The Project Gutenberg eBook of Der Marquis de Sade und seine Zeit.

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Title: Der Marquis de Sade und seine Zeit.

Author: Iwan Bloch

Release date: June 25, 2022 [eBook #68400]
Most recently updated: October 18, 2024

Language: German

Original publication: Germany: Verlag von H. Barnsdorf

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER MARQUIS DE SADE UND SEINE ZEIT. ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen, Schreibvarianten sowie fremdsprachliche Passagen bleiben gegenüber dem Original unverändert.

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Im Namen-Register wurden die Namen mit den Anfangsbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ noch traditionell einheitlich mit ‚J‘ aufgeführt. In der vorliegenden Bearbeitung wurden diese Namen, entsprechend ihrer Schreibweise im Text, getrennt angegeben.

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Studien zur Geschichte

des

menschlichen Geschlechtslebens


I.

Der Marquis de Sade und seine Zeit.

Von

Dr. Eugen Dühren.

Achte Auflage.


Berlin W. 30
Verlag von H. Barsdorf.
1922.

Alle Rechte vorbehalten.

Der Marquis de Sade
und seine Zeit.


Ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte
des 18. Jahrhunderts. Mit besonderer
Beziehung auf die Lehre von der

Psychopathia Sexualis.

Von

Dr. Eugen Dühren.

Achte Auflage.


Berlin W. 30
Verlag von H. Barsdorf.
1922.

Alle Rechte vorbehalten.

Verlagssignet

Manuldruck
der Spamerschen
Buchdruckerei in Leipzig.

[S. V]

Inhaltsverzeichnis.

Vorwort
Einleitung
„  1.
Die Aufgaben einer Wissenschaft des menschlichen Geschlechtslebens: 1. Die Liebe als physisches Problem. S. 2. — Die Liebe als historisches Problem. S. 11. — Die Liebe als metaphysisches Problem. S. 20. —
I. Das Zeitalter des Marquis de Sade
Allgemeiner Charakter des 18. Jahrhunderts in Frankreich S. 30. — Die französische Philosophie im 18. Jahrhundert S. 35. — Das französische Königtum im 18. Jahrhundert S. 40. — Adel und Geistlichkeit S. 48. — Die Pariser Polizeiberichte über die Unsittlichkeit der Geistlichen S. 52. — Die Jesuiten S. 63. — Die schwarze Messe S. 67. — Die Nonnenklöster S. 72. — Die Frau im 18. Jahrhundert S. 76. — Die Litteratur S. 88. — Die Kunst im 18. Jahrhundert S. 107. — Die Mode S. 119. — Prostitution und Geschlechtsleben im 18. Jahrhundert S. 124. — Bordelle, geheime pornologische Klubs und Prostituierte S. 125. — Das Freudenhaus der Madame Gourdan S. 127. — Justine Paris und das Hôtel du Roule S. 132. — Das Bordell der Richard S. 138. — Ein Negerbordell S. 138. — Die „petites maisons“ S. 139. — Die geheimen pornologischen Klubs S. 141. — Die Freudenmädchen S. 144. — Das Palais-Royal und andere öffentliche Dirnenlokale S. 162. — Die Onanie im 18. Jahrhundert S. 176. — Tribadie im 18. Jahrhundert S. 178. — Die Paederastie S. 202. — Flagellation und Aderlass S. 209. — Aphrodisiaca, Kosmetica, Abortiv und Geheimmittel im 18. Jahrhundert S. 214. — Gastronomie und Alkoholismus im 18. Jahrhundert S. 234. — Diebstahl und Räuberwesen S. 238. — Der Giftmord S. 243. — Mord und Hinrichtungen S. 246. — Ethnologische und historische Vorbilder S. 267. — Italienische Zustände im 18. Jahrhundert S. 277. — Papst Pius VI. S. 286. — Die Königin Karoline von Neapel S. 288. —
[S. VI]
II. Das Leben des Marquis de Sade
Die Vorfahren S. 292. — Petrarca’s Laura S. 292. — Die übrigen Vorfahren S. 294. — Die Kindheit des Marquis de Sade S. 298. — Die Jugendzeit S. 301. — Das Gefängnisleben des Mannes S. 307. — Die Affäre Keller (3. April 1768) S. 308 — Der Skandal zu Marseille (Cantharidenbonbons-Orgie) S. 316. — Einkerkerung in Vincennes und in der Bastille S. 322. — Teilnahme an der Revolution und litterarische Tätigkeit S. 327. — Der Tod S. 344. —
III. Die Werke des Marquis de Sade
Justine“ und „Juliette“. Geschichte der Entstehung S. 348. — Die Vorrede S. 350. — Analyse der „Justine“ S. 351. — Analyse der „Juliette“ S. 362. — Die „Philosophie dans le Boudoir“ S. 393. — Die übrigen Werke des Marquis de Sade S. 396. — Charakter der Werke des Marquis de Sade S. 400. — Die Philosophie des Marquis de Sade S. 403. —
IV. Theorie und Geschichte des Sadismus
Wollust und Grausamkeit S. 431. — Anthropophagie und Hypochorematophilie S. 432. — Weitere sexualpathologische Typen bei Sade S. 435. — Versuch einer Aufstellung von erotischen Individualitäten S. 440. — Sorgfalt im Arrangement obscöner Gruppen S. 441. — Das Mysterium des Lasters S. 442. — Die Lüge als Begleiterin sexueller Perversion S. 443. — Sade’s Ansicht über die Natur der sexuellen Entartung S. 444. — Unsere Definition des Sadismus S. 446. — Beurteilung des Menschen Sade nach seinem Leben und seinen Schriften S. 450. —
V. Geschichte des Sadismus im 18. und 19. Jahrhundert
Verbreitung und Wirkung der Schriften des Marquis de Sade S. 459. — Rétif de la Bretonne’s „Anti-Justine“ S. 464. — Charles de Villers S. 466. — Despaze S. 471. — Der Sadismus in der Litteratur S. 471. — Einige sadistische Sittlichkeitsverbrechen S. 486. — Fall von Hypochorematophilie S. 488. — Statuenschändung S. 488. — Körperliche Gebrechen als Reizmittel S. 488. — Sadistische Venaesectio. (Affäre T....) S. 489. — Affäre Michel Bloch S. 489. — Wort-Sadismus S. 491. — Nachahmung des Marseiller Skandals S. 492. — Schluss S. 493. —
VI. Bibliographie

[S. VII]

Vorwort.

Während ich mit den Vorbereitungen für das vorliegende Werk beschäftigt war, erschien im März dieses Jahres der geistreiche Essay von A. Eulenburg („Der Marquis de Sade“ in: Die Zukunft 7. Jahrgang No. 26, vom 25. März 1889, S. 497–515), dem geschätzten Neurologen und hervorragenden medizinischen Publizisten. Dieser Artikel und ein von Eulenburg im Berliner Psycholog. Verein gehaltener Vortrag eröffnen die wissenschaftliche Sade-Forschung in Deutschland. Um dieselbe Zeit ist auch in Frankreich durch die Studie des Dr. Marciat über den Marquis de Sade (Lyon 1899) das Interesse an einer der merkwürdigsten Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts wieder neu belebt worden, nachdem G. Brunet’s wertvolle biographisch-litterarische Beiträge (1881) wenig Beachtung gefunden hatten. Mit P. Ginisty’s dankenswerter Publikation unedierter Briefe der Marquise und des Marquis de Sade (in der „Grande Revue“ 1899 No. 1) ist hoffentlich der Anfang gemacht worden, den bisher so ängstlich gehüteten litterarischen Nachlass des Verfassers der „Justine“ der wissenschaftlichen Welt zu erschliessen.

[S. VIII]

Ich habe, bereits mit meinem Werke über den Marquis de Sade beschäftigt, alle diese Publikationen mit Freuden begrüsst als ein bezeichnendes Symptom, dass man in den gelehrten Kreisen das Bedürfnis empfindet, genauer über die rätselvolle Persönlichkeit des „joli Marquis“ unterrichtet zu sein als dies bisher der Fall war. Denn noch 1895 schrieb Eulenburg („Sexuale Neuropathie“ S. 120): „Nur zu oft habe ich die Beobachtung gemacht, dass man sich in der Litteratur dieses Gegenstandes fortwährend auf de Sade und seine Werke bezieht, ohne die allergeringste wirkliche Kenntnis davon zu verraten.“ Dies Dunkel zu lichten, war hohe Zeit.

Seit früher Jugend wuchs ich in der buntesten, farbenreichsten aller Welten auf, in der Welt der Bücher! Und es ging mir wie jedem Bibliophilen. Nicht blos das harmonisch Schöne, das Klassische im beglückenden Sinne des Wortes zog mich an, sondern auch jene, um mit Macaulay zu reden, „seltsamen Fragmente aus der litterarischen Geschichte“, jene bizarren Phaenomene menschlicher Einbildungskraft erregten früh mein Interesse. Der Bücherfreund weiss, dass es kein Produkt des menschlichen Geistes giebt, welches nicht von einigem Wert für die Erkenntnis wäre. Der Bücherfreund sucht in den Büchern mit liebevollem Herzen die Menschen. Nichts „Menschliches“ darf ihm fern bleiben, nicht nur um sein Wissen, seine Erkenntnis zu mehren, sondern auch, weil er ein Menschenfreund ist und sein will.

Daher ist dieses Buch nach Anlage, Ausführung und Inhalt das erste wissenschaftliche Originalwerk über den Marquis de Sade in einer lebenden europäischen Sprache, kein geistreiches Feuilleton, auch keine dürre Registrierarbeit, sondern der ernsthafte[S. IX] Versuch, ein wirklich brauchbares „document humain“ zu liefern, das dem Erforscher der Menschennatur von einigem Nutzen sein könne. Es ist geschrieben für den Arzt — ich selbst bin ein solcher — für den Juristen, den Nationalökonomen, den Historiker, den Philosophen — für alle die, welche im sozialen Sinne thätig sind und das Wohl der menschlichen Gesellschaft fördern wollen. Es hat eine „moralische“ Tendenz. Denn ich glaube, dass es einstweilen noch moralisch ist, die Ehe als das Fundament der Gesellschaft zu preisen und in der physischen Liebe mit Plato und Hegel nur ein Uebergangsstadium zu einer höheren geistigen Bethätigung zu sehen. Ich habe in diesem Buche alles erreichbare Material über den Marquis de Sade zusammengetragen. Nichts dürfte fehlen. Aber ich habe im Sinne dieser „Studien“ sein Leben und seine Werke als Objekte der geschichtlichen Erfahrung aufgefasst und damit — wie ich glaube — einen neuen Weg zur Erkenntnis der sexualpathologischen Phaenomene betreten. Ob er gangbar ist, das mögen die Leser und die Kritiker beurteilen.

Wenn der berühmte Nationalökonom W. Roscher dem Herausgeber des „Hermaphroditus“ von Antonius Panormita, dem gelehrten und ehrlichen F. C. Forberg eine „schimpfliche Sachkenntnis“ zum Vorwurf macht, wenn Parent-Duchatelet sein grosses Werk über die Prostitution in Paris mit einigen entschuldigenden Worten über die darin vorkommenden Obscönitäten einleitet, so finde ich Beides unaufrichtig und eines Forschers nicht würdig. Ich entschuldige mich nicht. Mögen die moralisch Entrüsteten kommen! Ich tröste mich mit dem Worte eines von mir sonst nicht sehr Geliebten: „Niemand[S. X] lügt so viel, als der Entrüstete“. (Fr. Nietzsche „Jenseits von Gut und Böse“ Aphorismus 26, S. 48).

Das Uebel ist in der Welt. Man muss es erforschen, aufdecken und die Mittel zu seiner Beseitigung zu finden suchen. Dies habe ich gethan. Im übrigen muss der Mensch sein, wie die Geschichte. Denn diese ist nicht das Weltgericht, sie führt nicht hinab zu Minos und Rhadamanthys, sondern sie führt empor und deutet mit dem ernsten, grossen Auge, mit der ehernen, nie ermüdenden Hand auf olympische Höhen.

Berlin, den 15. Dezember 1899.

Der Verfasser.

Vorwort zur dritten Auflage.

Diese vorliegende dritte Auflage ist vom Autor vollständig durchgesehen, verbessert und bedeutend vermehrt worden.

Berlin, den 15. Januar 1901.

Der Verleger.

[S. XI]

Vorwort zur vierten Auflage.

Wiederum ist eine starke Auflage des „Marquis de Sade und seine Zeit“ bis auf das letzte Exemplar vergriffen. Die begeisterte Aufnahme, welche das Werk bei seinem ersten Erscheinen in der wissenschaftlichen Presse gefunden hat, ist ihm auch ferner zu Teil geworden; es hat seinen Siegeszug durch die ganze Welt gemacht, und selten nur dürfte ein wissenschaftliches Buch eine so universelle Verbreitung gefunden haben!

Diese neue, vierte, Auflage ist in jeder Hinsicht mit aller Sorgfalt zum Druck befördert worden. Möge auch ihr das Los ihrer Vorgängerinnen voll und ganz beschieden sein!

Berlin, den 15. Dezember 1905.

Der Verleger.

[S. XII]

Vorwort zur fünften Auflage.

Diese fünfte Auflage ist ein unveränderter Neudruck der vierten und zeugt am besten von dem anhaltenden Interesse, das dieser ersten und erschöpfenden Monographie über den „célèbre marquis“ in aller Welt zuteil geworden ist

Berlin, im Juli 1914.

Der Verleger.

[S. 1]

Einleitung.

Die Aufgaben einer Wissenschaft des menschlichen Geschlechtslebens.

(Phaenomenologie der Liebe.)

Unter drei Gesichtspunkten ist eine wissenschaftliche Betrachtung des menschlichen Geschlechtslebens möglich. Zunächst tritt uns die Liebe als eine Naturerscheinung entgegen, die als solche dem Gesetze der Kausalität unterworfen ist. Dann aber ist sie, entzogen der bewusstlosen Notwendigkeit, ein Objekt der Geschichte, jenes Prozesses, der, um mit einem geistesgewaltigen Worte Hegel’s zu reden, den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ darstellt. Das Ziel der Liebe aber ist, wie alles menschliche Geschehen, die Freiheit, welche mit dem absoluten Geist, der höchsten Erkenntnis, identisch ist.

So existieren nur drei Probleme der Liebe, nicht mehr: das physische, das historische und das metaphysische Problem.

Für uns, die wir durchweg der historisch-kritischen und dialektischen Methode Hegel’s folgen, sind diese Probleme ebenso viele Stufen der Entwickelung, deren genaue Erkenntnis zugleich das wahre[S. 2] Wesen der menschlichen liebe erleuchten und enthüllen wird. Es ist jener Weg von der sinnlichen (physischen) zur platonischen (metaphysischen) Liebe, den bereits Plato erkannt hat, dessen Hauptpunkte wir kurz andeuten wollen. Dabei ist zu bemerken, dass die Liebe als Erscheinung der Natur und als Erscheinung des absoluten Geistes, die Liebe im Reiche der Notwendigkeit und im Reiche der Freiheit bisher am meisten Gegenstand einer wissenschaftlichen Forschung gewesen ist. Wir besitzen ausgezeichnete Werke über das menschliche Geschlechtsleben in naturwissenschaftlicher und metaphysischer Beziehung. Dagegen ist jenes grosse Gebiet fortwährender geistiger Befruchtung des natürlichen Geschehens, welches sich in der Geschichte darstellt, über Gebühr vernachlässigt worden. Und doch ist dieses wichtige Zwischenglied, die geschichtliche Erscheinung des Sexuallebens, ganz allein geeignet, uns über viele dunkle Punkte, die uns im Wesen und in der Entfaltung der Liebe begegnen, aufzuklären. Diese „Studien zur Geschichte des menschlichen Geschlechtsleben“ behandeln durchgängig die Liebe als historisches Problem, aber nicht ohne Verknüpfung mit dem physischen und metaphysischen Probleme. Mehr als einmal hoffen wir den Beweis zu erbringen, dass diese geschichtlichen Betrachtungen manches Dunkel lichten, manches Rätsel des Eros lösen können.

Wir wollen in Kürze das System einer Wissenschaft des menschlichen Geschlechtslebens darstellen und betrachten zunächst

1. Die Liebe als physisches (natürliches) Problem.

Die „Kosmogonie“, die Erschaffung der Welt selbst, des gestirnten Himmels und der seligen Götter[S. 3] wird in den Mythen vieler Völker als ein Akt der geschlechtlichen Zeugung gedacht. So erhaben, so wunderbar und rätselvoll erschien schon den ältesten Menschen in grauer Vorzeit der rein physische Vorgang der Paarung, Befruchtung und Geburt. Materie ist der „Mutter“ Stoff, das Weltganze, die „Natura“ ist das „Geborene“. Nach G. Herman[1] hat die neuere Schule der anthropologischen und mythologischen Forschung eine derartige Anthropomorphisierung der Weltentstehung als wahrscheinlichste Quelle aller Religionssysteme angenommen. Himmel und Erde sind dem Chinesen „Vater und Mutter aller Dinge.“ Auch das „Weltenei“ spielt in den Religionen und Mythen der verschiedensten Völker eine grosse Rolle.

Die ersten Geschöpfe aber, Götter sowohl wie Menschen, sind Zwitter[2]. Wer kennt nicht die berühmte Erzählung des Aristophanes im platonischen „Gastmahl“ (Kap. 14)? Einst sei die Natur des Menschen eine andere gewesen als jetzt. „Denn zuerst gab es drei Geschlechter von Menschen, nicht wie jetzt nur zwei, das männliche und das weibliche, sondern noch ein drittes dazu, welches das gemeinschaftliche war von diesen beiden; sein Name ist noch übrig, während es selbst verschwunden ist. Mannweib (ἀνδρόγυνος) nämlich war damals dieses eine.“ Auch aus dem anfangs zweigeschlechtlichen Adam der Bibel ging das erste Menschenpaar als Mann und Weib hervor.

Die Liebe als kosmogonisches Prinzip spielt bei Empedokles eine ganz besondere Rolle. Zwei Grundkräfte sind es, durch welche nach diesem Philosophen alle Veränderung in der Mischung und Trennung[S. 4] der Stoffe hervorgebracht wird: Die Liebe und der Hass. In unermesslichen Perioden der Weltentwickelung überwiegt bald die eine, bald die andere dieser beiden Grundkräfte als herrschende Macht. Ist die Liebe zur völligen Herrschaft gelangt, so ruhen alle Stoffe in seligem Frieden vereint in der Weltkugel als in Gott. Durch das Fortschreiten der Macht des Hasses, auf deren Höhepunkt alles zerstreut und zersprengt ist, oder umgekehrt, durch das Fortschreiten der Macht der Liebe werden verschiedene Uebergangszustände in der Weltentwickelung hervorgebracht. Durch das wiederholte Spiel von Zeugung und Vernichtung blieben schliesslich allein die Erzeugnisse übrig, welche die Bürgschaft der Dauer und Lebensfähigkeit in sich trugen. — Wie die oben erwähnten kosmogonischen Theorien durchweg anthropomorphisierender Tendenz sind und auf Beobachtungen in der organischen Natur beruhen, so ist die Idee des Empedokles eine grossartige Konzeption einer naturwissenschaftlichen Vorstellung, wie sie im modernen Darwinismus ausgebildet worden ist.

Die neuere Wissenschaft hat die naiven mythologischen und kosmogonischen Vorstellungen der Vorzeit bestätigt. Wir wissen auch, dass die physische Liebe des Menschen, also das Anfangsglied der Entwickelung selbst erst ein sekundäres Erzeugnis, das Produkt einer Differenzierung ist, nur erklärbar durch die Entwickelung des organischen Lebens überhaupt. Die Zwitterbildung, d. h. die Vereinigung der beiden Geschlechtszellen in einem Individuum ist der älteste und ursprünglichste Zustand der geschlechtlichen Differenzierung. Erst später entstand die Geschlechtstrennung. Nach Haeckel[3] findet[S. 5] sich der Hermaphroditismus nicht nur bei niedersten Tieren, sondern auch alle älteren wirbellosen Vorfahren des Menschen, von den Gastraeaden bis zu den Prochordoniern aufwärts, werden Zwitter gewesen sein. Wahrscheinlich waren sogar die ältesten Schädellosen noch Hermaphroditen. Ein wichtiges Zeugnis dafür liefert der merkwürdige Umstand, dass mehrere Fisch-Gattungen noch heute Zwitter sind, und dass gelegentlich als Atavismus auch bei höheren Vertebraten aller Klassen der Hermaphroditismus noch heute wieder erscheint.

Die Geschlechtstrennung, der Gonochorismus, wie Haeckel dies nennt, erscheint später als die Verteilung der beiderlei Geschlechtszellen auf verschiedene Personen.[4] Dann treten zu den primären Geschlechtsdrüsen sekundäre Hilfsorgane wie Ausführgänge u. s. w. hinzu, und zuletzt entwickeln sich durch geschlechtliche Zuchtwahl, die Selectio sexualis, die sogenannten „sekundären Sexual-Charaktere“, d. h. diejenigen Unterschiede des männlichen und weiblichen Geschlechts, welche nicht die Geschlechtsorgane selbst, sondern andere Körperteile betreffen (z. B. der Bart des Mannes, die Brust des Weibes).

Hierbei unterliegt die morphologische Ausbildung der menschlichen Geschlechtsorgane dem berühmten, von Haeckel zuerst formulierten „biogenetischen Grundgesetz“, das die Ontogenie, die individuelle Entwickelung, einen abgekürzten, unvollständigen Abriss der Phylogenie, der Stammesentwickelung darstellt. In den grossen Lehrbüchern der Entwickelungsgeschichte von Kölliker und Hertwig findet man[S. 6] die zuverlässigsten Darstellungen der Ontogenie der Sexualorgane.

In der Beschreibung der ausgebildeten männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane ist das klassische Werk von Kobelt[5] bisher noch nicht übertroffen worden, wenn auch die Beschreibung der Geschlechtsorgane in dem grossen „Handbuch der Anatomie des Menschen“ von K. von Bardeleben (Jena 1896 ff.) viele neue Aufschlüsse zu bringen verspricht.[6]

Die Entstehung der sekundären Geschlechtscharaktere ist Gegenstand der Darstellung in dem berühmten Buche von Charles Darwin.[7]

Aus diesen anatomischen Substraten der menschlichen Liebe wird man die Physiologie derselben im weitesten Umfange ableiten müssen. Das Hauptwerk über den Vorgang der Zeugung im Gesamtgebiete des organischen Lebens und beim Menschen besitzen wir in dem Werke von Hensen.[8]

Der Fundamentalvorgang aller Liebe bei Mensch, Tier und Pflanze, die älteste Quelle der Liebe ist die Wahlverwandtschaft zweier verschiedener erotischer Zellen: der männlichen Spermazelle und der weiblichen Eizelle, das, was Haeckel[9] den „erotischen Chemotropismus“ genannt hat. Der Zweck und das Endziel der physischen[S. 7] Liebe ist die Verschmelzung oder Verwachsung dieser beiden erotischen Zellen. „Alle anderen Verhältnisse und alle die übrigen, höchst zusammengesetzten Erscheinungen, welche bei den höheren Tieren den geschlechtlichen Zeugungsakt begleiten, sind von untergeordneter und sekundärer Natur, sind erst nachträglich zu jenem einfachsten, primären Kopulations- und Befruchtungsprozess hinzugetreten.“ — „Ueberall ist die Verwachsung zweier Zellen das einzige, ursprünglich treibende Motiv, überall übt dieser unscheinbare Vorgang den grössten Einfluss auf die Entwickelung der mannigfaltigsten Verhältnisse aus. Wir dürfen wohl behaupten, dass kein anderer organischer Prozess diesem an Umfang und Intensität der differenzierenden Wirkung nur entfernt an die Seite zu stellen ist.“ (Haeckel.)

Nachdem dieser fundamentale Vorgang der Zeugung festgestellt ist, gelangen wir zu einer Betrachtung jener physischen Liebesregungen beim Menschen, welche sich in Form des Geschlechtstriebes[10] äussern. Diesen dunkeln Begriff hat Moll in höchst geistvoller Weise aufgehellt.[11] Er zerlegt den Geschlechtstrieb beim erwachsenen Menschen in zwei Komponenten, den Detumeszenztrieb und den Kontrektationstrieb. Der Detumeszenztrieb drängt zu einer örtlichen Funktion an den Genitalien, und zwar beim Manne zur Samenentleerung. Er ist als ein peripherer organischer Drang zur Entleerung eines Sekretes aufzufassen. Der Kontrektationstrieb[S. 8] drängt den Mann zur körperlichen und geistigen Annäherung an das Weib, das letztere ebenso zur Annäherung an den Mann. Phylogenetisch ist die Detumeszenz als Mittel zur Fortpflanzung das Primäre, weil sie bei niederen und höheren Tieren stattfindet. Erst sekundär kam die Kontrektation hinzu, indem sich zwei Individuen zur Fortpflanzung verbanden. In der individuellen Entwickelung des Menschen ist die Anwesenheit der Keimdrüsen, der Erreger des Detumeszenztriebes, das Primäre. Der Kontrektationstrieb ist ein sekundärer Geschlechtscharakter. Der Detumeszenztrieb des Mannes ist die unmittelbare Folge der Funktion der Hoden. Beim Weibe hängt zwar die Ausscheidung der Eizelle aus dem Ovarium mit dem Detumeszenztrieb nicht unmittelbar zusammen, ursprünglich fielen sie aber zusammen, wie man noch bei den Fischen sieht.

Nunmehr geht Moll[12] zur Erörterung einer höchst wichtigen Frage über, welche für die Beurteilung vieler Erscheinungen von der grössten Bedeutung ist, nämlich zu dem Verhältnis zwischen Ererbtem und Erworbenem in der Geschlechtsliebe. Dies ist der Punkt, in welchem wir ganz und gar von Moll abweichen, weil wir durch die geschichtliche Betrachtung zu ganz anderer Auffassung geführt werden als Moll, welcher durch seine allerdings ingeniöse naturwissenschaftliche Argumentation zu beweisen sucht, dass neben dem Detumeszenztriebe — woran wir nicht zweifeln — auch die mannigfaltigsten Erscheinungen des Kontrektationstriebes ererbt sind. Kurz, Moll ist geneigt, sowohl die physischen als auch die pathologischen Erscheinungen des Geschlechtstriebes[S. 9] zum grössten Teile auf Vererbung zurückzuführen, während nach seiner Ansicht die erworbenen Faktoren nur eine sehr geringe Rolle spielen. Normaler und abnormer Geschlechtstrieb („konträre Sexualempfindung“, Homosexualität) erklären sich nach Moll eher aus der Vererbung als auch der durch die Umstände geschaffenen Gewohnheit. Wir wollen nicht leugnen, dass gewisse körperliche und geistige Dispositionen vererbt werden. Wir werden aber durch unsere Studien zu dem Bekenntnis gezwungen, dass die Vererbung in der Liebe eine viel geringere Rolle spielt, als die Erwerbung bestimmter Eigenschaften und die stete Wirkung äusserer Einflüsse. Dies auf geschichtlichem Wege zu erweisen, ist unsere Aufgabe und wird schon im vorliegenden Bande mehr als einmal zu Tage treten. Aber auch das rein naturwissenschaftliche Räsonnement vermag diesen Standpunkt zu rechtfertigen und zu befestigen, wie die ganz vortreffliche kleine Schrift von K. Neisser aufs evidenteste dartut.[13]

Den gleichen Standpunkt der kongenitalen Natur zahlreicher geschlechtlicher Perversionen vertritt R. v. Krafft-Ebing in seinem ausserordentlich verbreiteten Werke über die „Psychopathia sexualis“, während hinwiederum von Schrenk-Notzing, sich mehr unserem Standpunkt nähernd, die Suggestion als Ursache mancher sexuellen Abnormitäten betrachtet.[14]

Krafft-Ebing hat aber das unbestreitbare Verdienst, das gesamte menschliche Geschlechtsleben vom Standpunkt des Irrenarztes einer eingehenden Würdigung unterzogen zu haben.

[S. 10]

Als Vorläuferin sexueller Ausschweifungen spielt ferner zweifelsohne die Onanie eine grosse Rolle, welche ganz kürzlich in dem Buche von Rohleder[15] die erste kritische und als solche mustergiltige Bearbeitung gefunden hat.

Wichtige Aufklärungen über die Natur der geschlechtlichen Beziehungen des Menschen werden auch durch das Studium jener körperlichen Vorgänge dargeboten, welche nur unmittelbare Einflüsse auf die sexuellen Akte ausüben. Vor allem gehören hierher die Sinne, der Stoffwechsel und die psychischen Vorgänge.[16] Gerade aus der Untersuchung der Beziehung der Sinne zum Geschlechtsleben, vor allem des Geruchs und Gesichts, wird sich das häufige Erworbensein abnormer Zustände ergeben. Eine experimentale Psychologie der Liebe existiert nicht.[17] Was bisher unter dem Namen einer „Psychologie der Liebe“ geboten wurde, ist in naturwissenschaftlicher Hinsicht kaum beachtenswert wie z. B. die nach anderer Richtung hin vortreffliche „Psychologie der Liebe“ von Julius Duboc. „Einige wenige sorgfältige Untersuchungen, die aber noch der Bestätigung und weiterer Ausdehnung bedürfen, einige Beobachtungen über formlose Tatsachenmassen, die in praktischer Lebenserfahrung aufgehäuft sind und die ihren Wert haben, wenn sie auch in mannigfacher Weise missverstanden und falsch ausgelegt werden können — das ist alles, was die empirische Psychologie bisher über die intellektuellen Unterschiede der Geschlechter zu bieten hat.“ (Havelock Ellis.)

[S. 11]

Die breiteste Grundlage für eine naturwissenschaftliche Erforschung der psychischen Erscheinungen des menschlichen Geschlechtslebens bildet unzweifelhaft das von der Anthropologie und Ethnologie gesammelte Material, wie es in dem klassischen Werke von Ploss und Bartels[18] vorliegt. Hier beginnen schon vielfach die Berührungen mit den soziologisch-historischen Problemen des Sexuallebens.

Die Liebe, als physisches Problem betrachtet, umfasst auch, was wir zum Schluss nur noch kurz erwähnen wollen, die organischen Geschlechtskrankheiten des Menschen.

2. Die Liebe als historisches Problem.

Die Liebe als geschichtliche Erscheinung ist nichts an und für sich. Sie ist, ganz evolutionistisch gefasst, das zu immer grösserer Freiheit fortschreitende Verhältnis zwischen der physischen Liebe und den aus der Selbstentfaltung des Geistes hervorgegangenen Formen der Gesellschaft, des Rechtes und der Moral, der Religion, der Sprache und Dichtung. Es ist wichtig zu betonen, dass es auf diesem Gebiete keine Kausalität, keine Gesetze in naturwissenschaftlichem Sinne geben kann, dass die von Herbert Spencer inaugurierte „organische Methode“ der Soziologie den geschichtlichen Erscheinungen nicht gerecht zu werden vermag. Es gibt bei der Betrachtung sozialer Phänomene keine Gesetze, sondern nur Rhythmen[19]. „Den Schritt vom Rhythmus zum[S. 12] Gesetz können wir heute noch nicht wagen, wenn wir gleich der Ueberzeugung sind, dass Rhythmen letzten Endes auf (uns noch verborgene) soziale Gesetze zurückdeuten.“ (Stein.) Trotzdem ist hierbei blinder Zufall ausgeschlossen. Denn dieser soziale Rhythmus stellt sich bei bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen regelmässig wieder ein und nimmt damit für uns das Gepräge bestimmter Gesetzlichkeit an. Achelis (a. a. O. S. 68) macht in dieser Beziehung auf die bekanntesten statistischen Erhebungen über Wiederkehr derselben Vergehen, über den wahren Zusammenhang von Moral und wirtschaftlichen Verhältnissen aufmerksam. Es handelt sich also auch, insofern die Liebe als geschichtliche und soziologische Erscheinung in Betracht kommt, nur um Auffindung jener Rhythmen, jener regelmässig wiederkehrenden Formen und Typen des Geschehens.

Die Liebe als eine soziale Erscheinung, als Produkt der Gesellschaft, erscheint wesentlich in den beiden Formen der Ehe und der Prostitution.

Eduard Westermarck, Professor an der Universität in Helsingfors, hat das für alle Zeit grundlegende Werk über die Geschichte der menschlichen Ehe geschrieben, welches wir nicht anstehen, den besten kulturhistorischen und soziologischen Werken eines Buckle, Tylor, F. A. Lange u. a. ebenbürtig an die Seite zu stellen.[20] Dies Buch weist in der unwiderlegbarsten Weise mit der gediegensten wissenschaftlichen Argumentation die Ehe als die überall wiederkehrende primitive soziologische Form und das soziologische Endziel der Liebe nach und macht der noch bis in die neueste Zeit von Bachofen,[S. 13] Mc.-Lennan, Morgan, Lubbock, Bastian, Lippert, Kohler, Post vertretenen Lehre von der ursprünglichen geschlechtlichen Ungebundenheit, der sogenannten Promiscuität für immer ein Ende. Die „Kritik der Promiscuitätslehre“ (a. a. O. S. 46–130) gehört zu den glänzendsten Leistungen der modernen Soziologie. Ihr Ergebnis muss auf die Anschauungen über das menschliche Geschlechtsleben nicht blos in soziologischer, sondern auch in philosophischer Hinsicht den grössten Einfluss ausüben.

Nach Westermarck kommt die Ehe schon bei vielen niedrigen Tiergattungen vor, bildet bei den menschenähnlichen Affen die Regel und ist bei den Menschen allgemein. Ihr Ursprung muss offenbar einem durch den mächtigen Einfluss der natürlichen Zuchtwahl zur Entwickelung gebrachten Instinkt zugeschrieben werden. Dass der Urmensch die Ehe kannte, darf man mit grösster Zuversicht mutmassen. Denn die Ehe der Primaten (Menschen und Affen) scheint aus der kleinen Anzahl der Jungen und aus der Länge des Kindesalters hervorgegangen zu sein. Mit aller Wahrscheinlichkeit bezeichnet Westermarck die menschliche Ehe als ein von den affenähnlichen Urmenschen überkommenes Erbe. Ferner weist er nach, dass gerade bei den am niedrigsten stehenden Völkerschaften die geschlechtlichen Beziehungen sich am wenigsten der Promiscuität nähern. Wir haben sogar Grund zu dem Glauben, dass mit dem Fortschreiten der Kultur die ausserehelichen Beziehungen der Geschlechter zugenommen haben. Demgemäss hat in Europa die Zahl der Ehelosen eine Zunahme, das Durchschnittsalter der Eheschliessung eine Hinaufschraubung erfahren.

[S. 14]

Allerdings ist die Lebenslänglichkeit der Ehe durchaus nicht ganz allgemein. Bei den meisten unzivilisierten und vielen vorgeschrittenen Völkern darf der Mann der Gattin jederzeit nach Belieben den Abschied geben. Bei sehr vielen anderen jedoch — auch solchen auf niedrigster Stufe — bildet die Scheidung den Ausnahmefall. Es kommt auch vor, dass dem Weibe gestattet ist, dem Gatten den Laufpass zu geben. Im allgemeinen nimmt die Dauer der Ehe mit der Vervollkommnung des Menschengeschlechts stetig zu.

Während die Ehe als die eminent soziale Form der Liebe zu betrachten ist, in welche sich seit jeher das menschliche Geschlechtsleben gekleidet hat, muss als ihr Gegenpol, als absolut antisoziale Erscheinung die Prostitution bezeichnet werden. Man nennt sie, wie bekannt, ein „notwendiges Uebel“. Eine wissenschaftliche, dem Stande der modernen Forschung entsprechende Geschichte der Prostitution existiert noch nicht. Das grosse achtbändige Werk von Dufour[21] enthält zwar eine grosse Menge Material, dasselbe ist aber gänzlich unübersichtlich zusammengestellt. Zudem verliert auch diese Zusammenstellung jeden Wert durch den gänzlichen Mangel der genauen Quellennachweise. Nur aus einer gleichmässig die Ergebnisse der Soziologie, Hygiene und Nationalökonomie verwertenden geschichtlichen Darstellung der Prostitution würde sich ein sicheres Urteil über die Ursache und[S. 15] die Abhilfe dieses sozialen Uebels gewinnen lassen. Besonders Bebel’s Werk „Die Frau und der Sozialismus“ hat manche unrichtigen Anschauungen über die Ursachen der Prostitution verbreitet, indem dieser Autor dieselben auf die wirtschaftliche Ausbeutung und die Hungerlöhne zurückführt. Demgegenüber sei nur auf die gediegene, aus langjähriger Erfahrung hervorgegangene Arbeit über Prostitution von G. Behrend[22] hingewiesen, der ganz andere Ursachen derselben aufdeckt, dieselben vor allem in einer fast stets erworbenen Lasterhaftigkeit sieht und ganz richtig bemerkt, dass man meist die veranlassenden äusseren Momente für die eigentlichen Ursachen ansieht. Der bedeutendste Forscher über Prostitution neben Behrend ist B. Tarnowsky[23], der bemerkenswerter Weise zu den gleichen Ergebnissen wie jener gelangt ist und als eine Fabel nachweist, dass die Armut die nie versiegende Quelle der Prostitution sei. Auch A. Hegar hat den Versuch gemacht, Bebels Behauptungen zu widerlegen, und zugleich in seiner sozialhygienischen Studie Vorschläge zu einer Beseitigung des „geschlechtlichen Elends“ gemacht.[24]

Den kühnsten Vorstoss in der Erklärung der Prostitution hat aber wohl Lombroso unternommen. Er geht von dem unzweifelhaften Zusammenhange zwischen Prostitution und Verbrechen aus und statuiert, dass die „Donna delinquente e prostituta“ nur eine besondere Abart des „reo nato“, des „geborenen Verbrechers[S. 16]“ sei[25]. Ganz richtig bemerkt er, dass daher die Dirnennatur nicht nur in den unteren Klassen vorkomme, sondern ihr Aequivalent auch in den höheren Gesellschaftsschichten habe, was wiederum ein Beleg dafür ist, dass man nicht die Armut als Ursache der Prostitution anschuldigen kann. Trotzdem halten wir die Theorie der „geborenen Prostituierten“ für verfehlt und müssen auch wiederum den äusseren Einflüssen wie falscher Erziehung, Umgebung u. s. w. mehr Bedeutung zuerkennen. Jedenfalls bringt das Buch Lombrosos wertvolle Aufschlüsse über den niemals bestrittenen innigen Zusammenhang von Prostitution und Verbrechen.

Das Verhältnis der Liebe zum öffentlichen Recht spiegelt sich vor allem in der sogenannten Frauenfrage wieder. Nimmt man, wie wir gesehen haben, die Ehe als Grundlage der Gesellschaft und als das soziologische Endziel der Liebe, so ist eine allgemeine „Frauenemanzipation“, d. h. die völlige Aufhebung aller gesellschaftlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau ein Widerspruch in sich selbst. Denn die Ehe bedingt allein schon durch die Geburt der Kinder, die Sorge für diese und die wirtschaftlichen Angelegenheiten der Familie eine Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Auch lassen sich trotz glänzender Ausnahmen die grossen körperlichen und geistigen Verschiedenheiten von Mann und Weib nicht verleugnen. Hiermit ist das Zugeständnis grösserer Rechte und zahlreicherer Bildungsgelegenheiten an die Frauen wohl vereinbar, besonders angesichts des grossen Ueberschusses der Zahl derselben über diejenige der Männer, sowie der späten Heiraten der letzteren. An[S. 17]fang und Ende der „Frauenfrage“ ist für uns in dem einen Satze beschlossen: Die Frau ist die gleichberechtigte aber nicht gleichmächtige Gefährtin des Mannes.

Die rechtliche Beurteilung des Verhältnisses zwischen Mann und Weib hängt aufs innigste zusammen mit der ethischen Seite. Eine wichtige Aufgabe einer Wissenschaft des Geschlechtslebens wird darin bestehen, den Einfluss der jeweiligen Lehren der Moral auf die menschliche Liebe und ihre Aeusserungen zu studieren und im Zusammenhange darzulegen. Für Deutschland ist in neuester Zeit ein derartiger, freilich noch unvollkommener Versuch unternommen worden.[26] In der Tat bildet die Regelung des sexualen Lebens „innerhalb der Oeffentlichkeit“ einen integrierenden Teil der Moralgeschichte überhaupt, und Rudeck hat Recht, wenn er diese zugleich als eine „Kritik der gesamten Kultur“ bezeichnet, deren Art und Bedeutung sich nirgends so treu wiederspiegelt wie auf geschlechtlichem Gebiete. Dass die moralische Beurteilung geschlechtlicher Verhältnisse zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern eine ganz verschiedene gewesen ist, ist eine längst bekannte Tatsache. Und doch wird auch hier eine kritische Untersuchung gewisse Normen feststellen können, die Allgemeingültigkeit beanspruchen. Mit der Vervollkommnung des Menschengeschlechts entwickelt sich auch eine Ethik des Sexuallebens. So führt Westermarck in seiner „Geschichte der menschlichen Ehe“ den stringenten Nachweis, dass das Schamgefühl etwas sekundäres und zwar die Folge, nicht die Ursache der Bekleidung ist.

[S. 18]

Ein sehr grosses Forschungsgebiet ergiebt sich aus den Beziehungen zwischen Liebe und Religion. G. Herman, dessen Buch wir oben erwähnten, hat im Detail geschildert, wie alle Mythologie und Religion auf sexueller Grundlage erwachsen ist, und deduziert mittelst einer höchst interessanten Beweisführung, dass aus den geschlechtlichen Feiern und Mysterien der Urvölker die Riten der heutigen Konfessionen geworden sind. Man darf behaupten, dass die Religion oder besser der Konfessionalismus das menschliche Geschlechtsleben im ganzen höchst ungünstig beeinflusst hat. Man denke nur an die religiöse Mystik mit ihren sexuellen Ekstasen und Ausschweifungen, an den Kult der „Satanskirche“, die „schwarze Messe“ u. dgl. mehr. Die monotheistischen Religionen, sobald sie zum Konfessionalismus entarten, sind hierin um nichts besser als die heidnischen Religionen, ja vielleicht noch schlimmer, und es liegt etwas Wahres in Nietzsches Ausspruch[27]: „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken: — er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster“. Die meisten erotischen Epidemien sind religiösen Ursprungs.

Dass die Erscheinungen der Liebe bei verschiedenen Völkern gewissermassen nationale Formen annehmen, lehrt die Ethnologie. Die Liebe des Russen ist eine andere als die Liebe des Franzosen, die Liebe des Griechen eine andere als die des Böhmen. Einen wahrhaft objektiven Ausdruck findet diese ethnologische Verschiedenheit in der Sprache. In ihr werden die[S. 19] feinsten Nüancen sexueller Gefühle durch die betreffenden Worte sichtbar. Abel hat in einer höchst schätzbaren Abhandlung den ersten Versuch einer derartigen linguistischen Erforschung der Liebe gemacht.[28] Er untersucht so die Worte für Liebe in der lateinischen, englischen, hebräischen und russischen Sprache.

Die Sprache führt uns zur Dichtung. Die Werke der Literatur bieten uns ein dankbares Feld für vergleichend-geschichtliche Untersuchungen über die menschliche Liebe. Die Weltliteratur liefert das Baumaterial für eine historische Psychologie der Liebe. Sie bietet, wie Stein (a. a. O. S. 33) sagt, „den dankbarsten vergleichenden Stoff, der seiner sozialgeschichtlichen Bezwinger harrt“. Hier sind noch wahre wissenschaftliche Schätze zu heben. Homer und die Bibel, die Veden und Upanishaden, die gesamte Weltliteratur in allen ihren Auszweigungen enthalten die getreuen Abbilder dessen, was die Liebe bei jedem Volke und zu jeder Zeit gewesen ist.

Endlich wird das menschliche Geschlechtsleben beeinflusst durch die materielle Kultur einer bestimmten Epoche. Krieg und Frieden, städtisches Leben und ländliche Idylle, Kleidung und Nahrung u. v. m., verschieden nach Zeit und Ort, üben auch auf die menschliche Liebe die grössten Wirkungen aus.

So ist die Liebe als geschichtliche Erscheinung unendlich reich an Beziehungen jeder Art, welche eine höhere Bedeutung des Eros ahnen lassen als sie die rein physische Liebe erkennen lässt. Untersuchen wir daher

[S. 20]

3. Die Liebe als metaphysisches Problem.

Dass der menschlichen Liebe eine höhere Bedeutung innewohnt, leuchtet schon daraus hervor, dass sie allein die Ursache der höchsten dichterischen Verzückung bei allen Völkern gewesen ist und noch ist. Und zwar ist es nicht die äussere Erscheinung, sondern das gewaltige innere Wesen der Liebe, was den Menschen unwiderstehlich bezwingt. Wie Don Cesar in der „Braut von Messina“ sagt:

Nicht ihres Lächelns holder Zauber war’s,
Die Reize nicht, die auf der Wange schweben,
Selbst nicht der Glanz der göttlichen Gestalt —
Es war ihr tiefstes, ihr geheimstes Leben,
Was mich ergriff mit heiliger Gewalt.

Was ist nun dieses „tiefste und geheimste“ Leben? Was ist der wahre Zweck, das wirkliche Endziel der Liebe?

Zwei berühmte Philosophen der Neuzeit, Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann haben die gleiche metaphysische Betrachtung über die Liebe angestellt, die das grösste Aufsehen erregte und viele Nachbeter fand. A. Schopenhauer[29] erblickt die Bedeutung der Liebe in der Erfüllung der Zwecke der Gattung, welche in der Reihenfolge und dem endlosen Flusse der Generationen ihr Leben führt. „Die sämtlichen Liebeshändel der gegenwärtigen Generation zusammengenommen sind demnach des ganzen Menschengeschlechts ernstliche meditatio compositionis generationis futurae, e qua iterum pendent innumerae generationes“. Dabei verlarvt sich aber der[S. 21] Gattungszweck, indem er in der Gestalt der Geschlechtsliebe eingeht in den persönlichen Zweck der Individuen und erscheint als deren höchstes Glück, als der Gipfel aller ihrer Wünsche, daher in der erhabensten Form, in den überschwenglichsten Gefühlen und Entzückungen, als das unerschöpfliche Thema aller Poesie, der lyrischen, epischen und dramatischen, als der Gegenstand des Lustspiels und des Trauerspiels. Eros spielt seine Rolle auf dem Sokkus und auf dem Kothurn. Dass die Liebenden die Erfüllung des Gattungszweckes für den Gipfel ihres persönlichen Glückes halten, darin besteht die tragische Illusion, der Wahn. Es ist ein schrecklicher Wahn. Denn im Genuss der Wollust kontrahiert der Mensch eine schwere Schuld, welche das erzeugte Individuum zu büssen und durch Leiden und Tod bezahlen muss. „Das Leben eines Menschen, mit seiner endlosen Mühe, Not und Leiden, ist anzusehen als die Erklärung und Paraphrase des Zeugungsaktes“. Der Eros als Ausdruck des Willens zum Leben, „wie ist er so sanft und zärtlich! Wohlsein will er, und ruhigen Genuss und sanfte Freude, für sich, für andere, für alle. Es ist das Thema des Anakreon. So lockt und schmeichelt er sich selbst ins Leben hinein. Ist er aber darin, dann zieht die Qual das Verbrechen, und das Verbrechen die Qual herbei. Greuel und Verwüstung füllen den Schauplatz. Es ist das Thema des Aeschylos“. (a. a. O. S. 670.)

Die Illusion, die Täuschung und die Verzweiflung der Liebe schildert prachtvoll E. v. Hartmann[30]. Sein Schluss ist dieser: „Wer einmal das Illusorische des Liebesglückes nach der Vereinigung und damit auch desjenigen vor der Vereinigung, wer den in aller Liebe[S. 22] die Lust überwiegenden Schmerz verstanden hat, für den und in dem hat die Erscheinung der Liebe nichts Gesundes mehr, weil sich sein Bewusstsein gegen die Oktroyierung von Mitteln zu Zwecken wehrt, die nicht seine Zwecke sind; die Lust der Liebe ist ihm untergraben und zerfressen, nur ihr Schmerz bleibt ihm unverkürzt bestehen.“

Wer, wie wir, den Begriff der Liebe evolutionistisch fasst, kann eine solche Metaphysik der Geschlechtsliebe nicht anerkennen. Es ist richtig, dass das rein Physische der Liebe mehr Unlust als Lust mit sich bringt durch Vorspiegelung seliger Freuden, die nachher zerrinnen wie Schaum. Aber die physische Liebe ist nur der Anfang einer Entwickelung, deren Ende gerade dem Individuum die grösste Seligkeit verheisst. Die physische Liebe ist nur der als solcher notwendige Durchgangspunkt zu dem wirklichen Endziele, der platonischen Liebe. Das metaphysische Endziel der Liebe ist die Erkenntnis, die vollendete Freiheit. „Und Adam erkannte Eva“ heisst es tiefsinnig in der Bibel!

Platos und Hegels Dialektik haben aufs treffendste diese Wahrheit erleuchtet. Ganz richtig bemerkt Wigand[31], dass die platonische Liebe der natürlichen oder physischen Liebe gar nicht entgegengesetzt ist, sondern die Liebe zum sinnlichen und körperlichen Schönen ist die Leiter und die Leiterin zur Liebe und Erkenntnis alles unsichtbaren Schönen und Guten in Natur- und Menschenwelt, in Kunst und Wissenschaft von Stufe zu Stufe bis zur letzten Sprosse dieser Leiter,[S. 23] zur Anschauung der Allgesetzlichkeit, des Absoluten.

Noch deutlicher wird dies, wenn wir in den Sinn der Worte eindringen, welche die göttliche Diotima im „Gastmahl“ des Plato spricht, Worte, die ewig und unvergänglich sind.

„Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem anderen dazu angeführt zu werden, dass man von diesem einzelnen Schönen beginnend, jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige, gleichsam stufenweise von einem zu zweien und von zweien zu allen schönen Gestalten und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes selbst, was schon ist, erkenne. Und an dieser Stelle des Lebens, lieber Sokrates, wenn irgendwo, ist es dem Menschen erst lebenswert, wenn er das Schöne selbst schaut.“ (Platons Symposion 210, 11.)

Das ist der wahre Sinn der platonischen Liebe. Sie ist der sinnlichen Liebe nicht entgegengesetzt, sondern geht von ihr aus und erhebt sich zu höheren Formen, indem sie den innigen Zusammenhang zwischen physischer und geistiger Zeugung ausdrückt, worin das Wesen jeder wahren und echten Liebe wurzelt.[32]

[S. 24]

Das Endziel der Liebe ist die Erkenntnis. Mit einer Ahnung dieses Sachverhaltes sagt Schopenhauer in den „Paränesen und Maximen“: „Zumal wird uns oft da, wo wir Genuss, Glück, Freude suchten, statt ihrer Belehrung, Einsicht, Erkenntnis, ein bleibendes, wahrhaftes Gut, statt eines vergänglichen und scheinbaren.“

Die platonische Liebe, so rätselhaft wie sie auf den ersten Blick erscheint, empfängt ihre hellste Beleuchtung durch die dialektische Methode Hegels, des „Weltphilosophen“, wie ihn C. L. Michelet nennt, des Darwin der geistigen Welt, wie wir ihn nennen möchten.

Für Hegel ist auch der Begriff der Gattung evolutionistisch.[33] Das Leben enthält ein Problem in sich, welches durch die blossen Lebensfunktionen nicht aufgelöst wird. Die Aufgabe oder der Lebenszweck fordert die Erzeugung der Gattung. Die Lösung der Aufgabe bietet die Erzeugung immer neuer Individuen, welche selbst wieder Individuen ihrer Art hervorbringen. Das ist der Fluss der Generationen, die endlose Reihe der Geschlechter, welche entstehen und vergehen. Es ist die Gattung in der Form des endlosen Prozesses. Nur in der zeugenden Generation lebt die Gattung wirklich.

In demselben Masse, als eine Generation den Gattungszweck erfüllt hat, in demselben Masse hat sie ihren Lebenszweck erfüllt. Sie stirbt daher ab wie ein[S. 25] verbrauchtes Mittel der Gattung, sie vergeht und mit ihr die Individuen dieser Generation.

Es leuchtet demnach ein, dass in dem Zeugungsprozess die Aufgabe weder der Gattung noch des Individuums wirklich gelöst wird. Das Individuum bringt es nur bis zur Generation, die Gattung bringt es auch nicht weiter. In dem beständigen Flusse der Generationen, in dem unaufhörlichen Wechsel der Geschlechter wird die Gattung nicht wahrhaft objektiv und das Individuum nicht wirklich allgemein. Das einzelne Individuum vergeht wirklich, und die Gattung, da sie nur in dem Wechsel der Geschlechter, in dem Entstehen und Vergehen der Individuen erscheint, hört nicht auf zu vergehen. So wird vermöge des blossen Lebens der Selbstzweck des Allgemeinen in der Tat nicht erfüllt und verwirklicht.

Wenn man will, so kann man dies die Tragödie der physischen Welt nennen.

Was aber in der physischen Welt unmöglich ist, ist in der geistigen Welt Regel und Selbstzweck.

Das Individuum soll die Gattung erzeugen, die es im Zeugungsprozess nicht erreichen und objektiv machen kann. So fordert es der Selbstzweck der Gattung wie der des Individuums.

Die Gattung will als solche erzeugt sein, als die erzeugende Macht der Individuen, als das wahrhaft Allgemeine. Es gibt nur eine Form, die das Allgemeine in diesem Sinne vollkommen ausdrückt: der Begriff. Es gibt nur eine hervorbringende Tätigkeit, die imstande ist, den Begriff zu erzeugen: das Denken. In dem begreifenden Denken allein wird das Allgemeine wahrhaft objektiv und das Individuum wahrhaft allgemein. Hier löst sich die Aufgabe, die[S. 26] der Begriff des Lebens fordert, aber selbst nicht löst. Sie löst sich im Denken, welches die wahren Begriffe erzeugt und dadurch die Objekte erkennt, welche die Begriffe bilden.

Hier also erscheinen die Begriffe Erzeugen und Erkennen in einem Zusammenhange und in einer Verwandtschaft, wie sie bereits Plato erkannt hat, wenn er Sokrates das Erkennen ein Erzeugen nennen lässt. Der philosophische Eros ist das Ziel des physischen. Das erzeugende Denken ist unsere wahrhaft allgemeine Tätigkeit, unsere wirkliche Gattung, die in uns entbunden und frei wird in demselben Masse, als wir selbst frei werden von den individuellen und sinnlichen Lebenszwecken.

So erscheint die sinnliche, physische Liebe als das notwendige, mit Bewusstsein zu ergreifende Anfangsglied einer Entwickelung, die zur Erkenntnis, zur Freiheit, zum Absoluten führt. Hier offenbart sich, dass dem reinen Wissen, der höchsten und wahrhaftigsten Erkenntnis niemals die Wärme des Gefühls fehlen kann. Und die Liebe selbst, sie ist nichts Dunkles mehr, keine Illusion und kein täuschender Nebel, sondern ihr Anfang und Ende ist die Erkenntnis.[34]

[S. 27]

I.
Das Zeitalter des Marquis de Sade.

Der Marquis de Sade, dessen Leben, Werke und Persönlichkeit wir in diesem Bande behandeln, ist durchweg ein Mensch des 18. Jahrhunderts. Zugleich ist er ein Franzose. Wir glauben aber, indem wir uns anschicken, das erste wissenschaftliche Werk in deutscher Sprache über diesen seltsamen, dem Namen nach aller Welt bekannten Mann zu schreiben, wahres Licht über ihn nur dadurch verbreiten zu können, dass wir ihn zunächst aus seiner Zeit, aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts erklären. Die Medizin hat scheinbar ihre Meinung über den Marquis de Sade schon ausgesprochen. Aber dieses Urteil, selbst aus dem Munde der bedeutendsten Nerven- und Irrenärzte, muss ein einseitiges bleiben, so lange man nicht das tut, was bisher unterblieben ist, so lange nicht die äusseren Bedingungen, das Milieu erforscht werden, unter denen dieses merkwürdige Leben heranwuchs, sich bildete, seine Taten vollbrachte und seine Wirkungen ausübte. Denn es ist „jedesmal von entscheidender Bedeutung, aus welchem Jahrzehnt und Jahrhundert, von welchem Volk und Land die behandelten Tatsachen entlehnt sind.“[35] Mit einem[S. 28] Worte: nicht die individual-psychologische, sondern nur die sozial-psychologische Auffassung kann zu einer wahren Erkenntnis der Persönlichkeit Sades führen. Eine wahrhaft wissenschaftliche Beurteilung gewisser typischer Persönlichkeiten ist nur auf diesem Wege möglich, wenn auch keineswegs die Bedeutung der einzelnen Individualität als solcher verkannt werden soll. Wir müssen uns auf Grund unserer Studien über den Marquis de Sade durchaus den Ansichten eines bedeutenden Soziologen der Gegenwart anschliessen[36], dass „das persönliche Ich nur den Gipfel und Schlusspunkt psychischer Faktoren überhaupt bildet. Schon psychiatrische Untersuchungen über die Zersetzung und Entartung unseres Ich haben diesen Gedanken nahe gelegt, dass unsere Persönlichkeit nicht den Anfang, sondern eher das Ende einer unendlich langen, in die Nacht des Unbewussten hinabreichenden psychischen Tätigkeit darstellt, die wir freilich nicht überall bis auf den letzten Ursprung hin erfassen können. Durch die Beobachtung des gesellschaftlichen Lebens und insbesondere der stetigen Wechselwirkung des Einzelnen mit der ihn umgebenden Gemeinschaft ist diese Hypothese zum Range einer wissenschaftlich beglaubigten Tatsache erhoben. Hier ist in den allermeisten Fällen nicht vorbedachte Ueberlegung und völlig freie Selbstbestimmung entscheidend, sondern gewohnheitsgemässe Anpassung, das Wirken dunkler, unbewusster Triebe und Regungen, ohne dass der Einzelne sich jederzeit der treibenden Gründe klar bewusst wird.“ Sitten und Bräuche, rechtliche, ästhetische und religiöse Gebilde sind grösstenteils organische[S. 29] Entwickelungen ohne bestimmtes, zweckbewusstes Eingreifen seitens des Individuums. Unsere Gefühle und Empfindungen entspringen trotz ihres eigenartigen individuellen Charakters „aus jenen Tiefen des Unbewussten, welche der endgültigen Fixierung des Ichs vorausgehen.“ Das sind aber Gedanken Hegels, das ist Hegels Lehre vom objektiven Geist, aus dem der subjektive immerwährend schöpft, und der seine eigene Entwickelung hat. Das ist in Wahrheit die berühmte und viel verschrieene „Selbstbewegung des Begriffs“. Hegel, dieser grösste Denker des neunzehnten Jahrhunderts, wird endlich zu Ehren kommen, und es ist kein Zweifel, dass seine Lehre im 20. Jahrhundert die grössten Triumphe feiern wird. Nach den Stürmen der Schopenhauer-Hartmann’schen und Nietzsche’schen Philosophie wird die Sonne Hegel’schen Geistes über der Erde leuchten. Die dialektische Methode hat die neuere Geschichtswissenschaft mit den wertvollsten Ideen befruchtet und zur Höhe ihrer gegenwärtigen Entwickelung geführt, sie wird auch der Naturwissenschaft neue Impulse geben, da sie, wie sich immer mehr herausstellen wird, nirgends der Erfahrung und den Gesetzen der Natur widerstreitet. Hegel, nicht Schopenhauer, ist der „wahre und echte Thronerbe Kants“.

So wollen wir, in einer kurzen Formel ausgesprochen, in diesem Abschnitt die Fäden aufsuchen, welche den subjektiven Geist des Marquis de Sade mit dem objektiven Geist seines Zeitalters verknüpfen. Er ist zugleich ein Vertreter des „ancien régime“ und der Revolution. Seine beiden berüchtigten Hauptwerke sind unverkennbare Erzeugnisse der grossen französischen Revolution. Also haben wir zu unter[S. 30]suchen, was Sade von seiner Zeit empfangen hat, um zu erfahren, was er ihr gegeben hat. Wir wiederholen nicht bekannte Tatsachen der französischen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, sondern wir erklären die Werke des Marquis de Sade aus jener Zeit, aus allen innerlichen und äusserlichen Verhältnissen des sozialen Lebens im 18. Jahrhundert.

1. Allgemeiner Charakter des 18. Jahrhunderts in Frankreich.

Sade nennt (Justine I, S. 2) das 18. Jahrhundert „le siècle absolument corrompu“ und lässt an einer anderen Stelle (Juliette I, 261) den Noirceuil sagen, dass es gefährlich sei „in einem verderbten Jahrhundert tugendhaft sein zu wollen“. Ihm wie anderen drängte sich also das Bewusstsein der allgemeinen Schlechtigkeit in jener Zeit zur Genüge auf. Den treffendsten Ausdruck für alle Verhältnisse dieser Epoche hat Hegel gefunden. Er sagt in seiner „Philosophie der Geschichte“[37]: „Der ganze Zustand Frankreichs in der damaligen Zeit ist ein wüstes Aggregat von Privilegien gegen alle Gedanken und Vernunft überhaupt, ein unsinniger Zustand, womit zugleich die höchste Verdorbenheit der Sitten, des Geistes verbunden ist, — ein Reich des Unrechts, welches mit dem beginnenden Bewusstsein desselben schamloses Unrecht wird“. Sind nicht Sades Werke ein getreuer Spiegel dieser Zeit des Unrechts? Auch sie predigen das Unrecht und verraten doch überall Spuren des Bewusst[S. 31]seins dieses Unrechts. Ist das „Glück des Lasters“, sind die „Verbrechen der Liebe“ nicht schamloses Unrecht?

Das 18. Jahrhundert gehört zu jenen frivolen Zeitaltern, deren Wesen ein bedeutender Schüler Hegels, Kuno Fischer, in vollendeter Weise geschildert hat.[38] Frivole Zeiten sind jene, die immer ein ablaufendes Weltalter beschliessen und das Leben der Menschheit völlig zersetzen, damit es ganz von neuem wieder anfangen könne. Fichte nannte es einst die vollendete Sündhaftigkeit. „In allen grossen Wendepunkten der Geschichte gleichen sich die Züge der verschiedenen Zeiten; sie sind abgespannt von dem alten Tagewerke und sehen so welk und ohnmächtig aus, dass man an einem neuen verzweifeln möchte. Und in der Tat, wenn sich ein Weltalter völlig abgelebt hat, so bleibt von seinem sittlichen Leben nur noch das körperliche übrig, und dieses bedarf künstlicher Reize von aussen, um erregt zu werden, da ihm die innere Kraft fehlt, die es in jugendlicher Frische hervorbringt. Es ist ein ungebundenes und doch mattes Leben, es sind fessellose und doch abgestumpfte Kräfte, die das Drama des Lebens vollbringen, ohne irgend einen sittlichen Verstand in ihm darzustellen. Es gibt keine Natur, es gibt keine Bildung in diesen Zeiten, überall nur die Prosa der Selbstsucht ohne ihre Kraft, die Ohnmacht des Genusses ohne seine Poesie“. Die Welt der Cäsaren, die Zeit des ausgelebten Papsttums, das französische Königtum vor der Revolution sind solche Perioden. Jene zweite war die vollendete Sündhaftigkeit des Katholizismus, diese[S. 32] letzte ist die vollendete Sündhaftigkeit des Königtums.

Der Genuss à tout prix ist die Parole im 18. Jahrhundert. Der Mensch aber, der um jeden Preis geniessen will, ist der Egoist. Niemals war in Frankreich der Egoismus so gross wie unter dem ancien régime und während der Revolution. Der Minister Saint-Fond, eine getreue Kopie eines Ministers unter Ludwig XV. sagt (Juliette II, 37): „Der Staatsmann würde ein Narr sein, der nicht das Land für seine Vergnügungen bezahlen liesse. Was geht uns das Elend der Völker an, wenn nur unsere Leidenschaften befriedigt werden? Wenn ich glaubte, dass Gold aus den Adern der Menschen fliessen würde, dann würde ich einen nach dem anderen zur Ader lassen, um mich mit diesem Blut zu füttern“. Diese Aeusserung findet Sade charakteristisch für das ancien régime.[39] Vor der Revolution war dieser Egoismus nur bei den herrschenden Ständen, bei Königtum, Adel und Geistlichkeit zu Tage getreten. In der Revolution ergriff er alle Schichten der Bevölkerung. Adolf Schmidt, der seine Schilderung der Revolutionszeit aus authentischen, zeitgenössischen Dokumenten schöpft, sagt darüber[40]: „Das war der scharf ausgeprägte Egoismus, die Selbstsucht und Habgier, die nicht nur die höheren Schichten der Gesellschaft, sondern alle Klassen des Volks und vornehmlich den an Zahl weit überwiegenden Bauernstand durchdrang, ja dermassen beherrschte, dass darüber alle anderen Empfindungen, auch der Vaterlandsliebe und der Menschlichkeit weit[S. 33] zurücktraten. Es gereicht zum Erstaunen und zum Entsetzen, wenn man wahrnimmt, wie während der ganzen Revolutionszeit, und mitten unter den glänzendsten Deklamationen über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, über Menschenrechte und Menschenliebe, über Aufopferung für Wohl, Grösse und Ruhm des Vaterlandes, in fast allen Schichten ein Wettrennen um Hab’ und Gut, eine kalte Berechnung zur Ausnutzung der Umstände, ein gieriges Spekulieren auf das Unglück des Staats und auf das Elend der Mitmenschen massgebend war und blieb. Jeder wollte den anderen übervorteilen und überlisten; jeder wollte im Trüben fischen, wollte persönlich sein Glück machen, sich bereichern und emporkommen“. Ebenso spricht der berühmte Mercier, der Cicerone Schopenhauers bei dessen Aufenthalt in Paris, von diesem „siècle d’égoïsme renforcé“[41]. Wir werden diesen Egoismus, diesen Hauptcharakterzug des 18. Jahrhunderts in seinen verschiedenen Formen zu studieren haben.

Der Egoismus zeitigt die Genusssucht, die Genusssucht gipfelt aber in der geschlechtlichen Lust. Das achtzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert der zum System erhobenen geschlechtlichen Lust. Moreau[42] unterscheidet drei Epochen in der Geschichte der geschlechtlichen Ausschweifungen und Verirrungen. Die erste ist die Epoche der römischen Kaiserzeit, die zweite umfasst jene grossen Epidemien „de névropathie de toutes sortes“ im Mittelalter, besonders den Glauben an die[S. 34] Existenz des Incubus und Succubus, den Kult der sogenannten „Satanskirche“ mit seinen ungeheuerlichen geschlechtlichen Monstrositäten. Die dritte Periode fällt in das 18. Jahrhundert, hell erleuchtet in ihrer ganzen spezifisch französischen Eigenart durch die Saturnalien der Regentschaft und des fünfzehnten Ludwig.

Wollust! das ist das Wort des achtzehnten Jahrhunderts, schreiben die besten Kenner dieser Zeit, Edmond und Jules de Goncourt.[43] Das ist sein Geheimnis, sein Reiz, seine Seele. Es atmet Wollust und macht sie frei. Die Wollust ist die Luft, von der es sich nährt und welche es belebt. Sie ist seine Atmosphäre und sein Atem, sein Element, seine Inspiration, sein Leben und sein Genie. Sie zirkuliert in seinem Herzen, seinen Adern und seinem Kopfe. Sie gibt seinem Geschmack, seinen Gewohnheiten, seinen Sitten und seinen Werken einen eigenen Reiz. Die Wollust geht aus dem innersten Wesen dieser Zeit hervor, sie redet aus ihrem Munde. Sie fliegt über diese Welt dahin, nimmt sie in Besitz, ist ihre Fee, ihre Muse, das Bestimmende ihrer Moden, der Stil ihrer Kunst. Und nichts ist von dieser Zeit übrig geblieben, nichts hat dies Jahrhundert der Frau überlebt, was nicht von der Wollust geschaffen, berührt und bewahrt wurde, wie eine Reliquie der göttlichen Gnade in dem Dufte des Genusses.“

Was das französische achtzehnte Jahrhundert vor allen übrigen auszeichnet und in dieser Art weder vorher noch nachher da war, das ist die Systematisierung der geschlechtlichen Liebe. Diesem Jahrhundert blieb es vorbehalten, einen Codex der Immo[S. 35]ralität aufzustellen. Das ganze Leben zielt auf den Geschlechtsakt ab, Wissenschaft, Kunst, die Konversation, die Gastronomie. Alles durchdringt der erschlaffende Hauch der rein physischen Liebe und hinterlässt jenen schweren Duft, welcher alle geistige Energie lähmt. Und als diese sich erhob in der grossen glorreichen und unvergesslichen Revolution, welche die neue Zeit geboren hat, da hing ihr jener schwere Duft noch an, zog sie wieder herab und knechtete sie und verkehrte die heftig angespannte in wilde Grausamkeit und erbarmungslosen Blutdurst.

Haben wir also als die Hauptcharaktere dieses Jahrhunderts des Unrechts den Egoismus und die geschlechtliche Unsittlichkeit nachgewiesen, welche allgemeinen Züge in dem Leben und den Werken des Marquis de Sade aufs höchste gesteigert, uns ebenfalls entgegentreten, so liegt uns nunmehr ob, immer in Beziehung auf die Persönlichkeit Sades die Ursachen jener Frivolität näher zu ergründen, zu erforschen, aus welchen Faktoren jene allgemeinen Charaktere des Jahrhunderts sich zusammensetzen.

2. Die französische Philosophie im 18. Jahrhundert.

In der Philosophie stellt sich der Geist eines Zeitalters am reinsten und bestimmtesten dar. So war auch die französische Philosophie gleichsam der wissenschaftliche Ausdruck für den Egoismus, die Genusssucht und die Geschlechtslust jener Zeit. Sie war durchweg sensualistisch und materialistisch gerichtet. Sehr drastisch lässt Sade die Dubois sagen (Justine I, 122): „Das Element der Philosophie ist der Geschlechtsgenuss!“[S. 36] Die Philosophie spielt in den Werken Sades eine grosse Rolle. Sehr häufig kehrt der Ausspruch wieder: „Das Feuer der Leidenschaft wird stets an der Fackel der Philosophie entzündet“ (z. B. Juliette I, 92, 158, 319 u. s. w.). Einen sehr grossen Teil der Bücher Sades nehmen langatmige philosophische Exkurse ein, die wir in einem späteren Abschnitt zu würdigen haben. Dabei verfährt Sade sehr eklektisch und unkritisch. Er nennt z. B. in einem Atem Spinoza, Vanini und Holbach, den Verfasser des „Système de la Nature“ (Juliette I, 31). Dann Buffon (Philosophie dans le Boudoir I, 77), welcher noch den Versuch einer Milderung des starren Materialismus macht. Die Namen von Voltaire (Juliette I, 88) und Montesquieu (Juliette IV, 8; V, 252 u. ö.) dürfen natürlich auch nicht fehlen. Montesquieu ist aber nur ein „demi-philosophe.“ An Rousseaus Ideen klingt der Ausdruck an: „Die Menschen sind nur rein im natürlichen Zustande, sobald sie sich daraus entfernen, erniedrigen sie sich“ (Juliette IV, 242). Den grössten Einfluss scheint La Mettrie auf Sade ausgeübt zu haben. Wenigstens erscheint uns das philosophische System des Marquis de Sade, wenn man den eklektischen Mischmasch als solchen bezeichnen darf, mit Vorliebe Gedanken La Mettries zum Ausdruck zu bringen. Beide suchen die Legitimation und Erhöhung des Geschlechtsgenusses in der philosophischen Analyse. Hierbei wird La Mettrie ausdrücklich erwähnt (Juliette III, 211). Als Philosoph ist entschieden La Mettrie den Ideen Sades am nächsten gekommen.

Montesquieu und Voltaire hatten die sensualistische Philosophie Lockes in Frankreich bekannt gemacht, wo schon der Skeptizismus Pierre Bayles[S. 37] die Philosophie dem christlichen Glauben als das Höhere und Wahrere entgegengestellt hatte. Während bei den englischen Philosophen, sowie bei Voltaire und Montesquieu die sensualistischen Anschauungen nur theoretisch entwickelt wurden, der Sensualismus wesentlich Erkenntnislehre blieb, machten sich bald Bestrebungen geltend, den Sensualismus und seine natürliche Konsequenz, den Materialismus, auf das praktische Gebiet zu übertragen. Die Erkenntnis ist eine Funktion der Sinne. Die Grundlage der Moral ist das eigne Wohl, der Egoismus. Ewig ist nur die Bewegung, die aus sich selbst alle Dinge hervorbringt und keines Schöpfers bedarf. Freier Wille und Unsterblichkeit der Seele, sowie der Gottesbegriff sind daher Utopien. Die Materie ist das einzig Sichere. Eine Seele gibt es nicht. Der Atheismus ist die einzige Religion, die in der Anbetung der Natur, im glücklichen Leben und physischen Genuss ihre Befriedigung findet. Aus diesen vorzüglich von La Mettrie und Holbach formulierten Sätzen ergab sich das, was die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts besonders charakterisiert, ihre Opposition gegen Kirche und Religion, ihr Eintreten für die Freiheit des einzelnen Individuums. Niemals ist die Philosophie mit solcher Energie auf alle Lebensverhältnisse angewendet worden, mit bewusster Tendenz, diese umzugestalten, wie im 18. Jahrhundert. Die französische Revolution war vor allem ein Werk der Philosophen; und das hat man schon frühzeitig erkannt. So sagt Barruel, ein fanatischer Verteidiger des ancien régime[44]: „Diese Revolution wurde seit langer Zeit von Menschen geplant, welche unter dem Namen von Philosophen sich[S. 38] in die Rolle geteilt hatten, Thron und Altar zu stürzen.“ Es gab daher politische und religiöse Philosophen. Der Hauptrepräsentant der politischen Philosophie ist Mirabeau, der leidenschaftliche Anwalt des dritten Standes. Er tat aber auch den berühmten Ausspruch: „Wenn Ihr eine Revolution wollt, so müsst ihr zuerst Frankreich entkatholisieren.“ (Si vous voulez une révolution, il faut commencer par décatholiciser la France). Wie sehr der Atheismus eines La Mettrie und Holbach[45] ins Volk gedrungen war, beweist folgender von Dutard erzählte wirkliche Vorfall[46]: Drei Priester kehrten von einer traurigen Amtsverrichtung zurück. Der Vordere stiess mit dem silbernen Kreuz an einem beladenen Lastträger, der mit einem unbeladenen Kameraden daherschritt. „Nanu!“ rief der Gestossene, „du da, pack dich mit deinem Kreuz.“ — „St!“ sprach sein Kamerad, „es ist ja der gute Gott!“ — „Ach was, der gute Gott!“ versetzte jener, „es gibt keinen guten Gott mehr!“ — Man schritt daher konsequenterweise zu praktischer Ausführung dessen, was der Marquis de Sade als Einer von Vielen in seinen Werken immer und immer wieder predigt, zur Abschaffung der verhassten Religion. In der Sitzung des Konvents vom 17. November 1793 sagt Cloots, dass die Religion das grösste Hindernis der Glückseligkeit sei. Es gäbe keinen anderen Gott als die Natur, keinen anderen Herrn als das Menschengeschlecht, der Gott des Volkes, die Vernunft müsse alle Menschen vereinigen. — Feierlich schwor am 7. November 1793 im Schosse des Konventes der Bischof Gobel mit[S. 39] einem Häuflein seiner Geistlichkeit den katholischen Kultus und das Christentum ab. Die priesterlichen Mitglieder des Konventes folgten sofort seinem Beispiel. Am 10. November wurde dann in der Kirche Notre-Dame der seltsame Kultus der Vernunft eingeweiht. Die Vernunft wurde Fleisch in Gestalt einer schönen jungen Frau, die der Präsident des Konventes mit dem Bruderkusse umarmte. „So wurde die abstrakte Vernunft zur sinnlichen Göttin gestempelt, die Göttin zum Menschenweibe degradiert und die Gottheit zu einer Vielheit von menschlichen Göttinnen oder Gottweibern gestaltet.“[47] Man sieht also, dass der Atheismus, der bei Sade oft abschreckende Formen annimmt, nichts ihm Eigentümliches ist, sondern jener Zeit gemäss war. Man sieht ferner, wie schliesslich dieses ganze atheistische Gebahren auf den geschlechtlichen Genuss hinausläuft, der in der Revolutionszeit wahrhaft ungeheuerliche Dimensionen annahm. Die „Vernunft“, deren Kultus aufgerichtet wurde, d. h. die Philosophie, hatte ihn längst verherrlicht. So erwähnt Sade (Juliette IV, 198) La Mettries Schrift „Sur la volupté“, womit wahrscheinlich die „L’art de jouir“ (1751) gemeint ist. Hier entwickelt La Mettrie die Regeln für den Genuss der physischen Liebe, die er als das Schönste und Begehrenswerteste auf der Welt preist, wobei er die Befriedigung aller „caprices de l’imagination“ für geheiligt erklärt.

Die Philosophie, in welcher die geistige Bewegung jener Zeit ihren allgemeinsten und intensivsten Ausdruck fand, kämpfte für politische, religiöse und moralische Freiheit. Sie richtete sich gegen Staat, Kirche und konventionelles Herkommen. Alle diese[S. 40] Faktoren macht auch der Marquis de Sade zum Gegenstande seiner heftigsten Angriffe. Wir gehen daher über zur Untersuchung der einzelnen konkreten Verhältnisse in Staat, Kirche, Literatur und öffentlichem Leben, insofern dieselben zur Erklärung der Persönlichkeit und der Werke des Marquis de Sade beizutragen vermögen.

3. Das französische Königtum im 18. Jahrhundert.

Die Jugend des Marquis de Sade gehört der Regierungszeit Ludwigs XV. an, sein Mannesalter der Zeit Ludwigs XVI. Er war 34 Jahre alt, als der verderbteste König, der Frankreich je regiert hat, Ludwig XV., starb (1774). Die politische Misswirtschaft der französischen Herrscher des 18. Jahrhunderts, welche mit dem grossen Staatskrache Laws unter dem Regenten ihren Anfang nahm, unter Ludwig XV. zu dem Verluste der wichtigsten Kolonien und unter Ludwig XVI. zur Revolution führte, die einseitige Begünstigung des Adels und des Klerus, übergehen wir als zu bekannte Tatsachen, welche unser Thema nicht näher berühren. Die Genusssucht und die geschlechtlichen Ausschweifungen des Königtums werden besonders von Sade gebrandmarkt. Auch hier hatte er die Vorbilder in der Wirklichkeit. „Wenn ein Prinz von Geblüt den Weg der Wollust betritt, betritt ihn die ganze Umgebung und Gesellschaft“ sagt Moreau mit Recht[48]. Das von den französischen Herrschern des 18. Jahrhunderts gegebene Beispiel musste die verderblichste Wirkung auf die ohnehin durch und durch materialistisch gesinnte Gesellschaft[S. 41] des ancien régime ausüben. Die Zeit der Regentschaft schuf Namen und Typus des „Roué“, der eine für das ganze Jahrhundert charakteristische Erscheinung wurde. Der Roué par excellence war König Ludwig XV., berühmt durch die Zahl seiner Maitressen und durch seinen Hirschpark. Die Maitressenwirtschaft Ludwigs XV. hat unübertroffene Schilderer gefunden in den beiden Goncourts, auf deren Werke wir verweisen[49]. Sein Leben war, wie Moreau sagt, eine „beständige Unzucht.“ So konnten ihm bald seine Geliebten trotz ihrer grossen Zahl und des häufigen Wechsels nicht mehr genügen. Er schuf sich in seinem berühmten Hirschpark das Vorbild aller geheimen Bordelle, die auch in den Werken des Marquis de Sade eine grosse Rolle spielen. Man denke sich: ein König unterhält ein eigenes Bordell für seinen Privatgebrauch! Erscheint dann nicht alles, was Sade in seinen Werken gegen das Königtum sagt, in einem ganz anderen, milderen Lichte? — Ueber den Hirschpark existiert ein Werk, welches uns leider nicht zugänglich war.[50] Der Hirschpark wurde um 1750 in der Eremitage zu Versailles in dem Parc-aux-Cerfs genannten Stadtviertel von der Marquise de Pompadour für den König eingerichtet, dem sie, um sich am Ruder zu erhalten, diese neue Art von Vergnügungen verschaffte. Die Vorsteherin des Bordells war eine gewisse Bertrand, der Lieferant von jungen Mädchen[S. 42] hiess Lebel. Anfangs befanden sich nur zwei oder drei Insassinnen in dem Hause. Nach dem Tode der Pompadour wurde es sehr bevölkert (très peuplée[51]). Nach einer anderen Darstellung musste schon die Pompadour, da „sie Oberaufseherin seiner (des Königs) Belustigungen geworden war, unaufhörlich im ganzen Lande neue und unbekannte Schönheiten anwerben lassen, um das Serail, worüber sie unumschränkt gebot, zu besetzen, dazu entstand der sogenannte Hirschgarten (Parc-aux-Cerfs), diese Fallgrube der Unschuld und Aufrichtigkeit, der diese Menge von Opfern einschlang, die, wenn sie der menschlichen Gesellschaft wieder zurückgegeben wurden, Sittenverderbnis, Geschmack an Ausschweifungen und alle Laster in dieselbe zurückbrachten, womit sie notwendig durch den Umgang mit den infamen Unterhändlern dieses Aufenthaltes angesteckt werden mussten. Wenn man auch den Schaden bei Seite setzt, den dieses abscheuliche Institut den Sitten getan hat, so ist es schon schrecklich genug, wenn man das ungeheure Geld berechnet, das es dem Staate gekostet hat. Und wer kann sie berechnen, die Unkosten dieser Legion von Ober- und Unterkupplern, die in beständiger Bewegung waren, um an den entferntesten Grenzen des Reiches die Gegenstände ihrer Nachforschungen aufzuspüren und herbei zu holen, sie an den Ort ihrer Bestimmung zu bringen, ihnen daselbst die nötige Politur zu geben, sie auszustaffieren und zu räuchern und sie durch alle Mittel der Kunst reizend zu machen.“[52] Es wird ausgeführt, dass jede Einzelne dem öffentlichen Schatz eine Million Livres gekostet[S. 43] habe. „Wenn nun nur wöchentlich zwei an die Reihe gekommen sind, so beträgt dies in 10 Jahren tausend, und ist die Ausgabe also 1000 Millionen.“ Dabei sind noch nicht einmal die zahlreichen im Hirschpark geborenen Kinder mitgerechnet, die freilich wohl weniger Kosten verursacht haben mögen. Es ist also einigermassen berechtigt, dass der Verfasser der letztgenannten Schrift den Hirschpark als die Hauptursache der finanziellen Zerrüttung unter Ludwig XV. angibt. Ueber die im Hirschpark veranstalteten Orgien schwirrten zahlreiche Gerüchte umher, die jedenfalls nichts übertrieben haben.[53] Nach einem deutschen, allerdings weniger glaubwürdigen Autor[54] waren „selbst die Saturnalien der Römer zur Zeit der Cäsarenherrschaft, die schauderhaften Lupercalien eines Tiberius, Caligula, Nero, einer Agrippina, Messalina, Locusta und anderer menschlichen Ungeheuer nur blosse Vorbilder solcher Auftritte, die im Hirschpark ausgeführt wurden“. „Der Rausch war hier ein vielfältiger, durch Spiel, durch Gewürze, Wein oder andere Getränke, durch Wohlgerüche, durch Visionen aus Zauberlaternen, durch Musik und jede Gattung tierischer Genüsse hervorgebracht.“ Der Verfasser lässt sogar den Marquis de Sade an diesen Ausschweifungen teilnehmen![55] Authentisch ist, was[S. 44] Moreau nach dem „Journal de Barbier“, nach Sismondi u. a. über jene eigentümliche Verknüpfung von Religion und Wollust berichtet, welche Ludwig XV. selbst im Hirschpark vornahm.[56] „Jedesmal, wenn Ludwig XV. eine Nacht im Hirschpark zubringen wollte, erfüllte er nicht nur mit Eifer seine religiösen Pflichten, sondern litt auch nicht, dass die jungen Priesterinnen eines anderen Kultus es an den Betätigungen ihres christlichen Glaubens fehlen liessen. Sobald er sich mit einer seiner Odalisken eingeschlossen hatte, befahl er ihr, sich hinter einem Vorhang zu entkleiden, während er selbst das gleiche tat. Sodann knieten beide in Adams Kostüm auf dem Teppich und verrichteten die Tagesgebete, indem sie sich die Stirn mit Weihwasser benetzten, welches sich in einem Krystallgefässe am Kopfende des Bettes befand. Nach beendetem Gebet und nach geschehener Bekreuzigung, streichelte der König den nackten Busen der Kleinen mit seinem frommen Finger. Man erhob sich, stieg ins Bett, zog die Vorhänge zu, und die Namen des Herrn, der Jungfrau Maria und der Heiligen wurden solange geflüstert, bis der Ritus der Liebe ein anderes Vokabular zum Ausdruck brachte“.[57] Ludwig XV. besass auch, was ebenfalls wohl einzig in seiner Art dasteht, einen eigenen Beamten für das Arrangement seiner Orgien in[S. 45] der Person des „Intendant des Menus-Plaisirs“, La Ferté. Dieses ungeheuerliche Institut wurde dann auch sofort unter Ludwig XVI. abgeschafft. Am Donnerstag, 19. Mai 1774, als Ludwig XVI., 9 Tage nach dem Tode seines Vorgängers, mit der Königin und mit den Prinzen im Bois de la Boulogne lustwandelte, stellte sich Herr La Ferté vor. Der König betrachtete ihn blinzelnd von oben bis unten und fragte dann: „Wer sind Sie?“ — „Sire, ich heisse La Ferté.“ - „Was wollen Sie von mir?“ — „Sire, ich komme, die Befehle Eurer Majestät entgegenzunehmen.“ — „Weshalb?“ - „Weil — weil ich der Intendant — der Menus —“ „Was heisst Menus?“ — „Sire, es sind die Menus-Plaisirs Eurer Majestät“. — „Meine Menus-Plaisirs bestehen darin, zu Fusse im Parke zu promenieren. Ich brauche Sie nicht.“ Darauf drehte ihm der König den Rücken zu und ging.[58] Ludwig XV. hatte aber an seinen eigenen Ausschweifungen noch nicht genug, er musste auch die seiner Untertanen kennen lernen. So liess er sich von der Pariser Polizei regelmässig alle obscönen Vorkommnisse, alle pikanten Einzelheiten über die Skandalaffären der Hauptstadt berichten.[59]

Ludwig XVI. und seine Gemahlin Marie Antoinette sind persönlich von dem Vorwurfs der Sittenlosigkeit freizusprechen. Doch da unter ihrer Regierung das Genussleben am Hofe fortdauerte und der Bruder des Königs, der Graf von Artois in der Tat ein berüchtigter Wüstling war, so konnte es nicht ausbleiben, dass auch das Privatleben des Königs und besonders der Königin, welche sich als österreichische[S. 46] Prinzessin geringer Sympathien erfreute, verdächtigt wurde. Die bekannte Halsbandgeschichte wurde weidlich zur Verleumdung der Königin ausgebeutet. „Geheime und unversöhnliche Feinde machten aus einigen Leichtfertigkeiten und Unklugheiten Marie Antoinettes verdächtige und verabscheuenswerte Handlungen.“[60] Schon 5 Jahre nach dem Regierungsantritt Ludwigs XVI. erschien ein obscönes Gedicht, welches später in zahlreichen Nachdrucken verbreitet wurde, dessen erste Ausgabe zu einer Rarität geworden ist.[61] Das Gedicht behandelt die angebliche Liebschaft zwischen Marie Antoinette und ihrem Schwager d’Artois (späteren König Karl X.). Die Königin wird hier in den obscönsten Versen als eine wahre Messalina geschildert, welche der impotente König nicht befriedigen kann.

„Charlot“, der Graf d’Artois war allerdings ein Hauptteilnehmer an den von dem höfischen Adel in der Residenz veranstalteten Orgien, ebenso wie der Herzog von Orléans, Philippe Egalité. Auf den berüchtigten nächtlichen Promenaden im Palais Royal war der Graf von Artois eine gewöhnliche Erscheinung. „Der Herr Graf von Artois, der an diesen modernen Saturnalien Vergnügen findet, trägt viel zur Vermehrung des Vergnügens und des Zulaufes bei. Er begibt sich fast jeden Abend dorthin.“[62] In den „Nuits de Paris“ (Band XVI, S. 529) erzählt[S. 47] Rétif de la Bretonne, dass im Faubourg Saint-Antoine ein Bordell existierte, welches der Herzog von Orléans, der Graf von Artois und andere häufig besuchten. „Dort gab man sich allen Infamien hin, welche nachher von de Sade in seinem schrecklichen Roman ‚Justine ou les Malheurs de la vertu‘ beschrieben wurden.“ Dort wurden jene Bestialitäten begangen, welche Sade schildert.[63] Als die Gemahlin des Grafen d’Artois 1775 in Paris einzog, wurde sie von den Fischweibern (poissardes) auf offener Strasse mit folgendem durchsichtigen Liede begrüsst, das ebenfalls ein charakteristischer Beweis dafür ist, wie sehr die Unzucht bereits eine öffentliche geworden war:

Célébrons tous à Paris
Un vaillant enfant de France;
Au moment qu’il entre en danse —,
Zeste, il vous a fait un fils!
C’est un vi..... c’est un vi.....
C’est un vigoureux mari!
La moitié que nous voyons,
On dirait qu’elle n’y touche,
Mais en nuptiale couche
A des talents non moins bons.
Le beau con.... le beau con...
Ah! le beau concert, dit-on.
Pour chanter les deux époux
En riant Bacchus s’avance;
Déjà dans la cuve immense,
S’entassent ses raisins doux.
Allons fou.... allons fou.....
Allons, allons fouler tous.[64]

Sade nennt (Juliette IV, 16) Marie Antoinette „la première putain de France“, er lässt keine[S. 48] Gelegenheit vorübergehen, ohne sie zu beschimpfen (Juliette V, 252, 235 u. s. w., Phil. dans le Boud. I, 82), wie er überhaupt gegen die ganze „morgue allemande“ einen wütenden Hass hegt (Jul. IV, 16), insbesondere gegen das Haus Oesterreich (Juliette V, 340). Darüber hinaus aber möchte er überhaupt alle Könige auf der Erde vertilgen, welche die Völker berauben, und mochte eine „république universelle“ begründen. (Jul. V, 119).

4. Adel und Geistlichkeit.

Adel und Geistlichkeit spielen in den Romanen des Marquis de Sade die Hauptrolle. Prinzen, Herzöge, Grafen, Marquis, Chevaliers treten neben dem Päpste, Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen, Mönchen aller Orden, Geistlichen, Abbés, Aebtissinnen und Nonnen als erotische und atheistische Scheusale auf. Die ganze Korruption des ancien régime zieht vor unserem Auge vorüber. Adel und Klerus bildeten in Frankreich eigentlich nur einen einzigen Stand, da die Geistlichkeit grösstenteils aus dem Adel sich rekrutierte. Der älteste Sohn eines Edelmannes wurde Offizier, der zweite Sohn Priester oder Mönch, die Töchter, die sich aus Mangel an Mitgift nicht verheiraten konnten, wurden Nonnen.[65] Die Begünstigung des Adels von Seiten des Staates hatte im 18. Jahrhundert unerhörte Dimensionen angenommen. „Alle Staatsämter, Pfründe, Richter- und militärischen Stellen wurden zum grössten Teile an Adlige vergeben. Mit 18 bis 20 Jahren erlangten die jungen Edelleute ein Regiment, ohne von der militärischen Praxis eine Ahnung zu haben. Sie[S. 49] verbringen ihre Jugend in Luxus und Sinnengenuss mit Weibern.“[66]

Eine merkwürdige Mittelstellung zwischen Klerus und Adel nahm das Institut der Abbés ein, „jener entarteten Rasse und Amphibienart, die man überall fand und die nichts war.“[67] Mercier[68] erzählt, dass Paris voll von Abbés sei, Geistlichen mit Tonsur, die aber weder der Kirche dienten noch dem Staat, die im ödesten Müssiggange dahinlebten, und nur unnütze Dinge und Albernheiten trieben, nebenbei aber keine unwichtige Rolle als „Hausfreunde“, Erzieher, Schriftsteller u. s. w. spielten. Auch waren sie in allen Bordellen zu Hause, obgleich früher jede Kourtisane, die den Besuch eines Abbé anzeigte, 50 Francs bekam. Das hatte aber unter Ludwig XVI. aufgehört. Eine köstliche Schilderung eines Abbé des 18. Jahrhunderts entwirft der berühmte Gastronom Brillat-Savarin[69]: „Wenn eine adlige Familie viele Söhne hatte, so bestimmte man einen der Kirche. Er bekam anfänglich einfache Präbenden, welche zu den Kosten seiner Erziehung hinreichten, später wurde er Domherr, Abt oder Bischof, je nachdem er mehr Fähigkeit zum geistigen Berufe zeigte. Das war der legitime Typus der Abbés. Aber es gab auch viele falsche, und viele wohlhabende junge Leute traten in Paris als Abbés auf. Nichts war bequemer — durch eine leichte Veränderung der Kleidung gab man sich das Aussehen eines Benefiziaten und stellte sich jedermann gleich, man hatte Freunde, Geliebten und Gastgeber, denn jedes[S. 50] Haus hatte seinen Abbé! — Die Abbés waren klein, dick, rund, wohlgekleidet, sanft, gefällig, neugierig, Feinschmecker, lebhaft und einschmeichelnd. Die, welche noch leben, sind fette Betbrüder geworden.“ Sade hat diesen Typus im Abbé Chabert (Juliette III, 280 ff.), dem Freunde Juliettes und Erzieher ihrer Tochter gezeichnet. Die Abbés figurieren auch in den Polizeiberichten Manuels über die Unzucht der Geistlichkeit in Paris, wie wir später sehen werden.

Eine zweite für das 18. Jahrhundert spezifische Erscheinung war der „Ritter“, der Chevalier. Auch er hat in Brillat-Savarin einen liebevollen Schilderer gefunden: „Viele Ritter hatten es vorteilhaft gefunden, sich selbst den Bruderkuss zu geben. Sie waren meist hübsche Männer. Sie trugen den Degen senkrecht, den Kopf hoch, die Nase im Winde, das Bein steif; sie waren Spieler, Verführer, Zänker und gehörten wesentlich zum Gefolge einer Modedame. Zu Anfang der Revolutionskriege gingen die meisten Ritter zur Armee, andere wanderten aus, die übrigen verloren sich unter der Menge. Die wenigen Ueberlebenden lassen sich noch am Gesichtsausdruck erkennen. Aber sie sind mager und können nur mühsam gehen. Sie haben die Gicht.[70]

Die Vertreter des Klerus sind in Sades Romanen die Verüber der allerärgsten Greuel. Mit besonderer Vorliebe setzt Sade die Schandtaten, die Heuchelei und die Gottlosigkeit der Geistlichen jeden Ranges ins rechte Licht, er überhäuft den Klerus mit den gemeinsten Schimpfworten. Und er hat Grund dazu. Gerade bei der Erörterung der Lasterhaftigkeit des französischen Klerus im 18. Jahrhundert werden[S. 51] wir uns stets auf authentische historische Dokumente stützen. Nicht wir reden, sondern der Bericht der Augenzeugen, die Entdeckungen der Polizei reden und geben Sade Recht, dessen Werke bekanntlich auf den Index gesetzt wurden, wohl weniger wegen ihrer Obscönität als wegen ihres antiklerikalen Inhaltes.

So redet Juliette den Papst als „alter Affe“ an (Juliette IV, 285), und die übrigen Prälaten, Mönche u. s. w. werden nicht besser behandelt. Die Tribade Clairwil hält (Juliette II, 336) folgende Rede: „Welches sind die einzigen und wahren Zerstörer der Gesellschaft? Die Priester! Wer verführt und notzüchtigt täglich unsere Frauen und Kinder? Die Priester! Wer ist der grösste Feind jeder Regierung? Die Priester! Urheber der Bürgerkriege? Die Priester! Wer vergiftet uns beständig mit Lügen und Betrug? Bestiehlt uns bis aufs Letzte? Arbeitet am meisten an der Vernichtung des Menschengeschlechts? Beschmutzt sich am meisten mit Verbrechen und Infamien? Welche sind die gefährlichsten und grausamsten Menschen? Und wir zögern noch, dieses Pestgewürm auf der Erde zu beseitigen? Wir verdienten dann wirklich alle Uebel.“ Alle Schmerzen Frankreichs sind das Werk der Jesuiten (Juliette III, 169). Zahllos sind die Orgien und Ausschweifungen, welche von Geistlichen in den Romanen Sades veranstaltet werden. Alle sexualpathologischen Typen sind vertreten. Der Päderast, der Pathicus, der „lécheur“, der „sanguinaire“ u. s. w. Wir erwähnen nur die schauerlichen Orgien im Karmeliterkloster (Jul. III, 143), beim Erzbischof von Lyon (Jul. I, 234), in der Abtei von Saint Victor (Jul. I, 238), in den Katakomben des Klosters Panthémont zwischen Mönchen und Nonnen (Jul. I, 96) beim Papst Pius V. und den Kardinälen Albani und Bernis[S. 52] in Rom (Jul. IV, 100 ff.). Diese Geistlichen sind alle Atheisten und Gotteslästerer, Sade lässt sogar — ein Unikum in seinen Werken — im vierten Bande der „Juliette“ zwei obscöne, gotteslästerliche Gedichte des Kardinals Bernis vorlesen (S. 162–169). Wir gehen dazu über, aus den Zeitberichten die Beweise zu liefern, dass der Marquis de Sade nicht Unrecht hatte, wenn er gerade die Geistlichkeit in seinen Werken in so schimpflicher Weise blosstellt.

5. Die Pariser Polizeiberichte über die Unsittlichkeit der Geistlichen.

Pierre Manuel hat uns in seinem berühmten Werke „La Police de Paris dévoilée“ (Paris 1794) ein Werk hinterlassen, welches ein photographisch getreues Bild der sittlichen Zustände in der Stadt Paris vor dem Ausbruche der grossen Revolution genannt werden darf. Adolf Schmidt, einer der besten Kenner der französischen Geschichte im 18. Jahrhundert, welcher selbst in seinen „Tableaux de la Révolution Française“ ähnliche Berichte wie Manuel zusammengestellt hat, bezeichnet das Buch von Manuel als eine der zuverlässigsten Quellenschriften des 18. Jahrhunderts.[71]

Manuel hat in seinem berühmten Werke ein eignes Kapitel „De la police sur les prêtres.“[72] Er ergeht sich zunächst in bitteren satirischen Worten über die Keuschheitsgelübde der Priester und sagt (S. 294):[S. 53] „Ich will die wollüstigen Handlungen dieser Himmelsmissionare enthüllen, welche selbst die Leidenschaften der edlen und zartfühlenden Menschen in die Hölle verweisen. Diese Schuldigen zu nennen, heisst nicht sie entehren. Denn der keusche Mensch ist derjenige, welcher bei seiner Frau schläft.“ Kann die Unsittlichkeit des Zölibats besser und würdiger charakterisiert werden, als Manuel es mit diesen Worten getan hat?

Die nun folgenden Berichte beruhen auf den Protokollen des Polizeiinspektors, auf den Berichten der Kommissare, auf den Geständnissen der Schuldigen und auf den Mitteilungen ihrer Vorgesetzten. Wir geben die hervorstechendsten Berichte wörtlich wieder.

Franziskaner (S. 295–297): 12. Februar 1760. Der Bruder François Lortal, Profess des Hauses von Toulouse, im Hause der Laurent, rue de Chantre, bei der Zéphire. Er hat die Maxime des Virgil ins Praktische umgesetzt: nudus ara? sere nudus! Kommissar Thierion, Inspektor Marais.

2. Juli 1766. George le Payen, Pfarrverweser in Cerny, bei der Flora, sponsus super sponsam. Kommissar Grimperil, Inspektor Marais.

Bernhardiner (S. 297): 30. März 1764 J. Ignace-Xavier Dreux, Lizentiat, Professor der Theologie, bei der Agathe, oculoque manuque. Kommissar Mutel u. s. w.

Karmeliter (S. 298): 8. Februar 1763. Jacques Brebi, vom Maubert-Platze. Er war unter dem Namen Jacques Mazure bei der Garde „qu’il prenait pour un autel à la romaine.“ Bericht des Priora Amable Martin, Kommissar Duruiman u. s. w.

Dominikaner (S. 299): 4. November 1763. Pierre Simon, 46 Jahre im Beruf. Er hat mit zittern[S. 54]der Hand sein Vergnügen beschrieben. Kommissar Mutel u. s. w.

Kapuziner (S. 300): 14. Dezember 1762. Laurent Dilly, Bettelmönch aus der Rue St. Honoré, bei der Boyerie, wo er sang: tirez-moi par mon cordon! Bericht des Gardians, Pater Grégoire, Kommissar Sirebaud.

9. November 1765. J. Joseph Biache, genannt Bruder Constant, und Joseph Etienne, genannt Bruder Constantini, aus dem Kloster Crépy, alle beide im Gasthause „Cerf montant“, wo sie ein Bett zu Dreien verlangten, da sie nur die Marin bei sich hatten. Kommissar Mutel u. s. w.

Rekollekten (Franziskaner strengster Observanz) S. 301: 30. Juni 1763. Noel-Clément Berthe, genannt Bruder Paul, bei der Leblanc, welche ihn geisselte. Kommissar Mutel u. s. w.

1. März 1765 Gabriel Anheiser, genannt Pater Gabriel, im Hemde unter dem Bette der Agnes Viard. Er lebte mit dieser früheren Marketenderin seit 7 oder 8 Jahren zusammen. Kommissar Fontaine u. s. w.

19. Februar 1767. Der Pater Constance zwischen Victoire und Emilie, sich selbst dem Esel Buridans vergleichend. Kommissar de Ruisseau u. s. w.

Minimen (Pauliner) S. 302: 17. Januar 1760. André Carron, indem er auf die Wand im Zimmer der Zaire schrieb: ego ad flagella paratus sum. Kommissar Sirebeau u. s. w.

Feuillantiner: 30. Dezember 1762. Dom Claude Jousse, 63 Jahre alt, bei Marie la Neuve, ubi non horruit virginis uterum. Bericht des Subpriors Jean Baptiste de St. Marie-Maddelaine. Kommisar de Ruisseau.

[S. 55]

Augustiner (S. 303): 5. November 1763. Bernard-Nicolas, vom Hause Palais-Royal, in der Avenue von Vincennes mit drei Franziskanern und der Rosalie, qui leur faisait la chouette. Kommissar Mutel u. s. w.

26. Oktober 1765. „Ich, der Unterzeichnete Honoré Regnard, 53 Jahre alt, Kanonikus des heiligen Augustinerordens, Prokurator des Hauses St.-Cathérine, bestätige, dass der Inspektor Marais mich bei der St.-Louis, rue du Figuier, gefunden hat, zu welcher ich gestern aus eigenem Antriebe gegangen bin, um mich mit der Félix zu vergnügen. Ich liess diese sich ausziehen und berührte sie mit der unter dem Mantel verborgenen Hand. Und heute spielte ich mit der Félix und ihrer Freundin Julie, die mir meine geistlichen Gewänder auszogen und mich als Frau kleideten und schminkten. Der Inspektor hat mich in diesem Zustande überrascht. Ich erkläre, dass ich seit mehreren Jahren diese Phantasie habe, welche ich aber bis heute nicht befriedigen konnte. Als Beweis der Glaubwürdigkeit unterzeichne ich die vorliegende Erklärung, welche die genaue Wahrheit enthält, mit meinem Namen Honoré Regnard.“ Kommissar Mutel, Inspektor Marais.

18. Juli 1768 Simon Boucel, bei den Prévilles, Louise und Sophie.

Praemonstratenser (S. 306): 17. März 1760. François de Maugre, von der rue Haute-Feuille, zwischen Desirée und Zaire, alle drei glücklich. Kommissar Sirebeau u. s. w.

Büsser von Nazareth (S. 307): 2. Mai 1766. Bruder Nicephorus, bei der Laville, welche ihm zeigt albentes coxas, inguina, crura, nates. Kommissar Mutel u. s. w.

Theatiner (S. 307): 28. Februar 1765. Laurent[S. 56] Durand, bei der Dumoulin, nach der Vorschrift handelnd:

Entre la chair et la chemise
Il faut cacher le bien qu’en fait.

Kommissar Sirebeau u. s. w.

Coelestiner (S. 308): 3. Dezember 1760. J. D. Tordoir, Subprior von Nantes, bei der Mausy, in der Haltung des Propheten, welcher den Sohn der Sunamitin auferweckt.

Barmherzige Brüder (S. 308): 19. Oktober 1762. Jacques François Boulard, ehemaliger Aufseher der Novizen und Prior, bei der Lagarde, vor Victoire und Julie, quaerens quam devoret. Kommissar de Ruisseau u. s. w.

Oratorianer (S. 309): 14. November 1761. Etienne Leroi mit der Chantrelle, welche... Die Grazien hatten dem Amor die Flügel abgeschnitten. Venus nimmt ihn an ihren Busen, und sie wachsen wieder. Kommissar Mutel u. s. w.

Stiftsherren von St.-Geneviève (S. 311): 9. Mai 1761. Jean Pierre Bedosse bei der Zéphire, per ipsam, cum ipsa et in ipsa. Kommissar Sirebeau u, s. w.

2. August 1752. Der Pater Bernard, berühmter Prediger. Er nahm sich zwei oder drei Dirnen bei der Lasolle. Das kostete ihn das Vermögen einer Herzogin. Er gab 6½ Louisdors. Und der Chirurg Pouce verlangt von ihm in der Folge 40 Taler, und drei Livres für den Besuch.[73]

[S. 57]

Eremiten (S. 311): 5. August 1773. Bruder Camille, aus dem Kloster Hayet, bei Therese, wo er sich als „Portier des Chartreux“ bezeichnet. Kommissar Mutel u. s. w.[74]

Christliche Schulen (Ecoles Chrétiennes): 14. September 1763. Bruder Firmin bei der Royer, die ihn mit jenen schlechten Lesern verglich, welche ein Buch zu lesen anfangen, ohne die Lektüre zu vollenden, Kommissar Mutel u. s. w.

Stiftsherren von St.-Antoine (S. 312): 27. September 1765. François Canova, bei der Lamourette Kommissar Mutel, Inspector Marais, welche eintraten cum pariter victi, femina virque jacent.

Jesuiten (S. 313): 5. November 1764. François Terrasse-Desbillon, 52 Jahre alt, bei der Mouton, wo er sich wie ein anderer vergnügte. Kommissar Mutel u s. w.[75]

Dekane, Würdenträger und Domherren (S. 313–315): 3. April 1764. Blaise Messier, Domherr von Beauvais, bei der Blampié. Er schien gleicher Ansicht mit Rubens zu sein, welcher nur Schönheiten von 200 Pfund Gewicht liebte. Kommissar Rochebrune u. s. w.

[S. 58]

14. August 1761. Marx-Antoine Montal, von der heiligen Kapelle, bei der Provençale, anhelantem alte stratis in lectis. Kommissar de Ruisseau u. s. w.

8. Juli 1760. Marie Mocet, Erzpriester von Tours, 60 Jahre alt. Nudus una manu ad mammam, altera pudendis adhibita, inguniculabat.

3. August 1760. Jean B. Thévenet, Domherr von Poitiers, bei der Adelaide, welche, wenn sie es gekonnt hätte, gern ihre Aktäons, den Kommissar Sirebeau und den Inspektor Marais, in Hunde verwandelt hätte.

Pfarrer (Curés) S. 316: 20. Juni 1765. Jean Pierre Pelletier bei der Lambert, per cuncta cava corporis libidinem recipientem. Kommissar Mutel u. s. w.

22. August 1760. Pierre Louis Thorin. Zaire in dextrum semisupina latus. Kommissar Sirebeau u. s. w.

Abbés (Clercstonsurés) S. 317: 27. Oktober 1763. Charles Marie Thibault de Monsauche wird nach Saint-Lazare geführt, weil er zum dritten Male bei der Aurora gefunden wurde. Man fand bei ihnen einen Brief in Versen, in denen der Abbé Tethon das besang, was Hebe den Göttern zeigte, und was die Könige sehen wollen, wenn sie, um Vergnügen zu haben, bis in den fünften Stock steigen, was endlich, nach ihm, einen Schemel bei Hofe haben sollte.

Doktoren der Sorbonne (S. 318): 8. Mai 1765. J. Baptiste R..... qui truncus iners jacuerat et inutile lignum bei der Guerin.

23. Mai 1763. Fél. Auguste Tomolle quidquid liberet prolicito indicans bei der Desnoyers. Das war seine dritte These.

Erzieher (S. 319): 24. Februar 1761. P....; Hauslehrer der Kinder des Marquis de P. bei der Perle. Ille vero statim solvit zonam et leges inierunt benevolae Veneris. Kommissar Sirebeau u. s. w.

[S. 59]

Auswärtige Priester (S. 319–320): 28. Oktober 1762. François Detraussin de Jausse, aus Florenz, Professor der Beredtsamkeit. Sophie kämpfte nicht ganz nach der Weise der Parther, indem sie beständig den Rücken wandte. Kommissar Fontaine u. s. w. —

Das wäre einiges aus der langen Liste. Ein Kommentar ist überflüssig. Facta loquuntur. Schon diese Tatsachen, diese authentischen Dokumente geben eine genügende Erklärung und — Rechtfertigung für den Löwenanteil, der dem Klerus an den Orgien in Sades Romanen zukommt, und für den Hass, mit dem die Geistlichkeit nicht blos von Sade bedacht wird. Denn Unsittlichkeit an sich ist schlimm, Unsittlichkeit aber, begangen von Predigern der Sittlichkeit, ist das Verabscheuungwürdigste in dieser frommen Welt, welcher mehr Intelligenz gut täte als Frömmigkeit.

Manuel bemerkt am Schlusse dieser Aufzählung, dass kein Bischof in derselben genannt sei. Das erklärt er daraus, dass man nicht einmal von einer Krankheit des Bischofs reden dürfe, um wie viel weniger von seinen geschlechtlichen Ausschweifungen. Er deutet aber doch diejenigen des Erzbischofs von Cambrai an, in dem wir vielleicht ein Vorbild für den Erzbischof von Lyon bei Sade zu suchen haben.[76]

Ausser diesen Berichten Manuels existiert noch ein sehr grosses Werk über die Unsittlichkeit des französischen Klerus im 18. Jahrhundert. Nach der Er[S. 60]stürmung der Bastille im Jahre 1789 erschienen die in der Bastille gefundenen Prozessakten über die Sittlichkeitsvergehen der Geistlichkeit in zwei Bänden.[77] Ludwig XV. liess sich jeden Morgen über die Auffindung von Geistlichen in Bordellen berichten. Ebenso der Erzbischof von Paris. Diese Bulletins nannte man die „Nuits de Paris“. Die beiden Bände umfassen 189 Berichte vom 10. April 1755 bis zum 7. Juni 1766, sie sollten wahrscheinlich eher „raviver la lubricité caduque du monarque“ als den Interessen der Moral und der Würde des Königs dienen.

In dieselbe Kategorie gehört die Affäre des Pfarrers von Bagnolet und der Mademoiselle Mimie. In der Autographensammlung von Lucas-Montigny befindet sich der folgende Brief des Erzbischofs von Paris, M. de Inigué an den Polizeiintendanten Le Noir[78]:

Le clerc de Inigué.
Conflans, den 30. Juli 1786.
Mein Herr!

Man hat mir mitgeteilt, dass der Herr Pfarrer von Bagnolet bei Paris oft eine Dirne Mimie besucht, welche in der rue Pierre-Poissons wohnt. Wenn es Ihnen möglich wäre, diese Tatsache zu verifizieren, die zu erfahren ich sehr begierig bin, so würden Sie mich zu grösstem Danke verpflichten.

Ich verbleibe mit respektvoller Anhänglichkeit Ihr gehorsamer und ergebener Diener.

Antoine E. L., Erzbischof von Paris.

[S. 61]

Der sehr bezeichnende Brief enthält folgende Randbemerkung des Empfängers: „An den Herrn Quidor, um sofort und im Geheimen die Tatsache zu verifizieren und mir Material zu einer Antwort zu liefern.“

Weitere interessante Einzelheiten über das Treiben der Pariser Geistlichkeit finden sich in den „Confessions d’une jeune fille.“[79] Wir werden in das Bordell der Madame Richard geführt. Sapho (so heisst das junge Mädchen) beobachtet durch ein Guckloch das Tête-à-Tête der Richard mit einem Geistlichen. Diese nimmt aus einer Schublade einen doppelten Rosshaarpanzer (double cuirasse de crins), der innen mit einer unzähligen Menge von oben abgerundeten Eisenspitzen besetzt ist, legt ihn um Brust und Rücken des Geistlichen, bindet ihn an beiden Seiten mit Stricken fest und befestigt dann um den Unterleib eine Eisenkette, welche sie unter den Testikeln hindurchführt, so dass diese durch eine Art von Suspensorium unterstützt werden, das sich in der Mitte dieser Kette befindet. Auch dieses Suspensorium ist mit Haaren besetzt, aber weit geflochten, de manière à ne point empêcher les attouchements de la main sur ces sources de plaisir. Um die Handgelenke wurden ähnliche „Armbänder“ gelegt. Hierauf erfolgt Erektion. Nunmehr schreitet die Richard zur Flagellation aliaque incitamenta amoris.

Weiter erzählt Sapho, wie sie die Geliebte eines Bischofs wird, dessen Vikare ihm in der Lebensweise sekundierten, und entwirft eine lebhafte Schilderung des unsittlichen Treibens der Geistlichkeit in dieser Diözese. Sie erlebt ein Abenteuer mit vier Pfarrern (S. 318 ff.)[S. 62] Einer von ihnen ist ein Paederast dessen Devise ist tout est c.. dans une femme.[80]

Auch durch Gedichte und Bilder wurde die sexuelle Liederlichkeit des Klerus gegeisselt. Das kräftigste in dieser Beziehung hat wohl der Exjesuit Cerutti geleistet, wenn er sagt[81]:

Des mensonges sacrés le commerce sordide
Partout du sacerdoce a grossi le trésor.
Partout le sacerdoce a bu le sang et l’or.
Souvenez-vous des Juifs que massacra Moïse;
Contemplez les bûchers que Rome canonise;
Tout prêtre est un bourreau, patenté par la foi.

Die folgenden Verse führen ebenfalls eine nur zu deutliche Sprache[82]:

On a choisi cinq Evêques paillards,
Tous cinq ronges de vérole et de chancre,
Pour réformer des Moines trop gaillards.
Peut-on blanchir l’ébène avec de l’encre?

Dies Gedicht bezieht sich auf eine Sittlichkeits-Enquête, mit welcher man die Erzbischöfe von Rheims, Arles, Narbonne, Bourges und Toulouse betraut hatte. Diese Enquête ist gewiss auch ein Zeichen der Zeit! Wie sie aber von der Volksmeinung beurteilt wurde, zeigen jene Verse und das zeigte noch deutlicher eine allegorische, nur in wenigen Exemplaren hergestellte[S. 63] Zeichnung, die der Verfasser des „Espion anglais“ sah. Auf derselben sind die fünf Erzbischöfe abgebildet. Der Erzbischof von Rheims (De la Roche-Aymon) befindet sich vor einer katholischen Kirche neben einer Frau, welche ihm Gesichter schneidet und einen Hut unter ihrem Kleide verbirgt. Mit der anderen Hand überreicht sie dem Erzbischof von Arles (de Jumilhac) den Orden vom heiligen Geiste, zieht ihn (den Erzbischof) an sich, streichelt ihn und spielt mit ihm. Ein Jagdwagen zieht die grösste Aufmerksamkeit des Erzbischofs von Narbonne (Dillon) auf sich. Der Erzbischof von Toulouse (de Brienne) ist in seinem Amtszimmer und hat zwei Bände der „Encyclopédie“ vor sich aufgeschlagen, den einen mit dem Artikel „Zölibat“, den andern mit dem Artikel „Mönche“. Endlich überreicht der Erzbischof von Bourges (Phelyppeaux) einer jungen Dame einen Blumenstrauss, die ihn liebkost und deutlich alle Kennzeichen eines Freudenmädchens trägt.

6. Die Jesuiten.

In seinen „persischen Briefen“ lässt Montesquieu den Rica auch eine Klosterbibliothek besuchen, wo ein Mönch den Inhalt der Bücher erklärt. Unter den Theologen sind besonders die „Kasuisten“ zu nennen, welche „die Geheimnisse der Nacht ans Tageslicht ziehen; welche in ihrer Phantasie alle Ungetüme erschaffen, die der Dämon der Liebe hervorbringen kann, sie nebeneinander stellen, mit einander vergleichen und sie zum Gegenstand ihrer Gedanken machen. Glücklich noch, wenn sich das Herz nicht darin einmischt und nicht[S. 64] selbst der Spiessgesell so vieler Verirrungen wird, die so naiv geschildert und so nackt hingemalt werden!“[83]

Auf diesem Gebiete der „sexuellen Kasuistik“ finden wir nun im 18. Jahrhundert die Jesuiten als Meister. Kein Orden hat es so verstanden, die Wollust durch die Religion zu legitimieren, und die eigenen unsittlichen Handlungen in ein mystisch-pietistisches Gewand zu kleiden. Der Jesuit hatte es nicht nötig, die Wollust in den Bordellen aufzusuchen. In seiner Eigenschaft als Beichtvater und Erzieher wurde es ihm leicht gemacht, seine niemals geringen sexuellen Gelüste zu befriedigen, die als „göttliche Eingebungen“ gegen polizeiliche Recherchen zur Genüge geschützt waren.

Schon im 17. Jahrhundert musste Cornelius Jansen gegen die jesuitischen Beichtväter auftreten, „welche an Höfen Galanteriesünden schonten und den Nonnen erlaubten, sich von ihren geistlichen Tröstern Brüste und Schenkel wollüstig betasten zu lassen“[84]. Denn der Jesuit Benzi lehrt ausdrücklich: Vellicare genas, et mammillas monialium tangere, esse tactus subimpudicos atque de se veniales[85]. In Konsequenz dieser Vorschriften schändete de la Chaise, der Beichtvater Ludwigs XIV. die Hofdamen und führte dem Könige von England Maitressen zu[86]. Junge Damen in Holland liessen sich von Jesuiten aus Wollust geisseln. Ebenso die Hofdamen zu Lissabon unter[S. 65] Nunez.[87] Der Jesuit Herreau lehrte 1642, dass es erlaubt sei, sich die Frucht abtreiben zu lassen, und diktierte dies seinen Schülern und Schülerinnen.[88] Jesuiten verleiteten im 16. Jahrhundert die Damen in Lyon dazu, geschlitzte Hemden zu tragen, was im Jahre 1789 wieder nachgeahmt wurde.[89]

Bezüglich der berüchtigten „Mordtheologie“ der Jesuiten, welche der Apologie des Mordes durch Sade in nichts nachgibt, sei auf die Abhandlung ihres Urhebers J. de Mariana[90], sowie auf die berühmten, die ganze Immoralität der Jesuiten in helles Licht setzenden „Lettres provinciales“ von Blaise Pascal verwiesen (Cologne 1657). Auch im 18. Jahrhundert erlaubten selbst die Ordensgenerale den Beichtvätern unzüchtige Handlungen, insofern dies dem Orden vorteilhaft war. So schrieb der letzte Ordensgeneral vor der Aufhebung, Lorenzo Ricci, in einem im Brüsseler Archiv aufbewahrten Briefe, wie die jungen Jesuiten sich gegenüber den jungen und — reichen Witwen zu benehmen haben. Sie sollen sich alle mögliche Mühe geben, um sie von einer zweiten Heirat abzuhalten, indem sie ihnen die Unannehmlichkeiten derselben, die Gefahr für ihre Seele u. s. w. recht lebhaft schildern. Wenn aber trotz alledem die jungen Witwen grosse Sehnsucht nach einer zweiten Ehe haben, wenn sie sich in dem Falle befinden: melius est nubere quam uri, dann darf ein kluger und diskreter Pater[S. 66] ihnen seine Dienste gegen die Verlockungen des Fleisches anbieten.[91]

Weltberühmt wurde die Skandalaffäre zwischen dem Jesuiten Jean Baptiste Girard und seinem Beichtkind Cathérine Cadière zu Toulon, die im Mai 1728 ihren Anfang nahm. Dieselbe hat eine ungeheure Literatur gezeitigt[92] und vielen pornographischen Romanen zum Vorbild gedient.[93] Die Prozessakten sind in dem „Recueil général des Pièces concernant le Procès entre la Demoiselle Cadière et le Père Girard“ (1731) niedergelegt. Ein Folioband voll Kupfern soll die pikanten Situationen verbildlicht haben; seine Zusammenstellung wird dem Marquis d’Argens, dem Grafen Caylus, sowie Mirabeau zugeschrieben. Auch hat man behauptet, dass der Marquis de Sade zu seiner „Justine“ durch obiges Werk angeregt worden sei.[94]

Der Jesuit Girard hatte als Rektor des Seminars und Schiffsprediger in Toulon auch eine heimliche Bussanstalt für Frauen eingerichtet, in welche die schöne[S. 67] und fromme Katharina Cadière, Tochter eines reichen Kaufmanns, eintrat. Es gelang Girard, durch die Anwendung der raffiniertesten sexuellen Mystik das unschuldige Mädchen zu verführen und dessen Träume und Visionen für seine lüsternen Zwecke auszunutzen. Wollüstige Rutenschläge, oscula ad nates und die fürchterlichste geistige Unzucht führten bald zu schwerer Hysterie des armen Mädchens, in deren Verlaufe Girard dasselbe schwängerte, aber sofort nach jesuitischer Moral durch ein wirksames Abtreibungsmittel die Folgen zu verhindern wusste. Endlich wurde gegen ihn der Prozess eröffnet, in dem er aber zur allgemeinen Entrüstung freigesprochen wurde.

Dies Urteil veranlasste Voltaire zu dem sarkastischen Ausspruche:

Le P. Girard, rempli de flamme,
D’une fille a fait une femme;
Mais le parlement, plus habile,
D’une femme a fait une fille.

Derselbe Dichter schrieb unter ein Bild, das Girard und die Cadière darstellte, die Verse:

Cette belle voit Dieu, Girard voit cette belle:
Ah, Girard est plus heureux qu’elle.

7. Die schwarze Messe.

Den Gipfel erreicht die religiöse Sexualmystik in dem Kult der sogenannten Satanskirche. „Satan“ wird hier zu einer „Personifikation des physischen Begattungs-Mysteriums“ als Protest gegen die ausschliessliche Herrschaft der „metaphysischen Vergottungs-Mystik.“[95] Die Geschichte dieser merkwürdigen Sekte, die sogar in dem kürzlich dahingeschiedenen Félicien [S. 68] Rops einen ihre entsetzlichen Phantasiegebilde bildnerisch festhaltenden Künstler besessen hat, ist von G. Legué[96] und vor allem von Stanislaus Przybyszewski[97] geschrieben worden. Satan-Satyr, Satan-Pan und Satan-Phallus war der antike „Gott der Instinkte und der fleischlichen Lust, im selben Masse verehrt von dem Höchsten im Geiste wie vom Niedrigsten, er war der unerschöpfliche Quell der Lebensfreude, der Begeisterung und des Rausches.

Er hat das Weib die Verführungskünste gelehrt, die Menschen in doppelt geschlechtlichen Trieben ihre Lust befriedigen lassen, in Farben hat er geschwelgt, die Flöte erfunden und die Muskeln in rhythmische Bewegung gesetzt, bis die heilige Mania die Herzen umfing und der heilige Phallus mit seinem Ueberfluss den fruchtbaren Schoss besamte.“ Das war die Zeit der naturfrohen Mutterschafts-Mysterien. Dann kam das juden-griechische Christentum und predigte die übernatürliche, asketische Vaterschafts-Mystik. Die Kirche riss den Menschen gewaltsam von der Natur los. „Sie zerstört die unbewusste Zuchtwahl der Natur, die sich nach aussen in Schönheit, Kraft und Herrlichkeit äussert, sie beschützt all’ das, was die Natur ausstossen will, den Schmutz, die Hässlichkeit, die Krankheit, den Krüppel und den Kastrierten“. Aber die Natur lässt sich nicht austreiben. Und so musste auch die Kirche nachgeben und schliesslich den heidnischen Kultus mit dem ihrigen verquicken. „Die Bacchanalien bei den Festen der Ceres Libera wurden bei den Prozessionen[S. 69] an den Mariafesten mit grösserer Ausgelassenheit gefeiert als je zuvor, und bis in das 13. Jahrhundert feierte das Volk zusammen mit dem Priester laszive und orgiastische Feste, das Fest des Esels,[98] das Fest der Idioten (fatuorum) — Reste des Phalluskultus verkrochen sich in die Kirche, die Säulen-Kapitäle strotzten von obscönen Figuren, und ein beliebter Vorwurf für die Reliefs an den Kirchen war Noah, wie er den Beischlaf mit seinen Töchtern ausübt.“ Der eigentliche Kult der Satanskirche wurde aber von dem Manichäismus im südlichen Frankreich geschaffen. „Von hier aus beginnt Satan den ungeheuren Triumphzug über ganz Europa.“ Die Geheimbünde der „Vollendeten“, der „Perfekti“ bilden sich überall, ausschliesslich der obscönsten Geschlechtslust frönend, mit einem glühenden Hasse gegen die christliche Lehre. „Sie beschimpften und töteten die Priester, wo sie sie nur auffangen konnten, benutzten die heiligen Geräte zu obscönsten Zwecken, und ein grosser Teil ihres Ritus ist nur die Parodie des katholischen Kultus. In ihren Zusammenkünften, ihren parodistischen Messen ist bereits der satanistische Sabbat völlig, sogar in Einzelheiten vorgeformt. Jeder Novize musste bei der Aufnahme allen katholischen Glauben abschwören, das Kreuz bespeien, der Taufe und der Oelung entsagen“. Trotz der Verfolgungen der Kirche erhielt sich die Sekte und ihr Wahlspruch: „Nemo potest peccare ab umbilico et inferius“ fand besonders unter „unbefriedigten“ Priestern Anhänger. Die Sünde durch die Sünde töten! Das war ihr grosses Prinzip der geschlechtlichen Orgien. Der Priester heiligt alle Weiber, die mit ihm sündigen.[S. 70] Die Nonnen sind die „Consakrierten“, d. h. Maitressen der Priester. Der schwarze Tod im 14. Jahrhundert, der Flagellantismus, die Tanzwut, die Hungersnot steigerten die geschlechtliche Hysterie bis aufs Höchste. Jetzt feierte die Sekte der Satansanbeter ihre Triumphe. Seitdem ist sie trotz grausamster Verfolgungen bestehen geblieben und hat ihre unheimlichen Messen weiter gefeiert. Noch in der Neuzeit ist sie in einzelnen Verzweigungen wieder hervorgetreten. Die „Adamiten“ oder „Nikolaiten“, „Picarden“ in Böhmen, die sich nackt versammeln, das Christentum verwerfen und Weibergemeinschaft haben, die schon 1421 auf einer Insel im Flusse Luschwitz von Johannes Ziska ausgerottet wurden, traten noch im Jahre 1848 in fünf Dörfern des Chrudimer Kreises als „Marokkaner“ wieder hervor. Dieser Name wurde deshalb gewählt, weil sie die Ausrottung aller Katholiken durch einen aus Marokko kommenden Feind erwarteten. Aehnlich ist die „Oneidagemeinde“ oder die den alten Namen der „Perfekti“ wieder erneuernden „Perfektionisten“ im Staate New-York (seit 1831). Noch heute wird der Satans-Kult in Paris gefeiert, wie dies die Werke von Huysmans[99] u. a. schildern.

Berühmt wurde der Prozess der Magdalaine Bavent im 17. Jahrhundert, der vieles über die schwarze oder Satans-Messe an die Oeffentlichkeit brachte[100]. Ferner derjenige des Abbé Guibourg, bei dem Racine, Lord Buckingham und die[S. 71] Marquise de Montespan die schwarze Messe hörten[101].

Der Marquis de Sade bekundet sich in seinen Romanen als einen fanatischen Anhänger des Satanskultus. Mehrere schwarze Messen kommen in „Justine“ und „Juliette“ vor. In „Justine“ (Bd. II, S. 239 ff.) wird eine solche Messe in einem Kloster ausführlich geschildert. Ein Mädchen wird als heilige Jungfrau in der Kirche in einer Nische festgebunden, mit zum Himmel erhobenen Armen. Später wird sie nackt auf einen grossen Tisch gelegt, Kerzen werden angezündet, ihr Gesäss wird mit einem Kruzifix geschmückt und „sie feierten auf ihrem Gesäss die absurdesten Mysterien des Christentums“. Dann wird auf den Nates der Justine eine Messe gelesen. „Sobald die Hostie Gott geworden ist, ergreift sie der Mönch Ambroise et in anum filiae immittit“, wobei der Hostienaberglauben mit den wütendsten Ausdrücken verhöhnt wird.

Ein ander Mal erfolgt (Juliette III, 35) der Eintritt in den Saal der „Société des amis du crime“ nackt auf einem grossen Kruzifix, das mit Hostien bedeckt ist und an dessen Ende die Bibel liegt.

Zwei Satansmessen werden (Juliette III, 147) in cunnis duarum tribadum gelesen, darauf die Hostie in faece posita ano inseritur, worauf der Hauptaltar zur Stätte der wildesten Orgien gewählt wird.

Endlich liest Papst Pius VI. selbst (Juliette V, 1) in der Peterskirche eine schwarze Messe, wobei die Hostia in pene papae posita postea ano filiae inseritur.

[S. 72]

8. Die Nonnenklöster.

Im Vorhergehenden sind auf das Leben der Nonnen im 16. Jahrhundert schon so viele Streiflichter gefallen, dass wir uns kürzer fassen können. Das bei Sade (Juliette I, 1 ff.) geschilderte Nonnenkloster Panthémont in Paris existierte wirklich! „Das grosse Kloster des 18. Jahrhunderts nach dem Kloster von Fontevrault, das gewöhnliche Erziehungshaus der ‚Filles de France‘, ist das Kloster Panthémont, das Fürstenkloster der rue de Grenelle, wo die Prinzessinnen erzogen wurden, wohin der höchste Adel seine Töchter schickt.“[102] Panthémont war das teuerste aller Klöster. Die gewöhnliche Pension für junge Mädchen betrug 600 Livres, die aussergewöhnliche 800 Livres. Gegen Ende des Jahrhunderts stieg sie auf 800 bezw. 1000 Livres, welche letztere Summe die mit der Aebtissin speisenden Pensionärinnen zahlen mussten.

