Marie Nathusius
Tagebuch eines armen Fräuleins
Marie Nathusius

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Plettenhaus, den 2. April.

Liebes Kind, sagte heute meine Tante zu mir, bilde dir nie etwas darauf ein, daß du ein Fräulein von Plettenhaus bist; vergiß es aber auch nie! Trinchen in ihrer Nähecke räusperte sich, die Tante warf ihr einen strengen Blick zu und fuhr fort: Dein seliger Großvater war erster Minister und wenn dein seliger Vater – nicht den Engel geheiratet hätte, – platzte Trinchen dazwischen. Jungfer Katharine, Sie schweigen! sagte die Tante. Trinchen weiß, was die »Jungfer Katharine« zu bedeuten hat, und begnügte sich mit einigen Seufzern. Die Gute! Je höher die Tante thut und in die Luft wächst, je mehr beugt und fügt sie sich, bis sich plötzlich ihre Zunge teilt und sie mit Flammenworten redet. Wie dann der Tante Größe verschwindet, ihre Worte verwehen, wie Nebel vor den reinen Sonnenstrahlen. Ich dachte darüber nach und hörte nicht was die Tante sprach, sie ward böse und sehr feierlich: – Rang und Stand sind Gottes Ordnung. Die Rose muß ihm als Rose blühen, das Gänseblümchen als Gänseblümchen. Es würde der Rose schlecht anstehen, sich hinabzubeugen zum Schmutz des Angers, und das Gänseblümchen wird sich vergebens bemühen, als eine Rose zu strahlen. So sprach die Tante und noch mehr; als sie schwieg, sang Trinchen leise:

Du bist ein guter Hirt,
Und wirst es ewig bleiben,
O Jesu gieb, daß ich
Dies mög' von Herzen glauben;
Laß hören deine Stimm,
Daß ich davon erwach
Und als ein Schäflein dir
Gehorsam folge nach.

Ich kenne deine Stimm
Und hör der Fremden keinen,
Nie meine Seele nicht,
Sich aber selber meinen!
Der Mietling hält ohn dies
In Not bei mir nicht Stand,
Drum folg ich deiner Stimm
Und deiner Hirtenhand.

O! daß ich möcht auf dich,
O Jesu, mein Anliegen
Stets werfen, und in dir
Allein mein Herz vergnügen.
Hingegen stille sein,
Und sorgen ferner nicht.
Weil du als Hirte weißt,
Was deinem Schaf gebricht.

Bei diesen letzten Worten rannen der Tante die Thränen über die Wangen. Sie griff nach dem Taschentuch, ihre Finger waren so steif, sie konnte kaum zu den Thränen kommen. Ich kniete vor sie hin und mußte weinen, und Trinchen verließ schnell das Zimmer. Die arme Tante! Schmerzen quälen sie Tag und Nacht. Dazu die Sorge um meine Zukunft. Ich weiß nicht, was sie aus mir machen will. O du lieber Herr, sei auch ihr ein treuer Hirt, nimm die vielen Schmerzen von ihr und die Sorgen, gieb ihrem Herzen Glauben, laß es stille sein und sorgen ferner nicht, weil du als Hirte weißt, was allen uns gebricht.

Den 6. April.

Ich war schon früh auf, stand am offnen Fenster, die Luft so lau, und Duft und Tau und Frühling unter mir. Alles war noch still, nur Jakob stand unten im Garten am frischen braunen Grabeland. Ich lief ihm zu helfen, sein Rücken scheint mir seit einiger Zeit sehr steif und der Spaten schwer in der Hand; wenn es ihm nur nicht wie der Tante geht. Jakob wollte meine Hilfe nicht annehmen, er sah oben nach dem Fenster. Sie schlief noch, und Sünde ist es nicht, wenn ich ihm helfe; habe ich als Kind meinen Garten graben dürfen, darf ich jetzt ein größeres Stück. Er litt es aber nicht eher, als bis ich Handschuh angezogen und den großen Hut aufgesetzt hatte. Das war eine Luft! ich habe zweimal so flink gegraben als Jakob, dazu sangen die Amseln und Finken im Fliederbusch und die Lerchen hoch in der Luft, und am Himmel zogen lichte Wölkchen. Die Veilchen sahen dunkel aus dem frischen Grün, und die Vergißmeinnicht lichtblau und rosenrot im schimmernden Tau. Den Kastanienbaum aber über uns haben wir wachsen sehen; erst leuchteten die dicken braunen Knospen gegen den tiefblauen Himmel, es war uns als hörten wir die Käpslein springen und fünf goldene Blüthen dehnten sich der warmen Sonne entgegen. Wenn ich nur wüßte, warum Trinchen jetzt trauriger ist als im Winter, sagte ich zu Jakob; ich kann mich vor Lust nicht lassen; kann es irgendwo schöner sein als bei uns? Jakob schüttelte traurig den Kopf. Unser Haus ist nicht zu groß und nicht zu klein, fuhr ich fort, es liegt auf einem Hügel und ist doch nicht viel daran zu klettern. Dort oben ist Schatten und Buchenwald und hier vorn Wiesen und Sonnenschein. Es ist einsam hier, man hört nur Mücken und Bienen summen, und doch sieht man vom Dorf dort die Schornsteine rauchen und hört in der Nacht den Wächter singen.

