Franz Kafka
Fragmente aus Heften und losen Blättern
Franz Kafka

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Franz Kafka

Fragmente aus Heften und losen Blättern

Unter meinen Mitschülern war ich dumm, doch nicht der Dümmste. Und wenn trotzdem das letztere von einigen meiner Lehrer meinen Eltern und mir gegenüber nicht selten behauptet worden ist, so haben sie es nur in dem Wahne vieler Leute getan, welche glauben, sie hätten die halbe Welt erobert, wenn sie ein so äußerstes Urteil wagen.

Daß ich aber dumm sei, glaubte man allgemein und wirklich, man hatte gute Beweise dafür, die leicht mitgeteilt werden konnten, wenn vielleicht ein Fremder über mich zu belehren war, der anfangs einen nicht üblen Eindruck von mir bekommen hatte und dies vor andern nicht verschwieg.

Darüber mußte ich oft mich ärgern und auch weinen. Und es sind dies damals die einzigen Augenblicke gewesen, wo ich mich unsicher im gegenwärtigen Gedränge und verzweifelt vor dem zukünftigen fühlte, theoretisch unsicher, theoretisch verzweifelt allerdings, denn kam es zu einer Arbeit, gleich darauf war ich sicher und zweifellos, fast also wie der Schauspieler, der aus der Kulisse im Anlauf stürmt, weit von der Bühnenmitte einen Augenblick stehenbleibt, die Hände meinetwegen an die Stirne gelegt, während die Leidenschaft, die gleich darauf notwendig werden soll, in ihm so groß geworden ist, daß er sie nicht verbergen kann, trotzdem er mit verkniffenen Augen sich die Lippen zerbeißt. Die gegenwärtige, halb vergangene Unsicherheit erhebt die aufgehende Leidenschaft und die Leidenschaft stärkt die Unsicherheit. Unaufhaltsam bildet sich eine Unsicherheit von neuem, die beide und uns umschließt. Darum machte es mich verdrießlich, mit fremden Leuten bekannt zu werden. Ich war schon unruhig, wenn mich manche so entlang der Nasenwände ansahn, wie man aus einem kleinen Hause durch das Fernrohr über den See schaut oder gar in das Gebirge und die bloße Luft. Da wurden lächerliche Behauptungen vorgebracht, statistische Lügen, geographische Irrtümer, Irrlehren, ebenso verboten wie unsinnig, oder tüchtige politische Ansichten, achtbare Meinungen über aktuelle Ereignisse, lobenswerte Einfalle, dem Sprecher wie der Gesellschaft fast gleich überraschend, und alles wurde bewiesen wieder durch den Blick der Augen, einen Griff an die Tischkante oder indem man vom Sessel sprang. Sobald sie so anfingen, hörten sie gleich auf, dauernd und streng einen anzusehn, denn von selbst beugte sich ihr Oberkörper aus seiner gewöhnlichen Haltung vor oder zurück. Einige vergaßen geradezu ihre Kleider (knickten die Beine scharf in den Knien ein, um sich nur auf die Fußspitzen zu stützen, oder preßten den Rock in Falten mit großer Kraft an die Brust) andere nicht, viele hielten sich mit ihren Fingern an einem Zwicker, an einem Fächer, an einem Bleistift, an einem Lorgnon, an einer Zigarette fest, und den meisten, hatten sie auch eine feste Haut, erhitzte sich doch ihr Gesicht. Ihr Blick glitt von uns ab, wie ein erhobener Arm niederfällt.

Ich wurde in meinen natürlichen Zustand eingelassen, es stand mir frei zu warten und dann zuzuhören, oder wegzugehn und mich ins Bett zu legen, worauf ich mich immer freute, denn ich war oft schläfrig, da ich schüchtern war. Es war wie eine große Tanzpause, in der nur wenige sich für das Weggehen entscheiden, die meisten hier und dort stehen oder sitzen, während die Musiker, an die niemand denkt, sich irgendwo zum Weiterspielen stärken. Nur war es nicht so ruhig und es mußte nicht jeder die Pause bemerken, sondern es waren viele Bälle zu gleicher Zeit im Saal. Konnte ich weggehn, wenn einer durch mich, durch eine Erinnerung, durch vieles andere und im Grunde durch alles zusammen von mir, wenn auch schwach, aufgeregt wurde und diese Aufregung nun von Anfang an zu durcheilen unternahm, getragen vielleicht von einer Erzählung oder einer vaterländischen Idee? Sein Auge, ja sein ganzer Körper mit den Kleidern darauf verfinsterte sich und Worte brachen... (Lücke von circa zwei Seiten). Durch dies alles spürte ich noch meine Furcht, diese Furcht vor einem Manne, dem ich ganz ohne Gefühl die Hand gereicht hatte, dessen Namen ich nicht kannte, wenn nicht vielleicht einer seiner Freunde seinen Vornamen ausgerufen hätte, und dem ich am Ende stundenlang gegenübergesessen war, vollkommen ruhig, nur ein wenig ermattet, wie es junge Leute sind, durch selbst selten nur mir zugewendete Blicke dieser erwachsenen Person. Ich hatte, nehmen wir das an, einigemal meine Blicke den seinen begegnen lassen und hatte, unbeschäftigt wie ich war, da doch niemand mit mir rechnete, länger in seine guten blauen Augen zu schauen versucht, sei es ... daß man damit förmlich die Gesellschaft verläßt. Und wenn dies nicht gelungen war, so bewies dies ebenso nichts wie die Tatsache des Versuches. Gut, es gelang mir nicht, ich zeigte diese Unfähigkeit gleich beim Beginn und konnte sie auch später keinen Augenblick verbergen, doch auch die Füße ungeschickter Schlittschuhläufer wollen jeder nach einer andern Richtung und beide vom Eise weg. Bestünde ein sonst tüchtig ... (Lücke) und einen Klugen, der aber weder vor oder neben oder hinter diesem Hundert war, so daß man ihn gleich und leicht hätte bemerken können, sondern der mitten unter den andern war, so daß man nur von einem sehr erhöhten Platz ihn sehen konnte und auch dann sah man nur, wie er verschwand. So hat mein Vater über mich geurteilt, der ein besonders in der politischen Welt meines Vaterlandes sehr angesehener und erfolgreicher Mann gewesen ist. Ich habe diesen Ausspruch zufällig gehört, als ich, vielleicht siebzehn Jahre alt, bei offener Tür im Zimmer in einem Indianerbuch gelesen habe. Die Worte fielen mir damals auf, ich merkte sie mir, aber Eindruck haben sie nicht den kleinsten auf mich gemacht. Wie es meist geschieht, daß auf junge Leute allgemeine Urteile über sie selbst keine Wirkung machen. Denn entweder noch völlig in sich ruhend oder doch immerfort in sich zurückgeworfen, fühlen sie ihr Wesen laut und stark, wie eine Regimentsmusik. Das allgemeine Urteil aber hat ihnen unbekannte Voraussetzungen, unbekannte Absichten, wodurch es von allen Seiten unzugänglich ist; es gibt sich als Spaziergänger auf der Insel im Teich, wo nicht Boote noch Brücken sind, hört die Musik, wird aber nicht gehört. Damit will ich aber nicht die Logik junger Leute angegriffen ( )...

Jeder Mensch ist eigentümlich und kraft seiner Eigentümlichkeit berufen zu wirken, er muß aber an seiner Eigentümlichkeit Geschmack finden. Soweit ich es erfahren habe, arbeitete man sowohl in der Schule als auch zu Hause daraufhin, die Eigentümlichkeit zu verwischen. Man erleichterte dadurch die Arbeit der Erziehung, erleichterte aber auch dem Kinde das Leben, allerdings mußte es vorher den Schmerz durchkosten, den der Zwang hervorrief. Man wird zum Beispiel einem Jungen, der abends mitten im Lesen einer aufregenden Geschichte ist, niemals durch eine bloß auf ihn eingeschränkte Beweisführung begreiflich machen können, daß er das Lesen unterbrechen und schlafen gehn muß. Wenn man mir in einem solchen Fall etwa sagte, es sei schon spät, ich verderbe mir die Augen, ich werde früh verschlafen sein und schwer aufstehn, die schlechte dumme Geschichte sei das nicht wert, so konnte ich das zwar ausdrücklich nicht widerlegen, aber eigentlich nur deshalb nicht, weil das alles nicht einmal an die Grenze des Nachdenkenswerten herankam. Denn alles war unendlich oder verlief so ins Unbestimmte, daß es dem Unendlichen gleichzusetzen war, die Zeit war unendlich, es konnte also nicht zu spät sein, mein Augenlicht war unendlich, ich konnte es also nicht verderben, sogar die Nacht war unendlich, es war also keine Sorge wegen des Frühaufstehns nötig, und Bücher unterschied ich nicht nach Dummheit und Klugheit, sondern danach, ob sie mich packten oder nicht, und dieses packte mich. Das alles konnte ich nicht so ausdrücken, aber es hatte doch das Ergebnis, daß ich mit meinen Bitten, mir das Weiterlesen zu erlauben, lästig wurde oder mich entschloß, auch ohne Erlaubnis weiterzulesen. Das war meine Eigentümlichkeit. Man unterdrückte sie dadurch, daß man das Gas abdrehte und mich ohne Licht ließ; zur Erklärung sagte man: Alle gehen schlafen, also mußt auch du schlafen gehn. Das sah ich und mußte es glauben, obwohl es unbegreiflich war. Niemand will so viel Reformen durchführen wie Kinder. Aber abgesehen von dieser in gewisser Hinsicht anerkennenswerten Unterdrückung blieb doch hier, wie fast überall, ein Stachel, den keine Berufung auf die Allgemeinheit auch nur abstumpfen konnte. Ich blieb nämlich in dem Glauben, daß gerade an diesem Abend niemand in der Welt so gern gelesen hätte wie ich. Das konnte mir vorläufig keine Berufung auf die Allgemeinheit widerlegen, um so weniger als ich sah, daß man mir die unbezwingbare Lust zum Lesen nicht glaubte. Erst allmählich und viel später, vielleicht schon bei Abschwächung der Lust, ging mir eine Art Glaube daran auf, daß viele die gleiche Lust zum Lesen hatten und sich doch bezwangen. Damals aber fühlte ich nur das Unrecht, das mir angetan wurde, ich ging traurig schlafen und es entwickelten sich die Anfänge des Hasses, der mein Leben in der Familie und von da aus mein ganzes Leben in einer gewissen Hinsicht bestimmt. Das Verbot des Lesens ist zwar nur ein Beispiel, aber ein bezeichnendes, denn dieses Verbot wirkte tief. Man erkannte meine Eigentümlichkeit nicht an; da ich sie aber fühlte, mußte ich – darin sehr empfindlich und immer auf der Lauer – in diesem Verhalten mir gegenüber ein Aburteilen erkennen. Wenn man aber schon diese offen zur Schau gestellte Eigentümlichkeit verurteilte, um wieviel schlimmer mußten die Eigentümlichkeiten sein, die ich aus dem Grunde verborgen hielt, weil ich selbst ein kleines Unrecht in ihnen erkannte. Ich hatte zum Beispiel abends gelesen, obwohl ich die Schulaufgabe für den nächsten Tag noch nicht gelernt hatte. Das war vielleicht an sich als Pflichtversäumnis etwas sehr Arges, aber um absolute Beurteilung handelte es sich mir nicht, mir kam es nur auf vergleichsweise Beurteilung an. Vor dieser Beurteilung aber war diese Nachlässigkeit wohl nicht schlimmer als das lange Lesen an sich, besonders da sie in ihren Folgen durch meine große Angst vor der Schule und Autoritäten sehr eingeschränkt war. Was ich durch Lesen hie und da versäumte, holte ich bei meinem damals sehr guten Gedächtnis am Morgen oder in der Schule leicht nach. Die Hauptsache aber war, daß ich die Verurteilung, die meine Eigentümlichkeit des langen Lesens erfahren hatte, nun mit eigenen Mitteln auf die verborgen gehaltene Eigentümlichkeit der Pflichtversäumnis weiterführte und dadurch zu dem niederdrückendsten Ergebnis kam. Es war so, wie wenn jemand mit einer Rute, die keinen Schmerz verursachen soll, nur zur Warnung berührt wird, er aber nimmt das Flechtwerk auseinander, zieht die einzelnen Rutenspitzen in sich und beginnt nach eigenem Plan sein Inneres zu stechen und zu kratzen, während die fremde Hand noch immer ruhig den Rutengriff hält. Wenn ich mich aber auch damals in solchen Fällen noch nicht schwer strafte, so ist doch jedenfalls sicher, daß ich von meinen Eigentümlichkeiten nie jenen wahren Gewinn zog, der sich schließlich in dauerndem Selbstvertrauen äußert. Vielmehr war die Folge des Vorzeigens einer Eigentümlichkeit die, daß ich entweder den Unterdrücker haßte oder die Eigentümlichkeit als nicht vorhanden erkannte, zwei Folgen, die in lügenhafter Weise sich auch verbinden konnten. Hielt ich aber eine Eigentümlichkeit verborgen, dann war die Folge die, daß ich mich oder mein Schicksal haßte, mich für schlecht oder verdammt ansah. Das Verhältnis dieser zwei Gruppen von Eigentümlichkeiten hat sich im Laufe der Jahre äußerlich sehr geändert. Die vorgezeigten Eigentümlichkeiten nahmen immer mehr zu, je näher ich an das mir zugängliche Leben herankam. Eine Erlösung brachte mir das aber nicht, die Menge des Geheimgehaltenen nahm dadurch nicht ab, es fand sich bei verfeinerter Beobachtung, daß niemals alles gestanden werden konnte. Selbst von den scheinbar vollständigen Eingeständnissen der frühem Zeit zeigte sich später noch die Wurzel im Innern. Aber selbst wenn das nicht gewesen wäre, – bei der Lockerung der ganzen seelischen Organisation, die ich ohne entscheidende Unterbrechungen durchgemacht habe, genügte eine verborgene Eigentümlichkeit, um mich so zu erschüttern, daß ich mich mit aller sonstigen Anpassung doch nirgends festhalten konnte. Aber noch ärger. Selbst wenn ich kein Geheimnis bei mir behalten, sondern alles so weit von mir geworfen hätte, daß ich ganz rein dastand, im nächsten Augenblick wäre ich dann wieder von dem alten Durcheinander überfüllt gewesen, denn meiner Meinung nach wäre das Geheimnis nicht vollständig erkannt und eingeschätzt und infolgedessen durch die Allgemeinheit mir wieder zurückgegeben und neuerdings aufgelegt worden. Das war keine Täuschung, sondern nur eine besondere Form der Erkenntnis, daß, zumindest unter Lebenden, sich niemand seiner selbst entledigen kann. Wenn zum Beispiel jemand einem Freund das Geständnis macht, daß er geizig ist, so hat er sich für diesen Augenblick dem Freund, also einem maßgebenden Beurteiler gegenüber scheinbar vom Geiz erlöst. Es ist für diesen Augenblick auch gleichgültig, wie es der Freund aufnimmt, also ob er das Vorhandensein des Geizes leugnet oder Ratschläge gibt, wie man sich vom Geiz befreien könne, oder ob er gar den Geiz verteidigt. Es wäre vielleicht nicht einmal entscheidend, wenn der Freund infolge des Geständnisses die Freundschaft aufsagt. Entscheidend ist vielmehr, daß man vielleicht nicht als reuiger, aber als ehrlicher Sünder sein Geheimnis der Allgemeinheit anvertraut hat und hofft, dadurch wieder die gute und – das ist das Wichtigste – freie Kindheit wieder erobert zu haben. Man hat aber nur eine kurze Narrheit und viel spätere Bitterkeit erobert. Denn irgendwo liegt auf dem Tisch zwischen dem Geizigen und dem Freund das Geld, das der Geizige an sich bringen muß und zu dem er immer rascher die Hand hinbewegt. Auf der Hälfte des Weges ist das Geständnis zwar immer schwächer wirkend, aber noch erlösend, darüber hinaus nicht mehr, im Gegenteil, es beleuchtet dann nur die sich vorwärtsbewegende Hand. Wirkende Geständnisse sind nur vor oder nach der Tat möglich. Die Tat läßt nichts neben sich bestehn, für die Hand, die das Geld zusammenscharrt, gibt es keine Erlösung durch Wort oder Reue. Entweder muß die Tat, also die Hand vernichtet werden oder man muß sich im Geiz ...

Hervorheben der Eigentümlichkeit – Verzweiflung.

Ich habe niemals die Regel erfahren.

Das Böse, das dich im Halbkreis umgibt wie die Braue das Auge, strahle zur Untätigkeit nieder. Während du schläfst, wache es über dir, ohne auch nur im Geringsten vorrücken zu dürfen.

Der beurteilende Gedanke quälte sich durch die Schmerzen, die Qual erhöhend und nichts helfend empor. Wie wenn im endgültig verbrennenden Hause die architektonische Grundfrage zum erstenmal aufgeworfen würde.

Sterben konnte ich, Schmerzen leiden nicht; durch die Versuche, ihnen zu entgehen, erhöhte ich sie deutlich; fügen konnte ich mich dem Sterben, dem Leiden nicht, mir fehlte die seelische Bewegung, so wie wenn alles gepackt ist, quälend die zugezogenen Riemen immer von neuem zugezogen werden und die Abreise nicht erfolgt. Das Schlimmste, die untödlichen Schmerzen.

Streben nach Nivellierung; ich sagte: »es ist nicht so arg, alle sind so«, machte es aber ärger dadurch.

Notwendigkeit der Fehler meiner Erziehung, ich wüßte es nicht anders zu machen.

Die Nivellierung ist richtig, vielleicht, aber eine so weitgehende Objektivierung hebt alle Lebensmöglichkeit auf.

Es sind viele, die warten. Eine unübersehbare Menge, die sich im Dunkel verliert. Was will sie? Es sind offenbar bestimmte Forderungen, die sie stellt. Ich werde die Forderungen abhören und dann antworten. Auf den Balkon hinausgehn werde ich aber nicht; ich könnte es auch gar nicht, auch wenn ich wollte. Im Winter wird die Balkontür abgesperrt und der Schlüssel ist nicht zur Hand. Aber auch an das Fenster werde ich nicht treten. Ich will niemanden sehn, ich will mich durch keinen Anblick verwirren lassen, beim Schreibtisch, das ist mein Platz, den Kopf in meinen Händen, das ist meine Haltung.

Ich habe eine Tür in meiner Wohnung bisher nicht beachtet. Sie ist im Schlafzimmer in der Mauer, die an das Nachbarhaus grenzt. Ich habe mir keine Gedanken über sie gemacht, ja ich habe gar nicht von ihr gewußt. Und doch ist sie recht wohl sichtbar, ihr unterer Teil ist zwar von den Betten verdeckt; sie aber ragt weit hinauf, fast keine Tür, fast ein Tor. Gestern wurde sie aufgemacht. Ich war gerade im Speisezimmer, das noch durch ein Zimmer vom Schlafzimmer getrennt ist. Ich war sehr verspätet zum Mittagessen gekommen, niemand war mehr zu Hause, nur das Dienstmädchen arbeitete in der Küche. Da begann im Schlafzimmer der Lärm. Ich eile sogleich hinüber und sehe, wie die Tür langsam geöffnet wird und dabei mit riesiger Kraft die Betten weggeschoben werden. Ich rufe: »Wer ist das? Was will man? Vorsicht! Achtung!« und erwarte einen Trupp gewalttätiger Männer hereinkommen zu sehn, aber es ist nur ein schmaler junger Mann, der, sobald der Spalt nur knapp für ihn reicht, hereinschlüpft und freudig mich begrüßt.

Nichts dergleichen, nichts dergleichen.

Wenn ich des Nachts am Wasser entlang vom Turm her komme, wie sich jede Nacht das zähe dunkle Wasser unter dem Licht der Laterne körperlich langsam bewegt. Wie wenn ich über einen Schlafenden die Laterne entlang führen würde und er nur infolge des Lichtes sich dehnen und drehen würde, ohne zu erwachen.

Um Mitternacht bin ich immer am Fluß zu treffen, entweder ist Nachtdienst und ich gehe ins Gefängnis, oder es war Tagdienst und ich gehe nach Hause. Diese Gelegenheit wurde einmal ausgenützt. Ermattet von der Arbeit, dabei in einem fast unerträglichen erstickenden Zorn gegen B., einen Kollegen, wegen eines dienstlichen Vorfalls, von dem auch noch zu reden sein wird, ging ich damals nach Hause. Wandte mich einmal um, sah zu dem kleinen beleuchteten Fenster oben im Gefängnisturm, hinter dem B. jetzt saß und nachtmahlte, die Rumflasche zwischen den Beinen, glaubte ihn einen Augenblick lang großmächtig ganz nahe vor mir sitzen zu sehn, ja ich roch ihn, dann aber spuckte ich aus und ging weiter.

Es wird ein Ruf laut aus dem Fluß.

Meine Schwester hat ein Geheimnis vor mir. Sie hat einen kleinen Kalender, den sie zum Teil sogar nur meinetwegen bekommen hat, denn ich kenne den Herrn, der jedem von uns einen solchen Kalender gegeben hat, viel länger als sie und mir zuliebe hat er die Kalender gebracht. In diesen Kalender also hat sie das Geheimnis geschrieben oder eingelegt, den Kalender selbst aber in ihren verschließbaren Federbehälter gesperrt und den Schlüssel ...

Es zupfte mich jemand am Kleid, aber ich schüttelte ihn ab.

Ruhelos

In einer spiritistischen Sitzung meldete sich einmal ein neuer Geist und es wickelte sich mit ihm folgendes Gespräch ab:
Der Geist: Verzeihung.
Der Wortführer: Wer bist du?
Geist: Verzeihung.
Wortführer: Was willst du?
Geist: Fort.
Wortführer: Du bist doch erst gekommen.
Geist: Es ist ein Irrtum.
Wortführer: Nein, es ist kein Irrtum. Du bist gekommen und bleibst.
Geist: Mir ist eben schlecht geworden.
Wortführer: Sehr?
Geist: Sehr.
Wortführer: Körperlich?
Geist: Körperlich?
Wortführer: Du antwortest mit Fragen, das ist ungehörig. Wir haben Mittel, dich zu strafen, antworte also lieber, denn dann werden wir dich bald entlassen.
Geist: Bald?
Wortführer: Bald.
Geist: In einer Minute?
Wortführer: Benimm dich nicht so kläglich. Wir werden dich entlassen, wenn es uns ...

Es war gegen Abend auf dem Lande, ich saß in meinem Giebelzimmer beim geschlossenen Fenster und sah dem Rinderhirten zu, der auf dem gemähten Feld stand, die Pfeife im Mund, den Stock eingerammt, scheinbar unbekümmert um die Tiere, die nah und weit friedlich in tiefer Ruhe weideten. Da klopfte es an das Fenster, ich schrak aus meinem Hindämmern auf, faßte mich und sagte laut: »Es ist nichts, der Wind rüttelt am Fenster.« Als es wieder klopfte, sagte ich: »Ich weiß, es ist nur der Wind.« Aber beim dritten Klopfen bat eine Stimme um Einlaß. »Es ist doch nur der Wind«, sagte ich, nahm die Lampe vom Kasten, zündete sie an und ließ den Fenstervorhang hinab. Da begann das ganze Fenster zu zittern und ein demütiges wortloses Klagen.

Um was klagst du, verlassene Seele? Warum flatterst du um das Haus des Lebens? Warum siehst du nicht in die Ferne, die dir gehört, statt hier zu kämpfen um das, was dir fremd ist? Lieber die lebendige Taube auf dem Dach, als den halbtoten, krampfhaft sich wehrenden Sperling in der Hand.

Schlage deinen Mantel, hoher Traum, um das Kind.

Es kamen zwei Soldaten und ergriffen mich. Ich wehrte mich, aber sie hielten fest. Sie führten mich vor ihren Herrn, einen Offizier. Wie bunt war seine Uniform! Ich sagte: »Was wollt ihr denn von mir, ich bin ein Zivilist.« Der Offizier lächelte und sagte: »Du bist ein Zivilist, doch hindert uns das nicht, dich zu fassen. Das Militär hat Gewalt über alles.«

Die Bewertung im Varietéfach.

Es ist sehr schwer, auf dem Gebiet der Varieteproduktionen auch nur für eine kurze Zeit annähernd richtige Bewertungen vorzunehmen. Die besten Fachleute mit den Erfahrungen eines langen Lebens haben dabei versagt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Laufbahn des Eisenkönigs.

Belvedereabhang.

Wie er ging, der Mann mit dem langen Falten werfenden Mantel, eine Aktentasche in der Hand, den Kopf bloß, den Golddraht der Brille an den Ohren, am sonnigen Vormittag, am ersten Mai, auf dem stillen Weg zwischen dem Grün.

Karpfengasse.

Der häßliche junge Mann am Abend, allein, eine grobe, kräftige, Widerstand leistende Natur.

Die zwei alten Herren beim Rudolfinum, friedliche, langwierige, würdige Erzählung, die Frauen hinterher.

20. August 1916. Wie diese Narrheit plötzlich im Sprung wieder über mich kommt, es geschieht das immer, wenn das Vertrauen in meinen Gesundheitszustand etwas zunimmt, wie dies etwa vorgestern nach dem Besuch beim Dr. Mühlstein geschehen ist.

Rein bleiben Verheiratetsein
Junggeselle Ehemann
Ich bleibe rein Rein?
Ich halte alle meine Kräfte zusammen Du bleibst außerhalb des Zusammenhangs, wirst ein Narr, fliegst in alle Windrichtungen, kommst aber nicht weiter, ich ziehe aus dem Blutkreislauf des menschlichen Lebens alle Kraft, die mir überhaupt zugänglich ist.
 
Nur für mich verantwortlich Desto mehr für (in) dich vernarrt.
(Grillparzer, Flaubert)
 
Keine Sorge. Konzentration auf die Arbeit. Da ich an Kräften wachse, trage ich mehr. Hier ist aber eine gewisse Wahrheit.

Die Hütte des Jägers lag nicht weit von der Hütte der Holzarbeiter. Die Holzarbeiter, zwölf, wohnten dort, um jetzt, da guter Schnee war, die Stämme vorzubereiten, welche von den Schlitten bei Tag ins Tal geschleift wurden. Es war viel Arbeit, aber den Arbeitern wäre sie nicht zuviel gewesen, wenn man ihnen nur genug Bier gegeben hätte. Sie hatten aber nur ein mittleres Faß und das war für eine Woche einzuteilen, eine unmögliche Aufgabe. Darüber klagten sie immer dem Jäger, wenn er am Abend zu ihnen herüberkam. »Ihr habt es schwer«, sagte der Jäger zustimmend und sie klagten an seinem Herzen.

Die Hütte des Jägers liegt verlassen im Bergwald. Dort bleibt er während des Winters mit seinen fünf Hunden. Wie lang ist aber der Winter in diesem Land! Fast könnte man sagen, er dauere ein Leben lang.

Der Jäger ist wohlgemut, es fehlt ihm an nichts Wesentlichem, über Entbehrungen klagt er nicht, er hält sich sogar für allzu gut ausgerüstet. ›Käme ein Jäger zu mir‹, denkt er, ›und würde er meine Einrichtung und meine Vorräte sehn, es wäre wohl das Ende der Jägerschaft. Aber ist es nicht auch so das Ende? Es gibt keine Jäger.‹

Er geht zu den Hunden in die Ecke, wo sie auf Decken und mit Decken zugedeckt schlafen. Der Schlaf der Jagdhunde. Sie schlafen nicht, sie warten nur auf die Jagd und das sieht wie Schlaf aus.

Peter hatte eine reiche Braut im Nachbardorf. Einmal abends war er sie besuchen, es war vieles zu besprechen, denn in einer Woche sollte die Hochzeit sein. Die Besprechung fiel günstig aus. Alles war zu seiner Zufriedenheit geordnet worden; behaglich, die Pfeife im Mund, ging er gegen zehn Uhr nach Hause, auf den ihm wohlbekannten Weg achtete er gar nicht. Da geschah es, daß er in einem kleinen Wald, ohne zuerst genau zu wissen warum, zurückschreckte. Dann waren es zwei goldig schimmernde Augen, die er sah und eine Stimme sagte: »Ich bin der Wolf.« »Was willst du?« sagte Peter, in seiner Erregung stand er mit ausgebreiteten Armen da, in einer Hand die Pfeife, in der andern den Stock. »Dich«, sagte der Wolf, »den ganzen Tag suche ich schon etwas zum Fressen.« »Bitte, Wolf«, sagte Peter, »heute verschone mich noch, in einer Woche soll meine Hochzeit sein, laß mich die noch erleben.« »Ungern«, sagte der Wolf. »Und was für einen Vorteil soll ich denn vom Warten haben?« »Nimm uns dann beide, mich und meine Frau«, sagte Peter. »Und was soll bis zur Hochzeit geschehn?« sagte der Wolf. »Ich kann doch bis dahin nicht hungern. Schon jetzt habe ich Übelkeiten vom Hungern und wenn ich nicht sehr bald etwas bekomme, fresse ich dich jetzt auch gegen meinen Willen auf.« »Bitte«, sagte Peter, »komm mit mir, ich wohne nicht weit, ich werde dich die Woche über mit Kaninchen füttern.« »Ich muß auch zumindest ein Schaf bekommen.« »Gut, ein Schaf.« »Und fünf Hühner.«

Vor dem Stadttor war niemand, in der Torwölbung niemand. Auf rein gekehrtem Kies kam man hin, durch ein viereckiges Mauerloch sah man in die Zelle der Torwache, aber die Zelle war leer. Das war zwar merkwürdig, aber für mich sehr vorteilhaft, denn ich hatte keine Ausweispapiere, mein ganzer Besitz war überhaupt ein Kleid aus Leder und der Stock in der Hand.

Ich sprach heute mit dem Kapitän in seiner Kajüte. Ich beklagte mich über die Mitpassagiere. Das könne man nicht ein Passagierschiff nennen, zumindest die Hälfte des Volkes, das hier mitfahre, sei schlimmstes Gesindel. Meine Frau wage sich kaum mehr aus der Kabine heraus, aber auch hinter der versperrten Tür fühlt sie sich nicht sicher, ich muß bei ihr bleiben.

Es begann ein Wettlaufen in den Wäldern. Alles war voll von Tieren. Ich versuchte Ordnung zu machen.

Es war schon Abend. Sein kühler Hauch wehte uns entgegen, erfrischend in seiner Kühle, ermattend in seinem Spätsein. Wir setzten uns auf eine Bank am alten Turm. »Alles war vergeblich«, sagtest du, »aber es ist vergangen, es ist Zeit aufzuatmen und hier ist der rechte Ort.«

Sie schläft. Ich wecke sie nicht. Warum weckst du sie nicht? Es ist mein Unglück und mein Glück. Ich bin unglücklich, daß ich sie nicht wecken kann, daß ich nicht aufsetzen kann den Fuß auf die brennende Türschwelle ihres Hauses, daß ich nicht den Weg kenne zu ihrem Hause, daß ich nicht die Richtung kenne, in welcher der Weg liegt, daß ich mich immer weiter von ihr entferne, kraftlos wie das Blatt im Herbstwind sich von seinem Baume entfernt und überdies: ich war niemals an diesem Baume, im Herbstwind ein Blatt, aber von keinem Baum. – Ich bin glücklich, daß ich sie nicht wecken kann. Was täte ich, wenn sie sich erhöbe, wenn sie aufstehen würde von dem Lager, wenn ich aufstehen würde von dem Lager, der Löwe von seinem Lager, und mein Gebrüll einbrechen würde in mein ängstliches Gehör.

Ich fragte einen Wanderer, den ich auf der Landstraße traf, ob hinter den sieben Meeren die sieben Wüsten wären und hinter ihnen die sieben Berge, auf dem siebenten Berge das Schloß und ...

Das Klettern. Senait. Es war ein Eichhörnchen, es war ein Eichhörnchen, eine wilde Nußaufknackerin, Springerin, Kletterin, und ihr buschiger Schwanz war berühmt in den Wäldern. Dieses Eichhörnchen, dieses Eichhörnchen war immer auf der Reise, immer auf der Suche, es konnte nichts darüber sagen, nicht weil ihm die Rede fehlte, aber es hatte nicht die allergeringste Zeit.

Bilder von der Verteidigung eines Hofes

Es war ein einfacher und lückenloser Holzzaun von nicht ganz Manneshöhe. Dahinter standen drei Männer, deren Gesichter man über den Zaun hinausragen sah, der mittlere war der größte, die beiden anderen, um mehr als einen Kopf kleiner, drängten sich an ihn, es war eine einheitliche Gruppe. Diese drei Männer verteidigten den Zaun oder vielmehr den ganzen Hof, der von ihm umschlossen war. Es waren noch andere Männer da, aber unmittelbar beteiligten sie sich an der Verteidigung nicht. Einer saß an einem Tischchen mitten im Hof; da es warm war, hatte er sich den Uniformrock ausgezogen und über die Sessellehne gehängt. Er hatte vor sich einige kleine Zettel, die er mit großen, breiten, viel Tinte verbrauchenden Schriftzügen beschrieb. Hie und da sah er auf eine kleine Zeichnung, die weiter oben mit Reißnägeln an der Tischplatte befestigt war, es war ein Plan des Hofes und der Mann, welcher der Kommandant war, verfaßte nach diesem Plane die Anordnung für die Verteidigung. Manchmal richtete er sich halb auf, um nach den drei Verteidigern zu sehn und über den Zaun hinweg ins freie Land. Auch was er dort sah, nützte er für seine Anordnungen aus. Er arbeitete eilig, wie es die gespannte Lage erforderte. Ein kleiner bloßfüßiger Junge, der in der Nähe im Sande spielte, trug, wenn es so weit war und der Kommandant ihn rief, die Zettel aus. Doch mußte ihm der Kommandant immer zuerst mit dem Uniformrock die vom feuchten Sande schmutzigen Hände reinigen, ehe er ihm die Zettel gab. Der Sand war feucht vom Wasser, das aus einem großen Bottich ausspritzte, in welchem ein Mann Militärwäsche wusch, auch eine Leine hatte er von einer Latte des Zauns zu einem schwachen Lindenbaum gezogen, der verlassen im Hof stand. Auf dieser Leine war Wäsche zum Trocknen ausgehängt, und als jetzt der Kommandant sein Hemd, das ihm schon am schwitzenden Leibe klebte, plötzlich über den Kopf hin auszog und mit kurzem Zuruf dem Mann beim Bottich zuwarf, nahm dieser ein trockenes Hemd von der Leine und übergab es seinem Vorgesetzten. Nicht weit vom Bottich im Baumschatten saß ein junger Mann schaukelnd auf einem Sessel, unbekümmert um alles, was ringsumher geschah, die Blicke verloren zum Himmel und zum Flug der Vögel gerichtet, und übte auf einem Waldhorn militärische Signale. Das war notwendig wie etwas anderes, aber manchmal wurde es dem Kommandanten zuviel, dann winkte er, ohne von seiner Arbeit aufzusehen, dem Trompeter zu, daß er aufhöre, und als das nicht half, drehte er sich um und schrie ihn an, dann war ein Weilchen lang Stille, bis der Trompeter leise, zum Versuch nur, wieder zu blasen begann und, als es ihm durchging, allmählich wieder den Ton zur früheren Stärke anschwellen ließ. Der Vorhang des Giebelfensters war herabgelassen, was nichts Auffallendes hatte, denn alle Fenster auf dieser Hausseite waren irgendwie verdeckt, um sie vor dem Einblick und Angriff der Feinde zu schützen, aber hinter jenem Vorhang duckte sich die Tochter des Pächters, blickte auf den Trompeter hinunter und die Klänge des Waldhorns entzückten sie so, daß sie manchmal nur mit geschlossenen Augen, die Hand am Herzen, sie in sich aufnehmen konnte. Eigentlich hätte sie in der großen Stube im Hinterhaus die Mägde beaufsichtigen sollen, die dort Charpie zupften, aber sie hatte es dort, wohin die Töne nur schwach, niemals Befriedigung bringend, immer nur Sehnsucht erweckend, gedrungen waren, nicht ausgehalten und sich durch das verlassene dumpfe Haus hier heraufgestohlen. Manchmal beugte sie sich auch ein wenig weiter vor, um zu sehn, ob der Vater noch bei seiner Arbeit sitze und nicht etwa das Gesinde revidieren gegangen sei, denn dann wäre auch ihres Bleibens hier nicht mehr gewesen. Nein, er saß noch immer, aus seiner Pfeife paffend, auf der Steinstufe vor der Haustür und schnitt Schindeln, ein großer Haufe fertiger und halbfertiger Schindeln sowie rohen Materials lag um ihn herum. Das Haus und das Dach würde leider unter dem Kampfe leiden und man mußte Vorsorge treffen. Aus dem Fenster neben der Haustür, das bis auf eine kleine Lücke mit Brettern verschlagen war, kam Rauch und Lärm, dort war die Küche und die Pächterin beendigte eben mit den Militärköchen das Mittagessen. Der große Herd reichte dafür nicht aus, es waren daher auch noch zwei Kessel aufgestellt worden, aber auch sie genügten nicht, wie sich jetzt zeigte: dem Kommandanten war es sehr wichtig, die Mannschaft reichlich zu nähren. Man hatte sich deshalb entschlossen, noch einen dritten Kessel zu Hilfe zu nehmen, da er aber ein wenig schadhaft war, war ein Mann auf der Gartenseite des Hauses damit beschäftigt, ihn zuzulöten. Er hatte es ursprünglich vor dem Hause zu machen gesucht, aber der Kommandant hatte das Hämmern nicht ertragen können und man hatte den Kessel wegrollen müssen. Die Köche waren sehr ungeduldig, immer wieder schickten sie jemanden nachzusehn, ob der Kessel schon fertig sei, aber er war noch immer nicht fertig, für das heutige Mittagessen kam er nicht mehr in Betracht und man würde sich einschränken müssen. Zuerst wurde dem Kommandanten serviert. Trotzdem er es sich einige Male und sehr ernsthaft verbeten hatte, ihm etwas Besonderes zu kochen, hatte sich die Hausfrau nicht entschließen können, ihm die gewöhnliche Mannschaftskost zu geben, auch wollte sie es niemand anderem anvertrauen, ihn zu bedienen, zog eine schöne weiße Schürze an, stellte auf ein silbernes Tablett den Teller mit kräftiger Hühnersuppe und trug es dem Kommandanten in den Hof hinaus, da man nicht erwarten konnte, daß er seine Arbeit unterbrechen und ins Haus essen gehn werde. Er erhob sich gleich sehr höflich, als er die Hausfrau selbst herankommen sah, mußte ihr aber sagen, daß er keine Zeit zum Essen habe, weder Zeit noch Ruhe, die Hausfrau bat mit geneigtem Kopf, Tränen in den aufwärts schauenden Augen, und erreichte damit, daß der Kommandant, noch immer stehend, aus dem noch immer in den Händen der Hausfrau befindlichen Teller lächelnd einen Löffel voll Suppe nahm. Damit war aber auch der äußersten Höflichkeit Genüge getan, der Kommandant verbeugte sich und setzte sich zu seiner Arbeit, er merkte wahrscheinlich kaum, daß die Hausfrau noch ein Weilchen lang neben ihm stand, und dann seufzend in die Küche zurückging. Ganz anders aber war der Appetit der Mannschaften. Kaum erschien in der Lücke des Küchenfensters das wildbärtige Gesicht eines Kochs, der mit einer Pfeife das Zeichen gab, daß das Mittagessen ausgeteilt werde, wurde es überall lebendig, lebendiger als es dem Kommandanten lieb war. Aus einem Holzschuppen zogen zwei Soldaten einen Handwagen, der eigentlich nur ein großes Faß darstellte, in welches aus der Küchenlücke in breitem Strom die Suppe geschüttet wurde für jene Mannschaften, welche ihren Platz nicht verlassen durften und denen daher das Essen zugeführt wurde. Zuerst fuhr das Wägelchen zu den Verteidigern am Zaun, es wäre dies wohl auch geschehn, ohne daß der Kommandant mit dem Finger ein Zeichen hätte geben müssen, denn jene drei waren augenblicklich am meisten dem Feind ausgesetzt und das verstand auch der einfache Mann zu würdigen, vielleicht mehr als der Offizier, aber dem Kommandanten lag vor allem daran, die Verteilung zu beschleunigen und die lästige Unterbrechung der Verteidigungsarbeiten, welche das Essen verursachte, möglichst abzukürzen, sah er doch, wie selbst die drei, sonst musterhafte Soldaten, sich jetzt mehr um den Hof und das Wägelchen als um das Vorfeld des Zaunes bekümmerten. Sie wurden schnell aus dem Wägelchen versorgt, das dann weiter den Zaun entlang geführt wurde, denn alle zwanzig Schritte etwa hockten unten am Zaun drei Soldaten, bereit, wenn es nötig werden sollte, so wie jene ersten drei aufzustehn und sich dem Feind zu zeigen. Inzwischen kam in langer Reihe aus dem Haus die Reserve zur Küchenlücke, jeder Mann die Schüssel in der Hand. Auch der Trompeter näherte sich, zog zum Leidwesen der Pächterstochter, die nun wieder zu den Mägden zurückkehrte, die Schüssel unter seinem Sessel hervor und brachte statt ihrer sein Waldhorn dort unter. Und in dem Wipfel der Linde begann ein Rauschen, denn dort saß ein Soldat, der die Feinde durch ein Fernrohr zu beobachten hatte und der trotz seiner wichtigen unentbehrlichen Arbeit von dem Führer des Suppenwagens wenigstens vorläufig vergessen worden war. Das erbitterte ihn um so mehr, als sich einige Soldaten, nichtstuerische Reservemannschaften, um die Mahlzeit besser zu genießen, rund um den Stamm niedergesetzt hatten und der Dampf und Duft der Suppe zu ihm emporstieg. Zu schreien wagte er nicht, aber im Gezweig schlug er um sich und stieß mehrmals das Fernrohr, um auf sich aufmerksam zu machen, durch das Laubwerk hinab. Alles vergebens. Er gehörte zu den Abnehmern des Wägelchens und mußte warten, bis es nach beendigter Rundfahrt zu ihm kam. Das dauerte freilich lange, denn der Hof war groß, wohl vierzig Posten zu drei Mann waren zu versorgen, und als das Wägelchen, von den übermüdeten Soldaten gezogen, endlich zur Linde kam, war schon nur wenig im Faß und besonders die Fleischstücke waren spärlich. Zwar nahm der Späher den Rest noch gern an, als er ihm in einer Schüssel mit einer Hakenstange heraufgereicht wurde, glitt dann aber ein wenig am Stamm herab und stieß wütend – dies war sein Dank – den Fuß in das Gesicht des Soldaten, der ihn bedient hatte. Dieser, begreiflicherweise außer sich vor Erregung, ließ sich von seinem Kameraden hochheben, war im Nu oben im Baum und nun begann ein von unten unsichtbarer Kampf, der sich nur im Schwanken der Äste, dumpfem Stöhnen, Umherfliegen der Blätter äußerte, bis dann endlich das Fernrohr zu Boden fiel und nun sofort Ruhe eintrat. Der Kommandant hatte, von andern Dingen sehr in Anspruch genommen – draußen im Felde schien Verschiedenes vorzugehen –, glücklicherweise nichts bemerkt, still kletterte der Soldat herunter, freundschaftlichst wurde das Fernrohr hinaufgereicht und alles war wieder gut, nicht einmal von der Suppe war nennenswert viel verlorengegangen, denn der Späher hatte vor dem Kampf die Schüssel an den obersten Zweigen sorgfältig windsicher befestigt.

Ich schreibe nun wieder, was ich gehört habe, was mir anvertraut worden ist. Doch ist es mir nicht anvertraut worden als Geheimnis, das ich bewahren müsse, anvertraut unmittelbar wurde mir nur die Stimme, die sprach, das Übrige ist kein Geheimnis, ist vielmehr Spreu; und das, was nach allen Seiten fliegt, wenn Arbeit getan wird, ist das, was mitgeteilt werden kann und um die Barmherzigkeit bittet, mitgeteilt zu werden, denn es hat nicht die Kraft, verlassen stillzubleiben, wenn das, was ihm Leben gab, verrauscht ist.