Im 18. Jahrhundert waren die Klöster immer mehr verweltlicht. „Das über dem Giebel des Klosters der ‚Nouvelles Catholiques‘ stehende Wort: Vincit mundum fides nostra, war längst nur noch ein toter Buchstabe. Die Welt hatte im Kloster Fuss gefasst.“[103] Zwar wohnten die weltlichen Pensionärinnen getrennt von den eigentlichen Nonnen. Aber es fand trotzdem ein Verkehr zwischen ihnen statt, und durch die Laienschwestern wurden auch die Nonnen über die Ereignisse ausserhalb des Klosters unterrichtet. Der Klatsch und Skandal blieben dem Kloster nicht fern, wie auch der[S. 73] Verkehr mit den jesuitischen Beichtvätern und das intime Zusammensein so vieler junger und alter Frauen gewiss die aus früheren Jahrhunderten bekannten sexuellen Verirrungen in Nonnenklöstern nicht haben aufhören lassen. Wenn die Gebrüder Goncourt sich darüber wundern, dass im Kloster Panthémont ein Buch wie die „Confidences d’une jolie femme“ der Mademoiselle d’Albert geschrieben werden konnte, mit seinen wenig moralischen Enthüllungen, so wundert uns noch mehr, dass die Goncourts in ihrer bekannten Vorliebe für das 18. Jahrhundert, für die „gute, alte Zeit“ eine Unsittlichkeit in den geistigen Klöstern nicht anerkennen. Freilich haben wir gerade über die französischen Nonnenklöster wenig zuverlässige Berichte. Wir haben z. B. über das Kloster Panthémont nur eine einzige Skandalgeschichte auffinden können.[104] Aber was beweist das? Die gesamte geistliche Korruption lag offen zu Tage. Sie war es, gegen die sich von Anfang des Jahrhunderts bis zur französischen Revolution die heftigsten Angriffe von Seiten der klar blickenden Geister richteten. Man lese z. B. die auf zuverlässige Berichte gestützte Darstellung dieser Verhältnisse bei dem freilich weniger für das ancien régime begeisterten Buckle.[105] Man denke an das früher Mitgeteilte, an die Aufhebung des Jesuitenordens, an den historisch beglaubigten Verkehr der „Confesseurs“ mit den Nonnen. Selbst Tocqueville, ein erklärter Gegner der freiheitlichen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts, sagt: „Le clergé prêchait une morale, qu’il compromettait par[S. 74] sa conduite“, was Buckle als besonders bemerkenswert hervorhebt.[106] Was ferner die Goncourts ganz übersehen haben, ist der entscheidende Umstand, dass das Treiben in den Nonnenklöstern sogar Gegenstand der Verspottung in Theaterstücken wurde, wie Lanjons „Kloster“, „Päpstin Johanna“; „Der Dragoner und die Benediktinerinnen“ dartun.[107] Das beweist ferner die ungeheure Verbreitung der Tribadie in Frankreich im 18. Jahrhundert, die wir später untersuchen, und die doch in den Nonnenklöstern den geeignetsten Schauplatz ihrer Taten fand. Das beweist schliesslich der berühmte Roman Diderots „Die Nonne“, und die vielen Darstellungen der Korruption in den Nonnenklöstern bei den übrigen erotischen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts.[108]

So dürfen wir Sade schon glauben, wenn er (Juliette I, 1) sagt, dass aus dem Kloster Panthémont seit vielen Jahren die „hübschesten und unzüchtigsten Frauen von Paris hervorgegangen sind“, wenn er die Tribade Zanetti (Juliette VI, 156) sagen lässt: Les églises nous servent de bordels, und wenn er ein von Frauen vielgebrauchtes Instrument der Wollust als „bijou de réligieuse“ bezeichnet (Juliette III, 56).

[S. 75]

Im benachbarten Italien war jedenfalls im 18. Jahrhundert die Unsittlichkeit in den Nonnenklöstern bis zu einem hohen Grade gestiegen. Gorani, dessen Zuverlässigkeit sich immer mehr herausstellt, berichtet von wüsten Orgien in den neapolitanischen Nonnenklöstern.[109] Die Entdeckung der geschlechtlichen Ausschweifungen der Nonnen von Prato (bei Florenz) hat einen der berüchtigsten geistlichen Skandale des 18. Jahrhunderts ans Licht gezogen. v. Reumont gibt darüber folgende Nachricht[110]: „Sowohl in Pistoja wie in Prato hatten seit Jahren in Dominikanerinnen-Klöstern Unordnungen schlimmster Art sich gewissermassen eingenistet, ein Gemisch von Pietismus und von fleischlichen Verirrungen, das an eine Art Wahnsinn grenzte und längst für die geistlichen Obern kein Geheimnis war. In Pistoja wurde einigermassen Ordnung geschaffen, in Prato aber, wohin die am meisten kompromittierten Nonnen hatten übersiedeln müssen, kam es zu Ostern 1781 zum Ausbruch. Auf des Bischofs Anzeige schritt der Grossherzog ein, liess durch einen Kanzler des Kriminalgerichts eine Untersuchung einleiten, zwei der vornehmsten Schuldigen erst in Prato einsperren, dann nach Florenz in das Spital von Bonifazio bringen und einem regelmässigen Prozess unterwerfen. Zugleich liess er allen Dominikanern die Verbindung mit den Frauenklöstern ihres Ordens untersagen und im Falle von Ungehorsam den Provinzial mit allgemeiner Ausweisung[S. 76] bedrohen. Die Sache machte um so grösseres Aufsehen, da die inkriminierten Nonnen angesehenen Familien angehörten, und der Skandal in der Tat entsetzlich war.“ Eine ausführliche Schilderung aller Arten der scheusslichsten Unzucht zwischen den Dominikanerinnen von Prato und den Mönchen desselben Ordens, wobei auch das „Herz Jesu“ eine Rolle spielt, findet man in der Biographie des edlen, antipäpstlich gesinnten Bischofs von Prato, Scipione de’ Ricci (nicht zu verwechseln mit dem Jesuitengeneral Lorenzo Ricci) von Potter.[111]

9. Die Frau im 18. Jahrhundert.

Das 18. Jahrhundert ist wenigstens in Frankreich das Jahrhundert der Frau. Mit Recht meint Georg Brandes[112], dass die Goncourts, diese so fein empfindenden Verehrer weiblichen Wesens sich deshalb gerade von der Geschichte des 18. Jahrhunderts angezogen gefühlt hätten, weil der „Einfluss der Frauen damals am grössten war.“ Das Buch der Goncourts über die „Frau im 18. Jahrhundert“ gehört zu den anziehendsten kulturhistorischen Werken, wenn es auch als ein Werk der Galanterie mehr die Licht- als die Schattenseiten seines Gegenstandes hervorhebt.

[S. 77]

Der allmächtige Einfluss der Frau hat in dem Kapitel „Die Herrschaft und Intelligenz der Frau“ dieses Buches eine bisher unübertroffene Schilderung gefunden[113]. „Die Seele dieser Zeit, das Zentrum dieser Welt, der Punkt, von dem alles ausstrahlt, der Gipfel, von dem alles herabsteigt, das Bild, nach dem alles sich gestaltet, ist die Frau.“ Vom Anfang bis zum Ende des Jahrhunderts war die Regierung der Frau die allein sichtbare, die Regierung der Mesdames de Prie, de Mailly, de Châteauroux, de Pompadour, du Barry, de Polignac. Im Staat, in der Politik, in der Gesellschaft herrschte die Frau, ihr Einfluss machte sich auf allen Gebieten des Lebens geltend. Ueber Krieg und Frieden wurde nach dem Willen einer Frau entschieden, nicht zum Heile Frankreichs. Und in den berühmten „Salons“ des 18. Jahrhunderts, einer Du Deffand, Necker, Lespinasse, Geoffrin, im Salon des Grandval, gaben Frauen als die Schöpferinnen dieser Einrichtungen den Ton an bei der Erörterung der Tagesfragen und der wissenschaftlichen Probleme. Hier wurde die moderne „gebildete Gesellschaft“ geschaffen.[114]

Das Frankreich des 18. Jahrhunderts liefert aber auch den Beweis dafür, dass dort, wo der Einfluss der Frauen zu gross wird, die Bande der Familie, dieses[S. 78] Fundamentes jeder Gesellschaft, sich lockern, dass die Liebe unsittliche Formen annimmt, und dass neben diesem allmächtigen Einflusse der Frauen ganz gut eine Verachtung des weiblichen Geschlechts bestehen kann, wie dies im 18. Jahrhundert der Fall ist.

Die Liebe des 18. Jahrhunderts war durchweg sinnlich. Sie war Wollust geworden. Die Leidenschaft wurde durch die Begierde ersetzt und der Ehemann brachte seiner Gattin alle Liebeskünste einer Maitresse bei. (Goncourts a. a. O. S. 158.) Die Philosophie diente dazu, die Wollust zu rechtfertigen, sie war eine Apologie der Schande. „Bei einem Souper im Hause einer berühmten Schauspielerin, an der Tafel einer Quinault, unter den unzüchtigen Reden eines Duclos und Saint-Lambert, berauscht von den Paradoxen des Champagners, hörte die Frau in süsser Geistestrunkenheit von der Scham sagen: Schöne Tugend! die man mit Nadeln an sich befestigen muss.“[115] Bequeme Sophismen verwirrten alle sittlichen Begriffe der Frau. Die rein physische Liebe, welche von dem Naturalismus und Materialismus als das Ideal verkündet worden war, welche von Helvétius u. a. vor ihrer Heirat praktisch ausgeübt und von Buffon in der berühmten Phrase: Nur das Sinnliche ist gut in der Liebe, verherrlicht wurde, erschien endlich bei der Frau „in all ihrer Brutalität“[116].

Die Geschlechtsverbindungen erhielten ganz sinnliche Zwecke, und diejenigen, welche die Liebe zu verschönern suchten, beschränkten sich darauf, die gröbsten Begierden durch kurze Hindernisse und Beimischung[S. 79] solcher Verzierungen, woran der Verstand mehr Anteil hatte als das Herz, schmackhafter und dauernder zu machen. Das Wort „Galanterie“ erhielt eine ganz neue Bedeutung. Es bezeichnete sittenlose Aufführung, die sich nur von der Ausgelassenheit gemeiner Dirnen durch Beobachtung solcher Formen unterschied, welche zur Erhöhung des Vergnügens und zur Bewahrung des Scheins der Achtung vor dem Publikum dienten. Bernards berühmte Nachäffung des Ovid, die „l’art d’aimer“ predigte conventionelles Benehmen in der grössten Unzucht. Nicht viel besser waren die „amours platoniques“, die „Intérêts oder Liaisons de Société“, die „Commerces d’habitude“ jener Zeit. Der Abbé Galiani sagt: „Die Frauen dieser Zeit lieben nicht mit dem Herzen, sie lieben mit dem Kopfe“.[117] Die Liebe ist eine „libertinage de la pensée.“ Man verwirklichte in ihr die schmutzigen Träume einer künstlich erregten Einbildungskraft, die Versuchungen der geistigen Korruption, die sonderbarsten Einfälle einer unersättlichen Wollust. Die Liebe wurde zu einem aufregenden Spiel, bei dem alles Raffinement der geistigen Unzucht aufgeboten wurde, um den Genuss zu erhöhen.[118]

Man bereitete sich durch die obscönste Unterhaltung auf die Genüsse vor. Immer wieder wird von Sade in seinen Romanen betont, wie sehr durch die wollüstige Unterhaltung, durch das Aussprechen drastischer und gemeiner Worte der Liebesgenuss gesteigert[S. 80] werde. Er hatte diese Erfahrung aus der Wirklichkeit entnommen. Mercier erzählt[119], dass die grosse Zahl der öffentlichen Dirnen den jungen Männern einen sehr freien Ton gegeben habe, dessen sie sich auch gegenüber den ehrbarsten Frauen bedienen, so dass man in diesem so höflichen Jahrhundert „grob in der Liebe sei“. Die Konversation mit den am meisten geachteten Frauen sei selten zartfühlend, sondern überreich an schlechten Scherzen, Zweideutigkeiten und Skandal-Geschichten. „Schmutzige, ungezogene Scherze, die sogar die Würze der Zweideutigkeit verschmähten: Stellungen und Geberden, welche die ekelhaftesten Ideen erweckten und überhaupt ein Ton von offenbarer Vertraulichkeit, der die geheimere ahnen liess, die kurz vorher eingetreten war, oder gleich darauf eintreten sollte“, das waren gewöhnliche Reizmittel der Liebe in jener Zeit.[120]

Daraus resultierte eine unerhörte Schamlosigkeit des Weibes. Mit 30 Jahren hatte die Frau den letzten Rest von Schamgefühl verloren. Es blieb nur noch die „Eleganz in der Unzucht“ übrig, die Grazie in der Wollust. Die Frau nahm alle Gewohnheiten des männlichen Wüstlings an; ihr grösstes Vergnügen war, „den Verlust ihres guten Rufes zu geniessen.“[121] So jauchzen und freuen sich auch die Frauen in Sades Romanen, dass sie Dirnen sind, dass sie aller Welt angehören und den Ehrennamen der „putain“ tragen dürfen! Selbst ein so frommes Gemüt, eine so zart empfindende Seele wie Madame Roland kennt kein Gefühl der Zurückhaltung. Sie beschreibt in ihren[S. 81] Denkwürdigkeiten sich selbst und ihre Körperbildung aufs Genaueste; sie berichtet von ihrer Brust, ihren Hüften, ihren Beinen so kaltblütig, als gelte ihre Kritik einer Marmorbildsäule.[122] Dürfen wir uns dann wundern, wenn z. B. bei Sade (Juliette IV, 103) Juliette mit grenzenlosem Cynismus ihre eigenen Reize beschreibt?

Vornehme Frauen trieben die Schamlosigkeit so weit, dass sie gleich männlichen Wüstlingen sogenannte „petites maisons“ ähnlich den petites maisons der Roués mieteten, um wie die Goncourts sich ausdrücken, „die Wollust einzuquartieren“. Ja, es kam vor, dass Aristokratinnen in Bordellen ihr Vergnügen suchten. Rétif de la Bretonne glaubte die Gräfin d’Egmont in einem Freudenhaus als Dirne gesehen zu haben.[123] Umgekehrt war es keine Seltenheit, dass Bordellmädchen in vornehme Kreise hineinheirateten. In den „Contemporaines“ heisst es[124]: „Ich habe wohl noch etwas Aergeres gesehen, nämlich, dass die Tochter einer Salzhökerin, nachdem sie schon durch die Hände der Weiber gegangen war, ein Kind gehabt, in der Strasse Saint-Honoré als öffentliche Hure gelebt hatte, und in der neuen Halle nochmals war erwischt worden u. s. f., dass diese, sage ich, doch noch einem reichen Manne gefiel, ihn heiratete und ihm Kinder brachte.“ Wir brauchen nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen: die Du Barry! Tochter eines niedrigen Steuerbeamten, war sie zuerst Modistin in Paris und kam dann in das Freudenhaus der Madame Gourdan, von dem[S. 82] später noch die Rede sein wird. Hier, also im Bordell, lernte sie Graf Jean Du Barry kennen, an dessen Bruder sie später bei ihrem Avancement zur Maitresse Ludwigs XV. verheiratet wurde. Kein Wunder, dass die hohe Aristokratie solchem Beispiel mit Begierde nacheiferte und eine wahre Jagd auf die „beautés populaires“ veranstaltete. So entstand ein neues Modewort, das Wort „s’encanailler“.[125]

So ergriff, je mehr man sich den Zeiten der Revolution näherte, die sittliche Korruption auch die Frauen des Volkes. Vorbereitet und genährt wurde sie durch die berühmten „Convulsionen“, jene merkwürdigen hysterischen Krampfepidemien, welche fast 40 Jahre lang (von 1727 bis 1762) besonders in den niedrigeren Volksschichten herrschten. Sie hatten den St.-Medarduskirchhof mit der Grabstätte des einst durch seine Askese so berühmten Abbé Paris zum Mittelpunkte. „Von allen Vierteln der Stadt bewegten sich die Massen zu dem St.-Medarduskirchhofe, um Anteil zu nehmen an den Verkrümmungen und Verzückungen. Der ganze Kirchhof mit den angrenzenden Strassen war dicht gefüllt mit Mädchen, Frauen, Kranken jeden Alters, die gewissermassen mit einander um die Wette convulsionierten.“[126] Frauen luden, hingestreckt in ganzer Länge, die Zuschauer ein, auf ihren Bauch zu schlagen und beruhigten sich nicht eher, als bis die Last von 10 oder 12 Männern sich mit voller Gewalt über ihnen aufgetürmt hatte. Leidenschaftliche Tänze, wie der berühmte, von Abbé Bécherand ausgeführte „saut de carpe“ gaben bald diesen „Convulsionen“ eine[S. 83] erotische Färbung. Dulaure hat beschrieben, welche Rolle zuletzt die Wollust bei dieser merkwürdigen Form von Hysterie gespielt hat, und wie diese Convulsionen nicht wenig dazu beigetragen haben, die sexuelle Zügellosigkeit zu verbreiten[127]. Man konnte den Erotismus in diesen Konvulsionen daran erkennen, dass die jungen Mädchen bei ihren Anfällen „niemals Frauen zur Hilfeleistung verlangten, sondern stets Männer, und zwar junge und kräftige Männer.“ Dazu kleideten sie sich höchst indecent, zeigten stets Neigung zur adamitischen Entblössung, nahmen lascive Stellungen an, warfen verlangende Blicke auf die ihnen zu Hilfe eilenden jungen Männer. Ja, einige riefen mit lauter Stimme: Da liberos, alioquin moriar! So liessen Unzucht und Ausschweifungen nicht auf sich warten, und wenn die Frauen in ihrem Orgasmus die Männer eingeladen hatten, ihren „Bauch, Busen und ihre Schenkel zu Promenaden zu benutzen“, mit ihnen zu „kämpfen“, konnten die in der Folge „zahlreichen Entbindungen“ von Convulsionärinnen auf die natürlichste Weise erklärt werden.

Die Hysterie („vapeurs“) war im 18. Jahrhundert unter den französischen Frauen ungemein verbreitet, wie das Buch der Madame Abricossoff zeigt.[128] Sauvages hielt nicht mit Unrecht für die Ursachen dieser Hysterie den krassen Egoismus (amour excessif de soi-même), das weichliche, wollüstige Leben der Damen jener Zeit.[129] Die „Hysteria libidinosa“ zeitigte denn auch merkwürdige Exzentrizitäten.

[S. 84]

Die Frauen haben im 18. Jahrhundert das geschaffen, was die neuere Zeit im engeren Sinne als „Sadismus“ bezeichnet, was wir aber später in einem bedeutend erweiterten Sinne definieren werden. Die „méchanceté“, die Schlechtigkeit, und die „noirceurs“, die heimtückischen Streiche werden Mode in der Liebe, die verbrecherische Gesinnung („scélératesse“) wird ein notwendiger Bestandteil des Liebesgenusses.[130] „Die Wollust wird eine Kunst der Grausamkeit, der Treulosigkeit, des Verrats und der Tyrannei. Der Macchiavellismus beherrscht die Liebe.“ Kurz vor der Revolution treten nach den „petits maîtres“ der Liebe die „grands maîtres“ der Perversität auf, die herzlosen Verteidiger der theoretischen und praktischen Immoralität. Menschen ohne Gewissen, freche Heuchler, die jede Gelegenheit zu ihren Untaten benutzen, die mit kaltem Blute überlegen, welche „horreurs“ sie begehen wollen, die vor nichts zurückschrecken, und nur verführen, um zu verderben. Die Typen der Gestalten Sades lebten! Darüber kann kein Zweifel bestehen. Und sie fanden in den entarteten Frauen bei ihren Schandtaten Helferinnen, die noch schlimmer waren als sie selbst. „Das Rouétum steigerte sich in einigen fürchterlichen Frauen bis zum Satanismus.“[131] Diese Scheusale marterten die anständige Frau, deren Tugend ihnen zuwider war, sie liessen meuchelmörderisch und in boshafter Freude die Gegenstände ihres Hasses, aber auch ihrer — Liebe aus dem Wege räumen. Sie verkörperten die Wollust des Bösetuns, die „libertinage des passions méchantes.“[132]

[S. 85]

Man glaube nicht, sagen die sonst so schönmalenden Goncourts, dass diese Typen Gebilde der Phantasie seien. Es sind wirkliche Menschen, die dieser Gesellschaft das Gepräge geben, deren Existenz durch zahlreiche Persönlichkeiten bezeugt wird. Die Goncourts nennen den Herzog von Choiseul, den Marquis de Louvois, den seine Geliebte, Madame de Blot, folternden Grafen de Frise als solche männliche Wollust-Teufel. Und eine vornehme Dame von Grenoble, die Marquise L. T. D. P. M., war das weibliche Gegenstück dieser Helden, vielleicht ein Vorbild für Sades Juliette.[133] Die Schreckenszeit war für die Liebe schon vor der Schreckensherrschaft der grossen Revolution angebrochen, noch bevor Sade, berauscht von dem in Strömen fliessenden Blute auf den Guillotinen, in den merkwürdigsten literarischen Dokumenten das ausmalte, was jener mordsüchtigen Zeit nicht fremd war: la Terreur dans l’Amour! Und als in der Schreckenszeit unter Chaumettes Leitung die „theosophischen Orgien der Wollust“ gefeiert wurden, als die „Göttinnen der Vernunft“ wie die Maillard, die Moncoro, die Aubry auf sehr irdische Weise verehrt wurden, da erschienen auch urplötzlich die „tricoteuses de Robespierre“, die „flagelleuses“ und die schrecklichen „furies de guillotine“.

Da werden Weiber zu Hyänen
Und treiben mit Entsetzen Scherz;
Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,
Zerreissen sie des Feindes Herz,

wie unser Schiller mit unverkennbarer Andeutung diese entarteten Geschöpfe, diese in Blut getauchten Ge[S. 86]stalten der Hölle charakterisiert, wie sie auch in einer französischen Gedichtsammlung jener Zeit, „La République ou le livre de sang“ geschildert werden, wo es heisst:

De ces effrayantes femelles
Les intarissables mamelles
Comme de publiques gamelles,
Offrent à boire à tout passant;
Et la liqueur qui toujours coule,
Et dont l’abominable foule
Avec avidité se saoule,
Ce n’est pas du lait, mais du sang.[134]

Wir haben gesehen, wie im 18. Jahrhundert in Frankreich die Frauen bestrebt waren, sich zum Teil wenigstens in Männer zu verwandeln, wie sie in der Politik, in der Liebe und in der Wissenschaft den grössten Einfluss ausübten, wie zwar eine Emanzipation de iure nicht bestand, de facto aber sich geltend machte. Und doch war die Missachtung des Weibes nie so gross gewesen wie in diesem Jahrhundert. Was nützten alle geistreichen Einfälle, alles wissenschaftliche Streben der Frau, das z. B. die junge Gräfin Crigny zur Teilnahme an Sektionen trieb[135], wenn dabei sichtlich das Familienleben zerstört wurde, wenn der Schwerpunkt des weiblichen Wirkens ausserhalb des eignen Hauses fiel. Wir fürchten beinahe, dass wir im Frankreich des 18. Jahrhunderts das Spiegelbild einer nahen Zukunft vor uns haben, und es wäre eine dankbare Aufgabe, zu untersuchen, wovon die wahre Schätzung des Weibes als solches abhängig ist, und ob[S. 87] wirklich die sogenannte Frauenemanzipation die Würde des Weibes für alle Zeit sichern wird.

Die vier grössten Denker Frankreichs im 18. Jahrhundert: Montesquieu, Rousseau, Voltaire und Diderot haben die Verachtung des Weibes gepredigt. Man denke nur an Voltaires bitter-sarkastische Aeusserungen über seine treue Freundin Madame Du Châtelet. Das Weib ist nach Rousseau nur zum Vergnügen des Mannes geschaffen worden. Nach Montesquieu hat der Mann die Kraft und Vernunft, die Frau nur Anmut, und Diderot sah in der Frau einzig und allein ein Objekt der Sinnenlust. „So ist die Frau nach Diderot eine Courtisane, nach Montesquieu ein anmutiges Kind, nach Rousseau ein Gegenstand des Vergnügens, nach Voltaire — Nichts.“[136] Als in der Revolution Condorcet und Siéyès für die häusliche und politische Emanzipation der Frauen eintraten, da „wurden ihre Proteste erstickt durch die mächtigen Stimmen der drei grossen Fortsetzer (continuateurs) des 18. Jahrhunderts, durch Mirabeau, Danton und Robespierre.“ Und für Napoléon I. gab es eins in der Welt, das nicht französisch sei: eine Frau tun zu lassen, was ihr gefällt. Einer der besten Kenner der Frau im 18. Jahrhundert, Rétif de la Bretonne, äussert oft in starken Worten seine Geringschätzung des Weibes.[137] Die Ursache dieser Verachtung ist klar. Die Ehe ist, wie Westermarck[S. 88] in seinem klassischen Werke zur Evidenz nachgewiesen hat, dasjenige Institut, dem die Menschheit ihre sittliche Vervollkommnung verdankt, sie ist das absolut sittliche Institut. In der Ehe ist das Weib dem Manne ebenbürtig, weil es ihn ergänzt. Ausserhalb der Ehe kann das Weib den Mann nicht ersetzen, wird folglich alsbald minderwertig erscheinen. Eine vollständige Emanzipation muss an den unleugbaren Verschiedenheiten zwischen männlichem und weiblichem Wesen scheitern. Eine Gefährdung der Ehe ist gleichbedeutend mit der Verringerung der sittlichen Achtung, die der Mann dem Weibe entgegenbringt. Dies zu sagen, klingt heute noch spiessbürgerlich, wird aber nach vollendeter Emanzipation des Weibes bestätigt werden.

10. Die Litteratur.

Die französische Litteratur des 18. Jahrhunderts steht unter dem Zeichen der Pornographie! Zu keiner Zeit der Weltgeschichte, selbst nicht unter den Cäsaren, ist die schöne Litteratur in so systematischer Weise zu einem Werkzeug der Wollust gemacht worden, wie unter dem ancien régime. Zwar ist „die Darstellung geschlechtlicher Lust alt in der französischen Literatur, wie zahlreiche mittelalterliche Fabliaux beweisen, allein erst im 18. Jahrhundert begann man an die Stelle der gesunden, derben Natur und Naivität dieser älteren Produkte der Zotologie Gemälde der Sinnlichkeit zu setzen, deren raffinierte Absichtlichkeit einer erschlafften Gesellschaft zu giftigem Reizmittel diente.“[138][S. 89] Das 18. Jahrhundert hat den grössten Teil der heute existierenden pornographisches Litteratur hervorgebracht, an Zahl der einzelnen erotischen Werke sicher mehr als alle anderen vorhergehenden Jahrhunderte zusammengenommen. Den Löwenanteil an dieser Produktion pornographischer Werke beansprucht die Zeit von 1770 bis 1800, jene Epoche, welche der geistvolle Aubertin als die Periode der Talentlosigkeit, der „race intermédiaire“ bezeichnete, in welcher die platte Mittelmässigkeit den Ton angab und nur durch eine widerliche Erotik das Publikum zu reizen wusste.[139] Diese Bücher machen den Kultus des Fleisches zu ihrem Hauptthema. Sie kennen nichts Höheres als wollüstige Formen und die mannigfachsten Varietäten des Liebesgenusses. Das Bordell ist ein Paradies, und die Dirne ehrbarer als die treueste Gattin. „Welches Zeitalter hat sich mit obscönen Büchern so beschmutzt wie dieses grosse Jahrhundert?“ ruft Jules Janin aus[140], „dass sogar Männer wie Voltaire, Rousseau, Diderot, Montesquieu und Mirabeau dem Geschmacke der Zeit nachgebend derartige Werke verfassten.“ Kurz vor und während der Revolution schien die Schmutzlitteratur alle edleren geistigen Erzeugnisse verdrängt zu haben. Die Bücherläden waren pornographische Bibliotheken geworden. Aus dem Jahre 1796 berichtet Mercier[141]: „Man stellt nur noch obscöne Bücher aus, deren Titel und Kupferstiche gleicherweise die Scham und den guten Geschmack verhöhnen. Ueberall verkauft man diese Ungeheuerlichkeiten auf Tischkörben, an den Seiten der Brücken, in den Türen[S. 90] der Theater, auf den Boulevards. Das Gift ist nicht teuer, 10 Sous das Stück. Die ausgelassensten Erzeugnisse der Wollust überbieten einander und greifen ohne Zügel und ohne Scheu den öffentlichen Anstand an. Diese Broschürenverkäufer sind gewissermassen privilegierte Zotenhändler; denn jeder Titel, der nicht ein unflätiger ist, wird augenfällig von ihrem Schaubrett ausgeschlossen. Die Jugend saugt hier ohne Hindernis und ohne Bedenken die Grundstoffe aller Laster ein“. Der hauptsächlichste Verkaufsort war das berüchtigte Palais-Royal, von dem später ausführlicher die Rede sein wird. Dieses Zentrum aller Lustgenüsse war auch der Hauptmarkt für die obscönen Schriften, welche die Pariser Lebewelt mit einer Sündflut von Lustreizen überschwemmten. Selbst auf den Toilettentisch der Pariser Damen wanderten diese Schandbücher[142], worüber auch Bérard eine interessante Geschichte erzählt, die zugleich ein Streiflicht auf die ungeheure Verbreitung der Werke des Marquis de Sade wirft: „Ich erinnere mich, dass eine durch Stand und Alter achtbare Frau, die mich gebeten hatte, ihr für sich und ihre Kinder einige Bücher zum Mitnehmen aufs Land zu besorgen, auf dieser Liste vermerkt hatte: ‚Justine ou les Malheurs de la vertu‘, in welchem Buche sie wahrscheinlich ein pädagogisches Werk vermutete“[143]. Dass in Bordellen derartige Schriften in überreicher Fülle vorhanden waren, nimmt nicht Wunder und wird auch wohl heute noch der Fall sein. Parent-Duchatelet erfuhr von Peuchet, einem ehemaligen Archivar der Polizeipräfektur, dass[S. 91] Napoleon I. zu Ende seines Konsulats alle derartigen im Besitze von Dirnen befindlichen Bücher wegzunehmen und zu vernichten befahl. Nur ein Exemplar von jedem wurde in der Nationalbibliothek aufbewahrt. Diese Angabe Peuchets ist nach Parent-Duchatelet begründet, dem von dem Bibliothekar Van-Praët das Verzeichnis der Bücher vorgelegt wurde, sowie diese selbst in einem Winkel des Erdgeschosses der Nationalbibliothek gezeigt wurden.[144]

Von obscönen Büchern ist denn auch bei Sade recht häufig die Rede. Die interessanteste Stelle ist diejenige im dritten Bande der Juliette (S. 96 ff.), wo Juliette und Clairwil die Wohnung des Karmelitermönches Claude durchstöbern und ausser „guten Weinen und weichen Sofas“ eine ausgewählte pornographische Bibliothek finden. Juliette sagt darüber: „Man macht sich keine Vorstellung davon, was für obscöne Bilder und Bücher wir dort fanden!“ Zuerst bemerkten sie den „Portier des Chartreux“, ein mehr „scherzhaftes als wollüstiges Buch, dessen Abfassung der Verfasser trotzdem auf dem Sterbebette bereut haben soll.“ — Zweitens die „Académie des Dames“, ein dem Plane nach gutes, der Ausführung nach schlechtes Buch. — Drittens die „Education de Laure“, ein elendes Machwerk, das nach Juliette viel zu wenig Wollust, Mordtaten und „goûts cruels“ enthält. Endlich „Thérèse philosophe“, „das bezaubernde Buch des Marquis d’Argens“ mit den Bildern von Caylus, das einzige von diesen vier Büchern, welches Wollust mit Gottlosigkeit vereinigt. Ausserdem fanden Juliette und Clairwil bei dem Mönche[S. 92] noch zahllose „elende kleine Broschüren, die in den Cafés und Bordellen ausliegen“, zu denen auch die Werke des „nichtigen Mirabeau“ gehören.

Auch die Delbène hat in ihrer Bibliothek eine grosse Collektion schmutziger Bücher. Sie will der Juliette diese Werke leihen, damit diese sie während der Messe lese und so getröstet werde über den Zwang, einer „solchen abscheulichen Zeremonie“ beiwohnen zu müssen. (Juliette I, 32). Sade hat sogar seine eigenen Werke als Muster obscöner Lektüre hingestellt. Ein Abbé liest in dem „Hinrichtungssaale“ des Erzbischofs von Grenoble die „Philosophie dans le Boudoir“ (Justine IV, 263.)

Zur Orientierung geben wir einen ganz kurzen Ueberblick über die wichtigsten französischen Erotica des 18. Jahrhunderts. Die grossen bibliographischen Werke von Gay[145] und Cohen[146] vermitteln eine weitgehende Kenntnis dieser pornographischen Riesenlitteratur, aus der wir nur die am meisten charakteristischen Beispiele anführen wollen.

In Pierre Joseph Bernard (1708–1775), von Voltaire „Gentil-Bernard“ genannt, hatte das 18. Jahrhundert seinen Ovid. Im Jahre 1761 erschien die „L’art d’aimer“[147] in drei Gesängen, eine vergröberte[S. 93] Nachahmung der ovidischen Ars amandi, die aber grosses Aufsehen erregte und auf dem Toilettentische keiner vornehmen Dame fehlte. „Die Verse sind mit einem Rosa-Bande an einander geknüpft. Die Gedanken darin sind nur ein Girren“[148]. Aber dieses Girren war sehr wollüstig, und die Deutlichkeit der Sprache konnte sich neben der des Ovid sehen lassen. Bernard erteilte in seinem Gedicht einen ganzen Kursus der raffiniertesten Geschlechtsliebe, in dem er auch das Lesen schlüpfriger Schriftsteller empfahl.[149]

Der jüngere Crébillon (Claude Prosper Jolyot de Crébillon 1707–1777) kann als der eigentliche Schöpfer der lasziven Schriftstellerei im 18. Jahrhundert bezeichnet werden. Seine Schriften sind charakterisiert durch einen „eleganten Zynismus und eine Grazie in der Wollust“.[150] Am berühmtesten ist das „Sofa“, dessen Titel schon den Inhalt verkündigt.[151] Aehnlicher Art sind „L’Ecumoire“ (Paris 1735), „Les amours de Zeo Kinizal, roi de Cofirons“ (Amsterdam 1746), in denen die Liebesabenteuer des fünfzehnten Ludwig geschildert werden. Ferner „La nuit et le moment“ (Amsterdam 1755), „Ah! quel conte“ (Paris 1751), „Les égarements du cœur et de l’esprit“ (Brüssel 1796) u. s. w. In Crébillons Romanen macht sich bereits die Neigung bemerkbar, die gemeinste Sinnlich[S. 94]keit durch Umkleidung mit einem philosophischen Gewande zu verschönern und zu rechtfertigen.

Jean François Marmontel (1723–1799) hat in seinen „Incas“ den Typus des antiklerikalen Romans im 18. Jahrhundert geschaffen, dessen Inhalt auf spätere Darstellungen des Klerus in erotischen Romanen unverkennbar eingewirkt hat.[152]

Die bei Sade von Juliette erwähnte „Thérèse philosophe“,[153] stellt im Anschlusse an den Fall Girard (Dirrag) und Cadière (Eradicée) die sexuellen Ausschweifungen der Jesuiten dar. Wie wir sahen, schreibt Sade diesen Roman dem Marquis d’Argens und die Bilder dem Grafen Caylus zu, welche Ansicht auch von Gay geteilt wird. Wahrscheinlicher ist aber die vom Abbé Sephe und von Barbier zuerst entdeckte Urheberschaft des Kriegskommissars de Montigni (genannt Lucas-Montigni). Statt Caylus soll Antoine Pesne, der bekannte Hofmaler Friedrichs des Grossen, die obscönen Bilder gezeichnet haben.[154]

André Robert Andréa de Nerciat (1739–1800) war zwei Jahre lang (1780–1882) Bibliothekar in Kassel und wurde später (von 1788 an) Vertrauter der Königin Karoline von Neapel. Er schrieb die berüchtigte „Félicia ou mes Frédaines“ (Paris 1778, 2 Bde.) und als Fortsetzung derselben „Monrose ou le libertin par fatalité“ (Paris an V). Seine obscönste Schrift ist der „Diable au Corps“ (Paris 1803, 6 Bde),[S. 95] der die angebliche Schrift eines Doktor „Cazzone“ (!), ausserordentlichen Mitgliedes der „joyeuse faculté phallo-coïro-pygo-glottonomique“ vorstellen soll, wie der Verfasser im Vorwort versichert.[155]

Dass die Pornographie in jener Zeit Mode war und zum guten Ton gehörte, beweist ja am schlagendsten der Umstand, dass die hervorragendsten Geister des Jahrhunderts es nicht verschmähten, diesen billigen Ruhm zu erwerben. Wir haben schon auf den berühmten Altertumsforscher Caylus hingewiesen. Aber auch Geisteshelden wie Mirabeau und Diderot haben sich nicht gescheut, ihre litterarische Tätigkeit durch die Veröffentlichung von schmutzigen Erzählungen zu schänden. Besonders Mirabeau wird vom Marquis de Sade öfter genannt, und es ist kein Zweifel, dass Mirabeaus „Education de Laure“ das Vorbild der „Philosophie dans le Boudoir“ gewesen ist, wie dies schon Eulenburg erkannt hat.[156] In „Ma conversion“ (London 1783) hat Mirabeau die Erlebnisse eines männlichen Prostituierten geschildert, der sich für seine Dienstleistungen von den vornehmen Damen, Nonnen u. s. w. bezahlen lässt. Ein drittes obscönes Buch Mirabeaus ist „Erotica Biblion“ (Rom 1783).

In Denis Diderots „Jacques le Fataliste“ (Paris 1746) kommen schlüpfrige Geschichten vor, die[S. 96] Diderot „tief unter Crébillon herabsetzen“.[157] In der berühmten „Nonne“[158] bringt Diderot eine Schilderung des Klosterlebens, in der tribadische und andere lasterhafte Ausschweifungen der Nonnen und Oberinnen beschrieben werden. Auch die „Bijoux indiscrets“ (Paris 1748) haben erotischen Inhalt. Insbesondere hat vielleicht die auch bei Sade wiederkehrende Vorliebe Diderots für paradoxe Behauptungen auf sexuellem Gebiete auf Ersteren einen Einfluss ausgeübt.

Choderlos de Laclos war nach Nodier der „Petron einer weniger litterarischen und mehr verderbten Epoche als diejenige des wirklichen Petronius war.“ Seine vielgenannten „Liaisons dangereuses“[159] schildern die Korruption der Aristokratie, welche der Verfasser als Freund des berüchtigten Philippe Egalité aus eigenster Anschauung kennen gelernt hatte. Charles Nodier erzählt in einer interessanten Notiz „über einige satirische Werke und ihren Schlüssel“, dass man ihm in seiner Jugend in verschiedenen Provinzialhauptstädten mehrere „unreine und lasterhafte Helden dieses Garnison-Satyricon gezeigt habe.“ Nach ihm verdienen die „Liaisons dangereuses“ dasselbe Schicksal (der Verachtung) wie die „scheusslichen Obscönitäten eines frechen Nachahmers des Herrn Laclos, des Marquis de Sade,[S. 97] welchem der Preis eines Ekel erregenden Cynismus gebührt.“[160]

Weniger zynisch, aber ebenfalls die Lasterhaftigkeit des Adels schildernd, hat J. B. Louvet de Couvray in seinem „Faublas“[161] den Typus des „Chevalier“ gezeichnet. In Faublas’ zahlreichen Liebesabenteuern spielt die der Wirklichkeit (des Chevalier d’Eon) entlehnte künstliche Effeminatio des Helden eine Rolle, die auch bei Sade am Schlusse der Juliette Verwendung findet, wo Noirceuil als Frau verkleidet einen Mann heiratet.

Neben dem Marquis de Sade ist der berühmteste erotische Schriftsteller der Revolutionszeit der ungemein produktive Restif (Rétif de la Bretonne). Paul Lacroix hat diesem merkwürdigen Manne ein Muster- und Meisterwerk der modernen Bibliographie gewidmet[162], das jeder Bücherliebhaber immer wieder mit neuem Vergnügen lesen wird. Wir werden später Rétif de la Bretonne als einen der ersten Schriftsteller über Sade zu würdigen haben. Hier interessiert er uns nur als ein gleichzeitig mit Sade wirkender Autor, von dem dieser letztere sicher nicht unbeeinflusst geblieben ist. Es ist offenbar Rétif, den Sade an einer Stelle in seiner Abhandlung über den Roman höchst ungünstig beurteilt. Er sagt dort: „R... überschwemmt das Publikum und braucht eine Druckpresse neben seinem Bette. Glücklicherweise seufzt diese allein unter seinen schrecklichen Geistesprodukten;[S. 98] ein platter und kriechender Stil, ekelhafte Abenteuer in schlechtester Gesellschaft; kein anderes Verdienst als eine grosse Weitschweifigkeit, für die ihm nur die — Pfefferhändler dankbar sein werden.“[163] Sollte bei diesem Urteile Sades nicht etwas Konkurrenzneid im Spiele sein? Wir werden später sehen, dass Rétif über Sade nicht besser dachte. Auch mochte sich wohl der hochgeborene Marquis weit erhaben dünken über dem aus niedrigstem Stande hervorgegangenen Rétif.

In der Tat hat Rétif de la Bretonne (1734 bis 1806), wenn er auch den Adel keineswegs vergessen hat, hauptsächlich die sittliche Korruption auch der niederen Volksschichten dargestellt[164] und ergänzt gewissermassen die Schriften des Marquis de Sade nach dieser Richtung hin, mit dem er sonst viele Aehnlichkeit hat. Eulenburg macht darüber folgende interessante Bemerkungen[165]: „Einem de Sade unendlich näher als die trotz allem grosse und ergreifende Gestalt Rousseaus steht jener ‚Rousseau du ruisseau‘“, Rétif de la Bretonne, über den Dessoir urteilt: „Er wurde von wütendster Sinnlichkeit gepeitscht und durch den Götzendienst des eigenen Ich in eine Art Exhibitionismus hineingetrieben. Daher hat er wie kein Zweiter verstanden, die Entstehung, Eigentümlichkeit und Gewalt der Geschlechtsliebe zu analysieren und dem Ich einen geradezu raffinierten Kultus zu widmen.“ Da haben wir im Keime den literarischen de Sade, nur schwächlicher, passiver, sozusagen unblutiger. Wäre Rétif eine mehr aktiv und impulsiv., weniger kon[S. 99]templativ veranlagte Natur gewesen und hätten ihm, dem armen Bauernsohne, die Mittel und die Atmosphäre des „célèbre Marquis“ von früh auf zur Verfügung gestanden, so wäre vielleicht ein zweiter de Sade aus ihm geworden, der schriftstellerisch dem anderen an Kraft und jedenfalls an Feinfühligkeit der Schilderung überlegen gewesen wäre. Nicht umsonst ertönt bei Rétif aus allen Tonarten das Lob dieser ungemeinen Feinfühligkeit dieser „sensibilité quelquefois délicieuse, quelquefois cuisante, affreuse, déchirante.“ Wir fügen noch zur Charakteristik dieses merkwürdigen Schriftstellers hinzu, dass er ein leidenschaftlicher Liebhaber der Frauen war und, sich mit seinen zahlreichen Maitressen nicht begnügend, auf der Strasse jedem hübschen Mädchen nachlief und nicht eher ruhte, als bis er ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Dabei war er von der grössten Unreinlichkeit. Er erzählt höchst naiv in den „Contemporaines“: „Seit 1773 bis heute, 6. Dezember 1796 habe ich keine Kleider gekauft. Es fehlt mir an Hemden. Ein alter blauer Rock ist meine tägliche Kleidung“. Dieser war zerrissen und voll von Flecken. Dabei liebt Rétif die Reinlichkeit sehr bei den — Frauen. Er spricht immer wieder davon, giebt in seinem „Pornographe“ genaue Vorschriften in dieser Beziehung und konstatiert mit Befriedigung die grosse Verbreitung dieser Tugend unter den Pariser Prostituierten.[166]

Für die Art seiner Schriftstellerei ist bezeichnend, dass er neben der eigenen unermüdlichen Beobachtung auch diejenigen anderer verwertete. So erzählt Graf Alexander von Tilly in seinen Memoiren[167], dass[S. 100] Rétif de la Bretonne zu ihm kam mit der Bitte um Erzählung seiner erotischen Abenteuer, die er in einem Werke verarbeiten wolle. Sehr wichtig ist ferner das Verhältnis Rétifs zu Mathieu François Pidanzat de Mairobert (1727–1779), dem berühmten Verfasser des „Espion anglais“ und dem Sammler der Materialien zu den „Mémoires secrets de Bachaumont.“ Dieser liess nicht nur einzelne Werke in der geheimen Druckerei Rétifs herstellen, sondern war selbst Mitarbeiter an dessen eigenen Schriften. So rührt von ihm die wertvolle Abhandlung über die 16 Klassen der Prostituierten und über die Zuhälter in Rétifs „Pornographe“ her. Auch für die „Contemporaines“, den „Hibou“, und die „Malédiction paternelle“ hat Pidanzat de Mairobert zahlreiche Notizen beigesteuert[168].

Das ohne Zweifel wertvollste Werk Rétifs sind die „Nuits de Paris“[169], eine unerschöpfliche Fundgrube für die Kenntnis des Sittenlebens der Revolutionszeit, eine „in ihrer Art einzige Darstellung der moralischen Physiognomie von Paris“ am Ende des 18. Jahrhunderts, das wahre „Tableau nocturne de Paris“, dessen Inhalt eine 20jährige Arbeit erfordert hat. „Jeden Morgen schrieb ich nieder, sagt Rétif, was ich in der Nacht gesehen hatte.“ Lacroix gibt eine ausführliche Analyse des reichen Inhaltes dieses „nächtlichen Zuschauers“, auf dessen unzählige Details wir an dieser Stelle nicht näher eingehen können.

In „Monsieur Nicolas“ (Paris 1794–1797. 16 Bde.) hat Rétif de la Bretonne die Geschichte seines[S. 101] Lebens erzählt, wahrheitsgetreuer als dies in ähnlichen Büchern wie „Faublas“, „Clarissa“ und Rousseaus „Héloise“ geschieht. Von besonderem Interesse ist der dreizehnte Band („Mon Calendrier“), in welchem Rétif Tag für Tag alle Frauen aufzeichnet, deren Bekanntschaft er gemacht, die er verführt und die er zu — Müttern gemacht hat.[170]

In Deutschland am bekanntesten sind die berühmten „Contemporaines“[171], eine Sammlung von Erzählungen, die auf wirklichen Ereignissen beruhen. Die Helden dieser Novellen sollen den Verfasser dazu ermächtigt haben, sie unter ihren wahren Namen zu nennen. Es sind wesentlich Sittendarstellungen aus dem Volksleben.

„Le Paysan et la paysanne pervertis, ou les dangers de la ville“ (A la Haye 1784. 16 Teile in 4 Bänden) sind nach dem Grafen von Tilly die „Liaisons dangereuses der niederen Volksklassen“, welche die traurige Wahrheit predigen, dass die Tugend durch beständigen Verkehr mit dem Laster notwendig vernichtet wird.

Hieran reiht sich der „Pied de Fanchette“ (A la Haye 1769), die Geschichte einer jungen Modistin aus der Rue Saint-Denis, deren kleiner Fuss Rétif bezaubert hatte. Ueberhaupt ist Rétif ausgesprochener Fussfetischist. Für hübsche Frauenfüsse und Frauenschuhe hatte er eine fanatische Leidenschaft. Fanchettens Fuss ist wirklich der Held dieses Romans. „Son pied, le pied mignon, qui fera tourner tant de têtes, était chaussé d’un soulier rose, si bien fait, si[S. 102] digne d’enfermer un si joli pied, que mes yeux, une fois fixés sur ce pied charmant, ne purent s’en détourner... Beau pied! dis-je tout bas, tu ne foules pas les tapis de Perse et de Turquie, un brillant équipage ne te garantit pas de la fatigue de porter un corps, chef-d’œuvre des Grâces: tu marches en personne, mais tu vas avoir un trône dans mon cœur.“[172] Rétif gibt sogar in den Anmerkungen eine Geschichte der hübschen Frauenfüsse. In allen übrigen Werken kehren immer diese kleinen beschuhten Füsse wieder. Er sah eines Tages „Fanchette“ wirklich in der Rue Saint-Denis, und ihr Fuss, ein „Wunder an Kleinheit“, inspirierte ihn zu seiner Erzählung.

Ein Buch Rétifs, das am meisten an die Werke des Marquis de Sade erinnert, ist „Ingénue Saxancour, ou la femme séparée“ (Liège, 1789, 3 Bände), angeblich die Geschichte seiner unglücklichen verheirateten Tochter Agnes. Rétif hat in diesem Buch „die Grenzen des kühnsten Zynismus überschritten“, und der Verfasser sagt selbst, dass man in dem Werke finden wird „ce qu’on nomme dans le monde des horreurs“. Die unglückliche Gattin wird nach der Hochzeit von ihrem Ehemanne allen Launen eines entnervten Wüstlings unterworfen, sie erduldet die unglaublichsten Infamien und Grausamkeiten ihres „wollüstigen Henkers“.[173] Alexander Dumas der Aeltere, der im Jahre 1851 auf Veranlassung von Paul Lacroix im „Siècle“ unter dem Titel „Ingénue“ eine ganz harmlose Erzählung veröffentlicht hatte, deren Helden Rétif und seine Tochter Agnes waren, wurde von der Familie Rétif de la Bretonne verklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt.[174]

[S. 103]

Einige andere Schriften unseres Autors werden wir an anderer Stelle anführen, weil sie weniger zur schönen Litteratur gehören. Zum Schlusse gedenken wir in unserer kurzen Uebersicht, welche nur das am meisten Charakteristische hervorheben sollte, noch zweier sehr bekannter obscöner Gedichte des 18. Jahrhunderts. Das erste ist „La Foutromanie. Poème lubrique, à Sardanopolis, aux dépens des amateurs. 1775“[175]. Es enthält sechs Gesänge zu je 300 Versen. Der Zensor Le Noir bekam die strengsten Weisungen von der Regierung, die Verbreitung des Gedichtes zu verhindern. Trotzdem gelangten einige Exemplare zu dem hohen Preise von 9 Livres in den Handel. Das Gedicht beginnt mit den Versen:

Vous les voulez... je vais souiller mes rimes,
Poétiser en jargon ordurier...
Toi dont les feux raniment la nature,
Qui, maîtrisant l’homme et les animaux,
Brûle en secret le cuistre et le héros,
Sois ma déesse, adorable Luxure!

Die „Foutromanie“ ist das Glück der Götter, das ihnen die Langeweile vertreibt. Aber auch die Menschen macht sie glücklich. Der Verfasser eröffnet den Reigen dieser Glücklichen mit Fräulein Dubois, einer Schauspielerin der Comédie Française. Dann folgen die Damen Arnoux und Clairon, letztere mit dem Grafen Valbelle, Madame Allard mit dem Duc de Mazarin. Auch die Opernsängerin Fräulein Vestris hat ihre Freude daran. Gegen Ende dieses ersten Gesanges erscheinen die Herzoginnen und Hofdamen, die sich mit ihren Lakaien vergnügen. Zu[S. 104]letzt wird die unersättliche Libido der alten Polignac de Paulien geschildert.

Der zweite Gesang beginnt mit der Beschreibung der Reize einer jungen Anfängerin, welche der Leidenschaft eines jungen Wüstlings zum Opfer fällt. Eingeschaltet wird ein Gedicht „Père Chrysostome“ gegen die sexuellen Ausschweifungen in den Klöstern. Weiter dringt ein von Satyriasis Ergriffener in ein Nonnenkloster ein. Hier folgt ein Ausfall gegen Tribadie und Paederastie. Der alte Duc d’Elbœuf war einer der ersten, der die Secte der Paederasten nach Frankreich einführte. Zum Schluss Excurs über Syphilis.

Der dritte Gesang ist fast ganz der Rolle der Syphilis in der Liebe gewidmet. Zuerst wird die hohe Vollendung in der Heilkunst dieses galanten Leidens gepriesen; die „syphilitischen Liebeshelden“ werden gefeiert, insbesondere die am Mal de Naples leidenden Prälaten. Herr de Montazet, Erzbischof von Lyon, wird hier im Verein mit der Duchesse de Mazarin genannt. Nach höchst indezenten Aeusserungen über den Herzog von Orléans und Madame de Montesson wird die Liaison zwischen der verstorbenen Herzogin von Orléans und den Herren de l’Aigle und de Melfort enthüllt, welche letzteren von der Herzogin syphilitisch angesteckt wurden. Der Prinz de Beauffremont fiel in Ungnade, weil er sich mit einem Schweizer abgab. Am Schlusse Lob des Aretino, des Erfinders der „plastischen Stellungen“.

Der vierte Gesang ist ein Loblied auf das Bordell. Die berühmtesten Kupplerinnen und Bordellwirtinnen werden vorgeführt, so die Paris, Carlier, Rokingston, Montigny, d’Héricourt und Gourdan. Beschreibung der wollüstigen Orgien an diesen infamen Orten. „Bett und Tisch“ müssen sich[S. 105] folgen, daher sind die deutschen Frauen geeigneter für die „Foutromanie“. Der Autor verwünscht Italien, wo er Geld und Gesundheit verloren hat.

Im fünften Gesang werden zunächst die Syphilophoben ermutigt. Alle Frauen haben ja nicht die Syphilis. Montesquieu war im Feuer ebenso wie Rousseau und Marmontel. Grosses Lob des Dorat, des „poète foutromane“. Exkurs über die Holländer, die nur das Geld lieben. Schilderung der unkeuschen Kardinäle. Spinola schläft bei Palestrina, Albani bei Altieri, Bernis bei Saint-Croix, Borghese ist B..... Auch die Kaiserinnen Maria Theresia und Katharina II. verstehen ihre Sache, ebenso der König von Polen und die verstorbene Königin von Dänemark. Es ist nur ein Jammer, dass die „Dames de France“, die Tanten Ludwigs XVI. im Zölibat leben.

Agyroni ist der Held des sechsten Gesanges[176]. Dieser Charlatan hat den Verfasser wohl von einem galanten Leiden geheilt. Zahlreiche medizinische Details wie in Robés Gedicht über Syphilis. Schliesslich wird wieder die „Foutromanie“ gepriesen als die Seele des Weltalls.[177]

Das zweite Gedicht „Parapilla“ ist eine Uebersetzung des italienischen Originals „La Novella dell[S. 106]’ Angelo Gabriello oder Il Cazzo“ (= Phallus),[178] ein Wort, welches Papst Benedikt XIV. beständig im Munde hatte. Als ihm ein Höfling die Schmutzigkeit des Wortes vorhielt, erwiderte er: „Cazzo, cazzo! Ich werde es so oft sagen, bis es nicht mehr schmutzig ist.“ Das französische Gedicht besteht aus fünf Gesängen, deren Inhalt ganz kurz dieser ist:

Rodric empfängt vom Himmel ein gewisses Instrument, das alle Damen beglückt. Zunächst in Florenz die berühmte Donna Capponi. Dann gerät es in ein Nonnenkloster, in die Hände der Lucrezia, der Tochter Alexanders VI. Hierbei werden die Ausschweifungen in Rom unter diesem Papste geschildert, und das Gedicht schliesst mit einem obscönen Gespräch zwischen ihm und seiner Tochter.

Erwähnen wir noch, dass ein gewisses Incitamentum amoris, das in den Romanen des Marquis de Sade eine grosse Rolle spielt, sogar in einem eignen Poem als solches gepriesen wurde.[179]

Wir konnten nur das Allerwichtigste aus der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts flüchtig berühren. Der Einfluss derselben auf die Sitten war gewaltig, und der Marquis de Sade selbst hat diesen Einfluss der Litteratur empfunden. Er hat selbst eine treffende Charakteristik derselben zu geben versucht, die erkennen lässt, dass er die Bedeutung dieser pornograph[S. 107]ischen Litteratur wohl erkannt hat. Er sagt[180]: „Der Epicuräismus der Ninon-de-Lenclos, der Marion-de-Lorme, der Marquise de Sévigné und de Lafare, der Chaulieu, der St.-Evremond, dieser ganzen feinfühligen Gesellschaft fing endlich an, müde des cytherischen Liebessehnens, mit Buffon ‚nur das Physische in der Liebe für gut zu halten‘ und veränderte bald den Ton in den Romanen. Die Schriftsteller empfanden, dass die galanten Schwätzer nicht mehr ein durch den Regenten entsittlichtes Jahrhundert, das von den Kavaliertorheiten, der religiösen Schwärmerei und der Verehrung der Frauen zurückgekommen war, unterhalten konnten. Sie fanden es einfacher, diese Frauen zu amüsieren und zu verderben, als ihnen zu dienen und sie zu verherrlichen. Sie schufen Ereignisse, Gemälde, Konversation mehr nach dem Geiste der Zeit und entwickelten in einem angenehmen, leichten und bisweilen selbst philosophischen Stile den Zynismus und die Immoralität.“

11. Die Kunst im 18. Jahrhundert.

Auch die französische Kunst des 18. Jahrhunderts ist ein getreuer Spiegel der Zeit. Baukunst, Malerei, Schauspiel- und Tanzkunst dienen dazu, die Sinne zu erregen. Das berühmte „Rococo“ ist nichts weniger als ein Bild der Harmonie. Es wäre dies ja auch ein Wunder gewesen. Denn niemand kann aus seiner Zeit heraus. Der Rococostil folgte in der Kunst den Eingebungen der künstlich erregten Sinne, die an überladenen Verzierungen, an unruhig verschlungenen[S. 108] Linien ein Gefallen fanden, sowie an den Darstellungen wollüstiger Szenen, raffiniert erdachter „Nudités.“ Eine prachtvolle Schilderung der bildenden Kunst, vorzüglich der Architektur im 18. Jahrhundert, entwirft Georg Brandes: „Was man unter Ludwig XIV. in der Baukunst erstrebt hatte, war das Imponierende. Man opferte sogar jede Rücksicht auf Behagen und Bequemlichkeit der kalten Prunksucht und der steifen Etikette auf. Wer das Schlafzimmer Ludwigs XIV. in Versailles gesehen hat, wird einräumen, dass ihm selten ein unleidlicher gelegenes Schlafgemach vor Augen kam. Jetzt werden die unbewohnbaren und majestätischen Säle von den ‚petites maisons‘ abgelöst, wie damals jeder Mann von Welt sie besass, und in welchem die tändelnde Konversation und der üppige Leichtsinn sich ebenso gut befanden. Daher verschwinden in der Architektur die grossen, einfachen Verhältnisse, die reinen und klaren Massenwirkungen. Die Härte und Schwere des Steins wird verleugnet, die Strenge der Linien gebrochen, alles wird rund und schwellend, alle Linien werden ausschweifend und übermütig. Der Barockstil erreicht sowohl in der Baukunst wie in der Bildhauerkunst seinen Gipfel. Ueberall stösst man auf unendlich wiederholte Amoretten und Grazien, ganz wie auf den Kupferstichen zu Voltaires ‚Poésies fugitives‘. In den Gärten umarmt der bockfüssige Pan schlanke, weisse Nymphen am künstlichen Wasserfalle. In der Malerkunst entstehen jene ländlichen Bilder, deren entferntes Vorbild Rubens Liebesgarten ist, die aber statt seiner breiten Lebenslust und schweren Figuren gleichsam hingehauchte und feine Gestalten in koketten Trachten, und statt Rubens derber Sinnlichkeit ein erotisches Spiel, ein Liebeln und Flüstern aufweisen, einen Hintergrund schattiger Gänge, mit stillen[S. 109] Verstecken, mit üppigen Statuen und frischen Rasenteppichen.

Unter Ludwig XIV. war die ganze Tracht steif gewesen; man trug grosse Ueberschläge und Kragen, selbst die Rock- und Westenschösse waren gesteift, Halskragen und Manschetten gestärkt, so dass nicht eine Falte sich verändern konnte; die unbequeme Allongeperrücke machte eine gravitätische Haltung zur Notwendigkeit. Unter der Regentschaft war alles auf Zwanglosigkeit und Leichtigkeit gerichtet. Das steife Futter der Schösse verschwand, an die Stelle der grossen Allongeperrücke trat das gepuderte Haar, steif frisiert, so dass keine noch so hastige Bewegung es in Unordnung bringen konnte; überall in Tracht und Benehmen überliess man sich einer gewissen Nachlässigkeit. Man verweilte in Boudoirs. Wie Tee und Kaffee aus dem Orient eingeführt wurden, so auch das orientalische Sofa, welches dem jüngeren Crébillon den Titel für seine bekannteste und berüchtigste Erzählung gibt.[181] Der weiche Lehnsessel verdrängt den hohen, unbequemen Armstuhl mit schnurgerader Rückwand. Das Zimmergerät besteht aus schweren Seidengardinen, welche wollüstig das Licht dämpfen, aus grossen Spiegeln in Goldrahmen, aus reich verzierten Pendeluhren, aus üppigen Malereien und schnörkelhaften Möbeln. Das ganze Zimmer duftet von einem wollüstigen Parfüm.“[182]

Noch deutlicher als die Architektur bringt die Malerei des 18. Jahrhunderts den Charakter des[S. 110]selben zum Ausdruck. Der Wunsch Neues zu bringen, den „blasierten Appetit zu reizen“ verlieh den Künstlern des 18. Jahrhunderts ein raffiniertes Erfindungstalent. Boucher, Watteau, Fragonard, Lancret, der Maler der „fêtes galantes“, verschmähten die einfache und naive Nacktheit der Göttinnen eines Lebrun und Nicolas Mignard. Ihre „baigneuses“ und „bergères“ sind nicht mehr mythologische Figuren, sondern Pariser Dirnen, die sich gern den Beschauern nackt im Bade oder auf dem Ruhelager zeigen. Diese vorgeblichen Najaden und koketten Schäferinnen mit entblösstem Busen, mit mehr oder weniger aufgehobenem Kleide, sind Frauen der Zeit, Dämchen „fort en vogue aux petites soirées de Trianon et de Luciennes“.[183]

Richard Muther hat in seiner neuen Darstellung der Geschichte der Malerei[184] in dem Kapitel „Die Frivolen“ diese erotische Richtung in der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts glänzend geschildert. Er sagt u. a.: „Mit den zierlich gemessenen Menuetten Watteaus hatte die Redoute begonnen. Um Mitternacht, unter der Anführung Bouchers, wurde der Cancan getanzt. Jetzt vor Tagesgrauen, folgt noch der Kotillon. Man hatte zu viel getanzt und zu viel geliebt. Statt sich selbst zu bemühen, will man nur noch zusehen, so wie der Pascha, Opium rauchend, apathisch in seinem Harem sitzt. Auch Balletteusen tanzen zu lassen, hat keinen Reiz mehr. So beginnt am Schlusse des Rokoko die eigentlich galante Kunst, das Tableauvivant. Stramme Burschen und hübsche Mädchen aus dem Volke müssen den vornehmen Herren[S. 111] Liebesszenen vorspielen, für die sie selbst zu blasiert geworden .... Als geistreichster dieser Gruppe, überhaupt als einer der feinsten des Jahrhunderts ist Fragonard, der nervöse Charmeur, zu feiern, in dem sich noch einmal alle Lebenslust und Leichtlebigkeit, die ganze Grazie des Rokoko sammelt... Wenn der Name Fragonard genannt wird, denkt man an Reifröcke, seidene Garnierungen und hochgeschürzte Jupons, an lustige Schaukeln, die pikante graue Strümpfe sehen lassen, an feine Battisthemden, die von rosigen Schultern herabgleiten, an Amoretten, Küsse und Liebesspiel.“

„Kurz nach Schluss der Salonausstellung 1763,“ erzählt Fragonard selbst, „schickte ein Herr zu mir und bat mich, ihn zu besuchen. Er befand sich, als ich bei ihm vorsprach, gerade mit seiner Maitresse auf dem Lande. Zuerst überschüttete er mich mit Lobsprüchen über mein Bild, und gestand mir dann, dass er ein anderes von mir wünschte, dessen Idee er angeben würde: ‚Ich möchte nämlich, dass Sie Madame malen auf einer Schaukel. Mich stellen Sie so, dass ich die Füsse des hübschen Kindes sehe — oder auch mehr, wenn Sie mich besonders erfreuen wollen.‘“ Diesem seltsamen Liebhaber dankt man das Bild „Die Schaukel“, das erste, das den eigentlichen Fragonard zeigt.... Fragonard ist der Pierrot lunaire, der beim Morgengrauen blass und geisterhaft seine Sprünge macht. Manche seiner Bilder, so toll sie sind, haben etwas von Gebeten. Altäre sind errichtet, Opferflammen züngeln lohend gen Himmel, und bleiche Menschen legen weisse Kränze zu Füssen des allmächtigen Eros nieder. Da heben Weiber flehend ihre Hände zu Satan empor und beten, ihnen das Geheimnis neuer unbekannter Sensationen zu enthüllen.

[S. 112]

Bildet schon die Verherrlichung der Geschlechtslust in einem gedruckten Buche einen die Sinne aufs Höchste anstachelnden Reiz, der daher im 18. Jahrhundert sehr begehrt war, so muss die bildliche Darstellung der Wollust noch tausendmal schlimmer wirken. „Le réalisme de la peinture, se traduisant dans les actes et les paroles, les livres et les chants, doit exercer une funeste influence sur la jeunesse en surexcitant le sens génital“[185]. Und der Marquis de Sade, der in seinen Romanen alles aufzählt, was den sexuellen Genuss zu steigern vermag, lässt Saint-Fond (Juliette II, 15) nach einer wilden Orgie ausrufen: „O wie nötig hier ein Maler wäre, um der Nachwelt dieses wollüstige und göttliche Bild zu überliefern!“

So konnte es denn nicht fehlen, dass neben den pikanten Nudités eines Fragonard und Lancret bald die Schmutzbilder in der erschrecklichsten Weise sich verbreiteten. Dass die Maitressen sich für ihre Liebhaber nackt und in irgend einer plastischen Stellung malen liessen, war nichts seltenes. Bekannt ist die Geschichte der O’Morphi, einer Maitresse Ludwigs XV. und Insassin des Hirschparks, deren Besitz der König dem berühmten Abenteurer Casanova auf folgende Weise verdankte[186]. Casanova hatte bei einem seiner zahlreichen Liebesabenteuer in Paris auch die Bekanntschaft einer flämischen Schauspielerin O’Morphi gemacht, welche eine junge Schwester von hervorragender Schönheit besass, in die Casanova sich sterblich verliebte, und deren Reize er enthusiastisch schildert. Er bekam Lust, diesen herrlichen Körper gemalt zu besitzen, und ein deutscher Maler[S. 113] malte sie auf eine „göttliche“ Weise für sechs Louisdors. Die Lage, in der er sie darstellte, war „entzückend“. „Sie lag auf dem Bauche, stützte den Arm und den Busen auf ein Kissen und hielt den Kopf gewendet, als läge sie drei Viertel auf dem Rücken. Der gewandte und mit Geschmack begabte Künstler hatte ihren unteren Teil mit soviel Kunst und Wahrheit gemalt, dass man sich nichts Schöneres denken konnte.“ Ein Freund Casanova’s bekam Lust, eine Copie dieses Bildes zu besitzen. Der Maler zeigte in Versailles diese Copie, welche Herr von Saint-Quentin so schön fand, dass er nichts Eiligeres zu tun hatte, als sie dem König zu zeigen. „Seine allerchristliche Majestät, ein grosser Kenner auf diesem Gebiete, wollte sich mit eigenen Augen überzeugen, ob der Maler treu kopiert hätte, und wenn das Original ebenso schön war, wie die Copie, dann wusste der Enkel des heiligen Ludwig wohl, wozu es ihm dienen würde.“ So verlor Casanova seine Geliebte an den König Ludwig XV., der sie nach Zahlung von 1000 Louisdors an die Schwester sofort in seinem Hirschpark unterbrachte, wo sie nach Ablauf eines Jahres mit einem Kinde niederkam, das „gleich so vielen weggetan wurde, ohne dass man wusste, wohin; denn so lange die Königin lebte, erfuhr man nie, wohin die natürlichen Kinder Ludwig’s XV. kamen.“

Dieses berühmte Bild zeigte Casanova später einer französischen Nonne in Aix, mit der er ein Liebesverhältnis angeknüpft hatte, und diese Nonne liess sich in eben derselben obscönen Stellung für Casanova malen![187]

[S. 114]

Nach Parent-Duchatelet[188] vertrieb man während des vorigen Jahrhunderts und besonders vor der Revolution in den Bordellen die unzüchtigsten Kupferstiche, ohne dass sich die Polizei darum bekümmerte. Von 1790 bis 1793 verteilte man an alle Bordellbesucher die schändlichsten Karikaturen auf Ludwig XVI., Marie Antoinette und andere Personen. Man könnte daher wohl sagen, dass die Orte der Unzucht zu den politischen Unfällen Frankreichs wesentlich beigetragen hätten. Unter der Schreckensherrschaft fanden sich solche schändlichen Bilder nicht nur in den Bordellen, sondern viele Kaufleute schämten sich nicht, in den Gallerien des Palais Royal und an anderen Orten die frechsten Kupferstiche aufzuhängen, wo die Genüsse der Geilheit, der Paederastie, der seltsamsten Wollust den Blicken aller Vorübergehenden preisgegeben wurden.

Dass die Erotica mit obscönen Bildern reichlich ausgestattet wurden, verstand sich von selbst. So sind auch die Romane das Marquis de Sade durch eine grosse Fülle von scheusslichen Darstellungen „schmackhafter“ gemacht. Wir werden später auf diese Bilder zurückkommen.

Ueber ein sehr merkwürdiges Versteck von obscönen Bildern berichtet die „Chronique scandaleuse“[189]. Eine derartige Idee konnte nur die nach immer neuen Reizen lüsterne Phantasie eines abgelebten Wollüstlings ersinnen. Es war eine „neue Art der Obscönität“, bis zu diesem Jahrhundert unbekannt, eine „epochemachende Entdeckung“. Das waren die „vestes de petits soupers“. Da nach der damaligen Mode die[S. 115] Röcke zugeknöpft wurden, konnte man den oberen Teil der Weste nicht sehen. Aber bei den Orgien „d’un certain genre“ knöpften die Wüstlinge den Rock auf und zeigten ihren Messalinen Bilder und Stickereien auf ihrer Weste, welche den Gegenstand der Orgien und alle Wollust derselben darstellten. Diese raffinierte Idee macht selbst den bekannten Ausspruch des Ben Akiba illusorisch.

Noch einer letzten Gattung von Schmutzbildern haben wir zu gedenken. Bei Sade ist auch die Defaecation wie alles Schmutzige und Widerliche ein Gegenstand der Wollust. Der Kot ist deliciös und wird von Männern und Weibern als Delicatesse verschlungen. Sollte man es glauben? Auch der Akt der Defaecation wurde den Parisern im 18. Jahrhundert bildlich vor Augen geführt. Konnte es ausbleiben, dass einige, besonders starker Reize bedürftige Wüstlinge auch an diesem Akte Gefallen fanden und ihn zur Erhöhung ihrer Genüsse verwendeten? Johann Friedrich Reichardt erzählt, dass den Vorübergehenden an allen Ecken die schmutzigsten und niederträchtigsten Poissardenlieder und Gespräche, mit ekelhaften illuminierten Holzschnitten, die alle den schmutzigsten Ausleerungsakt scheusslich natürlich darstellten, angeboten und aufgedrungen wurden. Bei den Parisern sei dies Letzte nicht einmal nötig. Man sähe die anständigsten (?), ernsthaftesten Leute solche Blätter zu beliebiger Scherzanwendung in die Tasche stecken[190].

Auch in der Skulptur machte sich, wenn gleich natürlich in beschränkterer Weise, das Bestreben nach[S. 116] Hervorhebung des rein Sinnlichen geltend. Mit den drei Coustou’s „versinkt die Kunst in die Wollust“. „Das jungfräulich Nackte wird durch den Ausdruck sinnlicher Liebe entweiht. Der Marmor wird Fleisch und zeigt das wollüstige Beben und die Weichheit der lebenden Arme und Brüste. Die Frauen werden dargestellt als ‚petites filles‘, bleich, in der wollüstigen Erschlaffung lasciver Courtisanen oder wie Fischerinnen am Hofe Ludwig’s XV. und der Pompadour[191]. Der berühmte Houdon, nach Arsène Houssaye der „letzte Ausdruck (expression) des 18. Jahrhunderts“, stellte in seinen Büsten „alle Ideen, alle Leidenschaften und alle Physiognomien“ dar. Seine „Diana“, seine „Frileuses“ und „Baigneuses“ zeigen alle eine wollüstige Nacktheit.

André Grétry, der Hauptvertreter der französischen Musik des 18. Jahrhunderts, der stets mehrere „filles et fillettes“ zu gleicher Zeit liebte, zeigte in seinen musikalischen Werken keine echte Leidenschaft, sondern nur Wollust.[192] Wie sehr der Marquis de Sade ein Mensch seiner Zeit war, der nur aus ihr erklärt werden kann, zeigt vor allem der Umstand, dass auch er von jener dem 18. Jahrhundert eigentümlichen Manie ergriffen war: der Theaterwut, der Mimomanie! de Sade hat nicht nur zahlreiche Theaterstücke geschrieben, sondern auch dilettantische Theateraufführungen veranstaltet.

Die Leidenschaft des Theaterspielens, die „Mimomanie“, herrschte in Frankreich während des ganzen Jahrhunderts mit einer uns heute kaum verständlichen Macht. Ueberall im Lande bildeten sich förmliche[S. 117] Dilettantengesellschaften. Ein Haustheater gehörte zu jedem Schloss, zu jedem vornehmen Haus. „Es ist eine unglaubliche Manie“, heisst es in Bachaumont’s Memoiren, „selbst jeder Prokurator will in seinem Landhäuschen eine Gauklerbühne und eine Komödientruppe haben.“ Sogar in die Kreise des Klerus drang die Theaterwut. Durch die Pompadour wurde das Theaterspielen am Hofe Ludwig’s XV. eingeführt. „Die Damen studieren mit den Schauspielern die Stücke ein, die sie an ihrer Privatbühne aufführen. Es war so lustig, bot so viel Stoff zu niedlichen Intriguen und galanten Erlebnissen, den bunten Flitter des Pierrot und der Colombine zu tragen.“ (Muther).

Die Theaterstücke hatten, besonders seit dem letzten Jahrzehnt vor der Revolution, einen immer freieren Charakter angenommen. Wir haben schon auf Lanjon’s Klosterstücke hingewiesen. Kurz vor und während der Revolution kam eine wahre Ueberschwemmung von obscönen, gegen das Königtum und die Kirche gerichteten Komödien. Die Zahl dieser sogenannten „Pièces révolutionnaires“ ist sehr gross. Die scheusslichsten sind von Guigoud Pigale („Le triomphe de la raison publique“), Léonard Bourdon („Le tombeau des imposteurs et l’inauguration du temple de la vérité sansculotide, dédiée au Pape“), Sylvain Maréchal („Le jugement dernier des rois“), Desbarreaux („Les potentats foudroyés par la montagne et la raison ou la déportation des rois de l’Europe“). In letzterem Stücke zanken sieh die Fürsten Europas um ein Stück Land. Die Kaiserin Katharina sagt zum Papst: As-tu avalé ton goujon, Saint-Père? Dieser antwortet: Vous avez un avaloir où les grands morceaux passent aisément. Hierauf giebt jene dem König von Preussen eine Ohrfeige, und dieser antwortet[S. 118] durch einen Fusstritt, und so gehen die Gemeinheiten und schmutzigen Reden fort. Der Marquis de Sade hatte ein weiteres Vorbild für seine obscönen Komödien, die er in Bicêtre und in Charenton seine Mitgefangenen spielen liess, in dem berüchtigten „Théâtre gaillard“ (London 1788, 2 Bände), für welches sogar Grandval, Caylus, Crébillon und Piron Stücke geschrieben hatten[193]. Ja, es blieb nicht bei blossen Worten und unzüchtigen Gesten! Noch im April 1791 existierte nach Mercier im Palais Royal ein öffentliches Theater, wo ein sogenannter Wilder und eine Wilde, ganz im Stand der Natur, vor den Augen eines zahlreichen Publikums beiderlei Geschlechts das Werk der Begattung vollzogen. Der Coitus als Schauspiel! Das war etwas für die zahlreichen „voyeurs“ der Hauptstadt, die auch in Sade’s Romanen vertreten sind. „La vue des plaisirs d’autrui nous en donne“ hatte schon La Mettrie in seiner „L’art de jouir“ (1751, S. 131) gesagt. Der Friedensrichter liess endlich die beiden Akteurs vorfordern und da fand es sich, dass der Wilde ein Kerl aus der Vorstadt St. Antoine und die Wilde eine gemeine Hure war, die sich sehr ansehnliche Summen Geldes von den neugierigen Zuschauern auf diese Art verdient hatten.[194]

Die Schauspielerinnen, Opernsängerinnen, Choristinnen und Tänzerinnen bildeten einen sehr begehrten Bruchteil der Prostitution, wie wir später sehen werden. Aber auch die Foyers der Theater waren die „Bazare,[S. 119] auf denen die Liebhaber ihre Talente ausübten, um Intriguen anzuknüpfen“[195].

12. Die Mode.

Die Laster müssen das Volk beherrschen und unter demselben verbreitet werden. Sonst will es selbst herrschen. Viele Theater, der Luxus, viele Cabarets, Bordelle müssen diesem Zwecke dienen. Es muss eine Straflosigkeit für die Unzucht geben. Dann endlich die Moden, die ja in Frankreich so einflussreich sind! Männer und Frauen sollten Kleider tragen, die dass Gesäss besonders freilassen, Feste, ähnlich denen der Flora, sollten gegeben werden, wobei die Mädchen nackt tanzen. — Das ist die Rolle, welche der Marquis de Sade durch den Minister Saint-Fond (Juliette II, 197) der Mode zuerteilen lässt. Derselbe Saint-Fond empfiehlt der Juliette, sie sollte sich, um den letzten Rest von Scham zu ersticken, halbnackt dem Publikum auf der Promenade zeigen (Juliette III, 125).

Auch hier lässt de Sade die Wirklichkeit sprechen. Der Rat des Saint-Fond wurde wirklich befolgt. „In der Kühnheit des Nackten gab es noch Kühnheiten! An einem Ruhetage des Jahres V spazierten zwei Frauen auf den Champs-Elysées, vollständig nackt, nur mit einer dünnen Gaze bekleidet. Eine andere zeigte sich dort mit gänzlich entblössten Brüsten. Bei diesem Gipfel der Schamlosigkeit ertönten laute Rufe. Man führte diese Griechinnen im Kostüm einer Statue unter[S. 120] Hohngelächter und heftigem Schelten zu ihren Wagen zurück.“[196]

Kleidung der Frau und Detail der Kleidung wurden im 18. Jahrhundert von der Wollust erfunden. Die Kleidung wurde den Bedürfnissen einer üppigen Sinnlichkeit angepasst. Die Blasiertheit geriet auf merkwürdige Einfälle. Junge Männer und junge Frauen glaubten die Natur zu verbessern und ihr eine Lection zu erteilen, indem sie ihren Haaren das Weiss des Alters verliehen.[197] Die Goncourts schildern unübertrefflich[198] die unaufhörlichen Wandlungen der Mode im 18. Jahrhundert mit ihren bizarren Einfällen, ihren raffinierten Ent- und Verhüllungen, die gigantischen Frisuren der Frauen, das Schminken, die Schönheitspflästerchen, die Schuhe, Schleifen und Bänder. Die Mode huldigte dem Moment. Nach dem Prozesse des Pater Girard erschienen die Bänder à la Cadière, deren Stickereien Szenen aus dieser Affaire darstellten. Laws System hatte Schleifen „du système“ zur Folge. Den „rubans à la Cadière“ im Anfange des Jahrhunderts entsprechen am Ende die „rubans à la Cagliostro.“

Je mehr man sich dem Zeitalter der Revolution näherte, desto mehr traten die Nuditäten in der Mode hervor. Der Cult der Gaze, die Vorliebe für ausschliesslich gazeartige Umhüllungen trat auf. Die Kleidung der „Göttinnen der Vernunft“ wurde immer durchsichtiger. Das Kleid zog sich immer mehr vom Busen zurück, die Arme wurden bis zur Schulter ent[S. 121]blösst. Dann folgten Beine und Füsse. Man trug Riemen um die entblössten Fussknöchel und goldene Ringe an den Zehen. In den öffentlichen Gärten ergingen sich nacktbeinige Terpsichoren, die nur mit einem Hemde bekleidet, ihre mit diamantverzierten Ringen geschmückten Oberschenkel sehen liessen.[199] Ein Journalist, welcher der Eröffnung des Pariser Tivoli beiwohnte, erzählt, dass an diesem Tage mehrere Göttinnen in so leichten und durchsichtigen Kostümen erschienen, dass man alles sehen konnte, was man sehen wollte. Die Baronin de V... traf einmal in den Champs-Elysées eine ebensolche „nackte“ Dame am Arme eines vornehmen Herrn.[200] Ein deutscher Berichterstatter schrieb: „Besuchen Sie einmal das Konzert im Theater de la rue Feydeau, und Sie werden von der Menge Juwelen und Gold geblendet werden, womit die Damen bedeckt sind. Betrachten Sie diese brillanten Geschöpfe näher, und Sie werden leicht bemerken, dass sie entweder gar keine oder höchstens nur halbe Hemden tragen. Der ganze Arm, der halbe Nacken, die ganze Brust ist bloss. Verschiedene haben ihren dünnen Florrock noch auf jeder Seite hinaufgeschürzt, so dass sie auch noch die schöne Wade sehen sollen; kurz, die Indecenz der Trachten dieser Impossibles ist unbeschreiblich. Madame Tallien erschien auf dem letzten grossen Balle im Opernhaus und hatte nicht nur den Kopf, die Brust, Arme und Hände mit Juwelen bedeckt, sondern sie hatte sogar die Füsse auf römische Art mit[S. 122] Bändern umwunden und an jeder Zehe einen prächtigen Ring stecken“.[201] Diese Kostüme à la grecque, deren Trägerinnen die „Merveilleuses“ genannt wurden, hatte Therese Cabarrus, die Geliebte Tallien’s, in Paris eingeführt, nachdem sie schon während der Schreckenszeit in Bordeaux öffentlich sich in einer überfrivolen Kostümierung gezeigt hatte.[202] Den „Merveilleuses“ entsprachen auf der männlichen Seite die „Incroyables“, die sich nach dem Ideale des Hässlichen kleideten. Denn beim Manne galt zur Revolutionszeit nicht die Schönheit, sondern die Kraft, die Stärke der Muskeln für das höchste Gut. Die Don Juans verwandeln sich in Herkulesse, die Wollust wird brutal.[203]

Auch die perversen sexuellen Neigungen fanden im 18. Jahrhundert einen Ausdruck in der Mode. Die weit verbreitete, auch zwischen Frau und Mann geübte Paedicatio erzeugte im 18. Jahrhundert die merkwürdige Mode des sogenannten „Cul de Paris“. „Eben weil dieser wunderliche Teil, der in anderen Hinsichten doch so verrufen und so garstig ist, so sehr die Sinnlichkeit reizt und fesselt, haben die öffentlichen Weiber der Freude die Manier, eben diesen Teil, den die verschämte Sittsamkeit bescheiden in den gehörigen Hintergrund zurückzieht, recht frechlüstig zu präsentieren, und durch Bewegungen im Gange alle seine Formen recht anschaulich zu machen.“[204] Unter Ludwig XVI war bei den Frauen jene das Gesäss stark hervortreten[S. 123]lassende Mode sehr verbreitet, von der Dulaure sagt, dass er die Trägerinnen der „Vénus Hottentotte“ ähnlich gemacht habe[205]. Damals besang Piron in „wilder Lust“ diese Spekulation auf die männliche Sinnlichkeit folgendermassen[206]:

L’aimable C.. de Briséis
N’a point de pareil ni de prix!
Plus rond qu’une boule d’ivoire —
Le croira qui le voudra croire.
J’en ai presque mes sens ravis
Mon cœur de joie en est épris
Et j’ai toujours dans ma mémoire.
L’aimable C...!

Auch die Männer zeigten in der Blütezeit des Rokoko eine gewisse Effeminatio in ihrer Kleidung. „Sammet und Seide in allen Nüancen, Spitzen als Halsschmuck und als Manschetten, Stickereien in Gold, Silber und Seide, werden selbst von alten Herren getragen. Alle sind so elastisch, schlank, so effeminiert und ewig jung, so anmutig und von Rosenduft umhaucht, als ob es gar keine Männer, sondern erwachsene Amoretten wären“[207].

Andererseits war die immer mehr um sich greifende Tribadie Ursache besonderer Kostümierung. Die Tribaden mit männlichen Neigungen hatten sich unter der Schreckenszeit auffallend vermehrt. Die Virago auf der Strasse war eine allbekannte Erscheinung.[208] Sie hatte ihr eigenes Kostüm. Mercier erzählt: „Ich habe in meinem Laden, wo man oft über die Moden spricht,[S. 124] mir erzählen lassen, dass diejenigen Frauen Tribaden sind, welche die Sitte aufgebracht haben, sich wie ein Mann zu frisieren, Hüte und Männerstiefel zu tragen.“[209]

13. Prostitution und Geschlechtsleben im 18. Jahrhundert.

In Paris hat der Marquis de Sade seine Studien für die beiden berüchtigten Romane „Justine“ und „Juliette“ gemacht. Hier hat er den grössten Teil des Inhalts derselben erlebt und erdacht. Pariser Ereignisse und Zustände haben fortwährend seine Phantasie befruchtet, und die Vorbilder für die Schilderungen einzelner Verhältnisse in seinen Werken sind leicht zu finden. Dies wird sich in geradezu überraschender Weise aus der Betrachtung der Prostitution und des Geschlechtslebens in Paris ergeben. Von Paris gilt ja heute noch, was Montesquieu im 106ten persischen Briefe sagt, dass es die „sinnlichste Stadt der Welt“ sei, wo man die „raffiniertesten Vergnügungen“ ersinnt. Die Schilderungen der grossen Bordelle bei Sade mit ihren ingeniösen Einrichtungen beziehen sich fast durchweg auf Pariser Bordelle. Die meisten Heldinnen in seinen Romanen sind Pariser Dirnen. Es wird daher angemessen sein, dass wir diese Verhältnisse zunächst ins Auge fassen.

[S. 125]

14. Bordelle, geheime pornologische Clubs und Prostituierte.

In „Juliette“ (I, 187) schildert der Marquis de Sade das Bordell der Duvergier in einer Vorstadt von Paris. Diese Kupplerin hat ein Frauen- und Männerbordell. In dem einsam in einem schönen Garten gelegenen Hause hält sich die Duvergier einen eigenen Koch, deliciöse Weine und charmante Mädchen, die für das einfache Tête-à-Tête 10 Louisdors bekommen. Das Haus hat zwei entgegengesetzte Ausgänge, so dass alle Rendez-vous mit dem nötigen Mysterium umgeben werden können. Die Möbel sind prächtig, die Boudoirs ebenso wollüstig wie vornehm ausgestattet. Ohne Moral und ohne Religion konnte die Duvergier, von der Polizei heimlich unterstützt, als Lieferantin sehr vornehmer Herren, sich mehr erlauben als ihre Concurrentinnen und straflos Greuel aller Art begehen. Das Bordell versorgt Prinzen, Adlige, reiche Bürger mit seiner Waare. Als Juliette später selbst in Paris ein Freudenhaus einrichtet, sind 6 Kupplerinnen (maquerelles) für dasselbe tätig, die aus Paris und den Provinzen die jungen Mädchen herbeiholen (Juliette VI, 306). Clairwil führt Juliette in das Haus der „Société des amis du crime“ ein, welches zwar im Herzen von Paris liegt, aber indiscreten Blicken durch die umgebenden Häuser entzogen wird. Es enthält herrliche Empfangssäle, düstere Zimmer, Galerien, Boudoirs, „cabinets d’aisance“ und Harems oder Serails, wie de Sade sie nennt, in denen die Opfer von beiden Geschlechtern für die Orgien gezüchtet und gepflegt werden. Diese Unglücklichen sind meist mit Gewalt ihren Eltern entrissen worden, unter dem Schutze der[S. 126] Polizei. Hier feiert die vornehme Welt ihre schauerlichen Wollustorgien unter Assistenz von Henkern, Abdeckern, Kerkermeistern und Flagellatoren! (Juliette III, 33 ff.). Aehnlich ist das Haus Vespoli’s zu Salerno eingerichtet (Juliette V, 343 ff.), ferner das Bordell, welches Juliette und die Durand gemeinschaftlich zu Venedig errichten (Juliette VI, 144).

Alcide Bonneau meint, dass der Hirschpark dem Marquis de Sade als Vorbild für seine Bordell-Schilderungen gedient habe[210], die übrigens auch in der „Justine“ wiederkehren z. B. die der Benediktinerabtei Sainte-Marie-des-Bois (Justine II, 40 ff.). Indessen hat der Marquis de Sade doch ganz sicher die Pariser Bordelle eingehend studiert und danach seine Schilderungen entworfen. Er spricht (Juliette I, 333) davon, dass „in mehreren Bordellen von Paris“ Truthähne zu wollüstigen Zwecken für Zoophile gehalten werden. Dass er, der beim Tode Ludwig’s XV. 34 Jahre alt war, den Hirschpark aus eigener Anschauung gekannt hat, halten wir allerdings auch für wahrscheinlich. Der oben erwähnte deutsche Autor, der ihn sogar als maître de plaisir des fünfzehnten Ludwig auftreten lässt, versichert, seine Nachrichten aus glaubwürdigen Quellen zu haben.

Wie dem auch sein mag, so viel steht fest, dass der Marquis de Sade seine Schilderungen der Prostitution und des Geschlechtslebens der Wirklichkeit entlehnt hat. Wir haben daher die Pflicht, diese Wirklichkeit näher zu untersuchen. Wir stützen uns auch hier durchweg auf authentische Berichte. Die berühmtesten Bordelle von Paris, die geheimen pornologischen Clubs[S. 127] und die Verhältnisse der Prostituierten sollen im Folgenden geschildert werden.

a. Das Freudenhaus der Madame Gourdan.[211]

Das berühmteste, besuchteste und am meisten von den gleichzeitigen Schriftstellern erwähnte Pariser Bordell im 18. Jahrhundert ist das Freudenhaus der Madame Gourdan in der Rue des deux Portes, das unter den Regierungen Ludwig’s XV. und Ludwig’s XVI. als Bordell für den Hof und die vornehmen Fremden galt.

Dies Bordell zeichnete sich durch die raffiniertesten Einrichtungen aus, welche alle Bedürfnisse der Besucher und Besucherinnen zu befriedigen versuchten. Entwerfen wir eine kurze Skizze derselben,

1. Das Serail. Dies war ein grosser Empfangssalon mit „plastrons de corps-de-garde“, d. h. zwölf Dirnen, die stets in demselben anwesend sein mussten, um den Wünschen der Besucher nachzukommen. Dort wurden die Preise und die Einzelheiten der Wollust verabredet. Es wurde alles aufs genaueste festgesetzt. „Jugez que d’ordures doivent se débiter dans un pareil cercle! que d’horreurs et d’infamies doivent s’y commettre!“ ruft Pidanzat de Mairobert bei dieser Schilderung aus. Es ist kein Zweifel, dass dies Serail der Gourdan den Namen für die „Serails“ bei Sade hergegeben hat. Ebenso lässt de Sade in seinen Romanen häufig den Preis der Liebe vereinbaren und vor allem die Details der zu veranstaltenden Orgie vorher genau analysieren.

[S. 128]

2. DiePiscine“. Dies war ein Badekabinet des Bordells, wohin man zuerst die in der Provinz und in Paris für die Gourdan aufgegriffenen Mädchen führte. Dort wurde die Betreffende gebadet, die Haut „weich gemacht“, gepudert und parfümiert. In einem Toilettentische befanden sich verschiedene Essenzen, Mund- und Schönheitswässer. Auch das berühmte „Eau de pucelle“, ein starkes Adstringens, mit welchem Madame Gourdan etwas „verwüstete Schönheiten“ wieder herstellte und das wieder zurückgab, was man „nur ein Mal verlieren kann“. Dass der Marquis de Sade dieses merkwürdige Mittel sehr oft erwähnt und praktisch anwenden lässt, wie wir später bei der Besprechung der Kosmetica und Aphrodisiaca sehen werden, beweist wohl schlagend seine Arbeit nach berühmten Mustern. — Weiter fand sich in der „piscine“ die „Essence à l’usage des monstres“, die durch ihren scharfen Geruch Impotente wieder potent machte und die „Ungeheuer“ zu wollüstiger Grausamkeit anreizte. — Das „Spezificum“ des Doktor Guilbert de Préval (von welchem Charlatan später ausführlich die Rede sein wird), war ein wahres Wundermittel. Denn es diente zur Verhütung, Diagnostik und Heilung der Syphilis zugleich! Madame Gourdan injicierte etwas davon den neu ankommenden Mädchen, um zu sehen, ob sie gesund seien. Also ein sexuelles Tuberkulin des 18. Jahrhunderts! Alles ist schon dagewesen.

3. DasCabinet de Toilette“. Hier empfingen die Schülerinnen dieses Venusseminars ihre zweite Vorbereitung.

4. DieSalle de bal.“ Aus diesem Saale führte ein geheimes Zimmer in das Haus eines Kauf[S. 129]mannes in der Rue Saint-Sauveur, der mit der Gourdan unter einer Decke steckte. Durch sein Haus gelangten die Prälaten und Richter (gens à simarre) und die Damen von vornehmer Abkunft in das Bordell hinein. In diesem geheimen Zimmer waren Kleider aller Art, sowie „Gegenstände der Raffinerie.“ Hier konnte sich der Geistliche in einen Weltmann verwandeln, der Beamte in einen Soldaten, die Damen in Köchinnen und „Cauchoisen“ (aus der Provins Caux). Hier „erduldeten die vornehmen Damen standhaft die kräftigen Umarmungen eines groben Bauern, welchen ihnen ihre vertraute Lieferantin ausgewählt hatte, um ihr unbezähmbares Temperament zu befriedigen.“ Andrerseits glaubte der Bauer mit seinesgleichen zu tun zu haben und genierte sich wenig in Ausdrücken und Handlungen.

5. Die „Infirmerie.“ Das war das Gemach für Impotente, deren erschöpfte Kraft durch alle möglichen Reize wieder aufgestachelt wurde. Das Licht fiel von oben herein; an den Wänden hingen wollüstige Bilder und Kupferstiche, in den Ecken standen ebensolche plastische Kunstwerke, auf den Tischen lagen obscöne Bücher. In einem Alkoven befand sich ein Bett von schwarzer Seide, dessen Himmel und Seitenwände aus Spiegelglas bestanden, welches alle Gegenstände dieses wollüstigen Boudoirs und alle Vorgänge in demselben wiederspiegelte. Parfümierte Stechginster-Ruten dienten zur Flagellation. Dragée-Pastillen in allen Farben wurden zum Essen angeboten, von denen „man nur eine zu geniessen brauchte, um sich bald als einen neuen Menschen zu fühlen.“ Sie hiessen „Pastilles à la Richelieu“, weil dieser sie oft den Frauen als Aphrodisiacum gegeben hatte. Man sieht,[S. 130] dass die berüchtigte Marseiller Cantharidenbonbons-Affaire des Marquis de Sade in jener Zeit nicht vereinzelt war. —- Auch für die Frauen war in dieser „Infirmerie“ gesorgt. Zahlreiche kleine Kugeln aus Stein waren vorhanden, sogenannte „pommes d’amour“, die in die Vagina eingeführt wurden. Mairobert konnte nicht erfahren, ob „die Chemiker diesen Stein analysiert hätten, der eine bestimmte chemische Zusammensetzung haben sollte und von dem die Chinesen oft Gebrauch machten.“ — Der „Consolateur“ war ein ingeniöses Instrument, „in den Nonnenklöstern erfunden“, um den Mann zu ersetzen. Die Gourdan trieb mit diesen künstlichen Phalli ein Engros-Geschäft. Man fand in ihrem Nachlass „zahllose“ Briefe von Aebtissinnen und einfachen Nonnen mit der Bitte um Uebersendung eines solchen „Trösters“. Wie man sieht, war unsere früher geäusserte Ueberzeugung von der sittlichen Korruption in den Nonnenklöstern nicht übertrieben. — Grosser schwarzer Ringe, der sogenannten „aides“ bedienten sich die Männer zur künstlichen Irritation der Frauen. Manche dieser Ringe waren sogar mit harten Buckeln besetzt, was das Vergnügen noch vermehren sollte. Endlich war ein ganzes Arsenal von „redingotes d’Angleterre“ vorhanden, die heute „Condome“ heissen und welche, wie Mairobert sich ausdrückt „gegen das Gift der Liebe schützen sollen, aber nur das Vergnügen abstumpfen“. Also gebührt die Priorität für das berühmte Wort von dem „Panzer gegen das Vergnügen und dem Spinngewebe gegen die Gefahr“ nicht Ricord, sondern Pidanzat de Mairobert, der es 70 Jahre früher aussprach![212]

[S. 131]

6. Die „Chambre de la question“. — Das war ein Kabinet, in welches man durch eine verborgene Luke hineinschauen konnte, so dass die Vorsteherin des Bordells und ihre Vertrauten alles sehen und hören konnten, was in dem Zimmer geschah. Eine Einrichtung für „Voyeurs“.

7. Der „Salon des Vulcan“. — In ihm befand sich ein Fauteuil von sonderbarer Form. Setzte man sich hinein, so drehte sich sofort eine Klappe. Die betreffende Person sank nach rückwärts, mit gespreizten Beinen, die an den Seiten gefesselt wurden. Dieser Stuhl war eine Erfindung des Herrn de Fronsac, Sohnes des Herzogs von Richelieu, welcher ihm Widerstand leistende Mädchen mit Gewalt in diesen Klappstuhl presste und so verführte, wofür er, aber nur zeitweilig, vom Hofe verbannt wurde, um später sein Treiben unbehelligt fortzusetzen. Der „Salon des Vulcan“ war so gelegen, dass „das durch die Schmerzensrufe, durch Weinen und Schreien verursachte Geräusch auf keine Weise von Aussenstehenden gehört werden konnte.“ Dieses Mysterium des Lasters finden wir auch bei de Sade wieder.

Die Gourdan war die Hauptlieferantin für die vornehme Welt. Sie konnte alle Wünsche befriedigen und verfügte über grosse Mittel. In Villiers-le-Bel hatte sie ein im Walde einsam gelegenes Landhaus, wohin sie selten kam, aber öfter kranke Mädchen hinschickte, auch die Schwangeren. Zugleich war diese ländliche Villa ein viel benutztes Versteck für besonders raffinierte Ausschweifungen. Die Bauern nannten dasselbe ironisch das „Kloster“.

[S. 132]

Man unterschied in Paris zwei Arten von Kupplerinnen, erstens die Verführerinnen der Unschuld, zweitens die Lieferantinnen von schon deflorierten Mädchen. Nur die Ersteren wurden dadurch bestraft, dass man sie rückwärts auf einem Esel reiten liess. Die Gourdan gehörte zu der zweiten Klasse, welche dafür sorgte, dass ihre Novizen zunächst offiziell von irgend einem ihrer zahlreichen Helfershelfer prostituiert wurden. Zugleich mussten diese der Bordellvorsteherin einen Bericht über die körperliche Beschaffenheit der Betreffenden erstatten. Wir werden später einen solchen Bericht mitteilen.[213]

Im Hause der Gourdan wurden die Maitressen für die vornehme Welt herangebildet. So hatte die spätere Gräfin Du Barry ihre glänzende Laufbahn dem Aufenthalte im Bordelle der Gourdan zu verdanken. Aber auch viele Aristokratinnen suchten hier neue Genüsse. Eine vornehme Dame, Madame d’Oppy wurde 1766 von der Polizei bei der Gourdan entdeckt, bei der sie zeitweise als Dirne fungierte.

b. Justine Paris und das Hôtel du Roule.

Am 14. November 1773 hielt Madame Gourdan auf ihre verstorbene Kollegin Justine Paris eine Leichenrede, die im „Espion anglais“ (Bd. II, S. 401 bis 412) abgedruckt ist und so voll sadischen Geistes ist, dass wir einen kurzen Auszug aus derselben hier mitteilen. Die Idee zu dieser Leichenrede concipierte der Prinz Conti, einer der berüchtigsten Lebemänner des ancien régime. Ausgeführt wurde sie von der Gourdan, welche die Rede bei einer[S. 133] Orgie in Conti’s Hause vorlas. Die „Oraison funèbre de la très-haute et très-puissante Dame, Madame Justine Paris, grande-prêtresse de Cythèrè, Paphos, Amathonte, etc. prononcée le 14. Novembre 1773, par Madame Gourdan, sa coadjutrice, en présence de toutes les nymphes de Vénus“ hatte das charakteristische Motto:

La vérole, o mon Dieu,
M’a criblé jusq’aux os.

Justinen’s Eltern predigten ihr auf dem Sterbebett die Unzucht als einziges Heil der Zukunft. „Comptez pour rien tous les jours que vous n’aurez pas consacré au plaisir!“ Justine setzt diesen Rat, den man in den Romanen des Marquis de Sade fast auf jeder Seite findet, schleunigst in die Tat um und giebt sich bereits auf dem Sarge ihrer Eltern hin. Darauf tritt sie in ein Pariser Bordell ein, wo sie schnell grosse Fortschritte im Dienste der Venus macht, und durch ein Verhältnis mit dem türkischen Gesandten bald berühmt wurde. Reisen nach England, Spanien und Deutschland lehrten sie phlegmatisch mit dem Engländer, ernst mit dem Spanier und hitzig (emportée) mit dem Deutschen zu sein. Zuletzt kommt sie nach Italien und ist in Rom die „Königin der Welt und das Centrum der paillardise“. Sie durchreist ganz Italien, von Fürsten und Geistlichen verehrt und begehrt. Leider macht sich von Zeit zu Zeit ihre hereditäre Syphilis wieder geltend, die sie aber nicht abhält, nach ihrer Rückkehr in Paris neue Orgien zu feiern und neue Erfolge zu erringen und sich grosses Ansehen als Besitzerin eines Bordells zu erwerben. Doch endet sie im Hospital.

Sollte dem Marquis de Sade diese Leichenrede ganz unbekannt geblieben sein? Wir glauben es kaum und waren jedenfalls überrascht, in Madame Paris[S. 134] und ihrer Reise durch Italien ein Vorbild der Juliette zu finden, die ebenfalls in Italien, in Florenz, Rom und Neapel als Königin der Welt und als Idealhure gefeiert wird.

Casanova, dieser geniale Schilderer, dessen historische Glaubwürdigkeit u. a. durch die vortreffliche Schrift von Barthold[214] überzeugend dargetan ist, erzählt in seinen Memoiren von einem Besuche im Bordell der Paris im Jahre 1750, dem sogenannten Hôtel du Roule, und führt uns ein lebendiges Bild von dem Leben und Treiben in einem Pariser Bordell des achtzehnten Jahrhunderts vor Augen, das als Ergänzung der mehr systematischen Beschreibung des Hauses Gourdan hier Platz finden möge.[215] „Das Hôtel du Roule war in Paris berühmt, mir aber noch unbekannt. Die Besitzerin hatte es elegant möbliert und hielt zwölf bis vierzehn ausgezeichnete Nymphen. Man fand bei ihr alle wünschenswerten Bequemlichkeiten; guten Tisch, gute Betten, Reinlichkeit, Einsamkeit in herrlichen Gebüschen; ihr Koch war vortrefflich, ihre Weine ausgezeichnet.

„Sie hiess Madame Paris, ohne Zweifel ein angenommener Name, der aber Alle befriedigte.

Durch die Polizei geschützt, war sie weit genug von Paris entfernt, um überzeugt zu sein, dass die Besucher ihrer Anstalt Leute waren, die über der Mittelklasse standen.

„Die innere Polizei war geordnet wie nach Noten, und alle Vergnügungen hatten einen gewissen Tarif.

„Man zahlte sechs Francs für ein Frühstück mit[S. 135] einer Nymphe, zwölf für ein Diner und das Doppelte für eine Nacht“.

Hier machen wir einen Augenblick Halt und konstatieren, dass diese Schilderung Casanova’s fast Wort für Wort mit der oben gegebenen Beschreibung des Bordells der Duvergier in de Sade’s „Juliette“ übereinstimmt. Das Haus der Duvergier liegt wie das der Justine Paris „einsam“ in einem „Garten“, auch sie hatte einen vortrefflichen „Koch“, ausgezeichnete „Weine“, und last not least war auch sie „durch die Polizei geschützt“ (soutenue à la Police). Vergegenwärtigen wir uns, dass bei der genauen Beschreibung des Bordells der Gourdan sowie auch bei anderen Pariser Freudenhäusern nirgends ein Koch erwähnt wird, dass die Reihenfolge der übrigen Epitheta bei Casanova und de Sade genau dieselbe ist, endlich dass Casanova, der im Juni 1798 starb, nachdem seine nur bis 1773 reichenden Memoiren längst im Manuscripte vollendet waren, die im Jahre 1797 erschienene „Juliette“ sicher nicht mehr für diese verwertet hat und auch früher den Marquis de Sade nicht gekannt hat, dass ferner seine Memoiren erst im Jahre 1822 in der Oeffentlichkeit erschienen, so lässt sich daraus der sichere Schluss ziehen, dass beide Männer, die deshalb kulturhistorisch so wichtig sind, weil in ihren Schriften ein photographisch getreues Bild der sittlichen Corruption des 18. Jahrhunderts uns dargeboten wird, mit fast den gleichen Worten dasselbe Bordell schildern. Der Marquis de Sade hat unter dem Namen der Duvergier das Treiben der Justine Paris geschildert. Wir sind überzeugt, dass spätere Forscher den von uns gefundenen zahlreichen Analogien neue hinzufügen werden. Daraus ergiebt sich, dass die[S. 136] Werke des Marquis de Sade ebenso ein Objekt der Kulturgeschichte wie der Medizin sind. Dieser merkwürdige Mensch hat uns von vornherein ein lebhaftes Interesse eingeflösst. Wir wollten ihn verstehen, um ihn erklären zu können, und wir überzeugten uns bald, dass auch der Arzt hier die wichtigste Belehrung nur aus der Kulturgeschichte empfangen kann. Das Individuum de Sade wird erleuchtet durch den geschichtlichen Menschen.

Kehren wir nach diesem Excurse zu der Schilderung Casanova’s zurück. „Wir stiegen in einen Fiaker und Zatu sagte zu dem Kutscher: ‚Nach Chaillot‘.

„Nach einer halbstündigen Fahrt hielt dieser vor einem Torwege, über dem man ‚Hôtel du Roule‘ las.

„Das Tor war geschlossen. Ein Schweizer mit grossem Bart trat aus einer Seitentür und mass uns ernsthaft mit den Augen. Er fand uns anständig, öffnete und wir fuhren hinein.

„Eine einäugige Frau von ungefähr fünfzig Jahren, welche aber noch Spuren früherer Schönheit erkennen liess, redet uns an, und nachdem sie uns artig begrüsst hatte, fragte sie, ob wir bei ihr dinieren wollten.

„Auf meine bejahende Antwort führte sie uns in einen schönen Saal, in welchem wir vierzehn junge Mädchen sahen, die sämtlich schön und gleichmässig in Mousselin gekleidet waren.

„Bei unserem Eintritt erhoben sie sich und machten uns eine sehr anmutige Verbeugung.

„Alle waren ungefähr von gleichem Alter, die Einen blond, die Anderen braun oder brünett, oder mit schwarzem Haar.

„Jeder Geschmack konnte hier befriedigt werden.

[S. 137]

„Wir sprachen mit allen ein Wort und bestimmten unsere Wahl.

„Die beiden Erwählten stiessen einen Freudenruf aus, umarmten uns mit einer Wollust, die ein Neuling für Zärtlichkeit hätte halten können, und wir gingen nach dem Garten, in Erwartung, dass man uns zum Diner rufen würde.

„Dieser Garten war umfangreich und künstlich so eingerichtet, dass er den Freuden der Liebe dienen konnte.

Madame Paris sagte:

„Gehen Sie, meine Herren, und geniessen Sie die frische Luft und halten Sie sich sicher in jeder Beziehung; mein Haus ist der Tempel der Ruhe und der Gesundheit.“

„Während der süssesten Beschäftigung rief man uns zum Essen.

„Wir wurden recht gut bedient; die Mahlzeit hatte in uns neue Neigung erregt, aber mit der Uhr in der Hand trat die Einäugige auf uns zu, um uns zu benachrichtigen, dass unsere Partie beendigt sei.

„Das Vergnügen wurde hier nach der Stunde gemessen“.

Schliesslich lassen sich Casanova und sein Freund dazu bewegen, die Nacht in dem Bordell zu verleben.

Das Hôtel du Roule ist auch in zwei galanten Gedichten des 18. Jahrhunderts verherrlicht worden. Das eine hat den Titel „Le Temple de l’Amour“ (Paris 1751; Neudruck: Brüssel 1869, 8 Seiten); es schildert die mannigfaltigen dort begangenen Ausschweifungen. Der Anfang lautet:

Au milieu de Paris, dans un obscur séjour,
Est un temple charmant consacré par l’Amour;
C’est là que maint f......, dans l’ardeur qui le presse
Va porter son encens an dieu de la tendresse.

[S. 138]

Das zweite Gedicht heisst „Les Reclusières de Vénus“ (Allégorie, A la nouvelle Cythéropolis 1750; Neudruck: Brüssel 1869, 16 Seiten). Ich citire eine interessante Stelle daraus, wo erzählt wird, dass die Paris ihren Mädchen andere wohlklingendere, suggestivere Namen zu geben pflegte, ganz wie dies auch in unseren heutigen Bordellen noch geschieht:

Des noms mignards, respirant la luxure,
Feront an cœur la première blessure;
Margot sera la charmant Aglaé,
Fanchon Victoire, et Pernette Daphné,
Dodon Fatime, et Charlotte Emilie,
Cateau Lolotte, et Jeanette Julie.

c. Das Bordell der Richard.[216]

Dieses Freudenhaus wurde hauptsächlich von Geistlichen besucht. Madame Richard hatte ihre Thätigkeit damit begonnen, systematisch junge Beichtväter zu verführen. Diese Spezialität der Erotomanie gab ihr den Gedanken ein, ein Bordell für Geistliche zu eröffnen. Dasselbe florierte glänzend. Madame Richard wurde die Lieferantin von jungen Mädchen für ein „Missionshaus, für Prälaten und andere Geistliche.“ Eine erotische Szene aus diesem Freudenhause haben wir bereits erzählt.

d. Ein Negerbordell.

Ein Lüstling in Venedig bringt stets in das Bordell der Juliette zwei Negerinnen mit, weil der Kontrast zwischen weissen und schwarzen Menschen ihm besondere Befriedigung verschafft (Juliette VI, 152). Neger und Negerinnen spielen auch bei dem anthropophagischen Diner in Venedig eine Rolle (Juliette VI,[S. 139] 204). In dem Schlosse des Cardoville bei Grenoble, wohin Justine als ein Opfer der Lüste dieses Wüstlings geführt wird, sind zwei Neger als Helfershelfer bei diesen Orgien thätig. (Justine IV, 331.) — Im dritten Bande von „Aline et Valcourt“ findet sich auf Seite 200 ein obscönes Bild, drei nackte Weiber darstellend und einen Mann, der die Genitalien des einen Weibes berührt, während von vier dabei stehenden Negern zwei mit wildem Ausdruck Keulen schwingen.

Die Neger sind auch keine Erfindung Sade’s! Es existierte schon vor 1790 in Paris ein Negerbordell! Dies befand sich im Hause einer Mlle. Isabeau, früher rue neuve de Montmorency, später rue Xaintonge, welches letztere Haus einem gewissen Marchand gehörte. In diesem Bordell waren Negerinnen, Mestizen und Mulattinnen vorrätig. Es gab keine festen Preise, sondern die Insassinnen wurden „verkauft wie man die Sklavinnen einer Karawane verkauft.“[217]

Fraxi meint[218], dass der Geschmack für schwarze Frauen vielleicht den Franzosen eigentümlich sei. Jedenfalls findet man noch heute in mehreren Bordellen von Paris und in den Provinzen ständig Exemplare dieser schwarzen Schönheiten. Auch Hagen macht in seiner „Sexuellen Osphresiologie“ (S. 179–181) ausführliche Mitteilungen über diese Vorliebe der Franzosen für Negerinnen, die er vielleicht mit Recht auf Geruchsreize zurückführt.

e. Die „petites maisons“.

Indem wir bezüglich der anderen grossen Pariser Bordelle des 18. Jahrhunderts auf das berühmte Werk[S. 140] von Rétif de la Bretonne verweisen[219], sowie auf die Schrift „Les bordels de Paris“ (1790), erwähnen wir nur noch das Freudenhaus im Faubourg Saint-Antoine, wo nach Rétif’s Erzählung der Herzog von Orléans, der Graf von Artois sich den wildesten Ausschweifungen und Grausamkeiten hingaben, wo man „Bestialitäten“ beging, die später der Marquis de Sade in seinem „exécrable roman“: Justine ou les Malheurs de la vertu beschrieben habe.[220]

Offenbar genügte diese grosse Zahl von Bordellen noch nicht dem Unsittlichkeitsbedürfnisse des ancien régime. Man musste die Wollust bei sich selbst einquartieren. So schufen sich die vornehmen Herren und reichen Wüstlinge jener Zeit in den sogenannten „petites maisons“ gewissermassen ihre eignen Privatbordelle, Freudenhäuser en miniature. Jeder hat sein „kleines Haus“ mit mehreren Maitressen. Das gehörte zum vornehmen Ton bei Jung und Alt. Casanova lernte in Paris den 80jährigen Chevalier d’Arzigny kennen, den „Aeltesten der petits maîtres“, der sich rot schminkte, geblümte Kleider trug, die Perrücke pomadisierte, die Augenbrauen braun malte und ebenfalls parfümierte und ein Gebiss von Elfenbein trug. Selbst dieser alte Lebemann war „seiner Geliebten zärtlich zugetan, die ihm sein kleines Haus führte, in welchem er stets in Gesellschaft ihrer Freundinnen zu Abend ass,[S. 141] die sämtlich jung, sämtlich liebenswürdig waren und jede Gesellschaft für die seinige aufgaben“.[221]

Auch der Marquis de Sade besass im Jahre 1772 auf der butte Saint-Roch sein „petite maison“.[222]

f. Die geheimen pornologischen Klubs.

Das, was der Marquis de Sade in der „Société des amis du crime“ geschildert hat, was wir später als das „Mysterium des Lasters“ in den Romanen dieses Autors bezeichnen werden, existierte in Wirklichkeit. Es gab in Paris geheime Klubs, deren Mitglieder sich zum Zwecke des praktischen Studiums der Wollust vereinigten, die ihre „Tempel“ hatten mit den Statuen des Priapus, der Sappho und anderer Symbole der geschlechtlichen Lust, ihre besondere Sprache und Erkennungszeichen.

Die „Insel der Glückseligkeit“ oder „der Orden der Glückseligkeit“ oder die Gesellschaft der „Hermaphroditen“ war der berüchtigste Liebesklub. Gegründet wurde er vom Herrn von Chambonas.[223] Diese geheime Gesellschaft entlehnte alle Bezeichnungen, alles Ceremoniell und alle Formen dem Seemannsleben und richtete ihre Gesänge und Anrufungen an den heiligen Nicolaus. „Maître“, „Patron“, „Chef d’escadre“; „Viceadmiral“ waren die Namen der einzelnen Grade der „Ritter“ und „Ritterinnen“, die einen Anker auf dem Herzen trugen und ewige Treue und Verschwiegenheit geloben mussten, wenn sie sich auf die Insel des[S. 142] Glückes führen liessen.[224] In ihren „mehr als galanten Versammlungen“ wurden die obscönsten Reden geführt.[225] Ein sehr eifriges Mitglied dieses obscönen Klubs war Moët, der Verfasser des „Code de Cythère“ (Paris 1746) und Uebersetzer der englischen Schrift „Lucina sine Concubitu“ (Vgl. über diese Bd. II von Dühren „Das Geschlechtsleben in England“). Er verfasste für seinen Klub das merkwürdige Buch „L’Anthropophile, ou le Secret et les Mystères de l’Ordre de la Félicité dévoilés pour le bonheur de tout l’univers“, Arétopolis (Paris) 1746. Es enthält die Regeln und Statuten der Vereinigung, das „Wörterbuch“ derselben und Gedichte. Aus dem Dictionnär teile ich einige Ausdrücke mit: „Chaloupe“ = petite fille; „flute“ = grosse femme; „frégate“ = femme; „gabari“ = fille ou femme bien faite; „goudron“ = fard; „hisser une frégate“ = enlever une femme; „mât“ = le corps; „mer“ = amour, intrigue; „sondes“ = les doigts. Den Zweck des Klubs verkündigen folgende Verse:

L’isle de la Félicité
N’est pas une chimère;
C’est où règne la volupté
Et de l’amour la mère;
Frères, courons, parcourons
Tous les flots de Cythère
Et nous la trouverons.[226]

Sehr mysteriös war die Gesellschaft der „Aphroditen“, die durch einen heiligen Eid, durch häufigen Wechsel der Versammlungsorte ihr Geheimnis zu hüten[S. 143] suchten. Sie benannten die Männer mit Namen aus dem Mineralreiche, die Frauen nach dem Pflanzenreiche.[227]

Dagegen hat man von einem andern Klub das Manuscript der Statuten, der Erkennungszeichen, des Mitgliederverzeichnisses mit den „noms de plaisir“ aufgefunden. Das war die „Société du Moment“. Dieses Manuscript gewährt einen tiefen Einblick in den widerlichen Schmutz, in dem sich diese „sociétés de cynisme“, wie die Goncourts sie nennen, wälzten.[228]

Eine vierte geheime pornologische Gesellschaft war die „Secte Anandryne“, der Club der Tribaden, der im „Tempel der Vesta“ seine Orgien feierte. Wir werden weiter unten diesem Klub und seinen Versammlungen eine ausführliche Darstellung widmen.

Die Entstehung dieser geheimen Gesellschaften erklärt ein Wort der Delbène (Juliette I, 25): „Die Laster darf man nicht unterdrücken, da sie das einzige Glück unseres Lebens sind. Man muss sie nur mit einem solchen Mysterium umgeben, dass man niemals ertappt wird.“ de Sade’s Schilderung des geheimen Klubs der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ (Juliette III, 30 ff.) ist offenbar nach den ihm bekannten Vorbildern entworfen. Diese Gesellschaft besitzt eine eigene Druckerei mit zwölf Kopisten und vier Lesern. Im Klubgebäude befinden sich zahlreiche „cabinets d’aisance“, die von jungen Mädchen und Knaben bedient werden, die sich dabei allen Gelüsten der Besucher dieser appetitlichen Orte hingeben müssen. Daselbst[S. 144] findet man „seringues, bidets, lieux à l’anglaise, linges très fins, odeurs“. Aber man kann auch linguam puellarum sive puerorum nachher zur Reinigung benutzen.

In den beiden „Serails“ des Hauses werden Knaben, Mädchen, Männer, Frauen und — Tiere zur Befriedigung jeglicher Art von Wollust gehalten. Der „Mord“ kostet 100 Thaler. Der Eintritt in den Hauptversammlungssaal erfolgt nackt auf einem mit Hostien bedeckten Cruzifix, an dessen Ende die Bibel liegt. Vor der Aufnahme wird Juliette befragt, ob sie die Arten der Unzucht und die Verbrechen, die man ihr nacheinander aufzählt, begehen würde. Nachdem sie bejaht hat, empfängt sie die „Instruktionen für die in die Gesellschaft der Freude aufgenommenen Frauen“. Die in dem geheimen Club stattfindenden Orgien werden in der Analyse der „Juliette“ erwähnt werden.[229]

g. Die Freudenmädchen.

Es ist schon aus der bisherigen Darstellung zur Genüge hervorgegangen, dass das 18. Jahrhundert mit seiner Selbstsucht und seiner tierischen Wollust das Jahrhundert der Dirne ist. Die Dirne wird vergöttert, idealisiert. Sie steht um so höher über der ehrbaren Frau, je mehr Wollust, je raffiniertere Genüsse sie geben kann. In der „Philosophie dans le Boudoir“ (I, 52) fragt die Novize Eugenie ihre Lehrerin in der Liebe, Madame de St.-Ange, was eine „putain“ sei, welches Wort sie zum ersten Male höre. Diese erwidert (S. 52–53): „So nennt man diese öffentlichen Opfer männlicher Ausschweifungen, welche stets bereit[S. 145] sind, sich ihrem Temperament oder ihrem Interesse zu ergeben. Es sind glückliche und ehrenwerte Geschöpfe, die aber von der allgemeinen Meinung entehrt werden, während die Wonne sie krönt. Sie sind der Gesellschaft nützlicher, als alle prüden Personen, weil sie den Mut besitzen, ihr zu dienen. Sie sind die wahrhaft liebenswürdigen Weiber, die einzigen Weltweisen! Was mich betrifft, die ich seit 12 Jahren diese Benennung zu verdienen mich bestrebe, so bin ich fern davon, mich dadurch beleidigt zu fühlen, wenn man mich so nennt. Es freut mich sogar und ich liebe es, wenn ich inmitten des Genusses diese Benennung höre. Denn diese Beschimpfung bringt mein Blut in Wallung“. Das ist das, was die Goncourts „den Verlust seines guten Rufes geniessen“ nennen und für ein allgemeines Merkmal der Frauen des 18. Jahrhunderts erklären.

Rétif de la Bretonne erhebt sich im „Monsieur Nicolas“ zu folgendem „Schwanengesange“ der Prostitution: „Wenn Ihr (die Dirnen) nicht zur Monandrie gelangen könnt, verzweifelt deshalb nicht. Ihr seid doch noch nützlich. Durch die ausgesuchten Vergnügungen, welche Ihr gewährt, durch die Wonnen Eures Berufes haltet Ihr die sinnlichsten Männer in den Schranken der Natur und verhindert sie, sich mit anderen unsittlicheren Weibern abzugeben oder bei weniger Vorsichtigen ihre Gesundheit einzubüssen. Seid niemals herausfordernd und zänkisch, denkt daran, dass Mädchen Eurer Art eine Erholung für den Mann sind, wahre Priesterinnen der Wollust. Achtet Euch!“[230]

Diese Verherrlichung der Dirne nahm oft sonderbare Formen an. So sprach ein Chevalier de Forges[S. 146] bei seinen Lebzeiten oft den Wunsch aus, in den Armen eines Freudenmädchens zu sterben. Er hatte im Leben seine Lust und sein Glück bei Dirnen gesucht. Er wollte sie auch im Sterben dort finden. Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. Er starb mitten im Genusse, in den Armen einer Prostituierten.[231]

Dieses grosse Ansehen der Prostituierten im 18. Jahrhundert spiegelt sich am einleuchtendsten in dem Verhalten der Polizei ihnen gegenüber wieder. Wir sahen, dass de Sade das Bordell der Duvergier ausdrücklich durch die Polizei geschützt sein lässt. So war es in der That zur Zeit der Entstehung der „Juliette“, während der Schreckensherrschaft und unter dem Direktorium. Doch unter der Regentschaft wurden aufgegriffene Dirnen bestraft, einzelne sogar nach Neu-Orléans geschickt. Es sei nur an „Manon Lescaut“ erinnert, jene berühmte Erzählung des Abbé Prévost, mit welcher übrigens die Verherrlichung der Dirne in der französischen Litteratur des 18. Jahrhunderts beginnt. Bald aber fiel jede Aufsicht fort. Wohl wurden ab und zu kranke Dirnen nach Bicêtre geschickt. Wohl musste der bekannte Polizei-Inspektor Marais dem Könige Ludwig XV. über die Dirnen von Paris regelmässige Berichte erstatten[232]. Aber eine ernsthafte Aufsicht fehlte. Parent-Duchatelet hat die Archive der Pariser Polizeipräfektur vom Jahre 1724 bis 1788 durchgesehen und aus dieser entnommen[233]: „Dass die Duldung der Polizei in Betreff[S. 147] der öffentlichen Dirnen und Häuser unbegrenzt war, dass sie nur in sehr argen Fällen einschritt und unsern jetzigen Duldungsscheinen entsprechende Bewilligung gab. Dass sie nie Haussuchungen anstellte, ausgenommen wenn von Seiten der Nachbarn Klagen angebracht wurden.

„Dass in manchen Häusern Mordthaten vorfielen, in anderen Mädchen und Männer zum Fenster hinausgeworfen wurden, der Lärm hauptsächlich von verkleideten Soldaten herrührte, die Nachbarn beim Heimkehren die grösste Gefahr liefen und oft nicht heimkehren konnten.

„Dass bei allen Verhaftungen die grösste Willkür obwaltete, durch keine Vorschrift etwas geordnet war, alles von der Laune der Polizeikommissare und ihrer Diener abhing.

„Dass in dem Masse, als man sich von den ersten Zeiten des verflossenen Jahrhunderts entfernte, die Strafe minder hart, das Verfahren minder roh und eilig war“.

Die Revolution war dann die goldene Zeit des Dirnentums. Jene Zustände, wie sie de Sade in seinen Werken schildert, waren Wirklichkeit. Nach Parent-Duchatelet[234] wurden von 1791 an alle alten Einrichtungen abgeschafft. Das Gewerbe der Lustdirne war nicht mehr besonderer Gegenstand gesetzlicher Verfügungen. Das Gesetz vom 22. Juli dieses Jahres handelt zwar im zweiten Titel, unter dem Kapitel der Zuchtpolizei in sehr unbestimmter Art, unter Bezeichnung von öffentlichen Eingriffen in die Sitten, davon; allein offenbar wollte der Gesetzgeber jener Zeit nur die Geschöpfe erreichen, welche junge Leute des[S. 148] einen und des andern Geschlechts verführen, um sie einem Richter zu überliefern. Von dem Treiben der Lustdirnen sagt er nichts, und es scheint, dass er dies für ein Gewerbe ansah, welches jede zu üben berechtigt wäre, dass eine Vorschrift deshalb ein Eingriff gegen die persönliche Freiheit sei.

So waren also diese Mädchen von aller Aufsicht befreit und denen gleich gestellt, welche irgend ein Gewerbe treiben, über ihre Tätigkeit frei gebieten können; durch einen unbegreiflichen Missgriff der Nationalversammlung sahen sie sich emanzipiert, eine Wohltat, die sie zu keiner Zeit und in keinem Lande genossen hatten.

Eine zügellose Frechheit, ein beispielloses Aergernis war die Folge. Schreckensherrschaft und Direktorium bezeichnen den höchsten Gipfel der Freiheit und Zuchtlosigkeit, welche die Prostitution zu irgend einer Zeit und bei irgend einem Volke jemals erreicht hat. Wir erinnern schon jetzt daran, dass der Marquis de Sade diese ganze Zeit, von 1790 bis 1801, mit der kurzen Unterbrechung eines halben Jahres, in voller Freiheit in Paris zugebracht hat, dass er also Zeuge des Triumphes des Dirnentums und der widerlichsten öffentlichen Unzucht gewesen ist.

