The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 17: Onkelchens Traum und andere Humoresken

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Title: Sämtliche Werke 17: Onkelchens Traum und andere Humoresken

Onkelchens Traum / Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett / Das Krokodil

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Dmitri Philossophoff

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: May 18, 2025 [eBook #76110]

Language: German

Original publication: Muenchen: Piper, 1909

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 17: ONKELCHENS TRAUM UND ANDERE HUMORESKEN ***

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
Dmitri Philossophoff und anderen
herausgegeben von Moeller van den Bruck

Übertragen von E. K. Rahsin

Zweite Abteilung: Siebzehnter Band

F. M. Dostojewski

Onkelchens Traum
und andere
Humoresken

München und Leipzig R. Piper & Co. Verlag

R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1918

Copyright 1918 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
Verlag in München und Leipzig

Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt.

Inhalt

Vorwort V
Onkelchens Traum 1
Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett 243
Das Krokodil 321

Vorwort

Die beiden ersten der in diesem Bande vereinigten komischen Erzählungen stehen im Anschluß an Dostojewskis humoristischen Roman „Das Gut Stepantschikowo“. Sie teilen mit ihm die allgemeine humoristische Anschauung und die Zeit der Entstehung: das Jahr 1848. Die Erzählung „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ bestand ursprünglich aus zwei getrennten Geschichten („Die fremde Frau“ und „Der eifersüchtige Gatte“), die erst später von Dostojewski zu einer einzigen zusammengezogen wurden, ohne daß ihm dies freilich gelungen wäre: die Geschichte verrät in dieser ihrer jüngeren Fassung nach wie vor einen Riß, der auf die erste, getrennte Anlage zurückzuführen ist.

Die Groteske „Das Krokodil“ ist eine politisch-gesellschaftlich-allgemeinrussische Satire aus dem Jahre 1864. Sie wurde wegen ihres humoristischen Untertones in diesen Band mit eingestellt.

E. K. R.

Onkelchens Traum

Aus den Mordassoffschen Chroniken

I.

Marja Alexandrowna Moskalewa ist natürlich die erste Dame in Mordassoff – darüber kann kein Zweifel bestehen. Sie benimmt sich, als kümmere sie sich um keinen Einzigen: im Gegenteil, als wären alle nur von ihr allein abhängig. Freilich wird sie infolgedessen auch von keinem Menschen geliebt. Freilich hassen sie deshalb sogar sehr viele von ganzem Herzen. Aber dafür wird sie von allen gefürchtet – und das ist es, was sie gerade nötig hat. Ein solches Bedürfnis jedoch ist, meine ich, ein Beweis hoher politischer Begabung. Wie kommt es zum Beispiel, daß Marja Alexandrowna, die den Klatsch über alles liebt und eine ganze Nacht nicht schläft, wenn sie vorher nicht etwas Neues erfahren hat: wie kommt es, frage ich, daß sie sich bei alledem so zu benehmen weiß, daß bei ihrem Anblick kein Mensch vermuten kann, in dieser imposanten Dame die erste Klatschbase der Welt oder zum mindesten doch Mordassoffs vor sich zu haben? O, ganz im Gegenteil: man ist überzeugt, daß ihre bloße Anwesenheit jeden Klatsch verbannen muß, daß etwaige Hinterbringer erröten und wie Schulbuben vor dem Herrn Lehrer erzittern werden und kein anderes Gespräch mit ihr möglich ist, als eines über die höchsten Themata. Sie weiß z. B. von manchen Mordassower Honoratioren so kapitale und skandalöse Dinge, daß, wenn sie sie bei Gelegenheit erzählen und so beweisen würde, wie nur sie allein Ähnliches zu beweisen versteht, in Mordassoff sich ganz sicherlich das Erdbeben von Lissabon wiederholen würde. Indessen ist sie aber sehr verschwiegen, was diese Dinge anbetrifft, und erzählt sie höchstens, im äußersten Fall, Freundinnen. Sie erschreckt nur den Betreffenden, deutet an, daß sie wisse, und zieht es vor, den Herrn oder die Dame in ewiger Angst zu erhalten, anstatt sie endgültig zu vernichten. Das ist Klugheit, das nennt man Taktik! Marja Alexandrowna zeichnet sich unter uns durch ihr einwandsloses Comme-il-faut aus, das alle sich zum Vorbild nehmen. In dieser Beziehung hat sie keine Rivalin in Mordassoff. Sie versteht zum Beispiel, ihre Gegnerin mit irgend einem einzigen Wort zu zerschmettern, zu vernichten, zu töten; währenddessen aber tut sie, als hätte sie überhaupt nicht bemerkt, daß sie das betreffende Wort ausgesprochen. Bekanntlich ist dieser Zug nur der allerhöchsten Gesellschaft eigentümlich. Kurz, in allen ähnlichen Taktfragen hätte sie sogar einen Pinelli[1] glänzend besiegt. Verbindungen hatte sie unzählige. Viele, die Mordassoff besuchten, stiegen bei ihr ab, waren begeistert von ihrem Empfang und korrespondierten nachher noch lange mit der freundlichen Gastgeberin. Einer ihrer Gäste hatte ihr Andenken in einem Gedicht verewigt, das Marja Alexandrowna stolz jedem neuen Gaste zeigte. Ein durchreisender Literat hatte ihr sogar eine Novelle gewidmet, die er auf einer Abendgesellschaft bei ihr vorlas, was einen äußerst angenehmen und guten Eindruck machte. Und ein deutscher Gelehrter aus Karlsruhe, der uns absichtlich mit seinem Besuch beehrte, um hierselbst eine besondere Würmerart mit Hörnern, die es nur in unserem Gouvernement gibt, zu erforschen, und der über diesen Wurm vier Bände in Quart geschrieben hat, war von dem Empfang und der Liebenswürdigkeit Marja Alexandrownas dermaßen entzückt, daß er noch jetzt hochehrerbietige Briefe aus der Stadt Karlsruhe an sie schreibt, die sie dann natürlich nicht unbeantwortet läßt. Marja Alexandrowna wurde in gewisser Beziehung sogar mit Napoleon verglichen – dem Ersten. Versteht sich – nur im Scherz und von ihren Feinden, mehr um der Karikatur als um der Wahrheit willen. Dessen ungeachtet – und obschon ich die ganze Seltsamkeit eines solchen Vergleiches anerkenne, wage ich es doch, eine ganz unschuldige Frage zu stellen: weshalb – bitte, mir darauf zu antworten – weshalb wurde dem großen Napoleon schließlich schwindlig, als er gar zu hoch hinaufgeklettert war? Die Anhänger der alten Dynastie schreiben das dem Umstand zu, daß Napoleon nicht nur kein Sproß aus königlichem Hause, sondern nicht einmal ein Gentilhomme von altem Geblüt war, und daß es folglich nur natürlich sei, daß ihm die plötzliche Höhe einen Schrecken eingejagt habe und ihm bei dem Gedanken an seine geringe Herkunft und den ihn zukommenden niedrigen Platz ganz von selbst schwindlig geworden sei. Doch ungeachtet dieser geistvollen Erklärung, die lebhaft an die Glanzzeit des alten französischen Hofes erinnert, will ich es wagen, folgende Frage zu stellen: warum wird es Marja Alexandrowna nie und unter keinen Umständen schwindlig und warum bleibt sie immer und trotz aller Vorkommnisse die erste Dame in Mordassoff? Es gab zum Beispiel Fälle, in denen alle sagten: „Nun, jetzt wollen wir doch sehen, wie Marja Alexandrowna sich diesmal aus der Affäre ziehen wird!“ Doch siehe, die schwierigen Verhältnisse kamen, bestanden, gingen vorüber – und es geschah nichts! Alles blieb beim alten – oder es wurde sogar noch besser. Zum Beispiel wird sich hier noch ein jeder dessen erinnern, wie ihr Gemahl, Afanassij Matwejewitsch, infolge von Unbegabtheit oder Schwachsinn seine vorteilhafte Stellung einbüßte, da er durch seine Antworten den Zorn eines ihm auf den Hals geschickten Revisors erweckt hatte. Da glaubten denn alle, daß Marja Alexandrowna den Mut verlieren, kleinlaut werden, sich erniedrigen, bitten und betteln würde. Doch nichts von alledem geschah: Marja Alexandrowna sah ein, daß sie doch nichts mehr ausrichten würde – und richtete sich so ein, daß sie ihren Einfluß auf die Gesellschaft nicht im geringsten einbüßte, weshalb ihr Haus jetzt denn auch immer noch als das erste Haus in Mordassoff gilt. Die Frau unseres Staatsanwalts, Anna Nikolajewna Antipowa, die geschworene Feindin Marja Alexandrownas – dem Anschein nach allerdings ihre größte Freundin – frohlockte damals bereits über ihren Sturz. Als man aber sah, daß Marja Alexandrowna sich nichts weniger als irre machen ließ, da erriet man endlich, daß ihre Wurzeln viel tiefer hinabreichten, als man anfänglich geglaubt hatte.

Übrigens – da wir nun einmal auf Afanassij Matwejewitsch zu sprechen gekommen sind, will ich auch über ihn einige Worte sagen. Vor allem muß ich bemerken, daß er äußerlich eine sehr repräsentable Erscheinung ist und sogar sehr gute Manieren hat – nur hat er die Angewohnheit, in kritischen Augenblicken etwas den Kopf zu verlieren, und dann sieht er einen an, wie ein Schaf ein neues Hoftor. Er ist stattlich und würdevoll, namentlich zu Geburtstagsdiners, wenn er in weißer Binde erscheint. Leider aber währt der gute Eindruck genau nur bis zu dem Augenblick, in dem er den Mund auftut und das erste Wort spricht. Dann – Verzeihung, aber es geht nicht anders – dann würde man sich am liebsten ... sagen wir: die Ohren zuhalten.

Er ist es ganz entschieden nicht wert, Marja Alexandrowna anzugehören: Das ist die allgemeine Meinung. Einzig dank der Genialität seiner Frau hatte er denn auch seine hohe Stellung einnehmen können. Meiner Ansicht nach wäre sein Platz von Anfang an in einem Gemüsegarten gewesen, wo er sich als Vogelscheuche sehr vorteilhaft ausgenommen hätte. Dort, und zwar ausschließlich dort hätte er seinem Vaterlande einen wirklichen, unzweifelhaften Nutzen bringen können. Und deshalb war es von Marja Alexandrowna sehr klug gehandelt, als sie Afanassij Matwejewitsch auf ihr drei Werst von der Stadt entferntes Gut schickte, wo sie hundertundzwanzig Leibeigene besitzt – nebenbei bemerkt, ihr ganzer Besitz und ihre einzige Einnahmequelle, aus der sie alle Ausgaben bestreitet, die selbstverständlich nicht gering sind, da sie doch nach wie vor ein großes Haus macht. Man begriff sofort, daß sie ihren Gemahl einzig deshalb bis dahin bei sich gehalten, weil er eine gute Anstellung hatte, ein gutes Gehalt bezog und ... noch andere Einkünfte. Als es aber mit dem Gehalt und den anderen Einkünften zu Ende war, da wurde er als ein vollkommen untaugliches und überflüssiges Möbel sofort entfernt. Die Folge davon war, daß alle Marja Alexandrownas klares Urteilsvermögen, ihre Entschlossenheit und Charakterstärke lobten. Afanassij Matwejewitsch lebt jetzt dort auf dem Lande wie im Wollkorbe. Ich habe ihn vor kurzem einmal besucht und eine ganze Stunde sehr angenehm mit ihm verbracht. Er bindet sich vor dem Spiegel verschiedene weiße Halsbinden um, putzt eigenhändig seine Stiefel – nicht weil er keine Bedienung hätte, sondern nur aus Liebe zur Sache, denn er hat es gern, wenn sie spiegelblank sind. Dreimal täglich trinkt er Tee, nimmt mit besonderer Vorliebe ein Bad und ist vollkommen zufrieden. Und entsinnen Sie sich noch der unangenehmen Geschichte, die man sich vor etwa anderthalb Jahren von Sinaïda Afanassjewna, der einzigen Tochter Marja Alexandrownas und Afanassij Matwejewitschs, erzählte? Sinaïda ist fraglos eine Schönheit unter Schönheiten, ist vorzüglich erzogen, aber – sie zählt schon dreiundzwanzig Jahre und ist noch nicht verheiratet. Unter den Gründen, mit denen man diese Tatsache zu erklären versucht, sind die dunklen Gerüchte von gewissen sonderbaren Beziehungen Sinas zu einem Kreisschullehrer – die auch jetzt noch nicht ganz verstummt sind – sicherlich die am meisten besprochenen. Man spricht noch immer von einem Liebesbrief, den Sina geschrieben und der dann in Mordassoff von Hand zu Hand gewandert sei. Einstweilen aber: wer hat denn diesen Brief oder Zettel – er soll nicht lang gewesen sein – mit eigenen Augen gesehen? Wenn er von Hand zu Hand gewandert ist, wo ist er dann schließlich geblieben? Alle haben von ihm gehört, gesehen aber hat ihn kein einziger. Ich wenigstens habe noch keinen angetroffen, der ihn selbst gesehen hätte. Macht man Marja Alexandrowna eine diesbezügliche Andeutung, so versteht sie einen einfach nicht. Nehmen wir aber jetzt an, daß Sina tatsächlich einen solchen Zettel geschrieben – ich glaube sogar bestimmt, daß sie es getan hat – muß man dann nicht alle Hochachtung haben vor der Diplomatie Marja Alexandrownas? Wie geschickt und mit welcher Sicherheit sie dem unangenehmen, skandalösen Klatsch die Spitze abzubrechen verstanden hat! Kein Wort, keine Andeutung ihrerseits! Sie schenkt jetzt dieser ganzen schmutzigen Verleumdung überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr! Indessen aber – nur Gott allein wird es wissen, wie sie gearbeitet hat, um die Ehre ihrer einzigen Tochter unbefleckt zu erhalten. Und andererseits: ist es denn nicht sehr begreiflich, daß Sina noch nicht geheiratet hat: was gibt es denn hier für Freier? Und Sina kann doch nur einen Erbprinzen heiraten! Hat jemand, frage ich nochmals, je im Leben eine solche Schönheit gesehen? Freilich ist sie stolz, sogar sehr stolz. Man sagt, Mosgljäkoff werbe um sie, aber es ist nicht anzunehmen, daß sie ihn heiraten wird. Was ist denn dieser Mosgljäkoff? Nun ja, – ein junger Mann, nicht häßlich, ein Fant, hundertfünfzig Leibeigene, ohne Schulden, Petersburger. Aber immerhin – der Kopf ist nicht viel wert. Leichtsinnig, schwatzhaft, mit irgendwelchen allerneuesten Ideen! Und was sind denn schließlich hundertfünfzig Seelen – und noch dazu bei den neuesten Ideen! Nein, ich habe es gleich gesagt – aus dieser Heirat wird nichts!

Alles, was mein verehrter Leser bis jetzt gelesen hat, ist von mir vor ganzen fünf Monaten geschrieben worden, und zwar nur aus Begeisterung. Ich will es nicht verhehlen, daß ich für Marja Alexandrowna eine kleine Schwäche habe. Ich hatte eigentlich die Absicht, etwas in der Art einer Verherrlichung dieser großen Frau zu schreiben, vielleicht in der Form eines scherzhaften Briefes an einen Freund, nach dem Muster der Briefe, die in der alten, goldenen, doch – Gott sei Dank! – unwiederbringlichen Zeit in der „Nordischen Biene“ und ähnlichen Zeitschriften erschienen. Da ich nun aber keinen einzigen Freund besitze und mir außerdem noch eine gewisse literarische Schüchternheit angeboren ist, so blieb mein Manuskript in meinem Schreibtischfach als literarischer Versuch und als Erinnerung an eine friedliche Zerstreuung in Stunden der Muße und des Vergnügens liegen. Inzwischen vergingen fünf Monate, bis schließlich eines Tages unsere liebe Stadt ein großartiges Ereignis erlebte: früh morgens rollte eine Equipage durch die Straßen: Fürst K. kam an und stieg im Hause Marja Alexandrownas ab.

Die Folgen dieses Besuches waren unabsehbar. Der Fürst hielt sich nur drei Tage in Mordassoff auf, doch diese drei Tage sind uns allen unauslöschlich in der Erinnerung geblieben. Ja ich kann sogar sagen, daß der Fürst in gewissem Sinne unsere ganze Stadt umgekehrt hat. Die Wiedergabe dieses Ereignisses wird natürlich die bemerkenswertesten Seiten in den Annalen der Stadt Mordassoff ausmachen. Diese Seiten nun literarisch zu verarbeiten und dem Urteil der hochverehrten Leser zu unterbreiten, habe ich mich jetzt nach einigem Schwanken endgültig entschlossen.

Meine Erzählung umfaßt die ungekürzte bemerkenswerte Geschichte der Erhöhung, des größten Ruhmes und des feierlichen Falles Marja Alexandrownas und ihres ganzen Hauses in Mordassoff, ein würdiges und für einen Schriftsteller verführerisches Thema. Versteht sich, vorher muß ich noch erklären, weshalb es ein solches Ereignis war, daß der Fürst K. in die Stadt gefahren kam und bei Marja Alexandrowna abstieg. Zu dem Zweck jedoch muß ich etwas ausführlicher von der Person des Fürsten erzählen. So werde ich es auch tun. Zudem ist die Kenntnis der Lebensgeschichte dieses Fürsten durchaus erforderlich, um im ferneren Verlauf der Dinge sich manches erklären zu können. Also, ich beginne.

II.

Ich muß vorausschicken, daß Fürst K. den Jahren nach durchaus noch kein Greis war. Doch dessenungeachtet kam einem bei seinem Anblick unwillkürlich der Gedanke, daß er sogleich auseinanderfallen müsse: dermaßen verlebt oder verbraucht war der Mann und sah er aus. In Mordassoff hat man sich von diesem Fürsten stets äußerst sonderbare, mitunter selbst phantastische Dinge erzählt. Es hieß sogar einmal, der alte Herr sei irrsinnig geworden. Am sonderbarsten fanden aber alle, daß ein so reicher Gutsbesitzer, der viertausend Seelen besaß, unter seinen Verwandten bekannte Würdenträger hatte und folglich, sobald er nur gewollt hätte, eine große Rolle im Gouvernement hätte spielen können, auf seinem prächtigen Gut von aller Welt völlig zurückgezogen lebte. Viele Honoratioren hatten ihn vor sechs oder sieben Jahren gekannt, als er eine Zeitlang in unserer Stadt gelebt hatte, und sie versicherten, daß er damals Einsamkeit nicht habe ertragen können und alles eher als ein Einsiedler gewesen sei.

Doch wie dem auch sei, jedenfalls habe ich aus glaubwürdigster Quelle Folgendes von seiner Lebensgeschichte erfahren:

Einmal in jungen Jahren, was übrigens schon lange her ist, war der Fürst in glänzendster Weise ins Leben eingetreten, hatte gejeut, geliebt, war mehrmals im Auslande gewesen, hatte Romanzen gesungen, Bonmots gemacht und sich nie durch glänzende Geistesgaben ausgezeichnet. Wie es sich wohl von selbst versteht, verlebte er sein ganzes Vermögen, so daß er sich, als das Alter kam, plötzlich ohne eine Kopeke sah. Da hatte ihm irgend jemand den Rat gegeben, auf sein Gut überzusiedeln, das bereits versteigert werden sollte, und so war er denn nach Mordassoff gefahren und hatte dort ganze sechs Monate verlebt, ohne an die Weiterfahrt zu denken. Das Provinzleben hatte ihm sehr gefallen und die Folge davon war, daß er in diesem halben Jahr das Letzte, was ihm noch geblieben war, gleichfalls durchbrachte, da er weder auf das Jeu, noch auf verschiedene Intimitäten mit – diesmal Provinzdamen verzichten konnte. Hinzu kommt, daß er ein gutmütiger Mensch war, freilich nicht ohne einige besondere fürstliche Gewohnheiten unangenehmer Art, die aber in Mordassoff für als ausschließlich der höchsten Gesellschaft eigen angesehen wurden, und daher, statt Verdruß zu erwecken, sogar einen guten Eindruck machten. Namentlich die Damen waren von ihrem lieben Gast außerordentlich entzückt. Man bewahrte gar manche interessante Erinnerung an ihn. Unter anderem erzählte man, daß der Fürst einen halben Tag zum Ankleiden brauche und der ganze Mensch aus zusammensetzbaren Stücken bestände. Niemand wußte sich zu erklären, wann und wo er sich aller der ihm fehlenden Körperteile zu entledigen vermocht hatte. Er trug eine Perücke, falschen Schnurr- und Backenbart, und sogar die Fliege a la Mazarin unter der Unterlippe war unecht. Ihm war buchstäblich jedes Haar angeklebt und jedes glänzte im schönsten Schwarz. Er schminkte und puderte sich täglich. Es wurde sogar behauptet, daß er mittels gewisser kleiner Federn, die in seinen Haaren unsichtbar angebracht sein sollten, die Runzeln in seinem Gesicht glätte. Auch hieß es, daß er ein Korsett trage, da er bei einem ungeschickten Sprung aus dem Fenster – während eines Liebesfeldzuges in Italien – sich ein paar Rippen gebrochen habe. Mit dem linken Fuß hinkte er. Es wurde behauptet, daß sein linker Fuß unecht sei und er den echten in Paris gleichfalls bei Gelegenheit eines Liebesabenteuers eingebüßt habe und zum Ersatz ihm ein Holz- oder Korkfuß angesetzt worden sei. Aber schließlich, was wird nicht alles erzählt? Tatsache war jedoch, daß sein rechtes Auge ein Glasauge war, natürlich ein sehr teures, sehr kunstvoll gearbeitetes. Seine Zähne waren alle unecht. Ganze Tage lang wusch er sich mit den verschiedensten patentierten Flüssigkeiten, parfümierte und pomadisierte sich unermüdlich. Übrigens entsinnt man sich, daß der Fürst damals schon merklich gealtert war und entsetzlich schwatzhaft wurde. Seine Zukunft war, wie man meinte, hoffnungslos. Alle wußten, daß er nichts mehr besaß. Da sollte es aber geschehen, daß gerade zu der Zeit eine seiner Verwandten, eine uralte Greisin, die beständig in Paris lebte und von der er eigentlich nichts zu erwarten hatte, – starb, nachdem sie vor ausgerechnet einem Monat ihren einzigen Erben begraben hatte. So wurde plötzlich und unerwartet der Fürst ihr gesetzmäßiger Universalerbe. Viertausend Seelen und ein wundervolles Gut, sechzig Werst von unserer Stadt gelegen, erhielt er ganz allein. Ohne lange zu säumen, machte er sich nach Petersburg auf, um dort die Angelegenheit zu erledigen. Zum Abschied gaben unsere Damen ihrem lieben Gast noch ein glänzendes Diner, das sie gemeinsam bezahlten, wozu eine Kollekte veranstaltet worden war. Der Fürst, sagt man, sei an diesem Abend bezaubernd liebenswürdig gewesen, habe gescherzt und gelacht und die ungewöhnlichsten Anekdoten erzählt. Zum Schluß habe er versprochen, sich so bald als möglich in Duchanowo, so hieß sein neues Gut, niederzulassen, und dann – darauf habe er sein Wort gegeben – würde er fortwährend Feste, Picknicks, Bälle und italienische Nächte mit Feuerwerk und Lampions veranstalten. Ein ganzes Jahr lang nach seiner Abfahrt sprachen die Damen nur von den verhießenen Freuden und erwarteten ihren alten Freund mit größter Ungeduld. Inzwischen aber begnügte man sich mit kurzen Ausfahrten nach Duchanowo, wo das alte Herrenhaus und der große Park besichtigt wurden. In diesem Park gab es Akazienhecken, die zu Löwen und anderen Tieren zurechtgestutzt waren, künstliche Hünengräber, Teiche, auf denen sich Boote schaukelten mit holzgeschnitzten Türken, die Hirtenflöten bliesen, Lauben, Pavillons, Monplaisirs und noch viele andere Späße.

Endlich kehrte der Fürst zurück, doch zur allgemeinen Verwunderung und Enttäuschung zeigte er sich nicht einmal in der Stadt, sondern ließ sich auf seinem Gut nieder und lebte wie ein Einsiedler. Alsbald verbreiteten sich sonderbare Gerüchte, und überhaupt kann man sagen, daß die Lebensgeschichte des Fürsten seit eben dieser Zeit schleierhaft und phantastisch wird. So erzählte man denn, daß er in Petersburg nicht gerade Glück gehabt habe, daß einige seiner Verwandten und dereinstigen Erben ihn wegen seiner Geistesschwäche unter irgend jemandes Vormundschaft hätten stellen wollen, wahrscheinlich aus Furcht, daß er wieder sein ganzes Vermögen durchbringen könne. Ja einige behaupteten sogar, daß man ihn in eine Irrenanstalt habe einsperren wollen, doch einer seiner Verwandten, ein angesehener Mann, sei für ihn eingetreten und habe den anderen klar bewiesen, daß der arme Fürst, von dem ja ohnehin nur noch die eine Hälfte lebe, wahrscheinlich bald von selbst sterben würde – und dann bekämen sie das Gut auch ohne Irrenhaus. Doch ich sage nochmals: wird denn wenig in der Welt geklatscht und noch dazu bei uns in Mordassoff! Diese Gerüchte von dem Vorhaben seiner Verwandten sollen den armen Fürsten so kopfscheu gemacht haben, daß er auch seinen Charakter vollkommen änderte und wie ein Einsiedler lebte! Einige unserer Spitzen der Gesellschaft waren mit Glückwünschen zu ihm aufs Gut gefahren: doch sie waren entweder überhaupt nicht, oder in sehr seltsamer Weise empfangen worden. Der Fürst, sagt man, habe seine früheren Bekannten nicht einmal erkannt oder habe sie nicht erkennen wollen.

Eines Tages fuhr auch unser Gouverneur zu ihm. Er kehrte mit der Nachricht zurück, daß der Fürst seiner Meinung nach tatsächlich „etwas verdreht“ sei, und er machte später jedesmal ein schiefes Gesicht, wenn man ihn an seine Fahrt nach Duchanowo erinnerte. Die Damen sprachen laut ihren Unwillen darüber aus. Endlich erfuhr man einen Umstand von erschütternder Wichtigkeit, und zwar: daß irgendeine unbekannte Stepanida Matwejewna sich des Fürsten bemächtigt habe, Gott weiß was für eine Weibsperson, die aus Petersburg mit ihm angekommen war, dick und bejahrt, die nur in Kattunkleidern und mit dem Schlüsselbund in der Hand umherging; daß der Fürst ihr in allem wie ein Kind gehorche und ohne ihre Erlaubnis keinen Schritt zu tun wage; daß sie ihn sogar eigenhändig bediene, sehr verwöhne, auf den Händen umhertrage und wie einen Säugling einlulle, und schließlich, daß sie es sei, die jeden Besuch von ihm fernhalte, namentlich seine Verwandten, die jetzt, wie begreiflich, zum Zweck verschiedener Nachforschungen von Zeit zu Zeit nach Duchanowo kamen. In Mordassoff wurde viel über diese unbegreifliche Verbindung gesprochen, besonders seitens der Damen. Zu alledem wurde noch hinzugefügt, daß Stepanida Matwejewna das ganze Gut des Fürsten unumschränkt und eigenmächtig verwalte, ungefragt das Wirtschaftspersonal, die Dienstboten, Verwalter und Förster absetze und die Einnahmen empfange – doch mache sie alles so gut, daß die Leibeigenen ihr Schicksal geradezu priesen.

Was nun den Fürsten selbst anbetrifft, so wußte man, daß er seine Tage fast ausschließlich im Ankleidezimmer zubrachte und sich nur mit dem Anpassen von Perücken und Fracks beschäftigte, daß er die übrige Zeit in der Gesellschaft Stepanida Matwejewnas verbringe, mit ihr Karten spiele, sich die Karten lege, hin und wieder auf einer frommen englischen Stute ausreite, wobei ihn Stepanida Matwejewna unfehlbar in einem gedeckten Wagen begleite – „für alle Fälle“, versteht sich: denn der Fürst reite nur aus Eitelkeit, könne sich aber kaum noch im Sattel halten. Zuweilen hatte man ihn auch zu Fuß ausgehen sehn, in einem eleganten Paletot, breitkrämpigem Strohhut, rosafarbenem Damenhalstuch, mit seinem Monokel im Auge, mit einem Körbchen für die gesammelten Pilze, und mit Kornblumen in der linken Hand. Stepanida Matwejewna begleitete ihn regelmäßig und hinter ihm gingen zwei galonierte Diener und folgte – „für alle Fälle“, da man ja nie wissen konnte – ein Wagen: kam ihnen unterwegs ein Bauer entgegen und grüßte er sie, zur Seite tretend, tief und ehrerbietig: „Guten Tag, Väterchen Fürst, guten Tag, Euer Gnaden unser Sonnenlicht!“ so richtete der Fürst sogleich sein Monokel auf ihn und antwortete freundlich mit gnädigem Kopfnicken: „Bonjour, mon ami, bonjour!

Solche und ähnliche Gerüchte gingen in Mordassoff von Mund zu Mund. Es schien ganz unmöglich zu sein, den Fürsten zu vergessen. Aber er lebte ja auch in nächster Nachbarschaft. Wie groß nun war die Verwunderung, als eines schönen Morgens das Gerücht sich verbreitete, daß der Fürst, dieser Einsiedler und Sonderling, in eigener Person in Mordassoff angelangt und im Hause Marja Alexandrownas abgestiegen sei. Alles geriet in Aufregung, alle erwarteten eine Aufklärung, alle fragten einander, was das zu bedeuten habe. Einige Damen wollten sich sogleich zu Marja Alexandrowna aufmachen, denn die Ankunft des Fürsten erschien ihnen als ein gar zu großes Wunder. Sie schrieben sich Zettelchen, machten einander Morgenvisiten, schickten ihre Stubenmädchen und Männer auf Kundschaft aus. Am meisten wunderte man sich darüber, daß der Fürst gerade bei Marja Alexandrowna abgestiegen war. Und am meisten ärgerte sich darüber Anna Nikolajewna Antipowa, weil der Fürst über Tanten, Großtanten und Schwägerinnen hinweg entfernt mit ihr verwandt war. Aber ich sehe, um alle diese Fragen beantworten zu können, müssen wir Marja Alexandrowna selbst in ihrem Hause aufsuchen, wohin uns zu folgen wir den verehrten Leser untertänigst bitten. Es ist allerdings noch früh, kaum zehn Uhr, aber ich bin überzeugt, daß sie uns, ihre besten Freunde, nicht von der Tür weisen, vielmehr uns empfangen wird.

III.

Zehn Uhr morgens. Wir sind im Hause Marja Alexandrownas, an der großen Straße, in jenem Zimmer, das die Hausfrau bei feierlichen Gelegenheiten „mon salon“ nennt. Marja Alexandrowna hat sogar ein Boudoir. In diesem Salon ist der Fußboden gut gestrichen und die Wände sind mit hübschen Tapeten versehen. Im Möbelstoff ist rot die vorherrschende Farbe. An einer Wand ist ein Kamin, über dem Kamin ein Spiegel, vor dem Spiegel eine bronzene Stutzuhr mit einem Amor, der von schlechtem Geschmack zeugt. Zwischen den Fenstern sind zwei Pfeilerspiegel, von denen die Überzüge entfernt sind. Vor diesen Spiegeln stehen auf kleinen Tischen wieder Uhren. An der Rückwand steht ein prächtiger Flügel, der für Sina verschrieben ist, denn Sina ist – musikalisch. Vor dem brennenden Kamin sind weiche Polstermöbel gruppiert, nach Möglichkeit in malerischer Unordnung, zwischen ihnen steht ein kleines Tischchen. Am anderen Ende des Zimmers steht ein größerer Tisch, bedeckt mit einer blendend weißen Tischdecke: auf ihm kocht ein silberner Ssamowar neben einem reizenden Teeservice. Das Eingießen des Tees besorgt eine Dame, Nastassja Petrowna Sjäblowa, die als entfernte Verwandte Marja Alexandrownas bei dieser lebt. Zwei Worte über sie. Sie ist Witwe, etwas über dreißig Jahre alt, brünett, mit einer frischen Gesichtsfarbe und lebhaften braunen Augen. Durchaus nicht häßlich. Sie hat einen heiteren Charakter, lacht viel und gern, ist ziemlich schlau, klatscht natürlich, und versteht es, ihr Schäfchen ins trockne zu bringen. Sie hat zwei Kinder, die beide irgendwo lernen. Sie würde gern zum zweitenmal heiraten; ihr erster Mann war aktiver Offizier. Im übrigen tritt sie ziemlich selbstbewußt auf.

Marja Alexandrowna, die Hauptperson, sitzt am Kamin in vorzüglicher Stimmung und in einem hellgrünen Kleide, das ihr sehr gut steht. Sie ist unsäglich erfreut über den Besuch des Fürsten, der vorläufig mit seiner Toilette beschäftigt und folglich noch unsichtbar ist. Sie ist so froh, daß sie ihre Freude nicht einmal zu verbergen sucht. Vor ihr steht ein junger Mann, der ihr überschwenglich irgend etwas erzählt. Seinen Augen sieht man es an, daß er seinen Zuhörerinnen gefallen will. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt. Sein Benehmen wäre nicht schlecht, doch gerät er leicht in Begeisterung und möchte außerdem als witzig und geistreich gelten. Tadellos gekleidet, blond, nicht häßlich. Aber wir haben ja schon von ihm gesprochen: das ist Herr Mosgljäkoff, ein junger Mann, der zu großen Hoffnungen berechtigt. Marja Alexandrowna findet im stillen, daß sein Kopf etwas hohl sei, ist aber trotzdem die Liebenswürdigkeit selbst zu ihm. Er wirbt um ihre Tochter Sina, in die er, nach seinen Worten, bis zum Wahnsinn verliebt ist. In jedem Augenblick wendet er sich zu Sina, bemüht, sie durch seinen Humor und Geist zum Lächeln zu bringen. Sie aber ist auffallend kühl zu ihm und beachtet ihn kaum. In diesem Augenblick steht sie abseits am Klavier. Ihre schmalen Finger blättern in einem Kalender. Sie gehört zu jenen Erscheinungen, die allgemeine – ich möchte sagen begeisterte Verwunderung hervorrufen, wenn sie in einen Ballsaal, einen Gesellschaftsraum eintreten. Sie ist unbeschreiblich schön: von hohem, schlankem Wuchs, mit prächtigem braunen Haar, wundervollen, fast schwarzen Augen, vorzüglich gebaut: Schultern, Arme, Brust – wie die einer antiken Göttin, das Füßchen verführerisch, der Gang königlich. Heute ist sie ein wenig bleich; dafür aber wird man ihre blaßrosa, seidigen Lippen, die wundervoll geschnitten sind und zwischen denen wie eine Perlenschnur ihre weißen Zähne glänzen, drei Nächte noch im Traume sehen, wenn man sie einmal in Wirklichkeit gesehen hat. Sie sieht ernst und sogar streng aus. Herr Mosgljäkoff scheint ihren aufmerksamen Blick gewissermaßen zu fürchten, wenigstens fühlt er sich nicht ganz geheuer, wenn er es wagt, sie anzusehen. Ihre Bewegungen sind von hochmütiger Nachlässigkeit. Sie trägt ein einfaches weißes Musselinkleid. Weiß steht ihr ganz besonders gut; doch übrigens, was steht ihr nicht gut? An einem ihrer schmalen Finger steckt ein aus Haar geflochtener Ring – nach der Farbe zu urteilen, nicht aus dem Haar der Mutter. Mosgljäkoff hat es nie gewagt, sie zu fragen, wessen Haar es ist. An diesem Morgen ist Sina auffallend schweigsam und sogar traurig, als quälten sie gewisse Sorgen. Dafür ist Marja Alexandrowna zu ununterbrochenem Reden bereit, wenn sie auch mitunter gleichfalls einen besonderen, gleichsam mißtrauischen Blick zur Tochter hinübersendet – was sie jedoch nur heimlich tut –, ganz als fürchte auch sie ihre Tochter.

„Ich bin so froh, so froh, Pawel Alexandrowitsch,“ beteuert sie, „daß ich es jedem Menschen, der an meinem Hause vorübergeht, aus dem Fenster zurufen könnte. Ich rede schon gar nicht von der reizenden Überraschung, die Sie mir und Sina bereitet haben, indem Sie zwei Wochen früher gekommen sind, als Sie es versprochen hatten; das versteht sich von selbst! Es freut mich so unsäglich, daß Sie unseren lieben Fürsten hergebracht haben. Wissen Sie auch, wie sehr ich diesen bezaubernden alten Herrn liebe! Doch nein, nein! Sie werden mich nicht verstehen! Sie gehören zur Jugend und werden die Gefühle meines Lebensalters nie verstehen, wenn ich sie Ihnen auch noch so beredt schildern wollte! Wissen Sie auch, was er mir in früheren Zeiten gewesen ist, vor sechs Jahren – weißt du noch, Sina? Ach nein, ich hatte es vergessen: Du warst ja damals bei deiner Tante zum Besuch ... Sie werden es mir nicht glauben, Pawel Alexandrowitsch; ich war seine Führerin, seine Schwester, seine Mutter! Er hörte auf mich wie ein Kind! Es war etwas Naives, Zärtliches und Höheres in unserem Verhältnis zueinander ... Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll! Und das ist auch der Grund, weshalb er sich jetzt meines Hauses in Dankbarkeit erinnert hat, ce pauvre prince! Wissen Sie auch, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie ihn damit vielleicht sogar gerettet haben, daß Sie auf den Gedanken gekommen sind, ihn zu mir zu bringen? Mit wehem Herzen habe ich in diesen langen sechs Jahren an ihn gedacht. Sie werden es mir nicht glauben: mir hat sogar in der Nacht von ihm geträumt! Man sagt, diese ungeheuerliche Frau habe ihn behext und wolle ihn zugrunde richten. Aber Gott sei Dank, jetzt haben Sie ihn endlich aus diesen Krallen befreit! Nein, jetzt muß man die Gelegenheit benutzen und ihn endgültig retten! Aber erklären Sie mir doch einmal, erzählen Sie, wie Ihnen das alles gelungen ist? Beschreiben Sie mir so ausführlich als möglich Ihre Begegnung mit ihm. Vorhin, als Sie ankamen, waren meine Gedanken nur bei der Hauptsache, während doch gerade alle diese Details, wie man sagt, den Charakter geben! Ich liebe über alles die Details, sogar in den wichtigsten Dingen lenke ich meine Aufmerksamkeit zuerst auf die Details ... und ... solange er noch mit der Toilette beschäftigt ist ...“

„Ich kann nur das wiederholen, was ich bereits erzählt habe, Marja Alexandrowna!“ griff Mosgljäkoff sofort bereitwillig auf, da er es vielleicht auch noch zum zehnten Mal erzählt hätte – sich selbst hören, war für ihn das größte Vergnügen. „Ich fuhr die ganze Nacht durch und, versteht sich, schlief die ganze Nacht nicht, – Sie können sich denken, welche Eile ich hatte!“ fügte er mit halber Wendung zu Sina hinzu. „Mit einem Wort, ich habe geschrien, Pferde verlangt und auf den Stationen wegen der Pferde Lärm geschlagen: wenn man es niederschreiben und drucken lassen wollte, so würde es eine ganze Dichtung im neuesten Geschmack werden! Doch das nur nebenbei bemerkt. Um Punkt sechs Uhr morgens erreiche ich die letzte Station, Igischewo. Zitternd vor Kälte – ich wollte mich nicht einmal erwärmen – schrie ich nach neuen Pferden. Habe bei der Gelegenheit die Stationshalterin und ihren Säugling erschreckt: jetzt, glaube ich, kann sie ihn nicht mehr stillen ... Wundervoller Sonnenaufgang. Wissen Sie, wenn dieser Froststaub sich rot und silbern färbt! Ich beachte aber nichts; mit einem Wort, ich eile Hals über Kopf weiter. Um die Pferde habe ich regelrecht gekämpft, nahm sie einem Kollegienassessor fort und forderte ihn fast zum Duell. Man erzählte mir, daß vor einer viertel Stunde irgendein Fürst von dort abgefahren sei, er fuhr mit eigenen Pferden, habe dort genächtigt. Höre nur mit halbem Ohr, steige ein und fort geht es, als hätte ich mich von der Kette losgerissen. Habe einmal etwas Ähnliches in einer modernen Elegie gelesen. Genau auf der neunten Werst vor der Stadt, dort wo der Weg zur Sswetosersker Einsiedelei abzweigt, ist, wie ich plötzlich sehe, etwas Wunderliches passiert. Ein riesengroßer Reisewagen liegt auf der Seite, der Kutscher und zwei Diener stehen ratlos vor ihm, und aus dem Wagen, der auf der Seite liegt, dringt herzzerreißendes Geschrei. Beabsichtigte zuerst vorüberzufahren, dachte: lieg mal zu auf der Seite, gehöre nicht zu deiner Gemeinde. Doch die Nächstenliebe siegte, die, wie Heine sagt, ihre Nase überallhin steckt. Lasse halten. Ich, mein Ssemjon und der Kutscher – gleichfalls eine russische Seele – eilen zur Hilfe und so stellen wir, sechs Mann hoch, mit vereinten Kräften die Equipage wieder auf die Beine, die sie in Wirklichkeit zwar nicht hat, da sie ja auf Rädern rollt. Auch ein paar Bauern halfen noch mit Stangen, fuhren zur Stadt, erhielten von mir ein Trinkgeld. Denke: das ist sicherlich jener alte Fürst! Sehe ihn mir an: Himmel, ja! Das ist er selbst, Fürst Gawrila! Das war eine Überraschung! Rufe ihm zu: ‚Prince! Onkelchen!‘ Er aber erkannte mich natürlich nicht auf den ersten Blick ... Das heißt, er erkannte mich übrigens sogleich ..., auf den zweiten Blick. Einstweilen aber ... unter uns: ich glaube, daß er selbst jetzt noch nicht recht weiß, wer ich eigentlich bin, und mich, wie mir scheint, für einen ganz anderen Menschen hält, nicht aber für seinen Anverwandten. Ich habe ihn vor zirka sieben Jahren in Petersburg zum letztenmal gesehen. Damals war ich, wie Sie sich denken können, noch ein halber Knabe. Ich erinnerte mich seiner sehr wohl: er hatte einen starken Eindruck auf mich gemacht. Er aber – nun, wie soll er sich noch meiner entsinnen! Stelle mich vor: er ist entzückt, umarmt mich, selbst aber zittert er noch von dem Schreck und weint, bei Gott, weint, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen! Wir sprachen dies und das – ich beredete ihn endlich dazu, in meinen Wagen einzusteigen und – sei’s auch nur auf einen Tag – mit mir nach Mordassoff zu kommen, um sich etwas zu zerstreuen und zu erholen. Er willigt widerspruchslos ein ... Erklärt mir, daß er in das Kloster Sswetosersk zum Priestermönch Missaïl fahre, den er überaus achte und verehre; daß Stepanida Matwejewna – wer von uns Verwandten hat nicht von Stepanida Matwejewna gehört? – mich hat sie noch vor kaum einem Jahr mit dem Ofenbesen aus Duchanowo hinausgejagt –, daß also seine Stepanida Matwejewna einen Brief erhalten habe, des Inhalts, daß in Moskau irgend jemand in den letzten Zügen liege: ihr Vater oder ihre Tochter, genau weiß ich es nicht und habe auch kein Interesse dafür übrig; vielleicht sind es beide, sowohl der Vater wie die Tochter ... vielleicht noch mit Zugabe irgend eines Neffen, der dort im Ressort der Getränke dient ... Um mich kurz zu fassen – sie war dermaßen in Verwirrung geraten, daß sie sich entschlossen hatte, auf etwa zehn Tage ihren Fürsten zu verlassen und nach Moskau zu fahren, um diese Stadt durch ihre Anwesenheit zu verschönen. Der Fürst saß inzwischen einen Tag zu Hause, saß einen zweiten, setzte sich zur Probe eine Perücke nach der anderen auf, pomadisierte sich, färbte seinen Schnurrbart, legte sich Karten aus, spielte vielleicht auch Preference, allein, zum Zeitvertreib. Aber dennoch ging es über seine Kräfte – ohne Stepanida Matwejewna! Da hatte er seine Reiseequipage befohlen, um sich ins Sswetosersker Kloster zu begeben. Irgend jemand von den dienstbaren Geistern, der Stepanida Matwejewna sogar in ihrer Abwesenheit fürchtet, hatte zwar einiges einzuwenden gewagt: der Fürst aber hatte darauf bestanden. Gestern nach dem Mittag war er ausgefahren, hatte in Igischewo übernachtet, war dann nach Sonnenaufgang von der Station weitergefahren, um genau vor dem Abbiegen von der Landstraße zu dem berühmten Priestermönch Missaïl samt seiner ganzen Equipage fast in den Graben zu fallen. Ich errette ihn, berede ihn, mit mir zu unserer gemeinsamen Freundin, der hochverehrten Marja Alexandrowna zu fahren ... Er sagt von Ihnen, Sie seien die bezauberndste Dame von allen, die er jemals gekannt habe, – und jetzt sind wir hier, der Fürst aber frischt vorläufig noch seine Toilette auf, mit Hilfe seines Kammerdieners, den er nicht vergessen hat mitzunehmen und den er niemals, in keinem Fall und unter keinen Bedingungen vergessen wird, mitzunehmen, denn er würde eher zu sterben einwilligen, als daß er in Damengesellschaft ohne einige Vorbereitungen oder richtiger – Zubereitungen erscheinen würde ... Und das ist die ganze Historie. – Allerliebst – nicht wahr?“

„Aber was für ein Humorist Sie sind! Findest du nicht auch, Sina?“ ruft Marja Alexandrowna entzückt aus, nachdem er geendet hat. „Wie reizend er es zu erzählen weiß! – Aber hören Sie, Monsieur Paul – eine Frage: erklären Sie mir doch einmal ausführlich Ihre Verwandschaft mit dem Fürsten! Sie nennen ihn Onkel?“

„Ehrenwort: ich weiß es nicht, Marja Alexandrowna, wie und inwiefern ich mit ihm verwandt bin: ich glaube, im siebenten Grade wird es sein ... doch nicht etwa Reaumur, sondern Verwandtschaft, wie gesagt. Diesbezüglich habe ich mir wirklich kein Verschulden zuschulden kommen lassen – ich bin vollkommen schuldlos in der Sache! Schuld ist vielmehr meine Tante Aglaja Michailowna. Übrigens hat diese meine Tante Aglaja Michailowna nichts anderes zu tun, als die ganze Verwandtschaft an den Fingern herzuzählen. Sie ist es auch, die mich vor einem Jahr zu dieser Reise nach Duchanowo bewogen hat. Sie wäre gern selbst gefahren. Ich nenne ihn ganz einfach Onkelchen – und er fühlt sich angeredet. Das aber ist ja schließlich die Hauptsache. Ja, ja, das wäre denn unsere ganze Verwandtschaft, bis heute wenigstens ...“

„Aber ich bleibe dennoch bei meiner Behauptung, daß nur Gott allein Sie auf den Gedanken hat bringen können, mit ihm geradeswegs zu mir zu kommen! Ich zittere, wenn ich daran denke, was ihm, dem Armen, alles hätte zustoßen können, falls er in ein anderes Haus, statt in meines, geraten wäre! Man hätte ihn ja hier zerrissen, zerrissen, jeden Knochen zerpflückt, man hätte ihn verschlungen! Man hätte sich auf ihn gestürzt wie auf eine Fundgrube, eine Goldmine – man hätte ihn womöglich bestohlen! Sie können es sich nicht vorstellen, Pawel Alexandrowitsch, was es hier für gierige, niedrige und heimtückische Menschen gibt! ...“

„Ach, mein Gott, zu wem hätte er ihn denn bringen sollen, wenn nicht zu Ihnen! – wie Sie wirklich sind, Marja Alexandrowna!“ ruft Nastassja Petrowna aus, die Witwe, die den Tee eingießt. „Doch nicht zu Anna Nikolajewna – was meinen Sie?“

„Aber ... wie kommt es, daß er sich noch immer nicht sehen läßt? Das ist doch etwas sonderbar,“ sagt Marja Alexandrowna, die sich ungeduldig erhebt.

„Meinen Sie meinen Onkel? O, ich glaube, der wird noch ganze fünf Stunden zu seiner Toilette brauchen! Zudem, da er ja kein Atom Gedächtnis mehr besitzt, wird er vielleicht schon vergessen haben, daß er bei Ihnen zum Besuch ist. Das ist ja doch ein außergewöhnlicher Mensch, müssen Sie nicht vergessen, Marja Alexandrowna!“

„Ach, gehen Sie, hören Sie doch auf!“

„Durchaus nicht ‚Gehen Sie‘, Marja Alexandrowna, sondern die reinste Wahrheit, wie gesagt! Das ist doch halbwegs nur eine Komposition, aber kein Mensch! Sie haben ihn vor sechs Jahren gesehen, ich dagegen noch vor einer Stunde. Das ist doch eine halbe Leiche! Das ist ja nur noch eine Erinnerung an einen Menschen, man hat ihn sozusagen nur zu beerdigen vergessen! Er hat doch imitierte, eingesetzte Augen, Beine von Korkholz, der ganze Mensch ist auf Federn, und auch sprechen tut er nicht anders als mit Hilfe gewisser Federn!“

„Mein Gott, was Sie doch für ein leichtsinniger Mensch sind, wie ich sehe!“ ruft Marja Alexandrowna aus und nimmt eine strenge Miene an. „Und schämen Sie sich denn nicht – Sie, als junger Mensch, als Verwandter! – so von diesem ehrwürdigen alten Herrn zu reden! Ich sage weiter nichts von seiner grenzenlosen Güte“ – ihre Stimme nimmt die Klangfarbe aufrichtiger Rührung an – „bedenken Sie doch, daß er sozusagen ein Überbleibsel, eine Ruine, ein Trümmerstück unserer Aristokratie ist. Mein Freund, mon ami! Ich begreife vollkommen, daß Sie infolge irgendwelcher neuen Ideen, von denen Sie beständig sprechen, den Leichtsinnigen spielen. Aber, mein Gott! – ich bekenne mich ja selbst zu Ihren neuen Ideen! Ich weiß, daß der Grundsatz Ihrer neuen Richtung edel und ehrenhaft ist. Ich fühle es, daß es in diesen neuen Ideen sogar etwas Erhabenes gibt; aber alles das hindert mich nicht, auch die, sagen wir, die praktische Seite der Sache zu sehen. Ich habe in der Welt gelebt, ich habe mehr als Sie gesehen, und schließlich, ich bin Mutter, Sie aber sind noch jung. Er ist ein alter Mann und daher haftet ihm in unseren Augen vielleicht manches Lächerliche an. Ja, das letzte Mal sprachen Sie sogar davon, daß Sie Ihre Leibeigenen befreien wollten und daß man doch etwas für das Jahrhundert tun müsse, aber das kommt alles nur daher, daß Sie Ihren Kopf voll Shakespeare haben! Glauben Sie mir, Pawel Alexandrowitsch, Ihr Shakespeare hat schon lange seine Zeit abgelebt, und wenn er jetzt aufstehen würde, so würde er bei all seinem ganzen Verstande doch keine Silbe von unserem gegenwärtigen Leben begreifen. Wenn es in der Gesellschaft unserer Zeit etwas Erhabenes und Ritterliches gibt, so finden wir das einzig und allein in der höheren und höchsten Gesellschaft. Ein Fürst ist auch im Bauernkittel ein Fürst, ist auch in einer elenden Hütte wie in einem Schloß ein Fürst. Da hat sich nun der Mann unserer Natalja Dmitrijewna fast ein Schloß gebaut, aber dennoch ist er nur der Mann Natalja Dmitrijewnas und nichts mehr! Und auch Natalja Dmitrijewna ist und bleibt, wenn sie sich auch mit fünfzig Krinolinen ausstatten wollte – immer nur die frühere Natalja Dmitrijewna und wird nicht ein Atom mehr. Und Sie sind zum Teil gleichfalls ein Repräsentant der höheren Gesellschaft, da Sie von ihr abstammen. Auch mich halte ich nicht für eine Fremde in ihrem Kreise – das aber ist ein schlechtes Kind, das sein eigenes Nest beschmutzt. Übrigens werden Sie einmal alles das selbst noch viel besser einsehen, als ich, mon cher Paul, und Sie werden Ihren Shakespeare mit der Zeit hübsch vergessen. Das sage ich Ihnen im voraus, ich prophezeie es Ihnen. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie diesmal nicht aufrichtig sind und sich nur so ... nach der Mode richten. Ach, da bin ich nun ins Schwatzen hineingekommen. Bleiben Sie ruhig hier, mon cher Paul, und vergessen Sie Ihren Shakespeare, ich werde selbst nach oben gehen und mich nach dem Fürsten erkundigen. Vielleicht bedarf er irgend wessen, und mit meinen Dienstboten ...“

Marja Alexandrowna verließ ziemlich eilig das Zimmer, denn sie dachte an ihre Dienstboten.

„Marja Alexandrowna scheint sehr froh darüber zu sein, daß der Fürst nicht bei dieser Modedame, der Anna Nikolajewna, abgestiegen ist. Hat diese unverschämte Person doch allen gesagt, daß sie mit ihm verwandt sei. Die wird sich jetzt, denke ich, zerreißen wollen vor Ärger!“ bemerkte Nastassja Petrowna. Als sie aber bemerkte, daß ihr nicht geantwortet wurde, sah sie auf. Ein Blick auf Sina und Pawel Alexandrowitsch genügte, um sie erraten zu lassen, wie die Sache stand, und sie verließ sogleich das Zimmer, als hätte sie irgend etwas vergessen, das sie zum Tee brauchte. Übrigens wußte sie sich sofort dafür zu entschädigen: sie versteckte sich hinter der Tür und horchte.

Pawel Alexandrowitsch wandte sich im Augenblick zu Sina. Er war unbeschreiblich erregt, seine Stimme zitterte.

„Sinaïda Afanassjewna, Sie sind mir doch nicht böse?“ fragte er mit zaghafter und flehender Miene.

„Ihnen böse? Weshalb denn?“ fragte Sina, die leicht errötete und ihre wundervollen Augen zu ihm erhob.

„Weil ich früher als verabredet hergekommen bin! Sinaïda Afanassjewna, ich hielt es nicht aus, ich konnte nicht noch ganze zwei Wochen warten ... Sie sind mir sogar im Traume erschienen. Ich bin hergeeilt, um meinen Schicksalsspruch zu erfahren ... Doch Sie ziehen die Brauen zusammen, Sie ärgern sich! Werde ich denn wirklich auch jetzt nichts Positives erfahren?“

Sina hatte tatsächlich die Stirn gerunzelt.

„Ich habe es nicht anders erwartet, als daß Sie wieder darauf zurückkommen würden,“ antwortete sie, nachdem sie den Blick gesenkt hatte, mit fester und strenger Stimme, die deutlich ihren Ärger verriet. „Und da mir diese Erwartung sehr unangenehm war, so ist es – je schneller abgetan, um so besser. Sie verlangen oder bitten wieder um eine Antwort. Wie Sie wünschen, ich kann sie Ihnen noch einmal wiederholen, denn meine Antwort ist dieselbe: warten Sie. Ich sage es Ihnen nochmals – ich habe mich noch nicht entschlossen und kann Ihnen daher auch nicht das Versprechen geben, Ihre Frau zu werden. Ein solches Versprechen soll man nicht zu erzwingen versuchen, Pawel Alexandrowitsch. Doch um Sie zu beruhigen, füge ich hinzu, daß ich Ihnen noch nicht endgültig absage. Und merken Sie sich noch eines: wenn ich Ihnen jetzt noch eine Hoffnung lasse, so tue ich es einzig aus dem Grunde, weil ich mit Ihrer Ungeduld und Unruhe Nachsicht habe. Ich wiederhole es: ich will vollkommen frei sein und wenn ich Ihnen schließlich sagen sollte, daß ich nicht will, so dürfen Sie mich nicht beschuldigen, mir nicht vorwerfen, daß ich Ihnen falsche Hoffnungen gemacht habe. So, das ist alles!“

„Aber ... aber was ist denn das!“ rief Mosgljäkoff mit kläglicher Stimme aus. „Ist denn das eine Hoffnung! Kann ich denn auch nur auf die geringste Hoffnung aus Ihren Worten schließen, Sinaïda Afanassjewna?“

„Denken Sie an alles, was ich Ihnen gesagt habe, und dann schließen Sie daraus, auf was Sie wollen. Das steht Ihnen frei. Ich aber kann nichts mehr hinzufügen. Ich sage Ihnen noch nicht ganz ab, sondern sage nur: warten Sie. Nur eines, bitte nicht zu vergessen: daß ich die volle Freiheit habe, Ihnen endgültig abzusagen, sobald ich will. Und dann noch eines, Pawel Alexandrowitsch: wenn Sie vor dem für die Antwort verabredeten Termin gekommen sind, um auf Umwegen etwas zu erreichen, in der Hoffnung, vielleicht auf Befürwortung von anderer Seite, nehmen wir an, zum Beispiel, den Einfluß meiner Mutter, so haben Sie sich in Ihrer Berechnung sehr getäuscht. Dann werde ich Ihnen rund absagen, hören Sie? Doch jetzt – genug davon, und, bitte, erinnern Sie mich bis dahin mit keinem Wort mehr daran.“

Diese ganze Rede war trocken, sehr bestimmt und ohne die geringsten Stockungen gesprochen, als hätte sie sie früher schon auswendig gelernt. Monsieur Paul fühlte, daß er mit einer langen Nase abzog. In dem Augenblick kehrte Marja Alexandrowna zurück. Ihr folgte fast auf dem Fuße Frau Sjäblowa.

„Er wird, glaube ich, sogleich erscheinen, Sina! Nastassja Petrowna, bereiten Sie schnell neuen Tee!“ – Die Dame schien nicht wenig erregt zu sein.

„Anna Nikolajewna hat sich erkundigen lassen. Ihre Zofe Anjutka ist in unsere Küche gekommen, um auszuforschen. Die wird sich jetzt ärgern!“ rief Nastassja Petrowna Sjäblowa aus und eilte zu ihrem Ssamowar.

„Was geht das mich an!“ fragte Marja Alexandrowna über die Schulter. „Als ob ich mich dafür interessiere, was Ihre Anna Nikolajewna denkt! Sie können mir glauben, daß ich meine Zofe nicht in ihre Küche schicken werde. Und es wundert mich, es wundert mich aufrichtig, weshalb Sie mich immer für eine Feindin dieser armen Anna Nikolajewna halten, und nicht nur Sie allein, sondern die ganze Stadt. Ich verlasse mich auf Sie, Pawel Alexandrowitsch! Sie kennen uns beide, – sagen Sie doch selbst, weshalb sollte ich ihre Feindin sein? Wegen des Vorranges? Dieser Vorrang läßt mich gleichgültig. Mag sie doch, mag sie doch die Erste sein! Ich werde als erste zu ihr hinfahren, um sie zu beglückwünschen. Und schließlich, – das ist doch alles ungerecht. Ich nehme sie stets in Schutz, es ist meine Pflicht, sie zu verteidigen! Sie wird von allen verleumdet. Aber weshalb fallen denn alle so über sie her? Sie ist jung und putzt sich gern, – deswegen vielleicht? Meiner Meinung nach ist es aber doch besser, Putz zu lieben, als etwas anderes, wie zum Beispiel Natalja Dmitrijewna, die ... so etwas liebt, daß man es nicht einmal aussprechen darf. Oder deshalb, weil Anna Nikolajewna ewig zu Besuch fährt und nie zu Hause sitzen kann? Aber, mein Gott! Sie hat ja doch überhaupt keine Erziehung, keine Bildung genossen, und daher fällt es ihr natürlich schwer, ein Buch aufzuschlagen und sich zwei Minuten nacheinander mit ein und demselben zu beschäftigen. Sie kokettiert und liebäugelt mit jedem, der an ihrem Hause vorübergeht. Aber weshalb versichert man ihr denn ewig, daß sie hübsch sei, wenn sie nur ein weißes Gesicht hat und nichts weiter? Sie erheitert beim Tanz die Zuschauer – schön! Aber weshalb beteuert man ihr denn fortwährend, daß sie so wundervoll tanze? Sie trägt ganz entsetzliche Hüte und noch ärgeren Kopfputz, – aber was kann sie denn dafür, daß Gott ihr keinen Geschmack verliehen hat, sondern statt dessen nur so viel Leichtgläubigkeit? Sagen Sie ihr, daß es gut sei, ein Konfektpapier ins Haar zu stecken – und sie wird es tun. Sie ist eine Klatschbase, – aber das ist doch hier nichts Außergewöhnliches: wer klatscht hier nicht? Ssuschiloff mit seinem schönen Bart fährt morgens und abends zu ihr und womöglich auch noch in der Nacht. Ach, mein Gott! wenn der Mann noch bis fünf Uhr morgens am Kartentisch sitzt! Und zudem gibt es hier so viel schlechte Beispiele! Und schließlich ist das alles vielleicht nur Verleumdung. Wie gesagt, ich werde sie immer, immer in Schutz nehmen! ... Aber, mein Gott! ... Da ist ja der Fürst! Das ist er, er! Jetzt würde ich ihn unter Tausenden erkannt haben! Endlich sehe ich Sie wieder, mon prince!“ rief Marja Alexandrowna aus und eilte dem eintretenden Fürsten entgegen.

IV.

Auf den ersten flüchtigen Blick werden Sie diesen Fürsten durchaus nicht für einen alten Mann, geschweige denn für einen Greis halten. Erst nach näherem und aufmerksamerem Beobachten werden Sie sehen, daß er gewissermaßen eine auf Federn gespannte Leiche ist. Alle Künste sind angewandt, um diese Mumie als Jüngling zu verkleiden. Die erstaunlich naturgetreue Perücke, der Backenbart, der Schnurrbart und die Fliege glänzen im schönsten Schwarz und bedecken die Hälfte des Gesichts. Das übrige Gesicht ist überaus kunstvoll gepudert und hat so gut wie überhaupt keine Runzeln. Wo sind sie geblieben? – Das vermag niemand zu erklären. Gekleidet ist er nach neuester Mode, als wäre er aus einem Modejournal ausgeschnitten: Er hat eine Art Jackett an oder etwas Ähnliches, bei Gott, ich weiß nicht, was es eigentlich ist, jedenfalls etwas höchst Modernes und Neues, das ausschließlich für Morgenvisiten geschaffen ist. Handschuhe, Binde, Weste, Wäsche – alles ist von blendender Frische und zeugt von gutem Geschmack. Der Fürst hinkt ein wenig, tut es aber so geschickt, als wäre auch das Hinken von der Mode vorgeschrieben. In dem einen Auge trägt er ein Monokel, und zwar in demselben, das ohnehin schon gläsern ist. Ihn umgibt eine Wolke von Wohlgeruch. Wenn er spricht, zieht er manche Worte ganz besonders in die Länge, – vielleicht tut er es aus greisenhafter Schwäche, vielleicht deshalb, weil alle seine Zähne falsch sind, vielleicht jedoch auch um des größeren Eindrucks willen. Einige Silben spricht er ganz ungewöhnlich süß aus, den Vokal a fast wie e. Das Wort „Ja“ zum Beispiel, klingt bei ihm wie „Je“, nur noch etwas süßlicher, wenn möglich. In seinem ganzen Auftreten ist eine gewisse Nachlässigkeit, in der er sich im Laufe seines langjährigen Lebemannslebens fleißig geübt hat. Übrigens, wenn sich auch noch etwas von diesem früheren galanten Leben in oder an ihm erhalten hat, so ist das von ihm aus gewissermaßen unbewußt geschehen, wie etwa eine alte, unklare Erinnerung, eine längst durchlebte Vergangenheit, die – leider! – alle Kosmetik, alle Korsetts, Parfums und Perücken nicht wieder auferstehen machen können. Und deshalb tun wir besser, wenn wir vorausschicken, daß der alte Herr zwar nicht gerade seinen Verstand, jedenfalls aber sein Gedächtnis schon vor langer Zeit verloren hat, oft sogar vergißt, was er vor einer Minute gesprochen, sich beständig versieht, viel zusammenlügt und aufschneidet. Es gehört sogar eine gewisse Übung dazu, um mit ihm ein Gespräch führen zu können. Marja Alexandrowna aber verläßt sich auf sich und so gerät sie beim Erscheinen des Fürsten in unbeschreibliche Begeisterung.

„Aber Sie haben sich ja nicht im geringsten, nicht im geringsten verändert!“ ruft sie aus, ergreift beide Hände des Gastes und führt ihn zu einem bequemen Ruhestuhl. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich, Fürst. Sechs Jahre, ganze sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen, und keinen Brief, keine Zeile haben wir in dieser ganzen Zeit von Ihnen erhalten! O, Sie haben mir großes Unrecht getan, Fürst! Und wie böse ich Ihnen gewesen bin, mon cher prince! Aber, – Tee, Tee! Ach, mein Gott! Nastassja Petrowna, Tee!“

„Ich danke, i–ich danke, meine Schuld!“ lispelt der Fürst (wir haben zu erwähnen vergessen, daß er auch ein wenig lispelt, aber auch dieses tut er, als wäre es von der Mode vorgeschrieben). „Mei–ne Schuld! und den–ken Sie sich, noch im vergan–genen Jahr wollte ich Sie un–be–dingt be–suchen,“ fährt er langsam, sich im Zimmer umsehend, fort. „Doch man riet mir ab: hier soll die Cho–lera geherrscht haben ...“

„Nein, Fürst, bei uns hat nie die Cholera geherrscht,“ sagt Marja Alexandrowna.

„Eine Viehseuche herrschte hier, Onkelchen!“ mischt sich Mosgljäkoff ein, da er sich bemerkbar zu machen wünscht. Marja Alexandrowna mißt ihn mit einem strengen Blick.

„Nun ja, eine Vieh–seuche oder etwas Der–artiges ... Und so unterblieb es. Und was macht Ihr Herr Gemahl, meine liebe Anna Nikolajewna? Immer noch in seinem Amt als Staats–an–walt?“

„N–nein, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna stockend. „Mein Mann ist nicht Staatsanwalt ...“

„Ich wette, daß Onkelchen sich täuscht und Sie für Anna Nikolajewna Antipowa hält!“ rief der scharfsinnige Mosgljäkoff aus, verstummte aber sogleich, denn Marja Alexandrowna ist ohnehin zum Götzenbild geworden.

„Nun ja, An–na Nikola–jewna, und ... und ... es entfällt mir immer! – nun ja, Antipowna, wie gesagt, Antipowna,“ bestätigt der Fürst.

„N–nein, Fürst, Sie haben sich sehr geirrt,“ sagt Marja Alexandrowna mit bitterem Lächeln. „Ich bin nicht Anna Nikolajewna, und daß ich es nur gestehe – ich habe es wirklich nicht erwartet, von Ihnen nicht erkannt zu werden. Sie haben mich in Erstaunen gesetzt, Fürst. Ich bin Ihre einstige Freundin, bin Marja Alexandrowna Moskalewa. Entsinnen Sie sich ihrer noch? ...“

„Marja A–lexan–drowna! Denken Sie sich! Und ich war ge–rade der Mei–nung, daß Sie eben – wie hieß sie doch? – nun ja! eben Anna Wassil–jewna seien ... C’est délicieux! Al–so, ich bin nicht dorthin gefahren. Ich aber meinte, mein Lieber, daß du mich gerade zu dieser Anna Mat–wejewna brächtest. C’est charmant! Anbei ... das kommt nicht selten bei mir vor ... Ich fahre oftmals nicht dahin, wohin ich will. Überhaupt ... bin ich zufrieden, im–mer zufrieden, was auch geschehen möge. Dann sind Sie al–so nicht Na–stassja Wassiljewna? Das ist in–teressant ...“

„Ich bin Marja Alexandrowna, Fürst, Marja Alexandrowna. O wieviel ich Ihnen jetzt verzeihen muß! Wie kann man nur seine besten, seine besten Freunde vergessen!“

„Nun ja, bes–ten Freunde ... pardon, pardon!“ lispelt der Fürst und mustert Sina.

„Das ist meine Tochter Sina. Sie kennen Sie noch nicht, Fürst. Sie war damals nicht hier, als Sie uns besuchten, wissen Sie noch, vor sechs Jahren?“

„Das ist Ihre Tochter! Charmante! charmante!“ brummt der Fürst und mustert gierig das junge Mädchen. „Mais quelle beauté!“ flüstert er, sichtlich überrascht, erstaunt.

„Bitte, bedienen Sie sich, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna und lenkt die Aufmerksamkeit des Fürsten auf den kleinen Kosakenknaben, der mit dem Präsentierteller vor ihm steht. Der Fürst nimmt eine Tasse und betrachtet den Knaben, der hübsche rosa Bäckchen hat.

„A–a–a, das ist Ihr Sohn?“ fragt er. „Was für ein net–ter Knabe! U–u–nd sicherlich ... führt er sich gut auf?“

„Ach, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna eilig, „ich habe ja von einem so entsetzlichen Unglück gehört! Glauben Sie mir, ich war außer mir vor Schreck ... Haben Sie nicht Schaden genommen? Sehen Sie sich vor! So etwas darf man nicht vernachlässigen.“

„In den Graben! In den Graben! In den Graben hat mich der Kutscher geworfen!“ ruft der Fürst in ungewöhnlicher Erregung aus. „Ich glaubte, es käme das Ende der Welt oder etwas Derartiges, und ich erschrak dermaßen, sage ich Ihnen, daß – vergieb mir, Herr! ... Der Himmel erschien mir so klein ... nicht größer als ein Schaffell! Das hatte ich nicht erwartet, nicht erwartet! Durch–aus nicht erwartet! Und schuld daran ist ganz allein mein Kutscher Fe–o–fil. Ich habe mich in allem auf dich verlassen, mein Lieber: sorge du dafür und untersuche die Angelegenheit gründ–lich. Ich bin ü–ber–zeugt, daß er es auf mein Leben abgesehen hatte.“

„Gut, gut, Onkelchen,“ antwortet Pawel Alexandrowitsch, „werde alles untersuchen. Nur hören Sie mal, Onkelchen, können Sie ihm nicht zur Feier des heutigen Tages verzeihen, was meinen Sie?“

„Unter kei–ner Be–dingung werde ich ihm verzeihen! Ich bin ü–ber–zeugt, daß es von ihm ein Anschlag auf mein Leben war! Von ihm und auch von Lawrentij, den ich zu Haus gelassen hatte. Denken Sie sich: er hat, wis–sen – Sie, einige neue Ideen auf–ge–schnappt! Es hat sich in ihm eine ge–wis–se Verneinung heraus–gebildet ... Wie gesagt: ein Kommunist im wah–ren Sinn des Wortes. Ich habe sogar Angst, ihm auch nur zu begegnen!“

„Ach, was für ein wahres Wort Sie ausgesprochen haben, Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna aus. „Sie werden es mir nicht glauben, wie sehr ich selbst unter diesen untauglichen Menschen zu leiden habe! Stellen Sie sich vor, ich habe zwei meiner Leute gewechselt, aber sie sind so dumm, daß ich wirklich vom Morgen bis zum Abend meine liebe Not mit ihnen habe. Sie können es sich nicht denken, wie dumm sie sind, Fürst!“

„Nun ja, nun ja. Aber ... was ich sagen wollte ... ich habe es sogar ganz gern, wenn der Die–ner zum Teil dumm ist,“ bemerkt der Fürst, der wie alle alten Leute froh ist, wenn man seinem Geschwätz ehrerbietig zuhört. „Es paßt gewissermaßen zum Lakei – und es macht seine Wür–de aus, wenn er treuherzig und dumm ist. Al–lerdings nur in manchen Fällen. Es verleiht ihm mehr Statt–lichkeit, eine gewisse Fei–erlichkeit kommt in sein Gesicht, wie gesagt, es verleiht ihm eine gewisse Wohlerzogenheit, ich aber verlange von einem Menschen vor allen Dingen Wohl–erzogenheit. Da habe ich meinen Terentij. Du erinnerst dich doch noch Terentijs, mein Lieber. Nach meinem ersten Blick auf ihn bestimmte ich ihn von vornherein zum Portier. Du sollst mein Portier sein, sagte ich. Phä–no–menal dumm! Schaut drein, wie ein Schaf im Wasser! Aber welch eine Erscheinung, welche Feierlichkeit! Sein Doppelkinn so frisch und rosig! Nun, und in der weißen Binde, und über–haupt so in vol–ler Gala macht er einen vor–züg–lichen Eindruck. Ich habe ihn von Herzen lieb gewonnen. Es kommt vor, daß ich ihn ansehe und schließlich alles darüber vergesse: entschieden, als wenn er eine Dis–ser–tation schriebe, – so wichtig sieht er aus! Wie gesagt, genau so wie der deutsche Philosoph Kant, oder richtiger wie ein gepeppelter, fetter Truthahn. Vollkommenes Comme-il-faut eines bedienenden Menschen! ...“

Marja Alexandrowna lacht von ganzem Herzen und klatscht sogar leise Beifall. Pawel Alexandrowitsch sekundiert ihr bereitwillig: ihn interessiert der Onkel außerordentlich. Auch Nastassja Petrowna Sjäblowa lacht. Und sogar Sina lächelt.

„Aber wieviel Humor, wieviel Heiterkeit, wieviel Esprit Sie haben, Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna aus. „Welch eine seltene Gabe, jeden noch so kleinen Zug wahrzunehmen! Und so plötzlich aus der Gesellschaft zu verschwinden, sich auf ganze fünf Jahre in seinen vier Wänden einzuschließen! Bei solchem Talent! Aber Sie könnten ja sogar schriftstellern, Fürst! Sie könnten Vonwiesen, Gribojedoff, Gogol wiederholen! ...“

„Nun ja, nun ja!“ sagte der Fürst, äußerst angenehm berührt. „Ich könnte wieder–ho–len ... und, wissen Sie, ich war früher un–ge–mein geistreich. Ich habe sogar für die Bühne ein Vau–de–ville geschrieben. Und es kamen darin auch einige ex–qui–site Couplets vor! Wie gesagt, es ist aber nie gespielt worden ...“

„Ach, wie reizend wäre es doch, wenn man Ihr Vaudeville lesen könnte! Und, weißt du, Sina, gerade jetzt käme es uns so zustatten! Man plant hier nämlich eine Liebhaberaufführung – zu einem patriotischen Zweck, Fürst, zum Besten der Verwundeten ... und da nun Ihr Vaudeville!“

„Gewiß! Ich bin so–gar bereit, es nochmals zu schreiben ... nur, wie gesagt, habe ich es voll–kommen vergessen. Ich weiß nur noch, es waren da zwei oder drei solche Bonmots, daß ...“ (der Fürst küßt graziös seine Fingerspitzen). „Und überhaupt, als ich im Aus–lande war, machte ich tat–säch–lich Fu–rore. Entsinne mich noch Lord Byrons. Wir standen auf freund–schaft–lichem Fuß. Auf dem Wiener Kongreß tanzte er be–zau–bernd den Krakowjak.“

„Lord Byron! Aber, Onkelchen, was sagen Sie!“

„Nun ja, Lord Byron. Übrigens, wie gesagt, vielleicht war es auch nicht Lord Byron, sondern irgend ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord Byron, ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord Byron, sondern ein Po–le. Jetzt, jetzt besin–ne ich mich vollkommen. Das war ein äußerst origi–neller Pole: er gab sich für einen Grafen aus, später aber stellte es sich heraus, daß er nur so etwas wie ein Koch war. Nur tanzte er ent–zück–end den Krakowjak und zu gu–ter Letzt brach er sich das Bein. Ich machte da–mals noch ein Gedicht auf ihn:

Unser wun–der–voller Po–le

Tanzt den Krakowjak auf einer Soh–le ...

Und dann ... und dann ... das habe ich nun lei–der vergessen ... wie es weiter ging ...

Doch als er sich brach das Bein,

Da stellte er das Tanzen ein ...“

„Sicherlich wird es so gewesen sein, Onkelchen!“ ruft Mosgljäkoff aus, dessen Stimmung immer heiterer wird.

„Es scheint mir auch, daß es so war,“ antwortet Onkelchen, „oder in der Art we–nigstens. Wie gesagt, vielleicht war es auch anders, nur war es ein sehr ge–lun–genes Gedicht ... Überhaupt ... ich habe jetzt einige Er–leb–nisse vergessen. Das kommt bei mir von der Beschäftigung ...“

„Aber sagen Sie doch, Fürst, womit haben Sie sich denn während dieser ganzen Zeit in Ihrer Einsamkeit beschäftigt?“ erkundigt sich Marja Alexandrowna interessiert. „Ich habe so oft an Sie gedacht, mon cher prince, daß ich diesmal geradezu brenne vor Ungeduld, Näheres darüber zu erfahren ...“

„Womit ich mich be–schäftigt habe? Nun, überhaupt, wissen Sie, verschiedenes. Wenn man ... sich zum Beispiel erholt. Zuweilen aber, wissen Sie, gehe ich und bilde mir verschiedenes ein ...“

„Sie haben wohl eine sehr große Einbildungskraft, Onkelchen?“

„Eine sehr große, mein Lieber. Zuweilen bilde ich mir so etwas ein, daß ich mich später über mich selbst wun–dere. Als ich in Kadujeff war ... A propos! Du warst doch, glaube ich, der Vi–ze-Gou–ver–neur von Kadujeff?“

„Ich, Onkelchen? aber nein! was Ihnen einfällt!“ ruft Pawel Alexandrowitsch aus.

„Denk dir, mein Lieber! Und ich hielt dich die ganze Zeit für den Vi–ze-Gou–verneur, und denke noch: wie kommt es nur, daß er jetzt ein ganz an–deres Ge–sicht hat? ... Jener, weißt du, hatte ein so wür–de–volles, klu–ges Gesicht. Ein un–ge–wöhnlich kluger Mensch war er und fortwährend schrieb er Gedichte, bei verschiedenen Ge–le–genheiten. Ein wenig, so im Profil, erinnerte er an den Pique-König ...“

„Nein, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna, „ich schwöre es Ihnen, mit einem solchen Leben richten Sie sich nur zugrunde! Sich auf ganze fünf Jahre einzuschließen, nichts zu sehen, nichts zu hören! Sie sind ein verlorener Mensch, Fürst! Fragen Sie, wen Sie wollen, von denen, die Ihnen wirklich zugetan sind – und ein jeder wird Ihnen sagen, daß Sie ein verlorener Mensch sind!“

„Ist’s mög–lich?“ ruft der Fürst erstaunt aus.

„Ich versichere Sie! Ich rede wie ein Freund zu Ihnen, wie Ihre Schwester! Ich sage es Ihnen nur deshalb, weil Sie mir teuer sind, weil die Erinnerung an das Vergangene mir heilig ist! Und was hätte ich für einen Vorteil davon, wenn ich Ihnen schmeicheln wollte? Nein, Sie müssen Ihr Leben von Grund aus verändern, – anderenfalls werden Sie erkranken, sich überanstrengen, werden Sie sterben ...“

„O Gott! Werde ich wirklich so bald sterben?“ fragt erschrocken der Fürst. „Und denken Sie sich, Sie haben es erraten: mich quälen ent–setz–lich meine Hä–morrhoiden, na–ment–lich seit einiger Zeit ... Und wenn ich diese Zufälle habe, so gibt es bei der Gelegenheit er–staun–liche Symptome – ich werde sie Ihnen ausführlich beschreiben ... Erstens ...“

„Onkelchen, das werden Sie ein nächstes Mal erzählen,“ unterbricht ihn Pawel Alexandrowitsch, „jetzt aber ... ist es nicht Zeit, zu fahren?“

„Nun ja! Dann al–so ein an–deres Mal. Das ist vielleicht auch nicht so in–ter–es–sant. Ich habe es mir jetzt überlegt ... Aber es ist doch im–mer–hin eine sehr interes–sante Krankheit. Es gibt ver–schie–dene E–pi–soden ... Erinnere mich daran, mein Lieber, ich werde dir am Abend einen Fall aus–führ–lich erzählen ...“

„Aber hören Sie, Fürst, Sie müßten es versuchen, sich im Auslande davon zu heilen,“ unterbricht ihn noch einmal Marja Alexandrowna.