Das ist's gerade, unterbrach mich Jakob, wir hängen nun gar zu sehr an diesem Stücklein Land! Aber unser Kapitälchen schmilzt, liebes gnädiges Fräulein, der Garten aber wird nicht größer, und, Kindchen, du gebrauchst immer mehr. – Nahrungssorgen? stotterte ich erschrocken. – Haben wir! ja, fuhr Jakob fort, das alte Fräulein darf es nicht wissen. Meine Meinung ist nun die: – Jakob! rief Trinchen am Küchenfenster. Er wischte sich über den Mund und schwieg. Ich werde es aber noch erfahren.

Den 8. April.

Ich saß mit der Tante am offnen Fenster, es war dämmerig, der Abendstern stand am lichten Himmel, der Mond stieg voll und golden über dem feinen Buchengezweig hinauf, der Kinder Lärmen tönte vom Dorf herüber, mir war zu Mut, ich weiß nicht wie. Ich hatte nicht Ruhe in der Stube, ich hätte mögen in den Frühlingsabend hinaus, mit den Kindern lärmen, oder allein unter der Buche sitzen und nach dem Abendstern schauen. Die Tante war erst schweigsam. Du wirst wahrlich dem Trinchen ähnlich, sagte sie dann. Das freut mich! entgegnete ich. Die Tante aber sah wehmütig aus, mir fiel ein, wie sie vor einiger Zeit erzählte: Trinchen hätte es nie weiter als zu einer Zofenschönheit gebracht. Die Tante träumt wachend und schlafend von ihrer Vergangenheit, vom Leben am Hof. Sie ward bewundert und gefeiert, alles ist vorbei. Sie mochte in mir eine zweite Louise von Plettenhaus sehen, sie erzieht daran so lange. Bewege dich nicht so schnell, sagt sie oder: Sage nicht immer, was du denkst, oder: Wünsche nicht immer, etwas vorzunehmen. Nachdem sie mich jetzt eine Zeit lang sinnend betrachtet hatte, sagte sie ganz leise: Das wäre die einzige Rettung! Ich merkte, daß es nur laut gedacht war, sie thut das seit einiger Zeit, besonders wenn sie den Tag viel Schmerzen hatte, und müde und abgespannt ist. Liebe Lulu, sagte sie dann laut, faltete die Hände und schaute nach dem Himmel: ich wünsche und bete jetzt nur, daß du Hofdame wirst. Ich küßte ihr die Hand. Wenn die Liebe zu mir ihr nur nicht so viel Sorge machte. Und warum sorgt sie sich? Ich bin so zufrieden, ich möchte nichts, nichts weiter, als leben wie ich jetzt lebe. Nur eines möchte ich, dem alten Jakob eine neue Livree schenken. Ich verschwieg ihr, daß mir Trinchen erst gestern sagte, ihr einziges Gebet sei, daß ich nicht Hofdame würde, und auch dem Onkel Hofmarschall nicht in die Hände fiele. So beten sie beide für mich, was wird der liebe Gott wohl ihm?

Den 9. April.

So schöne Frühlingstage lassen einen nicht ruhen im Haus. Trinchen klagt über mein Zeitverthun. Doch stehe ich früh auf; Trinchen hatte heut zu plätten, Jakob war bei dem Kartoffellegen, ich half ihm die Stücken in die Löcher werfen. Wir säen jetzt, wer weiß, wie es aussieht zur Ernte, sagte er seufzend. Der Himmel wird wie jetzt über uns sein, und der liebe Herr auch, entgegnete ich. Der Alte wird mich bald mit seinen Seufzern ärgerlich machen. Er wischte sich mit der Hand über den Mund, ein Zeichen, daß er schweigen will. Es that mir fast leid, es wäre jetzt gute Gelegenheit gewesen, seine Geheimnisthuerei zu erforschen. Doch war der Morgen zu schön und ich zu fröhlich. Ich ging, für die Ziege Futter zu holen. Oben an der Weißdornhecke standen die blauen Veronika fußhoch, ich machte mir eine hohe blaue Krone und die Liese hat sich mit meinem Kopfputz ein Gütchen gethan, sie geriet so in Eifer, daß mir fast um meine Locken bange wurde.

Den 10. April.

Ich war gestern sehr traurig, auch heut morgen. Trinchen fragte mich, ob mir so ein Lungerleben gefallen könne? Was soll ich aber thun? Die Tante versichert, ich habe so viel gelernt, um den höchsten Ansprüchen zu genügen. Ich machte gern zuweilen eine englische oder französische Ausarbeitung oder eine Tapisseriearbeit, es fehlt mir an Papier und an Wolle und Kannevas. Die Tante findet beides unnütz, Trinchen auch. Was verlangt sie nur? Ich übe täglich zwei Stunden auf dem Klavier, und zeichne auch, außerdem weiß ich nichts vorzunehmen, die Tante versichert, in unserem Stande sei das nicht anders. Trinchen schüttelte den Kopf. Sollt' ich mit an Trinchens Chemisettes nähen? Für wen sind die? Für irgend einen Vetter? – das würde sich nicht schicken.

Den 11. April.

