The Project Gutenberg EBook of Prinzessin Mymra, by Alexej Remisow This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Prinzessin Mymra Novellen und Träume Author: Alexej Remisow Translator: Alexander Eliasberg Release Date: March 17, 2012 [EBook #39174] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PRINZESSIN MYMRA *** Produced by Jens Sadowski
Novellen und
Träume
Aus dem Russischen übertragen von Alexander Eliasberg
Gustav Kiepenheuer Verlag, Weimar 1917
Die Weiße Fjokla, die Wahrsagerin und Hexe, gebar an einem durchdringend kalten Herbstmorgen eine schwarze geflügelte Maus, und jedermann erkannte im Neugeborenen des Teufels Kind.
Jermil, der stumme und lahme Sohn der Alten, verscharrte den Unrat bei der Müllgrube und erhängte sich gleich darauf.
In der Nacht vor dem Katharinentage, an dem junge Mädchen nach alter Sitte Zweige von den Bäumen abreißen und mit ihnen zu Bett gehen, um im Traume den Zukünftigen zu sehen, erdröhnte plötzlich am Himmel mitten im wütenden Schneesturm ein Donner; beim Morgengrauen aber fand man im Stadtpark die geistesschwache Aljonka, die Tochter des Obermeisters an der Eisenbahnwerkstätte, geschändet und tot, mit einem Zweig zwischen den Zähnen.
Am Nikolatag erschienen in den rauchgrauen Wolken um die grimmige Wintersonne herum drei andere, in allen Farben des Regenbogens schimmernde Sonnen.
Und diese drei Sonnen bedrückten die Stadt wie eine stumme Last.
»Nun kommt das Hitzefieber, eine schreckliche Krankheit! Was haben wir noch alles zu erwarten!«
»Krächze nicht wie ein Unglücksrabe.«
»Mir kann es gleich sein — aber auch der Diakon hat neulich während des Gottesdienstes davon gesprochen.«
Ein jeder dachte an den kommenden Tag und an die schwere Not, die vor der Tür stand und auf die vorbestimmte Stunde wartete.
»Die Chinesen ziehen mit einer Armee von tausend Millionen gegen uns, auch die Türken.«
»Mein Gott, dieses Heer!«
»Und die Unsrigen — glaubst du, daß die Unsrigen sich überrumpeln lassen?«
»Man sagt aber, sie haben den Satan auf ihrer Seite.«
»Wieso den Satan?«
»Wir sind verloren, das ist alles.«
An den Abenden machte man sorgfältig über jedem Fenster das Zeichen des Kreuzes. Am Vorabend der Feiertage schliefen die Ehegatten getrennt, und man gab gut acht auf die Öllämpchen vor den Heiligenbildern.
»Hör einmal, Mikititschna, Awdotja erzählte neulich, man habe bei den Podchomutows den Teufel aus dem Tische gerufen.«
»Was du nicht sagst!«
»Bei Gott, so wahr mir die Himmelskönigin beistehe! Awdotja ist ja eine durchtriebene Frau; auch Podchomutows Frau hat selbst erzählt, daß ein blauer Teufel mit sechs Pfoten erschienen sei.«
»Die Heilige Jungfrau steh uns bei! Gott weiß, was noch alles kommen kann, Agafjuschka.«
»Dann hat auch neulich Saschutka, Kusmitschs Stiefsohn im Eisenbahndepot, erzählt, daß der neue Doktor die Säufer mit dem Blick kuriert.«
Man hatte auch Nacht für Nacht böse Träume: bald sah man die Kirche des Neuen Heilands für das Osterfest hergerichtet, doch ohne Altar und ohne Heiligenbilder, und den erhängten Jermil, Fjoklas Sohn, wie er in der Kirche auf und ab ging und jedermann zum Feste gratulierte; bald wieder sah man einen ganz aufgeschwollenen Jungen, in dessen Fleisch zahllose Splitter steckten, auf dem Fußboden Purzelbäume schießen.
»Mir erzählte neulich ein altgläubiger Soldat« lispelte Semjon, der Aufseher bei den Eisenbahnwerkstätten: »›Großvater‹, sagte er, ›ein großes Unglück bricht über ganz Rußland herein, und man kann sich nirgends davor retten.‹ Die Zarenglocke in Moskau, sagt er, sei in tausend kleine Splitter zersprungen, ein jeder Splitter habe sich in eine Schlange verwandelt, und die Schlangen seien unter den Glockenturm Iwans des Großen gekrochen. Und der Glockenturm wackelt, und wenn er einstürzt, so werden auch die Herzen aller Menschen zerspringen, und dann kommt das Ende allen Lebens.«
»Was die Leute nicht alles sagen! Es ist wirklich lächerlich. Da sagt zum Beispiel Luka: Wichtig sind nur die Produktionskräfte, alles übrige ist Nebensache . . . Sagen wir uns von der alten Welt los . . . Freiheit, Gleichheit und . . .«
»Schwatz nicht so, man wird mit euresgleichen wenig Umstände machen . . .«
». . . und wenn es notwendig sein sollte, so wird die Regierung Mittel und Wege finden, um auch diese Sonnen zu beseitigen, von denen übelgesinnte Menschen gewisse Gerüchte verbreiten, um bei der friedlichen Bevölkerung Erregung hervorzurufen.«
Man ergriff Maßregeln.
Aber die Sonnen verschwanden nicht; immer öfter und öfter erschienen sie am Himmel, um die grimmige Wintersonne herum.
Wer kümmerte sich aber um die Sonnen!
Noch niemals hatte man in dieser Gegend einen solchen Überfluß an Getreide gehabt wie in diesem Winter; eine Ernte wie im letzten Sommer hatte es noch nie gegeben. Die Mühlen arbeiteten unermüdlich. Der Handel blühte, und die Käufer waren schnell entschlossen und entgegenkommend.
Die Stadt war wegen ihres Getreides berühmt.
Auf allen Schienenwegen, die sich hier kreuzten, rollten in allen Richtungen mit allerlei Getreide und Mehl angefüllte Eisenbahnwagen.
Am Heiligen Abend machte man der Weißen Fjokla den Garaus und verwischte sorgfältig alle Spuren des Verbrechens.
Für eine kurze Zeit trat Ruhe ein. Es war, als ob ein Stein vom Herzen gefallen wäre.
Am Dreikönigstage badete man im eiskalten geweihten Wasser, malte über alle Türen mit Kreide Kreuze, und alles ging wie geschmiert.
In der Butterwoche, in der Zeit, wo die Schlittenwege schlecht zu werden anfangen, gab es allerdings in jedem Hause Stöhnen und jammern: alle hatten Zahnweh.
Es roch in der Luft eigentümlich nach Zahntropfen und Kampferöl.
So ging es acht Tage lang.
Der Frühling brach an, ein früher und warmer Frühling. Das viele Wasser ließ die Gärten schon zu Ostern ergrünen, und auf den Feldern lief die Wintersaat üppig und kräftig auf.
In der Woche nach Ostern wurden die Hochzeiten gefeiert.
Es fanden sich sogar Leute, die mit Wohlwollen der Weißen Fjokla gedachten:
»Schade um sie . . . Sie hätte ja noch gut leben können!«
Man begann Häuser zu bauen: unter feierlichen Zeremonien wurden Grundsteine zu mächtigen Bauten gelegt und mit Weihwasser besprengt. Von Tag zu Tag wuchsen die Baugerüste in die Höhe neben den Holzkreuzen, die die zukünftigen Wohnstätten beschatteten.
Am Mittwoch der vierten Woche nach Ostern gab es einen bedenklichen Vorfall, der in der Stadt großes Aufsehen erregte: als in der Badestube des Bischofs Feuer ausbrach, zog man aus den Flammen die halbverkohlte Leiche der Vorsteherin des Nonnenklosters zum Heiligen Geist heraus, und Bischof Antonius konnte infolge der Brandwunden am ganzen Körper lange Zeit keinen Gottesdienst abhalten.
Die Leute zwinkerten einander zu und machten Anspielungen.
Es gab aber auch Trauer.
»Der Satan hat das Kreuz gestohlen, das Kreuz ist in Händen des Satans.«
»Der Verruchte hat sich des Tempels und des Altars bemächtigt. Er verunreinigt die Monstranz und spuckt in den Kelch. Und die Menschen kommunizieren nicht mit dem Blute Christi, sondern mit dem Speichel des Satans, und sie verzehren statt des Leibes Christi — den Unrat des Satans.«
»Alles ist Unsinn. Es gibt weder einen Gott noch einen Satan. Es gibt nichts als das Leben.«
»Was für ein Leben?«
Nach einem warmen und blühenden Mai begann sofort die Sommerhitze. Viele Tage lang ging kein einziger Regentropfen auf die verdurstenden, verdorrenden Felder, auf die staubbedeckten Wiesen und die von Würmern befallenen Gärten nieder.
Sie kommt.
Sie naht.
Sie ballt sich zu Wolken und wächst über den Tagen empor.
Und sie löscht alles aus.
Aus jedem Ding, aus jedem Gesicht, zu jeder Stunde starrt sie mich an und straft mich für einen einzigen Augenblick des Vergessens mit unendlicher und unerträglicher Pein.
Ich kenne sie nicht ganz. Ich ahne sie nur. Ich weiß nicht, woher sie kommt und von welcher Seite sie mir droht. Ich fühle nur, daß sie überall um mich herum ist.
Meine Lippen zittern nicht mehr vor Lachen. Mein Herz kann nicht mehr lächeln.
Mein Herz kann nicht mehr verdammen, so wie es einst verdammt hat.
Es murrt leise und krampft sich zusammen.
Und wenn sie kommt, wirst du sie überwinden können?
Herz, du hast verdammt, du hast geliebt.
Wirst du sie überwinden können?
Niemals wirst du es können.
Und du wirst ihr wie ein Stein zu Füßen fallen, und sie wird dich mit ihrem Blitze zermalmen und zu Kohle verbrennen.
Ich weiß nicht, woran ich mich festklammern soll.
Gib mir doch wenigstens eine Schlinge.
Doch ist es möglich, so gehe sie von mir.
Um die Mittagsstunde des Johannistages erdröhnte von der Kathedrale herab hastiges Sturmläuten.
Ganze von Arbeitern und armem Volk dicht bevölkerte Straßenzüge an verschiedenen Enden der Stadt standen plötzlich in Flammen.
Die kleinen Holzhäuser und die unförmigen riesigen Gebäude der Nachtasyle und Arbeiterkasernen brannten lichterloh wie zu Haufen aufgestapelter Rumpelkram.
Die Flammen loderten empor und verloren sich in riesenhaften spindelförmigen Staubsäulen. Die Spindeln rasten und kreisten von oben nach unten, vom Zentrum zu den Vorstädten.
Und eine unsichtbare wahnsinnige Hand spann am glühenden wolkenlosen Himmel ein erstickendes, feuriges Gespinst.
Die überraschten Menschen liefen, stumm vor Schreck, wilde, tierische Schreie ausstoßend, mitten in diesem Gesang der Feuersbrunst hin und her.
Zur gewohnten Stunde ertönte keuchend von der Fabrik her der Mittagspfiff
Und dieser Pfiff klang so einsam und fremd im Chore der anderen Pfiffe.
Er flehte um Gnade, um Erbarmen . . .
Daß man die Kinder rette, die Habseligkeiten in Sicherheit bringe . . .
Diese letzten Schreie der dem Tode geweihten Menschen und Dinge schnitten sich in jedes Herz.
Man trug die Heiligenbilder heraus.
Man glaubte: die Heiligenbilder würden beistehen und vor dem Unglück beschützen.
Aber das Feuer drang hartnäckig beißend überall hinein, es flog empor und erfaßte immer neue, noch unversehrte Menschenwohnungen.
Die blauen und weißen Spindeln aus Funken und aus Staub drehten sich verzweifelt und unaufhörlich . . . Ein in wahnsinniger Hast kreisender Bohrer durchlöcherte die schwere Luft mit Feuer.
Karminroter Feuerschein ergoß sich bebend über die ganze Stadt.
Die schwarz verkohlten Dachstühle der Brandstätten ragten in die Luft wie Galgen.
Die Eisenbahnwerkstätten und die Naphtatanks brannten.
Voller Wut und Entsetzen sprangen die brennenden Lokomotiven wie gehetzt aus ihren eisernen Ställen heraus. Und sie pfiffen auf den Schienenwegen trocken und abgerissen.
Unter ihren rotglühenden Tatzen stöhnte und zischte es unheimlich und unheilverkündend.
Und das Weinen der ohne Tränen sterbenden Maschinen machte den Abend erglühen.
Die brennenden Getreidespeicher rauschten wie Springbrunnen.
Jemand schüttelte die blutrot leuchtenden Bernsteinkörner des Getreides durcheinander und lachte aus vollem Halse.
Mitten in der verzauberten Johannisnacht, um die Stunde des tobenden Lebens, erdröhnte von der Kathedrale herab die Sturmglocke.
Die öffentlichen Häuser standen in Flammen.
Das Feuer sog sich mit seinen Küssen eifersüchtig an den Mädchenlippen fest, jeden Nebenbuhler zurückwerfend und vernichtend. Mit wollüstig feiner Zunge beleckte es die Leiber und brannte sich in sie bis an die Knochen hinein.
Die berauschten Gäste fielen vor diesem roten, erbarmungslosen, unersättlichen Gast zu Boden.
Nackte, in Umarmungen verschlungene, von Glassplittern verwundete, vom Feuer versengte Körper stürzten aus den oberen Stockwerken herab; sie stürzten zu Boden und wurden von Menschenfüßen und Pferdehufen zertreten und zermalmt.
Die brennenden Pupillen der sich drängenden Menge weiteten sich und platzten vor der berauschenden Glut. Das Röcheln der Tiere vermengte sich mit dem durchdringenden Lachen, dem Flehen und Stöhnen der Menschen.
Ein Mönch in dunklem Gewande, ein Mönch mit regungslosem Gesicht stand in der Hölle der Feuersbrunst.
Nur er allein war leidenschaftslos wie am hellen Mittag und schrecklich in seiner Ruhe. Er war geheimnisvoll und unheilverkündend wie ein quälender, verworrener Traum.
Das Feuer, das in der Tiefe seiner Augen brannte, durchdrang die Flammen.
Tausende von Händen griffen nach dem Saume seines Gewandes, nach den Zipfeln seiner schwarzen Kapuze; Tausende von Händen streckten sich aus und hoben den Staub unter seinen Füßen auf; Tausende von Lippen küßten diesen Staub.
»Beschütze uns!«
»Rette uns!«
»Gnade!«
»Erbarmen!«
›Erbarmen! Erbarmen!‹ dröhnte die Sturmglocke der Kathedrale, als die Sonne sich träge erhob und ihre blutig-goldenen Strahlen in den Rauch bohrte und über die Erde goß.
»Flieht! Flieht!« rief es aus den Rauchwirbeln, die die höllischen Spindeln beißenden Staubes umkreisten.
Das Zuchthaus brannte.
Das Spital brannte.
Die Zuchthäusler erbrachen die eisernen Türen, erschlugen mit den Eisengittern die Aufseher und schleppten sich, verprügelt und angeschossen, wie Pestkranke die von der Flammenglut zersprungenen Straßen entlang.
Hei, so schön brannten die von Unrat durchtränkten Zellen! Welch ein Freudenmahl des freien, rächenden Feuers, das die Särge der Lebenden, das Zuchthaus, zerstörte!
Und in den dumpfen Krankensälen, im grüngelben Licht der hüpfenden Sonnen, klang herzzerreißend das Stöhnen der Siechen und das höllische Lachen der Wahnsinnigen.
Das Feuer schrie und sprang wie ein Eichhörnchen. Es warf sein brennendes Netz über die Stadtparkmauer auf das Schlachthaus hinüber.
Die Stadt zitterte vor dem vorsintflutlichen Geheul, die Tiere weinten wie von menschlicher Trauer ergriffen.
Vom Zuchthaus kam das Feuer auf den Friedhof.
Die Flammen erbrachen mit ihren schweren, glühenden Brecheisen die stummen Gräber.
Und die Toten erhoben sich aus den Särgen und wuchsen zu schwarzen, von einer grauen, erstickenden Wolke beschatteten Dunstsäule empor.
Der Mönch in dunklem Gewande, der Mönch mit fest zusammengepreßten Lippen stand mit gekreuzten Armen mitten unter den vertierten Menschen und den rasenden Tieren.
Funken und Flammen umkreisten sein Haupt wie Scharen goldener Vögel.
Und die Sturmglocke läutet und läutet ohne Unterlaß.
Und die Menschen rennen zerfetzt, verbrannt, verzweifelt umher.
Das staatliche Schnapslager brennt!
Der brennende Schnaps frißt die Herzen.
Hab den Vater geschlachtet,
Die Mutter gehenkt,
Und die leibliche Schwester
Im Flusse ertränkt . . .
Tausende von verstümmelten, mit Weingeist durchtränkten Leichen brennen mit blauen, unerträglichen Flammen.
Man wurde vor Entsetzen wahnsinnig.
Die Mütter verloren ihre Kinder.
Kinder schleppten zentnerschwere Lasten.
Niemand wagte, unter einem noch unversehrten Obdach zu bleiben.
Man verließ die Häuser und zog auf die Straßen.
Man suchte nach den Brandstiftern.
Man glaubte schon, ihnen auf der Spur zu sein.
Man wollte unbekannte Frauen gesehen haben, die sich bei den Haustoren zu schaffen machten.
Man riß den Aufseher Semjon, der sich unbedachterweise eine Pfeife angezündet hatte, in Stücke.
Man riß einem Studenten den Arm aus.
Man warf jemanden ins Feuer.
»Wer ist’s? Wo soll man suchen?« fragte man den Mönch.
Der Mönch schwieg.
Auf den Zäunen stand mit schwarzen Lettern geschrieben: ›Morgen wird keine Feuersbrunst sein.‹
»Morgen wird keine Feuersbrunst sein! Keine Feuersbrunst.«
Ein blutrotes engmaschiges Netz hing über der Stadt, und irgendwo in seiner Tiefe schwebte ein blutig-flammender Kern, welcher Gestank und Brandgeruch verbreitete.
So begann der dritte Morgen, der dritte und letzte Tag.
In der Nacht verbrannte die Kathedrale mit allen Reliquien. Der Glockenturm stürzte ein, und die schreiende Zunge der Sturmglocke verstummte.
Aus dem Feuer stiegen drei flammende Kreuze empor. Sie zitterten und verschwanden in der schrecklichen roten Nacht.
Die Herzen glühten, die Arme hingen kraftlos herab.
Es gab nichts mehr, was noch brennen konnte.
Die Feuersbrunst ging zu Ende.
Die wahnsinnigen Menschen irrten wie im Nebel umher.
Einen jeden, der ihnen in den Weg kam und der etwas auf dem Kerbholz hatte, erschlugen sie mit brennenden Scheiten.
Von Entsetzen, Verzweiflung und Blut trunken, verließen sie vor Anbruch der Nacht die Stadt.
Alle, die noch am Leben geblieben waren, verbrachten diese letzte Nacht auf dem freien Feld, eng aneinander gedrängt, von geretteter Habe und geraubtem Gut umgeben.
Und der Mönch in dunklem Gewand stand unter den Übriggebliebenen.
Niemand erhob die Stimme, um ihn zu rufen oder anzuflehen, aber Hunderte von Augen waren auf sein unter der Kutte verborgenes Herz gerichtet.
»Gnade! Gnade!«
Und zum erstenmal ging ein Zucken über das regungslose Gesicht des Mönches.
Der Mönch zerriß sein Gewand, holte ein Gefäß, das er auf der Brust trug, hervor, tauchte einen Weihwedel hinein und besprengte die flehenden Augen.
Im gleichen Augenblick ergoß sich ein Feuermeer über das ganze Feld.
Die Feuerwolke zerriß den Himmel, zerspaltete die Nacht, schrie auf und erbebte.
Und nichts als Funken und wieder Funken . . .
Tiefe Finsternis lag über der verbrannten Stadt.
Und die Sterne fürchteten sich, auf die Erde und auf den in dunkle Fetzen gehüllten Menschen herabzuschauen.
Und die Aasvögel wagten nicht, zu den Leichen herabzufliegen, sie wagten nicht, ihre Flügel vor jenem Menschen zu regen.
Und er stand allein mitten in der Asche der verbrannten Erde.
O du verdammte Heimaterde!
Eine Kuh fraß am Eliastage dem Petka ein Fünfzehnkopekenstück auf.
Als die Großmutter von der Abendmesse heimgekommen war, hatte sie vor dem Schlafengehen dem Knaben eine silberne Münze, ein Fünfzehnkopekenstück, zum Vernaschen geschenkt.
Am Tage des heiligen Elias schreitet eine Prozession aus dem Kreml zur Eliaskirche auf dem Woronzow-Felde, eine lange Prozession mit uralten Kreuzen, von vielen Gendarmen zu Pferde begleitet. Nach der Messe findet im Garten und auf dem Platz vor der Kirche unter den Kirchenfahnen ein Volksfest statt; es werden dabei Kwaß, Spielzeug, Stachelbeeren, Birnen und Eis feilgeboten. Petka war ein großer Liebhaber von Stachelbeeren und aß leidenschaftlich gern Eis; seine Freude über das Fünfzehnkopekenstück war also wirklich groß. Während der ganzen Nacht behielt er die Münze in der Hand.
Als die Großmutter aus der Kirche des heiligen Nikola Kobylski heimkehrte, war Petka schon auf: er hatte den Samowar instand gesetzt, seine Schuhe gewichst und sich fein herausgeputzt; fertig zum Ausgehen, stand er da. Und wie oft hatte der unruhige Geist schon in Erwartung der Großmutter die Mütze aufprobiert! Petka hatte eine Mütze mit lackledernem Schirm; früher hatte er einen Strohhut getragen, als er aber Schüler einer Städtischen Schule geworden war, hatte ihm die Großmutter diese Mütze gekauft. Er hat seinen Gürtel, der ebenfalls aus Lackleder ist, ins letzte Loch geschnallt und sich seine schwarze Tuchbluse mit den beiden Silberknöpfen am Kragen zurechtgezupft; bloß mit der Hose ist es nicht weit her: die Drillichhose ist zwar rein gewaschen — Großmutter selbst hat sie gewaschen und gebügelt —, aber sie ist zu kurz: von den Waden ist ein etwa zwei Finger breites Stück zu sehen; Petka wächst aber noch, und die Hose ist in der Wäsche eingelaufen.
»Ich habe dir den Samowar in einem Nu zurechtgemacht, Großmutter!« begrüßt Petka die Großmutter, auf einem Bein hüpfend.
»Du bist ein gescheiter Junge, Petuschok!« Großmutter ist nach dem Gottesdienst müde und freut sich auf den Tee.
Wenn die Großmutter selbst den Samowar instand setzte, brauchte sie immer furchtbar viel Zeit dazu — so kam es Petka wenigstens vor. Sie pflegte erst die Asche auszuschütten, dann ein wenig Kohle hineinzutun, auf die Kohle einige Holzspäne zu streuen und, wenn die Kohle zu knistern anfing, noch einige Kohlen nachzulegen; das machte sie wohl zweimal. Petka schüttete aber nie die Asche aus, sondern stopfte den Samowar gleich mit Kohle voll, zündete einige Späne an, legte noch etwas Kohle auf, und der Samowar begann sofort, so schien es ihm wenigstens, zu summen.
»Du bist ein gescheiter Junge!« wiederholte die Großmutter. Sie freute sich, daß der Samowar auf dem Tisch stand und summte und daß sie jetzt in aller Ruhe ihren Tee trinken und vor der Prozession noch etwas ausruhen konnte.
Großmutter war gottesfürchtig und eine eifrige Kirchgängerin; sie versäumte keinen einzigen Gottesdienst, und wenn es beim Nikola Kobylski eine Leiche gab, so ging sie hin und wohnte auch mit einer Kerze in der Hand der Totenmesse bei; sie ging auch mit Petka bei allen Prozessionen mit.
Großmutter setzte sich an den Teetisch, aber ehe sie noch ein Stückchen geweihtes Brot zerkauen konnte, fing Petka schon zu drängen an: sie wollten sofort aufbrechen, um der Prozession entgegenzugehen.
Aber es sei noch viel zu früh! Die Prozession habe gewiß noch nicht den Kreml verlassen; die Leute sammelten sich wohl erst; die Hausmeister ständen noch gar nicht am Morosowschen Gitterzaun, sie säßen wohl noch in der warmen Stube und tränken Tee.
Großmutter und Petka pflegten die Prozession in der Wedenskaja-Gasse, auf dem Morosowschen Zaune stehend, zu erwarten. Sie machten es sehr einfach: zuerst kletterte Petka hinauf und dann die Großmutter; der Alten fiel es zwar recht schwer, auf den Zaun hinaufzuklettern, aber sie konnte von dort aus besser sehen und lief auch nicht Gefahr, zertreten zu werden.
»Wenn du nicht gehst, geh ich allein!« Petka setzte seine Mütze mit dem Lacklederschirm auf und stand schon an der Tür.
Großmutter hatte Angst, Petka allein gehen zu lassen; sie meinte, man könne ihn im Gedränge leicht zertreten.
»Man wird dich zertreten, Petuschok.«
»Nein, Großmutter, man wird mich nicht zertreten. Mir hat im vorigen Jahr das Pferd eines Gendarmen mit dem Huf auf eine Zehe getreten, das hat schrecklich weh getan! Und doch hat es mir nichts geschadet. Großmutter, jetzt gehe ich!«
Großmutter hat Angst und ist zugleich gekränkt: sie gingen doch jedes Jahr zusammen hin — Petka voraus und hinter ihm die Großmutter in ihrem alten Umhang, mit dem Sonnenschirm in der Hand; Großmutter spannte ihren Schirm niemals in der Sonne auf und hielt ihn nicht am Griff, sondern stets an der Spitze, so daß der Griff die Erde berührte. Sie will Petka nicht allein gehen lassen; und sie will noch etwas ausruhen und gemächlich ihren Tee trinken!
Was ist da zu machen? Der Junge läßt sich nicht halten!
Petka geht allein fort.
Der Morgen ist schön kühl, der Tag wird nicht so heiß werden. Ob Petka vom lieben Gott einen so herrlichen Tag erfleht oder der heilige Prophet Elias, dem das Fest gilt, seinen Segen gegeben hat — die Leute werden es in der Prozession gut haben, die goldgestickten Kirchenfahnen werden funkeln, die Priester werden leichten und trockenen Fußes gehen, und auch die Chorsänger werden es angenehm haben.
Petka ging, sein Fünfzehnkopekenstück fest in der Faust haltend, auf den Flur hinaus; viel Stachelbeeren, rote, behaarte Stachelbeeren wollte er sich dafür kaufen und außerdem für fünf Kopeken Schokoladeneis verspeisen. Petka lauschte; irgendwo läuteten die Glocken, aber es war noch sehr weit. Die Prozession hatte wohl eben erst den Kreml verlassen, und man läutete in den Kirchen, an denen sie vorüberzog.
›Man läutet erst in der Iljinka oder in der Marossejka bei Nikola — es ist ein schönes Läuten!‹ dachte Petka. Und da erblickte er plötzlich eine Kuh.
Auf dem Hofe spazierte die Kuh des Diakons, eine schöne, wohlgenährte, rote Kuh.
Petka freute sich jedesmal, wenn er die Milchkuh des Diakons sah, das ›Braunchen‹, wie Großmutter sie zu nennen pflegte.
»Guten Tag, Braunchen!« Petka kam hüpfend näher und streckte seine Hand aus, um die Kuh zu streicheln . . . Das Geldstück funkelte in der Sonne, das Fünfzehnkopekenstück fiel ihm aus der Hand, die Kuh leckte es mit der Zunge auf, stieß einmal auf und verschluckte es.
Kurz und gut — weg war es.
Petka suchte auf dem Rasen und zwischen den Steinchen, ging einige Male um die Kuh herum, stand einen Augenblick still und wartete, ob die Münze nicht wieder zum Vorschein käme . . . Nein, verschwunden war sein silbernes Geldstück, das Braunchen hatte es gefressen, es hatte ihm das Fünfzehnkopekenstück, das er zum Eliastage bekommen, weggenommen.
Mit leeren Händen ging nun Petka zur Eliaskirche.
Sollte er umkehren und der Großmutter alles erzählen? Großmutter würde wohl sagen: »Wolltest mir nicht folgen, bist allein gegangen, darum hat es dir die Kuh gefressen!« Und sie würde ihm nie wieder eine Silbermünze schenken. Sie würde noch sagen: »Was soll man auch so einem Schlingel Geld schenken? Das frißt ja doch die Kuh!« Nein, es ist doch besser, der Großmutter nichts zu sagen. Und die Stachelbeeren und das Schokoladeneis? Nun, er wird sich eben ohne Stachelbeeren und ohne Eis behelfen müssen. Und wenn Großmutter etwas merkt? Sie wird eben nichts merken. Er wird der Großmutter sagen, daß er einen ganzen Zentner Stachelbeeren und hundert Portionen Eis gegessen hat . . . Und wenn Großmutter es nicht glaubt? Sie wird es wohl glauben müssen! Die Stachelbeeren sind ja billig — spottbillig sind sie, sagt Großmutter selbst. Und was ist auch dabei? Er hat eben einen ganzen Zentner Stachelbeeren gekauft und aufgegessen: er hat Geld genug gehabt, es sind ja nicht fünf, sondern fünfzehn Kopeken gewesen! Aber er hat kein Fünfzehnkopekenstück mehr: die Kuh hat es aufgefressen!
»Was bist du für eine Kuh!« sagte Petka vorwurfsvoll zu seinem geliebten Braunchen. »Warum hast du das Geld gefressen? Die Stachelbeeren sind so schön rot und behaart, und das Schokoladeneis schmeckt so herrlich . . . hundert Portionen!«
Petka dachte im Gehen immer an sein Fünfzehnkopekenstück, das unwiederbringlich verloren war. Es gab nur noch eine Möglichkeit: Großmutter alles zu gestehen. Sie wird ihm dann vielleicht ein neues geben. Aber wo sollte Großmutter eines hernehmen? Das Geld wächst nicht auf der Straße, pflegt Großmutter zu sagen. Sie hat ja auch nur ein paar Silbermünzen; Kopekenstücke hat sie genug . . . Petka ging am Kursker Bahnhof und an dem verwahrlosten Rjabowschen Hause, wo, wie er glaubte, die goldenen Zimmer immer leer und unbewohnt standen, vorbei. Er ging zur Eliaskirche auf dem Woronzow-Feld.
Die ganze Wedenskaja-Gasse war mit Gras belegt, das ganze Pflaster mit frischgemähtem Gras bestreut. Da war Gras von den Chludows dabei, und von den Naidjonows und von Myslin, und wie alle die reichen Gemeindemitglieder sonst noch hießen. Die Füße glitten im Grase aus, und Petka brachte es fertig, sich ein paar grüne Grasflecke auf seine Hose zu machen. Im Gras lagen auch vereinzelte Blumen, und die Blumen dufteten nach Wiesen und brachten ihm die Wallfahrten in Erinnerung. Petka unternahm jeden Sommer mit seiner Großmutter Wallfahrten. Petka dachte nicht mehr an das aufgefressene Fünfzehnkopekenstück und schloß die Augen: ganz klar, ganz deutlich fühlte er die Erde und das Gras unter seinen Füßen; er fühlte sich plötzlich in die Gegend von Swenigorod versetzt, auf einen Feldweg, wo Glockenblumen blühen, auf einen Waldweg, wo der Kuckuck ruft, zum Sawwa-Kloster zum Nikola-Ugrjescha, und vom Nikola-Ugrjescha zum Troiza-Sergius-Kloster.
Die Leute eilten schon zur Kirche; andere blieben auf dem Bürgersteig und suchten sich ein Plätzchen, wo sie bequem stehen und zusehen konnten. Das Läuten klang immer näher, es schien schon aus der nächsten Nähe, von der Troiza-Grjasi-Kirche zu kommen. Nein, Petka hatte sich getäuscht, es war noch sehr weit: man läutete erst bei Kosmas und Damian.
Auf dem Morosowschen Zaun stand noch niemand. Vor dem Tore waren nur die Hausmeister versammelt, unter ihnen der Morosowsche Kutscher in einer Plüschweste, das schwarze Haar mit Butter eingefettet. Auch Petka wird sich einmal, wenn er groß ist, das Haar mit Butter einfetten, und es wird dann ebenso schön schwarz sein wie das Haar des Morosowschen Kutschers; jetzt aber benetzte es ihm Großmutter, wenn er aus der Badestube heimkommt, mit Kwaß.
Petka kletterte auf den Zaun hinauf und hielt Ausschau nach der Prozession und der Großmutter.
›Es wird sich schon irgendwo auf dem Hofe finden‹, dachte er ab und zu an sein unglückseliges Geldstück. ›Es kann gar nicht verlorengehen!‹
Vom Geld kamen seine Gedanken wieder auf die Prozession, und er horchte, in welcher Kirche gerade geläutet wurde; von der Prozession kamen sie auf den Morosowschen Kutscher, vom Kutscher auf das Gras und die Wallfahrten; so schweiften die flüchtigen Gedanken des kleinen Petka, des Petuschok,1) wie Großmutter den Jungen zu nennen pflegte.
Nun kam auch Großmutter mit ihrem Sonnenschirm an; sie kletterte auf den Zaun hinauf, die Glocken der Kirche zur Mariä Opferung in den Baraschi begannen zu läuten, die Prozession kam immer näher, die schweren Kirchenfahnen erstrahlten in goldenem Glanz, dann läutete es in der Eliaskirche, und Petka war vollkommen getröstet.
›Großmutter wird mir ein anderes Geldstück schenken, und wenn sie mir keines schenkt, so werde ich auch ohne Eis und Stachelbeeren satt werden.‹
Großmutter hatte niemand außer Petka. Petka ist ihr Großneffe, der Sohn ihres Neffen, aber sie nennt ihn Enkel. Der Neffe ist gänzlich heruntergekommen: er war früher einmal Parkettwichser gewesen, hatte sich etwas zuschulden kommen lassen, trieb sich lange Zeit arbeitslos in Moskau herum, bekam endlich eine Anstellung in einer Bierhalle, blieb dort nur einen Winter lang, gab diese Stellung auf und wurde Arbeiter in den Goujon-Werken; er verließ auch diese Stellung und geriet schließlich unter das lichtscheue Gesindel, das den Chitrowka-Markt bevölkert. Er besuchte, wenn auch nur selten und meistens betrunken, die Großmutter, um sie um Geld zu bitten. Großmutter hatte vor dem Neffen große Angst und nannte ihn ›den Räuber‹.
Petka wohnt mit der Großmutter in einer Kellerstube auf dem Semljanoj-Wall, in der Nähe der Kirche des heiligen Nikola Kobylski. Als Großmutter noch bei Kräften gewesen war, hatte sie nie müßig dagesessen und über nichts zu klagen gehabt; die Nachbarn sagten, sie brauche sich nie ohne Weißbrot zu Tisch zu setzen. Nun aber sind ihre Augen schwach, und sie kann nicht mehr arbeiten. Großmutter ist auch schon bei Jahren: sie war sechs Jahre alt, als man die Leiche des Kaisers Alexander Pawlowitsch aus Taganrog über Moskau überführte: so alt ist sie also schon! Gute Menschen unterstützen sie ab und zu, und sie bekam auch einen monatlichen Zuschuß von der Armenpflege; ihr Petka aber wurde in eine Städtische Schule aufgenommen. Auf dem Semljanoj-Wall kennt jedermann die Großmutter Iljinischna Sundukow; auch auf dem Woronzow-Feld und in den Syromjatniki ist sie gut bekannt. Mit Mühe und Not schlägt sie sich mit ihrem Petka durch.
Ihre Kellerstube ist sehr klein. Vor ihr wohnten zwei alte Frauen darin, mit Namen Smetanin, die ebenso gottesfürchtig waren wie die Großmutter. Als die Smetanins starben, mietete Großmutter mit Petka die Kellerstube. Großmutter hat früher ein anderes, größeres Zimmer gehabt, in dem jetzt Stubenmaler wohnen.
Großmutters Zimmer ist vollgepfropft. Es steht eine Kommode darin, die vor Alter eine Art Geheimkommode geworden ist: die mittlere Schublade läßt sich nicht mehr ganz herausziehen: man kann sie nur von rechts und auch nur einen Fingerbreit herausschieben. In dieser Schublade — davon weiß aber nur die Großmutter allein — sind ein silberner Teeglasuntersatz mit Weintraubenmuster und zwei silberne Löffel mit Blumengravierung und schwarzem Email an den Stielen verwahrt: das alles ist Petkas Eigentum, das er nach Großmutters Tode erben wird. Großmutter hat auch einen Kleiderschrank, gleichfalls mit einem geheimen Trick: du kannst die Tür zwar aufmachen, hast aber gleich die ganze Bescherung, denn die Tür fällt sofort ganz heraus: nur Großmutter allein versteht es, in ein bestimmtes Loch einen Stift hineinzustecken, so daß die Tür auf den richtigen Platz kommt und der Schrank sich wieder schließen läßt. Großmutter besitzt auch noch einen kleinen eichenen eisenbeschlagenen Koffer, in dem sie ein Hemd, ein Leichentuch, ein Paar Pantoffeln ohne Absätze und ein Stück Leinwand verwahrt: das alles bleibt für ihre Leiche aufgespart. Als man einmal im Herbst auf dem Hof Kraut schnitt, stopfte Petka in diese Truhe Kohlstrünke hinein: der Schlingel glaubte, es würde Großmutter Freude machen, wenn sie im Jenseits von den Kohlstrünken naschen könnte. Ein kleines Sofa steht auch noch da: von außen betrachtet, ist es noch ganz anständig, wenn man sich aber ungeschickt draufsetzt, so stößt man sich an einer Holzleiste. Im Winkel steht ein Heiligenschrein mit drei Abteilungen. Zuoberst hängen mehrere geweihte Bildchen von den Wallfahrtsorten und noch allerlei andere Bildchen und Messingkreuze. Darunter steht die Ikone ›Die Moskauer Wundertäter‹: Maxim der Selige, Wassili der Selige und Johannes der Narr in Christo stehen nebeneinander — Wassili nackt, Maxim mit einem Schurz und Johannes in einem weißen Gewand —, die Arme im Gebet ausgestreckt, vor dem Moskauer Kreml; über dem Kreml ist die heilige Dreifaltigkeit dargestellt, und über den Heiligen ein dunkler Wald, die ›Mutter-Einöde‹ mit zerklüfteten Bergen, Bergen, die wie Zungen aussehen: Petka hält sie für Feuerberge. Es ist eine uralte Ikone. Daneben steht eine zweite auf Goldgrund gemalte Ikone: ›Die vier Marienfeste‹. Sie stellt die vier Muttergottesfeste dar: Maria Schutz und Fürbitte, Aller Leidenden Freude, Mariä Erscheinung und die Muttergottes von Achtyrka. Das Bild fällt fast auseinander, so alt ist es. Unter dem Heiligenschrein liegen drei Knäuel: ein Knäuel Stricke, ein Knäuel Bindfaden und ein Knäuel bunter Schnüre: während vieler Jahre hat Großmutter sie aufgespart. Schließlich existiert noch eine Truthenne — das ist ihre ganze Habe.
Großmutter gibt Petka sein Essen und denkt auch an die Truthenne. Die Truthenne wohnt auf dem Hof in einem kleinen Schuppen, der Schuppen steht neben dem Kuhstall; die Truthenne stirbt langsam dahin und ist schon so alt wie die Großmutter. Großmutters ›Herr Jesus‹ kann sie zwar nicht nachsprechen, versteht aber anscheinend sonst alles: in ihrem langen Leben hat sie alles gelernt, alles erfaßt.
Als Petka klein war, hatte er vor der Truthenne Angst; aber mit den Jahren gewöhnte er sich an sie und liebte es, sie anzuschauen: er pflegte sich im Schuppen vor ihr hinzukauern und sie zu betrachten; ihn interessierte ihr Kopf, der ganz rosa und mit vielen kleinen rosa Warzen besät war. Die Truthenne stand vor ihm, blies sich auf und kauerte sich hin. Und so kauerten sie beide: Petka und die Truthenne.
Die Hühner des Diakons haben Hähnchen, die Katze Puschok hat Kätzchen, aber die Truthenne hat nichts — wie kommt das? fragte sich Petka mehr als einmal.
Auch die Großmutter sagte manchmal nachdenklich vor sich hin:
»Wenn Gott der Truthenne ein Ei schenken wollte, so gäbe es Hähnchen!«
›Alles kommt vom Ei, wenn Gott der Truthenne ein Ei schenkt, so gibt es Hähnchen!‹ sagte sich auch Petka.
»Großmutter, und wenn Gott der Truthenne wirklich ein Ei schenkt?«
»Gott geb’s!«
»Was geschieht dann weiter?« prüfte der kluge Petka die Großmutter.
»Dann setzt sie sich hin.«
»Wie setzt sie sich hin, Großmutter?«
»Auf das Ei setzt sie sich, Petuschok. So macht sie das.« Großmutter kauerte hin wie die Truthenne. »Einundzwanzig Tage, das sind genau drei Wochen, sitzt sie darauf; nur wenn sie fressen muß, steht sie auf und das auch nur jeden zweiten oder dritten Tag. Und dann kommt ein Truthähnchen heraus.«
»Großmutter, wo werden wir das Hähnchen hintun?«
»Es wird bei uns wohnen.«
»Großmutter, wir werden es in einen Käfig tun, und es wird wie eine Nachtigall singen, ja, Großmutter?«
»Ja, Petuschok, es wird ein kleines Hähnchen sein, ganz gelb, mit einem Schöpfchen.«
»Großmutter, wir werden uns einen Luftballon machen und fliegen. Ja, Großmutter?«
»Was fällt dir ein, Petuschok!«
»Wir werden fliegen, Großmutter, wir werden mit dem Hähnchen in dem Luftballon wohnen. Ja?«
Großmutter schwieg eine lange Weile. Petka glotzte aber über die Großmutter hinweg und sah wohl bereits im Geiste den Luftballon, in dem sie wohnen würden: er, das Hähnchen und die Großmutter.
