Karl Kraus
Glossen bis 1936
Karl Kraus

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Reiflich Erwogenes

Das Neue Wiener Journal berichtet »aus aller Welt«, die es immer für die beste hält:

In der englischen Stadt Salisbury werden zurzeit umfangreiche Experimente mit einem Giftgas vorgenommen, über dessen Zusammensetzung zwar strengstes Stillschweigen beobachtet wird, von dessen vernichtender Wirkung die Techniker aber Schreckliches zu berichten wissen. Die Versuche werden in großem Maßstab ausgeführt, an Kosten wird nicht gespart. Man leistet es sich sogar, um die Wirkung des giftigen Gases zu erproben, Menschen zu engagieren, die, mit Gasmasken ausgerüstet, in einer aus Glas hergestellten Zelle, in die die Giftgase geleitet werden, Platz nehmen müssen. Draußen stehen die Chemiker und Offiziere, um durch das Glas die Wirkung, die das Gas auf die eingeschlossenen Leute ausübt, zu beobachten. Nach der Prozedur müssen diese menschlichen Versuchstiere sofort nach dem Krankenhaus überführt werden, wo sie einige Zeit verbleiben, um halbwegs wieder hergestellt zu werden, zum Vorteil der Ärzte, die hier ihre Studien am lebenden Objekt machen können. Bisher hat es an armen Teufeln nicht gefehlt, die sich, um das angesetzte Honorar zu verdienen, bereit fanden, sich dem gefährlichen Experiment in dem Glaskasten auszusetzen.

Kein Tag ohne Fortschritt; diese Menschheit übertrifft sich selbst. Das herzerquickende Bild der vor der Hundsgrotte angestellten Arbeitslosen, die hineingelassen werden, um den Chemikern und Offizieren, welche die Wirkung beobachten wollen, Platz zu machen, wird von der folgenden Möglichkeit dieses sympathischen Planeten abgelöst, bei der die Merkantilisierung des leiblichen Opfers wenigstens nicht der Lebensvernichtung, sondern der Lebensrettung dient:

Junger Mann
sucht Verwendung bei Bluttransfusion
an Zahlungskr.
W. Klos, XIII. Hollergasse 45.

Mag diese dem 'Tag' entnommene Annonce einem Prälaten die Genugtuung bieten, daß die Sanierten noch so viel Blut haben, um es an Zahlungskräftige abzugeben, so sind wieder die Ernährungsverhältnisse bei den Bundesgenossen, wie das Wolffbüro schon im Krieg festzustellen wußte, »nicht ungünstig«:

Fette, schlachtreife
Hunde
kauft. Ang. unt. K. B. 710.

Ja, Not macht unromantisch und läßt die Wirklichkeit erkennen. Für schlachtreif hatte die Bestialität ihre unschuldigsten Opfer schon im Jahre 1914 erklärt. Und doch ist es der scheußlichste Verrat an den Geschöpfen, welche bis zum letzten Hauch von Mann und Hund die wahre Verkörperung der Nibelungentreue bedeuten! Aber weil man jetzt so viel von dem Salonwagen liest, der dem Herrn Castiglioni in der Republik erbaut ward und aus dem, als man ihn (den Salonwagen) laufen ließ, kleine Diebe ihm (dem Castiglioni) etwas gestohlen haben, so sei noch dargetan, was es da gleichzeitig für Obdächer gegeben hat und wie das Nachtlager beschaffen war und wie das Erwachen:

Donnerstag nachmittag hat der 26jährige Kriegsinvalide Gottfried Schönegger, der keinen Unterstand hat, beim Stadlauer Friedhof auf einer Wiese geschlafen. Als er erwachte, bemerkte er zu seinem Entsetzen, daß er die Augen nicht mehr öffnen könne. Er war erblindet. Vorbeigehende führten den Unglücklichen zur Polizei. Von hier wurde er in das Spital der Barmherzigen Brüder gebracht.

Sapienti sat

Allgemein gesprochen, ist es um einen Besuch, einen Aufenthalt in Wien ja ein eigentümlich köstliches Ding, besonders gerade, wenn man von München kommt, einer in ihrer Art herrlichen Stadt, wie ich sofort hinzufüge, ausgestattet mit tausend natürlichen Verdiensten, bäuerlich-volkstümlichen Gepräges, höchst liebenswert. Wien wirkt gegen das bäuerlich-großdörfliche Stadtwesen außerordentlich mondain; man bewegt sich unter Menschen von amüsanterer Rassenmischung, man

wird interviewt, von der Concordia gefeiert, im Pen-Klub fetiert, kann »einem repräsentativen Mann des literarischen Österreich«, nämlich Herrn Auernheimer, antworten und hat die besondere Liebenswürdigkeit, uns die Antwort zur Verfügung zu stellen. Kurz, es ist eine Lust zu leben, München hat seine Vorzüge, Wien hat seine Vorzüge, man möchte sich am liebsten zerreißen, aber da man gerade in Wien ist, muß man doch zugeben:

eine charakteristisch prickelnde Sphäre, teils westeuropäischer als die des Reiches, teils auch schon ein wenig orientalisch beeinflußt

(Leises Murren der Concordia)

umgibt und entzückt uns.