Ich ging mit dem Strickzeug am Bach entlang. Unten auf dem Anger war Gänseriekchen mit ihrer ganzen Gesellschaft. Wie die weißen stattlichen Mamas so eifrig mit einander parlierten, und wie die weichen goldenen Gisselchen so geschäftig an den weißen Blümchen und grünen Gräslein herumputzten. Gänseriekchens Rufen und Schreien klang recht häßlich dazwischen. Sie beklagte sich, wie die Tiere so unartig seien, seitdem ihr Hund gestohlen ist, sie lief von einem Ende zum andern, bald sollten sie dort nicht fressen, bald nicht in den Kot gehen, und während sie für ihre Gänsekinder so große Sorge hatte, kümmerte sie sich nicht um die eigenen, die gar schmutzig am Bache lagen. Warum hast du deine Zöpfe nicht glatt gekämmt und warum hast du dich nicht gewaschen? fragte ich das älteste Mädchen. Sie sah mich sehr dumm an, und ich glaube, in ihrem Gesichte war zu lesen: warum soll ich mich waschen, und kämmen? Ich ärgerte mich über das Mädchen, denn das kleine Schwesterchen, das neben ihr auf dem Rücken lag, sich nicht allein aufrichten konnte, ließ sie ruhig weinen, und plätscherte gleichgiltig mit den Füßen im Bach. Ich richtete das Kleine auf, es sah entsetzlich schmutzig aus, ich wusch ihm die Hände und Gesicht und strich ihm das Haar glatt, da wurde es allerliebst. Das große mußte sich in den Bach sehen, wie es zottelig aussah, es mußte sich auch waschen und die Zöpfe glatt streichen, und dann wieder sehen, wie es nun hübsch aussah. Es lachte mich jetzt freundlich an. Weißt du nun, warum man sich waschen und kämmen muß? fragte ich wieder. Wenn es nicht blöde war, hätt es gewiß gesagt: Weil es gut aussieht. Ich freute mich, aber ich muß gestehen, daß es mich ekelte bei der Arbeit, auch könnt ich mich nicht entschließen, mein Taschenkämmchen dazu zu nehmen. Das Mädchen hat mir versprochen, sich und das Schwesterlein morgen früh zu waschen und zu kämmen.

Den 12. April

Sie hat es doch nicht gethan und sah so schlimm als gestern aus. Ich hielt ihm eine Strafpredigt und sagte auch Rieken, warum sie die Kinder mehr verwildern lasse als die Gänse. Rieke sang ein Klagelied, wie die Kinder sich so beschmutzen und das Zeug vom Leibe reißen, und sie gar nicht Zeit genug habe, ihre Wildheit zu bändigen. Die Große könnte schon stricken, sagte ich, sie thut den ganzen Tag nichts, und Müßiggang ist aller Laster Anfang. O dazu ist das Mädchen zu dumm, entgegnete Rieke, sie begreifts im Leben nicht, es steckt gar kein Menschenverstand in ihr, Gott sei's geklagt, die Kinder sind dümmer wie die Tiere. Ja Fräulein, die Tiere sind nicht dumm, die Große mit den schwarzen Flügeln kennt mich und versteht jedes Wort. So ähnlich sprach Rieke mehr, ich ließ sie ausreden und machte die Menschenkinder rein und glatt, und nahm heut auch meinen Taschenkamm. Dann habe ich zwei Nadeln aus dem Strickzeug gezogen und machte mit dem Mädchen einen Versuch zum Stricken, ich glaube gewiß, sie würde es lernen. Das sollte mich gar zu sehr freuen. Als ich nach Hause kam, war die Tante sehr ungehalten über meine langen Wanderungen. Trinchen bat für mich: Wandern durch Wiese und Wald ist ihre Jugendfreude, sie hat sonst wenig hier. Die Tante schwieg und gab damit die Erlaubnis zu ferneren Wanderungen. Aus Liebe zu mir thut sie es, sonst möchte sie mir gern vornehmere Zerstreuungen anbieten.

Den 18. April.

Hinter dem alten Gewächshaus habe ich jetzt meine Schule eingerichtet. O, es ist sehr hübsch. Dortchen lernt stricken und die kleine Liese lernt artig sein, und dazu lernen sie beide schöne Verse. »Ich bin klein, mein Herz ist rein, niemand soll drin wohnen als Herr Jesus allein.« So haben sie beide heute gelernt. Dem Dortchen erkläre ich, was ein reines Herz sei, sowie die Hände und das Gesicht könnten rein und schmutzig sein, so könnt es auch das Herz. Vor den einfältigen Kindern darf ich auch in meiner Einfalt reden, und ich weiß wohl, daß der Herr dort oben kann meiner Einfalt Kraft geben. O, wenn ich doch den Kindern helfen könnte!

Den 20. April.

