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Es war gegen Mitternacht. In der Stube konnte man das tiefe Athmen der schlafenden Kinder hören.
In einem Winkel stand auf dem Fußboden ein kupfernes Becken; darin befand sich etwas Wasser und eine Kerze in einem Leuchter. Die Kerze war stark entflammt, der Docht hatte eine dunkle Kappe bekommen und knisterte leise. Ein Pendel tickte an der Wand, und auf dem Fußboden machten sich – im Lichtkreis, der um das Becken lief – einige Küchenschaben breit. Sich auf die Hinterbeinchen setzend, sahen sie auf das Licht und bewegten ihre Fühlspitzen. – – –
Draußen wüthete der Sturm.
Der Regen schlug auf das Dach, zauste in dem Laube des Gartens, klatschte in den Pfützen des Hofes. Zeitweise verstummte er, zog sich fort in die dunkle Tiefe der Nacht, darauf aber kam er mit neuer Kraft herangestürmt, tobte noch ärger, schoß noch heftiger über das Dach, prasselte an die Fensterläden, und manchmal schien es sogar, als ströme und riesele er schon durch das Zimmer selbst. – Dann entstand in diesem etwas wie eine Unordnung, der Pendel schien zu verstummen, das Licht wollte verlöschen, Schatten glitten von der Zimmerdecke herab, die Schaben bewegten die Fühlfäden ängstlich hin und her und machten augenscheinliche Anstalten, davon zu laufen.
Allein diese Anfälle hielten nicht lange an. Es schien als habe der Regen bei sich beschlossen, nicht mehr abzureisen und wenn der Wind ihn in Ruhe ließ, so machte er sich daran, gleichmäßig und breit zu rauschen – im Hofraum, im Garten, in den Gäßchen, auf dem Bauplatz, auf den Feldern. ... Dieses Rauschen drang durch die geschlossenen Fensterläden, blieb in der Stube, bald als ein gleichmäßiges Zischen, bald als ein leises Plätschern. ...
Dann begann der Pendel wieder seine Schwingungen mit eigensinniger Schärfe laut werden zu lassen, das Licht knisterte leise, die Schaben beruhigten sich, obwohl die Hartnäckigkeit des Regens sie offenbar zwang, in ein finsteres Brüten zu versinken.
Alles dies hörte und auf alles dies schaute vorn unter seiner Decke hervor einer von den zwei Brüderchen, die in der erleuchteten Stube schliefen. Der um ein Jahr ältere von den Beiden hieß Wassja, der jüngere hieß Mark. Nun war in der Familie die Gewohnheit eingebürgert, allen Scherznamen zu geben, und da Wassja einen sehr großen Kopf hatte, mit welchem er in frohester Kindheit beim Herumkriechen beständig an den Boden schlug, so nannte man ihn Golowán. Mark war unschön und sah immer ein wenig finster drein, weshalb man ihn Mordjik nannte.
Mordjik schlummerte süß, Golowán aber lauschte wohl schon eine halbe Minute dem Plätschern des Regens.
Er war ein großer Phantast und dachte oft daran, was denn auf der Welt vorgehe, wenn alle schlafen, er und Mark und die kleinen Mädchen und die Kinderfrau – so daß also niemand da wäre, der zusähe. Obwohl die Stube immer so bleibt und der Pendel weiter so tickt, trotzdem daß ihn niemand hört, und ob die Kerze weiter brennt, obgleich sie niemandem leuchtet, und ob die Schaben nur ganz sinnlos auf dem Fußboden, zum Licht gewendet, dasitzen? ...
Oft schon hatte er, da er mit diesen Gedanken aufgewacht war, vorsichtig unter der Decke hervorgelugt. ...
Diesmal hatte er es selbst nicht gemerkt, wann er erwacht war, und es schien ihm, als habe er endlich die Stube überrumpelt. – Schon eine halbe Minute schaut er nun hinein, ohne sich zu bewegen, mit halb zugekniffenen Augen, und in der Stube webt noch immer ein eigenthümliches, geheimnisvolles Leben, welches gewöhnlich verborgen bleibt, wenn man zuschaut.
Alles darin ist lebendig, staunenerregend und seltsam. – – – Der Regen tobt und poltert draußen, vom Winde gepeitscht, der Pendel kämpft gegen das Lärmen des Regens, die Kerze knistert traurig, die Schaben sehen vernünftig aus, als hätten sie eben erst mit einander geredet und wären einstimmig zum Schluß gekommen, daß die Lage der Kerze thatsächlich eine traurige sei, und der Regen ganz vergeblich tobe. Außerdem erkannte Wassja, daß sie alle miteinander, die ganze Stube, mit allen Gegenständen darin, mißgünstig auf die Kinder schauen, die da ahnungslos in ihren Betten schlafen.
Es gab jedoch noch Eines, das allerseltsamste, das Golowán auf keine Weise erfassen konnte. Sowie er nun die Augen vollständig geöffnet und sich bewegt hatte – war alles auf einmal verschwunden. Der Pendel tickte leiser und ohne besonderen Aufdruck, die Kerze krächzte nicht, sondern knisterte ganz einfach, die Stube war zu sich gekommen und hatte ihr gewöhnliches alltägliches, Aussehen angenommen.
Bei alledem aber fühlte er immer noch irgendetwas so seltsames. ... War es in ihm selbst, oder in der Stube, oder etwa durch jenes Rauschen erzeugt? Nein, das ist ganz einfacher Regen – er rauscht gar nicht laut, es ist nur, als murmle jemand langsam und unnatürlich. Etwas rieselt und träuft, als weine irgend jemand hinter der Wand, und als ob Seufzer durch die Bäume des Gartens giengen. Aber im Garten ist es jetzt finster unter den Bäumen, und in die Laube zu gehen, würde sich nicht ein Mensch um Mitternacht entschließen, noch dazu im Regen. Mark hat sich einmal gerühmt, daß er dahin gehen würde, wenn man es ihm erlaubte. ... Aber auch das natürlich nicht in einer so feuchten, und stürmischen Nacht! ...
Da liefen ihm Ameisen über den Rücken – er warf sich auf das Kissen und steckte den Kopf unter die Decke.
Da schien es ihm, daß irgendwo in der Mauer, oder hinter der Mauer, oder unter dem Stubenboden eine seltsame Bewegung und ein Reden vor sich gehe. Summen wurden hörbar und das Geräusch von Schritten. Was ist denn das? Er steckte den Kopf heraus, um besser zu hören, aber da, verstummten die Laute abermals. Es war ihm, als müsse er wissen, was das sei; da würde er auch begreifen, warum es ihm seltsam erscheine. – Aber er hat es vergessen und kann sich nicht erinnern, weil ihm im Schlaf etwas ganz anderes geträumt hat. Da begann eine Furcht sich seiner zu bemächtigen.
»Weißt Du, Markuschka, was ich Dir sagen werde?« sagte er in schmeichelndem Tone, indem er sich gegen den schlafenden Bruder wendete.
Allein Mark antwortete nur durch anhaltendes Schnarchen.
In der Kinderstube waren gewisse Traditionen gang und gäbe. Jede Nacht gegen ein Uhr erwachten die beiden Jungen und kamen bei dem mit der Kerze ausgerüsteten Becken zusammen. Das war etwas in der Art eines nächtlichen Clubs, welcher manchmal auch von den kleinen Mädchen besucht wurde. Das Letztere ereignete sich nicht oft; dazu genügte es nicht, daß die Kinder zur rechten Zeit erwachten, man mußte auch noch die Wachsamkeit der alten Wärterin täuschen, welche mit ihnen im finsteren Nebenzimmer schlief. Wenn, das gelang, so zog die Ältere, manchmal mit Hilfe der Brüder, die allerjüngste, Schurotschka, aus dem Bettchen und es erschienen beide blinzelnd und sich die Augen reibend in der Thüre und liefen auf das Licht der Kerze zu. Dann entfernten sich die Schaben vollends vom Becken und stellten sich nur in der Ferne auf, die Schnauzbärte zornig gegen das Kindervolk gerichtet, das gleich ihnen aus den Winkeln herbeigekrochen war und ihnen den Platz streitig machte.
Da begannen lange und sehr interessante Gespräche. Niemals sprachen die Kinder so friedlich und freundschaftlich miteinander. Es war, als verleihe die stille Nachtstunde der Unterhaltung einen besonderen Zauber von Träumerei und phantastischer Unbestimmtheit, während die gemeinschaftliche Sorge, daß die Kinderfrau nicht erwache, die kleinen Buben und Mädchen zu einem engen Kreis nächtlicher Verschwörer verband.
Übrigens redeten die Mädchen sehr wenig; sie packten nur ihre Decken, Bettücher, Kleider, warfen das alles über sich, wie es eben kam, die Ältere half der Jüngeren und diese gehorchte ohne Widerrede. Je unsinniger diese Costümierung war, ein desto größeres Vergnügen bereitete sie ihnen, besonders wenn es ihnen gelungen war, die Schuhe der Wärterin und ihr schönes großblumiges Kopftuch zu erwischen; da erstarben die Kleinen in schweigender Selbstbetrachtung. Die Füßchen in den ungeheuren Schuhen ausstreckend, ohne den phantastisch bekleideten Kopf zu bewegen, saß Schura stramm und schweigend da, während die ältere, Mascha, Grimassen schnitt. Sie stellte sich vor, sie sei eine Dame und die kleinen Buben im Hemdchen schienen ihr Cavaliere im Frack zu sein.
Die alte Wärterin kämpfte heftig gegen diesen Brauch an, konnte ihn jedoch nicht endgiltig besiegen. Nach vielen Zusammenstößen zwischen beiden Theilen kam etwas wie ein Compromiß zustande. Niemand hatte das Recht, die anderen zu wecken, wachten sie aber von selbst auf, so durften sie beim Wasserbecken zusammenkommen, vorausgesetzt, daß sie sich stille betrugen. Mit den kleinen Mädchen war die Geschichte complicierter. Wenn sie das leiseste Geräusch in ihren Bettchen hörte, erwischte die Wärterin, ohne sich gerade ein endgiltiges Erwachen aufzuerlegen, die Flüchtige und legte sie wieder nieder. In solchem Falle wurde das Spiel als verloren und ein zweiter Versuch als unehrenhaft betrachtet; die Eingebrachte schlief dann alsbald ein.