Gehört habe ich aber folgendes:

Irgendwo in Südböhmen auf einer waldigen Anhöhe, etwa zwei Kilometer von einem Fluß entfernt, den man leicht von hier aus sehen würde, wenn nicht der Wald die Aussicht benähme, liegt ein kleines Haus. Dort wohnt ein alter Mann. Äußere Würde des Alters ist ihm nicht zuteil geworden. Er ist klein, das eine Bein ist gerade, das andere aber stark nach außen gebogen. Das Gesicht ist schütter, aber überall von weißem, gelbem, hie und da auch wohl schwärzlichem Bart bewachsen, die Nase ist plattgedrückt und ruht auf der ein wenig vorgeworfenen Oberlippe, von ihr fast geschlossen, auf. Die Lider hängen tief über den kleinen ...

Jenen Wilden, von denen erzählt wird, daß sie kein anderes Verlangen haben als zu sterben oder vielmehr sie haben nicht einmal mehr dieses Verlangen, sondern der Tod hat nach ihnen Verlangen und sie geben sich hin oder vielmehr sie geben sich nicht einmal hin, sondern sie fallen in den Ufersand und stehn niemals mehr auf – jenen Wilden gleiche ich sehr und habe auch Stammesbrüder ringsherum, aber die Verwirrung in diesen Ländern ist so groß, das Gedränge wogt auf und ab bei Tag und Nacht und die Brüder lassen sich von ihm tragen. Das nennt man hierzulande ›einem unter den Arm greifen‹, solche Hilfe ist hier immer bereit; einen, der ohne Grund umsinken könnte und liegenbliebe, fürchtet man wie den Teufel, es ist wegen des Beispiels, es ist wegen des Gestankes der Wahrheit, der aus ihm steigen würde. Gewiß, es würde nichts geschehn, einer, zehn, ein ganzes Volk könnte liegenbleiben und es würde nichts geschehn, weiter ginge das mächtige Leben, noch übervoll sind die Dachböden von Fahnen, die niemals aufgerollt gewesen sind, dieser Leierkasten hat nur eine Walze, aber die Ewigkeit in eigener Person dreht die Kurbel. Und doch die Angst! Wie tragen doch die Leute ihren eigenen Feind, so ohnmächtig er ist, immer in sich. Seinetwegen, dieses ohnmächtigen Feindes wegen, sind sie ...

»Nun also?« sagte der Herr, sah mich lächelnd an und rückte an seiner Krawatte. Ich konnte den Blick aushalten, wandte mich dann aber aus freiem Willen ein wenig zur Seite und schaute in die Tischfläche mit immer angestrengteren Augen, als öffne und vertiefe sich dort eine Höhlung und ziehe den Blick hinab. Dabei sagte ich: »Sie wollen mich prüfen, haben aber noch keine Berechtigung hierzu nachgewiesen.« Nun lachte er laut: »Meine Berechtigung ist meine Existenz, meine Berechtigung ist mein Dasitzen, meine Berechtigung ist meine Frage, meine Berechtigung ist, daß Sie mich verstehn.« »Wohl«, sagte ich, »nehmen wir an, es sei so.« »Dann werde ich Sie also prüfen«, sagte er, »nur ersuche ich Sie, mit Ihrem Sessel ein wenig zurückzugehn, Sie beengen mich hier. Auch bitte ich, nicht abwärts zu schauen, sondern mir in die Augen. Vielleicht ist es mir wichtiger, Sie zu sehn, als Ihre Antworten zu hören.« Als ich ihm entsprochen hatte, begann er: »Wer bin ich?« »Mein Prüfer«, sagte ich. »Gewiß«, sagte er. »Was bin ich noch?« »Mein Onkel«, sagte ich. »Ihr Onkel«, rief er, »was für eine tolle Antwort.« »Mein Onkel«, sagte ich bekräftigend. »Nichts Besseres.«

Ich stand auf dem Balkon meines Zimmers. Es war sehr hoch, ich zählte die Fensterreihen, es war im sechsten Stockwerk. Unten waren Rasenanlagen, es war ein kleiner von drei Seiten geschlossener Platz, es war wohl in Paris. Ich ging ins Zimmer hinein, die Tür ließ ich offen, es schien zwar erst März oder April zu sein, aber der Tag war warm. In einer Ecke stand ein kleiner, sehr leichter Schreibtisch, ich hätte ihn mit einer Hand heben und in der Luft herumschwingen können. Jetzt aber setzte ich mich zu ihm, Tinte und Feder war bereit, ich wollte eine Ansichtskarte schreiben. Ich griff unsicher, ob ich eine Karte hätte, in die Tasche, da hörte ich einen Vogel und bemerkte, als ich herumsah, auf dem Balkon an der Hausmauer einen Vogelbauer. Gleich ging ich wieder hinaus, ich mußte mich auf die Fußspitzen heben, um den Vogel zu sehn, es war ein Kanarienvogel. Dieser Besitz freute mich sehr. Ich drückte ein Stückchen grünen Salats, der zwischen den Gitterstäbchen steckte, tiefer hinein und ließ den Vogel daran knabbern. Dann wandte ich mich wieder dem Platz zu, rieb die Hände und beugte mich flüchtig über das Geländer. Jenseits des Platzes in einem Mansardenzimmer schien mich jemand mit einem Operngucker zu beobachten, wahrscheinlich, weil ich ein neuer Mieter war, das war kleinlich, aber vielleicht war es ein Kranker, dem die Fensteraussicht die Welt ist. Da ich in den Taschen doch eine Karte gefunden hatte, ging ich ins Zimmer, um zu schreiben, auf der Karte war allerdings keine Ansicht von Paris, sondern nur ein Bild, es hieß Abendgebet, man sah einen stillen See, im Vordergrund ganz wenig Schilf, in der Mitte ein Boot und darin eine junge Mutter mit ihrem Kind im Arm.

Wir spielten ›Weg-Versperren‹, es wurde eine Wegstrecke bestimmt, die einer verteidigen und der andere überschreiten sollte. Dem Angreifer wurden die Augen verbunden, der Verteidiger aber hatte kein anderes Mittel, die Überschreitung zu verhindern, als daß er gerade im Augenblick der Überschreitung den Angreifer am Arm berührte; tat er es früher oder später, hatte er verloren. Wer das Spiel nie gespielt hat, wird glauben, daß der Angriff sehr schwer, die Verteidigung sehr leicht gemacht sei und dabei ist es gerade umgekehrt oder es sind zumindest die Angriffstalente häufiger. Verteidigen konnte bei uns nur einer, er freilich konnte es fast unfehlbar. Ich habe ihm oft zugeschaut, es war dann kaum unterhaltend, er war eben ohne viel Laufen immer am richtigen Platz, er hätte auch gar nicht sehr gut laufen können, denn er hinkte ein wenig, er war aber auch sonst nicht lebhaft, andere, wenn sie verteidigten, lauerten geduckt und blickten wild herum, seine mattblauen Augen blickten ruhig wie sonst. Was eine solche Verteidigung zu bedeuten hatte, merkte man erst, wenn man Angreifer war.

Ich liebe sie und kann mit ihr nicht sprechen, ich lauere ihr auf, um ihr nicht zu begegnen.

Ich liebte ein Mädchen, das mich auch liebte, ich mußte es aber verlassen.

Warum?

Ich weiß nicht. Es war so, als wäre sie von einem Kreis von Bewaffneten umgeben, welche die Lanzen nach auswärts hielten. Wann ich mich auch näherte, geriet ich in die Spitzen, wurde verwundet und mußte zurück. Ich habe viel gelitten.

Das Mädchen hatte daran keine Schuld?

Ich glaube nicht, oder vielmehr, ich weiß es. Der vorige Vergleich war nicht vollständig, auch ich war von Bewaffneten umgeben, welche ihre Lanzen nach innen, also gegen mich hielten. Wenn ich zu dem Mädchen drängte, verfing ich mich zuerst in den Lanzen meiner Bewaffneten und kam schon hier nicht vorwärts. Vielleicht bin ich zu den Bewaffneten des Mädchens niemals gekommen und wenn ich hingekommen sein sollte, dann schon blutend von meinen Lanzen und ohne Besinnung.

Ist das Mädchen allein geblieben?

Nein, ein anderer ist zu ihr vorgedrungen, leicht und ungehindert.

Ich habe, erschöpft von meinen Anstrengungen, so gleichgültig zugesehen, als wäre ich die Luft, durch die sich ihre Gesichter im ersten Kuß aneinanderlegten.

Es saßen zwei Männer an einem roh gezimmerten Tisch. Eine flackernde Petroleumlampe hing über ihnen. Es war weit von meiner Heimat.

»Ich bin in euerer Hand«, sagte ich.

»Nein«, sagte der eine Mann, der sich sehr aufrecht hielt und die linke Hand in seinen Vollbart gekrampft hatte, »du bist frei und dadurch bist du verloren.«

»Ich kann also gehn?« fragte ich.

»Ja«, sagte der Mann und flüsterte seinem Nachbar etwas zu, während er ihm freundlich die Hand streichelte. Es war ein alter Mann, zwar auch noch aufrecht und sehr kräftig, ...

Es war ein äußerst niedriges Türchen, das in den Garten führte, nicht viel höher als die Drahtbogen, die man beim Croquetspiel in die Erde steckt. Wir konnten deshalb nicht nebeneinander in den Garten gehn, sondern einer mußte hinter dem andern hineinkriechen. Marie erschwerte es mir noch, indem sie mich, gerade als ich mit den Schultern in dem Türchen fast eingeklemmt war, noch an den Füßen zu ziehn anfing. Schließlich überwand ich es doch und auch Marie kam erstaunlicherweise durch, allerdings nur mit meiner Hilfe. Wir waren mit dem allen so beschäftigt gewesen, daß wir gar nicht bemerkt hatten, daß der Gastgeber offenbar schon von allem Anfang an in der Nähe stand und uns zugesehen hatte. Das war Marie sehr unangenehm, denn ihr leichtes Kleid war bei dem Kriechen ganz zerdrückt worden. Aber nun ließ sich nichts mehr verbessern, denn der Gastgeber begrüßte uns schon, mir schüttelte er herzlich die Hand, Marie klopfte er leicht auf die Wange. Ich konnte mich nicht erinnern, wie alt Marie war, wahrscheinlich war sie ein kleines Kind, da sie so begrüßt wurde, aber ich war doch gewiß nicht viel älter. Ein Diener lief vorüber, fast flog er dahin, in der erhobenen Rechten – die Linke hielt er an der Hüfte – trug er eine große hoch gefüllte Schüssel, den Inhalt konnte ich in der Eile nicht erkennen, ich sah nur, wie lange Bänder oder Blätter oder Algen rings von der Schüssel hinunterhingen und in der Luft hinter dem Diener flatterten. Ich machte Marie auf den Diener aufmerksam, sie nickte mir zu, war aber nicht so erstaunt, wie ich erwartet hatte. Eigentlich war es doch ihr erster Eintritt in die große Gesellschaft, sie kam doch aus engen kleinbürgerlichen Verhältnissen, es mußte ihr doch so sein wie einem Menschen, der immer nur in der Ebene gelebt hatte, plötzlich aber reißt der Vorhang vor ihm und er steht am Fuß des Vorgebirges. Aber auch in ihrem Verhalten gegenüber dem Gastgeber zeigte sie nichts dergleichen, ruhig hörte sie seine Begrüßungsworte an und zog sich unterdessen die grauen Handschuhe, die ich ihr gestern gekauft hatte, langsam an. Im Grunde war es mir ja sehr lieb, daß sie die Prüfung in dieser Art bestand. Der Gastgeber lud uns dann ein, ihm zu folgen, wir gingen in der Richtung, in welcher der Diener verschwunden war, der Gastgeber war immer einen Schritt vor uns, aber immer halb zu uns zurückgewendet.

Wer ist es? Wer geht unter den Bäumen am Quai? Wer ist ganz verloren? Wer kann nicht mehr gerettet werden? Über wessen Grab wächst der Rasen? Träume sind angekommen, flußabwärts sind sie gekommen, auf einer Leiter steigen sie die Quaimauer hinauf. Man bleibt stehn, unterhält sich mit ihnen, sie wissen mancherlei, nur woher sie kommen, wissen sie nicht. Es ist recht lau an diesem Herbstabend. Sie wenden sich dem Fluß zu und heben die Arme. Warum hebt ihr die Arme, statt uns in sie zu schließen?

Immer streichst du um die Tür herum, tritt kräftig ein. Drin sitzen zwei Männer an roh gezimmertem Tisch und erwarten dich. Sie tauschen ihre Meinungen aus über die Ursachen deines Zögerns. Es sind ritterliche mittelalterlich gekleidete Männer.

Er ist sehr kräftig und wird immer kräftiger. Er scheint auf fremde Kosten zu leben. Man könnte sich ihn als ein Tier in der Wildnis denken, das am Abend allein, langsam, bedächtig, schaukelnd zur Tränke geht. Seine Augen sind trübe, man hat oft nicht den Eindruck, daß er den, auf den er die Augen richtet, auch wirklich sieht. Es ist dann aber nicht Zerstreutheit, Beschäftigtsein, das ihn hindert, sondern eine gewisse Stumpfheit. Es sind trübe Trinkeraugen eines Menschen, der offenbar nicht Trinker ist. Vielleicht geschieht ihm Unrecht, vielleicht hat ihn das so verschlossen gemacht, vielleicht ist ihm immer Unrecht geschehn. Es scheint jene Art von unbestimmtem Unrecht zu sein, das junge Leute so oft auf sich lasten fühlen, das sie aber schließlich abwerfen, solange sie noch die Kraft dazu haben, er freilich ist schon alt, wenn auch vielleicht nicht so alt wie er aussieht mit seiner schwerfälligen Gestalt, den fast aufdringlichen, abwärts ziehenden Furchen in seinem Gesicht und dem Bauch, über dem sich die Weste wölbt.

Es war der erste Spatenstich, es war der erste Spatenstich,
es lag die Erde in Krumen, zerfallen vor meinem Fuß.
Es läutete eine Glocke, es zitterte eine Tür,

Es war eine politische Versammlung. Merkwürdig ist es, daß die meisten Versammlungen auf dem Platz der Ställe stattfinden, am Ufer des Flusses, gegen dessen Tosen die menschliche Stimme kaum aufkommt. Trotzdem ich auf der Quaibrüstung nahe bei den Rednern saß – sie sprachen von einem kahlen viereckigen Sockel aus Quadersteinen herab – verstand ich nur wenig. Freilich wußte ich im voraus, um was es sich handelte, und alle wußten es. Auch waren alle einig, eine vollständigere Einigkeit habe ich nie gesehn, auch ich war völlig ihrer Meinung, die Sache war allzu klar, wie oft schon durchgesprochen und immer noch klar wie am ersten Tag; beides, die Einigkeit und die Klarheit waren herzbeklemmend, die Denkkraft stockte vor Einigkeit und Klarheit, man hätte manchmal nur den Fluß hören wollen und sonst nichts.

Wenn ich mir heute Rechenschaft geben will über meinen Freund und mein Verhältnis zu ihm, so ist das einer jener vielen meist hoffnungslosen Anläufe, die man während eines langen Lebens immer wieder unternimmt, Anläufe zu einem Sprung, von dem man nicht weiß, ob er vorwärts ins Leben zielt oder aus dem Leben fort. Aber es ist hoffnungslos, also gefahrlos.

Ich kenne ihn schon seit meiner frühen Jugend. Er ist um sieben oder acht Jahre älter als ich, aber dieser an sich große Altersunterschied ist wenig zur Geltung gekommen, heute scheine sogar ich der Ältere zu sein, er selbst sieht es nicht anders an. Doch hat sich das nur allmählich entwickelt.

Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung. Ich kam gerade aus der Schule, es war ein dunkler Winternachmittag, ich war ein kleiner Junge aus der ersten Volksschulklasse. Als ich um eine Straßenecke bog, sah ich ihn, er war stark, untersetzt und hatte ein knochiges und dennoch fleischiges Gesicht, er sah ganz anders aus als heute, körperlich hat er sich seit seiner Kindheit bis zur Unkenntlichkeit verändert.

An einer Leine zerrte er einen jungen scheuen Hund. Ich blieb stehn und sah zu, nicht aus Schadenfreude, nur aus Neugierde, ich war sehr neugierig, alles reizte mich. Er aber nahm das Zuschauen übel und sagte: »Kümmere dich um deine Sachen, Dummkopf.«

Manche sagen, daß er faul sei, andere, daß er Furcht vor der Arbeit habe. Diese letzteren beurteilen ihn richtig. Er hat Furcht vor der Arbeit. Wenn er eine Arbeit anfängt, hat er das Gefühl eines, der die Heimat verlassen muß. Keine geliebte Heimat, aber doch einen gewohnten bekannten gesicherten Ort. Wohin wird ihn die Arbeit führen? Er fühlt sich fortgezogen, wie ein ganz junger scheuer Hund, der durch eine Großstadtstraße gezerrt wird. Es ist nicht der Lärm, der ihn aufregt; wenn er den Lärm hören und in seinen Bestandteilen unterscheiden könnte, würde ihn ja das gleich ganz in Anspruch nehmen, aber er hört ihn nicht, mitten durch den Lärm gezogen hört er nichts, nur eine besondere Stille, förmlich von allen Seiten ihm zugewendet, ihn behorchend, eine Stille, die sich von ihm nähren will, nur sie hört er. Das ist unheimlich, das ist zugleich aufregend und langweilig, das ist kaum zu ertragen. Wie weit wird er kommen? Zwei, drei Schritte, weiter nicht. Und dann soll er müde von der Reise wieder zurücktaumeln in die Heimat, die graue ungeliebte Heimat. Das macht ihm alle Arbeit verhaßt.

Er hat sich im zweiten Zimmer eingesperrt, ich habe geklopft, an der Tür gerüttelt, er ist still geblieben. Er ist böse auf mich, er will von mir nichts wissen. Dann bin ich aber auch böse und er kümmert mich nicht mehr. Ich rücke den Tisch zum Fenster und werde den Brief schreiben, wegen dessen wir uns zerzankt haben. Wie kleinlich ist all dieser Streit, wie eng müssen wir beisammen sein, damit ein solcher Streitgegenstand überhaupt bemerkt wird, kein Dritter könnte es verstehn, er ist nicht mitteilbar, jeder würde glauben, daß wir völlig einig sind, und wir sind auch einig. Es ist ein Brief an ein Mädchen, ich nehme darin Abschied von ihr, wie es vernünftig und richtig ist. Es gibt nichts Vernünftigeres und Richtigeres. Man kann es besonders daran erkennen, wenn man sich einen gegenteiligen Brief vorstellt, ein solcher Brief wäre schrecklich und unmöglich. Vielleicht werde ich einen solchen Brief schreiben und ihn vor der geschlossenen Tür vorlesen, dann wird er mir recht geben müssen. Allerdings, er gibt mir ja recht, auch er hält den Abschiedsbrief für richtig, aber auf mich ist er böse. So ist er meistens, feindselig gegen mich ist er, aber hilflos; wenn er mich mit seinen stillen Augen ansieht, ist es, als verlange er von mir die Begründung seiner Feindseligkeit. ›Du Junge‹, denke ich, was willst du von mir? Und was hast du schon aus mir gemacht! ‹ Und ähnlich wie immer stehe ich auf, gehe zur Tür und klopfe wieder. Keine Antwort, aber es zeigt sich, daß diesmal offen ist, doch das Zimmer ist leer, er ist fortgegangen, das ist die eigentliche Strafe, mit der er mich gern straft, nach solchem Streit geht er fort, kommt tage-, nächtelang nicht zurück.

Ich war bei den Toten zu Gast. Es war eine große reinliche Gruft, einige Särge standen schon dort, es war aber noch viel Platz, zwei Särge waren offen, es sah in ihnen aus wie in zerwühlten Betten, die eben verlassen worden sind. Ein Schreibtisch stand ein wenig abseits, so daß ich ihn nicht gleich bemerkte, ein Mann mit mächtigem Körper saß hinter ihm. In der rechten Hand hielt er eine Feder, es war, als habe er geschrieben und gerade jetzt aufgehört, die linke Hand spielte an der Weste mit einer glänzenden Uhrkette und der Kopf war tief zu ihr hinabgeneigt. Eine Bedienerin kehrte aus, doch war nichts auszukehren.

In irgendeiner Neugierde zupfte ich an ihrem Kopftuch, das das Gesicht ganz verschattete. Jetzt erst sah ich sie. Es war ein Judenmädchen, das ich einmal gekannt hatte. Sie hatte ein üppiges weißes Gesicht und schmale dunkle Augen. Als sie mich jetzt anlachte, mitten aus ihren Fetzen, die sie zu einer alten Frau machten, sagte ich: »Ihr spielt hier wohl Komödie?« »Ja«, sagte sie, »ein wenig. Wie du dich auskennst!« Dann aber zeigte sie auf den Mann beim Schreibtisch und sagte: »Nun geh und begrüße den dort, er ist hier der Herr. Solange du ihn nicht begrüßt hast, darf ich eigentlich nicht mit dir reden.« »Wer ist er denn?« fragte ich leiser. »Ein französischer Adeliger«, sagte sie, »de Poitin heißt er.« »Wie kommt er denn her?« fragte ich. »Das weiß ich nicht«, sagte sie, »es ist hier ein großer Wirrwarr. Wir warten auf einen, der Ordnung macht. Bist du es?« »Nein, nein«, sagte ich. »Das ist sehr vernünftig«, sagte sie, »nun geh aber zu dem Herrn.« Ich ging also hin und verbeugte mich. Da er den Kopf nicht hob – ich sah nur sein wirres weißes Haar –, sagte ich guten Abend, aber er rührte sich noch immer nicht, eine kleine Katze umlief den Rand des Tisches, sie war förmlich aus dem Schoß des Herrn emporgesprungen und verschwand dort wieder, vielleicht blickte er gar nicht auf die Uhrkette, sondern unter den Tisch hinab. Ich wollte nun erklären, auf welche Weise ich hergekommen war, aber meine Bekannte zupfte mich hinten am Rock und flüsterte: »Das genügt schon.«

Damit war ich sehr zufrieden, ich wandte mich zu ihr und wir gingen Arm in Arm weiter in der Gruft. Der Besen störte mich. »Wirf den Besen weg«, sagte ich. »Nein, bitte«, sagte sie, »laß mich ihn behalten. Daß mir das Auskehren hier keine Mühe machen kann, siehst du doch ein, nicht? Nun also, aber ich habe doch gewisse Vorteile davon, auf die ich nicht verzichten will. Wirst du übrigens hier bleiben?« fragte sie ablenkend. »Deinetwegen bleibe ich hier gern«, sagte ich langsam. Wir gingen nun eng aneinandergedrückt wie ein Liebespaar. »Bleib, o bleib«, sagte sie, » wie habe ich mich nach dir gesehnt. Es ist nicht so schlimm hier, wie du vielleicht fürchtest. Und was kümmert es uns zwei, wie es um uns ist.« Wir gingen ein Weilchen schweigend, die Arme hatten wir voneinander gelöst, wir hielten uns jetzt umschlungen. Wir gingen auf dem Hauptweg, rechts und links waren Särge, die Gruft war sehr groß, zumindest sehr lang. Es war zwar dunkel, aber nicht vollständig, es war eine Art Dämmerung, die sich aber auch noch ein wenig aufhellte, dort, wo wir waren, und in einem kleinen Kreis um uns. Plötzlich sagte sie: »Komm, ich werde dir meinen Sarg zeigen.« Das überraschte mich. »Du bist doch nicht tot«, sagte ich. »Nein«, sagte sie, »aber um die Wahrheit zu gestehn: ich kenne mich hier nicht aus, deshalb bin ich auch so froh, daß du gekommen bist. In kurzer Zeit wirst du alles verstehen, schon jetzt siehst du wahrscheinlich alles klarer als ich. Jedenfalls: einen Sarg habe ich.« Wir bogen rechts in einen Seitenweg ein, wieder zwischen zwei Sargreihen. In der Anlage erinnerte mich das Ganze an einen großen Weinkeller, den ich einmal gesehen hatte. Auf diesem Wege passierten wir auch einen kleinen, kaum einen Meter breiten, schnell fließenden Bach. Dann waren wir bald bei des Mädchens Sarg. Er war mit schönen spitzenbesetzten Kissen ausgestattet. Das Mädchen setzte sich hinein und lockte mich hinunter, weniger mit dem winkenden Zeigefinger als mit dem Blick. »Du liebes Mädchen«, sagte ich, zog ihr Kopftuch fort und hielt die Hand auf der weichen Fülle ihres Haares. »Ich kann noch nicht bei dir bleiben. Es ist hier jemand in der Gruft, mit dem ich sprechen muß. Willst du mir nicht helfen, ihn zu suchen.« »Du mußt mit ihm sprechen? Hier gelten doch keine Verpflichtungen«, sagte sie. »Ich bin aber nicht von hier.« »Glaubst du, daß du von hier noch fortkommen wirst?« »Gewiß«, sagte ich. »Desto weniger solltest du deine Zeit verschwenden«, sagte sie. Dann suchte sie unter dem Kissen und zog ein Hemd heraus.» Das ist mein Totenhemd«, sagte sie und reichte es mir empor, »ich trage es aber nicht.«

Ich trat in das Haus und schloß hinter mir das Türchen im großen verriegelten Tor. Aus dem langen gewölbten Flur ging der Blick auf ein gepflegtes Hofgärtchen mit einem Blumenaufbau in der Mitte. Links von mir war eine Glasverschalung, in welcher der Portier saß, er stützte die Stirn auf die Hand und war über eine Zeitung gebeugt. Vorn an einer Glasscheibe, den Portier ein wenig verdeckend, war ein großes aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnittenes Bild geklebt, ich trat näher, es war ein offenbar italienisches Städtchen, den größten Teil des Bildes nahm ein wilder Bergstrom mit einem mächtigen Wasserfall ein, die Häuser des Städtchens waren an seinen Ufern eng an den Bildrand gedrückt.

Ich grüßte den Portier und sagte, auf das Bild zeigend: »Ein schönes Bild, ich kenne Italien, wie heißt das Städtchen?« »Ich weiß nicht«, sagte er, »die Kinder aus dem zweiten Stock haben es in meiner Abwesenheit hier aufgeklebt, um mich zu ärgern. Was wünschen Sie?« fragte er dann.

Wir hatten einen kleinen Streit. Karl behauptete, er hätte mir den kleinen Operngucker bestimmt zurückgegeben, er habe zwar großes Verlangen nach ihm gehabt, habe ihn auch längere Zeit in den Händen hin und her gedreht, habe sich ihn vielleicht sogar für ein paar Tage ausgeborgt, habe ihn aber bestimmt zurückgegeben. Ich dagegen suchte ihn an die Situation zu erinnern, nannte die Gasse, in der es geschehen war, das Gasthaus gegenüber dem Kloster, an dem wir gerade vorübergegangen waren, beschrieb, wie er mir zuerst den Gucker hatte abkaufen wollen, wie er mir dann verschiedene Sachen zum Tausch für ihn angeboten hatte und wie er dann allerdings mit der Bitte herausgerückt war, ihm den Gucker zu schenken. »Warum hast du mir ihn fortgenommen«, sagte ich klagend. »Mein lieber Josef«, sagte er, »das ist ja nun alles längst vorüber. Ich bin zwar überzeugt, daß ich dir den Gucker zurückgegeben habe, aber selbst wenn du ihn mir geschenkt haben solltest, warum quälst du dich jetzt deshalb, und mich dazu. Fehlt dir der Gucker hier etwa? Oder hat der Verlust dein Leben sehr beeinflußt?« »Nicht das, nicht jenes«, sagte ich, »es tut mir nur leid, daß du mir den Gucker damals fortgenommen hast. Ich hatte ihn als Geschenk bekommen, er hat mich sehr gefreut, ein wenig vergoldet war er, erinnerst du dich? und so klein, daß man ihn immer in der Tasche tragen konnte. Dabei waren es scharfe Gläser, man sah durch ihn besser als durch manchen großen Gucker.«

Ich stand nahe der Tür des großen Saales, weit von mir an der Rückwand lag das Ruhebett des Königs, eine zarte junge äußerst bewegliche Nonne war um ihn beschäftigt, rückte die Kissen zurecht, schob ein Tischchen mit Erfrischungen heran, aus denen sie für den König auswählte, und hielt dabei unter dem Arm ein Buch, aus dem sie bisher vorgelesen hatte. Der König war nicht krank, sonst hätte er sich ja ins Schlafzimmer zurückgezogen, aber liegen mußte er doch, irgendwelche Aufregungen hatten ihn hingeworfen und sein empfindliches Herz in Unruhe gebracht. Ein Diener hatte eben die Königstochter und ihren Mann angekündigt, deshalb hatte die Nonne die Vorlesung unterbrochen. Mir war es sehr peinlich, daß ich jetzt vielleicht vertrauten Gesprächen zuhören würde, da ich aber nun einmal hier war und niemand mir den Auftrag gab, wegzugehn, vielleicht aus Absicht, vielleicht weil man mich in meiner Geringfügigkeit vergessen hatte, hielt ich mich zum Hierbleiben verpflichtet und zog mich nur an das äußerste Ende des Saales zurück. Eine kleine Wandtür in der Nähe des Königs wurde geöffnet und sich bückend kamen, einer hinter dem anderen, die Prinzessin und der Prinz hervor, im Saal hing sich dann die Prinzessin an des Prinzen Arm und so traten sie vereint vor den König.

»Ich kann es nicht länger tun«, sagte der Prinz. »Du hast vor der Hochzeit die Verpflichtung feierlich übernommen«, sagte der König. »Ich weiß es«, sagte der Prinz, »trotzdem kann ich es nicht länger tun.« »Warum nicht?« fragte der König. »Ich kann die Luft draußen nicht atmen«, sagte der Prinz, »ich kann den Lärm dort nicht ertragen, ich bin nicht schwindelfrei, mir wird übel in der Höhe, kurz, ich kann es nicht mehr tun.« »Das Letzte hat Sinn, freilich einen bösen«, sagte der König, »alles andere sind Redensarten. Und was sagt meine Tochter?« »Der Prinz hat recht«, sagte die Prinzessin, »ein Leben, wie er es jetzt führt, ist eine Last, eine Last für ihn und für mich. Du stellst es dir vielleicht nicht deutlich vor, Vater. Er muß ja immerfort bereit sein, in Wirklichkeit geschieht es etwa einmal in der Woche, aber bereit sein muß er immer. Zu den unsinnigsten Tagesstunden kann es geschehn. Wir sitzen zum Beispiel beim Essen in kleiner Gesellschaft, man vergißt ein wenig alles Leid und ist unschuldig fröhlich. Da bricht der Wächter herein und ruft den Prinzen, nun muß natürlich alles in höchster Eile geschehn, er muß das Kleid ausziehn, sich in die enge vorgeschriebene widerlich bunte, fast komödienhafte, fast entehrende Uniform hineinpressen und eilt nun, der Arme, hinaus. Die Gesellschaft ist zersprengt, die Gäste verlaufen sich, zum Glück, denn wenn der Prinz zurückkommt, ist er unfähig zu sprechen, unfähig jemand anderen neben sich zu dulden als mich, manchmal kann er nur gerade noch in die Tür eintreten, dann schlägt er schon auf den Teppich hin. Vater, ist es möglich, länger so zu leben?« »Frauenworte«, sagte der König, »sie wundern mich nicht, daß aber du, Prinz, durch Frauenworte – denn das ist mir jetzt klar – dich dazu hast bringen lassen, mir den Dienst zu verweigern, das tut mir weh.« ...

Das ist der Bezirk, fünf Meter lang, fünf Meter breit, nicht groß also, aber immerhin ist es der eigene Boden. Wer hat es so angeordnet? Das ist nicht genau bekannt. Einmal kam ein fremder Mann, viel Lederzeug hatte er über seinem Kleid, Gürtel, Querriemen, Halter und Taschen. Aus einer Tasche zog er einen Notizblock, notierte etwas und fragte dann: »Wo ist der Petent?« Der Petent trat vor. Die halbe Bewohnerschaft des Hauses war in großem Halbkreis um ihn versammelt, ich war damals ein kleiner, etwa fünfjähriger Junge, gesehn und gehört habe ich alles, hätte man es mir aber nicht viel später genau erzählt, wüßte ich kaum etwas davon. Es war zu unverständlich, als daß ich damals sehr aufmerksam hätte sein können, trotzdem hat die fremde Nacherzählung durch die eigene undeutliche Erinnerung an Leben sehr gewonnen. So sehe ich förmlich noch heute, wie der Fremde den Petenten mit scharfem Blicke maß. »Es ist nichts Geringes, was du verlangst«, sagte der Fremde, »bist du dir dessen bewußt?«

Besonders in den ersten Gymnasialklassen kam ich sehr schlecht fort. Für meine Mutter, die schweigsame stolze, ihr unruhiges Wesen immerfort mit äußerster Kraft beherrschende Frau, war das eine Qual. Sie hatte von meinen Fähigkeiten große Vorstellungen, die sie aber aus Scham niemandem eingestand und für deren Besprechung und Bekräftigung sie deshalb auch keinen Vertrauten hatte, um so quälender waren für sie meine Mißerfolge, die allerdings nicht verschwiegen werden konnten, sich gewissermaßen von selbst eingestanden und eine widerliche Menge Vertrauter erzeugten, nämlich das ganze Professorenkollegium und die Mitschülerschaft. Ich wurde ihr ein trauriges Rätsel. Sie strafte mich nicht, sie zankte nicht; daß ich es an Fleiß wenigstens nicht allzusehr fehlen ließ, sah sie; zuerst glaubte sie an eine Verschwörung der Professoren gegen mich, und diesen Glauben hat sie niemals ganz verloren, aber der Übertritt in ein anderes Gymnasium und mein fast noch schlechteres Fortkommen an diesem, erschütterte ihren Glauben an die Feindseligkeit der Professoren doch ein wenig, den Glauben an mich allerdings nicht. Ich aber lebte unter ihren traurig fragenden Blicken mein unbefangenes Kinderleben weiter. Ich hatte keinen Ehrgeiz; fiel ich nicht durch, war ich zufrieden und wäre ich durchgefallen, eine Drohung, die während des ganzen Schuljahres nicht aufhörte, ...

In der Stadt wird immerfort gebaut. Nicht um sie zu erweitern, sie genügt den Bedürfnissen, seit langer Zeit sind ihre Grenzen unverändert, ja es scheint eine gewisse Scheu davor zu bestehn, sie zu vergrößern, lieber schränkt man sich ein, verbaut Plätze und Gärten, setzt neue Stockwerke auf alte Häuser, aber tatsächlich sind diese Neubauten auch gar nicht der Hauptteil des fortwährenden Baubetriebs. Dieser richtet sich vielmehr, um es vorläufig so auszudrücken, darauf, das Bestehende zu sichern. Nicht, daß man früher schlechter gebaut hätte als heute und die alten Fehler nun immerfort verbessern müßte. Eine gewisse Nachlässigkeit – es ist schwer zu sondern, was daran Leichtsinn, was schwerblütige Unruhe ist – herrscht zwar bei uns immer, aber gerade beim Bauen hat sie die wenigste Gelegenheit, sich zu äußern. Wir sind doch in dem Land der Steinbrüche, bauen fast nur aus Stern, selbst Marmor steht zur Verfügung, und was beim Bauen die Menschen versäumen mögen, macht die Beständigkeit und Unverrückbarkeit des Materials wieder gut. Auch gibt es in Hinsicht des Bauens keinen Unterschied zwischen den Zeiten, von altersher gelten die gleichen Bauregeln, und wenn sie infolge des Volkscharakters nicht immer streng beachtet werden, so geschieht auch dies unverändert und gilt für die ältesten Bauten wie für die neuesten. So steht zum Beispiel auf dem Romberg vor der Stadt eine Ruine, es sind die Reste eines Landhauses, das hier vor mehr als tausend Jahren gebaut worden sein soll. Ein reicher, alt und einsam gewordener Kaufmann soll es sich haben erbauen lassen, gleich nach seinem Tod soll es verfallen sein, es findet sich bei uns nicht leicht einer, der so weit außerhalb der Stadt wohnen wollte. So war der Bau der Zerstörung durch die Jahrhunderte preisgegeben, und deren Arbeit ist allerdings sorgfältiger als die der Bauleute. Wenn man heute an einem stillen Sonntag – man wird auch auf dem Weg durch das Gestrüpp des Bergabhangs kaum durch Begegnungen gestört – dort hinauf wandert und die Reste betrachtet, findet man nur ein paar Grundmauern, die höchste noch erreicht nicht Manneshöhe, dann ist irgendwo in das harte Erdreich durch den Druck der Zeiten ein feines, vielfach gebrochenes Säulchen eingebettet und von altem, fast schwarzem Efeu überzogen, blinkt, mehr erraten als erkannt, ein wertloser Torso einer Statue hervor. Das ist wohl alles, bis auf zwei, drei kleine, förmlich zusammengewachsene felsenharte Schutthaufen und auf dem Abhang hie und da ein paar in den Boden eingegrabene Steine. Sonst ist alles weggeräumt worden. Und doch erkennt man noch jetzt aus der Anlage – und die Überlieferung bestätigt es –, daß es ein weitläufiger, schloßartiger Bau gewesen ist, und wo man sich durch das niedrige aber dichte Strauchwerk kaum hindurchzwängen kann und an Dornen blutig reißt, – war ein schöner Park, der mit seinen Bäumen und Terrassen das Haus selbst weit überlebt haben soll.

Ich war völlig verirrt in einem Wald. Unverständlich verirrt, denn noch vor kurzem war ich zwar nicht auf einem Weg, aber in der Nähe des Wegs gegangen, der mir auch immer sichtbar gewesen war. Nun aber war ich verirrt, der Weg war verschwunden, alle Versuche, ihn wiederzufinden, waren mißlungen. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und wollte meine Lage überdenken, aber ich war zerstreut, dachte immer an anderes als an das Wichtigste, träumte an den Sorgen vorbei. Dann fielen mir die reichbehängten Heidelbeerpflanzen rings um mich auf, ich pflückte von ihnen und aß.

Ich wohnte im Hotel Edthofer, Albian oder Cyprian Edthofer oder noch anders, ich kann mich an den ganzen Namen nicht mehr erinnern, ich würde es wohl auch nicht wieder auffinden, trotzdem es ein sehr großes Hotel war, übrigens auch vorzüglich eingerichtet und bewirtschaftet. Ich weiß auch nicht mehr, warum ich, trotzdem ich kaum länger als eine Woche dort gewohnt habe, fast jeden Tag das Zimmer wechselte; ich wußte daher oft meine Zimmernummer nicht und mußte, wenn ich während des Tages oder am Abend nach Hause kam, das Stubenmädchen nach meiner jeweiligen Zimmernummer fragen. Allerdings lagen alle Zimmer, die für mich in Betracht kamen, in einem Stock und überdies auf einem Gang. Es waren nicht viele Zimmer, herumirren mußte ich nicht. War etwa nur dieser Gang für Hotelzwecke bestimmt, das übrige Haus aber für Mietwohnungen oder anderes? Ich weiß es nicht mehr, vielleicht wußte ich es auch damals nicht, ich kümmerte mich nicht darum. Aber es war doch unwahrscheinlich, das große Haus trug in großen, weit voneinander befestigten, nicht sehr leuchtenden, eher rötlich-matten Metallbuchstaben das Wort Hotel und den Namen des Besitzers. Oder sollte nur der Name des Besitzers dort gestanden sein, ohne die Bezeichnung Hotel? Es ist möglich und das würde dann freilich vieles erklären. Aber noch heute aus der unklaren Erinnerung heraus würde ich mich doch eher dafür entscheiden, daß ›Hotel‹ dort gestanden ist. Es verkehrten viele Offiziere im Haus. Ich war natürlich meist den ganzen Tag in der Stadt, hatte allerlei zu tun und so vieles zu sehn und hatte also nicht viel Zeit, das Hotelgetriebe zu beobachten, aber Offiziere sah ich dort oft. Allerdings war nebenan eine Kaserne, vielmehr sie war nicht eigentlich nebenan, die Verbindung zwischen dem Hotel und der Kaserne muß anders gewesen sein, sie war sowohl loser als enger. Das ist heute nicht mehr leicht zu beschreiben, ja, schon damals wäre es nicht leicht gewesen, ich habe mich nicht ernstlich bemüht, das festzustellen, trotzdem mir die Unklarheit manchmal Schwierigkeiten verursachte. Manchmal nämlich, wenn ich zerstreut von dem Lärm der Großstadt nach Hause kam, konnte ich den Eingang zum Hotel nicht gleich finden. Es ist richtig, der Eingang zum Hotel scheint sehr klein gewesen zu sein, ja es hat vielleicht – trotzdem das freilich sonderbar gewesen wäre – gar keinen eigentlichen Hoteleingang gegeben, sondern man mußte, wenn man ins Hotel wollte, durch die Tür der Restauration gehn. Nun mag es also so gewesen sein, aber selbst die Tür der Restauration konnte ich nicht immer auffinden. Manchmal, wenn ich vor dem Hotel zu stehn glaubte, stand ich in Wahrheit vor der Kaserne, es war zwar ein ganz anderer Platz, stiller, reiner als der vor dem Hotel, ja totenstill und vornehm-rein, aber doch so, daß man die zwei verwechseln konnte. Man mußte erst um eine Ecke gehn und dann erst war man vor dem Hotel. Aber es scheint mir jetzt, daß es manchmal, freilich nur manchmal, anders war, daß man auch von jenem stillen Platz aus  – etwa mit Hilfe eines Offiziers, der den gleichen Weg ging – die Hoteltür gleich finden konnte, und zwar nicht etwa eine andere, eine zweite Tür, sondern eben die eine gleiche Tür, welche auch den Eingang zur Restauration bildete, eine schmale, innen mit einem schönen weißen bändergeschmückten Vorhang verdeckte, äußerst hohe Tür. Dabei waren Hotel und Kaserne zwei grundverschiedene Gebäude, das Hotel im üblichen Hotelstil, allerdings mit einem Einschlag von Zinshaus, die Kaserne dagegen ein romanisches Schlößchen, niedrig aber weiträumig. Die Kaserne erklärte die fortwährende Anwesenheit von Offizieren, dagegen habe ich Mannschaften nie gesehn. Wie ich es erfahren habe, daß das scheinbare Schlößchen eine Kaserne war, weiß ich nicht mehr; Ursache, mich mit ihr zu beschäftigen, hatte ich aber, wie erwähnt, öfters, wenn ich, ärgerlich die Hoteltüre suchend, mich auf dem stillen Platz herumtrieb. War ich aber einmal oben im Gang, war ich geborgen. Ich fühlte mich dort sehr heimisch und war glücklich, in der großen fremden Stadt einen solchen behaglichen Ort gefunden zu haben.

Warum machst du mir Vorwürfe, böser Mann? Ich kenne dich nicht, ich sehe dich jetzt zum erstenmal. Du hättest mir Geld gegeben, daß ich dir aus diesem Geschäft Zuckerwerk hole? Nein, das ist gewiß ein Irrtum, du hast mir kein Geld gegeben. Verwechselst du mich nicht mit meinem Kameraden Fritz? Er sieht mir aber allerdings nicht ähnlich. Davor, daß du es dem Lehrer in der Schule sagen wirst, fürchte ich mich gar nicht. Er kennt mich und wird die Anschuldigung nicht glauben. Und meine Eltern werden dir das Geld ganz gewiß nicht ersetzen, warum denn auch? Da ich doch nichts von dir bekommen habe. Wenn sie dir aber etwas geben wollten, werde ich sie bitten, es nicht zu tun. Und nun laß mich gehn. Nein du darfst mir nicht nachgeben, sonst sage ich es dem Polizeimann. Ah, zum Polizeimann willst du nicht gehn, ...