Jetzt wurde die Dirne zur „Göttin der Vernunft“, die alle anbeten müssen, und jedes Weib wurde Dirne. Im Juli 1793 wurde auf dem Theater der Republik ein neues Stück gegeben, betitelt „Die Freiheit der Frau“. Es schildert aber in Wirklichkeit die „Frechheit des Lasters“. Die Hauptfigur war ein Ehemann, der aus Neigung liederlich, von Charakter unbeständig, und aus Berechnung Feind des Anstandes, das Bekenntnis ablegt: „Die Reize meiner Frau müssen mehr als Einem Glücklichen zu Teil werden!“[235][S. 149] Die öffentlichen Dirnen „vervielfältigten“ sich auf allen Strassen, hauptsächlich im Palais Royal, der Maison-Egalité und den Champs Elysées; in den Logen der Theater, in den Kneipen, in den grossen Restaurationen erblickte man die scheusslichste Unzucht. Paris wurde die „Kloake der ganzen Republik“, die allen Schmutz der Provinzen an sich zog, das Genussleben nahm einen immer unerträglicheren Charakter an und steigerte sich bis zur äussersten Brutalität. Namentlich bot im Sommer 1796 der Boulevard des Temple das Schauspiel der ekelhaftesten Unzucht dar, geübt von Militärs. In Gemeinschaft mit ganz in Lüsten verkommenen Weibern trugen sie ein wahrhaft viehisches Verhalten zur Schau, und mit diesen Weibern waren zugleich Mädchen von 12 und 13 Jahren, die hier einer empörenden Prostitution sich hingaben. Aber trotz aller Entrüstung, die selbst die Polizei darüber empfand, boten noch später das Palais-Royal und die Champs-Elysées mit der Fülle ihrer öffentlichen Orte tagtäglich völlig ähnliche „Schauspiele der scheusslichsten und unverschämtesten“ Unzucht dar.[236]

Hier wurde das Ideal, das der Marquis de Sade in seinen Romanen aufstellt, verwirklicht: Die Massensuggestion der Wollust! Zu dem unzüchtigen Gebahren gesellten sich die Kostüme à la grecque, die unglaublichen Nuditäten der Kleidung, die wir oben geschildert haben, um auch die reinen Menschen schnell in den Strudel der wildesten Begierden hinabzuziehen. Diese Infection der Moral durch das Gift der Wollust hat Rétif de la Bretonne sehr schön wiedergegeben in seiner Schilderung des Treibens der Dirnen auf den Strassen[237]: „Die Mädchen[S. 150] gehen aus und spazieren; einige machen sich durch ihre elegante Kleidung, noch öfter aber durch die unanständige Blosstellung ihrer verführerischen Reize bemerklich. Junge unverständige Menschen erlauben sich, ganz öffentlich sogar, strafbare Freiheiten — und unsere Kinder, die Zeugen der Abscheulichkeiten sind, schlürfen das Gift; es gährt, es entwickelt sich mit dem Alter, und der gefahrbringende Anblick leitet sie zum Verderben. Die Tochter eines Handwerkers, eines Bürgers wohl gar, noch in dem Alter stehend, wo die angeborene Unschuld sie nirgends etwas Böses argwöhnen lässt, sieht ein wohlgekleidetes Weib, welchem die jungen Federhelden auf dem Fusse nachgehen, sie anreden und liebkosen. Das unschuldige Mädchen fühlt ein Verlangen, ihr gleich zu sein; es ist allerdings noch schwach, aber wird schon an Stärke gewinnen und ihr eines Tags vielleicht die Bahn des Lasters öffnen. Dabei bleibt es noch nicht; junge Leute, die oft noch unter der Rute stehen, finden so leicht Gelegenheit, zu frühe Genüsse zu kosten und sich zu entkräften, ehe sie noch ausgebildet sind. Um dieser Gefahr zu entgehen, müsste eine Tugend vorhanden sein, die jede Probe besteht, oder alle Sinnlichkeit fehlen. Welche Unanständigkeit! Unter dem Schleier des Halbdunkels wagt man Derartiges — Kinder haben es vor Augen — und man wundert sich noch über die Verderbnis der Sitten vom zartesten Alter an.“ Und als Illustration zu diesen Worten berichtet A. Schmidt nach Polizeiberichten — wir betonen das, weil das Factum sonst kaum glaublich erscheint — dass im Oktober 1793 alltäglich der Revolutionsgarten und namentlich die Gallerien bei dem Theater Montansier mit ganz jungen Burschen und Mädchen im Alter von 7 bis 14 und 15 Jahren angefüllt waren, die sich fast öffentlich den Ausschweif[S. 151]ungen der infamsten Unzucht hingaben. Und dabei waren dieselben „fast nackt wie die Hand und boten den Vorübergehenden das entwürdigendste Schauspiel“.[238] Es ist kein Zufall, dass diese Monstrositäten sich in dem Herbste des Jahres 1793 zeigten, nach jenen grauenvollen Septembertagen, an denen das Blut in Strömen floss. Es ist kein Zufall, dass der Gipfel der Wollust in der Zeit der Terroristen erreicht wurde. de Sade, der im Dezember dieses Jahres wieder gefangen gesetzt wurde, hatte während dieser Zeit mit Wollust im Blute gewatet, und die entsetzlichen Ideen seiner Werke eingesogen. Das war jene Zeit, wo sogar die geheimen pornologischen Clubs an die Oeffentlichkeit traten und im Opernhause „nackte Bälle“, bei denen nur das Gesicht maskiert war, feierten[239], wo die Zahl der täglichen Dirnenbälle auf mehrere Hundert stieg[240], auf denen die „Nacktheiten der Griechen und Römer“ zur Schau getragen wurden, wo in 23 Theatern der Unzucht gefröhnt wurde.

Was die Zahl der Pariser Prostituierten im 18. Jahrhundert betrifft, so betrug dieselbe um 1770 etwa 20000 bei einer Einwohnerzahl von 600000. Zur Zeit der Revolution wuchs die Zahl auf 30000 an[241].

Wenn wir nun noch einen Blick auf die verschiedenen Arten der Dirnen werfen, so konstatieren wir zunächst, dass das Maitressentum des ancien régime sich grösstenteils aus der Theaterwelt rekrutierte. Schauspielerinnen, Operntänzerinnen, Opernsängerinnen kommen hier besonders in Betracht.

[S. 152]

Mercier erzählt, dass die „filles d’Opéra“ auf die Männer einen ganz besonderen Reiz ausüben[242]. La Mettrie ruft emphatisch aus: „Transportons-nous à l’Opéra, la Volupté n’a point du Temple plus magnifique, ni plus fréquenté“, und rühmt die Reize der berühmten Tänzerin Camargo und der Jalé[243]. d’Alembert meinte derb-cynisch, dass das häufige Glück und der Reichtum der Tänzerinnen und Sängerinnen „eine notwendige Folge des Gesetzes der Bewegung sei“.[244]

Grelles Licht fällt auf diese Verhältnisse durch zwei von Casanova erzählte Erlebnisse. Sein Freund Patu führte ihn zu einer berühmten Sängerin der Oper, der Mademoiselle Le Fel, beliebt in ganz Paris und Mitglied der königlichen Akademie der Musik. Sie hatte drei allerliebste kleine Kinder, welche in dem Hause umherflatterten. — „Ich bete sie an,“ sagte sie. „Sie verdienen es durch ihre Schönheit“, erwiderte ich (Casanova), „obgleich ein jedes einen anderen Gesichtsausdruck hat.“ — „Das glaube ich gern! Der älteste ist der Sohn des Herzogs von Anneci, der zweite der des Grafen von Egmont und der jüngste verdankt sein Leben Maisonrouge, der eben die Romainville geheiratet hat.“ — „Ach, entschuldigen Sie, ich glaubte Sie wären die Mutter der drei Knaben.“ — „Darin haben Sie sich auch nicht getäuscht; ich bin es wirklich.“ Indem sie dies sagte, sah sie Patu an und brach gemeinschaftlich mit ihm in ein lautes Gelächter aus. Ich war Neuling und nicht gewohnt die Frauen[S. 153] anmassende Angriffe auf das Privilegium der Männer machen zu sehen.

„Mademoiselle Le Fel war gleichwohl nicht frech und gehörte sogar der guten Gesellschaft an, aber sie war, was man ‚über die Vorurteile erhaben‘ nennt. Hätte ich die Sitten der Zeit besser gekannt, so würde ich gewusst haben, dass dergleichen Dinge in der Ordnung waren. Die grossen Herren, welche so ihre Nachkommenschaft umherstreuten, liessen ihre Kinder in den Händen der Mütter, indem sie denselben starke Pensionen zahlten. Folglich lebten diese Damen um so mehr im Wohlstande, je fruchtbarer sie waren.[245]

Die zweite Anekdote ist noch charakteristischer. Eines Tages sah Casanova bei Lani, dem Balletmeister der Oper fünf bis sechs junge Mädchen von 13 bis 14 Jahren, sämtlich von ihren Müttern begleitet und von bescheidenem, feinem Wesen. Er sagte ihnen Schmeicheleien, die sie mit niedergeschlagenes Augen anhörten. Eine von ihnen beklagte sich über Kopfschmerz. Während Casanova ihr sein Riechfläschchen bot, sagte eine ihrer Gefährtinnen: „Ohne Zweifel hast Du schlecht geschlafen.“ „Nein, das ist es nicht“, erwiderte die unschuldige Agnes, „ich glaube ich bin in anderen Umständen.“ Bei dieser so unerwarteten Antwort eines jungen Mädchens, das er nach ihrem Alter und Aussehen für eine Jungfrau gehalten hatte, sagte Casanova: „Ich glaubte nicht, dass Madame verheiratet wären.“ Sie sah ihn einen Augenblick überrascht an. Dann wandte sie sich gegen ihre Gefährtin und beide lachten um die Wette.[246]

[S. 154]

Die Figurantinnen und Choristinnen der Oper empfingen keine Gage, sodass „zahlreiche Herren den Mangel des Honorars ersetzen mussten“. Diese Kaste suchte mit wenigen Ausnahmen einen Stolz darin zu setzen „verächtlich zu sein“. Es gab in jener Zeit bei der Oper mehrere Figurantinnen und Sängerinnen, die eher hässlich als nur leidlich zu nennen waren, kein Talent hatten und dennoch sehr behaglich lebten. Denn es verstand sich von selbst, dass ein solches Mädchen, auf jede Tugend verzichten musste, um nicht zu verhungern.[247]

Aus einem im „Espion anglais“ mitgeteilten Dialog über die berühmtesten Dirnen von Paris erfahren wir, dass dieselben fast durchweg der Theaterwelt angehören.[248]

Die Opernsängerin La Guerre war jene Dame, für welche der Herzog von Bouillon in drei Monaten 800000 Livres verschwendet hatte.

Die Dirne La Prairie gehörte zu denjenigen Weibern, welche sich dem Marschall Prinzen von Soubise in dessen „petite maison“ nackt zeigen mussten. „C’est le costume chez Son Altesse comme chez l’Abbé Terrai!“ Dieser moralische Geistliche hatte in seinem Hause in der Rue Notre-Dame ein Zimmer mit einem kostbaren Bette. Stieg die jeweilige Angebetete hinein, so fand sie ein verhülltes Gemälde, das nach der Enthüllung den schönen Körper einer nackten Frau zeigte. „Madame, c’est le costume“, bemerkte der Abbé kaltblütig, indem er ihr durch diese Worte an[S. 155]zeigte, dass er auch sie in diesem Kostüm bei sich zu haben wünschte.

Die berühmte Mademoiselle Du Thé war anfänglich als „Rosalie“ Choristin der Oper und als solche wurde sie ausersehen, den jungen Herzog von Chartres in die „Uebungen der Venus“ einzuweihen. Als sie von diesem Prinzen verlassen wurde, ging sie nach London, ruinierte dort mehrere Lords, kehrte nach Paris zurück, wo sie eine Spielhölle eröffnete, die ihr viel Geld einbrachte und nur sehr Reichen Zutritt gestattete. Diese Messalina war überaus geldgierig und eigennützig. Später wurde sie die Geliebte des Grafen von Artois. Ein junger in sie verliebter Musketier, der keine Erhörung fand, sandte ihr folgendes malitiöse Gedicht:

Du Thé tu cherches à plaire
A qui peut t’enrichir;
Moi qui suis mousquetaire
Je n’ai rien à t’offrir.
Mais je sais faire usage
D’un moment de loisir,
Un homme de mon âge
Ne paie qu’en plaisir.[249]

Die Du Thé schwelgte nicht immer in Gold. In einem Bericht des Polizeiinspektors Marais vom 12. Dezember 1766 heisst es: „Gestern hatte die Du Thé keinen Sou! sie musste sich einen Thaler und 6 Livres leihen, um in die Italienische Oper gehen zu können.“[250]

Die Schauspielerin Dubois von der Comédie française hatte einen Katalog ihrer Liebhaber ange[S. 156]fertigt, deren sie im Jahre 1775 bereits 16527 zählte, nach 20 jähriger Geschäftstätigkeit, d. h. etwa drei pro Tag, da sie mit mehreren zu gleicher Zeit vorlieb nahm. „Sie hat die gleiche Gier nach dem Gelde und nach dem Vergnügen.“

Diese sehr bekannte Geschichte hat offenbar den Marquis de Sade beeinflusst, wenn er in der „Philosophie dans le Boudoir“ (I, 94) die Madame St.-Ange erzählen lässt, dass sie in 12 Jahren sich 10- bis 12000 Männern hingegeben habe. Wieder eine Entlehnung aus der Wirklichkeit.

Die La Chanterie, ursprünglich Choristin an der Oper, war von einer seltenen Schönheit, ein weiblicher Engel. Die Maler benutzten sie als Modell. So wurde sie auch als Madonna für ein Bild über dem Hauptaltar einer Kirche gemalt. Als ein Engländer, der die Sehenswürdigkeiten der Pariser Kirchen besichtigte, nachdem er vorher diejenigen der Theater nicht ohne bitteren Nachgeschmack genossen hatte, in diese Kirche kam und den Kopf der Madonna erblickte, rief er überrascht aus: „Ah! voilà la Vierge qui m’a donné la chaude-p...!“[251]

Neben den Theaterdamen erfreuten sich die Modistinnen und Verkäuferinnen einer grossen Beliebtheit. Die „jeunes ouvrières“ kommen denn auch bei de Sade mehr als einmal vor. Rétif[S. 157] de la Bretonne hat diese Klasse der Prostituierten mit besonderer Vorliebe in seinen Werken geschildert. Er unterhielt lange Zeit einen heimlichen Briefwechsel mit den Modistinnen eines grossen Modewarengeschäftes in der rue de Grenelle-Saint-Honoré. Die Inhaberin dieses Ladens war eine Madame Devilliers, die für die Gräfin du Barry arbeitete. Letztere war selbst früher Modistin gewesen, bevor sie in das Bordell der Gourdan eintrat. Das Leben und Treiben dieser Modistinnen schildert Rétif besonders in „Le Quadragénaire“ (Genf 1777, 2 Bände).[252] Nach Parent-Duchatelet[253] traten Lustdirnen während der Revolutionszeit mit Vorliebe in Verkaufsläden ein. Man rechnete mehr als 20 dergleichen im Palais-Royal und unter ihnen acht, die sich in den alten hölzernen Gallerien befanden. Sie hatten zum Zeichen Gefässe, die mit Pulver von verschiedener Farbe gefüllt und in ganz eigentümlicher Art aufgestellt waren, so dass sie Jedermann kannte. Bisweilen bekränzte man sie noch mit Blumen. Jetzt denke man sich, was in diesen Orten geschah, welche aus zwei Teilen bestanden, einem Vorder- und einem Hinterladen, die beide meist sehr eng waren, statt aller Geräte aber nur einige Stühle und — eine spanische Wand hatten. Die Berichte jener Zeit schildern auch die Abscheulichkeiten, welche hier vorgingen, die täglichen Störungen, welche dadurch im Garten und in den Gallerien veranlasst wurden. Letztere konnte kein nur einigermassen anständiger Mensch mehr besuchen.

[S. 158]

Dass in den Restaurationen, Cafés, Kneipen u. s. w. die Prostitution kühn ihr Haupt erhob, wird nicht Wunder nehmen. Casanova pflegte, wenn er Liebesabenteuer suchte, zuerst in ein Café zu gehen, um dort eine Schöne zu ergattern. Der Paragraph 14 der französischen Polizeiverordnung vom 8. Oktober 1780, der gegen alle Schankwirte, Limonadenverkäufer u. s. w., welche unzüchtige Mädchen bei sich hatten, 100 Francs Strafe verhängte, wurde niemals angewendet. Ausserdem galt er nur für die, welche an solche Mädchen vermieteten, nicht aber für jene, welche den bei ihnen Eintretenden zu trinken vorsetzten, wobei man annahm, dass sie letztere gar nicht kannten.[254]

Auch das Zuhältertum war bereits im 18. Jahrhundert stark entwickelt. Der Marquis de Sade zeichnet mehrere Typen desselben, z. B. den Dorval (Juliette I, 196 ff.), der es bereits durch die Arbeit seiner Dirnen zum Besitz von 30 Häusern gebracht hat. Im Jahre 1789 spricht Peuchet in seiner Encyclopädie von den Zuhältern und Rétif de la Bretonne ebenso in seinem 1770 zum ersten Male erschienenen „Pornographe“. Im Laufe des vorigen Jahrhunderts wurde dem Pariser Polizeileutnant eine Denkschrift übergeben, deren Verfasser sich darüber so äusserte: „Die Mädchen können nicht ohne Beschützer bestehen. — Gewöhnlich fällt ihre Wahl auf den ärgsten Bösewicht, um anderen desto mehr Schrecken einzuflössen und gegen sie im Guten wie im Bösen eine Stütze zu haben. Hat einmal ein Mädchen ihre Wahl getroffen, so vermag sie nicht mehr, sich von ihm loszumachen; sie[S. 159] muss ihn in seiner Faulheit, seinem Trinken, Spielen und Ausschweifungen mit anderen Mädchen unterhalten (denn es giebt unter diesen Menschen einige, welche wegen ihres Rufes mehrere auf einmal haben), und kann sie der Tyrannei desselben nicht mehr widerstehen. So muss sie, um ihn loszuwerden, einen noch furchtbareren finden, der aber gerade darum noch ärgerer Tyrann und Despot ist.“[255]

Zahlreich waren endlich die Unterhändlerinnen, Kupplerinnen, Begleiterinnen u. s. w., dieses notwendige Correlat der Prostitution, das natürlich bei Sade in allen Gattungen vertreten ist. Auf den letzten Seiten des „Pornographe“ findet sich ein Verzeichnis dieser „mamans publiques“ von Paris im vorigen Jahrhundert. Solche Frauen hatten mannigfaltige Namen. Diejenigen „Begleiterinnen“, die nicht mehr ihr Gewerbe treiben konnten und sich an liederliche Orte begaben, um es wenigstens bei anderen zu befördern, hiessen „Pieds-levés“, welchen die verschiedenartigsten Vermittelungsgeschäfte oblagen.[256]

Die eigentlichen Kupplerinnen und Mädchenverkäuferinnen hiessen „maquerelles“, „baillives“ („Amtmänninnen“), „abbesses“, „supérieures“, „mamans“. Der Name „Maîtresse“ oder „Dame de maison“ kam erst seit 1796 auf.[257]

In „Justine“ und „Juliette“ sind alle Bordelle und Häuser der Unzucht reichlich mit Knaben und besonders kleinen Mädchen versehen, die hier den Zwecken der[S. 160] Wollust dienen und oft in Menge den grausamen Gelüsten geopfert werden. Das lässt auf eine grosse Ausdehnung des Knaben- und Mädchenhandels im 18. Jahrhundert schliessen. Wie wir sahen, musste schon allein für den Hirschpark ein umfassender Mädchenhandel ins Werk gesetzt werden. Aber auch für andere ähnliche Institute und für Privatbedürfnisse existierte derselbe in grösstem Umfange.[258] Im 16. Bande der „Nuits de Paris“ giebt Rétif de la Bretonne ausführliche Nachricht über diese Schändlichkeiten, die „haarsträubend“ sind. Man sah 1792 unter den Arkaden des Palais-Royal Kinder beiderlei Geschlechts, im „zartesten Alter“, auffällig gekleidet, von Kupplerinnen geführt, die die Kindheit profanierten und frühzeitig zu Grunde richteten. Bisweilen starben die unglücklichen Opfer nach den Schändlichkeiten, die man mit ihnen vornahm. „Man bezahlt das Kind,“ sagt Rétif, „wie man ein Tier bezahlt. Der Preis wird vorher zwischen Eltern und Kupplerin vereinbart, welche dabei immer den Vorteil hat.“ Rétif berichtet, dass dieser Handel schon unter dem ancien régime existierte und — horribile dictu — eine Haupteinnahmequelle des Inspektors der Prostituierten bildete, der davon vielleicht dem Polizeileutnant abgegeben habe! Dieser Handel wurde daher niemals unterdrückt. Der Censor Mairobert kannte alle Details und machte Rétif damit bekannt. Dieser erfuhr noch näheres von einer solchen teuflischen Händlerin, die ihm alle Mysterien ihres Geschäftes enthüllte.[259]

[S. 161]

Rétif de la Bretonne hat sich vielfach mit der Organisation der Prostitution beschäftigt, vor allem in seinem „Pornographe“ (1769, 1770, 1786), einem Buche, in dem man nach Parent-Duchatelet „Fragen von Ernst und Zurückhaltung auf eine sehr leichtsinnige Art behandelt findet.“ Das Buch entstand unter Mitwirkung eines Engländers Lewis Moore, des Advokaten Linguet und des königlichen Censors Pidanzat de Mairobert.[260] Rétif schlug darin der Polizei vor, in grossen Städten mehr oder weniger weitläufige Gebäude zu errichten, in welche alle (!) öffentlichen Mädchen gehen müssten. Er gab den Plan zu den Häusern an und entwarf ein Reglement von 70 Artikeln, in welchem sich die seltsamsten Dinge finden, die man sich nur vorstellen kann. So teilt er die Mädchen in verschiedene Klassen, nach Massgabe ihrer Schönheit und Reize; er setzt die Preise fest und organisiert ein Personal für den inneren wie für den äusseren Dienst des Hauses; ebenso nimmt er im Voraus auf die Verheirateten, auf die Mädchen, welche schwanger werden, auf ihre Kinder dem Alter und Geschlecht nach Rücksicht; er beschäftigt sich mit dem Schicksale der Kranken, Schwachen und Bejahrten. Selbst den Kaplan oder Pfarrer vergisst er nicht. Endlich geht er auf die kleinsten Umstände, auf Wäsche, Nahrung, wahrscheinlichen Aufwand des Hauses ein. Rétif wurde wegen dieser Schrift mit Recht vielfach verspottet. Fast zur gleichen Zeit gab ein vielleicht von Rétif’s Schrift begeisterter Anonymus in einer Handschrift seine besonderen Ansichten über die Lust[S. 162]dirnen in Paris heraus. Die von ihm vorgeschlagenen Verbesserungen gründeten sich auf Errichtung von besonderen Häusern, deren jedes eine Superiorin haben sollte. Ihre Anzahl wünschte er, um die Aufsicht darüber zu erleichtern, auf fünfhundert (!) beschränkt.[261]

Rétif’s „Pornographe“ wurde eine der bekanntesten Schriften dieses Genres und erlebte wiederholte Auflagen. Ein Arzt, Dr. Robert nahm in einer Schrift „De l’influence de la révolution française sur la population“ (Paris, an X, 2 Bände) den Plan Rétif’s wieder auf und schlug für diese Art von Bordellen den Namen „Korinthenäen“ vor. Der Marquis de Sade, der vielfach ein grosses Nachahmungstalent zeigt, versuchte gleichfalls dieses Thema in seiner Weise zu bearbeiten. Ein Pariser Bibliophile (M. H. B.) besitzt unter anderen auf Sade sich beziehenden Autographen und Dokumenten auch den von dem Marquis entworfenen Plan eines Lupanars, in dem die Einrichtung des Hauses, das Vestibül, die Frauengemächer, die „Folterkammern“ — jede derselben dient einer besonderen Art von Folterung — genau beschrieben werden. Er vergisst sogar nicht den Kirchhof, auf dem die Opfer begraben werden, welche bei diesen Orgien getötet werden. Geheime Thüren erleichtern den unbemerkten Eintritt oder Austritt. Zum Schlusse wird das „Menu eines aufregenden Diners“ beschrieben.[262]

15. Das Palais-Royal und andere öffentliche Dirnenlokale.

Das Palais-Royal ist eine Stadt in der Stadt. Es ist die Dirnenstadt von Paris und zugleich das[S. 163] Centrum des Pariser Lebens im 18. Jahrhundert, ein gesondert zu betrachtendes kulturgeschichtliches Objekt, das „mit seinen Spielhäusern, seinen royalistischen und jacobinischen Verschwörern, seinen Dirnen und Banditen, seiner vornehmen und doch verkommenen Kundschaft, seinem Luxus und seinem Elend eine kleine, aber keineswegs schöne Welt für sich darstellte.“[263]

Das Palais-Royal, nicht weit vom Louvre, wurde in den Jahren 1629 bis 1634 von Lemercier an der Stelle der ehemaligen Hôtels de Mercœur und de Rambouillet für den Kardinal de Richelieu erbaut und später eine Zeit lang von Ludwig XIV. bewohnt, der es umbauen liess und es seinem Enkel, dem Herzog von Chartres schenkte, wodurch es an die Familie Orléans kam. Der Regent Philipp von Orléans inaugurierte das Palais-Royal als Hauptstätte des Vergnügens und der Ausschweifungen für die vornehme Welt. Sein Urenkel, Herzog Louis Philipp Joseph von Orléans, der berüchtigte Philippe-Egalité liess in den Jahren 1781 bis 1786 den Palast gänzlich umbauen, so dass er seine heutige Gestalt annahm und sich zu einem grossen Complexe von Palast, Garten, Arkaden, Kaufhallen, Theatern, Cafés, Spiel- und Speisehäusern und zahlreichen Vergnügungsorten gestaltete. Die Hauptgalerien des Palais-Royal waren im Osten die „Galerie de Valois“, im Westen die „Galerie de Montpensier“, an deren nördlichem Ende das seit 1784 bestehende Théâtre du Palais-Royal lag, im Norden die „Galerie de Beaujolais“. 186 Arkaden umgaben den prächtigen Garten des Palais-Royal, der in Form eines Parallelo[S. 164]grammes sich ausdehnte. In seiner unmittelbaren Nähe wurde das Theater der „Comédie française“ erbaut.[264]

In Palais-Royal entwickelte sich nun vor und während der Revolution jenes überaus lebhafte und bunte Treiben, das so viele vortreffliche Schilderer aus allen Ländern gefunden hat. Wie es hier im Jahre 1750, also vor dem Umbau aussah, erzählt Casanova[265]: „Neugierig auf diesen so vielgerühmten Ort, beobachtete ich Alles. Ich sah einen ziemlich hübschen Garten, Alleen grosser Bäume, Bassins, hohe Häuser, welche ihn umgaben, viele Männer und Frauen, die spazieren gingen, hier und dort Bänke, auf denen man Broschüren, Parfums, Zahnstocher und Kleinigkeiten verkaufte. Ich sah ganze Haufen von Strohstühlen, die man für einen Sou vermietete, Zeitungsleser die sich im Schatten hielten, Mädchen und Männer, die allein oder in Gesellschaft frühstückten, Kellner, welche schnell die unter Laubwerk verborgenen Treppen hinauf und hinabeilten.“ Ein Abbé nannte Casanova die Namen aller Dirnen, die dort herumspazierten.

Aus dem Beginne der Revolution besitzen wir eine höchst interessante und wahrheitsgetreue Schilderung des Palais-Royal, dieser „capitale de Paris“, wie er es nennt, von dem oldenburgischen Justizrat Gerhard Anton von Halem, dem Freunde der Grafen Stolberg und Verfasser der Geschichte des Herzogtums Oldenburg. Er war im Jahre 1790 in Paris. Schon beim Einzug lernte er das Hauptmerkmal dieser Stadt kennen.[266] Als die Reisenden hineinfuhren, wanden[S. 165] sich Haufen von Buben in Ringelreihen und sangen ein Chanson mit dem Refrain:

Viva l’amour
Viva l’amour!

Dann heisst es in dem dreissigsten Reisebriefe: „Die Inschrift von Epikurs Gärten:

„Fremdling! hier wird dir wohl sein!
Das grösste Gut ist hier Wollust,“

würde ganz für das Palais-Royal passen. Das Detail von seinen Herrlichkeiten, sowie von denen der Boulevards und des Pont-neuf, las man schon vor meiner Abreise in mehreren deutschen Journalen; und wenn ich Sie also geradezu in die allée des Soupirs führe, so kommen Sie an keinen unbekannten Ort. Hier muss ich Sie aber Ihrem Schicksal überlassen. Sehen Sie zu, wie Sie sich durch Scylla und Charybdis, die Braune und die Blonde, ohne zu scheitern durchschiffen. Verbinden Sie Ihre Augen, um nicht die vorüberrauschenden Schönen, deren Reize der Abend hebt, nicht ihre schmachtenden Blicke, nicht die Blumensträusse, die sie so freundlich darbieten, zu sehen; verstopfen Sie, wie Ulyss, Ihre Ohren, um weder jenes sanfte Gelispel, jene Tassoischen sorrisi, parolette e dolci stille di pianto o sospiri, jene lockenden „Viquets“ (wie geht’s) und „good night, my dear Sir!“ noch den Sirenengesang zu vernehmen:

„Aimons au moment du réveil,
Aimons au lever de l’Aurore,
Aimons au coucher du soleil,
Durant la nuit aimons encore.“

Trotz der etwas idealisierenden Erzählung Halem’s erkennt man, dass das Palais-Royal nichts weiter war als der Hauptversammlungsort der Freudenmädchen.[S. 166] Halem’s Schilderung ist deswegen von Interesse, weil ihr die Ehre widerfahren ist, von Arthur Chuquet, dem treuen Teutophilen, Freunde unserer Literatur und alter deutscher Bücher, ins Französische übersetzt zu werden[267]. Halem, der Mitglied des Jakobinerklubs wurde, berichtet auch haarsträubende Dinge über die sittliche Korruption in dem Hause, wo er Wohnung genommen hatte.

Wenn im Jahre 1772 der Marquis de Carraccioli noch bemerkt, dass das Palais-Royal die Promenade der Elegants sei, der Luxembourg die der Träumer, die Tuilerien, die „von aller Welt“, vor und nach der Oper, besonders des Abends, so konzentrierte sich nach dem Brande der Oper (1781) und nach der Umgestaltung des Palais-Royal durch den Bau von Galerien und Arkaden das gesamte Nachtleben von Paris an diesem Orte.[268] Hier spielten sich dann, besonders mit beginnender Dunkelheit, während der Revolution und des Direktoriums alle jene scheusslichen Szenen ab, deren wir zum Teil schon oben gedacht haben. Das Palais-Royal wurde eine „Höhle der Schurken und Dirnen“[269], die „Kloake von Paris“, wie es Mercier in „Le nouveau Paris“ und Rétif de la Bretonne in seinem grossen Werke über das Palais-Royal geschildert haben. Rétif hat das Leben im Palais-Royal untersucht wie „der Anatom den Leichnam“. Im „Monsieur Nicolas“ schreibt er 1796: „Man weiss, dass das neue[S. 167] Palais-Royal das allgemeine Rendez-vous der Leidenschaften, Unternehmungen, der Wollust, Prostitution, des Spiels, der Agiotage, des Geldverkehrs, der Assignaten, und daher das Zentrum für alle Beobachtungen geworden ist. Dieser berühmte Bazar zog mich nicht blos durch seine Sehenswürdigkeiten an, sondern auch durch die Vergnügungen, welche ich dort fand.“[270]

Mercier wünscht lebhaft, dass doch Lavater, der berühmte Physiognomiker, an einem Freitag Abend im Palais-Royal anwesend sein möge, um dort auf den Gesichtern alles zu lesen, was der Mensch sonst im innersten Herzen zu verbergen pflegt. Dort seien die Dirnen, die Courtisanen, die Herzoginnen und die ehrbaren Bürgerfrauen und Niemand täusche sich dort. Aber vielleicht würde dieser grosse Doktor mit all seiner Wissenschaft sich täuschen. Denn hier handelt es sich um Unterscheidung sehr feiner Nüancen, die man an Ort und Stelle studieren müsse. „Ich behaupte nun, dass Herr Lavater sehr grosse Mühe haben würde, eine Frau von Stellung von einer unterhaltenen Dirne zu unterscheiden, und dass der gewöhnlichste Kaufmannsgehilfe ohne grosses Studieren mehr davon weiss als er.“ Dort betrachtet man sich mit einer Ungeniertheit, die nirgends in der Welt üblich als in Paris, und in Paris nur im Palais-Royal. Man spricht laut, man ruft sich an, man nennt die vorbeigehenden Frauen mit Namen, ebenso ihre Gatten, ihre Liebhaber. Man charakterisiert sie mit einem Wort. Man lacht sich ins Gesicht. Und alles ohne beleidigende Absicht. Man wird im Wirbel mit fortgerissen und lässt sich alle Blicke und Worte gefallen. Ja, in Paris und im[S. 168] Palais-Royal hätte Lavater seine physiognomischen Studien machen müssen.[271]

Dort empfingen auch die geistvollen Leute ihre Anregungen, suchten dort ihre Gesellschaft, gaben sich dort ihren Gedanken hin. „Es mag schön oder hässlich Wetter sein, meine Gewohnheit bleibt auf jeden Fall um 5 Uhr abends im Palais-Royal spazieren zu gehen. Mich sieht man immer allein, nachdenklich auf der Bank d’Argenson. Ich unterhalte mich mit mir selbst von Politik, von Liebe, von Geschmack oder Philosophie, und überlasse meinen Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit. Mag er doch die erste Idee verfolgen, die sich zeigt, sie sei weise oder thöricht! So sieht man in der Allée de Foi unsere jungen Liederlichen einer Courtisane auf den Fersen folgen, die mit unverschämtem Wesen, lachendem Gesicht, lebhaften Augen, stumpfer Nase dahingeht; aber gleich verlassen sie diese um eine andere, necken sie sämtlich und binden sich an keine. Meine Gedanken sind meine Dirnen.“ So spricht Diderot im Anfange von „Rameaus Neffe“ nach der Uebersetzung unseres Goethe. Wieder ein köstliches Genrebild aus dem Palais-Royal und eine merkwürdige Vergleichung.

Diese „nächtlichen Promenaden“ im Palais-Royal waren in der ganzen Welt berühmt und repräsentierten die erste Pariser Sehenswürdigkeit. Hier suchte man pikante Abenteuer und fand sie. Es kam oft vor, dass Männer, die im Palais-Royal ihr Vergnügen suchten, bei den nächtlichen Promenaden ihre eigenen Frauen in gleicher Absicht lustwandelnd ertappten oder gar mit einem Galan überraschten.[272] Die Frauen des Palais-Royal waren alle Dirnen, ob sie nun zur engeren Pro[S. 169]stitution gehörten oder nicht. Wer sich nächtlicher Weile dorthin begab, hatte sich damit einen gewissen Stempel aufgedrückt. Ein galantes Gedicht feiert diese nächtlichen, sternenbeglänzten Schönheiten des Palais-Royal.[273]

Vivent les nuits étoilées
De ce jardin enchanteur
Où nos femmes sont voilées,
Aux dépens de la pudeur!
Dessous ces fraiches allées
La moins sage est à l’abri
De la honte et du mari.
Ce mélange d’impudence,
De tendresse et de gaîté,
Depuis quelque temps en France,
Fait notre amabilité.
La prude et froide décence
Combat, brouille tous les goûts;
La licence les joint tous.

Die berühmte „Seufzerallee“ (Allée des Soupirs) war die Promenade der schönsten und verführerischsten Mädchen und Frauen, die sich aus allen Gesellschaftsklassen rekrutierten. Vornehme Damen, die Theaterwelt, die höhere Demi-monde und die feineren Dirnen waren hier das Ziel der beutelustigen Lebemänner. Aber auch in den übrigen Alléen, in der „Allée de la Foi“, den „Allées de Club“, unter den Colonnaden und Arcaden tummelten sich unzählige Spenderinnen der Lust, begehrt, verfolgt und umworben von jungen und alten Wüstlingen aus allen Teilen der Welt. Hier war das Eldorado der Prostitution. Hier waren ihre Schlupfwinkel in Gestalt zahlreicher Verkaufsläden, Kneipen,[S. 170] Spielhäuser, Variétés, Theater. Hier lernte Rétif de la Bretonne von seinem Freunde, dem berüchtigten Charlatan Guilbert de Préval, der in alle Geheimnisse und Arten der Wollust im Palais-Royal eingeweiht war, „die verschiedenen Arten, sich mit Frauen zu amüsieren“ kennen oder „wie man die Frauen zum Vergnügen der Männer abrichtet“. Rétif konnte aus der Erinnerung die Namen der Dirnen der Seufzerallee aufschreiben, er kannte auch die „Huris“, die „Exsunamitinnen“, die „Berceuses“, die „Chanteuses“, die „Converseuses“, lauter „dem 18. Jahrhundert eigentümliche moralische Phänomene“ oder wie wir heute sagen würden, lauter verschiedene sexualpathologische Typen. Rétif’s Werk über das Palais-Royal ist uns durch einen Neudruck (bei A. Christiaens in Brüssel, 3 Bände) zugänglich geworden. Der Verfasser sagt über den Inhalt desselben in der Vorrede: „Pfui! welch eine Geschichte!“ — Ha! ha! gnädiger Herr, gnädige Frau, gnädige Fräulein, machen Sie nicht immer so ‚Pfui‘! Sie lesen doch die Geschichte des Affen, des Ochsen, des Elephanten, des Rhinoceros, und Buffon hat Sie für den Esel zu interessieren gewusst. .. Wir werden Ihnen von menschlichen Wesen erzählen und ein sehr moralisches Buch über sehr unmoralische Geschöpfe schreiben, die trotz einiger Aehnlichkeiten sich weit über Stuten, Eselinnen und alles mögliche Getier erheben. Die Schönen des Palais-Royal sind sehr hübsch, besonders die jungen. Was die Alten betrifft, so ist es damit wie überall: ein altes Tier ist niemals schön. — Wie es sich auch verhalte, wir werden Ihnen merkwürdige, unerhörte Sitten vorführen, viel pikantere als vor sechs Monaten. Aber vorher wollen wir eine Vorstellung geben von dem Gesichte, dem Alter, dem Wuchse, der Haltung, dem Gange, den[S. 171] Sitten und Talenten dieser Schönen, unter den „noms de guerre“, die sie angenommen haben.“ Hierauf beschreibt Rétif 32 Freudenmädchen aus der „Allée des Soupirs“, die man auch auf einem dem ersten Bande beigegebenen Bilde erblickt. Er erzählt dann die Geschichte jedes einzelnen Mädchens, wobei häufig die interessantesten Streiflichter auf die Sitten der Revolutionszeit fallen. Der zweite Band führt uns in den berühmten „Cirkus“ des Palais-Royal. „Die Majestät dieses Saales, der Reiz des Orchesters, die anmutigen Bewegungen der Tänzerinnen, die Schönheit, die Eleganz der Zuschauerinnen, alles trug dazu bei, um diesem schönen Souterrain ein magisches Aussehen zu geben. Ferner wurde die Aufmerksamkeit durch Spiele erregt, durch Kaffeetische und heimliche Cabinette, welche der Wollust und selbst der Liebe als Zufluchtsort dienen konnten. Nachdem wir alles dies geprüft hatten, bemerkten wir gegen neun Uhr, in dem Augenblick, wo alle anständigen Frauen hinausgingen, um fein zu soupiren, dass nur die öffentlichen Mädchen dort blieben. Wir beobachteten sie neugierig in unserer Eigenschaft als Aushorcher.“ Eins der zurückbleibenden Mädchen diente ihnen als Cicerona und berichtete ihnen über die anderen, die sogenannten „Sunamitinnen“.

Die Sunamitinnen trugen ihren Namen nach der bekannten Beischläferin des Königs David, welche durch ihre Lebenswärme die Kräfte des alternden Königs neu beleben sollte. In Paris gab es im vorigen Jahrhundert Unternehmerinnen im Palais-Royal, die sich zu diesem Zwecke zahlreiche Mädchen hielten, die in der ersten Blüte ihres Alters und vollkommen gesund sein mussten, was man durch den Genuss ausgewählter Speisen und durch tägliche Bewegung zu unterstützen[S. 172] suchte. Zu der Kur eines einzigen Mannes werden sechs Mädchen erfordert. Das erste Mal war die Matrone selbst gegenwärtig, liess den Patienten in ein aromatisches Bad steigen und nahm eine gründliche Reinigung seines Körpers vor. Dann legte sie ihm einen festen Maulkorb an, führte ihn zu Bette und legte zu beiden Seiten von ihm eine Sunamitin, deren Haut die seinige berührte. Ein paar Mädchen konnten diesen Dienst nur 8 Nächte hintereinander versehen, dann lösten ein paar frische sich ab und die beiden ersten ruhten aus, badeten sich die ersten beiden Tage, und vergnügten sich 14 Tage lang, bis die Reihe wieder an sie kam. Der Alte musste nicht nur das dienstthuende, sondern auch die ausruhenden Mädchen bezahlen, im ganzen drei Louisdors. Jedes Mädchen bekam sechs Francs und die Matrone behielt die zwölf übrigen für sich. Man gab sorgfältig Acht, dass die jungfräuliche Keuschheit dieser Sunamitinnen unangetastet blieb. Denn sonst würden die Lebensverlängerinnen, besonders während der Schwangerschaft, schädlich statt nützlich sein. Erlaubte sich der Patient den Genuss eines solchen Mädchens, so würde er sich nicht allein sehr schaden, sondern musste auch eine beträchtliche Summe verlieren, die er gleich anfangs in die Hände der „Wiederherstellerin“ niederzulegen verpflichtet war. Ein Mädchen diente zu diesem Gebrauche drei Jahre, von dem Zeitpunkt an gerechnet, wo sie mannbar wurde. Später würde sie den Greis beherrschen und „seine Ausflüsse zurückstossen, statt durch ihre Einflüsse auf ihn zu wirken“, und würde sie ihm die „verderbten Auswurfsflüssigkeiten zurückgeben, die sie von ihm empfangen hatte.“ Ein Mädchen, das täglich gebraucht wurde, konnte höchstens nur ein Jahr tauglich bleiben. Die Periode des sunamitischen Dienstes war gleichsam das Noviziat zum Orden der[S. 173] Buhlerin. War jene vorüber, so wurden sie in diesen eingeweiht.[274]

Auch in der „Justine“ des Marquis de Sade muss die Titelheldin einem greisen Mönche diese nächtlichen sunamitischen Dienste leisten (Justine II, 228).

Der dritte Band von Rétif’s „Palais-Royal“ spielt in den „Colonaden“ und führt uns dort die „Converseuses“ oder „Exsunamitinnen“ vor, 43 an der Zahl, die vornehme Damen auf die mannigfaltigste Weise unterhalten mussten.

Von einer anderen Spezialität des Palais-Royal erzählt Mercier[275]. In einem Restaurant, das gleichzeitig ein Bordell war, öffnete sich während der Mahlzeit in einem Salon particulier auf ein gegebenes Zeichen beim Rauschen einer sanften Musik und unter einer Wolke von Wohlgerüchen der Balkon, und herabstiegen, wie aus einem Olymp, ebenso schön als — leicht gekleidete Nymphen, die dann — die Verdauung befördern halfen. Eine „satanisch geistreiche“ Erfindung.

Die vierundvierzig Figurae Veneris, die ein lasciver französischer Schriftsteller zusammengestellt hat, könnten wohl bis aufs halbe Hundert vermehrt werden, wenn man alle die Anerbietungen addierte, welche einem zwischen elf und zwölf Uhr in einer schönen Sommernacht in den hölzernen Gallerien des Palais-Royal von den ebenso viele Spezialitäten der Liebe durch ihre ver[S. 174]schiedenen Namen ausdrückendes Dienerinnen der Venus gemacht wurden[276].

In der Schreckenszeit wurde das Palais-Royal ein Schauplatz der wüstesten Orgien und ein ständiger Aufenthaltsort für den Auswurf der Prostitution, für die Soldatendirne. Der Garten, die Gallerie und andere öffentliche Räumlichkeiten des Palais-Royal wurden „ebenso ekelhafte als ruhestörende Tummelplätze des Militärs und der Freudenmädchen. Auf die schamloseste Weise ergingen sie sich beiderseits öffentlich und rudelweise in den schmutzigsten Handlungen und Zoten, so dass die Passage gehemmt ward und kein anständiger Mensch sich blicken lassen durfte. Im Verlaufe des Jahres gestaltete sich auch die Wasserseite des Tuileriengartens abends zu einem ähnlichen Stelldichein in Masse zwischen Soldaten und liederlichen Weibsbildern, die, den Skandal nicht achtend, hier offen Unzucht trieben und Frechheiten aller Art. Ausserhalb und innerhalb der Stadt feierten die Soldaten schauerliche Orgien.“[277] Fast alle Soldaten in der Garde waren Zuhälter. Ja, viele nahmen in diesem Corps nur Dienste, um auf Kosten einiger Dirnen zu leben.[278]

Schliessen wir unsere Schilderung des Palais-Royal mit den Worten eines der besten Kenner der gesamten Pariser Korruption im 18. Jahrhundert. Mairobert ruft im „Espion anglais“ aus: „Tous ces monuments du luxe et de la volupté française n’approchent pas d’une sorte de spectacle qui s’est établi naturellement et sans frais, bien supérieur, suivant moi, par l’aisance, la familiarité, l’abandon qui y règnent. Ce sont les[S. 175] promenades nocturnes du Palais-Royal.[279]

Gegenüber dem Palais-Royal verschwanden die übrigen Vergnügungslokale, die trotzdem in grosser Zahl vorhanden, aber nur von kurzer Dauer waren, zumal da sie im Gegensatze zum Palais-Royal ein Entrée erhoben. Die Vaux-hall d’été und d’hiver, das Colisée waren die besuchtesten Unterhaltungsorte, in denen man nach Entrichtung von 1 bis 3 Livres Entrée sich ebenfalls der verschiedenartigsten Genüsse erfreuen konnte.

Ein italienischer Artist Torré oder Torres eröffnete das Vaux-hall d’été im Jahre 1764 am Boulevard Saint-Martin. Hier wurden Feuerwerk, Illuminationen veranstaltet, Ausstattungsstücke gegeben. Von 1768 an kamen Bälle, ländliche Feste, Pantomimen und Clownkunststücke hinzu.

Das Vaux-hall d’hiver befand sich im westlichen Teile des Stadtteils Saint-Germain, nahe der rue Guisard. 1769 erbaut, wurde es am 3. April 1770 eröffnet. Hier wurden hauptsächlich Ballets von schönen Tänzerinnen aufgeführt. Im Jahre 1785 musste das Unternehmen aufgegeben werden.

Das Colisée war ein Gebäude mit Garten für Tänze, Gesang, Schauspiele, Feste, Feuerwerk u. s. w. Es lag im äussersten Westen der Champs-Elysées, rechts von der Avenue Neuilly und wurde bei der Vermählung des Dauphins (späteren Ludwig XVI.) eröffnet. Schon 1778 ging das Etablissement ein.

Nach Dulaure war der öffentliche Zweck dieser Etablissements, wie der vieler ähnlicher, die Pariser zu amüsieren. Der geheime Zweck aber war der, sie „zu[S. 176] verderben, zu betäuben und auszuplündern.“ Es wimmelte dort von Tänzerinnen und öffentlichen Dirnen.[280]

16. Die Onanie im 18. Jahrhundert.

Wir gehen nach der Schilderung der Verhältnisse der Prostitution und nach der Beschreibung ihrer Hauptsitze nunmehr dazu über, die hauptsächlichsten Verirrungen des Geschlechtslebens zu untersuchen und beginnen mit der gewöhnlichsten, der Onanie.

Das „branler“ wie der technische Ausdruck bei Sade lautet, kehrt fast auf jeder Seite wieder. Gleich im Anfang der „Justine“, als Justine über den Verlust ihrer Eltern trauert, zeigt ihr Juliette, die im Kloster diese Praktiken erlernt hat, an sich selbst die Befriedigung durch Manustupration. Diese wollüstige Erregung, die man sich jeden Augenblick ohne einen anderen verschaffen könne, sei der beste Trost über alles Leid, da die Onanie mit Sicherheit alle Schmerzempfindungen zum Verschwinden bringe. (Justine I, 5). Delbène, die Oberin des Klosters, in dem Juliette erzogen wurde, eine sehr wollüstige Frau, hatte schon im Alter von neun Jahren „ihre Finger daran gewöhnt, den Wünschen ihres Kopfes zu antworten“ (Juliette I, 3). In der „Société des amis du crime“ existiert sogar ein eigner „Saal für Masturbation“ (Juliette III, 65). Der Herzog von Chablais rühmt denn auch die „französische Methode“ der Onanie als die beste (Juliette III, 292). Madame de St-Ange, welche der Eugenie im Anfang der „Philosophie dans le Boudoir“ einen ganzen[S. 177] Lehrkursus in den Künsten und technischen Ausdrücken der Liebe erteilt, vergisst auch nicht, sie mit der Onanie bekannt zu machen, dieser bequemen Art „de se donner du plaisir“ (Philosophie dans le Boudoir I, 43). —[281]

Mairobert lässt die Madame Richard sich in charakteristischer Weise über die ungeheuere Verbreitung der Onanie in Frankreich äussern. Diese so raffinierte Kunst, welche, wie sie von einem Geistlichen und Mitglied der Akademie der schönen Wissenschaften erfahren habe, bei den Alten sehr in Flor gewesen, später aber vernachlässigt worden sei, werde immer mehr Mode in diesem Jahrhundert der Wollust und der — Philosophie. In den berühmten Bordellen der Florence, der Paris, der Gourdan, der Brisson, könne man diese Künste sehen. „Viele treiben auch einfache und mutuelle Onanie, um keine Kinder zu bekommen oder die syphilitische Ansteckung zu vermeiden.“[282]

Höchst realistisch, in glühend sinnlichen Farben schildert La Mettrie die „voluptueuse approche des doigts libertins“[283], und die mutuelle Onanie zwischen Frauen muss sehr verbreitet gewesen sein, um das folgende boshafte Couplet hervorzurufen[284]:

Il est des Dames cruelles,
Et l’on s’en plaint chaque jour:
Savez-vous pourquoi ces belles
Sont si froides en amour?
Ces Dames se font entr’elles,
Par un généreux retour
Ce qu’on appelle un doigt de cour.

[S. 178]

Für immer verewigt sind die zügellosen Ausschweifungen der Onanie im 18. Jahrhundert durch die berühmte Monographie von Simon André Tissot über die Onanie,[285] das erste Werk seiner Art, das „in glühendsten Farben, in brillantem, geradezu klassischem Stile die Folgen unseres Lasters, überhaupt sexueller Ausschweifungen der damaligen verlotterten französischen Bourgeoisie vor Augen führte, ein Werk, das trotz seiner Ueberhebungen und Uebertreibungen der Folgen der Onanie oder wohl auch infolge derselben ein ungeheures Aufsehen erregte und zu europäischer Berühmtheit gelangte, das viele Auflagen erlebte und von der damaligen Zeit fast verschlungen wurde.“[286]

17. Die Tribadie im 18. Jahrhundert.

Dieses Kapitel ist vielleicht das kulturgeschichtlich merkwürdigste in Beziehung auf das Geschlechtsleben Frankreichs im 18. Jahrhundert. Wir glauben nicht, dass selbst das antike Lesbos derartige Zustände gesehen hat, wie sie in Frankreich im vorigen Jahrhundert herrschten. Auch hier spiegeln die Werke de Sade’s getreu das Bild jener Zeit wieder und belehren über die Häufigkeit des amor lesbicus oder der sapphischen Liebe.

Die „Juliette“ wird gleich eröffnet mit der Beschreibung der wollüstigsten tribadischen Szenen zwischen den Nonnen des Klosters Panthémont (Juliette I, 43 ff.); Mondor ergötzt sich an einer ihm vorgeführten[S. 179] lesbischen Liebesszene (Juliette I, 283). Ein ausgezeichneter Typus einer Tribade wird in der von einem glühenden Männerhasse erfüllten Clairwil gezeichnet (Juliette II, 106), die dann gleich mit Juliette und vier anderen Frauen eine Orgie veranstaltet (Juliette II, 138–150 auch III, 157.) Die höchste tribadische Kunst findet sich in Bologna (Juliette III, 306 ff.). Die Prinzessin Borghese (Juliette IV, 100 ff.), die Königin Karoline von Neapel (Juliette V, 259, VI, 12 ff.) sind Tribaden. Sehr zahlreiche Anhänger hat diese Spezialität der Liebe in Venedig (Juliette VI, 156 ff.).

In „Justine“ kommen ebenfalls, wenn auch nicht so häufig, lesbische Szenen vor, z. B. zwischen Dorothée und Madame Gernande (Justine III, 284); Séraphine ist eine Verehrerin der sapphischen Kunst (Justine IV, 116).

Auch an Andeutungen zu einer Erklärung der Tribadie lässt es Sade nicht fehlen. Eine tribadische Orgie zwischen Juliette und der Durand betrifft eine junge und alte Frau, welche letztere im Herbst ihres Lebens wohl keine Männer mehr anlockt und daher gern geneigt ist, als Surrogat die Liebe beim gleichen Geschlecht zu suchen (Juliette III, 60–64). Vielleicht prädestinierte sie aber auch ihre „lange Clitoris“ zu diesem Geschicke. Wenigstens hebt Sade bei einer anderen Tribade Madame de Volmar (Juliette I, 34) dies ausdrücklich hervor. Diese, erst 20 Jahre alt, ist „die wollüstigste Gefährtin der Delbène und hat eine ‚clitoris de trois pouces‘, wodurch sie befähigt wird, die Rolle eines Mannes und Paederasten zu spielen.[287] Solch ein Weib mit männlichen Allüren ist auch die venezi[S. 180]anische Tribade Zatta (Juliette VI, 194). Sade behauptet, dass fast alle Tribaden die Praktik der Paedicatio übten. Denn mit den Leidenschaften der Männer hätten sie auch deren Raffinements sich angeeignet und „comme celui de la sodomie[288] est le plus délicat de tous, il est tout simple qu’elles en composent un de leurs plus divins plaisirs“. (Justine I, 253).

Eine grosse von 30 Hofdamen ausgeführte Tribadenszene beschreibt auch Mirabeau in „Ma conversion“.[289]

Die Schilderungen dieser Autoren, denen sich noch Diderot mit seiner „Nonne“ und zahlreiche Andere anreihen liessen, haben die Wirklichkeit nicht überboten. Mairobert hat nämlich in seinem „Espion anglais“ mehrere hochinteressante Dokumente beigebracht, welche uns einen überraschenden Einblick in das Treiben und die Organisation der Pariser Tribaden des 18. Jahrhunderts gewähren. Es ist die schon öfter erwähnte „Confession d’une jeune fille“, welcher wir hier folgen[290] und welche uns ein lebensvolles Bild der Mysterien der berüchtigten „Secte Anandryne“ entrollt, welche im „Tempel der Vesta“ ihre Orgien feierte.

Ein junges Mädchen aus dem Dorfe Villiers-le-Bel, Tochter eines Bauern, war von der Madame Gourdan für ihr Bordell eingefangen worden. Eines Tages traf der Vater sie als Dirne bei den Tuilerien. Es kam zu[S. 181] einem grossen öffentlichen Skandale. Die Tochter war aber bereits für die königliche Akademie der Musik verpflichtet worden, so dass der Vater unverrichteter Sache heimkehren musste. Ausserdem war sie schwanger. Mairobert, der dem Auftritte beiwohnte, liess sich von dem Mädchen, die sich Mademoiselle Sapho nannte, ihre Lebensgeschichte erzählen. Es ist aber mit Sicherheit anzunehmen, dass Mairobert, als königlicher Censor in alle Geheimnisse der Pariser Gesellschaft eingeweiht, in die „Confession d’une jeune fille“ seine eigenen Erfahrungen verwebt hat. Auf jeden Fall stellt diese seltsame Beichte einen der allerwichtigsten Beiträge zur Kultur und Sittengeschichte des vorigen Jahrhunderts dar, dem wir daher eine ausführliche Besprechung widmen.

Von Jugend auf war Sapho zur Koketterie geneigt, putzsüchtig, eitel, faul und vergnügungssüchtig, kurz sie besass alle Anlagen, um eine Dirne zu werden. Mit 15 Jahren war sie bereits sehr lasciv, so dass sie sich in ihrer Nacktheit selbst bewunderte und den Spiegel häufig benutzte,[291] wobei sie sich selbst am ganzen Körper liebkoste. „Je caressais ma gorge, mes fesses, mon ventre; je jouais avec le poil noir qui ombrageait déjà le sanctuaire de l’amour;[292] j’en chatouillais légèrement l’entrée. Cependant je sentais en cette partie un feu dévorant; je me frottais avec délice contre les corps durs; contre une petite sœur que j’avais.“ Dieses Geständnis ist sehr lehrreich und beweist, wie so häufig eine sexuelle Perversität zu Stande kommt. Nehmen wir an, Sapho[S. 182] wäre nicht von der Gourdan entführt worden, wäre weiter so streng von ihren Eltern im Hause gehalten worden, ohne Gelegenheit zum Verkehr mit einem Manne zu finden, so ist es klar, dass eine solche zügellose und feurige Natur ganz von selbst auf den Weg der Tribadie gedrängt worden wäre, indem sie sich immer mehr an ihre Schwester gewöhnt hätte, und schliesslich dieser Umgang ihr ein Bedürfnis geworden wäre. Die Gewohnheit, das Erworbensein der conträrsexuellen Gefühle spielt die Hauptrolle. Wir betrachten die Heredität sehr skeptisch.

Eines Tages wurde Sapho bei diesen Manipulationen von ihrer Mutter überrascht und sehr hart bestraft, so dass sie beschloss, aus dem Elternhause zu entfliehen. Wie wir früher erwähnten, hatte Madame Gourdan eine Filiale ihres Pariser Bordells in Villiers-le-Bel, deren Insassinnen Sapho oft schön geschmückt, lachend, singend und tanzend im Dorfe umhergehen sah. Sie beschloss, dorthin zu gehen, wurde natürlich mit Freuden aufgenommen und von der Gourdan nach Paris gebracht, wo sie zunächst bei einem Helfershelfer, einem Gardisten, untergebracht wurde, dessen Frau die erste Prostituierung der Gourdan’schen Novizen besorgen musste. Nachdem dieselbe aber eine genaue Inspektion des Mädchens vorgenommen hatte, verzichtete sie auf ihr gewöhnliches Vorhaben und richtete folgenden charakteristischen Brief an die Gourdan[293]:

„Sie haben ein Peru in diesem Kinde gefunden; sie ist bei meiner Ehre ‚pucelle‘, wenn sie nicht ‚vierge‘ ist. Aber sie hat clitoridem diabolicam. Sie wird sich daher mehr für Frauen als für Männer[S. 183] eignen. Unsere renommierten Tribaden müssen Ihnen diese Acquisition mit Gold aufwiegen.“

Von dieser Entdeckung benachrichtigte die Gourdan sofort Madame de Furiel, eine der berühmtesten Tribaden von Paris, durch den folgenden Brief:

„Madame,

ich habe für Sie ein Königs- oder vielmehr ein Königinnenstück entdeckt — für diejenigen wenigstens ist es das, die Ihren depravierten Geschmack haben — denn ich kann eine meinen Neigungen ganz entgegengesetzte Leidenschaft nicht anders beurteilen. Aber ich kenne Ihre Freigebigkeit, die mich veranlasst, meine Rigorosität etwas zurückzuhalten, und benachrichtige Sie, dass ich zu Ihren Diensten pulcherrimam clitoridem von Frankreich halte, eine Jungfrau von höchstens 15 Jahren. Probieren Sie dieselbe (essayez-la) und ich bin überzeugt, dass Sie mir nicht dankbar genug sein können. Andernfalls senden Sie mir dieselbe zurück, vorausgesetzt, dass Sie ihr nicht zu viel angethan haben. Es wird immer noch eine ausgezeichnete Jungfrauenschaft für die besten Feinschmecker sein.

Verbleibe in Hochachtung u. s. w.

Ihre Gourdan.“

Das Geschäft kam zu Stande, und Sapho wurde für 100 Louisdors an die Furiel verkauft.

Es folgt nun eine Schilderung des üppigen Hauses der Madame de Furiel. Zuerst musste Sapho ein Bad nehmen, erhielt ein opulentes Souper und musste dann schlafen gehen. Am folgenden Morgen untersuchte zunächst der Zahnarzt der Furiel Saphos Mund, brachte die Zähne in Ordnung, reinigte sie und gab ihr ein aromatisches Mundwasser. Dann erfolgte[S. 184] wieder ein Bad, sorgfältiges Beschneiden der Nägel an Händen und Füssen und Entfernen der Hühneraugen und — überflüssigen Haare; Kämmen der Haare. Zwei junge Gartenmädchen reinigten ihr alle Körperöffnungen, aures, anum, vulvam,[294] massierten voluptueusement alle Gelenke nach Art der „Germanen“, um sie biegsamer zu machen. Darauf begoss man sie mit wohlriechenden Essenzen in grossen Mengen, frisierte sie mit einem sehr lockeren Chignon, dessen Locken auf Schultern und Busen wallten und steckte ihr Blumen ins Haar. Ein Hemd à la tribade, d. h. vorn und hinten offen (vom Gürtel an bis unten) und mit Bändern geschmückt, ein Mieder um die Brust und ein „Intime“ d. h. ein aus Mousselinstoffen bestehender Unterrock, der sich eng an den Körper anschmiegte, darüber eine rotseidene Polonaise bildeten ihre neue Kleidung. So wurde sie zu Madame de Furiel geführt.

Madame de Furiel empfing sie, auf einem Sopha ruhend. Sie war eine Frau von 30 bis 32 Jahren, brünett mit sehr schwarzen Brauen, etwas beleibt und etwas Männliches (hommasse) in ihrem ganzen Habitus darbietend. Doch geberdete sie sich als die zärtliche „Mama“, die nur „ein wenig Liebe“ beanspruchte, zeigte ihr das Symbol der Tribadie, zwei mit einander schnäbelnde Tauben. Elle darde sa langue dans la bouche, bewunderte die mammas duras, marmoreas und fragte, ob man ihr schon einmal das Gesäss gegeisselt habe. Das könne Niemand so gut wie sie. Nates levissime flagellavit quod maximam dedit voluptatem filiae. Defigit illa postremum in cunnum oculus. „O[S. 185] clitoridem pulcherrimam magna voce clamat, qua Sappho ipsa non habuit pulchriorem. Eris mihi Sappho.“ Et per duas horas artifex filiae fuit Veneris novae.

Nach zweistündiger Einweihung Sapho’s in die Mysterien der lesbischen Liebe, rief Madame de Furiel zwei Kammerfrauen, von denen sie Beide gewaschen und parfümiert wurden, um sich dann bei einem deliciösen Souper zu erholen, bei welchem die Furiel Sapho Aufklärungen über die Tribadie in Paris gab, die als „Secte Anandryne“ organisiert im „Tempel der Vesta“ ihre geheimen Feste feierte. Nicht jede Frau erhielt Zutritt. Es gab Proben für die, welche den Eintritt wünschten. Besonders jene für verheiratete Frauen waren sehr streng und von zehn bestand dieselben nur eine. Man schloss die Betreffende in ein Boudoir ein, in dem sich eine Statue des Priapus „dans toute son énergie“ befand. Ausserdem erblickte man verschiedene Gruppen sich paarender Männer und Frauen in den obscönsten Stellungen. Die Wandfresken stellten dieselben Bilder dar. Zahlreiche Nachbildungen männlicher Glieder reizten die Sinne; Bücher und Bilder obscönen Inhalts lagen auf einem Tische. Am Fusse der Statue befand sich ein Feuer, das durch sehr leicht verbrennbare Stoffe unterhalten werden musste, so dass die „postulante“ immerwährend Acht darauf haben musste und genötigt war, von diesen Materialien ununterbrochen etwas hineinzuwerfen; vergass sie dieses nur einige Minuten, indem sie beim Anschauen so vieler Gegenstände der männlichen Wollust ihrer Phantasie das kleinste Spiel einräumte, so erlosch das Feuer und gab den Beweis ihrer Zerstreuung und Schwäche. Diese Prüfungen dauerten drei Tage und an jedem Tage drei Stunden.

[S. 186]

Nach dieser Erzählung versprach Madame de Furiel unserer Sapho schöne Kleider, Hüte, Diamanten, Kleinodien, Theater, Promenaden, Unterricht im Lesen, Schreiben, Tanzen und Singen, wenn sie ihr treu die Liebe bewahren wolle und nie mit Männern verkehren werde. Dazu erklärte sich Sapho bereit.

Darauf begann am anderen Tag die grosse Metamorphose. Wäscherinnen, Modistinnen, Toilettenverkäuferinnen kamen und versorgten Sapho mit allem Comfort, worauf sie in die Oper geführt und von den übrigen Tribaden lebhaft bewundert wurde. Die Männer aber sagten in den Corridoren: „Die Furiel hat frisches Fleisch; wirklich ganz neues; welch ein Jammer, dass es in so schlechte Hände fällt.“

Am folgenden Tage geschah die Einführung der Sapho in die Mysterien der anandrynischen Sekte mit grosser Feierlichkeit und merkwürdigen Ceremonien. In der Mitte des „Tempels der Vesta“ befand sich ein Saal von runder Form, der durch eine Glasdecke von oben und von den Seiten Licht empfing. Eine kleine Statue der Vesta befand sich im Saale. Die Göttin war dargestellt, als ob sie, die Füsse auf einen Globus gestützt, majestätisch in die Versammlung herabstiege, um ihr zu präsidieren. Sie schwebte ganz in der Luft, ohne dass dies Wunder die Eingeweihten überraschte.[295]

[S. 187]

Um dieses Heiligtum der Göttin zog sich ein schmaler Korridor, in dem 2 Tribaden während der Versammlung auf und ab gingen und alle Zugänge bewachten. Dem aus zwei Flügelthüren bestehenden Eingang gegenüber befand sich eine schwarze Marmortafel mit goldenen Versen, zu beiden Seiten Altäre mit dem vestalischen Feuer. Neben dem vornehmsten Altar stand die Büste der Sappho, der Schutzheiligen des Tempels, der ältesten und berühmtesten Tribade; neben dem anderen Altar die von Houdon angefertigte Büste der Mademoiselle (alias Chevalier) d’Eon, der „berühmtesten neueren Tribade“.[296] Rund umher an der Wand standen die Büsten der von Sappho besungenen griechischen Tribaden, der Thelesyle, Amythone, Kydno, Megare, Pyrrhine, Andromeda, Cyrine u. s. w. In der Mitte des Saales stand ein grosses Ruhelager von mehr rundlicher Form, auf dem die Präsidentin und ihre Schülerin ruhten. Ringsherum sassen nach türkischer Sitte auf kleinen viereckigen Fusspolstern die einzelnen tribadischen Paare „les jambes entrelacées, chaque couple composée d’une mère et d’une novice“, oder nach mystischer Terminologie eine „Incuba“ und eine „Succuba“. Die Wände des Saales waren mit hundert Reliefs geschmückt, welche die verschiedenen geheimen Teile des Weibes darstellten, wie sie in dem „Tableau de l’amour conjugal“[297], in Buffon’s „Histoire naturelle[S. 188]“ und bei den „geschicktesten“ Anatomen abgebildet waren.

Die Aufnahme unserer Sapho gestaltete sich folgendermassen: Alle Tribaden sassen auf ihren Plätzen, in ihren Festkleidern. Die „Mütter“ trugen eine rote Levite mit blauem Gürtel, die Novizen eine weisse Levite und einen roten Gürtel, Jacke und Hemd, mit vorn offenen oder ganz empor geschlagenen Unterröcken. Als Sapho eintrat, erblickte sie zuerst das heilige Feuer das auf einer goldenen Pfanne mit lebhafter und aromatisch duftender Flamme brannte und durch Hineinwerfen gepulverter Substanzen fortwährend von zwei Tribaden unterhalten wurde. Sapho musste sich zu den Füssen der Präsidentin Mademoiselle Raucourt, einer berühmten Schauspielerin der Comédie Française, niederlassen, und ihre „Mutter“, Madame Furiel sagte: „Schöne Präsidentin und Ihr, liebe Gefährtinnen, hier ist eine ‚postulante‘: Sie scheint alle verlangten Eigenschaften zu haben. Sie hat niemals mit einem Manne verkehrt, ist wunderbar schön gebaut, und hat bei den ‚Versuchen‘, die ich mit ihr angestellt habe, viel Feuer und Eifer gezeigt. Ich bitte Euch, dass sie unter dem Namen ‚Sapho‘ bei uns zugelassen werde.“ Nach dieser Rede mussten sich beide zusammen zurückziehen. Kurz darauf meldete eine der Wächterinnen der Sapho, dass sie einstimmig zur Probe zugelassen worden sei, und entkleidete sie vollständig, gab ihr ein Paar weiche Pantoffeln, hüllte sie in einen lichten Mantel und führte sie in die Versammlung zurück. Hier wurde sie auf den von der Präsidentin verlassenen Sitz geführt, gänzlich entblösst und von allen anwesenden Tribaden genau daraufhin untersucht,[298] wie viele von[S. 189] den auf der Marmortafel aufgezeichneten dreissig Reizen des Weibes sie besässe. Hierbei las eine der ältesten Tribaden die folgende französische Uebersetzung eines alten lateinischen Gedichtes vor.[299]

Que celles prétendant à l’honneur d’être belle,
De reproduire en soi le superbe modèle.
D’Hélène qui jadis embrasa l’univers,
Etale en sa faveur trente charmes divers!
Que la couvrant trois fois chacun par intervalle
Et le blanc et le noir et le rouge mêlés
Offrent autant de fois aux yeux émerveillés,
D’une même couleur la nuance inégale.
Puisque neuf fois envers ce chef d’œuvre d’amour
La nature prodigue, avare tour à tour,
Dans l’extrême opposé, d’une main toujours sûre
De ses dimensions lui trace la mesure:
Trois petits riens encore, elle aura dans ses traits,
D’un ensemble divin les contrastes parfaits.
Que ses cheveux soient blonds, ses dents comme l’ivoire,
Que sa peau d’un lys pure surpasse la fraicheur,
Tel que l’œil, les sureils, mais de couleur plus noire,
Que son poil des entours relève la blancheur.
[S. 190]
Qu’elle ait l’ongle, la joue et la lèvre vermeille.
La chevelure longue et la taille et la main,
Ses dents, ses pieds soient courts ainsi que son oreille.
Elevé soit son front, étendu soit son sein:
Que la nymphe surtout aux fesses rebondies,
Présente aux amateurs formes bien arrondies:
Qu’u la chute des reins, l’amant sans la blesser,
Puisse de ses deux mains fortement l’enlacer,
Que sa bouche mignonne et d’augure infaillible,
Annonce du plaisir l’accès étroit pénible.
Que l’anus, que la vulve et le ventre assortis,
Soient doucement gonflés et jamais applatis.
Un petit nez plaît fort, une tête petite.
Un tétin repoussant le baiser qu’il invite;
Cheveux fins, lèvre mince, et doigts fort délicats
Complettant ce beau tout qu’on ne rencontre pas.[300]

Von diesen Reizen brauchte die zur Aufnahme bestimmte aber nur etwas mehr als die Hälfte zu besitzen, um aufgenommen zu werden, d. h. mindestens sechzehn. Jedes Tribadenpaar stimmte ab und sagte seine Meinung der Präsidentin ins Ohr. Diese zählte und verkündete das Resultat. Alle stimmten für die Aufnahme unserer Novize. Dieser Beschluss wurde dann durch einen „baiser à la florentine“ bekräftigt, worauf Sapho als Tribade gekleidet ward und vor der Präsidentin einen Eid ablegen musste, nie mit Männern zu verkehren und nie die Mysterien der Versammlung zu verraten. Hierauf wurde auf jede Hälfte eines goldenen Ringes von Madame Furiel und der Sapho ihr Name eingeritzt. Dann hielt die Präsidentin, Mademoiselle Raucourt[S. 191] eine Aufnahmerede,[301] deren Inhalt in Kürze angegeben werde.

„Femmes, recevez-moi dans votre sein, je suis digne de vous“. Diese Worte stehen in dem 2ten „Lettre aux femmes“ der Mlle. d’Eon. Diese d’Eon ist das Muster einer Tribade die überall dem männlichen Geschlechte Widerstand geleistet hat. Ihr Ausspruch kann als Motto der Rede gelten.

Zunächst verbreitete sich die Raucourt über den Ursprung der „Secte anandryne“. Schon Lykurg habe zu Sparta eine Tribadenschule eingerichtet. Die Nonnenklöster im modernen Europa, eine Emanation des Collegiums der Vestalinnen, verkörperten das beständige Priestertum der Tribadie, wenn auch nur als ein schwaches Abbild der wahren lesbischen Liebe wegen des Gemisches von „pratiques minutieuses et de formules puériles.“

Weiter wird nur allzu wahr ausgeführt, wie ein junges Mädchen überall Gelegenheit findet, ihren wollüstigen Kitzel zu befriedigen, viel eher als ein Mann. „Elle les trouve dans presque tout ce qui l’environne, dans les instruments de ses travaux, dans les utensiles de sa chambre, dans ceux de sa toilette, dans ses promenades et jusque dans les comestibles.“ Dann helfe man sich gegenseitig und werde einander unentbehrlich,[302] und das neue Leben triumphiere über[S. 192] alle Eitelkeiten dieses Jahrhunderts. Die Busskleider verwandeln sich in Kleider der Lust. Die Tage der allgemeinen Geisselung würden zu Orgien; denn die Flagellation sei ein mächtiges Reizmittel der Wollust. So wird man im Kloster Tribade.

Ueberallhin muss nun die Tribade den Kultus der Vesta bringen und eifrig Propaganda für denselben machen. Die Raucourt nennt jetzt die bekanntesten Tribaden: die Herzogin von Urbsrex, die Marquise de Terracenès, Madame de Furiel (die Beschützerin unserer Sapho und Gemahlin des Generalprocurators); die Marquise de Téchul[303] (die sich als Kammerfrau, Coiffeuse, Köchin verkleidete, um ihre Zwecke bei den Gegenständen ihrer Liebe zu erreichen), Mademoiselle Clairon (berühmte Schauspielerin des Théâtre Français), die Schauspielerin Arnould, die deutsche Tribade Sonck (unterhalten von einem Bruder des preussischen Königs).

Als Novize wird Mlle Julie, eine junge Tribade, erwähnt, die von der Arnould und der Raucourt in die lesbische Liebeskunst eingeweiht wurde. Zum Schluss verherrlichte die Rednerin die Freuden der Tribadie. Der Genuss zwischen zwei verschiedenen Geschlechtern ist flüchtig, kurz und illusorisch. Nur der zwischen Frauen ist wahr, rein und dauerhaft und hinterlässt keine Reue. Sind Defloration, Schwangerschaft und Geburt ein Genuss?

[S. 193]

Die Tribadie gewährt nur reine, immer herrlicher werdende Freuden. Den Mann schwächen die Ausschweifungen mit zunehmendem Alter. Bei der Tribade wächst die Nymphomanie mit dem Alter. Sie wird aus einer Succuba zu einer Incuba d. h. activ. Sie bildet selbst neue Schülerinnen aus.

„Die Tribadie hinterlässt keine Reue und ist die ‚sauve garde‘ unserer jungen Mädchen und Witwen, sie vermehrt unsere Reize, erhält sie länger, ist der Trost unseres Alters, wenn kein Mann uns mehr will, eine wirkliche Rose ohne Dornen durch das ganze Leben.“

Nach dieser effektvollen Rede[304] liess man das heilige Feuer ausgehen und begab sich zum Bankett ins Vestibül, wobei die „feinsten Weine“, besonders griechische getrunken, heitere und sehr wollüstige Lieder gesungen wurden, meist aus den Werken der Sappho. Als alle berauscht waren und ihre Leidenschaft nicht mehr zügeln konnten, wurde das Feuer im Sanctuarium wieder angezündet, die Wächterinnen wurden wieder aufgestellt, und eine wilde Orgie nahm ihren Anfang. „Ce sénat auguste, sagt ein berühmter Schriftsteller, est composé des Tribades les plus renommées, et c’est dans ces assemblées que se passent des horreurs que l’écrivain le moins délicat ne peut citer sans rougir.“[305] Die Teilnehmerinnen erröteten jedenfalls nicht, und den beiden Heldinnen, welche am längsten die „Liebesstürme“ ausgehalten hatten, winkte als Belohnung eine goldene[S. 194] Medaille mit dem Bilde der Vesta und den Bildern und Namen der beiden Heldinnen. Das waren an diesem Tage Madame de Furiel und Sapho.[306]

Fräulein Raucourt,[307] die Präsidentin dieser etwas sehr emanzipierten Versammlung, wusste das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Sie verliess den Marquis de Bièvre, dessen Maitresse sie gewesen war, um fortan sich ganz ihrem tribadischen Leben zu widmen. Aber nicht ohne sich vorher eine Rente von 12000 Livres zusichern zu lassen. Dieser Seigneur machte darüber einen Calembour, indem er seine ehemalige Freundin als „l’ingrate Amaranthe“ (l’ingrate à ma rente) bezeichnete.

Eine französische Zeitschrift teilt den folgenden hochinteressanten sapphischen Brief der Raucourt mit, der ebenfalls dazu beiträgt, die Mitteilungen des „Espion Anglais“ als vollkommen glaubwürdig erscheinen zu lassen:

„An Madame de Ponty,
Schloss La Chapelle-Saint-Mesmier, bei Orléans.

Brüssel, 21. Messidor.
Sonntag, 10. Juli.

Wie mein Herz Dir dankt, meine Liebe, für Deinen schönen Brief vom fünften! Wie ich denselben nötig hatte, um mich von der Aufregung zu erholen, die mir Dein letzter verursacht hatte! Ich werde Dir niemals den Zustand schildern können, in den er mich[S. 195] versetzt hatte, die Gedanken, die er in mir hervorrief. Welch’ seltsames Ding ist doch das menschliche Herz! Ich würde verzweifeln, wenn Du Dich so sehr vergnügtest, dass Du meine Abwesenheit gar nicht bemerktest, und doch, wenn Du mir sagst dass Du Dich langweilst, dass Du traurig bist, so würde ich mich so sehr darüber grämen und beunruhigen, dass ich alles verlassen und mich in die Eilpost werfen würde, um Dich wieder aufzusuchen. Ja meine Henriette, ich fühle mich dessen fähig; für mich ist das einzige unmögliche Ding: ohne Deine Liebe zu leben. — Ich bin entzückt, dass das Badezimmer und Deine Boudoirs nach englischer Art Dir gefallen; sie sind von mir für Dich eingerichtet worden, und ich darf wohl hoffen, dass Du, wenn Du sie benutzest, an diejenige denken wirst, welche die Arbeiten leitete. Du hast mir nicht gesagt, ob Du mit den Blumenvasen zufrieden bist, unglücklicher Weise giebt es augenblicklich keine mehr. Lass Nelken auf dem Markte kaufen, es können gewöhnliche sein. Wir brauchen sie für die Boudoirs. — Ich bin überrascht, dass Du Mme. Dugazon nicht gesehen hast; sie sollte zwei Tage nach mir abreisen, wie mir Labuxière sagte. Riboutet hatte mir versprochen, dass seine Frau Dich bald besuchen würde. Aber ich wünsche, dass alle diese Zerstreuungen, für die ich gesorgt habe, Dir unbefriedigend erscheinen, und dass Du meiner inständigen Bitte nachkommst und mich besuchst. Ich versichere Dich, dass Du es nicht bereuen wirst. Von allen Ländern, die wir zusammen bereist haben, giebt es nicht eines, welches so vortreffliche Spaziergänge hat wie dieses; dies ist auch mein einziges Vergnügen. Ich ermüde meinen Körper, um meine Gedanken zu zerstreuen, immer wenden sie sich trotzdem zu Dir; dann krampft[S. 196] sich mein Herz zusammen; und alle meine Freuden sind in der Vergangenheit und in der Zukunft. Ich habe indessen gestern grosse Abenteuer erlebt. Ich habe Dir erzählt, dass Barras mich mehrere Male besucht hat; gestern hatte er mich zu Tische geladen. Ich war dort, ebenso Talma und seine Frau. Wir waren in guter Gesellschaft. Nach dem Essen fuhr er mit mir in einer Kalesche in der Force spazieren. In meinem Leben habe ich so etwas Schönes nicht gesehen. Wie ich Dich herbeiwünschte! Um 9 Uhr kehrte ich zurück und machte Toilette, um bei dem Praefekten zu soupiren, dessen Frau mich eingeladen hatte. Der Garten war illuminirt, es waren 60 Personen dort, unter ihnen wenigstens 20 Frauen, alle vortrefflich gekleidet, und mehr als die Hälfte sehr hübsch..... Oh, sage mir aufrichtig in Deiner Antwort, ob Dich meine Briefe nicht langweilen. Es ist mein einziger Genuss, mich in Gedanken zu Dir zu versetzen. Es ist mir als ob ich mit Dir spräche, wenn ich Dir schreibe, und wenn ich mir diese Illusion mache, habe ich täglich eine Stunde des Glückes. Gute Nacht, meine theure, vielgeliebte Henriette; denn ich schreibe Dir nächtlicher Weile. Ich komme gerade von einem Spaziergange mit Mlle Mars zurück, die von den Schönheiten dieses Landes entzückt ist. Bei jedem Schritt sagten wir alle Beide: Wenn Mme de Ponty hier wäre, würde sie das reizend finden. Du, immer Du, kann das anders sein, da Du ja mein einziger Gedanke bist? Noch einmal eine gute Nacht der Gefährtin, welche sich mein Herz erwählt hat. Es ist so voll von ihr, dass ich hoffe, dass ein tröstender Traum mich an ihre Seite, in ihre Arme trägt. Henriette! noch vierzehn Tag! und heute ist erst der[S. 197] sechste meiner Enthaltsamkeit.. Es ist zum Sterben.“[308]

Auch einige witzige Verse über diese berühmteste Tribade haben sich erhalten:[309]

Pour te fêter, belle Raucourt,
Que n’ai-je obtenu la puissance
De changer vingt fois en un jour
Et de sexe et de jouissance!
Qui, je voudrais, pour t’exprimer
Jusqu’à quel degré tu m’es chère,
Etre jeune homme pour t’aimer,
Et jeune fille pour te plaire.

Wer war aber die Mlle. d’Eon, deren Büste im Tribadenheiligtum der „Secte Anandryne“ aufgestellt war? Die Geschichte dieses Fräuleins d’Eon bildet eines der merkwürdigsten kulturgeschichtlichen Vorkommnisse, dessen wir kurz gedenken wollen.

Der Chevalier d’Eon[310] war ein talentvoller burgundischer Landjunker, der sich in Paris zum Doktor der Rechte, Censor, litterarischen Dilettanten, vor Allem aber zum Liebling hochadliger Familien emporgearbeitet hatte. Er galt als findiger Kopf. Den entscheidenden Umschwung seines Geschickes führte aber seine eigentümliche, frauenhaft zarte Erscheinung herbei. Als Ludwig XV. kurz vor dem Ausbruch des siebenjährigen Krieges einen geheimen Agen[S. 198]ten Douglas nach Petersburg schickte, gesellte man diesem d’Eon bei, der — auf Wunsch Conti’s oder des Königs Frauentracht anlegte und in dieser Verkleidung wirklich bei Hof Eingang gewann, der Kaiserin eigenhändige Briefe Ludwigs XV. in die Hände spielte, das Wohlgefallen der Czarin erregte und sich so als geheimer diplomatischer Agent grosse Verdienste um sein Vaterland erwarb. Später, nach Ablegung seiner Frauentracht, machte er den siebenjährigen Krieg mit, ging dann wieder als geheimer Agent nach London, welche Rolle er jedoch als Mann durchführte. Hier geriet er aber mit dem französischen Gesandten Guerchy in Zwist. Es kam soweit, dass d’Eon drohte, alle in seinem Besitze befindlichen geheimen Papiere der englischen Regierung auszuliefern. Es gelang jedoch Ludwig XV. den Chevalier vorläufig durch eine Rente von 12000 Livres zu beschwichtigen, und damit dieser sich gegen seine Feinde schützen könne, riet der König ihm in einem unter dem 4. Oktober 1763 geschriebenen Briefe, dass er wieder Frauenkleider anlegen solle, was aber d’Eon noch nicht befolgte. Nach dem Tode des Königs wiederholte d’Eon seine Drohungen, als er Gefahr lief seine Rente zu verlieren. Nun taucht eine neue Person in dieser Komödie auf. Das war kein Geringerer als der Autor der „Hochzeit des Figaro“, Beaumarchais, der als Abgesandter König Ludwig’s XVI. nach London ging, um d’Eon zur Auslieferung der Geheimpapiere zu bewegen. Schon scheint die Rückkehr d’Eons gesichert, die Auslieferung der Papiere unmittelbar bevorzustehen, da erklärt der Sohn des ehemaligen französischen Gesandten Guerchy, dass er das Andenken des Vaters an diesem Nichtswürdigen rächen würde, wann und wo[S. 199] er es immer wagen sollte, sich in seinem Vaterlande zu zeigen.

Bei diesem precären Stand der Sache kam ein sinnreicher Kopf — wahrscheinlich Beaumarchais selbst, — auf den Einfall, alle Schwierigkeiten in der Art zu heben, dass man d’Eon zu der öffentlichen Erklärung vermöchte: er sei überhaupt kein Mann, sondern ein — Weib. Alle Weiterungen wären damit auf einen Schlag beseitigt: alle Vergehen wider die Beamten-Disciplin, alle litterarischen Anfeindungen Guerchy’s würden dadurch als Unarten einer in ihrer Eitelkeit verletzten Frau entschuldbar und jede Forderung von Genugthuung als Narretei erscheinen. In den Friedens-Unterhandlungen Beaumarchais’ war es mithin der erste und der entscheidende Punkt, d’Eon zu der unumwundenen, feierlichen Versicherung zu bestimmen, er sei seit jeher ein Weiblein gewesen, das nur durch wunderbare Schicksalsfügung sich alle Zeit als Mann im Leben umgethan habe.[311]

So kam am 25. August 1775 der folgende seltsame Vertrag zu Stande, ein Unicum in der Weltgeschichte:

„Wir Endesgefertigte, Pierre Augustin Caron de Beaumarchais einerseits (mit besonderer Vollmacht des Königs von Frankreich ddo. 25. August 1775 beglaubigt, welche dem Chevalier d’Eon vorgewiesen und abschriftlich dem gegenwärtigen Protokolle angeschlossen wurde) und

Fräulein Charles Geneviève Louise Auguste Andrée Thimothée d’Eon de Beaumont, grossjährig, vormals Dragonerhauptmann, Ritter des königlichen Ludwigsordens, Adjutant des Marschalls und des Grafen von Broglie, vordem Doctor des kano[S. 200]nischen und des bürgerlichen Rechtes, Advokat am Parlament von Paris, königlicher Censor für belletristische und historische Werke, mit dem Chevalier Douglas nach Russland entsendet, um die Annäherung beider Höfe herbeizuführen, französischer Botschaftssekretär des bevollmächtigten Ministers am russischen Hofe, Marquis l’Hôpital, Gesandtschaftssekretär des Herzogs von Nivernais etc. andererseits — sind über folgende Vertrags-Bestimmungen einig geworden:

Art. I. Ich Caron de Beaumarchais fordere u. s. w. (Uebergabe der politischen Papiere.)

Art. II. Ich Caron de Beaumarchais fordere u. s. w. (Uebergabe der Correspondenz d’Eons.)

Art. III. Verpflichtet sich d’Eon, Guerchy’s Andenken und Familie fortan in Frieden zu lassen.

Art, IV. Und damit eine unübersteigliche Schranke zwischen den Streitteilen aufgerichtet werde, fordere ich im Namen Sr. Majestät, dass die Verkleidung, welche bis zu diesem Tage die Person eines Mädchens fälschlich in Gestalt eines Chevalier d’Eon hat erscheinen lassen, völlig aufhöre. Und ohne weiter Charles Geneviève Louise Auguste Andrée Thimothée d’Eon de Baumont einen Vorwurf aus dieser Veränderung ihres Standes und Geschlechtes zu machen, deren Schuld einzig und allein ihre Eltern trifft: ja, indem wir dem tapferen und kraftvollen Betragen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, das sie stets in der Tracht ihrer Wahl (habits d’adoption) bewährt hat, verlange ich unbedingt, dass zur Behebung aller Zweifel über ihr Geschlecht, welches bis heute unerschöpflichen Anlass zu Gerede, unziemlichen Wetten und schlechten Spässen gegeben, die sich immerfort erneuern könnten, vor Allem in Frankreich: verlange ich also, dass das Phantom eines Chevalier d’Eon völlig verschwinde und eine öffentliche unzweideutige Erklärung über das wahrhaftige Geschlecht von Charles Geneviève etc. d’Eon vor ihrer Ankunft in Frankreich und vor der Wiederaufnahme ihrer Mädchenkleider diese Frage für alle Welt endgiltig zur Entscheidung bringe. Fräulein d’Eon kann sich heute diesem Begehren um so weniger[S. 201] verschliessen[312], als sie durch dessen Erfüllung in den Augen beider Geschlechter, welche sie gleicherweise durch ihre Lebensführung, ihren Mut und ihre Talente geehrt hat, nur desto interessanter erscheinen wird. Unter diesen Bedingungen werde ich ihr urkundlich freies Geleit zusichern, kraft dessen sie nach Frankreich gehen und daselbst unter dem besonderen Schutz Sr. Majestät verweilen kann; und nicht blos Schirm und Sicherheit wird ihr der König zu Teil werden lassen, er hat auch die Güte, die Jahrespension von 12000 Livres, welche ihr der verstorbene Herrscher im Jahre 1766 bewilligt hat, in einen Leibrentenvertrag auf die gleiche Summe umzuwandeln.“

d’Eon verpflichtete sich zur Annahme all dieser Bedingungen, erhob aber noch Anspruch auf allerlei grosse und kleine Vorteile und Ehrenrechte. So wünschte er auf den Frauenkleidern das Ludwigskreuz tragen zu dürfen. Weiter einen ansehnlichen Geldbetrag zur Anschaffung von — Mädchenwäsche und Frauenkleidern.

Endlich war alles geordnet und der ehemalige Dragonerkapitän galt in ganz Frankreich — mit Ausnahme der Eingeweihten — als Mädchen.[313] Daher die Büste, welche ihm seine „Geschlechtsgenossinnen“ im „Tempel der Vesta“ errichteten. Casanova erklärt geradezu: „Der König wusste und hat es stets gewusst, dass er (d’Eon) eine Frau sei, und der ganze Streit, den dieser falsche Chevalier mit dem Bureau der auswärtigen Angelegenheiten hatte, war eine Posse,[S. 202] welche der König bis zu Ende spielen liess, um sich dadurch zu unterhalten.“[314]

Louvet de Couvray lässt seinen „Faublas“ dieselbe Metamorphose vom Manne zum Weibe durchmachen. Nur dass dieser Chevalier sich stets zur rechten Zeit und am rechten Orte als Mann, ja allzumännlich — enthüllt.

Dass zur Zeit der Revolution die Viragines, die Weiber mit männlichen Allüren, immer mehr hervortraten, haben wir schon früher erwähnt. Sade hat mehrere solche Typen geschildert.

Wie die Tribadie im vorigen Jahrhundert beurteilt wurde, erhellt aus einer Bemerkung des Grafen von Tilly über die lesbische Freundin eines Mädchens, das er zu heiraten wünschte: „J’avoue, que c’est un genre de rivalité, qui ne me donne aucune humeur; au contraire, cela m’amuse et j’ai l’immoralité, d’en rire.“[315]

18. Die Paederastie.

Der Marquis de Sade singt das Lied der Paederastie in allen Tonarten. Wohl der vollendetste und konsequenteste Paederast ist Dolmancé in der „Philosophie dans le Boudoir“. „Es giebt, sagt Dolmancé, keinen Genuss in der Welt, der diesem vorzuziehen wäre. Je l’adore dans l’un et l’autre sexe. Mais le c.. d’un[S. 203] jeune garçon me donne encore plus de volupté que celui d’une fille.“ (Philosophie dans le Boudoir I. 99). Er beschreibt ausführlich die Freuden dieses Lasters und betont vor allem, dass es die Schwängerung mit absoluter Sicherheit verhindere (ib. I. 104). Obgleich Dolmancé sich mehr zum männlichen Geschlecht hingezogen fühlt, verschmäht er gelegentlich nicht paedicationem mulieris, und übernimmt es gern, Eugenie mit diesem „Vergnügen“ bekannt zu machen. Dagegen ist Bressac, den Justine im Verkehr mit seinem Lakaien überrascht (Justine I. 145) ein durchweg homosexuell veranlagter Jüngling, der einen angeborenen Hass gegen das weibliche Geschlecht empfindet, welches er das „infame“ nennt. Er ist, soweit wir uns erinnern, der einzige Typus mit hereditärer sexueller Inversion, den de Sade gezeichnet hat. Alle übrigen haben die sexuellen Perversitäten während des Lebens allmählig erworben. Wir sind überzeugt, dass Sade, der sich überall als ein genauer Kenner sexualpathologischer Persönlichkeiten und Neigungen erweist, hier nach der Wirklichkeit schildert. So ist es im Leben. Der Urning durch Heredität ist die Ausnahme, der Urning durch Verführung, durch lasterhafte Entartung, last not least durch Geisteskrankheit, ist die Regel. — Bressac entwickelt (Justine I. 162–164) die Theorie, dass der Pathicus, der er ist, von Natur ein ganz anderer Mensch sei als die übrigen Männer. Er erklärt diese Leidenschaft für angeboren, beruhend auf einer „construction toute différente“. Es wäre eine „stupidité“, sie zu bestrafen! Dolmancé dagegen giebt eine Erklärung der Paederastie, die wohl für die meisten Urninge als Beweggrund zutreffen dürfte. „Ah! sacredieu, si son intention (de la nature) n’était[S. 204] pas que nous f.... des culs, aurait-elle aussi justement proportionné leur orifice à nos membres; cet orifice n’est-il pas rond comme eux, quel être assez ennemi du bon sens peut imaginer qu’un trou ovale puisse avoir été créé par la nature pour des membres ronds. Ses intentions se lisent dans cette difformité.“ (Ph. d. l. B. I. 176). —

Selbst die Tribaden fröhnen bei Sade der griechischen Liebe, sei es mit künstlichen Instrumenten, sive auxilio clitoridis. — Die Verbreitung dieses Lasters wird als eine sehr grosse geschildert. Die Duvergier erzählt, wie sehr gesucht und wie gut bezahlt jetzt die Paederastie werde. „Les cons ne valent plus rien, ma fille, on est en las, personne n’en veut (Jul. I. 234).“ Demgemäss wird manchmal der „coniste“ mit offenbarer Verachtung gegenüber dem „bougre“[316] behandelt. (Juliette III, 54). „Venus hat mehr als einen Tempel auf Cythera“, sagt Juliette (II, 18) und erzählt auch, dass „le cul est bien recherché en Italie (III, 290).“

Seit dem 16. Jahrhundert hatte die Paederastie immer mehr Anhänger in Frankreich gefunden. Mirabeau versichert, dass während der Regierung Heinrich’s III. „les hommes se provoquaient mutuellement sous les portiques du Louvre“, und dass unter Ludwig XIV. die Paederastie ihre bestimmten Gesetze und Organisationen hatte.[317] Heinrich III. war selbst homosexuell gewesen. Heinrich IV. „trat zwar wieder sehr dagegen auf, konnte es aber nicht hindern, dass später unter Ludwig XIII. der homosexuelle Geschlechtsverkehr, den man auf Italien glaubte zurückführen zu müssen, wieder am Hofe aus[S. 205]geübt wurde. Philipp von Orléans, Bruder Ludwigs XIV., wurde homosexuell, und es ist bekannt, in wie unglücklicher Ehe durch Philipp’s Vorliebe für Männer seine Frau, die deutsche Fürstentochter Elisabeth Charlotte von der Pfalz, oft ‚Lieselotte‘ genannt, mit ihm lebte. Was Ludwig XIV. anbetrifft, so wird berichtet, dass verderbte Männer, die in seiner Umgebung vor seiner Grossjährigkeit lebten, versuchten, seinen Trieb umzuwandeln, um ihn ohne Vermittelung einer Maitresse beherrschen zu können. Der junge König soll allerdings bald eine Abneigung gegen jene Männer gefasst haben, die in dieser Weise ihn zu beeinflussen suchten. Der Kammerdiener des Königs, Pierre de la Porte, berichtet in seinen Memoiren sogar von einem Fall, wo der Kardinal Mazarin im Jahre 1652 nach einem Diner, das der damals 15jährige König bei ihm einnahm, mit ihm geschlechtlich verkehrt habe. Doch ist die Sache nicht aufgeklärt und wird wohl auch niemals ganz aufgeklärt werden.“[318]

In einem alten Werke „La France Galante“ (1695), welches den zweiten Teil der „Histoire amoureuse des Gaules“ des Grafen von Bussy-Rabutin bildet, befindet sich ein Kapitel „La France devenue italienne“, in dem über einen Paederasten-Club berichtet wird, den der Herzog von Grammont, der Malteserritter de Tilladet, Manicamp, der Marquis de Biran als „Grosspriore“ begründet hatten. Alle Mitglieder wurden untersucht „pour voir si toutes les parties de leurs corps étaient saines, afin qu’ils pussent supporter les austérités“. Enthaltsamkeit vom Weibe war streng[S. 206] vorgeschrieben. Jedes Mitglied musste Sich den „rigueurs du Noviciat, qui durerait jusques à ce que la barbe fut venue au menton“ unterwerfen. Wenn einer der „Brüder“ sich verheiratete, musste er die Erklärung abgeben, dass dies wegen der Regelung seiner Vermögensverhältnisse geschehe, oder weil ihn seine Eltern dazu gezwungen hätten oder weil er einen Erben hinterlassen müsse. Zugleich musste er schwören, niemals seine Frau zu lieben, und nur so lange bei ihr zu schlafen, bis er einen Sohn bekäme. Er bedurfte für dieses Beisammensein noch einer besonderen Erlaubnis, die ihm nur einmal wöchentlich gewährt wurde. Man teilte die Brüder in vier Klassen, damit jeder Grossprior einen wie den anderen besitzen konnte. Diejenigen, welche in den Orden eintreten wollten, wurden nach der Reihe von den vier Grossprioren erprobt. Strenges Stillschweigen über die Vorgänge in diesem Paederastenklub war geboten, nur diejenigen, die der Neigung zur griechischen Liebe verdächtig waren, durften mit Vorsicht eingeweiht werden. Die paederastischen Orgien fanden in einem Landhause statt. Die Teilnehmer trugen bei denselben zwischen Rock und Hemd ein Kreuz, auf welchem in Relief ein Mann dargestellt war, der eine Frau mit Füssen trat! Der Klub bestand nicht lange, da ein königlicher Prinz sich ihm anschloss, und der König ihn auflöste, wobei der Prinz an dem Teil gezüchtigt ward, durch den er gesündigt hatte.[319]

Wenn Bouchard von den Pagen des Herzogs von Orléans berichtet, dass dieser „cour était extrêment impie et débauchée, surtout pour les garçons. M. d’Orléans défendait à ses pages de se besonger ni[S. 207] branler la pique; leur donnant au reste congé de voir les femmes tant qu’ils voudraient, et quelquefois venant de nuit heurter à la porte de leur chambre, avec cinq ou six garces, qu’ils enfermaient avec eux une heure à deux“,[320] so sind wir geneigt, diese homosexuellen Neigungen der Knaben weniger auf ein noch „undifferenziertes Geschlechtsgefühl“ zurückzuführen, wie Havelock Ellis und Symonds annehmen, als auf das ihnen am Hofe dieses Herzogs von Orléans gegebene Beispiel und auf direkte Verführung. Und wenn Elisabeth Charlotte von der Pfalz über eben diesen Herzog von Orléans schreibt: „Monsieur denkt an nichts, als was seiner Buben Bestes ist, fragt sonst nach nichts; das Bedientenpack ist überall Herr und Meister“,[321] so möchten wir Bouchard’s obige Angaben einigermassen bezweifeln.

Jedenfalls rettete sich der Cultus der Paederastie am französischen Hofe auch ins 18. Jahrhundert hinüber. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn Ludwig XV., dieser geile Lüstling, nicht auch an der Paedicatio und anderen homosexuellen Praktiken Gefallen gefunden hätte. So wird berichtet, dass er amico clunes nudatas monstravit, quas tamquam deae jussit hominem genubus flexis deosculando adorare.[322] Allerdings wurden noch 1750 zwei Paederasten in Paris lebendig verbrannt.[323]

[S. 208]

Die Revolutionszeit brachte auch dieses Laster zur höchsten Blüte. Der auf die Paederastie sich beziehenden Abbildungen haben wir schon oben gedacht. Aus dem Jahre 1798 berichtet Dupin, der Regierungscommissar des Seinedepartements: „Seit einiger Zeit verbreitet sich eine noch schändlichere Art von Unzucht. Die Berichte von Polizeiagenten über die Paederastie häufen sich in schreckenerregender Weise. — Die Sodomiterei und die sapphische Liebe treten mit derselben Frechheit auf, wie die Prostitution und machen beklagenswerte Fortschritte.“[324]

In seiner im Jahre 1789 erschienenen Schrift „Dom B... aux Etats-généraux, ou doléances du portier des Chartreux“ sagt Rétif de la Bretonne in der Vorrede, dass „die Paederastie die Bestialität und andere Formen der Unzucht schon seit fünf oder sechs Generationen Frankreich erniedrigen“.[325]

Rétif sieht in der allzugrossen Aehnlichkeit der männlichen und weiblichen Kleidung bei den Griechen und Römern die Ursache für die grosse Verbreitung homosexueller Neigungen. Er fordert deshalb, dass auch jetzt noch die Kleidung der Geschlechter möglichst differenziert werde.[326]

Auffällig ist allerdings, dass im vorigen Jahrhundert die Zeit der grössten Ausbreitung der sokratischen Liebe mit dem Auftreten der Moden à la grecque zusammenfiel, wodurch offenbar ein Beweis für den starken Einfluss der Mode auf diese Verhältnisse geliefert wird.

[S. 209]

19. Flagellation und Aderlass.

Die Flagellation, dieses mächtige Hilfsmittel der Wollust, hat der Marquis de Sade ausgiebig in seinen Werken verwendet. Wir erwähnen nur die grossen Flagellationsszenen in der „Justine“ und „Juliette“ (Justine III, 129; Juliette II, 138–150 zwischen Frauen; Juliette V, 335). Juliette besuchte im Auftrage der Duvergier mit drei jungen Modistinnen den Herzog Dendemar in St. Maur, dessen sexuelle Monomanie darin besteht, junge Mädchen (und zwar selten Prostituierte) bis aufs Blut zu geisseln, wofür derselbe seinen Opfern grosse Summen bezahlte. (Juliette I, 344 ff.).

Der Marquis de Sade hat auch auf diesem Gebiete litterarische Studien gemacht. Er verweist auf die zu seiner Zeit bedeutendsten Schriften über den Flagellantismus von Meibom und Boileau (Juliette V, 169). Diese Studien haben ihn belehrt, dass zu allen Zeiten die Männer es gewesen sind, welche bei der Flagellation die aktive Rolle übernahmen. Er wundert sich deshalb, dass bei der natürlichen Grausamkeit des Weibes dieses der aktiven Geisselung so wenig Geschmack abgewonnen habe (?)[327], und er lässt durch den Mund des Dolmancé die Hoffnung aussprechen, dass die Frauen auch dieser Spezialität bis zu dem „point où je le désire“ ausbilden möchten (Phil. dans le Boud. I. 157).

Interessante Einzelheiten über die Flagellation im 18. Jahrhundert teilt Cooper mit[328]. Voltaire[S. 210] erwähnt die Rute oft in seinen Schriften, namentlich, wenn er die Jesuiten damit lächerlich machen kann. Auch in den Memoiren jener Zeit wird die Rutenstrafe häufig erwähnt.

Die Schläge wurden schon an ganz kleine Kinder ausgeteilt, da die Bonnen behaupteten, dass dadurch Muskulatur und Haut „gestärkt“ würden. In allen französischen Klosterschulen war die Rutenstrafe für junge Mädchen etwas gebräuchliches, wie dies ja auch natürlich ist bei dem Flagellantismus, der unter den Nonnen herrschte. „Die heiligen Schwestern straften mit Entzücken ihre Schülerinnen auf dieselbe Weise, wie die heiligen Väter ihre Beichtkinder zu absolvieren pflegten.“

Während der Schreckenszeit lauerten die Tricoteusen den Nonnen auf, um sie schimpflich auszupeitschen. Bekannt ist der tragische Fall der Théroigne de Méricourt, die auf der Terrasse „Des Feuillants“ öffentlich von einer Bande von Weibern ausgepeitscht wurde und darüber den Verstand verlor. Auch nach dem Sturze Robespierre’s wurden von den Anti-Terroristen junge Mädchen auf der Strasse entblösst und gegeisselt.

Es soll sogar kurz vor der Schreckensherrschaft ein „Rutenklub“ bestanden haben, dessen weibliche Mitglieder sich „gegenseitig mit entzückender Eleganz die Rute gaben.“ Viele vornehme Damen gehörten zu diesem Klub, über dessen sexuelle Tendenzen wohl kein Zweifel bestehen kann.

Ueber Jean Jacques Rousseau’s Vorliebe für diese Art geschlechtlicher Erregung ist schon so viel geschrieben worden, dass wir darauf verzichten, die Geschichte seiner Züchtigung durch Mademoiselle Lambercier nochmals ausführlich darzustellen und auf[S. 211] R. v. Krafft-Ebing verweisen[329]. Die französische Litteratur des letzten Jahrhunderts ist nach Cooper reich an Geschichten von Prügelstrafen, die namentlich bei dem schönen Geschlecht grossen Anklang fanden. Ueber einige causes célèbres dieser Art berichtet ebenfalls Cooper.

England ist bekanntlich heute das klassische Land des sexuellen Flagellantismus, und seine berühmteste Geisslerin war Theresa Berkley in London, Charlotte-Street 28, welche in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts sich grossen Ruhm und ein Vermögen durch ihre Kunst erwarb. Sie besass zahllose rutenartige Instrumente mit allen möglichen Reizvorrichtungen zur Erregung und Erhöhung der Wollust. „Thus, at her shop, whoever went with plenty of money, could be birched, whipped, fustigated, scourged, needle-pricked, half-hung, holly-brushed, furse-brushed, butcher-brushed, stinging-nettled, curry-combed, phlebotomized and tortured till he had a belly full.“[330] Auch hielt sie für die Ausübung der aktiven Flagellation Dirnen, u. a. eine Negerin und eine Zigeunerin. Sie erfand eine Maschine, auf der die Männer festgebunden wurden und die eine sehr sinnreich-wollüstige Einrichtung hatte. „There is a print in Mrs. Berkley’s memoirs, representing a man upon it quite naked. A woman is sitting in a chair exactly under it, with her bosom, belly and bush exposed: she is manualizing his embolon, whilst Mrs. Berkley is birching his posteriors. The female acting as frictrix, was intended for Fisher, a fine,[S. 212] tall, dark haired girl, all must remember who visited Charlotte Street at that day, as well as the good humoured blonde, Willis; the plump, tight, frisky and merry arsed Thurlow. Grenville with the enormous bubbies; Bentinc, with breadth of hip and splendour of buttock; Olive, the gipsy, whose brown skin, wicked black eye, and medicean form would melt an anchorite; the mild and amiable Palmer with luxuriant and well fledged wount, from whose tufted honors many a noble lord has stolen a sprig; and Pryce, the pleasing and complaisant, who, if birch was a question, could both give and take.“[331] Die Berkley starb im September 1836, nachdem sie von 1828 bis 1836 über 10000 Pfund Sterling erworben hatte. Ihre Korrespondenz, die Dr. Vance, ihr Testamentsvollstrecker aufbewahrte, enthielt Briefe von Personen beiderlei Geschlechts aus den höchsten Kreisen und wurde vernichtet.

Wir geben diesen kleinen Excurs, weil wir das Institut der Frau Berkley in den neueren Werken über Flagellantismus und auch sonst nicht erwähnt fanden, und dieses Curiosum um so eher für Forscher auf diesem Gebiete von Interesse sein wird, als auch in den Romanen des Marquis de Sade ganz ähnliche Maschinen vorkommen, auf denen die Opfer festgebunden werden. Wir bemerken gleich an dieser Stelle, dass wir auf die höchst interessante Geschichte des englischen Flagellantismus ausführlicher in demjenigen der folgenden Bände zurückkommen, in welchem wir das Geschlechtsleben in England, vorzüglich in London untersuchen, das manche aus dem englischen Wesen sich ergebenden Eigentümlichkeiten darbietet.[332]

[S. 213]

Anhangsweise sei noch einer Rolle gedacht, welche der Aderlass bei Sade spielt. Im dritten Bande der „Justine“ (S. 223 ff.) tritt ein Graf Gernande auf, der sich nur dadurch sexuelle Befriedigung verschaffen kann, dass er die Frauen zur Ader lässt, nachdem er dieselben hat reichlich essen lassen. Sade verfehlt nicht, solche Szenen darzustellen. Besonders schauerlich ist die, bei welcher der Graf seine eigene Frau venaeseciert und sich an der Bewusstlosen geschlechtlich befriedigt (Justine III, 253).

Der Aderlass war ja im 18. Jahrhundert eine auch von Laien ausgeführte Operation. Brissaud erzählt, dass in den Klöstern die Regel des Aderlasses in gewissen Perioden bestand. Bei den Karthäusern z. B. fünfmal, bei den Praemonstratensern einmal jährlich. Die Feste Sanct Valentin und St. Mathias wurden durch besonderes Blutvergiessen gefeiert:

Seigneur du jour Saint Valentin
Fait le sang net soir et matin
Et la saignée du jour devant
Garde des fièvres en tout l’an.

Raulin pflegte die so häufige Hysterie der Frauen durch Aderlässe zu heilen,[333] ganz wie man nach dem Vorschlage von Dyes u. A. in unseren Tagen die[S. 214] Chlorose durch Venaesectionen zu bessern glaubt. Vielleicht kehren auch für uns die blutsaugerischen Zeiten eines Broussais und Bouillaud mit ihren „saignées coup sur coup“ wieder. Dann können wir auch wieder „sexuelle Venaesectionen“ erleben. Brierre de Boismont berichtet über einen Mann, der seiner Geliebten an den Genitalien und dem After Blutegel ansetzen oder einen Aderlass machen liess, wobei er sich in den gemeinsten Schimpfreden erging. Sobald er Blut sah, steigerte sich seine sexuelle Erregung aufs höchste, und er befriedigte dieselbe an dieser Person.[334]

Wir zweifeln nicht daran, dass dieser Mensch die „Justine“ gelesen und einfach die Handlungen des Grafen Gernande nachgeahmt hat. Später werden wir noch mehrere solche Beispiele offenbarer Nachahmungen einzelner Vorkommnisse in Sade’s Romanen bringen.

20. Aphrodisiaca, Kosmetica, Abortiv- und Geheimmittel im 18. Jahrhundert.

Den „Sexualmitteln“ (im weitesten Sinne) widmet Sade in seinen Werken eine besondere Aufmerksamkeit. Gerade hier lässt sich wieder recht deutlich machen, wie sehr er nach Vorbildern gearbeitet hat, und wie dadurch seinen Schilderungen ein eigentümlicher sittengeschichtlicher Wert zukommt.

Es ist kein Wunder, dass die durch häufige und unnatürliche Ausschweifungen entnervten Wüstlinge bei Sade künstlicher Anregung und sexueller Stimulantien[S. 215] in hohem Masse bedürfen. So ist denn auch kein Mangel an den verschiedensten Aphrodisiaca zur Belebung der entschwundenen Kräfte dieser ausgemergelten Individuen. Die Delmonse reibt dem impotenten Grosskaufmann Dubourg die Hoden mit einer Flüssigkeit ein. Darauf muss dieser Unglückselige noch eine Bouillon „composé d’aromates et d’épins“ einnehmen. (Justine I, 62). Cornaro lässt sich die Testes mit Branntwein einreiben (Juliette VI, 223). Die Durand reibt nicht die Hoden, sondern das Glied selbst mit einer „anregenden“ Flüssigkeit ein.[335] Im fünften Bande der Juliette (Seite 330) werden „stimulierende Flüssigkeiten mit Jasmingeruch“ auf die Teilnehmer der Orgie gespritzt. — Neben diesen äusserlichen Aphrodisiaca kennt Sade auch innerliche. Juliette gebraucht als solche Wein und Liqueure, Opium[336] und andere „Aphrodisiaca, die in Italien öffentlich verkauft werden.“ (Juliette IV, 104). Die Durand betreibt einen Handel mit Aphrodisiacis und Antiaphrodisiacis (Juliette III, 229).

[S. 216]

Wir haben schon oben (S. 127 ff.) mitgeteilt, dass das Bordell der Madame Gourdan reichlich mit sexuellen Stimulantien versehen war. Dort wurden auch die „Pastilles à la Richelieu“ erwähnt. Da dieselben gerade in Beziehung auf den Marquis de Sade von Wichtigkeit sind und ihr Hauptbestandteil, die Canthariden nach Binz eine „berüchtigte Rolle im Frankreich des vorigen Jahrhunderts spielten“[337], so mag vielleicht ein Wort über diese cantharidenhaltigen Reizmittel hier am Platze sein. Bis schon von Dioscurides (Materia medica Lib. II. Cap. 65) erwähnten Canthariden gelten seit langer Zeit als ein sexuelles Stimulans. Soll doch schon der römische Dichter Lucretius infolge des Genusses eines cantharidenhaltigen Aphrodisiacums gestorben sein. Ambroise Paré berichtet über mehrere derartige Todesfälle. Zu Paré’s Zeit war der Gebrauch der Pastillen oder Bonbons in Frankreich Mode geworden. Die Heimat dieser aphrodisisch wirkenden Bonbons war Italien, von wo besonders Catharina von Medici dieselben in Frankreich einführte. Am Hofe Heinrich’s III. und Karl’s IX., fanden dieselben reichliche Verwendung. Im 18. Jahrhundert war es besonders der Herzog von Richelieu, der von diesen so unschuldig aussehenden Bonbons bei seinen Liebesabenteuern ausgiebigen Gebrauch machte. Seine Propaganda für die nach ihm benannten Pastillen hatte zur Folge, dass dieselben in den letzten Regierungsjahren Ludwig’s[S. 217] XV. Mode wurden[338]. Gerade in diese Zeit fällt die Affäre des Marquis de Sade in Marseille, bei der diese Bonbons eine fatale Rolle spielten. Auch die „Tablettes secrètes de Magnanimité“ der Madame Du Barry, das „Poudre de joie“, die „Seragliopastillen“ waren höchst wahrscheinlich cantharidenhaltig.

Die Canthariden sind ein gefährliches Mittel, da sie sehr leicht Entzündung der Niere, der Blase und der Harnröhre hervorrufen. Die durch sie erzeugten Erectionen kommen durch die entzündliche Reizung der Harnröhren- und Harnblasenschleimhaut auf reflectorischem Wege zu Stande. Eine Steigerung der Sexualität kann höchstens im Anfange der Wirkung beobachtet werden.[339]

Die Kosmetik erfreute sich ebenfalls im vorigen Jahrhundert einer besonderen Pflege. Auf diesem Gebiete gelangte der Charlatanismus zur höchsten Blüte. Und es waren oft wunderliche Blüten. So erhielt im Jahre 1769 eine Gesellschaft das Privilegium, an beiden Seiten des Pont-Neuf Vermietungsstände für Sonnenschirme zu errichten, damit die für den zarten Teint ihrer Haut besorgten Personen sich gegen die Sonnenstrahlen durch diese Schirme schützend, die Brücke überschreiten könnten[340]. Die Schönheitsmittel wurden so wahllos und in solchen Mengen angewendet, dass Casanova gewiss Recht hatte, wenn er — der von Zeit zu Zeit gern den Charlatan spielte — der Herzogin von Chartres, die an Acne des Gesichtes litt, die Anwendung kosmetischer Mittel verbot. Er verschrieb ihr milde Abführmittel — was gewiss sehr[S. 218] zweckmässig war — und die Waschung mit Wegebreitwasser[341], welches im vorigen Jahrhundert bei Hautentzündungen vielfache Verwendung fand.

Als Enthaarungsmittel erwähnt der Marquis de Sade das Rusma, das „dépilatoire turc, connue sous le nom de rusma“, das er in einer Anmerkung als „pierre minérale, atramentaire“ bezeichnet und aus Galatien stammen lässt. (Justine III, 120.) Das Rusma ist ein altes und sehr beliebtes orientalisches Enthaarungsmittel. Die „Pasta depilatoria“ oder „Rusma Turcorum“ (oder „Nurék Persarum“) wird hergestellt aus 2 Teilen Auripigment, 15 Teilen Calcaria viva und 2½ Teilen Weizenmehl. Das ist die Vorschrift von J. J. Plenck, einem berühmten Dermatologen des 18. Jahrhunderts.[342] Zu bemerken ist noch an dieser Stelle das grosse Interesse, welches der Marquis de Sade allen Gegenständen der Medicin und Anthropologie entgegenbringt. Er suchte sich darüber in allen ihm zugänglichen wissenschaftlichen Werken seiner Zeit zu unterrichten. Später werden wir noch erwähnen, dass seine Frau ihn während seines Aufenthaltes im Gefängnis stets mit Büchern versorgen musste. Dieser Gefängnisaufenthalt war wohl erst die Veranlassung, dass Sade sich über die mannigfaltigsten Dinge zu belehren suchte.

Eine merkwürdige Eigentümlichkeit des 18. Jahrhunderts waren die sogenannten falschen Jungfrauschaften, deren grosse Häufigkeit ausdrück[S. 219]lich hervorgehoben wird.[343] Man suchte durch adstringierende Mittel die Reste des Jungfernhäutchens künstlich wieder zusammenzubringen, überhaupt den Introitus vaginae zu verengern. Dieses Bestreben blickt gerade in Frankreich auf eine lange Geschichte zurück. In dem 13. Kapitel der Chirurgie des am Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts lebenden französischen Arztes Heinrich de Mondeville, dessen für die Kulturgeschichte Frankreichs eine reiche Ausbeute liefernden Schriften von J. Pagel im Urtext zum ersten Male herausgegeben wurden, findet sich folgende Anweisung zur Vortäuschung der Jungfrauschaft[344]: „Die Geschlechtsteile bedürfen einer doppelten Pflege: innen und aussen. Die innere Pflege haben Huren nötig, die in ihrem Geschäfte erprobt sind (antiquae), von ihnen insonderheit die, welche naturgemäss eine weite oder infolge des häufigen Coitus schlüpfrige und weiche Vulva haben, um denen, die mit ihnen zusammenliegen, als Jungfern oder doch wenigstens nicht als öffentliche Dirnen zu erscheinen. Zu dieser Pflege nehmen auch Mädchen, die nicht verheiratet, aber unseligerweise defloriert sind, ihre Zuflucht, um als unverfälschte Jungfern dazustehen, wenn es dazu kommt, sich mit dem von ihnen Erangelten im Ehebette zu vereinigen. Ihren Zweck suchen sie auf folgende Weise zu erreichen. Zu Pulver gestossenes Glas bringen sie in dem Augenblicke, wo es zu dem Coitus gehen soll, in die Vulva; die Folge davon ist, dass sie selbst und die Rute dessen, der mit ihnen den Coitus vollzieht, beblutet erscheint. Sonst bringe man in die[S. 220] Scheide Drachenblut und lege darüber Werg und Charpie, beides befeuchtet mit Regenwasser, in dem adstringirende Pflanzen, wie Rosen, Anthera, Sumach, Blutwegerich und dergl. abgekocht sind, oder man setze Blutegel an. Dabei aber sei man vorsichtig, dass sie nicht hineinschlüpfen. Sind diese entfernt, entstehen Schorfs an den Seitenwänden der Vulva. Diese reissen beim Coitus auf. Es fliesst Blut und man besudelt sich damit. Auch nehme man ein Stück Schwamm, benetze es mit beliebigem Blut oder fülle eine Fischblase mit Blut, bringe sie hinein und wasche noch die Vulva aussen mit dem Safte von der grossen Schwarzwurz“[345]. Derartige Praktiken waren im 18. Jahrhundert wieder an der Tagesordnung. Wir haben oben über das „Jungfrauenwasser“ der Madame Gourdan berichtet. Auch Sade kennt verschiedene Mittel zur Wiederherstellung der pucelage. Delbène rühmt ihre „pommade“, mit der sie die eben deflorierte Laurette wieder reparieren will (Juliette I, 171) und giebt der demselben Schicksal verfallenen Juliette eine „Myrthenextraktpomade“, mit der dieselbe sich 9 Tage lang einreiben soll, um am zehnten wieder eine Jungfrau zu sein (Juliette I, 179). Auch die Duvergier benutzt eine ähnliche Jungfrauensalbe. (Juliette I, 187).[346]

Ueberhaupt war diese ganze Zeit, ein volles Saeculum, die „goldene Zeit für alle Toilettenkünste und es ist merkwürdig, dass die Schminke und alle hierher ge[S. 221]hörigen Utensilien herrschen konnten, obwohl gerade damals die Frische des Teints, der ‚Teint de couvent‘ so ausserordentlich geschätzt und begehrt war“[347]. Es gab damals Hunderte von Pasten, von Essenzen, von Schönheitswässern und Schönheitspflästerchen. Besonders wichtig waren die Schminken, vor allem das Rot, „Le grand point est d’avoir un rouge, qui dise quelque chose.“ Für den Wert, den die Frauen auf das Schminken legten, zeugt folgende von Mercier erzählte Anekdote aus der Schreckenszeit.[348]

(Die Marquise klingelt)

Marton

Gnädige Frau —

Marquise

Marton ich stehe auf —

Marton

Hier bin ich, gnädige Frau —

Marquise

Mein Kind, was giebt’s Neues?

Marton

Gnädige Frau, man spricht von einem Aufstand der diesen Morgen losbrechen soll —

Marquise

Warum nicht gar?

Marton

Man spricht von Plünderung, von Zerstörung, von Weiberraub, ja sogar —

Marquise

Weiberraub ja sogar — ei, Kind, du scherzest - Himmel, wenn man —

[S. 222]

Marton

Ach! ich habe überall gehört, dass die Ungeheuer die Frauen töten werden, und man sagt, dass diejenigen, die ihnen gefallen, als unglückliche Opfer ihrer Lüste —

Marquise (sehr lebhaft).

Ich zittre — Marton — kleide mich doch an — Marton — mein Rot! geschwind mein Rot! Himmel! wie ich aussehe — bleich — niedergeschlagen — ich sehe scheusslich aus — sie werden mich töten!.... —

Die Männer trieben die gleichen Toilettenkunststücke, schminkten sich ebenfalls, vergossen „künstliche Thränen“ und enthaarten auf Verlangen der Geliebten den ganzen Körper. „C’est ainsi que M. le duc d’Orléans au témoignage de M. d. Valencay qui lui donna le chemise, se présenta dans le lit de Mme. de Montesson“[349]. Eine grosse Errungenschaft des 18. Jahrhunderts auf kosmetischem Gebiete war das Bad. Die Badeeinrichtungen bildeten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einen mit grossem Luxus ausgestatteten Bestandteil vornehmer Häuser und wurden hauptsächlich zu kosmetischen Bädern benutzt. Die Heldinnen Sade’s steigen ebenfalls nach vollbrachtem Tages- oder Nachtwerk ins Bad.

Die Schriften des Marquis de Sade gewähren uns ein erschreckendes Bild von der Häufigkeit der auch einen gewissen Zusammenhang mit der Kosmetik aufweisenden Abortiv- und Praeventivmittel im 18. Jahrhunderte. Jene Zeit brachte die Ver[S. 223]hältnise hervor, welche zu der gegenwärtigen Abnahme der Bevölkerungsziffer in Frankreich geführt haben. Aus Galliot’s Statistik, die mit dem Jahre 1789 beginnt, kann man die grosse Ausdehnung der Fruchtabtreibung in Frankreich entnehmen. Er schliesst seine Resultate mit den Worten: „On se plaint de tous côtés, en France, de la décroissance de la population. On a fait récemment de nombréuses lois pour protéger l’enfant; nous venons à notre tour demander une protection pour le foetus.“[350] Das vorige Jahrhundert kannte denn auch bereits alle Mittel, welche noch heute angewendet werden, um die Conception zu verhindern oder die Abtreibung der Frucht zu bewirken. Höchst charakteristisch ist jene Stelle in der „Philosophie dans le Boudoir“, wo Madame de St.-Ange auf eine Frage Eugeniens die anticonceptionellen Mittel aufzählt (Philosophie dans le Boudoir I, 99) und neben „éponges“, die sich die Frauen in die Vagina einführen und „condomes“, deren sich die Männer bedienen, als ein vorzügliches Mittel auch die Paedicatio empfiehlt, die am besten den malthusianischen Ideen des Jahrhunderts entspreche. Ist aber das „Unglück“ geschehen, so wissen die Helden und Heldinnen Sade’s Mittel und Wege, um die Frucht im Mutterleibe zu töten. Sade erwähnt die Sabina als ein vortreffliches Abortivum. (Juliette III, 204). Aber ein noch sicheres und gefahrloseres Mittel als Sabina, das zudem „den Magen nicht angreift“ ist dasjenige, welches die von ihrem Vater schwangere Juliette anwendet. Sie lässt sich nämlich von einem berühmten Accoucheur eine viermonatliche Frucht vermittelst einer Nadel abtreiben. (Juliette III, 212). Die Durand ver[S. 224]kauft Emmenagoga m diesem Zwecke (Juliette III, 229).

Als letzter Gruppe von sexuellen Mitteln gedenken wir noch der antivenerischen Geheimmittel, mit welchen das Frankreich des vorigen Jahrhunderts in grosser Zahl überschwemmt wurde. Denn trotz aller Ausschweifungen in Venere war die Furcht vor der Syphilis sehr gross, und die Charlatane fanden ein nur zu williges Publikum für ihre Betrügereien. Wir wissen nicht, ob der Plan für ein Bordell mit der Aufschrift: „Du plaisir pour de l’or et santé garantie“[351] zur Ausführung gekommen ist Jedenfalls war die Vorsicht in dieser Beziehung gewiss gerechtfertigt. Casanova hatte es sich zum Prinzip gemacht, niemals in einem fremden Bette zu schlafen.[352] Juliette untersucht ihre Kunden stets genau auf syphilitische Symptome hin. Ein Mann, der mit schwerer Syphilis behaftet ist und der daher als Spezialität seiner Wollust diejenige gewählt hat, die von ihm gebrauchten Weiber anzustecken, wäre beinahe der Juliette gefährlich geworden. (Juliette I, 238–240). Im „Espion anglais“ (Bd. II, S. 98) wird erzählt, wie ein Mann seinen Rivalen aus Rache syphilitisch infizierte damit dieser die Krankheit der früheren Geliebten mitteile. Eine ganz ähnliche Idee führt Sade am Ende der „Philosophie dans le Boudoir“ aus. Dort lässt man einen syphilitischen Knecht holen, der[S. 225] vor den Augen der triumphierenden Scheusale die unglückliche Madame de Mistival infizieren muss, wonach Dolmancé ausruft: Parbleu, voici une inoculation, comme Tronchin n’en fit de ses jours. (Philosophie dans le Boudoir II, 183–184).

Medicamentöse Schutzmittel gegen Syphilis wurden vorzüglich in den Gewölben des Palais-Royal angepriesen. Es gab auch Manche, die ohne Scheu dieselben in Flugschriften bekannt machten und ihre Betrügerei durch Anschläge an den Mauern, durch Verteilung von Karten oder Zetteln auf der Strasse feilboten.[353]

Wir haben früher schon den Charlatan Agirony und das „Spezificum des Doktor Préval“ erwähnt. Der Letztere ist wohl der berüchtigste Charlatan des 18. Jahrhunderts gewesen, dessen Persönlichkeit um so mehr Interesse erweckt, als Guilbert de Préval derjenige war, welcher Rétif de la Bretonne in die Geheimnisse der Pariser Prostitution und die „Artes amandi“ des Palais-Royal einweihte, ein Mensch, der nur im schmutzigsten Sumpfe sich wohl fühlte.[354] Die Geschichte dieses Erzcharlatans wird im „Espion anglais“ ausführlich erzählt.[355]

Préval studierte seit 1746 in Caën, wo er dann eine umfangreiche Praxis ausübte, machte später noch anatomische Studien zu Paris und promovierte dort im[S. 226] Jahre 1750. Er beschäftigte sich nunmehr 20 Jahre mit der Therapie der Syphilis und entdeckte nach Ablauf dieser Zeit ein „unfehlbares Specificum“ gegen diese Krankheit, mit welchem er mehr wie 8000 (!) Menschen heilte. Das Mittel besass übrigens die Kraft, auch alle übrigen „Haut- und Blutkrankheiten“ zu heilen. Selbst bis „nach Indien, Amerika und — Martinique“ drang der Ruf dieses Mittels wo es „Pians und Scorbut“ zur Heilung brachte. Gleichzeitig war dieses Mittel, eine sogenannte „eau fondante“[356], ein zuverlässiges Vorbeugungsmittel der Syphilis. Endlich diente es sogar, wie das heutige Tuberkulin bei Tuberkulose, zur Diagnose der Syphilis, wozu es z. B. Madame Gourdan benutze. Die Ankündigung dieses Mittels machte ausserordentliches Aufsehen und „brachte alle Köpfe der jungen damals am alten Hofe befindlichen Wüstlinge in Aufruhr.“[357] Man liess den Herrn Préval kommen, überhäufte ihn mit Schmeicheleien, wie sie kaum dem Entdecker einer neuen Welt zu Teil geworden wären, verlangte aber, dass er selbst in Gegenwart von Zeugen den nötigen Versuch machen sollte, die Wirksamkeit des von ihm angegebenen Mittels zu beweisen. Préval ging darauf ein. Im Juni 1772 geschah das Unglaubliche. In Gegenwart vornehmer Herren vollzog unser Charlatan an einer exquisit inficierten Dirne, die im Spital der barmherzigen Schwestern behandelt wurde, einen Coitus, nachdem er zuvor sein berühmtes Mittel eingenommen hatte.[358] Er blieb gesund, wobei aber nicht mitgeteilt wird, ob eine[S. 227] frühere, doch sehr wahrscheinliche Syphilis dieses Lebemannes Ursache dieser Immunität war. Parent-Duchatelet[359] „könnte noch die Zeugen dieser merkwürdigen Szene nennen“, allein der Rang, den sie im Staate einnahmen, „befahl ihm Stillschweigen.“

Wir befinden uns nicht mehr in dieser Lage und nennen die Namen. Es waren der Herzog von Chartres, der Graf de la Marche, der Marschall Richelieu, der Herzog von Nivernois und andere „Cavaliere“. Auch der Herzog von Zweibrücken liess ähnliche Versuche anstellen, die günstig ausfielen. Préval wurde vom Pariser Magistrat aufgefordert, die Syphilitischen im Bicêtre mit seinem Mittel zu behandeln. Es wurden ihm zu diesem Zweck 6 Männer und 4 Frauen zugewiesen. Von diesen Dingen bekam die medizinische Fakultät Kenntnis und trat zu einer merkwürdigen Sitzung am 8. August 1772 zusammen, in der Préval aus der Liste ihrer Mitglieder gestrichen wurde, mit 154 gegen 6 Stimmen. Er fing darauf mit der Fakultät einen Prozess an und verklagte dieselbe vor dem Pariser Parlament. Nachdem dieses im Jahre 1777 den Beschluss der Fakultät aufgehoben hatte, wurde derselbe nach neuerlicher Weigerung der letzteren am 13. August 1777 bestätigt und Préval ausserdem noch zu einer Geldstrafe von 3000 Francs verurteilt.