„Im Aus–lande? Nun ja, nun ja! Ich werde un–be–dingt ins Aus–land fahren. Ich entsinne mich, als ich in den zwan–ziger Jahren im Auslande war, da war es dort un–ge–mein lustig. Ich hätte fast geheiratet, une Vicomtesse, eine Fran–zö–sin. Ich war damals sehr ver–liebt und wollte ihr mein ganzes Leben weihen. Aber, wie gesagt, nicht ich hei–ra–te–te sie, sondern ein an–derer. Und welch ein selt–samer Zufall: ich war nur auf zwei Stunden fort–ge–gangen und da siegte der an–dere, ein deutscher Freiherr. Er saß dann noch später eine Zeitlang in einer Irrenanstalt.“

„Aber, cher prince, ich habe einzig deshalb davon gesprochen, weil Sie im Ernst an Ihre Gesundheit denken müssen. Im Auslande gibt es so gute Ärzte ... und außerdem, was nicht eine bloße Lebensveränderung auf sich hat! Sie müssen entschieden Ihr Duchanowo verlassen, wenigstens für einige Zeit!“

„Un–be–dingt! Ich habe mich schon vor langer Zeit entschlossen, und wissen Sie, ich beabsichtige, mich hy–dropa–thisch behandeln zu lassen.“

„Hydropathisch?“

„Hydropathisch. Ich habe mich einmal hy–dro–pa–thisch behandeln lassen. Ich war damals in einem Kurort. Dort war auch eine Dame aus Moskau, ich habe ihren Namen vergessen, nur war sie eine sehr poetische Dame, sie wird sieb–zig Jahre alt gewesen sein. Und bei ihr befand sich auch ihre Tochter, die war fünfzig Jahre alt, eine Witwe, und auf dem einen Auge hatte sie den Star. Die sprach gleichfalls fast nur in Ver–sen. Später hat–te sie noch ein Miß–geschick: sie hatte ihre leibeigene Magd erschlagen und war dafür vor Ge–richt gekommen. Und da fiel es ihnen ein, mich mit Wasser zu ku–rie–ren. Mir fehlte, wie gesagt, nichts. Nun ja, sie aber bestanden darauf: ‚Tun Sie es und tun Sie es!‘ Bis ich, aus Höf–lich–keit, denn auch rich–tig Wasser zu trinken begann; denke: vielleicht wird dir davon auch wirk–lich leichter werden. Ich trank und trank, trank und trank, trank einen ganzen Was–ser–fall aus, und, wissen Sie, diese Hy–dro–pathie ist eine gute Sache und hat mir viel Nutzen gebracht, so daß ich, wenn ich nicht zu guter Letzt erkrankt wäre, jetzt, Ehrenwort, vollkommen gesund sein würde ...“

„Das ist doch mal eine vollkommen richtige Folgerung, Onkelchen! Sagen Sie, Onkelchen, haben Sie jemals Logik getrieben?“

„Mein Gott! Was für Fragen Sie stellen!“ bemerkt streng die pikierte Marja Alexandrowna.

„Ich habe, ich habe Logik getrieben, mein Lieber, nur ist es sehr lange her. Ich habe auch Phi–lo–sophie gelernt in Deutsch–land, habe einen ganzen Kursus durch–gemacht, nur habe ich gleich damals alles wieder ver–gessen. Aber ... wie gesagt ... Sie haben mich mit diesen Krankheiten der–ma–ßen erschreckt, daß ich ganz er–schüttert bin. Wie gesagt, ich werde sogleich wiederkommen ...“

„Aber wohin gehen Sie denn, Fürst?“ ruft die verwunderte Marja Alexandrowna aus.

„Ich werde sogleich, sogleich ... Ich will nur einen neuen Gedanken nie–der–schreiben ... au revoir ...“

„Na! Wie gefällt er Ihnen!“ fragt Pawel Alexandrowitsch und biegt sich vor Lachen.

Marja Alexandrowna verliert endlich die Geduld.

„Ich verstehe nicht, ich verstehe absolut nicht, worüber Sie lachen!“ beginnt sie mit Eifer. „Über einen alten, ehrwürdigen Herrn, einen Verwandten, zu lachen, über jedes seiner Worte Ihren Spott zu ergießen, und nur wegen seiner Engelsgüte! Ich bin für Sie errötet, Pawel Alexandrowitsch! Aber so sagen Sie doch, was denn Ihrer Meinung nach so lächerlich an ihm ist? Ich kann wirklich nichts Lächerliches an ihm finden!“

„Aber – daß er keinen Menschen erkennt, daß er den größten Unsinn zusammenschwatzt? ...“

„Das ist doch nur eine Folge seines entsetzlichen Lebens, seines fünfjährigen Gefängnislebens unter der Aufsicht dieses höllischen Weibes! Man muß ihn bemitleiden, aber nicht verspotten! Er hat sogar mich nicht erkannt; Sie waren ja selbst Zeuge! Das ist doch sicherlich, wie man sagt, himmelschreiend! Man muß ihn unbedingt retten! Ich berede ihn nur aus dem Grunde zu einer Reise ins Ausland, weil ich hoffe, daß er dann diese – dieses Marktweib verlassen wird!“

„Wissen Sie was! Man muß ihn verheiraten, Marja Alexandrowna!“ ruft Pawel Alexandrowitsch aus.

„Schon wieder! Aber Sie sind ja unerträglich, Monsieur Mosgljäkoff!“

„Nein, Marja Alexandrowna, nein! Diesmal rede ich ganz im Ernst! Warum soll man ihn denn nicht verheiraten? Das ist doch eine Idee! C’est une idée comme une autre! Was kann ihm das schaden, sagen Sie doch, bitte! Er ist, im Gegenteil, in einer solchen Lage, daß dieses Mittel ihn retten könnte! Nach dem Gesetz kann er doch noch heiraten. Und erstens wird er dann von diesem abgefeimten Weibsbild – verzeihen Sie den Ausdruck – befreit sein. Zweitens – und das ist die Hauptsache – nehmen wir an, daß er ein Mädchen erwählt, oder noch besser, eine Witwe, eine nette, gute, kluge, zärtliche und vor allen Dingen arme Witwe, die ihn wie eine Tochter pflegt, und die auch begreift, wie viel sie ihm dafür Dank schuldig ist, daß er sie zu seiner Frau gemacht hat. Was aber kann man ihm mehr wünschen, als ein ihm nahestehendes, herzliches und edles Wesen, das beständig bei ihm ist, anstelle dieses ... Weibes? Versteht sich, sie darf nicht häßlich sein, denn Onkelchen liebt noch immer die Netten. Haben Sie bemerkt, wie er Sinaïda Afanassjewna fixiert hat?“

„Wo aber werden Sie denn für ihn eine solche Braut finden?“ fragte Nastassja Petrowna Sjäblowa, die aufmerksam zuhört.

„Wer da fragt, der ist es! Warum schließlich nicht Sie, wenn Sie nur wollen! Erlauben Sie: weshalb sollten Sie zum Fürsten nicht passen? Erstens – Sie sehen nett aus, zweitens – Sie sind eine Witwe, drittens – adlig, viertens – arm (denn Sie sind ja tatsächlich nicht reich), fünftens – Sie sind eine sehr vernünftige Dame, folglich werden Sie ihn lieben, auf den Händen tragen, jene andere, die jetzt dort Herrin ist, mit Püffen zur Tür hinausjagen; Sie werden ihn ins Ausland bringen, werden ihn mit Brei und Konfekt füttern, und alles das bis zu der Minute, in der er das Irdische segnet, was vielleicht nach einem Jahre geschehen wird, vielleicht aber auch schon nach zweieinhalb Monaten. Dann sind Sie Fürstin, Witwe, reich, und zur Belohnung heiraten Sie einen Marquis oder einen Generalintendanten! C’est joli, n’est-ce pas?

„O du mein Himmel! Ich würde mich ja, glaube ich, aus lauter Dankbarkeit in ihn verlieben, wenn er mir nur einen Heiratsantrag machen würde!“ ruft Frau Sjäblowa aus, und ihre dunklen ausdrucksvollen Augen blitzen auf. „Nur ist das alles – Scherz!“

„Scherz? Soll es kein Scherz sein? Bitten Sie mich mal recht nett, und dann schneiden Sie mir einen Finger ab, wenn Sie nicht heute noch verlobt sind! Es ist ja überhaupt nichts leichter, als Onkelchen zu irgend etwas zu bereden! Er sagt zu allem ‚nun ja, nun ja!‘ Sie haben es doch selbst gehört. Wir verheiraten ihn so, daß er selbst nichts davon merkt. Wir können ihn ja offen betrügen, denn es geschieht doch nur zu seinem Wohl, ich bitte Sie! ... Wenn Sie sich wenigstens auf alle Fälle etwas aufputzen wollten, Nastassja Petrowna!“

Die Begeisterung Mosgljäkoffs wird zur Leidenschaft. Und wie vernünftig Frau Sjäblowa auch sein mag – ihr wässert dennoch der Mund.

„Ach, ich weiß es auch ohne Ihren Hinweis, daß ich heute ganz unmöglich angekleidet bin,“ antwortet sie. „Ich habe mich ganz vernachlässigt und schon lange jede Hoffnung aufgegeben ... Sehe ich denn heute nicht wirklich wie – eine – Köchin aus?“

Während dieses ganzen Gesprächs saß Marja Alexandrowna mit eigentümlich starrer Miene unbeweglich auf ihrem Stuhl. Ich täusche mich nicht, wenn ich sage, daß sie den sonderbaren Vorschlag Pawel Alexandrowitschs mit einem gewissen Schreck vernahm und im Augenblick geradezu erstarrte ... Endlich besann sie sich.

„Alles das ist ja, sagen wir, wunderschön, aber es bleibt doch ein Scherz und eine Ungereimtheit, und vor allem ist es hier durchaus unschicklich,“ unterbricht sie Mosgljäkoff scharf.

„Aber weshalb denn, gütigste Marja Alexandrowna, weshalb soll es denn eine Ungeschicklichkeit und unschicklich sein?“

„Aus sehr vielen Gründen, vor allem aber deshalb, weil Sie in meinem Hause sind und der Fürst mein Gast ist, und weil ich niemandem erlauben werde, die meinem Hause schuldige Achtung zu vergessen. Ich fasse Ihre Worte nur als Scherz auf, Pawel Alexandrowitsch. Aber Gott sei Dank! Da ist ja der Fürst!“

„Da bin auch ich wieder!“ ruft der Fürst aus, ins Zimmer eintretend. „Es ist er–staunlich, cher ami, wie viel neue Gedan–ken ich heute habe. Zu–wei–len aber, vielleicht wirst du es nicht für möglich halten, zuwei–len habe ich sie so gut wie über–haupt nicht. Und so sitze ich oft einen ganzen Tag.“

„Das kommt wahrscheinlich von dem heutigen Fall im Wagen, Onkelchen. Das hat Ihre Nerven erschüttert und nun ...“

„Mein Lieber, ich schreibe es auch selbst diesem Um–stande zu, und finde den Fall sogar nütz–lich. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, meinem Fe–o–fil zu verzeihen. Weißt du, es scheint mir, daß er es nicht auf mein Leben abgesehen hatte. Was meinst du dazu? Zudem ist er sowieso vor kurzem bestraft worden, als ihm der Bart ab–genom–men wurde.“

„Sein Bart abgenommen, Onkelchen? Aber er hat doch einen Bart von der Größe des Königreichs Preußen!“

„Nun ja, von der Größe des Königreichs Preußen. Wie gesagt, mein Lieber, du hast voll–kom–men recht in deiner An–nahme. Nur ist es ein künst–licher Bart. Und denken Sie sich, welch ein Zu–fall: plötzlich schickt man mir einen Preis-Kurant zu. Man hat eine neue Sendung Bär–te aus dem Aus–lande erhalten, vor–züg–liche Kutscher- und Herren–bär–te, sowie Backenbärte, Schnurrbärte, Mouches usw., und alle von vor–züglicher Arbeit und zu er–mäßigten Prei–sen. Wart, denke ich, ich werde doch einen Ba–art verschreiben, um doch ein–mal zu sehen, wie ein falscher aussieht. Und ich bestellte einen Kut–scherbart, denn so ein Bart macht doch stattlicher. Aber da zeigte es sich, daß Fe–o–fil einen natürlichen Ba–art hat, der fast zweimal so groß ist. Wie gesagt, was tun: soll man den echten abnehmen lassen oder den geschickten zurücksenden und den natürlichen tragen? Ich dachte und dachte, und beschloß, ihn doch den künstlichen tragen zu lassen.“

„Wahrscheinlich deshalb, weil die Kunst über der Natur steht, Onkelchen?“

„Gerade deshalb. Und wie er gelit–ten hat, als ihm der Bart abgeschnit–ten wurde! Als hätte er mit seinem Bart seine ganze Karrie–re verloren ... Aber ist es nicht Zeit, daß wir fahren, mein Lieber?“

„Ich bin bereit, Onkelchen.“

„Aber ich hoffe, Fürst, daß Sie nur zum Gouverneur fahren werden!“ ruft Marja Alexandrowna erregt aus. „Sie gehören jetzt mir, mein Fürst, Sie gehören den ganzen Tag mir und meiner Familie. Ich werde Ihnen natürlich nichts über die hiesige Gesellschaft sagen. Vielleicht wollen Sie auch Anna Nikolajewna besuchen, und – wozu Ihnen da die Illusionen nehmen! Außerdem bin ich ja vollkommen überzeugt, daß die Zeit Ihnen die Augen öffnen wird. Vergessen Sie nur nicht, daß ich heute Ihre Hausfrau, Ihre Schwester, Ihre Mutter, Ihre Wärterin bin, und glauben Sie mir, Fürst, ich zittere für Sie! Sie kennen sie nicht, nein, Sie kennen diese Menschen noch nicht, wenigstens vorläufig nicht ...“

„Verlassen Sie sich auf mich, Marja Alexandrowna. Es wird so sein, wie ich es Ihnen versprochen habe,“ sagt Mosgljäkoff.

„Ach, Sie kennt man! Auf Sie sich zu verlassen! Ich erwarte Sie zum Mittag zurück, Fürst. Wir speisen früh. Ich bedauere unsäglich, daß mein Mann auf dem Gute ist! Wie er sich freuen würde, Sie zu sehen! Wenn Sie wüßten, wie er Sie verehrt, wie er Sie liebt!“

„Ihr Mann? Al–so dann haben Sie auch einen Mann?“ fragt der Fürst.

„Ach, mein Gott! Wie vergeßlich Sie sind, Fürst! Sie haben ja alles, alles vergessen, was früher war! Mein Mann Afanassij Matwejitsch – entsinnen Sie sich seiner wirklich nicht? Er ist jetzt auf dem Gut, aber Sie haben ihn früher tausendmal gesehen. Entsinnen Sie sich nicht, Fürst – Afanassij Matwejitschs? ...“

„Afanassij Matwejitsch! Auf dem Gut, denken Sie sich, mais c’est delicieux! Dann haben Sie also auch einen Mann? Was für ein son–der–barer Zufall indes! Das ist ja ganz wie ein bekanntes Vau–de–ville: Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da ... wie war es doch, da habe ich es nun vergessen! Jedenfalls fuhr die Frau irgendwohin, wie gesagt, sehr geistvoll ...“

„‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt die Frau schon aus dem Haus‘, Onkelchen,“ souffliert Mosgljäkoff.

„Nun ja! Nun ja! Ich danke dir, mein Lieber, gerade ‚aus dem Haus‘. Charmant, charmant! So daß es vollkommen einen Vers bildet. Und du verfällst immer auf den richtigen Vers, mein Lieber. Nun ja: ich entsann mich noch ganz genau, daß die Frau irgendwohin fuhr! Charmant, charmant! Wie gesagt, ich habe ein wenig vergessen, wovon die Rede war ... Richtig! Al–so wir fahren jetzt, mein Lieber. Au revoir, madame, adieu ma charmante demoiselle!“ fügt der Fürst hinzu, verbeugt sich vor Sina und küßt seine Fingerspitzen.

„Zum Mittag, zum Mittag, Fürst! Vergessen Sie es nicht, schnell zurückzukehren!“ ruft ihm noch Marja Alexandrowna nach.

V.

Wenn Sie, Nastassja Petrowna, vielleicht etwas in der Küche nach dem Rechten sehen wollten,“ sagt sie, nachdem sie den Fürsten hinausgeleitet hat. „Ich habe eine Vorahnung, daß dieser schändliche Nikitka das Essen unfehlbar verderben wird! Ich bin überzeugt, daß er betrunken ist ...“

Nastassja Petrowna gehorcht. Im Fortgehen wirft sie Marja Alexandrowna einen mißtrauischen Blick zu und bemerkt sogleich, daß diese sich in ungewöhnlicher Erregung befindet. Anstatt nun nach dem schändlichen Nikitka zu sehen, geht Nastassja Petrowna in den Saal, von dort durch einen Korridor in ihr Zimmer und von dort in eine kleine dunkle Kammer, in der einige Koffer stehen, ein paar alte Kleidungsstücke hängen und in Bündeln die schmutzige Wäsche des Hauses aufbewahrt wird. Auf den Fußspitzen schleicht sie zu einer verschlossenen Tür, hält den Atem an, beugt sich nieder, lauert durch das Schlüsselloch und lauscht. Diese Tür ist eine der drei Türen desselben Zimmers, in dem jetzt Sina und deren Mutter allein zurückgeblieben sind.

Marja Alexandrowna hält Nastassja Petrowna zwar für eine durchtriebene, aber doch mehr leichtsinnige Person. Wohl ist ihr bisweilen schon der Gedanke gekommen, daß Nastassja Petrowna sich nicht schämen würde, an den Türen zu lauschen. In diesem Augenblick ist aber Marja Alexandrowna so beschäftigt und aufgeregt, daß sie keine Zeit hat, an Vorsichtsmaßregeln zu denken. Sie setzt sich in ihren weichen Sessel und blickt bedeutsam ihre Tochter an. Sina fühlt diesen Blick und eine bittere Qual steigt in ihrem Herzen auf.

„Sina!“

Sina wendet langsam ihr bleiches Gesicht der Mutter zu und erhebt den Blick ihrer dunklen, verträumten Augen.

„Sina, ich habe die Absicht, mit dir über etwas sehr Ernstes zu reden.“

Sina wendet sich jetzt vollkommen zur Mutter, faltet die Hände, lehnt sich an den Flügel und wartet. In ihrem Gesicht spiegelt sich Ärger und Spott wieder, was sie übrigens zu verbergen sucht.

„Ich will dich fragen, Sina, wie dir heute jener Mosgljäkoff gefallen hat?“

„Du weißt doch längst, wie ich über ihn denke,“ antwortet Sina gleichsam wider Willen.

„Ja, mon enfant; aber es scheint mir, daß er mit seinem ... Werben gar zu lästig wird.“

„Er sagt, daß er in mich verliebt sei und so dürfte seine Aufdringlichkeit entschuldbar sein.“

„Sonderbar, früher hast du ihn nicht so ... bereitwillig entschuldigt. Im Gegenteil, du fielst immer über ihn her, sobald ich nur von ihm sprach.“

„Sonderbar ist gleichfalls, daß du ihn früher immer verteidigtest und jetzt als erste über ihn herfällst.“

„Ja, beinahe. Ich will nichts verleugnen, Sina: früher wollte ich dich gern mit ihm verheiratet wissen. Es war mir schwer, deinen ewigen Kummer, deine Qual zu sehen, die ich dir nachfühlen kann – gleichviel, was du auch von mir denkst! – und die meinen Schlaf in jeder Nacht vergiftet. Ich hatte mich überzeugt, daß nur eine einschneidende Veränderung in deinem Leben dich retten könnte. Und diese Veränderung soll – eine Heirat sein. Wir sind nicht reich und können zum Beispiel nicht ins Ausland fahren. Die hiesigen Esel wundern sich, daß du dreiundzwanzig Jahre alt und noch unverheiratet bist und erfinden allerlei Geschichten. Aber soll ich dich denn einem unserer Räte geben oder Iwan Iwanowitsch, unserm Ökonom? Gibt es denn hier Männer für dich? Mosgljäkoff ist natürlich dumm, aber er ist doch immer noch der beste von allen. Er ist aus guter Familie, er hat einflußreiche Verwandschaft, er besitzt hundertundfünfzig Seelen – das ist doch immerhin besser, als von Sporteln und Sparen und weiß Gott was für Abenteuern zu leben. Deshalb hatte ich auch mein Auge auf ihn geworfen. Aber, ich schwöre es dir, ich habe nie aufrichtige Sympathie für ihn empfunden. Ich bin überzeugt, daß der Höchste mich selbst zurückgehalten hat. Und wenn Gott dir jetzt etwas Besseres geschickt hat – o! Wie gut ist es dann, daß du ihm noch nicht dein Wort gegeben hast! Du hast ihm doch heute nichts Bindendes gesagt, Sina?“

„Wozu diese Verstellung, Mamachen, wenn sich doch alles mit zwei Worten sagen läßt?“ fragt Sina gereizt.

„Verstellung, Sina, Verstellung? Und dieses Wort kannst du deiner Mutter sagen? Doch was rede ich unnütz! Du glaubst ja deiner Mutter lange nicht mehr. Du hältst mich für deine Feindin, nicht aber für deine Mutter.“

„Ach, schon gut, Mamachen! Sollen wir uns beide noch wegen eines Wortes streiten! Verstehen wir uns denn nicht? Ich dachte, wir hätten doch Zeit genug gehabt, uns kennen zu lernen!“

„Aber du beleidigst mich, mein Kind! Du glaubst nicht, daß ich zu allem, zu allem bereit bin, um dich sicher zu stellen!“

Spöttisch und geärgert blickte Sina ihre Mutter an.

„Willst du mich vielleicht mit diesem Fürsten verheiraten, um mich sicher zu stellen?“ fragte sie mit einem seltsamen Lächeln.

„Ich habe das nicht gesagt, mein Kind, doch da du selbst darauf zu sprechen kommst, so will ich dir sagen, daß es dein Glück wäre, wenn du den Fürsten heiraten könntest.“

„Ich aber finde, daß es einfach unsinnig wäre!“ rief Sina heftig aus. „Der größte Unsinn! Und auch finde ich, Mama, daß du gar zu viel dichterische Begeisterung hast, du bist im vollen Sinn des Wortes ein weiblicher Dichter. So wirst du ja auch hier genannt. Du hast beständig Projekte. Deren Unmöglichkeit und Sinnlosigkeit aber – hält dich nie ab. Noch als der Fürst hier saß, ahnte ich, was du im Sinn hattest. Und als Mosgljäkoff diesen Blödsinn schwatzte und beteuerte, daß man den alten Mann verkuppeln müsse, da habe ich in deinem Gesicht alle deine Gedanken gelesen. Ich gebe meinen Kopf darauf, daß du daran denken und gerade das mir jetzt vorschlagen wolltest. Da aber deine unermüdlichen Pläne in bezug auf mich mir tödlich zuwider geworden sind, mich quälen, so bitte ich dich, kein Wort von deinem neuen Projekt mehr zu sprechen, hörst du, Mama, – kein Wort, und es würde mich freuen, wenn du das behieltest!“ Sie war atemlos vor Zorn.

„Du bist ein Kind, Sina, ein reizbares, krankes Kind!“ entgegnete Marja Alexandrowna mit gerührter Stimme, in der Tränen zu zittern schienen. „Du sprichst mit mir ungezogen und kränkst mich. Keine Mutter würde das ertragen, was ich täglich von dir ertrage! Aber du bist gereizt, du bist krank, du leidest, ich aber bin Mutter und vor allem Christin. Ich muß dulden und verzeihen. Doch ein Wort, Sina: wenn ich nun tatsächlich an diese Verbindung gedacht hätte – weshalb hältst du diesen Gedanken für unsinnig? Meiner Meinung nach hat Mosgljäkoff nie klüger gesprochen, als vorhin, – ich meine, als er bewies, daß der Fürst heiraten müsse, nur, versteht sich, nicht diesen Schmierpinsel Nastassja. Darin hat er sich natürlich versehen.“

„Höre, Mama! Sage doch offen: fragst du das nur so, aus Neugierde, oder mit einer bestimmten Absicht?“

„Ich frage nur: weshalb erscheint dir das so unsinnig?“

„Ach, es ist doch wirklich ärgerlich! Daß einem auch ein solches Schicksal beschieden sein kann!“ rief Sina aus und stampfte mit dem Fuß vor Empörung. „Gut, ich werde es dir sagen, weshalb: ganz abgesehen von allen übrigen Dummheiten, – die Geistesschwäche eines Greises auszubeuten, ihn zu betrügen, ihn zu heiraten, diesen Klappergreis, um ihm dann sein Geld abzunehmen und täglich, stündlich seinen Tod zu wünschen, das ist, finde ich, nicht nur unsinnig, sondern außerdem noch so niedrig, so niedrig, daß ich dir zu solchen Gedanken nicht Glück wünschen kann, Mama!“

Eine ganze Minute dauerte das Schweigen.

„Sina! Entsinnst du dich noch dessen, was vor zwei Jahren war?“

Sina zuckte zusammen.

„Mama!“ sagte sie dann mit strenger Stimme, „du hast mir feierlich gelobt, mich nie mehr daran zu erinnern.“

„Und jetzt bitte ich dich feierlich, mein Kind, mir nur dieses eine Mal zu erlauben, das Versprechen, das ich bis jetzt noch niemals vergessen habe, zurückzuziehen. Sina! Die Stunde einer rückhaltslosen Aussprache zwischen uns ist gekommen. Diese zwei Jahre Schweigen waren entsetzlich! So kann es nicht weitergehen! ... Ich bin bereit, dich auf den Knien anzuflehen – erlaube mir nur dieses eine Mal zu sprechen! Hörst du, Sina, deine leibliche Mutter fleht dich auf den Knien an! Und ich gebe dir feierlich mein Wort, – das Wort einer unglücklichen Mutter, die ihre Tochter vergöttert, daß ich niemals, in keiner Form, und in keinem Fall, selbst wenn es sich um die Rettung meines Lebens handelte, davon mehr sprechen werde. Es wird dies das letzte Mal sein – aber diesmal geht es nicht anders, ich muß!“

Marja Alexandrowna rechnete auf einen durchschlagenden Erfolg dieser Worte.

„Sprich,“ sagte Sina, die merklich bleicher wurde.

„Ich danke dir, Sina. Vor zwei Jahren kam zu deinem verstorbenen Bruder Mitjä ein junger Lehrer ...“

„Aber wozu denn diese feierliche Einleitung, Mama! Wozu diese ganze Redekunst, alle diese Einzelheiten, die doch vollkommen überflüssig sind, die doch nur quälen und die uns beiden nur zu gut bekannt sind?“ unterbrach Sina ihre Mutter zornig und wie angeekelt.

„Weil ich, deine Mutter, mein Kind, gezwungen bin, mich vor dir zu rechtfertigen. Zudem will ich dir diese Angelegenheit von einem ganz anderen Standpunkt aus zeigen, nicht von diesem falschen Standpunkt aus, von dem aus du sie zu beurteilen gewohnt bist. Und schließlich, damit du die Folgerung begreifst, die ich hieraus zu ziehen beabsichtige: Glaube nicht, mein Kind, daß ich mit deinem Herzen spielen will! Nein, Sina, du wirst in mir eine wirkliche Mutter finden, und vielleicht wirst du tränenüberströmt zu meinen Füßen, zu den Füßen der ‚niedrigen Frau‘, wie du mich soeben genannt hast, die Versöhnung erbitten, die du so lange, die du bis zum heutigen Tage verschmäht hast. Darum will ich alles sagen, Sina, alles, von Anfang an wiederholen. Oder ich schweige.“

„Sprich,“ wiederholte Sina, die von ganzem Herzen die Notwendigkeit dieser Rede verwünschte.

„Ich fahre fort, Sina: – Dieser Lehrer an der Kreisschule, fast noch ein Knabe, machte auf dich einen mir vollkommen unbegreiflichen Eindruck. Ich vertraute zu sehr auf deine Vernunft, auf deinen edlen Stolz und hauptsächlich auf seine Nichtigkeit – es muß doch einmal alles gesagt werden –, um auch nur das geringste zwischen euch zu argwöhnen. Und plötzlich kommst du zu mir und erklärst mir entschlossen, daß du ihn zu heiraten beabsichtigst! Sina! Das war ein Dolchstich in mein Herz! Ich schrie nur auf und verlor das Bewußtsein. Doch ... du entsinnst dich ja noch dessen! Versteht sich, ich fand es für nötig, meine ganze Macht zu gebrauchen, die du damals Tyrannei nanntest. Denk doch nur: ein unreifer Knabe, der Sohn eines Popen, der ein Monatsgehalt von nur zwölf Rubel hat, der Verfasser erbärmlicher Verse, die nur aus Mitleid in der „Bibliothek zur Aufklärung“ abgedruckt werden und der von nichts anderem als nur von diesem verwünschten Shakespeare zu sprechen weiß – dieser Knabe dein Mann, der Mann Sinaïda Moskaleffs! Aber das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit! Verzeih, Sina, aber die blasse Erinnerung daran bringt mich um meinen Verstand! Ich sagte ihm ab; aber keine Macht der Welt vermag dich aufzuhalten. Dein Vater, wie du weißt, blinzelte nur mit den Augen und begriff nicht einmal, was ich ihm erklärte. Du aber bist von deinem Knaben nicht abzubringen, du kommst sogar mit ihm zusammen, und was am furchtbarsten ist, du entschließt dich, mit ihm zu korrespondieren. In der Stadt verbreiten sich schon Gerüchte. Mir werden von allen Seiten Stiche versetzt; man freut sich, man posaunt es schon aus, und plötzlich gehen alle meine Prophezeiungen in Erfüllung. Es kommt zu einem Streit zwischen euch, er erweist sich als deiner vollkommen unwürdig ... als grüner Bengel – ich kann ihn unmöglich einen Mann nennen! – und er droht dir, deine Briefe in der Stadt herum zu zeigen. Diese Drohung empört dich dermaßen, daß du ihm eine Ohrfeige gibst. Ja, Sina, auch dieses weiß ich! Ich weiß alles, alles! Der Unglückliche zeigt noch am selben Tage einen deiner Briefe dem Lump Sanschin und nach einer Stunde befindet sich dieser Brief in den Händen Natalja Dmitrijewnas, meiner Totfeindin! Am selben Abend macht dieser Wahnsinnige aus Reue den unsinnigen Versuch, sich zu vergiften. Kurz, es ist ein entsetzlicher Skandal zu erwarten! Dieser Schmierpinsel Nastassja kommt erschrocken zu mir gelaufen mit der furchtbaren Nachricht, daß der Brief sich schon seit einer ganzen Stunde in den Händen Natalja Dmitrijewnas befinde: nach zwei Stunden wird die ganze Stadt um deine Schmach wissen! Ich überwand mich, ich fiel nicht in Ohnmacht, – aber mit welchen Schlägen hast du mein Herz getroffen, Sina! Diese Schamlose, dieses Scheusal Nastassja verlangt zweihundert Rubel bar und dafür schwört sie, den Brief zur Stelle zu schaffen. Ich selbst laufe, in dünnen Stiefeln, im Schnee zum Juden Bumstein und verpfände meinen Schmuck, das Andenken meiner seligen Mutter! ... Nach zwei Stunden ist der Brief in meinen Händen. Nastassja hatte ihn gestohlen. Sie hat die Schatulle erbrochen – deine Ehre ist gerettet, der Beweis vernichtet! Aber in welcher Aufregung hast du mich diesen Tag verbringen lassen! Am nächsten Morgen bemerkte ich zum erstenmal in meinem Leben, daß ich vereinzelte graue Haare hatte, Sina! Du weißt jetzt, wie du über diesen Knaben urteilen mußt. Du hast selbst zugegeben, vielleicht mit einem bitteren Lächeln, daß es der größte Wahnsinn gewesen wäre, ihm dein Leben anzuvertrauen. Aber seit der Zeit quälst du dich, mein Kind, du kannst ihn nicht vergessen, oder richtiger, nicht ihn – denn er ist deiner stets unwürdig gewesen –, sondern das Phantom deines einstigen Glücks kannst du nicht vergessen. Dieser Unglückliche liegt jetzt auf dem Sterbebett; man sagt, er sei schwindsüchtig; du aber, in deiner Engelsgüte, du willst nicht heiraten, solange er noch lebt, um sein Herz nicht zu zerreißen, denn er quält sich noch immer mit seiner Eifersucht herum, wenn ich auch überzeugt bin, daß er dich niemals mit einer so tiefen, erhabenen Liebe geliebt hat! Ich weiß, seitdem er von Mosgljäkoffs Werbung gehört hat, läßt er spionieren, auflauern und ausfragen. Du schonst ihn, mein Kind, ich habe es erraten, und Gott allein weiß, mit wie bitteren Tränen ich mein Kissen genetzt habe! ...“

„Laß doch das, Mama!“ unterbricht Sina in unerträglicher Qual. „Das mit dem Kissen war wohl sehr notwendig,“ fügte sie spöttisch hinzu. „Geht es denn nicht ohne Deklamation, ohne Pathos?“

„Du glaubst mir nicht, Sina! Sieh nicht feindlich auf mich, mein Kind! Meine Augen sind in diesen zwei Jahren nicht trocken geworden, aber ich habe meine Tränen vor dir verborgen, und ich schwöre dir, ich selbst habe mich in dieser Zeit in vielem verändert! Ich habe längst deine Gefühle begriffen und ich gestehe es, erst jetzt kann ich die ganze Größe deines Schmerzes nachempfinden. Kann man mir daraus einen Vorwurf machen, mein Kind, daß ich diese Anhänglichkeit nur für Romantik hielt, die dieser verwünschte Shakespeare heraufbeschworen hat, dieser Dummkopf, der seine Nase überall hineinsteckt, wo man ihn gar nicht haben will? Welche Mutter würde mich wegen meines Schreckens, wegen der Maßregeln, die ich ergriff, wegen der Strenge meines Urteils verdammen? Jetzt aber, jetzt, nachdem ich dein Leiden in diesen zwei Jahren gesehen habe, jetzt verstehe und achte ich deine Gefühle. Glaube mir, ich habe dich vielleicht besser verstanden, als du dich selbst verstehst. Ich bin überzeugt, daß du gar nicht ihn liebst, diesen Knaben, nur deine eigenen goldenen Träume, dein verlorenes Glück, deine erhabenen Ideale. Auch ich habe geliebt und vielleicht noch leidenschaftlicher als du. Auch ich habe gelitten. Ich habe gleichfalls meine hohen Ideale gehabt. Und darum – wer kann mich deshalb verurteilen, und vor allem – kannst du mich deshalb verurteilen, weil ich die Verbindung mit dem Fürsten für die beste Rettung halte, für das Notwendigste, was du in deiner augenblicklichen Lage tun kannst und tun mußt?“

Sina hörte mit Verwunderung diese lange Rede an, denn sie wußte, daß ihre Mutter nicht ohne Grund einen solchen Ton anschlug. Die letzte unerwartete Folgerung jedoch stieß sie vollkommen vor den Kopf.

„Dann hast du also im Ernst beschlossen, mich mit diesem Fürsten zu verheiraten?“ rief sie verwundert aus und sah erschrocken die Mutter an. „Dann sind es ja nicht nur Träume, Projekte, sondern – deine feste Absicht ist es? Dann habe ich es richtig erraten? Und ... und ... inwiefern wird mich denn diese Heirat retten und weshalb ist sie so notwendig? Und ... und ... was hat das damit zu schaffen, was du soeben hier geredet hast? – mit dieser ganzen Geschichte? ... Ich verstehe dich nicht, Mama!“

„Ich wundere mich, mon ange, wie du das nicht verstehen kannst!“ ruft Marja Alexandrowna aus, die jetzt ihrerseits in Hitze gerät. „Allein das, daß du in eine andere Gesellschaft hineinkommst, in eine andere Welt! Du verläßt auf ewig dieses widerliche Nest, das für dich voll ist von unangenehmen Erinnerungen, in dem du keinen einzigen Freund hast, weder unter den Frauen, noch unter den Männern, in dem du verleumdet worden bist, in dem alle diese Klatschbasen dich wegen deiner Schönheit hassen. Du könntest noch in diesem Frühling nach Italien fahren, in die Schweiz, nach Spanien, Sina, nach Spanien, wo die Alhambra ist, der Guadalquivir, nicht aber unser kleines Flüßchen hier mit dem unanständigen Namen ...“

„Aber erlaube, Mama, du redest, als wenn ich bereits verheiratet wäre oder zum mindesten als hätte der Fürst bereits um mich angehalten!“

„Das laß meine Sorge sein, mein Engel, ich weiß, was ich rede. Erlaube, daß ich fortfahre. Den ersten Punkt habe ich dir genannt, jetzt kommt der zweite: ich begreife sehr wohl, mein Kind, mit welchem Widerwillen du deine Hand diesem Mosgljäkoff gegeben hättest ...“

„Ich weiß auch ohne deine Bemerkung, daß ich ihn niemals geheiratet hätte, niemals heiraten werde!“ unterbrach Sina heftig und ihre Augen blitzten.

„Und wenn du wüßtest, wie ich deinen Ekel begreife, mein Kind! Es ist furchtbar, einem zu gehören, den einem Manne Liebe schwören müssen, den man nicht liebt! Es ist mehr als furchtbar, einem zu gehören, den man nicht einmal achtet! Er aber verlangt deine Liebe: nur ihretwegen würde er dich heiraten, das sehe ich an den Blicken, die er auf dich wirft, wenn du dich abwendest. Und dann sich verstellen zu müssen –! Ich habe es in den fünfundzwanzig Jahren meiner Ehe zur Genüge ausgekostet! Dein Vater hat mich unglücklich gemacht. Ich kann sagen, er hat meine Jugend ausgesogen. Wie oft hast du meine Tränen gesehen!“

„Papa ist auf dem Gut, bitte kein Wort über ihn,“ sagte Sina.

„Ich weiß, du bist ewig seine Verteidigerin. Ach, Sina! Mir wollte das Herz zerspringen, als ich – aus Berechnung – deine Vermählung mit Mosgljäkoff wünschte. Bei dem Fürsten aber brauchst du dich nicht zu verstellen. Es versteht sich von selbst, daß du ihn nicht lieben kannst ... und er ist ja auch garnicht fähig, solche Liebe zu verlangen ...“

„Gott, welch ein Unsinn! Aber ich sage dir doch, daß du dich von Grund aus täuschst, von Anfang an, gerade in der Hauptsache! Begreife doch, daß ich mich nicht opfern will, ohne zu wissen, wozu! Daß ich überhaupt nicht heiraten will, keinen einzigen, ich bleibe unverheiratet! Du hast mich zwei Jahre lang gefoltert, bloß weil ich nicht heiratete. Doch! Du wirst dich damit aussöhnen müssen. Ich will nicht und das genügt! So wird es sein!“

„Aber Herzchen, Sinachen, reg dich um Gotteswillen nicht so auf, noch bevor du alles gehört hast! Was du für ein Hitzköpfchen bist! Erlaube mir, daß ich dir die Sache von meinem Standpunkt aus erkläre und du wirst sofort mit mir übereinstimmen. Der Fürst wird vielleicht noch ein Jahr leben, zwei wäre viel, und meiner Meinung nach ist es besser, eine junge Witwe zu sein, als ein altes Mädchen, ganz abgesehen davon, daß du nach seinem Tode – Fürstin, frei, reich und unabhängig bist! Mein Kind, du hörst vielleicht mit Verachtung all diese Berechnungen – Berechnungen, die mit der Erwartung seines Todes verknüpft sind. Aber – ich bin Mutter und welche Mutter wird mich wegen meiner Fürsorge verurteilen? Und schließlich, wenn du, Engel der Güte, diesen Knaben immer noch bemitleidest, dermaßen bemitleidest, daß du so lange er noch lebt, nicht heiraten willst – was ich jetzt erraten habe, – so denk doch nur, daß du, wenn du den Fürsten heiratest, ihn seelisch auferstehen machst, ihm eine große Freude bereitest! Wenn er ein Atom gesunde Vernunft hast, so wird er natürlich begreifen, daß Eifersucht auf den Fürsten unmöglich ist, sie wäre lächerlich. Er wird begreifen, daß du aus Berechnung geheiratet hast, also gezwungen. Er wird endlich begreifen, daß du nach dem Tode des Fürsten wieder heiraten kannst, wenn du willst ...“

„Kurz gesagt, es ergibt sich: heirate jetzt den Fürsten, nimm ihm das Geld ab, warte dann auf seinen Tod, um nachher den Geliebten zu heiraten. Du verstehst sehr gut, das Fazit einzuleiten! Du willst mich dazu verführen, indem du mir vorschlägst – ... Ich verstehe dich, Mama, verstehe dich vollkommen! Du kannst dich nie enthalten, selbst in einer schändlichen Angelegenheit nicht, edle Gefühle auszuspielen. Hättest du doch einfach und natürlich gesagt: ‚Sina, es ist eine Schändlichkeit, aber sie ist vorteilhaft und deshalb willige ein.‘ Das wäre wenigstens aufrichtig gewesen.“

„Aber weshalb mein Kind, weshalb willst du unbedingt nur von diesem Standpunkt aus die Sache ansehen, – vom Gesichtspunkte des Betruges und der Habsucht? Du hältst meine Bemerkungen für schändlich, für Betrug? Aber, um aller Heiligen willen, wo ist denn hier Betrug, was ist hier schändlich? Geh zum Spiegel und sieh dich an: du bist so schön, daß man ein Königreich für dich hingeben könnte! Und du, du, die du eine solche Schönheit bist, du opferst diesem Greise deine besten Jahre! Du wirst wie ein wundervoller Stern seinen Lebensabend erhellen; du wirst wie ein grüner Efeu um sein Alter ranken, nicht aber wie diese Nessel, diese schamlose Person, die ihn behext hat und seine Säfte aussaugt? Ist denn sein Geld, sein Fürstentitel wirklich wertvoller als du? Wo ist denn hier ein Betrug, eine Schändlichkeit? Du weißt nicht, was du sprichst, Sina!“

„Sicherlich sind sie doch wertvoller, wenn man einen Krüppel heiraten muß! Betrug bleibt immer Betrug, Mama, gleichviel zu welchem Zweck.“

„Im Gegenteil, mein Kind, im Gegenteil! Man kann es sogar von einem sehr hohen, sogar von einem christlichen Standpunkt aus auffassen, mein Kind! Du hast mir selbst einmal in einem Anfall von Wahnsinn gesagt, daß du barmherzige Schwester werden wolltest. Dein Herz hat gelitten und ist jetzt verstockt. Du hast gesagt – ich weiß es – daß du nicht mehr lieben könntest. Wenn du an die Liebe nicht mehr glaubst, so wende deine Gefühle einem anderen, höheren Gegenstande zu, tue es aufrichtig wie ein Kind mit dem ganzen Glauben an die Heiligkeit deiner Aufgabe – und Gott wird dich segnen. Dieser Greis hat gleichfalls gelitten, er ist unglücklich, er wird verfolgt. Ich kenne ihn seit mehreren Jahren und habe stets eine unbegreifliche Sympathie für ihn empfunden, eine Art Liebe sogar, als hätte ich etwas vorausgeahnt. Sei sein Freund, sei ihm eine Tochter, sei ... selbst sein Spielzeug – wenn einmal alles gesagt werden muß! – Aber erwärme sein Herz, und du wirst es für Gott tun, um der Tugend willen! Er ist lächerlich, – beachte das nicht. Er ist ein halber Mensch, – hab Mitleid mit ihm: du bist Christin! Zwinge dich dazu: solche Taten werden nur vollbracht, wenn man sich selbst bezwingt. Uns scheint es schwer, in Krankenhäusern Wunden zu verbinden, die übelriechende Lazarettluft einzuatmen. Es gibt aber Engel Gottes, die alle diese Pflichten erfüllen und obendrein Gott für ihre Bestimmung noch danken. Das wäre eine Arzenei für dein verletztes Herz – eine Beschäftigung, eine große Tat, und deine Wunden würden vernarben. Wo ist hier nun Egoismus, wo eine Schändlichkeit? Aber du glaubst mir nicht! Du denkst vielleicht, daß ich mich verstelle, wenn ich dir von Pflichten und großen Taten rede. Du kannst es nicht verstehen, daß ich, eine weltliche, eitle Frau, ein Herz, Gefühl und eine Lebensmoral haben kann? Nun gut! Glaub es nicht, beleidige deine Mutter, aber gib wenigstens zu, daß ihre Worte vernünftig sind. Wenn du willst, so denk, daß nicht ich rede, sondern irgend ein anderer Mensch; schließe die Augen, kehre mir den Rücken zu und bilde dir ein, daß eine unsichtbare Stimme zu dir spricht ... Dich verwirrt doch hauptsächlich nur, daß es, wie du meinst, für Geld geschehen solle, wie ein Kauf oder Verkauf. So verzichte doch auf das Geld, wenn es dir so verhaßt ist! Behalte nur das Notwendigste für dich und alles übrige verteile unter die Armen. Hilf zum Beispiel ihm, diesem unglücklichen Knaben auf dem Sterbebett.“

„Er wird keine Hilfe annehmen,“ sagte Sina leise, wie zu sich selbst.

„Er nicht, aber seine Mutter wird sie annehmen,“ antwortete die triumphierende Marja Alexandrowna, „sie wird sie hinter seinem Rücken annehmen. Du hast deine Ohrringe verkauft, die deine Tante dir geschenkt hat, du hast sie verkauft und ihr geholfen, vor einem halben Jahr. Ich weiß es. Ich weiß auch, daß die Alte für andere Leute Wäsche wäscht, um ihren unglücklichen Sohn ernähren zu können.“

„Bald wird sie es nicht mehr nötig haben!“

„Ich weiß, auf was du anspielst,“ griff Marja Alexandrowna sofort auf, und wahre Begeisterung erfaßte sie, denn ein unbezahlbarer Gedanke hatte sie beglückt, „ich weiß, wovon du sprichst. Man sagt, er sei schwindsüchtig und werde bald sterben. Aber wer ist denn das, der das sagt? Vor ein paar Tagen erkundigte ich mich bei Kalist Stanislawitsch nach ihm: ich interessiere mich für ihn, denn ich habe ein Herz, Sina. Kalist Stanislawitsch sagte mir, daß seine Krankheit allerdings gefährlich sei, er aber, als Arzt, habe sich überzeugt, daß es Schwindsucht nicht sein könne, sondern nur so – ein ziemlich ernstes Brustleiden. Du kannst ihn selbst fragen, wenn du willst. Und er sagte mir, er sei überzeugt, daß der Kranke unter anderen Verhältnissen, namentlich in einem anderen Klima, nach einem Luftwechsel und unter anderen Eindrücken sehr wohl noch gesund werden könnte. Er sagte mir, daß in Spanien – ich habe davon auch früher schon gehört, sogar gelesen – daß bei Spanien eine besondere Insel sei, Madeira, glaube ich – jedenfalls hieß sie wie ein Wein –, wo nicht nur Brustkranke, sondern auch wirklich Schwindsüchtige vollständig gesund geworden sind. Viele fahren nur zu dem Zweck hin, um sich dort von dem milden Klima heilen zu lassen, selbstverständlich meist Fürsten, natürlich auch Kaufleute, jedenfalls aber nur Reiche. Schon diese Alhambra, diese Myrten, diese Zitronenbäume und diese Spanier auf ihren Mauleseln! – schon diese Umgebung muß doch einen ungewöhnlichen Eindruck auf eine poetische Natur machen. Du glaubst vielleicht, daß er deine Unterstützung, dein Geld für diese Reise nicht annehmen wird? So betrüge ihn, wenn er dir leid tut! Ein Betrug zur Rettung eines Menschenlebens ist verzeihlich. Mach ihm Hoffnung, versprich ihm deine Liebe, sag ihm, daß du ihn heiraten wirst, wenn du Witwe seist. Man kann alles in einer feinen edlen Weise sagen. Deine Mutter wird dich nicht in Unedlem unterstützen, Sina. Du tust es, um sein Leben zu erhalten, um ihn zu retten und deshalb ist – alles erlaubt! Diese Hoffnung wird ihn neu beleben, er wird selbst seiner Gesundheit mehr Aufmerksamkeit schenken, wird Medizin einnehmen und die Vorschriften der Ärzte befolgen. Er wird gesund werden wollen, um das verheißene Glück genießen zu können. Und wenn er gesund geworden ist, so wirst du ihn zwar nicht heiraten, aber er wird dann doch wenigstens gesund sein, immerhin hast du ihn dann gerettet! Und schließlich kann man auch Mitleid mit ihm haben. Vielleicht hat ihn das Leben inzwischen zum Besseren verändert, und wenn er deiner nur wert ist, so kannst du ihn ja später auch heiraten. Du bist dann reich, unabhängig. Du kannst, wenn er wieder gesund ist, ihm eine Stellung in der Welt verschaffen, er kann durch dich Karriere machen. Dann würde diese Heirat verzeihlicher sein als jetzt, denn jetzt wäre sie unmöglich. Was stände euch bevor, wenn ihr euch jetzt dazu entschließen würdet? Allgemeine Verachtung, Armut. Schulbuben an ihren Ohren ziehen – denn das ist nun einmal mit seiner Tätigkeit verknüpft –, gemeinsames Lesen Shakespeares, ewiges Leben in Mordassoff und dann sein unvermeidlicher, naher Tod. Während du ihm so, wenn du ihn gewissermaßen von den Toten auferweckst, zu einem nutzbringenden Leben, zum Schaffen die Möglichkeit gibst. Indem du ihm verzeihst – zwingst du ihn, dich zu vergöttern. Ihn quält sein schändlicher Racheversuch. Wenn du ihm jetzt die Möglichkeit eines neuen Lebens zeigst, ihm verzeihst, so belebst du ihn mit der Hoffnung und söhnst ihn mit sich selbst aus. Er kann dann in den Staatsdienst treten, kann sogar zu Ehren und Titeln gelangen. Und selbst wenn er nicht gesund wird, so stirbt er doch wenigstens glücklich, versöhnt mit sich selbst, in deinen Armen – denn du kannst ja selbst in diesem Augenblick bei ihm sein –, überzeugt von deiner Liebe, mit dir versöhnt, im Schatten der Myrten und Orangen, unter dem exotischen Himmel! O, Sina! Alles das ist in deiner Macht! Alle Vorteile sind auf deiner Seite – und das alles durch die Verbindung mit dem Fürsten!“

Marja Alexandrowna hatte ihre Rede beendet. Es folgte ein ziemlich langes Schweigen. Sina befand sich in unbeschreiblicher Aufregung.

Wir wollen es nicht versuchen, Sinas Gefühle wiederzugeben und wir können sie auch nicht alle erraten. Es scheint, daß Marja Alexandrowna den richtigen Weg zum Herzen ihrer Tochter gefunden hatte. Da sie nicht wußte, in welchem Zustande sich Sinas Herz befand, hatte sie zuerst alle Möglichkeiten versucht, bis sie zu guter Letzt erriet, welcher der richtige Weg war. Sie rührte rücksichtslos an die empfindlichsten Stellen dieses Herzens und konnte ihrer Gewohnheit gemäß natürlich nicht ohne Hervorkehrung edler Gefühle auskommen, obschon sie wußte, daß sie damit Sina nicht täuschen würde.

„Aber was hilft das alles,“ dachte Marja Alexandrowna, „sie wird mir doch nicht glauben. Wenn man sie nur zum Nachdenken bringen könnte! Wenn ich nur möglichst geschickt andeuten könnte, was ich ihr offen nicht sagen darf!“

Mit diesen Gedanken arbeitete sie auf ihr Ziel los und erreichte es auch: Sina hörte schließlich gespannt zu, ihre Wangen glühten und sie atmete erregt.

„Höre, Mama,“ sagte sie endlich entschlossen, wenn auch das totenblasse Gesicht deutlich aussprach, was dieser Entschluß sie kostete. „Höre Mama ...“

In diesem Augenblick wurde Sina von einem Geräusch im Vorzimmer und einer schrillen, scharfen Stimme, die nach Marja Alexandrowna fragte, unterbrochen. Marja Alexandrowna sprang erschrocken auf.

„Ach, mein Gott!“ rief sie aus. „Der Teufel schickt mir diese Elster auf den Hals! Aber ich habe sie doch vor zwei Wochen fast hinausgeworfen! Was soll ich tun? Es geht nicht anders, ich muß sie empfangen! Ich muß! Sie kommt bestimmt mit Nachrichten, sonst würde sie es doch nicht wagen, zu erscheinen. Das ist sehr wichtig, Sina! Ich muß unbedingt wissen ... Ich darf nichts unbeachtet lassen! – Aber nein, wie dankbar ich Ihnen bin für Ihren Besuch!“ rief sie freudig aus, indem sie der eintretenden Frau Oberst entgegeneilte. „Wie haben Sie sich nur meiner erinnert, meine teure Ssofja Petrowna? Welch eine ent–zück–ende Überraschung!“

Sina lief aus dem Zimmer.

VI.

Ssofja Petrowna Karpuchina, die Frau eines Obersten, glich nur seelisch einer Elster. Körperlich erinnerte sie eher an einen dünnen Sperling. Sie war eine kleine, fünfzigjährige Dame mit scharfen, stechenden Augen in einem Gesicht, das ganz von Sommersprossen und anderen gelben Flecken bedeckt war. Ihr kleiner, ausgetrockneter Körper, der auf zwei dünnen, festen Sperlingsbeinen stand, stak in einem dunklen Seidenkleid, das beständig rauschte, da die Dame nie, auch nur zwei Sekunden lang, sich ruhig verhalten konnte. Sie war eine geradezu bösartige, rachsüchtige Klatschbase. Der Oberstenrang ihres Mannes war ihr dermaßen zu Kopf gestiegen, daß er sie jeder gesunden Vernunft beraubt hatte. Mit ihrem Mann jedoch, dem Oberst a. D., führte sie oft Krieg und zerkratzte ihm bei der Gelegenheit tüchtig das Gesicht. Außerdem trank sie jeden Morgen vier Gläschen Branntwein und am Abend dieselbe Portion, und haßte bis zum Wahnsinn Anna Nikolajewna Antipowa, die ihr vor einer Woche die Tür gewiesen, sowie auch Natalja Dmitrijewna Paskudina, die dabei geholfen hatte.

„Ich bin nur auf einen Augenblick zu Ihnen gekommen, mon ange,“ begann sie mit ihrer kreischenden Stimme. „Es ist ganz überflüssig, daß ich mich gesetzt habe. Ich wollte nur erzählen, was für Wunder bei uns geschehen. Die ganze Stadt ist einfach von Sinnen und das wegen dieses Fürsten! Unsere Gimpelfängerinnen – vous comprenez! – suchen ihn, fangen ihn, reißen ihn sich gegenseitig aus den Händen, schleppen ihn zu sich, setzen ihm Champagner vor, – Sie werden es nicht glauben! Sie glauben es nicht! Aber wie haben Sie sich nur entschließen können, ihn von sich fortzulassen? Wissen Sie auch, daß er jetzt bei Natalja Dmitrijewna ist?“

„Bei Natalja Dmitrijewna!“ schrie Marja Alexandrowna auf und sprang mit einem Satz von ihrem Polsterstuhl in die Höhe. „Aber er ist doch nur zum Gouverneur gefahren und dann vielleicht zu Anna Nikolajewna, aber nur auf einen Augenblick!“

„Auf einen Augenblick! Sehen Sie jetzt zu, wie Sie ihn wieder einfangen können! Den Gouverneur hat er nicht zu Haus angetroffen, von dort ist er zu Anna Nikolajewna gefahren, hat ihr sein Wort gegeben, daß er bei ihr speisen würde, Nataschka aber, die jetzt in einem fort bei ihr sitzt, hat ihn sofort zum Frühstück zu sich geschleppt! Da haben Sie jetzt Ihren Fürsten!“

„Aber wie ... Mosgljäkoff? Er hat mir doch versprochen ...“

„Mosgljäkoff! Ihr gepriesener! ... Er ist doch gleichfalls hingefahren! Seien Sie froh, wenn er dort nicht an den Kartentisch gesetzt wird und wieder alles verspielt, wie vor einem Jahr! Und auch der Fürst wird an den Tisch gesetzt und bis aufs letzte gerupft werden. Und was sie da alles klatscht, diese Nataschka! Sie sagt es ganz ungeniert und laut, daß Sie sich des Fürsten bemächtigen wollen ... zu gewissen Zwecken – vous comprenez? Sie setzt es ihm selbst auseinander. Er begreift natürlich nichts, sitzt da wie ein begossener Pudel und sagt zu allem: ‚Nun ja, nun ja!‘ Und sie selbst, sie selbst, diese Nataschka! Sofort hat sie ihm ihre Ssonjka vorgeführt – denken Sie sich: fünfzehn Jahre alt und immer noch zieht sie dem Mädchen kurze Kleider an! Immer noch bis zu den Knien, wie Sie sich denken können! ... Und dann hat sie nach der verwaisten Maschka geschickt, die kam gleichfalls im kurzen Kleide, nur war das noch kürzer, nicht einmal bis zu den Knien, – ich habe es durch mein Lorgnon gesehen ... Auf den Kopf wurden ihnen rote Mützen mit Federn gesetzt – was das zu bedeuten hatte, weiß ich nicht! Und dann mußten diese beiden Halbnackten vor dem Fürsten den Kasatschok tanzen! Sie kennen ja die Schwäche dieses Fürsten – er schnalzte! ‚Diese Formen,‘ sagte er, ‚diese Formen!‘ und betrachtete sie vom Kopf bis zu den Füßen durch sein Lorgnon – sie aber kommen in Schwung! Beide ganz erhitzt – verrenken ihre Beine, daß Gott erbarm, und das soll ein Tanz sein! Ich habe selbst getanzt, wissen Sie, mit einem Schal, als ich Madame Jarnies Pension für junge Mädchen verließ – da habe ich einen wahrhaft aristokratischen Effekt gemacht! Sogar Senatoren klatschten mir Beifall! Dort wurden nur Fürsten- und Grafentöchter erzogen! Dieses hier aber war doch einfach Cancan! Ich verging vor Scham, ich verging, ich verging! Ich hielt es einfach nicht aus! ...“

„Aber waren Sie denn selbst bei Natalja Dmitrijewna? Sie sind doch ...“

„Ich weiß, sie hat mich vor einer Woche beleidigt. Ich sage das einem jeden ganz offen. Mais, ma chère, ich wollte wenigstens durch einen Türspalt diesen Fürsten mir ansehen und so fuhr ich hin. Wo hätte ich ihn denn sonst sehen können? Würde ich denn zu ihr gefahren sein, wenn es sich nicht um diesen elenden Fürsten gehandelt hätte? Denken Sie sich: allen wird Schokolade gereicht, nur mir nicht! Und sie selbst spricht kein Wort mit mir. Das hat sie doch mit Absicht getan ... Diese Verleumderin! Ich werde ihr aber jetzt! ... Doch adieu, mon ange, adieu, ich eile, ich eile ... Ich muß unbedingt noch Akulina Panfilowna zu Hause antreffen und ihr erzählen ... Nur sagen Sie jetzt Ihrem Fürsten Lebewohl! Den werden Sie nicht mehr wiedersehen. Wissen Sie, er hat ja kein Gedächtnis – und so wird ihn Anna Nikolajewna unbedingt bei sich behalten! Alle fürchten dort, daß Sie ... vous comprenez? – in bezug auf Sina ...“

Quelle horreur!

„Sie können mir aufs Wort glauben! Die ganze Stadt spricht nur noch davon. Anna Nikolawjewna will ihn unbedingt zum Essen bei sich behalten und dann, versteht sich, auf immer! Das macht sie Ihnen zum Trotz, um Sie zu schikanieren, mon ange. Ich habe durch einen Zaunspalt in ihren Hof gelauert: ein Hasten und Treiben ist dort, sag ich Ihnen! – in der Küche wird gebraten, gebacken, mit Messern gehackt ... sogar nach Champagner ist geschickt worden. Eilen Sie, eilen Sie, fangen Sie ihn unterwegs auf, wenn er zu ihr fährt. Er hat Ihnen doch zuerst zugesagt! Er ist Ihr Gast und nicht Anna Nikolajewnas! Und nur, damit diese geriebene, abgefeimte, ungebildete Person über uns lachen kann! Sie ist nicht einmal meine Schuhsohle wert, wenn sie auch Frau Staatsanwalt ist! Ich bin selbst die Frau eines Obersten! Ich bin in Madame Jarnies aristokratischer Pension erzogen worden ... Mais adio, mon ange! Ich habe meinen Schlitten, sonst würde ich mit Ihnen fahren ...“

Die wandernde Zeitung verschwand. Marja Alexandrowna zitterte vor Aufregung, aber der erteilte Rat war äußerst klar und praktisch. Sie hatte keine Zeit zu versäumen. Nur galt es vorher noch die größte Schwierigkeit zu überwinden. Marja Alexandrowna eilte in das Zimmer ihrer Tochter.

Sina ging, die Arme über der Brust gekreuzt, den Kopf gesenkt, bleich und verstört in ihrem Zimmer umher. Ihre Augen waren verweint, doch in ihrem Blick, den sie auf die Mutter richtete, lag Entschlossenheit. Sie unterdrückte schnell ihre Tränen und ein sarkastisches Lächeln erschien auf ihren Lippen.

„Mama,“ sagte sie, um ihrer Mutter vorzugreifen, „du hast viel von deiner Redekunst an mich vergeudet, gar zu viel. Du hast mich aber doch nicht blind gemacht. Ich bin kein Kind. Mir einzubilden, daß ich gegebenenfalls die Tat einer barmherzigen Schwester vollbrächte, wenn ich dazu nicht im geringsten berufen bin, eine niedrige Handlungsweise mit edlen Zielen rechtfertigen zu wollen – das ist ein Jesuitismus, der mich nicht betören kann. Höre: das hat mich nicht betören können und ich will, daß du das vor allem weißt!“

„Aber, mon ange!“ rief etwas ängstlich Marja Alexandrowna aus.

„Schweig, Mama! Hab’ bitte die Geduld, mich bis zu Ende anzuhören. Trotz der vollen Erkenntnis dessen, daß es nichts als Jesuitismus ist, trotz meiner vollen Überzeugung von der unentschuldbaren Niedrigkeit dieser Handlung, – trotzdem gehe ich auf deinen Vorschlag vollkommen ein, hörst du: vollkommen, und erkläre dir, daß ich einverstanden bin, den Fürsten zu heiraten und sogar einverstanden, dich in allen deinen Bemühungen zu unterstützen, um ihn zu einem Heiratsantrag zu bringen. Wozu ich es tue? – Das ist meine Sache. Dir mag es genügen, daß ich mich entschlossen habe ... Jawohl, ich bin zu allem entschlossen: ich werde ihm die Stiefel reichen, ich werde seine Wärterin sein, ich werde ihm zu seinem Vergnügen vortanzen, um meine Niedrigkeit vor ihm zu verdecken; ich werde alles, alles tun, nur damit er es nicht bereut, daß er mich geheiratet hat! Doch als Gegenleistung für meinen Entschluß verlange ich, daß du mir offen sagst, auf welche Weise du es durchsetzen willst, daß er um mich anhält? Wenn du in so bestimmtem Tone davon zu sprechen angefangen hast, so – ich kenne dich – so hast du unfehlbar einen festen Plan gefaßt. Sei jetzt wenigstens einmal im Leben aufrichtig! Diese Aufrichtigkeit ist die einzige Bedingung, die ich stelle. Ich kann nicht darauf eingehen, wenn ich nicht vorher genau weiß, was du tun wirst.“

Marja Alexandrowna war von dem unerwarteten Entschluß ihrer Tochter so bestürzt, daß sie eine ganze Weile wie taub und stumm vor ihr stand und sie nur aus weit offenen Augen anstarrte. Sie konnte noch nicht einmal denken vor Verwunderung. Sie hatte sich darauf gefaßt gemacht, lange noch mit der trotzigen „Romantik“ ihrer Tochter, deren schroffes Anstandsgefühl sie stets gefürchtet hatte, kämpfen zu müssen, und nun hörte sie plötzlich, daß diese vollkommen mit allem einverstanden und zu allem bereit war, und sogar gegen ihre Überzeugung! Nein, wenn es so stand, dann erhielt ja die Sache eine ungewöhnliche „Solidität“, – und Freude erglänzte in Marja Alexandrownas Augen.

„Sinachen!“ rief sie begeistert aus, „Sinachen! Du bist mein Fleisch und mein Blut!“

Mehr konnte sie nicht hervorbringen und sie eilte zur Tochter, um sie in ihre Arme zu schließen.

„Ach, mein Gott! Ich habe dich nicht um deine Umarmungen gebeten, Mama!“ wehrte sich Sina mit angeekelter Gereiztheit. „Ich brauche dein Entzücken nicht! Ich verlange von dir nur eine Antwort auf meine Frage und nichts weiter.“

„Aber, Sina, ich habe dich doch lieb, mein Kind! Ich vergöttere dich, du aber stößt mich von dir ... ich tue es doch nur in der Sorge um dein Glück ...“

Tränen erglänzten in ihren Augen. Marja Alexandrowna liebte ihre Tochter tatsächlich, nur tat sie es – auf ihre Art. Und diesmal waren ihr der Erfolg und die Aufregung allerdings nahe gegangen. Sina begriff, daß die Mutter sie liebte und – diese Liebe bedrückte sie.

„Nun, sei mir nicht böse, Mama, ich bin nur so aufgeregt,“ sagte sie, um die Mutter zu beruhigen.

„Ich bin nicht böse, ich bin nicht böse, mein Engelchen!“ versicherte Marja Alexandrowna, im Augenblick wieder belebt, „ich begreife es doch, daß du erregt bist. Sieh, mein Kind, du verlangst volle Aufrichtigkeit ... Schön, ich werde aufrichtig sein, vollkommen aufrichtig, glaube mir: Wenn du mir nur glauben wolltest! Aber ich sage dir, daß ich einen bestimmten Plan, der in allen Punkten festgesetzt wäre, noch nicht habe, Sinachen, und das ist ja auch ganz unmöglich. Du, als kluges Köpfchen, wirst doch verstehen, weshalb nicht. Ich sehe sogar einige Schwierigkeiten voraus ... Soeben hat mir diese Klatschbase da die Ohren vollgeblasen ... Ach, mein Gott! Ich müßte mich beeilen! – Sieh, ich bin vollkommen aufrichtig, mein Kind! Aber ich schwöre dir, ich werde das Ziel erreichen!“ beteuerte sie begeistert. „Meine Überzeugung ist durchaus nicht poetischer Natur, wie du vorhin sagtest, mein Engel. Sie beruht auf der Wirklichkeit, auf Tatsachen ... Sie beruht auf der völligen Gedächtnisschwäche des Fürsten, – die aber ist doch derart! ... ist doch ein solcher Kanevas, daß man alles auf ihm ausnähen kann – was man nur will! Die Hauptsache ist, daß man uns nicht stört! Aber wie sollen denn diese Gänse mich überlisten!“ rief Marja Alexandrowna stolz aus, schlug mit der Hand auf den Tisch und ihre Augen blitzten. „Das laß nur meine Sache sein! Nur – jetzt ist das Wichtigste, daß man sofort beginnt ... Wenn es nur irgend geht, muß heute noch das Hauptsächlichste erledigt werden.“

„Gut, Mama, nur höre jetzt noch ein ... aufrichtiges Geständnis: Weißt du, weshalb ich mich für deinen Plan so interessiere und ihm nicht traue? Weil ich mich auf mich selbst nicht verlassen kann. Ich habe dir gesagt, daß ich mich zu dieser Schändlichkeit entschlossen habe, wenn aber die Einzelheiten deines Planes gar zu widerlich sind, gar zu schmutzig, so erkläre ich dir im voraus, daß ich es alsdann nicht aushalten und mich dann von dem ganzen Vorhaben zurückziehen werde. Ich weiß, daß das eine neue Schändlichkeit ist: sich zu einer Schändlichkeit zu entschließen und den Schmutz zu fürchten, in dem sie schwimmt, – doch was soll ich tun? Es wird ja bestimmt so sein! ...“

„Aber, Sinachen, wo ist denn hier eine so besondere Schändlichkeiten, mon ange?“ wagte die Mutter schüchtern einzuwenden. „Hier handelt es sich doch nur um eine vorteilhafte Heirat, und dazu entschließen sich doch alle! Man braucht ja nur von diesem Standpunkt aus zu sehen, und alles wird dann sogar sehr anständig erscheinen ...“

„Ach, Mama, spiel’ doch um Gottes willen nicht Verstecken mit mir! Du siehst doch, ich bin mit allem, mit allem, einverstanden! – was willst du denn noch mehr? Bitte, fürchte dich nicht, wenn ich die Dinge bei ihrem richtigen Namen nenne. Vielleicht ist das jetzt – meine einzige Beruhigung.“

Ein bitteres Lächeln erschien auf ihren Lippen.

„Nun, nun, schon gut, mein Engelchen, man kann in den Gedanken nicht ganz übereinstimmen und dennoch sich gegenseitig achten. Nur, – wenn dich die Einzelheiten beunruhigen und du fürchtest, daß sie schmutzig sein könnten, so überlaß diese Sorgen vollkommen mir: ich schwöre dir, daß kein Tröpfelchen Schmutz auf dich spritzen wird. Will ich dich denn vor allen kompromittieren? Verlaß du dich nur auf mich und alles wird vorzüglich und durchaus anständig arrangiert werden, die Hauptsache ist – durchaus anständig, sogar vornehm! Es wird nicht den geringsten Skandal geben, und selbst wenn es auch so ein kleines, unvermeidliches Skandälchen geben sollte, – so ... irgendwie! – so sind wir dann doch schon über alle Berge! Wir werden doch nicht hier bleiben! Mögen sie dann schreien, soviel sie wollen – was geht das uns an? Sie werden uns ja doch nur beneiden. Und sind diese Menschen es denn überhaupt wert, daß man sich um sie kümmert? Es wundert mich eigentlich, Sinachen, sei mir nicht böse, – daß du bei deinem Stolz sie so fürchtest!“

„Ach, Mama, ich fürchte sie durchaus nicht! Du willst mich nur nicht verstehen!“ antwortete Sina gereizt.

„Nun, nun, mein Seelchen, sei mir nicht böse! Ich sage ja nur, daß sie selbst an jedem Tage, den Gott werden läßt, Schändlichkeiten begehen, du aber würdest dann nur ein einziges Mal im Leben ... aber was fällt mir ein! Was rede ich dumme Person! Durchaus keine Schändlichkeit! Wo ist hier eine Schändlichkeit, oder was soll hier schmutzig sein, wie du sagst? Im Gegenteil, es ist sogar sehr edel von dir. Ich werde es dir beweisen, mein Kind. Erstens, ich wiederhole: es hängt alles nur davon ab, von welchem Standpunkt aus man auf die Sache sieht ...“

„Ach, hör’ doch auf, Mama, mit deinen Beweisen!“ unterbrach Sina sie zornig und stampfte mit dem Fuß auf.

„Nun, mein Seelchen, ich werde nicht, ich werde nicht! Ich habe mich wieder verplappert ...“

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Marja Alexandrowna folgte unruhig ihrer Tochter und suchte zaghaft deren Blick, wie etwa ein kleines, unartig gewesenes Schoßhündchen seiner Herrin in die Augen sieht.

„Ich begreife nicht einmal, wie du es beginnen willst,“ sagte Sina, die ihren Ekel niederrang. „Ich bin überzeugt, daß du nur auf Schande stoßen wirst. Ich verachte die Meinung dieser Leute, aber für dich, Mama, wird es eine Schande sein.“

„O, wenn nur das allein dich beunruhigt, mein Engel – deshalb mach dir keine Sorgen! Ich bitte dich, ich flehe dich an! Wenn nur wir uns einigen – um mich brauchst du dich nicht im geringsten zu beunruhigen. Ach, wenn du wüßtest, aus welchen Bädern ich mich trocken herausgearbeitet habe! Ich habe noch ganz anderes erlebt und durchgehalten! Nun, erlaub mir nur wenigstens, dies da zu versuchen! Jedenfalls ist das Wichtigste, daß wir so bald als irgend möglich mit dem Fürsten allein sind. Das ist das erste! Alles übrige wird nur davon abhängen! Aber ich fühle auch das schon alles voraus. Sie werden sich alle empören, aber ... das macht nichts! Ich werde sie abzufertigen wissen! Nur Mosgljäkoff fürchte ich noch ...“

„Mosgljäkoff?“ fragte Sina verächtlich.

„Nun ja, Mosgljäkoff. Das heißt, fürchte du dich nicht, Sinachen! Ich schwöre dir, ich werde ihn so weit bringen, daß er uns noch helfen wird! Du kennst mich noch nicht, Sinachen! Du weißt noch nicht, was ich in der Tat leisten kann! Ach, Sinachen, mein Seelchen! Vorhin, als ich von der Ankunft dieses Fürsten hörte, kam mir sofort der Gedanke! Es kam im Augenblick wie eine Erleuchtung über mich. Und wer, sag’ doch selbst, wer hätte es erwarten können, daß er ausgerechnet bei uns absteigen würde? Eine solche Gelegenheit wird es ja in tausend Jahren nicht wieder geben! Sinachen! Mein Engelchen! Nicht das ist ehrlos, daß du einen Greis und Krüppel heiratest, sondern daß du einen heiratest, den du verabscheust und nicht ertragen kannst und dennoch in Wirklichkeit seine Frau sein wirst! Dem Fürsten aber wirst du doch nicht eine wirkliche Frau sein. Mit ihm: das ist doch keine Ehe! Das ist einfach ein häuslicher Kontrakt! Er gewinnt doch nur dabei, – ihm, diesem Esel, gibt man ein solches Glück! Ach, Sinachen, du weißt ja gar nicht, wie schön du heute bist! Du bist nicht nur schön, du bist geradezu wunderbar! Ich würde, wenn ich ein Mann wäre, dir ein halbes Königreich verschaffen, wenn du es nur wolltest! Esel sind sie alle! Wie soll man diese Hand nicht küssen?“ – Und Marja Alexandrowna küßte leidenschaftlich der Tochter die Hand. „Das ist ja doch mein Körper, mein Fleisch, mein Blut! Man muß ihn, wenn nicht anders, mit Gewalt zur Heirat zwingen, den Esel! Aber wie wir dann leben werden, Sinachen! Du wirst doch deine Mutter nicht fortjagen, wenn du im Glück lebst? Wir haben uns ja oft gestritten, mein Engelchen, aber immerhin hast du doch keinen so treuen Freund gehabt wie mich ... immerhin ...“

„Mama! Wenn du dich bereits entschlossen hast, so ist es vielleicht gut für dich ... etwas zu tun. Hier aber verlierst du nur Zeit!“ sagte Sina ungeduldig.

„Es ist Zeit, es ist Zeit, Sinachen, gewiß ist es höchste Zeit, daß ich gehe! Ach! Ich habe hier so lange geschwatzt!“ Marja Alexandrowna kam zur Besinnung. „Sie wollen uns dort alle den Fürsten entreißen. Ich fahre im Augenblick! Ich werde einfach vorfahren, Mosgljäkoff herausrufen lassen und dann ... Ich werde ihn mit Gewalt fortbringen, wenn’s darauf ankommt! Leb wohl, Sinachen, auf Wiedersehen, mein Täubchen, laß den Mut nicht sinken, zweifle nicht, sei nicht traurig, vor allem – sei nicht traurig! Alles wird vorzüglich, wird äußerst vornehm arrangiert werden! Die Hauptsache ist ja nur, von welchem Standpunkt aus man die Sache auffaßt ... nun, leb wohl, leb wohl! ...“

Marja Alexandrowna bekreuzte ihre Tochter, eilte dann in ihr Zimmer, drehte sich dort einen Augenblick vor dem Spiegel und zwei Minuten später rollte sie schon in ihrer Equipage, die um diese Zeit immer für den Fall einer Ausfahrt angeschirrt stand, durch die Straßen von Mordassoff: Marja Alexandrowna lebte „en grand“.

„Nein, ihr seid nicht die Rechten, mich zu überlisten!“ dachte sie, als sie in ihrem Wagen saß. „Sina ist einverstanden, folglich ist die halbe Arbeit schon getan, und hier nun sollte es mir nicht gelingen! Unsinn! Ja, die Sina! Sie hat doch eingewilligt ... endlich! Also auch auf dein Köpfchen können andere Berechnungen ihren Einfluß haben! Ich habe ihr aber auch eine verlockende Perspektive ausgemalt! Die Wirkung hat endlich einmal nicht versagt: Aber ... es ist ja ganz unfaßlich, wie schön sie heute aussieht! Ich würde mit ihrer Schönheit halb Europa nach meinem Wunsch umdrehen! Nun, warten wir ab ... Der Shakespeare wird ihr schon aus dem Kopf kommen, wenn sie erst Fürstin ist und gewisse Dinge kennen lernt. Was kennt die denn? Mordassoff und ihren Lehrer! ... Hm ... Aber was für eine Fürstin sie sein wird! Ich liebe diesen Stolz an ihr. Diese Kühnheit! Wie unnahbar sie ist! Ein Blick von ihr – und eine Königin hat einen angesehen! Wie, wie soll man denn nicht seinen eigenen Vorteil begreifen? Endlich hat sie ihn denn auch begriffen! Wird auch das übrige begreifen ... Ich werde doch immerhin bei ihr sein. Ich werde schon dafür sorgen, daß sie in allen Punkten mit mir übereinstimmt! Ohne mich aber wird sie nicht auskommen! Ich werde selbst Fürstin sein, auch in Petersburg wird man mich kennen lernen. Leb wohl dann, erbärmliches Städtchen! Dieser Fürst wird sterben und auch dieser Knabe wird sterben und dann werde ich sie mit einem regierenden Fürsten verheiraten! ... Nur eines macht mir Sorge: habe ich mich ihr nicht zu sehr anvertraut? Bin ich nicht zu offenherzig gewesen, zu gefühlvoll vielleicht? Sorgen macht sie mir, weiß Gott ... ich fürchte sie fast ...“

Und Marja Alexandrowna wurde nachdenklich. Es läßt sich nicht leugnen: sie hatte allen Grund, besorgt zu sein. Sagt man doch in manchen Fällen ganz mit Recht: Leidenschaft sehr oft viel Leiden schafft.

Als Sina allein zurückgeblieben war, ging sie noch lange auf und ab in ihrem Zimmer, die Arme verschränkt und mit ihren Gedanken beschäftigt. Sie dachte über vieles nach. Fast unbewußt murmelte sie immer wieder: „Es ist Zeit, es ist Zeit, es wäre schon lange Zeit dazu gewesen!“ Was hatte dieser Ausruf zu bedeuten? Mehr als einmal blitzten Tränen in ihren langen, seidigen Wimpern. Sie dachte nicht daran, ihrer Stimmung Gewalt anzutun. Doch die Sorgen ihrer Mutter waren ganz überflüssig. Umsonst bemühte sie sich, hinter die Gedanken ihrer Tochter zu kommen: Sina hatte sich endgültig entschlossen und sich auf alle Folgen gefaßt gemacht.

„Wart mal!“ dachte Nastassja Petrowna Sjäblowa, als sie nach der Abfahrt der Frau Oberst Karpuchina aus der dunklen Kleiderkammer wieder hinausschlich. „Und ich wollte mir schon eine rosa Schleife anstecken, für diesen elenden Fürsten! Auch ich dumme Gans glaubte, daß er mich heiraten würde! Da hast du’s jetzt – rosa Schleife! Aber Marja Alexandrowna! Ich soll also ein Schmierpinsel sein, ich soll mich mit zweihundert Rubel bestechen lassen! Das fehlte noch, daß ich dir etwas abließe oder unentgeltlich machte, du falsche Person! Ich nahm das Geld auf ehrliche Weise; ich nahm es für die mit dem Vorhaben verknüpften Ausgaben ... Vielleicht habe ich selbst bestechen müssen! Was geht das dich an, ob ich mit eigenen Händen das Schloß aufgebrochen oder andere dafür bezahlt habe! Ich habe doch für dich gearbeitet und du schonst deine Hände! Du willst immer nur auf Kanevas ausnähen! Wart mal, ich werde dir zeigen, was Kanevas ist! Ich werde euch beiden zeigen, was für ein Schmierpinsel ich bin! Ihr sollt einmal Nastassja Petrowna und deren ganze Bescheidenheit kennen lernen!“

VII.

Doch Marja Alexandrowna ließ sich von ihrer Eingebung fortreißen. Sie hatte einen großen und gewagten Plan. Ihre Tochter an einen Krösus, einen Fürsten und Krüppel zu verheiraten, und zwar so, daß niemand es erfuhr, mit Ausnutzung der Geistesschwäche und Schutzlosigkeit ihres Gastes, sie gewissermaßen auf „diebische Weise“, wie ihre Feinde unfehlbar sagen würden, zu verheiraten, – das war nicht nur gewagt, sondern geradezu vermessen. Freilich war der Plan verlockend vorteilhaft, aber im Fall des Mißlingens wurde die, welche ihn entworfen hatte, doch wohl mit ewiger, untilgbarer Schande bedeckt. „Ich habe mich aus noch ganz anderen Bädern trocken herausgearbeitet!“ hatte sie zu Sina gesagt und sie hatte recht. Was wäre sie denn auch sonst für eine Heldin gewesen!

