppe war, begegnete er der Mutter, die aus des Vaters Zimmers kam. Sie gingen schweigend aneinander vorüber. Aber als Frau Hallin ins Wohnzimmer kam, warf sie Gustaf und Selma einen mißtrauischen Blick zu, um zu ergründen, von was die Kinder wohl geredet hätten.
Am selben Nachmittag kam Selma hinauf zu Ernst und sagte, drunten in ihrem Zimmer sei jemand, der ihn sprechen wolle. Sie sah verwirrt und erregt aus, und Ernst glaubte zu merken, daß sie geweint hatte.
Er fühlte sogleich, wer es war. Ihm war, als stocke ihm das Blut in der Brust; eine Weile blickte er die Schwester an, ohne zu antworten.
„Kommst du nicht?“ sagte sie.
„Doch, doch“, erwiderte er. „Ich komme.“
Selmas Zimmer lag neben dem Wohnzimmer, hatte aber eigenen Ausgang in den Korridor.
Als sie drunten waren, blieb Ernst stehen und wandte sich nach Selma um.
„Ist sie da drin?“ fragte er. Seine Stimme zitterte ein wenig.
„Ja“, erwiderte Selma. Sie vermochte sich nicht länger zu beherrschen, sondern brach in Tränen aus und verschwand im Eßzimmer.
Ernst stand und sah ihr nach. Sein Blut war in Wallung; er atmete heftig. Er dachte nicht darüber nach, weshalb sie gekommen war oder was sie von ihm wollte. Er vergaß, daß sie einander so lang nicht mehr gesehen hatten, daß er vor ihrer Tür abgewiesen worden und ihr seitdem ausgewichen war, er dachte nur noch an eins — daß sie ihn nicht vergessen hatte, daß sie ihn sprechen wollte, grade jetzt, da er sie brauchte.
Er drückte auf die Klinke und trat ein.
Eva Baumann saß auf dem Sofa, das an der Wand der Tür gegenüber stand. Ihre Augen hatten einen Glanz, als hätten sie viel gewacht, und als sie Ernst erblickte, errötete sie heftig.
Er blieb vor dem Ausdruck in ihrem Gesicht verlegen stehen; mit einmal fiel ihm alles ein, was gewesen war, eine peinvolle Ahnung bemächtigte sich seiner; und im selben Augenblick kam ihm auch der Gedanke, daß sie sich seinetwillen preisgab.
„Eva“, sagte er und streckte ihr die Hand hin.
Sie ergriff sie und sah ihm ins Gesicht, frei und offen. Ihr Gesicht war noch rot, aber die Augen waren ruhig und ihre Stimme lebhaft und klar.
„Es war mir etwas Natürliches, daß ich noch einmal herkam“, sagte sie. „Sie müssen mir darum nicht böse sein!“
„Ihnen böse sein...“
Er setzte sich neben sie aufs Sofa, aber sie rückte etwas von ihm fort.
„Doch“, sagte sie. „Es ist ja ein sonderbarer Einfall von mir. Aber ich konnte es nicht lassen. Ich bin ja nur ein Mädchen und habe so wenig gesehen von der Welt. Aber es ist etwas, was ich Sie fragen muß.“
Seine Miene ward düster, als er antwortete:
„Was?“
Sie vermochte nicht gleich zu erwidern; den Kopf senkend kämpfte sie mit den Tränen. Ganz allein, mit Hilfe einer Freundin — einer Freundin, die Ernsts Schwester war — allein in einer kleinen abgelegenen Kleinstadt, wo der Gedankenflug nicht hoch geht, wo die Seelen der Menschen leicht im Wachstum stehenbleiben, war dies junge Weib zu einer Entwicklung gelangt, die anders war, als die in ihrem Kreis übliche. Sie lebte unter Menschen, für die der Glaube, der in der großen Welt so oft etwas Konventionelles ist, ein überwundener Standpunkt, von dem man sich nur des guten Tones willen nicht offen lossagt, noch eine das ganze Leben beherrschende Macht ist. Als sie sich von diesem Glauben lossagte, ward sie dadurch weder altklug noch anmaßend, sondern sie brauchte ganz einfach einen neuen Glauben, der ihr den alten ersetzte. Sie fand ihn in einer ehrlichen und aufrichtigen Wahrheitsforderung, der sie frohen Mutes nachzuleben versuchte; und sie glaubte, daß diese Forderung sich bei allen ehrlichen Menschen finden müßte, einerlei, welches Glaubens sie wären.
Dann hatte sie gesehen, daß Menschen ohne diese Wahrheitsforderung leben können, ja daß sie sie gewaltsam und mit allen Mitteln zu ersticken suchen. Und bei ihm hatte sie das gesehen, bei Ernst. Es war der erste ernste Stoß, den ihr Glaube an die Menschen erlitt, und sie hatte tage- und nächtelang darüber nachgegrübelt.
Sie bezwang sich und wischte sich die Tränen aus den Augen. Und indem sie ihn anblickte, als hinge von seiner Antwort Leben und Tod ab, fragte sie: „Ist Ihr Glaube fest, nun Sie ordiniert werden sollen?“
Ernst hatte plötzlich das Gefühl äußersten Unbehagens, das jeder Mensch hat, wenn er sich unvermutet außerstande sieht, Ausflüchte zu machen in einer Frage, die er sich selber immer nur ausweichend beantwortet hat. Er wußte, er konnte ihr nicht antworten, wie er ehemals geantwortet hatte oder wie er täglich und stündlich sich selbst antwortete. Er wußte, hier gab es keine Ausflüchte. Hier gab es nur eine reine und klare Antwort. Ja oder nein.
Er schwieg und blickte vor sich nieder.
„Ist es das, was Sie mich haben fragen wollen?“ sagte er tonlos.
Sie sah ihm noch immer mit demselben gespannten, gehetzten Ausdruck ins Gesicht. Seine Worte gingen an ihr vorüber, als wären sie gar nicht an sie gerichtet.
„Antworten Sie mir“, sagte sie atemlos. „Antworten Sie mir!“ Sie hatte die Hände gefaltet; ihre schlanke Gestalt zitterte wie in einem Schüttelfrost.
Aber er hatte nichts zu antworten. Voll Verzweiflung blickte er auf ihr bleiches Gesicht mit den leuchtenden Augen und den fest zusammengepreßten Lippen.
„Sehen Sie mich nicht so an!“ sagte er. „Wenn Sie wüßten, wie Sie mich quälen!“
Da begriff sie, daß es wahr, daß nichts mehr zu retten war. Sie hatte ein Gefühl, als habe er sie betrogen, betrogen um alles Glück und allen Frieden im Leben. Sie wandte sich von ihm ab und brach in heftiges Weinen aus. Und sie weinte lange.
Ernst wußte nicht, was er tun sollte. Er wagte nicht, sich ihr zu nähern, und schämte sich, zu gehen.
Mit einmal wandte sie ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht wieder zu und strich sich das Haar aus der Stirn mit einer Bewegung, die Ernst fast Furcht einflößte.
„Sie haben mich betrogen“, sagte sie. „Wenn Sie so erbärmlich sind, wie Sie sind, so hätten Sie mich in Frieden lassen müssen! Alles hab’ ich von Ihnen geglaubt, was edel ist und gut! Keine gute, schöne Eigenschaft gibt es, die ich nicht Ihnen beigelegt, keine männliche Tat, die ich nicht Ihnen zugetraut hätte. Hätten Sie mich in den Staub getreten, mich unglücklich gemacht, mich beschimpft, geschlagen — ich hätte es Ihnen verziehen. Aber daß Sie mich genarrt haben, mir meinen Glauben an Sie gestohlen, das verzeihe ich Ihnen nie!“
Wie unter einem Schlag beugte Ernst sich vor jedem ihrer Worte. Als sie fertig war, sagte er: „Ich habe nichts dazu getan, daß Sie mich für besser halten sollten, als ich bin.“
Sie trocknete sich die Tränen ab und blickte eine Weile vor sich hin.
