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Personen:
Hanns, ein Jüngling
Martin, ein Mann
«'s, der Henker hol' 'n Buch, ‹Die Leiden des jungen Werthers›», sagte Hanns, «'s dringt dir durch Mark und Bein, jede Ader schwillt dir, und's Gehirn funkelt dir, daß du gleich auf möchtest...»
«Ja freilich, 's so ein Buch», sagte Martin, «wer's geschrieben hat, kann sich ruhig aufs Haupt legen und fürchten nicht, daß über hundert Jahr 'n belesner Tölpel davon schwatze: 's ist euch ein rar Buch, ihr Leute, seit neunundneunzig Jahren hat kein Mensch davon was gehört und gesehn.»
Hanns war einundzwanzig Jahr alt und Martin zweiundvierzig.
Hanns fuhr fort: «Was das für 'n Junge war, der Werther. Gut, edel, stark. Und wie sie'n verkannt haben. Da kamen die Schmeißfliegen, setzten sich auf 'n, beschmitzten alles, was er tat. Und auch Albert, sein Freund, verkannt 'n, konnt' eifersüchtig werden. Ach, was hat der Albert nicht auf sich! Möcht nit Albert sein, um aller Welt Güter nit!»
M.: Du nicht Albert? Hör, Hanns, du tätst 'n großen Sprung, wenn du Albert würdst. War Albert nicht der redlichste, unbescholtenste, nützlichste Mann, der Lotten von ganzer Seele liebte? Sollt' er etwan ganz geruhig zusehen, daß ein andrer bei seiner Frau den sterblich Verliebten spielte, ihr den Kopf umkehrte und sie in der Leute Mäuler brächte? Was hat denn wohl Albert getan, warum du nicht Albert sein möchtest?
H.: 's ja 'n Greuel, hast nicht gelesen, wie 'r eifersüchtig war, wie 'r Lotten spitze Reden gab, als er den armen Werther in aller Unschuld bei 'r fand?
M.: So? Hast niemanden spitze Reden gegeben, wenn dir der Kopf warm war? Hatt' Werther nicht auch 'n Kopf? Und gab's ihm's schwarze Blut nicht gar ein, daß er Alberten ermorden wollte und Lotten dazu? Darf Werther alles und Albert nichts? Das wollt' Werther selbst nicht. Ne, Hanns! Dein Held mag Werther sein, mein Held ist der Autor.
H.: Da sieht man's, bist 'n alter, kalter, weiser Kerl, der mit Werthern und mit seinen Leiden nicht sympathisieren kann, liebst nit 'n jungen braven Buben, voll Feu'r und Leben, und willst 'n steifen, trocknen Aktenkrämer loben wie Albert.
M.: Also bin ich so kalt? Hab dir g'sagt, daß ich 'n Autor bewundere, und sollt' nicht Werthers Charakter bewundern, der des Autors Meisterstück ist? Wer kann diesem feurigen, edlen Charakter Bewunderung und Liebe und seinem Schicksal, zumal wenn's so meisterhaft erzählt, so lebhaft dargestellt wird, Tränen versagen? Meinst nicht, daß sich mir das Blut im innersten Herzen bewegt hat, als ich las, wie er neben Alberten ging, ‹... pflückte Blumen am Wege, fügte sie sehr sorgfältig in einen Strauß und – warf sie in den vorüberfließenden Strom und sah ihnen nach, wie sie leise herunterwallten ...›
H.: Wenn du denn Werthern liebst, siehst nicht, 'n Gut's wär', wir wären alle so wie Werther, unserer Kräfte uns bewußt, und brauchten unsere Kräfte, soweit's ginge, und keiner ließe sich durch Gesetz und Wohlstand modeln.
M.: Schau, Hanns, dazu hat, wenn ich's recht sehe, der Autor die ‹Leiden des jungen Werthers› nicht geschrieben, dir und dein'sgleichen nicht. Er kennt euch besser, ihr jungen Burschen – Hanns, bist auch einer davon –, die ihr itzt eben pflücke [flügge] seid und anfangt, aus der hohen Schule in d' Welt zu gucken. Euch Kerlchen ist nichts recht, all's wißt ihr besser, was der Welt nützt, mögt ihr nicht lernen, denn 's wäre Brotwissenschaft, eingeführter guter Ordnung wollt ihr euch nicht fügen, denn 's wäre Einschränkung, was andre tun, mögt ihr nicht, wollt Originale sein, wollt 's anders haben, 's lange gnug so gewesen, was kümmem euch Gesetze und Ordnungen und Staaten und Reiche und Könige und Fürsten; prätorianische Garden wollt ihr haben und 'n biß'l Faustrecht und Keulen und Völkerwanderungen, da wär' noch 'ne Selbständigkeit in'n Menschen, gäng doch fein kunterbunt. Sa, sa, wär's nicht 'n Leben, wenn ihr denn so zusehn könntet, wie das alles passierte, und ließt eure winzige Seelchen drob erschüttern und könnt't schreien: He, da ist Kraft und Tat! Ja traun zusehn und drob schreien würdet ihr Bürschchen, Und nichts weiter! Denn was auch in der Welt vorginge, ihr tät't nichts, 's doch in eur'n lappigen Mäuslein keine Schnellkraft noch Festigkeit in euren leeren Geistern. Plaudert da viel von Kraft und Stetigkeit und seid arme lässige herumtrollende Flittchen. Habt 'n weidlich Geschwätz von Einschränkung und Modelung und Polierung und Nachahmung, und doch gäbt ihr nicht 'n Polsterchen von eurem Sorgestuhle noch 'n Schleifchen von eurem Haarbeutel weg, daß 's anders würde. Euch Püppchen würd's auch frommen, wenn 's Faustrecht gälte, müßt't ja aus 'm Lande laufen. Daß ihr Springinsfelde Werther würdet, damit hat's nicht Not, dazu habt 'r 'n Zeug nicht. Aber wohl könnt am guten Werther von weitem sehen, wohin 's führen muß, wenn einer auch beim besten Kopfe und beim edelsten Herzen immer einzeln für sich sein, immer Kräfte anstrengen und immer dabei außerm Gleise ziehen will. Wenn dabei Kraft und Stetigkeit in der Seel ist – ist die aber nicht da, so ist's eitel Lächerlichs – und ein Unglück stemmt sich dawider, wo will da Trost oder Entschluß herkommen, muß da nicht, wie der Autor vortrefflich sagt, ‹... die ganz in sich gedrängte, sich selbst ermangelnde und unaufhaltsam hinabstürzende Kreatur in den innern Tiefen ihrer vergebens aufarbeitenden Kräfte knirschen ... ›? Das würd euch nicht frommen, ihr Füllen, die ihr Rosse wollt sein, eh 's Zeit ist! Zieht denn nur ruhig am Seil, wo ihr gespannt seid, und laßt euch füttern, wähnt nicht, daß 's euch im Walde besser wär.
