Oskar Panizza
Der Goldregen
Oskar Panizza

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Oskar Panizza

Der Goldregen

Wenn's Zehn-Mark-Stück'l regent
Und Zwanz'g-Mark-Stück'l schneibt,
Na bitt' i unser'n Herrgott,
Daß's Wetter so bleibt.
Altbayrischer Vierzeiler.

Es war an einem Samstagnachmittag, und wahrhaftig nichts Besonderes in der Welt los. Es war auch nichts angekündigt, weder was Politisches, noch was Kommunales, nichts am Hofe, und nichts in der Stadt. Es war auch sonst kein hervorragender Tag; ich meine keine Gedenkfeier, kein kritischer Tag nach Falb, kein 29. Februar; es war auch kein Komet am Himmel. Mit einem Wort, es war ein ganz gewöhnlicher Samstag, und es regnete. Ich sage dies ausdrücklich, damit nicht hinterher einer kommt, und mir vorwirft, ich hätte auf billige Art eine gewisse Spannung im Publikum erzeugt. – Daß ich genau bin: es hatte so gegen drei Uhr etwas geregnet, und der Boden war sozusagen wieder trocken.

Ich wohne an einem großen Platz. In der Mitte ein Springbrunnen, ringsum eine Masse Metzger-, Krämer-, Melber-, Schuster-, Schneider-, Charcutier-Läden. Am Samstagnachmittag schleppen die Dienstmädel alle das Zinngeschirr und das Zeug auf die Straße, putzen es, und scheuern und fegen; und das gibt ein Gemantsch und ein Gequatsch, und ein Spritzen und Schimpfen, und Gekicher und Zotenerzählen... Mir macht das Ding Spaß, und so wird sich niemand wundern, wenn ich sage, ich ging an jenem Nachmittag ganz langsam über diesen Springbrunnplatz, um in einem nahegelegenen Café bei einer Schale warmen Zichorienwassers das Abendblatt zu lesen. Wie ich aus dem Haus trete, fällt mir ein sonderbarer Schwefelgeruch auf; ich denk' aber an nichts weiter und gehe fort. Eben auf dem Platz angekommen, betrachte ich den Himmel, um Witterungsschau zu halten, und bemerke, daß der ganze Horizont mit einer grieselig-gelben Schicht überzogen ist. Aber solche Reflexe trifft man ja öfters nach dem Regen, wenn die Sonne gegen Abend im Westen noch einmal herauskommt. Ich geh' also weiter. In der Mitte des Platzes angekommen höre ich einige raschelnde, springende, abplatzende Punkte auf meinen Stiefeln, als wenn's kieselte; gleichzeitig hör' ich etwas Ähnliches auf meinem Filzhut herumtrommeln. Ich schau' hinauf: da ist diese ganze gelbe Schicht, von der ich eben sprach, uns bis auf Häuserhöhe nachgerückt! Und wie und den Boden betrachte, sammeln sich kleine, gelbe, erbsengroße, grieselige, halbausgehöhlte Körner. In der ganzen Luft liegt ein Schwaden so brenzligen Gestankes, als wenn die Hölle ihre Läden geöffnet hätte, so daß ich und mehrere Passanten sofort die Schnupftücher zogen und hustend sich das Ding vom Leibe hielten. Jetzt noch ein Moment – und plötzlich stürzte dieser quittengelbe Körnerregen mit einem solchen Hagelschlag nieder, daß alle Leute mit einem gilfigen Schrei in die Häuser entwichen, und der große Platz mit einem Male leer war. Die tausende von Zinngeschirren, die den Häusern entlang aufgestellt waren, gaben, als wären sie mit Stimmgabeln geschlagen, einen einzigen, sehr hohen, langgedehnten, pfeifenden Ton, wie etwa das Pikkolo, von sich; als hätten sich eine Million Kanarienvögel abgesprochen, einen übermenschlich hohen Flageoletton durch gegenseitiges Ablösen eine Stunde hindurch auszuhalten. Dutzende von Menschen, die den naiven Gedanken gehabt hatten, einen Regenschirm aufzuspannen, kamen vollständig zerschlissen, mit nacktem Eisengestell und blutender Wange herübergestürzt, um in einem Haustor Schutz zu suchen. Ich selbst hatte mich unter eine sehr dicke Eiche geflüchtet, die an dem Beginn einer dicken Alle stand. Aber schneller, als ich dies niederschreiben kann, waren sämtliche Blätter und kleinere Zweige heruntergeschmettert, und lagen vor mir am Boden, während das gelbe Höllengezinsel mir die Hutkrämpe durchschlug, wie Salz in den Nacken pfiff, und selbst die abspringenden Körner mir noch, wie Schrote, das Gesicht verletzten. Jetzt riß ich auch aus und lief quer über die Straße, in das nächste Haus.