Zweifellos glich das ganze Vorhaben ein wenig einem Überfall auf offener Straße, doch Marja Alexandrowna schenkte auch dem nicht gar zu viel Aufmerksamkeit. Sie hatte in der Beziehung einen erstaunlich richtigen Gedanken: „Sind sie erst getraut, so können sie die Trauung nicht mehr ungeschehen machen,“ – ein überaus einfacher und einleuchtender Gedanke, der aber die Phantasie mit so ungewöhnlichen Vorteilen anlockte, daß es Marja Alexandrowna bei der blassen Vorstellung dieser Vorteile kalt überlief und sie am ganzen Körper gestochen zu werden glaubte. Überhaupt befand sie sich in ungewöhnlicher Aufregung und saß wie auf Nadeln. Als inspirationsfähige Frau, die fraglos mit Schöpfergeist begabt war, hatte sie bereits einen Schlachtplan entworfen, versteht sich, vorläufig noch skizzenhaft, überhaupt – en grand, halb noch schleierhaft sah sie ihn vor ihrem geistigen Auge. Es standen eine Unmenge Einzelheiten und verschiedene unvorhergesehene Zwischenfälle bevor. Marja Alexandrowna glaubte jedoch an sich: sie regte sich nicht etwa aus Furcht vor dem Mißlingen auf, – o nein! Sie wollte nur schneller beginnen, sich schneller in den Kampf stürzen können. Ungeduld, edle Ungeduld erfaßte sie bei dem Gedanken an die bevorstehenden Hindernisse und möglichen Zwischenfälle. Ich will das deutlicher erklären. Die größte Gefahr ahnte und erwartete Marja Alexandrowna von ihren verehrten Mitbürgern, den Mordassowern, und vornehmlich von der höheren Gesellschaft der Mordassower Damen, deren unversöhnlichen Haß sie aus Erfahrung kannte. Zum Beispiel wußte sie mit tödlicher Sicherheit, daß man in der Stadt bereits alle ihre Absichten ahnte, obgleich noch niemand ein Wort darüber gesprochen hatte. Aus mehrfach gemachter trauriger Erfahrung wußte sie, daß es noch nie ein Geheimnis in ihrem Hause gegeben hatte, selbst wenn es das geheimste war, das nicht binnen zwölf Stunden jedes Hökerweib auf dem Markt, jeder einzelne Ladenverkäufer wußte. Versteht sich: Marja Alexandrowna ahnte ja vorläufig nur die Gefahren, aber solche Vorahnungen betrogen sie nie. Auch diesmal betrogen sie sie nicht. Was aber inzwischen geschehen war und was sie noch nicht mit ganzer Sicherheit wußte, war folgendes:

Um die Mittagszeit, also genau drei Stunden nach der Ankunft des Fürsten in Mordassoff, verbreiteten sich in der Stadt absonderliche Gerüchte. Wie und wo sie entstanden waren, weiß niemand, aber verbreitet hatten sie sich fast in einem Augenblick. Alle versicherten einander, daß Marja Alexandrowna ihre Sina mit dem Fürsten bereits verkuppelt habe, daß Mosgljäkoff der Laufpaß gegeben worden und somit eben alles so gut wie besiegelt und unterschrieben sei. Was war die Veranlassung zu diesen Gerüchten gewesen? Sollten die Leute wirklich Marja Alexandrowna so gut gekannt haben, daß sie sofort auf den Kernpunkt aller ihrer tiefinnerlichen Gedanken und Ideale verfielen? Doch weder die Unvereinbarkeit eines solchen Gerüchts mit der gewöhnlichen Ordnung der Dinge – denn so etwas läßt sich doch nur äußerst selten in einer Stunde abmachen – noch die freie Erfindung derselben – denn es vermochte niemand anzugeben, woher dieses Gerücht stammte – konnten den Mordassowern den Glauben daran nehmen. So kam es, daß das Gerücht sich hartnäckig weiter verbreitete und folglich immer glaubwürdiger wurde. Am erstaunlichsten ist aber, daß es sich schon zu der Zeit zu verbreiten begann, als Marja Alexandrowna sich eben erst zu jenem Gespräch mit Sina anschickte. Wie fein muß nach alledem der Spürsinn der Provinzler sein. Der Instinkt des Kleinstädters grenzt bisweilen geradezu ans Wunderbare – und das hat freilich auch seine Gründe: er fußt auf dem intimsten, langjährigen Studium des Nächsten, das mit größtem Interesse getrieben wird. Ein jeder Kleinstädter lebt wie unter einer Glasglocke. Es gibt absolut keine Möglichkeit, auch nur irgend etwas vor seinen ehrenwerten Mitbürgern zu verbergen. Alle kennen einen auswendig, ja sie wissen sogar das, was man noch nicht einmal selbst von sich weiß. Der Kleinstädter müßte, denke ich, allein schon seiner Natur nach Psychologe und Gedankenleser sein. Deshalb hat es mich auch zuweilen aufrichtig gewundert, daß ich in der Provinz so oft statt dieser Psychologen und Gedankenleser so auffallend viel Esel angetroffen habe. Doch das war nur nebenbei gesagt und eine ganz überflüssige Bemerkung.

Das Gerücht nun war von ungeheurer Wirkung. Die Verheiratung mit dem Fürsten erschien einem jeden dermaßen vorteilhaft, dermaßen „glänzend“, daß das Sonderbare an einer solchen Heirat keinem einzigen weiter auffiel. Hier muß ich noch eines bemerken: Sina wurde fast noch mehr gehaßt, als Marja Alexandrowna, – weshalb? – das vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht war zum Teil ihre Schönheit der Grund zu diesem Haß. Vielleicht kam auch noch hinzu, daß Marja Alexandrowna immerhin von „unserem Schlage“ war. Hätte sie die Stadt verlassen, so würde man es – wer weiß? – noch bedauert haben. Sie unterhielt die Gesellschaft mit ihren beständigen Geschichten. Ohne sie wäre es vielleicht langweilig gewesen. Sina dagegen verhielt sich so, als lebte sie in den Wolken und nicht in der Stadt Mordassoff. Sie paßte nicht zu diesen Leuten, sie stand nicht auf ihrer Stufe, gab sich nicht als Gleichstehende, benahm sich vielmehr – vielleicht ohne es selbst zu wissen – unerträglich hochmütig zu ihnen. Und nun plötzlich sollte „diese Sina“, von der man sich sogar „skandalöse Dinge“ zuraunte, diese anmaßende, stolze Sina – Millionärin, Fürstin werden und in die höchste Gesellschaft hineinkommen! Nach drei Jahren, wenn sie verwitwet ist, heiratet sie dann vielleicht einen Herzog, vielleicht sogar einen General oder vielleicht gar einen Gouverneur – und der Gouverneur unseres Gouvernements war gerade Witwer und hatte eine große Schwäche für das schöne Geschlecht. Dann würde sie die erste Dame im Gouvernement sein – und, versteht sich, dieser bloße Gedanke war bereits unerträglich, weshalb denn auch keine andere Nachricht so heftigen Unwillen in Mordassoff hätte hervorrufen können, als diese von der Vermählung Sinas mit dem Fürsten. Im Augenblick erhob sich eine wahre Wut von allen Seiten. Man nannte die Verbindung eine Sünde und eine Gemeinheit. Man sagte, der Alte sei nicht bei vollem Verstande, er sei betrogen worden, übertölpelt und das alles mit Ausnutzung seiner Geistesschwäche. Einige meinten sogar, daß man den Alten aus diesen blutgierigen Krallen erretten müsse, daß es geradezu Räuberei sei, und schließlich – inwiefern sei denn Sina besser als andere? Es könnten doch auch andere junge Mädchen ganz ebenso den Fürsten heiraten!

Alle diese Gespräche und Meinungsäußerungen ahnte Marja Alexandrowna vorläufig nur, aber das genügte ihr. Sie wußte ganz genau, daß alle, aber auch alle zu jedem Mittel, das möglich oder auch unmöglich war, zu greifen bereit wären, um die Verwirklichung ihrer Pläne zu verhindern. Wollte man doch den Fürsten schon für sich mit Beschlag belegen, so daß sie jetzt fast um ihn zu kämpfen hatte! Und wenn es ihr auch gelingen sollte, den Fürsten wieder einzufangen, so konnte sie ihn in ihrem Hause doch nicht festbinden! Und dann: wer bürgte dafür, daß heute, daß vielleicht nach kaum zwei Stunden das ganze Korps der Mordassower Damen in ihrem Salon erscheinen würde und noch dazu unter solchem Vorwande, daß man sie unmöglich nicht empfangen konnte? Läßt man an der Tür absagen, so kommen sie durch das Fenster herein: ein fast unmöglicher Fall, sollte man meinen, der aber nichtsdestoweniger in Mordassoff vorgekommen ist. Kurz, es war keine Stunde, keine Sekunde zu verlieren – und dabei war noch nichts getan worden, nicht einmal angefangen hatte sie ihr Werk! Da kam ihr plötzlich ein genialer Gedanke und reifte im Augenblick in ihrem klugen Kopf. Von diesem neuen Einfall werden wir an der richtigen Stelle nicht zu sprechen vergessen, vorläufig aber sagen wir nur, daß unsere Heldin in diesem Augenblick durch die Straßen von Mordassoff rollte, zornig und begeistert, entschlossen zu einem regelrechten Kampf, falls nur ein solcher erforderlich sein sollte, um sich des Fürsten von neuem zu bemächtigen. Sie wußte noch nicht, wie sie es machen und wo sie ihn einfangen würde, dafür aber wußte sie mit unerschütterlicher Sicherheit, daß eher ganz Mordassoff untergehen würde, als daß auch nur ein Jota ihrer Absichten nicht in Erfüllung ginge.

Der erste Schritt glückte ihr besser als sie erwartet hätte. Sie traf den Fürsten auf der Straße an und brachte ihn zu sich zum Mittagessen. Wenn man jetzt fragen wollte, wie es ihr denn trotz aller Ränke ihrer Feinde gelang, ihren Willen durchzusetzen und Anna Nikolajewna mit einer langen Nase auf den Gast vergeblich warten zu lassen, so bin ich gewissermaßen verpflichtet, hierauf zu antworten, daß ich diese Frage geradezu für eine Beleidigung Marja Alexandrownas halte. Sie sollte irgend so eine Anna Nikolajewna Antipowa nicht besiegen können? Sie verhaftete einfach den Fürsten, der fast schon vor dem Hause ihrer Gegnerin vorfuhr, und ohne auch nur auf irgend etwas Rücksicht zu nehmen – und dazu gehörten auch die Einwendungen Mosgljäkoffs, der einen Skandal befürchtete – setzte sie den alten Herrn in ihre Equipage. Gerade darin zeichnete sich ja Marja Alexandrowna vor ihren Feindinnen aus, daß sie in entscheidenden Momenten nicht viel nach anderen fragte und nicht einmal vor einem Skandal zurückschrak, da sie es nun einmal zu ihrem Grundsatz gemacht hatte, daß der Erfolg alles rechtfertige. Freilich leistete auch der Fürst keinen bedeutenden Widerstand, vergaß vielmehr nach seiner Gewohnheit bald den ganzen Zwischenfall und war dann sehr zufrieden. Bei Tisch schwatzte er ohne Unterlaß, war bei sehr guter Laune, machte Witzchen und erzählte Anekdoten, die er nicht beendete, oder er ging von der einen auf eine andere über, ohne es selbst zu merken. Bei Natalja Dmitrijewna hatte er drei Glas Champagner getrunken. Bei Tisch trank er auch noch, denn Marja Alexandrowna schenkte ihm eigenhändig ein, bis er dann endgültig den letzten Rest seines ohnehin mangelhaften klaren Bewußtseins verlor. Das Essen an sich war tadellos. Der „schändliche“ Nikitka hatte es zum Glück nicht verdorben. Die Hausfrau belebte die ganze Tischgesellschaft mit ihrer bezaubernden Liebenswürdigkeit. Leider waren die übrigen Anwesenden um so langweiliger. Sina war gewissermaßen feierlich stumm. Mosgljäkoff fühlte sich offenbar nicht gemütlich und aß und trank wenig. Er schien über etwas nachzudenken, und da dieses ziemlich selten an ihm zu bemerken war, so beunruhigte es Marja Alexandrowna nicht wenig. Nastassja Petrowna Sjäblowa hatte eine finstere Miene aufgesetzt und machte Mosgljäkoff heimlich verschiedene absonderliche Zeichen, die dieser jedoch überhaupt nicht bemerkte. Wäre die Hausfrau nicht so liebenswürdig und heiter gewesen, so hätte das Mahl wahrlich eher an einen Leichenschmaus erinnert.

Dabei befand sich aber Marja Alexandrowna in unbeschreiblicher Aufregung. Allein schon Sinas ernstes Gesicht und ihre verweinten Augen ängstigten sie unsäglich. Und jetzt hieß es noch eine große Schwierigkeit überwinden: man mußte sich doch beeilen, es galt keinen Augenblick zu verlieren: dieser verwünschte Mosgljäkoff aber sitzt und rührt sich nicht, wie ein alter Schafskopf, der nichts zu tun hat und nur andere stört! Es geht doch wirklich nicht in seiner Gegenwart! Marja Alexandrowna erhob sich mit besorgtem, fast angstvollem Herzen. Wie groß war daher ihre Verwunderung, ihr freudiger Schrecken, wenn man sich so ausdrücken darf, als Mosgljäkoff, sogleich, nachdem sie die Tafel aufgehoben hatte, zu ihr trat und ganz unerwartet erklärte, daß er zu seinem größten Leidwesen, versteht sich – sie verlassen müsse.

„Wohin denn das?“ fragte Marja Alexandrowna mit ungeheurem Mitgefühl.

„Ja sehen Sie, Marja Alexandrowna,“ hub Mosgljäkoff etwas unruhig und betreten an, „es ist mir etwas äußerst Seltsames passiert. Ich weiß nicht einmal, wie ich es Ihnen sagen soll ... geben Sie mir um Gotteswillen einen Rat!“

„Was, was ist es denn?“

„Mein Pate Borodujeff, Sie wissen doch – jener Kaufmann ... der kam mir heute auf der Straße entgegen. Der gute Alte ist mir entschieden böse, macht mir Vorwürfe, sagt, ich sei stolz geworden. Jetzt bin ich zum dritten Male in Mordassoff und bin noch nicht ein einziges Mal bei ihm gewesen. Nun und heute mußte er mich fassen und da hat er mich denn aufgefordert: ‚Komm doch zum Tee zu mir!‘ sagte er. Jetzt ist es punkt vier, und den Tee trinkt er noch nach der alten Sitte, sobald er vom Mittagsschläfchen aufwacht, ungefähr um fünf. Was soll ich tun? gewiß, es ist ja, Marja Alexandrowna, – denken Sie nichts Schlechtes! Er hat doch meinen seligen Vater aus der Schlinge gezogen, damals, als dieser Kronsgelder verspielt hatte. Und deshalb wurde er dann auch mein Pate. Wenn meine Heirat mit Sinaïda Afanassjewna zustande kommt – nun, ich habe doch nur hundertundfünfzig Seelen. Er aber besitzt doch ein Kapital von einer Million Rubel, ja die Leute sagen sogar, er hätte noch mehr. Außerdem kinderlos. Gefällt man ihm, so vermacht er einem schließlich noch Hunderttausend testamentarisch. Und siebzig Jahre alt – bedenken Sie doch nur!“

„Ach, mein Gott! Worauf warten Sie dann noch! Weshalb zögern Sie denn?“ rief Marja Alexandrowna in fast unverhohlener Freude aus. „Aber so fahren Sie doch, fahren Sie doch unverzüglich zu ihm hin! Mit solchen Sachen darf man nicht scherzen. Deshalb! – ich wunderte mich die ganze Zeit während des Essens. Sie waren so nachdenklich! Fahren Sie, mon ami, fahren Sie! Aber Sie hätten ihm doch auch schon gleich am Morgen Ihre Aufwartung machen müssen, um ihm zu zeigen, daß seine Freundlichkeit Ihnen schmeichelt, daß Sie sie zu schätzen wissen! Ach, diese Jugend, diese Jugend!“

„Aber Sie haben doch selbst, Marja Alexandrowna,“ rief Mosgljäkoff verwundert aus, „Sie haben doch noch selbst verschiedene absprechende Bemerkungen über diese Bekanntschaft gemacht! Sie sagten doch noch vor kurzem, er sei ein Bauer, er habe einen langen Bart, stehe mit Schankwirten auf gleicher Stufe, mit ganz gewöhnlichen Leuten?“

„Ach, mon ami! Ich kann mich doch auch einmal irren, ich bin nicht unfehlbar! Ich entsinne mich dessen nicht mehr so genau ... vielleicht war ich in einer Stimmung, die ... Und schließlich, damals hatten Sie noch nicht um Sinachen angehalten ... Natürlich war das Egoismus meinerseits, aber jetzt muß ich doch unwillkürlich von einem anderen Standpunkte aus urteilen, und welche Mutter würde es mir in diesem Falle verdenken? Fahren Sie unverzüglich hin, zögern Sie keinen Augenblick! Sie müssen auch den Abend bei ihm zubringen ... ach, hören Sie! – erzählen Sie ihm auch von mir. Sagen Sie, daß ich ihn achte, liebe und überhaupt ihn zu schätzen weiß ... aber sagen Sie es nur nicht ungeschickt, nicht plump! Ach, mein Gott! Wie konnte ich nicht früher darauf verfallen! Ich hätte Sie sofort hinschicken müssen!“

„Sie haben mich erlöst, Marja Alexandrowna!“ Mosgljäkoff war entzückt. „Von nun an, Ehrenwort, werde ich Ihnen in allem gehorchen! Und glauben Sie mir, ich hatte förmlich Angst, es Ihnen zu sagen! ... Nun, auf Wiedersehen, ich gehe sogleich zu ihm! Entschuldigen Sie mich, bitte, bei Sinaïda Afanassjewna. Aber ich kehre ja ...“

„Ich segne Sie, mon ami! Sehen Sie nur zu, daß Sie nicht vergessen, ihm von mir zu erzählen! Er ist wirklich ein netter alter Mann. Ich habe schon längst meine Meinung über ihn geändert ... Und übrigens habe ich immer dieses Altrussische, Unverfälschte an ihm geliebt ... Au revoir, mon ami, au revoir!

„Das ist ja herrlich, daß der Teufel ihn mir vom Halse nimmt! Nein, da sieht man, Gott selbst steht mir bei!“ dachte sie, fast außer sich vor Freude.

Pawel Alexandrowitsch Mosgljäkoff trat ins Vorzimmer und zog seinen Pelz an, als plötzlich, wie aus der Erde emporgewachsen, Nastassja Petrowna Sjäblowa vor ihm stand: sie hatte offenbar auf ihn gewartet.

„Wohin wollen Sie?“ fragte sie und hielt ihn am Arm fest.

„Zu Borodujeff, Nastassja Petrowna! Mein Pate – er hat geruht, mich aus der Taufe zu heben ... Ein reicher Alter, wird mir vielleicht was hinterlassen, da muß man ihn günstig stimmen!“ ...

Mosgljäkoff war in der besten Stimmung.

„Zu Borodujeff! Nun, dann verzichten Sie auf die Braut!“ sagte Nastassja Petrowna schroff.

„Wieso verzichten?“

„Wieso! Sie glauben wohl, daß sie Ihnen schon gehört! Machen Sie doch nur die Augen auf: da will man sie ja mit dem Fürsten verkuppeln. Habe es selbst gehört.“

„Mit dem Fürsten? Erbarmen Sie sich, Nastassja Petrowna!“

„Was ist da sich zu erbarmen! Ist es Ihnen nicht gefällig, sich selbst davon zu überzeugen? Werfen Sie den Pelz fort und kommen Sie!“

Der halbbetäubte Mosgljäkoff warf seinen Pelz von den Schultern und folgte der Sjäblowa auf den Fußspitzen. Sie führte ihn in dieselbe dunkle Kleiderkammer, in der sie auch am Vormittag gelauscht hatte.

„Aber ich bitte Sie, Nastassja Petrowna, ich verstehe entschieden nicht! ...“

„Das werden Sie sofort, wenn Sie sich nur ein wenig bücken und zuhören. Die Komödie wird sicherlich bald beginnen.“

„Was für eine Komödie?“

„Pst! Sprechen Sie nicht so laut! Die Komödie besteht darin, daß man Sie einfach betrügt. Am Vormittag, als Sie mit dem Fürsten ausgefahren waren, hat Marja Alexandrowna ihre Sina eine ganze Stunde beredet, diesen Fürsten zu heiraten und hat dabei noch solche Köder ausgehängt, daß mir geradezu übel wurde. Ich habe hier alles gehört. Sina willigte ein. Und wie reizend Sie von den beiden betitelt wurden! Man hält Sie einfach für einen Dummkopf und Sina sagte ganz offen, daß sie Sie unter keiner Bedingung heiraten würde. Und ich war nicht minder dumm! Wollte mir noch eine rosa Schleife anstecken! Hören, Sie, hören Sie!“

„Aber das wäre doch die gottloseste Hinterlist, wenn das wahr ist!“ stotterte Mosgljäkoff, der mit dem dümmsten Gesicht Nastassja Petrowna ansah.

„So horchen Sie doch nur, dann werden Sie noch ganz andere Dinge hören.“

„Wo soll ich denn horchen?“

„Hier, sehen Sie doch, hier, hier ist ein Spalt ...“

„Aber, Nastassja Petrowna, ich ... ich bin nicht fähig, andere zu belauschen ...“

„Womit Sie jetzt kommen! Hier, mein Lieber, stecken Sie die Ehre mal in die Tasche: sind Sie hergekommen, so horchen Sie!“

„Aber ...“

„Und sind Sie wirklich nicht fähig dazu, so ziehen Sie bitte mit langer Nase ab! ... Ich tue es nur zu seinem Besten und er wird jetzt noch hochmütig! Mir kann es doch ganz egal sein. Ich werde nicht einmal bis zum Abend hier bleiben ...“

Mosgljäkoff tat sich Gewalt an und beugte sich zum Spalt. Sein Herz schlug laut, in seinen Schläfen hämmerte das Blut. Er wußte kaum, was er tat.

VIII.

So haben Sie denn die Zeit sehr angenehm verbracht bei Natalja Dmitrijewna?“ erkundigte sich Marja Alexandrowna, die mit gierigem Blick das Feld der bevorstehenden Schlacht übersah und das Gespräch mit einem möglichst unschuldigen Thema einleiten wollte. Das Herz klopfte ihr vor Aufregung und Erwartung.

Nach dem Essen war der Fürst in den „Salon“ geführt worden, in dem ihn die Hausfrau auch am Morgen empfangen hatte. Alle feierlichen Empfänge geschahen bei Marja Alexandrowna in diesem Salon, auf den sie sehr stolz war. Der alte Herr konnte sich nach den sechs Glas Champagner nicht mehr ganz sicher auf den Füßen halten. Dafür sprach er ohne Unterlaß. Marja Alexandrowna begriff, daß diese Lebhaftigkeit nur von kurzer Dauer sein könnte und der Gast bald schläfrig werden würde. Jetzt hieß es, den Augenblick ausnutzen. Freudig gewahrte sie, daß der wollüstige Greis mit eigentümlich leckeren Blicken ihre Sina betrachtete und ihr Mutterherz erzitterte vor Glück.

„Äußerst an–genehm,“ antwortete der Fürst. „Und wissen Sie, eine beispiellose Frau, diese Natalja Dmitrijewna, eine bei–spiel–lose Frau!“

Wie beschäftigt Marja Alexandrowna nun auch mit ihren großen Plänen war, so traf sie doch ein so lautes Lob ihrer Feindin mitten ins Herz.

„Was Sie sagen, mein Fürst!“ rief sie aus und ihre Augen blitzten. „Wenn sogar diese Natalja Dmitrijewna eine beispiellose Frau sein soll, dann weiß ich nicht, an was ich mich noch halten soll! Aber dann kennen Sie ja die hiesige Gesellschaft nicht im geringsten! Das ist doch nichts als eine Ausstellung der eigenen Tugenden, der eigenen edlen Gefühle, eine Komödie, nur eine äußere goldene Schale. Heben Sie diese Schale etwas auf und Sie werden eine ganze Hölle unter Blumen entdecken, ein ganzes Wespennest, in dem Sie bis auf den letzten Knochen verzehrt werden!“

„Ist’s möglich?“ fragte der Fürst erstaunt. „Das wun–dert mich!“

„Aber ich schwöre es Ihnen! Ah, mon prince! Hör, Sina, ich muß, ich muß doch dem Fürsten diesen lächerlichen und beschämenden Vorfall mit dieser Natalja erzählen, – in der vergangenen Woche, du weißt doch noch? Ja, Fürst, – das war dieselbe von Ihnen gepriesene Natalja Dmitrijewna, die Sie so entzückt hat. O, mein liebster Fürst! Ich schwöre Ihnen, ich bin keine Klatschbase! Aber ich muß es unbedingt erzählen – nur um Sie zu erheitern, um Ihnen hier in einer lebenden Probe, sozusagen durch ein optisches Glas zu zeigen, was das hier für Leutchen sind. Vor zwei Wochen kam diese Natalja Dmitrijewna zu mir. Es wurde Kaffee gereicht, ich aber mußte aus irgend einem Grunde den Salon auf einen Augenblick verlassen. Ich entsinne mich ganz genau, wieviel ich noch an Stückzucker in der silbernen Dose hatte: sie war noch ganz voll. Ich kehre zurück und was sehe ich? – es liegen nur noch drei Stückchen auf dem Boden der Dose. Außer Natalja Dmitrijewna war niemand im Zimmer gewesen. Wie finden Sie das! Sie ist eine reiche Hausbesitzerin! Dieser kleine Zwischenfall ist natürlich lächerlich, aber hiernach können Sie auf die Sittlichkeit der ganzen hiesigen Gesellschaft schließen!“

„Ist es mög–lich!“ Der Fürst war aufrichtig erstaunt. „Was für eine un–natürliche Habgier! Und sie hat alles allein aufgegessen?“

„Nun sehen Sie, was für eine beispiellose Frau sie ist, mein Fürst! Wie gefällt Ihnen diese schmachvolle Episode? Ich würde, glaube ich, noch in derselben Minute sterben, in der ich mich zu einer so widerlichen Handlung entschlossen hätte!“

„Nun ja, nun ja ... Nur, wissen Sie, sie ist doch immerhin belle femme.“

„Wer? Doch nicht Natalja Dmitrijewna? Aber ich bitte Sie, Fürst, sie ist doch einfach ein Marktweib! Ah, mon prince, mon prince! Was haben Sie da gesagt! Ich habe von Ihnen viel mehr Geschmack erwartet ...“

„Nun ja, ein Markt–weib ... nur wissen Sie, sie ist so gebaut ... Nun ja, und dieses Mädchen, das dort tanzte, ist gleichfalls ... so gebaut ...“

„Meinen Sie die Ssonjä? Aber sie ist ja noch ein Kind, Fürst! Sie ist erst vierzehn Jahre alt!“

„Nun ja ... nur, wissen Sie ... sie ist so graziös und bei ihr entwickeln sich gleichfalls ... Formen. So ein net–tes Ding. Und die an–de–re, die dort mit ihr tanz–te ... ent–wickelt sich gleichfalls ...“

„Ach, das ist eine arme Waise, Fürst! Sie wird von ihnen oft ins Haus gerufen.“

„Eine Wai–se! Nun ja, aber sie war schmutzig, wie gesagt, wenn sie doch we–nig–stens die Hände vor–her gewaschen hätte ... Aber sie ist, wie gesagt, gleichfalls ver–führerisch ...“

Während dieses Gesprächs betrachtete der Fürst Sina immer aufmerksamer und immer lüsterner durch sein Lorgnon.

Mais quelle charmante personne!“ murmelte er halblaut und schnalzte fast vor Wonne.

„Sina, spiel uns etwas vor, oder nein, singe uns ein Lied! Wenn Sie wüßten, wie schön sie singt, Fürst! Man kann sagen, sie ist eine Künstlerin, eine vollendete Künstlerin! Und wenn Sie wüßten, Fürst,“ fuhr Marja Alexandrowna halblaut fort, als Sina zum Flügel ging – sie hatte einen so ruhigen, fast schwebenden Gang, der dem Alten noch den letzten Gnadenstoß verlieh – „wenn Sie wüßten, was für eine Tochter sie ist! Wie sie zu lieben versteht, wie zärtlich sie zu mir ist! Welche Gefühle, welch ein Herz!“

„Nun ja, Gefühle ... und wis–sen Sie, ich habe nur eine einzige Frau gekannt, in meinem ganzen Leben, mit der ich ihre Schön–heit ver–glei–chen könnte,“ unterbrach der Fürst, dem der Mund immer mehr wässerte. „Das war die verstorbene Gräfin Nainskij, sie starb vor et–wa dreißig Jahren. Eine wun–der–bare Frau war sie, von un–beschreib–-licher Schönheit ... später heiratete sie noch ihren Koch ...“

„Ihren Koch, Fürst!?“

„Nun ja, ihren Koch ... einen Fran–zo–sen ... im Aus–lande. Sie hatte ihm dort im Aus–lande einen Grafen–ti–tel verschafft. Er war eine gu–te Er–schei–nung und sehr ge–bil–det ... mit einem kleinen Schnurr–bart ...“

„Und ... und ... wie lebten sie denn, mein Fürst?“

„Nun ja, sie lebten gut. Aber wie gesagt, sie gingen bald auseinander. Er plünderte sie vollkommen aus und fuhr dann fort. Sie waren wegen einer Sau–ce in Streit geraten ...“

„Mama, was soll ich spielen?“ fragte Sina.

„Ach, sing uns lieber etwas vor, Sinachen. Wie sie singt Fürst! Lieben Sie Musik?“

„O ja! Charmant, charmant! Ich liebe sehr Musik. Im Aus–lande war ich mit Beet–ho–ven bekannt.“

„Mit Beethoven! Denk dir, Sina, der Fürst war mit Beethoven bekannt!“ wiederholt Marja Alexandrowna entzückt. „Ach, Fürst! Waren Sie wirklich mit Beethoven bekannt?“

„Nun ja ... wir standen auf freundschaftlichem Fuß. Seine Nase hatte er be–ständig in der Tabaksdose. So ein komischer Mensch!“

„Beethoven?“

„Nun ja, Beethoven. Viel–leicht war es, wie gesagt, auch nicht Beet–ho–ven, sondern ir–gend ein an–de–rer Deut–scher. Dort gibt es sehr viel Deutsche ... Wie gesagt, ich habe ein wenig ver–wech–selt ...“

„Was soll ich denn singen, Mama?“ fragte Sina.

„Ach, Sina! Sing diese Romanze, in der, weißt du noch, soviel mittelalterlich Ritterliches war, diese Schloßherrin und ihr Troubadour ... Ach, Fürst! Wie ich dieses ganze Rittertum liebe! Diese Burgen, diese Schlösser! Dieses ganze mittelalterliche Leben! Diese Troubadours, Herolde, Turniere ... Ich werde begleiten, Sina. Setzen Sie sich hierher, Fürst, etwas näher! Ach, diese Schlösser, diese Burgen!“

„Nun ja ... diese Burgen. Ich liebe sie auch, diese Burgen,“ murmelte der Fürst entzückt, während er sein einziges Auge in Sina geradezu hineinbohrte. „Aber ... mon Dieu! – diese Romanze! ... Aber ... ich kenne diese Ro–manze. Ich habe sie vor langer Zeit gehört ... Sie er–in–nert mich so daran ... Ah, mon Dieu!“

Ich will nicht zu beschreiben versuchen, was mit dem Fürsten geschah, als Sina sang. Sie sang eine alte französische Ballade, die einmal sehr beliebt gewesen war. Sina hatte eine prachtvolle Stimme. Ihr reiner, klangvoller Kontraalt drang bis ins Herz hinein; ihr wundervolles Gesicht mit den herrlichen Augen, ihre schmalen, zarten Finger, mit denen sie die Blätter umwandte, ihre dunklen, glänzenden Haare, die zu einem schweren Knoten geschlungen waren, die sich hebende und senkende junge Brust, ihre ganze Gestalt, die stolz, schön und edel vor ihm stand – alles das schlug den armen Alten endgültig in seinen Zauberbann. Er verschlang sie mit den Blicken, als sie sang, er schluckte nur noch vor Aufregung. Sein Greisenherz, das von Champagner, Musik und Erinnerungen, die wohl ein jeder hat, erwärmt wurde, klopfte immer schneller und lauter ... wie es lange nicht mehr geklopft hatte. Er hätte vor Sina niederknieen und weinen mögen, nachdem sie geendet hatte.

„Oh, ma charmante enfant!“ rief er aus und küßte ihre Hand, „vous me ravissez! Erst jetzt, erst jetzt komme ich zur Besinnung ... Aber ... aber ... oh, ma charmante enfant ...“

Und die Stimme versagte ihm sogar.

Marja Alexandrowna fühlte, daß jetzt ihr Augenblick gekommen war.

„Weshalb begraben Sie sich, Fürst?“ fiel sie feierlich dazwischen. „Soviel Gefühl, soviel Lebenskraft, soviel seelischer Reichtum, und Sie graben sich für Ihr ganzes Leben in der Einsamkeit ein! Wie kann man sich nur so von den Menschen, den Freunden zurückziehen! Das ist doch unverzeihlich! Besinnen Sie sich, Fürst! So sehen Sie doch mit klarem Blick auf das Leben! Erwecken Sie die Erinnerung an Vergangenes in Ihrem Herzen, denken Sie an Ihre goldene Jugend, an die heiteren sorglosen Tage: erwecken Sie sie wieder, lassen Sie sie auferstehen! Leben Sie doch wieder in der Gesellschaft, unter Menschen! Fahren Sie ins Ausland, nach Italien, nach Spanien – nach Spanien, Fürst. Brauchen Sie einen Führer, ein Herz, das Sie liebt, das mit Ihnen fühlt, das für Sie sorgt? Aber Sie haben doch Freunde! Rufen Sie sie, nur ein Wink genügt und sie werden in Scharen angelaufen kommen! Ich werde die erste sein, die alles hinwirft und auf Ihren Ruf hin zu Ihnen kommt. Ich habe unsere Freundschaft noch nicht vergessen, Fürst; ich werde meinen Mann verlassen und Ihnen folgen ... und selbst wenn ich noch jünger wäre, wenn ich so schön und gut wäre, wie meine Tochter, so würde ich Ihre Gefährtin, Ihre Freundin werden, ja selbst Ihre Frau, wenn Sie es nur wünschten!“

„Und ich bin ü–ber–zeugt, daß Sie une charmante personne waren, zu Ih–rer Zeit,“ sagte der Fürst und schnaubte sich. Seine Augen waren feucht.

„Wir leben in unseren Kindern, Fürst,“ antwortete Marja Alexandrowna mit hohem Gefühl. „Ich habe gleichfalls einen Schutzengel bei mir! Das ist sie – meine Tochter, die Freundin meines Herzens, mit der ich alle meine Gedanken teile, Fürst! Sie hat sieben Bewerber zurückgewiesen, nur um sich nicht von mir trennen zu müssen.“

„Dann wird sie wohl auch mit Ihnen fahren, wenn Sie mich ins Ausland be–glei–ten? In dem Fall werde ich un–be–dingt ins Ausland fahren!“ rief der Fürst begeistert aus, „werde ich un–be–dingt fahren! Und wenn ich mir mit der Hoffnung schmeicheln könnte ... Aber sie ist ja ein be–zau–berndes, ein be–rück–endes Kind! Oh, ma charmante enfant ...“ Und der Fürst küßte ihr von neuem die Hand. Der Arme, er wollte sogar vor ihr niederknien!

„Aber ... aber, Fürst, Sie fragen: ob Sie sich mit der Hoffnung schmeicheln könnten?“ griff Marja Alexandrowna auf, die neue Beredsamkeit in sich fühlte. „Sie sind wirklich sonderbar, Fürst! Halten Sie sich denn womöglich für nicht mehr würdig der Beachtung einer Frau? Nicht Jugend macht die Schönheit aus. Vergessen Sie nicht, daß Sie sozusagen ein Stück der Aristokratie sind! Sie sind der Repräsentant der feinsten, der ritterlichsten Gefühle und ... Manieren! Hat sich denn Maria nicht in den alten Mazeppa verliebt? Ich weiß, ich habe gelesen, daß Lausin, dieser bezaubernde Marquis am Hofe Louis ... ich habe vergessen, des wievielten – noch in alten Jahren, als Greis, das Herz einer der ersten Hofschönheiten gewonnen hat! ... Und wer hat Ihnen gesagt, daß Sie ein Greis seien? Wer hat Sie auf diesen Gedanken gebracht? Können denn Menschen wie Sie überhaupt alt werden? Sie mit Ihrem ganzen Reichtum an Gefühlen, Gedanken, Heiterkeit, Geist, Lebenskraft, glänzenden Manieren! Sie brauchen ja nur irgendwo im Auslande, in einem Kurort mit einer jungen Frau zu erscheinen, mit einer Schönheit wie zum Beispiel meine Sina – ich rede nicht unbedingt von ihr, ich führe sie nur als Beispiel an – und Sie werden sehen, was für einen kolossalen Eindruck Sie machen werden! Sie sind ein Stück Aristokratie und sie ist eine Schönheit unter Schönheiten! Sie führen sie am Arm feierlich in die Säle. Sie wird in den glänzendsten Gesellschaften singen und Sie Ihrerseits werden geistvolle Bemerkungen um sich streuen, – aber der ganze Kurort wird ja zusammenlaufen, um dieses Paar zu sehen! Ganz Europa wird davon reden, denn alle Zeitungen, alle Feuilletons in den Kurorten werden davon voll sein! ... Oh, mon prince! Und Sie fragen noch, ob Sie sich mit der Hoffnung schmeicheln dürften?“

„Feuil–letons ... nun ja, nun ja! ... Das ist in den Zeitungen ...“ murmelte der Fürst, der die Hälfte ihres Geschwätzes nicht versteht und immer gerührter wird. „Mein Kind, wenn es Sie nicht er–mü–det hat – singen Sie mir dann noch einmal diese Ro–man–ze vor, die Sie soeben sangen!“

„Ach, Fürst! Aber sie kennt ja auch noch andere Romanzen, noch bessere ... Entsinnen Sie sich noch des kleinen Liedes ‚L’hirondelle‘? Sie haben es sicherlich gehört!“

„Gewiß, ich entsinne mich ... oder richtiger, ich habe es ver–ges–sen. Nein, nein, dieselbe Ro–man–ze, dieselbe, die sie so–e–ben ge–sun–gen hat! Ich will nicht l’hirondelle! Ich will dieselbe Ro–man–ze hören ...“ bat der Fürst wie ein eigensinniges Kind.

Sina sang sie noch einmal. Da konnte sich der Arme nicht mehr bezwingen und sank vor ihr auf die Knie nieder. Er weinte sogar.

„Oh, ma belle châtelaine!“ Seine Stimme zitterte vor Altersschwäche und Aufregung. „Oh ma charmante châtelaine! O, mein liebes Kind! Sie haben mich an so vieles erin–nert ... an längst Ver–gangenes ... Ich glaubte immer, daß alles besser werden würde, als es dann wurde. Ich sang damals Duette ... mit der Vicomtesse ... dieselbe Ro–man–ze ... jetzt aber ... ich weiß nicht mehr, was jetzt ist ...“

Diese ganze Rede brachte der Fürst atemlos und stockend hervor. Seine Zunge wurde merklich steif. Einzelne Worte waren kaum zu verstehen. Man sah nur, daß er im höchsten Grade erregt und gerührt war – und so beeilte sich Marja Alexandrowna, noch Öl ins Feuer zu gießen.

Mon prince! Aber Sie werden sich ja schließlich noch in meine Sina verlieben!“ rief sie aus. Sie fühlte, daß der Augenblick entscheidend war.

Die Antwort des Fürsten übertraf ihre besten Erwartungen.

„Ich bin bis zum Wahnsinn in sie verliebt!“ rief der Alte aus, plötzlich wie neu belebt, während er immer noch vor ihr kniete und vor Aufregung am ganzen Körper zitterte. „Ich würde für sie mein Leben hin–geben! Und wenn ich nun hoffen dürf–te ... Aber er–he–ben Sie mich, ich bin ein we–nig schwach ge–wor–den ... Ich ... wenn ich nur wa–gen dürf–te, ihr mein Herz an–zu–bieten, so ... würde ich ... sie würde mir jeden Tag Ro–manzen vorsingen und ich würde sie immer an–se–hen ... im–mer an–se–hen ... Ah, mon Dieu!“

Mon prince, mon prince! Sie halten um ihre Hand an! Sie wollen sie mir fortnehmen, meine Sina, meinen Liebling, meinen Engel, mein Sinachen! Kind, ich lasse dich nicht von mir! Sina! Möge man dich mir aus den Händen reißen, – freiwillig lasse ich dich nicht! – aus den Mutterarmen!“ Marja Alexandrowna stürzte sich auf die Tochter und umschlang sie krampfhaft, obschon sie fühlte, daß sie ziemlich stark zurückgestoßen wurde ... Die Mama war etwas zu eifrig. Sina litt mit jeder Fiber und sah mit unerträglichem Ekel auf die ganze Komödie. Aber sie schwieg, und das war schließlich alles, was die Mutter zur Durchführung ihres Planes nötig hatte.

„Sie hat neunmal Nein gesagt, nur um sich nicht von ihrer Mutter trennen zu müssen!“ beteuerte Marja Alexandrowna. „Jetzt aber fühlt mein Herz die bevorstehende Trennung! Schon vorhin fiel es mir auf, wie sie Sie ansah ... Sie haben sie mit Ihrem Aristokratismus besiegt, Fürst, mit dieser ausgesuchten Vornehmheit! ... O, Sie werden uns trennen! – das fühle ich!“

„Ich ver–göt–tere sie!“ stieß der Fürst, der immer noch wie ein Espenblatt zitterte, abgebrochen hervor.

„Also du verläßt deine Mutter!“ rief Marja Alexandrowna aus und warf sich von neuem der Tochter an den Hals.

Sina beeilte sich, den schweren Minuten ein Ende zu machen. Sie reichte dem Fürsten stumm ihre wundervolle Hand und zwang sich sogar zu einem Lächeln. Der Fürst ergriff mit wilder Andacht dieses Händchen und bedeckte es mit hundert Küssen.

„Jetzt erst beginne ich zu leben!“ stieß er hervor, hingerissen in seiner Begeisterung.

„Sina!“ hub Marja Alexandrowna feierlich an, „siehe diesen Menschen! Er ist der ehrenhafteste, der edelste Mensch von allen, die ich kenne! Das ist ein mittelalterlicher Ritter! Aber sie weiß es, Fürst, sie weiß es, zu meinem Herzeleid ... Oh! weshalb sind Sie hergekommen! Ich übergebe Ihnen meinen kostbarsten Schatz, meinen Schutzengel! Behüten Sie ihn, Fürst! Eine Mutter bittet Sie darum und welche Mutter würde mir meinen Schmerz nicht nachfühlen?“

„Mama, genug!“ raunte ihr Sina zu.

„Sie werden sie vor jeder Kränkung bewahren, Fürst! Ihr Degen wird den Verleumder oder den Frechen, der es wagt, mein Kind zu beleidigen, zu strafen wissen!“

„Hören Sie auf, Mama, oder ich ...“

„Nun ja, strafen ...“ murmelte der Fürst. „Jetzt erst beginne ich zu leben ... Ich will, daß die Hochzeit sofort sei, im Augenblick ... ich ... Ich will so–fort nach Du–cha–no–wo schicken. Dort habe ich Bril–lanten. Ich will sie ihr zu Fü–ßen legen ...“

„Welche Leidenschaft! Welche Liebe! Welch edle Gefühle!“ rief Marja Alexandrowna aus. „Und Sie konnten, Fürst, Sie konnten sich so vergraben, sich so von aller Welt abschließen? Ich werde es Ihnen tausendmal vorwerfen! Ich bin außer mir, wenn ich an diese höllische ...“

„Was soll–te ich denn tun, ich hat–te solche Angst!“ stammelte der Fürst halb weinend mit unsicherer Stimme. „Sie wollten mich in eine Ir–ren–an–stalt ein–sper–ren ... Da er–schrak ich doch!“

„In eine Irrenanstalt! O, diese Ungeheuer! Diese unmenschlichen Menschen! O, diese Niedertracht! mon prince – ich habe schon früher davon gehört! Aber das ist doch Irrsinn von seiten dieser Leute! Und weshalb nur, aus welchem Grunde?“

„Ich weiß es ja selbst nicht, aus welchem Grun–de!“ antwortete der Alte, der sich vor Schwäche hinsetzte. „Ich, wissen Sie, ich war auf einem Ball und erzähl–te dort eine A–nek–do–te, und die hat–te ihnen nicht ge–fal–len. Nun ja und daraus ent–stand die Ge–schich–te!“

„Und das allein war der Grund, Fürst?“

„Nein. Ich hatte dann noch Kar–ten gespielt, mit Fürst Pjotr De–men–tjitsch, und war ohne sechs ge–blie–ben. Ich hatte zwei Kö–ni–ge und drei Da–men, oder rich–tiger, drei Da–men und zwei Kö–ni–ge ... Nein! einen König! Und dann erst kamen die Da–men ...“

„Und deshalb? Deshalb! O, diese höllische Unmenschlichkeit! Sie weinen, mein Fürst! Aber jetzt brauchen Sie nichts mehr zu fürchten! Jetzt werde ich bei Ihnen sein, mein Fürst! Ich werde mich nicht von Sina trennen, und dann wollen wir doch sehen, ob sie noch ein Wort zu sagen wagen!! – ... Und Ihre Heirat, Fürst, wird sie mehr als überraschen, sie wird sie beschämen! Sie werden sich doch sagen müssen, daß Sie dann noch fähig sind ... das heißt, sie werden sich sagen, daß eine solche Schönheit doch nicht einen Irrsinnigen heiraten würde! Jetzt können Sie stolz das Haupt erheben, Sie werden jenen offen in die Augen sehen ...“

„Nun ja, nun ja, ich werde ihnen offen in die Augen sehen,“ murmelte der Fürst und die Augen fielen ihm zu.

„Weiß Gott, er ist ja ganz und gar hinfällig,“ dachte Marja Alexandrowna, „ich verliere nur unnütz meine Worte!“

„Mein Fürst, Sie sind erregt, ich sehe es. Sie müssen sich jetzt unbedingt beruhigen, sich erholen,“ sagte sie gütig zuredend, indem sie sich mütterlich zu ihm beugte.

„Nun ja, ich würde gern ein wenig lie–gen,“ sagte er.

„Ja, ja! Beruhigen Sie sich, Fürst! Diese Aufregungen ... Warten Sie, ich werde Sie selbst geleiten ... Ich werde Sie selbst zu Bett bringen, wenn es nötig ist. – Weshalb sehen Sie so starr auf dieses Porträt, Fürst? Das ist das Bild meiner Mutter, – eines Engels, aber nicht einer Frau! O, weshalb weilt sie jetzt nicht mehr unter uns! Sie war eine Heilige! – Ich nenne sie nie anders!“

„Eine Hei–li–ge? c’est joli ... Ich habe gleich–falls eine Mutter gehabt ... une princesse ... und – denken Sie sich – es war eine außer–ge–wöhn–lich vol–le Frau ... Aber, wie gesagt, ich wollte etwas an–de–res sagen ... Ich bin etwas er–mü–det. Adieu, ma charmant enfant! ... Ich werde mit Won–ne ... ich werde heute ... morgen ... Nun ja, gleichviel! au revoir, au revoir!“ Er wollte noch mit der Hand einen Gruß senden, stolperte jedoch bei der Gelegenheit und wäre fast gefallen.

„Vorsichtiger, mein Fürst! Stützen Sie sich auf meinen Arm!“ rief ihm Marja Alexandrowna zu.

„Charmant, charmant!“ murmelte er noch im Fortgehen. „Jetzt erst beginne ich zu leben ...“

Sina blieb allein zurück. Es war ihr, als läge eine erdrückende Last auf ihren Schultern. Ihr ward fast übel vor Ekel. Sie hätte sich selbst verachten mögen. Ihre Wangen brannten. Mit ineinandergekrampften Händen, zusammengebissenen Zähnen stand sie, den Kopf gesenkt und rührte sich nicht. Tränen der Scham rollten aus ihren Augen ... Da wurde die Tür aufgerissen und Mosgljäkoff stürzte ins Zimmer.

IX.

Er hatte alles gehört, alles!

Bleich vor Aufregung und Zorn stürzte er herein – denn eintreten konnte man es wahrlich nicht nennen. Sina sah ihn verwundert an.

„Also so sind Sie!“ schrie er atemlos. „Jetzt habe ich endlich erfahren, was Sie sind!“

„Was ich bin?“ wiederholte Sina, die ihn wie einen Wahnsinnigen verständnislos ansah; plötzlich aber begriff sie und Zorn blitzte in ihren Augen.

„Wie wagen Sie es, so mit mir zu sprechen!“ Sie trat auf ihn zu.

„Ich habe alles gehört!“ wiederholte Mosgljäkoff feierlich, trat aber doch unwillkürlich einen Schritt vor ihr zurück.

„Sie haben alles gehört? Sie haben an der Tür gelauscht?“

„Ja, ich habe gelauscht! Ja, ich habe mich zu dieser niedrigen Tat entschlossen, dafür aber habe ich jetzt erfahren, daß Sie die aller ... Ich weiß nicht einmal, wie ich mich ausdrücken soll, um Ihnen zu sagen ... als was Sie jetzt dastehen!“ antwortete er, während sein Mut unter ihrem Blick immer mehr dahinschwand.

„Und selbst wenn Sie alles gehört haben, wessen können Sie mich denn beschuldigen? Welch ein Recht haben Sie überhaupt, mir etwas vorzuwerfen? Welches Recht haben Sie, so ungezogen mit mir zu reden?“

„Ich? Welch ein Recht ich habe? Und Sie fragen das noch? Sie heiraten den Fürsten und ich soll kein Recht haben! Aber Sie haben mir doch Ihr Wort gegeben! Ganz einfach!“

„Wann?“

„Wieso wann?“

„Ich habe Ihnen noch heute morgen, als Sie wieder in mich drangen, deutlich gesagt, daß ich Ihnen nichts Bestimmtes versprechen könne.“

„Aber ... einstweilen ... Sie haben mich nicht zurückgewiesen, Sie haben mir nicht endgültig abgesagt! Sie haben mich also für den Notfall aufbewahrt! Sie haben mich angelockt!“

In Sinas bleichem Gesicht spielte sich ein schmerzliches Gefühl wieder; wie etwa von einem scharfen, durchbohrenden inneren Schmerz; doch sie bezwang sich.

„Wenn ich Sie nicht fortgeschickt habe,“ antwortete sie langsam und deutlich, wenn auch in ihrer Stimme ein leises Zittern zu hören war, „so habe ich es nur aus Mitleid getan. Sie selbst haben mich gebeten, noch ein wenig mit der Antwort zu zögern, Ihnen nicht sofort Nein zu sagen, sondern Sie näher kennen zu lernen, und ‚dann,‘ sagten Sie, ‚dann, wenn Sie sich überzeugt haben werden, daß ich ein ehrenwerter Mensch bin, dann werden Sie mich vielleicht doch nicht abweisen‘. Das sind Ihre eigenen Worte, die Sie zu Anfang Ihrer Werbung gesagt haben. Sie können sie nicht verleugnen! Und jetzt haben Sie gewagt, mir zu sagen, daß ich Sie angelockt hätte! Sie haben aber doch meinen Widerwillen bemerkt, als ich Sie zwei Wochen früher, als Sie sich angesagt hatten, wiedersah, und diesen Widerwillen habe ich vor Ihnen nicht verborgen, im Gegenteil, ich habe ihn offen gezeigt. Und Sie haben ihn auch bemerkt, denn Sie selbst fragten mich, ob ich Ihnen deshalb böse sei, weil Sie früher wiedergekommen wären. Merken Sie sich, daß man denjenigen nicht anlockt, vor dem man seinen Widerwillen weder verbergen kann noch will. Sie haben es gewagt, mir zu sagen, ich hätte Sie für den Notfall aufbewahrt. Hierauf antworte ich Ihnen, daß ich mir über Sie etwa folgendes gedacht habe: ‚Wenn er auch nicht mit sehr bedeutendem Verstande begabt ist, so kann er vielleicht doch ein guter Mensch sein und folglich könnte man ihn heiraten‘. Jetzt aber, nachdem ich mich zu meinem Glück noch rechtzeitig überzeugt habe, daß Sie ein Dummkopf sind und zum Überfluß noch ein bösartiger Dummkopf, so bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen ein angenehmes Leben und glückliche Reise zu wünschen. Leben Sie wohl!“

Sina wandte sich von ihm ab und verließ langsam das Zimmer.

Mosgljäkoff begriff, daß er jetzt alles verloren hatte und geriet außer sich.

„Ah! So bin ich denn jetzt bereits ein Dummkopf,“ schrie er, „so bin ich denn ein Dummkopf! Gut! Leben Sie wohl! Doch bevor ich fort fahre, werde ich der ganzen Stadt erzählen, wie Sie mit Ihrer Mutter den Fürsten umgarnt haben, nachdem er von Ihnen genügend angeheitert worden ist! Allen werde ich es erzählen! Sie sollen Mosgljäkoff kennen lernen!“

Sina fuhr zusammen und wollte stehen bleiben, um zu antworten, bedachte sich aber, zuckte nur verächtlich mit der Achsel und schlug die Tür hinter sich zu.

Fast im selben Augenblick erschien Marja Alexandrowna in der anderen Tür. Sie hatte Mosgljäkoffs letzten Ausruf vernommen, erriet in einer Sekunde den ganzen Zusammenhang und erschrak. Mosgljäkoff war noch nicht fortgefahren, Mosgljäkoff war noch in der Nähe des Fürsten, Mosgljäkoff konnte ja die Neuigkeit in der ganzen Stadt verbreiten, während doch gerade die Geheimhaltung derselben, und wenn auch nur für noch so kurze Zeit, die erste Bedingung war! Marja Alexandrowna hatte ihre eigenen Berechnungen. Nur einen Augenblick überlegte sie sich die Sachlage und dann hatte sie auch schon den Plan einer Besänftigung Mosgljäkoffs entworfen.

„Was haben Sie, mon ami!“ fragte sie, trat auf ihn zu und streckte ihm freundschaftlich die Hand entgegen.

„Was! Noch ‚mon ami‘!“ schrie Mosgljäkoff in rasender Wut. „Nach allem, was Sie getan haben, noch mon ami! Das verbitte ich mir, meine Gnädigste! Und Sie glauben, mich noch einmal betrügen zu können!“

„Es tut mir leid, es tut mir sehr leid, daß ich Sie in einer so sonderbaren Stimmung angetroffen habe, Pawel Alexandrowitsch. Was ist das für ein Ton? Sie bedenken nicht einmal Ihre Ausdrücke, deren Sie sich einer Dame gegenüber bedienen.“

„Einer Dame gegenüber! Sie ... Sie sind alles was Sie wollen, nur keine Dame!“ schrie wieder Mosgljäkoff. Ich weiß nicht, was er eigentlich sagen wollte, jedenfalls aber wird es etwas Vernichtendes gewesen sein.

Marja Alexandrowna sah ihn mit frommen Augen an.

„Setzen Sie sich!“ sagte sie dann mit trauriger Stimme und wies auf denselben Stuhl, auf dem noch vor wenigen Minuten der Fürst gesessen hatte.

„Aber hören Sie, das geht doch nicht, Marja Alexandrowna!“ Mosgljäkoff war ganz verdutzt. „Sie sehen mich an, als wenn nicht Sie vor mir, sondern womöglich noch ich vor Ihnen schuldig wäre! Da – da – das geht doch nicht! ... Dieser Ton! ... Aber das übersteigt doch jedes Maß der menschlichen Geduld! ... Wissen Sie das auch?“

„Mein Freund!“ antwortete Marja Alexandrowna, „Sie werden mir erlauben, Sie immer noch so zu nennen, denn Sie haben keinen besseren Freund als mich. Mein Freund! Sie leiden, Sie quälen sich, Sie sind mitten ins Herz getroffen – und deshalb wundert es mich auch nicht, daß Sie in einem solchen Ton mit mir sprechen. Ich habe mich entschlossen, Ihnen alles aufzudecken, mein ganzes Herz, um so mehr, als ich mich selbst ein wenig schuldbewußt vor Ihnen fühle. Setzen Sie sich also, reden wir.“

Die Stimme Marja Alexandrownas war leidend, weich und auch in ihrem Gesicht drückte sich Leiden aus. Verwundert setzte sich Mosgljäkoff ihr gegenüber.

„Sie haben gelauscht?“ fuhr sie in sanftem Tone fort und sah ihn vorwurfsvoll an.

„Ja, ich habe gelauscht! Das fehlte noch, daß ich es nicht getan hätte! Dann wäre ich ja der richtige Tölpel jetzt! So habe ich wenigstens alles erfahren, was Sie gegen mich unternehmen!“ antwortete er frech. Sein eigener Zorn reizte ihn und stachelte ihn noch mehr auf.

„Und Sie, Sie, bei Ihrer Erziehung haben Sie sich zu einer solchen Handlung entschließen können? – O, mein Gott!“

Mosgljäkoff sprang auf.

„Aber Marja Alexandrowna! Das ist denn doch unerhört! Denken Sie doch gefälligst daran, wozu Sie sich bei Ihrer Erziehung und Ihren Grundsätzen entschlossen haben, und dann verurteilen Sie andere!“

„Noch eine Frage,“ unterbrach sie ihn, ohne seine Heftigkeit zu beachten, „wer hat Sie dazu verleitet, uns zu belauschen, wer hat es Ihnen erzählt, wer hat hier spioniert? – das ist es, was ich zuerst wissen will.“

„Verzeihung – das sage ich nicht.“

„Gut. Ich werde es sowieso erfahren. Ich habe gesagt, cher Paul, daß ich schuldbewußt vor Ihnen dastehe. Wenn Sie aber alles erwägen, dann werden Sie sehen, daß meine Schuld, wenn mir überhaupt eine solche zugesprochen werden kann, nur darin besteht, daß ich Ihnen das Beste gewünscht habe.“

„Mir? Das Beste? Das geht denn doch über die Hutschnur! Glauben Sie mir, daß Sie mich jetzt nicht mehr betrügen können! Ich bin kein dummer Junge!“

Und er rückte seinen Stuhl so heftig, daß dieser in den Fugen knackte.

„Ich bitte Sie, mein Freund, etwas kaltblütiger zu sein, wenn es Ihnen möglich ist. Hören Sie mir aufmerksam zu und dann werden Sie mir selbst in allem beistimmen. Erstens: es war meine Absicht, Ihnen sogleich alles, alles mitzuteilen – Sie hätten von mir den ganzen Sachverhalt bis auf die kleinsten Details erfahren, ohne sich durch Belauschen erniedrigen zu brauchen. Und wenn ich es Ihnen nicht vorher mitgeteilt habe, so geschah das nur deshalb nicht, weil das Ganze doch noch nichts als ein in der Luft schwebender Plan war. Es konnte ja ebensogut auch nichts daraus werden. Sie sehen: ich bin ganz offen zu Ihnen. Zweitens: beschuldigen sie nicht meine Tochter. Sina liebt Sie bis zum Wahnsinn und es hat mir unglaubliche Mühe gekostet, sie von Ihnen abzulenken und durchzusetzen, daß sie den Antrag des Fürsten annahm.“

„Ich habe noch vor wenigen Minuten das Vergnügen gehabt, den glänzendsten Beweis für diese Liebe bis zum Wahnsinn zu vernehmen,“ bemerkte Mosgljäkoff ironisch.

„Gut. Aber wie haben Sie denn mit ihr gesprochen? Soll das die Rede eines Verliebten sein? Und schließlich – welcher wohlerzogene Mensch spricht in diesem Ton? Sie haben sie gekränkt und gereizt.“

„Marja Alexandrowna, jetzt handelt es sich nicht um den Ton! Aber am Vormittag, nachdem Sie so liebenswürdig zu mir gewesen waren, da haben Sie mich, als ich mit dem Fürsten Visiten machte, einfach verleumdet! Sie haben mich angeschwärzt, Sie haben ihr nur Schlechtes von mir gesagt! Ich weiß alles, alles!“

„Und sicherlich aus derselben schmutzigen Quelle?“ fragte Marja Alexandrowna mit verächtlichem Lächeln. „Ja, Pawel Alexandrowitsch, ich habe Sie angeschwärzt, ich habe nur Schlechtes von Ihnen gesagt, und ich gestehe Ihnen, daß ich mir sehr viel Mühe gegeben habe. Aber beweist das nicht – daß ich gezwungen war, Sie anzuschwärzen, ja sogar, zu verleumden – beweist das nicht gerade, wie schwer Sinas Einwilligung, sich von Ihnen loszusagen, zu erringen war? Wie können Sie so kurzsichtig sein? Wenn Sina Sie nicht lieben würde, wozu hätte ich es dann nötig gehabt, Sie anzuschwärzen, Sie lächerlich zu machen, in so unvorteilhaftem Licht zu zeigen – kurz, zu diesen äußersten Mitteln zu greifen? Aber Sie wissen noch nicht alles! Ich mußte sogar zu meiner Autorität als Mutter greifen, um Sie aus ihrem Herzen herauszureißen, und erst nach unglaublichen Anstrengungen habe ich nur eine äußerliche Einwilligung erreicht. Wenn Sie uns jetzt belauscht haben, so muß es Ihnen doch aufgefallen sein, daß sie meine Bemühungen um den Fürsten mit keinem Wort, keinem Blick unterstützt hat. Während dieser ganzen Zeit hat sie fast kein einziges Wort gesprochen, und gesungen hat sie wie ein Automat. Ihre ganze Seele wand sich vor Qual. Und aus Mitleid mit ihr machte ich der Sache schnell ein Ende und führte den Fürsten fort. Ich bin überzeugt, daß sie geweint hat, sobald sie allein war. Als Sie eintraten, müssen sie ihre Tränen bemerkt haben ...“

Mosgljäkoff entsann sich allerdings, daß er, als er ins Zimmer gestürzt war, Tränen in ihren Augen bemerkt hatte.

„Aber ... aber weshalb sind Sie denn so gegen mich gewesen, Marja Alexandrowna? Warum haben Sie mich denn angeschwärzt und verleumdet – was Sie jetzt obendrein selbst eingestehen!?“

„Ah, das ist eine andere Frage! Sehen Sie, wenn Sie gleich zu Anfang so vernünftig gefragt hätten, dann hätten Sie schon längst die Antwort. Ja, Sie haben recht! Alles das habe ich getan und nur ich allein. Sina lassen Sie hier ganz aus dem Spiel. Und weshalb ich es getan habe? Meine Antwort ist: in erster Linie für Sina. Der Fürst ist reich, von altem Adel, hat Verbindungen, und wenn Sina ihn heiratet, macht sie eine glänzende Partie. Und schließlich, wenn er sterben sollte, was vielleicht sogar sehr bald geschehen kann – denn wir sind ja alle mehr oder weniger sterblich – dann ist Sina junge Witwe, Fürstin, in der besten Gesellschaft und unermeßlich reich. Dann kann sie heiraten, wen sie will, sie kann die glänzendste Partie machen – doch wird sie selbstverständlich nur den nehmen, den sie früher geliebt hat und dessen Herz sie zerrissen, als sie den Fürsten nahm. Allein schon die Reue würde sie zwingen, ihre Schuld an demjenigen, den sie früher geliebt, wieder gut zu machen ...“

„Hm!“ brummte Mosgljäkoff, der nachdenklich seine Stiefel betrachtete.

„Zweitens – und das will ich nur nebenbei bemerken,“ fuhr Marja Alexandrowna fort, „denn Sie werden das vielleicht nicht einmal begreifen. Sie lesen Ihren Shakespeare, schöpfen aus ihm alle Ihre hohen Gefühle, in der Wirklichkeit, im Leben aber sind Sie, wenn auch sehr gutmütig, so doch noch zu jung, – ich aber bin Mutter, Pawel Alexandrowitsch! So hören Sie denn: ich gebe meine Sina dem Fürsten zum Teil auch um seinetwillen, denn durch diese Heirat will ich ihn retten. Ich habe diesen edlen, diesen herzensguten, geradezu ritterlichen Greis auch früher schon geliebt. Wir waren Freunde. Er ist tief unglücklich in den Krallen dieses höllischen Weibes. Sie wird ihn noch unter die Erde bringen! Gott hat es gesehen, daß ich Sina nur deshalb zu dieser Heirat habe bewegen können, weil ich ihr die ganze Heiligkeit dieser Tat der Selbstverleugnung vorgehalten habe. Sie hat sich von dem Edelmut, von der Begeisterung für die große Überwindung fortreißen lassen. Sie hat selbst viel Ritterliches. Ich habe ihr gesagt, daß es eine Christenpflicht ist, die Stütze, der Trost, der Freund, das Kind, die Sonne, der Abgott eines Menschen zu sein, dem vielleicht nur noch ein einziges Lebensjahr vergönnt ist. Ihn würde dann nicht dieses schändliche Frauenzimmer, nicht Furcht und Einsamkeit in den letzten Tagen seines Lebens umgeben, sondern Licht, Freundschaft und Liebe. Diese letzten Tage würde er im Paradiese verleben! Wo ist hier Egoismus – sagen Sie doch, bitte? Das ist doch eher das Opfer einer barmherzigen Schwester, aber nicht Egoismus!“

„Dann ... dann haben Sie es also nur für den Fürsten getan und aus Nächsten-, nicht aus Eigenliebe?“ brummte Mosgljäkoff spöttisch.

„Ich verstehe auch diese Frage, Pawel Alexandrowitsch, sie ist recht deutlich. Sie glauben vielleicht, daß hier die Vorteile des Fürsten mit den eigenen Vorteilen jesuitisch verknüpft sind? Was soll ich sagen? Vielleicht habe ich auch diese Berechnung gehabt, nur war sie nicht jesuitisch, sondern ... unfreiwillig. Ich weiß, daß Sie sich über ein so offenes Geständnis wundern werden, aber ich bitte Sie nur um eines, Pawel Alexandrowitsch: glauben Sie nicht, daß Sina hier mit im Spiel ist! Sie ist unschuldig wie ein Engel: sie berechnet nicht, sie versteht nur zu lieben – mein liebes Kind! Wenn hier überhaupt jemand berechnet hat, so bin ich es, ich allein! Aber fragen Sie doch in allem Ernst Ihr Gewissen und sagen Sie dann: wer hätte an meiner Stelle im gegebenen Fall nicht berechnet? Wir berechnen unsere Vorteile sogar bei unseren uneigennützigsten Handlungen, wir berechnen fast unbewußt, unwillkürlich! Natürlich betrügen sich dabei alle, indem sie sich selbst versichern, daß sie es nur aus Edelmut täten. Ich jedoch will mich nicht betrügen: ich gestehe mir offen, daß ich bei aller Erhabenheit meiner Liebe dennoch – berechnet habe. Aber fragen Sie, ob ich meinen Vorteil berechnet habe? Ich brauche nichts mehr, Pawel Alexandrowitsch! Ich habe mein Leben abgelebt. Ich habe nur an sie gedacht, an meinen Engel, mein Kind, und – welche Mutter würde mir das in diesem Fall zum Vorwurf machen?“

Tränen glänzten in den Augen Marja Alexandrownas. Mosgljäkoff hörte in höchster Verwunderung diese ganze offenherzige Beichte an und blinzelte nur verständnislos mit den Augen.

„Nun schön, welche Mutter ...“ stotterte er endlich. „Sie verstehen gut zu reden, Marja Alexandrowna, – aber ... aber Sie hatten mir doch Ihr Wort gegeben! Sie hatten mir Hoffnung gemacht ... Was glauben Sie wohl, wie mir jetzt zumute ist? Denken Sie doch nach! Ich kann jetzt mit einer langen Nase abziehen!“

„Aber glauben Sie denn, daß ich nicht auch an Sie gedacht habe, mon cher Paul! Ich sage Ihnen: in allen diesen Berechnungen lag für Sie ein so großer Vorteil, daß ich mich hauptsächlich deshalb zu diesem Unternehmen entschlossen habe.“

„Mein Vorteil!“ Mosgljäkoff war baff. „Wie denn das?“

„Mein Gott! Wie kann man nur dermaßen einfältig sein!“ rief Marja Alexandrowna mit beredtem Augenaufschlag aus. „O, Jugend, Jugend! Da sehen wir, was daraus folgt, wenn man diesen Shakespeare liest, träumt und sich einbildet zu leben – während man nur mit fremdem Verstande und mit fremden Gedanken lebt! Mein guter Pawel Alexandrowitsch, Sie fragen mich, worin hier Ihr Vorteil bestehe? Erlauben Sie, daß ich zur besseren Übersicht etwas abweiche: Sina liebt Sie – darüber kann kein Zweifel bestehen! Nun habe ich aber bemerkt, daß sich trotz ihrer offenbaren Liebe dennoch ein gewisses Mißtrauen zu Ihnen in ihr verbirgt, ja – sie mißtraut Ihren Gefühlen, Ihren Neigungen. Ich habe bemerkt, daß sie sich bisweilen wie mit Absicht bezwingt und kühl zu Ihnen ist – die Folge ihrer Nachdenklichkeit und ihres Mißtrauens. Haben Sie das nicht auch selbst bemerkt, Pawel Alexandrowitsch?“

„J–ja ... es ist mir aufgefallen ... und sogar heute ... Aber was wollen Sie denn damit sagen, Marja Alexandrowna?“

„Nun, sehen Sie! Sie haben es sogar selbst bemerkt! Folglich täusche ich mich nicht. Und sie mißtraut gerade der Beständigkeit Ihrer guten Neigungen. Ich bin ihre Mutter – wie sollte ich nicht erraten, was im Herzen meines Kindes vorgeht? Und nun stellen Sie sich vor, daß Sie, anstatt mit Vorwürfen und fast sogar Flüchen ins Zimmer zu stürzen, sie zu reizen, zu kränken, zu beleidigen, sie, die schuldlos, schön und stolz vor Ihnen steht, und sie damit unwillkürlich in diesem Argwohn bezüglich Ihrer schlechten Neigungen zu bestärken, – stellen Sie sich jetzt vor, daß Sie statt dessen diese Nachricht ruhig, mit Tränen des Bedauerns oder sogar der Verzweiflung, aber immerhin mit hohem Edelmut, der Ihren Seelenadel bezeugen würde, vernommen hätten ...“

„Hm! ...“

„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Pawel Alexandrowitsch. Ich will Ihnen dieses ganze Bild ausmalen, das auch unfehlbar Eindruck auf Sie machen wird. Stellen Sie sich jetzt vor, daß Sie hierauf zu ihr getreten wären und gesagt hätten: ‚Sinaïda! Ich liebe dich mehr als mein Leben, doch Familienrücksichten trennen uns. Ich begreife die Gründe, die uns scheiden. Sie machen dein Glück aus und so wage ich nicht mehr, mich gegen sie aufzulehnen. Sinaïda! Ich verzeihe dir. Sei glücklich, wenn du es kannst!‘ und hierauf hätten Sie sie noch einmal angesehen, mit einem Blick – mit dem Blick eines geopferten Lammes, wenn man sich so ausdrücken darf, stellen Sie sich das alles vor und sagen Sie sich dann, welch einen Eindruck diese Worte auf ihr Herz gemacht hätten!“

„Schön, Marja Alexandrowna, nehmen wir an, daß es sich so verhält; ich begreife das sehr wohl ... aber – wie denn? – ich hätte es gesagt und wäre dann doch leer abgezogen ...“

„Nein, nein, nein, mein Freund! Unterbrechen Sie mich nicht! Ich will unbedingt das ganze Bild entrollen, mit allen späteren Folgen, um Sie zu überzeugen. Stellen Sie sich nur vor, daß Sie später, nach einiger Zeit ihr in der höchsten Gesellschaft begegnen. Sie treffen sich irgendwo auf einem Ball, bei strahlender Beleuchtung, bei den Klängen verführerischer Musik, inmitten der schönsten Damen und – trotz des ganzen Frohsinns ringsum, sind Sie allein traurig, nachdenklich, bleich und folgen nur ihr allein mit den Blicken, an eine weiße Säule gelehnt – aber so, daß man Sie sehen kann – während sie sich im Gewühl der Gesellschaft bewegt. Sie tanzt. Die berauschenden Klänge Straußscher Walzer umschmeicheln Sie, der Esprit der höheren Gesellschaft sprüht ringsum – Sie aber sind einsam, bleich und wie zerschlagen in Ihrer Leidenschaft! Was wird dann in Sinaïda vor sich gehen – denken Sie doch nur daran! Mit welchen Augen wird sie dann auf Sie sehen? ‚Und ich,‘ wird sie denken, ‚ich konnte an diesem Menschen zweifeln, der mir alles, alles geopfert und sein Herz um meinetwillen zerrissen hat!‘ Unzweifelhaft: die frühere Liebe würde dann mit unbezwingbarer Leidenschaft in ihr auferstehen!“

Marja Alexandrowna machte eine kleine Pause, um Atem zu schöpfen. Mosgljäkoff rückte so nachdrücklich auf seinem Stuhle, daß dieser zum zweiten Male in den Fugen knackte. Marja Alexandrowna fuhr fort.

„Zur Pflege der Gesundheit des Fürsten fährt Sina mit ihm ins Ausland, nach Italien, nach Spanien, – nach Spanien, wo Myrten und Orangen blühen, wo der Himmel dunkelblau ist, wo der Guadalquivir rauscht, – in das Land der Liebe, in dem man nicht leben kann, ohne zu lieben, wo Rosen und Küsse sozusagen in der Luft schweben! Und Sie fahren gleichfalls dorthin, ihr nach. Sie opfern Ihre Karriere, Ihre Verbindungen, alles! Dort beginnt Ihre Liebe mit unbezwingbarer Leidenschaft. Liebe, Jugend, Spanien – mein Gott! Versteht sich – Ihre Liebe ist lauter, ist heilig, aber schließlich wird der gegenseitige Anblick Sie doch beide quälen. Sie verstehen mich, mon ami! Natürlich werden sich niedrige, boshafte Menschen finden, Abscheuliche, die da behaupten werden, daß durchaus nicht nur die verwandtschaftliche Zuneigung zu dem leidenden alten Manne Sie dorthin gelockt habe. Ich aber habe Ihre Liebe mit Absicht lauter genannt, weil eben diese Leute ihr einen ganz anderen Sinn unterschieben werden. Aber ich bin Mutter, Pawel Alexandrowitsch, – sollte ich Sie Schlechtes lehren? ... Freilich wird der Fürst nicht imstande sein, Sie beide zu beaufsichtigen, aber – was hat das zu sagen! Kann man denn nur auf Grund dessen einer so schändlichen Verleumdung glauben? Und eines Tages wird er sterben und sterbend noch seinen Lebensabend segnen. Jetzt sagen Sie: wen sollte Sina dann heiraten, wenn nicht Sie? Sie sind mit dem Fürsten ja nur weitläufig verwandt, folglich kann gesetzlich nichts gegen diese Verbindung einzuwenden sein. Sie heiraten sie, jung, reich, schön, vornehm, – und das zu welcher Zeit? – wenn die vornehmsten und reichsten Aristokraten es sich zur Ehre anrechnen würden, sich mit ihr verloben zu dürfen! Durch Ihre Frau kommen Sie dann in die höchsten Kreise, durch ihre Frau werden Sie plötzlich eine bedeutende Stellung erhalten, Titel, Orden! Jetzt haben Sie nur hundertundfünfzig Seelen, dann aber werden Sie reich sein. Der Fürst wird in seinem Testament alles vorsehen: dafür werde ich schon Sorge tragen. Und dann, die Hauptsache – sie wird sich endgültig von der Treue Ihres Herzens, von Ihren Gefühlen überzeugt haben und Sie werden ihr plötzlich als Held des Edelmutes und der Selbstverleugnung erscheinen! ... Und Sie, Sie fragen noch, worin hier Ihr Vorteil bestehe? Aber da müßte man ja blind sein, um diesen Vorteil nicht einzusehen, nicht zu verstehen, nicht zu berechnen – wenn sie zwei Schritt vor Ihnen steht, Sie ansieht, Ihnen zulächelt und selbst sagt: ‚Hier bin ich – dein Vorteil!‘ Aber Pawel Alexandrowitsch, ich bitte Sie!“

„Marja Alexandrowna!“ – Mosgljäkoff befand sich in unbeschreiblicher Aufregung. „Jetzt habe ich alles begriffen! Ich habe roh, niedrig, schändlich an ihr gehandelt!“

Er sprang auf und raufte sich das Haar.

„Und unüberlegt,“ fügte Marja Alexandrowna hinzu, „vor allen Dingen unüberlegt!“

„Ich bin ein Esel, Marja Alexandrowna!“ rief er verzweifelt aus. „Jetzt ist alles verloren, denn ich liebe sie bis zum Wahnsinn!“

„Vielleicht ist auch noch nicht alles verloren,“ sagte Frau Moskalewa halblaut vor sich hin, als überlege sie etwas.

„Oh, wenn das wahr wäre! Helfen Sie mir! Sagen Sie mir! Retten Sie mich!“

Und Mosgljäkoff brach in Tränen aus.

„Mein Freund!“ sagte Marja Alexandrowna mitleidig und reichte ihm die Hand, „Sie haben es aus übergroßer Heftigkeit getan, in aufbrausender Leidenschaft, folglich nur aus Liebe zu ihr! Sie waren in Verzweiflung, Sie waren außer sich! Das wird sie doch einsehen müssen ...“

„Ich liebe sie bis zum Wahnsinn und bin bereit, alles für sie hinzugeben!“

„Hören Sie mich an: ich werde Sie zu rechtfertigen versuchen ...“

„Marja Alexandrowna!“

„Ja, ich übernehme es! Ich werde Sie mit ihr zusammenführen. Und Sie werden ihr dann alles so erklären, wie ich es Ihnen soeben erklärt habe!“

„O, Gott! Wie gut Sie sind, Marja Alexandrowna! ... Nur ... könnte man es nicht sofort machen!?“

„Gott behüte! O, wie unerfahren Sie noch sind, mein Freund! Sie ist so stolz! Sie würde es für eine neue Beleidigung halten, für eine Frechheit! Morgen werde ich alles arrangieren, jetzt aber – jetzt gehen Sie irgendwohin fort, etwa zu diesem Kaufmann ... am Abend können Sie vielleicht wiederkommen, aber selbst das würde ich Ihnen nicht raten!“

„Ich gehe, ich gehe! Mein Gott! Sie erretten mich! Nur noch eine Frage: wenn nun aber der Fürst nicht so bald stirbt?“

„Ach, mein Gott, wie naiv Sie sind, mon cher Paul! Im Gegenteil, wir müssen zu Gott beten, daß er ihm noch ein paar Wochen Gesundheit schenkt. Man muß diesem lieben, guten, diesem ritterlichen alten Herrn von ganzem Herzen ein verhältnismäßig langes Leben wünschen! Ich werde unter Tränen Tag und Nacht Gott um das Glück meiner Tochter bitten. Doch leider, leider! – ich glaube, die Gesundheit des Fürsten ist nicht allzu zuverlässig! Zudem wird er jetzt in die Residenz fahren und Sina in der Gesellschaft einführen müssen! Ich fürchte, oh, ich fürchte sehr, daß ihm diese Anstrengungen noch den letzten Gnadenstoß geben werden! Doch wir wollen beten, cher Paul, und das übrige steht in Gottes Hand! ... Sie gehen schon? Ich segne Sie, mon ami! Hoffen Sie, gedulden Sie sich, fassen Sie Mut, und vor allen Dingen – seien Sie ein ganzer Mann! Ich habe nie an dem Adel Ihrer Gefühle gezweifelt ...“

Sie drückte ihm fest die Hand und Mosgljäkoff schlich sich auf den Fußspitzen aus dem Zimmer.

„So, dieser Dummkopf wäre abgetan!“ dachte sie triumphierend. „Jetzt kommen andere an die Reihe ...“

Die Tür ging auf und Sina trat ein. Sie war erschreckend bleich und ihre Augen blitzten.

„Mama,“ sagte sie, „mach damit schnell ein Ende oder ich ertrage es nicht! Es ist dermaßen schmutzig und ekelhaft, daß ich aus dem Hause laufen möchte! Weshalb quälst du mich so, weshalb reizt du mich? Mir wird übel, hörst du: mir wird übel von diesem ganzen Schmutz!“

„Sina! Was hast du nur, mein Engel? Du ... du hast gelauscht!“ rief Marja Alexandrowna aus und sah ängstlich forschend Sina an.

„Ja, ich habe gelauscht. Willst du mich deshalb vielleicht auch so beschämen wie jenen Dummkopf? – Ich schwöre dir: wenn du mich noch lange so quälen und mir in dieser verächtlichen Komödie so schändliche Rollen zuerteilen wirst, so werfe ich alles hin und mache einfach ein Ende damit! Es ist genug, daß ich in die Hauptsache eingewilligt, daß ich mich zu dieser allergrößten Schändlichkeit bereit erklärt habe! Aber ... ich kannte mich noch nicht! Ich ersticke in diesem Schmutz! ...“

Sie lief aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Marja Alexandrowna blickte ihr aufmerksam nach und wurde nachdenklich.

„Ich muß mich beeilen!“ murmelte sie, sich besinnend. „Sina ist die größte Gefahr, und wenn alle diese Schurken uns nicht allein lassen und die Nachricht noch in der ganzen Stadt verbreiten, – was sie bestimmt schon getan haben werden, – so ist alles verloren! Sie würde diesem ganzen Skandal nicht standhalten und sich zurückziehen. Man muß den Fürsten unbedingt aufs Land bringen – was es auch koste! Ich werde sofort hinfahren und zuerst meinen Esel herschleppen. Zu irgend etwas muß er sich doch schließlich verwenden lassen! ... Und dort wird sich der Alte ausschlafen und dann ... – also: fahren wir!“

Sie klingelte.