H.: Hast ausgeredt, Prediger? Dir deucht's wohl, jeder ginge geblendet im Zirkel wie 'n Roß in 'r Mühle und dächt' nicht eins: Auf und davon, jenseit ist Licht und 'n freier Sprung. So dacht Werther und ließ die Welt, wie's nicht mehr ging. War's nicht 'n großer Streich? He?
M.: 'n großer Streich? Wenn du 'n tätst, Hanns, ich sagt, hättst dich übertroffen!
H.: Geh, hast nur 'ne halbe Seele, 's lodert nur 'n schwaches Fünkchen himmlisches Feuers in dein'r engen Brust. Spott'st über Edeltat. Daß ich diesen Kerker verlassen kann, wenn ich will, ist's nicht 'n süßes Gefühl von Freiheit? Kannst's leugnen?
M.: Wär der Körper der Seele ein Kerker, nicht ein nötiges Werkzeug, so möcht's drum sein, aber...
H.: Aber Mensch, bist kalt wie 'n Stein. Mußt nicht Werthern bedauern, inniglich im Herzen bedauern?
M.: Bedauern? Ja! Lieben und bedauern! Wo soviel edle Kräfte, bloß zu unruhiger Lässigkeit verwendet, ungenutzt vermodern, wenn, der soviel wichtige Zwecke sehn und erfüllen konnte, tobender endloser Leidenschaft folgt, bis Natur unter Anstrengung erliegt, wer wird da nicht bedauern! – Aber bloß bedauern? Was meinstu, wenn Werther den Menschen im schlechten grünen Rocke, der zwischen den Felsen Blumen suchte, anstatt der Blumen mit der Pistole in der Hand gefunden hätt, wie er sich eben die Mündung übers rechte Aug an die Stim drückte, hätt er da ruhig warten sollen, bis der Schuß geschehen wäre, hernach die Achseln zucken und sagen: ‹Der Mensch hat das Maß seines Leidens nicht ausdauern können›?
H.: Ei nu ja freilich...
M.: Ei nu ja freilich! Was Werther einem andern schuldig war, war er 's nicht vielmehr sich selbst schuldig?
H.: Steht er nicht da und spricht weise wie 'n Buch! Als wenn Werther beim Sturme seiner Leiden hätte so vorsichtig handeln können. Da stirbt einer am hitzigen Fieber. Sagst nicht auch Mensch, wie Lukas in der Komödie: Warum hat er sich doch nicht kurieren lassen! Hätt der Tor nicht warten können, er starb so schnelle.
M.: Gut, daß du gestehst, daß der Mensch, der seinen Körper zerstören will, sich in einem ebenso unnatürlichen Zustande befindet, als der ein hitziges Fieber hat. Aber ich sage dem Kranken nicht, warte, eh du stirbst, bis sich deine Säfte verbessert, dein Blut gekühlt, deine Kräfte erholt haben. Ich sage: Freund, liegst in 'ner engen Stube voll fauler Dünste, öffne 's Fenster, draußen ist's lieben Gottes reine Luft, die alle Kreaturen erquickt, trink 'n Julep, der dein Blut abkühlt, nimm'n Trank, der Fäulnis lindert und Kraft gibt! Dies war Werther auch sich selbst schuldig. Die ganze Welt lag ja vor ihm. Und war er, der Edelsten einer, der Welt nichts zu leisten schuldig? Warum wollt er einzeln [einzig(artig)] sein? Wenn ihn Menschen haben mochten, sich an ihn hängten, deren Weg nur so eine kleine Strecke mit seinem ging, warum schlendert' er nicht ihren Weg mit ihnen eine Strecke weiter, bloß ,weil's Menschen, eine rechte gute Art Volks waren? Er würde viel besser mit sich gestanden haben. Die vielerlei Menschen, die allerlei neue Gestalten, die dem in sich und ,in seine Leidenschaften eingeschlossenen gleichgültigen Werther sonst nur ein buntes Marionettenspiel machten, würden ein heilsames Kühlungs- und Stärkungsmittel worden sein, wenn er teilgenommen und bedacht hätte: Sie sind ja, was ich bin, Menschen. Die Kräfte, die in ihm ungenutzt ruhten, hätt er sie entwickelt und gebraucht, .So würd ihm in kurzen die Welt wenigstens so gefallen haben wie der kleine Knabe, den er ungeachtet seines Rotznäschens küßte, und die Welt würd ihm die Hand geboten haben, eben wie 's freimütige Kind.
