Fritz Mauthner
Böhmische Novellen
Fritz Mauthner

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Der letzte Deutsche von Blatna

Erstes Kapitel

Nicht weit hinter dem letzten Hause des böhmischen Städtchens Blatna, dort wo die Straße durch einen steilen Hohlweg nach der Eisenbahnstation Oberndorf führt, lag am Wolfsberge ein verlassener Steinbruch, den zwei Knaben und ein kleines Mädchen als ihren angestammten Besitz, als ihren Spielplatz und ihr Museum betrachteten.

Die Höhe des Wolfsberges, eines flachen Hügels, hätte die Kinder mit manchen Reizen locken sollen. Da stand auf dem Plateau die Zuckerfabrik, die einzige Fabrik und der einzige hohe Schornstein der Gegend, da stand jenseits des Hohlwegs vor einer Wildnis von Granitblöcken und Fichtenbäumen die kleine stille weißgetünchte Marienkapelle, da erblickte man gegen Norden fern hinter stattlichen Klostertürmen die schwarzblauen Waldkuppen des Riesengebirges, da schaute man gegen Süden auf die langgezogene Stadt Blatna hinunter bis zum Flüßchen Bjelounka.

Von all den Herrlichkeiten gefiel dem jungen Volke nichts so sehr wie der Steinbruch, um dessen Besitz die feindlichen Väter gestritten und in dessen Höhlungen die befreundeten Kinder sich schon versteckt hatten, bevor der Prozeß noch entschieden war.

Anton Gegenbauer – nach Landessitte Gegenbauer-Anton genannt –, der etwa fünfzehnjährige Realschüler, war der Sohn des Mannes, dem jetzt der ganze Wolfsberg mitsamt der schönen Zuckerfabrik und dem wertlosen Steinbruch gehörte. Sein Altersgenosse Zaboj Prokop und dessen noch nicht zehnjähriges Schwesterchen Katschenka waren die Kinder des riesigen Svatopluk Prokop, der das ganze Anwesen, zuletzt auch den Steinbruch, an den Deutschen verloren hatte, dann unter die Soldaten gegangen und eben erst in diesem Sommer bei Gitschin, nicht allzuweit von der Heimat, durch eine streifende preußische Kanonenkugel an den Beinen gelähmt worden war.

Das Jahr 1866 zeichnete sich für die Kinder nur durch die Verwundung Svatopluks, durch ein flüchtiges Erscheinen von Truppen und durch viermonatige Ferien aus. Solange brauchten die Knaben nicht nach ihrer Kreis- und Schulstadt zurückzukehren und durften ihre unvordenkliche Freundschaft recht gründlich auffrischen. Das kleine Mädchen konnte nach Herzenslust singen und spielen, und die Knaben hatten Gelegenheit, kindliche Gelehrsamkeit und unfertiges Denken in altklugen Gesprächen zu erproben.

Das Leben im Steinbruch zwang sie zu allerlei Turnkünsten. Schon der Zugang war nicht leicht. Zaboj und Katschenka, welche von der Straße her, also von unten in den Steinbruch drangen, mußten mit großen Sätzen über die wilden Brombeerranken hinwegspringen, welche den einzigen ebenen Pfad versperrten. Und Anton Gegenbauer mußte gar durch die kleine Hintertür des »Trutzhauses«, das hart am Rande des Steinbruchs lag, zu den Freunden hinabsteigen und dabei einen ganz halsbrecherischen Steig benutzen, der sich nur wenige Zollbreit vom Rande der Schlucht in Zickzacklinien beinahe vier Klafter hinunterzog. Sie waren alle an diesen Weg so gewöhnt, daß sie seiner Gefahr nicht mehr achteten. Auch Zaboj und Katschenka kletterten wie Katzen hinauf und herunter, denn die Reize dieser Steinwand waren nicht gering. Gleich unten nach den ersten Schritten gab es eine richtige Terrasse, einen Fuß breit und einige Fuß lang, auf der die Kinder nebeneinander niederkauern und mit den Füßen schlenkern konnten; weiter oben gab es eine verwitterte Stelle, auf welcher ein armes verkrümmtes Fichtenbäumchen wurzelte, dann kam ein Erdbeerstrauch, der mit jedem Jahre mehr Früchte trug, weil die Kinder niemals ein Blatt oder eine Blüte abrissen. Dann ging es endlich an einer geräumigen Höhle vorüber, in welcher alle drei Kinder aufrecht Platz hatten, wo sie sich vor Sturm und Regen schützen konnten, und wo die kleine Katschenka wohl auch ihr Mittagsschläfchen hielt, während die Knaben ihre eben erworbenen Kenntnisse in den Gesprächen übten, die ihnen während der Ferien immer bedeutend vorkamen.

Diese Höhle war die letzte Tat der Steinbrecher gewesen. Noch waren die Bohrlöcher zu sehen, von denen aus die Felsplatte zwischen der Höhle und dem jetzigen Wohnhause hätte gesprengt werden sollen. Aber gerade da hatte der wertvollere härtere Sandstein ein Ende genommen. Und die Anlage war darum verödet.

Die Höhle war aber nicht alles. An der tiefsten Stelle des Steinbruchs gab es nach jedem Regen tagelang einen kleinen Wassertümpel, in welchem jedesmal auch, wie vom Himmel gefallen, niedliche Wasserkäfer erschienen. Katschenka pflegte in dieser natürlichen Wanne unter großem Geschrei ihre Fußbäder zu nehmen, während Anton und ihr Bruder die Käfer fingen und auf lange Nadeln spießten. Unerschöpflich aber war die Fülle von Schmetterlingen, welche dieser Schlupfwinkel für ihre Insektensammlungen lieferte. Der gemeine Kohlweißling schien sich seiner Armseligkeit zu schämen und ließ sich kaum blicken. Auch das Kuhauge und der kleine Fuchs flogen nur so am Rande hin. Doch der große Fuchs, der Distelfalter und der Trauermantel waren tägliche Gäste. Und wenn an einem windstillen Vormittage die Sonne prall auf die Wand niederschien, in deren Höhe die dunkle Höhle lag, so schaukelte sich auf jeder Blüte, auf jeder Brombeerranke, über jedem Grashalm ein bunter Falter. Und nicht selten ließ sich sogar am Rande des Tümpels ein großer Schwalbenschwanz mit weit ausgespreizten Flügeln nieder.

Der Verkehr der Kinder war unterbrochen worden, während Svatopluk Prokop krank zu Bette lag. Anton saß oft stundenlang allein auf der Steinbank, die sie ihre Terrasse nannten, und blickte erwartungsvoll nach der Landstraße, ob sein Freund Zaboj nicht käme und die kleine Katschenka, welche ja noch ein dummer Fratz war, ohne welche ihm aber der Steinbruch, trotz Wasserkäfern, Schmetterlingen und Mauerschwalben, merkwürdig tot erschien.

Endlich gegen Mitte September kamen die »Prokopischen« eines Nachmittags schnell herauf, nicht über die Straße, sondern stapfend über die Stoppelfelder. Sie waren seltsam angezogen. Zaboj hatte die Füße in hohen Schäftenstiefeln, den Leib in einem Schnürenrock stecken; auf dem Kopfe saß ihm ein rundes Hütchen mit einer Reiherfeder. Er sah aus wie ein mißglückter Pole auf den Brettern einer kleinen Dorfbühne.

Um so lieblicher guckten Katschenkas runde Wangen aus dem rotbedruckten Tuche, das einfach ums Haar gelegt und unter dem Kinn verknotet war, und allerliebst stand ihr auch das weiße Schürzchen auf dem knallroten Kleide. Sie hatte sich gleich zu Hause für ihr Bad fertiggemacht und kam bloßfüßig daher; Schuhe und Strümpfe trug sie in der Hand.

Die Knaben begrüßten sich mit raschen Fragen und Antworten; doch wollte lange keins ihrer bedeutenden Gespräche in Gang kommen. Sie hatten einander zu lange nicht gesehen.

Während Katschenka bald im Tümpel plätscherte, bald umhertobend die rundlichen Füße trocknen ließ, saßen die Knaben stumm nebeneinander auf der Steinbank.

Endlich begann Anton:

»Was habt ihr heute für Kleider an? Wollt ihr euch auf dem Jahrmarkt sehen lassen?«

»Wir sind Tschechen, das heißt, wir sind richtige Böhmen und tragen unser Nationalkostüm.« Zaboj antwortete das in geläufigem Deutsch, aber seine Aussprache war schwer und hart. Namentlich die Mitlaute schleppte er mühsam wie beim Buchstabieren und hatte Neigung, die erste Silbe eines jeden Wortes zu betonen.

»Warum seid ihr Tschechen?« fragte Anton nach einer kleinen Weile. »Ihr sprecht doch ebenso Deutsch wie ich und mein Vater.«

Zaboj fiel schnell ein:

»Niemand darf wissen, daß wir von dir so gut Deutsch gelernt haben. Bei uns zu Hause wird nur Böhmisch gesprochen. Mein Vater glaubt, daß ich es in der Schule gelernt habe, und schimpft daher auf den Lehrer. Daß Katschenka auch so gut Deutsch kann, weiß er nicht und darf es nicht erfahren. Unser Vater ist ein Tscheche, ein guter Böhme.«

Nun hielt es Anton für angebracht, zu einer ihrer beliebten tiefsinnigen Streitigkeiten überzugehen.

»Ich glaube doch, daß die Menschheit immer eine große Hauptsache bleibt,« sagte er, während er den Rücken gegen die Felswand lehnte und die Beine wagrecht vor sich hinstreckte. »Alle Menschen müssen einander achten, auch wenn sie verschiedenen Stammes sind, zum Beispiel du und ich.«

»Nein,« schrie Zaboj, seine grauen Augen verdunkelten sich, und er sprang mit einem Satze von der Terrasse in den Steinbruch hinunter.

»Nein,« schrie er noch einmal und stellte sich dem Genossen, aufblickend, mit tragisch erhobener Hand, gegenüber. »Erst muß uns unser Recht werden, bevor wir euch Deutsche als Menschen achten können!«

»Aber wir beiden bleiben doch Freunde fürs Leben,« sagte Anton, während er gemächlich hinunterstieg.

»Nein,« schrie Zaboj wieder. »Das heißt, ich bin dein Freund; aber du mußt dann Tscheche werden, sonst wirst du trotz meiner Freundschaft gehängt, an dem Tage, wo wir alle Deutschen in Böhmen hängen werden.«

Anton dachte nach, der Tod schien ihn nicht zu erschrecken, die Sache fesselte ihn offenbar nur philosophisch.

»Wenn aber ein Deutscher eine Tschechin liebt, so überwindet doch die Liebe den Haß.«

Auch dies sagte Anton, ohne an sich selbst oder an das Leben überhaupt zu denken; ihm schwebten Szenen aus einem gelesenen Trauerspiele vor.

Zaboj aber lachte auf.

»Du meinst Katschenka?«

Anton wurde rot und rief:

»Ich sprach nur so im allgemeinen. Ich will also sagen: wenn ein Tscheche ein deutsches Mädchen liebt, was dann?«

Zaboj verschränkte die Arme über der Brust und sagte entschieden:

»Ein Tscheche wird niemals eine Deutsche lieben, und wenn ein Deutscher sich's einfallen läßt, eine böhmische Jungfrau zur Heirat zu zwingen, so wird sie ihn in der Brautnacht erdrosseln.«

Zaboj hatte keine klare Vorstellung von dem, was er sprach; es freute ihn nur, nun auch die Erinnerung an ein Buch anzuwenden.

Da kam Katschenka herbeigelaufen und wies in der rechten Hand einen zerdrückten Zitronenfalter.

»Die dummen Rübenfelder,« rief sie mit derselben Aussprache wie ihr Bruder. »Der Klee früher war viel schöner, jetzt gibt es fast gar keine Pfauenaugen mehr!«

Zaboj faßte das Schwesterchen zärtlich um und schwang es zu sich empor. Anton aber wagte nicht das Kind anzusehen und sagte zu Zaboj:

»Komm in die Höhle, dort wollen wir weiter reden.«

Als sie in dem dämmrig kühlen Raume nebeneinander saßen und Katschenka unten singen und tollen hörten, begann Anton:

»Das ist eine große Ungerechtigkeit; ich bin einmal ein Deutscher und kann doch nicht anders werden.«

Zaboj hatte die Augen geschlossen und sprach dumpf wie ohne Bewußtsein:

»Ein jeder Böhme muß ein Tscheche sein, sonst wird er totgeschlagen. – Totgeschlagen –,« wiederholte er, »ohne Gnade und Barmherzigkeit; wir können nicht anders, es ist euer Schicksal.«

»Das ist nicht wahr!« rief Anton, dem es unheimlich zu werden begann. »Das wird euch der Kaiser nicht erlauben.«

»Wir kennen den Kaiser nicht, den Kaiser in Wien! Wir kennen nur einen König von Böhmen, der wird auf dem Hradschin wohnen und uns Tschechen tun lassen, was wir wollen. Ich bitte dich, Gegenbauer-Anton, werde ein Tscheche, sonst wirst du auch totgeschlagen.«

»Ich glaub' dir nicht. Du redest nur so, um dich patzig zu machen und um mich zu erschrecken.«

»Ich weiß, was ich weiß,« sprach Zaboj trotzig.

Anton lachte plötzlich auf.

»Erst hast du mich mit Aufhängen bedroht und jetzt mit Totschlagen; da siehst du, daß du nichts weißt.«

Da sprang Zaboj empor und sagte ganz leise:

»Willst du schwören, daß du mich nie verrätst, so will ich dir beweisen, was ich sage.«

Auch Anton hatte sich erhoben und zitterte vor Erregung.

»Wobei soll ich schwören?«

Der tschechische Knabe überlegte ein Weilchen. Dann sagte er feierlich:

»Schwöre mir bei Schiller und Goethe, daß du mich nie verraten wirst.«

»Ich schwöre bei Schiller und Goethe, daß ich dich nie verraten werde.«

Zaboj senkte seine Stimme zu einem dumpfen Flüsterton:

»Du weißt doch die Hussitenkriege! Damals hat sich das böhmische Volk wie ein Mann erhoben, hat gemordet und gesengt und hat viel mehr Fürsten besiegt, als wir in der Schule gelernt haben. Sie sind in ganz Europa umhergezogen, und ich glaube, sie haben auch Amerika erobert.«

»Du,« unterbrach ihn Anton schüchtern, »Amerika war, glaube ich, noch nicht entdeckt.«

»Das ist einerlei,« schrie Zaboj. »Die Hussiten unterjochten die ganze Welt. Dann aber wurden sie uneinig untereinander, und die deutschen Kaiser sind ins Land gebrochen und haben die Böhmen verfolgt und gemartert, auch viel mehr, als wir es in der Schule lernen. Du weißt, die Hussiten sind mit schweren eisernen Morgensternen in die Schlacht gezogen, nicht mit Säbeln und Flinten. Sei still! Ich weiß, daß das Schießpulver noch nicht erfunden war. Es waren vielleicht andere Flinten. Aber die Morgensterne haben wir erfunden.«

Anton faßte den Freund begütigend bei der Hand.

»Das will ich dir glauben,« rief er. »Aber woher weißt du alle diese wichtigen Sachen, die in der Schule niemals vorkommen?«

Zaboj brummte verlegen vor sich hin. Es schmeichelte ihm, daß der fleißigere Genosse einmal sein besseres Wissen anerkennen mußte; aber er durfte die Quelle seiner Weisheit nicht vollständig verraten. Endlich sagte er zögernd:

»Du weißt, seitdem Vater krank ist, kommt der Kaplan oft zu uns ins Haus, der Pfaff.«

»Natürlich! Er hat ja für euch gesorgt, solange euer Vater bei den Soldaten war. Das war doch sehr schön von ihm!«

Zaboj zitterte vor Ungeduld.

»Ja, ja!« rief er. »Das heißt, er ist ein leiblicher Neffe unserer seligen Mutter. Von dem also hab' ich die Bücher über die Hussiten und ihre unzerstörbaren Waffen.«

»Was ist das wieder Neues?«

Zaboj antwortete fast andächtig:

»Ihre Morgensterne, an denen das Blut der Deutschen klebt, sind aufbewahrt worden, und in jedem alten böhmischen Hause ist ein solcher Morgenstern versteckt. Auch in unserer Scheune hängt an der Wand ein schwerer, alter, blutiger Morgenstern.«

Nach einem Weilchen fuhr Zaboj mit unheimlicher Freude fort:

»Und wenn der Tag gekommen ist, dann wird in jedem guten böhmischen Hause, um Mitternacht, ein Mann erscheinen, niemand wird ihn kennen, aber er wird einen silbernen Morgenstern in der Hand halten, und wird im Auftrage des geheimen Prager Ausschusses die Stunde bestimmen, wann wir losbrechen sollen. Dann wird kein Deutscher in Böhmen leben bleiben.«

Katschenka rief hinauf:

»Ich bin müde und Vater wird böse sein! Wir müssen nach Hause gehen.«

Sofort schickten die Knaben sich an, zu ihr niederzusteigen. Es fing an zu dunkeln und sie mußten auf jeden Schritt achten. Sie sprachen kein Wort. Unten angekommen, sagte Anton:

»Ich glaube dir nicht, wenn du mir nicht den Morgenstern zeigst.«

»So komm!« –

Als wollten sie Äpfel von fremden Bäumen holen, so scheu eilten die Knaben zuerst um Hecken und Gärten herum, bis sie den oberen Teil des Städtchens, das eigentlich nur eine einzige lange Gasse bildete, umgangen hatten. Wollten sie keinen zu großen Umweg beschreiben, so mußten sie jetzt um die Brauerei auf den Markt einbiegen, den sogenannten »Ring«, einen großen, regelmäßigen Platz, den auf allen Seiten stattliche steinerne, auf Säulen oder Pfeilern vorspringende Gebäude umgaben. Hinter den Säulen und Pfeilern zogen sich rund um den »Ring« breite Arkaden, die »Lauben«. Zaboj zog den Freund unter lebhaften Gesprächen im Dunkel dieser Lauben fort, während Katschenka fröhlich über die breiten Steine des Platzes lief.

An der Kirche und dem Rathause vorbei eilten die Kinder die untere Gasse hinab, die zwischen kleinen einstöckigen, aber sauberen Häuschen in leiser Krümmung zur Bjelounka führte. Beide Knaben kannten die historische Bedeutung des Flusses für die Geographie dieses Landesteils. Die Bjelounka bildete von alter Zeit her die scharfe Grenze zwischen der tschechischen und der deutschen Bevölkerung, zwischen der slawischen Niederung und dem Berglande. Das Dreieck, welches sie mit der Elbe und mit der Grenze formt, war so vollkommen deutsch, daß der Fährmann nicht wußte, wie Wasser auf slawisch hieß. Und sogar Bier vermochte er auf dem anderen Ufer nur auf deutsch zu verlangen.

Im Norden setzte sich das deutsche Gebiet bis an die Landesgrenze weiter fort, im Süden aber war das Mauthäuschen von Blatna das letzte Stück deutschen Bodens, und schon der heilige Nepomuk auf der Brücke hätte Tschechisch gesprochen, wenn Schweigen nicht seines Amtes gewesen wäre.

Das war jetzt freilich schon ganz anders geworden. Seit den zwanziger Jahren waren tschechische Familien über die Bjelounka herübergekommen. Armes Tagelöhnervolk suchte hier bei den strebsamen Gewerbetreibenden Arbeit, und wohlhabendere Männer wieder kauften sich an, wenn Haus und Feld eines Bürgers unter den Hammer kam. Schon im Jahre 1848 war es so weit gekommen, daß die eigentliche Gasse südlich und nördlich vom Ring fast vollständig von Tschechen bewohnt war, und in den Stürmen des Revolutionsjahres, wo alle alten Verhältnisse durcheinandergeworfen wurden, kam manches Ringhaus, manche Stube im Rathaus und sogar die Sakristei der Kirche in tschechische Hände.

Das hatte sich so gemacht, ohne daß eigentlich der Stammesunterschied wesentlich beachtet wurde. Der alte Besitzer zog eben aus, wenn es ihn nach einer größeren Stadt oder nach einer fruchtbareren Gegend verlangte, oder wenn Unglück ihn zum Verkauf zwang; und der neue Besitzer zog ein, wenn er den Preis bezahlen konnte. So war gerade an dieser Stelle die Sprachgrenze schon durchbrochen; aber immer noch hatte die Bjelounka ihre Bedeutung nicht verloren. Es gab in Blatna sehr viele Leute, denen es schwer fiel, Deutsch zu sprechen; aber gemeinsam fühlten sie sich doch als eine deutsche Ortschaft. Vom Wolfsberge, wo, der Marienkapelle gegenüber, neben der Zuckerfabrik das »Trutzhaus« des Gegenbauer mit seinem Spruche:

Ein deutsches Herz, ein deutsches Haus
Sie bleiben fest im Sturmgebraus –

nach Süden hinunter trotzte, vom Wolfsberge bis zum heiligen Nepomuk auf der Brücke gab es ein deutsches Städtchen Blatna, dessen viertausend Seelen mit Stolz auf Tschechisch-Blatna, das schmutzige Dorf jenseits der Bjelounka, herabsahen. Sie fühlten sich wie auf einem Vorposten. Sie zitierten bei allen Gaufesten die Inschrift des »Trutzhauses«. Der alte Direktor, ein Magdeburger, hatte sie verfaßt und aufmalen lassen, als das Haus für ihn stattlich genug errichtet worden war. Jetzt lebte dort außer zwei Unterbeamten der alte Gegenbauer selbst im »Trutzhaus«. Nur über den Sonntag, vom Samstag abend bis Montag früh, war er in dem Familienhause auf dem Ring. Seit dem Tode seiner Frau.

Die Knaben verstummten, während sie über die Holzbrücke diesem Dorfe zuschritten. Nur Katschenka dachte daran, vor dem Heiligen ein Kreuz zu schlagen.

Langsam schlichen die Kinder dann dem Gehöfte des Svatopluk Prokop zu. Zwischen armseligen, mit faulendem Stroh gedeckten Hütten, vorbei an dem übelriechenden Teiche, auf welchem unappetitliche Enten jedesmal wie zornig aufquakten, bevor sie die dicken Köpfe unter die grünliche Decke ins trübe Wasser tauchten.

Vor einer schlecht gehaltenen Scheune blieben sie stehen und Zaboj schickte sein Schwesterchen in die verfallene Hütte zum Vater hinein.

»Paß auf!« sagte er leise. »Er schlägt mich, wenn er erfährt, daß ich dem Gegenbauer-Anton das große Geheimnis verrate. Er kann sich auf seinen Krücken viel rascher bewegen, als man glaubt. Sing ihm ein Lied vor, damit er uns nicht überrascht!«

Dann führte er Anton an der Hand in die Scheune hinein. Dieser konnte in der Dunkelheit nichts erkennen als einen umgestürzten Pflug und einen Leiterwagen. Zaboj aber verschwand im Hintergrunde und kam dann mit der schweren Waffe in der Hand zurück. Er hielt sie vor das halbgeöffnete Scheunentor, damit Anton sie beim Dämmerlichte betrachten konnte. Es war ein derber Dreschflegel; sein kurzes Ende lief in eine Eisenkugel aus, so groß wie ein Kinderkopf, und aus der Eisenkugel hervor starrten gegen zwanzig starke rauhe Eisenspitzen.

Zaboj faßte das Holz mit beiden Händen, hob den Morgenstern der Hussiten hoch empor und rief mit gedämpfter Stimme:

»Und wenn wir wieder zu unseren Morgensternen greifen, so werden wir die Deutschen zertrümmern und Böhmen wird frei werden vom Riesengebirge bis zum Böhmerwald!«

Zweites Kapitel

Die unerbittliche Feindschaft ihrer beiden Volksstämme hinderte die Knaben nicht, sich von jetzt ab noch enger aneinander zu schließen. Und als die langen Ferien des Kriegsjahres vorüber waren, wurde ihr heißer Wunsch erfüllt, sie wurden beide nach Prag geschickt, um dort noch einige Jahre den Unterricht zu genießen, den die Kreisstadt nicht gewähren konnte.

Daß Anton die Oberrealschule nur in Prag besuchen konnte, war längst ausgemacht. Sein Vater brachte ihn hin und fand für ihn ein gutes Unterkommen bei einer stillen ältlichen Finanzoberaufseherswitwe. Anton hatte dort ein sauberes, abgelegenes Stübchen für sich, und wenn das Fenster auch nur auf einen engen, dunkeln Hof hinausging, so konnte er sich damit trösten, daß die Straße, in der er wohnte, noch enger und unfreundlicher war, als der Hof.

Zaboj war in einer schlimmeren Lage. Trotzdem sein Zeugnis ein sehr gutes war, sollte er ein Handwerk lernen, weil sein Vater die Kosten einer gelehrten Laufbahn nicht aufzutreiben vermochte. Doch kurz vor dem Ende der Ferien ließ sich sein Pate, der Pfarrer an einer reichen Kirche in der Prager Vorstadt Smichow war, durch den Blatnaer Kaplan bewegen, für den Knaben zu sorgen.

Zaboj konnte das Obergymnasium auf der Prager Altstadt besuchen, ohne daß Svatopluk Prokop auch nur einen Kreuzer auszugeben brauchte. Und auch die Universitätsstudien sollten vom Paten und von frommen Stiftungen gesichert werden, wenn Zaboj nur einverstanden war, Theologie zu studieren, und später entweder die Weihen zu, empfangen oder auch in einen Orden einzutreten.

Zaboj sprach niemals über die oft heftigen Beratungen, welche dem Entschlusse vorausgingen. Erst als er knapp vor Beginn des neuen Schuljahres im Herbst nach Prag kam und dem Freunde von Katschenka einen Gruß und vom alten Gegenbauer einen Sack vorzüglicher Äpfel mitbrachte, sagte er ganz obenhin:

»Ich werde Theologie studieren und ein Pfaffe werden.«

Dann aber sprach er schnell von etwas anderem, so daß der erstaunte Anton gar nicht wagte, von dieser entsetzlich wichtigen Sache zu reden. Zaboj schämte sich offenbar vor dem Genossen.

Sie hatten natürlich hundertmal die Religion in den Kreis ihrer Dispute gezogen, und da hatte es sich immer von selbst verstanden, daß sie beide Freigeister wären. Die veränderte Lage wirkte auch auf ihren Verkehr ein. Zaboj war in dem klösterlich eingerichteten Konvikt untergebracht, wo er unter der Aufsicht von Ordensleuten mit etwa hundert Knaben verschiedenen Alters zusammenwohnte, die alle für den geistlichen Stand bestimmt waren. Er wurde strenge beaufsichtigt und ein Verkehr mit weltlichen Schülern ungern gesehen. Die Feiertage mußte er vollends bei seinem Paten in Smichow zubringen, und so blieb den Freunden nicht viel Gelegenheit, sich ordentlich auszusprechen.

Anton, der sich freier fühlte, sorgte aber nach Möglichkeit dafür, daß sie einander nicht entfremdeten. Wenn seine Schule früher aus war als die des Freundes, dessen Stundeneinteilung er genau kannte, so wartete er in dem Hofe des alten Jesuitenklosters, wo das Gymnasium sich befand. Dann schloß er sich den heimkehrenden »Konviktisten« an und begleitete den dankbaren Zaboj über die Jahrhunderte alte Steinbrücke und durch die steile Spornergasse bis zu dem finsteren Hause des Konvikts.

Jeder der geistlichen Schüler war verpflichtet, nicht nur seine eigenen Sünden zu beichten, sondern auch, aus Liebe zur Kirche und zum Seelenheile seiner Gefährten, den Lebenswandel der andern anzugeben. Die bravsten Bauernjungen, welche zu Hause sich lieber hätten totschlagen lassen, als Verräter zu werden, wurden unter dieser Zucht bald des Aufpassens und des Anzeigens gewohnt. So dauerte es nicht lange, bis Zabojs Freundschaft für den deutschen Landsmann zu den Ohren der Oberen kam und er darüber mit väterlicher Strenge zur Rede gestellt wurde. Zaboj sagte die Wahrheit; er leugnete nicht, daß Anton sein ältester Jugendfreund war; deutete auf dringendes Verlangen auch an, daß sein Schwesterchen Katschenka ihn lieb habe, aber er fügte hinzu, daß er niemals unterlasse, Anton zum Tschechentum zu bekehren. Darauf wurde er belobt und ihm ausdrücklich die Erlaubnis erteilt, den Verkehr mit dem Gegenbauer-Anton zu pflegen, wenn er sich nur von dessen weltlichem Sinne nicht anstecken ließe.

Zaboj sah darin eine Aufmunterung, in seinem Streben fortzufahren. Aber es bedurfte dessen nicht. Je weiter die Studien der beiden jungen Leute sich voneinander entfernten und je peinlicher sie ihre ehemaligen Religionsgespräche vermieden, desto einseitiger haftete ihre Unterhaltung an der Nationalitätenfrage. Man hätte aus manchen Anzeichen schließen können, daß der Fanatismus des künftigen Geistlichen immer noch wuchs. Seine Aussprache des Deutschen wurde langsam noch härter und schwerfälliger, und sein Haß gegen alles Deutsche verstieg sich bis zu einer förmlichen Wut gegen die deutschen Firmentafeln in den Straßen, gegen die deutschen Schulbücher in Antons Hand, gegen die deutschen Gespräche der vorüberwandelnden Menschen.

Anton kam nicht häufig zu Worte; unaufhörlich redete Zaboj in den Freund ein, und was er sprach, war immer wieder eine wildbegeisterte Darstellung der böhmischen Geschichte, deren Monumente ringsumher standen, wenn sie über die steinerne Brücke einherschritten. Dann streckte wohl Zaboj seine rechte Hand aus und wies auf die Königsburg, die einst der Sitz der mächtigsten Herrscher war, oder er zeigte den Berg, von welchem die Hussiten ausgezogen waren, um Europa in Schrecken zu setzen. Dann wieder funkelten seine Augen düster auf, wenn er vom Dreißigjährigen Kriege erzählte, der dort oben hinter den altersgrauen Mauern mit dem nachahmenswerten Fenstersturz begonnen und dessen letzter Schuß die letzte Kanonenkugel in diesen Brückenturm gekeilt hatte, wo sie noch heute steckte.

Anton hatte zu wenig Geschichte gelernt, um begründen zu können, was er dem Freunde bescheiden einwarf: daß auch nach seiner Darstellung doch nur die deutschen Kaiser es waren, die Prag zu einer so schönen Stadt gemacht hatten. Zaboj durfte nur in den großen Herbstferien nach Hause gehen. Aber auch dort war der Verkehr der Knaben kein harmloser. Der tschechische Kaplan kam seinem zukünftigen Amtsbruder schon jetzt freundlich entgegen, und Zaboj mußte mit seinem mühsam erlernten, dem Volke kaum verständlichen, vornehmen tschechischen Stil, wie er neuerdings in den Kreisen der slawischen Führer Mode geworden war, die Predigten ausfeilen, welche der Kaplan allsonntäglich in Blatna und ab und zu in nahen Ortschaften mit gemischter Bevölkerung hielt. Der Gymnasiast schloß sich dem Kaplan gern an, weil er in ihm den wichtigsten Vertreter der Propaganda in seiner Heimat verehrte. Aber die Qualen, die sein aufgezwungener Beruf ihm bereitete, konnte er ihm nicht anvertrauen. Anton, dem Deutschen, wollte er erst recht sein Herz nicht ausschütten, und so trieb er sich während der schönen Ferienzeit jedesmal einsam umher, von Jahr zu Jahr verschlossener, wenn er nicht mit dem eigenen Vater in der dumpfen Stube beisammen saß und ihm allen Jammer ins Gesicht schleuderte, welchen er über die Schmach seiner Heuchelei empfand.

Anton war dem Steinbruch treu geblieben; aber er konnte dort nicht viel anderes tun, als daß er in der schattigen Höhle seine Bücher las und sich im Zeichnen übte. Das Sammeln von Schmetterlingen hatte er aufgegeben, und mit Katschenka, die sich fast täglich wie ein Kätzchen heranschlich und ihn zu gemeinsamen Streifereien verlocken wollte, mochte er nicht mehr spielen. In den ersten Jahren machte es ihn verlegen, mit dem sich rasch entwickelnden Kinde allein umherzutollen; und nach den letzten Realschulferien, da er fast achtzehn Jahre alt war, schaute er auf die noch nicht zwölfjährige Katschenka etwas von oben hinab, wenn er auch zugeben mußte, daß sie bis auf das Stumpfnäschen ein ganz prächtiges hübsches Kind war.

Beim Beginn des neuen Schuljahres trat Anton nun bereits in das Polytechnikum ein, während Zaboj noch die oberste Klasse des Gymnasiums besuchen mußte.

Sie kamen in diesem Jahre nur äußerst selten zusammen, am häufigsten noch in der Frühe von klaren Sommertagen, wenn sie beide mit ihren Schulbüchern in den schattigen Gängen des großen Baumgartens lernend auf- und niedergingen.

Anton, der doch einst die Fabrik des Vaters übernehmen und darum den Maschinenbau gründlich verstehen lernen sollte, hatte vollauf mit den neuen Wissenschaften zu tun. Zaboj mußte sich für die Maturitätsprüfung vorbereiten und fühlte überdies, daß er noch mehr als sonst überwacht wurde.

Er mochte auch ein schlechtes Gewissen gegen seine geistlichen Oberen haben; denn jedesmal, wenn er frühmorgens in einer Allee des stillen Baumgartens mit dem Landsmann zusammentraf, überraschte er ihn durch dumpfe Klagerufe über seine Lage. Er sprach sich auch jetzt noch nicht offen aus, hielt niemals den Fragen des Freundes stand, aber Anton konnte nicht daran zweifeln, daß der junge Tscheche das ihm aufgedrängte theologische Studium haßte.

Die jungen Leute konnten dabei nicht viel von der schönen Natur genießen. Wohl waren sie täglich mit Sonnenaufgang aus den Federn und eilten ins Freie, aber jeder hatte ein Buch in der Hand; der Techniker lernte die Ziffern aus einem Lehrbuch der anorganischen Chemie, der Gymnasiast die gewundenen Sätze seiner Religionslehre auswendig. Sie begegneten einander häufig in der Uferallee des herrlich grünen Gartens, aber sie hatten beide keine Zeit zum Plaudern. Sie nickten einander stumm zu und schritten eilig aneinander vorüber, ein jeder sein Pensum mechanisch vor sich hinmurmelnd.

Doch eines Morgens, als nach einem warmen Nachtregen alle Vögel des Gartens einander überzwitscherten und die Sonne schon in aller Frühe lustig brennend die feuchte Erde zu trocknen begann, fand Anton seinen Freund auf dem einsamen Wege hinter dem Eisenbahnwall in heller Verzweiflung. Zaboj hatte sich auf eine entlegene Bank geworfen; und das Gesicht in seine Hände gepreßt, schrie und schluchzte er wie ein Kind. Als er den Freund erblickte, der erschrocken hinzulief, versuchte er anfangs seine Tränen und seine Aufregung zu verbergen, dann aber faßte er Anton plötzlich bei den Schultern und laut aufschluchzend beugte er seinen Kopf zu ihm hinab.

»Was hast du? So sprich endlich, ich bin doch dein Freund! Vertraust du mir nicht?« so bat Anton, dem selbst das Weinen vor Angst und Mitleid nahe war.

Da hob Zaboj die geballten Fäuste und schrie:

»Mordsakrament, ich kann kein Pfaff werden! Ich glaube ja nicht, was ich mein ganzes Leben lang predigen soll.«

Sie gingen in heftiger Bewegung auf und nieder vor der Bank, auf welcher das Schulbuch der Religionslehre liegen geblieben war.

Als ob die Schleusen eines Bergsees aufgezogen würden, so stürzte nun alles mit wilder Beredsamkeit vor, was der geistliche Schüler bis heute vor dem Genossen zurückgedrängt hatte. Ein Richter, der sich bestechen ließ, ein Arzt, der mordete, ein Journalist, der seine Feder verkaufte, niemand schien ihm so erbärmlich, so schamlos, so niederträchtig wie ein heuchlerischer Geistlicher, wie ein Mann vor dem Altar, der selber ungläubig war und dem Volke Hokuspokus vormachte. Und wieder und wieder hob Zaboj die Fäuste empor und blickte starr nach dem nahen Flusse und rief heftig:

»Ich kann nicht, ich kann nicht.«

Anton fühlte sich der Schwere dieser Stunde kaum gewachsen. Doch als er endlich zu Worte kam, sagte er ohne Zögern:

»Du mußt natürlich vorher deinen Vater um seine Erlaubnis fragen. Aber mit oder ohne Erlaubnis, das steht unerschütterlich fest: wenn du nicht glaubst, so darfst du kein Geistlicher werden, so wahr ich lebe!«

Mit unendlicher Dankbarkeit blickte Zaboj dem Freunde in die schönen, zornig funkelnden Augen. Dann schrie er heiser auf, faßte sein Lehrbuch und rief, während er es mit heftiger Gebärde mitten auseinanderriß:

»So zerreiße ich auch das Band, das mich an die Kirche fesseln sollte. Da sei Gott vor, daß ich ein Heuchler und Lügner würde. Und dir, Anton, werde ich es nie vergessen, daß du mich durch deinen ehrlichen Zuspruch vor dem sittlichen Untergange bewahrt hast.«

Heute konnte vom Lernen keine Rede mehr sein. Die Genossen durchsprachen wie in früheren Tagen eifrig die tiefsten Fragen der Menschheit, und bald ließen sie sich in ihrem stolzen Freiheitsgefühl beikommen, wie Studenten im Biergarten der stillen »Kaisermühle« ein Glas Bier zu trinken. Und sie beeilten sich, auf die Freiheit, die Wahrheit und auf ewige Freundschaft anzustoßen.

Und als sie aufbrechen mußten, um die Schule nicht zu versäumen, da faßte Zaboj den Freund fast zärtlich um den Nacken und fügte wie grollend:

»Ich will dir's nie vergessen, und wie dankbar ich dir bin, das sollst du gleich sehen. Ich will dir etwas sagen: So wie du mich plötzlich hast klar sehen lassen, weil du mir einfach die Wahrheit gesagt hast, so haben die deutschen Bücher erst Licht und Wahrheit zu uns nach Böhmen gebracht. Jetzt weiß ich's auf einmal. Ich will es dir nie vergessen.«

Wenige Tage später stürmte Zaboj vor Tische in Antons Stübchen, nahm sich kaum Zeit, die Tür hinter sich zu schließen, und rief:

»Mein Vater ist hier, man darf im Konvikt nichts merken. Heute abend kommen wir bei dir zusammen.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, jagte er wieder fort.

Anton blieb den Rest des Tages in aufgeregter, aber gehobener Stimmung. Ihm schien es eine Heldentat, seinen Freund vor lebenslanger Heuchelei zu retten, und doch wurde ihm ängstlich zumute bei dem Gedanken an die Verantwortung, die er auf sich nahm. Seine Einbildungskraft ließ ihn hundert Gefahren für das kühne Unternehmen sehen. Er glaubte sich schon vor Gericht geschleppt und den Freund mit dem unterirdischen Kerker eines Mönchsklosters bedroht. Doch nichts auf der Welt sollte ihn zurückhalten, seine Pflicht zu tun und dem mutig entschlossenen Freunde die Treue zu halten.

Er war fast enttäuscht, als das Abenteuer ohne jegliche schreckliche Überraschung verlief.

Gegen sechs Uhr stampfte es zwar die Treppen herauf, als sollte das Haus zertrümmert werden; doch es war nur der alte Svatopluk Prokop, der auf seinen massiven Krücken emporklomm. Ohne anzuklopfen trat er herein, begrüßte den jungen Studenten mit einem tschechischen Gruße und warf sich dann schwer in den einzigen Stuhl der Stube.

Anton hatte den Vater seines Freundes noch nie so in der Nähe gesehen. Wenn die schwere Gestalt auf Krücken durch die Straße schlich, so war der Anblick über die Maßen traurig. Doch wie er jetzt gleich einem müden Riesen ausruhte, die Beine in den übermäßig hohen Stiefeln weit von sich gestreckt, den breiten Körper in den abgetragenen Schnürenrock, die nationale »Tschamara«, gezwängt, das Federhütchen in der Linken, die beiden schweren Krücken in der anderen breiten Holzhackerhand, da konnte man es kaum glauben, daß diese Fülle von Kraft untätig dahinlebte. Und aus dem knochigen Gesichte sprach mehr Verstand und Klugheit, als Antons Vater dem alten Svatopluk zuzutrauen schien, wenn er ihn einmal einer Erwähnung würdigte. Ja, Anton konnte sich beinahe einer gewissen Furcht nicht erwehren, als dieser Mann ihm stumm gegenübersaß und ihn halb neugierig, halb feindselig anstierte. Deutlich sah man die Spuren wilder Leidenschaftlichkeit in den dunkeln, tiefliegenden Augen; so blickte Zaboj nur dann, wenn Haß aus ihm sprach.

Der nahezu kahle Schädel erschreckte den Jüngling wie ein Totenkopf, und der breite, höhnische Mund, das unrasierte mächtige Kinn und der gewaltig dicke, lange, dunkelrote Schnauzbart erinnerten ihn unklar an einen Mörder Wallensteins, den er irgendwo in einer Schloßgalerie gemalt gesehen hatte.

Das Schweigen dauerte sehr lange. Plötzlich warf der Alte Hut und Krücken auf den Tisch, daß es krachte, räusperte sich lachend und sprach einige tschechische Worte.

Anton mußte erwidern, daß er fast kein Wort von der Sprache verstand. Aber er vermochte den Satz kaum zu Ende zu bringen, so feindselig bohrten sich die Augen Svatopluk Prokops in die seinen.

»Und hast Zaboj verführt? Hast Zaboj deutsch gemacht, daß aus Kloster weglaufen will, dann soll in dich und alle deutsche Schufte heiliger Donner dreinfahren.«

Der alte Svatopluk sprach die deutschen Worte ganz geläufig, aber ein Fremder hätte es sicherlich für irgendeine slawische Mundart gehalten, so entsetzlich holprig rasselten die Töne aus seinem Munde. Dabei schrie der Tscheche so laut, daß Anton die unbestimmte Furcht fühlte, die Polizei oder der gestrenge Hausherr müßte augenblicklich heraufkommen.

Er beeilte sich, den Alten zu beruhigen. Er erzählte, wie er erst vor kurzem von Zabojs Kämpfen Kenntnis erhalten hätte, und versicherte trotzig, daß er niemals daran denke, einen braven Tschechen seiner Nationalität abspenstig zu machen. Und stolz fügte er hinzu, trotzdem die Krücken dem Alten nahe zur Hand waren:

»Wir Deutschen wollen niemand überreden, zu uns zu gehören. Entweder man ist ein Deutscher, oder man ist keiner. Über Nacht kann man es nicht werden. Das will ich nächstens auch Zaboj sagen, damit er endlich aufhört, mich zu einem Tschechen haben zu wollen.«

Der Alte lachte und seine Augen strahlten vor Vergnügen.

»Ist gut, ist sehr gut,« sagte er nach einer Weile. »Ich habe mich fürchterlich erschrocken und bin gleich hergekommen, weil habe geglaubt, Zaboj ist deutsch geworden. Hätte ihm alle Knochen zerschlagen und dir auch, du deutsches Früchtel; aber nun ist gut, ganz gut. Zaboj hat Gymnasium ausstudiert, Pfaffen haben bezahlt. Nur Prüfung muß er noch machen, dann kann er Pfaffen auslachen und meinswegen studieren auf Advokat. Kruzitürken!«

Jetzt hörte man Schritte auf dem Gange, und gleich darauf erschien Zaboj auf der Schwelle. Er blieb in scheuer Entfernung vor seinem Vater stehen. Er war blaß und abgehärmt.

Der Alte rief ihm ein Dutzend Fluchworte entgegen, winkte ihn aber dabei heftig zu sich heran und strich ihm dann, immer noch weiter wetternd, mit der groben Hand über Stirn und Haar. Endlich verstummte das Fluchen, der Alte schwieg, und man sah ihm an, daß er mit einer weichen Stimmung kämpfte. Langsam faßte er sich, und zwischen Vater und Sohn begann ein lebhaftes Gespräch in tschechischer Sprache.

Da Anton die Unterhaltung nicht verstand, aus einigen bekannten Worten auch einen Faden nicht knüpfen wollte, hatte er vollauf Muße, auf den bloßen Klang der Worte zu achten. Wenn diese Tschechen untereinander sprachen, so klangen dieselben Laute, mit denen sie die deutschen Worte zu ermorden schienen, gar nicht häßlich. Es war viel natürliche Kraft in dem bäurischen, ungehobelten Ton des Vaters, und der Sohn verband die Silben so zierlich, daß Anton seinen Reden wie der Vorstellung eines Schauspielers folgen konnte, der eine bekannte Rolle in einer fremden Sprache spielte. Wie oft hatte er im Elternhause über die Härte der tschechischen Sprache klagen oder spotten gehört. War ja gar nicht wahr! Richtig, italienische Schauspieler hatte Anton vor kurzem angehört. Beinahe wie eine seltsame Mundart der schönen italienischen Sprache vernahm er jetzt die halbverstandenen Laute, immer wohllautender erschienen sie ihm, je länger er zuhörte.

Es schlug auf einem halben Dutzend naher Kirchtürme durcheinander und nacheinander acht Uhr, als Zaboj plötzlich vom Tische, auf dem er gesessen, heruntersprang und nach seiner Mütze griff. Er rief noch einige Worte, dann küßte er seinem Vater die Hand, rief dem Freunde zerstreut einen tschechischen Gruß zu und eilte fort.

Hinter ihm her lachte Svatopluk behaglich und rief:

»Ein Sakermentskerl, hat bei den Pfaffen schön gelernt, schöne Sprache und schöne Lügen. Wenn er groß ist und mit euch deutschen Tyrannen anfängt, wird er euch mehr zusetzen als ich dummer alter Krüppel.«

Er forderte Anton auf, mit ihm ins Wirtshaus zu gehen und sich ein kleines Nachtmahl zahlen zu lassen. Anton wagte nicht Nein zu sagen, und so schritten sie bald miteinander der Neustadt zu, wo Svatopluk wohnte. Es war wunderbar, wie schnell der Alte jetzt in der Dunkelheit laufen konnte. Er warf die Beine ganz gelenkig vorwärts und stützte sich dabei nur leicht auf seine Krücken. Sein junger Begleiter konnte kaum folgen.

Im Wirtszimmer bestellte der Tscheche für jeden von ihnen zwei Paar Würstel mit Kren und ein Krügel Bier. Sie rückten zusammen, und Svatopluk bat den Jüngling recht herzlich, doch die Verstellung aufzugeben und mit ihm Tschechisch zu sprechen. Es sei doch ganz unmöglich und eine Sünde und Schande, daß ein Landeskind die Landessprache nicht verstehe.