„Nein“, sagte sie. „Das haben Sie vielleicht gar nicht. Ich war’s — ich war einbildungskrank. Aber Sie haben mir so weh getan, so weh...“
Wieder brach sie in Tränen aus. Sie weinte unaufhaltsam; ihr ganzer Körper erzitterte vom Schluchzen. Ernst wollte sich ihr nähern; aber sie sah ihn nur an mit einem Blick, als bringe sein bloßer Anblick ihr frisches Leid, und ohne noch ein Wort zu sprechen, ging er und ließ sie allein.
Und so weinte sie den ersten großen Schmerz ihrer Jugend aus, weinte über ihre Demütigung, ihre Schwäche. Aber sie bereute es doch nicht, daß sie mit Ernst gesprochen hatte. Sie war stolz darauf, als hätte sie eine Heldentat vollbracht.
Als Ernst Hallin an diesem Abend ins Familienzimmer hinunter kam, fühlte er sich sehr unbehaglich; er mußte ja doch Selma unter die Augen treten; und dann — ob wohl die Mutter wußte, daß Eva dagewesen war?
Aber niemand sagte etwas. Selma kam erst spät. Sie hätte zu tun gehabt, entschuldigte sie sich. Die Mutter saß still am Fenster und hielt ihre Arbeit gegen das schwache Dämmerlicht, um mit ihren alten Augen ein bißchen besser zu sehen.
Als Ernst Hallin am Morgen des Sonntags, an dem die Ordination stattfand, ins Frühstückszimmer trat, war er glatt rasiert und trug zum erstenmal den bis unters Kinn zugeknöpften Pastorenrock. Er fühlte sich verlegen über dies neue Aussehen; und keins von der Familie vermochte ein Lächeln zu unterdrücken, als sie ihn begrüßten.
Er hatte sich bisher noch nie rasiert; und seine Haut unter dem Bart hatte eine feine Blässe, die seinem Gesicht etwas Mädchenhaftes gegeben hätte, wenn nicht die Brille gewesen wäre. Das Gesicht war durch das Fehlen des Bartes kürzer geworden und wäre in der Form rund gewesen, wenn nicht die Hagerkeit es doch hätte länglich erscheinen lassen. Die nervösen Linien um den Mund, die der Bart früher verborgen hatte, traten jetzt deutlich hervor. Der ganze Ausdruck des Gesichts war ein anderer. Wer ihn nicht oft gesehen hatte, hätte ihn kaum wiedererkannt.
Ernst selbst war während des ganzen Frühstücks mit seinem veränderten Aussehen beschäftigt und schämte sich darüber. Der Adjunkt ulkte ihn ab und zu ein bißchen an; und Gustaf lachte über die Späße des Vaters. Aber es lag keine Fröhlichkeit in dem Lachen, eher eine Ironie, die einen starken Anstrich von Ernst zeigte. Selma wurde rot, als er ins Zimmer trat, saß aber nachher stillschweigend da, unberührt von Scherzen und Anspielungen.
Frau Hallin lachte anfänglich mit den andern; später versuchte sie, die Heiterkeit etwas zu dämpfen. Wie sie sich den Sohn so betrachtete, sah sie in ihm nicht nur das Kind, auf das sie stolz war, um das sie gebangt, für das sie gebetet und gelebt hatte, sondern sie sah in ihm den Priester, den Verkünder des Gotteswortes, den Mann, zu dem sie aufsehen konnte, wie sie instinktiv zu allen aufsah, die das heilige schwarze Ornat trugen; das Fremdartige seines Aussehens trug nur dazu bei, in ihr das Gefühl der Ehrfurcht zu verstärken, das sich in ihre Freude, daß der so lang ersehnte Tag nun endlich gekommen war, mischte.
In der Domkirche drängten sich andächtige oder neugierige Scharen um die Plätze heute; man wollte doch den feierlichen Akt sehen, der den heutigen Gottesdienst beschließen sollte. Draußen vor der Kirche strahlte die warme Junisonne; durch die Äste der Ulmen mit ihren kleinen lichten Blättern leuchteten ihre Strahlen heiter auf die Menschenströme herab, die aus allen Teilen der Stadt auf die Kirche zufluteten.
Vornehme Leute kamen, aus dem schönen Villenviertel, wo die Birken in frischem Grün prunkten, aus den stolzen Häusern in der Langen Straße und am Markt, der heute reingefegt und leer sein Pflaster der Sonnenhitze darbot. Neue Frühlingstoiletten, große helle Feder- und Blumenhüte, wie sie die letzte Stockholmer Mode vorschrieb, elegante Mäntel, purpurrote Sonnenschirme, die unter dem lichtgrünen Laub in der Sonne erstrahlten. Aber heute war ein Tag, an dem sogar die Herren zur Kirche gingen. Hellgraue oder braune Hüte, hohe schwarze oder niedere graue Zylinder, gelbe Stöcke mit weißen Elfenbeinkrücken neben einfacheren aus Eiche und Weichselholz — alles sah so neu aus, voll Frühlingsfrische und Sommerahnung. Die Herren selbst, junge und alte, kamen so elastisch daher, wie verjüngt vom Sommer, der seine Wärme über das alte Schweden und Gammelby ergossen hatte. Aber sie unter[S. 217]hielten sich bloß flüsternd, und kein Lachen ward hörbar auf dem Weg zur Kirche.
Die alten Domglocken läuteten mit feierlichem Klang über den Köpfen der Menge den Gottesdienst ein. Sie läuteten alle weltlichen Gedanken hinweg und mahnten mit ihrem Klang all die Menschen mit ihren verschiedenen Trieben und wechselnden Gedanken, sich in Gottes Heiligtum zu versammeln, abzulegen alle eiteln Gedanken an die Welt und was von der Welt ist, zu vergessen den Unterschied zwischen arm und reich, hoch und niedrig, Gerechtem und Ungerechtem, und einzutreten in das kühle, himmelanstrebende Gewölbe, wo die Sonne in langen bunten Streifen ein phantastisches Licht über die hohen Säulenreihen und die Menschen warf, einzutreten als eine einzige große Familie von Brüdern und Schwestern, die für ein paar kurze Stunden in der Woche gemeinschaftlich die Knie beugen und sich gleich fühlen vor Gott, der unser aller Vater ist.
Aber zwischen den feinen Kleidern sah man auch die schwarzen Kopftücher und altmodischen Hüte des Armenviertels. Sachte gingen die Leute ihres Wegs, grüßten demütig ihre „besseren“ Brüder im Herrn und nahmen in den hintersten Kirchenstühlen oder im Seitenschiff Platz, in den Stühlen, die den Armen offen standen, wo niemand sich einen Platz oder einen Schlüssel kaufte, um nicht mit groben Kleidern und derbem Geruch in Berührung zu kommen.
Und noch immer läuteten die Glocken hoch über den Köpfen der Menschen, und ihr Klang schwebte in die Weite auf der klaren, blauen Sommerluft.