»Jessas Maria!« kam eben ein Frauenzimmer mit nacktem Armen und aufgeschürztem Rock schreiend vom hinteren Hof her. – »Die Welt geht unter! Unser Pfarrer hat's fei letzten Sonntag g'sagt, es passiert noch die Woch' was. Ihr Leut! Ihr Leut!« Dann schlug sie vor Entsetzen ihre bläulich-versporten Hände zusammen – sie war eine Wäscherin – und fügte in einem gezwungenen, breiten Hochdeutsch hinzu, als hätte sie's dem Pfarrer nachgesprochen: »Das Värdärben kommät über uns, und die Drangsal värnichtät uns!« – »Sie dumme Gans!« rief in diesem Moment ein älterer Herr, der am Mund blutete und vor Aufregung über das Geschehene selbst am ganzen Leib zitterte. »Tun Sie auch noch die Leut' konfus machen, und aus 'em Häusel bringen; wo eso schon e jeds halbert narrisch is. Gehen's 'nauf, Sie Heulmaierin, und legen's Ihne in Ihr Bett, wenn S' nix Besser's wissen!« – Ich schaute jetzt um mich: in der Tat standen da etwa zwei Dutzend Leute im Hausflur, alle mit bleichen Gesichtern, einige ihre blauen Flecken an den nackten Armen betrachtend, andere Bluttupfen abwischend, andere mit starren Augen und gelbleuchtender Gesichtshaut hinaus auf den Platz schauend, wo die schwefelgelben Schrote noch immer herabsausten. Der akustische Reflex von den Dächern klang geradezu unerhört, wie Kindergeschrei und Gänsequieksen. Drüben, auf der Westseite an der gegenüberliegenden Häuserreihe, sahen wir jetzt, wie an einigen Fenstern die Fenstersplitter herausgenommen und hinuntergeworfen auf die Straße wurden; wie andere Leute die Läden zuzumachen sich bemühten. Und überall kreidebleiche entsetzte Gesichter! – »Es scheint ein atmosphärischer Niederschlag zu sein,« sagte jetzt in unserem Hausflur ein Herr, der den besseren Ständen angehörte, »der, vielleicht meteorischer Natur, aufgelockert in hohen Regionen schwebte und durch eine plötzliche Kälteströmung kondensiert und niedergerissen wurde.« – »Es wird schon wieder heller!« meinte ein anderer, der ziemlich verwegen auf der Schwelle von Trottoir und Hauseingang stand, und dem sowieso schon eine Schloße die Nasenspitze blutig gerissen hatte. – Einige von den Weibsleuten schüttelten jetzt aus ihren Röcken und Ärmeln einige der seltsamen Körner, hoben sie auf und zeigten sie herum. Es waren erbsengroße, an einigen Stellen glänzende, an anderen matte, grieselige, ausgelöcherte, unregelmäßige Kügelchen, die sich im Umfang oft ums Doppelte übertrafen, und die ganz entschieden einen metallischen Charakter hatten. Sie waren auffallend schwer im Verhältnis zu ihrer Kleinheit; daher auch die aufgerissenen Wangen, durchlöcherten Hüte, glatt abgezogenen Regenschirme und entlaubten Bäume.