Anton konnte ihm kaum begreiflich machen, daß seine Unkenntnis keine Verstellung sei. Sie aßen ihr Nachtmahl und tranken dazu reichlich von dem leichten Bier. Der Alte wurde aufgeregt und fing mit den Nachbarn, dem Wirt und der Kellnerin Unterhaltungen in seiner Sprache an. Er schien sich überall zu entschuldigen, daß er einen Deutschen mitgebracht habe; denn er wies oft achselzuckend auf seinen Begleiter.

Trotz der häufigen Berührung mit einzelnen Tschechen hatte Anton noch niemals in seinem Leben die Empfindung gehabt, daß er in einem fremden, nicht deutschen Lande lebte. Daheim in Blatna bestand der nähere Umgang seines Vaters ausschließlich aus Deutschen, die so wie er selbst keine andere Sprache redeten. Die Dienstleute und viele Fabrikarbeiter waren wohl Tschechen und gaben sich vergebliche Mühe, ein anhörbares Deutsch zu reden; aber das schien sich zu Hause von selbst zu verstehen, daß nur die niederen Arbeiten von Slawen verrichtet wurden, die Leitung jedoch immer in deutschen Händen lag. Und wer von den Tschechen es erst zu einiger Wohlhabenheit gebracht hatte, der bemühte sich immer bald, seinen Stamm in der Unterhaltung mit den eingesessenen Bürgern zu verleugnen. So hatte er es als Knabe fast immer beobachtet. Gebildete Leute oder Grundbesitzer, welche sich laut zum Tschechentume bekannten, waren seltene Ausnahmen auf dem Lande und wurden auch von den deutschen Behörden mißtrauisch angesehen.

In den vier Jahren, die er nun zu Prag in die Schule ging, hatte er es ähnlich gefunden. Prag erschien ihm wie eine alte deutsche Stadt, in welcher nur die große Masse der niederen Stände von tschechischer Geburt war, und wo die gebildeten nationalen Fanatiker eine kleine lärmende Partei bildeten. So hatte ihm wieder sein Vater die Sachlage oft dargestellt. Tausende von Leuten redeten beide Sprachen gleich schlecht, hielten sich aber, ohne viel hierüber nachzudenken, für Deutsche, weil das für ehrenvoller angesehen wurde. Antons Mitschüler plauderten untereinander meist deutsch, in derselben Sprache wurden die Vorträge gehalten und die Fragen gestellt. Daß man andere Bücher lesen konnte als deutsche, ein anderes Theater besuchen als ein deutsches, das wäre ihm niemals eingefallen.

Nun sah er sich plötzlich wie in eine fremde Welt versetzt. Solche Wirtshäuser wie dieses, gab es Hunderte in der Stadt. Die alten Schilder und Namen waren deutsch geschrieben; aber Anton wußte, daß nur Tschechen dort verkehrten. Er hatte sich die Besucher als den Pöbel vorgestellt, der in seinen Augen allein und ausschließlich die slawische Mundart sprach. Seine Überraschung war daher nicht gering, als er hier in einer der schlichtesten Kneipen einen tschechischen Mittelstand erblickte, von dessen Dasein er keine Ahnung gehabt hatte. Er war hier in seiner Provinz wie in der Fremde.

Gewiß war es vor allem die unverständliche Sprache, die ihn bedrückte; wie verraten und verkauft mußte er sich vorkommen, da mehr als hundert Menschen polternd und selbstgefällig durcheinander schrien und die rote Kellnerin jeden Eintretenden nur auf tschechisch nach seinem Begehr fragte. Anton hatte das zweite Krügel selbst bestellt, aber er erhielt nichts, bevor sein Begleiter den Auftrag nicht auf tschechisch wiederholt hatte. Anton wußte, daß von den Anwesenden jeder Mann mehr oder weniger Deutsch verstand; aber hier befand er sich zum ersten Male in einem Kreise, wo diese Kenntnis abgeleugnet wurde.

Doch es war nicht die fremde Sprache allein: die kleinen klugen Augen der Gäste blickten anders, die Züge der breitknochigen Gesichter bewegten sich anders, die Hände gestikulierten anders als unter den deutschen Bürgern seiner Gegend. Und der Gegensatz ging noch weiter. Die Farben des Wandmusters und der Fenstervorhänge waren bunter und schreiender, als er es gewohnt war; und die Bilder, die zahlreich umherhingen, hatten keine Beziehungen zu den Erinnerungen seiner Kindheit. Es waren die Porträts alter sagenhafter böhmischer Könige und neuer Patrioten; dazwischen hingen überall rohe Darstellungen aus den Hussitenkriegen. Ihm gerade gegenüber zeigte ein großer Stahlstich eine Hussitenschlacht, in welcher die Männer bereits sämtlich erschlagen waren und nur noch die hussitischen Frauen mit Mordlust in den Blicken gegen ein rätselhaftes Heer von Rittern und Geistlichen kämpften. Gerade in der Mitte des Bildes stand hochaufgerichtet auf einem Haufen Leichen ein üppiges halbnacktes Weib, das mit der linken Hand einen erstochenen Säugling mit falscher Bewegung von sich warf, mit der rechten einen unmöglich großen Morgenstern schwang und ihn auf den Eisenhelm eines Ritters niedersausen ließ.

Der alte Svatopluk wandte sich wieder dem Freunde seines Sohnes zu. Der Wirt hatte in der anderen Stube zu tun, die Kellnerin war auf einem Stuhle eingeschlafen und die Nachbarn Svatopluks waren nach Hause gegangen. Er war rot vom Trinken und schien guter Laune.

»Nun, deutsches Früchtel, wie gefällt es dir bei uns?« Anton gab eine unbestimmte Antwort, und der Alte hielt ihm eine lange Rede, worin er die Vorzüge seiner Nation entwickelte und die Deutschen nicht anders behandelte als Räuber, die ins Land gefallen wären und hier das Beste an sich gerissen hätten.

Als Anton darauf keine Antwort gab, begann der Alte von seinem Sohne zu sprechen. Es sei ihm ganz recht, daß er nicht geistlich werde. Die Pfaffen werden sich ärgern. Ihnen geschehe ganz recht, der edle Hus sei von ihnen auch gefoppt worden. Zaboj habe eine große Rednergabe, er werde ein berühmter Advokat werden und Abgeordneter und Hofrat und Minister.

Nach einer Weile fuhr er fort:

»Soll auch reich werden, der Zaboj. Der Henker hol' das Geld, aber Zaboj muß reich werden. Wird Gesetz machen, daß kein deutscher Räuber in Böhmen Land besitzen darf, nicht so viel, um sich dort begraben zu lassen, nicht so viel, um einen Stein aufheben zu dürfen, der ihm gehört. Und dann wollen wir den ganzen Wolfsberg von deinem Vater wieder an uns bringen, und viel Geld wird dein Vater nicht dafür bekommen. Die paar Steine in Steinbruch werden ganzen Wolfsberg bezahlen.«

Svatopluk lachte und schlug mit der Hand auf Antons Knie, daß es schmerzte.

»Meinen Vater werdet ihr nicht vertreiben, und mich auch nicht,« sagte der Jüngling ernsthaft. »Unsere Familie ist seit vielen Geschlechtern in Blatna ansässig, viel länger als ihr. Und den Wolfsberg haben wir redlich erworben. Mein Vater hat sein ganzes Vermögen gewagt, um die erste Zuckerfabrik in Blatna zu bauen. Jetzt wird sie noch vergrößert, und wenn ich erst ausgelernt habe und ihm helfen kann, dann sollt ihr sehen, was deutsche Arbeit leisten kann. Und die ganze Stadt wird froh sein, daß wir dort aushalten, denn wir geben den Arbeitern zu leben.«

Svatopluk lachte höhnisch vor sich hin.

»Ich weiß, hat ganzes Vermögen gewagt und Fabrik jetzt noch vergrößert. Hat vergrößern müssen. Und es wird Tag kommen, wo ich mit dieser meiner Hand diesen frechen Spruch über eurer Tür werde herunterhauen.«

Svatopluk richtete sich dann plötzlich auf seinen Krücken zu seiner vollen Höhe empor und sagte:

»Ist ja alles nur Spaß! Gute Nacht, du deutsches Früchtel!«

Drittes Kapitel

Zaboj hielt nach dem Wunsche seines Vaters so lange im Konvikt aus, bis er die Maturitätsprüfung abgelegt hatte. Doch mit dem guten Zeugnisse in der Hand ließ er sofort die Maske noch in der Schulstube vor seinen ängstlichen und neidischen Genossen fallen. Er bekannte sich zu jeder freien Weltanschauung und verhöhnte die Theologie.

Ins Konvikt kehrte er nicht mehr zurück. Er fuhr nach Hause und wurde von dem Alten mit polternder Freude begrüßt.

Nur Katschenka weinte, daß ihr Bruder kein geistlicher Herr werden sollte. Sie hatte sich das so schön ausgedacht. Und der Kaplan drohte ihr und dem Vater mit Höllenstrafen, die den alten Hussiten wenig bekümmerten, das heranwachsende Mädchen aber in tiefster Seele erschreckten, so daß sie lange nichts Besseres zu tun wußte, als vor dem Gitter der Marienkapelle für das Seelenheil ihres Bruders zu beten.

Zaboj aber hatte seinen Hang zur Einsamkeit abgelegt. Stolz und übermütig streifte er umher, besuchte seine Altersgenossen, verkehrte in allen Wirtshäusern und ließ sich überall wie ein Held feiern, dafür, daß er auf Kosten der Pfaffen studiert und ihnen dann einen solchen Streich gespielt hatte. Das alles hinderte nicht, daß er nach einigen Wochen des Schmollens bei seinem Beschützer, dem Kaplan, freundliche Aufnahme fand und ihm wieder seine tschechischen Predigten verbesserte. Die Sprache wurde so schön und neumodisch, daß die tschechischen Bauern ihren Kaplan während der großen Ferien niemals recht verstanden. Die Deutschen verstanden ihn sowieso nicht.

Anton fand die Verhältnisse zu Hause nicht nach Wunsch, und er mußte oft an die Drohungen des alten Svatopluk denken. Sein Vater hielt ihn jetzt für verständig genug, um mit ihm über geschäftliche Dinge zu reden, und was der Jüngling da erfuhr, war ernst genug – zu ernst, um seine jugendliche Sorglosigkeit nicht zu trüben.

Er hatte sich die Fabrik seines Vaters fast als eine Liebhaberei desselben vorgestellt, als einen willkommenen Zeitvertreib, mit welchem man sich beschäftigt, weil es einem gerade Spaß macht. Nun erfuhr er von allen Sorgen, welche mit der Leitung verbunden waren. Er hatte sich den Wohlstand seines Vaters als eine Tatsache gedacht, die mit all den hübschen Maschinen nicht das mindeste zu tun hätte. Nun erst wurde es ihm klar, daß jeder Gulden, den er ausgab, erst durch das Donnern des Räderwerks und das Prasseln des Kesselfeuers verdient wurde. Er blickte mit Bewunderung und Mitleid auf seinen Vater und nahm dessen Mitteilungen mit plötzlich gereifter Auffassung entgegen.

Der alte Svatopluk hatte recht gehabt: Gegenbauer wurde zur Vergrößerung seiner Anlagen gegen seinen Willen gezwungen.

Die Zeiten waren vorüber, in denen die ersten Zuckerfabriken des Landes bei verständiger Leitung einen sicheren Gewinn abwarfen. Die Rübenbauern waren schwieriger geworden und verkauften den Rohstoff nur zu höheren Preisen, während der Fabrikant durch den Kampf mit neuen Unternehmungen gezwungen war, seine Ware wohlfeiler abzugeben. In dieser Notlage halfen nur die größten und kostspieligsten Maschinen, welche imstande waren, der Rübe ihren ganzen Zuckergehalt bis auf den letzten Tropfen abzupressen und so die Ausbeute der Fabrikation zu erhöhen.

Wollte Gegenbauer in seinem Gewerbe nicht zurückgehen, so mußte er sich der neuen Erfindungen bemächtigen. Die Schwierigkeit war nur, daß diese vortrefflich ersonnenen Einrichtungen bloß im größten Maßstabe vorteilhaft waren und den Fabrikanten zwangen, sein Geschäft weit über die bisherigen Grenzen auszudehnen.

Eben jetzt war Gegenbauer mit der Aufstellung der Maschinen fertig geworden und ging tapfer der neuen Kampagne entgegen. Doch verschwieg er dem Sohne nicht, daß ihm mitunter in den stolzen Räumen bange wurde. Die Verträge mit den Bauern, welche zu bestimmten Preisen eine bestimmte Menge Rüben liefern sollten, konnten nicht auf eine so lange Reihe von Jahren geschlossen werden, wie der regelmäßige Betrieb eigentlich erfordert hätte. Auch war es ihm unbehaglich, daß auf den stattlichen Gebäuden nun schon wie anderswo Hypotheken standen. In seinen früheren einfachen Verhältnissen hatte er ohne fremdes Geld gewirtschaftet.

Durch die genauen Mitteilungen Gegenbauers klang oft der Wunsch hindurch, sich in seinem Sohne bald einen wackeren Arbeitsgehilfen heranzuziehen.

Anton war rasch entschlossen. Die Grundlage für eine technische Bildung hatte er gelegt, und so bat er den Vater, ihn sofort in die Lehre zu nehmen. Gegenbauer war herzlich froh, aber er riet doch dazu, daß Anton zuerst einige Jahre in einer fremden Fabrik arbeitete. Der Vater dachte dabei sowohl an seinen Sohn, der in so jugendlichem Alter noch nicht die volle Verantwortung eines Geschäftsmannes tragen sollte, als auch an die Fabrik, welche durch anderswo gesammelte Erfahrungen nur gewinnen konnte.

Sie schritten sogleich zur Ausführung des Planes. Eine passende Stellung für Anton war vom Vater schon früher in einer großen Fabrik Nieder-Österreichs in Aussicht genommen worden und wurde jetzt rasch gesichert.

Anton hatte wenige Abschiedsbesuche zu machen. Bei seinem Lehrer, einem noch jungen Manne, bei dem Arzte seines Vaters, bei dem alten deutschen Pfarrer und bei Zaboj. Dann konnte er abreisen.

Der Freund empfing ihn würdevoll und ließ ihn die Überlegenheit des künftigen Studenten fühlen.

»Du und dein Vater,« sagte er, »ihr habt wie alle Deutschen in Böhmen nur den Gelderwerb im Auge. Mag es euch wohlbekommen. Ich werde jetzt die Universität besuchen, und wenn wir uns wiedersehen, bin ich vielleicht schon Doktor. Ich werde euch Deutschen keine Ruhe geben, aber unsere Freundschaft kann dabei bestehen bleiben. Wie unser Dichter singt: Wenn die Gesinnung nur edel ist, die Wege können verschieden sein!«

Und sie drückten einander fest die Hand.

Am folgenden Abend reiste Anton ab. Die Britschka, ein gedeckter Einspänner, der den Jüngling zur Bahnstation nach Oberndorf bringen sollte, fuhr vom alten Familienhause auf dem Ring die Bergstraße hinauf, Vater und Sohn folgten langsam unter herzlichen Gesprächen. Als sie das »Trutzhaus« neben der Fabrik erreicht hatten, machte Gegenbauer dem Abschied ein Ende. »Du wirst auch noch lernen, daß die Arbeit den Schmerz überwindet,« sagte er weich. »Mich hat meine Tätigkeit schon größeren Kummer tragen lassen als dieses Lebewohl. Du bist ja brav und gesund und, so Gott will, sehen wir uns hier in zwei Jahren froh wieder. Bleibe brav.«

Der Vater ging rasch am Rande des Steinbruchs hin den neuen Gebäuden zu, und Anton stand allein. In feierlicher Stimmung ging er langsam weiter. Er fühlte, daß er mit dem heutigen Tage die Knabenzeit hinter sich ließ, daß er dem Vater das stille Versprechen gegeben hatte, von jetzt ab ein Mann zu sein.

Nach wenigen Schritten hörte er plötzlich hinter der Kapelle von einer frischen Stimme ein tschechisches Lied singen:

»In dem Wald auf wildem Klee
Grast so ruhig das arme Reh!
Und nur ich, ich soll entfliehen,
Wenn ich meinen Jäger seh!«

Bei den letzten Worten brach die Sängerin mit einem plötzlichen Zittern des Tones ab. Anton erkannte den Vers und Katschenkas Stimme. Und jetzt erschien auch ihr rotes Kopftuch in der Dämmerung neben dem kleinen Gotteshäuschen. Anton wartete, daß sie zu ihm kam; als das rote Zeug aber wieder verschwand, stieg er rasch die wenigen Schritte der Böschung empor und stand bald vor dem Mädchen, das zusammengekauert auf den Stufen der Kapelle saß, die Schulter an die verrostete Gittertür gelehnt, und heftig weinte.

Anton redete sie an. Da sprang sie unter Tränen lachend auf, wischte sich mit der linken Hand die Augen und reichte ihm mit der Rechten ein Sträußchen von Reseda und Thymian.

»Hier!« rief sie dabei. »Du sollst etwas von mir auf die Reise mitnehmen.«

Anton war ihr herzlich dankbar, nahm aber doch nicht ohne Verlegenheit die Blumen in die Hand.

»Wie gut das riecht,« sagte er, und dann nach einer Pause, während sie ihn anlachte: »Ich danke dir viele Mal!« und wieder nach einer Pause, mit einem Versuche zu scherzen und dem Kinde gegenüber den Mann zu spielen:

»Du bist sehr groß für dein Alter, Katschenka, aber wenn wir uns wiedersehen, wirst du so groß sein wie ich, wirst ein Fräulein sein, und ich werde dich nicht wiedererkennen.«

»Er wird mich nicht wiedererkennen!« schrie Katschenka auf und schlug beide Hände vor die Augen.

»Sei doch nicht so dumm. Ich meine ja nur im ersten Augenblick, weil du ein so großes, schönes Fräulein sein wirst.«

Sie hatte jetzt gar nicht geweint. Mit glühenden Augen schaute sie ihn an und sagte leise wie mit einem Ausdruck halb kindlicher Freude:

»Ich werde ein großes, schönes Fräulein sein? Und du wirst mich wiedererkennen?«

Anton nickte mit dem Kopfe und strich ihr mit beiden Händen über das Haar. Sie hauchte: »Ach!« und hielt still. Als auch er innehielt und seine Hände linkisch auf dem aufgesteckten Zopfe ruhen ließ, stellte sie sich plötzlich auf die Fußspitzen, warf ihre Arme um seinen Nacken und rief aufgeregt:

»Versprich mir! Versprich mir, daß du im Österreichischen mit keinen anderen Kindern spielen wirst, und wenn du dort in einem Steinbruch ein so schönes Wasserbecken findest wie hier, so sollst du es keinem andern Mädchen sagen. Ich will es nicht! Du sollst es mir versprechen; und wenn du dort einen Freund hast, und er hat eine Schwester, so sollst du doch niemals mit ihr spielen, nicht Blindekuh und nichts, ich will es nicht, ich verbiete es dir! Und die Reseda und den Thymian mußt du aufbewahren. Ich habe ein Geheimnis! Ich werde es den Blumen ansehen, ob du mir gut geblieben bist oder nicht.«

Anton war ganz hilflos dem Ansturm des leidenschaftlichen Kindes gegenüber. Er versuchte sich leise von Katschenka loszumachen.

Sie hielt ihn immer fester. Da sagte er so hart als er konnte:

»Laß mich jetzt, die Britschka wartet.«

»Ich lasse dich nicht, bevor du mir nicht einen Kuß gegeben hast. Zum Abschied!« fügte sie hinzu. »Wir werden uns so lange nicht sehen.«

Und wieder schwammen ihre Augen in Tränen.

Anton gab ihr den Kuß ganz gern und hoffte auch frei zu kommen, wenn er ihr den Willen tat. So beugte er sich denn schüchtern nieder. Kaum aber hatte er ihre warmen Lippen berührt, als sie heftiger seinen Hals umschlang und ihm wilde Küsse auf den Mund drückte.

Dann faßte sie ihn wieder am Schopf und zerrte ihn, daß es schmerzte. Er fühlte ihren heißen Atem, und wieder umschlang sie ihn und küßte ihn.

Ganz bestürzt richtete sich Anton gerade in die Höhe. Sie aber ließ sich mit emporziehen, gab ihm noch, an seinem Halse hängend, einen langen Kuß, ließ sich endlich los und stand schnell atmend und mit lachenden Augen vor ihm.

»Das war ein schöner Abschied,« rief sie keuchend. Sie zupfte an ihrer Schürze und lief davon.

Anton sah ihr noch lange nach, wie ihr rotes Kopftuch durch die Dämmerung schimmerte und endlich verschwand. Dann sprang er auf die Landstraße zurück und schritt eilig bergauf, dem Wagen nach. Er war mit seinem Benehmen in der ersten Stunde seines Mannesalters nicht zufrieden.

Viertes Kapitel

Zwei Jahre sollte Anton in der Fremde bleiben. Als die Zeit jedoch vorüber war, wußte sein Vater immer neue Gründe zu finden, um den Sohn von der Heimat fern zu halten. Bald mußte Anton die Erfahrungen mit einem neuen Kessel erproben, bald die Wirkung, welche ein neuer Dungstoff auf die Rüben hatte, studieren. Und solche Untersuchung brauchte viel Zeit.

Seine wahren Absichten teilte Gegenbauer dem Sohne in seinen langen und sonst so offenen Briefen nicht mit. Denn mit dem Aussprechen seiner Befürchtungen hätte er das Übel leicht verschlimmert, wie er glaubte.

Die eine Sorge galt dem deutschen Sinne seines Anton. Man hatte den Vater in Blatna viel damit geneckt, daß sein Sohn von den Prokopischen zum Tschechentume bekehrt würde; den Freunden war weder der Umgang mit dem jugendlichen Fanatiker Zaboj noch mit der hübschen Katschenka erwünscht. Die Fälle waren nicht mehr selten, daß Kinder deutscher Eltern plötzlich ins slawische Lager übergingen, die fremde Sprache mühsam erlernten und sodann in unklarer Überspanntheit die Ziele der nationalen Gegner unterstützten. Schon hatte Anton einige slawische Verse singen und die tschechischen Bezeichnungen für einzelne alltägliche Dinge radebrechen gelernt, und schon beschäftigte er sich in Mußestunden mit schöngefärbten Darstellungen böhmischer Geschichte. Diesen Neigungen und dem Einfluß des Prokopischen Hauses hatte Gegenbauer nebenher ein Ende machen wollen, als er den Jüngling ins deutsche Österreich sandte.

Und so sehr sich der rastlose Mann oftmals nach seinem Sohne und dessen frischen Augen sehnte, und so deutlich sich auch Antons deutsche Gesinnung bald in jedem Briefe aussprach, so wollte er seine Abwesenheit doch aus einem andern Grunde verlängern. Er hatte sich vorgenommen, den Sohn als Helfer und Mitarbeiter nur in einen festen und gesicherten Besitz zu berufen. Er wollte ihn nicht früher in die Fabrik einführen, als bis er sie stolz sein unbestrittenes Eigentum nennen könnte. Das aber dauerte länger, als er gedacht.

Er brauchte den Anblick seines Sohnes darum nicht immer zu entbehren. So oft ihn seine Geschäftsreisen nach Wien führten, mußte Anton Urlaub nehmen und mit dem Vater zusammentreffen. Gegenbauer, der häufig überarbeitet und bleich schien, hatte seine helle Freude an Antons prächtiger Entwicklung; aber den Bitten, ihn jetzt schon zu Hause arbeiten zu lassen, gab er nicht nach.

Vier und ein halbes Jahr waren so vergangen, als Anton an einem herrlichen, sonnbeglänzten Frühlingstage von der Hand eines Fabrikbeamten die Nachricht erhielt, Gegenbauer sei schwer erkrankt und verlange dringend nach dem Sohne.

Am nächsten Morgen, nach einer endlosen, in bangem Schmerze im Eisenbahnwagen durchwachten Nacht, stand Anton am Bette des Vaters.

Gegenbauer war von einem schleichenden Herzübel niedergeworfen worden.

Noch fast ein Jahr weigerte er sich dem Tode. Bald ans Lager gefesselt, bald mit halber Kraft, wenn auch mit fiebernder Ungeduld in den Geschäften tätig, schleppte er sein Leben hin.

Er benutzte jede wohlere Stunde, um den Sohn in alle Beziehungen der Fabrik einzuweihen, er belehrte ihn auch über alle kleinen Verhältnisse der Gegend; aber jede solche Unterredung schloß mit der flehentlichen Ermahnung, sein Herz vor allen Verlockungen der Welt zu hüten, solange die Firma Anton Gegenbauer nicht unerschütterlich fest stand, vor allem aber sein deutsches Wesen zu wahren, nicht nur in den vier Pfählen des Hauses, sondern es auch mutig zu bekennen gegenüber den Drohungen der – wie der Alte in seinem Zorn sagte – frecher und frecher sich gebärdenden Feinde.

Anton hatte keine andere Antwort als Händedrücke und die treuen Worte:

»Verlaß dich auf mich, Vater.«

Wieder einmal hatte er es gesagt, und wieder einmal hatte der Vater geantwortet: »Ich verlasse mich auf dich!«

Dann fand man den Vater eines Morgens tot in seinem Bette.

Nun mußte Anton es an sich erfahren, wie langsam und sicher Arbeit über Kummer hinweghilft. Er war kaum vierundzwanzig Jahre alt, als er die Leitung der ausgedehnten Fabrik in die Hand nahm. Schwere Jahre standen ihm bevor, das wußte er; aber an dem endlichen Siege brauchte er nicht zu zweifeln, wenn nur die Dinge blieben, wie der Vater sie verlassen.

Er richtete sich in seinem Besitztum ebenso ein, wie der Vater darin gehaust hatte.

Das stattliche Haus am Ringplatz war schon verkauft, um die Hypothekenschuld zu verringern. Anton war mit einfacheren Verhältnissen zufrieden. In dem kleinen Gebäude am Steinbruch, welches gerade über der Höhle, seinem alten Kinderspielplatze, stand, wohnte er ganz allein. Für die Aufwartung sorgte der alte Tomek, der Fabrikwächter, und dessen Frau. Den Wächter, der ihm unheimlich war in seiner knechtischen Unterwürfigkeit, behielt er nur, weil der Vater ihn immer als treu gerühmt hatte. Lieber sah er die Frau Tomek um sich, die ihm sein Essen bereitete und ihn mit ihren bescheidenen Klagen über die schlechten Zeiten und ihren Spitzbuben von Enkel, den Gassenjungen Voita, niemals störte.

Unter seinen Beamten fand er kluge und freundliche Leute; gern hätte er mit dem Werkführer und besonders mit dem Buchhalter viel verkehrt. Doch die Herren wohnten in Oberndorf. Sie machten lieber täglich zweimal den Weg von einer halben Stunde, als daß sie mit ihren Kindern »in dem tschechischen Neste verbauerten«. So hatte Anton in der Stadt Blatna außer dem alten Arzte und dem Lehrer keinen näheren Umgang.

Mit seinen Jugendgespielen kam er fast gar nicht mehr zusammen. Zaboj und Katschenka wichen ihm beide aus, und er selbst war zu beschäftigt, um sie zu suchen.

Mit Zaboj hätte es auch manchen ernsten Streit gesetzt, wenn sie sich in der früheren Weise miteinander ausgesprochen hätten.

Der Sohn des alten Svatopluk hatte seine erste Staatsprüfung mit Erfolg abgelegt, hatte sich dann in Prag ohne Gelingen als Zeitungsschreiber versucht und war endlich in Blatna Bezirkssekretär geworden. Er trug sich nicht mehr so theatralisch wie früher; nur der Schnürenrock war von der Nationalkleidung übrig geblieben.

Und doch konnte ihn der Einheimische an seinem buschigen dunkelroten Schnauz- und Knebelbart, an seinem langen Haar, an seiner liebevollen Aussprache des Tschechischen und am künstlichen Radebrechen des Deutschen sofort als einen Fanatiker erkennen. Er war der anerkannte Führer der Tschechen in Blatna geworden und machte sich um die heilige Sache bei Wahlen, Volksversammlungen und auch in seinem Amte redlich verdient.

Wenn er dem Gegenbauer-Anton, dem alten Freunde, zufällig begegnete, so boten sie sich wohl die Tageszeit und reichten einander die Hand, aber sie trennten sich bald; denn es gab ja wenige Gegenstände, über welche sie unbefangen miteinander reden konnten. Anton verstand eine Freundschaft nicht, die eine rücksichtslose Aussprache nicht gestattete, und Zaboj wollte selbst den Schein meiden, als ob ein Deutscher ihn etwas anginge. Schon als er bei dem Begräbnis unter der Menge mit hinter dem Sarge ging, in welchem Antons Vater ruhte, war es ihm von jedem Heißsporn der Partei als ein Vergehen gegen die Nation ausgelegt worden.

Daß Katschenka ein großes, üppig schönes Mädchen geworden war, zu deren Lippen er sich kaum mehr hätte herunterzubeugen brauchen, das konnte Anton kaum einmal aus der Entfernung bemerken. Sie führte jenseits der Bjelounka die Wirtschaft und ließ sich in der Stadt nur selten blicken. Kam sie doch des Sonntags einmal an Anton vorüber, so war sie immer von tschechischen Burschen und Mädchen begleitet und wandte den Kopf ab.

In einer stillen Sommernacht, die auf einen solchen Sonntag folgte, war es ihm wohl zwei- oder dreimal, daß er plötzlich in der Ruhe gestört wurde durch eines der tschechischen Lieder, die er kannte. Seltsam dumpf tönte es herauf aus dem Steinbruch, als ob die Sängerin sich in der Höhle verborgen hätte. Und es waren immer seine Lieblingslieder. Doch dieselben Weisen wurden ja von allen Mädchen des Landes gesungen.

Im Städtchen erzählte man sich, die schöne Katschenka werde den Sohn des reichen Gastwirts heiraten, den einfältigen Petr.

Dieser junge Mann war die erste neue Bekanntschaft, welche Anton machte, als er nach dem Tode seines Vaters wieder unter Menschen ging. Seine beiden Freunde, der Lehrer und der Arzt, überredeten ihn und zwangen ihn fast, mit ihnen in das Wirtshaus des alten Stjepan Zilbr zu gehen, wo die Honoratioren von Blatna allabendlich in der Gaststube um einen großen, ovalen, altersgeschwärzten Tisch herum saßen und bei knappem Essen und reichlichem Bier die Angelegenheiten des Städtchens, des Staates und Europas besprachen.

Anton hatte vorher niemals einen Fuß in das Gasthaus gesetzt, in dem sein Vater nicht zu verkehren pflegte; der Alte mochte den Besitzer, einen getauften slowakischen Juden, nicht leiden. Er hatte nur die Veränderungen bemerken müssen, welche äußerlich mit dem Hause vorgegangen waren, das recht in der Mitte des Ringplatzes, dem Rathause schräg gegenüber, seine drei Arkadenbogen noch um einige Zoll vor die übrigen Lauben vorstreckte. »Gasthof des Stephan Silber« – »Zum römischen Kaiser«, so hatte die Inschrift über dem mittleren Bogen seit 20 Jahren gelautet. Anton hatte an den damals frisch vergoldeten Buchstaben zuerst seine Kenntnisse im Buchstabieren geübt. Jetzt war die Inschrift übertüncht, und auf dem weißen Grunde stand mit ziegelroter Farbe aufgemalt:

Stjepan Zilbr
Hostinec.

Der Taufname Stephan war tschechisiert, der Name »Silber« einfach in tschechischer Orthographie hingesetzt; »Hostinec« hieß zwar nur so viel wie Wirtshaus, dafür klang es aber patriotischer als »Gasthof«.

Diese Übermalung und die inneren Veränderungen, welche sich anschlossen, waren symbolisch für den Vorgang, welcher die deutsche Stadt langsam, aber stetig in eine tschechische verwandelte.

Der alte Gastwirt war zwar aus Mähren eingewandert und verstand nicht sehr viel vom Tschechischen, aber seinem Sohn und dem Geschäft zuliebe hatte er nichts dagegen, daß seine Wirtschaft von außen und von innen nach dem Geschmack der besten Biertrinker gehalten wurde.

Anton war nicht überrascht davon, daß drinnen nichts fehlte, um den Aufenthalt für Tschechen behaglich zu machen. Doch der Lehrer, der jung und heißblütig mit den Slawen im ewigen Kampfe lag, und der alte Arzt, der über ihre theatralischen Ansprüche wie über einen Fastnachtsscherz lachte, klärten ihn bald darüber auf, daß das Bedürfnis nach einem tschechischen Kellner, einer ebensolchen Zeitung und Speisekarte nicht älter war als die Übertünchung der Inschrift draußen. Die alten Gäste hatten zu den Neuerungen nur spöttisch gelächelt und wie gewöhnlich stille geschwiegen.

So ging denn der mürrische Franz, der des Morgens einen Hausknecht und des Abends einen Kellner vorstellte und der beide Landessprachen verstand, wenn er auch keine von ihnen viel zum Sprechen benutzte und darum von jeder Partei für sich in Anspruch genommen wurde, so ging denn Franz jetzt des Abends als Kellner in einem Schnürenrock umher. Seinem alten Frack aus der deutschen Kellnerzeit hatte er die Schöße abgeschnitten und trug ihn des Morgens, wenn er Hausknecht war, als Jacke.

Die zweisprachige Speisekarte gab nebeneinander die deutschen und die tschechischen Namen der vier bis fünf Tagesgerichte an, und die tschechische Übersetzung fiel gewöhnlich mit Hilfe von Gelehrten so tiefsinnig und neumodisch aus, daß der dicke Brauer erst die bekannte deutsche Bezeichnung nachsehen mußte, bevor er würdevoll sein Essen auf tschechisch verlangte. Und dann mußte Franz doch wieder die Speisekarte zur Hand nehmen und die tschechische Übersetzung mit der Ursprache vergleichen, bevor er das Gericht in der Küche auf deutsch bestellte.

Seit ebenso langer Zeit lag neben der harmlosen deutschen Lokalzeitung auch ein tschechisches Kreuzerblatt. Dieses wurde schon besser verstanden als die Speisekarte; es verzichtete klug auf neu gebildete Worte und belehrte das Volk in seiner Sprache darüber, daß die Deutschen in Böhmen Eindringlinge wären und froh sein müßten, wenn sie überhaupt geduldet würden. Da die deutsche Zeitung ganz bedächtig die Streitfrage untersuchte und nach langen Auseinandersetzungen nur zu dem Schlusse kam, daß beide Stämme mit gleichen Rechten brüderlich nebeneinander wohnen sollten, so mußten die Leser beider Ansichten allmählich die Wahrheit in der Mitte suchen, und die Deutschen unter ihnen wunderten sich nicht wenig darüber, daß sie hier in ihren alten Sitzen Eindringlinge waren.

In der Wirtsstube war kein deutscher Zettel an der Wand zu sehen. Tschechisch war der Fahrplan der Eisenbahn, tschechisch der Kalender. Zu tschechischen Festen und tschechischen Wallfahrten forderten die großen Plakate auf, und tschechisch lautete natürlich auch die Inschrift des Kastens, in welchen milde Gaben für den Bau des tschechischen Nationaltheaters fließen sollten.

Die Unterhaltung in diesem Raum wurde fast ausschließlich deutsch geführt zur Zeit, da Anton mit seinen Freunden zum ersten Male am Honoratiorentische Platz nahm.

Anton saß zwischen dem Lehrer und dem Arzte an dem einen Ende des Saales, nicht weit vom Ofen. Das war die entschieden deutsche Ecke; neben dem Arzte saß gewöhnlich der alte deutsche Pfarrer, lebenslustig, voller Schnurren, ein Verehrer Kaiser Josephs und Voltaires, dabei gläubiger Katholik, Erzähler von stark gepfefferten Klostergeschichten, ein Freigeist.

Neben dem Pfarrer nahm so oft, wie er erschien, der Bürgermeister selber Platz, der es unter seiner amtlichen Würde hielt, anders als Deutsch zu seinen Leuten zu sprechen. Auch der Adjunkt und der Apotheker neben dem Lehrer hüteten sich, Tschechisch zu sprechen, weil sie niemals die richtige Betonung genau trafen und weil sie sich dafür zu vornehm dünkten.

Das entgegengesetzte Ende des Tisches nahm zwar das Häuflein ein, welches mit dem tschechischen Anstrich zufrieden war; namentlich der dicke Brauer und der kleine Kaufmann waren eifrige Patrioten. Aber auch hier wurde das Gespräch nur von Nachbar zu Nachbar tschechisch geführt, die allgemeine Unterhaltung war immer deutsch, nicht nur dem Wirt und den Studierten oben zu Gefallen, sondern auch der Ackerbürger und Hausbesitzer wegen, welche hier am Tische wie im nationalen Kampfe die Mitte hielten, sich selbst nicht gern Deutsche nannten, aber keine andere Sprache geläufig reden konnten.

Grollend hatten sich die wahren Patrioten, die echten Söhne Böhmens, die Freunde des Landes, die Tapfern, oder wie sie sich sonst nannten, in das Herrenstübchen zurückgezogen. Dort saßen Zaboj Prokop, der tschechische Lehrer und der Wirtssohn, der Peter getauft war, sich aber seit kurzem Petr schrieb, um einen kleinen Tisch zusammen, lasen und besprachen allabendlich die politischen Brandschriften, die sie aus Prag erhielten, und warteten ungeduldig auf den großen Tag, wo der Aufstand losbrechen oder wo die Wiener Regierung die Deutschen an die Wand drücken würde.

Zaboj führte drinnen das große Wort, der Lehrer hatte die zweite Stimme, und Petr mußte schweigen und zuhören, weil er zu dumm war und überdies seine neue, freiwillig gewählte Muttersprache noch immer nicht genügend gelernt hatte. Doch gerade er öffnete mitunter die Tür zur großen Gaststube, erschien in seiner bunten Phantasiejacke auf der Schwelle und erregte jedesmal die Heiterkeit des ganzen Stammtisches, auch der Tschechen, wenn er von da aus in vaterländischem Eifer und zu seiner Übung die zuletzt gehörten Sätze der Brandreden hineinrief. Das runde Hütchen mit der fußlangen Reiherfeder kam nie von seinem Kopfe, als schämte er sich seiner struppigen blonden Haare. Seit Jahren hatte er außer im Schlafe kein deutsches Wort gesprochen.

Die politischen Nachrichten gingen auch an der Unterhaltung des Stammtisches nicht spurlos vorüber. Je nachdem sie für die tschechischen Wünsche günstig oder ungünstig schienen, rückte hier die Sprachgrenze auf und nieder. Wenn das Gerücht auftauchte, das deutsche Ministerium in Wien sei gestürzt, so ließ sich der Herr Bürgermeister nicht sehen, sämtliche Honoratioren mit Ausnahme der drei Freunde und des alten Pfarrers redeten Tschechisch, das Kleeblatt im Herrenstübchen erschien auf dem Schauplatze, und auch der Herr Kaplan kam, um bei einem Gläschen Bier das Neueste zu erfahren. Und wenn die Böhmische Statthalterei wieder einen nationalen Putsch mit Waffengewalt unterdrückte, dann blieb die Tür zum Herrenstübchen geschlossen, der Kaplan machte dem Bürgermeister Platz und die Sprachgrenze rückte plötzlich bis in die äußerste Ecke hinunter, wo der Brauer mit dem Kaufmann ängstlich flüsterte.

So verging Monat um Monat, der Frühling und der Sommer, und Anton konnte es sich nicht verhehlen, daß bei dem Ebben und Fluten der Bewegung doch die tschechische Gesinnung unter den Honoratioren langsam wuchs. Und gerade im Spätherbst, als seine Fabrik ihn wieder ganz in Anspruch nahm, wollten die Gerüchte nicht verstummen, welche den Sieg der österreichischen Junker, Pfaffen und Slawen in nahe Aussicht stellten.

Es war an einem schönen frischen Abend in den ersten Tagen des November, als sich die Stimmung für die deutsche Ecke schon darin kenntlich machte, daß der Brauer kein deutsches Wort sprach, der Kaufmann ab und zu ins Herrenstübchen ging, außer dem Bürgermeister auch der Adjunkt ausblieb und der Herr Kaplan bei Franz ein zweites Gläschen Bier bestellte.

Es hatte noch nicht acht Uhr geschlagen, als plötzlich Zaboj mit einem Zeitungsblatte in der Hand vom Ring hereinstürmte. Seine Augen leuchteten in feuchtem Glanze.

»Nieder mit den Deutschen! Wir haben gesiegt!« schrie er schon in der Tür. »Wir haben gesiegt, das Ministerium ist gestürzt.«

Und mit geballter Faust schlug er das Zeitungsblatt gerade vor Anton auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. Aus dem Herrenstübchen erschollen wilde Rufe, der Lehrer erschien auf der Schwelle, fragte, hörte und stürzte Zaboj in die Arme, der Kaufmann küßte den Brauer. Petr sprang auf den Tisch, kreuzte die Arme und stieß ruckweise wilde Reden hervor, bis Zaboj ihn herunterriß, seine Stelle einnahm und nun unter hellen Freudentränen erzählte:

Das Ministerium war gestürzt, ein zuverlässiger Kavalier, der zur Kirche hielt, hatte die Bildung der neuen Regierung übernommen. Noch war kein tschechischer Name für das neue Kabinett genannt, aber der Sieg war gewiß.

Und Zaboj hob in starker Bewegung beide Arme zur Decke empor und rief:

»Herrgott! Herrgott! Endlich hast du uns zu unserem Rechte verholfen!«

Dann sprang er mit einem Satze vom Tische herunter, schüttelte dem Kaplan die Hände, küßte ihn auf den Mund und legte schluchzend seine Stirn auf die Schulter des Geistlichen, der schmunzelnd dreinschaute.

Die Deutschen hatten sich erhoben und suchten abseits im Zeitungsblatt, ob sich das alles bestätigte. Es ließ keinen Zweifel. Die folgenschwere Überraschung stand da schwarz auf weiß und übte ihre Wirkung schon auf die Genossen des Stammtisches.

Feindliche Blicke und feindliche Worte flogen zu ihnen herüber. Die alten Gegner brauchten ihren Haß nicht mehr zu verbergen, und noch lauter schrien die bisherigen Herren von der Mittelpartei, so oft Petr das Zeichen dazu gab: »Nieder mit den Deutschen!« Und einige riefen es in deutscher Sprache.

Und jetzt begannen neue Gäste in die Wirtsstube hineinzuströmen. Leute aus dem Volke, welche sich sonst niemals unter die Honoratioren gewagt hatten, kamen hinzu: Fuhrleute, Kleinhändler, der bucklige Schuster war da und duzte den Brauer, und vom andern Ufer waren sogar die letzten Hintersassen erschienen und tranken dem Kaplan zu.

Bald war die Stube voll von Menschen, und die vier Deutschen standen unschlüssig, umdrängt von den höhnenden Feinden. Sie sollten ihr Bündel schnüren, sie sollten nach Amerika auswandern, rief man ihnen zu. Und schon stellte sich ein Fuhrmann drohend vor den Arzt hin und beschimpfte ihn, weil er seinen alten Vater umgebracht hätte. Immer deutlicher war die Absicht, die Deutschen aus dem Wirtshause hinauszudrängen. Sie aber wichen nicht, und es hätte tatsächlich Streit gegeben, wenn sie sich nicht, der alte Pfarrer voran, ins Herrenstübchen zurückgezogen hätten.

Während sie hier in Zorn und Sorge das Nächste besprachen, tobte aus der großen Stube immer lauter und wüster der Siegeslärm hinein. Plötzlich aber wurde es still, und eine parlamentarische Verhandlung begann. Der Arzt, welcher die tschechische Sprache in seinem Beruf erlernt hatte, erklärte, was vorging. Man beriet über die Art, wie der große Tag gefeiert werden sollte. Der Vorschlag, sich zu bewaffnen und die Deutschen totzuschlagen, wurde gemacht, aber doch nicht angenommen. Auch der Rat eines alten Achtundvierzigers, in bewaffneten Haufen nach Prag zu ziehen, fand keine Mehrheit. Petr wurde sogar ausgelacht, als er den Antrag stellte, es sollten auf Gemeindekosten für jeden Einwohner von Blatna nationale Kostüme nach dem Muster des seinigen angeschafft werden. Aber der Kaplan drang durch, als er das Verdienst der Kirche um die nationale Sache hervorhob und die Anwesenden ermahnte, vollzählig und in feierlicher Ordnung zur Statue des heiligen Nepomuk zu ziehen und dem Schutzpatron des Landes für die Rettung zu danken.

Sofort setzte sich alles in Bewegung. Petr aber rannte durch das Haus treppauf, treppab, schrie wie besessen in einer Sprache, die niemand verstand, und erschien endlich mit vier Pechfackeln, die von irgendeinem großen Leichenbegängnis übriggeblieben waren. Die Fackeln wurden entzündet, und unter Absingung des nationalen Heimatliedes setzte sich der Zug, von Schritt zu Schritt wachsend, in Bewegung. Voran gingen, zwischen den Fackelträgern, Zaboj, Petr und der Kaplan.

Nun begaben sich auch die Deutschen vors Haus. Auf dem schlecht beleuchteten Platze sah man nur eine dunkle Masse sich herunterbewegen und darüber rot beleuchtet die Rauchwolken der Fackeln sich ballen. Aber deutlich klang die melancholische Melodie des slawischen Liedes herüber zu den vier Deutschen, die unter einem offenen Bogen der Lauben düster in die Nacht hinausblickten.

»Das ist schon oft dagewesen,« sagte der Pfarrer, der die schweren Gedanken der übrigen erriet. »Auch diesmal wird das Fieber wieder niedergeschlagen werden. Leider, leider ist das kein gemütlicher Abend.«

Niemand antwortete. Der Zug mochte jetzt vor der heiligen Statue halten, denn der Feuerschein bewegte sich nicht. Langsam verhallte das Heimatlied. Plötzlich ertönten dumpf herüber andere, wildere Töne; das Trotzlied gegen die Deutschen war angestimmt worden. Heftig und schnell klang es durch die Nacht, und mit bitterem Hohne sprach der Arzt in deutscher Sprache den letzten Vers mit:

»Tod und Hölle allen Feinden!«

Der Lehrer stampfte mit dem Fuße und rief heftig:

»Das ist doch mal ein Lied! In unsern deutschen Liederkränzen singen wir immer noch von Liebe und Frühling und wundern uns, wenn wir dann plötzlich mit Sensen und Dreschflegeln angefallen werden. Ich möchte einen Preis ausschreiben lassen für so ein deutsches Lied.«

»Wenn's beim Singen bliebe, wären die Tschechen noch zu ertragen,« meinte der Arzt.