Wenn es aber dem Flüchtlinge gelang, auf den Boden herunterzukommen und bis zur Schwelle zu laufen, da war die Reihe an der Wärterin, die Partie aufzugeben. Denn so wie sie sich auf die Verfolgung legte, entstand ein schreckliches Gebrüll, die Buben sprangen auf, liefen zur Verteidigung herbei und schrieen, daß Manja schon in ihre Stube eingetreten sei, daß die Wärterin aus diesem und jenem Grunde nicht im Rechte sei u.s.w. Es begann ein schrecklicher Durcheinander, und beide kämpfenden Parteien setzten sich der Gefahr einer Einmischung der höheren Instanzen aus. Wehe, wenn der Lärm des Vaters Ohr erreichte. Aber wenn auch nur die Mutter das Treiben im Kindertrakt gehört hatte, so rief sie am folgenden Morgen die Kinder sammt der Wärterin zu sich.
»Was hat es denn wieder bei Euch gegeben?« fragte sie mit dem Ausdrucke der Unzufriedenheit, der alle sogar mehr als der väterliche Zorn betrübte. »Wagt es künftighin nie mehr, Euch um die Kerze zu versammeln!« sagte sie zu den Kindern und fügte sofort, sich gegen, die Wärterin wendend hinzu:
»Und immer auch Du, Alte!«
Diese letzten Worte vernichteten in den Augen der Kinder vollständig den Sinn des ersten Verbotes.
»Nun, was hat's Dir eingebracht. Alte?« spotteten sie leise, jedoch mit großer Bissigkeit, worin das Häuflein in die Kinderstuben zurückkehrte. Die Wärterin antwortete böse:
»Immer muß ich's für Euch kriegen, Ihr Kinderverderber ...«
»Ja, warum hast Du sie in unserem Zimmer gefangen?«
»Nicht wahr! Ich habe sie schon im finsteren Zimmer erwischt, sie hat sich aber losgerissen.«
»Ach, das ist nicht wahr, das ist schon einmal nicht wahr!« protestierte Mascha hitzig. »Ich war schon ganz und gar über der Schwelle.«
Die Wärterin mußte die Waffen strecken, umsomehr, als sie mit gutem Gewissen nicht genau bestimmen konnte, wo sie im Halbschlaf die Überläuferin gefaßt hatte. Im allgemeinen stellte die Untersuchung die ganze Frage immer wieder auf den Boden des Compromisses, der sich aufs neue befestigte, und welchem die Kinder im allgemeinen ehrenhaft genug nachkamen.
Diesmal gebrauchte Wassja eine List: er stellte sich, als ob er Mark nicht wecke, sondern ihn für erwachend halte.
»Weißt Du, was ich Dir sagen werde?
Aber die einzige Antwort darauf war mir ein tiefer Athemzug und ein Schlafgemurmel. Auch die Alte murmelte im Nebenzimmer. Der Regen strömte noch immer herab, wenn auch etwas leiser.
Jetzt hörte man deutlicher die Güsse vom Dach herab und aus den Dachsröhren.
Golowán's Augen wendeten sich unwillkürlich nach dem finsteren Zimmer. Er wunderte sich immer, wieso es kam, daß sich die kleinen Mädchen nicht fürchteten, in der finsteren Stube zu schlafen, während ihm darin immer seltsame Gestalten auftauchten. Einige dieser Gestalten waren ihm schon lange bekannt und begannen auch jetzt sich zu melden, obwohl sie noch nicht sichtbar waren. Es schien, als bewege sich vorläufig die mit Gespenstergestalten erfüllte, in sie gehüllte Finsternis.
Das leise Schnarchen, der Wärterin schreckte sie, sie schauderten zusammen, kamen in Verwirrung und verschwanden, kamen aber sofort wieder zum Vorschein, jedesmal mit größerer Beharrlichkeit. Das war sehr quälend und es wurde Golowán ordentlich leichter zumuthe, als sie endlich deutlicher auftauchten. ...
Vor allen anderen tauchte, wie jedesmal, ein großer eleganter Herr auf, ganz in Grün gekleidet, mit blendend weißem Kragen und ebensolchen Manchetten.
Ein Gesicht hatte er nicht und das war es eben, was so schrecklich war. Außerdem hatte er gar keine plastische Rundung, sondern zeichnete sich nur seltsamer Weise in der Dunkelheit so ab, als habe sich die leere Finsternis in grüne Farbe gekleidet. Manchmal schien es Wassja auch, als sei der Herr aus grüner und weißer Pappe ausgeschnitten, was ihn nicht hinderte, höchst geziert und mit großer Wichtigkeit einherzugehen, zu »figuren«, wie sich die Kinder ausdrückten, welchen Wassja am Tage seinen Gang vormachte.
Anfangs zeigte sich der grüne Herr im Hintergrunde der Stube, kaum sichtbar. Er beschrieb eine Kreislinie, als lasse ihn jemand an einer Feder ablaufen, verschwand in der linken Zimmerecke und tauchte sofort rechts wieder auf, am abermals die Runde zu machen, nun aber schon näher und deutlicher. Dann fieng aber Wassja schon an, sich vor ihm zu fürchten. Anfangs bemühte er sich, den grünen Herrn nicht zu sehen, dann beredete er sich mit beißendem Spott, daß der Herr aus Pappe geschnitten sei. Wenn dieser aber immer näher und näher kam, wurde es Wassja immer ängstlicher zumuthe: was geschieht nun, wenn ein Gesicht an ihm sichtbar wird und Einen gradaus anschaut? Dann wird man müssen endgiltig die Annahme von der Pappe fallen lassen. ...
Indessen begann neben dem grünen Herrn noch etwas kleines, anmuthiges sich zu regen. Das hatte schon ganz und gar keine Form und schien nur einfach ein Klümpchen Finsternis, das sich bewegte und allerlei Gesten machte, die scheinbar komisch, aber in der That sehr schrecklich waren. Wassja vermuthete hier eine feindselige Hinterlist: anfangs scheint es komisch, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, dann aber kommt plötzlich auch bei diesem ein Gesicht zutage – was dann?
Nachdem er den Mordjik noch einmal angerufen hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, kam der Golowán zu dem Schlusse, daß, wenn er so fort liegen bleiben und in die Finsternis starren werde, nichts Gutes daraus entstehen könne. Er mußte diese seelische Erstarrung von sich abschütteln, aus welcher die Nachtgebilde entstanden; darum stand er auf und gieng auf das Licht zu. Die Schaben liefen, ihre Füßchen eilfertig herumwerfend, auf die andere Seite des Wasserbeckens.
Das beschäftigte den Golowán einige Zeit, dann begann er dem Brausen des Regens zu lauschen. Der Regen hatte merklich an Kraft verloren. Sein Rauschen wurde bald leiser, bald wieder lauter, wie das Athmen eines Schlafenden. Hingegen erhob sich ein Wind, jagte durch die Wipfel der Bäume, und dann hörte man ein schwaches Rauschen. Wassja stellte sich vor, wie sich die Baume im nächtlichen Dunkel einander zuneigen und mit den Blättern flüstern; dann aber sagte er sich, das seien gar keine Bäume und kein Wind, sondern ein gigantisches Blatt Papier, das jemand draußen hin und her wende, wovon auch das Geräusch herkomme. Es gefiel ihm sehr, daß es sofort auch so herauskam, daß sich sogar der Ton veränderte und anstatt des Klatschens vom feuchtem Laube das trockene Rauschen von Papier zu hören war. Dann änderte er abermals die Voraussetzung: Jemand schüttet mitten in der Nacht Korn aus einem großen Sack in ein Riesenfaß. Auch das kam heraus.
Wenn der Wind nachließ, sagte sich Golowán: »er ist um einen anderen Sack gegangen, gleich bringt er ihn.« Und in der That, sofort hörte man abermals ganz deutlich, wie das Korn ausgeschüttet wird, wie es rauscht, auf den Faßboden fällt und an die Faßwände schlägt. Obgleich durch diese willkürlich veränderten Voraussetzungen das Bewußtsein, daß etwas seltsames im Hause vorgehe, nicht verging, so gelang es Golowán doch, den grünen Herrn zu vergessen. Sein ganzer Horizont beschränkte sich jetzt auf den erleuchteten Kreis am Fußboden, auf das Becken und die Schaben, welche jenseits desselben schlummerten. Diese Einförmigkeit machte auch ihn schläfrig. Von der Kerzenflamme her zogen sich strahlenweise goldene Fäden zu seinen Augen; die Kerze begann auseinanderzufließen.
In diesem Augenblicke aber fühlte er plötzlich, daß er nicht allein in der Stube sei. Er fuhr zusammen, wendete sich um und sah, daß Mark an die Wand gelehnt auf seinem Bette stehe und mit einem Ausdrucke vor sich hinsehe, als sei er noch nicht völlig wach. Als aber Wassja sich erfreut nach ihm umwandte, da erinnerte er sich sofort, daß sie sich am Tage wegen eines Spieles Karten zerzankt hatten; deshalb legte er sich schnell in's Bett zurück und grub sich in die Kissen ein. Wassja verdroß das.
»Gehst Du denn nicht zum Licht?« fragte er mit gedämpfter Stimme.
»Ich geh' nicht!« antwortete Mark entschieden.