Fort von hier, nur fort von hier! Du mußt mir nicht sagen, wohin du mich führst. Wo ist deine Hand, ach ich kann sie im Dunkel nicht ertasten. Hielte ich doch nur schon deine Hand, ich glaube, du würdest mich dann nicht verwerfen. Hörst du mich? Bist du überhaupt im Zimmer? Vielleicht bist du gar nicht hier. Was sollte dich auch herlocken in das Eis und den Nebel des Nordens, wo man Menschen gar nicht vermuten sollte. Du bist nicht hier. Du bist ausgewichen diesen Orten. Ich aber stehe und falle mit der Entscheidung darüber, ob du hier bist oder nicht.

Daß Leute, die hinken, dem Fliegen näher zu sein glauben als Leute, die gehn. Und dabei spricht sogar manches für ihre Meinung. Wofür spräche nicht manches?

Armes verlassenes Haus! Warst du je bewohnt? Es wird nicht überliefert. Niemand forscht in deiner Geschichte. Wie kalt ist es in dir. Wie weht der Wind durch deinen grauen Flurgang, nichts hindert. Warst du je bewohnt, dann sind die Spuren dessen unbegreiflich gut verwischt.

Ich habe meinen Verstand in die Hand vergraben, fröhlich, aufrecht trage ich den Kopf, aber die Hand hängt müde hinab, der Verstand zieht sie zur Erde. Sieh nur die kleine, harthäutige, aderndurchzogene, faltenzerrissene, hochädrige, fünffingrige Hand, wie gut, daß ich den Verstand in diesen unscheinbaren Behälter retten konnte. Besonders vorzüglich ist, daß ich zwei Hände habe. Wie im Kinderspiel frage ich: In welcher Hand habe ich meinen Verstand? Niemand kann es erraten, denn ich kann durch Falten der Hände im Nu den Verstand aus einer Hand in die andere übertragen.

Wiederum, wiederum, weit verbannt, weit verbannt. Berge, Wüste, weites Land gilt es zu durchwandern.

Ich bin ein Jagdhund. Karo ist mein Name. Ich hasse alle und alles. Ich hasse meinen Herrn, den Jäger, hasse ihn, trotzdem er, die zweifelhafte Person, dessen gar nicht wert ist.

Träumend hing die Blume am hohen Stengel. Abenddämmerung umzog sie.

Es war kein Balkon, nur statt des Fensters eine Tür, die hier im dritten Stockwerk unmittelbar ins Freie führte. Sie war jetzt offen an dem Frühlingsabend. Ein Student ging lernend im Zimmer auf und ab; kam er zur Fenstertür, strich er immer mit der Sohle draußen über ihre Schwelle, so wie man flüchtig mit der Zunge an etwas Süßem leckt, das man sich für spätere Zeiten zurückgelegt hat.

Die Mannigfaltigkeiten, die sich mannigfaltig drehen in den Mannigfaltigkeiten des einen Augenblicks, in dem wir leben. Und noch immer ist der Augenblick nicht zu Ende, sieh nur!

Fern, fern geht die Weltgeschichte vor sich, die Weltgeschichte deiner Seele.

Nimmermehr, nimmermehr kehrst du wieder in die Städte, nimmermehr tönt die große Glocke über dir.

Sage, wie geht es dir in jener Welt?

Die Frage nach meinem Befinden beantworte ich entgegen der Sitte offen und sachlich. Es geht mir gut, denn anders als früher lebe ich nun in großer Gesellschaft, in vielfachen Beziehungen und bin imstande, durch meine Kenntnisse, durch meine Antworten der Menge, die sich zum Verkehr mit mir drängt, zu genügen, wenigstens kommt sie immer wieder leidenschaftlich wie das erste Mal. Und auch ich wiederhole: Kommet, ihr werdet mich immer bereit finden. Zwar verstehe ich nicht immer, was ihr wissen wollt, aber wahrscheinlich ist das gar nicht nötig. Meine Existenz ist euch wichtig und deshalb auch meine Äußerungen, da sie meine Existenz bekräftigen. Ich irre in diesen Annahmen wohl nicht, lasse mich deshalb in meinen Antworten gehn und hoffe euch damit Freude zu machen.

In deiner Antwort ist uns einiges unklar, willst du es uns der Reihe nach erklären?

Dir Ängstlichen, ihr Höflichen, ihr Kinder, fraget nur, fraget! Du sprichst von einer großen Gesellschaft, in der du dich bewegst, was für eine Gesellschaft denn?

Ihr doch, ihr selbst. Euere kleine Tischgesellschaft und in einer anderen Stadt eine andere und so in vielen Städten.

Das also nennst du: Sich-in-Gesellschaft-Bewegen. Aber warte: Du bist doch, wie du sagst, unser alter Schulkollege Kriehuber. Bist du's oder nicht?

Wohl, ich bin es.

Nun also, als unser alter Freund besuchst du uns und wir, die wir deinen Verlust nicht vergessen können, ziehn dich durch unser Verlangen herbei und erleichtern dir den Weg. Ist es so?

Ja, ja, natürlich.

Aber du hast doch ein zurückgezogenes Leben geführt, wir glauben nicht, daß du außerhalb unserer Stadt überhaupt Freunde oder Bekannte gehabt hast. Wen besuchst du also in jenen Städten und wer ruft dich in sie?

Wir legten an. Ich stieg ans Land, es war ein kleiner Hafen, ein kleiner Ort. Einige Leute lungerten auf den Marmorfliesen umher, ich sprach sie an, verstand aber nicht ihre Rede. Es war wohl ein italienischer Dialekt. Ich rief meinen Steuermann herüber, er versteht italienisch, aber die Leute hier verstand auch er nicht, er stellte in Abrede, daß es Italienisch sei. Doch bekümmerte mich das alles ernstlich nicht, mein einziges Verlangen war, mich einmal von der unendlichen Seefahrt ein wenig auszuruhn und dazu taugte dieser Ort so gut wie ein anderer. Ich ging noch einmal auf das Schiff, um die nötigen Anordnungen zu geben. Alle Leute sollten vorläufig an Bord bleiben, nur der Steuermann sollte mich begleiten, allzulange war ich des festen Bodens entwöhnt und neben der Sehnsucht nach ihm beherrschte mich auch eine gewisse, nicht abzuschüttelnde Angst vor ihm, deshalb sollte mich der Steuermann begleiten. Ich ging auch noch hinunter in die Frauenkabine. Dort säugte meine Frau unsern Jüngsten, ich streichelte ihr sanftes erhitztes Gesicht und machte ihr Mitteilung von meinen Absichten. Sie lächelte zustimmend zu mir auf.

Ich muß doch, so gern ich es vermeiden wollte, die Lästigkeit fortsetzen, die ich für Sie mit meinem vordringlichen Widerspruch – es war nicht Widerspruch, so weit komme ich nicht, es war nur Widerstreben – gegen ›Schweiger‹ begonnen habe, die Sache noch einmal aufnehmen. Das Gespräch damals am Abend lag nachher zu schwer auf mir, die ganze Nacht über, und hätte nicht am Morgen eine unerwartete Zufälligkeit mich ein wenig abgelenkt, ich hätte Ihnen gewiß gleich schreiben müssen. Das für mich Quälende des Abends – ich sah das Gespräch von allem Anfang an, vom Öffnen der Tür an, sich nähern, das war bös, es brachte mich fast um die ganze Freude über Ihren Besuch – lag für mich darin, daß ich eigentlich nichts gegen den ›Schweiger‹ gesagt, nur ein weniges geschwätzt habe und übrigens nur bockig gewesen bin, während das, was Sie zur Verteidigung von Einzelheiten sagten, ausgezeichnet, für mich unerwartet war und völlig zutraf. Überzeugen aber konnte es mich nicht, ich bin hier völlig unüberzeugbar, noch lange ehe ich zu den Einzelheiten komme. Wenn ich aber trotzdem meine Einwände nicht begreiflich machen kann, nicht einmal mir selbst, so hat das seinen Grund in meiner Schwäche, welche sich nicht nur im Denken und Sprechen äußert, sondern auch in Anfällen einer Art wacher Ohnmacht. Ich versuche zum Beispiel etwas gegen das Stück zu sagen und schon in den zweiten Satz beginnt sich die Ohnmacht mit Fragen zu drängen, wie: »Worüber sprichst du? Um was handelt es sich? Was ist das, Literatur? Woher kommt es? Welchen Nutzen bringt es? Was für fragwürdige Dinge! Leg zu dieser Fragwürdigkeit noch die Fragwürdigkeit deiner Reden und es entsteht ein Ungeheuer. Wie bist du auf diese hohen nichtsnutzigen Wege gekommen? Verdient das ernste Frage, ernste Antwort? Vielleicht, aber nicht deine, das ist Sache höherer Regenten. Schnell zurück!‹ Und dieses Zurück bedeutet, daß ich gleich in völliger Finsternis (bin), aus der mich nicht des Gegensprechers Hilfe und niemandes Hilfe hinausführen kann. Sie scheinen derartiges an sich gar nicht zu kennen, trotzdem Sie den ›Spiegelmensch‹ geschrieben haben. Freilich gebe ich auch in ruhendem Zustand dem Zwischenredner recht, Sie waren manchmal zu streng zu ihm, er ist ja nichts anderes als der Wind, der mit den luftigen Existenzen spielt, er verlängert das Leben der fallenden Blätter.

Trotz allem aber will ich doch noch versuchen, nicht ganz stumm zu bleiben und kurz zu sagen, worin mich ›Schweiger‹ beleidigt.

Vor allem fühle ich eine Verschleierung darin, daß ›Schweiger‹ zu einem allerdings tragischen Einzelfall degradiert ist; die Gegenwärtigkeit des ganzen Stückes verbietet das. Wenn man ein Märchen erzählt, dann wissen alle, daß man sich fremden Mächten anvertraut und die heutigen Gerichte ausgeschaltet hat. Hier weiß man das aber nicht. Das Stück will den Eindruck erwecken, daß nur heute, gerade an diesem Abend, mehr zufällig als absichtlich der Fall Schweiger verhandelt wird, daß ebensogut zum Beispiel die Vorgänge in einem ganz anders gearteten Nachbarhaus hätten vorgenommen werden können. Diese Behauptung des Stückes kann ich aber nicht glauben; wenn in den andern Häusern dieser katholischen österreichischen Stadt, die rings um Schweiger aufgebaut ist, überhaupt jemand wohnt, dann wohnt in jedem Haus Schweiger, niemand sonst. Auch die andern Personen des Stückes haben keine eigene Wohnung, sie wohnen mit Schweiger und sind seine Begleiterscheinungen. Schweiger und Anna haben ja nicht einmal die Möglichkeit, sich irgendwo auf ein glückliches Ehepaar zu berufen, das wird ehrlich stillschweigend zugestanden, vielleicht ist das, was sie wollen, allgemein unmöglich, niemand im Stück hätte die Kraft, das zu widerlegen; woher die vielen Kinder auf dem Donauschiff stammen, ist ein Rätsel. Warum also das Städtchen, warum Österreich, warum der kleine darin versunkene Einzelfall?

Aber Sie machen ihn noch vereinzelter. Es ist, als könnten Sie ihn gar nicht genug vereinzelt machen. Sie erfinden die Geschichte von dem Kindermord. Das halte ich für eine Entwürdigung der Leiden einer Generation. Wer hier nicht mehr zu sagen hat als die Psychoanalyse, dürfte sich nicht einmischen. Es ist keine Freude, sich mit der Psychoanalyse abzugeben, und ich halte mich von ihr möglichst fern, aber sie ist zumindest so existent wie die Generation. Das Judentum bringt seit jeher seine Leiden und Freuden fast gleichzeitig mit dem zugehörigen Raschi-Kommentar hervor, so auch hier.

Ich war letzthin in M. Es handelte sich um eine Besprechung mit K. Es war keine eigentlich dringliche Angelegenheit, sie hätte sich wohl, wenn auch langsamer – aber da sie nicht dringlich war, wäre das kein Schaden gewesen –, recht gut schriftlich erledigen lassen, aber es traf sich gerade, daß ich freie Zeit hatte und Lust bekam, mit K. schnell ohne viel Umstände ins reine zu kommen, auch kannte ich M., dessen Besichtigung mir einmal empfohlen worden war, noch nicht, so entschloß ich mich kurzerhand, hinzufahren, leider – es erübrigte keine Zeit mehr dazu – ohne mich vorher zu vergewissern, ob ich K. jetzt in M. auch antreffen werde. Tatsächlich war K. nicht zu Hause. Fast niemals verläßt er das Städtchen, er ist, wir mir in M. geschildert wurde, ein Mensch von besonderer Seßhaftigkeit, aber eben deshalb hatten sich verschiedene Dinge aufgehäuft, die zwar in der Umgebung von M., aber doch immerhin an Ort und Stelle besprochen werden mußten, längst fällige derartige Reisen wollten nun doch endlich ausgeführt werden, und so hatte K. gerade den Tag vor meiner Ankunft in entsetzlicher Laune, wie mir seine Schwester halb seufzend, halb lächelnd erzählte, doch endlich zu der großen Fahrt anspannen lassen müssen. Um für absehbare Zeit von Reisen verschont zu bleiben, hatte sich K. vorgenommen, diesmal alles, was zu ordnen war, in einer großen Rundfahrt, mochte sie auch ein paar Tage dauern, in Angriff zu nehmen, nichts auszulassen, ja sogar Reisen, die erst für die Zukunft drohten, so gut es ging jetzt schon vorwegzunehmen, auch die Teilnahme an der Hochzeit einer Nichte war in die Fahrt eingeschaltet. Wann K. zurückkommen werde, ließ sich nicht mit Bestimmtheit sagen, es handelte sich zwar nur um eine Fahrt durch die weitere Umgebung von M., aber das Reiseprogramm war sehr groß und außerdem K., wenn er sich einmal auf eine Fahrt machte, unberechenbar. Vielleicht wurde ihm nach der ersten oder zweiten in den Dörfern verbrachten Nacht das Reisen so sehr zum Ekel, daß er die Fahrt abbrach, dringende Geschäfte dringend sein ließ und heute oder morgen zurückkam. Ebensogut aber war es möglich, daß er, endlich in Gang gebracht, an der Abwechslung Gefallen fand, die vielen Freunde und Verwandten ringsherum ihn sogar zwangen, die Reise über die unumgänglich notwendige Dauer zu verlängern, denn im Grunde ist er ein gesprächiger fröhlicher Mann, der gern große Gesellschaft um sich hat, den das Ansehen, das er sich durch ehrliche Arbeit erworben hat, freut, und besonders in manchen Dörfern wird er geradezu großartig begrüßt werden, außerdem hat er die Fähigkeit, durch seinen persönlichen Einfluß und durch seine Menschenkenntnis mit ein paar Worten im Nu Dinge zu erreichen, die von der Ferne mit keiner Anstrengung durchzusetzen wären. Merkt er solche Erfolge, bekommt er natürlich Verlangen nach weiteren, auch das kann die Reise verlängern.

(Zweite Version:) Tatsächlich war K. nicht zu Hause. Ich erfuhr es in seinem Geschäft und ging dann gleich in seine Wohnung, um mich nach den näheren Umständen zu erkundigen. Es war eine für provinzielle Verhältnisse erstaunlich große Wohnung, zumindest das erste Zimmer, in das ich vom Dienstmädchen gewiesen wurde. Es war fast ein Saal, dabei wohnlich, aber gar nicht mit Kleinkram überladen, alle Möbel in passenden Abständen, rein und übersichtlich aufgestellt, alles sich zur ganzen Einheit fügend, auch eine gewisse ehrbare Familienüberlieferung sprach aus dem Ganzen. Und das nächste Zimmer, in das man durch die blinkenden Scheiben einer Glastür sah, schien ähnlich zu sein. Dort erschien auch bald K.'s Schwester, band sich noch schnell, fast atemlos, eine gefältelte weiße Putzschürze um und kam dann zu mir herein. Es war ein ältliches schwaches kleines Fräulein, sehr höflich und gefällig, sie bedauerte ungemein das unliebsame Zusammentreffen von meiner Ankunft und des Bruders Abreise – er war gerade gestern fortgefahren –, erwog dies und jenes, wußte sich gar nicht zu helfen, hätte natürlich den Bruder sofort verständigt, doch war dies nicht möglich, da er eine kleine, nur auf wenige Tage berechnete geschäftliche Rundfahrt in den Dörfern der weiteren Umgebung machte, nach den augenblicklichen Bedürfnissen die Route zusammenstellte und deshalb keine bestimmte Adresse habe angeben können. Auch entspreche es, wie sie lächelnd hinzufügte, dem Charakter des Bruders, daß er sich von Zeit zu Zeit darin wohlfühle, so unerreichbar ein wenig in der Welt herumzukutschieren.

Auf Balzacs Spazierstockgriff: Ich breche alle Hindernisse.

Auf meinem: Mich brechen alle Hindernisse.

Gemeinsam ist das ›alle‹.

Geständnis, unbedingtes Geständnis, aufspringendes Tor, es erscheint im Innern des Hauses die Welt, deren trüber Abglanz bisher draußen lag.

Daß es Furcht, Trauer und Öde auf der Welt gibt, versteht er, aber auch dies nur soweit, als es vage allgemeine, nur über die Oberfläche hinstreichende Gefühle sind. Alle andern Gefühle leugnet er, was wir so nennen sei nur Schein, Märchen, Spiegelbild der Erfahrung und des Gedächtnisses.

Wie könne es anders sein, meint er, da doch die wirklichen Ereignisse niemals von unserem Gefühl erreicht oder gar überholt werden können. Wir erleben sie nur vor und nach dem wirklichen, mit elementarisch unbegreiflicher Eile vorübergehenden Ereignis, es sind traumhafte, nur auf uns eingeschränkte Erdichtungen. Wir leben in der Stille der Mitternacht und erleben den Sonnenauf- und -untergang, indem wir uns nach Osten oder Westen wenden.

Geringe Lebenskraft, mißverständliche Erziehung, Junggesellentum ergeben den Skeptiker, aber nicht notwendig; um die Skepsis zu retten, heiratet mancher Skeptiker, wenigstens ideell, und wird gläubig.

Im Dunkel der Gasse unter den Bäumen an einem Herbstabend. Ich frage dich, du antwortest mir nicht. Wenn du mir antworten würdest, wenn sich deine Lippen öffneten, das tote Auge sich belebte und das Wort, das mir bestimmt ist, erklänge!

Es öffnete sich die Tür und es kam, gut im Saft, an den Seiten üppig gerundet, fußlos mit der ganzen Unterseite sich vorschiebend, der grüne Drache ins Zimmer herein. Formelle Begrüßung. Ich bat ihn, völlig einzutreten. Er bedauerte dies nicht tun zu können, da er zu lang sei. Die Tür mußte also offen bleiben, was recht peinlich war. Er lächelte halb verlegen, halb tückisch und begann: »Durch deine Sehnsucht herangezogen, schiebe ich mich von weither heran, bin unten schon ganz wundgescheuert. Aber ich tue es gerne. Gerne komme ich, gerne biete ich mich dir an.«

In hartem Schlag strahlte das Licht herab, zerriß das nach allen Seiten sich flüchtende Gewebe, brannte unbarmherzig durch das übrigbleibende leere großmaschige Netz. Unten, wie ein ertapptes Tier, zuckte die Erde und stand still. Einer im Bann des andern blickten sie einander an. Und der dritte, scheuend die Begegnung, wich zur Seite.

Einmal brach ich mir das Bein, es war das schönste Erlebnis meines Lebens.

Ein Halbmond, ein Ahornblatt, zwei Raketen.

Von meinem Vater erbte ich nur eine kleine silberne Gewürzbüchse.

Als der Kampf begann und fünf Schwerbewaffnete von der Böschung auf die Straße sprangen, entschlüpfte ich unter dem Wagen durch und lief in der völligen Finsternis dem Walde zu.

Es war nach dem Abendessen, wir saßen noch um den Tisch, der Vater weit zurückgelehnt in seinem Lehnstuhl, einem der größten Möbelstücke, das ich je gesehen hatte, rauchte halbschlafend die Pfeife, die Mutter flickte eine meiner Hosen, war über ihre Arbeit gebeugt und achtete sonst auf nichts, und der Onkel, hochgestreckt, der Lampe zustrebend, den Zwicker auf der Nase, las die Zeitung. Ich hatte den ganzen Nachmittag auf der Gasse gespielt, erst nach dem Abendessen mich an eine Aufgabe erinnert, hatte auch Heft und Buch vorgenommen, war aber zu müde, hatte nur noch die Kraft, den Heftumschlag mit Schlangenlinien zu verzieren, senkte mich immer tiefer und lag schon fast, von den Erwachsenen vergessen, über meinem Heft. Da kam Edgar, der Nachbarsjunge, der eigentlich schon längst hätte im Bett sein sollen, völlig lautlos durch die Tür herein, durch die ich merkwürdigerweise nicht unser dunkles Vorzimmer, sondern den klaren Mond über der weiten Winterlandschaft sah. »Komm Hans«, sagte Edgar, »der Lehrer wartet draußen im Schlitten. Wie willst du denn die Aufgabe ohne die Hilfe des Lehrers machen?« »Will er mir denn helfen?« fragte ich. »Ja«, sagte Edgar, »es ist die beste Gelegenheit, eben fährt er nach Kummerau, er ist äußerst wohlgelaunt wegen der Schlittenfahrt, er wird keine Bitte abschlagen.« »Werden es mir die Eltern erlauben?« »Wirst sie doch nicht fragen ...«

Es war eine sehr schwere Aufgabe und ich fürchtete, sie nicht zustande zu bringen. Auch war schon spät abends, viel zu spät hatte ich sie vorgenommen, den langen Nachmittag auf der Gasse verspielt, dem Vater, der mit vielleicht hätte helfen können, das Versäumnis verschwiegen und nun schliefen alle und ich saß allein vor meinem Heft. »Wer wird mir jetzt helfen?« sagte ich leise. »Ich«, sagte ein fremder Mann und ließ sich rechts von mir an der Schmalseite des Tisches langsam auf einem Sessel nieder, so wie bei meinem Vater, dem Advokaten, die Parteien sich an der Seite seines Schreibtisches niederducken, stützte den Ellbogen auf den Tisch und streckte die Beine weit ins Zimmer. Ich hatte auffahren wollen, aber es war ja mein Lehrer; er freilich würde die Aufgabe, die er selbst gegeben hatte, am besten zu lösen verstehen. Und er nickte in Bestätigung dieser Meinung freundlich oder hochmütig oder ironisch, ich konnte es nicht enträtseln. Aber war es wirklich mein Lehrer? Er war es äußerlich und im Ganzen vollkommen, ging man aber näher auf Einzelheiten ein, wurde es fraglich. Er hatte zum Beispiel meines Lehrers Bart, diesen steifen, schüttern, abstehenden, grauschwarzen, die Oberlippe und das ganze Kinn überwachsenden langen Bart. Beugte man sich aber zu ihm vor, so hatte man den Eindruck der künstlichen Herrichtung und es schwächte den Verdacht nicht ab, daß der angebliche Lehrer sich mir entgegenbeugte, von untenher den Bart mit der Hand stützte und ihn zur Untersuchung darbot.

Der Träume Herr, der große Isachar, saß vor dem Spiegel, den Rücken eng an dessen Fläche, den Kopf weit zurückgebeugt und tief in den Spiegel versenkt. Da kam Hermana, der Herr der Dämmerung, und tauchte in Isachars Brust, bis er ganz in ihr verschwand.

In unserem Städtchen sind wir ganz unter uns, verloren im hohen Gebirge liegt es, fast unauffindbar. Nur ein schmaler Pfad führt zu uns herauf und selbst der ist oft unterbrochen durch kahles wegloses Gestein, nur Einheimische können ihn wiederfinden.

Als ich beichten sollte, wußte ich nichts zu sagen. Alle Sorgen waren vergangen; fröhlich, ruhig, ohne jedes Zittern der leuchtenden Sonnenflecken, lag, durch die halboffene Kirchentür gesehen, der Platz. Ich brachte nur die Leiden der letzten Zeit in Erinnerung, ich wollte zu ihren bösen Wurzeln vordringen, es war unmöglich, ich erinnerte mich an keine Leiden und sie hatten keine Wurzeln in mir. Die Fragen des Beichtigers verstand ich kaum, ich verstand wohl die Worte, konnte aber, so sehr ich mich anstrengte, nicht den geringsten Bezug auf mich heraushören. Manche Fragen bat ich ihn zu wiederholen, aber es half nichts, sie waren nur wie scheinbare Bekannte, hinsichtlich derer das Gedächtnis täuscht.

Im Sturmwind, Narrheit der Blätter, schwere Tür, leichtes Klopfen gegen sie, Aufnehmen der Welt, Einführung der Gäste, großes Erstaunen, wie es plappert, sonderbarer Mund, Unmöglichkeit sich damit abzufinden, Arbeiten mit Rückblick, Hammerschlag auf Hammerschlag, kommen schon die Ingenieure? Nein, es gibt irgendeine Verzögerung, der Direktor bewirtet sie, es wird ein Hoch ausgebracht, die jungen Leute, dazwischen plätschert der Bach, ein alter Mann sieht zu, wie das lebt und duftet; aber habe die überirdische, die göttliche Jugend, um das zu fühlen, erhabene Mücke, die um die Tischlampe flattert, ja mein kleiner, mein winziger, heuschreckenhafter, hochgezogen auf dem Stuhle hockender Tischgenosse ...

Unser Direktor ist jung, es liegen große Pläne vor, immerfort treibt er uns an, grenzenlos ist die Zeit, die er darauf verwendet und einer ist ihm so viel wert wie alle. Er ist fähig, bei irgendeinem kleinen Unbedeutenden, auf den kaum unser Blick gefallen ist, ganze Tage zu verbringen, er setzt sich mit ihm auf einen Sessel, er hält ihn umarmt, er legt sein Knie auf des andern Knie, er beschlagnahmt sein Ohr, niemandem sonst darf es mehr zugänglich sein, und nun beginnt er die Arbeit.

Unser Chef hält sich vor dem Personal sehr zurück, es gibt ganze Tage, während welcher wir ihn gar nicht zu sehn bekommen, er ist dann im Büro, welches zwar auch im Geschäftslokal ist, aber bis zur Manneshöhe Mattglasscheiben hat und nicht nur durch das Geschäft, sondern auch vom Hausflur her betreten werden kann. Es liegt wahrscheinlich keine besondere Absicht in dieser Zurückhaltung, auch fühlt er sich uns nicht fremd, es entspricht aber völlig seinem Wesen. Er hält es weder für nötig noch für nützlich, das Personal zu besonderem Fleiße anzutreiben; wen nicht der eigene Verstand dazu führt, das Beste zu leisten, der kann seiner Meinung nach kein guter Gehilfe sein, wird sich in einem ruhig geführten, die offen daliegenden Möglichkeiten, diese aber sämtlich ausnützenden Geschäft gar nicht erhalten können, ja wird seine Nicht-Hingehörigkeit selbst derart stark fühlen, daß er auf die Kündigung nicht warten, sondern selbst kündigen wird. Und dies wird sich so schnell vollziehn, daß es weder dem Geschäft noch dem Gehilfen größeren Schaden bringen wird. Nun ist ja ein derartiges Verhältnis in der Geschäftswelt gewiß nicht üblich, aber bei unserem Chef bewährt es sich offensichtlich.

Ruhe zu bewahren; sehr weit abstehn von dem, was die Leidenschaft will; die Strömung kennen und deshalb gegen den Strom schwimmen; aus Lust am Getragensein gegen den Strom schwimmen.

Es ist ein kleiner Laden, aber es ist viel Leben darin, von der Gasse her hat er keinen Eingang, man muß durch den Flur gehn, einen kleinen Hof durchqueren, erst dann kommt man zu der Tür des Geschäftes, über der ein Täfelchen mit dem Namen des Ladeninhabers hängt. Es ist ein Wäschegeschäft, es wird dort fertige Wäsche verkauft, aber mehr noch unverarbeitetes Leinen. Nun ist es für einen Uneingeweihten, der zum erstenmal in den Laden kommt, völlig unglaublich, wie viel Wäsche und Leinen verkauft wird oder richtiger, da man ja einen Überblick über das Ergebnis des Handels nicht bekommt, in welchem Umfang und mit welchem Eifer gehandelt wird. Wie gesagt gibt es keinen direkten Ladeneingang von der Gasse, aber nicht nur das, auch vom Hof her sieht man keinen Kunden kommen und doch ist der Laden voll von Menschen und immerfort neue sieht man und die alten verschwinden, man weiß nicht wohin. Es gibt zwar auch breite Wandregale, in der Hauptsache aber sind die Regale rings um Pfeiler angebracht, die das vielfache, klein zerteilte Gewölbe tragen. Infolge dieser Anordnung weiß man von keiner Stelle aus genau, wie viel Leute im Laden sind, immer wieder kommen um die Pfeiler herum neue hervor, und das Nicken der Köpfe, die lebhaften Handbewegungen, das Trippeln der Füße im Gedränge, das Rauschen der zur Auswahl ausgebreiteten Ware, die endlosen Verhandlungen und Streitigkeiten, in welche sich, auch wenn sie nur einen Verkäufer und einen Kunden betreffen, immer der ganze Laden einzumischen scheint, dies alles vergrößert das Getriebe über die Wirklichkeit hinaus. In einer Ecke ist ein Holzverschlag, breit, aber nicht höher, als daß sitzende Menschen in ihm Platz haben, das ist das Kontor. Die Bretterwände sind offenbar sehr stark, die Tür ist winzig, Fenster anzubringen hat man vermieden, nur ein Guckfenster ist da, ist aber innen und außen verhängt, trotz allem aber ist es erstaunlich, daß in diesem Kontor jemand bei dem Lärm draußen Ruhe zu schriftlichen Arbeiten findet. Manchmal wird die innen an der Tür hängende dunkle Portiere zurückgeschlagen, dann sieht man dort türausfüllend einen kleinen Kontorgehilfen stehn, die Feder hinterm Ohr, die Hand über den Augen, und neugierig oder auftragsgemäß den Wirrwarr im Laden betrachten. Es dauert aber nicht lange, schon schlüpft er zurück und läßt die Portiere derart schnell hinter sich niederfallen, daß man auch nicht den kleinsten Blick ins Innere des Kontors erhascht. Eine gewisse Verbindung besteht zwischen dem Kontor und der Ladenkasse. Diese letztere ist knapp bei der Ladentüre angebracht und wird von einem jungen Mädchen verwaltet. Sie hat nicht so viel Arbeit, als es zuerst scheinen könnte. Nicht alle Leute zahlen bar, ja es zahlen die wenigsten so, es gibt offenbar noch andere Möglichkeiten der Verrechnung.

Schlinge den Traum durch die Zweige des Baumes. Der Reigen der Kinder. Des hinabgebeugten Vaters Ermahnung. Den Holzscheit über dem Knie zu brechen. Halb ohnmächtig, blaß, an der Wand des Verschlages lehnen, zum Himmel als zur Rettung aufsehn. Eine Pfütze im Hof. Altes Gerumpel landwirtschaftlicher Geräte dahinter. Ein eilig und vielfach am Abhang sich windender Pfad. Es regnete zeitweilig, zeitweilig aber schien auch die Sonne. Eine Bulldogge sprang hervor, daß die Sargträger zurückwichen.

Lange, schon lange wollte ich in jene Stadt. Es ist eine große belebte Stadt, viele Tausende Menschen wohnen dort, jeder Fremde wird eingelassen.

Folgender militärischer Befehl wurde zwischen verwehten herbstlichen Blättern in der Allee gefunden, es ist unerforschlich, von wem er stammt und an wen er gerichtet ist: Heute nacht beginnt der Angriff. Alles Bisherige, die Verteidigung, das Zurückweichen, die Flucht, die Zerstreuung ...

Durch die Allee eine unfertige Gestalt, der Fetzen eines Regenmantels, ein Bein, die vordere Krempe eines Hutes, flüchtig von Ort zu Ort wechselnder Regen.

Die Freunde standen am Ufer. Der Mann, der mich zum Schiff rudern sollte, hob meinen Koffer, um ihn ins Boot zu tragen. Ich kannte den Mann seit vielen Jahren, immer ging er tief gebückt, irgendein Leiden verkrümmte so den sonst riesenhaft starken Mann.

Was stört dich? Was reißt an deines Herzens Halt? Was tastet um die Klinke deiner Türe? Was ruft dich von der Straße her und kommt doch nicht durch das offene Tor? Ach, es ist eben jener, den du störst, an dessen Herzens Halt du reißt, an dessen Tür du um die Klinke tastest, den du von der Straße her rufst und durch dessen offenes Tor du nicht kommen willst.

Sie kamen durch das offene Tor und wir kamen ihnen entgegen. Wir tauschten neue Nachrichten aus. Wir sahen einander in die Augen.

Der Wagen war gänzlich unbrauchbar. Das rechte Vorderrad fehlte, infolgedessen war das rechte Hinterrad überlastet und verbogen, die Deichsel war zerbrochen, ein Stück von ihr lag auf dem Wagendach.

Man brachte uns ein kleines altes Wandschränkchen. Der Nachbar hatte es von einem entfernten Verwandten geerbt, als einziges Erbstück, hatte es auf verschiedene Weise zu öffnen versucht und hatte es schließlich, da es ihm nicht gelingen wollte, zu meinem Meister gebracht. Die Aufgabe war nicht leicht. Nicht nur, daß kein Schlüssel vorhanden war, es war auch kein Schloß zu entdecken. Entweder war irgendwo ein geheimer Mechanismus, dessen Auslösung nur von einem in solchen Dingen sehr erfahrenen Mann gefunden werden konnte, oder der Schrank war überhaupt nicht zu öffnen, sondern nur aufzubrechen, was allerdings höchst einfach zu bewerkstelligen gewesen wäre.

Herr Ohmberg, Lehrer an der Bürgerschule des Städtchens, empfing uns am Bahnhof. Er war der Obmann des Komitees, welches sich die Erschließung der Höhle zur Aufgabe gemacht hatte. Ein kleiner beweglicher mittelstarker Herr mit einem Spitzbart von gewissermaßen farblosem Blond. Kaum hielt der Zug, stand Ohmberg schon an den Stufen unseres Waggons, und kaum stieg der erste von uns aus, hielt er schon eine kleine Ansprache. Er wollte offenbar gern alle üblichen Formalitäten erfüllen, die Wichtigkeit der Sache, die er vertrat, drückte aber durch ihr Gewicht alle Formalitäten zur Lächerlichkeit hinab.

Es fuhren die muntern Genossen den Fluß abwärts. Ein Sonntagsfischer. Unerreichbare Fülle des Lebens. Zerschlage sie! Holz im toten Wasser. Sehnsüchtig ziehende Wellen. Sehnsuchterregend.

Laufen, laufen. Blick aus einer Nebengasse. Hohe Häuser, eine noch viel höhere Kirche.

Das Charakteristische der Stadt ist ihre Leere. Der große Ringplatz zum Beispiel ist immer leer. Die Elektrischen, die sich dort kreuzen, sind immer leer. Laut, hell, befreit von der Notwendigkeit des Augenblicks klingt ihr Läuten. Der große Basar, der am Ringplatz beginnt und durch viele Häuser in eine weit entfernte Straße führt, ist immer leer. An den vielen im Freien stehenden Tischchen des Kaffeehauses, das zu beiden Seiten des Basareinganges sich ausbreitet, sitzt kein Gast. Das große Tor der alten Kirche in der Mitte des Platzes ist weit offen, aber niemand geht ein oder aus. Die Marmorstufen, die zum Tor emporfuhren, strahlen mit einer geradezu unbändigen Kraft das Sonnenlicht zurück, das auf sie fällt.

Es ist meine alte Heimatstadt und ich irre langsam, stockend durch ihre Gassen.

Es ist wieder der alte Kampf mit dem alten Riesen. Freilich, er kämpft nicht, nur ich kämpfe, er legt sich nur auf mich wie ein Knecht auf den Wirtshaustisch, kreuzt die Arme oben auf meiner Brust und drückt sein Kinn auf seine Arme. Werde ich dieser Last standhalten können?

Durch die Nebel der Stadt. In einer engen Gasse, die auf einer Seite von einer efeuüberrankten Mauer gebildet wird.

Ich stehe vor meinem alten Lehrer. Er lächelt mir zu und sagt: »Wie ist es denn? So lange ist es schon her, daß ich dich aus meinem Unterricht entlassen habe. Hätte ich nicht ein unmenschlich starkes Gedächtnis für alle meine Schüler, ich hätte dich nicht wiedererkannt. So aber erkenne ich dich genau, ja, du bist mein Schüler. Aber warum kommst du wieder zurück?«

Es ist meine alte Heimatstadt und ich bin wieder in sie zurückgekehrt. Ich bin ein wohlhabender Bürger und habe ein Haus in der Altstadt mit der Aussicht auf den Fluß. Es ist ein altes zweistöckiges Haus mit zwei großen Höfen. Ich habe eine Wagenbauanstalt und in beiden Höfen wird den ganzen Tag gesägt und gehämmert. Aber in den Wohnzimmern, die an der Vorderseite des Hauses liegen, ist davon nichts zu hören, dort ist tiefe Stille und der kleine Platz vor dem Hause, der rings geschlossen ist und nur nach dem Fluß hin sich öffnet, ist immer leer. In diesen Wohnzimmern, großen parkettierten, von Vorhängen ein wenig verdunkelten Zimmern, stehn alte Möbel, in einen wattierten Schlafrock eingewickelt gehe ich gern zwischen ihnen umher.

Nichts davon, quer durch die Worte kommen Reste von Licht.

Der gestählte Körper begreift seine Aufgaben. Ich pflege das Tier mit wachsender Freude. Der Glanz der braunen Augen dankt mir. Wir sind einig.

Ich erkläre es hier deutlich; alles was über mich erzählt wird, ist falsch, wenn es davon ausgeht, daß ich als erster Mensch der Seelenfreund eines Pferdes gewesen bin. Sonderbar ist es, daß diese ungeheuerliche Behauptung verbreitet und geglaubt wird, aber noch viel sonderbarer, daß man die Sache leichtnimmt, sie verbreitet und glaubt, aber mit kaum mehr als einem Kopfschütteln sie auf sich beruhen läßt. Hier liegt ein Geheimnis, das zu erforschen eigentlich verlockender wäre als die Geringfügigkeit, die ich wirklich getan habe. Was ich getan habe, ist nur dieses: ich habe ein Jahr lang mit einem Pferde gelebt derart, wie etwa ein Mensch mit einem Mädchen, das er verehrt, von dem er aber abgewiesen wird, leben würde, wenn er äußerlich kein Hindernis hätte, um alles zu veranstalten, was ihn zu seinem Ziele bringen könnte. Ich habe also das Pferd Eleonor und mich in einen Stall gesperrt und habe diesen gemeinsamen Aufenthaltsort immer nur verlassen, um die Unterrichtsstunden zu geben, durch die ich die Unterrichtsmittel für uns beide verdiente. Leider waren dies immerhin fünf bis sechs Stunden täglich und es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß dieser Zeitausfall den endgültigen Mißerfolg aller meiner Mühen verschuldet hat, mögen sich das die Herren, die ich so oft um Unterstützung meines Unternehmens vergeblich bat und die nur ein wenig Geld hätten hergeben sollen für etwas, für das ich mich so zu opfern bereit war, wie man ein Bündel Hafer opfert, das man zwischen die Mahlzähne eines Pferdes stopft, mögen sich das doch diese Herren wohl gesagt sein lassen.

Eine Katze hatte eine Maus gefangen. »Was wirst du nun machen?« fragte die Maus, »du hast schreckliche Augen.« »Ach«, sagte die Katze, »solche Augen habe ich immer. Du wirst dich daran gewöhnen.« »Ich werde lieber weggehn«, sagte die Maus, »meine Kinder warten auf mich.« »Deine Kinder warten?« sagte die Katze, »dann geh nur so schnell als möglich. Ich wollte dich nur etwas fragen.« »Dann frage, bitte, es ist wirklich schon sehr spät.«

Ein Sarg war fertiggestellt worden und der Tischler lud ihn auf den Handwagen, um ihn in das Sarggeschäft zu schaffen. Es war regnerisch, ein trüber Tag. Aus der Quergasse kam ein alter Herr heran, blieb vor dem Sarg stehn, strich mit dem Stock über ihn hin und begann mit dem Tischler ein kleines Gespräch über die Sargindustrie. Eine Frau mit einer Markttasche, die die Hauptgasse herabkam, stieß ein wenig gegen den Herrn, erkannte ihn dann als guten Bekannten und blieb auch für ein Weilchen stehn. Aus der Werkstatt trat der Gehilfe und hatte wegen seiner weiteren Arbeiten noch einige Fragen an den Meister zu richten. In einem Fenster über der Werkstatt erschien die Tischlersfrau mit ihrem Kleinsten auf dem Arm, der Tischler begann von der Gasse her den Kleinen ein wenig zu necken, auch der Herr und die Frau mit der Markttasche sahen lächelnd aufwärts. Ein Spatz, in dem Wahn hier etwas Eßbares zu finden, war auf den Sarg geflogen und hüpfte dort auf und ab. Ein Hund beschnupperte die Räder des Handwagens. Da klopfte es plötzlich von innen stark gegen den Sargdeckel. Der Vogel flog auf und kreiste ängstlich über dem Wagen. Der Hund bellte wild, er war der Aufgeregteste unter allen und als sei er verzweifelt über seine Pflichtversäumnis. Der Herr und die Frau waren zur Seite gesprungen und warteten mit ausgebreiteten Händen. Der Gehilfe hatte sich in einem plötzlichen Entschluß auf den Sarg geschwungen und saß schon oben, dieser Sitz erschien ihm weniger schrecklich als die Möglichkeit, daß der Sarg sich öffne und der Klopfer hervorsteige. Übrigens bereute er vielleicht schon die voreilige Tat, nun aber, da er oben war, wagte er nicht herunterzusteigen und alle Mühe des Meisters ihn herunterzutreiben war vergeblich. Die Frau oben im Fenster, die das Klopfen wahrscheinlich auch gehört hatte, aber nicht hatte beurteilen können, woher es kam, und jedenfalls nicht auf den Gedanken verfallen war, es könnte aus dem Sarge kommen, verstand nichts von den Vorgängen unten und sah erstaunt zu. Ein Schutzmann, von einem unbestimmten Verlangen angezogen, von einer unbestimmten Angst abgehalten, schlenderte zögernd heran. Da wurde der Deckel mit solcher Kraft aufgestoßen, daß der Gehilfe zur Seite glitt, ein kurzer gemeinsamer Aufschrei aller ringsherum erfolgte, die Frau im Fenster verschwand, offenbar raste sie mit dem Kind die Treppe herab.

Suche ihn mit spitzer Feder, den Kopf kräftig, fest auf dem Halse sich umschauend, ruhig von deinem Sitz. Du bist ein treuer Diener, innerhalb der Grenzen deiner Stellung angesehen, innerhalb der Grenzen deiner Stellung ein Herr, mächtig sind deine Schenkel, weit die Brust, leicht geneigt der Hals, wenn du mit der Suche beginnst. Von weither bist du sichtbar, wie der Kirchturm eines Dorfes, auf Feldwegen von weither über Hügel und Täler streben dir einzelne zu.

Es ist die Nahrung, von der ich gedeihe. Auserlesene Speisen, auserlesen gekocht. Aus dem Fenster meines Hauses sehe ich die Zuträger der Nahrungsmittel, eine lange Reihe, oft stockt sie, dann drückt jeder seinen Korb an sich, um ihn vor Schaden zu behüten. Auch zu mir schauen sie empor, freundlich, manche entzückt.

Es ist die Nahrung, von der ich gedeihe. Es ist der süße Saft, der emporsteigt von meiner jungen Wurzel.