»Nu, nu!« sprach der Pfarrer begütigend. »Alle Menschen haben gleiche Rechte, und wir besonders in unserem lieben Österreich müssen uns hübsch vertragen lernen.«

»Nein,« rief Anton und ballte die Faust gegen den Fackelschein, der jetzt drüben im Dorfe Blatna verschwand. Er sah hübsch aus, wie er jetzt, in überzeugter Begeisterung, Gedanken und Worte nachsprach, die er wohl jüngst im Prager »Tagesboten aus Böhmen« gelesen hatte.

Er rief:

»Nein, auch ich habe geglaubt, daß die Idee der Menschheit höher steht als die Idee der Nationalität. Ich war ein Kosmopolit und bin bereit, es in friedlichen Zeiten wieder zu werden. Das aber ist Krieg! Das ist nicht mehr der allgemeine Kampf ums Dasein, der uns alle, auch gegen unsern Willen, zur Härte und zum Egoismus zwingt. Nein, das ist mehr, das ist Krieg. Seht, da kommen sie wieder herauf, und noch lauter, noch feindlicher brüllen sie ihren Schlachtgesang. Sind wir denn Fremde hier, daß man uns mit Mord bedrohen darf? Sie wollen den Krieg, sie sollen ihn haben! Und wenn man uns von oben in dieser gerechten Sache nicht schützt, so wollen wir uns selber helfen und in diesem schweren Kampfe zusammenstehen, treu vereint, unerschütterlich bis auf den letzten Mann!«

Und begeistert streckte Anton den Freunden die Hände entgegen. Er fühlte sich froh, wie der Arzt und der Lehrer einschlugen. Der Pfarrer hatte sich entfernt.

Jetzt ertönte der Gesang näher und näher. Und plötzlich flutete das grelle Licht aus der engen Gasse wieder auf den Ringplatz, und hinterher ergoß sich der Menschenstrom.

Die Schar war noch weiter angewachsen; einen solchen Menschenhaufen hatte man in Blatna seit dem Tage nicht gesehen, da der gefürchtete Räuber Kotik gefangen worden war. Auch die Fackelträger waren jetzt zahlreicher, und bei dem helleren Scheine war deutlich zu sehen, daß auch Weiber sich dem Zuge angeschlossen hatten.

Man machte vor dem Rathause halt und sang dort sein Trotzlied ab. Wieder erklang es so laut, daß man die Worte schon verstehen konnte: »Tod und Hölle allen Feinden, Mord und Tod den Deutschen.« Plötzlich wurde es still, der Bürgermeister sprach zum Volke. Die drei Deutschen konnten keinen Laut verstehen, aber es war kein Zweifel, daß das Oberhaupt der Stadt nun doch Tschechisch sprach und sich der siegreichen Partei anschloß. Denn stürmische nationale Hochrufe waren die Antwort auf seine Rede.

»Slawa!« tönte es laut.

Ein ähnlicher Auftritt fand zwei Häuser weiter vor dem Hause der Bezirkshauptmannschaft statt. Hier wohnten die Beamten der Verwaltung und die Polizeipersonen, auch sie mußten sich ergeben haben, denn die Rufe wollten kein Ende nehmen.

Und näher rückte die Menschenmasse, den Ringplatz herauf. Man vernahm durch das Singen und Schreien der Leute hindurch die dünnen Töne einer Harmonika, welche zum Marsche aufspielte. Man hörte das Lachen der Spaßmacher und unterschied bereits die Stimmen der Frauen.

Jetzt schürte der vorderste Fackelträger seine Pechstange auf dem Pflaster. Und bei dem auflodernden Feuerschein erkannte Anton die Menschen, welche dem jubelnden Zuge voranschritten.

Als erster ging der Petr. Er trug in seinen Fäusten den alten Morgenstern aus der Scheune des Svatopluk. Er hatte die Waffe erhoben, die wild drohend, blutigrot in dem flackernden Lichte blinkte. Petr selbst gab sich Mühe, unter seiner schweren Last heldenhaft auszusehen, aber er erschien doch nur wie ein unglücklicher Statist in einer heroischen Oper.

Neben Petr schritt Katschenka. In der Hand hielt sie ein rotweißes Fähnchen; mit aufgerissenen Augen starrte sie begeistert in den Sternenhimmel hinein, und wenn alle andern vom Singen ausruhten, so schmetterte sie allein das Slawenlied, und bei den Worten: »Tod und Hölle allen Feinden!« schüttelte sie das Fähnlein und hielt es hoch empor, daß es den Morgenstern Petrs überragte.

In der zweiten Reihe ging der alte Svatopluk zwischen dem Lehrer und Zaboj, die es längst aufgegeben hatten, den Krüppel zu stützen. Mit dröhnender Stimme den Gesang begleitend, warf er seine Beine zu mächtigen Schritten eins ums andere vorwärts, spottete seiner Krücken und warf lachend bald die eine, bald die andere in die Luft, um sie sogleich wieder mit der Hand aufzufangen und sich rasch vor dem Zusammenknicken zu bewahren. Und jedesmal antwortete die Masse mit Freudenrufen.

Und hinter dem alten Svatopluk drängten sich die besten Patrioten, der Fuhrmann, der Brauer und die anderen.

»Tod und Hölle allen Feinden!«

Mit dem Schlagwort war der Haufe vor dem Wirtshaus angelangt, wo die drei Deutschen noch immer dem Schauspiel zusahen.

Plötzlich wurde haltgemacht, und mit donnernden Stimmen wiederholten die Sänger drei-, vier-, fünfmal den letzten Vers:

»Tod und Hölle allen Feinden!«

Sie konnten sich nicht satt daran hören.

Und zu allen Drohungen, Schmähworten, Hochrufen schwang Petr mit blödem Gesichtsausdruck den Morgenstern über Antons Haupte. Der tschechische Lehrer fuchtelte mit geballter Faust vor den Augen seines deutschen Kollegen. Und von den letzten Reihen her schwoll gewaltig herauf bis zu einstimmigem Brausen:

»Nieder mit den Deutschen!«

Der alte Svatopluk stieß den stotternden Petr beiseite, schob die linke Krücke unter die Achsel, hob mit der Rechten wie zum Schlage aus und überschüttete Anton mit tschechischen Worten. Ein wieherndes Gelächter der Menge begleitete sie.

Als Anton nicht verstand, riß Zaboj seine Schwester, die zurückgetreten war, hervor, und schrie auf deutsch:

»Du mußt gratulieren, Deutscher, wir haben Katschenka mit dem braven Petr verlobt.«

Glutrot stand das Mädchen vor ihrem Jugendfreund; das Fähnlein hatte sie gesenkt, ihre Augen blickten zu Boden. In der »Slawa« rufenden Menge hörte niemand die Worte, die sie murmelte.

Zwei Gendarmen und der Ortspolizist hatten sich unter den Lauben genähert und wollten die Deutschen zwingen, sich ins Haus zurückzuziehen. Schon waren sie von dem Haufen umringt, schon hatte der Fuhrmann Antons Rock berührt und war von ihm zurückgestoßen worden, als Zaboj seinen Genossen zurief:

»Laßt ihn laufen! Kommt, wir wollen die Inschrift an seinem Hause lesen.«

Brüllend erwiderte der Chor: »Zum deutschen Haus.« Die Harmonika setzte ein: »Tod und Hölle allen Feinden,« und den Ringplatz aufwärts zog die Schar weiter. Ein jeder hatte im Vorbeimarschieren ein Schimpfwort bereit. Katschenka war nicht mehr an der Spitze zu sehen.

Als die letzten vorüber waren, sagte der Arzt:

»Die Herrschaften sind sehr freundlich; sie schenken uns das Leben und wollen nur die Inschrift an Ihrem Hause vernichten.«

»Solange ich lebe, nicht!« rief Anton und eilte dem Haufen nach. Die Freunde folgten ihm.

Links hinter der Häuserreihe über die kahlen Felder hinweg eilten sie zum Steinbruch. Und auf dem schmalen Steige führte Anton die andern an der Höhle vorüber durch die Hintertür ins Haus. Anton griff nach einem Jagdgewehr, ein zweites reichte er dem Lehrer. Der Arzt faßte mit einem Fluch nach dem schweren Feuerhaken. So stiegen sie ins erste Stockwerk hinauf. Als sie die Fenster aufrissen, langte auch eben der Zug vor dem Hause an. Und schon flog der erste Stein gegen die verhaßte Inschrift.

Anton und der Lehrer legten an und der erste schrie, daß er das Toben des Haufens übertönte:

»Ich schieße, wenn ein Stein uns trifft!«

Plötzlich wurde es unten still. Die andern Fackeln waren erloschen, nur noch zwei Stummel verbreiteten ein trübes Licht. In dem rötlichen Scheine konnte Anton wahrnehmen, wie Zaboj seinen Vater, Katschenka ihren Bräutigam zurückzudrängen suchten. Unter Scherzen redeten die Gendarmen den Leuten zu, nach Hause zu gehen.

Da rief der alte Svatopluk:

»Nieder mit den Deutschen, fort mit der Inschrift,« und tausendstimmig antwortete das Echo dem Patrioten. Ein Dutzend Kieselsteine flogen gegen das Haus und zertrümmerten einige Scheiben. Das Gelächter der Menge mischte sich in das Klirren des Glases. Noch eine der Fackelstummeln war erloschen. Im letzten Scheine tauchte der Adjunkt des Bezirkshauptmanns auf; er drückte den Führern der Bewegung die Hände und beschwor sie im Namen der guten Sache, keine Gewalttat zu begehen. Man hörte auch die Stimme Katschenkas weinen und flehen. Plötzlich rief der alte Svatopluk auf tschechisch:

»Wir wollen dem Kerl nichts tun, aber die Inschrift muß herunter.«

»Schlagt mit dem Morgenstern den Mörtel ab,« rief es aus der Menge, und »Slawa!« brüllte der alte Svatopluk.

»Ich bin der Längste unter euch. Stützt mich, und ich will's besorgen.«

Svatopluk ließ die Krücken fallen. Zaboj und der Lehrer faßten ihn, jeder unter einer Schulter, und hielten ihn stramm aufrecht. Er riß dem jubelnden Petr den Morgenstern aus der Hand und hob ihn hoch empor.

Anton und der deutsche Lehrer blieben im Anschlag und rührten sich nicht.

Jetzt holte Svatopluk weit aus. Krachend schlug der Morgenstern gegen die Hauswand.

In diesem Augenblick krachte auch das Holz. Die alte Stange des Dreschflegels brach von dem Stoße mitten entzwei, die Hussitenwaffe fiel schwer nieder und schlug den letzten Fackelstumpf aus der Hand des Petr.

Totenstille folgte. In der plötzlich verfinsterten Nacht sah man nur die Gewehrläufe immer noch drohend aus den schwarzen Fensterhöhlen schimmern.

Eine abergläubische Angst flog durch die Menge, als der symbolische Morgenstern zerbrach.

»Es ist genug! Gehen wir nach Hause!«

Anton erkannte die Stimme des Adjunkts.

»Nach Hause!« wiederholten die Weiber und viele Männer.

Plötzlich setzten sich die hintersten in Bewegung. Um Svatopluk erhob sich ein Murren. Da stimmte jemand das feierliche alte Schlachtlied der Hussiten an, das wie ein Gebet zum Himmel tönte und die Engelscharen herbeizurufen schien zum Schirme gegen die Pfaffen und Rom.

Der ganze Haufe machte allmählich kehrt und fiel in den Gesang ein. Viele verliefen sich; doch einige hundert Menschen marschierten bis auf den Ring zurück, umringten dort die Marienstatue und sangen zu ihr empor das ketzerische Hussitenlied bis auf die letzte Strophe.

Dann schwang sich Zaboj auf einen Prellstein des Sockels und hielt von da hinunter im frostigen Dunkel der Nacht eine begeisterte Ansprache an die Patrioten von Blatna.

Fünftes Kapitel

Am nächsten Morgen erstattete Anton ans Gericht die Anzeige über die Ereignisse der verflossenen Nacht. Umsonst riet ihm der Bezirksrichter mit sauersüßem Lächeln, eine Sache nicht weiter zu verfolgen, in welcher der Verletzte sehr leicht als der Angreifer erscheinen könnte. Umsonst baten der Arzt und der alte Pfarrer, er möchte Frieden halten; Anton verlangte sein Recht. Er wußte nicht, wie jung er war.

Die Zeugen wurden vernommen, und nach wenigen Tagen hatte Anton sich vor demselben Bezirksrichter zu verantworten.

Er habe friedliche Leute mit einer gefährlichen Waffe bedroht; das Volk, das einer harmlosen Freude über eine wichtige kaiserliche Entschließung Ausdruck gab, habe nichts Böses beabsichtigt. Die Drohungen einzelner Schreier seien nur gegen eine Inschrift gerichtet gewesen, eine Inschrift aber sei kein Körper, kein Wertgegenstand, den man mit Waffengewalt verteidigen dürfe. Übrigens täte Anton Gegenbauer gut daran, die Inschrift freiwillig zu entfernen, da sie doch nur zu Haß und Verachtung gegen die treue tschechische Nation und gegen die kaiserliche Regierung aufreize.

Und Anton Gegenbauer mußte wirklich noch froh sein, daß die Sache im Sande verlief und er nicht für den Schutz seines Hauses noch obendrein als Aufrührer verhaftet wurde.

So weit ging man nicht, aber es war doch kein behagliches Leben, das man die guten Deutschen in Blatna seit der Berufung einer slawischen Regierung führen ließ. Der Feind hatte alle Scheu verloren, und am hellen, lichten Tage wurde Krieg geführt gegen die vier Menschen, welche es am 6. November gewagt hatten, anderer Meinung zu sein als die glorreichen Herren von Böhmen.

Sie durften sich nach wie vor im Herrenstübchen versammeln, in welches sie an jenem Abend zurückgedrängt worden waren, aber auch hier ließ man sie nicht in Ruhe, und es bedurfte oft der persönlichen Hilfe des alten schlauen Gastwirts, damit ihnen ihr Essen und ihr Bier vom patriotischen Kellner mürrisch genug hereingebracht würde. Petr hätte den deutschen Gästen am liebsten das Haus verboten. Und er drohte damit oft für die Zeit, wo er und Katschenka die Zügel führen würden.

Diese Aussicht schien jedoch der Ungeduld der Patriotenliga nicht nahe genug. Es war auch einfacher und durchgreifender, wenn man die Deutschen gleich aus der Stadt vertrieb; dann waren sie auf die höflichste Weise auch aus dem Wirtshause entfernt, und Schlag auf Schlag, rascher, als es einer von ihnen ahnen konnte, kamen die Veränderungen, welche im öffentlichen Interesse die Versetzung von Menschen notwendig machten, die zufällig Deutsche waren.

Die neue Regierung war kaum acht Tage im Amte, als der alte Pfarrer bereits durch ein Schreiben aus der Königgrätzer bischöflichen Kanzlei in den Ruhestand versetzt wurde. Die deutsche Predigt sei für Blatna kein Bedürfnis mehr, man müsse dem Volke seinen Glauben in seiner Muttersprache ans Herz legen. Und da in Blatna mit Ausnahme von zwei oder drei gottlosen Schreiern niemand eine deutsche Predigt verlange, so solle sich der geistliche Herr Bruder von der schweren Arbeit in dem Weinberge des Herrn zurückziehen und den Rest seiner Tage im beschaulichen Dienste verbringen. Ein deutsches Kloster im Gebirge wurde ihm als künftiger Aufenthalt angewiesen. Der Brief war in tschechischer Sprache abgefaßt.

Es war ein trauriger Abend, als der Pfarrer von seinen Freunden Abschied nahm. Er erzählte zum letzten Male seine liebsten Geschichten von nichtsnutzigen Mönchen und vorwitzigen Nonnen und bat, ihn nicht zu vergessen.

Seine Stimme zitterte, als er dem Arzte und Anton zum letzten Male die Hand reichte; er beschwor sie bei seinen weißen Haaren, keinen Groll im Herzen zu tragen. Auch er nehme sein Kreuz geduldig auf sich.

»Es wird mir ja recht gut gehen, und ich will nicht klagen; nur die weltlichen Bücher werden mir dort recht abgehen, und auch die Wiener Zeitungen möchte ich hie und da einmal lesen. Sie lieben ja unsere Religion nicht, aber sie sind lustig geschrieben. Wenn Sie mir nur einmal ein Buch schicken könnten, ein Buch mit kurzweiligen Geschichten, dann wickeln Sie's ja nur in ein Zeitungsblatt ein. Wenn es auch ein paar Wochen alt ist. Ich werde viel freie Zeit im Kloster haben, ja, lieben Freunde, und das Wetter ist rauh dort oben im Gebirge, monatelang werde ich in meiner Zelle hocken müssen.«

Vierzehn Tage länger dauerte es, bevor auch der Lehrer versetzt wurde.

Er war in der Tat in Blatna überflüssig geworden. An jedem Tage wurden einige Kinder aus der deutschen Schule herausgenommen und in die tschechische gesteckt. Die Eltern waren jene Hausbesitzer und Ackerbürger, welche sich als gehorsame Untertanen sofort der neuen Richtung angeschlossen hatten, sich aber selbst in der neuen Sprache gar zu ungeschickt bewegten; sie wollten es den Kindern bequemer machen. Bevor noch der letzte deutsche Knabe aus seiner Schule genommen war, erhielt der deutsche Lehrer schon den Befehl, sich nach einem kleinen Orte an der Grenze zu begeben, und dazu die Ermahnung, sich niemals um die Wahlen zu bekümmern und keine politischen Gedichte zu veröffentlichen.

Als er von den Freunden Abschied nahm, verhehlte er nicht, daß er froh wäre, von Blatna fortzukommen. In seinem Bestimmungsort wohnte kein einziger Tscheche.

Der Arzt lachte zu dieser Mitteilung bitter auf und sagte in seiner satirisch übertreibenden Weise:

»Was nicht ist, kann werden. Und wenn morgen ein tschechischer Scherenschleifer durch Ihren neuen Wohnort zieht, so wird man einen tschechischen Bezirksrichter für nötig halten, weil der Scherenschleifer vielleicht stehlen könnte und der Richter ihn in seiner Sprache verhören müßte. Und wenn der tschechische Bezirksrichter erst da ist, so wird er tschechische Predigt und tschechische Schulen verlangen, weil er vielleicht heiraten, viele Kinder bekommen könnte und diesen der Unterricht und die Glaubenslehre nicht verkümmert werden darf. Und wenn erst die tschechische Schule für die zukünftigen Kinder des Scherenschleiferrichters gegründet ist, dann wird plötzlich kein Geld für die deutsche Schule da sein und Sie werden weiter wandern müssen, immer weiter, bis Sie im letzten deutschen Gebirgsneste Ruhe finden, wo kein tschechischer Scherenschleifer mehr hinkommt, weil die Leute zu arm sind, um ein Werkzeug im Hause zu haben.«

Der alte Arzt war aufs tiefste erbittert. Ihn konnte man nicht versetzen wie den Pfarrer und den Lehrer, hatte er geglaubt. Aber man hatte ihn in Bann und Acht getan seit der Stunde, da er mit den übrigen Deutschen ins Herrenstübchen übergesiedelt war. Die ganze Stadt lief zum Sohne des Kaufmanns, der vor kurzem Doctor medicinae geworden war und sich in seiner Vaterstadt niedergelassen hatte.

Es war ein junger, unerfahrener Mensch; auch kümmerte er sich mehr um die politische Gesinnung seiner Mitbürger als um ihre Krankheiten. Dennoch wurde in Blatna die Parole ausgegeben, daß der Sohn des patriotischen Kaufmanns den Deutschen verdrängen müßte. Selbst zu kranken Kindern wagten besorgte Mütter nicht den alten Arzt zu rufen, zu dem sie doch allein Vertrauen hatten. Nur im Dunkel der Nacht zog wohl eine weinende Frau seine Klingel, erzählte von ihrem sterbenden Mädchen, zeigte die Rezepte des jungen Doktors und bat flehentlich um heimliche Hilfe.

Wie zu einer verfolgten Hexe, an deren Zaubermittel man glaubte, schlich man ungesehen zu ihm, aber bei Tage grüßte ihn niemand. Er hatte wohl noch seine Kranken in den deutschen Dörfern bis tief ins Gebirge hinein; aber für diese Tätigkeit war Blatna ungünstig gelegen, und er sprach schon davon, sich im Mittelpunkte dieser Bauernpraxis, in Oberndorf, niederzulassen.

»Es ist eine Lust zu leben!« rief er, als er nach des Lehrers Abgang mit Anton im Herrenstübchen saß, zum ersten Male unter vier Augen. »Es ist eine Wonne, ein Deutscher in Böhmen zu sein! Wir haben das Land zu etwas gemacht, und dafür werden wir jetzt hinausgedrängt in die Wälder und Felsen, die sollen wir urbar machen, dafür sind die Herren Tschechen zu gut! Ein Stück Weltgeschichte! Wir werden hinausgetrieben aus dem schönen, fruchtbaren Lande und aus den Städten, die wir gebaut haben. Aber an den Grenzen dürfen wir uns verkriechen, wo Steine wachsen und wo die Füchse einander gute Nacht sagen. Na, als Arzt hätte ich ja nicht zu klagen, denn die Gegenden, die man uns Deutschen noch überläßt, sind ja die ungesündesten.«

Anton war noch wilder erbittert als der Arzt. Seine Freunde vertrieb man, ihn wollte man vernichten. Schon seit Jahren waren die Rübenbauern schwierig geworden, weil aufrührerische Reden gegen die deutschen Fabrikherren gehetzt hatten. In den Zuckerfabriken werde ein sündhaftes Geld verdient, der blutige Schweiß des tschechischen Ackermannes klebe an den Banknoten in den deutschen Kassen. Vereinigung der Kräfte sei die Losung der Zeit, und die Bauern könnten reiche Leute werden, wenn sie nationale Zuckerfabriken errichteten.

Bisher hatten diese Reden nicht verfangen, weil die Bauern mißtrauisch waren und auch kein bares Geld liegen hatten. Die neue Ära jedoch hatte auch nationale Banken über Nacht emporschießen lassen, und täglich sah man den Bezirkssekretär Zaboj Prokop mit Prager Patrioten verkehren, welche mit Geld und Plänen in der Tasche gekommen waren, um den Landesfeind Anton Gegenbauer zu stürzen. Auch diese Dinge entwickelten sich mit rätselhafter Schnelligkeit.

Heute wurden die ersten Verträge von Antons Rübenbauern gekündigt, und morgen war schon das Land angekauft, auf welchem die neue Aktienzuckerfabrik stehen sollte. Gerade der alten Fabrik gegenüber, hinter der Kapelle wurde der Bauzaun geführt, und Anton sollte den Feind aus der Erde wachsen sehen.

Er wußte wohl, daß das Beginnen der Leute Wahnsinn war. Zurzeit konnten kaum die sicheren, alten Unternehmungen aufrecht bleiben. Die neue Fabrik mußte unter solchen Umständen, bei den übermäßigen Verwaltungskosten und dem Mangel an barem Gelde bankrott sein, bevor der Betrieb recht eröffnet werden konnte. Aber er konnte sich auch nicht verhehlen, daß schon der Versuch einer solchen Gründung genügte, um ihn geschäftlich zu vernichten.

In trüben Gesprächen und noch trüberen Gedanken vergingen den beiden letzten Deutschen die Tage. Und Anton sah bald völlige Einsamkeit über sich hereinbrechen. Der Arzt dachte immer ernstlicher daran, den Schauplatz des Kampfes zu verlassen. Nur gar zu feige wollte er nicht sein. Er wollte ein ruhiges Bekenntnis ablegen und der Stadt erst den Rücken kehren, wenn er bei der neuen Abgeordnetenwahl seine Stimme gewissenhaft für den deutschen Mann abgegeben hatte.

Gleich nach dem Sturze der alten Regierung waren die Parlamente aufgelöst worden. Die Neuwahlen für den böhmischen Landtag waren ausgeschrieben und sollten wenige Tage vor Weihnachten stattfinden.

Im Bezirk Blatna war bisher immer ein deutscher Abgeordneter gewählt worden; die Bezirksstadt selbst hatte zwar von Jahr zu Jahr eine größere Anzahl von tschechischen Wählern an die Urne geschickt, aber das gleichfalls von Jahr zu Jahr anwachsende Stationsstädtchen Oberndorf wählte fast ohne Ausnahme deutsch. So erhielten zwar die Tschechen allmählich eine große Stimmenzahl, aber bisher war die deutsche Partei noch nie in der Gefahr gewesen, zu unterliegen.

In diesem Jahre, wo das Renegatentum frecher als sonst auftrat, schien dennoch ein Zusammenfassen aller Kräfte geboten. Keine Stimme durfte verloren gehen. Wenn der Arzt sich beeilte, schon jetzt nach Oberndorf zu übersiedeln, so ging seine Blatnaer Stimme verloren und dort war er am Entscheidungstage noch nicht wahlberechtigt. Er mußte ausharren; vielleicht hing von der einzigen Stimme der Ausfall ab.

Und es gelang. Auch diesmal noch unterlag der Tscheche.

Der deutsche Abgeordnete, einer der bekanntesten Reichsratsredner, wurde mit einer geringen Mehrheit gewählt, und der Arzt hatte die Genugtuung, daß seine Stimme zum schweren Siege beigetragen hatte.

Am Tage nach der Wahl kutschierte er auf seinem leichten Wägelchen wie alle Tage fort, als ob er nur einen Krankenbesuch auf dem Dorfe zu machen hätte. Über schon vierundzwanzig Stunden später war es im Städtchen bekannt, daß er nicht wiederkommen werde, daß er sich im nahen Gebirge, eine Station hinter Oberndorf angesiedelt habe. Und wo auch Anton sich blicken ließ, da sah er höhnische Gesichter und hörte er höhnende Worte: »Ob der Herr Doktor auch für ihn Wohnung nehmen sollte?«

Anton ging den ganzen Tag trotzig einher und suchte des Abends zur gewohnten Stunde das Herrenstübchen auf. Es wird drinnen einsam sein, aber er wird sich nicht ergeben, er wird ausharren auf dem Posten, den das Schicksal ihm anvertraut hatte.

Als er durch die Wirtsstube ging und mit leichtem Gruße an den Honoratioren vorüberschreiten wollte, fiel ihm die Schweigsamkeit der Herren auf, besonders das dumm-pfiffige Gesicht Petrs. Er gieng ruhig weiter. Plötzlich stutzte er. An der Tür zum Herrenstübchen klebte ein großer Bogen Papier; der trug oben ein schwarzes Kreuz und darunter die Worte:


Hier ruht
der letzte Deutsche
von
Blatna.

Anton überschaute mit blitzenden Augen den ganzen Tisch. Man hörte keinen Laut. Dann riß er den Bogen mitten durch, betrat das Herrenstübchen und schloß mit zitternder Hand, aber mit scheinbarer Ruhe die Türe hinter sich zu.

Drinnen aber brach er auf einem Stuhl zusammen, und Tränen standen ihm nah. Mit den Augen seines Vaters hatte er immer in seinen Volksgenossen, in den Deutschen, das Herrenvolk von Böhmen gesehen; es schien ihm unerträglich, die Niederlage erleben zu müssen. Lebendig begraben war er hier, lebendig begraben in diesem Stübchen, wie in der verdammten Stadt. Er konnte sich nicht frei bewegen, er konnte nicht frei atmen. Wie ein Sargdeckel drückte die Luft auf ihn nieder, er wollte sich befreien, aber die Kraft seiner Arme reichte nicht aus, um diesen Berg von Haß zu durchbrechen.

Die Ellbogen aufgestemmt, das Gesicht in den Händen, brütete er vor sich hin. Dann schlug er mit der geballten Faust auf den Tisch. Er lebte ja noch, er brauchte sich nicht fortschicken zu lassen, wie der Pfarrer und der Lehrer. Er wird seinen Posten nicht verlassen, wie der Arzt, in schimpflicher Flucht.

»Hier lebt der letzte Deutsche von Blatna. Aber er ruht nicht!«

Er lächelte bei dem Gedanken, daß man ihn hier wirklich lebendig begraben wollte und ihm nicht einmal sein Krüglein Bier hereinbrachte. Doch der Scherz dauerte ein wenig lange und wurde abgeschmackt. Anton war endlich zornig geworden über die kleinliche alberne Bosheit.

Da schlich der alte Stephan Silber herein, brachte Bier und eine gute Schüssel und schloß die Tür hinter sich.

»Haben ein wenig warten müssen, Herr Gegenbauer!« sagte er, während er den Tisch ordnete. »Mein Sohn hat sich wollen erlauben, einen Witz zu machen. Ich hab's geduldet, solange das Bier nicht gut war. Es war bisher nur eine Neige, Herr Gegenbauer; ich habe meinem Peter gehorcht, bis frisch angesteckt war.«

Als Anton nichts erwiderte, rückte der Wirt noch einmal am Besteck und sprach leise:

»Sie werden sich auch ergeben müssen, Herr Gegenbauer; wir sind die Schwächeren. Ich habe mich gefügt, aber glauben Sie mir, ich möchte diese Tschechen vergiften alle miteinander, die Schufte!«

»Die Tschechen sind keine Schufte, sondern nur unsere Feinde,« rief Anton mit ernster Stimme. »Ein Schuft aber ist jeder Deutsche, der sich ihnen verkauft oder aus Feigheit ergibt.«

Mit traurigem Kopfnicken zog sich der Wirt zurück. Anton nahm gedankenlos sein Abendbrot zu sich und starrte dabei die Wand an, wo seit gestern ein neues nationales Bild hing, eine Bohemia neben einem ungeheuren, gefräßigen zweischwänzigen Löwen.

Plötzlich trat der Wirtssohn herein. Er brachte zwei schäumende Krügel, setzte das eine vor den Gast nieder und nahm mit dem andern neben ihm Platz.

»Ich komme zu Ihnen als Freund,« sagte er auf deutsch. Er hatte es nicht verlernt, er sprach es sogar in der unverfälschten mährischen Mundart. Unbekümmert um Antons Schweigsamkeit führte er ihm zu Gemüte, daß man in Böhmen Tscheche sein oder auswandern müsse.

Der Petr war gar nicht so dumm, wie er sich anstellte. Ganz geschickt wußte er die Vorteile aufzuzählen, welche der Deutsche durch seinen Übertritt ins tschechische Lager erwarb. Der deutsche Renegat hätte es besser als der Tscheche selbst. Und gar ein so angesehener Mann wie der Gegenbauer-Anton könnte seine Bedingungen stellen. Er konnte vielleicht jetzt noch das Aktienunternehmen, das für ihn so gefährlich war, am Entstehen verhindern, konnte das viele Geld seiner eigenen Fabrik zuleiten, wenn er nur in einem Punkte nachgab, wenn er bei der Nachwahl – der Gewählte werde die Wahl kaum annehmen – dem Tschechen seine Stimme gab.

Anton schwieg noch immer, und Petr suchte nach neuen Überredungskünsten. Da trat Zaboj Prokop ein, setzte sich mit an das Tischchen und sagte zu Anton:

»Sie kennen dich schlecht. Sie haben dir einen goldbeladenen Esel geschickt, um dich zur Kapitulation zu zwingen.«

Petr rückte von seinem zukünftigen Schwager fort. Er sah dümmer aus als je, da er jetzt wieder das Wort nahm, und sagte:

»Verzeih', Zaboj, daß ich Deutsch spreche, trotzdem wir auf böhmischem Boden stehen, aber dieser Gegenbauer versteht ja seine eigene Muttersprache nicht. Herr,« wandte er sich an diesen und schielte von Zeit zu Zeit ängstlich nach Zaboj, »Herr, als ein gebildeter Mensch sollten Sie eigentlich Gott danken, daß Sie als Böhme auf die Welt gekommen sind. Das ist die größte Ehre, denn die Böhmen sind das älteste Volk und zur Weltherrschaft berufen. Nicht wahr, Zaboj? Und alles Gute auf der Welt kommt von den Böhmen. Sie haben die Buchdruckerkunst erfunden, haben Amerika entdeckt, und Luther soll auch ein Böhme gewesen sein. Nicht wahr, Zaboj? Das heißt, vielleicht, man glaubt es. Wenn er auch kein Böhme war, so hat er's doch nur Hus nachgemacht. Und Goethe ist jedes Jahr nach Böhmen gekommen, um da dichten zu lernen, und hat unsere Volkslieder abgeschrieben. Nicht wahr, Zaboj? Und die lateinischen Bücher des Homer waren gar nicht lateinisch, sondern böhmisch geschrieben. Und Rom und Paris und London sind von Böhmen gegründet worden. Und Berlin und Wien sind heute noch slawische Städte. Nur daß man uns nicht aufkommen läßt. Nicht wahr?«

Zaboj gab dem Schwager einen kräftigen Stoß in die Seite.

»Mach, daß du fortkommst,« sagte er, »du hast noch nicht genug gelernt.«

Als die beiden Jugendfreunde allein waren, streckte Zaboj die Hand über den Tisch hinüber. Anton aber schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein, dem Kerl, der eben hinausging, will ich meinetwegen die Hand reichen, denn er ist ein Narr und kann uns nicht schaden. Du aber bist unser schlimmster Feind, zwischen uns ist keine Versöhnung möglich.«

Zaboj hatte die Hand langsam zurückgezogen und drehte, um seine Verlegenheit zu verbergen, an seinem Schnauzbart. Nach langem Stillschweigen sagte er:

»Es wäre eine Beleidigung für dich, wenn wir dich durch Vorteile zu uns herüberziehen wollten. Denn du bist ein edler Deutscher. Und an einem solchen ist uns mehr gelegen als an tausend Lumpen oder Narren. Aber du bist klug und hast ein Herz: wer dich gewinnen will, muß zu deinem Verstand und zu deinem Herzen sprechen.«.

Anton machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und sprach:

»Gib dir keine unnütze Mühe, ich werde nie verstehen, was es auch nur heißen soll, sein Volk verleugnen; und schmeicheln mußt du mir schon gar nicht!«

Zaboj aber fuhr unbekümmert fort:

»Sein Volk verleugnen? Wer verlangt denn das von dir? Du siehst, wir reden in deiner Sprache mit dir, weil du die unsere nicht verstehst. Was wir von dir und euch Deutschen wollen, ist ja nichts als ein friedliches Nebeneinanderleben. Ihr sollt einsehen lernen, daß wir die Herren in unserem Lande sein müssen, aber wir lieben die Freiheit wie ihr. Pfaffen und Junker benutzen wir nur so lange, als wir sie bei Hofe brauchen. Haben wir erst unser Ziel erreicht, dann soll die goldene Freiheit mütterlich beide Stämme umfassen und das freie böhmische Reich wird auch den Deutschen eine liebe Heimat sein.«

Zaboj hatte sich erhoben und öffnete die Arme.

»Alter Freund, Bruder, vernichte nicht dein Leben in einem hoffnungslosen Kampfe! Was ist uns Politik, was ist uns Nationalität, wenn die gleiche Liebe zur Freiheit uns verbindet.«

Anton war sitzen geblieben, hatte den Kopf auf die rechte Hand gestemmt und lachte bitter vor sich hin.

»Ihr Tschechen versteht alle hübsch zu singen,« sagte er. »Aber ich glaube den Worten nicht mehr, sind auch die Melodien noch so schön.«

Anton dachte an Katschenkas Stimme. Zaboj blickte ihn unter seinen buschigen Brauen scharf an und verschränkte die Arme über der Brust. So schien er eine Weile mit einem schweren Entschlusse zu ringen. Noch einmal streckte er dem Deutschen mit flehenden Blicken die Arme entgegen, dann ließ er sie achselzuckend wieder sinken, und sich plötzlich dicht neben Anton setzend, sagte er:

»So scheiden wir denn für immer, und ich muß dich achten. Ich will dir jetzt die ganze Wahrheit sagen. Ich habe eigentlich gar nicht gehofft, dich zu überreden, ich kenne dich, du bist ein Ehrenmann. Was liegt uns auch an einer Stimme, an einem Menschen? Wie der siegreiche Feldherr einen einzigen von den Feinden gern leben läßt, damit er die Kunde von der verlorenen Schlacht nach Hause trage, so bist auch du der letzte Deutsche von Blatna und ein lebendiger Zeuge unseres Sieges. Nein, ich will ganz ehrlich sein, nicht als Patriot, sondern als Mensch bin ich zu dir gekommen, weil mich ein armes Mädel dauerte, meine Schwester Katschenka; aber es ist ja umsonst!«

Anton war rot geworden. Er wollte aufspringen und forteilen, aber innige Teilnahme nur, wie er glaubte, zwang ihn zu bleiben, und er fragte zögernd:

»Was ist mit Katschenka? Ich wünsche ihr alles Gute.«

Zaboj senkte seine Stimme zu dumpfer Trauer und sagte, während er scharf auf jede Miene Antons achtgab:

»Katschenka hat sich jahrelang dem Willen des Vaters widersetzt, der sie mit Petr verloben wollte. Sie hat einen anderen im Herzen getragen, du weißt schon, wen. Kürzlich, an unserm Siegesfest, hat sie im Taumel eingewilligt, aber sie ist an jenem Abend wie gebrochen nach Hause gekommen. Sie will von dem aufgedrungenen Bräutigam nichts wissen und hätte ihn nicht mehr angesehen, wenn sie den Vater nicht fürchtete. Meine arme Schwester ist in Verzweiflung, denn sie liebt einen Deutschen.«

Jeder Tropfen Blut war jetzt aus Antons Wangen gewichen. Bei den letzten Worten schoß es ihm wieder glutrot ins Gesicht, und flüsternd fuhr Zaboj fort:

»Vor dem Vater fürchtet sie sich. Auch ich bin nicht ihr Vertrauter, aber sie weiß, daß ich im Herzen dein Freund bin, und so zeigt sie mir ihr wahres Gesicht. Mit trüben Blicken, mit Rändern um die schönen Augen schleicht sie an mir vorüber, ihren Bräutigam haßt, ihre Freundinnen flieht sie, bei Nacht höre ich sie in die Kissen hineinschluchzen und deinen Namen rufen, und des Morgens erscheint sie vor mir bleich und stumm, wie eine Anklägerin, als ob ich sie um ihr Lebensglück gebracht hätte. Und unaufhörlich scheint sie mich mit ihren Tränen zu fragen, ob du sie nicht mehr liebst. Die arme Katschenka.«

Anton sprang auf und mit ihm erhob sich Zaboj. Anton rang nach Worten. Er hörte etwas leise Theatralisches aus den Sätzen und Gebärden Zabojs heraus; ob er aber wollte oder nicht, er stimmte sich wahrhaftig auf den gleichen Ton. Er preßte beide Hände gegen die Brust, strich sich dann über die Stirn und sprach endlich rauh und in kurzen Absätzen:

»Es ist nicht deutsche Sitte, sich über seine Liebe zu unterhalten. Auch mit dir tu' ich's nicht. Es ist auch nicht deutsche Sitte, sich mit dem zu verloben, den man nicht liebt. Was aber mich betrifft, ich gebe keine Rechenschaft; mein Haus könnt ihr stürmen, wenn ihr die Übermacht habt, in mein Herz sollt ihr nicht dringen. Und noch eins! Selbst wenn ich Katschenka liebte, niemals dürfte der Trauring meiner Mutter an den Finger des unweiblichen Weibes kommen, das mit dem Pöbel durch die Straßen zieht und das sich nicht für Gold, aber für einen Meineid dem ersten besten Renegaten in die Arme wirft; ein Deutscher kann auch ein tschechisches Mädchen lieben, aber keine Bacchantin. Wie gesagt, ich habe keine Rechenschaft zu geben, und du und dein Haus, ihr stehet weit ab von mir, ich habe nichts mehr mit euch gemein.«

Sechstes Kapitel

Zaboj kehrte durch die eisige Nacht fröhlich nach Hause zurück. Auf der Brücke hinter dem heiligen Nepomuk kam ihm Petr entgegen. Der hatte noch ein Stündchen mit seiner Liebsten plaudern und ihr sein Gespräch mit Anton wiederholen wollen, war aber nicht hereingelassen worden. Er klagte über die Lieblosigkeit seiner Braut, wickelte sich aber bald fester in seinen nationalen Radmantel und eilte fort.

Zaboj ging nun rasch an dem gefrorenen Dorfteiche vorüber, seinem Hause zu. Als er durch die niedrige Haustür in den finsteren Gang trat, hörte er seinen Vater mit grollender Stimme schelten. Er trat rasch ein. In der geräumigen kahlen Stube, an deren weißgetünchten Wänden nur zwei Heiligenbilder und der aus einer Zeitung herausgeschnittene schlechte Holzschnitt eines Tschechenführers klebten, verbreitete eine alte Öllampe, die vom Deckbalken niederhing, helles Licht und ein großer Kachelofen allzuviel Wärme. Der alte Svatopluk lag auf der Ofenbank ausgestreckt, die eine Hand hatte er unter den Kopf gelegt, mit der andern hielt er eine kurze Pfeife dicht am Munde, während er seine Tochter mit Vorwürfen überschüttete.

Katschenka stand dicht unter der Hängelampe vor einem großen Küchenbrett, auf dem sie das künstliche Geflecht des Weihnachtsstriezels herstellte. Aus dem großen Trog zu ihrer Linken, unter dem zinnernen Weihwasserbecken, nahm sie den Teig. Als die Tür geöffnet wurde, hob sie erschreckt die Augen, in denen Tränen schimmerten. Zaboj hatte übertrieben, als er Anton ihr schlechtes Aussehen schilderte. Schön war sie, wie nur eine; aber heiß sprach der Kummer aus ihren Augen.

Zaboj grüßte die Schwester und rückte dann einen Dreifuß neben seinen Vater. Er erzählte schnell und lebhaft sein Gespräch mit Anton.

»Du hast recht gehabt,« schloß er. »Mit allen anderen Versuchungen ist diesem Menschen nicht beizukommen. Aber er ist in unsere Katschenka verliebt und wird ihr manches zu Gefallen tun.«

»Ihre Verlobung mit Petr war eine Dummheit,« erwiderte der Vater. »Aber wir können nichts dafür, wir konnten damals nicht wissen, wie leicht uns der Sieg gemacht werden würde. Damals schien es uns nicht möglich, den Hauptmann der Deutschen selber zu fangen. Jetzt steht er allein, und es wäre eine große nationale Tat, wenn dieser Gegenbauer durch eine Heirat mit Katschenka unser würde. Außerdem werden wir dann die Herren vom Wolfsberg und könnten drüben in einem steinernen Hause wohnen, und auch Katschenka wäre mit dem Tausch zufrieden.«

Zaboj runzelte die Stirn:

»Vater!« sagte er. »Es handelt sich um den Sieg unseres Volkes. Nicht um unseren Wohlstand und nicht um Katschenkas Glück.«

Das Mädchen flocht gleichmütig am zweiten Kuchen weiter, als ginge sie das Gespräch der Männer nichts an; doch ihre Augen brannten.

Svatopluk ließ die Beine von der Bank heruntergleiten und setzte sich seinem Sohne gegenüber.

»Narr und Träumer!« sagte er. »Was nutzt uns der Sieg unseres Volkes, wenn wir den Deutschen nicht ihre Meierhöfe und ihre Fabriken fortnehmen können, und wie können wir unserem Volke besser nützen, als indem wir einen jeden reich werden lassen? Wenn jeder einzelne Tscheche sich einen Deutschen zum Ausplündern aussucht und jedes einzelne tschechische Mädchen einen Deutschen in sich verliebt macht, so haben wir für die nationale Sache mehr gewonnen, als alle Regierungen und Pfaffen uns jemals gewähren können. Es ist sehr verdienstvoll, für seine Nation Gut und Blut zu opfern; aber noch verdienstvoller ist es, das Gut des Feindes an sich zu bringen.«

Lachend erhob sich Svatopluk. Leicht auf eine Krücke gestützt, ging er in der Stube auf und nieder. Noch in seiner gebeugten Haltung mußte er dem Deckbalken jedesmal mit dem Kopfe ausweichen. Endlich blieb er vor Katschenka stehen, welche das dritte Geflecht vollendet hatte und eben in jeden Kuchenteig einen Kreuzeinschnitt machte, damit das Gebäck gut gerate; vorher hatte sie die Fingerspitzen ins Weihwasser getaucht.

»Katschenka,« sagte der Vater, »hättest du Lust, deinen Deutschen zu heiraten?«

Das Mädchen antwortete nicht gleich. Sie wischte die Hände an der Schürze ab und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen in die finstere Ecke der Ofenbank. Sie ließ die Arme müde sinken und lehnte den Kopf zurück.

»Antworten sollst du!« schrie der Alte.

»Laßt mich in Ruh,« sprach Katschenka und knöpfte langsam die rote Jacke zu, die sie während der Arbeit oben am Halse geöffnet hatte. Dann schob sie die Ärmel langsam zurecht und sagte:

»Ich bin eine gute Patriotin, das habt ihr gesehen; aber ich bin doch ein Mädchen, das ein Herz im Leibe hat, und ich lasse mich nicht so hin und her stoßen.«

Und plötzlich stürzte sie in die Knie, warf den Kopf auf die Bank und schluchzte laut.

Svatopluk setzte sich neben sie nieder, suchte ihren Kopf in die Höhe zu heben und sagte gutmütig:

»Wir sehen ja längst, wie dir zumute ist. Du hast unsere Erlaubnis! Mach' dich an ihn heran, er ist ja ohnedies verliebt in dich. Wie sollte er auch nicht, mein schönes Kind! Und wenn alles in Ordnung gebracht ist, so sollst du ganz glücklich sein, du sollst anstatt des dummen Petr den hübschen Anton heiraten und nachher dafür sorgen, daß er langsam deine Sprache lernt und zu uns übergeht, das kann dir gar nicht schwerfallen, denn deine Lieder hast du ihn schon gelehrt.«

Zaboj kauerte noch immer auf seinem Dreifuß. Jetzt rief er herüber:

»Natürlich kannst du nur seine Frau werden, wenn er verspricht, in dem nationalen Kampfe mindestens keine Partei zu ergreifen. Hüte dich, uns zu täuschen! Hüte dich, dein Volk zu verraten. Du weißt, daß wir mit Verrätern kein Erbarmen haben.«

Svatopluk stampfte mit der Krücke auf den Boden.

»Davor sind wir sicher,« rief er. »Katschenka ist eine so gute Slawin wie du und ich. Auch ist sie fromm! Aber hüte dich, Mädchen, die Geliebte dieses Deutschen zu werden, dessen Frau du werden mußt. Du sollst ihn herüberziehen, aber nicht lieben. Tust du's dennoch, Donner und Wetter, dann will ich an dir handeln, wie Gott an jedem Gegner Böhmens handeln sollte!«

Da sprang Katschenka mit einem Satze empor. Mit gerungenen Händen stand sie vor Vater und Bruder, ihre Wangen waren gerötet.