„Nun, ist der Schlitten vorgefahren?“ fragte sie den eingetretenen Diener.

„Schon längst bereit!“ antwortete dieser.

Den Schlitten hatte sie bestellt, nachdem sie den Fürsten nach oben ins Fremdenzimmer geleitet hatte.

Sie kleidete sich an und eilte noch auf einen Augenblick zu Sina, um dieser in den Hauptzügen ihren Entschluß mitzuteilen, und, wenn möglich, auch noch einzuschärfen, wie sie sich zu verhalten habe. Doch Sina wollte sie nicht mehr anhören: sie lag auf ihrem Bett und hatte das Gesicht in die Kissen gepreßt. Sie weinte verzweifelt. Ihre wundervollen Hände hatte sie in ihre langen dunklen Haare eingekrallt, auf denen sich alabasterweiß ihre bis zum Ellenbogen entblößten Arme abhoben. Zuweilen zuckte sie zusammen, wie wenn plötzlich ein Frostschauer durch alle ihre Glieder lief. Marja Alexandrowna begann zwar zu sprechen, aber Sina erhob nicht einmal den Kopf.

Nachdem sie so eine Weile vor ihr gestanden hatte, ging sie besorgt hinaus und befahl dem Kutscher, um sich anderwärts dafür zu entschädigen, im Galopp auf ihr Gut zu fahren.

„Das Schlimmste ist, daß Sina gelauscht hat!“ dachte sie, als sie in ihrem bequemen Verdeckschlitten saß. „Ich habe Mosgljäkoff fast mit denselben Worten beredet wie sie. Sie ist stolz und wird sich jetzt vielleicht beleidigt fühlen ... Hm! Aber die Hauptsache, die Hauptsache ist doch, daß alles früher erledigt ist ... bevor die anderen davon Wind bekommen! Doch – wenn mein Esel jetzt zum Unglück nicht zu Hause ist!“

Bei diesem Gedanken wurde sie von unbeschreiblicher Wut erfaßt – die dem armen Afanassij Matwejewitsch nichts Gutes verhieß. Sie konnte keinen Augenblick ruhig sitzen.

X.

Die Pferde jagten dahin. Wir haben bereits gesagt, daß ein genialer Gedanke Marja Alexandrowna am Vormittage – als sie dem Fürsten nachfuhr, um ihn zurückzuerobern – beglückt hatte. Dieser Gedanke war: den Fürsten zu „konfiszieren“ und so bald als möglich auf ihr Gut in der Nähe der Stadt zu bringen, wo augenblicklich nur Afanassij Matwejewitsch sorglos und ungestört in vollkommenster Zufriedenheit gedieh. Wir wollen es nicht verheimlichen, daß Marja Alexandrowna immer mehr von einer unerklärlichen Unruhe gepeinigt wurde. Das pflegt ja sogar mit wirklichen Helden zu geschehen und gerade in der Zeit, wenn sie ihr Ziel erreichen oder sich ihm doch nähern. Ein gewisser Instinkt sagte ihr, daß es gefährlich war, in Mordassoff zu bleiben. „Ist man aber erst auf dem Lande, dann kann sich meinetwegen die ganze Stadt hier auf den Kopf stellen!“ Selbstverständlich durfte man auch auf dem Lande nicht unnütz Zeit verlieren. Es konnte ja alles mögliche dazwischen kommen, alles mögliche – wenn wir auch dem Gerücht, das von den Feinden unserer Heldin späterhin über sie verbreitet wurde, keinen Glauben schenken: daß sie in diesem Augenblick sogar ein Eingreifen der Polizei gefürchtet habe. Kurz, sie sah ein, daß man Sina so bald als möglich mit dem Fürsten verheiraten mußte. Die Mittel dazu hatte sie zur Hand. Dort auf dem Gute konnte sie der Dorfgeistliche trauen. Die Trauung konnte gleich übermorgen stattfinden, im äußersten Notfall sogar morgen. Hatte es doch Trauungen gegeben, die binnen zwei Stunden vollzogen worden waren! Dem Fürsten mußte man diese Eile und das Wegfallen aller Zeremonien und Festlichkeiten, Verlobungen und Polterabend als das Neueste comme il faut hinstellen: man mußte ihm beweisen, daß es so „grandioser“ sei. Außerdem konnte man ihm das Ganze als romantisches Abenteuer vormalen und somit die empfindsamste Seite im Herzen des alten Mannes zum Klingen bringen. Und schlimmstenfalls konnte man ihn sogar mit Wein „beruhigen“ oder – noch besser – ihn während der ganzen Zeit bei halber Betrunkenheit erhalten. Was dann später auch geschehen sollte – Sina würde dann immerhin schon Fürstin sein! Und falls es auch nicht ohne einen Skandal abgehen sollte, in Petersburg oder Moskau zum Beispiel, wo die Verwandten des Fürsten lebten, so gab es auch hierfür einen Trost: erstens war das noch weit im Felde und zweitens war Marja Alexandrowna überzeugt, daß es in der höheren Gesellschaft fast immer einen Skandal geben müsse, namentlich in Heiratsangelegenheiten, daß dieses sogar „guter Ton“ sei, wenn auch derlei Skandale der hohen Gesellschaft ihrer Meinung nach immer gewissermaßen ganz besondere zu sein pflegten, etwa in der Art der Skandale eines Monte-Christo oder der Mémoires du Diable – daß aber ihre Sina nur zu erscheinen brauche, unterstützt von ihrer Mama, um im Augenblick alle und alles zu besiegen, und daß dann keine einzige von allen Gräfinnen und Fürstinnen dieser Mordassower Kopfwäsche würde standhalten können, die nur Marja Alexandrowna allen gemeinsam oder auch einzeln der Reihe nach zu verabfolgen schon verstehen würde. Die Folge dieser Überlegungen war, daß Marja Alexandrowna jetzt mit Windeseile auf ihr Gut fuhr, um Afanassij Matwejewitsch abzuholen, dessen sie nach ihrer Berechnung jetzt sehr bedurfte. In der Tat: den Fürsten aufs Gut bringen, – das hieß, ihn zu Afanassij Matwejewitsch bringen, dessen Bekanntschaft der Fürst vielleicht durchaus nicht machen wollte –, war bedenklich. Wenn ihn aber Afanassij Matwejewitsch persönlich aufforderte, so war das eben etwas ganz anderes. Zudem konnte das Erscheinen eines bejahrten, würdigen Familienvaters, in Frack und weißer Binde, den Hut in der Hand, einen sehr guten Eindruck machen; und wenn man noch hinzufügte, daß er einzig auf die erste Kunde vom Fürsten aus der Ferne herbeigeeilt sei, so konnte das der Eigenliebe des Fürsten nur schmeicheln. Nach einer so umständlichen Galaeinladung war es auch schwer, abzusagen, dachte Marja Alexandrowna. Endlich hatten die Pferde die drei Werst zurückgelegt, und der Kutscher Ssofron zügelte sie vor der Vorfahrt des langgestreckten, einstöckigen, hölzernen Gutsgebäudes, das mit seiner langen Fensterreihe und umstanden von alten Linden schon ziemlich baufällig aussah und mit der Zeit von Wind und Regen ganz geschwärzt war. Das war Marja Alexandrownas Sommerresidenz. Im Hause brannte bereits Licht.

„Wo ist der Tölpel?“ schrie Marja Alexandrowna, die wie ein Sturm durch die Zimmer raste. „Weshalb liegt hier dieses Handtuch? Ach! Er hat sich getrocknet! Hat er sich wieder gebadet? Und ewig schlürft er seinen Tee! Was glotzt du mich an, du Dummkopf! Weshalb ist sein Haar nicht geschnitten? Grischka! Grischka! Grischka! Weshalb hast du dem Herrn nicht das Haar so geschnitten, wie ich es dir in der vergangenen Woche anbefohlen habe?“

Marja Alexandrowna hatte anfangs die Absicht gehabt, viel freundlicher ihren Gemahl zu begrüßen; als sie jedoch sah, daß er soeben aus dem Bad gestiegen war und stillvergnügt wieder seinen Tee trank, da konnte sie ihren Zorn nicht mehr meistern. In der Tat: soviel Mühen und Sorgen ihrerseits und soviel seliger Quietismus von seiten des zu nichts tauglichen, vollständig überflüssigen Afanassij Matwejewitsch – dieser Kontrast traf sie mitten ins Herz. Inzwischen saß der Tölpel, oder höflicher, derjenige, der Tölpel genannt wurde, in sprachlosem Schrecken vor seinem Ssamowar, sperrte Augen, Mund und Nase auf und starrte seine Frau an, deren Erscheinen ihn fast zu einem Götzenbilde gemacht hatte. In der Tür zum Vorzimmer stand die vierschrötige Gestalt Grischkas, der beständig etwas verschlafen zu sein schien und der sich auch jetzt nur augenblinzelnd die Szene ansah.

„Ja sie lassen doch nicht, deshalb habe ich auch nicht geschnitten,“ sagte er mürrisch mit seiner klanglosen Stimme. „Zehnmal bin ich mit der Schere gekommen, – nun, Herr, sagte ich, die Gnädige wird kommen und dann wird sie uns beiden was setzen, wenn wir nicht geschoren sind, was sollen wir dann machen? Sie aber sagten: nein, wart, ich werde mir Sonntag Locken einlegen und dazu brauche ich lange Haare.“

„Was? Er legt sich Locken ein! Also du legst dir Locken ein? Was sind denn das für Marotten? Und wie steht denn das zu deinem dummen Kopf? Gott, was das hier für eine Unordnung ist! Wonach riecht es hier? Ich frage dich, Monstrum, wonach es hier riecht?“ schrie Marja Alexandrowna, die über den unschuldigen und zu Tode erschrockenen Afanassij Matwejewitsch in immer größere Wut geriet.

„Mü ... mütterchen!“ stotterte schließlich der angstvolle Gatte, ohne sich vom Stuhl zu erheben und nur mit flehendem Blick auf die Gestrenge, „Mü ... mütterchen! ...“

„Wievielmal habe ich dir gesagt, habe ich deinem Eselskopf eingebläut, daß ich für dich durchaus kein Mütterchen bin! Was bin ich für ein Mütterchen, du Schöps, der du bist! Wie darfst du es wagen, eine vornehme Dame, deren Platz in der höchsten Gesellschaft, aber nicht neben einem Esel wie du wäre, mit solchen Namen anzureden!“

„Ja ... ja, aber du bist doch ... bist doch meine gesetzmäßige Frau ... und deshalb sage ich auch ... wie es unter Eheleuten ... Sitte ist ...“ versuchte zwar Afanassij Matwejewitsch sich zu verteidigen, hob aber gleichzeitig beide Hände zum Kopf empor, um seine Haare zu schützen.

„Ach du – Fratze! Du Popanz! Hat man jemals eine dümmere Antwort gehört? Gesetzmäßige Frau! Was gibt es denn jetzt noch für gesetzmäßige Frauen? Wer in aller Welt oder in der besseren Gesellschaft gebraucht jetzt noch dieses dumme, dieses seminaristische, dieses ekelhaft gemeine Wort: ‚gesetzmäßige Frau‘? – und wie wagst du es überhaupt, mich daran zu erinnern, daß ich deine Frau bin, wenn ich mich aus allen Kräften, aus ganzer Seele gerade dieses eine wieder zu vergessen bemühe, daß ich deine Frau bin! Was hältst du deinen Kopf fest? Da sehe doch einer, was für Haare er hat! Sie sind ja total, total naß! Die werden in drei Stunden nicht trocken werden! Wie soll man jetzt mit ihm hinfahren? Wie soll man ihn fremden Menschen zeigen? Was soll ich jetzt tun?“

Marja Alexandrowna rang die Hände vor Verzweiflung, während sie im Zimmer auf und ab raste. Das Unglück war zwar nicht so groß und ließ sich ja leicht wieder gutmachen, nur konnte die Dame ihren herrschsüchtigen, rechthaberischen Geist nicht immer bändigen. Das beständige Ausgießen ihres Zornes über dem Haupte des armen Afanassij Matwejewitsch war ihr zum Bedürfnis geworden, – denn Tyrannei ist eine Angewohnheit, die zum Bedürfnis wird. Und dann – wir wissen doch, zu welchen Kontrasten manche zartfühlenden Damen einer gewissen Gesellschaftsklasse bei sich zu Hause, hinter den Kulissen – fähig sind, und gerade diesen Kontrast wollte ich hier wiedergeben.

Afanassij Matwejewitsch verfolgte zitternd die Evolutionen seiner Gattin und schwitzte vor Angst.

„Grischka!“ schrie sie. „Kleide den Herrn sofort an! Frack, Beinkleider, weiße Binde, Weste – schneller! Wo ist denn seine Kopfbürste, wo ist seine Kopfbürste?“

„Mütterchen! Aber ich bin doch soeben aus der Wanne gekommen, – ich kann mich doch erkälten, erkälten, wenn ich bei diesem Wetter ausfahren ...“

„Keine Bange – wirst dich nicht erkälten!“

„Aber ... mein Haar ist ja ganz naß ...“

„Das werden wir im Augenblick trocken machen! Grischka, nimm die Kopfbürste, bürst ihn trocken! Stärker! stärker! stärker! So! So ist’s recht!“

Unter diesem Kommando bürstete der eifrige und ergebene Grischka aus Leibeskräften den Kopf seines Herrn, den er um der größeren Bequemlichkeit halber an der Schulter erfaßt hatte und von rückwärts striegelte, ungeachtet dessen, daß er die Nase seines Opfers fast an den Diwan stieß. Afanassij Matwejewitsch zog das Gesicht kraus und war nahe daran, zu weinen.

„Jetzt komm her! Heb ihn auf, Grischka! Wo ist die Pomade? Beuge dich, beug dich, Nichtsnutz, beug dich, sag ich dir!“

Und Marja Alexandrowna machte sich daran, eigenhändig ihren Gemahl zu salben, während sie ihn unbarmherzig an seinem dichten, grauuntermischten Haarschopf zog, den er zum Unglück nicht vorschriftsmäßig hatte kurz schneiden lassen. Afanassij Matwejewitsch seufzte und prustete, schrie aber doch kein einziges Mal, sondern ertrug ergeben die ganze gewaltsame Einsalbung.

„Alle meine Kräfte hast du mir ausgesogen, du Schmutzfink!“ schrie Marja Alexandrowna. „So beug dich doch mehr, beug dich! – hast du verstanden?“

„Wieso habe ich denn deine Kräfte ausgesogen, Mütterchen?“ fragte der Gatte zaghaft und beugte den Kopf so tief als nur irgend möglich.

„Tölpel! Kannst nicht einmal eine Allegorie verstehen! Jetzt kämm dich. Und den Rock ihm an. Aber schnell.“

Unsere Heldin setzte sich in einen Fauteuil und beaufsichtigte mit inquisitorischen Blicken das ganze Zeremoniell der Bekleidung ihres Gatten. Dieser hatte sich inzwischen ein wenig erholt und etwas Mut geschöpft. Als es zum Binden der weißen Krawatte kam, wagte er sogar, eine persönliche Bemerkung über die Form und Schönheit des Knotens zu äußern. Und als der brave Mann zu guter Letzt noch seinen Frack angezogen hatte, war er vollkommen ermutigt und betrachtete sein Spiegelbild sogar mit einer gewissen Ehrfurcht.

„Wohin bringst du mich denn, Marja Alexandrowna?“ fragte er selbstgefällig.

Seine Gemahlin traute ihren Ohren nicht.

„Da höre doch einer! Ach, du Vogelscheuche! Wie wagst du überhaupt, mich zu fragen, wohin ich dich bringe?“

„Aber Mütterchen, man muß doch wissen ...“

„Schweig! Und wag es nur noch einmal, mich Mütterchen zu nennen, namentlich dort, wohin wir jetzt fahren! Einen ganzen Monat bleibst du mir dann ohne einen Tropfen Tee!“

Erschrocken verstummte der Gemahl.

„Seht doch, nicht einen einzigen Orden hat er sich verdient, dieser Taugenichts!“ sagte sie mit verächtlichem Blick auf seinen schwarzen Frack.

Da fühlte sich Afanassij Matwejewitsch denn doch gekränkt.

„Orden, Mutter, verleihen die höchsten Vorgesetzten und ich bin Rat, aber kein Taugenichts!“ sagte er mit edlem Unwillen.

„Wie, wie, wie! Hast du hier etwa zu denken gelernt? Ach du! Bauer, du! Schade, daß ich jetzt keine Zeit habe, mich mit dir abzugeben, sonst würde ich ... Nun, ich werde mich dessen noch später entsinnen! Gib ihm den Hut, Grischka! Gib ihm den Pelz! ... Hier in meiner Abwesenheit diese drei Zimmer aufräumen, und auch das grüne, das Eckzimmer, gleichfalls aufräumen! Im Augenblick! Von den Spiegeln die Bezüge abnehmen! von den Uhren gleichfalls! Und sieh zu, daß alles in einer Stunde fertig ist! Und du selbst zieh dir den Frack an, und den Leuten gib weiße Handschuhe, hörst du, Grischka, hörst du!“

Sie setzten sich in den Schlitten und fuhren. Afanassij Matwejewitsch wunderte sich und Marja Alexandrowna überlegte im stillen, wie sie dem schwerfälligen Kopf ihres Gatten gewisse Verhaltungsmaßregeln möglichst klar, einfach und verständlich einschärfen sollte. Doch ihr Gatte kam ihr zuvor.

„Ach so, was ich eigentlich sagen wollte ... ich habe heute einen sehr originellen Traum gehabt,“ meldete er plötzlich mitten im beiderseitigen Schweigen.

„Ach, du verfluchte Vogelscheuche! Und ich glaubte schon, daß jetzt weiß Gott was kommen würde! Sein Traum! Wie wagst du es überhaupt, mir mit deinen Träumen zu kommen? Origineller – Traum? Weißt du denn auch, was originell bedeutet? Hör, ich sage dir jetzt zum letzten Mal: wenn du heute wagst, auch nur ein Wort von deinem Traum zu sagen, oder gleichviel wovon, so werde ich – ich weiß nicht was, mit dir tun! Paß jetzt auf: Fürst K. ist zu mir gekommen. Entsinnst du dich noch des Fürsten K.? ...“

„Entsinne mich, Mutter, entsinne mich. Weshalb ist er denn zu dir gekommen?“

„Schweig! – das geht dich nichts an! Du mußt ihn mit besonderer Liebenswürdigkeit – als Hausherr – sofort auf unser Gut einladen. Deshalb bringe ich dich auch hin. Und heute noch werden wir von dort fortfahren. Wenn du aber wagst, heute, diesen ganzen Abend, oder morgen, oder übermorgen oder gleichviel wann, auch nur ein einziges Wort zu sprechen, so werde ich dich ein ganzes Jahr lang – Gänse werde ich dich hüten lassen! Sprich überhaupt nicht, sprich kein einziges Wort. Und das ist alles, was du zu tun hast. – Hast du verstanden?“

„Aber – wenn man mich etwas fragt?“

„Gleichviel – schweige!“

„Aber – das geht doch nicht, daß ich nicht antworte, Marja Alexandrowna!“

„In dem Fall sag irgend etwas ganz Kurzes, Einsilbiges, zum Beispiel: ‚Hm!‘ oder etwas in der Art, – gewissermaßen – um zu zeigen, daß du ein kluger Mensch bist und reiflich überlegst, bevor du antwortetst.“

„Hm!“

„Versteh mich! Ich bringe dich hin und werde sagen, daß du auf die Nachricht von der Ankunft des Fürsten, vor Freude über seinen Besuch, sofort zur Stadt geeilt bist, um ihm deine Aufwartung zu machen und ihn zu uns aufs Gut einzuladen. Hast du verstanden?“

„Hm!“

„Aber du sollst doch nicht jetzt ‚hm‘ sagen, Esel! Antworte darauf, was ich dich frage!“

„Gut, Mutter, es soll alles geschehen, wie du willst, nur – weshalb soll ich denn den Fürsten einladen?“

„Wie, wie? Wieder willst du denken! Was geht das dich an, weshalb! Und wie wagst du überhaupt, das zu fragen?“

„Ich meine ja nur, Marja Alexandrowna wie soll ich ihn denn einladen, wenn du mir fortwährend zu schweigen befiehlst?“

„Ich werde für dich reden, du aber mach nur deine Verbeugung – hörst du? – mach nur deine Verbeugung und behalte den Hut in der Hand. Hast du mich verstanden?“

„Jawohl, Mutt... Marja Alexandrowna.“

„Der Fürst ist sehr geistreich. Wenn er etwas sagt, und selbst wenn es nicht an dich gerichtet ist, so antworte auf alles nur mit einem gutmütigen und heiteren Lächeln, – hörst du?“

„Hm!“

„Wieder! Mir hast du nicht mit ‚hm‘ zu antworten! Sage einfach und offen: hast du gehört oder nicht?“

„Ich höre, Marja Alexandrowna, ich höre, wie sollte ich denn nicht hören. Das ‚hm‘ sage ich nur, weil ich mich im Hm-Sagen übe, wie du es befohlen hast. Aber ich meine nur, Mutter, wie wird denn das sein: wenn der Fürst etwas sagt und du befiehlst, ihn nur anzusehen und zu lächeln! Aber wenn er mich nun etwas fragt?“

„Gott! – bis der etwas begriffen hat! Ich habe dir doch gesagt: schweige! Ich werde für dich antworten, du aber sieh ihn nur an und lächle.“

„Aber ... dann kann er ja denken, daß ich stumm bin!“

„Großes Unglück! Mag er doch, dafür wird er nicht merken, daß du dumm bist.“

„Hm! ... Nun, aber wenn mich andere etwas fragen?“

„Niemand wird dich etwas fragen, es wird niemand zugegen sein. Und falls dennoch jemand kommen sollte – wovor Gott uns bewahre! – und dich etwas fragt oder überhaupt etwas sagt, so antworte sofort mit einem sarkastischen Lächeln. Weißt du, was das ist – ein sarkastisches Lächeln?“

„Das ist doch ein geistvolles, nicht?“

„Ich werde dir – geistvolles! Wer wird denn von dir Esel ein geistvolles Lächeln verlangen! Einfach ein spöttisches Lächeln, ein spöttisch verächtliches.“

„Hm!“

„Weiß Gott, wie es werden wird!“ dachte Marja Alexandrowna innerlich seufzend. „Er hat sich entschieden geschworen, mich zur Verzweiflung zu bringen! Ich glaube fast, es wäre besser, ihn überhaupt nicht hinzubringen!“

Während dieses Gedankenganges, dem sorgenvolle Unruhe und erbitterte Selbstvorwürfe folgten, beugte sich Marja Alexandrowna beständig zum Fenster ihres Verdeckschlittens hinaus und trieb den Kutscher zu noch größerer Eile an. Die Pferde jagten, ihr aber schien es immer noch zu langsam vorwärts zu gehen. Afanassij Matwejewitsch saß schweigend in seiner Ecke und wiederholte in Gedanken die ihm erteilten Lektionen. Endlich erreichten sie die Stadt und bald darauf hielten sie vor dem Hause Marja Alexandrownas.

Kaum aber war unsere Heldin ausgestiegen, als sie auch schon einen zweisitzigen, verdeckten Schlitten mit dampfenden Pferden erblickte, der plötzlich gleichfalls vor ihrem Hause hielt. Das war das Gefährt, in dem Anna Nikolajewna Antipowa ausfuhr. Im Schlitten saßen zwei Damen. Die eine war Anna Nikolajewna und die andere Natalja Dmitrijewna, – seit einiger Zeit die aufrichtigste Freundin und Anhängerin der anderen.

Marja Alexandrownas Herzschlag setzte aus. Aber noch hatte sie keinen Schrei ausgestoßen, als schon eine zweite Kutsche vorfuhr, in der sich offenbar gleichfalls Gäste befanden. Im Augenblick ertönten denn auch freudige Begrüßungsworte.

„Marja Alexandrowna! Und zusammen mit Afanassij Matwejewitsch! Angekommen! Woher denn das? Und gerade rechtzeitig, denn wir kommen zu Ihnen! Auf den ganzen Abend! Welche Überraschung!“

Die Damen hüpften auf die Treppe und zwitscherten wie Schwalben durcheinander. Marja Alexandrowna traute ihren Augen und Ohren nicht.

„Daß euch der! ...“ dachte sie bei sich. „Das sieht mir ganz nach einer Verschwörung aus! Das muß man untersuchen! Nur ... werden nicht solche Elstern wie ihr mich überlisten ... Wartet! ...“

XI.

Mosgljäkoff verließ Marja Alexandrowna wie es schien, vollkommen beruhigt. Sie hatte es verstanden, ihn für ihren Plan zu gewinnen. Einstweilen aber ging er doch nicht zu Borodujeff, denn es verlangte ihn nach Einsamkeit. Die Woge der romantischen und heroischen Träume, die ihn plötzlich überkam, ließ ihm keine Ruhe. Er dachte an eine feierliche Aussprache mit Sina, an die edlen Tränen seines alles verzeihenden Herzens, seine Bleichheit und Verzweiflung auf dem glänzenden Petersburger Ball, an Spanien, den Guadalquivir, an seine Liebe und den sterbenden Fürsten, der noch vor seinem letzten Atemzuge ihrer beider Hände vereinigte. Hierauf dachte er an seine wunderschöne Frau, die ihm treu ergeben ist und ihn täglich ob seines Heldenmutes und seiner erhabenen Gefühle anstaunt; nebenbei – im stillen – an die Aufmerksamkeit irgend einer Gräfin der „höchsten Gesellschaft“, in die er durch die Heirat mit Sina, der Witwe des Fürsten K., unfehlbar hineingelangen würde; ferner an den Posten eines Vizegouverneurs, an das viele Geld ... Mit einem Wort: alles, was Marja Alexandrowna so beredt ausgemalt hatte, zog noch einmal durch seine restlos zufriedene Seele, beglückend und verlockend und vor allem seiner Eigenliebe schmeichelnd. Doch siehe – und ich weiß wirklich nicht, wie ich das eigentlich erklären soll –, als er von dieser ganzen Begeisterung bereits müde zu werden begann, kam ihm plötzlich ein äußerst unangenehmer Gedanke: daß nämlich das alles bestenfalls in der Zukunft sein würde, daß er vorläufig aber trotz allem mit einer langen Nase sitzen bliebe. Als ihm dieser Gedanke kam, bemerkte er auch, daß er sehr weit gegangen war und sich in einer einsamen, ihm völlig unbekannten Vorstadt Mordassoffs befand. Es dunkelte. In den Straßen, an denen gleichsam in die Erde hineingewachsene Häuschen standen, bellten wie verzweifelt alle Hunde, die, wie gewöhnlich in Provinzstädten, gerade in jenen Stadtteilen sich erschreckend vermehren, wo es nichts zu bewachen und auch nichts zu stehlen gibt. Es begann zu schneien. Nasse, schwere Flocken fielen. Selten nur begegnete ihm ein verspäteter Bauer oder ein Weib im Pelz und in Wasserstiefeln. Alles das ärgerte ihn mit einemmal – ein sehr schlechtes Zeichen, da uns bei einer günstigen Wendung der Dinge im Gegenteil alles in rosigem Licht zu erscheinen pflegt. Pawel Alexandrowitsch dachte unwillkürlich daran, daß er bis jetzt in Mordassoff den Ton angegeben hatte; er hörte es sehr gern, wenn man ihm in jedem Hause andeutete, daß er Heiratskandidat sei und wenn ihm zu dieser Eigenschaft Glück gewünscht wurde. Er war sogar regelrecht stolz darauf, Heiratskandidat zu sein. Und nun sollte er plötzlich als – Verschmähter dastehen! Man wird ihn ja auslachen! Und in der Tat, er kann doch nicht alle eines anderen belehren, er kann doch nicht einem jeden von den Petersburger Bällen in säulenverzierten Sälen und vom Guadalquivir erzählen! Während er so dies und das überlegte, sich selbst quälte und mit seinem Schicksal haderte, kam ihm schließlich etwas in den Sinn, das schon seit einiger Zeit halb unbewußt an seinem Herzen genagt hatte.

„Aber ist denn das alles auch wahr? Wird es denn auch genau so in Erfüllung gehen, wie Marja Alexandrowna es ausgemalt hat?“

Gleichzeitig sagte er sich, daß Marja Alexandrowna eine äußerst schlaue Dame war und, wie sehr sie die allgemeine Achtung auch verdient haben mochte, dennoch klatschte und vom Morgen bis zum Abend log. Er sah ein, daß sie, als sie ihn „abschob“, wahrscheinlich ihre besonderen Gründe dazu gehabt hatte, und schließlich – ausmalen kann ja ein jeder. Auch an Sina dachte er, dachte an ihren Abschiedsblick, der von nichts weniger als von heimlicher, leidenschaftlicher Liebe gesprochen hatte; und zum Überfluß fiel ihm da noch ein, daß er von ihr immerhin einen Korb erhalten und sie ihn einen Dummkopf genannt hatte. Bei diesem Gedanken blieb Pawel Alexandrowitsch wie angewurzelt stehen und errötete vor Scham bis zu Tränen. Da fehlte denn nur noch, daß ihm gerade in diesem Augenblick etwas Unangenehmes zustieß: er trat fehl und flog in einen Schneehaufen. Während er nun in dem losen, weichen Schnee kniete und sich wieder aufzurichten mühte, stürzte die ganze Meute, die ihn seit geraumer Zeit verfolgt und angekläfft hatte, von allen Seiten auf ihn los. Der kleinste und frechste Hackenbeißer hatte sogar die Unverschämtheit, sich hinten an seinen Pelz zu hängen. Mit lautem Geschimpf schüttelte er die Hunde ab und trottete dann mit hinten zerrissenem Pelzrand bis zur nächsten Querstraße, um erst hier gewahr zu werden, daß er sich verirrt hatte. Bekanntlich kann kein Mensch, der sich in einem ihm unbekannten Stadtteil verirrt hat – und namentlich noch in der Nacht – eine Straße geradeaus bis zum Ende gehen: immer wieder wird ihn eine unbekannte Macht in alle Querstraßen und Nebengassen einzubiegen zwingen. Da nun auch Mosgljäkoff keine Ausnahme aus der Regel machte, verirrte er sich bald endgültig.

„Der Teufel hole alle diese hohen Ideen!“ fluchte er im Innersten und spie aus vor Wut. „Und der Teufel hole euch alle samt euren edlen Gefühlen und Guadalquiviren!“

Ich will nicht behaupten, daß Mosgljäkoff in diesem Augenblick anziehend gewesen sei.

Nach zwei Stunden langte er endlich müde und abgequält beim Hause Marja Alexandrownas an. Als er die vielen Kutschen vor der Tür halten sah, wunderte er sich.

„Sind das etwa Gäste, sollte dort geladener Besuch sein?“ fragte er sich. „Zu welchem Zweck gibt sie denn heute eine Abendgesellschaft?“ Er erkundigte sich beim Diener und erfuhr, daß Marja Alexandrowna auf dem Gut gewesen und mit Afanassij Matwejewitsch – der in Frack und weißer Binde erschienen sei – zurückgekehrt war und daß der Fürst zwar geruht habe, aus dem Nachmittagsschläfchen zu erwachen, jedoch noch nicht nach unten zu den Gästen herabgestiegen wäre. Mosgljäkoff begab sich, ohne ein Wort zu sagen, hinauf zum Fürsten. Er befand sich gerade in einer Stimmung, in der ein Mensch mit schwachem Charakter fähig ist, sich zu allem zu entschließen, selbst zum schmählichsten Racheakt, ohne daran zu denken, daß er dann vielleicht sein ganzes Leben lang die Tat bereuen wird.

Er fand den Fürsten in einem bequemen Lehnstuhl sitzend vor seinem Reisenecessaire mit vollkommen kahlem Schädel, aber die Fliege und der Backenbart waren bereits angebracht. Seine Perücke befand sich in den Händen seines alten grauhaarigen Kammerdieners und besonderen Lieblings, Iwan Pachomytschs, der sie mit tiefernster, wichtiger und ehrfürchtiger Miene bürstete.

Der Fürst, der nach dem vielen Wein noch nicht recht zu sich gekommen zu sein schien, bot einen ziemlich traurigen Anblick dar: er schien ganz und gar erschlafft zu sein, blinzelte hin und wieder mit den Augen und sah Mosgljäkoff an, als sähe er ihn zum ersten Mal im Leben.

„Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich, Onkelchen?“ erkundigte sich dieser.

„Wie ... Ach das bist du!“ Schließlich erkannte ihn der Fürst. „Ich war ein wenig eingeschlafen. Ach Gott!“ – Er war im Augenblick belebt – „ich bin ja doch ... ich bin ja doch ohne Per–rücke!“

„O, beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen! Ich ... ich werde Ihnen helfen, wenn Sie meiner Hilfe bedürfen.“

„Nun sieh, da hast du jetzt mein Geheimnis erfahren! Ich habe doch ge–sagt, daß man die Tür verschließen muß. Aber, mein Freund, du mußt mir jetzt sogleich dein Eh–ren–wort geben, daß du mein Geheim–nis niemand aufdecken und niemand sagen wirst, daß ich fal–sches Haar habe.“

„O, ich bitte Sie, Onkelchen! Halten Sie mich denn für einen, der dazu fähig wäre?“ Mosgljäkoff wollte den Fürsten zu seinen weiteren Zwecken gewinnen ...

„Nun ja, nun ja! Doch ... Da ich sehe, daß du ein edler Mensch bist – mag es dann so sein, ich werde dich in Erstaunen setzen ... und dir meine Geheimnisse aufdecken. Nun, mein Lieber, wie gefällt dir mein Schnurrbart?“

„Vorzüglich, Onkelchen! Er ist geradezu wunderbar! Wie haben Sie ihn nur so lange und so tadellos erhalten können?“

„Überzeuge dich: er ist – fal–sch!“ sagte der Fürst mit triumphierendem Blick auf Mosgljäkoff.

„Ist’s möglich? Nicht zu glauben! Nun, aber der Backenbart? Gestehen Sie es nur, Onkelchen, den färben Sie doch?“

„Färben? Ich färbe ihn nicht nur, er ist gleichfalls vollkommen – fal–sch!“

„Unmöglich! Nein, Onkelchen, Verzeihung, aber das glaube ich nicht! Sie wollen sich über mich lustig machen!“

Parole d’honneur, mon ami!“ beteuerte der Fürst stolz. „Und denk dir, alle, aber auch alle lassen sich ganz wie du täuschen! Sogar Stepanida Matwejewna glaubt es nicht, obgleich sie ihn mir doch zuweilen selbst anbringt. Aber ich bin über–zeugt, mein Lieber, daß du mein Geheimnis bewahren wirst. Gib mir dein Ehrenwort.“

„Ehrenwort, Onkelchen, ich werde es keinem verraten. Und glauben Sie denn wirklich, daß ich dazu fähig wäre?“

„Ach, mein Freund, wie ich heute in deiner Abwesenheit gefallen bin! Fe–o–fil hat mich zum zweitenmal um–geworfen!“

„Zum zweitenmal? Wann denn das?“

„Tja, wir näherten uns schon dem Kloster ...“

„Ich weiß, Onkelchen, heute morgen.“

„Nein, nein, das war im ganzen vor zwei Stunden, nicht mehr. Ich fuhr ins Kloster, er aber warf die Kutsche um. Dieser Schreck! Mein Herz steht noch still davon.“

„Aber Onkelchen, Sie haben doch inzwischen geschlafen!“

„Nun ja, geschlafen ... dann aber fuhr ich ... wie gesagt, ich ... Also, wie gesagt, vielleicht habe ich das ... nein, wie son–derbar das ist!“

„Glauben Sie mir, Onkelchen, das haben Sie nur im Traum erlebt! Sie haben hier doch die ganze Zeit seit dem Mittag geschlafen.“

„Wirk–lich?“ – Der Fürst wurde nachdenklich.

„Nun ja, vielleicht habe ich das nur im Traum gesehen. Aber, wie gesagt, ich habe alles behalten, was mir geträumt hat. Zuerst träumte mir von einem grau–envollen Büffel mit langen Hörnern, dann von einem Staatsanwalt, gleichfalls, wie mir schien, mit Hör–nern ...“

„Das war wohl Nikolai Wassiljitsch Antipoff, Onkelchen?“

„Nun ja, vielleicht war er es. Und dann träumte mir von Napo–leon Buonaparte. Weißt du, mein Lieber, mir sagen alle, daß ich Napoleon Buonaparte ungemein ähneln soll ... und im Profil soll ich ... aus–ge–sproch–en wie ein gewisser ehemaliger Papst aussehen! Was findest du, mein Lieber, habe ich Ähnlichkeit von einem Papst?“

„Ich finde, daß Sie mehr Napoleon ähneln, Onkelchen.“

„Nun ja, das wäre en face. Wie gesagt, ich finde es selbst auch, mein Lieber. Und ich sah ihn im Traum bereits auf der Insel sitzend, und wie gesagt, er war so ge–sprä–chig, so schlag–fertig, solch ein Witz–bold ... so daß er mich un–gemein erheitert hat.“

„Reden Sie von Napoleon?“ fragte Mosgljäkoff mit nachdenklichem Blick auf den Fürsten. Ihm war plötzlich ein sonderbarer Einfall gekommen, ein Einfall, über den er sich vorläufig noch nicht recht klar war.

„Nun ja, von Napoleon. Wir sprachen beide über Phi–lo–sophie. Und weißt du, mein Lieber, es tut mir sogar leid, daß die Eng–länder ... so streng mit ihm verfah–ren sind. Es ist ja wahr: hätte man ihn nicht an der Kette gehalten, so würde er sich wieder auf die anderen gestürzt haben. Ein toller Mensch! Aber es tut mir doch leid um ihn. Ich hätte ihn nicht so behandelt. Ich hätte ihn auf eine un–bewohnte Insel gesetzt ...“

„Weshalb denn auf eine unbewohnte?“ fragte Mosgljäkoff zerstreut.

„Nun, dann meinetwegen auch auf eine bewohn–te, aber auf eine, auf der nur vernünf–tige Menschen wohnen. Nun und dann hätte ich verschiedene Zerstreu–ungen für ihn arrangiert: Theater, Musik, Ballett ... und alles auf Kosten des Staates. Spazieren zu gehen hätte ich ihm natür–lich nur unter Auf–sicht erlaubt, denn sonst wäre er ja sofort wieder entschlüpft. Gewisse Pasteten soll er sehr geliebt haben. Nun, dann würde man ihm eben täglich diese Pasteten gebacken haben. Ich hätte sozusagen väterlich für ihn gesorgt. Er hätte es bei mir nicht schlecht gehabt! ...“

Mosgljäkoff hörte zerstreut dem Geschwätz des erst halberwachten Greises zu und trommelte mit seinen Händen vor Ungeduld. Er wollte das Gespräch auf die Heirat bringen. Eigentlich wußte er noch selbst nicht, weshalb er es wollte, doch ein unbezwingliches Rachegelüst kochte in seiner Brust. Plötzlich stieß der Greis einen leichten Schrei aus, einen Schrei der Überraschung.

„Ach, mon ami! Ich habe ja ganz vergessen, dir zu sagen! Denk doch, ich habe heute einen Heiratsantrag gemacht!“

„Einen Heiratsantrag, Onkelchen?“ fragte Mosgljäkoff ungemein belebt.

„Nun ja, einen Hei–ratsantrag. Pachomytsch, du gehst schon? Nun gut. C’est une charmante personne ... Mais ... ich will dir gestehen, mein Lieber, ich habe un–über–legt gehandelt. Jetzt sehe ich es ein. Ach, Gott im Himmel!“

„Aber erlauben Sie, Onkelchen, wann haben Sie es denn getan?“

„Wie gesagt, mein Lieber, ich weiß noch nicht einmal genau, wann. Oder sollte mir das nur geträumt haben? Ach, wie son–der–bar das aber doch ist!“

Mosgljäkoff erzitterte vor Freude. Er hatte eine glänzende Idee!

„Aber wem und wann haben Sie denn den Heiratsantrag gemacht, Onkelchen?“ fragte er ungeduldig.

„Der Tochter des Hauses hier, mon ami ... cette belle personne ... wie gesagt, ich habe vergessen, wie sie heißt. Nur, sieh mal, mon ami, ich kann doch unmöglich hei–raten! Was soll ich jetzt tun?“

„Gewiß, Sie würden sich unfehlbar zugrunde richten, wenn Sie heiraten wollten. Aber erlauben Sie eine Frage, Onkelchen: sind Sie denn auch überzeugt, daß Sie den Antrag wirklich gemacht haben?“

„Nun ja ... ich bin ü–ber–zeugt.“

„Wenn es Ihnen aber nur geträumt hat, ganz wie das, daß sie zum zweiten Mal mit der Kutsche umfielen?“

„Ach, Gott! Es ist wahr, vielleicht hat es mir auch nur geträumt! ... Jetzt weiß ich ja gar nicht, wie ich mich dort verhal–ten soll! ... Mon ami, auf welchem Um–wege könnte man das nun genau erfahren, ob ich bei ihr angesprochen habe oder nicht? Denn sonst, denk doch nur, in welcher Lage ich jetzt bin!“

„Wissen Sie, Onkelchen, ich glaube, da ist überhaupt nichts zu erfahren.“

„Wieso?“

„Ich bin überzeugt, daß es Ihnen nur geträumt hat.“

„Der Meinung bin ich auch, mon ami, um so mehr, als ich oft ähn–liche Träume habe.“

„Nun, sehen Sie. Und vergessen Sie nicht, daß Sie zum Frühstück ein wenig getrunken haben, dann zum Mittag wieder und schließlich ...“

„Nun ja, mein Lieber, das ist es gerade; vielleicht rührt es auch nur da–von her.“

„Und zudem, Onkelchen, wie sehr Sie auch entflammt gewesen sein mochten, einen so unüberlegten Heiratsantrag hätten Sie doch nie in Wirklichkeit machen können. So weit ich Sie kenne, sind Sie ein überaus vernünftiger Mensch und ...“

„Nun ja, nun ja.“

„Und denken Sie doch nur an eines: wenn das Ihre Verwandten erführen, die Ihnen doch ohnehin nicht gewogen sind – was würden die dazu sagen?“

„Gott im Himmel!“ rief entsetzt der Fürst aus. „Was würden die dazu sagen?“

„Ich bitte Sie! Alle würden wie ein Mann schreien, daß Sie es nicht bei vollem Verstande hätten tun können, daß Sie geistesschwach seien, daß man Sie unter Kuratel bringen müsse, daß man Sie betrogen habe, und zu guter Letzt würde man Sie irgendwo einsperren, wo Sie unter Aufsicht leben müßten.“

Mosgljäkoff wußte, womit man dem Alten den größten Schrecken einjagen konnte.

„Gott im Himmel!“ – Der Fürst zitterte wie ein Espenblatt. „Würde man mich wirklich einsperren!“

„Und deshalb sagen Sie sich doch selbst Onkelchen: wie hätten Sie einen so unüberlegten Heiratsantrag in Wirklichkeit machen können? Sie kennen doch Ihren eigenen Vorteil! Nein, ich behaupte konsequent, daß Sie das alles nur im Traum gesehen haben.“

„Unbedingt im Traum, un–be–dingt im Traum!“ bestätigte der erschrockene Fürst. „Nein, wie vernünftig du das erklärt hast, mein Lieber! Ich danke dir von Herzen dafür, daß du mich be–ruh–igt hast!“

„Und mich freut es sehr, daß ich Sie heute getroffen habe. Denken Sie doch nur: ohne mich hätten Sie sich tatsächlich täuschen, hätten Sie glauben können, daß Sie tatsächlich im wachen Zustande bei ihr angesprochen haben und dann – wären Sie jetzt als Bräutigam zu ihr nach unten gegangen! Denken Sie doch nur, wie gefährlich das gewesen wäre!“

„Nun ja ... gefährlich!“

„Denken Sie doch nur, daß dieses Mädchen dreiundzwanzig Jahre alt ist; niemand will sie nehmen und plötzlich kommen Sie, ein reicher und vornehmer Aristokrat, als Freier zu ihr! Aber die würden ja doch sofort zugreifen, würden beteuern, daß Sie wirklich angesprochen haben: und verkuppeln Sie womöglich mit Gewalt. Und dann werden sie hoffen, daß Sie vielleicht bald sterben ...“

„Wirklich?“

„Und dann denken Sie doch nur, Onkel: ein Mensch mit Ihren Vorzügen ...“

„Nun ja, mit meinen Vorzügen ...“

„Mit Ihrem Verstande und Ihrer Liebenswürdigkeit ...“

„Nun ja, mit meinem Verstande, ja! ...“

„Und dann, Sie sind – Fürst. Sie könnten doch eine ganz andere Partie machen, wenn Sie wirklich aus irgend einem Grund heiraten müßten. Und denken Sie nur daran, was Ihre Verwandten sagen würden!“

„Ach, mon ami, sie würden mich ja dann ganz und gar vernichten! Ich habe von ihnen schon soviel Böses und Unheimliches erfahren ... Denk dir, ich vermute, daß sie mich sogar in eine Ir–ren–anstalt bringen wollten. Nun sag doch bloß, mon ami, das geht doch nicht! Nun, was würde ich denn dort in der Ir–ren–anstalt an–fangen?“

„Versteht sich, Onkelchen, und deshalb werde ich Sie jetzt auch nicht verlassen, wenn Sie nach unten gehen. Dort sind Gäste.“

„Gäste? Gott im Himmel!“

„Beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei Ihnen sein.“

„Nein, wie dankbar ich dir bin, mein Lieber, du bist geradezu mein Retter! Aber weißt du: ich werde lieber fortfahren.“

„Morgen, Onkelchen, morgen früh um sieben Uhr. Heute aber müssen Sie sich noch von allen verabschieden und sagen, daß Sie morgen fortfahren.“

„Ich werde un–be–dingt fortfahren ... wie gesagt, zum Pater Missaïl ... Mais, mon ami, wenn sie mich nun aber verkup–peln wollen?“

„Fürchten Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei Ihnen sein. Und schließlich, was man Ihnen auch sagen oder zu verstehen geben sollte, bleiben Sie dabei, daß es Ihnen nur geträumt hat ... wie es sich ja auch tatsächlich verhält ...“

„Nun ja, un–be–dingt geträumt! Nur, weißt du, mon ami, es war doch ein be–zau–bernder Traum! Sie ist wun–der–bar schön und, weißt du, welche Formen ...“

„Nun, auf Wiedersehen, Onkelchen, ich gehe jetzt nach unten und Sie ...“

„Was! Du verläßt mich, du läßt mich allein zurück!“ rief der Fürst erschrocken aus.

„Nein doch, wir müssen nur nach unten gehen und da ist es besser, wenn wir nicht zusammen erscheinen, zuerst ich, dann Sie.“

„Nun gut. Ich muß, wie gesagt, auch noch einen Gedanken niederschreiben!“

„Schön, Onkelchen, schreiben Sie also Ihren Gedanken nieder und kommen Sie dann ohne zu säumen. Morgen früh aber ...“

„Und morgen früh zum Priestermönch, un–be–dingt zum Prie–stermönch! Charmant, charmant! Aber weißt du, mon ami, sie ist wun–derbar schön ... diese Formen ... und wenn ich nun einmal unbedingt heiraten müßte, so würde ich ...“

„Gott bewahre Sie davor, Onkelchen!“

„Nun ja, Gott bewahre mich davor ... Nun, auf Wiedersehen, mein Lieber, ich werde sogleich ... ich muß nur noch etwas niederschreiben. A pro–pos, ich wollte dich immer fragen: hast du Casanovas Memoiren gelesen?“

„Ja, ich habe sie gelesen – was ist denn?“

„Nun ja ... ich habe jetzt nur vergessen, was ich fragen wollte.“

„Sie werden sich dessen später entsinnen, Onkelchen. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, mon ami, auf Wiedersehen! Nur war es doch ein ent–zückender Traum, ein ent–zückender Traum! ...“

XII.

Wir kommen alle zu Ihnen, alle, alle! Auch Praskowja Iljinitschna wollte kommen, und auch Luisa Karlowna wollte kommen,“ zwitscherte Anna Nikolajewna, in den „Salon“ eintretend. Neugierig blickte sie sich rings um.

Sie war eine hübsche kleine Dame, bunt, doch reich gekleidet und sie wußte es selbst vorzüglich, daß sie hübsch war. Sie war überzeugt, in einer Ecke des Salons den Fürsten mit Sina im Gespräch zu erblicken.

„Und auch Katerina Petrowna und Felissata Michailowna wollten kommen,“ fügte Natalja Dmitrijewna hinzu, eine Dame von kolossalen Dimensionen – sie war es, deren Formen dem Fürsten so sehr gefallen hatten – und die unwillkürlich an einen Grenadier erinnerte.

Sie trug ein auffallend kleines rosa Kapotthütchen, das ganz auf dem Hinterkopf saß. Seit drei Wochen war sie die beste Freundin Anna Nikolajewnas, der sie schon seit langem den Hof gemacht hatte und die sie allem Anschein nach wie einen einzigen Bissen hätte hinunterschlucken können – samt allen Knochen.

„Ich rede schon gar nicht von meinem – ich kann wohl sagen – Entzücken darüber, Sie beide endlich einmal bei mir zu sehen und noch dazu am Abend,“ flötete Marja Alexandrowna, nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatte. „Aber sagen Sie doch bitte, welches Wunder Sie heute zu mir gerufen hat, während ich doch schon längst jede Hoffnung auf diese Ehre aufgegeben! ...“

„Ach Gott, Marja Alexandrowna, wie Sie wirklich sind!“ sagte Natalja Dmitrijewna süßlich, verschämt, geziert und fast piepend, was einen äußerst interessanten Gegensatz zu ihrer Erscheinung bildete.

Mais, ma charmante Marja Alexandrowna,“ zwitscherte wieder Anna Nikolajewna dazwischen, „wir müssen doch endlich mit unseren Vorbereitungen zu diesem Theater ins reine kommen! Heute noch sagte Pjotr Michailowitsch zu Kalist Stanislawitsch, es betrübe ihn sehr, daß wir nicht weiter kämen und uns immer nur stritten. Und da versammelten wir uns denn heute alle vier und dachten: fahren wir einfach zu Marja Alexandrowna und besprechen wir uns dort! Natalja Dmitrijewna hat auch die anderen benachrichtigt. Alle werden kommen. Und so können wir uns denn beraten und die Sache kommt dann endlich in Gang ... Dann darf man auch nicht mehr sagen, daß wir uns nur streiten, nicht wahr, mon ange?“ fügte sie kokett hinzu und küßte Marja Alexandrowna. „Ach! sieh da! Sinaïda Afanassjewna! Sie werden aber mit jedem Tag schöner!“

Und Anna Nikolajewna eilte der eintretenden Sina entgegen, um sie zu küssen.

„Sie hat ja auch nichts weiter zu tun, als sich zu verschönen,“ meinte süß Natalja Dmitrijewna und rieb ihre großen Hände.

„Wenn euch doch der Teufel holte! Dieses blödsinnige Theater hatte ich ganz vergessen! Sie scheinen, weiß Gott, klüger geworden zu sein!“ dachte Marja Alexandrowna, innerlich rasend vor Wut.

„Und hinzu kommt noch, mein Engel,“ fuhr Anna Nikolajewna fort, „daß jetzt dieser liebe Fürst bei Ihnen weilt. Sie wissen doch, in Duchanowo gab es ja früher ein Theater. Wir haben uns schon erkundigt und wissen jetzt, daß dort irgendwo noch alte Kulissen, ein Vorhang und sogar Kostüme vorhanden sind. Der Fürst war heute bei mir, aber ich war so überrascht, daß ich ganz vergaß, ihn zu fragen. Jetzt können wir hier das Gespräch aufs Theater bringen. Sie werden uns beistehen und der Fürst wird uns den ganzen Plunder herschicken – das werden Sie sehen! Denn bei wem könnten Sie wohl hier etwas in der Art einer Kulisse bestellen? Und die Hauptsache: wir wollen ja auch den Fürsten für unsere Aufführung gewinnen. Er muß unbedingt zur Kollekte beisteuern, – es ist doch für die Armen! Vielleicht wird er sogar eine Rolle übernehmen, – er ist doch so liebenswürdig und mit allem stets einverstanden. Dann würde alles wundervoll gehen!“

„Gewiß wird er eine Rolle übernehmen. Man kann ihn ja doch jede beliebige Rolle spielen lassen,“ bemerkte Natalja Dmitrijewna zweideutig.

Anna Nikolajewna hatte Marja Alexandrowna nicht betrogen: in jedem Augenblick kamen neue Gäste. Die Hausfrau konnte kaum eine jede der eintreffenden Damen begrüßen und alle die Ausrufe des Entzückens bewältigen, die von dem gesellschaftlichen Anstand oder dem guten Ton in solchen Fällen verlangt werden.

Ich will es nicht versuchen, alle Damen zu beschreiben. Ich sage nur, daß einer jeden ganz besondere Bosheit aus den Augen blitzte. Auf allen Gesichtern konnte man Erwartung und eine geradezu krankhafte Ungeduld lesen. Einige von ihnen waren entschieden mit der Absicht gekommen, Augenzeugen eines unerhörten Skandals zu sein, und sie würden sehr ungehalten gewesen sein, wenn es nicht zu einem solchen gekommen wäre. Äußerlich waren alle ungemein liebenswürdig, doch Marja Alexandrowna hatte sich nichtsdestoweniger auf einen heftigen Ansturm gefaßt gemacht. Fragen nach dem Fürsten regneten von allen Seiten; anscheinend war eine jede dieser Fragen sehr natürlich, aber dennoch enthielt jede eine leise Anspielung, verriet jede einen Hintergedanken. Es wurde Tee gereicht; man setzte sich. Eine Gruppe belagerte den Flügel. Sina wurde gebeten, etwas zu singen, sie aber antwortete trocken, daß sie nicht ganz gesund sei. Ihr bleiches Gesicht ließ die Antwort glaubwürdig erscheinen. Hierauf folgten viele mitleidige Fragen und gleichzeitig wurde auch noch nach anderem gefragt und anderes zu verstehen gegeben. Man erkundigte sich auch nach Mosgljäkoff und wandte sich mit diesen Fragen ausschließlich an Sina. Marja Alexandrowna verzehnfachte sich: sie sah alles, selbst das, was in der fernsten Ecke geschah, sie hörte, was jede Dame sprach, obgleich es ihrer etwa zehn waren, und sie antwortete unverzüglich auf alle Fragen und versteht sich – suchte nicht lange nach Worten. Sie zitterte für Sina und wunderte sich, daß sie noch nicht fortging, wie sie es sonst in ähnlichen Fällen stets zu tun pflegte. Auch Afanassij Matwejewitsch war inzwischen von den Gästen bemerkt worden. Sie pflegten ihn gewöhnlich alle zum besten zu haben, um auf diese Weise Marja Alexandrowna zu verletzen. Jetzt jedoch hofften sie, von dem dummen und aufrichtigen Gatten manches Nähere zu erfahren. Marja Alexandrowna beobachtete besorgt die Belagerung ihres „Tölpels“. Zudem antwortete er auf alle Fragen nur mit einem „Hm!“, tat es aber mit einer so unglücklichen und jämmerlich unnatürlichen Miene, daß sie aus der Haut zu fahren glaubte.

„Marja Alexandrowna! Afanassij Matwejewitsch will mit uns überhaupt nicht mehr sprechen!“ rief ihr ein dreistes, scharfäugiges Dämchen zu, das entschieden nichts fürchtete und sich nie verwirren ließ. „Sagen Sie ihm doch, daß er zu Damen etwas höflicher sein muß.“

„Ich ... wirklich, ich weiß es selbst nicht, was heute mit ihm geschehen ist,“ antwortete Marja Alexandrowna, die ihr Gespräch mit Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna unterbrach, heiter lächelnd. „So verschlossen, so wortkarg habe ich ihn noch nie gesehen! Auch mit mir spricht er kaum ein Wort. Weshalb antwortest du denn Felissata Nikolajewna nicht, cher Athanase?“

„Aber ... aber ... Mütterchen, du hast doch selbst ...“ stotterte der verwunderte Gatte. Er stand in diesem Augenblick gerade am brennenden Kamin, hatte die Hände in malerischer Pose – die er sich selbst ersonnen – untergebracht und schickte sich an, Tee zu trinken. Die Fragen der Damen verwirrten ihn dermaßen, daß er wie ein Mädchen errötete. Als er jedoch die ersten Worte zu seiner Verteidigung stotterte, fing er einen so vernichtenden Blick seiner Gattin auf, daß er vor Schreck fast die Besinnung verlor. Da er nicht wußte, was er tun sollte, andererseits aber sein Vergehen gut machen, gefallen und von neuem Achtung erringen wollte, so nahm er vorläufig nur einen Schluck Tee. Der Tee war aber heiß, und da er einen unverhältnismäßig großen Schluck genommen hatte, verbrannte er sich Mund und Kehle, ließ die Tasse fallen, der Tee ging in die Luftröhre, und er begann darauf so heftig zu husten, daß er das Zimmer verlassen mußte, während die Anwesenden in staunender Verständnislosigkeit zurückblieben. Mit einem Wort, der Hausfrau war alles „klar“, sie sagte sich, daß ihre Gäste bereits alles wußten und sich mit den schlimmsten Absichten bei ihr versammelt hatten. Die Situation war gefährlich: sie konnten in ihrer Gegenwart den schwachsinnigen Gatten in ein Gespräch verknüpfen und unangenehme Dinge durch ihn in Erfahrung bringen. Sie konnten ihr sogar den Fürsten streitig machen, konnten ihn ihr noch am selben Abend fortnehmen, d. h. einfach mitlocken. Jedenfalls war alles möglich. Vorläufig hatte ihr aber das Schicksal noch einen anderen Schlag zugedacht: in der Tür erschien Mosgljäkoff, den sie bei Borodujeff glaubte. Sie hätte alles eher als ihn an diesem Abend erwartet. Sie zuckte zusammen, als wäre sie gestochen worden.

Mosgljäkoff blieb in der Tür stehen und erschien beim Anblick der vielen Gäste etwas verwirrt zu werden. Er konnte seine Aufregung nicht bezwingen: man sah sie ihm wenigstens deutlich an.

„Ach, mein Gott! Pawel Alexandrowitsch!“ riefen mehrere Damen aus.

„Ach Gott! Das ist ja doch Pawel Alexandrowitsch! Aber wie, Marja Alexandrowna, Sie sagten doch, er sei zu Borodujeff gegangen? Uns wurde gesagt, daß Sie sich bei Borodujeff verborgen hätten, Pawel Alexandrowitsch!“ flötete Natalja Dmitrijewna.

„Verborgen?“ wiederholte Mosgljäkoff mit einem etwas verzerrten Lächeln. „Ein sonderbarer Ausdruck! Verzeihen Sie, Natalja Dmitrijewna, ich verberge mich vor keinem Menschen und wünsche auch keinen anderen zu verbergen,“ fügte er mit vielsagendem Blick auf Marja Alexandrowna hinzu.

Marja Alexandrowna erzitterte.

„Was, sollte auch dieser Esel sich auflehnen wollen?“ fragte sie sich und sah ihn prüfend von der Seite an. „Das wäre das Schlimmste ...“

„Ist es wahr, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie den Abschied erhalten haben ... im Staatsdienst, versteht sich?“ fragte die naseweise Felissata Michailowna und blickte ihm spöttisch offen in die Augen.

„Den Abschied? Welch einen Abschied? Ich habe ganz einfach umgesattelt. Ich lasse mich nach Petersburg versetzen,“ antwortete Mosgljäkoff trocken.

„Nun, wenn es so ist, dann gratuliere ich,“ fuhr Felissata Michailowna fort. „Und wir erschraken schon, als wir hörten, daß Sie sich um eine Anstellung hier in Mordassoff bewerben würden. Hier sind doch die Stellen nicht sicher, Pawel Alexandrowitsch: eh man sich versieht, fliegt man.“

„Es sei denn eine Lehreranstellung in der Kreisschule; dort gäbe es noch eine Vakanz,“ bemerkte Natalja Dmitrijewna.

Die Anspielung war so deutlich, daß Anna Nikolajewna verlegen wurde und ihre boshafte Freundin heimlich mit dem Fuß stieß.

„Glauben Sie denn, daß Pawel Alexandrowitsch einwilligen würde, die Anstellung eines Kreisschullehrers anzunehmen?“ fragte Felissata Michailowna.

Mosgljäkoff fand keine Antwort. Da kehrte er ihnen den Rücken und wollte fortgehen, stieß aber im selben Augenblick mit Afanassij Matwejewitsch zusammen, der ihm gutmütig die Hand entgegenstreckte. Mosgljäkoff reichte ihm dummerweise nicht die Hand und verbeugte sich nur spöttisch auffallend tief vor ihm. Aufs äußerste gereizt trat er zu Sina, sah ihr haßerfüllt in die Augen und raunte ihr zu:

„Alles das haben wir Ihrer Güte zu verdanken. Warten Sie, heute abend noch werde ich Ihnen zeigen, ob ich ein Dummkopf bin oder nicht!“

„Weshalb aufschieben? Das sieht man ja auch jetzt,“ antwortete Sina mit lauter Stimme und maß ihren ehemaligen Freier mit Ekel verratendem Blick vom Kopf bis zu den Füßen.

Mosgljäkoff wandte sich schleunigst ab – ihre laute Antwort hatte ihn denn doch erschreckt.

„Kommen Sie von Borodujeff?“ entschloß sich schließlich Marja Alexandrowna zu fragen.

„Nein, ich komme von meinem Onkel.“

„Von Ihrem Onkel? Dann sind Sie also soeben beim Fürsten gewesen?“

„Ach, Himmel! Dann ist ja der Fürst schon aufgewacht? Und uns wurde gesagt, daß er noch schlafe!“ Natalja Dmitrijewna tat sehr verwundert, und der Blick, mit dem sie die Hausfrau streifte, war geradezu durchbohrend.

„Ängstigen Sie sich nicht um den Fürsten, Natalja Dmitrijewna,“ antwortete Mosgljäkoff, „er ist aufgewacht und, Gott sei Dank, wieder bei vollem Verstande. Vorher hatte man ihn betrunken gemacht, zuerst bei Ihnen, Natalja Dmitrijewna, und dann hier noch endgültig, so daß er beinahe seinen letzten Verstand verlor, der ja bei ihm ohnehin nicht groß ist. Jetzt aber haben wir uns beide zum Glück aussprechen können, und so vermag er denn wieder vernünftig zu denken. Er wird sogleich erscheinen, um sich von Ihnen, Marja Alexandrowna, zu verabschieden und für Ihre Gastfreundschaft zu danken. Morgen aber werden wir in aller Frühe ins Kloster fahren und von dort werde ich ihn persönlich nach Duchanowo begleiten, um ein abermaliges Umgeworfenwerden zu verhüten. In Duchanowo wird ihn aus meinen Händen Stepanida Matwejewna empfangen – die bis dahin unfehlbar aus Moskau zurückgekehrt sein wird – und dann ist es natürlich ausgeschlossen, daß er noch einmal eine Reise unternimmt – dafür garantiere ich.“

Während dieser ganzen Rede blickte Mosgljäkoff mit aufrichtigem Haß zu Marja Alexandrowna hinüber. Diese saß, als hätte sie vor Schreck die Sprache verloren. Ich muß zu meinem Schmerz gestehen, daß meine Heldin zum ersten Mal im Leben ernstlich bange wurde.

„Ach, also morgen in aller Frühe fahren sie fort? Wie denn das?“ fragte Natalja Dmitrijewna, sich an Marja Alexandrowna wendend.

„Wie kommt denn das?“ ertönte es naiv von allen Seiten. „Und wir haben gehört ... das ist doch wirklich sonderbar!“

Die Hausfrau wußte nicht mehr, was sie antworten sollte. Da wurde die allgemeine Aufmerksamkeit plötzlich durch den ungewöhnlichsten Zwischenfall abgelenkt: aus dem Nebenzimmer drang ein seltsames Geräusch und keifendes Geschrei an aller Ohren und plötzlich stürzte unvermutet unverhofft Ssofja Petrowna Karpuchina in Marja Alexandrownas Salon.

Diese Ssofja Petrowna war sicherlich die exzentrischste Dame in ganz Mordassoff: so exzentrisch war sie, daß die Gesellschaft der Stadt in jüngster Zeit beschlossen hatte, sie nicht mehr zu empfangen. Ich muß noch bemerken, daß sie regelmäßig an jedem Abend um sieben Uhr ein paar Gläschen kippte – für den Magen, wie sie es nannte. Nach dieser Stärkung befand sie sich dann gewöhnlich in der allerexzentrischsten Stimmung – gelinde ausgedrückt. Und in dieser Stimmung stürzte sie jetzt in den Salon Marja Alexandrownas.

„Ah, also so sind Sie, Marja Alexandrowna!“ schrie sie, „also so gehen Sie mit mir um! Beunruhigen Sie sich nicht, ich bin nur auf einen Augenblick gekommen, ich werde mich bei Ihnen auch nicht setzen. Ich bin absichtlich hergefahren, um mich selbst zu überzeugen, ob es wahr ist, was man mir erzählt hat. Ah! also Sie geben Bälle, Banketts, feiern Verlobungen, Ssofja Petrowna aber kann zu Hause sitzen und Strümpfe stricken! Die ganze Stadt ist eingeladen, nur ich nicht! Vorhin aber war ich für Sie ‚liebe Freundin‘ und ‚mon ange‘ als ich herkam, um zu erzählen, was bei Natalja Dmitrijewna mit dem Fürsten gemacht wurde. Und jetzt sitzt diese Natalja Dmitrijewna, über die Sie vorhin so geschimpft haben, und die über Sie geschimpft hat, als Gast in Ihrem Hause. Beunruhigen Sie sich nicht, Natalja Dmitrijewna! Ich brauche nicht Ihre Schokolade à la santé zu zehn Kopeken die Tafel. Ich trinke zu Hause öfter als Sie!“

„Das merkt man,“ antwortete Natalja Dmitrijewna.

„Aber ich bitte Sie, Ssofja Petrowna,“ rief Marja Alexandrowna aus, hochrot vor Zorn, „was ist heute mit Ihnen? So kommen Sie doch zur Besinnung, wenigstens!“

„Oh, keine Sorge um mich, Marja Alexandrowna, ich habe alles, alles erfahren!“ schrie Ssofja Petrowna mit ihrer schrillen, kreischenden Stimme, umringt von allen Damen, die sich an dieser unerwarteten Szene zu ergötzen schienen. „Ich habe alles erfahren! Ihre holde Nastassja ist selbst zu mir gelaufen, um mir alles zu erzählen. Sie haben diesen Jammerkerl, diesen Fürsten, eingefangen, haben ihn betrunken gemacht und dann gezwungen, bei Ihrer Tochter anzusprechen, ja, bei Ihrer Tochter, die niemand mehr heiraten will, und jetzt bilden Sie sich wahrscheinlich ein, daß auch Sie mit einem Schlage weiß Gott was für ein wichtiger Vogel geworden sind – eine Herzogin in echten Spitzen – daß Gott erbarm’! Oh, beunruhigen Sie sich nicht, ich selbst bin die Frau eines Obersten! Und wenn Sie mich nicht zur Verlobung einladen wollen, so pfeife ich auf Ihre Verlobung! Ich habe in vornehmeren Kreisen verkehrt als Sie. Ich habe bei der Gräfin Salichwatskij diniert, und der Oberkommissar Kurotschkin hat bei mir angesprochen! Als ob ich Ihre Einladung brauchte, – Gott bewahre! ...“

„Ssofja Petrowna,“ hub Marja Alexandrowna verhältnismäßig ruhig an, obgleich sie aus der Haut zu fahren meinte, „Sie können mir glauben, daß man nicht in einer solchen Weise in ein vornehmes Haus hineinstürmt und noch dazu in einem solchen Zustande, und wenn Sie mich jetzt nicht sofort von Ihrer Anwesenheit und Ihrem Redefluß befreien, so werde ich unverzüglich Maßregeln ergreifen ...“

„Ich weiß, ich weiß, Sie werden Ihren Dienstboten befehlen, mich hinauszugeleiten! Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde selbst den Weg hinausfinden. Leben Sie wohl, verheiraten Sie wen Sie wollen, Sie aber, Natalja Dmitrijewna, brauchen nicht über mich zu lachen: ich pfeife auf Ihre Schokolade! Ich bin zwar nicht hierher eingeladen worden, habe aber auch nicht vor Fürsten den Kasatschock getanzt. Und weshalb lachen Sie denn eigentlich, Anna Nikolajewna? Ssuschiloff hat sich inzwischen das Bein gebrochen, ist soeben erst nach Haus gebracht worden! Und wenn Sie, Felissata Michailowna, Ihrer barfüßigen Matrjoschka nicht sagen, rechtzeitig Ihre Kuh einzutreiben, damit sie nicht jeden Tag unter meinen Fenstern brüllt, so werde ich Ihrer Matrjoschka die Beine brechen. Leben Sie wohl, Marja Alexandrowna, wünsche viel Glück! – Daß Gott erbarm’!“

Ssofja Petrowna verschwand. Alles lachte. Marja Alexandrowna wußte nicht, was sie tun oder sagen sollte.

„Ich glaube, sie hat wieder getrunken,“ flötete süßlich Natalja Dmitrijewna.

„Aber immerhin – diese Frechheit!“

Quelle abominable femme!

„Na – sie hat uns mal wieder erheitert!“

„Nein, aber welch skandalöse Dinge sie gesagt hat!“

„Nur – was sprach sie da von einer Verlobung? Was ist das für eine Verlobung?“ fragte Felissata Michailowna spöttisch.

„Aber das ist ja entsetzlich!“ entlud sich endlich Marja Alexandrowna. „Und diese Ungeheuer sind es ja gerade, die die unsinnigsten Gerüchte verbreiten! Nicht das ist erstaunlich, Felissata Michailowna, daß solche Damen sich in unserer Gesellschaft befinden, – nein, am erstaunlichsten ist, daß man diese Damen nicht entbehren zu können scheint, daß man sie überhaupt anhört, sie unterstützt, ihnen glaubt, sie ...“

„Der Fürst, der Fürst!“ riefen plötzlich alle Gäste unisono.

„Ach, Gott! Ce cher prince!

„Nun, Gott sei Dank! Jetzt wird man doch endlich die ganze Wahrheit erfahren!“ flüsterte Felissata Michailowna ihrer Nachbarin zu.

XIII.

Der Fürst trat ein – ein wonniges Lächeln auf den Lippen. Die ganze Aufregung, in die Mosgljäkoff vor kaum zehn Minuten sein Hühnerherz versetzt hatte, verschwand spurlos beim Anblick der Damen. Er zerschmolz wie ein Bonbon. Man empfing ihn mit kreischenden Freuderufen. Im allgemeinen wurde unser Greis von Damen sehr verhätschelt. Sie gingen meist sehr familiär mit ihm um. Er hatte die Eigenschaft, sie mit seiner durchlauchtigsten Persönlichkeit ungemein zu zerstreuen. Felissata Michailowna hatte am Vormittag sogar behauptet – natürlich nur scherzweise –, daß sie bereit sei, sich auf seine Knie zu setzen, wenn es ihm angenehm wäre – denn er sei ein so „lieber, lieber alter Herr, ganz unsäglich lieb!“ Marja Alexandrowna verschlang ihn geradezu mit den Blicken, bemüht, wenigstens etwas aus seinem Gesicht zu erforschen – zu erraten, welchen Ausgang ihre kritische Lage nehmen würde. Eines war jedenfalls klar: Mosgljäkoff hatte etwas Gefährliches angerichtet. Ihr ganzer Plan war stark erschüttert ... Doch aus dem Gesicht des Fürsten war absolut nichts zu erraten: er war ganz derselbe wie immer.

„Ach Gott! Da ist ja der Fürst! Und wir haben Sie erwartet und erwartet!“ riefen einige der Damen aus.

„In größter Ungeduld, Fürst, in größter Ungeduld!“ flöteten andere.

„Das ist mir sehr schmei–chelhaft,“ lispelte der Fürst und setzte sich an den Tisch, auf dem der Ssamowar stand. Die Damen umringten ihn im Augenblick. Nur Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna blieben bei der Hausfrau sitzen. Afanassij Matwejewitsch lächelte ehrerbietig; Mosgljäkoff lächelte gleichfalls und blickte herausfordernd Sina an, die ihm jedoch nicht die geringste Beachtung schenkte. Sie trat zum Vater und setzte sich neben ihn am Kamin in einen Lehnstuhl.

„Ach, Fürst, ist es wahr, was man sagt, daß Sie uns verlassen wollen?“ fragte Felissata Michailowna.

„Nun ja, mesdames, ich fahre fort. Ich will unverzüg–lich ins Aus–land fahren.“

„Ins Ausland, Fürst, ins Ausland?“ schrie alles im Chor, „was ist Ihnen eingefallen?“

„Ins Aus–land,“ bestätigte der Fürst gut gelaunt, „und wissen Sie, ich will namentlich wegen der neuen Ideen hin–fahren.“

„Wie das, wegen der neuen Ideen? – welcher neuen Ideen?“ fragten die Damen, die untereinander Blicke austauschten.

„Nun ja, wegen der neuen Ideen,“ wiederholte der Fürst noch einmal, offenbar sehr überzeugt. „Jetzt fahren alle wegen der neuen Ideen hin. Und so will auch ich mir neue Ide–en an–legen.“

„Wollen Sie nicht gar in die Freimaurerloge eintreten, mein bester Onkel?“ erkundigte sich Mosgljäkoff, der sich augenscheinlich vor den Damen durch geistreiche Bemerkungen auszeichnen wollte.

„Nun ja, mein Lieber, du hast dich nicht geirrt,“ antwortete der Onkel überraschenderweise. „Ich habe früher in alten Zeiten tatsächlich zu einer Frei–maurerloge gehört, im Aus–lande, wie gesagt, und ich habe sogar mei–ner–seits viele große Ide–en gehabt. Ich beab–sichtigte damals, viel für die zeitgenössische Aufklärung zu tun und in Frank–furt beschloß ich sogar, meinen Ssidor, den ich ins Aus–land mitgenommen hatte, frei zu geben. Er aber lief zu meiner Verwun–derung selbst von mir fort. Er war ein sehr son–der–barer Mensch. Später begegnete ich ihm einmal in Pa–ris. Er stol–zierte als Geck mit einer Mamsell auf den Boulevards. Er sah mich an und nickte mir mit dem Kopf zu. Und die Mamsell war so ein gewandtes, verführerisches Ding ...“

„Aber Onkelchen! Dann werden Sie ja diesmal, wenn Sie ins Ausland fahren, alle Ihre Bauern freigeben!“ rief Mosgljäkoff laut auflachend aus.

„Du hast meinen Wunsch vollkom–men erraten, mein Lieber!“ antwortete der Fürst ohne zu zögern. „Es ist gerade meine Absicht, sie alle aus Leibeigenen zu freien Bauern zu machen.“

„Aber ich bitte Sie, Fürst, die werden dann doch alle im Augenblick von Ihnen fortlaufen, und wer wird Ihnen dann noch den Pachtzins zahlen!“ wandte Felissata Michailowna ein.

„Gewiß, alle werden fortlaufen,“ behauptete erregt Anna Nikolajewna.

„Gott im Himmel! Werden sie wirk–lich fortlaufen?“ fragte der Fürst verwundert.

„Unbedingt! Im Augenblick werden sie alle fortlaufen und Sie allein lassen!“ versicherte auch Natalja Dmitrijewna.

„Gott im Himmel! Nun, dann werde ich sie nicht freigeben. Wie gesagt, es war von mir auch nur so gemeint.“

„So ist es auch bedeutend besser, Onkelchen,“ meinte Mosgljäkoff.

Marja Alexandrowna hatte schweigend zugehört und beobachtet. Es schien ihr, daß der Fürst sie vollkommen vergessen hatte ...

„Erlauben Sie, Fürst,“ begann sie laut und würdevoll, „daß ich Ihnen meinen Mann vorstelle – Afanassij Matwejewitsch. Er ist absichtlich vom Gut hergekommen, sobald er nur gehört hatte, daß Sie bei mir abgestiegen seien.“

Afanassij Matwejewitsch lächelte und nahm eine strammere Haltung an. Er glaubte, daß man ihn gelobt habe.

„Ah, freut mich, freut mich!“ sagte der Fürst. „Afanassij Matwejewitsch! Erlauben Sie, mir fällt etwas ein ... Afana–ssij Matwe–itsch. Nun ja, das ist dieser, der auf dem Gut lebt. Charmant, charmant, freut mich wie gesagt. Mein Lieber!“ – er wandte sich an Mosgljäkoff – „das ist doch derselbe, weißt du noch, der in dem Verse vorkam. Wie war das doch? Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, so fährt die Frau ... nun ja, auch die Frau geht irgend wohin.“

„Ach, ganz recht! ‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt die Frau schon aus dem Haus‘ – das ist ja aus dem Vaudeville, das im vergangenen Jahr hier gespielt wurde!“ griff Felissata Michailowna auf.

„Nun ja, wie gesagt: aus dem Haus. Ich ver–ges–se es immer. Charmant, charmant! Und Sie sind also derselbe? Freut mich, freut mich, Sie kennen zu lernen,“ sagte der Fürst und reichte Afanassij Matwejewitsch, ohne sich vom Stuhl zu erheben, die Hand. „Nun und wie geht es mit Ihrer Gesundheit?“

„Hm ...“

„Er ist gesund, mein Fürst, ganz gesund,“ antwortete Marja Alexandrowna eilig.

„Nun ja, das sieht man auch, daß er gesund ist. Und Sie leben immer auf dem Gute? Nun ja, es freut mich sehr. Und wie rote Wangen er hat und die ganze Zeit freut er sich ...“

Afanassij Matwejewitsch lächelte, verbeugte sich und klappte sogar die Absätze zusammen. Nach der letzten Bemerkung des Fürsten konnte er nicht mehr an sich halten und platzte plötzlich in der dümmsten Weise in lautes Lachen aus. Schallendes Gelächter erhob sich. Die Damen wieherten förmlich vor Vergnügen. Sina errötete heiß und blickte mit blitzenden Augen Marja Alexandrowna an, die ihrerseits fast barst vor Wut. Es war höchste Zeit, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

„Wie haben Sie geruht, mein Fürst?“ erkundigte sie sich mit honigsüßer Stimme, während sie gleichzeitig durch einen zornigen Blick ihrem Gatten zu verstehen gab, daß er sich sofort auf seinen Platz niederzulassen hatte.

„Oh, ich habe sehr schön geschla–fen,“ sagte der Fürst, „und wissen Sie, ich habe einen ent–zück–enden Traum gehabt, einen entzück–enden Traum!“

„Einen Traum! Ach, ich habe es so gern, wenn man Träume erzählt,“ rief Felissata Michailowna aus.

„Und ich auch! Ich habe es auch sehr gern!“ stimmte ihr Natalja Dmitrijewna bei.

„Einen ent–zückenden Traum,“ wiederholte der Fürst mit süßem Lächeln, „dafür aber ist er das größte Geheim–nis!“

„Was, können Sie ihn denn nicht erzählen? Aber dann muß es ja ein ganz außergewöhnlicher Traum sein?“ fragte Anna Nikolajewna.

„Das größ–te Geheim–nis!“ wiederholte der Fürst, der mit Vergnügen die Neugier der Damen reizte.

„Dann muß er ja furchtbar interessant sein!“

„Ich wette, daß der Fürst im Traum vor irgend einer Schönheit auf den Knien gelegen und eine Liebeserklärung gemacht hat,“ rief Felissata Michailowna aus. „Nun, gestehen Sie nur, Fürst, daß es nichts anderes ist! Lieber Fürst, lieber guter Fürst, gestehen Sie es nur!“

„Gestehen Sie es, Fürst, gestehen Sie es!“ wurde von allen Seiten gebeten.

Der Fürst vernahm feierlich und mit wahrer Wonne diese Ausrufe. Die Annahme Felissata Michailownas schmeichelte seiner Eigenliebe ganz außerordentlich. Es fehlte nicht viel und er hätte sich die Lippen geleckt.

„Wenn ich auch gesagt habe, daß mein Traum das größ–te Geheim–nis ist,“ antwortete er schließlich, „so bin ich doch gezwungen, einzugestehen, daß Sie, meine Gnädigste, ihn zu meiner Ver–wun–derung vollkom–men erra–ten haben.“

„Erraten!“ rief Felissata Michailowna begeistert aus. „Nun, Fürst! Jetzt machen Sie, was Sie wollen, aber Sie müssen uns mitteilen, wer diese Schönheit ist!“

„Das müssen Sie unbedingt!“

„Ist es eine hiesige?“

„Ach, lieber Fürst, sagen Sie es uns doch!“

„Lieber, guter, einziger Fürst, sagen Sie es uns, sagen Sie es uns!“ ertönte es von allen Seiten.

Mesdames, mesdames! ... Wenn Sie es wirk–lich so nachdrücklich wissen wollen, so kann ich Ihnen ... nur eines mitteilen, daß sie das bezau–berndste und, man kann wohl sagen, makelloseste Mädchen ist von allen, die ich kenne!“

Der Fürst zerfloß vor Wonne.

„Das bezauberndste! ... Und ... eine hiesige! Wer könnte das sein?“ fragten sich die Damen, die bedeutsame Blicke und Winke austauschten.