H.:'s alles schön und gut; aber's war mit Werthern zu weit, 's konnt nun nicht anders werden, mußt notwendig so kommen.
M.: Versteh mich. Wenn du Werthern betrachtest wie den Ton in der Hand des Töpfers, wie einen Charakter in der Hand des Dichters, so mußt's so kommen. Der Autor hat freilich mit seltner Kenntnis alle Züge dieses schwärmerischen Charakters so zusammengesetzt, mit bewundernswürdiger Feinheit alle Begebenheiten, auch die kleinsten, so eingeleitet, daß die schreckliche Katastrophe natürlich erfolgt, die uns das herbe Ach! auspressen soll. Stellstu dir aber Werthern vor als einen Menschen, der in der Gesellschaft lebt, so hatt er unrecht, daß er einzeln sein und die Menschen um sich als Fremde ansehn wollte. Er hatte, seit er an der Mutter Brust lag, die Wohltaten der Gesellschaft genossen, er war ihr dagegen Pflichten schuldig. Sich ihnen entziehn war Undank und Laster; sie ausüben, würde Tugend und Beruhigung gewesen sein. Selbst nachdem er schon die hoffnungslosen Todesbriefe geschrieben hatte, selbst da noch, hätt er gedacht, daß er noch Sohn, Bürger, Vater, Hausvater, Freund sein könnte, sein müßte, so konnte noch Trost und Zufriedenheit von vielen Seiten her auf seine bedrängte Seele fließen, wenn er nicht mit einem Stoße die Tür zuwarf.
H.: Wüßt wahrlich nit, wie Werther da noch glücklich hätt werden können; war ja sein's Leidens kein Ende zu finden.
M.: Wollen's mal sehn. Die geringste Veränderung tut's wohl; gibt Freuden, Leiden, wieder Freuden und allerlei. Setze zum Beispiel den einzigen kleinen Umstand: Als Albert, des lang verschobenen Geschäfts wegen, wegritt und Werther Lotten zuletzt besuchte, war Albert und Lotte noch nicht verheiratet, nur so gut als verlobt, die Hochzeit sollt in Weihnachten sein. Du siehst, ich denk mir's so, weil die Szene um Worms liegt, wo man sich nicht so leicht scheiden kann wie in Brandenburg. Wär's da, ändert' ich auch dies nicht. Lotte mag in einem Hause mit Albert wohnen oder dicht neben, bei ihrer Tante oder bei wem du sonst willt.
Albert ist wiederkommen, hat gehört, daß Werther seine Zeit wohl nahm und gestern eine Stunde da war.
Und nun...
Als Albert aus seinem Zimmer zurückkam, wo er mehr hin und her gegangen war und sich gesammelt, als seine Pakete durchgesehen hatte, kam er wieder zu Lotten und fragte lächelnd: «Und was wollte Werther? Sie wußten ja so gewiß, daß er vor Weihnachtsabends nicht wiederkommen würde!»
Nach Hin- und Widerreden gestand Lotte, aufrichtig wie ein edles deutsches Mädchen, den ganzen Vorgang des gestrigen Abends. Indem sie's aber gesagt hatte, bangte sie auch schon, sie möchte, aus Unkunde zu lügen, ihm Wermut gereicht haben.
«Nein», sagte Albert, sehr ruhig, «Sie haben Balsam in meine Seele gegossen. Sie verleugnen auch hierin Ihr edles Herz nicht. Aber ein wenig unüberlegt haben Sie gehandelt, meine liebe Lotte. Sie hatten ihm, wie ich merke, ein Versprechen abgezwungen, daß er vor Weihnachtsabends nicht wiederkommen wollte. Sie wollten mich dadurch beruhigen, weil Sie wußten, daß ich verreisen mußte, weil Sie, liebste Lotte, meine Eifersucht gemerkt hatten, die ich gern vor mir selbst verborgen hätte. Ich danke Ihnen dafür.» Er küßte ihr die Hand. «Aber da nun Werther wider sein Versprechen sich eindrang, so hätten Sie sich nicht so vertraulich mit ihm aufs Kanapee setzen und unter vier Augen in Büchern lesen sollen. Sie verließen sich auf die Reinheit Ihres Herzens. Dies ist für ein Mädchen ein sehr edles Bewußtsein. Aber da denkt der beste Kerl nicht dran, zumal wenn die Liebe Hindernisse find't und die Zeit kostbar ist. O Weiber! Macht's dem besten Buben weis, daß er euch ein Versprechen ungestraft brechen darf, und er wird mehrere brechen wollen. – So haben Sie's, liebste Lotte, ohn 's zu denken, selbst so eingeleitet, daß Sie sich ins Kabinett verschließen mußten. – Die Szene war wirklich stark ...»
Lotte weinte bitterlich.
Albert nahm sie bei der Hand und sagte sehr ernsthaft: «Beruhigen Sie sich, liebstes Kind. Sie lieben den Jungen, er ist's wert, daß Sie 'n lieben, Sie haben's ihm gesagt, mit dem Munde oder mit den Augen, 's ist einerlei.»
Lotte fiel ihm schluchzend in die Rede, beteuerte, daß sie ihn nicht liebe, daß er vielmehr nach der letzten Szene ihren Haß verdiene, daß sie ihn verabscheue.