»Hört endlich auf mit euren schamlosen Reden und gebt acht, was ich euch sagen werde!«

Sie hob die rechte Hand und drohte mit den Schwurfingern, man wußte nicht, ob dem Himmel oder ihren Verwandten.

»Ich bin eine Patriotin und ich glaube, ich habe es bewiesen, und wie ich schon einmal meine Liebe zum Opfer gebracht habe, so will ich jetzt dem Vaterlande dienen, wo mein ganzes Herz mit euch den Sieg erfleht. Ich will versuchen, den Anton zu gewinnen für unser Vaterland, für unsere heilige Sache, und ich will vergessen, daß ich ihn ja nur für mich gewinnen will, nur für mich. Aber glaubt nicht, daß ich glücklich sein werde, wenn ich ihn gefoppt habe, wenn er mein Mann ist. Denn es ist nicht recht, es ist nicht recht! Es ist eine Sünde gegen den heiligen Geist meiner Liebe, daß ich auch sie in euren Dienst stelle. Ich habe den dummen Petr mit meinen Augen verlockt, daß er von mir nicht lassen kann, und ich lache darüber. Auch diesen Anton soll und will ich lachend verführen und ihn unglücklich machen, weil mein Volk es so verlangt. Aber ihn liebe ich! Ja, ja: du sollst es hören, Vater, und auch du, Zaboj, ich liebe ihn, und wenn ich mein Herz befrage, so ist dieser einzige Deutsche mir mehr wert als ihr alle miteinander, mehr wert als unser Land und seine heilige Sprache, mehr wert als unsere Kirche, mehr wert als der große Edelstein in der böhmischen Krone. Laßt mich ausreden: ich will mein Herz nicht befragen, ich will keine Verräterin sein. Aber Jesus Maria, es ist nicht recht, daß ich mit ihm spielen will, und es wird sich an uns allen rächen. Ich sehe das Unglück kommen, und wenn es da sein wird, dann denkt an die heutige Stunde.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging das Mädchen auf ihre Kammer. Zaboj blickte düster, aber der Vater lachte ihn aus. Wenn Katschenka vor dem Gegenbauer nur halb so schön und begeistert erschien, so mußte er unterliegen.

Und zufrieden mit dem, was sie jetzt wieder für ihr Volk vorbereitet hatten, legten sich die Männer zur Ruhe nieder.

Das Mädchen hatte nach den körperlichen und seelischen Mühen des Tages eine schlaflose Nacht; und als sie endlich gegen Morgen in Schlummer sank, da gab es böse Träume.

Wohl war sie Antons Weib geworden, wohl saß sie neben ihm im Walde unter dem Weihnachtsbaum, aber in dessen höchsten Zweigen über dem kleinsten Lichtlein saß ein Wachsengel mit einem roten Bart. Das war ihr Vater. Der hielt den alten blutigen Morgenstern in der Hand und schwang ihn drohend über Antons Haupte. Plötzlich brach die Stange ab. Sie wollte schreien und konnte nicht, sie wollte die Waffe auffangen und konnte nicht. Sie vermochte nur zur Mutter Gottes zu beten, und sie sah, wie die Eisenkugel, anstatt zu fallen, sich in krausen Windungen langsam ihrer eigenen Stirn näherte.

Auch Anton schlief nur schlecht in dieser Nacht. Die Lockrufe der Tschechen hatten nur seinen Zorn erregt. Aber das Gespräch mit Zaboj hatte die üppige Gestalt des Mädchens lebendig vor seine Sinne gebracht, und er lauschte durch die schweigsame Nacht hinunter in den Steinbruch, ob nicht aus der Höhle noch einmal die Lieder sehnsuchtsvoll zu ihm emportönten. Er wollte nicht auch sein Herz ertöten! Er hatte anderes genug zu tragen! Wenn das Mädchen nur noch heute ein Zeichen gab, daß sie ihn liebte, dann öffnete er weit sein Haus und seine Arme, und in seliger Lust wollte er den Kampf der Männer vergessen, wollte er den Frieden suchen bei seinem Weibe.

Spät dämmerte der klare Wintertag herauf. Anton wurde aus seinem Morgenschlaf von hallenden Schüssen geweckt. Drüben, wo es mit dem Aktiengebäude nicht schnell genug vorwärts gehen wollte, sprengte man Felsenstücke ab, um sie dem Boden gleichzumachen.

Die klare Sonne und der Anblick des gegnerischen Unternehmens brachten Anton vollends zu sich. Er hatte keinen Ruhetag mehr, seitdem der Bau drüben begonnen hatte und der Sturz von seinem Hause kaum noch abgewendet werden konnte. Was half es ihm, daß die Leiter der Aktiengesellschaft vieles falsch angriffen, daß sie Geld und Boden im großen verschwendeten wie jetzt im kleinen die Dynamitpatronen: nur damit es lauter und öfter knallte. Er arbeitete ja mit fremdem Gelde. Sein Zusammenbruch war früher zu erwarten als der der Gegner, wenn ihm nicht binnen Jahresfrist Hilfe wurde. Und das war schwer. Er brauchte die alten Banken in Prag mit ihrem Gelde, er brauchte zu Hause die tschechischen Bauern mit ihren Rüben. Und beide hielten es unter der neuen Regierung für besser, wenn sie den deutschen Fabrikanten verließen.

Doch Anton wollte bis zum letzten Augenblicke kämpfen. So fuhr er auch heute bei einzelnen großen Rübenbauern umher, die entweder sich weigerten, neue Verträge mit ihm zu schließen, oder die geradezu kontraktbrüchig geworden waren und es auf einen Prozeß ankommen ließen. Wozu hatte man denn jetzt – so dachten sie – tschechische Richter?

Wieder war alle Mühe verschwendet. Ohne etwas erreicht zu haben, kehrte Anton in der frühen Abenddämmerung in seinem Schlitten nach Blatna zurück. Schon strahlte durch die kleinen Fenster zweier Bauernhäuser der Weihnachtsbaum. Als er vor dem Mauthause unter dem Schlagbaum hielt, trat plötzlich Katschenka aus dem Schatten hervor und wünschte ihm einen frohen Weihnachtsabend.

Anton faßte sich und erwiderte ruhig:

»Ich danke dir, ein einsamer Mensch kann nicht sehr fröhlich sein.«

»So komm' zur Mitternachtsmesse!« rief sie mit fast keck blitzenden Augen, dann eilte sie fort.

Anton fuhr zur Fabrik, wo die Arbeiter schon entlassen waren und die Beamten ihn ungeduldig erwarteten. Rasch wurde die Bescherung für sie beendet. Die Männer fühlten sich unbehaglich neben dem trüben Fabrikherrn und eilten zu ihren Familien nach Oberndorf.

Als Anton allein war, versuchte er vergebens, die Weihnachtsstimmung in seinem Herzen zu erregen. Noch vor einem Jahr hatte er den Abend wenigstens mit seinen Freunden im Herrenstübchen verbracht. Sie hatten damals sich selbst verspottet, daß sie ihr Trinkgelage für einen Weihnachtsabend nahmen. Wie verlangte ihn heute nach den treuen Augen des Arztes, nach den begeisterten Versen des Lehrers und selbst nach der salbungsvollen Ansprache und der unvermeidlichen gotteslästerlichen Weihnachtsanekdote des alten Pfarrers. Nun waren sie versprengt, auseinandergejagt wie eine Verbrecherbande. Sie waren ja Deutsche.

Stundenlang saß er noch an der Arbeit, rechnete und schrieb Briefe. Dann ging er nach alter Gewohnheit ins Wirtshaus. Der alte Stephan setzte ihm Karpfen, gebraten und gesotten, vor, weil's der heilige Abend war; Petr ging knurrend um ihn herum, weil Katschenka sich auch heute nicht hatte sprechen lassen. Anton beachtete weder das eine noch das andere, er beschenkte die Leute, wie es Brauch war, und kehrte bald nach Hause zurück.

Es war noch nicht zehn Uhr, er vermochte noch nicht schlafen zu gehen. Er holte aus seinem Kasten Hefte und Papiere, die ihn persönlich betrafen. Er las die Briefe, welche seine Mutter als Braut an den Vater geschrieben, als sie den festen Mann nach einem kurzen, schrecklich endigenden Jugendtraum gefunden und lieben gelernt hatte.

Eine milde, warme Leidenschaft sprach aus jeder Zeile. Und welches Glück atmete aus jeder Antwort seines Vaters. Anton vergoß heiße Tränen. Es war doch gut, daß der Begründer seines Hauses den Zusammenbruch nicht erlebte.

Er blätterte nun in den Briefen, die er einst im Österreichischen selber vom Vater erhalten hatte. Da war anfangs viel von Zaboj und Katschenka die Rede. Und die Warnung vor dem tschechischen Mädchen stand auch dort, wo ihr Name nicht genannt war; Anton vermochte in des Vaters Schrift nicht weiter zu lesen.

Er öffnete die Tagebücher, die er fern vom Hause auf Wunsch des Vaters geführt hatte. Das erste, was er erblickte, war ein getrocknetes Sträußchen von Reseda und Thymian. Er wollte dem Andenken seiner Eltern ein Opfer bringen und steckte es in Brand. Es duftete noch, als die Asche auf der Porzellanschale vor ihm verglomm.

Wo in dem Tagebuch der Abdruck des Sträußchens eingepreßt war, stand ein tschechisches Volkslied, das er aus dem Gedächtnisse niedergeschrieben hatte.

Nun kniest du am Bache und spülest dein Linnen.
»Was trieb nur den Junker so eilig von hinnen?«
Er ging nach der Stadt zu viel schöneren Frauen.
»Ach müßt' ich am Finger den Ring nicht mehr schauen!«

Wenn nur dein Mütterlein nicht erfährt,
Was dir das dünne Ringlein wert!
Der Reif ist vom Finger im Bache verschwunden.
Du klagst um das Gold so viele Stunden.
Was weinst du so sehr um den Ring deines Knaben?
Dein Mütterlein wird man dereinst noch begraben.

Dann weinst du sicher noch viel mehr.
Wo nimmst du dann die Tränen her?

Anton sprang auf. Noch einmal möchte er das Lied von ihrer Stimme hören!

Es wurde so schwül in seiner Stube.

Natürlich ging er nicht zur Mitternachtsmesse! Was ging ihn die tschechische Predigt an? Doch in die frische Gottesluft mußte er hinaus, er würde sonst ersticken. Und die Orgel konnte er vor der Kirchentür spielen hören, die gehörte auch ihm. Er lachte. Hatte doch sein Vater den größten Beitrag zur Anschaffung dieser Orgel gespendet.

Er wickelte sich fest in seinen Mantel, als er in die Nacht hinaus trat. Der Frost war gebrochen, und in großen, weißen Flocken fiel ein leichter Schnee vom grauen Himmel nieder. Langsam ging er das Städtchen hinunter. Die Fenster blickten dunkel aus den Häusern heraus, aber auf den hohen schneebedeckten Dächern flimmerte es, auf dem Ringplatz und unter den Lauben zogen Gruppen von verhüllten Männern und Frauen hinter glitzernden Laternen der Kirche zu. Anton wollte in dieser Stunde nicht erkannt werden und hielt sich zurück. Erst als der Ring wieder öde lag und die letzte Laterne im Kirchgäßchen verschwunden war, näherte er sich langsam dem Gotteshause.

Das Orgelspiel hatte schon begonnen; mit feierlicher Kraft drangen die Töne heraus. Anton blieb im Schatten des nächsten Laubenpfeilers stehen. Seine Aufregung hatte sich gelegt. Er lauschte.

Plötzlich hörte er dicht neben sich ein schweres Atmen. Er sah nur undeutlich eine Frauengestalt. Doch er hörte Katschenkas Stimme: »Ich danke dir!«

Sie schmiegte sich an seinen Arm und führte ihn mit sich fort. Anton folgte ihr willenlos. Er war froh, daß er sie gefunden.

Unhörbar schritten sie über den weichen Schnee, wie zwei Schatten, der Brücke zu. Vor dem schneebedeckten heiligen Nepomuk bekreuzte sich Katschenka.

»Mir ist so geheimnisvoll zumut,« sagte sie, »ich möchte heute den Schutz aller Heiligen erbitten.«

Sonst sprachen sie kein Wort miteinander. Nur jenseits der Brücke kicherte das Mädchen plötzlich auf und steckte ihm etwas in die Manteltasche.

»Einen Apfel von unserem Weihnachtsabend!« flüsterte sie und schmiegte sich fester an.

Dann eilte sie rascher vorwärts, sah sich ängstlich um und zog den zögernden Mann um das Haus ihres Vaters herum zu der Scheune. Entschlossen öffnete sie das knarrende Tor und ließ es hinter sich und Anton langsam zufallen.

Drinnen war vollständige Finsternis, kaum daß durch einige Ritzen des Daches ein verlorener Schimmer drang. Es preßte Anton die Kehle zu. Endlich ermannte er sich und sagte leise:

»Wozu diese Heimlichkeit? Wir können uns doch bei Tage sprechen.«

Das Mädchen hing an seinem Arm und flüsterte: »Nein, hier! Sie hassen dich alle und dürfen es nicht wissen, wie ich dich liebe. Komm, Anton, wir wollen uns niedersetzen. Auf den Leiterwagen! Ich führe dich. Hinten in der Ecke steht eine Bank; aber dort fürcht' ich mich. Dort sind Waffen und Pulver und was weiß ich.«

Ein leises Rasseln drang kaum hörbar aus der Ecke herüber. Katschenka rückte dicht an Anton heran und umschlang ihn mit ihren Armen.

»Hast du mich lieb, Anton?«

»Ja,« flüsterte er. »Aber es ...«

Sie ließ ihn nicht weiter reden.

»Küsse mich,« hauchte sie.

Und unter heißen Küssen erzählten sie einander ihr Liebesleid. Sie sprach von den Qualen der Sehnsucht, die sie all die Jahre nach ihm empfunden, und, fortgerissen, gestand auch er, was er sich selbst niemals gestanden hatte, daß ihr Bild, das Bild des Kindes und der Jungfrau, unaufhörlich auf ihn lauerte und immer vor ihm stand, so oft die Sorgen zur Seite wichen und eine lichtere Stunde ihm glänzte.

Plötzlich unterbrach sie ihn:

»Wo hast du das Sträußchen?«

Und sie suchte in der undurchdringlichen Finsternis umsonst nach seinen Augen.

»Ich habe es bis heute aufbewahrt. Seit einer Stunde habe ich es nicht mehr.«

»Du hast es weggeworfen!« schrie sie auf.

»Ich habe es verbrannt.«

Sie jauchzte auf.

»Das ist der Zauber!« rief sie. »Nicht zerrissen, nicht weggeworfen! Verbrannt! Jetzt weiß ich, daß du mich lieben mußt! Immer!«

Sie küßte ihn und lachte. Dann holte sie den Apfel aus seiner Tasche, biß hinein, daß die Schale knirschte, und rief:

»Beiß auch du hinein. Das gibt ewige Liebe. Was hast du, warum bist du so still? Du liebst mich nicht!«

»Ich habe dich lieb, Katschenka, doch ich kann nicht glücklich sein. Ich sehe kein gutes Ende für unsere Liebe.«

»Kein Wort mehr,« rief das Mädchen. Sie warf den Apfel fort, schlang beide Hände um seinen Hals, zog ihn zu sich nieder und sprach aufgeregt, während sie ihr Haar an seinen Mund preßte und mit beiden Händen in seinen Locken raufte:

»Kein Wort mehr, oder ich glaube nicht, daß deine Liebe so groß ist wie die meine. Du böser, böser Mensch, wie hast du mich gequält. Ich liebe dich, wie das Blatt den Baum lieben muß, an dem es lebt. Ich liebe dich mehr als mein Augenlicht! Und jetzt, wo ich dich in meinen Armen habe, bin ich gut und gescheit und lache all der erbärmlichen Dinge, die uns trennen wollen. Und wenn ich deine Sprache von deinen Lippen höre, dann ist sie mir die schönste auf der Welt. Nein, nicht die schönste, es ist die einzige. Glücklich die Dirne, der du in dieser Sprache zuflüsterst, daß du sie liebst. Und die Glückliche bin ich! Sag es mir noch einmal, Mund an Mund, daß meine Lippen die süßen Laute von den deinen küssen.«

Sie drängte ihren Mund zum Kusse, den Anton leidenschaftlich erwiderte.

»Ich liebe dich,« flüsterte Anton. Dann riß er sich los, sprang vom Sitz herunter und stellte sich schweratmend vor sie hin.

»Ich liebe dich, Katschenka, und begehre dich zum Weibe. Keine andere als dich! Daß ich ein Deutscher bin und du eine Tschechin, daran sind wir unschuldig, und bei Gott, das ist kein Grund, dich nicht zu lieben. Konnte doch meine Mutter einen Mann aus deinem Hause lieben!«

»Deine Mutter, Anton? Ich habe sie nicht gekannt. Und du hast nie von ihr gesprochen!«

»Ich will dir nur ihre Lieblingsgeschichte erzählen. Sie geht uns an. Du weißt, daß es bei uns in Böhmen bald der, bald die Butter heißt, und oben im Bilatal sagen sie sogar das Butter. Stritten da zwei Bauern darüber, ob es der oder die Butter heißt. Im Eifer gingen sie zum Pfarrer, der sollte entscheiden. Der Pfarrer aber war gerade aus dem Bilatal, und darum sagt er: ›Bei uns und in der Bibel habt ihr beide nicht recht. Es wird wohl richtig das Butter heißen.‹ Und meine Mutter lachte niemals, wenn sie's erzählte. ›So wird vor Gott vielleicht keiner von beiden recht haben,‹ fügte sie immer hinzu, ›weder der Deutsche noch der Tscheche. Es wird wohl richtig das Butter heißen.‹«

»Anton! Deine Mutter meinte, daß Tschechen und Deutsche einander lieben sollten? Machen wir den Anfang! Gehorche deiner Mutter!«

Wie aus der Ferne rasselte es in der Ecke, trotzdem kein Luftzug durch die Fugen des Daches kam.

»Katschenka! Versprich mir nur eins! Versprich mir, daß du dein unweibliches Treiben aufgibst. Menge dich nicht mehr in den politischen Streit der Männer, lerne Achtung vor meinen Kämpfen, und ich will dich heimführen. Ich kann dir keinen Reichtum bieten, denn der Haß der Deinen richtet mich zugrunde. Doch ein helles Haus und ein Herz voll Liebe ist dir sicher. Wenn du als ein schlichtes Weib, das sich um den Streit der Männer nicht bekümmert, dich zu mir flüchtest, dann will ich gern dein Gefühl verschonen, will im Hause nicht sprechen von dem Kampfe, den ich mit meinem Volke gegen die Deinen führen muß. Und wenn du mir deine Lieder singst, werde ich dankbar lauschen.«

Das Mädchen hatte seine Hände erfaßt und drückte sie an ihren Busen.

»Ich vergehe ja vor Sehnsucht, dein Weib zu werden!« rief sie. »Aber das Versprechen kann ich dir nur geben, wenn auch du aufhören willst, dich als Deutscher zu bekennen.«

»Schweig!« rief Anton erregt. »Schweig von Dingen, die nur Männer angehen.« Seinem Vater sprach er es nach, daß Frauen sich um Politik nicht zu kümmern hätten.

»Anton!« flüsterte sie und rang mit seinen Händen. »Ich liebe dich! Führe mich heim zu dir, ich will dich glücklich machen, daß du in keiner Stunde bedauern sollst, mir deinen Stolz geopfert zu haben. Gib den fruchtlosen Kampf auf um unseretwillen, um deinetwillen!«

»Schweig!« rief Anton laut und heftig und riß sich los. Er suchte die Tür zu gewinnen.

»Anton!« rief Katschenka entsetzt. »Mach mit mir, was du willst! Nur nicht fortgehen!«

Sie hatte ihn eingeholt und beim Arm gefaßt.

»Das Weib eines Deutschen kann ich nicht sein, wenn sein Deutschtum ihm höher steht als seine Liebe. Aber lassen kann ich auch nicht von dir. Küsse mich und liebe mich. Magst du mich verachten, wenn du nur heimlich zu mir kommst. Ich will ja nichts als deine Liebe.«

Anton hielt den schweren Holzriegel des Scheunentors mit der rechten Hand umklammert; doch er vermochte nicht zu entfliehen, er war zu starr, um das Tor in den Angeln zu bewegen.

»Wenn du mich ehrlich liebst, so sage es noch einmal und ergib dich mir als mein ehrliches Weib ohne Bedingungen und ohne Flausen. Komm mit mir, komm auf der Stelle mit mir, und ich will dich schützen gegen deinen Vater und gegen die ganze törichte Welt, die uns scheiden will!«

»Ich will ja nichts, als was du willst,« flüsterte sie. »Schütze mich vor mir selbst, wenn mein tschechisches Blut gegen dich stürmt.«

Da zuckte Anton doch erschreckt zusammen, und Katschenka sank in die Knie.

Hinten in der Ecke klirrte es laut von verrostetem Eisen. Höhnisch ertönte das Lachen Svatopluks und dumpf stampften seine Krücken heran.

»Mein Haus steht meinem Weibe offen,« rief Anton dringend. »Keine Angst!«

»Fort! Um meinetwillen!« flüsterte Katschenka. »Du wirst von mir hören! Jetzt geh! Bitte! Um meinetwillen!«

Da schob er den Riegel zur Seite und ging.

Katschenka blieb auf ihren Knien liegen und barg ihren Kopf in beiden Händen.

Jetzt blieb ihr Vater vor ihr stehen; sie merkte es erst, als die eine seiner Krücken sie unsanft genug berührt hatte.

»Du hast dir Ehre geholt heute nacht! Soll ich dich totschlagen, Mädel?«

Katschenka rührte sich nicht. Der Vater schmetterte eine Krücke auf den Leiterwagen nieder.

»Muckst du nicht?« schrie er. »Mit deinem feurigen Liebhaber konntest du ja reden. Habe ich vielleicht gestört? Entschuldige, ich habe während der Mitternachtsmesse den alten Morgenstern an eine neue Stange festnageln wollen. Das hält! Jetzt komm hinein! Steh auf und komm!«

Gehorsam erhob sich Katschenka. So finster es war, sie glaubte die Krücke des Vaters erhoben zu sehen und hielt ergeben den Kopf gesenkt.

»Komm!« wiederholte Svatopluk und faßte die Tochter hart am Handgelenk. »In der warmen Stube will ich dir etwas erzählen, wobei dir vielleicht so kalt wird, wie mir's hier in der Scheune beim Zuhören geworden ist!«

Siebentes Kapitel

Während sie über die unberührte Schneefläche dem Hause zuschritten, ließ Svatopluk seine Tochter nicht los, als fürchte er, sie könnte ihrem Deutschen nacheilen. In die Hausflur mußte sie zuerst eintreten. Dann riß er die Tür der Wohnstube auf und stieß das Mädchen wie eine Gefangene über die Schwelle.

Drin war alles noch so, wie es für die Bescherung geordnet worden war. Links neben der Ofenbank auf dem Tische stand der Christbaum, mit Papierketten umhangen, mit vergoldeten Äpfeln geschmückt und von einem schwankenden Goldpapierengel gekrönt. Unter dem Baume lagen, wie alljährlich, um eine aus bunter Pappe gebildete Krippe die Geschenke, welche Vater und Kinder einander gemacht hatten.

Zaboj saß daneben und war damit beschäftigt, mit seinem massiven, beilartigen Ziskastock, einer Gabe Katschenkas, Haselnüsse aufzuknacken.

»Als ob's deutsche Schädel wären!« rief er den Eintretenden entgegen. Doch schnell fügte er hinzu:

»Was ist denn das? Hat das Mädel uns verraten?«

»Still!« gebot der Vater. »Katschenka hat sich so mündig, so selbständig aufgeführt, daß sie wohl endlich die Geschichte von ihrem Onkel Joseph erfahren darf. Ich muß auch ihr dies Weihnachtsmärchen erzählen. Gern tue ich's nicht! Hab' daran genug gehabt, wie ich's dem Zaboj erzählen mußte.«

Katschenka ließ sich willenlos neben ihrem Bruder nieder, dem Christbaum gegenüber. Svatopluk sank schwerfällig auf die Bank der nächsten Ofenseite nieder und starrte in die Stube hinein.

Zaboj rückte ein wenig von seiner Schwester fort und murmelte:

»Sie muß es hören! Vom Onkel Joseph, der in den Kasematten des Spielbergs gestorben ist.«

Katschenka begann zu zittern. Vom Onkel Joseph war den Kindern nicht anders als von einem großen Verbrecher gesprochen worden. Und später hatte sie nie etwas Näheres erfahren können. Sie nahm ihr rotes Tuch vom Kopfe, das von den Schneeflocken feucht geworden war, und breitete es unbewußt auf ihrem Schoße aus.

Indessen hatte Svatopluk sich mit finsteren Blicken die neue Weihnachtspfeife mit dem Tabak aus dem neuen Beutel gestopft und steckte sie in Brand. Nach einigen Zügen betrachtete er stumm das Porträt eines Böhmenkönigs auf dem Pfeifenkopf. Endlich begann er:

»Der Zaboj da wird dir oft erzählt haben, daß unser Familienname schon mit den ältesten böhmischen Königen zusammen genannt wird, daß wir von dem großen Hussitengeneral abstammen, und daß einer unserer Ahnen in der Schlacht am Weißen Berge sein Blut fließen ließ für die heiligen Rechte des Königreichs Böhmen. Was an alledem Wahres ist, weiß ich nicht. Es ist auch einerlei! Was ich weiß, ist das: soweit das Gedächtnis meines Vaters und Großvaters reichte, solange hat es in unserer Familie keinen Verräter und keinen Überläufer gegeben. Es hat niemals einen Deutschen namens Prokop gegeben – bis auf einen, meinen älteren Bruder Joseph, und der ist dafür in den Kasematten des Spielbergs gestorben.«

Svatopluks Stimme zitterte, so große Mühe er sich auch gab, hart zu scheinen. Aber Zaboj rief hinüber:

»Der Spielberg ist ein Gefängnis für Staatsverbrecher, und Onkel Joseph hat an Böhmen ein Staatsverbrechen begangen.«

Da tat der Alte einen langen Zug aus der Pfeife und sprach weiter:

»Mein Vater ist auf dieser Stelle, in diesem armseligen Häuschen ein begüterter Mann geworden. Und das war keine leichte Arbeit zu einer Zeit, da jedes Stück hartes Geld, jedes Schloß und jedes Gewerbe noch den Deutschen gehörte. Mein Vater dachte aber nicht nur an sich, sondern auch an die nationale Sache, und er war einer der ersten, der die Bjelounka überschritt und sich unter den Deutschen niederließ. Den Wolfsberg brachte er an sich, beutete den Steinbruch aus und dachte auch schon daran, dort eine Fabrik anzulegen. Unser Haus stand weit oben, wo jetzt der Schornstein qualmt. Wo jetzt das Trutzhaus dieses verdammten Gegenbauer steht, da sollte noch Sandstein gewonnen werden. Bis dicht unter das Haus ist man vorgedrungen.«

Zaboj und Katschenka blickten beide zu Boden; sie erinnerten sich genau der Höhle, in der sie so oft gespielt hatten. Endlich sagte Zaboj trotzig:

»Ich kenne die Höhle aus meiner Kinderzeit, und Katschenka kennt sie auch.«

»Bis dorthin also reichte der Sandstein. Der letzte Block bildete diese Höhle. Leider! Wenn der Steinbruch da nicht plötzlich ein Ende genommen hätte, alles stände anders. Bah! Weiter!

»Wie das damals in unserer Gegend üblich war, wurden die begabten Kinder aus tschechischen Orten in die deutschen Städte geschickt, damit sie die fremde Sprache lernen, so wie Zaboj Lateinisch gelernt hat, nur um besser in der Welt fortzukommen. Ich war ja nicht begabt! Die Mutter, die mich immer vorgezogen hat, lebte nicht mehr. Joseph war's, war der Gescheite, der Neunmalweise! Da hat ihn der Vater auf zwei Jahre – bevor er vom Vater die Wirtschaft übernehmen sollte – nach Trautenau gegeben, zu einem Steinmetz, damit Joseph Deutsch lernt und nebenbei das Handwerk; man konnte dann die Steine gleich in Blatna zurichten und besser verwerten.

»Wie die zwei Jahre um waren – nun paß auf, Katscha, es kommt eine Liebesgeschichte, die dir gefallen wird. Denn es ist eine Liebe gegen den Willen der Eltern. Was? Nun wird's hübsch!?

»Also der Joseph ist nach Hause gekommen und ist nicht wiederzuerkennen. Unsere Sprache hat er so schlecht gesprochen, daß es eine Schande war. Einen deutschen Rock hat er getragen, einen deutschen Hut aufgesetzt, und deutsche Bücher mitgebracht. Den Vater und mich hat er nicht für Gottes Geschöpfe angesehen, weil wir gute Böhmen waren.

»Vom ersten Tage an hat er versucht, die alte Ordnung unseres Hauses umzustoßen. Wir haben damals noch nicht gewußt, daß der Trautenauer Steinmetz ein Kirchenfeind war; es hätte dem Vater auch nicht viel gemacht. Aber damit hat sein Krieg gegen uns begonnen. Den heiligen Nepomuk hat Joseph niemals genannt und hat auf den tschechischen Gruß: »Gelobt sei Jesus Christus!« wie ein Heide geantwortet: »Behüt' euch Gott!« Im Wirtshaus hat er am Stammtisch gesessen, an der unteren Ecke; aber von dort aus hat er den Deutschen an der oberen Ecke immer recht gegeben, wenn sie unsere Sprache aus der Schule abschaffen wollten oder wenn sie sich über die tschechische Predigt beklagten, die damals eben eingeführt wurde. Und dabei ist's natürlich nicht geblieben.

»Der Joseph hat Pläne gemacht, unser Haus einzureißen und es nach dem deutschen Grundriß neu zu bauen. Der Stall sollte unter ein besonderes Dach kommen und die Zimmer sollten höher und heller werden, als ob wir Fabriksarbeiter gewesen wären. Und sogar über diese elende Hütte, in der wir sitzen, ist er hergefallen und hat sie mit Ziegeln decken und frisch weißen wollen. Das sind nur so Kleinigkeiten, aber ich sag' euch, es war nicht auszuhalten, weil der Joseph bei jedem Wort so ein freches, deutsches Besserwissergesicht aufgesetzt hat.

»Ich hab' vor Wut schon damals unter die Soldaten gehen wollen oder nach Amerika oder ins Wasser. Sagen hab' ich nichts dürfen, denn ich war um ein Jahr jünger als der Joseph. Der Vater ist oft wild geworden, und es hat dann furchtbare Auftritte gegeben zwischen ihm und dem Joseph; aber seit seinem Sturz im Steinbruch ist der Alte nimmer so recht gesund und kräftig gewesen. Trotzdem hat er oft mit mir darüber beraten, was dagegen zu machen sei, daß der Wolfsberg deutsch bleibe. Wenn heutzutage ein junger Tscheche so pflichtvergessen wäre, so würden sich in jedem Dorfe ein paar baumstarke Patrioten finden, um ihn zur Vernunft zu bringen oder ihm die deutsche Lust zu benehmen. Damals waren wir noch nicht so weit. Ganz Blatna war noch deutsch und hielt das für eine Ehre. So waren der Vater und ich auf uns allein angewiesen; wir sagten es einander, daß kein anderes Mittel übrig blieb, als mich, den Jüngeren, den Wolfsberg erben zu lassen und den Joseph hier in das alte Nest zu setzen. Ich schwöre euch, Kinder, daß ich dabei kaum an das Vermögen gedacht hab'!«

Zaboj, der ruhig eine rostige Stelle seines Ziskastockes putzte, brummte vor sich hin:

»Das versteht sich von selbst.«

Katschenka war mit ihren Gedanken bei Anton.

Svatopluk brachte mit einigen langen Zügen die Pfeife wieder in Brand, dann sprach er weiter:

»Fast gleichzeitig mit Joseph ist ein deutsches Mädchen zu uns ins Haus gekommen. Wir haben's für Zufall gehalten. Es war die Tochter unseres Trautenauer Freundes – als ob ein Deutscher je unser Freund sein könnte. Ein paar Wochen vor Josephs Rückkehr hat ihr Vater geschrieben, ob seine Elisabeth, da sie doch ins Böhmische gehen und die Sprache lernen sollte und unsere Küche, ob die Elisabeth nicht bei uns bleiben könnte. Ich habe gleich Nein gesagt. Der Vater aber hat nicht wollen ungefällig sein und hat's zugegeben. Einen Monat nach der Ankunft der Elisabeth ist der Joseph gekommen; die beiden haben sich begrüßt wie Bruder und Schwester und haben nebeneinander hier gelebt ohne Wink und ohne Zank, so daß kein Teufel hätte auf den Einfall kommen können, daß sie schon damals miteinander versprochen waren, und daß die ganze Geschichte abgekartet war, um unseren Vater herumzukriegen.«

Svatopluk erhob sich mühsam und humpelte durch die Stube. Katschenka war aufmerksam geworden und Zaboj schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Ich hab' mich also in die Elisabeth verliebt, trotzdem sie eine Deutsche war,« schrie Svatopluk plötzlich, während er sich auf der linken Krücke hoch aufrichtete und sich mit der rechten Hand schwer gegen den Deckbalken stützte. »Aber ich habe nicht anders geglaubt und gewußt, als daß sie als meine Frau eine gute Tschechin werden muß. Wie es denn geschrieben steht: das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Manne folgen.«

Zaboj hustete auffällig; aber Katschenka lauschte, ohne den Bibelspruch auf ihre eigene Lage anzuwenden.

»Elisabeth war schöner, als eine Deutsche es eigentlich sein sollte. Er hat fast gar nichts von ihr! Er sieht seinem Vater ähnlich! Elisabeth war ganz besonders. So groß! Und oben im Kopf ein paar so gute blaue Augen! Und die gescheitelten blonden Haare! Wie ein Heiligenschein! Nach ein paar Tagen waren wir alle behext.

»Sie war deutsch in jeder Miene ihres Mundes. Sie lachte uns aus, aber mit einer Art, daß wir mitlachten. Nicht ein Wort von unserer Sprache hat sie von uns gelernt; nicht ein einzigesmal hat sie's uns geschenkt, wenn wir einen Fehler im Deutschen machten. Aber wir konnten ihr nicht böse sein. Und ich hatte gar nichts dagegen, daß sie allerlei deutsche Sitten im Garten und beim Essen einführte.

»Das Resedabeet da draußen, das du so gern hast, Katschenka, das stammt auch noch von dem Resedasamen, welchen Elisabeth hat aus Trautenau kommen lassen. Er riecht dort besser als hier, hat sie gesagt.

»Über ein Jahr war sie bei uns, und noch immer hab' ich nicht gewagt, ihr von meiner Liebe zu sprechen. Ich bin zeitlebens ein plumper Bursch gewesen. Und ich hab' mich auch vor ihr geschämt, weil ich auf deutsch keine so schönen Worte machen konnte, wie sie.

»Gerade jetzt jährt es sich wieder. Es war Anno siebenundvierzig am Tage vor Weihnachten. Es herrschte eine bittere Kälte. Ich geh' zu Mittag hinaus über die Straße, hinter die Kapelle; dort, wo jetzt die Felsblöcke mit Dynamit weggesprengt werden, da standen, wie ihr wißt, zwischen den Steinen eine Menge wilder Tannen und Fichten. Wir holten uns dort unsere Christbäume, das war ein alter Brauch. Ich gehe also hinaus mit Beil und Säge und suche und suche; und keine Tanne ist mir schlank und buschig genug, weil ich der Elisabeth was Schönes unter den Baum legen will. Ich klettere immer weiter über die Steine, bis ich plötzlich auf einem Block von drei Klafter Höhe eine einsame, schöne, lustige, grüne Tanne sehe, die sich eben hin- und herwiegt, als lache sie die helle Wintersonne aus. Das ist die rechte für Elisabeth, denk' ich. Und mit großer Mühe steig' ich auf den Stein.

»Da seh' ich sie beide, Hand in Hand, den Joseph mit der Elisabeth. Sie sprechen nicht, sie küssen sich nicht, sie gehen stumm nebeneinander her. Aber mir fällt's wie Schuppen von den Augen. Ich schrie nur so auf! Beil und Säge werf' ich nach ihnen, ohne sie zu treffen. Dann springe ich vom Steine herunter und nach Hause zum Vater.

»Da bin ich aber schön angekommen, wie ich die Anzeige mache und weine und rufe: Der Joseph will das deutsche Mädel heiraten. Der Vater lacht mich aus. Wenn ich sie geheiratet hätte, wär's ihm lieber gewesen, sagt er; aber daß sie seine Schwiegertochter wird, das freut ihn. Ich weiß nicht, was ich alles geantwortet habe.

»Wir streiten noch, da treten die Liebesleute herein, das heißt, nur der Joseph, Elisabeth bleibt auf der Schwelle stehen und blickt zu Boden. Ich wie ein wildes Tier auf Joseph los und fass' ihn bei der Gurgel. Wir ringen, daß das Haus zittert. Der Vater und Elisabeth sind zu schwach, um uns zu trennen. Plötzlich liege ich zu Boden, Joseph schlägt mich wie einen Knaben und keucht dazu immer nur: Verdammter Tschech'.

»Seit dem Tage habe ich des Vaters Haus natürlich nicht mehr betreten; ich hab' hier gehaust im Dorf, im Schmutz. Was aus mir geworden wäre, wenn ich die Liebe zwischen ihm und ihr hätte mit eigenen Augen sehen müssen, das weiß ich nicht. Glücklicherweise ist Elisabeth gleich nach der Entdeckung nach Hause zurückgekehrt. Dann ist der Steinmetz nach Blatna gekommen, der Vater ist nach Trautenau gefahren, und ich habe in der Kirche beim Aufgebot erfahren, daß die Hochzeit im Frühjahr stattfinden solle.«

Mit schweren Schritten schwankte Svatopluk wieder auf die Ofenbank zu. Er ließ sich nieder, legte seine Pfeife fort und fuhr mit zitternden Fingern über den kahlen Schädel.

»Die Revolution von achtundvierzig ist dazwischen gekommen, als ob ich sie bestellt hätte. Ich glaube, der Trautenauer hat dabei sein Vermögen verloren und ist schwer erkrankt; genug, Elisabeth mußte noch eine Weile bei ihm bleiben. Von der Hochzeit wurde nicht mehr geredet, und meine Gedanken gingen ins Weite. Und wie die Verfassung gegeben war, an dem Tage, wie's bekannt wurde, treff' ich den Joseph wieder zum erstenmal auf dem Ring. Alle Welt hat sich geküßt. Wir Brüder fallen uns um den Hals, und alles ist vergessen. Aber nicht auf lange.«

Zaboj nickte.

»Ja,« sagte er. »Im Jahre achtundvierzig haben viele gute Patrioten geglaubt, sie müssen den Deutschen und Ungarn helfen Revolution machen. Man hat ihnen gesagt, daß die Freiheit die Hauptsache sei und daß jedem Volke sein Recht wird, wenn erst die Despoten vertrieben sind. Ein paar Monate haben wir uns so foppen lassen, aber glücklicherweise sind wir zur Besinnung gekommen. Und wenn wir jetzt bei Hofe gut angeschrieben sind, so kommt es nur daher, daß wir damals beizeiten kehrtgemacht und der Regierung gegen die Deutschen und Ungarn beigestanden haben.«

»Was ist aus der Elisabeth geworden?« fragte Katschenka leise. Sie merkte es auch aus dem Tone des Erzählers, daß noch ein unglückliches Ende zu berichten war.

»Wie Zaboj sagt,« fuhr Svatopluk fort, »haben sich die Deutschen und die Tschechen bald wieder getrennt. Und daß wir uns aufs Blut bekämpfen, das stammt von dieser Zeit her. Was in Prag und in Wien vorgegangen ist, das weiß mein gelehrter Herr Sohn besser als ich. Hier in Blatna aber hab' ich's erlebt. Wie wir erst erfahren haben, daß all die neuen Dinge, die Revolution und die Konstitution, für unsere Feinde erfunden worden sind, da haben wir wieder treu zu der Regierung gehalten und haben uns gefreut, wie unsere kroatischen Brüder die Wiener niedergemetzelt haben und wie die russischen Brüder über die Ungarn hergefallen sind. So haben alle wackeren Tschechen empfunden. Und wir haben die Regierung ehrlich unterstützt; wo wir der Polizei einen Wink geben konnten, haben wir's getan. Die Lumpenhunde von der Mittelpartei haben dazu stillgeschwiegen, und nur wenige Deutsche haben immer noch im stillen Revolution gemacht. Besonders zwei waren verdächtig. Der alte Gegenbauer und mein Bruder Joseph. Heimliche Boten aus dem Reich haben sie bekommen, viele Briefe haben sie hinausgeschrieben, und schwarz-rot-goldene Kokarden haben sie getragen.

»Ich habe wieder Anno neunundvierzig aufgehört, meinen Bruder zu grüßen. Aber ich wollte nichts tun, um ihn ins Unglück zu bringen. Geheiratet hab' ich sogar, um der Sach' ein Ende zu machen. Schnell. Eure Mutter selig war eine gute Böhmin.

»Die Zeiten waren wieder ruhiger geworden, und die Hochzeit mit Elisabeth war jetzt auf den Sonntag vor Ostern festgesetzt. Ich hoffte täglich, daß man ihn in den Kerker stecken würde. Aber ich wollte nichts gegen ihn tun; man hätte gesagt, es ist wegen der Elisabeth. Und ich hätte es wahrhaftig selbst geglaubt. Ganz bei Verstande war ich freilich nicht. Ich konnte nicht mehr schlafen vor Zorn, wenn ich an ihn und seine Braut dachte.

»Da, am letzten Samstag vor der Hochzeit, streich' ich schon um Sonnenaufgang auf dem Wolfsberg herum. Ich glaube, ich habe den Joseph im Hochzeitsstaat sehen wollen! Plötzlich höre ich aus der Ferne ein tolles Pferdegetrappel. Ich stelle mich hinter die Kapelle und lauere. Im rasenden Galopp kommt es näher, und auf einmal sehe ich dicht vor mir drei Husaren auf schäumenden blutenden Pferden. Die schwarzen jungen Kerle wanken im Sattel. Ein paar Schritte weiter machen sie Halt, schauen sich um, springen auf die Straße und führen die Tiere in den Hof meines Bruders.

»Ich hab' ganz gut gewußt, was das zu bedeuten hat. Es waren ungarische Deserteure, die ihr Regiment verließen, um zu den Rebellen zu stoßen. Das Haus des Joseph war ihnen als sicherer Zufluchtsort für den hellen Tag bezeichnet worden. Das war damals nicht schwer zu erraten.

»Ich mach' mich nichts wissen und treibe mich den Tag über auf dem Ring herum. Gegen Mittag begegne ich dem Vater, der auch so hin und her schlendert, als ob er ein schlechtes Gewissen hätte. Ich fasse ihn am Rock und sage ihm, was ich gesehen habe. Der Vater zittert an allen Gliedern und erzählt mir alles. Die drei Kerle sind von Theresienstadt aus desertiert, die ganze Nacht durchgeritten und wollen nach Ungarn zu Kossuth. Joseph hat sie in der Höhle am Steinbruch versteckt, ihre Pferde stehen im Stall, das ärarische Lederzeug ist vergraben, heute abend sollen sie wieder weiter.

»Ich mache dem Vater Vorwürfe darüber, daß er den Feinden Böhmens hilft, aber er entkommt mir.

»Ich habe stundenlang im Wirtshaus gesessen und nicht gewußt, was ich tun soll. Die Burschen haben mich geneckt, ob ich morgen mit nach Trautenau zur Hochzeit gehe.

»Einer hat gesagt, die Elisabeth sei schöner als alle Tschechenmädchen. Aber ich war noch immer zu nichts entschlossen. Da kommen die Prager Zeitungen mit neuen Nachrichten aus Ungarn. Gerade vier Uhr hat's geschlagen, wie ich höre: Kossuth hat zwei böhmische Regimenter vernichtet, die besten Soldaten des Kaisers, und durch die deutschen Spione in Böhmen ist ihm der Sieg möglich geworden.

»Jetzt weiß ich auf einmal, was ich zu tun habe. Zum Bezirkshauptmann bin ich gegangen. Er ist fast grün geworden vor Schrecken und hat mich angesehen wie einen wilden Menschen. Ich aber habe ihm gesagt: Erst unsere Nation, und dann die Familie. Hörst du, Katschenka?«

Wieder hatte Svatopluk sich erhoben und stand auf beide Krücken gestützt wie zum Sprunge bereit vor seiner Tochter. Auch Zaboj stand auf und hielt mit funkelnden Augen den Ziskastock fest. Katschenka schrie auf und schlug die Hände vor's Gesicht.

»Du hast dich nicht zu schämen, Vater, erzähle weiter!« rief Zaboj.

Svatopluk sprach schwer atmend:

»Fünf Gendarmen hat mir der Bezirkshauptmann mitgegeben. Die drei Soldaten wurden in der Höhle festschlafend überwältigt. Die armen Leute tun mir heute noch leid. Sie sind am nächsten Tag erschossen worden.«

Mit den Fäusten auf den Krückstöcken richtete sich Svatopluk hoch empor.

»Aber daß sie den Joseph auf den Spielberg gebracht haben, das bedaure ich heute noch nicht. Seine Briefschaften haben es bewiesen, daß er mit den Rebellen draußen im Reich in Verbindung gewesen, ein Verräter am tschechischen Volke. Ihm ist recht geschehen.«

Svatopluk blieb aufrecht stehen. Aber röchelnde Töne aus seiner Brust begleiteten das Schluchzen Katschenkas.

Zaboj setzte sich wieder nieder und sagte gleichmütig:

»Selbstverständlich; aber du hättest den Wolfsberg behalten und behaupten sollen.«

Svatopluk schleppte sich mühsam zu dem Dreifuß in der dunkelsten Ecke der Stube und brummte undeutlich:

»Auf dem Steinbruch lastete ein Fluch, nichts ging mehr vorwärts. Der Vater gab eine Menge Geld aus, um Joseph loszubekommen. Es war alles hinausgeworfen. Der Vater hat's nicht lange überlebt. Und dann bin ich gleich unter die Soldaten gegangen, um dem Kaiser gegen die Deutschen und die Ungarn zu helfen. Es war dort gegen Kossuth ein hartes Leben. Die verfluchten Kerle mit ihren gelben Gesichtern und schwarzen Haaren sahen alle genau so aus wie die drei jungen Husaren.«

Eine bange Stille folgte. Endlich räusperte sich Katschenka, als wollte sie sprechen.