Indessen wanderten die Kügelchen von Hand zu Hand; sie waren nicht kalt, wie viele erwartet haben mochten, sondern leicht abgekühlt, laulicht; auffallend war, daß einzelne deutlich abgeplattet waren, was nur durch Aufschlagen entstanden sein konnte; das Metall mußte also sehr weich oder beim Herabfallen noch in lockerer Fügung gewesen sein. Man wog wiederum die Schrotchen, von denen einzelne wie Weckchen eingebogen waren, in der Hand, und dann schaute man sich gegenseitig an; jetzt nahm ein Herr sein Taschenmesser heraus und zerschnitt, nachdem er an dem kleinen Ding einigemal ausgerutscht war, mit einiger Mühe, aber doch quer durch eines der Körner, wobei die Masse sich ziemlich nachgiebig erwiesen hatte: eine glatte, glänzende, gleichmäßig feingekörnte Schnittfläche kam zutage. In diesem Moment hörte ich – ich hörte es nicht, aber ich fühlte es, ich wußte es –, schlug jedem von uns fast laut und vernehmlich das Herz. Jeder hatte nur einen Gedanken, nur ein Wort auf der Zunge. Aber keiner sprach es aus; keiner wollte diese Blamage auf sich nehmen, diesen horrenden Gedanken zu äußern, und jeder glotzte nur mit einer scheusäligen, weißäugigen Gier auf den Westen- oder Hemdknopf seines Gegenübers, um sich und seinen fürchterlichen Instinkt nicht zu verraten.

Jetzt kam aber etwas ganz Neues: draußen hatte das Gehagel merklich nachgelassen. Es war wirklich lichter geworden. Das Gekreisch von den Dächern wich einem milden Klirren. Über den Platz drangen einige weibliche Stimmen, in denen etwas Aufseufzendes, Erlösendes lag. – Währenddem schossen zwei Bäckerjungen in weißen Schürzen, hemdärmelig, jeder ein Holzschaff auf dem Kopfe, an unserer Haustür vorbei. Ich hörte, wie drei, vier, von den Schroten bollernd in ihren Zuber fielen. Sie hatten gut ihren Kopf schützen; denn dem einen, hatte ich bemerkt, war die Oberlippe ziemlich in der Mitte gespalten, und das Blut lief ihm ins Maul und herunter auf die Brust und auf die Schürze. Und einer von ihnen, hatte ich gerade noch gehört, hatte zum anderen gesagt: »Mei Lieber, desmal geht's uns an!« – Ich schaute zurück in den Hausflur: die Männer alle mit fieberhaften Augen und kurzatmigem Röcheln, hinten die Weibsleute, die Hände zwischen den Schurz gepreßt, wie Rehgeise, ängstlich und neugierig. – In diesem Augenblick hörte ich ein »He da!« Ein Herr neben mir hatte es gesagt. Ich folgte seinem Blick, der auf eine Stelle des großen Platzes zeigte. Jeder wollte nun sehen. Es entstand ein Gedränge. Wir öffneten das Tor, das nur halbflüglich offen war, nun ganz. Die Menge quoll heraus. Und nun erblickten wir drüben, am anderen Ende des Platzes, einfach etwas Unerhörtes. Beim Kaufmann Hasselbeck, einem Mann, den ich seit meiner Jugend kannte, und der allseits große Achtung genoß, kamen Hausmägde, Knechte, Lehrbuben, das ganze Hausgesinde mit Kesseln, Butten, Zubern, Kochtöpfen und anderen Tragmitteln aus dem Haus heraus, und schöpften mit beiden Händen das gelbe Zeug, das jetzt etwa zwei Zentimeter dick den Boden bedeckte, in ihre Geschirre; dabei entstand ein fürchterliches, gellendes Geschrei; einige schienen, von nachfolgenden Metallschloßen getroffen, verwundet zu Boden zu stürzen, und blieben, die Hände über den Kopf gelegt, eine Zeitlang wie betäubt sitzen. Herr Hasselbeck, in seiner kleinen gestickten Mütze, stand unter dem Hauseingang und schrie und kommandierte mit heftigen Gesten auf den Platz hinaus. Ich konnte aber nichts verstehen, so schrecklich war der Lärm; ich sah nur seinen Mund wie einen Schlauch sich auf- und zumachen. Diese Szene hatte kaum so lange gedauert, wie man bis hundert zählen kann, und war, wie ich vermute, vom ganzen Platz aus gesehen worden. Plötzlich öffneten sich fast sämtliche Haustüren, und, mit einer Mischung von Lauten, die ich nicht beschreiben kann, halb Pfeifen, halb Jauchzen, kamen die Menschen wie Hyänen heraus und machten sich über die gelben Haufen. Die einen hatten zwei Hüte auf, die anderen ein Sofakissen umgebunden, die dritten hatten sich mit Handschuhen und Pelzkappen bewaffnet, wieder andere einen Schal umgehüllt, die Weibsleute einfach den obersten Rock bis über den Kopf gezogen. Und nun ganfte und grabste alles, was nur Hände hatte, in die Taschen, in die Schürzen, in Nähkörbchen, in Tischschubladen. Einige waren so ungeschickt, irdene Schüsseln zu nehmen; wenn diese von einer Schloße getroffen waren, platzten sie auseinander. Ein Gilfen, ein Schreien drang über den Platz, unbeschreiblich. Es war nicht nur Aufregung. Ein »Ai!« – ein »Ui!« – ein »Aitsch!« – im höchsten Diskant über den ganzen Platz gezetert, zeigte, daß es Schmerz war: die Leute wurden trotz der Umhüllung von den Schloßen verletzt. Wir selbst waren durch einen Sturm der schreienden Hausbewohner von hintenher aus unserem Tor gejagt worden, und jeder schützte sich nun, wie er konnte. Ich lief die Südseite der Häuser entlang, drückte den Hut ins Gesicht und die Hände in die Taschen. Übrigens fielen die Körner jetzt immer seltener. Hinten im Westen brach die Sonne durch; und wie schnurgerade Blitze sausten die goldenen Körner durch die Luft. Auf dem Boden alles gelb und glitzernd. Man meinte, das Zeug müsse schmelzen. Aber es schmolz nicht. Die Körner wurden härter und kälter. Und die Sohlen schmerzten beim Gehen.