»Warum?«
»Aha, warum? Erinnerst Dich an die Karten? ...«
»Nu! komm hervor. Morgen geb' ich sie ab.«
»Lügst Du?«
»Wirklich, ich geb's ab, dazu geb' ich noch die Trompete zum Blasen bis Mittag.«
»Deiner Seel'?«
»Nu, meiner Seel'.«
»Sag's dreimal.«
»Lass' mich geh'n !«
»Nein, sag's dreimal, sonst schlaf ich gleich ein.«
In Wassja's Seele stieg ein dumpfer Zorn auf. Ist denn ein Schwur zu wenig? Aber Mark war ein Zänker und liebte es, manchmal sich um etwas herumzureißen; jetzt aber wollte er sich der gestrigen Unbill wegen rächen, da er erkannte, daß Golowán in seiner Gewalt sei und seine übertriebenen Forderungen erfüllen werde. Und in der That sagte nun Wassja, von Schamröthe übergossen, dreimal sehr sehr schnell »Meiner Seel', ich geb' die Karten ab.«
Darauf kroch Mordjik aus dem Bette und kam zur großen Freude seines Bruders an das Kerzenlicht heran. Gewöhnlich wachte Wassja zuerst auf und die Spanne Zeit seiner Einsamkeit schien ihm erschrecklich lang. Solange er trachtete, sich nach keiner Seite umzuschauen und an gar nichts zu denken als an die Kerze, die Schaben und das Becken – schien es ihm, als ob sich jemand über ihn beuge, oder als gienge jemand hinter ihm herein, oder jemand schaue auf ihn und athme. Die Vorstellung wurde immer schärfer und er fühlte sich vollständig einsam in einer beleuchteten Weite, gleichsam auf einem Bergesgipfel, ringsum aber dehne sich ein finsterer, feindseliger Abgrund aus. Dafür aber, wenn der unsanfte und entschiedene Mark an das Licht herankam, verschwanden die Wahngebilde sofort, und die Phantasie schlug eine andere Richtung ein; jetzt kamen in ihm andere Bilder zum Vorschein; sie waren beruhigender und brachten Wassja großen Genuß; größtentheils waren es Erzählungen aus der Familientradition, welche Golowán aus den abgerissenen Erinnerungen aufgeschnappt hatte, die in irgend einem flüchtigen Gespräche des Vaters und der Mutter im Salon berührt worden waren. Er fieng diese Fragmente mit ganz unbewußter Gier auf, und in den Nachtstunden, beim Kerzenscheine, wenn die durch Wahngebilde erschreckte Phantasie sich ein wenig beruhigt hatte, da stand der junge Märchen-Erzähler unter dem Banne einer Eingebung. Die Abrisse der Familienüberlieferungen verbanden sich auf eine ihm selbst unerklärliche Weise zu einem harmonischen Ganzen. Wieso das herauskam, das wußte er nicht. Er wußte ebensowenig, woher gewisse Einzelheiten dazu gekommen waren, die ihm niemand erzähle hatte. Er war jedoch überzeugt, daß dies alles die reine Wahrheit sei. Er sprach leicht und frei über das, was mit dem Vater und der Mutter geschehen war, »als wir noch nicht da, waren«, manchmal auch – was mit ihm selbst vorgieng, als er noch nicht auf der Welt war. Vater und Mutter erschienen freilich in diesen Erzählungen weder Wassja selbst, noch seinem Zuhörer ganz so wie jetzt. Sie waren dieselben, aber doch ein wenig anders. Es mußte ja wesentlich alles ein wenig anders gewesen sein, »als wir noch nicht auf der Welt waren«. Es ist zum Beispiel schwer, sich vor-zustellen, daß Mama einstmals eben so klein gewesen sei, wie heute Schura, und daß sie mit Puppen gespielt habe. Der Vater aber – so eine Zeit gab es – fuhr durchaus nicht ins Amt, sondern ritt auf einem Stock, eine Papiermütze auf dem Kopfe. Das war so seltsam und wunderbar, daß die kleinen Mädchen laut lachten und die jüngste sogar mit den Händen klatschte, auf die Gefahr hin, die Wärterin zu wecken. Nach diesem erschien ihnen nichts mehr wunderlich und Golowán legte sich ungehindert die Ereignisse jener Vorstellungswelt zurecht, mit welcher sich die Kinder befreundeten, wie man sich dareinfindet, wenn man durch farbige Gläser sieht, daß der Himmel roth erscheint und die Bäume ebenfalls, und daß ein rother Kutscher sein rothes Pferd anspornt, wobei die rothen Räder einen rothen Staub auf der Straße aufwirbeln. ... Die Mama besaß damals eisen großen Ziegenbock, welcher alle zu Tode stieß, und sie führte ihn an einem Bande mit sich, wie ein Hündchen. Und wie Papa sich's ausgedacht hatte, Mama zu heiraten, da war Mama erst dreizehn Jahre alt und der Ziegenbock hätte Papa fast zu Tode gestoßen. Aber Papa hatte Mama dennoch aus dem Fenster herausgestohlen und sie geheiratet. Später aber, als Wassja schon auf der Welt war, da wollten sie die Mama vom Papa wegnehmen, in ein Kloster geben und sie sollten wieder unverheiratet sein. – Da wäre Wassja abermals nicht auf der Welt, weil Unverheiratete niemals Kinder haben. Und an alles dies erinnert er sich. Es scheint ihm sogar, daß er sich erinnert, wie Papa Mama aus dem Fenster stahl. Er war damals im Bettchen aufgestanden. ... – Der Vater hatte ihn einmal wegen dieser Erzählung einen Dummkopf geheißen, weil er ja damals gar nicht auf der Welt gewesen sei, im Bettchen aber, das er beschrieb, Mama selbst schlief, als sie noch ein kleines Mädchen war und die Stube sei jene gewesen, in welcher Mama als kleines Mädchen wohnte; geheiratet aber hatten sie in einer anderen Stadt. Sicherlich habe Mama ihm von ihrem Zimmer erzählt und jetzt lüge er, daß er sie selber gesehen habe. Alles kam so heraus, als sei es so gewesen und es zeigte sich, daß der Vater recht hatte; allein Wassja dachte mit Bitterkeit bei sich, daß die Erwachsenen immer recht zu haben scheinen, daß dem aber in Wirklichkeit nicht so sei; er brauchte nur die Augen zuzudrücken und vor ihm tauchte eine Stube auf und ein Fenster, und Papa trägt Mama vom Fenster weg. Dabei schien der Mond so seltsam, weil auch der Mond, natürlich, geradeso wie auch die Leute, damals ein wenig anders war.
All' dies und vieles andere wurde zur Nachtzeit wieder lebendig, und so oft Wassja sich in diese Bilder vertiefte, fand er jedesmal neue Einzelheiten darin.
Als Mark in das Licht herankam, war es sein Erstes, geschickt auszuholen und einem der Küchenschaben einen solchen Schneller zu geben, daß er sich einige Male in der Luft umdrehte und dann wie toll in einen Winkel lief.
Mark hatte etwas Kühnes und Freies an sich. Seine nicht besonders schönen Züge machten den Eindruck der Sicherheit und einer gewissen Entschiedenheit. Wassja war der Liebling der Mutter, Mark jener des Vaters, welcher ihn um seiner Festigkeit und Tapferkeit willen liebte.
Er fürchtete keine dunkle Stube, kein kaltes Wasser, warf sich eben so frei in den Fluß, als er sich, auf die Schwitzbank im Dampfbads hinsetzte.
Bei Wassja hingegen wurde immer die Einbildungskraft schon im vorhinein erregt; ihn fröstelte schon voraus vor der Kälte und es schien, als werde ihm sogar die Haut davon empfindlicher. Erzitterte vor Kälte da, wo Mark nur Kühle empfand und er fühlte sich schon verbrannt da, wo Mark, aufrecht auf der Schwitzbank stehend, behauptete, daß ihm »nicht ein bischen heiß« sei. Übrigens lebten die Brüder, mit Ausnahme des oben erwähnten Falles, sehr kameradschaftlich miteinander und verstanden einander mit halben Worten, manchmal auch ohne Worte.
»Nun, hast ihn wieder gesehen?« fragte Mordjik.
»Den Grünen? – Hab' ihn gesehen.«
»Du lügst, denk' ich.«
»Meiner Seel', hab' ihn gesehen.«
»Nun?«
»Gar kein ›nun‹ . Gesehen hab' ich ihn und weiter nichts . . .«
»Aus Papier?«
»So wie aus Papier. – – Da ist nichts zu sagen.«
»Bah, Dummheiten! Ich fürchte mich nicht. Was soll man sich da fürchten, wenn er aus Pappe ist? He, Da! Grüner!« schrie er, sich Muth machend, gegen die Thüre. Der Anblick des nächtlichen Dunkels wirkte aber auch auf ihn. Er wandte sich ab und fügte schon etwas leiser hinzu: »Ich würde ihn zerreißen, weiter nichts.«
Wassja beeilte sich, das Gespräch abzulenken.
»Scheint es Dir auch sonderbar?« fragte er.
Mordjik dachte ein wenig nach.
»Wahrhaftig, es scheint so und Dir?«
»Auch mir scheint es so. Wovon kann das sein?«
»Davon, daß ... es draußen windig ist,« sagte Mordjik, indem er dem Rauschen der Blätter lauschte.
»Auch ein Regen war, ein großer. Auch jetzt regnet es noch, aber schwächer. Aber davon ist's nicht. Und scheint es Dir«, fügte Wassja lebhaft hinzu, »als ob man mit einem Papierblatt raschelte, mit einem un–ge–heueren?«
Mordjik lauschte, dann sagte er:
»Nein, es scheint mir nicht so.«
»Scheint es Dir aber, als ob man Korn in ein Faß schüttete?«
Mordjik lauschte abermals.
»Ganz und gar nicht scheint es mir, weil das der Wind ist.«
»Mir aber scheint es manchmal so. Aber immerhin ist es heute nicht davon so sonderbar.
»Wovon denn aber?
»Ich weiß nicht. Ich hab's gewußt, aber vergessen. Jetzt weiß ich's nicht.«
»Ich auch nicht.«
Beide verstummten.
In diesem Augenblicke knarrte im anderen Hausflügel jenseits des langen Corridors eine rasch geöffnete Thüre. Ein Fensterrahmen in der Kinderstube wurde davon erschüttert, die Kerzenflamme flackerte auf und die Thüre wurde wieder zugeschlagen.
»Hast's gehört?« fragte Wassja.
»Ja, hab's gehört. – Wart' einmal.«
In der That, einige Augenblicke zwischen dem Öffnen und dem Zuschlagen der Thüre drangen gemischte Laute, gleichsam ein Bündel von Tönen, herüber. Offenbar schlief man dort nicht und es mag sein, daß man sich dort auch, gar nicht einmal zu Bette gelegt hatte. Irgend eine Stimme rief nach Wasser, irgend jemand schrie sogar und weinte, irgend jemand stöhnte. – Bei dem letzteren Laut begann das Herz der Jungen ängstlich zu schlagen.
»Weißt Du, was das ist, drüben?« fragte Wassja lebhaft.
