Ich bin genötigt, den Leser bis zu jener Zeit meines Lebens zurückzuführen, da ich zum erstenmal den Chevalier des Grieux traf. Das geschah etwa sechs Monate vor meiner Abreise nach Spanien. Obgleich ich nur selten aus meiner Zurückgezogenheit heraustrat, unternahm ich doch aus Liebe zu meiner Tochter verschiedene kleine Reisen, die ich aber nach Möglichkeit abkürzte.
Einmal befand ich mich auf dem Rückweg von Rouen. Meine Tochter hatte mich gebeten, vor dem normannischen Parlament ihren Anspruch auf einige Güter zu vertreten, der noch von meinem Großvater mütterlicherseits herrührte. Ich fuhr über Evreux, wo ich das erstemal übernachtete, und kam am nächsten Tag zur Mittagszeit nach Passy, das fünf oder sechs Meilen davon entfernt liegt. Zu meiner Verwunderung fand ich bei meiner Ankunft die ganze Einwohnerschaft in großer Aufregung. Die Leute stürzten aus ihren Häusern und versammelten sich vor der Tür einer elenden Schenke, vor der zwei bedeckte Fuhrwerke standen. Die Pferde waren noch angeschirrt, sie dampften vor Müdigkeit und Hitze.
Ich blieb einen Augenblick stehen, um mich nach der Ursache der Erregung zu erkundigen, konnte aber von der neugierigen Menge keine Aufklärung erhalten. Die Leute beachteten meine Frage gar nicht, sondern drängten sich stoßend und lärmend um die Schenke. Endlich erblickte ich im Tor einen Soldaten mit Bandelier und einer Muskete über der Schulter. Ich winkte ihn heran und bat ihn, mir den Grund der Aufregung mitzuteilen.
»Es ist nichts von Bedeutung, mein Herr«, sagte er zu mir. »Es handelt sich um ein Dutzend Freudenmädchen, die ich und meine Kameraden nach Le Havre-de-Grâce bringen, von wo aus sie nach Amerika eingeschifft werden. Es sind ein paar hübsche Mädchen darunter, was offenbar die Neugier dieser braven Bauern erregt.«
Ich wäre nach dieser Erklärung weitergeritten, wenn mich nicht das Geschrei einer alten Frau festgehalten hätte. Sie kam händeringend aus dem Gasthof heraus und rief, es sei eine solche unmenschliche Grausamkeit, daß einen Entsetzen und Mitleid ankämen.
»Was gibt es denn«? fragte ich sie.
»Ach, mein Herr, gehen Sie hinein«, sagte sie, »und sehen Sie selbst, ob ein solcher Anblick einem nicht das Herz zerreißt.«
Neugier trieb mich, vom Pferd zu steigen, das ich meinem Stallknecht überließ. Nur mit Mühe konnte ich mich durch die Menge drängen und trat dann ins Haus, wo sich mir in der Tat ein ergreifender Anblick bot.
Unter den zwölf Mädchen, die zu sechst an der Taille zusammengekettet waren, befand sich eins, dessen Gesicht und ganze Erscheinung so wenig seiner augenblicklichen Situation entsprachen, daß ich es in anderer Umgebung für eine Dame von Rang gehalten hätte. Die Niedergeschlagenheit dieser anmutigen Person und auch die Unsauberkeit der Kleidung beeinträchtigten ihre Schönheit so wenig, daß ihr Anblick mir Achtung und Mitleid einflößte. Sie versuchte, sich abzuwenden, soweit es ihr die Kette erlaubte, und ihr Gesicht den Blicken der Neugierigen zu entziehen. In dieser Bewegung lag eine Natürlichkeit, die aus wahrem Feingefühl zu kommen schien.
Da sich die sechs Wächter, die diese unglückliche Schar begleiteten, ebenfalls im Zimmer befanden, nahm ich ihren Anführer beiseite und bat ihn, mir Genaueres über das Schicksal dieses schönen Mädchens mitzuteilen. Er konnte mir nur eine ganz allgemeine Auskunft geben.
»Wir holten sie auf Befehl des Herrn Polizeipräfekten aus dem Pariser Frauengefängnis, dem Hospiz«, sagte er. »Sicherlich war sie nicht um ihrer Tugend willen dort untergebracht. Ich habe ihr unterwegs wiederholt einige Fragen gestellt, doch sie verweigert hartnäckig jede Antwort. Obwohl ich keinen Auftrag habe, sie mehr als die anderen zu schonen, lasse ich ihr doch einige Erleichterungen zukommen, denn sie scheint mir etwas tauglicher zu sein als ihre Gefährtinnen. – Übrigens«, fügte der Soldat hinzu, »dort ist ein junger Mann, der Ihnen sicher besser als ich über die Ursache ihres Mißgeschicks Auskunft geben kann. Er ist ihr aus Paris gefolgt und hat kaum einen Augenblick aufgehört zu weinen. Er muß ihr Bruder oder ihr Liebhaber sein.«
Ich wandte mich nach der Zimmerecke, wo der junge Mann saß. Er schien tief in Gedanken versunken. Niemals sah ich ein solches Bild des Schmerzes. Er war einfach gekleidet, verriet aber auf den ersten Blick den Mann von Stand und Erziehung. Ich näherte mich ihm. Er erhob sich, und ich erkannte in seinem Blick, in seinen Gesichtszügen und seinen Gebärden etwas so Edles und Vornehmes, daß ich sofort Wohlwollen empfand.
»Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen«, sagte ich, indem ich mich neben ihn setzte, »aber ich brenne vor Verlangen, etwas über dieses schöne Mädchen zu erfahren, das mir durchaus nicht für den bejammernswerten Zustand geboren zu sein scheint, in dem es sich augenblicklich befindet.«
Er antwortete mir offen, daß er mir nicht sagen könne, wer sie sei, ohne sich selbst zu erkennen zu geben, und daß er gute Gründe habe, unbekannt bleiben zu wollen. »Ich kann Ihnen nur so viel mitteilen, wie auch diesen Schuften dort bekannt ist«, fuhr er fort und wies auf die Soldaten. »Nämlich, daß ich sie mit einer Leidenschaft liebe, deren Heftigkeit mich zum unglücklichsten aller Menschen macht. Ich habe in Paris alles versucht, sie zu befreien. Aber Bitten, List und Gewalt blieben erfolglos, und so habe ich mich entschlossen, ihr, wenn es sein muß, bis ans Ende der Welt zu folgen. Ich werde mich mit ihr nach Amerika einschiffen. – Was aber das Unmenschlichste ist«, fügte er hinzu, indem er wieder auf die Häscher wies, »diese feigen Schufte wollen mir nicht erlauben, in ihre Nähe zu kommen. Ich hatte die Absicht, die Wächter einige Meilen hinter Paris anzugreifen, und schon vier Männer gedungen, die mir für eine beträchtliche Summe ihre Hilfe versprachen. Die Betrüger ließen mich jedoch im Stich und machten sich mit meinem Geld davon. Allein konnte ich jedoch mit Gewalt nichts ausrichten, und so streckte ich die Waffen. Ich schlug den Soldaten vor, mir wenigstens zu gestatten, ihnen zu folgen, und erbot mich, sie dafür zu bezahlen. Aus Habsucht willigten sie ein. Sie forderten aber jedesmal, wenn ich mit meiner Geliebten sprechen durfte, neuen Lohn. In kurzer Zeit war meine Börse leer, und da ich jetzt keinen Sou mehr besitze, stoßen sie mich brutal zurück, wenn ich nur einen Schritt auf sie zugehe. Erst vorhin, als ich mich der Geliebten trotz ihrer Drohungen zu nähern wagte, besaßen sie die Unverschämtheit, das Gewehr auf mich zu richten. Um ihre Habgier zu befriedigen und ihnen wenigstens zu Fuß folgen zu können, bin ich gezwungen, mein armseliges Pferd zu verkaufen, das mich bisher getragen hat.«
So gefaßt er diesen Bericht zu geben schien, es kamen ihm doch zum Schluß einige Tränen. Ich fand sein ganzes Abenteuer ungewöhnlich und ergreifend.
»Ich möchte mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen«, sagte ich, »aber wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise nützlich sein kann, so biete ich Ihnen meine Hilfe an.«
»Leider sehe ich nicht den kleinsten Hoffnungsschimmer«, antwortete er. »Ich muß mich meinem harten Schicksal unterwerfen. Ich werde nach Amerika gehen, wo ich wenigstens mit der, die ich liebe, in Freiheit leben kann. Einem meiner Freunde habe ich geschrieben und hoffe, in Le Havre-de-Grâce von ihm einige Hilfe zu erhalten. Meine einzige Sorge ist, glücklich dorthin zu gelangen und unterwegs diesem armen Geschöpf soviel Erleichterung wie möglich zu verschaffen.« Und er warf seiner Geliebten einen traurigen Blick zu.