Ja, jetzt wußte freilich jeder, woran er war. Und nur mitleidig hörte man eine Frau baarhäuptig über den Platz eilen, die fortwährend, halb schluchzend wimmerte: »Ihr Leut', ihr Leut', was soll das wer'n, wenn das Geld unter die Leut' kommt!« Sie hatte zwei Kinder auf den Armen, rechts und links eines, beide vom übergestülpten Rock zugedeckt; sie selbst war baarhäuptig, und einige der Schrote hatten ihr buchstäblich die Kopfhaut gespalten. sie schien eine Arbeitsfrau, die bei diesem elementaren Ereignis, welches ihr das Weltende dünken mußten, nichts Wichtigeres tun zu müssen glaubte, als ihre Kleinen nach Haus zu bringen. sie hatte keine Zeit, selbst etwas von dem Gold aufzulesen. Sie lief nur immer zu in ihrem dünnwandigen abgewetzten Rock, durch den man die Beine sich bewegen sah, und rief ununterbrochen im Klageton: »Ihr Leut', ihr Leut', was soll das wer'n, wenn das Geld unter die Leut' kommt!«

Jetzt fielen fast keine Schloßen mehr. Die Hausfrauen und feinen Damen erschienen oben und schauten mit verwunderten Augen auf das Treiben. Auch sie hatten jetzt das bessere Teil erwählt. Sie schickten ihre Dienstmädchen herunter und ließen holen, was noch zu holen war. Mein Gott, es war noch viel da. Und im weißen Schürzchen, mit aufgestrüpelten Ärmeln, ein Körbchen oder eine Schüssel in der Hand, kamen die Zöfchen und Küchenmädchen herunter. Inzwischen war das Gedränge auf dem Platz enorm gewachsen; alles kehrte und wetzte am Boden herum. Da waren einige Kerle in roten Schlipsen und roten Taschentüchern, die scharrten und stopften in die Taschen, was das Zeug halten wollte.

»Sie dummes Luder!« sprach einer dieser Rotgeschlipsten zu einem feinen, eben herzugetretenen Dienstmädchen, »Sie werden doch nicht für andere sammeln. Geht Ihnen denn noch kein Licht auf? Jetzt ist's Zeit, für sich zu sorgen!« – »Ach Gott,« antwortete diese, fast eingeschüchtert, »die Gnädige hat mich doch heruntergeschickt!« – »Was, ›Gnädige‹,« glotzte der Sozi das zarte Mädchen an, »scharren Sie für sich zusammen, was 's Zeug hält, dann brauchen Sie keine Gnädige!« – »Ach Gott,« rief das arme Ding, »meine Herrschaft schaut doch oben zu!«