»Ich weiß. Bei Mama wird bald ein kleines Mädchen zur Welt kommen.«
»Vielleicht aber ein Bub.«
»Nu–u– vielleicht auch ein Bub.«
Mordjik erinnerte sich an zwei Fälle von Geburten, und jedes Mal war es ein Mädchen gewesen. Darum schien es ihm auch jetzt, daß unbedingt ein Mädchen auf die Welt kommen müsse. Übrigens, da er sich an die Geburt der kleinen Mädchen erinnerte, an die seine und jene Wassja's aber nicht, so kam ihm manchmal die durch nichts anderes begründete Idee in den Kopf, daß nur die Mädchen geboren wurden, und daß es darum eine Zeit gegeben habe, da sie gar nicht vorhanden waren. Sie aber, die kleinen Buben, wurden niemals geboren und waren immer vorhanden gewesen. Er selbst maß dieser Theorie keinen besonderen Glauben bei, aber sie erhöhte ihn in seiner eigenen Meinung und gab ihm einen Vorzug vor den kleinen Mädchen, welche auch gerne »immer gewesen sein« möchten, sich aber vor einem noch unlängst eingetretenen Factum, der Geburt Schura's, beugen mußten.
»Das ist's, warum alles uns so sonderbar vorkommt.« hub Wassja wieder an.
»Du lügst« – wollte Mordjik gedehnt sagen; allein nachher stimmte er bei: »mag sein, daß Du Recht hast.«
»Natürlich darum. Siehst Du, dort ist niemand schlafen gegangen, und dann ist ja dieses immer sonderbar.« Beide versanken in Nachdenken.
»Erst ist kein kleines Mädchen da, und gleich ist eines da«, sagte Golowán nachdenklich.
»Ja,« wiederholte Mordjik, »erst war's nicht da, jetzt ist's da.« Merkwürdig; woher nimmt man sie? ... »Wart' einmal, ich weiß es,« beeilte er sich seine Entdeckung kundzuthun, »man setzt sie heimlich aus!«
Die Aufklärung war einfach, jedoch nicht zufriedenstellend.
»Nein!« sagte Golowán.
»Warum denn nicht?«
»Warum, weil ... darum ... na, darum nicht! Denn woher wird wohl der Mensch, der es aussetzt, es hernehmen?«
»Der? – von einem anderen.«
»Und der Andere?«
»Wieder von wem anderen.«
»Und wieder dieser Andere, wo nimmt er es her?«
»Ich ... ich weiß nicht ... die Njanja sagt, mich habe man unter dem Klettenstrauch gefunden. Unsinn, denk' ich.« –
»Freilich, Unsinn. Wer wird ein kleines Kind dorthin legen? Und was den goldenen Faden anbelangt, daß sie nämlich an einem goldenen Faden hergelassen werden – auch Unsinn.«
»Was die Alte auch zusammenredet! ... Nun aber, wie meinst Du es, woher?«
»Aus der anderen Welt – natürlich.«
Mordjik wurde nachdenklich, der Gedanke schien ihm höchst einfach und klar. – Ganz begreiflich: auf diese Welt gerathen sie aus jener Welt.
»Ja aber wie?«
»Vielleicht bringen sie die Engel.«
»Vielleicht gibt es nicht einmal Engel.«
»Das darfst Da nun einmal nicht sagen, das ist eine Sünde. Das wissen einmal schon alle, daß es Engel gibt.«
»Aber der Onkel Michael,« ...
»Ei was gar! Wenn sie Leute gesehen haben.«
»Wer hat sie gesehen? Auch ich hab' einen gesehen ... im Traume.«
»Wie sieht er aus?
»Ganz, ganz weiß. Er flog aus dem Wygowsky'schen Garten, immer von Baum zu Baum, und dann, ist er durch den Garten und über den Platz geflogen. Ich aber habe zugesehen, wohin er sich setzen werde. Er hat sich auf das Dach über den kleinen Laden Moschko's hingesetzt und hat angefangen mit den Flügeln zu schlagen, dann ist er von dort herunter und weit, weit hingeflogen.«
»Fliegt er gut?«
»Ausgezeichnet. Nachher hab' ich zum Moschko gesagt: ich habe im Traume gesehen, wie ein Engel auf seinem Dache saß.«
»Nun, und Moschko ?«
»Moschko hat gesagt: Ai waj, was ist da Wichtiges? Bei mir sind jeden Sabbat Engel im Hause, und Teufel setzen sich auf's Dach ganz eben so viele, wie die Dohlen auf eins alte Pappel ...«
»Er prahlt.«
»N – nein – kaum. – Bei den Juden kommt vieles vor. Erinnerst Du Dich an Judka?« –
Judka war ein riesiger Jude mit einem großen Barte und schreckbaren, halbverrückten Augen, gewesen. Er hausierte mit besseren Mehlsorten und verkaufte sie im Detail. Nachdem er das Mehl mit dem Scheffel gemessen hatte, warf er dann immer noch eine Prise nach der andern hinzu: »für die Kinderchen, für die Köchin, für die Kinderfrau, für das Kätzchen, für das Mäuschen«, dabei zitterte sein Bart, und die Augen rollten in ihren Höhlen. Sowie nur seine Riesengestalt mit dem Sack auf dem gekrümmten Rücken im Hofthore erschien, bemächtigte sich der Kinder ein Gefühl des Schreckens und der Neugierde. Sie zitterten vor Judka, konnten sich's aber doch nicht versagen, zuzusehen, wie Judka, die Prischen »für's Kätzchen, für's Mäuschen« hinwerfen werde. Er kam jede Woche, und jedesmal machte er einen außerordentlich großen Eindruck auf die Kinder.
Da geschah es einmal, daß Judka plötzlich verschwand und einige Wochen gar nicht zum Vorschein kam. Sowohl die Mutter, als auch die Kinder waren äußerst erstaunt darüber und dachten, der alte Jude sei gestorben. Es war aber etwas anderes, und zwar: am Versöhnungstage hatte der jüdische Teufel, den das Volk unter dem Namen Chapun kennt, den Judka gepackt. In der Küche erzählte man die Sache mit allen Einzelnheiten. Am Versöhnungstage versammeln sich die Juden gegen Abend in der Synagoge, nachdem sie ihre »Patynki« beim Eingang zurückgelassen. Dann zünden sie eine große Anzahl von Kerzen an, schließen die Augen und erheben ein jämmerliches Schreckensgeschrei. Da fliegt der Chapun auf sie herab wie ein Geier und packt einen von ihnen. Nachher, wenn sie aus der Synagoge treten, suchen alle wieder ihm »Patynki« hervor, allein ein Paar bleibt immer übrig; diesmal waren die ungeheuren Patynki Judka's übrig geblieben und daraus erkannten alle, daß Judka vom Chapun gepackt worden sei.
Später kam Judka plötzlich wieder zum Vorschein, allein er hinkte und schien ganz zerschlagen; die Kinder aber fürchteten sich noch mehr vor ihm. Es zeigte sich, daß der Müller aus Koduja den Judka gerettet hatte. Dieser Müller war abends auf seinen Mühlendamm hinausgetreten, und hatte ruhig dagestanden, sich den Bauch gestreichelt und zugehört, wie das Wasser in den Radschaufeln braust, und wie die Rohrdrommel im Schilfe pfeift. Der Abend war hell. Da sieht er plötzlich: etwas läuft dort am Himmel. Er sieht näher zu und erkennt – Chapun schleppt den Juden. Auch wird es dem Müller klar, daß der dumme Judenteufel sich im Maß vergriffen hat, er fliegt and fliegt und doch fällt er selber immer tiefer und tiefer herab. Nu, denkt der Müller, einen zweiten, so großen Juden findet man ja gar nicht – es ist nicht anders, der Chapun hat diesmal meine Kundschaft, den alten Judka, erwischt. Freilich, wenn der Umstand nicht gewesen wäre, daß Judka sein Mehl immer beim Müller kaufte, hätte dieser sich niemals in die Sache eingemengt. Nun aber empfand er doch Mitleid für den alten Bekannten. Da stampfte er denn mit den Füßen auf den Boden und schrie plötzlich aus vollem Halse: »Wirf's weg, das ist mein!« Der Chapun ließ seine Last fallen und schnellte nach aufwärts, wie ein junger Weih, auf den man mit einer Flinte geschossen. (Alle Achtung vor des Kodujaer Müllers Stimme.) Der arme Jude fiel mit seiner ganzen Schwere auf den Mühlendamm und zerschlug sich ordentlich die Glieder. Judka war nun leibhaftig da, und alle sahen, daß er nach dieser Begebenheit thatsächlich hinkte. Darum fieng auch Mordjik keinen Streit ao. Bei den Juden kommt in der That manches vor.
Außerdem zerstreute die Erwähnung Judka's auch im allgemeinen die in ihm vorhandenen Keime eines skeptischen Starrsinnes.
»Ja, da war's, daß mir Moschko vieles erzählte ... auch das, wie die Kinder auf die Welt kommen.«
»Nun?«
»Er sagt, daß bei Gott zwei Engel sind. Der Eine nimmt aus den Leuten die Seele heraus, der andere aber bringt neue Seelen aus der anderen Welt. Wenn, es nun nöthig ist, daß irgendwer ein Kindchen bekommt, so wird eine Frau krank.«
»Warum ?«
»Darum eben, weil Gott beide Engel schickt: ›Marsch, alle beide auf die Erde zu den Leuten so und so, und erwartet meine Befehle.‹ Wenn Gott auf diese Leute nicht böse ist, so sagt er: Legt das Kind neben die Mutter und macht Euch beide wieder fort. Dann wird die Mutter wieder gesund. Manchmal aber sagt er: Du Tod, nimm der Mutter die Seele fort. Und dann stirbt die Mutter. Manchmal aber sagt er: Nimm die Mutter und das Kind – dann sterben beide.«
»Und, weißt Du was,« fügte Golowán hinzu, »vielleicht ist auch das wahr, weil man sich immer fürchtet, wenn ein Kind auf die Welt kommen soll, und auch Mama hat, unlängst gesagt: Vielleicht aber werde ich sterben.«
»Tante Katja ist ja auch gestorben.«
»Nu, siehst Du.«
»Dieser Engel muß furchtbar sein.«
»Nein, warum denn? ... nicht besonders furchtbar, denk' ich. Er handelt ja nicht nach dem eigenen Willen. Denkst Du, es ist ihm sehr angenehm, wenn er schuld daran ist, daß alle weinen,? Ja, was soll er denn thun? Gott befiehlt – er muß gehorchen. Es geht ja nicht von ihm aus.«
»Hast Du aber bemerkt, nach dem Tode Katja's, was Heinrich da für Augen bekam?«
»Dunkle.«
»Nein, nicht dunkle, – große.«
»Große und dunkle. Auch tollt er jetzt niemals so mit uns, wie früher.«
»Und immer zankt er und streitet mit Michael.«
»Ich weiß, warum er böse ist. Ich hab's gehört, wie sie heftig gestritten haben: Michael sagt, daß, wenn ein Mensch stirbt, so wird aus ihm ein Pulver und dar Mensch ist gar nicht mehr vorhanden. Heinrich aber sagt, daß der Mensch in die andere Welt hinübergeht und von dort aus herabschaut und Mitleid empfindet.«
»Was heißt denn das, wozu wird man da böse?«
»Nu, siehst Du: wenn aus dem Menschen ein Pulver wird, so heißt das auch von Katja. Das aber will er nicht.«
»Ja, er liebt sie.«
Beide verstummten. Da es keinem von ihnen eingefallen war, das Licht zu putzen, so war es so heruntergebrannt, daß der Docht einen förmlichen Pilz bildete. Die herabgedrückte Flamme züngelte seitwärts empor, gerade wie Äste eines Baumes, dessen Krone gestutzt worden ist; der erhellte Raum wurde dadurch noch, enger begrenzt. Man sah weder die Wände, noch die Decke, noch die Fenster. Die Finsternis hieng wie ein Zelt über den kleinen Jungen und dieses Zelt erbebte und schwankte hin und her. Das Klatschen der Regentropfen aber und das Rauschen der Bäume schien jetzt bis in die Stube hereinzudringen und sich in ihrer Dunkelheit auszubreiten. Und beide kleinen Buben fühlten, daß es noch niemals eine so seltsame Nacht gegeben habe.