« Verabscheuen? Das ist etwas, liebstes Lottchen, das lautet so, als ob Sie ihn noch liebten. Hätten Sie ganz gelassen gesagt, der Bursch wäre Ihnen gleichgültig, so hätte ich ganz stillgeschwiegen, so hätte ich Ihnen nicht gesagt, daß ich wechselseitige Liebe nicht stören will, daß ich alle Ansprüche ...»
«Großer Gott!» rief Lotte laut schluchzend, indem sie sich das Gesicht mit dem Schnupftuche bedeckte, «wie können Sie meiner so grausam spotten! Bin ich nicht Ihre Verlobte? Ja, er soll mir sein, was Sie wollen, gleichgültig! verabscheuungswürdig! so gleichgültig als...»
«Als ich selbst?» rief Albert. «Das wäre für mich gut, aber nicht für ihn. Für mich wäre unter diesen Umständen...»
Indem kam der Knabe, der Werthers Zettelchen brachte, worin er Alberten um die Pistolen bat.
Albert las den Zettel. Murmelte vor sich: «Der Querkopf!», ging in sein Zimmer, ergriff die Pistolen, lud sie selbst und gab sie dem Knaben. «Da! Bring sie», sagt' er, «deinem Herrn. Sage ihm, er soll sich wohl damit in acht nehmen, sie wären geladen. Und ich ließe ihm eine glückliche Reise wünschen.»
Lotte staunte – Albert erklärte ihr nun weitläufig, er gebe nach reifer Überlegung alle Ansprüche an sie auf Er wolle eine zärtliche wechselseitige Liebe nicht stören. Er wolle sie beide und sich selbst nicht unglücklich machen. Aber er wolle ihr Freund bleiben. Er wolle selbst Werthers wegen sogleich an ihren Vater schreiben, das solle sie auch tun und Werthern eher nichts sagen, bis sie Antwort erhalten habe.
Lotte, nach vielen Umschweifen, nach vieler weiblicher Zurückhaltung, gestand ihre herzliche Liebe zu Werthern, nahm Alberts Vorschlag dankbar an und ging in ihr Zimmer, um zu schreiben.
Im Weggehen kehrte sie noch um und äußert' eine ängstliche Besorgnis wegen der Pistolen.
«Sein Sie ruhig, Kind! Wer sich von seinem Nebenbuhler Pistolen fodert, erschießt sich nicht. Und wenn er allenfalls...»
So schieden sie voneinander.
Werther erhielt indessen die Pistolen, setzt' eine vor den Kopf, drückte los, fiel zurück auf den Boden. Die Nachbarn liefen zu, und weil man noch Leben an ihm verspürte, ward er auf sein Bette gelegt.
Indessen wurden Werthers zwei letzte Briefe an Lotten und der Brief an Alberten dem letztem gebracht, und zugleich erscholl die Nachricht von Werthers trauriger Tat. Albert ließ dieselbe vor Lotten verbergen, las die sämtlichen Briefe und ging ungesäumt nach Werthers Wohnung.
Er fand ihn auf dem Bette liegend, das Gesicht und das Kleid mit Blut bedeckt. Er hatte eine Art von Konvulsionen gehabt, und nun lag er ruhig mit stillem Röcheln.
Die Umstehenden traten weg und ließen beide allein.
Werther hob die Hand ein wenig empor und bot sie Alberten. «Nun triumphiere», sagt' er, «ich bin nun aus deinem Wege!»
«Ich komme nicht zu triumphieren», sprach Albert ruhig, « sondern dich zu bedauern und, wenn's möglich ist, dich zu trösten. Aber du bist rasch gewesen, Werther...»
Werther stieß, für einen so Hartverwundeten beinahe mit zu heftiger Stimme, viel unzusammenhängendes garstiges Gewäsche aus zum Lobe des süßen Gefühls der Freiheit, diesen Kerker zu verlassen, wenn man will.
A.: Dies ist, lieber Werther, ebenso wie die Freiheit, dies Glas zu zerbrechen, eine Freiheit, der man sich nicht bedienen muß, weil sie nicht nützt, sondern schadet.
W.: Heb dich von mir, vernünftiger Mensch! Du bist zu kaltblütig, so einen Entschluß auch nur von fern zu denken!
A.: Ja freilich, so kaltblütig bin ich, und dabei ist mir recht wohl zumute! Meinst etwa, 's wäre 'n edler großer Entschluß? Bild'st dir ein, 's wäre Kraft und Tat drin? Geh! Bist 'n weichlicher Zärtling. Kannst aus der Mutter Natur Schublade, wenn's dir einfällt, nicht eben Zuckerwerk gnug naschen, so willt gleich aus 'r Haut fahren, denkst, sie gibt dir nie wieder Zucker.
W.: O des weisen Vernünftlers! Und doch weißt du's, Mensch. 's war keine Hülfe da. Ich konnte nicht besitzen, was ich liebte. Und nun – er schlug die Hand übers Gesicht –, was kümmert mich Welt und Natur.
A.: Armer Tor, der du alles so geringachtest, weil du so klein bist! Konntst nicht? 's war keine Hülfe da? Konnt' nicht ich, der ich dich liebe, weil ein braver Junge bist, dir Lotten abtreten? Faß 'n Mut, Werther! 'ch will's noch itzt tun.