Jetzt wurde das Gedränge wirklich lebensgefährlich; bereits waren an einigen Stellen Händel und Raufereien vorgefallen. In den anderen Straßen der Stadt schien es nicht so stark geregnet, geschneit, gehagelt zu haben, weil sich alles auf den Platz um den Springbrunn zusammendrängte. Ich selbst nahm jetzt eines der Körner in die Hand. Sie schienen während des Runterfallens oder im Aufschlagen sich stark verändert zu haben. Wenn man sie am Boden liegen sah, machten sie alle gleichen Eindruck. Nahm man sie aber in die Hand, sah jedes anders aus. Jedes war etwas anders eingekerbt und gekrümmt. Und eine ganz feine, sozusagen meteorologische Ziselierung bedeckte die meisten; wie man es auf eigens in dieser Richtung behandelten goldenen Hemdknöpfchen manchmal findet.

Ich war noch in diese Betrachtung versunken und hatte mich an das mich umgebende Gewühl und die seltsamen, unartikulierten Laute bereits sattsam gewöhnt, als plötzlich eine neue Bewegung durch die Massen ging: jenseits vom Tor her, welches den Springbrunnplatz gegen die innere Stadt abschloß, hörte man schweres Rädergerassel mit Kommandorufen. Gleich darauf erschien Militär, zunächst Artillerie mit einigen vierspännigen bespannten Geschützen, ein, zwei Bataillone Infanterie, einige Stabsoffiziere, Auditeure, berittene Gendarmen, der Polizeidirektor, mehrere Würdenträger. Zuletzt kam der König mit großem Gefolge. Alles in prunkenden, gestickten Uniformen. Ein entsetzliches, rabenähnliches Gekreisch, aus dem man nicht entnehmen konnte, ob es Beifall oder Entsetzen über die gestörte Raublust war, begleitete und empfing diesen Zug. Obwohl die Gier, einzusammeln, diese Tausende von Menschen auf dem Platz einzig beseelte, hielt doch alles, angesichts der geräuschvollen neuen Ankömmlinge, inne und wartete, was nun geschehen solle. Ein weißbetreßter Offizier zu Pferd zog eine Rolle hervor und verkündete nach vorausgegangenem Trommelschlag mit strenger Stimme eine lange Litanei; was, konnte ich nicht vernehmen. Aber ein klirrendes Johlen und Pfeifen, welches die Verlesung des Schriftstücks begleitete, ließ mich vermuten, daß es auf Beschränkung der Sammellust dieses goldenen Himmelsbrotes abgesehen war. Und in der Tat hörte ich bald darauf von einigen aus dem Gedränge herauskommenden Menschen das Wort weitergeben: »Der König verlangt die Hälfte für sich!« – Nun machte sich auch bald die Wirkung der gegebenen Order geltend. Die Infanterie ging mit quergehaltenem Gewehr langsam vor und schob die gröhlende, pfeifende, fluchende Masse vor sich her. Hinten, auf dem freigewordenen Raum, sah man Diener und Lakaien in des Königs Uniform in Sieben und Körben aufsammeln, was noch zu holen war. Die Körner wurden dort herumgereicht. Auch der König ließ sich welche geben. Herren in Zivilkleidung, wie es schien, eidlich bestellte Chemiker, zogen kleine Fläschchen mit einem wässerigen Inhalt heraus und prüften die Substanzen. Alle Offiziere drängten sich herum und beobachteten. Schließlich wurden den Herren vom Gefolge, wie auch dem König, die Probe in einem gläsernen Röhrchen hinaufgereicht. Die Sache schien entschieden zu sein. Es war Gold.

Ein Mensch neben mir in blauer Bluse, die Hände in den Hosentaschen, der der ganzen Prozedur zugesehen hatte, lachte jetzt höhnisch auf: »Jessas, des wissen mer scho lang, daß 's Gold ist; scho vor 'er Stund war der Sandelbeck, der Tandler aus der Gruftgassen mit sei'm Flascherl da und hat's g'sagt!« – Allein die zurückgestaute Menge hatte sich bald ein neues Terrain erobert. Ein gewandter Junge, anscheinend ein Schlosserlehrling, hatte soeben, wie man vom Platz aus sehen konnte, das letzte Drittel der Dachrinne eines der Häuser erklommen und mußte in wenigen Augenblicken das Dach selbst erreichen. Mit einem einzigen gellenden Schrei hatte die Masse Menschen plötzlich diese neue Sammelquelle entdeckt. Jetzt stürzte alles in die Häuser zurück, wer am Platz wohnte, und bald sah man, öffneten sich die Mezzanin-Wohnungen und Dachluken, und strümpfig stiegen schmale Menschen heraus, um sich langsam und vorsichtig der gefährlichen Rinne zu nähern. Das Gerinsel war natürlich meist von den glatten Ziegeln zurückgeprallt und bis zum Dachrand hinabgekollert. Einige Unvorsichtige bekamen das Übergewicht und stürzten hinab aufs Trottoir. Ohne Laut. In der ungeheuren Aufregung und bei dem entsetzlichen Lärm paßte niemand auf solche Kleinigkeiten auf.