»Ich bin damit nicht einverstanden«, sagte die Großmutter. »Ich will hier unten sterben, auf dem Luftballon mag ich nicht sterben.«
»Großmutter«, Petka dachte nur an seine Sachen und hörte die Großmutter nicht. »Alles kommt doch vom Ei?«
»Möge Gott ihr doch eins schenken!« Großmutter wollte so schrecklich gern, daß die Truthenne legte, und sie dachte an das Hähnchen mit derselben Sehnsucht wie Petka.
Petka hatte das Geldstück vom Eliastage vergessen und machte der Kuh keine Vorwürfe mehr, weil sie es gefressen hatte; er brauchte kein Geldstück mehr, er brauchte nur das kalikutische Hähnchen. Aber wo sollte er ein Ei hernehmen, wie könnte er es einrichten, daß Gott der Truthenne ein Ei schenkt, aus dem alles kommt, aus dem auch ein Truthähnchen kommt?
›Ich könnte ja ein Ei vom Diakon nehmen und es unter die Truthenne legen‹, überlegte sich Petka. ›Der Diakon hat viele Hühner, und seine Hühner legen viele Eier . . . Und man braucht ja doch nur ein einziges Ei! Wenn er es aber merkt? Seine Eier sind ja alle gezeichnet!‹ Petka hatte schon in des Diakons Kiste hineingeschaut. ›Datum und Monat sind auf jedem Ei verzeichnet, man wird es merken, und dann stehe ich als Dieb da. Und als Dieb werde ich auf den Chitrowka-Markt gehen müssen. Und Großmutter? Wie wird sie ohne mich leben?‹ — ›Ich lebe nur für dich, Petuschok, sonst wäre es für mich längst Zeit zu sterben!‹ — pflegt Großmutter zu sagen. ›Nein, vom Diakon will ich nichts nehmen. Aber wie kann ich mir ein Ei verschaffen? Ich brauche ja nur ein einziges!‹
Ein Zufall kam Petka zu Hilfe. Großmutter wollte einmal ihrem Petuschok eine Freude machen und ihn mit Spiegeleiern traktieren. Und sie schickte Petka zum Kaufmann, um drei Eier zu kaufen. Petka brachte bloß zwei Eier mit: das dritte versteckte er und sagte der Großmutter, er habe es zerbrochen.
»Da hast du es, Petuschok: die Kuh hat dir das Geldstück gefressen, und das Ei hast du zerbrochen!« Das zerbrochene Ei tat der Großmutter furchtbar leid.
Petka hätte wohl sonst die Eierspeise vor Ärger gar nicht angerührt; aber jetzt, wo er in seiner Tasche das Ei liegen hatte, aus dem alles kommt, aus dem auch ein Hähnchen kommen konnte, machte er sich nicht viel daraus: soll nur Großmutter sagen, was sie will. Er verzehrte schnell sein Spiegelei, wischte sich nicht einmal den Mund ab und lief in den Schuppen zu der Truthenne. Er legte ihr das Ei unter den Schwanz und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Die Truthenne sah aber gar nicht hin, als wenn da gar kein Ei läge, und dachte gar nicht daran, sich draufzusetzen.
Was ist denn das? Und wenn sie sich nicht hinsetzt?
»Setz dich, Truthenne, setz dich, bitte!« Petka kauerte hin, starrte auf die rosa Warzen der Truthenne und verharrte so, ohne zu atmen, ohne sich zu regen, von dem einen hartnäckigen Gedanken, dem einen heißen Wunsch, der einen Bitte beseelt: »Setz dich doch, Truthenne, setz dich, bitte!«
Die Truthenne blies sich auf und setzte sich auf das Ei, ja, ganz genau auf das Ei.
Und Petka kauerte noch lange vor ihr, wandte keinen Blick von der Truthenne, von dem einen hartnäckigen Gedanken, von dem einen heißen Wunsch beseelt . . .
Die Truthenne saß ruhig und fest auf dem Hühnerei.
Petka erhob sich leise, ging aus dem Schuppen und lief von hinten herum zu einem Spalt in der Wand. Er blieb am Spalt kleben: die Truthenne saß ruhig und fest auf dem Hühnerei.
Sollte er es der Großmutter sagen? Nein, Großmutter wird es schon selber sehen. Wie wird sie sich freuen, wenn sie die Truthenne auf dem Ei sitzen sieht!
Petka stand den ganzen Tag Wache am Spalt: er paßte auf die Truthenne auf und wartete auf die Großmutter. Großmutter kam in den Schuppen, um der Truthenne ihr Futter zu geben.
»Gepriesen sei der Schöpfer!« flüsterte die Alte. Sie bekreuzigte sich, sie trippelte aufgeregt umher, sie traute ihren Augen nicht, sie konnte es einfach nicht begreifen: die Truthenne hatte ein Ei gelegt, die Truthenne saß auf einem Ei!
Am Abend nach diesem langen, wundervollen Tage legte sich Petka schlafen, auch Großmutter ging zu Bett. Petka drehte sich hin und her und konnte nicht einschlafen: er wartete immer, daß Großmutter etwas von der Truthenne sagen werde. Auch Großmutter wälzte sich immer von der einen Seite auf die andere: sie hatte große Lust, von der Neuigkeit zu sprechen, fürchtete aber, das Glück zu berufen.
Lange beherrschte sich die Alte, hielt es aber schließlich doch nicht aus. »Petuschok!« rief die Großmutter.
»Großmutter!« Der Schlingel begriff sofort, um was es sich handelte. Er tat aber so, als ob er ihr aus dem Schlafe antwortete.
»Du schläfst noch nicht, Petuschok?«
»Was willst du, Großmutter?«
»Der liebe Gott hat uns seine Gnade erwiesen!« Großmutter fing sogar zu lachen an und keuchte vor Freude. »Ein Ei! Die Truthenne sitzt . . .«
»Sie sitzt, Großmutter?«
»Ja, Petuschok, sie sitzt . . .« Großmutter sagte es mit schwacher Stimme und bekam einen Hustenanfall.
»O Großmutter, wir werden jetzt einen Truthahn haben, ein Hähnchen?«
»Ein Truthähnchen, ein kalikutisches Hähnchen«, flüsterte die Großmutter, als ob im kalikutischen Hähnchen das ganze Geheimnis, das ganze Glück von ihrem und Petkas Leben läge.
»Wird es bei uns wohnen?«
»Gewiß, Petuschok, wo denn sonst?«
»Wir werden es doch nicht aufessen, Großmutter?«
Großmutter antwortete nicht mehr, Großmutter war schon eingeschlafen, beglückt und erfreut durch die göttliche Gnade, durch den Gedanken an das kalikutische Hähnchen, das nach einundzwanzig Tagen aus dem Hühnerei kommen sollte.
Das Öllämpchen flackerte leise vor den Bildchen und Kreuzchen, vor den ›Vier Marienfesten‹: Maria Schutz und Fürbitte, Aller Leidenden Freude, der Muttergottes von Achtyrka und Mariä Erscheinung — und vor den ›Moskauer Wundertätern‹: Maxim dem Seligen, Wassili dem Seligen und Johannes dem Narren in Christo. Die Berge der ›Mutter-Einöde‹ glühten im Lichte der Nachtlampen rot und schnitten sich wie mit Flammenzungen in den Moskauer Kreml hinein.
»Großmutter, ich werde das Hähnchen lieben!« Petka-Petuschok, Großmutters Hähnchen, schlief mit diesen Worten ein.
Jeden Tag, ganz gleich, ob es nötig war oder nicht, schaute Großmutter in den Schuppen nach der Truthenne; sie dankte jedesmal Gott für die ihr erwiesene Gnade und zählte die Tage. Auch Petka zählte die Tage und war nicht weniger aufgeregt als die Großmutter; er ließ seinen Drachen nicht mehr steigen, dachte nicht mehr an seine Schlangenklapper und vergaß, daß er das Ei selbst unter die Truthenne gelegt hatte: er glaubte an das Hühnerei, als ob es ein echtes, von der Truthenne selbst gelegtes Ei wäre. Die Truthenne, die sich gegen jede Truthennensitte so unzeitgemäß auf das Ei gesetzt hatte, saß auf dem Hühnerei ruhig und fest und dachte gar nicht daran, aufzustehen und im Schuppen spazierenzugehen. Kam es daher, daß sie, seit sie auf der Welt war, bis in ihr tiefes Alter hinein, noch niemals gelegt und keine Ahnung von Eiern, weder von eigenen noch von Hühnereiern hatte? Oder daher, daß Petka durch seinen Willen wirkte oder Großmutters Gebet Gehör gefunden hatte — jedenfalls entbrannte in ihr die Brutlust wie bei einer richtigen Glucke, und die rosa Warzen auf ihrem Kopfe wurden immer blasser.
Und so vergingen zwanzig Tage und ein Tag.
Petka konnte nicht mehr schlafen: »Und wenn kein Hähnchen herauskommt, wenn es ein taubes Ei ist?« Wie konnte er auch schlafen? Jeden Morgen, sobald es tagte, lief er in den Schuppen, nach der Truthenne zu sehen.
»Petuschok kommt gegangen, hat die Sonne eingefangen!« sang Petka, auf einem Beine hüpfend. Draußen im Schuppen und auch in Großmutters Stube hauchte er das Hähnchen mit seinem warmen Atem an, als ob im Hähnchen das ganze Geheimnis, das ganze Glück von seinem und Großmutters Leben läge.
»Gelobet seist du, Herr! Gepriesen sei dein Langmut!« Großmutter konnte sich vor Freude kaum auf den Beinen halten.
Der Herbst fiel in jenem Jahre trocken und warm aus. Die Sonne schien zwar nur wenige Stunden am Tage, befiederte aber doch das kalikutische Hähnchen: es wuchs heran, krähte mit heiserer Stimme, tat sehr vornehm, fiel über die im Frühjahr zur Welt gekommenen Hähne des Diakons her und raufte mit ihnen wie ein richtiger Hahn. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß es einen spitzen, hellroten Kamm, kräftige Sporen und eine laute Stimme haben würde: es war eben ein echtes kalikutisches Hähnchen!
Nicht die Truthenne — wie sollte sie auch? — die Truthenne starb langsam dahin —, sondern die Großmutter pflegte das Hähnchen, und als die warmen Tage von kalten abgelöst wurden, nahm sie es aus dem Schuppen in die Stube. Großmutter wird Petkas Glück wohl bewachen, sie wird das Hähnchen großziehen, so wie sie Petka großgezogen und sich ihr Glück für ihre alten Tage erhalten hat.
Zugleich mit der Kälte und der Oktobernässe brach eine unruhige Zeit an, die denkwürdigen Tage der Volksopfer und der Freiheit.
Daß auf den Hauptstraßen das elektrische Licht nicht mehr brannte und ganz in der Nähe auf dem Kursker Bahnhof die blank geputzten Lokomotiven unbeweglich dastanden und froren; daß die schrecklichen roten Schlote der Goujon-Werke in der Pokrowka-Vorstadt nicht mehr qualmten und am Himmel hinter dem Androni-Kloster kein Feuerschein bebte — das alles hätte doch, könnte man meinen, auf Großmutter in ihrer Kellerstube nicht den geringsten Eindruck machen sollen: Großmutter brauchte kein elektrisches Licht, sie ging abends nie aus, beabsichtigte nicht zu verreisen und hatte auch mit den Goujon-Werken nicht das geringste zu schaffen. Großmutter wohnte aber in ihrem Keller nicht allein: ihre Nachbarn, lauter einfache Arbeiter, waren mit einer festen Kette an die roten Schlote der Goujon-Werke wie auch an die blanken Kursker Lokomotiven gebunden; der Umstand, daß die Schlote nicht mehr qualmten und die Lokomotiven stillstanden, hatte sie aus ihrer Arbeitsbahn geschleudert, ihr ganzes arbeitsvolles Leben auf den Kopf gestellt, die Erde erschüttert und ihre Tage zu Tagen des jüngsten Gerichts gemacht. Das Gefühl, das die Straßen ergriffen hatte und in das Leben und die Gedanken des Alltags als ein Weltuntergang eingedrungen war, das sich von Vorstadt zu Vorstadt, von Straße zu Straße, von Gäßchen zu Gäßchen, von Sackgasse zu Sackgasse, von Fabrik zu Fabrik, von Keller zu Keller als die dunkle Vorahnung einer schweren Not fortpflanzte, hatte auch die greise Seele der Großmutter an der Schwelle ihres Todes erfaßt.
Der auf dem Chitrowka-Markt fast gänzlich verschollene Neffe der Großmutter, der ›Räuber‹, erschien eines Tages wieder in Großmutters Kellerwohnung bei der Kirche des heiligen Nikola Kobylski.
Sein von Rheumatismus gekrümmter Arm, seine Nase, die wie drei Nasen übereinander aussah — (es kam von der Elephantiasis), der schwarze abgetragene Überzieher, unter dem er nichts als die ganz zerfetzte, ungewaschene, vor Schmutz steife Wäsche hatte — all das jagte der Großmutter Angst und Schrecken ein. Großmutter fürchtete gar nicht, daß er von ihr Geld verlangen und ihr das Messer an die Kehle setzen würde: sie würde ihm das letzte Geld geben, obwohl sie es gar nicht leicht haben und nachher mit Petka viele Tage würde hungern müssen; es überfiel sie die schreckliche Vorahnung, daß der Neffe, Petkas Vater, der ›Räuber‹, ihrem Petka etwas antun würde. Was er ihm aber antun würde und was er Petka überhaupt antun könnte, darüber vermochte sie sich keine Rechenschaft zu geben. Doch in der Tiefe ihrer greisen Seele fühlte sie ganz deutlich, daß Petka eine Gefahr drohte, daß das Unglück bereits aus seinem schrecklichen knöchernen Reiche herausgekrochen war und immer näher heranrückte, daß es schonungslos, unerbittlich und grausam an Petuschoks kindliches, kleines Herz heranschlich.
Der Neffe hatte Durst und Hunger. Großmutter richtete für ihn den Samowar. Petka kam aus der Schule, und sie setzten sich alle an den Tisch, Tee trinken.
Petka hatte von den Pilgern, mit denen er auf seinen Wallfahrten zusammengekommen war, viele Heiligengeschichten gehört und wußte, wie die Heiligen ihre Kronen erworben hatten: und nun sehnte er sich danach, einmal Räuber zu werden, sich eine schwere Sünde auf die Seele zu laden, dann Buße zu tun, in ein Kloster zu gehen und in einer Höhle zu leben. Nun saß er aber an einem Tisch mit einem Räuber, trank mit ihm aus demselben Samowar Tee, und dieser Räuber, Großmutters Neffe, war sein leiblicher Vater. Petka wandte keinen Blick vom Vater und starrte seine dreistufige Nase mit derselben verzehrenden Neugier an, mit der er einst im Schuppen die rosa Warzen der Truthenne betrachtet hatte. Und da er nicht wußte, wie er dem Vater gefällig sein und dem Räuber seine Kühnheit zeigen konnte, sprang er plötzlich von Stuhl, packte das Hähnchen, das sich unter das Sofa verkrochen hatte, an den Flügeln und schleppte es herbei.
»Schau dir das Hähnchen an«, sagte Petka, »ein kalikutisches ist es!«
»Petka und ich haben nur einen Wunsch, daß dem Hähnchen nichts geschieht; sonst brauchen wir nichts!« sagte Großmutter, als ob sie sich rechtfertigen müsse; ihre Hände zitterten, und ihr Kopf wackelte hin und her.
Der Räuber blinzelte dem Hähnchen zu — ein feines Hähnchen! Der Räuber aß mit großer Hast und entschädigte sich für alle die Hungertage, derentwegen ihm der Magen knurrte. Nachdem er Petkas und Großmutters Mittagsessen verzehrt hatte, machte er sich über den Tee her. Das heiße Getränk erwärmte ihn, machte ihn schlaff und löste ihm die Zunge. Und er begann ganz wirres Zeug zu reden, wobei er über Petka und die Großmutter hinwegsah, genauso wie Petka über die Großmutter hinweggesehen, als er ihr vom Luftballon erzählt hatte, auf dem sie einst wohnen würden: er, das Hähnchen und die Großmutter. Aus den Worten des Räubers folgte, daß nun fast alles erlaubt sei, daß es keine Gesetze mehr gebe, daß alle Gesetze abgeschafft seien und daß heute oder morgen alle Gelder in seine Hände übergehen würden; und da würde die blutige Abrechnung beginnen.
»Die gebildeten Schichten . . . Revolution . . .« Der Räuber gebrauchte lauter unverständliche und schwierige Worte und machte mit dem Finger die Gebärde des Halsabschneidens. »Eine Gräfin werde ich mir zur Frau nehmen!«
Und je wärmer es dem Räuber wurde, um so verworrener und unwahrscheinlicher klangen seine Worte. Petka hörte dem Vater mit offenem Munde zu und starrte auf seine dreistufige Nase. Großmutter schüttelte den Kopf.
»Petka und ich haben nur den einen Wunsch, daß dem Hähnchen nichts geschieht. Sonst brauchen wir nichts«, flüsterte Großmutter, als müßte sie Petka und sich rechtfertigen.
Der Räuber trank die letzte Tasse Tee aus und ging mit Großmutters letztem Kleingeld in der Hand fort. Großmutter blieb mit Petka und dem kalikutischen Hähnchen allein. Sie räumten alles auf, stellten den Samowar weg, spülten die Tassen ab und fegten mit einem Flederwisch die Brotkrumen in einen Beutel; Petka machte seine Schulaufgaben, dann saßen sie noch eine Weile beisammen, gähnten, schwiegen und schlugen so den Abend tot. Nachdem sie das Abendgebet gesprochen hatten, sahen sie unter das Sofa nach dem Hähnchen: ob es schon schlafe oder nicht. Das Hähnchen schlief schon längst. Nun gingen sie selbst auch zu Bett.
Petka wälzte sich hin und her und konnte nicht einschlafen. Auch Großmutter drehte sich immer von der einen Seite auf die andere: sie fühlte Unruhe und Angst.
»Petuschok!« rief Großmutter, als sie ihre Angst nicht länger bemeistern konnte.
Petka warf sich im Bette mit offenen Augen hin und her: er sah sich schon als Räuber und baute sich aus den unverständlichen Räuberworten, die er vom Vater gehört hatte, Räubertaten und ein Räuberleben auf.
»Petuschok, du, Petuschok!« rief Großmutter noch leiser, noch freundlicher.
»Was ist denn, Großmutter?« Petka sprang auf: es war ihm, als hätte er Großmutters Stimme gehört.
»Ich bin es, Petuschok, fürchte dich nicht.« Großmutter konnte vor Angst kaum sprechen. »Geh nicht fort, Petuschok . . .«
»Unter die Räuber will ich gehen, Großmutter«, antwortete Petka augenblicklich. »Als Räuber will ich leben! Und auch du, Großmutter, sollst unter die Räuber gehen . . .«
»Geh nicht fort, Petuschok!« piepste Großmutter so leise, daß Petka sie gar nicht hörte. Dann lag sie wie starr in unheimlicher Angst da: jeder Ton, jedes Rascheln schien ihr unheilverkündend, das Hundegebell erschreckte sie, und es war ihr, als schleiche sich schon jemand an ihre Kellertür heran, ein Dieb, ein böser Mensch, um ihr ihren Petka, ihren Petuschok zu nehmen.
Petka lag mit offenen Augen da; er war aber nicht mehr Petka, sondern ein echter Räuber mit schwarzem, wie beim Morosowschen Kutscher mit Butter eingefettetem Haar, mit einer dreistufigen Nase und einem gekrümmten Arm; er wird Großmutter und das kalikutische Hähnchen abholen, sie werden zu dritt in einem Luftballon nach dem Chitrowka-Markt fliegen und dort als Räuber leben; und dann beginnt die blutige Abrechnung.
Das Öllämpchen flackerte leise vor den Bildchen und Kreuzchen, vor den ›Vier Marienfesten‹: Maria Schutz und Fürbitte, Aller Leidenden Freude, der Muttergottes von Achtyrka und Mariä Erscheinung — und vor den ›Moskauer Wundertätern‹: Maxim dem Seligen, Wassili dem Seligen und Johannes dem Narren in Christo. Die Berge der ›Mutter-Einöde‹ glühten im Scheine der Nachtlampe rot und schnitten sich wie mit Flammenzungen in den Moskauer Kreml hinein.
»Ich bin unter die Räuber gegangen, Großmutter«, murmelte Petka im Schlafe.
Der unruhige Herbst war zu Ende, der Winter brach an. Großmutters Unruhe hatte sich nicht gelegt, und Petka war nicht mehr zu bändigen: wenn der Schlingel das Schlucken bekam, begann er, statt ein Vaterunser zu beten — früher betete er in solchen Fällen ein Vaterunser, das wirklich half —, ganz sinnlose Abzählreime aufzusagen. Großmutter hatte sich nicht beruhigt, in den Straßen war es nicht stiller geworden, der grimmige Frost hatte Moskau nicht abgekühlt, und das Leben war nicht zum Alltag mit seiner Arbeit und Sorge zurückgekehrt. Auf unbekannten, ungeahnten Wegen nahte und rückte an das russische Volk die schwere Not heran, die unbarmherzige, unerbittliche, grausame Not; sie trieb es in ferne Länder fort, zu einem fremden Volke, und zerstreute es dort in Spott und Schande; sie brachte es an die Gestade eines fremden Ozeans und ertränkte es darin, schrecklicher als ein Sturm und ein Ungewitter; nun schlich sie dunkel und unersättlich aus dem fremden gelben Lande dicht an den Moskwa-Fluß heran und bedrohte das Herz unseres unglückseligen, verbitterten Landes. Ob unserer großen Sünden wegen, wie Großmutter sagte, oder allen Einfaltigen zur Belehrung, wie der barfüßige Mäßigkeitsapostel aus der Teestube an der Sazepa behauptete, ob als Strafe für das wahnsinnige Schweigen der ganzen Welt — jedenfalls wurde das stumme, sprachlose, noch geschwächte, doch immer und immer wieder bestrafte russische Volk, nachdem es drei Plagen überstanden, wieder der schweren Not preisgegeben.
Und gleich den feurigen Bergen auf dem Bilde der Moskauer Wundertäter schnitten sich auch in Wirklichkeit feurige Berge wie mit Flammenzungen in den Moskauer Kreml hinein, und ein rauchender Feuerschein ergoß sich über die Stadt.
Am Samstag nach dem Nikolatage setzte sich Großmutter mit Petka um die Mittagszeit an den Tisch; sie wollten irgend etwas essen — in diesen Tagen kümmerte sich kein Mensch um die Großmutter, man hatte sie vergessen, und die beiden saßen oft wochenlang ohne einen Bissen.
»Großmutter«, Petka sprang auf, »hörst du es?«
Großmutter legte den Löffel weg und knabberte an einer Brotrinde.
»Großmutter . . .« Petka sah zum Klappfenster hinaus.
Großmutter rührte sich nicht. Sie schüttelte den Kopf wie beim Besuch des Räubers.
»Großmutter, man schießt!« und mit diesen Worten lief Petka zur Tür hinaus.
Es wurde irgendwo ganz weit auf der Twerskaja geschossen, und das dumpfe Dröhnen klang auf dem Semljanoj-Wall wie von unter der Erde. Die Fensterscheiben erklirrten.
Großmutter hatte noch nichts gemerkt, Petka hatte es aber sofort gehört. Und nun hörte es auch die Großmutter; sie bekreuzigte sich wie bei einem Donnerschlag.
Es begann eine unruhige Zeit. Das Unglück stand an jeder Ecke, an jeder Straßenkreuzung; es lauerte unersättlich, dunkel, strafend bei Tag und bei Nacht, wo viele Menschen versammelt waren und auch, wo es gar keine Menschen gab.
Großmutter hatte Angst, Petka von ihrer Seite zu lassen. Wie leicht konnte ihm etwas zustoßen: Großmutter sah in den Leuten, die die Fabrikarbeiter zum Streik ermunterten, in den Freischärlern, in den Kosaken und Dragonern, die die Sadowaja zum Kursker Bahnhof passierten, lauter Räuber. Und es wurde immerfort geschossen: irgendwo in Kudrino, und auf der Presnja, und gleich in nächster Nähe, auf der Mestschanskaja; in einem fort wurde geschossen, und das Gedröhn drang immer lauter in die Kellerstube hinein; es klang, als ob man mit Peitschen knallte oder trockene Äste abbräche.
Seit dem Nikolatage konnte Großmutter keine Nacht mehr schlafen: sie paßte auf Petka auf, wie sie in den ersten Wochen auf das Hähnchen aufgepaßt und wie Petka selbst, am Spalt hinter dem Schuppen lauernd, auf die Truthenne mit dem Hühnerei aufgepaßt hatte.
Den Jungen zog es hinaus, er konnte nicht zu Hause bleiben, er konnte nicht ruhig sitzen.
Petka lief mit den anderen Jungen nach der Sucharewka fort; Großmutter lief hinter ihm her.
Das war einmal eine Zerstreuung für Petka: früher pflegten die Jungen auf dem Eise eine Rodelbahn zu bauen: jetzt galt es, die Straße zu versperren.
Petka griff nach einer Telegraphenstange.
»Schlepp sie her!« schrie der Bengel der Großmutter zu.
Was sollte Großmutter machen? Vor Angst zitterten ihr die Hände, wie konnte sie überhaupt daran denken, eine Telegraphenstange zu schleppen! Sie konnte nicht einmal einen Kienspan halten. Großmutter hob ein Häuflein Späne vom Boden auf und trug es hinter den Kindern her. Und sie legte ihr Scherflein auf die gemeinsame Barrikade, auf den Haufen des aufgestapelten Krams, zu den Kisten, Gittern, Telegraphenstangen und Ladenschildern.
»Bravo, Großmutter!« spotteten die Leute über die Alte; ein Hausmeister mit einem Räubergesicht grinste, indem er frierend einen Fuß gegen den andern schlug.
»Es ist unserer großen Sünden wegen«, flüsterte Großmutter. Sie war von ihrer Arbeit mit den Spänen ganz erschöpft, blieb aber doch nicht hinter Petka zurück.
Er war aber ein ganzer Kerl! Er kletterte ganz hinauf, wo die rote Fahne wehte, schob sich die Mütze, die Mütze mit dem Lacklederschirm, wie ein verwegener Kosak schief aufs Ohr, und die Fahne über ihm leuchtete so rot wie ein Kelchtuch.
»Klettere auch du herauf; Großmutter!« rief Petka, der singende Petuschok, zu seiner Großmutter hinunter.
Wie konnte sie hinter ihm zurückbleiben? Selbst auf den Sucharewturm würde sie hinaufklettern!
Als zur Abendmesse geläutet wurde und zugleich mit dem Glockengeläut die unheimliche Kanonade dröhnte, machte Großmutter sich bereit, in die Messe zu gehen. Petka war vorausgelaufen und spielte mit den anderen Kindern beim Kuhstall des Diakons; sie spielten ›Kosaken und Streikende‹.
Als Großmutter ihre gesteppte Wattejacke angezogen und den Kopf in ein schwarzes Wolltuch gewickelt hatte, sah sie unter das Sofa nach dem hungrigen Hähnchen, ob es schon schlafe oder nicht: das Hähnchen schlief. Sie brachte das Öllämpchen in Ordnung — aus der Dämmerung blickten die Antlitze der Wundertäter und der Muttergottes sie an —, und es wurde ihr plötzlich ganz traurig zumute.
Sie seufzte, weil sie jetzt so dürftig leben mußten: die Feiertage rückten heran, und sie hatte nichts, um sie zu begehen! So schwer hatte sie es, und es war schon Zeit, daß sie starb; und Petka tat ihr so leid . . . Er war ja noch ein kleines Kind! . . . Wenn er doch schon auf eigenen Beinen stünde! Aber er war ja noch ein unmündiges Kind.
»Heilige Muttergottes, Allgepriesene, Fürbitterin . . .« Großmutter legte die Finger zusammen, um sich zu bekreuzigen.
»Macht schon ein Ende!« sagte jemand hinter der Wand entweder bei den Stubenmalern oder bei den Mützenmachern; wahrscheinlich jemand, der gekommen war, um die Arbeiter zum Streik zu ermuntern.
Großmutter fuhr zusammen und wandte sich um: in der Tür stand ihr Neffe, der Räuber.
»Gib Geld her, Alte!« drang der Räuber auf sie ein.
Großmutter schüttelte den Kopf: »Du kannst mir den Kopf abhacken, aber ich habe nichts!«
»Du sagst, du hast nichts?« drang der Räuber auf sie ein.
»Bei Gott . . . nein . . .«
Der Räuber packte die Großmutter am Kragen und stieß sie mit der Nase gegen die Kommode.
»Such, sage ich!«
Großmutter tastete unter dem Heiligenschrein herum und reichte dem Räuber wortlos — sie konnte vor Angst die Zunge gar nicht bewegen — die drei Knäuel: den Knäuel Stricke, den Knäuel Bindfaden und den Knäuel bunte Schnur, alles, was sie während der vielen Jahre zusammengebracht hatte . . . Der Räuber hieb auf die Alte mit der Faust ein, ein Knäuel kam ins Rollen, Großmutter kauerte nieder, wie die Truthenne vor Petka, und blieb starr am Boden sitzen.
Der Räuber wirtschaftete indessen nach Herzenslust: er stürzte Großmutters eisenbeschlagenen eichenen Koffer um, warf die ganze Leichenausstattung heraus: das Hemd, das Leichentuch, die Pantoffeln und die Leinwand, riß die Tür des Kleiderschranks auf, sah in den Kleiderschrank hinein — da war nichts! und machte sich an die Kommode: er durchstöberte alle Schubladen, nahm alles heraus — aber auch in der Kommode war nichts! Die mittlere Schublade ließ sich nicht herausziehen: er arbeitete lange an ihr herum und konnte nichts machen . . .
Das rollende Knäuel weckte das Hähnchen; es kam unter dem Sofa hervor, schlug mit den Flügeln und krähte mit heiserer Stimme wie um Mitternacht. Es krähte zu seinem eigenen Verderben, das kleine gelbe Hähnchen mit dem Schöpfchen . . .
Der Räuber fing das Hähnchen ein, drehte ihm den Hals um und schmiß es der Großmutter vor die Füße.
»Krepier daran!« Und mit diesen Worten ging er.
Draußen beim Kuhstall war ein Höllenlärm: die Kinder spielten wie ausgelassen. Ein Haufen verfolgte den andern. Petka lief mit Geschrei auf die Straße hinaus und wollte auf die andere Seite hinüber. Eine Patrouille, die von der Sucharewka kam und eben an der Chischinschen Fabrik vorüberritt, eröffnete Feuer, um sich den Weg frei zu machen. Petka fiel mit der Nase in den Schnee, griff sich an die Mütze und stand nicht mehr auf.
Man brachte den bereits erstarrten Petka mit zerrissener Brust und durchschossenem Herzen zu Großmutter in den Keller; auch Petkas Mütze mit dem Lacklederschirm brachte man mit.
So war also das Unglück gekommen, von daher! Nun galt es, es hinzunehmen.
Großmutter nahm alles hin. So alt sie auch war, lebte sie doch noch in ihrer Kellerstube weiter und versäumte keinen einzigen Gottesdienst; und wenn es beim Nikola Kobylski eine Leiche gab, so ging sie hin und wohnte mit einer Kerze in der Hand der Totenmesse bei. Sie hatte den Teeglasuntersatz mit dem Weintraubenmuster und die beiden silbernen Löffel ihrem Neffen gegeben; sie hatte es ja für Petka aufbewahrt, und Petka brauchte die Sachen nicht mehr! Der Neffe verschwand mit dem Untersatz und den Löffeln und kam nie mehr zu Großmutter. Und die Truthenne ging ein.
›Petuschok kommt gegangen, hat die Sonne eingefangen!‹ Petkas Liedchen geht Großmutter oft durch den Kopf; sie denkt oft an ihren Petka, den Petuschok. Und sie erzählt so leise, als ob jemand in der Stube schliefe oder krank wäre und sie ihn mit ihrer Stimme zu wecken fürchtete, von der Truthenne, vom wunderbaren Ei, vom kalikutischen Hähnchen, vom Räuber, und wie sie mit Petka an der Sucharewka eine Barrikade gebaut, und wie man ihren Petka ganz erstarrt, mit zerrissener Brust und durchschossenem Herzen und auch Petkas Mütze mit dem lackledernen Schirm zu ihr in den Keller gebracht hatte.
»Ich ging hin, Väterchen«, erzählte Großmutter leise und immer leiser — »um eine Kerze vor der Muttergottes aller Gekränkten anzuzünden: ich wollte die Kerze vor das Bild stellen, aber die Hand wollte sich nicht heben lassen . . .« Großmutter versuchte, ihre zitternde Hand zu heben, aber die Hand sank immer wieder herab: es war die Kränkung, die unverschuldete, bittere, tödliche Kränkung, die ihre Hand lähmte und ihre Augen mit Bitternis verdunkelte: und die Hand zitterte, sie wollte sich erheben und konnte es nicht, und die blauen blutleeren Adern schwollen dick an, und die dürren Finger krampften sich fest zusammen: so hatte sie das Lichtlein gehalten, das sie vor der Muttergottes aller Gekränkten, der Muttergottes, die alle unverschuldeten, bitteren, tödlichen Kränkungen hinnimmt, anzünden wollte . . . »Und ich stellte die Kerze hin!« Großmutter schüttelte den Kopf und hob die Hand so leicht, wie die Moskauer Wundertäter: Maxim der Selige, Wassili der Selige und Johannes der Narr in Christo ihre Hände hoben; und ihre Hand zitterte nicht mehr. So hielt sie ihr Lichtlein, ihr leuchtendes, unauslöschliches Flämmchen, das in ihrem Herzen den letzten Rest der Kränkung verzehrte, den letzten Rest der unverschuldeten, bitteren, tödlichen Kränkung. Und ihre Augen leuchteten so still und warm: es war der Glaube, der in ihren Augen leuchtete, der feste, unerschütterliche Glaube, der das Lichtlein, das heilige Flämmchen durch jedes Unglück, durch jede Plage, durch alle Not trug, da ihr schon alles genommen war: das kalikutische Hähnchen und Petka, der Petuschok.
Schön hat es Atja in Kljutschi gehabt: so schön, daß er, wenn die Erinnerung daran auch nur in einem winzigen Stückchen durch sein Gedächtnis huscht, sofort alles übrige, alles, was ihn jetzt umgibt, vergißt; der Alte Newski, wo er mit seinen Eltern wohnt, das Gymnasium mit den Aufgaben, Zensuren und Pausen, alle Lehrer — vom ›Deutschen‹ Iwan Martynytsch bis zum Schönschreiblehrer Iwan Jewsejitsch, alle Schüler der ersten Klasse und sogar seine Busenfreunde — Romaschka und Charpik —, alles versinkt und verschwindet, als wäre es nie gewesen, als hätte es überhaupt niemals etwas anderes in der Welt gegeben als das Dorf Kljutschi.
»Die Arbeit ist kein Wolf und rennt mir nicht davon«, sagt sich Atja. Er legt das verhaßte Lehrbuch weg und gibt sich ganz den Erinnerungen hin.
Oder er erwacht mitten in der Nacht — es genügt auch das leiseste Geräusch: jemand schnarcht in der Küche, oder sein Bett knarrt —, und dann ist ihm sofort, als liege er nicht in seinem Bett, sondern auf dem grünen Rasen, als sei er nicht in Petersburg, sondern fern von hier, im geliebten Kljutschi, wo er aufgewachsen war und bis zu seinem Eintritt ins Gymnasium bei seinem Großvater, dem Landgeistlichen P. Anissim, gelebt hatte. Und dann liegt er die ganze Nacht da und sucht sich das Rauschen des Windes und der Ähren vorzustellen, um endlich wieder einschlafen zu können. Der Schlaf will aber nicht kommen. Hätte er nur Flügel oder den fliegenden Zauberteppich, so würde er sofort allem ade sagen und nach Kljutschi fortfliegen.
Das Kirchdorf liegt auf einer Anhöhe. Unten steht die weiße Kirche. Der Kirche gegenüber liegt das Haus des Großvaters mit dem Garten und den Bienenstöcken. Gleich hinter dem Zaun fließt der Fluß vorbei. Kossa heißt der Fluß. Und hinter dem Flusse sind Felder; auch hinter der Kirche sind Felder. Und dann kommt wieder eine Anhöhe, und dann zieht sich viele Werst weit ein Wald hin. Es ist ein dichter, nach Honig duftender, noch von keiner Axt berührter Wald. Ein Tier kann da noch einigermaßen durchkommen, aber der Mensch muß schon gut aufpassen. Die Ameisenhaufen sind hier wie Heuschober. Wenn man im Herbst in den Wald geht, um Pfifferlinge oder Reizker zu suchen, so zündet man die Ameisenhaufen an: die Wölfe können den Ameisengeruch nicht leiden; es ist ein gutes Mittel gegen die Wölfe.
Auf dem weißen Kirchturm wohnen die Schwalben; es sind ihrer unzählige. Sobald die Sonne untergegangen ist, beginnen sie herumzujagen und beim Fliegen in ihrer Sprache zu reden. Die Schwalben sind alt: jedes Frühjahr kommen sie wieder auf den Kirchturm von Kljutschi. Was lockt sie her? Das Läuten der ausgeläuteten kleinen Kirchenglocken? Oder hängen sie so am alten Großvater? Die Schwalben wissen viel und können sich wohl an vieles erinnern: wie der Großvater noch jung war, wie seine Frau starb, wie Atjas Mutter zur Welt kam . . . Und jetzt:
»Atja ist wieder da«, rufen die Schwalben. »Wie furchtbar groß ist er über den Winter geworden!«
Ziegen und Schafe, Kühe und Kälber, Schweine und Pferde, Gänse und Truthühner — alle wissen sofort, daß Atja wieder da ist. Tiere und Vögel sind ja verständig und empfinden mit ihren Haaren und Federn alles.
Von der Bahnstation Medwedki kann man, wenn man schnell fährt, in einem Tag nach Kljutschi kommen. Atja setzt sich in den Korbwagen, Fjodor-Kostyl tut einen Pfiff und die kräftigen braunen Pferde ziehen an und rasen ohne Weg und Steg von Berg zu Berg, von Wald zu Wald, von Dorf zu Dorf, daß man kaum Zeit hat, die Tore zu öffnen. Der Staub steigt wie Rauch empor; an den Straßen stehen aber statt der langweiligen Werstpfähle Wotjakenmädchen in seidengestickten weißen Kleidern und silberverziertem Kopfschmuck. Wotjakische Lieder, wild wie das Rauschen des Waldes, tief wie das Tosen des Hochwassers, klangvoller als der Gesang des Schilfes und heller als die Töne der Schalmei schweben grüßend über den Köpfen dahin; und der Wind, der aus den Bergen kommt, singt dazu bald wehmütig und bald lustig. Klinge, Glöckchen! Das Glöckchen ist aber schon müde wie die Pferde und kann nur noch dumpf bimmeln. Schon ist man an der Mühle vorbeigefahren, der Mühlendamm erdröhnt unter den Rädern; da ist der Hegeforst, der heilige Hain des Wotjakengottes Keremet. Lebt dieser stolze Gott noch, der trotzige Bruder Inmars, des Schöpfers von Himmel, Erde und Sonne? »Er lebt!« flüstert der Hain . . . Und da ist schon Schaimy — der alte wotjakische Friedhof. Wenn man im Dorf das Glöckchen hört, rennen alle hinaus: Panja und Sascha kommen aus der Küche gestürzt, die Patin, die vor Freude plötzlich lahm geworden ist, hinkt Atja entgegen, und das Hündchen Griwna beginnt zu winseln. Großvater ist nicht dabei: er ist in der Kirche.
Atja begibt sich sofort zu den Hühnern. Bei den Hühnern wohnt aber ein Hase; es ist eigentlich nur ein Kaninchen, aber man nennt es einen Hasen. Seht doch nur: sonst fürchtet das Tier alle Menschen, vor Atja aber hat es gar keine Scheu.
»Guten Tag, Häschen! Gib schön die Pfote!«
Das Häschen hat ihn schon erkannt und miaut.
Da ist auch schon der Großvater: er konnte es nicht länger aushalten, hat die Kirchenbücher liegenlassen und kommt gegangen.
Am frühen Morgen, sobald das Morgenrot sich über Berg und Wald ergießt und die Sonne aufsteht, steht auch Atja auf und läuft zum Fluß baden. Und dann beginnt sein Arbeitstag: er muß den Dünger hinausfahren. Erst wenn der Abend anbricht und die untergehende Sonne der lockigen Linde einen goldenen Kranz aufsetzt, geht Atja, über und über mit Ackererde beschmiert, nach Hause. Dann sieht er wirklich nett aus! Der Großvater sagt aber:
»Das ist mir ein tüchtiger Landwirt!«
»Zehn Fuhren habe ich hinausgefahren, Großvater!« sagt darauf Atja lachend. Wenn Atja lacht, zeigt er seine gesunden, breiten, weißen Zähne, und man möchte ihn immer lachen sehen.
Der Alte und der Junge halten treu zusammen: niemals wird sich der eine ohne den anderen zu Tisch setzen. Beim Abendtee liest Atja vor, was am betreffenden Tage auf dem Abreißkalender steht. Bauernregeln und Wetterprophezeiungen; manchmal liest er auch aus einem Buche vor, meistens arabische Märchen aus Tausendundeine Nacht. Großvater hört gern zu.
»Da hast du fünf Kopeken für deine Arbeit, aber vernasche sie nicht.«
»Was ich im vorigen Jahr zusammengearbeitet habe, das habe ich alles in Petersburg vernascht, Großvater! Ich habe mir für das Geld auch ein Nilpferd angesehen«, sagt Atja lachend. Und wenn er lacht, so leuchten seine Augen auf wie Glühwürmchen, und allen wird so lustig zumute.
Und so vergeht ein Tag nach dem andern, und die Zeit fließt dahin wie der Fluß.
Nun ist auch schon der ›Neunte Freitag‹ angebrochen. Das Volk strömt in Scharen herbei. In der Prozession um das Dorf geht Atja mit dem Kreuz voran. Hinter den Heiligenbildern kommt das Volk, und hinter dem Volk das Vieh: Ziegen, Schafe, Hammel, Kühe und Pferde; sie müssen ja unbedingt dabei sein! Auch der Hase nimmt an der Prozession teil; er geht natürlich nicht wie eine Kuh auf den eigenen Beinen, sondern wird von der Patin auf den Armen getragen: sonst würde er ja gleich in den Wald weglaufen.
Man erwartet den Onkel Arkadi. Man spricht nur von ihm. Die Patin hat ihn im Traume gesehen: er kam weiß gekleidet aus der Speisekammer heraus und sprang mit einem Satz auf den Dachboden hinauf. Sie traute dem Traum und buk zum Tee Pastetchen. Die Pastetchen waren gebuttert und so schmackhaft, daß sie von selbst im Munde zerschmolzen. Atja aß auch die Portion des Onkels Arkadi auf. Wann kommt er denn endlich? Die Petrifasten stehen vor der Tür: da muß man Gründlinge haben. Ach, wenn man doch endlich mit dem Angeln beginnen könnte!
Atja ist ein tapferer Junge: er reitet auf jedem Pferd und schwimmt im Fluß bei jedem Wetter; aber vor den Leichen hat er Angst. Wenn sie vor der Einsegnung unter dem Glockenturm stehen, fürchtet er sich, abends aus dem Fenster auf die Kirche zu schauen, und will um nichts in der Welt allein zu Bett gehen: er sieht überall Gespenster. Panja oder die Patin oder der alte Wotjake Kusmitsch mit der abgehackten Hand müssen ihn auf den Dachboden begleiten und ihm vor dem Einschlafen Märchen oder sonst etwas erzählen; dann schläft er ruhig ein. Wenn man aber die Toten in die Kirche bringt oder den Sarg auf den Friedhof hinausträgt, läuft Atja jedesmal hinaus und lauscht dem Trauergeläute. Der Kirchenwächter Kostja schaufelt die Gräber und läutet die Glocken. Es sind zehn dumpfe, langsame Glockenschläge; die ersten klingen dünn und hoch, die folgenden immer tiefer, trauriger und unheimlicher; der zehnte dröhnt aber so, als ob alle Glocken vom Turm herabstürzten.
Heiliger Gott, Heiliger Starker,
Heiliger Unsterblicher,
Sei uns gnädig!
Atja nimmt an jedem Gottesdienst teil. Er steht im Chor und singt mit, es kommt dabei aber nichts Gescheites heraus: er kann sich unmöglich den Küstern anpassen; die Küster sind ja einer älter als der andere!
»Mein junger Psalmleser«, sagt Großvater anerkennend, »morgen müssen wir nach Polom zu einem Dankgottesdienst.«
Und Atja begleitet seinen Großvater in die Dörfer und Kirchdörfer, hält mit ihm Gottesdienste ab und ißt Ochsenfleisch mit Brei. Atja kommt sich selbst wie ein echter Hilfsgeistlicher vor; wenn er älter wird, so wird er auch Geistlicher sein wie der Großvater; Onkel Arkadi wird ihm nicht mehr das Haar scheren dürfen: er wird langes Haar tragen, bis zum Gürtel wird es ihm reichen; und er wird es nicht in zwei Zöpfe flechten wie der Großvater, sondern in zweiundzwanzig.
Onkel Arkadi! Endlich ist er angekommen und hat eine Menge Netze und Angeln mitgebracht; die Angelhaken allein füllten beinahe den großen Reisekorb. Atja angelt. Die Fische lassen sich gern von ihm fangen: einmal hat er einen so großen Brachsen gefangen, daß keine Pfanne groß genug war, um ihn zu braten; man könnte ihn wirklich wieder schwimmen lassen. Und Atja lacht.
An den Abenden gibt es eine neue Zerstreuung: die Dohlen. Die Dohlen haben die Angewohnheit, jeden Abend vom Felde in den Garten zu kommen und im Gartenhause ihr Nachtquartier aufzuschlagen. Nach ihrem Besuch sieht es aber im Gartenhaus gar nicht schön aus. Aber man kann doch nicht wegen der Dohlen den Tee im Zimmer trinken! Der Tee will doch mit Behagen getrunken werden: man liebt in Kljutschi das Teetrinken über alles, besonders aber im Freien. Onkel Arkadi pflegt die Dohlen zu verscheuchen: er schüttelt die Bäume und schreit so durchdringend auf, daß nicht nur die Dohlen davonfliegen, sondern auch der Zaun wackelt, die Fenster in der Kirche klirren und selbst die noch nicht eingesegneten Toten unter dem Glockenturm sich irgendwohin verkriechen möchten, zum Beispiel in das alte Badehaus. Atja kann es absolut nicht lernen, die Dohlen zu verscheuchen und wie der Onkel zu schreien.
»Großvater, die Bienen singen!« meldet Atja.
Nun läßt man alles stehen und liegen; niemand denkt mehr an Essen und Trinken. Das ganze Haus ist auf den Beinen. Großvater, Onkel Arkadi, die Patin, Panja, Sascha, Kusmitsch und natürlich auch Atja binden sich Siebe vor die Gesichter, kauern den ganzen Tag vor dem Bienenstock und warten, bis die Königin ausfliegt. Sobald die Königin heraus ist, rennen sie alle wie ein Bienenschwarm über Beete und Sträucher, springen über Zäune und laufen übers Feld, bis sie sie irgendwo im Walde einfangen. Gott sei Dank, nun wird es einen neuen Bienenstock geben, und der Honig wird über den ganzen Winter bis zum Frühjahr reichen.
Das Winterkorn ist reif, der Hafer ist gewachsen. Bald ist das Fest der Muttergottes von Kasan. In Kljutschi ist Jahrmarkt. Der ›Seher‹ Syssojuschka kommt zu jedem Jahrmarkt ins Dorf Auch viele Gäste kommen. Die Patin bäckt einen Fleischkuchen; der ist so gut, daß man für ihn alles hingeben möchte. Furchtbar lustig ist es dann! Warum dauert das Fest der Muttergottes von Kasan nicht das ganze Jahr?
Auf der Dorfstraße tanzen die Wotjakenmädchen einen Reigen. Sie stellen sich im Kreise auf und drehen sich langsam, mit den Absätzen im Takte stampfend, zu den eintönigen Klängen der Balalaika. So geht es lange langsam im Kreise herum; plötzlich schwingen sie die Arme, flattern wie Vögel auf und wechseln die Plätze. Und dann gehen sie wieder lange und langsam unermüdlich im Kreise herum; die Silberschnüre an ihrem Kopfputz rascheln ohne Wind, ihre Fingerringe funkeln ohne Licht.
Onkel Arkadi nimmt Atja mit, um dem Reigen zuzusehen. Sie stehen abseits bei den Burschen. Die Burschen stehen schweigend da und rühren kein Glied. Atja ist es etwas unheimlich zumute; bald will er mitten in den Reigen hineinspringen, sich mit den Mädchen im Kreise drehen und, wenn sie aufflattern, um die Plätze zu wechseln, sich wie ein Vogel in die Luft schwingen; bald denkt er wieder an die zehn dumpfen Glockenschläge, und da krampft sich sein Herz zusammen: sind es nicht die Toten, die aus der Kirche gekommen sind und sich hier im Reigen drehen? Dunkle Nebel umschweben sie, und am Himmel leuchten blasse Sterne.
»Die Toten geben den Neugeborenen die Seele«, sagt Kusmitsch.
›Wenn man doch einmal zusehen könnte, wie sie das machen‹, denkt sich Atja.
Kusmitsch ist sein Freund. Kusmitsch hat sich einmal mit dem Beil die Hand abgehackt; ohne Hand kann man doch nicht arbeiten! Also lebt er schon seit vielen Jahren beim Großvater als eine Art Kirchenwächter. Atja erfuhr von ihm manches Wunderbare; mit vielen Wundern ist er aber selbst im Walde zusammengetroffen.
Einmal begegnete er im Dickicht dem Waldgott Poljeß. Poljeß liebt es, die Leute zu erschrecken, die zu ihm in den Wald kommen. Es war aber um die Mittagszeit, und in dieser Stunde kommt doch niemand in den Wald! Poljeß trieb sich darum ohne Beschäftigung umher; er ist ganz mager, kaum größer als ein Topf, hat nur einen Arm, ein Bein und ein Auge; doch Mund und Nase sind wie bei Atja. Viel schrecklicher war aber eine andere Begegnung: unter einer alten Tanne schnarchte im nassen Moose der schreckliche Kus-Pine; er hatte furchtbar lange Zähne, und vor seinen Füßen lag ein Haufen abgenagter weißer Menschenknochen. Atja warf nur einen einzigen Blick auf ihn und lief schnell davon: mit dem ist nicht zu spaßen, der frißt einen im Nu auf! Und wie er einmal Erdbeeren suchte, kam aus dem Graben der Geist Iskal-Pydo heraus. Der ist harmlos: er sieht ganz wie Kusmitsch aus und trägt auf der Schulter einen dicken Knüppel; er hat aber Kuhfüße: zottig und mit Hufen. Atja gab ihm von seinen Erdbeeren. Iskal-Pydo aß auch wirklich davon.
Doch den Waldteufel und den Wassergott hat er noch niemals gesehen; er weiß aber ganz genau, wo der Wassergott im Flusse seine Wohnung hat; und wenn im Frühjahr das Wasser steigt und die Dämme zerreißt, weiß Atja sehr gut, was das zu bedeuten hat.
›Wenn ich nur einmal zum Wassergott auf die Hochzeit kommen könnte!‹ träumt Atja. ›Die Wasserprinzessin ist so schön, und die Meerprinzessin ist noch schöner . . . sie ist wie die Klawdija Gurjanowna . . .‹
Atja bewahrt alle diese Gedanken in seinem Herzen und spricht mit niemand davon. Kljutschi ist sein Geheimnis! Selbst seine Busenfreunde Romaschka und Charpik sind nur zum Teil eingeweiht; nur Klawdija Gurjanowna allein würde er alles enthüllen. Warum gerade ihr, das weiß er selbst nicht. Aber sie ist einmal so!
Er fühlt sich immer zu ihr ins Zimmer hingezogen; er liebt es, wenn sie mit ihm Tee trinkt, ihm Bonbons und Apfelsinen schenkt und ihn zu lachen zwingt; wenn sie ihn auf den Newski in die Läden oder in ein Kino mitnimmt. Er weiß, daß sie ganz anders ist als alle, daß man eine zweite Klawdija Gurjanowna nirgends findet: das weiße Gesicht ist stark gepudert, das Haar fällt in gebrannten Löckchen auf die Stirn herab, die Lippen sind rot geschminkt, die Augen schmal wie Ritzen; alles ist an ihr so winzigt, als ob sie überhaupt kein Gesicht hätte; ihr Kleid ist vorn ausgeschnitten und raschelt so seltsam; auch ihre Stimme klingt ganz eigen; niemand spricht so wie sie; er könnte ihr immer zuhören und sie immer anschauen.
Atja kommt oft ohne jeden Grund zu ihr ins Zimmer, steht schweigend da und starrt sie an. Wenn sie ihn etwas fragt, so antwortet er so schüchtern und kurz; daß sie nichts verstehen kann.
»Ach du dummer, dummer Junge! Lache einmal!« sagt Klawdija Gurjanowna und lacht dabei selbst mit seltsam tiefer Stimme. Atja glaubt, das kann kein gewöhnliches Lachen sein; niemand sonst lacht so!
Einmal hielt er es nicht aus und sagte:
»Schön war es bei uns in Kljutschi . . . Da müßten Sie auch einmal hin . . .«
»Du weißt also, wo sie sind!« rief Klawdija Gurjanowna erfreut. Das war aber ein Mißverständnis: ›Kljutschi‹ heißt ja ›Schlüssel‹, und sie hatte gerade an diesem Tage die Schlüssel von ihrem Kleiderschrank verlegt und konnte sie unmöglich finden.
›Es ist noch zu früh‹, sagte sich Atja, ›es ist noch nicht die Zeit . . . Ich muß mich zuvor irgendwie auszeichnen, etwas Großes vollbringen, dann kann ich alles wagen . . .‹
Die Mutter sagte am gleichen Abend:
»Atja, du sollst doch nicht immer bei Klawdija Gurjanowna stecken: das kann ihr unangenehm werden, und sie wird ausziehen.«
Da sie eine große Wohnung hatten und Atjas Vater, der Doktor, in diesem Jahre wenig verdiente, mußte ein Zimmer vermietet werden. In diesem Zimmer eben wohnte Klawdija Gurjanowna.
Ihr Erscheinen brachte neues Leben ins Haus. Alle Gespräche drehten sich um sie. Man beschäftigte sich nur mit ihr. Man erwies ihr alle möglichen Aufmerksamkeiten. Ihretwegen zog sich Atjas Mutter das Korsett an, während sie früher tagelang im Morgenrock umherging. Ihretwegen vermied es der Doktor, beim Mittagessen von seinen Operationen zu sprechen. Onkel Arkadi besorgte ihr Karten für Theater und Konzerte.
Sooft von ihr gesprochen wurde, spitzte Atja die Ohren und merkte sich jedes Wort.
Atja mußte sich jeden Morgen vom Kopf bis zu den Füßen waschen: in der Küche wurde ein Waschfaß aufgestellt, Atja zog sich aus und plätscherte im Wasser.
»Du bist nicht mehr so klein, daß du nackt umherlaufen kannst«, bemerkte einmal die Mutter. »Klawdija Gurjanowna kann dich doch einmal sehen.«
Dies geschah am ersten oder zweiten Tage nach dem Auftauchen der geheimnisvollen Dame. Die Worte der Mutter erschienen Atja im ersten Augenblick unverständlich; erst später wurde ihm der Sinn dieser Worte klar und bestätigte seine eigenen Wahrnehmungen.
›Vor der Köchin Fjokluschka, vor Mama, und in Kljutschi vor der Patin, vor Panja und Sascha brauche ich mich nicht zu schämen‹, sagte sich Atja, ›weil sie alle wie die anderen Menschen sind; vor ihr darf ich aber nicht ohne Hemd umherlaufen, denn sie ist anders als alle: sie ist einzig!‹
Bald erfuhr er von Fjokluschka, daß Klawdija Gurjanowna eine Mätresse, ein ausgehaltenes Frauenzimmer, sei. Dieses Wort, das er zum erstenmal im Leben hörte, bekam für ihn sofort einen ganz anderen Sinn: es bedeutete in seiner Vorstellung nicht mehr und nicht weniger als den Inbegriff aller Gescheitheit und allen Reichtums.
›Ausgehalten, Gehalt . . .‹ kombinierte Atja. ›Wenn in meinem Aufsatz kein Gehalt ist, so gibt’s eine Vier; ist aber im Aufsatz Gehalt, so bekomm ich eine Eins. Der Rektor bekommt ein großes Gehalt. Gehalt bedeutet Geld.‹
Nicht umsonst wandten sich alle im Hause, wie Atja bald merkte, in schwierigen Fällen an Klawdija Gurjanowna, um ihre Meinung zu hören; nicht umsonst trug sie eine lange Halskette, die ihr bis zu den Knien reichte, und einen weißen Pelz mit schwarzen Schwänzchen, wie ihn die Kaiserin hat.
Der Doktor kam eines Abends sehr spät nach Hause und sprach während des Essens kein Wort. Als man aber zum Nachtisch einen Auflauf reichte, der gerade an diesem Tag nicht aufgegangen war, sagte er ziemlich gereizt zu der Mutter:
»Es paßt mir gar nicht, daß du eine Prostituierte bei uns einquartiert hast . . .«
Das war ein schwieriges Wort, und Atja konnte es sich unmöglich erklären, sosehr er sich auch den Kopf zerbrach.
›Es ist natürlich lateinisch‹, sagte er sich. ›Latein kommt erst in der zweiten Klasse. Ich will aber nicht bis zum nächsten Jahr warten. Lieber werde ich gleich Onkel Arkadi fragen: der versteht lateinisch.‹
Als Onkel Arkadi am nächsten Sonntag zu Besuch kam, legte ihm Atja die Frage vor.
»Prostituierte«, erklärte Onkel Arkadi, ohne mit der Wimper zu zucken, »heißen alle diejenigen, die ein Institut absolviert haben. Ein Institut ist aber eine Lehranstalt, wo nur Adlige aufgenommen werden. Dich würde man zum Beispiel, da du nur der Sohn eines Arztes bist, um nichts in der Welt aufnehmen, wenn du auch aus der Haut fährst.«
Atja fuhr beinahe aus der Haut; doch nicht vor Verzweiflung darüber, daß er keine Prostituierte werden konnte, sondern vor Freude; er hatte also doch recht: sie war ganz anders als alle Menschen; sie war nicht nur ein ausgehaltenes Frauenzimmer, das heißt klug und reich, sondern auch eine Prostituierte, das heißt adlig.
›Sie ist eine Fürstin‹, sagte er sich. ›Und wenn sie in diesem Jahr eine Fürstin ist, so wird sie nächstes Jahr eine Großfürstin sein, und in noch einem Jahre — eine Prinzessin.‹
»Meine Prinzessin!« flüsterte er vor sich hin, sooft er an der Tür des verbotenen Zimmers vorbeiging.
Klawdija Gurjanowna hatte niemals Besuch, außer einem einzigen Herrn, der entweder ganz früh am Morgen oder sehr spät am Abend zu ihr kam. Wenn er am Abend kam, so blieb er bis tief in die Nacht hinein bei ihr. Er sang, und sie begleitete ihn. Alle nannten ihn ›den Abgeordneten‹.
»Der Abgeordnete ist gekommen«, sagte die Mutter zu Atja. »Mach nicht solchen Lärm und zupfe deine Jacke zurecht.«
Wenn der Doktor den Gesang hörte, verzog er das Gesicht:
»Ist das der Abgeordnete, der da singt?«
»Ja, der Abgeordnete«, antwortete die Mutter.
Bald erfuhr Atja, wer dieser Gast war.
Mutter teilte Onkel Arkadi eines Tages die letzte Neuigkeit mit: der Doktor habe sich entschlossen, die Zeitung abzubestellen, da zu Klawdija Gurjanowna jeden Tag ein Mitglied der Reichsduma käme und sie alles viel besser wisse als jede Zeitung.
›Ein ungewöhnlicher Gast!‹ sagte sich Atja. ›Einer aus der Reichsduma! Der bedeutet natürlich viel mehr als Iwan Martynytsch und Iwan Jewsejitsch. Vielleicht ist er gar so viel wie der ›Grieche‹ Kopossow, der Klassenlehrer der dritten Klasse.‹
Einmal begegnete Atja dem Gast im Hausgange und verbeugte sich vor ihm wie vor dem Schulinspektor. Er stellte fest, daß der Abgeordnete ebenso kahlköpfig war wie der Religionslehrer, den die Schüler ›den Chinesen‹ nannten, und viel schöner gekleidet als Onkel Arkadi. Onkel Arkadi war zwar Schauspieler, hätte aber dem Abgeordneten nicht einmal die Schuhe putzen dürfen.
Die Abendstunden verbrachte Klawdija Gurjanowna mit der Mutter im Eßzimmer; sie sprachen von allen möglichen Dingen. Atja saß im Nebenzimmer, tat, als ob er seine Aufgaben machte, und hörte dem Gespräch zu. Das Gespräch drehte sich meistens um den Abgeordneten.
Es stellte sich allmählich heraus, daß er verheiratet war und zwei erwachsene Töchter hatte; seine Frau liebte er so sehr, daß er ohne sie gar nicht atmen konnte. Die bittere Notwendigkeit zwang ihn aber, fern von ihr in Petersburg zu leben; statt sich Briefe zu schreiben, wechselten sie tagtäglich Telegramme.
»Als ich ihn kennenlernte«, erzählte einmal Klawdija Gurjanowna, »sagte er mir: Meine liebe Klawdija Gurjanowna, ich kann ohne Sie nicht leben; bleiben Sie in Petersburg, solange ich Mitglied der Reichsduma bin.«
»Meine Prinzessin«, flüsterte Atja, über dem Lesebuch sitzend, »ich bleibe aber ewig bei dir!«
Klawdija Gurjanowna sang meisterhaft. Wenn sie allein in ihrem Zimmer war, sang sie oft ein Straßenlied, das man sonst mit Ziehharmonikabegleitung im dritten Hinterhof singt. Die Worte handelten von Liebe: er liebte sie, sie liebte ihn nicht, dann heiratete sie einen anderen, und die Sache war aus; aber er liebte sie noch immer, kann sie nicht vergessen, ›irrt wie ein Grashalm‹ unter den Menschen umher und ›sieht sie immer und überall vor sich‹ . . .
O wär diese Nacht
Nicht so schwül, nicht so schön,
So müßt nicht das Herz
Vor Wehmut vergehn . . .
Atja hörte in diesem Liede etwas, was seinen eigenen Gefühlen verwandt war: auch seine Prinzessin stand ›immer und überall‹ vor ihm.
Es war ihm, als ob die ganze Welt nur ihretwegen existierte; man durfte aber weder laut von ihr sprechen, noch ihren Namen nennen. Alle warteten auf sie und bewahrten diese Erwartung wie ein Heiligtum in ihren Seelen. Das war der Grund, warum man in Kljutschi, wenn in der Ferne das Glöckchen ertönte, vor das Tor hinauslief und mit stockendem Atem auf die Straße blickte: ob sie nicht schon käme? Und wenn Großvater in der Kirche die Messe las, wenn er die Arme hob und leise über dem Kelch betete, so betete er zu ihr. Und wenn die Patin lustig war, wenn ihr alles gut gelang, so kam es daher, weil sie von ihr geträumt hatte. Und wenn Sascha und Panja den ganzen Tag lachten, ohne selbst zu wissen warum, so hatten sie wohl irgendwie erfahren, daß sie nach Kljutschi kommen sollte. Und wenn Kusmitsch ein Märchen plötzlich abbrach und sagte, daß er das Ende nicht erzählen werde, und über seine Lippen ein Lächeln glitt, so war auch das verständlich: das Ende des Märchens handelte von ihr; wie konnte er das geheime, unaussprechliche Wort aussprechen? Atja selbst dachte immer nur an sie; darum lachte er, darum leuchteten seine Augen . . .
»Atja hat sich in Klawdija Gurjanowna verliebt, ich gratuliere!« scherzte die Mutter.
»Folglich bleibt er das zweite Jahr in der ersten Klasse sitzen!« fügte Onkel Arkadi kaltblütig hinzu.
»Armes Kind!« jammerte die Köchin Fjokluschka.
»Mich haben alle Kinder lieb!« lachte Klawdija Gurjanowna mit ihrer tiefen Stimme.
›Ich muß mich irgendwie auszeichnen, anders geht es nicht‹, dachte sich Atja. ›Ich muß Indien oder das Weiße Meer erobern. Dann gebe ich ihr ein Zeichen, sie wird alles erfahren und sich offenbaren . . .
O meine Prinzessin!‹
Die Hoffnung, den nächsten Sommer in Kljutschi zu verbringen, fiel ins Wasser. Der Doktor sagte: wenn Atja das zweite Jahr in derselben Klasse sitzenbleibe, so sei an Kljutschi gar nicht zu denken; dann blieben alle den ganzen Sommer in Petersburg. Das Frühjahr brach aber schon an, das letzte Semester ging zu Ende, und Atjas Schicksal mußte sich bald entscheiden; und es war klar, daß es sich nicht zu seinen Gunsten entscheiden werde.
Während der Schönschreibstunde spielten Charpik und Atja das ›Federnspiel‹: die Schreibfeder wird mit dem Finger emporgeschnellt, und je nachdem sie mit dem Rücken oder mit der Wölbung nach oben zu liegen kommt, hat man sie gewonnen oder verloren. Als Charpik wieder einmal eine Feder verlor, gab er das Spiel auf und sagte:
»Willst du mit mir nach Amerika durchbrennen?«
»Ja«, antwortete Atja.
»Romaschka kommt auch mit.«
»Wie wollen wir das machen?«
»Das weiß ich ganz genau. Wir beide haben uns schon seit Weihnachten den Kopf darüber zerbrochen. Wir wollten dir nichts sagen, ehe wir ganz im klaren waren . . . Hast du ein Amerika?«
»Papa hat im Sprechzimmer ein Afrika hängen.«
»Mit Afrika können wir nichts anfangen. Ich muß noch Romaschka fragen. Sein Vater ist Architekt, also muß er eine Karte von Amerika haben. Wir wollen uns eine unbewohnte Insel aussuchen und uns da niederlassen.«
»Wir werden uns auch ein Schloß bauen!« rief Atja aus.
»Ein Schloß oder einen Palast, ganz wie du willst!«
»Und außer uns wird keine Seele dort sein?«
»Niemand, nur die Nilpferde.«
›Nun geht es los‹, dachte sich Atja. ›Jetzt heißt es handeln. Charpik und Romaschka sind so durchtriebene Bestien, daß sie auch ans Ende der Welt den Weg finden.‹
Am nächsten Tage brachte Romaschka die Karte von Südamerika mit; die Karte war unbezeichnet und unvollständig: nur ein Viertelblatt, aber es war immerhin Amerika.
Die Stunde, die sie an diesem Tage auf Geheiß des Lehrers für Deutsch Iwan Martynytsch für eine Reihe von Streichen nachsitzen mußten, verging mit Besprechungen. Charpik und Romaschka nahmen die Oberleitung in die Hand und weihten Atja in alle Einzelheiten ihres Planes ein. Dann nahm man ein Blatt Papier und begann unbewohnte Inseln zu entwerfen. Schließlich einigte man sich auf eine Insel, legte die Karte zusammen und beschloß, am nächsten Tage, gleich nach der Schule, aufzubrechen.
»Kommt beide direkt zum Bahnhof und wartet dort auf mich; ich werde Geld mitbringen«, sagte Charpik.
»Eigentlich müßte man auch einen Paß haben«, meinte Romaschka.
»Den Paß werde ich beschaffen«, erklärte Atja; es fiel ihm ein, daß Onkel Arkadi erst vor kurzem nach Moskau gereist war und aus Versehen den Paß der Köchin mitgenommen hatte; mit diesem Paß hatte er eine ganze Woche ohne Schwierigkeiten gelebt.
Es war also abgemacht: Charpik bringt das Geld, Atja den Paß und Romaschka die Karte.
Wenn es doch schon morgen wäre!
Atja tat die ganze Nacht kein Auge zu. So sehr war er mit seinen Gedanken beschäftigt. Er dachte aber nicht an Kljutschi, sondern an Amerika; auf der unbewohnten Insel wird er ein Schloß erbauen, wie es noch niemand gehabt hat; ein Schloß aus Pfauenfedern mit goldenen und silbernen Treppen, mit Fenstern aus Edelsteinen: in einem mit Nilpferden bespannten Wagen wird er seine Prinzessin hinbringen; und sie werden da ewig mitten im Meere unter der ewigen Sonne zusammenleben. Sie wird Prinzessin Mymra heißen, und die Insel, die er ihr schenken wird, soll ihren Namen tragen: Insel der Mymra. Dann wird er auch viele andere Inseln und zuletzt alle Länder der Erde für sie erobern. Und dann wird sie aus dem Schlosse treten und über die ganze Welt leuchten.
Atja, Charpik und Romaschka benahmen sich während der Stunden ziemlich anständig und machten keine Dummheiten; sie waren auffallend zerstreut und redeten, wenn sie aufgerufen wurden, ganz ungereimtes Zeug. Ein jeder von ihnen kriegte einen Vierer. Das war ihnen aber schon ganz gleich.
Als die letzte Stunde vorüber war und Atja mit heller Stimme das Schlußgebet vorgesprochen hatte, warf Charpik alle seine Lehrbücher unter die Bank und rannte nach Hause.
Charpiks Eltern waren nicht zu Hause: der Vater war auf dem Gericht und die Mutter in der Stadt; nur die Köchin Wassilissa war allein da.
»Wassilissa, gib mir bitte drei Rubel«, bat Charpik.
Wassilissa besaß aber eine solche Summe nicht. Charpik stand noch eine Weile in der Küche herum und ging dann ins Arbeitszimmer seines Vaters. Er brauchte nicht lange zu suchen: unter einer alten Aktentasche lag etwas Kleingeld. Charpik zählte nach: es waren genau drei Rubel. Dieses Glück!
»Leb wohl, Wassilissa, wir werden uns nie mehr wiedersehen«, sagte Charpik, an der Schwelle stehen bleibend.
»Wo fährst du denn hin?« fragte Wassilissa interessiert.
Der Abschied von Wassilissa stimmte Charpik plötzlich sehr traurig; er war schon im Begriff, das Geheimnis auszuplaudern, beherrschte sich aber noch zur rechten Zeit.
»Auf den Nikolajewer Bahnhof. Leb wohl!«
Atja und Romaschka trieben sich indessen auf dem Finnländischen Bahnhof umher; viele Züge waren schon abgegangen, als Charpik endlich erschien. Ohne lange Geschichten zu machen, kauften sie sich Fahrkarten nach Terioki, stiegen in den Zug und — leb wohl, Gymnasium, lebe wohl, Rußland! Sie reisten nach Amerika, geradeswegs auf die unbewohnte Insel der Mymra.
Unterwegs war es sehr lustig. Sie sangen die Marseillaise und rauchten. Die Landschaft, die sie aus den Kupeefenstern sahen, erschien ihnen als Amerika, und alle Fahrgäste als Detektive und Sherlock Holmes.
Vor der Grenzstation Kuokkala holte Atja aus seiner Hosentasche den Paß der Köchin Fjokluschka hervor und zeigte ihn stolz den Freunden.
»Jetzt können wir auch zum Teufel fahren: der Paß ist echt«, äußerte sich Charpik anerkennend.
»Jeder Detektiv fällt darauf herein«, bestätigte Romaschka.
So kamen sie glücklich in Terioki an.
Sie stiegen aus und begaben sich nach den Sommerhäusern, die um diese Jahreszeit noch leer standen. Hier trieben sie sich bis zum späten Abend herum und taten alles, was ihnen nur einfiel. Sie kletterten über die Dächer, die Treppen und Bäume; Romaschka machte den Vorschlag, ein Bad zu nehmen, das scheiterte aber daran, daß sie zu faul waren, sich auszuziehen.
Allmählich wurde es kalt, und die drei Freunde verspürten auch Hunger: sie hatten ja nichts zu Mittag gegessen. Also kehrten sie auf den Bahnhof zurück und kauften sich ein großes süß-saures Brot, das sie im Nu verzehrten. Nun mußten sie auch an ein Nachtquartier denken. Es war zu kalt, um auf dem Geleise zu nächtigen, außerdem schneite es. Auf dem Bahnhof konnten sie nicht bleiben, da er für die Nacht geschlossen wurde. Sie überlegten lange hin und her und entschlossen sich, den Stationsdiener zu bitten, in seinem Häuschen übernachten zu dürfen.
Der Stationsdiener war freundlich und ließ sich leicht überreden. Doch ehe er sie zu sich hereinließ, mußten sie den Bahnhof aufräumen und die Geleise kehren.
Sie räumten den Bahnhof auf und kehrten die Geleise; nachher schliefen sie aber so fest, wie sie in ihrem Leben noch niemals geschlafen hatten. Sie sahen im Traume allerlei Süßigkeiten: ganze Schachteln voll Schokolade, Fruchtpasten und gewöhnliche Bonbons: iß, soviel du willst!
Hätte sie der Stationsdiener nicht geweckt, so hätten sie am Ende auch den Tag über durchgeschlafen. »Steht auf, ihr Sünder!« Sie gingen wieder auf den Bahnhof kauften sich für das letzte Geld ein neues süßsaures Brot, stärkten sich etwas und waren schon im Begriff, sich wie gestern zu den Sommerhäusern zu begeben, als plötzlich in der Tür ein Gendarm erschien.
»Wo wollt ihr hin?« fragte er ziemlich ungnädig.
»Wir sind aus der Nasarowschen Villa«, antwortete Romaschka, der den letzten Sommer in Terioki verbracht hatte und sich da auskannte.
»Aus der Nasarowschen Villa?« fragte der Gendarm. Dann wechselte er einige Worte mit einem Herrn in Zivil, der neben ihm stand, offenbar ein Detektiv, und sagte sehr böse:
»Ihr seid verhaftet!«
In diesem Augenblick kam ein Zug, der nach Petersburg weiterging, und die drei Reisenden stiegen, in Begleitung des Gendarmen und des Detektivs, gesenkten Hauptes ein.
›Was werde ich nun meiner Prinzessin sagen, wie werde ich zu ihr zurückkehren? Wo ist mein Indien, mein Weißes Meer und die unbewohnte Insel? Wird sie mich noch in Gnaden aufnehmen, oder ist alles verloren?‹ Mit diesen Fragen quälte sich Atja ab, indem er aus dem Fenster auf die nasse schwarze Landstraße blickte.
Charpik und Romaschka rückten unruhig hin und her: einen jeden erwartete seine Tracht Prügel! Lebe wohl, Amerika!
Die folgenden Tage gingen entsetzlich langsam hin. Das Wiedersehen auf dem Bahnhof war übrigens gar nicht so schrecklich: Atjas Mutter weinte beinahe vor Freude; auch im Gymnasium lief die Sache gar nicht schlimm ab: Atja wurde sogar zu den Prüfungen zugelassen. Aber welchen Wert hatte für ihn noch das Gymnasium? Er hatte ja die Insel nicht erobert! Was konnte er mit leeren Händen anfangen? Ist das ein Leben! Klawdija Gurjanowna lachte über ihn und nannte ihn nur noch ›Amerikaner a. D.‹
»Ich muß mir etwas Neues ausdenken«, quälte sich Atja. »Ich muß mir einen Finger abhacken und ihn ihr bringen, oder ein Auge ausstechen . . . Soll sie es nur fühlen!«
»Der Großvater hat Schuld«, klagte die Mutter dem Doktor. »Ich weiß ja, was sie dort in Kljutschi treiben. Der Bengel ist ganz außer Rand und Band und will nichts lernen. Bald verliebt er sich in Klawdija Gurjanowna, bald phantasiert er von einer Mymra . . .«
Der Doktor vertrat in seiner Praxis die Ansicht, daß jeder Unsinn von Magenverstopfung käme, und behandelte daher seine Patienten vorwiegend mit einem Gemisch aus Bier und Rizinusöl; auch in Erziehungsfragen war er stets für die Anwendung ebenso radikaler Mittel. Er beschloß daher, Atja bei der ersten Gelegenheit ordentlich zu verhauen. Die Umstände fügten es aber, daß es ihm auf keine Weise gelingen wollte, Atja zu diesem Behufe einzufangen: entweder hatte er keine Zeit, oder Atja war gerade im Gymnasium, oder er war zwar nicht im Gymnasium, aber nicht aufzufinden: als ob er in die Erde versunken wäre.
Eines Morgens sah der Doktor ins Kinderzimmer hinein: Atja saß im Hemd auf dem Bett und dachte über etwas nach. Der Doktor schlich mit verhaltenem Atem zu ihm hin: nur noch ein Schritt, — und er wird Atja erwischt und ihn so durchgebleut haben, daß er sein Lebtag daran denken wird; der Riemen in seiner Hand zittert bereits vor Freude. Atja ist aber nicht so dumm, sich gutwillig zu ergeben. Hopp — die Fersen flimmerten nur so in der Luft! Rette sich wer kann! Ohne viel zu überlegen, rannte er wie der Blitz zu Klawdija Gurjanowna.
Die Tür war nicht verschlossen. Klawdija Gurjanowna lag noch im Bett. Atja kroch zu ihr unter die Bettdecke. Er hörte noch, wie der Doktor eine Weile draußen vor der Tür stand und schließlich mit langer Nase abzog.
»Oh, du meine Prinzessin! Du hast mich vom Tode errettet«, flüsterte Atja. Ihm war schwindelig vor Glück. »Du wirst mir vergeben: ich bin eigenmächtig, ohne eine Insel, ohne irgend etwas zu dir gekommen . . . Du wirst mir vergeben . . . Es ist mir noch nicht gelungen, dir ein Königreich zu verschaffen; ich werde es aber noch beschaffen: Indien, das Weiße Meer, alle Inseln und alle Länder . . . und alles, alles . . .«
Ihm stockte der Atem . . . ihm war, als hätte seine Seele ihre Seele mit solcher Gewalt umarmt, daß sein Herz plötzlich herausspringen wollte und sein ganzer Körper erbebte: sie war ihm jetzt so nahe, die unzugängliche, stolze Prinzessin Mymra.
Klawdija Gurjanowna bedeckte ihr Gesicht, mit der Hand und lachte in sich hinein.
»Darf ich?« fragte plötzlich eine Stimme hinter der Tür.
»Sofort!« Sie stieß Atja zurück und wies ihn mit der Hand unter das Bett.
Atja huschte gehorsam unter das Bett und verharrte dort mit angehaltenem Atem und geschlossenen Augen: er glaubte, wenn er niemanden sähe, so würde auch ihn niemand entdecken. Er kauerte unter dem Bett genauso wie einst in Kljutschi im Geflügelstall, als er Gänseeier auszubrüten versucht hatte. Er atmete nicht, er sah nichts, er hörte aber alles.
Es war der Abgeordnete. Er entkleidete sich. Er legte den Rock ab, zog dann die Schuhe aus. Ein Kragenknopf fiel hinunter, rollte klirrend über den Boden und blieb unter dem Bett vor Atjas Füßen liegen. Atja wurde es unerträglich heiß: als ob es nicht ein Kragenknopf, sondern eine glühende Kohle wäre, die ihn mit fürchterlicher Glut anhauchte. Die beiden sprachen miteinander. Es waren ganz gewöhnliche Worte, wie sie von allen und zu allen gesprochen werden. Atja überlief es aber beim Zuhören bald heiß und bald kalt. Die Worte klangen für ihn wie die gemeinsten Schimpfworte. Plötzlich hatte er begriffen, daß sie nicht die einzige, nicht die Prinzessin, sondern so wie die andern war, um kein Haar anders. . . Und er sah sich in einer Wüste . . . Er drückte sich die Ohren zu, um nichts zu hören, hörte aber jedes Wort; es war ihm, als ob man ihn schlüge, wie man einmal in Kljutschi einen Dieb, der sich unter das Bett in der Küche verkrochen, geschlagen hatte: auf das Gesicht, den Kopf, den Bauch: seine Augen blickten schon ganz gläsern, er war halb tot. »Macht doch schon ein Ende mit ihm!« — »Nein«, riefen die andern, »der soll nur warten!« Und man ließ ihn für eine Weile los, und schlug ihn dann wieder . . . Atja war es plötzlich, als ob man ihm mit dem stumpfen Ende eines Beiles einen Schlag auf den Schädel versetzt hätte . . . Alles stürzte zusammen . . . Es war wie der Tod . . .
Erst als der Gast das Haus verlassen hatte und Klawdija Gurjanowna sich ankleidete, kroch Atja unter dem Bett hervor. Er blickte sie nicht mehr an und gab ihr auf die Frage, ob er sie am Nachmittag auf den Newski begleiten möchte, keine Antwort.
Ohne Bücher und ohne Frühstück ging Atja ins Gymnasium. Er sah nicht, was um ihn her vorging. Er wußte selbst nicht, wie er schließlich doch ins Gymnasium kam. Bald nach Beginn der ersten Stunde bat er, austreten zu dürfen. Der Lehrer erlaubte es ihm. Er ging aus der Klasse und war nun allein in einem leeren Raume; irgendwo tröpfelte Wasser. Und jetzt erinnerte er sich an alles: die Erinnerung wälzte sich ihm auf die Seele wie ein schwerer Stein! Seine Prinzessin war nicht mehr . . . Tränen rollten ihm die Wangen hinab. Atja weinte zum erstenmal in seinem Leben. So wird die Erde zum letztenmal weinen, wenn vom Himmel die Sterne stürzen.
O wär diese Nacht
Nicht so schwül, nicht so schön,
So müßt nicht das Herz
Vor Wehmut vergehn . . .
Das Lied einer Straßensängerin drang von irgendwoher in den Hof des Gymnasiums und kam aus dem Hof, zugleich mit der Frühlingsluft, zum Fenster herein. Und Atja lächelte unter Tränen.
Wo soll er nun seinen Stern — seine Prinzessin suchen?
Jeder, der das alte Suchotinsche Gut ›Gottessegen‹ auch nur einmal besucht hat, wird es mit gutem Gewissen loben können. Nicht zum Spott trug es von alters her seinen Namen, und einen besseren könnte man, soviel man auch klügelte, gar nicht finden: es gab zwar in seinen Gärten keine Weintrauben, auch sangen da keine Paradiesvögel, doch der Segen Gottes ruhte sichtbar auf dem guten Lande.
Das alte, von Säulen flankierte Herrenhaus, die Ahornallee, der Obstgarten, die Wiesen, Felder und Wälder, Vieh und Menschen — kurz alles, was es in Gottessegen gab, rief nicht nur bei den Nachbarn, sondern auch bei jedem andern Menschen, der auf der Durchreise geschäftlich oder sonst aus irgendeinem Grunde in die Gegend kam, helles Entzücken hervor; selbst bei dem blasierten, elegant zurechtgestutzten Petersburger und dem zerzausten, verwöhnten Moskauer.
Das Haus war reich, wohl bestellt und in musterhafter Ordnung. Bei Gott — da brauchte man keine Biene zu beneiden!
Der Gutsherr Pjotr Nikolajewitsch Suchotin selbst war durch seine Einfälle und Witze weit und breit bekannt: wenn er in eine beliebige Gesellschaft kam und bloß den Mund öffnete, so verstummte für keinen Augenblick das Lachen. Alle lachten mit — Bekannte und Unbekannte. Ganz ohne Unterschied.
Sonderbar war das Gesicht dieses stark ergrauten, sich immer gleichbleibenden Herrn. Die Jahre gingen, er hatte die Vierzig längst hinter sich, und doch lag immer der gleiche Ausdruck auf seinen unveränderlichen, gleichsam versteinerten Zügen; wenn sich alle in Lachkrämpfen wanden, blieb das totenblasse Gesicht des Sonderlings ganz regungslos, und niemand sah ihn lachen oder lächeln. Man sah nur unheimliche Funken in seinen unbeweglichen, eingefallenen Augen glimmen. Wenn er mit seinen Witzen nur so um sich warf, mußte man seltsamerweise immer an eine mechanische sprechende Puppe denken, und als jemand einmal versuchte, das, was er sprach, aufzuschreiben, da standen auf dem Papier ganz gewöhnliche Worte ohne jede komische Wirkung.
Obwohl also sein seltsames Aussehen sowenig zu seinen Scherzen paßte, fiel es doch niemandem ein, zu untersuchen, worauf die Wirkung seiner Worte beruhte und warum sie überall Lachen und Fröhlichkeit hervorriefen. Es gibt aber Menschen, die gern jedem Rätsel auf den Grund kommen — solche Käuze findet man überall —, und diese gaben eine treffende Erklärung: sie sprachen von geschicktem Mienenspiel, von fein berechnetem Satzbau, vom ungewöhnlich scharfen Blick seiner Augen — alles war ihnen klar und verständlich. Glücklicherweise merkte sich niemand diese abgeschmackten Erklärungen. Niemand fragte nach den Gründen, alle kugelten sich vor Lachen — was wollte man noch mehr?
Pjotr Nikolajewitsch bekleidete keinerlei Ämter und zeigte auch gar kein Interesse für öffentliche Angelegenheiten. Vor Jahren war er einmal zum Adelsmarschall des Bezirks gewählt worden. Man denkt noch heute mit Grauen an diese Zeit! Niemand kann zwar behaupten, direkte Unannehmlichkeiten während Suchotins Amtstätigkeit gehabt zu haben; im Gegenteil: es war die lustigste Zeit, und alle Amtsgeschäfte wurden von ihm in überaus lustige Streiche verwandelt; doch im Resultat entstand ein solches Durcheinander, es kamen solche Ungereimtheiten und noch Gott weiß was für Dinge an den Tag, daß sich niemand mehr auskannte. Jeder, der Pjotr Nikolajewitsch nicht genauer kannte, mußte im besten Falle glauben, der Adelsmarschall sei nicht bei Trost. Ich glaube sogar, daß in Petersburg — in einem Salon oder bei einem Vortrag beim Minister — sich jemand gerade in diesem Sinne ausgesprochen hat. Zum Glück hatte das keine weiteren Folgen.
Jeder Mensch hat doch seine Eigenheiten; warum sollte da Pjotr Nikolajewitsch eine Ausnahme bilden?
Pjotr Nikolajewitsch hatte die Passion, alles zu ordnen und aufzuräumen; er machte das auf eine so scharfsinnige Weise, daß es nachher sehr schwer und oft sogar ganz unmöglich war, einen von ihm eingeräumten Gegenstand zu finden: viele Dinge, und selbst solche, die man dringend brauchte, gingen spurlos verloren. Dann liebte er es, die Möbel — Tische, Stühle und Etageren — umzustellen, Bilder umzuhängen und die Bücher in der Bibliothek umzuordnen; damit füllte er gewöhnlich den ganzen Vormittag aus. Beim Mittagessen bevorzugte er die süßlichen Fleischspeisen, wie Eingeweide, Hirn und Kalbsfüße, und da er im Essen unmäßig war, verdarb er sich oft den Magen und klagte über Leibschmerzen. Eine weitere Liebhaberei von ihm war das Heizen der Zimmeröfen: es fror ihn beständig, und er ging mit einem langen Schürhaken von Ofen zu Ofen und rührte die Glut um. Er liebte es, sich mit Dienstboten und Bauern in Gespräche einzulassen; obwohl solche Gespräche immer mit der Erörterung ernsthafter Angelegenheiten begannen, endeten sie doch immer mit irgendeinem Unsinn, was höchst unerwünschte Folgen hatte: nicht nur daß die Leute vor Pjotr Nikolajewitsch keinen Respekt hatten, sie glaubten — offen gestanden — kein Wort von dem, was er sagte. Außerdem versprach er ihnen ganz unmögliche Dinge; so schenkte er einem jeden etwas von seinem Landbesitz, freilich ein nicht sehr großes Stück: nur drei Schritt lang und einen Schritt breit — so ein närrisches Maß hat er sich ausgedacht! Was noch? Ja, er hatte die Leidenschaft, eigenhändig Geflügel zu schlachten, und konnte es darin mit jedem Küchenmeister aufnehmen: niemals entriß sich ihm ein Huhn mit halbdurchgeschnittenem Hals, oder rannte gar ohne Kopf flügelschlagend umher, wie es bei minder geschickten Köchen vorkommt. Schließlich sah er sich gern Leichen an, und je grauenhafter so ein Toter aussah, je fortgeschrittener die Verwesung war, desto mehr Genuß hatte er von dem Anblick. Sooft im Dorf jemand starb, mußte es der Dorfpope, P. Iwan, in das Herrenhaus melden; sofort wurde der Wagen angespannt, und Pjotr Nikolajewitsch ließ alles stehen und liegen und eilte an den Ort oder nach dem Hause, wo die Leiche lag.
Suchotins Frau — Alexandra Pawlowna — spottete manchmal höchst gutmütig über die Liebhabereien ihres verwöhnten Mannes, dem sie übrigens in inniger Liebe zugetan war; man hätte auch alle diese Eigenschaften, die schließlich Pjotr Nikolajewitschs Privatangelegenheiten waren, kaum beachtet, wenn nicht ein unsinniges Gerücht aufgetaucht wäre, das die Ehre und den guten Ruf von ›Gottessegen‹ in Frage stellte.
Vor zwei Jahren kam aufs Gut ein alter Freund Pjotr Nikolajewitschs, der ihn noch vom Petersburger Lyzeum her kannte und seit jener Zeit nicht mehr gesehen hatte. Der Grund des plötzlichen Erscheinens dieses Gastes blieb unbekannt; niemand fragte ihn danach, und sein Kammerdiener schwatzte im Dienstbotenzimmer höchst verworrenes Zeug darüber: der General sei gekommen, um den revoltierenden Bauern Schrecken einzujagen oder auch um das ganze Land unter ihnen aufzuteilen. Das ist übrigens gar nicht so wichtig; konnte er denn nicht auch aus purer Neugier hergekommen sein?
Der Gast wurde von Alexandra Pawlowna freundlich aufgenommen; sie bedauerte sehr, daß nicht die ganze Familie in ›Gottessegen‹ versammelt war — die Kinder waren nämlich verreist — und daß der Gast sich daher etwas langweilen werde. Der General war aber in bester Stimmung; er erzählte viel von seinen freundschaftlichen Beziehungen zu Pjotr Nikolajewitsch und schien kein Verlangen nach anderer Gesellschaft zu haben. Mit Ungeduld erwartete er seinen Freund, der gerade an diesem Tage vom frühen Morgen an irgendwo auf dem Dorfe bei einer Leiche steckte und erst gegen Abend nach Hause kam. Als die Freunde sich gegenüberstanden, geschah etwas sehr Seltsames: der Gast war sichtlich erschüttert, erschrocken und begann am ganzen Leibe zu zittern. Hatte er seinen Freund nicht gleich erkannt, oder hatte er ihn erkannt, aber eine solche Veränderung an ihm wahrgenommen, daß es ihn schwindelte, oder war ihm in seinem Gesicht, in seinem Gang oder in seiner Sprache etwas ganz Unerwartetes, Unwahrscheinliches und Unmögliches aufgefallen — das weiß niemand! Der General taumelte einen Schritt zurück, warf die Arme empor und fiel in Ohnmacht.
In den folgenden Tagen war der Gast schweigsam und traurig; er schielte argwöhnisch nach allen Seiten, sagte zu allem ja und lächelte so unglücklich wie einer, der sehr unerwartet in eine ganz gewöhnliche Presse hineingeraten ist, wo er jeden Augenblick zu einem Brei zerquetscht werden kann. Er blieb noch an die acht Tage in ›Gottessegen‹ und jagte eines Morgens ganz plötzlich, ohne Gepäck und nicht ganz angekleidet, auf und davon; vor der Abreise war er wie verrückt, murmelte etwas ganz Unsinniges vor sich hin und zeigte allen Leuten irgendwelche Schriftstücke, die er verkehrt in der Hand hielt. Und bald nach seiner Abreise tauchten alle die Gerüchte bei den Nachbarn und in der Stadt auf.
Man erklärte plötzlich, das berühmte Suchotinsche Gut sei gar nicht so hervorragend, das Haus sogar etwas schadhaft: der nach dem Brande neu errichtete Teil falle von den übrigen ab; auch der Garten sei in keiner Weise bemerkenswert: er sei zwar alt und schattig, doch könne man bei einer Reise durch Rußland viele solcher Gärten sehen; an den Feldern und Wäldern sei zwar nichts auszusetzen, aber sie seien durchaus nicht einzig in ihrer Art; und was die Bauern betreffe, so seien sie gar nichts wert: verarmt und ohne Landbesitz; einmal seien sie schon ausgewandert, dann wieder zurückgekehrt, und wenn sie auch bei den letzten Unruhen das Herrenhaus nicht niedergebrannt und den Pferden nicht die Augen ausgestochen hätten, wie es beim Nachbar Bessonow geschehen war, so hätten sie doch unzweifelhaft die Absicht gehabt, das Haus anzuzünden, alles zu verwüsten und sich das Land anzueignen. Und von Pjotr Nikolajewitsch selbst erzählten sich die Leute, nach Aufzählung aller seiner Eigenheiten, solch ungereimtes Zeug, daß ich mich schäme, es wiederzugeben. Schließlich waren alle darin einig, daß man das Haus und die Leute unter allen Umständen meiden müsse: der Ort sei unrein.
Einer von den guten Freunden riet Alexandra Pawlowna sogar, sich beim Gouverneur zu beschweren. Sie wollte davon aber nichts wissen: an dem ganzen Gerede sei kein wahres Wort, und sie wolle nicht noch mehr Staub aufwirbeln. Und in der Tat: was so ein argwöhnischer Mensch in seinem argwöhnischen Gehirn nicht alles ausdenken kann!
Übrigens hörte das Gerede nach einiger Zeit ganz von selbst auf: die Leute sind doch nicht so dumm, wie sie zuweilen scheinen.
Und so blieb alles beim alten: ›Gottessegen‹ ist ein Paradies, die Familie Suchotin das Muster einer guten Familie, und Pjotr Nikolajewitsch zwar ein Sonderling, doch von seltener Unterhaltungsgabe.
Alexandra Pawlowna war das eigentliche Haupt des Hauses, und ihrer Begabung wurde auch der Wohlstand und die musterhafte Ordnung der ganzen Wirtschaft von ›Gottessegen‹ zugeschrieben. Sie war ziemlich wortkarg, hatte einen festen Willen und verstand, die Leute im Zaume zu halten. Man hatte vor ihr Respekt und vertraute ihr blind. Sie hatte früh und aus Liebe geheiratet und schenkte in den vier ersten Ehejahren vier Kindern, drei Töchtern und einem Sohn, das Leben. Ihr ganzes Leben verging in ununterbrochenen Sorgen um die Kinder und um die Wirtschaft, und diese Sorgen wuchsen ihr allmählich über den Kopf, je größer die Kinder wurden und je komplizierter die Wirtschaft. Sie war aber bereit, jede Last zu tragen, wenn sie damit dem Gatten und den Kindern das Leben angenehm machen konnte. Und niemand hatte Grund zu klagen: weder der Gatte noch die Kinder.
Jeden Abend saß sie glücklich und freudestrahlend am Klavier. Ihre kräftigen Finger griffen sicher in die Tasten, und feierliche Klänge zogen durch die hohen Räume.
Wenn irgendein heimatloser Landstreicher zufällig in das erleuchtete Fenster geschaut und die zufriedene Frau am Klavier erblickt hätte, wie würde er da vor Neid vergehen! Wie würde er sein finsteres Schicksal verfluchen! Wie willig würde ein Verirrter ihrer Stimme folgen!
Der Konteradmiral Paleolog, der Taufpate der jüngsten Tochter Sonja, dessen Meinung immer für maßgebend galt und in der Stadt wie auch auf allen Landsitzen gern zitiert wurde, pflegte Alexandra Pawlowna ›eine verführerische Brünette‹ zu nennen. Und er hatte wie immer recht. Wer würde glauben, daß diese verführerische Brünette, die das Hauswesen so gut zu führen verstand und ein schönes Familienleben lebte, sich einmal für das unglücklichste Geschöpf auf Gottes Erde gehalten hatte? Freilich waren viele Jahre seitdem vergangen, und jede Erinnerung an jene Zeit war vom immerwährenden Glück und Erfolg in allen Dingen vollkommen ausgelöscht. Vor fünfzehn Jahren, bald nach Sonjas Geburt, wäre ›Gottessegen‹ um ein Haar verlorengegangen: das schöne Haus war beinahe verbrannt und Pjotr Nikolajewitsch beinahe in den Flammen umgekommen; Alexandra Pawlowna aber rettete alles.
Im Herbst und im Winter, wenn die Kinder fort waren, verbrachte Alexandra Pawlowna ihre Tage unter vier Augen mit ihrem Mann; sie sah ihn mit der gleichen Liebe und Zärtlichkeit an wie vor zwanzig Jahren, und er erschien ihr ebenso verliebt wie damals; in solchen Augenblicken verschwand die tiefe Furche, die sonst zwischen ihren Brauen lag. Doch er stand vor ihr, ganz ausgetrocknet, lang wie eine Hopfenstange, mit ergrautem Haar und totenblassem Gesicht, starrte sie unverwandt an mit seinen unbeweglichen Augen und grinste.
»Ich kenne keine Langeweile«, wiederholte er zum tausendsten Mal; »Mir ist es immer leicht ums Herz!« Das klang so wie: ›Mir ist alles gleich, ich brauche nichts!‹ Sie hörte aber diese unheimlichen Worte nicht; seine Stimme klang für sie genau wie damals, als sie seinen ersten Kuß empfing. Die Liebe machte sie blind, und sie gab ihm die ganze Leidenschaft einer reifen, doch gut aussehenden Frau.
Wie toll hätte der am Fenster lauschende Landstreicher über eine solche Szene gelacht! Vielleicht hätte er aber auch keinen Ton von sich gegeben und wäre ohnmächtig zusammengebrochen wie jener Gast, der Jugendfreund Pjotr Nikolajewitschs.
Ganz ›Gottessegen‹ rüstete sich zu einem großen Ereignis: gleich nach Weihnachten sollte die Hochzeit der ältesten Tochter Lida, die erst im vorigen Jahre das Institut verlassen hatte, stattfinden. Der Bräutigam war der reiche Großgrundbesitzer Ramejkow.
Die Feier wurde von allen mit großer Spannung erwartet. Man erzählte sich, daß das Hochzeitsmahl besonders üppig sein werde und daß Pjotr Nikolajewitsch beinahe alle Hühner abgeschlachtet habe. ›Gottessegen‹ bekam einen feierlichen Anstrich. Die Gäste kamen schon am frühen Morgen zusammen, und Pjotr Nikolajewitsch, der besonders gut aufgelegt war, sorgte dafür, daß alle sich vor Lachen wälzten. Alexandra Pawlowna hatte alle Vorbereitungen zu treffen und konnte vor Überanstrengung kaum auf den Beinen stehen.
Endlich war die ganze Familie versammelt: aus Petersburg kam der älteste Sohn Mischa, Student im ersten Semester; aus Kiew die zweite Tochter Sina, die dort in einem Institut erzogen wurde; und aus der Kreisstadt — die Gymnasiastin Sonja. Der feierliche Augenblick rückte heran. Die Hochzeitsfeier fiel, wie jeder zugeben mußte, ungemein lustig aus. Es gab natürlich einige seltsame Zwischenfälle: als Pjotr Nikolajewitsch dem jungen Paar vor der Trauung seinen Segen gab und offenbar die Absicht hatte, dem Segen einige Ermahnungen für die Ehe folgen zu lassen, platzte er, nach einer längeren peinlichen Pause, mit einem einzigen Wort heraus, das man unmöglich wiedergeben kann; der junge Ehemann war dadurch so frappiert, daß es ihn große Mühe kostete, sich von den Knien zu erheben, und alle andern konnten schwer ihr Lachen verbeißen. Während der kirchlichen Trauung flüsterte Pjotr Nikolajewitsch dem Geistlichen P. Iwan zu, daß er letzte Nacht von Eiern, die in einer Grube lagen, geträumt hätte. Der Geistliche kannte natürlich die böse Bedeutung dieses Traumes; er kam ihm aber im Augenblick so ungemein komisch vor, daß er mitten im Gebet in schallendes Gelächter ausbrach. Der Küster, der das Weihwasserfaß hielt, wieherte ganz ungeniert los, und mit ihm lachte das ganze Publikum: es war eher eine Narrensposse als eine Trauung.
Die Neuvermählten reisten gleich nach der Tafel nach Moskau ab, die Festlichkeiten in ›Gottessegen‹ dauerten aber fort. Die Jugend veranstaltete eine Theateraufführung und einen Maskenball. Auf dem Teich wurde eine Schlittschuhbahn und ein Eisberg eingerichtet, und die jungen Leute wetteiferten im Laufen.
Mischa Suchotin galt als hervorragender Schlittschuhläufer. Er war schlank und gelenkig und zeigte im Kunstlauf wahre Wunder. Auch seine Schwester Sonja, ein flinkes, lustiges Mädchen, war ungemein geschickt. Hell klang ihr Lachen in den sternenklaren Januarnächten über die Eisdecke hin. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie Bruder und Schwester Arm in Arm den Eisberg hinuntersausten. Sina war anders geartet und hatte mehr Ähnlichkeit mit Lida: sie war wie diese schweigsam und etwas schüchtern, aber nicht temperamentlos.
»Die Kinder sind der Mutter nachgeraten«, sagten alle Onkel und Tanten und alle alten Freunde des Hauses, die Alexandra Pawlowna näher kannten.
Der Dreikönigstag rückte heran. Mischas Kollegen und die Freundinnen seiner Schwester reisten ab. Auch die Suchotinschen Kinder mußten fort, es gefiel ihnen aber auf dem Lande so gut, daß die Abreise immer wieder verschoben wurde.
Am Dreikönigsabend liefen Mischa und Sonja zum letztenmal auf die Eisbahn hinaus. Es war eine herrliche sternenklare Nacht; die blauen Schneefelder glitzerten in zahllosen Funken, und der starke Frost kniff in die Wangen und ließ das Eis krachen. Mischa und Sonja flogen über die Eisfläche und wollten gar nicht aufhören. Da fiel Mischa plötzlich der ganzen Länge nach hin. Sonja glaubte anfangs, es sei nur ein Scherz von ihm. Es war aber doch nicht so. Man hob ihn auf, trug ihn nach Hause und ließ Ärzte kommen. In drei Stunden war er tot. Der Schmerz war unbeschreiblich.
Am Abend nach der Beerdigung, als es im Hause plötzlich so leer war und alle abgespannt und schwermütig herumsaßen und herumirrten, kam plötzlich ein dringendes Telegramm von Ramejkow aus Moskau: Alexandra Pawlowna sollte sofort hinreisen.
Sie reiste noch in der gleichen Nacht ab.
Sina und Sonja waren in der größten Sorge, Pjotr Nikolajewitsch schien aber ganz ruhig, als ob gar nichts vorgefallen wäre. Er änderte auch nichts an seiner Lebensweise und seinen Gewohnheiten. Der einzige Unterschied war der, daß er in diesen Tagen noch mehr Hühner schlachtete als sonst. Das hatte aber einen Grund: Sina, die sich bei Mischas Beerdigung erkältet hatte, lag krank zu Bett und brauchte besondere Diät. Und dann noch etwas — das ist aber nur eine seiner Schrullen! —, er ließ zu Mittag die riesengroße Ochsenzunge auftragen, die noch vom Hochzeitsmahl übriggeblieben war.
Endlich kam aus Moskau die Nachricht: Lida hatte sich erhängt. Groß war der Schmerz der Familie.
Nun wurde der zweite Sarg in die Suchotinsche Familiengruft versenkt. Im Hause wurde es noch öder und einsamer. Alexandra Pawlowna schlich tagelang wie ein Schatten umher.
Sie konnte sich jetzt nicht verzeihen, daß sie ihre Zustimmung zu dieser Ehe gegeben hatte: sie hatte ja den Ramejkow als einen leichtsinnigen und gemeinen — ja, ganz gemeinen! — Menschen gekannt. Warum hatte sie Lida nicht gewarnt? Lida hätte doch sicher auf ihre Warnung gehört. Sie hätte sie leicht überzeugen können, denn sie kannte so viele häßliche und gemeine Geschichten aus Ramejkows Vorleben, über die sogar am Hochzeitstage in ihrem Hause getuschelt wurde.
Nun war es zu spät. Gewissensbisse halfen nicht. Alexandra Pawlowna schrie beinahe vor Schmerz.
Pjotr Nikolajewitsch war etwas abgespannt, doch wohl kaum aus Schmerz über die Verluste. Der Tod der beiden Kinder rief in ihm nur die gleiche Neugier hervor wie der Tod jedes andern, ihm gänzlich fremden Menschen. Seine Abgespanntheit rührte eher von einer schlaflosen Nacht her. Lidas Leiche war in einem geschlossenen Sarge nach ›Gottessegen‹ gebracht worden; Pjotr Nikolajewitsch bestand aber darauf, daß der Deckel abgeschraubt wurde. Er enthüllte mit eigenen Händen das Gesicht seiner Tochter und stand dann die ganze Nacht vor dem Sarge, den Blick unverwandt auf die Tote gerichtet. Nun saß er, mit seinem flaschengrünen Schlafrock angetan, in einem Lehnsessel und schlummerte.
So verging die Nacht nach Lidas Beerdigung.
In Sinas Zustand trat indessen eine Verschlimmerung ein. Die Ärzte konstatierten Typhus. Ganz ›Gottessegen‹ hielt den Atem an und wartete auf die Krisis. Und die Krisis kam. Die Ärzte traten zu einem Konsilium zusammen und erklärten, daß keine Hoffnung mehr da sei.
Bei den Suchotins herrschte eine strenge Hausordnung, an der die Kinder, selbst als sie erwachsen waren und in den Ferien auf Besuch nach Hause kamen, noch immer festhielten: Lida mußte ihrem Vater die Zigaretten stopfen und Sina die Uhr im Eßzimmer aufziehen. Jetzt stopfte der alte Kammerdiener Michej die Zigaretten, und die Uhr im Eßzimmer stand still.
Sina litt sichtlich unter dem Gedanken, daß ihre Krankheit die alte Hausordnung störte, und wollte daher ins Krankenhaus gebracht werden; sie konnte diesen Wunsch aber nicht mehr aussprechen: sie hatte bereits ihre Sprache verloren.
Unter Anspannung ihrer letzten Kräfte bat sie Sonja durch Zeichen um einen Bleistift und ein Stück Papier. Als sie den einen Buchstaben ›K‹ geschrieben hatte, entfiel der Bleistift ihrer Hand, und sie war tot. Wieder war der Schmerz unbeschreiblich.
Der dritte Sarg wurde aus dem Hause getragen.
Als Alexandra Pawlowna in der Kirche von Sinas Leiche Abschied nahm und zum letztenmal ihr demütiges Gesicht mit den stahlblauen Augenlidern und den vom Todeskampf verzerrten Lippen sah, fiel ihr plötzlich das alte, ängstlich gehütete Geheimnis ein, an das sie in den vielen Jahren des Glücks kein einziges Mal gedacht hatte. Und sie weinte bittere Tränen, und als sie sich von der Leiche abwandte, war sie plötzlich eine alte, gebückte Frau geworden.
»Habe ich denn gewußt, daß ich sie in diesem Alter verlieren werde?« sagte sie weinend und kopfschüttelnd vor sich hin.
Doch ihr Gewissen sagte ihr, statt sie zu trösten, daß nur sie allein schuld sei und es sonst keinen Schuldigen gäbe. Und unter der Last dieses Gedankens fiel sie noch mehr zusammen und wurde noch älter.
Sonja wich nicht von ihrer Seite. Sie versuchte, sie zu trösten, sie weinte mit ihr und blickte sie mit großen Augen an — sie war vor Schreck wie gelähmt.
»Mutter, was sprichst du da?« fragte sie und erschrak vor der eigenen Stimme.
Und die Mutter erzählte ihr alles.
Vor fünfzehn Jahren, bald nach Sonjas Geburt, war Alexandra Pawlowna einmal zu ihrer Mutter auf Besuch gefahren und hatte alle Kinder mitgenommen. Es war das erstemal, daß sie ›Gottessegen‹ und ihren Gatten verließ. Und sie hatte gleich in der ersten Nacht einen bösen Traum: sie sah ihren Mann in einer Kirche hinter den Altar treten. Da wurde ihr ganz bange: ob er nicht erkrankt oder gar tot sei? Auch in der nächsten Nacht hatte sie einen bösen Traum: daß ihr Trauring entzweigebrochen sei. Sie bekam wieder Angst um ihren Mann und beschloß, sofort heimzureisen.
»Während der Heimreise«, erzählte sie Sonja, »betete ich unaufhörlich zu Gott: Wenn schon ein Unglück geschehen soll, so laß, o Herr, ein Kind von mir sterben, oder zwei Kinder, oder sogar alle drei — Mischa, Lida und Sina —, erhalte aber meinen Mann am Leben! Ich dachte mir: sie sind ja noch so klein, ihren Verlust werde ich leichter ertragen als seinen Tod. Dich nannte ich aber in meinem Gebete nicht, ich konnte es nicht übers Herz bringen . . . Wie ich nach Hause komme, erfahre ich, daß bei uns eine Feuersbrunst ausgebrochen war und dein Vater todkrank darniederlag . . . Um ein Haar wäre er verbrannt . . . Also hatte der Herr mein Gebet erhört und das Haus und den Vater verschont. Ich war ganz glücklich, und wir lebten weiter, als ob nichts geschehen wäre . . . Und jetzt . . . Alles kommt von meinem Gebet. Wußte ich denn, daß ich sie in diesem Alter verlieren würde?«
Alexandra Pawlowna quälte sich furchtbar und ließ Sonja nicht von ihrer Seite.
Auch Pjotr Nikolajewitsch war jetzt zerstreut und unruhig: auch ihn quälte wohl ein Gedanke. Er konnte nicht mehr seinen gewohnten Beschäftigungen nachgehen. Abends machte er noch den Versuch, den großen Schrank im Eßzimmer umzustellen; er rückte ihn von seiner alten Stelle weg, hatte aber nicht mehr die Kraft, ihn bis an die neue Stelle zu schieben. So blieb der Schrank mitten im Zimmer stehen. Dann griff er nach seinem Schürhaken; doch auch mit dem Heizen wollte es heute nicht recht gehen. Von Zeit zu Zeit kam er ins Schlafzimmer, setzte sich für einen Augenblick auf den Bettrand und ging dann wieder hinaus, seine Frau und Tochter in Verzweiflung zurücklassend.
»Alle waren verlorengegangen — Mischa, Lida, Sina und Sonja, und alle haben sich wieder eingefunden, bis auf Sonja . . . Sonja fehlt noch . . .« murmelte er leise vor sich hin. Man wußte nicht, an wen er diese Worte richtete: an den alten Michej, an den Ofensetzer Kusma oder an die Wirtschafterin Darja Iwanowna, die jetzt die Hausfrau vertrat.
Erst am späten Abend beruhigte er sich, ging in sein Zimmer und legte sich schlafen. Der Kammerdiener Michej wich keinen Augenblick von seiner Seite.
So unheimlich und öde wurde es im alten Haus, so kalt in allen Winkeln. Wo war alles hingekommen — Friede, Lachen, Glück? Drei Särge — drei Tode ließen das warme Herdfeuer im Hause erkalten.
Alle diese Ereignisse, die sich innerhalb nur eines Monats abgespielt hatten, wurden natürlich in der ganzen Gegend viel besprochen, und das alte Gerede lebte wieder auf »Da geht es nicht mit rechten Dingen zu!« — erklärte man sofort nicht nur auf dem nahen Gute Kostomarowka und dem etwas weiter entfernten Britany, sondern auch in Motowilowka und selbstverständlich auch in der Stadt. Was? Wieso? Warum? Und es ging los. Die ganze Geschichte von ›Gottessegen‹ und das ganze Leben der Suchotins wurden haarklein untersucht und kommentiert, alle Großmütter und Großtanten wurden zitiert, und selbst solche Ereignisse, die sich entweder gar nicht, oder jedenfalls nicht bei den Suchotins, sondern, sagen wir, bei den Muromzews zugetragen hatten, wurden erörtert. Und alle Geschichten, jeder Klatsch kam wieder ans Licht: seht nur, meine Herrschaften, urteilt selbst! Uns war ja alles schon früher bekannt!
Aus irgendeinem Grunde klammerte man sich an jenen geheimnisvollen General, den Jugendfreund Pjotr Nikolajewitschs, der seinerzeit, Gott weiß warum, aus ›Gottessegen‹ geflohen war. Und alle waren darin einig, daß der General alles wisse und jede Aufklärung geben könne. Wie soll man ihn aber finden? Jemand sagte: den Perewerdejew kennt ja ganz Petersburg. Folglich ist er in Petersburg? Gewiß! Der Gouverneur fragte also dringend in Petersburg an. Die Antwort traf, wie ich glaube, noch am gleichen Tage ein: in Petersburg gebe es General, soviel man wolle, und selbst mit solchen Familiennamen, die man in Damengesellschaft gar nicht aussprechen könne; ein Perewerdejew sei aber unbekannt. Sollte vielleicht ein General Perewersew gemeint sein?
Und während man Nachforschungen nach einem General Perewersew anstellte, verrichtete ein eiserner Jemand gelassen und sicher sein sicheres Werk, ohne jemandem Rechenschaft darüber abzulegen; ein gnadenloser jemand näherte sich in Siebenmeilenstiefeln aus weiter Ferne, um Gericht zu halten.
Ohne Alexandra Pawlownas Leitung mußte die Wirtschaft in Unordnung geraten; sie spannte ihre letzten Kräfte an, um die alte Ordnung aufrechtzuerhalten und für den Mann und die Tochter zu sorgen: für den Mann, dem zuliebe sie das große Opfer gebracht hatte, und für die Tochter — der sie jetzt ihre ganze Ruhe zu opfern bereit war.
Hatte sie sich nicht verrechnet, als sie in ihrem Gebet die drei älteren Kinder opferte und Sonja vergaß oder vielmehr absichtlich verschwieg? Warum verschwieg sie Sonja? Hätte sie das nicht getan, so wären vielleicht alle vier verschont geblieben. Und wenn alle vier gestorben wären? Nein, das könnte nicht sein: sie hätte ja alles geopfert, und wer alles opfert . . . Warum hatte sie dennoch nicht alle geopfert? Diese Frage zermarterte ihr Hirn und ließ sie nicht mehr los.
Und wenn jetzt auch Sonja stirbt? Sie sagte ja eben, daß sie alles opfern möchte; also auch Sonja? — diese Frage machte sie erschaudern. Sie war wie von Sinnen.
»Sonja, Sonja! Wo bist du?« Jeden Augenblick sah sie sich unruhig nach ihrer Tochter um, obwohl diese nicht von ihrer Seite wich.
Zu den quälenden Gewissensbissen und der Sorge um die einzige Tochter gesellte sich noch die Sorge um den geliebten Mann, dessen Leben mit dem Leben dreier teurer Kinder erkauft war. Pjotr Nikolajewitsch war ganz heruntergekommen und verließ sein Zimmer nicht mehr; er konnte nur mit Mühe seine Beine schleppen, sein Gesicht war blau angelaufen, seine Haare klebten am Schädel, und seine welke, blasse Haut schien ganz lose am Körper zu hängen.
In allen Zimmern verbreitete sich plötzlich ein übler, dumpfer Geruch.
Das Haus war alt und beherbergte eine Menge Ratten, — ganze Generationen hausten unter den Dielen. Es kam vor, daß irgendeine uralte Ratte verendete; der unerträgliche Geruch rührte wohl von einer solchen toten Ratte her. Zu einer andern Zeit hätte Pjotr Nikolajewitsch sicher die Stelle gefunden, man hätte ein Dielenbrett aufgebrochen und den Kadaver entfernt; er kümmerte sich aber nicht mehr darum.
Allen, die jetzt noch nach ›Gottessegen‹ kamen, war es klar, daß es unmöglich so weitergehen könne, daß früher oder später irgendein Ende, ganz gleich was für eines, kommen müsse. Und alle warteten gespannt auf das Ende. Drei Tage und drei Nächte wollte man noch warten. Zwei Tage und zwei Nächte waren aber schon abgelaufen.
Am Samstag wurde im Hause eine Abendmesse gelesen. P. Iwan sparte nicht mit dem Weihrauch, und alle gingen mit Kopfschmerzen zu Bett.
»Nachts ließ mich der gnädige Herr kommen«, berichtete später der alte Michej, »und sagte mir: ›Lieber Michej, hole mir bitte gleich einen jungen Hahn um Christi willen! Ich werde dir diesen Dienst nie vergessen!‹ — ›Gnädiger Herr‹, sage ich ihm, ›was wollen Sie mit dem Hahn um diese Stunde? Es ist ja Nacht!‹ Er sagt darauf nichts, blinzelt mir nur so mit einem Auge zu, als ob er sagen wollte: Rate mal selbst, wozu ich ihn brauche! — Ich ging in den Hühnerstall, suchte einen recht schönen, fetten Hahn aus und brachte ihn ihm. Auch ein Messer brachte ich gleich mit. Der Herr nahm das Messer und begann den Hahn zu schlachten; er hatte aber nicht mehr die Kraft, es ordentlich zu tun, und der Hahn zappelte lange in seinen Händen. Endlich war er mit dem Hahn doch fertig geworden, — eine große Blutlache war auf dem Boden, auch er selbst war ganz mit Blut beschmiert. Das hatte ihn wohl etwas erleichtert. — ›Weißt du, Michej‹, sagte er mir dann, ›jetzt hätte ich Lust, mir eine Leiche anzusehen!‹ — ›Gott sei mit Ihnen!‹ sage ich ihm. — ›Wo soll man jetzt eine Leiche hernehmen?‹ Es überläuft mich ganz kalt, und ich sehe, daß auch der Herr nur so mit den Zähnen klappert. — ›Und wo ist Sonja?‹ fragt er noch und sieht mich dabei so an . . . Bis an mein Ende werde ich daran denken, wie er mich ansah! — ›Im Schlafzimmer‹, sage ich ihm, ›bei der gnädigen Frau.‹ Da beruhigte er sich ein wenig, und ich ging fort und legte mich hin.«
Die Haushälterin Darja Iwanowna erzählte: »Ich erwachte mitten in der Nacht und höre einen Kater miauen. Und ich denke mir: ›Was mag das für ein Kater sein?‹ Ich rufe ihn an, doch er faucht nur so.«
»Einen Hahn haben wir wirklich krähen hören«, bestätigten die anderen Hausbewohner.
Der Hahn brachte Pjotr Nikolajewitsch keine Erleichterung, und es war doch so ein prächtiger Hahn gewesen! Seine Kräfte gingen zur Neige, es war ihm, als ob er ersticken müßte. Er richtete sich in seinem Bett auf und keuchte:
»Alle waren verlorengegangen — Mischa, Lida, Sina und Sonja, und alle haben sich wieder eingefunden, bis auf Sonja! Sonja fehlt noch!«
Das Verlangen, Sonja sofort zu suchen, trieb ihn aus dem Bett und führte ihn aus dem Zimmer. Das Messer noch immer in der Hand haltend, kroch er auf allen vieren ins Schlafzimmer seiner Frau.
Die Schlafzimmertür war nur angelehnt. Vor dem Heiligenbild glimmte ein Öllämpchen. Sonja schlief bei ihrer Mutter, das Gesicht zur Tür gewandt.
»Mein kleines, liebes Hühnchen!« murmelte Pjotr Nikolajewitsch, an das Bett herankriechend.
Sonja schlug die Augen auf und richtete sich auf. Mit Schrecken sah sie den zitternden, blutbefleckten Vater und reckte ihren Schwanenhals.
»Du liebes, kleines Hühnchen!« flüsterte er und bemühte sich, vom Boden aufzustehen.
Und er richtete sich auf.
Der Schwanenhals reckte sich im Schein des Öllämpchens unter dem blitzenden Messer noch mehr. Einen Augenblick noch — und ein kirschrotes Halsband hätte den Schwan erwürgt. Pjotr Nikolajewitsch hatte aber nicht mehr die Kraft. Es gab keine Rettung mehr für ihn. Das Messer entglitt seiner Hand und fiel zugleich mit der Haut, die sich von seinen Fingern loslöste, zu Boden.
Der Alte fuhr zusammen und setzte sich auf den Teppich. Er begann plötzlich einzuschrumpfen. Die Nase, der Mund, die Ohren, alles Fleisch sammelte sich zu dicken Falten, die sich aufblähten und zerplatzten, und ein dünner, klebriger Brei löste sich von den weißen Knochen und floß zu Boden.
Das Licht des Lämpchens fiel auf einen ganz nackten, blinden Totenkopf; er war weiß wie Zucker und schien zu grinsen. Im gleichen Augenblick wurde die Tür von einem Flammenmeer aufgerissen. Die Flamme warf der Mutter, der besinnungslosen Tochter und dem Totenkopf einen stechenden Blick zu, reckte sich zur Zimmerdecke empor und flog als roter Hahn knisternd durch die Räume.
Das Haus stand in Flammen.
Das alte Wersenewsche Haus ist in aller Munde. In Krutowrag ist es nicht geheuer.
Viel Interessantes und natürlich auch viel Gruseliges erzählte man sich über das alte Haus.
Sergej Sergejewitsch Wersenew selbst ist allerdings nicht sehr gesprächig: auch kümmert er sich wenig um solche Dinge. Aber seine Frau Jelisaweta Nikolajewna und die beiden Kinder — der Gymnasiast Gorik und die Gymnasiastin Buba — lieben es, von den alten Zeiten zu sprechen. Mit Genuß sprechen sie davon, wie auch das Hausgesinde, die alte Kinderfrau Solomowna, der Koch Prokofi Konstantinowitsch und der Lakai Sinowi, in der Küche beim Teetrinken gern über die gleichen Dinge sprechen; doch im Flüsterton!
Im Garten, am Sandhügel, den noch in den Tagen der Leibeigenschaft Kinder und Greise aufgeschüttet hatten, zeigte man einen kleinen schlammigen Weiher, der selbst beim stärksten Frost nur am Rande, um die kalte Quelle herum, die in seiner Mitte sprudelte, zufror und, wie es hieß, gar keinen Grund hatte.
Jede Nacht kam aus dem Weiher eine Troika heraus; sie fuhr lautlos durch die Lindenallee und hielt vor der Veranda des Herrenhauses; ein uralter Greis, Wersenews Großvater, sprang aus dem Wagen, ging auf die Veranda hinauf, spazierte dort auf und ab und roch an den Blumen; dann begab er sich in den großen Saal, stieg in den Keller hinab und kehrte schließlich mit seiner Troika in den grundlosen Weiher zurück.
Unter dem Hause befanden sich zwei sehenswerte gewölbte Keller: ein großer, der jetzt leer war, und ein kleiner, der als Weinkeller benutzt wurde. Aus dem leeren Keller, wo man vor Zeiten die Leibeigenen, die sich etwas zuschulden hatten kommen lassen, zu züchtigen pflegte, hörte man nachts ein Stöhnen; und im kleinen Keller, wo einst die Wersenewschen Schätze verwahrt wurden, klirrte es oft, wie wenn jemand Dukaten zählte.
Einen neuen Gast pflegte man vor allen Dingen in das Eckzimmer im Obergeschoß zu führen, aus dessen Fenster man die Landstraße sehen konnte. In diesem Zimmer standen mit altmodischen Kleidern und merkwürdigem Schuhwerk angefüllte Schränke: es war Großmutters Garderobe.
Man erzählte sich, daß Sergej Sergejewitschs Mutter, Fedossja Alexejewna, von ihrem Mann in Krutowrag verlassen, Tag und Nacht vor diesem Fenster gesessen habe; sie sei auch, so vor dem Fenster sitzend und auf die Straße schauend, gestorben.
Sehr traurig war es in diesem hellen, traurigen Zimmer und sehr unheimlich; viel unheimlicher und öder als im großen Keller, an dessen Wänden man noch die braunen Blutspritzer sehen konnte. Das Zimmer, das an Fedossja Alexejewnas Zimmer anstieß, war unbewohnt; man bewahrte die alten Spielsachen der Kinder dort auf.
Durch eine Galerie, die das Haus in zwei Hälften teilte, gelangte man in das geräumige Vestibül im Erdgeschoß und von da aus in einen großen Saal mit zwei übereinanderliegenden Reihen Fenster; zwischen den Fenstern, die auf die Veranda hinausgingen, standen schmale Spiegel.
In ihnen spiegelte sich der Kronleuchter, und sie begleiteten jeden, der vorbeiging, mit ihrem schweren Spiegelblick.
Rechts folgten die innern Wohnräume, an die sich eine in späterer Zeit angebaute Küche anschloß, und links — die Paradezimmer.
Im Salon standen unter den Familienbildnissen L’hombretische, die schon manches wahnwitzige Hasardspiel gesehen hatten.
Hier erschien jede Nacht, so berichteten die Augenzeugen, Sergej Sergejewitschs Vater, Sergej Petrowitsch, ein leidenschaftlicher Spieler, der im Auslande das ganze Riesenvermögen seiner von ihm verlassenen Frau verspielt hatte; er ging von Tisch zu Tisch, klappte sie auf und stöberte unter dem Tuch herum, als hoffe er, noch einen vergessenen Dukaten zu finden.
Aus dem Salon führte man den Gast in die Bibliothek und ins Arbeitszimmer.
Hier in diesem Arbeitszimmer, in die Ecke neben dem Schrank mit dem dunklen astronomischen Globus gekauert, war Sergej Petrowitsch gestorben; vor seinem Tode soll er echte Teufel, das heißt Teufel ohne Schweif und Hörner, gesehen haben.
Obwohl niemand außer Sergej Sergejewitsch etwas Sicheres darüber wissen konnte — der Vater ließ in seiner Sterbestunde nur ihn allein zu sich kommen —, konnte man die Geschichte von den echten Teufeln ohne Schweif und Hörner in ganz Krutowrag hören, in allen Winkeln und von allen Kreaturen: von dem alten tauben Gemüsegärtner Gordej bis zu der allmächtigen Näherin Anna Fjodorowna Raphael. Der selige Sergej Petrowitsch pflegte nämlich alle einfachen Leute ohne Ausnahme Kreaturen zu nennen.
Nachdem der Gast die Paradezimmer, die zu beiden Seiten eines dunklen Korridors gelegenen Wohnräume in der rechten Hälfte des Hauses und die beiden Keller besichtigt hatte, führte man ihn in das Speisezimmer, wo vor verhältnismäßig kurzer Zeit der Wein in Strömen floß; zu der gleichen Zeit, als im Salon klirrendes Gold mit beiden Händen ausgestreut wurde.
Im länglichen niedern Speisezimmer fanden die Wersenewschen Gespräche und überhaupt alle Erinnerungen ihren Abschluß.
Noch manches andere Interessante und natürlich auch Gruselige erzählte man sich über das Haus.
Darum brannten in allen Zimmern bis spät in die Nacht hinein Kerzen. Das nächtliche Knistern der Parkettböden verbannte aber jeden Schlaf aus dem Hause.
Weiße Säulen, schwer und massiv wie Elefantenbeine, stützten das im Winde klirrende feste Eisendach. Sie allein schienen Tag und Nacht ruhig zu schlafen, ohne sich um all diese Geschichten, um das Grauen, das nachts in den Zimmern herrschte, und um die Fledermäuse, die an ihnen klebten wie die Fliegen an der Kinderfrau Solomowna, zu kümmern. Die alten Pappeln aber, die das Haus überragten, rauschten ständig, ganz gleich ob der Tag windstill oder stürmisch war.
Die Türen stehen bei den Wersenews immer weit offen: jedermann kann zur beliebigen Stunde kommen. Die Wersenews haben ständig Besuch; das ganze Jahr ist wie ein Geburtstag.
Verwandte und Bekannte, Nachbarn und Leute aus der Stadt kommen sehr oft und sehr gern nach Krutowrag. Sie kommen nicht einzeln und nicht in Paaren, sondern mit der ganzen Familie, wie in Großvaters Tagen.
Selbst in Zeiten, wo alle miteinander verzankt waren, verstanden es die Wersenews, sich mit allen gut zu vertragen. Sie freuten sich über jeden Gast.
Gar lustig ging es in Krutowrag zu!
Warum sollte es dort auch nicht lustig zugehen! Die Nacht mit ihren Schmerzen währte ja nicht ewig; es gab ja auch einen Tag! Und was hatte auch schließlich so eine Wersenewsche Nacht mit all ihren dummen Ängsten zu bedeuten?
Jelisaweta Nikolajewna verstand es meisterhaft, ihren Gästen Unterhaltungen und Zerstreuungen zu bieten. Sie war die Anstifterin aller lustigen Streiche und ließ auch ihren Kindern darin volle Freiheit.
Gorik und Buba hatten viele Altersgenossen. Man veranstaltete Liebhabervorstellungen und lebende Bilder, man spielte Scharaden; immer gab es Feuerwerk, Picknicks, Ausflüge zu Wagen und zu Pferde und Bootfahrten.
Wie sollte man sich da fürchten: es war ja zu lustig!
Nur eines fehlte ihnen: ein Aeroplan. Die Wersenews träumten von einem Aeroplan mit der gleichen Sehnsucht, mit der die Gymnasiasten der guten alten Zeit von Amerika träumten. Hätten sie aber wirklich solch einen Aeroplan bekommen, so wäre es wohl um sie geschehen: sie wären dann in solche Höhen, in solche Wolkenmeere emporgeflogen, daß ihnen nur das eine übriggeblieben wäre: ein Ende mit Schrecken!
Sie betrieben alle Zerstreuungen und Belustigungen mit viel zuviel Eifer und Leidenschaft; die Spiele erschienen als wichtige und bedeutsame Angelegenheiten, ohne die man gar nicht leben könnte, ohne die nur das eine übrigblieb: ein Ende mit Schrecken!
Die Erwachsenen wurden von dieser Lustigkeit angesteckt und waren stets mit den Kindern zusammen. Sie ließen ihnen einfach keine Ruhe. Ganze Tage gingen im Spiel hin.
Gar lustig ging es in Krutowrag zu!
Alle diese Belustigungen kosteten eine Menge Geld und erforderten große Mühe und viele Arbeitshände. Manchmal nahmen sie auch ein schlechtes Ende. Aber jede vernünftige Sache kann zu einem schlechten Ende führen!
Der Gärtner Eduard, den man sich nach Krutowrag aus Riga verschrieben hatte, ein arbeitsamer, zu philosophischen Betrachtungen neigender und kunstfertiger Mann, mußte einen ganzen Sommer lang, statt sein Gärtnerhandwerk auszuüben — die Blumen zu pflegen und Kunstgärtnerei zu treiben —, Abend für Abend Raketen steigen lassen. Er erlangte darin eine große Fertigkeit, aber die Blumen gingen zugrunde. Und was waren das für Blumen!
Es ist noch manches Ähnliche passiert; die Belustigungen kamen gar nicht billig zu stehen!
Nur wenige Abende liefen ohne Feuersbrunst ab.
In den letzten Jahren hatte es so oft gebrannt, daß selbst die Sterne, die trüben Sterne von Krutowrag, die scheu über dem Wersenewschen Hause flimmerten, die emporlodernden Flammen der Feuersbrünste nicht mehr fürchteten. Auch in den Nachbardörfern brannte es in einem fort. Das wurde aber weniger der Unvorsichtigkeit der Wersenews als Brandstiftungen zugeschrieben: es gab ja genug Gesindel in der Gegend und viele reiche Besitzungen.
Man könnte doch meinen, die Wersenews müßten etwas vorsichtiger werden! Wie leicht konnte ein Unglück passieren! Und doch kannten sie kein größeres Vergnügen als Brennen.
Man brannte Raketen und Feuerwerk ab; man legte im Walde Feuer an, um Kartoffeln zu braten oder auch ohne jeden Zweck; in Sommernächten brannten diese Feuer bis zum Morgengrauen; im Garten gab es immer Feuerwerk oder brennende Reisighaufen. Ohne Feuer gab es bei ihnen kein Vergnügen; man vergaß viel eher das Abendbrot als irgendeinen qualmenden und über die ganze Gegend Funken werfenden ›Persischen Blitz‹. Den Blitz vergaß man niemals!
Die Wersenews brannten, wo man nur brennen konnte, und auch dort, wo man es gar nicht durfte. Sie steckten an, was ihnen gerade in die Hände fiel.
Jelisaweta Nikolajewna begnügte sich nicht damit, ihre Kinder zu solchen gefährlichen Spielen zu ermuntern: nein, sie erfand selbst neue Variationen und war die eigentliche Rädelsführerin. Sie benahm sich bei diesen gefährlichen Unternehmungen so kindlich und schelmisch, als ob sie nicht Bubas Mutter, sondern ihre Schwester wäre; sie stand ihren Kindern in nichts nach und betrieb alles mit dem gleichen verrückten Eifer und komischen Ernst wie sie.
Jelisaweta Nikolajewna konnte niemals ruhig auf einem Platze sitzen: im Sommer gab es jeden Augenblick Liebhaberaufführungen und Feuerwerk, im Winter Abendunterhaltungen und Besuche bei den Nachbarn. Sie machte überhaupt den Eindruck eines höchst leichtsinnigen Menschen. Wenn man aber mit ihr sprach, so konnte man hören, daß sie das alles nur den Kindern zuliebe tat; auch das viele Geld reute sie nicht, wenn sie ihnen damit eine Freude machen konnte.
Sie sprach von ihren Mutterpflichten mit solcher Überzeugung und zeigte darin einen so unerschütterlichen Glauben, daß der sonst allzu auffällige schelmische Ausdruck in solchen Momenten spurlos in der Tiefe ihrer erschrockenen Augen verschwand.
Die Damen aus der Nachbarschaft, die die erstaunliche Gabe besaßen, jeden Unsinn mit den unsinnigsten Einzelheiten aufzustöbern und zu verbreiten und so flink wie die Flöhe in die verborgensten Winkel einzudringen, selbst die bedeutendsten Spezialistinnen auf dem Gebiete des Klatsches und der Intrige, wußten mit ihr nichts anzufangen: man konnte ihr beim besten Willen nichts nachweisen und keinen Roman, in dem sie eine handelnde Person wäre, konstruieren.
Die Kinder waren von Natur aus schwächlich, sie wären wohl dauernd krank gewesen, wenn die Mutter sie nicht immer zu den ausgelassensten Spielen angehalten hätte. Sie waren wahre Räuber, die Mutter aber eine noch größere Räuberin als sie. Ohne sie würde keine einzige Belustigung zustande kommen und kein Feuerwerk brennen; von ihr ging diese ausgelassene Freude aus, und ihretwegen wäre man am liebsten immer in Krutowrag geblieben; alles war das Werk ihrer Hände, die so klein und flink waren, sich aber auch an ein Ding wie mit Krallen festzuklammern verstanden . . .
Man kann nicht behaupten, daß Sergej Sergejewitsch ungastlich gewesen wäre; im Gegenteil: er freute sich aufrichtig über jeden Gast und bot einem jeden von seinen vorzüglichen Havannazigarren an, mit brasilianischem oder mit mexikanischem Deckblatt — ganz nach Wunsch! Es war aber einmal so eingeführt und konnte anscheinend gar nicht anders sein, als daß die Gäste, die so gern zu den Wersenews kamen, den Herrn des Hauses nach Möglichkeit mieden.
Der Grund war sehr einfach: in Wersenews Gesellschaft war es immer furchtbar langweilig.
Von außen gesehen, waren seine Erscheinung, seine Manieren und Gewohnheiten durchaus normal und in keiner Weise sonderbar oder auffallend; er war ein Mensch wie alle Menschen und schnaufte sogar wie mancher andere mit der Nase: wenn auch etwas lauter als der Krutowrager Adelsmarschall Turbejew, aber doch nicht so laut wie der General a. D. Belojarow. Er hielt viel auf gute Kleidung und trug sich nicht weniger elegant als der Landrat Pustoroslew, dessen beispiellose Vergeßlichkeit in seinen privaten wie auch öffentlichen Angelegenheiten sprichwörtlich geworden war. Was konnte man von ihm noch mehr verlangen? Aber trotz all seiner Liebenswürdigkeit und Aufmerksamkeit und trotz der berühmten Havannazigarren würde es jedermann vorziehen, vierundzwanzig Stunden lang auf irgendeiner gottverlassenen Eisenbahnstation zu sitzen, als eine Minute unter vier Augen mit Sergej Sergejewitsch zu verbringen.
Er unterbrach seinen Gesprächspartner mitten in einem Satze und verzog das Gesicht mit einem Ausdruck, als ob er sich auf etwas besinnen wolle oder nach einem Wort suche, das präziser als alle sonst gebräuchlichen Umgangsworte seinen Gedanken ausdrücken könne, während es in seiner Kehle eigentümlich pfiff. Nachdem er den bestürzten Gesprächspartner eine Zeitlang in gespanntester Erwartung hatte zappeln lassen, winkte er plötzlich mit der Hand ab und faßte seinen Ärger und seine Ohnmacht in dem einzigen Worte zusammen:
»Teufel!«
›Teufel!‹ klang es zu allen Tages- und Nachtstunden im Hause, im Garten, im Felde, auf dem Flusse, kurz überall, wo Wersenew nur auftauchte.
Wersenew blieb aber niemals der lustigen Gesellschaft fern; es zog ihn immer zu seinen Gästen, und er folgte ihnen, laut mit der Nase schnaufend, überallhin wie ein Schatten. Von allen vernachlässigt und in den Schatten gedrängt, wiederholte er zu den Klängen der Tanzmusik, zu dem lustigen Lachen und Schreien, zu dem Knistern des Feuerwerks und dem Krachen der Raketen sein einziges, seinen Ärger und seine Ohnmacht zusammenfassendes schwarzes Wort:
»Teufel!«
Alle hatten sich so sehr an diesen Wersenewschen ›Teufel‹ gewöhnt, daß es niemand mehr merkte.
Nur die alte Kinderfrau Solomowna, eigentlich Jefimija Awessalomowna, die den Sergej Sergejewitsch großgezogen hatte, schlug das Kreuz und schüttelte den Kopf.
Wenn in der Küche oder in der Mägdekammer von den Herrschaften gesprochen wurde, tadelten sie weder deren Verschwendungssucht noch die Lotterwirtschaft, sondern nur das eine: daß der gnädige Herr immer den ›Teufel‹ im Munde habe.
Man wußte ja sehr gut, von Solomowna wußte man es, wohin das führen konnte.
»Wenn man den Teufel zur ungelegenen Zeit ruft, so kommt er als schwarzer Sturmwind geflogen und ergreift den Menschen, und der Mensch geht zugrunde!« sagte die Kinderfrau, indem sie sich den Mund bekreuzigte und den Kopf schüttelte.
Und alle waren ihrer Meinung; niemand widersprach ihr, besonders wenn abends davon die Rede war. Der Koch Prokofi Konstantinowitsch spottete nicht, der Kutscher Anton wußte nichts dagegen einzuwenden, die drei Zimmermädchen: Charitina, Ustja und Sanja waren ganz ihrer Meinung, ebenso wie die Wäscherin Matrjona Simanowna und der Bautischler Terenti; selbst der verwilderte Schmied, den man ›Truthahn‹ nannte, der an keine übernatürliche Macht glaubte und selbst eine Art Hexenmeister oder Gott weiß was war, sagte kein Wort dagegen; der schweigsame Lakai Sinowi lächelte nicht, und sein Gehilfe, der kleine Pjotr, wagte nicht zu grinsen; dieser Pjotr glaubte nur an den schrecklichen Wels mit dem langen Schnurrbart, der einmal vor grauen Jahren ein Kalb verschlungen hatte und sich alle zwölf Jahre im Flusse zeigte; beim bloßen Gedanken an diesen Wels zitterte er am ganzen Leibe.
»Auch der selige Herr Sergej Petrowitsch hatte so eine Angewohnheit«, pflegte Solomowna zu sagen, »alle Leute nannte er ›Kreaturen‹. ›Kreatur‹, pflegte er zu sagen, ›komm einmal her!‹ Selbst den Dorfgeistlichen nannte er Kreatur. Die Sünde ist zwar groß, aber doch lange nicht so groß wie die von Sergej Sergejewitsch.«
Sergej Sergejewitsch, dem es unter den Gästen langweilig wurde, kam plötzlich in die Küche oder in die Mägdekammer und stand, schwer mit der Nase schnaufend, da.
Die Dienstboten sprangen erschrocken auf und erwarteten von ihm irgendeinen Befehl oder auch ein ordentliches Donnerwetter.
Sergej Sergejewitsch stand aber regungslos da, starrte unverwandt auf den verwilderten ›Truthahn‹, der selbst eine Art Hexenmeister oder Gott weiß was war, und verzog das Gesicht mit einem Ausdruck, als ob er sich auf etwas besinnen wollte, oder nach einem Wort suchte, das präziser als alle sonst gebräuchlichen Umgangsworte seinen Gedanken ausdrücken könnte, während es in seiner Kehle eigentümlich pfiff.
Nachdem er die bestürzten Dienstboten eine Zeitlang in gespanntester Erwartung hatte zappeln lassen, winkte er plötzlich mit der Hand ab und faßte seinen Ärger und seine Ohnmacht in das eine Wort zusammen:
»Teufel!«
»Teufel!« — hallte es irgendwo im Korridor wider, und irgendwo unter dem Ofen, und irgendwo im Keller, und irgendwo hoch über der Decke auf dem dunklen Dachboden; das Wort übertönte die Musik, den Tanz, das Lachen, Schreien, das Krachen der Raketen und das Knistern des Feuers.
Die Sterne am Himmel, die trüben Sterne von Krutowrag, die sich an die emporlodernden Flammen längst gewöhnt hatten, blickten unruhig auf das Wersenewsche Haus hernieder.
Woher und wie lange Wersenew die üble Angewohnheit hatte, den Teufel zu rufen, wußte niemand; niemand dachte auch je darüber nach.
Wollte man auf alle Redensarten und Scherzworte aufpassen und über sie nachdenken, so würde ein Menschenleben dazu nicht ausreichen; außerdem riskiert man dabei, sich selber eines davon anzugewöhnen: es gibt doch recht üble Redensarten! Der Adelsmarschall Turbejew pflegt zum Beispiel an jeden Satz, den er spricht, das Wort ›gewissermaßen‹ anzuhängen, und das hat ihm noch niemals geschadet. Als aber der Krutowrager Krämer Charin diese Redensart vom Adelsmarschall übernommen hatte, kam er beinahe an den Bettelstab. Wie sollte er auch nicht an den Bettelstab kommen? Nehmen wir zum Beispiel die von einem Krämer am häufigsten gebrauchte Wendung: ›Das kostet soundsoviel‹; dieser Ausdruck ist durchaus eindeutig und bestimmt den Preis in Rubeln und Kopeken aber: ›Das kostet gewissermaßen soundsoviel‹ — klingt schon ganz anders. Oder: ›Schicken Sie es mir gewissermaßen sofort‹; ›Schicken Sie es mir sofort‹ — das versteht der größte Dummkopf, aber ›gewissermaßen sofort‹ wird auch der Gescheiteste nicht verstehen. Dasselbe gilt von Wersenews ›Teufel‹: wenn man dieser Redensart zuviel Beachtung schenkt und immer an sie denkt, so kann sie leicht an einem hängenbleiben; und wenn man sie sich angewöhnt hat, geht man sicher zugrunde. Die alte Solomowna mußte es ja wissen: Solomowna stammte noch aus der Zeit der Leibeigenschaft; sie hatte vieles gesehen, gehört und erlebt; also hatte sie wohl recht, wenn sie sagte: Wenn man den Teufel zur ungelegenen Zeit ruft, so kommt er als schwarzer Sturmwind geflogen und ergreift den Menschen, und der Mensch geht zugrunde!
So urteilten alle Leute in Krutowrag und auch anderwärts, die, ob sie wollten oder nicht, mit Sergej Sergejewitsch zusammenkommen mußten; es waren auch gar nicht die ersten besten, sondern lauter belesene und verständige Menschen, bewanderte Archäologen und Mechaniker.
So urteilte auch der Geistliche von Krutowrag P. Astriosow, der zwischen allen Dingen und Handlungen ein ›Bindeglied‹ zu konstruieren suchte, kein gewöhnliches, sondern unbedingt ein ›eisernes‹ Bindeglied.
Von den übrigen Bekannten lohnt sich gar nicht zu sprechen. Sie überhörten den Wersenewschen ›Teufel‹ ganz einfach und schenkten ihm nicht die geringste Beachtung.
»Wenn Wersenew den Teufel ruft, so ist es seine Sache! Es gibt Redensarten, die von Vornehmheit und Überhebung zeugen: so das ›Bitte zu beachten‹ des Landrats Pustoroslew; es gibt fromme Redensarten, die ekstatisch veranlagten Leuten eigen sind, wie zum Beispiel ›Herr Jesus!‹ Es kommt aber auch vor, daß vornehme Herren in hoher gesellschaftlicher Stellung, wie zum Beispiel der General a. D. Belojarow, Ausdrücke gebrauchen, die nicht wiederzugeben sind; und zwar nicht nur, wenn sie von etwas überrascht und bestürzt sind — in diesem Fall kann es ja auch jedem wohlerzogenen Menschen, der sonst in seiner Ausdrucksweise sehr vorsichtig ist, passieren —, nein, es ist einfach eine üble Angewohnheit.«
So urteilten die Gleichgültigen.
Niemand wagte Sergej Sergejewitsch selbst über seine Redensart zu befragen. Manchmal lächelte man dazu, aber niemand hatte den Mut, die Frage ganz unverblümt zu stellen. Man genierte sich einfach, eine solche Bagatelle zur Sprache zu bringen.
Wersenew selbst war sich aber seiner Angewohnheit wohl gar nicht bewußt.
Wäre er sich dieser seiner Angewohnheit bewußt gewesen, so hätte er sich doch hie und da beherrschen können. Das war aber noch niemals vorgekommen: jede Begrüßungsansprache, jeder Geburtstagstoast endete bei ihm unfehlbar mit dem ›Teufel‹.
Ohne den Teufel gab es bei ihm keine einzige Rede, kein einziges Gespräch und keinen einzigen Satz.
Es wäre aber immerhin interessant zu ergründen, wann und warum er sich diese dumme Redensart angewöhnt hatte!
Eines war klar: daß es hier weder das berühmte Astriosowsche ›eiserne Bindeglied‹, noch überhaupt ein Bindeglied gab: der Wersenewsche ›Teufel‹ hing einfach in der Luft, und zwar in der gleichen Höhe wie das ›gewissermaßen‹ des Adelsmarschalls, mindestens ebenso klar war es auch, daß Sergej Sergejewitsch ohne diesen ›Teufel‹ undenkbar war und daß, wenn man ihm diese Eigenheit genommen hätte, man es nicht mehr mit Sergej Sergejewitsch Wersenew, sondern mit einem ganz anderen Menschen zu tun haben würde.
Wersenew konnte sich gut an seine Mutter erinnern.
Fedossja Alexejewna stammte aus einer alteingesessenen Moskauer Kaufmannsfamilie mit alten Traditionen. Unendliche Abendgottesdienste, Frühmessen, Heilung von Besessenen im Simonskloster, Schlittenfahrten im Karneval, rote Osterkerzen, Glockengeläut im Kreml, Maifeiern im Sokolniki-Wäldchen, Berichte von Pilgern, Wallfahrten nach dem Troiza-Sergius-Kloster, Kirchenprozessionen und die strenge Hausordnung im Vaterhaus — das war das Wiegenlied, unter dem sie aufgewachsen war, das erste rote Bändchen in ihren Zopf geflochten, das erste Feuer in ihrem verzagten Herzen und ihren weitgeöffneten Augen entzündet und ihr erstes Lächeln durch ihren ersten Kummer getrübt hatte.
Aus dem alten, frommen Moskau kam sie plötzlich in das Wersenewsche Herrenhaus, nach Krutowrag mit dem grundlosen Weiher und dem gewölbten Keller, an dessen Wänden braune Blutspritzer zu sehen waren.
Wenn Wersenew an seine früheste Kindheit dachte, so erhob sich vor ihm sofort wie im Nebel das Bild seiner Mutter. Niemals konnte er vergessen, wie sie Tage und Nächte hindurch am Eckfenster ihres Zimmers im Obergeschoß gesessen hatte. Er schlief in ihrem Zimmer und war immer bei ihr. Und wenn er nachts erwachte, sah er sie oft am Fenster sitzen.
Als er größer wurde und erfuhr, daß auch er, wie die andern Kinder, einen Vater hatte und daß dieser Vater sich irgendwo im Auslande, fern von Krutowrag aufhielt, als er erfuhr, daß seine Mutter immer den Vater erwartete und darum die Nächte aufblieb, begann auch er selbst auf den Vater zu warten.
Manchmal kamen Briefe vom Vater.
Mit welcher Ungeduld bestürmte der Knabe die Mutter, ihm diese Briefe vorzulesen!
Die Briefe waren aber kurz und stets vom gleichen Inhalt: anfangs war die Rede vom Geld, und dann gab er den Tag seiner Ankunft in Krutowrag an.
Und dieser Tag brach an, aber der Vater kam nicht.
Die Mutter bemühte sich, ihre Erbitterung vor dem Kinde zu verbergen. Sie weinte nicht; sie saß wieder am Fenster und blickte wieder auf die Landstraße hinaus. Aber der Knabe fühlte mit seinem ganzen kindlichen Wesen den Kummer, der auf ihrem Herzen lastete, der sie marterte und ihr Herz vor Kälte zusammenschrumpfen ließ. Er wollte ihr helfen, wußte aber nicht wie, und weinte auch selbst still in sich hinein.
Die Rückkehr seines Vaters nach Krutowrag war sein sehnlichster Wunsch.
Immer wieder kamen Briefe vom Vater. Er schrieb immer wieder um Geld und bestimmte von neuem den Tag seiner Ankunft. Und der Tag brach an, doch der Vater kam nicht.
Einmal, als seine Ungeduld aufs höchste gesteigert war und er nicht länger warten konnte, lief er auf die Landstraße hinaus, rannte eine weite Strecke, ohne stehenzubleiben, kehrte dann plötzlich um und eilte mit zusammengekniffenen Augen dem Hause zu.
»Vater kommt! Vater kommt!« rief er seiner Mutter mit so echter Freude und so felsenfester Überzeugung zu, daß sie und auch er selbst plötzlich ein Glöckchen in der Ferne zu hören vermeinten.
Sie zweifelte nicht, sie lief auf den Hausflur hinaus, fiel auf die Knie, umarmte den Sohn und hielt ihn fest umschlungen, wie ihren einzigen Schutz, wie einen geliebten Bruder, wie den treuen Zeugen ihrer bitteren Leiden, ihrer schlaflosen Nächte und all ihrer Erbitterung. Sie konnte sich nicht länger beherrschen, sie lachte und weinte und stieß plötzlich einen Schrei aus, der ihr aus der Tiefe des Herzens drang.
Mutter und Sohn sahen auf die Landstraße hinaus; es war, als ob sie zusammen nur ein Paar Augen hätten, mit denen sie hinausblickten . . . Sie glaubten und zweifelten zugleich. Und das Glöckchen läutete noch immer in der Ferne.
Einige Wagen mit Teefässern kamen vorbei. Die Räder knirschten und übertönten alles. Der Staub verdeckte den Ausblick. Endlich legte sich der Staub, und die Straße lag leer da.
Bis zum Horizont war die Straße zu sehen, und kein Glöckchen läutete mehr. Still und leer war die Welt. Nur die Pappeln im Garten rauschten.
Von diesem Tage an begann für den Knaben ein neues Leben: Er hatte ein neues Spiel: ›Ankunft des Vaters‹.
Dieses Spiel hatte er selbst erfunden.
Es amüsierte ihn, wenn die Mutter bei seinem Ruf: ›Vater kommt!‹ von ihrem Platz am Fenster aufsprang und plötzlich leichenblaß wurde und zitterte. Ihn amüsierte ihr Aufschrei, der jedesmal unheimlicher und abgerissener klang . . .
Und wenn er so spielte, glaubte er selber daran, daß er den Vater gesehen hätte; auch seine Mutter glaubte es.
Mutter und Sohn sahen auf die Landstraße hinaus . . . So lange scheint es her zu sein und ist doch vor kurzem hier, auf dieser Erde, geschehen! Wie schön rauschten damals die Pappeln im Garten!
›Es zieht mich hin zu diesem stillen Strand . . .‹
»Teufel!« wehrte sich Sergej Sergejewitsch gegen den Ansturm der Erinnerungen.
Die Mutter starb, ohne den Vater wiedergesehen zu haben. Sie starb, am Fenster sitzend und auf die Straße blickend.
Bald nach ihrem Tode kam der Vater.
Der Knabe erschrak vor dem Vater: es war nicht der echte Vater, nicht der Vater, an den er soviel gedacht, den er mit solcher Sehnsucht erwartet hatte.
Er versteckte sich immer vor ihm; er schrie und weinte nachts vor Angst.
Der Vater, der nicht zu den weichherzigen Naturen gehörte, nahm die Erziehung des Sohnes energisch in die Hand. Er hielt ihn sehr streng und bestrafte ihn oft und hart, so daß dem Knaben jede Lust zu weinen verging. Er schlief jeden Abend ruhig ein und wurde ganz zahm.
Im Herbst brachte man ihn in die Stadt und steckte ihn ins Kadettenkorps.
Nun begann für Wersenew ein neues Leben, vielleicht die lustigste Periode seines Daseins.
Wenn er in den Ferien nach Krutowrag kam, fühlte er sich da heimisch und nicht mehr so fremd und bedrückt wie früher.
Von der Mutter wurde im Hause niemals gesprochen: Sergej Petrowitsch erwähnte niemals ihren Namen, und der Sohn wagte nicht, als erster von ihr zu sprechen.
Das Eckzimmer im Obergeschoß mit den Kleiderschränken wurde sorgfältig im gleichen Zustand belassen, wie es zu Mutters Lebzeiten gewesen war: alle ihre Sachen, ihr Tischchen, ihr Spiegel — alles stand noch da. Der Sohn suchte aber immer seltener dieses Zimmer auf. In der ersten Zeit kam er oft heimlich hinauf und weinte sogar manchmal am Fenster, wo die Mutter gesessen hatte; später interessierte er sich aber mehr für Pferde.
So kam es, daß er niemals erfuhr, warum der Vater die Mutter verlassen hatte; in den späteren Jahren tat es ihm sogar leid, daß er es nicht wußte. Der Vater hatte in seinem Arbeitszimmer bis zu seinem Tode das Bildnis der Mutter hängen. Hatte er sie geliebt? Und wenn ja, warum hatte er sie verlassen? Warum hatte der Vater die Mutter verlassen? Warum mußte sie soviel Leid, so viele bittere Tage und Nächte über sich ergehen lassen?
›Es zieht mich hin zu diesem stillen Strand . . .‹
»Teufel!« sagte sich Sergej Sergejewitsch, wenn er an die alten Zeiten von Krutowrag dachte.
Nachdem er das Kadettenkorps absolviert hatte, ging er nach Petersburg und wurde Offizier.
Da hatte er ein gutes Leben. Niemals hatte er Mangel an Geld: sein Vater geizte nicht und schickte ihm regelmäßig größere Summen. Der Vater war immer besorgt, daß es ihm gut ginge. Er konnte sich über nichts beklagen. Bei seinen guten Verbindungen und großen Mitteln durfte er auf eine glänzende Zukunft hoffen.
Er lebte ebenso wie die andern Offiziere: spielte Karten, nahm an Trinkgelagen teil, besuchte Bälle, erzählte Witze, imitierte seine Kameraden und Vorgesetzten, machte Damen den Hof, war an allen Regimentsintrigen beteiligt, regte sich auf, zankte sich — und die Tage gingen gleichmäßig dahin, und ein Tag war wie der andere. Und wenn auch zuweilen etwas Ausschließliches und Besonderes vorkam, so blieb es doch immer in den Grenzen des in seinen Kreisen Erlaubten und Üblichen: so verlor er zum Beispiel einmal eine Riesensumme im Kartenspiel; wem ist das aber noch nicht passiert? Auch die anderen Ausnahmen waren von der gleichen Art.
Gleichmäßig, mit ganz unbedeutenden Sprüngen, floß sein Petersburger Leben dahin.
Dieses erfolgreiche, leichte und vielversprechende Leben hätte eigentlich in seinem Gedächtnis keine Spuren zurücklassen müssen.
Und doch hatte er eine Erinnerung.
Es war allerdings nichts Besonderes, ein, ganz gewöhnliches Erlebnis.
Gibt es denn im Leben auch viel Ungewöhnliches?
Sergej Sergejewitsch dachte in seinen späteren Jahren mehr als einmal an dieses Erlebnis zurück; er prüfte sich und saß über sich selber zu Gericht und verantwortete sich vor sich selbst.
Er hatte schon längst eingesehen, daß eine Handlung durchaus nicht besonders auffallend und außergewöhnlich zu sein braucht, um für immer im Gedächtnis haftenzubleiben; daß auch etwas ganz Unbedeutendes, etwas, das man kaum merkt, sich wie ein winziges Stäubchen in der Seele festsetzen kann.
›Ein Komet fliegt vorbei, ein Stern stürzt vom Himmel, ein Erdbeben vernichtet eine ganze Stadt — das kann für dich schon am nächsten Tage seine ganze Bedeutung verlieren und farblos werden; du kannst es vergessen wie den gestrigen Schnee; zuweilen kann aber irgendein bescheidenes Lichtchen — ein irgendwo unter einer Brücke flackerndes Flämmchen oder die qualmende Petroleumlampe in einer dummen Straßenlaterne, die wie eine Hopfenstange unter deinem Fenster aufragt, oder sonst ein Unsinn dir für dein ganzes Leben im Gedächtnis bleiben.‹
Ja, er dachte viel darüber nach, und wie er so über sich selber zu Gericht saß und sich vor sich selbst verantwortete, blickte er in die dunkelste Tiefe, in den trübsten Bodensatz seiner Seele hinein.
Kann man da aber viel sehen? Und wenn man sieht, viel erkennen? Und wenn man auch etwas erkennt, vermag man es denn richtig wiederzugeben? Und wenn man es auch kann, hat man den Mut dazu?
Mord und Betrug, Lüge und Verrat sind schwere Vergehen, große Sünden, die von allen Gesetzen bestraft werden. Was kommt aber dabei heraus? Der Mord läßt den Mörder vollkommen kalt; er denkt überhaupt nicht mehr an ihn! Was er aber bis zu seinem letzten Atemzug tragen muß, was seine Qual, sein Lohn und seine Strafe ist, was im Augenblick der Tat sein ganzes Sein erfüllt, das ist gar nicht der Mord, sondern das ist dieses, daß er einmal einen Tag, eine Woche, ein Jahr oder vielleicht zehn Jahre vor dem Morde ein zudringliches Mädel, das ihn auf der Straße anbettelte, von sich gestoßen hat — es gibt solche kleine Bettlerinnen, die einen auf der Straße verfolgen und schmierige Zettel mit Prophezeiungen zum Kauf anbieten: ›Herr, kaufen Sie mir doch einen Glückszettel ab!‹ — Es handelt sich auch gar nicht darum, daß er das Mädel, das ihm sein Glück zum Kauf anbot, von sich stieß, sondern darum, daß das frierende Mädel ihm einen Blick zuwarf, einen Blick, den er sein Lebtag nicht vergessen wird.
»Teufel!« wehrte sich Sergej Sergejewitsch, als ihm das Petersburger Erlebnis wieder in den Sinn kam.
Einer seiner Regimentskameraden hatte eine Braut. Der Offizier war von altem Adel, das Mädchen aber aus einfacher Familie und sehr arm. Die Angehörigen des Bräutigams waren gegen diese Verbindung und suchten sie auf jede Weise zu vereiteln.
Sergej Sergejewitsch nahm sich die Angelegenheit seines Kameraden sehr zu Herzen; er besuchte ihn oft und wünschte ihm und seiner Braut aufrichtig Glück.
Und als nach unendlicher Mühe die Hindernisse endlich aus dem Wege geräumt waren und der Tag der Hochzeit festgesetzt war, nahm die Sache ein unerwartetes und trauriges Ende: die Braut löste die Verlobung.
Wersenew kann sich noch an den Abend erinnern, an diesen Petersburger Herbstabend mit dem durchdringenden feuchten Wind und den hinter dem Schleier des feinen Regens trübe leuchtenden Straßenlaternen; an ihr Zimmer irgendwo in der Rusowskaja-Straße in der Nähe der Kasernen. Sie bat ihn, zu ihr zu kommen, um mit ihm über die aufgehobene Verlobung zu sprechen. Er zweifelte nicht, daß das der wahre Grund sei, warum sie ihn zu sich gerufen habe; als er aber zu ihr kam, sagte sie ihm die ganze Wahrheit . . .
Er kann sich auch an ihr Gesicht erinnern, das plötzlich so blaß geworden war, so entsetzlich blaß, wie das Gesicht seiner Mutter zu werden pflegte, wenn er mit den Worten: ›Vater kommt!‹ zu ihr ins Eckzimmer hineingestürzt gekommen war.
Sie eröffnete ihm, daß sie ihn liebgewonnen hätte und nur ihn allein liebte.
Er liebte sie aber gar nicht. Hatte er ihr denn einen Grund gegeben, dergleichen anzunehmen? Er hatte sie als die zukünftige Gattin seines Freundes stets aufmerksam behandelt und war aufrichtig bestrebt gewesen, beiden, ihr und ihm, zu helfen. Er hatte sie niemals geliebt und liebte sie auch jetzt gar nicht.
Er kann sich noch erinnern, wie sie in der Ecke am Fenster stand, während die Regentropfen gleichmäßig und unaufhörlich gegen die Scheiben prasselten; ein Tropfen folgte dem andern, ein Bächlein dem andern. Wie sie ihn, ohne mit den Wimpern zu zucken, die Mundwinkel traurig gesenkt, ansah und später mit unbeweglichen Blicken begleitete, so starr, als trüge er das ganze Blut ihres Körpers, die ganze Kraft ihrer Seele und die ganze Hoffnung ihres Herzens mit fort, als hätte er es ihr entrissen und ginge damit fort!
Am nächsten Abend traf er sie zufällig auf der Kukuschkin-Brücke. Er hatte sich nicht geirrt: sie war es. Er erkannte sie an ihrem Blick, der ebenso unbeweglich war wie am vorigen Tag. Und etwas später hörte er etwas in das ekle schwarze Wasser des Kanals plumpsen. Er blickte aber nicht einmal zurück und setzte seinen Weg fort.
War er es, der sie in das ekle schwarze Wasser gestoßen hatte?
»Teufel!« wehrte sich Sergej Sergejewitsch, als ihm die Geschichte wieder in den Sinn kam.
Bald nach diesem Vorfall mußte er plötzlich nach Krutowrag abreisen: sein Vater lag im Sterben.
Der alte Sergej Petrowitsch Wersenew starb ganz allein und ließ niemanden, weder den Arzt noch den Geistlichen, zu sich herein. Nur in den allerdringendsten Fällen durfte als einzige ›Kreatur‹ der Lakai Sinowi sein Zimmer betreten. Der Alte wollte nichts genießen und schloß des Nachts kein Auge.
Im ganzen Hause konnte niemand schlafen. Allen war es so unheimlich zumute; man hatte Angst zu sprechen und selbst zu flüstern.
Alle Zimmer waren erleuchtet, und alle Türen standen weit offen; nur die Tür des Arbeitszimmers war fest verschlossen.
Sergej Sergejewitsch kam zu einer späten Nachtstunde in Krutowrag an; er wollte den Vater nachts nicht stören und sich erst am Morgen bei ihm melden. Der Vater fühlte aber sofort, daß der Sohn gekommen war, und ließ ihn durch Sinowi rufen.
Der Alte saß in der Ecke beim Schrank mit dem alten astronomischen Globus, in einem Sessel zusammengekauert; er war fürchterlich abgemagert und lag anscheinend in den letzten Zügen. Er keuchte schwer, als ob ihm jemand die Kehle zusammenpreßte, die Augen waren aber ganz tot und die Pupillen trübe und starr; nur der Rand der Pupillen hatte einen unangenehmen scharfen Glanz.
Der Sohn ergriff seine Hand und beugte sich über sie; die Hand war eiskalt. Und als er sich über sein Gesicht beugte, um den Vater auf die Wange zu küssen, spürte er einen unüberwindlichen Ekel und küßte die Luft.
Vater und Sohn begrüßten einander.
Der Alte küßte den Sohn: die Lippen waren eiskalt, noch kälter als die Hände.
Der Sohn wartete eine Weile und beugte sich wieder zum Vater:
»Nun, wie geht es Ihnen?«
»Die Teufel kommen immer her«, zischte der Alte durch die Zähne.
»Was für Teufel? Kleine mit Schwänzchen?« versuchte der Sohn zu scherzen; er verstand es sonst sehr gut, mit dem Alten auszukommen und zu sprechen.
»Was fällt dir ein! Echte Teufel!« zischte der Vater, und seine Pupillen wurden noch dunkler.
Wersenew erinnert sich an diese toten Augen und die starren, dunklen Pupillen mit dem scharfen, noch lebenden Rand; der scharfe, lebende Rand der Pupillen zog sich plötzlich zusammen und leuchtete wie rote Kohlenglut auf.
Er griff unwillkürlich nach seinem Säbelknauf und wich einige Schritte zurück.
Der Alte schlug seinen Schlafrock vorn auf und begann sich krampfhaft die Brust zu kratzen.
»Echte Teufel . . .« zischte der Alte, indem er sich die Brust kratzte. Plötzlich sprang er kreischend vom Sessel auf und fiel mit dem Gesicht auf den Teppich.
Das war also der Vater, an den er einst soviel gedacht, den er einst so sehnsüchtig erwartet hatte!
Was quälte aber den Vater? Wen sah er vor sich? Wer besuchte ihn in seiner Sterbestunde? Wer war der Echte? Wer umklammerte sein Herz mit dem echten letzten Zucken des Gewissens, mit dem letzten Willen und dem letzten Wort? Wer war das?
»Teufel!« wehrte sich Sergej Sergejewitsch, als er sich an den Tod seines Vaters erinnerte, des Vaters, an den er einst soviel gedacht, den er so sehnsüchtig erwartet hatte.
Wersenew nahm zu Neujahr seinen Abschied, zog aus Petersburg nach Krutowrag und widmete sich der Landwirtschaft. Um die gleiche Zeit heiratete er.
Warum er geheiratet hatte, wußte er selbst nicht mehr; wahrscheinlich hatte ihm Jelisaweta Nikolajewna gut gefallen: sie war so still und sanft wie ein stiller Engel Gottes. Auch langweilte er sich allein in dem alten Hause.
Mit der Landwirtschaft beschäftigte er sich nur kurze Zeit. Dann versuchte er, sich in der Semstwoverwaltung zu betätigen, gab aber auch das aus irgendeinem ganz unsinnigen Grunde sehr bald auf. Allmählich zog er sich von jeder Tätigkeit zurück.
Die ganze Wirtschaft und das ganze Schicksal der Wersenews ruhten nun auf den Schultern des tüchtigen und fleißigen Gutsverwalters, eines mürrischen Letten, und Jelisaweta Nikolajewnas, die es verstanden hatte, das alte Haus mit unaufhörlichem Lärm und lustigen Gästen anzufüllen.
Gorik und Buba lernten gut und absolvierten die Schule mit Auszeichnung. Gorik kam auf die Universität und Buba auf die Frauenhochschule.
Der letzte Sommer, den sie in Krutowrag verbrachten, war ganz besonders lustig.
Die Bauernjungen von Krutowrag, die schüchternen: Fischbein, Roßhaar und Schaufel, und auch die frechen: Igonka, Igoschka, Jenka, Jeschka und Jermoschka spielten unter Goriks Anführung ›Expropriationen‹; ein Überfall, den sie veranstalteten, war so täuschend echt, daß die tscherkessischen Flurwächter des Generals Belojarow den Anführer um ein Haar erschossen hätten.
Raketen und persische Blitze stiegen über dem Hause auf im Garten qualmten Reisigfeuer, in der ganzen Umgegend loderten Feuersbrünste, und die Nächte waren stets von unheimlichem rotem Feuerschein erhellt.
Als die Kinder endlich nach Petersburg abreisen mußten, begann auch Jelisaweta Nikolajewna zu packen.
Die Kinder reisten mit ihrer Mutter ab und kehrten niemals nach Krutowrag zurück.
Jelisaweta Nikolajewna erklärte ihrem Mann, daß sie nie wieder nach Krutowrag zurückkommen wolle und daß auch die Kinder niemals zurückkehren würden.
Als sie das sagte, hatte sie nicht mehr ihren kindlich-schelmischen Ausdruck. Ihr Entschluß war offenbar fest und unumstößlich.
Sergej Sergejewitsch begriff anfangs gar nichts; er wollte nichts begreifen; es war ihm zu peinlich, er wollte sich nicht von seiner Familie trennen, es fiel ihm schwer, ein neues Leben zu beginnen, sich das gewohnte Leben abzugewöhnen und sich in neue Verhältnisse zu schicken; er konnte sich ein anderes Leben gar nicht vorstellen. Die Wersenews hatten ja achtzehn Jahre zusammengelebt!
Er wollte seiner Frau widersprechen, brachte aber kein einziges Wort hervor: statt aller Einwände drang aus seiner Kehle nur ein Röcheln und Pfeifen, und dann folgte sein obligates ›Teufel!‹
Er konnte einfach nichts dagegen tun.
Schließlich wurde er still wie ein Kind, dem man das Hautjucken, das es plagte, besprochen hat, erklärte sich mit allem einverstanden und unterschrieb alles, was man von ihm verlangte.
Auch die Geldfrage wurde leicht und einfach gelöst.
Der Gutsverwalter erstattete einen klaren und erschöpfenden Bericht über die Wersenewschen Verhältnisse und übernahm es, Jelisaweta Nikolajewna auch in Zukunft auf dem laufenden zu halten.
In Krutowrag wurde es auf einmal leer.
Die Kunde von diesem Ereignis verbreitete sich über die Felder von Krutowrag und lief dann die Landstraße entlang, bald nach rechts, bald nach links abschwenkend und in jeden Gutshof einkehrend.
Niemand wunderte sich, niemand regte sich darüber auf; es war, als ob alle das Ereignis vorausgeahnt und nur aus Feingefühl geschwiegen hätten, ebenso wie man in Gegenwart eines Schwerkranken von seinem nahen Tode zu sprechen sich scheut.
Das eheliche Zerwürfnis (General Belojarow gebrauchte übrigens einen andern, nicht wiederzugebenden Ausdruck), mit dem man sich den plötzlichen Entschluß Jelisaweta Nikolajewnas erklärte, beschäftigte eigentlich nur ihre ehemaligen Freundinnen, die nun mit ihren heimlichen Verdachtsgründen triumphierten.
»Jetzt ist es klar, daß sie in einen Roman verwickelt ist; natürlich ist es ein Roman, obwohl niemand den Auserwählten ihres Herzens kennt; aber dieser Auserwählte muß doch irgendwo vorhanden sein! Wo käme denn sonst das Zerwürfnis her?«
So urteilten die Damen.
Niemand hatte aber Lust, sich mit der Sache eingehender abzugeben; niemand hatte Lust, seine Nase in ein fremdes Malheur zu stecken; denn man kommt immer besser weg, wenn man sich in solche Angelegenheiten nicht einmischt.
Unruhig rauschte das Korn auf den Feldern, unruhig brauste es im Walde; auch die Sterne, die trüben Sterne von Krutowrag, flimmerten unruhig über dem Wersenewschen Hause.
Krutowrag war nun leer. Niemand hatte Lust, Wersenew in seiner Einsamkeit zu besuchen.
In den ersten Tagen kamen allerdings einmal drei Damen, die mit Jelisaweta Nikolajewna befreundet waren, zu Besuch. Sie kamen nach Krutowrag, um, wie sie später selbst erklärten, zu riechen, welch ein Wind jetzt dort wehte.
Die Damen fielen über Wersenew her und redeten ihm die Ohren voll, so daß er nicht einmal die Möglichkeit hatte, seinen ›Teufel‹ loszulassen.
Obwohl Solomowna, die diese letzten Gäste hinausbegleitete, ihnen klipp und klar erklärte, daß die gnädige Frau nur die Krankheit des gnädigen Herrn nicht hätte vertragen können und daß sie nur aus diesem einen Grunde abgereist sei, wollten es die Damen doch nicht glauben und hielten hartnäckig an ihrer Ansicht, daß auch ein Auserwählter des Herzens mit im Spiele sein müsse, fest.
Bald darauf ließ General Belojarow, als er bei einer der drei Damen anläßlich einer Geburtstagsfeier zu Besuch war, den bekannten pittoresken, doch nicht wiederzugebenden Ausdruck fallen. Er fügte übrigens beschwichtigend hinzu:
»Alles hat sein Gewicht und Maß.«
Damit war die Sache erledigt.
Von den Nachbarn kam nur der Landrat Pustoroslew einmal zu Besuch, Er brachte den Agronomen Ratzejew mit, den er aus irgendeinem Grunde als einen berühmten politischen Redner aus Petersburg vorstellte, der Fischleim statt Knochen im Leibe habe.
Ratzejew wand sich tatsächlich wie ein Sterlet, sprach aber während des ganzen Abends kein Wort. Pustoroslew schwatzte dafür ununterbrochen und führte verschiedene Beispiele seiner sprichwörtlich gewordenen Vergeßlichkeit an.
Die Geschichte von seiner Auslandsreise in wichtiger amtlicher Mission erzählte er sogar zweimal: einmal vor und einmal nach dem Abendessen.
Sergej Sergejewitsch hatte diese Geschichte mehr als einmal gehört. Das Ministerium schickte Pustoroslew zu irgendeinem Zweck nach Frankreich: er reiste aber aus Frankreich nach Spanien, aus Spanien nach Italien, aus Italien nach Algier: er ließ sich immer wieder Geld schicken, verbrauchte eine Riesensumme, besann sich aber auf den eigentlichen Zweck seiner Reise erst dann, als er nach Rußland zurückgekehrt war.
»Vergessen können ist eine Gabe der Götter!« sagte Pustoroslew, indem er sein obligates ›gewissermaßen‹ bedeutungsvoll dehnte und mit seinen farblosen Augen, die keine Wimpern hatten und blind zu sein schienen, zwinkerte; er spielte offenbar auf das eheliche Zerwürfnis an.
Ein einziges Mal kam der Krämer Charin zum Tee.
Wersenew freute sich in seiner Einsamkeit auch über diesen Gast.
Charin saß in dem niedern länglichen Eßzimmer sehr lange am Teetisch. Er sprach von furchtbar gleichgültigen Dingen und blieb, obwohl er sich zum tausendsten Male das Versprechen gegeben hatte, von seiner gefährlichen Angewohnheit zu lassen, immer wieder in seinem ›gewissermaßen‹ stecken, während Sergej Sergejewitsch den bestürzten Gast anstarrte, ab und zu mit der Hand winkte und seine Gedanken in dem Wort ›Teufel‹ zusammenfaßte.
»Die Gewohnheit ist gewissermaßen die zweite Natur!« stammelte Charin. Er war ganz rot geworden, in Schweiß gebadet und so aufgeregt, daß er kaum die Tür finden konnte.
Nur der Geistliche P. Astriosow, der noch immer hoffte, das ›eiserne Bindeglied‹ zwischen den Ereignissen zu konstruieren, kam noch öfters zu Wersenew.
P. Astriosow, der von Natur aus schüchtern war, verlor, sobald er mit Sergej Sergejewitsch unter vier Augen war, jeden Mut. Er rauchte eine der berühmten Zigarren, an denen er allmählich Geschmack gefunden hatte, und parierte den Wersenewschen ›Teufel‹ mit seinem ›Bindeglied‹, das ihm wirksamer als das Zeichen des Kreuzes schien.
»Ja, ja, ein Bindeglied«, sprach P. Astriosow, indem er die Asche von der Zigarre schüttelte; er tat es, ganz gleich, ob es nötig war oder nicht und ob er eine Zigarre mit mexikanischem oder mit brasilianischem Deckblatt in der Hand hatte.
Wersenew freute sich in seiner Einsamkeit auch über den Geistlichen.
Sonst war er aber tagelang allein.
Sergej Sergejewitsch hörte sogar auf, die Kirche zu besuchen; selbst während des Gottesdienstes konnte er sich seiner Redensart nicht mehr enthalten, was bei den Betenden großes Ärgernis hervorrief. Einmal führte es sogar zu einem unliebsamen Auftritt: der Kirchenälteste, Goloweschkin, versuchte während eines Festgottesdienstes an Kaisers Geburtstag den ›Freimaurer‹ zu ohrfeigen. Seit diesem Zwischenfall kam Sergej Sergejewitsch nie wieder in die Kirche.
In seinem Schlafrock aus weißem Flanell, mit der Zigarre im Munde, irrte Wersenew tagelang durch die leeren Zimmer. Die glimmende Zigarre beleuchtete seine eingefallenen trüben Augen und den grün angelaufenen grauen Schnurrbart.
Er hatte nichts, um die Zeit totzuschlagen. Was sollte er tun? Doch nicht mit den Kinderspielsachen spielen! Er hatte sich so sehr an den ewigen Lärm und die lustigen Gäste, an seine Frau und seine Kinder gewöhnt: achtzehn Jahre hatten ja die Wersenews zusammen gelebt!
Oft stand er stundenlang vor der Balkontür und zählte die Krähen, die über den nackten Linden kreisten . . . Wie viele waren es, und warum krächzten sie so? Oder er ging ins Eckzimmer im Obergeschoß, wo einst seine Mutter Fedossja Alexejewna gesessen hatte, setzte sich wie sie ans Fenster und sah auf die Landstraße hinaus . . . Wohin führte die Straße, und hatte sie irgendwo ein Ende? Oder er hörte dem Rauschen der Pappeln vor dem Hause zu . . . Worüber tuschelten sie? Manchmal saß er im Sessel seines Vaters, vor dem Schrank mit dem astronomischen Globus, starrte auf einen Punkt, vielleicht sogar auf denselben Punkt, wo seinem Vater die echten Teufel ohne Hörner und Schweife erschienen waren, und schlief, im Sessel kauernd, ein . . .
»Teufel!« klang es Tag und Nacht, im Wachen und im Schlafen durch das leere Haus.
Als die ersten Fröste kamen und man die Doppelfenster einsetzte, dichtete man auch die Balkontür mit Werg und Kitt ab.
Nun kamen die dunklen Wintertage und die langen Winternächte.
Im Wersenewschen Hause wurde es noch leerer, leer wie in einem großen Keller.
Wenn er doch wenigstens ruhige Träume hätte.
Einmal träumte ihm, er, Sergej Sergejewitsch Wersenew, Hauptmann a. D., siebenundvierzig Jahre alt, sei gar kein Mensch, sondern krieche als ein böses, rachsüchtiges, giftiges Insekt, eine Art Tausendschwanz, über eine Wiese und klammere sich mit den Beinen an den Grashalmen fest. Es ist ein kalter Sommermorgen, es beginnt erst zu dämmern, und am Himmel steht ein riesengroßer blasser Mond mit rötlich schimmerndem Rand. Sergej Sergejewitsch Wersenew kriecht als ein Tausendschwanz über das Gras; er weiß, daß es ganz gewöhnliches Krutowrager Gras ist, aber die Halme erscheinen ihm so dick und hoch wie Schilf, das Schilf größer und dicker als jeder Baum und das schwarze Erdreich als ein Haufen von Riesenklumpen. Er hat es so schwer: er muß auf jeden Halm hinaufkriechen, dann wieder hinunter und wieder hinauf. So kriecht er und weiß nicht, wohin er kriecht und warum er dazu verurteilt ist, von Halm zu Halm zu kriechen. Er vergeht vor Bosheit, der Haß vergiftet sein Herz, und er ist so furchtbar müde. Am Himmel steht der riesengroße blasse Mond mit rotglühendem Rand, und es ist so furchtbar kalt.
Er erzählte einmal diesen Traum P. Astriosow. Dieser gab die kurze Deutung: »Das bedeutet, daß ein Witterungsumschlag bevorsteht.« Sergej Sergejewitsch lächelte.
»Mir ist so eigen zumute«, sagte er, »als ob alles nicht echt wäre.«
Ein anderes Mal versuchte er, seinen Traum dem Lakai Sinowi zu erzählen; er blieb aber mitten im Satze stecken und zischte wie der selige Sergej Petrowitsch durch die Zähne:
»Die Seele haben sie mir gestutzt . . . Teufel!« Und er brach in Tränen aus.
Dem kleinen Pjotr soll er aber gesagt haben:
»Wenn ich doch in Armut, auf einem Strohlager sterben könnte, Pjotr!«
Sergej Sergejewitsch langweilte sich furchtbar.
Wie sollte man sich ohne Beschäftigung und ohne Gäste an trüben Wintertagen nicht langweilen?
»Der Herr hat oft Angstzustände«, meldete Solomowna dem P. Astriosow, als er um die Weihnachtszeit mit dem Kreuz ins Haus kam. »Früher hatte er vor nichts Angst, jetzt kommt er aber jeden Abend zu mir in die Mägdekammer gelaufen und zittert vor Furcht: es ist ihm immer, als ob jemand neben ihm stünde. Auch wartet er immer auf Gäste; er glaubt, daß jeden Augenblick Gäste kommen werden! Oder er sitzt da und weint.«
Nach Neujahr beichtete Solomowna dem Geistlichen, daß sie böse Träume gehabt habe: in der Christwoche hätte sie Blei gegossen und sonstigen Zauber getrieben, und darum wären ihr die bösen Träume gekommen.
Träume, die man in der Christwoche hat, sind immer prophetisch.
Bald träumte ihr, sie wischte den Boden auf; es ist aber nicht gut, wenn man im Traume den Boden aufwischt. Bald träumte ihr von einer Feuersbrunst: das Haus brennt, man hat schon alle Balken und Bretter herausgebrochen und nimmt den Ofen auseinander; vom Feuer ist aber nichts zu sehen.
»Zwei Männer machen sich am Ofen zu schaffen, und ich frage sie: ›Was ist denn los?‹ Und sie antworten: ›Wir wissen nichts, Solomowna!‹«
Den schlimmsten Traum hatte sie aber in der Neujahrsnacht.
Es träumte ihr, sie käme in den Saal herein und aus der Balkontür träte ihr der selige Sergej Petrowitsch entgegen; er war nicht allein, sondern befand sich in Begleitung eines uralten Mannes; sie hätten die Balkontür hinter sich fest zugeschlossen und wären geradeaus ins Arbeitszimmer gegangen, sich wie Blinde an den Wänden entlangtastend.
P. Astriosow hatte aber für die Träume der Kinderfrau wenig Interesse: sein eigener Neujahrstraum saß ihm noch im Nacken.
P. Astriosow hatte sieben Kinder: der Älteste war schon Küster, und das jüngste ein Säugling. Im Traum war es aber umgekehrt: der Älteste war ein Säugling und lag in den Windeln, und der jüngste war Küster und hatte einen langen Bart.
»Ja, ja, das Bindeglied!« sagte der Geistliche, indem er von Solomowna den Sack mit den Neujahrsgeschenken entgegennahm.
In den Feiertagen war es gar nicht lustig.
Auch in der Küche herrschte eine gedrückte Stimmung. Man sprach im Flüsterton, als ob ein Schwerkranker im Hause wäre.
Es war noch immer die alte Gesellschaft: der alte Koch Prokofi Konstantinowitsch, der Kutscher Anton, die Wäscherin Matrjona Simanowna, der Bautischler Terenti, der Schmied ›Truthahn‹, der Lakai Sinowi und sein Gehilfe, der kleine Pjotr. Sie saßen im Kreise um Solomowna und tranken Tee. Nur die Stubenmädchen fehlten: Charitina war mit der gnädigen Frau nach Petersburg gegangen, und Ustja und Sanja hatte man gekündigt.
Beim Teetrinken gedachten sie der alten Zeiten, sprachen von allen Wersenewschen Angelegenheiten und äußerten Bedenken wegen des gnädigen Herrn, mit dem es doch früher oder später ein schlimmes Ende nehmen werde.
»Wenn man den Teufel zur ungelegenen Zeit ruft, so kommt er als schwarzer Sturmwind geflogen und ergreift den Menschen, und der Mensch geht zugrunde!« sagte Solomowna gähnend. Sie bekreuzigte sich den Mund und schüttelte den Kopf.
Sergej Sergejewitsch, der den ganzen Abend durch die Zimmer gewandert war, kam plötzlich in die Küche und blieb, schwer mit der Nase schnaufend, vor den bestürzten Dienstboten stehen. Er starrte auf den verwilderten Truthahn und verzog das Gesicht, während es in seiner Kehle eigentümlich pfiff. Dann winkte er mit der Hand ab und sagte:
»Teufel!«
»Teufel!« hallte es irgendwo im Korridor wider und irgendwo unter dem Ofen, und irgendwo im Keller, und irgendwo hoch über der Decke auf dem dunklen Dachboden; das Wort flog auch in den Garten hinaus und umkreiste die weißen Säulen.
Den Weihnachtsfrösten folgte plötzliches Tauwetter. Am Vorabend des Dreikönigstages fing es wie im Frühling an zu tröpfeln, und der Weiher im Garten wurde gelb.
Es war wie der Hauch des Frühlings.
Sergej Sergejewitsch sah den ganzen Tag unruhig zum Fenster hinaus. Er machte auch die Balkontür auf, stand lange in der offenen Tür und horchte hinaus. Den ganzen Tag konnte er keinen Augenblick ruhig sitzen und irrte von Zimmer zu Zimmer. Am Abend, als man in allen Zimmern Licht machte, wurde er noch unruhiger.
Draußen taute der Schnee, und die Tropfen prasselten von den Bäumen auf das Dach wie ein Herbstregen gegen die Fensterscheiben.
Nach dem Abendtee ging Wersenew hinauf. Eine Zeitlang hörte man nichts von ihm.
Solomowna ging unten von Zimmer zu Zimmer, flüsterte Gebete und malte Kreidekreuze über die Fenster und Türen.
Sergej Sergejewitsch saß oben im Eckzimmer und blickte hinaus.
Die sternlose Nacht verdeckte die Landstraße; er sah nur die nackten Baumäste vor dem Fenster im Winde beben.
Sergej Sergejewitsch saß lange da und starrte, ohne an etwas zu denken, zum Fenster hinaus.
Und plötzlich hörte er fern auf der Straße ein Glöcklein tönen. Er sprang auf. Das Glöckchen tönte. Er kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Das Glöckchen tönte noch immer. Er wollte hinunterlaufen, Sinowi, Solomowna, den Kutscher und alle Dienstboten zusammenrufen. Und das Glöckchen hörte nicht auf zu läuten.
Und plötzlich kam ihm das Eckzimmer verändert vor: an der Stelle, wo der Spiegel hing, gähnte eine offene Tür. Er trat in diese Tür, und sie schloß sich sofort hinter ihm.
Es war ein unendlich langer Korridor. Es kam ihm vor, als habe er das alles schon einmal gesehen, die vielen Marmorplatten mit erhabenem Ornament, den Mosaikboden aus weißen und roten Steinen. Es war heiß, schwül und feucht.
Er ging durch den Korridor und wußte, daß er ihn zu Ende gehen müsse. Und als er das Ende erreicht hatte und eine reichverzierte Tür aus getriebenem Eisenblech öffnete, sah er sich vor einer zweiten Tür. Er machte auch diese Tür auf. Dann kam eine dritte Tür. Und so folgte eine Tür auf die andere: wenn er die eine öffnete, so war gleich eine andere dahinter. Und wie er so immer weiterging und eine Tür nach der andern aufmachte, sagte ihm das Gefühl, daß er wenigstens einen Augenblick stehenbleiben oder sich umschauen müsse, daß er sonst verloren sei. Er konnte aber weder stehenbleiben noch den Kopf heben, noch zurückblicken; es war ihm, als ob ihn jemand führte und ein anderer ihn von hinten vorwärtsstieße.
Und als er endlich ganz bestürzt, sinnlose Worte stammelnd, lachend und schimpfend, die letzte Tür aufmachte — er glaubte, daß es die letzte Tür sei —, hatte er plötzlich das Gefühl, als ob man ihn mit irgendeinem spitzen Gegenstand in den Rücken stieße, und er fiel hin. Im Fallen sah er, wie die Sterne, die trüben Sterne von Krutowrag, immer greller leuchtend und wie von einem Sturmwind getrieben, ihm entgegenflogen. Es war aber umgekehrt: die Sterne standen still, und er flog, von einem Sturmwind erfaßt, ihnen entgegen . . .
»Ich malte Kreidekreuze über die Türen und Fenster«, berichtete später Solomowna, »als mich plötzlich Sinowi rief der Viehwärter Nasar sei gekommen, um etwas Weihwasser vom Dreikönigstag zu holen. Wie ich in die Küche hinausgehe, höre ich plötzlich, wie jemand die Balkontür zuschlägt. Und da denke ich mir: wie leicht kann da ein Unglück geschehen! Es sind ja unruhige Zeiten, und es treibt sich genug Gesindel herum. Und dann höre ich die Tür noch einmal krachen. Und ich sage zu Prokofi Konstantinowitsch: ›Prokofi Konstantinowitsch‹, sage ich, ›hören Sie es?‹ — ›Ich höre‹, sagt er, ›wie der Wind die Tür zuschlägt.‹ Und kaum hat er das gesagt, als die Tür zum drittenmal kracht; alle Fensterscheiben zitterten, so laut krachte es! Ich renne in den Saal: die Balkontür steht wirklich offen. Und ich rufe Sinowi: ›Wo ist der Herr?‹ Der Herr ist aber nirgends zu sehen. Der Wind weht so stark herein, daß wir zu zweit die Tür gar nicht zumachen können. Der Wind reißt sie immer wieder auf, er heult im ganzen Hause und bläst alle Lichter aus. ›Gnädiger Herr!‹ schreie ich. Aber er ist nirgends zu sehen.«
Am Morgen des Dreikönigstages fand man Wersenew im Weiher: die Fußspuren führten von der Balkontür direkt dorthin.
Der Böse hatte ihn wohl verwirrt. Er war nachts zum Weiher gegangen, und das Eis war unter ihm gebrochen. Bis an die Brust war er in den Schlamm eingesunken, und während der Nacht hatte es ihn noch tiefer hereingezogen. So war er in seinem weißen Schlafrock, stehend, den Kopf im Schnee, erfroren.
Natürlich wurde sehr viel darüber geredet; ganz Krutowrag war in Aufruhr. Aber vom Gerede wird man ja nicht satt!
Schön ist es in Batyjewo — ein lustiges Dorf ist’s! Von allem hat man genug: viel Wald ringsum, und der Fluß ist gleich in der Nähe. Im Flusse gibt’s so viel Fische, daß man sie gar nicht alle fangen kann, und im Walde Wild — alles ist da, was man nur haben will. Nur eines ist unheimlich: man kann da nicht ordentlich lustig sein. Bist du es aber doch, so darfst du hinterher niemandem Vorwürfe machen: stößt dir dabei ein Unheil zu, so bist du selbst schuld.
Solange das Dorf und die Kirche stehen, treiben hier unsaubere Mächte ihr Spiel, und es gibt gar keine Mittel, sie auszurotten: zählebig sind sie wie die Würmer. Ist man die eine Teufelei glücklich los, so taucht, eh man sich’s versieht, auch schon eine andere auf. Und wenn es mal vorkommt, daß eine Hexe abkratzt, ohne ihre Kunst einer andern vermacht zu haben, so erscheint gewiß sofort eine neue: und keine gelernte, sondern eine geborene. Eine geborene Hexe ist eine solche, die schon als Hexe auf die Welt gekommen ist. Eine Gelernte geht noch an, aber mit einer Geborenen ist nicht zu spaßen: mit Kleinigkeiten gibt sie sich niemals ab, sondern geht gleich aufs Ganze, so daß man sich nachher sein Lebtag nicht mehr reinwaschen kann.
Es gab im Dorfe Hexen genug, gelernte wie auch geborene. Die ältesten Leute erinnerten sich nicht an eine Zeit, wo es keine Hexen gegeben hätte, und kein Mensch konnte dahinter kommen, wo die Wurzel des Übels lag.
Gar mancher Unglückliche ist schon ins Grab gestiegen, so mir nichts dir nichts elend zugrunde gegangen. Mit den Hexen lasse man sich lieber nicht ein: sie verderben den Menschen, kommen aber selbst immer mit heiler Haut davon und leben ruhig weiter, den Menschen zum Schrecken, dem Gehörnten zum Wohlgefallen — seines bösen Willens Töchter.
So ein verhexter Ort ist eben das Dorf!
Es braust und tost das Gerede in Batyjewo, die Kunde dröhnt durch die Schwarzen Wälder: vom Meere bis zum Gebirge gibt’s keine Hexe, die schrecklicher wäre als Sanofa.
Die andern Hexen sind alte Weiber gewesen: Arischka und Agapka hatten je hundert Jahre und mehr auf dem Buckel; diese aber ist jung — kaum über dreißig. Die andern richteten zwar viel Schaden an, hielten aber doch Maß und machten die Sache zuweilen wieder gut. Dieser fiel das aber niemals ein. Die schrecklichsten Zauberkünste kannte sie. Sie verstand, den Menschen so an einen Fleck zu bannen, daß er niemals mehr aus dem Hexenringe herauskonnte, und wenn er noch sosehr mit Armen und Beinen um sich schlug; er irrte im Kreise dicht vor seinem Hause herum und konnte nicht ins Haus herein; stand dicht vor seiner Schwelle und konnte kein Glied rühren. Die andern Hexen sehen eben wie Hexen aus, und auch das kleinste Kind kann sie auf den ersten Blick erkennen: sie sind alle dürr, haben Hakennasen und Schwänze; diese aber ist hübsch — die ganze Welt kann man absuchen und keine ähnliche finden —, dabei aber eine Mißgeburt, wie man eine solche seit Erschaffung der Welt nicht gesehen hat: der Körper und alles andere ist echt wie bei jedem gesunden Weibe, aber die Beine sind wie bei einem kleinen Kinde: sie kann gar nicht gehen, nur umherkriechen. Wenn sie doch nur immer umherkriechen wollte! Aber die Leute sagten, daß sie auch fliegen konnte: wie ein Vogel konnte sie in die Luft steigen! Man bekam sie auch fast nie zu Gesicht, höchstens des Nachts. Gott möge aber einen jeden davor bewahren: besser ist’s, dreimal in die Erde zu versinken oder der heiligen Ostermesse nicht beizuwohnen, als sie zu erblicken.
Sanofas Vater war Kaufmann und reiste mit seinen Waren von Jahrmarkt zu Jahrmarkt. Die Waren verlagen sich bei ihm niemals, die Käufer drängten sich nur so: auf den alten Tschabak konnte man sich verlassen, niemals hängte er einem faule Ware an. Hätte sich der Alte nicht die Sünde auf die Seele geladen, so wäre er unter die Heiligen gesetzt worden, bei Gott!
Sanofas Mutter war wildes Zigeunerblut, hatte getanzt und gesungen: wenn sie nur einmal in die Hände klatschte, war man verloren, seine Seele wollte man hingeben, nur um sie einmal tanzen zu sehen. Eine zweite Marja gab’s nicht in der Welt.
Nicht immer war es dem Tschabak so gut gegangen. In der ersten Zeit schlug er sich mühsam durch, hatte einen Kramladen im Dorf und lebte davon. Das ganze Haus war voller Kinder, und es kostete schon etwas, alle zu ernähren und zu bekleiden. Wie die Bauern lebten sie.
Sanofa kam zur Welt — und gleich wurde alles anders.
Nun hatte Tschabak auf einmal Glück und wurde ein echter Kaufmann. Die Käufer strömten von allen Seiten zu seinem Laden herbei, und er konnte gar nicht genug Ware auf Lager haben. Reich wurde der Kaufmann. Die Einkünfte reichten nun für alles aus: er baute sich ein Haus, pflanzte einen Garten, verheiratete die Töchter und brachte den Sohn in der Stadt im Handelsfache unter. Kornej stiftete eine Kirchenglocke, und die Glocke klang so laut, daß das Abendläuten durch alle Schwarzen Wälder dröhnte und selbst bis zu der Iljinka in Moskau reichte.
Tschabak suchte den Reichtum gar nicht: das Geld kam ganz von selbst in seine Hände.
Kluge Menschen ahnten schon damals, daß es da nicht mit rechten Dingen zuging, sie behielten aber ihre Meinung für sich: das Wort ist kein Spatz, und wenn es einmal entsprungen ist, so kann man’s nicht wieder einfangen. Wie leicht kann man einen Unschuldigen in üblen Ruf bringen und muß es dann später im Jenseits büßen. Nur Mitroschka — so hieß ein Bursche im Dorf — fürchtete nichts: wenn er sich einen Rausch antrank, begann er zu plaudern: er deutete immer auf das Mädel und schrieb ihm alles zu.
Man beachtete seine Worte nicht: wenn ein Mensch angetrunken ist, kann man ihn für seine Worte nicht verantwortlich machen.
Das Mädel war aber wirklich Gott weiß was!
Sanofa wurde in der Johannisnacht, beim ersten Hahnenschrei, als letztes Kind ihrer Mutter geboren. Sie kam mit einer Glückshaube und einem Muttermal am linken Daumen zur Welt.
Die Haube hatte die Hebamme auf die Seite gebracht und an sich genommen. Tschabak und sein Weib grämten sich deswegen, konnten aber nichts mehr machen: so ein Ding kann man doch nie mehr zurückerlangen; wer es zuerst in die Hand bekommt, der zieht eben den Nutzen daraus.
Die Kunde verbreitete sich aber im Dorfe.
Wanderer und Wallfahrer strömten zu Tschabak herbei. Viele kamen ins Haus, um aus Sanofas linker Hand ihr Glück zu holen. Die Hand teilte das Glück freigebig aus und wies niemanden ab. Wanderer und Wallfahrer kamen dann immer glücklich an ihr Ziel und kehrten ebenso glücklich heim. Niemand konnte sich über etwas beklagen.
Aus fernen Dörfern kamen die Leute zu Tschabak, ihr Glück zu holen, und kehrten zufrieden heim: niemandem stieß irgendein Unheil zu.
Das Kind wuchs als kluges Mädel heran und zwitscherte den ganzen lieben Tag wie ein Vöglein. Alles mußte man ihr zeigen und erklären, sie lief immer den Erwachsenen nach und hatte vor nichts Furcht.
Marja nahm sie einmal zum Heuerntefest mit und stellte sie in den Reigen. Das Mädchen liebte es, im Reigen zu stehen. Und als der Reigen durch die Dorfstraße zog, erhob sich ein Wind und warf das Mädel um. Seit jener Zeit waren ihre Beine gelähmt, und sie konnte nicht mehr gehen.
Sie lief nicht wie die andern Kinder umher, sondern lag den ganzen lieben Tag still.
Eine wunderliche Sache: ihr Körper wuchs weiter, aber ihre Beine blieben, wie sie waren: kleine Kinderbeinchen.
Noch mehr Menschen kamen nun zu Tschabak, und das Glück überschwemmte die Welt.
Aber es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen.
Eine wandernde Nonne entdeckte auf Sanofas Glückshand kleine Kreuzmale, es waren aber keine gewöhnlichen Kreuze; und danach kam Foma, der heil zur Wallfahrt auszog, ohne das eine Bein zurück; dem Jerjoma wurde ein Auge ausgeschlagen; Katerina, des Schulzen Enkelkind, heiratete, lebte ein Jahr in glücklicher Ehe, begann aber im zweiten Jahr zu trinken; Baran, den man als Boten nach Petersburg geschickt hatte, kam nie wieder heim; der bewußte Mitroschka aber bekam einen Nabelbruch.
Nun geschahen Dinge, die man auch einem Narren nicht zu deuten braucht.
Je älter Sanofa wurde, um so mehr wuchs das Geschäft ihrem Vater über den Kopf. Der alte Kornej wollte die Tochter noch bei seinen Lebzeiten verheiraten und dann ruhig sterben. Er schickte Freiwerber aus. Gar mancher Freier kam ins Haus. Viele wurden durch den Reichtum angelockt: Tschabak war ja der reichste Mann im Dorf. Es kam aber nichts dabei heraus. Gar mancher Freier hätte gern zugegriffen, aber im letzten Augenblick hatte er doch nicht den Mut. Einen gar zu seltsamen Blick hatte Sanofa: wie ein Messer drang er einem ins Herz. Vor solchen Augen konnte man nichts verbergen. Darum kam auch nichts zustande.
Sanofa konnte die Freier nicht leiden und machte dem Vater oft Vorwürfe. Mit dem Alten hätte aber auch der Teufel nicht fertig werden können: so trotzig und eigensinnig war er.
Einmal kam zu Tschabak ein Kaufmann aus der Stadt; in Geschäften kam er zu ihm. Ein hübscher, lustiger Kerl, das ganze Dorf brachte er in Aufregung; Die Weiber weinen auch heute noch, wenn die Rede auf Rodionow kommt. Und dieser Kaufmann gefiel Sanofa. Sie selbst gestand es dem Vater. Der Alte freute sich mächtig und ging gleich zu dem Kaufmann. Der Alte liebte die Tochter so, daß er seine Seele für sie hingeben würde. Der Kaufmann war aber ein leichtsinniger Kerl und achtete nicht der Gefahr. Er schüttete drei Scheffel Scherze hin, und man wurde einig. Alles ging, wie sich’s gehörte: die Eltern gaben ihren Segen, man feierte die Verlobung und machte alles, was die Sitte verlangt: Weiber verstehen sich ja darauf! Man tanzte so lange, bis alle lahm waren. Und als der festgesetzte Tag anbrach, kleidete man Sanofa zur Trauung ein. Man kam in die Kirche, das ganze Dorf war dabei — denn alle wollten es sehen —, man wartete, der Bräutigam aber fehlte noch. Man dachte sich, es sei ihm etwas zugestoßen. Man suchte hin, man suchte her. Man schickte einen Boten hin, dann einen andern, der Kaufmann war nirgends zu finden. Man ächzte und seufzte, doch es war nichts zu machen. Nun fuhr man wieder heim. Sanofa wollte sich aber nicht vom Fleck rühren. Man bat sie, man flehte sie an, man versuchte, sie mit Gewalt nach Hause zu bringen, sie wollte aber um nichts in der Welt fahren. So, wie sie war, im Brautkleide, legte sie sich platt auf die Erde und kroch auf allen vieren nach Hause. War dabei so weiß wie Papier, und ihre Augen — ja, wenn alle Donner des Himmels erdröhnen und alle Blitze niederführen, gäbe es kein solches Ungewitter: — die Augen glühten und sengten. Ein jeder blieb wie angewurzelt stehen, und sie kroch immer weiter.
Gegen morgen fand man den Kaufmann in Tschabaks Stall. Eine Sau hatte Ferkel geworfen, und im Stalle stand eine alte geflochtene Krippe für die Ferkel. Der Kaufmann lag in der Krippe, und die Pferdeleine war mit dem einen Ende an einer Pappel festgebunden. Tot war er.
Nun kam die gerichtliche Untersuchung. Die Leute sagten gegen Kornej aus. Kornej schwor, daß er an der Sache nicht beteiligt sei. Man glaubte aber seinen Schwüren nicht und sprach ihn schuldig. Der Alte ging nach Sibirien und ist wohl auch dort gestorben.
So war die Sache.
Mitroschka mit dem Nabelbruch begann nun ganz laut zu schimpfen, und die Klugen, die früher ebenfalls alles gewußt, aber geschwiegen hatten, redeten drauflos.
Jetzt war es allen klar, was für eine Bewandtnis es mit Tschabaks Reichtum und Sanofas glückbringender Hand mit dem Muttermal am linken Daumen und den kleinen Kreuzen hatte.
Und wenn es auch Kornej war, der den Rodionow erdrosselt hatte — das wußte ja jedermann —, Sanofa war jedenfalls mitbeteiligt: ihrer Hände Werk war es!
Das ganze Dorf geriet in Aufruhr.
»Sie wird noch etwas ganz anderes anstellen«, sagte man von Sanofa: »Sie wird einen Hagel schicken und die Felder verwüsten, sie wird einen Blitz herabsenden und das Korn verbrennen, das Vieh umbringen, die Kinder erwürgen, die Weiber verderben, die Männer zugrunde richten, den Fluß austrinken, den Wald mit den Wurzeln ausrotten, weder die Kirche noch ein einziges Haus stehenlassen und selbst den letzten Holzspan nicht verschonen.«
»Sie wird es noch ganz anders treiben«, flüsterte man mit erstarrenden Lippen, »sie wird alle in Eulen verwandeln und in Erdlöchern zu leben zwingen.«
»Einen schwarzen Blick hat sie!«
»Eine verdammte Hand!«
»Eine verdammte Hexe ist sie!«
Foma und Jerjoma redeten den Leuten zu, der Hexe den Garaus zu machen; es fand sich aber kein Kühner: alle hatten viel zu kurze Arme.
Alle wichen Sanofa aus, auch Bruder und Schwester sagten sich von ihr los.
Jedes Unglück, das in Batyjewo vorkam, jede Sünde, alles schrieb man Sanofa zu.
Sanofa lebte nun mit ihrer Mutter allein.
Alle schielten ängstlich nach dem weißen Häuschen mit der blauen Tür und den blauen Fensterladen; man brach den Gesang ab und verstummte, wenn der Blick auf den spitzen Dachgiebel fiel, wo ein Storch wie ein Wachposten das Hexennest bewachte.
Sie aber hielt sich im Hause versteckt, lag am Fenster, sah alles — über drei Felder hinweg konnte sie sehen —, und hörte alles — durch drei Wälder hindurch konnte sie hören.
Sie sah alles und hörte alles, und das Herz verging ihr; aber aufstehen konnte sie nicht.
Öde ist es nun im Hause des alten Tschabak.
Wo das Volk sich einst so drängte, daß die Wände erbebten, hört man weder Lachen noch Trampeln, und draußen vor dem fest verschlossenen Tor sieht man keine Pferdespuren mehr.
Ein Christenmensch kommt um nichts in der Welt in den Hof; er wird lieber an der Schwelle sterben als das Haus betreten.
In den Stuben sind überall Kräuter aufgehängt. Und sie duften so scharf, daß man sich kaum auf den Beinen halten kann. An allen Wänden sind Vögel gemalt: Sanofa hat sie selbst gemalt, es sind aber keine richtigen Vögel, sondern eher geflügelte Kater. Diese Vögel machen es, daß die Wände und das ganze Haus gleichsam davonfliegen möchten.
Nicht geheuer ist es in den Stuben.
Wenn die Mutter mit der Hausarbeit fertig ist, setzt sie sich zu Sanofa. Sie schaut die Tochter mitleidig an und weiß nicht, was sie anfangen soll. Sanofa aber liegt mit offenen Augen da, und in ihren Augen brennt etwas, was man mit keinem Wasser löschen kann.
Sanofa pflegte der Mutter zu sagen:
»Glücklich bist du! Hast dein Leben gelebt, hast getanzt und gesungen, hast so getanzt, daß die Leute herbeikamen, um dich zu sehen. Und ich habe nichts.«
Die Alte erhob sich, schüttelte ihren grauen Kopf, und die Adern an ihrem bronzenen Hals schwollen an.
»Nein, Sanofa, du bist schön und stark, und keine ist so schön wie du!«
Sanofa hörte es nicht und sprach weiter:
»Du bist glücklich. Es muß ja auch glückliche Menschen geben! Wer hat es so eingerichtet? Und was habe ich verbrochen? . . .«
»Nichts hast du verbrochen. Aber die Menschen sind so schlecht.«
»Die Menschen? Sind sie glücklich? Ich aber kenne keinen glücklichen Augenblick . . .«
Die Alte richtete sich auf und sagte:
»Gehen wir von hier fort, Sanofa. Verlassen wir dieses Haus, verlassen wir alles, dann finden wir unser Glück . . . Ziehen wir in die Steppe, in die Freiheit . . .«
»Warum lügst du? Warum sagst du, daß ich schön bin? Was willst du von mir? Wie soll ich von hier fort? Ich bin ja ein Krüppel — und kann nicht gehen! Womit hab ich das verdient? Wer hat es so eingerichtet? Wo ist die Gerechtigkeit?« Sanofa richtete sich auf den Armen halb auf, blickte die Mutter voller Haß an, verfluchte die Menschen und die ganze Welt. Alle erschienen ihr so glücklich, nur sie allein war so unglücklich, ein verkrüppeltes Kind, sie war verdammt und wußte nicht, für welche Schuld.
Und ihr Herz war wie ein zähnefletschender Eber — schreckliche Rache drang ihr aus dem Herzen.
Die Alte ließ sich wieder auf die Bank nieder, schloß die Augen und schlief ein, kraftlos, ohnmächtig, etwas zu tun.
Sanofa verharrte aber noch lange halbaufgerichtet, sich auf die gestreckten Arme stützend, und sträubte die Haare wie eine Katze. Sie zielte irgendwohin mit den Augen und ließ die Blicke im Kreise schweifen. Etwas Unmögliches, Unmenschliches geschah in ihrer Seele, etwas Unmögliches, Unmenschliches ging in ihrem Herzen in Erfüllung.
Um diese Zeit begann es im Dorfe zu brennen, und die Menschen begannen dahinzusterben, und eine Seuche befiel das Vieh, und die Felder wurden ausgetreten — jedes Unheil, jede Seuche, alles kam von ihrem bösen Blick.
Allmählich wurde ihr leichter ums Herz, allmählich zog sie die stählernen Arme wieder ein.
Sanofa verkroch sich in einen Winkel ihres Bettes, schrumpfte ganz zusammen und versteckte sich wie ein verwundetes kleines Tier.
Sie gedachte ihrer Kindheit, des Vaters, ihrer glückbringenden Hand . . . Wie sie einst im Reigen gestanden hatte, wie der Sturmwind kam und wie sie zu Boden fiel, von dem sie sich nie wieder erhob . . . Wie sie sich selbst aus ihrer rechten Hand ihr Glück herauskratzen wollte, wie sie zur Kirche fuhr und, auf allen vieren kriechend, nach Hause zurückkehrte.
Die Alte erwachte.
Sanofa weinte.
Wenn sie weinte, war ihr Gesicht wieder so winzig, kaum faustgroß, wie bei jenem glücklichen Mädelchen, das, ihr glückspendendes Händchen schwingend, auf einem Bein von der Haustür zur Gartenpforte hüpfte, mit feinem Stimmchen sang und das Märchen vom Hahn erzählte, der den Bären gefressen hatte; das mit den Lippen den Donner nachahmen wollte und selbst vor den eigenen Tönen erschrak; das scheltend den Regen zu verjagen suchte und ebenso wie jetzt weinte, wenn der Regen nicht aufhören wollte und man sie nicht aus dem Hause ließ.
»Willst du essen?« fragte die Alte, sich über die Tochter beugend.
»Sterben will ich«, flüsterte Sanofa.
Die Alte biß sich in die welken Lippen, zerrte an den Enden ihres erdgrauen Kopftuches und war selbst so grau wie Erde.
Die Vögel an der Wand reckten ihre Katzenköpfe und flogen irgendwohin; und auch die ganze Wand wollte sich losreißen und davonfliegen.
»Ich will sterben!«
Wenn die Abenddämmerung kam und der laue Abend den Wind des Tages zur Ruhe brachte und die Nacht, mit Sternen wie zu einem Festmahl geschmückt, langsam heraustrat und die von den Sternen geweckten Eulen ihre Trauer in gedehnten Schreien ergossen — kroch Sanofa in den Garten hinaus. Da blieb sie bis zum Morgengrauen unter vier Augen mit der Nacht, grub die Erde um und machte sich mit ihren Blumen zu schaffen.
Manche Nächte aber waren wie Tage, und Sanofa konnte in solchen Nächten nicht vom Bette steigen.
Der Garten verwilderte von Sommer zu Sommer immer mehr. Die Blumenbeete wurden von Unkraut überwuchert, und die Blumen gingen zugrunde. Wildes Steppengras drang in alle Winkel ein. Die Baumäste neigten sich zur Erde, die Schatten wurden immer dicker und vertilgten jedes Licht.
Nachts wurde Sanofa von Träumen heimgesucht; schreiend riß sie sich von ihnen los und lebte dann den ganzen Tag unter ihrem Schatten.
An solchen Tagen sprachen Mutter und Tochter nicht miteinander. Sie sahen sich nur an. Zuweilen war es ihnen zu schrecklich, einander auch nur anzuschauen.
Die Alte legte Karten.
Die Karten prophezeiten nichts Gutes: ›Schlag‹, ›Unannehmlichkeiten‹ und ›Nachtlager‹. Das bedrückte das Herz mit unsagbarer Schwere, und alles endete mit dem ›Gastmahl‹ — der Piquedame.
Nur selten kam es vor, daß ein Morgen das Haus wie mit strahlendem Glück erleuchtete.
Sanofa erwachte und rief:
»Mütterchen, wenn du wüßtest, was mir heute geträumt hat?«
Die Alte lief zur Tochter:
»Was hat dir denn geträumt?«
»Ich träumte von Stiefeln, und dann, daß du mir ein Hemd reichst und das Hemd ganz blutig ist.«
»Stiefel bedeuten eine Reise«, erklärte die Alte. »Das Blut aber das Wiedersehen mit Blutsverwandten. Und mir träumte, daß ich eine aus Samen gezogene Zwiebel esse. Vielleicht kehrt noch der Alte zurück . . .«
Die Alte versank in ihre Gedanken und begann ein Lied zu summen.
»Mütterchen, ich weiß, was es für eine Reise ist: es ist mein Tod.«
Die Alte schwieg.
»Auf dem Friedhof ist es ruhig, dort wird mich niemand anrühren.«
Die Alte schwieg.
Alles fiel ihr aus den Händen: so sehr zitterten ihr die Hände, und sie wußte in ihrem Kummer nicht, ob sie stehend oder sitzend weinen sollte.
Ein Tag folgte dem andern.
So viele endlose, traurige Tage zogen durch das verödete Haus. Man könnte mit dem Kopf gegen die Wand rennen, nur um irgendeinen Schrei aus der Kehle zu pressen.
Ganz gleich, ob das Wetter trocken oder naß war, ob es regnete oder die Sonne schien, die Augen hatten nur den einen Wunsch: sich zu schließen.
Die Alte konnte es nicht länger ertragen, sie fürchtete das Schweigen, sie ging leise auf die Tochter zu und sagte:
»Mein Kind, mein Kindchen!«
»Was ist denn?« fragte Sanofa, ihre schrecklichen Augen auf die gramgebeugte Mutter richtend.
»Ich habe nur so . . . Ich bitte mit dem Herzen . . .«
Es war wohl eine herrliche Nacht: im fernen Sumpfe trompeteten die Unken, kleine Vögel zwitscherten kaum hörbar, und ihr Gezwitscher verschmolz mit dem Zirpen der Grillen, von dem die ganze Erde zitterte. Jenseits des Flusses schrien traurig die Eulen und lärmten die Frösche: es klang, wie wenn ein Wagen über das Straßenpflaster rollt.
Die schlanken Pappeln warfen tiefe Schatten über den mondbeschienenen Hof.
Wie eine weiße Blüte lag Sanofa in ihrem weißen Hemd auf dem Rasen. Traurig fielen ihre dunklen Flechten von den Schultern hinab. Ihre Lippen waren halb offen und ließen die weißen Zähne sehen. Sie starrte zu den Sternen empor.
Die Sterne waren aber so fern.
Ein einziger Gedanke schmolz wie Mondlicht in ihrem Herzen: der Gedanke an den Tod.
Und es kam Sanofa vor, als ob jemand mit einem Licht unter dem Stall hervorkrieche, dann um die Pappel herumgehe, auf den Boden falle und nun den Schattenstreifen entlang zum Garten krieche; das Flämmchen flackerte wie eine Kerze, — wie zwei Kerzen. Und je näher es kam, um so deutlicher konnte sie erkennen, daß es ein Mensch war und daß seine Augen wie Kerzenflammen leuchteten.
Sanofa stützte sich auf die Arme, bog den Kopf wie eine Katze vor und kroch ihm entgegen.
Und so krochen sie aufeinander zu, und die Entfernung zwischen ihnen wurde immer kürzer; schon sah sie seine wehenden Haare und seine lächelnden Lippen . . .
Schon war der Weg durchschritten.
Er streckte seine Arme nach ihr aus, umklammerte sie und drückte sie fest, heiß, für das ganze Leben, für ewig an seine Brust. Plötzlich wurde er ebenso blau, wie er es im Stalle mit der Pferdeleine am Halse gewesen war, er grinste mit seinen schrecklichen Zähnen, hob sie empor, und schon flogen sie — als Bräutigam und Braut — davon.
Man fand Sanofa am nächsten Morgen am Ende des Gartens beim Fischkasten tot auf dem Zaune sitzen: der Teufel hatte sie erwürgt.
Ganz Batyjewo ist betrunken. Gesang, Geschrei und Gestampfe erfüllen die Luft. Man tanzt, ohne die Beine zu schonen. Ganz außer Rand und Band sind die Leute: Foma hat dem Jerjoma sein einziges Auge ausgeschlagen, dem Mitroschka riß jemand den Nabelbruch heraus. Wie sollte man auch bei einer solchen Gelegenheit nicht über die Schnur hauen?
Ich bin der Tiger der alten, von Asche verschütteten, steinernen Stadt, auf Gottes Geheiß geboren und nach dem Zeugnis König Davids zur Geduld verurteilt: Ich bin vor der Zeit, in die Zeit und für die Zeit.
Ich lag träg und lässig in der Allee des Petersburger Sommergartens und betrachtete das Publikum. Es gab nur wenig Spaziergänger, und ich hörte gar kein Lachen, nur hie und da ein widerliches Kichern. Die meisten gingen mit ernsten Gesichtern ihren Geschäften nach, und die Geschäfte, denen sie nachgingen, wurden als etwas so ungemein Wichtiges hingestellt, als ob davon das Heil der Welt abhinge. Ich sah nur die Rücken der Vorbeigehenden und konnte nur aus ihren Worten und Äußerungen, die an mein Ohr schlugen, schließen, was für Gesichter und was für Augen sie hatten. Die Empörung ließ mich auf meine kräftigen Beine springen; ich stürzte voller Wut auf das Häuschen Peters des Großen zu, ich schlug meine Krallen in das Holz und begann den Leuten ins Gewissen zu reden und ihnen klarzumachen, daß sie Betrüger und selbst der einfachsten Sache nicht gewachsen seien, weil ihre Augen trüb und kurzsichtig, ihre Seelen welk und ihre Gesichter schief seien.
Indem ich die Erlöser anklagte, begann ich solchen Unsinn zu reden, daß auch meine Augen sich trübten, meine Seele ausfaserte und mein Gesicht schief wurde. Und plötzlich war ich wie durch ein Wunder in einen Vogel mit lauter Stimme verwandelt.
Ich sang so laut, daß es wohl auf der ganzen Welt keinen Winkel gab, in dem mein Gesang nicht zu hören gewesen wäre. Und da alle meinem Gesange lauschten und an der sonnigen Stelle, wo ich zu singen pflegte, bereits ein Käfig hing und ich wußte, daß man mich einfangen und in diesen Käfig sperren würde, empfand ich es als lästig und auch gefährlich, als Vogel weiterzuleben.
Um mich irgendwie zu retten und mir die Freiheit zu erhalten, senkte ich meine Flügel und schlich mich als diebischer Fuchs in das schmutzige und gemeine Wirtshaus ›Zu den lustigen Inseln‹ in der Werejskaja-Gasse, drängte mich irgendwie durch die Masse der betrunkenen Gäste und setzte mich an den ersten besten Tisch; um keinen Verdacht zu erregen, bestellte ich mir aber eine Flasche vom stärksten und berauschendsten Weine.
Obwohl das Lokal gesteckt voll war und man sich gar nicht rühren konnte, brachte es irgendeine Sascha Timofejewa fertig, sich an meinen Tisch zu setzen. Sie umschlang meinen Hals mit einer Hand und suchte ihr Gesicht dem meinigen zu nähern.
»Lieber Freund, führe mich fort von hier!« flehte sie mich an, und ihr gelber Lackledergürtel knisterte.
Während sich ihr dunkelmattes Gesicht mit den riesengroßen grauen Augen ohne Pupillen meinem Gesicht näherte, senkte sich von der Decke ein Netz so fein wie Spinnweben langsam, aber sicher über mich: ich fühlte, wie ein seidenes Vogelnetz über mich geworfen wurde. Und als die Augen meiner Geliebten schon so nahe waren, daß sie zu einem einzigen grauen Auge verschmolzen, berührte das Netz meinen Scheitel; im gleichen Augenblick drang ein feiner, scharfgeschliffener Haken in mein lebendes Herz. Er hakte sich fest und zog mich schon im nächsten Augenblick roh und blind über die Sascha und den Tisch hinweg zur Decke empor.
Man hatte uns von allen Enden der Welt, aus Australien, Afrika und Südamerika, zusammengetrieben, und ich, der Anführer der Schimpansen, mit dem aus Eiderdaunen gewebten Gürtel um die Lenden, raufte mir die Haare und zerbrach mir den Kopf, wie ich mich von den Ketten, mit denen man uns an Armen und Beinen gefesselt hatte, befreien und in meine Heimat durchbrennen könnte; aber es war schon zu spät. Man trieb uns über die neugepflügten Äcker auf das Marsfeld, und nachdem wir wie Soldaten Aufstellung genommen hatten, begannen Herolde in goldstrotzenden Uniformen mit Straußenfedern an den Hüten, längs der Reihen hin- und herreitend, das Urteil zu verlesen.
Man beschuldigte uns Affen der maßlosen Unzucht, Bosheit, Faulheit, Trunksucht und eines unausrottbaren Hanges zum Diebstahl; unter Anerkennung unserer ungewöhnlichen angeborenen Anlagen zur Entwicklung und Vervollkommnung verhängte man über uns die Anwendung der Geheimmittel des Bologneser Universitätsprofessors Ritters Altenaar, des Nachkommen der Wikinger von Grönland, Island und des Nördlichen Eismeeres.
Von blinder Mutterliebe und Empörung erfüllt, folgte ich der Exekution, die nach all diesen närrischen Zeremonien begann: die gottlosen Menschen durchbohrten uns zum Scherz mit Schusterahlen und bearbeiteten uns nachher mit Eisenhämmern. Sie beschmierten einzelne von uns mit heißem flüssigem Teer, befestigten das eine Ende eines in die Teermasse eingekneteten Strickes an die Körper der Unglücklichen und das andere an das Kummet eines freien und kräftigen Pferdes und ließen sie dann unter Schreien und Johlen der Menge so lange über die Erde schleifen, bis die Opfer verendeten. Andern wiederum steckten sie die Lippen sorgfältig mit Messingnadeln zusammen. Und noch viele andere Scherze wurden an uns zwecks Bändigung verübt.
Als aber das Marsfeld vom Heulen und Winseln gesättigt, als die Erde vom vergossenen Affenblut aufgequollen war und das getaufte und ungetaufte russische Volk sich krank gelacht hatte, kam auf ehernem Rosse ein Reiter in Rüstung aus grünem Erz dahergesprengt. Ein Lasso schwirrte durch die Luft und legte sich mir um den Hals, und ich fiel in die Knie. Ich, Anführer der Schimpansen Australiens, Afrikas und Südamerikas, blickte angesichts des unnötigen und ungebetenen Todes den schrecklichen und stolzen Reiter mit frechen Augen an und schleuderte gegen ihn und den mir verhaßten Tod ein dreifaches Kikeriki.
Ich hatte zwölf unterirdische Kammern und zwölf Schlüssel — man nahm sie mir weg. Ich sammelte mir im Hofe verschiedene Lumpen — man nahm sie mir auch weg. Die Schlüssel und die Lumpen trug man in die Vorratskammer und schloß sie dort ein. Und Wlassow, mit dem ich erst vor kurzem mein Zimmer geteilt hatte und ohne den ich keinen Schritt machen konnte, verließ mich.
Ich bin ganz nackt, und doch rauben sie mich noch immer aus: sie saugen mir das letzte Blut aus dem Körper. Nun hat mich auch noch eine Zitterkrankheit befallen. Mit Tränen in den Augen flehe ich sie an, mich in Ruhe zu lassen und mir nicht so furchtbar zuzusetzen. Sie will aber nicht auf mich hören.
Sie hatten mich frech beraubt, und ich wußte, daß sie mich nicht am Leben lassen würden, daß sie mich unbedingt ins Grab bringen wollten. Ich konnte es nicht länger aushalten und schickte mein Dienstmädchen auf die Ligowka zu einem mir bekannten Sargmacher, einen Sarg zu holen. — Meine Sterbestunde rückte heran, und es kam mir immer klarer zum Bewußtsein, daß sie meinen Leib schon nach wenigen Tagen mit Brot verzehren und nur meine Knochen in den Sarg legen würden.
Mit unsagbarer Mühe kroch ich die Treppe hinunter und wandte mich an den Portier mit der Bitte um Hilfe: ich flehte ihn mit den letzten Kräften, mein letztes Blut vergießend, an, die vornehmsten Bürger der Stadt auffordern zu lassen, gleich morgen zu mir zu kommen, um mich zu bestatten, solange ich noch nicht verzehrt sei.
Und während ich so den Portier anflehte und mich vor ihm bis zur Erde verneigte, sprang plötzlich das Plakat mit der Aufforderung, die Gummischuhe unten beim Portier abzugeben, ab, und an der Stelle, wo es gehangen hatte, trat aus der Wand Wlassow. Indem er seinen stechenden Feuerwehrmannschnurrbart drehte, reichte er mir die Schlüssel, die Lumpen und etwas Roggenmehl, aus dem ich einen dicken Kleister kochen sollte.
Ich stieg einen Turm auf einer steilen, ungewöhnlich schmalen Treppe hinauf. Man hatte mir gesagt, daß ich nur die obere Plattform zu erreichen brauchte; oben würde ich leicht den Eingang in den Himmel finden: dort würde eine Wolke in Form einer Barke zu meinen Diensten bereitstehen, ich brauchte nur einzusteigen und könnte dann fahren, wohin ich wollte.
Der Aufstieg dauerte unendlich lange, die Beine konnten mich kaum tragen, und auch meine Geduld ging zu Ende; der Schädel schmerzte mir; ich nahm mich aber doch zusammen und erreichte schließlich die Plattform. Und was denken Sie? Es gab oben gar keine Wolke in Form einer Barke, dafür stand dort ein Tatar, einer von denen, die mit alten Kleidern handeln; seine Arme reichten aber bis zur Erde hinab. Ich wollte schon wieder hinuntersteigen — was sollte ich denn oben? —, er packte mich aber am Kragen und hob mich mit seinen langen Armen in die Höhe.
»Du ganz gemeiner Schmarotzer! Ebensowenig wie deine Ohren wirst du die Wolke, die du wohl nur aus deinen Büchern kennst, zu Gesicht bekommen, noch die Dinge, die jenseits der Wolke sind. Putz dir erst die Augen, die in allen Dingen nur das Häßliche schauen, und dann bist du uns willkommen!«
Ehe ich ihm etwas entgegnen oder mich rechtfertigen konnte, begann der Tatar mich langsam auf die Erde hinabzulassen. Und als bis zur Erde nichts mehr übriggeblieben war, schlug ich mit der Nase hart am Boden auf und fiel in warmen Kuhmist.
Petersburg stand in Flammen. An den Feuerwehrtürmen hing das Alarmsignal für sämtliche Löschkommandos; sie konnten aber alle nichts ausrichten. Petersburg brannte an allen Ecken und Enden.
Ich und noch ein Herr, der mich bei meinen nächtlichen Abenteuern zu begleiten pflegte, verließen das Haus und fuhren ins Barackenlager. In den Baracken bekamen wir ein riesengroßes Zimmer angewiesen, und hier stellte sich heraus, daß wir gar nicht allein waren: in unserer Gesellschaft befand sich unablässig ein bekannter russischer Dichter.
Wir sahen zum Fenster hinaus: die Straßen waren von Flüchtlingen überschwemmt, und zahlreiche Damen, mit Reisekoffern und gelben Hutschachteln beladen, zogen über den Bürgersteig wie in einer Kirchenprozession. Alle sagten, daß die Feuersbrunst entsetzlich sei und nicht so bald ein Ende nehmen würde. Es roch nach Verbranntem.
Wir beschlossen, gleichfalls abzureisen. Wir nahmen uns eine Droschke und fuhren zu dritt nach Moskau. Ohne uns in Moskau aufzuhalten, begaben wir uns direkt nach der Sommerwohnung im Petrowski-Park. In der Sommerwohnung trafen wir niemanden an. Etwas später erschien ein bekannter Schauspieler, und wir erzählten ihm, welch ein furchtbarer Brand in Petersburg wüte, wie wir in den Baracken gesessen hätten, wie es nach Verbranntem gerochen hätte und daß wir dem Kutscher fünfundsiebzig Kopeken bezahlt hätten.
»Jetzt ist das Pferd hin«, sagte der Dichter. »Wie kann man auch? Neunundzwanzig Werst von Petersburg nach Moskau, ohne Station zu machen, und dann gleich wieder nach Petersburg zurück — das hält kein Pferd aus!«
Ich pflanzte meine Lieblingsblume um. Endlich war ich dazu gekommen. Ich fühlte mich schuldbeladen ihr gegenüber: wenn man soviel andere Geschäfte hat, kommt man selten dazu, sich um sie zu kümmern und das Gras auszujäten; nun ist es schon zu einem dichten Gebüsch ausgewachsen! Immer habe ich etwas zu tun, bald dies, bald jenes. ›Das ist ja eben das Wesen des Lebens, daß man niemals Zeit hat!‹ hat mir einmal jemand gesagt. Nun, der Herr sei ihm gnädig; möchte der, der es gesagt hat, auch in Zukunft niemals Zeit haben!
Ich schüttelte die Erde aus dem Blumentopf, ergriff die Blume am Stengel und bemerkte unten, wo die Wurzeln einen Knoten bilden, einen kleinen Wurm. Kaum hatte ich die Hand ausgestreckt, um den Wurm zu fassen, als er sich in eine kleine Schlange verwandelte, und die kleine Schlange verwandelte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, in eine große. Nun begann ich vor Angst zu zittern. Ich warf die Blume zu Boden und wollte weglaufen, aber die Beine gehorchten mir nicht; ich wollte aufschreien, brachte aber keinen Ton hervor.
Die riesengroße geringelte Schlange Aspis tat ihren Rachen vor mir auf, berührte mit ihrem glühenden Stachel meine kalte Nase und verwandelte sich in einen Fisch mit vielen Zähnen. Mein Gott! Das war ja Echinia selbst! Ohne lange zu überlegen, sperrte die Echinia (und nicht mehr die Aspis) ihren Rachen noch weiter auf — ich hatte kaum Zeit, nach meiner Tasche zu greifen, und stürzte in ihren Bauch. Da war es um mich geschehen.
Ich stehe am Flußufer mitten in einer Volksmenge. Jemand meint, daß diese Volksmenge von der Darstellung des jüngsten Gerichts in der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale zu Solwytschegodsk herabgestiegen sei und daß der Fluß, an dem wir stehen, die Donau oder der Safat sei; es werden noch andere Namen genannt, ich kann sie aber nicht verstehen, da alles in einer barbarischen Sprache erzählt wird.
Wir alle warten auf etwas und sind sehr aufgeregt. Ich kann nicht ruhig an einem Platz stehen und laufe bald zu dem einen, bald zu dem andern und frage:
»Kommt es bald?«
Statt mir zu antworten, zeigt man mit den Fingern auf eine dunkle Masse, die vom Walde her naht.
Am Ufer, dicht am Wasser, ist ein kleiner Platz abgezäunt; auf dem Platz stehen zwei Fäßchen mit einem quer darüber gelegten Brett. Ich dränge mich bis an die Umzäunung vor, richte mich recht bequem ein und beobachte die heranrückende dunkle Masse.
Allmählich kann man die seltsamen Gestalten unterscheiden: an der Spitze reitet auf einem Ochsen der Zeremonienmeister, ein vornehmer Würdenträger mit braunem Vollbart und goldgesticktem Rock; in seinen Händen glänzt ein goldener Stab; nach dem Zeremonienmeister schreiten paarweise Damen in langen weißen Gewändern, mit bloßen Füßen, und jedem Paar folgen Diener, die je zwei Klappstühle und einen Fächer tragen. Endlich erscheint unter einem Baldachin der König: er trägt einen mit silbernen Sternen besäten Mantel, so blau wie der Fluß, und an den Händen weiße Ritterhandschuhe; sein Gesicht ist dunkel wie das eines Mohren, und seine Nase gleicht einer silbernen Sichel.
Der Mann, der neben mir stand und eine staubige rote Perücke aufhatte, seines Zeichens Schwarzkünstler, schnaubte mit der Nase und sagte mir auf russisch:
»Dieser König Napoleon hat eine angesetzte Nase!« Mit diesen Worten stürzte er entseelt zu Boden.
Und ich sah, daß noch viele andere Menschen in der Volksmenge tot niederfielen, offenbar für ihre Blasphemie bestraft. Nun kam es irgendwie zutage, daß es durchaus kein gewöhnlicher König war.
Der Zug kam immer näher. Ich unterschied schon einen schlanken, weißen Hofmann, der dem König folgte und Befehle erteilte. Dann kamen wieder Damen und Diener; polternde Bauernwagen, bis an den Rand mit Rotkohl beladen, beschlossen den Zug.
Alle Blicke waren auf den König gerichtet. Er betrat den am Ufer abgezäunten Platz, und nun kam ich darauf, daß sein Gesicht unter einer Larve verborgen und daß der schlanke Hofmann kein lebendiger Mensch, sondern ein Automat war.
Die Diener legten indessen den Baldachin zusammen und stellten die Stühle auf. Die weißen Damen rafften die Röcke hoch, nahmen Platz und begannen, mit ihren bloßen Beinen baumelnd, ein Gebet zu murmeln. Der König verbeugte sich vor dem Flusse, rief den Automaten herbei und setzte sich zugleich mit ihm auf das Brett, das quer über den Fässern lag, doch so, daß die Mitte des Brettes frei blieb.
Wir riefen alle hurra und schrien so lange, bis der Zeremonienmeister mit dem braunen Vollbart und dem goldgestickten Rock mit seinem Stabe winkte. Nun trat Totenstille ein.
»Warum hast du gesagt«, wandte sich der König an den Automaten, »daß diese Bank zusammenbrechen würde? Du siehst doch, wir beide sitzen auf ihr, und sie ist noch immer ganz.«
Die Stimme des Königs klang so jugendlich und stark, daß ein jeder von uns, von einem plötzlich erwachten Gefühl von Jugend und Kraft ergriffen, emporsprang. Wir alle waren bereit, für unsern König zu sterben.
Die Damen schrien hurra.
»Kaiser, du sitzt nicht richtig, setz dich in die Mitte!« sagte der Automat zum König. Mit diesen Worten erhob er sich vom Brett und ging an den Zaun zu der Stelle, wo ich mich so bequem eingerichtet hatte.
Ich konnte mich nicht enthalten und rührte ihn hinten an: meine Hand stieß auf etwas Metallisches und Kaltes, ich zog sie unwillkürlich zurück und fühlte ein Zittern wie vom elektrischen Strom.
Der König erhob sich. Der König legte seinen Mantel zurecht. Der König setzte sich auf die Mitte des Brettes. Kaum hatte er es berührt, als das Brett mitten entzweibrach. Der König flog in den Fluß.
Die Damen brachen in Tränen aus. Wir schrien hurra und begannen den Automaten zu prellen; während wir ihn in die Höhe warfen, warfen wir auch die Rotkohlköpfe zum Himmel empor.
Man schickte mich in den Wald, Nüsse suchen. »Geh hin«, sagte man mir, »und bring uns recht viel Nüsse.« Ich gehe durch den Wald, schaue nach allen Seiten, stolpere bei jedem Schritt, kann aber keine einzige Nuß finden. Endlich habe ich doch einen Busch entdeckt, aber mit lauter grünen Nüssen, keine einzige reife ist darunter. »Es ist ja ganz gleich: ich bringe ihnen von den grünen, wenn sie durchaus Nüsse haben wollen . . .« Ich greife einen Ast, will die Nüsse abpflücken, aus dem Gebüsch springt aber ein Wolf auf mich los. Ich sehe, daß es schlimm um mich steht, und sage ihm: »Willst du mich denn wirklich fressen?!« Er schweigt. Und ich sage ihm noch: »Friß mich nicht, Grauer, ich werde dir später einmal nützlich sein.« Und ich denke mir dabei: ›Wie werde ich ihm eigentlich nützlich sein können?‹ Und während ich mir das überlege, fraß mich der Wolf.
Über dem Kopfe knarrt ein Riesenbaum, er knarrt und wird gleich stürzen. Und ich stehe unter dem Baum wie gebannt.
Der Baum knarrt unheimlich, das Laub fällt von den Zweigen, und der Wipfel bebt: ich weiß nicht, ob es der Wind macht oder ob er von selbst wie vor dem Sturze bebt.
Der Baum knarrt, er knickt ein — er wird mich erschlagen . . . Und ich kann nicht fort.
Ich ging über die schmale, schwankende Brücke, die von Fels zu Fels über den Abgrund führte. Es war aber unmöglich, direkt von der Brücke an das andere Ufer zu kommen: man mußte entweder hinüberspringen, wie es mein Gefährte getan hatte, der nun am anderen Ufer stand und mir die Arme entgegenstreckte, oder aber auf den Steg treten, ein schmales Brett, das mit Stricken an irgendeinem Nagel irgendwo in den Wolken befestigt war und von dem man mit einem einzigen Schritt ans Ufer gelangen konnte. So wollte ich es machen. Ich trat auf den Steg. Kaum aber hatte ich die Hände meines Gefährten ergriffen, als der Steg zu schwingen begann und immer mehr und mehr in Schwung kam. Ich flog auf dieser höllischen Schaukel immer höher empor, und mein Gefährte flog mit mir mit, und so schaukelten wir über dem Abgründe.
Mein Herz verging und erstickte und stand endlich ganz still.
Der stille Herbstregen, fein wie Staub, fällt im dichten Nebel. Ich weiß nicht, wohin und wozu ich gehe und was mich treibt. Endlich bleibe ich vor dem Stadttor stehen. Die Torhüter öffnen mir schweigend das Tor, und ich gerate in eine schmale, von zwei hohen Mauern eingeschlossene Gasse. Männer und Frauen, Körbe voll Brot auf den Köpfen, kommen mir entgegen. Wie ich mit diesem seltsamen Zuge zusammentreffe, wende ich mich an einen der Männer und sage:
»Gib mir eine Semmel.«
Er gab sie mir. Ich weiß aber nicht, ob ich die Semmel aufessen oder in die Tasche stecken oder nach Hause tragen soll; ich weiß auch gar nicht, wohin ich gehe.
»Die Tiere hat man herausgelassen! Die Tiere!« schrie irgendein Mann, an mir vorbeilaufend, während die Fetzen eines zerrissenen roten Hemdes hinter seinen Schultern wie zwei Flügel flatterten.
Und alle befiel eine furchtbare Angst, und diejenigen, die in meiner Nähe waren, warfen ihre Brotkörbe hin und rannten davon.
Und dieser schreckliche Schrei! . . . Es wurde mir klar, daß es mein eigener Schrei war.
Die Tiere, anfangs kaum wahrnehmbar, dann immer drohender, rückten heran. Das Fell auf den schwarzen und rauchgrauen Rücken sträubte sich, die grellgelben Flecken an den Bäuchen schimmerten in fettigem Glanz. Ich stand allein, rings von den vielen roten offenen Rachen umgeben; die roten Zungen bewegten sich in ihnen wie Uhrpendel.
»Tiere, da habt ihr die Semmel!«
Kaum hatte ich aber diese Worte: ›Tiere, da habt ihr die Semmel‹ gesprochen, als alle Tiere, die großen und die kleinen, die grauen und die schwarzen, die einohrigen und die einzahnigen, die stößigen und die bissigen, ihre Pfoten einzogen und in Schlummer versanken.
Ich war in eine Gesellschaft von Nackten geraten: sie laufen so ganz ohne jede Kleidung herum. ›Sie schämen sich wohl furchtbar, diese Unglücklichen‹, dachte ich mir, alle diese mageren, dicken, aufgedunsenen, knochigen, häßlichen Gestalten betrachtend.
»Nein, wir würden uns schämen, wenn wir uns plötzlich ankleideten«, sagte mir einer der Nackten, der meinen Gedanken offenbar belauscht hatte.
»Schämt man sich denn, wenn man angezogen ist?«
»Das eigentlich nicht . . .«
»Wie häßlich ihr doch alle seid!« unterbrach ich ihn.
»Wenn wir häßlich sind, so mach, daß du fortkommst, solange deine Knochen ganz sind«, sagte mir wütend ein anderer Nackter.
»Was ist eigentlich die schwerste Sünde?« fragte ich ihn.
»Einst galt es als die schwerste Sünde, ein Feuer auszulöschen. Diese Sünde haben wir nie begangen: die Feuerwehr nimmt keine Nackten auf.«
»Ich habe auch keine Lust, zur Feuerwehr zu gehen«, stimmte ich ihm zu. Dann ging ich auf die Seite und zog mir die Stiefel aus.
Mit den Händen am Gesimse gleitend, die Beine in der Luft, bewege ich mich längs des unendlichen Holzdaches eines unendlichen Holzbaues fort. Grelles Sonnenlicht fällt mir in die Augen. Morsche Holzstücke fallen mir unter den Händen ab, meine Hände rutschen — mir stockt der Atem, und ich möchte abstürzen, damit es doch einmal ein Ende nimmt! Aber ich bewege mich immer weiter.
Ich sehe unter mir Bäume, Flüsse, Bäche und eine Stadt.
Ich kroch unter das riesenhafte Haus, das noch nicht ganz fertig war, Man baute es so, daß der ganze Bau in der Luft hing und nicht stürzte, weil ein dickes, an das Fundament befestigtes Tau ihn mit der Erde verband. Ich kroch mit einem Beil in der Hand unter den riesenhaften Bau, erreichte den Mittelpunkt, wo das Tau befestigt war, holte mit dem Beil aus und hieb auf das Tau ein. Und als ich so weit war, daß das Haus jeden Augenblick einzustürzen drohte, spuckte mir jemand von oben auf den Kopf.
Ich liege im leeren Zimmer und fühle, daß sich unter dem Bett etwas aufrichtet, umwendet und wieder still wird. Ich spitze die Ohren und horche: die Pfoten knacken, etwas Rauhes kriecht über den Boden, es stößt wohl an meine Stiefel, wendet wieder um, es holt Atem und kriecht weiter.
Ich liege da, ich rühre mich nicht, und ich weiß, daß es schon ganz nahe ist: gleich macht es einen Bogen um den Stuhl, nimmt mich aufs Korn und springt mit einem Satz auf mich herauf.
Im Hause haben sich Mäuse eingenistet und trippeln umher. Ich lauerte einem Mäuschen auf und packte es beim Schwanz. Es biß mich augenblicklich in den Finger. An der Stelle, wo es mich gebissen hatte, wuchsen mir lange Haare. Ich ließ die Maus los, sie fiel zu Boden, setzte sich und lief gar nicht fort.
»Wie kann man nur so!? Man muß es vorsichtig machen und sie durch Liebkosungen zu gewinnen suchen!«
Ich ergriff sie vorsichtig am Pfötchen, streichelte ihr den Rücken, sie aber sprang mir an den Hals, beschnupperte mich und bewegte ihren Schnurrbart.
Wir standen am Rande des Kraters. Der Lange, der seit so vielen Monaten nicht von mir weicht und mir fortwährend allerlei Dummheiten erzählt, sprang, ohne sich die Lippen abzulecken, glatt hinüber, ich aber stürzte hinein. Mit unendlicher Mühe, mich im Finstern an die Kleiderhaken festklammernd, klettere ich an die Oberfläche. Der Lange ruft mir aber zu:
»Komm schneller heraus. Sonst werden die Makkaroni, die ich gekocht habe, kalt. Gesalzen sind sie auch schon!«
Scher dich zum Teufel mit deinen Makkaroni! Die Finsternis ätzt mir die Augen. Wenn ich doch nur herauskriechen könnte . . .
Eine rote, glühende, mit dünner Asche bedeckte Steppe. Zwei rote, kräftige Kämpfer haben sich in verzweifeltem Ringen umfaßt. Und der, der älter aussah und dessen Körper gebräunter war, blieb Sieger. Ich stürzte zu diesem Sieger hin, ergriff seine Hand, biß mich mit den Zähnen in sie hinein, berauschte mich am dunklen, dicken Blut, das aus der Wunde emporsprudelte, und blickte ihm in die Augen, die vor Schmerz trüb geworden waren. Ich blickte ihm lange in die Augen und wußte es ganz gewiß: gleich wird er seine Hand befreien und mich mit einem Schlage zermalmen.
Das Blut aber sprudelte unaufhörlich.
Wir wateten lange durch den Fluß, nur unsere Köpfe ragten aus dem Wasser. Mein vor mehreren Jahren verstorbener Freund, der immer betrunken ist und ein rotes, aufgedunsenes Gesicht hat, geht voraus, und ich gehe ihm nach. Er geht mit trägen Schritten, den zerzausten grauen Kopf auf die Brust gesenkt, blickt manchmal zurück und blinzelt mir zu. Endlich erreichen wir ein Haus und kommen, naß wie wir sind, in den Saal. Im Saale findet gerade ein Ball statt; wir sehen viele tanzende Paare und hören lustige Musik. Alle bleiben plötzlich stehen, alle Blicke sind auf uns gerichtet. Wir aber sind patschnaß.
»Tanzen! Tanzen!« schreien plötzlich alle auf, die Musik schmettert von neuem, und die Töne sind so ansteckend lustig, daß man Lust hat, unaufhörlich, unermüdlich weiterzutanzen . . .
Ich habe aber keine Lust, noch länger durch den Fluß zu waten; ich steige darum in den Zug und setze die Reise mit der Eisenbahn fort. Der Zug hält auf freiem Felde. Ich trete in das Bahnwärterhäuschen und setze mich ans Fenster.
»Sie fahren, sie fahren!« murmelte der Weichensteller im Vorbeigehen, und im gleichen Augenblick fuhr eine Equipage vorbei. Ich sah ein junges Paar darin sitzen; sie war im Brautkleide und er im Frack.
Sobald die Equipage mit dem Brautpaar verschwunden war, kam polternd ein riesengroßer Leichenwagen gefahren, und im Wagen lag ein riesengroßer Leichnam. Die Pferde liefen Galopp, auf dem Bock saß kein Kutscher, und niemand lenkte das Gespann.
Ich sprang aus dem Bahnwärterhäuschen und ging quer über das Feld. Das Feld war staubig, ebenso der Wind.
Es ist ungemein schwierig, fast unmöglich, diesen sonderbaren turmähnlichen, innen vollkommen hohlen Bau zu besteigen. Die Stufen sind so abgenagt, daß man stellenweise Schritte von anderthalb Klaftern machen muß. Wir steigen in großer Gesellschaft hinauf, kennen aber einander nicht, wenn wir auch so tun, als ob wir einander durch und durch kennten. Hinunterschauen ist verboten; wer es trotzdem tut — es gab auch solche Helden unter uns —, der ist erledigt: der fliegt kopfüber in den Keller. Niemand hat den Keller gesehen, aber alle wissen, daß er tatsächlich existiert und sehr kalt und finster ist. Endlich erreichen wir die obere Plattform; sie ist fest gebaut, ganz aus Eisen und wird von eisernen Balken gestützt.
Eine Lehrerin — oder Nonne, die früher einmal Lehrerin gewesen ist — steht oben und zeigt jedem von uns durch das offene Fenster die Welt. Sie sagt ausdrücklich:
»Schaut, Kinder, da ist die Welt.«
Wir sehen den Sonnenuntergang, kolossale Häuser, riesenhafte Ziehbrunnen, Feuerwehrdepots und eine Kirche mit hohem Glockenturm; oben am Kreuze der Kirche kleben andere Menschen und betrachten gleich uns die Welt. Die Gefahr ist dort wohl viel größer als bei uns; es ist ganz unverständlich, wie sie sich da überhaupt festhalten können und nicht herunterfallen!
Es ist aber verboten, allzulange auf die Welt zu schauen. Die Lehrerin gibt einem jeden von uns ein Stück Talg. Wir schmieren uns damit die rechten Hüften ein, die Frauen binden ihre Röcke hoch, und nun beginnt der Abstieg: wenn man richtig eingefettet ist, gleitet man ganz leicht den Strick hinab.
»Hier unten gibt es doch sicher alte Fresken?« frage ich meinen Nachbarn, einen alten Mann in Aluminiumstiefeln.
»Ja, der Bau ist alt, sehr alt, stammt noch aus Kains Zeiten!«
Ein altes Mütterchen mit Mäusepfoten bekreuzigt sich.
»Es gibt hier allerlei Heiligenbilder«, sagt sie, mit ihrem einzigen Finger auf die Mauer zeigend, »geweihte und ungeweihte: das ›Waisenkind Jesus‹, die ›Vier Festtage‹ . . .«
Es hängen tatsächlich viele Heiligenbilder an den Wänden, und durch die kleinen, vergitterten Fenster, an denen wir vorbeigleiten, sind Mönche zu sehen.
Am Keller schleichen wir mit größter Vorsicht vorbei, denn wir fürchten hinunterzufallen.
»Wenn aber jemand zu Gott beten will?« fragt die Alte mit den Mäusepfoten.
»Alles hängt von Mirax Miraxowitsch ab«, sagt ein gehörnter junger Mann.
Wir drängen uns zusammen und geben uns Mühe, eine einzige kompakte Masse zu bilden, denn die Rothäute, die in den um den Keller herum gelegenen Zimmern wohnen, sind erwacht. Da haben sie eben einen Jungen gepackt und weggeschleppt. Die Hühnerfedern, die ihre roten Hüften verdecken, flimmern nur so. Wir werden unser immer weniger, sie aber bilden eine ganze Armee.
»Jetzt sind Sie an der Reihe!« sagt mir halb im Scherz eine kranke Frau mit einer Markttasche in der Hand. Auf der Markttasche ist ein Löwe gemalt.
Ich aber habe nur den einen Wunsch, möglichst tief in die Mitte zu kommen, und beginne schnell zu zählen: ich glaube, daß es mir helfen könnte. Aber meine Beine sind zu einem Stück Holz erstarrt . . .
Sie haben mich schon, ich bin verloren!
Eine braune Schlange liegt da — nur die Haut allein ist von ihr übriggeblieben, ganz eingetrocknet ist sie. Ich berühre ihre Kehle, in der Kehle sitzt eine Kupferkopeke, ist wohl steckengeblieben. Nun weiß ich, warum die Schlange eingetrocknet ist: an der Kupferkopeke ist sie erstickt.
Eine Katze läuft daher, so braun wie die Schlange, mit grauem Schnurrbart und leuchtenden grünen Augen. Und sie springt der Schlange in den Rachen. Ich sehe nur noch den Schwanz, nun ist er auch schon im Schlangenrachen verschwunden. Und nun beginnt die Schlange mit der Katze zu kreisen, zu rasen, zu wirbeln.
Ich springe schnell zur Seite, verstecke mich und denke mir: ›Das sind böse Zeiten! Die Schlange hat mich nicht angerührt, die Schlange ist eingetrocknet, aber die Katze in der Schlangenhaut . . .‹ Ich hatte nicht Zeit, den Gedanken zu Ende zu denken, als sich etwas in mich hineinkrallt und auch ich mich wie ein Kreisel zu drehen begann.
Ich bin nicht in meiner Stadtwohnung, sondern irgendwo in einer Villa am Meer. Ich wohne nicht allein, mit mir zusammen wohnt T. Jeden Morgen baden wir im Meere, erst er, dann ich.
Unsere Petersburger Köchin Karassjewna erzählt:
»Nach dem andern Herrn fische ich aus dem Meere ganz winzige Teufelchen heraus, aber nach Ihnen, gnädiger Herr, einen Teufel von dieser Größe!«
Ich weiß nicht, was ich der Köchin darauf sagen soll: die Alte hat die Hände auseinandergespreizt und will mir zeigen, wie groß der Teufel war, den sie herausgefischt hat. Ich blicke von ihr weg und schaue auf die Birke: vor dem Haus steht eine alte Birke.
Neben der Birke steht ein weißes Pferd. Ich schaue auf das Pferd. Ein Spatz fliegt vorbei, hüpft dem Pferd auf den Kopf und beginnt ihm die Augen auszupicken. Und er pickt sie ihm gänzlich aus. Blut fließt aus den Augenhöhlen.
Neben der Birke steht das weiße Pferd, das Blut fließt. Und ich weine, und meine Tränen fließen wie das Blut.
Wir gehen beide über den Platz an der Frauenkirche, ich und mein Freund, der Hofmusiker im himbeerroten Rock. Ich zeige dem Musiker die Stadt Nürnberg, die Türme, die so schwarz sind wie das schwärzeste Gußeisen, und die lilagrauen, wie mit Asche überpuderten Häuser.
Wir gehen und sprechen miteinander. Es ist mir so lustig zumute, das Herz zittert vor Freude. In mildem, goldenem Lichte strahlt der Schöne Brunnen. Plötzlich besinne ich mich, daß ich nach Hause muß: zu Hause habe ich etwas vergessen, weiß aber nicht mehr, was . . . Ich lasse den Musiker stehen und gehe. Ich gehe aber nicht mehr durch Nürnbergs Straßen, sondern durch die Tawritscheskaja zu Petersburg.
Schon im Vorzimmer höre ich Lärm, Nun weiß ich es: es ist die, der ich erlaubte, eine einzige Stunde in meinem Zimmer zu bleiben; nun sitzt sie immer noch da.
Ich sage mir: ›Ich kann ihr doch nicht ins Gesicht sagen, daß sie fortgehen soll. Ich will es ihr freundlich vorhalten, ich verstehe ja auch freundlich zu sprechen!‹
Ich trete in mein Zimmer, es ist auffallend groß, viel größer, als es in Wirklichkeit ist. Es ist mir aber nicht mehr um das Zimmer zu tun — ich fühle, wie sich mir der Magen umdreht. Es ist ja auch wirklich unerhört: ich hatte es ihr allein erlaubt, und nun sitzen ihrer drei da; sie haben sich auch nicht für eine Stunde niedergelassen, sondern für immer.
Die eine, der ich es selbst erlaubt hatte, schreibt auf meinem Papier; die andere, die ich gar nicht kenne, eine alte Zwergin, liegt auf dem Sofa; und die dritte liegt im Bett, und ich kann ihr Gesicht gar nicht sehen.
»Welches Recht haben Sie«, sage ich, »sich in meinem Zimmer niederzulassen? Ich habe es Ihnen nur für eine Stunde erlaubt, und auch nur Ihnen allein!«
»Wo soll ich denn hin?« sagt der zudringliche Gast, ohne vom Papier aufzublicken.
»Das geht mich gar nichts an! Ich kann es nicht dulden, daß Sie in meinem Zimmer bleiben! Verstehen Sie mich?« Die alte Zwergin aber streckt vom Sofa die Hand aus und packt mich plötzlich am Rockschoß.
»Nun weiß ich, um was es sich handelt!« sagt die Zwergin und zieht mich gehässig zu sich heran.
Der Haß versengt mich, ich will mich losreißen, aber ihre Hand hält mich fest.
Ein herbstliches Feld. Das Korn ist abgemäht und zu Garben gebunden; die Gerste steht noch da, und ihre Bartfäden ragen empor; zärtlich und liebevoll ranken die Erbsen. Plötzlich erscheint ein Fuchs, ein riesengroßes Tier, der Schwanz allein ist ein ganzer Pelzmantel.
›Der Fuchs wird uns überfallen und auffressen!‹ dachte ich mir. Dasselbe dachte sich auch mein Gefährte. Ohne ein Wort zu sagen, liefen wir dem Fuchs nach.
Wir holten den Fuchs ein, warfen ihn zu Boden und begannen ihn zu würgen. Es war aber gar nicht so leicht. Schließlich brachten wir es doch fertig. Tot, groß, rot und weich lag der Fuchs auf dem Boden.
Wir zogen dem Fuchs das Fell ab, machten ein Feuer, sengten das Fell an und begannen es zu essen. Es schmeckte gar nicht gut und hatte den widerlichen Fuchsgeruch, wir aßen es aber doch.
Und so verzehrten wir das ganze Fell. Als wir es aufgegessen hatten, schrie ich auf:
»Mein Gott, was habe ich angerichtet! Was für einen Pelzmantel hätte man daraus machen können und was für einen Muff!«
Es war aber schon zu spät: das Fell war aufgegessen, das Feuer erloschen, und es roch nur noch nach Verbranntem.
Ein trüber Maiabend. Bei St. Sulpice läutet es wie zu einer Volksversammlung. Ich gehe aber nicht in die Kirche, sondern zugleich mit vielen anderen Menschen zum Kai. Wir sind alle schwarz gekleidet. Auf der Brücke begegnen wir einem Zug Reiter; auch sie sind schwarz gekleidet und halten Besen in den Händen: es ist ein ganzer Besenwald.
›Es ist die Revolution‹, denke ich mir und höre, wie die Uhr an der Notre-Dame schlägt; Schlag folgt auf Schlag, elf Schläge sind es. Jeder Glockenschlag ist ein Vöglein mit lila Federn, das mich ins Herz pickt und in meinem Herzen schmilzt.
»Sursum corda!«2)
Ich bin aber schon weit weg, in St. Cloud. Es ist ein warmer, sonniger Tag. Ich sehe eine bunte, festlich gekleidete Menge. Wir stehen um ein Podium herum, auf dem Feuerwehrmänner mit Blasinstrumenten sitzen: es ist ein Feuerwehrorchester. Wir alle warten auf etwas; die Feuerwehrmänner haben schon die Instrumente an die Lippen gesetzt und warten auf ein Zeichen.
Da sehe ich ihn, wenn auch im Nebel, aber ich kann ihn doch erkennen: Napoleon. Napoleon steht auf dem Podium und hält den Taktstock in der Hand. Gleich schwingt er den Stock, gleich erdröhnt die Musik.
›Napoleon!‹ denke ich mir: ›Das ist also Napoleon!‹ Ich blicke unverwandt hin und will sein Gesicht sehen, ihm einmal in die Augen schauen, er aber steht wie gefesselt da und wendet sich gar nicht um.
Und ich höre die Glocke von St. Sulpice und zugleich die Schläge der Uhr an der Notre-Dame. Schlag folgt auf Schlag, elf Schläge sind es, und jeder Glockenschlag ist ein Vöglein mit lila Federn, das mich ins Herz pickt und in meinem Herzen schmilzt.
»Sursum Corda!«
Ich befinde mich in einem Schuppen. Der Schuppen gehört zum Pariser Hotel de l’Univers. In dem Schuppen ist es sehr eng, zahllose Kisten stehen umher, Haufen von Stroh und Sägemehl; es ist auch finster. Ich blicke genauer hin und erkenne den Philosophen Sch. Der Philosoph sitzt auf einem zerbrochenen Vogelbauer dicht vor der Tür; er hat einen Mantel mit Lammfellkragen an, doch keinen Hut auf.
›Natürlich muß es so sein‹, denke ich mir, ›er hat seinen Hut verloren und sitzt darum mit bloßem Kopf da.‹
Wir sind aber nicht mehr im Schuppen, sondern gehen über ein Feld. Auf dem Felde ist es öde, wir sehen nichts als Gebeine und Gräber, es ist ein trauriges Land.
»Russisches Land! Armes Rußland! Schwarze Menschen, die sich gegen die Mächtigen erhoben haben! Und das nennt sich ein gerechtes und wahrhaftes Gericht!«
Der Philosoph bückt sich über ein Grab.
»An diesem Beispiel können Sie es sehen!« sagt er mir und reicht mir ein Knäuel Gedärme.
Wir gehen schweigend von Grab zu Grab. Die Gräber sind offen. Ich sehe es nicht, aber ich fühle, daß sich in ihnen etwas regt, und höre, wie schwerer Goldbrokat knistert. Ich möchte gern in ein Grab hineinschauen, habe aber furchtbare Angst.
»Du bist der Urheber dieses Blutvergießens«, schrie plötzlich jemand aus einem Grabe. »Du bist der verdammte Feind, der Christusverkäufer, der abgefeimte Schurke, der Feind Gottes!«
›Das ist die Moskauer Unbildung!‹ denke ich mir und sehe: durch das Feld geht ein Pilger, sieht ganz wie unser Wassja der Barfüßige aus; über den Lumpen trägt er einen Frack und hat an der Brust ein riesengroßes steinernes Kreuz hängen. Der geweihte Pilger lächelt.
»Noli eos esse meliores!«3) sagt er und lächelt.
»Vielleicht hat er auch recht«, sagt der Philosoph.
Wir stehen zu dritt vor dem offenen Grabe. Der Pilger lächelt.
»Dieser Wassja der Barfüßige hat ja auch keinen Hut auf!« Ich nahm mir den Hut vom Kopfe und erwachte.
Im Hause fand das große Reinemachen statt — es ist das die gräßlichste Zeit vor den Feiertagen und kann höchstens noch mit dem Umziehen in eine neue Wohnung verglichen werden. Man gab sich die größte Mühe: man holte von der Decke mit langen Besen den verrauchten Staub und das Spinngewebe herunter, wusch die Fenster und Fensterbänke und machte sich schließlich an die Fußböden. Diese aber starrten so vor Schmutz, daß man sie weder abwaschen noch abkratzen konnte; überall waren auch Spuren bloßer Füße zu sehen. Die Oberaufsicht bei dem Reinemachen hatte ein mir unbekannter zottiger Mann mit Hundeschnauze. Als dieser Mann einsah, daß alle Mühe vergebens war, nahm er all seine staubigen Besen und Schabeisen zusammen, spuckte aus und verschwand.
Als ich allein geblieben war, blickte ich vorsichtig unter das Bett.
›Aha!‹ sagte ich mir, ›da ist also die Schmutzquelle!‹ Ich empfand solchen Ärger und solche Abneigung, mich vor den Leuten zu erniedrigen und sie zu bitten, den Schmutz unter dem Bett zu beseitigen oder mich selbst zu beschmutzen, daß ich meinen Rock auszog, mich bis aufs Hemd entkleidete, Syndetikon zur Hand nahm und mich damit ordentlich einschmierte. Dann legte ich mich auf den Fußboden und begann mich zu wälzen.
Ich lag an ein eisernes Bett gekettet, doch nicht im Obuchowschen Krankenhause, sondern im Grabe, und war nicht aus dem Polizeirevier, sondern aus der Kirche zu Mariä Schutz und Fürbitte unmittelbar nach der Einsegnung hergeschafft worden.
Mein Herz zerriß in Stücke! Warum hatten mich die Totengräber mit solchem Haß verscharrt?! Ich habe ihnen doch nichts getan, bei Gott! Ich tue keiner Fliege etwas zu Leide und verstehe so gar nicht, mit einem Gewehr umzugehen.
Während ich mich in meiner traurigen Lage auf diese Weise quälte, besuchten mich drei Teufel. Zwei von ihnen waren mir gänzlich unbekannt: sie waren still und schwach und atmeten kaum; der dritte bemühte sich zwar, vor meinen Augen eine Verwandlung durchzumachen, doch ich erkannte ihn sofort: es war der Schalterbeamte von der Postfiliale Nr. 10 namens Kisseljow.
Alle drei Teufel stellten sich harmlos, sanft und freundlich und stammelten mit feinen Kinderstimmen etwas höchst Naives und Einfältiges. Ich erriet aber intuitiv, was sie im Sinne hatten: sie hatten es auf meine Extremitäten und meine Wirbelsäule abgesehen.
»Nein, so billig bekommt ihr mich nicht«, sagte ich mir, »ich werde euch schon von meinem Haferbrei zu kosten geben!« Ich spannte alle meine Kräfte an, riß mich vom eisernen Bett los, stürzte mich plötzlich auf die Teufel und ging mit ihnen fürchterlich ins Gericht.
Der eine ließ mir zum Andenken einen Büschel Haare zurück, dem andern biß ich einen Finger durch; als ich aber schon triumphieren wollte, nahm dieser Kisseljow eine Handvoll Unrat und verpappte mir damit, ehe ich mir’s versah, den Mund. Und ich begann zu ersticken.
Teils in Reih und Glied, teils einander überholend, voreinander ausweichend und ungestüm vorwärtsdrängend, laufen wir durch die Marossejka zum Roten Platz. Wir eilen alle zur Richtstätte, um die Ankündigung anzuhören, deren bevorstehende Verlesung heute an allen Straßenecken und in allen Sackgassen bekanntgegeben worden war.
Die Uhr am Spaski-Turm hatte schon zwölf geschlagen, und das Volk strömte noch immer zusammen. Die Richtstätte selbst blieb aber noch frei; einigen Gassenjungen gelang es ab und zu, sich ihrer zu bemächtigen, sie flogen aber zum allgemeinen Vergnügen sofort wieder hinaus.
Mit Hilfe eines mir befreundeten Parkettbohners von der Sazepa kletterte ich auf das Dach der Basiliuskathedrale, von wo aus ich auch das kleinste Detail verfolgen konnte.
Die Menge räusperte sich plötzlich wie ein Mann, wich etwas zurück und entblößte die Köpfe, und auf der Richtstätte erschien ein kleiner Mann in hohem Stehkragen und Smoking; sein Kopf war aber nach Weiberart mit einem Tuch umbunden.
»Es ist der Narr in Christo«, brauste es über den Platz von Mund zu Mund, »das ist er selbst!«
Die Uhr am Spaski-Turm begann wieder zu singen und sang sehr lange: dreizehn.
»Nehmen Sie Platz, meine Damen und Herren«, sagte der Narr, nachdem er sich nach allen vier Himmelsrichtungen verneigte: vor dem Kreml, vor der Moskwa-Vorstadt, vor dem Historischen Museum und vor dem Großen Kaufhause.
Da ich schon saß, aber gegen die Aufforderung nicht verstoßen wollte, rückte ich ein wenig auf meinem Platz hin und her, als ob ich mich gerade setzte. Alle andern, die unten standen, folgten der Aufforderung bedingungslos und ließen sich, wenn es auch nicht ganz bequem war, augenblicklich auf den Boden nieder.
»Meine Damen und Herren«, begann der Narr nach der Weise des Kirchenliedes, das am Feste der Erscheinung der Heiligen Jungfrau gesungen wird: »Wir alle haben in der Schule die Gebote gelernt, und jedermann weiß, daß es ihrer zehn gibt. Nicht wahr, zehn?«
Die Menge antwortete wie aus einem Munde, wie man bei der Ostermesse in den Kirchen ›Christ ist erstanden‹ ruft.
»Nun sehen Sie es, meine Damen und Herren«, fuhr der Narr in der gleichen Weise fort. »In Wirklichkeit sind ihrer aber nicht zehn, sondern vierzehn. Unsere Väter haben sie vor uns verheimlicht; aber wir haben sie ebenso wie die weisen Väter seit jeher befolgt.«
»Wir haben sie befolgt«, blökte die Menge.
»Nun sehen Sie es selbst!« sang der Narr. »Nach den Berechnungen des Kugelheim von Gustav ist nun die Zeit gekommen, sie vollständig zu verkünden und nicht mehr heimlich, sondern öffentlich zu befolgen. Vernehmt also und schreibt euch in eure Herzen diese neuen Gebote:
Das elfte: Du sollst nicht Maulaffen feilhalten.
Das zwölfte: Du sollst deine Zunge im Zaum halten.
Das dreizehnte: Du sollst ehebrechen.
Das vierzehnte: Du sollst stehlen.«
Der Narr schüttelte sich so vor Lachen, daß das Tuch in den Nacken rutschte; vor dem verdutzten und irre gemachten Volke leuchtete blitzschnell ein Augenpaar auf und erschien das grausame Antlitz des Zaren Iwan.
Die Uhr am Spaski-Turme begann wieder zu singen und sang sehr lange: vierzehn.
Ich bin in ein leeres Haus geraten; es sind zwar Tische, Stühle und andere Möbel darin, und doch ist das Haus irgendwie leer. Ich bin nicht allein, mit mir ist der Student P. in schwarzer Studentenjoppe, mit schwarzem Knebelbart und einer schwarzen Brille.
Rings um mich her erscheinen eine nach der andern, anfangs verschwommen, dann immer deutlicher werdend, Gestalten: es sind kleine, aufgedunsene Knirpse. Ihre Anwesenheit in diesem unbewohnten Hause flößt mir Angst ein.
»Schauen Sie doch zum Fenster hinaus«, sagt mir der Student, der offenbar erraten hat, wie unheimlich es mir in diesem leeren Hause zumute ist.
Ich trat ans Fenster und sah hinaus. Das Fenster ging nach dem Garten. Es fügte sich aber irgendwie so, daß ich mich unwillkürlich vom Fenster abwandte und ins Zimmer blickte. Von den vielen Gestalten löste sich nun eine schlanke Frau mit einem Kind auf den Armen ab. Ich dachte mir:
›Wenn ich über sie das Zeichen des Kreuzes mache, wird sie verschwinden.‹
Ich bekreuzigte sie auch tatsächlich zweimal; die Frau sah mich aber verständnislos an und bekreuzte sich selbst, als wollte sie mir zeigen, daß ich mich geirrt habe. Der Student war auf einmal verschwunden. Ich ging zur Tür, blieb aber stehen. Ich konnte nicht fort. Wer weiß, ob ich nicht auch in den anderen Zimmern auf dasselbe stoße? Und plötzlich bemerkte ich eine andere Frau. Sie lag in der Ecke auf einem Sofa. Sie war klein, ziemlich dick und hatte rote Backen, eine flache Nase und einen häßlich vorstehenden Unterkiefer.
»Nein, so muß man es machen!« sagte sie mir, indem sie sich aufrichtete und ihre rote Bettdecke durch die Luft schwenkte.
Im gleichen Augenblick begann sich das Gesicht der schlanken Frau mit dem Kinde zu verändern und die häßlichsten Mienen anzunehmen: die Nase wurde so lang, daß sie bis unter die Lippen reichte, die Augen aber sprangen aus ihren Höhlen heraus und blieben wie zwei Säcke hängen.
Die Rotbackige auf dem Sofa schwenkte wieder die Bettdecke, und das Kind in den Armen der Frau begann zu schmelzen, sein Rumpf wurde immer kleiner und kleiner, Arme und Beine verschwanden, und schließlich blieb nur noch der Kopf übrig.
Ich rollte einen steilen Abhang hinab und geriet in einen Garten. Es war der Vergnügungspark ›Der Meierhof‹. Da ist ja auch schon die Billettkasse. Ich trete vor den Schalter, um mir eine Eintrittskarte zu lösen. Ich schaue hinein und sehe den mir bekannten Kassierer Beljakow. Ich muß bemerken, daß ich mit diesem Beljakow einmal eine recht unangenehme Geschichte erlebt hatte; die Geschichte war sehr verwickelt, jedenfalls war ich ihm ein Dorn im Auge.
Beljakow trank Tee und biß bei jedem Schluck kleine Bröckchen Zucker ab. Ein anderer Kassierer lauste ihm inzwischen den Kopf.
›Ohne Prügel werde ich wohl kaum davonkommen‹, denke ich mir. ›Er wird mich sicher umbringen!‹
»Tod den Läusen!« sage ich ihnen und sehe plötzlich, wie Beljakow vor Zorn blaurot wird. Er nimmt ein Stück Würfelzucker in die Hand, steht auf und begibt sich zum Ausgang.
»Ich bringe ihn um!« höre ich seine Stimme.
Ich kauere mich nieder, werde ganz klein und dünn, verkrieche mich in die Spalte unter der Tür und lausche mit verhaltenem Atem.
Beljakow ging eine Weile vor dem Schalter auf und ab und kehrte wütend zurück.
»Ich habe ihn nicht gefunden. Hätte ich ihn erwischt, wäre es um ihn geschehen!« sagt Beljakow zum andern Kassierer, und dann beginnen sie sich wieder zu lausen.
Ich kann mich nicht beherrschen; es ist, als ob mich jemand aufhetzte. Ich kann den Atem nicht mehr anhalten, und plötzlich beginnt es mir, wie zum Trotz, im Munde zu jucken. Ich will mich kratzen und muß plötzlich miesen.
Beljakow ist aber schon da.
»So! Da ist er ja!« Er holt aus, und das Stück Würfelzucker trifft mich an die Schläfe.
In jener Nacht wälzte ich mich lange hin und her und konnte nicht einschlafen. Bald fror es mich, bald schien es mir, daß irgendwelche Flöhe auf mir herumhüpften. Und als endlich der Schlaf kam, befand ich mich schon in einem anderen geräumigen Zimmer. Ich lag auf dem Rücken. Doch seltsam, während ich so im Bett lag, sah ich zugleich ein anderes Ich liegen, das mir aber durchaus unähnlich war.
Dieser Unähnliche, der mein Ich war, erhob sich vom Bett und ging durch einen schmalen Korridor ins Nebenzimmer. Er sah mir wirklich nicht im geringsten ähnlich: er war groß gewachsen, hatte ein spitzes Gesicht mit eingefallenen Wangen und einer raubgierigen Adlernase und war mit einem kurzen, recht abgetragenen und verschossenen Mantel aus purpurroter Seide bekleidet; in seinen Augen brannte aber ein so glühender und stechender Haß, daß ein einziger Blick genügte, um einen Menschen wie eine Fliege zu Brei zu zermalmen. Er trat vor ein Bett, in dem jemand, mit dem Kopf in die Bettdecke gehüllt, schlief, schluchzte vor wildem Haß, der seine Seele bis an den Rand füllte, auf; ergriff mit den Fingern das Bettlaken und begann, es unter dem Schlafenden herauszuzerren, seine Wut an dem unschuldigen weißen Gewebe auslassend.
Meine wilde Seele war wie in einem Rausch, ich verging vor Haß.
In diesem Augenblick verließ mich der Schlaf
Ich lag und wagte mich nicht zu rühren. Im Zimmer, in dem nichts als einige Bücher und Spielsachen waren, quakte jemand. Die Nacht war aber noch nicht zu Ende.
Vor mir erschien eine schwarze wollene Schnauze mit langen weißen Zähnen; sie zwinkerte mir zu und verschwand.
Ich befinde mich im alten Hause in der Tolmatschowski-Gasse zu Moskau, in dem Zimmer, in dem ich das Licht der Welt erblickt hatte. Ein kleines Mädchen hat ein Album aufgeschlagen, zeigt mir trockene Blumen und fragt mich bei jeder neuen Blume, ob ich sie erkenne oder nicht. Ich habe gar nicht Zeit zu antworten, denn jemand anders antwortet für mich.
»Diese Blumen hier sind von Judas. Hast du sie erkannt?« fragt mich das Mädchen.
Ich bin aber nicht mehr im Zimmer, sondern in einer Hundehütte und schreie aus Leibeskräften. Nachdem ich genug geschrien habe, komme ich wieder ins Zimmer. Der Tisch ist zu Mittag gedeckt. Ich setze mich an den Tisch und schlafe ein.
Und es träumt mir, daß drei Gendarmen, mit Blumen in der Hand, ins Haus treten.
Nun erwachte ich und begann zu essen. Kaum hatte ich aber den ersten Bissen verschlungen, als die Tür aufging und die drei Gendarmen ins Zimmer traten.
»Ich habe euch soeben im Traume gesehen«, sage ich zu den Gendarmen, »Wo habt ihr nur die Blumen hingetan?«
»Der Hund hat sie gefressen«, antworten die Gendarmen, indem sie sich die Lippen belecken.
Ein mir unbekannter buckliger Mann in Zivil, der plötzlich Gott weiß woher erschienen ist, nimmt mir gegenüber Platz. Er macht auf mich einen höchst unangenehmen Eindruck; ich will ihn sogar schlagen, gebe aber diese Absicht auf.
Der Bucklige bindet sich die Serviette vor und sagt, ohne mich aus den Augen zu lassen:
»Die Anklage gegen Sie lautet: als Sie sich über den Fluß hinübersetzen ließen, versuchten Sie die natürliche Abstammung der Eltern zu erklären.«
Ich höre es und verstehe ihn nicht.
»Ich habe nichts dergleichen erklärt.«
»Jemand hat Sie wohl belauscht und Ihre Gedanken aufgeschrieben«, fährt der Bucklige fort und knetet mit den Fingern aus Schwarzbrot Kügelchen.
»Ich weiß nichts davon!« Ich wehre mich mit beiden Händen, ich höre, daß die alte Kinderfrau Irinja im Nebenzimmer den Boden kehrt und aufräumt, und denke mir: ›Was ist das nun eigentlich, träume ich oder sitzt wirklich der Bucklige vor mir und erhebt gegen mich Gott weiß was für Anklagen?‹
»Ich wollte Sie schon längst kennenlernen«, sagt mir ein erst vor ganz kurzer Zeit verstorbener bekannter russischer Dichter, den ich einhole, als er mit irgendeinem Jungen durch eine menschenleere Straße geht.
»Wo leben Sie denn jetzt?« frage ich den Dichter, mich vor ihm verbeugend.
»In Moskau«, antwortet er mir, »im Hause der Georgischen Kirche auf dem Woronzowschen Felde; die Kirche steht oben auf dem Berge, mein Haus aber unten zwischen den Disteln; es gibt dort so einen leeren Platz.«
Ich wollte ihn fragen, ob er noch schreibe, aber er war schon verschwunden. Und ich stand plötzlich in der leeren Kirche, in deren Mitte viele Leichen unmittelbar auf den Steinfliesen aufgeschichtet lagen. Ich sah mir ihre Gesichter aufmerksam an und bemerkte, daß die eine von ihnen, obwohl wirklich tot, sich dennoch bewegte. Sie stand plötzlich auf und trat vor den Altar.
Wir sahen einander an. Sie war nackt, ihre Füße waren mit Teer beschmiert und ihr Gesicht hatte auffallende Ähnlichkeit mit der Somowschen Illustration zu ›Aimé Lebœuf‹.4)
Die alte Kinderfrau Irinja kehrt aber noch immer den Boden und räumt das Zimmer auf. Mein kleiner Liebling, der Kater Dymka, reibt sich an meiner Schulter und schnurrt.
Wehe! Ich war verendet. Von Früchten und Blumen umgeben, zwischen Äpfeln, Aprikosen, Pfirsichen, Quitten, Zitronen, Birnen und Apfelsinen lag ich entseelt in der Speisekammer und harrte meines letzten Schicksals.
Der König des Landes, in dem mir diese unangenehme Geschichte passiert war, der Enkel des glorreichen Sultans, König Avenir-Indej, hatte dem, dem die Zunge juckt und der Unsinn redet, zur Strafe befohlen, die tote Ratte, das heißt mich, zu fressen.
Man hatte auf einem Maskenball einen Possenreißer aufgegriffen und zu mir in die Kammer geschickt. Er trat lächelnd vor mich hin, berührte mich mit der Spitze seines Schuhs und sagte . . .
Was er mir aber sagte und wie die ganze Geschichte endete: ob er mich tatsächlich fraß oder nur vom Obst naschte, kann ich in meinem Hühnergedächtnis unmöglich rekonstruieren. Und wenn Sie mich auch morden — ich weiß gar nichts mehr, was ich gütigst zu entschuldigen bitte.
Sie sagte mir:
»Diese Tür haben wir mitgenommen, weil man sie doch nicht im alten Haus zurücklassen konnte. Du weißt, wie teuer sie uns ist.«
Ich machte die Tür leise auf und ging in mein Zimmer. Die alte gußeiserne Tür, die sich vor mir auf unsichtbaren Angeln lautlos aufgetan hatte, schloß sich hinter mir ebenso lautlos und fest. Ich ergriff die Klinke und rüttelte mit aller Kraft, die Tür rührte sich aber nicht. Und ich begann zu klopfen, mit den Fäusten zu hämmern und zu schreien. Schließlich fiel ich ohnmächtig vor der Schwelle hin und hörte nur hinter der alten gußeisernen Tür ihr Herz pochen.
Auf dem Meere zog ein Sturm auf, ich stieg aber trotzdem ins Boot, weil mein Begleiter ein furchtloser Ruderer war. Als wir die tiefste Stelle erreichten, zog mein Ruderer die Ruder ein, sah mir spöttisch in die Augen, erhob sich, packte mich wie eine Katze am Genick und schleuderte mich ins Wasser. Ich flog durch alle Schichten des Wassers hindurch: durch die grüne, die trübe, die schwarze und die tiefschwarze; dann kamen wieder eine trübe und eine grüne Schicht, und ich saß wieder im Boot. Wir fahren, als ob nichts geschehen wäre, weiter; sobald wir aber einen gewissen Punkt erreichen, zieht mein Ruderer wieder die Ruder ein, und die ganze Geschichte beginnt von neuem. Und es ist gar kein Ende abzusehen.
Ich ging über ein blühendes Kornfeld. Eine Lerche sang, und ein leiser Windhauch brachte von einer eben gemähten Wiese frischen Heuduft. Mir begegneten zwei Frauen, die einen Korb mit Feldblumen trugen; zwischen den Blumen saß ein kleines Mädchen.
»Wo geht ihr hin?« fragte ich sie.
»Blumen pflücken«, antworteten die Frauen mit dem Korbe.
Ich schloß mich ihnen an. Wir gingen schweigend und kamen, ohne ein Wort gesprochen zu haben, zum See.
»Da sind deine Blumen!« riefen lachend die Frauen, auf den See zeigend.
Ich stand allein am Seeufer und sah gar keine Blumen. Mit leeren Händen ging ich wieder zurück. Das blühende Kornfeld wogte, und die Lerche sang. Und plötzlich erblickte ich zwischen den Ähren dasselbe Mädchen, das man vorhin im Korbe getragen hatte. Es stürzte auf mich zu, umschlang meinen Hals mit den Ärmchen und sagte mir leise ins Ohr:
»Nimm mich mit!«
Ich setzte mir das Mädchen auf die Schulter, hatte aber noch keinen Schritt mit dieser Last getan, als es plötzlich ringsum finster wurde, schwere Gewitterwolken aufzogen und nur unmittelbar über meinem Kopfe ein trichterförmiger grünlicher Lichtschein schwebte. Vom Boden erhoben sich aber seltsame Vögel mit Schlangenschwänzen, und alles flog auf dieses Licht zu. Es waren zahllose Vögel, sie schrien nicht, sondern blökten wie Stumme, und bald war das Licht von ihren Schwänzen verdunkelt. Das Licht erlosch, und die Vögel verstummten. In dieser Finsternis vernahm ich plötzlich aus weiter Ferne die Stimme des kleinen Mädchens:
»Nimm mich mit!«
Ich weiß aber nicht einmal, was ich mit mir selbst anfangen soll.
Ich versteckte mich in der Kajüte eines Dampfers, aber die Verfolger, vor denen ich mich versteckte, kamen mir immer wie Jagdhunde auf die Spur. Sie hatten alle menschliche Gesichter, doch Froschleiber und Handschuhe an den Händen. Da sie wohlerzogen und freundlich waren, mordeten sie mich nicht wie einfache Räuber, sondern erdrückten mich, wie liebkosend, mit ihren weichen Bäuchen, glitten mir leise unter das Hemd und preßten mir, gleichsam streichelnd, das Herz zusammen. Vorm Fenster aber sitzt eine Dohle und schreit. Ich weiß ganz gut, warum sie schreit; sie wird gleich ins Zimmer fliegen, sich auf meine Schulter setzen und mir die Augen auspicken.
»Dohle«, bitte ich meinen schwarzen Gast, »verschone meine Augen, ich will dir ein Perlenhalsband um den Hals legen, ich will dir meine Hände preisgeben, verschone nur meine Augen!«
Ich verkroch mich in den Winkel der Kajüte, aber die Menschen mit den Froschleibern stehen bereits vor der Tür, scharren an der Schwelle und kommen gleich herein.
Alle sagen, daß wir zum Nordpol fahren.
Wir fahren tatsächlich irgendeinen Bach hinauf; und mein Begleiter, ein struppiger, in eine blaue Tischdecke gehüllter Kerl, steuert mit dem Ruder. Und wir kommen irgendwie zum Nordpol. Da steht ein großes steinernes Haus; davor drängen sich erregte Menschen, die über etwas streiten.
»Was ist geschehen?« fragen wir einen abgerissenen, fettigen Burschen, der mit den Zähnen Sonnenblumenkerne aufknackt.
»Auf dem Dachboden sucht man einen Dieb. Alle sieben Hausknechte haben den ganzen Boden abgesucht und nichts außer einem alten Rock gefunden. Drei Hausknechte sitzen nun oben und lauern.«
›Jetzt ist unsere Wäsche hin!‹ dachte ich mir gleich.
»Wollen Sie sich doch in die emaillierten Zimmer bemühen!« sagte der Bursche und grinste.
Mein Bruder und ich traten in eine Kirche. Es war gerade die Abendmesse. Alle Heiligenbilder waren entfernt, die Kirche wurde offenbar renoviert. An der leeren Altarwand leuchtete seitwärts ein goldener Kreis. Vor diesem Kreis stand der Priester mit dem Schultertuch. Der Küster sang. Außer uns war niemand in der Kirche. Und wir schämten uns, daß wir die einzigen waren.
Die Abendmesse ging zu Ende. Wir gingen auf den Priester zu, um seinen Segen zu empfangen. Da trat aus der Sakristei der Küster und sagte zu meinem Bruder:
»Sie haben alles, um zu wachsen; und Sie«, er wandte sich an mich, »Sie haben nichts.«
Ich sage mir: Mein Bruder hat ja wirklich seine Matrosenjacke an, und wenn er sie noch weiter trägt, wird er aus ihr herauswachsen; ich aber habe nichts. Und nun erstarre ich vor Angst: dicht vor mir steht ein Mann, der, ich fühle es, etwas Böses gegen mich im Schilde führt. Ich stürze sofort ans Fenster und frage mich: warum verkehrt mein Bruder mit so einem Menschen? In diesem Augenblick kommt in das Haus, in das ich geraten bin, mein Bekannter, der Lahme, und reicht mir eine Schusterahle. Mit diesem Werkzeug wollte er mich also erstechen! Wir stiegen in ein Boot und stießen, wie die Nachtigallen schmetternd, vom Ufer ab. Ein Knabe sprang zu uns herein, und das Boot begann langsam zu sinken.
Seit einigen Tagen weiche ich nicht von der kranken alten Frau: sie hat dicke Beine und eine Vogelnase. Sie liegt im Bett und stöhnt, und ich sitze neben ihr auf einem Stuhl und erfülle alle ihre Wünsche und Launen. Ich habe Angst, sie zu verlassen, denn sie ist sehr unruhig. Nun scheint mir, daß sie eingeschlafen ist. Gott sei Dank, sie ist wirklich eingeschlafen! Ich schleiche mich leise aus dem Zimmer. Wie ich nach einer Weile hineinschaue, sehe ich, daß aus dem Ofen nur noch ihre Beine herausragen. Mein Gott, was ist denn das?! Ich stürze mich zu ihr hin, um sie aus dem Ofen zu ziehen, packe sie an den Beinen, die Beine sind aber schon tot.
Ein heiterer Tag des Altweibersommers. Ich bin auf die Terrasse getreten und schaue in den entlaubten Garten hinaus. Und ich sehe, wie auf dem mit gelbem Laub bedeckten Wege, der zur Terrasse führt, eine alte Frau geht. Sie ist uralt und abgerissen, ihr Gesicht ist feucht, voller Runzeln und scheint ganz schwarz zu sein. Ich empfinde eine unheimliche Angst vor der Alten; ich fühle, daß sie etwas Häßliches im Sinn hat. Ich laufe von der Terrasse ins Haus, rase die Treppe hinauf und höre, daß auch sie die Treppe hinaufläuft. Ich stürze in eines der Zimmer, sie mir nach; ich will in ein anderes Zimmer, aber sie ist auch schon da. Ich verkrieche mich in die Ecke des Bettes und schrumpfe ganz zusammen.
›Mein Gott!‹ denke ich mir, ›laß das Unheil an mir vorüberziehen!‹
»Warum fürchtest du mich?« höre ich die Stimme der Alten: »Ich bin doch deine Mutter!«
»Meine Mutter sieht ganz anders aus«, sage ich ihr, denke mir aber dabei: ›Wie hat sich meine Mutter so furchtbar verändern können?‹
Die Alte aber beugte sich über mich und packte mich an der Kehle. Ich schrie auf.
2) lat., Die Herzen in die Höhe!
3) lat., Wünsche sie dir nicht besser!
4) Aimé Lebœufs Abenteuer — Roman von M. Kusmin aus dem Jahre 1907.
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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.