»Dummes Mädel,« rief Svatopluk höhnisch herüber, »du mußt natürlich wissen, was aus der Elisabeth geworden ist. Frag' doch den Anton nach seiner Mutter!«

Achtes Kapitel

Noch vor Neujahr mußte Anton nach Prag und nach Wien fahren, um einen letzten Schritt zur Rettung seiner Fabrik zu versuchen.

Man empfing ihn überall freundlich und überschüttete ihn mit Versicherungen persönlicher Hochachtung. Auch ließ man durchblicken, daß man die Tschechen nicht mochte und ihm für einen Sieg über ihre Aktiengesellschaft auch aus politischen Gründen dankbar wäre. Aber bei Geldfragen höre die Politik auf. Man drängte ihn nicht, aber man nahm ihm das Versprechen ab, daß er freiwillig seinen Konkurs an dem Tage ansage, wo das Geld seiner Gläubiger in Gefahr geriet. Umsonst bat Anton Gegenbauer, ihn nur noch ein Jahr zu halten; umsonst bewies er mit Ziffern, daß die Bauern dann abgewirtschaftet hätten und wieder an ihn die Reihe käme. Die Geldleute nickten einander verständnisinnig zu und schickten den deutschen Fabrikanten heim.

Anton kehrte verbittert und kampfesmüde nach Hause zurück. Wo er durch eine Ortschaft hindurchfuhr, in welcher unvermischt eine deutsche Bevölkerung lebte, erfüllte ihn Neid. Warum war nicht auch er in friedlichen Verhältnissen geboren? Warum hatten seine Vorfahren unter den Tschechen ausgehalten, wenn sie sie nicht zu überwinden vermochten?

Er sah ja deutlich, daß das slawische Netz unzerreißbar über dem ganzen Lande lag und daß der Deutsche darunter zuckte wie ein gefangenes Wild. Kaum war die Grenze Böhmens überschritten, so rückte schon die tschechische Propaganda sichtbar und fühlbar an den Reisenden heran. Vom Schaffner bis zum Stationsvorsteher war jeder Bahnbeamte ein Feind der Deutschen; und Deutschenhaß predigten die Nachbarn in den Wagenabteilungen, predigten wohlfeile Zeitungen und die Flugblätter, die umsonst verteilt wurden, Deutschenhaß schrien die bunten Farben in den Dörfern, wo man die letzten Wahlen immer noch mit nationalen Festen feierte. War es da nicht besser, die Waffen zu strecken und auszuwandern, fort aus Böhmen, wo der Deutsche jederzeit in Kriegszustand lebte, fort aus Österreich, wo er seit Jahrhunderten als geborener Herrscher anerkannt worden war und jetzt dienen lernen sollte.

In solcher Stimmung langte Anton in Oberndorf an. Mit tschechischen Worten öffnete der Schaffner seine Tür und auf tschechisch bot die Tochter des Portiers frisches Wasser aus. Anton verließ den Bahnhof und sah sich nach dem Wagen um, die Britschka des Brauers mit ihren zwei Füchsen, die ihn sonst immer auf der Station erwartet hatte. Fragend blickte er auf. Verlegen antwortete ihm sein Direktor, daß in Blatna diesmal kein Wagen für den Deutschen aufzutreiben war.

Da stieß Anton einen Fluch aus.

»Ich bin beinahe mürbe geworden,« rief er, »aber mit solchen Nadelstichen reizen sie mich zum Kampf Gut denn! Wenn sie mir ihre elende Britschka nicht schicken, will ich einen weichen Oberndorfer Wagen nehmen.«

Auf dem Wege erzählte ihm der Direktor, daß es unter den Arbeitern der Fabrik gärte, weil die Aktiengesellschaft höhere Löhne versprach. Man wollte sich nicht länger für einen Deutschen rackern.

»Die armen Leute,« hatte Anton geantwortet und war dann verstimmt nach Hause gefahren.

Als er Abends ins Wirtshaus trat, schlich sich der alte Wirt beiseite. Das Herrenstübchen war zum Sitzungssaal einiger Vereine, der Turner, der Feuerwehr und der Sänger umgewandelt. Petr, der wieder in seinem Turnerkostüm steckte, aber das Sängerabzeichen an die Schulter geheftet und den Feuerwehrgürtel umgeschnallt hatte, antwortete, als Anton einen Platz verlangte:

»Nix deutsch.«

»Nix deutsch!« rief der Chorus vom Stammtisch. Der Kaplan war da und der Bürgermeister und der Apotheker, und alle schrien sie mit: »Nix deutsch.«

Nur der Bezirksrichter blieb stumm und lächelte still vor sich hin.

Mit Gewalt konnte der einzelne sein Recht nicht erzwingen, Anton kehrte nach Hause zurück. Er fühlte mehr die Beleidigung als die Unbequemlichkeit. Die Frau des Fabrikaufsehers Tomek, die sein Haus in Ordnung hielt, sollte für ihn nun auch kochen.

Und ruhig, als ob nichts geschehen wäre, ging er seinen schweren Geschäften nach. Die drückten so hart auf ihn, daß er es kaum bemerkte, wie nicht eine einzige Seele mehr in Blatna ihn begrüßte; und wenn er gezwungen wurde, die höhnischen Blicke wahrzunehmen und die Schmähworte zu hören, welche die Kinder der ersten Bürger ihm nachriefen, so warf er nur den Kopf zurück und schritt vorüber.

Über den Versuch, ihn auszuhungern, hatte er sogar in den ersten Tagen lachen können, wenn die Frau des Tomek ihm ein schmackhaftes Essen brachte. Aber er schlug mit geballter Faust auf den Tisch, wenn die gute Seele von den Kämpfen erzählte, die sie um seiner paar Bissen willen auszustehen hatte.

Der Kaufmann wolle ihr seine schlechteste Ware aufdrängen. Das sei für den Deutschen gut genug. Alles müsse sie teurer bezahlen und oft schicke man sie fort, ohne ihr für das gute Geld etwas zu geben. Selbst die Marktfrauen hatten für sie nur die Reste ihrer Waren.

Anton mußte sich Flaschenbier aus Oberndorf ins Haus legen, weil er vom Bräuhaus keinen trinkbaren Tropfen bekam, seine Briefe und Telegramme wurden unregelmäßig bestellt, und auf seine Beschwerde wurde geantwortet, er solle sich vor einer Beamtenbeleidigung hüten.

Als er sich an einem Treibriemen einmal die Hand gequetscht hatte und in die Apotheke schicken mußte, ließ man den Boten über eine Stunde warten.

Eines Tages, als die Frau des Tomek kein Feuerzeug bei der Hand hatte, um dem Herrn seinen Kaffee zu kochen, ließ man sie in den beiden nächsten Häusern wieder gehen, ohne ihr ein paar Zündhölzchen zu schenken. Und Anton mußte bei ihrem Bericht an die armen deutschen Soldaten denken, denen man im letzten Sommer nach langem Übungsmarsche einen Trunk Wasser versagt hatte, weil sie nicht Slawen waren.

In seiner tragikomischen Not ließ Anton Gegenbauer sich von seinen Beamten leicht überreden, mit ihnen häufig nach Feierabend bis Oberndorf zu gehen. Dort war er in allen deutschen Vereinen ein hochwillkommener Gast, wenn er die Stunden im Wirtshause verbringen und der Familie des Buchhalters oder des Werkführers nicht lästig fallen wollte.

Er fühlte sich eigentlich nicht ganz wohl in dem wichtigtuenden politisierenden Treiben dieser Vereine. Die gespreizten Reden, die feierlichen Abstimmungen und die bombastischen Worte erinnerten ihn unangenehm an das theatralische Tschechentum in Blatna.

Auch kam es ihm vor, als ob sich seine guten Landsleute wider ihre Natur in einen zu wilden Haß gegen die Tschechen hineinredeten und hineintranken. Anton schüttelte den Kopf, wenn fast allabendlich das neueste Parteilied, »Die letzte Schlacht«, nach der Weise von Prinz Eugen, dem edlen Ritter, angestimmt wurde. Nur vor einer unvermeidlichen Schlacht hätte er es gutgeheißen, die Glut der Kämpfer so zu schüren. Hier schien ihm die Bewegung unreif. Was in diesen Vereinen eine Tat genannt wurde, das war gewöhnlich nur eine Phrase; und diese Phrasen verletzten oft, trotz seines ehrlichen Zorns, Antons Gerechtigkeitsgefühl.

Keine Woche verging ohne eine solche große Tat. Bald drückte der Turnverein »Eiche« einem ehemaligen Minister seine Zustimmung zu irgendeiner unklaren Rede aus, bald beschloß der Gesangverein »Wunderhorn«, die Fahne unverbrüchlich hochzuhalten, bald erwählte der Feuerwehrbund »Strahl« einen Prager Abgeordneten für irgendein starkes Wort zum Ehrenmitglied, und Anton konnte das peinliche Gefühl nicht loswerden, daß die Vereinsmitglieder, welche unter verschiedenen Abzeichen immer wieder fast dieselben waren, die Bedeutung ihrer Beschlüsse nicht kannten. Auch auf dieser Seite spielte Ehrgeiz und Eigennutz der Führer in der Hauptstadt, Eitelkeit und Händelsucht der Redner daheim eine große Rolle.

Aber Anton konnte doch wenigstens in seiner Muttersprache, in der Mundart der engsten Heimat mit wohlgesinnten Menschen plaudern. Er konnte an Tagen, an denen die große Politik ruhte, mit den Gewerbtreibenden verständige Gespräche führen oder auch bei einem mäßigen Trinkgelage in die guten alten Lieder mit einstimmen.

Von den Vereinen war ihm von Anfang an der Schulverein der liebste, weil dessen Ziel, Schutz der deutschen Kinder gegen Untergang in der tschechischen Schule, nahe und greifbar lag. Der letzte Deutsche von Blatna wußte etwas davon zu erzählen, wie deutsche Sprachinseln von der steigenden tschechischen Flut verschlungen wurden.

Doch auch die Oberndorfer Ortsgruppe des deutschen Schulvereins vergeudete viel Zeit mit hoher Politik. Der Vorstand des Schulvereins war zu gleicher Zeit Sprechwart der »Eiche«, Kassenwart des »Wunderhorn« und Brandmeister des »Strahl«. Da konnte eine Vermischung der Debatten nicht gut ausbleiben.

Anton hätte gewünscht, daß die Ortsgruppe, welche die eigenen Verhältnisse am besten kannte, innerhalb ihres engen Kreises kräftig und rücksichtslos vorging, um vor allem die deutsche Umgegend der Stadt durch einen Wall von deutschen Schulen gegen den Ansturm der Pfaffen und Tschechisatoren zu schirmen. Statt dessen gab es auch hier eine unnütze Vielschreiberei, und mancher Gulden, der aus den Kreuzern der ärmsten Bevölkerung gesammelt war, wurde für ein Zustimmungstelegramm an schönrednerische Herren in der Hauptstadt ausgegeben.

Bei alledem fand Anton den sorgenschweren Winter hindurch manche Anregung und den Trost der Zerstreuung bei den Sanges- und Turnerbrüdern in Oberndorf. Er selbst hatte sich niemals hervorgetan, weder durch Reden noch durch Anträge. Zu ernst war sein Blick in die nächste Zukunft gerichtet. Als jedoch nach einer langen strengen Kälte der Frühling mit freudiger Macht aus dem flachen Lande plötzlich bis hier herauf gedrungen war, da erzeugte der Übermut von Blatna plötzlich eine stürmische Bewegung unter den Vereinen in Oberndorf, eine Bewegung, die auch ihn fortriß.

Man wollte dem urdeutschen Städtchen eine tschechische Volksschule aufzwingen. Der Vorgang sollte derselbe sein, wie er sich schon in anderen Grenzgebieten bewährt hatte: in einer allgemeinen Volksversammlung, auf dem Sankt-Josephs-Berge, sollte einstimmig oder doch mit großer Mehrheit die Notwendigkeit einer tschechischen Schule in Oberndorf beschlossen werden.

In einer solchen beliebten Volksversammlung – »Meeting« nannten es die tschechischen Zeitungen – wurde gewöhnlich von Tschechen und Deutschen eine Resolution gefaßt, welche den Wunsch nach einem tschechischen Lehrer aussprach. Die Behörde konnte sich solchen Wünschen natürlich nicht verschließen. Was ging es sie an, wie ein solches Meeting zustande kam? Daß die slawische Mehrheit von den festgegliederten fanatischen Vereinen, vor allem den »Sokolisten« – den buntgekleideten tschechischen Turnern – gebildet wurde, daß die deutsche Minderheit allein aus bigotten katholischen Bauern bestand, daß nicht ein einziger seines Volkstums sich bewußter Deutscher teilnahm, danach brauchte die Regierung nicht zu fragen.

Das Meeting auf dem Sankt-Josephs-Berge bei Oberndorf – es war auf den Mittwoch nach Ostern angesagt – war ein besonders geschickter Schlag der Tschechen. Auf dem Sankt-Josephs-Berge lag das Kloster der barmherzigen Schwestern, welche dort die Strafanstalt für die schwersten Verbrecher des Reiches und daneben ein kleines Hospital musterhaft leiteten. Der Berg selbst und die ausgedehnten Waldungen bis nach Oberndorf gehörten dem Grafen. Und so schien die Volksversammlung auf diesem Hügel zugleich unter dem Schutze Gottes und des historischen Adels zu stehen. Eine lebhafte Beteiligung der ultramontanen deutschen Bauern konnte um so weniger ausbleiben, als gerade am Mittwoch nach Ostern von alters her im Klosterkirchlein eine Messe gelesen wurde, deren Anhören für besonders segensreich galt.

Die barmherzigen Schwestern von Sankt Joseph, deren Oberin aus dem höchsten heimischen Adel stammte, genossen überdies im weiten Umkreise bei Deutschen und Tschechen ein gleichhohes Ansehen. Man erzählte fabelhafte Dinge von ihrer Aufopferung und von ihrer Macht über die wilden Sträflinge. Außer einigen Soldaten, welche an den Ausgängen des Kerkers Wache hielten, gab es keinen Mann zur Leitung des Zuchthauses. Die schwersten Arbeiten wurden unter dem milden Befehle der Schwestern gehorsam vollbracht; noch nie war eine ernste Widersetzlichkeit vorgekommen. Die »Heiligen« hießen die Nonnen bei allen Kindern der Umgegend, und die »Heiligen« hießen sie bei den frommen deutschen Bauern. Innerhalb der Bannmeile dieser Schwestern konnte nichts Unrechtes geschehen. Hierher kamen die deutschen Bauern ohne Arg.

Darum war auch die Rednerbühne, zu der zwei breite Treppen emporführten, auf dem Josephsberge selbst, kaum zehn Minuten vom Kloster entfernt, aufgeschlagen worden, und gleich nach der Messe sollte die Versammlung beginnen.

In der Oberndorfer Ortsgruppe des Schulvereins kannte man die Verhältnisse und Vorbereitungen ganz genau und wußte, daß die Tschechisierung der eigenen Schule sofort begann, wenn das Meeting einen ungestörten Verlauf nahm. Aber von Prag war der Befehl gekommen, zurückzuhalten und im Bannkreise des Klosters keinen Streit zu erheben.

Da trat Anton im Schulvereine zum ersten Male selbständig auf. Tag für Tag hatte er verlangt, daß man sich an der Volksversammlung beteilige und der Gesinnung der freien Deutschen Ausdruck gebe.

Er war nicht durchgedrungen. Der Befehl aus Prag hatte den erwünschten Vorwand gegeben, dem Kampfe auszuweichen. Auch klang es ganz verständig, wenn der Vorstand, der Diplomat der Ortsgruppe, immer wiederholte:

»Wenn wir auch dagegen sprechen, die Resolution wird doch angenommen. Und dann wird noch sicherer der Schein erweckt, als ob die ganze Gegend teilgenommen und nur innerhalb des deutschen Stammes eine Spaltung stattgefunden hätte.«

Umsonst wies Anton darauf hin, daß die gegnerischen Reden auch nur der tschechischen Zeitungen wegen gehalten würden. Der Vorstand sollte darum seine Rede für die deutschen Zeitungen halten.

Noch am Tage der Volksversammlung begab sich Anton frühmorgens nach Oberndorf und versuchte die in Permanenz erklärten Vereine zur allgemeinen Beteiligung zu bewegen.

Doch der Vorstand entschied:

»Eine allgemeine Beteiligung wäre ein politischer Fehler. Und der einzelne wäre verloren, der sich hinwagte!«

»Ich versuch's,« rief Anton, »und wenn der einzelne Mann nichts vermag gegen ihre Übermacht, so sollen sie sich wenigstens nicht rühmen, uns ohne Kampf besiegt zu haben.«

Niemand redete ab, niemand sprach ein warnendes Wort, aber Anton fühlte es an den warmen Händedrücken und an den freudigen Augen der Jüngeren, daß sie seinen Schritt im Interesse der guten Sache gern sahen, von ihm aber, der sich allein zum Meeting begeben wollte, einen Abschied für immer zu nehmen glaubten.

Da tönte der erste Schuß aus der Lärmkanone, und Anton brach auf. Es duldete ihn nicht länger unter den Vereinsschwätzern, welche die großen Worte unaufhörlich ausgaben, am Biertisch und in endlosen Debatten über Formeln und Geschäfte, welche aber zu unmännlich waren, um auch nur ein paar Tropfen Blut ihres kleinen Fingers, und sei es für das größte ihrer Schlagwörter, zu verspritzen. Auf dem weiten Wege durch den gräflichen Wald überholte er viele Gruppen von Bauern, welche dem Sammelplatze zuschritten. Die Hauptmassen der slawischen Vereine mußten aber schon an Ort und Stelle sein.

Zehn Uhr war es, als er am Fuße des Hügels anlangte, wo der nationale Kellner Franz eben das dritte Signal mit der Lärmkanone löste. Es war das eine Art Riesenfaß, eine lange, weite, aus Holzdauben geformte Röhre, in deren weiter Öffnung ein Mann aufrecht stehen konnte. Das schmale Ende hatte einen Boden von kaum zwei Fuß Breite; hier war in der Mitte eine kleine Öffnung angebracht, und wenn man da eine blindgeladene Pistole hineinsteckte und abfeuerte, so gab es allerdings einen ohrenbetäubenden Schall. Und Franz sah komisch aus, wie er vergebliche Anstrengungen machte, um gleichzeitig beide Ohren zuzuhalten und seine Waffe abzufeuern.

Gerade als Anton vorüberkam, entschloß Franz sich zum dritten Male, den Kanonier zu spielen. Auf Armeslänge trat er vom Schallrohr zurück und suchte mit dem zitternden Zeigefinger den Hahn des Pistols, während er den Kopf so weit als möglich zurückwarf und mit weit aufgerissenem Munde um Hilfe zu schreien schien. Plötzlich ging der Schuß los, und Anton sah nur noch, wie der Schütze hintenüberfiel, als hätte ihn eine Kanonenkugel mit fortgerissen.

Anton konnte nicht lachen. Dieses Schallrohr war sonst immer nur im Dienste der Geistlichkeit gebraucht worden. Am Fronleichnamstage, während der großen Prozession, und an des Kaisers Geburtstag zum Hochamt war hineingefeuert worden. Es mußte dem tschechischen Meeting ein großes Ansehen geben, wenn es von einem so ehrwürdigen Lärminstrumente angekündigt wurde.

Und was Anton erblickte, als er über die Tannenschonung hinweg den Hügel rasch erklommen hatte, das mußte ihm ernste Sorge einflößen, zunächst nicht für sich, wohl aber für die Sache, die er zu retten unternommen.

Er hatte viele Beschreibungen solcher Aufzüge gehört, er hatte in Blatna die Maskerade der Patrioten entstehen sehen und über den Eifer der Komödianten oft gelächelt; aber was da vor seinen Augen begann, das zeigte den Ernst des ganzen Spiels, über zweitausend Personen waren versammelt, und mehr als die Hälfte der Leute stand festgegliedert und uniformiert da, wie Bataillone, die bereit waren, ihrem Führer überallhin zu folgen. Die Ordnung war musterhaft; die berittenen Bauernbanderien umgaben den ganzen Platz mit ihren kleinen Abteilungen, und je müder die Pferde von der Arbeit waren und je schlechter die Banderisten auf ihnen saßen, um so unbeweglicher standen sie da und trennten die Gruppen. Nur der dicke Brauer auf einem seiner stattlichen Füchse sprengte hin und her, war bald neben der Rednerbühne, bald neben dem Gendarm, als ob er was Wichtiges auszurichten hätte. Er fühlte sich als Adjutant und ließ seinem Gaul keine Ruhe, weil er sich einen Adjutanten in der Schlacht auch immer in Bewegung dachte. Und wenn er bei den Sokolisten von Blatna oder bei der vereinigten Feuerwehr vorübersprengte, so lüpfte er sein rundes Hütchen mit der langen Reiherfeder und rief feurige Worte, die jedesmal mit einem schallenden »Slawa« beantwortet wurden. Die Turner und die Feuerwehrleute standen rechts und links von der Rednerbühne aufmarschiert und sahen schmuck und bunt aus. Jeder von ihnen hatte ein breites blauweiß-rotes Band um den Leib geschlungen, dieselben panslawistischen Farben trugen die Banderisten auf den Schultern, und mit ebensolchen Fähnlein war die Bühne geschmückt, über welcher nur noch in einsamer Größe die mächtige weiß-rote Landesfahne flatterte.

Der Eindruck verlor nichts durch das lebhafte Treiben, das im weiteren Umkreis sich entfaltete. Hier drängten sich die einzelnen Besucher des Meetings durcheinander um die Tische und Krambuden der Verkäufer und Verkäuferinnen, um die Fässer des Brauers und um die Würfelbecher der Spieler. Die meisten waren hungrig aus der Kirche gekommen und erlabten sich jetzt an sauren Gurken, Pomeranzen, Würsteln und an Bier. Und auch der würdevollste Feuerwehrmann verschmähte es nicht, in der einen Hand die Gurke und den Helm zu halten, während er mit der anderen die schweißbedeckte Stirn wischte.

Die Verbindung zwischen den uniformierten und nichtuniformierten Besuchern stellten ein paar Mädchen her, welche in einer Art von Marketendertracht sich überall durchdrängten. Sie hatten die dreifarbigen Schärpen um die Schulter geschlungen und verkauften an die Teilnehmer bleierne Denkmünzen, welche auf der einen Seite den heiligen Wenzel, den Schutzpatron des Landes, und auf der anderen nur die Anfangsworte des tschechischen Liedes zeigten:

»Tod und Hölle allen Feinden.«

Anton suchte mit den Augen nach seinen Landsleuten. Um sich herum hörte er kein deutsches Wort, und daß unter den uniformierten Gästen kein Deutscher war, daran konnte er nicht zweifeln. Schon hoffte er, daß man ihn falsch berichtet hätte, daß die Tschechen unter sich wären. Da ging plötzlich eine Bewegung durch die Masse.

Der alte Svatopluk kroch auf seinen Krücken die Rednerbühne empor. Anton wurde von seiner Umgebung vorwärts gerissen und stand auf einmal im dichtesten Gedränge, kaum dreißig Schritte von der Plattform entfernt.

Rechts und links bei den Vereinen war er sofort erkannt worden, von beiden Seiten trafen ihn feindliche Blicke und halblaute Schmährufe. Aber dicht vor sich erkannte er jetzt an ihren langen dunkelbraunen Sonntagsröcken und an ihren hohen Hüten die deutschen Bauern, die sich hatten locken lassen. Es war eine festzusammenstehende Gruppe von ungefähr achtzig rüstigen Männern, welche finster dreinschauten, und an deren Spitze zwei gräfliche Beamte, der Rentamtsschreiber und der Verwalter, dicht vor dem Holzgerüst Stellung genommen hatten.

Svatopluk spielte heute, wohl den Deutschen zuliebe, wieder einmal den hilflosen Krüppel. Da sie seine tschechische Rede nicht verstanden, so sollten sie durch ihre Augen zum Mitleid für das arme tschechische Volk verführt werden. Svatopluk lehnte, als drohte er umzusinken, an der großen Fahnenstange und hielt so eine kurze tschechische Ansprache, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Denn auch die deutschen Bauern erfuhren von den gräflichen Beamten, daß der unglückliche Bruder Landsmann da oben von den heimtückischen Preußen so zugerichtet sei, und daß darum jeder gute Böhme sich vor den Preußen im allgemeinen und besonders vor den preußischgesinnten Österreichern in acht nehmen müsse.

Als Svatopluk geendet hatte, drohte er niederzusinken. Die Tschechen von Blatna, die seine Körperkraft kannten, lachten beifällig über sein Schauspielerstückchen. Aber die deutschen Bauern blickten doch teilnahmsvoll auf den gebrochenen Mann, als Zaboj mit zwei Sprüngen hinaufeilte und der Vater, liebevoll auf des Sohnes Schulter gestützt, wieder unter die Menge hinunterwankte.

Anton drängte noch weiter vor, um bei den Deutschen zu stehen und aus Gesprächen mit ihnen die Stimmung zu erfahren. Noch wußte er nicht, was er tun sollte und was er verhindern konnte. Er fragte die nächsten, was hier vorgehe. Aber niemand wußte ihm richtigen Bescheid zu geben. Ein Beschluß gegen die Preußen und Protestanten sollte gefaßt werden. Das hatten die gräflichen Beamten gesagt, und das sprachen die Bauern nach.

Jetzt wurde es in der Gruppe lebendig, die sich am Fuße des Gerüstes um Svatopluk gebildet hatte. Anton erkannte zu seinem Schmerze die hohe Gestalt Katschenkas, die, gleichfalls wie eine Marketenderin ausstaffiert, die dreifarbige Schärpe um den Leib, sich lebhaft mit den Hauptpersonen des Tages unterhielt. Sie redete auf Petr Zilbr ein, der seinem künftigen Schwiegervater offenbar unter Glückwünschen heftig die Hände drückte und jetzt mit hastigen Bewegungen auf das Gerüst emporsteigen wollte. Er schien die Besorgnisse des Mädchens abzuwehren und antwortete auch auf einen Zuruf Zabojs mit einer zuversichtlichen Geste, die sagen wollte: Laßt mich nur machen.

Dann lief er die paar Stufen empor, stellte sich breit an den Rand der Bühne, steckte die rechte Hand mit ausgespreizten Fingern in die Tschamara und blickte kühn um sich. Als er sich jedoch nun plötzlich der Volksversammlung gegenübersah, mochte ihn wohl sein Mut verlassen. Er riß verlegen das Federhütchen vom Kopfe, machte linkische Verbeugungen, als begrüßte er in seinem Wirtshause einen ansehnlichen Gast, dann starrte er ins Leere und sah so trostlos darein, daß in den Reihen der Tschechen hier und dort gelacht wurde und Antons deutsche Nachbarn untereinander spöttisch zu plaudern begannen.

Da hörte man den Ruf: »Petr, nimm dich zusammen!«, und deutlich erkannte Anton Katschenkas Stimme.

Dem Befehle gehorsam öffnete Petr sofort den Mund und begann mit sich überstürzender Geläufigkeit eine lange Rede herzusagen.

Er hatte sie auswendig gelernt, das hörte man. Auch wer den Redner nicht kannte, mußte es der Art des Vortrages anmerken, daß Petr nicht frei weg sprach, wie es ihm ums Herz war. Und der dumme Ausdruck seines Gesichtes brachte ihn um einen guten Teil seiner Wirkung.

Er sang das alte Lied der Versöhnung. Er sei ein Deutscher und doch gern zu dieser Versammlung gekommen, weil er die Tschechen als seine Brüder liebe und weil sie alle Söhne derselben Mutter seien. Böhmen nähre sie beide, und die Liebe zu diesem schönen Vaterlande müßte endlich nach häßlichen Kämpfen diejenigen vereinen, welche ein Herz hätten für die allgemeine Not.

Und Petr schilderte – Anton erkannte die Ausdrucksweise Zabojs – den Segen des Friedens zwischen beiden Stämmen. Die Gründe waren nicht ganz klar, warum die Äcker dann reichere Früchte tragen, das Obst im Preise steigen würde, aber es klang ganz schön und mancher von den deutschen Bauern nickte bedächtig mit dem Kopfe.

Dann kam Petr mit größerer Zuversicht zu dem zweiten Teile seiner Rede. Außer der Liebe zum gemeinsamen Vaterlande stehe noch eines hoch erhaben über beiden Parteien: der einzig wahre angestammte Glaube an ihre heilige Religion, die jetzt von ihren gemeinsamen Feinden, von den Preußen und Protestanten, verfolgt würde. Früher hatten die tschechischen Vereine »Slawa« gerufen und die Hüte geschwenkt, jetzt hörten sie verdrossen zu; aber um Anton her lauschten die Bauern aufmerksam auf Petr Zilbr, der mit dem Lächeln eines Triumphators dastand und mit lauter Stimme den Satz verfocht: daß es dem Heiligen Vater gegenüber keine verschiedenen Nationen gäbe, sondern nur ein einziges großes Volk von treuen Katholiken, welche keine anderen Ziele haben dürften, als die die Kirche ihnen zeigte, und keine anderen Feinde als die Feinde Gottes.

»Hüten wir uns vor den gottlosen Preußen und vor ihren böhmischen Spionen. Diese Spione haben wir vor dem schrecklichen Kriegsjahr in unseren Tälern gesehen, und dann sind die Pickelhauben gekommen und haben unseren guten Kaiser besiegt, haben viele Tausende tapferer Böhmen getötet und noch viel mehr Tausende zu Krüppeln geschossen, wie dort den ehrenwerten, tapferen Svatopluk Prokop.«

Ein wüster Lärm antwortete dem Redner. Von allen Seiten hörte man Rufe: »Pfui, Schande«, und Anton unterschied aus dem Getöse die Worte: »Der Gegenbauer ist auch so ein Spion.« Die deutschen Bauern rückten von ihm zur Seite, sie schienen tief ergriffen. Petr fuhr fort:

»Und was die Preußen uns zurückgelassen haben, als sie sich an unseren Kolatschen und an unserem Geflügel sattgegessen hatten und wieder in ihr Hungerland zurückkehrten, was war's? Schulden, Krankheiten und den Geist des Radi...«

Er sollte Radikalismus sagen, aber er brachte das fremde Wort nicht heraus. Er stotterte die ersten Silben immer wieder und verlor endlich, blutrot im Gesicht, den Faden seiner Rede. Bevor die Wirkung des Gesprochenen aber noch ganz verraucht war und bevor die langsamen Deutschen in die Heiterkeit der äußersten Gruppen einstimmen konnten, stand Zaboj Prokop mit funkelnden Augen neben Petr.

Mit donnernder Stimme rief er in die Versammlung:

»Was braucht es noch vieler Worte? Wir sind alle überzeugt, hier steht der Tscheche neben dem Deutschen, ein Bild der Eintracht. Lies die Resolution vor, mein lieber Schwager! Wir können gleich zur Abstimmung schreiten.«

Hastig zog Petr aus seiner Brusttasche ein Bündel Papiere und war nur schwer zu hindern, daß er nicht den Schluß seiner Rede aus der Niederschrift ablas. Zaboj zwang ihm das letzte Blatt vor die Augen, und Petr las:

»Die Tschechen und Deutschen des Bezirkes Blatna-Oberndorf, am Mittwoch nach Ostern hier auf dem Sankt-Josephs-Berge versammelt, beschließen:

Erstens, daß nur in der Eintracht beider Stämme das Heil des Landes zu suchen sei;

zweitens, daß eine tschechische Schule in Oberndorf gegründet werden müsse, damit den Kindern die Kenntnis beider Landessprachen nicht vorenthalten bleibe.«

Während Zaboj diese Resolution noch einmal in tschechischer Sprache vortrug, ging ein Murren der Überraschung und der Unzufriedenheit durch die deutschen Bauern. Das hatte man ihnen nicht vorher gesagt. Das mußten sie noch überdenken. Das war etwas ganz Neues. Die deutschen Schulen kosteten schon Geld genug, man wollte nicht noch mehr Steuern zahlen. Zaboj warf während des Vorlesens scharfe Blicke nach der Gruppe, die noch nicht gewonnen war. Und kaum hatte er die Vorlesung beendet, so sprach er in flüssiger deutscher Rede unmittelbar zu den Deutschen. Er vermied es, einen der beiden Stämme zu nennen. Wie es nur ein Land Böhmen gebe, so lebe darin auch nur ein Volk der Böhmen, ein tapferes, friedliches, arbeitsames, hochbegabtes und von der Vorsehung zu großen Dingen vorherbestimmtes Volk. Er sprach von alten Zeiten, in denen die Länder der Wenzels-Krone vereinigt waren unter einem mächtigen Könige, der von dem goldenen Prag aus die Welt beherrschte und alle Schätze der Erde zu vergeben hatte.

»Man hat die unteilbare Wenzels-Krone von seinem Haupte gerissen und in den Kot geworfen, man hat die Schätze der Welt aus dem goldenen Prag entführt, man hat Unfrieden gesät unter die Söhne dieses Landes, nur damit die Feinde unseres Königshauses, die Feinde unserer Kirche groß würden und sich aufrichten könnten an der Leiche Böhmens. Seid einig! Seid einig! Und die Zeiten, von denen die alten Bücher melden, werden wiederkehren, in der alten Hofburg Prags werden wieder die böhmischen Könige thronen und sie werden wieder den Reichtum aller Nachbarvölker zu uns hereinströmen lassen, sie werden Böhmens Gold- und Silberbergwerke wieder öffnen. Dann werden wir ein Volk von Fürsten sein, jeder Bauer wird sich ein steinernes Haus bauen müssen für seine großen Silbertruhen, auf jedem Meierhofe werden goldene Prunkgefäße zu sehen sein, und überall auf der weiten Welt wird man sprichwörtlich von Böhmen erzählen, als dem Lande des Glücks und des Überflusses. Und kein Wunder ist nötig, um das alles unter uns hervorzuzaubern, nur der Eintracht braucht es, der süßen Eintracht. Ihr müßt in den deutschen Städten und Dörfern den versprengten Slawen freundlich begegnen, so wie auch wir allezeit dafür sorgen, daß den einzelnen Deutschen unter uns ihr Recht wird ...«

»Das ist nicht wahr!« rief eine laute, vor Aufregung bebende Stimme.

Anton war es, der den Redner unterbrochen hatte.

»Das ist nicht wahr!« wiederholte er. Er konnte nicht länger an sich halten; er fühlte es, wie die Stimmung um ihn her der Absicht Zabojs günstig wurde, und er wußte, daß jetzt oder nie der Augenblick für ihn da war, seine Pflicht zu tun.

Eine atemlose Pause folgte auf seinen Ausruf. Dann schrie alles heftig durcheinander; doch das Stimmengewirr wurde von Zaboj übertönt, der vom Gerüste hinunter in die aufgeregte Masse hineinrief:

»Er ist ein Verräter, ein Feind des Vaterlands, ein Ketzer, ein Preuße, der mir widerspricht.«

Und von beiden Seiten drängten die tschechischen Vereine gegen Anton ein. Er hörte wütende Rufe und sah drohend erhobene Fäuste. Die undisziplinierten tschechischen Gäste der Versammlung, die bisher nur unaufmerksam teilgenommen hatten, rückten von hinten vor. Die deutsche Gruppe stand eingeteilt unter den tobenden Gegnern.

Aber Anton wurde nicht bange. Sein Wort hatte gewirkt. Die deutschen Bauern schauten ihn freundlich an und riefen ihm zu. Er hatte ja nur laut ausgesprochen, was jeder von ihnen im dunkelsten Winkel seines Herzens auch wußte, was sich nur nicht ans Tageslicht getraute vor der stürmischen Beredsamkeit des tschechischen Mannes dort oben.

Ein Alter schlug Anton derb auf die Schulter und sagte:

»Recht hast, erstunken und erlogen ist alles.«

Und ein reicher Hofbesitzer, dem zehn Silberknöpfe an der Weste glänzten, wandte sich um und sprach:

»Dir täten wir freilich lieber folgen, wenn du kein Ketzer und kein Preuße wärst, aber fürcht' dich nicht, sag' dein Sprüchel, sie dürfen dir nichts tun.«

Da winkte Anton seinen Landsleuten dankbar zu und rief:

»Laßt mich durch, ich will reden.«

Und er schüttelte ihnen die Hände und blickte ihnen zuversichtlich und fest in die aufmerksamen Augen. Dann stand er vor ihnen, schob die beiden gräflichen Beamten beiseite und schritt entschlossen auf die Rednerbühne zu.

Ein tosender Lärm erhob sich.

»Der Spion, der Preuße!« heulte es durcheinander.

Die Reihen der Turner lösten sich, man drang auf ihn ein.

Schon hatte ihn Svatopluk, der plötzlich wieder kräftig war, bei der Schulter ergriffen, als die Rufe der Deutschen das Wogen der Menge übertönten.

»Man soll ihn reden lassen.«

»Wir sind alle eingeladen.«

»Wenn kein Deutscher reden darf, so ziehen wir ab.«

Zaboj, der leichenblaß stehengeblieben war, erkannte die Gefahr. Nichts war gewonnen, wenn die Resolution ohne die Deutschen gefaßt wurde. Warnend hob er den Zeigefinger der rechten Hand und ließ die flache Linke langsam niedersinken, als wollte er den Aufstand dämpfen.

Die Vereine waren gut geschult. Alles verstummte. Zuletzt ließ auch Svatopluk mit einem Fluche los, und Anton schritt in fester Haltung die Stufen empor.

Oben zuckte Zaboj doch zusammen, als der verhaßte Deutsche sich gelassen neben ihn stellte. Und als ließe der Bann von des Führers Augen plötzlich nach, so brach es wieder bei den tschechischen Turnern los.

»Herunter mit dem Spion!«

Doch auch die Deutschen waren warm geworden und einstimmig erscholl der Ruf:

»Der Gegenbauer soll reden! Wir wollen es, wir wollen es.«

Langsam legte sich der Aufruhr, während Zaboj einen halben Schritt zur Seite trat und Anton zögernd und bedächtig das Wort ergriff.

Vorsichtig begründete er zunächst sein Recht, von dieser Stelle zur Versammlung zu sprechen. Man habe außer den Tschechen auch die Deutschen eingeladen und das Gerüst und die slawischen Fahnen hierhergebracht auf rein deutsches Gebiet. Und wenn man nicht den Glauben erwecken wolle, daß es nur um eine Demonstration zu tun sei, daß man hier bloß für die Zeitungen spreche, so müsse auch ein richtiger Deutscher zu Worte kommen. Petr Zilbr sei kein Deutscher mehr, wenn er sich auch noch so viel Mühe gäbe, es den Bauern einzureden.

Dann begann Anton, während die Deutschen mit gespannter Aufmerksamkeit lauschten und seine Feinde ungeduldig die Erlaubnis zu einer stürmischen Unterbrechung erwarteten, seinen kurzen Zwischenruf zu begründen. Er erklärte den Bauern den Kriegsplan der Tschechen. Er wies aus vielen Beispielen nach, daß sie hier wie überall damit anfingen, an deutschen Orten einen kleinen festen Kristallisationspunkt für die Ausbreitung des Tschechentums zu gewinnen. Wie der einzelne tschechische Lehrer, Beamte, Geistliche oder Gastwirt als Quartiermeister für die nachschiebenden Landsleute tätig war, wie der tschechische Stamm seit Jahren an tausend Punkten zugleich erobernd in das deutsche Gebiet eindrang, wie deutsches Wesen vom slawischen Stück für Stück verschlungen wurde. Das hörten die deutschen Bauern jetzt zum ersten Male vom Gegenbauer, dem geachteten Manne, der auch gar nicht danach aussah, als ob er ein Lügner wäre.

Zaboj beobachtete deutlich, wie andächtig die Langröcke auf Anton hörten. Da schnitt er ihm plötzlich das Wort ab und rief so laut, als er konnte:

»Das sind Dinge, die wir alle wissen: daß die Bevölkerung in Böhmen hin- und herflutet; ein Plan steckt nicht dahinter. Und wir Tschechen sind überall gute Brüder der Deutschen, auch wo wir in der Überzahl sind.«

»Und das ist nicht wahr, wiederhole ich!« schrie nun Anton mit aufgeregter Stimme, und Fuß an Fuß drängte er Zaboj beiseite.

»Laßt den Gegenbauer ausreden,« rief es aus dem deutschen Haufen.

Und Anton konnte wieder in raschen Zügen die Drangsale entwickeln, denen die Deutschen überall in Böhmen unterlagen, wo die Tschechen entweder dicht beisammen saßen oder durch künstliche Mittel die Mehrzahl bei den Wahlen erhalten hatten. Er gab Beispiele von dem slawischen Übermut, der den preisgegebenen Deutschen nicht nur ein unbehagliches Leben führen lasse, sondern ihn auch womöglich um Haus und Brot bringe.

Er erzählte schließlich als den nächsten und ihm bekanntesten Fall seine eigenen Schicksale. Und seine Stimme zitterte, als er einzelne Züge von der Wut zu berichten hatte, mit der ihn seine Nachbarn in Blatna verfolgten und zu deren Werkzeugen sie sogar ihre ahnungslosen Kinder machten. Als Zaboj dazu spöttisch den Mund verzog und die Schärpenträger unten unter Führung des Brauers zu lachen und zu spotten anfingen, da verlor der Redner vor Zorn beinah seine Fassung.

Zaboj wollte die Gelegenheit ergreifen und aufs neue zu sprechen anfangen. Aber schon drängte ihn Anton mächtig beiseite und begann mit ernster, volltönender Stimme:

»Sie lachen darüber, daß sie mich in Bann und Acht getan haben und daß ihre armen Kinder ungestraft ihren Spott mit mir treiben dürfen. Ihr lacht nicht, meine Landsleute. Und damit auch ihnen ihr Hohn vergehe, will ich euch erzählen, wie sie in Böhmen die Eintracht verstehen und was ihre brüderliche Liebe zu uns ist.«

»Er ist ein Preuße, ein Ketzer!« schrie Zaboj dazwischen. Aber wie Soldaten in Reih' und Glied traten die Langröcke einen Schritt vor, viele hoben die Fäuste und alle riefen:

»Ausreden lassen, ausreden lassen!«

»Ich danke euch, deutsche Landsleute, daß ihr mich hören wollt. So vernehmt denn: im letzten Herbste ist es geschehen, und jeder ehrliche Mann von Wessely wird es euch bestätigen. Unsere braven Soldaten kamen von einer Feldübung zurück und marschierten durch Wessely, da drüben, nur zwei kurze Stunden von Blatna. Es war ein heißer Septembertag und der Marsch hatte fünf Stunden gedauert. Von Schweiß und Staub bedeckt, machten sie auf dem Marktplatze halt, auf dem Ring, den ihr alle kennt. Und da geschah es. Die erste Kompagnie, weil sie tschechisch war, erhielt von unseren Brüdern in Wessely mehr Erfrischungen, als sie verlangte. Dann kam die zweite Kompagnie, sie war ebenso müde und abgehetzt, aber sie war deutsch. Und darum allein verschloß der ehrenwerte Bruder Brauer hier seinen Keller, und kein Einwohner von Wessely hatte einen Krug oder ein Glas zur Hand. Nicht einen Tropfen Wasser reichte man ihnen, von Schweiß und Staub bedeckt mußten sie weiter ziehen, bis sich ein deutscher Flecken ihrer erbarmte. Ich erzähle euch keine erfundene Geschichte aus alten Büchern. Stellt euch vor, was diese Soldaten empfanden, als man sie schlimmer behandelte wie Hunde. Diese armen durstigen Menschen sind keine fabelhaften böhmischen Könige. Sie sind lebendig, sie sind eure Söhne, eure Brüder, und wenn sie nach Hause kommen, so fragt sie nach der Gerechtigkeitsliebe unserer tschechischen Brüder.«

Ein furchtbarer Aufstand brach los.

»Wir wollen keine tschechischen Schulen! Wir wollen zusammenhalten! Wir wollen unsere Kinder nicht verdursten lassen!« so riefen die deutschen Bauern durcheinander.

Und der Dicke mit den vielen Silberknöpfen brüllte, was er konnte, zu Anton empor:

»Komm zu mir, so oft du willst, Gegenbauer-Anton, ich will dir zu trinken geben, so viel du willst.«

Doch laut tönte dazwischen das Tosen der anderen Partei.

»Wirf ihn vom Gerüst herunter, Zaboj! Laß ihn den Prager Fenstersturz schmecken! Gib's ihm auf altböhmisch! Nieder mit dem deutschen Hund! Werft ihn ins Wasser, da soll er ersaufen, wenn er durstig ist!«

Und tausendstimmig tönte es schließlich zu dem unerschrockenen Redner empor:

»Nieder mit dem Deutschen!«

Und von dem äußersten Kreise her, wo die Händler ihre Buden hatten, begann man mit Erdschollen und faulen Pomeranzen zu werfen. Kein Geschoß traf. Doch als eines hart an Antons rechter Schulter vorüberflog, rückten die Langröcke plötzlich weiter vor. Ohne Verabredung schritten sie dichtgedrängt auf den Stufen rechts und links zur Rednerbühne hinauf und schlossen sich oben zusammen. Sie sprachen kein Wort. Doch als ihre ernsten Gestalten auf den ersten Stufen erschienen, hörte das Werfen auf, und nach wenigen Sekunden verstummten die Schreier. Nur Svatopluk und Petr tobten am Fuße des Gerüstes. Katschenka stand mit zornig zurückgeballten Fäusten neben ihnen und schaute so, wie versteinert, mit verklärten Augen in Antons frisches, todesmutiges Antlitz.

Die beiden Gegner berührten sich jetzt in der schmalen Gasse, welche die Langröcke offen gelassen hatten. Zaboj hatte Mühe, sich nicht auf den ersten zu stürzen und ihn hinunterzuwerfen. Der Schaum stand ihm vor dem Munde. Schwer keuchend blickte er um sich. Er wußte, daß jede Feindseligkeit für lange hinaus der Bewegung gefährlich werden konnte. Und doch wäre es ihm eine Lust gewesen, wenn seine Leute sich plötzlich auf das kleine Häuflein gestürzt und es zu Boden geschlagen hätten.

Als es endlich überall still geworden war, lächelte er seinen Genossen gezwungen beifällig zu. Dann atmete er tief auf, und unter fieberhaften Gestikulationen versuchte er aufs neue die Bauern zu bereden. Er rief:

»Ich heiße euch nochmals willkommen, Brüder, und je näher ihr mir jetzt steht, desto wirksamer sollen meine Worte euch treffen. Wohl haben wir beide Volksstämme des Landes zu unserer Versammlung geladen, aber nur treue Söhne Böhmens hofften wir zu finden, einerlei ob deutsch oder slawisch. Dieser Mann hier jedoch, dem ihr euer Vertrauen schenkt, ist ein Abtrünniger, ein Landesfeind, und ich begreife euch nicht, wie so wackere Männer sich von seinen Flunkereien bestechen lassen können.«

So heftig wurden Zabojs Armbewegungen, daß Anton beiseite treten mußte, um nicht getroffen zu werden.