Der Himmel war jetzt immer heller geworden. Aber hoch oben, sah man, schwebten noch große Mengen dieses zitronengelben Wolkenstoffs. Und konnte sich jeden Moment entladen. Darauf schienen die meisten auch zu warten. – Der König mit seinem Gefolge hielt hoch zu Roß unbeweglich auf seinem zuerst eingenommenen Platz, seine Proviantwagen füllte sich allmählich mit den gelbglitzernden Schroten. Aber ein vorsichtiger Beobachter konnte jetzt schon entdecken, daß eine trübe Wolke des Mißmuts sich auf all diese Gesichter zu legen begann. Der König war in vollem Ornat, die Krone auf dem Haupt. Alle Uniformen glitzerten von Gold- und Ordensdekorationen. Und dieses viele gelbe Metall, diese vielen gelben Tressen, diese höchstwertigen Dekorationen, alle in Gelb, schämten sich auf einmal vor dem im Überfluß vom Himmel Gefallenen. Sie wurden gemein. Und die Menge, die schon die Taschen voll und nichts mehr zum Sammeln hatte, stand umher und belächelte spöttisch die über und über mit Gold betreßten Herrschaften.

Doch nun trat ein ganz neues Moment die Szene: hinten, von der langen Allee her, kamen mit einmal drei, vier Getreidebauern im Galopp hereingefahren; ihre Rosse waren ganz mit Blut bedeckt; in den Halftern staken die Goldkörner wie hineinkrustiert; die Bauern, selbst im Gesicht teilweise schwer verwundet, hatten Säcke übergebunden. Der vorderste, ein stämmiger Bursche, rief, gerade als er auf den Platz hereingestürmt kam, mit lauter Stimme: »Hint' bei Dingolsheim liegt das gäl Zeug schuhhoch auf der Straßen!« – Auf diesen Ruf hin ließ die Menge die Wagen und Getreidesäcke, die sie bereits aufgeschnitten hatten in der Meinung, sie seien mit dem Goldstoff gefüllt, gehen und stürmte in der angegebenen Richtung fort. Andere wurden stutzig. Der Platz leerte sich etwas. Das militärische Aufgebot, und die Anführer und Würdenträger waren über die Meldung nicht wenig überrascht, winkten die Bauern herzu, konferierten und gestikulierten von ihren Pferden herüber und hinüber. Inzwischen kamen neue Menschenmassen, wie es schien aus anderen Stadtteilen, wo der Goldhagel nicht oder nur gering niedergegangen war, hereingeflutet, Körbchen und Schüsseln im Arm, und begannen aufzulesen, was noch zu holen war. Und es lag überall noch der gelbe Stoff herum. Manche zogen Fläschchen mit Königswasser aus der Westentasche und prüften zunächst die Körner. Alle schienen befriedigt. Die meisten machten zunächst große Augen und begriffen nicht, weshalb das Militär herkam. Einzelne, als sie des Königs ansichtig wurden, wollten, durch die Übung gedrillt, ihr »Hoch!« loslegen. Doch es blieb ihnen in der Kehle stecken. Sie meinten wohl doch im letzten Moment, die Gelegenheit sei nicht günstig und zu außergewöhnlich. – Jetzt begann vom Himmel wieder, wie vor zwei Stunden, jener verdächtige zitronengelbe Schwaden sich herabzusenken, der das erstemal die entsetzlichen gelben Schloßen zur Folge gehabt hatte.