Jetzt erklärten sich Beide schon den Sinn dieser Empfindung von Seltsamkeit. Das Unwohlsein der Mutter und ihre bangen Ahnungen, die ängstliche Zärtlichkeit des Vaters, die Erinnerung an den Tod Tante Katja's, dann diese ungewöhnliche Bewegung, das Geräusch von Stimmen und Schritten im jenseitigen Flügel, wo irgend wer weinte, irgend wer stöhnte – alles dies wurde in Eins zusammengefaßt und nahm Gestalt an. Abgesehen von der zweifelhaften Autorität des Krämers Moschko, fand auch der skeptische Mark keine Einwendung gegen die von Golowán soeben entwickelte Theorie. Ein neues Leben bereitete sich vor in ihr Haus einzutreten und der mit ihm Hand in Hand gehende Tod breitete seine dunklen Flügel über dasselbe aus; mit dem schwachen Stöhnen der Mutter verschmolzen, erfüllte sein Wehen die Kinderherzen mit Furcht und Mitleid.
»Höre!« sagte Mark leise.
»Was?« fragte noch leiser Wassja.
Mark neigte sich zu ihm, als fürchte er, daß der Klang seiner Rede nicht dorthin, jenseits der dunklen Kuppel ob ihren Häuptern dringe.
»Höre ... wenn das also wahr ist, so heißt das, daß sie beide ...«
»Ja ... irgendwo hier ...« – er fühlte plötzlich einen Schauer.
»Wir wecken die Mädchen auf.«
»Und die Njanka ... geh', weck sie auf.«
»Ich ... fürchte mich.«
»Und ich ... ich auch« – gestand der unerschrockene Mordjik. Die Brüder rückten instinktiv näher an einander und zum Licht heran. Die Dunkelheit, welche bis jetzt sich von oben herabgesenkt hatte, verschlang nun auch den Ofen, die Wände, die Betten und das Nebenzimmer mit den kleinen Mädchen und der Wärterin, und sogar die Erinnerung an sie verzog sich irgendwo weithin. Das Rauschen und Flüstern kam nun schon ganz und gar von draußen herein, und jemand flüsterte leise über den Häuptern der kleinen Buben etwas Unverständliches, aber sehr Wichtiges. ...
So vergiengen einige Minuten. Es kann sein, daß auch mehr Zeit so vergangen wäre, wenn es Mordjik nicht eingefallen wäre, der Kerze die Dochtkappe abzustreifen. So wie er aber dies gethan hatte, richtete sich die Flamme sofort auf, die Kuppel über ihren Häuptern trat auseinander, die Decke, die Wände, den bekannten alten Ofen mit dem angerauchten Ofenloch, die Betten mit den zerknitterten Kissen und den auf die Erde geworfenen Becken, sowie die Thür zum Schlafzimmer der Mädchen enthüllend. Zugleich verzog sich das Knistern aus der Stube und anstatt der wichtigen Stimme hörte man das Plätschern der einzelnen Rinnsale draußen im Hofe.
»Ich gehe sie aufwecken,« sagte Mordjik aufstehend, und schickte sich an, in das Kinderzimmer zu gehen.
»Njanka, Njanka! steh' auf!« plagte er die Alte. Die Wärterin setzte sich, die Augen vor Schreck heraustretend, rasch in ihrem Bette auf.
»Was denn? Ist es schon?« fragte sie erschreckt.
»Ach, ich Alte, habe mich verschlafen!«
Sie zupfte ihr Kopftuch zurecht, unter dem die grauen Zöpfe hervorquollen, und während sie rasch in die Schuhe fuhr, warf sie ihren Kittel über die Schultern.
»Ksch! bleibt ruhig da sitzen. Ich komme bald,« Und die Alte gieng eilig auf den Corridor hinaus. Ihre Schritte verhallten schnell und Mark, sah den Bruder mit schmerzlicher Enttäuschung.«
»Fort ist sie, diese Dumme!« sagte er.
»Ja, besser wäre es gewesen, sie nicht zu wecken So sind wir jetzt ganz allein?«
»Wir wecken die Kleinen auf.«
Allein die Kleinen waren schon, durch das Geräusch beunruhigt, von selbst erwacht.
Man hörte, wie die Ältere der Jüngeren half, aus dem Bettchen zu steigen, und bald erschienen Beide, sich bei der Hand haltend, in der Thüre.
»Grüß Euch Gott, meine Herren, da sind auch wir.« sagte Mascha lustig und ein wenig geziert. Da sie bemerkt hatte, daß die Wärterin nicht da sei, sprach sie fröhlich und laut.
»Leiser, Du Dumme!« fuhr Mark sie an. – »Bei der Mama kommt ein neues Mädchen auf die Welt, das ist's ...«.
»Leiser, alle miteinander,« sagte der Ältere, indem er auf irgend etwas hinhorchte. Die Kleinen setzten sich friedlich zur Kerze und verstummten gleichfalls.
Der Regen hatte offenbar ganz aufgehört. Das frühere ununterbrochene Tosen war nun oft abgebrochen, und zwischendurch. Traten, die fernen Geräusche deutlicher hervor: das Wogen der Baumwipfel, das Bellen des verschlafenen Hundes und noch ein dumpfer Ton, der, irgendwo sehr weit, etwa am Ende der Welt beginnend, jetzt allmälig anschwoll und immer näher herankam.
»Da fährt jemand,« sagte Mordjik.
»Weit weg ist's, in der Stadt.«
Mitten im Schlummer und Schweigen der Nacht, das nur vom Plätschern, des Wassers aus den Dachrinnen und vom Brausen des Windes unterbrochen wurde, zwang dieses vereinzelte Geräusch von Wagenrädern zu unwillkürlicher Aufmerksamkeit. Wer fährt da, und wohin in dieser seltsamen Nacht? ... Wassja wurde nachdenklich, Ihm erschien in der Ferne ein winziges Wägelchen, das durch die öden und finsteren Straßen jage, unbedingt ein winziges, mit winzigen beschlagenen Räderchen, weil auch dieses melodische Geräusch leise und zart erschien, so deutlich es auch herankam. Winzige Pferdchen schlagen einen raschen Wirbel auf dem Pflaster und ein winziger Kutscher erhebt die Hand mit der Knute. Wer ist's denn, der da zu später Stunde durch die Straßen der schlummernden Stadt fährt? ... Die Räder polterten, rollten näher heran, immer schneller, dann hörte der Lärm plötzlich auf und man vernahm, nur das dumpfe Knarren auf der ungepflasterten Straße; bald klang der Radreifen an ein Steinchen an, bald knarrte der hölzerne Kutschkasten, und das immer näher und näher.
»Auf dem Feldwege fährt er zu uns,« sagte Mordjik. Das Haus stand am äußersten Ende der Stadt, neben einem freien, mit allerhand Gräsern bewachsenen Platze. Wer konnte doch da zu ihnen gefahren kommen bei Nacht, noch dazu in solch einer Nacht, da es ohnedies so seltsam zugeht, und auch noch ein kleines Kind bei ihnen geboren werden soll?
Und mit einem Male verschmolz dieses Geräusch eines herankommenden Wagens mit allem, was ungewöhnlich war, mit allem, was sich nur in dieser einen Nacht bei ihnen zutrug. ...
Den Athem anhaltend lauschten die Kinder, wie das Hofthor geöffnet wurde, wie die Räder im Hofe knarren and wie man bei der Freitreppe vorfährt. Dann wurde das Gethue stärker, das Thürenzuschlagen und die Bewegung auf dem jenseitigen Flügel häufiger.
»Hat man das Kindchen gebracht?« fragte Wassja.
»Schweig! ...«
Wassja lauschte, und in seiner Phantasie baute sich ein seltsames Bild auf: Engel schieben sich aus der Kalesche heraus. Sie tragen sorglich ein Kindchen, übergeben es der Mutter und begrüßen sie: Gott mit Euch, Gott, mit Euch! Nehmt es, bleibt alle am Leben. ...
Aber nur das ist seltsam: im Hause ist alles so stille und niemand jubelt. Das Rasten drüben ist verstummt, die Thüren. werden nicht mehr zugeschlagen. Jemand war im Korridor vorsichtig bis an die zunächst befindliche Thüre herangekommen, wo die alte Tante wohnte, welche niemals aus ihrer Stube gieng, und Wassja hörte folgendes Gespräch:
»Gottlob, er ist angekommen! Jetzt wird alles gut werden.«
»Ach, Herrin, wartet mit der Freude! Immer ohnmächtig ist sie. ... Mein Gott, wie schwer. ...«
Dann knarrte eine Thüre, und alles verstummte.