„Selbstverständlich doch diejenige, die hier als erste Schönheit gilt,“ sagte Natalja Dmitrijewna, rieb ihre roten Riesenhände und blickte mit ihren Katzenaugen vielsagend Sina an. Gleichzeitig wandten sich auch die Blicke aller anderen Sina zu.

„Aber wie denn, Fürst, wenn Sie solche Träume haben – weshalb heiraten Sie dann nicht in Wirklichkeit?“ fragte die naseweise Felissata Michailowna mit einem vielsagenden Blick ringsum.

„Und wie schön wir Sie verheiraten würden!“ griff eine andere Dame auf.

„Ach, lieber Fürst, heiraten Sie doch, bitte, bitte!“

„Heiraten Sie, heiraten Sie!“ ertönte es von allen Seiten. „Weshalb sollen Sie denn nicht heiraten? ...“

„Nun ja ... weshalb soll ich denn nicht heiraten,“ meinte auch der Fürst, der von all diesen Ausrufen ganz konfus geworden war.

„Aber Onkel!“ rief plötzlich Mosgljäkoff dazwischen.

„Nun ja, mein Lieber, ich verstehe dich! Wie gesagt, mesdames, ich bin nicht mehr fähig zu heiraten, und nachdem ich hier einen bezau–bernden Abend bei unserer liebenswürdigen Hausfrau verbracht habe, werde ich mich morgen früh zum Priestermönch Mis–saïl in die Ein–siedelei begeben und von dort dann direkt ins Ausland fahren, um bequemer die Fortschritte der europä–ischen Bildung verfol–gen zu können.“

Sina erbleichte und sah ihre Mutter an. Doch Marja Alexandrowna hatte sich schon entschlossen. Bis hierzu hatte sie nur „abgewartet“, geprüft, denn sie sagte sich, daß ihre Feinde sie überholt hatten. Endlich begriff sie alles und sie beschloß sofort, die hundertköpfige Hydra mit einem einzigen Schlage zu besiegen. Majestätisch erhob sie sich aus ihrem Lehnstuhl, trat mit festen Schritten an den Tisch und maß mit stolzem Blick ihre zwergenhaften Feinde. Feuer der Begeisterung leuchtete in diesem Blick. Sie hatte sich entschlossen, alle diese gehässigen Klatschbasen vor den Kopf zu stoßen, den Schurken Mosgljäkoff einfach zu vernichten, wie eine Schabe zu zerdrücken und mit einem einzigen entschlossenen und kühnen Schlage ihren ganzen verlorenen Einfluß auf den fürstlichen Idioten wieder zu erobern. Versteht sich, dazu gehörte eine ungewöhnliche kalte Frechheit, um die aber war Marja Alexandrowna nie verlegen.

Mesdames,“ hub sie feierlich und majestätisch an (Marja Alexandrowna liebte überhaupt sehr Feierlichkeit), „mesdames, ich habe lange Ihrem Gespräch zugehört, Ihren heiteren und geistvollen Scherzen, und ich finde, daß es jetzt Zeit ist und die Reihe an mich kommt, auch ein Wort zu sagen. Wie Sie wissen, haben wir uns hier alle ganz zufällig zusammengefunden – und das freut mich so unsäglich, so unsäglich! Niemals würde ich mich entschlossen haben, das wichtige Familiengeheimnis als erste allen kund zu tun und es früher zu verbreiten, als es das gewöhnlichste Anstandsgefühl verlangt. Vor allem bitte ich deshalb meinen lieben Gast um Verzeihung. Es scheint mir aber, daß er selbst durch entfernte Anspielungen auf denselben Umstand aufmerksam machen will, was mich auf den Gedanken kommen läßt, daß ihm die formelle und feierliche Mitteilung unseres Familiengeheimnisses nicht nur keineswegs unangenehm sein würde, sondern von ihm geradezu gewünscht werde ... Nicht wahr, Fürst, ich täusche mich doch nicht?“

„Nun ja, Sie täuschen sich nicht ... und es freut mich, freut mich sehr ...“ sagte der Fürst, der nicht im geringsten begriff, wovon die Rede war.

Marja Alexandrowna hielt zur Erhöhung des Eindrucks einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen. Sie übersah die ganze Gesellschaft: alle Gäste horchten mit einer fast raubtierhaften Gier auf ihre Worte. Mosgljäkoff zuckte zusammen. Sina errötete und erhob sich, und Afanassij Matwejewitsch schneuzte sich, in Erwartung eines außergewöhnlichen Ereignisses, auf alle Fälle.

„Ja, mesdames, ich bin mit Freuden bereit, Ihnen mein Familiengeheimnis anzuvertrauen. Heute, nach dem Mittagessen hat der Fürst, hingerissen von der Schönheit und ... den Vorzügen meiner Tochter, mir die Ehre erwiesen, um ihre Hand anzuhalten. Fürst!“ schloß sie mit einer Stimme, die von Tränen und Aufregung zitterte, „Sie dürfen nicht, Sie können mir wegen meiner Unbescheidenheit nicht böse sein! Nur die übergroße Freude hat es vermocht, meinem Herzen vorzeitig dieses liebe Geheimnis zu entreißen und ... welche Mutter würde mich deshalb verurteilen?“

Ich finde keine Worte, um den Eindruck zu schildern, den Marja Alexandrownas unerwartete Mitteilung machte. Alle schienen erstarrt zu sein vor Verwunderung. Die treubrüchigen Freundinnen, die Marja Alexandrowna damit hatten einschüchtern wollen, daß sie bereits alles wußten, die sie mit der vorzeitigen Aufdeckung des Geheimnisses – und zwar nur in der Form von Andeutungen – zu vernichten meinten, waren jetzt ihrerseits durch diese dreiste Aufrichtigkeit vernichtet. Und dieses gewagte Spiel entbehrte auch nicht einer inneren Kraft: „Folglich wird der Fürst tatsächlich freiwillig Sina heiraten? Folglich ist er nicht in die Falle gelockt, nicht betrunken gemacht, nicht betrogen worden? Folglich wird er nicht heimlich, nicht hinterrücks verheiratet? Folglich fürchtet Marja Alexandrowna nichts und niemanden? Folglich läßt sich diese Heirat durch nichts mehr zerstören, denn der Fürst heiratet doch aus eigenem freien Willen!“ Einen Augenblick hörte man allgemeines Getuschel, das sich dann plötzlich in Freuderufen entlud. Als erste stürzte Natalja Dmitrijewna zu Marja Alexandrowna, um sie in ihre Arme zu schließen; ihr folgte Anna Nikolajewna und dieser Felissata Michailowna. Alle sprangen von ihren Plätzen auf, alle gerieten sie in ein unentwirrbares Durcheinander. Viele Damen waren bleich vor Wut. Sina wurde mit Glückwünschen überhäuft. Sogar an Afanassij Matwejewitsch klammerte man sich. Marja Alexandrowna breitete malerisch die Arme aus und drückte fast mit Gewalt die Tochter an ihre Brust. Nur der Fürst allein blickte mit einer gewissen sonderbaren Verwunderung auf die ganze Szene, wenn er auch immer noch liebenswürdig lächelte. Übrigens gefiel ihm der Tumult zum Teil sehr gut. Und als die Mutter ihr Kind umarmte, da zog er sein Schnupftuch hervor und wischte sich eine Träne aus seinem Auge. Natürlich stürzte man sich dann auch auf ihn mit Glückwünschen.

„Wir gratulieren, Fürst! Wir gratulieren!“ ertönte es von allen Seiten.

„Also Sie heiraten?“

„Sie heiraten also wirklich?“

„Lieber Fürst, dann heiraten Sie also?“

„Nun ja, nun ja,“ antwortete der Fürst, der mit den Glückwünschen und der Aufregung sehr zufrieden war, „und ich gestehe Ihnen, daß mir am meisten Ihre liebe Teil–nahme gefällt, die Sie mir jetzt bewei–sen und die ich nie-mals vergessen werde, nie-mals. Charmant, charmant! Sie haben mich sogar bis zu Trä–nen gerührt ...“

„Küssen Sie mich, Fürst!“ schrie lauter als das Geschrei aller anderen Felissata Michailowna.

„Und ich gestehe Ihnen,“ fuhr der Fürst fort, obschon er von allen Seiten beständig unterbrochen wurde, „am meisten wundert es mich, daß Marja Iwa–now–na, unsere ehr–würdige Gastgeberin, mit einer so frappie–renden Genau-igkeit meinen Traum erraten hat. Ganz als hätte sie ihn an meiner Stelle gesehen! Ein auf–fallender Scharfblick, in der Tat! Auf–fallender Scharf–blick!“

„Ach, Fürst, Sie reden wieder von Ihrem Traum!“

„Gestehen Sie nur, Fürst, gestehen Sie nur!“ drängten die ihn umringenden Damen.

„Ja, Fürst, wozu verheimlichen, es ist Zeit, das Geheimnis aufzudecken!“ sagte Marja Alexandrowna entschlossen und streng. „Ich habe Ihre feinfühlige Allegorie, Ihr bezauberndes Zartgefühl verstanden, mit dem Sie mir andeuteten, daß Sie Ihre Verlobung zu veröffentlichen wünschten. Ja, mesdames, es ist wahr: heute ist der Fürst im wachen Zustande und nicht im Traum vor meiner Tochter niedergekniet und hat ihr in aller Form einen Heiratsantrag gemacht.“

„Ja, es war vollkom–men wie im Wachen und sogar mit denselben Neben–um–ständen,“ bestätigte der Fürst. „Mademoiselle,“ fuhr er fort, sich mit ungewöhnlicher Höflichkeit an Sina wendend, die eigentlich noch nicht zu sich gekommen war, „Mademoiselle! Ich schwöre Ihnen, daß ich nie–mals Ihren Namen zu nennen gewagt hätte, wenn er nicht von ande–ren vor mir genannt worden wäre. Es war ein be–zau–bernder Traum, und ich schätze mich dop–pelt glücklich, daß ich es Ihnen jetzt sa–gen kann. Charmant! Charmant! ...“

„Aber um’s Himmels willen, was ist denn das? Er redet immer noch von einem Traum?“ flüsterte Anna Nikolajewna der erregten und etwas bleichen Marja Alexandrowna zu.

Doch wehe! – Marja Alexandrowna zitterte das Herz auch ohne diese Fragen.

„Wie ist denn das?“ flüsterten die Damen untereinander und tauschten vielsagende Blicke aus.

„Aber ich bitte Sie, Fürst,“ hub Marja Alexandrowna mit schmerzlich verzogenem Lächeln an, „ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie mich in Erstaunen setzen. Was ist das für eine sonderbare Traumidee, die Sie da haben? Ich sage Ihnen, ich war bis jetzt im Glauben, daß Sie nur scherzten, aber ... Wenn es ein Scherz sein soll, so ist er zum mindesten sehr unangebracht ... Ich werde ... ich will es Ihrer Zerstreutheit zuschreiben, aber ...“

„Das ist bei ihm vielleicht tatsächlich nur aus Zerstreutheit,“ meinte auch Natalja Dmitrijewna.

„Nun ja ... vielleicht auch aus Zerstreutheit,“ bestätigte der Fürst, der immer noch nicht begriff, um was es sich handelte und was man von ihm eigentlich wollte. „Und den–ken Sie sich, ich werde Ihnen sogleich eine A–nek–do–te erzählen. Dreimal ladet man mich ein, in Petersburg war es, zu einer Ein–sargung, es war une maison bourgeoise mais honnette, und ich glaubte, es sei zu einem Namensfest. Das Namensfest war aber schon vor einer Woche gewesen. Ich bestellte also ein Kame–lienbukett für die Dame. Nun ja, ich kam hin und was sah ich? Ein eh–renwerter, bejahrter Mann lag auf dem Tisch, so daß ich mich nur wun–derte. Und ich wuß–te gar nicht, wo ich mein Bukett lassen sollte.“

„Aber Fürst, jetzt ist es uns doch nicht um solche Geschichten zu tun!“ unterbrach ihn Marja Alexandrowna ärgerlich. „Meine Tochter hat es nicht nötig, Freier zu angeln: aber heute nachmittag haben Sie ihr selbst hier an diesem Flügel einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe Sie nicht dazu veranlaßt ... Ich kann sogar sagen, daß es mich überrascht hat ... Versteht sich, es kam mir damals schon der Gedanke, aber ich schob ihn auf bis zu Ihrem Erwachen. Doch ich bin Mutter ... sie ist mein Kind ... Sie haben soeben von einem Traum gesprochen und ich glaubte, Sie wollten in der Form einer Allegorie von Ihrer Verlobung erzählen. Ich weiß sehr wohl, daß man Sie vielleicht davon ablenken will ... und ich ahne sogar, wer es tut ... aber erklären Sie sich, Fürst, erklären Sie sich schneller, ausführlicher. Solche Scherze darf man sich nicht in einem vornehmen Hause erlauben ...“

„Nun ja, solche Scherze darf man sich nicht in einem vornehmen Hause erlauben,“ pflichtete ihr der Fürst ahnungslos bei. Übrigens wurde er doch etwas unruhig.

„Aber das ist doch keine Antwort auf meine Frage, Fürst! Ich ersuche Sie, mir entscheidend zu antworten: bestätigen Sie, bestätigen Sie es hier vor allen Anwesenden, daß Sie vorhin um die Hand meiner Tochter angehalten haben.“

„Nun ja, ich bin bereit zu bestätigen. Wie gesagt, ich habe das alles schon erzählt und Felissata Jakowlewna hat meinen Traum vollkom–men erraten.“

„Nicht Traum! nicht Traum!“ rief Marja Alexandrowna wütend aus. „Es war kein Traum, sondern Wirklichkeit, Fürst, Wirklichkeit, hören Sie: Wirklichkeit.“

„Wirk–lich–keit?“ rief der Fürst höchst verwundert aus und erhob sich vor Überraschung. „Da hörst du’s, mein Lieber! Was du vorhin pro–phezei–test, ist jetzt richtig eingetroffen!“ rief er Mosgljäkoff zu. „Aber ich versichere Sie, verehrte Marja Alexandrowna, daß Sie sich täuschen! Ich bin voll–kom–men ü–ber–zeugt, daß es mir nur ge–träumt hat!“

„Großer Gott!“ Marja Alexandrowna schlug die Hände zusammen.

„Beruhigen Sie sich, Marja Alexandrowna,“ mischte sich Natalja Dmitrijewna ein, „der Fürst hat es vielleicht nur vergessen ... er wird sich dessen wieder entsinnen.“

„Ich wundere mich über Sie, Natalja Dmitrijewna,“ entgegnete Marja Alexandrowna unwillig, „kann man denn so etwas vergessen? Wer vergißt denn so etwas? Ich bitte Sie, Fürst! Oder wollen Sie sich über uns lustig machen? Oder wollen Sie einem der Gecken nachäffen, wie sie zur Zeit der Régence in der Mode waren und die jetzt Dumas schildert? Irgend einen Fairelacour? Aber ganz abgesehen davon, daß es Ihren Jahren nicht ansteht, wird es Ihnen auch nicht gelingen! Meine Tochter ist keine französische Vicomtesse! Vorhin hat sie hier, sehen Sie, hier gestanden und Ihnen eine Romanze vorgesungen, und da sind Sie hier vor ihr niedergekniet und haben ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ich phantasiere doch nicht! Ich schlafe doch nicht! Sagen Sie doch, Fürst: schlafe ich oder schlafe ich nicht?“

„Nun ja ... wie gesagt, vielleicht auch nicht ...“ antwortete der verwirrte Fürst. „Ich will nur sagen, daß ich jetzt, glaube ich, nicht schla–fe. Vorhin, sehen Sie, schlief ich, und des–halb hat mir auch geträumt, weil ich, wie gesagt, schlief ...“

„Großer Gott, was ist das: schlief – schlief nicht, schlief nicht – schlief! Da soll der Teufel daraus klug werden! Sie phantasieren doch nicht, Fürst?“

„Nun ja, der Teufel soll daraus klug werden ... übrigens, ich glaube, daß ich jetzt ganz aus dem Kon–zept gekommen bin ...“ murmelte der Fürst mit unruhigen Blicken auf seine Umgebung.

„Aber wie haben Sie denn das im Traum sehen können, wenn ich Ihnen diesen Traum mit allen Einzelheiten erzähle, während Sie ihn doch noch keinem einzigen Menschen erzählt haben!“

„Aber es kann ja doch sein, daß der Fürst ihn doch schon irgend einem mitgeteilt hat,“ meinte Natalja Dmitrijewna.

„Nun ja, es kann ja doch sein, daß ich ihn jemand schon mitgeteilt habe,“ wiederholte der jetzt völlig konfus gewordene Fürst.

„Das ist mal eine Komödie!“ flüsterte Felissata Michailowna ihrer Nachbarin zu.

„Großer Gott! Da kann einem doch die letzte Geduld reißen!“ rief Marja Alexandrowna aus und sie rang die Hände vor Verzweiflung. „Sie hat Ihnen eine Romanze vorgesungen, eine Romanze! Glauben Sie denn, daß auch dies Ihnen nur geträumt hat?“

„Nun ja, in der Tat, es war, als hätte sie auch gesungen,“ murmelte der Fürst in Gedanken versunken.

Plötzlich belebte eine Erinnerung sein Gesicht.

„Mein Lieber!“ rief er aus, sich an Mosgljäkoff wendend, „ich hatte es ganz vergessen, dir vorhin zu sagen, daß sie tatsächlich noch so etwas wie eine Roman–ze sang und in dieser Romanze war die Rede von Schlössern und dann war dort auch noch irgend ein Troubadour! Nun ja, ich entsinne mich dessen ... so daß ich sogar wein–te ... Und jetzt bin ich in der größten Verle–genheit, denn es will mir scheinen, als ob es tatsächlich in Wirk–lich–keit gewesen wäre und nicht nur im Traum.“

„Offen gestanden, Onkelchen,“ bemerkte Mosgljäkoff möglichst ruhig, obgleich seine Stimme von innerer Aufregung zu zittern schien, „offen gestanden, mir scheint es, daß dieses ganze Problem sehr leicht zu lösen ist. Ich glaube, daß Sie tatsächlich Gesang gehört haben. Sinaïda Afanassjewna singt vorzüglich. Nach Tisch sind Sie hierher geführt worden und Sinaïda Afanassjewna hat Ihnen eine Romanze vorgesungen. Ich war damals nicht hier, Sie aber haben sich wahrscheinlich hinreißen lassen, haben an die guten alten Zeiten gedacht, wahrscheinlich an die Stunden, in denen Sie selbst Romanzen gesungen haben ... mit der Vicomtesse, von der Sie uns noch am Vormittage erzählten. Nun und dann, als Sie Ihr Schläfchen machten, hat Ihnen infolge der angenehmen Eindrücke geträumt, daß Sie verliebt seien und einen Heiratsantrag machten ...“

Marja Alexandrowna war einfach betäubt. Eine solche Frechheit hätte sie denn doch nicht für möglich gehalten.

„Ach, mein Lieber, das war ja auch tatsächlich so!“ rief der Fürst begeistert aus. „Gerade infolge der angenehmen Ein–drücke! Ich erinnere mich ganz deut–lich dessen, daß mir eine Romanze vorgesungen wurde ... deshalb wollte ich im Traum auch heiraten. Und die Vicomtesse war gleichfalls ... Nein, wie klug du das entwickelt hast, mein Lieber! Nun ja, ich bin jetzt voll–kom–men überzeugt, daß ich das alles nur im Traum gesehen habe! Marja Wassiljewna! Ich versichere Sie, daß es mir nur geträumt hat! Es war nur ein Traum. An–derenfalls würde ich nicht mit Ihren e–delsten Gefüh–len gespielt haben ...“

„Ah! Jetzt sehe ich, wer hier die Hand im Spiel hat!“ schrie Marja Alexandrowna, außer sich vor Wut, und sie wandte sich an Mosgljäkoff. „Sie sind es, mein Herr, Sie sind der Ehrlose, Sie allein haben das alles getan! Sie haben aus Rache dafür, daß Sie einen Korb erhielten, diesem unglücklichen Idioten den Kopf verdreht! Diese Schmach wirst du mir aber bezahlen, du gemeiner Mensch! Jawohl! Das wirst du mir bezahlen, bezahlen!“

„Marja Alexandrowna!“ schrie Mosgljäkoff, rot wie ein Krebs, „Ihre Worte sind dermaßen ... Ich weiß gar nicht mehr, wie Ihre Worte sind ... Ich weiß nur, daß keine vornehme Dame sich erlauben wird ... ich verteidige zum mindesten meinen Verwandten. Sie müssen doch zugeben, daß, einen alten Mann so zu umgarnen, so in die Falle zu locken ...“

„Nun ja, in die Falle zu locken,“ wiederholte der Fürst, der sich hinter Mosgljäkoff zu verstecken versuchte.

„Afanassij Matwejewitsch!“ kreischte Marja Alexandrowna mit einer ihr ganz fremden Stimme. „Hören Sie denn nicht, wie wir beschimpft und entehrt werden? Oder haben Sie sich bereits von jeder Pflicht uns gegenüber losgesagt? Sind Sie wirklich kein Familienvater, sondern nur ein lebloser Holzklotz? Was blinzeln Sie mich an? Ein anderer Gatte hätte schon längst die seiner Familie zugefügte Schmach mit seinem Blute abgewaschen! ...“

„Mütterchen!“ hub Afanassij Matwejewitsch wichtig an, offenbar sehr stolz darauf, daß man endlich auch seiner bedurfte. „Mütterchen! Hat dir das schließlich nicht wirklich nur geträumt und dann, nachdem du aufgewacht bist, hast du alles verwechselt und auf deine Art verdreht ... –“

Doch es war Afanassij Matwejewitsch nicht vergönnt, seine scharfsinnige Erklärung zu Ende sprechen zu können. Bis dahin hatten die Gäste noch an sich gehalten und sich nur mit verborgener Schadenfreude den Anschein würdevollen Ernstes gegeben. Jetzt aber brach alles in schallendes, unbändiges Gelächter aus. Marja Alexandrowna, die ihr ganzes Comme-il-faut vergaß, wollte sich wie es schien, auf ihren Gatten stürzen, um ihm sofort die Augen auszukratzen, wurde aber mit Gewalt zurückgehalten. Natalja Dmitrijewna aber benutzte die Gelegenheit, um noch etwas Gift hinzuzuträufeln.

„Ach, Marja Alexandrowna, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen, seien Sie doch nicht so heftig,“ sagte sie mit honigsüßer Stimme.

„Was soll so gewesen sein? Was soll denn so gewesen sein!“ schrie Marja Alexandrowna, die noch nicht recht begriff.

„Ach Marja Alexandrowna, das kommt doch zuweilen vor ...“

„Was kommt zuweilen vor?“ fuhr Marja Alexandrowna auf.

„Vielleicht hat es Ihnen wirklich nur geträumt.“

„Geträumt? Mir? Geträumt? Und Sie wagen es, mir das offen ins Gesicht zu sagen!“

„Wieso, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen,“ meinte Felissata Michailowna.

„Nun ja, vielleicht ist es wirk–lich so gewesen,“ murmelte auch der Fürst.

„Auch er noch! Er noch! Großer Gott!“ stöhnte Marja Alexandrowna, die Hände zusammenschlagend.

„Wie, Sie verzweifeln, Marja Alexandrowna! Denken Sie doch daran, daß Gott es ist, der uns Träume schickt. Und wenn Gott etwas will, dann will er allein es, und in seiner Hand liegt alles. Da lohnt es sich gar nicht mehr, sich zu ärgern.“

„Nun ja, da lohnt es sich gar nicht mehr, sich zu ärgern ...“ pflichtete der Fürst bei.

„Ja, halten Sie mich denn für verrückt?“ brachte Marja Alexandrowna vor Aufregung kaum noch hervor. Das ging denn doch über menschliche Kraft! Sie suchte schnell einen Stuhl und – „fiel in Ohnmacht“. Alles stürzte zu ihr.

„Sie ist ja nur aus Anstand in Ohnmacht gefallen,“ flüsterte Natalja Dmitrijewna ihrer Freundin Anna Nikolajewna ins Ohr.

In diesem Augenblick der größten Bestürzung und der höchsten Spannung trat plötzlich eine neue Person vor, eine, die bis dahin kein Wort gesprochen hatte, und die ganze Szene änderte mit einem Schlage ihren Charakter ...

XIV.

Sinaïda Afanassjewna war, im allgemeinen gesprochen, sehr romantisch veranlagt. Ich weiß nicht, ob das gerade daher kam, daß sie, wie Marja Alexandrowna behauptete, „diesen Dummkopf Shakespeare“ gar zu viel mit „ihrem Lehrer“ gelesen hatte, jedenfalls aber hatte sich Sina noch nie zuvor einen so außergewöhnlich romantischen, oder richtiger, heroischen Ausfall erlaubt, wie es der war, den ich jetzt wiedergeben will.

Bleich, mit Entschlossenheit im Blick, doch fast zitternd vor Aufregung trat sie, wunderbar schön in ihrer Empörung, mit langsamen Schritten vor. Mit langem, herausforderndem Blick schaute sie die Anwesenden ringsum an und wandte sich dann in der plötzlich eingetretenen Stille an die Mutter, die schon bei ihrer ersten Bewegung aus der Ohnmacht wieder erwacht war und die Augen weit aufgerissen hatte.

„Mama,“ sagte Sina, „wozu betrügen? Wozu sich durch Lügen erniedrigen? Es ist ja alles ohnehin schon so schmutzig, daß es sich wahrlich nicht der erniedrigenden Mühe lohnt, diesen Schmutz zu verdecken!“

„Sina! Sina! Was ist mit dir, mein Kind? Besinne dich!“ rief erschrocken Marja Alexandrowna aus, und sie sprang auf.

„Ich habe dir gesagt, ich habe dir im voraus gesagt, Mama, daß ich diese ganze Schmach nicht ertragen werde,“ fuhr Sina fort. „Muß man sich denn wirklich noch mehr erniedrigen, noch mehr besudeln? Aber weißt du, Mama, ich nehme alles auf mich, denn ich bin die Schuldigste. Ich ... ich habe durch meine Einwilligung die Veranlassung zu dieser häßlichen Intrige gegeben! Du bist meine Mutter, du liebst mich; du glaubtest nach deiner Auffassung, so wie du es verstehst, mein Glück zu schaffen. Dir kann man noch verzeihen, mir aber, mir – niemals!“

„Sina, willst du denn wirklich erzählen? ... O Gott! Ich ahnte es, daß dieser Dolchstoß meinem Herzen nicht erspart bleiben würde!“

„Ja, Mama, ich werde alles erzählen! Ich bin beschimpft, wir alle sind beschimpft! ...“

„Du übertreibst es, Sina! Du bist außer dir und weißt nicht, was du sprichst! Und wozu willst du denn erzählen? Was hat das für einen Sinn? ... Die Schande fällt nicht auf uns ... Ich werde sofort beweisen, daß die Schande nicht auf uns fällt ...“

„Nein, Mama!“ rief Sina aus und ihre Stimme zitterte vor Zorn, „ich will nicht mehr schweigen vor diesen Leuten, deren Meinung ich verachte und die hergekommen sind, um sich über uns lustig zu machen! Ich will ihre Beleidigungen nicht länger ruhig hinnehmen. Keine einzige von ihnen hat das Recht, mich mit Schmutz zu bewerfen. Sie sind ja alle sofort bereit, noch hundertmal Schlimmeres zu tun, als ich oder du, Mama, getan haben. Dürfen sie, können sie überhaupt unsere Richter sein? ...“

„Das ist mal schön! Was die sich einbildet! Was soll denn das bedeuten! Uns zu beleidigen?“ hörte man von allen Seiten.

„Sie scheint ja wirklich nicht zu wissen, was sie spricht!“ sagte Natalja Dmitrijewna.

Nebenbei bemerkt, diesmal hatte Natalja Dmitrijewna vollkommen recht. Wenn Sina diese Damen für unwürdig hielt, ihre Richter zu sein, weshalb würdigte sie sie dann solcher Geständnisse? Überhaupt handelte sie wohl etwas übereilt, – das war späterhin auch die Meinung der besten Köpfe in Mordassoff. Alles hätte noch gut werden können! Alles hätte beigelegt werden können! Es ist ja wahr: auch Marja Alexandrowna hatte sich selbst vieles eingebrockt an diesem Abend, und zwar nur durch ihre Überstürzung und ihren Hochmut. Man hätte ja den idiotischen Greis nur auszulachen gebraucht! Und eventuell vor die Tür zu setzen! Sina aber wandte sich, jeder gesunden Vernunft und der ganzen Mordassower Weisheit zuwider, an den Fürsten.

„Fürst,“ sagte sie zum Alten, der sich aus Ehrerbietung sogleich von seinem Platz erhob – dermaßen imponierte sie ihm in diesem Augenblick. „Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie uns! Wir haben Sie betrogen, wir haben Sie in die Falle gelockt ...“

„Wirst du denn nicht endlich schweigen, Unglückselige!“ rief Marja Alexandrowna in größter Verzweiflung dazwischen.

„Meine Gnädigste! Meine Gnädigste! Ma charmante enfant ...“ stotterte der Fürst maßlos bestürzt.

Doch der stolze, heftige und im höchsten Grade phantastische Charakter Sinas zog sie mit sich fort und ließ sie alle, von der Wirklichkeit geforderten Anstandsregeln vergessen. Sie vergaß sogar ihre Mutter, die sich während dieser Geständnisse ihrer Tochter innerlich geradezu in Krämpfen wand.

„Ja, wir beide haben Sie betrogen, Fürst: meine Mutter, indem sie Sie veranlassen wollte, mich zu heiraten, und ich, indem ich auf ihren Vorschlag einging. Ihnen wurde bei Tisch immer wieder Wein eingeschenkt, ich willigte ein, zu singen und mich vor Ihnen zu verstellen ... Sie, der Schwache, Schutzlose, wurden, wie Pawel Alexandrowitsch sich ausdrückt, umgarnt, ja, umgarnt um Ihres Reichtums, Ihres Fürstentitels willen. Alles das war entsetzlich niedrig und ich will es büßen. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich mich zu dieser Schändlichkeit nicht mit einer schändlichen Absicht entschlossen habe. Ich wollte ... Doch, was soll das! Es ist ja eine doppelte Schändlichkeit, sich in einer solchen Angelegenheit noch rechtfertigen zu wollen! Ich sage Ihnen nur, daß ich, wenn ich etwas von Ihnen genommen hätte, dafür Ihr Spielzeug, Ihre Dienstmagd, Ihre Tänzerin, Ihre Sklavin gewesen wäre ... Das hatte ich mir geschworen und heilig hätte ich meinen Schwur gehalten, das weiß ich!“

Sie verstummte für einen Augenblick, um Atem zu schöpfen. Die Gäste schienen alle sprachlos zu sein und hörten nur mit weit aufgerissenen Augen zu. Der unerwartete und ihnen ganz unverständliche Ausfall Sinas stieß sie alle förmlich vor den Kopf. Nur der Fürst war bis zu Tränen gerührt, obschon er kaum die Hälfte davon verstand, was Sina sagte.

„Aber ich werde Sie hei–raten, ma belle enfant, wenn Sie es so gern wollen,“ stotterte er, „und es wird mir eine große Eh–re sein. Nur versichere ich Sie, das es wirk–lich gleich–sam wie im Traum gewe–sen ist ... Aber als ob man keine Träume hätte! Weshalb sich daher beun–ruhigen? Es ist mir sogar, als hätte ich noch nichts begrif–fen, mon ami,“ fuhr er, sich an Mosgljäkoff wendend, fort. „Erkläre du es mir, bit–te! ...“

„Und Sie, Pawel Alexandrowitsch,“ unterbrach ihn Sina, sich gleichfalls an Mosgljäkoff wendend, „Sie, auf den ich eine Zeitlang fast schon wie auf meinen zukünftigen Gatten gesehen habe, Sie, der Sie sich jetzt so grausam an mir gerächt haben, – haben Sie sich wirklich zu diesen Leuten gesellen können, um mich herabzureißen und mit Schmutz zu bewerfen? Und Sie haben gesagt, Sie liebten mich! Doch nicht mir kommt es zu, Ihnen Vorwürfe zu machen! Ich bin schuldiger als Sie ... Ich habe Sie gekränkt und beleidigt, denn ich habe Sie tatsächlich mit Versprechungen hingehalten und was ich Ihnen heute nachmittag als Beweis des Gegenteils gesagt habe, war Lüge und Spitzfindigkeit. Ich habe Sie niemals geliebt und wenn ich mich entschlossen hätte, Sie zu heiraten, so hätte ich es nur getan, um irgendwohin fortfahren zu können, fort aus dieser verwünschten Stadt, und um diesen ganzen Schmutz hier endlich abschütteln zu dürfen ... Aber eines können Sie mir glauben, wenn ich Sie geheiratet hätte, wäre ich Ihnen eine gute und treue Frau gewesen ... Sie haben sich grausam an mir gerächt ... und wenn es Ihrem Stolz schmeicheln kann ...“

„Sinaïda Afanassjewna!“ unterbrach sie Mosgljäkoff.

„Wenn Sie mich immer noch hassen ...“

„Sinaïda Afanassjewna!!!“

„Wenn Sie mich jemals,“ fuhr Sina fort, die aufsteigenden Tränen unterdrückend, „wenn Sie mich jemals geliebt haben ...“

„Sinaïda Afanassjewna!!!“

„Sina, Sina! Mein Kind!“ jammerte Marja Alexandrowna.

„Ich bin ein Schuft, Sinaïda Afanassjewna, ich bin ein Schuft und weiter nichts!“ behauptete Mosgljäkoff und alles geriet in große Aufregung. Ausrufe der Verwunderung und des Unwillens wurden laut, doch Mosgljäkoff stand wie angewurzelt auf einem Fleck, augenscheinlich jedes Gedankens bar. Er konnte kein Wort mehr hervorbringen.

Für schwache und leere Charaktere, die an ewige Unterwerfung gewöhnt sind und sich dann einmal entschließen, sich aufzulehnen und zu protestieren, mit einem Wort, fest und entschlossen zu sein – für diese Charaktere gibt es immer eine gewisse Grenze, die das nahe Ende ihrer kurzen Festigkeit und Entschlossenheit ist. Ihr Protest pflegt zu Anfang überaus energisch zu sein. Ihre Energie geht zuweilen sogar bis zur Raserei. Sie werfen sich gleichsam mit zugekniffenen Augen auf die Hindernisse und laden sich fast stets eine für ihre Kräfte zu große Last auf die Schultern. Hat aber dieser rasende Mensch eine nahe Grenze erreicht, so bleibt er plötzlich, gleichsam erschrocken über sich selbst, wie betäubt vor der furchtbaren Frage stehen: „Was habe ich da angerichtet?“ – worauf er alsbald seinen ganzen Heroismus verliert, womöglich sogar weint, sich erklären will, auf die Knie fällt, um Verzeihung bittet, fleht, es wieder beim alten sein zu lassen, jedenfalls aber nur schneller, so schnell als möglich! ... Fast dasselbe geschah auch mit Mosgljäkoff. Nachdem er sich empört, das Unglück heraufbeschworen, das er jetzt bereits nur sich allein zuschrieb, nachdem er seinem Zorn und seiner Eigenliebe Genüge getan und sich selbst in den eigenen Augen verhaßt gemacht hatte, stand er nun plötzlich, von Gewissensbissen niedergedrückt, vor dem unerwarteten Auftreten Sinas. Ihre letzten Worte vernichteten ihn endgültig. Aus dem einen Extrem ins andere hinüberzuspringen, war für ihn das Werk eines Augenblicks.

„Ich bin ein Esel, Sinaïda Afanassjewna!“ rief er in einem Anfall verzweifelter Reue aus. „Nein! Was Esel! Ein Esel ist noch nichts! Ich bin unvergleichlich schlechter als ein Esel! Aber ich werde Ihnen beweisen, Sinaïda Afanassjewna, ich werde Ihnen beweisen, daß auch ein Esel ein edler Mensch sein kann! Onkel! Ich habe Sie betrogen! Ich, ich, ich allein habe Sie betrogen! Sie haben nicht geschlafen; Sie haben wirklich, in vollkommen wachem Zustande den Heiratsantrag gemacht, ich aber, ich Schuft, habe aus Rache, weil man mir einen Korb gegeben hatte, aus Rache Ihnen eingeredet, daß es Ihnen nur geträumt hätte.“

„Das sind ja seltsam interessante Dinge, die hier aufgedeckt werden!“ tuschelte Natalja Dmitrijewna ihrer Nachbarin Anna Nikolajewna ins Ohr.

„Mein Lieber,“ antwortete der Fürst, „be–ru–hige dich, bit–te. Du hast mich wirklich erschreckt mit deinem Geschrei. Ich versichere dich, daß du im Irr–tum bist ... Ich bin ja schließlich gern zu heiraten bereit, wenn es nun einmal gar so nötig ist – aber du hast mir doch noch selbst gesagt, daß es mir nur geträumt habe ...“

„O Gott, wie soll ich ihn jetzt überzeugen! Sagen Sie mir, sagen Sie mir, wie ich ihn jetzt überzeugen kann! Onkel, Onkelchen! Das ist doch eine wichtige Sache, das ist doch die wichtigste Familienangelegenheit! Überlegen Sie es sich doch nur! Denken Sie doch nach!“

„Mein Lieber, schön, wie du willst: ich den–ke nach. Wart mal, laß mich alles erst einmal mir ins Gedächtnis zurückrufen: zuerst träumte mir von meinem Kutscher Fe–o–fil ...“

„Ach, jetzt handelt es sich doch nicht um Ihren Feofil!“

„Nun ja, nehmen wir an, daß es sich jetzt nicht um ihn handle. Dann träumte mir von Napo–le–on, und dann war es so, als wenn wir getrunken hätten und eine Dame kam und aß den ganzen Zucker bei uns auf ...“

„Aber Onkelchen,“ unterbrach ihn Mosgljäkoff in einem Augenblick der Verfinsterung seines Gedächtnisses, „das hat Ihnen doch Marja Alexandrowna selbst nach dem Mittag von Natalja Dmitrijewna erzählt! Ich war ja doch hier, ich habe es ja selbst gehört! Ich hatte mich versteckt und sah und lauschte durch einen Türspalt ...“

„Was soll denn das heißen, Marja Alexandrowna!“ schrie Natalja Dmitrijewna dazwischen. „Dann haben Sie es also auch dem Fürsten erzählt, daß ich bei Ihnen Zucker aus der Zuckerdose gestohlen hätte! Dann komme ich also zu Ihnen, um hier Zucker zu stehlen?“

„Hinaus! Machen Sie, daß Sie fortkommen!“ schrie Marja Alexandrowna, zur Verzweiflung gebracht.

„Nein, nicht hinaus, Marja Alexandrowna, so dürfen Sie nicht mit mir sprechen! ... Also ich soll bei Ihnen Zucker stehlen? Ich habe schon lange gehört, daß Sie solche Gemeinheiten über mich erzählen! Mir hat Ssofja Petrowna alles ganz ausführlich erzählt ... Also ich stehle bei Ihnen Zucker? ...“

„Aber, mesdames,“ rief der Fürst dazwischen, „das hat mir ja nur geträumt! Als ob mir nicht vieles träu–men kann? ...“

„Dieses verwünschte Dromedar!“ brummte Marja Alexandrowna halblaut.

„Was! Ich soll ein Dromedar sein?“ kreischte Natalja Dmitrijewna. „Und wer sind Sie denn, wenn man fragen darf? Ich weiß es schon längst, daß Sie mich ein Dromedar nennen! Ich habe wenigstens ... ich habe wenigstens einen Mann, Sie aber haben nur einen Tölpel ...“

„Nun ja, ich weiß, es war da auch von einem Dromedar die Rede,“ murmelte ahnungslos der Fürst, der sich seines Gesprächs mit Marja Alexandrowna entsann.

„Wie, auch Sie fangen an! Auch Sie wollen eine vornehme Dame beschimpfen? Wie wagen Sie es überhaupt? Wenn ich eine Schachtel bin, so sind Sie ein einbeiniger Krüppel ...“

„Wer, ich einbeinig?“

„Gewiß Sie! Und nicht nur, daß Ihnen ein Bein fehlt, Ihnen fehlen auch alle Zähne, damit Sie’s wissen!“

„Und außerdem ist er noch einäugig!“ schrie Marja Alexandrowna.

„Anstelle Ihrer fehlenden Rippen tragen Sie ein Korsett!“ fügte Natalja Dmitrijewna hinzu.

„Das ganze Gesicht ist auf Sprungfedern!“

„Kein einziges echtes Haar hat er auf dem Kopf!“

„Und der Schnurrbart ist dem Esel aufgeklebt!“ schrie Marja Alexandrowna.

„Aber ... aber die Nase lassen Sie mir doch we–nigstens, Marja Stepa–nowna!“ unterbrach der Fürst, den diese plötzlichen Offenbarungen ganz kopfscheu machten. „Mein Lieber! Du hast mich verraten! Du hast es erzählt, daß ich falsches Haar trage ...“

„Onkelchen!“

„Nein, mein Lieber, ich kann hier nicht länger blei–ben! Bring mich irgendwohin fort ... quelle société? Wohin hast du mich eigentlich ge–bracht, Gott im Himmel!“

„Sie Idiot! Sie Schuft!“ schrie Marja Alexandrowna.

„Gott im Himmel!“ stotterte der erbleichte Fürst. „Ich habe im Au–genblick nur ein wenig verges–sen, weshalb ich herge–kom–men bin, aber ich werde mich dessen so–fort entsin–nen. Bring mich, mon ami, bring mich irgendwohin fort, sonst zerreißt man mich hier noch. Zudem ... zudem muß ich schnell einen neuen Gedanken nie–der–schreiben ...“

„Gehen wir, Onkelchen, es ist noch nicht spät. Ich werde Sie sofort ins Gasthaus bringen und auch selbst mit Ihnen übersiedeln ...“

„Nun ja, ins Gast–haus. Adieu, ma charmante enfant ... Sie allein ... nur Sie allein ... sind gut und tugend–haft. Sie sind ein ed–les Mäd–chen! ... Gehen wir, mein Lieber ... Gott im Himmel!“

Doch ich will nicht das Ende dieser unangenehmen Szene nach dem Fortgang des Fürsten zu beschreiben versuchen. Mit Geschrei und Gezeter fuhren die Gäste ab. Marja Alexandrowna blieb schließlich allein zurück – unter den Trümmern ihres früheren Ruhmes. Ihre Macht, ihr Einfluß, ihre ganze Bedeutung – alles war an diesem einen Abend eingestürzt und untergegangen. Marja Alexandrowna sah ein, daß sie sich nie mehr zu derselben Höhe würde erheben können. Ihre langjährige despotische Herrschaft in der Gesellschaft war endgültig dahingeschwunden. Was blieb ihr jetzt noch übrig? – zu philosophieren? Nun, sie philosophierte nicht. Sie tobte innerlich die ganze Nacht. Sina war entehrt und der Klatsch würde kein Ende nehmen! Entsetzlich!

Als gewissenhafter Historiker muß ich noch vermerken, daß am meisten unter dieser Stimmung Afanassij Matwejewitsch zu leiden hatte. Zu guter Letzt verkroch er sich in eine Kleiderkammer, wo ihn dann bis zum Morgen furchtbar fror.

Endlich brach dieser Morgen an, doch auch der neue Tag sollte nichts Gutes bringen. Ein Unglück kommt bekanntlich nie allein.

XV.

Wenn das Schicksal einem einmal Unglück beschert, so hört es damit so bald nicht auf. Das ist eine altbekannte Tatsache. Als ob diese ganze Schmach und Schande nicht genug gewesen wäre für Marja Alexandrowna! Doch nein! Das Schicksal bereitete ihr noch anderes vor.

Am nächsten Morgen, noch vor zehn Uhr, verbreitete sich in der Stadt ganz plötzlich ein seltsames, fast unglaubliches Gerücht, das von allen mit auffallender Schadenfreude aufgenommen wurde, wie eben jeder ungewöhnliche Skandal oder jedes Pech, das unserem lieben Nächsten zustößt.

„Es ist doch wirklich ...! So weit jede Scham und jedes Gewissen zu verlieren!“ hieß es allgemein. „Sich dermaßen zu erniedrigen, sich dermaßen über jeden gesellschaftlichen Anstand hinwegzusetzen, dermaßen die Zügel schießen zu lassen!“ und ähnliches mehr.

Es war folgendes geschehen:

Früh am Morgen, fast um 7 Uhr, war ein armes altes Weib eilig ins Haus Marja Alexandrownas gekommen und hatte die Stubenmagd unter Tränen beschworen, das Fräulein, nur das Fräulein zu wecken, aber heimlich, so daß Marja Alexandrowna nichts davon erführe. Sina war im Augenblick erschienen, erschrocken und bleich. Die Alte hatte sich vor ihr niedergeworfen, ihre Füße geküßt und mit Tränen benetzt, und sie angefleht, zu ihrem kranken Wassjä zu kommen, der die ganze Nacht so schwer, so schwer geatmet habe, daß er vielleicht nicht einmal den Tag überleben werde. Die Alte hatte schluchzend erzählt, daß Wassjä selbst sie zu sich rufe, um noch vor dem Tode von ihr Abschied nehmen zu können, daß er sie bei allen heiligen Engeln beschwöre, bei allem was früher zwischen ihnen gewesen war, zu ihm zu kommen: wenn sie nicht käme, so würde er mit verzweifeltem Herzen sterben. Sina hatte sich sofort entschlossen, zu ihm zu gehen, obgleich doch die Erfüllung dieser Bitte alle früheren Gerüchte von ihrer Korrespondenz, jenem skandalösen Brief, ihrem anstößigen Betragen usw. bestätigen mußte.

Ohne der Mutter ein Wort zu sagen, hatte sie einen Pelz umgenommen und war dann mit der Alten fortgeeilt. Ihr Weg führte sie durch die ganze Stadt in eine der ärmsten Vorstädte Mordassoffs. Dort, am Ende einer einsamen Sackgasse stand eine alte, schiefe Hütte, deren Fenster mehr an Spalten oder Löcher erinnerten, und die ringsum von hohen Schneebergen umgeben war.

In einem kleinen, niedrigen Stübchen, das von muffigem Geruch erfüllt war und in dem der riesige Ofen genau die Hälfte des ganzen Raumes einnahm, lag in einem ungestrichenen Bretterbett auf einer fast nur zwei Finger dicken Matratze ein junger Mann, der mit einem alten Uniformmantel[2] zugedeckt war. Sein Gesicht war bleich und abgezehrt, seine Augen hatten den flackernden Glanz Fieberkranker, seine Hände waren schmal und dürr und das Handgelenk und die Arme waren wie Stöcke; er atmete schwer und rauh; seine Stimme war heiser. Man sah es ihm an, daß er einmal schön gewesen sein mußte, doch die Krankheit hatte die zarten Züge seines schmalen Gesichts entstellt, und es tat weh, ihn anzublicken, wie der Anblick eines jeden Schwindsüchtigen oder Sterbenden weh tut. Seine alte Mutter, die seit einem ganzen Jahr und fast bis zur letzten Stunde geglaubt hatte, daß ihr Wassenjka wieder gesund werden würde, mußte sich endlich sagen, daß ihr Sohn nicht mehr lange in dieser Welt bleiben konnte. Sie stand jetzt an seinem elenden Lager, die Hände gefaltet, von Schmerz gebeugt, tränenlos; sie sah ihn an und konnte sich doch nicht satt sehen an ihm – konnte es nicht begreifen, wenn sie es auch wußte, daß nach wenigen Tagen dort draußen auf dem Armenfriedhof die kalte, gefrorene Erde ihren Wassjä zudecken und weißer Schnee auf seinem Grabhügel liegen würde. Doch Wassjä sah sie jetzt nicht. Sein ganzes abgezehrtes Märtyrergesicht atmete Seligkeit. Endlich, endlich sah er diejenige vor sich, von der er ganze anderthalb Jahre im Wachen geträumt und die ihm in jedem Traum erschienen war, an die er Tag und Nacht, namentlich in den letzten langen, schweren Nächten seiner Krankheit, gedacht hatte. Er wußte, daß sie ihm verziehen hatte, da sie wie ein Engel Gottes in seiner Sterbestunde noch zu ihm gekommen war. Sie preßte seine Hände, weinte und lächelte ihm zu, sie sah ihn wieder mit ihren wundervollen Augen an und – und alles Vergangene, Unwiederbringliche begann in der Seele des Sterbenden aufzuerstehen. Das Leben flammte von neuem in seinem Herzen und es schien, als wolle es dem Armen, bevor es ihn verließ, noch einmal zu fühlen geben, wie schwer das Scheiden von ihm ist.

„Sina,“ sagte er, „Sinotschka! Weine nicht über mich, gräme dich nicht, sei nicht traurig darüber, daß ich bald sterben muß. Ich werde dich ansehen, – so wie jetzt – werde fühlen, daß unsere Seelen wieder beisammen sind, daß du mir verziehen hast, ich werde deine Hände küssen, wie früher – weißt du noch? – und ich werde sterben, vielleicht ohne den Tod zu spüren. Mager bist du geworden, Sina! Du mein Engel, mit welcher Güte du mich ansiehst ... Aber weißt du noch, wie du früher lachtest? Weißt du noch ... Ach, Sina, ich bitte dich nicht um Verzeihung, ich will dich nicht daran erinnern, was einmal gewesen ist, denn sieh, wenn du mir vielleicht auch verziehen hast, so werde ich mir doch nie verzeihen. Es hat lange Nächte gegeben, Sina, schlaflose, furchtbare Nächte, und in diesen Nächten habe ich hier in diesem Bett gelegen und gedacht, lange und viel, gedacht und da bin ich zur Einsicht gekommen, daß es für mich besser ist, zu sterben, bei Gott besser! ... Ich taugte nicht zum Leben, Sina!“

Sina weinte und preßte stumm seine Hand, als hätte sie ihn damit im Sprechen aufhalten wollen.

„Weshalb weinst du, mein Liebling?“ fuhr der Kranke fort. „Weil ich sterbe, nur weil ich sterbe? Aber das übrige, alles, alles übrige ist ja doch schon längst gestorben, längst begraben! Du bist klüger als ich, du hast ein reineres Herz als ich, und deshalb weißt du auch, daß ich ein schlechter Mensch bin. Kannst du mich denn lieben? Was mich das gekostet hat, diesen Gedanken zu ertragen, daß du es weißt, was für ein schlechter und leerer Mensch ich bin! Und wieviel Eigenliebe hierin war, vielleicht auch edelmütige ... ich weiß es nicht ... Du ... mein Freund, mein ganzes Leben war nur ein Traum. Ich habe nur geträumt, immer nur geträumt und nicht gelebt. Ich war stolz, ich verachtete die Masse ... Auf was aber war ich denn stolz vor den Leuten? Ich weiß es selbst nicht. Herzensreinheit? Edle Gefühle? Aber das war ja alles nur in Träumen, Sina, als wir Shakespeare lasen, als es aber zur Tat kam, da bewies ich glänzend meine ganze Herzensreinheit und meine erhabene Gesinnung! ...“

„Hör auf!“ unterbrach ihn Sina, „hör auf! ... Das war ja alles nicht so ... du marterst dich ganz unnütz!“

„Weshalb unterbrichst du mich, Sina! Ich weiß, du hast mir verziehen, und vielleicht schon vor langer Zeit; aber du hast über mich nachgedacht, das Urteil gefällt und begriffen, wer ich bin: das aber quält mich ja gerade. Ich bin deiner Liebe unwürdig, Sina! Du warst auch dann, als es zur Tat kam, als es handeln hieß, auch dann warst du ehrlich und großzügig: du gingst zu deiner Mutter und sagtest ihr, daß du mich und keinen anderen heiraten würdest, und du hättest dein Wort gehalten, denn bei dir ist Wort und Tat nicht zweierlei. Aber ich, ich! Als es zur Tat kam ... Weißt du, Sina, ich begriff ja damals gar nicht, was du für mich geopfert hättest, wenn es zur Heirat gekommen wäre! Ich konnte es damals überhaupt nicht begreifen, daß du als meine Frau vor Hunger vielleicht gestorben wärst. Ach, daran dachte ich ja keinen Augenblick! Ich glaubte nur, daß du mich heiraten würdest, mich, den großen Dichter – den zukünftigen, versteht sich – und ich wollte jene Gründe überhaupt nicht gelten lassen, die du hervorhobst, als du mich batest, mit der Hochzeit noch zu warten. Ich machte dir Vorwürfe, ich quälte, tyrannisierte, verachtete dich und schließlich kam es zu meiner Drohung, jenen Brief zu zeigen. Ich war nicht einmal nur ein Schuft in diesem Augenblick, ich war einfach ein Lump! O, wie du mich verachtet haben mußt! Es ist gut, daß du mich nicht geheiratet hast. Ich hätte dein Opfer nie begriffen, ich hätte dich gequält, dich wegen unserer Armut gepeinigt. Jahre wären vergangen! Vielleicht hätte ich dich sogar gehaßt – als Hindernis in meinem Leben! So aber, wie es jetzt ist, ist es viel besser! Jetzt haben wenigstens meine bitteren Tränen mein Herz gereinigt. Ach Sina! Behalt mich nur ein wenig lieb, so wie du mich früher lieb gehabt hast! Wenn auch nur in dieser letzten Stunde ... Ich weiß es ja, daß ich deiner Liebe unwürdig bin, aber ... aber ... Mein Liebling, mein Liebling, du!“

Während dieser ganzen Rede versuchte Sina mehrmals ihn zu unterbrechen, doch er beachtete es nicht. Ihn quälte das Verlangen, alles vor ihr auszuschütten, was er auf dem Herzen hatte, und so fuhr er denn fort zu sprechen, mühsam, atemlos, mit heiserer fortwährend erstickender Stimme.

„Wärst du mir nicht begegnet, hättest du dich nicht in mich verliebt, so würdest du jetzt leben!“ sagte Sina. „Ach, warum, warum haben wir uns kennen gelernt!“

„Nein, mein Liebling, nein, mach dir deshalb keine Vorwürfe, weil ich sterbe,“ fuhr der Kranke fort. „Ich allein bin an allem schuld! Gott, wieviel Eigenliebe hierbei war! Wieviel Romantik! Hat man dir ausführlich meine ganze dumme Geschichte erzählt, Sina! Sieh, hier war vor drei Jahren ein Arrestant, ein großer Räuber und Mörder, als es aber zum Bestrafen kam, da zeigte es sich, daß er ein ganz kleinmütiger Mensch war. Er wußte, daß man einen Kranken nicht bestrafen würde und so verschaffte er sich Branntwein, tat gewöhnlichen Tabak hinein und trank ihn dann aus. Bald aber begann er so zu erbrechen, nur Blut und Galle, weißt du, und das dauerte so lange an, daß seine Lungen arg darunter litten. Er wurde ins Lazarett geschafft und nach einigen Monaten starb er an der Schwindsucht. Nun sieh, mein Liebling, ich dachte damals an ihn, an jenem Tage ... du weißt ... nach dem Brief ... und ich beschloß, mich ebenso zugrunde zu richten. Aber was meinst du wohl, weshalb ich gerade die Schwindsucht wählte? Ich hätte mich doch erhängen oder ertränken können? Glaubst du, daß ich den Tod fürchtete? Vielleicht ... Aber es will mir immer scheinen, Sina, daß es damals nicht ohne schwärmerische Dummheiten abging. Ich dachte doch immer daran, wie hübsch es sein würde, wenn ich im Bett liege, schwindsüchtig, todkrank, und du wirst dich martern, quälen, dir Vorwürfe machen, weil du mich schwindsüchtig gemacht hast; wie du denn in deiner Reue zu mir kommst, auf die Knie vor mir niederfällst ... Ich verzeihe dir, sterbe in deinen Armen ... Dumm, nicht wahr, Sina, furchtbar dumm!“

„Sprich nicht davon!“ bat Sina. „Sprich nicht davon! Du bist nicht so ... laß uns lieber an anderes denken, an unsere schönen, glücklichen Stunden.“

„Weh tut es mir, mein Freund, deshalb rede ich auch davon. Anderthalb Jahre lang habe ich dich nicht gesehen! Ich glaube, ich müßte jetzt meine ganze Seele vor dir ausbreiten! Ich bin ja doch die ganze Zeit seit jenem Tage ganz, ganz allein gewesen, und es hat, glaube ich, dennoch keine Minute gegeben, in der ich nicht an dich gedacht hätte, du mein Herzenslieb, mein Engel, an dem ich mich nicht sattsehen kann! ... Und weißt du, Sina, wie gern ich irgend so etwas getan hätte, etwas Großes, Gutes, um dich zu zwingen, deine Meinung über mich zu ändern. Ich glaubte ja bis zum letzten Augenblick nicht, daß ich sterben würde. Es warf mich ja nicht sofort nieder, ich ging ja noch lange mit einer kranken Brust umher. – Und wieviel lächerliche Wünsche ich hatte! Zum Beispiel dachte ich daran, plötzlich ein großer Dichter zu werden, in den ‚Vaterländischen Aufzeichnungen‘ ein Gedicht zu veröffentlichen, wie es bis jetzt noch keines gegeben hat. Ich wollte in ihm alle meine Gefühle ausgießen, meine ganze Seele, so daß ich überall, wo du nur sein mochtest, stets bei dir gewesen wäre, dich immerwährend an mich erinnert hätte durch meine Verse, und mein schönster Traum war, wie du dann endlich nachdenklich werden und dir sagen müßtest: ‚Nein, er ist doch kein so schlechter Mensch, wie ich glaubte!‘ Dumm, Sinotschka, dumm nicht wahr?“

„Nein, nein, Wassjä, nein!“ rief Sina beschwörend aus.

Sie warf sich über seine Brust und küßte seine Hände.

„Und wie mich die Eifersucht die ganze Zeit gequält hat! Ich glaube – ich wäre gestorben, wenn ich von deiner Hochzeit gehört hätte! Ich ließ dich beobachten, ich ließ spionieren ... sie tat es immer für mich (er wies mit dem Kopf auf die Mutter). Du hast doch den Mosgljäkoff nicht geliebt, nicht wahr, Sinotschka? Oh, mein Engel, du! Wirst du dich auch jemals meiner erinnern, wenn ich tot bin? Ich weiß, daß du mich nicht vergessen wirst ... aber es werden Jahre vergehen, dein Herz wird abkühlen, erkalten, es wird Winter in der Seele und dann wirst du mich doch vergessen, Sinotschka! ...“

„Nein, nein, niemals! Ich werde nie heiraten ... Du bist der erste ... der letzte ... ewig werde ich dich lieben!“

„Alles stirbt, Sinotschka, alles, sogar Erinnerungen ... Sogar unsere edelsten Gefühle sterben. An ihre Stelle tritt vernünftiges Denken. Weshalb dawider murren? Genieße das Leben, Sina, lebe lange, lebe glücklich. Liebe auch einen anderen, wenn du ihn lieb gewinnst – man kann doch nicht immerfort einen Toten lieben! Nur denk zuweilen auch an mich, nur hin und wieder einmal; an das Schlechte denk nicht, vergieb das Schlechte; aber es hat ja in unserer Liebe auch Gutes gegeben. Sinotschka! Oh, die wundervollen, unwiederbringlichen Tage! ... Hör mich, mein Engel, ich habe immer die Abendstunde und den Sonnenuntergang geliebt. Denke manches Mal an mich, wenn die Sonne untergeht! Oh, nein, nein! Wozu sterben! Oh, wie ich jetzt zu neuem Leben auferstehen wollte! Vergiß nicht, vergiß nicht, mein Lieb, vergiß nicht diese Zeit! Damals war Frühling, die Sonne schien so hell, die Blumen blühten, rings um uns schien es Feiertag zu sein ... Und jetzt! Sieh, sieh!“

Und der Arme wies mit seiner abgezehrten Hand auf das trübe, befrorene kleine Fenster. Dann ergriff er plötzlich Sinas Hände, preßte sie an seine Augen und schluchzte, schluchzte herzbrechend. Das Schluchzen schien seine kranke wunde Brust zu zerreißen.

Den ganzen Tag quälte er sich, litt und weinte. Sina tröstete ihn, so gut sie es konnte, denn auch sie war fast zu Tode gequält. Sie sagte, daß sie ihn nie vergessen und keinen so lieben werde, wie sie ihn geliebt. Er glaubte es ihr widerspruchslos, lächelte, küßte ihre Hände, doch die Erinnerungen an das Vergangene brannten in seinem Herzen und es war ihm, als würde er von ihnen wie zerrissen. So verging der ganze Tag. Marja Alexandrowna hatte inzwischen nicht viel weniger als zehnmal nachgeschickt und Sina flehentlich bitten lassen, wieder nach Haus zu kommen und sich in der Gesellschaft doch nicht ganz und gar unmöglich zu machen. Endlich in der Dämmerung, vor Angst kaum noch ihrer Sinne mächtig, entschloß sie sich, selbst zu Sina zu laufen. Sie ließ ihre Tochter in die andere Stube rufen und flehte sie fast auf den Knien an, diesen „letzten und größten Dolch nicht in ihr Herz zu stoßen“. Sina ging zu ihr hinaus: sie hörte wohl, was ihre Mutter sprach, begriff aber nicht den Sinn der Worte. Ihr Kopf schien ihr zerspringen zu wollen vor Schmerz. Schließlich mußte Marja Alexandrowna in größter Verzweiflung wieder fortgehen. Sina hatte beschlossen, in der Hütte bei dem Sterbenden zu übernachten.

Sie saß die ganze Nacht an seinem Bett. Mit dem Kranken wurde es immer schlechter. Wieder brach der Tag an, doch war keine Hoffnung mehr vorhanden, daß der Sterbende ihn überleben würde. Die alte Mutter ging wie eine Irrsinnige umher, als verstehe sie nichts mehr. Sie gab ihrem Sohn die Arzneien, die er dann nicht nehmen wollte. Der Todeskampf dauerte lange. Er konnte bald nicht mehr sprechen. Nur unzusammenhängende, heisere Laute drangen zuweilen aus seiner Brust. Bis zum letzten Augenblick sah er immer noch unverwandt Sina an, suchte er noch immer ihren Blick, und als seine Sehkraft zu schwinden begann, suchte seine unsicher irrende Hand immer noch ihre Hände, um sie zu drücken. Der kurze Wintertag verging. Und während der letzte Sonnenstrahl die Eisblumen des einzigen kleinen Fensters der Stube rot erglühen ließ, da verließ die Seele des Armen auf ewig seinen abgezehrten Körper.

Als die alte Mutter nur noch die Leiche ihres vergötterten Wassjä vor sich sah, schlug sie die Hände zusammen und warf sich mit einem Schrei auf den Toten.

„Das hast du getan, du falsche, arglistige Schlange, du hast ihn behext!“ schrie sie in ihrer Verzweiflung Sina zu. „Du, du verfluchte Verführerin, du, du Mörderin, du, du hast ihn umgebracht!“

Sina hörte sie nicht. Sie stand wie erstarrt über den Toten gebeugt. Endlich schien sie wieder zu sich zu kommen: sie bekreuzte ihn, küßte ihn und verließ fast mechanisch das Zimmer. Ihre Augen brannten und ihr schwindelte. Die Qual dieser zwei Tage und die zwei schlaflosen Nächte hatten ihren Kopf leer und tot gemacht. Unklar nur fühlte sie, daß ihre ganze Vergangenheit sich gleichsam von ihrem Herzen losriß und nun ein neues Leben begann, ein finsteres, drohendes ... Sie war kaum zehn Schritte gegangen, als Mosgljäkoff wie aus der Erde gewachsen vor ihr stand. Er schien sie erwartet zu haben.

„Sinaïda Afanassjewna,“ begann er in einem eigentümlich ängstlichen Geflüster und nachdem er sich eilig rings umgeschaut hatte, denn es war immerhin noch ziemlich hell. „Sinaïda Afanassjewna, ich bin natürlich ein Esel! Das heißt, wenn Sie wollen, bin ich jetzt nicht mehr ein Esel, denn, sehen Sie, es war schließlich doch edel von mir gehandelt. Aber ich bereue es dennoch, daß ich ein Esel war ... Übrigens habe ich mich da verhauen, glaube ich ... aber Sie werden es verzeihen ... das hat seine verschiedenen Gründe ...“

Sina sah ihn fast verständnislos an und setzte schweigend ihren Weg fort. Da das hohe Brettertrottoir für zwei nebeneinander nicht breit genug war und Sina nicht zur Seite trat, sondern ruhig in der Mitte ging, so trat Mosgljäkoff vom Trottoir herab und ging neben ihr im Schnee der Fahrstraße, während er ihr immer wieder ins Gesicht blickte.

„Sinaïda Afanassjewna,“ fuhr er fort, „ich habe es mir überlegt, und wenn Sie wollen, bin ich bereit, meinen Antrag zu wiederholen. Ich bin sogar bereit, alles zu vergessen, Sinaïda Afanassjewna, die ganze Schande, und ich bin auch bereit, zu verzeihen, aber nur mit einer Bedingung: daß, so lange, wie wir hier sind, das Ganze noch ein Geheimnis bleibt. Sie werden möglichst bald von hier fortfahren und ich heimlich gleichfalls; wir lassen uns irgendwo von einem Landpfarrer trauen, so daß es niemand hört und sieht und fahren dann sofort nach Petersburg, wenn möglich mit unterlegten Pferden, so daß Sie nur einen kleinen Koffer mitnehmen ... was? Sind Sie einverstanden, Sinaïda Afanassjewna? Sagen Sie schnell! Ich kann nicht so lange warten, man könnte uns sehen ...“

Sina antwortete nicht, sondern sah ihn nur an; sie sah ihn aber so an, daß er sofort alles begriff, den Hut zog und in der ersten Querstraße verschwand.

„Wie ist denn das?“ dachte er verwundert, „vorgestern abend war es ihr noch so nah gegangen und sie beschuldigte sich vor allen anderen ... nahm die ganze Schuld auf sich allein? Da sieht man, daß sie an jedem Tage anders ist!“

Inzwischen war in Mordassoff Ereignis auf Ereignis gefolgt. Eines davon war sogar sehr tragisch: der Fürst, den Mosgljäkoff ins Gasthaus gebracht hatte, war in derselben Nacht erkrankt, und sogar gefährlich erkrankt. In der Stadt erfuhr man es erst am nächsten Morgen. Kalist Stanislawitsch verließ den Kranken fast keinen Augenblick. Am Abend fand ein Konzilium aller Mordassower Ärzte statt. Die Aufforderung war ihnen in lateinischer Sprache zugesandt worden. Aber ungeachtet der lateinischen Sprache verlor der Fürst bereits das Bewußtsein, phantasierte, bat Kalist Stanislawitsch, eine gewisse Romanze zu singen und sprach von verschiedenen Perücken; mitunter schien er plötzlich zu erschrecken, worauf er jedesmal des längeren schrie. Die Ärzte kamen in ihrer Beratung dahin überein, daß sich beim Fürsten infolge der Mordassower Gastfreundschaft eine Magenentzündung eingestellt habe und diese mittlerweile – wahrscheinlich auf dem Wege ins Gasthaus – in den Kopf gestiegen sei. Auch wurde eine gewisse moralische Erschütterung nicht abgeleugnet. Das Resultat der Beratung war jedenfalls, daß der Fürst schon seit langer Zeit zum Sterben „disponiert“ gewesen und deshalb unfehlbar sterben werde. In letzterem hatten sie sich denn auch nicht geirrt: der arme Greis starb richtig am Abend des dritten Tages. Sein Tod überraschte die Mordassower nicht wenig: einen so ernsten Ausgang hatte niemand erwartet. Sie stürzten in Scharen zum Gasthause, wo die Leiche noch unaufgebahrt lag, sprachen viel, ereiferten sich noch mehr, schüttelten die Köpfe und es endete damit, daß die „Mörder des unglücklichen Fürsten“ – damit meinte man Marja Alexandrowna und deren Tochter – laut und schroff verurteilt wurden. Alle begriffen, daß dieser Zwischenfall allein schon von seiner skandalösen Seite eine unangenehme Verbreitung finden und womöglich noch in weite Kreise dringen konnte und – doch ist es wohl nicht gut möglich, alles wiederzugeben, was gesprochen und befürchtet wurde.

Während dieser ganzen Zeit lief Mosgljäkoff bald hierhin bald dorthin, bis ihm schließlich der Kopf rund ging. In dieser Stimmung war es, daß er dann auch mit Sina sprach. Seine Lage war in der Tat schwierig: er hatte den Fürsten in die Stadt gebracht, zuerst zu Marja Alexandrowna und von dieser ins Gasthaus, und jetzt wußte er nicht einmal, was er mit der Leiche tun sollte, wie und wo beerdigen, wen benachrichtigen? Sollte er sie nach Duchanowo bringen? Zudem war er doch gewissermaßen der „Neffe“ des Verstorbenen. Er zitterte, wenn er daran dachte, daß man vielleicht noch ihm die Schuld am Tode des Fürsten zuschreiben könnte.

„Die Geschichte kann ja dann noch bis nach Petersburg dringen, man kann sie sogar in der höchsten Gesellschaft erfahren!“ dachte er mit bangem Herzen.

Von den Mordassowern war kein Rat zu holen: allen schien plötzlich bange zu sein, alle zogen sich von dem Toten zurück und ließen Mosgljäkoff in einer geradezu düsteren Einsamkeit sitzen. Da sollte aber etwas ganz Unvorhergesenes geschehen und die Sachlage von Grund aus ändern.

Am Morgen des zweiten Tages nach dem Tode des Fürsten traf in der Stadt ein vornehmer Herr ein. Von diesem Herrn sprach im Augenblick ganz Mordassoff, nur wurde nicht laut, sondern flüsternd und geheimnisvoll von ihm gesprochen, und als er durch die große Straße zum Gouverneur fuhr, da lauerte alles nur durch Türspalten und Gardinen auf den hohen Gast. Sogar unser Gouverneur, Pjotr Michailowitsch, soll etwas betreten gewesen sein und nicht gewußt haben, wie er sich zu ihm verhalten sollte. Dieser Gast war der ziemlich bekannte Fürst Schtschepetiloff, ein Verwandter des verstorbenen Fürsten K., ein noch junger Mann von etwa fünfunddreißig Jahren mit Oberstenepaulettes und Achselschnüren. Diese Achselschnüre machten einen so mächtigen Eindruck auf die Beamtenwelt, daß selbst dem letzten Schreiber ein unheimliches Frösteln über den Rücken lief und alle sich strammer hielten. Der Polizeimeister, zum Beispiel, verlor ganz und gar den Kopf, d. h. nur bildlich gesprochen, versteht sich, also moralisch sozusagen. Physisch erschien er in eigener Person, wenn auch mit ziemlich langem Gesicht.

Im Augenblick wußte die ganze Stadt, daß Fürst Schtschepetiloff aus Petersburg gekommen und unterwegs über Duchanowo gefahren war. Da er den Fürsten dort nicht angetroffen hatte, war er ihm nachgefahren nach Mordassoff, wo ihn wie ein Keulenschlag die Nachricht vom Tode des Verwandten und die Gerüchte über die näheren Umstände und Ursachen seiner Krankheit trafen. Pjotr Michailowitsch – unser Gouverneur – soll sogar sehr verlegen gewesen sein, als er ihm die nötigen Aufschlüsse geben mußte. Übrigens gingen alle Mordassower mit gewissermaßen schuldbewußten Mienen umher. Hinzu kam noch, daß der angereiste Fürst ein so strenges, unzufriedenes Gesicht hatte, obgleich er doch unmöglich über die Erbschaft ungehalten sein konnte?!

Er nahm die Regelung der ganzen Sache sofort selbst in die Hand. Mosgljäkoff aber drückte sich schmählich vor dem wirklichen, nicht nur angeblichen Verwandten und verschwand – unbekannt wohin.

Es wurde zunächst angeordnet, die Leiche sofort ins Kloster zu schaffen, wo auch das Totenamt gehalten werden sollte. Der Fürst gab seine Anordnungen trocken, streng, kurz, aber nichtsdestoweniger taktvoll und sachlich.

Zum Totenamt wollte sich die ganze Stadt ins Kloster begeben. Unter den Damen hatte sich das unsinnige Gerücht verbreitet, daß Marja Alexandrowna persönlich in der Kirche erscheinen und vor dem Sarge kniend mit lauter Stimme um Vergebung ihrer Schuld flehen werde und daß es so nach dem Gesetz geschehen müsse. Natürlich war das Torheit und Marja Alexandrowna dachte nicht daran, in die Kirche zu gehen. Übrigens habe ich zu sagen vergessen, daß nach Sinas Rückkehr ins Haus, diese und ihre Mutter noch an demselben Abend aufs Gut gefahren waren, da Marja Alexandrowna einen weiteren Aufenthalt in der Stadt für unmöglich gehalten hatte. Von dort aus verfolgte sie aufgeregt die neuen Gerüchte, schickte ihre Leute in die Stadt, um Näheres über den eingetroffenen Fürsten in Erfahrung zu bringen – kurz, sie war die ganze Zeit wie im Fieber. Die Landstraße aus dem Kloster nach Duchanowo führte kaum eine Werst weit von dem Landhause Marja Alexandrownas vorüber und so konnte diese deutlich aus ihren Fenstern die lange Prozession verfolgen, die sich nach dem Totenamt aus dem Kloster auf das Gut begab, wo der Fürst beigesetzt werden sollte. Der Sarg wurde auf einem hohen Leichenwagen geführt, hinter ihm zog sich die endlose Reihe von Equipagen hin, die dem Leichenwagen bis zum Kreuzwege das Geleit gaben, um dann abzubiegen und in die Stadt zurückzufahren. Und lange noch zog die schwarze Schlittenreihe über die schon verschneiten Felder dahin, hinter dem hohen, schwarzen Leichenwagen, der sich nur langsam mit ehrfurchtgebietender Majestät weiterbewegte. Marja Alexandrowna vermochte nicht lange zuzusehen und trat fort vom Fenster.

Nach einer Woche fuhr sie mit ihrer Tochter und ihrem Mann nach Moskau, und nach einem Monat erfuhr man in Mordassoff, daß ihr kleines Gut und ihr Haus in der Stadt verkauft werden solle. So hatte denn Mordassoff auf ewig seine tonangebende, seine bedeutendste Frau verloren! Natürlich ging es auch jetzt nicht ohne boshafte Bemerkungen ab. So wurde zum Beispiel behauptet, daß das Gut mitsamt Afanassij Matwejewitsch verkauft werde ...

Doch es verging ein Jahr, ein zweites und dann noch ein drittes und Marja Alexandrowna geriet fast ganz in Vergessenheit. Leider! So pflegt es nun einmal in der Welt zu gehen! Übrigens wurde noch erzählt, daß sie sich in einer anderen Gouvernementsstadt niedergelassen und in der Nähe derselben ein neues Gut gekauft habe, und daß sie dort selbstverständlich wieder alle beherrsche, daß Sina noch immer nicht verheiratet sei und Afanassij Matwejewitsch ... Doch wozu diese Gerüchte wiederholen – es ist ja kein wahres Wort an ihnen.


Drei Jahre sind seit dem Tage vergangen, an dem ich die letzte Zeile dieser schönen Geschichte aus der Mordassower Chronik geschrieben, und wer hätte es sich denken können, daß ich noch einmal mein Manuskript aufrollen und noch eine Nachricht zu meiner Erzählung würde hinzufügen müssen! Doch zur Sache! Ich beginne mit Pawel Alexandrowitsch Mosgljäkoff.

Nachdem er Mordassoff verlassen, war er nach Petersburg gefahren, wo er denn auch glücklich durch Protektion jene gute Anstellung erhalten hatte, die ihm schon früher versprochen worden war. Bald hatte er alle Mordassower Ereignisse vergessen und war in den Strudel großstädtischen Lebens – auf der Wassiljeff-Insel und am Galeerenhafen – untergetaucht, hatte gespielt und sich herumgetrieben, doch stets bemüht, mit dem Jahrhundert zu gehen, hatte sich verliebt und angehalten, hatte noch einmal einen Korb verwunden, und noch bevor er damit ganz fertig war, hatte er sich in seinem Leichtsinn und aus Langerweile entschlossen, an einer Expedition teilzunehmen, die in eines der Grenzgebiete unseres grenzenlosen Vaterlandes entsandt wurde, um dort irgend etwas zu revidieren oder zu einem ähnlichen Zweck – genau weiß ich es nicht. Die Expedition durchquerte glücklich alle Urwälder und Wüsten, traf schließlich nach langer Reise in der Hauptstadt des „fernen Grenzgebietes“ wohlbehalten ein und begab sich zum Generalgouverneur. Das war ein strenger General, von großem Wuchs und hager, ein alter Krieger mit vielen Narben, die er sich in Schlachten geholt, mit zwei Sternen auf der Brust und einem weißen Kreuz am Halse. Würdevoll und gemessen empfing er die Expedition und lud darauf alle Vertreter derselben zum Ball ein, der bei ihm am Abend desselben Tages zur Feier des Namenstages der Generalgouverneurin gegeben werden sollte. Mosgljäkoff war sehr zufrieden damit. Er warf sich in seinen tadellosesten Petersburger Ballanzug, in dem er großen Eindruck zu machen gedachte, und betrat in bester Laune mit leichten Schritten den festlich geschmückten Saal, wurde aber sofort etwas bescheidener, als er plötzlich so unerwartet viele Uniformen mit dick-gewundenen goldenen Raupen auf den Achselstücken und ordengeschmückte Staatsröcke vor sich sah. Zuerst mußte er der Frau Generalgouverneurin, von der er gehört hatte, daß sie jung und schön sei, seinen Bückling machen. Er begab sich flott und selbstbewußt zu ihr, doch plötzlich erstarrte er: vor ihm stand Sina in reicher Balltoilette und kostbarem Brillantenschmuck, stolz, schön und hochmütig.

Sie erkannte ihn nicht. Ihr Blick glitt gleichgültig über sein Gesicht und sie wandte sich dann an einen anderen Herrn. Aufs äußerste bestürzt trat Mosgljäkoff zur Seite und stieß dort im Gedränge auf einen jungen Beamten, der vor sich selbst Angst zu haben schien, seitdem er sich auf dem Ball beim Generalgouverneur befand: Mosgljäkoff machte sich sofort daran, ihn auszufragen und so erfuhr er recht interessante Dinge. Zunächst erzählte jener, daß der Generalgouverneur erst vor zwei Jahren geheiratet habe, als er einmal aus dem „fernen Grenzgebiet“ nach Moskau gereist war, und daß seine junge Frau aus einem sehr reichen und vornehmen Hause stamme. Sie sei „wunderbar schön“, ja man könne sie sogar die schönste aller Schönheiten nennen, nur sei sie sehr stolz und tanze nur mit Generälen; – daß auf diesem Ball im ganzen neun Generäle, sowohl hiesige wie angereiste, seien, die wirklichen Staatsräte mit inbegriffen; – daß die Generalgouverneurin eine Mutter habe, die auch hier bei ihr lebe, und daß diese Frau Mutter aus der höchsten Gesellschaft stamme und sehr klug sein müsse; – daß aber selbst die Frau Mutter sich widerspruchslos dem Willen ihrer Tochter unterordne und der Generalgouverneur bis über die Ohren in seine junge Frau verliebt sei. Mosgljäkoff erkundigte sich wohl auch nach Afanassij Matwejewitsch, aber im „fernen Grenzgebiet“ hatte man keine Ahnung von ihm. Wieder etwas zu sich gekommen, ging Mosgljäkoff durch die anstoßenden Zimmer und fand bald auch Marja Alexandrowna, die prächtig aufgeputzt sich mit einem teuren Fächer zufächelte und äußerst lebhaft mit einem der höchsten Würdenträger sprach. Um sie herum hatte sich ein ganzer Kreis gebildet, offenbar Bewerber um ihre Gunst – und sie – sie war zu allen sehr liebenswürdig.