»Ich will Ihre Sorgen erleichtern«, sagte ich. »Ich bitte Sie, diese kleine Summe anzunehmen. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht in anderer Weise dienen kann.«
Ich gab ihm, ohne daß die Wächter es bemerken konnten, vier Louisdor; denn ich dachte mir, daß sie ihm ihre Vergünstigungen noch teurer verkaufen würden, wenn sie von dem Gelde wüßten. Ich kam sogar auf den Gedanken, mit ihnen zu verhandeln, um für den jungen Liebenden die Erlaubnis zu erwirken, bis Havre jederzeit mit seiner Geliebten reden zu dürfen. Ich winkte also den Anführer zu mir und machte ihm einen entsprechenden Vorschlag, Trotz seiner Frechheit schien er sich ein wenig zu schämen.
»Nicht, daß wir uns weigern, mein Herr«, antwortete er mit verlegener Miene, »ihn mit dem Mädchen reden zu lassen. Aber er möchte immerfort bei ihr sein, und das ist uns unbequem. Da ist es doch nur recht und billig, wenn er uns für diese Unbequemlichkeit entschädigt.«
»Gut«, sagte ich zu ihm, »wieviel kostet es, Euch diese Unbequemlichkeit erträglich zu machen«?
Er besaß die Dreistigkeit, zwei Louisdor zu verlangen, und ich gab sie ihm sofort.
»Aber nehmt Euch wohl in acht«, sagte ich zu ihm, »daß Ihr mich nicht betrügt. Ich werde diesem jungen Manne meine Adresse geben, damit er mir berichten kann; und seid überzeugt, daß ich wohl in der Lage bin, Euch zur Rechenschaft zu ziehen.«
Die Geschichte kostete mich also sechs Louisdor.
Der vornehme Anstand und die aufrichtige Herzlichkeit, mit der dieser junge Unbekannte mir dankte, überzeugten mich vollends, daß er von Herkunft war und meine Freigebigkeit wohl verdiente. Ehe ich ging, sprach ich noch einige Worte mit seiner Geliebten. Sie antwortete mir mit einer so sanften und anmutigen Bescheidenheit, daß ich beim Weiterreiten unwillkürlich endlose Betrachtungen über die Unergründlichkeit des weiblichen Charakters anstellte.
Ich kehrte wieder in meine Abgeschiedenheit zurück. Eine Nachricht über den weiteren Verlauf dieses Abenteuers erhielt ich nicht. Fast zwei Jahre vergingen, und ich hatte es schon ganz vergessen, als der Zufall mich mit allen Einzelheiten der Umstände bekannt machte.
Ich war mit meinem Zögling, dem Marquis de X., von London nach Calais gekommen und, wenn ich mich recht erinnere, im Goldenen Löwen abgestiegen, wo uns bestimmte Gründe zwangen, den Tag und die folgende Nacht zu verbringen. Als wir des Nachmittags durch die Straßen schlenderten, glaubte ich jenen jungen Mann zu erkennen, dem ich in Passy begegnet war. Er war ziemlich schlecht gekleidet und viel blasser als bei unserer ersten Begegnung. Offenbar war er gerade in der Stadt angekommen, denn er trug unter dem Arm einen alten Mantelsack. Seine Züge waren jedoch so auffallend schön, daß man sie nicht so leicht vergaß.
»Wir müssen diesen jungen Mann sprechen«, sagte ich zu dem Marquis.
Die Freude des Fremden war unbeschreiblich, als er mich wiedererkannte.
»Ach, mein Herr«, rief er und küßte mir die Hand, »ich kann Ihnen also noch einmal meine ewige Dankbarkeit aussprechen!«
Ich fragte ihn, woher er komme, und er teilte mir mit, daß er vor kurzem aus Amerika nach Le Havre-de-Grâce zurückgekehrt sei.
»Sie scheinen nicht sehr bemittelt zu sein«, sagte ich. »Gehen Sie in den Goldenen Löwen, wo ich wohne. Ich werde Sie dort erwarten.«
Ich kehrte dann auch gleich voller Ungeduld zurück, um die Einzelheiten seines Mißgeschicks und die näheren Umstände seiner Reise nach Amerika zu erfahren. Ich erwies ihm alle erdenkliche Fürsorge und gab Anweisung, es ihm an nichts fehlen zu lassen. Er wartete nicht, bis ich ihn bat, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen, sondern kam meinem Wunsche zuvor.
»Mein Herr«, sagte er, »Sie haben so edel an mir gehandelt, daß ich es mir als Undankbarkeit anrechnen müßte, Ihnen irgend etwas von mir zu verheimlichen. Ich will Ihnen daher nicht nur mein Unglück und meine Leiden erzählen, sondern auch meine Fehler und meine tadelnswerten Schwächen bekennen. Ich bin sicher, wenn Sie mich auch verdammen, so werden Sie doch nicht umhin können, mich zu beklagen.«
Ich muß hier für den Leser bemerken, daß ich seine Geschichte fast unmittelbar, nachdem ich sie gehört hatte, niederschrieb und daß die Wahrheitstreue und Genauigkeit dieser Erzählung über jeden Zweifel erhaben sind. Ich gebe auch ebenso wahrheitsgetreu die Gedanken und Gefühle wieder, die der junge Abenteurer mit liebenswürdiger Unbefangenheit zum Ausdruck brachte.
Hier folgt nun sein Bericht:
Ich war siebzehn Jahre alt und beendete die oberste Klasse auf dem Gymnasium zu Amiens, wohin mich meine Eltern geschickt hatten, die zu einer der ersten Familien in P. gehören. Ich führte ein so besonnenes und geregeltes Leben, daß mich meine Lehrer als Musterschüler bezeichneten. Nicht, daß ich mir besondere Mühe gab, dieses Lob zu verdienen, aber ich besaß von Natur aus eine sanfte und ruhige Veranlagung und eine besondere Neigung zum Studium, und meinen natürlichen Widerwillen gegen das Laster rechnete man mir als besondere Tugend an. Meine Herkunft, der Erfolg meiner Studien und einige äußere Vorzüge brachten mir die Bekanntschaft und Achtung aller Bürger der Stadt ein.
Das öffentliche Examen bestand ich so glänzend, daß der anwesende Bischof mir vorschlug, mich dem geistlichen Stand zu widmen, in dem ich mir, wie er sagte, größere Auszeichnung verschaffen würde als in dem Malteserorden, für den mich meine Eltern bestimmt hatten und dessen Kreuz sie mich bereits unter dem Namen eines Chevalier des Grieux tragen ließen. Als die Ferien nahten, traf ich meine Vorbereitungen, um zu meinem Vater zurückzukehren, der mir versprochen hatte, mich bald auf die Akademie zu schicken.
Beim Abschied von Amiens bedauerte ich allein, daß ich dort einen Freund zurücklassen mußte, mit dem ich von jeher schon auf das innigste verbunden war. Er war einige Jahre älter als ich; wir sind zusammen erzogen worden. Da aber seine Familie nur wenig begütert war, mußte er in den geistlichen Stand treten und in Amiens zurückbleiben, um hier sein Studium fortzusetzen. Er war reich an guten Eigenschaften, und seine wertvollsten werden Sie im Verlauf meiner Geschichte kennenlernen, in der vor allem sein Eifer und sein Edelmut beispielhaft sind. Hätte ich damals seinen Rat befolgt, so wäre ich immer weise und glücklich geblieben. Und selbst in dem Abgrund, in den mich meine Leidenschaften gestürzt haben, hätte ich immer noch manches aus dem Schüfbruch meines Glücks und meines Ansehens gerettet, wenn ich aus seinen Vorwürfen Nutzen gezogen hätte. Aber für alle seine Bemühungen hat er nur den Schmerz geerntet, einsehen zu müssen, daß sie umsonst waren und ihm von einem Undankbaren übel vergolten wurden, der sie als lästig oder zudringlich empfand.
Ich hatte den Zeitpunkt meiner Abreise von Amiens festgesetzt. Ach, hätte ich sie doch einen Tag früher angetreten! Ich hätte meinem Vater meine ganze Unschuld zurückgebracht. Am Vortag meiner Abreise aus der Stadt schlenderte ich mit meinem Freund Tiberge durch die Straßen, als wir den Postwagen aus Arras ankommen sahen. Wir folgten ihm bis zum Gasthof, wo er hielt. Uns trieb dabei nichts anderes als die Neugierde. Einige Frauen stiegen aus, die rasch verschwanden; nur ein sehr junges Mädchen blieb allein im Hofe stehen. Ein Mann von vorgerücktem Alter, der ihr offenbar als Führer diente, war bemüht, ihr Gepäck aus dem Fahrzeug zu schaffen. Sie erschien mir so reizend, daß ich – der noch nie an die Verschiedenheit der Geschlechter gedacht, noch nie ein Mädchen mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, dessen Vernunft und Zurückhaltung alle Welt bewunderte – plötzlich bis zum Wahnsinn entflammt ward. Ich besaß den Fehler, daß ich außerordentlich schüchtern und leicht aus der Fassung zu bringen war, aber in diesem Augenblick hinderte mich meine Schwäche durchaus nicht daran, mich der Herrin meines Herzens zu nähern. Obgleich sie noch jünger war als ich, ließ sie sich meine Aufmerksamkeiten ohne merkliche Verlegenheit gefallen. Ich fragte sie, was sie nach Amiens führe und ob sie hier Bekannte habe. Sie antwortete mir unbefangen, ihre Eltern schickten sie hierher, damit sie Nonne werde. Die Liebe hatte mich seit dem Augenblick, da sie von mir Besitz genommen, schon so erleuchtet, daß ich diese Absicht als einen tödlichen Schlag gegen meine Wünsche empfand. Ich sprach zu ihr in einer Art, die ihr meine Gefühle wohl verständlich machte, denn sie war viel erfahrener als ich, und ohne Zweifel schickte man sie ja gerade deshalb ins Kloster, weil man dort ihrem schon damals offenbaren Hang zu Vergnügungen, der in der Folge ihr und mein Unglück herbeiführen sollte, entgegenzuwirken hoffte. Ich bot gegen die grausame Absicht ihrer Eltern alle Gründe auf, die meine aufkeimende Liebe und meine scholastische Beredsamkeit mir nur eingeben konnten.