Ich dachte an Deckung und ging wie zufällig, da die vollständig zerfetzte Allee keinen Schutz mehr bot, gegen das andere Ende des Platzes, welches der Stadt abgewandt war und wo eine große Bauhütte, die eine Seite ganz offen, genügend Schutz und Raum gewährte. Dort angekommen, bemerkte ich, mit nicht geringer Bewunderung, eine Gruppe kleiner, untersetzter, etwas nachlässig gekleideter Leute, die offenbar alle zusammen gehörten und sich verstanden, und von denen nicht ein einziger an dem aufgeregten Trubel sich zu beteiligen schien. Mir kam plötzlich ein lächerlicher Gedanke. ich meinte, die Leute hätten das ganze Ding in Szene gesetzt und beobachteten nun von einem geschützten Ort aus, wie Feuerwerker, ob alles programmäßig ablaufe. Apathisch, ruhig, gleichgültig standen diese Menschen da. Sie sahen sich alle gleich, schienen aus ein und derselben Masse gemacht, ja selbst ihr Kleiderschnitt stimmte zusammen. Da mußten auch die Gedanken gleichgerichtet sein. Ihre Köpfe saßen tief in den Schultern, die Beine waren kurz und wackelig, der Oberkörper wuchtig, breit. Grauköpfe und Graubärte; die Lippen fleischig und umundum ausrasiert; Nasen pointiert; Augen klein und vigilant; angenehm schnarrige Organe. Die Rocktaillen saßen etwa ein Schuh tiefer als die Körpertaillen; die Schöße waren lang, glänzend und abgerieben. Schiefes Stiefelwerk; breitgeschwollene Hände; die ganze Erscheinung humoristisch.

Und folgendes etwa konnte ich vernehmen:

»Lassen S' es gehn! Lassen S' es gehn! Erinnern Se sich gefälligst, was ich ihnen gesaagt habe: das Silber geht noch höher!« – »Gott, wie reden Se daher? Was helft mich das Silber? Mer brauche neue Metallicher?« – »Nu, haben Se neue Metallicher?« – »Ob mer haben neue Metallicher?! Mer haben das Platin, mer haben...« – »Krause, sehen Se mal nach, wie Platin steht?« – »Platin steht zweitausendneununddreißig das Kilo.« – »Gott, meine Herren, es helft Ihne nix, wann Se des Platin so erufftreibe. Es gibteres nit genug!« – »Platin genuch, um en Mond drauß zu mache, und Ihren dumme Kopp dazu!« – »Ka Beleidichung! 's Gered ist umasonst! Mer muß sich entschließe. Ich hab' fünfzig Pud Platin bei meim Schwager Salomon in Odessa liche. Ich gäb's um zwatausendunsechzig!« – »Ich nähm's, ich nähm's.« – »Gott, wie die Leut kreische. In Paris hem se scho vor fufzig Johr Minze aus Platin gemacht; ham 's widder aufstecke müsse; des Zeug war zu schwar; da könnt mer sich alle Woch e nei Hosetasch mache lasse müsse!« – »Gott, wie Se redde! Schaue Se doch de Misemaschin an! Wie das Zeug vom Himmel runner droppt. Mer brauche neie Metallicher, wie ich Ihne gesagt hab!« – »Herr Goldstein!« – »Gehesemerewegg mit Ihrem ›Herr Goldstein‹. Ich bin ka ›Herr Goldstein‹ mehr. Ich will nix mehr wisse von Gold!« – »Na, also Herr Silberstein! Was maane Se zum Rhodium?« – »Was maan ich zum Rhodium? Was waß ich vom Rhodium?« – »Es is e silberichs Metallich; is rar und gibteres doch genug; is zach; is so schwar wie Silber; wird nix oxidiert von der Luft...« – »Herr Frank! Wisse Sie was von Rhodium? Werd Rhodium gehandelt?« – »Rhodium können Sie in Rußland kaufen, soviel Sie wollen!« – »Hawe Sie a Notierung?« – »Rhodium stand vorige Woche dreihundertneunzig das Pfund.« – »Gott, die werde doch in St. Petersburg noch nix von dem Goldg'schlamaßl da wisse?!« – »I wo!« – »Also, meine Herre, wer sich beteilige will: Zwa e halbe Million Goldbarre verkaaf ich in Petersburg à tout prix; und Rhodium werd uffgekauft, was zu hawe is.«

Ein Depeschenbote kam. Alles stürzt zu Herrn Nathansohn, an den das Telegramm gerichtet ist; sie fahren mit einem Gekreisch auseinander.