Wenn man auch dem Beschlusse der Fakultät als solchem zustimmen kann, so ist doch die Begründung desselben sehr fragwürdiger Natur. An einer Stelle derselben heisst es nämlich: „Es wäre Sache der Moral, zu prüfen, bis zu welchem Punkte eine Erfindung erlaubt sein könne, welche kein anderes Ziel habe, als[S. 228] den natürlichen Reiz des Lasters noch durch den der Straflosigkeit zu verstärken. Wir wissen oder glauben es doch zum mindesten, dass ein Schutzmittel gegen die in Rede stehende Krankheit eine Liederlichkeit veranlassen würde, wodurch die Bevölkerung und bürgerliche Ordnung, wir könnten auch hinzusetzen, die Reinheit der Sitten leiden müssten.“ Schon Girtanner, der sich in seinem Werke überall als einen rigorosen Moralisten erweist, bemerkt dazu: „Der Erfinder eines solchen Mittels, verdiente nicht Verachtung, sondern den Dank des menschlichen Geschlechts, weil dadurch, in kurzer Zeit, die Lustseuche ganz von der Erde vertilgt werden müsste. Und welcher Menschenfreund wünscht nicht, dass es möglich wäre, eine so glückliche Revolution zu bewirken!“[360] Parent-Duchatelet, der diesem Gutachten der Pariser medizinischen Fakultät ein enthusiastisches Lob zollt, wird von Proksch mit Recht getadelt.[361] Denn man kann das Laster verdammen, ohne der Menschheit die Schutzmittel vor Krankheiten zu entziehen, und wenn die Furcht vor Krankheiten der einzige Beweggrund der Tugendhaftigkeit sein soll, dann dürfen wir diese Tugend nicht allzuhoch einschätzen.

Das Hauptschutzmittel gegen die venerischen Ansteckungen war im 18. Jahrhundert wie — heute: der Condom. Wir haben bereits mehrere Male auf den[S. 229] weit verbreiteten Gebrauch dieses Praeservativs hingewiesen, von dem in jedem Bordell, ein „ganzes Arsenal“ vorhanden war. Auch die alleinwohnenden Prostituirten betrieben den Verkauf dieser „redingotes d’Angleterre“. Als Casanova in Marseille ankam und nach seiner Gewohnheit die erste Erholung von den Reisestrapazen bei einer Dirne suchte, wobei er seine Furcht vor Ansteckung äusserte, bot ihm das Mädchen „englische Hüllen“ an, welche „Beruhigung gewähren“. Aber er mochte sie nicht, da sie „von zu geringer Qualität waren.“ Darauf offerierte die Schöne „feinere zu drei Francs das Stück“, welche „die Händlerin nur dutzendweise verkaufte“ worauf Casanova sich bereit erklärte, das ganze Dutzend zu nehmen und sich zu diesem Behufe ein paar Specimina von einer kleinen 15jährigen Dienerin „anpassen“ liess.[362]

Der Condom wurde von dem unter Karl II. lebenden Londoner Arzt Dr. Conton erfunden, ist daher eigentlich „Contom“ zu nennen. Nach der Angabe dieses Arztes wurde diese zum Bedecken des männlichen Gliedes vor dem Beischlaf bestimmte Hülle aus den Blinddärmen der Lämmer bereitet. Zu diesem Behufe ward das entsprechende Darmstück in gehöriger Länge aus den geschlachteten Lämmern herausgeschnitten, getrocknet und dann durch Reiben mit einem feinen Oele und Kleien schlapp, weich und geschmeidig gemacht.[363]

Proksch macht über die weitere Geschichte und Beurteilung dieser Erfindung sehr interessante Mitteilungen und constatiert, dass in der Neuzeit „das hypermoralische Toben gegen den Condom“ beinahe[S. 230] ganz aufgehört hat. Die Aerzte erkennen den hohen Wert der Condome als Mittel zur Verhütung der venerischen Krankheiten fast einstimmig an. „Die meiste Anerkennung der Schutzkraft der Condome kam, freilich wider Willen, von einer Seite, von welcher man es gar nicht vermutet hätte.“ Im Jahre 1826 erschien nämlich ein päpstliches Breve (Leo XII.), welches diese Erfindung verdammte, „weil sie die Anordnungen der Vorsehung hindert, welche die Geschöpfe an dem Gliede strafen wollte, mit dem es gesündigt.“ Proksch übt an diesem Breve eine vernichtende Kritik, auf die wir den Leser verweisen. — „Die Condome aus Blinddärmen der Lämmer, aus Fischblasen und Goldschlägerhäutchen sind weniger zuverlässig, da diese tierischen Membranen sehr bald vertrocknen, brüchig und rissig werden, von kleinen Insekten an- oder durchfressen werden, und zudem fast gar keine Dehnbarkeit im trockenen Zustande besitzen, sodass sie bei einer geringen Gewaltanwendung entzwei gehen können.“[364] Proksch, dieser ernsthafte und gelehrte Forscher auf dem Gebiete der venerischen Krankheiten, hat aber durch sehr exakte Versuche nachgewiesen, dass die Condome aus Kautschuk die sichersten Schutzmittel gegen alle durch naturgemässen Beischlaf erworbenen venerischen Krankheiten sind.[365] Die moralischen Einwände, welche man[S. 231] gegen den Gebrauch dieser Condome erhoben hat, sind nicht stichhaltig für denjenigen, der weiss, dass Alles in der Welt gemissbraucht werden kann, und dass das gesellschaftliche Wohl höher gestellt werden muss als die Bedenken des Einzelnen. Alle diese Einwürfe hat Proksch im humansten Sinne widerlegt. Der Arzt, der die Gesundheit des einzelnen Menschen, der Familie und der ganzen Gesellschaft zu schützen berufen ist, kann nicht den Standpunkt eines Theologen einnehmen, der sich, wie wir zugeben, auch vertheidigen lässt. Er muss auch einen Missbrauch seiner Ratschläge von sich abweisen, der ihm doch gewiss nicht zur Last fällt. „Sollte durch den Condom einer jeden erdenklichen Unreinlichkeit und dem triefenden Schmutz einerseits und andrerseits den hirnverbrannten Einfällen eines jeden Wüstlings Rechnung getragen werden, dann müsste er freilich nicht nur die Geschlechtsteile, sondern auch den ganzen Körper überziehen.“ (Proksch.)

Endlich kommen wir zu einer letzten Gruppe von Aphrodisiaca. Das sind die Surrogate des Mannes, wie wir sie nennen möchten, die künstlichen Apparate, welche der Frau die Abwesenheit des Mannes ersetzen[S. 232] sollen, vor allem die ledernen Phalli oder Godmichés, die „Consolateurs“, wie sie bei der Gourdan heissen die „bijoux indiscrets“, „bijoux de religieuse“ (englisch: Dildo, indiscreet toy; italienisch: Cazzo, Parapilla), deren Gebrauch aus dem Culte des Priapus entsprungen ist.[366] Diese schon seit dem Altertume[367] in Gebrauch befindlichen künstlichen Phalli erlangten im 18. Jahrhundert wieder eine weite Verbreitung, nicht blos in Frankreich[368], sondern auch in Deutschland, wo sie von den vornehmen Damen als „Samthanse“ bezeichnet wurden.[369] Sade beschreibt sogar automatisch wirkende Godmichés (Juliette V 328), sowie kunstvoll mit verschiedenen scharfen Spitzen versehene Instrumente, wie sie z. B. die Tribade Zatta gebraucht (Juliette VI 124). Wie wir auf einer Abbildung in der „Philosophie dans le Boudoir“ (Band II,[S. 233] 31) ersehen, waren die Godmichés des vorigen Jahrhunderts ähnlich konstruiert wie diejenigen, welche noch heute in Frankreich Verwendung finden, und welche Garnier folgendermassen beschreibt:[370] „On en fabrique ici (à Paris) en caoutchouc rouge durci, parfaitement imités, que l’on vend secrètement à des adresses connues de toutes les intéressées. Le mécanisme en est des plus ingénieux. Ils se gonflent à volonté et du lait ou tout autre liquide, placé à l’intérieur, s’échauffant au contact du vagin, s’échappe et se répand au moment psychologique, pour rendre l’illusion plus complète.“[371] Diese Dinge wurden übrigens nicht blos im Amor lesbicus gebraucht, sondern sogar auch zwischen Mann und Frau, w. z. B. Madame de St. Ange es zur Paedicatio des Dolmancé benutzt (Philosophie dans le Boudoir II, 31).

Garnier meint, dass die sogenannten „japanischen Kugeln“, welche in Japan, China und Indien seit alter Zeit von wollüstigen Frauen benutzt wurden, erst seit 1819 nach Europa gelangt und damals zuerst im „Dictionnaire des sciences médicales“ beschrieben wor[S. 234]den seien.[372] Das ist ganz unrichtig. Wie wir oben (S. 130) zeigten, waren diese „pommes d’amour“ schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich bekannt.

21. Gastronomie und Alkoholismus im 18. Jahrhundert.

„Sine Baccho et Cerere friget Venus“. Gut Essen und gut Trinken sind auch Aphrodisiaca, die nicht zu verachten sind. Dies weiss der Marquis de Sade ganz genau. Gleich im Anfang der Juliette ruft Delbène nach einer Orgie aus: „Déjeunons, mes amies, restaurons nous; lorsqu’on a beaucoup déchargé il faut réparer ce qu’on a perdu.“ (Juliette I, 10). „Nur viel essen macht tüchtig zur physischen Liebe“ sagt Noirceuil (Juliette II, 72). Die „diners énormes“ sind daher recht häufig in Sade’s Romanen (Juliette II, 268). Clairwil ist ebenso „capriciös in den Ausschweifungen der Tafel wie in denen des Bettes, in beiden gleich bizarr und unmässig, nährt sich nur von Geflügel und Wildpret, trinkt Zucker- und Eiswasser, viel Liqueur und Kaffee. Elle mangeait excessivement.“ (Juliette II, 151).

„Trinken wir, sagt Rodin, ich liebe es, mich durch einen tüchtigen Trunk auf die Freuden der Liebe vorzubereiten“ (Justine I, 332). Ambroise sagt bezeichnend: „Die Kräfte, welche Bacchus der Venus leiht, kommen immer der letzteren zu Gute“ (Justine III, 126). Zu der fürchterlichen Orgie beim Minister Saint-Fond[S. 235] präparieren sich die Teilnehmer durch die „ausgesuchtesten Weine und die opulentesten Speisen“ (Juliette II, 15), und auch während der Orgien lässt man sich zu den Unmässigkeiten des Comus und der Cypris durch „fremde Weine elektrisieren“ (Juliette III, 62). Juliette und die Königin Karoline von Neapel trinken zwischen den Liebesszenen zwei Flaschen Champagner (Juliette IV, 18), was die Tribade Zanetti damit begründet, dass man „trinken muss après avoir f....“ (Juliette VI, 161). Ein entsetzlicher Vielfrass und Vielsaufer ist der Graf Gernande, der nach der kategorischen Erklärung: „Die Unmässigkeit ist meine Gottheit, ihr Bild steht in meinem Tempel neben dem der Venus“ und nach dem Vorbilde des von ihm zitierten „Gastmahl Trimalchio’s“ 12 Flaschen Wein verschiedener Sorten, 2 Flaschen Liqueur, 1 Flasche Rum, 2 Gläser Punsch und 10 Tassen Kaffee trinkt (!!), bevor er sich an die Freuden der Liebe macht (Justine III, 231–232).

Das 18. Jahrhundert war „in Wahrheit das Jahrhundert der grossen Küche und der grossen Köche“ (le siècle de la grande cuisine et des grands cuisiniers).[373] Jedermann war in jener Zeit „Gourmand“, vorzüglich in der Aristokratie, wo man „so vortreffliche Mahle zu bereiten wusste.“ Die Indigestion war oft die „Strafe der grossen Esser“. Der Feldzug des Prinzen Soubise in Deutschland wurde bekannter „durch seine opulenten Diners als durch seine Siege“. Der Prinz liebte eine besonders raffiniert zubereitete Omelette, die 100 Thaler kostete.[374] Voltaire sprach sich sehr scharf gegen die überhandnehmenden gastronomischen Aus[S. 236]schweifungen aus,[375] die nach seiner Ansicht den Geist ruinierten. Die alkoholischen Exzesse, welche unter der Regentschaft fast jeden Abend im Palais-Royal stattgefunden hatten,[376] bürgerten sich unter der Regierung Ludwigs XVI. wieder ein. Die Weine aller Länder wurden gepflegt und eingeführt und in regelmässiger Ordnung beim Mahle gegeben, so der Madeira, der „den Laufgraben eröffnete, die französischen Weine, welche die Gänge unter sich teilten und die spanischen und Kapweine, welche das Werk krönten“.[377] Nach Brillat-Savarin waren die Chevaliers und die Abbés die grössten Feinschmecker. Die „déjeuners littéraires et philosophiques“ wurden Mode, die aber, wie Paul Lacroix bemerkt, ebenso sehr der Gastronomie gewidmet waren.[378]

Präsident Henault, der intime Freund der Madame Du Deffand, war bekannt durch seine vortrefflichen Diners. Voltaire redet ihn einmal an:

Henault, fameux par vos soupers!

Rétif beschreibt in den „Nuits de Paris“ ein solches „Souper célèbre bei Grimod de la Reynière fils[379] und berichtete über mehrere „pikante“ Soupers, denen er beiwohnte u. a. bei dem Charlatan Guilbert de Préval, wo der Dichter Robé seine cynischen Poeme vorlas, bei Herrn de Morfontaine und beim Grafen de Gémonville.[380] Ganz wie heute nahmen schon im 18. Jahrhundert die Lebemänner mit ihren „Freundinnen“ ein „vorbereitendes[S. 237]“ Souper ein. Casanova schildert ein solches Souper in Marseille.[381]

Wie in der Schreckenszeit die alkoholischen Ausschweifungen zur Verwilderung der Massen erheblich beitrugen, schildert Reichardt[382]. „Der sehr besonnene und von jeder Uebertreibung entfernte Geschichtschreiber fügt der Darstellung von den blutigen Septembertagen, indem er von den von Wut, Blut und Branntwein trunkenen, gedungenen Mördern spricht, die mit Säbel und Beil, mit Piken, Bajonetten und Kolben unter Anstimmung des Marseiller Marsches ihre Landsleute und Mitbürger wie Feinde, wie wilde Tiere mordeten, folgende Note hinzu: Es ist unwiderleglich dargetan, dass die Getränke, welche man den gedungenen Mördern reichte, mit einem besonderen Mittel vermischt waren, welches eine schreckliche Wut erzeugte, und diejenigen, die es verschluckten, gar nicht wieder zur vernünftigen Besinnung kommen liess. Ein Lastträger, der zum Morden im Kloster Saint-Firmin gedungen war, sagte: Sie haben mir dort was Rechtes zu trinken gegeben. Aber ich habe dafür auch ein tüchtig Stück Arbeit vollbracht, mehr als zwanzig Priester hab’ ich für mein Teil allein umgebracht. (Histoire de la Révolution de France par deux amis de la liberté)“.

Merkwürdig ist, dass der Marquis de Sade in seinen Romanen bereits den Typus des Vegetarianers und des Antialkoholisten gezeichnet hat. Der erste Codex des modernen Vegetarianismus war bekanntlich J. Newtons’s Schrift „Return to nature or defence of vegetable regime“, die 1811 in London erschien. Sade führt in Bandole einen typischen Vege[S. 238]tarianer und Antialkoholisten vor, der allerdings diese Enthaltsamkeit aus sexuellen Gründen übte. Er isst wenig, und nur Vegetabilien, trinkt nur Wasser. Ja, dieser Bandole ist bereits ein Vorläufer von Leopold Schenk. Zwar entwickelt er keine vollständige „Theorie Schenk“, aber er nimmt an, dass die Frau nur dann geschwängert wird, wenn sie eine gesunde und leichte Nahrung geniesst. Auch Zamé in „Aline et Valcour“ ist enragierter Vegetarianer, der sich des Fleischgenusses „par humanité et par régime“ enthält. Und er weist mit Stolz darauf hin, dass die Bewohner seiner Insel, die sich nur von Früchten ernähren, sich einer kräftigen Gesundheit erfreuen. Die jungen Leute sind stark und fruchtbar, der Geist gesund und frisch. Ihr Leben verlängert sich weit über das gewöhnliche Ziel hinaus, und sie werden durchaus glücklich.[383]

22. Diebstahl und Räuberwesen.

Die Tatsache, dass Prostitution und Verbrechen unzertrennlich mit einander verknüpft sind, tritt uns auch in den Romanen des Marquis de Sade deutlich entgegen. Fatime, die 16jährige Freundin Juliettens, übt das Bestehlen ihrer Kunden als „Spezialität“ zu der einer der „berühmtesten Diebe“ der Vorstadt La Vilette, Dorval, sie angeleitet hat. (Juliette II, 193). Dieser wird durch seine Spione über alle in Paris ankommenden Fremden unterrichtet, die er dann durch seine Dirnen verführen und berauben lässt. Er empfindet einen besonderen sexuellen Genuss, wenn er bei der Ausfüh[S. 239]rung solcher Diebstähle zugegen sein kann. Seine Theorie und Rechtfertigung des Diebstahls werden wir später besprechen. — Die Hauptleidenschaft der venezianischen Tribade Zanetti ist ebenfalls der Diebstahl. Derartige Persönlichkeiten, für die der Diebstahl eine Wonne ist, kommen noch mehrere vor.[384]

Ungeheuerlich war ja die Geldgier im Frankreich des 18. Jahrhunderts, was die Zeugnisse aller Zeitgenossen beweisen. Rameau’s Neffe erklärt: „Es giebt kein Vaterland mehr; von einem Pol zum andern sehe ich nur Tyrannen und Sklaven; man mag sich stellen wie man will, man entehrt sich, wenn man nicht reich ist. Gold ist Alles und das übrige ohne Gold ist nichts. Sobald ich einen Louisdor besitze, stelle ich mich vor meinen Knaben hin, ziehe das Goldstück aus meiner Tasche, zeige es ihm mit Verwunderung, hebe die Augen gen Himmel und küsse das Geld“. Graf Tilly sagt in seinen Memoiren: „C’était connaître un siècle dont le devise pourrait être: laissons là les parchemins: nous parlerons un autre jour de vos vertus. Montrez moi de l’or“. Das Geld ist der „universelle Motor“ dieser Zeit geworden, wie Madame du Hausset sagt[385]. Die Räuber und Diebe, von denen es auch in Sade’s Romanen wimmelt, bil[S. 240]deten die wirksame Staffage der Revolutionszeit und waren im engsten Bunde mit der Prostitution in der Hauptstadt und in den Provinzen[386]. Seit 1789 nahmen Diebstahl, Raub und Mord einen immer steigenden Aufschwung und blieben fast während der ganzen Revolutionszeit an der Tagesordnung. Schon in der ersten Hälfte des Jahres 1792 waren in Paris „nächtliche Diebstähle und Morde zahlreicher als gewöhnlich“ geworden, so dass die Massnahmen der Wachsamkeit verschärft und vervielfältigt, die Gefängnisse und deren Dienstmannschaften vermehrt werden mussten. Der 10. Aug. und die Septembertage gaben beiden Arten des Verbrechens einen entsetzlichen Impuls. Die Schreckenszeit war begreiflicherweise nur dazu angethan, die Verbrechen noch häufiger und die Bestrafung noch seltener zu machen. Morde wurden ohne alle Scheu, Einbrüche und Diebstähle jeder Art mit der grössten Frechheit ausgeführt. Aus der Umgegend strömten immer neue „Schwärme von Spitzbuben“ nach Paris, die hier „in den zahllosen Freudenmädchen willkommene Hehlerinnen und Helferinnen fanden!“[387] Zugleich klagte man über den Mangel an Sicherheit auf den Landstrassen. Unter anderem wurden die Umgebungen von Mitry im Departement der Seine und Marne auf das Unverschämteste von Räuberbanden beunruhigt, die alles plünderten, was ihnen aufstiess und sogar durch öffentliche Anschläge zum Eintritt in ihre Reihen einluden, indem sie jedem neuen Genossen 50 Livres für den Tag in Aussicht stellten! In den ersten Monaten[S. 241] des Jahres 1796 gestaltete sich der Zustand in Paris zu einem geradezu unerträglichen. Die Verbrechen vermehrten sich dermassen, dass „tagtäglich Diebstähle und Morde begangen wurden“. Das Publikum erklärte laut, dass „die Ziffer der Spitzbuben und Betrüger diejenige der ehrbaren Leute überstiege“. Zu Anfang dieses Jahres lagerten zahlreiche Räuberbanden um Paris. Eine Menge von Raub- und Mordthaten, nicht selten mit „unerhörter Grausamkeit ausgeführt“ verbreiteten Angst und Schrecken. Ein gewisser Bourdroux war besonders berüchtigt als Führer einer solchen Bande. Die Ueberfälle von Seiten der Räuberbanden „geschahen meist mit unerhörter Keckheit, die Häuser wurden förmlich erstürmt, die Insassen sämtlich auf grässliche Weise ermordet, und dann erst die Plünderung vollzogen“.[388]

Als Gründe dieser trostlosen verbrecherischen Zustände von Paris und Umgegend bezeichnete damals ein offizieller Bericht: die Entartung der Sitten; die Fülle öffentlicher, den Lustbarkeiten und der Liederlichkeit gewidmeter Orte; die Schlupfwinkel der Prostitution, zumal die der niedrigsten Klasse, deren Inhaberinnen meist mit den Banden der Spitzbuben und Gauner in Verbindung ständen, und deren Besucher ausgeraubt und dann selbst zu Diebstahl und Raub angelernt würden; ferner die zahlreichen Volksbälle, die ebenfalls Schulen der Faulheit, der Liederlichkeit und des Gaunertums seien; die Spielhäuser.[389]

In der Bevölkerung wurde jeder Sinn für die öffentlichen Interessen durch die Unsicherheit der örtlichen und privaten erstickt; alle Unterhaltung drehte sich nur[S. 242] um die neuesten Raub- und Mordfälle. Die Straflosigkeit der Verbrechen „reizte zur Nachahmung des bösen Beispiels oder zerstörte alle Begriffe von Recht und Unrecht, von Sein und Haben, von Mein und Dein. In dem Meere der allgemeinen Verderbnis ging jeder Anflug von Schuldbewusstsein zu Grunde“. Die Advokaten machten sich aus Eitelkeit und Schönrednerei zu Verfechtern des Lasters und des Verbrechens. „Der Pranger war ein Triumph“. Weiber benahmen sich am Pranger gegen „alle Zuschauenden oder Vorübergehenden nicht nur in ihren Zurufen, sondern auch in ihren Gebärden und Handlungen so überaus schamlos, frech und gemein, dass man schliesslich anordnen musste: allen ausgestellten Weibern die Hände und die Röcke festzubinden!“ Schmidt betont besonders die „grauenhafte Thatsache“, dass selbst von vielen Leitern der Revolution ein Teil der blutigen und unblutigen Formen des Verbrechens öffentlich gelehrt und empfohlen, der andere heimlich geübt und geduldet wurde. „Gäbe es eine vollständige Statistik der Verbrechen in Frankreich, während der Revolutionszeit: man würde sicher nach allen Richtungen hin zu schaudererregenden Ziffern kommen.“[390]

Nach dieser Schilderung wird man die Häufigkeit der Diebstähle und Räubereien in Sades Romanen verstehen.

[S. 243]

23. Der Giftmord.

Auch der Giftmord schleicht im Gefolge der Prostitution und sexueller Ausschweifungen. Schon im alten Rom war der Dirnenstadtteil Suburra zugleich der Aufenthaltsort der Giftmischerinnen und Gifthändlerinnen. Und es ist kein Zufall, dass berüchtigte Giftmischerinnen, wie die Brinvilliers und die Voisin geschlechtlich ausschweifende Weiber waren. Sade, mit seiner feinen Kenntnis aller Verhältnisse des menschlichen Geschlechtslebens, hat diesen Zusammenhang durchaus erfasst und in der Schilderung seiner Typen zum Ausdruck gebracht. Höchst anschaulich malt er die Wonne und die Wollust der Giftmischerei aus, die eine ungeheuere sexuelle Befriedigung gewährt. (Juliette III, 214.) Auch ist der Giftmord wegen seiner Unauffälligkeit den anderen Arten der Tötung vorzuziehen. Verneuil sagt: „Kein gewaltsamer Akt! Der Tod überrascht unter Deinen Augen die betreffende Person, ohne Lärm, ohne Skandal, kaum dass Du es merkst. O Justine! Justine! es ist eine herrliche Sache, das Gift! wie viel Dienste hat es schon geleistet! wie viel Leute bereichert, von wie viel unnützen Wesen die Welt befreit!“ (Justine III, 335). Die im Faubourg Saint-Jacques wohnende Giftmischerin Durand ist ein erotisches Scheusal par excellence. (Juliette III, 220 ff.) Sade hat sie deutlich als krankhaft entartete Persönlichkeit geschildert. Er führt uns einen hysterischen Anfall der Durand vor, die mit ihrer kalten, berechnenden Grausamkeit, mit ihrem cynischen Atheismus, mit ihrer kolossalen sexuellen Erregbarkeit das Bild der klassischen Giftmörderin bietet. Sie besitzt einen ganzen[S. 244] Garten mit Giftpflanzen und eine grosse Zahl fertiger Gifte, Emmenagoga, Aphrodisiaca und Antiaphrodisiaca. Ihre Hauptgifte waren das „poudre du crapaud verdier“, mit dem ein Mädchen in coitu vergiftet wird, damit seine krampfhaften Zuckungen dem Coitirenden den höchsten Grad der Wollust bereiten, die „chair calcinee de l’engri, espèce de tigre d’Ethiopie“, mit der ein junger Mann aus der Welt geschafft wird, das „Königsgift“ (poison royal), durch welches nach Sade unter Ludwig XV. viele Mitglieder der königlichen Familie vergiftet wurden. Ferner vergiftete Nadeln und Pfeile, verschiedene Schlangengifte („Cucurucu“, „Kokol“, „Polpoch“, „Aimorrhois“). Auch der Minister Saint-Fond betreibt Giftmord im Grossen, ebenso Noirceuil, der der Brinvilliers einen Lobhymnus singt (Juliette II, 31 und 85).

Juliette vergiftet ihren Mann, den Grafen Lorsange mit dem „poison royal“ und mischt dem Ungeheuer und Menschenfresser Minski Strammonium in die Chokolade (Juliette III, 285 und IV, 15). Als die Durand und Juliette in Venedig ein Bordell errichten, bildet der Handel mit Giften eine willkommene Nebeneinnahme für sie (Juliette VI, 251).

Seit dem 17. Jahrhundert, wo unter der Regierung Ludwig’s XIV. eine wahre „Epidemie von Giftmischerei“ besonders unter den aristokratischen Frauen auftrat, hatte sich der Giftmord gewissermassen in diesem Lande eingebürgert. Zu jener Zeit versorgte der berüchtigte Abbé Guibourg, der Veranstalter von „Satansmessen“, die ganze Aristokratie mit Giften und Liebesphiltren.[391] Der Giftmord nahm so überhand, dass der König am 7. April 1679 ein besonderes Tribunal, die „Chambre royale de l’arsénale“ oder „Chambre ardente[S. 245]“ errichten musste, die ausschliesslich sich mit Giftmordprozessen beschäftigen sollte. Am bekanntesten ist die Giftmischerin Marie Madeleine Marquise de Brinvilliers, die auch der Marquis de Sade sehr häufig erwähnt.[392] Es ist interessant, dass dieses teuflische Weib, wie sich aus einer unter ihren Papieren aufgefundenen Autobiographie ergab, von frühester Jugend an in sexuellen Ausschweifungen geradezu Exorbitantes leistete. Eine unersättliche Geschlechtslust erfüllte sie durch ihr ganzes Leben. Dies war offenbar das Primäre. Die eigene Wollust und Geschlechtsgier, welche eigentlich nichts weiter ist, als ein potenzierter Egoismus, macht zuerst gefühllos gegen das Geschick und die Leiden Anderer. Diese Hartherzigkeit wandelt sich bei weiterem Fortschreiten der sexuellen Entartung in Grausamkeit und Mordlust um. So geschah es auch in diesem Falle. Erst nach längeren Ausschweifungen lernte die Brinvilliers von ihrem Geliebten de Sainte-Croix die Giftmischerei kennen, die sie dann mit einer wahren Wollust betrieb. Sie vergiftete ihren Vater, ihre zwei Brüder, ihre Schwestern und zahlreiche andere Personen. Nach Entdeckung ihrer Missethaten wurde sie am 16. Juli 1676 enthauptet; ihre Leiche nachher verbrannt und die Asche in alle Winde zerstreut, so dass, wie Madame de Sévigné in ihren Briefen erzählt, „ganz Paris Gefahr lief, Atome der kleinen Frau einzuatmen und dadurch von gleichem Vergiftungstriebe infiziert zu werden.“[393]

[S. 246]

In der That trat diese Infektion ein. Die Giftmorde mehrten sich in erschreckender Weise und gaben zu der Errichtung der oben erwähnten Kammer Veranlassung. Die geschlechtlich ebenfalls sehr aktive Voisin, die Vigouroux, des Œillets, Delagragne sind die berühmtesten Giftmischerinnen des 17. Jahrhunderts. Im 18. Jahrhundert wurde dies Treiben, wenn auch in etwas geringerem Masse, fortgesetzt. Die bekanntesten Giftmischer sind Desrues und seine Frau, die sich um jeden Preis bereichern wollten und daher zur Vergiftung der ihnen im Wege stehenden Personen griffen.[394] Sade, der alle ihm naheliegenden Vorbilder benutzt hat, lässt auch diesen Desrues zusammen mit dem grossen Räuber Cartouche als Henker bei einer Orgie fungieren, oder vielmehr durch Noirceuil zwei Männern diese berüchtigten Namen beilegen (Juliette VI, 323). Ebenso erzählt Rétif de la Bretonne im vierten Bande der „Année des dames nationales“ (S. 1166 ff.) die Affaire Desrues.

24. Mord und Hinrichtungen.

Des Marquis de Sade Werke triefen von Blut wie sein Jahrhundert. Das ist es, was ihren unseligen Ruf begründet hat. Keiner hat vor ihm und nach ihm mit so grässlicher Wahrheit jene verhängnisvolle Kombi[S. 247]nation geschildert, die er unermüdlich und mit einer eisernen Konsequenz in seinen Büchern walten lässt; die Kombination des Jahrhunderts: Wollust und Blut! Er hat sein Jahrhundert aufs Papier gebracht! Deshalb wirken seine Schriften so verderblich, deshalb grinst uns aus ihnen eine Welt der Hölle an. Denn der Schrecken verging, alle wirklichen Qualen jener Zeit sind dahin und die ungeheuren Ströme von Blut in die dunkle Erde hinabgeflossen, die sie mitleidig aufnahm. Aber in Sade’s Werken lebt jener Schrecken noch, da wird er vielleicht für ewige Zeit bis zur Vernichtung der Welt leben: „Justine“ und „Juliette“ sind die wirklichen Reste einer grausen Zeit. Leichengeruch weht uns aus ihnen an, und die mordende Wollust des 18. Jahrhunderts wird wieder lebendig. Wir sind in Sodom.

Konnte dies ein Mensch ersinnen und erdenken? Nein! Auch hier ist es das Gemälde der Zeit. Wir wollen Sade Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und das können wir nur, indem wir ihn erkennen. Denn die Erkenntnis ist das Höchste in der Welt. Sie allein führt zur Gerechtigkeit, nicht das blosse dumpfe Gefühl, welches sich von solchem Graus mit Abscheu abwendet. Schon Jules Janin sagte, dass der Marquis de Sade ein Objekt der „histoire naturelle“ sei, dass man über ihn schreiben müsse, wie man die Monographie des Skorpions oder der Kröte schreibt.[395] Nur die kalte wissenschaftliche Analyse kann das Wesen dieses Mannes erleuchten und das endgiltige Urteil über ihn feststellen. Nur sie hat ein Recht zu diesem Urteil.

Sehen wir zu, ob dieses Jahrhundert der Wollust[S. 248] nicht auch eines der unerhörtesten Grausamkeit, der unmenschlichsten Mordlust gewesen ist!

Die Hinrichtungen waren im 18. Jahrhundert öffentlich. Wirkte vor der Revolution die Grausamkeit derselben depravierend auf die Zuschauer, so wirkte während der Revolution die Massenhaftigkeit der Enthauptungen vielleicht noch verderblicher. Mit Recht erklärte der edle Beccaria in seiner klassischen Schrift „Ueber Verbrechen und Strafen“, die jeder Menschenfreund gelesen haben sollte, dass die Hinrichtungen, für den grössten Teil der Zuschauer zu einem Schauspiel werden und die Menschen grausam machen.[396] Das französische Volk, von Natur zur Grausamkeit geneigt, war dieser Gefahr in höherem Grade ausgesetzt als jedes andere. Die grossen Geister jener Zeit erkannten dies wohl. So verdammt Montesquieu im „Esprit des lois“ die Foltern und die schrecklichen Martern bei der Hinrichtung, und Voltaire hörte niemals auf, gegen diese Unmenschlichkeiten zu protestieren.

Bis zur Revolution waren in Frankreich als Arten der Todesstrafen hauptsächlich die Vierteilung, das Rad und der Galgen gebräuchlich. Die mildere Enthauptung wurde so selten ausgeübt, dass sie sogar von den Henkern „verlernt“ wurde, wie die Hinrichtung des Grafen de Lally im Jahre 1766 bewies.[397] Die gewöhnliche Weise der Hinrichtung war das Rad, das denn auch bei Sade öfter vorkommt. Der unglückliche Delinquent wurde auf „einem Wagenrade ausgestreckt.“ Der Henker zerbrach ihm mit einer schweren[S. 249] eisernen Stange die Knochen der oberen und unteren Extremitäten, und verfuhr dabei mit grosser Geschicklichkeit, um sich den Beifall der Zuschauer (les suffrages des spectateurs) zu erwerben.[398] Sodann wurde der Delinquent in die Speichen des Rades geflochten und sterbend zur Schau gestellt.

Die Strafe des Galgens ist bekannt. Die Vierteilung werden wir bei der schauerlichen Hinrichtung des Damiens kennen lernen.

Eine grosse Hinrichtung war immer, besonders in Paris, „eine Art von Fest für das Volk“, das sich sehr begierig zeigte, ihr beizuwohnen und genau alle Einzelheiten derselben zu sehen. Meist fanden diese Executionen auf der Place de Grève statt. Die berühmtesten waren die des Strassenräubers Cartouche und seiner Bande (27. November 1721), des Räubers Nivet und seiner Complicen (1729) durch das Rad, des Deschauffonis, der erst erdrosselt, dann verbrannt wurde (1733), der Gattenmörderin Lescombat durch den Galgen (1755), des Damiens durch Vierteilung (1757), des Giftmörders Desrues und seiner Frau durch das Rad (1777). Strassenrufer verkündigten Tag und Stunde der Hinrichtung und verkauften das gedruckte Urteil. Eine „ungeheure Menschenmenge versammelte sich auf dem Executionsplatze“. In dieser tumultuösen und oft leidenschaftlich erregten Menge waren die Frauen und Kinder nicht die am wenigsten Ungeduldigen. Jede folgte „avec ardeur“ allen Peripetien der Hinrichtung, die oft länger als eine Stunde dauerte. Der Scharfrichter, umgeben von seinen Knechten, trug die Miene eines Seigneur inmitten seiner Bedienten zur Schau, war frisiert, gepudert, ausgesucht vornehm in weisse Seide gekleidet[S. 250] und blickte stolz umher. Das Volk verlor keine seiner Bewegungen aus den Augen. Der Verurteilte bekam es zu merken ob das Volk guter oder schlechter Laune war, da man ihn je nachdem bald mit Beifalls- und Mitleidsrufen, bald mit Schimpf- und Zornesrufen überschüttete.[399]

Die grässlichste Hinrichtung, die vielleicht jemals vollzogen worden ist, war die des unglücklichen Robert François Damiens, der am 5. Januar 1757 einen Mordversuch auf den König Ludwig XV. machte und dafür am 28. März dieses Jahres unter entsetzlichen Martern vom Leben zum Tode gebracht wurde. Thomas Carlyle, dieser, was den Ausdruck des Affects betrifft, ohne Zweifel grösste Geschichtschreiber der grossen Revolution, bricht angesichts der blutigen Greuel der Schreckenszeit in den Ruf aus: „Ach diese ewigen Sterne, blicken sie nicht hernieder, wie glänzende von Thränen unsterblichen Mitleids perlende Augen, voll Mitleid über der Menschen Los!“[400] Uns scheint, dass tausend Hinrichtungen mit der Guillotine nicht die eine furchtbare Exekution des armen Damiens aufwiegen können, die wirklich gen Himmel schreit und das Mitleid der Sterne anruft, dass diese Schandtat des ancien régime selbst durch die während der Revolution geflossenen Ströme von Blut kaum gelöscht worden ist. Und wenn wir nun die Einzelheiten derselben vernehmen, dann wird uns ein Blick in die Grausamkeit der französischen Volksseele eröffnet, der mit einem Schlage die Werke eines Marquis de Sade begreiflich macht und den wollüstigen Blutdurst der Revolution vorherahnen lässt.

[S. 251]

Ueber die Hinrichtung des Damiens besitzen wir den Bericht eines Augenzeugen, dem wir in der Hauptsache folgen.[401]

An Damiens wurde dasselbe Urteil vollstreckt wie an dem Mörder Heinrich’s IV., François Ravaillac, am 27. Mai 1610. Er (Damiens) wurde zunächst am Morgen des 28. März 1757 gefoltert, wobei ihm mit glühenden Zangen Brüste, Arme, Schenkel und Waden aufgerissen und in die Wunden geschmolzenes Blei, siedendes Oel, brennendes Pech mit Wachs und Schwefel vermischt, gegossen wurden. Gegen drei Uhr Nachmittags wurde der Unglückliche dann zuerst nach Notre-Dame und darauf zum Grève-Platze geführt. Alle Strassen, die er dorthin passieren musste, waren von einer dichten Menschenmenge (monde affreux) besetzt, die „weder Hass noch Mitleid“ bezeugte. Charles Monselet berichtet: „Wohin auch der Blick sich wendete, überall bemerkte er nur die Menge, immer wieder die Menge. Die Menge unter der Arkade Saint-Jean! Die Menge in den ersten Häusern der Rue de la Mortellerie! Die Menge in der Rue de la Vannerie! Die Menge in der Rue de la Tannerie! Die Menge an der Kreuzung der Rue de l’Epine und der Rue de Mouton! Die Menge an allen Ausgängen des Platzes. Auf dem Platze selbst eine compakte Menge, bestehend aus allen möglichen Elementen, aber vor allem aus dem Pöbel. In den Fenstern eine geschmückte, kokette Menge; vornehme Herren und grosse Damen, grosse Damen besonders, die mit dem Fächer spielten und ihre Riechfläsch[S. 252]chen im Fall einer Ohnmacht bereit hielten.“[402] Um 4½ Uhr nahm dann jenes grässliche Schauspiel seinen Anfang, dessen blosse Schilderung uns — wir wollen dies nicht verschweigen — noch heute Thränen des Mitleids und des Wehs über die unsäglichen Leiden eines längst in Staub Zerfallenen entlockt hat.

In der Mitte des Platzes war eine niedrige Plattform errichtet, auf welcher der Unglückliche, der weder Furcht noch Erstaunen zeigte, sondern nur den Wunsch bekundete, schnell zu sterben, von den sechs Henkern mit eisernen Ringen festgebunden wurde, so dass der Rumpf vollkommen fixiert war. Darauf fesselte man ihm die rechte Hand und liess sie in einem schwefligen Feuer verbrennen, wobei der Bejammernswerte ein entsetzliches Geschrei erhob. Man sah (nach Monselet), während die Hand verbrannt wurde, die Haare des Unglücklichen sich auf dem Kopfe steil emporrichten! Darauf zwickte man wieder den Körper mit glühenden Zangen und riss ihm Fleischstücke aus der Brust und an anderen Stellen aus, goss dann flüssiges Blei und kochendes Oel in die frischen Wunden, was, wie es in den „Mémoires“ von Richelieu heisst, die Luft auf dem ganzen Grève-Platze durch den entsetzlichen Gestank verpestete. Nunmehr befestigte man um Oberarme und Oberschenkel, um Hand- und Fussgelenke grosse Taue, die mit dem Geschirr von vier Pferden verbunden wurden, welche an den vier Ecken der Plattform standen. Dann trieb man diese Pferde an, die so den Delinquenten zerreissen sollten. Allein diese waren nicht gewohnt, solche Henkersdienste zu tun. Mehr als eine Stunde hieb man auf sie ein, ohne dass es ihnen gelang, eine der Extremitäten abzureissen. Nur[S. 253] die gellenden Schmerzensschreie unterrichteten die „nombre prodigieux de spectateurs“ von den unerhörten Qualen, die hier ein menschliches Wesen erdulden musste. Man spannte sechs Pferde vor, die alle zugleich in Bewegung gesetzt wurden. Das Geschrei des Damiens steigerte sich zu einem wahnsinnigen Gebrüll. „So kräftig war dieser Mensch.“ Wieder blieb der Erfolg aus. Endlich bekamen die Henker von den Richtern die Erlaubnis, das grauenvolle Werk durch Einschneiden der Gelenke zu erleichtern. Zuerst durchtrennte man die Hüftgelenke. Der Unglückliche „hob noch den Kopf, um zu sehen was man mit ihm machte,“ schrie aber nicht, sondern drehte oft den Kopf nach dem ihm entgegengehaltenen Kruzifix, das er küsste, während zwei Beichtväter auf ihn einsprachen. Endlich nach 1½ Stunden dieser „Leiden ohne Beispiel“, wurde der linke Schenkel zuerst abgerissen. Das Volk klatschte in die Hände! Der Delinquent hatte sich bis jetzt nur „neugierig und gleichgültig“ gezeigt. Als aber der andere Schenkel weggerissen wurde, fing er wieder an zu schreien.[403] Nachdem man die Schultergelenke durchgehauen hatte, wurde zuerst der rechte Arm abgetrennt. Das Geschrei des Unseligen wurde schwächer, und der Kopf begann zu wackeln. Erst beim Abreissen des linken Armes fiel derselbe hintenüber. So war nur der zuckende Rumpf übrig, der noch lebte und ein Kopf, dessen Haare plötzlich weiss geworden waren. Er lebte noch! Während man die Haare abschnitt und die vier Gliedmassen sammelte, stürzten die Beichtväter zu ihm.[S. 254] Aber Henri Sanson (der Scharfrichter) hielt sie zurück, indem er ihnen mitteilte, dass Damiens soeben den letzten Seufzer ausgehaucht habe. „Die Wahrheit ist“, schreibt der zuverlässige Bretonne, „dass ich noch den Rumpf sich drehen und den Unterkiefer, wie wenn er spräche, sich hin und herbewegen sah.“ Dieser Rumpf atmete noch! Seine Augen wandten sich noch gegen die Umstehenden. Man berichtet nicht, ob das Volk noch zum zweiten Male in die Hände klatschte. Sicher ist, dass während der Dauer der ganzen Hinrichtung Niemand daran dachte, seinen Platz zu verlassen, weder in den Fenstern noch auf der Strasse. Die Reste des Märtyrers wurden auf einem Scheiterhaufen verbrannt, und die Asche in die vier Winde zerstreut.[404] „Dies war das Ende jenes Unglücklichen, der — man möge es glauben — die grössten Qualen erlitt, die jemals ein Mensch erlitten hat, was die Dauer derselben anbetrifft.“ So schliesst der Herzog von Croy, ein Augenzeuge, seinen Bericht, den wir fast wörtlich übersetzt haben. Und Monselet ruft aus: „Dass man mir nicht mehr von der Anmut und dem Leichtsinn des achtzehnten Jahrhunderts spricht! Dieses rosige Jahrhundert ist für ewig befleckt mit dem Blute des Damiens!“ Noch einige andere Nachrichten von Augenzeugen teilen wir mit, die jenem Bilde des Jammers eine infernalische Ruchlosigkeit zur Seite stellen, wie sie selbst ein Sade kaum hat schildern können. Und man denke sich, dass das, was wir berichten, wirklich geschah! Ein ganzes Volk berauscht sich vier Stunden hindurch an den entsetzlichsten Qualen, welche die Welt jemals gesehen hat!

[S. 255]

„Der Zusammenfluss von Menschen in Paris an diesem Tage war unbeschreiblich. Die Bewohner der benachbarten Dörfer und der entfernten Provinzen, sogar Ausländer waren herbeigekommen wie zu der glänzendsten Lustbarkeit. Nicht allein die Fenster nach dem Gerichtsplatz zu, sondern auch die Dachfenster und Bodenluken wurden mit einem rasenden Preise bezahlt. Kopf an Kopf war auf den Dächern zu sehen. Am meisten erstaunte man über die hitzige Begierde der Frauenzimmer, die sonst so gefühlvoll, so mitleidig sind, diesem grässlichen Schauspiel nachzugehen, sich daran zu weiden, und es mit aller seiner Schrecklichkeit bis ans Ende thränenlos und ohne Rührung zu betrachten, während alle Mannspersonen schauderten und ihr Gesicht wegwandten.“[405]

Madame du Hausset erzählt in ihren Memoiren, dass man sogar während der Hinrichtung spielte.[406] Ja, man that noch Schlimmeres. Casanova, der einer von den Ausländern war, welche der Execution beiwohnten, berichtet über eine Szene, welche eine schauerliche Illustration zu der Lehre Sade’s ist, dass die Qualen eines Anderen die eigne Wollust aufstacheln. Casanova erzählt: „Am 28. März, dem Tage des Märtyrertums von Damiens, holte ich die Damen schon früh bei der Lambertini ab, und da der Wagen uns kaum fassen konnte, nahm ich ohne Schwierigkeit meine reizende Freundin auf den Schoss und wir begaben uns so nach dem Grèveplatze. Die drei Damen drängten sich zusammen, so viel sie vermochten und nahmen die[S. 256] erste Reihe an dem Fenster ein; sie bückten sich dabei und stützten sich auf die Arme, um uns nicht zu verhindern, über ihre Köpfe hinwegzusehen. Das Fenster hatte drei Stufen oder Tritte, und die Damen standen auf dem zweiten. Um über sie wegsehen zu können, mussten wir uns auf dieselbe Stufe stellen; denn auf dar ersten würden wir sie überragt haben. Nicht ohne Grund gebe ich meinen Lesern diese näheren Umstände an. Denn sonst würde es schwer sein, die Details zu erraten, die ich ihnen verschweigen muss.

„Wir besassen die Ausdauer, vier Stunden bei diesem abscheulichen Schauspiel zu verharren. Die Hinrichtung des Damiens ist zu bekannt, als dass ich davon zu sprechen brauchte; zunächst, weil die Schilderung zu lang sein würde, und dann, weil solche Greuelthaten die Natur empören. Während der Hinrichtung dieses Opfers der Jesuiten[407] musste ich die Augen abwenden und mir die Ohren zuhalten, wenn ich das herzzerreissende Geschrei hörte, als er nur noch seinen halben Körper hatte; aber die Lambertini und die dicke Alte machten nicht die geringste Bewegung; war das eine Wirkung der Grausamkeit ihres Herzens? Ich musste mich stellen, als glaubte ich ihnen, indem sie mir sagten, der Abscheu den ihnen das Attentat dieses Ungeheuers einflösste, hätte sie gehindert, das Mitleid zu fühlen, welches notwendiger Weise der Anblick der unerhörten Qualen, denen man ihn unterwarf, erregen musste. Die Thatsache ist, dass Tiretta die fromme Alte während der Zeit der Hinrichtung auf eine eigentümliche Weise beschäftigt hielt. Vielleicht war das[S. 257] auch die Ursache, dass diese tugendhafte Dame keine Bewegung machte und auch den Kopf nicht umdrehte. Da er sehr nahe hinter ihr stand, hatte er die Vorsicht gebraucht, ihr Kleid in die Höhe zu schlagen, um nicht die Füsse darauf zu setzen. Das war ohne Zweifel in der Ordnung; allein als ich eine unwillkürliche Bewegung nach der Seite machte, bemerkte ich, dass Tiretta die Vorsicht zu weit getrieben hatte.“[408]

Jeder Commentar zu der Erzählung Casanova’s ist überflüssig. Dass es sich nicht um einen momentanen Anfall von Satyriasis gehandelt, sondern um eine die einzelnen Phasen der grauenvollen Hinrichtung begleitende und durch sie hervorgerufene wollüstige Ekstase, geht mit aller Evidenz daraus hervor, dass diese scheusslichen sexuellen Manöver zwei Stunden lang dauerten, wie Casanova ausdrücklich hervorhebt.[409] „Die Handlung wurde wiederholt und ohne einen Widerstand.“

Dass Ludwig XV. den Gesandten mit grossem Behagen alle Einzelheiten dieser Execution mitteilte, wird nicht Wunder nehmen.[410] Auch die Hinrichtung des Giftmischers Desrues, der am 6. Mai 1772 gerädert und dann noch lebend verbrannt wurde, lockte eine grosse Zuschauermenge an, „spectateurs distingués ont désiré jouir de cet épouvantable spectacle“, und die Zimmer auf dem Grèveplatze wurden „sehr teuer vermietet.“[411]

Die Revolution fand also ein auf Hinrichtungen wohl dressiertes Publikum vor. Wir betonen nochmals,[S. 258] dass Sade alle Greuel der Schreckenszeit mit erlebt hat, da er 1790 freigelassen wurde und nur von Dezember 1793 bis zum 10. Thermidor (28. Juli) 1794 wieder im Gefängnis sass. Gleich die ersten Vorläufer der Septembermorde, die Erstürmung der Bastille (14. Juli 1789), der Zug nach Versailles (5. Oktober 1789), die blutigen Ereignisse in Avignon in den Jahren 1790 und 1791, lassen erkennen, welche Rolle die Frauen bei den Hinrichtungen und Morden spielen würden, und dass keineswegs den französischen Frauen des Volkes der Blutdurst und die Grausamkeit eigentümlich war. In Avignon war der Streit zwischen den päpstlichen Aristokraten und dem patriotischen Volke aufs heftigste entbrannt. Schon Anfang 1790 forderte der „päpstliche Galgen“ seine Opfer, um bald nach Ankunft des berüchtigten Jourdan von dem „patriotischen“ Galgen abgelöst zu werden. Am 14. September 1791 wurde Avignon dem französischen Reich einverleibt und eine Regierung von „sechs leitenden Patrioten“ eingesetzt. Am 16. Oktober 1791 begab sich einer derselben, l’Escuyer in die Cordelierskirche, um dort die Päpstlichen zusammen zu treffen und „ein Wort der Ermahnung zu ihnen zu sprechen“. Die Antwort darauf war „ein kreischendes Geheul der aristokratisch-päpstlichen Andächtigen, worunter viele Weiber waren. Ein tausendstimmiges drohendes Geschrei, das, da l’Escuyer nicht floh, zum tausendhändigen Drängen und Stossen wurde, zum tausendfüssigen Treten, mit Niederfallen und Getretenwerden, mit dem Stechen von Nadeln, Scheren und anderen weiblichen zugespitzten Instrumenten. Grässlich zu sehen, wo rund herum die alten Toten und Petrarcas Laura schlafen, der Hochaltar und brennende Kerzen und die Jungfrau darauf herniederblicken; die Jungfrau ganz ohne Thrä[S. 259]nen und von der natürlichen Farbe des Steins. — l’Escuyers Freunde stürzen wie Hiobsboten zu Jourdan und der Nationalmacht. Aber der schwerfällige Jourdan will sich vorerst der Stadtthore bemächtigen, eilt nicht so dreifach schnell, als er könnte, und als man in der Cordelierskirche anlangte, ist sie still und leer; l’Escuyer, ganz allein, liegt da am Fusse des Hochaltars, in seinem Blute schwimmend, von Scheren zerstochen, unter die Füsse getreten, massakriert. Seufzt noch einmal dumpf und haucht sein elendes Leben für immer aus.“[412] Nun folgte das schreckliche Strafgericht, welches unter dem Namen des „Eisturms“ von Avignon für immer einen traurigen Ruhm erlangt hat. Männliche und weibliche Aristokraten wurden ins Schloss geschleppt und in unterirdische Kerker am Rhonefluss geworfen. Neben diesen Verliessen befand sich die „Glacière“ (auch „Trouillas“ oder „Pressoir“ genannt), der berüchtigte „Eisturm“, ein „lieu de mort, lieu de supplice“, die grosse Totenkammer, in welche früher die Opfer der Inquisition lebend hinabgeworfen wurden, mitten unter Skelette, wo man sie verhungern liess. Wieder sah dieser entsetzliche „Eisturm“ Thaten, „für die die Sprache keine Namen besitzt.“ — Undurchdringliches Dunkel und Schatten entsetzlicher Grausamkeit umhüllen diese Schlosskerker, diesen Glacièreturm. Nur dies ist klar, dass viele eintraten, wenige zurückgekehrt sind. Als am 15. Novbr. 1791 der General Choisi in Avignon einrückte und Jourdan absetzte, da fand man im Eisturme „hundertdreissig Leichname von Männern und Weibern, ja selbst Kindern (denn die zitternde Mutter, hastig hingeschleppt, konnte ihr Kind[S. 260] nicht verlassen) lagen aufgehäuft in jener Glacière, faulend unter Fäulnis, zum Entsetzen aller Welt.“

Unverkennbar hat der Marquis de Sade diesen Eisturm von Avignon, der alten Heimat seines Geschlechtes, diese unterirdischen Gewölbe mit ihren Skeletten in dem von Skeletten erfüllten unterirdischen Gewölbe des Schlosses von Roland geschildert, in welches dieser seine Opfer schleppt. So wird auch Justine in diesen von Toten bewohnten unterirdischen Abgrund hinabgestossen und ihrem Schicksal überlassen (Justine IV, 176, 221).

Nach der Massakrierung der unglücklichen Schweizer am 10. August 1792, von der Carlyle sagt, dass „wenige Fälle in der Geschichte der Blutbäder furchtbarer“ seien, und dass die alte „deutsche Biederkeit und Tapferkeit“ in den für den König todesmutig kämpfenden Schweizern sich wieder gezeigt habe, kam jene Septemberwelt „dunkel, voll Nebel, wie eine Lappländer Hexenmitternacht“; vom Sonntag dem 2. September 1792 nachmittags bis zum Donnerstag, 6. September 1792 abends folgen nacheinander „hundert Stunden, die man der Bartholomäusmordnacht, den Armagnacmetzeleien, der Sicilianischen Vesper oder dem Allerschrecklichsten in den Annalen dieser Welt an die Seite stellen muss. Schrecklich ist die Stunde, ruft Carlyle aus, wenn die Seele des Menschen in ihrem Wahnsinn alle Schranken und Gesetze durchbricht und zeigt, welche Höhlen und Tiefen in ihr liegen! Aus ihrem unterirdischen Kerker sind nun Nacht und Orkus ausgebrochen hier in diesem Paris, wie wir sagten, wie es schon lange prophezeit war; grässlich, verworren, peinlich anzusehen, und doch kann man, ja man sollte wirklich nicht es jemals vergessen“.[413]

[S. 261]

Priester, Aristokraten, Schweizer wurden aus den Gefängnissen hervorgeholt und auf der Strasse von der wütenden Volksmenge in Stücke gehauen. Allen voran die rasenden Weiber! „Und es bildet sich ein hoher Haufen von Leichen, und die Gassen strömen von Blut.“ Dazu das Geheul der Mörder mit den schweiss- und bluttriefenden Gesichtern, das noch grausamere Wutgeschrei der Weiber. „Und unter diese Menschen wird nackt ein Mitmensch geschleudert!“ Einer um den andern wurde niedergemacht, die Säbel müssen frisch geschliffen werden, die Mörder erfrischen sich aus Weinkrügen. Fort und fort dauert die Schlächterei, das laute Geheul wurde zum tiefen Knurren. Der Prinzessin Lamballe wird der schöne Kopf mit der Axt gespalten und vom Rumpfe getrennt. Ihr schöner Leib wird in Stücke gehauen, unter „Schändlichkeiten, obscönen Greueln von Schnurrbart — grands-lèvres, die die Menschheit gern für unglaublich hielte“. Schweigen wir über alles Weitere, von Jourgniac’s 38stündiger Todesangst[414], von Matons Erlebnissen vor seiner „Résurrection“[415] und von dem Dritten im Bunde, dem armen Abbé Sicard.[416] Diese drei könnten wir hören in „wunderbarer Trilogie oder dreifachem Selbstgespräch, womit sie gleichzeitig ihre Nachtgedanken, während ihrer schrecklichen Nachtwachen, für uns hörbar machten.“ Die drei könnten wir hören, aber „die anderen Tausendundneunundachtzig, worunter Zweihundertzwei Priester,[S. 262] die ebenfalls ihre Nachtgedanken hatten, bleiben unhörbar für immer in schwarzem Tode erstickt.“[417]

Nunmehr beginnt die Guillotine[418] ihr Werk. Wie sie es gethan hat in den Jahren 93 und 94, darüber möge man das ergreifende Kapitel bei Carlyle nachlesen[419]. Aber über den Schrecken erhoben sich noch die „grands terroristes“, die grossen Schreckensmänner, Gestalten der Hölle, die Fouché, Collot, Couthon in Lyon, die Saint-André in Brest, die Maiquet in Orange, Lebon (der Namensvetter eines modernen ebenso scheusslichen Lebon) in Arras und Carrier in Nantes, diese „Weltwunder“ (nach Carlyle) schwelgen in „Strömen sich ergiessenden Todes“, sie schwelgen aber auch wie die Gestalten des Marquis de Sade in — Wollust.

Schon Brunet hat den grössten der grossen Terroristen, Jean Baptiste Carrier als einen derjenigen bezeichnet, die Sade als Vorbild für die blutigen Schilderungen in seinen Romanen gedient haben und ohne welche „letztere nicht diesen wilden Charakter gehabt haben würden“[420].

[S. 263]

Neuere Forschungen, insbesondere die Schrift des Grafen Fleury[421] haben dies vollauf bestätigt. Carrier war ein Schlächter und Henker aus Wollust. Er errichtete in Nantes ein „Serail“, in dem er mit seiner Geliebten und Oberaufseherin Caron sich den widerlichsten Orgien hingab. Er „stürzte sich in die Wollust hinein, ohne Sättigung zu finden.“ Il faudrait un volume, pour rappeler les orgies auxquelles présida le représentant. Er liess schöne Frauen, nachdem er sie genossen hatte, ertränken. In seinem Serail an der Barrière de Richebourg in Nantes verbrachte er, wie es in einem Briefe Julliens an Robespierre heisst, seine Nächte mit „frechen Sultaninnen und niedrigen Schmeichlern, die ihm als Eunuchen dienten, während die Caron diese Orgien leitete.“ Nachdem in Nantes guillotiniert worden war, bis „des Scharfrichter todmüde hinsank“, füsilierte man in der Ebene von Saint-Maure „Kinder und Weiber mit Kindern an der Brust“ bei hundertundzwanzig, und Männer bei vierhundert, bis man auch dessen müde ward und zu den „Noyades“, den Ersäufungen griff, die „berüchtigt geworden sind für alle Zeiten.“

In flachen Fahrzeugen, sogenannten „gabares“ fuhr man hinaus im Dunkel der Nacht. Neunzig Priester sind auf dem Schiffe, das plötzlich auf ein gegebenes Zeichen versinkt. „Das Urteil der Deportation“, schreibt Carrier, „wurde senkrecht vollstreckt“. (Déportation verticale). Bald folgte eine zweite Noyade von 138 Personen. Und dann griff man zu Schiffen mit aufklappbaren Böden, die sich öffneten, und wenn in der Todesangst die Unglücklichen ihre Finger durch die[S. 264] Luken steckten, liess der scheussliche Grandmaison, der Helfershelfer Carrier’s, die Finger abhauen![422] Man warf auch die Opfer mit gebundenen Händen ins Wasser, ergoss einen beständigen Bleihagel über die Flussstelle, bis der letzte mit dem Wasser Kämpfende untergegangen war. Viele Zeugen versichern, dass man oft die Frauen vollständig nackt auszog, dass man kleine Kinder hineinwarf, deren jammernden Müttern erwidert wurde: „Wölflein, die zu Wölfen heranwachsen werden.“ Weiber und Männer werden zusammengebunden und hineingeworfen. Das sind die „republikanischen Hochzeiten“ (mariages républicains), ebenso berühmt für alle Zeit. Und als der Strom die Leichen wieder zurückwälzt, als Raben und Wölfe sich gierig auf die am Flussufer liegenden Cadaver stürzen, da ruft Carrier aus: „Quel torrent révolutionnaire!“ Es ist Nacht. Da verlässt dieser Nero der Revolution sein Serail, begleitet von seinen Dirnen und Cumpanen „en joyeuse compagnie.“ Sie schauen dem grässlichen Schauspiele zu, und dann „la noyade faite, il passait les nuits en orgies bacchiques avec des femmes et ses ‚roués‘ ordinaires.“ So meldet die Geschichte. Auch dass es 25 Noyaden waren, und dass im ganzen 4860 Menschen ertränkt wurden, darunter viele Kinder unter 15 Jahren.[423] Es geschah in der Dunkelheit, aber es „wird einst am Sonnenlicht untersucht und nicht vergessen werden Jahrhunderte lang.“ (Carlyle).

Und merkwürdig! Spricht nicht auch dieser „grand terroriste“ in seinem Briefe an den Convent vom 8. Frimaire 1793 ganz wie Sade und mit ebendemselben Ausdruck, den dieser so oft gebraucht davon, dass „nach[S. 265] der Aufrichtung des Apostolates der Vernunft inmitten der Revolution alle Vorurteile, aller Aberglauben und Fanatismus verschwinden werden vor dem ‚flambeau de la philosophie‘.“ Ist das ein Zufall?[424]

In Lyon, wo Collot-d’Herbois haust, „fliessen die Gossen auf der Place des Terreaux rot; es trägt die Rhône zerstückelte Körper auf ihren Wellen dahin. Zweihundertundneun Verurteilte werden über den Fluss geführt, um auf der Brotteaux-Promenade mit Musketen und Kanonen in Masse erschossen zu werden“. Es wird „eine Schlächterei, zu grässlich, um sie in Worten zu schildern, so grässlich, dass sogar die Nationalgarden beim Feuern das Gesicht abwenden.“[425]

Man darf sagen, dass es keine Zeit gegeben hat, in der das Morden so zur Gewohnheit geworden wäre, wie in diesen Jahren von 1792 bis 1794. Es bildeten sich, gleichsam als Konkurrenten der Guillotine, Mordbanden wie die berüchtigten „Jehus“ und die Sonnenbanden, welche im Süden Frankreichs den „weissen Schrecken“ verbreiteten. Die Zahl der Menschen, die gemordet wurden in jener Zeit, sei es durch die Guillotine, sei es auf andere Weise, war Legion. Vom Könige und der Königin bis hinab zum Schuster Simon mussten sie alle dahin. Und wahr wurde auch das Wort des düsteren Saint-Just, dass „für Revolutionäre es keine Ruhe gäbe als im Grabe.“ Die Revolution verschlang, wie Saturn, ihre eigenen Kinder (Verguiaud).

[S. 266]

In den Gefängnissen wurden gefangene Frauen von den Kerkermeistern vergewaltigt (Madame Roland in ihren Memoiren); aus den Haaren guillotinierter Frauen würden blonde Perrücken verfertigt, und in Meudon war nach Montgaillard eine „Gerberei von menschlichen Häuten, solcher Häute der Guillotinierten, die des Schindens wert schienen, und woraus ein ganz gutes Waschleder gemacht wurde, zu Hosen und anderem Gebrauch. Die Haut der Männer übertraf das Gemsleder an Zähigkeit, die Haut der Weiber war fast zu gar nichts gut, da sie zu weich war im Gewebe.“[426]

Doch bald ist das Ende des Schreckens nahe. Noch einmal erhebt er sich im Prairial des Jahres 1794 und in den ersten neun Tagen des Thermidor zu furchtbarer Grösse. 1400 Personen wurden in einem Monat guillotiniert. Wer kann ohne Zittern das Verzeichnis der zahllosen Namen, der unglücklichen Opfer der Thermidortage lesen, wie es Houssaye in erschütternd dramatischer Darstellung mitteilt.[427] Unter ihnen glänzt ein Name (7. Thermidor) ganz besonders: André Chénier.

La sainte guillotine va tous les jours!

Und endlich kommt jener neunte Thermidor, der das Ende der Schreckensherrschaft bringt mit dem Sturze des gewaltigen Robespierre, jener Tag, dem Marie-Joseph Chénier in der wunderbaren „Hymne du 9 thermidor“ begeistert zujauchzt:

Salut, neuf thermidor, jour de la délivrance:
Tu vins purifier un sol ensanglanté:
Pour la seconde fois tu fis luire a la France
Les rayons de la Liberté!

[S. 267]

25. Ethnologische und historische Vorbilder.

Der Marquis de Sade war ein scharfer Beobachter. Ausserdem hatte er während seines Gefängnislebens die Kenntnis der zeitgenössischen Litteratur sich in einem grossen Umfange zu eigen gemacht. Es ist daher kein Wunder, dass wir die Spuren beider Eigenschaften in seinen Werken antreffen. Was uns am charakteristischsten erscheint, ist die grosse Rolle, welche bei Sade die Ethnologie spielt. Auch das ist kein Zufall. Die ersten Anfänge der Völkerkunde gehören dem 18. Jahrhundert und speziell Frankreich an, wo J. F. Lafitau im Jahre 1724 das erste bedeutende Werk dieser Art in seinen „Mœurs des Sauvages américains comparées aux mœurs des premiers temps“ veröffentlichte,[428] über das sich Voltaire in einer Schrift von ähnlicher Art sehr anerkennend äussert. („Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ 1756). Weiter förderten dieses grosse Interesse an der Kenntnis wilder Völker die zahlreichen Reiseexpeditionen hervorragender französischer Gelehrter im 18. Jahrhundert. Wir nennen nur die bekannten Namen eines Bouguer, La Condamine, Bougainville, La Pérouse, Marchand, d’Auteroche, Duhalde, Charlevoix, Savary, Le Vaillant, Volney, Dumont. Man fing an — zwar noch in roher und primitiver Weise — die Sitten und Gewohnheiten der einzelnen Völker zu vergleichen und die Entwicklungsgeschichte der Menschheit zu studieren. Dabei gefiel man sich in einer gewissen Verherrlichung der europäischen Civilisation. Die Wilden waren noch[S. 268] nicht die „besseren Menschen“ unseres Seume. Lafitau schreibt: „Ich habe mit grosser Betrübnis in den meisten Berichten gelesen, dass diejenigen, welche über die Sitten wilder Völker geschrieben haben, sie uns geschildert haben als Menschen, welche kein irgendwie religiöses Gefühl besitzen, keine Kenntnis einer Gottheit, keine Persönlichkeit, der sie irgend welchen Kultus widmen, wie Menschen, welche weder Gesetze, noch eine Obrigkeit, noch irgend eine Form der Regierung haben, mit einem Worte als Menschen, welche von Menschen ungefähr nichts haben als nur die Gestalt. Man hat sich gewöhnt, eine Vorstellung von den Wilden zu entwerfen, welche sie nicht von den Tieren unterscheidet.“[429]

Diese Beurteilungsweise wilder Völker findet man auch bei Sade. Er rechtfertigt durch die Laster und Grausamkeiten, welche man bei ihnen findet, diejenigen seiner Zeit. So zählt er alle die Völker auf, welche sich durch grosse Schamlosigkeit auszeichnen, um dadurch der von ihm gepredigten Unzucht eine feste Unterlage zu geben. (Juliette I, 122–28). James Cook hat in der Südsee überall die Paederastie verbreitet gefunden. Folglich ist dieselbe gut. („Philosophie dans le Boudoir“ I, 201). Ja, wenn man mit einem Ballon den Mond erreichen könnte, würde man sie dort ebenfalls finden, da sie allen Menschen im Naturzustande eigentümlich ist. Die Grausamkeit der Frauen ist in der ganzen Welt eine und dieselbe. Zingua, Königin von Angola (ein mit Vorliebe von Sade immer und immer wieder genanntes Scheusal), die „grausamste aller Frauen“ opferte ihre Geliebten nach dem Genusse, liess Krieger mit einander kämpfen und gab sich dem Sieger hin, und liess in einem grossen[S. 269] Mörser alle vor dem dreissigsten Jahre geschwängerten Frauen zerstampfen. (Phil. dans le Boud. I, 156). Zoë, die Gemahlin eines chinesischen Kaisers, fand das grösste Vergnügen daran, Verbrecher vor ihren Augen hinrichten zu lassen, und liess Sklaven opfern, während sie dabei mit ihrem Gatten der Liebe pflegte. Je grösser die Grausamkeiten waren, um so grösser war ihre Wollust. Sie erfand jene hohe Erzsäule, in der man den Delinquenten lebendig röstete (ibidem). Theodora amüsierte sich bei der Castration von Männern. (Ib. S. 157.) Auch erzählt Sade öfter die bekannte Geschichte des Amerigo Vespucci (den er freilich nicht nennt), dass die Frauen von Florida ihren Männern kleine giftige Insekten ans Glied setzten, die durch ihren Stich dasselbe anschwellen liessen, und neben heftigem Schmerz und Geschwürsbildung auch eine unersättliche Libido verursachten. (Phil. dans le Boud. I, 157).[430] So bringt Sade für alle Laster ethnologische Beispiele in Fülle bei, für Giftmord, Prostitution, Anthropophagie, sexuelle Entartungen, Malthusianismus, Atheismus u. s. w. Die Bibel liefert ihm viel Material. Dann kommen die Lappen, die Afrikaner, die Asiaten, die Türken, die Chinesen, Angola, die Neger der Pfefferküste. Er kennt alles. Er citiert Cook’s Reisen, Paw’s „Recherches sur les Indiens, Egyptiens, Arméniens“ (Anthropophagie), die „Coutumes de tous les peuples“. Er weiss, dass es in Lappland, in der Tartarei, in Amerika eine „Ehre ist, seine Frau zu prostituieren“, dass die Illyrier besondere Wollustorgien feiern in grosser Versammlung, dass der Ehebruch bei den Griechen florierte, und die Römer sich ihre eignen Frauen unter einander liehen; dass seine geliebte Zingua ein Gesetz erliess, das[S. 270] die „vulgivaguibilité“ der Weiber vorschrieb. Sparta, Formosa, Otaheiti, Cambodja, China, Japan, Pegu, Cucuana, Riogabar, Schottland, die Balearen, die Massageten liefern ihm eine Menge von überzeugenden Beispielen für die Richtigkeit seiner Lehren. Aus Peloutier’s berühmter „Geschichte der Celten“ (Berlin 1754) beweist er, dass das von Roland geübte „jeu de coupe-corde“, das Hängen aus Wollust, schon von den Celten geübt wurde (Justine IV, 201) und versteigt sich sogar an dieser Stelle zu folgendem charakteristischen halb wahren Ausspruch: „Fast alle Ausschweifungen, die in der ‚Justine‘ beschrieben wurden, waren früher ein Teil religiöser Ceremonien und wurden von unseren Vorfahren geübt wie z. B. die Flagellation.“ Für die Geisselung beruft er sich auch noch auf das seither oft citierte Werk von Brantôme, wobei er ausnahmsweise aufs genaueste die von ihm benutzte Ausgabe angiebt: Brantôme „Vies des Dames galantes“ Tome I. édition de Londres 1666. (Juliette II, 133).

Alle bizarren Ideen, alle merkwürdigen Einfälle berüchtigter erotischer Scheusale verwertet Sade. So erklärt Noirceuil, dass er zweimal an einem Tage heiraten will, und zwar um 10 Uhr früh als Frau verkleidet einen Mann, um 12 Uhr als Mann einen Knaben, der als Frau verkleidet ist. Juliette dagegen will in derselben Kirche zu derselben Zeit als Mann verkleidet eine Tribade heiraten, die als Frau verkleidet ist und eine andere Tribade, die als Mann verkleidet ist. So übertrifft er durch diese vierfache Verbindung Nero, der den Tigellinus als Frau und den Sporus als Mann heiratete. (Juliette VI, 319). Juliette, die im Nachahmungstalent nicht hinter Noirceuil zurückbleiben will, macht ein Stückchen der Kaiserin Theodora nach. Sie streut sich Gerstenkörner auf die Geschlechtsteile[S. 271] und lässt sich dieselben von Gänsen aufpicken, was ihr eine unendliche Wonne bereitet (Juliette IV, 341).

Ueberaus häufig citirt Sade den berüchtigten Marschall Gilles Laval de Retz (Rais — z. B. Justine II, 171); Philosophie dans le Boudoir I, 153 — über den Bossard und de Maulle eine ausgezeichnete Monographie geliefert haben.[431] Dieser „Ritter Blaubart“, ein Mann von schöner, eleganter Erscheinung und grosser Gelehrsamkeit, verlässt im 27. Jahre „den Hof, die bisherige, erfolggekrönte militärische Laufbahn, verstösst Weib und Kind, verschwindet auf seinem einsamen Schlosse, treibt unsinnige Verschwendung, ergiebt sich mystischen Studien, Teufelsbeschwörungen und Aehnlichem, verfällt dann sexuellen Ausschweifungen, wird Paederast, Kinderräuber, Mörder, Sadist, Leichenschänder u. s. w.“[432]. Dieses Ungeheuer lockte nach und nach 140 Kinder in sein Schloss, wo sie in scheusslicher Weise ermordet wurden. Das Opfer wurde niedergeworfen, entweder durch einen Knecht oder durch Gilles de Retz selber, der Hals abgeschnitten, wobei Gilles den Anblick des zuckenden Körpers wollüstig genoss. Dann schnitt er die Extremitäten ab, öffnete Brust oder Bauch und riss die Eingeweide heraus. Bisweilen setzte er sich auf den Körper des Opfers, um den Todeskampf zu fühlen, „plus content de jouir des tortures, des larmes, de l’effroi et du sang que de tout autre plaisir“. Auch köpfte er den Leichnam, nahm den Kopf in die Hände, betrachtete ihn mit[S. 272] wollüstigen Blicken und küsste ihn leidenschaftlich.[433] Der vom Beichtvater des Marschalls aufgezeichneten Beichte entnehmen wir noch die folgenden Details: „Egidius de Rays, sponte dixit, quamplures pueros in magno numero, cujus amplius non est certus, cepisse et capi fecisse, ipsosque pueros occidisse et occidi fecisse, seque cum ipsis vicium et peccatum sodomiticum commisisse,.. tam ante quam post mortem ipsorum et in ipsa morte damnabiliter... cum quibus etiam languentibus vicium sodomiticum committebat et exercebat mode supra dicto.“ Gilles pflegte oft zu seinen Komplizen zu sagen: „Niemand auf der Welt versteht oder könnte auch nur verstehen, was ich in meinem Leben gethan habe. Es giebt Niemanden, der es thun könnte.“ Mit ähnlichem Stolze sprechen die Helden Sade’s über ihre Unthaten. Schon Eulenburg hat hervorgehoben, dass der Marquis de Sade nicht nur dem Marschall Retz an „verschiedenen Stellen von ‚Justine et Juliette‘ begeisterte Nachrufe widmet“, sondern dass er ihm auch „würdige Genossen“ giebt, u. a. in jenem Jérôme (Bd. 3 der Justine), der als Schlossherr in Sicilien durch seine Agentin Clementia überall Kinder aufgreifen und ankaufen lässt, um sie ganz im Stile des Gilles de Rais zu Tode zu martern.[434]

Das eigene Zeitalter des Marquis de Sade war aber überreich an einer Fülle ähnlicher Gestalten! Sade schildert, wenn er[S. 273] auch auf ethnologische Vorbilder und Persönlichkeiten einer fernen Vergangenheit zur Ergänzung des von ihm gezeichneten Sittenbildes zurückgreift, immer doch noch mehr seine eigene Zeit mit all ihren wilden Trieben, ihrer Wollust und ihrem Blutdurst. „Wie viele geheime, privilegierte Verbrecher“, sagt J. Michelet, „gab es, die man nicht zu verfolgen wagte! Die Mächtigen oder die durch Mächtige Geschützten überliessen sich entsetzlichen Phantasien, die sie oft zum Morde führten“.[435] Michelet erzählt, dass ein Parlamentsrat ein junges Mädchen grausam misshandelte und darauf vergewaltigte. Er tötete seinen Kutscher, der sein Komplize war. Später, als die Sache doch ruchbar wurde, sich selbst.

Sade erwähnt sehr häufig den Grafen Charolais (z. B. Philosophie dans le Boudoir I, 153, II, 131), der „Morde aus Wollust begangen habe“. Dieser Graf von Charolais (1700–1760) „düsteren Angedenkens“ verband nach Moreau den empörendsten Cynismus mit einer kaum fassbaren Wildheit. Er liebte, Blut bei seinen Orgien fliessen zu sehen und richtete die ihm zugeführten Courtisanen in grausamer Weise zu. „Inmitten seiner Ausschweifungen mit seinen Maitressen war ihm nichts angenehmer, als mit seiner Flinte Dachdecker oder Passanten zu erschiessen“.[436] Das Herabrollen der Leichen vom Dache bereitete ihm ein unendliches Vergnügen.[437] Auch der Abbé de Beauffremont soll die Menschen von den Dächern[S. 274] heruntergeschossen haben.[438] Sade hat ebenfalls diese eigenartige Monomanie in das Register seiner sexuellen Perversionen aufgenommen. Juliette erschiesst ihren Vater, während sie sich mit einem anderen Manne geschlechtlich befriedigt, um den Genuss zu erhöhen (Juliette III, 115).

Nach Michelet (a. a. O.) liebte dieser Charolais das schöne Geschlecht nur „im blutigen Zustande“. Sein Vater, der Prinz von Condé, hatte schon ein Vergnügen daran gefunden, Menschen zu vergiften, so z. B. den Dichter Santeul, und hatte auf seine beiden Söhne, den Herzog von Bourgogne und den Grafen Charolais diese perversen Neigungen vererbt. Beide bedienten sich als einer Helfershelferin bei ihren Orgien der Madame de Prie. Eines Tages erschien, wie Michelet erzählt, bei derselben eine Madame de Saint-S., die alsbald von den sauberen Herren Prinzen nackt ausgezogen wurde, et Charolais la roula dans une serviette. Trotz dieses Erlebnisses liess sich die Unglückliche noch einmal in das Haus der de Prie locken und wurde diesmal „wie ein Hühnchen gebraten“. Von ihren schweren äusseren und inneren Brandwunden erholte sie sich erst nach mehreren Jahren. Ausdrücklich erwähnt Michelet, dass der Herzog von Bourgogne diese grausame Idee hatte. Sollte dieses Scheusal nicht in dem Herzog Dendemar in der „Juliette“ geschildert sein, der die nackten Leiber von vier Freudenmädchen mit brennendem Oel begiesst (Juliette I, 352)? Es ist doch sehr wahrscheinlich.

Ganz unverkennbar ist dagegen die folgende Uebereinstimmung und Entlehnung. Die Goncourts er[S. 275]zählen von dem Herzog von Richelieu, dem Helden der berüchtigten Pastillen, dass es ihm ein besonderes Vergnügen bereitete, die von ihm gequälten Menschen weinen zu sehen.[439] Bei Sade (Justine I, 14) kommt ein Grosskaufmann Dubourg vor, dessen grösster geschlechtlicher Genuss darin besteht, Kinder und Mädchen weinen zu machen.

Der berüchtigte Anthropophage Blaize Ferrage, genannt Seyé, scheint ebenfalls dem Marquis de Sade als Vorbild gedient zu haben. Dieser Mensch „hauste 1779 und 1780 in den französischen Gebirgsabhängen der Pyrenäen“ tötete Männer, Frauen und besonders junge Mädchen; Männer ass er nur aus Hunger, hingegen benutzte er die Frauen vor dem Morde zu sexuellen Genüssen, und es wurde berichtet, dass er besonders an Kindern seine Wollust auf die brutalste Weise befriedigte. Am 12. Dezember 1782 zum Tode durch das Rad verurteilt, wurde er, erst 25 Jahre alt, schon am folgenden Tage hingerichtet.[440] Sade schildert ebenfalls einen solchen Anthropophagen, der wie Ferrage im Gebirge sein Wesen treibt. Das ist Minski, der „Eremit der Apenninen“ (Juliette III, 313).

Brunet erwähnt noch mehrere sadistische Typen des 18. Jahrhunderts.[441] Ein vornehmer Pole, Verfasser verschiedener historischer Werke, der Graf von Potocki, soll Missethaten „dans le genre de ceux du marquis de Sade“ begangen haben und infolgedessen aus seinem Vaterlande verbannt worden sein. In Lyon[S. 276] waren vor der Revolution die Sitten so verderbt, dass zahlreiche sadistische Attentate sich ereigneten, und Michelet mit Recht in seiner „Geschichte der französischen Revolution“ behauptet, dass „nicht ohne Grund ein nur zu berühmter Schriftsteller mehrere Episoden eines verabscheuungswürdigen Romans in Lyon sich abspielen lasse“.

Wir können diese Bemerkung Brunet’s noch durch eine merkwürdige Stelle bei Sade bekräftigen. Im vierten Bande der „Justine“ entflieht die Titelheldin nach Lyon, wo sie einen gewissen Saint-Florent wiedertrifft, der die von ihm deflorierten jungen Mädchen sofort durch einen Mädchenhändler verkaufen lässt. An dieser Stelle sagt Sade ausdrücklich, dass dieser Mädchenhändler von Lyon eine historische Persönlichkeit sei. Es sei keine Fabel (Justine IV, 64–71).

Jean Paul Marat, auf den der Marquis de Sade am 29. September 1793 eine noch erhaltene emphatische Gedenkrede hielt, dieser ohne Zweifel Blutdürstigste unter den grossen Revolutionären, wird dem Marquis manche Ideen, die wir in dessen Romanen finden, eingegeben haben. Er „geberdete sich wie ein Trunkener, der sich im Blute berauscht hat und von dem Dunst des vergossenen Blutes zu immer rasenderer Gier gereizt wird.“ Vor allem riet er in seinem „Ami du peuple“ die grossen Massenmorde an und forderte immer wieder zu deren Wiederholung auf.[442] Wir werden die Pläne derartiger Massenmorde mehr als einmal in den Romanen des Marquis de Sade antreffen.

Sonderbar ist die Behauptung des oben erwähnten phantasievollen deutschen Autors, dass „Justine“ und[S. 277] „Juliette“ „eigentlich nichts als eine Autobiographie des Marquis de Sade“ seien, dass Justine identisch sei mit der Mademoiselle Aroût, Juliette mit der Gräfin de Bray.[443]

Ebenso merkwürdig ist, dass der Geschmack an menschlichen Excrementen, der in Sade’s Romanen eine so grosse Rolle spielt und der ja auch heute noch als besonderes psychopathologisches Phaenomen vorkommt, auch historisch in einer eigentümlichen Weise belegt werden kann. Unter Ludwig XIV. trug der Intendant Bullion immer eine goldene Dose bei sich, die, statt mit Tabak, mit menschlichen Faeces gefüllt war![444] In einer obscönen Schrift „Merdiana, ou Manuel des chieurs“[445] ist ein Mann dargestellt, wie er „tabak à la rose“ fabriciert.

26. Italienische Zustände im 18. Jahrhundert.

Im Jahre 1772, nach der Marseiller Skandalaffäre, entfloh der Marquis de Sade mit seiner Schwägerin nach Italien, wo er sich 5 bis 6 Jahre aufhielt. Die Frucht dieses Aufenthaltes war die Schilderung der italienischen Zustände, die mehr als drei Bände der „Juliette“ in Anspruch nimmt. (Vom Ende des dritten Bandes bis zum Ende des sechsten Bandes.) Er[S. 278] selbst macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass er Italien aus eigener Anschauung kenne, indem er sagt (Juliette III, 290): „Diejenigen, welche mich kennen, wissen, dass ich Italien mit einer sehr hübschen Frau durchreist habe, dass ich ‚par unique principe de philosophie lubrique‘, diese Frau dem Grossherzog von Toskana, dem Papste, der Prinzessin Borghese, dem König und der Königin von Neapel vorgestellt habe. Sie dürfen also überzeugt sein, dass alles, was die ‚partie voluptueuse‘ betrifft, exakt ist, dass ich thatsächlich die wirklichen Sitten der erwähnten Persönlichkeiten geschildert habe. Wären die Leser Augenzeugen der Szenen gewesen, sie hätten sie auch nicht aufrichtiger und getreuer beschreiben können. Auch in Betreff der Reiseschilderungen darf der Leser versichert sein, dass ich mich der grössten Genauigkeit befleissigt habe.“ Trotz dieser Versicherung kommen in Sade’s Erzählung sehr viele Ungeheuerlichkeiten und Uebertreibungen vor, wie wir bei der späteren Analyse der „Juliette“ sehen werden. Aber ein Kern von Wahrheit ist auch hier nachweisbar, bestimmte von Sade geschilderte Verhältnisse sind wieder auffindbar, so dass wir auf die italienischen Zustände im 18. Jahrhundert einen kurzen Blick werfen wollen.

Italien ist ja ohne Zweifel die Pflanzschule der echt modernen, raffinierten Unzucht, die, nebenbei bemerkt, stets am besten in den spezifisch katholischen Ländern, an den Stätten der Askese und des Coelibats gediehen ist. Brauchen wir an Pietro Aretino, an Papst Alexander VI., an Lucrecia und Cesare Borgia, an Giulio Romano und Augusto und Annibale Carracci, diese grossen Praktiker und Künstler der Wollust zu erinnern? Wie unschuldig und naiv muten uns dagegen die[S. 279] Liebesabenteuer in Boccaccio’s „Decamerone“ an! Freilich, damals gab es auch noch keine Jesuiten. Die Renaissance und der Jesuitismus bezeichnen eine neue Epoche in dem Geschlechtsleben Italiens, die vielleicht die reichsten kulturhistorischen Beziehungen aller Art aufweist und von uns in einer der folgenden Studien einer genauen Untersuchung unterzogen werden wird. Hier berühren wir kurz die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts.

Der Marquis de Sade schildert die Verbreitung der Prostitution in Italien als eine geradezu ungeheuerliche. Alle Städte, die Juliette besucht, wimmeln von Dirnen aus hohem und niederem Stande, die besonders bei den grossen mit Ausschweifungen verbundenen Festen in den Häusern des Adels ihre Reize glänzen liessen und sich im allgemeinen eines hohen Ansehens erfreuten. Sade berichtet denn auch häufig über solche Dirnentriumphe. Nach den Glossatoren des Papstrechtes war ja der Begriff einer „Hure“ sehr weit gefasst. Nur diejenige könne man eine wahre Hure nennen, die 23000 Mal — gesündigt habe![446] Casanova fand die Gärten des Grafen Friedrich Borromeo auf den „borromeischen Inseln“ angefüllt mit „einem Schwarm junger Schönheiten“. Der venetianische Gesandte in Turin hielt bei sich offene Tafel, und man „betete hier öffentlich das schöne Geschlecht an“. — Bologna, dessen sittliche Corruption auch von Sade geschildert wird (Juliette III, 306), wimmelte von „singenden und tanzenden Nymphen“[447]. Beson[S. 280]ders ausgeartet war das Geschlechtsleben in Venedig, von dem der Marquis de Sade schreckliche Dinge erzählt (Juliette IV, S. 144 ff.). Die Courtisane, schon seit Jahrhunderten „die Pest welscher Städte“, wurde in Venedig vergöttert. Wo bot aber auch ein Ort in der Welt, „so reizende Verlockung und Sinnengenuss jeder Art? Wo war die Ehe der Intrigue zugänglicher als in der Stadt, wo die Sitte des Cicisbeats die Strenge der Pflicht längst zu einem lächerlichen Vorurteil gestempelt? Wo waren die Courtisanen schönere, gebildetere und vollkommenere Priesterinnen Cytherens? Wo bot die Licenz adliger Jungfrauenklöster, die Prostitution der Vestalinnen, einen feineren Reiz für sinnliche Romantik, erhöht durch Gefahr, als zu Marano und San Giorgio? Wo gewährte der Carneval und die Maskenfreiheit, mitten in lauen, schmeichelnden Sommernächten, so mühelos die entzückendsten Abenteuer? Wo gab es ausgesuchtere Tafelfreuden und köstlicheren heisseren Wein bei Orgien im Geschmacke des klassischen Altertums? Wo prachtvollere Opern, entzückendere Stimmen, nacktere Terpsichoren, pikantere Festlichkeiten? Wo konnte der adlige Hang zum Glücksspiele in volleren Goldhaufen sich sättigen? Nach Venedig ging daher der erste Zug aller vornehmen Lüstlinge; verdorben, ärmer an Glücksgütern und an Lebenskraft, selten mit Reue, kehrten sie heim, nachdem jedes Einzelnen Sünde die Sündhaftigkeit der Stadt gesteigert hatte. Diese Bedeutung Venedigs, als der Metropole der raffinierten Freiheit des Sinnengenusses, geht aus der geheimen Geschichte und den Memoiren der Fürsten und Vornehmen hervor. Nur ein bestimmt ausgesprochener Zweck führte alle nach der Stadt der Lagunen.“[448] Infolge[S. 281] dessen erfreuten sich in der Republik Venedig die Prostituierten des ganz besonderen Schutzes der Regierung und waren sogar der einzige erlaubte Gegenstand des sonst durch die Gesetze streng verpönten Luxus der Nobili.[449] Montesquieu schreibt: „In Venedig zwingen die Gesetze die Adeligen zu einer bescheidenen Lebensweise. Sie sind so an Sparsamkeit gewöhnt, dass nur die Buhlerinnen sie dazu vermögen können, Geld auszugeben. Man bedient sich dieses Wegs, um die Betriebsamkeit zu befördern: die verächtlichsten Weibespersonen verschwenden dort ohne Gefahr, während ihre Liebhaber das armseligste Leben von der Welt führen.“[450] Casanova berichtet interessante Einzelheiten über das Leben und Treiben der Venetianischen Dirnen um 1750, speziell der berühmten Courtisane Juliette. Sade erzählt (Juliette VI, 147) von den Besuchen eines alten Prokurators im Bordell der Durand. Bei Casanova kommen ebenfalls die galanten Abenteuer des Prokurators Bragadin vor.[451]

Italien ist das gelobte Land der Paederastie, noch heute. Drastisch sagt der Marquis de Sade, in diesem Punkte gewiss ein richtiger Beobachter: „Le cul est bien recherché en Italie“. (Juliette III, 290.) Das ist ein Erbteil aus Griechenland und Rom. Und jeder, der von Liebe zu den klassischen Studien und antiker Kunst leidenschaftlich ergriffen, den Boden Italiens betrat, war dieser Gefahr ausgesetzt, wie das Beispiel unse[S. 282]res J. J. Winckelmann beweist. Schon Dante erwähnt im 15. und 16. Gesange des „Inferno“, die grosse Verbreitung der Männerliebe in Italien.[452] Papst Sixtus IV. (1471 bis 1484) huldigte in ausgedehntem Masse der Paederastie und soll seine Ganymede zu Kardinälen erhoben haben. Einige Kardinäle baten den Papst, in der heissen Jahreszeit Paederastie treiben zu dürfen, worauf der Papst die Erlaubnis hierzu erteilt haben soll. Auf Sixtus IV. fand der folgende obscöne Vers Anwendung:

Roma quod inverso delectaretur amore
Nomen ab inverso nomine fecit Amor.

Sixtus war grausam und fand Gefallen am Ansehen blutiger Schauspiele. Sein angeblicher Neffe Pietro Riario, wahrscheinlich aber sein Sohn, lebte inter scorta atque exoletos adolescentes, und war ebenfalls Paederast. Michel Angelo soll der Knabenliebe gefröhnt haben.[453] Der Maler Giovanni Antonio Razzi (1479–1564) bekam wegen dieser Neigungen den Beinamen il Sodoma.[454] Papst Julius III. (1550–1555) ist ebenfalls hier zu nennen. „Dans le conclave même, il pratiquait l’acte de sodomie avec les jeunes pages attachés à son service, et loin d’en faire un mystère, il affectait de se laisser surprendre en flagrant délit par ses collègues.“[455]

Im 18. Jahrhundert war die Paederastie in Italien an der Tagesordnung. Man konnte sogar Gefahr laufen, von Paederasten vergewaltigt zu werden. Casanova erzählt einen solchen Ueberfall, den ein Mann auf ihn[S. 283] machte. Ebenso von einem Knaben Petronius, der als ein gewerbsmässiger Prostituierter in Ancona thätig war. Der Kardinal Brancaforte, einer der grössten Wüstlinge der Welt, der nach Casanova „nicht aus den Bordellen herauskam“, war der Paederastie sehr verdächtig. Als bei Gelegenheit seines Aufenthaltes in Paris eine junge Paduanerin ihm in der Beichte gestand, dass ihr Mann sich bei ihr gewisse Freiheiten herausgenommen hätte, die durch den Ehecodex streng verboten würden, fesselte der üppige Kardinal sein Beichtkind sehr lange an diesen kitzlichen Gegenstand. Ehe er ihr die Absolution erteilte, wollte er die genauesten Umstände erfahren. Bei jeder Mitteilung wurde er von Begierde verzehrt und rief aus: „Es ist ungeheuer! — Es ist monströs! — Ach, meine Teure, Sie haben eine abscheuliche Sünde begangen, aber es ist eine sehr hübsche Sache.“[456] Noch eine andere ähnliche Anekdote wird von Casanova mitgeteilt.

Noch heute ist die männliche Prostitution in Italien so öffentlich wie in keinem anderen Lande. In Neapel „bieten sich abends auf der Via Toledo junge Männer dem Vorübergehenden an, und die Zwischenhändler preisen dort nicht nur ihre weibliche, sondern auch die männliche Ware an.“ Moll, der dies mitteilt, meint auch, dass in Italien die Homosexualität stets etwas mehr hervortrat als in andern Ländern Europas. J. L. Casper berichtet 1854, dass in Neapel und Sicilien dem Reisenden am hellen Tage von auf den Strassen lungernden Kupplern un bellissimo ragazza schamlos angeboten wurde, wenn man ihre Anträge, Weiber betreffend, zurückwies.[457]

[S. 284]

Dass der italienische Klerus des 18. Jahrhunderts einen grossen Anteil an diesen sexuellen Ausschweifungen hatte, brauchen wir wohl nicht weiter anzuführen. Dafür spricht schon die geradezu ungeheuerliche Zahl der Geistlichen jeder Art, die im ganzen Lande verbreitet waren. Gorani, dessen mit Recht berühmte Memoiren wir mit grossem Vergnügen gelesen haben und dessen Glaubwürdigkeit durch neuere Forschungen noch mehr bekräftigt worden ist, berichtet, dass das Königreich Neapel ohne Sicilien unter 480000 Einwohnern etwa 60000 Mönche, 3000 Laienbrüder und 22000 Nonnen zählte. Dieser Klerus war von einer „unglaublichen Ignoranz“, von einer ungeheuerlichen „débauche crapuleuse“. Seine Sitten seien noch verderbter als die der Mönche aller übrigen katholischen Länder. „Mord, Schändung und Gift sind ihnen vertraut.“ Gorani berichtet über verschiedene haarsträubende Verbrechen von Priestern. Die Nonnenklöster seien Schauplätze der wüstesten Orgien. Dabei war der Klerus so reich, dass er fast ein Drittel aller Güter im Lande besass.[458] Die Geistlichen gaben denn auch in der Liebe den Ton an. Das war seit Boccaccio’s Zeiten nicht anders geworden. Casanova berichtet darüber aus dem 18. Jahrhundert allerlei Ergötzliches. So z. B. führt ihn ein Mönch in Chiozza in ein Bordell, wo er freilich das Unglück hat, sich zu inficieren. Als Casanova noch selbst als Geistlicher mit einem Franziskaner auf der Wanderschaft war, wurden sie von zwei nymphomanischen Megären überfallen. Man muss also damals gerade den Geistlichen allerlei zugetraut haben.[459] Das[S. 285] scheussliche Unwesen der Castraten für geistliche Zwecke ist ein weiterer Beweis für die tiefe Depravation des italienischen Klerus.

Zoophilie und Sodomie waren ebenfalls seit jeher in Italien mehr verbreitet als in einem andern Lande. Der Marquis de Sade lässt denn auch bei einer Orgie im Hause der Prinzessin Borghese einen Truthahn, eine grosse Dogge, einen Affen und eine Ziege als maîtres de plaisir aufmarschieren! (Juliette IV, 262). Noch heutzutage sollen nach Metzger die Ziegenhirten in Sicilien im allgemeinen Ruf stehen, dass sie sich mit ihren Ziegen abgeben.[460] Der Kardinal Bellarmin trieb seit 1624 mit Weibern verbotenen Umgang und hatte noch nebenher „vier schöne Ziegen auf der Streu.“[461]

Einzelne von Sade erwähnte italienische Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts bedürfen noch besonderer Erwähnung. Im fünften Bande der „Juliette“ wird ein üppiges Gartenfest beim Fürsten von Francavilla geschildert (S. 326 ff.). Diese Gartenfeste bei den neapolitanischen Granden sind historisch. Casanova berichtet ebenfalls, dass Francavilla, „ein entschiedener Epikuräer, voll Geist, Anmut und Unverschämtheit“, im Jahre 1770 ein glänzendes Fest für alle Fremden gab. Er liess seine jungen und schönen Pagen beim Schwimmkampfe im Wasser „erotische Verschlingungen“ ausführen, bei denen sich „die Damen sehr gut unterhielten“[462]. Der bei Sade (Juliette IV, 156 u. ö.) erwähnte Kardinal Bernis wird auch von Casanova als sehr unheilig geschildert.

[S. 286]

Leopold I. von Toskana, der „grand successeur de la première putain de France“ (Juliette IV, 36) soll nach Sade ebenfalls ein erotisches Scheusal gewesen sein. Hierbei hat wohl der Hass gegen das Haus Oesterreich ein Wort mitgeredet. Casanova, der ein fesselndes Bild von dem Abenteurerleben in Florenz entwirft, sagt über Leopold aus, dass er „eine entschiedene Leidenschaft für das Geld und die Weiber hegte.“[463] Besonderes Interesse beanspruchen die Schilderungen des Papstes Pius VI. und der Königin Karoline von Neapel bei Sade.

1. Papst Pius VI.

Dieser Papst war nach Sade (Juliette IV, 268) ein grosser Lüstling, dem Juliette eine lange Rede über die Zuchtlosigkeit der Päpste aller Zeiten hält (IV, 270 ff.), wobei sie ihn mit „alter Affe“ anredet (IV, 285). Nachher muss dann auch Seine Heiligkeit eine ebenso lange Rede halten an deren Schlusse dieser Wahrheitsapostel den Mord für die „einfachste und legitimste Handlung auf der Welt“ erklärt (IV, 370) und in seinen nunmehr geschilderten Orgien hinter dieser Versicherung nicht zurückbleibt (V, 1 ff.).

War Pius VI. ein solcher Mensch? Dies kann nur zum Teil bejaht werden.

Pius VI. (1775–1798), vorher Giovanni Angelo, Graf Braschi, war einer der schönsten Männer seiner Zeit, „hochgewachsen, von edlem Aussehen, blühender Gesichtsfarbe“. Er trug sein päpstliches Gewand mit einer Art von Koketterie und trug vor allem seine schönen — Beine zur Schau, indem er[S. 287] stets sein langes Gewand an der einen Seite etwas aufhob, so dass wenigstens ein Bein sichtbar war, auch legte er grosses Gewicht auf eine schöne Frisur. Diese Eitelkeit geisselte das folgende Distichon:

Aspice, Roma, Pium. Pius! haud est: aspice mimum.
Luxuriante coma, luxuriante pede.

Er liess sich denn auch von der Geistlichkeit und den Gläubigen gehörig anbeten, mit einer „vénération stupide“, der aber manchmal ein ironischer Beigeschmack nicht fehlte. Seine Ausfahrten geschahen mit ungeheuerem Gepränge. Draussen war Pius ein Gott, im Vatican ein vielfach verspotteter Mensch. Zeigte er sich auf der Strasse, so riefen die Frauen: Quanto è bello, quanto è bello! Und man behauptete, dass Pius sich dadurch mehr geschmeichelt gefühlt habe als durch die Huldigung der Kardinäle. Der Kardinal Bernis nannte ihn ein lebhaftes Kind, das man immer bewachen müsse.[464] Auch Coletta schildert diesen Papst als einen „bildschönen Mann“, von grosser Liebe zum Putze und weibischen Eigenschaften.[465] Er war im Gegensatz zu seinem Vorgänger Clemens XIV. den Jesuiten zugeneigt.[466] Was sein Verhalten in geschlechtlicher Beziehung betrifft, so begünstigte er nach Casanova (Bd. XVII, S. 169) die Prostitution, hielt nach Gorani selbst viele Maitressen und trieb sogar Incest mit einer natürlichen Tochter.[467] Bourgoing dagegen findet ihn in sexueller Hinsicht ganz rein und sagt, dass Pius[S. 288] VI. seine Zeit zwischen den religiösen Pflichten, seinem Cabinet, Museum und der vatikanischen Bibliothek teilte.[468]

2. Die Königin Karoline von Neapel.

Die Königin Karoline von Neapel schildert der Marquis de Sade als vollendete Tribade (Juliette V, 258), und beschreibt ihre Reize „nach der Natur“. Sie sowohl, wie ihr Gemahl, der König Ferdinand IV., zeichnen sich durch einen hohen Grad von wollüstiger Grausamkeit aus, die sich in verschiedenen von Sade geschilderten wilden Ausbrüchen äussert, so z. B. bei dem grossen neapolitanischen Volksfeste, bei dem 400 Personen getötet werden. (Juliette VI, 1.)[469]

Hier hat der Marquis de Sade wirklich durchaus „nach der Natur“ geschildert. Man darf sagen, dass von Helfert’s Aufsehen erregender Versuch einer Ehrenrettung der Königin Karoline von Neapel[470] vollständig misslungen ist, wie die bündige Widerlegung der Helfert’schen Ausführungen durch Moritz Brosch wohl definitiv dargethan hat.[471] Danach bestehen die von Gorani, Coletta und vielen anderen dargebotenen Enthüllungen über die Sittenlosigkeit der Königin Karoline zu Recht.

Coletta sagt von ihr, dass sie „mehr als eine[S. 289] Leidenschaft besass, rachsüchtig und hochfahrend war und durch eine glühende Wollust verblendet wurde“.[472]

Gorani, der den Stoff zu seinem berühmten Werke in den Jahren 1779 bis 1780 und 1789 bis 1790 sammelte, richtete seine Angriffe besonders gegen die neapolitanischen Zustände, denen wohl das bekannte Motto seiner Memoiren gilt:

Des tyrans trop longtemps nous fûmes les victimes,
Trop longtemps on a mis un voile sur leurs crimes.
Je vais le déchirer....

Karoline ist die „österreichische Megäre“, die die ganze Wollust einer Messalina mit den unnatürlichen Gelüsten einer Sappho verbinde. Sie gab sich ohne Wahl und ohne Scham den verächtlichsten und verworfensten Männern hin und unterhielt mit ihrem Minister Acton eine Liaison. Dieses „unique monstre de cette espèce“ tötete alle ihre Kinder oder machte sie krank. Einmal schrie ihr Gemahl Ferdinand ihr durch’s Schlüsselloch zu: „Ce n’est point une reine, une épouse, une mère, que l’Autriche nous a’donnée, c’est une furie, une mégère, une Messaline qu’elle a vomie dans sa colère et lancée parmi nous“.[473]

Besonders berüchtigt wurde Karolinen’s Verhältnis zu der berühmten Lady Emma Hamilton, der Geliebten Nelson’s. Coletta’s Urteil über diese tribadische Liaison der Beiden ist von allen gewissenhaften Forschern bestätigt worden: „Nella reggia, nei teatri, al publico passeggio Emma sedeva al fianco della regina; e spesso, ne’ penetrali della casa, la mensa,[S. 290] il bagno il letto si godevan communi. Emma era bellezza per tutte le lascivie“.[474]

Die von Sade beschriebene Orgie in den Ruinen von Herculanum und Pompeji (Juliette V, 340 ff.) ist wohl in Wirklichkeit öfter gefeiert worden. Denn im Jahre 1798 wurde zu Ehren Nelson’s an diesen Stätten ein solches üppiges Fest veranstaltet.

Auch der grosse Massenmord, von dem Sade spricht, ist historisch. Am 18. Oktober 1794 gab es einen grossen, mutwillig hervorgerufenen Strassenkampf in Neapel, bei dem 30 Menschen getötet und viele verwundet wurden.

Alle übrigen neapolitanischen Zustände erscheinen in der Wirklichkeit ebenso schlimm, wie sie in der „Juliette“ dargestellt werden. Nach Gorani soll die römische Kaiserzeit keine solche Sittenverderbnis gesehen haben, wie diejenige am Hofe von Neapel, keine solche Messalina, wie die Königin Karoline. Nelson sagte von Neapel: „Von den Frauen ist nicht eine tugendhaft, von den Männern ist nicht ein einziger, der nicht an den Galgen oder auf die Galeere gehörte.“[475] Ja, nach Gorani muss Neapel lauter Gestalten aus den Romanen des Marquis de Sade enthalten haben. Der Neapolitaner sei von Natur böse, überlege sich mit kaltem Blute die Verbrechen, die er begehen wolle, und füge denselben noch tausend Grausamkeiten hinzu. 30000 Menschen trieben sich obdachlos umher. Die[S. 291] Zahl der Gefangenen sei ausserordentlich gross. Die Frauen liessen ihre Geliebten durch Spione bewachen, während sie selbst treulos seien. Die öffentlichen Mädchen seien sehr schön, wohnten aber schlecht. Die schönsten seien Ausländerinnen, die eingeborenen Frauen seien hässlich und unreinlich, aber „très ardentes pour le plaisir“. Der ungeheuer grosse Mund derselben komme von dem vielen Reden und Gesticulieren, so dass ein hübscher kleiner Mund eine Rarität sei.

König Ferdinand IV. von Neapel war nach Gorani ein Lüstling von grausamem Herzen, dessen Passion es war, Kaninchen, Hunde, Katzen und zuletzt Menschen zu quälen und zu töten, daneben zahlreiche Liebesverhältnisse zu unterhalten, während Acton und die Königin Karoline ohne ihn ihre nächtlichen Orgien veranstalteten.[476]

Wir sehen, dass auch hier der Marquis de Sade wiederum die Wirklichkeit ziemlich getreu abkonterfeit hat, und dass seine Werke daher einen hohen kulturhistorischen Wert besitzen, den wir in diesem ersten Abschnitt zur Genüge nachgewiesen zu haben glauben.

[S. 292]

II.
Das Leben des Marquis de Sade.

Die Vorfahren.

1. Petrarca’s Laura.

Era ’l giorno ch’al sol si scoloraro
Per la pietà del suo Fattore i rai,
Quand’ i’ fui preso, e non me ne guardai,
Che i be’ vostr’ occhi, Donna, mi legaro.
Es war der Tag, da um des Heilands Wunden
Die Sonne einen Trauerflor getragen,
Als ich in Amor’s Fesseln ward geschlagen,
Von Deinen schönen Augen überwunden.

Wer kennt sie nicht, die berühmten Verse des berühmtesten Sonettes von Francesco Petrarca, zum Preise der ersten Begegnung mit seiner Laura, der Madonna Laura, der Vielgeliebten? Jener Laura, der wir die duftigsten Blüten der Liebespoesie in der schönsten Sprache der Welt verdanken. Wie kommt sie, diese Himmelserscheinung, dieses Symbol der[S. 293] zartesten Gefühle in ein Buch über den Marquis de Sade? Jene Laura, die Petrarca an dem denkwürdigen Montag der heiligen Woche des Jahres 1327 (6. April) in der Kirche Santa Chiara zu Avignon zum ersten Male erblickte, eine Tochter des Syndikus von Avignon, Ritter Audibert de Noves, war die Gemahlin eines Hugo de Sade, des Stammvaters der Familie de Sade.[477] So hat ein „grausamer Witz der Litteraturgeschichte die Objektivation selbstlosester, fast unirdischer Liebessehnsucht und den litterarischen Hauptvertreter unerhörtester erotischer Ausschweifung und Verirrung in derselben Familie zu greller Kontrastwirkung vereinigt.“[478] Am Anfange Himmelglanz, am Ende Finsternis der Hölle. Voilà, voilà, en effet, de tristes et amères leçons d’égalité![479] In allen guten und bösen Stunden des Hauses derer de Sade blieb Laura der Schutzengel derselben und vereint mit Petrarca, dem göttlichen Sänger, Gegenstand einer hingebenden Verehrung. Sie war nach Janin die „weisse Dame“ des Hauses de Sade, der Ruhm und Stolz desselben. Sehnsüchtig blickten alle Sprösslinge dieser edlen provençalischen Familie immerdar nach dem stillen und sonnigen Thal von Vaucluse, einst verherrlicht durch die goldenen Lieder eines Dichters von Gottes Gnaden. Ihm, Petrarca, ewig Ruhm und Dank! Selbst der Marquis de Sade, dem nichts mehr heilig ist, neigt sich vor ihm, von dem der Glanz seines Hauses ausging, dem „aimable chanteur de Vaucluse.“ (Juliette IV, 131.)

[S. 294]

2. Die übrigen Vorfahren.

Hugo de Sade, der Gatte Laura’s, der Stammvater der Familie, genannt „der Alte“, hinterliess mehrere Söhne, von denen Paul de Sade Erzbischof von Marseille wurde und der Vertraute der Königin Jolande von Aragonien. Er starb 1433 und vermachte seine Güter der Kathedrale von Marseille.

Hugo oder Hugonin de Sade, der dritte Sohn des ersten Hugo de Sade und der schönen Laura war der Stammvater der drei Zweige des Hauses, der von Mazan, Eiguières und Tarascon.

Sein ältester Sohn Jean de Sade war ein gelehrter Jurist, der von Ludwig II., König von Anjou, zum ersten Präsidenten des ersten Parlaments der Provence ernannt wurde, während sein Bruder Elzéar de Sade, Grosskanzler des Gegenpapstes Benedikt XIII., dem Kaiser Sigismund so grosse Dienste erwies, dass es ihm gestattet wurde, in sein Wappen den kaiserlichen Adler aufzunehmen, der noch heute dasselbe schmückt.

Pierre de Sade, vom Zweige d’Eiguières oder Tarascon, war der erste Landvogt von Marseille (1565 bis 1568). Er reinigte die Stadt von allen schlechten Elementen.

Jean Baptiste de Sade, Bischof von Cavaillon seit 1665, schrieb „Réflexions chrétiennes sur les psaumes pénitentiaux“. (Avignon 1698). Er starb am 21. Dezember 1707.

Joseph de Sade, Seigneur d’Eiguières, geboren 1684, focht 1713 bei Landau und Friedberg, wurde im Jahre 1716 Ritter des Malteserordens, nahm als Oberst 1736 bis 1745 an den Feldzügen in Böhmen, am Rhein[S. 295] und in Flandern teil. 1746 zum Gouverneur von Antibes ernannt, wurde er hier von den Oesterreichern, Sardiniern und der englischen Flotte belagert. Im Jahre 1747 Feldmarschall, starb er den 29. Januar 1761.

Hippolyte de Sade, dem Voltaire zu seiner Hochzeit am 12. November 1733 ein Gedicht schickte, das der Empfänger sofort in demselben Versmass erwiderte,[480] war Marineoffizier, wurde Geschwaderchef (1776) und zeichnete sich in der Seeschlacht bei Onessant (1778) aus. Er starb vor Cadix im Jahre 1788.

Jacques François Paul Alphonse de Sade, der Onkel unseres Marquis de Sade, hat auf diesen den grössten Einfluss ausgeübt und muss deshalb ausführlicher behandelt werden. Er wurde im Jahre 1705 geboren als der dritte Sohn von Gaspar François de Sade und widmete sich dem Studium der Theologie, wurde Generalvikar der Erzbischöfe von Toulouse und Narbonne (1735), hielt sich lange Jahre in Paris auf, wo er „sehr profane und glückliche Tage“ an der Seite der schönen Madame de la Popelinière, der Geliebten des Marschalls von Sachsen verlebte. Er war ein eleganter Schriftsteller, ein geistvoller Mann, der sich „allen frivolen Genüssen des 18. Jahrhunderts“ hingab,[481] um zur rechten Zeit dem „Skepticismus, den wenig verhüllten Grazien, dem guten Geschmack und Luxus von Paris“ Valet zu sagen und sich in die ländliche Einsamkeit im Thale von Vaucluse zurückzuziehen, wo er sein Leben fortan verbrachte, nicht in strenger Askese und unfruchtbarer Reue über die bewegte Ver[S. 296]gangenheit, sondern in dem Cultus, den er dem guten Genius seines Hauses weihte. Die schöne Laura wurde für François de Sade der ganze Inhalt seines Lebens. Hier in Saumane schrieb er jenes Werk über Petrarca und seine Laura, welches noch heute durch die Sorgfalt der Untersuchungen und die Mitteilung zahlreicher merkwürdiger Details aus dem Leben der Beiden jedem Petrarca-Forscher unentbehrlich ist: die „Mémoires sur la vie de François Pétrarque“ (Amsterdam 1764, 3 Bände). Ferner gab er eine vorzügliche Uebersetzung der Werke des Dichters heraus, und endlich die nicht minder inhaltreichen und für die Geschichte des 14. Jahrhunderts wichtigen „Remarques sur les premiers poètes français et les troubadours“. Er starb den 31. Dezember 1778.

Wenn man von einer „hereditären Belastung“ des Marquis de Sade sprechen will, so kann man nur an diesen Oheim denken. Denn es ist häufig, dass der Neffe die Eigenschaften des Onkels und nicht die des Vaters erbt. Hierzu kommt, dass der Oheim eine Zeit lang die Erziehung des Neffen leitete. Jedenfalls teilte der Letztere, allerdings in potenziertem Masse, die Neigungen des Oheims einerseits zu Frivolität und zu einem galanten Leben, andererseits zur Schriftstellerei. Auch der Marquis de Sade war ein Bibliophile. Und wenn der Oheim nur in der Jugend der Liebe huldigte, so machte der Neffe die Wollust in Theorie und Praxis zu seiner Lebensaufgabe.

Der Vater des Marquis de Sade, der Graf Jean Baptiste François Joseph de Sade wurde im Jahre 1700 geboren, schlug die militärische Laufbahn ein, um dann im Jahre 1730 als Gesandter nach Russland und 1733 nach London zu gehen. Er verschwägerte sich mit den Bourbonen durch seine Ver[S. 297]heiratung mit Marie Eléonore de Maillé, der Nichte des Kardinals Richelieu, Hofdame der Prinzessin Condé. Auch der grosse Condé hatte eine Maillé geheiratet. Der Comte de Sade wurde 1738 zum Generallieutenant für Bresse, Bugey und Valromey ernannt, kaufte das Landgut Montreuil bei Versailles, wo er als Privatmann lebte und eifrig die Abtei Saint-Victor besuchte, die auch in den Romanen seines Sohnes vorkommt. Er starb am 24. Januar 1767 und hinterliess mehrere Manuscripte von Anekdoten, moralischen und philosophischen Gedanken, sowie eine grosse Korrespondenz über den Krieg in den Jahren 1741–1746.

Gleich hier gedenken wir eines Sohnes des Marquis de Sade, der sich als Schriftsteller und Mensch einen geachteten Namen erworben hat. Das ist Louis-Marie de Sade, der älteste Sohn, geboren 1764 zu Paris. Er hatte zu Pathen den Prinzen Condé und die Prinzessin Conti, wurde Offizier, als welcher er einem Menschen mit eigner Gefahr das Leben rettete, wanderte beim Beginne der Revolution aus und kam Ende 1794 nach Paris zurück, wo er Anfangs als Graveur thätig war. Er schrieb dann eine auf gründlichen Forschungen beruhende „Histoire de la nation française“ (Paris 1805) und wurde Mitglied der „Académie celtique“, trat später wieder ins Heer ein, kämpfte bei Jena, wurde in der Schlacht bei Friedland verwundet und am 9. Juni 1809 von Briganten in Otranto ermordet.[482]

[S. 298]

3. Die Kindheit des Marquis de Sade.

Der zweite Juni des Jahres 1740 war der Tag, an welchem einer der merkwürdigsten Menschen des 18. Jahrhunderts, ja der modernen Menschheit überhaupt, das Licht der Welt erblickte. Es war im Hause des grossen Condé, wo Donatien Alphonse François, Marquis[483] de Sade geboren wurde: der Philosoph des Lasters, der „professeur de crime“, wie ihn Michelet und nach ihm Taine genannt haben. Als 4jähriges Kind kam er zu seiner Grossmutter nach Avignon, in die sonnige Provence, einige Jahre darauf in die Abtei Ebreuil zu seinem Oheim, der ihn mit Sorgfalt erzog und ihm den ersten Unterricht erteilte, bis er im Jahre 1750 im Collège Louis-le-Grand in der Rue Saint-Jacques in Paris untergebracht wurde. Dieses Unterrichtsinstitut galt für das beste in Frankreich und gewährte seinen Schülern die Möglichkeit einer gründlichen und vielseitigen Ausbildung. Sie mussten öffentliche Vorträge halten, Theaterstücke aufführen, Disputationen veranstalten u. s. w. Man nahm mehr Rücksicht auf den Geist als auf den Körper, der sich zudem bei der sehr häufigen Anwendung der Prügelstrafe nicht besonders wohl fühlen konnte.[484]

Auf jene Periode beziehen sich verschiedene Schilderungen der Persönlichkeit des Knaben Sade, die alle wenig verbürgt sind. Nach Uzanne[485] war er[S. 299] zu dieser Zeit ein „anbetungswürdiger Jüngling, mit zartem, blassem Gesicht, aus dem zwei grosse schwarze Augen hervorleuchteten.“ Aber schon war um sein ganzes Wesen eine Atmosphäre des Lasters verbreitet, die seine Umgebung mit ihrem giftigen Hauche verpestete und um so gefährlicher war, als das Kind eine unwillkürliche Sympathie durch eine fast „weibliche Anmut“ einflösste. Lacroix verleiht ihm eine „zierliche Figur, blaue Augen und blonde, schön frisierte Haare.“[486] Ein deutscher Autor ergeht sich in folgenden Phantasien: „Der junge Vicomte war von so aussergewöhnlicher Schönheit, dass alle Damen, die ihn erblickten, selbst als er noch ein Knabe war, stehen blieben, um ihn zu bewundern. Mit seinem reizenden Aeussern verband er eine natürliche Anmut in allen seinen Bewegungen und sein Organ war so wohlklingend, dass schon seine Stimme allen Frauen ins Innerste ihres Herzens dringen musste. Sein Vater liess ihn stets nach der neusten Mode gekleidet einhergehen, und die damalige Rococotracht hob die glänzende Erscheinung des jungen Mannes noch mehr hervor. Wer weiss, ob der Verfasser der Justine und Juliette unter anderen Verhältnissen ein solcher Ausbund von Verruchtheit geworden und ob er den Damen so sehr aufgefallen wäre in der geschmacklosen Tracht unseres Zeitalters.“[487]

Richtig ist wohl nur, dass der Marquis de Sade wenigstens als Jüngling eine angenehme Erscheinung war. Leider existiert kein authentisches Porträt von ihm. In einem um 1840 veröffentlichten kleinen Werke „Les fous célèbres“ findet sich eine sehr schlechte Litho[S. 300]graphie, die den Marquis de Sade darstellen soll, aber ein blosses Phantasieprodukt ist. Zwei weitere Porträts wurden in Brüssel zu Tage gefördert. Das eine, sehr schlecht ausgeführte, befindet sich in einem ovalen Rahmen und soll aus der Sammlung des Herrn de la Porte stammen.[488] Das andere, sehr gute Bild, stellt den Marquis von Dämonen umgeben dar, die ihm ins Ohr blasen, trägt die Bezeichnung „H. Biberstein sc.“ und soll aus der Sammlung eines Herrn H*** in Paris stammen.[489] Es existieren auch lithographische Nachbildungen desselben, von denen der Verfasser der Recension der ersten Auflage des vorliegenden Werkes in der „Zeitschrift für Bücherfreunde“ (1900 Nr. 2/3 S. 122) eine sah.

Nach ihm ist dies Bild ein Phantasieprodukt aus viel späterer Zeit.

In welcher geistigen Verfassung der Marquis de Sade das Collège Louis-le-Grand verlassen hat, wissen wir ebenfalls nicht. Nach jenem deutschen Autor, der das Leben Sade’s mit kühner Phantasie aus seinen Büchern construiert, war „der junge Mann seit frühester Kindheit ein Bücherwurm und gründete sich so zu sagen ein eigenes philosophisches System auf ausgebreiteter epikuräischer Basis. Neben seinen Schulstudien lag er den schönen Künsten ob; er war ein tüchtiger Musiker, gewandter Tänzer, Fechter und versuchte sich auch in Bildhauerei. Er brachte ganze Tage in den Gemäldegallerien, namentlich in jenen des Louvre, von Fontainebleau und Versailles zu, wodurch sein künstlerischer Geschmack immer mehr ausgebildet wurde.“ Dass Sade die Musik sehr liebte, bestätigt Paul[S. 301] Lacroix[490], und dass er die Gemäldegallerien besuchte, bestätigt die Beschreibung der Gemäldesammlung in Florenz (Juliette IV, 19 ff.).

Janin meint, dass Sade schon als ein „Fanatiker des Lasters“ die Schule verlassen habe, in demselben Jahre (1754) als Maximilian de Robespierre in dieselbe eintrat.[491]

4. Die Jugendzeit.

Nach dem Austritt aus dem Gymnasium trat der Marquis de Sade in das Regiment der Chevaux-Legers ein, wurde dann Unterlieutenant beim Königsregiment, Lieutenant bei den Carabiniers und zuletzt Capitän in einem Kavallerieregiment, bei welchem er den siebenjährigen Krieg in Deutschland mitmachte. Er soll nach Lacroix[492] erst im Jahre 1766 nach Paris zurückgekehrt sein, wo sein Vater, der ihm „mehrere Jugendthorheiten“ zum Vorwurf machte, ihn zu verheiraten suchte. Marciat[493] hat nachgewiesen, dass Sade bereits im Jahre 1763 wieder in Paris war. In der im Mai 1880 in Paris verkauften Autographensammlung von Michelet aus Bordeaux, befand sich ein Brief des Marquis de Sade, datiert Vincennes den 2. November 1763, in dem als der Tag seiner Heirat der 17. Mai 1763 angegeben wird. Auch spricht nach Marciat für dieses Jahr der Umstand, dass der älteste Sohn des Marquis, Louis-Marie[S. 302] de Sade im Jahre 1783 Lieutenant im Regiment Soubise wurde. Wenn dieser erst 1767 geboren wäre, so würde er mit 16 Jahren Lieutenant gewesen sein. Die Rückkehr des Marquis de Sade und seine Heirat fand also im Jahre 1763 statt.

Die Geschichte dieser Heirat ist von dem Bibliophilen Jacob nach den Mitteilungen eines Zeitgenossen, des Herrn Lefébure sehr ausführlich erzählt worden.[494] Marciat ist geneigt, derselben vom psychologischen Standpunkte aus einen grossen Wert beizumessen, da sie die Erklärung für die moralische Entartung (déviation) des Marquis de Sade liefere. Wir können dem nicht beistimmen. Mag auch jenes Ereignis, das wir gleich darstellen werden, irgend einen Einfluss in dieser Beziehung auf Sade ausgeübt haben: seine sittliche Depravation war schon vorher da. Als er nach Paris zurückkehrte, warf der Vater ihm bereits einige „Jugendthorheiten“ vor. Niemand hat bisher daran gedacht, dass der Marquis de Sade den ganzen 7jährigen Krieg mitgemacht hat und ganz sicher teilnahm an jener „schrecklichen Entsittlichung, welche durch die Anwesenheit des französischen Heeres“ in Deutschland gepflanzt und genährt wurde[495] und deren auch Casanova in seinen Memoiren gedenkt. Der Vater wollte ferner den Sohn verheiraten, um ihn aus seinem lasterhaften Leben herauszureissen, wie doch deutlich aus allen Berichten hervorgeht. Wenn Eulenburg[496] meint, dass sich bei de Sade die „krankhafte Veränderung“ im Alter von 26 Jahren[S. 303] äusserte, so ist das auch nicht ganz zutreffend, da er schon, wie wir sehen werden, im Jahre 1763, wegen mehrerer „débauches“, die also nicht so ganz harmlos gewesen sein müssen, ins Gefängnis kam. Wir dürfen annehmen, dass die Neigung zu sexuellen Ausschweifungen bei Sade durch das Kriegsleben erweckt worden ist und durch das tausendfältig gegebene Beispiel gefördert wurde, ohne dass wir nötig haben, an das plötzliche Auftreten eines krankhaften Geisteszustandes zu denken.

Herr von Montreuil, Präsident der „Cour des aides“, der durch eine langjährige Freundschaft mit dem Vater des Marquis de Sade verbunden war, hatte zwei Töchter im Alter von 20 und 13 Jahren, beide gleich hübsch und wohl erzogen, aber in Hinsicht auf Charakter und äussere Figur verschieden. Die Aeltere, eine Brünette mit schwarzem Haar und dunklen Augen, war eine grosse majestätische Erscheinung, sehr fromm, ohne „Herzenswärme“ (?). Die Jüngere, eine blauäugige Blondine, trotz ihrer Jugend schon von gereiftem Aussehen, war sehr intelligent, von „himmlischer Milde und Anmut“ dabei aber eine leidenschaftliche Natur.

Es war zwischen den Vätern vereinbart worden, dass der Marquis de Sade die ältere Tochter heiraten sollte. Ein merkwürdiges Geschick fügte es, dass dieser bei seinem ersten Besuche im Hause des Präsidenten Montreuil nur die jüngere Tochter antraf, da die ältere krank war. Er verliebte sich sofort leidenschaftlich in die erstere, die den Musikenthusiasten besonders durch ihren schönen Gesang und ihr wunderbares Harfenspiel für sich einnahm. Als Sade bei einem zweiten Besuche die ältere Schwester kennen lernte, fühlte er gegen dieselbe nur Abneigung und[S. 304] erklärte, dass er die jüngere heiraten wolle. Hierzu verweigerte der Präsident seine Zustimmung, und so liess der Comte de Sade seinen Sohn wählen zwischen Unterwerfung unter seinen Willen und einer sofortigen Abreise zur Armee mit der Aussicht auf Enterbung und Verstossung. So wurde der Marquis, dessen Appell an das Herz der Mutter der beiden Mädchen nur eine „kalte und heroische Erwiderung“ fand, gezwungen, die ältere Tochter zu heiraten. Schon damals erwiderte die Jüngere die Liebe de Sade’s und hatte vergeblich durch Bitten und Thränen das Herz ihrer Eltern zu erweichen gesucht. Lacroix legt ausführlich dar, wie Sade nur mit dem Gedanken des sofortigen Ehebruchs mit der Jüngeren die ihm unsympathische ältere Schwester geheiratet habe und vielleicht schon damals mit der zweiten Schwester im Einverständnis war. Frau von Montreuil, die vom Anfang an die Natur ihres Schwiegersohnes durchschaute, brachte ihre jüngere Tochter in ein Kloster, um einem drohenden Skandal vorzubeugen.

Es bleibe dahingestellt, ob diese Geschichte die Hauptursache der Demoralisation des Marquis de Sade gewesen ist, wie Marciat annimmt. Sicher erklärt sie die Ehefeindlichkeit, welche uns in allen Schriften Sade’s entgegentritt. Dass allerdings seine Frau, der Lacroix die Wärme des Herzens fehlen lässt, ihm dazu keinerlei Veranlassung gab, haben die soeben von Paul Ginisty veröffentlichten „Lettres inédites de la Marquise de Sade“ gezeigt, die für die Geschichte dieser Ehe und für das Verständnis des Charakters des Marquis de Sade sehr lehrreich sind.[497] Sie offenbart sich in diesen Briefen als eine[S. 305] selbstlose, treue, ihrem Gatten mit leidenschaftlicher Liebe zugethane Seele, die selbst dann nicht aufhört mit heisser Sehnsucht an ihn zu denken, für ihn zu sorgen und zu beten, wenn er — wie dies gewöhnlich geschah — diese Liebe mit rohen, unedlen Worten und gemeinen Verdächtigungen erwiderte. Diese Frau, die Zeugin des lasterhaften Lebens ihres Gatten, der dadurch hervorgerufenen grossen Skandale, hörte niemals auf, ihn zärtlich zu lieben, war ihm bei der Flucht aus dem Gefängnisse behilflich und erwies ihm in seinem Gefängnisleben tausend Dienste, die nur eine hingebende Liebe erweisen kann. Das deutet wirklich darauf hin, dass der Marquis de Sade etwas von dem an sich hatte, was er selbst als die „Wonne des Lasters“ bezeichnet und was alle Frauen unwiderstehlich anzog. Wie er selbst diese Liebe lohnte, hat Ginisty ausführlich dargestellt. Wir teilen nur eine Probe mit. Einmal schreibt ihm seine Frau: „Du musst die Welt besser kennen als ich. Thue, was Du willst. Ich will nur das Hörrohr für Deine Befehle sein. Du weisst, dass Du auf mich als Deine beste und zärtlichste Freundin rechnen kannst.“ Sade schrieb an den Rand dieses Briefes: „Kann man so unverschämt lügen?“[498]

Bei dem Verhältnisse zwischen den beiden Ehegatten darf es nicht Wunder nehmen, dass der Marquis de Sade, nachdem er vergeblich den Aufenthaltsort des jüngeren Fräulein von Montreuil zu erkunden gesucht hatte, sich nach Lacroix[499] schon im ersten Jahre seiner Ehe in den Strudel wilder Ausschweifungen stürzte, seine Gesundheit und seine Reichtümer mit Hilfe der berüchtigsten Roués seiner Zeit vergeudete,[S. 306] und die „Koryphäe der parfümierten Orgien“ des Herzogs von Fronsac und des Prinzen Lamballe wurde, aber es auch nicht verschmähte, sich mit Lakaien zu widerlichen Saturnalien zu vereinigen. Eingeweiht in die „Geheimnisse der petites maisons und der Bordelle“ suchte er seine Gefährten in dem Ersinnen neuer raffinierter Lüste zu übertreffen. Das war jene Zeit, in welcher ein deutscher Autor den Marquis de Sade zum Arrangeur der Orgien des Hirschparks macht,[500] was historisch nicht festgestellt, aber glaubwürdig sein kann. Schon wenige Monate nach seiner Heirat wurde Sade, der erst 23 Jahre zählte, in Vincennes eingekerkert, weil er in einer „petite maison“ grosse Excesse begangen hatte. Hier benahm er sich sehr zurückhaltend und ruhig und fügte sich ohne Murren in die Tagesordnung des Gefängnisses, bat nur, ihm seinen Kammerdiener zu lassen und bisweilen den Genuss frischer Luft zu vergönnen. In einem Briefe vom 2. November bittet er, dass man seiner Frau von seiner Verhaftung Nachricht gebe, aber den Grund derselben verschweige, und wünscht einen Priester zu sehen. Er schliesst mit den Worten: „So unglücklich ich bin, beklage ich mich nicht über mein Schicksal; denn ich verdiene die göttliche Strafe; meine Fehler bereuen, meine Irrtümer verabscheuen, soll meine einzige Beschäftigung sein.“[501] Schon damals muss er ein obscönes Buch geschrieben haben. Denn in diesem Briefe spricht er von dem Datum des „unglückseligen Buches“, das erst aus dem Juni stamme, während er sich am 17. Mai verheiratet habe. Auch habe er erst im Juni jenes genannte Haus aufgesucht.[S. 307] Darauf habe er sich drei Monate auf dem Lande aufgehalten und sei acht Tage nach seiner Rückkehr verhaftet worden. Welche seiner Schriften de Sade hier im Auge hat, ist vorläufig noch nicht festzustellen. Wenn Cabanès (a. a. O. Seite 262) meint, dass die „Justine“ gemeint sei, so ist das eben mit dem bis heute vorliegenden litterarischen und archivalischen Material nicht zu beweisen. Indessen geht doch aus dem vorliegenden wichtigen Briefe mit aller Sicherheit hervor, dass Sade frühzeitig, schon mit 23 Jahren, anfing, pornographische Schriften zu verfassen.