Nach einem Augenblicke kam die alte Kinderfrau in die Kinderstube gelaufen. Die grauen Zöpfe hatten sich nun ganz vorn unter dem Kopftuch hervorgeschoben, Thränen flossen ihr über das runzelige Gesicht. Ohne der Kinder zu achten, wühlte sie in ihrer Truhe, dann kletterte sie auf ihr Bett, und als sie wieder hinausgerannt war, erblickten die Kinder einen röthlichen Schein in ihrer Schlafstube. Vor dem Heiligenbilde entbrannte leise die »schreckliche Kerze«, die »Weihkerze«. ...
Die kleinen Mädchen verstanden nichts von alledem and schauten nur mit weitgeöffneten Augen vor sich hin. Die Brüder sahen einander an und warteten, wer von ihnen zuerst zu weinen anfange. Da würde die Kinderstube mit einem Male von unaufhaltbarem Wehklagen erfüllt werden. ... Aber es war auch gar zu schrecklich. ... Draußen heulte irgend jemand in gedehnten, zornigen Tönen und die Kinder erkannten, in diesem Heulen nicht den Wind, der über den Garten strich.
Aber plötzlich wurde jene ferne Thüre abermals geöffnet und eine seltsame Stimme sagte laut:
»Vortrefflich, vortrefflich! Ich gratuliere « – und ein langer Seufzer der Erleichterung, so wie ihn die Kinder noch nie im Leben gehört hatten, zog leise durch das ganze Haus und verhallte. ...
Wassja wurde es plötzlich so freudig zu Muthe, obwohl es in seinem Kopfe noch confuser wurde. ... Er wußte sieht, was diese seltsame Stimme bedeute, und es war ihm, als schlafe er ein. Die Spannung dieser Nacht forderte ihre Rechte, Schura schlummerte sitzend, und die Kinder merkten gar nicht, wie die Zeit verfloß. ...
»Ich weiß aber, wer angekommen ist,« sagte plötzlich Mark, der sich dem Schlafbedürfnis nicht ergab; allein die Worte erstarben auf seinen Lippen. Jene Thüre wurde abermals geöffnet, es war jedoch jetzt nichts zu hören, als das Weinen eines Kindes. Es weinte ein winziges Kindchen mit einer eigentümlichen, feinen, sich verschluckenden Stimme, aber dennoch hartnäckig und laut. ...
Das war so unerwartet, und man hörte das Weinen so deutlich daß sogar die kleine Schura zu sich kam, den Kopf in die Höhe streckte und sagte:
»Kindchen – sreit.«
Übrigens schien sie das nicht im geringsten in Erstaunen zu setzen, dafür aber sprangen die andern alle von ihren Sitzen. Mascha klatschte in die Händchen, Mark aber stürzte zur Thüre.
»Gehen wir hin!«
Wassja gieng ihm nach, aber an der Schwelle blieb er stehen.
»Wenn man uns aber auszankt?«
«Nu! – Einmal ist keinmal ...« beruhigte Mark. Er wollte damit sagen, daß eben diesmal, in dieser Nacht, alles erlaubt sei. – »Ihr aber, Mädchen, bleibt hier. ...«
Allein. Mascha dachte anders.
»Schau, wie gescheit er ist! Bleib' Du hier, wenn Du willst. – Komm', Schurotschka, komm', Liebe!« – Und sie hob Schura eilfertig empor.
»Lass' sie gehen,« bekräftigte Wassja, welcher wohl begriff, daß er selbst um keinen Preis zurückbliebe.
Als sie die Gangthüre öffneten, strömte ihnen ein warmer, feuchter Lufthauch entgegen. Gegen alle Erwartung war der Corridor beleuchtet: am äußersten Ende desselben, zunächst der Eingangsthüre, hatte jemand eine Unschlittkerze in einem Leuchter stehen gelassen. Sie war ganz herabgeflossen, ihre Flamme flackerte im Winde, fliehende Schatten huschten im ganzen Corridor dahin, bald auf den Wänden auftauchend, bald sich, in die Winkel verkriechend, und das schwarze Ofenloch, das sich in der Mitte befand, schien sich gleichfalls zu bewegen und seinen Platz zu wechseln. Überhaupt war der Gang selbst heute ganz anders, gar nicht derselbe. Durch die halb geöffnete Thüre sah man einen Theil des dunkeln Nachthimmels und die schwarzen Baumwipfel neigten sich rauschend hin und her. Als die Kinder an das Ende des Ganges gekommen waren, blies der Wind über ihre nackten Füße.
Die Thüre zu »jenem Flügel« war unweit des Eingangs, rechts gelegen. Mark gieng voraus, und indem er sich, auf die Zehen stellte, öffnete er leise diese Thüre. Die Kinder huschten im Gänsemarsch, in die erste Stube.
Die früher so wohlbekannten Räume hatten jetzt ein ganz anderes Aussehen. Die Kinder richteten ihr Augenmerk vor allem anderen auf die Thüre von ihrer Mutter Schlafzimmer. Dort war es stille; die schwache Flamme des Lichtes flimmerte und ließ kaum die Gestalt des Vaters wahrnehmen, welcher sich zärtlich über das Kopfende des Bettes neigte. ... Die dunkle Figur einer fremden Frau bewegte sich wie ein undeutlicher Schatten im Schlafgemach.
Mark zupfte Wassja am Ärmel:
»Siehst Du jetzt, wer angekommen ist?«
»Wer?«
»Schau, der Onkel Heinrich und – – der Michael.«
Wassja wendete die Augen von der ferneren Thüre ab und schaute in die Mittelstube, welche die erste Stube vom Schlafzimmer trennte. Das war sonst die Empfangsstube gewesen, nun war aber alles darin umgestellt, Onkel Heinrich saß nachdenklich auf einem Stuhle unter der Hängelampe und in seinem blassen Gesichte traten nur die Augen besonders hervor, welche, wie es den Kindern schien, noch größer geworden waren. Michael stand ohne Rock, mit aufgestockten Ärmeln da und trocknete sich mit einem Handtuche die Hände.
»«Was thun wir jetzt?« fragte Wassja zerstreut. Bei jedem praktischen Vorgehen überließ er Mark den Vorrang.
»Ich weiß nicht,« sagte dieser, sich in den Schatten zurückziehend. Die Kinder zogen ihm nach. Die Gegenwart Heinrichs und Michaels machte sie stutzig. Heinrich war früher ein lustiger Patron gewesen, er hatte mit den Kindern gespielt, hatte sie gekitzelt und in der Luft herumgedreht. Ungefähr vor zwei Jahren aber war ihm ein Töchterchen, Schura, geboren und seine Gattin war gestorben. Da war er in eine andere Stadt übersiedelt und nun besuchte er sie selten. Wenn er aber kam, so bemerkten die Kinder, daß er stark verändert war. Er war so freundlich wie immer mit ihnen, allein sie fühlten sich nicht so behaglich wie ehemals in seiner Gegenwart – irgend etwas beengte sie und es war ihnen nicht lustig zu Muthe mit ihm. Jetzt war er tief in Gedanken versunken, und in seinen Augen lag eine tiefe Trauer.
Michael war viel jünger als sein Bruder. Er hatte blaue Augen, hellblondes, fein gekräuseltes Haar und ein weißes, regelmäßiges, heiteres Gesicht. Wassja hatte ihn noch als Gymnasiasten mit rothen Aufschlägen und Bronceknöpfen gekannt, allein das war doch schon lange her. Später war er aus Kiew hergekommen mit der blauen Studentenmontur, den Degen an der Seite. Die Alten sagten damals, wenn sie mit einander von ihm sprachen, daß er schon ganz erwachsen werde, sich in ein Fräulein verliebt habe, schon einmal eine »Operation« gemacht habe und nicht mehr an Gott glaube. Alle Studenten hören auf, an Gott zu glauben, weil sie die Leichname schneiden und sich vor gar nichts mehr fürchten. Aber wenn das Alter kommt, so glauben sie wieder und bitten Gott um Verzeihung. Manchmal aber bitten sie auch nicht um Verzeihung, dann geht es ihnen aber schlecht, so wie dem Doctor Wojzechowsky. Solche sterben immer eines plötzlichen Todes und ihnen platzt der Leib, wie beim Doctor Wojzechowsky. ... Michael beachtete die Kinder niemals und es erschien ihnen immer, daß er sie aus zwei Gründen verachte: erstens darum, weil sie noch nicht groß waren und zweitens darum, weil er selbst noch nicht lange groß war und noch keinen Schnurrbart hatte. Übrigens – als er jetzt zur Lampe herankam und eine Montur anzog, die ganz neu war, etwas wie ein Waffenrock – erstaunten die Kinder darüber, wie sehr er sich verändert habe: Er hatte einen Schnurrbart und ein Bärtchen und war nun in der That erwachsen. Er schaute zufrieden, ja stolz drein. Seine Augen leuchteten und sein Mund lächelte, obwohl er bestrebt war, eine wichtige Miene zu bewahren. Nachdem er den Rock angezogen hatte, hielt er es auch nicht länger aus und sagte, indem er sich eine Cigarrette drehte, zu Heinrich:
»Nun, was sagst Du, Henja, wie ich mich aufgeführt habe? .... Es war aber ein schwerer Fall, und dieser Esel, der Rudnitzky, hätte sicherlich entweder die Mutter oder das Kind nach der anderen Welt expediert, vielleicht gar alle beide. ...
Heinrich wendete die Augen von der Wand ab und sagte:
»Bravo, Mischa! Ja, wir sind gerade zurecht gekommen, denn vor zwei Jahren – bei meiner Katija,« – Hier wurde seine Stimme, dumpfer ... er wendete sich ab.
»Aber dennoch,« sagte er, »Geburt und Tod – einander so nahe ... so nebeneinander ... ja, es ist ein großes Geheimnis!«
Michael zuckte die Achsel.
»Dieses Geheimnis, Brüderchen, haben wir fast bis -auf das letzte Pünktchen erforscht. ...«
Die Kinder waren unentschlossen und wußten nicht, was sie nun beginnen sollten. Erstens erwies sich das alles als gar zu alltäglich, zweitens begriffen sie, daß sie heut' Nacht, so gut wie immer für den kecken Überfall gestraft werden könnten; eine Strafpredigt aber in Gegenwart Michael's wäre ihnen im höchsten Grade unangenehm gewesen. Wer weiß, wie sich ihre zweideutige Lage entschieden, hätte, wenn sich nicht ein unerwarteter Zufall dazu gesellt hätte.