Aufgesprungen vom Tisch, den Becher noch in der Hand, so jage ich hinter dem Feind, der mir gegenüber aufgetaucht ist, unter dem Tisch hervor.

Als er ausbrach, in den Wald kam und verlorenging, war es Abend. Nun, das Haus lag ja am Wald. Ein Stadthaus, regelrecht städtisch gebaut, einstöckig, mit einem Erker nach städtischem oder vorstädtischem Geschmack, mit einem kleinen vergitterten Vorgärtchen, mit feinen durchbrochenen Vorhängen hinter den Fenstern, ein Stadthaus, und lag doch einsam weit und breit. Und es war ein Winterabend und sehr kalt war es hier im freien Feld. Aber es war doch kein freies Feld, sondern städtischer Verkehr, denn um die Ecke bog ein Wagen der Elektrischen, aber es war doch nicht in der Stadt, denn der Wagen fuhr nicht, sondern stand seit jeher dort, immer in dieser Stellung, als biege er um die Ecke. Und er war seit jeher leer und gar kein Wagen der Elektrischen, ein Wagen auf vier Rädern war es und in dem durch die Nebel unbestimmt sich ausgießenden Mondlicht konnte er an alles erinnern. Und städtisches Pflaster war hier, pflasterartig war der Boden gestrichelt, ein musterhaft ebenes Pflaster, aber es waren nur die dämmerhaften Schatten der Bäume, die sich über die verschneite Landstraße legten.

Es ist, wie man will, rührend oder erschreckend oder abscheulich, wie sich der junge Bordier anstrengt in mein Haus zu kommen. Verrückt war er ja immer; untauglich zu jeder Arbeit, von seiner Familie aufgegeben und nur notdürftig ernährt, trieb er sich den ganzen Tag umher, am liebsten im Moor. Manchmal lag er tage- und nächtelang zu Hause in einem Winkel, dann blieb er wieder viele Nächte aus.

Ich leide in der letzten Zeit unter den Belästigungen des Dorfnarren. Närrisch war er seit jeher, nur betraf es mich nicht mehr als jeden andern.

Wieder brütet es unten an der Gartentür. Ich blicke durchs Fenster. Natürlich, wieder er.

Willst du in eine fremde Familie eingeführt werden, suchst du einen gemeinsamen Bekannten und bittest ihn um die Gefälligkeit. Findest du keinen, geduldest du dich und wartest auf eine günstige Gelegenheit.

In dem kleinen Ort, in dem wir leben, kann es ja daran nicht fehlen. Findet sich die Gelegenheit nicht heute, findet sie sich morgen gewiß. Und findet sie sich nicht, wirst du deshalb nicht an den Säulen der Welt rütteln. Erträgt es die Familie, dich entbehren zu müssen, erträgst du es zumindest nicht schlechter. Das ist alles selbstverständlich, nur K. versteht es nicht. Er hat es sich in der letzten Zeit in den Kopf gesetzt, in die Familie unseres Gutsherrn einzudringen, versucht es aber nicht auf den gesellschaftlichen Wegen, sondern ganz geradeaus. Vielleicht scheint ihm der übliche Weg zu langwierig und das ist richtig, aber der Weg, den er zu gehen versucht, ist ja unmöglich. Dabei übertreibe ich nicht die Bedeutung unseres Gutsherrn. Ein verständiger, fleißiger, ehrbarer Mann, aber auch nichts weiter. Was will K. von ihm? Will er eine Anstellung auf dem Gute? Nein, das will er nicht, er selbst ist wohlhabend und führt ein sorgenloses Leben. Liebt er des Gutsbesitzers Tochter? Nein, nein, von diesem Verdacht ist er frei.

Das Wohnungsamt mischte sich ein, es gab so viele amtliche Verordnungen, eine davon hatten wir vernachlässigt, es zeigte sich, daß ein Zimmer unserer Wohnung an Untermieter abgegeben werden mußte, der Fall war zwar nicht ganz klar, und wenn wir früher das fragliche Zimmer beim Amt angemeldet und gleichzeitig unsere Einwände gegen eine Vermietungspflicht vorgebracht hätten, wäre unsere Sache aussichtsreich genug gewesen, nun aber fiel uns eine Vernachlässigung amtlicher Vorschriften zur Last und die Strafe dafür war, daß wir gegen die Anordnungen des Amtes keine Berufung mehr erheben konnten. Ein unangenehmer Fall. Um so unangenehmer, als das Amt nun auch die Möglichkeit hatte, uns einen Mieter nach seinem Belieben zuzuteilen. Doch hofften wir, wenigstens dagegen noch etwas unternehmen zu können. Ich habe einen Neffen, der an der hiesigen Universität Jura studiert, seine Eltern, an und für sich nahe, in Wirklichkeit sehr entfernte Verwandte, leben in einem Landstädtchen, ich kenne sie kaum. Als der Junge in die Hauptstadt kam, stellte er sich uns vor, ein schwacher, ängstlicher, kurzsichtiger Junge mit gebeugtem Rücken und unangenehm verlegenen Bewegungen und Redensarten. Sein Kern mag ja ausgezeichnet sein, aber wir haben nicht Zeit und Lust, bis dorthin vorzudringen, ein solcher Junge, ein solches langstieliges, zitterndes Pflänzchen würde unendliche Beobachtung und Pflege erfordern, das können wir nicht leisten, dann aber ist es besser, gar nichts zu tun und sich einen solchen Jungen fern vom Leib zu halten. Ein wenig unterstützen können wir ihn mit Geld und Empfehlungen, das haben wir getan, sonst aber haben wir es zu weitern unnützen Besuchen nicht mehr kommen lassen. Nun aber, angesichts der Zuschrift des Amtes, haben wir uns des Jungen erinnert. Er wohnt irgendwo in einem nördlichen Bezirk, gewiß recht kläglich, und sein Essen reicht gewiß kaum hin, dieses lebensuntüchtige Körperchen aufrecht zu erhalten. Wie wäre es, wenn wir ihn zu uns herüberbrächten? Nicht nur aus Mitleid, aus Mitleid hätten wir es schon längst tun können und vielleicht sollen, nicht nur aus Mitleid, aber es soll uns auch nicht unter die zweifellosen Verdienste angerechnet werden, wir wären schon reichlich belohnt, wenn uns unser kleiner Neffe im letzten Augenblick vor dem Diktat des Wohnungsamtes, vor dem Eindringen irgendeines beliebigen, irgendeines auf seinem Schein bestehenden wildfremden Mieters bewahrte. Soweit wir uns aber erkundigt haben, wäre dies recht gut möglich. Wenn man dem Wohnungsamt einen armen Studenten als schon vorhandenen Inwohner entgegenhalten könnte, wenn man nachweisen könnte, daß dieser Student durch Verlust dieses Zimmers nicht nur ein Zimmer, sondern fast seine Existenzmöglichkeit verliert, wenn man schließlich (der Neffe wird seine Mithilfe bei diesem kleinen Manöver nicht verweigern, dafür wollen wir sorgen) glaubhaft machen könnte, daß er wenigstens zeitweilig in diesem Zimmer schon früher gewohnt und nur während der allerdings langen Zeit der Prüfungsvorbereitung bei seinen Eltern auf dem Lande war – wenn alles dies gelingt, dann haben wir kaum etwas zu fürchten. Nun also schnell mit dem Auto um den Neffen. Im vierten Stock, in einem kalten Hofzimmerchen wandert er im Winterrock von einer Ecke in die andere und lernt. Alles an ihm und um ihn ist so abschreckend schmutzig und verwahrlost, daß man die Zuschrift des Wohnungsamtes in der Tasche fest umklammern muß, um sich neuerdings davon zu überzeugen, daß es unbedingt notwendig ist.

Frische Fülle. Quellende Wasser. Stürmisches, friedliches, hohes, sich ausbreitendes Wachsen. Glückselige Oase. Morgen nach durchtobter Nacht. Mit dem Himmel Brust an Brust. Friede, Versöhnung, Versinkung.

Schöpferisch. Schreite! Komme des Weges daher! Stehe mir Rede! Stelle mich zur Rede! Urteile! Töte!

Er singt im Chor. – Wir lachten viel. Wir waren jung, der Tag war schön, die hohen Fenster des Korridors führten auf einen unübersehbaren blühenden Garten. Wir lehnten in den offenen, den Blick und uns selbst ins Weite tragenden Fenstern. Manchmal sagte der hinter uns auf und ab gehende Diener ein Wort, das uns zur Ruhe mahnen sollte. Wir sahen ihn kaum, wir verstanden ihn kaum, nur an seinen auf den steinernen Fliesen tönenden Schritt erinnere ich mich, an den von ferne warnenden Klang.

Wir wußten nicht eigentlich, ob wir das Bedürfnis hatten, einen okkulten Zeichner zu sehn. Und wie es geschieht, daß ein leicht und unbemerkt seit jeher vorhandenes Bedürfnis unter einer stärker werdenden Aufmerksamkeit fast entlaufen möchte und nur durch eine bald auftretende Wirklichkeit sich auf den ihm gebührenden Platz festgehalten fühlt, so waren wir schon eine lange Zeit unauffällig neugierig gewesen, eine jener Damen vor uns zu sehen, die aus innern, aber fremden Kräften einem eine Blume hoch vom Mond, dann Tiefseepflanzen, dann durch Verzerrung verzogene Köpfe mit großen Frisuren und Helmen zeichnen und anderes, wie sie es eben müssen.

15. September 1920. Es fängt damit an, daß du in deinen Mund zu seiner Überraschung statt des Essens ein Bündel von soviel Dolchen stopfen wolltest, als er nur faßt.

Unter jeder Absicht liegt geduckt die Krankheit wie unter dem Baumblatt. Beugst du dich, um sie zu sehn, und fühlt sie sich entdeckt, springt sie auf, die magere stumme Bosheit, und statt zerdrückt, will sie von dir befruchtet werden.

Es ist ein Mandat. Ich kann meiner Natur nach nur ein Mandat übernehmen, das niemand mir gegeben hat. In diesem Widerspruch, immer nur in einem Widerspruch kann ich leben. Aber wohl jeder, denn lebend stirbt man, sterbend lebt man. So wie zum Beispiel der Zirkus von einer Leinwand umspannt ist, also niemand, der nicht innerhalb dieser Leinwand ist, etwas sehen kann. Nun findet aber jemand ein kleines Loch in der Leinwand und kann doch von außen zusehn. Allerdings muß er dort geduldet werden. Wir alle werden einen Augenblick lang so geduldet. Allerdings – zweites allerdings – meist sieht man durch ein solches Loch nur den Rücken der Stehplatzbesucher. Allerdings – drittes allerdings – die Musik hört man jedenfalls, auch das Brüllen der Tiere. Bis man endlich ohnmächtig vor Schrecken in die Arme des Polizisten zurückfällt, der von Berufs wegen den Zirkus umgeht und nur leise mit der Hand dir auf die Schulter geklopft hat, um dich auf das Ungehörige eines solchen gespannten Zusehns, für das du nichts gezahlt hast, aufmerksam zu machen.

Die Kräfte des Menschen sind nicht als ein Orchester gedacht. Hier müssen vielmehr alle Instrumente spielen, immerfort, mit aller Kraft. Es ist ja nicht für menschliche Ohren bestimmt und die Länge eines Konzertabends, innerhalb dessen jedes Instrument auf Geltendmachung hoffen kann, steht nicht zur Verfügung.

16. September 1920. Manchmal scheint es so: Du hast die Aufgabe, hast zu ihrer Ausführung so viel Kräfte als nötig sind (nicht zu viel, nicht zu wenig, du mußt sie zwar zusammenhalten, aber nicht ängstlich sein), Zeit ist dir genügend frei gelassen, den guten Willen zur Arbeit hast du auch. Wo ist das Hindernis für das Gelingen der ungeheuren Aufgabe? Verbringe nicht die Zeit mit dem Suchen des Hindernisses, vielleicht ist keines da.

17. September 1920. Es gibt nur ein Ziel, keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern.

Ich stand niemals unter dem Druck einer andern Verantwortung als jener, welche das Dasein, der Blick, das Urteil anderer Menschen mir auferlegten.

21. September 1920.
Aufgehoben die Reste.
Die glücklich gelösten Glieder
unter dem Balkon im Mondschein.
Im Hintergrund ein wenig Laubwerk,
schwärzlich wie Haare.

Irgendein Ding aus einem Schiffbruch, frisch und schön ins Wasser gekommen, überschwemmt und wehrlos gemacht jahrelang, schließlich zerfallen.

Im Zirkus wird heute eine große Pantomime, eine Wasserpantomime gespielt, die ganze Manege wird unter Wasser gesetzt werden, Poseidon wird mit seinem Gefolge durch das Wasser jagen, das Schiff des Odysseus wird erscheinen und die Sirenen werden singen, dann wird Venus nackt aus den Fluten steigen, womit der Übergang zur Darstellung des Lebens in einem modernen Familienbad gegeben sein wird. Der Direktor, ein weißhaariger alter Herr, aber noch immer der straffe Zirkusreiter, verspricht sich vom Erfolg dieser Pantomime sehr viel. Ein Erfolg ist auch höchst notwendig, das letzte Jahr war sehr schlecht, einige verfehlte Reisen haben große Verluste gebracht. Nun ist man hier im Städtchen.

Es kamen einige Leute zu mir und baten mich, eine Stadt für sie zu bauen. Ich sagte, sie wären viel zu wenige, sie hätten Raum in einem Haus, für sie würde ich keine Stadt bauen. Sie aber sagten, es würden noch andere nachkommen und es seien doch Eheleute unter ihnen, die Kinder zu erwarten hätten, auch müßte die Stadt nicht auf einmal gebaut, sondern nur im Umriß festgelegt und nach und nach ausgeführt werden. Ich fragte, wo sie die Stadt aufgebaut haben wollten, sie sagten, sie würden mir den Ort gleich zeigen. Wir gingen den Fluß entlang, bis wir zu einer genug hohen, zum Fluß hin steilen, sonst aber sanft sich abflachenden und sehr breiten Erhebung kamen. Sie sagten, dort oben wollten sie die Stadt gebaut haben. Es war dort nur schütterer Graswuchs, keine Bäume, das gefiel mir, der Abfall zum Fluß schien mir aber zu steil und ich machte sie darauf aufmerksam. Sie aber sagten, das sei kein Schaden, die Stadt werde sich ja auf den anderen Abhängen ausdehnen und genug andere Zugänge zum Wasser haben, auch würden sich vielleicht im Laufe der Zeiten Mittel finden, den steilen Abhang irgendwie zu überwinden, jedenfalls solle das kein Hindernis für die Gründung der Stadt an diesem Orte sein. Auch seien sie jung und stark und könnten mit Leichtigkeit den Abhang erklettern, was sie mir gleich zeigen wollten. Sie taten es; wie Eidechsen schwangen sich ihre Körper zwischen den Rissen des Felsens hinauf, bald waren sie oben. Ich ging auch hinauf und fragte sie, warum sie gerade hier die Stadt gebaut haben wollten. Zur Verteidigung schien ja der Ort nicht besonders geeignet, von der Natur geschützt war er nur gegenüber dem Fluß und gerade hier war ja der Schutz am wenigsten notwendig, eher wäre hier freie und leichte Ausfahrtmöglichkeit zu wünschen gewesen; von allen andern Seiten her war aber die Hochebene ohne Mühe zugänglich, deshalb also und auch wegen ihrer großen Ausdehnung schwer zu verteidigen. Außerdem war der Boden dort oben auf seine Ertragfähigkeit hin noch nicht untersucht, und vom Unterland abhängig bleiben und auf Fuhrwerkverkehr angewiesen sein, war für eine Stadt immer gefährlich, gar in unruhigen Zeiten. Auch ob genügendes Trinkwasser oben zu finden war, war noch nicht festgestellt, die kleine Quelle, die man mir zeigte, schien nicht zuverlässig.

»Du bist müde«, sagte einer von ihnen, »du willst die Stadt nicht bauen.« »Müde bin ich«, sagte ich und setzte mich auf einen Stein neben die Quelle. Sie tauchten ein Tuch in das Wasser und erfrischten damit mein Gesicht, ich dankte ihnen. Dann sagte ich, daß ich einmal allein die Hochebene umgehen wolle und verließ sie; der Weg dauerte lang; als ich zurückkam, war es schon dunkel; alle lagen um die Quelle und schliefen; ein leichter Regen fiel. Am Morgen wiederholte ich meine Frage; sie verstanden nicht gleich, wie ich die Frage des Abends am Morgen wiederholen könne. Dann aber sagten sie, sie könnten mir die Gründe, aus welchen sie diesen Ort gewählt hätten, nicht genau angeben, es seien alte Überlieferungen, welche diesen Ort empfehlen. Schon die Voreltern hätten die Stadt hier bauen wollen, aber aus irgendwelchen auch nicht genau überlieferten Gründen hätten sie doch nicht angefangen. Jedenfalls also sei es nicht Mutwille, der sie zu diesem Ort geführt habe, im Gegenteil, der Ort gefalle ihnen nicht einmal sehr und die Gegengründe, die ich angeführt habe, hätten sie auch selbst schon herausgefunden und als unwiderleglich anerkannt, aber es sei eben jene Überlieferung da, und wer der Überlieferung nicht folge, werde vernichtet. Deshalb sei ihnen unverständlich, warum ich zögere und nicht schon gestern zu bauen angefangen habe.

Ich beschloß fortzugehn und kletterte den Abhang zum Fluß hinab. Aber einer von ihnen war erwacht und hatte die andern geweckt und nun standen sie oben am Rand und ich war erst in der Mitte und sie baten und riefen mich. Da kehrte ich zurück, sie halfen mir und zogen mich hinauf. Ich versprach ihnen jetzt, die Stadt zu bauen. Sie waren sehr dankbar, hielten Reden an mich, küßten mich.

Ein Bauer fing mich auf der Landstraße ab und bat mich, mit ihm nach Hause zu kommen, vielleicht könne ich ihm helfen, er habe Streit mit seiner Frau, der verbittere ihm das Leben. Auch ungeratene einfältige Kinder habe er, die stünden nur nutzlos herum oder machten Unfug. Ich sagte, ich ginge gern mit ihm, aber es sei doch sehr unsicher, ob ich, ein Fremder, ihm werde helfen können, die Kinder werde ich vielleicht zu etwas anleiten können, aber der Frau gegenüber werde ich wahrscheinlich machtlos sein, denn Streitsucht der Frau hat ihren Grund gewöhnlich im Wesen des Mannes, und da er den Streit nicht wolle, habe er sich wohl schon angestrengt, sich zu ändern, aber es sei ihm nicht gelungen, wie könne es dann mir gelingen. Höchstens auf mich ableiten könnte ich die Streitsucht der Frau. So sprach ich mehr zu mir als zu ihm, aber offen fragte ich ihn dann, was er mir für meine Mühe zahlen werde. Er sagte, darüber würden wir leicht einig werden; wenn ich etwas nützen werde, könne ich mir forttragen, was ich wolle. Darauf blieb ich stehn und sagte, solche allgemeine Versprechungen könnten mir nicht genügen, es müsse genau vereinbart werden, was er mir monatlich geben werde. Er staunte darüber, daß ich Monatslohn verlangte. Ich staunte über sein Staunen. Ja glaube er denn, daß ich in zwei Stunden gutmachen könne, was zwei Menschen ihr Leben lang verschuldet haben, und glaube er, daß ich nach zwei Stunden ein Säckchen Erbsen als Lohn nehmen, dankbar ihm die Hand küssen, mich in meine Fetzen einwickeln und auf der eisigen Landstraße weiterwandern werde? Nein! Der Bauer hörte stumm, mit gesenktem Kopf, aber gespannt zu. Vielmehr, so sagte ich, werde ich lange Zeit bei ihm bleiben müssen, um erst alles kennenzulernen und förmlich die Handgriffe für eine Besserung der Dinge zu suchen, dann werde ich weiterhin noch länger bleiben müssen, um wirklich Ordnung zu schaffen, soweit es möglich sei, und dann werde ich alt und müde sein und überhaupt nicht mehr fortgehn, sondern mich ausruhn und ihrer allen Dank genießen.

»Das wird nicht möglich sein«, sagte der Bauer, »da willst du dich wohl in meinem Haus festsetzen und am Ende noch mich vertreiben. Da hätte ich dann zu meinen Lasten noch die größte.« »Ohne Vertrauen zueinander werden wir allerdings nicht einig werden«, sagte ich, »habe ich denn nicht auch Vertrauen zu dir? Ich will ja nichts anderes als dein Wort und das könntest du ja auch wohl brechen. Nachdem ich alles nach deinen Wünschen eingerichtet habe, könntest du mich ja trotz aller Versprechungen fortschicken.« Der Bauer sah mich an und sagte: »Du würdest dich nicht fortschicken lassen.« »Tue wie du willst«, sagte ich, »denke von mir, was du willst, vergiß aber nicht – ich sage dir das nur freundschaftlich von Mann zu Mann – daß du, auch wenn du mich nicht mitnimmst, es zu Hause nicht lange ertragen wirst. Wie willst du mit dieser Frau und diesen Kindern weiterleben? Wagst du es nicht, mich in dein Haus zu nehmen, dann verzichte doch lieber gleich auf dein Haus und die Plage, die es dir noch bringen würde, komm mit mir, wir wandern zusammen, ich werde dir dein Mißtrauen nicht nachtragen.« »Ich bin kein freier Mann«, sagte der Bauer, »ich lebe mit meiner Frau jetzt über fünfzehn Jahre beisammen, es war schwer, ich verstehe gar nicht, wie es möglich war, aber trotzdem kann ich nicht von ihr fortgehn, ohne alles versucht zu haben, was sie erträglich machen könnte. Da sah ich dich auf der Landstraße und da dachte ich, jetzt könnte ich mit dir den letzten großen Versuch machen. Komm mit, ich gebe dir, was du willst. Was willst du?« »Ich will ja nicht viel«, sagte ich, »ich will ja nicht deine Notlage ausnützen. Du sollst mich nur als Knecht für alle Zeiten aufnehmen, ich verstehe alle Arbeit und werde dir viel nützen. Ich will aber kein Knecht sein wie andere Knechte, du darfst mir nicht befehlen, ich muß nach meinem eigenen Willen arbeiten dürfen, einmal dies, einmal jenes und dann wieder nichts, so wie es mir beliebt. Bitten um eine Arbeit darfst du mich, aber nicht zudringlich; merkst du, daß ich diese Arbeit nicht tun will, mußt du es still hinnehmen. Geld brauche ich keines, aber die Kleider, Wäsche und Stiefel müssen genau so, wie ich sie jetzt habe, wenn es nötig wird, erneuert werden; bekommst du diese Dinge im Dorfe nicht, mußt du in die Stadt fahren, sie holen. Aber davor fürchte dich nicht, was ich anhabe, hält noch jahrelang aus. Das übliche Essen der Knechte genügt mir, nur muß ich jeden Tag Fleisch haben.« »Jeden Tag?« warf er schnell ein, als sei er mit allen andern Bedingungen einverstanden. »Jeden Tag«, sagte ich. »Du hast auch ein besonderes Gebiß«, sagte er und versuchte so meinen sonderbaren Wunsch zu entschuldigen, er griff sogar in meinen Mund, um die Zähne zu befühlen. »So scharf«, sagte er, »fast wie Hundezähne.« »Kurz, jeden Tag will ich Fleisch haben«, sagte ich. »Bier und Schnaps will ich so viel haben, wie du hast.« »Das ist aber viel«, sagte er, »ich muß viel trinken.« »Desto besser«, sagte ich, »du kannst dich aber einschränken, dann werde auch ich mich einschränken. Vielleicht trinkst du übrigens nur wegen deines häuslichen Unglücks so viel.« »Nein«, sagte er, »wie soll denn das zusammenhängen? Aber du sollst so viel bekommen, wie ich; wir werden zusammen trinken.« »Nein«, sagte ich, »ich werde mit niemandem zusammen essen und trinken. Ich werde immer nur allein essen und trinken.« »Allein?« fragte der Bauer erstaunt, »mir dreht sich schon der Kopf von deinen Wünschen.« »Es ist nicht so viel«, sagte ich, »es ist auch schon fast zu Ende. Nur Öl will ich noch haben, für ein Lämpchen, das die ganze Nacht neben mir brennen soll. Ich habe das Lämpchen im Sack, ein ganz kleines Lämpchen, es braucht sehr wenig Öl. Es ist gar nicht der Rede wert, ich nenne es nur der Vollständigkeit halber, damit nachträglich keine Streitigkeiten entstehn; die kann ich nämlich bei der Entlohnung nicht leiden. Verweigert man mir das Vereinbarte, werde ich, sonst der gutmütigste Mensch, schrecklich, das merke dir. Gibt man mir nicht, was mir gebührt und sei es eine Kleinigkeit, bin ich fähig, dir das Haus über dem Kopf anzuzünden, während du schläfst. Aber du mußt mir ja das klar Vereinbarte nicht verweigern, dann bin ich, gar wenn du noch hie und da ein kleines Geschenkchen aus Liebe hinzufügst, mag es auch ganz wertlos sein, treu und ausdauernd und sehr nützlich in allen Dingen. Und mehr als ich gesagt habe, verlange ich nicht, nur noch am 24. August, meinem Namenstag, ein Fäßchen mit fünf Liter Rum.« »Fünf Liter!« rief der Bauer und schlug die Hände zusammen. »Nun, fünf Liter«, sagte ich, »das ist ja nicht so viel. Du willst mich wohl drücken. Ich aber habe meine Bedürfnisse schon selbst so eingeschränkt, aus Rücksicht auf dich nämlich, daß ich mich schämen müßte, wenn ein Dritter zuhörte. Unmöglich könnte ich vor einem Dritten so mit dir sprechen. Es darf auch niemand davon erfahren. Nun, es würde es auch niemand glauben.« Aber der Bauer sagte: »Geh doch lieber weiter. Ich werde allein nach Hause gehn und selbst die Frau zu versöhnen suchen. Ich habe sie in der letzten Zeit viel geprügelt, ich werde jetzt ein wenig nachlassen, sie wird mir vielleicht dankbar sein, auch die Kinder habe ich viel geprügelt, ich hole immer die Peitsche aus dem Stall und prügle sie, ich werde damit ein wenig aufhören, vielleicht wird es besser werden. Allerdings habe ich schon oft aufgehört, ohne daß es besser geworden wäre. Aber das, was du verlangst, könnte ich nicht leisten und wenn ich es vielleicht leisten könnte, aber nein, die Wirtschaft wird es nicht ertragen, nein, unmöglich, täglich Fleisch, fünf Liter Rum, aber selbst wenn es möglich wäre, meine Frau würde es nicht erlauben und wenn sie es nicht erlaubt, kann ich es nicht tun.« »Warum dann die langen Verhandlungen«, sagte ich ...

Ich saß in der Loge, neben mir meine Frau. Es wurde ein aufregendes Stück gespielt, es handelte von Eifersucht, gerade hob in einem strahlenden, von Säulen umgebenen Saal ein Mann den Dolch gegen seine langsam zum Ausgang hin strebende Frau. Gespannt beugte man sich über die Brüstung, ich fühlte an meiner Schläfe das Lockenhaar meiner Frau. Da zuckten wir zurück, etwas bewegte sich auf der Brüstung; was wir für die Samtpolsterung der Brüstung gehalten hatten, war der Rücken eines langen dünnen Mannes, der, genau so schmal wie die Brüstung, bis jetzt bäuchlings da gelegen war und sich jetzt langsam wendete, als suche er eine bequemere Lage. Meine Frau hielt sich zitternd an mich. Ganz nah vor mir war sein Gesicht, schmäler als meine Hand, peinlich rein wie eine Wachsfigur, mit schwarzem Spitzbart. »Warum erschrecken Sie uns?« rief ich, »was treiben Sie hier?« »Entschuldigung!« sagte der Mann, »ich bin ein Verehrer Ihrer Frau; ihre Ellbogen auf meinem Körper fühlen macht mich glücklich.« »Emil, ich bitte dich, schütze mich!« rief meine Frau. »Auch ich heiße Emil«, sagte der Mann, stützte den Kopf auf eine Hand und lag da wie auf einem Ruhebett. »Komm zu mir, süßes Frauchen.« »Sie Lump«, sagte ich, »noch ein Wort und Sie liegen unten im Parterre«, und als sei ich sicher, daß dieses Wort noch kommen werde, wollte ich ihn schon hinunterstoßen, aber das war nicht so einfach, er schien doch fest zur Brüstung zu gehören, er war wie eingebaut, ich wollte ihn wegwälzen, aber es gelang nicht, er lachte nur und sagte: »Laß das, du kleiner Dummer, entkräfte dich nicht vorzeitig, der Kampf beginnt erst und wird allerdings damit enden, daß deine Frau meine Sehnsucht erfüllt.« »Niemals!« rief meine Frau und dann zu mir gewendet: »Also bitte, stoß ihn doch schon hinunter.« »Ich kann es nicht«, rief ich, »du siehst doch, wie ich mich anstrenge, aber es ist hier irgendein Betrug und es geht nicht.« »Oh weh, oh weh«, klagte meine Frau, »was wird aus mir werden.« »Sei ruhig«, sagte ich, »ich bitte dich, durch deine Aufregung machst du es nur ärger, ich habe jetzt einen neuen Plan, ich werde mit meinem Messer hier den Samt aufschneiden und dann das Ganze mit dem Kerl hinunter ausschütten.« Aber nun konnte ich mein Messer nicht finden. »Weißt du nicht, wo ich mein Messer habe?« fragte ich. »Sollte ich es im Mantel gelassen haben?« Fast wollte ich in die Garderobe laufen, da brachte mich meine Frau zur Besinnung. »Jetzt willst du mich allein lassen, Emil«, rief sie. »Aber wenn ich kein Messer habe«, rief ich zurück. »Nimm meines«, sagte sie und suchte mit zitternden Fingern in ihrem Täschchen, aber dann brachte sie natürlich nur ein winziges Perlmuttmesserchen hervor.

Eine heikle Aufgabe, ein Auf-den-Fußspitzen-Gehn über einen brüchigen Balken, der als Brücke dient, nichts unter den Füßen haben, mit den Füßen erst den Boden zusammenscharren, auf dem man gehn wird, auf nichts gehn als auf seinem Spiegelbild, das man unter sich im Wasser sieht, mit den Füßen die Welt zusammenhalten, die Hände nur oben in der Luft verkrampfen, um diese Mühe bestehn zu können.

Auf der Freitreppe des Tempels kniet ein Priester und verwandelt alle Bitten und Klagen der Gläubigen, die zu ihm kommen, in Gebete, oder vielmehr er verwandelt nichts, sondern wiederholt nur das ihm Gesagte laut und vielmals. Es kommt zum Beispiel ein Kaufmann und klagt, daß er heute einen großen Verlust gehabt hat und daß infolgedessen sein Geschäft zugrunde geht. Darauf der Priester – er kniet auf einer Stufe, hat auf eine höhere Stufe die Hände flach hingelegt und schaukelt beim Beten auf und ab –: » A. hat heute einen großen Verlust gehabt, sein Geschäft geht zugrunde. A. hat heute einen großen Verlust gehabt, sein Geschäft geht zugrunde und so fort.«

Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt, so leicht wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: »Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.« Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will? Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.

So wie man manchmal ohne erst auf den bewölkten Himmel zu schauen, schon aus der Färbung der Landschaft fühlen kann, daß zwar das Sonnenlicht noch nicht hervorgebrochen ist, daß aber förmlich das Trübe sich loslöst und zum Wegziehn bereit macht, daß also nur aus diesem Grunde und ohne weitere Beweise gleich überall die Sonne scheinen wird.

Ich ruderte stehend das Boot in den kleinen Hafen, er war fast leer, in einer Ecke waren zwei Segelbarken, sonst nur kleine Boote hie und da. Ich fand leicht einen Platz für mein Boot und stieg aus. Ein kleiner Hafen war es nur, aber mit festen Quaimauern und gut instand gehalten.

Es glitten die Boote vorüber. Ich rief eines. Ein alter großer weißbärtiger Mann war der Bootsführer. Ich zögerte ein wenig auf der Landungsstufe. Er lächelte, ihn anschauend stieg ich ein. Er zeigte auf das äußerste Ende des Bootes, dort setzte ich mich. Gleich aber sprang ich auf und sagte: »Große Fledermäuse habt ihr hier«, denn große Flügel waren mir um den Kopf gerauscht. » Sei ruhig «, sagte er, schon mit der Bootsstange beschäftigt und wir stießen vom Lande, daß ich auf mein Bänkchen fast hinschlug. Statt dem Führer zu sagen, wohin ich fahren wolle, fragte ich nur, ob er es wisse, nach seinem Kopfnicken zu schließen wußte er es. Das war mir eine ungemeine Erleichterung, ich streckte die Beine aus und lehnte den Kopf zurück, aber immer behielt ich den Führer im Auge und sagte mir: »Er weiß, wohin du fährst, hinter dieser Stirn weiß er es. Und seine Ruderstange stößt er nur deshalb ins Meer, um dich dorthin zu bringen. Und zufällig riefst du gerade ihn aus der Menge und zögertest noch einzusteigen.« Ich schloß ein wenig die Augen vor lauter Zufriedenheit, wollte den Mann aber wenigstens hören, wenn ich ihn nicht sah und fragte: »In deinem Alter wolltest du wohl nicht mehr arbeiten. Hast du denn keine Kinder?« »Nur dich«, sagte er, »du bist mein einziges Kind. Nur für dich mache ich noch diese Fahrt, dann verkaufe ich das Boot, dann höre ich zu arbeiten auf.« »Ihr nennt hier die Passagiere Kinder?« fragte ich. »Ja«, sagte er, »das ist hier Sitte. Und die Passagiere sagen zu uns Vater.« »Das ist merkwürdig«, sagte ich, »und wo ist die Mutter?« »Dort«, sagte er, »im Verschlag.« Ich richtete mich auf und sah, wie aus dem rundbogigen kleinen Fenster des Verschlags, der in der Mitte des Bootes aufgebaut war, eine Hand grüßend sich ausstreckte und das starke Gesicht einer Frau, von einem schwarzen Spitzentuch eingerahmt, dort erschien. »Mutter?« fragte ich lächelnd. »Wenn du willst –«, sagte sie. »Du bist aber viel jünger als der Vater?« sagte ich. »Ja«, sagte sie, »viel jünger, er könnte mein Großvater sein und du mein Mann.« »Weißt du«, sagte ich, »es ist so erstaunlich, wenn man allein in der Nacht im Boot fährt und plötzlich ist eine Frau da.«

Ich ruderte auf einem See. Es war in einer rundgewölbten Höhle ohne Tageslicht, aber doch war es hell, ein klares gleichmäßiges, von dem bläulich-blassen Stein herabstrahlendes Licht. Trotzdem kein Luftzug zu spüren war, gingen die Wellen hoch, aber nicht so, daß eine Gefahr für mein kleines, aber festes Boot bestanden hätte. Ich ruderte ruhig durch die Wellen, dachte aber kaum ans Rudern, ich war nur damit beschäftigt, mit allen meinen Kräften die Stille in mich aufzunehmen, die hier herrschte, eine Stille, wie ich sie bisher in meinem Leben niemals gefunden hatte. Es war wie eine Frucht, die ich noch nie gegessen hatte und die doch die nahrhafteste von allen Früchten war, ich hatte die Augen geschlossen und trank sie in mich. Freilich nicht ungestört, noch war die Stille vollkommen, aber fortwährend drohte eine Störung, noch hielt irgend etwas den Lärm zurück, aber er war vor der Tür, platzend vor Lust, endlich loszubrechen. Ich rollte die Augen gegen ihn, der nicht da war, ich zog ein Ruder aus der Klammer, stand auf im schwankenden Boot und drohte mit dem Ruder ins Leere. Noch blieb es still und ich ruderte weiter.

Wir liefen auf glattem Boden, manchmal stolperte einer und fiel hin, manchmal wäre einer seitlich fast abgestürzt, dann mußte immer der andere helfen, aber sehr vorsichtig, denn auch er stand ja nicht fest. Endlich kamen wir zu einem Hügel, den man das Knie nennt, aber trotzdem er gar nicht hoch ist, konnten wir ihn nicht überklettern, immer wieder glitten wir ab, wir waren verzweifelt, nun mußten wir ihn also umgehn, da wir ihn nicht überklettern konnten, das war vielleicht ebenso unmöglich, aber viel gefährlicher, denn hier bedeutete ein Mißlingen des Versuches gleich Absturz und Ende. Wir beschlossen, um einander nicht zu stören, daß jeder es auf einer andern Seite versuchen solle. Ich warf mich hin und schob mich langsam an den Rand, ich sah, daß hier keine Spur eines Weges, keine Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten war, ohne Übergang fiel alles ab in die Tiefe. Ich war überzeugt, daß ich nicht hinüberkommen werde; war es nicht drüben auf der andern Seite ein wenig besser, was aber eben eigentlich nur der Versuch zeigen konnte, dann war es offenbar mit uns beiden zu Ende. Aber wagen mußten wir es, denn hier bleiben konnten wir nicht und hinter uns ragten abweisend unzugänglich die fünf Spitzen, die man Zehen nennt. Ich überblickte nochmals die Lage im einzelnen, die an sich gar nicht lange, aber eben unmöglich zu überwindende Strecke, und schloß dann die Augen, offene Augen hätten mir hier nur schaden können, fest entschlossen, sie nicht mehr zu öffnen, es wäre denn, daß das Unglaubliche geschähe und ich doch drüben ankäme. Und nun ließ ich mich langsam seitlich sinken, fast wie im Schlaf, hielt dann an und begann, vorzurücken. Die Arme hatte ich rechts und links weit ausgestreckt, dieses Bedecken und gleichsam Umfassen möglichst viel Bodens rings um mich schien mir ein wenig Gleichgewicht oder richtiger, ein wenig Trost zu geben. Aber tatsächlich merkte ich zu meinem Erstaunen, daß dieser Boden mir irgendwie förmlich behilflich war, er war glatt und ohne jeden Halt, aber es war kein kalter Boden, irgendeine Wärme strömte aus ihm zu mir, aus mir zu ihm hinüber, es gab eine Verbindung, die nicht durch Hände und Füße herzustellen war, aber bestand und festhielt.

Die Grundschwäche des Menschen besteht nicht etwa darin, daß er nicht siegen, sondern daß er den Sieg nicht ausnützen kann. Die Jugend besiegt alles, den Urtrug, die versteckte Teufelei, aber es ist niemand da, der den Sieg auffangen könnte, lebendig machen könnte, denn dann ist auch schon die Jugend vorüber. Das Alter wagt an den Sieg nicht mehr zu rühren und die neue Jugend, gequält von dem gleich einsetzenden neuen Angriff, will ihren eigenen Sieg. So wird der Teufel zwar immerfort besiegt, aber niemals vernichtet.

Die immer Mißtrauischen sind Menschen, welche annehmen, daß neben dem großen Urbetrug noch in jedem Fall eigens für sie ein kleiner besonderer Betrug veranstaltet wird, daß also, wenn ein Liebesspiel auf der Bühne aufgeführt wird, die Schauspielerin, außer dem verlogenen Lächeln für ihren Geliebten, auch noch ein besonders hinterhältiges Lächeln für den ganz bestimmten Zuschauer auf der letzten Galerie hat. Dummer Hochmut. Kannst du denn etwas anderes kennen als Betrug? Denn wird einmal der Betrug vernichtet, darfst du ja nicht hinsehn oder du wirst zur Salzsäule.

Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich in der Stadt als Lehrjunge in ein Geschäft eintrat. Es war für mich nicht leicht gewesen, irgendwo aufgenommen zu werden, ich hatte zwar befriedigende Zeugnisse, war aber sehr klein und schwach. Der Chef, der in einem engen fensterlosen Kontor hinter einer scharfen elektrischen Lampe bei seinem Schreibtisch saß, den einen Arm irgendwie in die Rückenlehne des Stuhles eingehakt, den Daumen fest in der Westentasche, den Kopf möglichst weit von mir weg zurückgelehnt, das Kinn auf der Brust, prüfte mich und fand mich nicht geeignet: »Du bist«, sagte er kopfschüttelnd, »zu schwach, um Pakete zu tragen und ich brauche nur einen Jungen, der schwere Pakete tragen kann.« »Ich werde mich anstrengen«, sagte ich, »auch werde ich ja noch stärker werden.« – Endlich wurde ich, eigentlich nur aus Mitleid, in einem Eisengeschäft aufgenommen. Es war ein düsteres kleines Hofgeschäft und ich hatte Lasten zu tragen, die für meine Kräfte viel zu schwer waren, aber doch war ich sehr zufrieden, eine Stelle zu haben.

»Der große Schwimmer! Der große Schwimmer!« riefen die Leute. Ich kam von der Olympiade in Antwerpen, wo ich einen Weltrekord im Schwimmen erkämpft hatte. Ich stand auf der Freitreppe des Bahnhofes meiner Heimatstadt – wo ist sie? – und blickte auf die in der Abenddämmerung undeutliche Menge. Ein Mädchen, dem ich flüchtig über die Wange strich, hängte mir flink eine Schärpe um, auf der in einer fremden Sprache stand; Dem olympischen Sieger. Ein Automobil fuhr vor, einige Herren drängten mich hinein, zwei Herren fuhren auch mit, der Bürgermeister und noch jemand. Gleich waren wir in einem Festsaal, von der Galerie herab sang ein Chor als ich eintrat, alle Gäste, es waren Hunderte, erhoben sich und riefen im Takt einen Sprach, den ich nicht genau verstand. Links von mir saß ein Minister, ich weiß nicht, warum mich das Wort bei der Vorstellung so erschreckte, ich maß ihn wild mit den Blicken, besann mich aber bald, rechts saß die Frau des Bürgermeisters, eine üppige Dame, alles an ihr, besonders in der Höhe der Brüste, erschien mir voll Rosen und Straußfedern. Mir gegenüber saß ein dicker Mann mit auffallend weißem Gesicht, seinen Namen hatte ich bei der Vorstellung überhört, er hatte die Ellbogen auf den Tisch gelegt – es war ihm besonders viel Platz gemacht worden – sah vor sich hin und schwieg, rechts und links von ihm saßen zwei schöne blonde Mädchen, lustig waren sie, immerfort hatten sie etwas zu erzählen und ich sah von einer zur andern. Weiterhin konnte ich trotz der reichen Beleuchtung die Gäste nicht scharf erkennen, vielleicht weil alles in Bewegung war, die Diener umherliefen, die Speisen gereicht, die Gläser gehoben wurden, vielleicht war alles sogar allzusehr beleuchtet. Auch war eine gewisse Unordnung – die einzige übrigens – die darin bestand, daß einige Gäste, besonders Damen, mit dem Rücken zum Tisch gekehrt saßen, und zwar so, daß nicht etwa die Rückenlehne des Sessels dazwischen war, sondern der Rücken den Tisch fast berührte. Ich machte die Mädchen mir gegenüber darauf aufmerksam, aber während sie sonst so gesprächig waren, sagten sie diesmal nichts, sondern lächelten mich nur mit langen Blicken an. Auf ein Glockenzeichen – die Diener erstarrten zwischen den Sitzreihen – erhob sich der Dicke gegenüber und hielt eine Rede. Warum nur der Mann so traurig war! Während der Rede betupfte er mit dem Taschentuch das Gesicht; das wäre ja hingegangen; bei seiner Dicke, der Hitze im Saal, der Anstrengung des Redens wäre das verständlich gewesen, aber ich merkte deutlich, daß das Ganze nur eine List war, die verbergen sollte, daß er sich die Tränen aus den Augen wischte. Dabei blickte er immerfort mich an, aber so als sähe er nicht mich, sondern mein offenes Grab. Nachdem er geendet hatte, stand natürlich ich auf und hielt auch eine Rede. Es drängte mich geradezu zu sprechen, denn manches schien mir hier und wahrscheinlich auch anderswo der öffentlichen und offenen Aufklärung bedürftig, darum begann ich:

Geehrte Festgäste! Ich habe zugegebenermaßen einen Weltrekord, wenn Sie mich aber fragen würden, wie ich ihn erreicht habe, könnte ich Ihnen nicht befriedigend antworten. Eigentlich kann ich nämlich gar nicht schwimmen. Seit jeher wollte ich es lernen, aber es hat sich keine Gelegenheit dazu gefunden. Wie kam es nun aber, daß ich von meinem Vaterland zur Olympiade geschickt wurde? Das ist eben auch die Frage, die mich beschäftigt. Zunächst muß ich feststellen, daß ich hier nicht in meinem Vaterland bin und trotz großer Anstrengung kein Wort von dem verstehe, was hier gesprochen wird. Das Naheliegendste wäre nun, an eine Verwechslung zu glauben, es liegt aber keine Verwechslung vor, ich habe den Rekord, bin in meine Heimat gefahren, heiße so wie Sie mich nennen, bis dahin stimmt alles, von da ab aber stimmt nichts mehr, ich bin nicht in meiner Heimat, ich kenne und verstehe Sie nicht. Nun aber noch etwas, was nicht genau, aber doch irgendwie der Möglichkeit einer Verwechslung widerspricht: es stört mich nicht sehr, daß ich Sie nicht verstehe, und auch Sie scheint es nicht sehr zu stören, daß Sie mich nicht verstehen. Von der Rede meines geehrten Herrn Vorredners glaube ich nur zu wissen, daß sie trostlos traurig war, aber dieses Wissen genügt mir nicht nur, es ist mir sogar noch zuviel. Und ähnlich verhält es sich mit allen Gesprächen, die ich seit meiner Ankunft hier geführt habe. Doch kehren wir zu meinem Weltrekord zurück.