(Zustimmung)

Hier vereinigt sich Deutsches mit Südlichem, Europäisches mit einem leisen, pikanten, exotischen Einschlag, und solche Mischung ergibt Facettierungen und Brechungen, Komplizierungen im Seelischen, die zum Künstlerischen disponieren und machen, daß dem Künstler hier wohl ist.

(Zwischenrufe: Wem sagen Sie das!) Redner bekannte hierauf, er selbst sei eine Rassenmischung, also in dem Punkt kompetent. Denn es war Herr Thomas Mann. Er hatte einen so schweren Stand wie die Chansonettensängerin bei der Versicherung: »Ja mein Herz gehört nur Wien, doch sehr schön ist auch Berlin!«

Ich möchte versuchen, Tieferes auszudrücken, obgleich eine Tischrede nicht die rechte Gelegenheit für solchen Versuch sein mag. Ganz leise Andeutungen müssen genügen. Sapienti sat; es handelt sich um das Verhältnis zum Leben und zum Tode.

Um nichts geringeres. Nämlich was den Unterschied zwischen München und Wien anbelangt, so ist München kerngesund, während Wien – »Oh, Wien ist eine lebensfreundliche Stadt«, aber es »weiß vom Tode«.

Ich will nicht geistreich sein, sondern Wirkliches auszudrücken versuchen. Es ist nichts Geringeres als das Problem der Form, das hier berührt wird.

Und das hängt irgendwie mit dem Tod zusammen.

Das ist ein Geheimnis, aber es ist so.

Sapienti sat. Darum, und weil sich in der Seele Wiens östliche Elemente und habsburgisch-spanische zu der Form verbinden, die vom Tode weiß, und der Pen-Klub eine internationale Vereinigung von Männern und Frauen ist, »die nicht wollen, daß Europa verderbe«, darum:

Klopfen Sie mit mir ans Glas, meine Damen und Herren, und leeren Sie ein Glas mit mir

(offenbar das nämliche)

auf das Leben, Blühen und Gedeihen des Pen-Klubs!

In dessen Wiener Sektion ich aufgenommen werden sollte und dessen Prager Sektion mich begrüßen wollte. Warum ich solchen Gelegenheiten ausweiche? Weil ich, bekanntlich, nicht frei sprechen kann und weil ich mich darin von einem Mann wie Thomas Mann unterscheide, daß, wenn er nicht geistreich sein will, es Ihm auch gelingt.

Derselbe

»Und weil wir gerade bei der 'Stunde' sind«, sagt der Dichter, »man spricht, glauben Sie mir, auch in Berlin viel von ihr und auf meinen Reisen habe ich sie überall gefunden.« – –

»Und vergessen Sie ja nicht, mir Ihre 'Bühne' nachzuschicken«, schüttelt mir zum Abschied dieser fünfzigjährige Vierzigjährige die Hand.

Hab' ich doch meine Freude dran

Gewiß, ich hab's ja in der Welt nicht weit gebracht, allein wenn ich darüber nachdenke, auf welche Leistung ich doch einigermaßen stolz sein kann, so finde ich die, daß ich »Sechs Personen suchen einen Autor« von Pirandello nicht geschrieben habe. Aber eigentlich noch mehr festigt mich das Bewußtsein, daß ich nicht ein so ernstzunehmender Satiriker bin wie Bernard Shaw, was der 'Abend' sogleich, nachdem ich mich für Komplimente undankbar erwiesen hatte, endgültig festgestellt hat. Herr Shaw, der sich in revolutionären Kreisen großen Respekts erfreut und auch bei der Bildelpresse in solchem Ansehen steht, weil er sich noch mit weißem Vollbart und sonst nur mit einer Schwimmhose bekleidet photographieren läßt, hat über jenes Stück des Herrn Pirandello, das den Gipfelpunkt der geistigen Schamlosigkeit bedeutet (den Schlußpunkt der Entwicklungslinie eines sich selbst verwerfenden Theaterwesens und die Eröffnung seines inneren Konkurses) – er hat über das Stück, dessen Langweiligkeit selbst den unleugbaren zeitpathologischen Reiz gefährdet, das Wort gesprochen, es sei

das originellste und stärkste Werk des antiken und modernen Theaters aller Nationen.

Für die Einbuße, daß meine Aussprüche nicht durch die Weltpresse kolportiert werden und meine Photographien der Bildelpresse vorenthalten sind, kann mich nur das Bewußtsein entschädigen, daß jene nicht so erkenntnisstark und so wahrhaftig, diese aber nicht so apart sind wie die des Herrn Shaw.

1925


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