Die Eingangsthür knarrte, wurde ein wenig geöffnet und jemand sah zum Spalt herein. Die Kinder dachten, dies sei die Njanja, welche sie endlich plötzlich vermißt habe und sie nun suchen kämme. Aber der Spalt wurde größer und es erschien darin ein Kopf, mit nassen Haaren und einem Barte. Der Kopf sah sich schüchtern um und darauf trat ein fremder Bauer ganz leise in die Vorstube. Er war mit einem weißen Bauernkittel bekleidet, aus dem Gürtel ragte eine Knute hervor und die Füße steckten in ungeheuren Stiefeln. Die Kinder drückten sich an die Wand.
Der Bauer stellte sich bald auf den einen, bald auf den anderen Fuß und hustete ganz leise, aber, wie absichtlich, so leise, daß ihn im Schlafzimmer niemand hören könne. Alle seine Bewegungen bekundeten äußerste Schüchternheit und auch die Thüre hatte er halb offen gelassen, gleichsam um sich den Rückzug zu sichern. Nachdem er noch einmal und noch leiser gehüstelt hatte, begann er sich hinter dem Ohre zu krauen. Er hatte blaue Augen und ein röthliches Bärtchen. – Der Ausdruck außerordentlicher Schüchternheit, ja Verzweiflung, flößte den Kindern eine unwillkürliche Sympathie für den Ankömmling ein.
Zum Theil war es das ängstliche Geflüster der Kinder, zum Theil die Gewohnheit, im Halbdunkel zu sehen, was dem Unbekannten seine Nachbarn verrieth. Er war offenbar gar nicht erstaunt darüber, und in seinem Gesichte zeigte sich ein Ausdruck aufrichtiger Freude. Ganz leise auf den Zehen gehend, wenn auch sehr unbeholfen, kam er herein. Also was soll ich ... befiehlt, die Pferde auszuspannen?« fragte er mit der Miene eines solchen, fast kindlichen Vertrauens in ihren »Befehl«, daß die Kinder endgiltig Muth faßten.
»Also seid Ihr es, der das winzige Kindchen gebracht hat?« fragte Mascha.
»Eh! Was für ein Kindchen? loh habe den Herrn mit dem jungen Herrn gebracht. ... Aber, was soll ich, wißt Ihr nicht, die Pferde ausspannen oder was? ...«
»Wir wissen's nicht,« sagte Mordjik.
»Weißt Du was? Du, kleines Herrchen, gehe in jene Stube und frage den jungen Herrn, den Michael, was er Dir sagen wird?
»Geh' Du selbst.«
»Ja, ich, seht Ihr, fürchte mich. ... Ich weiß nicht, mach' ich's so oder so – Ihr aber könntet hingehen – Euch ist's leichter hinzugehen. Was wird Euch da viel geschehen?«
»Und Dir?«
»Ach, was bist Du, Bübchen, für ein Unverständiger. Geh' doch, geh' ...«
Er zog Mark aus dem Winkel hervor und schob ihn zur Thüre. Mark hätte es vorgezogen, in den Mittelpunkt der Erde zu versinken, als jetzt vor allen – und besonders vor Michael – im bloßen Hemdchen und so unerwartet dazustehen. Allein die Hand des Fremden schob ihn hartnackig vor.
»Was ist das? Woher bläst es denn?« hörte man die leise Stimme der Mutter fragen. Da wendete sich Michael auf dem Stuhle um und Mark begriff nun, daß sein Schicksal entschieden sei. Darum stieß er zornig die Hand des Fremden von sich und trat kühn vor die erstaunten Anwesenden.
»Er sagt, seht, das sagt er ...« begann Mark mit lauter Stimme und dem augenscheinlichen Wunsche, die Schuld seines unerwarteten Erscheinens gänzlich auf den Bauern zu wälzen, »erfahre, sagt er, ob ich die Pferde ausspannen soll oder nicht?«
Wer? Wo?« fragte der Vater, welcher auf diese Rede aus dem Schlafzimmer getreten war.
»Sieh', dort, der Bauer.«
Allein der Bauer hatte sich eben verrätherisch zur Ausgangsthüre hingeschoben und erwartete, halb hinter ihr versteckt, den Ausgang dieser Scene. Mascha, welche dieses Manöver gesehen hatte, war entrüstet:
»Du, warum versteckst Du Dich? Schau einmal, was das für Einer ist, erst stößt er Markuschka vor und selbst versteckt er sich. ...«
Diese Einmischung verrieth alle. Michael nahm eine Kerze von der Commode, erhob sie über seinen Kopf und beleuchtete so die Kinder.
»Haha,« sagte er, »da ist ihrer ja ein ganzes Nest, und der dumme Chwedko mit ihnen. Chwedko, bist Du dort, was?«
»Freilich, niemand als ich. Ich frage nur, ob ich die Pferde ausspannen soll?«
»Dummkopf, mach' die Thüre zu!« schrie Michael. »Geh' aber noch nicht fort! Warte dort im Vorzimmer.« Der Bauer gehorchte mit großem Widerwillen.
»Nun, jetzt wollen wir untersuchen: Wie seid Ihr da herein gefallen, Ihr Gaudiebe? und Du, Chwedko, wozu hast Du sie hergeführt?«
»Ei, was für ein Teufel hat sie hergeführt? Ich bin hereingekommen, um zu fragen, ob ich die Pferde ausspannen soll. Ich schaue, und da ist ein ganzer Winkel mit ihnen vollgestopft. So war's. Was soll ich da dabei? Da sagt auch noch das kleine Fräulein: Du hast das kleine Kindchen gebracht. – Was für ein Kindchen, eine seltsame Geschichte. ...«
Alle lachten.
»Nun, jetzt redet einmal, wie seid Ihr daher gekommen?«
Beide Buben schwiegen mürrisch. ... Sie hatten etwas Ungewöhnliches erwartet und nun geriethen sie gar in's Verhör, ja und noch dazu durch Michael.
»Wir haben gehört, daß das Kindchen weint,« antwortete nur Mascha.
»Nun, und ...?«
»Wir wollten wissen,« antwortete Mark mürrisch, »woher es gekommen ist.«
»Ho, ho!« sagte nun Heinrich, welcher mittlerweile Schura auf den Arm genommen hatte, »das nenn' ich nun eine Frage! Fragt ihn doch,« er deutete auf Michael, »er weiß alles.«
Michael schob sich mit geringschätziger Miene die Brille zurecht.
»Unter den Kletten hat man's gefunden,« sagte er, seine Locken schüttelnd.
Michaels Geringschätzung berührte Mark empfindlich.
»Dummheiten!« sagte er gereizt. »Wir wissen, daß das nicht sein kann. Draußen regnet es, sie müßte sich erkälten.«
»Schau, da ist also eine Hypothese verworfen,« lachte Heinrich; »her mit einer andern, Mischa!«
»Man hat es direkt vom Himmel auf einem Fädchen heruntergelassen.«
»Das könnt Ihr andern erzählen ...« rief Mark, immer gereizter werdend. »Man sieht, Ihr wißt es selber nicht. Wir aber wissen es,«
»Sehr interessant. Wahrscheinlich von der alten Närrin, der Kinderfrau?«
»Nein, nicht von der Njanja.«
»Von wem denn?«
»Von ... vom Juden Moschko.«
»Immer besser! Nun, und was hat Euch der weise Moschko erzählt?«
»Erzähle, Wassja,« wendete sich Mark zu Golowán.
»Nein, erzähle Du selbst.« Wassja war sehr verlegen und fühlte sich durch den spöttischen Ton von Michaels Fragen ganz vernichtet. Mark war jedoch nicht so leicht von einer fremden Stimmung abhängig.
»Ich erzähl' es Euch, was ist denn daran!« sagte er hitzig, indem er vortrat, »Bei Gott sind zwei Engel ...«
Und er legte tapfer Moschko's, mit den Phantasien Wassja's ausgeschmückte Theorie dar. In dem Maße, als er in der Erzählung vorschritt, wuchs auch seine Kühnheit, da er bemerkte, wie auch die allgemeine Aufmerksamkeit sich steigerte. Sogar die Mutter hatte den Vater hineingerufen und ihn gebeten, Mark zu sagen, er möge lauter sprechen. Heinrich hörte auf mit Schura zu kosen und heftete seine großen Augen auf Mark; der Vater lächelte und nickte freundlich mit dem Kopfe. Sogar Michaels Interesse war, obwohl er, mit einer verächtlichen Miene, mit dem über das linke geschlagenen rechten Beine schlenkerte, dennoch angeregt.
»Was ist denn das alles ... ist's wahr?« fragte Mark, nachdem er seine Erzählung geschlossen.
»Alles ist wahr, Kleiner, das alles ist wahr!« sagte Heinrich ernst.
Da scheuerte Michael, welcher noch vor einem Augenblicke behauptet hatte, daß man die Kinder unter den Kletten finde ungeduldig auf seinem Stuhle.
»Glaub's nicht, Mark! Das alles – Dummheiten sind's, dumme Moschko-Märchen. ... Was treibt Dich,« wendete er sich gegen Heinrich, »den Kindern mit leerem Geschwätz den Kopf vollzupfropfen?«
»Und Du hast ihn nicht eben mit Kletten vollgepfropft?«
»Das ist nicht so schädlich; das ist – offenkundig absurd, was sie leichter abthun können.«
»Nun, so erzähle Du ihnen, wenn Du kannst. ...«
»Weißt Du, was ich sagen könnte? ...«
»Nun?«
Michael lachte hell auf.
»Physiologie ... natürlich in populärer Form. ... Ich hoffe wohl, das wäre Wahrheit.«
»Das hoffst Du vergebens. ...«
»Wieso?«
»Du weißt ein weniges und meinst, Du weißt alles. Sie aber empfinden ein Geheimniß und streben es in ein Bild zu kleiden. ... Meines Erachtens sind sie der Wahrheit näher.«
Michael sprang ungeduldig vom Stuhle auf.