Werther richtete sich halb auf: «Wie? Was? Du könntest, du wolltest! – Schweig, Unglücklicher! – dein' Arznei ist Gift. – Denn was hilft's?» – Er sank wieder zurück. «Nein! 's ist auch nichts. – Du bist ein Boshafter. –Wer kalt ist, ist boshaft. – Hast dir's abstrahiert, wie du mich bis aufs Ende quälen willt.»
A.: Guter Werther, bist 'n Tor! Wenn doch kalte Abstraktion nicht klüger wäre als versengte Einbildung. – Da, laß dir's Blut abwischen. Sah ich nicht, daß du 'n Querkopf warst und würdst deinen bösen Willen haben wollen? Da lud ich dir die Pistolen mit 'ner Blase voll Blut, 's von 'em Huhn, das heute abend mit Lotten verzehren sollt.
Werther sprang auf: «Seligkeit... Wonne...» usw. –Er umarmte Alberten. Er wollte es noch kaum glauben, daß sein Freund so großmütig gegen ihn handeln könne.
Albert sagte: «Sprich nicht von Großmut; ein bißchen kalte Vernunft tut 's meiste, und den Rest tut's, daß ich 'n Jungen liebe wie du, in dem's liegt, noch viel zu schaffen. Das Ding mit dir und Lotten hat mir schon lang gewurmt. 's gefiel mir schon nicht, als du in dem geschlossenen Plätzchen, hinter den hohen Buchenwänden, dich zu ihren Füßen warfst; so unbefangen du dabei schienst, so war's doch ein so romantisch-feierliches Ding, das 'nem Bräutigam nicht in' Kopf will. Darüber habe ich denn allerlei hin und her gedacht. Du wirst dich noch erinnern, wie sich Unmut und Unwillen aneinander vermehrten, als du am Sonntage so ungebeten dableiben wolltest. Dem sann ich auch nach und machte mir die leidige Abstraktion, daß meine Braut dich liebte. Du hälst mich für kalt, Werther, und ich bin's auch, wenn's Zeit ist, aber so warm bin ich doch, daß ich herzlich liebe und herzliche Gegenliebe verlange. Ich sah also, ich konnte mit Lotten nicht glücklich sein. Mein Entschluß war schon unterweges gefaßt, euch glücklich zu machen, weil ich selbst nicht glücklich sein konnte. Nun kam noch die gestrige Szene dazu. Lotte hat sie mir erzählt! Hör, Werther, 's 'st 'ne starke Szene! Und ich hab auch dein'n Brief an Lotten drüber gelesen. Hör, Werther, 's Ding 'st nu so! so!»
Werther rief: «Was meinstu? Meine Liebe ist rein wie die Sonne – Lotte ist ein Engel – vor dem alle Begierden schweigen.»
Albert sagte: «Ich glaub's ja! Aber hör, Werther, hättst 's auch wohl schreiben können in dem letzten Briefe, worauf du sterben wolltest.»
Und so gingen sie zum Abendessen.
In wenigen Monaten ward Werthers und Lottens Hochzeit vollzogen. Ihre ganze Tage waren Liebe, warm und heiter wie die Frühlingstage, in denen sie lebten. Sie lasen auch noch zusammen Ossians Gedichte, aber nicht Selmas Gesang oder den traurigen Tod der schönäugigten Dar-Thula, sondern ein wonniglich Minnelied von der Liebe der reizende Colna-Dona, ‹deren Augen rollende Sterne waren, ihre Arme weiß wie Schaum des Stroms und deren Brust sich sanft hob wie eine Welle aus dem ruhigen Meere›.
Nach zehn Monaten war die Geburt eines Sohns die Losung unaussprechlicher Freude.
Die Geburt war sehr beschwerlich gewesen, ließ empfindliche Nachwehen nach sich, die Lotten an den Rand des Grabes brachten. Werther war für Schmerz außer sich. Dies war aber nicht der selbstsüchtige Schmerz eines Menschen, der sich vernichten will, weil er Unmögliches wünscht und nicht erlangen kann, es war der gesellige Schmerz, der Mitleid zum Grunde hat, der Trost geben und empfangen will.
Lotte, eine zärtliche Mutter, konnte bei ihrer Schwäche ihr Kind nicht säugen. Eine Amme ward geholt. Ein Ungeheuer, durch viehische Lust mit verborgner Pest angesteckt, vergiftete den zarten Säugling, und der Unschuldige vergiftete, unwissend, die Mutter, die ihn mütterlich liebkosete.
Als Werther vom Arzte die schreckliche Wahrheit vernahm, stieß er sein Haupt gegen den Erdboden und rief: «Gott! wozu hast du mich aufbehalten! Ehmals glaubt' ich, der Schmerz, Lotten nicht zu erhalten, wäre der größte und für menschliche Natur zu ertragen zu stark!»
«Und diesen stärkern Schmerz kannst ertragen!» sprach Albert. «Freund, warst ein Weichling, bist nun ein Mann worden! Geselligkeit, sonst von dir verachtet, gibt auch Kraft. Du dünktest dich einzeln, als du den Hahn losdrücktest, uneingedenk, daß du deiner Mutter das Herz brachst.»
Lotte ward durch eine langwierige und schmerzhafte Kur kaum dem Tode entrissen, das Kind war nicht zu retten.
Auch diesen Schmerz ertrug Werther, zum Schmerze gewöhnt, nun aber sollt' er auch Gram und Sorgen ertragen lernen. Väterlich Erbteil war gering, gewirtschaftet hatt er nie. Seine Mutter war erschöpft, von ihr zu verlangen, konnt er nicht über sich bringen. Die Krankheit seiner Frau brachte Mangel herbei.