Nachdem sie einen Augenblick geschwiegen hatte, sagte sie, daß sie nur zu gut voraussehe, wie unglücklich sie sein werde, aber daß dies wohl der Wille des Himmels sei, da sich ihr kein Ausweg biete. Ihre sanften Blicke, der Zauber ihrer Schwermut, mit der sie dieses sprach, vielleicht auch mein Verhängnis, das mich ins Verderben reißen wollte, ließen mich keinen Augenblick mit meiner Antwort zögern. Ich versicherte ihr, wenn sie in meine Ehre und die unendliche Zuneigung, die sie mir schon jetzt einflöße, Vertrauen setze, so wolle ich mein Leben wagen, um sie aus der Tyrannei ihrer Eltern zu befreien und glücklich zu machen.
Meine schöne Unbekannte wußte sehr wohl, daß man in meinem Alter kein Betrüger ist. Sie gestand, mir mehr zu schulden als das Leben, wenn ich eine Möglichkeit zu ihrer Befreiung ausfindig machte. Ich sei zu jedem Wagnis bereit, beteuerte ich. Da ich aber nicht genug Lebenserfahrung besaß, um auf der Stelle einen Weg zur Rettung zu erkennen, blieb es zunächst bei dieser allgemeinen Versicherung, die weder ihr noch mir half.
Ihr bejahrter Argus war inzwischen zurückgekehrt, und alle meine Hoffnungen wären gescheitert, hätte sie nicht genügend Geistesgegenwart besessen, meiner Unbeholfenheit beizuspringen. Zu meinem Erstaunen nannte sie mich in seiner Gegenwart Vetter und erklärte mir ohne die geringste Verlegenheit, sie sei so glücklich, mich hier in Amiens getroffen zu haben, daß sie ihren Eintritt ins Kloster bis zum nächsten Tag verschieben wolle, um sich das Vergnügen zu verschaffen, mit mir des Abends zu speisen. Ich verstand den Sinn dieser List sehr gut und schlug ihr vor, in einem Gasthof zu übernachten, dessen Besitzer sich in Amiens niedergelassen hatte, nachdem er lange Zeit bei meinem Vater Kutscher gewesen und mir in jeder Beziehung ergeben war.
Ich führte sie selbst dorthin, während der alte Begleiter etwas unzufrieden schien und mein Freund Tiberge, der nicht wußte, was er von diesem Vorgang halten sollte, schweigend folgte. Unsere Unterhaltung hatte er nicht gehört, da er im Hofe auf und ab gegangen war, während ich meiner schönen Gebieterin Liebesworte zuflüsterte. Aus Furcht vor seiner Tugendstrenge befreite ich mich von ihm dadurch, daß ich ihn bat, mir etwas zu besorgen. Bei unserer Ankunft im Gasthaus hatte ich also das Vergnügen, mit meiner Herzenskönigin allein zu sein.
Ich erkannte bald, daß ich weniger Kind war, als ich es zu sein glaubte. Mein Herz öffnete sich tausend Empfindungen der Lust, von denen ich niemals etwas geahnt hatte. Eine süße Glut durchrann meine Adern. Ich befand mich in einem solchen Zustand der Verzückung, daß ich oft kein Wort hervorbringen und mich nur durch die Sprache meiner Augen verständlich machen konnte.
Mademoiselle Manon Lescaut, wie sie sich nannte, schien über die Wirkung ihrer Reize sehr erfreut. Wie ich zu bemerken glaubte, war sie nicht weniger bewegt als ich.
Sie gestand mir, daß sie mich liebenswert finde und entzückt wäre, mir ihre Freiheit zu verdanken. Sie wollte wissen, wer ich sei, und diese Kenntnis vermehrte noch ihre Zuneigung, denn sie war von bürgerlicher Herkunft und fühlte sich geschmeichelt, einen Verehrer von Stand gewonnen zu haben. Wir unterhielten uns über die Möglichkeiten, einander anzugehören.
Nach mancherlei Erwägungen fanden wir kein anderes Mittel als das der Flucht. Wir mußten dabei die Wachsamkeit ihres Begleiters täuschen, der, wenn auch nur ein Bedienter, doch zu berücksichtigen war. Wir kamen überein, daß ich während der Nacht einen Reisewagen bereitstellen und in aller Frühe zurückkommen sollte, ehe man im Gasthof erwachte. Dann wollten wir uns still davonmachen und geradewegs nach Paris fahren, um uns dort trauen zu lassen. Ich besaß etwa fünfzig Taler, die Frucht meiner kleinen Ersparnisse, sie hatte etwa das Doppelte. Wie unerfahrene Kinder bildeten wir uns ein, diese Summe werde nie ein Ende nehmen; und in gleichem Maße waren wir auch vom Gelingen unserer anderen Pläne überzeugt.
Nachdem ich mit einem Genuß, wie ich ihn nie zuvor gekannt, zu Abend gespeist hatte, zog ich mich zurück, um an die Ausführung unseres Planes zu gehen. Meine Maßnahmen waren um so leichter zu verwirklichen, als ich in der Absicht, am nächsten Tag zu meinem Vater zurückzukehren, mein geringes Gepäck schon vorbereitet hatte. Ich brauchte es also nur fortschaffen zu lassen und für fünf Uhr einen Wagen zu bestellen. Um diese Zeit mußten die Stadttore schon geöffnet sein. Trotzdem aber fand sich ein Hindernis, an das ich nicht gedacht hatte und das beinahe das ganze Unternehmen vereitelt hätte.
Tiberge war zwar nur drei Jahre älter als ich, aber schon ein gereifter Jüngling mit ausgeprägtem sittlichem Empfinden. Er liebte mich mit außergewöhnlicher Zärtlichkeit, und der Anblick eines so hübschen Mädchens wie Manon, meine Beflissenheit, sie zu begleiten, und dann der auffallende Eifer, ihn fernzuhalten, hatten ihn argwöhnisch gemacht. Zwar hatte er es nicht gewagt, in den Gasthof zurückzukehren, um mich durch sein Erscheinen nicht zu kränken, aber er war in meine Wohnung gegangen und wartete dort auf mich, obgleich es bis zu meiner Ankunft zehn Uhr wurde. Seine Anwesenheit verdroß mich, was er leicht aus meinem gezwungenen Wesen ersehen konnte.
»Ich bin überzeugt«, sagte er ganz offen, »daß du Absichten hegst, die du mir verbergen willst. Ich sehe es an deinem Gesicht.«
Ich antwortete ihm schroff, ich sei nicht verpflichtet, ihm über meine Pläne Rechenschaft abzulegen.
»Gewiß nicht«, fuhr er fort. »Aber bisher hast du mich immer als Freund behandelt, und in dieser Eigenschaft könnte ich wohl ein wenig Vertrauen erwarten.«
Er bat mich so inständig und beharrlich, ihm mein Geheimnis zu entdecken, daß ich, der ihm nie etwas verhehlt hatte, auch meine Leidenschaft unumwunden gestand. Er nahm meine Beichte mit so deutlicher Mißbilligung zur Kenntnis, daß ich unwillkürlich erbebte. Ich bereute sofort die Voreiligkeit, mit der ich ihm meinen Fluchtplan mitgeteilt hatte.
Er sagte, er sei zu sehr mein Freund, um sich all dem nicht nach Kräften zu widersetzen. Zunächst einmal wolle er mir alle Gründe vorhalten, die mich vielleicht noch umstimmen könnten. Wenn ich aber auch dann nicht von meinem verderblichen Entschluß zurücktrete, dann werde er Leute benachrichtigen, die der Sache ein für allemal ein Ende machen könnten. Er hielt mir wohl eine Viertelstunde lang eine ernsthafte Strafpredigt, die mit der Drohung endete, mich zu verraten, wenn ich ihm nicht mein Wort gäbe, ehrenhaft und vernünftig zu handeln.
Ich war verzweifelt, mich so zur Unzeit verraten zu haben. Aber die Liebe hatte in den zwei oder drei Stunden meinen Verstand schon so geschärft, daß mir einfiel, ihm von der Absicht, meinen Plan schon am nächsten Morgen auszuführen, noch nichts gesagt zu haben; und ich beschloß, ihn zu täuschen.