Vor dem Altar stand der Bischof selbst. Das war eine Seltenheit in Gammelby, die viele in die Kirche lockte. Der Bischof las die Messe ganz ausgezeichnet. Es war eine wahre Lust, seine mächtige Stimme, die alten Choralmelodien singen zu hören, daß die Töne voll und stark durch die hohe Wölbung[S. 218] klangen; jedes seiner Worte war in der entferntesten Ecke des großen Domes zu verstehen.
Der junge Hilfsprediger von Gammelby predigte heute. Er war nicht beliebt als Prediger. Er hatte ein ganz mittelmäßiges Rednertalent, und die Frommen in der Gemeinde hielten ihn nicht für wahrhaft christlich gesinnt. Aber man war auch gar nicht der Predigt wegen in die Kirche gekommen; und stärker als gewöhnlich erklang darum der Seufzer der Befreiung, als ein langgedehntes Amen endlich die glücklicherweise recht kurze Predigt beschloß. Während der Gebete öffneten sich da und dort die Bänke; ein paar der Kühneren schlichen sich sachte vor in den Chor, um sich zeitig einen Platz zu sichern, von wo aus man die feierliche Handlung bequem mit ansehen konnte. Als der Schlußchoral begann, öffneten sich alle Kirchenstühle; alle strebten vor zum Chor, wo das Gedränge schon sehr stark war. Nur ein paar alte Leute, die nicht so lang stehen konnten, blieben zurück und versuchten später, in den spannendsten Augenblicken der Zeremonie, sich auf die Zehen zu stellen, um wenigstens einen Schimmer von dem zu erhaschen, was im Chor vorging.
Vorn gingen die Meßner eifrig und geschäftig umher, trieben die drängenden Volksmassen zurück und stellten sie in geordneten Reihen auf.
„Nicht so nah zum Altar. Platz für die Prozession und den Bischof!“
Dann hängten sie die vier Meßgewänder in geziemenden Zwischenräumen an den Altarschranken auf.
Plötzlich ward es ganz still in der Menge; der Weg zum Altar verbreiterte sich, die Hintenstehenden stellten sich auf die Zehen, um besser zu sehen, und durch die niedere Sakristeitür betrat die kleine Prozession die Kirche.
Zuerst kam der Bischof, hoch und gebieterisch, die goldene dreieckige Mitra auf dem Kopf, den goldenen Stab in der Hand. Um seine mächtige Gestalt hing das weite, in Seide und Gold[S. 219] gestickte und in allen Regenbogenfarben schimmernde Bischofsornat. Am Hals sah das faltige weiße Meßhemd hervor.
Hinter ihm kamen die Hilfsgeistlichen, je zwei und zwei. Vorn der Professor der Theologie Kumlander, neben ihm der Konsistorialnotar. Die Geistlichen im Ornat, der Konsistorialnotar in Frack und weißer Halsbinde. Nach ihnen kamen die vier, die ordiniert werden sollten, voraus Simonson und Ernst Hallin, alle in weißen Meßgewändern, die um die Mitte anschlossen und bis auf die Füße herunterreichten.
Unter den Klängen der Orgel schritten sie leise durch die Volksmenge und stellten sich um den Altar auf. Die vier Kandidaten in ihren weißen Gewändern beugten das Knie.
Als der letzte Akkord des Chorals verklang, wandte sich der Bischof der versammelten Menge zu. In der einen Hand hielt er das Meßbuch, in der andern ein langes feines Battisttaschentuch.
„Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!“ begann er.
Über der großen Menschenmenge lag vollkommenes Schweigen. Nicht ein Flüstern war hörbar, nicht ein Laut. Die jungen Kandidaten hatten sich erhoben und standen aufrecht in einem Halbkreis um den Altar.
Der Bischof begann mit seiner Rede, die er von einem Papier ablas, das er im Meßbuch vor sich hatte. Mit kraftvoller Stimme sprach er die einleitenden Worte der Schrift: „Und Jesus sprach zu Petrus: Simon Jona, liebst du mich mehr, denn mich diese lieben? Petrus antwortete: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe. Sprach er zu ihm: Weide meine Lämmer!“
Es war kein Zufall, daß der Bischof grade diesen Text gewählt hatte, über den Ernst Hallin vor zwei Monaten seine Probepredigt gehalten hatte. Im Gegenteil — schon damals war dem Bischof der Gedanke gekommen, gerade diesen Text zu wählen, der sich so gut eignete für die jungen Leute, die das[S. 220] schwere Amt eines Geistlichen antreten wollten. Er wollte über diesen Text sprechen, daß er zu einem ernsten Wort der Erweckung, aber auch zu einem Wort der Milde und Versöhnung ward, einem Wort, das die Schwachen tröstete und die Widersetzlichen beruhigte. Denn welchem wenig gegeben ist, von dem soll man nicht viel fordern. Und der Herr fordert heutzutage weit weniger von seinen Dienern, als er dereinst von Petrus forderte.
Ernst Hallin hatte den ganzen Tag über in sich eine Ruhe gefühlt, die ihn fast froh machte. Denn er hatte diese Ruhe, die ihm so wohltat, als Zeichen angesehen, daß der innere Friede, auf den er geharrt, um den er gebetet hatte, ihm endlich zuteil geworden war. Als er sich in der Sakristei in das weiße Meßgewand kleidete, war ihm, als lege er damit alles weltliche Wesen, alle aufrührerischen Gedanken ab und kleide sich in die reine Rüstung, die ihn zu einem wahren Streiter des Herrn machen sollte.
Aber als diese Textworte ihm entgegenklangen, kehrten alle seine alten Gedanken zurück. Die Erinnerung an den Tag, an dem er Eva Baumann gebeichtet hatte, erwachte mit doppelter Stärke in ihm; und wieder hörte er ihre Worte: „Es ist eine Feigheit, die Sie begehen wollen...“ Die Worte des Bischofs klangen leer an seinem Ohr vorüber. Er stand wie in einem Nebel, durch den die Laute nur dumpf hindurchklangen, durch den er die ganze Umgebung nur in unbestimmten Umrissen erblickte. Er wußte kaum, träumte er oder wachte er. Er war wie in einer Halluzination — sein ganzer Körper glühte im Fieber.
Seine Augen schweiften durch den Chor; die Sonne fiel durch die gemalten Fenster und bildete einen bunten Strahlenweg über dem Haupt des Erlösers, der mit dem Kelch in der Hand auf dem Altar stand, bis hinab auf den Fußboden. Die Strahlen funkelten auf den Goldstickereien am Ornat des[S. 221] Bischofs; der Stab, der in der Ecke lehnte, glitzerte und blinkte wie ein strahlenvoller, wärmender Quell des Lichts.
Es war seine Kirche, seine alte Kirche; und er dachte der Frühlingsabende, an denen er hier gestanden und gesehen hatte, wie die Sonne durch die gemalten Glasscheiben über Pfeiler und Fußboden flutete.
Der Bischof redete weiter; die Leute, die sich um den Chor drängten, warfen neugierige Blicke auf die vier jungen Männer, die im Halbkreis vor dem Altar standen.
Ernst hörte die Worte des Bischofs gar nicht mehr. Er stand wieder als Knabe in seiner alten Kirche, an eine Bank unter der Empore gelehnt, und träumte wundersame Träume, während sich sein Blick auf das Spitzgewölbe heftete, das sich gleich betenden Riesenhänden nach dem lebendigen Gott emporstreckte. Die Menschenmenge war fort. Die Kirche war leer. Nur des klaren Himmels Sonnenstrahlen spielten durch die Fenster.
Sie glitten an den grauen Wänden entlang, schmiegten sich weich und bunt um die mächtigen Pfeiler und lagen in schimmernder Ruhe auf den verwitterten Grabsteinen des Fußbodens. Ein Zittern war in ihrem Spiel, als arbeiteten sie, und es war, als schwankten die Steine, wo ihr strahlender Weg sich Bahn brach.