Mosgljäkoff wagte es, sich vorzustellen. Marja Alexandrowna schien im ersten Augenblick etwas zusammenzuzucken, faßte sich aber sofort. Mit liebenswürdigem Lächeln geruhte sie ihn wiederzuerkennen, hierauf erkundigte sie sich nach Petersburger Bekannten und fragte ihn unter anderem auch, weshalb er nicht im Auslande sei. Die Stadt Mordassoff erwähnte sie mit keinem Wort, als wenn sie dieselbe nie gekannt hätte. Nachdem sie dann noch den Namen irgend eines wichtigen Petersburger Fürsten genannt und sich nach seinem Befinden erkundigt hatte – Mosgljäkoff hatte keine blasse Ahnung von dieser Persönlichkeit und inwiefern Marja Alexandrowna mit ihr bekannt sein konnte – wandte sie sich unauffällig an einen auf sie zutretenden Würdenträger, dessen Haupthaar schon silbrig glänzte, und nach einer kleinen Weile hatte sie den vor ihr stehenden Mosgljäkoff vollkommen vergessen. Mit sarkastischem Lächeln, den Hut in der Hand, kehrte er in den großen Ballsaal zurück. Er glaubte sich verletzt und sogar beleidigt und beschloß daher, nicht zu tanzen. Den ganzen Abend behielt er krampfhaft eine finster zerstreute Miene bei, sowie ein beißend teuflisches Lächeln. Malerisch an eine weiße Säule gelehnt – der Saal war wie absichtlich mit Säulen versehen – stand er während des ganzen Balles auf einem Fleck, ohne sich zu rühren und verfolgte nur Sina mit seinen Blicken. Leider aber waren alle seine Anstrengungen, ungewöhnlichen Stellungen, verzweifelten Mienen usw. – vergebliche Liebesmüh: Sina bemerkte ihn überhaupt nicht. So kehrte er denn endlich mit steifen Beinen, schmerzenden Füßen – vom langen Stehen – wütend, gereizt und mit mordsmäßigem Hunger – als Verliebter und Leidender konnte er doch nicht zum Souper bleiben! – wieder in sein Absteigequartier zurück. Er fühlte sich vollkommen erschöpft und gleichsam verprügelt. Lange noch ging er in seinem Zimmer auf und ab, in Gedanken an längst Vergessenes. Am nächsten Morgen mußte auf Grund einer inzwischen eingetroffenen Nachricht jemand von der Expedition abkommandiert werden und Mosgljäkoff bot sich mit Freuden dazu an. Als er die Stadt verließ, atmete er förmlich auf, jetzt erst fühlte er wieder neue Lebensgeister in sich. Auf der ungeheuren flachen Ebene lag der Schnee blendend weiß. Nur fern, fern am Horizont zogen sich wie ein dunkler Strich Wälder hin.

Die feurigen Pferde griffen frisch aus, daß es eine Lust war, und die Hufe schleuderten feste Schneestückchen auf die Schlittendecke.

Das Glockengeläut und Schellengeklingel klang weit durch die klare Winterluft. Mosgljäkoff wurde nachdenklich, schließlich träumerisch und dann schlief er seelenruhig ein. Erst bei der dritten Station erwachte er, frisch und gesund und mit ganz anderen Gedanken.

Die fremde Frau
und der Mann unter dem Bett

I.

Verzeihung, mein Herr, gestatten Sie die Frage ...“

Der Vorübergehende zuckte zusammen und blickte etwas erschrocken einen Herrn in einem Waschbärpelz an, der ihn so ohne weiteres gegen acht Uhr abends auf der Straße anredete. Bekanntlich erschrickt jeder Petersburger, wenn ihn ein Unbekannter auf der Straße plötzlich anredet, auch wenn er es noch so höflich tut.

Also der Vorübergehende zuckte zusammen und erschrak ein wenig.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie belästige,“ fuhr der Herr im Waschbärpelz fort, „aber ich ... ich, wirklich, ich weiß nicht ... Sie werden mich, hoffe ich, entschuldigen ... wie Sie sehen, bin ich etwas aus der Fassung gebracht ...“

Da erst gewahrte der junge Mann in der Pekesche – einem kürzeren Pelzüberrock –, daß der Herr im Waschbärpelz allerdings nichts weniger als gefaßt aussah. Sein runzliges Gesicht war bleich, seine Stimme unsicher, und seine Gedanken schienen sich gänzlich verwirrt zu haben: schnell und unüberlegt stieß er die Worte hervor, und man sah es ihm an, daß es ihm schwer fiel, sich mit einer Bitte an eine dem Rang und der gesellschaftlichen Stellung nach offenbar unter ihm stehende Persönlichkeit zu wenden. Hinzu kam noch, daß diese Bitte an und für sich höchst peinlicher Art war und von einem Herrn, der einen so soliden Pelz, einen so tadellosen dunkelgrünen Frack und so bedeutsame Abzeichen auf diesem Frack trug, zum mindesten befremdend erscheinen mußte. Alles dessen war sich der Herr im Waschbärpelz auch vollkommen bewußt, und es verwirrte ihn so sehr, daß er seinen eigenen Gefühlen nicht widerstehen konnte, seine Aufregung so gut es ging niederzwang und kurz entschlossen der peinlichen Szene, die er selbst heraufbeschworen hatte, ein Ende machte.

„Entschuldigen Sie, ich war mir meiner Handlungsweise nicht ganz bewußt. Aber Sie kennen mich nicht, glauben Sie mir, ich ... Verzeihen Sie, daß ich Sie aufgehalten habe ...“

Damit lüftete er den Hut und entfernte sich schnell.

„Aber ich bitte Sie, es hat nichts zu sagen ...“

Doch der kleine Herr im Waschbärpelz war bereits in der Dunkelheit verschwunden, und dem jungen Mann blieb nichts übrig, als ihm verdutzt nachzusehen.

„Was war das für ein Kauz?“ fragte er sich verwundert, stand noch ein Weilchen und vergaß dann den Vorfall, um sich wieder in seine eigenen Gedanken zu versenken, worauf er von neuem auf der Straße auf und nieder zu gehen begann, ohne dabei die Tür eines endlos hohen Hauses aus dem Auge zu lassen. Es war neblig geworden, was dem jungen Mann eine Sorge vom Herzen nahm, denn im Nebel mußte sein unermüdliches Hin- und Hergehen den Menschen weniger auffallen, abgesehen vielleicht von einem müßigen Droschkenkutscher, der in Ermangelung einer besseren Beschäftigung die Vorübergehenden beobachtete.

„Entschuldigen Sie!“

Der junge Mann zuckte wieder zusammen und sah zu seiner Verwunderung wieder jenen Herrn im Waschbärpelz vor sich stehen.

„Entschuldigen Sie, daß ich nochmals ...“ begann er von neuem, „doch Sie ... Sie sind ganz gewiß ein Ehrenmann! Beachten Sie mich weiter nicht ... ich meine, als Vertreter und Mitglied einer bestimmten Gesellschaftsklasse ... Übrigens war es nicht das, was ich sagen wollte. Aber ... fassen Sie die Sache menschlich auf ... Vor Ihnen, mein Herr, steht ein Mensch, der sich mit einer dringenden Bitte an Sie wenden muß ...“

„Wenn es in meiner Macht steht ... Um was handelt es sich?“

„Sie denken vielleicht, daß ich Sie um Geld bitten will!“ Der geheimnisvolle Herr verzog den Mund zu einem Lächeln, erbleichte und lachte hysterisch auf.

„Aber ich bitte Sie ...“

„Nein, ich sehe, daß ich Ihnen lästig falle! Verzeihen Sie, aber ich kann mich selbst nicht ertragen! Betrachten Sie mich als einen Unzurechnungsfähigen, einen fast Wahnsinnigen, denken Sie aber nicht etwa –“

„Aber zur Sache, zur Sache!“ unterbrach ihn der junge Mann, zwar in aufmunterndem Tone, doch mit merklich ungeduldigem Kopfnicken.

„Ah! Also so sind Sie! Sie – solch ein junger Mann wie Sie – erinnern mich an das Wichtige, ganz als wäre ich ein dummer Junge! Mein Gott, ich muß wirklich den Verstand verloren haben! ... Als was erscheine ich Ihnen jetzt in meiner Erniedrigung, sagen Sie es mir aufrichtig?“

Der junge Mann blickte ihn etwas betreten an, sagte jedoch nichts.

„Erlauben Sie, daß ich Sie ganz offen frage: haben Sie hier nicht eine Dame gesehen? Darin besteht meine ganze Bitte an Sie!“ sagte schließlich der Herr im Waschbärpelz kurz entschlossen.

„Eine Dame?“

„Jawohl, eine Dame.“

„Allerdings ... aber ich muß gestehen, es sind ihrer so viele hier vorübergegangen ...“

„Ganz recht,“ unterbrach ihn der geheimnisvolle kleine Herr mit einem bitteren Lächeln. „Ich bin etwas zerstreut und verwirrt im Kopf, es war nicht das, was ich sagen wollte; ich wollte Sie nur fragen, ob Sie eine Dame in einem Fuchspelz, mit einer Kapuze aus dunklem Samt und einem schwarzen Schleier gesehen haben?“

„Nein, eine solche habe ich nicht gesehen ... nein, ich glaube, eine solche nicht bemerkt zu haben.“

„Ah! dann – entschuldigen Sie!“

Der junge Mann wollte nun seinerseits noch etwas fragen, doch der Herr im Waschbärpelz war bereits wieder verschwunden und sein geduldiger Zuhörer konnte ihm wieder nur verdutzt nachsehen.

„Ach, hol’ ihn der Teufel!“ dachte er schließlich bei sich, zog offenbar ärgerlich seinen Biberkragen fester um den Hals und nahm von neuem den unterbrochenen Spaziergang auf, ohne seine Vorsichtsmaßregeln zu vergessen oder die Tür des endlos hohen Hauses aus dem Auge zu lassen. Er ärgerte sich.

„Weshalb kommt sie denn noch nicht?“ dachte er. „Bald ist es acht Uhr!“

Da schlug die nächste Turmuhr auch schon acht.

„Ah, zum Teufel, das ist doch! ...“

„Entschuldigen Sie! ...“

„Verzeihen Sie, daß ich Sie so ... Aber Sie kamen mir so plötzlich vor die Füße, daß ich geradezu erschrak,“ entschuldigte sich der junge Mann, doch klang es diesmal schon fast unwirsch.

„Ich wende mich wieder an Sie. Natürlich muß ich Ihnen seltsam erscheinen ...“

„Haben Sie die Güte, sich ohne Umschweife zu erklären. Ich habe bis jetzt noch nicht erfahren können, was Sie eigentlich von mir wünschen ...“

„Ah, Sie haben wohl wenig Zeit? Sehen Sie mal. Ich werde Ihnen alles ganz offen erzählen, ohne ein überflüssiges Wort. Was soll ich tun! Die Umstände bringen bisweilen Menschen zusammen, die, was ihre Charaktere betrifft, im Grunde ganz verschieden sind ... Doch ich sehe, Sie sind ungeduldig, junger Mann ... Also, wie gesagt ... übrigens weiß ich nicht einmal, wie ich mich ausdrücken soll! Kurz, ich suche eine Dame – Sie sehen, ich habe mich schon entschlossen, alles zu sagen. Ich muß, wie gesagt, unbedingt erfahren, oder feststellen, wenn Sie wollen, wohin diese Dame gegangen ist. Wer sie ist, – das, denke ich, wird Sie nicht interessieren, junger Mann.“

„Nun, nun, weiter! weiter!“

„Weiter! Ihr Ton ist ja recht ... Das heißt, verzeihen Sie, vielleicht hat es Sie gekränkt, daß ich Sie ‚junger Mann‘ nannte ... aber ich versichere Ihnen, ich habe nichts ... mit einem Wort, wenn Sie mir einen unermeßlichen Gefallen erweisen wollten, dann also, wie gesagt: diese eine Dame ... das heißt, ich will nur sagen, daß sie eine anständige Dame ist, aus der besten Familie, mit der auch ich bekannt bin ... und da bin ich nun beauftragt ... ich, sehen Sie, ich habe selbst keine Familie ...“

„Nun und?“

„Also versetzen Sie sich in meine Lage, junger Mann! – Ach, wieder! Verzeihen Sie, bitte! Ich nenne Sie immer junger Mann! Jeder Augenblick ist dabei kostbar ... Stellen Sie sich vor, diese Dame ... aber können Sie mir nicht sagen, wer hier in diesem Hause wohnt?“

„Ja ... hier wohnen sehr viele.“

„Ja, das heißt, Sie haben vollkommen recht,“ versetzte schnell der Herr im Waschbärpelz und er lachte kurz auf, wie um die Situation zu retten. „Ich sehe, daß ich mich zu ungenau ausgedrückt habe. Doch weshalb schlagen Sie einen solchen Ton an? Wie Sie sehen, gebe ich doch offenherzig zu, daß ich mich nicht ganz treffend ausgedrückt habe, so daß Sie, wenn Sie ein hochmütiger Mensch wären, mich zur Genüge erniedrigt gesehen hätten ... Ich sage Ihnen, eine Dame von anständigem Lebenswandel, das heißt, nur ‚leichten Inhalts‘ ... Verzeihen Sie, ich bin so verwirrt. Ich rede ja, als spräche ich von Literatur! ... Da hat man sich nämlich jetzt eingeredet, daß Paul de Kocks Romane leichten Inhalts seien, während doch bei seinen Romanen das ganze Malheur, wie gesagt ... nun eben ...“

Der junge Mann blickte mitleidig den Herrn im Waschbärpelz an, der sich schließlich rettungslos verwirrt hatte und ihn mit sinnlosem Lächeln ansah, während seine bebende Hand ohne jeden sichtbaren Grund immer wieder nach dem Aufschlag der Pekesche des anderen griff.

„Sie fragten, wer hier wohnt?“ fragte der junge Mann, ein wenig zurückweichend.

„Ja, Sie haben ja schon gesagt, hier wohnen viele.“

„Hier ... hier wohnt, wie ich zufällig weiß, unter anderen Ssofja Osstafjewna,“ sagte der junge Mann flüsternd und sogar mit einem gewissen Mitgefühl.

„Nun sehen Sie, sehen Sie! Sie wissen unbedingt etwas Näheres, junger Mann!“

„Ich versichere Ihnen, nein, ich weiß nichts ... Ich habe nur so kombiniert, so nach Ihrem verstörten Aussehen ...“

„Ich ... ich habe soeben erst von der Köchin erfahren, daß sie in dieses Haus hier geht; doch Sie sind in Ihrer Vermutung fehlgegangen, das heißt, ich will sagen, sie ist nicht zu Ssofja Osstafjewna gegangen ... sie kennt sie ja gar nicht ...“

„Nicht? Dann entschuldigen Sie ...“

„Man sieht, daß Sie das alles nicht interessiert, junger Mann,“ bemerkte der seltsame Herr mit bitterer Ironie.

„Hören Sie mal,“ begann der junge Mann etwas unsicher, „ich kenne allerdings nicht die Ursache Ihrer gegenwärtigen ... Verfassung, aber sagen Sie doch offen: Sie sind wohl hintergangen worden, nicht?“

Der junge Mann lächelte verständnisvoll.

„... Wir werden uns dann wenigstens schneller verstehen,“ fügte er lächelnd hinzu und seine ganze Gestalt verriet die großmütige Bereitwilligkeit, sogleich eine leichte Verbeugung zu machen.

„Sie vernichten mich! Aber wissen Sie – ich gestehe Ihnen ganz offen – Sie haben vollkommen erraten, um was es sich – ... Aber wem kann das nicht passieren! ... Ihre Teilnahme rührt mich tief. Unter jungen Leuten, nicht wahr, das werden Sie doch zugeben ... Übrigens bin ich ja nicht mehr ganz jung, aber, wissen Sie, die Gewohnheit, das Junggesellenleben, wie gesagt, unter uns Junggesellen, na, Sie wissen schon ...“

„O, versteht sich, selbstverständlich! Doch womit kann ich Ihnen nun dienen?“

„Ja sehen Sie! Sie werden zugeben, daß ein Besuch bei Ssofja Osstafjewna ... Übrigens weiß ich noch nicht einmal genau, zu wem sich diese Dame begeben hat, ich weiß nur, daß sie sich in diesem Hause befindet. Als ich Sie nun hier auf und ab gehen sah – ich selbst spazierte dort auf jener Seite – dachte ich, wie gesagt ... Sehen Sie, ich erwarte nämlich diese Dame ... ich weiß, daß sie hier ist – da wollte ich mit ihr zusammentreffen und ihr erklären, ihr vernünftig auseinandersetzen, wie wenig anständig, wie schändlich ... mit einem Wort, wie gesagt – Sie verstehen mich ...“

„Hm! Nun?“

„Ich tue es ja gar nicht für mich! Denken Sie nur nicht etwa ... O nein! Das ist eine ganz fremde Frau! Der Mann steht dort auf der Wosnessenskij-Brücke; er will sie hier überrumpeln, kann sich aber nicht entschließen, – er glaubt eben noch nicht, wie jeder Gatte ...“ Hier machte der Herr im Waschbärpelz wieder einen Versuch, zu lächeln. „Ich bin nur sein Freund. Und nicht wahr, Sie werden mir doch zugeben, daß ich als Mensch, der sich sozusagen einer gewissen, allgemeinen Achtung erfreut, nicht wohl derjenige sein kann, für den Sie mich zu halten offenbar geneigt sind, – das ist doch klar!“

„Selbstverständlich. Nun, und?“

„Also wie gesagt, ich bin hier auf der Lauer, ich bin beauftragt – Sie verstehen – Der arme Mann! Aber ich weiß, daß die listige junge Frau – ewig hat sie einen Paul de Kock unter ihrem Kopfkissen! – ich bin überzeugt, daß sie es doch verstehen wird, irgendwie unbemerkt durchzuschlüpfen ... Mir hat nämlich, offen gestanden, nur die Köchin gesagt, daß sie hierhergehe, und da bin ich denn wie ein Sinnloser hergestürzt, kaum daß sie es ausgesprochen hatte. Ich will ihrer habhaft werden, ich muß es, koste es, was es wolle! Ich habe ja schon längst Verdacht geschöpft. Deshalb wollte ich Sie fragen – Sie gehen hier auf und ab ... Sie ... Sie ... ich weiß nicht, wie ich ...“

„Ja, was denn? Was wünschen Sie zu wissen?“

„Ja ... ja, ja ... Ich, ich habe leider nicht das Vergnügen, Sie zu kennen, und, offen gestanden, ich wage auch gar nicht, eine solche Neugierde zu bekunden, zum Beispiel, ... ich meine ... wer und ... was ... und weshalb ... Jedenfalls aber werden Sie erlauben, daß wir uns, wie gesagt ...“

Und der bebende Herr im Waschbärpelz ergriff die Hand des jungen Mannes und schüttelte sie kräftig und mit glühender Aufrichtigkeit.

„Freut mich, freut mich! Das hätte ich eigentlich sogleich tun sollen,“ fuhr er erregt fort, „aber man ist mitunter so zerfahren, daß man alles vergißt!“

Der Herr konnte vor Unruhe keinen Augenblick still stehen, blickte nach links, nach rechts, trat von einem Bein aufs andere, fast zappelnd vor Ungeduld, und griff, wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm, fortwährend nach einem Knopf oder einem Aufschlag der Pekesche des jungen Mannes.

„Sehen Sie mal,“ fuhr er fort, „ich wollte mich in voller Freundschaft an Sie wenden – verzeihen Sie die Freiheit – und wollte Sie bitten: könnten Sie nicht dort in jener Straße, an der anderen Seite des Hauses, wo sich der hintere Ausgang befindet, promenieren, so, wissen Sie, hin und her? Und ich – ich werde dasselbe tun, bloß hier, vor dem Haupteingang, damit sie nicht unbemerkt durchschlüpfen kann – verstehen Sie? Ich fürchte nämlich die ganze Zeit, sie könne vielleicht doch unbemerkt durchschlüpfen. Das aber darf auf keinen Fall geschehen. Und Sie, sobald Sie sie erblicken – rufen Sie mich schnell, schreien Sie und halten Sie sie auf ... Doch was sage ich! ich bin verrückt! Jetzt erst begreife ich die ganze Dummheit und Unanständigkeit meines Vorschlages!“

„Nein, wieso! Ich bitte Sie! ...“

„Nein, nein, versuchen Sie nicht, mich zu entschuldigen. Ich bin unzurechnungsfähig, ich ... ich kann meine Gedanken nicht mehr zusammenhalten! Das ist mir so noch nie passiert! Es ist, als hätte ich mein Todesurteil vernommen! Ich will Ihnen sogar gestehen – ich bin ganz offen und ehrlich mit Ihnen, junger Mann – ja, ich habe anfangs Sie für den Liebhaber gehalten!“

„Sie wollen also, einfach ausgedrückt, wissen, was ich hier tue?“

„Aber mein Bester, Verehrtester, der Gedanke sei mir fern, daß Sie der Betreffende sein könnten! Es sei, wie gesagt, fern von mir, Sie auch nur in Gedanken mit einem solchen Verdacht zu ... Aber ... aber können Sie mir Ihr Ehrenwort darauf geben, daß Sie kein Liebhaber sind? ...“

„Nun, gut: mein Ehrenwort, daß ich ein Liebhaber bin, nur nicht derjenige Ihrer Frau; anderenfalls wäre ich jetzt nicht auf der Straße, sondern bei ihr, wie Sie wohl zugeben werden.“

„Meiner Frau? Wer hat Ihnen das gesagt, junger Mann? Ich bin unverheiratet, bin, wie gesagt, Junggeselle, ich ... das heißt, nun ja ... ich bin selbst ein Liebhaber ...“

„Sie sagten, der Gatte ... warte dort auf der Brücke ...“

„Gewiß, gewiß – wenn ich es schon gesagt habe? Aber sehen Sie, es gibt noch andere ... Verwicklungen! Und Sie werden mir doch zugeben, junger Mann, daß eine gewisse Leichtfertigkeit, namentlich wenn sie beiden Charakteren eigen ist, das heißt, ich meine ...“

„Schon gut, schon gut, aber um was ...“

„Das heißt, ich bin durchaus nicht der Gatte ...“

„Ganz recht, das haben Sie schon gesagt. Aber jetzt bitte ich Sie, nachdem ich Sie beruhigt habe, auch mir Ruhe zu gönnen, und damit Ihnen das leichter wird, verspreche ich Ihnen nochmals, Sie sogleich zu rufen. Doch jetzt werden Sie wohl die Güte haben, sich zurückzuziehen und mir den Weg gefälligst frei zu geben. Ich warte nämlich gleichfalls.“

„O, bitte, bitte, sofort, sofort werde ich mich entfernen! Ich kann Ihnen die leidenschaftliche Ungeduld Ihres Herzens nur zu gut nachfühlen. Ich verstehe das, junger Mann. O, wie gut ich Sie jetzt verstehe!“

„Ja, was ...“

„Auf Wiedersehen! ... Übrigens, verzeihen Sie, junger Mann, ich komme wieder zu Ihnen ... Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... Geben Sie mir noch einmal Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht der Liebhaber sind!“

„Herr des Himmels! ...“

„Nur noch eine Frage, die letzte: ist Ihnen der Familienname des Mannes Ihrer ... das heißt, ich wollte sagen, derjenigen bekannt, für die Sie sich interessieren?“

„Selbstverständlich ist er mir bekannt, jedenfalls ist es nicht der Ihrige. Doch jetzt basta!“

„Aber woher kennen Sie denn meinen Namen?“

„Hören Sie, ich gebe Ihnen einen Rat: machen Sie, daß Sie davon kommen. So verlieren Sie nur Ihre Zeit und sie kann inzwischen tausendmal unbemerkt aus dem Hause schlüpfen ... Was wollen Sie denn noch? Die, die Sie suchen, ist in einem Fuchspelz und trägt einen Kapotthut, und die, die ich suche, hat einen karierten Umwurf und ein hellblaues Samthütchen ... Was wollen Sie mehr?“

„Ein hellblaues Samthütchen! Aber sie hat ja gleichfalls einen karierten Umwurf und ein solches Hütchen!“ rief der lästige Herr bestürzt aus, der plötzlich wie angewurzelt vor dem jungen Manne stand.

„Ach, der Teufel! Na ja, das nennt man eben Zufall, mein Herr, so etwas kommt vor. Doch wozu rege ich mich auf! – Die, die ich erwarte, pflegt ja nicht dorthin zu gehen!“

„Aber wo ist sie denn jetzt – diejenige, die Sie erwarten?“

„Interessiert Sie das?“

„Offen gestanden, ich habe nichts anderes ...“

„Pfui, Teufel! Sie haben ja, weiß Gott, überhaupt kein Schamgefühl! Na, zum Kuckuck, ich will es Ihnen sagen: die, die ich erwarte, hat hier Bekannte in diesem Hause, im dritten Stockwerk des Vorderhauses. So, und was wollen Sie jetzt noch wissen? Jetzt fehlte nur noch, daß Sie auch die Namen zu hören wünschen!“

„Mein Gott! Auch ich habe Bekannte im dritten Stockwerk, hier im Vorderhause ... General ...“

„General? ...“

„Jawohl, ein General. Ich kann Ihnen, wenn Sie wollen, auch sagen, welch ein General ... es ist General Polowizyn.“

„Da haben wir’s! – Nein, der ist es nicht!“ versetzte er schnell gefaßt – im geheimen aber fluchte er ganz gotteslästerlich:

„Ach, der Teufel! da schlag’ doch der Henker drein!“

„Nicht die?“

„Nein.“

Beide schwiegen plötzlich und starrten verständnislos einander an.

„Na, zum ... was starren Sie mich denn so an?“ fuhr plötzlich der junge Mann auf, ärgerlich die Starrheit von sich abschüttelnd.

Der Herr im Waschbärpelz wurde unruhig.

„Ich, ich, offen gestanden ...“

„Nein, erlauben Sie mal, jetzt lassen Sie uns vernünftig reden. Die Sache geht uns beide an. Erklären Sie mir: wen haben Sie dort?“

„Das heißt, Sie meinen meine Bekannten?“

„Ja, Ihre Bekannten ...“

„Nun sehen Sie, sehen Sie! Ich sehe es ja Ihren Augen an, daß ich es erraten habe!“

„Teufel! Aber nein doch, nein! Hol’s der Teufel! Sind Sie denn etwa blind? Ich stehe doch leibhaftig vor Ihnen, also kann ich doch nicht bei ihr sein. Aber jetzt reden Sie endlich! Übrigens hol’s der Teufel, mir ist es schließlich auch gleichgültig, ob Sie reden oder nicht!“

Und der junge Mann drehte sich wütend auf dem Absatz um, schlug mit der Hand eine bezeichnende Gebärde und stampfte sogar mit dem Fuß auf.

„Ja, aber, ich sage ja nichts, ich bitte Sie, ich bin gern bereit, Ihnen als einem Ehrenmanne alles zu erzählen: anfangs ging meine Frau allein zu ihnen – sie ist mit ihnen verwandt, müssen Sie wissen – und ich ahnte natürlich nichts, das heißt, jeder Verdacht lag mir vollkommen fern. Gestern aber traf ich auf der Straße Se. Exzellenz: da mußte ich zu meiner Verwunderung vernehmen, daß sie bereits vor drei Wochen die Wohnung gewechselt hatten, meine Frau aber ... das heißt, was sage ich! – nicht meine Frau, sie ist die Frau eines anderen – der Mann wartet, wie gesagt, dort auf der Wosnessenskij-Brücke. Diese Dame also hat aber gesagt, daß sie noch vor zwei Tagen bei ihnen gewesen sei und zwar hier in dieser Wohnung ... Die Köchin wiederum erzählte mir, daß die Wohnung Sr. Exzellenz ein junger Mann, Bobynizyn mit Namen, gemietet habe ...“

„Ach, der Teufel! ach, der Teufel!“

„Mein Herr, ich bin außer mir, ich bin entsetzt!“

„Ach, hol’ Sie der Henker! Was geht das mich an, ob Sie außer sich sind oder nur entsetzt! Ach! Da, da schimmerte etwas Helles! Dort! ... Sehen Sie?“

„Wo? wo? Rufen Sie nur ‚Iwan Andrejewitsch‘ und ich komme sofort ...“

„Gut, gut. Ach, der Teufel, so etwas ist mir bisher doch noch nicht vorgekommen, Iwan Andrejewitsch!“

„Hier!“ schrie im Augenblick der Gerufene und kehrte wie der Wind zurück, atemlos vor Schreck und Aufregung. „Was? was? Wo?“

„Nein, diesmal rief ich nur so ... ich wollte bloß wissen, wie diese Dame heißt?“

„Glaf...“

„Glafira ...?“

„Nein, nicht ganz so, nicht gerade Glafira ... verzeihen Sie, aber ich kann Ihnen ihren Namen nicht nennen.“

Der ehrenwerte Mann war bei diesen Worten weiß wie Kalk.

„Nun ja, selbstverständlich heißt sie nicht Glafira, das weiß ich selbst, daß sie nicht Glafira heißt, auch jene heißt nicht Glafira ... Doch übrigens, bei wem ist sie denn dort?“

„Wo?“

„Dort! Herr des Himmels! Da schlag’ doch der Henker drein!“

Der junge Mann konnte buchstäblich nicht stille stehn vor Wut.

„Aha! Sehen Sie? Woher wußten Sie denn, daß sie Glafira heißt?“

„Ach, zum Teufel damit! Da hab’ ich nun auch Sie noch auf dem Halse! Aber Sie sagen doch selbst, daß diejenige, die Sie suchen, nicht Glafira heißt! ...“

„Mein Herr, welch ein Ton!“

„Ach, zum Teufel, jetzt ist es mir wohl gerade um den Ton zu tun! Was ist sie denn? – Ihre Frau etwa?“

„Nein, das heißt ... ich bin unverheiratet ... Nur finde ich es anstößig, so einem unglücklichen Menschen, so einem Menschen, der – ich will nicht sagen: der jeder Achtung wert ist, aber zum mindesten doch so einem wohlerzogenen Menschen nach jedem Wort ‚hol’s der Teufel‘ zu sagen. Von Ihnen aber hört man ja überhaupt nichts anderes als ‚hol’s der Teufel, hol’s der Teufel‘!“

„Nun, ja, schon gut, hol’s der Teufel! Na, da haben Sie es wieder, freuen Sie sich darüber!“

„Sie sind vom Zorn geblendet und deshalb schweige ich. Mein Gott, wer ist das?“

„Wo?“

Sie hörten Geräusch und Lachen, zwei schmutzig gekleidete Mädchen traten aus dem Hause. Beide Herren stürzten ihnen entgegen.

„Nein! So sehen Sie doch! ...“

„Was wollen Sie?“

„Nein, das ist sie nicht!“

„Was, seid nicht auf die Bewußten gestoßen? – He! Droschke!“

„Wohin will sie denn, Fräulein?“

„Steige ein, Annuschka, ich werde dich hinbringen.“

„Ich muß aber dorthin, in jene Gegend. Fahr los! Aber daß du schnell fährst ...“

Die Droschke fuhr davon.

„Woher mögen die gekommen sein?“

„Herr des Himmels! Das ist ja, um ... Aber sollte man nicht hingehen?“

„Wohin?“

„Zu Bobynizyn, wohin denn sonst! ...“

„Nein, das geht nicht ...“

„Weshalb nicht?“

„Ich würde natürlich gehen, aber dann sagt sie etwas anderes, sie ... würde den Spieß umdrehen; ich kenne sie! Sie würde sagen, daß sie absichtlich gekommen sei, um mich bei irgend einer zu überraschen und damit würde sie alles mir in die Schuhe schieben.“

„Und dabei zu wissen, daß sie vielleicht dort ist! Ja aber, hören Sie – ich weiß nicht – aber weshalb schließlich nicht den Versuch riskieren? Hören Sie, gehen Sie zum General ...“

„Aber der wohnt doch nicht mehr hier!“

„Gleichviel! – begreifen Sie denn nicht? Sie ist doch hingegangen, und Sie gehen gleichfalls hin – verstehen Sie? Tun Sie, als wüßten Sie nichts von seinem Wohnungswechsel, als wollten Sie nur auf einen Augenblick bei ihm vorsprechen, um Ihre Frau abzuholen, nun und so weiter!“

„Und dann?“

„Nun und dann ertappen Sie eben wen Sie wollen bei Bobynizyn. Pfui Teufel, ist das aber ein Rüp...“

„Ja, aber was haben Sie denn davon, wenn ich dort jemanden ertappe? Sehen Sie, sehen Sie!“

„Was, was? Kommen Sie wieder damit? Ach du Grundgütiger! Haben Sie denn schon jegliches Schamgefühl verloren, Sie ...“

„Ja, aber weshalb regen Sie sich denn deshalb so auf? Offenbar wollen Sie wissen ...“

„Was? was will ich wissen? was? Ach nun, zum Teufel mit Ihnen, jetzt ist’s mir nicht um Sie zu tun! Ich kann auch allein gehen, gehen Sie, gehen Sie fort, bewachen Sie dort den Ausgang, laufen Sie, nun, aber schnell!“

„Mein Herr, Sie vergessen sich fast!“ rief der Herr im Waschbärpelz verzweifelt.

„Was? Was liegt daran, daß ich mich vergesse?“ fragte der junge Mann durch die Zähne, in seiner Wut mit geballter Faust auf den Herrn im Waschbärpelz eindringend. „Nun, was? Wem gegenüber vergesse ich mich?!“ knirschte er zornbebend.

„Aber, mein Herr, erlauben Sie ...“

„Nun, wer sind Sie, dem gegenüber ich mich vergesse, wer, wie ist Ihr Name?“

„Ich weiß nicht, ich ... wie ich das nennen soll, junger Mann. Wozu denn meinen Namen? ... Ich, ich kann es nicht ... Ich werde lieber mit Ihnen gehen. Also gehen wir, ich werde nicht zurückbleiben, ich bin zu allem bereit ... Nur, glauben Sie mir: ich habe wirklich höflichere Ausdrücke verdient! Man soll sich nie die Geistesgegenwart nehmen lassen. Wenn Sie aber durch irgendeinen Umstand aus der Fassung gebracht sind – und ich errate die Ursache – so brauchen Sie sich deshalb noch nicht zu vergessen ... Sie sind noch ein sehr, sehr junger Mann ...!“

„Eh, was geht das mich an, daß Sie alt sind! Machen Sie, daß Sie fortkommen, was laufen Sie hier herum? ...“

„Wieso, inwiefern bin ich denn alt? Ich bin doch noch gar nicht so alt! Allerdings, daß ich es schon weit gebracht habe, aber ... aber ich laufe durchaus nicht hier herum ...“

„Das sieht man, weiß Gott. So packen Sie sich zum Teufel ...“

„Nein, es bleibt dabei, daß ich mit Ihnen gehe; das können Sie mir nicht verbieten; ich bin gleichfalls beteiligt; ich gehe mit Ihnen ...“

„Aber dann still, ganz leise, schweigen Sie! ...“

Sie traten ins Haus und stiegen die Treppe hinauf zum dritten Stockwerk. Es war ziemlich dunkel.

„Warten Sie! Haben Sie Streichhölzer?“

„Streichhölzer? Was für Streichhölzer?“

„Zum ... rauchen Sie keine Zigaretten?“

„Ach, ja! Gewiß habe ich, hier, hier sind sie, sogleich ...“ Der Herr im Waschbärpelz befühlte hastig alle seine Taschen.

„Teufel, das ist aber ein ... Ich glaube, diese Tür muß es sein ...“

„Ja, ja, ja, diese – diese – diese – diese ...“

„Diese – diese – diese – schreien Sie doch noch lauter! Können Sie denn nicht still sein? Halten Sie den Schnabel.“

„Mein Herr, ich bin an so etwas nicht gewöhnt, ich, ich muß mir Gewalt antun ... Sie sind ein ungezogener, frecher Mensch!“

Das Streichholz flammte zischend auf.

„Da, sehen Sie? Das Metallschildchen? Da steht ja: Bobynizyn; sehen Sie: Bobynizyn? ...“

„Ich sehe, ich sehe!“

„Lei–se! Was, ausgelöscht?“

„Ja, ausgelöscht.“

„Soll man klopfen?“

„Ja,“ entschied der Herr im Waschbärpelz.

„Dann klopfen Sie!“

„Nein, weshalb denn ich? Fangen Sie an, pochen Sie zuerst an die Tür.“

„Memme!“

„Sie sind selbst eine Memme!“

„So packen Sie sich doch!“

„Ich muß sagen, ich bereue es fast, Sie in das Geheimnis eingeweiht zu haben. Sie ...“

„Ich? Nun, was?“

„Sie haben meine Verstörtheit ausgenutzt, Sie haben gesehen, wie ich ...“

„Ach, zum Teufel damit! Ich finde Sie nur lächerlich und damit basta!“

„Weshalb sind Sie denn hier?“

„Und Sie? weshalb sind Sie denn hier?“

„Das ist mir mal eine schöne Moral!“ versetzte höchst unwillig der Herr im Waschbärpelz.

„Was reden Sie von Moral – was sind Sie denn selbst?“

„Sehen Sie, das ist eben unmoralisch von Ihnen!“

„Was?“

„Ja, Ihrer Meinung nach ist jeder beleidigte Gatte ein ... ein Pantoffelheld!“

„Sind Sie denn ein Gatte? Der Gatte wartet doch dort auf der Brücke? Weshalb regen Sie sich denn so auf? Weshalb mischen Sie sich überhaupt in fremde Angelegenheiten?“

„Mir aber will es scheinen, daß gerade Sie der Liebhaber sind! ...“

„Hören Sie, wenn Sie so fortfahren, muß ich gestehen, daß meiner Überzeugung nach kein anderer – Pantoffelheld sein kann, als gerade Sie! Es gibt aber auch noch eine andere Benennung dafür.“

„Das heißt, Sie wollen sagen, daß ich der Mann bin!“ versetzte der Herr im Waschbärpelz wie mit heißem Wasser übergossen und unwillkürlich einen Schritt zurückweichend.

„Ssst! Schweigen Sie! Hören Sie? ...“

„Das ist sie!“

„Nein!“

„Wie dunkel es hier ist.“

Auf der Treppe wurde es mäuschenstill. Aus der Wohnung Bobynizyns ließ sich allerdings Geräusch vernehmen.

„Weshalb sollen wir uns streiten, mein Herr?“ flüsterte der Kleine im Waschbärpelz.

„Ja, zum Teufel, Sie haben sich doch als erster beleidigt gefühlt!“

„Aber wie haben Sie mich auch behandelt!“

„Schweigen Sie!“

„Sie müssen mir doch zugeben, daß Sie ein noch sehr junger Mann sind ...“

„Schweigen Sie! zum ...“

„Gewiß, ich bin mit Ihrer Auffassung vollkommen einverstanden, daß der Gatte in einer solchen Lage ein Pantoffelheld ist ...“

„Aber, so schweigen Sie doch endlich! verflucht noch einmal!“

„Aber weshalb denn diese boshafte Verfolgung des unglücklichen Gatten? ...“

„Das ist sie!“

Doch in dem Augenblick verstummte das Geräusch.

„Ist sie es?“

„Ja, sie ist es! Aber weshalb regen Sie sich denn so auf? Was geht das Sie als fremden Menschen an?“

„Mein Herr, mein Herr!“ stammelte der Kleine im Waschbärpelz mit versagender, erstickender Stimme, aus der es fast wie ein Schluchzen klang. „Ich ... versteht sich, in der Verstörtheit ... Sie haben mich zur Genüge erniedrigt gesehen; doch jetzt ist es Nacht, aber morgen ... übrigens werden wir uns morgen sicherlich nicht wiedersehen, obschon ich mich nicht zu fürchten brauche, Ihnen zu begegnen – und übrigens bin ja gar nicht ich es, es ist nur mein Freund, wie gesagt, der auf der Wosnessenskij-Brücke wartet. Wirklich, Sie können mir glauben! Das ist seine Frau, wie gesagt, nicht meine Frau. Der arme Mensch! Ich ... ich versichere Ihnen! Ich bin sehr gut mit ihm bekannt; erlauben Sie, ich werde Ihnen alles erzählen. Ich bin sein Freund, wie Sie sehen, denn – würde ich anderenfalls so lebhaften Anteil an seinem Unglück nehmen? Und Sie sehen doch! – Ich habe ihm ja selbst gesagt, unzählige Mal gesagt: wozu heiratest du? Bist du nicht ein ehrenwerter Mensch, bist du nicht wohlhabend, bekleidest du nicht einen angesehenen Posten, weshalb also willst du das alles gegen die Launen einer Koketten eintauschen? oder zum mindesten doch aufs Spiel setzen? Hab ich nicht recht? Nein, aber, – ich heirate, sagt er, ich will Familienglück ... Da hat er jetzt sein Familienglück! Zuerst hatte er selbst Ehemänner betrogen, jetzt aber kam die Reihe an ihn, den Kelch zu leeren. Sie werden mich entschuldigen, diese Erklärungen hat mir nur die Notwendigkeit entrissen! ... Er ist ein unglücklicher Mensch, der jetzt selbst den Kelch leeren muß ...“

Hier begann die Stimme des Herrn im Waschbärpelz zu versagen und der junge Mann hörte so etwas wie ein Schluchzen, als ob sein Gefährte allen Ernstes zu weinen begonnen.

„Ach, daß der Teufel sie alle holte! Es gibt doch wahrlich genug Dummköpfe in der Welt! Wer sind Sie denn eigentlich?“

Der junge Mann knirschte vor Wut.

„Nein, das müssen Sie zugeben, das geht nicht ... ich handelte edel und offen ... Sie aber schlagen jetzt wieder einen solchen Ton an!“

„Nun, verzeihen Sie, – wie lautet denn Ihr werter Familienname?“

„Nein, wozu, was hat das hier mit dem Familiennamen zu schaffen?“

„Ah!!“

„Es ist mir ganz unmöglich, meinen Namen zu nennen ...“

„Kennen Sie Herrn Schabrin?“ fragte plötzlich der junge Mann.

„Schabrin!!!“

„Ja, Schabrin! Ah!!!“ Der junge Mann erlaubte sich, die Stimme des älteren ein wenig nachzuäffen. „Haben Sie jetzt begriffen?“

„Nein, wieso, was für ein Schabrin?“ stotterte mit hervorquellenden Augen der Herr im Waschbärpelz. „Durchaus nicht Schabrin! Er ist ein Ehrenmann, ich kenne ihn zufällig! Und Ihre Unhöflichkeiten kann ich mir nur durch Ihre Eifersucht erklären, die Sie vollkommen unzurechnungsfähig macht.“

„Ein Spitzbube ist er, aber kein Ehrenmann, eine käufliche Seele, ein Prozentschneider, ein Betrüger, der die Kasse bestohlen hat! Bald wird er vors Gericht gebracht werden!“

„Entschuldigen Sie,“ sagte der Herr im Waschbärpelz, der bleich geworden war, „Sie kennen ihn nicht; wie ich sehe, muß er Ihnen vollkommen unbekannt sein.“

„Freilich, persönlich kenne ich ihn nicht, dafür kenne ich aber um so besser das Wesen seiner werten Person aus gewissen ihm sehr nahestehenden Quellen.“

„Mein Herr, aus welchen Quellen? Ich bin ... so zerstreut, wie Sie sehen ...“

„Ein Esel! Ein Dummkopf erster Sorte! Ein eifersüchtiger Pantoffelheld, der seine Frau nicht zu bewachen versteht – das ist er! Finden Sie sich damit ab, daß Sie jetzt erfahren haben, was er ist!“

„Ich bitte um Entschuldigung, aber Sie täuschen sich in Ihrem Eifer, junger Mann ...“

„Ach!“

„Ach!“

In der Wohnung Bobynizyn ließ sich wieder Geräusch vernehmen. Die Tür wurde aufgeschlossen, Stimmen wurden laut.

„Ach, das ist nicht sie, nein, das ist sie nicht! Ich erkenne ihre Stimme! Jetzt habe ich alles erfahren! ... Glauben Sie mir, das ist sie nicht!“ versicherte der Herr im Waschbärpelz fast beschwörend, während sein Gesicht so weiß wie die Wand hinter ihm wurde.

„Schweigen Sie!“

Der junge Mann drückte sich in den Winkel, um nicht gesehen zu werden.

„Mein Herr, ich eile: sie ist es nicht, das freut mich sehr.“

„Nun, nun, dann machen Sie, daß Sie fortkommen, gehen Sie!“

„Aber weshalb bleiben Sie denn hier?“

„Weshalb gehen Sie denn nicht?“

Die Tür wurde aufgemacht und der Herr im Waschbärpelz eilte wie der Blitz die Treppe hinab.

Am jungen Mann gingen ein Herr und eine Dame vorüber und sein Herz drohte stille zu stehen ... Er vernahm nur eine helle, bekannte Frauenstimme und dann eine rauhe Männerstimme, die ihm jedoch ganz unbekannt war.

„Das hat nichts auf sich, ich werde einen Schlitten nehmen,“ sagte die rauhe Stimme.

„Ach, nun ja, dann ja; gut, ich willige ein ...“

„Er wird bereits vor der Tür halten. Im Augenblick.“ Und damit verschwand der Herr. Die Dame blieb allein zurück.

„Glafira! Wo sind deine Schwüre?“ rief der junge Mann in der Pekesche, die Dame am Handgelenk fassend.

„Ach! Wer ist das? Sind Sie es? Sie, Tworogoff? Mein Gott im Himmel! Was tun Sie hier?“

„Wer war jener Herr?“

„Aber das ist ja doch mein Gemahl, gehen Sie, gehen Sie, er wird sogleich zurückkehren ... von Polowizyns. So gehen Sie doch fort, um Gottes willen, gehen Sie!“

„Polowizyns sind aus dieser Wohnung schon vor drei Wochen ausgezogen! Ich weiß alles!“

„Ach!“ Und damit eilte die Dame so schnell sie konnte die Treppe hinab. Der junge Mann holte sie aber doch noch ein.

„Wer hat es Ihnen gesagt?“ fragte die Dame.

„Ihr Herr Gemahl, meine Gnädigste, Iwan Andrejewitsch, der sich hier in nächster Nähe befindet, der – vor Ihnen steht, meine Gnädigste ...“

Iwan Andrejewitsch – so hieß der Herr im Waschbärpelz – stand in der Tat auf der Treppe dicht vor seiner Gemahlin.

„Ach, das sind Sie?“ rief der Herr Gemahl.

„Ah, c’est vous?“ rief Glafira Petrowna, die mit ungefälschter Freude zu ihm stürzte. „O Gott! Was mir alles zugestoßen ist! Ich war bei Polowizyns; und kannst du dir vorstellen ... du weißt, sie wohnen jetzt an der Ismailoff-Brücke; ich sagte es dir, weißt du noch? Und dort stieg ich in einen Schlitten. Die Pferde scheuten, jagten dahin, zerschmetterten den Schlitten und ich wurde, keine hundert Schritt von hier, in den Schnee geschleudert; der Kutscher wurde aufs Polizeibureau gebracht; ich war natürlich außer mir. Zum Glück kam da Monsieur Tworogoff ...“

„Was?“

Mr. Tworogoff glich eher Loths Weib, nachdem es zur Salzsäule geworden, als Herrn Tworogoff.

„Mr. Tworogoff erblickte mich hier und war so liebenswürdig, mich zu begleiten. Doch jetzt sind Sie hier, da kann ich mit Ihnen zu uns nach Hause fahren, und Sie, Mr. Tworogoff, erlauben wohl, daß ich Sie meiner ganzen Dankbarkeit versichere.“

Und damit reichte die Dame dem immer noch erstarrten Herrn Tworogoff die Hand, die sie aber so stark drückte, daß er fast aufgeschrien hätte.

„Mr. Iwan Iljitsch Tworogoff!“ stellte sie ihn ihrem Gatten vor. „Ein Bekannter von mir. Ich hatte das Vergnügen, ihn auf dem letzten Ball bei Skorlupoffs kennen zu lernen, – ich glaube, daß ich dir von ihm schon erzählt habe? Entsinnst du dich nicht, Coco?“

„Ach, aber gewiß, gewiß, mein Kind! Sehr gut entsinne ich mich!“ versicherte eilfertig der Herr im Waschbärpelz, der Coco genannt worden war. „Freut mich, freut mich ungemein!“

Und er drückte in aufrichtiger Freude die Rechte des Herrn Tworogoff.

„Mit wem reden Sie denn da? Was hat denn das zu bedeuten? Ich warte ...“ ertönte plötzlich eine rauhe Stimme.

Vor der Gruppe stand plötzlich ein endlos langer Herr, der ein Lorgnon hervorzog und den Herrn im Waschbärpelz aufmerksam zu betrachten begann.

„Ach, voilà Mr. Bobynizyn!“ rief die Dame in den süßesten Tönen. „Woher kommen Sie denn, wenn man danach fragen darf? Das nenne ich eine Begegnung! Denken Sie sich, mich haben die Pferde soeben aus dem Schlitten geworfen ... Doch hier mein Mann! Jean! Mr. Bobynizyn, den ich auf dem Ball bei Karpoffs kennen gelernt habe.“

„Ah, sehr, sehr, sehr angenehm! ... Ich werde sogleich ein Gefährt besorgen, mein Kind.“

„Ja, ja, tu’ es, Jean, tu’ es. Ich zittere noch, ich bebe von dem Schreck. Mir ist gar nicht wohl ... Heute abend auf dem Maskenball,“ flüsterte sie schnell Tworogoff zu ... „Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Herr Bobynizyn! Wir werden uns doch wohl morgen auf dem Ball bei Karpoffs wiedersehen?“

„Nein, pardon, ich werde dort nicht zu finden sein; ich werde morgen ... wenn es jetzt nicht geht ...“ brummte Herr Bobynizyn undeutlich zwischen den Zähnen, so daß der Nachsatz nicht zu verstehen war, machte mit seinem Riesenstiefel einen Kratzfuß, setzte sich in seinen Schlitten und fuhr von dannen.

Da fuhr schon ein zweites Gefährt vor: die Dame setzte sich hinein, doch der Herr im Waschbärpelz zögerte mit dem Einsteigen. Wie es schien, war er noch nicht recht fähig, eine Bewegung zu machen und mit völlig sinnlosem Blick sah er unverwandt den jungen Mann in der Pekesche an, worauf dieser nichts als ein Lächeln zur Erwiderung hatte, ein Lächeln, das auffallend wenig geistreich war.

„Ich weiß nicht ...“

„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben,“ versetzte der junge Mann mit einem leichten Bückling, gewissermaßen um vorzubeugen, da er plötzlich so etwas wie einen Schreck oder wie Furcht verspürte, wie sie Gewissensbisse hervorzurufen pflegen ...

„Freut mich, freut mich sehr ...“

„Sie haben, glaube ich, eine Galosche verloren ...“

„Ich? Ach, richtig! Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! Ich habe mir immer Gummigaloschen anschaffen wollen ...“

„In Gummigaloschen sollen aber die Füße transpirieren, sagt man,“ bemerkte der junge Mann, allem Anschein nach mit unbegrenzter Teilnahme.

„Jean! So komm doch endlich!“

„Ganz recht, sie sollen transpirieren, wie man hört. Sogleich, sogleich, Herzchen, im Augenblick, wir haben hier nur ein Gespräch zu beenden! Ja, gerade wie Sie zu bemerken beliebten: die Füße transpirieren ... Übrigens, verzeihen Sie, ich ...“

„O, ich bitte!“

„Freut mich, freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben ...“

Der Herr im Waschbärpelz setzte sich neben seine Gemahlin in den verdeckten Schlitten. Die Pferde griffen aus.

Der junge Mann aber stand noch lange unbeweglich und blickte dem entschwundenen Paare verwundert nach.

II.

Am Abend des nächsten Tages fand in der „Italienischen Oper“ irgendeine Aufführung statt. Der Saal war bereits brechend voll und der erste Akt hatte schon begonnen, als plötzlich noch jemand mit größter Geschwindigkeit eintrat und wie eine Rakete zu seinem Platz schoß. Dieser jemand war Iwan Andrejewitsch, der Besitzer jenes Waschbärpelzes. Noch nie hatte man ihm ein so großes Verlangen nach Musik angemerkt, wie er es jetzt offenkundig zur Schau trug. Das war aber um so befremdender, als man die Vorliebe Iwan Andrejewitschs, sich im Saale der „Italienischen Oper“ ein Stündchen von Gott Morpheus in den Armen wiegen zu lassen und sein Wohlbehagen in diesen Armen durch mehr oder minder vernehmbares Schnarchen zu bekunden, allgemein seit Jahren kannte. Auch hatte man ihn oft genug sagen hören, wie schön es sei, im Traum die Primadonna „so zärtlich wie ein weißes Kätzchen miauen zu wissen, ohne durch das Wiegenlied gestört zu werden“. Doch es war eigentlich schon lange her, daß er das gesagt hatte, mindestens ein halbes Jahr, wenn nicht länger. Jetzt war alles anders geworden! Jetzt konnte Iwan Andrejewitsch nicht einmal mehr nachts zu Hause in seinem Bette schlafen ...

Und so kam es denn wie eine Rakete in den Saal geschossen, dieses fast fünfzigjährige graue Männchen – das übrigens doch noch nicht ganz grau war. Mit einem Blick überflog er alle Logen im zweiten Rang, und – o, Entsetzen! Sein Herzschlag setzte aus: sie war hier! Sie saß in einer Loge mit General Polowizyn, dessen Gattin und Schwägerin. Und in derselben Loge befand sich noch der Adjutant des Generals – ein äußerst gewandter und liebenswürdiger Mann – und dann noch ein Herr in Zivil ...

Iwan Andrejewitsch strengte seinen Blick bis zur größtmöglichen Schärfe an, doch – o, Angst und Pein! Dieser Unbekannte in Zivil machte sich hinter dem Rücken des Adjutanten unsichtbar und blieb völlig unkenntlich.

Sie war hier und hatte doch gesagt, daß sie bestimmt nicht hier sein werde!

Gerade diese ... diese Duplizität, die Glafira Petrowna auf Schritt und Tritt an den Tag legte, war es, was den guten Iwan Andrejewitsch vernichtete! Und dieser Jüngling in Zivil, der brachte ihn vollends zur Verzweiflung. Wie ein tödlich Verwundeter sank er in seinen Sessel. Weshalb nur diese Verzweiflung, fragt sich wohl ein jeder? Die Sache war doch sehr einfach ...

Der Sessel, auf den sich Iwan Andrejewitsch in seiner Verzweiflung hatte niedersinken lassen, befand sich dicht an den Parterrelogen und in gerader Linie unter jener Loge, in der seine Frau und General Polowizyn nebst Familie saßen, so daß er zu seinem größten Ungemach nicht einmal sehen konnte, was dort vor sich ging. Wie verständlich ist’s daher, daß die Wut in ihm wie das Wasser in einem Ssamowar kochte! Vom ganzen ersten Akt vernahm er keinen Ton. Man sagt, das Beste an der Musik sei, daß man sie mit jedem beliebigen Gefühl in Einklang bringen könne: wer sich freut, höre Freude aus ihr heraus, der Traurige dagegen Trauer – was will man mehr? Doch in den Ohren Iwan Andrejewitschs begann ein ganzer Sturm zu heulen. Zum Überfluß erschallten noch von allen Seiten so entsetzliche Stimmen, daß er glaubte, sein Herz müsse zerspringen. Endlich war der erste Akt zu Ende. Doch siehe, im Augenblick, als der Vorhang sank, geschah mit unserem Helden etwas so Seltsames, daß die Feder sich fast sträubt, es niederzuschreiben.

Es pflegt bisweilen zu geschehen, daß von der Brüstung einer der höchsten Logen ein Theaterzettel langsam herabfällt. Ist das betreffende Schauspiel langweilig und das Publikum unbeteiligt, so ist ihm damit eine willkommene Zerstreuung geboten. Geradezu teilnahmsvoll verfolgen die Blicke den im Zickzack zurückgelegten Flug des weichen, leichten Papiers, wobei sie mit besonderem Interesse die voraussichtliche Endstation ins Auge fassen, jenes ahnungslose Haupt, über dem buchstäblich das Verhängnis schwebt. Es ist allerdings auch sehr interessant zu beobachten, wie dieser Kopf dann plötzlich erschrickt, wie verwirrt er sich umblicken wird – denn der Betreffende wird im ersten Augenblick ganz unfehlbar betroffen und sehr verwirrt sein. Auch wegen der Operngläser, die die Damen so unvorsichtig auf den Logenbrüstungen liegen lassen, stehe ich jedesmal große Angst aus: ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß sie sogleich und unfehlbar auf irgendjemandes vollständig unvorbereitetes Haupt herabfallen werden.

Doch Iwan Andrejewitsch widerfuhr etwas, das bisher noch keinem Menschen widerfahren oder das wenigstens noch nie beschrieben worden ist. Auf sein ahnungsloses Haupt – das seines Haarschmuckes schon ziemlich beraubt war – fiel kein Theaterzettel. Ich spüre, daß es mir eigentlich recht peinlich ist, das Ereignis wahrheitsgetreu wiederzugeben, denn es ist doch nichts weniger als höflich, zu sagen, daß auf das ehrenwerte, entblößte Haupt des eifersüchtigen und schwer gereizten Iwan Andrejewitsch tatsächlich ein so unmoralischer Gegenstand fiel, wie es z. B. ein süßduftender Liebesbrief ist. Wenigstens fuhr der arme Iwan Andrejewitsch, dessen Haupt alles andere eher als eine solche Überraschung erwartete, so heftig zusammen, als habe er auf seinem ehrenwerten Haupte zum mindesten eine lebende Maus oder ein anderes wildes Tier verspürt.

Daß der Brief ein Liebesbrief war – das sah man ihm nur zu deutlich an. Erstens war er auf zartem, verräterisch duftendem Papier geschrieben und zweitens war das Format so klein, daß eine Dame ihn in ihrem Handschuh hätte verbergen können. Gefallen war er offenbar während der Übergabe, vielleicht beim Überreichen eines Theaterzettels, unter dem der Brief geschickt und schnell verborgen worden war. Vielleicht war auch nur eine unbeabsichtigte Bewegung des Adjutanten die Ursache gewesen, daß der Brief aus dem Theaterzettel heraus fiel, bevor der Empfänger ihn bemerken und verbergen konnte. Jedenfalls erhielt der Jüngling in Zivil nur den Theaterzettel, mit dem er dann entschieden nichts anzufangen wußte. Fürwahr, eine höchst unangenehme Situation, doch muß man zugeben, daß die Lage Iwan Andrejewitschs noch um ein Bedeutendes unangenehmer war.

C’est prédestiné,“ murmelte er, indes kalter Schweiß ihm aus den Poren trat und er den kleinen Brief krampfhaft in der Hand zusammenpreßte, als wenn ihm jemand das Kleinod hätte entreißen wollen, „prédestiné! Die Kugel wird den Schuldigen finden!“ zuckte es durch seine Gedanken. „Nein, das ist nicht das Richtige! Was habe ich verbrochen, daß ich mein Leben aufs Spiel setzen soll?“ überlegte er sofort weiter und ein Gedanke verdrängte den anderen. Doch wer vermag all die Gedanken aufzuzählen, die ein Gehirn nach solch einer Erschütterung gebiert!

Iwan Andrejewitsch saß vorläufig regungslos, als wäre er in der Tat das gewesen, was er zu sein schien: weder tot noch lebendig. Er war überzeugt, daß das ganze Publikum sein lächerliches Unglück bemerkt hatte, obschon gerade in dem Augenblick der Vorhang unter schallendem Applaus gefallen war und ein wahrer Sturm die Primadonna hervorrief. Doch er war so verwirrt und verlegen, daß er seinen Blick nicht zu erheben wagte, als wäre mit ihm das Schrecklichste geschehen, das ein Mensch sich nur ausdenken kann.

„Sehr gut gesungen!“ bemerkte er schüchtern zu seinem Nachbarn zur Linken, einem auffallenden Gecken.

Der Geck, der sich im höchsten Stadium der Ekstase befand, unermüdlich in die Hände klatschte und sogar mit den Füßen scharrte, warf nur einen flüchtigen, zerstreuten Blick auf Iwan Andrejewitsch, baute dann geschwind aus seinen Händen ein Schallrohr vor seinen Mund und rief dumpf brüllend den Namen der Sängerin. Iwan Andrejewitsch, der noch nichts Ähnliches vernommen hatte, war entzückt. „Nein, der hat nichts bemerkt!“ sagte er vollbefriedigt von sich selbst und wandte sich zurück. Doch der dicke Herr, der hinter seinem Rücken saß, stand jetzt, ihm seinerseits den Rücken zuwendend, und musterte durch sein Opernglas die Reihen der Logen. „Auch gut!“ dachte Iwan Andrejewitsch. In den Reihen vor ihm hatte man natürlich nichts gesehen. Schüchtern, doch voll froher Hoffnung wagte er einen Blick in die Parterreloge zu werfen, neben der er saß, zuckte aber plötzlich mit der unangenehmsten Empfindung zusammen, denn was er dort erblickt hatte, war wenig trostreich: er sah eine schöne Dame, die, im Sessel zurückgelehnt, krampfhaft ihr Taschentuch an die Lippen preßte und unbändig lachte.

„O, diese Weiber, diese Weiber!“ seufzte und knirschte Iwan Andrejewitsch und schlängelte sich schleunigst zur Ausgangstür, bemüht, dem Publikum nicht gar zu rücksichtslos auf die Füße zu treten.

Nun fragte es sich: wie kam Iwan Andrejewitsch darauf, anzunehmen, daß dieser Liebesbrief gerade aus der Loge im zweiten Rang stammte? Gab es doch über dem zweiten Rang noch einen und dann noch einen und dann noch die Galerie – im ganzen gab es fünf Ränge. Weshalb sollte er ausgerechnet aus jener bewußten Loge im zweiten Rang gefallen sein, warum nicht z. B. von hoch oben, von der Galerie, wo doch gleichfalls Damen saßen? Doch Leidenschaft ist etwas Außerordentliches und Eifersucht die außerordentliche Leidenschaft, die sich nicht irrt.

Iwan Andrejewitsch stürzte, kaum daß er die Tür erreicht hatte, ins Foyer, blieb bei der nächsten Lampe stehen, erbrach das Kuvert und las:

„Heute abend nach der Vorstellung in der G–straße im Hause K–offs, im dritten Stockwerk, rechts von der Treppe, Eingang von der Straße. Sei dort. Sans faute!

Die Handschrift war Iwan Andrejewitsch unbekannt, doch eines stand für ihn fest: daß es eine Bestellung zu einem Rendezvous war. Sein erster Gedanke war deshalb: „Vorbeugen, überrumpeln, das Übel verhüten, so lange es noch nicht zu spät war!“

Einen Augenblick dachte er sogar daran, „die Schuldigen sogleich zu überführen, sofort, hier im Theater!“ Doch wie das anstellen? Iwan Andrejewitsch eilte sogar die Treppe hinauf zum zweiten Rang, besann sich aber zum Glück noch rechtzeitig und machte vor der Logentür wieder Kehrt. Er wußte entschieden nicht, wohin er sich wenden oder wo er sich überhaupt lassen sollte. In seiner Ratlosigkeit eilte er auf die andere Seite und blickte durch die offene Tür der gegenüberliegenden Loge. Tatsächlich: in jeder der fünf Logen, die sich in vertikaler Linie über seinem Platz befanden, saßen junge Damen und junge Herren. Der Liebesbrief hätte aus allen fünf zugleich fallen können, um so mehr, als Iwan Andrejewitsch die Insassen aller fünf gegen sich verschworen glaubte. Doch ungeachtet aller sichtbaren Möglichkeiten blieb Iwan Andrejewitsch bei seiner Überzeugung. Den ganzen zweiten Akt verbrachte er in den Korridoren, die er nach allen Richtungen durchirrte, ohne Seelenruhe finden zu können. Er eilte sogar an die Kasse, um vom Kassierer die Namen aller fünf Logeninhaber zu erfahren – doch leider war die Kasse schon geschlossen. Endlich erschallte Applaus, helle Stimmen, die Bravo und die Namen der Künstler riefen. Die Vorstellung war zu Ende. Doch Iwan Andrejewitsch hatte etwas ganz bestimmtes im Sinn: er griff nach seinem Waschbärpelz und eilte in die G–straße, um dort „an Ort und Stelle zu überführen, abzufangen, und überhaupt energischer vorzugehen als gestern“. Bald hatte er auch das Haus gefunden, und er war gerade im Begriff einzutreten, als plötzlich, fast unter seinem Arm, eine Männergestalt in einem geckenhaften Paletot durch die Tür schlüpfte und die Treppen zum dritten Stockwerk hinaufeilte. Iwan Andrejewitsch schien es, daß es der junge Fant von gestern gewesen sei, obschon er sein Gesicht weder jetzt noch am Abend vorher gesehen hatte. Sein Herz blieb stehen. Der Geck hatte bereits einen Vorsprung von zwei Treppen – wie ihn einholen, wie ihm zuvorkommen? Da hörte Iwan Andrejewitsch wie eine Tür schon geöffnet wurde – und zwar ohne Schlüssel, als sei der Betreffende erwartet worden. Iwan Andrejewitsch erreichte diese Tür, als der junge Mann kaum hinter ihr verschwunden und noch niemand sie von innen zugeschlossen hatte. Er gedachte sich zwar noch ein wenig zu sammeln, den bevorstehenden wichtigen Schritt zu erwägen, sich so manches zu überlegen, dies und jenes noch zu befürchten und sich dann erst zu etwas Endgültigem zu entschließen. Da wollte es das Schicksal, daß in dem Augenblick eine schwere Equipage vor das Haus rollte und plötzlich hielt. Die Paradetür wurde geräuschvoll aufgerissen und jemandes schwere Schritte begannen, begleitet von Husten und Gekrächz, langsam die Treppen empor zu steigen. Dieser Situation war Iwan Andrejewitsch nicht gewachsen: er klinkte die Tür auf und betrat mit der ganzen Feierlichkeit des hintergangenen, sich im Recht fühlenden Gatten das Vorzimmer einer fremden Wohnung. Eine Kammerzofe trat ihm sehr erregt entgegen, ihr folgte auf dem Fuß ein Diener, doch nichts vermochte Iwan Andrejewitsch aufzuhalten: er war im Recht, er war der Gatte!

Wie eine Bombe in eine harmlose Versammlung, so flog er in das nächste Gemach, durchschritt zwei fast dunkle Zimmer und befand sich plötzlich in einem Schlafgemach vor einer jungen schönen Dame, die ihn zitternd und verständnislos anstarrte. Da erschallten aber, noch bevor Iwan Andrejewitsch zu sich gekommen war, schwere Schritte im Nebenzimmer und näherten sich merklich der Tür: das waren dieselben Schritte, die Iwan Andrejewitsch unter sich auf der Treppe vernommen hatte.

„Gott! Da kommt mein Mann!“ rief die Dame entsetzt, bleicher als ihr Peignoir, und sie rang hilflos die Hände.

Iwan Andrejewitsch fühlte, daß er in eine Sackgasse geraten, aus der es kein Entrinnen gab, fühlte, daß er eine bodenlose Dummheit begangen, die nun nicht mehr gutzumachen war. Schon öffnete sich die Tür, schon trat der schwere Mann – nach seinen schweren Schritten zu urteilen – ins Zimmer ... Ich weiß nicht, für wen oder was Iwan Andrejewitsch sich in diesem Augenblick hielt. Auch vermag ich nicht zu sagen, was ihn davon abhielt, dem Fremden frank und frei entgegenzutreten, seinen Irrtum zu erklären, für seine Unhöflichkeit um Verzeihung zu bitten und sich dann zurückzuziehen – freilich nicht ruhmbedeckt, nicht heldenhaft – aber man hätte es doch immerhin eine anständige, offene Handlungsweise nennen müssen.

Aber nein: Iwan Andrejewitsch verfuhr wieder wie ein Schulbube, der nicht weiß, was Überlegung ist, oder als hätte er sich für einen zweiten Don Juan gehalten.

Im ersten Augenblick verbarg er sich hinter dem Bettvorhang, doch schon nach zwei Sekunden brach er vor Angst in die Knie und kroch, jedes Gedankens bar, auf allen Vieren unter das Bett des fremden Ehepaares. Der Schreck hatte in ihm jede Regung der Vernunft gelähmt – nur so läßt es sich erklären, daß Iwan Andrejewitsch, der selbst ein hintergangener Gatte war oder sich wenigstens für einen solchen hielt, nun tat, als tue er das, was ihm widerfuhr, selbst einem andern an. Vielleicht konnte er es bloß nicht übers Herz bringen, in einem anderen Manne diese ihm wohlbekannten Qualen durch seine Gegenwart hervorzurufen. Doch wie dem auch gewesen sein mag, Tatsache ist, daß er unter dem Bett lag, ohne selbst zu begreifen, wie er dorthin gelangt war. Das Erstaunlichste war aber für ihn in diesem Augenblick, daß die Dame es widerspruchslos hatte geschehen lassen. Sie hatte nicht einmal aufgeschrieen, als er plötzlich vor ihr aufgetaucht war, dieser fremde bejahrte kleine Mann, um darauf ungefragt unter ihrer Ruhestätte zu verschwinden. Anzunehmen ist, daß sie vor Schreck die Sprache verloren hatte.

Inzwischen war langsam, stöhnend und mit Ach und Weh ihr schwerer Gatte ins Zimmer getreten. Mit greisenhafter Langsamkeit wünschte er seiner Frau einen guten Abend, worauf er sich so schwer in den tiefen Sessel fallen ließ, als hätte er soeben eine riesige Last Holz hereingetragen. Darauf folgte ein langanhaltender Hustenanfall. Iwan Andrejewitsch, der sich aus einem gereizten Tiger in ein Lämmlein verwandelt hatte und nun zitterte und zagte wie ein Mausejunges vor einem Kater, wagte kaum zu atmen, obwohl er doch eigentlich aus eigener Erfahrung wissen mußte, daß nicht alle hintergangenen Ehemänner beißen. Doch das kam ihm gar nicht in den Sinn – sei es aus Mangel an Überlegungskraft, sei es aus irgend einem anderen Mangel in diesem Augenblick. Vorsichtig, nur leise tastend, wagte er unter dem Bett einen kleinen Orientierungsversuch, um seine Gliedmaßen in eine etwas bequemere Lage bringen zu können. Wie groß aber war sein Erstaunen, sein Schreck und seine Verwunderung, als seine tastende Hand plötzlich an einen Gegenstand stieß, der sich bewegte und ihn seinerseits mit einer Hand anfaßte!

Unter dem Bett war noch ein anderer Mensch!

„Wer ist da?“ fragte Iwan Andrejewitsch flüsternd und zitternd.

„Ich soll Ihnen wohl meinen Namen nennen!“ kam es flüsternd, doch mit deutlicher Ironie zurück. „Liegen Sie und halten Sie den Mund, wenn Sie in die Falle geraten sind!“

„Mein Herr, Ihr Ton ...“

„Still!“

Und der überflüssige Mensch – denn einer hätte unter dem fremden Ehebett vollkommen genügt – dieser freche Mensch preßte die Hand Iwan Andrejewitschs so stark in seiner Faust, daß dieser vor Schmerz fast aufgeschrien hätte.

„Mein Herr, mein Herr ...“

„Sst!“

„So zerdrücken Sie mir doch nicht meine Hand! oder ich schreie!“

„Na los! Schreien Sie nur, wenn Sie’s wagen!“

Iwan Andrejewitsch errötete vor Scham. Der Unbekannte schien kein Erbarmen zu kennen. Vielleicht war er schon so manches Mal der Verfolgung des Schicksals ausgesetzt gewesen und befand sich infolgedessen nicht zum ersten Male in dieser Enge. Iwan Andrejewitsch war aber jedenfalls ein Neuling in dieser Situation und glaubte daher, schier vergehen zu müssen. Das Blut stieg ihm beängstigend heiß zu Kopf. Was sollte er tun? Er mußte liegen wie er lag: platt auf dem Bauch. Da faßte er sich in Demut und schwieg.

„Ich war, mein Herzchen,“ begann der alte Gatte, „ich war, mein Herzchen, bei Pawel Iwanytsch. Wir begannen Préférence zu spielen, aber weißt du, köchö-köch-köch!“ – er hustete – „so ... köch-kch-kch! Mein Rücken ... Köch! Ach Gott ... Köch-kch-kch!“

Und der Greis hustete endlos.

„Mein Rücken ...“ fuhr er endlich mit schwacher Stimme fort, sich die Tränen aus den Augen wischend, „begann so zu schmerzen ... von diesen verwünschten Hämorrhoiden ... daß ich weder stehen noch sitzen ... noch sitzen konnte! Kököch-köch-köch!“

Es schien, daß dem neuen Hustenanfall ein weit längeres Leben bevorstand, als dem Alten, der diesen Husten hatte. Ließ der Husten etwas nach, so brummte er mitunter ein paar unverständliche Worte, die bald wieder im Husten erstickt waren.

„Mein Herr, ich bitte Sie, rücken Sie um Christi willen etwas zur Seite!“ flüsterte inzwischen Iwan Andrejewitsch.

„Wohin soll ich denn rücken, ich habe selbst keinen Platz!“

„Aber, einstweilen, Sie müssen doch zugeben, daß ich nicht lange so liegen kann! Ich befinde mich zum erstenmal in einer solchen Lage.“

„Und ich mich zum erstenmal in so unangenehmer Nachbarschaft.“

„Einstweilen aber, junger Mann, ich muß sagen ...“

„Still!“

„Still? Ich möchte Ihnen nur bemerken, junger Mann, daß Ihre Redeweise, gelinde gesagt, sehr unhöflich ist ... Wenn ich mich nicht täusche, sind Sie noch sehr jung; ich bin älter als Sie.“

„Schweigen Sie!“

„Mein Herr! Sie vergessen sich, Sie wissen nicht, mit wem Sie reden!“

„Mit einem Herrn, der unter einem fremden Bett liegt ...“

„Aber mich hat doch nur ein Zufall, ein Irrtum hergeführt ... Sie aber, wenn ich mich nicht täusche, Ihre Sittenlosigkeit, Unsittlichkeit.“

„Gerade darin täuschen Sie sich eben.“

„Mein Herr! Ich bin älter als Sie, ich sage Ihnen ...“

„Mein Herr, vergessen Sie gefälligst nicht, daß wir hier auf einem Brett liegen. Und ich bitte Sie, mir nicht mit Ihren Händen ins Gesicht zu fahren!“

„Mein Herr! Glauben Sie mir, ich kann hier nichts sehen. Verzeihen Sie, aber ich habe ja doch keinen Platz.“

„Weshalb sind Sie denn so dick?“

„Herrgott, Vater im Himmel! Noch nie hast du mich in eine so erniedrigende Lage gebracht!“

„Ja, noch niedriger kann man nicht gut liegen.“

„Mein Herr, ich muß Sie bitten, mein Herr! Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, ich weiß auch nicht, wie das alles gekommen ist: ich weiß nur, daß ich irrtümlicherweise hierher geraten bin – ich bin nicht das, was Sie von mir glauben ...“

„Ich würde durchaus nichts von Ihnen glauben, wenn Sie mich nicht immer stoßen würden. So schweigen Sie doch endlich!“

„Mein Herr! Wenn Sie nicht weiterrücken, bekomme ich einen Schlaganfall! Sie werden meinen Tod zu verantworten haben. Ich versichere Ihnen ... Ich bin ein ehrenwerter Mensch, ein ... ein Familienvater. Ich kann mich doch nicht in solch einer Lage befinden! ...“

„Sie haben sich doch selbst und freiwillig in eine solche Lage gebracht. Na, rücken Sie doch weiter, dann haben Sie noch etwas Platz. Aber mehr gibt’s davon nicht.“

„Mein Herr! O, ich sehe, Sie sind ein edler junger Mann! Ich sehe, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe ...“ begann Iwan Andrejewitsch in aufwallender Dankbarkeit, indes er seine abgetaubten Gliedmaßen in eine glücklichere Lage zu bringen suchte. „Ich kann Ihnen Ihre eigene Bedrängnis lebhaft nachfühlen, aber was soll man tun? Ich sehe, daß Sie schlecht von mir denken. Erlauben Sie, daß ich meine Reputation in Ihren Augen wieder herstelle ... Erlauben Sie, daß ich Ihnen auseinandersetze, wer ich bin, wie ich mich gegen meinen Willen hierher verirrt habe – nochmals, ich versichere Ihnen! Ich bin nicht aus dem Grunde hier, den Sie annehmen ... Ich fürchte mich entsetzlich ...“

„So schweigen Sie doch endlich, Herrgott noch ’nmal! Begreifen Sie denn nicht, wem Sie sich aussetzen, wenn man Sie hört? Sst! Er wird sogleich aufhören zu husten!“

In der Tat hatte der Husten des Greises nachgelassen und dieser schickte sich wieder an, zu sprechen.

„Also, mein Herzchen,“ krächzte der Greis mühsam und mit kläglicher Stimme, „also, mein Herzchen, köch-köch! Ach! diese Plage! Fedossei Iwanowitsch sagte mir: ‚Sie sollten doch versuchen,‘ sagte er, köch! – ‚doch versuchen, einmal Schafgarbentee zu trinken‘. Hörst du, Herzchen?“

„Ich höre, mein Freund.“

„Nun, also er sagte: ‚Sie sollten doch Schafgarbentee trinken.‘ Ich sagte aber: ‚Ich habe schon Blutegel angesetzt‘. Er aber sagte: ‚Nein, Alexander Demjanowitsch, Schafgarbentee ist besser, ist vor allem ein gutes Purgativ, sage ich Ihnen ...‘! Köch-köch! Ach, mein Gott! Was meinst du nun dazu, mein Herzchen? Köch-köch! Ach, Schöpfer! Köch-köch! ... Also du meinst, Schafgarbentee wäre besser, wie? ... Köch-köch! Ach Gott! Köch! ...“ usw., usw.

„Ich meine, daß es nicht schlecht sein kann, dieses Mittel zu versuchen,“ meinte die junge Frau.

„Ja, nicht schlecht! ‚Sie haben,‘ sagte er, ‚vielleicht sogar die Schwindsucht.‘ Köch-köch! Ich aber sagte: ‚Nein, Podagra, und außerdem einen Magenkatarrh ...‘ Köch-köch! Er aber sagt: ‚vielleicht auch Schwindsucht.‘ Also was, köch-köch! Was meinst du dazu, mein Herzchen: habe ich die Schwindsucht? Köch!“

„Ach, wie kommen Sie nur darauf, Alexander Demjanowitsch! Welch ein Unsinn das ist!“

„Ja, Schwindsucht, sagt er. Aber du, mein Herzchen, könntest dich jetzt auskleiden und zu Bett gehen ... Köch-köch! Ich habe aber heute, köch! heute Schnupfen.“

„Uff!“ seufzte Iwan Andrejewitsch in seiner Zwangslage unter dem Bett. „Um Gottes und Christi willen, rücken Sie weiter!“

„Ich kann mich wahrhaftig nur über Sie wundern: können Sie denn keinen Augenblick still sein? ...“

„Sie sind gegen mich erbittert, junger Mann, Sie wollen mich verletzen, das sehe ich. Sie sind wahrscheinlich der Liebhaber dieser Dame?“

„Schweigen Sie!“

„Ich werde nicht schweigen! Ich werde Ihnen nicht erlauben, hier zu kommandieren! Ganz gewiß sind Sie der Liebhaber! Wenn man uns entdeckt, bin ich vollkommen unschuldig, ich ... ich weiß von nichts.“

„Wenn Sie nicht endlich den Mund halten,“ unterbrach ihn der junge Mann zähneknirschend, „werde ich sagen, daß Sie mich hergelockt haben, daß Sie mein Onkel seien, der sein Vermögen durchgebracht hat. Dann wird man wenigstens nicht annehmen, daß ich der Liebhaber dieser Dame sei.“

„Mein Herr! Sie wollen mich zum Narren machen! Wissen Sie auch, daß meine Geduld reißen kann?“

„Sst! oder ich werde Sie das Schweigen anders lehren! Sie sind mein Unglück! So sagen Sie doch, weshalb sind Sie hier? Ohne Sie würde ich ruhig bis zum Morgen liegen, wo ich liege, und dann bei passender Gelegenheit fortgehen ...“

„Aber ich kann hier doch nicht bis zum Morgen so liegen, ich bin doch ein denkender Mensch! Ich habe Verbindungen, habe Protektion ... Was meinen Sie, wird er wirklich hier schlafen?“

„Wer?“

„Nun, dieser Greis?“

„Selbstverständlich wird er! Es sind doch nicht alle Männer so wie Sie. Einige übernachten auch zu Hause.“

„Mein Herr, mein Herr!“ rief Iwan Andrejewitsch erkaltend vor Schreck, „seien Sie überzeugt, daß auch ich zu Hause zu schlafen pflege, es ist das erstemal ... Aber mein Gott, ich sehe ja, daß Sie mich nicht kennen! Wer sind Sie, junger Mann? Sagen Sie es mir ohne Umschweife, ich flehe Sie an, aus uneigennützigster Liebe bitte ich Sie darum, – wer sind Sie?“

„Hören Sie mal! Entweder – oder ich gebrauche Gewalt ...“

„Aber erlauben Sie, erlauben Sie, daß ich Ihnen erzähle, mein Herr, daß ich Ihnen diese ganze entsetzliche Geschichte erkläre ...“

„Ich will nichts von Ihnen hören, ich will nichts wissen, lassen Sie mich in Ruh! Schweigen Sie oder ...“

„Aber ich kann doch nicht ...“

Unter dem Bett spielte sich ein zwar kurzer, doch dafür um so verzweifelterer Kampf ab, bis Iwan Andrejewitsch verstummte.

„Herzchen, knurrt hier nicht der Kater irgendwo?“

„Der Kater? Wie ... wie kommen Sie darauf?“

Offenbar wußte die junge Frau nicht, was sie mit ihrem alten Gatten reden sollte, da sie ihre Geistesgegenwart noch nicht völlig wiedererlangt zu haben schien, was ihre erschrockene Stimme und ihre Verwirrung verriet.