Werther mußt also ein Amt annehmen, und wohl war's ihm, daß Albert ihm ein schaffte und Anleitung gab, wie's zu treiben wär. Ob ein Bindwörtchen mehr da wär oder eine Inversion weniger, mußt ihn itzt nicht kümmern. Nun galt's, daß er sich nach andern bequemte, andere nicht nach ihm. Auch fand er bewährt, was er schon wußte, daß zum Lavieren Kraft gehöre wie zum Segeln und daß man oft weiterkäm. Auch sah er, was er sonst nicht wußte, daß mehr Starke des Geistes dazu gehöre, bürgerliche unvermeidliche Verhältnisse ertragen, als, wenn tobende endlose Leidenschaft ruft, einen gähen Berg [jähen,steilen]- ohn Absicht – klettern, durch einen unwegsamen Wald, einen Pfad – der zu nichts führt – durcharbeiten, durch Dorn und Hecken. Doch tat's weh, dem, der mit belebender Kraft Welten um sich schaffen möchte, daß er finden sollt', er sei ein Geschöpf. Dies schnitt ins Herz und machte gute Laune seltner.
Lotte nahm's hoch auf, daß er so mißmütig war, und wollt, daß ihm 's Herz sollt aufgehen wie sonst, wenn er in ihre schöne Augen sah, dacht nicht, daß sich untern schönen Augen itzt wohl ein feines Näschen rümpfte wie sonst nicht. Werther mußt oft, Geschäfte wegen, verreisen, auf seiner Arbeitsstube den Tag versitzen, und denn ging er wohl weg, weil er Ärger hatte, der seine Frau nicht kränken sollte.
Lotte, sonst ein gutes Weib, aber die ihn nicht durchsah [durchschaute], schmollte, weil er nicht bei ihr war, und drohete aus verliebtem Verdruß: «Traun, Werther, willt mir nicht fleißger Gesellschaft halten, such ich sie mir wohl sonst.»
's war da ein junges Kerlchen, leicht und lüftig, hatt allerlei gelesen, schwätzte drob kreuz und quer und plaudert' viel, neust' aufgebrachtermaßen vom ersten Wurfe, von Volksliedern und von historischen Schauspielen, zwanzig Jährchen lang, jed's in drei Minuten zusammengedruckt wie ein klein Teufelchen im Pandämonium. Schimpft' auch alleweil auf 'n Batteux. Werther selbst konnte schier nicht besser. Sonst konnte der Fratz bei hundert Ellen nicht an Werthern reichen, hatte kein Grütz im Kopf und kein Mark in 'n Beinen. Sprang ums Weibsen herum, fispelt' hier, faselt' da, streichelt' dort, gab's Pfötchen, holt'n Fächer, schenkt'n Büchschen, und so gesellt' er sich auch zu Lotten.
Nun hatt's wohl keine Not, daß der Laffe Lotten gefallen hätte, aber sie wollte Werthern weh tun, daß er ihr hofieren sollt wie sonst, des doch nicht mehr Zeit war. Und 's Kerlchen ward dreist und dacht, er hätt Lotten, und Werther griesgramte, daß Lottchen solch 'nen Lumpen litt, so hatten sie Worte, und Lotte ließ nicht ab, und neckten sich so fort, bis Übel ärger ward, und sie schieden sich von Tisch und Bette, Lotte zog zu ihrem Vater.
Lotte weinte Tag und Nacht, liebte Werthern in der Seele und wollt doch nicht unrecht gehabt haben. Werther schlug sich mit der Faust wider die Stirn. «Hui», schrie er, «unbeschreiblich fressender ist der Gram, weder je sonst einer! Ich habe Lotten und soll sagen, sie liebt mich nicht, besser war's, da sie mich liebte, und hatte sie nicht.»
Albert war in Geschäften seines Fürsten acht Monden in Wien gewesen und kam zurück, kurz drauf, als Werther und Lotte sich getrennt hatten.
Er traf Werthern mit dem Gesicht auf demselben Kanapee liegen, worauf er ehmals mit Lotten den Ossian las.
«Und nun, wie ist's mit deiner Frau?» sagt' Albert.
«Ha», rief Werther, als er ihn sah, «'s mit den Weibsen nichts, alle sind falsch, wankelmütig!» – und biß sich die Nägel.
A.: Nur wieder fein mit dem Kopf durch die Wand, Werther! Als wenn's nicht von dir selbst käme! Bist 'n Tor, Werther, und hast die arme Lotte auch betört. Ich hab sie gekannt, ein gutes Landmädchen, lustig und fromm, konnte kleine Spiele spielen, konnte frohes Muts tanzen, aber auch den Kindern Brot schneiden, liebte herzlich häusliches Leben, ob's gleich wußte, daß 's kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist. Da liebt' ich 's Mädchen und wollt' sie haben, denn solche Frau braucht' ich. Drauf kamst du und stimmtest die Weise viel Töne höher: Da sollt's lauter innige Empfindung sein, lauter starke Anspannung, keine Einschränkung, keine Überlegung, wir hielten's Herzchen wie ein krankes Kind, gestatteten ihm all seinen Willen, lebten immer in der Zukunft, wo ein großes dämmerndes Ganze vor unserer Seele ruhte, wo wir unser ganzes Wesen hingeben mochten, uns mit der Wonne eines einzigen großen herrlichen Gefühls ausfallen zu lassen. Dies verschluckte das weibliche zärtliche Geschöpf begierig und hielt sich am glücklichsten, wenn's im freundlichen Wahne so hintaumeln konnte. Ja wohl, guter Werther, wär der Wahn besser als die Wahrheit, wenn er nur nicht aufhören müßte. Nun hat er bei dir aufgehört, das gute Weibchen taumelt noch drin fort, und du wunderst dich, daß ihr nicht zusammenkommen könnt? Hohe überschweifende Empfindung, lieber Werther, steht gut im Gedicht, aber macht schlechte Haushaltung. Feiner junger Herr! Lieben ist menschlich, nur müßt ihr menschlich lieben, berechnet euer Vermögen zu lieben und haltet die güldne Mittelstraße, sonst, wenn ihr 's Mädchen gierig macht, wird sie mitten im Genusse darben! Wer hätte dir das vor zwei Jahren sagen dürfen, und doch ist's itzt nicht anders.