Aber droben unter der hohen Wölbung ruhte die Dämmerung. Es war, als wage kein Sonnenstrahl das heilige, tausendjährige Dunkel zu stören.
Ernst schaute und schaute. Er wußte nicht, was er dachte, wußte nicht, was er wollte. Er sah bloß den mächtigen Dom, der sich um ihn wölbte und badete in einem Meer von regenbogenfarbig schimmernden Sonnenstrahlen.
Da war ihm plötzlich, als bräche ein ganzes Bündel Sonnenstrahlen sich einen Weg durch die oberste Wölbung. Er wußte gleich, daß das nur eine Phantasie war. Aber die Phantasie[S. 222] war so mächtig in ihm, daß er es sah wie etwas Wirkliches. Die Strahlen funkelten durch das tausendjährige Dunkel, funkelten in einem Glanz, der das dunkle Gewölbe droben mit tausendfach stärkerem Licht erleuchtete als die ganze übrige Kirche. Dann ward der Glanz matter, bis er nur noch war wie alles Sonnenlicht in der Kirche, und Ernst sah jetzt deutlich, daß die Decke droben geborsten war und das klare Tageslicht durch die dämmerige Wölbung der Domkirche hereinleuchtete.
Und während er sich über das, was er erblickte, wunderte, sah er, wie der Spalt sich weitete und das Licht droben breiter ward. Und doch erschrak er nicht. Er fürchtete auch nicht, daß herabstürzende Steine ihn zerschmettern könnten. Denn sie fielen gar nicht herab, sie schmolzen nur gleichsam hinweg, Stück für Stück, vor der siegenden Kraft der Sonne. Er fühlte sich so ruhig und froh; ihm war, als habe er bisher gar nicht gewußt, was es heißt, zu atmen!
Durch einen seltsamen Gedankensprung dachte er plötzlich, was wohl der Bischof sagen würde, wenn er sähe, daß seine Kirche zerstört war. Denn niemand konnte ja mehr darin sein, wenn das Dach weg war und der Regen jederzeit eindringen und das Heiligtum im Wasser ertränken konnte.
Aber er sollte nicht erfahren, was der Bischof dazu sagen würde.
Er vernahm ein Getöse, als wäre die Erde geborsten, und als er sich umschaute, waren die Wände fort, der Altar mit dem Christusbild und dem Abendmahlskelch versank vor ihm, zu seinen Füßen sproßten Blumen und Gras, als ob nie Steinplatten dagewesen wären, um sein Gesicht spielten frische Lüfte und über sich hörte er den Gesang der spielenden Sonnenstrahlen:
„Es ist vollbracht. Die Arbeit von Jahrtausenden ist vollbracht. Das Leben zieht ein und erobert die Welt. Die Sonne hat gesiegt.“
Er seufzte tief auf und ward plötzlich aus seinen Gedanken durch einen Puff in die Seite aufgerüttelt.
Es war Simonson, der mit undurchdringlich ernster Miene ihn darauf aufmerksam machte, daß jetzt der Notar vortrat, um die Glaubensartikel vorzusprechen.
Ernst Hallin wiederholte die Worte, wie sie ihm in den Mund gelegt wurden.
„Ich glaube an Gott Vater den Allmächtigen...“
„Ich glaube an Jesum Christum...“
„Ich glaube an den Heiligen Geist...“
Er war blaß vor Gemütsbewegung; kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. „Die Sonne hat gesiegt!“ klang es in ihm. Was waren das für sonderbare Gedanken, die manchmal in ihm erwachten und ihn nicht einmal jetzt in Ruhe ließen! Was waren das für Gedanken?
Mit schwacher Stimme und niedergeschlagenen Augen beantwortete er des Bischofs Fragen; und als das Gelübde abgelegt werden mußte, das entsetzliche Gelübde, vor dem er sich so lang gefürchtet hatte, sprach er es ganz gedankenlos, ohne daß die Worte ihm einen tieferen Eindruck machten als jede beliebigen andern Worte:
„Ich, Ernst Hallin schwöre bei Gott und seinem heiligen Evangelium, zu dessen Verkündigung ich hiermit berufen und ausersehen werde, daß ich stets bei der reinen evangelischen Lehre verbleiben will, so wie sie im Worte Gottes, den heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments offenbart und durch das Augsburgische Glaubensbekenntnis und den Beschluß des Konzils zu Upsala im Jahre 1593 angenommen und verkündigt worden ist, also daß ich dawiderstreitende Lehren weder offenbarlich verkünden noch heimlich fördern will.“
Klar bewußt, was eigentlich vor sich ging, ward er sich erst, als der Bischof nach Ablegung des Gelübdes mit starker und gebieterischer Stimme die Worte sprach:
„Kraft der Vollmacht, die mir aus Gottes Gnaden von seiner Gemeinde anvertraut ist, erteile ich euch hiermit das Predigeramt, im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“
Als diese Worte gesprochen waren, wandte Ernst Hallin sich hastig um und blickte über die Kirche hin. Er hatte das Bedürfnis, hinaufzuschauen in das Gewölbe, um mit eigenen Augen zu sehen, daß da oben noch immer Dunkel lag. Als er sich davon überzeugt hatte, daß alles war wie zuvor, fühlte er sich etwas ruhiger. Zugleich aber hatte er das Gefühl, daß seine alte Kirche ihn gerichtet hatte.
Und mechanisch beugte er die Knie, während die Töne der Orgel über sein Haupt hinbrausten. Das gestickte Meßgewand, das neben ihm lag, ward ihm über die Schultern gehängt, eine Hand legte sich auf sein Haupt und er vernahm die Stimme des Bischofs, die das Vaterunser sprach.
Eine Weile darauf schritten der Bischof und die Hilfsgeistlichen in die Sakristei zurück, gefolgt von den vier jungen Männern, auf deren Schultern zum erstenmal die silbergestickten Meßgewänder hingen.
Unter denen, die zuvorderst standen, war Gustaf Hallin. Mit gespannter Aufmerksamkeit war er der Zeremonie gefolgt. Das Ganze hatte ihm einen fast unheimlichen Eindruck gemacht; so oft es ihm möglich war, hatte er des Bruders Gesicht beobachtet. Zuerst, als er hereinkam, in das weiße Meßhemd gekleidet, glattrasiert, blaß, verlegen unter all den Blicken, die auf ihn gerichtet waren. Dann als er sich umwandte und an die Decke hinaufblickte. Schließlich, als er in vollem priesterlichem Ornat mit seinen Amtsbrüdern wieder hinausging.
Gustaf kannte seinen Bruder nicht, kannte keinen einzigen von den Gedanken, die Ernst beschäftigten; dennoch verurteilte er ihn mit der ganzen Raschheit der Jugend, als wäre er Schritt[S. 225] für Schritt mit ihm gegangen. Sein Instinkt sagte ihm, daß etwas hier nicht stimmte; und ihm war, als habe er dem Bruder für immer Lebewohl gesagt.
Sein gewöhnlich so sorgloses Gesicht hatte einen schmerzlichen Ausdruck. Die Nasenflügel bebten, und nur mit Mühe vermochte er die Tränen zurückzuhalten.
Als alles aus war, bahnte er sich hastig einen Weg durch die Menge und ging schnurstracks nach Hause, ohne irgendeinen von den vielen Bekannten zu begrüßen, die er unter den Zuschauern sah.