»Tiberge«, sagte ich zu ihm, »ich habe dich immer für meinen Freund gehalten und wollte dich nur auf die Probe stellen. Es stimmt, daß ich verliebt bin. Was aber meine Flucht angeht, so ist das ein Unternehmen, das man nicht unüberlegt durchführen darf. Komm morgen früh um neun zu mir; ich will Dich meiner Geliebten vorstellen, und du sollst selbst urteilen, ob sie es wert ist, daß ich einen solchen Schritt für sie unternehme.«
Hierauf verließ er mich, mir unzählige Male seine Freundschaft beteuernd.
Ich verbrachte die Nacht damit, alle meine Angelegenheiten zu ordnen; und als ich bei Tagesgrauen vor den Gasthof kam, erwartete mich Manon bereits. Sie stand an ihrem Fenster, das nach der Straße hinausging, und öffnete mir sogleich die Tür. Geräuschlos verließen wir das Haus. Sie hatte kein anderes Gepäck als ihre Wäsche, die ich trug. Der Wagen stand zur Abfahrt bereit.
Später werde ich erzählen, was Tiberge tat, als er mein Täuschungsmanöver entdeckte. Doch entzog er mir nicht seine Freundschaft. Sie werden sehen, wie weit er ging und wie viele Tränen ich vergießen müßte bei dem Gedanken, ihm seine Treue so übel vergolten zu haben.
Wir beeilten uns so sehr, daß wir noch vor Einbruch der Nacht Saint-Denis erreichten. Da ich neben dem Wagen hergeritten war, hatten wir uns nur unterhalten können, wenn die Pferde gewechselt wurden. Aber jetzt, so nahe bei Paris und damit sozusagen in Sicherheit, gönnten wir uns Zeit für einen Imbiß, denn wir hatten seit unserer Abreise aus Amiens noch nichts gegessen. So leidenschaftlich verliebt ich in Manon war, wußte sie mich doch zu überzeugen, daß sie mich nicht minder liebte. Wir hielten mit unseren Zärtlichkeiten so wenig zurück, daß wir uns gar nicht erst geduldeten, unser Alleinsein abzuwarten. Die Kutscher und Gastwirte sahen uns kopfschüttelnd an, und ich bemerkte, wie erstaunt sie waren, daß sich zwei Kinder unseres Alters so rasend liebten.
Unsere Heiratspläne waren in Saint-Denis vergessen. Wir setzten uns über die Rechte der Kirche hinweg und waren Gatten, ehe wir überhaupt nur nachgedacht hatten. Bei meiner zärtlichen und beständigen Veranlagung wäre ich sicher mein ganzes Leben lang glücklich geblieben, hätte mir Manon die Treue gehalten. Je besser ich sie kennenlernte, desto mehr liebenswürdige Eigenschaften entdeckte ich an ihr. Ihr Geist, ihr Herz, ihre Sanftmut und Schönheit bildeten eine so starke und süße Kette, daß ich es als mein höchstes Glück betrachtete, immer von ihr gefesselt zu sein. Wie furchtbar sollte sich das ändern!
In Paris mieteten wir eine möblierte Wohnung, Sie lag in der Rue V... und zu meinem Unglück neben dem Haus des Herrn de B., eines bekannten Steuerpächters. Drei Wochen vergingen, und ich war in dieser Zeit so von meiner Leidenschaft erfüllt, daß ich wenig an meine Familie dachte und an den Kummer, den mein Vater über meine Abwesenheit empfinden mußte. Da ich mir aber keine Ausschweifung vorzuwerfen hatte und auch Manon zurückhaltend war, mußte mich die Ruhe unseres Daseins allmählich wieder an meine Pflicht erinnern.
Ich beschloß, wenn möglich, mich mit meinem Vater auszusöhnen. Meine Geliebte war so reizend und würde ihm ohne Zweifel gefallen, wenn es mir nur gelänge, ihn mit ihren Vorzügen bekannt zu machen. Mit einem Wort, ich schmeichelte mir, seine Erlaubnis zur Heirat zu erlangen, nachdem meine Hoffnung, sie ohne diese Zustimmung zu heiraten, enttäuscht worden war. Ich teilte Manon meine Absicht mit und gab ihr zu verstehen, daß mich außer den Gefühlen der kindlichen Liebe und des Gehorsams auch die Not dazu treibe, da unsere Mittel sehr schnell zur Neige gingen und ich nicht mehr an ihre Unerschöpflichkeit glaubte.
Manon nahm diesen Vorschlag kühl auf, doch kamen ihre Einwendungen nur aus ihrer großen Zärtlichkeit und aus ihrer Sorge, mich zu verlieren. Wenn mein Vater unseren Zufluchtsort kannte und unsere Absichten nicht billigte, so war nicht im geringsten daran zu zweifeln, welches grausame Verhängnis mir drohte. Auf meinen Einwand, die Not zwinge uns dazu, entgegnete sie, für einige Wochen hätten wir ja noch genug zum Leben und dann werde sie schon dank der Freundschaft einiger Verwandter in der Provinz, an die sie schreiben wolle, neue Hilfsmittel erschließen können. Sie versüßte mir ihre Weigerung durch so hingebende und leidenschaftliche Zärtlichkeiten, daß ich, der ich nur in ihr lebte und nicht das geringste Mißtrauen gegen sie hegte, alle ihre Einwände und Pläne billigte.
Ich hatte ihr die Kasse und die Sorge für unsere täglichen Bedürfnisse anvertraut. Nach und nach bemerkte ich, daß unser Tisch besser bestellt war und daß sie sich einige kostspielige Kleidungsstücke angeschafft hatte. Da ich wohl wußte, daß wir höchstens noch zwölf bis fünfzehn Pistolen besitzen konnten, äußerte ich meine Verwunderung über diesen offenbaren Zuwachs unseres Reichtums. Lachend bat sie mich, mir keine Sorgen zu machen.
»Habe ich dir nicht versprochen«, sagte sie, »Geldquellen zu finden«?
Ich liebte sie viel zu arglos, um so leicht einen Verdacht zu schöpfen.
Eines Nachmittags war ich mit dem Bescheid ausgegangen, daß ich länger als gewöhnlich fortbleiben werde, und mußte bei der Rückkehr zu meiner Verwunderung zwei oder drei Minuten an der Tür warten. Wir hatten ein junges Mädchen zur Bedienung, das ungefähr in unserem Alter war. Als sie mir endlich öffnete, fragte ich sie, wo sie so lange geblieben sei. Sie antwortete verlegen, sie habe mein Klopfen überhört.
»Wenn du mich nicht gehört hast«, sagte ich, »wie kommt es dann, daß du mir überhaupt aufmachst«?
Ich hatte nämlich nur einmal geklopft.
Meine Frage brachte sie in eine solche Verwirrung, daß sie nicht genügend Geistesgegenwart zu einer Ausrede fand. Sie begann zu weinen und versicherte mir, es sei nicht ihre Schuld, denn Madame habe es ihr verboten zu öffnen, ehe nicht Herr de B. sich über die zur Wohnung gehörige Hintertreppe entfernt habe.
Ich war so fassungslos, daß ich nicht den Mut hatte, die Wohnung zu betreten. Ich entfernte mich wieder, unter dem Vorwand, noch eine Besorgung machen zu müssen. Ich befahl dem Mädchen, seiner Herrin auszurichten, ich käme gleich zurück, ihr aber zu verschweigen, daß ich etwas von Herrn de B. wisse.
Meine Bestürzung war so groß, daß ich Tränen vergoß, während ich die Treppe wieder hinabstieg, ohne zu wissen, aus welchem Gefühl diese Tränen kamen. Ich betrat das erste beste Kaffeehaus, setzte mich an einen Tisch und stützte den Kopf in beide Hände, um mir klarzuwerden, was in meinem Inneren vorging. Ich wagte kaum an das zu denken, was ich soeben gehört hatte. Ich wollte es als eine Sinnestäuschung betrachten und war zwei- oder dreimal im Begriff heimzukehren, ohne mir anmerken zu lassen, daß ich etwas wisse. Es schien mir so unmöglich, daß Manon mich habe verraten können, daß ich sogar in der bloßen Vermutung eine Ungeheuerlichkeit sah. Ich betete sie an, das stand fest, und ich hatte von ihr ebenso viele Beweise der Liebe empfangen, wie ich ihr gegeben hatte. Wie kam ich dazu, sie zu beschuldigen, sie sei weniger aufrichtig und treu als ich? Welchen Grund hätte sie gehabt, mich zu betrügen? Es war erst drei Stunden her, seit sie mich mit den zärtlichsten Liebkosungen überschüttet und die meinigen mit Entzücken empfangen hatte.
»Nein, nein«, sagte ich zu mir. »Es ist unmöglich, daß Manon mich verraten hat. Sie hat keinen Grund, mich zu betrügen.«
Trotzdem beunruhigte mich der Besuch und der heimliche Aufbruch des Herrn de B. Mir fielen auch die kleinen Anschaffungen Manons ein, die nicht recht zu unseren augenblicklichen Geldverhältnissen zu passen schienen. Und das Geständnis, das sie mir über Geldquellen gemacht hatte, die mir unbekannt waren? Ich hatte Mühe, so vielen Rätselfragen eine Auslegung zu geben, wie sie mein Herz ersehnte.