„Was für ein Kater?“

„Unser Wassjka, Herzchen. Vor ein paar Tagen ging ich in mein Arbeitszimmer, da saß er und schnurrte so vor sich hin. Ich fragte ihn: was hast du, Wassenjka? Er aber schnurrt und schnurrt. Da dachte ich: ach ihr Heiligen! Sollte er mir etwa meinen Tod prophezeien?“

„Pfui, welch einen Unsinn Sie heute reden! Schämen Sie sich!“

„Nu, nu, sei nicht böse, Herzchen. Ich sehe, der Gedanke, daß ich sterben könnte, ist dir unangenehm, sei aber nicht böse deshalb. Ich sagte es nur so. Aber du könntest dich wirklich, Herzchen, jetzt auskleiden und zu Bett gehen, ich werde hier noch – Köch-köch! – solange sitzen ... Köch-köch-köch!“

„O, um’s Himmels willen, hören Sie auf! Später ...“

„Nu, nu, sei nicht böse, sei nicht böse! Nur war es wirklich so, als raschelten hier Mäuse ...“

„Ach, bald glauben Sie den Kater, bald Mäuse zu hören! Ich weiß nicht, was heute mit Ihnen ist!“

„Nu, nu ... Köch-köch! Nichts, nichts, köch-köch-köch-köch! Ach, du mein großer Gott! Köch!“

„Da haben Sie’s! Sie schreien so laut, daß er es glücklich gehört hat!“ flüsterte der junge Mann seinem Nachbar zu, während der Alte hustete.

„Wenn Sie nur wüßten, was in mir vorgeht! Meine Nase blutet ...“

„So lassen Sie sie bluten, nur schweigen Sie. Warten Sie, bis er fortgegangen ist.“

„Aber, junger Mann, so versetzen Sie sich doch in meine Lage: ich weiß doch nicht einmal, mit wem ich hier liege.“

„Ja, würde es Ihnen denn leichter werden, wenn Sie’s wüßten? Ich interessiere mich nicht im geringsten für Ihren Namen. Und wenn schon – Na, wie lautet er denn, sagen Sie doch zuerst?“

„Nein, wozu den Namen nennen ... Ich will nur erklären, durch welchen sinnlosen Zufall ...“

„Sst ... er hat aufgehört ...“

„Glaube mir, mein Herzchen, jetzt habe ich ganz deutlich flüstern gehört!“

„Ach, nein, das ist doch nicht möglich, es wird sich nur die Watte in Ihren Ohren verschoben haben.“

„Ach, à propos! Weißt du, hier ... Köch-köch ... über uns ... Koch ... in der Wohnung über uns, hier, köch-köch-köch!“ usw.

„Über uns?!“ flüsterte der junge Mann. „Ach, der Teufel! Und ich dachte, dies sei das letzte Stockwerk! Ist denn dies erst das zweite?“

„Junger Mann, mein Herr,“ fuhr Iwan Andrejewitsch wie von jemandem gekniffen auf, „was sagen Sie da? Um Gotteswillen, weshalb interessiert Sie das? Auch ich war der Meinung, daß dies das dritte und letzte Stockwerk sei! Um Gotteswillen, ist hier denn noch ein Stockwerk?“

„Nein wirklich, mein Herzchen, es muß hier jemand sein,“ sagte der Greis, dessen Husten sich wieder gelegt hatte.

„Sst! Hören Sie?“ flüsterte der junge Mann, dessen Hand wie eine eiserne Klammer Iwan Andrejewitschs Hände packte.

„Mein Herr, Sie zermalmen mir alle Finger! Das ist Vergewaltigung! Lassen Sie los!“

„Sst!“

Wieder kam es zu einem kurzen Kampf, dem wieder vollständige Stille folgte.

„Ja, ich traf eine nette Kleine ...“ fuhr der Greis fort.

„Wie, eine nette? ...“ unterbrach ihn seine junge Frau.

„Ja ... habe ich dir noch nicht erzählt, daß ich einer netten Dame auf der Treppe begegnet bin? ... oder habe ich es vergessen, zu erzählen ... Mein Gedächtnis ist schwach. Johanniskraut müßte ich trinken ... Köch!“

„Was?“

„Johanniskraut müßte ich trinken: man sagt, das helfe ... Köch-köch-köch! ... denn das helfe, sagt man.“

„Da haben Sie ihn unterbrochen!“ flüsterte der junge Mann, knirschend.

„Du sagtest, dir sei heute eine nette Dame begegnet?“ fragte die junge Frau.

„Wie?“

„Dir ist heute eine nette Dame begegnet?“

„Wem das?“

„Aber dir doch!“

„Mir? Wann? Ach so, richtig, ja! ...“

„Endlich! O, du verfluchte Mumie!“ murmelte der junge Mann unterm Bett, der dem vergeßlichen Greise am liebsten einen aufmunternden Rippenstoß versetzt hätte.

„Mein Herr! Ich zittere vor Angst! Mein Gott, mein Gott! was höre ich? Das ist ja wie gestern, ganz wie gestern! ...“

„Sst!“

„Jajaja! Jetzt fällt es mir wieder ein: ein ganz reizender Käfer! So blanke Augen ... unter einem hellblauen Hütchen ...“

„Hellblauen Hütchen! Teufel noch eins!“

„Das ist sie! Sie hat einen kleinen hellblauen Hut! Mein Gott, mein Gott!“ stöhnte Iwan Andrejewitsch wie ein Verzweifelter.

„Sie? Welche ‚sie‘?“ fragte der junge Mann flüsternd, doch mit unheimlichem Händedruck.

„Sst!“ machte nun seinerseits Iwan Andrejewitsch, „er spricht!“

„Zum Teufel! ... Teufel ...“

„Übrigens kann jede Dame einen hellblauen Hut tragen ...“ flüsterte Iwan Andrejewitsch zaghaft.

„Und solch eine Schelmin scheint sie zu sein!“ fuhr der Greis fort, „köch! Sie kommt immer hierher, zu irgendwelchen Bekannten. Und immer liebäugelt sie. Zu diesen Bekannten kommen aber wieder andere Bekannte ...“

„Pfui, wie langweilig das ist,“ unterbrach ihn seine junge Frau. „Ich begreife nicht, wie einen so etwas interessieren kann.“

„Nun, schon gut, schon gut! Sei nur nicht böse!“ beschwichtigte sie wieder der Greis „ich ... ich – Köch! – ich werde nicht mehr davon erzählen, wenn du es nicht willst. Du bist heute nicht bei ganz guter Laune ...“

„Aber wie sind Sie denn hierher geraten?“ forschte plötzlich in gereiztem Flüsterton der junge Mann unterm Bett.

„Ach, sehen Sie, sehen Sie! Jetzt fangen Sie an, sich dafür zu interessieren, vorher aber wollten Sie mich überhaupt nicht anhören!“

„Ach, nun, dann nicht! Mir ist’s schließlich gleich. Aber seien Sie dann still! Hol’s der Teufel, die Geschichte ist, bei Gott! um aus der Haut zu fahren ...“

„Junger Mann, hören Sie, ärgern Sie sich nicht! Ich weiß nicht, was ich rede! Ich ... ich wollte nur sagen, daß Sie sich wohl kaum grundlos für den Zwischenfall interessieren werden ... Aber wer sind Sie, junger Mann? Sie sind mir unbekannt, wie ich sehe, aber wer sind Sie nun eigentlich! Mein Gott! Ich weiß selbst nicht mehr, was ich rede!“

„Hören Sie auf,“ riet ihm der junge Mann, als sei er innerlich mit anderem beschäftigt.

„Ich werde Ihnen alles erzählen, alles! Sie denken vielleicht, daß ich nicht erzählen werde, daß ich Ihnen böse bin, nicht? Hier haben Sie meine Hand! Ich bin nur in einer etwas niedergeschlagenen Stimmung, das ist alles. Aber sagen Sie mir um Gotteswillen zuerst: wie sind Sie hierher geraten? Aus welchem Grunde, zu welchem Zweck sind Sie in dieses Haus gekommen? Was mich betrifft, so bin ich nicht böse, bei Gott, ich bin Ihnen nicht böse, hier haben Sie meine Hand darauf. Nur wird sie nicht allzu sauber sein, denn hier ist es etwas staubig. Aber was will das besagen!? Auf das Gefühl kommt es an!“

„Eh, gehn Sie zum Teufel mit Ihrer Hand! Kaum, daß man hier Platz hat, platt auf dem Bauch zu liegen – da will er noch Armverrenkungen versuchen!“

„Aber, mein Herr! Sie gehen mit mir um, als wäre ich, mit Erlaubnis zu sagen, eine alte Stiefelsohle!“ wendete Iwan Andrejewitsch in einer Aufwallung der keuschesten Verzweiflung mit einer Stimme ein, wie man sie sonst nur zu flehentlichem Bitten gebraucht. „Behandeln Sie mich nur ein wenig höflicher – hören Sie? – nur ein wenig höflicher, und ich werde Ihnen alles erzählen! Wir würden einander lieb gewinnen; ich bin sogar bereit, Sie zu mir zu Tisch einzuladen. So aber können wir nicht beisammen liegen bleiben, das sage ich Ihnen ganz offen. Sie sind auf einem Irrwege, junger Mann, Sie wissen nicht ...“

„Wann kann er ihr denn begegnet sein?“ murmelte der junge Mann vor sich hin, offenbar in größter Aufregung. „Vielleicht wartet sie dort auf mich ... Nein, ich muß unbedingt fort von hier, koste es, was es wolle!“

„Sie? Wer ist diese ‚sie‘? Mein Gott! von wem reden Sie, junger Mann? Sie glauben, daß hier oben über uns ... Mein Gott, mein Gott, wofür werde ich so gestraft?!“

Und Iwan Andrejewitsch wollte sich, zum Zeichen seiner Verzweiflung, auf den Rücken kehren, doch der Versuch mißlang, was ihn noch unglücklicher machte.

„Was geht das Sie an, wer sie ist? Eh, zum Teufel! – ich krieche hinaus! ...“

„Mein Herr! Was fällt Ihnen ein? Und ich? Wo soll ich denn bleiben?“ stotterte Iwan Andrejewitsch entsetzt und er klammerte sich an die Frackschöße des anderen.

„Was geht das mich an? So bleiben Sie doch allein hier. Oder wenn Sie das nicht wollen, kann ich ja sagen, daß Sie mein Onkel seien, der sein Vermögen durchgebracht hat, damit der Klappergreis nicht auf den Gedanken kommt, in mir den Geliebten seiner Frau zu sehen.“

„Aber, junger Mann, das ist doch ganz unmöglich, ganz ausgeschlossen! Wer wird Ihnen denn das glauben, daß ich Ihr Onkel sei? Kein dreijähriges Kind wird es Ihnen glauben!“ flüsterte in beschwörendem Tone Iwan Andrejewitsch.

„Na dann schwatzen Sie wenigstens nicht und legen Sie sich platt! Sie können doch hier ruhig übernachten und dann morgen sehen, wie Sie entkommen. Kein Mensch wird Sie hier bemerken; denn wenn einer schon herausgekrochen ist, wird niemand noch einen zweiten unter dem Bett vermuten – da könnte ein ganzes Dutzend sich gesichert fühlen. Übrigens wiegen Sie allein ein ganzes Dutzend auf. Rücken Sie zur Seite, ich krieche hinaus.“

„Sie drücken mich, junger Mann ... Aber wie, wenn ich zu husten beginne? Man muß doch alles voraussehen ...“

„Sst!“

„Was ist das, mein Herzchen, ich glaube über uns hat wieder ein Spektakel begonnen,“ bemerkte der Greis, der inzwischen wohl eingeschlummert war, mit schläfriger Stimme.

„Über uns?“

„Hören Sie, junger Mann: ich werde hinauskriechen.“

„Ich höre, – nun!“

„Mein Gott, junger Mann, ich werde hinauskriechen!“

„Ich nicht. Mir ist alles gleich. Wenn schon einmal ein Strich durch die Rechnung gemacht ist, dann – ... Aber wissen Sie, was ich stark vermute? Daß Sie, gerade Sie und kein anderer ein betrogener Ehemann sind! – Verstanden?“

„Mein Gott, welch ein Zynismus! ... Vermuten Sie das wirklich? Aber weshalb denn gerade ein Ehemann ... ich bin doch nicht verheiratet ...“

„Was, nicht verheiratet? Sie? Wer das glaubt!“

„Ich bin vielleicht selbst ein Liebhaber, Sie können es doch nicht wissen!“

„Famoser Liebhaber das! Ha–ha!“

„Mein Herr, mein Herr! Nun gut, ich werde Ihnen alles erzählen. Vernehmen Sie also meine Beichte, – die Beichte eines Verzweifelten. Nicht ich bin der Betreffende, ich bin nicht verheiratet. Ich bin gleichfalls Junggeselle – ganz wie Sie. Es ist das nur mein Freund, mein Jugendfreund, um den es sich handelt ... Ich aber bin ein Liebhaber ... Da sagt er mir eines Tages: ‚Ich bin ein unglücklicher Mensch, ich muß den bittersten Kelch leeren, denn ich mißtraue meiner Frau.‘ Aber, Freund, sage ich, wessen verdächtigst du sie denn? ... Aber Sie hören mich ja gar nicht! So hören Sie, hören Sie doch! ... Eifersucht ist lächerlich, sage ich zu ihm, Eifersucht ist ein Laster! ... Er aber sagt: ‚Nein, ich bin ein unglücklicher Mensch! Ich – wie gesagt ... ich leere den Kelch, den bittersten Kelch ... d. h. ich habe sie im Verdacht ...‘ – Du bist mein Jugendfreund, sagte ich zu ihm. Wir haben gemeinsam Blumen gepflückt, gemeinsam die ersten Freuden genossen ... Mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich rede! Sie lachen die ganze Zeit, junger Mann. Sie werden mich noch verrückt machen!“

„Das sind Sie ja schon.“

„Da haben wir’s! Ich ahnte es ja, daß Sie mir das sagen würden, als ich das Wort noch nicht einmal ausgesprochen hatte – da schon ahnte ich es! Lachen Sie nur, lachen Sie nur, junger Mann! Ebenso bin auch ich gewesen, zu meiner Zeit, ebenso habe auch ich verführt! Ach, ja! – jetzt aber, ... jetzt werde ich sicher verrückt werden!“

„Was ist das, mein Herzchen, hat hier nicht jemand geniest?“ fragte wieder der Greis mit seiner trägen Langsamkeit. „Warst du es, mein Herzchen?“

„Oh, mon Dieu!“ stöhnt die arme junge Frau.

„Sst!“ hörte man unter dem Bett.

„Das muß über uns im dritten Stockwerk sein,“ bemerkte die junge Frau in ihrer Herzensangst. Unter dem Bett wurde es schon allzu verräterisch laut und immer lauter.

„Ja, das scheint mir auch,“ meinte der Greis bedächtig. „Über uns! ... Habe ich dir schon erzählt, daß ich einem jungen Mann – Köch-köch! einem jungen Mann mit einem Schnurrbärtchen – Köch-köch! Ach, mein Gott und Vater! – mein Rücken! ... einem jungen Fant soeben begegnet bin, mit einem Schnurrbärtchen ...“

„Mit einem Schnurrbärtchen! Großer Gott, das sind gewiß Sie!“ flüsterte Iwan Andrejewitsch entsetzt.

„Herrgott, ist das ein Mensch! Ich bin doch hier, hier unter dem Bett, liege hier dicht neben Ihnen! Wo kann er mir denn begegnet sein! Aber so fahren Sie mir doch nicht ewig mit Ihren Händen ins Gesicht!“

„Gott, ich werde sogleich ohnmächtig werden!“

In diesem Augenblick hörte man in der Wohnung darüber allerdings großen Lärm.

„Was mögen sie dort nur treiben?“ fragte sich der junge Mann.

„Mein Herr! Ich zittere, mir graut! Helfen Sie mir!“

„Sst!“

„Ja, mein Herzchen, jetzt höre ich es ganz deutlich, es ist ja fast ein Höllenspektakel dort oben. Und das gerade über deinem Schlafzimmer. Sollte man da nicht hinaufschicken, und um Ruhe bitten lassen?“

„Ach, das fehlte noch!“

„Nun, nun, schon gut, dann nicht. Warum bist du heute so böse?“

„Oh, mon Dieu! Werden Sie nicht bald schlafen gehn?“

„Lisa, du liebst mich gar nicht.“

„Ach, gewiß liebe ich Sie! Nur ... um Gotteswillen, ich bin so müde.“

„Nun, nun, schon gut, ich gehe ja schon.“

„Ach, nein, nein, gehen Sie nicht fort!“ rief die junge Frau plötzlich angstvoll. „Oder nein, gehen Sie, gehen Sie!“

„Was hast du nur, mein Herzchen! Bald sagst du, ich soll fortgehen, bald wieder, ich soll hierbleiben ... Köch-köch! Aber es wäre wirklich Zeit zum ... Köch-köch! Bei Panafidins hatten die kleinen Mädchen ... Köch-köch! ... Mädchen ... Köch! Eine Nürnberger Puppe sah ich bei der Kleinen, köch-köch! ...“

„Ach, jetzt redet er noch von Puppen!“

„Köch-köch! Eine sehr schöne Puppe war es ... Köch-köch!“

„Er verabschiedet sich schon!“ flüsterte der junge Mann seinem Leidensgenossen zu, „er geht und dann können wir sogleich hinausschlüpfen. Hören Sie? So freuen Sie sich doch!“

„O, gäbe Gott! Gäbe Gott!“

„Das war eine Lehre für Sie ...“

„Junger Mann! Was für eine Lehre? Wofür? Ich fühle, daß ... Doch Sie sind noch zu jung, Sie können mir keine Lehre geben.“

„Trotzdem gebe ich sie aber ... Hören Sie?“

„Gott! Ich will niesen! ...“

„Sst! Wenn Sie es nur wagen!!“

„Aber was soll ich denn tun? Es riecht hier nach Mäusen, ich habe Staub eingeatmet! Ich kann doch nicht! Geben Sie mir mein Taschentuch, aus meiner Rocktasche, um Gotteswillen, ich kann mich nicht rühren ... O Gott, o Gott! Wofür werde ich so gestraft?“

„Da haben Sie Ihr Taschentuch! Wofür Sie bestraft werden, das will ich Ihnen sogleich sagen: Sie sind eifersüchtig. Auf Grund Gott weiß welcher Zweifel rennen Sie wie ein Verrückter durch die Straßen der Stadt, brechen in fremde Häuser ein, belästigen die Menschen in ihren Wohnungen, verursachen einen Skandal ...“

„Junger Mann! Ich habe noch keinen Skandal verursacht!“

„Schweigen Sie!“

„Junger Mann, Sie können und dürfen mir nicht Moral predigen! Ich bin moralischer als Sie!“

„Schweigen Sie!“

„O Gott, o Gott!“

„Sie verursachen einen Skandal, erschrecken eine schöne junge Frau, die nicht weiß, wo sie sich vor Angst lassen soll, und die vielleicht noch krank werden wird von dieser ganzen Aufregung; Sie beunruhigen einen ehrwürdigen Greis, der durch seine verschiedenen Leiden ohnehin schon genug gequält wird, einen Greis, der vor allen Dingen der Ruhe bedarf, – und das alles aus welchem Grunde? Nur weil Sie sich da irgendeinen Unsinn in den Kopf gesetzt haben, mit dem Sie nun durch alle Gassen und in alle Häuser laufen! Begreifen Sie auch, begreifen Sie auch, in welches Licht Sie sich selbst gestellt haben, als was Sie dastehen, was man von Ihnen denken muß? Fühlen, begreifen Sie das auch wirklich so, wie es sich gehört?“

„Mein Herr! Gut! Ich fühle es! Aber Sie haben kein Recht ...“

„Schweigen Sie! Was reden Sie hier von Recht oder kein Recht! Begreifen Sie denn nicht, wie tragisch das enden kann? Begreifen Sie denn nicht, daß dieser Greis, der seine junge Frau über alles liebt, einfach irrsinnig werden kann, wenn er sieht, wie Sie unter dem Bett seiner Frau hervorkriechen? Doch nein, Sie können nicht die Ursache einer Tragödie sein! Wenn Sie hervorkriechen, muß ein jeder, denke ich, sich vor Lachen krummbiegen. Ich würde viel dafür geben, könnte ich Sie mal bei Licht betrachten! Sie müssen ja zum Platzen komisch sein!“

„Und Sie? In einer solchen Lage, unter dem Bett hervorkriechend, würden Sie gleichfalls lächerlich sein. Auch ich würde Sie gern einmal bei Licht betrachten.“

„Sie!!“

„Ihrem Gesicht wird zweifellos der Stempel der Unsittlichkeit aufgedrückt sein, junger Mann!“

„Ah! Sie kommen wieder auf die Sittlichkeit zu sprechen! Woher wissen Sie denn, weshalb ich hier bin? Ich bin irrtümlicherweise hierher geraten, ich wollte eine Treppe höher hinauf. Und der Teufel mag wissen, weshalb man mich hereingelassen hat! Offenbar muß sie selbst jemanden erwartet haben – doch, versteht sich, jedenfalls nicht Sie. Ich versteckte mich sofort unter dem Bett, als ich Ihre Schritte hörte und als ich sah, daß die Dame so heftig erschrak. Zudem war es hier noch ziemlich dunkel. Übrigens kann auch meine Anwesenheit Ihre Anwesenheit noch lange nicht rechtfertigen. Sie sind, mein Herr, nichts als ein lächerlicher eifersüchtiger Alter! Weshalb ich nicht hinausgehe? Sie denken vielleicht, ich fürchte mich? Nein, mein Verehrtester, ich wäre schon längst gegangen, ich bin nur aus Mitleid mit Ihnen hiergeblieben. Sie würden ja am Ende gar Ihren Geist aufgeben, wenn ich Sie verließe. Sie würden ja wie ein alter Klotz vor ihnen stehen, wenn man Sie endlich ans Licht beförderte, Sie würden sich doch nie und nimmer zurechtfinden ...“

„Weshalb denn wie ein alter Klotz? Weshalb gerade wie dieser Gegenstand? Konnten Sie mich nicht mit einem anderen vergleichen, junger Mann? Weshalb sollte ich mich denn nicht zurechtfinden? Nein, ich würde mich sehr gut zurechtfinden!“

„Sst! Hören Sie nicht, wie der Schoßhund bellt! Das kommt alles von Ihrem ewigen Geschwätz! Jetzt haben Sie das Hündchen aufgeweckt! Dieses elende Vieh kann noch zu unserem Verräter werden!“

In der Tat: das Schoßhündchen der Dame, das bis dahin ruhig auf seinem Kissen in der Ecke geschlafen hatte, war plötzlich aufgewacht, hatte ein wenig geschnuppert und war dann mit empörtem Gekläff unter das Bett gestürzt.

„O Gott! Solch ein elendes Vieh!“ murmelte Iwan Andrejewitsch, halb tot vor Schreck und Angst. „Es wird uns bestimmt verraten! Es wird alles offenbar werden! Wodurch habe ich nur diese Strafe verdient, o du mein Gott!“

„Durch Ihre Feigheit natürlich!“

„Ami, Ami, komm her!“ rief plötzlich, erschrocken auffahrend, die junge Frau. „Ici, ici, viens ici!

Doch das Hündchen kümmerte sich nicht um sie, sondern griff mutig Iwan Andrejewitsch an.

„Was ist das, mein Herzchen, weshalb bellt denn Amischka so laut?“ fragte der Greis. „Sind etwa Mäuse unter dem Bett, oder sitzt dort der Kater? Deshalb – ich hörte ihn doch die ganze Zeit schnurren ... Und du weißt doch, Wassjka hat heut Schnupfen ...“

„Liegen Sie ganz still!“ flüsterte der junge Mann. „Rühren Sie sich nicht! Dann wird das Vieh sich vielleicht beruhigen.“

„Mein Herr! Mein Herr! Geben Sie meine Hände frei! Weshalb halten Sie sie?“

„Sst! still!“

„Aber ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, der Hund beißt mich in die Nase! Sie wollen wohl, daß ich meine Nase verliere?“

Es folgte ein Handgemenge, in dem es Iwan Andrejewitsch schließlich gelang, seine Hände zu befreien. Das Hündchen bellte wie rasend; plötzlich aber quietschte es auf und verstummte.

„Ach!“ schrie die Dame auf.

„Was tun Sie?“ flüsterte der junge Mann wütend. „Sie verraten uns! Weshalb haben Sie den Hund gepackt? Teufel, der Kerl würgt ihn noch obendrein! So hören Sie doch, was ich Ihnen sage! Lassen Sie ihn laufen! Hören Sie! Sie Kameel! Haben Sie denn keine Ahnung von einem Weiberherzen? Sie wird uns beide noch an den Galgen bringen, wenn Sie ihren Hund erwürgen!“

Doch Iwan Andrejewitsch hatte die Angst wie taub gemacht: er hörte auf nichts. Es war ihm gelungen, den kleinen Köter am Kragen zu fassen: und da hatte er ihm denn in übergroßem Selbsterhaltungstriebe den Hals mit einem Griff so zugeschnürt, daß dem Tierchen kaum Zeit geblieben war, noch einmal zu quieken, bevor es den Geist aufgab.

„Wir sind verloren!“ flüsterte der junge Mann.

„Amischka, Amischka!“ rief die Dame. „Mon Dieu, was haben sie mit meinem Ami gemacht! Amischka, Amischka! Ici! O, diese Schändlichen! Diese Barbaren! Mein Gott, mir wird schlecht!“

„Was ist denn, was ist denn geschehen, mein Herzchen?“ sagte der Greis, der wohl gerade im Begriff gewesen war, ein wenig einzuschlummern, „was hast du, mein Herz? Amischka, hierher! Zum Fuß! Amischka, Amischka, Amischka!“ rief der Alte eifrig, schnalzte mit der Zunge, schnippte mit den Fingern, doch es half alles nicht: Amischka kam nicht wieder zum Vorschein. „Wo ist er denn geblieben? Amischka! Ici. Wirst du wohl! Es kann doch nicht sein, daß der Kater ihn dort aufgefressen hat? Jedenfalls muß Wassjka Prügel bekommen, meine Liebe, er ist schon einen ganzen Monat nicht mehr bestraft worden. Was meinst du dazu? Ich werde morgen Praskowja Sacharjewna fragen, was sie dazu meint. Aber um Gottes willen, mein Herz, was ist mit dir? Du bist ganz bleich! Oh, oh! Wasser! Hilfe! Hilfe!“

Und der Alte stürzte kopflos zur Tür.

„Diese Mörder! Diese Räuber!“ schrie die Dame und sank auf die Chaiselongue.

„Wer, wer, wer das?“ rief der Alte von der Tür her.

„Dort sind Menschen! Fremde Menschen! Dort ... unter meinem Bett! Oh, mon Dieu! Amischka, Amischka! Was haben sie mit dir getan!!“

„Ach, Gott im Himmel! Was für Menschen? Amischka ... Nein, zuerst Leute her, Leute! Leute! Wer ist dort? Wer?“ schrie der Alte ganz heiser vor Aufregung, und er griff nach dem Licht und beugte sich, um unter das Bett zu sehen. „Wer ist dort! Zu Hilfe! Leute! ...“

Iwan Andrejewitsch lag mehr tot als lebendig neben dem Leichnam Amischkas. Der junge Mann aber verfolgte aufmerksam jede Bewegung des Alten. Plötzlich sah er, daß dieser zur Wand ging und sich dort niederbeugte. Im Augenblick kroch er unter dem Bett hervor, während der Alte die Einbrecher auf der anderen Seite des Ehebettes suchte.

Mon Dieu!“ murmelte die Dame ganz erstaunt, als sie plötzlich einen jungen eleganten Mann vor sich stehen sah. „Wer sind Sie? Ich dachte ...“

„Der andere ist noch unterm Bett,“ erklärte ihr der junge Mann leise und schnell. „Er ist schuld an Amischkas Tod!“

„Ach!“ schrie die Dame entsetzt auf.

Doch schon war der junge Mann aus dem Zimmer.

„Ach! Wer ist hier? Hier sehe ich einen Stiefel! Ein Bein!“ keuchte der Alte, der Iwan Andrejewitsch am Fuß hervorzuziehen versuchte.

„Der Mörder! dieser Mörder! oh Ami, oh Ami!“ jammerte die Dame.

„Kommen Sie heraus! Kommen Sie heraus!“ schrie der Alte, mit den Beinen auf den Teppich stampfend. „Wer sind Sie? Was suchen Sie hier? Was wollen Sie? Gott im Himmel! Was das für ein Mensch ist!“

„Das sind ja Mörder!“

„Um Gottes und aller Heiligen willen! Um Christi willen!“ flehte Iwan Andrejewitsch, der auf allen Vieren hervorkroch, sich kniend erhob und flehend die Hände faltete und dann wieder weiterkroch. „Um Gottes willen, Ew. Exzellenz, rufen Sie keine Menschen herbei! Exzellenz, rufen Sie keine Menschen herbei! Das ... das ist ganz überflüssig! Sie ... Sie können mich nicht vor die Tür setzen lassen! ... Ich bin nicht solch einer! ... Ich bin ein freier Mensch ... Das ist ein Irrtum, Exzellenz, ich habe mich nur geirrt! Ich werde Ihnen sogleich alles erklären, Exzellenz, alles, alles, alles!“ fuhr Iwan Andrejewitsch schluchzend mit versagender Stimme fort. „An allem ist nur meine Frau schuld, das heißt, nicht meine Frau, sondern eine fremde Frau, – denn ich bin ja gar nicht verheiratet, ich bin nur so ... Das ist mein Schulkamerad und Jugendfreund ...“

„Was für ein Jugendfreund!“ schrie der Alte und er stampfte zornig mit dem Fuß auf. „Sie sind ein Dieb, ein Einbrecher, ein Mörder! Stehlen wollten Sie! ... Aber nicht Jugendfreund! ...“

„Nein, ich bin kein Dieb, Exzellenz, ich bin wirklich sein Jugendfreund ... ich ... ich habe mich nur zufällig verirrt, ich habe nur die Haustüren verwechselt! ...“

„Das kennt man! – Haustüren verwechselt!“

„Ew. Exzellenz! Ich bin nicht solch ein Mensch! Sie täuschen sich! Ich versichere Ihnen, daß Sie sich in einem grausamen Irrtum befinden, Exzellenz! Sehen Sie mich an, betrachten Sie mich, und Sie werden an allen Anzeichen erkennen, daß ich kein Dieb sein kann. Exzellenz! Ew. Exzellenz!“ flehte Iwan Andrejewitsch, sich mit beschwörender Gebärde an die junge Frau wendend. „Sie, Sie werden mich als zartfühlende Dame eher verstehen ... Ich ... ich habe Amischka umgebracht ... Aber ich bin nicht schuld daran ... bei Gott nicht! Daran ist meine ... das heißt, nicht meine, sondern eine fremde Frau schuld! Ich ... ich bin ein unglücklicher Mensch, ich habe den Kelch geleert ...“

„Was geht das mich an, was Sie da geleert haben – es wird wohl nicht nur ein Kelch gewesen sein, nach Ihrem Aussehen zu urteilen! Aber wie sind Sie hierher gekommen, mein Herr, wenn Sie mir das erklären wollten?!“ schrie der Alte zitternd vor Aufregung, obschon er sich selbst eingestand, daß dieser Fremde offenbar kein gewöhnlicher Dieb sein konnte. „Ich frage Sie: wie – sind – Sie – hierher gekommen? Zum Donnerwetter! ... Daß Sie kein Räuber sind ...“

„Ich bin kein Räuber, ich bin kein Räuber, Exzellenz! Ich ... ich bin nur in eine andere Tür ... bei Gott, ich bin kein Räuber! Das kommt alles nur daher, daß ich eifersüchtig bin! Ich werde Ihnen alles erzählen, Exzellenz, alles und ganz offenherzig, Exzellenz, wie meinem Vater werde ich es Ihnen erzählen, wie meinem leiblichen Vater, denn den Jahren nach könnte ich Sie doch für meinen Vater halten!“

„Was?! Für Ihren Vater?!“

„Exzellenz, Ew. Exzellenz! Ich habe Sie vielleicht verletzt! – o, verzeihen Sie es mir! In der Tat, eine so junge Dame ... und Ihre Jahre ... sehr-sehr-sehr angenehm, Ew. Exzellenz, glauben Sie mir, eine ... eine solche Ehe zu sehen ... in den besten Jahren! ... Rufen Sie nur nicht die Leute herbei, um Gottes willen, rufen Sie nicht Ihre Leute her ... die würden nur lachen ... ich kenne sie ... Das heißt, ich will damit nicht sagen, daß ich nur mit Bedienten bekannt bin, – ich habe selbst Bediente, Exzellenz, und ewig lachen sie, die ... Esel! Exzellenz ... Ich glaube, mich nicht getäuscht zu haben ... Durchlaucht ... ich habe doch die Ehre, mit einem Fürsten zu sprechen ...“

„Nein, nicht mit einem Fürsten, mein Herr, ich bin ... ein Privatmann. Und ich bitte Sie, mich mit Ihren Titeln zu verschonen, sich nicht mit ihnen bei mir einschmeicheln zu wollen! Das würde Ihnen auch nicht gelingen! Was ich von Ihnen hören will, ist: wie Sie hierher gekommen sind? Also erklären Sie es mir gefälligst!“

„Durchlaucht! das heißt, nein! Ew. Exzellenz ... verzeihen Sie, ich dachte, Sie seien ein Fürst. Ich habe mich versehen, es war ein Irrtum, verzeihen Sie ... das kommt vor ... Sie ähneln so auffallend dem Fürsten Korotkuchoff, den ich bei meinem Bekannten, Herrn Pusyreff, die Ehre hatte, einmal zu sehen ... Sie sehen, ich bin gleichfalls mit Fürsten bekannt, ich habe einen wirklichen Fürsten bei einem Bekannten gesehen: Sie können mich nicht für das halten, für was Sie mich halten! Ich bin kein Räuber, ich bin kein Dieb! Exzellenz, rufen Sie keine Menschen, um Gottes willen, haben Sie Erbarmen mit mir! Bedenken Sie doch: wenn Sie die Leute herrufen – was wird daraus entstehen!“

„Aber wie sind Sie denn hierhergekommen?“ rief die Dame. „Wer sind Sie überhaupt?“

„Ja, wer sind Sie überhaupt?“ griff der Alte die Frage auf. „Und ich, mein Herzchen, glaubte wirklich, es sei der Kater Wassjka, der da irgendwo schnurrt! Und statt dessen ist es dieser! Ach, Sie Bandit! ... Wer sind Sie? So reden Sie doch!“

Und der Alte stampfte wieder mit dem Fuß auf vor Ungeduld.

„Ich kann nicht, Exzellenz! Ich warte, bis Sie aufgehört haben ... Was mich betrifft, so ist es eine lächerliche Geschichte, Exzellenz. Ich werde Ihnen alles erzählen, es wird sich alles auch ohnedem erklären lassen ... das heißt, ich will damit sagen: rufen Sie nicht fremde Leute her, Exzellenz! Seien Sie großmütig, haben Sie Erbarmen mit mir ... Das hat nichts zu sagen, daß ich unter dem Bett gelegen habe ... das hat mich nicht meiner Würde berauben können. Es ist die lächerlichste Geschichte der Welt, meine Gnädigste!“ wandte sich der arme Iwan Andrejewitsch flehentlich an die junge Frau. „Namentlich Sie, meine Gnädigste, wollte sagen Exzellenz, werden über sie lachen! Sie sehen vor sich einen – eifersüchtigen Gatten! Wie Sie sehen, erniedrige ich mich selbst, tue es selbst und freiwillig! Allerdings bin ich es, der Amischka erwürgt hat, aber ... Mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich rede!“

„Aber wie, wie sind Sie denn hierher gekommen?“

„Im ... im Schutze der Dunkelheit, Exzellenz, indem ich mich der Dunkelheit bediente ... Verzeihung! O, verzeihen Sie, Exzellenz! Ich bitte Sie kniefällig um Verzeihung! Ich bin nur ein gekränkter Gatte, nichts weiter! Denken Sie nicht, Exzellenz, daß ich ein Liebhaber sei! Ich bin kein Liebhaber, ich versichere Ihnen! Ihre Gemahlin ist sehr tugendreich, wenn ich es wagen darf, mich so auszudrücken. Sie ist rein und unschuldig, glauben Sie es mir!“

„Was? Was? Wessen erfrecht sich der Kerl!“ schrie der Alte, ganz rot im Gesicht, und wieder trampelte er mit den Füßen. „Sind Sie verrückt geworden? übergeschnappt? Wie unterstehen Sie sich, von meiner Frau zu reden?“

„Dieses Scheusal, dieser Mörder, der meinen Ami erwürgt hat!“ rief die junge Frau empört aus. Sie war in Tränen aufgelöst ob des Verlustes ihres Amischka. „Und er wagt noch, mich zu beleidigen!“

„Exzellenz, Gnade, Exzellenz! Ich habe mich nur versprochen!“ beteuerte halb besinnungslos Iwan Andrejewitsch. „Betrachten Sie mich, wenn Sie wollen, als Wahnsinnigen ... Um Gottes willen! – als Wahnsinnigen, wenn Sie wollen ... Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß Sie mir damit einen großen Dienst erweisen. Ich würde Ihnen meine Hand reichen, aber ich wage es nicht ... Ich war nicht allein, ich bin der Onkel ... das heißt, ich will nur sagen, daß man nicht mich für den Liebhaber halten darf ... Gott! Ich weiß wieder nicht, was ich rede! Ich habe Sie nicht kränken wollen, Exzellenz!“ rief Iwan Andrejewitsch der Frau zu. „Sie sind eine Dame, Sie werden begreifen, was Liebe ist – dieses zarte Gefühl ... Doch was rede ich, was rede ich da wieder! ... Ich will nur sagen, daß ich ein Greis bin, das heißt, kein Greis, sondern ein schon bejahrter Mann ... ein Greis in den besten Jahren ... Ich will damit sagen, daß ich gar nicht Ihr Liebhaber sein kann, meine Gnädigste, daß ein Liebhaber immer à la Mister Richardson oder à la Don Juan zu sein pflegt, ich aber ... O Gott, was rede ich! ... Aber Sie sehen doch jetzt wenigstens, Exzellenz, daß ich ein gebildeter Mensch bin, der die Literatur kennt. Sie lächeln, meine Gnädigste. Es freut mich, es freut mich ungemein, daß ich Sie zum Lächeln habe bringen können! O, wie es mich freut, daß Sie lächeln!“

Mon Dieu! Was das für ein komischer Mensch ist!“ bemerkte die Dame, die sich die Lippen biß, um jetzt nicht wirklich laut aufzulachen.

„Ja, das ist er,“ meinte gleichfalls lächelnd der Alte, sichtlich erfreut darüber, daß seine Frau lachte. „Mein Herzchen, weißt du, ich denke, er kann kein Dieb sein. Aber wie ist er hierher gekommen?“

„Ich weiß, ich begreife – das ist sehr sonderbar, sogar noch mehr als sonderbar! Wirklich, so etwas kommt sonst nur in Romanen vor! Wie? Um Mitternacht in der Großstadt, plötzlich – ein fremder Mensch unter dem Bett im Schlafzimmer! Da hört doch alles auf! Ist das nicht seltsam, entsetzlich? À la Rinaldo Rinaldini, nicht wahr? Doch das hat nichts auf sich, das hat alles nichts zu sagen, Exzellenz. Ich werde Ihnen alles erzählen ... Und Ihnen, meine gnädigste gnädige Frau, werde ich ein anderes Schoßhündchen zur Stelle schaffen ... ein ebenso entzückendes! Mit so langer seidenweicher Wolle und so kleinen Beinchen, daß es keine zwei Schritte zu gehen vermag: es verwickelt sich sonst in seinem eigenen Fell und fällt. Und gefüttert wird es nur mit Zuckerstückchen. Ich werde es Ihnen besorgen, gnädige Frau, ich werde es unfehlbar besorgen!“

„Hahahahaha!“ lachte die Dame von ganzem Herzen über den armen Iwan Andrejewitsch. „Mon Dieu, mon Dieu, wie ist er komisch!“

„Ja, das ist er! Ha–ha–ha! Köch-köch-köch! Zum Lachen ... köch! und so zerzaust und bestaubt ... köch-köch-köch!“

„Exzellenz, meine Gnädigste, ich bin jetzt vollkommen glücklich! Ich würde jetzt um Ihre Hand bitten, aber ich wage es nicht, meine Gnädigste, ich fühle, daß ich mich seither geirrt habe, in allem, doch jetzt öffne ich die Augen! Jetzt glaube ich, daß auch meine Frau rein und unschuldig ist! Ich habe sie grundlos verdächtigt.“

„Seine Frau! Er hat eine Frau!“ rief die Dame, die ihr Lachen nicht mehr meistern konnte.

„Was! Er ist verheiratet? Ist’s möglich? Das hätte ich nicht gedacht! Hahaha! Köch-köch-köch!“

„Exzellenz, Exzellenz! Aber meine Frau ist an allem schuld ... das heißt, vielmehr: ich bin schuld, denn ich verdächtigte sie; ich wußte, daß hier in diesem Hause ein Rendezvous stattfinden sollte – im dritten Stockwerk, hier über Ihrer Wohnung; der Brief war in meine Hände geraten. Ich versah mich aber, ich dachte, vor der richtigen Tür bereits angelangt zu sein, und da lag ich denn unter dem Bett, noch eh’ ich mich dessen versah ...“

„He–he–he–he! Köch-köch-köch!“

„Hahahahaha!“

„Hahahaha!“ begann zuguterletzt auch Iwan Andrejewitsch zu lachen. „O, wie glücklich ich bin! O, wie rührend es ist, uns alle so friedlich und einträchtig miteinander zu sehen! Und meine Frau ist – oh, das weiß ich jetzt! – vollkommen schuldlos! Davon bin ich fest überzeugt. Nicht wahr, so muß es doch sein, meine Gnädigste?“

„Ha–ha–ha! Köch-köch! Weißt du, Herzchen, wer das ist?“ wandte sich lachend und hustend der Alte an seine Frau.

„Wer? Hahaha! Wen meinst du?“

„Köch-köch! Hahaha! Das ist dasselbe nette Frauenzimmerchen, das mit allen kokettiert! Das ist sie! Ich könnte wetten, daß das seine Frau ist!“

„Nein, Exzellenz, ich bin überzeugt, daß Sie eine andere meinen; ich bin vollkommen überzeugt davon ...“

„Aber, mein Gott! – weshalb verlieren Sie dann Ihre kostbare Zeit!“ unterbrach ihn die Dame, indem sie zu lachen aufhörte. „So eilen Sie doch! Gehen Sie nach oben, vielleicht treffen Sie sie noch an ...“

„Sie haben recht, gnädige Frau, ich werde nach oben eilen. Doch ich weiß, daß ich niemanden antreffen werde, gnädige Frau. Das kann nicht meine Frau sein, davon bin ich fest überzeugt. Sie ist jetzt zu Hause! Ich allein bin der Schuldige! Ich habe es meiner eigenen Eifersucht zuzuschreiben ... Was meinen Sie, oder werde ich sie wirklich dort antreffen, gnädige Frau?“

„Hahahahaha!“

„He–he–he! Köch-köch!“

„Gehen Sie! Gehen Sie! Und wenn Sie wieder an unserer Tür vorüberkommen, dann treten Sie ein und erzählen Sie!“ rief die Dame lebhaft. „Oder nein: kommen Sie morgen und bringen Sie Ihre Frau mit: ich will sie kennen lernen.“

„Leben Sie wohl, gnädige Frau, besten Dank, ich werde sie unfehlbar mitbringen. Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin glücklich und froh, daß alles so schnell und gut seine Lösung gefunden hat!“

„Und den Schoßhund! Vergessen Sie den nicht!“

„Nie im Leben, gnädige Frau! Ich werde ihn unfehlbar bringen!“ beteuerte Iwan Andrejewitsch, der bereits an der Tür stand. „So weiß wie ein Zuckerstückchen und auch nicht viel größer als ein solches, mit langem seidigen Fell! – Leben Sie wohl, gnädige Frau, es hat mich sehr, sehr, sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, sehr gefreut!“

Und Iwan Andrejewitsch verbeugte sich und verschwand.

„He! Sie! Mein Herr! Warten Sie, kommen Sie zurück ... köch-köch!“ rief ihm plötzlich die heisere Stimme des Alten nach.

Iwan Andrejewitsch kehrte zurück.

„Ich kann den Kater Wassjka nicht finden – sagen Sie, war er nicht unter dem Bett, als Sie dort waren?“

„Nein, da war er nicht, Exzellenz ... Übrigens, es freut mich wirklich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich rechne es mir zur großen Ehre an ...“

„Er hat jetzt Schnupfen und da schnurrt er immer und niest! Man muß ihn wieder einmal prügeln.“

„Ja, Exzellenz, gewiß; Erziehungsstrafen sind bei Haustieren sehr angebracht.“

„Was?“

„Ich sagte nur, daß Erziehungsstrafen, Exzellenz, bei Haustieren sehr angebracht sind, um sie an Gehorsam zu gewöhnen.“

„Ah? Wirklich? ... Nun, mit Gott, das war alles, was ich wissen wollte, besten Dank! Köch-köch!“

Als Iwan Andrejewitsch auf die Straße trat, blieb er lange Zeit regungslos auf einem Fleck stehen, als erwarte er im Augenblick einen Schlaganfall. Dann nahm er langsam den Hut ab, wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn, schüttelte sich, dachte nach und begab sich nach Haus.

Wie groß aber war sein Erstaunen, als er, zu Hause angelangt, erfuhr, daß Glafira Petrowna schon längst aus dem Theater zurückgekehrt war, daß ihre Zähne zu schmerzen begonnen hatten, daß sie nach dem Arzt und nach Blutegeln gesandt, und daß sie nun im Bett lag und voll Ungeduld ihren Gatten erwartete.

Iwan Andrejewitsch schlug sich zuerst vor die Stirn, dann verlangte er Wasser und Bürsten, um sich zu waschen und zu reinigen, und erst nachdem dies geschehen war, entschloß er sich, das Schlafgemach seiner Frau zu betreten.

„Jetzt sagen Sie mir, bitte, wo Sie die Nächte zubringen! So sehen Sie doch, wie Sie aussehen! Wo waren Sie? Das ist doch noch nicht dagewesen: während die Frau zu Hause fast im Sterben liegt, ist der Mann in der ganzen Stadt nicht zu finden! Wo waren Sie? Oder waren Sie wieder auf der Suche nach mir, um mich bei einem Rendezvous zu ertappen, zu dem ich Gott weiß wen bestellt haben soll? Schämen Sie sich denn nicht? Das will ein Mann sein! Bald wird man mit dem Finger auf Sie weisen!“

„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, doch verspürte er schon im selben Augenblick eine solche Rührung, daß er nach seinem Taschentuch greifen mußte, da es ihm zu einer Rede an Worten, Gedanken und Luft gebrach ... Doch wer beschreibt seinen Schreck, sein grauenvolles Entsetzen, als aus seiner Rocktasche, aus der er das Taschentuch hervorzog, plötzlich die Leiche Amischkas herausfiel! Er war sich dessen gar nicht bewußt, daß er im Augenblick der größten Verzweiflung, als er gezwungen war, unter dem Bett hervorzukriechen, die Leiche seines Opfers in die Tasche gesteckt hatte, vielleicht in einer Art Selbsterhaltungstrieb, um die Spuren seiner Tat zu verbergen und somit der Strafe zu entgehen.

„Was ist das?“ rief entsetzt seine Gattin. „Ein totes Hündchen! Gott! Woher kommt das? ... Was fällt Ihnen ein? ... Wo waren Sie? Sagen Sie sofort, wo Sie waren!“

„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, dessen eigenes Herz beinahe stille stand, „Herzchen! ...“

Doch nun ziehen wir vor, unseren Helden zu verlassen, denn hier setzt etwas ganz Neues ein, das mit seinen früheren Abenteuern nichts Gemeinsames hat. Es ist möglich, daß ich noch einmal alle diese Unglücksfälle mit ihren Schicksalstücken wiedergebe ... Nur eines müssen Sie, meine verehrten Leser, mir heute schon zugeben: daß Eifersucht eine unverzeihliche Leidenschaft ist, ja sogar noch mehr als das: sogar ein – Unglück! ...

Das Krokodil

Eine außergewöhnliche Begebenheit
oder
Eine Passage in der Passage

Eine wahrheitsgetreue Erzählung der besagten Begebenheit, wie ein gewisser Herr in der Passage von einem Krokodil ganz und gar verschlungen wurde und welche Folgen das hatte.

I.

Am dreizehnten Januar des laufenden Jahres sprach plötzlich um halb ein Uhr mittags Jelena Iwanowna, die Gattin Iwan Matwejewitschs, meines gelehrten Freundes, Kollegen und halb und halb sogar entfernten Verwandten, den Wunsch aus, das Riesenkrokodil, das man gegen eine gewisse Zahlung in bar seit kurzer Zeit in der Passage bewundern konnte, mit eigenen Augen zu sehen. Iwan Matwejewitsch, der das Billett für seine Reise ins Ausland – die er weniger aus Gesundheitsgründen, als aus Neugier zu unternehmen beabsichtigte – bereits in der Tasche hatte, sich also vom Dienst schon quasi entbunden betrachtete und sich demzufolge an diesem Tage von allen Pflichten frei und ledig fühlte, hatte nicht nur nichts gegen diesen Wunsch einzuwenden, sondern entbrannte alsbald sogar selber in reger Wißbegier für die Sehenswürdigkeit.

„Eine prächtige Idee!“ sagte er sehr zufrieden, „nehmen wir das Krokodil in Augenschein! Es ist nicht übel, wenn man, bevor man ins Ausland reist, erst einmal gründlich das Inland mit allen seinen Tieren kennen gelernt hat.“

Mit diesen Worten reichte er seiner jungen Gemahlin den Arm, um mit ihr in die Passage zu gehen. Wie gewöhnlich schloß ich mich ihnen an, denn ich war und bin ja der Hausfreund.

Noch nie hatte ich Iwan Matwejewitsch bei besserer Laune gesehen, als an diesem denkwürdigen Vormittage, – wieder ein Beweis dafür, daß wir nicht ahnen, was uns bevorsteht! Als wir die Passage betraten, äußerte er sich ganz entzückt über den Bau des Gebäudes, und als wir beim Ausstellungsraum, in dem man das neuerdings in der Hauptstadt eingetroffene Ungeheuer bewundern konnte, angelangt waren, wünschte er aus eigenem Antriebe auch für mich den vorschriftsmäßigen Obolus dem Besitzer des Krokodils in die Hand zu drücken, was vordem noch nie von ihm aus geschehen war. Wir wurden in ein nicht sehr großes Zimmer geführt, in dem sich außer dem Krokodil noch Papageien, eigenartige Kakadus und in einem besonderen Käfig an der Wand mehrere Affen befanden. Gleich beim Eingang aber, links von der Tür, stand ein großer Blechkasten – der Form nach einer Wanne nicht unähnlich –, den oben ein starkes Drahtnetz zudeckte und auf dessen Boden etwa einen Zoll tief Wasser stand. Und in dieser flachen Pfütze lag ein riesengroßes Krokodil, lag regungslos wie ein Balken und hatte in unserem feuchten, ungastlichen Klima augenscheinlich alle seine sonstigen Eigenschaften eingebüßt. Dieses erklärt wohl auch den Umstand zur Genüge, daß es in uns durchaus kein besonderes Interesse für sich hervorzurufen vermochte.

„Das also ist das Krokodil!“ meinte Jelena Iwanowna, fast mitleidig in gezogenem Tone, „und ich dachte, daß es ... ganz anders aussähe.“

Anzunehmen ist, daß sie sich überhaupt nichts gedacht hatte.

Währenddessen blickte uns der Besitzer des Ungeheuers, ein Deutscher, sehr stolz und sehr selbstzufrieden an.

„Er hat recht,“ raunte mir Iwan Matwejewitsch zu, „denn ihm gebührt die Ehre, augenblicklich der einzige Mensch zu sein, der in Rußland ein Krokodil besitzt.“

Diese recht überflüssige Bemerkung Iwan Matwejewitschs schreibe ich gleichfalls seiner gehobenen Stimmung zu, da er sonst recht neidisch zu sein pflegte.

„Ich glaube, Ihr Krokodil ist gar nicht lebendig,“ äußerte sich Jelena Iwanowna, pikiert durch die Haltung des Deutschen, mit graziösem Lächeln sich an ihn wendend, um auch diesen Grobian zu besiegen, – ein Manöver, das die Frauen ja so gern üben.

„O nein, Madame,“ versetzte der Deutsche in gebrochenem Russisch und begann sogleich, indem er das Drahtnetz aufhob, mit einem Stückchen das Krokodil auf den Kopf zu stoßen.

Da entschloß sich das heimtückische Ungeheuer, zum Beweise seiner Lebendigkeit, kaum-kaum den Schwanz zu bewegen, dann rührte es auch die Vorderpfoten und erhob ein wenig seine gefräßige Schnauze, worauf es einen eigentümlichen Laut von sich gab, der in etwas an ein langsames Schnarchen erinnerte.

„Na, ärgere dich nicht, Karlchen!“ sagte der Deutsche schmeichelnd, sichtlich befriedigt in seiner Eigenliebe.

„Wie widerlich dieses Tier ist! Ich erschrak ordentlich, als es sich zu bewegen begann,“ sagte Jelena Iwanowna noch koketter. „Jetzt werde ich es womöglich im Traume sehen!“

„Aber er wird Sie nicht beißen, Madame,“ versetzte mit einem Anflug von Galanterie der Deutsche, worauf er als erster über seine eigenen Worte zu lachen begann; von uns jedoch lachte niemand.

„Gehen wir, Ssemjon Sjemjonytsch“ wandte sich Jelena Iwanowna ausschließlich an mich, „sehen wir uns lieber die Affen an. Ich liebe Affen über alles! Einzelne sind geradezu süß, sind so reizend! ... das Krokodil aber ist einfach abscheulich.“

„O, sei nicht so bange, meine Liebe,“ rief uns Iwan Matwejewitsch nach, dem es angenehm war, vor seiner Gattin den Mutigen zu spielen, „dieser schläfrige Landsmann Pharaos wird keinem ein Leid antun,“ – und er blieb beim Blechkasten. Ja, er kitzelte sogar mit seinem Handschuh die Nase des Krokodils, um es, wie er später selbst eingestand, zu veranlassen, nochmals zu schnarchen. Der Besitzer der Menagerie folgte indes Jelena Iwanowna, als der einzigen anwesenden Dame, zum weitaus interessanteren Affenkäfig.

Bis dahin war alles gut abgelaufen und niemand hätte etwas Schlimmes voraussehen können. Jelena Iwanowna gab sich ganz ihrem Entzücken hin, in das die Affen und Äffchen sie versetzten; sie schrie mitunter leise auf vor Vergnügen und wandte sich immer wieder an mich, um mich bald auf diesen, bald auf jenen Affen aufmerksam zu machen, von denen jeder auffallende Ähnlichkeit mit einem ihrer Bekannten und Freunde haben sollte. Ihre Heiterkeit steckte auch mich an, denn die Ähnlichkeit war bisweilen in der Tat ganz verblüffend. Nur der Menageriebesitzer, der von Jelena Iwanowna als Luft behandelt wurde, wußte nicht, ob er lachen oder ob er ernst bleiben sollte, und deshalb wurde er zum Schluß sehr brummig. Doch gerade in dem Augenblick, als mir die Übellaunigkeit des Deutschen auffiel, erschütterte plötzlich ein entsetzlicher, ja, ich kann sogar sagen, ein widernatürlicher Schrei die Luft. Ich wußte nicht, was ich denken sollte und stand wie erstarrt, als ich hörte, daß auch Jelena Iwanowna aufschrie – da wandte ich mich zurück und ... was erblickte ich! Ich erblickte – o Gott! – ich erblickte den armen Iwan Matwejewitsch quer im entsetzlichen Rachen des Krokodils, das ihn in der Mitte des Körpers gefaßt hatte. Ich sah ihn nur noch einen Augenblick, wie er, horizontal in der Luft schwebend, wie ein Verzweifelter mit den Beinen und Armen fuchtelte, und dann – verschwunden war.

Doch ich will dieses denkwürdige Ereignis ausführlicher schildern. Während des ganzen Vorgangs stand ich wie ein lebloser Gegenstand, der nur hörte und sah – deshalb ist mir nichts entgangen. Ich entsinne mich nicht, jemals in meinem Leben mit größerem Interesse einem Vorgang zugeschaut zu haben, als ich es in jenem Augenblick tat. „Denn,“ dachte ich bei mir – soviel Überlegungskraft besaß ich doch noch! – „wie, wenn das, anstatt mit Iwan Andrejewitsch, mit mir geschehen wäre – wie groß würde dann die Unannehmlichkeit sein!“ Doch zur Sache.

Das Krokodil begann damit, daß es den armen Iwan Matwejewitsch in seinem Rachen mit den Beinen zu sich drehte und dann einmal schluckte, – und seine Beine waren bis zur Wade verschwunden. Dann, nachdem es wie ein Wiederkäuer einmal aufstieß – was unseren Iwan Matwejewitsch wieder ein wenig hervorstieß, so daß dieser, der sich vergeblich bemühte, herauszuspringen, sich krampfhaft an den Kastenrand klammern konnte – schluckte das Ungeheuer zum zweitenmal, und mein Freund verschwand bis zu den Lenden. Dann, nachdem es wieder aufgestoßen, schluckte es noch einmal, und dann noch einmal. So sahen wir, wie Iwan Matwejewitsch vor unseren Augen im Ungeheuer verschwand. Endlich, nachdem es zum letztenmal geschluckt, hatte das Krokodil meinen gelehrten Freund tatsächlich restlos verschlungen. Nun traten an der Oberfläche des Krokodils Wölbungen hervor, an denen man erkennen konnte, wie Iwan Matwejewitsch mit all seinen Gliedmaßen langsam in den Bauch des Tieres zu gleiten begann. Ich war bereits im Begriff, wieder aufzuschreien, als das Schicksal sich noch einmal gewissenlos über uns lustig machte: das Krokodil blähte sich, rülpste – offenbar war ihm die verschlungene Portion doch zu groß – und öffnete nach einem neuen Aufstoß seinen entsetzlichen Rachen, aus dem plötzlich, zusammen mit dem Aufstoß oder gewissermaßen als dessen Personifikation noch einmal, zum letztenmal, auf einen Augenblick der Kopf Iwan Matwejewitschs herausfuhr und wieder verschwand, sodaß wir nur eine Sekunde lang sein verzweifeltes Gesicht gesehen hatten, von dessen Nase im Moment, als sie über den Rand des Unterkiefers hinausragte, die Brille in das zolltiefe Wasser auf dem Boden des Blechkastens fiel. Es hatte fast den Anschein, als sei dieser verzweifelte Kopf nur deshalb hervorgekommen, um noch einmal, zum letztenmal, einen Blick auf alle Gegenstände zu werfen und bewußt von allen weltlichen Freuden Abschied zu nehmen. Doch die Frist war gar zu kurz bemessen: das Krokodil hatte schon einige Kräfte gesammelt und schluckte von neuem und der Kopf verschwand wieder, diesmal, um nicht mehr zum Vorschein zu kommen.

Dieses Erscheinen und Verschwinden eines noch lebenden Menschenkopfes war so entsetzlich, gleichzeitig aber – sei es infolge der Überraschung, der Geschwindigkeit oder weil ihm die Brille von der Nase fiel – war es so unsäglich komisch, daß ich plötzlich schallend auflachte. Natürlich besann ich mich sogleich – es ging doch nicht an, daß ich in meiner Eigenschaft als Hausfreund in einem solchen Augenblick lachte! – wandte mich daher schnell zu Jelena Iwanowna und sagte so mitfühlend als möglich:

„Jetzt ist es aus mit unserm Iwan Matwejewitsch!“

Leider fühle ich mich der Aufgabe, die Erregung Jelena Iwanownas während des ganzen Vorgangs zu schildern, nicht gewachsen. Ich kann nur sagen, daß sie nach dem ersten Schrei gleichsam wie gelähmt in vollkommener Regungslosigkeit verharrte und scheinbar ganz gleichgültig, nur mit weit aufgerissenen, sogar ein wenig hervorquellenden Augen dem Vorgang zusah; erst als das Haupt ihres Gemahls zum zweitenmal verschwand und nicht wieder zum Vorschein kam, kehrten ihre Lebensgeister zurück und sie begann herzzerreißend zu schreien. Da wußte ich mir nicht anders zu helfen, als ihre Hände zu erfassen und sie krampfhaft festzuhalten. In diesem Augenblick erwachte auch der Deutsche aus seiner Erstarrung; er griff sich mit beiden Händen an den Kopf und schrie:

„O, mein Krokodil! O, mein allerliebstes Karlchen! Mutter, Mutter, Mutter!“

Darauf öffnete sich eine Hintertür und die „Mutter“ erschien: eine bejahrte, rotwangige Frau mit einer Haube auf dem Kopf, doch sonst ziemlich unordentlich gekleidet. Als sie die Verzweiflung ihres Mannes sah, stürzte sie ganz verstört herbei.

Und nun setzte ein ganzes Sodom ein: Jelena Iwanowna rief immer nur dies eine Wort: „Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden!“ und stürzte bald zum Deutschen, bald zur Mutter, die sie allen Anzeichen nach anflehte – wohl in einem Augenblick des Vergessens und der Selbstverleugnung – irgend jemanden oder irgendetwas aufzuschneiden. Der Besitzer aber und die „Mutter“ beachteten weder sie noch mich und heulten wie die Kettenhunde an ihrem Blechkasten.

„Er ist verloren, er wird sogleich platzen, er hat einen ganzen Menschen verschlungen!“ schrie der Besitzer des „Karlchen“.

„Ach Gott, ach Gott, unser allerliebstes Karlchen muß sterben!“ jammerte die Mutter.

„Sie haben uns zu Waisen gemacht, wir sind brotlos geworden!“ schrie wieder der Deutsche, und –

„Ach Gott, ach Gott, ach Gott!“ jammerte wieder die Mutter.

„Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden! Sie müssen das Tier schlachten!“ flehte und befahl Jelena Iwanowna, die sich an den Rock des Deutschen klammerte.

„Er hat mein Krokodil gereizt, – weshalb hat Ihr Mann mein Krokodil gereizt?“ schrie der Deutsche. „Wenn mein Karlchen jetzt platzt, müssen Sie ihn mir bezahlen! Ich werde Sie auf Schadenersatz verklagen! Das war mein Sohn, das war mein einziger Sohn!“

Ich muß gestehen, daß ich über diesen Egoismus des eingewanderten Deutschen und diese Hartherzigkeit seiner unordentlichen „Mutter“ nicht wenig entrüstet war. Auch Jelena Iwanownas immer wieder wiederholte Bitte trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Besorgt dachte ich an die Möglichkeit, daß jeden Augenblick gerade aus einem der anstoßenden Lokale der Passage, in dem jemand eine Rede über Pflanzenkost hielt, ein Vegetarianer die Menagerie betreten konnte – und was konnte es da nicht alles für Mißverständnisse geben, wenn sie noch lange fortfuhr, immer nur diese eine Bitte flehentlich und angstvoll zu wiederholen? Und in der Tat sollte es sich bald zeigen, daß meine Befürchtungen nicht grundlos waren: Zu meinem Entsetzen sah ich, wie plötzlich der Vorhang, der den Ausstellungsraum von der „Kasse“ trennte, zur Seite gezogen wurde und im Türrahmen eine bärtige Gestalt mit einer Beamtenmütze in der Hand erschien, eine Gestalt, die nicht eintrat, wie zu erwarten stand, sondern die sich in stark vorgebeugter Stellung mit den Füßen jenseits der Schwelle hielt und ersichtlich sehr darauf bedacht war, diese Schwelle nicht zu überschreiten, um nicht wegen des Eintrittsgeldes, das der Unbekannte offenbar nicht zu zahlen gewillt war, vom Direktor der Menagerie belästigt zu werden.

„Ihr Wunsch, meine Gnädigste,“ sagte der Unbekannte, bemüht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, „macht Ihrer geistigen Entwicklung wenig Ehre und ist nur auf den Mangel an Phosphorgehalt in Ihrem Gehirn zurückzuführen. Sie werden wohl nichts dagegen haben, wenn die Repräsentanten des Fortschritts und der Humanität Sie in ihren satirischen Zeitschriften der nötigen Kritik unterwerfen, und ...“

Doch es sollte ihm nicht vergönnt sein, seine Rede zu beenden, denn als der Menageriebesitzer zu seinem Entsetzen einen Menschen im „Ausstellungsraume“ sprechen hörte, der für dieses Vergnügen nichts gezahlt hatte, stürzte er in heller Empörung auf ihn zu und stieß ihn, den humanen Repräsentanten des Fortschritts, unter deutschen Kernausdrücken zur Tür hinaus: wir vernahmen nur noch ihre wortreiche Auseinandersetzung hinter dem Vorhang. Doch der Deutsche kehrte sehr bald zurück, um seine Wut, in die er sich hineingeredet, nunmehr an der armen Jelena Iwanowna auszulassen, die es gewagt hatte, eine Operation seines Karlchen zu verlangen, um ihren Gatten zu retten.

„Was! Sie wollen, daß meinem Karlchen der Bauch aufgeschlitzt werden soll!“ schrie er. „Lassen Sie doch Ihren Mann aufschlitzen! ... Mein Krokodil! Mein Vater hat das Krokodil schon gezeigt, mein Großvater hat das Krokodil gezeigt und mein Sohn wird es wieder zeigen, und so lange ich lebe werde ich es gleichfalls zeigen! Alle werden wir es zeigen! Ich bin in ganz Europa bekannt, Sie aber sind nicht in Europa bekannt, deshalb werden Sie mir Strafe zahlen, verstanden, Madame!“

„Ja, ja!“ pflichtete ihm seine böse dreinblickende Frau Mutter bei, „wir werden Sie verklagen, wenn unser Karlchen platzt!“

„Übrigens wäre es auch zwecklos, das Tier aufzuschneiden,“ wandte ich ziemlich ruhig ein, um Jelena Iwanowna zu besänftigen und sie dann zu bewegen, nach Hause zurückzukehren, „denn unser lieber Iwan Matwejewitsch wird sich bereits aller Wahrscheinlichkeit nach in den Gefilden der Seligen befinden.“

„Mein Freund!“ ertönte da plötzlich unerwartet die Stimme Iwan Matwejewitschs, die uns alle erstarren machte, „mein Freund, du täuschest dich. Mein Rat wäre, sich direkt an den Polizeioffizier dieses Quartals zu wenden, denn ohne polizeilichen Nachdruck wird dieser Deutsche schwerlich die Wahrheit begreifen.“

Diese Worte, die noch dazu in festem, überzeugungsvollem Tone gesprochen waren und in dieser Lage doch eine seltene Geistesgegenwart verrieten, waren so überwältigend, daß wir unseren Ohren nicht trauten. Nichtsdestoweniger eilten wir natürlich sogleich zum Blechkasten und lauschten mit mindestens ebenso großem Mißtrauen als unfreiwilliger Ehrfurcht den Worten des armen Gefangenen. Seine Stimme klang wie diejenige eines Menschen, der sich in einem anderen Zimmer ein Kissen vor den Mund preßt und schreiend laut spricht, etwa um das Gespräch zweier Bauern nachzuahmen, die durch einen Fluß getrennt sich von Ufer zu Ufer allerlei zuschreien, – ein Scherz, den ich einmal auf einem Polterabend das Vergnügen hatte, kennen zu lernen.

„Iwan Matwejewitsch, Liebster, sag’, so lebst du noch?“ fragte Jelena Iwanowna bebend.

„Ich lebe und befinde mich wohl,“ antwortete Iwan Matwejewitschs fernher leise schreiende Stimme, „denn ich bin dank himmlischer Vorsehung ohne jede Körperverletzung verschlungen. Was mich beunruhigt, ist nur die Frage, wie meine Vorgesetzten diesen Zwischenfall auffassen werden; denn wenn man das Billett zu einer Auslandsreise in der Tasche hat und dabei nur in das Innere eines Krokodils gelangt, wird man schwerlich auf Scharfsinn schließen.“

„Aber, Liebster, beunruhige dich jetzt doch nicht wegen des Scharfsinns!“ sagte Jelena Iwanowna. „Die Hauptsache ist doch, daß man dich irgendwie von dort herauszieht.“

„Herauszieht!“ rief der Deutsche nahezu entrüstet aus. „Das lasse ich einfach nicht zu! Jetzt wird’s noch einmal so viel Publikum geben und ich werde fünfzig Kopeken statt fünfundzwanzig pro Person nehmen, und Karlchen fällt’s nicht ein, zu platzen!“

„Gott sei Dank!“ äußerte sich seine Frau dazu.

„Er hat recht,“ bemerkte ruhig Iwan Matwejewitsch, „zuerst kommt das ökonomische Prinzip.“

„Mein Freund!“ rief ich ihm eifrig und möglichst laut zu, „ich werde mich sogleich schleunigst zu deinen Vorgesetzten begeben, denn mir ahnt, daß wir allein hier nichts werden ausrichten können.“

„Das denke ich auch,“ sagte Iwan Matwejewitsch, „nur wird es in unserer Zeit der Handelskrisis schwer halten, ohne finanzielle Entschädigung den Leib des Krokodils aufzutrennen, doch ist damit gleichzeitig die Frage aufgeworfen: wieviel wird der Besitzer für sein Krokodil verlangen? Und diese Frage zieht eine zweite nach sich: wer wird es bezahlen? Denn wie du weißt, bin ich kein Kapitalist! ...“

„Ginge es nicht a Konto des Gehalts? ...“ wagte ich schüchtern vorzuschlagen, doch der Besitzer des Krokodils unterbrach mich sogleich:

„Ich verkaufe mein Krokodil überhaupt nicht! Ich kann dafür dreitausend Rubel verlangen, ich kann sogar viertausend verlangen! Jetzt wird das Publikum herbeiströmen – ich kann auch fünftausend verlangen für mein Krokodil!“

Kurz, er begann sich ganz entsetzlich zu brüsten. Habgier leuchtete in seinen Augen.

„Ich fahre also!“ rief ich meinem Freunde, innerlich empört, zu.

„Ich auch, ich auch! Ich werde persönlich zu Andrei Ossipytsch fahren und ihn durch meine Tränen zu erweichen suchen!“ sagte Jelena Iwanowna erregt.

„Nein, tue das nicht, meine Liebe,“ versetzte Iwan Matwejewitsch schnell, denn lange schon hegte er eifersüchtigen Groll gegen diesen Andrei Ossipytsch: er wußte, daß seine Frau sehr gern zu diesem Allmächtigen gefahren wäre, um sich ihm zur Abwechslung einmal in Tränen zu zeigen, zumal ihr Tränen sehr gut standen. „Und dir, Ssemjon Ssemjonytsch,“ wandte er sich an mich, „möchte ich gleichfalls abraten, zu meinen Vorgesetzten zu gehen; man kann nicht wissen, was daraus schließlich noch entsteht. Aber fahre heute mal zu Timofei Ssemjonytsch, so, weißt du, ganz privatim. Er ist zwar ein altmodischer und etwas beschränkter Mensch, dafür aber solide und, was die Hauptsache ist, gerade heraus. Grüße ihn von mir und erkläre ihm den Sachverhalt. Ich schulde ihm noch sieben Rubel – ich verlor sie im Kartenspiel – sei also so gut und übergib sie ihm bei der Gelegenheit; das wird den Alten günstiger stimmen. Jedenfalls kann uns sein Rat zur Richtschnur dienen. Jetzt aber sei so freundlich und bringe Jelena Iwanowna nach Hause ... Beruhige dich, meine Liebe,“ fuhr er fort, „ich bin nur müde geworden von diesem Geschrei und will ein wenig schlafen. Hier ist es zum Glück warm und weich, obschon ich noch nicht Zeit gehabt habe, mich genauer in meinem neuen Heim umzusehen ...“

„Umzusehen? Ist es denn dort so hell?“ forschte neugierig, doch sichtlich erfreut Jelena Iwanowna.

„Im Gegenteil, mich umgibt vollkommene Finsternis,“ antwortete der arme Gefangene, „aber ich kann mit den Händen fühlen und mich hier tastend orientieren ... Also auf Wiedersehen, sei unbesorgt und versage dir nicht deine kleinen Zerstreuungen. Bis morgen! Du aber, Ssemjon Ssemjonytsch, komme gegen Abend wieder her, und damit du es, bei deiner bekannten Vergeßlichkeit, diesmal nicht wieder vergißt, binde dir sogleich einen Knoten ins Taschentuch ...“

Ich muß sagen, daß ich froh war, endlich fortgehen zu können, denn erstens war ich vom Stehen müde geworden und zweitens wurde es mir allmählich langweilig. Ich reichte daher geschwind Jelena Iwanowna, die durch die Erregung noch hübscher geworden war, mit artiger Verbeugung meinen Arm und verließ mit ihr die Menagerie.

„Am Abend wieder fünfundzwanzig Kopeken Eintrittsgeld!“ rief uns noch der Deutsche nach.

„O Gott, wie habgierig er ist!“ seufzte Jelena Iwanowna, die in jeden Spiegel zwischen den Schaufenstern der Passage einen Blick warf und sich augenscheinlich dessen bewußt war, daß sie noch hübscher als sonst aussah.

„Das ökonomische Prinzip,“ versetzte ich in angenehmer angeregter Stimmung, stolz auf meine Dame, die neidisch von den Vorübergehenden betrachtet wurde.

„Das ökonomische Prinzip ...“ wiederholte sie mit koketter Langsamkeit, „ich habe nichts von alledem begriffen, was Iwan Matwejewitsch dort sprach, namentlich nicht, was er mit diesem dummen Prinzip meinte.“

„Das werde ich Ihnen sofort erklären,“ versetzte ich eilfertig und begann ihr die günstigen Folgen der Heranziehung fremden Kapitals auseinanderzusetzen, Ansichten, die ich am Morgen desselben Tages in den „Petersburger Nachrichten“ gelesen hatte.

„Wie sonderbar das doch ist!“ unterbrach sie mich, als sie mir eine Weile zugehört hatte. „Aber so hören Sie doch endlich auf, Sie Plagegeist! Welch einen Unsinn Sie heute reden ... Sagen Sie, bin ich sehr rot im Gesicht?“

„Nicht rot, sondern schön,“ antwortete ich, um die Gelegenheit, ihr eine Schmeichelei zu sagen, nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen.

„Sie Schmeichler!“ wehrte sie selbstzufrieden ab. „Der arme Iwan Matwejewitsch,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, kokett das Köpfchen auf die Seite neigend, „er tut mir wirklich leid. Ach, mein Gott!“ rief sie plötzlich ganz erschrocken aus, „aber sagen Sie doch, wie wird er denn heute dort zu Mittag speisen und ... und ... wie wird er denn ... wenn er sonst etwas wünscht?“

„Das ist ein unvorhergesehenes Problem,“ sagte ich, gleichfalls bestürzt. „Ich habe, offen gestanden, an diese Möglichkeit noch gar nicht gedacht. Da haben wir wieder einen Beweis dafür, daß in Lebensfragen die Frauen weit praktischer sind als wir Männer!“

„Der Arme, wie ist er nur da hineingeraten! ... Und nun sitzt er da, so ganz ohne Unterhaltung! Und außerdem ist es dort noch dunkel ... Wie dumm, daß ich keine Photographie von ihm habe ... So bin ich denn jetzt eigentlich Witwe, nicht wahr?“ fragte sie mit berückendem Lächeln, sichtlich interessiert für ihren neuen Stand. „Hm! ... aber er tut mir doch trotzdem leid! ...“

Mit einem Wort – ich sah und hörte die sehr begreifliche und natürliche Sehnsucht einer jungen, interessanten Frau nach ihrem Manne. Endlich waren wir in ihrer Wohnung angelangt und nach erfolgreichen Beruhigungsversuchen, während welcher ich mit ihr zu Mittag gespeist hatte, brach ich um sechs Uhr nach einem Täßchen aromatischen Kaffees auf, um mich zu Timofei Ssemjonytsch zu begeben, denn ich nahm an, daß um diese Zeit alle Ehemänner zu Hause liegend oder sitzend anzutreffen sind.

Übrigens:

Nachdem ich das erste Kapitel in einem Stil geschrieben habe, der mir der betreffenden Erzählung angepaßt scheint, gedenke ich fernerhin einen minder hochtrabenden anzuwenden, der dafür natürlicher sein soll, wovon ich den verehrten Leser im voraus in Kenntnis setze.

II.

Timofei Ssemjonytsch empfing mich in eigentümlicher Eile und, wie es mir schien, sogar Verwirrung. Er führte mich in sein enges Arbeitszimmer und schloß die Tür hinter uns zu. „Damit die Kinder uns nicht stören,“ sagte er sichtlich besorgt und unruhig. Mit einer Handbewegung forderte er mich auf, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, während er sich selbst in einen bequemen Sessel niederließ, die Schöße seines ziemlich abgetragenen wattierten Schlafrocks übereinanderschlug und auf alle Fälle eine gewissermaßen offizielle, fast sogar strenge Miene aufsetzte, obgleich er doch weder mein noch Iwan Matwejewitschs Vorgesetzter war, sondern stets nur für unseren Kollegen und sogar guten Bekannten gegolten hatte.

„Ganz zuerst,“ hub er denn auch an, als ich meine Rede beendet hatte, „muß ich Sie bitten, in Erwägung zu ziehen, daß ich kein Vorgesetzter bin, sondern auf gleicher Stufe mit Ihnen wie mit Iwan Matwejewitsch stehe ... Mich geht also die ganze Angelegenheit nichts an, weshalb ich mich denn auch nicht in sie hineinmischen werde.“

Ich wunderte mich, – und zwar am meisten darüber, daß er bereits alles zu wissen schien. Nichtsdestoweniger erzählte ich ihm noch einmal die ganze Geschichte, und zwar noch ausführlicher. Ich sprach sogar sehr erregt, denn ich wollte doch die Pflicht eines aufrichtigen, treuen Freundes erfüllen. Doch auch diesmal hörte er mir ohne jede Verwunderung zu, dafür aber mit allen Anzeichen des Mißtrauens.

„Denken Sie sich,“ sagte er zum Schluß, „ich habe schon immer vermutet, daß gerade so etwas mit ihm geschehen würde.“

„Weshalb denn das, Timofei Ssemjonytsch? Dieser Fall ist doch an sich, sollte ich meinen, noch viel mehr als außergewöhnlich ...“

„Zugegeben. Aber Iwan Matwejewitsch neigte schon immer, während seiner ganzen dienstlichen Laufbahn, gerade zu einem solchen Abschluß. Er war gar zu hitzig, war geradezu anmaßend. Ewig das Wort ‚Fortschritt‘ im Munde und dann so verschiedene Ideen – da sieht man jetzt, wohin das führt!“

„Aber dieser Fall ist, denke ich, durchaus außergewöhnlich, man kann ihn daher doch nicht als Beweis gegen alle fortschrittlich Gesinnten ausspielen ...“

„Nein, aber das ist nun schon einmal so. Glauben Sie mir, was ich sage. Das kommt, sehen Sie mal, von übermäßiger Bildung. Jawohl. Denn die übermäßig Gebildeten wollen ihre Nasen stets überallhin stecken, vornehmlich dorthin, wo man sie nicht wünscht. Übrigens ist es ja möglich, daß sie mehr wissen,“ unterbrach er sich plötzlich, offenbar gekränkt. „Ich bin schon alt und überdies nicht gar so gebildet; ich bin Soldatenkind und habe von unten begonnen – in diesem Jahre werde ich mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern ...“

„O, nein, Timofei Ssemjonytsch, ich bitte Sie! Im Gegenteil, Iwan Matwejewitsch wartet nur auf Ihren Rat, er vertraut sich ganz Ihrer Leitung an. Er wartet nur auf ein Wort von Ihnen, wartet sogar sozusagen tränenden Auges ...“

„‚Sozusagen tränenden Auges‘. Hm! Nun, diese Tränen werden wohl Krokodilstränen sein, die man nicht ernst zu nehmen braucht. Weshalb, sagen Sie mir das doch, bitte, weshalb wollte er ins Ausland reisen? Und mit welchem Gelde schließlich? Er selbst hat doch kein Vermögen.“

„O, diese Summe hat er sich zusammengespart, Timofei Ssemjonytsch,“ versetzte ich mitleidig. „Er wollte ja nur auf drei Monate verreisen ... in die Schweiz ... in die Heimat Wilhelm Tells ...“

„Wilhelm Tells? Hm!“

„In Neapel wollte er den Frühling empfangen. Wollte die Museen besichtigen, Sitten und Tiere kennen lernen.“

„Hm! Tiere? Meiner Ansicht nach wollte er es einfach aus Stolz. Was für Tiere denn? Tiere! Gibt es denn bei uns nicht genug Tiere? Wir haben Menagerien, Museen, Kamele ... Bären gibt’s sogar in nächster Nähe von Petersburg. Aber da ist er ja nun glücklich selbst in ein Tier hineingeraten, und noch dazu in ein Krokodil!“

„Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich, der Mensch ist im Unglück, der Mensch wendet sich an Sie als Freund, wie man sich etwa an einen älteren Verwandten wendet, er bittet Sie um Ihren Rat, Sie aber ... machen ihm Vorwürfe! ... So haben Sie doch wenigstens mit Jelena Iwanowna Mitleid!“

„Sie meinen seine Frau? Hm! Ein interessantes Dämchen,“ meinte Timofei Ssemjonytsch, augenscheinlich etwas aufgeweckter, und schnupfte mit Genuß seinen Tabak. „Ein subtiles Frauenzimmerchen. So–o ... rundlich, und das Köpfchen hält sie immer so ein wenig zur Seite geneigt, so ein wenig ... Ja. Sehr angenehm. Andrei Ossipytsch sprach noch vorgestern von ihr.“

„Er sprach von ihr?“

„Jawohl, und zwar in sehr schmeichelhaften Ausdrücken. Die Büste, sagte er, der Blick, die Coiffure – ein wahres Bonbon, sagte er, aber kein Frauenzimmer, und darnach lachte er. Was wollen Sie, er ist ja ein noch junger Mann.“ Timofei Ssemjonytsch schneuzte sich, als wolle er trompeten.