Vielleicht hat Marciat Recht mit der Annahme, dass dieser an den Gouverneur des Gefängnisses gerichtete Brief von einer heuchlerischen Gesinnung eingegeben worden sei, vielleicht aber auch liegt hier eine der bei sexuell ausschweifenden Menschen so häufig vorkommenden religiösen Anwandlungen vor. Es hat sich noch ein kleines Billet an den Gefängnispriester Griffet vom 4. November 1763 erhalten (veröffentlicht im „Amateur d’Autographes“ 1866 und bei Cabanès). Es heisst in demselben: „Wir haben einen neuen Gefangenen in Vincennes, welcher einen Beichtvater zu sprechen wünscht und sicherlich Ihre Dienste nöthig hat, obgleich er nicht krank ist. Es ist der Marquis de Sade, ein junger Mann von 22 Jahren. Ich bitte Sie, ihn sobald wie möglich zu besuchen, und wenn Sie mit ihm gesprochen haben, so werden Sie mir einen Gefallen thun, wenn Sie bei mir vorsprechen.“[502]

5. Das Gefängnisleben des Mannes.

Aehnlich einem neueren französischen Dichter, Paul Verlaine, hat der Marquis de Sade, nach[S. 308]dem er ins Mannesalter eingetreten war, einen grosses Teil seines Lebens in Gefängnissen zugebracht.[503] Wenn man den letzten Aufenthalt in Charenton hinzurechnet, hat er im ganzen 27 Jahre in 11 Gefängnissen verbracht: von diesen 27 Jahren fallen 14 Jahre in sein Mannes-, 13 Jahre in sein Greisenalter. In der Einsamkeit des Kerkers verarbeitete er den Stoff zu seinen Werken, was bei deren späterer Beurteilung berücksichtigt werden muss. Das ganze Mannesalter des Marquis de Sade können wir als ein Gefängnisleben mit Unterbrechungen bezeichnen, das reich ist an dramatischen Vorgängen, die seinen Namen schnell berühmt machten, wenn auch dieser Ruhm ein sehr trauriger war. Gleich die Veranlassung zu seiner zweiten Einkerkerung war ein von den Zeitgenossen vielfach besprochener Vorgang. Es war

1. Die Affäre Keller (3. April 1768).

Wir besitzen über diese Affäre verschiedene Nachrichten. Die wichtigste ist die der Madame du Deffand in einem nur 10 Tage nach dem Ereignis geschriebenen Briefe an Horace Walpole, den englischen Dichter und Staatsmann.[504] Sie schreibt in demselben: „Hier haben Sie eine tragische und sehr sonderbare Geschichte! — Ein gewisser Comte de Sade, Neffe des Abbé und Petrarcaforschers, begegnete am Osterdienstag einer grossen, wohlgewachsenen Frau von 30 Jahren, die ihn um ein Almosen bat. Er fragte sie[S. 309] lange aus, bezeigte ihr viel Interesse, schlug ihr vor, sie aus ihrem Elend zu befreien und zur Aufseherin seiner ‚petite maison‘ in der Nähe von Paris zu machen. Die Frau nahm dies an, wurde auf den folgenden Tag hinbestellt. Als sie erschien, zeigte ihr der Marquis alle Zimmer und Winkel des Hauses und führte sie zuletzt in eine Dachkammer, wo er sich mit ihr einschloss und ihr befahl, sich vollständig zu entkleiden. Sie warf sich ihm zu Füssen und bat ihn, sie zu schonen, da sie eine anständige Frau sei. Er bedrohte sie mit einer Pistole, die er aus der Tasche zog, und befahl ihr zu gehorchen, was sie sofort that. Dann band er ihr die Hände zusammen und peitschte sie grausam. Als sie über und über mit Blut bedeckt war, zog er einen Topf mit Salbe aus seinem Rocke hervor, bestrich die Wunden damit und liess sie liegen. Ich weiss nicht, ob er ihr zu trinken und zu essen gab. Jedenfalls sah er sie erst am folgenden Morgen wieder, untersuchte ihre Wunden und sah, dass die Salbe die erwartete Wirkung gehabt hatte. Dann nahm er ein Messer und machte ihr am ganzen Körper Einschnitte damit, bestrich wiederum mit der Salbe die blutenden Stellen und ging fort. Es gelang der Unglücklichen, ihre Bande zu zerreissen und sich durchs Fenster auf die Strasse zu retten. Man weiss nicht, ob sie sich beim Hinunterspringen verletzt hat. Es entstand ein grosser Auflauf. Der Polizeileutnant wurde von dem Falle benachrichtigt. Man verhaftete Herrn de Sade. Er ist, wie man sagt, im Schlosse von Saumur untergebracht. Man weiss nicht, was aus der Sache werden wird, und ob man sich mit dieser Strafe begnügen wird, was wohl der Fall sein könnte, da er zu den Leuten von Stand und Ansehen gehört. Man sagt, dass das Motiv dieser abscheulichen Handlung der Wunsch gewesen sei, die Brauchbarkeit der[S. 310] Salbe festzustellen. — Das ist die Tragödie, die Sie etwas unterhalten mag.“ Am folgenden Tage (13. April) schreibt Madame Du Deffand: „Seit gestern kenne ich die weiteren Folgen der Affäre des Herrn de Sade. Das Dorf, in dem sein ‚kleines Haus‘ sich befindet, ist Arcueil. Er peitschte und zerschnitt die Unglückliche am selben Tage und goss ihr „Balsam“ auf die Wunden und Striemen. Dann band er ihr die Hände los, hüllte sie ein und legte sie in ein gutes Bett. Kaum war sie allein, so bediente sie sich ihrer Arme und ihrer Decken, um sich durchs Fenster zu retten. Der Richter von Arcueil riet ihr, ihre Klagen beim Generalprokurator und dem Polizeilieutenant vorzubringen. Letzterer liess Sade verhaften, der sich mit grosser Frechheit seines Verbrechens als einer sehr edlen Handlung rühmte, da er dem Publikum die wunderbare Wirkung einer Salbe offenbart habe, die auf der Stelle alle Wunden heile. Sie hat von der weiteren Verfolgung des Attentäters Abstand genommen, wahrscheinlich nach Zahlung einer Geldsumme an sie. So wird er wohl nicht ins Gefängnis kommen.“ Diesen Bericht müssen wir, weil er unmittelbar nach dem Ereignis niedergeschrieben wurde und die Marquise Du Deffand, wie der zweite Brief beweist, genau informiert war, als den glaubwürdigsten bezeichnen. Die anderen Erzählungen dieses merkwürdigen Vorfalles weichen so sehr von einander ab, dass Marciat mit Recht daraus schliesst, dass das eigentliche Attentat auf die Keller eher dadurch verdunkelt als aufgeklärt wird. — Jules Janin[505] erzählt, dass der Marquis de Sade in Arcueil eine in einem grossen Garten, zwischen Bäumen sehr versteckt gelegene petite maison besessen habe,[S. 311] wo er oft seine Orgien feierte. Das Haus war mit doppelten Fensterläden versehen und innen ausgepolstert (matellassée), so dass man von draussen nichts hören konnte. An einem Osterabend, den 3. April 1768, hatte ihm sein Kammerdiener und Vertrauter zwei gemeine Freudenmädchen zugeführt, und der Marquis selbst, als er sich zu dem nächtlichen Feste nach Arcueil begab, war einer armen Frau, Rosa Keller, Witwe eines gewissen Valentin begegnet, die wohl als Prostituierte ihr Brot suchte. Sade redete sie an, versprach ihr ein Souper und ein Nachtlager, that sehr sanft und zärtlich, so dass sie mit ihm in einen Fiaker stieg und nach Arcueil fuhr. Der Marquis führte sie in den zweiten Stock seines abgelegenen, spärlich erleuchteten Hauses, wo die beiden mit Blumen bekränzten Dirnen halbtrunken an reichbesetzter Tafel sassen. Hier wurde sie geknebelt, vollständig entkleidet, von den beiden Männern bis aufs Blut gepeitscht, bis die Unglückliche „nur noch eine einzige Wunde war“, worauf die Orgie mit den beiden Freudenmädchen begann. — Dann folgt die Schilderung der Flucht der Keller, des Auflaufs, der Verhaftung der Uebelthäter, welche man sinnlos betrunken inmitten von „Wein und Blut“ auffand.

Diese Darstellung giebt auch Eulenburg[506] und findet darin jene „eigentümliche Form der Kombination von Wollust und Grausamkeit, die freilich nicht völlig demjenigen entspricht, wofür man den Ausdruck ‚Sadismus‘ im engeren Sinne geprägt hat, insofern die Vornahme grausamer Handlungen dabei nicht als Selbstzweck, sondern wesentlich als präparatorischer Akt, als Stimulans der Wollustbefriedigung zu dienen bestimmt[S. 312] ist: denn die Peitschung der Rosa Keller hatte allem Anschein nach den Zweck, de Sade zum Verkehr mit den beiden Mädchen in „Stimmung“ zu bringen“.

Lacroix berichtet in seiner Abhandlung vom Jahre 1837 nur[507], dass die Keller gepeitscht wurde unter obscönen Umständen, welche Madame Du Deffand in ihren Briefen an Horace Walpole nickt zu schildern wagte, welche aber die „prüdesten Frauen sich erzählen liessen, ohne zu erröten, zu der Zeit als diese Affäre so viel Staub aufwirbelte“. Später, im Jahre 1845, fügte er hinzu, dass man der Keller mit einem Messer Einschnitte in die Haut machte und die Hautlappen mit spanischem Wachs wieder zusammenklebte.[508]

Rétif de la Bretonne, der den Marquis de Sade seit 1768 kannte, giebt in den „Nuits de Paris“ (194ste Nacht S. 2569) wiederum eine ganz andere Darstellung der Geschichte der „femme vivante disséquée.“ Nachdem der Marquis de Sade die Keller auf der Place des Victoires getroffen hatte, führte er sie mit sich in sein Haus, liess sie dort in einen „Anatomiesaal“ eintreten, in dem eine grosse Zahl von Menschen versammelt war, um der Vivisection der Keller zuzuschauen. „Was will diese Unglückliche auf der Erde?“, sagte der Marquis mit ernstem Tone. „Sie taugt zu nichts, und soll uns daher dazu dienen, in die Geheimnisse der menschlichen Structur einzudringen“. Man band sie auf dem Sectionstische fest; der Marquis als Prosector untersuchte alle Teile ihres Körpers und verkündete mit lauter Stimme die Resultate vorher, welche[S. 313] die Section ergeben würde. Als die Frau laut schrie, zog die Gesellschaft sich zurück, um vor dem Beginne der Section die Bedienten zu entfernen. Es gelang inzwischen der allein Gelassenen, sich aus ihren Fesseln zu befreien und durchs Fenster zu entfliehen. Draussen erzählte sie, dass in dem Saale drei Leichen gelegen hätten, eine nur noch aus Knochen bestehend, eine zweite geöffnet und in einem grossen Fasse versteckt, und die letzte (eines Mannes) ganz frisch.

Nach dieser Erzählung scheint Rosa Keller das Opfer einer indecenten und abscheulichen Mystification geworden zu sein. Cabanès hat von Jemandem, der „über den Marquis einen ganzen Dossier von Originalakten in den Händen hat“, die Mitteilung erhalten, dass in dieser Affäre die Dinge sich viel einfacher abgespielt hätten. Rosa Keller sei, erschreckt durch den Anblick der sie umgebenden Gegenstände, ohne weiteres in adamitischem Costüme zum Fenster hinausgesprungen, und auf der Strasse von Polizisten zur nächsten Wache gebracht worden.[509]

Endlich existiert noch eine Erzählung von Brierre de Boismont[510], die Marciat auf die Affäre Keller bezieht, die wir aber für einen besonderen Fall halten. Brierre de Boismont erfuhr den Inhalt dieser Geschichte von einem Freunde, der den Marquis de Sade persönlich gekannt hatte und von diesem erzählte, dass bei einem Gespräche über galante Abenteuer „seine Augen blutig unterliefen und einen finsteren und grausamen Ausdruck angenommen hätten“.

[S. 314]

Dieser zweite Fall wird folgendermassen erzählt. Wenige Jahre vor der Revolution hörten Passanten in einer einsamen Strasse von Paris aus dem Parterre eines Hauses ein schwaches Wimmern hervortönen. Sie drangen durch eine kleine Thür ins Haus ein und fanden in einer Kammer eine splitternackte junge Frau, weiss wie Wachs, auf einem Tische festgebunden. Das Blut strömte aus zwei Aderlasseinschnitten an den Armen; die Brüste waren leicht aufgeschnitten und entleerten Flüssigkeit. Die Geschlechtsteile, an denen man mehrere Incisionen gemacht hatte, waren „in Blut gebadet“. Nachdem sich die Unglückliche von der grossen Erschöpfung erholt hatte, erzählte sie, dass sie durch den berüchtigten Marquis de Sade in dieses Haus gelockt worden sei. Nach beendigtem Souper habe er sie durch seine Leute ergreifen, entkleiden und auf dem Tische festbinden lassen. Ein Mann öffnete ihr die Adern mit einer Lancette und brachte ihr zahlreiche Incisionen am Körper bei. Darauf zogen sich alle Uebrigen zurück, und der Marquis befriedigte an ihr seine geschlechtliche Lust. Er wollte ihr, wie er sagte, nichts übles anthun; aber als sie unaufhörlich schrie, erhob er sich brüsk und ging zu seinen Leuten.[511] Nach Brierre de Boismont wurde diese Affäre unterdrückt, nachdem die Betreffende eine Geldentschädigung bekommen hatte.

Auch die Affäre Keller verlief für den Marquis de Sade sehr glimpflich. Er wurde zuerst in dem Schlosse von Saumur, dann in der Feste Pierre-Encise in Lyon eingesperrt, aber nach 6 Wochen freigelassen,[S. 315] nachdem Rosa Keller ein Schmerzensgeld von 100 Louisdors bekommen hatte.

Er setzte darauf sein ausschweifendes Leben in den niederen Sphären der Schauspieler- und Schriftstellerwelt fort, verkehrte mit Leuten von allerschlechtestem Rufe, umgab sich mit Dirnen und liess allen perversen Neigungen freien Lauf. Herr von Montreuil erwirkte schliesslich eine polizeiliche Verbannung des Marquis de Sade auf sein Schloss La Coste in der Provence, wo er an der Seite einer Schauspielerin (wahrscheinlich der Beauvoisin vom Théâtre-Français) den dort ansässigen Adel mit seinen Lastern bekannt machte. Seine Frau, die ihn um die Erlaubnis gebeten hatte, auf das Schloss Saumane zu kommen, um in seiner Nähe zu sein, beging die Unklugheit, ihm die Mitankunft ihrer eben aus dem Kloster entlassenen Schwester anzukündigen. Sade, den die Begierde nach dem Besitze dieser Schwester nicht verlassen hatte, heuchelte dennoch vor seiner Frau Gleichgültigkeit gegen dieselbe. Aber beim ersten Alleinsein mit der Geliebten fiel er ihr zu Füssen, schwur, nur sie geliebt zu haben, und dass alle seine Vergehen die Folgen dieser unglücklichen Liebe gewesen seien. Er drohte, sich das Leben zu nehmen, wenn er nicht erhört werde, und erriet aus den Blicken des schweigenden jungen Mädchens, dass er Erhörung finden werde. So fasste er nach Lacroix den Plan, eine besondere Missethat zu begehen, seiner Schwägerin einen Selbstmord vorzuspiegeln, und sie dadurch zur Flucht mit ihm zu bestimmen.[512] Die Ausführung dieses Planes ist in der Geschichte berühmt geworden als

[S. 316]

2. Der Skandal zu Marseille (Cantharidenbonbons-Orgie).

Bachaumont’s geheime Memoiren bringen unter dem 25. Juli 1772 den folgenden Bericht: „Man schreibt aus Marseille, dass der Graf de Sade, der im Jahre 1768 soviel Aufsehen durch seine Verbrechen an einer Dirne machte, an der er angeblich ein neues örtliches Heilmittel erproben wollte, soeben hier ein zuerst amüsantes, später aber durch seine Folgen schreckliches Schauspiel veranstaltet hat. Er gab einen Ball, zu dem er viele Leute eingeladen hatte, und beim Dessert verteilte er sehr schöne Chocoladepastillen, von denen viele Leute assen. Denselben waren gepulverte spanische Fliegen beigemischt. Man kennt die Wirkung dieses Mittels. Alle, die davon gegessen hatten, wurden von einer schamlosen Brunst ergriffen und begingen die tollsten Liebesexcesse. Das Fest artete zu einer wilden altrömischen Orgie aus. Die keuschesten Frauen konnten der Mutterwut nicht widerstehen, welche sie verzehrte. Der Marquis de Sade missbrauchte seine Schwägerin, mit der er dann entfloh, um der ihm drohenden Todesstrafe zu entgehen. Mehrere Personen starben an den Folgen der Exzesse, andere sind noch sehr krank.“[513]

Diese Darstellung ist offenbar übertrieben. Nach Lacroix,[514] der die Mitteilung von einem glaubwürdigen Augenzeugen hat, begab sich der Marquis de Sade mit seinem Diener nach Marseille. Er hatte sich mit Cantharidenbonbons versehen, die er in einem öffentlichen Hause verteilte. Eine Dirne sprang aus dem Fenster und verletzte sich tötlich. Die anderen[S. 317] gaben sich halbnackt den infamsten Ausschweifungen hin, selbst vor dem alsbald in Menge herbeieilenden Volke. Zwei Mädchen starben an den Folgen der Vergiftung und der im Tumult erlittenen Verletzungen. Sade liess sich von einem Parlamentsrat einen Brief mit der Ankündigung des ihm bevorstehenden Urteils schicken, zeigte diesen Brief seiner Schwägerin, nannte sich ein Ungeheuer und drohte, sich zu töten. Fräulein von Montreuil beschwor ihn, zu fliehen, und er bewog sie, ihn zu begleiten. So fuhren sie nach einer Stunde davon.

Nach der „Biographie universelle“ ist auch diese Erzählung unrichtig, da überhaupt Niemand gestorben sei, sondern einige Personen nur „leicht belästigt“ wurden.

Rétif de la Bretonne verlegt den Ort der Handlung nach Paris in den Faubourg Saint-Honoré. Hier sind es Bauern und Bäuerinnen, welche die verhängnisvollen Bonbons essen. Wichtig ist, dass Rétif, der stets einen glühenden Hass gegen den Marquis de Sade gehegt hat, Niemanden an den Folgen dieser Orgie sterben lässt.[515]

Danach ist mit Sicherheit anzunehmen, dass dieser Skandal nicht zu Todesfällen geführt hat. Marseille sah auch gewiss öfter derartige Scenen, da das extravagante Leben in dieser Stadt unter dem ancien régime öfter hervorgehoben wird.[516]

Vor einigen Monaten hat Dr. Cabanès in seiner[S. 318] Studie über den Marquis de Sade ein neues, hochwichtiges Dokument über die Marseiller Affäre ans Licht gezogen. Es ist ein in dem Archiv der Auswärtigen Angelegenheiten aufbewahrtes Mémoire, welches den Titel trägt: „Darstellung der Thatsachen und kurzer Bericht über den Process, gegen welchen der Marquis de Sade und seine Familie Einspruch erheben.“ Nach diesem Bericht weilte der Marquis de Sade im Juni 1772 mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern auf seinem Gute in der Provence und unternahm Ende des Monats eine Reise nach Marseille, um dort von Paris angekommenes Gepäck in Empfang zu nehmen. Er besuchte während seines Aufenthaltes am 21. Juni 1772 mehrere öffentliche Mädchen und kehrte darauf in vollster Seelenruhe auf sein Gut zurück, ohne zu ahnen, dass man eine strafrechtliche Verfolgung gegen ihn einleitete. Drei Tage nach seiner Abreise wurde er vor dem Landgerichte in Marseille als des versuchten Giftmordes verdächtig angeklagt. Das Dienstmädchen einer Prostituierten, zugleich Teilnehmerin an deren Ausschweifungen, sagte aus, dass ihre Herrin seit einigen Tagen von heftigen inneren Schmerzen und Erbrechen heimgesucht würde, welcher Zustand nach dem Genuss einiger ihr von einem fremden Besucher angebotenen Pastillen eingetreten sei. Der Richter begab sich in die Wohnung der Dirne. Ein zweites Freudenmädchen berichtete, dass ein Mann, von dem man ihr gesagt habe, dass es der Marquis de Sade sei, sie besucht habe und ihr gleich den übrigen im Zimmer versammelten Mädchen verzuckerten Anis angeboten habe. Eine von ihnen habe nicht davon gegessen. Die übrigen seien davon „belästigt“ worden. Man fand bei gerichtlicher Haus[S. 319]suchung in dem erwähnten Zimmer noch zwei solche Anis-Bonbons, deren chemische Untersuchung durch zwei Gerichtschemiker die Abwesenheit jeder Art von Gift oder reizender Substanz ergab. Im Verlaufe der weiteren Untersuchung beschuldigte eine von den Prostituierten, welche alle in demselben Zimmer gewesen waren, den Marquis und seinen Bedienten eines widernatürlichen Verbrechens. Alle diese Zeugenaussagen wurden während der Abwesenheit des Angeklagten entgegengenommen. Die Familie desselben führt in dem Mémoire Klage darüber, dass in diesem Prozesse so viele offenbare Verletzungen des Rechts vorgekommen seien, weist auf das Gutachten der Chemiker hin, sowie auf die Unschuldserklärung, welche zwei der angeblich vergifteten Mädchen dem Marquis in einer Aussage vom 8. August 1772 hätten zu Teil werden lassen. Trotzdem habe sowohl der Gerichtshof in Marseille, wie derjenige in Aix in gesetzwidrig beschleunigtem Verfahren den Marquis zu einer so schweren und schimpflichen Strafe verurteilt, nur infolge der Aussage von Prostituierten, einer Menschenklasse, deren Lügenhaftigkeit so bekannt sei. Gegen diese Rechtsverletzung erhebe die Familie energischen Protest. (Cabanès a. a. O. S. 266–272.) Jedenfalls besitzen wir in diesem wichtigen Dokumente die ersten authentischen Nachrichten über die geheimnisvolle Bonbons-Affäre, deren Harmlosigkeit dadurch wohl aufs evidenteste bewiesen wird. Auch die übrigen Aussagen der Prostituierten müssen mit der grössten Vorsicht aufgenommen werden. So bleibt das einzig wirklich Thatsächliche in der so berühmten Affäre der Besuch eines oder mehrerer Marseiller Bordelle durch den Marquis de Sade und die Verteilung unschuldiger Bonbons an die Freudenmädchen.

[S. 320]

Der Marquis de Sade wurde vom Parlament in Aix am 11. September 1772, ebenso wie sein Kammerdiener, wegen Sodomie und Vergiftung in contumaciam zum Tode verurteilt. Die Härte dieses Urteils wird auf den Kanzler Maupeou zurückgeführt, der ein Exempel statuieren wollte.[517] Uebrigens wurde dasselbe nach sechs Jahren, am 30. Juni 1778, aufgehoben und der Marquis nur zu einer Geldstrafe von 50 Francs verurteilt, oder sogar nach der „Biographie des Contemporains“ zu einer Ermahnung durch den ersten Präsidenten des Gerichtshofes.

Er war inzwischen mit seiner Schwägerin nach Italien geflohen, wo er mit ihr ein stilles und züchtiges Leben führte, bis sie ihm nach kurzer, heftiger Krankheit durch einen plötzlichen Tod entrissen wurde, und er nach dem Hinscheiden seines guten Engels wieder in die alten Ausschweifungen zurückfiel.[518] Er wurde dann in Piemont verhaftet und am 8. Dezember 1772 im Fort Miolans festgesetzt. Seine Familie wandte sich durch Vermittelung des Grafen Marmora, Gesandter des Königs von Sardinien in Paris, an den Grafen de la Tour, Generalkommandant von Savoyen, und liess ihn bitten, den Namen des Gefangenen geheim zu halten, ihn als Graf de Mazan zu bezeichnen, ihm seine Effekten zu lassen, da ein so lebhafter Geist nicht ohne Beschäftigung existieren könne. Nur seine Papiere, Manuscripte und Briefe möge man seiner Familie zustellen. Man entsprach diesen Wünschen. de la Tour berichtet, dass Sade zwei Zimmer bekam, welche von einem Tapezierer aus Chambéry vor[S. 321]trefflich möbliert worden waren. de Sade hatte durch ein Schriftstück vom 9. Dezember 1772 versprochen, keinen Fluchtversuch zu machen. Am 8. Januar 1773 erkrankte er, man liess eines Arzt rufen, seine Gattin beschwor in zahlreichen Briefen den Festungskommandanten de Launay, ihrem Gatten doch alle mögliche Pflege angedeihen zu lassen, und bereitete damals schon die Flucht des Marquis vor, sodass Marmora in einem Briefe vom 1. März 1773 de la Tour bitten musste, für strengere Bewachung de Sade’s Sorge zu tragen und seine Frau von ihm fernzuhalten. Trotzdem gelang es dem Marquis, die Wachsamkeit de Launay’s einzuschläfern, der über die angebliche Reue und Harmlosigkeit desselben an de la Tour in mehreren Briefen berichtet, und so wurde es der Marquise leicht, mit Hülfe von 15 entschlossenen Männern in der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1773 die Flucht ihres Gatten zu bewerkstelligen. Der bekannte de Sougy („Baron de l’Allée“) war sein Fluchtgenosse. Sie gingen nach Genf, von dort nach Italien.[519] de Sade liess dem Gouverneur, Herrn de Launay, einen ironischen Brief zurück, traf in Italien seine Frau, deren Gesellschaft er indessen bald mit der einer Maitresse vertauschte. Letztere, nicht seine Schwägerin, wie Eulenburg annimmt[520], ist das Vorbild der Juliette. Im Jahre 1777 kehrte er nach Frankreich zurück[521], wo seine Frau und Schwiegermutter sich bemühten, seine Rehabilitation durchzusetzen, wie aus den unter No. 1741 und 1472 im auswärtigen Archiv aufbewahrten und von Cabanès veröffentlichten[S. 322] Gesuchen hervorgeht (Cabanès a. a. O. S. 282 bis 284). Doch war dies vergeblich.

3. Einkerkerung in Vincennes und in der Bastille.

Nach kurzem Aufenthalt in der Provence, wo er wieder ein wüstes Leben führte, wurde Sade verhaftet, nach Paris geführt und im Hauptturm der Festung Vincennes eingekerkert. In einem Briefe an den Gouverneur von Vincennes fleht er diesen an, ihm das Wiedersehen mit seiner Frau zu gestatten.[522] Jedenfalls setzte er sich wieder mit ihr in Verbindung, wie aus der von Ginisty mitgeteilten Korrespondenz hervorgeht[523], und es gelang ihren Bemühungen, eine Revision des Urteils durchzusetzen. Sade wurde nach Aix gebracht, wo ihn der Advokat Siméon glänzend verteidigte und unter dem 30. Juni 1778 die Annullirung des Urteils erwirkte. Aber durch den Einfluss der Präsidentin Montreuil, die mit Recht Sade’s Freiheit mehr fürchtete als seine Gefangenschaft, wurde der Beschluss rückgängig gemacht und er nach Vincennes überführt. Den Transport leitete der uns wohl bekannte Polizeiinspektor Marais. Es gelang dem Marquis, bei einem Aufenthalt in Lambesc, am 5. Juli 1778, wieder mit Hülfe seiner Frau zu entfliehen. Ginisty teilt den interessanten Polizeibericht über diese sehr romantische Flucht ausführlich mit.[524] Er wurde aber bald darauf (7. September) von Marais auf seinem Schlosse Lacoste entdeckt und diesmal ohne Zwischenfall nach Vincennes zurückgebracht, von wo er im Jahre 1784 in die Bastille überführt wurde. Am[S. 323] Vorabend des 14. Juli 1789 nach Charenton gebracht, soll er nach Lacroix am Tage der Erstürmung der Bastille, und der wohl richtigeren Angabe der „Biographie universelle“ aber erst am 29. März 1790 durch Dekret der constituierenden Versammlung befreit worden sein.

Von 1777 bis 1790, in der Blüte des Mannesalters, sass also der Marquis de Sade im Gefängnis. Es ist kein Zweifel, dass hier die ersten Entwürfe zu seinen berüchtigten Werken entstanden, und es dürfte daher eine etwas eingehendere Schilderung jener Zeit von Nutzen sein.

In Vincennes wurde er während der ersten Jahre in eine feuchte, kalte Kammer eingesperrt, die keinerlei Möbel enthielt ausser einem Bette, das er selbst in Ordnung zu bringen hatte. Sein Essen bekam er durch ein Guckloch. Schreibzeug und Bücher wurden ihm vorenthalten. Dies empfand er besonders schmerzlich, wie drei kleine auf der Auktion Fossé d’Arcosse im Jahre 1861 unter No. 1003 verkaufte Autographen beweisen, wo er einmal sagt: „sans air, ni lettre, ni encre, ni quoi que ce soit au monde“, ein anderes Mal: „une heure de promenade et permission d’écrire, une seule fois par semaine.“[525]

Seine Frau, die mit unerschütterlicher Liebe an ihm hing, schickte ihm Bücher, Schreibutensilien und andere von ihm verlangte Dinge, sogar Kölnisches Wasser[526]. Sie erhielt auch später die Erlaubnis, ihn zu besuchen. Aber jeder Besuch gestaltete sich zu einem Skandale. Man musste die Marquise vor der Wut und den Zornesausbrüchen ihres Gatten schützen. Am 25.[S. 324] September 1782 untersagte infolgedessen der Polizeileutnant Le Noir diese Besuche. Erst am 13. Juli 1786 durfte sie den persönlichen Verkehr mit dem Marquis wieder aufnehmen. Indessen waren stets andere Personen dabei anwesend, um die Marquise gegen die Gewaltthätigkeiten ihres cynischen und rohen Gatten zu schützen.[527] Sade heuchelte dann Liebe, um in seinen Briefen die treue Gattin wieder mit ungerechtfertigten Vorwürfen und schändlichen Beleidigungen zu überschütten.

Marciat findet in dem Leben des Marquis de Sade vor seiner Einkerkerung einen Hang zur Grausamkeit, eine Verachtung der Frau, eine unzähmbare Geschlechtslust und schliesst mit Recht, dass auf einen solchen Menschen, der zudem sich seinen Wollustkumpanen an Intelligenz überlegen zeigt, eine 13jährige Einkerkerung vom 38. bis zum 51. Lebensjahre, die ihm jede Befriedigung seines heftigen Geschlechtstriebes unmöglich machte, eine schwere psychische Schädigung ausüben müsse. Dafür spricht auch die krankhaft gesteigerte Reizbarkeit, das unendliche Misstrauen, welches sich in den von Ginisty veröffentlichten Briefen an seine Gattin ausspricht. Interessant ist, dass er zu den Briefen seiner Frau die unflätigsten Randbemerkungen machte, und hinter allen Handlungen der Gattin sexuelle Motive wittert. Ebenso sind die rohen Zornesausbrüche bei Besuchen derselben charakteristisch. Den Einfluss der Gefangenschaft als eines „mächtigen Factors zur Erzeugung von Seelenstörungen“ schildert Schüle in ausgezeichneter Weise.[528] „Ungleich rascher, als[S. 325] unter den Bedingungen des freien Lebens, vollzieht sich durch die Schändlichkeiten der Einzelhaft der Uebergang in geistige Schwäche.“ In der Einsamkeit der Zelle konnte die Phantasie Sade’s sich ungezügelt in Bildern der Wollust und Grausamkeit ergehen. Ersatz für die ihm mit einem Male für lange Jahre abgeschnittene reale Befriedigung übermässigen Geschlechtstriebes konnte er nur in ungeheuerlichen, die Wirklichkeit überbietenden Phantasien finden. Und sobald er die Erlaubnis zur Lectüre von Büchern bekam, suchte er nach dem treffenden Ausspruch der „Biographie universelle“ in der Vergangenheit und Gegenwart die Beispiele und Vorbilder für seine lasterhaften Anschauungen, die er dann in Gestalt von zahllosen Manuscripten niederlegte. Auch diese Graphomanie scheint uns das Bild einer gewissen geistigen Schwäche, die in dieser Zeit sich bei Sade ausprägte, zu vervollständigen. Er wurde im Gefängnis der sehr fruchtbare Schriftsteller, als welchen wir ihn später kennen lernen werden. Er las unendlich viele Bücher, ohne deren Inhalt gehörig zu verdauen; er lernte aus ihnen nur ein oberflächliches Raisonnement, während zahlreiche einzelne Beobachtungen einen mehr als gewöhnlichen Scharfblick erkennen lassen. Er war wie so viele sexuell sehr veranlagte Naturen gross in der Analyse aller Dinge, die mit dem Geschlechtsleben zusammenhängen, aber klein in der allgemeinen Synthese, dem wahrhaft philosophischen Denken. Leider sind die während der Gefangenschaft verfassten Tagebücher Sade’s von 1777 bis 1798 in 13 Heften, von denen sich 11 noch vorfanden, verbrannt worden, so dass uns dadurch ein wichtiges Hülfsmittel zur Erkenntnis seines geistigen Zustandes verloren gegangen ist. Er hatte in den Tagebüchern alles vermerkt,[S. 326] was er während dieser 13 Jahre „gesagt, gethan, gehört, gelesen, geschrieben, gefühlt oder gedacht hatte.“ (Biographie universelle.)[529] So sind nur noch seine Werke zur Beurteilung seiner psychischen Persönlichkeit übrig geblieben.

Von Interesse ist, dass der Marquis de Sade, wie es scheint, im Gefängnis auch eine Correspondenz mit seinen Maitressen unterhielt. Im April 1864 wurde bei der von Charavay veranstalteten Auktion der litterarischen Schätze des Grafen H. de M. ein Brief von 2 Seiten gezeigt, den eine Maitresse am 18. September 1778 an den Marquis de Sade geschrieben hatte, und der von diesem mit Randbemerkungen versehen war.[530]

Dass die Gefangenschaft das Geistesleben oft nach der sexuellen Richtung hin ablenkt, beweist auch das Beispiel des grossen Mirabeau, der zu gleicher Zeit wie Sade in Vincennes interniert war und hier seine obscönen Bücher schrieb.

Ein merkwürdiger Brief Mirabeau’s über dieses Zusammensein mit dem Marquis de Sade hat sich erhalten, der gerade nicht für freundschaftliche Beziehungen der Beiden spricht.[531] „Herr de Sade“, so heisst es in diesem Briefe, „hat gestern die Festung in Aufruhr versetzt und mir ohne die geringste Provo[S. 327]kation meinerseits die infamsten Gemeinheiten gesagt. Ich würde von Herrn de Rougemont (dem Gouverneur) begünstigt, und damit ich spazieren gehen könne, verweigere man ihm die Erlaubnis dazu. Er bat mich um Angabe meines Namens, damit er mir nach seiner Freilassung die Ohren abschneiden könne. Ich verlor die Geduld und sagte ihm: Mein Name ist der eines Ehrenmannes, der niemals Frauen zerstückelt und eingesperrt hat, der Ihnen diesen Namen mit dem Stocke auf den Rücken schreiben wird. — Er schwieg und wagte seitdem nicht mehr, den Mund zu öffnen. Es ist schlimm in demselben Hause mit einem solchen Monstrum zu wohnen“.

6. Teilnahme an der Revolution und litterarische Tätigkeit.

Die ersten Szenen der Revolution spielten sich vor dem Gefängnis des Marquis de Sade ab, der ihr von vornherein viele Sympathien entgegenbrachte. Im Juni 1789 verzeichnet das Register der Bastille, dass er „die Wachen vor seiner Thür und am Fuss des Thurmes überwältigen wollte“, dass man ihn aber in sein Zimmer zurücktrieb, „indem man ihm einen Flintenlauf ein wenig nahe zeigte.“ Er setzte sich am 2. Juli 1789 vor der Erstürmung der Bastille mit Hilfe eines Sprachrohres mit den Passanten der rue Saint-Antoine in Verbindung und lockte durch sein fürchterliches Schimpfen auf den Gouverneur der Bastille, de Launay, eine grosse Menschenmenge an, die mit ihren Beifallsäusserungen nicht zurückhielt. Dieser Vorfall hatte zur Folge, dass der Marquis de Sade am 4. Juli nach[S. 328] Charenton gebracht wurde und also den am 14. Juli 1789 unternommenen Sturm auf die Bastille nicht mit erlebte.[532] Aus Charenton wurde er am 29. März 1790 durch den Beschluss der constituierenden Versammlung entlassen.[533] Seine erste Handlung war das Betreiben der Scheidung von seiner Frau.[534] Auch sonst wurde er seiner Familie entfremdet, da seine Söhne beim Beginne der Revolution auswanderten. Nach Lacroix nahm er sich eine Maitresse, die in seinem Hause die Honneurs machte. Er wohnte zuerst in der Rue Pot-de-Fer, nahe bei Saint-Sulpice, später in der Rue Neuve-des-Mathurins, Chaussée d’Antin No. 20.[535] Er soll dort den Politikern ausgezeichnete Diners und Soupers gegeben und besonders den Grafen Clermont-Tonnerre als gleichgesinnten Lebemann ins Herz geschlossen haben. Dies ist insofern wenig wahrscheinlich, als der Marquis de Sade durch die Revolution alle seine Güter verlor und in eine traurige materielle Lage geriet. Cabanès bemerkt noch nach einer Notiz im „Amateur d’Autographes“ (1864 S. 105 bis 106): „Il avait pris, pour sa maison, une jeune femme, plus gracieuse que belle qu’il nommait sa Justine tout bas et son amie tout haut. Cette femme se distinguait par la décence de sa tenue et l’élégance de ses manières aristocratiques. On disait en effet, que c’était la fille d’un noble exilé; mais une tristesse indélébile se peignait sur son visage pâle, lorsqu’elle faisait les hon[S. 329]neurs de ces réunions, ou l’on parlait de tout, excepté de politique, et toujours avec convenance et réserve. On jouait quelquefois la comédie, et le marquis excellait dans les rôles d’amoureux, qu’il choisissait d’habitude; il était plein de noblesse dans son maintien et de sensibilité dans son jeu; Molé avait été son maître.“ Auf der oben erwähnten, durch Charavay veranstalteten Auction im Jahre 1864 figurierte ein an den Repräsentanten Rabaut Saint-Etienne gerichteter, mit einer Empfehlung von Ant. de Bernard-Saint-Afriques versehener Brief vom 8. Ventôse des Jahres III, in welchem der Marquis de Sade um eine Stelle als Bibliothekar oder als Museumsconservator bittet, da er vollständig mittellos geworden sei, nachdem sein litterarischer Besitz bei dem Sturm auf die Bastille verloren gegangen, und seine Güter durch die Briganten von Marseille konfisziert worden seien.[536] Die „Isographie des hommes célèbres ou Collection de fac-simile“ (1823–1824, 4 Bde.) enthält einen Brief Sade’s vom 10. Pluviôse des Jahres VI, der sich im Besitz des Herrn de la Porte befindet, und in dem er um baldmöglichste Einsendung des Honorars für ein Gedicht bittet und die Uebersendung einer von ihm verfassten Komödie ankündigt, in der er selbst die Rolle des Fabricius gespielt habe und wieder spielen wolle.[537] Bald nach seiner Entlassung aus Charenton fing er an, zahlreiche Komödien zu schreiben, diese an die verschiedenen, damals zahlreich wie Pilze hervorschiessenden Theater zu verkaufen und selbst für einige Louis[S. 330]dors eine Rolle darin zu spielen.[538] In den Archiven des Théâtre-Français befinden sich mehrere Briefe des Marquis de Sade an die Direktion der Comédie Française aus den Jahren 1790 bis 1793, auf die O. Uzanne durch François Coppée und Georges Monval aufmerksam gemacht wurde, und die er in seiner Schrift über Sade veröffentlicht hat.[539] Der Marquis bittet darin um die Annahme verschiedener von ihm verfasster Theaterstücke zur Aufführung. Nur ein einziges von Sade’s zahlreichen dramatischen Produkten fand Beifall. Es war dies „Oxtiern ou les Malheurs du libertinage“, das in den ersten Tagen des November 1791 mit Erfolg im Molière-Theater gespielt wurde.[540] Jedenfalls gehörte auch Sade nach Uzanne zu den zahlreichen „auteurs dramatiques monomanes“ der Revolutionszeit.

Während der Revolutionszeit erschienen nun nacheinander die berüchtigten Hauptwerke des Marquis de Sade, seine obscönen Romane, die seinen herostratischen Ruhm begründet haben. Ein Jahr nach seiner Freilassung, im Jahre 1791 erschien die „Justine“, die offenbar zum grössten Teile noch im Gefängnis abgefasst worden ist und in dieser ersten Auflage nur obscön ist, ohne die blutigen Details der späteren, und besonders der letzten Auflage des Jahres 1797. Mit Recht vermutet Marciat, dass der Einfluss des Milieu, der gewaltigen Ereignisse der Revolutionszeit, diese späteren Veränderungen hervorgerufen habe.[541] Ein ebenfalls noch in der Bastille entworfener Roman, auf dessen Titel es ausdrücklich heisst: écrit à la Bastille un an avant la Révolution, ist „Aline et Valcour“, der im Jahre[S. 331] 1793 erschien. Dann folgten 1795 die „Philosophie dans le Boudoir“ und 1797 als Gipfel und Krönung die gemeinschaftliche Ausgabe der „Justine“ und der „Juliette“.[542] Bis 1801, dem Jahre seiner neuen Verhaftung dauerte die sehr fruchtbare Schriftstellerei des Marquis de Sade, die wir später zu würdigen haben. Man kann sagen, dass seine Werke im Gefängnis concipiert, in der Revolution ausgeführt und nach den äusseren Eindrücken derselben verändert wurden.

Man hat viel Aufhebens davon gemacht, dass der Marquis de Sade zeitweise die Urheberschaft seiner Werke geleugnet hat. So schreibt er in einem Briefe vom 24. Fructidor 1795 (Auction Font... 1861): „Es wird in Paris ein scheussliches Werk verbreitet mit dem Titel ‚Justine ou les Malheurs de la vertu‘. Vor mehr als 2 Jahren habe ich einen Roman ‚Aline et Valcour ou le Roman philosophique‘ veröffentlicht. Zum Unglück für mich hat der schändliche Autor der ‚Justine‘ mir eine Situation gestohlen, die er aber auf die gemeinste Weise durch Obscönitäten verunstaltet hat.“[543] Auch in seiner „Idée sur les romans“ protestiert er gegen seine angebliche Urheberschaft von „Justine“ und „Juliette.“[544] Ebenso in einer Streitschrift gegen einen gewissen Villeterque.[545] Marciat macht darauf aufmerksam, dass die letztere Schrift in das Jahr 1800 fällt, in welchem Sade schon von der Gefahr der Verhaftung bedroht wurde und dass daher seine Versiche[S. 332]rungen, nicht der Verfasser solcher Werke zu sein, wohl angebracht waren. Uebrigens waren derartige Ableugnungen nach Marciat bei den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts etwas sehr Gewöhnliches, z. B. bei Voltaire und Mirabeau. Und man kann Sade daraus keinen besonderen Vorwurf machen. Jedenfalls scheint er in Privatunterhaltungen die Wahrheit nicht verschwiegen zu haben, und es ist ganz sicher, dass er jedem der fünf Direktoren eine Luxusausgabe der 10bändigen „Justine“ und „Juliette“ überreicht hat, die man nach dem „Intermédiaire des Chercheurs et des Curieux“ in einzelnen Exemplaren wieder entdeckt hat.[546]

Ueber das Privatleben des Marquis de Sade während der Revolutionszeit sind wir im ganzen nur dürftig unterrichtet. Man kann eigentlich nur aus seinem früheren Verhalten schliessen, dass er sein ehemaliges lasterhaftes Leben wieder aufgenommen hat. Als der Marquis de Sade im Jahre 1801 aufs Neue verhaftet wurde, fand man sein Schlafzimmer mit grossen Bildern ausgeschmückt, welche die „hauptsächlichen Obscönitäten des Romans ‚Justine‘ darstellen.“[547] Cabanès berichtet — freilich ohne Quellenangabe — dass, als die aufrührerischen Bauern 1790 de Sade’s Schloss Lacoste zerstörten, man in diesem Schlosse Marterinstrumente gefunden habe, die von ihm bei seinen Orgien benutzt worden seien. Auch existierte in diesem Schlosse der berühmte „Klystier-Saal“ (Salle des Clystères), in dem ein Maler von Talent die Wände mit Klystierspritzen und menschlichen Figuren bedeckt hatte, welche letzteren eine Menge von ebenfalls gemalten menschlichen Rückseiten durch Klystiere erfrischten! (??)[548] Rétif de la[S. 333] Bretonne, der die Affäre Keller und den Marseiller Skandal nach Paris in die Revolutionszeit verlegt, erzählt noch mehrere derartige Geschichten, deren Glaubwürdigkeit in keiner Weise feststeht, wenn ihnen auch etwas Wahres zu Grunde liegen mag. So erzählt er in den „Nuits de Paris“ (155te Nacht „Nefanda“): „Am selben Abend sah ich eine andere Hochzeit. Der Graf de S..., ein grausamer Wüstling, wollte sich an der Tochter eines Sattlers rächen, die er nicht hatte verführen können. Er hatte alles so hergerichtet, dass er sich nicht kompromittieren konnte. Als es ihm gelungen war... Virum trium luparum connubio adjungere coëgit, coram alligata uxore, quae quandoque virgis caedebatur ...“[549]

Eine andere Geschichte Rétifs, in der Sade unter dem Namen Bénavent vorkommt, erzählt von drei Schwestern, die der Marquis zur Befriedigung seiner Lüste benutzte, indem er zwei in einen Käfig sperrte und singen liess, die dritte in einem Zimmer, dessen Wände Spiegel waren, nackt in ein Bad steigen liess, während er selbst sich mit seiner Maitresse der Wollust hingab.[550] Der Bibliophile Jacob hält es für zweifellos, dass Rétif den Marquis de Sade persönlich gekannt und wahrscheinlich einen Zwist mit ihm gehabt hat, der seinen Hass erklärt.

Besonders bemerkenswert ist die politische Thätigkeit des Marquis de Sade während der französischen Revolution. Er hatte mit dem ihm eigenen Scharfblick das Kommen dieser Revolution vorausgesehen. So sagt er in „Aline et Valcour“ (II, S. 448),[S. 334] welcher Roman 1788 in der Bastille geschrieben wurde: „Eine grosse Revolution wird im Vaterlande vorbereitet; die Verbrechen unserer Herrscher, ihre Grausamkeiten, Ausschweifungen und Narrheiten sind Frankreich zum Ueberdruss geworden; es hat den Despotismus satt und ist im Begriff, seine Fesseln zu zerbrechen.“ In der Einsamkeit der Zelle war er dahin gelangt, seinerseits die revolutionären Grundsätze, vor allem den Kampf gegen Gott, Königtum und Priestertum systematisch in seinen Schriften zu entwickeln. Das „Opfer der Bastille“ nahm denn auch lebhaften Anteil an den Ereignissen der Revolution und gerirte sich als einen begeisterten Anhänger der Schreckensmänner. Seiner Freundschaft mit Clermont-Tonnerre haben wir schon gedacht. Er wurde Sekretär der Sektion der „Pikenmänner“ (Section des Piques), auch genannt die Sektion der Place Vendôme oder die Sektion des Robespierre. „In den Unruhen des 2. September, wo jedermann zu Hause blieb, glaubte er sich am sichersten im Schosse seiner Sektion aufgehoben. So verliess er seine Wohnung in der Rue Neuve-des-Mathurins und begab sich am Abend zu den Kapuzinern am Vendômeplatze. Die Freunde Robespierre’s waren nicht dort, sondern im Jakobinerklub. Sade war nur als ein Mann bekannt, der unter dem ancien régime im Gefängnis gewesen war. Er hatte ein feines und sanftes Gesicht, war blond, schon ein wenig kahlköpfig und grauhaarig. ‚Wollen Sie unser Sekretär sein? — Gern?‘ Er nahm die Feder.“[551] — Er hielt sich aber, eingedenk seiner Vergangenheit, in bescheidener Zurückhaltung und spielte in seiner Sektion die Rolle des Philanthropen, verwendete seine ganze Zeit auf das Studium der Ver[S. 335]hältnisse in den Hospitälern, über welche er gute Berichte lieferte.

Sade war ein begeisterter Bewunderer des blutdürstigen Marat, auf den er nach dessen Ermordung durch Charlotte Corday die noch erhaltene Gedächtnisrede hielt, die von revolutionären Phrasen erfüllt ist, und in der er die „heilige und göttliche Freiheit“ als einzige Göttin der Franzosen feiert (29. Sep. 1793).[552] Unter ein Bild Marat’s schrieb er die Verse:

Du vrai républicain unique et chère idole,
De ta perte, Marat, ton image console.
Qui chérit un grand homme adopte ses vertus,
Les cendres de Scévole ont fait naître Brutus.[553]

Uebereinstimmend wird aber berichtet, dass insgeheim der Marquis de Sade von den Mitgliedern der Sektion, sowie von den übrigen Revolutionären verachtet und gehasst wurde. In der berühmten „Liste des ci-devant nobles“ von Jacques Dulaure, die im Jahre 1791 erschien, findet sich ein heftiger Artikel gegen unsern Marquis de Sade (Biographie universelle)[554]. Nach Cabanès behielt er den Titel „Marquis“ sogar bei, und „man kann sagen, dass das der einzige Marquis war, den man unter der Herrschaft von Robespierre und Fouquier-Tinville bestehen liess.“ (Cabanès a. a. O. S. 289) Er war vielleicht gar nicht Republikaner aus politischer Ueber[S. 336]zeugung, sondern kämpfte gegen Recht und Gesetz überhaupt nur unter dem Einflusse der von ihm gebildeten „théorie du libertinage.“ Er war der Philosoph des Lasters, aber kein leidenschaftlicher Politiker. In der Theorie absoluter Bösewicht, war er in Wirklichkeit recht sanftmütig, vorsichtig und voll von Tugendphrasen.[555] Das konnte den grossen Terroristen wenig passen. Eine schöne Handlung, die uns den Marquis de Sade menschlich näher bringt, gab ihnen den Vorwand, gegen ihn vorzugehen. Er hatte durch seine Fürsprache seine Schwiegereltern, obgleich sie ihm stets feindlich gesinnt gewesen waren, vom Schaffot gerettet,[556] und wurde daher als ein „Gemässigter“ verdächtigt und am 6. Dez. 1793 auf Befehl des „Comité de la Sureté générale“ verhaftet und nacheinander in die Gefängnisse des Madelonnettes, des Carmes und Picpus gebracht, erlangte aber am 9. Thermidor 1794 durch Rovère seine Freiheit wieder, dem er sein Landgut La Coste verkaufte und so in den Besitz einiger Geldmittel gelangte.

Sade lebte nunmehr zurückgezogen ganz seiner schriftstellerischen Thätigkeit, der unter dem Direktorium weniger Hindernisse in den Weg gelegt wurden. Wir erwähnten schon, dass er jedem der fünf Direktoren ein Exemplar der Prachtausgabe seiner „Justine“ überreichte, über deren Verbleib, besonders was das Exemplar des Barras anbetrifft, man genaue Nachrichten hat.[557] Ueberhaupt wurden damals die berüchtigten Hauptwerke des Marquis de Sade ganz öffentlich verkauft. Sie waren bei allen Buchhändlern zu haben und waren in den Katalogen angeführt. Ein[S. 337] grosser Kapitalist unterstützte den Vertrieb, der sich über das In- und Ausland erstreckte, und hatte Anteil am Gewinne. Dies dauerte bis zum Jahre 1801. (Biographie universelle). Im Thermidor des vorhergehenden Jahres (Jahr VIII) hatte der Marquis de Sade einen Roman „Zoloë et ses deux acolytes“ veröffentlicht, der nichts anderes war als ein heftiges Pamphlet gegen Joséphine de Beauharnais (Zoloë), die Damen Tallien (Laurenda) und Visconti (Volsange), gegen Bonaparte (Baron d’Orsec), Barras (Vicomte de Sabar), einen Senator (Fessinot) u. s. w., welche Persönlichkeiten in einer „petite maison“ sich der schändlichsten Unzucht hingeben.

Wegen dieses Pasquills wurde Sade am 15. Ventôse des Jahres IX (5. März 1801) verhaftet. Ein Bericht des Polizeipräfekten an den Polizeiminister vom 21. Fructidor des Jahres XII giebt Auskunft über diese Verhaftung.[558] Er enthält viele Unrichtigkeiten, z. B. gleich im Anfang die, dass der Marquis im Begriff gewesen wäre, die „Juliette“ zu publizieren, die doch bereits mehrere Jahre vorher erschienen war. Sade wurde nach diesem Bericht ohne rechtsgiltiges Urteil zunächst ins Gefängnis Sainte-Pélagie gebracht, da eine Gerichtsverhandlung „einen zu grossen Skandal erregt haben würde“ und auch die gerichtlichen Strafen „ungenügend und keineswegs den Delikten angemessen gewesen sein würden“. Der Präfekt erzählt dann weiter, dass Sade in Sainte-Pélagie die jungen Leute zu unsittlichen Handlungen verführt habe und er infolgedessen nach Bicêtre überführt worden sei. „Dieser unverbesserliche Mensch war in einem Zustande ‚beständigen wollüstigen Wahnsinns‘ (démence libertine).“ Auf Betreiben seiner Familie wurde er dann am 26.[S. 338] April 1803 nach Charenton gebracht. (Cabanès, S. 301.) Alle seine Manuscripte und Bücher waren wiederholt confisciert worden.

Aulard hat in einem Artikel „La Liberté individuelle sous Napoléon Ier“ (Revue du Palais, August 1897) auf die Häufigkeit der willkürlichen Verhaftungen und Einsperrungen ohne rechtsgiltiges Urteil unter dem Konsulat und ersten Kaiserreich aufmerksam gemacht. Es scheint, dass man öfter unliebsame Persönlichkeiten für irrsinnig erklärte und in Charenton unterbrachte. So wurde der Dichter Th. Desorgues, der ein Chanson gegen Napoleon mit dem Refrain:

Oui, le grand Napoléon
Est un grand caméléon

verfasst hatte, in Charenton interniert, wo er 1803 starb. Das gleiche Schicksal traf den Forstmeister de Laage, sowie den Abbé Fournier. Beide wurden in Bicêtre eingesperrt. (Cabanès S. 294–295). Bei Sade hatte man ausserdem noch den bequemen Vorwand, dass man den Verfasser so vieler obscöner Bücher unschädlich machen müsse, obgleich Marciat mit Recht bemerkt, dass ohne das Pamphlet gegen Bonaparte diese Bücher wohl nicht den Anstoss zu seiner Verhaftung gegeben haben würden. Sade, der wiederholt gegen dieselbe protestierte, hielt es deshalb für geraten, in seinen verschiedenen Briefen aus Sainte-Pélagie die Urheberschaft der „Justine“ u. a. abzuleugnen.[559]

Ueber den Aufenthalt des Marquis de Sade im Irrenhaus zu Charenton besitzen wir mancherlei interessante Nachrichten. Vor allem ist merkwürdig ein Gutachten des berühmten Irrenarztes Royer-Collard[560][S. 339] über den Marquis aus dem Jahre 1808, das wir vollständig mitteilen.

Paris, den 2. August 1808.

Der Chefarzt des Hospizes zu Charenton an Seine Excellenz den Senator und Polizeiminister.

Gnädiger Herr,

Ich habe die Ehre, an die Autorität Eurer Exzellenz zu appellieren, in einer Angelegenheit, die ebenso meine amtliche Thätigkeit angeht, wie die gute Ordnung in dem Hause, dessen ärztlicher Dienst mir anvertraut ist.

In Charenton befindet sich ein Mann, den seine kühne Immoralität unglücklicherweise zu berühmt gemacht hat, und dessen Anwesenheit die schwersten Unzuträglichkeiten nach sich zieht. Ich spreche von dem Autor des schändlichen Romans „Justine“. Dieser Mann ist nicht geisteskrank. Sein einziges Delirium ist das des Lasters, und dieses kann nicht in einer Irrenanstalt beseitigt werden. Er muss der strengsten Isolierung unterworfen werden, um andere vor seinen Ausbrüchen zu schützen und um ihn selbst von allen Gegenständen zu trennen, die seine hässliche Leidenschaft mehren könnten. Nun erfüllt das Haus Charenton keine dieser Bedingungen. Herr de Sade geniesst hier eine zu grosse Freiheit. Er kann mit einer grossen Zahl von Kranken und Rekonvalescenten beiderlei Geschlechts verkehren, sie bei sich empfangen oder sie in ihren Zimmern besuchen. Er hat die Erlaubnis, im Park spazieren zu gehen und trifft dort ebenfalls oft Kranke. Er predigt[S. 340] einigen seine schreckliche Lehre und leiht ihnen Bücher. Endlich geht das Gerücht im Hause, dass er mit einer Frau zusammen lebt, die für seine Tochter gilt.

Das ist noch nicht alles. Man ist so unvorsichtig gewesen, in der Anstalt ein Theater einzurichten, um die Irren Komödie spielen zu lassen, und hat nicht die unheilvolle Wirkung einer solchen tumultuösen Veranstaltung auf die Phantasie bedacht. Herr de Sade ist der Direktor dieses Theaters. Er giebt die Stücke an, verteilt die Rollen und leitet die Wiederholungen. Er unterrichtet die Schauspieler und Schauspielerinnen in der Deklamation und bildet sie in der grossen Bühnenkunst aus. Am Tage der öffentlichen Vorstellungen verfügt er stets über eine gewisse Zahl von Eintrittsbillets und macht inmitten seiner Gehilfen die Honneurs im Saale.

Zugleich ist er der Gelegenheitsdichter. Beim Feste des Direktors zum Beispiel, verfasst er entweder ein allegorisches Stück zu dessen Ehren oder wenigstens einige Couplets zu seinem Lobe.

Ich brauche Eurer Excellenz das Skandalöse eines derartigen Vorkommnisses nicht näher zu begründen, sowie die Gefahren aller Art, welche sich daraus ergeben. Wenn die Oeffentlichkeit diese Dinge erführe, welche Ansichten würde man über eine Anstalt bekommen, in welcher so seltsame Missbräuche geduldet werden? Wie verträgt sich eine sittliche Behandlung der Geisteskranken mit dem[S. 341]selben? Werden die Kranken, welche täglich mit diesem schrecklichen Manne in Berührung kommen, nicht unaufhörlich durch seine Verderbtheit infiziert, und genügt die blosse Idee seiner Gegenwart in diesem Hause nicht, um die Phantasie selbst derjenigen aufzuregen, die ihn nicht sehen?

Ich hoffe, dass Eure Excellenz diese Gründe gewichtig genug finden wird, um einen anderen Internirungsort als Charenton für Herrn de Sade anzuordnen. Ein Verbot, dass er nicht mehr mit den Irren verkehren soll, würde nichts fruchten und nur vorübergehend Besserung herbeiführen. Ich verlange nicht, dass man ihn nach Bicêtre zurückschicke, wo er früher war, aber ich kann nicht umhin, Eurer Excellenz vorzustellen, dass eine „maison de santé“ oder ein festes Schloss für ihn besser passen würde als eine Anstalt, in der zahlreiche Kranke behandelt werden, und wo eine beständige Ueberwachung und die hingebendste moralische Aufsicht nötig ist.

Royer-Collard, D. M.[561]

Dieser Bericht hatte keinen Erfolg. Der Marquis de Sade blieb in Charenton. Es ist sogar die Vermutung gerechtfertigt, dass er den dortigen Aufenthalt dem Gefängnisse, vielleicht auch der Freiheit vorzog. Nach der „Biographie universelle“ war er der besondere Günstling des Direktors von Charenton, des Abbé Coulmier. Dadurch würden die grossen Freiheiten, die er sich gestatten durfte, die Rolle als Theaterdirektor u. s. w. verständlich werden. Er hatte also Ursache, die Bemühungen des Dr. Royer-Collard, ihn aus der Anstalt zu entfernen, zu hintertreiben, wovon die folgende merkwürdige Adresse zeugt[562]:

[S. 342]

„Frau Delphine de T... beehrt sich Seiner Excellenz Herrn Fouché (dem Polizeiminister) die Petitionen zu schicken, von denen sie heute morgen mit ihm sprach. Die erste ist für Herrn de Sade und bittet darum, dass man möglichst baldige Anordnungen für das definitive Bleiben des Herrn de Sade in Charenton treffe, wo er sich seit 8 Jahren befindet und die Pflege hat, die sein Befinden erfordert. Seine Vorgesetzten sind mit seinem Betragen durchaus zufrieden.

Frau von T... fügt ihrer Petition ein ärztliches Zeugnis bei, welches bestätigt, dass der Zustand des Herrn de Sade sein Verbleiben in Charenton notwendig macht.

Sie dankt von neuem Seiner Excellenz für den gütigen Empfang von heute Morgen.“

Vielleicht ist Sade selbst, wie Marciat vermutet[563], der Anstifter dieser Petition gewesen, und vielleicht erklärt sich ein Teil der Anklagen von Royer-Collard aus einer Meinungsverschiedenheit, wenn nicht Rivalität zwischen dem Arzte und dem Direktor der Anstalt. Dieser, der Abbé Coulmier, war nach der „Biographie universelle“ ein Mann von sehr leichtfertigen Sitten. Royer-Collard’s wiederholte Klagen über das Theaterspielen in Charenton hatten endlich das Verbot desselben zur Folge. Aber an seine Stelle traten Konzerte und Bälle! Royer-Collard erlangte endlich am 6. Mai 1813 auch das Verbot dieser einer Irrenanstalt wenig angemessenen Unterhaltungen.[564]

Die „Revue anecdotique“ hat zwei auf die Thätig[S. 343]keit des Marquis de Sade als Theaterregisseur sich beziehende Dokumente veröffentlicht.[565]

Seine Graphomanie trieb Sade bei jeder Gelegenheit zu dichterischen Ergüssen. Besonders liebte er das „couplet laudatif“. So verfasste er zahlreiche anonyme Couplets zu Ehren des Cardinals Maury, Erzbischofs von Paris, die am 6. Oktober 1812 in der „maison de santé“ bei Charenton gesungen wurden, von deren Geringwertigkeit eins Zeugnis ablegen möge:

Semblable au fils de l’Eternel
Par une bonté peu commune,
Sous l’apparence d’un mortel
Venant consoler l’infortune,
Votre âme, pleine de grandeur,
Toujours ferme, toujours égale,
Sous la pourpre pontificale
Ne dédaigne point le malheur.[566]

Ueber den Eindruck der Persönlichkeit des Marquis de Sade während seines Aufenthaltes in Charenton liegen mehrere, aber wenig beglaubigte Nachrichten vor. Janin schildert recht lebhaft den corrumpierenden Einfluss, den Sade in der Irrenanstalt ausübte, sowie die zärtliche Sympathie, die er „jungen und hübschen Frauen“ einflösste.[567] Lacroix erzählt[568]: „Ich habe oft achtungswerte Personen gefragt, von denen einige noch, mehr als 80jährig, leben, und von ihnen mit einer indiscreten Neugierde merkwürdige Enthüllungen über den Marquis de Sade verlangt, und war nicht wenig erstaunt, dass diese Personen, die durch ihre Moral, ihre Stellung[S. 344] und ehrenwerten Antecedentien vor jedem Verdacht geschützt sind, keinerlei Widerwillen dagegen empfanden, sich an den Autor der ‚Justine‘ zu erinnern und von ihm als einem „aimable mauvais sujet“ zu sprechen.“ Charles Nodier, der den Marquis de Sade einmal flüchtig sah, erinnert sich nur, dass er „höflich war bis zur Unterwürfigkeit, feierlich bis zur Salbung (onction) und dass er respectvoll von allem sprach, was Respect verdient.“ Dabei war er „enorm fett“, so dass seine Bewegungen durch diese Körperfülle gehindert wurden und ein Rest von „Grazie und Eleganz“, der sich in seinem ganzen Wesen aussprach, nicht recht zur Geltung kam. Seine müden Augen leuchteten plötzlich auf.[569] Nach der „Biographie universelle“ bewahrte Sade bis zu seinem Tode seine schmutzigen Gewohnheiten. Wenn er im Hofe promenierte, zeichnete er obscöne Figuren in den Sand, besuchte man ihn, so war sein erstes Wort eine Zote; dabei war seine Stimme sanft. Er hatte schöne weisse Haare, eine liebenswürdige Miene und war von ausgesuchter Höflichkeit. Er war ein robuster Greis ohne jede Schwäche.

7. Der Tod.

Der Marquis de Sade starb 74 Jahre alt, am 2. Dezember des Jahres 1814, 10 Uhr abends, sanft, ruhig, an den Folgen einer längeren Krankheit, die indessen seine Rüstigkeit nicht beeinträchtigt hatte. Ueber diese Krankheit berichtet de Sade schon in[S. 345] einem Briefe vom 17. Juni 1808 an den Kaiser Napoléon. Der Brief ist gegenwärtig im Besitze des Herrn Noël Charavay, der Cabanès die Einsicht und den Abdruck (Cabanès a. a. O. S. 312) gestattete. de Sade beklagt sich in demselben bitterlich darüber, dass er seit 20 Jahren in drei verschiedenen Gefängnissen das unglücklichste Leben führe. Er sei 70 Jahre alt, fast blind, von der Gicht heimgesucht (der Krankheit aller Lebemänner) und von heftigen Brust- und Magenschmerzen, die ihn schrecklich peinigten. Das könne durch die Zeugnisse der Aerzte von Charenton bestätigt werden. Er flehe daher Seine Majestät an, ihm endlich die Freiheit zu geben. — Eine von Dr. Ramon, dem Arzte de Sade’s, aufgezeichnete Notiz besagt, dass der Marquis an „Lungenanschoppung infolge von Asthma“ gestorben sei. In den Archiven von Charenton findet sich ein Bericht über den Tod des Marquis de Sade an den Generaldirektor der Polizei, in dem es heisst, dass seine Gesundheit seit einiger Zeit sich zusehends verschlechtert habe. Er sei aber noch zwei Tage vor seinem Tode umhergegangen. Das Ende selbst sei schnell eingetreten, im Beginne eines „adynamischen und ganggränösen Fiebers“. Interessant ist die weitere Mitteilung, dass, da der Sohn Armand de Sade anwesend sei, die Behörde es wohl nicht nötig haben werde, Vorsichtsmassregeln zu ergreifen, da der Sohn selbst gewiss etwaige „gefährliche Papiere“ seines Vaters vernichten würde. (Cabanès a. a. O. S. 311–312). Am Abend vorher hatte er noch diese Papiere in Ordnung gebracht. Kaum war er tot, als sich „die Schüler Gall’s auf seinen Schädel stürzten, als auf eine unschätzbare Beute, die ihnen mit einem Schlage das Geheimnis der seltsamsten menschlichen Organisation enthüllen würde, von der[S. 346] man jemals hatte sprechen hören. Dieser Schädel glich allen Greisenschädeln. Es war eine merkwürdige Mischung von Lastern und Tugenden, von Wohlthun und Verbrechen, von Hass und Liebe. Er war klein, wohl geformt. Man könnte ihn für den Schädel einer Frau halten, an dem die Organe der mütterlichen Zärtlichkeit (!) ebenso entwickelt sind, wie an dem Kopfe der Héloïse ‚ce modèle de tendresse et d’amour‘.“[570]

Nach seinem Tode fand man das folgende Testament, das Jules Janin zuerst veröffentlicht hat:[571]

„Ich verbiete, dass mein Körper unter irgend einem Vorwande geöffnet werde, ich verlange aufs dringendste, dass er 48 Stunden in dem Zimmer, in dem ich sterben werde, liegen bleibe, in einem Holzsarge, der erst nach Ablauf dieser Zeit zugemacht werden soll. Dann soll ein Bote zu dem Holzhändler Lenormand in Versailles, Boulevard de l’Egalité No. 101, geschickt werden, damit er selbst mit einem Wagen komme und meine Leiche unter seiner Begleitung auf diesem Wagen in das Gehölz auf meinem Landgute Malmaison, Gemeinde Maucé nahe bei Epernon, gebracht werde, wo sie ohne jede Ceremonie in dem ersten Gebüsche bestattet werden soll, das sich rechts in dem Gehölze findet, wenn man durch die grosse Allée von der Seite des alten Schlosses hineintritt. Die Grube soll durch den Pächter von Malmaison unter der Aufsicht des Herrn Lenormand geschaufelt werden, der nicht vor vollendeter Bestattung fortgehen soll. Bei dieser Ceremonie können diejenigen meiner Verwandten oder Freunde zugegen sein, die mir dieses letzte Zeichen ihrer Liebe geben wollen. Das Terrain soll bepflanzt werden, damit die[S. 347] Spuren meines Grabes von der Erdoberfläche verschwinden, wie ich hoffe, dass mein Andenken in der Erinnerung der Menschen ausgelöscht werden wird.

Geschrieben zu Charenton-Saint-Maurice, im Zustand der Vernunft und Gesundheit, am 30. Januar 1806.

D.-A.-F. Sade.“[572]

Marciat meint, dass dieses Testament den Marquis de Sade am Ende seines Lebens noch als denjenigen zeige, der er während seines ganzen Lebens war: als einen vollkommenen Atheisten.

[S. 348]

III.
Die Werke des Marquis de Sade.

„Justine“ und „Juliette“.

1. Geschichte der Entstehung.

Die Hauptwerke des Marquis de Sade, denen er seine „herostratische Unsterblichkeit“ dankt, wie Eulenburg sagt, und denen wir eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen haben, sind die „Justine“ und „Juliette“, anfangs getrennt veröffentlicht, später vereinigt unter dem Titel „La nouvelle Justine ou les Malheurs de la vertu suivi de l’Histoire de Juliette, sa sœur, ou les Prospérités du vice“, Hollande (Paris, Bertrandet?) 1797 10 Bände in 18o, davon 4 der „Justine“, 6 der „Juliette“ angehörend. Selbst die Titel sind, wie Nodier (a. a. O.) sagt „obscön geworden“.

Der Entwurf der „Justine“ reicht in die Gefängniszeit des Marquis de Sade zurück. Nach der „Biographie universelle“ verfasste er „Aline et Valcour“ und die „Justine“ in der Bastille. Nachdem er 1790[S. 349] seine Freiheit erlangt hatte, erschienen im Jahre 1791 zwei Ausgaben der „Justine“, die eine mit einem Titelbild von Chéry, die zweite schon vergrösserte mit einem solchen von Texier und 12 obscönen Bildern. Die dritte Auflage im Jahre 1792 wurde von Cazin gedruckt[573] und ist noch cynischer als die beiden ersten, da z. B. Bressac seine Greuelthaten an der Mutter statt wie früher an der Tante verübt. Eine vierte Ausgabe erschien 1794.

Die „Juliette“ erschien zum ersten Male im Jahre 1796. Alle diese Angaben sind für das Studium des Marquis de Sade entbehrlich, da die grosse vereinigte Ausgabe der „Justine“ und „Juliette“ im Jahre 1797 nicht nur die verbreitetste geworden ist, sondern auch diejenige ist, in welcher die Ideen des Verfassers bis zu den äussersten Konsequenzen entwickelt werden, diejenige also, auf welche allein man sich beziehen kann. In dieser Gesamtausgabe umfasst die „Histoire de Justine ou les malheurs de la Vertu par le Marquis de Sade“ (En Hollande 1797) vier Bände, die „Histoire de Juliette ou les prospérités du vice par le Marquis de Sade“ (En Hollande 1797), sechs Bände. Die „Justine“ enthält 40, die „Juliette“ 60 obscöne Abbildungen, zu denen noch 4 Titelbilder kommen, so dass es im Ganzen 104 Abbildungen sind. Als Motto für beide Werke ist der den Inhalt richtig bezeichnende Spruch gewählt:

On n’est point criminel pour faire la peinture
Des bizarres penchants qu’inspire la nature.

Es wird berichtet, dass diese Ausgabe in einem Keller gedruckt wurde.[574]

[S. 350]

2. Die Vorrede.

Sie befindet sich im ersten Bande der „Justine.“ Sie führt aus, dass die Conception des Werkes ins Jahr 1788 fällt, dass der Autor verstorben sei und ein ungetreuer Freund, dem das Manuscript schon zu Lebzeiten desselben anvertraut war, mehrere schlechte Ausgaben des Werkes veranstaltet habe. Die vorliegende sei ein getreuer Abdruck des Originals. Die kühnen Gedanken in demselben würden ja in einem „philosophischen Jahrhundert“ keinen Anstoss erregen, und der Schriftsteller, dem alle „Zustände der Seele“ zur Verfügung ständen, dürfe von allen möglichen Situationen und cynischen Gemälden Gebrauch machen. „Nur die Dummen nehmen daran Anstoss. Die wahre Tugend erschrickt nicht über die Gemälde des Lasters. Sie findet in ihnen nur eine weitere Förderung. Man wird vielleicht gegen dieses Werk schreien. Aber wer wird schreien? Die Wüstlinge, wie ehemals die Heuchler gegen den ‚Tartuffe‘ schrieen. Kein Buch wird eine lebhaftere Erwartung erwecken und das Interesse so anhaltend fesseln. In keinem sind die Herzensregungen der Lüstlinge geschickter dargestellt und die Einfälle ihrer Phantasie so lebenswahr ausgeführt. Nirgendwo ist geschrieben, was man hier lesen wird. Haben wir daher nicht Grund zu glauben, dass dies Werk bis in die fernste Zukunft dauern wird? Die Tugend selbst, müsste sie auch einen Augenblick zittern, muss vielleicht einmal ihre Thränen vergessen, aus Stolz, in Frankreich ein so pikantes Werk zu besitzen, in dem die cynischste Sprache mit dem stärksten und kühnsten System, den unsittlichsten und gottlosesten Ideen verbunden ist.“

[S. 351]

Man sieht, dass der Marquis de Sade selbst von der Einzigartigkeit seines Werkes überzeugt war und ausspricht, dass er mit Bewusstsein alle ähnlichen Werke an Cynismus überbieten wollte. Gehen wir nun dazu über, uns mit dem Inhalt der „Justine“ und „Juliette“ bekannt zu machen. Wir sind dabei um so ausführlicher, als in deutscher Sprache keine zuverlässige Analyse des Sade’schen Hauptwerkes existiert, dass vielmehr, trotzdem so viel davon gesprochen wird, zu den bestunbekannten Dingen gehört.[575]

3. Analyse der „Justine“.

Es sind die „Malheurs de la vertu“, die in der „Justine“ geschildert werden. Die Tugend, verkörpert durch die Titelheldin Justine, gerät immer ins Unglück und wird vom Laster und vom Bösen erwürgt. Das ist die Fabel des Romans. —

Justine und Juliette sind die Töchter eines sehr reichen Pariser Bankiers, die bis zum 14. und 15. Lebensjahre in einem berühmten Kloster von Paris erzogen werden. Durch den plötzlichen Bankerott des Vaters, dem sein Tod und der der Mutter nach kurzer Zeit folgt, werden sie genötigt, das Kloster zu verlassen und, da sie mittellos sind, sich selbst den Lebensunterhalt zu verschaffen.

Juliette, die Aeltere, „lebhaft, leichtsinnig, boshaft, mutwillig und sehr hübsch“, freut sich der goldenen Freiheit. Justine, die Jüngere, 14 Jahre alt, naiver und interessanter als ihre Schwester, eine zärt[S. 352]liche, zur Melancholie und Phantasterei geneigte Natur, empfindet weit mehr ihr beklagenswertes Geschick. Juliette sucht sie zu trösten durch den Hinweis auf die Freuden sexueller Erregungen und zeigt ihr, wie sie durch ihre körperliche Schönheit reich und glücklich werden könne. Ihre Vorschläge werden aber von der tugendhaften Justine mit Entrüstung zurückgewiesen, worauf sich Beide von einander trennen, um sich später unter eigentümlichen Umständen wieder zu treffen.

Zunächst wird also das Schicksal der tugendhaften Justine erzählt. Diese wendet sich in ihrer Verlassenheit an die früheren Bekannten ihrer Eltern, wird aber schnöde abgewiesen. Ein Pfarrer versucht sogar, sie zu verführen. Schliesslich kommt sie zu einem Grosskaufmann Dubourg, dessen grösster geschlechtlicher Genuss darin besteht, Kinder zum Weinen zu bringen, und der natürlich infolgedessen über die weinend ihre Klagen vorbringende Justine sehr entzückt ist. Als sie aber im Laufe des Gespräches seinen sexuellen Gelüsten einen heftigen Widerstand entgegensetzt, wird sie von ihm hinausgeworfen. Inzwischen hat eine gewisse Madame Desroches, bei der Justine abgestiegen ist, in deren Abwesenheit ihre Kommode geöffnet und Justines geringe Habseligkeiten gestohlen, sodass das arme Mädchen ganz in die Hände dieser Megäre geliefert ist. Letztere macht Justine mit einer Demimondaine, Madame Delmonse, bekannt, welche ihr eine grosse Rede über die Vorteile und die Freuden der Prostitution hält. (Justine I, 28 ff.). „Man fordert nicht die Tugend von uns, sondern nur deren Maske“. Daher „bin ich (Delmonse) eine Hure wie Messalina; man hält mich aber für so keusch wie Lucretia. Ich bin Atheistin wie Vanini;[S. 353] man hält mich für so fromm wie die heilige Therese. Ich bin falsch wie Tiberius; man hält mich für so freimütig wie Sokrates. Man glaubt, ich sei nüchtern wie Diogenes; aber Apicius war weniger unmässig als ich es bin. Ich bete alle diese Laster an und verabscheue alle Tugenden. Aber wenn Du meinen Gatten, meine Familie fragtest, würden sie sagen: Delmonse ist ein Engel!“

Justine wird nun von beiden Frauen zusammen zu verführen gesucht und schliesslich dem alten Dubourg wieder zugeführt, dem sie aber wiederum Widerstand leistet. Man lockt sie dann in das Haus der Delmonse, wo Dubourg später zum dritten Male sein Heil versuchen soll und wo Justine zunächst die tribadischen Attacken der geilen Delmonse abzuwehren hat. Endlich kommt der alte, impotente Dubourg an, wird zunächst von der Delmonse, die ihm die Testes mit einer scharfen Flüssigkeit einreibt und ihn eine wunderbare Bouillon trinken lässt, gehörig präpariert. Im kritischen Moment entwischt Justine zum dritten Male, indem sie unter das Bett kriecht. Der arme Dubourg ist wiederum betrogen, und man schwört dem widerspenstigen Mädchen schlimme Rache. Delmonse beschuldigt Justine, ihr eine goldene Uhr gestohlen zu haben, und so wird die Unglückliche ins Gefängnis geschickt.

Hier macht sie die Bekanntschaft einer gewissen Dubois, die alle möglichen schändlichen Verbrechen begangen hat. Sie und Justine werden zum Tode verurteilt. Die Dubois legt Feuer im Gefängnisse an, bei dem 60 Personen verbrennen. Justine und Dubois entfliehen und gesellen sich zu einer Räuber- und Wildererbande im Walde von Bondy. Als Justine sich weigert, ihrer Gefährtin weiter auf der Bahn des Verbrechens zu folgen, wird sie durch Todesdrohungen dazu ge[S. 354]zwungen und muss Zeugin und Gehilfin einer wilden Orgie der vier Männer mit der Dubois sein: Der Bruder der Dubois, Cœur-de-Fer, hält nach derselben eine grosse Lobrede auf die Paederastie, die besonders bei Beichtvätern beliebt sei. (Justine I, 88–99.) Nach verschiedenen Schandthaten dieser Bande entflieht Justine mit einem Kaufmann Saint-Florent, den sie vor der Erschiessung gerettet hat, und der sich als ihr Onkel zu erkennen giebt. Sie steigen in einem Gasthause ab. Bald zeigt sich, dass die arme Justine vom Regen in die Traufe gekommen ist. Dieser Saint-Florent enthüllt sich als ein bösartiger Lüstling. Schon im Hotel schleicht er herbei, um Justine bei der Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses zu beobachten. Bei anbrechender Nacht verlassen sie das Städtchen und kommen in einen Wald. Hier versetzt Saint-Florent ihr plötzlich einen Schlag mit dem Stocke, so dass sie ohnmächtig hinfällt, befriedigt seine Lüste an ihr und lässt sie in einem traurigen Zustande und bewusstlos liegen. Beim Erwachen kann nur das Gebet die unglückliche Justine trösten. Sie hat sich bei Tagesanbruch versteckt, da sie das Wiederkommen des elenden Saint-Florent fürchtet, und wird so unfreiwillige Zeugin einer paederastischen Szene zwischen einem jungen Edelmann, Herrn de Bressac, und dessen 20 Jahre älteren Lakaien Jasmin. Justine wird von ihnen entdeckt, an einen Baum gebunden, aber wieder befreit und der Mutter des Herrn de Bressac als Kammerzofe zugeführt. Madame de Bressac ist eine Frau von strengster Tugend, die ihren Sohn sehr karg hält. Daher herrscht zwischen diesen Beiden ein sehr schlechtes Einvernehmen. Frau von Bressac sucht Justine in Paris zu rehabilitieren. Die Delmonse ist aber nach Amerika ausgewandert, so dass die Sache nicht aufgeklärt wird. Merkwürdiger Weise wird Justine von[S. 355] einer heftigen Leidenschaft für den vollkommen degenerierten und im höchsten Grade misogynen Bressac ergriffen. Dieser benutzt die Annäherung Justinens nur dazu, um sie mit seinen lasterhaften Grundsätzen bekannt zu machen und ihren Charakter zu verderben. Auch veranstaltet er in ihrer Gegenwart eine sexuelle Orgie, bei der er die eigene Mutter vergewaltigt. Er kündigt darauf Justine an, dass er seine Mutter beseitigen wolle, die ihm schon längst im Wege sei. Das Entsetzliche geschieht dann auch inmitten wildester Ausschweifungen. Justine, die sich geweigert hat, an dem Morde teilzunehmen, soll ebenfalls getötet werden, entflieht aber nach dem Städtchen Saint-Marcel in ein Haus, das eine von einem gewissen Rodin geleitete Schule sein soll. Dieser empfängt die nunmehr 17jährige Justine sehr freundlich und macht sie mit seiner Tochter Rosalie bekannt. Rodin ist 36 Jahre alt, von Beruf ein Chirurg und wohnt mit seiner 30jährigen Schwester Coelestine zusammen. Letztere ist eine Tribade, und ein ebensolches erotisches Scheusal wie ihr Bruder. Ausserdem befindet sich noch die 19jährige Gouvernante Martha im Hause. Rodin hat eine Pension und Schule für beide Geschlechter, 100 Knaben und 100 Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren. Hässliche Kinder werden nicht aufgenommen. Rodin unterrichtet die Knaben, Coelestine die Mädchen. Kein fremder Lehrer wird zugelassen, damit die Geheimnisse des Hauses gewahrt werden können. Gleich in den ersten Tagen beobachtet Justine mit Rosalie das geheime Treiben der Geschwister. Rodin scheint Saint-Florent’s Neigungen zu teilen, er beobachtet von einem Nebengelass aus Justine, die sich in einem cabinet d’aisance aufhält, et defaecatione filiae delectatur. Da im weiteren Verlaufe ihres Aufenthaltes in diesem Hause der Wollust Justine den Anerbietungen der Ge[S. 356]schwister hartnäckig widersteht und schliesslich mit Rosalie zu entfliehen sucht, beschliesst Rodin, Beide mit Hilfe eines Kollegen Rombeau zu ermorden, nachdem man sie vorher zu physiologischen Experimenten benutzt habe. Zuerst wird an Rosalie unter schrecklichen Orgien die — Sectio caesarea ausgeführt. Justine aber kommt glücklich mit einer Brandmarkung davon und wird fortgejagt.

Auf der Flucht gelangt sie in die Nähe von Sens. Als sie in der Abenddämmerung am Ufer eines Teiches sitzt, hört und sieht sie, wie ein kleines Kind ins Wasser geworfen wird. Sie rettet dasselbe, wird aber von dem Mörder, einem Herrn von Bandole, dabei überrascht. Er giebt das Kind sofort wieder demselben Schicksal preis und führt Justine mit sich auf sein Schloss. Dieses Ungeheuer lebt einsam in seinem entlegenen Schlosse. Er hat die Manie, jedes Weib nur einmal zu missbrauchen und sie dabei sofort zu schwängern. Die Kinder werden bis zum Alter von 18 Monaten von ihm erzogen und dann in den Teich geworfen. Augenblicklich hat er 30 Mädchen in seinem Schlosse. Er ist Antialkoholist und Vegetarier und hält auch die Mädchen zu einer knappen Kost an, damit sie Kinder bekommen. Auch bindet er sie ante coitum auf eine Maschine, und lässt sie nachher 9 Tage im Bette liegen, Kopf niedrig und Füsse hoch. Das sind seine conceptionsbefördernden Mittel. Er wohnt dann dem Gebärakt bei, was ihm stets besonderen Genuss bereitet, und führt selbst allerlei Operationen dabei aus, u. a. die Sectio caesarea. Justine wird, gerade als an ihr die Reihe ist, von Cœur-de-Fer befreit, den sie ins Schloss einlässt, und der ihr die Freiheit giebt.

Sie gerät nun in eine Benediktiner-Abtei, Sainte-Marie-des-Bois, dessen Prior Severino, ein Verwandter des Papstes, sich als gefährlicher Wüstling und Paede[S. 357]rast entpuppt, der mit den nicht weniger ausschweifenden Mönchen in unterirdischen Sälen teuflische Orgien feiert. Zwei „Serails“ von Knaben und Mädchen sind im Kloster, die von einer Messalina namens Victorine beaufsichtigt werden. Bei den nun geschilderten Ausschweifungen sind die verschiedensten sexualpathologischen Typen vertreten. Einer sucht seine Befriedigung darin, Frauen zu ohrfeigen, ein Anderer liebt besonders Menstruirende, ein dritter den Geruch der Achseln. Der Mönch Jérôme sagt: „Ich möchte sie (die Frauen) verschlingen, ich möchte sie lebend essen, ich habe lange keine Frau gegessen und ihr Blut geschlürft.“ Justine, die mit einem jungen Mädchen Omphale Freundschaft geschlossen hat, wird von dieser mit den geradezu raffinierten Einrichtungen dieses klösterlichen Bordelles, mit den darin geltenden Vorschriften und den Strafen gegen das Uebertreten derselben bekannt gemacht. Die Mönche vollziehen die Todesstrafe in Form des Röstens, Kochens, Räderns, Vierteilens, Zerstückelns und Totpeitschens. Zwischen den zahlreichen Orgien werden grosse Reden zur Rechtfertigung derselben gehalten, so von Clément. Der scheussliche Jérôme erzählt seine lange wollustreiche und bluttriefende Lebensgeschichte. Im Beginn seiner Thätigkeit hat es ihm nach der Verführung seiner eigenen Schwester besonderes Vergnügen bereitet, Schwestern durch ihre Brüder verführen zu lassen. Er ist auch im Jahre 1760 in Deutschland gewesen und hat in Paderborn und Berlin seine Schandthaten verübt[576]. Dann geht er nach Sizilien, wo die Giftmische[S. 358]rei in höchster Blüte steht und die Geistlichen das verderbteste Leben führen. Er wird mit dem Chemiker Almani bekannt, der ein grosser Liebhaber von Ziegen ist, und bei dem der Ausbruch des Aetna einen sexuellen Orgasmus auslöst. Mit Hülfe einer gewissen Clementia verübt Jérôme dann die Greuelthaten eines Gilles de Retz. Von Sizilien geht Jérôme nach Tunis und kehrt darauf nach Frankreich zurück, wo er, bevor er ins Kloster kommt, in Marseille Gelegenheit hat, die dortige Corruption zu studieren.

Diese Erzählung begeistert die Mönche zur Hinrichtung einiger Mädchen. Auch Justine soll, als ihr einziger Beschützer Severino, der zum Ordensgeneral der Benediktiner ernannt wird, das Kloster verlässt, an die Reihe kommen. Doch gelingt ihr die Flucht. Sie trifft unterwegs Dorothée d’Esterval, eine abgefeimte Heuchlerin, die Gattin des Besitzers einer einsam gelegenen Herberge, der alle seine Gäste ausplündert und bestialisch ermordet. Dorothée lebt, wie sie sagt, mit ihrem Manne in sehr schlechtem Einvernehmen und bittet Justine, mit ihr zu gehen. Justine ist aber wieder einmal in eine Falle gegangen. Dieser d’Esterval, der stets seinen Opfern das an ihnen zu begehende Verbrechen vorher verkündet, braucht nämlich jedes Mal nach vollbrachter That eine Frau, die ihm die eigene Gattin besorgen muss, die übrigens ebenso verderbt ist, wie ihr Mann. Justine soll ihren und seinen Lüsten dienen und ausserdem die Reisenden anlocken und umgarnen. Mehrere solche Greuelszenen werden geschildert. Eines Tages kommt ein alter Bekannter Justinens, Herr de Bressac, der ein Verwandter d’Estervals ist. Sie begeben sich alle vier zu dem Grafen Gernande, ebenfalls einem Verwandten. Dieser[S. 359] ist ein Vielfrass und Säufer und befriedigt seine Blutgier durch Aderlässe und Incisionen an seinen Frauen, deren er bereits die sechste besitzt. Solche Szenen werden in schauerlichster Weise vorgeführt, während Dorothée später die Madame Gernande zu tribadischen Manövern verführt. Dann repräsentiert sich in der Familie Verneuil, ein neuer Zweig der würdigen Verwandtschaft. Herr de Verneuil kommt mit seiner Frau, seinem Sohne Viktor, seiner Tochter Cécile und Gefolge an. Der alte Verneuil betreibt auch eine besondere Spezialität des sexuellen Genusses. Er bezahlt reiche Frauen und bestiehlt arme! Er veranstaltet alsbald eine Orgie auf einer „Ottomane sacrée“, über der ein Bild Gottes hängt, das Veranlassung zu schrecklichen Gotteslästerungen giebt. Nach mehreren ähnlichen Szenen, wobei Justine einmal in einen tiefen Brunnen fällt, aber wieder herausgezogen wird, und Bressac grosse Reden gegen die Unsterblichkeit der Seele hält, werden die Tochter und die Frau Verneuils getötet. Justine entflieht nach Lyon, trifft dort Saint-Florent wieder, dessen Spezialität die Verführung von Jungfrauen bildet, die er sofort durch einen Mädchenhändler verkaufen lässt. Justine soll Gehilfin bei seinen Schandthaten werden, weigert sich aber und wird von ihm eingesperrt und muss den von Saint-Florent ausgespuckten Speichel auflecken. Nach der unerlässlichen Orgie wird Justine freigelassen und begegnet ausserhalb Lyons einer Bettlerin, die um Geld bittet und dann Justine die Börse raubt. Beim Verfolgen gerät Justine in die Höhle einer Bettlerbande, bei deren geschlechtlichen Ausschweifungen der Paederast und Jesuit Gareau und die Tribade Séraphine, deren Geschichte ganz weitläufig erzählt wird, als Hauptpersonen thätig sind. Justine entkommt auch aus dieser Verbrecher[S. 360]höhle, findet einen von zwei Cavalieren halbtot geschlagenen Mann namens Roland, dem sie ihre Hilfe angedeihen lässt. Dieser Roland ist das Haupt einer Falschmünzerbande und haust auf einem hoch oben im Gebirge gelegenen Schlosse. Er ist natürlich ebenfalls ein gefährlicher Wüstling, wie die arme Justine, die er mit auf sein Schloss gelockt hat, bald erfährt. In einem unterirdischen Gewölbe seines Schlosses, wo zahlreiche Skelette, Waffen aller Art, kirchliche Geräte, Krucifixe, Kerzen u. s. w. sich befinden, betreibt dieses Scheusal als sexuellen Sport das „jeu de coupe-corde“, das Erhängen seiner weiblichen Opfer, da dies ein unsäglich wollüstiger Tod sei, wie Roland an sich selbst öfters erprobt hat und Justinen demonstriert, die ihn aber zur rechten Zeit wieder abschneiden muss. Schliesslich wird Justine von Roland in einen mit Toten gefüllten Abgrund hinabgestossen, aus dem sie am folgenden Tage, da er das Schloss verlässt, von seinem menschlicheren Nachfolger Deville gerettet wird. Eines Tages wird die ganze Falschmünzerbande verhaftet, nach Grenoble gebracht und zum Galgen verurteilt. Justine wird aber durch die aufopfernde Thätigkeit eines Herrn S... (Sade?), Advokaten am Gerichtshofe in Grenoble, befreit, der auch eine Sammlung für sie veranstaltet.

In einem Gasthofe zu Grenoble trifft Justine die inzwischen zur Baronin avancierte Dubois wieder, ihre einstige Gefährtin im Gefängnis zu Paris, die sich bei ihr mit einer „Dissertation philosophique“ einführt und sie zur Beraubung eines jungen Kaufmanns zu verleiten sucht. Justine verrät diesem die Pläne der Dubois, aber zu spät. Denn er ist bereits von der den Verrat ahnenden Dubois vergiftet worden. Justine wird auf der Landstrasse von drei Männern überfallen, die sie in ein[S. 361] Landhaus des Erzbischofs von Grenoble führen, in dem die rachedurstige Dubois als Aufseherin fungiert. Dieser Erzbischof ist natürlich auch ein Ausbund von Lasterhaftigkeit und Grausamkeit; ein „Faun aus der Fabel“, ein Monomane des Köpfens. Er hat sich einen eigenen „Hinrichtungssaal“ eingerichtet[577], in dem vor den Augen der schaudernden Justine ein Mädchen Eulalie archiepiscopo eam paedicante geköpft wird. Justine entflieht, wird aber von der Dubois wieder eingefangen, als Brandstifterin und Mörderin denunziert, und ins Lyoner Gefängnis eingeliefert, von wo sie nächtlicher Weile durch den wieder einmal auftauchenden Saint-Florent einem der Richter, Cardoville, zugeführt wird. In dessen Schlosse feiert eine Gesellschaft von Anthropophagen ihre Orgien, unter Assistenz von 12 Negern. Justine wird eine Zeit lang aufs Rad geflochten. Sodann machen zwei Mädchen an ihr die Operation der Infibulation. Dann muss sie Spiessruten laufen. Danach legen sich sämtliche Teilnehmer auf ein mit eisernen Stacheln besetztes Kreuz, das die Wollust unermesslich reizt und zu wilden Ausbrüchen derselben Veranlassung giebt. Danach wird Justine ins Gefängnis zurückgeführt und vom Gericht unter dem Präsidium des Wüstlings Cardoville zum Feuertode verurteilt. Doch lässt sie der Gefängniswärter, für den sie aber vorher einen Diebstahl begehen muss, entschlüpfen.

[S. 362]

Auf ihrer Wanderung bemerkt sie gegen Abend eine elegante Dame mit vier Herren. Es ist ihre Schwester Juliette. Bei der Erkennungsszene ruft Juliette aus: „O Kleinmütige, höre auf, Dich zu wundern. Ich hatte Dir alles das vorausgesagt. Ich habe den Weg des Lasters eingeschlagen und auf ihm nur Rosen gefunden. Du warst weniger Philosophin, und Deine verwünschten Vorurteile liessen Dich Chimären träumen. Du siehst, wohin sie Dich gebracht haben.“ Justine wird mit Kleidern und Nahrung versehen, und einer der Cavaliere sagt, auf sie deutend: „Oui, voilà bien ici les Malheurs de la Vertu!“ Und auf Juliette zeigend: „Et là, là, mes amis, les Prospérités du Vice!“

Am anderen Tage kündigt Juliette an, dass sie ihrer Schwester ihre eigene Geschichte erzählen will. „Sie, Noirceuil und Chabert, die Sie alles wissen, brauchen nicht zuzuhören. Gehen Sie einige Tage aufs Land. Aber Sie, Marquis, und Sie, Chevalier, Sie müssen zuhören; um sich von der Wahrheit der Worte Chaberts und Noirceuils’s zu überzeugen, dass es keine extravagantere Frau giebt als mich.“ Man geht in einen Salon des Schlosses, setzt sich auf Canapés. Justine nimmt auf einem Stuhle Platz, und Juliette fängt an zu erzählen.

4. Analyse der „Juliette“.

Das „Glück des Lasters“ bildet das Thema der sechsbändigen „Juliette“, die in der Gesamtausgabe von 1797 als eine Fortsetzung und Ergänzung der „Justine[S. 363]“ erscheint und den Triumph des Lasters in wahrhaft infernalischen Bildern schildert.

Justine und Juliette werden, wie schon erwähnt, im Kloster Panthémont erzogen, aus dem die „hübschesten und unzüchtigsten Frauen von Paris“ seit vielen Jahren hervorgegangen sind. Seit fünf Jahren ist Madame Delbène die Aebtissin dieses Klosters, eine 80jährige Tribade, die Juliette und ihre 15jährige, später in ein Bordell übertretende Freundin Euphrosine in die Geheimnisse der lesbischen Liebe einweiht. Sie besitzt „le tempérament le plus actif“, 60000 Livres Rente und ist von einer „deliciösen Perversität“. Sie entwickelt vor jungen Mädchen von 8 bis 15 Jahren ihr materialistisches und antimoralisches System der Philosophie, hat Holbach und La Mettrie studiert, definiert das Gewissen als ein „Vorurteil, das durch die Erziehung eingepflanzt wird“, spricht von Nerven- und Elektricitätsfluida, objektiven Existenzen, von Gott, der Seele u. s. w. Sie inszeniert grosse Tribadenszenen, an denen die 20jährige Madame de Volmar, „die wollüstige Gefährtin Delbène’s“, ein richtiges Mannweib, die 17jährige Saint-Elme, die 13- und 18jährigen Elisabeth und Flavie, sowie Juliette teilnehmen. Alle gelten in der Welt als schamhaft und bescheiden. Hier sind sie von einer „energischen Indecenz“. Dabei wird die Virginität ängstlich behütet. Später wird aber Juliette von Delbène vermittelst eines Godmiché defloriert, und danach steigt die ganze Gesellschaft nachts durch ein Grab in der Kirche in die Katakomben des Klosters hinab. In diesen befindet sich ein niedriger mit Luftlöchern versehener, künstlerisch ausgestatteter Saal, in dem die 10jährige Laurette ihrer Defloration harrt neben zwei Mönchen, dem 30jährigen[S. 364] Abbé Ducroz, Grossvikar des Erzbischofs von Paris, der besonders mit der Aufsicht über das Kloster Panthémont betraut ist, und dem 36jährigen Pater Télème, einem Franziskaner und Beichtvater der Novizen und Pensionärinnen des Klosters. Mit cynischer Offenheit erklärt die Delbène der erstaunten Juliette, dass man sich hier mit den Priestern zum Zwecke sexueller Ausschweifungen und Grausamkeiten (horreurs, atrocités), versammle, möglichst fern von der Oberwelt. Hier werden die grossen „Verbrechen“ begangen. Bei den nun folgenden Orgien spielt die natürliche und künstliche Paedicatio inter mulieres et viros eine grosse Rolle; sie wird besonders den unverheirateten Mädchen empfohlen mit der Begründung: point d’enfants, presque jamais de maladies, et des plaisirs mille fois plus doux. Juliette muss die auf einem Tische festgeschnallte Laurette deflorieren, worauf ein opulentes Mahl mit den feinsten Weinen in einem Nebengemach aufgetragen wird, bei dem die arme Laurette bedienen muss und alle Personen nackt am Tische sitzen. Die Volmar manustuprat monachos über einer Punschbowle, in die Juliette mingit, worauf die andern Frauen aus derselben trinken. Dann kehrt man in den Saal zurück, und Delbène giebt sich auf dem Sarge einer von ihr ermordeten Nonne hin. Plötzlich werden dann durch den Flug einer Nachteule die Lichter verlöscht, und die Orgie hat ein Ende.

Nach dem Bankerott und Tode ihrer Eltern wird Juliette von der Delbène sofort entlassen und ihr der Rat erteilt, in das Bordell einer gewissen Duvergier einzutreten, wo auch ihre Freundin Euphrosine sich befindet. Juliette befolgt den Rat und trennt sich von ihrer Schwester Justine.

[S. 365]

Vom Kloster kommt also Juliette ins Bordell, wo sie allerlei Abenteuer erlebt. Die einsame Lage dieses Bordells haben wir bereits geschildert (S. 135). Juliette verkehrt hier mit Prinzen, Edelleuten, reichen Bürgern u. s. w., ist bald als Hofdame, bald als Grisette, bald als „Poissarde“ gekleidet und kommt allen möglichen Gelüsten entgegen. Sie schliesst Freundschaft mit Fatime, einer 16jährigen Prostituierten, deren Spezialität das Bestehlen ihrer Kunden ist, wozu einer der berühmtesten Diebe von Paris, Dorval, sie angeleitet hat, der sich durch seine Spione über alle in Paris ankommenden Fremden unterrichten, diese durch Dirnen verführen und berauben lässt, wobei er heimlich zuschaut, unter starker sexueller Erregung. Er besitzt bereits 30 Häuser. Eines Tages müssen Juliette und Fatime zwei ehrliche Deutsche Scheffner und Conrad, bestehlen, nachdem sie dieselben durch Weine berauscht haben. Diese werden dann nackt in einer finsteren Strasse ausgesetzt. Dorval, dessen sexuelle Perversität der cunnilingus post coitum alterius viri ist, entwickelt in einer langen Rede seine Theorie und Rechtfertigung des Diebstahls, dieser „pierre angulaire de la société.“ Darauf lässt er Fatime und Juliette in eine dunkle Folterkammer werfen, wo er sie durch zwei Knechte entkleiden lässt und dann unter ungeheurer erotischer Erregung seinerseits ihnen das Todesurteil verkündet, das an dem bereitstehenden Galgen vollzogen werden soll. Es wird dann an Beiden eine Scheinhinrichtung vollzogen. Dorval befriedigt seine Lust an den Scheintoten, die darauf nackt in einem Wagen zur Duvergier zurückgebracht werden.

Hierauf wird Juliette zu dem Erzbischof von Lyon in die Abtei von Saint-Victor in Paris geschickt. Dieser Gotteshirte paedicat eam unter Assistenz einer gewissen[S. 366] Lacroix und wird zum Schluss von einer dritten Frau mit Ruthen gepeitscht.

Nachdem Juliette glücklich der Gefahr der Ansteckung durch einen mit schwerer Syphilis behafteten Mann entgangen ist, der besonders durch den Gedanken ergötzt wird, seine Schönen zu infizieren, macht sie die Bekanntschaft eines gewissen Noirceuil, eines reichen Wüstlings und grandiosen Bösewichts. Dieser empfindet das absonderliche Bedürfniss, dass seine Frauen — er besitzt deren bereits die 18te — Zeuginnen aller seiner Ausschweifungen und ihm sogar dabei behilflich sein müssen. Ausserdem begehrt er nur Jungfern. Zwei nackte Knaben müssen während dieser Orgien seine eigene Frau schlagen und stechen. Diese muss dann ebenfalls in adamitischer Tracht bei dem der Orgie folgenden Mahl Noirceuil und seine Maitressen bedienen.

Noirceuil macht der Juliette ein überraschendes Geständnis: „Ich habe Ihren Vater wohl gekannt. Ich bin nämlich der Urheber seines Bankerotts. Ich habe ihn ruiniert. Ich verfügte einen Augenblick über sein ganzes Vermögen, konnte es verdoppeln, oder es in meine Hände übergehen lassen! Consequent meinen Principien habe ich mich ihm vorgezogen. Er ist im Ruin gestorben, und ich habe 300000 Livres Rente. Nach diesem Geständnis müsste ich nun eigentlich das Unglück gut machen, in das ich Sie gestürzt habe. Aber das wäre eine Tugend. Ich werde das nicht tun; denn ich verabscheue die Tugend zu sehr. Dies richtet unübersteigliche Schranken zwischen uns auf. Ich kann Sie nicht wiedersehen.“ — Nach dieser gemütlichen Auseinandersetzung des Verderbers ihres Vaters bricht Juliette in ein Jubelgeschrei aus: „Schrecklicher Mensch, wie sehr ich auch das Opfer Deiner Laster[S. 367] bin, ich liebe dieselben! Ja, ich bete Deine Grundsätze an.“ — „O, Juliette, wenn Du alles wüsstest!“ — „Lass mich alles erfahren!“ — „Dein Vater, Deine Mutter!“ — „Was denn?“ — „Ihre Existenz konnte mich verraten... Ich musste sie opfern; ich habe sie kurz hintereinander durch ein Gift umgebracht, das ich ihnen beim Souper in meinem Hause ins Essen mischte.“ Nach dieser schrecklichen Enthüllung ruft Juliette: „Ungeheuer, Du machst mich schaudern, aber ich liebe Dich!...“ „Den Henker Deiner Familie?“ — „Was macht das? Ich urteile über alles ‚par les sensations‘. Die von Dir Gemordeten haben mir keine solchen Sensationen erregt, aber Dein Geständnis, dass Du ihr Mörder bist, entflammt mich, und erregt meine Geschlechtslust.“ Die Idee, de devenir la putain du bourreau de tous ses parents, verursacht ihr höchste Wonne. Noirceuil, hoch erfreut, eine solche Gesinnungsgenossin gefunden zu haben, behält sie bei sich in seinem Hause. Sie besucht aber immer noch das Bordell der Duvergier. Diese hält auch ein Absteigequartier für vornehme, sich prostituierende Damen und junge Mädchen, die alle mit einem mehr oder weniger hohen Grade von Nymphomanie behaftet sind und ihr Leben teils in der Predigt und Messe, teils im Bordell verbringen. Darunter befinden sich wieder verschiedene sexualpathologische Typen. Die Herzogin von Saint-Fal, die Tochter eines Parlamentsrates, verkauft gern ihre „pucelage antiphysique“ und eine Frau liebt nur den Umgang mit Priestern.[578] Noirceuil bekommt jeden Abend von der Duvergier eine Jungfrau geliefert, die in Gegenwart Juliettens, der beiden Knaben und[S. 368] seiner Gattin ein Opfer seiner Lüste wird. Einmal lässt die Duvergier Juliette und sechs andere Mädchen an einer Orgie bei einem Millionär Mondor teilnehmen. Mondor, ein decrepider Greis von 66 Jahren, bedarf endloser Vorbereitungen, um sein Ziel zu erreichen. Er muss durch eine tribadische Szene der sechs Mädchen, durch künstliche Paedicatio und durch defaecatio in os potent gemacht werden ad paedicationem. Juliette stiehlt diesem erotischen Scheusal 60000 Fr., findet aber bei ihrer Rückkehr nach dem Hause Noirceuil, dass sie dort gleichfalls bestohlen worden ist und zwar von Noirceuil selber, der aber Juliettens Kammermädchen Gode anschuldigt und ins Gefängnis Bicêtre werfen lässt, nicht ohne vorher diese Heldenthat durch eine Orgie gefeiert zu haben und nicht ohne nachher einen grossen Vortrag über das Verbrechen und dessen Nützlichkeit zu halten. — Juliette trifft sich dann im Auftrage der Duvergier mit drei jungen Modistinnen im Café de la Port Saint-Antoine, um zu einem Herzog Dendemar in St.-Maur zu fahren, dessen Manie die Flagellation von Mädchen, am liebsten von nicht prostituierten ist, wofür derselbe seinen Opfern grosse Summen bezahlt. Auch lacerat digitis cunnum, bindet um Juliettens Leib einen Dornenkranz, giesst brennendes Oel über die nackten Leiber der vier Mädchen. Juliette bestiehlt ihn ebenfalls um eine grosse Summe, trennt sich dann endgültig von der Duvergier und lebt ein Jahr im Hause Noirceuils, ab und zu auf eigene Abenteuer ausgehend, bis Lubin, der Kammerdiener des von ihr bestohlenen Herzogs Dendemar sie eines Tages sieht, sie überfallen und gefangen setzen lässt. Sie wird aber von Noirceuil durch Vermittelung des Staatsministers Saint-Fond befreit und veranlasst, dass eine ihrer Begleiterinnen zu dem Herzog Dende[S. 369]mar als die Diebin denunciert wird, worauf sich Noirceuil und Juliette an dem Gedanken wollüstig berauschen, dass nun die unschuldige Minette wegen des ihr aufgebürdeten Diebstahls gehängt werden wird. Noirceuil teilt Juliette mit, dass sein Freund Saint-Fond aus Freude über ihr Verbrechertalent ihr eine sehr bedeutende Summe schenkt. Darauf begeben sie sich zu einem Souper bei diesem Minister.

Saint-Fond ist ein Mann von 50 Jahren, ein falscher und grausamer Wüstling, Verräter und Dieb. Er hat zahlreiche „lettres de cachet“ angefertigt, und mehr als 20000 Menschen schmachten auf seine Veranlassung in den königlichen Festungen, von denen, wie er sagt, „nicht ein einziger schuldig ist.“ Der erste Parlamentspräsident d’Albert ist ebenfalls beim Souper anwesend. Ausserdem Madame Noirceuil, vier Jungfrauen und Juliette. Sechs nackte als Frauen frisierte Knaben servieren. Jeder der drei Wüstlinge hat also je zwei Knaben zu seiner Verfügung. d’Albert verspricht Julietten einen Sicherheitsbrief, der sie gegen jede gerichtliche Verfolgung, für welches Verbrechen es auch sei, schütze, und Saint-Fond sichert ihr das gleiche zu, verlangt aber, stets von ihr mit der gebührenden Hochachtung behandelt zu werden und stets von ihr mit dem seinem Reichtum und Range gebührenden Titel „Monseigneur“ angeredet zu werden. Er gehört zu den wenigen „Genossen“, die wie die Gestirne am Firmament die Welt erleuchten, ohne jemals zu ihr herabzusteigen, kurz, er leidet an Grössenwahn und dünkt sich mehr zu sein als der König. Er hasst die ganze Welt ausser Noirceuil, d’Albert und einigen Anderen. In sexueller Beziehung non amat anum nisi sordidum,[S. 370] faeces edit atque ejaculatio ejus maximo fit cum delirio. Dabei wird er als der Typus eines schönen, kraftvollen und gesunden Menschen beschrieben. Er ist Alkoholist. Im Verlauf der nun folgenden Orgie wird die Frau des Noirceuil auf schreckliche Weise getötet. Man reibt ihr den ganzen Körper mit Spiritus ein, steckt brennende Lichter in omnia orifica corporis, so dass sie am ganzen Leibe verbrannt wird und vergiftet sie schliesslich, wobei unter dem Jauchzen des Gatten Noirceuil die übrigen Anwesenden dem Todeskampfe zuschauen. Juliette wird dann von dem Minister Saint-Fond zur Arrangeurin seiner geheimen Orgien bestimmt, richtet sich mit seinem Gelde ein grosses Hôtel in der Rue du Faubourg Saint-Honoré ein, erwirbt ein hübsches Landgut oberhalb von Sceaux, eine sehr wollüstig eingerichtete „petite maison“ an der Barrière Blanche, das für die Soupers seiner Excellenz bestimmt ist. Sie wird als 17jährige Schönheit in die sie bewundernde Gesellschaft eingeführt, hat vier Kammerfrauen, eine Vorleserin, zwei Nachtwärterinnen, eine Haushälterin, einen Coiffeur, einen Koch, zwei Dienerinnen, drei Equipagen, zehn Pferde, zwei Kutscher, vier Lakaien und zwölf — Tribaden zu ihrer Verfügung. Ausserdem setzt sie der Minister, der Giftmord im Grossen betreibt, an die Spitze des „Departements der Vergiftungen“. Er setzt ihr die Notwendigkeit auseinander, in der sich oft der Staat befindet, irgend eine unbequeme Persönlichkeit zu beseitigen. Juliette soll diese Leute vergiften und für jeden Mord 30000 Francs bekommen. Es sind wohl fünfzig in jedem Jahr. Das macht für sie eine Rente von 1500000 Francs. Die Opfer der geheimen Orgien — denn man tötet gewöhnlich drei Mädchen bei jedem Souper — es giebt zwei Soupers in[S. 371] der Woche — werden das Stück mit 20000 Francs bezahlt. Juliette erhält also 12000 Livres Rente aus ihren persönlichen Einkünften, eine monatliche Pension von Noirceuil, eine Million von Saint-Fond für die allgemeinen Kosten der Soupers, die Anweisungen auf 20 oder 30000 Francs für jedes Opfer, im ganzen jährlich 6734000 Francs. Saint-Fond fügt noch 210000 „Livres de menus plaisirs“ hinzu. Er kann dies ja mit Leichtigkeit thun, da es nicht sein Geld ist, sondern das des Staates, den er ausplündert.

Die Amüsements bei den „petits soupers“ und in den wollüstigen Boudoirs der Barrière-Blanche beginnen nunmehr und werden von Juliette in der vortrefflichsten Weise geleitet. Saint-Fond, der zu diesen Vergnügungen auch einen königlichen Prinzen zugezogen hat, lässt durch Juliette seinen eigenen Vater vergiften, führt dann zusammen mit Noirceuil seine Tochter, mit der er längst im Incest lebt, zu dem Sterbenden und ante oculos ejus eam paedicat. Dasselbe thut Noirceuil. Welch ein Genuss für Saint-Fond! Er ruft triumphierend aus: „Je parricidais, j’incestais, j’assassinais, je prostituais, je sodomisais!“ Hierauf folgt ein luxuriöses Mahl, bei dem kleine Mädchen brennende Lichter ano inseruntur, so dass sie schliesslich verbrannt werden. Andere Mädchen werden auf den Bratspiess gesteckt und lebendig geröstet. Juliette wünscht noch eine jüngere Freundin und in Grausamkeiten erfinderische Gehilfin, worauf man sie mit Lady Clairwil, einer kalten, herzlosen englischen Schönheit bekannt macht. Diese, den Freuden der Tafel bis zum Uebermass huldigende Gourmande, ist leidenschaftliche Tribade und Männerfeindin. Sie verübt nur gegen Männer ihre Grausamkeiten. Sie liebt passive und aktive Flagel[S. 372]lation in gleicher Weise, was sie gleich bei einer tribadischen Orgie mit Juliette und vier anderen Frauen beweist. Zum Ueberfluss engagiert Saint-Fond noch den Henker von Nantes, Delcour, zur Vollziehung der geheimen Hinrichtungen. Der Gedanke, mit einem veritablen Henker zusammen zu sein, erregt in Juliette die höchste Wollust. Sie lässt sich von Delcour, der ausführt, dass besonders die Libertinage zur Grausamkeit und zum Verbrechen führe, flagellieren und zugleich mulier ei cunnilingum facere debet. Darauf werden unter Assistenz von Clairwil und Delcour die entsetzlichsten Grausamkeiten verübt. Cloris, ein Verwandter Saint-Fond’s, dem dieser seine ganze Carrière verdankt, wird gerade deswegen zum Opfer ausersehen, zumal da seine Frau und Tochter dem begehrlichen Ansinnen des Saint-Fond nicht nachgegeben haben. Dieser hat die beiden Frauen bei der Königin Marie-Antoinette verleumdet, die ihm drei Millionen (!) für ihre Ermordung zur Verfügung stellt. Nachdem die ganze Familie in die Falle gelockt ist, wird sie zunächst gezwungen, die scheusslichsten Arten von Incest mit einander zu begehen. Dann werden Vater, Mutter und Kinder, einer nach dem anderen, hingemordet. Recht langsam muss der Henker Delcour der Tochter des Cloris den Hals abschneiden, damit Saint-Fond als ihr Paedico maximam habeat voluptatem. Juliette hat einen Saal schwarz drapieren lassen, in dessen zahlreichen Nischen sich puellae nudae befinden. Die Köpfe der Getöteten werden dort aufgehängt, um später der Königin gebracht zu werden. Ausserdem befestigt man an den Wänden die — Nates! Zahlreiche Folterinstrumente werden herangeschleppt. Ein Mädchen Fulvie wird gerädert. Anderen werden die Augen ausge[S. 373]stochen, die Glieder zerbrochen. Ein Jüngling wird in einen hohlen, innen mit scharfen Klingen besetzten Cylinder, den ein Folterknecht wie eine Kaffeemühle dreht, in kleine Stücke zerschnitten.

Nach einigen Tagen werden Clairwil und Juliette von Verwandten des ermordeten Cloris überfallen, aber durch Saint-Fond befreit, wobei Clairwil und Juliette in coitu zwei Männer erschiessen. Saint-Fond erdrosselt in derselben Situation ein Mädchen. Faustine und Felicitas, Dormon und Delnos, die beiden Schwestern der Frau Cloris und ihre Verlobten, werden nach einem „enormen Diner“ geopfert. Dormon wird „in einem Augenblick“ geknebelt, die Clairwil zerfleischt ihn mit den Zähnen, worauf er von zwei alten Weibern aufs Rad geflochten wird. Faustine, die mit den Haaren an der Decke aufgehängt ist, stirbt vor Schreck. Delnos wird von Juliette mit Nadeln zerstochen[579], Felicitas wird lebend „gepfählt“. Clairwil lässt den noch lebenden Delnos wie „Jésus, ce plat coquin de Galilée“, kreuzigen. Zum Schluss wird ein natürlicher Sohn des Saint-Fond, der Marquis de Rose vergiftet. Ebenso lässt Saint-Fond die Mutter des Marquis umbringen, um sich in den Besitz ihres grossen Vermögens zu setzen.

Auch auf ihrem Landgut verübt Juliette Greuelthaten. So fährt sie eines Tages in der Umgebung von Sceaux spazieren, kommt an die Hütte eines braven Bauern, der über den Besuch einer „so grossen Dame“ ganz ausser sich gerät. Sie lobt die Reinlichkeit und Ordnung in dem Häuschen, die heiteren Mienen der[S. 374] Kinder, das anständige Verhalten der Familie und — benutzt einen Augenblick der Abwesenheit des armen Mannes, um Feuer anzulegen. Dieser findet bei seiner Rückkehr die Hütte in Flammen, die Kinder lebendig verbrannt, da Juliette Sorge getragen hat, alle Ausgänge verschliessen zu lassen. Sie amüsiert sich über den Schmerz des Unglücklichen und eilt dann nach Paris, um ihr Heldenstück der Lady Clairwil zu erzählen. Diese runzelt beim Anhören der Geschichte die Stirne wie ein Institutsprofessor. Denn es fehlt noch etwas. Man hätte den Bauern selbst als Brandstifter anzeigen müssen, damit er gehängt oder gerädert worden wäre!

Diese vortreffliche Lehrerin führt Juliette, um deren mangelhafte Erziehung zu vollenden, in die „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ ein, deren Haus sich in einer Vorstadt von Paris befindet. Die Einrichtung desselben ist bereits beschrieben worden (S. 137). Nach Vorlesung der 45 Statuten, aus denen hervorgeht, dass nur die grössten Verbrecher und Lüstlinge in diese ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen werden, wird Juliette aufgenommen, und unerhörte erotische Ausschweifungen folgen, an denen wiederum die Geistlichkeit sehr stark beteiligt ist. Episcopus in nasum suum mingi imperat. Femina ad feminae alterius mammam defaecat. Julia clysteribus excitatur. Ein Mann lässt sich eine grosse Zahl von Nadeln in die testes et nates stossen. Ein Anderer per duas horas lingit os, oculos, aures, nares, spatia interdigitalia pedum, anum. Senex devorat faecem filiae, quam paedicat. Depilat alter cunnum filiae lingua lambens anum. Clairwil trinkt das Blut eines von ihr getöteten Knaben und edit testes. In vier Sälen für „Masturbation,[S. 375] Geisselung, Folter und Hinrichtungen“ werden diese scheusslichen Wollustorgien gefeiert und die grässlichsten Inceste begangen. An bombastischen Reden über die Herrlichkeit des Lasters fehlt es ebenfalls nicht, und man ist im Zweifel, wer das meiste Vergnügen hat, der „coniste“, der „bougre“, der „masturbateur“ oder der „f...... en bouche“!

Aber weder Saint-Fond, noch Noirceuil, weder ihr halbes Dutzend Lakaien, das aus den stärksten Kerlen ausgewählt ist, noch ihre zwölf Tribaden, noch Clairwil, die alle zusammen aufwiegt, weder die zahllosen männlichen und weiblichen Opfer, die Soupers und die Harems der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“, können dem unersättlichen Temperament unserer Heldin Genüge leisten. Sie braucht noch allerlei sonstige Zerstreuungen. Clairwil und Juliette gehen bei dem Karmelitermönch Claude zur Beichte, bei welcher Gelegenheit sie entdecken, dass dieser wunderbare Mann drei — Testikel hat und er ihnen gesteht, dass er seinen Klosterbrüdern als Pathicus diene und auch ein grosser Atheist sei. An der Barrière de Vaugirard hat dieser Diener Gottes ein kleines Separatlogis, in dem die beiden Freundinnen gute Weine, mollige (mœlleux) Sophas und eine ausgewählte pornographische Bibliothek finden, ausserdem Godmichés, Condome und „Martinets“. Aber lange soll die Freude des braven Mönches nicht dauern. Er wird eines Tages von den Beiden in einen Hinterhalt gelockt und ablatione membri virilis facta, das Clairwil als Godmiché benutzt, getötet.

Kurz darauf präsentiert sich bei Juliette ein gewisser Bernole, ein schmutziges und zerlumptes Individuum und erklärt ihr wichtige Enthüllungen machen[S. 376] zu wollen. Sie erfährt, dass der reiche Banquier, dessen Tochter sie zu sein glaubt und der als ihr angeblicher Vater durch Noirceuil ruiniert wurde, ihr Vater nur kraft des juristischen Grundsatzes sei: Pater is est, quem nuptiae demonstrant. Bernole ist ihr wirklicher Vater und liefert ihr den Beweis dafür. Alsbald keimt der Gedanke eines Incestes mit diesem Elenden in der zartfühlenden jungen Dame auf. Sie realisiert diese Idee und lässt sich absichtlich von ihrem eigenen Vater schwängern, den sie dann in Gegenwart der sich an ihr sexuell bethätigenden Noirceuil, Saint-Fond und Clairwil erschiesst! Sie übernimmt dann die Erziehung der Tochter Saint-Fond’s, die Noirceuils Frau werden soll, aber, wie wir wissen, bereits von ihrem eigenen Vater in alle sexuellen Geheimnisse eingeweiht ist, trotzdem von Juliette darin noch „vervollkommnet“ wird. Sie muss einer Orgie in dem Karmeliterkloster beiwohnen, bei der zwei „Satansmessen“ gelesen werden. Von dem Grafen Belmor, dessen Bekanntschaft sie durch Noirceuil machen, können Beide viel lernen. Er hat die Manie, kleine Knaben auf den Schultern einer schönen Frau festbinden zu lassen, sie bis aufs Blut zu flagellieren und dann anum pueri ex quo sanguis decurrit usque ad anum feminae lingua lambere. Vor allem aber ist er ein vorzüglicher Statistiker der Wollust und hat ausgerechnet, dass ein Wüstling leicht im Laufe eines Jahres 300 Kinder verderben kann; das macht in 30 Jahren 9000. Und wenn jedes verderbte Kind ihm nur zum vierten Teil nachahmt, was mehr als wahrscheinlich ist, und jede Generation nach 30 Jahren ebenso handelt, so wird jener Wüstling nach zwei Menschenaltern 9 Millionen Lasterhafte um sich sehen!

[S. 377]

Juliette, die sich von einem berühmten Accoucheur ihr im Incest empfangenes Kind hat abtreiben lassen, besucht mit Clairwil die im Faubourg Saint-Jacques wohnende Giftmischerin und Kartenlegerin Durand, die nur wahrsagen kann, nachdem sie das Blut der betreffenden Person hat fliessen sehen. Sie prophezeit, dass Clairwil nicht länger als fünf Jahre leben wird, und dass Juliette ins Unglück gerät, sobald sie aufhört, lasterhaft zu sein. Nach einem hysterischen Anfalle dieser blutdürstigen Giftmischerin werden Clairwil und Juliette in die Geheimnisse der Giftmischerei eingeweiht, und mehrere Vergiftungen werden ausgeführt, die von den Messalinen bejubelt und durch anthropophagische und fetischistische Excesse gewürzt werden. (Clairwil cor pueri eripit et vaginae inserit.)

So vergehen zwei Jahre, in denen Juliette ganz vertiert und nur noch an den seltsamsten und aussergewöhnlichsten Genüssen Geschmack findet. Sie ist bald 22 Jahre alt. Da teilt ihr Saint-Fond in einer vertraulichen Unterhaltung einen wahrhaft infernalischen Plan mit. Er will Frankreich entvölkern und zwei Drittel der Einwohner verhungern lassen! Dies macht selbst die hartgesottene Juliette schaudern. Saint-Fond bemerkt es und zieht sich wütend zurück. Juliette empfängt von Noirceuil ein Billet mit der Mitteilung, dass Saint-Fond sie wegen ihres „Rückfalles in die Tugend“ zu verderben trachte und dass sie daher so schnell wie möglich Paris verlassen möge. So verlässt sie Hals über Kopf das Haus Saint-Fond’s und ruft bei der Flucht aus: „O verhängnisvolle Tugend! Du hast mich wieder einmal einen Augenblick getäuscht! Jetzt fürchte ich aber nicht mehr, dass man mich nochmals zu den Füssen Deiner schändlichen Altäre finden[S. 378] wird. Ersticken wir die Tugend für immer. Sie ist nur dazu da, um den Menschen zu verderben. Und das grösste Unglück, das einem in dieser ganz verderbten Welt zustossen kann, ist das, sich allein vor dieser allgemeinen Corruption schützen zu wollen!“ Sie begiebt sich, nachdem sie 1500 Livres, ihre Diamanten und Kleinodien, sowie ihre „geschickteste“ Tribade als Kammerfrau mitgenommen hat nach Angers, wo sie ein Bordell im Stil der Duvergier eröffnet, bald den Adel der Provinz bei sich versammelt und viele Liebhaber findet. Der reiche vierzigjährige Graf von Lorsange, der über eine jährliche Rente von 50000 Livres verfügt, heiratet sie, nachdem sie ihm unter scheinheiligen Thränen ihr ganzes früheres Leben enthüllt hat. In einem tugendreichen Vortrage, der dem Redner selbst Thränen entlockt, sucht der treuherzige Graf die büssende Magdalena in ihrer neuen Tugendhaftigkeit zu befestigen. Aber diese „hübsche kleine Rede“ hat Juliette keineswegs überzeugt. Nachdem sie eine Zeit lang das ihr allerdings neue eheliche Leben ertragen hat, siegt ihre „Vernunft“ über „Vorurteil und Aberglauben“. Sie versüsst sich die zwei mit dem „harmlosen“ Manne verlebten „monotonen“ Jahre durch heimliche Excesse, besonders durch tribadische Genüsse, bis sie bei einer Messe den famosen Abbé Chabert, eines der früheren Mitglieder der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ trifft. Jetzt beginnt die alte Herrlichkeit wieder. Feste und Orgien werden gefeiert, obgleich Juliette die Zeit findet, einem Töchterchen das Leben zu geben, um „das Vermögen des Mannes sich zu sichern“. Doch fängt dessen Existenz schon an, sie zu genieren, und als sie nun gar erfährt, dass Saint-Fond ihr nachstellt, beschliesst sie, Frankreich zu ver[S. 379]lassen, vergiftet ihren Mann, der in den Armen des Heuchlers Chabert stirbt und seine Witwe als Besitzerin von 50000 Livres Rente zurücklässt. Versehen mit vielen Empfehlungsbriefen des Abbé geht Juliette nach Italien und lässt ihre Tochter bei Chabert zurück.