Draußen schien die Sonne, vom Turm klangen fröhlich die Glocken zum Zeichen, daß die Feier zu Ende war, und Scharen von Menschen strömten auf den Platz mit den Ulmen heraus. Sie plauderten heiter miteinander; alle hatten es sehr eilig. Es hatte heute lang gedauert, und Punkt 2 Uhr wartete daheim das Mittagessen.
Gustaf ging, ohne nach rechts oder links zu blicken, nach Hause und hinauf in sein Zimmer. Es war eine kleine Dachstube, kaum größer als ein Kämmerchen, das nur Platz hatte für ein Bett, eine Kommode, einen Tisch, einen Bücherständer und zwei Stühle. Das Waschbecken stand auf einem Stuhl hinter der Tür.
Es war ein kleines Zimmerchen, aber es war ein Zimmer, und er wußte, hier war er ungestört. Nachdenklich setzte er sich ans Fenster und sah auf den kleinen Garten hinunter, der grade unter seinem Fenster lag.
Es war ihm so seltsam zumut — so einsam. Es war das erste Mal, daß er jemand von den Seinen im Verdacht hatte, eine schlechte Handlung begangen zu haben, eine jener häßlichen Handlungen, die dem ganzen Leben ihr Brandmal aufdrücken. In ihm selbst brannte und schmerzte es von all der Empfindlichkeit und Unversöhnlichkeit der Jugend. Und in die Gedanken an den Bruder mischten sich unruhige Gedanken an[S. 226] sein eigenes Leben, das ihn dereinst auch auf einen Weg führen würde, von dem er nicht mehr zurück konnte.
So saß er, bis er zum Essen gerufen wurde.
Eine feierliche Stimmung lag über der ganzen Familie. Der Gedanke, daß Ernst nun bald wegreisen würde, mischte sich mit den Eindrücken der Ordination. Niemand redete viel. Alle waren in ihre eigenen stillen Gedanken versunken. Und in allen war eine Bewegtheit, die keins auf andere Art hätte ausdrücken können, als durch Tränen, Freudentränen bei den einen, bei den andern Tränen ganz anderer Art. Aber Tränen paßten nicht zu diesem festlichen Tag. Darum schwieg man, um sie nicht hervorzurufen.
Ruhig und still verging der Nachmittag. Jedes war in seiner Weise vom Tag erschüttert; so war es natürlich, daß man jetzt ruhte.
Ernst quälte es nur, daß er der Mutter nichts zu sagen wußte. Er sah, wie ihre Augen ihm folgten, wie sie sich hie und da abwandte, um die Tränen zu verbergen, die sie allein nicht zurückzuhalten vermochte. Er wußte, sie erlebte heute den Tag, zu dem ihr ganzes Leben nur eine Vorbereitung gewesen war, den Tag, für den sie gelebt hatte, seit er überhaupt geboren war. Aber er fand kein Wort für sie. Und damit dieser Tag ihr doch nicht zum Schmerz werden möchte statt der Freude, bezwang er sich, ging zu ihr hin, schlang den Arm um ihren Hals, beugte sich zu ihr nieder und küßte sie auf die Stirn.
Sie drückte ihm dankbar die Hand. Den ganzen Nachmittag hatte sie sich über des Sohnes Schweigsamkeit und Verschlossenheit gewundert. Sie fand, der Tag war so ganz anders, als sie sich ihn oft vorgestellt hatte, so alltäglich, so trocken.
Aber jetzt war alles wieder gut. Alles Große, was sie sich von diesem Tag erträumt hatte, war zu dieser einzigen kleinen unbedeutenden Handlung zusammengeschrumpft. Und dennoch war sie zufrieden und sagte sich, es wäre alles so, wie es sein[S. 227] sollte. Sie wußte ja, hätte der Sohn sie nicht mit gutem Gewissen küssen können, so hätte er es nicht getan. Und herzlich nickte sie ihrem Mann zu, der ihr gegenüber im Schaukelstuhl saß, und dankte in ihrem Herzen Gott, daß er ihr Kind behütet hatte. Freilich war sie ein bißchen traurig, als Ernst später am Nachmittag sagte, er wolle eine Weile ausgehen, um mit seinen Gedanken allein zu sein; aber sie ließ sich nichts anmerken und ließ ihn ohne eine Frage gehen.
Noch einmal wollte er seinen alten Abendspaziergang um die Domkirche machen.
Zwei Tage darauf reiste Pastor Hallin ab, sein Amt in Sollösa anzutreten.
Ein Jahr verging. Ein Jahr mit Geburten und Todesfällen, Hochzeiten und Begräbnissen, Freud und Leid, Arbeit, Kirchgang und Einladungen ging still über Stadt und Stift Gammelby hin. Und wie alle Jahre veränderte es in seinem Lauf Menschen und Verhältnisse, trug zu der steten Umbildung der Charaktere und Gemüter bei, die nie aufhört, eh der Tod dem Spiel der Leidenschaften seine Grenze setzt, formte Sitten, Gebräuche und Verhältnisse um, in seiner unmerklichen Weise, die wir Menschen immer erst sehen, wenn es geschehen ist.
Professor Hallin und seine Frau haben keinerlei merkliche Wandlung durchgemacht. Aber in ihrem Haus hat es eine ziemlich große Veränderung gegeben. Gabrielle hat sich wieder verlobt, und es heißt, der Professor sei mit dem zweiten Bräutigam noch weniger zufrieden als mit dem ersten, ja er wünsche sich manchmal den Leutnant geradezu zurück.
Der neue Bräutigam ist Pastor Simonson.
Pastor Simonson hatte nämlich gemerkt, daß er für seine[S. 228] Karriere in Gammelby einer kräftigeren Stütze bedurfte, als eine einfache Hilfslehrerstelle an der Schule, und ab und zu die Erlaubnis, gratis in der Domkirche zu predigen. Die Stelle eines Domkirchenverwalters war zu besetzen, und er wußte, er würde seine älteren Mitbewerber leichter aus dem Feld schlagen, wenn er zu der persönlichen Gewogenheit des Bischofs noch das Gewicht persönlicher zarter Bande in die Wagschale legen konnte, die ihn unwiderruflich mit der Stadt und ihren Interessen verknüpften.
Gewiß war Gabrielle keineswegs die Gattin, die er sich als Hüterin des häuslichen Herdes in einem ernsten priesterlichen Heim geträumt hatte. Aber da sie in anderer Hinsicht den Forderungen, die er an eine Frau stellte, entsprach, und da sie vor allem — dank der zurückgegangenen Verlobung — aller Wahrscheinlichkeit nach zu haben war, so hielt er um sie an, und war nicht im geringsten überrascht, daß er das Jawort erhielt.
Fräulein Gabrielle ihrerseits betrachtete im Anfang den neuen Bräutigam mit ein bißchen sonderbaren Blicken, als wolle sie Vergleiche ziehen. Aber nach und nach gewöhnte sie sich an ihn; und außerdem waren sie und ihre Mutter aufrichtig froh, daß sie wieder verlobt war. Denn was gibt es Schlimmeres für ein junges Mädchen, als wenn die ganze Welt weiß, daß sie einmal verlobt gewesen ist, ohne daß die Verlobung zu etwas geführt hat?
Frau Hallin verlor nach diesem Ereignis ihr Interesse für Pastor Simonson. Sie schrieb ihrem Sohn, der Pastor habe sich sehr verändert, sei verweltlicht, und es sei unbegreiflich, daß der Bischof eine solche Persönlichkeit begünstige.
Bei Adjunkts waren die Veränderungen größer und einschneidender.