»Kochem-Meschore! In Frankfort wisse se nix von de ganze Misemaschin! Es Silber steht um de alte Preis!« – »He, Depeschejingelche, eile Se sich, da hawe Se a Zehnmarkstück, schicke Se mer die Depesch ab, aber aß dringend, aß möglich!« – »Kaafe Se, Herr Goldstein, was Se kaafe können. Berufe Se sich aach uf men Schwacher, Feitel Stern, in de Eschenheimer Gaß!« – »Hawe Se kei Angst, Herr Cohn, es wird alles recht; es kriecht jeder sei Sach!« – »Meine Herre, mer habe da noch fünf, sechs Platinmetalle, es Iridium, es Ruthenium, es Palladium; di Sache gehe eruf, wie es helle Feuer. Und wie steht's mit em Molybdän, mit em Wolfram!« – »Es Ruthenium is zu grau, da wird sich nix mache lasse! Und es Wolfram, da gibteres zu viel. Des ist so gemein wie Kobalt oder Nickel.« – »Ei, da werd halt mit Silber legiert. Die Dinger sein alle kostbar! Gott, wer hat das voraussehn können! Was e Tag! Was e Tag!« – »Gott, Herr Nathansohn, schaue Se nur Ihr Bübche an, wie des in dem Zeug rumwühlt!« – »Moritz, pfui, Gassebub, willste den Dreck lieche lasse!« – »Vatter, des ist doch Gold! Schau doch, wie de Leut grapse!« – »Pfui, naseweiser Bursch, schmeiß den Dreck hin, es gibt kei Gold mehr; Gold is Dreck; siehste net, daß der ganze Himmel voll is?!«

In der Tat, der Himmel hatte sich jetzt wieder zitronengelb herabgesenkt. Viele flüchteten schon in die Häuser. Ich kehrte auf den großen Platz zurück. Die Leute schauten sich mit großen gläsernen Augen an. Keines wußte, was geschehen sollte. Von Dingolsheim kehrten gruppenweise die Menschen zurück, die Taschen und Kappen bis zum Platzen gefüllt. Und vom Himmel herunter schienen neue Massen zu drohen. Vor den Wirtshäusern lagen die Leute besoffen; andere gröhlten und schrien: jetzt gehe eine neue Zeit an, das goldene Zeitalter sei zurückgekommen. Auf der anderen Seite sah ich Weiber und Arbeiter heftig gestikulierend aus einzelnen Läden herausstürzen. Ich erkundigte mich, was Neues los sei: die Ladeninhaber, hieß es, nehmen weder Zehn- noch Zwanzigmarkstücke mehr an; sie verkauften nur gegen Silber. Eine fürchterliche Angst bemächtigte sich jetzt aller. Das Militär hatte den Platz wieder freigegeben und ordnete sich eben zum Einrücken. Vorne sah ich die Kavalkade des Königs zum Tor hineinreiten. Oben an einem Laternenpfosten war eine königliche Bekanntmachung angeschlagen, des Inhalts, der König werde mit den Ministern angesichts des unerhörten elementaren Ereignisses und des reichen, göttlichen Segens, der vom Himmel geflossen, sofort beraten, was zum Wohl seines geliebten Volkes zu tun sei. Der Preis für das Gold solle bekanntgegeben werden, alles werde heute abend noch im Rathaus zu erfahren sein. – Nun ordnete sich alles. Das Militär zog dem König nach. Das Volk zog dem Militär nach. Der Himmel senkte sich gelbglühend immer tiefer hernieder. Und bald war der große Springbrunnplatz still und verwaist.

Nur eine letzte Gruppe kam ganz hinten nach. Es waren die Grauköpfe. Und kurzbeinig, stolpernd, mit den schlappenden, langen Rockflügeln humpelten sie daher. Und im Chor gröhlten sie mit heiserer Stimme, sich gegenseitig vergewissernd und sich gegenseitig befestigend: »Iridium zwahundert und einunddreißig; – Antimon hundert und sechzig; – Rhodium zwahundert und zwaundzwanzig; – Palladium achthundert gradaus; – Molybdän siwehundert und in die sechzig, Wolfram neinhundert und siweneverzig; – Silber tausend und in die Siebzig; – Platin zwatausend, zwahundert und achtzig!«