Meine Schule ist bis zu sechsen angewachsen. Zwei Mütter brachten mir selbst ihre Kinder. Die Tante findet es sehr herablassend von mir, Trinchen lobt mich. Aber nicht deswegen freut es mich allein, ich fühle mich nie so wohl und freudig. Die Kinder waren zwei Stunden bei mir, zugleich nähte ich an Trinchens Chemisettes. Nachmittag habe ich geübt, gezeichnet, im Hause geholfen, und kam erst spät zu meinen Wanderungen. Trinchen, das Lungerleben soll aufhören, sagte ich. Mit Gottes Hilfe, Amen, entgegnete sie. Die Tante ging früh zu Bett, Trinchen saß mit mir unter der Buche. Liebe Lulu, du hast bis jetzt noch wenig Lust zu nützlichen Beschäftigungen gehabt, sagte sie. Ich schwieg. Sie hatte wohl recht, mir war es nie angenehm, lange bei einer Arbeit zu sitzen; die Tante sagt zwar, ich habe es nicht nötig, auch thut Amtmanns Adelheid noch weniger als ich. Das letzte sagt ich Trinchen. Ja wohl ists betrübt, daß die meisten jungen Mädchen nichts thun, daß so viele junge Kräfte vergebens in der Welt sind. Denke dir, auf welch ein Heer von Nichtsthuern die liebe Sonne scheint. Mir ward bange bei diesen Worten, ich mußte mir gestehen, daß ich ein Mitglied dieses Heeres sei. Der Herr hat jedem jungen Mädchen ein reichlich Pfund gegeben, fuhr Trinchen fort, sie könnten herrlich damit wuchern, aber sie vergraben es tief und lassen die Nesseln und Dornen der Eitelkeit und der thörichten und unreinen Gedanken darüber wuchern. Der Herr wird sie einst zur Rechenschaft ziehen. Trinchen sprach noch mehr, ich will es in meinem Herzen behalten. Sie sagte auch: Daß Mädchen, die in der Welt leben und mit der Welt leben, ihre Zeit verthun und verschlafen, wie die thörichten Jungfrauen, das ist nicht zu verwundern; wenn es aber Mädchen, die den Herrn kennen und ihn lieben und ihm dienen möchten, den thörichten Jungfrauen nachthun, ist es zu verwundern und sehr betrübend. Trinchen ging fort und ich mußte weinen. Was habe ich denn gethan dem Herrn zu Liebe? Nichts, gar nichts. Ich bin des Morgens aufgestanden und habe mich gefreut und gedankt, daß ich lebe und daß ich glücklich bin, ich habe auch gesagt: ich bin zu geringe aller Barmherzigkeit; aber ich habe nichts gethan, ich habe nur gedacht, wie ich den schönen Tag möchte schön hinbringen, und wenn es anders ging, wie ich dachte, war ich verdrießlich, konnte auch unfreundlich sein gegen die, die mich lieben. Ich danke dir, lieber Herr, daß du mir die Augen aufgethan, und nun gieb mir Kraft, dir zu dienen. Aber wie? In der Nacht wacht ich auf, ich sprach mit Trinchen. Wie kann ich nur ein anderes und nützliches Leben führen? fragte ich. Kind, sorge dich darum nicht, für dich wird der Herr selber sorgen. Er wird dir ein Kräutlein schicken, daß heißt: Muß und Not. Ich verstand sie nicht, doch sollt ich in der Nacht nicht weiter sprechen. Trinchen will mich demütig machen, weil sie fürchtet, die Tante macht mich hochmütig; sie hat es aber gewiß nicht nötig. Die Geschichte mit dem Kleide wird ihr im Sinne liegen, ich war sehr unfreundlich, aber ich habe mir vorgenommen, ich will mit allem zufrieden sein, was sie mir auch anziehen mag.

22. April.

Der Frühling wird immer prächtiger, alles strebt und treibt der Sonne entgegen, die grünen Erbsenpflänzchen stehen wie die Soldatenreihen auf dem braunen Boden, Gesträuch und Unterholz schimmert wie in lichter grüner Seide, und die Knospen werden sich nicht mehr lange halten können. Jakob war unzufrieden mit meiner Kolonie am alten Gewächshaus; seitdem Lieschen und der kleine David ihm die Sperlinge von den Saatbeeten verjagen müssen, ist ers zufrieden, ja fürstlich will er die Kinder belohnen.

Den 26. April.

Sofie Bischofs kam heute so spät, ich fragte warum? Ich mußte die Chemisettes zu den Herrn Verwaltern tragen, war die Antwort. Welche Chemisettes? Die Jungfer Trinchen meiner Mutter gebracht hat. So ist mir denn ein Licht aufgegangen, alles, alles klar! Nahrungssorgen haben wir, sagte Jakob, Trinchen nähet für Geld, die Tante wird getäuscht. Sie würde in Verzweiflung sein, wenn sie wüßte, ich hätte Chemisettes für die Verwalter genähet. Und ich? o ich will nähen, will arbeiten vom Morgen bis Abend und Trinchen die Sorgen abnehmen. Als die Kinder fort waren, trat ich zu Trinchen an den Heerd. Wie viel Geld bekommst du für eine Chemisette, fragte ich ruhig. Sie ward feuerrot und sah mich erschrocken an. Ich fühlte mich sehr stolz, ich wußte ihre Geheimnisse und war nicht traurig, darüber, nein sehr freudig, daß ich von jetzt an eine wichtige Person im Hause sein sollte, denn ich will Geld verdienen, ich will die Haushaltssorge teilen, ich will die Stütze meiner Tante, die Stütze des ganzen Hauses sein. Trinchen konnte mir nicht widerstehen, ich bin kein Kind mehr, ich mußte alles wissen, ich weiß nun alles. Unser Kapital ist aufgezehrt, der Garten kann uns nicht ernähren. Jakob thut sein Möglichstes, er verkauft Gemüse und feines Obst und Blumen an Oberförsters, und wir bekommen wie die anderen Armen des Dorfes das Holz für die Taxe. Trinchen näht für Geld und hat es möglich gemacht, daß Jakob der Tante jeden Morgen ein Täßchen Chokolade serviert. Mit Gottes Hilfe soll sie es auch ferner haben, ich werde viel Geld verdienen. Hofdame werde ich nicht. Die Tante hat deswegen an den Hofmarschall geschrieben, die Tante hofft, ich soll dort mein Glück machen und Geld vom Gehalt erübrigen. Trinchen versichert, eine Hofdame mache eher Schulden als Ersparnisse, Sie will mich lieber zur Gouvernante machen bei einer Familie auf dem Lande; hier könnt ich sparsam sein und die Tante unterstützen. Dazu habe ich wahrlich nicht Lust, ich bleibe hier, ich arbeite. Die Armut soll mich nicht kümmern, ich bin sehr glücklich, es wird schon gehen. Wenn ich täglich zwei Chemisettes nähe, werde ich vier Groschen verdienen, das ist doch wohl viel Geld? Sollt ich auch in der Schule nicht für Geld stricken lassen? Pläne durchkreuzen meinen Kopf.