»Seid ihr denn blind,« fuhr der Tscheche mit funkelnden Augen fort, »daß ihr nicht sehet, wer ihr seid, und wer er ist. Ihr seid feste, seßhafte Bauern auf stattlichen Höfen, und er ist ein Bankerottierer, dem sie vielleicht morgen schon seine Fabrik verkaufen werden, und der dann zu euch betteln gehen kann. Ihr seid Patrioten, und er hat sich dem Erbfeind verkauft und will uns preußisch machen, er und sein Schulverein. Ihr seid treue Katholiken und hofft auf ewige Seligkeit, er aber geht in keine Kirche, er ist ein Ketzer, ein Protestant, was weiß ich. Bauern, Patrioten, Christen, ich kenne ihn besser als ihr alle, denn wir sind zusammen aufgewachsen. Er war es, der mich unserem Glauben abspenstig machen wollte und der mich überredet hat, kein Geistlicher zu werden. Na, auch so, wie ich bin, diene ich der Kirche. Er aber, der Gegenbauer-Anton, ist ihr Feind, und seine Freunde können die nicht sein, denen ihr Seelenheil am Herzen liegt.«

Die Bauern blickten zu Boden. Den meisten unter ihnen wäre es lieb gewesen, wenn sie wieder in angemessener Entfernung vom Gerüste hätten stehen können. Doch der mit den Silberknöpfen trat breit zwischen Zaboj und den Gegner und rief diesem zu:

»Fürcht dich nicht! Sag dein Sprüchel!«

Froh lachte Anton ihn an und sprach laut:

»Soviel Worte, soviel Verleumdungen! Daß ich als Kaufmann ein ehrlicher Mensch bin, das weiß jeder Mann auf zehn Meilen in der Runde. Und wenn mein Unternehmen jetzt in Gefahr schwebt, so wißt ihr alle, daß es der Neid der tschechischen Rübenbauern ist, der mich und sie selbst zugrunde richten will. Das ist traurig für mich, aber es geht uns hier nichts an. Daß ich etwas mit dem Auslande zu tun habe, ist eine Lüge. Ich bin ein guter Österreicher, wie ihr alle, und liebe unser schönes Böhmen nicht weniger als der lauteste Schreier von drüben. Niemals habe ich mich um Politik gekümmert. Und wenn ich hier für unsere nationale Sache eintrete mit meinen geringen Kräften, so tue ich es als Böhme, als deutscher Böhme. Und nun zu der dritten Verleumdung. Auch ich bin katholisch. Ich bin kein so frommer Mann wie ihr. Das gebe ich zu. Aber auch ich würde die Kirche besuchen und mich mit der Gemeinde erbauen, wenn mir Gelegenheit würde, Gottes Wort in meiner Muttersprache, in unserer heiligen deutschen schönen Sprache zu vernehmen. Das ist's. Mich so wenig wie euch kümmern die Streitigkeiten der Regierenden über das Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland. Ich wüßte nicht einmal die Minister zu nennen, die hüben und drüben herrschen. Was kümmert uns die Politik! Aber wir sind Deutsche, und wenn wir alles andere verloren haben, was uns zu einem großen einigen Volke machen könnte, so bleibt uns doch eines, unsere deutsche Sprache. Und dieses letzte Besitztum wollen wir alle verteidigen mit unserem Herzblut. Nicht wahr, darin seid ihr mit mir einig? Auch ihr wollt nicht, daß eure Kinder oder Enkel einst an eurem Grabe das Vaterunser in tschechischen Worten sprechen, auch ihr wollt nicht, daß die uralten Hausnamen eurer Höfe verschwinden und daß tschechischer Übermut die deutschen Inschriften von euren Grabsteinen herunterkratze. Auch ihr wollt nicht slawisch werden. Ich kenne euch, meine Landsleute, lieber wollt ihr noch, daß eure Söhne deutsch bleiben und daß man ihnen einen Tropfen Wasser versagt, wenn sie verschmachten, lieber das, als daß sie von ihrem Volke abfallen und selber einmal hartherzig sich von einem deutschen Burschen abwenden, der verdurstend vor ihrer Schwelle steht. Das ist eure Meinung, wie die meine, und darum laßt uns fortziehen aus dieser Versammlung, mit der wir nichts zu schaffen haben.«

Mit feuchten Augen blickte Anton die Bauern an, und »Hoch der Gegenbauer!« rief der mit den Silberknöpfen, und »Hoch der Gegenbauer!« wiederholten stürmisch die achtzig deutschen Bauern.

Mit zuckenden Händen und zitternden Lippen stand Zaboj da.

»Hütet euch,« schrie er außer sich, »hütet euch vor euren Pfarrern und vor ihren Kirchenstrafen.«

Doch Anton gab den Vorteil nicht mehr aus der Hand. Mit raschem Griff riß er Zaboj die Medaille von der Brust und rief: »Wißt ihr auch, was hier drauf steht? Wißt ihr auch, was die Medaillen sagen wollen, die man in dieser Versammlung uns anzubieten wagt? Hier steht es in deutlichen Buchstaben: Tod und Hölle allen Feinden! Mord und Tod den Deutschen ist damit gemeint.«

Und Anton warf die blinkende Denkmünze zornig von sich. Sie fiel vor den Füßen Katschenkas nieder, und das Mädchen, welches immer noch in leidenschaftlicher Angst zu ihm emporblickte, ließ plötzlich ihren Teller mit Medaillen fallen.

Niemand außer dem alten Svatopluk bemerkte es, denn tausend Fäuste hatten sich erhoben, und tausend Kehlen stimmten als Antwort auf Antons Beleidigung mit stürmischer Kraft ihr Kriegslied an:

»Mächtig steht das Volk der Slawen, ewig wird es leben!
Tod und Hölle allen Feinden, nieder mit den Deutschen!«

Die deutschen Bauern blickten besorgt um sich, als sie mit einem Male die Wogen des Hasses um sich her erkannten.

Sie brauchten die Worte des Liedes nicht zu verstehen; die Todesdrohung, welche aus dem wilden Vortrage des Liedes sprach, sagte alles, und wenn einer taub war, so konnte er es aus den Gesichtern der Sänger lesen, daß nur die Waffen fehlten, um das Versöhnungsmeeting in eine Schlacht zu verwandeln.

Alles trug dazu bei, um den Lärm zu verstärken. Die Banderisten hatten ihre Posten verlassen und ihre Pferde bis dicht an den Menschenknäuel herangedrängt, wo sie der scheuenden Tiere kaum Herr werden konnten. Die Pferde wieherten und die Reiter schrien. Hinter ihnen sprengte der Brauer auf seinem Fuchse wie toll um die Versammlung im Kreise herum, als suchte er eine Lücke, durch die er gegen den Verächter seiner Nation eindringen könnte. Die Budenbesitzer und die fliegenden Händler erwehrten sich unter Schelten und Hilferufen der halbwüchsigen Burschen, welche in dem allgemeinen Tumult plündern wollten.

Nur der alte Würstelverkäufer, der seine ganze Ware in dem umgehängten Schaff und in seinem Kessel bei sich trug, bekümmerte sich nicht um den Aufstand und rief mit gellender Stimme in das Rollen des Kriegsliedes hinein:

»Brennheiße Würst', brennheiße Würst'!«

Svatopluk Prokop hatte seine Tochter wütend am Handgelenk gefaßt und schrie sein »Tod und Hölle allen Feinden« mit heiserer Kraft. Katschenka sah in seinen brennenden Augen den Befehl, mitzusingen, und der Arm schmerzte sie von dem harten Griffe ihres Vaters, doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt und sie hörte nur aus dem ganzen Aufruhr die volle männliche Stimme Antons, und sie hörte nicht einmal neben sich Petr Zilbr die tschechischen Worte in widerlicher Aussprache und in falscher Melodie schreien.

Noch war die erste Strophe nicht zu Ende gesungen, als die Langröcke, denen Anton etwas zugerufen hatte, sich in Bewegung setzten. Ihren Redner in der Mitte, gingen sie die Stufen des Gerüstes hinunter, machten kehrt und zogen festen Schrittes ab. Die Masse, die sie umgab, öffnete vor der entschlossenen Schar zögernd eine schmale Gasse, aber vor ihren Augen fuchtelten die Fäuste und in ihre Ohren hinein schrie man die Worte des Hasses. Als die Menschenmauer durchbrochen war, wollten die berittenen Banderisten ihnen den Weg sperren, doch die Männer rückten ruhig weiter, faßten die Pferde beim Zaum und drängten sie beiseite, und als der Brauer sie zu bleiben beschwor, genügte ein kräftiger Schlag, um seinen Fuchs das Weite suchen zu lassen.

Zaboj war bis jetzt bleich und stumm mit gekreuzten Armen auf der Rednertribüne stehen geblieben. Als er alles verloren sah und die Achtzig freie Bahn vor sich hatten, löste er plötzlich seine Arme, schüttelte die Fäuste gegen die Abziehenden und schrie in tschechischer Sprache:

»Tod und Hölle! Er hat es gesagt und ihn soll's treffen. In die Hölle mit ihm, unserem ärgsten Feind! Er soll es büßen! Er soll sich nicht lebendig wieder unter uns zeigen!«

Tausendstimmig wurden die Drohrufe wiederholt. Zaboj stürzte zu seinen Freunden hinunter, stieß den Vater und Petr und Katschenka wild von sich und eilte durch die Menge. Alles zeterte durcheinander. Von Schritt zu Schritt wurde er umringt und mit Vorwürfen bestürmt. Mit Tränen in den Augen wiederholte er immer nur:

»Er soll es büßen!«

Svatopluk hatte die Tochter losgelassen und stampfte auf seinen Krücken hinter den Deutschen her. »Schlagt ihn tot, schlagt ihn tot!« rief er taktmäßig. Und plötzlich löste sich die Verwirrung auf dem Festplatz, und unter betäubenden Rufen: »Schlagt ihn tot!« setzte sich das ganze Meeting in Marsch hinter dem Verhaßten her.

Nur die Banderisten, die sich auf ihren Pferden nicht mehr sicher fühlten, die Verkäufer, die ihr Hab und Gut einpackten, blieben zurück, und bei ihnen der Gendarm. Der Wursthändler zog fröhlich hinter der kampflustigen Schar drein.

Niemand achtete auf Katschenka, welche rasch das Gerüst erklommen hatte und oben, hinter den Fahnen halb verborgen, mit glänzenden Augen den abziehenden Deutschen nachschaute.

Ohne zu eilen, schritten die Bauern dahin. Die meisten unter ihnen verachteten die Tschechen eigentlich von Herzen und freuten sich trotz der kirchlichen Bedenken, an die Zaboj gemahnt hatte, daß sie dem Beispiel des Gegenbauer gefolgt waren. Und die Jüngeren waren rauflustig genug, um ihren Mann zu stellen, wenn's zu ernstlichen Händeln kam. Freilich anfangen wollten sie nicht, und so zogen sie in stummer Erwartung ihres Weges und freuten sich über den Ausgang der Volksversammlung. Nur die wenigen alten Männer an der Spitze des Zuges überdachten sorgenvoll die letzte Rede Zabojs und hätten gern etwas für ihr Seelenheil getan. Dabei konnten sie das Auftreten des Gegenbauer nur gutheißen und fühlten sich in ihrer Ehre verbunden, bei ihren Stammesgenossen auszuhalten.

Die Entfernung zwischen ihnen und dem verfolgenden Haufen wurde nicht kleiner. Es fehlte an Waffen und an einer plötzlichen Veranlassung für den Beginn der Feindseligkeiten. Und schon begannen die Bauern in Antons nächster Umgebung über das hilflose Schimpfen der Gegner zu spotten, und der mit den Silberknöpfen stimmte sogar an:

»Immer langsam voran, immer langsam voran, daß die tschechische Landwehr nachzappeln kann.«

Man hatte den Weg nach Oberndorf eingeschlagen, ohne erst viel darüber zu beraten. Jedem einzelnen war klar, daß der Gegenbauer-Anton erst verlassen werden durfte, wenn er inmitten seiner Freunde vorläufig in Sicherheit war. Als der Zug vor dem Marienkloster anlangte, stockte er plötzlich, dort wo der Feldweg zur Klosterpforte rechts ausbog.

Dicht neben der Straße waren zwölf Sträflinge unter der Aufsicht von zwei barmherzigen Schwestern mit dem Ausbessern des Dammes und mit dem Anlegen von Straßengräben beschäftigt. Die meisten Bauern gedachten nicht anders, als mit abgezogenen Hüten und dem üblichen Gruße: »Gelobt sei Jesus Christus!« vorüberzugehen. Drei von den alten Leuten an der Spitze jedoch hatten plötzlich einen Gedanken gefaßt, blieben stehen und hemmten die übrigen. Und die nachdrängenden Tschechen waren selbst überrascht und verstummten für ein Weilchen, als der Zwischenraum rasch kleiner wurde und sie sich auf einmal hart an der Ferse der Deutschen sahen.

Die ehrfurchtsvolle Scheu, welche die ganze Gegend vor den tapferen Schwestern empfand, hielt für ein Weilchen beide Parteien zurück.

Ohne den Genossen die Absicht vorher mitzuteilen, trat der älteste der Bauern, ein angesehener Dorfschulze, aus der Reihe, ging mit dem Hute in der Hand der hageren älteren Schwester entgegen, beugte das Knie, küßte ihren rauhen schwarzen Ärmel und begann:

»Euer Ehrwürden ...«

»Ich bin Schwester Annunciata; doch schnell, was geht hier vor?«

Der Schulze bat statt aller Erklärung, man möchte einem Verfolgten irgendwo im Kloster Zuflucht gewähren. Ihm schien alles in Ordnung, wenn er den Schutz des Gegenbauer, der ja vielleicht doch ein Ketzer war, der Kirche überlassen hatte.

Die Sträflinge hatten nur flüchtig den Kopf gewendet, dann arbeiteten sie ruhig weiter, als die Schwestern ihnen mit freundlichem Neigen des Hauptes den Befehl dazu erteilten. Schwester Annunciata rief Schwester Barbara zu sich, ein junges, blühendes Geschöpf, welches aus ihrem entstellenden Kopfputz so fröhlich herausblickte, als stände sie, von verliebten Burschen umgeben, auf dem Tanzplatz.

Die Bauern hatten inzwischen von den Vordermännern erfahren, was deren Meinung war. Ihre Stimmen waren geteilt. Die ganz Frommen sahen in Gegenbauers Rückzug nach dem Kloster die friedlichste Lösung, die anderen aber eine schimpfliche Flucht. Lebhaft stritten beide Parteien. Anton biß die Unterlippe, ihm war der Gedanke peinlich, daß Deutsche ihn der Gnade der Kirche anvertrauen wollten. Er atmete auf, als Annunciatas Kopfschütteln bewies, daß sie den Plan des Schulzen nicht gutheißen konnte.

Aber auch unter den Tschechen ahnte man bereits die Absicht der Frommen, und von einem zum anderen flogen die Spottrufe über den Kirchenfeind, der ins Kloster flüchtete.

Jetzt trat der Schulze an die Spitze der Bauern zurück, und die beiden barmherzigen Schwestern wechselten einige Worte. Dann bedeutete Schwester Annunciata die Sträflinge, sie sollten ruhig ihre Pflicht tun, und Hand in Hand mit Barbara ging sie freundlich in den schmalen Raum, der noch zwischen den feindlichen Parteien offen geblieben war.

Ihr schien jede weltliche Streitigkeit so töricht, sie fühlte so tief den Frieden der Pflicht, daß sie geneigt war zu glauben, sie habe es nur mit einer Schar von trunkenen Männern zu tun. Und die Schwestern, welche allein durch die Kraft ihres Zuspruchs mit dreihundert Verbrechern fertig wurden, hielten sich nicht für zu schwach, um auch diese wilde Schar von aufgeregten Leuten zu beruhigen. Von allen Dingen, welche Schwester Annunciata nicht begriff, war der Kampf der beiden Volksstämme ihr sicherlich der allerunbegreiflichste. Ihre Kirche war nicht die streitbare.

Deutsche und Tschechen sprachen heftig auf sie ein, die ersten bei aller Erregtheit doch nicht ohne Demut, die anderen trotzig und höhnisch. Die Schwestern trennten sich und suchten die Gegner zu beschwichtigen. Sie eilten von Gruppe zu Gruppe, redeten mit jedem in seiner Sprache, baten, man möchte den Frieden der heiligen Stätte nicht stören, beschworen alle, nach Hause zurückzukehren, und gaben jeder Partei ihr Wort zum Pfande, daß die andere nichts Böses beabsichtige. Bei den Deutschen, die ohnehin weiterziehen wollten, erreichten sie bald ihren Zweck.

»Den heiligen Schwestern muß man gehorchen,« riefen die Friedfertigsten, und die jüngeren waren froh, daß sie ihrem Gegenbauer noch weiter das Geleite geben konnten. Viele drängten sich herzu, um den »Heiligen« die Hände oder das Gewand zu küssen, dann setzte sich die Schar wieder in aller Ordnung in Bewegung.

Und mehr als ein Dutzend Bursche sang jetzt lustig die Weise:

»Immer langsam voran, immer langsam voran, daß die tschechische Landwehr nachzappeln kann!«

Die beiden Schwestern suchten den Rückzug zu decken. Mit ausgebreiteten Armen stellten sie sich der tschechischen Menge entgegen, aus deren Mitte wilde Drohrufe zu ihnen herübertönten.

»Wir lassen uns von keiner Nonne befehlen! Nieder mit den Deutschen! Ins Kloster mit den Schürzen! Aus dem Wege! Ziska über euch!«

Und schon hörte man auch unanständige Scherze.

Die Schwestern achteten dessen nicht. Annunciata drängte sich zu Zaboj durch, den sie sofort als den geistigen Führer erkannt hatte, und bat ihn einfach und eindringlich, er möge Frieden gebieten. Schwester Barbara war dicht vor Svatopluk stehen geblieben und streichelte begütigend seine Hände.

Während dies an der Spitze der tschechischen Verfolger vor sich ging, hatten sich von rückwärts ganze Scharen am rechten und linken Flügel vorgedrängt. Es waren dies die lautesten Schreier, die unaufhörlich den Tod Gegenbauers verlangten. Die auf der rechten Seite drückten sich scheu an den Sträflingen vorüber, welche die Arbeit eingestellt hatten und in Reih' und Glied längs der Straße standen, die Augen zu Boden gesenkt, und scheue flackernde Blicke nach der Masse warfen, der die beiden Schwestern noch immer Halt geboten.

Die Langröcke waren kaum sechzig Schritt entfernt und sangen immer zahlreicher und lauter ihr Lied. Plötzlich wandte sich der letzte um und zeigte den Tschechen sein lachendes Gesicht.

Ein Wutschrei von allen Gegnern antwortete. Im Nu hatten hundert Hände nach den kleinen und großen Schottersteinen gegriffen, die aufgehäuft neben dem unfertigen Damm bereitlagen, und ein Steinhagel flog der deutschen Schar nach.

Nur wenige wurden getroffen, und die nur leicht.

Aber die Deutschen waren nicht gewillt, sich wie Buben in die Flucht schlagen zu lassen; sie wandten sich beherzt um, Anton Gegenbauer trat vor sie, und sie schickten sich an, mit ihren derben Knotenstöcken den ungleichen Kampf aufzunehmen. Lieber im Handgemenge und im Faustkampf der Überzahl unterliegen, als sich mit Steinwürfen weitertreiben lassen!

Langsam rückten die Deutschen geschlossen vor.

Die Tschechen stutzten, aber von der rechten Seite flog plötzlich ein neuer stärkerer Steinhagel herüber.

Anton war das nahe Ziel jedes Wurfes, und diesmal traf man besser.

Er wankte, brach zusammen, und an ihm vorbei stürmten die Langröcke zum Angriff.

Der Fall Antons wurde mit einem Jubelgeheul begrüßt.

Die beiden Schwestern wandten sich entsetzt den Deutschen zu, Schwester Barbara lief ihnen entgegen, um nach dem Verwundeten zu sehen, und rief die heilige Jungfrau um ihren Beistand an.

Schon begann der tschechische Haufe sich aufzulösen. Daß Anton getroffen war, schien den Haß zu befriedigen. Nur noch eine letzte Salve von Steinen sollten die Deutschen empfangen. Plötzlich schrie Schwester Barbara auf, ihre Wange färbte sich blutig, sie mußte sich an ihrer Genossin aufrechthalten.

Da klang von dort, wo die Sträflinge standen, ein schauerlicher Aufschrei voll Jammer und Zorn. Wie wilde Tiere stürzten sie sich mit ihren Hacken und Rammen und Stangen und Meißeln gegen die tschechische Menge. Ebenso schnell wie sie flog aber Schwester Barbara herbei.

Jeden einzelnen der Sträflinge mußte sie einholen und anrufen, um ihn zu beruhigen. Nur widerwillig gaben die Mörder und Einbrecher ihr Rachewerk auf. Bevor sie noch gehorchten und mit aufgehobenen Händen um Schwester Barbara her niederknieten, war einer der Sokolisten durch eine Hacke auf den Tod verwundet, Petr Zilbr von einer Stange schwer am Fuße verletzt und der starke Svatopluk von einem gewaltigen Faustschlag niedergeworfen.

Der Tschechen hatte sich beim Angriff der zwölf Sträflinge ein panischer Schrecken bemächtigt. Alles Grausen, das von dem finstern Gefängnisse ausging, war in diesen Gestalten verkörpert, die jetzt auf einmal ihre wahre Gestalt anzunehmen schienen.

In wilder Flucht jagte alles auseinander.

Man hatte eine barmherzige Schwester verwundet und die Mörder waren aus dem Kerker losgelassen.

Keiner stand still, solange er nicht außer Sehweite war. Nur Zaboj war trotzig neben seinem fast betäubten Vater stehen geblieben. Er half ihn aufrichten, als die deutschen Bauern sich düster anschickten, die Verwundeten im Hospital des Klosters unterzubringen.

Neuntes Kapitel

An der Klosterpforte empfing die Oberin den traurigen Zug. Sie wehrte jedem den Eintritt, der nicht durch eine Verwundung sein Anrecht auf die Gastlichkeit des Hauses bewies.

Die Bauern zogen sich demütig zurück, auch die, welche von den Steinen getroffen waren. Niemand hatte einen ernsthafteren Schaden davongetragen als Schrammen und Stöße, wie sie bei Wirtshausraufereien oft vorkamen und leicht verschmerzt wurden. Nur der sterbende Sokolist, dann Anton Gegenbauer, welcher noch immer ohne Bewußtsein war, und Petr Zilbr, der in seinen Schmerzen jämmerlich schrie, wurden von den Sträflingen in den Krankenraum hinaufgetragen.

Svatopluk Prokop hatte keinen ernstlichen Schaden genommen; da er aber wimmernd erklärte, ein elender Krüppel zu sein und sich nicht rühren zu können, so wurde auch er hinaufgeführt.

Erst nachdem alle untergebracht waren und die Klosterpforte auch hinter Zaboj geschlossen war, ließ die Oberin, eine vornehme Dame, deren weißes Haar ein bleiches, fast faltenloses Gesicht umrahmte, sich von den beiden Schwestern Bericht erstatten. Dann zog Schwester Barbara sich zurück, erschien aber bald wieder. Sie hatte nur einen Streifen Linnen um ihre Wunde gebunden und widmete sich heiter der Pflege der Verwundeten.

Diese waren in dem großen, von Kreuzgewölben überdeckten Saale untergebracht, welcher das Kloster vom Kerker trennte. Es waren acht Betten darin aufgestellt, und drei davon waren von erkrankten Sträflingen besetzt. Die Stätte in der dunkelsten Ecke des Saales wurde dem Sterbenden zugewiesen, die nächsten Betten blieben frei.

Zwischen den Lagern von Anton und Petr ächzte ein Sträfling, der sich bei der Arbeit einige Finger der linken Hand zertrümmert hatte. Svatopluk war auf einem Stuhle neben Petr niedergesunken und verlangte dringend, als ein Verletzter hier Unterkunft zu finden.

Noch am Nachmittage erschien Antons Freund, der frühere Arzt von Blatna, der von Oberndorf aus auch diese Anstalt leitete. Er konnte für den schwergetroffenen Turner keine Hoffnung geben. Petrs Zustand schloß jede Gefahr aus, doch sollte der völlig verzagte junge Mann etwa eine Woche stilliegen.

Anton hatte einen traurigen Anblick dargeboten, als man ihn ins Kloster brachte. Seine Kleider waren von den Steinwürfen vielfach zerrissen und er über und über mit dem Blute besudelt, das immer noch aus einer breiten Schläfenwunde niedersickerte. Die Untersuchung stellte nun glücklicherweise fest, daß fast alle Steine auch ihn nur oberflächlich verletzt hatten. Nur die klaffende Wunde an der Schläfe konnte bedenklich werden, wenn er nicht auf das sorgfältigste gehütet und noch späterhin jede Aufregung von ihm ferngehalten wurde.

Als der Arzt auch darüber entscheiden sollte, ob Svatopluk im Hospital zu behalten war oder nicht, lachte er ihn geradezu aus und sagte zur Oberin:

»Wenn dieser Mann krank würde, so gehörte er sicherlich hierher ins Kerkerhospital; aber er ist völlig gesund, der heutige Tag hat ihn nur ein wenig angegriffen.«

Svatopluk blickte den Arzt mit seinem bösesten Blicke an und fügte sich darein, den Zufluchtsort zu verlassen. Er humpelte schwerfällig bis zum Kopfende von Petrs Lager und begann dort ein leises Gespräch mit dem Verwundeten, der nicht aufhörte zu stöhnen und einmal in den Ruf ausbrach:

»Laßt mich in Ruh, ich will nichts mehr mit eurer verdammten Politik zu tun haben, ich bin ein geschlagener Mann, ich werde niemals wieder tanzen können.«

Während Svatopluk auf seinen Krücken über das Lager gebeugt weiterflüsterte, hörte man vor der Tür auf dem Korridor lautes Streiten. Der Soldat, der dort auf Posten stand, verweigerte jemand den Eintritt.

Schwester Barbara eilte von Antons Lager hinaus und kam sofort mit Katschenka an der Hand zurück.

»Es ist die Tochter des alten Mannes, wie sie sagt,« sprach Schwester Barbara bittend zur Oberin, »und die Braut des armen Menschen dort.«

Und sie wies auf Anton.

»Meine Braut ist sie, meine!« schrie Petr Zilbr.

Katschenka war verwirrt stehengeblieben. Mit vorgebeugtem Körper stierte sie über Petr und den nächsten Kranken hinweg auf den bewußtlosen Anton.

»Einerlei, liebes Kind,« sagte die Oberin, »sei willkommen! Deinem Vater ist nichts geschehen. Du kannst hierbleiben, wenn du uns in der Krankenpflege unterstützen willst und Dienste leisten ohne Ansehen der Person.«

Katschenka faltete die Hände.

»Und er?« rief sie flehend. »Er? Ist er tot?«

Die Oberin blickte das Mädchen scharf aus den klugen Augen an und sagte:

»Dein Bräutigam ist nur leicht verletzt, und auch der andere wird genesen.«

Da schlug Katschenka beide Hände vor die Augen und schluchzte, daß ihr ganzer Körper wie in Krämpfen zitterte.

Jetzt rief ihr der Vater barsch zu:

»So komm, führe mich nach Hause!«

Katschenka ließ die Hände vom tränenüberströmten Antlitze heruntergleiten und schaute um sich. Lange blieben ihre Blicke dort haften, wo Schwester Barbara Antons Stirn wieder mit Eis kühlte. Dann wandte sie sich schaudernd an ihren Vater und flüsterte:

»Laß mich hier, ich darf nicht fort. Ich würde sterben vor Angst.«

Die Oberin beobachtete aufmerksam die Mienen von Vater und Tochter.

»Wenn dein Vater es verlangt, so mußt du ihm folgen,« sagte sie mit milder Stimme.

Katschenka warf sich der Oberin zu Füßen, drückte deren Gewand an ihre Lippen, schrie auf und sprach dann unter Tränen:

»Um Christi Wunden willen, behaltet mich hier, hochwürdige Frau.«

Die Oberin hob das Mädchen liebreich zu sich empor, schlang ihren Arm um sie und sah Svatopluk Prokop mit Augen an, die plötzlich streng und befehlend geworden waren.

Katschenkas Vater knurrte etwas zwischen den Zähnen, was eine Einwilligung oder auch ein Fluch sein konnte. Dann verließ er, schwerfällig auf den Krücken fortschleichend, ohne Dank und ohne Gruß den Krankenraum.

Die Oberin sah ihm lange schweigend nach. Dann ordnete sie ruhig alles an, was nötig war. Nach der Sitte des Hauses durfte niemals eine der barmherzigen Schwestern allein den Saal betreten. Die Oberin gab die Erlaubnis, daß Schwester Barbara sich von nun an von Katschenka begleiten und unterstützen ließ. Nur sollte das fremde Mädchen natürlich ihr theaterhaftes Kostüm ablegen und in bescheidener Tracht erscheinen, wie es sich für so ernste Räume geziemte.

Katschenka blickte bei dieser Mahnung erschreckt auf das bunte Zeug hinunter, das sie anhatte, und riß sich zornig die blau-weiß-rote Schärpe vom Leibe.

Die Oberin erhob zu milder Zurechtweisung den Finger; dann ging sie von Lager zu Lager, schob da ein Kissen zurecht, reichte dort einen kühlenden Trank, erneuerte den Eisumschlag des nur schwach atmenden Anton, sah nach dem Verbande des Schwerverwundeten und verließ endlich mit freundlichem Gruße den Saal.

Katschenka hatte indessen auch ihre Pelzmütze abgenommen und ein graues Tuch, das Barbara ihr brachte, umgebunden. Während die Schwester unter leisen Gesprächen ruhelos ihren Dienst verrichtete, setzte sich Katschenka neben Petr nieder und ließ ihm ihre Hand. Aber starr blickten ihre Augen über das Nachbarlager hinweg unverwandt auf Anton. Petr Zilbr schimpfte auf Gott und die Welt, auf Svatopluk und Zaboj und stöhnte jedesmal jämmerlich auf, wenn er bei der leisesten Bewegung einen Schmerz in seinem Fuße verspürte, oder wenn Schwester Barbara nach Vorschrift des Arztes den Umschlag wechselte.

Der Sträfling mit der zerquetschten Hand, ein mährischer Holzknecht, der wegen Straßenraub zwölf Jahre schweren Kerker erhalten hatte und davon bereits sieben im Zuchthause zum heiligen Joseph zubrachte, hatte schon lange gemurrt.

Nach einem abermaligen häßlichen Aufschrei Petrs sagte er mit demütiger Stimme:

»Ich bitte Sie, Herr Nachbar, Sie wissen nur noch nicht, was hier im Hause der Brauch ist. Hier schreit keiner, und sollte ihm auch ein Bein mit einer stumpfen Säge abgenommen werden. Ja, mein allergnädigstes Fräulein,« wandte er sich mit leiser und demütiger Stimme an Katschenka, »wir haben es hier gut bei den Schwestern, und zum Danke dafür sind wir auch fein still. Früher haben wir die Schmerzen schon ausgehalten aus Respekt vor der hochehrwürdigen Frau Oberin. Da hieß es die Zähne aufeinanderbeißen. Aber jetzt, seitdem Schwester Barbara so oft zu uns kommt, braucht's keinen Respekt, wir fühlen die Schmerzen gar nicht mehr. Und was wir Halunken aus dem Zuchthaus vermögen, das wird doch ein so nobler Herr auch noch zustande bringen.«

Man hörte Schwester Barbara leise in einem Winkel auflachen, wo sie die Bettwäsche für den nächsten Tag zurechtlegte. Petr schämte sich, und da seine Schmerzen im Grunde gar nicht so arg waren, so verhielt er sich ruhig. Er stellte an Katschenka einige Fragen. Sie antwortete nicht, und er ließ seine Stimme zum leisesten Flüstern sinken.

Man hörte in dem dämmerigen Raume bald nichts mehr als die ungleichen Atemzüge der Kranken und ab und zu die flüchtigen Schritte und ein heiteres Trostwort von Schwester Barbara.

Katschenka konnte die Züge Antons nicht mehr erkennen, auch dann nicht, als zwei dienende Schwestern Licht gebracht hatten. Nur auf dem großen Tische, wo Schwester Barbara jetzt die Abendsuppe in kleine Näpfe goß, brannte eine helle Öllampe. Sonst glimmten nur neben jedem Bette die winzigen Nachtlämpchen, und hinten, gerade am Bett des Schwerverwundeten, warf die ewige Leuchte ihre roten Strahlen erschreckend in die Finsternis und auf das schwarze Kreuz mit dem lebensgroßen Christusbilde.

Aber unverwandt starrte Katschenka an Petr vorüber. Dort das Weiße war der Verband, und darunter klaffte gewiß Antons dunkelrote Wunde.

Petr hatte eine Weile wie im Schlafe dagelegen. Dann schlug er die Augen wieder auf und betrachtete seine Braut. Langsam glitt ein böses, spöttisches Lächeln über seine leeren Züge. Endlich sagte er leise:

»Wenn du nur hergekommen bist, meine Liebste, um diesen Kerl anzustieren, der an allem schuld ist, so konntest du zu Hause bleiben. Du weißt doch? Der Gegenbauer muß vor Gericht, sagt der Vater, wenn er mit dem Leben davonkommt. Er ist in unserer friedlichen Versammlung wie ein Räuber aufgetreten, hat sich an deinem Bruder tätlich vergriffen und ist dann, er und die deutschen Bauern, mit Stöcken auf uns losgegangen. Er allein muß vor Gericht. Dein Vater sagt es.«

Katschenka war bei dem ersten Worte zusammengefahren, als hätte sie plötzlich einen Schlag erhalten. Sie verstand nicht, was Petr ihr sagte, sie war ganz allein gewesen mit dem blutenden Anton und mit der ewigen Leuchte dort in der blutig schimmernden Finsternis. Sie hatte in der Stille ein Gelübde getan: Jeder Beteiligung an den Kämpfen ihrer Verwandten zu entsagen, wenn Anton genas. Noch andere Gelübde waren ihr erschreckend in den Sinn gekommen, während sie sich in dem kirchenstillen Raume mit Gott und ihrer Liebe allein fühlte. Wie aus einem stillen Traume hatte Petrs Anrede sie emporgeschreckt.

»Er wird nicht sterben!« sagte sie nach einer bangen Pause. Daß ihr Bräutigam von Anton sprach, war das einzige, was sie vernahm.

Petr lachte dumm vor sich hin.

»Wenn er nicht als Kranker hier bleibt, so kann er ja gleich beim Aufstehen eine Sträflingsjacke anziehen. Das Gericht wird ihn schon verurteilen. Du wirst auch so aussagen müssen, wie dein Vater und wie wir alle. Das wird was zu lachen geben.«

Und Petr versuchte, Katschenka näher an sich heranzuziehen. Da entriß ihm das Mädchen ihre Hand und stieß zwischen den Zähnen hervor:

»Du Schuft!«

Petr verstand das Wort als eine Strafe für seinen Versuch, zärtlich zu werden, und mit ödem Lächeln schloß er die Augen.

Bis Mitternacht durfte Katschenka im Hospital bleiben; dann kamen zwei Schwestern zur Ablösung und Barbara führte das fremde Mädchen durch lange finstere Kreuzgänge, in denen nur die kleinen Lämpchen vor Heiligenbildern den Weg wiesen, in ihre Zelle zur Nachtruhe.

Vom nächsten Tage ab fühlte sich Katschenka, die ein rauhes dunkles Kleid angezogen hatte, schon wie zum Hause gehörig, als sie der fröhlichen Nonne in den Krankenraum folgte, ihr dort bei ihren Verrichtungen oder bei den schweren Pflichten in der Küche oder im Garten beistand.

So arbeitsam und tüchtig, so nützlich hatte sie sich das Leben in einem Kloster nicht gedacht, hatte es nicht für möglich gehalten, daß sie so bald die Freundin einer Nonne werden würde. Der Arzt, der täglich kam, lächelte seltsam über den Eifer der neuen Krankenpflegerin; er nannte Schwester Barbara, die auch er offenbar hochhielt, einmal scherzend: das Lockvögelchen; aber Katschenka sah, mit welcher Hingebung die Kranken gepflegt wurden, unter denen auch Anton war, und sie blickte mit ehrfurchtsvollem Neide auf die barmherzige Schwester.

Der Zustand der Verwundeten veränderte sich nur langsam. Der Sokolist lag noch immer ohne Bewußtsein da; trotzdem jede Hoffnung auf Erhaltung seines Lebens ausgeschlossen war, wurde er mit rührender Sorgfalt gepflegt. Am zweiten Tage trug man sein Lager in einen kleinen unbenutzten Nebenraum, der eigentlich für die Wache haltenden Schwestern bestimmt war.

Anton kam nach vierundzwanzig Stunden zu sich, gerade als der Untersuchungsrichter aus der Kreisstadt angelangt und als ihm von der Oberin der Eintritt ins Hospital verwehrt worden war.

Tag um Tag verging, ohne daß der Arzt Erlaubnis gab, mit diesem Kranken zu sprechen. Anton lag still, gehorchte bald jeder Anordnung seines Freundes, blickte Schwester Barbara jedesmal neugierig und dankbar an, aber Katschenka wußte noch nicht, ob er ihre Anwesenheit auch nur bemerkt hatte.

Erst am vierten Tage, am Sonntag, während der Messe, als voller Orgelklang aus dem Kloster herübertönte und Schwester Barbara auf den Knien vor dem Kruzifix ein lautes langes Gebet sprach, wagte sie es, in der engen Gasse zwischen den Betten an Anton heranzutreten und ihm den Trank zu reichen, nach dem er zu verlangen schien.

Klingend schlug der zitternde Löffel an das Glas.

Der Kranke blickte sie aus großen fiebernden Augen lange an, dann nahm er die Arznei und flüsterte:

»Ich danke dir, Katschenka.«

Schluchzend vor Freude kehrte sie zu Petr zurück und widmete sich auch ihm von Stund an freundlicher als bisher. Hatte sie es doch nur ihm und seinen Schmerzen zu danken, daß sie hierbleiben und bei der Pflege des Geliebten bescheiden tätig sein konnte.

Der Arzt war heute mit Antons Befinden sehr zufrieden. Er machte seine Anordnungen mit weniger Strenge als bisher und gestattete, daß die Kranken mit leichtem Geplauder unterhalten würden. Petr, der unaufhörlich über Langeweile klagte, trotzdem ihm täglich seine Zeitungen gebracht wurden, war über die Veränderung nicht wenig froh.

Der Sträfling neben ihm war ohnedies glücklich über jedes Wort, das aus dieser freien Welt zu ihm drang. Die beiden anderen Gefangenen waren schon tags vorher aus dem Hospital traurig in den Kerker zurückgekehrt. Und der arme Aufgegebene im Nebenraum war weder durch Stille noch durch Unterhaltung zum Leben zu wecken.

Im Hospitale mußte Deutsch gesprochen werden, damit alle einander verstanden, und so las denn Katschenka aus einem deutschen Legendenbuch allerlei erbauliche Geschichten vor. Die Leserin und Schwester Barbara liebten die frommen Märchen, und auch der Sträfling, welchem am Montag früh ein Finger amputiert werden sollte, nahm einigen Anteil.

Da aber Petr bald zu gähnen anfing und auch Anton mit keinem Zuge verriet, daß er zuhörte, wurde Katschenka ihrer fruchtlosen Bemühung endlich müde und fragte plötzlich mitten in einer schönen Geschichte:

»Darf ich vielleicht singen, Schwester Barbara?«

Wie glücklich sie war, daß sie's getroffen hatte! In Antons Augen leuchtete es zum ersten Male freudig auf.

Schwester Barbara wollte vor Lachen über den Einfall beinahe den Wassereimer fallen lassen, den sie eben auf den Tisch emporhob. Doch nach einiger Überlegung ging sie mit dem Gaste zu der Oberin, um wegen des Singens eine Entscheidung einzuholen.

Katschenka betrachtete staunend die einfache und doch wieder kostbare Einrichtung der Zelle.

Die Oberin, welche zu der Freundschaft der Nonne und des fremden Mädchens bei jedem Besuche des Hospitals mütterlich lächelte, gab unbedenklich ihre Zustimmung.

Glücklich wie zwei Schulmädchen eilten die Freundinnen zu den Kranken zurück. Und während die Schwester rastlos ihrer Arbeit oblag und Katschenka wieder von Petrs Lager aus mit glänzenden Augen nach Anton hinübersah, stimmten sie zuerst, wie sich's gebührte, zweistimmig ein altes Marienlied an. Dann verstummte die Schwester, und leise, zögernd, mit ängstlichem Glücke begann Katschenka eines der tschechischen Schelmenliedchen, die sie den Geliebten zu lehren versucht hatte, als sie beide noch Kinder waren:

»Liebst du mich, so verkauf' deine Kuh,
Was du hast, jeden Strumpf, jeden Schuh
Und geh' barfuß.
Mit dem Geld zu dem Herrn General
In die Stadt lauf' ich schnell und ich zahl',
Statt zu dienen.

Kann nicht fort, du mein Barfuß, von dir!
Schösse tot alle mein' Offizier
Und mich selber!
Bleib' mein Schatz, sei mein Weib, bloß und arm!
Lege dir meine Hand, weich und warm,
Unters Füßchen.«

Der Sträfling hob die gesunde Hand zu den Augen, Petr lachte laut und Anton bewegte lächelnd die Lippen.

Katschenka sah nur ihn und fing eine andere Weise an:

»Hab' mir darum bunte Bänder, seid'ne Flicken eingekauft,
Damit Nazi um meine Liebe mit den stärksten Burschen rauft,
Bunte Bänder, seidne Flicken, rot, weiß, blau!
Damit er mir nicht nach andern Mädeln lauft.
Hundert Rinder hat der Schulze, hat mein Vater auf dem Gut,
Nichts hat Nazi als nur seinen grünen Tannbruch auf dem Hut.
Doch die reiche Schulzentochter will er nicht,
Einer hübschen Bettelmagd ist Nazi gut.«

Sie hatte wieder das Richtige getroffen, denn Anton bewegte auf seiner Decke im Takte leise die Finger. Schwester Barbara wusch mit abgewandtem Gesichte das Geschirr ab, sie hatte die Melodie halblaut mitgesungen. Da begann Katschenka wieder, und wieder in tschechischer Sprache:

»Hat mir's Gottes Gnade bestimmt,
Daß der hübsche Pfeifer mich nimmt,
Will ich seinen Ranzen tragen,
Für ihn betteln und nicht klagen.
Schleppe gern den Dudelsack,
Laß mich schelten: Lumpenpack! –
Wenn mir's Gottes Gnade bestimmt,
Daß der deutsche Pfeifer mich nimmt.«

Sie hatte es gewagt. Im letzten Verse hatte sie »deutscher Pfeifer« gesungen, anstatt »hübscher Pfeifer«.

Ob er's bemerkte, ob er den Wortlaut von damals her noch genau im Ohre hatte? Ja! Eine fliegende Röte war über seine Wangen geschlüpft; und kecker begann Katschenka jetzt die Liebeslieder ihrer Heimat zu singen, die übermütigen Tanzweisen und die tief melancholischen Gesänge, wie sie in den Wäldern und auf den Wiesen Böhmens überall und allezeit ertönen bei der Arbeit und nach Feierabend.

»Kuckuck ruft's im Walde,
Kuckuck ruft es, wie behext.
Sag', mein Lieb, wo bist du?
Sag', mein Liebchen, wo du steckst?
Bist du mir vom Himmel kommen?
Hat die Hölle mein Herz genommen?
Sag', mein Liebchen, wo du steckst!
Kuckuck ruft es, wie behext.«

Diese Worte, die im Slawischen besonders schwer auszusprechen waren, hatte Anton schon als zehnjähriger Bursche, ohne den Wortlaut zu verstehen, ganz prächtig nachzusingen gewußt. Ja, er hatte nichts vergessen! Wie er die bleichen Lippen leise murmelnd bewegte! Küssen! Daß sie's nicht durfte! Aber mit ihren Liedern durfte sie ihn küssen! Und des Ortes vergessend, fast mit voller Stimme sang sie die einfachen Worte, deren unergründlich schwermütige Weise immer sein Liebling unter den böhmischen Melodien gewesen war:

»Berge ragen, hoch wie die Sterne,
Drüben wohnt sie, mir so ferne.
Unsere Liebe, unsere Lieder
Wandeln furchtlos hin und wieder.«

Katschenka mußte aufhören, denn Anton war blaß geworden und schloß wie in einer Ohnmacht die Augen. Auch Schwester Barbara kam plötzlich heran und meinte, es wäre nun genug. Sie hatte rotgeweinte Augen.

»Das muß lustig sein,« sagte sie vor dem Schlafengehen zu Katschenka, »wenn man den ganzen Tag Lieder von unglücklicher Liebe singen darf. Mich wundert, daß die hochehrwürdige Frau Oberin es erlaubt hat.«

Aber schon am nächsten Nachmittag, nach einer kurzen Audienz bei der Oberin, kam sie schmeichelnd zu Katschenka und bat sie, wieder zu singen.

»Du, das ist eine Ehre! Die hochwürdige Frau hat gestern draußen neben dem Wachtposten gestanden und eine ganze Weile zugehört. Es wäre ein Gewinn fürs ganze Kloster, wenn du im Chor mitsingen könntest, hat sie gesagt. Und deine Stimme wäre für die Domkirche nicht zu schlecht.«

Katschenka lachte geschmeichelt, weil auch Anton das Lob gehört haben mußte. Und sie kargte nicht mit ihrer Stimme und mit ihren Liedern. Gleich nach dem Mittagessen, an dem jetzt auch Anton teilnehmen konnte, wurde gesungen, und dann wieder des Abends vor dem Einschlafen.

Sie konnte nicht daran zweifeln, daß der Kranke, für den allein sie ihre Stimme erklingen ließ, gern zuhörte. Aber je mehr seine Genesung fortschritt und ein je fröhlicheres Gesicht der Arzt nach der Untersuchung machte, um so nachdenklicher wurde der Kranke. Und selbst Zeichen von Ungeduld gab er, wenn er jetzt allerlei Fragen stellte und der Arzt ihn bald streng, bald lachend auf die baldige Zeit seiner Entlassung vertröstete. Katschenka, die manches zu Hause und jetzt von Petr gehört hatte und anderes ahnte, empfand die Sorgen des Geliebten wie ihre eigenen und nahm den Arzt einmal beiseite, um sich von ihm die Fragen des Kranken wiederholen zu lassen. Denn immer noch wagte sie sich nicht leicht in Antons Nähe.