Wie wohl fühlt sie sich in der Heimat eines Nero und einer Messalina! Sie will das Land nicht als einfache Reisende kennen lernen, sondern ihr Plan geht dahin, als „berühmte Courtisane“ zu reisen und sich überall als solche anzukündigen. So kommt sie zuerst nach Turin, der „regelmässigsten und langweiligsten“ Stadt Italiens, wo ihr das fromme abergläubische Volk, das wenig Sinn für Vergnügungen hat, gar nicht gefällt. Sofort nach ihrer Ankunft lässt sie die Signora Diana, die berühmteste „appareilleuse“ der Stadt benachrichtigen, dass eine junge und hübsche Französin zu „vermieten“ sei. Alsbald kommen Grafen, Herzöge, Marquis u. s. w. in hellen Scharen zu der Abenteurerin gewallfahrtet. Denn wie der Herzog von Chablais sagt, bei dessen Soupers Juliette glänzt, es ist „die Geschichte aller Französinnen: ihr Wuchs und ihre Haut sind entzückend. Es giebt hier so etwas nicht.“ Auch der König von Sardinien lässt nicht auf sich warten, dessen Manie das — Klystieren ist. Juliette sagt dem „Kaiser der Murmeltiere“ einige Wahrheiten über Savoyen. Von einem gewissen Sbrigani, einer Molière’schen Figur, lernt sie die Geheimnisse des Falschspielens kennen und nimmt dann in einer von ihr errichteten Spielhölle den Grafen und Marquis fabelhafte Summen ab. Sbrigani soll sie als Gatte auf ihrer weiteren Reise begleiten. Sie gelangen zunächst nach Alessandria, wo ein reicher Herzog ausgeplündert wird und ihnen die Kleinstaaterei Italiens bei der Flucht vortrefflich zu[S. 380]statten kommt. In Bologna finden sie die tribadische Kunst aufs höchste entwickelt und beteiligen sich an einer derartigen Orgie in einem Nonnenkloster. Die Reise über die Apenninen verschafft ihnen die Bekanntschaft mit einem sieben Fuss drei Zoll hohen Riesen und anthropophagischen Ungeheuer. Minski — so heisst das Scheusal — lebt als „Eremit des Apennin“ in einem befestigten Hause auf der Insel eines Teiches. Die Stühle in diesem Hause sind aus menschlichen Knochen angefertigt; das Haus selbst ist voll von Skeletten. In unterirdischen Kellern sind die zur Verspeisung bestimmten Opfer eingesperrt. Minski stammt aus dem Grossfürstentum Moskau, hat grosse Reisen gemacht, um die „Unzucht und die Verbrechen auf der ganzen Erde zu studieren und nachzuahmen“. Er hat sich jetzt in die Einsamkeit zurückgezogen, um im Verborgenen seinen verbrecherischen Gelüsten freien Lauf zu lassen. Er ist hauptsächlich Menschenfresser und schreibt dieser lieblichen Gewohnheit seine aussergewöhnliche Kraft zu. Er lauert den Reisenden auf, die dann später als Braten und Ragoûts auf seinem Tische serviert werden. Auch Juliette, ihre Kammerfrau und Sbrigani sollen diesem Schicksale nicht entgehen. Aber vorher macht er ihnen die Honneurs in seiner Wohnung und zeigt ihnen die sehr bevölkerten Harems, die Keller mit ungeheuren Schätzen. Bethört durch die Liebenswürdigkeit Juliettens verspricht er ihr schliesslich, sie am Leben zu lassen; wenn sie niemals einen Fluchtversuch machen werde. Nun giebt es jeden Tag eine neue Unterhaltung. Zunächst geht es zu Tische. Minski, ein extremer Alkoholist, trinkt 60 Flaschen Wein! Man isst an „lebenden Tafeln!“ Eine Reihe nackter Frauen, eine an die andere gedrückt, mit ge[S. 381]beugtem Rücken, unbeweglich, bilden die „Tafel“, auf welcher die Lakaien servieren. Kein Tischtuch ist nötig bei diesen schönen „croupes satinées“. Man trocknet sich die Finger an den wehenden Haaren der Frauen. Die Speisen sind vorzüglich. Juliette fragt nach dem Genusse eines besonders wohlschmeckenden Ragoûts, was es sei. Sie findet nicht heraus, ob es Rind- oder Kalbfleisch, Wildpret oder Geflügel ist. „Es ist Ihre Kammerfrau“, antwortet das Ungeheuer mit einem liebenswürdigen Lächeln. Die arme Tribade und treue Gefährtin ihrer Herrin ist in ein Ragoût verwandelt worden! Hiernach zeigt dieser charmante Menschenfresser seinen Gästen eine Menagerie wilder Tiere, lässt einige Frauen aus dem Harem holen und zwischen die Löwen und Tiger werfen. Das grösste Wunder aber ist eine Maschine, die 16 Menschen auf einmal erhängt, erdolcht und enthauptet. Das alles ist zwar recht amüsant, und Minski verspricht ihnen für die nächsten Tage noch mehr Ueberraschungen, aber Juliette traut der Sache nicht. Auch Sbrigani teilt ihre Befürchtungen. Sie beschliessen zu entfliehen. Sie mischt dem Menschenfresser Strammonium in die Chokolade aber nur soviel, dass er betäubt wird, denn „ein solches Scheusal darf man nicht töten“. Sie raubt aus seinen Schränken alle Schätze und nimmt zwei Frauen, Elise und Raymonde, mit. So kommen sie, beladen mit Bergen von Gold und Silber, nach Florenz.

Hier errichten sie eine Spielhölle, verbunden mit einem Bordell und einer Giftbude. Geld haben sie zwar nicht nötig, aber es macht ihnen Vergnügen, die Welt zu sehen, die Familiengeheimnisse zu erfahren, Sitten und Gebräuche kennen zu lernen. In Florenz herrscht der Bruder der Marie-Antoinette, Leopold, Grossherzog[S. 382] von Toscana, bei dem „toute la morgue allemande éclate“. Bald werden Juliette und ihr Begleiter zu einer Orgie, die der Grossherzog und sein Beichtvater in Pratolino veranstalten und bei der Juliette sehr hochmütig als „Französin“ auftritt, eingeladen. Leopold, dieser „grand successeur de la première putain de France“ betreibt als Sport die künstliche Herbeiführung des Abortus der von ihm geschwängerten Frauen. Heute aber hat er etwas ganz Besonderes darzubieten. Er bewirtet Juliette mit einer Aufführung von Enthauptungen mit Musikbegleitung! Die Köpfe fallen nach dem Takte und à la ritournelle!

Interessant ist die Beobachtung Juliettens, dass in Florenz die Männer sich wie die Frauen und die Frauen wie die Männer kleiden und daher nirgends so viel Neigung zum gleichen Geschlecht vorhanden ist wie dort. Die Prostituierten leben in einem besonderen Stadtviertel. Tizians „Venus“ in den Uffizien veranlasst einen Excurs über die obscönen Darstellungen in der Malerei, wobei die „Venus von Medici“, der „Hermaphrodit“, „Caligula caressant sa sœur“ erwähnt werden.

Nachdem unsere Abenteurer noch eine tribadische Mutter und Tochter ermordet haben, kommen sie nach Rom, wo sie, mit reichlichen Empfehlungen versehen, bald die vornehmsten Beziehungen anknüpfen, Zutritt in alle Paläste finden und besonders die Gunst der tribadischen Prinzessin Olympia Borghese, der Kardinäle Albani und Bernis und des Herzogs von Grillo gewinnen und mit diesen alsbald sich den gewöhnlichen Ausschweifungen hingeben. Bernis dichtet in cynischer Selbstironie eine die Kaste der Jesuiten geisselnde Paraphrase der „Ode auf dem Priapus“. Die Borghese vergiftet ihren Vater und Juliette die Herzogin von Grillo.[S. 383] Beide beobachten in einem Bordell, wie Priester, Mönche, Abbés u. s. w. sich dort einschleichen. Dann kommt die Borghese auf die Idee, alle Hospitäler und Wohlthätigkeitsanstalten von Rom in Brand zu stecken. Sie will dieselbe durch den Polizeidirektor Ghigi und den Grafen Bracciani, den ersten Physiker Europa’s, ausführen lassen. Ghigi lässt besonders gern die Menschen aufhängen, da er als Zuschauer gerade dadurch sexuell erregt wird, und führt auf Verlangen Juliettens und der Borghese eine solche Szene vor. Bracciani, dieser grosse Physiker, tötet durch einen „künstlichen Blitz“ ein Mädchen. Endlich werden die 37 Hospitäler Roms angezündet, wobei mehr als 20000 Menschen umkommen, und Olympia und Juliette in grösster sexueller Erregung zuschauen. Der Brand dauert acht Tage. Bei einer Orgie im Hause der Borghese erscheinen als Festteilnehmer ein Eunuch, ein Hermaphrodit, ein Zwerg, eine Frau von 80 Jahren, ein kleiner Knabe von 4 Jahren, eine grosse Dogge, eine Ziege[580], ein Affe und ein Truthahn! Bracciani nimmt sich des Truthahns an, dem die Borghese im Moment der Ejaculatio viri den Hals abschneidet. Die alte Frau hat natürlich in ihrem langen Leben viele Sünden begangen. Dafür wird sie zum Feuertode verurteilt und sofort auf einem Scheiterhaufen lebendig verbrannt.

[S. 384]

Juliette wird darauf dem Papste Pius VI. vorgestellt, den sie mit seinem früheren Namen Braschi nennt und dem sie eine derbe Predigt über den kirchlichen Aberglauben und die Unzucht der Päpste hält, was Pius VI., der selbst als schrecklicher Atheist und als ein geschlechtliches Ungeheuer geschildert wird, mit grossem Beifall aufnimmt. Bisweilen versucht er zwar, sie zu unterbrechen, wird aber durch ein: „Schweig, alter Affe!“ eingeschüchtert und ruft nach Beendigung dieser Rede aus: „O Juliette, man hat mir zwar gesagt, dass Du Geist hättest. Aber so viel hätte ich nicht erwartet. Ein solcher Grad von Hochflug der Ideen ist sehr selten bei einer Frau.“ Ein solches Weib möchte natürlich der heilige Vater gern besitzen. Juliette stellt ihm für ihre Hingabe die unwürdigsten Bedingungen, lässt sich dann von ihm den Vatikan und seine Gärten zeigen, wobei sie sehr cynische Bemerkungen macht. Die Zusammenkunft endet mit einer sehr intimen Szene, die auch dem Papste Anlass giebt, seine materialistischen und gotteslästerlichen Maximen zu entwickeln.[581] Beim nächsten Male wird eine grosse Orgie in der Peterskirche gefeiert. Der Papst celebriert selbst mehrere Satansmessen, an deren Schlusse einige Menschen getötet werden. Juliette siedelt nunmehr in das Schlafgemach des heiligen Vaters über und benutzt die Gelegenheit einer in der grossen Gallerie stattfindenden sexuellen Unterhaltung, um den Papst zu bestehlen. Hierauf reist sie mit Empfehlungen an die königliche Familie nach Neapel ab. Unterwegs wird sie von den Räubern des berüchtigten Brisa-Testa überfallen, auf[S. 385] dessen Schloss geführt und mit ihren Begleitern in einem dunklen Verliess eingesperrt. Sie hören von der blutdürstigen Frau des Räuberhauptmanns sprechen, der sie geopfert werden sollen. Juliette erkennt in derselben ihre alte Freundin Clairwil wieder, die eine Schwester des Brisa-Testa ist, aber mit diesem im Incest lebt. Brisa-Testa erzählt seine lange Lebensgeschichte, die ihn nach England, Schweden, Russland, Sibirien und der Türkei geführt hat. Er schildert die perversen Neigungen und Grausamkeiten der Kaiserin Katharina II., die sich im Winterpalais tribadischen Genüssen hingiebt, wobei sie die Knute weidlich gebraucht. Nach verschiedenen Vergnügungen bei den Räubern, die ebenfalls den Genuss von Menschenfleisch lieben, bricht Juliette mit Clairwil nach Neapel auf. Sie wird von König Ferdinand in Portici empfangen, hält ihm einen hochweisen politischen Vortrag über das Königreich Neapel und dessen Zustände, über die sittliche Verkommenheit der Bevölkerung, dieser „halbspanischen“ Nation,[582] und würzt ihre Rede mit heftigen Ausfällen gegen die Schwägerin des Königs, Marie-Antoinette. Die Königin Charlotte (Karoline) von Neapel ist eine leidenschaftliche Tribade, deren Reize „d’après nature“ Juliette gleich bei der ersten Bekanntschaft kennen lernt, bei der es zu einer tribadischen Szene zwischen den beiden kommt und der Godmiché sowie die defaecatio ad os eine Rolle spielen. Ferdinand ist Nekrophile. Paedicat cadaver eines von ihm erdrosselten Pagen. Die herrlichen Umgebungen Neapels, die aber auch die Erinnerungen an die Greuel Nero’s wachrufen, werden durch Orgien am Cap Misenum, in[S. 386] Puzzoli, in den Ruinen der Insel Procida, auf Ischia und Niceta entweiht. Im Venustempel zu Bajae geben sich Clairwil, Juliette und Olympia Borghese gemeinen Fischern hin, um dann zu vornehmeren Genüssen beim Prinzen von Francavilla, einem vollendeten Paederasten, zurückzukehren. — Er veranstaltet ein üppiges Gartenfest, wo herrliche Pavillons, wollüstig ausgestattete Kioske, stimulierende Flüssigkeiten, Massenflagellationen und — automatisch wirkende Phallusmaschinerien die Sinne erhitzen, und die Königin Karoline „trunken von Wollust und sehr erregt durch Weine und Liköre“ bacchantisch wütet. — Bei einem Besuch des Antikenmuseums in Portici sehen unsere Reisenden ein Gemälde, das einen Satyr mit einer Ziege in Verkehr zeigt, welcher Akt nach dem den Führer spielenden König Ferdinand noch heute in Italien oft ausgeführt werde.[583] Die Ruinen von Herculanum und Pompeji dienen als Stätten der Lust. Vespoli, der Beichtvater des Königs und Leiter seiner Orgien, hat in Salerno ein Haus für geheime Hinrichtungen und Folterungen eingerichtet. Er findet hauptsächlich Genuss an der Kreuzigung und an der sexuellen Befriedigung mit — Irrsinnigen! In Paestum wohnen die drei teuflischen Weiber bei einer tugendhaften Witwe, die drei junge unschuldige Töchter hat. Natürlich werden alle vergewaltigt und getötet genitalibus laceratis. Sorrent, Castellamare und die blaue Grotte werden dann besucht. Und auf Capri ahmt man die Thaten des ehemaligen Bewohners der Insel, des Kaisers Tiberius, nach. Man kehrt gerade zur rechten Zeit nach Neapel zurück, um ein grosses Volksfest mitzufeiern, bei dem es wild hergeht und 400 Personen getötet werden. Karoline[S. 387] und Juliette schmieden ein Complott gegen den König Ferdinand, das durch den folgenden von der Königin unterschriebenen Kontrakt gekennzeichnet wird: „Ich werde meinem Gatten alle Schätze stehlen und sie derjenigen geben, die mir das Gift liefern wird, das notwendig ist, um ihn in die andere Welt zu befördern“. Dieser Vertrag wird durch eine tribadische Szene besiegelt. Der nichts ahnende König erfreut Juliette noch durch zwei besonders seltene Darbietungen. Er lässt zwei Frauen auf eiserne Platten binden und diese mit solcher Gewalt auf einander stossen, dass die beiden Körper zerquetscht werden. Das Merkwürdigste aber ist das „Theater der Grausamkeiten“, dessen Aufführungen etwas ungewöhnlicher Art sind. Hinrichtungen und wieder Hinrichtungen! Das ist das beständige Programm der Vorstellungen. Jeder Eingeladene hat seine eigene Loge, in der sieben Gemälde mit sieben verschiedenen Arten von Hinrichtungen hängen: Feuer, Peitschung, Strick, Rad, Pfählung, Enthauptung, Zerstückelung. Ferner befinden sich in der Loge 50 Porträts von Frauen, Männern und Kindern. Jedem Porträt und jeder Art der Hinrichtung entspricht ein Apparat, den man durch einen Druck auf einen Knopf in Gang setzt, nachdem der Maschinist durch den Glockenton benachrichtigt worden ist. Erster Glockenton: Bezeichnung des Opfers, welches alsbald auf der Bühne erscheint. Zweiter Glockenton: Bezeichnung der Hinrichtung, welche alsbald von vier Henkern, „nackt und schön wie Mars“ vollzogen wird. O, das ist unerhört, das ist herrlich! Die Eingeladenen geben sich alle Mühe die amüsantesten Combinationen zu finden, und bei dieser einen „Vorstellung“ werden 1176 Personen vom Leben zum Tode gebracht. Der Autor versichert, dass das alles[S. 388] ganz genau so zugegangen sei und, wenn wir die Vorstellung gesehen hätten, wir sie nicht treuer hätten beschreiben können! Dieses Schauspiel begeistert Juliette und Clairwil zu einem besonders pikanten Verbrechen. Sie schwören ihrer treuen Begleiterin Olympia Borghese Verderben. Auf einer Spazierfahrt, die sie auf den Gipfel des Vesuv führt, stürzen sich die Beiden auf die ahnungslose Olympia, entkleiden sie und werfen sie in den Krater hinein, worauf sich ihre sexuelle Erregung in einer tribadischen Orgie Luft macht. Bei dieser erfolgt ein Ausbruch des Vesuv! „Ah, Olympia verlangt ihre Kleider!“ ruft die cynische Juliette, die sie ihr auch, aber erst, nachdem sie alle Wertgegenstände herausgenommen hat, hinunterwirft. — Inzwischen hat die Königin Karoline die Millionen des Königs bei Juliette in Sicherheit gebracht und will mit ihr nach Ermordung des Königs nach Frankreich entfliehen. Juliette denunciert sie aber bei Ferdinand, der die Königin einkerkern lässt, während die Anstifterin des Complotts mit allen Schätzen entflieht.

Clairwil und Juliette treffen die Giftmischerin Durand wieder, die aber Clairwil hasst und Juliette überredet, sie zu vergiften, indem sie ihr vorspiegelt, dass Clairwil ihr nach dem Leben trachte. Nach der Ermordung sagt die Durand kaltblütig: „Ich habe Dich belogen. Sie dachte nicht daran, Dich umzubringen. Aber ihre Zeit war um. Sie musste sterben.“ Der Vorfall wird bald über einigen ingeniösen Unterhaltungen mit Matrosen, denen die Beiden sich nächtlicherweile im Hafen von Ancona hingeben, vergessen. Sie kommen dazu, wie der Kaufmann Cordelli in einer Kirche den Leichnam seiner eigenen Tochter schändet. Dieses blutdürstige Scheusal besitzt ein „Schloss am[S. 389] Meer“, aus dem er seine Opfer ins Meer stürzen lässt, oder sie auch wie die unglückliche Raymonde in einen Schlangenkäfig sperrt, wo sie von den Schlangen gefressen werden. Aber er treibts nicht mehr lange. Die Durand und Juliette vergiften ihn und seine Genossen und bemächtigen sich seiner ungeheuren Reichtümer.

Sie reisen nach Venedig, wo sie ein Bordell im Stile der Madame Gourdan errichten, das sich eines eifrigen Besuchs von Seiten der vornehmen Welt zu erfreuen hat und wiederum Veranlassung zur Schilderung sexualpathologischer Typen giebt. Zuerst erscheint ein alter Prokurator von St.-Marcus, dessen Passion menstruirende Mädchen sind. Aber es darf nie dasselbe sein. Raimondi ist ein exquisiter „Voyeur“. Der Dritte ist ein „Lécheur“. Der Vierte bringt stets zwei Negerinnen mit, da er die Contrastwirkung liebt. Der Fünfte lässt sich anbinden und eine „Scheinhinrichtung“ an sich vollziehen. Der französische Gesandte stürzt Mädchen in einen flammenden Abgrund. Auch die Tribaden Venedigs erscheinen auf der Bildfläche. Die Zanetti sucht ihre Opfer in Kirchen und ist sehr erfahren in der „Bildung obscöner Gruppen“. Sie leidet an Kleptomanie. Ihr Geliebter ist Moberti, das Oberhaupt einer eleganten Verbrecherbande, der wie seine Freundin conträrsexual ist. Dieses Mannes grösster Kummer ist, dass es keinen Gott giebt und er ihn daher nicht beschimpfen kann. Eines Tages verwandelt sich der zärtliche Liebhaber in einen wilden Tiger. Er lässt sich nämlich im Bordell der Durand mit einem Tigerfell bekleiden und tötet durch seine „Bisse und Tatzen“ die Zanetti. — Eine zweite Tribade ist Signora Zatta, in ihren Allüren ganz Mann. Sie hat einen kunstvollen Phallus construirt, der mit Spitzen für meh[S. 390]rere orificia corporis versehen ist. — Ganz eigentümliche Gewohnheiten hat ein gewisser Cornaro. Er befriedigt sich an kleinen Knaben, aber nur, wenn deren — Mutter und Tante zugegen sind. Er giebt ein „anthropophagisches Souper“, bei dem die Durand, Juliette und Laurentia, die „verderbteste, lascivste und geistreichste Frau von ganz Italien“ zugegen sind. Neger und Negerinnen, Flagellanten, alte Weiber, kleine Knaben und Mädchen assistieren bei den nach dem Souper verübten Grausamkeiten, die Cornaro zu dem Ausruf begeistern: „Combien la nature corrompue est belle dans ses détails!“ — Silvia, eine vornehme Dame, angefeuert durch die sechste Satire des Juvenal, prostituirt sich wie Messalina im Bordell der Durand et dentibus lacerat genitalia. Ber Senator Beanchi bringt seine seit langem gehegte fixe Idee zur Ausführung, seine beiden Nichten zu prostituiren. — Alberti untersucht seine Opfer wie „Pferde“, hat es besonders auf gravide Frauen abgesehen, die er langsam zu Tode martert, indem er ihnen allmählich die Nahrung entzieht. — Der Senator Contanini bringt seine Tochter ins Bordell und gebraucht sie. Man spiegelt ihm später ihren Tod vor, um sie als Prostituirte auszubilden. Auch mit Giften und Wahrsagekünsten machen Juliette und die Durand gute Geschäfte. Sie werden von Zeno, dem Kanzler der Republik, zu einer Orgie geladen und geniessen mit Venetianerinnen bei einer Gondelfahrt die Freuden der lesbischen Liebe, die noch erhöht werden durch einen Sturm, der auf offenem Meere ausbricht. Juliette muss in dem Palais einer vornehmen Venetianerin deren Sohn und Tochter verführen. Auch der Rat der Zehn stellt sich ein.

[S. 391]

Schliesslich nimmt aber die Herrlichkeit ein Ende. Das Bordell wird aufgehoben; das Vermögen der Durand und Juliettens konfisciert. Juliette geht nach Lyon, von wo sie Noirceuil über ihre bevorstehende Rückkehr nach Paris benachrichtigt und dem Abbé Chabert mitteilt, dass er ihre nun schon sieben Jahre alte Tochter Marianne ebenfalls nach Paris bringe, damit sie dort zur „Verbrecherin“ erzogen werde. Die Freude des Wiedersehens mit Noirceuil ist gross. Dieser hält gleich eine seiner grossen Reden und sagt, dass Juliette ihn noch tausend Mal schlechter wieder fände, als sie ihn verlassen habe. Er hat inzwischen auch Saint-Fond umgebracht. Sie feiern dann ihr Wiedersehen mit einem Morde. Juliette richtet sich in Paris ein Bordell ein, für Männer und Frauen, für welches sechs Kupplerinnen die Waren herbeischaffen. Juliette und Noirceuil schwelgen in wahrhaft grandiosen Ausschweifungen, in denen sie den Kaiser Nero und die Kaiserin Theodora zu übertreffen suchen. Noirceuil heiratet in einer Kirche unter Gebet, Segen und mit Zeugen seine beiden Söhne, Juliette ihre Tochter und ein von ihr verführtes Fräulein Fontanges! Die Freuden dieser in der Weltgeschichte einzigen Ehen dauern nicht lange. Bei einer Orgie, die Desrues und Cartouche als Henker mit ihrer Gegenwart beehren, werden die Söhne Noirceuils und Mademoiselle Fontanges unter grässlichen Foltern ermordet. Juliettens Tochter wird ins Feuer geworfen!

Hier endet Juliette ihre Erzählung vor den staunenden Zuhörern, nachdem sie noch hinzugefügt hat, dass sie in dem Dorfe, wo das Landgut Noirceuil’s liegt und wo das Wiedersehen mit Justine stattgefunden hat, alle Brunnen vergiftet und so den Tod sämtlicher[S. 392] Bauern herbeigeführt habe. Juliette schliesst ihren langen Bericht mit einer glühenden Apotheose des Lasters. Das ist die glückliche Lage, in der Ihr mich jetzt seht, meine Freunde! Ich gestehe es, ich liebe das Verbrechen leidenschaftlich. Dieses allein reizt meine Sinne, und ich werde seine Grundsätze bis zum letzten Tage meines Lebens verkünden. Frei von jeder religiösen Furcht, erhaben über die Gesetze durch meine Verschwiegenheit und meine Reichtümer, möchte ich die göttliche oder menschliche Gewalt kennen lernen, die mir meine Wünsche verbieten könnte. Die Vergangenheit ermutigt mich; die Gegenwart elektrisiert mich; ich fürchte wenig die Zukunft und hoffe, dass der Rest meines Lebens die Ausschweifungen meiner Jugend bei weitem noch übertreffen wird. Die Natur hat die Menschen dazu geschaffen, damit sie sich über alles auf der Erde amüsieren. Das ist ihr höchstes Gesetz und wird immer dasjenige meines Herzens sein. Um so schlimmer für die Opfer, die es geben muss. Alles würde im Universum zu Grunde gehen ohne die erhabenen Gesetze des Gleichgewichtes. Nur durch Frevelthaten erhält sich die Natur und erobert die ihr von der Tugend entrissenen Rechte wieder. Wir gehorchen ihr also, indem wir uns dem Bösen überliefern. Ein Widerstand wäre das einzige Verbrechen, das sie niemals verzeihen darf. O meine Freunde, überzeugen wir uns von diesen Grundsätzen, aus deren Verwirklichung alle Quellen des menschlichen Glückes entspringen.“

Mehr als einmal hat Justine während dieser langen Erzählung geweint. Nicht so der Chevalier und der Marquis. Nach der Rückkehr Noirceuils und Chaberts wird die Opferung dieser unverbesserlichen „Tugend[S. 393]haften“ beschlossen. Im letzten Augenblick aber schlägt Noirceuil einen Schicksalsspruch vor, da eben ein heftiges Gewitter heraufzieht. Man bringt Justine ins Freie. Und siehe da! sie wird auf der Stelle vom Blitz erschlagen. Darob begeisterter Jubel der Genossen des Lasters. Die Natur hat gesprochen. Das Laster ist des Menschen einziges Glück. Während sie noch an der Leiche der unglücklichen Justine ihre Greuel verüben, erscheint plötzlich die Durand wieder auf der Bildfläche. Sie hat einen grossen Teil des in Venedig konfiszierten Vermögens gerettet. Zum Schluss wird Noirceuil zum Minister ernannt, Chabert wird Erzbischof, der Marquis wird Gesandter in Konstantinopel und der Chevalier bekommt eine Rente von 400000 Livres. Juliette und die Durand folgen ihrem geliebten Noirceuil zu neuen Herrlichkeiten, bis nach zehn Jahren glänzender Erfolge des Lasters Juliette stirbt.

„Wer einmal meine Geschichte schreibt“, hat sie ausgerufen, „der betitle sie: Die Wonne des Lasters!“

5. Die „Philosophie dans le Boudoir“.

Die „Philosophie dans le Boudoir ou les instituteurs immoraux“ erschien zum ersten Male 1795 als „Ouvrage posthume par l’auteur de Justine“ in 2 Bänden mit 5 Bildern, zum zweiten Male 1805 in 2 Bänden mit 10 Bildern und seitdem öfter.

Das Werk ist eine Nachahmung der „Education de Laure“ von Mirabeau und zum Teil auch der „Aloysia Sigaea“ des Nicolas Chorier. Das[S. 394] Hauptthema: die Erziehung eines jungen Mädchens zum Laster wird in Form von Dialogen und langen lehrhaften Vorträgen erörtert, die nur ab und zu von praktischen Ausführungen der gepredigten Ausschweifungen unterbrochen werden. Die Handlung tritt zurück hinter den theoretischen Erörterungen.

Charakteristisch für den Ton des Ganzen ist die Vorrede an die Wüstlinge: „Wüstlinge jeden Alters und beiderlei Geschlechts! Nur Euch widme ich dieses Werk; nährt Euch mit dessen Grundsätzen, die Euren Leidenschaften günstig sind. Diese Leidenschaften, von welchen Euch kleinliche und kalte Moralisten zurückschrecken, sind nichts weiter als Mittel, welche die Natur anwendet, um den Menschen ihre Zwecke in Beziehung auf ihn zukommen und sie ihn erkennen zu lassen; hört nur auf diese wonnigen Leidenschaften, ihr Organ ist das einzige, welches Euch zum Glück zu leiten im Stande ist.

„Schlüpfrige Weiber, deren Modell die wollüstige Saint-Ange sein möge, verachtet, ihrem Beispiele folgend, Alles, was mit den göttlichen Gesetzen des Vergnügens im Widerspruch steht und was das ganze Leben in Fesseln hält.

„Junge Mädchen, die Ihr lange in widersinniger Sklaverei gehalten worden seid, welche von einer phantastischen Tugend und ekelhaften Moral erfunden, Euch nur gefährlich werden muss, ahmt das Beispiel der glühenden Eugenie nach; reisset nieder und tretet mit Füssen, wie sie es thut, alle lächerlichen Lehren, die Euch von einfältigen Eltern eingeprägt wurden.

„Und Ihr liebenswürdige Wüstlinge, die Ihr seit Eurer Jugend keine anderen Zügel kanntet, als die[S. 395]jenigen, mit welchen Euch Eure Begierden leiten, anerkennt keine anderen Gesetze als Eure Launen; möge Euch der Cyniker Dolmancé zum Beispiel dienen! Geht so weit wie er, damit, wenn Ihr die ganze Bahn durchlaufen, welche von der Wollust mit Blumen bestreut, sich Euren Blicken darbietet, Ihr Euch überzeugt, dass es nur eine Lebensschule giebt, in welcher Ihr den Horizont Eures Geschmackes und Eurer Phantasien ausdehnen möget, dass man nur dann, wenn man seinem Genusse Alles opfert, seinen Lebenszweck erfüllt, dass endlich der Mensch, welcher diese sonst so traurige Welt bewohnt, nur auf diese Weise aus den Dornen des Lebens Rosen zu pflücken vermag.“

Skizzieren wir in aller Kürze die dürftige Handlung des Stückes. Im ersten Gespräch treten Madame de St.-Ange und ihr Bruder, der Chevalier de Mirvel auf. Die Erstere ist ein Juliette-Typus, die alles, was mit ihr in Berührung kommt, vergiftet. Ihr Bruder dagegen ist mehr receptiv und tritt in dem Buche hinter der kraftvolleren Individualität des Dolmancé zurück. Dieser ist ein im Laster consequenter Cyniker, der mit seiner geistreichen Sophistik stets die ganze Situation beherrscht. Er ist nach Mirvels Beschreibung durch seinen frühbegonnenen lasterhaften Lebenswandel hart geworden und besitzt anstatt des Herzens nur tierische Begierden. Er ist Paederast und hört nicht auf, in Apologien dieses Lasters zu schwelgen.

Eugenie von Mistival ist ein junges Mädchen, deren Mutter eine Betschwester ist und deren Vater ein Verhältnis mit Madame de St.-Ange unterhält. Letztere hat ihr schon einen theoretischen Unterricht im Laster erteilt, ihr alle Lehren der Religion und der reinen Moral ausgeredet und sie so umgarnt, dass Eugenie sich[S. 396] ganz ihrer Leitung anvertrauen will. So soll sie denn heute — die ganze Handlung spielt sich im Laufe eines einzigen Tages ab — in die Mysterien des Venusdienstes und — Sodoms eingeweiht werden. Eugenie kommt und verrät ihre wahre Natur sofort durch das Bekenntnis, dass sie ihre Mutter, diese alte Betschwester, hasse. Dolmancé erscheint als Letzter und nunmehr wird Eugenie, die errötend im Anfange Scham heuchelt, zuerst über die Anatomie und Physiologie der männlichen und weiblichen Genitalien cum demonstratione[584] belehrt und empfängt darauf in den Künsten der „amour physique“ und „antiphysique“ Unterricht. Später werden zu dem praktischen Unterricht auch der Chevalier und ein Gärtnerbursche und Idiot Augustin zugezogen, so dass Eugenie das Arrangement obscöner Gruppen kennen lernt. Gegen Abend, als Eugenie sich bereits in das grausamste erotische Scheusal verwandelt hat, kommt ihre Mutter, Madame de Mistival gerade zur rechten Zeit. Unter den Augen der jauchzenden Tochter wird sie scheusslich vergewaltigt, von einem Knecht Lapierre syphilitisch infiziert, und bevor man zu Tische geht, muss Eugenie an ihrer Mutter die Infibulation vollziehen.

Dies der Gang der Handlung. Mehr als Dreiviertel des Buches werden durch lehrhafte Excurse ausgefüllt.

6. Die übrigen Werke des Marquis de Sade.

„Justine“, „Juliette“ und die „Philosophie dans le Boudoir“ sind die Werke, denen der Marquis de Sade[S. 397] seinen herostratischen Ruhm verdankt. Alle übrigen zahlreichen Schriften desselben sind milde und erträglich im Vergleich mit den eben genannten. Marciat nennt deshalb die in ihnen zum Ausdruck kommenden Ideen den „petit sadisme“, den „kleinen Sadismus“.[585]

„Aline et Valcour ou le Roman philosophique, écrit à la Bastille un an avant la Révolution“, erschien zuerst 1793 in 4 Bänden, später im Jahre 1795. Girouard wurde 1792 mit dem Drucke dieses Werkes von Sade beauftragt. Der Drucker wurde aber in eine royalistische Verschwörung verwickelt, verhaftet und guillotiniert. Inzwischen war der Roman heimlich gedruckt worden, und erschien 1793 unter der Firma der Frau Girouard’s. Er fand wenig Käufer. 1795 wurden Exemplare mit neuem Titel in den Handel gebracht. In demselben Jahre erwarb der Buchhändler Maradan die Restexemplare, änderte nur Titel und Titelbild, und brachte das Werk so in den Handel.[586] Es ist, wie Marciat richtig vermutet, unzweifelhaft ein Vorbild der „Justine et Juliette“, da es fast dieselben Charaktere schildert. Valcour, ein tugendhafter junger Mann liebt Aline, die edle Tochter der edlen Frau des grausamen und lasterhaften Präsidenten de Blamont. Dieser möchte seine Tochter gern an den alten Wüstling Dolbourg verheiraten, zumal da er schon früher die tugendhafte Sophie, die er für seine Tochter hält, diesem alten Freunde als Maitresse ausgeliefert hat. Er will, wenn dieser Heiratsplan gelungen ist, dem Dolbourg seine Frau zur Geliebten geben, um von ihm dessen Frau, also seine Tochter, in gleicher Eigenschaft zurückzuerhalten. Der Plan misslingt. Aline tötet[S. 398] sich. Madame de Blamont wird auf Befehl des Gatten vergiftet. Valcour geht ins Kloster, Dolbourg wird tugendhaft, und der Präsident muss fliehen. In Rosa und Leonore sind zwei lasterhafte weibliche Personen geschildert. Leonore, die überall Glück hat, erscheint als Pendant zu Juliette. Auch an sonstigen interessanten Persönlichkeiten ist das Werk reich. Bis auf die Vergiftung und einige Flagellationsszenen enthält „Aline et Valcour“ keine Schilderungen von Grausamkeiten.[587]

Quérard meint, dass der Autor als Valcour sich selbst geschildert habe und bisweilen dort seine eigene Geschichte erzähle.[588]

Die „Crimes de l’Amour ou le Délice des passions; Nouvelles héroiques et tragiques, précédé d’une Idée sur les Romans“ Paris 1800, sind eine Sammlung romantischer Erzählungen wie z. B. „Juliette et Raunai“, „Clarisse“, „Laurence et Antonio“, „Eugène de Franval“ u. s. w., in denen der Kampf zwischen Laster und Tugend geschildert wird. Gewöhnlich aber siegt die Tugend. Der Marquis de Sade handelt über diese Sammlung in seiner polemischen Schrift gegen Villeterque.[589]

Als Vorrede zu den „Crimes de l’Amour“ schrieb Sade die „Idée sur les Romans“, eine nicht unge[S. 399]schickte Uebersicht über die Romanschriftstellerei des 18. Jahrhunderts, eingeleitet durch eine historische Skizze der Entwickelung des Romans, den er als „Gemälde der Sitten des Jahrhunderts“ definiert, das in gewissem Sinne die Geschichte ersetzen müsse. Nur ein Menschenkenner kann einen guten Roman schreiben. Diese Menschenkenntnis erwirbt man durch Unglück oder Reisen. Am Schlusse weist er die Vorwürfe, die man ihm über die cynische Ausdrucksweise in „Aline et Valcour“ gemacht hat, als ungerechtfertigt zurück. Man muss das Laster zeigen, damit es verabscheut werde. Die gefährlichsten Werke sind die, welche es verschönern und in glänzenden Farben schildern. Nein, es muss in seiner ganzen Nacktheit vor Augen stehen, damit es in seinem wahren Wesen erkannt und gemieden werde.

Endlich erwähnen wir noch das Pamphlet, welches Sade die Ungnade Napoléon’s zuzog. „Zoloé et ses deux acolytes“ erschien 1800 in Paris. Zoloé ist Josephine de Beauharnais, die Gattin Bonaparte’s. Sie wird als eine lascive, geldgierige Amerikanerin geschildert. Ihre Freundin Laureda (Madame Tallien), eine Spanierin, ist „ganz Feuer und ganz Liebe“, sehr reich und kann daher alle ihre perversen Gelüste befriedigen. Sie und Volsange (Mad. Visconti) nehmen mit Zoloé an den Orgien mit ausschweifenden Wüstlingen Teil. Unter den letzteren erkennt man Bonaparte in dem Baron d’Orsec und Barras in dem Vicomte de Sabar. Ein Wort allein würde genügt haben, wie Cabanès sagt, um den Verfasser zu enthüllen. Das ist das Wort „Tugend“ (Les malheurs de la vertu). Er erklärt in „Zoloé“: „Qu’on se rappelle que nous parlons en historien. Ce n’est pas[S. 400] notre faute si nos tableaux sont chargés des couleurs de l’immoralité, de la perfidie et de l’intrigue. Nous avons peint les hommes d’un siècle qui n’est plus. Puisse celui-ce en produire de meilleurs et prêter à nos pinceaux les charmes de la vertu!“

Von den Komödien des Marquis de Sade sind nur „Oxtiern ou les Malheurs du libertinage“ Versailles 1800, in der die Wonne des Verbrechens gerühmt wird, und „Julia, ou le Mariage sans femme“ (Manuscript), eine Verherrlichung der Paederastie, erwähnenswert.

7. Charakter der Werke des Marquis de Sade.

Von den berüchtigten Hauptwerken des Marquis de Sade gilt, was Macaulay von den „Denkwürdigkeiten“ des Dr. Burney sagt. Es ist kein Vergnügen, sie zu lesen, sondern eine Aufgabe. Wer sich überzeugen will, eine wie trostlose geistige und körperliche Oede die ausschliessliche Beschäftigung mit dem rein Geschlechtlichen im Menschen hervorbringt, der lese die Werke des Marquis de Sade. Man wird dies aus der blossen Analyse, die wir von „Justine“ und „Juliette“ gegeben haben, entnehmen können. Und dann hat Sade das gethan, was Fritz Friedmann in seiner lesenswerten Studie über „Verbrechen und Krankheit im Roman und auf der Bühne“ als eine „litterarische Sünde“ bezeichnet[590]: er hat das kalte und nackte Verbrechen zum Ausgangs- und Kernpunkt der Handlung gemacht! Diese Verbindung des Geschlechtlichen mit Verbrechen[S. 401] und destruktiven Vorgängen aller Art muss um so furchtbarer wirken, als sie durch eine Einbildungskraft ohnegleichen tausendfach variirt wird. Schon Janin hat erkannt, dass de Sade die „unermüdlichste Einbildungskraft besass, die vielleicht jemals die Welt in Schrecken gesetzt hat.“[591] So allein konnte ein pornographisches Riesenwerk von zehn Bänden entstehen, das „durch den blossen Umfang und das Maass der damit geleisteten geistigen und rein mechanischen Arbeit unwillkürlich imponierend wirkt“[592]. Diese enorme Einbildungskraft spricht sich nach Eulenburg ferner aus in dem „bizarren Entwurf dieser ungeheuerlichen, langgedehnten, vielgliedrigen Komposition und seiner bis ins Einzelne gehenden Ausgestaltung mit all ihren fast unentwirrbaren Fäden, mit der Unzahl der nacheinander auftretenden Personen, mit der sehr raffiniert durchgeführten allmählichen Steigerung und mit der fast nie versagenden Treue der Erinnerung und Rückbeziehung!“ Dazu kommt der Grundton der Sade’schen Werke, den Juliette als „corruption réfléchie“ (Juliette IV, 87) bezeichnet, die endlosen, immer wiederkehrenden, immer dasselbe wiederholenden philosophischen Discussionen und Dialoge.

Endlich, um das abschreckende Bild zu vollenden, die wahrhaft ungeheuerlichen Behauptungen und Uebertreibungen, stupide Hyperbeln einer ausschweifenden Phantasie. Minski trinkt 60 Flaschen Wein auf einmal (Juliette III, 332); der Karmelitermönch Claude hat drei Testikel (Juliette III, 77); im „Theater der Grausamkeiten“ zu Neapel[S. 402] werden 1176 Menschen auf ein Mal getötet (Juliette VI, 22–26) u. s. w. u. s. w. Nicht selten sind auch, wie sich bei einem solchen Graphomanen erwarten lässt, grobe chronologische und geographische Irrtümer. So lässt er Moses die Geschichte Loths während der Gefangenschaft der Juden zu Babylon schreiben (Philosophie dans le Boudoir I, 195) und Pompeji und Herculanum in Griechenland liegen (ib. 196), u. a. m.[593]

Mögen also auch die Werke des Marquis de Sade in kulturhistorischer und allgemein menschlicher Beziehung sehr wichtig und lehrreich sein, wie wir glauben, so wirkt entschieden ihre äussere Form abstossend. Die Geistesöde und sinnlosen Tautologien in den Hauptschriften müssen auf ein schwaches Gehirn, welches sich nicht zu kulturhistorischer Betrachtung und wissenschaftlicher Analyse erheben kann, eine verderbliche Wirkung ausüben, wie schon Janin erkannt hat, wenn er in beredten Worten diese Wirkung an einem Beispiel veranschaulicht. Weniger gefährlich sind die den Werken beigegebenen obscönen Bilder. Nach Renouvier sollen die berühmten Künstler Chéry und Carrée die Zeichnungen zu diesem „Werke eines Maniakus geliefert haben, das die Zeit der Freiheit beschmutzt hat“.[594] Wir haben die Originalzeichnungen, welche noch in dem Besitze eines Pariser Bibliophilen existieren sollen,[595] nicht gesehen, und können also nicht beurteilen, ob diese den Angaben Renouviers entsprechen. Nach den der „Justine et Juliette“ beigegebenen 104 Stichen können wir nur dem Urteil bei[S. 403]stimmen, welches der geistreiche Eulenburg über diese Bilder gefällt hat: „Ganz abgesehen von der Schauerlichkeit des Dargestellten ist der künstlerische Wert dieser Illustrationen überaus gering. Grobe Fehler der Zeichnung, der Perspektive, gänzlicher Mangel an Individualisierung, dürftige, fast ärmliche Erfassung der Szenerie frappieren bei der Mehrzahl der Bilder, denen man höchstens die kompositionelle Treue in Anlehnungen an die oft recht komplizierten Gruppenbeschreibungen des Textes als ein immerhin zweifelhaftes Verdienst zusprechen könnte. Hier hätte es, wenn schon Derartiges gewagt werden sollte, der entfesselten und vor nichts zurückschaudernden Phantasie bedurft, mit der ein Doré die Gestalten von Dantes Inferno nachzuschaffen gewusst hat.“[596] Etwas besser ausgeführt sind die zehn Lithographien in der „Philosophie dans le boudoir“ in der uns vorliegenden Ausgabe von 1805. Uebrigens zeichnen sich auch andere pornographische Werke des 18. Jahrhunderts durch schlechte Bilder aus wie z. B. Mirabeau’s „Ma conversion“. Die Neuzeit leistet dank ihrer verbesserten Technik darin leider mehr.

8. Die Philosophie des Marquis de Sade.

Der Marquis ist der erste und einzige uns bekannte Philosoph des Lasters. Vergeblich wird man bei modernen Philosophen wie Stirner und Nietzsche, die doch auch mit Nachdruck den Egoismus, die „Herrenmoral“ und andere hyperindividualistische Ideen predigen, jene — wir möchten es so[S. 404] nennen — „Vergeistigung“ des nackten, gemeinen, teuflischen Verbrechens finden wie bei Sade.

Noch ein anderer Gesichtspunkt macht die Werke des Marquis de Sade für den Culturhistoriker, Arzt, Juristen, Nationalökonomen und Ethiker zu einer wahren Fundgrube des Wissens und der Erkenntnis. Diese Werke sind vor allem lehrreich dadurch, dass sie zeigen, was alles im Leben mit dem Geschlechtstriebe zusammenhängt, der, wie der Marquis de Sade mit unleugbarem Scharfsinn erklärt hat, fast alle menschlichen Verhältnisse in irgend einer Weise beeinflusst. Jeder, der die soziologische Bedeutung der Liebe untersuchen will, muss die Hauptwerke des Marquis de Sade gelesen haben. Nicht neben dem Hunger, sondern mehr als der Hunger regiert die Liebe die Welt!

Das an sich grässliche Gemälde der körperlichen Ausschweifungen in den Romanen des Marquis de Sade soll durch eine gewisse geistige Tünche verschönert werden, in Gestalt der in denselben Schriften in grosser Ausführlichkeit entwickelten philosophischen Betrachtungen. In ihnen offenbart sich ebenfalls jene Gewohnheit der Franzosen, wie d’Alembert sagt, „die nichtswürdigsten Dinge ernsthaft zu behandeln.“ Delbène meint: „Man muss die Erregungen nicht nur empfinden, sondern auch analysieren. Es ist bisweilen ebenso süss, davon sprechen zu hören als sie selbst zu geniessen. Und wenn man den Genuss nicht mehr haben kann, ist es göttlich, über ihn zu sprechen.“ (Juliette I, 105.) Jérôme sagt, dass die in Sicilien gefeierten Orgien nur durch philosophische Discussionen unterbrochen wurden, und man nicht eher neue Grausamkeiten beging, bevor man sie[S. 405] nicht dadurch „legitimiert“ hatte (Juliette III, 45). Diese theoretischen Wollustgemälde sind auch nötig zur „Entwickelung der Seele“ (Justine IV, 173).

Gerade diese philosophischen Erörterungen beweisen, dass „wir es bei de Sade nicht mit dem ersten besten pornographischen Autor gewöhnlichen Schlages zu thun haben, sondern dass es sich hier um eine ganz ungewöhnliche und litterarische Erscheinung, um eine direkt aus dem Urquell des Bösen schöpfende antimoralische Kraft handelt[597]. Daher wird ein kurzer Blick auf das philosophische System des Marquis de Sade gerechtfertigt sein.

Alle Anschauungen Sade’s entspringen, wie dies nicht anders zu erwarten ist, aus seinem mit Consequenz durchgeführten Materialismus. Er vergöttert die Natur, die er stets als das gute Prinzip der ihr feindlichen Tugend gegenüberstellt. Das Weltall wird durch seine eigene Kraft bewegt, und seine ewigen der Natur inhaerenten Gesetze genügen, um ohne eine „erste Ursache“ alles, was wir sehen, hervorzubringen. Die beständige Bewegung der Materie erklärt alles. Wozu brauchen wir einen Beweger (moteur) für das, was immer in Bewegung ist? Das Weltall ist eine Versammlung von verschiedenen Wesen, die wechselseitig und succesive auf einander wirken und gegenwirken. Nirgends ist eine Grenze. Ueberall ist ein continuierlicher Uebergang von einem Zustande zu einem andern in Beziehung auf die Einzelwesen, die nach einander verschiedene neue Formen annehmen. (Juliette I, 72–73.)

[S. 406]

Bewegung und Stoss der materiellen Moleküle erklären alle körperlichen und geistigen Erscheinungen. Die Seele muss daher als „aktives“ und als „denkendes“ Prinzip materiell sein. Als aktives Prinzip ist sie teilbar. Denn „das Herz schlägt noch, nachdem es aus dem Körper herausgenommen worden ist.“ Alles, was teilbar ist, ist aber Materie. — Ferner ist das Materie, was Fährlichkeiten unterliegt (périclite). Der „Geist“ könnte nicht gefährdet sein. Die Seele folgt aber den Eindrücken des Körpers, ist schwach in der Jugend, niedergedrückt im Alter, unterliegt also allen Gefahren des Körpers, ist also = Materie. (Juliette I, 86.) Noch leichter macht sich Bressac die Beweisführung. Als der Körper der toten Frau des Grafen Gernande noch eine zuckende Bewegung macht, ruft er entzückt aus: „Seht Ihr, dass die Materie zu ihrer Bewegung keine Seele braucht!“ (Justine IV, 40.)

Die Unsterblichkeit der Seele ist daher natürlich eine Chimäre. Dieses blödsinnige Dogma hat die Menschen zu Narren, Heuchlern, Bösewichtern gemacht und „schwarzgallige“ Individuen gezüchtet. Nur dort ist Tugend, wo man die Unsterblichkeit nicht kennt. Juliette erlaubt sich gegenüber der Delbène die schüchterne Frage, ob der Gedanke der Unsterblichkeit nicht tröstlich für manche Unglückliche sei. Delbène antwortet, dass man seine Wünsche nicht zum Massstabe der Wahrheit nehmen dürfte. „Habe Mut, glaube an das allgemeine Gesetz, füge Dich mit Resignation in den Gedanken, dass Du in den Schoss der Natur zurückkehrst, um in anderen Formen wieder aus ihm hervorzugehen. Ein ewiger Lorbeer wächst auf dem Grabe Virgil’s, und es ist besser, für immer vernichtet zu werden, als in der sogenannten Hölle zu brennen“. „Aber“, fragt Juliette angsterfüllt, „was wird aus mir[S. 407] werden? Diese ewige Vernichtung erschreckt mich, diese Dunkelheit macht mich schaudern.“ — „Was warst Du vorher, vor Deiner Geburt? Dasselbe wirst Du wieder werden. Genossest Du damals? Nein. Aber littest Du? Nein. Welches Wesen würde nicht alle Genüsse opfern für die Gewissheit, nie wieder Schmerzen zu leiden!“ (Juliette I, 83–85.)[598]

Uebrigens sind diese Doctrinen von der Seele nicht die einzigen, die man als Materialist haben kann. Die Durand behauptet z. B., dass die Seele ein Feuer sei, das nach dem Tode erlösche und seine Stoffe in die Weltmaterie übergehen lässt (Juliette III, 247). Und der Bösewicht Saint-Fond konstruiert die Welt aus „molécules malfaisantes“, aus „bösen Elementen“. Er sieht daher im Universum nur die Schlechtigkeit, das Uebel, die Unordnung und das Verbrechen. Das Böse existierte vor Erschaffung der Welt und wird nachher existieren. Warum ist das Alter schlechter als die Jugend, verderbter und entarteter? Weil die bösen Elemente in den Busen der „molécules malfaisantes“ zurückzukehren sich anschicken. Saint-Fond glaubt daher, dass das Böse den Menschen nach dem Tode erwarte, also an eine ewige Hölle. Wer auf der Erde böse gewesen ist, dem wird die Vereinigung mit dem „Bösen“ leicht werden. Die Tugendhaften werden grosse Qualen dabei leiden. Giebt es aber eine Hölle, dann ist der Gedanke an den Himmel nicht fern. Thatsächlich glaubt Saint-Fond an das Jenseits, an Belohnungen und Strafen. Um nun zu verhindern, dass seine Opfer in den Himmel kommen, schliesst er sich mit ihnen auf eine geheimnisvolle[S. 408] Weise ein und lässt sie mit ihrem Blute auf einem Stück Papier ihre Seele dem Teufel verschreiben, quam chartam membro suo ano eorum inserit, wobei die Betreffenden schrecklich gefoltert werden. (Juliette II, 287, 341.) Clairwil dagegen erklärt die Hölle für eine Erfindung der Priester. (Juliette II, 292 ff.)

Nach dem Vorgange Holbach’s, der jede religiöse Regung als geistige Verirrung bezeichnete, wird Sade nicht müde, über die Begriffe „Gott“ und „Religion“ die Schale seines Spottes auszugiessen. Sein Atheismus geberdet sich „in konsequenter Weise zugleich als fanatischer Misotheismus, der von dem bekannten Worte: ‚si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer‘, nur Gebrauch zu machen scheint, um diesen eigens dazu erfundenen Gott blasphemisch zu beschimpfen und zu verhöhnen.“[599] Die Idee einer solchen Chimäre und die Aufrichtung eines solchen Monstrums ist das einzige Unrecht, das Delbène den Menschen nicht verzeihen kann. „Mein Blut kocht bei seinem Namen selbst. Ich glaube um mich die zitternden Schatten aller Unglücklichen zu sehen, welche dieser abscheuliche Aberglaube auf der Erde geopfert hat.“ Sie erinnert an die Unthaten des Klerikalismus und der Inquisition. Würde sie heute leben, sie würde gewiss die auch im Namen dieses klerikalen Gottes erfolgte Folterung des unglücklichen Dreyfus nicht vergessen haben. Delbène unterzieht hierauf die verschiedenen Gottestheorien einer Kritik. Die Juden sprechen zwar von einem Gotte, aber sie erklären diesen Begriff nicht und reden nur in kindlichen Allegorien von ihm. Die Bibel ist von verschiedenen Menschen und „dummen Charlatans“ lange[S. 409] nach Moses geschrieben worden. Dieser behauptet, die Gesetze von Gott selbst empfangen zu haben. Ist diese Vorliebe Gottes für ein kleines unwissendes Volk nicht lächerlich? Die in der Bibel erzählten Wunder werden von keinem Historiker berichtet. Und wie hat dieser Gott die Juden behandelt! Wie hat er sie in alle Welt zerstreut als das odium generis humani. Bei den Juden darf man Gott nicht suchen. Da ist er nur ein „fantôme dégoûtant“. Aber vielleicht bei den Christen? Doch hier findet Delbène noch grössere Absurditäten. Jesus ist nach ihr entschieden schlauer als Moses. Dieser lässt das Wunder durch Gott geschehen. Jener macht es selbst! La religion prouve le prophète, et le prophète la religion.

Da also weder durch das Judentum noch durch das Christentum die Existenz Gottes bewiesen wird, so müssen wir uns an unsere eigene Vernunft halten. Diese ist aber bei Mensch und Tier das Resultat des gröbsten Mechanismus. Erinnert man sich der Dinge als abwesender Objekte, so ist das Gedächtnis, Erinnerung. Erinnert man sich ihrer, ohne dass man von ihrer Abwesenheit unterrichtet ist, also sie als wirklich vorhandene Objekte ansieht, so ist das Einbildung, und diese Einbildung ist die wahre Ursache aller unserer Irrtümer. Die Imagination besteht aus „objektiven Ideen“, die uns nichts Wirkliches anzeigen, und die Erinnerung besteht aus „reellen Ideen“, die uns wirklich existierende Dinge anzeigen. Gott ist nun das Produkt der Imagination, der „erschöpften Einbildungskraft“ derer, die zu träge sind, um die lange Reihe der Ursachen und Wirkungen zu durchdenken und mit einem kühnen Salto mortale zu einer letzten Ursache greifen, deren Wirkung alle anderen Ursachen sind, die selbst aber keine Ursache mehr hat. Das ist Gott. Die[S. 410] „dumme Chimäre“ einer „débile imagination“, die nur eine „idée objective“ ohne reale Existenz zu denken vermag. Gott ist ein „Vampyr“, der das Blut der Menschen aussaugt. (Juliette I, 49–62.) In Wirklichkeit kann Gott gar nicht existieren, da die ewig wirkende Natur in fortwährender Bewegung sich befindet, sie aber diese Kraft nur aus sich selber besitzt, nicht aber vom Schöpfer zum Geschenk erhalten haben kann. Denn dann müsste man an das Vorhandensein eines trägen Wesens glauben, das, nachdem es seine Arbeit gethan, in Nichtsthun dahinlebt. Ein solches Wesen wäre aber lächerlich wegen seiner Ueberflüssigkeit. Denn es hätte nur so lange gewirkt, bis es erschaffen, dann aber hätte es während Jahrtausenden ruhen müssen. (Philosophie dans le Boudoir I, 56). Wenn die Materie nach Begriffen, die uns unbekannt sind, wirkt, wenn die Bewegung der Materie inhaerent ist, wenn nur sie allein im Stande ist, nach Massgabe ihrer Kraft zu schaffen, hervorzubringen, zu erhalten und fortzuführen, wie wir dies in dem unseren Sinnen fassbaren Universum erblicken, in welchem wir eine Unzahl von Weltkörpern um und über uns sehen, deren Anblick uns überrascht, deren gleichmässiger, geregelter Gang uns mit Bewunderung und Staunen erfüllt, wozu brauchen wir dann noch einen fremden, ausserhalb des Universums stehenden Faktor, da die bewegende und schaffende Kraft sich schon in der Natur selbst befindet? Diese Natur ist aber an und für sich nichts anderes als eine wirkende Materie (ib. I, 58). Nach allem dem ist dieser Gott ein launenhaftes Wesen, welches das von ihm geschaffene Geschöpf dem Verderben weiht. Wie fürchterlich, welch ein Ungeheuer ist ein solcher Gott! Gegen ihn müssten wir uns empören. Nicht zufrieden mit einer so grossen Aufgabe, ertränkt er den Menschen,[S. 411] um ihn zu bekehren, er verbrennt, er verflucht ihn, er ändert nichts daran, dieser hohe Gott, ja, er duldet ein noch viel mächtigeres Wesen neben sich, indem er das Reich Satans aufrecht erhält, welcher seinem Erschaffer zu trotzen vermag, der im Stande ist, die Geschöpfe, die sich Gott auserkoren, zu verderben und zu verführen. Denn nichts vermag die Energie Satans über uns zu besiegen. So hat ihn die Religion geschaffen, samt seinem einzigen Sohne, den er vom Himmel herabgeschickt und in einen sterblichen weiblichen Leib bannt. Man wäre geneigt, zu glauben, dieser Sohn Gottes müsste die Erde inmitten eines Engelchores, beleuchtet von glänzenden Strahlen betreten. Aber nein, er wird von einer sündhaften Jüdin in einem Stalle geboren. Wird uns seine ehrenvolle Sendung vor dem ewigen Tode retten? Folgen wir ihm, sehen wir, was er thut, hören wir, was er spricht! Welche erhabene Mission vollführt er? Welches Geheimnis offenbart er uns? Welche Lehre predigt er uns? Durch welche That lässt er uns seine Grösse erkennen? Wir sehen vor allem eine unbekannte Kindheit, einige Dienste, die er den jüdischen Priestern des Tempels von Jerusalem leistet, dann ein 15jähriges Verschwinden, während welcher Zeit er sich vom alten ägyptischen Kultus vergiften lässt, den er nach Judäa bringt. Er geht so weit, sich für einen Sohn Gottes zu erklären, der dem Vater an Macht gleich ist; er verbindet mit diesem Bündnis die Erschaffung eines dritten Wesens, des heiligen Geistes, indem er uns glauben machen will, diese drei Personen seien nur eine. Er sagt, er habe eine menschliche Form angenommen, um uns zu retten. Der sublime Geist musste also Materie, Fleisch werden und setzt die einfältige Welt durch seine Wunder in Erstaunen. Während eines Abendmahles betrunkener Menschen verwandelt er Wasser in[S. 412] Wein. Er speist in einer Wüste einige Faseler mit den von ihm verborgen gehaltenen Lebensmitteln. Einer von seinen Genossen spielt den Toten, um sich von ihm erwecken zu lassen. Er besteigt in Gegenwart zweier oder dreier seiner Freunde einen Berg und führt hier ungeschickte Taschenspielerkunststücke aus, deren sich jetzt ein Tausendkünstler schämen müsste. Dabei aber verflucht er alle, die ihm nicht glauben wollen, und verspricht den Gläubigen das Himmelreich. Er hinterlässt nichts Geschriebenes, spricht sehr wenig und tut noch weniger. Dennoch bringt er durch seine aufrührerischen Reden die Behörden auf und wird endlich gekreuzigt. In seinen letzten Augenblicken verspricht er seinen Gläubigen, zu erscheinen, so oft sie ihn anrufen, um sich von ihnen — essen zu lassen. Er lässt sich also hinrichten, ohne dass sein Herr Papa (Monsieur son papa), dieser erhabene Gott, auch nur das Geringste thäte, um ihn von dem schimpflichen Tode zu retten. Seine Anhänger versammeln sich jetzt und sagen, die Menschheit sei verloren, wenn sie dieselbe durch einen auffallenden Handstreich nicht retteten. Lasst uns die Grabwächter einschläfern, stehlen wir den Leichnam, verkünden wir seine Auferstehung! Dies ist ein sicheres Mittel, um an dieses Wunder glauben zu machen; es soll uns dazu helfen, die neue Lehre zu verbreiten. Der Streich gelingt. Alle Einfältigen, die Weiber und Kinder faseln von einem geschehenen Wunder und dennoch will in dieser mit dem Blute Gottes getränkten Stadt niemand an diesen Gott glauben. Nicht ein Mensch lässt sich bekehren. Man veröffentlicht das Leben Jesu. Dieser schale Roman findet Menschen, die ihn für Wahrheit halten. Seine Apostel legen ihrem selbsterschaffenen Erlöser Worte in den Mund, an die er niemals gedacht hat. Einige über[S. 413]spannte Maximen werden zur Basis ihrer Moral gemacht, und da man dies alles Bettlern verkündet, so wird die Liebe des Nächsten und Wohlthätigkeit zur ersten Tugend erhoben. Verschiedene bizarre Ceremonien werden unter der Benennung „Sakramente“ eingeführt, unter welchen die unsinnigste die ist, dass ein sündenbelasteter Priester mittelst einiger Worte, eines Galimathias, ein Stück Brod in den Leib Jesu verwandelt. (Philosophie dans le Boudoir I, 60–64.) — Man darf sich nicht wundern, wenn nach diesen Anschauungen der Marquis de Sade oft die Heiligenschändung für ein Pflichtgebot erklärt und in scharfen Ausdrücken gegen Reliquien, Heiligenbilder, Crucifixe u. s. w. wettert und z. B. Dolmancé sagen lässt, dass es sein grösstes Vergnügen sei, Gott zu beschimpfen, gegen dieses Phantom unflätige Worte auszustossen. Dieser möchte gern eine Art ausfindig machen, um diese dégoûtante chimère noch mehr zu insultieren, und ist wie Moberti böse darüber, dass es gar keinen Gott giebt, so dass er in solchen Augenblicken seine Existenz herbeiwünscht (Philosophie dans le Boudoir I, 125–126).

Von diesen theoretischen Maximen gelangt der Marquis de Sade zur Begründung einer praktischen Lebensphilosophie, eben der „Philosophie des Lasters.“

Um den Triumph des Lasters in der menschlichen Gesellschaft zu verwirklichen, muss eine zweckentsprechende Paedagogik gehandhabt werden. Der Marquis de Sade hat richtig erkannt, dass die Jugend verderben gleichbedeutend ist mit der Untergrabung aller Sittlichkeit überhaupt. Diese Jugend, von der Alexander von Humboldt in seinen unvergleichlichen Briefen an den König Friedrich[S. 414] Wilhelm IV. sagt, dass sie das „unzerstörbare uralte sich immer erneuernde Institut der Menschheit“ sei[600], die muss man nach Sade für sich gewinnen. „C’est dans la jeunesse qu’il faut s’occuper de détruire avec énergie les préjugés inculqués dès l’enfance.“ (Juliette IV 134.) So hat denn Sade in der „Philosophie dans le Boudoir“ gewissermassen einen Leitfaden der Erziehung zum Laster nach dem Vorbilde von Mirabeau’s „Education de Laure“ geschaffen, in dem er seine theoretischen Grundsätze entwickelt und ihre praktische Anwendung in der Verführung und Demoralisierung eines jungen Mädchens zeigt. — Die Erziehung muss alle unsinnigen Religionslehren verbannen, durch welche die „jungen Organe“ der Kinder nur ermüdet werden und an deren Stelle den Unterricht in den „sozialen Grundsätzen“ einführen. Auch sollen sie in den schwer zu lösenden Fragen der Naturkunde unterrichtet werden. Wenn es aber Jemand versuchen sollte, religiösen Firlefanz einschmuggeln zu wollen, so soll er als ein Verbrecher behandelt werden. (Phil. dans le Boud. II, 62 ff.) Sade hat richtig erkannt, dass die Gewohnheit in der Erziehung alles macht. Daher soll auch das Laster dem jugendlichen Menschen zu einer Gewohnheit gemacht werden. Denn diese hebt alle lästigen Gewissensbisse auf. „Also sei so oft als möglich lasterhaft! Dann wird das Laster allmählich zu einem wollüstigen Kitzel, den man nicht mehr entbehren kann. Das Laster muss eine Tugend werden! Und die Tugend ein Laster! Dann wird sich ein neues Weltall vor Deinen Blicken aufthun, ein verzehrendes und wollüstiges Feuer wird[S. 415] Deine Nerven durchglühen; es wird die ‚elektrische Flüssigkeit‘ entflammen, in welcher das Prinzip des Lebens sich befindet. Jeden Tag entwirfst Du neue ruchlose Pläne und siehst in allen Wesen die Opfer Deiner perversen Gelüste. So gelangst Du auf einem mit Blumen bekränzten Wege zu den letzten Excessen der Unnatur. Nie darfst Du auf diesem Wege Halt machen, zögern und zurückweichen, weil Dir sonst der höchste Genuss für immer verloren geht. Vor allem nimm Dich vor der Religion in Acht, deren gefährliche Einflüsterungen Dich vom guten Wege abhalten, die der Hydra gleicht, deren Kopfe wiederwachsen, so oft man sie abschlägt.“ Diese Worte ruft Delbène der 14jährigen Juliette zu. (Juliette I, 27–30.) Diese selbst wiederum erzieht später die Tochter Saint-Fond’s, ihre eigene Tochter und Fräulein Fontanges in ähnlichen Grundsätzen, deren verderbliche Wirkungen in der bereits oben erwähnten Statistik des Grafen Belmor zur Anschauung gebracht werden.

So wird das Laster planmässig in alle sozialen Verhältnisse eingeführt, von denen wir nur die wichtigsten hervorheben.

Liebe und Ehe sind für Sade chimärische Begriffe. Mit einer Art von jesuitischer Casuistik unterscheidet die Duvergier zwei Arten der Liebe, die moralische und die physische. Eine Frau kann moralisch ihren Geliebten oder Gatten anbeten und physisch und temporär denjenigen lieben, der ihr den Hof macht. Zudem hat die Frau von Temperament stets mehrere Liebhaber nötig. (Juliette I, 268.) Delbène, diese grosse Paedagogin des Lasters, monologisiert lange für die Nutzlosigkeit der Moral für junge Mädchen und Frauen. Sie fragt gleich im Anfang erstaunt: Ist[S. 416] ein weibliches Wesen besser oder schlechter, wenn sie einen gewissen Körperteil mehr oder weniger „ouverte“ hat? Nach ihr müssen die Sitten das individuelle Glück verbürgen. Sonst sind sie wertlos. Man darf also ein Mädchen nicht zwingen, die Jungfrauschaft zu bewahren, wenn es glücklich ist und danach brennt, dieselbe zu verlieren. Je mehr ein Mädchen sich hingiebt, um so liebenswerter ist es, um so mehr Menschen macht es glücklich. Daher höre man auf, ein entjungfertes Mädchen zu missachten.[601] (Jul. I, 108.) Was die Ehe betrifft, so handelt es sich nicht um die Frage, ob der Ehebruch ein Verbrechen in den Augen des Lappen ist, der ihn erlaubt, oder des Franzosen, der ihn verbietet, sondern ob die Menschheit und die Natur durch diese Handlung beleidigt werden. Der Coitus ist notwendig wie Essen und Trinken, die Keuschheit ist nur eine „conventionelle Mode“, deren erster Ursprung nur einraffinement du libertinage“ war. Jetzt ist sie nur eine Tugend der „Dummen und Enthusiasten“. Sie schadet der Gesundheit, da sie wichtige Secrete zurückhält.[602] Der gemeinschaftliche Besitz der Frauen ist das einzig wahre[S. 417] Naturgesetz, nicht die Monogamie, die Polyandrie und die Polygamie. Die freie und schrankenlose Vereinigung und Trennung der beiden Geschlechter entspricht allein den natürlichen Verhältnissen. Und da auch die Ehre ein ganz subjektiver Begriff ist, der nicht von Andern abhängt, so kann der Ehebruch der Gattin die Ehre des Gatten in keiner Weise tangieren. Delbène erteilt daher den Frauen mit gutem Gewissen Ratschläge, wie sie ihre Männer am besten betrügen. (Jul. I, 109–131.)

Man kann sich denken, welche Stellung nach diesen Maximen die Prostitution in der Gesellschaft einnimmt. Nur ein Weib, welches genossen und Männer mit ihren Umarmungen beglückt hat, lebt in der Erinnerung der Menschen. Man hat Lucretia sehr bald vergessen, während man sich Theodoras und Messalina’s erinnert, die in tausend und abertausend Gedichten besungen werden. Weshalb sollten die Weiber den blumenbestreuten Weg nicht lieber betreten, der ihnen noch nach dem Grabe einen Cultus zusichert, anstatt sich dem verachtenden Lächeln der Aufgeklärten auszusetzen, welches ihnen durch ihre Askese zu Teil werden würde? (Phil. dans le Boud. I, 80.) Die Frau sei wie die Hündin und die Wölfin, die allen angehören (ib. I, 76). So erscheint die Ehe selbst als ein Vergehen.[603]

Sehr merkwürdig sind bei Sade die vielfachen Anklänge an die Ideen eines Malthus. Die heute ja[S. 418] zu einer brennenden Frage gewordene Entvölkerung Frankreichs ist keine neue Erscheinung. Nach einem Bericht, den wir der „Vossischen Zeitung“ vom 11. Juli 1899 entnehmen, veröffentlichte Professor Rossignol in Bordeaux vor kurzem das im Jahre 1767 herausgekommene Werk des Abbé Joubert „Die Entvölkerung und die Mittel ihr abzuhelfen“. Es geht daraus hervor, dass fast im ganzen vorigen Jahrhundert diese Frage die Geister beschäftigte. Schon 1700 bis 1715 wurde eine thatsächliche Verminderung der Bevölkerung festgestellt. Das Parlament von Dijon hatte 1764, das Parlament von Bordeaux 1765 auf die Gefahren der Entvölkerung hingewiesen. Der Abbé Joubert gab 1767 als Ursachen der Entvölkerung an: Sittenlosigkeit, Verwendung bezahlter Ammen, schlechte gesundheitliche Beschaffenheit der Häuser und Strassen; Missbrauch geistiger Getränke, Steuerveranlagung. Von den wohlhabenden Klassen sagt er: „Um einen reichen Erben zu lassen, um einen zügellosen Aufwand fortzusetzen, ist man taub für den Schrei der Natur und zieht vor, die Zahl der Kinder nicht zu vermehren“. Der gute Abbé betont besonders die tollen Ansprüche vieler Frauen, deren schlechte Erziehung und Verschwendungssucht die Ehescheu so vieler Männer erklären.

Auch bei Sade sind hauptsächlich Frauen die Vertreterinnen des Malthusianismus. Delbène meint, dass die Natur sich wenig um die Fortpflanzung der Geschöpfe kümmere, und das Aufhören aller Zeugung würde sie nicht betrüben. Nur unser Stolz glaubt an die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Fortpflanzung, während die Natur gleichgültig Tausende von Wesen vernichtet (Juliette I, 118). Dolmancé behauptet so[S. 419]gar, dass dem Zwecke des menschlichen Lebens die Vermehrung seiner Rasse sehr fern liegt. Es sei beinahe zum Verwundern, dass sie von Einzelnen geduldet werde. Wie hätte die Natur dem Menschen ein Gesetz aufbinden können, welches sie ihrer Allmacht beraubt? Wäre es nicht vernunftgemässer, wenige Menschen ewig jung bleiben und ewig leben zu sehen, als zu altern und zu sterben. Die Fortpflanzung der Menschheit ist ein „schwaches Ersatzmittel“ dafür. Es wäre sogar „schmeichelhaft“ für die ursprüngliche Absicht der Natur, wenn das Menschengeschlecht ausstürbe. Nur die Verminderung der Bevölkerung kann die Uebervölkerung und alle Uebel, die damit verbunden sind, hindern. Die Kriege, Seuchen, Hungersnöte[604], Mordthaten, Schiffbrüche, Explosionen u. s. w. bewirken positiv die Verminderung der Menschenrasse, während jene Handlung, die ein blödsinniger Jude als ein solches Verbrechen bezeichnet, dass um seinetwillen eine ganze Stadt durch himmlisches Feuer zu Grunde gegangen ist, nicht nur kein Verbrechen, sondern lobenswert ist; denn sie verbindet zwei nützliche Dinge, sie schafft Vergnügen und hindert die Vermehrung der Menschenrasse. (Phil. dans le Boud. I, 100–101.) Daher ist eine der Hauptsünden aller Regierungen die Vermehrung der Bevölkerung, die ohnehin nicht den Reichtum des Staates bildet, da sie alsbald in höherem Grade wachsen wird als die Existenzmittel. Seht auf Frankreich und Ihr werdet erkennen, was daraus resultiert. Die viel weiseren Chinesen haben seit jeher Mittel gegen einen solchen Ueberfluss an Bevölkerung getroffen, indem sie[S. 420] Findel- und Armenhäuser unterdrückten und Bettler ohne Almosen liessen (ibid. S. 69). Wenn Delbène bemerkt, dass Frankreich’s allzugrosse Bevölkerung zu einer künstlichen Beschränkung der Kinderzahl zwinge und die überzähligen getötet werden müssten, die gleichgeschlechtliche Liebe zu begünstigen sei (Juliette I, 124), so bezieht sich diese vorübergehende Zunahme der Bevölkerung nach dem oben genannten Werke von Rossignol auf das letzte Jahrzehnt vor der Revolution. Madame Saint-Ange empfiehlt (Phil. dans le Boud. I, 99) ähnlich wie unsere modernen Malthusianer, die längst über Malthus’ späte Heiraten und „moral restraint“ sich hinweggesetzt haben, die bekannten Praeventivmittel (Condome, éponges etc....)[605] — Der entschlossenste Malthusianer ist Saint-Fond. Er behauptet, dass Frankreich „einen kräftigen Aderlass nötig habe.“ Die Künstler und Philosophen müssen vertrieben werden, die Hospitäler und Wohlthätigkeitsanstalten müssen zerstört werden, und ein Krieg, sowie eine künstlich zu veranstaltende Hungersnot müssen das Uebrige thun. Auf diese Weise will er zwei Drittel der Bevölkerung beseitigen. (Juliette III, 126, 261.)[S. 421] Ein derartiger Versuch wird von der Borghese in Rom ausgeführt. Es werden 37 Hospitäler verbrannt, in denen mehr als 20000 Menschen umkommen! (Jul. IV, 258.) In der „Justine“ entwickelt der Bischof ein vollkommenes System des praktischen Malthusianismus. Erstens muss der Kindermord nicht nur gestattet, sondern sogar befohlen werden. Zweitens müssen Regierungskommissare jährliche Rundreisen bei allen Bauern machen und alle überflüssigen, die zulässige Zahl überschreitenden Familienglieder aus dem Wege räumen. Drittens die durch die Revolution gewonnene Freiheit muss dem Volke wieder genommen werden; es muss wieder unters Joch. Viertens totale Unterdrückung aller öffentlichen Almosen und Wohlthätigkeiten. Fünftens Ehrung der Coelibatäre, Paederasten, Tribaden, Masturbanten, kurz aller geschworenen Feinde der Fortpflanzung. Auch der Mörder muss belohnt werden! Sechstens einfache Wegnahme aller Lebensmittel. (Justine IV, 280–293.)

Der berühmte „Essay on the principle of population“ von Th. R. Malthus erschien zum ersten Male 1798 in London. Der Marquis de Sade, der gleich Malthus die Gefahren der Uebervölkerung schildert, kann also als ein Vorläufer desselben gelten. Indessen haben schon die französischen Physiokraten wie Quesnay in seinen „Maximes générales“ und Mirabeau in der „Philosophie rurale“ und im „Ami des hommes“ sich mit den Problemen der Populationistik beschäftigt und ähnliche Ideen wie Malthus entwickelt,[606] wenn diesem auch das grosse Verdienst gebührt, in einer Spezialarbeit über die Theorie der Be[S. 422]völkerungslehre diese zuerst formuliert zu haben und ein Werk zu schaffen, das „in den Mittelpunkt der Nationalökonomik hinableuchtete, ja ihre Untiefen erst aufgedeckt hat.“[607] Jedenfalls hat auch der Marquis de Sade dieser wichtigen Frage ein lebhaftes Interesse entgegengebracht. Dass er nicht blos Personen geschildert hat, die Praeventiv- und sogar positiv destruktiven Massregeln in der Populationistik das Wort reden, beweist Zamé in „Aline et Valcour“, der den Incest und die Paederastie verbietet, die Klöster aufhebt, indem er die Nonne mit dem Paederasten vergleicht, die beide „frustrent la société“. Auch sorgt er für Findel- und Waisenhäuser und unterdrückt den sich breitmachenden Egoismus.[608]

Seine Theorien des Verbrechens, welche mit den malthusianischen Ideen aufs engste zusammenhängen, hat der Marquis de Sade an verschiedenen Stellen seiner Hauptwerke entwickelt, am ausführlichsten aber in der „Philosophie dans le Boudoir“, wo er Dolmancé dieselben aus einer im Palais Royal gekauften Broschüre vorlesen lässt. In „Justine“ erklärt Bressac das Verbrechen überhaupt für eine Chimäre. Denn ein Mord verändert nur die Form der Materie, vernichtet diese letztere aber nicht. Nichts geht verloren in der Natur. Auch sind ja alle Hand[S. 423]lungen von der Natur eingegeben und daher keine Sünde. (Justine I, 209 ff.) — Noch anders begründet Delbène die Notwendigkeit des Verbrechens. Die Natur hat die Menschen verschieden schön und stark u. s. w. gemacht. Dabei will sie auch verschiedene Schicksale derselben, und es wird von ihr bestimmt, dass die Einen glücklich werden, die Anderen unglücklich. Letztere sollen von den Glücklichen gequält und gefoltert werden. Das Verbrechen liegt also im „Plane der Natur“ und ist ihr so nötig wie Krieg, Pest und Hungersnot. (Juliette I, 176.) Noirceuil findet das ganze Geheimnis der Civilisation darin, dass die Schurken und Schlauen sich bereichern, die Dummen unterdrückt werden. Der Schwache ist von Natur schwach und dem Starken auf Gnade und Ungnade preisgegeben. Man handelt also gegen die Natur, wenn man als Starker dem Schwachen hilft, statt ihn zu quälen und zu vernichten (Juliette I, 311–312).

In der „Philosophie dans le Boudoir“ (II, S. 77 ff.) werden die Verbrechen mit dem „flambeau de la philosophie“ analysiert. Sie können im allgemeinen auf vier verschiedene Hauptverbrechen zurückgeführt werden, auf die Verleumdung, den Diebstahl, die Sittlichkeitsverbrechen und den Mord.

Die Verleumdung trifft entweder einen schlechten oder einen tugendhaften Menschen. Im ersten Falle liegt nicht viel daran, ob man über ihn etwas mehr oder weniger Schlimmes sagt. Einem tugendhaften Menschen hingegen schadet sie nicht, und das Gift des Verleumders wird auf ihn selbst zurückfallen. Die Verleumdung dient sogar als ein läuterndes und rechtfertigendes Mittel. Denn durch sie wird die Tugend erst ins rechte Licht gesetzt. Dem Ver[S. 424]leumdeten muss nämlich daran gelegen sein, die Verleumdung zu widerlegen, und seine tugendhaften Handlungen werden dann weltbekannt. Ein Verleumder ist also nicht gefährlich im sozialen Leben. Denn er dient als Mittel, um sowohl die Laster der schlechten Menschen als auch die Tugenden der guten ans Licht zu fördern, darf somit nicht bestraft werden. (Phil. dans le Boud. II, 78–81.)

Der Diebstahl war zu allen Zeiten erlaubt und wurde sogar belohnt, z. B. in Sparta. Andere Völker haben ihn als eine kriegerische Tugend betrachtet. Es ist gewiss, dass er Mut, Stärke und Geschicklichkeit erheischt, also für eine Republik sehr notwendige Tugenden. Es hat sogar Völker gegeben, wo der Bestohlene bestraft wurde, weil er sein Eigentum nicht wohl verwahrte. (!!) Es ist ungerecht, den Besitz durch ein Gesetz zu sanctionieren, da hierdurch allen Verbrechern die Thüren geöffnet werden, welche den Menschen dazu verleiten, sich diesen Besitz zu sichern.[609] Viel vernünftiger wäre es, den Bestohlenen zu züchtigen als den Dieb. (Phil. dans le Boud. II, 81–84.) Nach Dorval, diesem grossen Diebe und Theoretiker seines Berufes, ist die Macht die erste Ursache des Diebstahls. Der Mächtige bestiehlt den Schwächeren. So will es die Natur. Die Gesetze gegen den Diebstahl sind ungültiges Menschenwerk. Man stiehlt jetzt „juridiquement“. Die Justiz stiehlt, indem sie sich ihre Rechtsprechung bezahlen lässt, die eigentlich umsonst dargeboten werden sollte. Der Priester stiehlt, indem er sich für seine Vermittelung zwischen Gott[S. 425] und Mensch bezahlen lässt. Der Kaufmann stiehlt, indem er Ware weit über den reellen Wert verkauft. Die Souveräne stehlen durch die Auferlegung von Steuern. Dann giebt Dorval eine Geschichte des Diebstahls bei den verschiedenen Völkern und schliesst mit der Erklärung, dass gegen Ende der Regierung Ludwig’s XIV. das Volk 750 Millionen Steuern jährlich bezahlte, wovon nur 250 Millionen in die Staatskasse gelangten. Folglich sind 500 Millionen gestohlen worden! (Juliette I, 203–222.)

Alcide Bonneau macht darauf aufmerksam, dass Proudhon in seinem berühmten Buche „La Propriété, c’est le vol“ fast genau dieselben Ansichten über den Diebstahl, wie Dorval bei Sade, entwickelt. Proudhon zählt sogar 15 Arten des „juristischen“ Diebstahls auf.[610] Im 18. Jahrhundert waren diese Ideen häufig, wie Roscher ausführlich darlegt.[611]

Auch die Sittlichkeitsverbrechen müssen in einem republikanischen Staate als ganz gleichgültig betrachtet werden, da diesem nichts daran liegen kann, ob seine Bürger keusch sind oder nicht.

Die Schamhaftigkeit ist ein Produkt der Civilisation, vor allem der Koketterie der Frauen, denen auch die Kleidung viel mehr zu danken ist als der Ungunst der Witterung u. s. w. Viele Völker gehen noch heute nackt, ohne unsittlich zu sein. Im Gegenteil entsittlicht die Kleidung durch Erregung von Begierden, Reize zu sehen, die durch sie versteckt werden, von denen man kaum Notiz nehme; wenn sie unbedeckt wären. Die Prostitution ist die natür[S. 426]liche Folge der Sittlichkeitsgesetze. Sie wird deshalb als eine Schande betrachtet, weil die Prostituierten für die Genüsse, die sie den Männern bieten, die sie aber auch selber empfinden, Geschenke annehmen. Dann ist die Ehe auch Prostitution. Denn der Mann bekommt in den meisten Fällen nur dann eine Frau, wenn er sie zu erhalten im Stande ist. Ebenso, wie wir allen Männern das Recht zum Genusse einräumen, müssen wir es auch den Weibern geben, da ohnehin im Naturzustande der Menschheit die Weiber allen Männern gehören, ebenso wie dies im Tierreich der Fall ist. Ausserdem wird das Weib mit einem brennenden Hang zum Genuss geboren. Die Folgen einer solchen Freiheit, Kinder ohne Väter, sind in einer Republik nicht nachteilig; denn alle Menschen haben eine gemeinschaftliche Mutter, das Vaterland (!!). Die Freiheit des Genusses muss dem Mädchen vom zartesten Alter gestattet werden. Durch Liebesgenüsse werden die Weiber ausserordentlich verschönert. (!!)

Der Ehebruch ist eine Tugend. Es giebt nichts Naturwidrigeres als die „Ewigkeit“ der ehelichen Bande. Dies ist das drückendste, was es giebt. Die Nützlichkeit des Ehebruchs wird durch zahlreiche ethnologische Beispiele bewiesen.

Ebenso ist die Blutschande, der Incest eine Tugend! Sie „dehnt die Freiheit aus“ und schärft die verwandtschaftliche Liebe (!!). Die Urinstitutionen waren sogar der Blutschande günstig. Man findet sie überall beim Ursprung des „Gesellschafts-Vertrages“. Wiederum werden zahlreiche ethnologische Beweise dafür beigebracht. — Diese Sitte müsste sogar zum Gesetz (!!!) gemacht werden, weil hier die „Brüderlichkeit“ als Basis dient. Wie konnten auch die[S. 427] Menschen so einfältig sein, gerade denen, die berufen sind, einander am meisten zu lieben, dies nicht zu gestatten. Die Gemeinschaft der Weiber schliesst natürlicherweise auch die Blutschande in sich.

Die Notzucht ist ebenfalls kein Verbrechen und sogar weniger schädlich als der Diebstahl. Denn dieser raubt das Eigentum, während jene es nur verschlechtert. Ausserdem begeht der Notzüchter eine Handlung, die früher oder später mittelst einer kirchlichen Sanction doch von einem Anderen begangen worden wäre.

Die Paederastie zu bestrafen, ist eine Barbarei, da eine „Abnormität des Geschmackes“ kein Verbrechen sein kann. Ebensowenig ist die Tribadie ein Laster. Beide Gewohnheiten standen bei den Alten in hoher Achtung. Die Paederastie, insbesondere war stets bei kriegerischen Völkern im Schwange, da sie Mut und Tapferkeit einflösst. (Phil. dans le Boud. II, 84–114.)

Endlich ist als vierte Gattung der sogenannten und angeblichen „Verbrechen“ der Mord zu untersuchen, und zwar muss man fragen, ob diese Handlung in Bezug auf die Naturgesetze und auf die politischen Gesetze, ob sie der Gesellschaft schädlich ist, wie sie unter einer republikanischen Regierung betrachtet werden muss, und ob der Mord durch einen Mord gerächt werden soll.

Vom Standpunkt der Natur ist der Mord kein Verbrechen. Denn zwischen den Menschen, den Pflanzen und den Tieren existiert kein Unterschied. Denn auch der Mensch wird geboren, er wächst, vermehrt sich, stirbt ab und wird zu Staub und Asche nach einiger Zeit, zufolge seiner organischen Beschaffenheit. Es[S. 428] wäre also ein ebenso grosses Verbrechen, ein Tier zu töten, denn nur unsere Eitelkeit hat einen Unterschied erfunden. Von welchem Werte kann überhaupt ein Geschöpf sein, welches zu schaffen die Natur keine Mühe kostet? Auch sind die schaffenden Stoffe der Natur gerade diejenigen, die aus der Auflösung anderer Körper hervorgehen. Die Vernichtung ist ein Naturgesetz, ist aber nur eine Veränderung der Form, der Uebergang von einer Existenz zur andern, die Metempsychose des Pythagoras. Also ist das Töten kein Verbrechen, da eine Veränderung keine Vernichtung ist. Sobald ein Tier zu leben aufhört, bilden sich aus demselben sofort kleinere Tiere. (!) Daher ist es sehr vernunftgemäss, zu behaupten, dass die Hülfe, die wir der Natur in der Veränderung der Form leisten, ihre Zwecke fördert. Es sind Naturtriebe, dass der Mensch den anderen töte, wie die Pest, die Hungersnot und die Elementarereignisse. Nur die Natur hat uns den Hass, die Rache, den Krieg gegeben. Mithin ist der Mord kein Verbrechen gegen die Natur.

Auch ist er ein grosser Faktor in der Politik. Durch Morde wurde Frankreich frei. Was ist der Krieg? Eine Wissenschaft des Verderbens. Sonderbar, die Menschen lehren die Kunst des Ermordens öffentlich, belohnen diejenigen, die ihre Feinde töten, und verdammen den Mord doch als Verbrechen.

In sozialer Hinsicht ist der Mord ebenfalls kein Verbrechen. Was liegt der Gesellschaft an einem einzelnen Mitgliede? Der Tod eines Menschen übt keinerlei Einfluss auf die ganze Volksmasse. Selbst wenn drei Viertel der Menschen ausstürben, würde keine Aenderung im Zustande der Uebriggebliebenen eintreten.

[S. 429]

Wie muss ein Mord im kriegerischen und republikanischen Staate betrachtet werden? Eine Nation, die das Joch der Tyrannei abwirft, um die Republik einzuführen, wird sich nur durch Verbrechen behaupten. Alle intellectuellen Ideen sind in einer Republik der „Physik der Natur“ unterworfen, und so geben sich gerade die freiesten Völker dem Morde am meisten hin. Hierfür führt Sade zahlreiche Beispiele an. Z. B. wirft man in China die Kinder, die man nicht behalten will, ins Wasser, und der berühmte Reisende Duhalde giebt die Zahl der täglich so Ausgesetzten auf mehr als 30000 an! Ist es nicht sehr weise, der stets wachsenden Zahl der Menschen in einer Republik Dämme entgegenzusetzen? In Monarchien muss die Bevölkerung begünstigt werden, weil die Tyrannen nur durch die Zahl der Einwohner reich werden können. Revolutionen sind nichts anderes als die Wirkung der Uebervölkerung.

Der Mord darf nicht durch einen Mord gerächt werden. „Ich begnadige Dich“, sagte Ludwig XV. zu Charolais, der einen Menschen zur Unterhaltung tötete, „doch begnadige ich auch denjenigen, der Dich töten wird“. Die ganze Basis des Gesetzes gegen die Mörder liegt in diesen „erhabenen“ Worten. Da der Mord kein Verbrechen ist, kann man ihn nicht bestrafen.

Diese vom Marquis de Sade entwickelten Ideen entspringen keineswegs dem Gehirn eines Wahnsinnigen. Es sind ganz ähnliche Ideen von den grossen Terroristen der ersten französischen Revolution entwickelt worden. Es spricht sich in ihnen jene „starke Erschütterung, wohl gar Verwirrung des öffentlichen[S. 430] Rechtsgefühls durch Revolutionen“ aus.[612] Es ist bemerkenswert, dass der Marquis de Sade in seinen vorrevolutionären Schriften wie „Aline et Valcour“ dem Diebstahl und Morde keine oder doch nur eine geringe Rolle eingeräumt hat, während unter den Eindrücken der Revolution beide in sein System der sexuellen Theorien aufgenommen wurden.

[S. 431]

IV.
Theorie und Geschichte des Sadismus.

1. Wollust und Grausamkeit.

Der sehr bekannte Zusammenhang zwischen Wollust und Grausamkeit ist nach dem Marquis de Sade kein unmittelbarer. Zuerst ist die Wollust da. Diese erstickt zunächst das Mitleid im Menschen, macht das Herz hart und gefühllos. (Juliette I, 148.) Zugleich aber bedarf der in der Wollust ganz aufgehende Mensch immer stärkerer Reize, um befriedigt zu werden. Die Nervenmasse muss durch einen sehr starken Schlag aufgerüttelt und erschüttert werden. Es ist aber unzweifelhaft, dass der Schmerz die Nerven heftiger angreift, als die Freude und daher dieselben lebhafter erregt. Der Schmerz Anderer erzeugt in dem Wüstling eine angenehme Empfindung. Die Natur spricht uns niemals von Anderen, sondern nur von uns. Es giebt nichts Egoistischeres als ihre Stimme. Sie preist uns das Suchen der Lust an, und es ist ihr einerlei, ob dies Anderen angenehm ist oder nicht.

[S. 432]

Dieses Gefühl des Vergnügens an Grausamkeit, welches bei dem Wollüstigen, dessen Herz hart geworden ist, besonders hervortritt, ist ein angebornes. Das Kind zerbricht sein Spielzeug, beisst in die Brust seiner Säugamme, erdrosselt den Vogel. Die Grausamkeit ist keine Folge der Entartung, da sie bei wilden Völkern besonders hervortritt. Sie ist nichts anderes als die Energie des Mannes, den Civilisation noch nicht verdorben hat, also eher eine Tugend als ein Laster.

Die Grausamkeit der Frauen ist viel intensiver als diejenige der Männer, eine Folge der grösseren Energie und Empfindlichkeit ihrer Organe. Die überspannte Einbildungskraft macht sie wütend und verbrecherisch. Wollt Ihr sie kennen lernen? Kündigt ihnen ein grausames Schauspiel an, ein Duell, eine Hinrichtung, einen Brand, eine Schlacht, einen Gladiatorenkampf, und Ihr werdet sehen, wie sie herzuströmen. Weitere Beweise für die wollüstige Grausamkeit der Weiber liefert ihre Vorliebe für den Giftmord und die Flagellation.

Unser Nervensystem ist einmal so wunderbar eingerichtet, dass uns Verzerrungen, Zuckungen, Blutvergiessen aufregt, mithin angenehm ist. Sogar Personen, die beim Anblick des Blutes, einerlei ob es ihr eigenes oder das einer fremden Person ist, in Ohnmacht fallen, fühlen dies. Es ist nämlich erwiesen, dass eine Ohnmacht die höchste Potenz der Wollust ist (Phil. dans le Boudoir I, 148–158, Juliette II, 94–102.)

2. Anthropophagie und Hypochorematophilie.

Das Menschenfleisch ist für den Wüstling die beste Nahrung, da es die Bildung eines reichlichen und guten[S. 433] Sperma befördert und für schnellen Ersatz des verlorenen sorgt. Wer einmal diese süsse Speise genossen hat, kann von ihr nicht mehr lassen. Dagegen ist Brot die unverdaulichste und ungesündeste Nahrung, welche erschlafft und den Körper zerrüttet. Daher füttern Tyrannen ihr sklavisches Volk mit Wasser und Brot (Juliette II, 323 ff.). Auch Minski schreibt dem Genusse von Menschenfleisch eine aussergewöhnliche Kraft zu (Juliette III, 313).

Eng verbunden mit dieser Anthroprophagie ist der Anblick, die Aneignung und der Genuss abgetrennter Körperteile, eine Art von anthropophagischem Fetischismus. So werden die Gesässe der bei den Orgien getöteten Personen abgeschnitten und zum Zwecke wollüstiger Erregung aufgehängt (Juliette II, 231)[613]. Die Silvia zerreisst die Genitalien ihrer Opfer mit den Zähnen und isst sie (Juliette VI, 235). Ebenso benutzt Clairwil das abgeschnittene Membrum des Mönches Claude zu wollüstigen Zwecken (Juliette III, 101) und erklärt, dass sie semper penem videat, den sie, nisi habeat in cunno vel ano, doch so sehr in ihrer Phantasie habe, dass sie glaubt, dass man ihn nach ihrem Tode wirklich in ihrem Gehirne finden wird! (Juliette III, 154.) Dieses anthropophagische Weib trinkt das Blut und isst die Testikel der von ihr getöteten Knaben (Juliette III, 72). Auch reisst sie das Herz derselben heraus und gebraucht es als Phallus (Juliette III, 252)[614]. Auch[S. 434] Minski, die Räuber des Brisa-Testa, Cornaro sind Anthropophagen (Juliette III, 313; V, 206; VI, 204).

Kannibalische Gelüste gehörten nach Bettelheim offenbar zu dem Bestand der Racheschwüre des 18. Jahrhunderts. Der Herzog von Chaulnes, der wegen einer Liebesaffäre mit Beaumarchais in Streit geriet, übrigens bei anderer Gelegenheit seine eigene Mutter aufs gröblichste beschimpfte, brüllte mit entsetzlicher Stimme: „Ich werde diesen Beaumarchais töten, und wenn ich ihm erst den Degen in den Leib gerannt und das Herz mit den Zähnen ausgerissen haben werde, mag diese Mesuard sehen, was aus ihr wird.“ In der ersten Fassung des Goethe’schen „Clavigo“ heisst es ebenfalls:

„Meine Zähne gelüstet’s nach seinem Fleische, meinen Gaumen nach seinem Blute u. s. w.“[615]

Die Hypochorematophilie[616] spielt ebenfalls bei Sade eine grosse Rolle. Saint-Florent und Rodin finden grosse Befriedigung in der Beobachtung des Aktes der Defaecation (Justine I, 136 und 304). Mondor, Saint-Fond und viele andere sind Kotfresser. Der Gatte der St.-Ange lässt sich in os defaecieren. (Phil. dans le Boud. I, 92.) Dass auch diese liebliche Eigenschaft nicht vielleicht etwas Erbliches ist, sondern von abgelebten Wüstlingen, wie ja z. B. der 66jährige Mondor einer ist, als letztes Reizmittel in Anwendung gezogen wird, kann man aus den mehr als merkwürdigen Worten der Juliette schliessen. Sie sagt: „Man täuscht sich im allgemeinen über die Entleerungen des[S. 435] caput mortuum unserer Verdauungsorgane. Sie sind nicht ungesund, sondern sogar sehr angenehm. Es wohnt in ihnen derselbe Spiritus rector wie in allen übrigen Körperbestandteilen. An nichts gewöhnt man sich so leicht als an den Geruch des Kotes. Ihn zu essen, ist deliciös! C’est absolument la saveur piquante de l’olive. Man muss allerdings zuerst ein wenig die Imagination nach dieser Richtung hin beeinflussen! Aber wenn man so weit ist, so ist es ein höchst wonnevoller und aufregender Genuss.“ (Juliette I, 289.) Die sexuelle Hypochorematophilie hat mit dem Kotschmieren der Geisteskranken nichts zu thun. Ja, gerade diese seltsame und ekelerregende Monomanie bildet den besten Beweis für unsere Anschauung, dass alle diese Dinge bei Geistesgesunden vorkommen können, wie ja auch aus den Ausführungen Sades hervorgeht. Nach Taxil bilden die „stercoraires“, wie man sie nennt, nicht mehr eine Ausnahmeerscheinung. „In den öffentlichen Häusern sind zu diesem Zwecke besondere Vorrichtungen getroffen, und gesunde junge Leute wiederholen aus Nachahmungstrieb die krankhaften Handlungen schwachsinniger Subjekte, die einst durch ihr unmässiges Leben sich berühmt gemacht hatten.“[617]

3. Weitere sexualpathologische Typen bei Sade.

Schon vor R. v. Krafft-Ebing gebührt ohne Zweifel dem Marquis de Sade das Verdienst, fast alle sexualpathologischen Typen, die es giebt,[S. 436] in seinen Romanen zusammengestellt zu haben. Es ist kein Zweifel, dass diese grosse Mannigfaltigkeit der von ihm geschilderten sexuellen Perversionen, die genaue Individualisierung der einzelnen Typen auf der aus dem Leben schöpfenden Beobachtung beruht.

Sämtliche Sinne dienen bei Sade der Erregung sexueller Gefühle. Beginnen wir mit dem Gehör. Es giebt auch einen Wort-Sadismus! Es ist nach Dolmancé angenehm und aufregend, stark tönende Worte von unflätiger Bedeutung im Rausche der Wollust auszusprechen, weil sie die Einbildungskraft steigern. Man spare sie also nicht; sondern variire sie ins Unendliche, damit sie um so mehr Skandal erregen. Es verursacht eine ganz eigene Wonne, wenn man in Gegenwart tugendhafter Leute sich durch Fluchen Luft machen kann, wenn man sie zu demoralisieren vermag, zu ähnlichen Aeusserungen verführt und, wenn sie nicht gutwillig hören wollen, sie fasst und zwingt, es zu thun. (Phil. dans le Boud. I, 146–147.) So ruft Madame St.-Ange inmitten einer Orgie erfreut aus: Comme tu blasphêmes, mon ami, und schreit bei derselben Gelegenheit der stummen Eugenie zu: Jure donc, petite putain, jure donc! (Phil. dans le Boud. I, 125 und 129.)

Das Gesicht nimmt ebenfalls Teil an dem sexuellen Genusse. Alberti liebt es, schwarze Frauen neben weissen zu sehen, weil dieser Contrast ihn besonders ergötzt. (Juliette VI, 238.) Grosser Wert wird auf die zweckentsprechende Drapierung der Zimmer gelegt, damit alles dazu beitrage, den Genuss zu erhöhen (Juliette II, 231). Die „Voyeurs“ sind ebenfalls zahlreich vertreten. Saint-Fond besitzt wie kein anderer „die Kunst, seine Leidenschaften durch eine industriöse[S. 437] Abstinenz aufzustacheln“ und sieht daher eine Zeit lang dem Coitus anderer zu. (Juliette II, 185.) Auch Raimondi ist ein solcher Voyeur, der mit dem blossen Zusehen sich begnügt. (Juliette VI, 150.)

Der Geruchssinn wird zunächst durch die mannigfaltigsten Parfüms, deren sich die Weiber bedienen, erregt. In der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ werden alle Teilnehmer der Orgien von jungen Mädchen und Knaben gereinigt und parfümiert (Juliette III, 30)[618]. Das Beriechen der weiblichen Achseln kommt öfter vor (z. B. Juliette III, 54), ebenso der Faeces (ibidem). Ein Bischof lässt sich auf die Nase urinieren (Juliette III, 51).[619]

Der Geschmack findet auch sein Recht. Nicht nur die Faeces sind deliciös, auch Sperma und Urin werden verschlungen (Juliette I, 172). Die „Lécheurs“ und „Gamahucheurs“ gehören ebenfalls zu dieser Kategorie (z. B. Juliette III, 55; VI, 152), sowie die zahlreichen tribadischen Cunnilinguae. Insbesondere ist Dolmancé nach dieser Richtung hin sehr thätig.

Der Tastsinn wird fast stets zuerst als Vorbereitungsmittel zu einer Orgie benutzt, indem man ihm durch „tâter“ und „claquer“ der verschiedenen Körper[S. 438]teile, insbesondere der Nates, eine Befriedigung verschafft.

Aus der bunten Fülle der übrigen sexuellen Perversitäten, die ja zum grössten Teile bereits erwähnt wurden, heben wir nur die bemerkenswertesten heraus. — Den Exhibitionismus predigt Dolmancé, indem er Eugenie dazu anhält, schamlos ihre Reize vor aller Welt zu enthüllen, die Kleider aufzuheben u. s. w. (Phil. dans le Boud. I, 147.) Saint-Fond empfiehlt sogar Männern und Frauen Kleider, welche die Geschlechtsteile und das Gesäss freilassen (Juliette II, 197). Die Befriedigung grausamer Gelüste findet auf die verschiedenste Weise statt: durch Köpfen, Vierteilen, Rädern, Feuer, Zerschmettern zwischen zwei Platten, wilde Tiere, Erhängen, Kreuzigung u. s. w. Dorval lässt eine Schein-Hinrichtung vollziehen (Juliette I, 225–230). Ein Anderer wieder empfindet es als besonderen Genuss, an sich selbst eine solche Schein-Hinrichtung vornehmen zu lassen, eine Art von symbolischem Masochismus. Auch die Folter wird in Anwendung gezogen (Juliette III, 65), und Juliette zersticht ihre Opfer mit Nadeln (Juliette II, 285). Die aktive und passive Flagellation kommt ungemein häufig vor, sogar in einem eignen „Saal der Geisselung“ (Juliette III, 65). Zu diesen grausamen Gelüsten gehört auch die Monomanie des Venaesecierens und der Incisionen (Justine III, 223).

Die Zoophilie wird von Sade als sexuelles Raffinement hochgepriesen. „Der Truthahn ist deliciös, aber man muss ihm den Hals im Augenblick der Krisis abschneiden. Le resserrement de son boyau vous comble alors la volupté“ (Juliette I, 333). Der Truthahn vereinigt sich im vierten Bande der Juliette mit einem Affen, einer Ziege und einer Dogge, um die[S. 439] sexuellen Feinschmecker zu ergötzen. (Juliette IV, 262.)

Ferdinand von Neapel ist Nekrophile, er befriedigt sich an der Leiche eines Pagen. (Juliette V, 263.) Sogar die Statuenschändung wird erwähnt. Ein Page befriedigt sich im Louvre an der Venus Kallipyge. (Juliette I, 333.)

Endlich erhöht die Verwirklichung bizarrer Einfälle den sexuellen Genuss. Belmor bindet seine Opfer fest (Juliette III, 163), der König von Sardinien liebt das Klystieren (ib. III, 294), das auch noch an einer anderen Stelle als besonderes Reizmittel vorkommt (III, 54), Vespoli liebt besonders Irrsinnige (Jul. V, 345), ein venezianischer Prokurator Menstruierende (ib. VI, 147), ein Dritter die Depilation der Genitalien (Jul. II, 59), ein Vierter steckt brennende Lichter in die Körperöffnungen (Jul. II, 22), Delbène giebt sich auf den Särgen früherer Opfer hin (Jul. I, 172) u. s. w. u. s. w.

Seltsame Naturerzeugnisse und Naturerscheinungen dienen der Wollust. Ein Eunuch, ein Zwerg und ein Hermaphrodit liefern auserlesene Genüsse (Juliette IV, 262). Der Anblick grosser Brände erregt die Sinne. (ib. IV, 258.) Der Ausbruch des Aetna (Justine III, 67), des Vesuvs (Jul. VI, 35), der Sturm auf offenem Meere (Juliette VI, 269) verschaffen sexuelle Genüsse.

Auch geschichtliche Erinnerungen werden im selben Sinne verwertet. Man ahmt die Thaten des Tiberius, des Nero und der Theodora nach (Juliette V, 362; VI, 319 und 341); man feiert Orgien auf den historisch denkwürdigen Stätten von Pompeji und Herculanum (Jul. V, 340–341), im Venustempel zu Bajae (ib. V, 294) u. s. w.

[S. 440]

4. Versuch einer Aufstellung von erotischen Individualitäten.

Sehr bemerkenswert in psychiatrischer und anthropologischer Beziehung ist der Versuch des Marquis de Sade, die einzelnen Neigungen der Personen in seinen Romanen aus ihrer körperlichen Beschaffenheit abzuleiten. Als Beispiel geben wir die Schilderung des Geschwisterpaares Rodin und Coelestine.

„Rodin war ein Mann von 36 Jahren, brünett, mit dichten Augenbrauen, lebhaftem Auge, heroischer Miene, hohem Wuchs. Sein ganzes Wesen atmete Gesundheit, aber gleichzeitig Wollust. Membrum erectum valde durum erat.“ (Justine I, 252.)

Noch interessanter ist die Beschreibung des Mannweibes Coelestine. „Coelestine, die 30jährige Schwester Rodin’s, war gross, mager, wohl gewachsen, hatte die ausdrucksvollsten Augen und die allersinnlichste Physiognomie. Sie war brünett, sehr behaart, hatte clitoridem perlongam, anum virilem, wenig Busen, ein leidenschaftliches Temperament, viel Boshaftigkeit und Wollust. Sie besass „tous les goûts‘, besonders die Vorliebe für Frauen und gab sich den Männer nur als Pathica hin“. (Justine I, 253.)

Wie man sieht, schildert der Marquis de Sade die Coelestine als sehr behaart. Genau dieselbe Eigenschaft legt Tardieu den erotisch besonders stark veranlagten Frauen bei. Auch er spricht von einer „abondance du système pileux“, ferner von dem besonderen Glanze der Augen, dem wollüstigen Blicke (flamme brûlante du regard), den dicken roten Lippen und einer auffälligen starken Entwickelung der Brüste und Geschlechtsteile. Der von Satyriasis ergriffene[S. 441] Mann zeichnet sich nach Tardieu durch einen starren, gierigen Blick aus, hat blutunterlaufene Augen, einen wollüstigen Mund, blasse Gesichtsfarbe, indecente Manieren und nimmt eine herausfordernde Haltung an.[620]

5. Sorgfalt im Arrangement obscöner Gruppen.

Da an den Orgien in den Romanen des Marquis de Sade stets zahlreiche Personen teilnehmen, so erwächst den Leitern derselben eine besondere Aufgabe und auch ein sexueller Genuss daraus, jeder einzelnen Person ihre Rolle vorzuschreiben, die von ihr einzunehmende Stellung und die auszuführenden sexuellen Handlungen vorherzubestimmen. Delbène sagt: Bringen wir ein wenig Ordnung in unsere Vergnügungen. Man geniesst dieselben besser, indem man sie vorher fixirt (Juliette I, 6). Auch die Tribade Zanetti ist sehr erfahren in der Bildung solcher obscöner Gruppen (Juliette VI, 160). In der „Philosophie dans le Boudoir“, diesem Lehrbuche des Sexualgenusses, werden natürlich der Schülerin Eugenie von Madame St.-Ange und insbesondere von Dolmancé diese Arrangements ausführlich eröffnet. Madame de St.-Ange führt dann Eugenie in eine Nische, deren Wände aus Spiegelglas bestehen und die „die verschiedenen Stellungen tausendfach wiederholen und so die eigenen Genüsse den Augen der auf einer Ottomane sich ihnen Hingebenden recht deutlich machen, da kein Körperteil auf diese Weise verborgen bleibt. So erblicken die Liebenden lauter ähnliche Gruppen und Nachahmer[S. 442] ihrer eigenen Vergnügungen, lauter wunderbare Gemälde, der Wollust.“ (Philosophie dans le Boudoir I, 40.) Ein ganz besonderes Stück ist die „Cavalcade“, welche der lebenslustige Mönch Clément in der „Justine“ ausführen lässt. Dabei dienen zwei auf allen Vieren kriechende Mädchen als Pferde. (Justine II, 201.) Aehnliche obscöne Arrangements kehren fast auf jeder Seite der „Justine“ und „Juliette“ wieder.

6. Das Mysterium des Lasters.

Delbène sagt: Die Laster darf man nicht unterdrücken, da sie das einzige Glück unseres Lebens sind (Juliette I, 25). Man muss sie nur mit einem solchen Mysterium umgeben, dass man niemals ertappt wird. Dieses Mysterium ist zugleich ein besonderer Reiz. Juliette wundert sich über das Schweigen und die Ruhe bei der grossen Orgie in der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ und zieht daraus den Schluss, dass der Mensch nichts in der Welt so sehr achte, wie seine Leidenschaften. (Jul. III, 53.) Darum finden alle Orgien an dunklen, abgelegenen Orten statt, in einsamen Schlössern, in Höhlen, unterirdischen Gewölben, im Walde, im Gebirge, am und auf dem Meere, in Folterkammern und Hinrichtungssälen. Daher wird der Anthropophage Minski zum „Einsiedler der Apenninen“, der in einem wohlbefestigten Hause auf der Insel eines Teiches lebt (Juliette III, 313). Für Dolmancé giebt es gewisse Dinge, die „absolut des Schleiers bedürfen“ und die er selbst vor den Augen der würdigen Madame St.-Ange verbirgt (Philosophie dans le Boudoir II, 153).

[S. 443]

7. Die Lüge als Begleiterin sexueller Perversion.

Die Lüge ist zu allen Zeiten die stete Begleiterin der Prostitution und der geschlechtlichen Ausschweifungen jeder Art gewesen. Man darf mit Recht behaupten, dass jeder Wollüstige ein Lügner ist, und dass man sich auf die Angaben eines Wüstlings niemals verlassen darf. „Die Sucht zu lügen, sagt Parent-Duchatelet, ist bei den öffentlichen Mädchen allgemein und ein Kind der immer falschen Stellung, des peinlichen Zustandes, worin sie leben, der Meinung, die man, wie sie wissen, von ihnen hegt... Man muss daher bei Benutzung ihrer Aussagen sehr vorsichtig sein“.[621] Ein anderer ausgezeichneter Kenner der Prostitution äussert sich noch schärfer: „Die Prostituierte lügt aus Hang zur Lüge, und zwar nicht nur bei vollkommen gleichgiltigen Dingen, nach denen sie gefragt wird, sie lügt selbst dort, wo es leicht ist, sie der Unwahrheit zu überführen, sie lügt ohne Rücksicht darauf, ob sie Jemandem dadurch Schaden zufügt, ja sie thut es unter Umständen selbst zu ihrem eigenen Nachteil“.[622]

Fast alle Helden und Heldinnen der Sade’schen Romane lügen. Die Lüge ist als eine Bedingung der Aufnahme in den Club der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ vorgeschrieben, und es wird denn auch bei der grossen Orgie dieses Clubs furchtbar gelogen (Juliette III, 59). Allen diesen Wüstlingen gewährt die Lüge sogar einen sexuellen Genuss. Zwar rühmt sich Dolmancé seiner Wahrheitsliebe, die aber[S. 444] mit Recht sofort von der des Lasters der Lüge überaus kundigen Madame St.-Ange bezweifelt wird, worauf Dolmancé lustig erwidert: „Ja wohl, ein wenig falsch und lügenhaft! Das muss doch in der heutigen Gesellschaft sein, in der man mit Leuten zusammen lebt, die uns ihre Laster verbergen und nur ihre Tugenden zeigen. Es wäre gefährlich, freimütig zu sein. Denn dann würde man ihnen gegenüber im Nachteil sein. Die Heuchelei und die Lüge sind uns von der Gesellschaft auferlegt worden. Niemand ist so verderbt wie ich. Und doch halten mich alle für anständig“. (Philosophie dans le Boudoir II, S. 7–8.) Die Delmonse proklamiert ebenfalls die Lüge als die Beschützerin der Wollust (Justine I, 28–29).

8. Sade’s Ansicht über die Natur der sexuellen Entartung.

Die Mehrzahl der von Sade geschilderten sexuell perversen Persönlichkeiten fröhnt diesen Lastern aus Angewöhnung; die meisten Lüstlinge sind erst allmählig durch Erfahrung und aus Raffinement zu diesen verschiedenen Arten unnatürlicher Wollust gekommen. Auch ist ja die Tendenz der ganzen „Philosophie dans le Boudoir“ darauf gerichtet, die junge Eugenie allmählig mit allen Lastern, auch den conträrsexualen Genüssen bekannt zu machen, und Sade schildert mit richtiger Erkenntnis, wie diese Novize der Wollust alle Lehren begierig in sich aufnimmt und praktisch nachahmt. Dolmancé sagt, dass die Einbildungskraft der Stachel des Vergnügens sei und immer neue Arten der geschlechtlichen Befriedigung erfinde.[S. 445] (Phil. dans le Boud. I, 104.) Und nach Madame St.-Ange ist die Einbildungskraft die „capricieuse portière de notre esprit“, Feindin aller Regel, Anbeterin der Unordnung (ib. S. 105). Nach der sehr gelehrigen Eugenie muss man der Imagination freien Lauf lassen in Bezug auf die unnatürlichen Dinge. Dann vergrössert sich der Genuss nach dem Massstabe des „Weges, den der Kopf gemacht hat“ (ib. S. 109). Sehr drastisch schildert Dolmancé, wie die jungen Mädchen zuerst Widerwillen gegen die Paedicatio empfinden, dann immer mehr Geschmack daran bekommen und schliesslich diese Art der sexuellen Befriedigung allen anderen vorziehen (ib. S. 131). Dolmancé selbst, dieser cynische Apostel der Paederastie, bekennt sehr freimütig den Grund, weshalb er Paedico geworden ist. Dieser Grund ist, wie wir schon früher sahen, ein rein — anatomischer (ib. S. 176). Der Chemiker Almani, ein Zoophile, ist durch das „Studium der Natur“ ein sexuell Perverser geworden (Justine III, 67).

Nur an zwei Stellen haben wir eine Andeutung der hereditären Natur der conträren Sexualempfindung gefunden. Clément erklärt, dass die sexuelle Perversion des Menschen eine Funktion seiner Organe sei. Daher ist der sexuell perverse Mensch ein Kranker, er ist „wie eine hysterische Frau.“ Man kann ihn ebenso wenig bestrafen, wie man einen anderen Kranken bestraft. Denn er ist nicht Herr seiner selbst. Er ist zu beklagen, aber nicht zu tadeln. Und wenn die Anatomie noch mehr vervollkommnet sein wird, wird man leicht den Zusammenhang zwischen der Organisation des Menschen und den Leidenschaften nachweisen. Was wird aus den Gesetzen, der Moral, der Religion, dem Galgen, dem Paradiese, den Göttern und der Hölle werden, wenn[S. 446] man gezeigt haben wird, dass ein bestimmter Lauf einer Flüssigkeit, eine bestimmte Art von Fasern, ein bestimmter Grad von „Schärfe“ im Blute oder den tierischen Geistern genügen, um aus einem Menschen ein Objekt der Strafe und Belohnung zu machen. (Justine II, 212–213.) Ebenso meint Bressac, dass der Pathicus von Natur ein Anderer sei als die übrigen Männer. Er erklärt diese Leidenschaft für angeboren und Folge einer „ganz verschiedenen Struktur“. Es wäre eine Dummheit, sie zu bestrafen (Justine I, 162 bis 164).

9. Unsere Definition des Sadismus.

Wir fassen den Begriff „Sadismus“ bedeutend weiter, als dies bisher geschehen ist. Sehen wir uns also zunächst die Definitionen desselben bei anderen Autoren an.

Lacassagne erklärt den Sadismus für einen „Geisteszustand“, bei welchem der Sexualtrieb erregt oder befriedigt wird unter dem Einflusse des Zerstörungstriebes.[623]

Nach R. v. Krafft-Ebing ist der Sadismus jene Form der Perversion der Vita sexualis, bei welcher die Person einen sexuellen Genuss darin findet, Anderen Schmerz zuzufügen und auf Andere Gewalt auszuüben. Er stellt dem Sadismus den Masochismus (nach dem Schriftsteller Sacher-Masoch) gegenüber, die mit Wollust betonte Vorstellung, von einem Anderen herrisch behandelt, gedemütigt und misshandelt zu werden.[624] Er betrachtet Masochismus[S. 447] und Sadismus als die „Grundformen psychosexualer Perversion, die auf dem ganzen Gebiete der Verirrungen des Geschlechtstriebes an den verschiedensten Stellen zu Tage treten können.“[625]

Demgegenüber macht v. Schrenck-Notzing geltend, dass zunächst der Unterschied der aktiven und passiven Rolle in den Romanen des Marquis de Sade und von Sacher-Masoch nicht so scharf durchgeführt sei, wie dies v. Krafft-Ebing annimmt. Zudem kämen beide Formen der Perversion oft bei demselben Individuum vor. Er ordnete also beide Begriffe einem einzigen höheren Begriffe, der Algolagnie (von ἄλγος = Schmerz und λάγνος = geschlechtlich erregt) und bezeichnet den Sadismus als aktive Algolagnie, den Masochismus als passive Algolagnie. Es giebt aber nach diesem Autor noch andere Formen der Algolagnie: die onanistische Algolagnie (Selbstverstümmelung, Autoflagellantismus), die visuelle Algolagnie (geschlechtliche Erregung beim Anblick von Prügelszenen), zoophile und bestiale Algolagnie, nekrophile Algolagnie, endlich die ideelle oder symbolische Algolagnie, bei welcher „der Schmerz ohne jede Nebenbedeutung und phantastische Ausschmückung um seiner selbst willen eine Rolle spielt, ohne Rücksicht auf aktive oder passive Bethätigung.“[626]

Thoinot giebt folgende Definition des Sadismus: „Sadismus ist die Perversion des Sexuallebens, bei welcher der Betreffende sexuellen Genuss darin findet, Schmerzen von sehr verschiedenen[S. 448] Graden einem Anderen zuzufügen, sei es, dass er selbst sie zufügt, oder zufügen lässt oder, ohne dass er der Urheber derselben ist, dabei zuschaut. Diese leidende Person muss immer ein menschliches Wesen sein.“[627]

Thoinot und von Schrenck-Notzing stimmen darin überein, dass die Verbindung von Grausamkeit und Wollust der höhere Begriff ist, dem die anderen untergeordnet werden müssen, dass also der Masochismus nicht etwas Besonderes neben dem Sadismus darstellt, sondern wie dieser eine Form der Algolagnie ist. Unzweifelhaft hat aber Thoinot Unrecht, dass er den Begriff Sadismus (welches Wort er für Algolagnie setzt) nur menschlichen Wesen gegenüber angewendet wissen will.

A. Eulenburg hat wohl noch vor von Schrenck-Notzing darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff der Algolagnie, den er durch die Worte Lagnänomanie (= Sadismus) und Machlänomanie (= Masochismus) ersetzt, sehr viele Ab- und Unterarten umfasst. Auch er betont, dass „sich das nämliche Individuum abwechselnd aktiv und passiv verhalten, und aus Beidem geschlechtliche Erregung und Befriedigung schöpfen kann.“ Ferner erinnert Eulenburg an die Mittelformen, wobei „das Individuum zum Behufe geschlechtlicher Erregung weder selbst gewaltsame Handlungen vornimmt noch solche erduldet — wohl aber dergleichen von Anderen provociert, sie mit ansieht und durch den Anblick, oder unter Umständen schon durch die blosse Vorstellung des Anblicks in die gewünschte Befriedigung versetzt[S. 449] wird.“ Also eine Art von ideeller oder illusionärer Lagnänomanie und Machlänomanie. Ferner ist die Begehung grausamer Akte gegen Tiere in Betracht zu ziehen. Schliesslich erklärt Eulenburg das Beobachtungsmaterial für „noch bei Weitem nicht abgeschlossen“.[628]

Es handelt sich nun unseres Erachtens darum, eine allgemeine und für alle Fälle zutreffende Definition des Sadismus zu finden, die kurz und prägnant den Grundton der Sade’schen Werke ausdrückt und unter die sich alle Formen der passiven und aktiven Algolagnie der Zoo- und Nekrophilie, der symbolischen Algolagnie u. s. w. unterordnen lassen. Bedenkt man, dass in den Werken des Marquis de Sade auch alle wirklichen und ideellen destruktiven Vorgänge in der lebenden und toten Natur als Ursachen sexueller Erregung und Befriedigung betrachtet werden, wie Mord, Folter, Nekrophilie, Zoophilie, aber auch Ausbrüche von Vulkanen, Schiffbrüche, Feuersbrünste, Diebstähle u. s. w., so wird man den typischen Sadismus folgendermassen definieren:

Der Sadismus ist die absichtlich gesuchte oder zufällig dargebotene Verbindung der geschlechtlichen Erregung und des Geschlechtsgenusses mit dem wirklichen oder auch nur symbolischen (ideellen, illusionären) Eintreten furchtbarer und erschreckender Ereignisse, destruktiver Vorgänge[S. 450] und Handlungen, welche Leben, Gesundheit und Eigentum des Menschen und der übrigen lebenden Wesen bedrohen oder vernichten und die Continuität toter Gegenstände bedrohen und aufheben, wobei der aus diesen Vorgängen einen geschlechtlichen Genuss schöpfende Mensch selbst ihr direkter Urheber sein kann, oder sie durch Andere herbeiführen lässt, oder blosser Zuschauer bei denselben ist, oder endlich freiwillig oder unfreiwillig ein Angriffsobjekt dieser Vorgänge ist.

Uns scheint, dass diese Definition dem Wortsadismus ebenso gerecht wird wie dem Lustmorde, der Folter und der Freude an zerstörenden Ereignissen.

10. Beurteilung des Menschen Sade nach seinem Leben und seinen Schriften.

Die wichtigste Frage ist die: War der Marquis de Sade geisteskrank oder nicht?

Heute, wo die hereditäre und krankhafte Natur der sogenannten conträren Sexualempfindung so sehr betont und energisch die Aufhebung des § 175 des deutschen Strafgesetzbuches verlangt wird, ist man nur zu leicht geneigt, jede schwerere sexuelle Perversion als Zeichen einer Geisteskrankheit zu deuten. Demgegenüber betonen wir als unsere feste, aus kulturhistorischen Studien und Erfahrungen des modernen Lebens geschöpfte Ueberzeugung, dass wir die Mehrzahl der sexuellen perversen Personen für geistig gesund halten und ihre Perversion auf Verfüh[S. 451]rung und geschlechtliche Ueberreizung zurückführen. Die Anschauungen v. Krafft-Ebing’s, der die hereditäre Natur vieler sexueller Perversionen vertritt, werden gegenüber den durchaus berechtigten Ausführungen v. Schrenck-Notzing’s, der die Erziehung, occasionelle Momente, wie Verführung u. dgl. m. verantwortlich macht, immer mehr an Boden verlieren, wie weitere Studien erweisen werden. Selbst von Krafft-Ebing sagt einmal (Arch. f. Psychiatrie Bd. VII, S. 304): „Wer Tardieus bekannte Studie, Caspers gerichtsärztliche Werke, Legrand du Saulles Mitteilungen in den Annales médico-psychologiques, März 1876, gelesen hat, wird zugeben müssen, dass die greulichsten geschlechtlichen Verirrungen mit geistiger Gesundheit verträglich sind.“ Es geht daraus, wie Moll richtig bemerkt, hervor, dass Krafft-Ebing selbst die greulichsten geschlechtlichen Perversitäten an sich nicht als Beweis einer Geisteskrankheit ansieht.[629]

Was speziell den Sadismus betrifft, so bemerkt auch Eulenburg, ein Anhänger der Aufhebung des § 175, dass „bei weitem nicht alle, namentlich aktiven Algolagnisten als geisteskrank im engeren Sinne zu betrachten seien. Gewiss sind es die ‚schweren‘ und ‚schwersten‘ unter ihnen, die eigentlichen sexualen Verbrecher, Lustmörder u. s. w. wohl ausnahmslos, obgleich man auch von ihnen mehrere als geistesgesund hingerichtet hat (was ich übrigens nicht als ein Unglück, noch weniger als einen Justizmord ansehen möchte).“[630]

[S. 452]

Ueber den Geisteszustand des Marquis de Sade, der bekanntlich von Royer-Collard für gesund erklärt wurde, haben sich in diesem Jahre zwei Aerzte geäussert, Dr. Marciat in Lyon und Professor A. Eulenburg in Berlin. Der letztere hervorragende Neurologe hat ohne Zweifel das eingehendere und scharfsinnigere Gutachten über Sade geliefert. Er kommt zu dem Schlusse, dass „auch die Irrenärzte unserer Zeit der Mehrzahl nach sich kaum in der Lage befunden haben würden, de Sade vor dem Strafrichter für geisteskrank und ‚der freien Willensbestimmung beraubt‘ zu erklären und ihn der unzweifelhaften gerichtlichen Verurteilung damit zu entziehen.“[631] Marciat kommt zu einem ähnlichen Resultat. Der Marquis de Sade war „nicht geisteskrank im genauen Sinne des Wortes“. Höchstens könnte man an moral insanity denken, aber nur im Hinblick auf die Hauptwerke. Aber „man muss sich erinnern, dass Mirabeau, Musset und viele Andere auch sehr schlüpfrige Bücher veröffentlicht haben.“[632]

Die Annahme einer „moral insanity“ (folie morale), die Marciat eventuell zulassen würde, hat Eulenburg (a. a. O. S. 514) bereits zurückgewiesen, da es eine Form der Seelenstörung, die sich „lediglich durch eine krankhafte Umwandlung, eine Perversion der natürlichen sittlichen Antriebe und Gefühle und durch eine daraus entspringende Neigung zu unsittlichen Handlungen, ohne sonstige Störungen der In[S. 453]telligenz charakterisierte“, nicht giebt, vielmehr „immer und überall die auf angeborener Anlage beruhende Abschwächung der Intelligenz neben der Gefühlsstörung hervortritt und dass es sich demnach um Fälle angeborenen Schwachsinns, meist auf degenerativer Grundlage handelt“ (a. a. O. S. 514).

Wir glauben, dass speziell bei Sade jene Form der Entartung in Betracht kommen könnte, welche Kraepelin als „impulsives Irresein“ bezeichnet. Es sind „alle jene Formen des Entartungsirreseins, denen die Entwickelung krankhafter Neigungen und Triebe eigentümlich ist.“ Dieselben können entweder dauernd den Willen beherrschen oder nur zeitweise, in einzelnen Anwandlungen, hervortreten. Der Kranke handelt dabei ohne klaren Beweggrund. So tragen seine Willensäusserungen vielfach den Stempel des Unvorbedachten und Zwecklosen, Widersinnigen. Gerade auf dem Gebiete des impulsiven Irreseins „tritt uns am deutlichsten die häufige Verbindung krankhafter Antriebe mit dem Geschlechtstriebe entgegen.“ Die geistige Begabung braucht keine schärfer hervortretenden Störungen aufzuweisen. Doch ist in schweren Fällen meist Schwachsinn vorhanden. In allen Fällen findet sich eine gewisse Beschränktheit, Zerfahrenheit, Verschwommenheit, eine haltlose Schwäche des Charakters, kindischer Eigensinn, Menschenscheu, Roheit. Das impulsive Irresein tritt besonders in den Entwickelungsjahren hervor und zeitigt auch später meist periodische Krankheitserscheinungen. Man soll aber nach Kraepelin das Bestehen des impulsiven Irreseins nur dort annehmen, wo wirklich der[S. 454] triebartige Ursprung des Handelns ohne klares vernünftiges Ziel hervortritt und wo auch im übrigen Bereiche des Seelenlebens die Anzeichen einer krankhaften Veranlagung erkennbar sind. Kraepelin lässt die Möglichkeit zu, dass plötzliche Antriebe von unbezwinglicher Stärke im Zustande geistiger Gesundheit bei den „heissblütigen Völkern des Südens“ häufiger sind als bei uns, und daher die „forza irresistibile“ des italienischen und spanischen Gesetzbuches vielleicht eine Berechtigung habe.[633]

Nach diesen orientierenden Vorbemerkungen gehen wir daran, das Leben und die Werke des Marquis de Sade mit der Absicht zu untersuchen, daraus Schlüsse auf seinen Geisteszustand zu ziehen. Wir können nur wenige sichere Anhaltspunkte aus seinem Leben verwerten.

1. Sade war ein Provenzale und besass als solcher das südlich heisse Blut und die Leidenschaftlichkeit seiner Landsleute.

2. In Beziehung auf die Heredität ist wenig nachweisbar. Doch ist wahrscheinlich, dass Sade die Neigung zum galanten Leben und zur Schriftstellerei von seinem Oheim geerbt hat. Wie wir jetzt wissen, schrieb de Sade schon mit 23 Jahren ein obscönes Buch. Es geschah dies nach der Rückkehr aus dem Kriege.

3. Ueber Sade’s Leben in der Kindheit liegen keine verlässlichen Beobachtungen vor.

4. Bemerkenswert ist, dass Sade mit 17 Jahren, also im Beginn der Pubertät, in den Krieg zog und sechs Jahre lang fern von Haus und Familie weilte. Es ist mit Sicherheit festgestellt, dass während der[S. 455] Kriegszeit unter dem Einflusse der unerhörten sittlichen Corruption in der französischen Armee auch die Ausschweifungen des Marquis de Sade ihren Anfang nahmen.

5. Die unglückliche Ehe spielt nicht die Rolle im Leben Sade’s, welche Marciat ihr zuschreibt.

6. Es ist jetzt genau festgestellt, dass der Marquis de Sade bei den beiden grossen Skandalaffären seine Opfer nicht erheblich verletzt oder gar getötet hat.