Der Adjunkt selbst unterrichtete nach wie vor in seinen Klassen, arbeitete und sparte, quälte sich mit unaufhörlichen Sorgen ums Geld, das nie reichen wollte, und hatte seine An[S. 229]fälle von schlechter Laune, die regelmäßig zusammen mit der Geldnot auftraten.
Frau Hallin war gealtert in diesem Jahr. Ihr Gesicht zeigte mehr Runzeln und der Mund noch ausgeprägter als zuvor den eingegrabenen Ausdruck von Wachsamkeit, den Frauen leicht haben, wenn sie fast immer mit dem Gedanken beschäftigt sind, an den Ausgaben zu sparen, damit des Mannes kleines Einkommen für den Haushalt ausreicht.
Trotzdem hatte das sie nicht alt gemacht. Alt war sie geworden, weil sie immer mehr fühlte, wie ihre Kinder sich von ihr loslösten.
Nach der Ordination hatte sie einen Auftritt mit ihrer Tochter gehabt.
Selma kam eines Abends bleich und erregt herein. Ihre große, kräftige Gestalt zitterte, und sie drehte krampfhaft das Taschentuch zwischen den Fingern, um nicht in Tränen auszubrechen.
„Ich habe mir eine Stellung in Stockholm gesucht und sie bekommen“, sagte sie.
Frau Hallin war so niedergeschmettert und so böse, daß sie erst gar nichts zu sagen wagte. Sie fühlte, sie konnte nicht sprechen, ohne sich zu vergessen. Sie beugte sich nur tiefer über ihren Nähtisch, als beuge sie ihren Rücken unter einem Schlag.
„So“, sagte sie einsilbig.
„Ich konnte nicht anders!“ sagte die Tochter.
„Du konntest nicht anders?“
Frau Hallin sah wieder auf.
„Du hättest wenigstens so viel Vertrauen zu deinen Eltern haben können, daß du nicht hinter ihrem Rücken gehandelt hättest.“
„Ihr hättet es nicht zugelassen.“
Hastig und hart kam das heraus. Beide schwiegen eine[S. 230] Weile. Die Mutter konnte nichts antworten. Sie wußte, daß die Tochter recht hatte. Aber der Zorn gärte in ihr und in den Zorn mischte sich das Bewußtsein, besiegt zu sein.
„Ich konnte nicht anders!“ wiederholte Selma.
Und sie richtete ihre kräftige Gestalt auf, während brennendes Rot ihr Gesicht bis zu den Haarwurzeln färbte.
„Ich fange an, alt zu werden“, fuhr sie mit einem nervösen Zittern in der Stimme fort. „Vielleicht sterb’ ich als alte Jungfer, ohne je geliebt zu haben, ohne auf meinen Armen ein Kind gehalten zu haben, das ich mein nennen kann. Aber wenn ich das muß, so will ich wenigstens arbeiten lernen, lernen, mein eigenes Leben zu leben, so gut und so tüchtig werden, als mir möglich ist. Armselig genug wird es ja auch so. Aber wenn ich hier bleibe, werd’ ich ein schlechter Mensch!“
Die Mutter sah sie erstaunt an. Sie schämte sich geradezu, daß ihre Tochter solche Wünsche aussprechen konnte; und Selma verließ hastig das Zimmer, noch eh Frau Hallin ein Wort der Erwiderung hatte finden können.
Im Herbst zog Selma nach Stockholm und hinterließ im Vaterhaus das bittere Gefühl, daß sie sich dort nicht hatte wohl fühlen können.
Gustaf war jetzt noch allein daheim. Aber im Frühling machte er sein Abiturientenexamen, und dann ging auch er. Er hatte die Seinen mit der Erklärung überrascht, daß er auf eine Ackerbauschule wolle, und mit einem Seufzer gab der Adjunkt seine Einwilligung. Er war in einer Art froh darüber. Denn das war billiger, als wenn der Sohn auf der Universität gewesen wäre. Aber es kränkte ihn doch, daß sein Sohn nur ein einfacher Landwirt werden sollte.
„Wird nur ein tüchtiger Mann aus ihm, so ist das übrige ja gleichgültig!“ pflegte er zu sagen, wenn von der Sache die Rede war.
Aber Frau Hallin wußte, daß sie auch diesen Sohn ver[S. 231]loren hatte, wie die Tochter. Und sie fühlte immer mehr, wie die Jahre auf ihr lasteten, die Jahre und die Einsamkeit.
Aber ihren ältesten Sohn wenigstens hatte sie noch; und der Gedanke an ihn genügte, ein Gefühl der Freude in ihr zu wecken, selbst wenn sie sich noch so niedergeschlagen fühlte. Er hatte seine Reizbarkeit und seine Grübeleien überwunden. Das letzte Jahr in Sollösa hatte einen ganz anderen Menschen aus ihm gemacht, und man prophezeite ihm allgemein eine Zukunft im Dienst der Kirche.
Und dennoch hatte Frau Hallin jetzt für ihn ein anderes Gefühl als früher. Sie hätte es ja nie zugegeben; aber so, wie er früher war, hatte sie ihn lieber gehabt. Es war, als habe das „Geistlichsein“ ihm grade etwas von dem genommen, was sie am allermeisten an ihm geliebt hatte. Als er noch schwächlich, reizbar, selbstquälerisch und unvernünftig war, als er sie gekränkt hatte, indem er ihr sein Vertrauen entzog oder sie traurig gemacht, indem er seine Heftigkeit an ihr ausließ, da hatte sie ihn am allerliebsten gehabt, seine ganze warme, ursprüngliche Natur. Jetzt, da er ein gesetzter, seiner selbst sicherer und fertiger junger Geistlicher war, der ihr stets mit Sohnesehrfurcht und Sohnesliebe begegnete, ihr nie Grund zur Unzufriedenheit gab, stets freundlich, heiter und mitteilsam war, schien es ihr manchmal, als fühle sie sich diesem Sohn gegenüber ein bißchen fremd. Denn sie verstand die Wandlung nicht, die mit ihm vorgegangen war.
Es war im Frühling, gleich nachdem Gustaf sein Examen gemacht hatte. Selma war für den Sommer nach Hause gekommen. Ernst war von Sollösa hereingefahren. Und wie nun alle Kinder wieder einmal zu Hause waren, gaben sie eine kleine Gesellschaft — lauter junges Volk. Frau Hallin hatte es bei ihrem Mann durchgesetzt.
Pastor Simonson und Gabrielle kamen, ein paar von Gustafs Freunden und sonst noch ein paar. Eva Baumann war auch da — auf Selmas ganz besonderen Wunsch.
Es hatte sich ein kleiner Disput entsponnen zwischen den angehenden Studenten und Pastor Simonson. Es handelte sich um die Frage, ob es für einen jungen Mann in unseren Tagen möglich wäre, Theologe zu werden, ohne mit Bewußtsein zu heucheln oder auch einem unbewußten Selbstbetrug zu verfallen. Und Gustaf hatte sich in einer Weise geäußert, die die anwesenden Pastoren geärgert, Frau Hallin betrübt, und über die ganze Gesellschaft eine gewisse Unruhe gebracht hatte.
Ernst Hallin hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Das Thema hatte ihn nicht interessiert.
Nach dem Ausspruch des Bruders aber sah ihn die Mutter so bittend an, daß er nicht ausweichen konnte. Er fühlte auch selbst, daß er nicht länger schweigen durfte.