Der Arzt lächelte recht spöttisch, als Katschenka so dringend um sein Vertrauen bat; er sagte:

»Fragen Sie nur Ihren Bruder, liebes Fräulein, der weiß vielleicht mehr als Anton Gegenbauer selbst. Denn der phantasiert noch, wie es scheint. Sie werden meinen Freund sehr stark und gesund machen müssen, damit er später die kleinen Bosheiten Ihrer werten Familie erträgt. Er sieht sich schon vor Gericht: vor dem Strafgericht und vor dem Handelsgericht. Na, so schlimm wird es wohl nicht kommen.«

Katschenka war bleich geworden. Sie reichte dem Arzte die Hand und sagte ehrlich:

»Um Gottes willen, Herr Doktor, er phantasiert nicht. Er ist nur so empfindlich und fürchtet, daß er bankerott gemacht wird, während er hier stille liegen muß. Das ist's allein, woran er denkt. Ich weiß es. Sprechen Sie mit ihm darüber. Das wird ihm weniger schaden als sein nutzloses Brüten. Glauben Sie mir! Ich beobachte ihn ja unaufhörlich!«

Der Arzt erwiderte kräftig ihren Händedruck.

»Das habe ich nicht gewußt,« sagte er, »und ich will Ihnen sogleich gehorchen. Sie sind eine gute Freundin.«

Er setzte sich zu Anton auf den Bettrand und während er seinen Puls zwischen den Fingern hielt, gab er ihm die heißersehnte Erlaubnis, ihm Aufträge an die Außenwelt zu erteilen.

Katschenka hatte recht. Anton machte sich schlimme Sorgen um seine Fabrik, die in der schwierigsten Zeit ohne seine Leitung geblieben war. Der Arzt mußte noch heute zum Buchhalter hinüber und Nachrichten einholen.

Was er schon einige Stunden später zurückbrachte, lautete allerdings bedenklich genug; aber zum Glück brachte er auch die Aussicht auf Hilfe mit. Die Fabrik hatte nur mit äußerster Mühe die fälligen Zahlungen leisten können und stand mittellos dem nahen Ersten gegenüber. Doch vor wenigen Tagen war im Auftrage der gräflichen Kanzlei der Rentamtsschreiber dagewesen, derselbe, der auf der Volksversammlung Antons Reden gehört hatte. Die Kanzlei bot zu sehr mäßigen Bedingungen, gegen einen einfachen Schuldschein ein bedeutendes Kapital an. Offenbar fühlten sich die gräflichen Beamten an dem blutigen Ausgang des Meeting mitschuldig und mochten dem Grafen zu seinem großmütigen Anerbieten geraten haben.

Anton zögerte, von dieser Seite Geld zu nehmen; denn auch der Graf war bei dem letzten Regierungswechsel entschieden in das tschechische Lager übergegangen, und Anton mißtraute jeder Hilfe, die von dort kam. Der Arzt aber, der seinen Kranken vor allem gerne beruhigt hätte, berief sich darauf, daß der Graf bei alledem doch ein Kavalier war, und so entschloß sich der Fabrikant endlich, die Hilfe anzunehmen, die ihn möglicherweise, wenn die Absicht loyal war, wieder zum Herrn der Lage machte. Der Arzt selbst vermittelte schnell das Geschäft zwischen dem Rentamtsschreiber und Anton. Und Katschenka sang wieder die heitersten Lieder, als ihr Geliebter freudiger als bisher zu lauschen schien.

Es war ihr darum ein nicht geringer Schrecken, als der Arzt am zweiten Freitag nach dem Unglückstage ruhig erklärte, Petr sei hergestellt, solle heute im Krankensaale auf- und niedergehen und sich morgen früh nach Hause trollen. Mit aufgehobenen Händen blickte sie den Doktor flehend an. Der aber zuckte nur die Achseln und ging, nach dem Turner zu sehen, der kaum mehr ein Lebenszeichen von sich gab und dessen stilles Verscheiden noch heute erwartet wurde.

So hoffnungslos dessen Zustand auch von Anfang an gewesen war, so verdüsterte doch der nahende Tod das Hospital. Schwester Barbara huschte völlig unhörbar hin und her, Anton schwieg in ernsten Gedanken.

Der Sträfling, dem man heute schon wieder einen Finger amputiert hatte, rauchte trotzig seine Schmerzenspfeife, und Petr, den die Nähe des Sterbenden quälte, schlich ängstlich am entgegengesetzten Ende des Raumes auf und nieder, um sein schwaches linkes Bein wieder im Gehen zu üben.

Da war es nicht zu verwundern, daß auch Katschenka heute verstummte. So bleich, als wäre sie selbst krank, half sie der Schwester bei den gröbsten Arbeiten oder setzte sich wie gebrochen vor Müdigkeit auf den einzigen Stuhl neben Petrs verlassenes Lager. Und wie am ersten Tage, so bohrten sich auch jetzt wieder, über den Sträfling hinweg, ihre Augen in die des Geliebten.

Der tschechische Turner lebte noch, als Licht gebracht wurde und als Petr, von seinem kurzen Spaziergang schwach geworden, sich schlafen legte. Dann wurde es totenstill im Krankenraum.

Die Flügeltür zu dem matt erleuchteten Nebengemach stand weit geöffnet.

Eine Stunde lang sah man Schwester Barbara stumm über den Sterbenden gebeugt.

So lautlos war es drin und hier, daß man es vernahm, wenn einer der kleinen Dochte in den Nachtlämpchen höher aufflackerte. Die ewige Leuchte unter dem Kruzifix blinkte so winzig wie ein rötlicher Stern in der Nacht.

Plötzlich ertönte in eigentümlich raschem Rhythmus ein silbernes Glöcklein. Gleich darauf erschien eine ältere barmherzige Schwester im Saal, und sie und Schwester Barbara knieten rechts und links, die ganze Nacht unablässig Gebete murmelnd, neben dem Toten.

Beim Klange des silbernen Glöckchens hatte der Sträfling die kalte Pfeife aus dem Munde genommen und Katschenka hatte ein Kreuz geschlagen.

Sie verging vor Angst. War es der Tod des fremden Mannes, waren es die Gebete der Nonne, war es die Furcht, Anton so bald verlassen zu müssen? Sie wußte es selber nicht, was sie so tief ergriff. Aber sie konnte nicht anders, auch sie stürzte in die Knie und betete lange – für wen?

Als sie sich verstört wieder erhob, war es tief in der Nacht. Der Sträfling, der vor Schmerzen nicht schlafen konnte, biß wieder an der Pfeife. Auch Anton lag mit offenen Augen da. Im schwachen Schimmer des Nachtlämpchens sah sie seine Augen erglänzen. Auf den Zehen schlich sie näher, bis an das Fußende des nächsten Bettes. Dort hielt sie sich am Pfosten fest und senkte traurig das Haupt. Da vernahm sie plötzlich die leise Stimme des Sträflings:

»Ich bitte gehorsamst, mein allergnädigstes Fräulein, sprechen Sie doch mit ihm, es tut mir ja wehe, wie Sie sich quälen. Sprechen Sie mit ihm, als ob Sie allein wären. Die Schwestern hören nicht und unsereins ist kein Mensch, auf den gnädiges Fräulein Rücksicht zu nehmen braucht.«

Katschenka erglühte vor Scham. Sie wollte zurückkehren, aber sie sah die Augen des Geliebten auf sich gerichtet, und mit gesenktem Haupte schob sie sich mit winzigen Schritten langsam an Antons Lager hin, bis sie plötzlich seine Hand zwischen den ihrigen fühlte und fast bewußtlos zusammensank.

Anton ergriff zuerst das Wort:

»Es ist gut, daß ich dich spreche. So kann ich dir sagen, daß es zum letzten Male ist. Es würde mir wehe tun, wie der Steinwurf deiner Leute, wenn ich dich wieder auf meinen Wegen fände.«

Noch leiser als er hauchte sie:

»Verzeih' mir, Anton. Wenn du wüßtest, wie ich dich lieb hab', wenn du wüßtest, in welche Verzweiflung die Härte meines Vaters mich getrieben hat, du wärest nicht so ganz ohne Mitleid, Anton! Nicht so! Nicht so! Morgen muß ich dich verlassen! Bin ich dir denn gar nichts mehr? Oh, wie beneide ich den Toten drüben! Seine Seele schwebt zum Himmel empor, während barmherzige Schwestern für ihn beten, und sein armer Leib mit allem, was sündhaft daran war, schläft den ewigen Schlaf!«

»Auch ich beneide ihn um den Frieden, den er fand. Aber ich habe den Kampf nicht gewählt, ihr habt ihn mir wie einen Stein von der Straße ins Haus hineingeworfen. Ihr habt mich um alles gebracht. Was ich lieb gehabt hab', das hab' ich verloren. Auch dich. Und das hat sehr weh getan.«

Das Mädchen bedeckte seine kühle Hand mit glühenden Küssen, bis er sie ihr entzog.

»So hast du mich lieb gehabt!« flüsterte sie mit verhauchendem Lachen. »So liebst du mich noch und ich kann noch glücklich werden, kann noch selig werden auf Erden.«

»Nein,« flüsterte er, und seine Stimme klang nicht minder traurig als die Gebete der Nonnen. »Nein, das ist vorbei, ich habe dich geliebt so heiß und so innig, daß es nicht zu sagen ist. Und als ich das letztemal zu dir sprach und von dir verlangte, du sollst dein Volk verlassen, um mir zu gehören, da habe ich gelogen. Denn, jede Fiber in mir zuckte danach, dich zu umarmen, und mein dummer Stolz nur war es, der dir eine so harte Bedingung stellte. Erst in der Volksversammlung ist etwas Entsetzliches zwischen uns getreten. Ob's mein Blut ist, ob der Tote dort, ich weiß es nicht. Aus ist's und vorbei.«

Ein leiser banger Weheruf drang durch den Krankensaal. Aber Schwester Barbara, die ihr Gebet unterbrach, vernahm dann nur, wie der Sträfling laut ächzte. Er hörte nicht auf zu ächzen, bis Katschenka sich gefaßt hatte und zu den barmherzigen Schwestern wankte, wo sie neben dem Toten auf ihre Knie niedersank.

Als der Morgen anbrach, bat Katschenka, ob sie das dunkle Gewand nicht behalten dürfte. Dann küßte sie Schwester Barbara, drückte dem Sträfling die gesunde Hand und, ohne einen Blick nach Anton, verließ sie den Krankenraum und ging schweren Schrittes zur Oberin, um Abschied zu nehmen. Dort sank sie der ehrwürdigen Dame zu Füßen nieder und schluchzte alle Qual der letzten Nacht in die Falten ihres Gewandes aus.

Die Oberin blickte scharf, wenn auch nicht unfreundlich, auf das zerschmetterte Mädchen nieder und sprach mit ihrer gleichmäßig milden Stimme:

»Mir ist der Schmerz nicht fremd, liebes Kind. Wenn du willst, will ich dir einmal zu deinem Troste meine eigene Geschichte erzählen. Ich bin auf den Höhen des Lebens geboren, ich habe fürstliche Verwandte. Und ich bin ins Kloster gegangen, um mich den Mördern zu widmen, die keine Fürsten sind!«

In ihrem Jammer schauerte Katschenka zusammen. Es schadete dem Ansehen der Heiligen nicht, was man sich in der ganzen Gegend als lautes Geheimnis erzählte, was auch die Tochter Svatopluks seit ihrer Kindheit hörte.

Der Bruder der Oberin, so sagten die Leute, hatte einst im Zorn einen Diener erschossen. Die Tat blieb straflos, der Mörder war ein Fürst. Und darum widmete die Schwester ihr reiches Leben den Mördern, die keine Fürsten sind.

Ohne aufzublicken flüsterte Katschenka: »Wie hoch steht Ihr über den erbärmlichen Kämpfen dieses Landes, die den Bruder von dem Bruder reißen, den Bräutigam von der Braut, das Kind vom Vater.«

Die Oberin küßte das Mädchen auf das üppige Haar und sagte:

»Als der Heiland sprach: Liebet einander! da gab es noch keinen Deutschen und keinen Tschechen. Und doch ward das Wort gesprochen. Und am Tage des Jüngsten Gerichts wird es wieder keinen Deutschen und keinen Tschechen geben und doch wird es Krieg geben auf Erden bis zu diesem Tage. Nur im Glauben ist Friede.«

Dann war Katschenka entlassen.

Zehntes Kapitel

Schon am zweitnächsten Sonntage konnte Anton Gegenbauer am Arm des Arztes das Hospital verlassen.

»Grüßen Sie Katschenka,« hatte Schwester Barbara ihm aufgetragen, und: »Einen Handkuß für die Lieder an das schöne Fräulein!« hatte der Sträfling demütig gerufen. Nur die Oberin erwähnte beim Abschied nicht des tschechischen Mädchens.

»Unseres Herrn Haus hat viele Wohnungen,« hatte sie nur gesagt, »unser Hospital steht den verletzten Körpern offen, unser Kloster den verletzten Seelen.«

Am Kreuzweg auf dem Sankt Josephsberge, dort wo der Kampf stattgefunden hatte, sagte Anton dem Arzte Lebewohl und schritt allein geradeaus über die sonnigen Hügel dem Wolfsberge zu. Er fühlte sich freier und mutiger als in der Stunde, da er zornig die Rednerbühne der Volksversammlung betreten hatte.

Man hatte ihm gesagt, daß er blaß aussehe und daß die rote Narbe auf seiner Schläfe schrecklich sei, daß er sich Haar und Bart werde kürzen lassen müssen, damit man ihn wiedererkenne. Doch Anton ging heiter seines Weges, so sehr er auch seine Kräfte schonen und so fest er sich auch auf seinen Stab stützen mußte. Er hatte sich selbst wiedererkannt und wiedergefunden, jetzt leuchtete ihm der Himmel und er fühlte sich stark genug, die Last seiner Pflichten ferner zu tragen.

Auf dem öden Hofe der Fabrik empfingen ihn Tomek und sein Weib. Mit wenig Worten berichtete der Mann, was er wußte. Gerichtspersonen waren gekommen und hatten sich zurückgezogen, als sie hörten, der Herr sei bei den Barmherzigen. Und Nacht für Nacht seien Strolche dagewesen, mit Leitern und mit Hacken, um die deutsche Inschrift zu entfernen. Aber Tomek habe mit seinem Hunde Wache gehalten, Nacht für Nacht; habe einmal sogar ein Pistol abfeuern müssen, um die Räuber in die Flucht zu schlagen.

Nur die Gemeinheit, die auch bei Tage geschah, habe er nicht verhindern können. Und er zeigte mit zugekniffenen Augen nach der Inschrift, von der einzelne Worte schon verschwanden unter der Kruste von Schmutz, mit dem man sie beworfen hatte.

»Gnädigster Herr,« so schloß Tomek seinen Bericht, »ich lass' mich nicht abspenstig machen. Ich führe ein entsetzliches Leben hier in Blatna, weil ich dem gnädigen Herrn treu bin. Mein eigenes Enkelkind, der Voita, schimpft mich und hilft den Strolchen, wenn sie die Inschrift beschmeißen. Gnädiger Herr, ein paar Gulden Zulage und einen guten Pelz zu Weihnachten hätte ich wohl verdient.«

Anton sagte alles zu und zog sich verstimmt auf sein Zimmer zurück. Dort las er aufmerksam alles durch, was sich während seiner Krankheit ereignet hatte. Und er schlug mehr als einmal mit der geballten Faust auf den Tisch vor Zorn über die Klugheit der reichen Herren, welche deutlicher als er selber die Bedeutung seines örtlichen Kampfes für die deutsche Sache aussprachen und welche dennoch entschlossen schienen, den kleinen Fabrikanten ihren großen Geldinteressen zu opfern.

Am Nachmittage traten bei ihm der Buchhalter und der Werkführer sowie die beiden Führer des Oberndorfer Schulvereins zu einer Beratung ein.

Anton hatte freundlich ein frisches Achtel Bier angestochen und bat die Freunde, die mit feierlichen Gesichtern um ihn her saßen, sich mit ihm seiner Genesung zu freuen. Erst allmählich dämmerte im Hausherrn die Vermutung auf, daß man ihm etwas verheimliche, daß während seiner Abwesenheit neue Gefahren aufgetaucht waren. Da sprang er auf, griff nach seinem Glase und rief:

»Der erste und letzte Schluck, den mir der gestrenge Arzt heute gestattet, sei auf den Sieg unserer Sache getrunken. Wir waren friedliche Leute, man hat uns mit Gewalt zu Politikern gemacht. Im öffentlichen Leben gibt es keine Schonung. Heraus mit der Sprache. Was soll's? Soll ich mich am Ende gar wegen des erschlagenen tschechischen Turners verantworten?«

Und Anton lachte zornig auf.

»Ja,« sprach der Vorstand des Schulvereins.

Und nun erzählten alle, was sie wußten.

So oft auch Anton rief: »Es ist nicht möglich!« – er mußte es schließlich glauben, was alle bestätigten.

Die Voruntersuchung wegen des Überfalles am Sankt Josephsberge war von Blatna und der Kreishauptstadt aus eifrig geführt worden, hatte aber keinen anderen Nachweis zum Ergebnis gehabt als die völlige Unschuld der tschechischen Leiter. In den nationalen Hetzblättern wurde berichtet, daß der fanatische Gegenbauer an der Spitze von entwichenen Sträflingen über die friedliche Versammlung hergefallen sei und sie gesprengt habe. Auch aufreizende Reden sollte er geführt haben.

Die deutschen Bauern zitterten vor ihren geistlichen Hirten und hielten den Gegenbauer für tot. Es war nicht daran zu zweifeln, daß er verhaftet würde, heute oder morgen. Ohne die Unschlüssigkeit der Behörden hätte ihn der Gendarm gleich am Klostertore in Empfang genommen.

Anton rief bitter:

»Das müßte lustig zu lesen sein, für jemanden, den es nichts angeht! Es wird ja immer besser. Wer sich von den Herren Slawen totschlagen läßt, ist ein braver Mann; wer aber mit dem Leben davonkommt oder sich gar zur Wehre setzt, der ist ein Verbrecher. Oho, so weit sind wir noch nicht! Meine reichen Herren Wohltäter in Wien haben Einfluß bis hoch hinauf. Und da sie kein Geld dabei zu gewinnen haben, wenn ich aus dem Hospital ins Gefängnis komme, so werden sie mich schützen. Sie sind gut deutsch, wo es nur Worte kostet, und hier genügen laute Worte. Ich fahre noch heute nach Wien.«

Alle stimmten ihm bei und tranken ihm zu. Der zweite Vorstand des Schulvereins jedoch ergriff das Wort und erzählte, daß dem Freunde noch eine andere Falle gestellt wäre, vielleicht noch gefährlicher als die Drohung mit dem Gericht.

Der Schulverein hatte wie im Kriege seine Kundschafter, welche von überallher Nachrichten sammelten, die auf die Landtagswahlen Bezug haben konnten.

Nun hatte sich in den letzten Tagen eine sehr wichtige Frage entschieden.

Der deutsche Abgeordnete von Blatna-Oberndorf war bei einer Nachwahl im südwestlichen Böhmen durchgedrungen, in einer der Landgemeinden, über welche Fürst Schwarzenberg seit Jahren durch tschechische Beamte, Pächter und Geistliche den tschechischen Geist auszugießen suchte. Dort hatten die Deutschen ihre Kräfte bis auf den letzten Atemzug anspannen müssen, um zu siegen.

Wenn der Herr dort die Wahl nicht annahm, so war in einem neuen Kampfe die Niederlage wahrscheinlich. Er legte darum lieber hier in Blatna-Oberndorf sein Mandat nieder, weil dieser Bezirk ein alter, sicherer Besitz der Deutschen schien, und wurde Abgeordneter jener gefährdeten Gemeinde.

Nun war aber Blatna-Oberndorf längst keine Burg der Deutschen mehr. Bei der letzten Wahl vor Weihnachten hatte ihre Mehrheit nur noch um fünfzehn Stimmen betragen, und jetzt waren die Tschechen unter Zabojs Leitung unablässig tätig, in heimlicher Arbeit ihren Sieg vorzubereiten. Die zwei ältesten gräflichen Beamten von Oberndorf, der Kastellan und der Rentmeister, waren mit Entlassung bedroht worden, wenn sie noch einmal für den Deutschen stimmten. Einige Freigeister in Blatna, welche sich Jungtschechen nannten und dem ultramontanen Kandidaten ihre Stimme verweigert hatten, waren jetzt bereit, für die höhere Ehre der Nation ihren Verstand zu opfern. Auf dem Gericht von Oberndorf war ein neuer Adjunkt aufgetaucht, der am ersten Tage gleich seinem Vorgesetzten über seine mangelhafte tschechische Orthographie Vorwürfe machte. Und drei deutsche Familien hatten ihr Anwesen verkauft und waren fortgezogen, man wußte nicht wie und wohin.

Jetzt standen die beiden Parteien gleich mächtig einander gegenüber. In den nächsten Tagen mußte die neue Wahl ausgeschrieben werden und dann entschied wahrscheinlich eine ganz kleine Zahl schon über den Ausfall.

Da war es kein Wunder, wenn die Tschechen mit allen Mitteln um jede einzelne Stimme rangen. Politischer Eifer und Haß vereinigten sich, um gerade den letzten Deutschen von Blatna um sein Wahlrecht zu bringen.

Wenn man der Nation berichten konnte, daß in Blatna keine deutsche Stimme mehr abgegeben würde! Für dieses Ziel war kein Weg zu schlecht.

Der Vorstand des Schulvereins wußte, daß Anton Gegenbauer die Hilfe der gräflichen Kanzlei in Anspruch genommen hatte.

Der Graf tat jetzt, als hätte der Rentmeister ohne seine Einwilligung gehandelt. Die Summe sollte sofort zurückverlangt werden: wenn die Wiener Banken ihn nicht hielten, dann war Gegenbauer bankerott, seine Firma in Gant und sein Wahlrecht verloren.

Der Vorstand des Schulvereins hatte sich erhoben, während er seinen ausführlichen Bericht zu Ende führte, und rief, indem er mit geballter Faust nach der Stadt hinunterdrohte:

»So kämpfen unsere Gegner. In jedem Dorfe des Landes wird ein ganzes Heer von Leuten, die aus Fanatismus zu allem fähig sind, gegen jede kleinste Regung des Deutschtums aufgeboten. Auf jeden Punkt, den wir verteidigen wollen, wirft sich die Übermacht der Rücksichtslosigkeit und erdrückt uns. Finis Germaniae! Gottlob in Böhmen nur. Das gelobte Land ist erstanden vor unseren Blicken, aber wir werden es nur von den Bergen sehen, wir werden sterben, ohne es zu betreten. Ohne Bundesgenossen ist uns vor dieser Übermacht der Tod gewiß.«

Alle schwiegen, Anton sprang auf, seine Narbe glühte.

»Des Hasen Tod sind viele Feinde, nicht der unsere! Mir bleibt nur noch eins zu tun übrig und ich will es tun. Ich will ein Beispiel geben. Die Lebensarbeit von meinem armen Vater und von mir selber will ich hergeben für die einzige Stimme, die unserer Sache dient. Täte ein jeder so ...«

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Die alte Frau des Tomek kam mit Licht herein. Sie hatte verweinte Augen. Schon hatte sie die Tür beinahe wieder hinter sich verschlossen, da rief ihr Anton mitleidig nach:

»Was haben Sie? Ist Voita krank?«

Das Weib blieb zitternd stehen und rief durch die Türspalte:

»Der Gendarm sitzt drüben bei Tomek; er wartet, bis die anderen Herren fort sind.«

Als die Tür wieder hinter der Frau geschlossen war, gab es einen Aufstand. Ein jeder wußte einen anderen Rat zu geben. Anton aber übertönte das Rufen mit fester Stimme:

»Ruhe!« sagte er. »Wir dürfen mit Reden keine Zeit verlieren. Wenn ich sofort entwische, so erreiche ich noch den Wiener Zug, so langsam ich auch gehen mag. Der Herr Buchhalter wird mich begleiten. Ich brauche vielleicht eine Stütze, auch habe ich mancherlei mit ihm zu sprechen. Morgen früh bin ich in Wien und dort werden sie mich nicht zu verhaften wagen. Noch ist Wien eine deutsche Stadt. Und von dort aus will ich die Wahrheit erzählen. Wenn sie erst ausgesprochen ist, so werden sich auch weitere Zeugen für sie finden. Sie, meine Herren, bitte ich hier zu bleiben und das Fäßchen ruhig auf das Gelingen meiner Flucht auszutrinken. Meiner Flucht! Es ist wirklich zum Lachen.«

Der zweite Vorstand des Schulvereins hatte schon vier Krügel getrunken. Er wollte von Kriegslist nichts wissen; man sollte Gewalt gebrauchen und dem Lande ein Zeichen geben.

Die anderen mußten jedoch dem Gegenbauer-Anton recht geben, und der Buchhalter haftete für das Gelingen seines Planes, den er schon ausgeheckt hätte.

»Nur müssen die Herren hier munter beisammen bleiben und die Aufmerksamkeit ablenken. In Abwesenheit des Herrn Gegenbauer könnt ihr ja das Lied von der letzten Schlacht singen. Das wird den Gendarm so ärgern, daß er eine Weile den Gegenbauer vergißt.«

Das Lied von Moltkes letzter Schlacht, das jetzt allenthalben bei deutschen Festen gesungen wurde, mochte Anton niemals mit anstimmen. Er schalt es roh und barbarisch. Jetzt dachte er nicht mehr an solche Rücksicht.

»Singt meinetwegen das wüste Kriegslied! Wir haben Krieg!«

Ruhig steckte er Geld und Papiere zu sich, nahm einen schweren Mantel um und verließ nach kurzem Abschied mit dem Buchhalter das Haus.

Auf der Treppe erst teilte der Buchhalter den Weg mit, auf welchem der Gendarm zu täuschen war. Da dieser die Verhaftung in aller Stille vollziehen wollte und darum den Aufbruch der Gäste abwartete, war fürs erste nichts von ihm zu fürchten, und Anton ging auf des Buchhalters Einfall ein. Er rief Tomek aus seinem Häuschen und befahl ihm, die Schlüssel der Fabrik zu bringen. Er habe nach so langer Abwesenheit allerlei in der Schreibstube nachzusehen. Dabei blickte er den Tomek prüfend an, ob er in seinem Gesicht nicht Reue über den Verrat fände.

»Ist niemand bei dir drin?« fragte er.

»Nein, Euer Gnaden,« antwortete der Knecht und starrte mit seinem gewohnten unterwürfigen Ausdruck den Herrn an. Nur sein Rücken krümmte sich ein wenig, wie der eines Hundes, welcher genascht hat.

Anton ließ sich die Fabrik aufschließen, trat ein, schlug das Tor wieder hinter sich zu, zündete in der Schreibstube eine Flamme an und schritt dann sicher durch die hallenden, dämmrigen Räume nach dem Maschinenhause, von wo eine kleine Tür ins Freie führte.

Die Freunde blieben in gedrückter Stimmung beim Biere sitzen. Aber als erst einige Minuten verstrichen waren, ohne daß der Gendarm das Häuschen des Wächters verließ, wurden sie wieder zuversichtlich.

»Lassen wir jetzt das Lied steigen, das Lied von der letzten Schlacht!« rief der zweite Vorstand des Schulvereins, der das Gymnasium besucht hatte und studentische Redensarten liebte.

»Herr Gegenbauer hat eigentlich recht,« meinte der Werkführer. »Das Lied sollten wir nicht so oft singen. Das ist ja ebenso nichtswürdig wie das tschechische: Mord und Tod den Deutschen!«

»Ach was!« sagte der erste Vorstand. »Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Der Lehrer hat eine gute Stunde gehabt, wie er die Verse gemacht hat. Und jeder Deutsch-Böhme sollte es auswendig kennen. Legen wir los!«

Und die drei Männer sangen nach der Weise »Prinz Eugen« mit kräftigen Stimmen des Lehrers Lied von der Phantasieschlacht der Deutschen gegen alle Slawen und Franzosen, das Lied von der letzten Schlacht des hundertjährigen Moltke.

»Russen, Serben, alle Slawen
Mit Franzosen und schwarzen Zuaven
Rückten an mit aller Macht.
Leipzig ach! die große Seestadt
War wie dazumal die Wehstatt,
Wo es kam zur letzten Schlacht.

Deutschland wollten sie berauben!
Wieder sollten wir dran glauben,
Wiederum kriechen fromm zu Kreuz.
Doch Graf Moltke, der uns führte,
Seine hundert Jahr' nicht spürte.
Nur die Perücke war schon weiß.

Alles Pulver war verschossen,
Das hat Moltken sehr verdrossen,
Weil die Schlacht noch nicht vorbei.
Selbst die Kolben der Gewehre
Brachen zu der Pommern Ehre
An Kosakenknochen entzwei.

›Waffen! Waffen!‹ schrien alle.
Moltke rief: ›In solchem Falle
Hilft der Geist uns aus der Not!
Viel Verleger gibt's in Leipzig;
Drüber freut nicht nur, wer schreibt, sich.
Schlagt sie mit den Büchern tot!‹

Hunderttausend dicke Bände
Schmissen unsere festen Hände
Gleich den Feinden an den Kopf.
Luther mit Beschlag von Messing,
Quartausgaben von Goethe, Lessing
Schlugen manchen armen Tropf.

Wen der Kant traf oder Hegel,
Schoß zur Erde hin kopfkegel,
Gab den Kampf auf mit Verstand.
Gegen Brockhaus, gegen Meyer
Hielt kein einziger welscher Schreier,
Hielt kein Slawenschädel stand.«

Die letzten Verse klangen nicht mehr ganz deutlich, weil der erste Vorstand und der Werkführer die Worte nicht genau wußten. Als sie jetzt lachend aufhören wollten, sprang der zweite Vorstand empor und rief:

»Bis zu Ende! Keine Zeile schenk' ich dem Gendarm! Seht, wie er drüben am offenen Fenster lehnt! Er möchte gern jeden anzeigen, der das Lied von der letzten Schlacht singt. Ihm zum Ärger will ich den Schluß allein weiter singen. Ihr hört zu und lernt besser!«

Und mit dröhnendem Bierbaß gab er die letzten Verse zum Besten:

»Vor den unendlichen Bücherhaufen
Fingen an davonzulaufen
Bouemanger und Großmauloff,
's war zu spät; die Bücherberge
Stürzten auf die Menschenzwerge;
Wen's nicht totschlug, der ersoff.

Weise trank da Moltke einen,
Weise sprach er zu den Seinen –
War ja über Hundert alt! –:
Schön ist Bildung, wenn man Ruh hat.
Doch wer Fehden immerzu hat,
Kriegt die Bildung satt gar bald.

Hol' der Teufel die Bibliotheken!
Heute haben die Scharteken
Endlich ihre Pflicht getan.
Haben wir gesiegt beim Raufen,
Fangen wir auf Trümmerhaufen
Die Kultur von vorne an.«

Nachdem das Lied abgesungen war, tranken sie lustig weiter und lachten herzlich, wenn Tomek, der vor dem Fabrikstor auf- und niederging, ungeduldig wurde.

Erst gegen zehn Uhr, als der Gegenbauer schon lange im Eisenbahnwagen sitzen mußte, verließen sie das Haus und gingen an dem verblüfften Wächter vorüber der Landstraße zu.

Ob sie nicht warten wollten, bis der Herr das Fabriksgebäude wieder verließ?

Das würde wohl zu lange dauern, war die Antwort. Und die Herren gingen.

Jetzt rief Tomek den Gendarmen heraus.

»Er ist entwischt!« sagte er tückisch. »Schau nach. Aber du wirst sehen, daß er entwischt ist.«

Mit einem Soldatenfluche stürzte der Gendarm in die Fabrik hinein, Tomek schlurfte gemächlich hinterher.

»Wer hat nun recht?« sagte er, als sie den Weg des Flüchtlings bis aufs Feld verfolgt hatten. »Die Deutschen sind doch klüger als wir.«

»Du sollst es büßen, du Lump, du Deutscher, du hast uns verraten!« schrie der Gendarm. Und er schüttelte den Wächter.

Tomek ließ sich mißhandeln, als wäre er ein fühlloser Sack. Als der Vertreter des Gesetzes ihn endlich losgelassen hatte, ruckte er mit den Schultern und sagte gelassen:

»Ein Lump? Das muß die kaiserliche königliche Behörde besser wissen. Aber ein Deutscher und ein Verräter bin ich nicht. Ich bin auf der Welt, um zu gehorchen, und solange die kaiserliche königliche Regierung nichts anderes befiehlt, ist der gnädige Herr Gegenbauer mein Herr. Was er will, das geschieht, und wenn ich die Leute aus Blatna wie ein Hund wegbeißen müßte, sie sollen mir nicht an das Haus des gnädigen Herrn. Wenn aber die kaiserliche königliche Regierung mit dem gnädigen Herrn unzufrieden ist und mir sagt, ich soll ihm sein Haus über dem Kopf anzünden, so tue ich es auch. Gehorchen muß der Mensch, das ist das beste.«

»Du bist ein Hund!« fuhr der Gendarm ihn an und kehrte schnellen Schrittes ins Städtchen zurück.

Er hätte das Mißlingen seines Auftrages vor allem dem Herrn Bezirksrichter melden müssen; aber von dem holte er sich die Nase noch morgen früh genug. Wenn er aber jetzt sofort dem Ausschusse Mitteilung machte, so verdiente er sich Lob und Bier. Und der Gendarm eilte in das Zilbrsche Wirtshaus, wo die nationalen Führer von Blatna ihre Beratungen hielten. Zaboj und der Kaplan, der Lehrer und der Brauer, natürlich auch Petr Zilbr, das waren die Männer, welche jetzt unter dem Namen »Ausschuß« die Geschicke von Blatna lenkten.

Der Bürgermeister und der Bezirksrichter hatten noch nicht ein einziges Mal gewagt, sich dem Willen des Ausschusses, und das hieß eigentlich dem Willen des Bezirkssekretärs Zaboj Prokop, zu widersetzen.

Gegen Zabojs wachsendes Ansehen konnten die anderen nicht aufkommen, nicht einmal Petr, der Held und Märtyrer, dessen Fuß zwar völlig geheilt war, der aber nun den linken Arm in der Binde trug, um doch an seine Großtaten zu erinnern.

Petr, welcher im Ausschußzimmer die Rolle des geheimen Kellners spielte, empfing den Gendarm und führte ihn mit gewichtiger Miene an den verstummenden Honoratioren vorüber ins Herrenstübchen. Hier brach ein gefährlicher Sturm gegen Tomek los, als der Gendarm seinen kurzen Bericht abgestattet hatte.

»Der muß abgetan werden!« schrie Zaboj.

»Der wird abgetan!« wiederholte Petr, während er den linken Arm, der ihm eingeschlafen war, kräftig reckte und dann wieder in die schwarze Binde zurückschob. Der Gendarm bekam sein Glas Bier und wurde entlassen.

Als die Herren wieder unter sich waren, besprachen sie aufgeregt die möglichen Folgen von Anton Gegenbauers Flucht. Zaboj lachte. Nach seiner Meinung hatte Anton eine Dummheit gemacht; er hatte freiwillig die Stadt verlassen. Weiter wollten sie ja nichts, als den letzten Deutschen aus der Stadt vertreiben. Ging er aus Angst von selber weg, desto besser.

Der Kaplan aber schüttelte den Kopf. Er traute dem Frieden nicht. Wenn der Gegenbauer-Anton nach Wien entkommen war und von dort aus gewisse Kreise zu gewinnen wußte, dann konnte doch noch eine ernsthafte Untersuchung anbefohlen werden. Und dann ...

Eine barmherzige Schwester war verwundet worden, das war schlimm. Die deutschen Bauern ließen sich von ihren Seelenhirten nur schwer abhalten, ein freiwilliges Zeugnis abzulegen. Wenn die Verwundung der Nonne in Wien verstimmte, wenn der Gegenbauer-Anton öffentlich als Kläger auftrat, dann konnte weder er, der Kaplan, noch der Herr Bezirksrichter die Rädelsführer schützen. Der alte Svatopluk würde natürlich unter allen Umständen frei ausgehen, denn ganz Blatna konnte bezeugen, daß er ein elender Krüppel war und sich nicht zu rühren vermochte. Er war ja Vollinvalide.

Die andern lachten, nur Zaboj blickte düster vor sich hin.

»Bah,« sagte er endlich, »wenn wir nur die Deutschen in unserem Wahlbezirke schlagen und unseren Mann in Blatna einstimmig durchbringen. Mag dann kommen, was will. Ihr wißt es noch nicht. Morgen wird der Wahltag veröffentlicht werden. Wir wählen in zehn Tagen, am ersten Mai.«

Der Kaplan lächelte vor sich hin. Er sagte:

»Wir haben doch Mordskerle in Prag, und der heilige Geist erleuchtet sie. Der erste Mai ist für unsere guten Landleute ein Festtag, da wird sich mancher von ihnen der Wahl enthalten.«

Für heute abend fand der Ausschuß eine fröhliche Stimmung wieder. Aber bald sollten die Besorgnisse des Kaplans sich bestätigen.

Die Wiener Blätter brachten aufregende Berichte unter dem Schlagwort: »Die Schlacht am Josephsberge«, und von allen Seiten, auch von bezahlten Federn, wurde strenge Verfolgung der Schuldigen verlangt.

Noch viel schlimmer lauteten die Privatnachrichten aus Prag. Der Brief eines polnischen Hofrats, der sich mit den Tschechen nur in deutscher Sprache verständigen konnte, wurde im Auszuge nach Blatna gesandt. Danach sei ein Schreiben der hochwürdigen Frau Oberin in Wien eingetroffen, das sehr schlecht gewirkt habe. Denn an hoher Stelle sei ausdrücklich und mit Nennung der Namen die Unschuld des Gegenbauer und die Schuld der Prokopschen Männer als Ergebnis der Untersuchung erwartet worden. Alle Hebel seien wegen dieses einen Gebirgsnestes in Bewegung gesetzt, aber vergebens. Man hätte damals auf dem Sankt Josephsberge beim Anblick der barmherzigen Schwestern sofort mit der Verfolgung aufhören müssen. Die Leiter in Blatna seien offenbar von Herzen unkirchlich und darum ungeschickt. Die gottlose, jungtschechische Herrschaft des dortigen Bezirkssekretärs müsse aufhören; der Kaplan müsse mehr gehört werden.

In fieberhafter Ungeduld vergingen die Tage. Der Vertreter der Kirche verschwand aus den Sitzungen des Ausschusses, Zaboj hatte endlose Briefe zu schreiben.

Immer bedrohlicher wurden die Anzeichen. Am nächsten Sonntage predigte der Kaplan den Frieden und sprach scharfe Worte gegen die Aufrührer, welche weder dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, noch Gott, was Gottes ist. Am Montag erschien der Bürgermeister im Wirtshause und sprach seine Unzufriedenheit über die vielen Bilder von Hussitenschlachten an der Wand aus. Ein Heiligenbild sei gleich erfreulich für beide Stämme des Landes. Gegen Ende der Woche ging der Bezirksrichter an Zaboj vorüber, ohne dessen Gruß zu erwidern. Am Sonntag brach das Unheil herein.

Schon gegen Mittag traf aus Prag ein warnendes Telegramm ein, und abends erschien im Wirtshause ein vornehmer Prager Herr, der sich mit Zaboj allein ins Herrenstübchen einschloß und nach einer halben Stunde wieder abreiste. Als Petr und der Brauer wieder eintraten, saß Zaboj blaß und mit bösen Augen da.

»In die Hölle mit dem Gegenbauer!« schrie er und trommelte vor Wut mit den Fäusten auf den Tisch, als hätte er den Gegner unter sich. »Gift und Feuer über ihn! Er bringt uns um unseren Sieg, er wagt es, zurückzukommen. Und wißt ihr, was er getan hat, der deutsche Schuft? Um nicht in Konkurs zu geraten, um seine Wahlstimme nicht einzubüßen, hat er den Wiener Banken seine Fabrik abgetreten. Und er kehrt als ein Habenichts, als der Direktor seiner bisherigen Fabrik, aber als ein Wähler, nach Blatna zurück. Und wenn ich mich nicht verstecke, so werde ich eingesperrt, und unter zwei Jahren komme ich nicht weg. Ich bin doch kein Deutscher!«

Elftes Kapitel

Großer Jubel herrschte trotzdem in Blatna, als einen Tag später der Verkauf der Gegenbauerschen Zuckerfabrik allgemein bekannt wurde. Die Hausbesitzer, welche Anteilscheine der Aktien der Bauernfabrik genommen hatten, versammelten sich im Wirtshause, um den Fall des Gegners bei einem Frühtrunk zu feiern. Auch die Ackerbürger strömten herbei, und sie wie die Rübenbauern fühlten sich bereits als die Herren der Lage. Sie verstanden gar nicht, warum die geschäftlichen Leiter des Unternehmens so ernste Gesichter schnitten.

Das waren natürlich wieder der Kaufmann und der Brauer; sie hatten den Streich mit dem gräflichen Rentamt eingeleitet, sie hatten dadurch die wohleingerichtete alte Fabrik Gegenbauers für ein Spottgeld in die Hände bekommen wollen. Ihnen fehlte es vor allem an Geld. Wenn Gegenbauers Fabrik in fremden Händen blühte, dann war der Zusammenbruch des neuen Unternehmens nicht aufzuhalten. Noch ein Jahr lang brauchte es immer nur Zuschüsse, damit die Fabrik nur unter Dach und Fach kam. Gegenbauers Fabrik war in Gang und hätte für den Herbst große Einnahmen geboten. Sie witterten nun hinter dem Verkauf der Fabrik ein unlauteres Geschäft. Denn sie konnten es nicht begreifen, daß ein Mensch sich selbst vom Besitzer zum Beamten heruntersetzte, nur um einer guten Sache eine einzelne Menschenkraft zu erhalten. Der Brauer und der Kaufmann wollten eine Aufklärung des neuen Verhältnisses abwarten und lieber die Bauarbeit stocken lassen, als durch Ausschreibung neuer Zahlungen alles ins Wanken bringen.

Ihre Klugheit jedoch konnte den Verlauf der Dinge nicht aufhalten.

Der Jubel der Bevölkerung verrauchte bald, als die Maurer und Steinbrecher für unbestimmte Zeit entlassen wurden und die ersten Feuermauern hinter den hohen Gerüsten aus ihren hohlen Fensteröffnungen menschenverlassen über die Marienkapelle hinweg nach der Gegenbauerschen Fabrik hinübersahen.

Der Zorn der arbeitslosen Leute wandte sich sofort dem deutschen Gegner zu, den man für das Unglück verantwortlich machte. Die Maurer rotteten sich vor seiner Wohnung zusammen und warfen mit Straßenkot und den letzten Mörtelresten nach der deutschen Inschrift. Die Steinbrecher kamen mit ihren langen Eisenstangen, drohten das Trutzhaus zu demolieren oder mit den übriggebliebenen Dynamitpatronen und Pulverpacken in die Luft zu sprengen. Anton trat mitten unter die tobende Menge. Er war noch immer bleich, aber die große Narbe auf seiner Stirn glühte nicht mehr blutrot, wenn er in Erregung kam.

Er schalt die Arbeiter ordentlich aus, drohte mit Militärgewalt und warnte vor jeder Ausschreitung.

»Übrigens weiß ich nicht,« so schloß er, »was ihr von mir wollt. Meine eigenen Feinde sind es, die euch entlassen haben. Geht doch zu ihnen. Ich bin nur noch Direktor dieser Fabrik, ich habe mehr verloren als ihr. Doch die neuen Besitzer werden bald neue Gebäude aufführen lassen müssen und dann werden wir viele fleißige und ordentliche Maurer und Steinbrecher beschäftigen können. Raufbolde aber werden wir nach Hause schicken. Laßt euch das gesagt sein.«

Wort für Wort wurde den tschechischen Arbeitern das Gesprochene von einigen Genossen übersetzt; und mit einem Hoch auf den Gegenbauer-Anton zog die Menge ab.

Sie schwankte anfangs, wohin sie sich wenden sollte. Endlich warf sie sich zum großen Entsetzen der Bürger in die Stadt, schmiß dem Kaufmann die Fenster ein, zündete in der Mitte des Rings ein paar Pfund Pulver an und sang eine tschechische Übersetzung der Marseillaise.

Sonst geschah keine Ausschreitung. Die Sprengstoffe wurden vertragen und für ein paar Kreuzer an Liebhaber verkauft, der Brauer rettete seine Fenster durch das Versprechen, den Arbeitslosen vorläufig sein Bier auf Borg zu geben; und als ein Gendarm sich blicken ließ, stob die Masse mit dem Rufe: »Die Husaren!« auseinander.

Und doch sollte der Krawall für die Stadt Blatna das Zeichen zu großen Verlusten geben. Im ersten Schrecken waren die Leiter der Bauern-Aktiengesellschaft zusammengetreten und hatten sofort beschlossen, von den Besitzern der Anteilscheine und von den Rübenbauern frisches Geld zu verlangen, damit der Bau weitergeführt würde.

Vierundzwanzig Stunden später war eine Aktie für zehn Kreuzer zu haben. Nirgends war bares Geld vorhanden. Die kleinen Leute, die sich von der Gründung goldene Berge versprachen, hatten ihren letzten Sparpfennig eingezahlt, und die Wohlhabenderen waren erst recht mit bedeutenden Beträgen verpflichtet. Von Stunde zu Stunde gingen telegraphische Hilferufe an die Prager nationalen Banken ab; aber diese wagten nicht, den Kampf mit den großen Wiener Instituten Gegenbauers aufzunehmen. So war das Schicksal nicht mehr abzuwenden: das Vermögen, das bis jetzt im Unternehmen steckte, war verloren, im ganzen Städtchen gab es kein Haus, das nicht Einbuße erlitten hätte. Svatopluk Prokop, der für ein paar Aktien seinen Obstgarten verpfändet hatte, fand das richtige Wort, als er rief:

»Blatna ist futsch! Blatna ist verkracht!«

»Und der Gegenbauer ist schuld!« hatte er hinzugefügt. Das empfanden alle Bürger ohne Ausnahme. Der letzte Deutsche von Blatna hatte die Stadt ruiniert. Und während in jedem Hause, vom Prunkzimmer des Bürgermeisters bis zur letzten Kate jenseits des Flusses, nur Klagen laut wurden, stolzierte der letzte Deutsche oben auf dem Wolfsberge und wollte sich wohl gar aus den Taschen der Tschechen einen neuen Palast bauen lassen. Der alte dumpfe Haß gegen Anton Gegenbauer steigerte sich zu einer tollen Wut. Nicht nur die Fanatiker zitterten nach seiner Vernichtung, die ruhigsten Bürger fluchten ihm und wünschten ihm ein schlimmes Ende. Nur die Furcht vor den Arbeitern, die sichtbarlich dem Deutschen zuneigten, hielt die Knüttel zurück.