Andererseits hatte ich sie, seit wir in Paris waren, fast nie aus den Augen verloren. Bei allen Geschäften, Spaziergängen, allen Zerstreuungen waren wir immer zusammen gewesen, denn schon eine kurze Trennung hätte uns allzusehr betrübt. Wir mußten uns unaufhörlich sagen, daß wir uns liebten, wir wären sonst vor Angst umgekommen. Ich konnte mir daher einfach nicht vorstellen, daß Manon auch nur einen Augenblick an einen anderen als mich denken sollte.
Schließlich glaubte ich die Lösung des Geheimnisses gefunden zu haben. »Herr de B.«, sagte ich mir, »ist ein großer Geschäftsmann, der viele Beziehungen hat. Die Verwandten Manons werden sich seiner bedient haben, um ihr Geld zukommen zu lassen. Vielleicht hat sie schon etwas von ihm erhalten, und heute hat er ihr wieder etwas gebracht. Zweifellos hat sie mir das verheimlicht, um mir eine freudige Überraschung zu bereiten. Vielleicht hätte sie auch schon mit mir darüber gesprochen, wenn ich in gewohnter Weise zurückgekommen wäre, statt mich hier trüben Gedanken zu überlassen. Sie wird es mir um so weniger verschweigen, als ich selbst mit ihr darüber sprechen will.«
Ich hatte mir diese Auffassung so fest in den Kopf gesetzt, daß meine Traurigkeit merklich nachließ, und kehrte alsbald in meine Wohnung zurück. Ich umarmte Manon mit gewohnter Zärtlichkeit, und sie empfing mich sehr liebenswürdig. Anfangs war ich geneigt, ihr meine Vermutungen, von deren Richtigkeit ich jetzt fest überzeugt war, zu offenbaren. Ich hielt mich aber zurück in der Hoffnung, daß sie mir vielleicht zuvorkommen und den ganzen Vorgang mitteilen werde.
Das Abendessen wurde aufgetragen. Ich setzte mich froh und guter Dinge zu Tisch. Aber beim Schein der Kerze, die zwischen uns stand, glaubte ich, im Gesicht und in den Augen meiner Geliebten eine gewisse Traurigkeit zu bemerken. Diese Beobachtung betrübte mich ebenfalls. Mir fiel auf, daß ihre Blicke in einer ganz anderen Art als sonst auf mir ruhten, aber ich konnte nicht unterscheiden, ob dies Liebe oder Mitleid war. Jedenfalls schien es mir ein sanftes, schmachtendes Gefühl. Ich betrachtete sie mit derselben Aufmerksamkeit, und vielleicht hatte sie die gleiche Mühe, aus meinen Blicken auf den Zustand meines Herzens zu schließen. Wir dachten weder an Sprechen noch an Essen. Endlich sah ich, wie Tränen aus ihren schönen Augen fielen – verräterische Tränen!
»Mein Gott!« rief ich aus. »Du weinst, süße Manon? Du bist zu Tränen betrübt und sagst mir mit keinem Wort, was dir fehlt«?
Sie antwortete mir nur mit einigen Seufzern, die meine Unruhe noch vergrößerten. Zitternd stand ich auf und beschwor sie mit dem innigsten Ausdruck meiner Liebe, mir die Ursache ihres Kummers zu entdecken. Ich vergoß selber Tränen, während ich die ihrigen trocknete. Ich war mehr tot als lebendig. Ein Barbar wäre durch die Äußerungen meines Schmerzes und meiner Besorgnisse gerührt worden.
Während ich so beschäftigt war, hörte ich, daß mehrere Leute die Treppe heraufkamen. Es klopfte leise an die Tür. Manon gab mir einen Kuß und entschlüpfte schnell meinen Armen, floh in das Schlafzimmer und schloß sofort hinter sich zu. Ich glaubte, da ihr Kleid etwas in Unordnung geraten war, wolle sie sich vor den Augen der Fremden, die angeklopft hatten, verbergen. Ich öffnete ihnen selbst.
Kaum hatte ich die Tür aufgemacht, als ich mich von drei Männern ergriffen sah, die ich als Bediente meines Vaters erkannte. Sie mißhandelten mich nicht, aber während zwei meine Arme festhielten, untersuchte der dritte meine Taschen und nahm ein kleines Messer heraus, den einzigen eisernen Gegenstand, den ich bei mir trug. Sie entschuldigten sich, mich so rücksichtslos behandeln zu müssen, und sagten mir geradeheraus, daß sie nur einen Befehl meines Vaters ausführten und daß mich mein älterer Bruder in einem Wagen unten erwarte.
Ich war so verwirrt, daß ich mich ohne Antwort oder Widerstand wegführen ließ. Mein Bruder erwartete mich wirklich. Man setzte mich neben ihn in einen Wagen, und der Kutscher, der schon unterrichtet war, fuhr uns in schneller Fahrt nach Saint-Denis. Mein Bruder hatte mich zärtlich umarmt, sprach aber kein Wort zu mir, so daß ich nach Belieben über mein Mißgeschick nachdenken konnte.
Alles lag für mich in einem solchen Dunkel, daß ich auch nicht die geringste Vermutung hatte. Ein grausamer Verrat war im Spiel, aber durch wen? Mein erster Verdacht fiel auf Tiberge.
»Verräter«, sagte ich. »Es ist um dein Leben geschehen, wenn sich mein Verdacht bestätigt.«
Aber dann fiel mir ein, daß er ja gar nichts von meinem Aufenthaltsort wußte und ihn also unmöglich hatte verraten können. Manon zu verdächtigen, wäre meinem Herzen als ein Verbrechen erschienen. Die ungewöhnliche Traurigkeit, die ich wahrgenommen hatte, ihre Tränen und der zärtliche Kuß, den sie mir gegeben, ehe sie sich zurückzog, erschienen mir wohl rätselhaft, aber ich erklärte mir das alles schließlich als eine Art Vorahnung unseres gemeinsamen Unglücks, und während ich über das Ereignis, das mich von ihr getrennt hatte, fast verzweifelte, war ich blind genug, mir einzubilden, daß sie noch beklagenswerter sei als ich.
Das Ergebnis meines Nachdenkens war die Gewißheit, irgendein Bekannter müsse mich in den Straßen von Paris gesehen und meinem Vater davon Mitteilung gemacht haben. Dieser Gedanke tröstete mich. Ich hoffte, mit einigen Vorwürfen und strenger Aufsicht, die mir die väterliche Autorität auferlegen werde, davonzukommen. Ich beschloß, sie ruhig zu ertragen und alles zu versprechen, was man von mir verlangte, um desto leichter bei der erstbesten Gelegenheit nach Paris zurückkehren zu können und meiner lieben Manon Freude und Glück wiederzugeben.
Wir waren bald in Saint-Denis. Mein Bruder wunderte sich über mein Schweigen und schrieb es meiner Furcht zu. Er begann mich zu trösten und versicherte mir, ich hätte von der Strenge meines Vaters nicht allzuviel zu befürchten, vorausgesetzt, daß ich willens sei, mich auf meine Pflicht zu besinnen und mir seine Zuneigung wiederzugewinnen. Mein Bruder blieb mit mir die Nacht über in Saint-Denis, doch mußten die drei Bedienten zur Sicherheit in meinem Zimmer schlafen.
Sehr schmerzlich war es für mich, daß ich mich in demselben Gasthof befand, in dem ich auf meiner Reise von Amiens nach Paris mit Manon gewohnt hatte. Der Wirt und seine Leute erkannten mich wieder und errieten meine wahre Geschichte.
Ich hörte den Wirt sagen: »Das ist ja der nette Junge, der vor sechs Wochen mit dem kleinen Fräulein, das er so sehr liebte, hier auf der Durchreise Station gemacht hat. Wie reizend war das Mädchen! Wie zärtlich die armen Kinder sich küßten! Es ist schade, daß man sie auseinandergerissen hat.«
Ich tat so, als hätte ich nichts gehört, und ließ mich sowenig wie möglich sehen.
Mein Bruder hatte in Saint-Denis einen zweisitzigen Wagen bereithalten lassen, mit dem wir in aller Frühe abfuhren, um am Abend des nächsten Tages zu Hause anzukommen. Er sprach zunächst allein mit meinem Vater, um ihn für mich einzunehmen, indem er ihm schilderte, wie geduldig ich mich hatte heimbringen lassen. So wurde ich weniger streng empfangen, als ich erwartet hatte. Mein Vater begnügte sich mit einigen allgemeinen Vorwürfen über mein Vergehen, mich ohne seine Erlaubnis entfernt zu haben. Was meine Geliebte anging, sagte er, so verdiene ich meine bittere Erfahrung wohl, da ich mich einer Unbekannten in die Arme geworfen hätte.
Allerdings habe er eine bessere Meinung von meiner Vernunft gehabt, er hoffe aber, daß dieses kleine Abenteuer mir für die Zukunft eine Warnung sei.