Den 1. Mai.

Die Sache wäre eigentlich traurig, doch folgten Trinchen und Jakob meinem Beispiel, wir haben uns herzlich darüber vergnügt. Die Tante kündigte uns an, sie wollte Visite machen bei Amtmanns, eine gewisse Herablassung sei von Zeit zu Zeit sehr angemessen, Jakob sollte mit den Visitenkarten und der neuesten Livree sich bereit halten, Trinchen soll für unsere Toiletten sorgen. Die Tante hat vergessen, daß diese Livree zu meiner Taufe angeschafft wurde, ungefähr jetzt achtzehn Jahr, und daß es kaum von Jakob zu verlangen ist, sich vor den Leuten darin zu zeigen. Doch Jakob versicherte uns, er sei bereit, das liebe Fräulein anzumelden, und Trinchen möchte ihm nur um und anthun nach Belieben. Ich wollte mich nicht weniger großmütig zeigen und übergab mich auch ganz und gar Trinchens kunstfertigen Händen. Während sie aus einem früheren Peignoir der Tante mir eine großblümige Mantille heftete, die breite blaßrote Schärpe sowie Manschetten und Taschentücher plättete, der Tante Sammethut bürstete, und mir eine Feder von einer alten Toque der Tante auf den Hut steckte, nähte ich auf Jakobs Kragen und Aufschläge die Ueberreste einer schwarzseidenen Tändelschürze. Die Tante sah noch ganz stattlich in dem spiekerfarbigen Taftkleid aus, ich aber fand mich sehr wunderlich, als ich mich in dem Spiegel sah; doch schwieg ich; Trinchen schien sich wirklich über mich zu freuen, sie stand so lange in der Gartenthür, bis unser Weg sich in den Wiesen verlor. Ich mußte gestehen, ich fühlte mich etwas beklommen als wir in den Amtshof traten. Der Herr Amtmann stand mit den Verwaltern unter der Linde. Seine Frau und Adelheid saßen oben in der Hausthür. Sie waren heut schon von Tisch, die Tante wählt zu ihren Visiten gewöhnlich die Zeit, wo bürgerliche Leute bei Tische sind. Adelheid kicherte, die jungen Herrn wandten sich um, ich sah etwas angstvoll auf Jakob, der ging aber ganz gefaßt und unbefangen hinter uns, kam jetzt mit seinen besten Manieren und ließ sich von der Tante die Karte geben, um uns anzumelden. Dies war nicht nötig, der Herr Amtmann kam uns entgegen. Vorher sah ich, wie er den jungen Leuten einen bösen Blick zuwarf. Er sprach mit der Tante von dem Glück und von der Ehre, sie bei sich zu sehen, und küßte ihr die Hand. Mir traten zwei Thränen in die Augen, alle Verlegenheit war verschwunden, ich fühlte nur Dankbarkeit gegen die guten Leute. Aus Mitleid sind sie höflich und freundlich, auch die Frau Amtmännin that der Tante alle Liebe und Ehre an. Die Tante sprach mit Adelheid englisch, sie lobte ihre Fertigkeit und tadelte ihre Aussprache. Die Frau Amtmännin beklagte, daß Adelheid seit dem halben Jahr, wo sie aus der Residenz sei, nie Gelegenheit hatte, englisch zu sprechen, und bat zugleich, ob wir Mädchen nicht zuweilen zu einander kommen könnten. Ich freute mich dazu, die Tante zeigte sich nicht abgeneigt. Sehr gern, sagte sie, wenn Lulu nur nicht bald dem Rufe als Hofdame folgen muß. Oder als Gouvernante, setzte ich schnell hinzu. Es war nicht mein Ernst, aber unwillkürlich mußte ich der stolzen Aeußerung, der Tante etwas anderes entgegensetzen. Die Tante sah mich ernsthaft an, doch wandten wir das Gespräch. Die Amtmännin ist eine sehr gutmütige Frau, sie hat dem Jakob nachher fast eine halbe Kalbsbrust in die Tasche gesteckt. Mir kam es sehr demütigend vor, und ich möchte gewiß kein Fleisch essen, sollt ich es so geschenkt haben. Trinchen aber spricht anders. Es ist eine Prüfung vom Herrn, so Almosen nehmen zu müssen; wir wollen mit Geduld unsern Nacken beugen und ihm doch sehr danken, wenn er zuweilen solche Hilfe schickt. Die arme Tante! wir fürchten, sie wird auch an den Füßen lahm wie an den Händen, ich bemerkte, wie ihr der Weg nach Amtmanns viel beschwerlicher wurde als sonst.