Eine teilweise Erzählung. Vor dem Eingang des Hauses stehn zwei Männer, sie scheinen ganz willkürlich angezogen, das meiste, was sie anhaben, sind Lumpen, schmutzig, zerrissen, in Fransen, aber einzelnes ist wieder sehr gut erhalten, der eine hat einen neuen hohen Kragen mit seidener Krawatte, der andere eine feine Nankinghose, breit geschnitten, nach unten schmäler, über den Stiefeln zart umgekrempelt. Sie unterhalten sich und verstellen die Tür. Es kommt ein Mann, scheinbar ein Landgeistlicher in mittlern Jahren, groß, fest, starkhalsig, gerade hin und her schwankend auf seinen steifen Beinen. Er will eintreten, es ist eine dringende Angelegenheit, wegen der er kommt. Aber die zwei bewachen den Eingang, der eine zieht aus seiner Hose eine Uhr an langer Goldkette – es scheinen einige aneinander befestigte Ketten zu sein – es ist noch nicht neun Uhr, vor zehn darf aber niemand eingelassen werden. Dem Geistlichen ist das sehr ungelegen, aber die zwei Männer unterhalten sich schon wieder weiter. Der Geistliche sieht sie ein Weilchen an, scheint die Nutzlosigkeit weitern Bittens zu erkennen, geht auch schon ein paar Schritte weiter, da bekommt er einen Einfall und kehrt wieder zurück. Ob die Herren denn eigentlich wüßten, zu wem er gehen wolle? Zu seiner Schwester Rebekka Zoufal, einer alten Dame, die mit ihrer Bedienerin im zweiten Stock wohnt. Das hatten die Wächter allerdings nicht gewußt, jetzt haben sie nichts mehr dagegen, daß der Geistliche eintritt, sie machen sogar eine Art förmlicher Verbeugung, als er zwischen ihnen durchgeht. Als der Geistliche im Flur ist, muß er unwillkürlich lächeln, daß es so leicht war, die zwei zu überlisten. Flüchtig blickt er noch einmal zurück, zu seinem Staunen sieht er, daß die Wächter eben Arm in Arm fortgehn. Sollten sie nur seinetwegen dagestanden haben? Es wäre, soweit der Überblick des Geistlichen reicht, nicht ausgeschlossen. Er dreht sich völlig um, die Straße ist ein wenig belebter geworden, oft blickt einer der Passanten in den Flur herein, geradezu aufreizend scheint es dem Geistlichen, wie weit die Haustür mit ihren beiden Flügeln offensteht, es liegt eine Gespanntheit in diesem Offenstehn, als nehme die Tür damit einen Anlauf zu einem wütenden endgültigen Zuklappen. Da hört er seinen Namen rufen. »Arnold«, ruft es durch das Treppenhaus, eine dünne, sich überanstrengende Stimme, und gleich darauf klopft ihm ein Finger leicht auf den Rücken. Eine alte gebückte Frau steht da, ganz eingehüllt in ein dunkelgrünes, großmaschiges Gewebe und blickt ihn förmlich nicht mit den Augen, sondern mit einem langen schmalen Zahn an, der öde vereinzelt in ihrem Munde steht.

Weg davon, weg davon, wir ritten durch die Nacht. Sie war dunkel, mond- und sternlos und noch dunkler als sonst mond- und sternlose Nächte sind. Wir hatten einen wichtigen Auftrag, den unser Führer in einem versiegelten Brief bei sich trug. Aus Sorge, wir könnten den Führer verlieren, ritt hie und da einer von uns vor und tastete nach dem Führer, ob er noch da sei. Einmal, gerade als ich nachsah, war der Führer nicht mehr da. Wir erschraken nicht allzusehr, wir hatten es ja die ganze Zeit über gefürchtet. Wir beschlossen, zurückzureiten.

Die Stadt gleicht der Sonne, in einem mildern Kreis ist alles Licht dicht gesammelt, es blendet, man verliert sich, man findet die Straßen, die Häuser nicht, man kommt, wenn man einmal eingetreten ist, förmlich nicht mehr hervor; in einem weitern viel größeren Kreisring ist noch immer eng, aber nicht mehr ununterbrochen ausgestrahltes Licht, es gibt dunkle Gäßchen, versteckte Durchhäuser, sogar ganz kleine Plätze, die in Dämmerung und Kühle liegen; dann ein noch größerer Kreisring, hier ist das Licht schon so zerstreut, daß man es suchen muß, große Stadtflächen stehen hier nur in kaltem grauem Schein, und dann endlich schließt sich das offene Land an, mattfarbig, spätherbstlich, kahl, kaum einmal durchzuckt von einer Art Wetterleuchten. In dieser Stadt ist fortwährend früher, noch kaum beginnender Morgen, der Himmel ein ebenmäßiges, kaum sich lichtendes Grau, die Straßen leer, rein und still, irgendwo bewegt sich langsam ein Fensterflügel, der nicht befestigt worden ist, irgendwo wehn die Enden eines Tuches, das über ein Balkongeländer in einem letzten Stockwerk gebreitet ist, irgendwo flattert leicht ein Vorhang in einem offenen Fenster, sonst gibt es keine Bewegung.

Dem berühmten Dresseur Burson wurde einmal ein Tiger vorgeführt; er sollte sich über die Dressurfähigkeit des Tieres äußern. In den Dressurkäfig, der die Ausmaße eines Saals hatte – er stand in einem großen Barackenhain weit vor der Stadt – wurde der kleine Käfig mit dem Tiger geschoben. Die Wärter entfernten sich, Burson wollte bei jeder ersten Begegnung mit einem Tier völlig allein sein. Der Tiger lag still, er war eben reichlich gefüttert worden. Ein wenig gähnte er, sah müde die neue Umgebung an und schlief gleich ein.

Es heißt in einer unserer alten Schriften:

Diejenigen, welche das Leben verfluchen und deshalb das Nichtgeborenwerden oder das Überwinden des Lebens für das größte oder für das einzige täuschungslose Glück halten, müssen recht haben, denn das Urteil über das Leben ...

Aus der alten Geschichte unseres Volkes werden schreckliche Strafen berichtet. Damit ist allerdings nichts zur Verteidigung des gegenwärtigen Strafsystems gesagt.

Ein Mann bezweifelte die göttliche Abstammung des Kaisers, er behauptete, der Kaiser sei mit Recht unser oberster Herr, bezweifelte nicht die göttliche Sendung des Kaisers, die war ihm sichtbar, nur die göttliche Abstammung bezweifelte er. Viel Aufsehen machte das natürlich nicht; wenn die Brandung einen Wassertropfen ans Land wirft, stört das nicht den ewigen Wellengang des Meeres, es ist vielmehr von ihm bedingt.

Vor einen Richter der kaiserlichen Stadt wurde ein Mann gebracht, der die göttliche Abstammung des Kaisers leugnete. Er war aus seiner Heimat wochenlang von Soldaten transportiert worden, konnte vor Müdigkeit kaum sitzen, war hohlwangig und ...

Man schämt sich zu sagen, womit der kaiserliche Oberst unser Bergstädtchen beherrscht. Seine wenigen Soldaten wären, wenn wir wollten, gleich entwaffnet, Hilfe für ihn käme, selbst wenn er sie rufen könnte – aber wie könnte er das? – tage- ja wochenlang nicht. Er ist also völlig auf unsern Gehorsam angewiesen, sucht ihn aber weder durch Tyrannei zu erzwingen, noch durch Herzlichkeit zu erschmeicheln. Warum dulden wir also seine verhaßte Regierung? Es ist zweifellos: nur seines Blickes wegen. Wenn man in sein Arbeitszimmer kommt, vor einem Jahrhundert war es der Beratungssaal unserer Ältesten, sitzt er in Uniform an dem Schreibtisch, die Feder in der Hand. Förmlichkeiten oder gar Komödiespielen liebt er nicht, er schreibt also nicht etwa weiter und läßt den Besucher warten, sondern unterbricht die Arbeit sofort und lehnt sich zurück, die Feder allerdings behält er in der Hand. Nun sieht er zurückgelehnt, die Linke in der Hosentasche, den Besucher an. Der Bittsteller hat den Eindruck, daß der Oberst mehr sieht als nur ihn, den für ein Weilchen aus der Menge aufgetauchten Unbekannten, denn warum würde ihn denn der Oberst so genau und lange und stumm ansehen. Es ist auch kein scharfer prüfender, sich einbohrender Blick, wie man ihn vielleicht auf einen Einzelnen richten kann, sondern es ist ein nachlässiger, schweifender, allerdings aber unablässiger Blick, ein Blick, mit dem man etwa die Bewegungen einer Menschenmenge in der Ferne beobachten würde. Und dieser lange Blick ist ununterbrochen begleitet von einem unbestimmten Lächeln, das bald Ironie, bald träumendes Erinnern zu sein scheint.

Ein Umschwung. Lauernd, ängstlich, hoffend umschleicht die Antwort die Frage, sucht verzweifelt in ihrem unzugänglichen Gesicht, folgt ihr auf den sinnlosesten (das heißt von der Antwort möglichst wegstrebenden) Wegen.

Ein Abend im Herbst, klar und kühl. Irgend jemand, undeutlich in Bewegungen, Kleidung und Umriß, tritt aus dem Haus und will gleich rechts abbiegen. Die Hausmeisterin in einem alten weiten Damenmantel steht an eine Säule des Tores gelehnt und flüstert ihm etwas zu. Er überlegt einen Augenblick, schüttelt dann aber den Kopf und geht. Beim Überschreiten der Fahrbahn kommt er aus Unachtsamkeit der Elektrischen in den Weg und sie durchfährt ihn. Im Schmerz zieht er sein Gesicht klein zusammen und spannt alle Muskeln so, daß er, nachdem die Elektrische vorüber ist, die Spannung kaum wieder lösen kann. Er steht noch ein Weilchen still und sieht, wie bei der nächsten Haltestelle ein Mädchen aussteigt, mit der Hand zurückwinkt, ein paar Schritte zurückzulaufen beginnt, stockt und wieder in die Elektrische einsteigt. Als er an einer Kirche vorübergeht, steht oben an einer Freitreppe ein Geistlicher, streckt ihm die Hand entgegen und beugt sich so weit vor, daß fast die Gefahr des Nach-vornüber-Fallens besteht. Er aber erfaßt die Hand nicht, er ist ein Gegner der Missionare, auch ärgern ihn die Kinder, die sich auf der Treppe wie auf einem Spielplatz herumtreiben und unanständige Redensarten einander zurufen, die sie natürlich nicht verstehen können und an denen sie nur saugen, da sie nichts Besseres haben – er knöpft seinen Rock hoch zu und geht weiter.

Auf der Freitreppe der Kirche treiben sich die Kinder herum wie auf einem Spielplatz und rufen einander unanständige Redensarten zu, die sie natürlich nicht verstehen können und an denen sie nur saugen, wie Säuglinge am Lutscher. Der Geistliche kommt heraus, streicht hinten die Kutte glatt und setzt sich auf eine Stufe. Es liegt ihm daran, die Kinder zu beruhigen, denn ihr Geschrei ist auch in der Kirche zu hören. Es gelingt ihm aber nur hie und da, ein Kind an sich zu ziehn, die Menge entweicht ihm immer wieder und spielt weiter unbekümmert um ihn. Den Sinn dieses Spieles kann er nicht erkennen, auch nicht den entferntesten kindlichen Sinn sieht er. Wie Spielbälle, die man gegen den Boden schlägt, so hüpfen sie unermüdlich und scheinbar ohne Anstrengung auf allen Stufen und haben keine Verbindung miteinander als jene Zurufe, es ist einschläfernd. Wie aus beginnendem Schlaf greift der Geistliche nach dem nächsten Kind, einem kleinen Mädchen, knöpft ihr vom oben das Kleidchen ein wenig auf – sie schlägt ihm dafür im Scherz leicht auf die Wange – erblickt dort irgendein Zeichen, das er nicht erwartet oder vielleicht sogar erwartet hat, ruft Ah!, stößt das Kind fort, ruft Pfui und spuckt aus und macht ein großes Kreuz in die Luft und will eilig in die Kirche zurück. Da trifft er in der Tür mit einer zigeunerartigen jungen Frau zusammen, sie ist bloßfüßig, hat einen weißgemusterten roten Rock, eine weiße, hemdartige, vom nachlässig offene Bluse und wild verschlungene braune Haare. »Wer bist du?« ruft er, in der Stimme noch die Erregung wegen der Kinder. »Deine Frau Emilie«, sagt sie leise und legt sich langsam an seine Brust. Er schweigt und horcht auf ihren Herzschlag.

Es war ein gewöhnlicher Tag; er zeigte mir die Zähne; auch ich war von Zähnen gehalten und konnte mich ihnen nicht entwinden; ich wußte nicht, wodurch sie mich hielten, denn sie waren nicht zusammengebissen; ich sah sie auch nicht in den zwei Reihen des Gebisses, sondern nur hier einige, dort einige. Ich wollte mich an ihnen festhalten und mich über sie hinwegschwingen, aber es gelang mir nicht.

Du bist zu spät gekommen, eben war er hier, im Herbst bleibt er nicht lange auf einem Platz, es lockt ihn auf die dunklen unumgrenzten Felder hinaus, er hat etwas von Krähenart. Willst du ihn sehn, fliege zu den Feldern, dort ist er gewiß.

Du sagst, daß ich noch weiter hinuntergehen soll, aber ich bin doch schon sehr tief, aber, wenn es so sein muß, will ich hier bleiben. Was für ein Raum! Es ist wahrscheinlich schon der tiefste Ort. Aber ich will hier bleiben, nur zum weiteren Hinabsteigen zwinge mich nicht.

Ich war der Figur gegenüber wehrlos, ruhig saß sie beim Tisch und blickte auf die Tischplatte. Ich ging im Kreis um sie herum und fühlte mich von ihr gewürgt. Um mich ging ein dritter herum und fühlte sich von mir gewürgt. Um den dritten ging ein vierter herum und fühlte sich von ihm gewürgt. Und so setzte es sich fort bis zu den Bewegungen der Gestirne und darüber hinaus. Alles fühlt den Griff am Hals.

In welcher Gegend ist es? Ich kenne sie nicht. Alles entspricht dort einander, sanft geht alles ineinander über. Ich weiß, daß diese Gegend irgendwo ist, ich sehe sie sogar, aber ich weiß nicht, wo sie ist, und ich kann mich ihr nicht nähern.

Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächern bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt.

Es war ein kleiner Teich, dort tranken wir, Bauch und Brust an der Erde, die Vorderbeine müde vor Trinkseligkeit ins Wasser getaucht. Wir mußten aber bald zurück, der Besonnenste riß sich los und rief: »Zurück, Brüder!« Dann liefen wir zurück. »Wo wart ihr?« wurden wir gefragt. »Im Wäldchen.« »Nein, ihr wart beim Teich.« »Nein, wir waren nicht dort.« »Ihr trieft ja noch von Wasser, ihr Lügner!«

Und die Peitschen begannen zu spielen. Wir liefen durch die langen mondscheinerfüllten Korridore, hie und da wurde einer getroffen und sprang hoch vor Schmerz. In der Ahnengalerie war die Jagd zu Ende, die Tür wurde zugeschlagen, man ließ uns allein. Wir waren noch alle durstig, wir leckten einander gegenseitig das Wasser von Fell und Gesicht, manchmal bekam man statt Wasser Blut auf die Zunge, das war von den Peitschenhieben.

Nur ein Wort. Nur eine Bitte. Nur ein Bewegen der Luft. Nur ein Beweis, daß du noch lebst und wartest. Nein, keine Bitte, nur ein Atmen, kein Atmen, nur ein Bereitsein, kein Bereitsein, nur ein Gedanke, kein Gedanke, nur ruhiger Schlaf.

Im alten Beichtstuhl. Ich weiß, wie er trösten wird, ich weiß, was er gestehen wird. Das sind kleine Dinge, Handelsgeschäfte im Winkel, der tägliche Lärm vom Morgen zum Abend.

Ich suchte meinen Besitz zusammen. Es war sehr wenig, aber es waren genau umrissene feste, jeden sofort überzeugende Dinge. Es waren sechs bis sieben Stücke, ich sage sechs bis sieben, weil sechs davon zweifellos nur mir gehörten, das siebente aber auch einem Freund gehört hatte, der allerdings vor vielen Jahren unsere Stadt verlassen hatte und seitdem verschollen war. So konnte man also wohl sagen, daß auch dieses siebente Stück mir gehörte. Trotzdem diese Stücke recht einzigartig waren, hatten sie keinen großen Wert.

Die Klage ist sinnlos (wem klagt er?), der Jubel ist lächerlich (das Kaleidoskop im Fenster). Offenbar will er doch nur Vorbeter sein, aber dann ist das Jüdische unanständig, dann genügt doch für die Klage, wenn er sein Leben lang wiederholt »Ich-Hund, ich-Hund und so fort« und wir alle werden ihn verstehn, für das Glück aber genügt das Schweigen nicht nur, sondern es ist das einzig Mögliche.

»Es ist keine öde Mauer, es ist zur Mauer zusammengepreßtes süßestes Leben, Rosinentrauben an Rosinentrauben.« »Ich glaube es nicht.« »Koste davon.« »Ich kann vor Nichtglauben die Hand nicht heben.« »Ich werde dir die Traube zum Mund reichen.« »Ich kann sie vor Nichtglauben nicht schmecken.« »Dann versinke!« »Sagte ich nicht, daß man vor der Öde dieser Mauer versinken muß?«

Ich kann schwimmen wie die andern, nur habe ich ein besseres Gedächtnis als die andern, ich habe das einstige Nicht-schwimmen-können nicht vergessen. Da ich es aber nicht vergessen habe, hilft mir das Schwimmenkönnen nichts und ich kann doch nicht schwimmen.

Noch ein kleiner Schmuck auf dieses Grab. Es sei schon genug geschmückt? Ja, aber da mir die Dinge so leicht von der Hand gehn, ...

Es ist das Tier mit dem großen Schweif, einem viele Meter langen, fuchsartigen Schweif. Gern bekäme ich den Schweif einmal in die Hand, aber es ist unmöglich, immerfort ist das Tier in Bewegung, immerfort wird der Schweif herumgeworfen. Das Tier ist känguruhartig, aber uncharakteristisch im fast menschlich flachen, kleinen, ovalen Gesicht, nur seine Zähne haben Ausdruckskraft, ob es sie nun verbirgt oder fletscht. Manchmal habe ich das Gefühl, daß mich das Tier dressieren will; was hätte es sonst für einen Zweck, mir den Schwanz zu entziehn, wenn ich nach ihm greife, dann wieder ruhig zu warten, bis es mich wieder verlockt, und dann von neuem weiterzuspringen.

In Voraussicht des Kommenden hatte ich mich in eine Zimmerecke geduckt und das Kanapee quer geschoben. Kam jetzt jemand herein, mußte er mich eigentlich für närrisch halten, aber der, welcher kam, tat es doch nicht. Aus seinem hohen Schaftstiefel zog er eine Hundepeitsche, schwang sie im Kreis um sich, hob und senkte sich auf den breit auseinander stehenden Beinen und rief: »Heraus aus dem Winkel! Wie lange noch?«

Es trieb sich ein Leichenwagen im Land herum, er hatte eine Leiche aufgeladen, lieferte sie aber auf dem Friedhof nicht ab, der Kutscher war betrunken und glaubte, er führe einen Kutschwagen, aber auch wohin er mit diesem fahren sollte, hatte er vergessen. So fuhr er durch die Dörfer, hielt vor den Wirtshäusern und hoffte, wenn ihm hie und da die Sorge nach dem Reiseziel aus der Trunkenheit aufblitzte, von guten Leuten einmal alles Nötige zu erfahren. So hielt er einmal vor dem ›Goldenen Hahn‹ und ließ sich einen Schweinebraten ...

Ich sehe in der Ferne eine Stadt, ist es die, welche du meinst? Es ist möglich, doch verstehe ich nicht, wie du dort eine Stadt erkennen kannst, ich sehe dort etwas erst, seitdem du mich darauf aufmerksam gemacht hast, und auch nicht mehr als einige undeutliche Umrisse im Nebel.

O ja, ich sehe es, es ist ein Berg mit einer Burg oben und dorfartiger Besiedelung auf den Abhängen.

Dann ist es jene Stadt, du hast recht, sie ist eigentlich ein großes Dorf.

Immer wieder verirre ich mich, es ist ein Waldweg, aber deutlich erkennbar, nur über ihn führt die Aussicht auf einen Himmelsstreifen, überall sonst ist der Wald dicht und dunkel. Und doch das fortwährende verzweifelte Verirren und außerdem: mache ich einen Schritt vom Weg, bin ich gleich tausend Schritt im Wald, verlassen, daß ich umfallen möchte und liegenbleiben für immer.

»Immerfort sprichst du vom Tod und stirbst doch nicht.« »Und doch werde ich sterben. Ich sage eben meinen Schlußgesang. Des einen Gesang ist länger, des andern Gesang ist kürzer. Der Unterschied kann aber immer nur wenige Worte ausmachen.«

Ein Wächter! Ein Wächter! Was bewachst du? Wer hat dich angestellt? Nur um eines, um den Ekel vor dir selbst bist du reicher als die Mauerassel, die unter dem alten Stein liegt und wacht.

Erreiche es nur, dich der Mauerassel verständlich zu machen. Hast du ihr einmal die Frage nach dem Zweck ihres Arbeitens beigebracht, hast du das Volk der Asseln ausgerottet.

Das Leben ist eine fortwährende Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung darüber kommen läßt, wovon sie ablenkt.

Daß noch der Konservativste die Radikalität des Sterbens aufbringt!

Die Unersättlichen sind manche Asketen, sie machen Hungerstreike auf allen Gebieten des Lebens und wollen dadurch gleichzeitig folgendes erreichen:

  1. eine Stimme soll sagen: Genug, du hast genug gefastet, jetzt darfst du essen wie die andern und es wird nicht als Essen angerechnet werden.
  2. die gleiche Stimme soll gleichzeitig sagen: Jetzt hast du so lange unter Zwang gefastet, von jetzt an wirst du mit Freude fasten, es wird süßer als Speise sein (gleichzeitig aber wirst du auch wirklich essen),
  3. die gleiche Stimme soll gleichzeitig sagen: Du hast die Welt besiegt, ich enthebe dich ihrer, des Essens und des Fastens (gleichzeitig aber wirst du sowohl fasten als essen).

Zudem kommt noch eine seit jeher zu ihnen redende unablässige Stimme: Du fastest zwar nicht vollständig, aber du hast den guten Willen und der genügt.

Du sagst, daß du es nicht verstehst. Such es zu verstehn, indem du es Krankheit nennst. Es ist eine der vielen Krankheitserscheinungen, welche die Psychoanalyse aufgedeckt zu haben glaubt. Ich nenne es nicht Krankheit und sehe in dem therapeutischen Teil der Psychoanalyse einen hilflosen Irrtum. Alle diese angeblichen Krankheiten, so traurig sie auch aussehn, sind Glaubenstatsachen, Verankerungen des in Not befindlichen Menschen in irgendwelchem mütterlichen Boden; so findet ja auch die Psychoanalyse als Urgrund der Religionen auch nichts anderes als was die ›Krankheiten‹ des Einzelnen begründet, allerdings fehlt heute die religiöse Gemeinschaft, die Sekten sind zahllos und meist auf Einzelpersonen beschränkt, aber vielleicht zeigt sich das so nur dem von der Gegenwart befangenen Blick. Solche Verankerungen, die wirklichen Boden fassen, sind aber doch nicht ein einzelner Besitz des Menschen, sondern in seinem Wesen vorgebildet und nachträglich sein Wesen (auch seinen Körper) noch weiter in dieser Richtung umbildend. Hier will man heilen?

In meinem Fall kann man sich drei Kreise denken, einen innersten A, dann B, dann C. Der Kern A erklärt dem B, warum dieser Mensch sich quälen und sich mißtrauen muß, warum er verzichten muß, warum er nicht leben darf. (War nicht zum Beispiel Diogenes in diesem Sinne schwerkrank? Wer von uns wäre nicht glücklich unter dem strahlenden Blick Alexanders gewesen? Diogenes aber bat ihn verzweifelt, die Sonne freizugeben. Dieses Faß war von Gespenstern voll.) C, dem handelnden Menschen, wird nicht mehr erklärt, ihm befiehlt bloß schrecklich B; C handelt unter strengstem Druck, aber mehr in Angst, als in Verständnis, er vertraut, er glaubt, daß A dem B alles erklärt und B alles richtig verstanden hat.

Ich saß an einem Tischchen vor der Tür einer Matrosenschenke, ein paar Schritte vor mir lag der kleine Hafen, es war schon gegen Abend. Ein schwerfälliges Fischerboot fuhr nahe vorüber, in dem einzigen Kajütenfenster war Lichtschein, auf Deck arbeitete ein Mann am Segelwerk, hielt dann inne und sah nach mir hin.

»Kannst du mich mitnehmen?« schrie ich. Er nickte deutlich. Ich war schon aufgesprungen, daß das Tischchen schaukelte und die Kaffeetasse hinabfiel und zerbrach, noch einmal fragte ich: »Antworte! Kannst du mich mitnehmen?« »Ja«, sagte er langhingezogen mit erhobenem Kopf.

»Leg an!« rief ich, »ich bin bereit.« »Soll ich dir deinen Koffer bringen?« fragte der Wirt, der herangetreten war. »Nein«, sagte ich, Abscheu ergriff mich, ich sah den Wirt an, als hätte er mich beleidigt. »Du willst mir doch nicht meinen Koffer bringen« ...

»Warum habt ihr noch nicht maschinellen Betrieb eingeführt«, fragte ich. »Die Arbeit ist zu fein dafür«, sagte der Aufseher. Er saß an einem Tischchen im Winkel des großen scheunenartigen Holzbaues; an einem aus dunkler Höhe kommenden Draht hing ganz nahe über dem Tisch, so daß der Aufseher fast mit dem Kopf an sie stieß, eine Glühlampe mit scharfem Licht. Auf dem Tisch lagen Lohnlisten, die der Aufseher durchrechnete.

»Ich störe Sie wohl«, sagte ich. »Nein«, sagte der Aufseher zerstreut, »ich habe aber noch Arbeit hier, wie Sie sehn.« »Warum hat man mich dann hergerufen«, sagte ich. »Was soll ich hier, mitten im Wald? « » Sparen Sie die Fragen«, sagte der Aufseher, der kaum zugehört hatte; dann merkte er aber die Unhöflichkeit, sah zu mir auf, lachte und sagte: »Das ist bei uns nämlich die gebräuchliche Redensart. Wir werden hier mit Fragen überlaufen. Aber arbeiten und Fragen beantworten kann man nicht gleichzeitig. Wer zu sehn versteht, muß nicht fragen. Übrigens werden Sie, wenn Sie sich für Technik interessieren, genug Unterhaltung haben. Horaz!« rief er dann in den dunklen Raum hinein, aus dem nur das Quietschen von ein oder zwei Sägen zu hören war.

Ein junger Mann trat hervor, ein wenig widerwillig wie mir schien. »Dieser Herr«, sagte der Aufseher und zeigte mit dem Federhalter auf mich, »bleibt über Nacht bei uns. Er will sich morgen den Betrieb ansehn. Gib ihm zu essen und führe ihn dann zu seinem Schlaflager. Hast du mich verstanden?« Horaz nickte, er war wohl etwas schwerhörig, wenigstens hielt er den Kopf zum Aufseher hinabgebeugt.

»Niemals ziehst du das Wasser aus der Tiefe dieses Brunnens.«

»Was für Wasser? Was für Brunnen?«

»Wer fragt denn?«

Stille.

»Was für eine Stille?«

Meine Sehnsucht waren die alten Zeiten,
meine Sehnsucht war die Gegenwart,
Meine Sehnsucht war die Zukunft,
und mit alledem sterbe ich in einem Wächterhäuschen am Straßenrand,
einem aufrechten Sarg, seit jeher
einem Besitzstück des Staates.
Mein Leben habe ich damit verbracht,
mich zurückzuhalten, es zu zerschlagen.

Mein Leben habe ich damit verbracht, mich gegen die Lust zu wehren, es zu beenden.

Du mußt den Kopf durch die Wand stoßen. Sie zu durchstoßen ist nicht schwer, denn sie ist aus dünnem Papier. Schwer aber ist es, sich nicht dadurch täuschen zu lassen, daß es auf dem Papier schon äußerst täuschend aufgemalt ist, wie du die Wand durchstößt. Es verführt dich zu sagen: »Durchstoße ich sie nicht fortwährend?«

Ich kämpfe; niemand weiß es; mancher ahnt es, das ist nicht zu vermeiden; aber niemand weiß es. Ich erfülle meine täglichen Pflichten, ein wenig Zerstreutheit ist an mir auszusetzen, aber nicht viel. Natürlich kämpft jeder, aber ich kämpfe mehr als andere, die meisten kämpfen wie im Schlaf, so wie man im Traum die Hand bewegt, um eine Erscheinung zu vertreiben, ich aber bin vorgetreten und kämpfe unter überlegter sorgfaltigster Ausnützung aller meiner Kräfte. Warum bin ich vorgetreten aus der für sich zwar lärmenden, aber in dieser Hinsicht beängstigend stillen Menge? Warum habe ich die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt? Warum stehe ich jetzt auf der ersten Liste des Feindes? Ich weiß nicht. Ein anderes Leben schien mir nicht des Lebens wert. Soldatennaturen nennt die Kriegsgeschichte solche Menschen. Und doch ist es nicht so, ich hoffe nicht auf Sieg und mich freut nicht der Kampf als Kampf, mich freut es nur als das einzige, was zu tun ist. Als solcher freut er mich allerdings mehr als ich in Wirklichkeit genießen kann, mehr als ich verschenken kann, vielleicht werde ich nicht am Kampf, sondern an dieser Freude zugrunde gehn.

Es sind fremde Leute und doch meine eigenen. Freigelassen reden sie, in der Bewußtlosigkeit des Freigelassenen, ein wenig berauscht, keinen Augenblick haben sie Zeit für ein Wiedererkennen. Wie ein Herr mit einem Herrn, so reden sie miteinander, jeder setzt bei dem andern Freiheit und selbständiges Verfügungsrecht voraus. Im Grunde aber haben sie sich nicht verändert, die Meinungen sind die gleichen geblieben, ebenso die Bewegungen, der Blick. Etwas ist allerdings anders, aber ich kann den Unterschied nicht fassen, rede ich von Freigelassen-sein ist es nur ein Erklärungsversuch aus Not. Warum sollten sie sich denn freigelassen fühlen? Alle Kreise und Unterordnungen sind erhalten, die Spannung zwischen jedem Einzelnen und allen ist unverletzt, jeder ist auf seinem Platz und für den Kampf, der ihm zugeteilt wird, so bereit, daß er sogar von nichts anderem spricht als davon, und frage man ihn, was man wolle. Worin liegt also der Unterschied, ich umschnuppere sie wie ein Hund und kann den Unterschied nicht finden.

Feldarbeiter fanden, als sie abends nach Hause gingen, unten auf der Straßenböschung einen alten ganz zusammengesunkenen Mann. Er duselte mit halb offenen Augen. Er machte zuerst den Eindruck eines schwer Betrunkenen, er war aber nicht betrunken. Auch krank schien er nicht zu sein, auch nicht von Hunger geschwächt, auch von Wunden nicht müde, wenigstens schüttelte er zu allen solchen Fragen den Kopf. »Wer bist du denn?« fragte man ihn schließlich. »Ich bin ein großer General«, sagte er ohne aufzuschauen. »Ach so«, sagte man, »also das ist dein Leiden.« »Nein«, sagte er, »ich bin es wirklich.« »Natürlich«, sagte man, »wie solltest du es denn sonst sein.« »Lacht wie ihr es versteht«, sagte er, »ich werde euch nicht strafen.« »Aber wir lachen doch nicht«, sagte man, »sei was du willst, sei Obergeneral, wenn du willst.« »Bin ich auch«, sagte er, »ich bin Obergeneral.« »Nun siehst du, wie wir das erkannt haben. Aber das kümmert uns nicht, wir wollten dich nur darauf aufmerksam machen, daß es in der Nacht stark frieren wird und daß du deshalb von hier fortgehn sollst.«

»Ich kann nicht fortgehn und ich wüßte auch nicht, wohin ich gehn sollte.« »Warum kannst du denn nicht gehn?« »Ich kann nicht gehn, ich weiß nicht warum. Wenn ich gehn könnte, wäre ich ja im gleichen Augenblick wieder General inmitten meines Heeres.« »Sie haben dich wohl hinausgeworfen?« »Einen General? Nein, ich bin hinuntergefallen.« »Von wo denn?« »Vom Himmel.« »Von dort oben?« »Ja.« »Dort oben ist dein Heer?« »Nein. Aber ihr fragt zuviel. Geht fort und laßt mich.«

Konsolidierung. Wir waren fünf Angestellte im Geschäft, der Buchhalter, ein kurzsichtiger schwermütiger Mann, der über dem Hauptbuch ausgebreitet lag wie ein Frosch, still, nur von einem mühseligen Atem schwach gehoben und gesenkt, dann der Kommis, ein kleiner Mann mit breiter Turnerbrust, nur eine Hand brauchte er auf dem Pult aufzustützen und schwang sich hinüber leicht und schön, nur sein Gesicht war dabei ernst und blickte streng ringsum. Dann hatten wir ein Ladenmädchen, ein älteres Fräulein, schmal und zart, mit anliegendem Kleid, meist hielt sie den Kopf zur Seite geneigt und lächelte mit den dünnen Lippen ihres großen Mundes. Ich, der Lehrjunge, der nicht viel mehr zu tun hatte, als mit dem Staubtuch am Pult sich herumzudrücken, hatte oft Lust, die Hand unseres Fräuleins, eine lange schwache, eingetrocknete holzfarbige Hand, wenn sie nachlässig und selbstvergessen auf dem Pult lag, zu streicheln oder gar zu küssen oder – dies wäre das Höchste gewesen – das Gesicht dort, wo es so gut war, ruhn zu lassen und nur hie und da die Lage zu ändern, damit Gerechtigkeit sei und jede Wange diese Hand auskoste. Aber das geschah niemals, vielmehr streckte das Fräulein, wenn ich näher kam, eben diese Hand aus und wies mir eine neue Arbeit an, irgendwo in einem fernen Winkel oder oben auf der Leiter. Dieses letztere war besonders unangenehm, denn oben war es von den offenen Gasflammen, mit denen wir leuchteten, bedrückend heiß, auch war ich nicht schwindelfrei, mir war dort oft übel, ich steckte dort manchmal unter dem Vorwand besonders gründlicher Reinigung meinen Kopf in ein Regalfach und weinte ein kleines Weilchen oder ich hielt, wenn niemand hinaufsah, eine kurze stumme Ansprache an das Fräulein unten und machte ihr große Vorwürfe, ich wußte zwar, daß sie bei weitem nicht, weder hier noch anderswo, die entscheidende Macht hatte, aber ich glaubte irgendwie, sie könnte diese Macht haben, wenn sie wollte, und sie dann zu meinen Gunsten benützen. Aber sie wollte nicht, sie übte ja nicht einmal die Macht aus, die sie hatte. Sie war zum Beispiel die einzige des Personals, welcher der Geschäftsdiener ein wenig folgte, sonst war er der eigenwilligste Mensch, gewiß, er war der älteste im Geschäft, noch unter dem alten Chef hatte er gedient, so vieles hatte er hier mitgemacht, wovon wir andern keine Ahnung hatten, aber er zog aus alledem den falschen Schluß, daß er alles besser verstehe als die andern, daß er zum Beispiel nicht nur ebenso gut, sondern viel besser als der Buchhalter die Bücher führen könne, besser als der Kommis die Kundschaft bedienen könne und so fort, und daß er nur aus freiwilligem Entschluß die Geschäftsdienerstelle übernommen habe, weil sich für sie niemand sonst, nicht einmal ein Unfähiger, gefunden habe. Und so quälte er sich, der gar nicht sehr stark gewesen sein dürfte und jetzt schon nur ein Wrack war, seit vierzig Jahren mit dem Handkarren, den Kisten und Paketen. Er hatte es freiwillig übernommen, aber das hatte man vergessen, neue Zeiten waren gekommen, man erkannte ihn nicht mehr an, und während rings um ihn im Geschäft die ungeheuerlichsten Fehler gemacht wurden, mußte er, ohne daß man ihn eingreifen ließ, die Verzweiflung darüber hinunterwürgen und überdies an seine schwere Arbeit gefesselt bleiben.

Den Kopf hat er zur Seite geneigt, in dem dadurch freigelegten Hals ist eine Wunde, siedend in brennendem Blut und Fleisch, geschlagen durch einen Blitz, der noch andauert.

Im Bett, das Knie ein wenig gehoben, im Faltenwurf der Decke daliegend, riesig wie eine steinerne Figur zur Seite der Freitreppe eines öffentlichen Gebäudes, starr in der lebendig vorbeitreibenden Menge und doch mit ihr in einer fernen, in ihrer Feme kaum zu fassenden Beziehung.

In einem Land betet man nur zu einer einzigen Gruppe von Gottheiten, man nennt sie: die zusammengebissenen Zähne. Ich war gestern in ihrem Tempel. Ein Geistlicher empfing mich an der Freitreppe. Eine gewisse Weihe ist nötig, ehe man eintreten darf. Sie wird dadurch gegeben, daß der Geistliche dem Besucher, der den Kopf neigt, mit seinen harten Fingerspitzen kurz hinten am Hals hinabstreicht. Dann betritt man den Vorraum, er ist überfüllt mit Opfergeschenken. Der Vorhof und das Heiligtum ist allen zugänglich, der innerste Raum aber nur den Geistlichen und den Ungläubigen. »Du wirst nicht viel sehn«, sagt der Geistliche und lächelt, »aber du kannst mitkommen.«

Wie groß der Kreis des Lebens ist, kann man daraus erkennen, daß einerseits die Menschheit, soweit sie zurückdenken kann, von Reden überfließt und daß andererseits Reden nur dort möglich ist, wo man lügen will.

Geständnis und Lüge ist das Gleiche. Um gestehen zu können, lügt man. Das, was man ist, kann man nicht ausdrücken, denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das, was man nicht ist, also die Lüge. Erst im Chor mag eine gewisse Wahrheit liegen.

Es war eine Abendschule der Geschäfts-Lehrjungen, sie hatten einige kleine Rechenaufgaben bekommen, die sie jetzt schriftlich ausarbeiten mußten. Es war aber ein so großer Lärm in allen Bänken, daß niemand auch beim besten Willen rechnen konnte. Der stillste war der Lehrer oben auf dem Katheder, ein magerer junger Student, der krampfhaft irgendwie an der Überzeugung festhielt, daß die Schüler an ihrer Aufgabe arbeiteten und daß er deshalb mit seinen eigenen Studien sich beschäftigen dürfe, was er auch mit an die Ohren gepreßten Daumen tat. Da klopfte es, es war der Inspektor der Abendschulen. Die Jungen verstummten sofort, soweit das bei dem Losgelassensein aller ihrer Kräfte möglich war, der Lehrer legte das Klassenbuch über seine Hefte. Der Inspektor, noch ein junger Mann, nicht viel älter als der Student, sah mit müden, offenbar etwas kurzsichtigen Augen über die Klasse hin. Dann stieg er auf das Katheder, nahm das Klassenbuch, nicht um es zu öffnen, sondern um die Studienhefte des Lehrers bloßzulegen, winkte dann dem Lehrer, daß er sich setze und setzte sich halb neben ihn, halb ihm gegenüber auf den zweiten Sessel. Es ergab sich dann folgendes Gespräch, dem die ganze Klasse, die rückwärtigen Reihen waren aufgestanden, um besser zu sehn, aufmerksam zuhörte:

Inspektor: Hier wird also gar nichts gelernt. Den Lärm habe ich schon im untern Stockwerk gehört.

Lehrer: Es sind einige sehr unartige Jungen in der Klasse, die anderen aber arbeiten an einer Rechenaufgabe.

Inspektor: Nein, niemand arbeitet, es ist auch nicht anders möglich, wenn Sie hier oben sitzen und römisches Recht studieren.

Lehrer: Es ist wahr, ich habe die Zeit, während die Klasse schriftlich arbeitet, zum Studieren benützt, ich wollte mir die heutige Nachtarbeit ein wenig abkürzen, bei Tag habe ich keine Zeit zum Studieren.

Inspektor: Gut, das klingt ja ganz unschuldig, aber wir wollen näher zusehn. In welcher Schule sind wir hier? Lehrer: In der Abendschule für Lehrjungen der Kaufmannsgenossenschaft.

Inspektor: Ist es eine hohe Schule oder eine niedrige?

Lehrer: Eine niedrige.

Inspektor: Vielleicht eine der niedrigsten?

Lehrer: Ja, eine der niedrigsten.

Inspektor: Das ist richtig, es ist eine der niedrigsten. Sie ist niedriger als die Volksschulen, denn soweit der Lehrstoff nicht eine Wiederholung des Lehrstoffes der Volksschulen ist, also noch respektabel, handelt es sich um die winzigsten Anfangsgründe. Also wir alle, Schüler, Lehrer und ich, der Inspektor, arbeiten, oder vielmehr wir sollen unserer Pflicht gemäß an einer der niedrigsten Schulen arbeiten. Ist das vielleicht entehrend?

Lehrer: Nein, kein Lernen ist entehrend. Außerdem ist ja die Schule für die Jungen nur ein Durchgang.

Inspektor: Und für Sie?

Lehrer: Für mich eigentlich auch.

. . . . . . . . . . . . . . .

Es war keine Gefängniszelle, denn die vierte Wand war völlig frei. Die Vorstellung allerdings, daß auch diese Wand vermauert sein oder werden könnte, war entsetzlich, denn dann war ich bei dem Ausmaß des Raumes, der ein Meter tief war und nur wenig höher als ich, in einem aufrechten steinernen Sarg. Nur vorläufig war sie nicht vermauert, ich konnte die Hände frei hinausstrecken und, wenn ich mich an einer eisernen Klammer festhielt, die oben in der Decke stak, konnte ich auch den Kopf vorsichtig hinausbeugen, vorsichtig allerdings, denn ich wußte nicht, in welcher Höhe über dem Erdboden sich meine Zelle befand. Sie schien sehr hoch zu liegen, wenigstens sah ich in der Tiefe nichts als grauen Dunst, wie auch übrigens rechts und links und in der Ferne, nur nach der Höhe hin schien er sich ein wenig zu lichten. Es war eine Aussicht, wie man sie an einem trüben Tag auf einem Turm haben könnte.