Ich nahm seine Worte in dem Sinne auf, der mit meinen eigenen Ansichten in Einklang stand. Ich dankte meinem Vater für die Güte, mit der er mir Verzeihung gewährte, und versprach ihm eine gehorsame und ordentliche Lebensführung. Im Grunde meines Herzens aber triumphierte ich, denn bei der Art, wie die Angelegenheit beigelegt war, zweifelte ich nicht, schon vor Ende der Nacht Gelegenheit zu finden, aus dem Hause zu entfliehen.
Wir setzten uns zum Abendessen nieder, und man neckte mich mit meiner Eroberung in Amiens und der Flucht mit meiner treuen Geliebten. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und war sogar ganz froh, mich über das unterhalten zu können, was mir fortwährend im Sinne lag. Aber einige Bemerkungen, die mein Vater machte, ließen mich plötzlich aufhorchen. Er sprach von der Niederträchtigkeit und der eigennützigen Dienstbeflissenheit des Herrn de B. Ich war verblüfft, als ich diesen Namen hörte, und bat meinen Vater um nähere Aufklärung.
Er wandte sich an meinen Bruder und fragte ihn, ob er mir denn nicht die ganze Geschichte erzählt habe. Mein Bruder antwortete, ich sei ihm während der Fahrt so ruhig erschienen, daß er es für überflüssig gehalten habe, mich durch diese Medizin von meiner Tollheit zu heilen. Ich bemerkte, daß mein Vater unschlüssig war, ob er mir Näheres mitteilen solle; doch ich bat ihn so inständig, daß er mich schließlich zufriedenstellte oder vielmehr, daß er mich mit dem schrecklichsten Bericht beinahe hinmordete.
Er fragte mich zunächst, ob ich wirklich so einfältig gewesen sei, zu glauben, meine Freundin habe mich wirklich geliebt, und ich antwortete ihm zuversichtlich, ich sei dessen so sicher, daß mich nichts in meinem Glauben erschüttern könne.
»Ha, ha, ha!« lachte er laut heraus. »Das ist ausgezeichnet! Du bist ein schöner Gimpel, solche Ansichten gefallen mir. Es ist wirklich schade, mein armer Chevalier, daß du in den Malteserorden eintrittst, denn du hast die besten Anlagen, ein geduldiger und bequemer Ehemann zu werden!«
Er spottete noch eine ganze Weile über mich.
Da ich beharrlich schwieg, rechnete er mir endlich vor, daß mich Manon nach der Abreise von Amiens vielleicht noch ganze vierzehn Tage geliebt habe.
»Denn«, meinte er, »soviel ich weiß, hast du am 28. des vorigen Monats Amiens verlassen, und wir haben heute den 29. des gegenwärtigen. Elf Tage ist es her, daß Herr de B. mir geschrieben hat, und ich nehme an, daß er acht Tage gebraucht hat, um mit deiner Geliebten einig zu werden. Wenn man also elf und acht von den einunddreißig Tagen abzieht, die zwischen dem 28. des einen und dem 29. des anderen Monats liegen, so bleiben etwa zwölf Tage übrig.«
Das Gelächter brach von neuem los. Mir aber zog sich das Herz so krampfhaft zusammen, daß ich fürchtete, es nicht bis zum Ende der Geschichte ertragen zu können.
»Ich muß dir also mitteilen«, fuhr mein Vater fort, »da du es nicht weißt, daß Herr de B. das Herz deiner Prinzessin erobert hat. Natürlich ist es eine Lüge, wenn er mir einreden will, daß er dich nur aus uneigennützigem Diensteifer für mich getäuscht habe. Er wäre gerade der richtige Mann, um an einen ihm Unbekannten, wie ich es bin, so edelmütige Gefühle zu verschwenden! Er hat von ihr erfahren, daß du mein Sohn bist, und um sich deiner zu entledigen, hat er mir deine Adresse und deine liederlichen Verhältnisse mitgeteilt und mir zu verstehen gegeben, daß man sich deiner wahrscheinlich nur mit Gewalt versichern könne. Er erbot sich, mir bei deiner Festnahme behilflich zu sein, und nach seinen Anweisungen und sogar auch denen deiner Geliebten hat dein Bruder dich unvorbereitet überraschen können. Bilde dir also auf deine Eroberung nicht zuviel ein! Du verstehst offenbar, schnell zu siegen, Chevalier, aber du verstehst es nicht, deine Eroberungen festzuhalten.«
Ich besaß nicht die Kraft, eine Mitteilung länger anzuhören, von der jedes Wort mein Herz durchbohrte. Ich stand auf, um aus dem Zimmer zu gehen, hatte aber kaum vier Schritte getan, als ich ohne Gefühl und Bewußtsein zu Boden sank. Durch schnellen Beistand brachte man mich wieder zu mir. Ich schlug die Augen auf, um einen Strom von Tränen zu vergießen, und öffnete meinen Mund, um die bittersten und rührendsten Klagen auszustoßen.
Mein Vater, der mich zärtlich liebte, bemühte sich nach bestem Vermögen, mich zu trösten. Ich hörte seine Worte, aber ich verstand sie nicht. Ich beschwor ihn mit gefalteten Händen, mich nach Paris zurückkehren zu lassen, um Herrn de B. niederzustechen.
»Nein«, sagte ich, »er hat nicht Manons Herz erobert, er hat ihr Gewalt angetan. Er hat sie durch ein Zaubermittel oder ein Gift verführt, er hat sie vielleicht mit roher Gewalt gezwungen. Manon liebt mich, das weiß ich gewiß! Er wird sie mit dem Dolch in der Hand bedroht und gezwungen haben, mich zu verlassen. Was wird er nicht alles versucht haben, um mir eine so reizende Geliebte zu rauben! O Gott, o Gott, könnte es denn möglich sein, daß Manon mich verraten und aufgehört hätte, mich zu lieben«?
Da ich immerfort davon sprach, nach Paris zurückzukehren, und da ich die größte Unruhe zeigte, meinen Wunsch in die Tat umzusetzen, sah mein Vater wohl, daß mich in dem Zustand meiner Erregung nichts zurückhalten könne. Er führte mich in eines der oberen Zimmer und beauftragte zwei Bediente, mich nicht aus den Augen zu lassen. Ich war außer mir, ich hätte tausendmal mein Leben geopfert, um nur eine Viertelstunde in Paris zu sein.
Ich begriff nun auch, daß man mir jetzt, nachdem ich mich so offen ausgesprochen hatte, nicht so leicht erlauben werde, das Zimmer zu verlassen. Mit den Augen maß ich die Höhe des Stockwerks, und da ich keine Möglichkeit sah, auf diesem Wege zu entfliehen, wandte ich mich vorsichtig an die beiden Bedienten.
Ich verpflichtete mich mit vielen Eidschwüren, für ihr späteres Glück zu sorgen, wenn sie mir zur Flucht verhelfen wollten. Ich drängte sie, ich schmeichelte ihnen, ich drohte ihnen, aber alle Versuche blieben erfolglos. Da verlor ich jede Hoffnung. Ich beschloß zu sterben und warf mich aufs Bett mit der Absicht, es nicht mehr lebend zu verlassen. Die Nacht und den folgenden Tag verbrachte ich in dieser Lage und verweigerte jede Nahrung, die mir gebracht wurde.
Am Nachmittag besuchte mich mein Vater. Er war gütig genug, mit den sanftesten Trostesworten meinen Schmerz zu lindern, und befahl mir ernstlich, etwas zu essen, so daß ich aus Ehrerbietung gehorchte. Einige Tage vergingen, während deren ich nur in seiner Gegenwart etwas zu mir nahm, um ihm zu gehorchen. Er fuhr fort, mir alle Gründe auseinanderzusetzen, die mich zur Vernunft bringen und mir Verachtung gegen die treulose Manon einflößen sollten. Nun ist es sicher, daß ich keine Achtung mehr für sie empfinden konnte. Wie hätte ich auch das flatterhafteste und treuloseste aller Geschöpfe achten sollen? Aber ihr Bild, ihre reizenden Züge, die ich tief in meinem Herzen bewahrte, ließen sich nicht daraus verbannen.
»Ich kann sterben«, sagte ich. »Es wäre sogar das beste nach so viel Schande und Schmerz. Aber wenn ich tausendmal stürbe, nie könnte ich die undankbare Manon vergessen.«
Mein Vater wunderte sich, mich noch immer so von dieser Leidenschaft besessen zu sehen. Er kannte mich als einen Menschen von empfindlichem Ehrgefühl und war überzeugt, daß ihr Treuebruch mir Verachtung einflößen müsse. Daher vermutete er, meine Beständigkeit finde ihre Ursache weniger in dieser besonderen Leidenschaft als vielmehr in einer allgemeinen starken Neigung zum weiblichen Geschlecht. Er hatte sich so sehr an diesen Gedanken gewöhnt, daß er ihn eines Tages aus herzlicher Zuneigung zu mir offen aussprach.
»Chevalier«, sagte er, »ich hatte bisher die Absicht, dich das Kreuz des Malteserordens tragen zu lassen, aber ich sehe jetzt ein, daß deine Neigungen andere Wege gehen. Du bist schönen Frauen sehr zugetan, und ich bin daher gesonnen, dir eine nach deinem Geschmack auszusuchen. Sage mir offen, wie du darüber denkst.«
Ich antwortete ihm, daß ich keinen Unterschied mehr zwischen den Frauen mache und daß ich sie nach dem Unglück, das mir zugestoßen sei, alle in gleichem Maße verabscheue.