7. Es ist sicher, dass der langjährige Aufenthalt im Gefängnisse eine körperliche und psychische Schädigung auf Sade ausgeübt hat. (S. oben S. 324.)

8. Dass Sade eine starke geschlechtliche Erregbarkeit besass, geht aus der Beobachtung des Freundes von Brierre de Boismont hervor.

9. Sehr bemerkenswert erscheinen einige geistige Eigentümlichkeiten, die während des Gefängnislebens Sades’s hervortreten: das Misstrauen, die Lügenhaftigkeit, die wilden Zornesausbrüche bei den Besuchen seiner Frau.

10. Nach dem Austritt aus dem Gefängnisse scheint der Marquis de Sade solche Eigenschaften weniger gezeigt zu haben und sogar durch die Rettung seiner Schwiegereltern zu bekunden, dass sein sittliches Gefühl nicht ganz erstorben war.

Betrachten wir nunmehr die Werke des Marquis de Sade, so ergiebt sich Folgendes:

11. Erstaunlich und schon von Eulenburg hervorgehoben ist der blosse Umfang der Hauptwerke und das „Mass der damit geleisteten geistigen und der rein mechanischen Arbeit.“

12. Die überaus zahlreichen, geschickt aneinander geknüpften Details, die raffiniert durchgeführte allmähliche Steigerung und fast nie versagende Treue der[S. 456] Erinnerung und Rückbeziehung zeugen von einer grossen geistigen Kraft.

13. Die Verschiedenheit der Schriften lässt deutlich den Einfluss der Zeit und des Milieu erkennen.

14. Mit Recht haben Michelet und nach ihm Taine („Les origines de la France contemporaine“, Paris 1885, Bd. III, S. 307) den Marquis de Sade als den „Professeur du crime“ bezeichnet. Er ist der Theoretiker des Lasters, insofern er nach eigener Lektüre und Beobachtung alle geschichtlich nachweisbaren und zu seiner Zeit sich ereignenden Anomalien des Geschlechtslebens in seinen Hauptwerken mit unleugbarem Scharfsinn beschrieben und zusammengestellt hat. Was R. v. Krafft-Ebing in Form einer wissenschaftlichen Monographie gethan hat, das hat schon hundert Jahre früher der Marquis de Sade in Form eines Romans geleistet.

15. Hierdurch gewinnen seine Hauptwerke einen kulturhistorischen und zeitgeschichtlichen Wert, indem sie alle Phasen, Nüancen und Eigentümlichkeiten des französischen Geschlechtslebens im Frankreich des ancien régime und der grossen Revolution, erkennen lassen, wie wir im ersten Teile dieses Werkes nachgewiesen haben.

16. Die von Sade vorgetragene Theorie des Lasters ist ein Produkt der Revolution und findet in dieser zahlreiche Analogien.

17. In Werken, die früher und später fallen als „Justine et Juliette“ und die „Philosophie dans le Boudoir“, hat Sade durchaus moralische Ansichten entwickelt.

18. Auch in den berüchtigten Hauptwerken finden sich zahlreiche Andeutungen, dass Sade in ihnen[S. 457] vorzüglich Tendenzschriften gegen das ancien régime erblickte.

19. Es darf daher nicht ohne weiteres aus dem Inhalt dieser Schriften auf den Charakter des Verfassers geschlossen werden, zumal da häufig genug das Verbrechen als Laster gebrandmarkt wird und auch andere scheinbare Inkonsequenzen — beruhigende Wirkung des Gebets (Justine I, 141 ff.), Glaube an Unsterblichkeit (Juliette II, 287), Ueberdruss an Ausschweifungen (Juliette III, 283–284) — vorkommen.

20. Sade zeigt in allen Werken eine ausgebreitete Belesenheit in der zeitgenössischen philosophischen und wissenschaftlichen Litteratur.

21. Als philosophischer Denker ist er jedoch mehr als mittelmässig. Seine Philosophie ist eklektischer Mischmasch. Seine Beweisführung besteht aus sinnlosen Tautologien und noch sinnloseren Anticipationen.

Nach diesen Ausführungen lautet unser Urteil: Der Marquis de Sade war nicht geisteskrank. Er war eine vielleicht durch Heredität neuropathische Persönlichkeit, die, inmitten eines verhängnisvollen Milieu, frühzeitig auf die Bahn des Lasters geriet und wie so viele Zeitgenossen durch Verführung und Gewöhnung sexuell pervers wurde, deren hohe geistige Begabung zweifellos durch eine langjährige Gefängnishaft eminent geschädigt wurde, so dass besonders in den philosophischen Deduktionen seiner Hauptwerke ein gewisser Grad von geistiger Schwäche deutlich hervortritt, während dies in den realen Schilderungen, die mit unleugbarer Beobachtungsgabe ein Gemälde der Zeit entwerfen, viel weniger sichtbar ist. Wir haben im ersten Teile den engen Zusammenhang des Inhalts von[S. 458] Sade’s berüchtigten Hauptwerken mit der Kultur seines Zeitalters zur Genüge nachgewiesen. Die grosse Kluft, die zwischen Sade als Persönlichkeit und Sade als Schriftsteller liegt, wird dadurch zum Teil überbrückt. Um die Brücke ganz herzustellen, genügt es, daran zu erinnern, dass die Einbildungskraft sexuell perverser Personen fast stets ungeheuerliche Blüten treibt. „Zahlreiche Patienten dieser Art, Conträrsexuale, Masturbanten und besonders Algolagnisten wurden enttäuscht, sobald sie die Produkte ihrer Einbildungskraft zu realisieren versuchten. Sie erleben sozusagen in ihren traumhaften Schwärmereien sexuelle Orgien, und werden durch die Wirklichkeit ernüchtert.“[634] Da es nicht erwiesen ist, dass der Marquis de Sade die Thaten eines Gilles de Retz, mit dem wir ihn als Menschen nicht so ohne weiteres vergleichen möchten, wie Eulenburg dies thut, oder diejenigen eines Charolais ausgeführt hat, so muss vorläufig die hier gegebene Erklärung des geistigen Zustandes Sade’s, die sich im ganzen mit der Eulenburg’schen deckt, als die einzige mögliche angesehen werden, da wir die allerdings verdächtigen plötzlichen Zornesausbrüche als Ausfluss jener oben erwähnten „forza irresistibile“ betrachten, und die Periodicität der Erscheinungen, die an das wirkliche Vorhandensein eines impulsiven Irreseins denken lassen könnte, doch zu wenig ausgesprochen ist.[635]

[S. 459]

V.
Geschichte des Sadismus im 18. und 19. Jahrhundert.

1. Verbreitung und Wirkung der Schriften des Marquis de Sade.

Wir haben, schon erwähnt (S. 336 ff.), dass die pornographischen Schriften des Marquis de Sade wenigstens unter dem Direktorium öffentlich verkauft wurden, bei allen Buchhändlern zu haben waren und in den Katalogen aufgeführt wurden. Ein grosser Kapitalist unterstützte den Vertrieb, der sich über das In- und Ausland erstreckte. Daher nimmt es nicht Wunder, dass trotz der Konfiskation und Vernichtung der Werke unter Napoleon I. (1801) die Verbreitung derselben durch häufige Nachdrucke sich zu einer geradezu ungeheueren gestaltete. Auch neue Konfiskationen vom 19. Mai 1815, vom Jahre 1825[636], vom 15. Dezember 1843[637] trugen nur dazu bei, die Begierde[S. 460] nach der Lektüre und dem Besitze dieser berüchtigten Bücher zu steigern. Im vorigen Jahrhundert suchten sogar die Verleger das Verbot eines Buches direkt zu erlangen, weil sie dann sicher waren, viele Abnehmer für dasselbe zu finden. Lalanne erzählt davon ein ergötzliches Beispiel.[638] Unser Goethe sah auf dem Frankfurter Marktplatz einen verbotenen französischen Roman verbrannt werden, und ruhte nicht eher, als bis er ein Exemplar erlangt hatte. Dabei war nach seiner Erzählung dieses Exemplar durchaus nicht das einzige, welches nach dieser Exekution gekauft wurde.[639]

Bereits im Jahre 1797 schreibt Villers über die Verbreitung der „Justine“: „Jedermann will wissen, was dies für ein Buch ist; man verlangt es, man sucht es, es wird verbreitet, die Ausgaben werden vergriffen, neu aufgelegt, und so zirkuliert das greulichste Gift, in verhängnisvollstem Ueberfluss.“[640] Auch in Deutschland waren die Schriften de Sade’s verbreitet. Villers sah in Lübeck bei einem Buchhändler „noch drei Exemplare“. Hamburg, wo Villers seine Abhandlung für den dort erscheinenden „Spectateur du Nord“ schrieb, war der hauptsächlichste Ort für den Druck und Nachdruck der französischen erotischen und pornographischen Autoren. Janin schildert im Jahre 1834 in anschaulicher Weise, welch eine beliebte Lektüre die Schriften des Marquis de Sade unter dem ersten Kaiserreich und unter der Restauration waren. Und er wagt auch nur von ihnen zu sprechen, weil er weiss, dass seine Leser[S. 461] diese Werke längst kennen. „Denn, man täusche sich nicht darüber, der Marquis de Sade ist überall; er ist in allen Bibliotheken, wo er allerdings sich versteckt hinter anderen unschuldigen Werken. Man frage jeden Auktionator, ob sie nicht bei der Inventarisation fast jeden Nachlasses die Bücher des Marquis de Sade gefunden haben. Ja, durch die Polizei werden sie am meisten verbreitet.“[641]

Was die gegenwärtige Verbreitung der Hauptwerke des Marquis de Sade betrifft, so sind die ersten Auflagen der „Justine“ und „Juliette“ aus den Jahren 1791–1796 äusserst selten und kosten wenigstens 600 bis 800 Francs.[642] Herr Joachim Gomez de la Cortina in Madrid bezahlte nach der Angabe in dem Kataloge seiner Bibliothek (1855 No. 3908) die 10 Bände der Original-Ausgabe von 1897 mit 750 Francs! Dieselbe Ausgabe findet sich im Katalog einer Büchersammlung, die der Pariser Buchhändler Techener im Jahre 1865 nach London schickte.[643] Ein Pariser Antiquar bot kürzlich ein „exemplaire délicieux, reliure de Petit“ dieser Ausgabe für 1200 Fr. an. (Zeitschr. f. Bücherfr. Mai/Juni 1900 S. 123.) In der Neuzeit

wurden besonders von der Firma Gay und Doucé in Brüssel Neudrucke veranstaltet, von denen nach ihrem Kataloge die „Justine“ mit 150 Francs, die „Juliette“ mit 200 Francs berechnet werden. In einem deutschen Kataloge vom Jahre 1899 finden wir die „Justine“ zum Preise von 120 Mark, die „Philosophie dans le Boudoir“ für 25 Mark und „Aline et Valcour“ für 45 Mark angeboten. Die Werke sind auch heute noch trotz ihres[S. 462] hohen Preises in allen Ländern des europäischen Westens verbreitet und fehlen selten in den Bibliotheken (sit venia verbo) geheimer Bordelle und vornehmer Absteigequartiere. So fand der frühere Chef der Pariser Sittenpolizei, Macé, in einer „maison de rendez-vous“ einer Wittwe F.... in der pornographischen Bücher- und Bildersammlung auch die „Justine“ des Marquis de Sade.[644]

Es ist eine alte Thatsache, dass alle Obscönitäten und unreinen Schilderungen im Druck ungleich verderblicher wirken als das gesprochene Wort. Der „Zauber des Wortes“ wirkt im Druck gewissermassen auf zwei Sinne, auf das Gehör und Gesicht, im Sprechen nur auf das Gehör. Lino Ferriani hat in einer wertvollen Schrift[645] sich eingehend mit dem namenlosen Schaden beschäftigt, den die pornographischen Schriften und Bilder in jungen Seelen anstiften.

Wir behaupten, dass die pornographischen Schriften — ein Uebel, das fortzeugend Böses gebärt — zu einem grossen Teile die mannigfaltigsten sexuellen Perversionen miterzeugen helfen. Schon der heilige Basilius sagte in seiner herrlichen Rede an die Jünglinge: „Wer sich an schlechte Lektüre gewöhnt, ist bereits auf dem Wege zur bösen That.“ Höchst bemerkenswert ist das Geständnis des berüchtigten Marschalls Gilles de Rais, der erzählt, dass er in der Bibliothek seines Grossvaters einen Sueton gefunden und darin gelesen habe, wie Tiberius, Caracalla und andere Caesaren Kinder gemartert hätten. „Sur quoi je voulus imiter[S. 463] les dits Césars, et le même soir me mit à le faire en suivant les images de la leçon et du livre[646]. Ein Masochist erklärt in seiner von von Krafft-Ebing mitgeteilten Autobiographie „Ueberhaupt scheint mir, dass die Schriften des Sacher-Masoch viel zur Entwickelung dieser Perversion bei Disponierten beigetragen haben“[647]. Auch Eulenburg warnt davor, den „vergiftenden Einfluss der überhandnehmenden pornographischen Litteratur und einer gewissen Presse, die mit Vorliebe über jedes sensationelle Verbrechen, zumal über Unzuchtdelicte, Lustmorde u. dgl. berichtet, zu unterschätzen.“[648]

Es ist sicher, dass die Schriften des Marquis de Sade noch heute auf schwache und geistig wenig widerstandsfähige Personen denselben vernichtenden, depravierenden Einfluss ausüben, den einst Janin so dramatisch geschildert hat.[649] Wenn es auch unwahrscheinlich ist, dass Saint-Just sich von den Szenen der „Justine“ zu seinen Grausamkeiten hat inspirieren lassen, und dass Napoléon I. die Lektüre der Sade’schen Werke seinen Soldaten verboten hat[650], so kann nicht bezweifelt werden, dass die Schriften praktische Nachahmer ihres Inhalts gefunden haben und noch fort und fort die in ihnen geschilderten sonderbaren sexuellen Perversionen bei gewissen Lesern hervorrufen. Was Sade für das vornehme Wüstlingstum ist, das sind manche entsetzlichen Hintertreppenromane, die die schauerlichsten Einzelheiten von Lust[S. 464]morden, Hinrichtungen, Foltern u. s. w. mit wonnigem Behagen ausmalen, für die Lustmörder und Sittlichkeitsverbrecher aus dem Volke. Man forsche nur nach, und man wird mehr als einmal den unheilvollen Einfluss derartiger Lektüre auch auf die Seele des niederen Volkes bestätigt finden und sich Manches erklären können, was sonst unerklärlich sein würde.

2. Rétif de la Bretonne’s „Anti-Justine“.

Zwei bedeutende französische Schriftsteller, Rétif de la Bretonne und Charles Villers eröffnen fast zu gleicher Zeit die „Sadelitteratur“. Zunächst beschäftigen wir uns mit Rétif’s „L’Anti-Justine, ou les délices de l’amour. Par M. Linguet, av. au et en Parlem. etc.“ Au Palais-Royal 1798, chez feue la veuve Girouard, très-connue. (2 Bände in 12o.) Auf dem Titel werden 60 Bilder angegeben, die aber nie erschienen sind. Von den 8 Teilen, die Rétif in der Vorrede ankündigt, ist nur der erste veröffentlicht worden. Monselet glaubte, dass nur ein einziges Exemplar dieses ersten Teiles gedruckt worden sei, nach dem Bibliophilen Jacob giebt es aber sechs bekannte Exemplare dieses Werkes, das Rétif in seiner kleinen Druckerei fertigstellte. Drei zum Teil unvollständige von diesen sechs Exemplaren besitzt die Geheimabteilung (L’enfer) der Pariser Nationalbibliothek, welche aus der grossen Confiscation stammen, die der erste Consul im Jahre 1803 bei den Buchhändlern des Palais-Royal und in den Bordellen vornehmen liess, wobei bestimmt wurde, dass zwei Exemplare jedes pornographischen Werkes auf der Nationalbibliothek secre[S. 465]tiert werden sollten; die übrigen wurden vernichtet.[651] Eins von den wenigen ersten Exemplaren kaufte ein reicher englischer Bücherliebhaber. Es befand Sich später in der Bibliothek des Herrn Cigongne und kam dann in den Besitz des Herzogs von Aumale. Heute ist das Werk durch zahlreiche Neudrucke, die in Belgien veranstaltet wurden, (2 Bände in 18o mit schlechten kolorierten Lithographien; die anderen Ausgaben sorgfältiger, in 12o mit Gravuren) sehr verbreitet[652]. Rétif veröffentlichte das Werk unter dem Namen des bekannten Advokaten Linguet, den er als Jean Pierre Linguet die Erklärung abgeben lässt, dass er dieses „schlechte Buch“ in guter Absicht verfasst habe. Nun hiess aber der Verfasser der „Cacomonade“ nicht Jean Pierre, sondern Simon Nicolas Henri Linguet.

Nach Monselet enthält die „Anti-Justine“ obscöne Schilderungen aus dem eignen Leben Rétifs und bildet ein Supplément zum „Monsieur Nicolas“[653]. Das Werk ist in 48 Kapitel eingeteilt, von denen bei einigen die Titel angegeben sind: „Du bon Mari spartiate“ — „Des Conditions du Mariage“ — „Du Dédommagement“ — „Du chef-d’œuvre de tendresse paternelle“ — „D’une nouvelle Actrice“. — Das Buch strotzt von Obscönitäten, die aber nach Rétif einen moralischen Zweck verfolgen und eine „Art von Gegengift“ gegen die „infame Justine“ bilden sollten. „Il est destiné à ramener les maris blases auxquels les femmes n’inspirent plus rien. Tel est le but de cette étonnante production que le nom de Linguet rendra immortelle.“ Er will die Frauen vor[S. 466] der Grausamkeit bewahren. Die „Anti-Justine“ ist deswegen ebenso obscön wie die „Justine“, damit die Männer für diese einen Ersatz ohne die Grausamkeiten des Sade’schen Werkes haben. Er hält die Publikation dieses „Antidots“ für dringend notwendig (urgente). Es muss also damals wohl die Verbreitung der „Justine“ eine ausserordentliche gewesen sein. Rétif erklärt endlich noch in der cynischsten Weise die Darstellungen auf den Bildern, die dem Werk beigegeben werden sollten.[654]

3. Charles de Villers.[655]

Unter den zahlreichen französischen Emigranten, welche die grosse Revolution nach Deutschland führte und welche hier zwischen französischem und deutschem Geistesleben vermittelten, nimmt der edle Karl von Villers, der wie Adalbert von Chamisso der Unsrige geworden ist, eine ganz hervorragende Stelle ein. Charles François Dominique de Villers, geboren den 4. November 1765 in dem lothringischen Städtchen Bolchen von französischen Eltern aus dem Languedoc, war anfangs Offizier, ging nach Deutschland, wo er in Lübeck von seiner Freundin Dorothea Schlözer, der Tochter des berühmten Göttinger Historikers und der ersten deutschen Frau, die (am 17. September 1787) in Göttingen den Grad eines Doktors (der Philosophie) erlangte, in den geist-[S. 467] und lebensvollen Kreis eingeführt wurde, dessen Mittelpunkt das Haus ihres Gatten, des Lübeckischen Senators Rodde war. Diese Frau erschloss unserem Villers das Verständnis für deutsches Geistesleben und machte ihn zu einem begeisterten Apostel des Deutschtumes in Frankreich. Er wurde später Professor der Philologie in Göttingen und starb dort am 26. Februar 1815. Um die Bedeutung dieses Mannes, der für die direkten geistigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich durch seine vortrefflichen Schriften über Luther, Kant und über die Provinz Westfalen sicher mehr gethan hat als Chamisso, ins rechte Licht zu setzen, genügt es, daran zu erinnern, dass Goethe von Villers in einem Brief an Reinhard sagt, dass er „wie eine Art von Janus bifrons herüber und hinüber sieht“ und selbst an ihn schrieb: „Sie haben mich im ästhetischen Sinne bei Ihren Landsleuten eingeführt.“[656] Viller’s Beispiel hat bekanntlich Benjamin Constant und Frau von Staël zu gleichen teutophilen Bestrebungen ermuntert.

Es wurden in Deutschland von den Emigranten verschiedene französische Zeitschriften herausgegeben, deren eifriger Mitarbeiter Villers war, hauptsächlich im Sinne der Propaganda für deutsches Wesen und deutsche Litteratur, aber auch um die Deutschen mit den französischen Erscheinungen auf dem Gebiete der Litteratur, Kunst und Wissenschaft bekannt zu machen. Besonders war Hamburg auch schon vor der Revolution ein Centrum für solche Bestrebungen gewesen, sowohl im guten wie im schlimmen Sinne.[S. 468] Denn in Hamburg wurden viele französische Erotica zum ersten Male veröffentlicht oder nachgedruckt.[657] Hier gaben Bandus (Marie Jean Louis Amable de Bandus, lebte von 1791 bis 1802 in Hamburg), Boudens de Vanderbourg und Villers vom Januar 1797 bis zum Dezember 1802 den „Spectateur du Nord“, ein „journal politique, littéraire et moral“ heraus, welches es in diesen 6 Jahren auf 24 Bände brachte. Die Zeitschrift wurde in Frankreich verboten.[658]

Im vierten Bande dieses „Spectateur du Nord“ erschien nun im Jahre 1797 die „Lettre sur le Roman intitulé Justine ou les Malheurs de la Vertu“, welche M. L. Hoffmann mit Recht dem Charles de Villers zuschreibt. Eine Neuausgabe dieser interessanten Notiz über den Roman des Marquis de Sade wurde im Jahre 1877 von A. P. Malassis veranstaltet, der wir in der Analyse folgen.[659]

Villers erklärt in der Vorrede, dass das berüchtigte Buch „Justine“ viel verlangt werde, in immer neuen Auflagen erscheine und so, damit den Lesern des „Spectateur“ die Lektüre des schrecklichen Buches erspart werde, eine kurze Inhaltsangabe gerechtfertigt[S. 469] erscheine. Speziell ist er von einer Dame zur Lektüre des Buches und zum Bericht über dasselbe aufgefordert worden (S. 13). Zwar haben ihm „zwanzig Mal Ekel und Entrüstung das Buch aus der Hand fallen lassen“, aber die „grosse Berühmtheit“ desselben habe ihn bewogen, dasselbe bis zu Ende durchzulesen. Dann „habe ich es denen zurückgegeben, von denen ich es bekommen hatte, froh, das geistige Spiessrutenlaufen überstanden zu haben und das abscheuliche Buch nicht mehr unter den Augen zu haben. Es war ohne Zweifel unserem Jahrhundert vorbehalten, es hervorzubringen. Denn dies Buch konnte nur inmitten der Barbareien und der blutigen Erschütterungen concipiert werden, die Frankreich heimgesucht haben. Es ist eine der widerlichsten Früchte der revolutionären Krisis, eines der stärksten Argumente gegen die Freiheit der Presse“ (S. 14). In der That ist das Werk „ausserordentlich“ in Beziehung auf die bizarrsten und grausamsten Ausschweifungen und eine raffinierte Grausamkeit. Es giebt Werke, die von den Grazien inspiriert zu sein scheinen. Dieses haben die Furien inspiriert. „Es ist mit Blut geschrieben. Es ist unter den Büchern, was Robespierre unter den Menschen war. Man erzählt, dass, als dieser Tyrann, als Couthon, Saint-Just, Collot, seine Minister, der Mordthaten und Verurteilungen müde waren und diese steinernen Herzen etwas wie Gewissensbisse empfanden und die Feder ihnen angesichts der zahlreichen, noch zu unterzeichnenden Urteile aus den Händen glitt, sie nur einige Seiten der ‚Justine‘ zu lesen brauchten, um wieder schreiben zu können. Man erzählt diese Anekdote in Frankreich und glaubt an sie.“ (S. 16.)

[S. 470]

Villers setzt dann in Kürze die uns bekannten philosophischen Theorien des Marquis de Sade auseinander und sagt, dass dieses Buch „alle pornographischen Werke, die seit der Regentschaft Frankreich überschwemmt haben“, hinter sich lässt. (S. 18.) Er schildert dann den Gang der Handlung in der „Justine“. Er hält zwar den Roman, der nur auf Scheusale wie Robespierre und Couthon Eindruck machen könne, nicht für gefährlich, fordert aber doch zu einer „Verschwörung“ aller anständigen Menschen, die noch Moral auf der Erde haben wollen, auf, damit alle noch vorhandenen Exemplare dieses Romans vernichtet werden. „Ich werde drei Exemplare kaufen, die noch bei meinem Buchhändler sind, und sie ins Feuer werfen.“ Er hofft, dass in drei Jahren die Exemplare nur noch in Bibliotheken zu finden sein werden. (S. 21.) Trügerische Hoffnung!

Villers kommt zu dem Schlusse, dass die „Justine“ in gleicher Weise die Wahrscheinlichkeit, den gesunden Menschenverstand und das Zartgefühl „selbst der Wüstlinge“ verletzt, dass dieses Buch platt und dumm sei, lächerliche Uebertreibungen und widernatürliche Dinge enthalte, und dass es sogar das Theorem in Boileau’s „Art poétique“ verleugne:

Il n’est point de serpent, ni de monstre odieux,
Qui par l’art imité ne puisse plaire aux yeux.

Denn diese Monstra sind sehr „odieux“, gefallen aber weder dem Auge noch dem Geiste. Indessen „was werden Sie dazu sagen, dass wenig Werke so viele Auflagen erlebt haben, wie die elende ‚Justine‘? Was soll man von einer Zeit denken, in der sich ein Schriftsteller zur Abfassung eines solchen Romans fand, Buchhändler, um ihn zu verkaufen und ein Publikum, um ihn zu kaufen?“ (S. 22–23.)

[S. 471]

Das Gift war ein Contagium animatum, das sich trotz des ehrlichen Villers ins Ungemessene vermehrte. Es lebt noch heute.

4. Despaze.

Der Dichter Despaze (gestorben 1814) erwähnt den Marquis de Sade ebenfalls und zeigt ihn in drastischer Weise in einer seiner Satiren als Verkünder seiner schrecklichen Theorien:

Si votre sœur vous plaît, oubliez tout le reste
Savourez avec joi les douceurs de l’inceste;
Servez-vous du poison, et du fer et du feu;
La vertu n’est qu’un nom, le vice n’est qu’un jeu.
Telle est, de point en point, son infâme doctrine.
L’ami de la morale, en parcourant Justine,
Noir roman que l’enfer semble avoir inventé,
Se trouble, et malgré lui demande, épouvanté,
Comment le monstre affreux qui traça ces peintures,
Ne l’a pas expié dans l’horreur des tortures?[660]

5. Der Sadismus in der Litteratur.

Der Marquis de Sade hat zahlreiche litterarische Nachahmer gefunden. Wir nennen nur die wichtigsten Schriften und Namen, diejenigen, welche einen direkten Einfluss der Lehren des Marquis de Sade deutlich erkennen lassen.

Ein Werk, welches als eine allerdings gemilderte Nachahmung der Sade’schen Schriften betrachtet[S. 472] werden kann und welches nach Gay „denselben Geschmack für die Vereinigung der Grausamkeit mit der Wollust“ zeigt, ist der von E. L. J. Toulotte verfasste Roman „Le Dominicain, ou les crimes de l’intolérance et les effets du célibat réligieux par T....e“ Paris 1803 chez Pigoreau (4 Bde. in 12o). Das Buch enthält mehrere Episoden aus dem Leben des „célèbre marquis“, ist sonst aber uninteressant und ohne Geschick abgefasst. Es wurde durch Urteil vom 12. Juli 1827 und von 5. April 1828 confisciert.[661]

Im Jahre 1835 hatte ein buchhändlerischer Spekulant die Idee, einen sehr schlechten Roman mit dem Titel „Justine ou les Malheurs de la vertu“ (2 Bände in 8o) schreiben zu lassen, mit einem Auszug aus der Vorrede des Marquis de Sade aus dessen echter „Justine“. Diese Erzählung, in welcher Diebe und Taugenichtse schlimmster Sorte ihre wenig erbaulichen Grundsätze verkünden, soll von einem sehr untergeordneten Autor, dem Vielschreiber Raban verfasst und von einem Verleger Bordeaux (Fr. M. J.) veröffentlicht worden sein. Das Buch wurde öffentlich angekündigt. Der Skandal war gross. Die Obrigkeit schritt ein und der Verleger wurde zu sechs Monaten Gefängnis und 2000 Francs Geldstrafe verurteilt.[662]

Ein Schriftsteller, dem die Lektüre der Sade’schen Romane direkt gefährlich geworden zu sein scheint, ist Jacques Baron Révérony de Saint-Cyr, wohl der erste sadistische Autor. Er wurde im Jahre 1767 geboren, wurde Geniecommandant, daneben ein sehr fruchtbarer Schriftsteller, Verfasser von Theaterstücken, wissenschaftlichen Werken[S. 473] und Romanen. Er starb im Jahre 1829 im Wahnsinn.[663] Auf ihn haben die Werke Sade’s offenbar grossen Eindruck gemacht. Denn in seinem Roman „Pauliska ou la Perversité moderne, mémoires récents d’une Polonaise“, Lemierre et chez Courcier an VI, (1798) (2 Bde. in 12o mit 2 Bildern in der Art von Chaillu) schildert er ähnliche grausame Akte aus Wollust wie der Marquis de Sade, hinter dem er aber weit zurückbleibt.[664] Nach Cohen enthalten auch die übrigen Romane dieses Autors wie „Sabina d’Herfeld, ou les Dangers de l’imagination“ Paris 1797–1798 (2 Bde. in 12o) und „La Torrent des passions, ou les Dangers de la galanterie“ Paris 1818 (2 Bde.) Schilderungen und Doctrine im Genre des Marquis de Sade[665].

„Ein anständiger Mensch hat immer einen Band des Marquis de Sade in seiner Tasche“ heisst es in einem Romane von Borel (P. Borel, Le Lycanthrope „Madame Potiphar“)[666], und ein Journalist, Capo de Feuillade schrieb, dass die „Lelia“ der George Sand ihm ähnliche Doctrinen zu lehren scheine, wie die Werke des Marquis de Sade. Proudhon nannte deswegen diese berühmte Schriftstellerin die würdige Tochter des Marquis de Sade.[667] Wie wir sahen, hat übrigens Proudhon selbst über den Diebstahl ähnliche Ansichten wie Sade entwickelt.

Der französische Sozialist Fourier entwickelt eine sadistische Theorie der Liebe. In seiner „Harmo[S. 474]nie“ darf jede Frau gleichzeitig besitzen: einen époux, von dem sie zwei Kinder hat; einen géniteur, von dem sie ein Kind hat; einen favori, ausserdem noch beliebig viele amants, die gesetzlich keine besonderen Rechte haben. Gegen Uebervölkerung wird diese harmonische Welt durch vier organische Mittel geschützt: la régime gastrosophique, la vigueur des femmes, l’exercice intégral, und — les mœurs phanérogames![668]

Bei den modernen französischen Parnassiern, Diabolikern, Decadenten und Aestheten wimmelt es von sadistischen Naturen. Wir verweisen zum genaueren Studium dieser Poeten aller perversen Gefühle auf Nordau’s „Entartung.“[669] Wir erwähnen nur das Wichtigste.

Baudelaire ist nach Bourget „ein Wollüstling; und Vorstellungen, die bis zum Sadismus verderbt sind, erregen denselben Mann, der den erhobenen Finger seiner Madonna anbetet. Die mürrischen Trunkenheiten der gemeinen Venus, die berauschende Glut der schwarzen Venus, die kunstvollen Wonnen der erfahrenen Venus, die verbrecherischen Wagnisse der blutgierigen Venus haben ihre Erinnerungen in den durchgeistigsten seiner Gedichte gelassen. Ein übelriechender Dunst niederträchtiger Schlafzimmer entweicht seinen Gedichten“. (S. 74.) Baudelaire besingt die „geheimnisvolle Wut“ der Wollust:

Quelquefois pour apaiser
Ta rage mystérieuse,
Tu prodigues, serieuse,
La morsure et le baiser.[670]

[S. 475]

„Les Diaboliques“, die „Teuflischen“ von Barbey d’Aurévilly sind eine Sammlung wahnwitziger Geschichten, in denen Männer und Weiber sich in der scheusslichsten Unzucht wälzen und dabei fortwährend den Teufel anrufen, ihn preisen und ihm dienen. Es lässt sich nicht leugnen, dass sadistische Ideen in diesem Buche vielfach zu Tage treten.

Echt sadistische Typen schildert Paulhan in seinem Buche „Le nouveau mysticisme“ (Paris 1891) in dem Kapitel „L’amour du mal“ (S. 57–99). Ein reicher Fabrikant beschuldigt einen jungen Mann auf Freiersfüssen fälschlich, an einer ansteckenden Krankheit zu leiden und erhält seine Behauptung „um des Vergnügens willen“ aufrecht. Ein junger Strolch geniesst die Wonne des Diebstahls so sehr, dass er ausruft: „Selbst wenn ich reich wäre, möchte ich immer stehlen.“ Viele Leute suchen den Anblick körperlicher Leiden. Paulhan meint sogar, dass „im Geiste eines Menschen unserer eigenen Zeit eine gewisse Freude daran erwacht, die Ordnung der Natur zu stören, die früher nicht mit solcher Stärke aufgetreten zu sein scheint“.[671]

Aehnliche Theorien werden in Joseph Péladan’s „Vice suprême“, dem „äussersten Laster“ entwickelt.

Die von Sade so sehr goutierte Hypochorematophilie findet sich bei dem Decadenten Maurice Barrès. Er lässt seine „kleine Prinzessin“ erzählen: „Als ich zwölf Jahre alt war, liebte ich es, wenn ich allein war, meine Schuhe und Strümpfe auszuziehen und die nackten Füsse in warmen Kot zu stecken. So verbrachte ich Stunden und das gab mir Lustschauer[S. 476] über den ganzen Körper“, und ähnlich wie Sade seine Helden an Personen mit leiblichen Gebrechen, wie einem Eunuchen, Zwerge und Hermaphroditen Gefallen finden lässt, wird auch Barrès von diesen Eigenschaften angezogen. Im „Garten der Berenice“ heisst es: „Als Berenice ein kleines Mädchen war, bedauerte ich in meiner Begierde, sie zu lieben, ungemein, dass sie nicht ein leibliches Gebrechen hatte.“[672]

J. K. Huysmans rollt in seinem Roman „à rebours“ das Erziehungsproblem der „Philosophie dans le Boudoir“ wieder auf. Dem Herzog des Esseintes begegnet in der Rue de Rivoli ein etwa sechzehnjähriger, bleich und verschmitzt aussehender Bursche, der eine schlechte Cigarette raucht und von ihm Feuer verlangt. Des Esseintes schenkt ihm eine duftige türkische Cigarette, führt ihn in ein Café und lässt ihm kräftige Pünsche vorsetzen. Dann führt er ihn in ein Freudenhaus, wo seine Jugend und Verwirrung die Dirnen verwundert. Während der Knabe von einem Frauenzimmer weggeschleppt wird, fragt die Wirtin des Esseintes, wie er dazu komme, diesen Knaben zu ihr zu führen. Der Decadent antwortet: „Ich suche einfach einen Mörder anzufertigen. Zunächst führe ich ihn alle vierzehn Tage hierher, und gewöhne ihn an Genüsse, zu denen er die Mittel nicht besitzt. Später wird er stehlen, um zu Dir kommen zu können. Ich hoffe, er wird auch morden. Dann wird mein Ziel erreicht sein.“ Er entlässt den Knaben mit den Worten: „So, nun gehe. Thu den Anderen, was du nicht willst, dass sie dir thun. Mit diesem Grundsatz kommst du weit.“

[S. 477]

In Huysmans’ „Là bas“ schreibt des Esseintes eine Geschichte von Gilles de Rays, dem Massen-Lustmörder des fünfzehnten Jahrhunderts, auf den nach Nordau Moreau de Tours’ Werk über die Geschlechtsverirrungen die „im Allgemeinen zwar unwissende, aber auf dem Sondergebiete der Erotomanie sehr belesene Bande der Diaboliker aufmerksam gemacht hat, und dies giebt Huysmans Gelegenheit, mit Schweinebehagen im schauerlichsten Unrat zu wühlen und zu nüstern.“[673]

Auf einen typischen sadistischen Dichter, der Nordau anscheinend entgangen ist, hat Alcide Bonneau aufmerksam gemacht. Es ist dies Emile Chevé, der im Jahre 1882 eine Gedichtsammlung „Virilités“ veröffentlichte, in der ein Gedicht „Le Fauve“ eine glühende Verherrlichung des Marquis de Sade und des Sadismus darstellt. Wir zitieren einige der charakteristischsten Verse aus dem sehr langen Gedichte:[674]

Au fond, l’homme est un fauve. Il a l’amour du sang;
Il aime à le verser dans des luttes sauvages;
Son cœur bat et se gonfle an bruit retentissant
Des clairons précurseurs du meutre et des ravages.
Partout où le sang coule, où plane la terreur,
Où le trépas répand sa morne et sombre ivresse,
Homme, femme, chacun veut savourer l’horreur;
La brise des charniers nous flatte et nous caresse.
L’échafaud, le supplice, ont pour nous des appas
— — — — — — — — — — — — — — —
Nous aimons la naja, le tigre, l’assassin
— — — — — — — — — — — — —
[S. 478]
Car nous aimons aussi le désespoir, les pleurs,
Le drame palpitant des angoisses secrètes,
— — — — — — — — — — — — — —
Un attrait monstrueux, un prurit sensuel,
Sort pour nous de la mort, du combat, du supplice.
— — — — — — — — — — — — — — — —
Oh! qu’il est dans le vrai, ce marquis, ce Satan,
Qui mariant le sang, la fange et le blasphème,
D’un Olympe de boue effroyable Titan,
Dans la férocité mit le plaisir suprême!
Marquis, ton livre est fort, et nul dans l’avenir
Ne plongera jamais aussi bas sous l’infâme;
Nul ne pourra jamais après toi réunir,
En un pareil bouquet, tous les poisons de l’âme.
— — — — — — — — — — — — — — — —
Tu brilles comme un tigre au milieu des cochons
Dans l’effrayant musée où la hideur s’étale.
Auprès de toi, Marquis, comme ils sont épiciers,
Les Piron, les Zola, dans leurs fades ébauches!
Qu’ils rampent platement sur leurs bas-fonds grossiers,
Dans l’étroit horizon de leurs maigres débauches.
Au moins, toi tu fis grand dans ton obscénité!
— — — — — — — — — — — — — — — — — —
L’homme est un fauve. En lui le monstre vit toujours
Utopistes niais dont la sensiblerie,
Rêve un monde baigné d’éternelles amours,
Nous n’entrerons jamais dans votre bergerie,
Car, jeune homme au cœur fier ou vieillard aux yeux doux,
Vierge dont le front pur a des reflets d’opale,
Petit enfant rieur jouant sur nos genoux,
Tout être humain en lui renferme un cannibale.

Paul Bourget lässt in seiner „Physiologie der modernen Liebe“ Claude Larcher halbträumend folgendermassen monologisieren: „Ich sehe vor mir diesen[S. 479] Leib, an dem ich jeden Umriss kenne, die Schultern voll und zart zugleich, den wallenden Busen, die schlanken Hüften, ganz nackt, und mich mit einem Messer, wie ich diesen Leib zerfleischte, diese Glieder mit Blut besudelte, und wie sie unter der Schärfe des Stahls erzitterten, — und ihren Schmerz... Nein, das werde ich nie thun, weil bei mir, dem Kulturmenschen in der Periode des Niederganges, die Handlung nie die Schwester der Begierde sein kann.... Himmel! wie oft habe ich mir das schon geträumt, und nichts schafft mir Linderung als dieser Traum.“[675]

Eine sadistisch veranlagte Tribade wird in der Schrift „Gamiani ou deux nuits d’excès“ geschildert, die 1836 in nur 20 Exemplaren gedruckt wurde, und 1865 in Brüssel gleichfalls in nur 75 Exemplaren nachgedruckt ward. Eins von diesen Exemplaren befindet sich im Besitze des Schriftstellers Paul Lindau, der es A. Moll zur Durchsicht liess. Dieser teilt mit, das in dem Nachdruck der Autor als A. D. M. bezeichnet wird. Es soll Alfred de Musset sein, und „man glaubt, dass Musset sich als der ehemalige Geliebte der George Sand an dieser durch die Schrift rächen wollte, indem er in der Heldin Gamiani eine Tribade wildester Art, die George Sand schilderte“.[676] Wir sahen schon oben, dass Capo de Feuillade ebenfalls die George Sand sadistischer Neigungen bezichtigte. Uebrigens wird in[S. 480] „Gamiani“ die Unzucht zwischen einem Weibe und einem Esel geschildert, nach dem Vorbilde von Apulejus’ „goldnem Esel“.[677]

Auch die deutsche Litteratur weist einige sadistische Specimina auf. So hat Heinrich von Kleist in seiner „Penthesilea“ ein von rasender Liebeswut ergriffenes Weib geschildert, das schliesslich ihren geliebten Achilles mit einem Pfeile erschiesst, ihn von Hunden zerreissen lässt, und

Er, in dem Purpur seines Blutes sich wälzend,
Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft:
Penthesilea! meine Braut! was thust du?
Ist dies das Rosenfest, das du versprachst?
Doch sie —
Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reissend,
Den Zahn schlägt sie in seine weisse Brust,
Sie und die Hunde, die wetteifernden,
Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte,
In seine linke sie; als ich erschien,
Treff Blut von Mund und Händen ihr herab.[678]

Ein deutscher Roman, in dem der Marquis de Sade sehr häufig erwähnt wird, und sadistische Akte eine grosse Rolle spielen, ist das berüchtigte Buch „Aus den Memoiren einer Sängerin“ Boston, Reginald Chesterfield (Altona 1862 kl. 8o 2 Bände und neuere Ausgabe Budapest, Jac. Casanova). Es soll dies eine Autobiographie der berühmten Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient (1804–1860) sein. Der Roman schildert in Briefen an einen Arzt die Fortschritte, welche die Sängerin in der Ars amandi macht. Die „Justine“ des Marquis de Sade hat besonders den zweiten Band des Werkes beeinflusst, aus dem wir da[S. 481]her das in dieser Richtung Wichtigste mitteilen. In Budapest lernt die Schröder-Devrient eine gewisse Anna kennen, eine Demimondaine und genaue Kennerin der seit langer Zeit berüchtigten Corruption in der ungarischen Hauptstadt. Sie fragt Anna nach ihrer Ansicht über die „Justine“, die sie in Frankfurt am Main gekauft habe, von der sie aber mehr abgestossen als angezogen werde. Anna giebt ihr darauf den Rat, einmal der Auspeitschung einer Diebin beizuwohnen. Dies bereitet der Sängerin einen grossen Genuss, und das Opfer, die Diebin Rosa wird nach der Execution von den Beiden zu einer Orgie mitgenommen, bei der unsere Heldin in Liebe zu ihr entbrennt. „Es war eine so ausschliesslich reine Liebe, dass mich alle anderen Weiber anekelten und die Männer noch viel mehr.“ (Bd. II, S. 84.) Sie nimmt Rosa in Dienst und präpariert sie im Kaiserbade für den amor lesbicus. Der Gedanke an die künstliche Defloration von Rosa bereitet ihr schon im voraus eine unendliche Wonne, und am selben Abend vollzieht sie diesen Akt in Gesellschaft ihrer Freundinnen Anna und Nina mit einem „doppelten“ künstlichen Phallus, während Anna nach der Operation „das Jungfernblut aufleckte.“ Nunmehr besuchen sie die berühmtesten Budapester Bordelle. In dem Freudenhaus der Resi Luft feiern sie mit Damen und Herren der vornehmen Budapester Gesellschaft eine grosse Orgie, bei der alle Anwesenden maskiert, aber sonst nackt erscheinen, und deren Einzelheiten zum grossen Teil der „Justine“ des Marquis de Sade entnommen werden. Die Schröder-Devrient lernt hier einen gewissen Ferry kennen, der die arme Rosa aufs neue defloriert, und die Sängerin den paederastischen Ausschweifungen einer Räuber[S. 482]bande im Walde beiwohnen lässt, bei denen er selbst den „Voyeur“ spielt. Die Schröder-Devrient kommt darauf in Begleitung von Rosa nach Florenz, wo sie einen 59jährigen englischen Wüstling Sir Ethelred Merwyn, kennen lernt, der sie über alle sexuellen Laster in Italien unterrichtet und sie in Rom nach der Hinrichtung einer Frau und eines Mannes in eine Kirche führt, wo eine unglaubliche Orgie zwischen Priestern, Nonnen, Knaben und verschiedenen Tieren stattfindet, bei welcher die Körper der beiden Hingerichteten geschändet werden. Hier ist das Vorbild der „Juliette“ deutlich erkennbar. Offenbar beruhen aber auch diese Memoiren zum Teil auf persönlichen Beobachtungen, wie die Schilderungen aus Paris und London beweisen. Die Pariser Halbwelt und besonders die Laufbahn einer gewissen Camilla wird ausführlich geschildert und zahlreicher sadistischer Verbrechen Erwähnung gethan. Darauf reist sie mit dem Sänger Sarolta nach London, wo sie drei Jahre lang bleibt. Sie besucht eine Frau Meredyth, eine reiche Lebedame, die sie mit allen öffentlichen und geheimen Freuden Londons bekannt macht, sie nach Vauxhall Gardens, in den Piccadilly Saloon, ins Holborn Casino, in die Portland Rooms führt. Dann suchen sie als Prostituierte in den Strassen Abenteuer. Trotzdem schlägt die Sängerin die verlockendsten Anerbietungen des englischen Adels aus und bleibt ihrer geliebten Rosa treu. Hier endet die Erzählung. — Der Einfluss Sade’s ist unverkennbar, sowohl in der Schilderung der Persönlichkeiten als des Inhaltes. Auch Unwahrscheinlichkeiten und Uebertreibungen wie bei Sade kommen vor. So z. B. hält sich in London im Garten der Mrs. Meredyth eine Gesellschaft von Frauen drei Tage lang nackt auf! Und[S. 483] das im englischen Klima! „Justine“ wird oft erwähnt.[679] Im ersten Bande (S. 177) spricht die Sängerin von den „Denkwürdigkeiten des Herrn von H...“, von dem „Portier des Chartreux“, „Faublas“, „Félicia“ u. a. als von „wahrem Gift für unverheiratete Frauen“, wobei sie ihr eigenes Buch auszunehmen scheint.

In Sacher-Masoch’s „schwarzer Czarin“ ist Narda eine Sadistin. Aber neben Narda stellt Sacher-Masoch eine Afrikanerin, die dieselbe noch an Wollust und Grausamkeit übertrifft, „ein Weib wie aus Ebenholz geschnitzt, berauschend in dem schwarzen Glanze ihres bacchantischen Leibes, in dem grausamen Lachen des Tigerkopfes, in dem mordlustigen Funkeln ihrer wollüstigen Augen.“ Auf Narda’s Frage, weshalb sie einen Menschen getötet habe, antwortet sie beinahe stolz: „Aus Mordlust! — Lass mich sterben, ich kann nicht leben, wenn ich Niemanden töten soll. Mein Herz verlangt nach Blut, wie das Eure nach Küssen.“[680]

Eulenburg zitiert den modernen Dichter Detlev von Liliencron, der „die im Liebeskampf sich gewaltsam vollziehende körperlich-seelische Entladung“ in folgenden Versen schildert:

[S. 484]

Wollen zwei Panther sich rasend zerreissen,
Feuer und Flammen entlodern der Haft,
Ringen und Raufen und Balgen und Beissen,
Sinkende Wimpern, entstürzende Kraft.[681]

Auch in Kretzers Roman „Drei Weiber“, in Karl Bleibtreu’s Novellen „Schlechte Gesellschaft“, in M. G. Conrad’s „Die klugen Jungfrauen“ werden sadistische Typen und Szenen geschildert. Vielfach werden im modernen sogenannten „naturalistischen“ (sit venia verbo!) Roman die „Sodomie, Paederastie, lesbische Liebe, Notzucht, Blutschande, Ehebruch studiert, pragmatisiert, auf unglückselige Vererbung, falsche Erziehung, überreizte Nerven zurückgeführt und — verteidigt.“[682]

Dass einzelne Doctrinen des Marquis de Sade sich bei neueren deutschen Philosophen, sogar noch potenziert, wiederfinden, wie z. B. bei Stirner und Nietzsche, ist ja bekannt.

Von Nietzsche, diesem vielvergötterten dreimal Weisen, seien nur die folgenden bezeichnenden Aphorismen zitiert: Wink. — Aus alten florentinischen Novellen, überdiesaus dem Leben. buona femmina e mala femmina vuol bastone. (Sachhetti Nov. 86[683]) und: Ueber allen Gesetzen — Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.[684] Auf Nietzsche’s allmählich schon zum Ueberdruss werdende „Herrenmoral“ und seinen köstlichen „Uebermenschen“ näher einzugehen, halten wir für überflüssig und teilen damit die Ansichten der übrigen „Bildungsphilister“.

[S. 485]

Ein noch grösserer Sophist als der Marquis de Sade und Nietzsche ist Max Stirner, der leider die dialektische Methode für seine geistigen Salti morali missbrauchte. Dieser Weisheitsjongleur betet das Ich auf eine geradezu ungeheuerliche Weise an. Er schreibt es stets gross, um seine Ehrfurcht vor dieser Majestät gehörig auszudrücken. „Ob, was Ich denke und thue christlich sei, was kümmert’s Mich? ob es menschlich, liberal, human, ob es unmenschlich, illiberal, inhuman, was frag’ Ich danach? Wenn es nur bezweckt, was Ich will, wenn Ich nur Mich darin befriedige, dann belegt es mit Praedikaten wie Ihr wollt: es gilt Mir gleich.“ — „Es giebt keinen Sünder und keinen sündigen Egoismus! — Wir sind allzumal vollkommen, und auf der ganzen Erde ist nicht Ein Mensch, der ein Sünder wäre!“ — „Eigner bin Ich Meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Einzigen weiss. Im Einzigen kehrt selbst der Eigene in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl Meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell’ Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen:

Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt.“[685]

Die Sittlichkeit ist bei solchen Ansichten eine fixe Idee, ein „Sparren“, mit dem die Menschen behaftet sind. Die Ehe ist ein Nonsens, die Keuschheit ist ganz besonders eine fixe Idee, und selbst die Blutschande[S. 486] ist nichts anderes. „O Laïs, o Ninon, wie that Ihr wohl, diese bleiche Tugend zu verschmähen. Eine freie Grisette gegen Tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern.“ Der Mord ist für Stirner ebenfalls ein Nichts. „Ich aber bin durch Mich berechtigt zu morden, wenn Ich mir’s selbst nicht verbiete, wenn ich selbst Mich nicht vor dem Morde als vor einem ‚Unrecht‘ fürchte.“

Schon H. Ströbel hat hervorgehoben, dass Stirner’s Theorie des Egoismus nicht neu sei und an die Ideen der Aufklärungsphilosophen Holbach, La Mettrie und Helvetius erinnere.[686] Wir können uns dem Gedanken nicht verschliessen, dass Stirner auch die Schriften des Marquis de Sade gekannt hat. Denn weder Holbach noch La Mettrie und Helvetius verteidigen Blutschande und Mord. Das sind echt sadische Gedanken.

6. Einige sadistische Sittlichkeitsverbrechen.

Dass die Schriften des Marquis de Sade viele Proselyten gemacht haben, erscheint uns sehr wahrscheinlich angesichts der merkwürdigen Arten von sexuellen Vergehen, die auch heute noch beobachtet werden und manchmal geradezu eine Szene aus der „Justine“ und „Juliette“ zum Vorbilde zu haben scheinen. Nach Eulenburg fehlt es bis in die Gegenwart hinein durchaus nicht „an modernen Nachahmungen, natürlich nur im Kleinen und in schwächlicher Form, wie die in regelmässiger Wiederkehr nicht allzu[S. 487] selten die Polizei und die Gerichte beschäftigenden, öfters mit wahrhaft bestialischen Akten der Verstümmelung, mit Anthropophagie, Nekromanie u. s. w. verbundenen Lustmorde an Kindern und Frauen beweisen. Unsere Zeit, bekanntlich die Zeit der Spezialitäten, weiss sich auch auf diesem Gebiete eigenartige Spezialisten zu züchten. Der Eine verschafft sich durch Erwürgen von Mädchen und Frauen eines wollüstigen Reiz; der Andere schlitzt der Geschändeten den Leib auf, um gewisse Eingeweide herauszureissen; noch Andere trinken das Blut ihrer Opfer oder verzehren kannibalisch Stücke der ausgeschnittenen Eingeweide (Brüste und Genitalien). Die nicht ganz so Gefährlichen begnügen sich damit, ihren Opfern — ausschliesslich jungen Mädchen — Schnitt- und Stichwunden an verschiedenen Körperteilen, mit Vorliebe am Unterleib, beizubringen, um sich durch den Anblick des herabfliessenden Blutes geschlechtlich zu erregen (die vielzitierten Geschichten des ‚Mädchenschneiders‘ von Augsburg und des ‚Mädchenstechers‘ von Bozen).“[687]

In einem grossen Werke über den berüchtigten Lustmörder Vacher, der 1898 in Lyon hingerichtet wurde, hat Lacassagne alle „sadistischen Verbrechen“ des 19. Jahrhunderts zusammengestellt. Hier finden sich ausführliche Nachrichten über den berüchtigten Londoner Lustmörder „Jack the Ripper“, den Paul Lindau in Amerika bereits in einem Sensationsdrama verewigt sah (Eulenburg a. a. O. S. 109), über Ben Ali in New-York, Piper und Pomeroy in Boston, über die Affäre von Pont-Laval u. a. m.[688]

[S. 488]

Eine weitere Aufzählung derartiger Attentate geben Brierre de Boismont[689], ferner A. Moll[690], v. Krafft-Ebing[691], auf die wir den Leser verweisen.

Wir heben nur einige ganz direkt an Szenen aus Sade’s Romanen erinnernde Fälle hervor.

a) Fall von Hypochorematophilie.

Ein im höchsten Grade decrepider russischer Fürst liess sich von seiner Maitresse, die sich über ihn, ihm den Rücken wendend, setzen musste, auf die Brust defäcieren und regte nur auf diese Weise die Reste seiner Libido an. — Nach v. Krafft-Ebing a. a. O. S. 67 (Vergl. die ähnliche Szene bei Juliette Bd. III, S. 54.)[692]

b) Statuenschändung.

Das Journal L’évènement vom 4. März 1877 teilt die Geschichte eines Gärtners mit, der sich in die Statue der Venus von Milo verliebte und über Coitusversuchen an dieser Bildsäule betroffen wurde. — Nach von Krafft-Ebing a. a. O. S. 79 (Vergl. dazu Juliette I, 334).

c) Körperliche Gebrechen als Reizmittel.

Der berühmte französische Schriftsteller Charles Baudelaire hatte Liebesverhältniss mit hässlichen, widerwärtigen Personen, Negerinnen, Zwergdamen, Riesinnen. Gegen eine sehr schöne Frau äusserte[S. 489] er den Wunsch, sie an den Händen aufgehängt zu sehen und ihr die Füsse küssen zu dürfen. — Nach v. Krafft-Ebing „Neue Forschungen etc.“ (Unzweifelhafte Entlehnungen aus Sade).

d) Sadistische Venaesectio. (Affäre T.....).[693]

Ein 36jähriger Kommandant, der ein Verhältnis mit einer jungen Dame angeknüpft hatte, zwang dieselbe, nachdem er sie mit Schimpfworten überhäuft hatte, unter schrecklichen Drohungen, sich Blutegel an die Geschlechtsteile und den Anus ansetzen oder sich zur Ader zu lassen. Sobald Blut floss, verwandelte sich seine Wut in Zärtlichkeit, und er zwang sie, ihm zu Willen zu sein.

Ein verheirateter Mann stellte sich Krafft-Ebing mit zahlreichen Schnittwunden an den Armen vor und gab an, dass, wenn er sich seiner jungen nervösen Frau nähern wolle, er sich stets zuvor einen Schnitt beibringen müsse. Sie sauge dann an der Wunde, worauf sich erst bei ihr die sexuelle Erregung einstelle.[694] (Vergl. „Juliette“ III, 233 ff.).

e) Affäre Michel Bloch.[695]

Die Einzelheiten über diese echt sadistische Affäre finden wir in der Pariser Zeitung „Gil Blas“ (Nummern vom 14. und 16. August 1891). Die Anklage richtete sich gegen einen in Paris wohlbekannten Michel Bloch, Diamantenmakler, vielfachen Millionär, Besitzer der Herrschaft La Marche u. s. w., einen Mann von etwa 60 Jahren, glücklich verheiratet, Vater einer[S. 490] 18jährigen und einer 16jährigen Tochter. Mitangeklagt war eine Kupplerin Frau Marchand, bei der die Zusammenkünfte Bloch’s mit seinen Opfern gewöhnlich stattfanden. Die erste Zusammenkunft Bloch’s mit der Klägerin Claudine Buron gestaltete sich folgendermassen. Das Mädchen wurde in ein Zimmer der Marchand geführt und musste sich mit zwei Altersgenossinnen, die sie dort vorfand (schon früheren Bekanntschaften Bloch’s) vollständig entkleiden. Ganz nackt, ein Spitzentaschentuch in der Hand, betraten alle drei ein blaues Zimmer, in dem ein älterer Herr sie erwartete. Dieser Herr, den Clientinnen des Hauses unter dem Namen „l’homme qui pique“ bekannt, war der Angeklagte Bloch. Er empfing seine Opfer, nachlässig auf einem Sopha hingestreckt, in einem Rosa-Atlas-Peignoir, das reich mit weissen Spitzen garniert war. Die Mädchen mussten sich ihm einzeln, stillschweigend und mit einem Lächeln auf den Lippen (dies war ausdrücklich verlangt) nähern; man reichte ihm Nadeln, Batisttaschentücher und eine Art Geissel. Die Novize, Claudine Buron, musste vor ihm niederknieen; er stach ihr in die Brüste, ins Gesäss, fast in alle Teile des Körpers im Ganzen gegen hundert Nadeln. Dann faltete er ein Taschentuch dreieckig zusammen und befestigte es mit etwa zwanzig Nadeln auf dem Busen des jungen Mädchens, so dass ein Zipfel zwischen die Brüste, die beiden übrigen auf die Schultern zu liegen kamen, und riss das so festgesteckte Tuch mit einem brutalen Griff plötzlich ab. Nun erst, wie es scheint, recht erhitzt, fiel er über das junge Mädchen her, peitschte sie, riss ihr Büschel von Haaren am Unterleib aus, presste ihr die Brustwarzen u. s. w. und — befriedigte sich endlich an ihr vor den Augen ihrer Genossinnen. Diese hatten während der Zeit ihm den Schweiss von der Stirne ab[S. 491]trocknen und plastische Stellungen annehmen müssen. Alle drei wurden nun entlassen und empfingen von Herrn Bloch ein Honorar von 40 Francs. — Derartige Sitzungen wiederholten sich noch mehrmals. — Bloch, der als ein Mann von abschreckendem säuferartigen Aussehen, mit fliehender Stirn, gelber Perrücke, kleinen bläulichen Augen, roter Plattnase und Knebelbart geschildert wird, legte sich bei den Verhandlungen anfangs aufs Leugnen, lachte dann, als man ihn an die Einzelheiten der obigen Szene erinnerte, und nahm eine Miene der Verwunderung darüber an, dass man um solche Lumpereien so viel Aufhebens mache. Der Gerichtshof verurteilte ihn zu einem halben Jahre Gefängnis und 200 Francs Geldbusse, ausserdem civilrechtlich zu einem Schadenersatz von 1000 Francs an Claudine Buron; seine Helfershelferin, die Marchand, zu einem Jahre Gefängnis. (Vergl. die ähnlichen Szenen in „Juliette“ II, 284; III, 55.)

f) Wort-Sadismus.

Ein dem Anschein nach sehr respectabler älterer Herr knüpft im Palais-Royal Garten, den er regelmässig besucht, mit einem für seine Zwecke geeignet scheinenden weiblichen Wesen Bekanntschaft an, lässt sich auf derselben Bank, jedoch immer in geziemender Entfernung von ihr nieder und bringt im Laufe der Unterhaltung die Frau, die in ihm einen Kunden wittert, dahin, sich in ihren Reden immer freier und unzweideutiger zu ergehen. Ist das erreicht, so zittert und „gluckst“ er vor Entzücken, händigt seiner Partnerin fünf Franken zum Lohn ein, und empfiehlt sich[696]. (Vergl. „Philosophie dans le Boudoir“ I, 129 u. ö.).

[S. 492]

g) Nachahmung des Marseiller Skandals.[697]

Im Jahre 1840 erregte der amerikanische Gesandte in Madrid grosses Aufsehen durch eine Skandalaffäre ähnlich derjenigen, welche der Marquis de Sade im Jahre 1772 in Marseille veranstaltet hatte. Der Gesandte hatte schon öfter Excentricitäten im Genre des Marquis de Sade begangen. Eines Tages lud er etwa 20 „Manolas“ zu einem Souper ein, bei dem er an diese Mädchen stark irritierende Substanzen verteilte, die sie in eine hochgradig wollüstige Aufregung versetzten.


Wir könnten die Liste dieser offenbaren Imitationen des Marquis de Sade noch vergrössern, halten es aber für unnötig und erwähnen nur noch, dass augenblicklich in „einer kleinen Strasse im Südwesten Berlins“ ein sadistisch veranlagter Arzt wohnen soll.[698]

[S. 493]

Schluss.

Es ist kein Zweifel, dass den Werken des Marquis de Sade eine Bedeutung in der Geschichte der menschlichen Kultur zukommt, die ganz anderswo liegt als auf dem Gebiet der Pornographie oder der aberwitzigen antimoralischen Ideen, welche wir in diesen Schriften finden. Der Marquis de Sade ist der Erste gewesen, der bewusst alle Erscheinungen der Natur und des sozialen Geschehens unter dem Gesichtspunkte des menschlichen Geschlechtslebens betrachtet hat. Ueber den entsetzlichen Bildern entarteter Geschlechtslust, welche aus einer genauen Kenntnis sexualpathologischer Phaenomene entsprungen sind, darf jene eben angedeutete Grundtendenz der Schriftstellerei des Marquis de Sade nicht vergessen werden. Sie verdient in kulturhistorischer, nationalökonomischer, juristischer und ärztlicher Beziehung die ernsteste Beachtung des wissenschaftlichen Forschers. Es giebt auch hier nur, wie Eulenburg — der mit seiner wertvollen Abhandlung in der „Zukunft“ recht eigentlich in Deutschland die Sade-Forschung inauguriert hat — sich ausdrückt, ein Objekt und ein Problem des Erkennens. Ein geistvoller Psychiater, Dr.[S. 494] Paul Naecke in Hubertusburg, beginnt seine neueste Studie über die Psychopathia sexualis mit den charakteristischen Worten: „Immer klarer und klarer tritt der kolossale Einfluss der Genitalsphäre auf die Bildung des Ich-Complexes, auf den Charakter des Menschen zu Tage.“[699] Wir fügen hinzu: immer klarer wird auch die Bedeutung des sexuellen Faktors in Gesellschaft und Staat. Wir haben selten ein solches Denkerurteil gehört, wie uns gegenüber ein berühmter Anthropologe, der früher mehrere Jahre in Paris gelebt hatte, über die gegenwärtigen Verhältnisse in Frankreich fällte. Er führte zu unserem nicht geringen Erstaunen die sozialpathologischen Erscheinungen, wie sie besonders in der Dreyfus-Affäre grell zu Tage traten, auf zwei Ursachen zurück: auf die geradezu ungeheuerliche Verbreitung der sexuellen Perversionen aller Art und auf den — Absynth! Dies ist ein erleuchtendes Wort. Wenn in der französischen Zeitung „Siècle“ der ehemalige Dominikaner Hyacinthe Loyson und der Schriftsteller Yves Guyot den Gedanken entwickelten, dass der Katholicismus den, wie uns scheint, unaufhaltsamen Verfall Frankreichs herbeigeführt hätte, und Frankreich daher nach Mirabeau’s Rezept zunächst entkatholisiert werden müsse, so ist das nur eine halbe Wahrheit. Denn die Ursache des Triumphes der schwarzen Bande in Frankreich ist nach unserer Ueberzeugung vor allem die geradezu grauenhafte geschlechtliche Entartung in Frankreich, von der man in Deutschland kaum eine Ahnung hat. Dieses sexuell perverse Frankreich stürzt sich mit Wonne in die finsterste Mystik, in religiöse Ekstasen,[S. 495] und bedarf der jesuitischen Moral und Casuistik wie der Hungrige des Brodes. Es ist kein Zufall, dass z. B. Maurice Barrès, dieser dekadente Lüstling, das Banner des nationalistischen Clericalismus schwingt. Nur vom Standpunkte einer sexualpathologischen Erklärung kann man gewisse direkt an sadistische Vorkommnisse erinnernde Aeusserungen und Ausschreitungen des französischen Volksgeistes verstehen, wie z. B. die planmässig durchgeführte Attacke gegen den unglücklichen Dreyfus. Mercier bekommt vom General Boisdeffre den Auftrag, ein belastendes Document gegen Dreyfus herzustellen. Er lässt dasselbe durch den berüchtigten Esterhazy schreiben und dann in den Papierkorb der deutschen Botschaft werfen. Nun folgt die Verhaftung, Degradation und Deportation eines Unschuldigen, von dessen Unschuld der ganze Generalstab, und nicht weniger die Herren Drumont und Rochefort genaue Kenntnis hatten. Aber das Opfer auf der Teufelsinsel muss noch weiter gemartert werden. Man entzog ihm die Nahrung oder reichte ihm ungeniessbare, widerliche Speisen, man belog ihn und spiegelte ihm die Untreue seiner Frau vor; schrieb er in der entsetzlichen Einsamkeit ein Wort auf Papier, so wurde ihm dieses entrissen; schliesslich legte man ihn in Ketten, die ins Fleisch schnitten. Max Nordau hat mit Lebhaftigkeit geschildert, wie sich an diesen Grausamkeiten gegen einen Unschuldigen die ganze Lügner- und Fälscherbande in echt sadistischer Weise geradezu berauschte.[700] Er hat[S. 496] auch darauf aufmerksam gemacht, dass der grösste Teil der tonangebenden Antidreyfusards aus Lebemännern und Wüstlingen bestand. Aehnlich wie bei der Dreyfus-Affäre zeigten sich auch in der Affäre Voulet-Chanoine sadistische Anwandlungen im französischen Volke. Diese beiden Helden hatten ihren Vorgesetzten, den Obersten Klobb, mitten in Afrika einfach erschiessen lassen. Auch sie fanden — so unglaublich es klingt — in der nationalistisch-antisemitischen Presse leidenschaftliche Verteidiger, die von Heldenmut, von der Besonderheit afrikanischer Verhältnisse u. s. w. faselten.[701] — In allen diesen Dingen macht sich jenes „eigentümliche gallokeltische Element des französischen Volkscharakters bemerkbar, dem neben dem frivol-erotischen auch der lüstern-grausame Zug von jeher nicht fehlte und der in Voltaire’s Kennzeichnung seiner Landsleute als ‚Tigeraffen‘ den zutreffendsten Ausdruck findet.“[702]

Wir haben oft ernsthaft die Frage erwogen, ob unserm Vaterlande auch ähnliche Gefahren drohen, wie[S. 497] sie in Frankreich aus der zunehmenden sexuellen Entartung sich ergeben, die bereits zu einem Bevölkerungsstillstande geführt hat. Nun besteht zwar zwischen dem deutschen und französischen Volke auch in sexueller Hinsicht ein gewaltiger Unterschied, und schon Kurtz hat darauf aufmerksam gemacht, dass in diesem Punkte seit alter Zeit ein greller Kontrast zwischen beiden Nationen besteht, wie er sich schon in der Schilderung der germanischen Sitte und Zucht bei Tacitus und der bei Gregor von Tours in dessen Geschichte der Franken offenbart. Dort rohe, aber edle Einfalt, Gradheit der Sitten, Zucht und Keuschheit des Lebens, Heilighaltung der Ehe, Treue, Ehrenhaftigkeit; hier die kolossale Entartung der merowingischen Zeit, brutale Zuchtlosigkeit, treulose Verräterei, Meineidigkeit, Heimtücke, Mordpläne, Giftmischerei, Unersättlichkeit nach Schätzen, Ausschweifungen im geschlechtlichen Leben. Und obschon die schwärzesten Farben des Gregor’schen Gemäldes den Kreisen des Hoflebens angehören, so behauptet Kurtz ganz richtig, dass Entartung auch im Volke eingerissen war.[703] Schon Salvian von Marseille († 485 n. Chr.), der von der sittlichen Verwilderung seiner Zeit in Frankreich ein schreckliches, aber getreues Bild entwirft, behauptet, dass Gott den deutschen Eroberern das Reich hingegeben, weil sie frömmer als die Römer seien.[704]

Indessen seien wir im Hinblick auf diese angeborene und immer wieder durchbrechende sittliche Kraft unseres Volkes nicht zu vertrauensvoll in Beziehung auf unsere Widerstandsfähigkeit gegen die[S. 498] immer mehr Platz greifenden verderblichen Einflüsse aller Art.

Es ist unsere feste Ueberzeugung, die wir mit einem der grössten deutschen Irrenärzte, unserem langjährigen Lehrer E. Kraepelin teilen, dass die grösste Zahl der geschlechtlichen Perversitäten erworben und nicht angeboren ist. Nichts reizt so zur Nachahmung wie sexuelle Dinge und Praktiken aller Art, seien sie noch so ekelhaft! In der dritten Szene von Molière’s „La Critique de l’Ecole des Femmes“ kommt ein Zwiegespräch vor, das auf eine höchst naive Weise diese Wahrheit ausdrückt:

Climène. — Il a une obscénité qui n’est pas supportable.

Elise. — Comment dites-vous ce mot-là, madame?

Climène. — Obscénité, madame.

Elise. — Ah! mon dieu, obscénité. Je ne sais ce que ce mot veut dire; mais je le trouve le plus joli du monde.

Ja, das Wollüstige, das Obscöne zieht unwiderstehlich an, fast jeden Menschen! Denn der Geschlechtstrieb ist nun einmal, wenigstens eine lange Zeit, der Brennpunkt des menschlichen Lebens, und dann ist Manches „le plus joli du monde.“

Wir haben immer diejenige Paedagogik für die beste gehalten, welche mehr negativ ist und das Böse von dem jugendlichen Gemüte abwehrt, statt dieses mit frommen Lehren vollzupfropfen. Am gefährlichsten sind für die Jugend schriftliche und bildliche Darstellungen der Entartungen des Geschlechtstriebes. Eine traurige Wahrheit spricht Rétif de la Bretonne in der Einleitung seiner „Anti-Justine“ aus, wenn er schreibt: „Fontenelle sagte: ‚Es giebt keinen Kummer, der gegen eine Stunde Lek[S. 499]türe Stand hielte.‘ — Nun ist aber von allen Lektüren diejenige der erotischen Werke die anziehendste (la plus entraînante), besonders wenn dieselben mit ausdrucksvollen (expressives) Figuren ausgestattet sind.“ Man sollte die Worte beherzigen, die Emile Zola, dieser freie und grosse Geist, an einen Vater schrieb, der ihm die Frage vorlegte, ob seine Tochter den „Doktor Pascal“ lesen dürfe. Er antwortete: „Ich schreibe nicht für junge Mädchen, und ich denke, dass nicht jede Lektüre für Gehirne gut ist, die noch in der Entwickelung begriffen sind. — Später, wenn das Leben sie frei macht, werden sie lesen, was sie wollen.“[705] Den verderblichen Einfluss der modernen naturalistischen Litteratur schildert Seved Ribbing in seinem ausgezeichneten Buche über die „sexuelle Hygiene“, dessen Lektüre wir jedem Paedagogen empfehlen möchten.[706]

Auch die Kunst hat sich leider zu allen Zeiten in den Dienst der Wollust und der sexuellen Perversion gestellt. Seved Ribbing versichert, dass er öfter bei einem Besuche von Studenten oder anderen jungen Männern Wände und Schreibtisch derselben mit Abbildungen mehr oder weniger entblösster Frauen bedeckt gefunden habe, mit Photographien der Fräulein X. und Y., von Kunstreiterinnen, Café-Sängerinnen, welche „mit und ohne Kleidung in den unglaublichsten Stellungen und Verrichtungen dargestellt sind.“ Rechnet man noch allerlei andere obscöne Bilder hinzu, welche mit „Cigarrenetuis, Breloques, Stöcken und auf tausend anderen Wegen eingeschmuggelt, wohl auch öffentlich in den Tagesblättern angezeigt werden, so fin[S. 500]det man, dass die Verführung auf recht vielfache Weise arbeitet.“[707] Nach Eulenburg existiert sogar ein Sadismus in der Kunst oder „mindestens eine nicht geringe Zahl oft mit virtuoser Technik ausgeführter, aber in bedenklicher Weise sadistisch wirkender Schöpfungen in Malerei und Sculptur.“ Er erwähnt Rodin’s „Pforte der Danteschen Hölle“, Frémiet’s „Gorilla, der ein Weib raubt“, Galliard-Sansonetti’s „Brunhild“, Rochegrosse’s „Andromache“, „Jacquerie“, „Eroberung Babylons“, Albert Keller’s „Mondschein“, Richir’s „Verderbtheit“ und Klinger’s „Salome“.[708] Dass J. J. Winckelmann durch das Studium des griechischen Altertums und der griechischen Kunst zur Knabenliebe sich bekehrte, ist uns sehr wahrscheinlich und bei der Betrachtung des von ihm so sehr geliebten „Pan“ in der Münchener Glyptothek noch mehr zur Gewissheit geworden. Hössli sagt in seinem gedankenreichen Werke über den „Eros“[709]: „Nach unseren Meinungen und Auslegungen müsste das Studium der Antike eigentlich ein gefährliches Bestreben, und London, Paris, Rom und München mit ihren antiken Kunstschätzen gefährliche Orte sein, welche unsere Zeit der reinen Moral und Sittlichkeit mit der Pest der naturabtrünnigen Griechen bedrohen!“

Zweifellos wird der Einfluss der Litteratur und Kunst bei weitem überboten durch die direkte Verführung, von der sich behaupten lässt, dass sie alle Arten der sexuellen Perversion zu erzeugen vermag. Tarnowsky erklärt paederastische Kreise[S. 501] als „mächtige Centren für die Propaganda der Sittenverderbnis“, die durch „Erfahrung und Beispiel“ junge Subjekte verführen. In Paris werden zehn- bis zwölfjährige Kinder durch Ueberredung und Drohungen allmählich zur Masturbation und Sodomie verleitet und dann zu denunzierenden Kynaeden herangebildet — „les petits Jésus“, wie man sie nennt.[710] Und angesichts dieser Thatsachen denkt man an Aufhebung des § 175 des deutschen Strafgesetzbuches! Das hiesse den Teufel durch Beelzebub austreiben. Mögen lieber die paar unglücklichen hereditären Urninge leiden als dass die Paederastie, das entsittlichendste aller sexuellen Laster, für erlaubt und straflos erklärt wird.

Dass es sogar Kotesser aus blosser Gewöhnung giebt, erwähnt Tarnowsky ebenfalls (S. 70).

Nichts erscheint uns ungereimter als der Ausspruch von Hobbes in seinem „Leviathan“ (Pars I, cap. 6). „Alienae calamitatis contemptus nominatur crudelitas, proceditque a propiae securitatis opinione. Nam ut aliquis sibi placeat in malis alienis sine alio fine, videtur mihi impossibile.“ Würden die Hinrichtungen wieder öffentlich oder die altrömischen Gladiatorenkämpfe wieder eingeführt werden, dann würde auch die Zahl der Lustmorde sich vermehren. Noch neuerdings haben wir in den Komorner Folterern Anklänge an die alte Inquisition wieder bekommen. Hobbes kannte die menschliche Natur zu schlecht.

Wie die einzelnen sexuellen Perversionen allmählich erworben werden, schildert unübertrefflich Tarnowsky: „Der entsittlichte Mensch wendet Alles an, was zur Steigerung der Wollust bei[S. 502]tragen kann. Das Gesicht, das Tastgefühl, Gehör, Geruch, sogar der Geschmack zuweilen, kurz alle Sinne werden nacheinander, oder zugleich, in gewisser Weise gereizt, um die geschlechtliche Erregung zur möglichsten Intensität zu bringen. Unter diesen Erregungsmitteln kommt auch die passive Paederastie vor, als zufällige Nebenerscheinung, als ein neuer Reiz, welcher die Erregung steigern kann, die gewöhnlich zum Schluss durch Beischlaf mit einem Weibe befriedigt wird. Zuweilen wird auch der Gebrauch äusserer und innerer Reizmittel, die Lektüre pornographischer Schriften hinzugezogen u. s. w.“[711]

Und als eine Illustration der erschreckenden Wahrheit des Molière’schen „le plus joli du monde“ erscheint der Ausspruch dieses erfahrenen Kenners des modernen Lebens: „Gegenwärtig erscheint das Laster in den Augen der Mehrheit nicht nur verführerisch durch die Kraft, Neuheit oder Mannigfaltigkeit der Empfindungen, sondern es verleiht in der Sphäre der eigentlichen Geschlechtsthätigkeit dem Wüstling einen gewissen Anstrich von Epikuräismus, Ausgesuchtheit, Verwöhntheit und Ueberlegenheit vor anderen Menschen, die anscheinend weniger entwickelt, aber sittsamer und enthaltsamer sind.“[712]

Der geschlechtlichen Corruption kann nur auf eine einzige Weise entgegen gearbeitet werden. Die Bekämpfung der Prostitution, des Mädchenhandels, der, wie die Verhandlungen der internationalen kriminalistischen Vereinigung in Budapest (1899) gezeigt haben, wieder eine grosse Ausdehnung angenommen hat, des Alkoholismus, der Verführung durch Bücher, Schaustellungen u. s. w. sind nur Palliativmittel.[S. 503] Schon Seved Ribbing betont, dass nur die Aufklärung, d. h. geistige Bildung, das nun einmal in der Welt vorhandene Uebel paralysieren könne (a. a. O. S. 93). Wir haben in der Einleitung dieses Werkes als das wahre Ziel der menschlichen Liebe die geistige Freiheit, den Gedanken, den Begriff, als das wahrhaft Objektive und Unvergängliche kennen gelernt. Die Grundlage jeder Ethik ist die Reflexion, der Verstand, den W. Stern mit grossem Unrecht ganz aus der Ethik entfernen will.[713] Er will die Ethik ganz auf die Gemütswelt basieren. Das ist Utopie. Nur wo der Geist, der Begriff in der Welt herrscht, kann wahre Sittlichkeit gedeihen. Denn die wahre geistige Natur des Menschen entbehrt nicht des Gemütslebens, sie hebt es nur mit sich empor und adelt es. Mit dem Gemüte allein verdirbt man alles in „einer eisernen Zeit, inmitten ernster Erforschung des Wirklichen“.[714] Schön sagt Hegel, dass gerade „aus dem Ueberdruss an den Bewegungen der unmittelbaren Leidenschaften“ sich der Mensch zur Betrachtung und geistigen Durchdringung der Dinge heraus macht. Weder die Liebe, noch die Freundschaft, noch die Familie, noch Kunst und Religion an und für sich vermögen die dem Menschen innewohnende Sehnsucht nach dem Ewigen zu befriedigen. Alles gipfelt im Erkennen. „Die Seligkeit des Erkennens ist die höchste menschliche Befriedigung, sie ist die unvergängliche Quelle, von der ein Trunk den Durst auf ewig stillt; sie ist das, was ich den absoluten Genuss nenne. Die Sehnsucht nach dem Ewigen, dieser Heimat des[S. 504] Geistes, kann sich nur im Wissen befriedigen; in allen früheren Formen der Befriedigung, in dem natürlichen Genusse, in der Liebe, dem Staate, der Kunst, der Religion, konnte sich das wahre Bedürfnis des Geistes nie ganz erfüllen, jede dieser Formen blieb mit einem Widerspruch behaftet, der erst in der Philosophie sich zur vollen Befriedigung auflöste.“[715]

Niemand hat wohl begeisterter die veredelnde Wirkung der geistigen Bildung auf die Moralität gepriesen, als die beiden grossen englischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, die wahren praktischen Lebenskünstler Buckle und Lecky. Nach Letzterem versteht es sich von selbst, dass „jeder Einfluss, welcher den Bereich und die Kraft des Vorstellungsvermögens vergrössert, auch die liebenswürdigen Tugenden befördert, und ist es ebenso klar, dass die Erziehung diese Wirkung im höchsten Grad besitzt. Ein ungebildeter Mensch kann sich von den ihm fremd gebliebenen Menschenklassen, Völkern, Gedankenrichtungen und Existenzen keine Vorstellung machen, während jede Erweiterung des Wissens eine Erweiterung der Einsicht und daher des Mitgefühles mit sich bringt. — Dieselbe intellectuelle Kultur, welche die Vergegenwärtigung des Schmerzes erleichtert und daher Mitleid erzeugt, erleichtert auch die Vergegenwärtigung der Charaktere und Meinungen, und erzeugt daher Milde. Die Errungenschaft dieses Vermögens der intellectuellen Sympathie ist die gewöhnliche Begleiterin eines grossen und gebildeten Geistes.“[716]

[S. 505]

Der Gedanke an den Tod und an die ewige Vergeltung, mit welcher manche Moralisten und fast alle Confessionen den fleischlichen Sünder bedrohen, ist nach unserer Ansicht eher geeignet, die Sinnlichkeit zu schüren, wie ja auch gerade die mit Hölle und Fegefeuer drohende katholische Kirche unter ihren Bekennern nicht eben sittlich reinere Menschen zählt als die übrigen Confessionen. Uns erschien immer der siebenundsechzigste Lehrsatz des vierten Teiles der Ethik des Spinoza als eine der erhabensten Maximen der Lebensweisheit:

„Der freie Mensch denkt über nichts weniger nach, als über den Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachdenken über den Tod, sondern über das Leben.“

Was nach dem Tode sein wird, das hat Sokrates in den herrlichen Schlussworten der platonischen „Apologie“ verkündigt[717]. Wir aber sind im Leben, welches dem Geiste so unendlich viele, anziehende und der Erforschung würdige Probleme bietet. Beherzigen wir des Septimius Severus gedankenschweres Wort „Laboremus“, arbeiten wir unausgesetzt an unserer Vervollkommnung, die nicht anders möglich ist als durch geistige Thätigkeit, und lehren wir auch unsere Kinder die „Seligkeit des Erkennens“, dann werden wir unseren Nachkommen ein Bekenntnis ersparen, in wel[S. 506]ches eines jener verderblichen Bücher des 18. Jahrhunderts, der „Faublas“ elegisch ausklingt: „Beklagen Sie mich nicht, beneiden Sie vielmehr mein Loos und sagen Sie nur, dass es für glühende und gefühlvolle Menschen, die in der ersten Jugend den Stürmen der Leidenschaften preisgegeben waren, nie mehr ein vollkommenes Glück auf Erden giebt.“

[S. 507]

VI.
Bibliographie.

1. Romane und Novellen.

1. Justine ou les Malheurs de la vertu, en Hollande, chez les Libraires associés, 1791, 2 Bände in 8o, 283 und 191 Seiten. Titelbild von Chéry. (Erwähnt im Katalog von Pixérécourt unter No. 1239) Neudruck als „Liber Sadicus“ Paris 1884 in 8o 340 Seiten (bei I. Liseux). Auch englisch.

2. Justine ou les Malheurs de la vertu, en Hollande, chez les Libraires associés, 1791. 2 Bände in 12o. Kleines Titelbild von Texier. Einige Exemplare dieser Ausgabe enthalten 12 obscöne Bilder mit Totenköpfen, Ketten und Hinrichtungsinstrumenten. Enthält bereits die ersten textlichen Vergröberungen.

3. Justine ou les Malheurs de la vertu, à Londres (Paris, Cazin). 1792. 2 Bände in 16o von 337 und 288 Seiten. Hübsches Titelbild nach Chéry und 5 obscöne Bilder ohne Namen. Aus der geheimen Druckerei von Cazin. Hier sind ganze Szenen umgearbeitet.

4. Justine ou les Malheurs de la vertu, 3me édition (4me) corrigée et augmentée, à Philadelphie, 1704, 2 Bände in 18o, mit 8 obscönen Bildern, unter ihnen ein allegorisches Titelbild ohne Namen. Im Vorwort ein „avis de l’éditeur“ und eine Widmung des Autors „A ma bonne Amie“. Sehr schöne Ausgabe.

[S. 508]

5. Justine ou les Malheurs de la vertu, à Londres (Paris) 1797, 4 Bände in 18o mit 6 Bildern und neuen Episoden. Eine typographische Luxusausgabe.

6. Justine ou les Malheurs de la vertu, en Hollande, 1800, 4 Bände, in 18o von 136, 134 und 132 Seiten, 12 obscöne Bilder, von denen 4 Titelbilder sind. Nachdruck der Ausgabe Cazin von 1792.

7. Juliette ou la Suite de Justine, 1ère édition S. L. 1796, in 8o 4 Bände. — Ferner Kehl 1797 (ohne Bilder) und 1798 (60 Bilder) 6 Bände in 18o.

8. La Nouvelle Justine ou les Malheurs de la vertu, suivi de l’Histoire de Juliette sa sœur, ou les Prospérités du vice, Hollande (Paris, Bertrandet oder Didot?), 1797, 10 Bände in 18o. Die „Justine“ umfasst 4, die „Juliette“ 6 Bände. Ein Titelbild und 100 Bilder, bei dem 2ten Nachdruck 104. Am Ende von Band VI Anweisung an den Buchbinder betreffs Reihenfolge der Bilder, fehlt meistens. Die Zahl der Bilder ist in vielen Exemplaren eine geringere als 104, meist 100. Häufige Nachdrucke des Werkes schon in den ersten Jahren nach Erscheinen, mit Lithographien, z. B. eine durch Colnet besorgte. Die modernen in Belgien seit 1830 veranstalteten Ausgaben haben denselben Titel und dasselbe Datum. (Eine vollendet im Oktober 1875 zu Brüssel.)

9. La Philosophie dans le boudoir ou les Instituteurs libertins, Dialogue. Ouvrage posthume de l’auteur de Justine. A Londres (Paris), aux dépens de la Compagnie, MDCCXCXC (für 1795), 2 Bände klein 18o, 290 und 216 Seiten, 1 Titelbild und 4 obscöne Bilder. Diese Ausgabe neuerdings in Belgien mehrere Male (1868 u. ö.) nachgedruckt. Motto: La mère en prescrira la lecture à sa fille.

10. La Philosophie dans le boudoir, ou les Instituteurs immoraux, Ouvrage Posthume par l’auteur de Justine. London, aux dépens de la Compagnie MDCCCV. 2 Bände, klein 8o, 203 und 191 Seiten, 10 obscöne Lithographien.

11. La Philosophie dans le boudoir, Londres (Paris), 1830, 2 Bände in 18o mit 10 Lithographien. In einigen Exemplaren schlechte Photographien.

[S. 509]

12. Aline et Valcour ou le Roman philosophique. Ecrit à la Bastille un an avant la Révolution de France. Orné de quatorze gravures. Par le Citoyen S***. A Paris, Chez Girouard, Libraire, rue du Bout-du-Monde, no. 47, 1793. 4 Bände in 18o (8 Teile) XIV, 315, 503, 575, 374 Seiten. 14 nicht obscöne Bilder.

13. Aline et Valcour ou le Roman philosophique. Ecrit à la Bastille un an avant la Révolution de France. Orné de quatorze gravures. Par le Citoyen S***. A Paris. Chez la veuve Girouard, Libraire, au Palais Egalité, Galerie de Bois, No. 196. 1795. — Eine andere gleiche Ausgabe desselben Jahres enthält 16 Bilder. Im Vorwort 7 lateinische Verse aus Lucrez.

14. Aline et Valcour ou le Roman philosophique, écrit à la Bastille, un an avant la Révolution, par le Citoyen S***. Paris, Maradan, 1795, 8 Teile in 18o mit Bildern und neuem Titelbild (Veritas impavida). Von „Aline et Valcour“ existieren mehrere Neudrucke. Letzte Ausgabe, Brüssel 1883 bei J. J. Gay, 4 Bände in 8o.

15. Valmor et Lydia ou Voyage autour du monde de deux amants qui se cherchent, Paris, Pigoreau ou Leroux, an VII, 3 Bände in 12o. Abgekürzte Copie von „Aline et Valcour.“

16. Alzonde et Koradin, Paris, Cercoux et Montardier, 1799, 2 Bände in 18o. Abgekürzte Copie von „Aline et Valcour“.

17. La Marquise de Ganges, Paris, Béchet, 1813, 2 Bände in 12o. Langweiliger Roman, der dem Marquis de Sade zugeschrieben wird, (von Pigoreau in der „Petite Bibliographie biographico-romancière“ Paris Oktober 1831 S. 309.) Nach Quérard hat de Sade hier eine historische Thatsache verändert, indem er die Marquise zum Werkzeug und Opfer ihrer unwürdigen Schwäger und ihres Gatten werden lässt. Das Motto des Werkes lautet: „Le ciel qui ne laisse rien d’impuni sur la terre, vengera la vertu des outrages dont le crime cherche à l’écraser.“ Gay citirt die folgende Stelle, die nach seiner Ansicht sadischen Geistes ist: „Le crime est si cruel à peindre, les couleurs dont un historien fidèle doit le nuancer, sont à la fin si sombres et si lugubres, qu’au lieu de l’offrir à nu, en préférerait souvent[S. 510] se laisser deviner ou se tracer lui même plus par les faits qui le constituent que par les crayons dégoûtants, dont en est forcé de le dessiner. Il est si facile d’éluder les lois; il est tant de crimes secrets qu’elles n’atteignent pas, et l’homme puissant les brave avec tant d’audace.“ Gay „Bibliogr. de l’amour“ IV, S. 428–429.

18. Pauline et Belval ou les Victimes d’un amour criminel, anecdote parisienne du XVIIIe siècle, avec romances et figures Paris an VI (1798), 3 Bände in 12o, und Paris, chez Chambon, 1817, 2 Bände in 12o mit Bildern. — Nach Pigoreau von Sade.

19. L’Etourdi, Lampsaque, 1784. 2 Bände in 18o. Nach Paul Lacroix von Sade. Enthält ein Kapitel („La comédie“) über Sade’s Theater in La Coste. Wird auch dem Andréa de Nerciat zugeschrieben. Neuausgabe Brüssel (Gay et Doucé) 1882, 2 Bände kl. 8o. 138 und 104 S.; mit 2 Titelbildern von Chauvet. Vgl. Gay-Lemonnyer „Bibliogr. de l’am.“ II, 176.

20. Les Crimes de l’Amour ou le Délire des passions; Nouvelles historiques et tragiques, précédées d’une Idée sur les Romans et ornées de gravures, par D. A. F. Sade, auteur d’Aline et Valcour. A Paris, chez Massé, an VIII. 2 Bände in 8o und 4 Bände in 12o. 4 Titelbilder. Motto, aus den „Nights“ von Young entlehnt: Amour, fruit délicieux que le ciel permet à la terre de produire pour le bonheur de la vie, pourquoi faut-il que tu fasses naître des crimes, et pourquoi l’homme abuse-t-il de tout? — Die Titel der 11 in dieser Sammlung enthaltenen Novellen lauten: Juliette et Raunai, ou la Conspiration d’Amboise — La Double épreuve — Miss Henriette Stralsond — Faxelange — Florville et Courval — Rodrigue — Laurence et Antonio — Ernestine — Dorgeville, ou le Criminel par vertu — La comtesse de Sancerre — Eugène de Franval.

21. Zoloé et ses deux acolythes (sic) ou Quelques Décades de la vie de trois jolies femmes. Histoire véritable du siècle dernier, par un contemporain. A. Turin (Paris) chez tous les marchands de nouveautés. De l’Imprimerie de l’auteur. Thermidor, an VIII, in 12. Ein Titelbild, welches Josephine de Beauharnais, Madame Tallien und die Visconti darstellt (Laureda, Volsange sind die beiden letzteren, Zoloé die erstere).

[S. 511]

22. Zoloé et ses deux Acolytes Discours aux Manes de Marat L’Auteur des Crimes de l’Amour à Villeterque Avec Notices Biographiques Bruxelles Chez tous les Libraires 1867 und 1870, in 12o. CII und 178 S. Titelbild von F. Rops.

23. Dorci ou la Bizarrerie du Sort, Conte inédit de de Sade, chez Charavay Paris 12o, 1 Titelbild, 1881, enthält auch An. France „Notice sur de Sade“, 22 Seiten.

24. L’Auteur des Crimes de l’Amour à Villeterque, folliculaire. Paris, Massé an IX, in 12o, 19 S. (Antwort auf einen Angriff von Villeterque im Journal de Paris von 1800.)

25. Couplets chantés à Son Eminence le Cardinal Maury, le 6 octobre 1812 à la maison de santé près de Charenton, in Revue rétrospective Paris 1833. Bd. I, S. 262 ff.

2. Dramatische Werke.

26. Oxtiern ou les Malheurs du libertinage, drame en 3 actes et en prose, par D. A. F. S. Versailles, Blaizot, an VIII, in 8o, 48 Seiten. (Im November 1791 und Dezember 1799 aufgeführt.)

3. Manuscripte.

27. TrenteContes“.

28. Le Portefeuille d’un homme de lettres, (4 Bände, geschrieben 1788 in der Bastille).

29. Conrad; historischer Roman aus der Albigenserzeit. (Confisciert 1801.)

30. Marcel; Roman.

31. Isabelle de Bavière; ein historischer Roman, in Charenton verfasst.

32. Adélaide de Brunswick; ein historischer Roman eben dort geschrieben. Beide Romane düster, aber ohne Blasphemien und Obscönitäten.

[S. 512]

33. 5 Hefte Bemerkungen, Gedanken, Auszüge, Lieder u. s. w. aus der Zeit des letzten Aufenthaltes in Charenton.

34. Les 120 Journées de Sodome ou l’Ecole du Libertinage, écrites en 20 soirées, de 7 à 10 heures, et finies le 12 November 1785. Ein Manuscript des Marquis de Sade besitzt gegenwärtig der Marquis de V.—, dessen Grossvater es von Armoux de St. Maximin erhielt, der bei der Zerstörung der Bastille zugegen war und dieses kostbare Manuscript in dem Raume fand, in dem der Marquis de Sade gefangen gesessen hatte. Pisanus Fraxi (Index librorum prohibitorum, London 1877 S. 422–424) beschreibt es folgendermassen: Das Manuscript besteht aus einer Reihe von Papierstücken, 4½ Zoll oder 11 Zentimeter breit, alle zusammengeheftet und eine Rolle von 12110 Meter bildend. Jedes Stück Papier ist auf beiden Seiten beschrieben mit der Handschrift des Marquis de Sade und so kleiner Schrift, dass man die Buchstaben mit einem Vergrösserungsglase lesen muss. Das Manuscript enthält eine kurze Vorrede und 52 Kapitel; es werden darin die Thaten einer Gesellschaft von Wüstlingen beider Geschlechter erzählt, die zwei Häuser in der Nachbarschaft von Paris hat und enorm reich ist. Der Roman ist so obscön wie die „Justine“, aber nicht so reich an philosophischen Excursen. Er schliesst: „terminée le 25. Nov. 1783.“[718] Fraxi hält dies Ms. für die von Rétif de la Bretonne häufig erwähnte „Théorie du libertinage“. Gegenwärtig befindet sich dies Manuscript in den Händen eines Marseiller Buchhändlers, der es für 5000 Frcs. zum Verkauf anbietet.[719]

35. Entwurf einer Bordelleinrichtung, im Besitz des Pariser Bibliophilen M. H. B.[720] Dieses Project des Marquis de Sade erwähnt Rétif de la Bretonne in „Monsieur Nicolas“ Bd. XVI, S. 4783.

[S. 513]

36. Julia ou la Mariage sans femme, folie-vaudeville en 1 acte. Katalog der dramatischen Bibliothek des Herrn de Soleinne No. 3879. Die Handschrift gleicht derjenigen des Marquis de Sade. Obscönes Stück, das die Paederastie verherrlicht.

37. Le Misanthrope par amour ou Sophie et Desfrancs, comédie en 5 actes et en vers. Aufgeführt im Théâtre-Français im Jahre 1790.

38. L’Homme dangereux ou le Suborneur, comédie en 1 acte et en vers de dix syllabes. Aufgeführt im Théâtre Favart 1790.

39. La France f....., comédie lubrique et royaliste, no. 5796 (1796), in 8o gedruckt. Wird von Paul Lacroix (im Katalog Soleinne unter No. 3876) dem Marquis de Sade zugeschrieben. Das Stück muss erst nach 1796 gedruckt worden sein, wie die folgenden Verse beweisen:

Buonaparte règne en maître
A sa guise il nous fait des lois
Puis, en despote, il nous les donne,
Petit-fils d’un petit bourgois,
Assis sur le trône des rois,
Que lui manque-t-il? la couronne.

Das deutet auf die Zeit des Consulates. Das Stück figuriert in verschiedenen Katalogen (Saint-Mauris, Baillet, Leber No. 5016 und Pixérécourt’s Katalog des Jahres 1839 S. 368). Am Anfang der 70er Jahre dieses Jahrhunderts wurde ein Neudruck von wenigen Exemplaren (Strassburg 1871, 12o, VIII, 118) veranstaltet. Die Personen der Komödie sind Frankreich, England, die Vendée, der Herzog von Orléans, der Graf de Puisaye, der König von Preussen, Kaiser Franz II. und König Karl IV. von Spanien. Das Stück ist dem Polizeiminister mit folgenden Worten gewidmet: „Devine si tu peux, et choisis si tu l’oses.“ Die Vorrede beginnt: „J’ai cherché à être lu par tout le monde. Si mon ouvrage va jusqu’à la postérité, je la supplie de ne pas me juger sur le style, mais sur le fond. Lecteurs, ne vous prévenez pas contre le titre; femmes aimables pardonnez-le moi! plus vous me lirez, plus je réclame votre indulgence. Libertins, hommes de lettres, politiques, historiens, philosophes, patriotes, royalistes, étrangers, lisez-moi; j’écris pour vous tous. Et vous, souveraine,[S. 514] de ma pensée, vous que j’adore, si vous me devinez, ne craignez rien pour le sentiment. J’ai écrit avec ma plume; mon cœur n’y est pour rien.“ Das obscöne Stück enthält zahlreiche Noten mit Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse. Echt sadisch ist das Geständnis: „Lorsqu’il s’agit du bien, qu’importe comment on l’opère? N’avez vous jamais pris de poison pour vous guerir?“ Unter den zahlreichen bissigen Ausfällen gegen hervorragende Zeitgenossen sind hervorzuheben: „Notre Brutus de Douay (Merlin), de mauvais mari devint mauvais père, autant qu’il était mauvais Français. — Notre Caïn (J. M. Chénier) dénonça son frère Abel, et le fit assassiner, non par la jalousie de ses succès, mais pour avoir ses ouvrages, qu’il nous donne comme les siens.“

40. L’Epreuve, comédie en 1 acte et en vers. Confisziert 1782 wegen anstössiger Stellen.

41. L’École des jaloux; le Boudoir. Aufgeführt 1791 im Théâtre Favart.

42. Cléontine ou la fille malheureuse, drame en 3 actes et en prose. 1792?

43. Le Prévaricateur ou le Magistrat du temps passé.

44. Le Capricieux ou l’Homme inégal. Angenommen vom Théâtre Louvois, aber vom Autor zurückgezogen.

45. Les Jumelles, 2 actes et en vers.

46. Les Antiquaires, 1 acte et en prose.

47. Henriette et Saint-Clair ou la Force du sang. Drame.

48. L’Egarement de l’infortune.

49. Le Père de famille.

Ueber diese drei letzten Manuscripte schreibt die Marquise de Sade im Jahre 1787 an ihren Gatten (Ginisty a. a. O. S. 28): „J’ai lu Henriette, et j’y ai reconnu l’auteur de l’Egarement de l’infortune. Je la trouve bonne foncièrement et faite pour faire le plus grand effet vis à vis ceux qui ont de l’âme. Elle ne révoltera que les âmes pusillanimes qui ne sentiront pas la position et la situation. Elle est assez différente du Père de famille pour n’être pas crue calquée dessus. En général, elle a de grandes beautés. Voila[S. 515] mon avis sur une simple lecture. Je la relirai encore plus d’une fois, parce que j’aime à la folie tout ce qui vient de toi, étant trop partiale pour en juger sévèrement.“ Danach fällt die Abfassung dieser Manuscripte in das Ende der 80er Jahre.

50. Franchise et trahison.

51. Fanny ou les Effets du désespoir.

52. Entwurf eines Gladiatorenschauspiels.

Diese und noch zahlreiche andere Manuscripte befinden sich im Besitze der Familie de Sade. Durch die kürzlich erfolgte Veröffentlichung der Briefe der Marquise de Sade durch Paul Ginisty ist hoffentlich diejenige der übrigen auf den Marquis de Sade sich beziehenden Schriftstücke inauguriert worden. Ihm ist im Jahre 1900 Cabanès mit seiner wertvollen Studie gefolgt, die neue zahlreiche archivalische Dokumente zur Sade-Biographie beibringt. Die Sade-Forschung, welche in der letzten Zeit in ein lebhafteres Tempo zu geraten scheint, bedarf dringend weiteren Materials zum Studium eines der merkwürdigsten Menschen und Schriftsteller.

4. Schriften im Sinne des Marquis de Sade.

53. L’Anti-Justine ou les Délices de l’Amour. Par M. Linguet, av. au et en Parlem. Epigraphe: Casta placent superis. — Manibus puris sumite (cunnos). Avec soixante figures. Première partie. Fleuron: Tête de faune couronnée de feuilles et de raisins. Au Palais-Royal: chez feu la veuve Girouard, très-connue. 1798. Deux parties in 12. Mehrere Neudrucke in Brüssel, einer (1863) in 2 Bänden, in-18o, mit schlechten colorierten Lithographien, die andern sorgfältiger, in-12o, mit Gravüren. Weitere Neudrucke „conformes à l’édition originale“ s. l. (Brüssel 1864) 12o, VIII, 260 S. (6 obsc. Gravüren); s. l. (Brüssel, 16 mittelm. Lithogr.); s. l. (Brüssel J. Gay) 16o; Amsterdam chez de Kick (Brüssel) 12o 2 Bde. VIII, 114 und 166 S.; 6 freie Bilder; s. l. (Amsterdam) 2 versch. Ausgaben, (eine blosser Text, andere mit 38 freien Bildern); Brüssel 1890 XVI, 103, 143 S. (in 1 Bd.) 8o ohne Bilder. — In der Vorrede heisst es über Sade: „Blasé sur les femmes, depuis longtemps, la Justine de Dsds. me tomba sous la main; elle me mit en feu... Personne[S. 516] n’a été plus indigné que moi des ouvrages de l’infame de Sades, que je lis dans une prison. Ce scélérat ne présente les délices de l’amour, qu’accompagnés de tourments, de la mort même.“ Der Zweck des Verfassers (Rétif de la Bretonne) ist ein anderer: „Mon but est de faire un livre plus savoureux que les siens, et que les épouses pourront faire lire à leurs maris; un livre où les sens parleront an cœur; où le libertinage n’ait rien de cruel pour le sexe des Grâces, où l’amour, ramené à la Nature, exempt de scrupules et de préjugés, ne présente que des images riantes et voluptueuses.“ Die auf dem Titel angegebenen 60 Bilder fehlen.

54. Pauliska, ou la Perversité moderne, mémoires récents d’une Polonaise. Paris, Lemierre et chez Courcier, an VI (1798), 2 Bände in 12o. 2 Bilder nach Art des Chaillu. Verfasser ist Jacques Baron Révérony de Saint-Cyr (1767–1829). Das eine Bild stellt eines Mann dar, der vor einer Frau kniet und ihren Arm beisst, bis das Blut kommt; das zweite zwei Frauen und ein Kind inmitten des Brandes und Zusammensturzes eines Schlosses. — Im „Tribunal d’Apollon“ Petit Dictionnaire des auteurs contemporains (Paris, an VIII, 2 Bde.) wurde der Roman sofort als einer „à la Sade“ qualificiert. Mit Bezug auf die Stellung des Verfassers im Géniecorps wird hinzugefügt: „De grâce, citoyen Révéroni, employez votre génie au génie.“

55. Sabina d’Herfeld ou les Dangers de l’imagination. Paris 1757–1758. 2 Bände in 12o. Verf. Révérony de Saint-Cyr.

56. Le Torrent des passions, ou les Dangers de la galanterie. Paris, Barba, 1818. 2 Bde. Verf. Révérony de Saint-Cyr.

57. Le Dominicain, ou les crimes de l’intolérance et les effets du célibat réligieux par T......e (E. L. J. Toulotte), Paris, Pigoreau, 1803, 4 Bände in 12o.

58. Justine ou les Malheurs de la vertu avec préface par Marquis de Sade. Paris, Olivier, Impr. Maltesse, 1835, 2 Bände in 8o, und Paris, bei Bordeaux, éditeur, Hôtel Bullion, 1836, 2 Bände in 8o. Verfasser Raban. Eine buch[S. 517]händlerische Speculation, die nur durch den Titel an den gleichnamigen Roman des Marquis de Sade erinnert. Verwässerte Imitation desselben.

59. Aus den Memoiren einer Sängerin. Boston. Reginald Chesterfield (Verlagsbureau Altona) kl. 8o, 2 Bände, VII, 244 und 251 S. Bd. I erschien 1862 (nach Fraxi 1868) und 1870. Bd. II 1875. — Neudruck, Bucarest, Jacob Casanova (sic!) 2 Bde.

Soll Autobiographie der Schröder-Devrient sein. Das einzige uns bekannte deutsche Buch im Genre der Schriften des Marquis de Sade.

60. Virilités par Émile Chevet, Paris, A. Lemerre, 1882, in 18o. Sammlung von Gedichten. Besonders „Le Fauve“ ist eine glühende Apologie des Sadismus und des Marquis de Sade.

Betreffs der übrigen sadistischen Romane verweisen wir auf das betr. Kapitel in Abschnitt IV.

61. Im Fructidor des Jahres VII liess Prévost, Direktor des Théâtre sans prétention ein Stück „Justine ou les Malheurs de la vertu“ ankündigen, dessen Aufführung die Polizei verbot.

5. Schriften über den Marquis de Sade und den Sadismus.

62. Lettre sur le Roman intitulé Justine ou les Malheurs de la vertu par Charles Villers Paris 1877. Kl. 8o 23 S. Neuausgabe von A. P. Malassis. Das Original erschien im Jahre 1797 im „Spectateur du Nord“ Band IV.

63. Interessante Mitteilungen über die Theateraufführungen Sades in Charenton, Brief vom 23. Mai 1810 an Madame Cochelet, an den Direktor Coulmier in „Revue anecdotique“, Bd. X (Nouvelle Série, Bd. I) 1860. S. 101 bis 106.

64. Mémoires secrets pour servir à l’histoire de la République des Lettres en France ou[S. 518] Journal d’un observateur, Bd. VI, S. 162–163. (Affäre von Marseille.)

65. Lettres de la Marquise Du Deffand à Horace Walpole, depuis comte d’Orford, écrites dans les années 1766 à 1780 etc. Nouv. édit. corrigée. Paris 1812. Bd. I, S. 225 bis 227; 228–229 (Affäre Keller).

66. Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Rétif de la Bretonne par P. L. Jacob, bibliophile. Paris 1875 S. 413–423 (Rétif’s Beziehungen zum Marquis de Sade nach Stellen aus seinen Schriften).

67. Détention du marquis de Sade in: Revue rétrospective Bd. I, Paris 1833 S. 256 ff.

68. L’espion Anglais London 1784 Bd. II, S. 393 bis 395 (Affären von Marseille und der Keller).

69. Journal de la cour et de Paris, depuis le 28 novembre 1732 jusqu’au 30 novembre 1733 in: Revue rétrospective Bd. VII, 1836 S. 118–119 (Voltaire und die Familie Sade).

70. Histoire physique, civile et morale de Paris par J. A. Dulaure. Paris 1821 Bd. VI, S. 224. (Urteil über den Marquis de Sade).

71. Charles Nodier „Souvenirs, épisodes et portraits pour servir à l’histoire de la révolution et de l’empire“. Paris 1831 Bd. II, S. 57–60. (Ueber die Persönlichkeit Sade’s).

72. Petite Bibliographie biographico-romancière etc. par Pigoreau Paris, Octobre 1821 S. 309. (Ueber Leben und Schriften.)

73. J. S. Ersch, „Supplément à la France littéraire de 1771–1796“, Hamburg 1802 S. 412.

74. J. S. Ersch, „La France littéraire“ Hamburg 1798 Bd. III, S. 221–222.

75. Jules Janin „Le Marquis de Sade“ in: Revue de Paris. Bd. XI, 1834, S. 321–360. Nachgedruckt in den „Catacombes“ Bd. I, 1839 und abgekürzt in „Le Livre“ Paris 1870 S. 279–292. Auch deutsch Leipzig 1835 8o.

76. Paul L. Jacob, bibliophile „La Vérité sur les deux procès criminels du Marquis de Sade“ Revue de Paris 1837. Bd. XXXVIII, S. 135–144. Später als eine der „Dissertations sur quelques points curieux de l’Histoire et de l’Histoire littéraire[S. 519] par le Bibliophile Jacob“ wieder erschienen. Endlich nochmals abgedruckt in „Curiosités de l’Histoire de France, 2e série: Les Procès célèbres.“ Paris 1858, in 12o S. 225 ff.

77. Le Marquis de Sade, Paris, chez les Marchands de nouveautés, 1834. Ein Band in 12o VIII, 62 S. mit einem Phantasieporträt des Marquis de Sade aus der Sammlung des Herrn de la Porte. Das Datum ist falsch, da diese Publikation nur ein Nachdruck der Artikel von Janin und Lacroix ist, letzterer aber erst 1837 seine Abhandlung schrieb.

78. Dictionnaire des Athées par Sylvain Maréchal 2e éd, par J. Lalande, Bruxelles 1833 Supplément S. 84. (Sade als Atheist).

79. Biographie universelle ancienne et moderne (Michaud) Paris 1863. Bd. 37, S. 217–224. (Artikel des jüngeren Michaud).

80. Biographie universelle et portative des contemporains depuis 1788 jusqu à nos jours. Paris 1836. Band V, S. 698–699.

81. Biographie générale Bd. XLII. (Artikel von J. M. r. i.)

82. Jules Renouvier „Histoire de l’art pendant la révolution“ Paris 1863 S. 269. (Obscöne Bilder zu den Werken Sade’s).

83. Le Marquis de Sade, l’Homme et ses écrits. Etude bio-bibliographique. Sadopolis, chez Justin Valcourt, à l’enseigne de la „Vertu malheureuse“, l’an 0000 (Bruxelles, J. Gay, 1866) in 12o, 72 S., Verfasser P. G. Brunet. Confisziert 1874. Enthält den Anhang: Le Discours prononcé à la Section des Piques, par Sade, citoyen de cette section et membre de la Société populaire. — Die Schrift ist wieder abgedruckt in „Zoloé et ses deux Acolytes etc.“ (Siehe No. 22.)

84. Index librorum prohibitorum being Notes bio-biblio-iconographical and critical on curious and uncommon Books by Pisanus Fraxi, London 1877. S. 30–39 (Analyse von „Aline et Valcour“ Mitteilungen über Sade), S. 406–410 (Analyse von „Zoloé et ses deux Acolytes“) S. 422–424 (Ueber ein Sade’sches Manuscript).

85. Justine und Juliette oder die Gefahren der Tugend und die Wonne des Lasters. Kritische[S. 520] Ausgabe nach dem Französischen des Marquis de Sade. Leipzig Carl Minde (1874) kl. 8o 155 S. Im wesentlichen ein Phantasieprodukt, doch nicht ohne einige treffende Bemerkungen.

86. Die Schule der Wonne. Aus dem Französischen des Werkes „La philosophie dans le boudoir“ vom Marquis de Sade, Verfasser von „Justine und Juliette“ Leipzig. Carl Minde. (1875?) Enthält eine Analyse der philosophischen Excurse in der „Philosophie dans le Boudoir“ und ebenfalls schätzbare Bemerkungen.

87. Idée sur les Romans par D. A. F. de Sade publiée avec préface, notes et documents inédits par Octave Uzanne Paris 1876 Edouard Rouveyre gr. 8o XLVIII, 50 S. Die „Préface“ enthält eine Biographie Sade’s und eine Bibliographie von 37 Nummern, sowie einige Briefe des Marquis de Sade an die Direktion der Comédie Française. Dann folgt der Abdruck der „Idée sur les Romans“ mit Anmerkungen.

88. Le Livre par J. Janin, Paris 1870. 8o S. 291 (Testament)

89. Cazin, sa vie et ses éditions, Cazinopolis 1863 kl. 8o S. 149. (Ueber die zweite Ausgabe der „Justine“.)

90. Les Crimes de l’amour. Précédé d’un Avant-propos, suivi des Idées sur les romans, de l’auteur des crimes de l’amour à Villeterque, d’une notice bio-bibliographique du marquis de Sade: l’homme et ses écrits et du discours prononcé par le marquis de Sade à la section des Piques. gr. 8o Bruxelles Gay et Doucé 1881, VI, 273 S. Eine sehr schätzbare Kollection von Sadiana. Von uns im Text stets als „Les Crimes de l’Amour etc.“ zitiert. Inhalt: Abdruck der historischen Novelle „Juliette et Raunai ou la conspiration d’Amboise“ (aus der Novellensammlung „Les crimes de l’amour“) S. 1–96; die „Idée sur les Romans“ S. 97–135. „L’auteur des crimes de l’amour à Villeterque folliculaire“. S. 137–153; „Le Marquis de Sade, l’homme et ses écrits“ S. 155–264 (neuer und bedeutend vermehrter Abdruck der Brunet’schen Bio-Bibliographie); „Section des Piques. Discours etc. par Sade, citoyen de cette section, et membre de la Société populaire“, S. 265–272.

91. La curiosité littéraire et bibliographique 1e et 3e série. Paris 1882. Enthält im 1. Bande kurz[S. 521] Analyse der „Justine“, im 3. Bande S. 131–169 eine zwar sehr unvollständige, aber an treffenden Bemerkungen reiche Analyse der „Juliette“, sowie S. 169–176 den Abdruck des sadistischen Gedichtes „Le Fauve“ von E. Chevé.

92. A. Eulenburg „Der Marquis de Sade“ in: Die Zukunft VII. Jahrgang No. 26, vom 25. März 1899 S. 497–515. Eine geistvolle Studie, welche die Sade-Forschung in Deutschland eröffnet. Inhalt: Allgemeines über die Bedeutung des Marquis de Sade S. 497–499; das Leben S. 499–504; die Werke S. 504 bis 507; geistig-sittliches Niveau und Zusammenhang mit anderen Zeitrichtungen S. 507–512; krankhafter Geisteszustand de Sades S. 512–515.

93. Lettres inédites de la Marquise de Sade par Paul Ginisty in: La Grande Revue 3e Année No. 1. Paris 1er janvier 1899 S. 1–31. — Höchst wertvolle Studie über das Verhältnis zwischen dem Marquis de Sade und seiner Frau, nebst neuen Beiträgen zur Lebensgeschichte.

94. Le Marquis de Sade et le Sadisme par le Dr. Marciat in: „Vacher l’éventreur et les crimes sadiques“ par A. Lacassagne Lyon et Paris 1899 gr. 8o S. 185 bis 237 und S. 411. Eine schätzbare Abhandlung mit mehreren neuen Beiträgen und originellen Bemerkungen.

95. R. v. Krafft EbingNeue Forschungen auf dem Gebiete der Psychopathia sexualis“ 2. Auflage Stuttgart 1891; enthält ein Kapitel „Ueber Masochismus und Sadismus“ S. 1–45.

96. Léo TaxilLa corruption fin de siècle“ Nouv. édit. Paris 1894. Enthält S. 213–246 ein Kapitel „Le sadisme“ mit einer Biographie des Marquis de Sade.

97. A. EulenburgSexuale Neuropathie“ Leipzig 1895 S. 108–125. Reich an lichtvollen Bemerkungen über den Sadismus.

98. Le Sadisme au point de vue de la médecine légale, les crimes sadiques par A. Lacassagne in: Vacher l’éventreur etc. Lyon et Paris 1899, S. 239 bis 282.

99. Brierre de BoismontRemarques médico-légales sur la perversion de l’instinct génésique“ in: Gaz. médicale de Paris No. 29 vom 21. Juli 1849.

[S. 522]

100. Bemerkungen über Sadismus an verschiedenen Stellen bei von Schrenck-Notzing. „Die Suggestionstherapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes u. s. w.“ Stuttgart 1892, R. von Krafft-EbingPsychopathia sexualis“ 5. Aufl. Stuttgart 1890 u. ö., A. MollDie konträre Sexualempfindung“ 2. Aufl. Berlin 1893 u. ö., A. MollUntersuchungen über die Libido sexualis“ Berlin 1898 Bd. I, (der zweite Band soll speziell den Sadismus behandeln), B. Tarnowsky. „Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes“ Berlin 1886.

101. W. RussalkowGrausamkeit und Verbrechen im sexuellen Leben“ Leipzig 1899, speziell: „Der Masochismus“ S. 45–56, der „Sadismus“ S. 57–77.

102. Etude sur la Flagellation au point de vue médical et historique Paris 1899, Prachtwerk.

103. L. ThoinotAttentats aux mœurs et perversions du sens génital“ Paris 1898.

104. Ganz kurze Erwähnungen des Marquis de Sade in Mercier’sNouveau Tableau de Paris“, Houssaye’sNotre Dame de Thermidor“, Michelet’sHistoire de la Révolution“, Maxime du Camp’sParis, sa vie, ses fonctions et ses organes“ Bd. V., Piazzolli’sCatalogue de livres rares et curieux“ Mailand 1880 S. 394–396, Thevenot de Morande’s „Gazette noire par un homme qui n’est pas blanc“ 1784, Soulié’s „Mémoires du Diable“, Meyer’sFragmente aus Paris“, Bd. I, „Dictionnaire Larousse“, H. Taine’s „Origines de la France contemporaine“, in Tullio Dandolo’s „Schizzi litterari“ Turin 1840, „Chronik des Œil de Bœuf“ Bd. VIII (Marseiller Affaire); O. L. B. Wolff „Allg. Geschichte des Romans“ (über „Justine“); Jean de Villiot „La flagellation à travers le Monde“ Paris 1900 Bd. II (Aff. Keller); „Denkwürdigkeiten der Marie Antoinette“ Leipzig 1836; Böttiger’s „Sabina“ Ausgabe von 1810 (in einer Anmerkung); Frusta „Der Flagellantismus und die Jesuitenbeichte“ Stuttgart 1849; „Magazin für Litteratur“ Jahrg. 1891; Karl Goldmann „Masochismus und Sadismus in der Litteratur“; Oettinger’s „Moniteur des Dates“, Artikel „Sade“

[S. 523]

105. Le Marquis de Sade, ses aventures, ses œuvres, passions mystérieuses, folies, érotiques. Arthème Fayard, éditeur, 78 boulevard Saint-Michel, Paris O. J. lex. 8o. 932 Seiten, 116 Bilder. Ein Hintertreppenroman von riesigem Umfange, dessen 5 Teile folgende Titel haben: 1. L’orgie de Marseille, 2. La femme écorchée vive, 3. Les faux bonnets rouges, 4. L’or tout-puissant, 5. Le pensionnaire de Charenton. — Das Ganze eine seltsam-romantische Mischung von Dichtung und Wahrheit, unter Benutzung historischer Werke wie Michelet’s „Histoire de la révolution“ u. s. w. Die Bilder sind sehr schlecht und zum Teil abschreckend.

106. La marquise de Sade par Rachilde. Ein moderner Roman, der von A. Eulenburg „Sexuale Neuropathie“ S. 86 zitiert wird.

Nachträge.

107. Jeanne Laisné, ou le Siège de Beaucis, tragédie en 5 actes. Mit 8 gegen 3 Stimmen im Théâtre-Français abgelehnt (1791), wegen einer Verherrlichung Ludwig’s XI. MS.

108. Les Ruses d’amour, comédie épisodique, en 1 acte, en prose. MS.

109. Euphemie de Melen, ou le Siège d’Alger: trag. en 1 acte, en vers. MS.

110. Azelis ou la coquette punie, comédie féerie en 1 acte, en vers libres. Angenommen im Théâtre de la rue de Bondi (1790). MS.

111. Divertissement. MS.

112. Tancrède, scène lyrique, en vers. MS.

113. La Tour mystérieuse, opéra-comique en 1 acte. MS.

114. La Fête de l’amitié, prologue. MS.

115. L’hommage de la reconnaissance, vaudeville en 1 acte (In Charenton aufgeführt). MS.

116. „Journal de l’amateur de livres.“ Paris 1849. Bd. III, S. 3–6 (Ueber „Zoloé et ses deux Acolytes“).

[S. 524]

117. „Journal de la librairie“ Paris 1815. S. 38.

118. „Les fous célèbres“ in 18o, 1840. (Mit Phantasiebild Sade’s).

119. Le Livre. Sept. 1883. S. 589 (Nachrichten über „Aline et Valcour“).

120. A. Cabanès „La prétendue folie du Marquis de Sade“ in: Le Cabinet Secret de l’Histoire, 8o, Paris, A. Maloine, 1900 S. 259–320. — Ein neuer, höchst wichtiger Beitrag zur Sade-Forschung. Enthält hauptsächlich neues Material zur Lebensgeschichte de Sade’s aus dem Archiv der auswärtigen Angelegenheiten und dem Archiv des Irrenhauses in Charenton. In Kürze werden wir wohl neuen Veröffentlichungen entgegensehen dürfen.

121. — bl —, Recension meines Werkes in: Zeitschrift für Bücherfreunde, IV. Jahrgang, Heft 2/3 (Mai/Juni 1900) S. 122–124. — Vortreffliche, höchst schätzbare Correcturen und Nachträge enthaltende Kritik der vorliegenden Schrift. Der Verfasser ist ein genauer Sade-Kenner.

122. Menabrea „Les Origines féodales dans les Alpes occidentales“ Turin 1865, 4o, S. 573 ff. — (Ueber de Sade’s Aufenthalt in Fort Miolans).

123. Alfred Bégis „Notes de Police“ über den Aufenthalt Sade’s in der Bastille in: „Nouvelle Revue“ November-December 1880 S. 528 ff.

124. L’Amateur d’Autographes 1863 S. 279; 1864 S. 105–106; 1866 (Briefe und Mitteilungen über de Sade).

125. M. A. Baudot „Notes historiques“ publiées par Mme Edgar Quinet S. 62–65 (über Désorgues, de Laage, Abbé Fournier und den Marquis de Sade als Opfer der napoleonischen Polizeiwillkür).

126. Oswald Zimmermann „Die Wonne des Leids. Beiträge zur Erkenntnis des menschlichen Empfindens in Kunst und Leben.“ 2. Auflage, Leipzig, C. Reissner 1885 enthält S. 107–114 ein Kapitel „Die Association von Wollust und Grausamkeit“, aber auch sonst vielfache Erörterungen über das Verhältnis zwischen Schmerz und Wollust.

127. Justine, or the Misfortunes of Virtue, by the Marquis de Sade for the first time translated from the French[S. 525] original edition (Holland, 1791) Paris, J. Liseux, 1883, 8o 400 S. — Englische Ausgabe des „Liber Sadicus“ von J. Liseux. — Nach „Z. f. Bücherfreunde“ Mai/Juni 1900 S. 122 wurden in letzter Zeit „Justine“ und „Juliette“ mehrfach ins Englische übertragen.

128. Episodischer Auszug der Nouvelle Justine. Darüber heisst es in „Z. f. Bücherfreunde“ a. a. O. S. 121–122: „Eine Analyse der ‚Juliette‘, vermischt mit biographischen Details über deren Verfasser, leitet auch einen episodischen Auszug des Werkes ein, der vor kurzem erschienen ist und der Ankündigung nach auch in das Deutsche übersetzt werden sollte. Es würde dies die erste Uebersetzung eines Werkes Sade’s in das Deutsche sein.“

129. Le Libertin hollandais. Ein jüngst in Brüssel neugedruckter Roman, dessen Verfasser angeblich der Marquis de Sade ist. (Z. f. B. S. 123.)

130. The Double Life of Cuthbert Cockerton, Esq. Attorney-at-law of the city of London. His History and that of his daughter and some curious anecdotes of other ladies and their lovers. From The Original Ms. Dated 1798. Penzane Jn the Year of our Lord. 1894 (1900) 8o, 450 Seiten. — Nach der Vorrede ein unter dem Einflusse der Schriften Sade’s entstandenes Werk. Wenn es echt wäre, würde es das früheste sadistische Werk in England sein. Es ist höchstwahrscheinlich neueren Ursprungs.

131. The Sword and Womankind. Being a study of the Influence of „The Queen of Weapons“ upon the moral and social statuts of women. Adapted from Ed. de Beaumont’s „L’Epée et les Femmes“ with additions and an index by Alfred Allison M. A., Oxon, and an etched frontispice by Albert Bessé. Paris 1900 8o, 360 S. — Interessantes Werk über Masochismus des Weibes. Kapitel XI des dritten Teiles handelt von den „Lady-Killers.“

132. The Pleasures of Cruelty being a sequel to the reading of Justine et Juliette by the Marquis de Sade. Paris et London 1898. 8o 3 Bände 84, 122, 114 Seiten. — Exquisit sadistische Erzählung.

133. G. Brunet „Fantaisies bibliographiques“, Paris, J. Gay, 1864. 12o. (Enthält Bemerkungen über „Zoloé“).

134. L’Esprit des mœurs au XVIIIe siècle; ou la petite Maison prov. en 3 a. et en pr., traduit du Congo;[S. 526] par M. d’Unsi-Terma (Mérard de St. Just). Lampsaque (Paris) 1790, 8o 40 und 120 S. — Ein sehr freies und seltenes Stück. Auch bekannt unter dem Titel „La folle journée“. Zuerst in Bd. II der „Espiègleries, joyeusetés etc.“ (Londres 1777), aber nur in 2 Akten veröffentlicht. Enthält Anspielungen auf zeitgenössische Persönlichkeiten. Wiedergedruckt im „Théâtre gaillard“. Ausg. von Brüssel 1865 (Bd. II, S. 81–182). — Paul Lacroix (im „Catalogue Soleinne“ unter Nr. 3865) glaubt nicht, dass ein solches obscönes Stück von Mérard de St.-Just geschrieben sein könne, und schreibt es seinem Inhalt nach dem Marquis de Sade zu, besonders die Ausgabe von 1790 in 3 Acten.

135. Elica, ou les Malheurs de la vertu, par J. A. Gardy, Paris, Tiger, 1813, 1818, in 18o. — Inhalt mir unbekannt, dem Titel nach aber offenbar von „Justine, ou les Malheurs de la vertu“ beeinflusst.

136. The Inutility of Virtue. Translated from the French by Dr. —, of Magdalene College, Oxford. London: Published as the Act directs, By Madame Le Duck, Mortimer Street; And to be had of all Respectable Booksellers. 1830. Price 2 l. 2 s. — 12o 72 S., 9 obscöne, gut ausgeführte Kupfer. Veröffentlicht von J. B. Brookes. — Neudruck von W. Dugdale um 1860 mit dem folgenden neuen Titel:

„O Virtue! What art thou but an empty name?“
Brutus.

The Inutility of Virtue, A Tale of Lust and Licentiousness, Exemplified in the History of a Young and Beautiful Lady, Modest and Virtuous, who, by a Series of Unfortunate Circumstances, is first Ravished by a Robber, Then become successively the victim of Lust and Sensuality; till overpowered by Debauchery, her passions become Predominant, her Mind remaining Pure, while her Body is contaminated. The whole richly and beautifully Narrated, and illustrated with Numerous Elegant Engravings. Showing the Triumphs of Vice, and the Degradation of Virtue. London, Printed for the Society of Vice.“ 8o 59 S., 8 schlechte, colorierte obscöne Lithographien, keine Copien der früheren Bilder. — Im Anfange der „Justine“ fällt bekanntlich die Titelheldin in die Hände von Briganten. Dieses Buch ist gewissermassen eine weitere Ausführung und[S. 527] Nachahmung jener Episode der „Justine“ und offenbar unter dem Einflusse der Schriften des Marquis de Sade entstanden.

137. Josef von Görres „Die christliche Mystik“ Regensburg 1842, Bd. IV, 2te Abteilung, S. 421–470, Kapitel: „Der Zeugungstrieb und die Blutgier als Anknüpfungspunkte dämonischer Rapporte“. — Lesenswert wegen der merkwürdigen Auffassung und Erklärung der sadistischen Erscheinungen.

138. Le Tartuffe libertin, ou le Triomphe du vice. A. Cythère, chez le gardien du temple (gegen 1831). 18o 107 S. Mit 6 schlechten erotischen Lithographien. Sehr obscöne Schrift mit sadistischen Maximen, die man, offenbar ohne sie gelesen zu haben, dem Marquis de Sade zuschrieb. Denn es ist darin von Personen der Zeit des Bürgerkönigs Louis-Philippe die Rede. — Englische Uebersetzung, London ohne J. (1840) 8o mit 4 Bildern. — Französischer Neudruck: Le Tartufe (sic.) Libertin ou le Triomphe du Vice (Par le Marquis de Sade). En Hollande Chez Les Libraires Associés 1789 in: Le Parc-aux-Cerfs Episcopal-Histoire Edifiante et Curieuse du Séminaire de Vénus etc. Brüssel 1876 (bei Vital Puissant) 12o 180 S. (Inhalt: 1) Le Bordel Episcopal; 2) Le Tartufe Libertin; 3) La Bulle d’Alexandre VI.; 4) Les Réclusières de Vénus).

2. Nachtrag
(Zusätze des Verlegers).

139. Les 120 Journées de Sodome ou l’Ecole du Libertinage par le Marquis de Sade. Publié pour la première fois d’après le manuscrit original, avec des annotations scientifiques par le Dr. Eugène Dühren. Paris, Club des Bibliophiles MCMIV. Ein starker Band in Lex. 8o von IV und 543 Seiten. Privatdruck in 200 Exemplaren. Sehr schöne Ausgabe. Vergl. auch No. 36.