Ich war müde und setzte mich vorn am Rand nieder, die Füße ließ ich hinunterbaumeln. Ärgerlich war es, daß ich ganz nackt war, sonst hätte ich Kleider und Wäsche aneinandergeknotet, oben an der Klammer befestigt und mich außen ein großes Stück unter meine Zelle hinablassen und vielleicht manches auskundschaften können. Andererseits war es gut, daß ich es nicht tun konnte, denn ich hätte es wohl in meiner Unruhe getan, aber es hätte sehr schlecht ausgehn können. Besser nichts haben und nichts tun. In der Zelle, die sonst ganz leer war und kahle Mauern hatte, waren hinten zwei Löcher im Boden. Das Loch in der einen Ecke schien für die Notdurft bestimmt, vor dem Loch in der anderen Ecke lag ein Stück Brot und ein zugeschraubtes kleines Holzfäßchen mit Wasser, dort also wurde mir die Nahrung hereingesteckt.

Ich habe keine ursprüngliche Abneigung oder gar Furcht vor Schlangen. Erst jetzt nachträglich stellt sich die Furcht ein. Das ist aber bei meiner Lage vielleicht selbstverständlich. Zunächst gibt es doch in der ganzen Stadt außer in Sammlungen oder einzelnen Geschäften gar keine Schlangen, mein Zimmer ist aber voll von ihnen. Es fing damit an, daß ich abends bei meinem Tisch saß und einen Brief schrieb. Ich habe kein Tintenfaß und benütze eine große Tintenflasche. Gerade wollte ich wieder eintauchen, da sehe ich, wie aus dem Flaschenhals der kleine zarte platte Kopf einer Schlange ragt. Ihr Körper hängt in die Flasche hinab und verschwindet unten in der stark bewegten Tinte. Das war doch sehr merkwürdig, aber ich hörte gleich auf es anzustarren, als mir einfiel, daß es vielleicht eine Giftschlange sein könnte, was sehr wahrscheinlich war, denn sie züngelte verdächtig und ein drohender dreifarbiger Stern ...

Es ist nicht so, daß du im Bergwerk verschüttet bist und die Massen des Gesteins dich schwachen Einzelnen von der Welt und ihrem Licht trennen, sondern du bist draußen und willst zu dem Verschütteten dringen und bist ohnmächtig gegenüber den Steinen, und die Welt und ihr Licht macht dich noch ohnmächtiger. Und jeden Augenblick erstickt der, den du retten willst, so daß du wie ein Toller arbeiten mußt, und niemals wird er ersticken, so daß du niemals mit der Arbeit wirst aufhören dürfen.

Es war eine kleine Gesellschaft auf der erhöhten Terrasse unter dem von Säulen getragenen Dach. Drei Stufen führten zum Garten hinab. Vollmond war und warme Juninacht. Alle waren sehr lustig, wir lachten über alles; wenn in der Ferne ein Hund bellte, lachten wir darüber.

»Sind wir auf dem richtigen Weg?« fragte ich unsern Führer, einen griechischen Juden. Er wandte mir im Licht der Fackel sein bleiches sanftes trauriges Gesicht zu. Ob wir auf dem richtigen Weg waren, schien ihm völlig gleichgültig. Wie kamen wir auch zu diesem Führer, der, statt uns hier durch die Katakomben von Rom zu führen, bisher nur schweigend mitging, wo wir gingen? Ich blieb stehn und wartete, bis unsere ganze Gesellschaft eng beisammen war. Ich fragte, ob niemand fehle; es wurde niemand vermißt. Ich mußte mich damit zufrieden geben, denn ich selbst kannte niemanden von ihnen; im Gedränge, Fremde, waren wir hinter dem Führer her in die Katakomben hinabgestiegen, erst jetzt suchte ich mit ihnen eine Art Bekanntschaft zu schließen.

Ich habe einen starken Hammer, aber ich kann ihn nicht benützen, denn sein Schaft glüht.

Viele umschleichen den Berg Sinai. Ihre Rede ist undeutlich, entweder sind sie redselig oder schreien sie oder sind sie verschlossen. Aber keiner von ihnen kommt geraden Weges herab auf einer breiten, neu entstandenen, glatten Straße, die ihrerseits die Schritte groß macht und beschleunigt.

Schreiben als Form des Gebetes.

Unterschied zwischen Zürau und Prag. Kämpfte ich damals nicht genug?

Kämpfte er nicht genug? Als er arbeitete, war er schon verloren; das wußte er, er sagte sich offen: wenn ich zu arbeiten aufhöre, bin ich verloren. War es also ein Fehler, daß er zu arbeiten anfing? Kaum.

Er glaubte eine Statue gemacht zu haben, aber er hatte nur immerfort in die gleiche Kerbe geschlagen aus Verbohrtheit, aber noch mehr aus Hilflosigkeit.

Die geistige Wüste. Die Leichen der Karawanen deiner früheren und deiner späteren Tage.

Nichts, nur Bild, nichts anderes, völlige Vergessenheit.

In der Karawanserei war niemals Schlaf, dort schlief niemand; aber wenn man dort nicht schlief, warum ging man hin? Um das Tragvieh ausruhn zu lassen. Es war nur ein kleiner Ort, eine winzige Oase, aber sie war ganz von der Karawanserei ausgefüllt und die war nun allerdings riesenhaft. Es war für einen Fremden, so schien es mir wenigstens, unmöglich, sich dort zurechtzufinden. Die Bauart verschuldete das auch. Man kam zum Beispiel in den ersten Hof, aus dem führten etwa zehn Meter voneinander entfernt zwei Rundbögen in einen zweiten Hof, man ging durch den einen Bogen und kam nun statt in einen neuen großen Hof, wie man erwartet hatte, auf einen kleinen finstern Platz zwischen himmelhohen Mauern, erst weit in der Höhe sah man beleuchtete Loggien. Nun glaubte man sich also geirrt zu haben und wollte in den ersten Hof zurückgehn, man ging aber zufällig nicht durch den Bogen zurück, durch den man gekommen war, sondern durch den zweiten nebenan. Aber nun war man doch nicht auf dem ersten Platz, sondern in einem andern viel größeren Hof voll Lärm, Musik und Viehgebrüll. Man hatte sich also geirrt, ging wieder auf den dunklen Platz zurück und durch den ersten Türbogen. Es half nichts, wieder war man auf dem zweiten Platz und man mußte durch einige Höfe sich durchfragen, ehe man wieder in den ersten Hof kam, den man doch eigentlich mit ein paar Schritten verlassen hatte. Unangenehm war nun, daß der erste Hof immer überfüllt war, dort konnte man kaum ein Unterkommen finden. Es sah fast so aus, als ob die Wohnungen im ersten Hof von ständigen Gästen besetzt seien, aber es konnte doch in Wirklichkeit nicht sein, denn hier wohnten nur Karawanen, wer hätte sonst in diesem Schmutz und Lärm leben wollen oder können, die kleine Oase gab ja nichts her als Wasser und war viele Meilen von größeren Oasen entfernt. Also ständig wohnen, leben wollen, konnte hier niemand, es wäre denn der Besitzer der Karawanserei und seine Angestellten, aber die habe ich, trotzdem ich einigemal dort gewesen bin, nie gesehn, auch nichts von ihnen gehört. Es wäre auch schwer vorzustellen gewesen, daß, wenn ein Besitzer vorhanden war, er solche Unordnung, ja Gewalttaten zugelassen hätte, wie sie dort üblich waren bei Tag und Nacht. Ich hatte vielmehr den Eindruck, daß die jeweilig stärkste Karawane dort herrschte und dann, nach der Stärke abgestuft, die andern. Allerdings alles wird dadurch nicht erklärt. Das große Eingangstor zum Beispiel war gewöhnlich fest verschlossen; es Karawanen zu öffnen, die kamen oder gingen, war immer eine geradezu feierliche Handlung, die man auf umständliche Weise erwirken mußte. Oft standen Karawanen draußen stundenlang im Sonnenbrand, ehe man sie einließ. Das war zwar offene Willkür, aber man kam ihr doch nicht auf den Grund. Man stand also draußen und hatte Zeit, die Umrahmung des alten Tores zu betrachten. Es waren rings um das Tor in zwei, drei Reihen Engel in Hochrelief, die Fanfaren bliesen; eines dieser Instrumente, gerade auf der Höhe der Torwölbung, ragte tief genug in die Toreinfahrt hinab. Die Tiere mußten immer vorsichtig herumgeführt werden, daß sie nicht daran schlugen, es war merkwürdig, insbesondere bei der Verfallenheit des ganzen Baus, daß diese allerdings schöne Arbeit gar nicht beschädigt war, nicht einmal von denen, die solange in ohnmächtigem Zorn vor dem Tor schon gewartet hatten. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß...

Das ist ein Leben zwischen Kulissen. Es ist hell, das ist ein Morgen im Freien, dann wird gleich dunkel und es ist schon Abend. Das ist kein komplizierter Betrug, aber man muß sich fügen, solange man auf den Brettern steht. Nur ausbrechen darf man, wenn man die Kraft hat, gegen den Hintergrund zu, die Leinwand durchschneiden und zwischen den Fetzen des gemalten Himmels durch, über einiges Gerumpel hinweg in die wirkliche enge dunkle feuchte Gasse sich flüchten, die zwar noch immer wegen der Nähe des Theaters Theatergasse heißt, aber wahr ist und alle Tiefen der Wahrheit hat.

»Auf diesem Stück gekrümmten Wurzelholzes willst du jetzt Flöte spielen?«

»Ich hätte nicht daran gedacht, nur weil du es erwartest, will ich es tun.«

»Ich erwarte es?«

»Ja, denn im Anblick meiner Hände sagst du dir, daß kein Holz widerstehen kann, nach meinem Willen zu tönen.«

»Du hast recht.«

In einer Zwischenströmung treibt ein Fisch und blickt ängstlich-freudig nach unten, wo es sich klein im tiefen Schlamme regt, und dann ängstlich-freudig nach oben, wo es sich groß in den hohen Gewässern bereit macht.

Am Abend schlug er die Tür seines Geschäftes zu und lief empor wie in eine Singspielhalle.

Läufst du immerfort vorwärts, plätscherst weiter in der lauen Luft, die Hände seitwärts wie Flossen, siehst flüchtig im Halbschlaf der Eile alles an, woran du vorüberkommst, wirst du einmal auch den Wagen an dir vorüberrollen lassen. Bleibst du aber fest, läßt mit der Kraft des Blicks die Wurzeln wachsen tief und breit – nichts kann dich beseitigen und es sind doch keine Wurzeln, sondern nur die Kraft deines zielenden Blicks –, dann wirst du auch die unveränderliche dunkle Ferne sehn, aus der nichts kommen kann als eben nur einmal der Wagen, er rollt heran, wird immer größer, wird in dem Augenblick, in dem er bei dir eintrifft, welterfüllend und du versinkst in ihm wie ein Kind in den Polstern eines Reisewagens, der durch Sturm und Nacht fährt.

Ihr sollt euch kein Bild –...

Es war eine kleine Gesellschaft im engen Zimmer am Abend beim Tee. Ein Vogel umflog sie, ein Rabe, zupfte den Mädchen die Haare und tauchte den Schnabel in die Tassen. Sie kümmerten sich nicht um ihn, sangen und lachten, da wurde er kühner,...

Die Mühseligkeit. »Unterrichte die Kinder«, sagte man mir. Das kleine Zimmer war übervoll. Manche wurden so an die Wand gedrückt, daß es beängstigend aussah, sie wehrten sich allerdings und drängten die andern zurück, so war die Masse immerfort in Bewegung. Nur einige größere Kinder, die die andern überragten und nichts von ihnen zu furchten hatten, standen ruhig an der Hinterwand und blickten zu mir herüber.

Es waren die Peitschenherren beisammen, starke aber schlanke Herren, immer bereit, sie hießen Peitschenherren, aber sie hatten Ruten in den Händen, an der Rückwand des Prunksaales standen sie vor und zwischen den Spiegeln. Ich trat mit meiner Braut ein, es war Hochzeit. Aus einer engen Tür uns gegenüber kamen die Verwandten hervor, sie drehten sich hervor, umfangreiche Frauen, links neben ihnen kleinere Männer in hochgeschlossenen Feströcken mit kurzen Schritten. Manche der Verwandten hoben vor Staunen über meine Braut die Arme, aber es war noch still.

Auf einem Spaziergang am Sonntag war ich weiter vor die Stadt gekommen, als ich eigentlich gewollt hatte. Und als ich so weit war, trieb es mich noch weiter. Auf einer Anhöhe stand eine alte, viel gekrümmte, aber nicht sehr große Eiche. Sie erinnerte mich irgendwie daran, daß es nun endlich aber Zeit sei, zurückzukehren. Es war schon abendlich genug geworden. Ich stand vor ihr, strich über ihre harte Rinde und las zwei eingeritzte Namen. Ich las sie, aber ohne sie mir zu merken, es war wie ein kindlicher Trotz, der mich, wenn ich schon nicht weitergehen sollte, wenigstens hier festhielt, um mich nicht zurückgehn zu lassen. Man ist manchmal im Bann solcher Kräfte, man kann ihn leicht zerreißen, es ist ja nur etwas wie ein zarter Scherz eines Fremden, aber es war Sonntag, nichts war zu versäumen, ich war schon müde und ergab mich deshalb in alles. Nun erkannte ich, daß einer der Namen Josef war und erinnerte mich eines Schulfreundes, der so geheißen hatte. In meiner Erinnerung war er ein kleiner Junge, der kleinste der Klasse vielleicht, er war einige Jahre neben mir in der gleichen Bank gesessen. Er war häßlich gewesen, selbst uns, die wir doch damals mehr Kraft und Geschicklichkeit – und beides hatte er – als Schönheit zu beurteilen verstanden, erschien er sehr häßlich.

Wir liefen vor das Haus. Es stand dort ein Bettler mit einer Harmonika. Sein Kleid, eine Art Talar, war unten so in Fetzen, wie wenn der Stoff ursprünglich von einem Tuchstück nicht abgeschnitten, sondern roh mit Gewalt abgerissen worden wäre. Und es stimmte dazu irgendwie die verwirrte Miene des Bettlers, der aus einem tiefen Schlaf geweckt zu sein schien und sich mit aller Anstrengung nicht zurechtfinden konnte. Es war, wie wenn er immer von neuem einschliefe und immer von neuem geweckt würde.

Wir Kinder wagten nicht ihn anzusprechen und wie sonst Bettlermusikanten um ein Lied zu bitten. Auch lief er uns immerfort mit den Augen ab, als bemerke er zwar unsere Anwesenheit, könne uns aber nicht so genau erkennen, wie er wollte. Wir warteten also, bis der Vater kam. Er war hinten in der Werkstatt, es dauerte ein Weilchen, ehe er den langen Flur durchschritt. »Wer bist du?« fragte er im Nebenzimmer laut und streng, sein Blick war mürrisch, vielleicht war er mit unserem Verhalten dem Bettler gegenüber unzufrieden, aber wir hatten doch nichts getan und jedenfalls noch nichts verdorben. Wir wurden womöglich noch stiller. Es war überhaupt ganz still, nur die Linde vor unserem Haus rauschte.

»Ich komme aus Italien«, sagte der Bettler, aber nicht wie eine Antwort, sondern wie ein Schuldbekenntnis. Es war, als erkenne er in unserem Vater seinen Herrn. Die Harmonika drückte er an seine Brust, als sei sie sein Schutz ...

Die Unterlippe hielt er mit den Oberzähnen fest, sah vor sich hin und rührte sich nicht. »Dein Benehmen ist ganz sinnlos. Was ist dir denn geschehn? Dein Geschäft ist nicht ausgezeichnet, aber doch auch nicht schlecht; selbst wenn es zugrunde ginge – aber davon ist keine Rede – wirst du doch sehr leicht dich irgendwo anhalten, du bist jung, gesund, kräftig, kaufmännisch gebildet und tüchtig, hast nur für dich und deine Mutter zu sorgen, also ich bitte dich, Mensch, fasse dich und erkläre mir, warum du mich mitten am Tage hergerufen hast und warum du so dasitzt?« Nun war eine kleine Pause, ich saß auf der Fensterbrüstung, er auf einem Sessel mitten im Zimmer. Schließlich sagte er: »Gut, ich werde dir alles erklären. Was du gesagt hast, war alles richtig, aber bedenke: seit gestern regnet es unaufhörlich, etwa um fünf Uhr nachmittags« – er sah auf die Uhr – »hat es gestern zu regnen angefangen und heute um vier Uhr regnet es noch immer. Das kann einem doch wohl zu denken geben. Während es aber sonst nur auf der Gasse regnet und in den Zimmern nicht, scheint es diesmal umgekehrt zu sein. Sieh aus dem Fenster, bitte, es ist unten doch trocken, nicht wahr? Nun also. Hier aber steigt das Wasser unaufhörlich. Mag es, mag es steigen. Es ist schlimm, ich ertrag es doch. Ein wenig guten Willen und man erträgt es, man schwimmt eben mit seinem Sessel etwas höher, die Verhältnisse ändern sich ja nicht sehr, alles schwimmt eben und man schwimmt etwas höher. Aber dieses Schlagen der Regentropfen auf meinem Kopf, das ertrag ich nicht. Es scheint eine Kleinigkeit, aber eben diese Kleinigkeit ertrage ich nicht oder vielleicht würde ich sogar das ertragen, ich ertrage es nur nicht, dagegen wehrlos zu sein. Und ich bin wehrlos, ich setze einen Hut auf, ich spanne den Schirm auf, ich halte ein Brett über den Kopf, nichts hilft, entweder dringt der Regen durch alles durch oder es fängt unter dem Hut, dem Schirm, dem Brett ein neuer Regen mit der gleichen Schlagkraft an.«

Ich stand vor dem Bergingenieur in seiner Kanzlei. Es war eine Bretterbude auf wüstem, lehmigem, nur flüchtig geebnetem Boden. Eine ungeschützte Glühbirne brannte über der Mitte des Schreibtisches. »Sie wollen aufgenommen werden?« sagte der Ingenieur, stützte links die Stirne mit der Hand und hielt in der Rechten die Feder über einem Papier. Es war keine Frage, er sagte es nur vor sich hin, es war ein schwacher junger Mann unter Mittelgröße, er mußte sehr müde sein, die Augen waren wohl von Natur aus so klein und schmal, es sah aber so aus, als reiche seine Kraft nicht aus, sie ganz zu öffnen. »Setzen Sie sich«, sagte er dann. Es war aber nur eine seitlich aufgerissene Kiste da, aus der kleine Maschinenbestandteile herausgerollt waren. Ich setzte mich auf die Kiste. Er hatte sich nun ganz vom Schreibtisch losgemacht, nur die rechte Hand lag dort noch unverändert, sonst aber hatte er sich in seinem Sessel zurückgelehnt, die linke Hand hatte er in der Hosentasche und sah mich an. »Wer hat Sie hergeschickt?« fragte er. »Ich habe in einer Fachzeitschrift gelesen, daß hier Leute aufgenommen werden«, sagte ich. »So«, sagte er und lächelte, »das also haben Sie gelesen. Sie fangen es aber auf eine sehr grobe Weise an.« »Was bedeutet das?« fragte ich. »Ich verstehe Sie nicht.« »Das bedeutet«, sagte er, »daß hier niemand aufgenommen wird. Und wenn niemand aufgenommen wird, können auch Sie nicht aufgenommen werden.« »Gewiß, gewiß«, sagte ich und stand ärgerlich auf, »um das zu erfahren, hätte ich mich nicht setzen müssen.« Aber dann besann ich mich und fragte: »Könnte ich nicht hier übernachten? Es regnet draußen und das Dorf ist über eine Stunde entfernt.« »Ich habe hier keine Gastzimmer«, sagte der Ingenieur. »Könnte ich nicht hier in der Kanzlei bleiben?« »Hier arbeite ich doch und dort« – er zeigte in einen Winkel – »schlafe ich.« Dort waren allerdings Decken und auch ein wenig Stroh war aufgeschüttet, aber es lagen dort auch so vielerlei kaum kenntliche Dinge, hauptsächlich Werkzeuge, daß ich es bisher nicht für ein Schlaflager gehalten hatte.

... mir ihn aufzuheben. Ich tat es und er sagte: »Ich bin auf einer Reise, stören Sie mich nicht, öffnen Sie Ihr Hemd und nähern Sie mich Ihrem Körper.« Ich tat es, er machte einen großen Schritt und verschwand in mir wie in einem Haus. Ich streckte mich wie in einer Beengung, es kam mich fast eine Ohnmacht an, ich ließ den Spaten fallen und ging nach Hause. Dort saßen bei Tisch Männer und aßen aus der gemeinsamen Schüssel, die zwei Frauen waren beim Herd und Waschtrog. Ich erzählte gleich, was mir geschehen war, ich fiel dabei nieder auf die Bank bei der Tür, alle standen um mich. Man holte einen vielbewährten Alten von einem nahen Gut. Während man auf ihn wartete, kamen Kinder zu mir, wir reichten einander die Hände, verschränkten die Finger, ...

Es war ein Strom, ein trübes Gewässer, es wälzte sich mit großer, aber doch irgendwie schläfriger, allzu regelmäßiger Eile mit niedrigen lautlosen Wellen dahin. Vielleicht war es nicht anders möglich, weil es so überfüllt war ...

Ein Reiter ritt auf einem Waldweg, vor ihm lief ein Hund. Hinter ihm kamen ein paar Gänse, ein kleines Mädchen trieb sie mit einer Gerte vor sich her. Trotzdem alle vom Hund vorn bis zu dem kleinen Mädchen hinten so schnell als möglich vorwärts eilten, war es doch nicht sehr schnell, jeder hielt leicht mit den andern Schritt. Übrigens liefen auch die Waldbäume zu beiden Seiten mit, irgendwie widerwillig, müde, diese alten Bäume. An das Mädchen schloß sich ein junger Athlet, ein Schwimmer, er schwamm mit kräftigen Stößen, den Kopf tief im Wasser, denn Wasser war wellenschlagend rings um ihn, und wie er schwamm, so floß das Wasser mit, dann kam ein Tischler, der einen Tisch abzuliefern hatte, er trug ihn auf dem Rücken, die zwei vordern Tischbeine hielt er mit den Händen fest, ihm folgte der Kurier des Zaren, er war unglücklich wegen der vielen Menschen, die er hier im Wald getroffen hatte, immerfort streckte er den Hals und sah nach, wie vorn die Lage war und warum alles so widerwärtig langsam ging, aber er mußte sich bescheiden, den Tischler vor sich hätte er wohl überholen können, aber wie wäre er durch das Wasser gekommen, das den Schwimmer umgab. Hinter dem Kurier kam merkwürdigerweise der Zar selbst, ein noch junger Mann mit blondem Spitzbart und zartem, aber rundlichen Gesicht, das sich des Lebens freute. Hier zeigten sich die Nachteile so großer Reiche, der Zar kannte seinen Kurier, der Kurier seinen Zaren nicht, der Zar war auf einem kleinen Erholungsspaziergang und kam nicht weniger schnell vorwärts als sein Kurier, er hätte also die Post auch selbst besorgen können.

Ich überlief den ersten Wächter. Nachträglich erschrak ich, lief wieder zurück und sagte dem Wächter: »Ich bin hier durchgelaufen, während du abgewendet warst.« Der Wächter sah vor sich hin und schwieg. »Ich hätte es wohl nicht tun sollen«, sagte ich. Der Wächter schwieg noch immer. »Bedeutet dein Schweigen die Erlaubnis zu passieren?« ...

Es waren zwei Drescher bestellt, sie standen mit ihren Dreschflegeln in der dunklen Scheuer. »Komm«, sagten sie und ich wurde auf die Tenne gelegt. Der Bauer stand an die Tür gelehnt halb außen, halb innen.

Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, und weiß nicht, daß das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn.

Der Mensch ist eine ungeheuere Sumpffläche. Ergreift ihn Begeisterung, so ist es im Gesamtbild so, wie wenn irgendwo in einem Winkel dieses Sumpfes ein kleiner Frosch in das grüne Wasser plumpst.

Wäre nur einer imstande, ein Wort vor der Wahrheit zurückzubleiben, jeder (auch ich in diesem Spruch) überrennt sie mit Hunderten.

Um die Wahrheit zu sagen, mich kümmert die ganze Sache nicht sehr. Ich liege im Winkel, sehe zu, soweit man im Liegen zusehn kann, höre zu, soweit ich ihn verstehe, im übrigen lebe ich schon seit Monaten in einer Dämmerung und warte auf die Nacht. Anders mein Zellengenosse, ein unnachgiebiger Mensch, ein gewesener Hauptmann. Ich kann mich in seine Verfassung hineindenken. Er ist der Meinung, seine Lage gleiche etwa der eines Polarfahrers, der trostlos irgendwo eingefroren ist, der aber sicher noch gerettet werden wird oder richtiger, der schon gerettet ist, wie man in der Geschichte der Polarfahrten nachlesen kann. Und nun entsteht folgender Zwiespalt: Daß er gerettet werden wird, ist für ihn zweifellos unabhängig von seinem Willen, einfach durch das siegbringende Gewicht seiner Persönlichkeit wird er gerettet werden, soll er es aber wünschen? Sein Wünschen oder Nichtwünschen wird nichts verändern, gerettet wird er, aber die Frage, ob er es auch noch wünschen soll, bleibt. Mit dieser scheinbar so abseits liegenden Frage ist er beschäftigt, er durchdenkt sie, er legt sie mir vor, wir besprechen sie. Er begreift nicht, daß diese Fragestellung sein Schicksal endgültig macht. Von der Rettung selbst reden wir nicht. Für die Rettung genügt ihm scheinbar der kleine Hammer, den er sich irgendwie verschafft hat, ein Hämmerchen, um Spannägel in ein Zeichenbrett zu treiben, mehr könnte es nicht leisten, aber er verlangt auch nichts von ihm, nur der Besitz entzückt ihn. Manchmal kniet er neben mir und hält mir diesen tausendmal gesehenen Hammer vor die Nase oder er nimmt meine Hand, spreitet sie auf dem Boden aus und behämmert alle Finger der Reihe nach. Er weiß, daß er mit diesem Hammer keinen Splitter von der Mauer schlagen kann, er will es auch nicht, er streicht nur manchmal leicht mit dem Hammer über die Wände, als könne er mit ihm das Taktzeichen geben, das die große wartende Maschinerie der Rettung in Bewegung setzt. Es wird nicht genau so sein, die Rettung wird einsetzen in ihrer Zeit, unabhängig vom Hammer, aber irgend etwas ist er doch, etwas Handgreifliches, eine Bürgschaft, etwas, was man küssen kann, wie man die Rettung selbst niemals wird küssen können.

Nun, meine Antwort auf seine Fragen ist einfach: »Nein, die Rettung ist nicht zu wünschen.« Ich will keine allgemeinen Gesetze aufstellen, das ist Sache der Kerkermeister. Ich rede nur von mir. Und was mich betrifft, so habe ich es in der Freiheit, der gleichen Freiheit, die jetzt unsere Rettung werden soll, kaum ertragen können oder wirklich nicht ertragen, denn jetzt sitze ich ja in der Zelle. Allerdings nach der Zelle habe ich nicht eigentlich gestrebt, sondern nur fort im allgemeinen, vielleicht nach einem andern Stern, zunächst nach einem andern Stern. Aber wäre dort wohl die Luft für mich atembar und würde ich dort nicht ersticken wie hier in der Zelle? Ich hätte also ebensogut nach der Zelle streben können.

Manchmal kommen zwei Kerkermeister in unsere Zelle, um dort Karten zu spielen. Ich weiß nicht, warum sie das machen, es ist eigentlich eine gewisse Straferleichterung. Sie kommen meistens gegen Abend, ich habe dann immer leichtes Fieber, kann die Augen nicht ganz offen halten und nur undeutlich sehe ich sie beim Licht der großen Laterne, die sie mitgebracht haben. Ist das dann eigentlich noch eine Zelle, wenn sie selbst den Kerkermeistern genügt? Aber nicht immer freut mich diese Überlegung, ein Klassenbewußtsein der Sträflinge erwacht in mir, was wollen sie hier unter den Sträflingen? Es freut mich ja, daß sie hier sind, ich fühle mich gesichert durch die Gegenwart dieser mächtigen Männer, ich fühle mich auch durch sie über mich hinausgehoben, aber ich will es auch wieder nicht, ich will den Mund aufmachen und sie durch nichts anderes als durch die Kraft meines Atems aus der Zelle blasen.

Gewiß, man kann sagen, der Hauptmann sei durch das Gefangensein verrückt geworden. Sein Gedankenkreis ist so eingeschränkt, daß er kaum für einen Gedanken mehr Raum hat. Er hat förmlich auch schon den Gedanken der Rettung zu Ende gedacht, nichts als ein kleiner Rest ist noch geblieben, genau so viel als nötig ist, um ihn noch krampfhaft ein wenig hoch zu halten, aber auch diesen Rat läßt er manchmal schon los, schnappt freilich dann wieder danach und schnauft dann förmlich vor Glück und Stolz. Aber überlegen bin ich ihm deshalb nicht, in der Methode vielleicht, in irgend etwas Unwesentlichem vielleicht, sonst nicht.

Ein regnerischer Tag. Du stehst vor dem Glanz einer Pfütze. Bist nicht müde, nicht traurig, nicht nachdenklich, stehst nur dort in aller deiner Erdenschwere und wartest auf jemanden. Da hörst du eine Stimme, deren Klang allein, noch ohne Worte, dich lächeln macht. »Komm mit«, sagt die Stimme. Es ist aber rund um dich niemand da, mit dem du gehen könntest. »Ich ginge schon«, sagst du, »aber ich sehe dich nicht.« Darauf hörst du nichts mehr. Aber der Mann, auf den du gewartet hast, kommt, ein großer starker Mann mit kleinen Augen, buschigen Brauen, dicken, etwas hängenden Wangen und einem Kinnbart. Es kommt dir vor, als müßtest du ihn schon einmal gesehen haben. Natürlich hast du ihn schon gesehen, denn es ist dein alter Geschäftsfreund, du hattest mit ihm verabredet, hier zusammenzukommen und eine lange schwebende Geschäftsangelegenheit durchzusprechen. Aber trotzdem er hier vor dir steht und von seiner altbekannten Hutkrempe langsam der Regen tropft, erkennst du ihn nur mühselig. Irgend etwas hindert dich, du willst es wegdrängen, willst dich mit dem Mann unmittelbar in Verbindung setzen und faßt ihn deshalb beim Arm. Aber du mußt ihn gleich wieder loslassen, es schauert dich, was hast du angerührt? Du schaust deine Hand an, aber trotzdem du nichts siehst, ekelt es dich bis zum Brechreiz. Du erfindest eine Entschuldigung, die wahrscheinlich keine ist, denn während du sie sagst, hast du sie vergessen und gehst fort, gehst geradewegs in eine Hausmauer hinein – der Mann ruft dir nach, vielleicht eine Warnung, du winkst ihm ab – die Mauer öffnet sich vor dir, ein Diener trägt einen Armleuchter hocherhoben, du folgst ihm. Er führt dich aber in keine Wohnung, sondern in eine Apotheke.

Es ist eine große Apotheke mit einer hohen halbkreisförmigen Wand, die Hunderte gleichförmige Schubfächer enthält. Es sind auch viele Käufer da, die meisten haben lange dünne Stangen, mit denen sie gleich an das Fach klopfen, aus dem sie etwas haben wollen. Darauf klettern die Gehilfen mit rasenden, aber winzig kleinen Kletterbewegungen hinauf – man sieht nicht, worauf sie klettern, man wischt sich die Augen und sieht es doch nicht – und holen das Verlangte. Ist es nur zur Unterhaltung gemacht oder ist es den Verkäufern angeboren, jedenfalls haben sie hinten aus der Hose hinausragend buschige Schwänze, wie Eichhörnchen etwa, aber viel länger, und beim Klettern zucken die Schwänze alle die vielen kleinen Bewegungen mit. Die Verbindung des Ladens mit der Straße erkennt man infolge des Gedränges der im Laden hin- und herströmenden Käufer gar nicht, dagegen sieht man ein kleines geschlossenes Fenster, das rechts seitlich vom wahrscheinlichen Haupteingang auf die Straße führt. Durch dieses Fenster sieht man draußen drei Menschen, sie füllen die Aussicht derartig vollständig aus, daß man nicht sagen kann, ob hinter ihnen die Gasse menschenüberfüllt oder vielleicht leer ist. Hauptsächlich sieht man einen Mann, der den Blick ganz auf sich zieht, zu seinen beiden Seiten steht je eine Frau, aber man bemerkt sie kaum, sie sind geduckt oder versenkt oder versinken eben schief gegen den Mann zu in die Tiefe, sie sind vollendet nebensächlich, dagegen hat der Mann selbst auch etwas Weibliches. Er ist kräftig, trägt eine blaue Arbeiterbluse, sein Gesicht ist breit und offen, die Nase gedrückt, es ist so, als würde sie eben gedrückt und die Nasenlöcher kämpften, sich windend, um ihre Erhaltung, die Wangen haben viel Lebensfarbe. Immerfort blickt er in die Apotheke herein, bewegt die Lippen, beugt sich rechts und links, als suche er drin etwas. Im Laden fällt ein Mann auf, der weder etwas verlangt, noch bedient, aufrecht umhergeht, alles zu überblicken sucht, die unruhige Unterlippe mit zwei Fingern hält, manchmal nach der Taschenuhr sieht. Es ist offenbar der Besitzer, die Käufer zeigen ihn einander, er ist leicht zu erkennen an zahlreichen dünnen runden langen Lederriemen, die nicht zu lose, nicht zu fest den Oberkörper der Länge und Breite nach umhängen. Ein blonder, etwa zehnjähriger Junge hält sich an seinem Rock, faßt auch manchmal nach den Riemen, er bittet um etwas, was der Apotheker nicht bewilligen will. Da läutet die Türglocke. Warum läutet sie? So viele Käufer kamen und gingen, ohne daß sie läutete, aber nun läutet sie. Die Menge drängt von der Tür zurück, es ist, als wäre dieses Läuten erwartet worden, es ist sogar so, als wüßte die Menge mehr, als sie eingesteht. Nun sieht man auch die große zweiflügelige Glastür. Draußen ist eine schmale leere Gasse, reinlich mit Backsteinen gepflastert, es ist ein bewölkter regnerischer Tag, doch regnet es noch nicht. Ein Herr hat eben von der Gasse aus die Tür geöffnet und die Glocke dadurch in Bewegung gesetzt, aber nun hat er Zweifel, er tritt noch einmal zurück, überliest die Firmatafel, ja, es ist richtig und nun tritt er ein. Es ist der Arzt Herodias, jeder in der Menge weiß es. Die linke Hand in der Hosentasche, geht er auf den Apotheker zu, der jetzt allein im freien Raume steht; sogar der Knabe ist, allerdings gleich in der ersten Reihe, zurückgeblieben und schaut mit seinen blauen, groß geöffneten Augen herüber. Herodias hat eine lächelnde überlegene Art zu reden, den Kopf hat er zurückgelehnt, und auch wenn er selbst spricht, macht es den Eindruck, als horche er. Dabei ist er sehr zerstreut, man muß ihm manches zweimal sagen, es macht Mühe zu ihm vorzudringen, auch darüber scheint er zu lächeln. Wie sollte ein Arzt die Apotheke nicht kennen, aber doch blickt er sich um, als sei er zum erstenmal hier und über die Verkäufer mit ihren Schwänzen schüttelt er den Kopf. Dann geht er auf den Apotheker zu, umfaßt ihn mit dem rechten Arm in Schulterhöhe, wendet ihn um und nun gehn sie beide eng aneinander weiter durch die seitlich zurückweichende Menge in das Innere der Apotheke, der Junge vor ihnen, scheu immer wieder zurückblickend. Sie kommen hinter die Pulte an einen Vorhang, den der Junge vor ihnen hebt, dann weiter durch Laboratoriumskammern und schließlich zu einer kleinen Tür, die, da sie der Junge nicht zu öffnen wagt, der Arzt öffnen muß. Es besteht die Gefahr, daß die Menge, die bis hierher nachgedrängt ist, auch in das Zimmer folgen wird. Aber die Verkäufer, die inzwischen bis in die erste Reihe vorgedrungen sind, wenden sich, ohne erst einen Befehl des Herrn abzuwarten, gegen die Menge, es sind junge Leute, kräftig, aber auch klug; langsam und still drücken sie die Menge zurück, die ja übrigens nur förmlich durch ihr Gewicht, nicht mit der Absicht zu stören, nachgerollt ist. Immerhin macht sich doch eine Gegenbewegung geltend. Der Mann mit den zwei Frauen verursacht sie, er hat seinen Fensterplatz verlassen, ist in den Laden gekommen und will nun noch weiter kommen als alle andern. Gerade infolge der Nachgiebigkeit der Menge, die sichtlich gegen diesen Ort Rücksicht übt, gelingt es ihm. Zwischen den Verkäufern durch, die er mehr durch zwei schnelle Blicke als durch die Ellbogen beiseite schiebt, ist er mit seinen zwei Frauen schon an die Herren herangekommen und zwischen ihren Köpfen blickt er, der größer ist als beide, in das Dunkel des Zimmers. »Wer kommt«, fragt eine Frau schwach aus dem Zimmer. »Sei ruhig, der Arzt«, antwortet der Apotheker und nun treten sie in das Zimmer ein. Niemand denkt daran, Licht zu machen. Der Arzt hat den Apotheker verlassen und geht allein zum Bett. Der Mann und die Frauen lehnen am Bettpfosten zu den Füßen der Kranken wie an einem Geländer. Der Apotheker wagt nicht, vorzugehen, der Junge hält sich wieder an ihn. Der Arzt fühlt sich durch die drei Fremden behindert. »Wer seid ihr?« fragt er, aus Rücksicht für die Kranke leise. »Nachbarn«, sagt der Mann. »Was wollt ihr?« »Wir wollen«, sagt der Mann und spricht viel lauter als der Arzt ...