»Ich suche dir eine aus«, antwortete mein Vater lächelnd, »die deiner Manon gleicht, dir aber treuer sein wird.«
»Ach«, sagte ich, »wenn Sie so gütig sein wollen, dann geben Sie mir meine Manon zurück. Seien Sie überzeugt, teurer Vater, daß sie mich nicht verraten hat. Sie ist einer so schwarzen und grausamen Niederträchtigkeit gar nicht fähig. Es ist nur der ruchlose de B., der uns alle getäuscht hat, Sie, Manon und mich. Wenn Sie wüßten, wie zärtlich und aufrichtig sie ist, wenn Sie sie kennen würden, so müßten Sie selbst sie lieben.«
»Du bist ein Kind«, erwiderte mein Vater. »Wie kannst du nach allem, was ich dir von ihr erzählt habe, noch immer so verblendet sein? Sie selbst hat dich deinem Bruder ausgeliefert. Du solltest vernünftig sein, ihren Namen vergessen und dir meine Nachsicht zunutze machen.«
Ich sah ganz klar ein, daß er recht hatte. Es war nur eine unwillkürliche Regung, die mich veranlaßt hatte, die Partei meiner Ungetreuen zu ergreifen.
»Ach«, sagte ich nach einem Augenblick des Schweigens, »es ist nur allzu wahr, daß ich das unglückselige Opfer der schmählichsten Treulosigkeit geworden bin. Ja«, fuhr ich fort, indem ich Tränen des Unwillens vergoß, »ich sehe wohl, daß ich mich wie ein Kind betrage. Bei meiner Leichtgläubigkeit ward es ihnen nicht schwer, mich zu täuschen. Aber ich weiß auch, was ich tun muß, um mich zu rächen.«
Mein Vater wollte meine Absichten erfahren.
»Ich werde nach Paris gehen«, sagte ich, »das Haus dieses Herrn de B. in Brand stecken und ihn mit der treulosen Manon lebendigen Leibes verbrennen.«
Mein Vater lachte über diesen Zornesausbruch und sorgte dafür, daß ich noch strenger in meinem Gefängnis bewacht wurde.
So verbrachte ich ganze sechs Monate und bemerkte anfangs kaum eine Änderung meiner Gesinnung. In meinen Gefühlen wechselten immer nur Haß und Liebe, Hoffnung und Verzweiflung, je nach dem Bilde, das ich mir in meiner Vorstellung von Manon machte.
Man gab mir Bücher, die mein Herz tatsächlich ein wenig beruhigten. Ich las alle meine Lieblingsdichter wieder und lernte neue kennen. Ich bekam allmählich wieder Lust zum Studieren. Sie werden sehen, wie mir dies später zustatten kam. Meine Erfahrungen in der Liebe klärten mir manche Stellen bei Horaz und Vergil auf, die mir vorher dunkel erschienen waren. Ich schrieb einen liebesatmenden Kommentar zum vierten Buch der Äneis. Er soll gedruckt werden, und ich schmeichle mir, daß er dem Publikum gefallen wird.
»Ach«, sagte ich während der Arbeit, »die treue Dido verlangte ein Herz wie das meinige.«
Tiberge besuchte mich eines Tages in meinem Gefängnis. Ich war erstaunt über die Freude, mit der er mich umarmte. Bisher hatte ich noch keine Beweise seiner Zuneigung empfangen, daß ich sie für mehr als nur eine Schülerfreundschaft, wie sie sich oft zwischen jungen Leuten von mehr oder weniger gleichem Alter bildet, hätte ansehen können. Ich fand ihn in den fünf oder sechs Monaten, die ich ihn nicht gesehen hatte, so verändert und gereift, daß mir sein Wesen und die Art seines Ausdrucks Achtung einflößten. Er sprach zu mir mehr als älterer Ratgeber denn als Schulfreund. Er beklagte meine Verirrung und beglückwünschte mich zu meiner Genesung, die er für weit fortgeschritten hielt. Schließlich ermahnte er mich, aus dieser jugendlichen Verirrung Nutzen zu ziehen und mir über die Eitelkeit aller irdischen Freuden keine Illusionen zu machen.
Ich sah ihn erstaunt an, was ihm nicht entging.
»Mein lieber Chevalier«, sagte er, »alles, was ich dir sage, ist die reine Wahrheit, zu der mich eine ernste Prüfung bekehrt hat. Ich hatte eine ebenso starke Neigung zur Sinnlichkeit wie du, aber der Himmel hat mir zur gleichen Zeit auch die Liebe zur Tugend eingegeben. Ich habe mich meiner Vernunft bedient, um die Früchte der einen gegen die andere abzuwägen, und es ist mir nicht schwergefallen, den Unterschied zu erkennen. Die Gnade des Himmels kam meinen Bemühungen zu Hilfe, und mich durchdrang die Verachtung der Welt. Begreifst du nun, was mich noch zurückhält und was mich hindert, die Einsamkeit aufzusuchen? Es ist einzig meine innige Freundschaft, die ich für dich hege. Ich kenne die Vortrefflichkeit deines Herzens und Geistes, es gibt nichts Gutes, dessen du nicht fähig wärest. Das Gift des Vergnügens hat dich vom rechten Wege abgebracht. Welch ein Verlust für die Tugend! Deine Flucht aus Amiens hat mir einen solchen Schmerz bereitet, daß ich seitdem keine frohe Stunde mehr gekannt habe. Die Schritte, die ich deswegen unternommen habe, mögen dich selber urteilen lassen.«
Er erzählte mir nun, wie er zu Pferde gestiegen und mir gefolgt war, als er bemerkte, daß ich ihn getäuscht und mit meiner Geliebten die Flucht ergriffen hatte. Aber bei meinem Vorsprung von vier oder fünf Stunden war es ihm unmöglich gewesen, mich einzuholen. Trotzdem traf er eine halbe Stunde nach meiner Abreise in Saint-Denis ein, und da er nicht zweifelte, daß ich mich in Paris aufhielt, hatte er dort sechs Wochen mit vergeblichen Nachforschungen zugebracht. Er war überall hingegangen, wo ich mich nur hätte aufhalten können, und eines Tages erkannte er meine Geliebte im Theater. Sie trug einen so glänzenden Schmuck, daß er sich sagte, sie müsse diesen Reichtum einem neuen Liebhaber verdanken. Er folgte ihrem Wagen bis zu ihrem Hause und erfuhr von einem Bedienten, sie werde von einem Herrn de B. ausgehalten.
»Ich gab mich damit nicht zufrieden«, fuhr Tiberge fort, »sondern kam am nächsten Tag wieder, um aus ihrem eigenen Munde zu erfahren, was aus dir geworden sei. Als sie mich von dir reden hörte, ließ sie mich einfach stehen, und ich mußte in die Provinz zurückkehren, ohne eine Nachricht über dich erhalten zu haben. Dort erfuhr ich dann dein Abenteuer und hörte, in welch tiefe Niedergeschlagenheit es dich versetzt hat. Aber ich wollte dich nicht besuchen, ehe ich dich einigermaßen beruhigt glaubte.«
»Du hast also Manon gesehen«? sagte ich seufzend. »Du bist glücklicher als ich, der ich verdammt bin, sie niemals wiederzusehen.«
Er hielt mir diesen Seufzer als Zeichen meiner noch nicht überwundenen Schwäche vor. Dann aber machte er so schmeichelhafte Bemerkungen über meinen guten Charakter und meine Geistesgaben, daß in mir von seinem ersten Besuch an der Wunsch erwachte, gleich ihm auf alle Freuden der Welt zu verzichten und in den geistlichen Stand zu treten.
Dieser Gedanke gefiel mir so gut, daß ich, sobald ich wieder allein war, mich mit nichts anderem beschäftigte. Ich erinnerte mich der Worte des Bischofs von Amiens, der mir den gleichen Rat gegeben und das glücklichste Schicksal prophezeit hatte, wenn ich ihm folgen würde. »Ich werde ein weises und christliches Leben führen«, sagte ich mir. »Ich werde mich mit den Wissenschaften und der Religion beschäftigen und daher gar nicht dazu kommen, an die gefährlichen Freuden der Liebe zu denken. Die Ideale der großen Menge werde ich verachten, und da ich sicher bin, daß mein Herz nur das begehren wird, was es auch verehren darf, so werde ich ebensowenig Sorgen wie Wünsche haben.«
In dieser Art malte ich mir schon im voraus ein ruhiges und einsames Leben aus. Ich dachte mir ein abgelegenes Haus mit einem kleinen Wäldchen und einem stillen Bach am Rande des Gartens, eine sorgsam ausgewählte Bibliothek, eine kleine Zahl tugendhafter und verständiger Freunde, einen guten, aber einfach und mäßig bestellten Tisch. Dazu noch ein Briefwechsel mit einem Freund in Paris, der mich mit Neuigkeiten versorgen sollte, weniger um meine Neugier zu befriedigen, als um mich über das törichte Treiben der Menschen zu unterrichten.