W.: Geh zum Teufel mit deinen unbedeutenden Gemeinsprüchen!
A.: Wenn sie nicht wahr wären, schickt' ich sie auch dahin.
Albert reisete zu Lotten; die weinte bitterlich und rief: «Alle Mannsen sind treulos, hätte ich je gedacht, daß mich Werther verlassen könnte!!»
«Bis gesetzt, gutes Kind», sagte Albert, «und denk, ob du nicht auch dran schuld bist. Werther wollt keinen Geelschnabel [Gelbschnabel] um dich leiden; weißt noch, ob's mir auch behaglich war, da Werther so um dich buhlte? Und doch war Werther 'n ehrlicher guter Kerl, und dein Lecker [Schmeichler, Affe] ist 'n Popanz. Hast unrecht gehabt, Lottchen. Necken geht wider 'n Mann, und gerümpfte Nase bringt nicht verlorne Liebe zurück. Wär's nicht besser, du liebtest Werthern wie zuvor und er dich auch? Liebst 'n noch?»
Lottchen weinte abermal bitterlich: «Ob ich ihn liebe? Gott!»
Albert holte Werthern auf den Jagdhof, der alte Amtmann hieß Werthern kurz und lang, Lotte weinte und entschuldigte ihn. Werther umarmte Lotten, und sie reiseten völlig versöhnt zurück.
Itzt, durch kleine Übereilungen vorsichtiger gemacht, genossen sie in reichem Maße die Vergnügungen des häuslichen Lebens, die sich so tief empfinden und so wenig beschreiben lassen. Wechselseitige Liebe und Zutrauen beseligte sie. Werther hing wieder, mit Gott weiß wieviel Wonne, an dem Arme und Auge seiner Frau, das voll vom wahrsten Ausdrucke des offensten reinsten Vergnügens war. Er wartete seine Geschäfte ab, sie erzog ihre Kinder, und so floß ihr Leben wie ein stiller Bach dahin – ein nicht so poetisches Bild als reißende Ströme, aber deshalb Glücklichen nicht weniger angemessen.
Durch Fleiß und Sparsamkeit wurden sie nach etwa sechzehn Jahren wohlhabend. Werther konnte nun wieder des mühsamen Arbeitens entbehren, und so kauft' er sich ein klein Bauergütchen. Am Abhange eines Berges, mit hohen Ulmen und bejahrten Eichen besetzt, lag es. Nur ein klein Häuschen war da, aber fruchtbare Acker und ein Garten ums Haus, darin, unter hohen Bäumen, ein Brunn, wohl zwanzig Stufen tief in den Felsen gehauen, wie ihn Werther liebte. Hier ließ er sich nieder und genoß abermal die simpel harmlose Wonne eines Menschen, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er selbst gezogen, und nun nicht den Kohl allein, sondern all die guten Tage, den schönen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen Abende, da er ihn begoß und da er an dem fortschreitenden Wachstume seine Freude hatte, alle in einem Augenblicke wieder mit genießt. Denn Lotte zog auf den Krautfeldern Gemüse und Wurzeln, die den unbescholtenen ländlichen Tisch füllen. Der Obstgarten war Werthers Besorgung, und die Kinder pflanzten sich Beeten voll Tulpen und lieblicher Anemonen.
Das war all gut, bis 'n Kerl kam, der war in England gewest, hatte des Herzogs von Bridgwater Kanal befahren, unterm Berg weg und über 'n Irwell, hatte die Gärten zu Stowe gesehn und hatte sich von Chambers erzählen lassen, was der Kaiser von China für Gärten habe, wunderbar und schrecklich, daß 's 'ne Lust ist. Sonst war der Kerl nicht klüger wiederkommen, als er war weggereist, hatt aber Geld wie Heu, wollt was Originales haben, bauen 'nen orientalischen Garten, wo kein Orient ist, hätt er bei Dsjidda gewohnt, würd er ein Versailles angelegt haben nach Le Nôtres Rissen [Zeichnungen,Entwürfen]. Der kauft' den Berg über Werthers Hüttchen, legt' darauf große Dinge an, sonderlich und wunderlich, Schlangengänge, Abgründe, Tempel, Pagoden und Wildnisse. Als er fertig war, wollt er den Garten auch bevölkern wie der Kaiser von China, daß 's recht natürlich wär. Da schafft' er sich Hunde, die verkleidet'er in Wölfe, Zyperkatzen in Tiger, Lämmer, gelb und braun gefärbt, in Leoparden und Spitzmäuse in Hermeline. Das Vieh lief über in Werthers Obstgarten und streifte sich zwischen den Bäumen die hölzernen wilden Larven ab, die ihm vorgebunden waren. Doch weil sich's noch scheuchen ließ, achtet's Werther nicht. Aber nun wollte der reiche Fratz was Großes beginnen. Er hatte jenseits des Berges einen ziemlichen Fluß, den leitet' er mit Mühlen in die Höhe, daß er diesseits einen Wasserfall haben wollte, am gähen Absturz des Berges. Da frohlockte das Kerlchen, und seine Seele ward erschüttert, wie das Wasser in hohen Fluten herabbrauste, zwischen den hundertjährigen Eichen, und über die Felsenstücken wegschäumte, aber eh man's sich versah, war's in Werthers Garten, spült' die Bäume aus, riß das kleine Gartenhäuschen um und verheert' die fruchtbaren Krautfelder und die lieblichen Tulpenbeete.