Den 10. Mai.

Seit acht Tagen regnet es unaufhörlich. Im Frühling mag mir das Wetter nicht behagen, ich könnte fast schwermütig werden. Die Kinder kommen regelmäßig, wir sitzen im alten Gewächshaus, Jakob hat die Lücken vernagelt, wo Regen durchkommen wollte. Die Kinder sind trotz des schlechten Wetters sehr vergnügt. Und ich? – o lieber Herr, ich habe wohl Ursach, vergnügt zu sein. Es ist noch Ueberrest vom Lungerleben, sagt Trinchen, je mehr du deine Hände regst, desto frischer wird dein Sinn sein. Sie hat Recht, ja, ich will vergnügt sein, weil es doch gar zu sündhaft ist, ganz ohne Ursach so eigentlich aus Langerweile verdrießlich sein zu wollen.

Den 11. Mai.

Es regnet noch immer. Mich kümmerts nicht, wir haben ein schönes Frühlingslied gelernt, auch können wir »Ach bleib mit deiner Gnade« zur Tante Geburtstag zweistimmig singen. Nachmittag habe ich meine Schubladen aufgeräumt, recht gründlich. Trinchen sagt: wie es in den Schubladen eines Mädchens aussieht, so auch in dem Herzen. Ich muß gestehen, da ists bei mir oft bunt durcheinander. Aber Trinchen hat recht. »O daß ich meine Gedanken könnte im Zaum halten, und mein Herz mit Gottes Wort züchtigen, und ich mein nicht schonete, wo ich fehlete.«

O! wie werd ich der Gedanken und der Phantasien los? Meide nur den Müßiggang, wach, und laß dein Herz nicht offen. Bau nicht Schlösser in die Luft. Will das Herz aufs Eitle hoffen, Oder sich mit Sorgen quälen: wirf die Sorg in Gottes Schoß. Denk, er hat es schon versehen, wie es künftig soll ergehen; Drum so hilft kein eitles Hoffen, glaub, es ist eilt süßer Traum, Ueberfallen dich Gedanken, dämpf und halt sie gleich im Zaum, Denke, daß die Zeit verdirbt, und viel Sünden draus entstehen; schone und hege sie nur nicht; bete gleich, nimm Gottes Wort; Denk auf das, was himmlisch ist; so gehn Weltgedanken fort.

Den 12. Mai.

Die Nachtigallen haben mich aufgeweckt. Ich lief in den Garten, o welch eine Herrlichkeit! Der Himmel so rein und blau, frisch duftete das junge Birkenlaub, an den dunklen Tannen hingen hundert und hundert strahlende Diamanten, maigrün schimmerte das Laub der Buchen und golden das der Eichen. Acht Tage hatte der Regen einen Schleier über den Frühling gelegt, darunter aber hat es getrieben und sich geregt und sich entfaltet, der Schleier ist gehoben, das Wunder ist da. Ich stand unter dem Kirschenbaum, leise wehten die silbernen Zweige gegen den tiefblauen Himmel, und der Apfelbaum drüben schimmerte rosig in seinen schwellenden Knospen. Das war ein Leuchten und Schimmern und Blühen, und ein Jubilieren, das hüpft auf den Hecken in den Zweigen, die Vögel singen, die Käfer schwirren, die Bienen summen. Ich habe mein Herz weit aufgethan, habe tief in den blauen Himmel geschaut. O lieber Herr, möchte doch mein Herz ein rechter Gottesgarten sein, und treiben und blühen und streben himmelan. O ich könnte traurig sein, daß ich so arm, so elend bin, daß in meinem Herzen Nesseln und Dornen der Thorheit wuchern, aber ich bin so glücklich heut, ich habe dich lieb, Herr, und ich darf auch als ein armes, hilfloses Kind zu deinen Füßen sitzen, darf tief in deinen blauen Himmel schauen, darf mich freuen an deinen herrlichen Wundern.

Den 24. Mai.

Jakob weiß sich vor Arbeit nicht zu lassen, es treibt und wächst ihm alles über den Kopf. Heute haben wir Kinder ihm die Erbsen gehackt und die Bohnenstangen eingesetzt. Zum Dank dafür bekam jedes Kind eine Schürze voll Salat, der ist bis in die Lüfte geschossen, wir samt der Ziege können ihn nicht mehr bezwingen. Trinchen hat schon seit zwei Tagen ihr Kopfschmerzentuch um, sie spricht nicht davon, aber wir merken's wohl.

Den 10. Juni.