„Viele Schwierigkeiten,“ sagte er, „stellen sich dem Mann in den Weg, der in einer schlimmen Zeit, wie der unsern, sein Leben dem Dienst des Herrn weiht.“
Seine Stimme war klar und beherrscht, und er blickte dem Bruder ruhig ins Gesicht. Man sah es ihm an, daß ihm das Landleben gut getan hatte. Er war dicker geworden, das Gesicht hatte Farbe und ein leiser Bartansatz zeichnete sich von den Wangen ab.
„Aber,“ fuhr er fort, „die Schwierigkeiten sind nicht unüberwindlich; und wer mit reinem Willen in den priesterlichen Stand tritt, dem wird der Herr auch zu einem rechten Glauben verhelfen, mag er auch anfänglich schwach und schwankend sein. Ist die Zeit so böse, ist der Unglaube so stark, daß sie, wenn möglich, sogar die Auserwählten zu verführen drohen, so steht um so fester die Verheißung unseres Herrn, daß dem, der am eifrigsten in seinem Dienst gearbeitet hat, im Himmel seine Stätte bereitet ist, die ihn für seine Arbeit auf Erden belohnen wird.“
Frau Hallin nickte dem Sohn zu. Wieder einmal freute sie sich, daß der Herr doch eins ihrer Kinder bewahrt hatte...
Im selben Augenblick aber begegnet Ernst Hallins Auge einem Blick, der einen ganz anderen Ausdruck hatte. Eva Baumann war es, die ihn ansah. Ihr Blick war kalt, fragend, neugierig. Sie hatte ihn im letzten Jahre da und dort getroffen und sich selber immer wieder gefragt, wie es möglich sei, daß sie so gleichgültig sein konnte. So ganz, als wäre zwischen ihnen gar nichts vorgefallen.
Und jetzt fühlte Ernst diesen forschenden Blick auf sich ruhen. Er drückte keinerlei Interesse für seine Person aus, nichts als unbezwingliche Wißbegierde. Es sah aus, als möchte sie bloß um jeden Preis ergründen, wie er eigentlich innerlich zusammengesetzt war. Und zugleich bemerkte er ein fast unsichtbares ironisches Lächeln auf ihren Lippen.
Pastor Hallin war sehr unbehaglich zumut. Er sagte sich selber, er habe ja doch nicht gelogen. Es war wirklich seine Überzeugung, die er da ausgesprochen hatte; und er freute sich darüber, daß er sie ausgesprochen hatte.
Dennoch stand er auf und wechselte den Platz; und dabei konnte er es nicht hindern, daß er tief errötete.
Ende
Fischers Bibliothek
zeitgenössischer Romane
Dritter Jahrgang
(Oktober 1910-September 1911)
Jeden Monat erscheint ein Band
Gustaf af Geijerstam
Gesammelte Romane in fünf Bänden
Fünf Bände in schöner, gediegener Ausstattung mit einem Porträt des
Dichters. Entwurf des Einbandes von E. R. Weiß.
Geheftet 12 M, in Leinen gebunden 15 M.
Mit dieser neuen Ausgabe seiner Werke wohnt Geijerstam mitten unter uns. Man hat ihn in Deutschland verstanden. Diese Sammlung seiner Werke — rein äußerlich, bei schöner Ausstattung und sehr billigem Preise, die denkbar beste Vereinigung von Volks- und Bibliotheksausgabe — ist Beweis dafür. Den Geijerstam, den man braucht, hat man in dieser Auswahl ganz. Sie findet ihre literarische Rechtfertigung zudem in einer Einleitung von Friedrich Düsel, und diese Einführung gibt eine seelisch eindringliche, man könnte beinahe sagen, erschöpfende Analyse von Geijerstams künstlerischer Persönlichkeit ... In Geijerstam kündigt sich eine neue Weltanschauung an, noch viel zu unentwickelt, um in den Rahmen von zehn Geboten gefaßt zu werden, doch aber recht eigentlich die Weltanschauung des Menschen, der nicht die Kraft, dafür aber die Zartheit seiner eigenen Empfindungen besitzt. — Eine neue Frucht der Erkenntnis gleißt aus der grünen Blätterpracht dieser Erzählungen! Aus dem Stamm des sozialen Mitleidens ist sie erwachsen. Menschen mit verfeinerten Empfindungsorganen werden danach greifen und werden — wie das immer war — beides daraus schmecken: Tod und Leben.
(Frankfurter Zeitung)
Das Buch vom Brüderchen
Wir haben es hier mit einem wundervollen, tief melancholischen Buch der Liebe und Ehe zu tun, das ein bedeutender Dichter geschrieben hat. Das Buch ist reich an lyrischen Stimmungen, ja es ist eigentlich nur eine Kette von solchen, und durchpulst von dem echtesten Empfinden. Es sind die Aufzeichnungen eines glücklich-unglücklichen Mannes, der ein schönes, kluges und geliebtes Weib besitzt und drei Kinder, nach deren jüngstem dieses Buch benannt worden ist.
Dieses keusche, zarte, liebenswerte Buch sollten alle lesen: die Alten und die Jungen. Besonders die jungen Mädchen sollten es lesen, anstatt der verlogenen Liebesgeschichten, die zumeist ihre Lektüre bilden. Und dann die Mütter. Dieses Buch ist wie eine kleine Bibel. Es ist reich an allem Guten und Heiligen. Es ist reich an tiefen mystischen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, und die Natur — Schweden und seine Schären und das Meer — steht leuchtend und groß darin auf. Das Buch ist ein Kunstwerk und ein Werk des Lebens zugleich. So sollen gute Bücher sein.
(Rheinisch-Westfälische Zeitung, Essen)
Nils Tufvesson und seine Mutter
Der dämonisch gräßliche Stoff, Mord und Blutschande, ist mit einer Festigkeit und Sicherheit angefaßt, die von Anfang an beruhigend wirken. Ohne der mächtigen Spannung verlustig zu gehen, verfolgt man schon beim ersten Lesen den reinen, schönen Aufbau und großen Stil des Werkes mit ungetrübter Wonne, wozu die ganz vorzügliche Übersetzung viel beiträgt. Daß hinter dem Künstlerischen ein herzlicher, liebenswerter Mensch voll Feinheit und Güte steht, ist auch hier wie in allen Büchern Geijerstams die Hauptsache. Ihm stehen immer die sittlichen Probleme jedes Konfliktes obenan, und so ist Nils Tufvesson ihm unter der Hand aus einer düsteren Mordgeschichte zu etwas ganz anderem geworden. Die Hauptsache ist nicht der Mord, noch seine Entdeckung, noch seine Bestrafung, sondern das hinreißend dargestellte Erwachen des beleidigten Rechtsgefühls in einer ganzen Dorfgemeinde. In Nils’ Hof liegt eine Leiche und soll begraben werden. Man ahnt und fühlt, daß da ein Verbrechen begangen ist. Niemand hat ein persönliches Interesse daran, jeder fürchtet sich auch davor, in Gerichtsverhandlungen und dergleichen verwickelt zu werden. Und doch darf die Leiche nicht unter den Boden. Das Bewußtsein, daß etwas Gräßliches geschehen ist, lastet über dem Dorfe und wächst zu einem Druck, der unerträglich wird, bis eine erste zage Stimme sich erhebt und im Namen des ganzen Volkes zum Ankläger wird. Das hat Geijerstam mit einer Einfachheit und Größe dargestellt, welche vielleicht die Höhe seiner Kunst bedeutet. Das ernste, schöne Werk wird ihm ohne Zweifel Tausende von neuen Lesern gewinnen.