(Fragment des ›Unterstaatsanwalts‹)

... überdrüssig geworden ist, Jagden auf Mißgeburten zu veranstalten, dann wäre allerdings der Bezirksrichter das erste Ziel. Aber sich über ihn zu ärgern, ist sinnlos. Darum ärgert sich auch der Unterstaatsanwalt nicht über ihn, er ärgert sich nur über die Dummheit, die einen solchen Menschen auf einen Bezirksrichterposten setzt. Die Dummheit also will Gerechtigkeit üben. Es ist für die persönlichen Verhältnisse des Unterstaatsanwalts an und für sich sehr bedauerlich, daß er nur einen so niedrigen Rang einnimmt, seinem eigentlichen Bestreben aber würde es vielleicht nicht einmal genügen, Oberstaatsanwalt zu sein. Er müßte ein noch viel höherer Staatsanwalt werden, um auch nur alle Dummheit, die er vor seinen Augen sieht, unter wirksame Anklage setzen zu können. Zur Anklage gegen den Bezirksrichter würde er sich dabei wahrhaftig nicht herablassen, er würde ihn von der Höhe seines Anklägersitzes nicht einmal erkennen. Wohl aber würde er rings herum eine so schöne Ordnung schaffen, daß der Bezirksrichter nicht in ihr bestehen könnte, daß ihm, ohne daß er angerührt würde, die Knie zu schlottern anfingen und er schließlich vergehen müßte. Dann wäre es vielleicht auch an der Zeit, den Fall des Unterstaatsanwaltes selbst aus den versperrten Disziplinargerichten in den offenen Gerichtssaal zu bringen. Dann wäre der Unterstaatsanwalt nicht mehr persönlich beteiligt, er hätte kraft höherer Gewalt die ihm angelegten Ketten zerbrochen und könnte nun selbst über sie zu Gericht sitzen. Er stellt sich vor, daß ihm eine mächtige Persönlichkeit vor der Verhandlung ins Ohr flüstert: »Jetzt wird dir Genugtuung zuteil werden.« Und nun kommt es zur Verhandlung. Die angeklagten Disziplinarräte lügen natürlich, lügen mit zusammengebissenen Zähnen, lügen so, wie nur Leute vom Gericht lügen können, wenn die Anklage einmal sie trifft. Aber es ist alles so vorbereitet, daß die Tatsachen selbst alle Lügen von sich abschütteln und sich frei und wahrheitsgemäß vor den Zuhörern entwickeln. Es sind viele Zuhörer da, auf drei Seiten des Saales, nur die Richterbank ist leer, man hat keine Richter gefunden, die Richter drängen sich im engen Raum, wo sonst der Angeklagte steht, und suchen sich vor der leeren Richterbank zu verantworten. Nur der öffentliche Ankläger, der gewesene Unterstaatsanwalt, ist natürlich zugegen und auf seinem gewöhnlichen Platz. Er ist viel ruhiger als sonst, er nickt nur hie und da, alles nimmt den richtigen uhrenmäßigen Gang. Erst jetzt, nachdem der Fall von allen Schriftsätzen, Zeugenaussagen, Verhandlungsprotokollen, Urteilsberatungen und Entscheidungsgründen befreit ist, erkennt man seine sofort überwältigende Einfachheit. Die Angelegenheit selbst liegt etwa fünfzehn Jahre zurück. Der Unterstaatsanwalt war damals in der Residenzstadt, er war als tüchtiger Jurist anerkannt, bei seinen Vorgesetzten sehr beliebt und hatte sogar schon Hoffnung, bald, vor vielen Mitbewerbern, zehnter Staatsanwalt zu werden. Der zweite Staatsanwalt bewies ihm eine besondere Zuneigung und ließ sich von ihm, selbst bei nicht ganz unwichtigen Angelegenheiten, vertreten. So war es auch bei einem kleinen Majestätsbeleidigungsprozeß. Ein Geschäftsangestellter, ein nicht ungebildeter, politisch sehr tätiger Mann, hatte in einer Weinstube in halber Trunkenheit, das Glas in der Hand, eine Majestätsbeleidigung ausgesprochen. Ein wahrscheinlich noch mehr betrunkener Gast am Nebentisch hatte die Anzeige erstattet, er hatte in seiner Betäubung wahrscheinlich gemeint, daß er eine ausgezeichnete Tat ausführt, war sofort um einen Polizeimann gelaufen und glückselig lächelnd mit ihm zurückgekehrt, um ihm den Mann zu übergeben. Später allerdings hielt er an seiner Aussage wenn auch nicht vollständig, so doch wenigstens im wichtigsten Teil fest, im übrigen mußte die Majestätsbeleidigung sehr deutlich gewesen sein, denn kein Zeuge konnte sie vollständig leugnen. Ihr Wortlaut aber konnte nicht zweifellos festgestellt werden, die größte Berechtigung hatte die Annahme, daß der Angeklagte mit dem Weinglas auf ein an der Wand hängendes Bild des Königs gezeigt und dabei gesagt hatte: »Du Lump dort oben!« Die Schwere dieser Beleidigung wurde nur durch den damaligen teilweise unzurechnungsfähigen Zustand des Angeklagten gemildert sowie dadurch, daß er die Beleidigung in irgendeiner Verbindung mit der Liedzeile: »solange noch das Lämpchen glüht« vorgebracht und den Sinn des Ausrufes dadurch getrübt hatte. Über die Art der Verbindung zwischen dem Ausruf und dem Lied hatte fast jeder Zeuge eine andere Meinung und der Anzeiger behauptete sogar, ein anderer, nicht der Angeklagte, habe gesungen. Ungemein erschwerend war für den Angeklagten seine politische Tätigkeit, die es jedenfalls sehr glaubwürdig erscheinen ließ, daß er dessen fähig war, den Ausruf auch bei gänzlicher Nüchternheit und mit vollster Überzeugung zu machen. Der Unterstaatsanwalt erinnert sich sehr genau – er hat ja jene Dinge so oft durchgedacht –, wie er jene Anklage fast mit Begeisterung in Angriff nahm, nicht nur weil es ehrenvoll war, einen Majestätsbeleidigungsprozeß zu führen, sondern weil er den Angeklagten und seine Sache aufrichtig haßte. Ohne eine im einzelnen ausgearbeitete politische Anschauung zu haben, war er doch durchaus konservativ, er war darin fast kindlich, es gibt gewiß noch andere Unterstaatsanwälte, die so sind, er glaubte, wenn sich alle ruhig und vertrauensvoll mit dem König und der Regierung verbinden, müßte es möglich sein, alle Schwierigkeiten beseitigen zu können; ob man bei dieser Gelegenheit vor dem König stehe oder knie, schien ihm an und für sich gleichgültig; je mehr Vertrauen man hatte, desto besser war es, und je mehr Vertrauen man hatte, desto tiefer mußte man sich neigen in natürlicher Gesinnung, ohne Kriecherei. Verhindert aber wurden diese erstrebenswerten Zustände durch Leute vom Schlag des Angeklagten, die, aus irgendeiner Unterwelt heraufkommend, die feste Masse des brauchbaren Volkes mit ihrem Geschrei zersprengten. – Da stand ein politischer Streber, dem der ehrliche Beruf eines Geschäftsangestellten nicht genügte, wahrscheinlich, weil er ihm die Mittel für Weingelage zu liefern nicht imstande war, ein Mensch mit einer riesenhaften Kinnlade, die von einer kräftigen Muskulatur auch riesenhaft bewegt wurde, ein geborener Volksredner, der selbst den Untersuchungsrichter anschrie, in diesem Fall leider eine nervöse aufgeregte Natur. Die Untersuchung, welcher der Unterstaatsanwalt aus Interesse an der Sache öfters beigewohnt hatte, war eine fortwährende Zänkerei. Einmal sprang der Untersuchungsrichter auf, das andere Mal der Verhörte, und einer donnerte den andern an. Dies wirkte natürlich ungünstig auf die Ergebnisse der Untersuchung ein und als der Unterstaatsanwalt auf diesen Ergebnissen die Anklage aufbauen sollte, mußte er viel Arbeit und Scharfsinn aufwenden, um sie genügend stichhaltig zu machen. Er arbeitete Nächte durch, aber mit Freude. Es waren damals schöne Frühjahrsnächte; das Haus, in dessen Erdgeschoß der Unterstaatsanwalt wohnte, hatte einen kleinen, zwei Schritte breiten Vorgarten; war der Unterstaatsanwalt von der Arbeit ermüdet oder verlangten die sich drängenden Gedanken Ruhe und Sammlung, dann kletterte er aus dem Fenster in den Vorgarten und ging dort auf und ab oder lehnte mit geschlossenen Augen am Gartengitter. Er hat sich damals nicht geschont, er arbeitete die ganze Anklage mehreremal um, manche Teile zehn- und zwanzigmal. Außerdem häufte sich das für die Hauptversammlung vorbereitete Material in fast undurchdringlicher Fülle. »Gebe Gott, daß ich dieses alles fassen und verwerten kann«, war in den Nächten seine ständige Bitte. Mit der Anklage selbst hielt er seine Arbeit nur zum geringsten Teile für beendet, darum sah er auch das Lob des zweiten Staatsanwalts, mit dem ihm dieser die Anklageschrift nach genauer Prüfung zurückgab, nicht als Lohn, sondern nur als Aufmunterung an und dieses Lob war groß und es kam überdies von einem strengen, wortkargen Mann. Es lautete, wie es der Unterstaatsanwalt in seinen spätern Eingaben oft wiederholte, ohne allerdings den zweiten Staatsanwalt dazu bewegen zu können, sich daran zu erinnern: »Dieses Heft, mein lieber Kollege, enthält nicht nur die Anklage, es enthält aller menschlichen Voraussicht nach auch Ihre Ernennung zum zehnten Staatsanwalt.« Und als der Unterstaatsanwalt bescheiden schwieg, fügte der zweite Staatsanwalt hinzu: »Vertrauen Sie mir.« Zur Hauptverhandlung ging der Unterstaatsanwalt fest und ruhig. Niemand im Saal kannte alle Feinheiten und Beziehungen der Prozeßsache so wie er. Der Verteidiger war ungefährlich, ein dem Unterstaatsanwalt bekanntes, immer schreiendes, aber wenig scharfsinniges Männchen. An dem Tag war er gewiß nicht einmal sehr kampflustig, er verteidigte, weil er verteidigen mußte, weil es um ein Mitglied seiner politischen Partei ging, weil sich vielleicht Gelegenheit zu Tiraden ergeben würde, weil die Parteipresse auf den Fall ein wenig aufmerksam war, aber Hoffnung, seinen Klienten durchzubringen, hatte er nicht. Der Unterstaatsanwalt erinnert sich noch, wie er diesem Verteidiger kurz vor Beginn der Verhandlung mit schwer unterdrücktem Lächeln zusah; unfähig sich zu beherrschen, wie dieser Verteidiger überhaupt war, warf er auf seinem Tisch alles durcheinander; riß Blätter aus seinen Schriften und wie mit einem Windhauch waren sie sofort mit Notizen bedeckt, unter dem Tisch klapperten seine kleinen Füßchen und jeden Augenblick strich er, ohne es zu wissen, mit ängstlicher Bewegung über seine Glatze, als suche er dort irgendwelche Verletzungen. Er schien dem Unterstaatsanwalt ein unwürdiger Gegner zu sein. Als er gleich bei Beginn der Verhandlung aufhüpfte und mit häßlicher pfeifender Stimme den Antrag gestellt hatte, die Verhandlung möge in öffentlicher Sitzung stattfinden, erhob sich der Unterstaatsanwalt fast schwerfällig von seinem Sitz. Alles war so klar und durchdacht, es war, als mischten sich alle Leute ringsherum in eine ihm allein gehörige Sache, eine Sache, die er ihrem Wesen gemäß in sich selbst zu Ende führen könnte, ohne Richter und Verteidiger und ohne Angeklagten. Und er schloß sich dem Antrag des Verteidigers an, sein Verhalten war ebenso unerwartet wie das des Verteidigers selbstverständlich gewesen war. Aber er erklärte sein Verhalten und während seiner Erklärung war es im Saal so still, – wenn nicht die vielen Augen von allen Seiten auf ihn gerichtet gewesen wären, als wollten sie ihn zu sich ziehn, hätte man glauben können, er spreche im leeren Saal mit sich selbst. Daß er überzeugte, merkte er sofort. Die Richter streckten die Hälse und sahen erstaunt einander an, der Verteidiger lehnte steif in seinem Stuhl, als sei die Erscheinung des Unterstaatsanwaltes gerade jetzt aus dem Boden gestiegen; der Angeklagte rieb vor Spannung seine Riesenzähne aneinander, im Gedränge der Zuhörer hielt man sich bei den Händen fest. Sie erkannten, daß ihnen hier einer die ganze Angelegenheit, zu der sie in dieser oder jener schwachen Beziehung standen, gänzlich entwand und zu seinem unentreißbaren Eigentum machte. Jeder hatte geglaubt, einem kleinen Majestätsbeleidigungsprozeß beizuwohnen und nun hörte er, wie der Unterstaatsanwalt schon beim ersten Antrag die Beleidigung selbst wie etwas Nebensächliches mit wenigen Worten streifte.

Ich kam durch einen Nebeneingang, ängstlich, ich wußte nicht, wie es sich verhält, ich war klein und schwach, ich sah sorgenvoll an meinem Anzug hinab, er war recht finster, über einen gewissen leeren Umkreis sah man nicht hinaus, der Boden war mit Gras bedeckt, ich bekam Zweifel, ob ich am richtigen Ort war; wäre ich durch den Haupteingang gekommen, wäre kein Zweifel möglich gewesen, aber ich war durch einen Nebeneingang gekommen; vielleicht wäre es gut, zurückzugehen und die Überschrift über der Tür anzusehen, aber ich glaubte mich zu erinnern, daß dort gar keine Überschrift gewesen war. Da sah ich in der Ferne einen matten silbrigen Schein, das gab mir Vertrauen, ich ging in dieser Richtung. Es war ein Tisch, in der Mitte stand eine Kerze, ringsum saßen drei Kartenspieler. »Bin ich hier richtig angekommen?« fragte ich, »ich wollte zu den drei Kartenspielern.« »Das sind wir«, sagte der eine, ohne von den Karten aufzublicken.

Wie der Wald im Mondschein atmet, bald zieht er sich zusammen, ist klein, gedrängt, die Bäume ragen hoch, bald breitet er sich auseinander, gleitet alle Abhänge hinab, ist niedriges Buschholz, ist noch weniger, ist dunstiger, ferner Schein.

A. »Sei aufrichtig! Wann wirst du denn wieder einmal wie heute vertraulich beim Bier sitzen, mit jemandem, der dir zuhört. Sei aufrichtig! Worin besteht deine Macht?«

B. »Habe ich denn Macht? An was für eine Macht denkst du?«

A. »Du willst mir ausweichen. Du unaufrichtige Seele. Vielleicht besteht deine Macht in deiner Unaufrichtigkeit.«

B. »Meine Macht! Weil ich in diesem kleinen Gasthaus sitze und einen alten Mitschüler gefunden habe, der sich zu mir setzt, deshalb bin ich wohl mächtig.«

A. »Dann werde ich es also anders anfassen. Hältst du dich für mächtig? Aber nun antworte aufrichtig, sonst stehe ich auf und gehe nach Hause. Hältst du dich für mächtig?«
B. »Ja, ich halte mich für mächtig.«

A. »Nun also.«

B. »Das ist aber nur meine Sache. Niemand sieht eine Spur dieser Macht, kein Körnchen, auch ich nicht.«

A. »Aber du hältst dich für mächtig. Warum also hältst du dich für mächtig?«

B. »Es ist nicht ganz richtig zu sagen: Ich halte mich für mächtig. Das ist Überhebung. Ich, so wie ich hier alt, verfallen und schmutzig sitze, halte mich nicht für mächtig. Die Macht, an die ich glaube, übe nicht ich aus, sondern andere und diese andern fügen sich mir. Das kann mich natürlich nur sehr beschämen und gar nicht stolz machen. Entweder bin ich ihr Diener, den sie in einer Laune großer Herren zum Herrn über sich gemacht haben, dann wäre es noch gut, dann wäre alles nur Schein, oder aber ich bin wirklich zum Herrn über sie bestellt, was soll ich dann tun, ich armer hilfloser Alter; ohne Zittern bringe ich nicht das Glas vom Tisch zum Mund und soll nun die Stürme regieren oder das Weltmeer.«

A. »Nun siehst du, wie mächtig du bist und das alles wolltest du verschweigen. Aber man kennt dich. Auch wenn du immer allein in der Ecke sitzst, der ganze Stammtisch kennt dich.«

B. »Nun ja, der Stammtisch kennt vieles, ich höre nur kleine Teile seiner Gespräche, aber das, was ich höre, ist meine einzige Belehrung und Zuversicht.«

A. »Wie? Danach, was du hier hörst, regierst du doch nicht etwa?«

B. »Nein, gewiß nicht. Du gehörst also auch zu denen, welche glauben, daß ich regiere?«

A. »Du sagtest es doch eben.«

B. »Ich hätte etwas Derartiges gesagt? Nein, ich sagte nur, daß ich mich für mächtig halte, aber ich übe diese Macht nicht aus. Ich kann sie nicht ausüben, denn meine Gehilfen sind zwar schon da, aber noch nicht auf ihrem Posten und niemals werden sie dort sein. Flatterhaft sind sie, überall, wo sie nicht hingehören, treiben sie sich herum, von überall her sind ihre Augen auf mich gerichtet, alles billige ich und nicke ihnen zu. Hatte ich also nicht recht zu sagen, daß ich nicht mächtig bin? Und halte mich nicht mehr für unaufrichtig.«

»Worauf beruht deine Macht?«

»Du hältst mich für mächtig?«

»Ich halte dich für sehr mächtig und fast ebenso wie deine Macht bewundere ich die Zurückhaltung, die Uneigennützigkeit, mit der du sie ausübst, oder vielmehr die Entschlußkraft und Überzeugtheit, mit der du diese Macht gegen dich selbst ausübst. Nicht nur, daß du dich zurückhältst, du bekämpfst dich sogar. Nach den Gründen, warum du das tust, frage ich nicht, sie sind dein eigenstes Eigentum, nur nach der Herkunft deiner Macht frage ich. Berechtigt dazu glaube ich dadurch zu sein, daß ich diese Macht erkannt habe, wie es bisher nicht vielen gelungen ist und daß ich schon ihre Drohung – mehr ist sie heute infolge deiner Selbstbeherrschung noch nicht – als etwas Unwiderstehliches fühle.«

»Deine Frage kann ich leicht beantworten: meine Macht beruht auf meinen zwei Frauen.«

»Auf deinen Frauen?«

»Ja. Du kennst sie doch?«

»Meinst du die Frauen, die ich gestern in deiner Küche gesehn habe?«

»Ja.«

»Die zwei dicken Frauen?«

»Ja.«

»Diese Frauen. Ich habe sie kaum beachtet. Sie sahen, verzeih, wie zwei Köchinnen aus. Aber nicht ganz rein waren sie, nachlässig angezogen.«

»Ja, das sind sie.«

»Nun, wenn du etwas sagst, glaube ich es sofort, nur bist du mir jetzt noch unverständlicher als früher, ehe ich von den Frauen wußte.«

»Es ist aber kein Rätsel, es liegt offen da, ich werde es dir zu erzählen versuchen. Ich lebe also mit diesen Frauen, du hast sie in der Küche gesehn, aber sie kochen nur selten, das Essen wird meistens aus der Restauration gegenüber geholt, einmal holt es Resi, einmal Alba. Es ist eigentlich niemand dagegen, daß zu Hause gekocht wird, aber es ist zu schwierig, weil sich die beiden nicht vertragen, das heißt sie vertragen sich ausgezeichnet, aber nur wenn sie ruhig nebeneinander leben. Sie können zum Beispiel stundenlang ohne zu schlafen friedlich auf dem schmalen Kanapee nebeneinander liegen, was schon wegen ihrer Dicke nichts Geringes ist. Aber bei der Arbeit vertragen sie sich nicht, sofort entsteht Streit und aus dem Streit gleich Prügel. Darum sind wir übereingekommen – sie sind vernünftiger Rede sehr zugänglich –, daß möglichst wenig gearbeitet wird. Es entspricht das übrigens auch ihrer Natur. Sie glauben zum Beispiel die Wohnung besonders gut aufgeräumt zu haben und dabei ist sie so schmutzig, daß mich der Schritt über die Türschwelle ekelt, habe ich ihn aber getan, gewöhne ich mich leicht ein.

Mit der Arbeit ist jeder Anlaß zum Streit beseitigt, insbesondere Eifersucht ist ihnen gänzlich unbekannt. Woher käme auch Eifersucht? Ich unterscheide sie ja kaum voneinander. Vielleicht sind Alba's Nase und Lippen noch etwas negerhafter als bei Resi, aber manchmal scheint mir wieder das Gegenteil richtig. Vielleicht hat Resi etwas weniger Haare als Alba – eigentlich hat sie schon unerlaubt wenig Haare – aber achte ich denn darauf? Ich bleibe dabei, daß ich sie kaum unterscheide.

Auch komme ich ja von der Arbeit erst abends nach Hause, bei Tag sehe ich sie nur sonntags längere Zeit. Ich komme also, da ich mich gern nach der Arbeit möglichst lange allein herumtreibe, spät nach Hause. Aus Sparsamkeit machen wir abends kein Licht. Ich habe wirklich kein Geld dazu, das Aushalten der Frauen, die eigentlich unaufhörlich zu essen imstande sind, braucht meinen ganzen Lohn auf. Ich läute also abends an der dunklen Wohnung. Ich höre, wie die zwei Frauen mit Schnaufen zur Tür kommen. Resi oder Alba sagt: ›Das ist er‹, und beide fangen noch stärker zu schnaufen an. Wäre statt meiner ein Fremder dort, er könnte davor Angst bekommen.

Dann öffnen sie und ich mache gewöhnlich den Spaß, daß ich, kaum daß eine Spalte geöffnet ist, mich hineinzwänge und beide gleichzeitig um den Hals fasse. ›Du‹, sagt eine, das bedeutet: ›so unglaublich bist du‹ und beide lachen mit tiefen Gurgellauten. Nun sind sie nur noch mit mir beschäftigt, und würde ich nicht eine Hand ihnen entwinden und die Tür schließen, bliebe sie die ganze Nacht offen.

Dann immer der Weg durch das Vorzimmer, dieser ein paar Schritte lange und Viertelstunden dauernde Weg, auf dem sie mich fast tragen. Ich bin ja wirklich müde nach dem gar nicht leichten Tag und einmal lege ich den Kopf auf Resis, einmal auf Albas weiche Schulter. Beide sind fast nackt, nur im Hemd, so sind sie auch den größten Teil des Tags, nur wenn ein Besuch angesagt ist, wie letzthin der deine, ziehn sie ein paar schmutzige Fetzen an. Dann kommen wir zu meinem Zimmer und gewöhnlich stoßen sie mich hinein, selbst aber bleiben sie draußen und schließen die Tür. Es ist ein Spiel, denn jetzt kämpfen sie darum, welche zuerst eintreten darf. Es ist nicht etwa Eifersucht, nicht wirklicher Kampf, nur Spiel. Ich höre die leichten lauten Schläge, die sie einander geben, das Schnaufen, das jetzt schon wirkliche Atemnot bedeutet, hie und da ein paar Worte. Schließlich mache ich selbst die Tür auf und sie stürzen herein, heiß, mit zerrissenen Hemden und dem beißenden Geruch ihres Atems. Dann fallen wir auf den Teppich nieder und nun wird es allmählich still.«

»Nun, warum schweigst du?«

»Ich vergaß den Zusammenhang. Wie war es? Du fragtest mich nach der Herkunft meiner angeblichen Macht und ich nannte die Frauen. Nun ja, so ist es, aus den Frauen kommt meine Macht.«

»Aus dem bloßen Zusammenleben mit ihnen?«

»Aus dem Zusammenleben.«

»Du bist so schweigsam geworden.«

»Du siehst, meine Macht hat Grenzen. Irgend etwas befiehlt mir, zu schweigen. Leb wohl.«

Das Pferd stolperte, fiel auf die Vorderbeine nieder, der Reiter wurde abgeworfen. Zwei Männer, die jeder für sich irgendwo im Baumschatten gelungert hatten, kamen hervor und besahen den Abgestürzten. Alles war jedem von ihnen irgendwie verdächtig, das Sonnenlicht, das Pferd, das wieder aufrecht stand, der Reiter, der Mann gegenüber, der plötzlich, gelockt durch den Unfall, hervorgekommen war. Sie näherten sich langsam, hatten die Lippen mürrisch aufgeworfen und mit der Hand, die sie in das vorn offene Hemd geschoben hatten, fuhren sie unschlüssig an Brust und Hals umher.

Es ist eine Stadt unter den Städten, ihre Vergangenheit war größer als ihre Gegenwart, aber auch diese ist noch ansehnlich genug.

Der Bürgermeister hatte einige Schriftstücke unterschrieben, dann lehnte er sich zurück, nahm spielend eine Schere in die Hand, horchte auf das Mittagsläuten draußen auf dem alten Platz und sagte zu dem Sekretär, der steif vor Ehrerbietung, fast hochmütig vor Ehrerbietung neben dem Schreibtisch stand: »Haben Sie auch bemerkt, daß sich etwas Besonderes in der Stadt vorbereitet? Sie sind jung, sie müssen doch den Blick dafür haben.«

In einer Neumondnacht ging ich aus einem Nachbardorf nach Hause, es war ein kurzer Weg auf gerader, völlig dem Monde ausgesetzter Landstraße, man sah jede Kleinigkeit auf dem Boden genauer als bei Tag. Ich war nicht mehr weit von der kleinen Pappelallee, an deren Ende dann schon unsere Dorfbrücke sich anschließt, da sah ich ein paar Schritte vor mir – ich mußte geträumt haben, daß ich es nicht früher gesehen hatte –, einen kleinen Verschlag aus Holz und Tuch, ein kleines, aber sehr niedriges Zelt, Menschen hätten darin nicht aufrecht sitzen können. Es war völlig abgeschlossen; auch als ich es ganz nahe umging und betastete, fand ich keine Lücke. Man sieht auf dem Land mancherlei und lernt daraus, auch Fremdes leicht zu beurteilen, aber wie dieses Zelt hierhergekommen war und was es sollte, konnte ich nicht verstehn.

Eine junge zigeunerartige Frau macht vor dem Altar aus Federbetten und Decken ein weiches Lager zurecht. Sie ist bloßfüßig, hat einen weißgemusterten roten Rock, eine weiße, hemdartige, vorn nachlässig offene Bluse und wild verschlungene braune Haare. Auf dem Altar steht ein Waschbecken.

Auf dem Tisch lag ein großer Laib Brot. Der Vater kam mit einem Messer und wollte ihn in zwei Hälften schneiden. Aber trotzdem das Messer stark und scharf, das Brot nicht zu weich und nicht zu hart war, konnte sich das Messer nicht einschneiden. Wir Kinder blickten verwundert zum Vater auf. Er sagte: »Warum wundert ihr euch? Ist es nicht merkwürdiger, daß etwas gelingt, als daß es nicht gelingt? Geht schlafen, ich werde es doch vielleicht noch erreichen.«

Wir legten uns schlafen, aber hie und da, zu verschiedensten Nachtstunden, erhob sich dieser oder jener von uns im Bett und streckte den Hals, um nach dem Vater zu sehn, der noch immer, der große Mann in seinem langen Rock, das rechte Bein im Ausfall, das Messer in das Brot zu treiben suchte. Als wir früh aufwachten, legte der Vater das Messer eben nieder und sagte: »Seht, es ist mir noch nicht gelungen, so schwer ist das.« Wir wollten uns auszeichnen und selbst es versuchen, er erlaubte es uns auch, aber wir konnten das Messer, dessen Schaft übrigens vom Griff des Vaters fast glühte, kaum heben, es bäumte sich förmlich in unserer Hand. Der Vater lachte und sagte: »Laßt es liegen, jetzt gehe ich in die Stadt, abends werde ich es wieder zu zerschneiden versuchen. Von einem Brot werde ich mich nicht zum Narren halten lassen. Zerschneiden muß es sich schließlich lassen, nur wehren darf es sich, mag es sich also wehren.« Aber als er das sagte, zog sich das Brot zusammen, so wie sich der Mund eines zu allem entschlossenen Menschen zusammenzieht und nun war es ein ganz kleines Brot.

Ich schärfte die Sense und begann zu schneiden. Es fiel viel vor mir nieder, dunkle Massen, ich schritt zwischen ihnen durch, ich wußte nicht, was es war. Aus dem Dorf riefen warnende Stimmen, ich hielt sie aber für ermutigende Stimmen und ging weiter. Ich kam zu einer kleinen Holzbrücke, nun war die Arbeit zu Ende und ich übergab die Sense einem Mann, der dort wartete, die eine Hand nach ihr ausstreckte und mit der andern wie einem Kind über meine Wange strich. In der Mitte der Brücke bekam ich Zweifel, ob ich auf dem richtigen Weg sei, und rief laut in die Finsternis, aber es antwortete niemand. Da ging ich wieder zurück auf das feste Land, um den Mann zu fragen, aber er war nicht mehr dort.

»Das alles ist ja nutzlos«, sagte er, »nicht einmal mich erkennst du, und ich stehe doch vor dir Brust an Brust. Wie willst du weiterkommen, da ich doch vor dir stehe und du nicht einmal mich erkennst.«

»Du hast recht«, sagte ich, »so rede ich ja auch zu mir, aber da ich keine Antwort bekomme, bleibe ich.« »Ebenso ich«, sagte er.

»Und ich nicht weniger als du«, sagte ich, »und deshalb gilt es auch für dich, daß alles nutzlos ist.«

Ich hatte mitten in den Sumpfwäldern eine Wache aufgestellt. Nun aber war alles leer, niemand antwortete den Rufen, die Wache hatte sich verlaufen, ich mußte eine neue Wache aufstellen. Ich sah in das frische, starkknochige Gesicht des Mannes. »Der vorige Posten hat sich verlaufen«, sagte ich, »ich weiß nicht warum, aber es geschieht, daß dieses öde Land den Posten von seinem Platz lockt. Nimm dich also in acht!« Er stand aufrecht vor mir, in Paradestellung. Ich fügte noch hinzu: »Solltest du dich aber doch verlocken lassen, ist es nur dein Schaden. Du versinkst im Sumpf, ich aber werde gleich eine neue Wache hier aufstellen, und wenn die untreu werden sollte, wieder eine andere und so fort ohne Ende. Gewinne ich nicht, so werde ich doch auch nicht verlieren.«

Mein Vater führte mich zum Schuldirektor. Es schien eine große Anstalt zu sein, wir durchschritten einige saalartige Räume, allerdings war alles leer. Einen Diener fanden wir nicht, wir gingen daher rücksichtlos weiter, auch waren alle Türen offen. Plötzlich zuckten wir zurück, das Zimmer, in das wir eilig eingetreten waren wie in alle früheren, war, wenn auch mit sehr wenig Möbeln, doch als Arbeitszimmer eingerichtet und auf dem Kanapee lag ein Mann. Es war, ich erkannte ihn nach Photographien, der Schuldirektor; ohne aufzustehn, forderte er uns auf, näherzutreten. Die Entschuldigungen meines Vaters wegen unseres unhöflichen Eindringens ins Direktorat hörte er mit geschlossenen Augen an, dann fragte er, was wir haben wollten. Das zu hören war auch ich neugierig, so sahen wir beide, der Direktor und ich, den Vater an. Der Vater sagte, es liege ihm daran, daß sein Sohn, jetzt achtzehn Jahre ...

Er blickte aus dem Fenster. Ein trüber Tag. Es ist November. Ihm scheint, daß zwar jeder Monat eine besondere Bedeutung hat, der November aber noch einen besondern Zusatz von Besonderheit. Vorläufig ist davon allerdings nichts zu sehn, es fällt bloß ein mit Schnee untermischter Regen. Aber das ist vielleicht nur der äußere Anblick, der immer täuscht, denn da sich die Menschen als Gesamtheit allem gleich anpassen und man doch zunächst nach dem Anblick der Menschen urteilt, sollte man eigentlich niemals eine Veränderung der Weltlage wahrnehmen können. Aber da man auch selbst ein Mensch ist, seine Anpassungskraft kennt und von ihr aus urteilt, erfahrt man doch einiges und weiß, was man davon zu halten hat, daß der Verkehr unten nicht stillsteht, sondern Straße auf, Straße ab mit verbissener unermüdlicher undurchdringlicher Überlegenheit sich in Gang erhält.

Der Kranke war viele Stunden allein gelegen, das Fieber war ein wenig zurückgegangen, hie und da hatte er einen leichten Halbschlaf einfangen können, im übrigen hatte er, da er sich vor Schwäche nicht rühren konnte, zur Decke hinaufgesehn und gegen viele Gedanken kämpfen müssen. Sein Denken schien überhaupt nur in Abwehr zu bestehn, alles, woran er zu denken anfing, langweilte oder quälte ihn und er verbrauchte seine Kraft damit, sein Denken zu ersticken.

Es war gewiß schon Abend, jedenfalls war es schon lange finster, da es November war, als sich die Tür des Nebenzimmers öffnete, die Vermieterin hereinschlüpfte, um das elektrische Licht aufzudrehn, und der Arzt ihr folgte. Der Kranke wunderte sich, wie wenig krank er eigentlich war oder wie wenig die Krankheit ihn angriff, denn er erkannte die Eintretenden ganz genau, keine ihrer bekannten Einzelheiten fehlte, ja nicht einmal jene, welche ihm Gefühle der Öde oder des Ekels zu erregen pflegten, erschienen irgendwie übertrieben, alles war, wie es immer war.

... abzuschütteln, in gewöhnlichen Zeiten ruhig ertrug, in der Trunkenheit aber doch dagegen rebellierte. Und wenn ich natürlich auch die Intimitäten, die ich unter solchen Umständen erfuhr, keinesfalls in der Zeitung preisgeben wollte, hatte ich doch schon die Umrisse eines Artikels im Kopfe fertig, in welchem ich darstellen wollte, daß überall, wo sich menschliche Größe unverhüllt zeigen kann, also vor allem im Sport, sich auch gleich Gesindel herandrängt und rücksichtslos, ohne überhaupt ernstlich zu dem Helden aufzublicken, nur über die eigenen Interessen gebeugt, seinen Vorteil sucht und bestenfalls sein Verhalten damit entschuldigt, daß es zum Nutzen der Allgemeinheit geschehe.

... Dann lag die Ebene vor K. und in der Ferne, weit im Blauen auf einem kleinen Hügel, kaum zu erkennen, das Haus, zu dem er strebte. Aber es dauerte noch bis zum Abend und viele Male war ihm während des Tages das Ziel aus dem Blick entschwunden, bis er auf schon dunkelndem Feldweg plötzlich am Fuße jenes Hügels stand. »Da ist also mein Haus«, sagte er sich, »ein kleines altes klägliches Haus, aber es ist meines, und in ein paar Monaten soll es anders aussehn.« Und er stieg zwischen Wiesen den Hügel hinauf. Die Tür war offen, ja sie konnte gar nicht geschlossen werden, denn der eine Türflügel fehlte. Eine Katze, die auf der Schwelle gesessen hatte, verschwand mit großem Geschrei, so schreien Katzen sonst nicht. Die Türen der zwei Räume rechts und links von der Treppe waren offen, mit ein paar halbzerbrochenen alten Möbelstücken ausgestattet, sonst leer. Aber von oben, von der Treppe herab, die sich im Finstern verlor, fragte eine zitternde, fast röchelnde Stimme, wer gekommen sei. K. machte einen großen Schritt über die ersten drei Stufen, die in der Mitte zerbrochen waren – sonderbarerweise sahen die Bruchstellen frisch aus, als sei es heute oder gestern geschehn –, und stieg hinauf. Auch oben war die Zimmertür offen. ...

Ich entlief ihr. Ich lief den Abhang hinunter. Das hohe Gras hinderte mich im Laufen. Sie stand oben bei einem Baum und sah mir nach.

Hier ist es unerträglich. Gestern sprach ich mit Jericho. Er sitzt in eine Ecke gedrückt und liest die Zeitung. Ich sagte: »Jericho, werden Sie für mich stimmen?« Er schüttelte nur den Kopf und las weiter. Ich sagte: »Ich will Ihre Stimme nicht als irgendeine beliebige Stimme. Ich werde doch keinesfalls genug Stimmen haben, mein Mißerfolg ist sicher. Aber ...

Ich war einmal auch mitten in der Wahlbewegung. Das ist aber nun schon viele Jahre her. Ein Kandidat hatte mich für die Wahlperiode zu schriftlichen Arbeiten aufgenommen. Ich erinnere mich natürlich nur noch sehr undeutlich an das Ganze.

Was baust du? – Ich will einen Gang graben. Es muß ein Fortschritt geschehn. Zu hoch oben ist mein Standort.

Wir graben den Schacht von Babel.

Nur drei Zickzackstriche blieben von ihm zurück. Wie war er vergraben gewesen in seine Arbeit. Und wie war er in Wirklichkeit gar nicht vergraben gewesen.

Ein Strohhalm? Mancher hält sich an einem Bleistiftstrich über Wasser. Hält sich? Träumt als Ertrunkener von einer Rettung.

Der Tod mußte ihn aus dem Leben herausheben, so wie man einen Krüppel aus dem Rollwagen hebt. Er saß so fest und schwer in seinem Leben wie der Krüppel im Rollwagen.

Die zum Sterben Bereiten, sie lagen am Boden, sie lehnten an den Möbeln, sie klapperten mit den Zähnen, sie tasteten, ohne sich vom Platz zu rühren, die Wand ab.

Ein junger Student wollte an einem Abend im Januar zur Zeit der großen Gesellschaften seinen besten Freund, den Sohn eines hohen Staatsbeamten, aufsuchen. Er wollte ihm ein Buch zeigen, das er gerade las und von dem er ihm auch schon viel erzählt hatte. Es war ein schwer verständliches Buch über die Grundzüge der Geschichte der Volkswirtschaft, man konnte nur schwer folgen, der Autor hielt sein Thema, wie es in einer Kritik sehr bezeichnend hieß, an sich gedrückt wie der Vater das Kind, mit dem er durch die Nacht reitet. Trotz aller Schwierigkeit verlockte es aber den Studenten sehr; wenn er eine zusammenhängende Stelle durchdrungen hatte, fühlte er einen großen Gewinn; nicht nur die gerade vorgetragene Ansicht, sondern alles ringsherum schien ihm einleuchtender, besser bewiesen und widerstandskräftiger. Einigemal auf dem Weg zu seinem Freund blieb er unter einer Laterne stehn und las bei dem durch Schneenebel gedämpften Licht einige Sätze. Große, seine Fassungskraft übersteigende Sorgen bedrückten ihn, das Gegenwärtige war zu erfassen, die vor ihm liegende Aufgabe aber erschien ihm undeutlich und ohne Ende, vergleichbar nur seinen Kräften, die er ebenso und noch nicht aufgerufen in sich fühlte.

Das Schreiben versagt sich mir. Daher Plan der selbstbiographischen Untersuchungen. Nicht Biographie, sondern Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile. Daraus will ich mich dann aufbauen, so wie einer, dessen Haus unsicher ist, daneben ein sicheres aufbauen will, womöglich aus dem Material des alten. Schlimm ist es allerdings, wenn mitten im Bau seine Kraft aufhört und er jetzt statt eines zwar unsichern aber doch vollständigen Hauses, ein halbzerstörtes und ein halbfertiges hat, also nichts. Was folgt ist Irrsinn, also etwa ein Kosakentanz zwischen den zwei Häusern, wobei der Kosak mit den Stiefelabsätzen die Erde so lange scharrt und auswirft, bis sich unter ihm sein Grab bildet.

Die Leichtfertigkeit der Kinder ist unbegreiflich. Aus dem Fenster meines Zimmers sehe ich in einen kleinen öffentlichen Garten hinunter. Ein kleiner städtischer Garten ist es, nicht viel mehr als ein staubiger freier Platz, der von welken Gesträuchen gegen die Gasse hin abgegrenzt ist. Dort spielten die Kinder, wie immer, auch heute nachmittag.

»Wie bin ich hierhergekommen?« rief ich. Es war ein mäßig großer, von mildem elektrischem Licht beleuchteter Saal, dessen Wände ich abschritt. Es waren zwar einige Türen vorhanden, öffnete man sie aber, dann stand man vor einer dunklen glatten Felswand, die kaum eine Handbreit von der Türschwelle entfernt war und geradlinig aufwärts und nach beiden Seiten in unabsehbare Ferne verlief. Hier war kein Ausweg. Nur eine Tür führte in ein Nebenzimmer, die Aussicht dort war hoffnungsreicher, aber nicht weniger befremdend als bei den anderen Türen. Man sah in ein Fürstenzimmer, Rot und Gold herrschte dort vor, es gab dort mehrere wandhohe Spiegel und einen großen Glaslüster. Aber das war noch nicht alles.

Ich muß nicht mehr zurück, die Zelle ist gesprengt, ich bewege mich, ich fühle meinen Körper.

Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitest du, Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel?« fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹, das ist mein Ziel.« »Du hast keinen Eßvorrat mit«, sagte er. »Ich brauche keinen«, sagte ich, »die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheuere Reise.«

Atemlos kam ich an. Eine Stange war ein wenig schief in den Boden gerammt und trug eine Tafel mit der Aufschrift ›Versenkung‹. Ich dürfte am Ziel sein, sagte ich mir und blickte mich um. Nur ein paar Schritte weit war eine unscheinbare, dicht mit Grün überwachsene Gartenlaube, aus der ich leichtes Tellerklappern hörte. Ich ging hin, steckte den Kopf durch die niedrige Öffnung, sah kaum etwas in dem dunklen Innern, grüßte aber doch und fragte: »Wissen Sie nicht, wer die Versenkung besorgt?« »Ich selbst, Ihnen zu dienen«, sagte eine freundliche Stimme, »ich komme sofort.« Nun erkannte ich langsam die kleine Gesellschaft, es war ein junges Ehepaar, drei kleine Kinder, die mit der Stirn kaum die Tischplatte erreichten, und ein Säugling, noch in den Armen der Mutter. Der Mann, der in der Tiefe der Laube saß, wollte gleich aufstehn und sich hinausdrängen, die Frau aber bat ihn herzlich, zuerst das Essen zu beenden, er jedoch zeigte auf mich, sie wiederum sagte, ich werde so freundlich sein und ein wenig warten und ihnen die Ehre erweisen, an ihrem armen Mittagessen teilzunehmen, ich schließlich, äußerst ärgerlich über mich selbst, der ich hier die Sonntagsfreude so häßlich störte, mußte sagen: »Leider leider, liebe Frau, kann ich der Einladung nicht entsprechen, denn ich muß mich augenblicklich, ja wirklich augenblicklich versenken lassen.« »Ach«, sagte die Frau, »gerade am Sonntag und noch beim Mittagessen. Ach die Launen der Leute. Die ewige Sklaverei.« »Zanken Sie doch nicht so«, sagte ich, »ich verlange es ja von Ihrem Mann nicht aus Mutwillen, und wüßte ich, wie man es macht, hätte ich es schon längst allein getan.« »Hören Sie nicht auf die Frau«, sagte der Mann, der schon neben mir war und mich fortzog. »Verlangen Sie doch nicht Verstand von Frauen.«

Es war ein schmaler, niedriger, rundgewölbter, weiß getünchter Gang, ich stand vor seinem Eingang, er führte schief in die Tiefe. Ich wußte nicht, ob ich eintreten sollte, unschlüssig zerrieb ich mit meinen Füßen das schüttere Gras, das vor dem Eingang wuchs. Da kam ein Herr vorüber, wohl zufällig, er war ein wenig gebückt, aber willkürlich, weil er mit mir sprechen wollte. »Wohin denn, Kleiner?« fragte er. »Noch nirgendhin«, sagte ich und blickte in sein fröhliches, aber hochmütiges Gesicht – es wäre hochmütig gewesen auch ohne das Monokel, das er trug – »noch nirgendhin. Ich überlege erst.«

»Sonderbar!« sagte der Hund und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Wo bin ich denn herumgelaufen, zuerst über den Marktplatz, dann durch den Hohlweg den Hügel hinauf, dann vielemal über die große Hochebene kreuz und quer, dann den Absturz hinunter, dann ein Stück auf der Landstraße, dann links zum Bach, dann die Pappelreihe entlang, dann an der Kirche vorbei, und jetzt bin ich hier. Warum denn das? Und ich war dabei verzweifelt. Ein Glück, daß ich wieder zurück bin. Ich fürchte mich vor diesem zwecklosen Herumlaufen, vor diesen großen öden Räumen, was für ein armer, hilfloser, kleiner, gar nicht mehr aufzufindender Hund bin ich dort. Es lockt mich auch gar nichts dazu, von hier wegzulaufen, hier im Hof ist mein Ort, hier ist meine Hütte, hier meine Kette für den manchmal eintretenden Fall der Bissigkeit, alles ist hier und reichliche Nahrung. Nun also. Ich würde auch niemals aus eigenem Willen von hier weglaufen, ich fühle mich hier wohl, bin stolz auf meine Stellung, wohlige, aber berechtigte Überhebung durchrieselt mich beim Anblick des anderen Viehs. Läuft aber irgendein anderes von den Tieren so sinnlos weg wie ich? Kein einziges, die Katze, das weiche krallige Ding, das niemand benötigt und niemand entbehrt, nehme ich aus, sie hat ihre Geheimnisse, die mich nicht kümmern, und läuft in ihrem Dienst herum, aber auch sie nur im Bezirk des Hauses. Ich bin also der einzige, der hie und da desertiert, und es kann mich ganz gewiß einmal meine überragende Stellung kosten. Heute scheint es glücklicherweise niemand bemerkt zu haben, aber letzthin machte schon Richard, der Sohn des Herrn, eine Bemerkung darüber. Es war Sonntag, Richard saß auf der Bank und rauchte, ich lag zu seinen Füßen, die Wange an die Erde gedrückt. ›Cäsar‹, sagte er, ›du böser, untreuer Hund, wo warst du heute morgens? Um fünf Uhr früh, also zu einer Zeit, wo du noch wachen sollst, habe ich dich gesucht und dich nirgends im Hof gefunden, erst um Viertel sieben bist du zurückgekommen. Das ist eine Pflichtverletzung sondergleichen, weißt du das?‹ So war es also wieder einmal entdeckt. Ich stand auf, setzte mich zu ihm, umfaßte ihn mit einem Arm und sagte: ›Lieber Richard, sieh es mir dieses eine Mal noch nach und verbreite die Sache nicht. Soweit es an mir liegt, es soll nicht wieder vorkommen.‹ Und ich weinte so sehr, aus allen möglichen Gründen, aus Verzweiflung über mich, aus Angst vor Strafe, aus Rührung über Richards friedliche Miene, aus Freude über das augenblickliche Fehlen eines Strafwerkzeugs, ich weinte so sehr, daß ich mit meinen Tränen Richards Rock näßte, er mich abschüttelte und mir befahl, mich zu kuschen. Damals versprach ich also Besserung und heute wiederholt sich das gleiche, ich war sogar länger fort als damals. Freilich, ich versprach nur, mich zu bessern, soweit es an mir liegt. Und es ist nicht meine Schuld ...«

Der Kampf mit der Zellenwand.

Unentschieden.

Es ist eine schöne und wirkungsvolle Vorführung, der Ritt, den wir den Ritt der Träume nennen. Wir zeigen ihn schon seit Jahren; der, welcher ihn erfunden hat, ist längst gestorben, an Lungenschwindsucht, aber diese seine Hinterlassenschaft ist geblieben und wir haben noch immer keinen Grund, den Ritt von den Programmen abzusetzen, um so weniger, als er von der Konkurrenz nicht nachgeahmt werden kann, er ist, trotzdem das auf den ersten Blick nicht verständlich ist, unnachahmbar. Wir pflegen ihn an den Schluß der ersten Abteilung zu setzen, als Abschluß des Abends würde er sich nicht eignen, es ist nichts Blendendes, nichts Kostbares, nichts, wovon man auf dem Nachhauseweg spricht, zum Schluß muß etwas kommen, was auch dem gröbsten Kopf unvergeßlich bleibt, etwas, was den ganzen Abend vor dem Vergessenwerden rettet, etwas derartiges ist dieser Ritt nicht, wohl aber ist er geeignet ...