„Tja, und da haben wir nun diesen anderen jungen Mann, und sehen Sie, was der sich plötzlich für eine exzentrische Laufbahn wählt ...“

„Aber hier handelt es sich doch um etwas ganz anderes, Timofei Ssemjonytsch!“

„Gewiß, gewiß.“

„Also wie bleibt es denn nun, Timofei Ssemjonytsch?“

„Tja, was kann ich denn hierbei ausrichten?“

„Aber so raten Sie doch wenigstens zu irgend etwas, sagen Sie, was wir tun sollen, Sie sind doch ein erfahrener Mensch! Welche Schritte soll man tun? Soll man durch die Vorgesetzten oder ...“

„Durch die Vorgesetzten? Nein, das in keinem Fall,“ versetzte Timofei Ssemjonytsch eilig. „Wenn Sie meinen Rat zu hören wünschen, so muß man die Sache zuerst vertuschen und sozusagen ganz privatim vorgehen. Denn der Fall ist verdächtig und außerdem neu, noch nie dagewesen. Das ist die Hauptsache, daß es sich hier um etwas Noch-nie-dagewesenes handelt, es hat hierfür noch kein Beispiel, keinen Präzedenzfall gegeben, und schon deshalb ist er eine schlechte Empfehlung ... Daher ist vor allem Vorsicht geboten ... Mag er dort vorläufig liegen. Man muß abwarten, abwarten muß man ...“

„Ja, aber wie lange denn abwarten, Timofei Ssemjonytsch? Und wie, wenn er dort erstickt?“

„Tja, weshalb denn das? Sie sagten doch, glaube ich, daß er sich dort ganz behaglich fühle?“

Ich erzählte nochmals den ganzen Vorgang von Anfang an. Timofei Ssemjonytsch wurde nachdenklich.

„Hm!“ meinte er dann, indem er die Schnupftabakdose in der Hand drehte. „Meiner Ansicht nach kann es nicht schaden, wenn er dort eine Zeitlang abliegt, anstatt sich im Auslande herumzutreiben. Mag er jetzt einmal in Muße nachdenken. Natürlich ist es nicht nötig, dabei zu ersticken, deshalb wäre es angebracht, gewisse Vorkehrungen zur Erhaltung der Gesundheit zu treffen, sich, zum Beispiel, vor Husten in acht zu nehmen, vor diesem und jenem usw. Was aber den Deutschen betrifft, so ist er, meiner persönlichen Ansicht nach, durchaus in seinem Recht, denn es ist sein Krokodil, in das Iwan Matwejewitsch, ohne ihn, den Besitzer, um Erlaubnis zu fragen, hineingekrochen ist, nicht umgekehrt, nicht der Deutsche in Iwan Matwejewitschs Krokodil, obschon übrigens dieser, soviel ich weiß, niemals ein Krokodil besessen hat. Nun, das Krokodil ist aber in diesem Fall persönliches Eigentum, folglich kann man es nicht so ohne weiteres aufschneiden, das heißt – ohne dem Besitzer den geforderten Schadenersatz zu zahlen.“

„Aber zur Rettung eines Menschen, Timofei Ssemjonytsch!“

„Tja, sehen Sie, das ist Sache der Polizei. Also wenden Sie sich an diese.“

„Aber schließlich kann ja Iwan Matwejewitsch auch bei uns vermißt werden. Man kann vielleicht irgendwelche Aufschlüsse von ihm verlangen, ihn zu Rate ziehen wollen ...“

„Wen das? – Iwan Matwejewitsch! He–he! ... Zudem hat er ja jetzt Ferien, folglich ignorieren wir ihn und sein Treiben, – mag er dort inzwischen Europa besichtigen, was geht es uns an! Eine andere Sache ist es, wenn er nach Ablauf der Frist nicht pünktlich erscheint. Nun, dann werden wir uns erkundigen, Nachforschungen anstellen ...“

„Nach drei Monaten! Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich!“

„Tja – ... Es ist seine eigene Schuld! Wer hat ihn gebeten, ins Krokodil zu kriechen? Das käme ja schließlich darauf hinaus, daß der Staat ihm noch eine Wärterin halten muß, das ist aber in keinem Budget vorgesehen. Doch die Hauptsache: das Krokodil ist persönliches Eigentum, folglich tritt hier bereits das sogenannte ökonomische Prinzip in Aktion. Das ökonomische Prinzip aber geht allem voran. Noch vorgestern sprach Ignatij Prokofjitsch auf dem Gesellschaftsabend bei Luka Andrejewitsch ganz vorzüglich über diesen Punkt. Sie kennen doch Ignatij Prokofjitsch? Ein Kapitalist, homme d’affaires, und er redet, wissen Sie, ganz vorzüglich. ‚Wir brauchen Gewerbe,‘ sagt er, ‚Gewerbe tut uns not.‘ Wir müssen es eben schaffen, wir müssen es sozusagen erst gebären. Dazu müssen wir zuerst Kapital schaffen, das heißt, der Mittelstand, die sogenannte Bourgeoisie muß geboren werden. Da wir aber hierzulande selbst kein Kapital haben, müssen wir es aus dem Auslande heranziehen. Vor allem muß man den ausländischen Gesellschaften, die hier den Landankauf im großen betreiben, die ganze Bezirke kaufen wollen, mit günstigeren Bedingungen entgegenkommen. ‚Dieses Gemeindewesen, wie wir es jetzt haben, mit dem gemeinsamen Arbeiten und dem gemeinsamen Besitz, der doch ebensogut wie kein Besitz ist – ist einfach Gift,‘ sagte er, ‚einfach unser Ruin!‘ Und wissen Sie, er redet so mit Feuer, mit Temperament. Nun, ihm steht es auch zu: ein Kapitalist! ... Das ist etwas anderes als ein Beamter. ‚Mit diesem Gemeindewesen,‘ sagt er, ‚wird man weder unser Gewerbe, noch unsere Landwirtschaft heben. Die ausländischen Gesellschaften müßten nach Möglichkeit unser ganzes Land ankaufen und dann müßte man die größeren Bezirke in kleinere teilen, teilen, teilen, in möglichst kleine Parzellen teilen,‘ – und wissen Sie, er sagt das so kategorisch: tei–len, tei–len, sagt er und schneidet so mit der Hand – ‚und dann die einzelnen Landstücke an die Bauern verkaufen, die sie als persönliches Eigentum erwerben wollen. Oder auch nicht einmal verkaufen, sondern einfach verpachten. Wenn dann das ganze Land in den Händen der ausländischen Gesellschaften sein wird,‘ sagt er, ‚dann kann man jeden beliebigen Preis als Pacht ansetzen. Folglich wird der Bauer allein für sein tägliches Brot dreimal soviel arbeiten, wie er jetzt arbeitet, und sobald es einem paßt, kündigt man ihm. Folglich wird er sich in acht nehmen, wird gehorsam sein, fleißig, und das Dreifache von dem, was er jetzt arbeitet, für denselben Preis leisten. Was fehlt ihm jetzt in der Gemeinde! Er weiß, daß er vor Hunger nicht sterben wird, na, und da faulenzt er eben und säuft. So aber würde hier Geld aus allen Ländern zusammenfließen und würden Kapitale entstehen und eine Bourgeoisie. Es sagt ja auch die große englische Zeitung, The Times, die vor nicht langer Zeit einen Artikel über unsere Finanzen gebracht hat, daß unsere Finanzen sich eben nur deshalb nicht bessern, weil wir keinen Mittelstand haben, weil es bei uns keine großen Beutel gibt und keine arbeitsfähigen Proletarier ...‘ Ja, Ignatij Prokofjitsch spricht gut, das muß man ihm lassen. Ein geborener Redner. Jetzt beabsichtigt er eine Schrift einzureichen, die soll direkt an die Behörden gehen und nachher will er sie in den „Nachrichten“ veröffentlichen. Tja, das ist etwas anderes als Gedichte machen, wie sie ein Iwan Matwejewitsch schreibt ...“

„Ja, aber wie bleibt es denn nun mit Iwan Matwejewitsch?“ lenkte ich wieder ein, nachdem ich den Alten hatte ausreden lassen.

Timofei Ssemjonytsch sprach sich mitunter ganz gern einmal aus, um bei der Gelegenheit zu beweisen, daß er nicht etwa zurückgeblieben, sondern von allen neuen Strömungen wenigstens unterrichtet war.

„Wie es mit Iwan Matwejewitsch bleibt? Tja, das ist es ja, wovon ich rede. Da bemühen wir uns nun um Heranziehung fremden Kapitals, doch kaum hat sich das Kapital des herangezogenen Krokodilbesitzers durch Iwan Matwejewitsch verdoppelt, da wollen wir, anstatt jetzt die Gelegenheit zu benutzen und den ausländischen Besitzer zu protegieren, im Gegenteil nichts weniger als seinem Grundkapital den Bauch aufschlitzen! Nun, ich bitt’ Sie, geht denn das? Meiner Ansicht nach müßte sich Iwan Matwejewitsch, wenn er ein treuer Sohn seines Vaterlandes wäre, aufrichtig glücklich schätzen, sich freuen und stolz darauf sein, daß er durch seine Person den Wert des ausländischen Krokodils verdoppelt oder gar verdreifacht hat. Das aber ist ja die erste Bedingung zu einer erfolgreichen Heranziehung fremden Kapitals. Glückt es hier dem ersten, dann wird auch der zweite nicht lange auf sein Erscheinen warten lassen, und der dritte wird dann vielleicht ganze drei oder vier Krokodile mitbringen, und um diese beginnen dann die Kapitale sich zu gruppieren. Da hätten wir alsdann die Bourgeoisie! Tja, man muß eben begünstigen, begünstigen ...“

„Erbarmen Sie sich, Timofei Ssemjonytsch!“ rief ich aus, „Sie verlangen ja eine ganz übermenschliche Selbstaufopferung vom armen Iwan Matwejewitsch!“

„Ich verlange nichts, und vor allem bitte ich Sie – wie ich es schon einmal getan – nicht zu vergessen, daß ich nicht sein Vorgesetzter bin und somit von niemandem etwas verlangen kann. Ich rede nur als Sohn meines Vaterlandes – das heißt, nicht als ‚Sohn des Vaterlandes‘, wie eine unserer großen Zeitungen sich nennt, sondern als gewöhnlicher Sohn meines Vaterlandes. Und überdies die Frage: wer hat ihn denn gebeten, in dieses Krokodil hineinzukriechen? Bedenken Sie doch nur: ein solider Mensch, ein Beamter, der bereits einen gewissen Rang erreicht hat, außerdem rechtmäßig verheiratet ist, und plötzlich – solch ein Schritt! Sagen Sie doch selbst!“

„Aber dieser Schritt geschah doch ganz unfreiwillig, nur aus Versehen!“

„Wer kann das wissen? Und zudem, aus welcher Kasse soll dem Deutschen das Krokodil bezahlt werden? – wenn Sie mir das gefälligst sagen könnten.“

„Ginge es nicht a Konto des Gehalts?“

„Wird das ausreichen?“

„Nein, freilich nicht,“ mußte ich zu meinem Kummer zugeben. „Der Deutsche erschrak zuerst nicht wenig, denn er glaubte, sein Krokodil würde platzen; dann aber, als er sich überzeugt hatte, daß alles glücklich abgelaufen war, wurde er gerader größenwahnsinnig und freute sich sehr über die Möglichkeit, den Eintrittspreis zu verdoppeln.“

„Zu verdreifachen, zu vervierfachen! Das Publikum wird sich jetzt um Eintrittskarten reißen! Und ein Krokodilbesitzer ist nicht so dumm, daß er das nicht auszunutzen verstände! Nein, ich wiederhole: mag Iwan Matwejewitsch vorläufig ganz inkognito nur beobachten, ohne sich zu übereilen. Mögen es alle meinethalben wissen, daß er sich im Krokodil befindet, aber möge man es nicht offiziell wissen. In dieser Hinsicht trifft es sich sogar sehr gut, daß er offiziell als verreist gilt und man ihn im Auslande glaubt. Wenn man uns also benachrichtigt, daß er sich im Krokodil befindet, so werden wir es eben einfach nicht glauben. Das läßt sich sehr leicht so machen. Die Hauptsache ist also nur: abwarten. Ja, und es hat doch damit gar keine Eile ...“

„Aber wenn er zum Beispiel ...“

„Beunruhigen Sie sich nicht, der ist widerstandsfähig ...“

„Ja aber, was dann, wenn er sich nun geduldet hat?“

„Tja, ich will es Ihnen nicht verheimlichen, daß es ein sehr verzweifelter Fall ist. Mit Überlegungen kommt man hier nicht vorwärts. Aber das Schlimmste ist, daß wir bisher nichts Ähnliches gehabt haben, wie gesagt: uns fehlt ein Präzedenzfall, ein Beispiel. Hätten wir nur einen einigermaßen ähnlichen Fall, so könnte man noch so manches ausrichten. Denn sonst – wie will man sich hier zurechtfinden? Fängt man an nachzudenken, so kann er lange warten ...“

Da kam mir plötzlich ein glücklicher Gedanke.

„Aber könnte man es nicht so machen,“ unterbrach ich ihn, „daß man, wenn er nun einmal im Bauche des Krokodils ist und dieses dank himmlischer Vorsehung nicht früher eingeht, – kann man dann nicht in seinem Namen eine Bittschrift einreichen, daß man ihm diese Zeit als Dienst anrechne? ...“

„Hm! ... es sei denn, daß man sie als Urlaub anrechnet und selbstverständlich kein Gehalt für diese Zeit zu zahlen braucht ...“

„Nein, ginge es nicht mit dem Gehalt?“

„Auf Grund wessen denn das, wenn ich fragen darf?“

„Ach, sehr einfach. Indem man die Sache so hinstellt, als sei er dorthin abkommandiert ...“

„Was! – wohin?“

„In das Krokodil natürlich! ... Und einfach sozusagen zur Nachforschung und Untersuchung der Tatsachen an Ort und Stelle. Das würde natürlich etwas Neues sein, aber zugleich doch fortschrittlich, und außerdem würde es eine Bemühung um Aufklärung sein ...“

Timofei Ssemjonytsch überlegte.

„Einen Beamten,“ begann er endlich, „in das Innere eines Krokodils abzukommandieren, mit besonderen Aufträgen, versteht sich, ist meiner persönlichen Ansicht nach – Unsinn. Im Budget ist so etwas nicht vorgesehen. Und was könnten denn das für Aufträge sein?“

„Vielleicht ... so zur wissenschaftlichen Untersuchung der Naturvorgänge an Ort und Stelle, mitten im Leben sozusagen. Heutzutage ist doch Naturwissenschaft Trumpf ... Da könnte er denn dort leben und alles mitteilen ... nun, gleichviel, sagen wir: wie die Verdauung vor sich geht, so gewissermaßen den Prozeß des Verdauens beobachten, oder sonst etwas Ähnliches. Um eben Tatsachenmaterial zu sammeln ...“

„Das wäre also, sagen wir, etwas in der Art einer analytischen Statistik. Nun, was das betrifft, muß ich sagen, daß ich nicht viel davon verstehe, ich bin kein Philosoph. Sie sagen: Tatsachenmaterial, – wir sind doch ohnehin schon mit Tatsachen überhäuft und wissen nicht, was wir mit ihnen anfangen sollen. Hinzu kommt, daß diese Statistik auch noch gefährlich ist ...“

„Inwiefern denn das?“

„Jawohl: gefährlich. Und zudem – das werden Sie doch einsehen – würde er die Tatsachen mitteilen, indem er auf der Seite liegt. Was ist aber das für ein Dienst, der liegend verrichtet wird? Das wäre schon wieder eine Neueinführung, die außerdem gefährlich ist. Und weiter: es fehlt uns jegliches Beispiel. Tja, wenn Sie uns nur ein einziges kleines Vorbild nennen könnten, wenn auch nur ein einigermaßen ähnliches, so ließe es sich, meiner Ansicht nach, eventuell noch machen, daß man ihn dorthin abkommandiert.“

„Ja, aber bis hierzu ist doch noch kein lebendiges Krokodil nach Rußland gebracht worden, Timofei Ssemjonytsch!“

„Hm! Ja ...“ Er überlegte. „Wenn Sie wollen, ist diese Ihre Einwendung richtig und könnte sogar zur Basis eines entsprechenden Verfahrens in dieser Angelegenheit dienen. Aber andererseits müssen Sie auch wieder in Betracht ziehen, daß mit dem Erscheinen lebender Krokodile die Beamten anfangen würden zu verschwinden, und bald würden sie alle verlangen, zumal es dort warm und weich ist, abkommandiert zu werden, um dann auf der Bärenhaut liegen zu können ... das ist doch, nicht wahr, ein schlechtes Beispiel! So kann ja schließlich ein jeder dorthin wollen, um auf diese Weise sein Gehalt ohne jede Mühe zu erhalten.“

„Nun, jedenfalls werden Sie doch ein gutes Wort für ihn einlegen, Timofei Ssemjonytsch? Bei der Gelegenheit: Iwan Matwejewitsch hat mich gebeten, Ihnen eine kleine Kartenschuld zu übergeben, sieben Rubel waren es, glaube ich.“

„Ach richtig, die verlor er letztens bei Nikifor Nikiforytsch. Ich weiß. Und wie guter Laune er damals war, er scherzte, lachte, und jetzt! ...“

Der alte Mann war aufrichtig gerührt.

„Also Sie tun etwas für ihn, Timofei Ssemjonytsch?“

„Gewiß, gewiß. Ich werde mich so unter der Hand erkundigen, nur um zu sondieren ... Aber übrigens – könnten Sie nicht irgendwie, sagen wir, inoffiziell, so auf Umwegen in Erfahrung bringen, wieviel der Besitzer nötigen Falles für sein Krokodil verlangen würde?“

Timofei Ssemjonytsch war ersichtlich gütiger geworden.

„O, unbedingt,“ versprach ich freudig, „und wenn Sie erlauben, werde ich bei Ihnen vorsprechen, sobald ich es erfahren habe.“

„Und seine Frau ... die ist jetzt wohl allein zu Hause? Langweilt sich?“

„Würden Sie sie nicht besuchen, Timofei Ssemjonytsch?“

„Gewiß, gewiß. Ich dachte schon gestern daran, und jetzt ist es ja eine so günstige Gelegenheit ... Tja, was ihn nur geplagt haben mag, das Krokodil zu besehen. Übrigens werde ich es mir doch auch einmal anschauen müssen ...“

„Ja, besuchen Sie doch den Armen.“

„Gewiß, gewiß. Natürlich will ich ihm durch diesen meinen Schritt keine Hoffnung machen. Ich werde eben nur als Privatperson hingehen ... Nun, auf Wiedersehen, ich muß ja heute wieder zu Nikifor Nikiforytsch; werden Sie dort sein?“

„Nein, ich gehe jetzt zum Gefangenen.“

„Tja, jetzt muß man zum ‚Gefangenen‘ gehn! ’s ist doch ein Leichtsinn, ein Leichtsinn!“

Ich verabschiedete mich von ihm. Verschiedene Gedanken gingen mir durch den Kopf. Dieser Timofei Ssemjonytsch war ja ein herzensguter und grundehrlicher Mensch, als ich ihn aber verlassen hatte, freute ich mich doch, daß er in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern konnte und solche Timofei Ssemjonytschs immerhin schon eine Seltenheit bei uns geworden sind.

Ich begab mich eilig und geradenwegs in die Passage, um dem armen Iwan Matwejewitsch das Ergebnis meiner Unterredung mit unserem erfahrenen Kollegen mitzuteilen. Ich muß aber sagen, daß mich auch meine Neugier nicht wenig zu dieser Eile antrieb. Wie hatte er sich dort im Krokodil eingerichtet und wie konnte ein Mensch überhaupt in einem Krokodil leben? Wie war das möglich? Mitunter schien es mir wahrlich nur ein ungeheuerlicher Traum zu sein, um so mehr, als es sich um ein Ungeheuer handelte ...

III.

Und doch war es kein Traum, sondern unanfechtbare Wirklichkeit. Würde ich es denn sonst überhaupt erzählen! Aber ich fahre fort ...

Es war schon ziemlich spät, gegen neun, als ich endlich in der Passage anlangte. In die Menagerie konnte ich nur durch eine Hintertür gelangen, da der Besitzer seine „Ausstellung“ offiziell bereits geschlossen hatte. Er selbst ging in einem alten schmierigen Rock, doch dreimal zufriedener mit sich und der Welt, in seinen Räumen umher. Man sah es ihm auf den ersten Blick an, daß er nichts mehr befürchtete und das Publikum an diesem Nachmittage sehr zahlreich herbeigeströmt war. Seine „Mutter“ erschien erst später auf der Bildfläche, und zwar, wie es schien, nur deshalb, um mich im Auge zu behalten. Sie und ihr Gatte steckten oft die Köpfe zusammen und tuschelten geschäftig. Obschon die „Ausstellung“ geschlossen war, verlangte er von mir doch noch die üblichen fünfundzwanzig Kopeken. Gott, nichts ist schrecklicher als übertriebene Akkuratesse!

„Sie werden jedesmal zahlen, wenn Sie kommen. Das übrige Publikum zahlt jetzt einen Rubel pro Person, von Ihnen aber nehme ich nur fünfundzwanzig Kopeken, denn Sie sind ein guter Freund Ihres guten Freundes und Freundschaft respektiere ich ...“

„Lebt er, lebt er noch, mein Freund?“ rief ich laut, indem ich den Deutschen stehen ließ und zum Krokodil eilte. Im geheimen hoffte ich, daß mein lauter Ruf bis zu meinem Freunde dringen und seiner Eigenliebe schmeicheln würde.

Ich hatte mich nicht getäuscht.

„Er lebt und ist gesund,“ tönte es sogleich wie aus der Tiefe des Raumes zurück, oder wie unter einem Kissen hervor, obwohl ich fast schon beim Krokodil angelangt war. „Er lebt und ist gesund, doch davon später ... Wie steht es?“

Ich tat, als hätte ich die Frage nicht gehört und begann ihn eilig und teilnahmsvoll mit meinen Fragen zu überschütten: wie er sich fühle, wie es denn dort im Krokodil aussehe und was dort im Magen noch außer ihm sei? – wie es die gewöhnliche Höflichkeit und jedes Freundschaftsverhältnis verlangt. Doch ärgerlich und eigensinnig unterbrach er mich.

„Wie es steht?“ schrie er kreischend, wie ein geärgerter heiserer Kommandant, so daß er mir im Augenblick sehr unsympathisch war. Übrigens hatte er sich mir gegenüber oft genug diesen Befehlshaberton erlaubt.

Ich unterdrückte meinen Groll und erzählte ihm mit allen Details, was Timofei Ssemjonytsch gesagt hatte. Übrigens bemühte ich mich doch, durch den Tonfall meiner Stimme zu verstehen zu geben, daß ich mich gekränkt fühlte.

„Der Alte hat recht,“ entschied Iwan Matwejewitsch kategorisch, wie er gewöhnlich mit mir zu sprechen pflegte. „Liebe praktische Menschen und kann sentimentale Memmen nicht ausstehen. Bin aber bereit, zuzugeben, daß auch deine Idee, mich hierher abkommandieren zu lassen, nicht ganz barer Unsinn ist. Vermag allerdings vieles mitzuteilen, das sowohl wissenschaftlich wie sittlich neu ist. Doch jetzt nimmt das alles eine andere, ganz unerwartete Wendung und da lohnt es sich nicht wegen des Gehalts zu streiten. Höre aufmerksam zu. Sitzt du?“

„Nein, ich stehe.“

„Setz’ dich auf irgend etwas, meinetwegen auf den Fußboden, und höre aufmerksam zu.“

Wütend nahm ich einen Stuhl und stellte ihn so nachdrücklich hin, daß die Beine laut aufschlugen.

„Höre,“ hub er im Befehlshaberton an, „Publikum hat es heute eine Unmenge gegeben. Gegen Abend konnte der Raum die Menschen gar nicht fassen, die eintreten wollten. Der Ordnung halber erschien die Polizei. Gegen acht Uhr, also früher als sonst, schloß der Deutsche die Ausstellung, erstens um das viele Geld zu zählen und zweitens, um sich besser für morgen vorbereiten zu können. Morgen wird es hier ein ganzer Jahrmarkt werden. Es ist also anzunehmen, daß mit der Zeit alle gebildeten Leute unserer Hauptstadt, alle Damen der vornehmen Gesellschaft, alle Gesandten und Botschafter, Legationsräte, Assessoren und Juristen sich hier einfinden werden. Und nicht nur das: man wird aus allen Provinzen unseres großen, neugierigen Reiches herkommen, um das Wunder anzustaunen. Daraus ergibt sich, daß ich, obgleich persönlich unsichtbar, doch die erste Rolle spielen werde. Werde die müßige Masse belehren, werde, selbst belehrt durch eigene Erfahrung, mich als Beispiel der Demut vor dem Schicksal hinstellen! Werde, um im Bilde zu reden, ein Katheder sein, von dem herab ich die Menschheit unterweise. Schon allein die naturwissenschaftlichen Aufschlüsse, die ich über das von mir bewohnte Tier geben kann, sind unendlich wertvoll. Und deshalb murre ich nicht nur nicht wider jenen Zufall, der mich hierherbefördert hat, sondern hoffe, dank diesem Zufall, die glänzendste Karriere zu machen.“

„Wenn’s nur nicht langweilig wird,“ bemerkte ich trocken.

Am meisten ärgerte mich, daß er, wenn er von sich sprach, das persönliche Fürwort überhaupt nicht mehr gebrauchte, – so voll war er von sich! Nichtsdestoweniger machte mich dieser Ton doch stutzig. „Was bildet sich dieser dumme Kerl eigentlich ein!“ fragte ich mich geradezu empört. „Weinen müßte er, aber nicht noch großtun!“

„Nein, das wird es nicht!“ antwortete er schroff auf meine Bemerkung, „denn ich bin durchdrungen von großen Ideen. Kann erst jetzt zum erstenmal in Muße über die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschheit nachdenken. Aus diesem Krokodil soll fortan die Wahrheit und das Licht hervorgehen! Werde unfehlbar eine neue, meine eigene Theorie für die ökonomischen Verhältnisse erfinden und stolz auf sie sein können – was mir bisher infolge des Bureaudienstes und der flachen weltlichen Zerstreuungen nicht möglich war. Werde alles widerlegen, werde meine Gegenbeweise vorbringen und ein neuer Charles Fourier werden. Hast du Timofei Ssemjonytsch die sieben Rubel gegeben?“

„Ja, aus meiner Tasche,“ antwortete ich, und zwar so, daß allein schon der Ton meiner Stimme sagte, daß ich seine Schuld aus meiner Tasche bezahlt hatte.

„Das wird dir bezahlt werden,“ sagte er hochmütig. „Erwarte unbedingt eine Gehaltserhöhung, denn wem sollte man sonst eine zusprechen, wenn nicht mir? Ich bringe jetzt unendlichen Nutzen. Doch zur Sache. – Meine Frau?“

„Du willst dich wohl nach dem Befinden Jelena Iwanownas erkundigen?“

„Meine Frau?!“ schrie er gerader wie ein altes Weib.

Da war natürlich nichts zu machen. Gehorsam, doch innerlich knirschend erzählte ich, wie ich Jelena Iwanowna nach Hause begleitet und verlassen hatte. Er unterbrach mich jedoch, noch bevor ich zu Ende erzählt hatte.

„Ich habe besondere Absichten mit ihr,“ sagte er gereizt. „Werde ich hier berühmt, nun, so will ich, daß sie dort berühmt werde. Alle Gelehrten, Dichter, Philosophen, Zoologen, ausländische wie inländische, alle Staatsmänner werden, nach ihrer Unterhaltung mit mir am Vormittage, am Abend in ihrem Salon erscheinen. In der nächsten Woche muß sie jeden Abend bei sich empfangen. Mein verdoppeltes Gehalt wird ihr die Mittel geben, die Kosten zu bestreiten, und da sich so etwas sehr gut nur mit Tee und Lohndienern machen läßt, so brauchen wir über den Kostenpunkt weiter kein Wort zu verlieren. Hier wie dort wird man nur von mir reden. Habe mich lange nach einer Gelegenheit gesehnt, die von mir reden machen könnte, doch blieb mir die Erfüllung dieses Wunsches versagt, da ich durch meinen Rang und meine Bedeutung gebunden war. Jetzt ist alles dank dem einen ingeniösen Einfall des Krokodils ohne weiteres erreicht. Jedes meiner Worte wird jetzt niedergeschrieben, jeder Ausspruch erörtert, weitergegeben, gedruckt werden. Werde mich ihnen offenbaren! Sie werden begreifen, welche Fähigkeiten sie im Eingeweide eines Krokodils fast haben umkommen lassen. ‚Dieser Mann könnte ein Minister sein und ein ganzes Königreich regieren!‘ werden sie sagen. Inwiefern, sag’ doch selbst, inwiefern bin ich schlechter als irgend solch ein Garnier-Pagès oder wie sie da heißen? Meine Frau muß ein Pendant zu mir sein: ich glänze durch meinen Verstand – sie durch Schönheit und Liebenswürdigkeit. ‚Sie ist entzückend, deshalb ist sie seine Frau,‘ werden die einen sagen. ‚Sie ist entzückend, weil sie seine Frau ist,‘ werden die anderen den Ausspruch verbessern. Jedenfalls sage ihr, daß sie sich sogleich morgen das enzyklopädische Lexikon kaufen soll, das von Andrei Krajewskij herausgegeben worden ist, um über alles reden zu können. Doch soll sie vor allen Dingen stets den Leitartikler in den ‚St. Petersburger Nachrichten‘ lesen und täglich mit dem Leitartikel des ‚Woloß‘ vergleichen. Nehme an, daß der Besitzer einwilligen wird, mich bisweilen mit dem Krokodil in den Salon meiner Frau zu bringen. Werde dann auf dem Boden dieses Blechkastens mitten im glänzenden Salon stehen und mit Bonmots, die ich mir schon vom Morgen an zurechtlegen kann, nur so um mich werfen. Dem Staatsmanne werde ich meine Projekte vorlegen; mit dem Dichter werde ich nur in Reimen reden; mit den Damen werde ich unterhaltend und amüsant sein, – da ich ja jetzt für ihre Männer ganz ungefährlich bin. Allen übrigen werde ich als Vorbild dienen, als Beispiel demutvoller Ergebung und Unterordnung meines Willens unter denjenigen der Vorsehung. Meine Frau werde ich zu einer glänzenden literarischen Erscheinung machen, ich werde sie hervorheben und dem Publikum erklären; als meine Frau muß sie die größten Vorzüge haben, und wenn man mit Recht Andrei Alexandrowitsch unseren Alfred de Musset nennt, so wird man sie mit noch größerem Recht unsere Eugenie Tour nennen.“

Offen gestanden, mir kam der Gedanke, daß mein Iwan Matwejewitsch, obschon dieser ganze Unsinn an den ehemaligen Iwan Matwejewitsch erinnerte, zur Zeit, wenn auch nicht gerade unheilbar erkrankt war, so doch hohes Fieber haben mußte und demzufolge phantasierte. Im Grunde war es ja ganz derselbe alltägliche Iwan Matwejewitsch, nur – wie soll ich sagen? – etwa durch ein zwanzigfaches Vergrößerungsglas gesehen.

„Mein Freund,“ begann ich möglichst sanft, „hoffst du, bei diesem Leben ein hohes Alter zu erreichen? Und überhaupt, sage doch: bist du gesund? Was ißt du, wie schläfst du, wie atmest du? Ich bin dein Freund, und du wirst doch zugeben, daß dieser Fall gar zu übernatürlich ist, um mein Interesse nicht natürlich erscheinen zu lassen.“

„Es ist nur müßige Neugier von dir und nichts weiter,“ widersprach er ärgerlich. „Doch ich will sie trotzdem befriedigen. Du fragst, wie ich mich hier im Leibe des Krokodils eingerichtet habe? Erstens hat sich das Krokodil zu meiner Überraschung als etwas vollkommen Leeres erwiesen. Sein Inneres besteht gleichsam aus einem großen leeren Sack, der an jene Gummigegenstände erinnert, die man in den Schaufenstern der großen Kaufläden an der Morskaja, Gorochowaja und, wenn ich nicht irre, auch auf dem Wosnessenskij Prospekt ausgestellt sieht. Denn – sage es dir doch selbst – wie könnte ich mich sonst hier aufhalten?“

„Ist’s möglich!“ rief ich in begreiflicher Verwunderung aus. „Ist das Krokodil wirklich ganz leer?“

„Vollkommen leer,“ bestätigte Iwan Matwejewitsch streng und nachdrücklich. „Und aller Wahrscheinlichkeit nach ist es das gemäß den Gesetzen seiner Natur. Das Krokodil setzt sich zusammen aus einem großen Rachen, der mit scharfen Zähnen versehen ist, und außerdem einem langen Schwanze, – und das ist das ganze Krokodil, genau genommen. In der Mitte aber zwischen diesen zwei Extremitäten ist ein leerer Raum, der von einer kautschukartigen Masse umfaßt wird – wahrscheinlich ist es wirklicher Kautschuk ...“

„Aber die Rippen, der Magen, die Gedärme, die Leber, das Herz?“ unterbrach ich ihn fast persönlich gekränkt.

„Davon gibt’s hier n–nichts, absolut nichts, und aller Wahrscheinlichkeit nach hat’s davon auch niemals etwas hier gegeben. Alles das ist nur eine freie Erfindung der müßigen Phantasie leichtsinniger Reisender. Wie man ein aus Gummi hergestelltes Sitzkissen aufbläst, so kann ich jetzt mein Krokodil aufblasen. Sein Inneres ist bis zur Unglaublichkeit dehnbar. Selbst du könntest noch als Hausfreund hier Platz finden, wenn du so großmütig wärest, mir Gesellschaft leisten zu wollen. Ich habe sogar daran gedacht, im äußersten Fall Jelena Iwanowna hierher zu beordern. Übrigens stimmt diese leere Beschaffenheit des Krokodils vollkommen mit den wissenschaftlichen Angaben überein. Denn, nehmen wir zum Beispiel an, daß dir der Auftrag zuteil würde, ein neues Krokodil zu schaffen, so würde sich vor dir doch unwillkürlich die Frage erheben: welches ist der Lebenszweck eines Krokodils? Die Antwort liegt auf der Hand: Menschen zu verschlingen. – Wie nun das Innere des Krokodils zweckmäßig schaffen, damit es ohne eigene Lebensgefahr Menschen verschlingen kann? Auf diese Frage ist die Antwort noch leichter: man läßt es – leer sein. Wie du weißt, hat die Physik bewiesen, daß die Natur keine Leere duldet. Infolgedessen wird durch diese Leere, die die Natur nicht duldet, die Funktion des Krokodils hervorgerufen, denn die Leere, die erwiesenermaßen nicht leer bleiben kann, muß sich nach dem einfachen Gesetz der Natur füllen, und folglich greift sie ganz naturgemäß nach allem, was sich in ihrem Bereich befindet. Damit hast du den Grund, weshalb alle Krokodile Menschen verschlingen. Das ist das Gesetz von der funktionierenden Leere. Doch gilt es selbstverständlich nicht für alle Lebewesen. Ganz anders ist zum Beispiel der Mensch beschaffen: je leerer zum Beispiel der Kopf eines Menschen ist, um so weniger hat er das Bedürfnis, sich zu füllen, doch ist das wiederum nur als eine Ausnahme aus der allgemeinen Regel zu betrachten. Alles dieses ist mir jetzt so klar wie der Tag, und alles, was ich dir hier sage, hat mir mein eigener Verstand erschlossen, durch eigene Anschauung, während ich mich im Eingeweide der Natur selbst befand, an der Quelle ihrer Geheimnisse, kann sagen, ihrem Pulsschlag lauschend. Sogar die Ethymologie stimmt mit mir überein, denn allein schon der Name des Tieres bedeutet Gesprächigkeit. Krokodil – Crocodillo – ist zweifellos ein italienisches Wort, das vielleicht aus der Zeit stammt, in der in Ägypten die alten Pharaonen herrschten, ein Wort, das offenbar das französische Wort croquer zur Wurzel hat. Was ich dir soeben gesagt habe, gedenke ich als erste Lektion zu lesen, vor dem Publikum, versteht sich, das sich in Jelena Iwanownas Salon versammeln wird, wenn man mich in diesem Kasten hinbringt.“

„Lieber Freund, sag’ mal, würdest du nicht irgend eine erleichternde Arznei einnehmen wollen?“ fragte ich unwillkürlich. „Er hat Fieber, er fiebert, er muß hochgradiges Fieber haben!“ dachte ich angstvoll.

„Unsinn!“ sagte er verächtlich. „Und außerdem wäre eine Purganz in meinem gegenwärtigen Logis nicht ganz angebracht. Übrigens konnte ich es mir denken, daß du unfehlbar mit so etwas kommen würdest.“

„Aber, Freund, wie ... wie wirst du denn jetzt überhaupt etwas zu dir nehmen? Hast du heute zu Mittag gespeist?“

„Nein, das nicht, aber ich bin vollkommen satt und werde höchstwahrscheinlich überhaupt nichts mehr genießen. Doch auch dieses ist durchaus erklärlich: indem ich das ganze Innere des Krokodils erfülle, mache ich es auf ewig satt. Jetzt braucht man es jahrelang nicht zu füttern. Und andererseits: indem das Krokodil durch mich satt ist, gibt es wiederum mir alle Lebenssäfte aus seinem Körper. Das ist ungefähr dieselbe Ernährungsmethode, die raffinierte Schönheiten anwenden, wenn sie zur Nacht ihren ganzen Körper mit rohen Koteletts bedecken, und dann am nächsten Morgen nach einem duftenden Bade wieder frisch, kräftig, geschmeidig und verführerisch sind. So erhalte ich, indem ich das Krokodil ernähre, von ihm alle Nahrungssäfte zurück, folglich ernähren wir uns gegenseitig. Da es aber selbst einem Krokodil schwer fallen dürfte, einen Menschen von meiner Konstitution zu verdauen, so ist anzunehmen, daß es eine gewisse Schwere im Magen empfindet – obwohl es keinen Magen hat. Doch das tut nichts zur Sache. Deshalb bewege ich mich hier so wenig als möglich, obschon mich nichts hindern würde, doch unterlasse ich es einfach aus Humanität. Diese geringe Bewegungsmöglichkeit wäre das einzige, was ich an meinem gegenwärtigen Zustande auszusetzen hätte, und im allegorischen Sinne hat Timofei Ssemjonytsch durchaus recht, wenn er sagt, ich läge auf der Bärenhaut. Ich werde aber beweisen, daß man auch liegend das Schicksal der Menschheit umstürzen kann. Alle großen Ideen und alle neuen Tendenzen unserer Zeitungen und Zeitschriften stammen augenscheinlich von Leuten, die auf der Bärenhaut liegen; das ist auch der Grund, weshalb man sie Kabinettideen nennt ... Doch übrigens – gleichviel wie man sie nennt! Ich werde jetzt ein ganz spezielles System erfinden, – du ahnst nicht, wie leicht das ist! Man braucht sich nur irgendwohin in die Einsamkeit zurückzuziehen oder auch in ein Krokodil hineinzugeraten, die Augen zu schließen, und im Nu hat man ein ganzes Paradies für die Menschheit erfunden. Vorhin, als ihr mich verließt, machte ich mich sogleich daran, zu erfinden, und an diesem einen Nachmittage habe ich ganze drei Systeme erfunden und soeben bin ich beim vierten. Es ist wahr, zuerst muß man alles Bestehende verwerfen, man muß einfach alles umstürzen; aber aus dem Krokodil heraus ist das so leicht; ja aus dem Krokodil gesehen wird alles gleichsam sichtbarer ... Übrigens gibt es hier doch noch einiges zu bemängeln, freilich nur Nebensächliches: es ist hier zum Beispiel etwas feucht und wie mit Schleim bedeckt und außerdem riecht es nach Gummi, ganz genau so wie meine alten Galoschen vom vorigen Jahr. Aber das ist auch alles, was es hier zu bemängeln gibt ...“

„Iwan Matwejewitsch,“ unterbrach ich ihn, „was du da redest, erscheint mir so wunderlich, daß ich kaum meinen Ohren traue. Aber sage mir doch wenigstens das eine: hast du wirklich die Absicht, überhaupt nicht mehr zu essen?“

„Du oberflächlicher, müßiger Mensch, um was du dich sorgst! Ich rede von großen Ideen, du aber ... So höre denn, daß mich die großen Ideen sättigen und die Nacht, die mich umgibt, taghell erleuchten. Übrigens hat der gutmütige Deutsche, der Eigentümer des Krokodils, sich mit seiner herzensguten Mutter beraten und da haben sie beide beschlossen, mir jeden Morgen durch den Rachen des Krokodils ein gebogenes Metallröhrchen zuzustecken, damit ich durch dasselbe Kaffee, Tee oder Bouillon mit aufgeweichtem Zwieback genießen könne. Die Röhre ist bereits bestellt, gleichfalls bei einem Deutschen hier in der Nachbarschaft, doch ist sie, glaube ich, nur unnützer Luxus. Zu leben aber hoffe ich mindestens tausend Jahre, wenn es wahr ist, daß ein Krokodil so lange leben kann ... Jawohl! gut, daß ich das nicht vergessen habe: sieh doch morgen in einer Naturgeschichte nach und teile mir dann mit, wie lange ein Krokodil lebt, denn es ist möglich, daß ich es mit irgend einem anderen vorsintflutlichen Tiere verwechsle. Nur eines erregt mein Bedenken: wie du weißt, bin ich angekleidet und zwar ist mein Anzug aus russischem Tuch und an den Füßen habe ich Stiefel, daher kann das Krokodil mich offenbar nicht verdauen. Hinzu kommt, daß ich lebendig bin, mich deshalb der Verdauung mit meiner ganzen Willenskraft widersetze, denn begreiflicherweise will ich mich nicht in das verwandeln, in was sich schließlich jede Speise verwandelt, da ein solches Ende gar zu erniedrigend für mich wäre. Nun fürchte ich aber, daß der Stoff meines Anzuges einer tausendjährigen Frist nicht standhalten wird; er kann, als minderwertige russische Ware, früher verwesen und dann würde ich ohne diesen äußeren Schutz trotz meines ganzen Unwillens oder Willens, vielleicht doch verdaut werden, denn wenn ich es auch tagsüber unter keiner Bedingung zulassen werde, so kann mich doch in der Nacht, wenn der Wille mich im Schlaf verläßt, das gewöhnliche Schicksal einer genossenen Kartoffel oder Fleischpastete ereilen. Diese Möglichkeit, oder auch nur der bloße Gedanke an diese Möglichkeit macht mich rasend. Allein schon aus diesem Grunde müßte man den Zolltarif ändern und den Import englischer Stoffe begünstigen, denn da sie fester sind, würden sie den zersetzenden Einflüssen der Natur länger Widerstand bieten, falls jemand in einem solchen Anzug in ein Krokodil hineingerät. Jedenfalls werde ich mein diesbezügliches Projekt bei nächster Gelegenheit einem Staatsmanne vorlegen und gleichzeitig auch den Berichterstattern unserer Tageszeitungen. Mögen sie es erörtern! Hoffe aber, daß sie nicht nur diese Idee von mir annehmen werden. Ich sehe voraus, daß jeden Morgen eine ganze Schar dieser Leute sich um mich drängen wird, um diesen Blechkasten, um meine Beurteilungen der neuesten Telegramme zu vernehmen und jedes Wort, das ich fallen lasse, gierig zu erhaschen. Mit einem Wort – ich sehe die Zukunft im rosigsten Licht ...“

„Delirium, Delirium!“ dachte ich bei mir.

„Freund, aber die Freiheit?“ fragte ich, um seine Ansichten kennen zu lernen. „Du bist doch jetzt geradezu ein Gefangener in einem dunklen Verließ, während der wahre Mensch sich der Freiheit erfreuen soll.“

„Du bist dumm,“ war seine, für mich etwas unerwartete Antwort. „Nur die Wilden lieben Unabhängigkeit, weise Leute lieben dagegen Ordnung, wenn es aber keine Ordnung gibt ...“

„Iwan Matwejewitsch!“ rief ich aus.

„Schweig’ und höre!“ kreischte er, ärgerlich darüber, daß ich ihn unterbrochen hatte. „Noch niemals hat sich mein Geist so hoch emporgeschwungen wie jetzt. In meiner engen Wohnung fürchte ich augenblicklich nur – die literarische Kritik unserer dicken Tageszeitungen und den Spott unserer satirischen Blätter. Ich fürchte, daß die leichtsinnigen Elemente unter den Besuchern der Ausstellung, die Dummköpfe und Neider und überhaupt die Nihilisten, mich werden lächerlich machen wollen. Doch ich werde Maßregeln zu ergreifen wissen. Erwarte nur mit Ungeduld die Meinungsäußerungen des Publikums, doch hauptsächlich – die Besprechungen der Zeitungen. Bringe morgen alle Zeitungen mit, wenn du kommst!“

„Gut, ich werde einen ganzen Stoß mitbringen.“

„Eigentlich ist es aber noch zu früh, morgen schon Besprechungen zu erwarten, gewöhnlich werden bei uns Neuigkeiten erst nach vier Tagen besprochen. Doch von nun an komme jeden Abend durch den Hofeingang zu mir, denn ich beabsichtige, dich als meinen Sekretär zu benutzen. Du wirst mir die Zeitungen vorlesen und ich werde dir meine Gedanken diktieren und Aufträge geben. Vor allen Dingen aber vergiß nicht die neuesten Telegramme. Daß du mir jeden Tag die letzten europäischen Drahtnachrichten bringst! Doch nun genug: du wirst jetzt schlafen wollen. Geh also nach Hause und denke darüber nach, was ich dir soeben über die Kritik gesagt habe: ich fürchte sie nicht, denn sie befindet sich selbst in einer kritischen Lage. Man braucht nur weise und tugendhaft zu sein und man wird unfehlbar auf ein Piedestal gehoben. Wenn nicht ein Sokrates, dann ein Diogenes, oder dieser und jener zugleich – das wird meine zukünftige Rolle in der Menschheit sein.“

So leichtsinnig und aufdringlich – bei Gott, er mußte hohes Fieber haben! – beeilte sich mein Freund Iwan Matwejewitsch, mich seine Ansichten wissen zu lassen, jenen charakterschwachen alten Frauenzimmern nicht unähnlich, von denen behauptet wird, daß sie kein Geheimnis bewahren können. Ich aber muß gestehen, daß mir alles, was er da von der inneren Beschaffenheit des Krokodils gesagt hatte, äußerst verdächtig erschien. Wie war es möglich, daß ein Krokodil keinen Magen, kein Herz, keine Lungen hatte? Ich könnte wetten, daß er alles das einzig aus Prahlerei frei erfunden hatte, zum Teil vielleicht auch nur, um mich zu kränken, zu erniedrigen. Freilich war er krank, und zu einem Kranken muß man gut sein, doch wenn ich anstatt gut offen sein will, so muß ich sagen, daß ich meinen Freund Iwan Matwejewitsch niemals habe ausstehen können. Mein ganzes Leben hindurch, von Kindheit an, habe ich mich von seiner Vormundschaft nicht befreien können. Tausendmal wollte ich ihm den Laufpaß geben, doch immer wieder zog es mich zu ihm, als hätte ich im geheimen immer noch gehofft, ihm irgend etwas beweisen oder irgend etwas heimzahlen zu können. Ein wunderliches Ding war diese Freundschaft! Ich kann ganz ehrlich sagen, daß meine Freundschaft zu neun Zehnteln aus Wut bestand.

Doch an jenem Abend verabschiedeten wir uns fast gefühlvoll.

„Ihr Freund ist ein sehr kluger Mensch!“ sagte mir halblaut der Deutsche, als er sich zu mir gesellte, um mich hinauszugeleiten. Er hatte die ganze Zeit aufmerksam unserem Gespräch zugehört.

„Apropos!“ unterbrach ich ihn, „damit ich es nicht vergesse: wieviel würden Sie für Ihr Krokodil verlangen, im Fall man es von Ihnen kaufen wollte?“

Iwan Matwejewitsch, der meine Frage gehört haben mußte, schien mit besonderer Spannung auf die Antwort zu warten. Offenbar wollte er nicht, daß der Deutsche wenig für dasselbe verlange; jedenfalls vernahmen wir nach meiner Frage ein eigentümliches Räuspern, das entfernt an ein Grunzen erinnerte.

Zuerst wollte der Deutsche überhaupt nichts davon hören, ja er wurde sogar ärgerlich.

„Niemand darf mein Eigentum ohne meine Einwilligung kaufen!“ schrie er, im Jähzorn rot wie ein gekochter Krebs. „Ich will mein Krokodil überhaupt nicht verkaufen! Geben Sie mir eine Million Taler – ich verkauf’ es nicht! Ich habe heute hundertunddreißig Taler vom Publikum eingenommen und morgen werde ich zehntausend Taler einnehmen und dann hunderttausend Taler Tag für Tag! Nein! Ich will es überhaupt nicht verkaufen!“

Iwan Matwejewitsch begann zu lachen vor Vergnügen.

Ich bezwang mich nach Möglichkeit und bat den übergeschnappten Deutschen scheinbar ganz kaltblütig, sich die Sache zu überlegen, zumal seine Berechnungen meiner Meinung nach nicht genügend mit der Wirklichkeit übereinstimmten, daß zum Beispiel wenn er hunderttausend täglich einnähme, in vier Tagen ganz Petersburg bei ihm gewesen sein müsse, und damit wäre dann die Einnahmequelle versiegt. Und außerdem stehe unser aller Leben und Tod in Gottes Hand, das Krokodil könne vielleicht doch noch irgendwie platzen oder Iwan Matwejewitsch erkranken und sogar sterben usw. usw.

Der Deutsche wurde nachdenklich.

„Ich werde ihm Tropfen aus der Apotheke geben,“ meinte er dann schließlich nach reiflicher Überlegung, „dann wird er nicht sterben.“

„Tropfen hin, Tropfen her,“ meinte ich, „aber haben Sie auch das in Erwägung gezogen, daß Sie es mit der Polizei und dem Gericht zu tun bekommen können? Die Gattin Iwan Matwejewitschs kann zum Beispiel ihren gesetzmäßig ihr angetrauten Gatten zurückverlangen. Sie haben nun die Absicht, reich zu werden, haben Sie aber auch die Absicht, seiner Frau eine Entschädigung, etwa eine Pension zu zahlen?“

„Nein, die habe ich nicht!“ antwortete streng und entschlossen der Deutsche.

„Nein, die haben wir nicht!“ bestätigte sogar mit merklicher Bosheit die Mutter.

„Nun denn – wäre es für Sie da nicht ratsamer, jetzt sogleich und mit einemmal eine zwar geringere, doch dafür sichere Summe zu empfangen, als sich der Ungewißheit anzuvertrauen? Übrigens erachte ich es als meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß ich Sie nur aus persönlicher Neugier frage.“

Der Deutsche nahm seine Mutter beiseite und begab sich mit ihr in den fernsten Winkel, wo ein Käfig mit dem größten und widerlichsten aller Affen stand, um sich dort flüsternd mit ihr zu beraten.

„Du wirst sehen!“ sagte Iwan Matwejewitsch in vielsagendem Tone zu mir.

Was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich ein unbändiges Verlangen verspürte, erstens den Deutschen gründlich zu verprügeln, zweitens, noch gründlicher seine Frau; und drittens – am gründlichsten und schmerzhaftesten meinen Freund Iwan Matwejewitsch selbst wegen seiner unverschämten Eigenliebe. Doch alles das war noch nichts im Vergleich zu der Antwort des habgierigen Deutschen.

Der verlangte, nachdem er sich genugsam mit seiner besseren Hälfte beraten, für sein Krokodil fünfzigtausend Rubel, zahlbar in Papieren der jüngsten inneren Anleihe, außerdem ein steinernes Haus an der Gorochowaja, und zwar eines mit einer dazugehörigen Apotheke, und außerdem noch den Rang eines russischen Obersten.

„Siehst du!“ triumphierte Iwan Matwejewitsch, „ich sagte es dir! Ausgenommen den letzten unbegründeten Wunsch, hat er vollkommen recht, denn wie du siehst, versteht er den Wert seines Eigentums richtig zu schätzen. Das ökonomische Prinzip geht allem voran!“

„Aber so sagen Sie doch,“ rief ich zornig dem Deutschen zu, „so sagen Sie mir doch, wozu Sie den Rang und Titel eines Obersten brauchen? Was für eine Heldentat haben Sie denn ausgeführt, wenn man fragen darf, welch einen Dienst Rußland erwiesen, welchen Ruhm sich auf dem Schlachtfelde erworben? Sind Sie nach alledem nicht einfach verrückt?“

„Ich – verrückt?“ rief der Deutsche mit gekränkter Würde aus. „Nein, nicht verrückt, sondern sehr vernünftig, Sie aber sind das Gegenteil! Ich habe den Rang eines Obersten verdient, weil ich ein Krokodil zeigen kann, in dem ein lebendiger Hofrat sitzt, ein Russe aber kann ein solches Krokodil, das mit einem lebendigen Hofrat gefüllt ist, der Welt nicht zeigen! Ich bin ein sehr kluger Mensch und deshalb will ich ein Oberst sein!“

„Leb wohl, Iwan Matwejewitsch!“ rief ich zornbebend meinem Freunde zu und eilte aus dem Ausstellungsraum.

Ich fühlte, daß meine Selbstbeherrschung nur noch an einem Haar hing. Die hirnverbrannten Hoffnungen dieser beiden Dummköpfe konnten einen aus der Haut bringen! Doch die kalte Abendluft erfrischte mich wohltuend und meine Empörung legte sich. Ich spie schließlich aus, rief energisch eine Droschke heran, fuhr nach Haus, kleidete mich aus und ging zu Bett. Am meisten ärgerte mich, daß ich gewissermaßen eingewilligt hatte, sein Sekretär zu sein. Jetzt konnte ich mich dort allabendlich langweilen und mich noch über das erhebende Gefühl, nur die Pflicht eines aufrichtigen Freundes zu erfüllen, freuen! Ich hätte mich selbst prügeln mögen vor Ärger über mich, und in der Tat: nachdem ich schon das Licht ausgelöscht und mich zugedeckt hatte, schlug ich mir mehrmals mit der Faust auf den Kopf und noch auf andere Teile meines Körpers. Dieses verschaffte mir bedeutende Erleichterung und endlich schlief ich ein, schlief sogar ziemlich fest, denn ich war sehr müde. Im Traum sah ich unendlich viele Affen, die alle wild umhersprangen, gegen Morgen aber träumte mir von Jelena Iwanowna ...

IV.

Die Affen hatten mich, wie ich zu erraten glaube, nur deshalb im Traum belästigt, weil ich sie tags zuvor im Käfig beim Krokodilbesitzer gesehen hatte; doch Jelena Iwanowna war ein besonderes Kapitel.

Ich will es nicht mehr verheimlichen: ich liebte diese Dame; doch ich beeile mich, einem Mißverständnis vorzubeugen: ich liebte sie wie ein Vater, nicht mehr und nicht weniger. Daß ich sie liebte – ersehe ich daraus, daß ich oft genug Lust verspürt habe, ihr Köpfchen zu küssen oder ihre zarten rosa Wangen. Und obschon ich das nie getan habe, so hätte ich doch – wenn man einmal alles beichten soll! – ganz sicherlich mich nicht geweigert, sie sogar fest auf die Lippen zu küssen. Denn ihre Lippen waren gar zu süß und verstanden es vorzüglich, die Zähnchen bloßzulegen, die dann, wie zwei Reihen ausgesuchter Perlen, zwischen dem Rot der Lippen schimmerten, wenn sie lachte. Und sie lachte sehr oft. Iwan Matwejewitsch nannte sie bisweilen liebkosend seine „liebe süße Absurdität“ – was man als eine durchaus gerechte und charakteristische Benennung bezeichnen muß. Sie war ein Bonbon und nichts weiter. Deshalb blieb es mir auch unerklärlich, weshalb nun dieser selbe Iwan Matwejewitsch in seiner Frau plötzlich eine russische Eugenie Tour zu sehen begann. Doch wie dem nun sein mochte, jedenfalls hinterließ mein Traum – abgesehen von den Affen – den angenehmsten Eindruck in mir, und so beschloß ich, während ich bei meinem Morgenkaffee die Erlebnisse des letzten Tages gedankenvoll an mir vorüberziehen ließ, auf dem Wege in die Kanzlei bei Jelena Iwanowna vorzusprechen, was ja übrigens in meiner Eigenschaft als Hausfreund auch meine Pflicht war.

In dem kleinen Zimmer vor dem ehelichen Schlafgemach, das von ihnen „der kleine Salon“ genannt wurde, obwohl auch der große Salon nur ein kleines Zimmer war, saß auf einer kleinen Chaiselongue vor einem kleinen Teetischchen in einem duftig-luftigen Negligee Jelena Iwanowna und trank aus einem kleinen Täßchen, in das sie ein kleines Biskuitplätzchen bröckelte, ihren Morgenkaffee. Sie war verführerisch anzusehen, doch schien sie mir etwas nachdenklich gestimmt zu sein.

„Ach, Sie sind es, Sie Ungezogener!“ empfing sie mich mit zerstreutem Lächeln. „Setzen Sie sich, trinken Sie ein Täßchen. Nun, wo waren Sie gestern? Wie haben Sie den Abend verbracht? Waren Sie auf dem Maskenball?“

„Waren Sie denn gestern auf dem Maskenball? ... Ich ... ich pflege keine Bälle zu besuchen ... zudem habe ich den Abend bei unserem Gefangenen verbracht ...“

Ich seufzte und empfing mit betrübter Miene das Täßchen.

„Wo? ... Bei wem? Bei welch einem Gefangenen? ... Ach, so! ... Ja, der Arme! ... Nun, was tut er – langweilt er sich? Aber wissen Sie ... ich wollte Sie etwas fragen ... Sagen Sie, ich kann doch jetzt eine Scheidung verlangen?“

„Scheidung?!“ Mir wäre die Tasse fast aus der Hand gefallen. „Dahinter steckt der Brünette!“ dachte ich empört bei mir.

Es gab nämlich einen gewissen Brünetten mit einem dunklen Schnurrbärtchen, einen Beamten der Bauabteilung, der sie in letzter Zeit auffallend oft besucht hatte und Jelena Iwanowna allem Anscheine nach zu gefallen verstand. Ich muß gestehen, daß ich aufrichtigen Haß für ihn empfand, denn ich zweifelte nicht daran, daß er gestern abend entweder mit ihr auf dem Maskenball oder vielleicht sogar hier in ihrer Wohnung gewesen war und ihr bei der Gelegenheit, versteht sich, manches in den Kopf gesetzt hatte!

„Ja, aber wie denn,“ begann Jelena Iwanowna plötzlich ungeduldig, und alles, was sie sagte, schien ihr ein anderer gesagt zu haben, „wie wird denn das sein, er wird dort im Krokodil sitzen und vielleicht sein ganzes Leben lang nicht zurückkommen, und ich soll dann hier sitzen und vergeblich auf ihn warten! Ein Ehemann muß zu Hause wohnen, aber nicht in einem Krokodil ...“

„Das ist doch ein unvorhergesehener Zufall ...“ begann ich in begreiflicher Erregung zu widersprechen.

„Ach nein, schweigen Sie, schweigen Sie, ich will nichts hören, nichts, nichts, nichts!“ wehrte sie ärgerlich jeden weiteren Einwand ab. „Sie sind unausstehlich, ewig müssen Sie mir widersprechen! Mit Ihnen kann man wirklich kein vernünftiges Wort reden, nie verstehen Sie einem zu raten! Mir sagen sogar fremde Menschen, daß ich vollauf genügenden Scheidungsgrund hätte, allein schon deshalb, weil doch Iwan Matwejewitsch jetzt kein Gehalt mehr bekommen wird.“

„Jelena Iwanowna! Sind Sie es, die ich höre!“ rief ich fast pathetisch aus. „Welcher Schurke hat Ihnen diese Gedanken eingeflüstert? Und übrigens wird ein so nichtssagender Vorwand, wie die Einbuße des Gehalts, nicht als Scheidungsgrund anerkannt. Und der arme, arme Iwan Matwejewitsch vergeht dort inzwischen fast vor Liebesgram! Noch gestern abend, während Sie sich auf dem Maskenball ihres Lebens freuten, sprach er davon, daß er sich im äußersten Fall entschließen würde, Sie als seine rechtmäßige Gattin aufzufordern, in das Innere des Krokodils zu kommen, um so mehr, als sich dieses Tier als sehr geräumig erwiesen hat, so daß nicht nur zwei, sondern sogar drei Menschen Raum in ihm hätten ...“

Und ich erzählte ihr zugleich diesen interessantesten Teil meiner letzten Unterredung mit Iwan Matwejewitsch.

„Wie! was!“ rief sie ganz starr vor Verwunderung aus. „Sie wollen, daß ich gleichfalls dorthin krieche! zu Iwan Matwejewitsch? Das fehlte noch! Ja und wie sollte ich denn überhaupt das? – so, mit dem Hut und der ganzen Krinoline? Gott, welch eine Dummheit! Und wonach wird denn das aussehen, wenn ich hineinkrieche und ... und jemand womöglich noch zusieht? ... Pfui! Und was werde ich dort essen? ... Und ... und wie ist denn das, wenn ich ... Ach, mein Gott, was Sie sich nicht ausgedacht haben! ... Und was gibt es denn dort für Zerstreuungen? ... Sie sagen, es rieche dort nach Gummi? ... Und wie wird es denn sein, wenn wir beide in Streit geraten? Da müssen wir doch beieinander liegen bleiben? Pfui, wie widerlich das ist!“

„Einverstanden, ich bin vollkommen einverstanden mit Ihnen, meine teuerste Jelena Iwanowna,“ unterbrach ich sie mit jenem begreiflichen Eifer, der einen stets erfaßt, wenn man fühlt, daß man im Recht ist, „nur haben Sie eines ganz außer acht gelassen, und das ist: daß er doch wohl nicht mehr ohne Sie leben kann, wenn er Sie zu sich ruft; folglich handelt es sich hier um Liebe, um leidenschaftliche, treue, sehnsüchtige Liebe ... Sie haben die Liebe nicht berücksichtigt, teuerste Jelena Iwanowna, die Liebe!“

„Nein, ich will nicht, will nicht, will nicht! Ich will davon überhaupt nichts hören!“ wehrte sie mit ihrer kleinen, reizenden Hand, an der die soeben gebürsteten und polierten Nägel rosa schimmerten, ganz entsetzt ab. „Pfui, wie widerlich Sie sind! Sie bringen mich noch zum Weinen. So kriechen Sie doch selbst zu ihm, wenn es Ihnen dort so angenehm zu sein scheint! Sie sind doch sein Freund, nun, so legen Sie sich denn aus Freundschaft neben ihn hin und streiten Sie Ihr Leben lang über irgend eine langweilige Wissenschaft ...“

„Sie machen sich ganz unnütz über diesen Gedanken lustig,“ unterbrach ich würdevoll das leichtsinnige Weibchen, „Iwan Matwejewitsch hat mich bereits zu sich eingeladen. Sie würde die Pflicht hinführen, mich dagegen nur Großmut. Übrigens hat mir Iwan Matwejewitsch, als er mir gestern von der ungeheuren Dehnbarkeit des Krokodils erzählte, deutlich zu verstehen gegeben, daß er, da nicht nur zwei, sondern ganze drei Menschen bequem dort Platz fänden, sowohl Sie wie mich, als Hausfreund, erwartet, und deshalb ...“

„Wie das, ganze drei?“ wunderte sich Jelena Iwanowna und ihre Augen blickten mich fragend an. „Ja, wie werden wir denn ... so alle drei dort beisammen sein? Hahaha! Gott, wie Sie beide dumm sind! Hahaha! Ich würde Sie die ganze Zeit nur kneifen, Sie Taugenichts, hahaha! Hahaha!“

Und sie bog sich vor Lachen und lachte bis zu Tränen. Doch dieses Lachen und diese Tränen waren so bezaubernd, daß ich nicht lange widerstehen konnte und ganz begeistert nach ihrem Händchen griff, um es mit Küssen zu bedecken, was sie widerspruchslos geschehen ließ. Nur zupfte sie mich, zum Zeichen unserer Aussöhnung, am Ohr.

Damit hatten wir unsere gute Laune wiedergewonnen, und ich schickte mich an, ihr ausführlich alle ihre Person betreffenden Pläne Iwan Matwejewitschs zu erzählen. Der Gedanke, in einem glänzenden Salon eine auserlesene Gesellschaft zu empfangen, sagte ihr sehr zu.

„Nur brauche ich dann sehr viele neue Toiletten,“ bemerkte sie lebhaft. „Sagen Sie ihm deshalb, daß er mir möglichst bald und möglichst viel Geld senden soll ... Nur ... nur, wie wird denn das sein,“ fuhr sie nachdenklich fort, „wie wird man ihn denn im Blechkasten in meinen Salon bringen? Das ... das wäre doch lächerlich! Ich will nicht, daß man meinen Mann in einem solchen Kasten in meinen Salon trägt! Ich würde mich ja dann ganz entsetzlich schämen vor meinen Gästen ... Nein, ich will nicht, ich will nicht ...“

„Übrigens, um es nicht zu vergessen: war gestern Timofei Ssemjonytsch bei Ihnen?“

„Ach, ja, er war bei mir; er kam, um mich zu trösten, und denken Sie sich, wir haben die ganze Zeit Karten gespielt. Wenn er verlor, hatte ich eine Bonbonniere gewonnen, wenn ich verlor, durfte er mir die Hände küssen. Solch ein Plagegeist, wirklich! Und was glauben Sie wohl: – fast wäre er mit mir auf den Maskenball gefahren, – nein, wirklich!“

„Weil er bezaubert war,“ bemerkte ich, „denn – wen bezaubern Sie nicht, Sie Zauberin!“

„Ach, nun, jetzt kommen Sie mit Ihren Schmeicheleien! Warten Sie, dafür werde ich Sie zum Abschied einmal kneifen – das verstehe ich nämlich vorzüglich. Nun, was, wie war’s? Ach ja, sagen Sie doch, Sie sagten vorhin, Iwan Matwejewitsch habe gestern viel von mir gesprochen?“

„N–n–nein, nicht gerade sehr viel ... Ich muß gestehen, daß er jetzt eigentlich mehr an das Schicksal der ganzen Menschheit denkt und die Absicht hat ...“

„Ach, nun, mag er, reden Sie nicht weiter! Sicherlich langweilt er sich entsetzlich. Ich werde ihn einmal besuchen. Morgen vielleicht. Heute geht es nicht: ich habe Migräne und dort wird gewiß viel Publikum sein ... Da wird man womöglich noch sagen: das ist seine Frau, und mit den Fingern auf mich weisen ... Schrecklich! Nun, leben Sie wohl. Am Abend werden Sie doch ... dort sein, bei ihm?“

„Versteht sich. Ich muß ihm die Zeitungen bringen.“

„Nun, das ist sehr nett von Ihnen. Bleiben Sie bei ihm und lesen Sie ihm die Zeitungen vor. Zu mir aber kommen Sie heute nicht mehr. Ich bin nicht ganz wohl, oder vielleicht werde ich auch meine Bekannten besuchen, ich weiß noch nicht. Nun, leben Sie wohl, Sie Schwerenöter.“

„Aha, der Brünette wird heute abend bei ihr sein!“ dachte ich bei mir.

In der Kanzlei ließ ich mir natürlich nicht das geringste merken. Ich tat, als wüßte ich überhaupt nicht, was Sorgen sind. Doch bald fiel es mir auf, daß einige unserer fortschrittlichen Blätter an diesem Vormittage auffallend schnell von Hand zu Hand gingen und meine Kollegen sich mit unheimlich ernsten Mienen in die Lektüre vertieften. Die erste Zeitung, die ich erhielt, war der „Listok“, ein kleines Blättchen ohne jede besondere Richtung, einfach nur so allgemein menschlich-human, weshalb es bei uns auch allgemein verachtet, nichtsdestoweniger aber doch gelesen wurde.

Nicht ohne Verwunderung las ich in ihm folgendes:

„Gestern verbreitete sich in unserer großen, schönen Hauptstadt ein äußerst seltsames Gerücht, das sich inzwischen bestätigt hat. Ein gewisser Gastronom, der zu unserer vornehmen Lebewelt gehört, und den die kulinarischen Genüsse, die die Küche des –schen Klubs zu bieten vermag, offenbar nicht mehr befriedigten, erschien am Nachmittage in der Menagerie unserer Passage, wo zurzeit ein großes, soeben erst hier eingetroffenes Krokodil zu sehen ist, und machte sich nach einer kurzen Rücksprache mit dem Eigentümer ohne weiteres daran, das Riesenkrokodil zu verzehren. Zuerst schnitt er dem lebendigen Wassertier nur die besten Stücke seiner saftigsten Körperteile – d. h. der Körperteile des Krokodils – mit einem Taschenmesser ab, doch allmählich verschwand das ganze Tier in seinem umfangreichen Leibe, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre dem Krokodil auch noch sein ständiger Begleiter, der Ichneumon, gefolgt, denn weshalb sollte dieser nicht ebenso gut schmecken? Wir haben natürlich gegen dieses neue Nahrungsmittel, das den ausländischen Feinschmeckern schon seit Jahren bekannt ist, nichts einzuwenden. Wir können uns sogar schmeicheln, die bevorstehende größere Einfuhr dieses Leckerbissens vorausgesehen zu haben. Die englischen Lords und Reisenden fangen die Krokodile in Ägypten wie man hierzulande etwa Bären fängt: sie tun sich zu ganzen Jagdgesellschaften zusammen und verzehren dann das à la Beefsteak zubereitete Rückenfleisch der Beute mit Senf, Sauce und Kartoffeln. Die Franzosen, die mit Lesseps ins Land gekommen sind, ziehen die kurzen, stämmigen Beine dem Rückenfleisch vor – vielleicht nur den Engländern zum Trotz, die ein mitleidiges Lächeln nicht verbergen können, wenn sie sehen, wie diese die Krokodilbeine in heißer Asche backen. Bei uns wird man, aller Voraussicht nach, sowohl die Beine wie den Rücken zu schätzen wissen, und können wir daher von uns aus nur freudig diesen neuen Erwerbszweig begrüßen, denn gerade an einem solchen fehlt es in unserem großen, so verschieden gearteten Vaterlande. Nach der Vertilgung dieses ersten Krokodils dürfte es wohl kaum ein Jahr dauern, bis man Krokodile zu Hunderten importieren wird. Weshalb sollte man sie übrigens nicht in Rußland akklimatisieren? Falls das Newawasser für diese südlichen Lebewesen zu kalt sein sollte, so gibt es doch in der Stadt unzählige Teiche und außerhalb der Stadt noch andere Flüsse und Seen, die in Frage kämen. Weshalb sollten sie nicht z. B. in Pawlowsk oder Pargolowo leben können, oder in Moskau, wo doch die Pressnenskischen Teiche sind? Ganz abgesehen davon, daß sie für unsere Feinschmecker ein angenehmes und gesundes Nahrungsmittel wären, würden sie den an den Teichen spazierenden Damen eine interessante Zerstreuung bieten und die Kinder mit der tropischen Tierwelt schon in jungen Jahren bekannt machen. Aus der Haut der verzehrten Krokodile lassen sich zudem die verschiedensten Gegenstände herstellen, wie z. B. Futterale, Reisekoffer, Zigarettenetuis, Brieftaschen usw., und vielleicht wird noch so manch ein russischer Tausendrubelschein von der ältesten Sorte – wie sie namentlich unsere Kaufleute bevorzugen – in Krokodilshaut aufbewahrt werden. Hoffen wir, daß uns noch öfter Gelegenheit geboten werden wird, auf dieses Thema zurückzukommen.“

Ich war auf vieles gefaßt gewesen, doch trotzdem verwirrte mich dieser Artikel nicht wenig. Da niemand neben mir saß, mit dem ein Meinungsaustausch möglich gewesen wäre, wandte ich mich an den mir gegenübersitzenden Prochor Ssawitsch. Zu meiner Verwunderung saß dieser müßig auf seinem Platz und schien mich schon längere Zeit beobachtet zu haben, die Zeitung „Woloß“ zur Herübergabe bereithaltend. Wortlos nahm er von mir den „Listok“ in Empfang und reichte mir seinen „Woloß“, indem er mit dem Nagel nachdrücklich einen Artikel bezeichnete, auf den er mich ersichtlich aufmerksam machen wollte. Dieser Prochor Ssawitsch war ein sehr eigentümlicher Mensch: ein schweigsamer alter Junggeselle, der sich keinem von uns anschloß, so gut wie nie ein Wort sprach – obschon sich das Sprechen in einer Kanzlei unter Kollegen schwer vermeiden läßt – ein Mensch, der immer seine eigenen Ansichten hatte, doch fast niemals einem anderen diese Ansichten mitteilte. In seiner Wohnung ist bisher noch keiner von uns gewesen. Wir wissen nur, daß er ein einsames Leben führt.

Der Artikel, auf den er mich aufmerksam gemacht hatte, lautete wie folgt:

„Es dürfte wohl allen bekannt sein, daß wir uns mit Recht fortschrittlich gesinnt und human nennen können und daß wir Europa in dieser Beziehung nicht nachstehen wollen. Doch ungeachtet aller Wünsche und der Bemühungen unseres Blattes scheinen wir noch längst nicht ‚reif‘ zu sein, was folgendes empörende Ereignis, das sich gestern in der Passage zugetragen hat, wieder einmal anschaulich beweist. (Es sei hier darauf aufmerksam gemacht, daß wir es bereits vorausgesagt haben.)

Vor nicht langer Zeit traf in der Hauptstadt ein Ausländer ein, der ein lebendiges Krokodil mit sich führte, das jetzt in der Passage ausgestellt ist. Wir beeilten uns sogleich, den ausländischen Vertreter dieses neuen, nützlichen und belehrenden Gewerbezweiges, der unserem großen Vaterlande zugute kommt, hier in der Hauptstadt willkommen zu heißen. Da erschien plötzlich, eines Nachmittags gegen fünf Uhr, wie uns gestern gemeldet wurde, ein außergewöhnlich dicker Herr in nicht ganz nüchternem Zustande (gelinde ausgedrückt!), zahlte den Eintrittspreis, und kaum war das geschehen, so ging er zum Behälter und kroch dem Riesentier ganz einfach in den Rachen, ohne jemandem vorher etwas gesagt zu haben. Das Krokodil war durch seinen natürlichen Selbsterhaltungstrieb gezwungen, den Menschen zu verschlingen, da es doch wohl nicht ersticken wollte. Doch der verschlungene Unbekannte richtet sich im Magen des Ungeheuers sogleich häuslich ein. Weder die Bitten des verzweifelten Besitzers, noch das Geschrei seiner zahlreichen, unglücklichen Familie vermögen jetzt auf den Unbekannten Eindruck zu machen. Selbst der Ruf, man werde die Polizei holen, bleibt erfolglos. Aus dem Innern des Krokodils hört man nur Gelächter und die Drohung, die Bestie aufzuschneiden. (Sic!) Währenddem vergießt das arme Tier, das gezwungen war, eine solche Masse zu verschlingen, ganz vergeblich seine Tränen. „Ein ungebetener Gast,“ sagt ein altes russisches Sprichwort, „ist schlimmer als ein Tatar,“ und alle Tränen des Krokodils können an der Lage nichts ändern: der freche Mensch will seinen Aufenthaltsort nicht wieder verlassen. Wir wissen nicht, wie wir eine so barbarische Handlungsweise erklären sollen, was uns um so peinlicher ist, als sie, wie gesagt, unsere Unreife bezeugt und uns in den Augen aller Ausländer herabzieht. Damit haben wir wieder ein glänzendes Beispiel der Zügellosigkeit der russischen Natur. Jetzt fragt es sich nur: was wollte der ungebetene Gast damit erreichen? Etwa einen warmen und luxuriösen Aufenthaltsraum suchen? Aber es gibt doch unzählige schöne Häuser in der Stadt, die vorzüglich eingerichtet sind: sie haben billige und sehr bequeme Wohnungen, eine Wasserleitung, die die Mieter mit Newawasser versorgt, eine mit Gas erleuchtete Treppe, und nicht selten hält der Hausbesitzer auch noch einen Portier. Doch lenken wir bei der Gelegenheit die Aufmerksamkeit unserer Leser auch noch auf die rohe Behandlung des importierten Tieres. Natürlich wird es dem Krokodil schwer fallen, ein so großes Quantum zu verdauen; und so liegt es denn jetzt dort unbeweglich in seinem Behälter, hoch aufgeblasen von der übergroßen verschlungenen Portion, und erwartet unter unerträglichen Qualen den Tod. In Europa wird jede einem Tiere angetane Qual gesetzlich bestraft. Doch ungeachtet unserer ausländischen Erleuchtung, unserer neuen Trottoirs und neuen Häuser, sind wir noch immer in Unwissenheit und Roheit befangen.

‚Die Häuser sind zwar neu, doch unsere Vorurteile alt‘, um Gribojedoff zu zitieren. Leider entspricht nicht einmal dieses vollkommen der Wahrheit, denn auch die Häuser sind alt, wenn auch die Treppen neu sind. Jedenfalls erwähnen wir es in unserem Blatte nicht zum ersten Mal, daß im Hause des Kaufmanns Lukjanoff auf der Petersburger Seite die Treppenstufen, die aus der Küche in die Wohnung führen, schon seit langer Zeit verfault sind, und können heute nur hinzufügen, daß sie jetzt endlich eingefallen sind und daß die Soldatenfrau Afimja Skapidarowa, die die Bedienung übernommen hatte und stets Gefahr lief, von der Treppe zu fallen – namentlich wenn sie Wasser oder Holz hineintrug – gestern abend gegen halb neun Uhr tatsächlich mit der Suppenterrine gefallen ist und sich ein Bein gebrochen hat. Leider wissen wir noch nicht, ob Herr Lukjanoff jetzt endlich eine neue Treppe bauen lassen wird. Der Verstand eines Russen ist schwerfällig, doch können wir mitteilen, daß das Opfer dieser Schwerfälligkeit bereits ins Hospital gebracht worden ist. Desgleichen ermüden wir nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß die Hausknechte, die auf der Wyburger Seite von den hölzernen Trottoirs den Schmutz fegen, den Vorübergehenden deshalb nicht die Stiefel zu beschmutzen brauchen, zumal es nur geringe Mühe kosten würde, den Schmutz, wie man es im Auslande tut, zu Haufen zusammenzufegen,“ usw. usw. ...

„Was bedeutet das?“ fragte ich, verständnislos Prochor Ssawitsch anblickend. „Was soll das alles?“

„Was?“

„Aber ich bitte Sie, anstatt unseren Iwan Matwejewitsch zu bedauern, bemitleiden sie hier das Krokodil!“

„Ja, was denn? Damit haben sie doch sogar ein Tier, ein unvernünftiges Tier bemitleidet. Inwiefern stehen sie jetzt noch Europa nach? Dort tut man es doch ebenfalls. Hi-hi-hi!“ kicherte der alte Sonderling, wandte sich jedoch sogleich wieder seinen Schriften zu und sprach kein Wort weiter.

Ich nahm die beiden Zeitungen, schob sie in die Tasche und versorgte mich außerdem noch mit mehreren alten Nummern der „Nachrichten“ und des „Woloß“. An diesem Tage verließ ich die Kanzlei früher als sonst. Zwar war bis zum Abend noch viel Zeit, doch wollte ich früher in die Passage gehen, um wenigstens von weitem zu sehen, was dort vorging, um Meinungsäußerungen des Publikums aufzufangen und die Menschen kennen zu lernen. Ich sagte mir, daß ich dort unfehlbar in ein großes Gedränge geraten würde und schlug deshalb auf alle Fälle den Mantelkragen hoch, denn aus irgend einem Grunde schämte ich mich, gesehen zu werden – so wenig haben wir uns an die „Öffentlichkeit“ gewöhnt! Doch ich fühle, daß ich kein Recht habe, im Hinblick auf dieses außergewöhnliche Ereignis, meine eigenen prosaischen Gefühle zum Ausdruck zu bringen.

Fußnoten

[1] Bekannter Musiker und Dirigent. E. K. R.

[2] In Rußland tragen die Lehrer der öffentlichen Schulen Uniform. E. K. R.

Anmerkungen zur Transkription

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Zweite Abteilung: Siebzehnter Band
R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1918.

Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen Bucheinbänden nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben. Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

Ssamowar (Samowar)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):