»Ich aber wollte Dir was sagen, Henja! Aber jetzt ist nicht die Zeit dazu. Für jetzt nur das Eine: Versucht es nur, Ihr alle mit Eurer, oder besser gesagt, mit Moschko's Theorie, das zu vollbringen, was wir, wie Du eben gesehen hast, mit der Physiologie vollbringen. Ihr werdet gerührt sein, die Kranke aber wird sterben. ...«
»Nun, man stirbt auch mit der Physiologie, ich weiß das aus eigener Erfahrung,« sagte Heinrich dumpf.
»Bin vereinzelter Fall. ...«
»Dieser vereinzelte Fall ist für mich, weißt Du, allgemeiner, als alle Deine Verallgemeinerungen. Warte nur ein wenig, Du wirst schon einmal begreifen, was dar Tod eines geliebten Menschen bedeutet und ob das ein vereinzelter Fall ist. ...«
»Die Wahrheit steht höher, als das persönliche Empfinden!« sagte Michael. Dann verstummte er; er begriff, daß man mit Heinrich dieses Gespräch nicht fortsetzen könne.
In der Stube wurde es stille. Die Kinder konnten sich nicht zurecht finden. Sie verstanden nicht ein Wort von dem, was gesprochen wurde, nur eines merkten sie: die Bestreitbarkeit ihrer Theorie. Sie waren verwirrt und betrübt.
Da steckte Chwedko, den alle vergessen hatten, abermals den Kopf bei der Thüre herein.
»Also was, soll ich die Pferde ausspannen oder nicht?« sagte er mit einer kummervollen Stimme.
Diese Einmischung schien allen sehr à propos.
Michael lachte heiter auf.
»Aha!« sagte er, »noch ein Weiser. Versuchen wir gleich ein kleines Aufnahmsprotokoll. Wie denkst Du, Chwedko, wohin sind wir mit Dir gefahren?«
»Ja, ich meine nirgendshin, nur hierher.«
Er schaute aufmerksam, ohne die hervorquellenden Augen von ihm abzuwenden auf Michael, als fürchte er sich vor seinen spaßhaften Fragen.
»Nun?«
»Was denn: nun?«
»Nun, sind wir hierhergekommen, oder nicht?«
»Eh! Ihr könnt nur immer lachen. Was gibt's da zu fragen, wenn es von selbst sichtbar ist?«
»Also, warum sollen da die Pferde im Regen stehen, Dummkopf!«
»Das hab' ich ja auch gedacht,« sagte Chwedko freudig. »Es ist, obwohl's auch nicht regnet, doch den Pferden nicht gut, so zu stehen. Ich gehe ausspannen. Hättet Ihr doch gleich geredet. ...«
Und er beeilte sich, sichtlich erleichtert, hinauszukommen.
»Nun, und Ihr ebenfalls. Marsch – rechts um!« sagte der Vater.
»Und ... und das Kindchen?« sagte Mascha weinerlich. Die schuldige Veranlasserin dieses ganzen Wirrwarrs befand sich im Schlafzimmer. Die Mutter sagte stille etwas, und sofort brachte die Wärterin sie heraus, in hübsche weiße Wickeltücher gehüllt.
Mitten in dem Gewirr von Weißzeug wurde ein winziges Köpfchen sichtbar. Die Augen schauten gerade vor sich hin; auf dem Gesichte lag jener seltsam bewußte Ausdruck, welcher manchmal die Kindergesichter greisenhaft aussehen macht. Das Mägdlein gähnte und streckte sich.
»Eine stolze Grete!« entschied, aus unbekannten Gründe Mascha, indem sie sich auf die Fußspitzen stellte.
Wäre Mama gesund gewesen, so hätte sie sicherlich daran erinnert, daß man den Kindern Kleider bringen müsse. Aber jetzt dachte niemand daran, daß sie hinausgingen, so wie sie gekommen waren, im bloßen Hemdchen. Schura blieb in den Armen des Vaters.
Auf dem Corridor lief Mascha sofort nach der Kinderstube, die Jungen aber blieben zurück. Mark bemerkte, durch die äußere Thüre blickend, daß die Britschka vor dem Pferdestalle stehe, daß Chwedko die Pferde schon ausgespannt habe und sie nun unter den Schuppen führe. Das interessierte ihn und er schlüpfte auf die Freitreppe hinaus; Wassja gieng ihm nach.
Chwodko band die Pferde an, dann leuchtete sein weißer Kittel neben der Britscka auf. Er holte von da einen großen Koffer herunter. Nachdem er ihn auf die Treppe geschleppt und auf die oberste Stufe gestellt hatte, wendete er sich in der ihm eigenen, naiv vertraulichen Weise gegen Mark.
»Also scheint es, ist bei Euch hier etwas auf die Welt gekommen?«
»Nicht ›etwas‹ aber ein Mädchen!«
»Das sag' ich ja. Über was haben aber die jungen Herren gestritten?«
»Ja, siehst Du ... wir sagen: bei Gott sind zwei Engel. ...«
»Nu, nu, nicht zwei – viele. ... Hat er dann, wenige ...? Eine Menge. ...«
»Nicht wahr? Michael aber sagt: das sind Dummheiten!«
»Nu! Der junge Herr spricht schon manchesmal so, da ist auch gleich 'was zu lachen da. . . .« und er lachte selbst auf.
Die Kinder empfanden vollkommenes Vertrauen zu ihm.
»Ist's also wahr, daß Engel die Kinder bringen?«
»Das ist ... das heißt ... man muß eigentlich sagen, daß die Weiber die Kinder bringen ... und nicht wer anderer ... die Seele aber bringen die Engel. Seht, so habt Ihr schon Recht. Seht, so ist's. Bübchen: die Seele ... nu, aber ich, Ihr Kinderchen, muß jetzt den Koffer hintragen; so ist's. Sonst aber würde ich Euch das alles ganz genau erzählen. ...«
Und Chwedko lud sich den schweren Koffer auf die Schulter.
Die Buben bedauerten diese Notwendigkeit ungemein. Dort, in der Wohnstube, war ihre Theorie, welche in der Kinderstube jeder Kritik widerstanden hatte, zu Schaden gekommen. Sie hatten sich unschlüssig und zerfahren gefühlt. Hier aber hatte die kurze Unterhaltung mit Chwedko sie wieder in ihrer früheren Ordnung und Harmonie hergestellt.
Und beide blickten gleichgiltig zum Himmel empor. Erst jetzt bemerkten sie, daß auch hier draußen alles seltsam war. Erstens bestand das Seltsame natürlich darin, daß sie da auf der Freitreppe standen, barfüßig, nicht angekleidet, zu solcher Stunde, und daß sie ein kühler feuchter Wind umwehte. Außerdem leuchteten, hier und da auf freiem Felde die Pfützen im räthselhaften Wiederschein des Nachthimmels seltsam auf, der Garten aber war ganz in Bewegung, als könne er sich nach dem nächtlichen Aufruhr noch nicht, endgiltig beruhigen. Der Himmel war hell, aber umso schärfer zeichneten sich darauf die großen, schweren, gleichsam aufgesträubten Wolken ab. Es war, als wäre jemand über den Himmel gelaufen, hätte alles auseinandergeworfen, alles durchwühlt, und als sei's jetzt zu schwer, alles für den kommenden Morgen in Ordnung zu bringen. Dabei aber war überall eine gewisse Eilfertigkeit zu sehen. Eine dünne Wolke, die sich bis in die Mitte des Himmels wie eine ungeheure Säule aufgerichtet hatte, neigte sich schnell, die Säule brach und verhüllte einen Theil der Sterne, während hinter ihr andere frisch hervorblickten. Auf dem Himmelsgrunde durcheinandergeworfene Wolkenfetzen zogen sich an einer Stelle in eine dichte Wolkenmasse zusammen, welche immer mehr zur Tiefe sank, und in dem Maße, als die Wolke herabsank, wurde es heller, und man konnte unterscheiden, wie die Espe im Garten sich hin und wieder im Winde bewegte, ihre an der Innenseite weißlichen Blätter schwenkend, und den Kindern erschien in dem Hellerwerden des Himmelsgrundes etwas wie der Flug eines lichten Engels, während ein zweiter seine dunklen Flügel dort, ferne, unter den niederen Wolkenmassen ausspreitet.
Beide Jungen hatten Lust, hier den Sonnenaufgang zu erwarten – das ist so interessant – und sie wären noch lange stehen geblieben, wenn sie der Kinderfrau nicht doch endlich abgegangen wären. Brummend und wie sinnlos lief sie im Corridor mit einer ihren alten Beinen gar nicht eigentümlichen Behendigkeit umher. Sie kam indes nicht bis an die Freitreppe, sondern postirte sich etwa drei Schritte vor die Ausgangsthüre, so weit von der Mauer entfernt, daß nur ein enger Paß für den Durchgang der Kinder blieb.
A ksch! a ksch!« rief sie, »ach, ihr verfluchten Taugenichtse, wo treibt Ihr Euch herum?! daß Euch doch die Pest! ... a ksch! ...«
Die Buben wären nicht gutwillig durch den gefährlichen Engpaß gegangen, allein sie begriffen, daß ihre Handlungsweise vollständig aus dem Rahmen jeglichen Compromisses heraustrete, und daß die Njanja ein Recht auf Vergeltung habe. Es blieb also nur übrig, sich auf seine Gewandtheit zu verlassen.
Golowán war der Njanja Liebling; obwohl er also als Erster durchlief, so bekam er doch einen glimpflichen Schlag. Dafür schallte der Klaps, welcher auf Mark niederfiel, im ganzen Corridor. Nichtsdestoweniger blieb Mark, als er in die Mitte des Ganges gelangt war, stehen und sagte ziemlich kaltblütig: »Glaubst Du, es thut sehr weh? Warum nicht gar! – gar nicht weh. – nur laut war's.«
Nach einer halben Stunde war alles im Hause stille geworden, obwohl durchaus nicht alle schliefen.
Der Vater dachte darüber nach, daß die Auslagen noch größer geworden waren, während der Jahresgehalt ohnedies nicht ausreiche. Die Mutter dachte an das Nämliche. Sie ließ sich das kleine Mädchen reichen, sah es an und weinte; denn sie wußte nicht, ob sie sich über ein neues Leben freuen dürfe, bei so geringen Mitteln.
Michael begann einzuschlummern, und im Halbschlaf dachte er an das Leben und daß es gut sei, zu leben. Heinrich aber schlief nicht; er schaute in die Finsternis hinein und dachte an den Tod – was ist er denn eigentlich?
Nur die Kinder schliefen, ruhig und fest.