Lotte raufte sich die Haare, die Kinder weinten, aber Werther war durch Erfahrung gelassen geworden. Er staunte eine Weile und sagte zu sich selbst: «Der Kerl ist traun 'n Genie, aber ich merk's wohl, ein Genie ist ein schlechter Nachbar. Wenn's einem selbst auch wohltut, als ein Genie sprechen, so tut's andern oft schier übel, wenn man als ein Genie handelt. Der Wasserfall ist wahrlich keck, aber das kleine Häuschen, in dem ich mit meinen Lieben mein fröhliches Butterbrot aß, meine Krautfelder, meine Obstbäume, meine Tulpenbeete waren gut. Sonst wohl war mir die Losung: Keckheit ohne Grenzen, Schwingen bis in den Äther, Anspannung ohne Erschlaffung, Brauchen der Kräfte ohne Einschränkung. Alles schön! Wir wollen 's Genie auch nicht einschränken, denn der Kerl, der sein'm Geck so Zucker gibt, ist reich und mächtig, und Klagen tut's nicht. Aber wenn wir dem Genie aus dem Wege gehen könnten!»
Er ging zum reichen Nachbar, führt' ihn an der Hand herab und sagte ganz gelassen: «Hier seht, Nachbar, was Euer Wasserfall in meinem Garten angericht't hat. Ich könnt Euch verklagen, aber was hilft's; wollt Ihr mir 's Gütchen abkaufen, so zieh ich weg, und so möcht Ihr fallen und laufen lassen, wie's Euch deucht.»
«'s 'n Wort», schrie der Nachbar, «'ch seh', 'r seid 'n Kerl, der 's Große liebt. Schaut, wie die Bäume mit 'n Wurzeln empor liegen und wie 's Dach vom Häusche auf d' Seite hängt und die Krautköpfe drüberrollen He, Nachbar! Natur im Garten geht weit über die verdammte Kunst, solch 'ne Ansicht hätte mir nun kein Theorie, wie s' den Quark nennen, aussinnen können. Und so gab er Werthern, unaufgefordert, mehr, als 's Gütchen wert war.
Werther nahm 's Geld, dacht in sich: «'s doch auch Natur, wenn Wurzeln in der Erde stehen und Äpfel an 'n Bäumen hängen.» So kauft' er sich ein ander Gütcher ein wohlgebaut Haus, vorm Hause ein Platz mit zwo Linden, wie zu Wahlheim vor der Kirche. Hier lebt er noch, glücklich und vergnügt, mit Lotten und seinen acht Kindern. Erfahrung und kalte gelaßne Überlegung, hat ihn gelehrt, ferner nicht das bißchen Übel, das das Schicksal ihm vorlegte, zu wiederkäuen, dagegen aber die Wonne, die Gott über ihn ausgoß, mit ganzem, innig dankbarem Herzen aufzunehmen. Nachdenken über die Weg der Vorsehung, die kein blindes Schicksal, sondern Güt und Gerechtigkeit sind, hat seine ausgetrocknete Sinnen, wieder heiter gemacht, die überspannten Nerven abgespannt, ihm die Fülle des Herzens zurückgegeben, die er vormals genoß. Er kann wieder im hohen Grase am fallenden Bache liegen und näher an der Erde, zwischen Halmen und tausend mannichfaltigen Gräschen, die unzählichen, unergründlichen Gestalten all der Würmchen, der Mückchen näher an seinem Herzen fühlen, fühlen die Gegenwart des Allmächtigen, der uns all nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält. Und was noch mehr, er geht nicht darüber zugrunde, erliegt nicht unter der Herrlichkeit dieser Erscheinungen; denn Lotte und seine acht Kinder, die besten Gaben die ihm Gott gegeben hat, liegen neben ihm und fühlen gesellig, was er fühlt. Wenn je in seinem feurigen Gemüte ein Tumult aufsteigen will, so lindert ihn unverzüglich der Anblick der glücklichen Gelassenheit dieser gesunden liebenswürdigen Geschöpfe, der Abdrücke der Stärke und Edelmut des Vaters und der Munterkeit und Schönheit der Mutter. Sie haben schon wieder andere Beeten gepflanzt, wo Tulpen mit Narzissen und Hyazinthen abwechseln, und durch ihre arbeitsamen Spiele werden die Krautfelder umfaßt mit Rosenhecken und Jesmingängen, das Gartenhäuschen mit düftendem Geißblatt, des Wohnhauses Mittagsseite mit Traubengeländern.
«Hm!» sagte Hanns, «hol mich 'r Henker, 's hätte doch auch so kommen können!»
«Ei freilich wohl!» sprach Martin, «auch noch auf hundertlei andere Art. Erschießt man sich aber einmal im Ernst, weg sind sie.»
H.: «Hast traun recht, 'ch schieß mich nit!»