(Neue Zürcher Zeitung)
Frauenmacht
Nachdem Gustaf af Geijerstam in seinem vorigen Buch Nils Tufvesson grauenhafte Gefühle der Verirrung zu Konflikten von ergreifender und entsetzlicher Tragik gesteigert hatte, kehrt er in seinem letzten Roman Frauenmacht zu einer wundersamen, verfeinerten Innigkeit der Gefühle zurück, die uns sein schönes Buch vom Brüderchen so lieben läßt. Frauenmacht ist ein rührender Akkord der Schwermut. Es ist die Erzählung eines Unglücklichen, dessen Schicksal es ist, daß ihm sein Leben hindurch stets kurzes Glück zu langen Schmerzen ausschlägt.
Es sind Stellen in dem Buch, die sind zum Jubeln, und Stellen von einer Schönheit der Wehmut, wie sie wohl nur der Verfasser des Buches vom Brüderchen schreiben kann. Das Buch ist reich an allem Guten und Heiligen, es ist reich an großen mystischen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, und die Natur — Schweden mit seinen Schären und das Meer — steht groß und leuchtend darin auf. Hier ist ein inniges Kunstwerk, durch das man nicht hindurchgeht, ohne bereichert und beglückt zu werden.
(Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Berlin)
Wald und See
Geijerstam versenkt sich mit Liebe in die dunklen Tiefen einfältiger Menschenseelen; er erzählt von den stummen Tragödien derer, denen kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden. Seine schwerblütigen, tiefempfundenen mit ihrem Boden so eng verwachsenen nordischen Bauern wissen kaum, daß sie leiden, geschweige denn warum. Aber sie können sich auch nicht an die bunte Oberfläche der Sinnenwelt halten, wie die sonnenbegünstigten Südländer. Die Härte ihres Klimas weist sie beständig von außen nach innen. Und sie tragen schwer an dem vielen, was sie innerlich durchleben müssen, ohne es nennen oder verstehen zu können. Geijerstam besitzt die große fromme Ehrfurcht vor der Natur. Er erblickt ahnend das Walten ihrer geheimnisvollen Mächte und spürt ihnen demütig nach. Vor dem Unerforschlichen steht er verstummend still. Wer dem Leben so tief in die Rätselaugen sieht wie Geijerstam, dem enthüllt sich das Interessanteste gerade im Alltäglichsten, während unsere vielen unechten Interessantheiten sich ihm zeigen als das, was sie sind: billiges Spielzeug für große Kinder.
(Die Zeit, Wien)
Karin Brandts Traum
Ein Lebenssiegerbuch, wie selten in unserer Literatur der Ohnmacht und Schwäche! Es ist, als ob von Geijerstam immer mehr und mehr alles Überflüssige abfiele, alles, was dekorativ ist und Füllwerk. Er wird einfacher mit jedem Buch. Klar und rein hebt sich der Kern heraus. Dieser neue Roman sieht sich zuerst beinahe ärmlich an. Ein schlichtes Menschenschicksal, das nicht über die Alltäglichkeit hinausging, wird erzählt. Aber dann quillt aus der Schlichtheit ein Reichtum auf. Man fühlt deutlicher und eindringlicher der Schlichtheit zweites Gesicht: die Echtheit. Da ist keine Mache mehr, kein Aufputz, kein Künsteln mit den narkotischen Mitteln der Unehrlichen im Romangewerbe. In Geijerstams Romankunst ist Ehrlichkeit, Leben, Wahrheit. Erst wenn man sich so aller blendenden Äußerlichkeiten begibt, kann man so innerlich werden wie der Autor von Karins Traum.
(Münchener Post)
Gefährliche Mächte
Der Roman „Gefährliche Mächte“ bietet uns Geijerstams tiefste, gedankenreichste Schöpfung. Wieder beschäftigt sich der Eheprediger mit dem Problem der Ehe. Wieder behandelt er die Hauptlehre seines Lebens, daß wir uns selber nicht, geschweige denn einen anderen erkennen, daß wir alle im Dunkeln herumirren. Heller und lauter, ernster und nachdrücklicher aber erhebt Geijerstam diesmal seine Stimme. Die beiden großen alltäglichen Tragödien des menschlichen Lebens, den Zusammensturz ehelichen Glückes und die Tragödie des Verkanntseins, der Vereinsamung verschmilzt er zu einer ergreifenden Einheit. Klänge nicht überall seine alles begreifende, alles verzeihende Menschenliebe hindurch, so könnte das Buch als eine niederschmetternde Anklage die Freude am Leben aus unserem Herzen verjagen.
(Allgemeine Zeitung, München)
Das ewige Rätsel
Das Problem der Ehe, das Problem der Geschlechter — das „ewige Rätsel“ — wird hier von einer ganz neuen Seite und mit neuen Mitteln behandelt. Dieser Roman enthält, abgesehen von einer sehr spannenden, aber kurzen Episode, fast gar kein Geschehen im Sinne der epischen Kunst. Es ist alles Psychologie, spinnwebdünnes seelisches Ereignis... Mit unendlich feiner, subtiler Kunst hat Geijerstam das innerste Verhältnis zwischen Mann und Weib geschildert. Er hat aus dem Problem der Ehe das weitere, größere Problem herausgelöst, das Problem der Fremdheit der Menschen zueinander.
(Pester Lloyd)
Die alte Herrenhofallee
In diesem letzten Roman, den uns der schwedische Dichter hinterlassen hat, behandelt er noch einmal das Problem der Ehe, dem er in der „Komödie der Ehe“ mit feinem psychologischen Tasten nachgegangen war. Die Umwelt verlegt Geijerstam in eine längst vergangene Zeit, „noch ehe der Ton der Dampfpfeife das Rauschen der schwedischen Wälder durchschnitt“. Durch die alte Herrenhofallee ist einst eine Vorfahrin der Heldin seiner Erzählung ihrem Gatten davongefahren, und dieser hat alsbald, um jede äußere Spur, die ihn an seinen Unglückstag erinnert, zu vertilgen, die alte Allee umhauen lassen — ein Symbol, das gleichsam mit vererbender Schicksalskraft im Leben der Heldin wiederkehrt. Es ist ein abgeklärtes Können, eine von einer ausgeprägten dichterischen Persönlichkeit geführte Objektivität, die in allem Geschehenen die seelischen Fäden erkennt und auflegt.
(Breslauer Morgenzeitung)
Werke von Gustaf af Geijerstam
Das Haupt der Medusa. Roman. 6. Tausend. Geh. M 3.50, geb. M 4.50
Das Buch vom Brüderchen. Roman einer Ehe. 18. Tausend. Geh. M 3.50, geb. M 4.50
Die Komödie der Ehe. Roman. 8. Tausend. Geh. M 3.50, geb. M 4.50
Nils Tufvesson und seine Mutter. Bauernroman. 4. Tausend. Geh. M 3.50, geb. M 4.50
Frauenmacht. Roman. 8. Tausend. Geh. M 3.—, geb. M 4.—
Wald und See. Novellen. 4. Tausend. Geh. M 3.50, geb. M 4.50
Kampf der Seelen. Roman. 4. Tausend. Geh. M 3.50, geb. M 4.50
Alte Briefe. Novellen. 4. Tausend. Geh. M 3.50, geb. M 4.50
Karin Brandts Traum. Roman. 8. Tausend. Geh. M 3.— geb. M 4.—
Gefährliche Mächte. Roman. 6. Tausend. Geh. M 4.—, geb. M 5.—
Die Brüder Mörk. Roman. 4. Tausend. Geh. M 3.50, geb. M 4.50
Das ewige Rätsel. Roman. 6. Tausend. Geh. M 3.—, geb. M 4.—
Die alte Herrenhofallee. Roman. 6. Tausend. Geh. M 3.50, geb. M 4.50
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig