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Lea – oder wie sie gewöhnlicher genannt wurde, Leontine Simonis – war eine reiche, liebenswürdige junge Jüdin. Klein nur von Gestalt, fesselte sie um so lebhafter durch die Zierlichkeit ihrer Formen und vorzugsweise durch die Anmut ihrer lächelnden Gesichtszüge. Frisch von Farbe hoben sich die lieblich gerundeten Wangen. Die Nase war von seltenem Ebenmaß und wie beim Profil einer Griechin mit der kleinen gedankenvollen Stirn in eine Linie verbunden. Vom germanischen Stamm waren Leontinens Augen: blau, schwärmerisch, romantisch. Die Zähne untadelig und das Haar von einer Fülle, daß der schöne Schmuck, aufgelöst, die Knie hätte erreichen können. Es gab in der Residenz Gestalten von einer beim ersten Anblick eindrucksvolleren Schönheit, Musterbilder des Wuchses und Ebenmaßes der Formen, wenige von Leontinens einschmeichelndem Zauber im Gesamteindruck.
Und sie hatte auch den Namen dafür. Die junge Männerwelt streifte am sogenannten Hohen Graben, dem Quartier der Bankiers, vor den Fenstern der »schönen Simonis«, wie man sie nannte, mit allen Ausdrücken derjenigen Huldigung vorüber, die nur für ein junges Mädchen, das meist unter hohen tropischen Pflanzen am Fenster stickte oder las, im Aufblick gesunder oder in der Schärfung schwacher Augen durch vorwitzige Lorgnetten liegen kann.
Dies war Leontinens äußere Erscheinung. Nach ihrem Innern war sie Schwärmerin. Sie übte zuvörderst nur melancholische Musik. In Liedern ohne Worte, in Reverien und ähnlich benannten Tonstücken suchte sie die unbestimmte Sehnsucht ihrer Gefühle auszuhauchen. Auch die Poesie der Nationen sprach zu ihrem geistigen Ohr. Sie las Gedichte, als wären es Engelzungen. Ihr leibliches Ohr wurde indessen nur zu sehr, wie sie sagte, von den rauhen Tönen der Wirklichkeit belästigt. Ihr Vater, Nathan Simonis, besaß seines Stammes praktische Lebensauffassung. Man konnte von ihm sagen, er hätte des weisen Nathan Namen deshalb getragen, weil, wie der Derwisch sagt, eben seinem Volke der Reiche der Weise ist. Wenn Leontinens Mutter mehr Bildung besessen hätte, würde sie das Leben schon mehr nach dem Geist ihrer Tochter gefaßt haben. Der prächtige Name, den sie ihrem Kinde statt des ursprünglichen Lea zugestanden hatte, war eine Huldigung der guten Frau an die Welt des Schönen, ein Akt der Anerkennung wenigstens für manche Sprachkenntnisse, die sich Madam Simonis aus ihrem Jugendunterricht gerettet hatte. Leontinens Brüder, Vettern, Oheime lebten nur unter materiellen Lebensbedingungen, unter Eisenbahnaktien, Kurszetteln, Bankausweisen; doch sorgte schon die Mutter dafür, daß sich diese Grundlagen ihres zum größten Vertrauen des Publikums behaupteten Namens nicht allzu breit ausdehnen durften. Man ließ sich immer zwischendurch auch auf geistige Fragen, Theater, Musik und die Lieder ohne Worte ein, doch leider mit einem zu kühlen Tone, der Leontinen durch die Seele schnitt. Sie nannte diesen Ton »die kalte Verständigkeit und ihres Volkes Erbteil«. Leontine Simonis war jene einsame Palme aus dem Morgenland ihres Lieblingsdichters Heinrich Heine, nur mit dem Unterschied, daß sie selbst bereits tief im Lande der Fichtenbäume wohnte und unter dem scharfen Luftzuge des Nordens oft, wie sie sagte, unbeschreiblich frieren mußte.
Wir könnten für den Abstich, in welchem Leontine Simonis gegen ihre Umgebung lebte, noch reichere und poetischere Zitate geben, wenn wir die Sammlung von Gedichten aufschlügen, die in einer Nebengasse des Hohen Grabens, im Barfußgäßchen Nr. 3, zwei Treppen hoch, in Morgen- und Abendstunden auf sie gemacht wurden. Ihr Sänger war ein junger Mann, der sie liebte. Er hieß von Haus aus Moses Sancho, doch auch er nannte sich Moritz. Moritz Sancho, wie der Name zeigt, alten portugiesischen Erinnerungen angehörend, war etwas über fünf Jahre älter als Leontine, die bereits zwanzig zählte. Es ist eine schöne Eigentümlichkeit bei Leontinens Glaubensgenossen, daß sie die jungen Mädchen die Freiheit und die Poesie ihres väterlichen Hauses möglichst lange genießen lassen. So verträumen sie ein glückliches von Liebe gehegtes Dasein im Elternhause, bis sie einem inzwischen meistenteils durch kaufmännische Berechnungen vermittelten Lose anheimfallen. Leontine war eine gefeierte Schönheit; hundert christliche Bewerber würden sich schon längst und schon von ihrem sechzehnten Jahr an für sie gefunden haben; da sie aber unter den Ihrigen, oder wie Moritz Sancho, der Dichter, gesagt haben würde, innerhalb des Ghetto, verheiratet werden mußte, so zog sich die Entscheidung über die Bestimmung ihres Schicksals schon bis in ihr zwanzigstes Lebensjahr hinaus.
Die geheimen Hindernisse, die es für diese Entscheidung innerhalb einer Sphäre, wo man gläubig nur über Eisenbahnen, zweifelnd über Poesie sprach, geben mochte und die sich wahrscheinlich auf einige tausend Gulden mehr oder weniger beim Heiratskontrakt zurückführen ließen, kennen wir nicht. Leontine ahnte etwas von den unheimlichen Kreisen, die sich manchmal um sie her zogen, bald näher kamen, bald sich entfernten und ihr immer ein tiefes Aufatmen der Freude verursachten, sooft wieder eine Gefahr, ihre Freiheit zu verlieren, vorüber war. Aber glaube man ja nicht, daß Leontine, wenn sie von Freiheit sprach, Ideen hatte im Geiste Ludwig Feuerbachs und unserer materialistischen Philosophie! Sie kümmerte sich zwar mit einem Eifer, mit welchem Jüdinnen so oft junge Christinnen beschämen, um alles, was auf dem Gedankengebiet neu und anregend war, das aber, was gerade sie sich Freiheit nannte, das war Musik, Poesie, der milde Schimmer der Sternennächte, das Licht des Mondes, der Ruderschlag auf dem Gold jener italienischen Seen, zu denen sich ihre ganze Seele hingezogen fühlte. Die Freiheit, die sie meinte, war die unendliche Sehnsucht nach Licht, Schönheit, ein namenloses Zerfließen in Idealen, die sie oft mit irdischen Namen kaum zu benennen wußte, nur geographische wußte sie dafür anzugeben. Für den endlichen Anblick des Comer Sees zum Beispiel hätte sie alle Heiratspartien aufgegeben, von denen um sie her zuweilen geflüstert wurde – ein Flüstern, das ihr stets den Eindruck machte, als wenn sie, sitzend in ihrem Zimmer unter den breiten Blättern eines riesigen Gummibaums, blätternd in Gottfried Kinkels »Otto der Schütz«, vom drei oder vier Zimmer weit entfernten Comptoir ihres Vaters herüber das Ausschütten der Geldsäcke vernahm. Dieser Silberklang war an sich nicht unpoetisch, er war ihr auch keineswegs an sich verhaßt, er war nur etwas so außerordentlich Gewöhnliches. Er drückte ihr das Alltägliche aus. Geldeinnehmen und Geldgewinnen klang ihr so, als wenn sie jeden Morgen lachend beobachten mußte, wie die Mutter den täglichen Küchenzettel mit einer fast kontemplativen Mystik erfand.
Leontinens geheimste Gedanken verrieten, daß auf jenem Nachen, der sie durch den Comer See ihrer Ideale trug, Moritz Sancho das Steuerruder führte. Moritz Sancho war Doktor der Philosophie. Von gleicher Schwärmerei wie Leontine Simonis, hätte er in der Tat mit ihr ein Paar gegeben, an welchem Apollo, sowohl in Rücksicht auf die Grazien wie die Musen, Freude gehabt hätte. Hier hätten sich geistige und körperliche Vorzüge vereinigt. Auch Doktor Sancho besaß alle Merkmale des südlichen Ursprungs seiner Familie. Eine mittlere Figur, zart, schmächtig, behend, wie die Italiener uns bekannt sind und wie wir von Spaniern und Portugiesen die Vorstellung haben. Das braune Auge blitzend von Leidenschaft, öfter noch, infolge germanischer Einflüsse und Mischungen, sich in ein mildes Leuchten und träumerisches Umirren verlierend. Letzteres war sogar ihr gewöhnlicher Ausdruck und mußte etwas Anziehendes und Gewinnendes für jeden haben. Sanchos Erscheinung war, was man interessant nennt. Selbstgefühl konnte nicht fehlen – werden doch ausdrücklich die Juden darauf erzogen, die Freude und der Stolz der Ihrigen zu sein –, aber eine ausgesuchte Bildung hatte über den Stolz des jungen Mannes auch die Formen der Grazie gelegt. Sanchos Selbstgefühl verletzte nicht. Diese Eigenschaft sollte ihm nur Schwung, nur vertrauenerweckende Haltung geben. Wenn der junge Doktor in einen Salon trat, mußte er die Herzen gewinnen. Sein blasses Antlitz, das glänzendschwarze Haar, der tief von innen kommende Blick aus den schwarz beschatteten Augen, all jene Eigentümlichkeiten nazarenischer Schönheit, von denen wir undankbaren Christen nur zu oft vergessen, daß sie die Vorbilder jener Gestalten sind, die wir auf Gemälden zu Gegenständen unserer Anbetung gemacht haben, waren reichlich in der Erscheinung dieses jungen Mannes vorhanden, der sich zu den Vorzügen seines südlichen Temperaments die Ergebnisse der germanischen Romantik zu eigen gemacht hatte. Wie sich Heinrich Heine – auch ihm sein Lieblingsdichter – vorzugsweise vom Judentum dadurch zu befreien gesucht hat, daß er eine etwas zu weit getriebene und nur äußerliche Verehrung vor unserer romantischen Märchenwelt zur Schau stellte, so kann man sich auch beim Israeliten wohl ein nach innen gehendes wirkliches Verschmelzen mit dem Charakter germanischer Poesie denken, ein gläubiges und im Gemüt ergriffenes Heimatsgefühl unter dem Bann der schönen Lorelei, unter dem Zauber der Nibelungen, sogar unter dem Einfluß der christlichen Baukunst und Malerei. Moritz Sancho gehörte ganz zu jenen germanischen Juden des Doktor Gabriel Rießer in Hamburg, der so viel für die Emanzipation getan. Er dichtete von Blumen, Sternen, Sonnen, Palmen, Mondscheinnächten vielleicht ohne Berechtigung eines Sitzes auf dem Parnaß, aber er ironisierte diese seine neue Heimat nicht, sank nicht wie Heinrich Heine von Lotosblumen und Feenträumen zu Schalet-Witzen Witze beim Sabbatmahl herab. Wir wollen keine Kritik über die Poesien Doktor Sanchos schreiben. Jeder Vers, der einem Mädchen huldigt, das man in Wahrheit liebt, steht an und für sich den Gedichten Petrarcas nahe, und Leontine belohnte ihren Sänger freundlicher als jenen seine kalte Laura.
Wie sich die Herzen dieser beiden Liebenden gefunden hatten, ist schwer zu sagen. Das Barfußgäßchen ist nur in seinen auf den Hohen Graben mündenden ersten Häusern so gelegen, daß Leontine allenfalls die glühenden Blicke des Doktors am Versengtwerden ihrer Lektüre unter den Blumen hätte bemerken können. Aber die Hausnummer »drei« gibt mit dem Hause ihres Vaters einen stumpfen Winkel. Auch das Ausschütten der Geldsäcke im Parterre-Comptoir hatte den Doktor nicht begeistert. Er war arm, sehr arm – sein Vater hatte sich in einer großen Hansastadt vom einfachen, auf einer Karre handelnden Büchertrödler, mühevoll und mehr aus Liebe zu seinem gabenreichen Sohn als aus eigenem Triebe nach Vervornehmung seines Daseins, zum Besitzer einer »antiquarischen Buchhandlung« emporgeschwungen –, aber materielle Berechnungen lagen ihm fern. Moritz Sancho hatte Philosophie studiert, und zwar auf das Schöne und Wahre im allgemeinen hin, zugleich freilich in Hoffnung, die deutsche Nation würde sich binnen kurzem zu einem möglichst idealen und freien Leben entwickeln und wenigstens von den Professoren der Ästhetik, die man bei Universitäten anstellt, keinen Taufschein mehr verlangen. Er hatte auch den andern Glauben an einen kommenden gewissen idealen Umschwung seiner eigenen Glaubensgenossen – manche sprachen allerdings in diesem Betracht von Köhlerglauben –; waren aber nicht genug große Geister der Wissenschaften und Künste aus dem Kreise, den er den Ghetto nannte, hervorgegangen? Konnte es durch Vorgänge, die schon statthatten, nicht sanktioniert werden, daß der schöne, liebenswürdige, geistreiche, mit der Zeit auch berühmte Doktor der Philosophie Moritz Sancho die schöne Leontine Simonis, den Augapfel ihrer Eltern, wirklich heimführte?
Auf diesen Glauben hin dichtete und liebte wenigstens der eine und duldete seine Anbetung die andere. Der junge Doktor war ungeachtet seines Vaters, der daheim mit den gangbarsten alten Schulbüchern handelte, in die vornehmere Gesellschaft seines Glaubens eingeführt und außerordentlich gern gesehen, namentlich von Madam Simonis, protegiert sogar vom Vater und von den Brüdern Leontinens. Alles hatte ihn gern; wenigstens berichteten ihm die Brüder Leontinens liebevoll, wenn irgendwo über ihn eine ungünstige Rezension zu lesen war. Der Doktor war nicht nur äußerlich dem Hause willkommen und eine gern gesehene Folie des Wertes, den sich jedes Mitglied desselben selbst zuschreiben durfte, sondern Leontine liebte ihn auch. Sie erwiderte auf Bällen beim Tanz seinen Händedruck, sie verriet ihm die Tränen der Freude nicht, die ihr in das dunkelblaue Auge traten, wenn der Freund ein Gedicht in ihr Stickereikörbchen schob; sie duldete, daß er im raschen Benutzen einer günstigen Gelegenheit ihre Hand küßte, diese schöne Hand, die sogar zuweilen selbst einen Vers versuchte, Phantasien in ihr Tagebuch schrieb und ihren Freund das, was auch sie von den Sternen, den Mondnächten und den Gondelfahrten auf dem Comer See träumte, lesen ließ.
So verflossen einige Jahre des zartesten Seelenaustausches, und Moritz Sancho hatte ein Recht zu hoffen, diese Verbindung würde ihm die Muße schaffen, einst der deutschen Nation unsterbliche, gereifte, gründlich gefeilte Werke anbieten zu können, ein Recht zu hoffen, er würde die Summe alles Dichterglücks gewinnen, seine Muse dicht nebenan in seinen Zimmern in seinem angetrauten Weibe selbst zu besitzen und zugleich, wie er es seinem alten Vater in dessen Sprache ausdrückte, eine glänzende Partie zu machen.
Ein heißer Sommer führte fast die ganze Familie des Herrn Simonis in ein Bad. Vom Bade aus machte man noch eine Rheinreise. Als Leontine mit ihren Eltern zurückkehrte, hatte Moritz gerade die Absicht, seinen alten Vater zu besuchen. So gab es eine Trennung von länger als einem Vierteljahre. Von einem Briefwechsel konnte keine Rede sein. Leontine hätte kaum gewagt, eine Zeile anzunehmen, die ihr von Sancho auf postalischem Wege zugekommen wäre. Alles das verstand sich von selbst. Sancho täuschte sich keineswegs über die Schwierigkeiten seines Vorhabens. Er wußte, daß ihm sein Herz eine fast unerreichbare Aufgabe gestellt hatte und daß ihm allein durch ein langes Dulden und langes Werben, wie dem Jakob um seine Rahel, möglich werden würde, den einzigen Gedanken, der ihn nächst seinem Ruhme erfüllte, zur Reife zu bringen. Dieser Ruhm, die Sehnsucht sogar, seinem alten Vater einst noch Werke von sich zu zeigen, die nicht bereits im zweiten Jahre ihres Erscheinens zu herabgesetzten Preisen verkauft wurden, trat sogar vorläufig gegen seine Liebe in den Hintergrund.
Wie gewaltig und furchtbar mußte es ihn daher zu Boden schmettern, als er eines schönen Herbstmorgens in die große Residenz zurückkehrte und die Nachricht empfing, Leontine Simonis wäre die verlobte Braut eines fremden Mannes geworden, der um sie angehalten und sie nach den im Ghetto üblichen formell-finanziellen Weitläufigkeiten als ihm baldigst zu vermählende Gattin gewonnen hätte! Er war in Verzweiflung. Sein Lebensfrühling war wie von einem Sturme geknickt. Das Gerücht war kein Gerücht; er sah die Verlobungskarte, sah dies verhängnisvolle glänzende kleine Blatt, das inzwischen auch ihm geschickt worden war. Leontine verlobt! Mit einem fremden reichen Manne! Wahrheit, Wahrheit war's! Er schloß sich in sein Zimmer ein und – weinte.
An Sammlung, Fassung war nicht zu denken. Er ging nicht aus, schon vor Furcht, man möchte ihm begegnen, möchte mit ihm von dieser Verbindung sprechen und seiner getäuschten Hoffnungen mit jener zweideutigen Teilnahme, die ihre Schadenfreude wenig verbergen kann, gedenken; er ging nicht aus, weil er vollständig krank wurde. Einen Anblick bot er, der Mitleid erregte. Er aß und trank nicht. Er saß starr und stützte nur das Haupt auf. Sein Bart wuchs, wie nach den Vorschriften der Trauer, die seinem Volke geboten sind. Das Feuer seiner Augen erlosch. Er saß stumm und stumpf. Seine Besinnung war nur Wehmut, die ihn vollends ohnmächtig zu jedem Entschlusse machte. Es rührte ihn alles und der Gedanke an ihn selbst am meisten. Seine neuesten Gedichte, die in so schönem Goldschnitt neben ihm sauber abgeschrieben und zur Veröffentlichung bereit lagen, blickten ihn wie bittend, auch ihrerseits vollständig hülflos, nicht einmal mitleidig und tröstend an. Bedurften denn nicht auch sie erst des Fortkommens in dieser kalten Welt, bis sie, ihrerseits anerkannt, auch anderen Trost spenden konnten? Alles stand so still, so geisterhaft um ihn her. Nur diese Verlobungskarte war das einzige, das redete. Sie schwatzte denn aber auch und lachte oder, wie sein Ideal Heinrich Heine gesagt haben würde, »kicherte« schadenfroh genug.
Wie in Dämmerung gehüllt saß Sancho einen Tag und noch den zweiten halb. Die Sonne schien nicht, und doch ließ er alle Vorhänge nieder, nur um nichts zu sehen als seinen Schmerz, der noch kein Goethe'scher, die Poesie befruchtender Schmerz war. Er stöhnte nur unartikulierte Laute. Vom Sofa warf er sich bald auf seine drei alten gepolsterten Stühle mit Kattunüberzügen, bald auf sein hartes Bett, bald wieder auf das noch härtere Sofa. Immer trieb ihn der Schmerz wieder auf. Seine Nachbarn mußten seine Seufzer hören, sie glichen dem Schnarchen eines Schlafenden. Was er fühlte, das war der bekannte furchtbare Druck, den der Mensch, wenn er Unglück hat, auf dem Sonnengeflecht dicht in der Gegend des Magens fühlt, derselbe Druck, der uns das Leben in jener Schalheit und Unersprießlichkeit empfinden läßt, die Hamlet fühlte, als er sich töten wollte und wiederum, um ganz vergessen zu können, doch auch den Tod für keinen ausreichenden Ausweg erklärte; jener Druck, der uns in solchen Fällen physisch nur dann nicht zerstört, wenn wir damit eine entsprechende Diät und den Genuß nur von etwas Suppe verbinden.
»Na, was haben Sie denn, Doktor?« fragte seine Wirtin und pflegte ihn mit heißem Tee und zutunlichster Liebe und erfuhr seinen ganzen Schmerz.
So freundliche Frauenworte und Frauenhülfe lindern schon gar sehr.
Am zweiten Tage abends mußte er sich sagen: Es gibt im Menschengemüt wunderbare Heilquellen! Sie fließen ach! so geheimnisvoll, so unbekannt und so rätselhaft! Eigentlich wissen wir nicht, wo sie herkommen, wissen nicht, wo den furchtbaren Druck des Kummers plötzlich von unten her irgendein treu Geheimes so hemmt, so emporhebt! Man vergeht noch eben im Schmerz vor Durst, und plötzlich sickert ein Trost herauf wie in der Wüste! Es wird uns warm an irgendeiner Stelle, vielleicht im Auge, oder es klingt ein Rauschen am Ohr, vielleicht ein Heimatsgefühl, vielleicht eine Jugenderinnerung! Gewiß, gewiß ist es Heimat und Jugend, die dann wie plötzlich lebendig bei unserm Schmerz anpochen; wir wachen auf und sehen Eltern und Geschwister, denen wir trotz aller Verachtung der Welt die alten geblieben sind. Wir fühlen, daß es selbst von schattenhaften Toten wie eine belebende Wärme uns entgegenströmen kann! Die Heilkraft der Natur ist ein Geschenk des Himmels, wofür wir kniend zu danken haben! Sie bewahrt uns vor Verzweiflung, sie reicht uns in düsterster Finsternis die warme treue Hand des unsichtbaren Führers, der uns schon so manches Jahr gehalten hat! Diese Hand läßt uns sogar von unserm Kummer reifer erstehen, als wir uns mit tausend geistigen Schmerzen niederlegten. Dann ergreift ein Vater die Feder und schreibt seinen Kindern, oder eine Mutter nimmt ein Briefblatt und schreibt einer Freundin, und hier ergriff ein Sohn die Feder und schrieb an seinen alten Vater Levi Ezechiel Sancho, Bücherhändler einst auf der Karre, jetzt in einem Laden nicht weit von der lateinischen Schule der alten Hansastadt, einen Brief mit der schlichten Anrede: »Lieber Vater!« und mit der schlichten Unterschrift: »Dein treuer Moses«, und die einfachste Sprache, deren Inhalt zwar dem Vater großen Kummer bereiten mußte, wurde doch zur Stärkung für den Sohn. Und als er hierauf Licht angezündet und das Siegelwachs erwärmt und die Adresse auf den zusammengelegten Brief geschrieben hatte und damit noch spät abends zur Post ging, wurde es Sancho leichter zumut. Es half ja eben nichts! In vier Wochen gab es keine Leontine Simonis mehr, sondern nur noch eine Leontine Herz.
Leontine hatte ihren Eltern die größte Freude bereitet. Einmal, daß sie sich nach einigem Weigern in Pyrmont überraschend schnell zu dieser Partie entschloß, sodann, daß sie bei den Heiratspakten es durchsetzte, daß ihr Gemahl unter allen Umständen in die Residenz ziehen mußte. Der Schwiegersohn, Michael Herz, hatte früher in einer andern Residenz unsers residenzreichen Vaterlandes gewohnt und war daselbst der Sohn eines Hoffinanzagenten und ein außerordentlich geschliffener, weit schon in der Welt herumgekommener Geschäftsmann. Er hatte – doch es wird notwendig sein, diesem Gemahl Leontinens mindestens dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken, wie wir sie dem Doktor Moritz Sancho schenkten, der sich durch das Studium der Künste und Wissenschaften einstweilen für seinen Verlust zu trösten suchen wird. Was er erlebt hatte, gehörte ja eben zu jenen »alten Geschichten« seines Freundes Heine, die sich täglich ereignen und nur dem verständlich sind, dem sie »just passieren«.