Und in demselben Drahte, der für Blatna in Prag um Hilfe bettelte, flogen die Depeschen zwischen dem Bezirksrichter und einem Hofrat, dem er unbedingt vertrauen mußte, hin und her.

Noch war Zaboj nicht verhaftet. Der Bezirksrichter warnte vor den Gefahren eines solchen Schrittes. Aber in Wien wollte man den Sieg der Kirche mit Hilfe der Slawen, nicht den Übermut der Tschechen gegen die Kirche. Eine Nonne war verwundet worden. Ein Exempel mußte statuiert werden. Der Bezirksrichter las zwischen den Zeilen, daß er mit rücksichtsloser Kraft auftreten, dabei aber heimlich die Gefühle der Patrioten schonen müßte. Er gehorchte und brachte damit die Stimmung des verarmten Blatna aufs äußerste.

Er sprach auf einmal wieder Deutsch, während er mit gerunzelter Stirn am Arm des Bürgermeisters über den Ringplatz ging. Er drohte mit Einquartierung; beim nächsten Lärm sollten den Bürgern Soldaten in die Häuser gelegt werden, deutsche Soldaten aus der Kompagnie, der man in Wessely Wasser versagt hatte; und jetzt drohte er damit, jetzt, zwei Tage vor der Wahl, die für Jahre hinaus über die Vertretung von Blatna entschied. Der Ausschuß trat nicht mehr zusammen, aber wo sich die Mitglieder auf der Straße trafen, da ballten sie die Fäuste und riefen einander zu:

»Auch das hat uns der Gegenbauer eingebrockt.«

Die Untersuchung wegen der Schlacht am Josephsberge war im vollen Gange. Die Tschechen leugneten alles ab und auch unter den deutschen Bauern wollten die meisten nichts gesehen und nichts gehört haben. Doch der Gegenbauer-Anton sagte aus, und ihm Aug' ins Auge gaben sie manches zu. Drohend stieg die Anklage gegen ein paar Dutzend Bürger über Blatna herauf, und der Gegenbauer war immer der eigentliche Ankläger.

Am Nachmittag des 30. April kam wieder eine Depesche aus Wien, und der Bezirksrichter machte sich trotz des abscheulichen Wetters mit einem Gendarm auf den Weg nach dem Dorfe. Vor der Scheune stand Svatopluk Prokop und versteckte beim Nahen der Amtspersonen eine große Blechbüchse, welche er eben beim Tageslichte geprüft hatte. Der Bezirksrichter sah, wie Zaboj hinter dem Rücken des Vaters sich bückte und sich dann in das Dunkel des Raumes zurückzog.

»Es tut mir leid, Svatopluk,« rief der Bezirksrichter heftig, »ich muß Euren Sohn verhaften lassen. Bei dem Hundewetter muß ich Euretwegen hinaus! Kommt schnell mit mir ins Haus. Wenn Zaboj nicht ins Gebirge entflohen ist, so nehme ich ihn mit.«

Und achselzuckend eilte der Richter ins Haus, der Gendarm folgte. Svatopluk sprach noch rasch einige Worte in die Scheune hinein, dann humpelte er den beiden nach.

Drinnen hatte Katschenka die Gerichtspersonen mit einem Angstgeschrei empfangen. Sie trug ihr dunkles Kleid, um den Kopf hatte sie ein schwarzes Tuch geschlungen, als hätte sie Trauer. Auf die Frage, wo ihr Bruder sei, antwortete sie zitternd:

»Ich weiß nicht.«

Da stampfte Svatopluk über die Schwelle und sagte mit demütiger Stimme:

»Mein Zaboj wird unglücklich darüber sein, dass er sich nicht selbst verantworten kann. Aber er ist abgereist. Weiß nicht, auf wie lange. Ins Gebirge.«

Ohne mit der Wimper zu zucken, nahm der Bezirksrichter ein Protokoll auf. Svatopluk und Katschenka unterschrieben es, dann blieben sie allein.

Katschenka setzte sich still an das niedrige Fenster und las in ihrem Legendenbuch. Svatopluk stürzte auf seinen Krücken heftig auf und nieder. Plötzlich blieb er vor der Tochter stehen. Seine Augen waren wie von Blut unterlaufen, sein Mund höhnisch verzerrt.

»Du liebst ihn also!« schrie er Katschenka an.

»Ja,« erwiderte sie leise, schloß das Buch und blickte den Vater ruhig an.

»Das freut mich!« rief Svatopluk und stürzte wieder durch die Stuben.

»Das freut mich! Das hat gerade noch gefehlt! Das macht seine Rechnung voll! Den Wolfsberg hat er verkauft, der mir gehört von Gott und Rechts wegen! Mich hat er an den Bettelstab gebracht! Und die Stadt zugrunde gerichtet! Meinen Sohn bringt er ins Zuchthaus, deinen Bruder! Und du liebst ihn! Das freut mich, das hilft der Sache ein Ende machen!«

Svatopluk blieb hart vor ihr stehen.

»Und du liebst ihn, wirst vielleicht mich anzeigen, deinen Vater?«

Katschenka antwortete nicht. Da hob Svatopluk seine Krücke über ihre Schulter und setzte zum Schlage an. Plötzlich lachte er auf.

»Wozu? Das würde mich abkühlen. Will alles lieber für ihn aufsparen.«

Und er setzte sich auf die Ofenbank. Ein lautloses Schweigen folgte; um so lauter heulte der Wind, der den Regen stoßweise gegen das Fenster peitschte.

So verging eine Stunde. Plötzlich wurde die Haustür aufgerissen und gleich darauf stürzte Petr Zilbr in die Stube. Sein Vater hatte an der Bauernfabrik mehr als alle anderen verloren und Petr wurde seit einigen Tagen die Angst nicht los, er werde nun arbeiten müssen, um zu leben.

Er warf den nassen Mantel ab und steckte dann eilig die Hand in die schwarze Binde.

»Das ist ein Wetter!« rief er und schüttelte sich.

»Der Gegenbauer«, sagte Svatopluk, »steht ja mit dem Herrgott so gut. Der hat uns gewiß das Wetter besorgt.«

»An allem Unglück ist er schuld,« schrie Petr und blickte dabei Katschenka an. »Du, du hast mich ja noch gar nicht begrüßt.«

»Frag' den Gegenbauer,« brummte Svatopluk ingrimmig, »warum sie nichts von dir wissen will. Sie ist in ihn verliebt bis über die Ohren.«

»Kruzitürken! Sag' nein oder ich zerpflück den Kerl in der Luft!« schrie Petr außer sich.

Als ihn Katschenka jedoch keiner Antwort würdigte, wandte er sich zu ihrem Vater um und fuhr fort:

»An ihn kann man ja nicht heran, du weißt, er versteht keinen Spaß.«

»Ich weiß,« murmelte Svatopluk.

»Aber der Hund, der Tomek, soll es büßen, noch heute nacht.«

Svatopluk hatte den Kopf zurückgeworfen und stierte die Decke an.

»Das wäre schön,« brummte er, »wenn morgen, am Wahltage, die verdammte deutsche Inschrift verschwunden wäre.«

»Ich will's besorgen!« rief Petr.

Dann stellte er sich breitbeinig vor Katschenka hin und fuhr sie an:

»Bist du keine Patriotin mehr?«

Das Mädchen blickte stumm auf den Dorfteich hinaus, auf welchem die schweren Regentropfen ihr Spiel trieben und flüchtige grüne Blasen erzeugten.

Svatopluk winkte dem jungen Manne kopfschüttelnd, er möchte fortgehen. Noch in der Tür fragte Petr zurück:

»Nicht wahr, Zaboj ist nicht verhaftet? Er ist verreist?«

Svatopluk zeigte grinsend mit dem Daumen nach hinten.

»Ja, er ist fort. Wir haben keinen Verräter in Blatna. Bisher nicht. Wenn's der Gegenbauer nicht erfährt, so tut ihm keiner was.«

Svatopluk warf einen mißtrauischen Blick auf seine Tochter. Die schaute gleichmütig hinaus, wo Petr schon durch den prasselnden Regen nach Hause lief.

Es war früh dunkel geworden. Svatopluk erhob sich schwerfällig, als hätten seine eigenen Gedanken ihn müde gemacht, auf seinen Krücken und ging hinüber in die Scheune, in der es völlig finster war. Er schrak zusammen, als er plötzlich an etwas Lebendiges stieß und Zaboj mit bitterer Stimme rief:

»Besuchst du mich wirklich, Vater? Ist das aber liebreich von dir.«

Svatopluk tappte nach dem Kopfe seines Sohnes, um die Haare zu streicheln.

»Es bleibt nichts übrig,« sagte er. »Du wirst die Tage hier in der Scheune zubringen müssen. Bei Nacht kannst du ruhig in deiner Kammer schlafen. Wie willst du dich an dem Gegenbauer rächen?«

»Wie meinst du das?« fragte Zaboj zurück. »Er ist der Todfeind unserer Sache und gefährlicher, als wir geglaubt haben. Ich werde ihn unablässig verfolgen und es als meine Lebensaufgabe betrachten, den letzten Deutschen aus Blatna zu vertreiben. Was kann ich mehr tun?«

Nach einer langen Pause begann Svatopluk wieder:

»Du weißt, mein Zaboj, hier in diesem Winkel liegt manches aufgespeichert, was unser Volk einmal brauchen kann, wenn man uns zum Aufstand zwingt. Vom alten Morgenstern aus der Hussitenzeit bis zu den neuesten Erfindungen, mit denen man Granitfelsen sprengt, sind die Waffen vertreten. Glaubst du, daß der deutsche Schädel des Gegenbauer-Anton härter ist als die Eisenhauben der alten Ritter oder als Granit? Ich will ein Ende machen.«

Zaboj sagte nach kurzem Bedenken:

»So was fällt einem ja ein, wenn man in Wut ist. Aber das tut man doch nicht! Ich bin kein Meuchelmörder.«

Svatopluk streichelte wieder das Haar des Sohnes.

»Das sollst du auch nicht sein, mein liebes Kind, du sollst nur zuhören. Auf uns kann kein Verdacht fallen. Wie kämen wir zu Dynamit? Entweder ist eine vergessene Patrone im Steinbruch plötzlich krepiert oder einer von den entlassenen Steinbrechern der Bauernfabrik hat das Sprengen nicht lassen können.«

Und Svatopluk lachte.

»Vater,« schrie Zaboj und faßte im Dunkeln nach Svatopluks Schulter, »das wirst du nicht tun, oder wir sind auf immer geschieden. Soll ich dir was sagen, Vater? Neidisch bin ich dem Gegenbauer-Anton, trotzdem er ganz zugrunde gerichtet ist. Neidisch bin ich ihm, weil er für seine schlechte Sache so ordentlich kämpft, so sauber, so ... ich will's nicht aussprechen, wie. Und du, Vater, wirst unsre gute Sache nicht in den Dreck ziehen! Hörst du! Oder du siehst mich nicht wieder, auch nicht in deiner letzten Stunde!«

Svatopluk atmete schwer auf. Dann murmelte er zögernd:

»Ich tu's ja nicht. Du weißt, man sagt so etwas, wenn man in Wut ist. Geh jetzt hinein, Katschenka soll dir einen Pfannkuchen backen. Dann leg' dich schlafen.«

Zaboj ging und Svatopluk blieb allein. Er nahm den Morgenstern von der Wand, hielt ihn zwischen den Knien fest und putzte mit seinem Ärmel sinnend an den Eisenspitzen herum.

»Das waren schöne Zeiten,« murmelte er nach langer Zeit.

Dann saß er wieder stumm da und lauerte geduldig auf den Stundenschlag der Kirchturmuhr.

Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich. Endlich war es zehn Uhr. Svatopluk griff mit sicherer Hand in das Gerümpel hinein und holte eine schwere Blechbüchse und einen Knäuel Zündschnur hervor. Sorgsam wickelte er alles in ein Wachstuch, das sonst ein Pulverfäßchen gegen Nässe schützen sollte, und trug das Bündel vorsichtig ins Haus. Er fuhr auf, als er Katschenka noch in der Wohnstube antraf.

»Was spionierst du noch hier herum, du deutsche Dirne?« rief er heftig. »Marsch, geh schlafen.«

»Vater,« flüsterte das Mädchen, »Zaboj hat mir selbst gesagt, ich soll auf Euch acht geben. Ihr seid ja von Sinnen.«

Svatopluk stampfte wütend mit der Krücke auf.

»Schlafen gehst!«

Katschenka sah den Vater mit einem langen, festen Blicke an, dann stieg sie die steile Treppe zu ihrer Kammer empor.

Nun machte sich Svatopluk schnell ans Werk. Er befestigte an jede der großen Patronen eine lange Zündschnur, die wohl zehn Minuten zum Abbrennen brauchte. Dann wickelte er das Ganze wieder sorgfältig in sein Wachstuch, steckte seine gefüllte Feldflasche ein, warf sich einen großen Mantel um die Schultern, setzte eine alte Pelzmütze auf und schritt auf seinen Krücken, die Sachen unter dem Mantel bergend, in die schlimme Nacht hinaus.

Der Regen hatte etwas nachgelassen, aber stoßweise jagte der Wind sprühende Wirbel über die Straße. Svatopluk versuchte umsonst, sich gegen die Nässe zu schützen. Mit einem Fluche riß er den Mantel von den Schultern und umhüllte mit ihm bedächtig sein Bündel. Dann schritt er weiter. Auf der Brücke vor dem heiligen Nepomuk blieb er plötzlich stehen. Er glaubte eine dunkle Gestalt am Rande des Dorfteichs zu erblicken. Doch er hatte sich wohl getäuscht. Und mit einem Finger am Munde blinzelte er schlau den Heiligen an.

»Der versteht zu schweigen,« murmelte er. Und weit mit den Krücken ausgreifend, eilte er vorwärts. Die Stadt war finster und ausgestorben. Auch unter den Lauben begegnete ihm niemand. Nur am nördlichen Ausgang des Rings stürzte ein betrunkener Arbeiter an ihm vorüber.

Jetzt stand Svatopluk am Fuße des Wolfsberges und überlegte. Dann bog er links ab und brach sich durch die wuchernden Brombeerranken seinen Weg in den Steinbruch. Unentschlossen blickte er nach der Höhe, wo die Höhle kaum erkennbar aus der Felswand gähnte. Es schien unmöglich, den schmalen Steig auf den Krücken zu erklimmen und dabei den gefährlichen Pack in acht zu nehmen.

Plötzlich wußte er, was zu tun war. Er legte die Krücken nieder und kroch auf allen Vieren, die Patronen fest unter den Arm gepreßt, hinauf. Es war ein mühsames Stück Arbeit, und er langte schwer atmend und mit Schweiß bedeckt in der Höhle an. Doch sein Ziel war erreicht und er konnte ein Weilchen ausruhen.

Dann zündete er einen kleinen Wachsstock an und leuchtete umher. Zu seinen Häupten klafften noch immer die alten Bohrlöcher. Er suchte zwei davon aus, die am weitesten voneinander entfernt waren, und schob die Patronen langsam hinein. Doch sie hielten nicht fest. Zornig sah er sich um, ob ihm kein Werkzeug zu Hilfe käme.

Da lachte er auf. Im Winkel der Höhle lag zerbrochen ein Holzwägelchen, ein Kinderspielzeug, wie er es vor Jahren in Katschenkas Hand gesehen hatte. Zwei Splitter davon genügten, um die Patronen in den Bohrlöchern zu befestigen. Dann warf er den Rest des kleinen Wagens wütend aus der Höhle hinaus.

In diesem Augenblick glaubte er die dunkle Gestalt wieder zu sehen, die eben aus dem Schatten des letzten Hauses trat. Schnell löschte er seinen Wachsstock aus und lauerte.

Die Gestalt ging die Landstraße aufwärts, eilig, fast im Lauf. Jetzt war sie neben dem Steinbruch. Zum Teufel! Sie bog links ein und brach sich durch die Ranken Bahn. Es war eine Frauengestalt.

Svatopluk fühlte sein Herz klopfen, sein Atem stockte. Er mußte wahnsinnig geworden sein, daß er überall die Gerechtigkeit sah, die ihn verfolgte. Durch den Regenschauer hindurch, der jetzt wieder gegen die Felswand peitschte, war kein Laut zu hören.

Doch jetzt. Er vernahm schlürfende Tritte und ein atemloses Keuchen. Dicht neben ihm, der in der dunkeln Höhle unsichtbar auf den Knien lag und sich vor Schrecken die Nägel beider Hände in die Brust grub, dicht neben ihm, so nah, daß er sie mit einem Stoß in den Steinbruch hätte zurückwerfen können, mit weit aufgerissenen Augen erschien Katschenka. Zuerst groß und schreckhaft im nächtlichen Dunkel der Kopf, dann die ganze Gestalt. Sicher schritt sie unaufgehalten auf dem Steige empor. Die Augen sehnsuchtsvoll nach dem Hause über ihr gerichtet. Und jetzt war der Kopf wieder verschwunden und dann die übrige Erscheinung. Wie ein Schatten war sie vorübergehuscht.

An allen Gliedern schlotternd vor Schrecken und Wut, blieb Svatopluk noch eine Weile auf den Knien liegen. Langsam glitten die Hände von seiner Brust und gruben sich in den Sand des Bodens. Sein Kopf sank nieder und er murmelte:

»Bei Nacht schleicht sie zu ihm! Ins Trutzhaus! Sie ist seine Geliebte! Sie verrät uns! Sie verrät ihr Vaterland! Sie verrät auch ihren Vater! Und ihren Bruder!«

Dann sank er in der Höhle zusammen und es kam wie Ohnmacht über ihn. Da schlug es auf dem Kirchturm elf Uhr.

Svatopluk richtete sich langsam empor, zündete den Wachsstock wieder an und kauerte gegen die Wand der Höhle.

»Was denn?« murmelte er vor sich hin.

Ihn fröstelte. Er nahm einen tüchtigen Schluck aus der Feldflasche, schüttelte sich, und ohne zu denken, ohne sich zu besinnen, so ruhig, als steckte er seine Pfeife in Brand, zündete er mit dem Wachsstock jede Zündschnur an ihrem Ende an.

Dann blickte er mit blödem Ausdruck um sich, zerdrückte die Flamme des Wachsstockes mit den Fingern und steckte ihn ein. Er sagte sich, daß er auch den Mantel und das Wachstuch mitnehmen müßte. Und schnell, bevor die Explosion erfolgte. Plötzlich aber schrie er furchtbar auf:

»Jesus Maria, mein Kind!«

In Todesangst stürzte er aus der Höhle hinaus und rutschte, stürzte und sprang wie wahnsinnig den glatten Steig hinunter.

Zwölftes Kapitel

Anton hatte bis gegen elf Uhr unerfreulicher Arbeit obgelegen, hatte die letzten Papiere unterschrieben, die ihn um den Besitz seiner Fabrik brachten, und die Briefe seiner neuen Vorgesetzten durchgelesen. Dann schloß er alles ein, legte seinen Wahlzettel, den scharfe Augen schon an dem bläulichen Schimmer des Papiers als einen der deutschen Partei erkennen konnten, für morgen zurecht. Eben wollte er sich zur Ruhe begeben, als lautes Hilferufen ihn ans Fenster trieb. Wieder einmal schien sich Tomek mit ein paar Angreifern herumzubalgen. Doch mochte der Kampf heute eine andere Wendung genommen haben, denn Tomeks Frau jammerte entsetzlich und rief immerzu:

»Zu Hilfe! Mörder!«

Anton griff nach einem derben Stock und eilte die Treppe hinunter. Eben wollte er, zur Eile getrieben durch verstärkte neue gellende Rufe, das Haustor öffnen, da pochte es heftig gegen die Hintertür, die zum Steinbruch hinausführte; dann ertönte ein dumpfer Ton, als wäre ein schwerer Körper gegen das Holz gestürzt. Mit wenigen Sätzen war Anton da und rief, während er die Hintertür rasch aufklinkte und sich gegen einen plötzlichen Angriff deckte:

»Wer ist hier?«

»Ich bin's nur, die Katschenka,« flüsterte das Mädchen. Sie war auf der Schwelle niedergefallen. »Sie wollen dich ermorden, sei auf deiner Hut!«

»Laß mich!« rief Anton zornig. »Das weiß ich längst, ich brauche deine Warnungen nicht.«

Und hastig eilte Anton wieder nach vorn und zur Haustür hinaus, wo die Rufe schwächer und ferner zu klingen schienen.

»Bleib im Haus!« rief das Mädchen. »Bleib hier! Verschließe alle Türen.«

Doch da er nicht gehorchte, erhob sie sich mühsam und eilte ihm wankend nach.

Anton war kaum ins Freie getreten, als er eine Gruppe von vier Männern erblickte, die einen Fünften lachend forttrugen. Er eilte nach und schlug, bevor sein Nahen noch bemerkt worden war, dem einen derb auf den Schädel. Dieser stürzte mit einem Aufschrei, nieder; es war Petr Zilbr. Die anderen ließen ihre Last fallen und liefen davon.

Im Nu hatte das Weib des Tomek sich über ihren Mann geworfen, ihm die Hände losgebunden.

»Die Halunken!« rief sie. »Erst haben sie ihn betrunken gemacht und dann wollen sie ihn hinten in die Grube schmeißen. Sie sagen, daß er was verraten hat. Ist aber nicht wahr!«

Anton hielt sich nicht auf. Mit geschwungenem Stock lief er hinter einem der Leute her, in dem er den Kellner Franz zu erkennen glaubte. Er verfolgte ihn in den Hohlweg der Straße hinunter, drüben wieder hinauf, und glaubte ihn schon fassen zu können. Als er jedoch um die kleine Marienkapelle biegen wollte, war der Flüchtling plötzlich hinter einer unfertigen Mauer der Bauernfabrik verschwunden.

Anton blieb stehen. In demselben Augenblick umschlangen ihn zwei Frauenarme und Katschenka sank kraftlos an ihm nieder.

»Rette dich, rette dich!« flüsterte sie.

Ihre Hände waren heiß, ihr Atem flog. Sie vermochte nicht zu sprechen, nicht sich zu erheben. Anton selbst fühlte sich zu schwach, sie aufzurichten.

»Nimm mich zu dir, in dein Haus!«

Ihre Muskeln flogen wie im Schüttelfrost.

Eben fegte wieder ein heftiger Windstoß dichte Regenschauer über den offenen Hügel. Hier konnte sie nicht bleiben, während Anton Beistand holen ging. Er blickte sich um. »Um so schlimmer!« stieß er hervor. Dann riß er mit einem Ruck die morsche Gittertür zur Kapelle auf, schleppte Katschenka mit Mühe hinein, lehnte die Widerstandslose auf den mit einem Teppich belegten Betschemel, löschte ein flackerndes Lämpchen und beugte sich mitleidig zu dem Mädchen nieder.

»Ich lasse dich einen Augenblick allein.«

»Nein, Anton,« rief sie schluchzend, »so höre mich doch, sie wollen dich töten! Ich lasse dich nicht allein!«

Und sie klammerte sich an seine Knie.

Da verstummten sie beide plötzlich. Eine schreckhafte, abenteuerliche Gestalt, ein Gespenst rannte gegen die Kapelle zu.

»Der Vater!« hauchte Katschenka.

Auch Anton erkannte jetzt den alten Svatopluk, der wie gehetzt auf seinen Krücken heranjagte und auf der Steinstufe zur Kapelle stöhnend zusammensank.

Anton und das Mädchen wagten kaum zu atmen; sie hielt sich an seiner Hand fest, er fühlte ihr Blut klopfen. Svatopluk warf im Zusammenbrechen klappernd die Krücken nieder, dann rief er hastig mit gefalteten Händen in die Kapelle hinein:

»Heilige Mutter Gottes, bitt' für mich armen Sünder! Vielleicht ... Wir wissen ja nichts! Heilige Mutter! Ich schwöre dir, daß ich nur den Gegenbauer umbringen wollte, unseren Feind und den deinen, den Ketzer und Protestanten! Heilige Jungfrau, vergib mir! Wie ich in der Höhle lag und mein Kind zu ihm schleichen sah, da habe ich's nicht mehr tun wollen! Gewiß nicht! Es ist über mich gekommen, ich weiß nicht wie! Jetzt ist es zu spät! Ich habe mein Kind gemordet! Heilige Mutter Gottes, verzeih' mir armen Sünder.«

Eine atemlose Stille folgte.

»Weh' mir, das Lämpchen ist ausgelöscht!«

Und wieder Totenstille.

Der Regen plätscherte lustig auf die Wasserlachen und auf das Dach der Kapelle.

Da ertönte ein entsetzlicher Knall. Das Trutzhaus drüben schien gegen die fliegenden Wolken zu zittern.

Svatopluk barg den Kopf in den Händen und röchelte wie ein Sterbender.

Da ertönte es aus dem Innern der Kapelle wie aus einem Grabe:

»Vater!«

Svatopluk fuhr auf. An allen Gliedern zitternd griff er nach den Krücken, und weit mit ihnen ausgreifend floh er davon.

»Mein Vater hat mich töten wollen!« rief Katschenka tonlos.

Sie hatte Anton losgelassen.

Da ein zweiter, noch lauterer Donnerknall, dem ein furchtbares Krachen folgte. Anton mußte zusehen, wie sein Wohnhaus wankte und dann in sich selbst zusammenstürzte.

Nur eine Mauer schien stehengeblieben zu sein.

»Mein Vater hat mich töten wollen!« wiederholte das Mädchen gleichmäßig. Sie drückte das Gesicht in den Teppich und schluchzte wie ein gekränktes Kind leise fort, und unaufhaltsam flossen ihre Tränen. »Mein Vater hat mich töten wollen!«

Anton hatte sich neben sie auf den Schemel gesetzt. Auch er war tief erschüttert. Sprachlos hielt er die Wache neben ihr, die unaufhörlich fortweinte und seine Nähe vergessen zu haben schien.

Die Kirchenuhr hatte längst Eins geschlagen, als Katschenka endlich verstummte. Er wußte nicht, ob sie bewußtlos geworden oder eingeschlafen war.

Drüben neben der einzelnen Mauer, die sich phantastisch und schwarz vom grauen Himmel abzeichnete, erschienen in lebhafter Bewegung menschliche Gestalten.

Anton starrte mit müden Augen in die Nacht hinaus und stumm hob er die Schwurfinger vor sich in die Luft, als wollte er bei der Ruine seines Hauses ein Gelübde tun.

Dann wachte er wieder treu in die frostige Morgendämmerung hinein.

Plötzlich erhob sich Katschenka, strich ihre Haare zurück, trocknete ihr Gesicht mit beiden Händen und sprach kaum hörbar:

»Begleite mich, Anton, ich bitte dich.«

Als er zögerte, sagte sie mit ersterbender Stimme:

»Und wenn die Leiche meiner Mutter zwischen uns läge, du wärest mir nicht ferner, Anton, als du mir jetzt als mein Geliebter bist. Ich bitte dich, begleite mich. Es ist ein schwerer Gang, und ich bin schwach.«

Und sie hing sich hilfeflehend an Antons Arm.

»Ins Kloster!« flüsterte sie.

Sie verließen die Kapelle und glitten schweigend durch die verschwebende Nacht. Der Regen war vorbei, aber ein kalter Wind sauste von den Bergen herüber, hemmte ihnen den Weg und kräuselte kleine Wellen in den Wasserlachen der Straße.

Im Weiterschreiten gewann Katschenka ihre Kraft wieder. Sie ließ Antons Arm los, und stumm gingen sie nebeneinander her. Der Morgenwind zerrte an ihnen; des Mädchens graues Tuch flatterte im Nacken; ihr dunkles Kleid trug bis hinauf die Spuren des Weges im Steinbruch.

Als sie am ersten Hause von Oberndorf standen, war es hell geworden. Sie blickten einander in die bleichen, kummervollen Gesichter, dann schlichen sie weiter durch das schlafende Städtchen, über die Eisenbahn hinweg und durch den schweigenden Wald.

Mitten im Walde an einem Kreuzweg stand ein Kruzifix zur Erinnerung an einen Forstgehilfen, der dort von einem Wildschützen erschossen worden war. Hier warf sich das Mädchen auf die Knie nieder und betete lange wie eine Verzweifelte.

Hier hatte sie an jenem Mittwoch nach Ostern mit den tschechischen Vereinen von Blatna Rast gehalten und ihnen, als Marketenderin verkleidet, aus ihrem Fäßchen Branntwein verteilt.

Sie erhob sich plötzlich, sank Anton zu Füßen und rief heiser:

»Verzeih' mir!«

Er richtete sie schweigend auf und sie schritten weiter. Am Ende des Waldes, als sie in den hellen Morgen wieder heraustraten, sagte sie:

»Ich weiß, du bist mir nicht mehr böse; dein Mitleid mit mir ist zu groß.«

Und stille weinend schritt sie den Sankt-Josephs-Berg hinauf. Auf der Höhe angelangt, sahen sie das Kloster und den Kerker neben sich liegen. Sie blieben stehen und blickten zurück; zu ihrer Rechten blinkte der erste Sonnenstrahl durch die Baumkronen. Im Tale schoben sich dicke Nebelmassen durcheinander. Nur das Gebirge rückte klar aus der blauen Ferne heran.

Demütig schlang Katschenka jetzt die Arme um Antons Nacken.

»Lebewohl!« flüsterte sie. »Lebewohl, Geliebter!«

Da durchströmte es den Mann plötzlich mit heißem kräftigen Leben.

»Nein!« rief er. »Kein Lebewohl! Warum wollen wir beide uns zu Tode quälen um fremden Hasses willen? Wir lieben uns ja! Wir haben uns ja! Sie halten uns für tot dort in dem entsetzlichen Städtchen! Wir wollen tot bleiben für sie! Weit fort von hier, in einem glücklicheren Lande, wollen wir unerkannt und unentdeckt leben und jeden Schimmer von Glück festhalten und pflegen. Auch mein Vater hat in stürmischer Zeit, nach Jammer und Schrecken, die Mutter heimgeführt und hat ihr Frieden zu schaffen gewußt. Komm! Mein geliebtes Mädchen!«

Katschenka stöhnte auf, beinahe glücklich. Doch stark schob sie den Mann von sich fort und sagte mit tränenerstickter, doch fester Stimme:

»Deine Mutter hat schweres Unglück erfahren. Wenn ein so menschliches Leid wie dein Tod, Geliebter, mich getroffen hätte, ich würde sterben, aber ich könnte sterbend noch lächeln. Hast du denn vergessen, was geschehen ist? Mein Vater hat mich töten wollen! Dich und mich!«

Anton faßte nach ihren Händen und wollte sie an sich ziehen.

Sie machte sich los und eilte rasch den flachen Hügelabhang nieder dem Kloster zu. Noch hatte sie die Pforte nicht erreicht, da fühlte sie sich um die Schultern festgehalten. Anton hatte sie eingeholt. Heftig preßte er sie an sich, bog ihren Kopf zu sich empor und rief unter heißen Küssen:

»Ich laß dich nicht! Ich lieb' dich! Du sollst mein werden! Nachher geschehe, was du willst: Flucht oder Tod, alles ist mir gleich!«

Katschenka wehrte sich nicht. Sie duldete es, daß Anton sie wieder umschlang und enger und enger an sich drückte. Sie erwiderte seine Küsse nicht, aber mit gierigen Lippen sog sie die seinen ein.

»Sei mein!« stammelte er wieder. Sinnlos, wie ein Knabe stammelt.

Kraftlos lag das Mädchen in seinem Arm. Ihre Augen, die eben noch in Liebeslust funkelten, schlossen sich plötzlich, Aschfarbe überzog ihr Gesicht.

»Vergiß deinen Schwur nicht, Anton!« sprach sie tonlos. »Du hast ein Gelübde getan! Ich weiß es! In jener Stunde! Du willst ja dein Leben dem Kampfe opfern! Du willst kein Recht mehr auf Lebensfreude!«

»Sei mein!« erwiderte Anton.

»Mein Vater ist zum Mörder an uns geworden!« sprach sie noch leiser. »Ich werde im Kloster für ihn büßen!«

»Das kannst du nicht!« rief Anton hastig. »Es ist Vermessenheit oder Aberglaube, für die Sünden eines anderen die Verantwortung tragen zu wollen!«

»Sprich nicht so, Anton! Mir bleibt ja nichts als meine Erinnerung an dich, die nehme ich ins Kloster mit. Ich werde es der Oberin nicht verschweigen! Trübe mir die Erinnerung nicht! Maria, hilf!«

Und als Anton die Arme sinken ließ, fuhr sie hastig fort:

»Du kennst mich nicht! Du würdest sonst nicht so an mir hängen. Du bist nicht mein Alles. Vor dir noch steht etwas. Wie das möglich ist, weiß ich selber nicht. Ich weiß nur, daß sie alle mein Herz von Jugend auf vergiftet haben mit dem Götzendienst zur Nation. Wie das geworden ist, das ist kaum zu erzählen. Der Kaplan hat mich in der Religion unterrichtet. Und er hat mir für die kleinste Gedankensünde die schwersten Bußen auferlegt. Er hat mich für ganze Nächte allein in die Kirche eingesperrt. Er hat mir mit Höllenstrafen gedroht, an deren Beschreibung ich noch heute ohne Schaudern nicht denken kann. Aber das Ende vom Liede war doch immer: Wenn du dich deinem tschechischen Volke opferst, so wird die Kirche dir alles vergeben. Das war mein Glaubensbekenntnis. Und mein Bruder war mein anderer Lehrer. Anstatt mich über die schönen Sachen zu unterrichten, die andere Mädchen in der Schule hören, erzählte er mir nur immer von der böhmischen Geschichte. Ich wollte denken lernen. Er aber rief mir immer nur zu: Wenn du böhmisch denken kannst und wie eine böhmische Patriotin handeln, so ist das besser als alle Kenntnisse. Das war mein Jugendunterricht. Und mein Vater hat mich erzogen. Als das Weib in mir erwachte und ich mich nach meinem Gespielen sehnte, nach dir, Anton, da erkannte der Vater zuerst, was er die Gefahr nannte. Und er sprach mit mir über meine Gefühle. Er drohte mir mit seinen Krücken, wenn ich ihm Schande machen, wenn ich nur einen unehrbaren Gedanken haben wollte. Er wollte mich keusch wissen wie eine Nonne. Aber wenn das tschechische Volk es verlangte, dann sollte ich bereit sein, mich dem ersten besten hinzugeben wie eine Schlampe. Das war mein Leben bis heute!«

Leise faßte Anton sie bei der Hand und sprach: »So fange mit mir ein neues an!«

Unter Tränen lachte Katschenka auf: »Reiß mir erst das Gift aus dem Leibe, das sie mir eingepflanzt haben! Du kennst mich nicht, sage ich dir! Der Götzendienst zum Böhmervolke ist nicht auszurotten. Wenn ich dein Weib wäre, du hättest keinen Tag Ruhe vor meinen Bekehrungsplänen. Wenn ich Kinder hätte, ich würde sie für jedes deutsche Wort hassen! Und jetzt in dieser furchtbaren Stunde muß ich den Vater bewundern, der mich ermorden wollte. Laß mich! Für diesen Wahnsinn gibt es nur eine Zuflucht! Dort! Die heilige Maria wird den Götzendienst verdrängen! Tritt mir nicht in den Weg!«

Da gab Anton sie frei. Es war ihr gelungen. Er wird sich ihrem Entschluß nicht mehr entgegenstellen.

Mit dankbaren Augen blickte sie ihn an und fröstelnd murmelte sie:

»Gib mir noch einen letzten Kuß. Nein, nicht so, das ist vorbei! Gib mir einen Kuß, bevor ich sterben gehe.«

Anton faßte ihren Kopf mit beiden Händen und drückte kraftlos einen langen Kuß auf ihre zitternden Lippen.

»Ich danke dir,« sagte sie unter heftigen Tränen.

Dann ging sie rasch die wenigen Schritte bis zur Pforte und pochte mit dem alten, schweren Hammer laut gegen das Holz.

Anton war stehengeblieben.

Sie mußten lange harren. Endlich erschien die Pförtnerin.

»Laß mich ein und sag's der hochehrwürdigen Frau Oberin. Sie weiß schon. Die arme Katharina wolle sie sprechen.«

Noch einen Blick auf Anton. Dann schloß sich hinter ihr das Tor des Klosters.

Schluß

Kaum war Katschenka verschwunden, als Anton hinzueilte und mit beiden Händen den Hammer faßte. Er hatte den Wunsch, das Kloster wach zu pochen, Sturm zu läuten und das Landvolk herbeizurufen zur Rettung des Mädchens. Es war ja nicht möglich! So viel Jugend, Schönheit und Liebreiz sollte hinter Klostermauern verkümmern! Sollte sein Leben hinopfern im knechtischen Dienste, sollte Gebete plärren und Verbrecher pflegen. Das Mädchen, das er liebte – wie sehr, das wußte er jetzt! – das war begraben für immer, und wenn sie zurückwollte unter die Lebenden, so war es zu spät, der Sargdeckel war zugeschlagen.

Da sah er, wie aus dem nahen Kerkertor ein Zug von Sträflingen, an ihrer Seite Schwester Barbara, friedlich an die Arbeit ging. Erschüttert ließ er den Hammer sinken.

Wie himmlisch froh Schwester Barbara dreinblickte, wie zuversichtlich die Verbrecher. Als lebten sie in einer Welt, wo es keinen Haß gibt, nicht einmal den immer neu geweckten Völkerhaß. Wo es keine Leidenschaften gibt. Wenn Katschenka auch so himmlisch froh werden könnte wie Schwester Barbara! Wenn Katschenka durch die unsichtbare, heilige Kirche den Seelenfrieden wiederfinden könnte, den die unheilige sichtbare Kirche ihr hatte rauben helfen! Anton fühlte etwas wie Glaubenssehnsucht.

Er konnte sich vor Erschöpfung kaum aufrechthalten und wankte nach Oberndorf zurück. Noch pfiff ein kühler Wind über den Hügel, aber der wolkenlose Himmel versprach einen schönen ersten Mai. Schon begegnete Anton im Walde einzelnen Familien, welche nach alter Sitte den Tag von Sonnenaufgang ab im Grünen zu verbringen gedachten. Man blickte den einsamen, blassen Wanderer, der barhaupt dahinschlich und dessen Narbe auf der Stirn wie ein dem Ermordeten aufgedrücktes Kainszeichen erschien, aus scheuer Entfernung an. Er brach fast zusammen, als er in Oberndorf bei dem Vorstande des Schulvereins Rast fand.

Er warf sich auf ein Sofa nieder und wollte nichts hören und nichts erzählen. Sein Gastfreund hatte bereits ein Gerücht von der Untat in Blatna vernommen; man hatte den Gegenbauer totgesagt.

Erst gegen Mittag kam Anton wieder zu sich. Er trank ein Glas Wein, gab kurzen Bericht und verlangte nach Hause.

Während ein Wagen angespannt wurde, vernahm er noch, daß der Terrorismus der gräflichen Beamten einige Wähler abgeschreckt habe. Für den deutschen Kandidaten waren in der deutschen Stadt fünf Stimmen weniger abgegeben worden, als bei der letzten Wahl.

Der Vorstand des Schulvereins war außer sich. Bitter lächelnd bat Anton um einen Zettel für die Wahl. Dann fuhr er rasch in der leichten Britschka nach Hause. Nach seinem Hause, das nicht mehr stand.

Schon von weitem sah er einen großen Menschenhaufen die Unheilsstätte umstehen. Es sah aus, wie damals auf der Volksversammlung. Die Turner und die anderen Vereine hatten sich dem Wahltage zu Ehren in ihre Kostüme geworfen und waren dann, als die Schreckenskunde die Stadt durchlief, so wie sie waren, hinausgeeilt. Dicht neben der Fabrik sprang Anton vom Wagen. Als er sichtbar wurde, kam eine ungeheure Bewegung in die Menge, und plötzlich brachen alle in ein stürmisches »Slawa!« aus.

Trotz der Versicherung Tomeks, daß der gnädige Herr vor dem entscheidenden Augenblicke das Haus verlassen habe, glaubten ihn alle unter den Trümmern begraben. Wie von einer Blutschuld befreit atmeten sie auf, da er lebendig unter ihnen erschien. Der Bezirksrichter fiel ihm um den Hals und versicherte laut in deutscher Sprache, daß das Gesetz die Schuldigen unerbittlich treffen würde. Schon habe man die Spur des Mörders; er habe einen Mantel am Ort der Tat zurückgelassen, und ein Arbeiter habe ihn bei Nacht gesehen.

Mit Rührung und doch wieder mit wildem Zorn trat Anton näher heran und betrachtete das Bild der Zerstörung. Das Trutzhaus des Vaters war in sich selbst zusammengestürzt und bildete einen wüsten Trümmerhaufen. Nur die Vorderwand war zum Teil stehengeblieben. Fest standen die Pfosten. Und zwischen ihnen trug das Fachwerk trotzig die Inschrift:

»Ein deutsches Herz, ein deutsches Haus
Sie bleiben fest in Sturmgebraus!«

Die Regengüsse der Nacht hatten etwas von dem Schmutze abgewaschen.

Anton dankte dem Bezirksrichter kühl für seine Bemühung, gab seinen Beamten einige Befehle und schritt dann, noch immer barhaupt, festen Fußes in die Stadt hinunter. Hunderte folgten ihm, und wie im Triumphe kam Anton Gegenbauer vor dem Rathause an, wo die Wahlhandlung vor sich ging.

Die Straßenjungen hatten am Morgen die Glasscherben, die um das zertrümmerte Haus des Gegenbauer lagen, in irdenen Töpfen gesammelt und vollführten damit unter den Lauben einen Höllenlärm.

Bei Antons Herannahen bildeten sie vor ihm eine Gasse und klirrten ihm mit den Scherben um die Ohren, bis die nachfolgenden Bürger sie mit Schlägen auseinandertrieben.

Anton schritt ruhig hindurch und betrat das Rathaus.

Oben herrschte eine gedrückte Stimmung. Man glaubte noch allgemein an Gegenbauers Tod und wagte nicht laut zu sprechen unter dem Banne der Blutschuld. Auch hier waren von den Tschechen weniger Stimmen als sonst abgegeben worden.

Am grünen Tische hinter der Wahlurne sahen der Brauer, der Kaufmann und Svatopluk Prokop. Svatopluk sah drein wie ein Totenkopf, dem man einen roten Schnurrbart angeklebt hat. Er hatte seit dem Morgen seinen Platz nicht verlassen, doch so oft er ein Wort hervorbringen wollte, kam nur ein heiseres Röcheln heraus; er griff mit den Fingern nach dem Halse und schaute sich um, als würge ihn jemand. Er saß allein. Die anderen waren von ihm abgerückt.

Es fehlten nur noch wenige Minuten, dann war es zwei Uhr und die Wahlhandlung vorüber. Plötzlich erdröhnten die Treppen, als rückte eine Kompanie Soldaten herauf. Svatopluk fiel hintenüber in den Stuhl und schloß die Augen. Da ging die Türe auf und unter einem Rufe der Überraschung aller Wähler, die den Raum füllten, trat Anton ernst herein, hinter ihm eine laute Schar.

Anton schritt bis an den Tisch heran und überreichte seinen bläulich schimmernden Zettel feierlich nach einigem Zögern dem zuckenden Svatopluk, der den Feind aus brechenden Augen anstarrte. Der Brauer nahm den Zettel mit einer unsicheren Verbeugung und warf ihn in die Urne.

Dann wurde es still im Raume. Svatopluk bewegte den Mund wie zum Sprechen. Die Muskeln seiner Hände hüpften, sein Mund verzog sich, wie wenn ein Kind weint, aber kein Ton drang aus seiner Kehle. Hatte er den Feind verfehlt und sein Kind allein ermordet?

Da fühlte Anton Erbarmen und sagte leise:

»Katschenka ist im Kloster der barmherzigen Schwestern, ich habe sie dorthin geleitet.«

Svatopluk machte eine heftige Bewegung, als wollte er Anton zu Füßen sinken; aber er stürzte nur seitwärts zu Boden, während seine Brust wie im Krampf sich hob und senkte.

Während sich noch die Umstehenden bemühten, ihm auf die Beine zu helfen, schlug auf dem Kirchturm die Uhr. Der Brauer erhob sich und sprach:

»Die Wahlhandlung ist geschlossen; schreiten wir jetzt zum Skrutinium.«


Gegen Abend wurde Svatopluk, der völlig gelähmt schien, von kräftigen Männern nach Hause getragen. Der Lehrer schleppte die Krücken nach. Als der traurige Zug im öden Hause angelangt war und man den Hausherrn auf die Ofenbank niedergelegt hatte, rief der Lehrer laut, daß es schallte:

»Du kannst dich zeigen, Zaboj.«

Zaboj trat finster aus der Scheune und schritt bis an die Schwelle des Hauses.

»Sei nicht so ängstlich,« sagte der Lehrer leise zu ihm, »das Blatt hat sich gewendet. Deine Schwester ist im Kloster, und aus Prag ist ein langes Telegramm an den Bezirksrichter gekommen. Das bißchen Blut der Schwester Barbara ist gesühnt, die Untersuchung wird niedergeschlagen, die Sträflinge allein haben alles getan.«

»Und mein Vater?« fragte Zaboj dumpf.

»Der arme Mann!« antwortete der Lehrer. »Man hat ihn im Verdachte gehabt. Man wollte seine Kleider gefunden haben. Alles war erlogen. Die Kleider sind verschwunden. Niemand weiß von etwas. Es wird ein entlassener Arbeiter aus dem Gebirge gewesen sein. Nur ... der Vater wird's nicht lange mehr treiben, sagt der Doktor.«

Zaboj blickte zu Boden, dann sprach er:

»Nicht wahr, die Wahl ist wieder deutsch ausgefallen? Sage meinem Vater, daß ich ihn nicht wiedersehen kann. Ich gehe nach Prag, ins große politische Leben, und will mich verbrauchen lassen. Ich kehre nicht mehr nach Blatna zurück.«

»Niemals?«

»Gewiß nicht, solange hier der Gegenbauer-Anton lebt, der letzte Deutsche von Blatna, wie wir ihn höhnisch genannt haben. Ich habe ihn von Jugend auf gekannt. Er ist keine streitbare Seele. Er ist gar kein Politiker, gar nicht ein bißchen schlau. Er ist heute noch fast wie ein Knabe. Und doch – ich sage dir, wenn alle Deutschen in Böhmen nur so lebten wie er, die Zukunft wäre dann nicht unser.«


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