Ein Freund, den ich schon viele Jahre, mehr als zwanzig, nicht gesehen hatte und von dem ich auch nur sehr unregelmäßige, oft jahrelang ausbleibende Nachrichten bekommen hatte, sollte nun wieder einmal in unsere Stadt, in seine Vaterstadt zurückkommen. Ich hatte ihm, da er keine Verwandten mehr hier besaß und unter seinen Freunden ich der bei weitem ihm nächste war, ein Zimmer bei mir angeboten und hatte die Freude, die Einladung angenommen zu sehn. Die Einrichtung des Zimmers im Sinne meines Freundes zu vervollständigen, ließ ich mir sehr angelegen sein, ich suchte mich an seine Eigenheiten zu erinnern, an besondere Wünsche, die er manchmal, besonders bei unsern gemeinsamen Ferienreisen ausgesprochen hatte, suchte mich daran zu erinnern, was er in seiner nächsten Umgebung geliebt und was er verabscheut hatte, suchte mir die Einzelheiten vorzustellen, wie sein Jugendzimmer ausgesehen hatte, fand aus alledem nichts, was ich in meiner Wohnung, um sie ihm etwas heimischer zu machen, hätte einrichten können. Er stammte aus einer ärmlichen vielköpfigen Familie, Not und Lärm und Zank waren die Kennzeichen der Wohnung gewesen. Ich sah in der Erinnerung noch genau das Zimmer neben der Küche, in dem wir manchmal, selten genug, allein uns zusammenducken konnten, während nebenan in der Küche die übrige Familie ihre Streitigkeiten austrug, an denen es hier niemals fehlte. Ein kleines dunkles Zimmer mit unausrottbarem Kaffeegeruch, denn die Tür zu der noch dunkleren Küche war Tag und Nacht offen. Dort saßen wir beim Fenster, das auf eine überdeckte, den Hof umlaufende Pawlatsche hinausging und spielten Schach. Zwei Figuren fehlten in unserem Spiel und wir mußten sie durch Hosenknöpfe ersetzen, dadurch entstanden zwar, wenn wir die Bedeutung der Knöpfe verwechselten, oft Schwierigkeiten, aber wir waren an diesen Ersatz gewöhnt und blieben dabei. Nebenan auf dem Gang wohnte ein Paramentenhändler, ein lustiger, aber unruhiger Mann mit einem lang ausgezogenen Schnurrbart, an dem er wie auf einer Flöte herumgriff. Wenn dieser Mann abends nach Hause ging, mußte er an unserem Fenster vorüberkommen, dann blieb er gewöhnlich stehn, lehnte sich zu uns ins Zimmer herein und sah uns zu. Fast immer war er mit unserem Spiel unzufrieden, mit meinem wie mit dem des Freundes, gab ihm und mir Ratschläge, ergriff dann selbst die Figuren und machte Züge, die wir gelten lassen mußten, denn wenn wir sie ändern wollten, schlug er unsere Hände nieder; lange duldeten wir es, denn er war ein besserer Spieler als wir, nicht viel besser, aber doch so, daß wir von ihm lernen konnten; aber als er einmal, als es schon dunkel war, sich zu uns vorbeugte, das ganze Brett uns fortnahm und es vor sich auf das Fensterbrett legte, um sich den Spielstand genau ansehn zu können, stand ich, der ich gerade beim Spiel in wesentlichem Vorteil war und dies durch sein grobes Eingreifen gefährdet glaubte, in dem nichts überlegenden Zorn des Knaben, dem ein offenbares Unrecht geschieht, auf und sagte, daß er uns im Spiel störe. Er sah uns kurz an, nahm wieder das Brett, legte es mit ironisch übertriebener Bereitwilligkeit wieder auf den alten Platz, ging fort und kannte uns von da an nicht mehr. Nur immer, wenn er am Fenster vorüberkam, machte er, ohne zu uns hereinzusehn, eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Zuerst feierten wir das Ganze als einen großen Sieg, aber dann fehlte er uns doch mit seinen Belehrungen, seiner Lustigkeit, seiner ganzen Teilnahme, wir vernachlässigten, ohne damals genau den Grund zu wissen, das Spiel und wandten uns bald gänzlich andern Dingen zu. Wir fingen an Marken zu sammeln und es war, wie ich erst nachträglich verstand, das Zeichen einer fast unbegreiflich engen Freundschaft, daß wir ein gemeinsames Markenalbum hatten. Eine Nacht wurde es immer bei mir aufbewahrt, die nächste bei ihm. Die durch diesen gemeinsamen Besitz schon an und für sich entstehenden Schwierigkeiten wurden noch dadurch erhöht, daß mein Freund überhaupt zu mir in die Wohnung nicht kommen durfte, meine Eltern erlaubten es nicht. Dieses Verbot war nicht eigentlich gegen ihn gerichtet, den die Eltern kaum kannten, sondern gegen seine Eltern, gegen seine Familie. In diesem Sinn war es auch wahrscheinlich nicht unbegründet, aber in seiner Form war es doch nicht sehr verständig, denn es wurde ja dadurch nichts anderes erreicht, als daß ich täglich zu meinem Freunde ging und dadurch in den Dunstkreis jener Familie noch viel tiefer geriet, als wenn der Freund zu uns hätte kommen dürfen. Bei meinen Eltern regierte eben statt des Verstandes oft nur Tyrannei, nicht nur mir gegenüber, sondern auch der Welt gegenüber. In diesem Fall genügte es ihnen – und hier war die Mutter mehr beteiligt als der Vater  –, daß die Familie meines Freundes durch dieses Verbot bestraft und herabgewürdigt war. Daß ich dadurch in Mitleidenschaft gezogen war, ja daß mich die Eltern des Freundes in natürlicher Gegenwehr spöttisch und verächtlich behandelten, wußten meine Eltern allerdings nicht, bekümmerten sich aber um mich in dieser Richtung gar nicht und es hätte sie auch, wenn sie es erfahren hätten, nicht sehr berührt. So beurteile ich das Ganze natürlich nur im Rückblick, damals waren wir zwei Freunde, mit dem Stand der Dinge zufrieden genug, und das Leid wegen der Unvollkommenheit der Erdendinge drang noch nicht zu uns. Es war umständlich, das Album täglich hin- und herzutragen, aber ...

Es kam Gesang aus einer Kneipe, ein Fenster war geöffnet, es war nicht eingehakt und schwankte hin und her. Es war eine kleine Hütte, ebenerdig, und ringsum war Leere, es war schon weit vor der Stadt. Es kam ein später Gast, schleichend, auf den Fußspitzen, in enganliegendem Kleid, tastete sich vor wie im Finstern und es war doch Mondlicht, horchte am Fenster, schüttelte den Kopf, verstand nicht, wie dieser schöne Gesang aus einer solchen Kneipe kam, schwang sich rücklings auf das Fensterbrett, unvorsichtig wohl, denn er konnte sich nicht oben erhalten und fiel gleich ins Innere, aber nicht tief, denn beim Fenster stand ein Tisch. Die Weingläser flogen zu Boden, zwei Männer, die bei dem Tisch gesessen waren, erhoben sich und warfen kurz entschlossen den neuen Gast, die Füße hatte er ja noch außen, wieder durch das Fenster zurück, er fiel in weiches Gras, stand gleich auf und horchte, aber der Gesang hatte aufgehört.

Der Ort hieß Thamühl. Es war dort sehr feucht.

In der Thamühler Synagoge lebt ein Tier von der Größe und Gestalt etwa eines Marders.

Die Synagoge von Thamühl ist ein einfacher kahler niedriger Bau aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts. So klein die Synagoge ist, so reicht sie doch völlig aus, denn auch die Gemeinde ist klein und verkleinert sich von Jahr zu Jahr. Schon jetzt macht es der Gemeinde Mühe, die Kosten für die Erhaltung der Synagoge aufzubringen und es gibt einzelne, welche offen sagen, daß ein kleines Betzimmer durchaus dem Gottesdienst genügen würde.

In unserer Synagoge lebt ein Tier in der Größe etwa eines Marders. Es ist oft sehr gut zu sehn, bis auf eine Entfernung von etwa zwei Metern duldet es das Herankommen der Menschen. Seine Farbe ist ein helles Blaugrün. Sein Fell hat noch niemand berührt, es läßt sich also darüber nichts sagen, fast möchte man behaupten, daß auch die wirkliche Farbe des Felles unbekannt ist, vielleicht stammt die sichtbare Farbe nur vom Staub und Mörtel, die sich im Fell verfangen haben, die Farbe ähnelt ja auch dem Verputz des Synagogeninnern, nur ist sie ein wenig heller. Es ist, von seiner Furchtsamkeit abgesehn, ein ungemein ruhiges seßhaftes Tier; würde es nicht so oft aufgescheucht werden, es würde wohl den Ort kaum wechseln, sein Lieblingsaufenthalt ist das Gitter der Frauenabteilung, mit sichtbarem Behagen krallt es sich in die Maschen des Gitters, streckt sich und blickt hinab in den Betraum, diese kühne Stellung scheint es zu freuen, aber der Tempeldiener hat den Auftrag, das Tier niemals am Gitter zu dulden, es würde sich an diesen Platz gewöhnen, und das kann man wegen der Frauen, die das Tier fürchten, nicht zulassen. Warum sie es fürchten, ist unklar. Es sieht allerdings beim ersten Anblick erschreckend aus, besonders der lange Hals, das dreikantige Gesicht, die fast waagrecht vorstehenden Oberzähne, über der Oberlippe eine Reihe langer, die Zähne überragender, offenbar ganz harter, heller Borstenhaare, das alles kann erschrecken, aber bald muß man erkennen, wie ungefährlich dieser ganze scheinbare Schrecken ist. Vor allem hält es sich ja von den Menschen fern, es ist scheuer als ein Waldtier und scheint mit nichts als dem Gebäude verbunden und sein persönliches Unglück besteht wohl darin, daß dieses Gebäude eine Synagoge ist, also ein zeitweilig sehr belebter Ort. Könnte man sich mit dem Tier verständigen, könnte man es allerdings damit trösten, daß die Gemeinde unseres Bergstädtchens von Jahr zu Jahr kleiner wird und es ihr schon Mühe macht, die Kosten für die Erhaltung der Synagoge aufzubringen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß in einiger Zeit aus der Synagoge ein Getreidespeicher wird oder dergleichen und daß das Tier die Ruhe bekommt, die ihm jetzt schmerzlich fehlt.

Es sind allerdings nur die Frauen, die das Tier fürchten, den Männern ist es längst gleichgültig geworden, eine Generation hat es der anderen gezeigt, immer wieder hat man es gesehn, schließlich hat man keinen Blick mehr daran gewendet und selbst die Kinder, die es zum erstenmal sehn, staunen nicht mehr. Es ist das Haustier der Synagoge geworden, warum sollte nicht die Synagoge ein besonderes, nirgends sonst vorkommendes Haustier haben? Wären nicht die Frauen, man würde kaum mehr von der Existenz des Tieres wissen. Aber selbst die Frauen haben keine wirkliche Furcht vor dem Tier, es wäre auch zu sonderbar, ein solches Tier tagaus, tagein zu fürchten, jahre- und jahrzehntelang. Sie verteidigen sich zwar damit, daß ihnen das Tier meist viel näher ist als den Männern, und das ist richtig. Hinunter zu den Männern wagt sich das Tier nicht, niemals hat man es noch auf dem Fußboden gesehn. Läßt man es nicht zum Gitter der Frauenabteilung, so hält es sich wenigstens in gleicher Höhe auf der gegenüberliegenden Wand auf. Dort ist ein ganz schmaler Mauervorsprung, kaum zwei Finger breit, er umläuft drei Seiten der Synagoge, auf diesem Vorsprung huscht das Tier manchmal hin und her, meistens aber hockt es ruhig auf einer bestimmten Stelle gegenüber den Frauen. Es ist fast unbegreiflich, wie es diesen schmalen Weg so leicht benützen kann, und die Art, wie es dort oben, am Ende angekommen, wieder wendet, ist sehenswert, es ist doch schon ein sehr altes Tier, aber es zögert nicht, den gewagtesten Luftsprung zu machen, der auch niemals mißlingt, in der Luft hat es sich umgedreht und schon läuft es wieder seinen Weg zurück. Allerdings wenn man das einigemal gesehen hat, ist man gesättigt und hat keinen Anlaß, immerfort hinzustarren. Es ist ja auch weder Furcht noch Neugier, welche die Frauen in Bewegung hält, würden sie sich mehr mit dem Beten beschäftigen, könnten sie das Tier völlig vergessen, die frommen Frauen täten das auch, wenn es die andern, welche die große Mehrzahl sind, zuließen, diese aber wollen immer gern auf sich aufmerksam machen und das Tier ist ihnen dafür ein willkommener Vorwand. Wenn sie es könnten und wenn sie es wagten, hätten sie das Tier noch näher an sich gelockt, um noch mehr erschrecken zu dürfen. Aber in Wirklichkeit drängt sich ja das Tier gar nicht zu ihnen, es kümmert sich, wenn es nicht angegriffen wird, um sie ebensowenig wie um die Männer, am liebsten würde es wahrscheinlich in der Verborgenheit bleiben, in der es in den Zeiten außerhalb des Gottesdienstes lebt, offenbar in irgendeinem Mauerloch, das wir noch nicht entdeckt haben. Erst wenn man zu beten anfängt, erscheint es, erschreckt durch den Lärm. Will es sehen, was geschehen ist, will es wachsam bleiben, will es frei sein, fähig zur Flucht? Vor Angst läuft es hervor, aus Angst macht es seine Kapriolen und wagt sich nicht zurückzuziehen, bis der Gottesdienst zu Ende ist. Die Höhe bevorzugt es natürlich deshalb, weil es dort am sichersten ist, und die besten Laufmöglichkeiten hat es auf dem Gitter und dem Mauervorsprung, aber es ist keineswegs immer dort, manchmal steigt es auch tiefer zu den Männern hinab, der Vorhang der Bundeslade wird von einer glänzenden Messingstange getragen, die scheint das Tier zu locken, oft genug schleicht es hin, dort aber ist es immer ruhig, nicht einmal wenn es dort knapp bei der Bundeslade ist, kann man sagen, daß es stört, mit seinen blanken, immer offenen, vielleicht lidlosen Augen scheint es die Gemeinde anzusehen, sieht aber gewiß niemanden an, sondern blickt nur den Gefahren entgegen, von denen es sich bedroht fühlt.

In dieser Hinsicht schien es, wenigstens bis vor kurzem, nicht viel verständiger als unsere Frauen. Was für Gefahren hat es denn zu fürchten? Wer beabsichtigt ihm etwas zu tun? Lebt es denn nicht seit vielen Jahren völlig sich selbst überlassen? Die Männer kümmern sich nicht um seine Anwesenheit, und die Mehrzahl der Frauen wäre wahrscheinlich unglücklich, wenn es verschwände. Und da es das einzige Tier im Haus ist, hat es also überhaupt keinen Feind. Das hätte es nachgerade im Laufe der Jahre schon durchschauen können. Und der Gottesdienst mit seinem Lärm mag ja für das Tier sehr erschreckend sein, aber er wiederholt sich doch in bescheidenem Ausmaß jeden Tag und gesteigert an den Festtagen, immer regelmäßig und ohne Unterbrechung; auch das ängstlichste Tier hätte sich schon daran gewöhnen können, besonders, wenn es sieht, daß es nicht etwa der Lärm von Verfolgern ist, sondern ein Lärm, den es gar nicht begreift. Und doch diese Angst. Ist es die Erinnerung an längst vergangene oder die Vorahnung künftiger Zeiten? Weiß dieses alte Tier vielleicht mehr als die drei Generationen, die jeweils in der Synagoge versammelt sind?

Vor vielen Jahren, so erzählt man, soll man wirklich versucht haben, das Tier zu vertreiben. Es ist ja möglich, daß es wahr ist, wahrscheinlicher aber ist es, daß es sich nur um erfundene Geschichten handelt. Nachweisbar allerdings ist, daß man damals vom religionsgesetzlichen Standpunkt aus die Frage untersucht hat, ob man ein solches Tier im Gotteshause dulden darf. Man holte die Gutachten verschiedener berühmter Rabbiner ein, die Ansichten waren geteilt, die Mehrheit war für die Vertreibung und Neueinweihung des Gotteshauses. Aber es war leicht, von der Ferne zu dekretieren, in Wirklichkeit war es ja unmöglich, das Tier zu fangen, und deshalb auch unmöglich, es zu vertreiben. Denn nur, wenn man es gefangen und weit fortgeschafft hätte, hätte man die annähernde Sicherheit haben können, es los zu sein. Vor vielen Jahren, so erzählt man, soll man wirklich noch versucht haben, das Tier zu vertreiben. Der Tempeldiener will sich erinnern, daß sein Großvater, der auch Tempeldiener gewesen ist, mit Vorliebe davon erzählte. Dieser Großvater habe als kleiner Junge öfters von der Unmöglichkeit gehört, das Tier loszuwerden, da habe ihn, der ein ausgezeichneter Kletterer war, der Ehrgeiz nicht ruhen lassen, an einem hellen Vormittag, an dem die ganze Synagoge mit allen Winkeln und Verstecken im Sonnenlicht offen dalag, habe er sich hineingeschlichen, ausgerüstet mit einem Strick, einer Steinschleuder und einem Krummstock.

Ich war in ein undurchdringliches Dorngebüsch geraten und rief laut den Parkwächter. Er kam gleich, konnte aber nicht zu mir vordringen. »Wie sind Sie denn dort mitten in das Dorngebüsch gekommen«, rief er, »können Sie nicht auf dem gleichen Weg wieder zurück?« »Unmöglich«, rief ich, »ich finde den Weg nicht wieder. Ich bin in Gedanken ruhig spazierengegangen und plötzlich fand ich mich hier, es ist, wie wenn das Gebüsch erst gewachsen wäre, nachdem ich hier war. Ich komme nicht mehr heraus, ich bin verloren.« »Sie sind wie ein Kind«, sagte der Wächter, »zuerst drängen Sie sich auf einem verbotenen Weg durch das wildeste Gebüsch und dann jammern Sie. Sie sind doch nicht in einem Urwald, sondern im öffentlichen Park und man wird Sie herausholen.« »So ein Gebüsch gehört aber nicht in einen Park«, sagte ich, »und wie will man mich retten, es kann doch niemand herein. Will man es aber versuchen, dann muß man es gleich tun, es ist ja gleich Abend, die Nacht halte ich hier nicht aus, ich bin auch schon ganz zerkratzt von den Dornen, und mein Zwicker ist mir hinuntergefallen und ich kann ihn nicht finden, ich bin ja halbblind ohne Zwicker.« »Das ist alles gut und schön«, sagte der Wächter, »aber ein Weilchen werden Sie sich noch gedulden müssen, ich muß doch zuerst Arbeiter holen, die den Weg aushacken, und vorher noch die Bewilligung des Herrn Parkdirektors einholen. Also ein wenig Geduld und Männlichkeit, wenn ich bitten darf.«

Es kam ein Herr zu uns, den ich schon öfters gesehn hatte, ohne ihm aber eine Bedeutung beizumessen. Er ging mit den Eltern ins Schlafzimmer, sie waren ganz gefangen von dem, was er sprach, und schlossen geistesabwesend die Tür hinter sich; als ich ihnen nachgehen wollte, hielt mich Frieda, die Köchin, zurück, natürlich schlug ich um mich und weinte, aber Frieda war die stärkste Köchin, an die ich mich erinnern kann, sie verstand es, meine Hände mit unwiderstehlichem Griff zu pressen und dabei mich so weit vom Leib zu halten, daß ich sie mit den Füßen nicht erreichen konnte. Dann war ich wehrlos und konnte nur schimpfen. »Du bist wie ein Dragoner«, schrie ich, »schäm dich, bist ein Mädchen und bist doch wie ein Dragoner.« Aber mit nichts konnte ich sie in Erregung bringen, sie war ein ruhiges, fast melancholisches Mädchen. Sie ließ erst von mir ab, als die Mutter aus dem Schlafzimmer herauskam, um etwas aus der Küche zu holen. Ich hing mich an den Rock der Mutter. »Was will der Herr?« fragte ich. »Ach«, sagte sie und küßte mich, »es ist nichts, er will nur, daß wir verreisen.« Da freute ich mich sehr, denn im Dorf, wo wir immer während der Ferien waren, war es viel schöner als in der Stadt. Aber die Mutter erklärte mir, daß ich nicht mitfahren könne, ich müsse doch in die Schule gehn, es seien ja keine Ferien und jetzt komme der Winter, auch würden sie nicht ins Dorf fahren, sondern in eine Stadt, viel weiter, doch verbesserte sie sich, als sie sah, wie ich erschrak, und sagte, nein die Stadt sei nicht weiter, sondern viel näher als das Dorf. Und als ich es nicht recht glauben konnte, führte sie mich zum Fenster und sagte, die Stadt sei so nahe, daß man sie fast vom Fenster aus sehen könne, aber das stimmte nicht, wenigstens nicht an diesem trüben Tag, denn man sah nichts weiter als was man immer sah, die enge Gasse unten und die Kirche gegenüber. Dann ließ sie mich stehn, lief in die Küche, kam mit einem Glas Wasser, winkte Frieda ab, die wieder gegen mich losgehn wollte und schob mich vor sich her ins Schlafzimmer hinein. Dort saß der Vater müde im Lehnstuhl und langte schon nach dem Wasser. Als er mich sah, lächelte er und fragte, was ich dazu sage, daß sie verreisen würden. Ich sagte, daß ich sehr gerne mitfahren würde. Er sagte aber, daß ich noch zu klein sei und es sei eine sehr anstrengende Reise. Ich fragte, warum sie denn fahren müssen. Der Vater zeigte auf den Herrn. Der Herr hatte goldene Rockknöpfe und putzte eben einen mit dem Taschentuch. Ich bat ihn, er möge die Eltern zu Hause lassen, denn wenn sie wegfahren würden, müßte ich mit Frieda allein bleiben und das sei unmöglich.

Es rollen die Räder des goldenen Wagens, knirschend im Kies machen sie halt, ein Mädchen will aussteigen, schon berührt ihre Fußspitze den Wagentritt, da sieht sie mich und schlüpft in den Wagen zurück.

Es war einmal ein Geduldspiel, ein billiges einfaches Spiel, nicht viel größer als eine Taschenuhr und ohne irgendwelche überraschende Einrichtungen. In der rotbraun angestrichenen Heizfläche waren einige blaue Irrwege eingeschnitten, die in eine kleine Grube mündeten. Die gleichfalls blaue Kugel war durch Neigen und Schütteln zunächst in einen der Wege zu bringen und dann in die Grube. War die Kugel in der Grube, dann war das Spiel zu Ende, wollte man es von neuem beginnen, mußte man die Kugel wieder aus der Grube schütteln. Bedeckt war das Ganze von einem starken gewölbten Glas, man konnte das Geduldspiel in die Tasche stecken und mitnehmen und wo immer man war, konnte man es hervornehmen und spielen.

War die Kugel unbeschäftigt, so ging sie meistens, die Hände auf dem Rücken, auf der Hochebene hin und her, die Wege vermied sie. Sie war der Ansicht, daß sie während des Spieles genug mit den Wegen gequält werde und daß sie reichlichen Anspruch darauf habe, wenn nicht gespielt würde, sich auf der freien Ebene zu erholen. Manchmal sah sie gewohnheitsmäßig zu dem gewölbten Glase auf, doch ohne die Absicht, oben etwas zu erkennen. Sie hatte einen breitspurigen Gang und behauptete, daß sie nicht für die schmalen Wege gemacht sei. Das war zum Teil richtig, denn die Wege konnten sie wirklich kaum fassen, es war aber auch unrichtig, denn tatsächlich war sie sehr sorgfaltig der Breite der Wege angepaßt, bequem aber durften ihr die Wege nicht sein, denn sonst wäre es kein Geduldspiel gewesen.

Es wurde mir erlaubt, in einen fremden Garten einzutreten. Beim Eingang waren einige Schwierigkeiten zu überwinden, aber schließlich stand hinter einem Tischchen ein Mann halb auf und steckte mir eine dunkelgrüne Marke, die von einer Stecknadel durchstochen war, ins Knopfloch. »Das ist wohl ein Orden«, sagte ich im Scherz, aber der Mann klopfte mir nur kurz auf die Schulter, so als wolle er mich beruhigen – aber warum denn beruhigen? – Durch einen Blick verständigten wir uns darüber, daß ich jetzt eintreten könne. Aber nach ein paar Schritten erinnerte ich mich, daß ich noch nicht gezahlt hatte. Ich wollte umkehren, aber da sah ich eine große Dame in einem Reisemantel aus gelblichgrauem grobem Stoff eben bei dem Tischchen stehn und eine Anzahl winziger Münzen auf den Tisch zählen. »Das ist für Sie«, rief der Mann, der meine Unruhe wahrscheinlich bemerkt hatte, über den Kopf der tief hinabgebeugten Dame mir zu. »Für mich?« fragte ich ungläubig und sah hinter mich, ob nicht jemand anderer gemeint war. »Immer diese Kleinlichkeiten«, sagte ein Herr, der vom Rasen herkam, langsam den Weg vor mir querte und wieder im Rasen weiterging. »Für Sie. Für wen denn sonst? Hier zahlt einer für den andern.« Ich dankte für die allerdings unwillig gegebene Auskunft, machte aber den Herrn darauf aufmerksam, daß ich für niemanden gezahlt hatte. »Für wen sollten Sie denn zahlen?« sagte der Herr im Weggehn. Jedenfalls wollte ich auf die Dame warten und mich mit ihr zu verständigen suchen, aber sie nahm einen andern Weg, mit ihrem Mantel rauschte sie dahin, zart flatterte hinter der mächtigen Gestalt ein bläulicher Hutschleier. »Sie bewundern Isabella«, sagte ein Spaziergänger neben mir und sah gleichfalls der Dame nach. Nach einer Weile sagte er: »das ist Isabella.«

Es ist Isabella, der Apfelschimmel, das alte Pferd, ich hätte sie in der Menge nicht erkannt, sie ist eine Dame geworden, wir trafen einander letzthin in einem Garten bei einem Wohltätigkeitsfest. Es ist dort eine kleine, abseits liegende Baumgruppe, die einen kühlen beschatteten Wiesenplatz einschließt, mehrere schmale Wege durchziehen ihn, es ist zuzeiten sehr angenehm, dort zu sein. Ich kenne den Garten von früher her und als ich des Festes müde war, bog ich in jene Baumgruppe ein. Kaum trete ich unter die Bäume, sehe ich von der andern Seite eine große Dame mir entgegenkommen; ihre Größe machte mich fast bestürzt, es war niemand sonst in der Nähe, mit dem ich sie hätte vergleichen können, aber ich war überzeugt, daß ich keine Frau kannte, welche dieser nicht um mehrere Kopflängen – im ersten Staunen dachte ich gar um unzählige – nachstehen müßte. Aber als ich näher kam, war ich bald beruhigt. Isabella, die alte Freundin! »Wie bist du denn aus deinem Stall entwichen?« »Ach, es war nicht schwer, ich werde ja eigentlich nur gnadenweise noch gehalten, meine Zeiten sind vorüber; erkläre ich meinem Herrn, daß ich, statt unnütz im Stall zu stehn, nun auch noch ein wenig die Welt kennenlernen will, solange die Kräfte reichen, erkläre ich das meinem Herrn, versteht er mich, sucht einige Kleider der Seligen aus, hilft mir noch beim Anziehn und entläßt mich mit guten Wünschen.« »Wie schön du bist!« sage ich, nicht ganz ehrlich, nicht ganz lügnerisch.

Das Synagogentier – Seligmann und Graubar – Ist das schon Ernst? – Der Bauarbeiter.

Die Heirat Lisbeth Seligmanns mit Franz Graubart war sehr sorgfältig vorbereitet.

Entschuldigen Sie, daß ich plötzlich so zerstreut wurde. Sie machen mir die Mitteilung von Ihrer Verlobung, die erfreulichste Nachricht, die es geben kann, und ich werde plötzlich teilnahmslos und scheine mich mit ganz anderen Dingen zu beschäftigen. Es ist aber gewiß nur scheinbare Teilnahmslosigkeit, mir ist nämlich eine Geschichte eingefallen, eine alte Geschichte, die ich einmal in der Nähe, aber immerhin in aller Sicherheit miterlebt habe, in aller Sicherheit, und doch beteiligter als bei Dingen, die mich geradezu betrafen. Es liegt das an der Sache, man konnte damals nicht unbeteiligt bleiben, selbst wenn man nur den letzten Zipfel der Geschichte zu sehen bekommen hätte.

Der Gefängniswärter wollte das eiserne Tor aufsperren, aber das Schloß war rostig, die Kräfte des alten Mannes genügten nicht, der Gehilfe mußte heran, er machte aber ein zweifelndes Gesicht, nicht wegen des rostigen Schlosses.

Die Helden wurden aus dem Gefängnis entlassen, sie ordneten sich ungeschickt in einer Reihe, durch die Haft hatten sie an Beweglichkeit sehr verloren. Mein Freund, der Gefangenenaufseher, nahm aus seiner Aktenmappe das Heldenverzeichnis, es war das einzige Schriftstück in seiner Mappe, wie ich ohne jede Bosheit – es war doch keine Schreiberanstellung – bemerkte und machte sich daran, die Helden einzeln aufzurufen und die Namen im Verzeichnis dann abzustreichen. Ich saß seitlich an seinem Schreibtisch und überblickte mit ihm die Reihe der Helden.

Don Quixote mußte auswandern, ganz Spanien lachte über ihn, er war dort unmöglich geworden. Er reiste durch Südfrankreich, wo er hier und da liebe Leute traf, mit denen er sich anfreundete, überstieg mitten im Winter unter den größten Mühen und Entbehrungen die Alpen, zog dann durch die oberitalienische Tiefebene, wo er sich aber nicht wohlfühlte, und kam endlich nach Mailand.

Auf den Gütern der M.'schen Herrschaft hat sich die Einführung eines sogenannten Aufpeitschers sehr bewährt. Mit Erfolg wird diese Neueinrichtung anderswo allerdings nur dann nachgeahmt werden können, wenn man sich einer Person versichern kann, die für dieses Amt so vorzüglich geeignet ist wie der Aufpeitscher in M. Der Fürst selbst hat ihn entdeckt, kurz vor der eigentlichen Erntearbeit geht der Fürst, auf den Krückstock gestützt, durch die Hauptstraße des Dorfes, er ist noch nicht alt, muß aber schon seit einigen Jahren den Krückstock benützen wegen irgendeines Beinleidens, das jetzt noch nicht arg ist, aber, wie die Ärzte befürchten, sich gefährlich entwickeln kann. Wie nun der Fürst langsam dahin geht, hie und da auf den Stock gestützt auch stehnbleibt, die vorteilhafteste Einteilung der Erntearbeit überlegt – er ist ein sehr tätiger, mit sachlicher Freude tätiger Landwirt  – und bei diesen Überlegungen immer wieder daran stößt, daß es trotz unsinnig steigender Löhne an Arbeitskräften fehlt oder vielmehr, daß Arbeitskräfte eigentlich im Überfluß vorhanden wären, wenn nur diese Kräfte auch wirklich arbeiten wollten, wie es sein soll und wie es auf den Feldern der Bauern auch geschieht, aber auf den herrschaftlichen Feldern leider ganz und gar nicht, wie er alles dieses schon vielfach Durchdachte mit Zorn – auch macht sich der kranke Fuß bemerkbarer als sonst – wieder einmal durchdenkt, bemerkt er auf der Schwelle einer halbverfallenen Hütte einen Burschen, der ihm dadurch auffällt, daß er wohl schon zwanzig Jahre alt ist, aber bloßfüßig, in Schmutz und Fetzen wie ein kleiner unnützer Schuljunge aussieht.

Der allerunterste Raum des Ozeandampfers, der das ganze Schiff durchgeht, ist völlig leer, allerdings ist er kaum ein Meter hoch. Die Konstruktion des Schiffes verlangt diesen leeren Raum. Ganz leer ist er freilich nicht, er gehört den Ratten.

Ich habe seit jeher einen gewissen Verdacht gegen mich gehabt. Aber es geschah nur hie und da, zeitweilig, lange Pausen waren dazwischen, hinreichend um zu vergessen. Es waren außerdem Geringfügigkeiten, die gewiß auch bei andern vorkommen und dort nichts Ernstliches bedeuten, etwa das Staunen über das eigene Gesicht im Spiegel, oder über das Spiegelbild des Hinterkopfes oder auch der ganzen Gestalt, wenn man plötzlich auf der Gasse an einem Spiegel vorüberkommt.

Ich habe seit jeher einen gewissen Verdacht gegen mich gehabt, einen Verdacht etwa ähnlich demjenigen, den ein angenommenes Kind gegen seine Pflegeeltern (hat), auch wenn es sorgfältig in dem Glauben erhalten wird, daß die Pflegeeltern seine leiblichen Eltern sind. Es ist irgendein Verdacht da, mögen auch die Pflegeeltern das Kind wie ihr eigenes lieben und nichts an Zärtlichkeit und Geduld verabsäumen, es ist ein Verdacht, der sich vielleicht nur zeitweilig und nach langen Zwischenpausen, nur bei kleinen zufälligen Gelegenheiten äußert, der aber doch lebendig ist, der, – wenn er einmal ruht, nicht verschwunden ist, sondern Kräfte sammelt, in günstiger Stunde mit einem Sprung aus winzigem Unbehagen ein großer, wilder, böser, keine Fessel mehr vertragender Verdacht werden kann und der bedenkenlos alles dem Verdächtigen mit dem Verdächtigten Gemeinsame zerstört. Ich fühle seine Regung, wie die Schwangere die Bewegung des Kindes fühlt, und ich weiß außerdem, daß ich seine wirkliche Geburt nicht überleben werde. Lebe, schöner Verdacht, großer mächtiger Gott, und laß mich sterben, der ich dich geboren habe, der du dich von mir gebären ließest.

Ich heiße Kalmus, es ist kein ungewöhnlicher Name und doch reichlich sinnlos. Er hat mir immer zu denken gegeben. »Wie?« sagte ich zu mir, »du heißt Kalmus? Stimmt denn das?« Es gibt viele Leute, selbst wenn man sich nur auf deine große Verwandtschaft beschränkt, die Kalmus heißen und durch ihr Dasein diesem an sich sinnlosen Namen einen recht guten Sinn geben. Sie sind als Kalmus geboren und werden als solche in Frieden sterben, zumindest was den Frieden mit dem Namen betrifft.

Ein junger ehrgeiziger Student, der sich für den Fall der Pferde von Elberfeld sehr interessiert und alles, was über diesen Gegenstand im Druck erschienen war, genau gelesen und überdacht hatte, entschloß sich, auf eigene Faust Versuche in diesen Richtungen anzustellen und die Sache von vornherein ganz anders und nach seiner Meinung unvergleichlich richtiger anzufassen als seine Vorgänger. Seine Geldmittel allerdings waren an sich unzureichend, um ihm Versuche im großen Ausmaße zu ermöglichen, und wenn das erste Pferd, das er für seine Versuche ankaufen wollte, sich als starrköpfig erweisen würde, was selbst bei angestrengtester Arbeit erst nach Wochen festgestellt werden kann, so hätte er für längere Zeit keine Aussicht gehabt, mit neuen Versuchen zu beginnen. Doch war er dadurch nicht übermäßig geängstigt, weil nach seiner Methode wahrscheinlich jede Starrköpfigkeit überwunden werden konnte. Jedenfalls ging er seiner vorsichtigen Natur entsprechend schon bei der Berechnung des Aufwandes, der ihm erwachsen würde, und der Mittel, die er aufbringen konnte, ganz planmäßig vor. Den Betrag, den er während des Studiums zum knappen Lebensunterhalt benötigte, hatten ihm bisher seine Eltern, arme Geschäftsleute in der Provinz, regelmäßig jeden Monat geschickt, auf diese Unterstützung gedachte er auch weiterhin nicht zu verzichten, trotzdem er natürlich sein Studium, welches die Eltern von der Ferne mit großen Hoffnungen verfolgten, unbedingt aufgeben mußte, wenn er auf dem neuen Gebiet, das er jetzt betreten würde, die erwarteten großen Erfolge erzielen wollte. Daran, daß die Eltern für diese Arbeiten Verständnis haben oder ihn etwa gar darin fördern würden, war nicht zu denken, er mußte ihnen also seine Absichten, so peinlich ihm das war, verschweigen und sie in dem Glauben erhalten, daß er in seinem bisherigen Studium regelmäßig fortschreite. Diese Täuschung seiner Eltern war nur eines der Opfer, die er sich zum Nutzen der Sache auferlegen wollte. Zur Deckung der voraussichtlich großen Kosten, welche für seine Arbeiten erforderlich sein würden, konnte der Betrag der Eltern nicht genügen. Der Student wollte daher von nun ab den größten Teil des Tages, der bisher seinem Studium gedient hatte, zur Erteilung von privaten Unterrichtsstunden verwenden. Der größte Teil der Nacht aber sollte der eigentlichen Arbeit dienen. Nicht nur, weil er durch seine ungünstigen äußern Verhältnisse dazu gezwungen war, wählte der Student die Nachtzeit für den Unterricht des Pferdes aus, auch die neuen Grundsätze, die er in den Unterricht der Pferde einführen wollte, verwiesen ihn auf die Nacht aus verschiedenen Gründen. Auch die kürzeste Ablenkung der Aufmerksamkeit des Pferdes bedeutete seiner Meinung nach für den Unterricht einen unheilbaren Schaden, davor war er in der Nacht möglichst sicher. Die Reizbarkeit, von der Mensch und Tier, wenn sie in der Nacht wachen und arbeiten, ergriffen werden, war in seinem Plan ausdrücklich verlangt. Er fürchtete nicht wie andere Sachverständige die Wildheit des Pferdes, er forderte sie vielmehr, ja er wollte sie erzeugen, zwar nicht durch die Peitsche, aber durch das Reizmittel seiner unablässigen Anwesenheit und des unablässigen Unterrichts. Er behauptete, im richtigen Unterricht der Pferde dürfe es keine einzelnen Fortschritte geben, einzelne Fortschritte, deren sich in der letzten Zeit verschiedene Pferdeliebhaber so übermäßig rühmten, seien nichts anderes als entweder Erzeugnisse der Einbildung der Erzieher oder aber, was noch schlimmer sei, das deutlichste Zeichen, daß es zu einem allgemeinen Fortschritt niemals kommen werde. Er selbst wollte sich vor nichts anderem so hüten als vor der Erzielung einzelner Fortschritte, die Genügsamkeit seiner Vorgänger, die mit dem Gelingen kleiner Rechenkunststücke schon etwas erreicht zu haben glaubten, erschien ihm unbegreiflich, es war so, als wenn man in der Kindererziehung damit einsetzen wollte, daß man dem Kind, gleichgültig, ob es gegen die ganze Menschheit blind, taub und gefühllos war, nichts anderes als das kleine Einmaleins einbleute. Das war alles so töricht und die Fehler der andern Pferdeerzieher erschienen ihm manchmal so erschreckend grell, daß er dann sogar Verdacht gegen sich selbst faßte, denn es war ja fast unmöglich, daß ein einzelner, überdies ein unerfahrener einzelner, den nur eine unüberprüfte, aber allerdings tiefe und geradezu wilde Überzeugung vorwärtstrieb, gegenüber allen Kennern recht behalten sollte.

Der Tatbestand, der rücksichtlich des plötzlichen Todes des Advokaten Monderry zunächst festgestellt wurde, war folgender: Eines Morgens gegen halb fünf Uhr, es war ein schöner Junimorgen und schon ganz hell, lief Frau Monderry aus ihrer Wohnung im dritten Stockwerk, beugte sich über das Treppengeländer und rief mit ausgebreiteten Armen, offenbar in der Absicht, das ganze Haus zu Hilfe zu rufen: »Mein Mann ist ermordet worden! Gnade! Gnade! Mein guter Mann ist ermordet worden!« Der erste, der Frau Monderry sah und hörte, war ein Bäckerjunge, der gerade zu dieser Zeit, in beiden Händen einen großen Korb mit Semmeln, die letzten Stufen zum dritten Stockwerk erstieg. Er war es auch, der beim ersten Verhör behauptete, den Anruf der Frau Monderry wortgetreu im Gedächtnis behalten zu haben. Später jedoch, als er Frau Monderry gegenübergestellt wurde, nahm er diese Aussage zurück und erklärte, er könne sich doch getäuscht haben, da er im ersten Augenblick allzusehr über die Erscheinung der Frau erschrocken sei. Das war allerdings sehr wahrscheinlich, denn noch nach Wochen war er, wenn er den Vorfall darstellte, so erregt, daß er seine Erzählung mit übertriebenen Bewegungen der Hände und Füße begleitete, um beim Zuhörer wenigstens einen Eindruck zu erzeugen, der annähernd an jenen heranreichte, den er in sich bewahrte. Nach seiner Erzählung war Frau Monderry aus der Tür, deren Öffnen er gar nicht bemerkt hatte und von der er daher glaubte, daß sie schon vorher offen gewesen war, mit einem Schrei herausgeflogen, habe ihre über dem Kopf ineinandergekrampften Hände auseinandergerissen und war zum Geländer geeilt. Sie war mit nichts anderem bekleidet gewesen als mit dem Nachthemd und einem kleinen grauen Tuch, das aber nicht einmal ihren Oberkörper vollständig verhüllte. Ihr Haar war aufgelöst und hing ihr zum Teil über das Gesicht herab, was auch dazu beitrug, ihren Ausruf undeutlich zu machen. Kaum erblickte sie den Bäckerjungen, als sie zur Treppe lief, ihn mit zitternden Händen zu sich emporzog, hinter ihn trat und ihn als eine Art Schutz vor sich her schob, während sie seine Schultern umklammert hielt. In der Eile dachte der Junge nicht daran, daß er den Korb mit Semmeln irgendwo hinstellen könne und ließ ihn die ganze Zeit über nicht aus den Händen. So gingen sie – die Frau preßte in steigender Angst den Jungen immer fester an sich – mit schnellen, aber ganz kurzen Schritten der Wohnungstüre zu, überschritten die Schwelle und rückten im dunklen schmalen Vorzimmer vor. Immer war das Gesicht der Frau rechts oder links vom Jungen vorgebeugt, sie schien auf etwas zu lauern, das sich gleich zeigen müsse, manchmal riß sie den Jungen zurück, als wäre es unmöglich weiter vorzugehn, dann aber drückte sie ihn doch wieder mit ganzem Körper vorwärts. Die erste Zimmertür, die auf ihrem Wege lag, öffnete die Frau mit einer Hand, mit der andern hielt sie sich hinten am Halse des Jungen fest. Sie überblickte den Boden, die Wände und die Zimmerdecke, fand nichts, ließ die Tür offen und ging nun entschlossener, immer noch mit dem Jungen, zur nächsten Tür. Diese stand schon weit offen. Beim Eintritt sah man nicht viel mehr als zwei nebeneinander stehende Betten. Das Zimmer war dunkel, denn die schweren, ganz zusammengeschlossenen Fenstervorhänge ließen nur in schmalen Lücken einen Schimmer Tageslicht herein. Auf dem Nachttischchen bei dem der Tür zunächst stehenden Bett brannte ein kleiner Kerzenstumpf. An diesem Bett war auch nichts Ungewöhnliches zu sehn, in dem andern aber mußte etwas geschehen sein. Jetzt war es der Junge, der nicht vorwärts wollte, aber die Frau stieß ihn mit Fäusten und Knien vor. Bei einem Verhöre wurde er gefragt, warum er gezögert habe, ob vielleicht aus Furcht vor dem, was er in dem Bett etwa zu sehen erwartet hatte. Darauf antwortete er, er fürchte sich überhaupt nicht und habe sich auch damals nicht gefürchtet, aber er habe damals das Gefühl gehabt, als halte sich etwas irgendwo im Zimmer versteckt und könne plötzlich hervorspringen. Dieses ›Etwas‹, das er nicht näher beschreiben konnte, habe er zunächst erwarten wollen, ehe er vorwärtsging. Da aber der Frau so viel daran zu liegen schien, zum zweiten Bett zu kommen, gab er schließlich nach.

Ein großes Fahnentuch lag auf mir, ich arbeitete mich mühselig hervor. Ich fand mich auf einer Anhöhe, Wiesenland und kahler Felsen wechselten ab. Ähnliche Anhöhen zogen sich wellenförmig nach allen Himmelsrichtungen, die Aussicht ging weithin, nur im Westen löste Dunst und Glanz der untergehenden Sonne alle Formen auf. Der erste Mensch, den ich sah, war mein Kommandant, er saß auf einem Stein, die Beine gekreuzt, den Ellbogen aufgestützt, den Kopf in der Hand, und schlief.