Ist es möglich? Zwei Thaler und sechszehn Groschen habe ich verdient, sie sind mein. Trinchen sah wehmüthig aus, als sie mir das Geld gab, ich aber habe ihr vor Freuden die weiße Mütze zerknödert. Dann lief ich zu Jakob, ich mußte etwas Besonderes unternehmen, ich tanzte ihm einen Contretanz vor, er mußte dazu sein Lieblingslied singen: »Als die Preußen marschierten vor Prag.« Die Melodie paßt gut, ließ er auch einige Takte fort, so machte ich einige Sprünge mehr. Darauf gab ich Jakob vier Groschen, für zwei Groschen sollte er Kaffeebrot holen, Trinchens Lieblingsessen, für zwei Groschen ein Paket Louisiana. Er rauchte früher selten, anders, das sind Erinnerungen aus besseren Zeiten; die Zeiten sollen aber wiederkommen, sollt ich Tag und Nacht arbeiten. Jakob wollte das Geld nicht nehmen, er wollte es nicht so durch den Schnabel jagen, aber er mußte, es ist ja mein Geld. Was werde ich nun mit dem übrigen machen?

Den 12. Juni.

Trinchen hatte das braune Crêpetuch noch immer über der weißen Mütze. Ruhige Morgenstunden, wußte ich, sind das beste Heilmittel, ich stand heimlich auf, sie würde es mir nicht erlaubt haben, ich kochte der Tante Chokolade, für uns drei den Eichelkaffee. Ich bin überzeugt, ich habe das so gut als Trinchen gemacht. Ich wollte mich zum Nähen hinsetzen, doch war es noch dämmerig, ich war zu früh aufgestanden, noch regte sich nichts im Haus und nichts im Garten, nur die Nachtigallen sangen, meine Augenlider wurden mir immer schwerer, ich schlief auf dem Stuhle ein. Da weckten mich Trinchens Scheltworte. Sie lasse mich allerhand Albernheiten treiben, doch sollte ich ihr nichts in der Küche verderben! Chokolade sei dreimal so viel verbraucht, und sei um kein Haar besser dafür, es sei zum allerwenigsten ein sehr dummer Gedanke gewesen, der mich in der Nacht aus dem Bette getrieben. – Ich war starr vor Verwunderung und Zorn, aber ich nahm mich zusammen. Jungfer Katharine! sagte ich nur sehr ernsthaft und verließ das Zimmer. Ich setzte mich unter die alte Buche und habe weinen müssen. Da hat Trinchen nicht mit Flammenworten geredet, es sprach der leidige alte Adam aus ihr. Sie denkt, aus Albernheit habe ich mir den Nachtspaß gemacht, und habe dabei die Chokolade genascht. Es ist entsetzlich, daß ein Mensch so schlecht von mir denken kann. Ich habe nicht frühstücken können, es saß mir wie ein Pfropf im Halse, ich blieb außen und habe Schule gehalten. Aber wunderbar ist's, was ich im Bogatzki aufgeschlagen: »Wer sich gern läßt strafen, wird klug werden. Wer aber ungestraft sein will, bleibt ein Narr, ob er auch ein großer Weltweiser wäre. Darum sollen wir die Bestrafung, ob sie auch nicht so lauter wäre, dennoch annehmen, und keine Disteln und Dornen sein, die den, der sie berührt, alsbald empfindlich stechen. Es kann nichts so böse von uns gesagt werden, das nicht der Wurzel nach noch in uns ist; und ob wir auch wohl unsere Schwachheit selbst erkennen und dawider kämpfen, so geschieht's doch nicht so ernstlich, daß wir immer siegten: daher kommt uns Gott mit einer auch wohl harten Bestrafung von anderen zu Hilfe: denn Gott brauchet auch der anderen Fehler zu unserem Besten. Nehmen wir da alles als von ihm allein an, und kämpfen desto mehr wider dieselbe Schwachheit, daß wir unserem Nächsten nicht ferner anstößig seien, so haben wir gewiß einen Sieg und Segen; werden wir aber ungeduldig, brauchen viel Entschuldigungen, und wollen nichts auf uns sitzen lassen, so machen wir das Uebel ärger und versäumen unsere und anderer Besserung. Herr, bessere uns, und gieb Geduld,«

Denn wer dem Leiden will entlaufen,
den verfolgt es erst mit Haufen,
Hilf so die Lieb' in Demut üben,
daß wir auch die uns strafen lieben.

Ich kann mich nicht überwinden, damit einverstanden zu sein. Trinchen sollte mich besser kennen: ich der armen Tante die Chokolade wegnaschen! – Der Pfropf steigt mir bei solchen Betrachtungen immer höher in den Hals und ich habe mich den ganzen Tag mit den Gedanken beschäftigt, was ich thun solle, um Trinchen von ihrem Unrecht zu überzeugen. Sie hat ihr Kopfschmerzentuch um und sieht bleich aus, sie fühlt ihr Unrecht, sie möchte mir nahe kommen, doch habe ich es vermieden.

Den 13. Juni.