140. Die Geschichte der Justine oder die Nachteile der Tugend. Aus dem Französischen zum ersten Male ins Deutsche übertragen von Dr. Martin Isenbiel. 1906. Privatdruck. 4 Bände in 1 Band. Gr. 8o. 420 Seiten. — Die Geschichte der Juliette oder die Vorteile des Lasters. Aus dem Französischen zum ersten Male ins Deutsche übertragen von Dr. Martin Isenbiel. 1906. Privatdruck. 6 Bände[S. 528] in 1 Band. Gr. 8o. 607 Seiten. In 550 in der Maschine numerierten Exemplaren hergestellt.

141. Neue Forschungen über den Marquis de Sade und seine Zeit von Dr. Eugen Dühren. Gr. 8o. 480 Seiten. Berlin 1902.

142. Rétif de la Bretonne, Der Mensch, der Schriftsteller, der Reformator. Von Dr. Eugen Dühren. Gr. 8o 515 Seiten. Berlin 1906.

[S. 529]

Namen-Register.

FUSSNOTEN:

[1] „Genesis“. Das Gesetz der Zeugung Bd. III. Leipzig 1899. S. 10.

[2] G. Herman a. a. O. S. 8.

[3] Ernst Haeckel „Anthropogenie“ Bd. II, Leipzig 1891. S. 793.

[4] Ueber „Hermaphroditismus“ und „Gonochorismus“ handelt Haeckel ausführlich in seiner „Generellen Morphologie“ Leipzig 1866. Bd. II. S. 58–71.

[5] G. L. Kobelt „Die männlichen und weiblichen Wollustorgane des Menschen und einiger Säugetiere“. Freiburg 1844.

[6] Bisher erschienen Bd. VII Abt. 1 Teil 2: „Die weiblichen Geschlechtsorgane“ von Dr. W. Nagel.

[7] „Die Abstammung des Menschen u. die geschlechtl. Zuchtwahl“ übersetzt von J. V. Carus. 5. Auflage. Stuttgart 1890.

[8] Victor Hensen „Physiologie der Zeugung“ in Hermann’s „Handbuch der Physiologie.“ Bd. VI. Leipzig 1880.

[9] „Anthropogenie“ Bd. II. S. 793.

[10] Eine allgemeine, übersichtliche Darstellung des Geschlechtstriebes nach seiner physischen Erscheinungsweise giebt H. Rohleder in seinen „Vorlesungen über Sexualtrieb und Sexualleben des Menschen“. Berlin 1901.

[11] Albert Moll „Untersuchungen über die Libido sexualis.“ Bd. I. Berlin 1897. S. 1–95.

[12] M. a. a. O. S. 96–310.

[13] Karl Neisser „Die Entstehung der Liebe“. Wien 1897.

[14] „Die Suggestions-Therapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes“. Stuttgart 1892.

[15] H. Rohleder „Die Masturbation.“ Berlin 1899.

[16] Eine zusammenfassende Behandlung dieser drei Faktoren giebt Havelock Ellis „Mann u. Weib.“ Leipzig 1894.

[17] Sappho hat in einer ihrer berühmten Oden eine Psychophysik der Liebe gegeben. Vergl. F. G. Lipps „Grundriss der Psychophysik.“ Leipzig 1899. S. 143.

[18] „Das Weib in der Natur- und Völkerkunde.“ 6. Auflage, Leipzig 1899.

[19] Vergl. hierüber: L. Stein „Wesen und Aufgabe der Soziologie“ 1898. — Th. Achelis „Soziologie“ Leipzig 1899.

[20] E. Westermarck „Geschichte der menschlichen Ehe“. A. d. Engl. von L. Katscher und R. Grazer. 2. Auflage. Berlin 1902.

[21] P. Dufour „Histoire de la prostitution“ 8 Bde. Brüssel. 1851–54. — Eine recht gute Arbeit über die Prostitution im 19. Jahrhundert ist das Werk von Dr. Jul. Kühn „Die Prostitution im 19. Jahrhundert“. 4. Aufl. Leipzig 1897. — Rabutaux’ besonders durch eine vorzügliche Bibliographie (von Paul Lacroix) sich auszeichnende „Prostitution en Europe“ Paris 1851 reicht nur bis zum 16. Jahrhundert.

[22] In „Eulenburg’s Real-Encyclopaedie der gesamten Heilkunde“ 3. Auflage, Berlin u. Wien 1898 Bd. 19. S. 436–450.

[23] Tarnowsky „Prostitution u. Abolitionismus“ Hamburg 1890.

[24] A. Hegar „Der Geschlechtstrieb“ Stuttgart 1894.

[25] C. Lombroso „Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte“ Hamburg 1894.

[26] W. Rudeck „Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland“. 2. Aufl. m. 58 Illustr. Berlin 1905.

[27] Fr. Nietzsche „Jenseits von Gut und Böse.“ 4. Auflage. Leipzig 1895 S. 111. — L. Feuerbach hat in seinem Aufsatze „Ueber die Glorie der heiligen Jungfrau Maria“ (Werke Bd. I Leipzig 1845) das Verhältnis zwischen Religion und Liebe sehr deutlich gemacht. Vgl. auch das interessante Werk von Laurent-Nagour, „Okkultismus und Liebe“ Berlin 1903.

[28] C. Abel „Ueber den Begriff der Liebe in einigen alten und neuen Sprachen“ Berlin 1872. Samml. gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge von Virchow u. Holtzendorf No. 158/159.

[29] „Die Welt als Wille u. Vorstellung“ ed. E. Griesebach Bd. 2. Leipzig 1891. „Metaphysik der Geschlechtstriebe“ S. 623–668.

[30] E. v. Hartmann „Philosophie des Unbewussten.“ 6. Auflage. Berlin 1874. S. 671–681.

[31] W. Wigand „Die wahre Bedeutung der platonischen Liebe.“ Berlin 1877. S. 27.

[32] „Neben der physischen Zeugung wandelt die geistige in der Welt“, sagt Ph. Mainländer. („Die Philosophie der Erlösung“ Leipzig 1894 Bd. II S. 489.)

[33] Hegel’s Ideen hat am klarsten und überzeugendsten entwickelt Kuno Fischer „System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre.“ 2. Auflage. Heidelberg 1865. S. 527–530. Vgl. jetzt auch K. Fischer „Geschichte der neuern Philosophie“, Jubiliäumsausgabe, Heidelberg 1899. Bd. VIII (Hegel) S. 556–561.

[34] Diese Einleitung enthält die Grundzüge einer „Philosophie der Liebe nach dialektischer Methode“, die wir später in weiterer Ausführung darzustellen die Absicht haben.

[35] Th. Achelis „Soziologie“ Leipzig 1899. S. 37.

[36] Achelis a. a. O. S. 73–74.

[37] M. Schasler, „Populäre Gedanken aus Hegels Werken“ Berlin 1870 S. 213.

[38] K. Fischer „Diotima. Die Idee des Schönen“. Stuttgart 1852. S. 67 ff.

[39] a. a. O.: „Les voilà, les voilà, ces monstres de l’ancien régime? Nous ne les avons pas promis beaux, mais vrais, nous tenons parole“.

[40] Adolf Schmidt „Pariser Zustände während der Revolutionszeit 1789–1800.“ Bd. I. Jena 1874 S. 19.

[41] L. S. Mercier „Le nouveau Paris“. Band IV. Paris 1800. S. 190.

[42] Paul Moreau (de Tours) „Des aberrations du sens génésique“ 4. éd. Paris 1887. S. 13.

[43] Edmond et Jules de Goncourt „La femme au dix-huitième siècle“. Paris 1898. S. 151.

[44] „Histoire du clergé pendant la révolution française“ par l’Abbé Barruel, London 1793 S. 2–3.

[45] Nach Barruel a. a. O. S. 4 hatte sogar Cérutti, der eine Apologie des Jesuitismus schrieb, sterbend geäussert: Le seul regret que j’emporte en mourant, c’est de laisser encore une religion sur la terre.

[46] A. Schmidt a. a. O. Bd. III 1876 S. 229.

[47] Schmidt a. a. O. III S. 236.

[48] a. a. O. S. 58.

[49] E. u. J. Goncourt „Les maîtresses de Louis XV“. Paris 1860. 2 Bde. — „La duchesse de Châteauxroux et ses sœurs“. Paris 1878. — Neuerdings erschien Comte Fleury „Louis XV intime et ses petites maîtresses.“ Paris 1899.

[50] „Le Parc au Cerf, ou l’Origine de l’affreux Deficit.“ Paris 1798 (von François Mayeur de Saint Paul). Vgl. ferner Faverolle „Le Parc aux cerfs, Histoire secrète des jeunes demoiselles qui y ont été renfermées.“ Paris 1808, 4 Bde.

[51] J. A. Dulaure, Histoire physique, civile et morale de Paris. Bd. V. Paris 1821. S. 367–369.

[52] „Geschichte des Privatlebens Ludwig’s XV.“ Teil III. Berlin 1781. S. 17–18.

[53] Casanova erzählt in seinen Memoiren (ed. Alvensleben-Schmidt, Bd. V, S. 126), dass der Hirschpark von Niemandem besucht werden durfte, ausser von den bei Hofe vorgestellten Damen.

[54] „Justine und Juliette oder die Gefahren der Tugend und die Wonne des Lasters“. Leipzig 1874. S. 31 ff.

[55] In neuerer Zeit hat Louis Lacour, zuerst in der „Revue française“ Jahrg. 1858, Bd. XIV S. 546 ff., später in einer selbständigen Schrift „Le Parc-aux-cerfs du roi Louis XV“ (Paris 1859) sehr interessante kritische Untersuchungen über den Hirschpark veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass die Ausgaben über den kolossalen Luxus in diesem königlichen Bordelle sehr übertrieben waren. In Wirklichkeit war der „Hirschpark“ nach Lacour ein sehr versteckt gelegenes Haus in der Rue Saint-Méderic, welches höchst einfach, ohne jeden Luxus eingerichtet war. — Der Inhalt eines ein Jahr später veröffentlichten Werkes von Albert Blanquet „Le Parc-aux-cerfs“ (Paris, 1860, 5 Bände) ist mir nicht bekannt. Nach dem Umfange vermute ich in demselben einen Roman. — Ein sehr merkwürdiges, den verschiedensten Quellen entnommenes Kapitel über den Hirschpark findet sich bei Th. F. Debray „Histoire de la prostitution et de la débauche“ Paris o. J. S. 686–698.

[56] Moreau a. a. O. S. 59–60.

[57] Aehnliche fromme Ausrufe bei gleicher Gelegenheit in Mirabeau, „Ma conversion“. London 1783 S. 12.

[58] „Chronique sécrète de Paris sous le règne de Louis XVI. (1774)“ in „Revue rétrospective.“ Bd. III. Paris 1834. S. 46.

[59] P. Manuel „La police de Paris dévoilée“. Bd. II. Paris L’an II. S. 86 u. 200.

[60] P. Lacroix, „XVIIIme Siècle. Institutions, Usages et Costumes“ Paris 1875. S. 35.

[61] „Les amours de Charlot et Toinete“. Paris (Londres) 1779.

[62] „L’espion Anglais ou Correspondance secrète entre Milord All’ eye et Milord All’ ear.“ London 1784. Bd. II, S. 82 (von M. Fr. Pidanzat de Mairobert; das wertvollste, durchweg authentische Werk über die Sittenlosigkeit Frankreichs im 18. Jahrhundert).

[63] „Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Réstif de la Bretonne“ par P. L. Jacob Bibliophile. Paris 1875. S. 422.

[64] L’espion anglais II. S. 117.

[65] P. Lacroix „XVIIIme siècle etc.“ S. 45.

[66] P. Lacroix „XVIIIme siècle etc.“ S. 45.

[67] Dulaure a. a. O. Bd. V. S. 435.

[68] L. S. Mercier „Tableau de Paris“. Bd. I. Hamburg 1781. S. 180.

[69] Brillat-Savarin „Physiologie des Geschmackes.“ 2. Aufl. Braunschweig. 1866. S. 363.

[70] Brillat-Savarin a. a. O. S. 362.

[71] A. Schmidt „Tableaux de la Révolution Française.“ Leipzig 1867. Bd. I. S. 125.

[72] Pierre Manuel „La Police de Paris dévoilée, Tome I. A Paris L’an second de la liberté.“ „De la Police sur les prêtres.“ S. 292–321.

[73] Dieser lakonische, aber vielsagende Bericht erinnert fast wörtlich an ein deutsches Epigramm des 18. Jahrhunderts:

„Gestern schwor ich unter tausend Küssen
Im Genusse ihrer Zärtlichkeit
Ewige Verschwiegenheit —
Heute muss es der Chirurgus wissen!“

(Siehe C. J. Weber „Demokritos“ Stuttgart 1868 Bd. V. S. 166.)

[74] Der „Portier des Chartreux ou Histoire de Dom Bougre“ ist ein die Paederastie verherrlichender Roman, der dem Marquis de Sade von einigen zugeschrieben wird. Dies ist aber unmöglich, da die erste Ausgabe dieses Buches 1745 erschien, als de Sade erst fünf Jahre alt war. Vgl. Le C. d’J... „Bibliographie des ouvrages relatifs à l’amour etc.“ Neue Ausgabe von J. Lemonnyer, Lille 1897 Bd. II S. 496 (citiert als Lemonnyer).

[75] Hierzu bemerkt Manuel: „Ich finde nur einen Jesuiten bei den Dirnen. Es wäre mir angenehm gewesen, ihnen mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ Diese Gerechtigkeit werden wir ihnen weiter unten in gebührender Weise zu Teil werden lassen. Die Jesuiten waren zu klug, um sich in Bordellen ertappen zu lassen.

[76] Casanova fand die Gräfin Limore als Maitresse „in Gesellschaft des Herrn von Saint-Albin, Erzbischofs von Cambrai, eines hochbetagten Liebhabers, der für sie die ganzen Einkünfte seines Erzbistums verschwendete“. „Jacob Casanova v. Seingalt’s Memoiren“ Deutsch v. L. v. Alvensleben u. C. F. Schmidt Bd. XIII. S. 99.

[77] „La Chasteté du Clergé dévoilée, ou Procès-verbaux des séances du clergé chez les filles de Paris, trouvés à la Bastille.“ Paris 1790. 2 Bde. Einer der Verfasser war Dominique Darimajou, Referendar am Rechnungshofe.

[78] Mitgeteilt in „Revue rétrospective.“ Bd. III. Paris 1834. S. 153–154.

[79] „L’espion Anglais.“ Bd. X. London 1784. Brief XIV „Suite et fin de la Confession d’une jeune fille.“ S. 309–327.

[80] Etwas anders sagt La Mettrie „Œuvres philosophiques“, 1741 citirt nach P. Garnier „Onanisme“ Paris 1888 S. 122: „Tout est femme dans ce qu’on aime, l’empire de l’amour ne connaît d’autres bornes que celles du plaisir.“ — Eine erotische Novelle „Confession galante d’une femme du Monde“ (Brüssel 1873) hat das Motto: „Dans la femme aimée tout est c..“

[81] Vgl. „Manuel des Confesseurs ou les Diaconales“. Par Bouvier, Verviers o. J. (Titelblatt).

[82] „L’espion anglais“ London 1784 Bd. I S. 241 ff.

[83] Montesqieu’s „Persische Briefe“ deutsch von A. Strodtmann, Berlin 1866 S. 247 (Brief 134).

[84] Peter Philipp Wolf „Allgemeine Geschichte der Jesuiten“. Zürich 1790. Bd. II. S. 390.

[85] J. C. Harenberg „Pragmatische Geschichte des Ordens der Jesuiten.“ Bd. II. Kap. 7. Abschn. XII. § 437. S. 1412 zitiert nach Wolf a. a. O.

[86] Wolf a. a. O. Bd. II. S. 321 u. 428.

[87] Wolf a. a. O. Bd. I S. 201 u. Bd. II S. 403.

[88] Wolf a. a. O. Bd. II S. 281.

[89] Wolf a. a. O. I S. 240.

[90] Juan de Mariana „De rege et regis institutione“, Toledo 1599.

[91] Wolf a. a. O. Bd. III. S. 290.

[92] Eine zuverlässige Darstellung giebt A. Kurtzel: „Der Jesuit Girard und seine Heilige. Ein Beitrag zur geistlichen Geschichte des vorigen Jahrhunderts“ in „Histor. Taschenbuch“ von Friedr. Raumer. N. F. 4. Jahrg. Leipzig 1843. S. 413–485. Dort auch zahlreiche literarische Nachweise. Die gründlichste neuere kritisch-bibliographische Untersuchung findet sich bei P. Fraxi „Centuria librorum absconditorum“ London 1879 S. 225–253.

[93] Die älteste derartige Erzählung erschien bereits 1729: „Les amours de Sainfroid Jesuite, et d’Eulalie fille devote. Histoire véritable. Suivie de quelques nouvelles nouvelles.“ A la Haye 1729.

[94] R. Wrede „Die Körperstrafen bei allen Völkern von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart.“ Dresden 1899. S. 167. P. Fraxi bemerkt: „The Marquis de Sade no doubt had it in mind when writing several of his cruelest chapters“ a. a. O. S. 253.

[95] G. Herman „Genesis.“ Das Gesetz der Zeugung. Bd. III. Leipzig 1899. S. 84 ff.

[96] G. Legué „Médecins et empoisonneurs au XVIIe siècle“ Paris 1896. S. 139–168.

[97] St. Przybyszewski „Die Entstehung und der Kult der Satanskirche“ in „Die Kritik“ 1879 No. 134, 135, 148, 149, 150.

[98] Vgl. Floegel, Geschichte des Grotesk-Komischen. 5. Aufl. m. 41 z. Teil sehr interess. Abbildungen. Leipzig 1888. S. 205 ff.

[99] J. C. Huysmans „La-bas“ Paris 1891. „En route“ Paris 1887. Siehe Näheres bei Herman a. a. O. S. 113 ff.

[100] „Histoire de Magdalaine Bavent, religieuse du monastère de Saint Louis de Louviers etc.“ Paris 1652. Die Geschichte der Magdalaine Bavent ist auch zu einem neueren Roman verarbeitet worden: „Le Couvent de Gomorrhe“ von Jacques Souffrance, Paris o. J.

[101] Schilderung derselben bei Herman a. a. O. S. 110 ff.

[102] E. u. J. de Goncourt „La femme au dix-huitième siècle.“ Paris 1898. S. 17.

[103] E. u. J. Goncourt a. a. O. S. 10.

[104] „La chronique scandaleuse.“ Paris 1789. Bd. IV. S. 110.

[105] H. Th. Buckle „Geschichte der Zivilisation in England.“ Deutsch von A. Ruge. Leipzig und Heidelberg 1874. Bd. I. S. 227 ff.

[106] Buckle a. a. O. S. 229.

[107] F. Lotheissen „Zur Sittengeschichte Frankreichs.“ Leipzig 1885. S. 136.

[108] Z. B. „Les Nonnes galantes“ des Marquis d’Argens. La Haye 1740. — „Les délices du cloître ou la nonne éclairée.“ 1760. — Wie sehr gesucht von den Wüstlingen die Liebe einer „femme dévote“ im 18. Jahrhundert war, schildern übrigens die Goncourts selbst sehr anschaulich a. a. O. S. 455. ff. Vergl. endlich noch „Lettres galantes et philosophiques de deux Nonnes, publiées par un apôtre du libertinage.“ Au Paraclet 1777, und unzählige andere, die Corruption in den Nonnenklöstern schildernde Schriften, die man bei Lemonnyer a. a. O. findet.

[109] Joseph Gorani „Mémoires secrets et critiques des cours et des mœurs des principaux etats de l’Italie.“ Paris 1794 Bd. II. S. 86.

[110] Alfred v. Reumont „Geschichte Toskanas seit dem Ende des florentinischen Freistaates.“ Gotha 1877. Bd. II. S. 173 ff.

[111] „Vie de Scipion de Ricci“ par de Potter, Brüssel 1825. Bd. I. Anhang Note 13 bis Note 47. S. 331–500 (Ausführliches Verhör der Angeklagten) — Auch bei A. Gelli „Memorie de Scipione de’ Ricci.“ Florenz 1865. Bd. I. S. 54 ff.

[112] G. Brandes „Essays“. 2. Band. 2. Auflage Leipzig, Verlag von H. Barsdorf 1897. S. 278.

[113] E. u. J. de Goncourt. „La femme au dix-huitième siècle;“ Paris 1898. B. 471.

[114] Eine ausgezeichnete Schilderung dieser Salons entwirft Karl Frenzel „Renaissance und Rococo.“ Berlin 1876 in dem Aufsatze „Pariser Gesellschaftsleben im achtzehnten Jahrhundert“ S. 298–331. — Vergl. auch E. du Bois-Reymond „Darwin versus Galiani“ in „Reden“. Bd. I. Leipzig 1886. S. 211 ff. — Den Einfluss der Salons kann man deutlich bei Sade in dem Bedürfnis der zahllosen „philosophischen Diskussionen“ erkennen.

[115] „Mémoires de Mme. d’Epinay“ Bd. I cit. nach E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 159.

[116] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 175.

[117] E. u. J. Goncourt a. a. O. S. 181.

[118] Casanova erzählt in seinen Memoiren, dass ein gewisser Blondel seine eigene Frau nicht bei sich, sondern getrennt in einer „petite maison“ wohnen liess, damit sie ihm als Maitresse erschiene und so der Umgang mit ihr ihm mehr Genuss verschaffte. („Jacob Casanova von Seingalt’s Memoiren.“ Deutsch von L. v. Alvensleben u. C. F. Schmidt. Bd. XIII, S. 97.)

[119] L. S. Mercier „Tableau de Paris“. Hamburg 1781. Bd. II, S. 6–7.

[120] Friedr. Wilh. Basil. Ramdohr „Venus Urania“, Leipzig 1798. Bd. III, Abt. 2, S. 288.

[121] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 173.

[122] F. Lotheisen „Litteratur und Gesellschaft in Frankreich zur Zeit der Revolution 1789–94.“ Wien 1872. S. 56.

[123] Rétif de la Bretonne „La fille entretenue et vertueuse, ou les progrès de la vertu“. Paris 1774. S. 175 ff.

[124] Rétif de la Bretonne „Die Zeitgenossinnen.“ Berlin 1781. Bd. VI, S. 9–10.

[125] Cénac Moncaut „Histoire de l’amour dans les temps modernes“. Paris 1863. S. 396.

[126] W. von Bechterew „Suggestion und ihre soziale Bedeutung.“ Leipzig 1899. S. 29–30.

[127] J. A. Dulaure. „Histoire physique, civile et morale de Paris“. Paris 1821. Bd. V, S. 145–147.

[128] Mad. G. Abricosoff „L’hystérie an XVIIe et XVIIIe siècle.“ Paris 1897.

[129] Abricossoff a. a. O. S. 73–74.

[130] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 194.

[131] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 196.

[132] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 198.

[133] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 199. — Ein Teil der „Justine“ spielt in Grenoble.

[134] Vergl. das Kapitel „Les furies de guillotine“ bei E. Lairtullier, „Les femmes célèbres de 1789 à 1795“. Paris 1840. Bd. II, S. 199–207.

[135] Lady Blennerhassett, „Frau von Staël.“ Berlin 1887. Bd. I, 6. 63.

[136] E. Legouvé, „Histoire morale des femmes.“ Paris 1864. S. 4.

[137] Das unglaublichste Beispiel der Verachtung der Frau findet sich bei Buckle a. a. O. I. S. 219–20, wo erzählt wird, dass die Schauspielerin Chantilly, die eben den Dichter Favart geheiratet hatte, von der französischen Regierung gezwungen wurde, gleichzeitig die Maitresse des Marschalls Moritz von Sachsen zu werden.

[138] Johannes Scherr, „Allgemeine Geschichte der Litteratur“. Stuttgart 1887. Bd. I, S. 267.

[139] Charles Aubertin, „L’esprit public au XVIIIe siècle.“ Paris 1873. S. 481.

[140] J. Janin, „Le marquis de Sade.“ Revue de Paris 1834. Bd. XI, S. 333.

[141] A. Schmidt a. a. O, Bd. II. Jena 1875. S. 86 ff.

[142] Paul Lacroix a. a. O. S. 506.

[143] P. Fraxi „Index librorum prohibitorum.“ London 1877. S. XXIX

[144] A. J. B. Parent-Duchatelet, „Die Sittenverderbnis des weiblichen Geschlechts in Paris“, übers. von G. W. Becker, Leipzig 1837. Bd. II. S. 183.

[145] Comte d’J*** (J. Gay) „Bibliographie des ouvrages relatifs à l’Amour etc.“ 3. éd. Turin 1871. 6 Bde. Neuerdings hat J. Lemonnyer eine neue vierte Ausgabe dieses höchst schätzbaren Werkes veranstaltet (Lille 1897–1900, 4 Bände), die wohl durch Nachträge, sowie durch vortreffliche Indices vervollkommnet ist, andrerseits aber zahlreiche drastische Zitate der alten Auflage fortgelassen hat, so dass die dritte Auflage immer noch unentbehrlich ist.

[146] Henry Cohen „Guide de l’amateur de livres à figures et à vignettes du XVIIIe siècle“ 3. éd. Paris 1876. Neue Auflage 1880. Das Buch zeigt viele Mängel.

[147] „Œuvres de Gentil-Bernard“. Paris 1834. Bd. I, S. 25–88.

[148] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 154. est certaine. a. a. O. Gesang II, S. 51.

[149] L’Amour a ses auteurs — Agens secrets, dont l’atteinte est certaine, a. a. O. Gesang II, S. 51.

[150] E. u. J. de Goncourt a. a. O. 201. Sade erwähnt Crébillons „Sopha“, „Tanzai“, „Les égarements du cœur“, als Romane „qui flattaient le vice et s’éloignaient de la vertu“, in „Idée sur les Romans“ ed. O. Uzanne, Paris 1878. S. 23.

[151] „Le sopha, conte moral“ (!) A la Haye 1742. Nachgeahmt in „Le canapé couleur de feu“. London 1745.

[152] „Les Incas“. Paris 1767. Sade erwähnt Marmontel in „Idée sur les Romans etc.“ S. 24–25.

[153] „Thérèse philosophe ou mémoires pour servir à l’histoire de M. Dirrag et de Mlle. Eradicée“ à la Haye s. a. (1748).

[154] Henry Cohen a. a. O. col. 477. Caylus hat übrigens sehr viele schlüpfrige Romane geschrieben, was in jener Zeit seinen wohlverdienten Ruhm als Archaeolog nicht beeinträchtigen konnte.

[155] Vgl. die vortreffliche „Bibliographie anecdotique et raisonnée de tous les ouvrages d’Andréa de Nerciat“ par M. de C., Bibliophile Anglais, London 1876, wo auch die übrigen, hier nicht genannten Werke von Nerciat besprochen werden.

[156] A. Eulenburg „Der Marquis de Sade“ in „Die Zukunft“. Bd. VII. 1899, No. 26. S. 507. Nach neueren Forschungen soll weder die „Education de Laure“ noch „Ma conversion“ von Mirabeau geschrieben worden sein. Lemonnyer a. a. O. III. S. 1019.

[157] Carl FrenzelDiderot“ in „Renaissance und Rococo“. Berlin 1876. S. 284.

[158] „La Réligieuse“. Paris 1798. Das Modell für die tribadische Aebtissin in Diderot’s „Réligieuse“ soll die Aebtissin von Chelle gewesen sein, eine Tochter des Regenten, (H. Ellis u. J. A. Symonds „Das konträre Geschlechtsgefühl“ Leipzig 1896. S. 285).

[159] Choderlos de Laclos „Les liaisons dangereuses“. Paris u. Amsterdam 1782. 4 Bände.

[160] „Les crimes de l’amour. Precédé d’un avant-propos etc.“ Brüssel 1881. S. 158. Nach Villers wurde sogar, wie wir später sehen werden, die „Justine“ von einigen dem Laclos zugeschrieben.

[161] „Les amours du Chevalier de Faublas“, 3 éd. An VI de la République. (Erste Ausgabe 1787).

[162] „Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Restif de la Bretonne“ par P. L. Jacob, Bibliophile. Paris 1875.

[163] de Sade „Idée sur les Romans“ éd. O. Uzanne. Paris 1878. S. 31.

[164] Der Graf v. Tilly nennt ihn in seinen Memoiren (II, 430) den „Teniers des Romans“.

[165] A. Eulenburg a. a. O. S. 512.

[166] P. L. Jacob Bibliophile a. a. O. S. 54 u. 56.

[167] Memoiren des Grafen Alexander von Tilly, A. d. Französischen. Berlin 1826. Bd. II. S. 426–430.

[168] P. L. Jacob Bibliophile a. a. O. S. 33, 103, 161, 180, 441.

[169] „Les nuits de Paris, ou le Spectateur nocturne“. A Londres, Et se trouve a Paris 1788–1794, 16 Teile in 8 Bänden (mit 18 Bildern).

[170] P. L. Jacob Bibliophile a. a. O. S. 394.

[171] „Les Contemporaines ou aventures des plus jolies Femmes de l’âge présent.“ Leipzig und Paris 1780–1782, 17 Bände; „Les contemporaines-du-commun, ou aventures des belles Marchandes etc.“ ebenda 1782–1783, 13 Bände: „Les contemporaines-par-gradation“ ebenda 1783, 12 Bände.

[172] P. L. Jacob, Bibliophile a. a. O. S. 87.

[173] P. L. Jacob, Bibliophile a. a. O. S. 315.

[174] P. L. Jacob, Bibliophile a. a. O. S. 316.

[175] Der Verfasser war Senac de Meilhan, dem ebenfalls der „Portier des Chartreux“ zugeschrieben wird. (Jacob, Bibl. a. a. O. S. 460). Später erschienen zahlreiche neue Auflagen, die letzte in Brüssel 1866.

[176] Er war Verfasser einer populären Schrift über die Therapie der Syphilis. Siehe J. K. Proksch „Die Litteratur über die venerischen Krankheiten.“ Bonn 1889. Bd. I. S. 472, wo angeführt ist: Agyrony „Des bons effets d’un remède végétal antivénérien, autorisé par lettres patentes du Roi, enrégistrées au Parlament etc.“ Paris 1771.

[177] „L’observateur anglais.“ London 1778. Bd. 4, Brief III vom 21. Juli 1776. S. 40–47.

[178] Dieses Gedicht findet man in dem seltenen Buche „Il Libro del perchè“ (1757). Die französische Version „Parapilla“, um deren Autorschaft sich Charles Borde und Mirabeau streiten, ist abgedruckt in den „Contes-Grivois du dix-huitième siècle.“ Brüssel o. J. (H. Kistemaeckers) S. 27–67.

[179] „L’art de péter etc.“ En Westphalie 1776. Ueber die „Scatologie“, eine besondere Liebhaberei der Franzosen vergl. A. Hagen „Sexuelle Osphresiologie“ Chorlottenburg 1901 (Verlag von H. Barsdorf) S. 115 ff.

[180] „Idée sur les Romans“ ed. Uzanne etc. S. 22.

[181] Auch in den Romanen des Marquis de Sade ist fast immer das Sopha, selten das Bett, das Lager der Liebe.

[182] G. Brandes „Die Hauptströmungen der Litteratur des 19. Jahrhunderts“. Bd. I, 8. Aufl. S. 42–44. Leipzig 1900. Verlag H. Barsdorf.

[183] Cenac Moncaut a. a. O. S. 394.

[184] „Geschichte der Malerei“ von R. Muther, Leipzig 1900. Bd. V, S. 88–93.

[185] Garnier a. a. O. S. 125.

[186] J. Casanova v. Seingalt a. a. O. Band V, S. 121 ff.

[187] J. Casanova a. a. O. Band XI, S. 109 u. 128.

[188] J. B. Parent-Duchatelet a. a. O. Bd. II, S. 182.

[189] „La chronique scandaleuse.“ Paris 1791. Bd. II, S. 157.

[190] J. F. Reichardt’s „vertraute Briefe aus Paris, geschrieben in den Jahren 1802 und 1803.“ Hamburg 1805. Bd. II, S. 14.

[191] Arsène Houssaye „Histoire de l’art français au dix-huitième siècle“. Paris 1860. S. 29.

[192] Arsène Houssaye a. a. O. S. 418.

[193] J. G. Th. Grässe „Geschichte der Poesie Europas und der bedeutendsten aussereuropäischen Länder vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit.“ Leipzig 1850. S. 271.

[194] „Die Geschlechtsausschweifungen unter den Völkern der alten und neuen Welt etc.“ Neue Auflage o. O. S. 161.

[195] Casanova a. a. O. Bd. VIII, S. 140.

[196] E. u. J. de Goncourt „Histoire de la société française pendant le Directoire“. Paris 1855. S. 422.

[197] Cénac Moncaut a. a. O. S. 396.

[198] E. u. J. de Goncourt „La femme au dix-huitième siècle,“ S. 313–370.

[199] J. u. E. de Goncourt „Histoire de la société française pendant le Directoire.“ S. 420.

[200] J. Renouvier „Histoire de l’art pendant la Revolution.“ Paris 1863. S. 476. — „Schon mehr als 2000 Jahre tragen die Frauen Hemden,“ schrieb ein Journalist jener Zeit, „das ist zum Sterben langweilig.“ Er wollte die Frauen lieber ohne Hemd sehen, vollkommen nackt als „lebende Statuen“. Vergl. A. Houssaye „Notre-Dame de Thermidor.“ Paris 1806. S. 421.

[201] W. Rudeck „Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland.“ 2. Aufl. 1905. Mit 58 Illustrationen. S. 85.

[202] A. Schmidt a. a. O. Bd. II, S. 66.

[203] E. u. J. de Goncourt „Histoire de la société française pendant le Directoire“. S. 183.

[204] „Eros.“ Stuttgart 1849. Bd. I, S. 234. — Die Italiener haben das Sprichwort:

Donna cui camminando il cul traballa
Se puttana non è, proverbio falla.

[205] Dulaure a. a. O. Bd. V, S. 585.

[206] „Eros“. S. 233.

[207] Muther a. a. O. Bd. V, S. 46.

[208] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 184.

[209] P. L. Jacob, Bibliophile „Bibliographie et Iconographie etc.“ S. 32, Anmerkung.

[210] „La curiosité littéraire et bibliographique.“ Paris 1882. S. 148–149.

[211] „L’espion anglais.“ London 1784. Bd. II. Brief 24. S. 386–401. Vgl. auch die „Correspondance de Madame Gourdan“, herausgegeben von Octave Uzanne, Brüssel 1883, mit einer Einleitung über die „Sérails“ des 18. Jahrhunderts (S. I-LVIII).

[212] Nachträglich finden wir, dass auch Mairobert nicht der Erfinder dieses Wortspiels war, sondern dass schon viel früher eine Frau, Madame de Sévigné, in einem Briefe die Condome „cuirasses contre la volupté et toiles d’araignée contre le mal“ nennt. (L. Taxil „La corruption fin de siècle“. Paris 1894. S. 211).

[213] Dass die Gourdan die körperliche Beschaffenheit ihrer Mädchen genau kennen musste, beweist ein Brief eines Engländers an sie, der die Reize der gewünschten Person ausführlich beschreibt. („La chronique scandaleuse“. Band II, Seite 127.)

[214] F. W. Barthold „Die geschichtlichen Persönlichkeiten in Jacob Casanova’s Memoiren“. Berlin 1846. 2 Bände.

[215] J. Casanova a. a. O. Bd. V, S. 60 ff.

[216] „L’espion anglais“. London 1784. Bd. X, S. 363 ff.

[217] „Les bordels de Paris.“ 1790. S. 17.

[218] P. Fraxi a. a. O. S. XXXVIII.

[219] Rétif de la Bretonne „Le Pornographe, ou Idées d’un honnête homme sur un projet de règlement pour les prostituées.“ A la Haye 1769.

[220] P. L. Jacob, Bibliophile „Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Rétif de la Bretonne.“ Paris 1875. S. 422.

[221] J. Casanova a. a. O. VIII. S. 163. (III, 257).

[222] P. L. Jacob, Bibliophile a. a. O. S. 421–422.

[223] Dulaure a. a. O. Bd. V, S. 227–228. Die Schrift „L’ordre hermaphrodite, ou les secrets de la sublime Félicité, avec un discours prononcé par le chevalier H..., orateur au jardin d’Éden, chez Nicolas Martin, au Grand Mât,“ 1748, war uns nicht zugänglich.

[224] E. u. J. de Goncourt, „La femme etc.“ S. 176.

[225] Dulaure a. a. O. S. 227.

[226] Arthur Dinaux „Les sociétés badines.“ Paris 1867. Bd. I, S. 301–314.

[227] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 176. Die Ausschweifungen derselben hat Andréa de Nerciat in seinen „Aphrodites“, einem „theoretischen und praktischen Kursus der Wollust“ beschrieben. (Lampsaque [Paris] 1793.)

[228] E. u. J. de Goncourt a. a. O. S. 177.

[229] Die geheimen pornologischen Klubs wurden auch nach Russland verpflanzt. In Moskau existierte unter Katharina II. ein „Club physique“ und ein „Club d’Adam“. Siehe Moreau a. a. O. S. 63.

[230] P. L. Jacob, Bibliophile a. a. O. S. 395.

[231] „La chronique scandaleuse.“ Paris 1789. Bd. IV, S. 111. Eine ähnliche Stelle hat auch Ovid in der „Ars amandi.“

[232] Das Manuscript derselben befindet sich in der Nationalbibliothek, Dép. des mss. fr., 11395; suppl. fr., 2996 (Maxime du Camp. „Paris, ses organes, ses fonctions et sa vie etc.“ Paris 1875. Bd. III, S. 323). —

[233] A. B. Parent-Duchatelet a. a. O. Bd. II, S. 205–206.

[234] Parent-Duchatelet a. a. O. II. S. 209–210.

[235] A. Schmidt a. a. O. Bd. II, S. 64.

[236] A. Schmidt a. a. O. II, S. 85.

[237] Parent-Duchatelet a. a. O. I, S. 239.

[238] A. Schmidt a. a. O. II, S. 66.

[239] Jules Janin a. a. O. S. 332.

[240] A. Schmidt a. a. O. II, S. 67.

[241] Parent-Duchatelet a. a. O. I, S. 13.

[242] L. S. Mercier „Tableau de Paris“. I, S. 393–395.

[243] La Mettrie „L’art de jouir“. A Cythère 1751. S. 103.

[244] „La chronique scandaleuse.“ Bd. IV, S. 190. Bei einem am 15. Juni 1731 von dem Direktor der Oper, Gruer veranstalteten Feste tanzten die Camargo und mehrere andere Tänzerinnen vollkommen nackt vor der Festversammlung. (Max Schönau „Allerlei Koulissenscherze.“ Charlottenburg o. J. S. 65–67.)

[245] J. Casanova a. a. O. Bd. V, S. 50–51.

[246] J. Casanova a. a. O. Bd. V, S. 52.

[247] Casanova a. a. O. V, 114–116.

[248] „Dialogue entre M. le Comte de Lau.... et Mylord All’Eye, au sujet des filles les plus célèbres de la Capitale.“ In: „L’Espion anglais.“ Bd. II, S. 86–113.

[249] Diese ausführlicheren Nachrichten über die Du Thé entnehmen wir der „Correspondance sécrète, politique et littéraire etc.“ London 1787. Bd. I, S. 57 u. 58.

[250] Maxime du Camp a. a. O. Bd. III, S. 324.

[251] Ein höchst interessantes Werk über die Pariser Theaterheldinnen des 18. Jahrhunderts sind P. Lacome’s „Thèmes variés. Les étoiles du passé“, Paris 1897. —

Ueber einen höchst obscönen Witz der berühmten Schauspielerin Arnould über die verrufenen Opernsängerinnen Château-neuf, Château-vieux und Château-fort vergl. „L’espion anglais“ II, S. 86. Ueber das pornographische Poëm einer anderen Schauspielerin P. L. Jacob, Bibliophile „Bibliographie etc.“ S. 8, Anmerkung.

[252] P. L. Jacob, Bibliophile „Bibliographie et Iconographie de tous ouvrages de Rétif de la Bretonne“. Paris 1875. Seite 145–147.

[253] Parent-Duchatelet a. a. O. Bd. I, S. 127.

[254] Parent-Duchatelet a. a. O. Bd. I, S. 233. — Ueber Soldatendirnen und einige andere Klassen von Prostituierten weiter unten.

[255] Parent-Duchatelet a. a. O. I, S. 70. — Es gab sogar vornehme Zuhälter, z. B. den Vicomte de Letorières. (Maxime du Camp. a. a. O. S. 324.)

[256] Parent-Duchatelet a. a. O. I, S. 81–82.

[257] Parent-Duchatelet a. a. O. I. 184.

[258] „La chronique scandaleuse.“ Bd. II, S. 38 ff.

[259] P. L. Jacob, Bibliographie a. a. O; S. 340–341. Casanova erzählt, dass Graf Jean Du Barry einer Dame in Bologna 100000 Taler für ihre 14jährige Tochter bot (XVII, S. 198).

[260] P. L. Jacob, Bibliographie a. a. O. S. 99–103. — Neue vortreffliche Ausgabe des „Pornographe“ von H. Mireur, Brüssel 1879 (mit Einleitung).

[261] Parent-Duchatelet a. a. O. Bd. I, S. 139–140.

[262] „Les crimes de l’amour etc.“ Brüssel 1881. S. 235–236.

[263] F. Lotheissen „Literatur und Gesellschaft in Frankreich etc.“ Wien 1872. S. 43.

[264] P. Joanne „Paris Diamant.“ Paris 1895. S. 33 u. 100.

[265] J. Casanova a. a. O. Bd. V, S. 37–38. II, 176.

[266] G. A. von Halem „Ein Blick auf einen Teil Deutschlands, der Schweiz und Frankreichs bei einer Reise vom Jahre 1790.“ Hamburg 1791. Bd. II, S. 1 u. S. 20.

[267] A. Chuquet „Paris en 1790. Voyage de Halem, traduction, introduction et notes.“ Paris 1890.

[268] P. Lacroix „XVIIIe Siècle. Institutions, Usages et costumes.“ Paris 1875. S. 368. Auf Seite 359 dieses Prachtwerkes findet sich eine colorierte Abbildung, die ein anziehendes Bild vom Leben und Treiben im Garten des Palais-Royal gewährt.

[269] E. u. J. de Goncourt „Histoire de la société française pendant le Directorat.“ S. 210.

[270] P. L. Jacob, Bibliophile „Bibliographie etc.“ S. 340.

[271] L. S. Mercier „Tableau de Paris.“ Bd. I, S. 267–271.

[272] „La chronique scandaleuse.“ Paris 1791. Bd. I, S. 202.

[273] „La chronique scandaleuse.“ Bd. II, S. 213.

[274] Rétif de la Bretonne „Le Palais-Royal.“ Bd. II, S. 17–230. „Die Geschlechtsausschweifungen unter den Völkern etc.“ o. O. u. J. S. 161–163. — Vgl. auch Hagen, die sexuelle Osphresiologie. Die Beziehungen des Geruchssinnes und der Gerüche zur menschlichen Geschlechtstätigkeit. 2. Aufl. Leipzig 1906. S. 191 ff.

[275] „Eros.“ Bd. I, S. 412.

[276] „Eros.“ Bd. I, S. 156.

[277] A. Schmidt a. a. O. II, S. 70.

[278] Parent-Duchatelet a. a. O. Bd. I, S. 70.

[279] „L’espion anglais.“ London 1784. Bd. II, S. 81.

[280] Dulaure a. a. O. Bd. V, S. 285; S. 307–310.

[281] Wie richtig de Sade beobachtet hat, wenn er in der „Justine“ (I, 5) die Onanie als ein Linderungsmittel von Schmerzen bezeichnet, beweisen die Ausführungen von Dr. Havelock Ellis in seinem neuesten Werke „Geschlechtstrieb und Schamgefühl.“ Leipzig 1900. S. 272 ff., wo er über mehrere Fälle von Masturbation zur Beseitigung von Schmerzen berichtet.

[282] „L’espion anglais.“ Bd. X, S. 271–272.

[283] La Mettrie „L’art de jouir.“ A Cythère 1751. S. 131.

[284] „La chronique scandaleuse.“ Bd. II, S. 167.

[285] S. A. Tissot „De l’onanisme, ou dissertation sur les maladies produites par la masturbation.“ Lausanne 1760.

[286] H. Rohleder „Die Masturbation.“ Berlin 1899. S. 19.

[287] Garnier a. a. O. S. 432 berichtet, dass Haller eine Clitoris von 7 Zoll Länge gesehen habe, ja dass Phantasten sogar eine von einem — Fuss Länge gesehen haben wollen!

[288] Die Franzosen bezeichnen mit dem Worte „Sodomie“ unsere Paederastie, während wir bekanntlich unter „Sodomie“ die Unzucht zwischen Mensch und Tier verstehen.

[289] „Ma conversion.“ London 1783. S. 165–168

[290] „L’espion anglais.“ London 1784. Bd. X, Lettre IX „Confession d’une jeune fille.“ S. 179–208; Lettre XI „Suite de la confession d’une jeune fille.“ S. 248–275; Lettre XIV „Suite et fin de la confession d’une jeune fille“.

[291] Wir finden in den Werken über Psychopathia sexualis den Spiegel nirgends erwähnt, der nach unserer Ansicht oft sehr viel Unheil anrichtet.

[292] Hier bediente sich Sapho — sagte Mairobert — wie auch später eines viel obscöneren Ausdrucks.

[293] a. a. O. S. 190.

[294] Hier sieht man wieder deutlich, wie der Marquis de Sade nach der Wirklichkeit gearbeitet hat. Dieses Reinigen der orificia corporis durch junge Mädchen kommt in seinen Romanen unzählige Male vor.

[295] Hierzu macht Mairobert folgende interessante Anmerkung: „Il y a grande apparence, que cette statue et le globe sont creux et remplis d’un air plus léger que celui de l’atmosphère du salon, en sorte qu’ils sont dans un parfait équilibre. Voila comme d’habiles physiciens présents à ce récit expliquèrent ce prodige qui tient beaucoup du roman. Ils citent même l’ouvrage d’un père Joseph Galien, dominicain, ancien professeur de philosophie et de théologie dans l’université d’Avignon qui en 1755 a publié ‚L’art de naviger dans les airs‘ établi sur des principes de physique et de géométrie.“ Bei E. Gerland „Geschichte der Physik“. Leipzig 1892. S. 199, finden wir diesen Galien als Vorläufer der Montgolfier nicht erwähnt, sondern nur den Pater Guzman in Lissabon.

[296] Ueber den Chevalier d’Eon siehe weiter unten.

[297] Gemeint ist das berühmte Werk von Nicolaus Venette (1633–1698) „De la genération de l’homme, ou tableau de l’amour conjugal“. Amsterdam 1688 unter dem Pseudonym Salionci; später unter wahrem Namen zahlreiche Neuauflagen.

[298] Hierbei wurde ein Vers des Kardinals Bernis erwähnt. — Der Kardinal Bernis kommt auch bei Sade vor.

[299] Diese Darstellung Mairobert’s ist nicht ganz richtig. Ursprünglich war das Gedicht altfranzösisch, von Jean de Nevizan verfasst. Franciscus Corniger übertrug es dann ins Lateinische. Später entstanden zahlreiche französische Nachübersetzungen z. B. von J. Blanchon. Man findet diese Versionen in dem pikanten Buche von Cl. Fr. X. Mercier „Eloge du sein des femmes“ Nouvelle édition. Brüssel 1879. Kapitel II, S. 35 ff. — Bayle hat im Artikel „Hélène“ seines berühmten Wörterbuchs nur die ersten sechs Verse zitiert, dem Scharfsinn des Lesers das Erraten der übrigen überlassend. Eine deutsche und spanische Version siehe im „Eros“. Stuttgart 1849. Bd. I, S. 231–234. Vergleiche ferner die Aufzählung dieser 30 Schönheiten in dem alten Werke „Geneanthropeia Jo. Benedicti Sinibaldi Archiatri et Professoris Romani.“ Rom 1642 col. 147. Auch die Aloysia Sigaea kennt dieselben.

[300] Kenner — und deren soll es nicht wenige geben — brauchen wir wohl kaum auf die vortrefflichen ästhetischen Werke von E. W. v. Brücke „Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt“ Wien 1891, und C. H. Stratz „Die Schönheit des weiblichen Körpers.“ 7. Auflage. Stuttgart 1900 hinzuweisen.

[301] „Apologie de la secte Anandryne ou Exhortation à une jeune tribade par Mlle de Raucourt, prononcée le 23. mars 1778“. „L’espion anglais.“ X, 208–228. Hier gilt die Rede zwar einer Mlle Aurore. Doch ist anzunehmen, dass die Raucourt immer dieselben Gedanken vorbrachte.

[302] Auch diese Schilderung ist wieder ein Beweis für unsere Ansicht von dem allmählichen Erworbenwerden der Homosexualität. Man gewöhnt sich an den neuen Reiz, der allmählich unentbehrlich wird. Man beachte, dass dieses Bekenntnis aus dem Munde einer echten Anhängerin des amor lesbicus kommt, die nicht etwa temporäre Tribade war.

[303] Poulet-Malassis hat in seiner Ausgabe dieser Abschnitte des „Espion Anglais“ („Anandria, ou Confession de mademoiselle Sapho“ Lesbos [Brüssel] 1866) den Schlüssel zu diesen Namen gegeben. „Furiel“ ist Mme de Fleury, „Urbsrex“ ist die Herzogin von Villeroy; „Terracenès“ ist die Marquise de Senecterre und „Téchul“ ist die Marquise de Luchet.

[304] Dass der Marquis de Sade stets Gelegenheit nimmt, seine Helden, besonders vor den Orgien mit einer grossen Rede über dieselben paradieren zu lassen, haben wir schon öfter hervorgehoben.

[305] „Eros“ Bd. II. S. 413.

[306] Fr. C. Forberg giebt eine kurze lateinische Darstellung dieser Feier und berichtet, dass in London am Ende des vorigen Jahrhunderts eine ähnliche Secte existiert habe. („Antonii Panormitae Hermaphroditus“ Coburg 1824 S. 365–366.)

[307] Françoise Clairien, genannt Saucerotte, genannt Raucourt, geboren zu Dombasle in Lothringen am 29. November 1753, starb in Paris am 15. Januar 1815. Sie erschien zum ersten Male am 23. September 1772 auf der Bühne als „Dido“.

[308] „Le livre moderne“ herausgegeben von Octave Uzanne, Paris 1891 Bd. IV S. 245–247.

[309] „La chronique scandaleuse“ Paris 1789. Bd. III. S. 32 und 280.

[310] Charles Geneviève Louis Auguste André Thimothée d’Eon de Beaumont geb. 1728 zu Tonnerre in Burgund, gestorben 1810 in London.

[311] d’Eon stellt allerdings die Sache so dar, als ob Beaumarchais von ihm zum Besten gehalten sei und wirklich an seine weibliche Natur geglaubt habe.

[312] d’Eon wollte hier einschalten: „als das Geschlecht der Dame durch Zeugen, Aerzte, Matronen und rechtsförmliche Urkunden erwiesen erscheint“, ein Zusatz, den Beaumarchais tilgte.

[313] Die ganze Darstellung der „Affaire d’Eon“ nach A. Bettelheim „Beaumarchais“, Frankfurt a. M. 1876. S. 356–370.

[314] J. Casanova a. a. O. Bd. V, S. 87. Ueber den Aufenthalt des Chevalier d’Eon in England vgl. den dritten Band dieser Studien („Das Geschlechtsleben in England“, Bd. II, Cap. 7), sowie die Schrift von H. Vizetelly „The true story of the Chevalier d’Eon“, London 1895.

[315] H. Ellis u. J. A. Symonds „Das conträre Geschlechtsgefühl“ Leipzig 1896. S. 186.

[316] „Bougre“ kommt von „Bulgar“, da man der Sekte der Bulgaren die erste Einführung des Lasters in Frankreich zuschrieb.

[317] „Erotica Biblion“ Cap. Kadhésh. Amsterdam 1890 (Neudruck) S. 114.

[318] A. Moll „Untersuchungen über die ‚Libido sexualis‘“ Berlin 1898 Bd. I. S. 460.

[319] Vgl. Bussy-Rabutin „Histoire amoureuse des Gaules“ Edition Auguste Poitevin Paris 1858 Bd. II S. 254–261.

[320] H. Ellis u. J. A. Symonds a. a. O. S. 127.

[321] A. Moll „Die konträre Sexualempfindung“ 2. Auflage Berlin 1893 S. 68.

[322] F. C. Forberg a, a. O. S. 164.

[323] „Eros“ I, S. 602. — Die „Hermaphroditen“ waren ein Paederasten-Club, wie aus der Schrift „Description de l’Isle des Hermaphrodites“ Köln 1724 hervorgeht. Vergl. ferner bezüglich der Verbreitung der Paederastie im 18. Jahrhundert die „Anecdotes pour servir à l’Histoire Sécrète des Ebugors“. Medoso MMMCCCXXXIII.

[324] A. Schmidt a. a. O. Bd. II S. 87–88.

[325] P. L. Jacob, Bibliophile a. a. O. S. 460. Diese Schrift enthält 6 Capitel: I. Des filles de joie; II. Des Sodomites; III. De la Bestialité; IV. De l’Inceste; V. Du Gamahuchage; VI. De quelques autres abus qui nuisent à la population.

[326] A. Moll „Untersuchungen über die ‚Libido sexualis‘.“ I, S. 499.

[327] Angesichts der Vorgänge im Potsdamer Waisenhause und anderer kultur-historischer Thatsachen erscheint diese Meinung des Marquis de Sade etwas sonderbar.

[328] W. M. Cooper „Der Flagellantismus und die Flagellanten“. Deutsch von H. Dohrn. Dresden 1899. S. 102–108.

[329] R. v. Krafft-Ebing „Neue Forschungen auf dem Gebiete der Psychopathia sexualis.“ 2. Auflage. Stuttgart 1891. S. 35–36. — Vergl. auch P. J. Moebius „J. J. Rousseau’s Krankengeschichte“. Leipzig 1889. Und K. G. Lenz, Ueber Rousseaus Verbindung mit Weibern. 2. Aufl. Berlin 1906. p. 8 ff.

[330] P. Fraxi a. a. O. S. XLIV.

[331] P. Fraxi a. a. O. S. XLIV-XLV. Dort findet sich auch eine Abbildung dieses merkwürdigen „Berkley Horse“.

[332] Vgl. „Studien“ Bd. III. Das Geschlechtsleben in England. Zweiter Teil. Kap. 6.

[333] G. Abricossoff a. a. O. S. 70. — Dass der Aderlass eine Modesache bei Aerzten und Laien war, bemerkt Dr. P. Hamonic („La Chirurgie et la Médecine d’autrefois“ Paris 1900 S. 90–91): „Le XVIIIe siècle a marqué l’apogée de la saignée. Jamais la phlébotomie n’a autant prévalu en chirurgie et en médecine. On pratiquait cette opération dans les circonstances les plus diverses. On en avait fait une panacée qui guérissait tout. Elle était plus répandue que la purgation. Bien des gens se faisaient saigner préventiment pour éviter des maladies qu’ils n’avaient pas, d’autres par habitude; il en était même qui n’obéissaient qu’à la mode.“

[334] „Gazette médicale de Paris“ vom 21. Juli 1849 S. 560.

[335] Ein uraltes Mittel der Perser ist das Gummi von Ferula Asa foetida (Stinkasant, Teufelsdreck), welches „beim Beischlafe zum höchsten Genusse verhilft, wenn man den Penis damit einreibt.“ (R. Kobert „Historische Studien aus dem pharmakologischen Institut in Dorpat“. Halle. 1893. Bd. III S. 188).

[336] Ueber das Opium als sexuelles Stimulans urteilt man heute anders. L. Lewin bemerkt darüber: „Durch einmalige oder nur kurze Zeit gereichte mittlere Opiummengen soll die Geschlechtstätigkeit erhöht werden. Diese Angabe muss insofern als unrichtig angesehen werden, als wohl während des Opiumrausches dem Opiumraucher eine Reihe von wollüstigen Bildern in der abnorm erregten, ungeordneten und wirren Sinnesthätigkeit auftauchen können, dass aber die dadurch hervorgerufenen Erectionen schnell vorübergehen und hiermit wohl nicht eine erhöhte Libido sexualis oder Potentia coeundi verbunden ist. Zu bemerken ist freilich, dass von Opiophagen eine erhebliche Steigerung der geschlechtlichen Funktionen in der ersten Zeit des Opiumgebrauches angegeben wird. Dieselbe macht später einer Impotenz Platz.“ (Artikel „Opium“ in Eulenburg’s „Real-Encyklopädie der gesamten Heilkunde“. Wien und Leipzig 1898 Bd. XVII S. 625.) — In einem der folgenden Bände dieser Studien gedenken wir über die Aphrodisiaca in cultur- und sittengeschichtlicher Beziehung zu handeln.

[337] C. Binz „Vorlesungen über Pharmakologie“ 2. Auflage. Berlin 1891 S. 690.

[338] „Eros“ Bd. I. S. 41–42.

[339] R. Kobert „Lehrbuch der Pharmakotherapie“. 1897. S. 488.

[340] Dulaure a. a. O. Bd. V. S. 434.

[341] Casanova a. a. O. S. 137.

[342] L. Waldenburg und C. E. Simon,„Handbuch der allgemeinen und speziellen Arzneiverordnungslehre“ 7. Auflage. Berlin 1870 S. 177. Viele Männer epilirten sich am ganzen Körper (H. Paschkis „Kosmetik für Aerzte“ Wien 1893 S. 28.) — Vgl. Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der Türkei. Berlin 1903. Bd. 2, p. 132.

[343] „La chronique scandaleuse“. Paris 1791. Bd. I, S. 139.

[344] F. Hering „Kosmetik nach Heinrich de Mondeville“. Inauguraldissertation. Berlin 1898. S. 17–18. (Unter der Aegide von J. Pagel).

[345] Nach J. Hyrtl „Handbuch der topographischen Anatomie“ 7. Auflage. Wien 1882 Bd. II, S. 191 sprechen auch Avicenna und Cornelius Agrippa von Mitteln, deren Gebrauch ein zerstörtes Hymen reproduzieren soll. In unseren kulturhistorischen Studien über die Aphrodisiaca werden wir diese interessante Frage weiter verfolgen.

[346] Weitere Mitteilungen über die Restauration der Virginität findet man im zweiten Bande dieser Studien: das Geschlechtsleben in England. Bd. 1, S. 370–377.

[347] P. Paschkis „Kosmetik für Aerzte“. Wien 1893 S. 27.

[348] „Eros“ II. S. 261.

[349] H. Paschkis a. a. O. S. 23.

[350] H. Ploss und M. Bartels „Das Weib in der Natur- und Völkerkunde“ 6. Auflage. Leipzig 1899. Bd. I, S. 750.

[351] „Les bordels de Paris“. Paris 1790. S. 17. — „Höre Hortense“, sagt der Graf in Mirabeaus „Ma conversion“ (S. 175 ff.) zu einer Dirne, „Ich habe von Dir einen Tripper bekommen. Das ist ja eine Regel. Ich beklage mich nicht darüber. Denn es ist ‚le bonbon du métier‘.“

[352] Casanova a. a. O. Bd. XI, S. 226. Dass die Ansteckung auf diesem Wege erfolgen kann, bestätigt auch R. Bergh, der selbst einen solchen Fall beobachtet hat. („Ueber Ansteckung und Ansteckungswege bei Syphilis“, Hamburg und Leipzig 1888. S. 21.)

[353] Parent-Duchatelet a. a. O. II, S. 227. — Eine höchst witzige Anecdote über eine Madame D**. erzählt die „chron. scand.“ (IV, S. 10): „On disait à un souper que Madame D**. avait la petite vérole (Blattern). Je n’en suis pas étonné, répondit quelqu’un, je l’ai toujours connue très modeste.“ — Grande vérole ist nämlich Syphilis.

[354] P. L. Jacob, Bibliophile a. a. O. S. 340 und S. 44.

[355] „L’espion anglais“. Bd. VI, S. 217–235. „Historique du spécifique du Docteur Guilbert de Préval“.

[356] Es war eine Auflösung von Sublimat in Kalkwasser. (Chr. Girtanner „Abhandlung über die Venerische Krankheit“ Göttingen 1789 Bd. III, S. 782.)

[357] Parent-Duchatelet a. a. O. II, S. 229.

[358] J. K. Proksch „Geschichte der venerischen Krankheiten“ Bonn 1895 Bd. II, S. 509; J. Schrank „Die Prostitution in Wien.“ Bd. I, S. 237. Wien 1886.

[359] Parent-Duchatelet a. a. O. Bd. II, S. 230.

[360] Girtanner a. a. O. Bd. III, S. 781.

[361] J. K. Proksch „Die Vorbauung der venerischen Krankheiten“. Wien 1872. S. 48 ff. — Die Litteratur über die „Affaire Guilbert de Préval“ bei Girtanner a. a. O. S. 782 und J. K. Proksch „Die Litteratur über die venerischen Krankheiten“. Bonn 1889. Bd. I, S. 473. — Als Kuriosum möge hier Linguet’s „Cacomonade, histoire politique et morale“ Köln 1769 erwähnt werden, eine Paraphrase von Voltaire’s bekannter cynischer Anecdote über den Ursprung der Syphilis im 4. Kap. des „Candide“.

[362] Casanova a. a. O. Bd. XI, S. 226.

[363] J. K. Proksch „Die Vorbauung der venerischen Krankheiten“. Wien 1872. S. 48.

[364] J. K. Proksch a. a. O. S. 50.

[365] Proksch a. a. O. S. 50–51. „Unter 48 Condomen der verschiedensten Grösse, die ich mir von Verschleissern und ohne eine Auswahl zu meinen Experimenten anschaffte, fand ich keinen einzigen, welchen ich als schlecht gemacht und unsicher bezeichnen könnte. Die meisten Condome liessen sich mittelst einer Compressionsluftpumpe bis an das Vierfache des Volums, welches sie im Zustande der Contraction hatten, ausdehnen, ehe sie mit einem starken Knalle platzten; kein einziger Condom barst, wenn ich die Ausdehnung seines Umfanges nur bis auf das Dreifache trieb, was ich an allen durch genaue Messungen sicher stellte. Bemerkenswert war bei diesen Versuchen der Umstand, dass die Condome nach einer stärkeren Ausdehnung knapp vor der Stelle abrissen, wo ich sie mittelst eines Bändchens an die Compressions-Luftpumpe befestigt hatte. Wäre es mir also möglich gewesen, die Condome auf eine Weise zu befestigen, die es zugelassen hätte, die ganzen Condome zu erweitern, so würde ich gewiss noch bedeutendere Ausdehnungen erzielt haben.“ Auch rasche und ungleichmässige Ausdehnungen ergaben dasselbe Resultat wodurch nach Proksch sichergestellt ist, dass, wenn „die Condome aus Kautschuk im unversehrten Zustande verkauft werden, sie durch den Beischlaf unmöglich zerrissen werden können, auch wenn sie noch so ungeschickt angelegt und gebraucht werden, und dass sie selbst bei ihrer stärksten Ausdehnung impermeabel bleiben. Damit sind die gewichtigsten Einwände, welche gegen die Schutzfähigkeit der Condome bis nun gethan wurden, widerlegt.“

[366] J. A. Dulaure hat in seinem grossen Werke „Des divinités génératrices ou du culte du Phallus chez les Anciens et Modernes“ Nouv. édit. Paris 1885 eine ausführliche Darstellung der Geschichte des Phalluscultus gegeben. — Wertvolle Beiträge dazu auch bei J. Rosenbaum „Geschichte der Lustseuche im Altertume“. 7. Auflage. Berlin 1904. S. 59–70.

[367] Dr. Iwan Bloch. „Kannten die Alten die Contagiosität venerischer Krankheiten?“ Deutsche med. Wochenschr. 1899 No. 5, teilt eine interessante Stelle aus den kürzlich wieder aufgefundenen Mimiamben des hellenistischen Dichters Herondas mit. In dem Mimiambus „Die beiden Freundinnen“ oder „Das vertrauliche Gespräch“ handelt es sich um einen Lederphallus, den die Frauen der Insel Kos unter einander zur Befriedigung ihrer Lüste benutzen, welche Unsitte damals selbst unter den ehrbaren Bürgerinnen ganz verbreitet war, wie aus dem Gespräche zweier Freundinnen hervorgeht. — Die Behauptung Bloch’s, dass die Syphilis im Altertums nicht existiert habe, scheint uns noch entschieden weiterer Beweise bedürftig zu sein.

[368] Selbst dieses Instrument wurde zu einer Satire gegen das Königtum missbraucht, in der Schrift „Le Godmiché Royal“ Paris 1790.

[369] W. Heinse in seiner Uebersetzung des „Petronius. Begebenheiten des Enkolp.“ Neue Ausgabe. Leipzig 1898. Bd. I, S. 70.

[370] Garnier a. a. O. S. 378.

[371] Derselbe Autor erzählt a. a. O. S. 125, dass die Chinesen auch diese Wollustapparate schon erfunden hatten, bevor sie mit Europäern in Berührung kamen, und dass man heute in Tient-sin künstliche männliche Glieder in „natürlichen Farben“ verkauft, sowie Bilder, welche Frauen darstellen, wie sie von „Tröstern“ Gebrauch machen. Selbst auf Porzellan wurden derartige Szenen gemalt. — Wir selbst haben in letzter Zeit mehrfach im Besitz von jungen Kaufleuten eine hektographierte Zeichnung gesehen, auf der dieser Apparat in Form einer grossen Maschine dargestellt war, die von einer Frau zum Zwecke der sexuellen Befriedigung in Bewegung gesetzt wird. So ähnlich wird man sich Sade’s „automatische Godmichés“ zu denken haben. — „Analuma, eigentlich die Gesellschaft der unverheirateten jungen Damen, ist ein sinnig-euphemistisch-verschämter Ausdruck für den Penis.“ (B. Friedländer „Notizen über Samoa“. Zeitschr. für Ethnologie. 1899. S. 31).

[372] Garnier a. a. O. S. 373.

[373] Paul Lacroix „XVIIIe Siècle. Institutions, Usages et Costumes.“ Paris 1875. S. 389.

[374] Paul Lacroix a. a. O. S. 390.

[375] ib. S. 388.

[376] Paul Lacroix a. a. O. S. 11.

[377] Brillat-Savarin „Physiologie des Geschmacks“, übersetzt von Carl Vogt. 2. Aufl. Braunschweig 1866. S. 269.

[378] P. L. Jacob, Bibliophile a. a. O. S. 263.

[379] ib. S. 269.

[380] ib. S. 56.

[381] Casanova a. a. O. Bd. XI, S. 224 ff.

[382] J. F. Reichardt a. a. O. Bd. III. S. 77–78.

[383] „Aline et Valcour“ Brüssel 1883 Bd. II, S. 293.

[384] Es ist eine interessante Frage, ob die Kleptomanie vornehmer Damen nicht mit sexuellen Perversitäten zusammenhängt, wie wir vermuten, nach den blossen Schilderungen, die Sade von der Wollust des Diebstahls entwirft. Der Fall Lombroso’s, in dem ein 15jähriges Mädchen stets während der Menstruation von Kleptomanie ergriffen wurde, spricht auch dafür. („Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte“ Hamburg 1894. S. 527.)

[385] A. Bettelheim a. a. O. S. 615. — Wie diese Geldgier den moralischen und physischen Menschen corrumpiert, schildert unübertrefflich A. Schüle „Handbuch der Geisteskrankheiten“ 2. Auflage. Leipzig 1880. S. 194.

[386] G. Keben „Die Prostitution und ihre Beziehungen zur modernen realistischen Litteratur“. Zürich 1892 S. 52 führt ein bemerkenswertes Wort von Avé-Lallemant an: „Mehrere Räuber verfluchten auf dem Schaffot die Bordelle als die Ursache ihres Unglücks.“

[387] A. Schmidt a a. O. Bd. II, S. 33–36.

[388] A. Schmidt a. a. O. II, S 39–43.

[389] A. Schmidt a. a. O. II, 51.

[390] A. Schmidt a. a. O. Bd. II, S. 56. — Schmidt macht darauf aufmerksam, dass die einmal erweckten verbrecherischen Neigungen sich in einem Teile der französischen und besonders der Pariser Bevölkerung forterbten und daher in jedem späteren, die Bande der bürgerlichen Ordnung lockernden Zeitpunkt mit Unwiderstehlichkeit und Heftigkeit wieder hervorbrachen.

[391] G. Hermann a. a. O. S. 111.

[392] A. Kohut „Berühmte und berüchtigte Giftmischerinnen“. Berlin 1893. S. 55–65.

[393] Ueberraschend ähnlich (wenn auch natürlich in anderem Sinne) heisst es bei W. v. Bechterew „Suggestion und ihre soziale Bedeutung“ Leipzig 1899, S. 82 von der Suggestion überhaupt: „Es kann nicht zweifelhaft sein, dass suggestive Mikroben in gewissen Fällen gleich verderbenbringend wirken müssen wie physische Infektion... Der ‚psychische Bacillus‘ der Suggestion kann je nach seinem inneren Gehalt segenbringende, aber auch schädliche und verheerende Wirkungen entfalten.“

[394] „L’espion anglais“. Bd. VI. London 1783. S. 1–15. („Exécution de Desrues et son histoire“.)

[395] Jules Janin a. a. O. S. 322.

[396] Cesare Beccaria „Ueber Verbrechen und Strafen“, übersetzt von M. Waldeck. Berlin 1870. S. 63.

[397] Paul Lacroix „XVIIIe siècle. Institutions, Usages et Costumes.“ Paris 1875. S. 307 — Adlige wurden enthauptet.

[398] Paul Lacroix a. a. O. S. 307.

[399] P. Lacroix a. a. O. S. 309.

[400] Th. Carlyle „Die französische Revolution“ übersetzt von Franz Kwest. Halle 1899 Bd. II, S. 419.

[401] „Assassinat de Louis XV. et supplice de Damiens“ (Extrait par Lemonty des Mémoires manuscrits du duc de Croy Bd. XIV) in „Revue rétrospective“ Paris 1833 Bd. I, S. 357–370.

[402] Charles Monselet „Le Supplice de Damiens“ in: Bibliothèque choisie Band 1154 Paris 1873 S. 119.

[403] Monselet sagt hier: „Ich erzähle, gestützt auf Documente von unbestreitbarer Authenticität. Ich übertreibe nichts, was infam sein würde! Ich mildere sogar den Ausdruck und lasse nur die blossen Thatsachen reden. Ich bin zu dieser Erklärung genötigt, um fortfahren zu können.“ (a. a. O. S. 128.)

[404] Monselet a. a. O. S. 130.

[405] „Geschichte des Privatlebens Ludwigs XIV. u. s. w.“ A. d. Französ. Berlin u. Stettin 1781. Bd. III, S. 113.

[406] F. W. Barthold a. a. O. S. 261.

[407] Das Attentat des Damiens soll auf Anstiften der Jesuiten erfolgt sein. Vergl. P. P. Wolf „Allgemeine Geschichte der Jesuiten“. Bd. III, S. 316.

[408] J. Casanova a. a. O. Bd. VIII. S. 74–76.

[409] S. 77.

[410] „Revue rétrospective.“ Bd. I. S. 370.

[411] „L’espion anglais.“ Bd. VI. S. 14.

[412] Thomas Carlyle „Die französische Revolution.“ Halle 1899. Bd. II, S. 67–68.

[413] Th. Carlyle a. a. O. Bd. II, S. 165 und 185.

[414] Jourgniac St.-Méard „Mon Agonie de trente-huit heures“ in „Histoire parlamentaire de la Révolution Française“. Paris 1835. Bd. XVIII, S. 103–135.

[415] Maton de la Varenne „Ma résurrection“ ibid. S. 135–156.

[416] Abbé Sicard „Relation adressée à un de ses amis“ ibid. S. 98–103.

[417] Th. Carlyle a. a. O. S. 196. — Mercier sah aus einem Haufen von Leichen einen Fuss hervorragen. „Ich sah jenen Fuss“, sagt er, „ich werde ihn wieder erkennen am grossen Tage des Gerichts, wenn der Ewige, auf seinen Donnern thronend, richten wird über beide, Könige und Septembermänner.“ („Le nouveau Paris.“ Paris 1800. Bd. VI, S. 21.)

[418] Die Guillotine, deren Erfindung irrtümlich dem Arzte Joseph-Ignace Guillotin (1738–1814) zugeschrieben wird, war schon im Mittelalter bekannt. Die Köpfmaschine der französischen Revolution war nach den Vorschlägen des Chirurgen Louis von dem deutschen Mechaniker Schmitt angefertigt worden und wurde zum ersten Male im April 1792 auf dem Grèveplatz aufgestellt. Vergl. G. Korn „Joseph-Ignace Guillotin“ Inauguraldissertation. Berlin 1891, S. 20.

[419] Th. Carlyle a. a. O. Bd. II. „Schrecken an der Tagesordnung“. S. 358–398.

[420] „Les crimes de l’amour etc.“ Brüssel 1881. S. 262.

[421] Comte Fleury „Les grands Terroristes. Carrier à Nantes (1793–1794).“ Paris 1897. Besonders Seite 197–202.

[422] Comte Fleury a. a. O. S. 121.

[423] Comte Fleury a. a. O. S. 175.

[424] Auch über die Priester äusserte sich Carrier fast in denselben obscönen Ausdrücken, deren sich Sade ihnen gegenüber bedient. So sagte er von 60 verurteilten Priestern aus Angres: „Pas tant de mystère, f... tous ces bougres-là à l’eau.“ (Fleury a. a. O. S. 112.)

[425] Carlyle a. a. O. II, S. 374.

[426] Carlyle a. a. O. Bd. II, S. 402. — Ein Exemplar von Sades „Philosophie dans le Boudoir“ (Londres 1795. 2 vols. in 16o), das in Menschenhaut eingebunden ist, wird jetzt in Paris für 500 frs. ausgeboten.

[427] Arsène Houssaye „Notre-Dame de Thermidor“ Paris 1806. S. 361–368.

[428] Th. Achelis „Moderne Völkerkunde“. Stuttgart 1896. S. 3.

[429] Th. Achelis a. a. O. S. 4.

[430] Siehe Chr. Girtanner, a. a. O. Bd. I, S. 57–59.

[431] „Gilles de Rays, maréchal de France, dit Barbe-Bleue (1404–1440)“ par l’abbé E. Bossard et R. de Maulle. Paris 1886.

[432] A. Eulenburg „Sexuale Neuropathie. Leipzig 1895“ S. 116.

[433] A. Lacassagne „Vacher l’éventreur et les crimes sadiques“ Lyon u. Paris 1899. Seite 246–247.

[434] A. Eulenburg „sexuale Neuropathie“ S. 116. — Die dort erwähnte ungarische „Blutgräfin“ Elisabeth Báthory, die im 17. Jahrhundert lebte, ist Sade nicht bekannt gewesen. Vergl. „Die Blutgräfin (Elisabeth Báthory) ein Sitten- und Charakterbild“ von R. A. von Elsberg. Breslau 1893.

[435] J. Michelet „Histoire de France (Louis XV.)“ Bd. XVII. Paris 1879. S. 126 ff.

[436] Paul Moreau a. a. O. S. 64.

[437] Ch. J. D. de Lacretelle „Histoire de France pendant le 18me siècle“ Paris 1819. Bd. I, S. 271.

[438] „Biographie universelle“ Paris 1844. Bd. VII, S. 673. Die hier erzählte Anekdote über Charolais teilt auch Sade mit (Phil. dans le Boud. II, 131).

[439] E. u. J. de Goncourt „La femme etc.“ S. 275.

[440] A. Moll „Untersuchungen über die Libido sexualis“. Berlin 1808. Bd. I, S. 701.

[441] „Les crimes de l’amour etc.“ Brüssel 1881. S. 239. — Dort wird auch auf die „blutigen Ausschweifungen“ des im 17. Jahrhundert lebenden Duc d’Epernon hingewiesen.

[442] F. Lotheissen „Litteratur und Gesellschaft“ u. s. w. S. 104.

[443] „Justine und Juliette oder die Gefahren der Tugend und die Wonne des Lasters.“ Leipzig 1874. S. 14 und 18.

[444] J. A. Dulaure „Histoire physique, civile et morale de Paris“. Paris 1821. Bd. V, S. 19.

[445] Dies ist ein Nachdruck einer scatologischen Gedichtsammlung „Merdiana, recueil propre à certain usage“ Paris 1803. Die „Bibliotheca Scatologica“ (Paris 1853) enthält u. a. auch zahlreiche Titel von Schriften, die den menschlichen Excrementen alles erdenkliche Lob zollen.

[446] C. J. Weber „Das Papsttum und die Päpste“ Stuttgart 1834. Bd. III, S. 209.

[447] J. Casanova a. a. O. Bd. XVII, S. 104 und 189.

[448] F. W. Barthold a. a. O. S. 56. — Ein bezeichnendes Sprichwort der Venetianer heisst: La mattina una messetta, l’apodimar una bassetta, e la sera una donnetta. — Vgl. auch. Thomas Medwin, „Lord Byron-Erinnerungen“. 3. Auflage. S. 47 ff. Leipzig 1900. Verlag von H. Barsdorf.

[449] Sehr viel Material in dieser Beziehung enthalten die auf Kosten des Earl of Orford gedruckten „Leggi e Memoire Venete sulla Prostituzione fine alla caduta della republica“ Venedig 1780–1872.

[450] J. K. Proksch „Die Vorbauung der venerischen Krankheiten“ Wien 1872, S. 26.

[451] J. Casanova a. a. O. I, 125 ff und III, 186.

[452] Näheres bei A. Moll „Die konträre Sexualempfindung“ 2. Auflage. Berlin 1893. S. 44.

[453] H. Fuchs, Richard Wagner u. d. Homosexualität. Berlin 1903. S. 16–20.

[454] A. Moll a. a. O. S. 56–62.

[455] 4: „Histoire des Papes. Crimes, Meurtres, Empoisonnements, Parricides, Adultères, Incestes etc.“ Paris 1843. Bd. 7, S. 197.

[456] J. Casanova a. a. O. Bd. II, S. 41 und 177 und XVII, S. 186.

[457] A. Moll a. a. O. S. 51–52. — Italien hat auch den berühmtesten aller Paederasten-Romane hervorgebracht, das äusserst selten gewordene Buch „Alcibiade fanciullo a scuola“, Oranges 1652. (Französisch: „Alcibiade Enfant à l’Ecole“. Amsterdam 1866.)

[458] Joseph Gorani „Mémoires secrets et critiques des cours et des mœurs des principaux états de l’Italie“. Paris 1794. Bd. I, S. 79, 85–86.

[459] J. Casanova a. a. O. II, 15 und 45.

[460] „Eros“. Bd. II, S. 350.

[461] C. J. Weber „Das Papsttum und die Päpste“. Stuttgart 1834. Bd. III S. 157.

[462] J. Casanova a. a. O. XVII, S. 126–27.

[463] J. Casanova a. a. O. Bd XVII, S. 134; 177 ff.

[464] Bourgoing „Mémoires historiques et philosophiques sur Pie VI et son pontificat“ Paris An 7 de la République. S. 101 bis 111.

[465] P. Coletta „Geschichte des Königreich Neapel“ 2. Aufl. Cassel 1855. Bd. I, S. 246.

[466] C. J. Weber a. a. O. Bd. III, S. 255.

[467] J. Gorani a. a. O. Bd. II, S. 357.

[468] Bourgoing a. a. O. S. 120–121. — Der Lüstling und Klosterprior Severino bei Sade wird als Verwandter des Papstes Pius VI. bezeichnet (Justine II, 176.)

[469] Karoline nennt sich in ihren Briefen Charlotte. Daher heisst sie auch bei Sade so.

[470] v. Helfert „Maria Karoline von Oesterreich, Königin von Neapel“, Wien 1884.

[471] M. Brosch „Königin Maria Karolina von Neapel“ in: Historische Zeitschrift Bd. 53. München und Leipzig 1885. S. 72–94.

[472] P. Coletta a. a. O. Bd. I, S. 240.

[473] J. Gorani a. a. O. Bd. I, S. 96, 135, 209, 256–64. — J. Gorani, geboren 15. Febr. 1740 in Mailand, starb nach einem abenteuerlichen Leben am 13. Dezember 1819 in Genf.

[474] A. Gagnières „La Reine Marie-Caroline de Naples d’après les documents nouveaux.“ Paris 1886. S. 31. — J. C. Jeaffreson hat in seinem vortrefflichen kritischen Werke über „Lady Hamilton and Lord Nelson“ (London 1888) die wirkliche Natur des Verhältnisses zwischen Emma und Karoline vollkommen übergangen. — Ueber das Verhältnis beider vgl. auch das ausführliche Kapitel (III, 3) im zweiten Bande von „Das Geschlechtsleben in England“ („Studien“ Bd. 3.)

[475] Gagnières a. a. O. S. 66.

[476] J. Gorani a. a. O. Bd. I, S. 39–41, S. 20 ff; S. 98.

[477] K. M. Sauer „Geschichte der italienischen Litteratur“. Leipzig 1883. S. 63.

[478] A. Eulenburg „Der Marquis de Sade“ in: Die Zukunft. 1899. Nr. 26, S. 499.

[479] J. Janin „Le Marquis de Sade“. Revue de Paris. Bd. XI. Paris 1834. S. 327.

[480] „Journal de la cour et de Paris, depuis le 28. Novembre 1732 jusqu’au 30. Novembre 1733 in: Revue rétrospective.“ Paris 1836. Bd. VII, S. 118–119.

[481] J. Janin a. a. O. S. 328.

[482] Die Darstellung der Genealogie des Marquis de Sade im wesentlichen nach „Biographie ancienne et moderne.“ Paris 1837. Bd. 37, S. 217–224. In neuerdings veröffentlichten Dokumenten aus dem Archiv des Irrenhauses Charenton werden noch als zweiter Sohn des Marquis de Sade Armande, als dritter Jean Baptiste Joseph David de Sade genannt. Vgl. A. Cabanes „La prétendue folie du marquis de Sade“ in: Le Cabinet secret de l’Histoire, 4me Série, Paris 1900, S. 316 u. ö.

[483] Er hätte eigentlich nach dem Tode seines Vaters den Titel „Comte“ annehmen müssen, war aber als Marquis de Sade berüchtigt geworden, so dass ihm dieser Name blieb.

[484] P. Lacroix „XVIIIe Siècle etc.“ Paris 1875. S. 258 bis 259.

[485] O. Uzanne „Idée sur les Romans par D. A. F. de Sade“ Paris 1878 S. XIV-XV.

[486] Marciat „Le marquis de Sade et le Sadisme“ in: Lacassagne „Vacher l’Eventreur et les crimes sadiques“ Lyon 1889 S. 187.

[487] „Justine und Juliette u. s. w.“ Leipzig 1874 S. 11.

[488] „Les crimes de l’amour u. s. w.“ Brüssel 1881. S. 237.

[489] P. Fraxi a. a. O. S. 39.

[490] „La vérité sur les deux procès criminels du Marquis de Sade“ par Paul L. Jacob, Bibliophile, in „Revue de Paris“ 1837. Bd. 38, S. 138.

[491] J. Janin a. a. O. S. 331.

[492] P. Lacroix a. a. O. S. 137.

[493] Marciat a. a. O. S. 187–188.

[494] P. Lacroix a. a. O. S. 137–139.

[495] J. Scherr „Deutsche Kultur- und Sittengeschichte“ 9. Auflage. Leipzig 1887. S. 449.

[496] A. Eulenburg „Der Marquis de Sade“ a. a. O. S. 514 Anmerkung.

[497] Paul Ginisty „Lettres inédites de la Marquise de Sade“ in: „La Grande Revue“ 1899 Nr. 1, S. 1–31.

[498] P. Ginisty a. a. O. S. 17.

[499] a. a. O. S. 140.

[500] „Justine und Juliette“ S. 33–34.

[501] Marciat a. a. O. S. 190. Cabanes a. a. O. S. 261 bis 263.

[502] Cabanès a. a. O. S. 263.

[503] Cabanès sagt ähnlich: „S’il en avait eu le loisir, le marquis de Sade aurait pu donner à son autobiographie ce titre, que devait illustrer plus tard Silvio Pellico: Mes Prisons.“

[504] „Lettres de la Marquise Du Deffand à Horace Walpole depuis comte d’Orford, écrites dans les années 1766 à 1780 etc.“ Nouv. ed. corrigée. Paris 1812. Bd. I. S. 225–227; 228–229 (Brief 46 vom 12. und 13. April 1768).

[505] J. Janin a. a. O. S. 348.

[506] a. a. O. S. 500–501.

[507] a. a. O. S. 141.

[508] „Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Rétif de la Bretonne“ S. 418. — Dort auch die Erzählung Rétif’s.

[509] Cabanès a. a. O. S. 265–266.

[510] „Remarques médico-légales sur la perversion de l’instinct génésique“ in Gazette médicale de Paris No. 29 vom 21. Juli 1849. S. 559–560.

[511] Hier bildet Sade selbst das Vorbild für den aderlasswütigen Grafen Gernande in der „Justine“.

[512] P. Lacroix a. a. O. S. 142.

[513] Marciat a. a. O. S. 194.

[514] Lacroix a. a. O. S. 143.

[515] „Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Rétif de la Bretonne.“ S. 420.

[516] „Marseille à la fin de l’ancien régime“ par F. Dollieule etc. Marseille 1896. S. 49. — Casanova a. a. O. Bd. X. S. 224 ff.

[517] Marciat a. a. O. S. 195.

[518] Lacroix a. a. O. S. 144.

[519] Cabanès a. a. O. S. 272–282.

[520] Eulenburg a. a. O. S. 501.

[521] P. Ginisty a. a. O. S. 2–3.

[522] „Les crimes de l’amour.“ S. 181–182.

[523] P. Ginisty a. a. O. S. 3 ff.

[524] P. Ginisty a. a. O. S. 7–8.

[525] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 182

[526] P. Ginisty a. a. O. S. 14.

[527] P. Ginisty a. a. O. S. 24 und 27.

[528] H. Schüle „Handbuch der Geisteskrankheiten“ 2. Aufl. Leipzig 1880. S. 221–225.

[529] Einzelnes hat sich aus den Tagebüchern noch erhalten. So teilt Cabanès a. a. O. S. 287–288 einige Urteile Sade’s über — geistige Getränke mit, von denen er verschiedene Sorten Branntwein aufzählt und als „gut“, „schlecht“, „abscheulich“, „nichts wert“ und „mittelmässig“ bezeichnet; ferner ein kurzes Verzeichnis seiner täglichen Ausgaben, unter denen solche für Orangenparfüm, Briefporto, Lichter, Federn, Blumen figuriren.

[530] Marciat a. a. O. S. 197.

[531] „Détention du marquis de Sade“ in: Revue rétrospective. Bd. I, Paris 1833, S. 256.

[532] Cabanès a. a. O. S. 288.

[533] Wie Dr. Ritti, der gegenwärtige Arzt von Charenton an Dr. Cabanès unter dem 27. December 1899 schreibt, ist es auch möglich, dass de Sade Charenton verliess, als diese Anstalt auf Befehl des „Comité du Salut public“ geschlossen wurde.

[534] P. Ginisty a. a. O. S. 31. — Sie starb in einsamer Zurückgezogenheit am 7. Juli 1810 zu Echauffour.

[535] O. Uzanne a. a. O. S. XLVIII.

[536] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 183. Cabanès a. a. O. S. 291–292.

[537] ibidem S. 179.

[538] J. Janin a. a. O. S. 353.

[539] O. Uzanne a. a. O. S. XLV-XLVIII.

[540] Uzanne S. XXVI.

[541] J. Janin a. a. O. S. 353.

[542] Das von dem Verf. dieses Buches entdeckte Manuscript von Sades erstem Roman „Les 120 journées de Sodome ou l’école du libertinage“ wurde gleichfalls in der Bastille, in der Zeit vom 22. Oktober bis zum 27. November 1785 verfasst. Es erschien im Jahre 1904 in 200 Exemplaren als Privatdruck. A. d. U.

[543] O. Uzanne a. a. O. S. XXIX.

[544] Uzanne, ibid. S. 47 und 49.

[545] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 138 ff.

[546] Marciat a. a. O. S. 203.

[547] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 163.

[548] Cabanès a. a. O. S. 280–290.

[549] „Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Restif de la Bretonne“. S. 421.

[550] ibid. S. 422–423.

[551] Jules Michelet „Histoire de la révolution française“. Paris 1869. Bd. VI, S. 220.

[552] „Discours prononcé à la fête décernée par la Section des Piques, aux mânes de Marat et de Le Pelletier, par Sade, citoyen, de cette section et membre de la Société populaire“ abgedruckt in „Les crimes de l’amour etc.“ S. 265–272.

[553] „Revue rétrospective.“ Paris 1833. Bd. I, S. 257.

[554] Ueber den hochinteressanten Inhalt dieser Liste vergl. P. L. Jacob, Bibliophile „Curiosités de l’histoire de France“. Paris 1858. („La liste des nobles de Dulaure“. S. 265–348.)

[555] J. Janin a. a. O. S. 352.

[556] Biogr. universelle. S. 222.

[557] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 263.

[558] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 161 ff.

[559] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 172 ff.

[560] Antoine Athanase Royer-Collard geb. 7. Februar 1768, seit 1806 Arzt der Irrenanstalt in Charenton, † 27. November 1825.

[561] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 165–169.

[562] „Revue rétrospective“. Paris 1833. Bd. I. S. 263.

[563] Marciat a. a. O. S. 214.

[564] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 170.

[565] Abgedruckt bei Marciat a. a. O. S. 215.

[566] „Revue rétrospective“ Paris 1833 Bd. I, S. 262.

[567] J. Janin a. a. O. S. 357.

[568] P. Lacroix a. a. O. S. 136.

[569] Charles Nodier „Souvenirs, épisodes et portraits pour servir à l’histoire de la révolution et de l’empire“ Paris 1831, Bd. II, S. 57 und S. 60.

[570] J. Janin a. a. O. S. 358. Nach Cabanès fand diese phrenologische Untersuchung später statt, und zwar bei der Exhumation der Leiche. (Cabanès S. 312.)

[571] J. Janin „Le Livre“ Paris 1870. S. 291–292.

[572] Sogar über die Kosten des Begräbnisses dieses merkwürdigen Mannes hat sich in Charenton ein Dokument erhalten. Sie betrugen 65 Livres. (Sarg 10 L., Grab 6 L., Träger 8 L., Prediger 6 L., Wachskerzen 9 L., für die Kapelle 6 L., Steinkreuz auf dem Grab 20 L.) Cabanès a. a. O. S. 312.

[573] „Cazin, sa vie et ses éditions“ Cazinopolis 1863. S. 140.

[574] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 203.

[575] Gegen Ende des Jahres 1905 erschien hingegen eine vollständige deutsche Uebersetzung der „Justine und Juliette“ als Privatdruck. A. d. U.

[576] Hier dürfte wohl eine Anspielung auf den Aufenthalt des Marquis de Sade in Deutschland, der mit in jenes Jahr fällt, zu finden sein.

[577] In diesem Hinrichtungssaale liest ein Abbé die „Philosophie dans le Boudoir“, die bekanntlich erst im Jahre 1795 zum ersten Male erschien. Diese Lektüre der „Philosophie dans le Boudoir“ wird schon in der Cazin-Ausgabe der „Justine“ von 1792 erwähnt, als ersteres Werk noch gar nicht erschienen war. Das „beweist, dass Sade die ‚Philosophie‘ längst vor der ‚Justine‘ im Manuscript beendet hatte, sie jedoch aus irgend welchen Gründen, vielleicht weil sie dem ‚professeur du crime‘ in der ersten Fassung zu ‚milde‘ erschien, erst später herausgeben wollte.“ („Zeitschrift f. Bücherfreunde“ Mai/Juni 1900 S. 123.)

[578] Sollte hier nicht Madame Richard das Vorbild gewesen sein?

[579] Unzweifelhaft eine Erinnerung an den schrecklichen Tod l’Escuyer’s in der Franziskanerkirche zu Avignon. (1790.)

[580] Die Sodomie mit Ziegen muss ein uraltes spezifisch italienisches Laster sein. Die italienischen Soldaten, welche 1562 unter dem Herzog von Nemours Lyon belagerten, führten eine Unzahl Ziegen mit sich „couvertes de caparaçons de velours verts, avec de gros galons d’or“, zum Zwecke der Sodomie. (P. Bayle „Dictionnaire hist. et crit.“ éd. Des Maizeau, Amsterdam. 1740. Bd. I. Art. „Bathyllus“). Nach d’Artagnan waren es zweitausend Ziegen! („Mémoires de Mr. d’Artagnan“, Cologne 1701. Bd. I, S. 466.)

[581] Es gab wirklich einen Papst, der seine Ueberzeugung als Atheist offen ausgesprochen hat. Das war Alexander VI. Vergl. C. J. Weber „Das Papsttum und die Päpste“ Stuttgart 1834 Bd. III, S. 157.

[582] Hier klingen offenbar Eindrücke aus Gorani’s 1794 erschienenen Memoiren nach.

[583] Vergl. Anmerkung auf Seite 383.

[584] Dies Kapitel ist sichtlich dem Dialog III („Anatomie“) der „Aloysia Sigaea“ nachgebildet. Vergl. „Les dialogues de Luisa Sigea etc.“ Paris 1881. Bd. I, S. 47–71.

[585] Marciat a. a. O. S. 218.

[586] F. Drujon in „Le Livre“ herausgegeb. von O. Uzanne Sept. 1883 (Bibliogr. moderne) S. 589.

[587] Der Recensent in der „Zeitschrift für Bücherfreunde“ (Mai/Juni 1900 S. 123) bemerkt hierzu: „Dühren hält ‚Aline et Valcour‘ für ziemlich zahm. Im Vergleich zu der ‚Nouvelle Justine‘ und der ‚Philosophie‘ ist der Roman es auch; aber in den Geschmacksrichtungen der Hauptpersonen und in einzelnen Scenen (z. B. Band III bei dem Verhör der Leonore durch den, den köstlich bezeichnenden Namen Dom Crispe Brutaldi Barbaribos de Torturentia führenden Grossinquisitor) atmet er ganz Sadischen Geist aus.“

[588] „La France littéraire“ Paris 1827. Bd. 8, S. 303.

[589] „L’auteur des crimes de l’amour à Villeterque folliculaire“ in: Les crimes de l’amour etc. Brüssel 1881. S. 137–153.

[590] Fritz Friedmann „Verbrechen und Krankheit im Roman und auf der Bühne“ Berlin 1889, S. 8.

[591] J. Janin a. a. O. S. 358.

[592] A. Eulenburg „Der Marquis de Sade“ a. a. O. S. 513.

[593] Man trifft also auch bei Sade — wenn auch seltener — die sprichwörtliche Ignoranz der Franzosen in der Geschichte und Geographie.

[594] J. Renouvier „Histoire de l’art pendant la révolution“ Paris. 1863. S. 269.

[595] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 209–210.

[596] A. Eulenburg a. a. O. S. 504.

[597] A. Eulenburg a. a. O. S. 499.

[598] Interessant ist der hier hervortretende Zusammenhang zwischen Materialismus und Pessimismus, der bei Sade mehr als einmal zu finden ist.

[599] A. Eulenburg a. a. O. S. 509–510.

[600] „Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense“. 3. Auflage. Leipzig 1860. S. 190.

[601] A. Moll sagt („Untersuchungen über die Libido sexualis“. Bd. I, 202): „Ich habe den Eindruck, dass die Reizstärke, die die Jungfrauschaft bezw. Keuschheit des Weibes auf den Mann ausübt, auch bei uns abnimmt. Zum grossen Teile sind es heute mehr soziale Gründe oder die Eitelkeit, die den Mann hindern, ein defloriertes Mädchen zu heiraten. Die eigentlich abstossende Wirkung der Defloration durch einen anderen Mann ist nicht immer in genügender Stärke vorhanden.“

[602] Am bekanntesten wurden die „schrecklichen Folgen“ der sexuellen Abstinenz durch die erotischen Träume und Wahnideen des Pfarrers von Cours bei Réole in Guyenne, die Buffon in seiner „Histoire naturelle“ geschildert hat und die man am ausführlichsten im „Espion Anglais“, Bd. I, London 1784, S. 409 bis 456 dargestellt findet.

[603] Merkwürdiger Weise hat man auch vom Standpunkt der Moral aus die Ehe ein Verbrechen genannt. So z. B. Statius in den berühmten Versen der „Thebais“ Lib. II, 232–234:

Tacite subit ille supremus
Virginitatis amor, primaeque modestia culpae
Confundit vultus. Tunc ora rigantur honestis
Imbribus.

[604] Aehnlich Tertullian „De anima“ Cap. 30: Fames bella et voragines civitatum pro remedio deputanda.

[605] Einen sehr merkwürdigen Versuch, die Kindererzeugung unmittelbar zu beschränken, hat Weinhold empfohlen. Es soll nämlich jeder Jüngling im 14. Jahre infibuliert werden. Die Vorhaut wird vorgezogen, sanft zwischen zwei durchlöcherte Metallplatten eingeklemmt, mit einer hohlen Nadel durchstochen, sodass ein 4 bis 5 Zoll langer Bleidraht eingeführt werden kann. Dessen Enden werden hernach zusammengelötet und die Lötstelle gestempelt. Die Infibulation dauert so lange, bis der Betroffene genug besitzt, um zu heiraten oder uneheliche Kinder zu ernähren. Gegen eigenmächtiges Oeffnen harte Strafe und wiederholte Visitation. Weinhold versichert, die Operation, die selbst bei Juden möglich sei (?), ohne den geringsten Nachteil für die Gesundheit bei Onanisten u. s. w. vollzogen zu haben. Vergl. Karl August Weinhold „Von der Uebervölkerung in Mitteleuropa“ Leipzig 1827; „Ueber das menschliche Elend, welches durch Missbrauch der Zeugung herbeigeführt wird“ 1828 u. a. m.

[606] W. Roscher „System der Volkswirtschaft“ 20. Auflage Stuttgart 1892. S. 734.

[607] H. Eisenhart „Geschichte der Nationalökonomik“ 2. Auflage. Jena 1891. S. 80.

[608] Marciat a. a. O. S. 224 — Wie sehr das Bevölkerungsproblem die Menschen des 18. Jahrhunderts beschäftigte, beweisen auch die bekannten Anfangsworte des im Jahre 1766 erschienenen „Vicar of Wakefield“ von Oliver Goldsmith: „Meine Meinung war stets, ein wackerer Mann, der sich verheiratet und eine hübsche Nachkommenschaft auferzieht, leiste der Gesellschaft grössere Dienste, als einer, der ledig bleibt und blos von der Bevölkerung plaudert“.

[609] Hier spricht Sade also von dem Verbrechen als einem Verbrechen, nachdem er es vorher für eine naturgemässe und nützliche Handlung erklärt hat.

[610] „La curiosité littéraire et bibliographique“. Troisième Série. Paris 1882. S. 139–142.

[611] W. Roscher a. a. O. S. 192 ff.

[612] W. Roscher a. a. O. S. 185.

[613] Der heilige Hieronymus schildert als Augenzeuge, dass die Atticoten in Britannien sich von Menschenfleisch nährten und den Busen der Weiber und den Hintern als besondere Leckerbissen genossen. (R. Andree, „Die Anthropophagie“. Leipzig 1887. S. 14.)

[614] Bei den Menschenopfern der alten Mexikaner wurde zuerst das Herz den lebenden Opfern aus der Brust herausgerissen. (R. Andree a. a. O. S. 74.)

[615] A. Bettelheim „Beaumarchais“. Frankfurt a. M. 1886. S. 176 und 207.

[616] So bezeichnen wir den Kotfetischismus und die Leidenschaft, Kot zu essen, nach dem griechischen Wort τό ὑποχώρημα = Kot.

[617] B. Tarnowsky „Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes“ Berlin 1886 S. 70.

[618] Rabelais schildert in seiner „Gargantua“ ein „weltliches Kloster“, in dem vor den Zimmern der Frauen Haaraufputzer und Parfümeure stehen, „durch deren Hände die Männer gingen, wenn sie die Frauen besuchen wollten“ und die zugleich alle Morgen die Zimmer mit wohlriechenden Essenzen besprengten. (F. E. Schneegans, „Die Abtei Thélème in Rabelais’ Gargantua“. Neue Heidelb. Jahrbücher. Heidelberg 1898. Bd. VIII, S. 143–159). Vielleicht ist der Name des Paters Thélème im ersten Band der „Juliette“ diesem Kloster entlehnt.

[619] Vgl. auch den „Ergänzungsband“: Hagen, Dr. Alb. „Die sexuelle Osphresiologie. Die Beziehungen des Geruchssinnes und der Gerüche zur menschlichen Geschlechtsthätigkeit“, der dieses Thema ergiebig behandelt. Charlottb. 1901. Verlag von H. Barsdorf. — 2. Aufl. Berlin 1906.

[620] P. Garnier „Onanisme“ 6. Auflage. Paris 1888 S. 76–77.

[621] Parent-Duchatelet a. a. O. Bd. I, S. 63.

[622] G. Behrend. Artikel „Prostitution“ in Eulenburg’s „Real-Encyclopädie der gesamten Heilkunde“. 3. Aufl. Berlin und Wien 1898. Bd. XIX, S. 437

[623] A. Lacassagne „Vacher l’éventreur et les crimes sadiques“. S. 239.

[624] R. v. Krafft-Ebing „Neue Forschungen auf dem Gebiete der Psychopathia sexualis.“ 2. Auflage. Stuttgart 1891. S. 1 und 45.

[625] R. v. Krafft-Ebing a. a. O. S. 48.

[626] v. Schrenck-Notzing „Litteraturzusammenstellung über die Psychologie und Psychopathologie der Vita sexualis“. (3. Forts.) Zeitschrift für Hypnotismus. Bd. 9, Heft 2. Leipzig 1899. S. 111–112.

[627] A. Lacassagne a. a. O. S. 239.

[628] A. Eulenburg „Sexuale Neuropathie“ Leipzig 1895 S. 112. Das Wort „Lagnänomanie“ leitet Eulenburg von λαγνός (wollüstig) αἰνός (wild), und μανία ab; „Machlänomanie“ von μάχλος (wollüstig vom weiblichen Geschlecht) αἰνος und μανία.

[629] A. Moll „Untersuchungen über die ‚Libido sexualis‘“ Berlin 1898 S. 557.

[630] A. Eulenburg „Neuropathia sexualis“ S. 115.

[631] A. Eulenburg „Der Marquis de Sade“ a. a. O. S. 513–514.

[632] Marciat a. a. O. S. 216. Neuerdings hat auch Cabanès die Frage der Geisteskrankheit des Marquis de Sade berührt und sie verneint. Nach ihm litt derselbe mehr an „Satyro-graphomanie“ als an wirklicher Erotomanie. Cabanès a. a. O. S. 260.

[633] E. Kraepelin „Psychiatrie“ 6. Auflage. Leipzig 1899. Bd. II, S. 557–560.

[634] v. Schrenck-Notzing a. a. O. S. 111.

[635] Tarnowsky erklärt den Marquis de Sade für einen „geborenen Paederasten“ (?), der am Schlusse seines Lebens in „Altersblödsinn“ verfiel. Seine Werke enthalten nur „Ratschläge eines Geisteskranken“. („Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes“ Berlin 1886, S. 70–71). Ein kühnes Urteil!

[636] F. Drujon „Catalogue des ouvrages, écrits et dessins poursuivis, supprimes ou condamnés“ Paris 1879 S. 13, S. 111, S. 216.

[637] „Catalogue des écrits, gravures et dessins condamnés depuis 1814 jusqu’au 1er janvier 1850“ Paris 1850 S. 109.

[638] L. Lalanne „Curiosités bibliographiques“ Paris 1857. S. 401.

[639] E. Edwards „Libraries and founders of libraries“ London 1864 S. 85.

[640] Ch. Villers „Lettre sur le roman intitulé Justine ou les Malheurs de la Vertu“. Neudruck Paris 1877 S. 12.

[641] J. Janin a. a. O. S. 337.

[642] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 205. Neuerdings wurde die erste Ausgabe der „Justine“ für 180 Fr. angeboten.

[643] ibidem S. 209.

[644] Léo Taxil „La corruption fin-de-siècle“ Paris 1894 S. 293.

[645] Lino Ferriani „Delinquenti che scrivono“. Como 1899.

[646] Marciat a. a. O. S. 247.

[647] R. v. Krafft-Ebing „Neue Forschungen auf dem Gebiete der Psychopathia sexualis“. Stuttgart 1891, S. 9.

[648] A. Eulenburg „Neuropathia sexualis“ S. 120.

[649] J. Janin a. a. O. S. 340 ff

[650] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 203 und 209.

[651] Paul L. Jacob, Bibliophile a. a. O. S. 413–415.

[652] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 211.

[653] Paul L. Jacob etc. S. 415.

[654] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 212–214.

[655] Allen Bibliophilen sei die neueste, schön ausgestattete Monographie von Ulrich empfohlen. Sie enthält aber merkwürdiger Weise nichts über Villers’ Besprechung der „Justine“. (O. Ulrich „Charles de Villers. Sein Leben und seine Schriften.“ Leipzig 1899).

[656] „Briefe von Benjamin Constant, Görres, Goethe etc.“ Auswahl aus dem handschriftlichen Nachlass des Charles de Villers herausgegeben von M. Isler. Hamburg 1879. S. 98.

[657] Reichard sagt (a. a. O. III, S. 16): „Französische Sendungen, schweizerische und deutsche Nachdrucke und die Ankündigungen von Uebersetzungen jagten und kreuzten sich von allen Seiten.“ — Vergl. dazu die interessante Schrift „La presse périodique française à Hambourg, depuis 1686 jusqu’en 1848.“ Brüssel 1854. — In Hamburg erschien auch im Jahre 1807 jener berüchtigte ultratribadische Roman „Julie ou j’ai sauvé ma rose“ (2 Bände), dessen Heldin, nachdem sie mit Energie und Konsequenz die oft mehr als kühnen Angriffe zahlreicher Männer abgewehrt hat, schliesslich wohl ihrer ursprünglichen Neigung folgend, eins der vielen Opfer einer gefährlichen Tribade wird.

[658] M. Isler a. a. O. S. 152.

[659] „Lettre sur le Roman intitulé Justine ou les Malheurs de la Vertu par Charles de Villers“. Paris 1877.

[660] „Les Crimes de l’amour etc.“ S. 183–184.

[661] F. Drujon a. a. O. S. 130.

[662] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 210.

[663] „Biographie universelle“ Bd. XXXV, S. 494–495.

[664] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 242.

[665] H. Cohen „Guide de l’amateur de livres etc.“ Col. 418 bis 419.

[666] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 237.

[667] ibidem S. 241.

[668] W. Roscher a. a. O. S. 719.

[669] M. Nordau „Entartung“ Berlin 1892 S. 43–152.

[670] A. Eulenburg „Neuropathia sexualis“ S. 109.

[671] Nordau a. a. O. S. 60.

[672] ibidem. S. 115–116.

[673] ibidem S. 105–107.

[674] „La Curiosité littéraire et bibliographique“. Troisième Série. Paris 1882. S. 169–174.

[675] Paul Bourget „Physiologie der modernen Liebe.“ Deutsch von A. Dittrich. Budapest 1891. S. 2. Dies Buch ist eine reiche Fundgrube für die Arten und Raffinerien der modernen französischen Liebe.

[676] A. Moll „Untersuchungen über die Libido sexualis“ Bd. I, S. 698–699. Deutsche Uebersetzung: „Gamiani oder zwei Nächte in Ausgelassenheit“. Von A. D. M. Holland 1873, 8o, 109 S.

[677] Eine wortgetreue Ausgabe der trefflichen Uebersetzung von Rode erschien kürzlich im Verlage von H. Barsdorf in Leipzig. Vgl. die Ankündigung am Schluss der „Bibliographie.“

[678] Heinrich von Kleist „Penthesilea“ 23. Auftritt.

[679] „Das einzige Buch Sade’s hielt er zurück, weil er es für mich zu gefährlich hielt: ich fand es erst nach seinem Tode sorgfältig versteckt in einem Schranke, welcher einen doppelten Boden hatte. Ich machte mich daran, das Buch zu lesen... Dieses Buch hat zweierlei Wirkungen, je nach dem Naturell des Lesers oder der Leserin, je nach der Empfänglichkeit und Auffassungsgabe derselben. So wie es Duvalin halb blasiert gemacht hatte, so fühlte ich einen Ekel vor diesen Abscheulichkeiten, die zu lesen mich viel Ueberwindung kostete.“ Memoiren einer Sängerin Bd. II, S. 12–13.

[680] W. Russalkow „Grausamkeit und Verbrechen im sexuellen Leben“ 3. Aufl. Leipzig 1899. S. 76.

[681] A. Eulenburg „Neuropathia sexualis“ S. 109.

[682] Fritz Friedmann „Verbrechen und Krankheit im Roman und auf der Bühne“ Berlin 1889 S. 27.

[683] Fr. Nietzsche „Jenseits von Gut und Böse“ 4. Aufl. Leipzig 1895. S. 108. (Aphor. 149.)

[684] ibid. S. 109 (Aphor. 155).

[685] Max Stirner „Der Einzige und sein Eigentum“ 2. Aufl. Leipzig 1892. S. 369, 372, 379.

[686] H. Ströbel „Stirner’s Einziger und sein Eigentum“ in Neuland, Band II, Nr. 2. Berlin 1897 S. 89.

[687] A. Eulenburg a. a. O. S. 117.

[688] A. Lacassagne „Vacher l’éventreur et les crimes sadiques“ Lyon und Paris 1899 S. 245–282. — Vgl. Laurent, Sadismus und Masochismus. 6. Aufl. Berlin 1904. Anm. d. V.

[689] „Remarques médico-légales sur la perversion de l’instinct génésique“ Gaz. méd. de Paris No. 29 vom 21. Juli 1849 S. 555 bis 564.

[690] a. a. O. S. 701 ff.

[691] „Psychopathia sexualis“. 5. Aufl. Stuttg. 1890 S. 46 ff.

[692] Einen ähnlichen Fall berichtet Tarnowsky a. a. O. S. 76.

[693] Brierre de Boismont a. a. O. S. 560.

[694] Russalkow a. a. O. S. 76, 77.

[695] A. Eulenburg „Neuropathia sexualis“ S. 118–119.

[696] Eulenburg a. a. O. S. 107.

[697] „Les crimes de l’amour etc.“ S. 264.

[698] „Deutsche medizinische Presse.“ 1899. Nr. 21. Wenn Eulenburg „Sexuale Neuropathie“ (S. 101) von einem Manne berichtet, der nudas feminas mit brennenden Lichtern in ano um sich herumtanzen liess, so ist diese Idee ganz offenbar von Sade suggerirt, der mehrere derartige Scenen schildert.

[699] „Kritisches zum Kapitel der normalen und pathologischen Sexualität“ von P. Näcke. Archiv für Psychiatrie. Berlin 1899. Bd. 32. Heft 2, S. 356.

[700] Voss. Zeitung vom 31. Juli 1899. — Wenn Herr Henri Albert im „Mercure de France“ (April 1900) mich wegen dieser Vergleichung der Dreyfusgegner mit Sadisten verspottet, so erwidere ich ihm, dass dieselbe so nahe liegt, dass ich sogar nicht einmal die Priorität habe. Denn sein Landsmann Octave Mirbeau hat in seinem vor meinem Buche erschienenen Roman „Le Jardin des supplices“ Paris 1900 S. XII dieselbe Analogie. „L’affaire Dreyfus nous en est un exemple admirable, et jamais, je crois, la passion du meurtre et la joie de la chasse à l’homme, ne s’étaient aussi complètement et cyniquement étalées.“ Nun, Herr Albert?

[701] Dass auch hier meine Ansicht, dass es sich um zwei Sadisten handelt, richtig ist, beweisen die geradezu ungeheuerlichen Enthüllungen des Abgeordneten Vigné in der Sitzung der französischen Deputiertenkammer vom 23. Nov. 1900. Voulet und Chanoine liessen Hunderte von Eingeborenen rein aus Vergnügen am Morden töten, liessen Hände und Köpfe abschneiden, mit Lanzen erstechen und dgl. Scheusslichkeiten mehr verüben. Freilich sind nicht blos Franzosen solche Bluthunde. Auch wir Deutschen haben einen Prinzen Prosper v. Aremberg!

[702] A. Eulenburg „Der Marquis de Sade“ S. 510.

[703] G. Roskoff „Geschichte des Teufels“. Leipzig 1869, Bd. II, S. 60.

[704] ibidem.

[705] Vossische Zeitung No. 520 vom 4. November 1899.

[706] S. Ribbing „Die sexuelle Hygiene und ihre ethischen Konsequenzen“. 9. Aufl. Leipzig 1892. S. 84–94.

[707] a. a. O. S. 94–95.

[708] A. Eulenburg „Neuropathia sexualis“ S. 120.

[709] H. Hössli „Eros. Die Männerliebe der Griechen etc.“ 2. Aufl. Münster i. d. Schweiz 1892. S. 113.

[710] B. Tarnowsky a. a. O. S. 90 und 101.

[711] Tarnowsky a. a. O. S. 141.

[712] a. a. O. S. 147.

[713] W. Stern „Kritische Grundlegung der Ethik als positive Wissenschaft“. Berlin 1897. S. 238.

[714] E. Du Bois-Reymond „Adalbert v. Chamisso als Naturforscher“. Leipzig 1889. S. 57.

[715] K. Fischer „Diotima“. Stuttgart 1852. S. 4.

[716] W. E. H. Lecky „Sittengeschichte Europas von Augustus bis auf Karl den Grossen“ übers. von H. Jolowicz. 2. Aufl. Leipzig und Heidelberg 1879. S. 120–121.

[717] Eine der schönsten von den vielen halb heidnischen Sagen des mittelalterlichen Irlands ist die von den Inseln des Lebens und des Todes. In einem gewissen See in Munster gab es zwei Inseln; in die eine konnte der Tod nicht dringen, aber Alter und Krankheit und Lebensüberdruss und Paroxysmen fürchterlichen Leidens waren dort heimisch und verrichteten ihr Werk, bis die Einwohner ihrer Unsterblichkeit müde, auf die gegenüberliegende Insel als auf einen Hafen der Ruhe schauen lernten, ihre Barken in das dunkle Gewässer steuerten, das Ufer erreichten und zur Ruhe gelangten. — Lecky a. a. O. I, S. 183.

[718] Titel und Schluss des Werkes geben also ein verschiedenes Datum an. Dies deutet auf eine wiederholte Durchsicht des Manuscriptes hin.

[719] Dies Manuscript wurde durch Vermittelung des Autors dieses Werkes angekauft und im Jahre 1904 zum Druck befördert. Anm. d. Verl.

[720] Ist das der bekannte Bibliophile und Kunsthistoriker Henri Béraldi?


Im Verlage von HERMANN BARSDORF In BERLIN W 30 erschien:

Das

KAMASUTRAM DES VATSYAYANA

(DIE INDISCHE LIEBESKUNST)

NEBST DEM VOLLSTÄNDIGEN KOMMENTARE DES YASODHARA.

Aus dem Sanskrit übersetzt und eingeleitet von

RICHARD SCHMIDT

Sechste, verbesserte Auflage. 500 Seiten. Broschiert M. 40.—, gebunden M. 50.—.

INHALT: I. Allgemeiner Teil. — II. Über den Liebesgenuß. — III. Über den Verkehr mit Mädchen. — IV. Über die verheirateten Frauen. — V. Über die fremden Frauen. — VI. Über die Hetären. — VII. Die Upanisad (d. erot. Geheimlehre).

Das Kamasutram ist das interessanteste Werk aus der ganzen großen Sanskritliteratur, und es dürfte kein Erzeugnis der Weltliteratur geben, das so wie das Kamasutram den engen Rahmen der Indologie sprengt und zu allen Völkern, auch den der Rasse nach fremdesten, seine allen verständliche Sprache redet. Es führt uns den Inder in aller Intimität der Häuslichkeit vor; denn der Inder war von jeher gewöhnt, auch das Allzumenschliche als etwas ganz Natürliches anzusehen, dessen man sich nicht zu schämen braucht.


BEITRÄGE ZUR INDISCHEN EROTIK

DAS LIEBESLEBEN DES SANSKRITVOLKES

nach den Quellen dargestellt von Prof. Dr. RICHARD SCHMIDT.

Zweite, durchgesehene Auflage. Lex.-8o. 692 Seiten.

Elegant broschiert M. 70.—. Originalband M. 80.—.

INHALT: Die erotische Literatur im Sanskrit. Die Stellung der Liebe im trivarga und ihre Definition. Der Liebhaber. Die Liebhaberin. Die Lehre vom Coitus. Die tithis und candrakalas. Die Liebkosungen. Nägelmale. Zahnmale. Haarzausen. Schläge und Schreie. Freien und Heiraten. Die verheiratete Frau. Verkehr mit den Frauen anderer. Die Hetären. Die Geheimlehre auf erotisch-sexuellem Gebiet usw. usw.

Die „Beiträge zur indischen Erotik“ sind der erste Versuch, alles zusammenzustellen, was in den bisher bekanntgewordenen Sanskritwerken über die Liebe gesagt wird.

Es ergänzt das „Kamasutram“.


Zur gefl. Beachtung: Diesem Werke muß mein ausführliches Verlagsverzeichnis beiliegen, bei evtl. Fehlen wolle man es direkt vom Verlage gratis und franko verlangen. Jede bessere Buchhandlung vermittelt den Bezug der darin angezeigten Werke. HERMANN BARSDORF VERLAG in BERLIN W 30, Barbarossastraße 21. II.


Im Verlag von H. Barsdorf in Berlin W. 30 erschien:

Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland.

Von Dr. Wilhelm Rudeck.

Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. 1905. Grosses Format 514 Seiten mit 58 Illustrationen.

Vornehm ausgestattet Mk. 32 —. In Originalband M. 42 —.


Dr. Wilhelm Rudeck, der bekannte Verfasser von „Medizin und Recht, ein Handbuch bei Ehescheidungs- und Vaterschaftsklagen,“ wendet sich mit dem vorliegenden Buche einem der auffälligsten Faktoren der moralischen Entwicklung zu: der Regelung des sexuellen Lebens innerhalb der Oeffentlichkeit. Die Entwicklung der Begriffe der öffentlichen Sittlichkeit hat das ganze moralische Aussehen der bürgerlichen Gesellschaft so vielfach umgestaltet, wie wohl nur noch die Frömmigkeit und Humanität!

Unter öffentlicher Sittlichkeit versteht der Verfasser die Summe aller Sitten einer Zeit, in denen Beziehungen zum sexuellen Leben enthalten sind. In welchen tatsächlich anerkannten und geübten gesellschaftlichen Normen sich das sexuelle Leben der einzelnen äussert, ob die Sexualität von der Oeffentlichkeit überhaupt ausgeschlossen, oder wie sie in ihr geduldet und geordnet wird, das ist das Thema, das eine Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit zu behandeln hat.

In diesem Sinne könnte man also den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit dem der öffentlichen Schamhaftigkeit gleichsetzen, übrigens auch aus dem Grunde, weil es sich selbstverständlich nicht um die Oeffentlichkeit des geschlechtlichen Aktes selbst, sondern um die näheren oder entfernteren Beziehungen zu ihm handelt.

Das beiliegende Inhalts-Verzeichnis bietet einen Ueberblick über Rudecks hochinteressantes Werk, das soeben in zweiter, vermehrter und verbesserter Auflage erschien — allein die Illustrationen sind von 32 auf 58 vermehrt. —


Im Verlag von H. Barsdorf in Berlin W. 30 erschien:

Apulejus, der goldne Esel.

Satyrisch-mystischer Roman. Uebersetzt von Rode. Nach dem Original von 1783. 2 Teile. 7. Aufl. mit 16 Illustrationen. 1922. Eingeleitet von M. G. Conrad.

Brosch. M. 20.—. Gebd. M. 28.—

Der berühmte antike Sittenroman des Apulejus aus Madaura liegt hier in einer neuen eleganten Ausgabe vor, welche die vorzügliche Uebersetzung von August Rode mit einem geistvoll-satyrischen, moderne Verhältnisse vom Standpunkte des Apulejus beleuchtenden Vorwort aus der Feder von M. G. Conrad darbietet. Kein Gebildeter wird ohne hohen geistigen Genuss dieses dem „Satyricon“ des Petronius ebenbürtige sittengeschichtliche Kunstwerk lesen, das nicht nur wegen der allbekannten reizenden Episode von Amor und Psyche den Leser fesselt. Die frivole Welt des ausgehenden Alterthums wird in diesem durch die Sorgfalt der Composition ausgezeichneten Romane wieder lebendig. Der bunte Wechsel der oft sehr verfänglichen Episoden, die merkwürdigen Situationen und kulturhistorisch wertvollen Schilderungen antiken Lebens, die mit dem glänzenden Schauspiel der aegyptischen Mysterien schliessen, machen die Lectüre zu einer höchst spannenden. Die alte, schon von Lucian verwendete Fabel von der Verwandlung eines Menschen in einen Esel, welche Apulejus zu dem Märchen vom „goldnen Esel“ verarbeitet hat, giebt dem Autor die Veranlassung, in der üppigen Lascivität einzelner Scenen und mit eigenartiger erotisch-satyrischer Phantastik ein getreues Bild der sittlichen Corruption in der römischen Kaiserzeit vorzuführen.


Im Verlage von HERMANN BARSDORF in BERLIN W 30 erschien:

Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in
DEUTSCHLAND

Von Dr. WILHELM RUDECK

Dritte Auflage. 514 Seiten. Lexikon-Oktav. Mit 58 interessanten Illustrationen. Elegant broschiert M. 32.—. Gebunden M. 42.—.


MEDIZIN, ABERGLAUBE UND GESCHLECHTSLEBEN IN DER
TÜRKEI

MIT BERÜCKSICHTIGUNG DER MOSLEMISCHEN NACHBARLÄNDER UND EHEMALIGEN VASALLENSTAATEN

Von BERNHARD STERN

Zwei Bände. Lexikon-Oktav. 854 Seiten. Broschiert à M. 32.—, gebunden à M. 42.—. EINZELN KÄUFLICH. BAND I behandelt Medizin, Aberglauben. — BAND II das intime Geschlechtsleben. Eine unerschöpfliche Fundgrube für Ärzte, Kultur- und Sittenschilderer usw.


Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in
RUSSLAND

KULTUR, ABERGLAUBE, SITTEN, GEBRÄUCHE

Von BERNHARD STERN

Zwei Bände. Lexikon-Oktav. Ca. 1000 Seiten. Mit vielen teils farb. interessanten Illustrationen. Preis für beide Bände broschiert M. 64.—, gebunden M. 84.—. EINZELN KÄUFLICH: I. Brosch. M. 32.—, geb. M. 42.—. II. Brosch. M. 32.—, geb. M. 42.—. ABTEILUNGSÜBERSCHRIFTEN (jede Abteilung zerfällt in zahlreiche Kapitel). I. BAND: I. Kultur und Aberglaube. II. Die russische Kirche, der Klerus, die Sekten. III. Russische Laster. IV. Russische Vergnügungen. V. Russische Leiden. ZWEITER BAND: VI. Russische Grausamkeit. VII. Weib und Ehe. VIII. Freie Liebe und wilde Ehe. IX. Unsittlichkeit (Prostitution, Onanie, Päderastie, Sodomie, Syphilis). X. Dokumente der Unsittlichkeit. (Gesetze gegen die Unsittlichkeit. Unsittlichkeit in Kunst und Literatur. Folkloristisches, geheime obszöne Lieder usw., erotische Erzählungen.)


SEXUELLE VERIRRUNGEN: SADISMUS UND MASOCHISMUS

Von Dr. E. LAURENT. Deutsch von DOLOROSA

Zehnte Auflage. 264 Seiten. Elegant brosch. M. 20.—. Originalband M. 28.—. INHALT: ERSTER TEIL: Wollust und Grausamkeit. Der Sadismus und die sadistischen Verbrechen: 1. Ursprung des Sadismus. 2. Ursachen des Sadismus. 3. Formen und Manifestationen desselben. 4. Sadismus des Weibes. 5. Leichensadismus. 6. Die sadistischen Verbrechen. 7. Der Sadismus in der Literatur. 8. In der Weltgeschichte. 9. Der Sadismus der Massen. 10. Verantwortlichkeit der Sadisten. 11. Gerichtliche Medizin und Sadismus. 12. Therapie des Sadismus. ZWEITER TEIL: Wollust und Leiden. Der Masochismus: 1. Begriff des Masochismus. 2. Ursprung des Masochismus. 3. Ursachen desselben. 4. Masochismus des Weibes. 5. Formen und Arten des Masochismus. 6. Masochismus und Selbstmord. 7. Masochismus in sozialer Hinsicht. 8. Bibliographie.

Dieses zumeist auf französischen Quellen beruhende Werk ist von der bekannten Schriftstellerin DOLOROSA geradezu meisterhaft übersetzt, es erfordert aber mehr wie jedes andere Buch außerordentlich starke Nerven, da der Verfasser in die tiefsten Abgründe der Nachtseite des menschlichen Lebens hinableuchtet.


Im Verlage von HERMANN BARSDORF in BERLIN W 30 erschien:

Neue Studien zur Geschichte des menschlichen Geschlechtslebens

(Folge der „Studien zur Geschichte des menschlichen Geschlechtslebens“ herausgegeben von Dr. EUGEN DÜHREN: 1. Band: Der Marquis de Sade und seine Zeit. 2.-4. Band: Das Geschlechtsleben in England.)

ERSTER BAND:

Marias jungfräuliche Mutterschaft

Ein völkerpsychologisches Fragment über Sexualsymbolik

Von A. J. STORFER

Mit Abbildungen. Elegant broschiert M. 12.—. In Originalband M. 20.—.

Inhalt: I. Einleitung. Über den Stoff. Über die Methode. — II. Analyse. Marias Darbringung: Der mythische Stoff. Weihe und Tempelprostitution. Fackel, Kerze. Der Segen des Priesters. Ausgebreitete Arme. Stufensteigen. Weben. Aufgelöstes Haar. Gottgeweihte Jungfrauen. Schleier, Lilie, Myrte. — Josefs Auserwählung: Der mythische Stoff. Stab, Rute. Wettbewerb. Sieg. — Marias Verkündigung: Der mythische Stoff. Schlange. Wort. Zunge. Hauch, Wind. Blick. Strahl, Regen. Flügel. Zweig, Szepter. Schwert, Einhornjagd, Mühle. — Maria-Symbole: Vorbemerkung. Arche, Schiff. Buch. Erde, Paradies. Brunnen, Quelle. Gefäß. Stadt, Festung. Tempel, Brautgemach, Bundeslade. Verschlossen. Tor, Tür, Fenster. Schwarz. — Die phallische Komponente der Christus-Vorstellung: Vorbemerkung. Ego et pater unum sumus. Die Geburt des Helden. Der Medizinmann. Vorhaut. Fisch. Esel. Hammer. Kreuz. Tod und Auferstehung. III. Schluß. Register.

ZWEITER BAND:

Isoldes Gottesurteil
in seiner erotischen Bedeutung

Von J. J. MEYER, Professor an der Universität Chicago

Mit einleitendem Vorwort von Prof. Dr. RICHARD SCHMIDT

Ca. 300 Seiten. Elegant broschiert M. 12.—. In Originalband M. 20.—.

Inhalt: Einleitung. Sitte, Sittlichkeit, Sittsamkeit. Das Weib ist Eigentum. Geringe Wertschätzung weiblicher Tugend. Warum ist Ehebruch ein Vergehen? Altdeutsche Anschauung vom Weibe. Anschauung im Mittelalter. Die Anstandspflicht der mittelalterlichen Frau war Ehebruch und Unzucht. Die mittelalterliche Anschauung von der Liebe. Sie ist allmächtige Urkraft; bringt Leid; bringt den Tod; bringt Freude und alles Große; bringt Ehre und ist Pflicht. Die Frau muß „lohnen“. Zorn gegen die, die nicht „lohnt“. Die „romantische“ Minne unwahr. Wirkliche Treue beim Mann nicht nötig, ja lächerlich. „Doppelte Moral.“ Verschwiegenheit in der Liebe. Die huote Rücksichtslosigkeit der Minner. Die Minne und die Religion. Das Mittelalter ist nicht die Zeit der wirklich romantischen Liebe. Nur Wolfram und Gottfried haben die vertiefte Liebe. Gottfrieds Anschauung von der Liebe. Ist sein Tristan unsittlich? Parteilichkeit für die Verliebten. Auch für Gottfried ist die Liebe eine unwiderstehliche Macht. Die Liebe ist die völlig freie Königin. Die bürgerliche Moral ist eigentlich die schlimmste Unsittlichkeit. Sein Ideal der Liebe und ihre Herrlichkeit. Gottfrieds idealistischer Pessimismus. Gottfrieds moralische Rechtfertigung seines Liebespaares. Seine Ansicht von den Betrügerstückchen der beiden und seine Parteilichkeit für sie. Religion und Liebe bei Gottfried. Beim Gottesurteil hat Isolde recht! Gott ist hantierlich wie ein Ärmel usw. usw. Parallelstellen. Register.


Russische Grausamkeit Einst und jetzt

Ein Kapitel aus der Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland

Von BERNHARD STERN

279 Seiten mit 12 Illustrationen. Broschiert M. 20.—. Gebunden M. 28.—.

Inhalt: 1. Grausamkeit der Herrschenden. 2. Grausamkeit in der Verwaltung. 3. Todesstrafen und Gliederstrafen. 4. Prügelstrafen und Züchtigungsinstrumente. 5. Gefängnisse, Verbannung, Folter. 6. Sklavensinn und Leibeigenschaft. Grausamkeit im Familienleben.

Die Grausamkeit

Mit besonderer Bezugnahme auf sexuelle Faktoren

Von H. RAU

Vierte Auflage. 272 Seiten. Mit 24 Illustrationen. 1921.
Elegant broschiert M. 20.—. Gebunden M. 28.—.

Inhalt: Einleitung. 1. Die Grausamkeit in der Philosophie; 2. in der Psychologie; 3. in der Religion; 4. in der Rechtspflege; 5. in der Sklaverei; 6. in der Erziehung; 7. im Verbrechen; 8. im Kriege und im Volksleben; 9. in der Gegenwart; 10. in der Literatur. Jedes Kapitel enthält zahlreiche „Fälle“.