Ich konnte gestern Abend nicht einschlafen, es saß mir ein Schwert im Herzen, und als ich einschlummerte, hatte ich einen wunderlichen Traum. Beim Erwachen sah ich nur die Worte: Du sollst deine Feinde lieben. Ich habe mir das nie schwer gedacht, meinte immer, ich sei sehr liebreich und versöhnlich, Ist denn Trinchen mein Feind? dachte ich, O wie schwer ist's, Unrecht leiden. Ich stand auf und sah in ihre Kammer. Der Mond schien in ihr bleiches Gesicht, sie hatte die Hände gefaltet. Ich mußte weinen, ich ging zurück und trat an mein Fenster. Der Vollmond stand am Himmel und goß sein Silberlicht über die ruhende Welt. Ich schaute in das tiefe Blau, ich hätte des Himmels Reinheit und Stille in mein Herz ziehen mögen. Ich habe gebetet, recht innig gebetet, und da war die Beängstigung von der Brust, mir war wohl. O du lieber Herr, ich schäme mich und gräme mich, daß ich nicht wollte so Geringes leiden, daß ich den Tag lang an mich selbst gedacht, nicht die Kraft hatte, deiner zu gedenken. Alle Unruhe ist vorüber, ich wußte auch, was ich zu thun hatte. Ich legte mich wieder, ich schlief ruhig, früh stand ich auf, kochte Chokolade und Kaffee und schlief nicht wieder ein. Als Trinchen aufstehen wollte, bat ich sie freundlich, es nicht zu thun, sie sei krank, und wenn ich es auch nicht recht mache, so wolle ich doch heute die Wirthschaft besorgen. Sie sah mich groß an, dann nahm sie meine Hände, küßte sie und weinte. Ich habe mit geweint. O lieber Gott vergieb mir, daß ich Arges von ihr dachte, sie hat mich eigentlich viel zu lieb, denkt zu gut von mir, mehr als ich es werth bin. Zur Morgenandacht stand sie auf, mußte sich aber wieder legen.

Den 20. Juni.

Mir ist so bange, als ob mir ein Unglück nahe wäre. Trinchen liegt seit acht Tagen am Katarrharfieber. Seit gestern ist sie etwas besser. In den acht Tagen mußt ich dreimal die junge Schneiderfrau besuchen. Sie liegt seit einundzwanzig Wochen an der Auszehrung, Trinchen war oft bei ihr und hat sie gestärkt und getröstet. Sie fragt mich jedesmal, ob Trinchen nicht bald käme. Der Herr wird mich doch nicht sterben lassen, als bis sie wieder bei mir ist, sagte sie gestern. Es thut mir so leid, ich bin so stumm und weiß nichts zu sagen, höchstens kann ich ihr ein Kapitel aus der Bibel oder einen Liedervers vorlesen. Doch auch darüber freut sie sich, und jedesmal wenn ich eintrete, lächelt sie mich an. Sie wird aber immer schwächer, und mir ist bange, sie stirbt ohne Trinchen wiedergesehen zu haben.

Den 26. Juni.

Gestern Abend wurde ich wieder aus dem Bett geholt. Der Schneiderin ältestes Töchterchen stand weinend vor der Thür, Die Mutter stirbt, Jungfer Trinchen möchte kommen, sagte sie. Trinchen konnte nicht aufstehen, es war unmöglich, sie schickte mich. Der Herr stärke dich, wir vermögen nichts als durch ihn, sagte sie. Das Kind war schon davongelaufen, ich stand erst auf dem Hügel unter der Buche. Ich hatte noch nie einen Menschen sterben sehen, mein Herz schlug heftig. Und was sollte ich der Armen sagen? Ich wußte nichts. Ueber mir funkelten die Sterne am klaren Himmel, ich kniete nieder, ich schaute hinauf. Ich sprach den Glauben. Da ward mein Herz immer voller. Du lieber Herr, du bist zu uns gekommen aus deinem schönen Himmel aus lauter Liebe allein, du wolltest uns Frieden bringen, du bist für uns gestorben, hast dich für uns geopfert, auf daß unsere Sünde von uns genommen würde. Du hast die Pforten der Hölle überwunden und uns den Himmel aufgethan. O lieber Herr und Heiland, komm jetzt, und hilf einer Sterbenden. – Ich trat in die Krankenstube. Die Mutter lag bleich im Bett, Vater und Kinder standen dabei. Jungfer Trinchen nicht? sagte leise die Kranke. Was soll Jungfer Trinchen? fragte ich freundlich. Mir helfen, ich muß sterben. Menschen können dir nicht helfen, sagte ich, unser lieber Herr und Heiland kann dir jetzt allein helfen, wir wollen ihn bitten, daß er zu uns kommt. Die Kranke nickte. Lieber Herr komm, sagte ich – mir ward so wunderbar und auch die Kranke lächelte. Ich sprach den Glauben, sie sprach ihn leise nach, ihre Stimme ward immer matter, mir ward wieder bange. Ich kniete nieder, Vater und Kinder mit mir, wir sangen: »Jesus meine Zuversicht.« Die Kranke sah immer seliger aus; wie hat es mich durchbebt, daß er uns geholfen hat, o möcht' ich es nie vergessen. – Sie war gestorben während des Singens, ich weinte mit dem Vater und den Kindern und ging bald fort. Unter der Buche habe ich noch lange gesessen, es war still, sehr still, die Sterne funkelten, ich vergaß die Gegenwart, es war, als ob ich tief in die Zukunft hineinschaute, als ob mein Leben schon hinter mir läge. Glück und Unglück schienen mir so gleich, Trinchens kummer- und thränenreiches Leben so reich. Ich ging durch den Garten, die Rosen blühten, die Linden dufteten, wie schön und süß ist eine blühende Rose. O glücklich sein ist auch schön, könnt ich doch Trinchen und die arme Tante glücklich sehen.


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