Ein solcher Lebensplan entsprach durchaus meinen Neigungen. Wenn ich aber meinen weisen Vorsatz ganz bis zu Ende gedacht hatte, dann fühlte ich, daß mein Herz doch noch einige Ansprüche geltend machte und daß, wenn ich in dieser Einsamkeit wunschlos glücklich sein wollte, ich diese mit Manon teilen müsse.
Da aber Tiberge fortfuhr, mich häufig zu besuchen, um mich in dem Entschluß zu bestärken, den er mir eingeflößt hatte, ergriff ich eine Gelegenheit, ihn auch meinem Vater zu eröffnen. Er erklärte mir, es sei sein Grundsatz, seinen Kindern bei der Wahl ihres Berufes freie Hand zu lassen, und wie ich auch über mich verfügen wolle – er behalte sich nur das Recht vor, mich mit seinem gutem Rat zu unterstützen. Er ließ mir auch sehr weise Lehren zuteil werden, die mir meine Entscheidung nicht verleiden, sondern vielmehr mir die dazu dienlichen Erfahrungen übermitteln sollten.
Der Beginn des neuen Schuljahres nahte. Ich kam mit Tiberge überein, gemeinsam das Seminar von Saint-Sulpice zu beziehen, wo er seine theologischen Studien zu beenden und ich die meinen zu beginnen gedachte. Durch seine bisherigen Verdienste, die dem Bischof der Diözese bekannt waren, erhielt er von diesem Prälaten noch vor unserer Abreise eine gute Pfründe.
Mein Vater war überzeugt, daß ich von meiner Leidenschaft völlig geheilt sei, und machte keine Schwierigkeiten, mich abreisen zu lassen. Wir kamen in Paris an, wo ich das Malteserkreuz mit dem geistlichen Gewand und den Namen Chevalier mit dem des Abbé des Grieux vertauschte. Ich widmete mich dem Studium mit einem solchen Eifer, daß ich in wenigen Monaten außerordentliche Fortschritte machte. Ich verbrachte sogar einen Teil der Nacht damit und verlor am Tage keinen Augenblick.
Mein Ruf war so glänzend, daß man mich bereits zu den Würden beglückwünschte, die mir sicher waren, und daß man meinen Namen ohne mein Zutun auf die Pfründenliste setzte. Auch vergaß ich die Frömmigkeit nicht und beteiligte mich mit Eifer an allen religiösen Übungen. Tiberge, der dies alles als sein Werk betrachtete, war entzückt.
Ich glaubte mich ganz befreit von den Schwächen der Liebe. Es schien mir, als zöge ich das Lesen einer Seite des heiligen Augustinus oder eine Viertelstunde christlicher Meditation allen Vergnügungen der Sinne vor, ohne die auszunehmen, die mir Manon bereiten konnte. Und doch stürzte mich ein einziger unglückseliger Augenblick in den Abgrund, und mein Fall war um so endgültiger, als ich mich plötzlich wieder in derselben Tiefe befand, aus der ich mich kaum erhoben hatte.
Ich hatte fast schon ein Jahr in Paris zugebracht, ohne mich nach Manon zu erkundigen. Zuerst hatte mich diese Selbstverleugnung viel Überwindung gekostet, aber dank den stets gegenwärtigen Ratschlägen von Tiberge und meinen eigenen Überlegungen gelang es mir doch, den Sieg davonzutragen. Die letzten Monate waren so ruhig verlaufen, daß ich glaubte, ich hätte dieses reizende und treulose Geschöpf für immer vergessen.
Die Zeit kam, da ich in der theologischen Fakultät ein öffentliches Examen zu bestehen hatte, und ich ließ mehrere Personen von Ansehen bitten, mir dabei die Ehre ihrer Anwesenheit zuteil werden zu lassen. Mein Name drang in alle Viertel von Paris und auch zu den Ohren meiner Ungetreuen. Sie erkannte ihn hinter dem Abbé-Titel nicht mit Sicherheit wieder, aber eine gewisse Neugierde oder vielleicht auch Reue über ihren Verrat (ich bin mir nie darüber klargeworden, welches von beiden Gefühlen es war) weckten ihr Interesse an einem dem meinen so ähnlichen Namen. So kam sie mit einigen anderen Damen in die Sorbonne, wohnte meinem Examen bei und hatte zweifellos Mühe, mich wiederzuerkennen.
Ich selbst hatte nicht die geringste Ahnung von ihrer Anwesenheit, denn es gibt ja bekanntlich an diesem Ort besondere, mit einem Holzgitter ausgestattete Logen für Damen. Ich kehrte mit Ruhm bedeckt und mit Komplimenten überhäuft kurz nach Saint-Sulpice zurück. Es war sechs Uhr abends, als man mir nach meiner Rückkehr mitteilte, eine Dame wünsche mich zu sehen. Ich begab mich sogleich ins Sprechzimmer. O Gott, welch eine überraschende Erscheinung! Es war Manon!
Sie war es wirklich, nur schöner und strahlender, als ich sie jemals gesehen hatte. Sie war gerade achtzehn Jahre alt, und ihre Reize übertrafen jede Beschreibung. Ihr feines, süßes und gewinnendes Wesen war das Bild der Liebe selbst.
Bei ihrem Anblick blieb ich sprachlos stehen, und da ich nicht erraten konnte, was sie mit ihrem Besuch beabsichtigte, wartete ich bebend und mit gesenktem Blick auf ihre Erklärung. Eine Zeitlang war sie ebenso verwirrt wie ich; da sie aber sah, daß ich fortfuhr zu schweigen, hob sie die Hand vor ihre Augen, um einige Tränen zu verbergen. Mit schüchterner Stimme bekannte sie mir, daß ihre Untreue meinen Haß verdiene. Aber wenn es wahr sei, daß ich jemals auch nur ein wenig Liebe für sie empfunden habe, so sei es doch sehr hart von mir gewesen, zwei Jahre vergehen zu lassen, ohne mich nach ihrem Schicksal zu erkundigen. Und es sei auch ferner eine Grausamkeit, jetzt nicht einmal ein Wort an sie zu richten, da ich sie in einem solchen Zustand vor mir sähe. Ihre Worte brachten mich in eine Verwirrung, die sich nicht ausdrücken läßt.
Sie setzte sich, während ich halb abgewandt stehenblieb und nicht wagte, sie anzusehen. Ein paarmal begann ich eine Antwort, hatte aber nicht die Kraft, mich auszusprechen. Endlich überwand ich mich.
»Treulose Manon!« rief ich schmerzbewegt. »O du Treulose, du Treulose!«
Unter heißen Tränen wiederholte sie mir, daß sie ihre Treulosigkeit durchaus nicht rechtfertigen wolle.
»Aber was wollen Sie dann«? rief ich wieder.
»Ich will sterben«, antwortete sie, »wenn du mir nicht dein Herz wiedergibst, ohne das ich nicht leben kann.«
»Verlange mein Leben, Ungetreue!« erwiderte ich unter Tränen, die ich vergebens zurückzuhalten suchte. »Verlange mein Leben, was das einzige ist, das ich dir opfern kann. Mein Herz gehört dir immer noch.«
Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, als sie sich leidenschaftlich auf mich stürzte, um mich zu umarmen. Sie überhäufte mich mit tausend glühenden Zärtlichkeiten. Sie nannte mich mit allen Namen, die Liebe nur ersinnen kann.
Ich blieb noch zurückhaltend. Welch ein Abgrund lag zwischen dem ruhigen Dasein, in dem ich mich befunden hatte, und der stürmischen Erregung, die von mir Besitz ergriff! Ich war tief erschrocken.
Wir setzten uns nebeneinander, und ich faßte ihre Hände. »Ach, Manon«, sagte ich, indem ich sie traurig ansah, »ich hatte nicht den schändlichen Verrat erwartet, mit dem du mir meine Liebe vergolten hast. Es war nicht schwer für dich, ein Herz zu täuschen, dessen unumschränkte Herrscherin du warst und das sein ganzes Glück darin sah, dir zu gefallen und zu gehorchen. Sage mir jetzt, ob du je einen Menschen getroffen hast, der so zärtlich und ergeben war. Nein, nein, die Natur schafft kein zweitesmal ein solches Herz. Sage mir wenigstens, ob du es zuweilen entbehrt hast. Womit soll ich deine neuen Gefühle erklären, die dich heute hierherführen, um mich zu trösten? Ich sehe wohl, daß du reizender bist als je; aber bei allen Qualen, die ich um dich erlitten habe, schöne Manon, sage mir, ob du mir in Zukunft treu sein wirst.«
Sie antwortete mir mit so rührenden Beteuerungen ihrer Reue, sie versicherte mir und beschwor ihre Treue so überzeugend, daß sie mich unaussprechlich rührte.
»Teure Manon«, sagte ich mit einem lästerlichen Gemisch von Ausdrücken der Liebe und der religiösen Ergriffenheit, »du bist zu anbetungswürdig für ein sterbliches Wesen. Ich fühle, wie mein Herz von einem unwiderstehlichen Entzücken hingerissen wird. Alles, was man in Saint-Sulpice von der Freiheit sagt, ist ein Wahn. Ich sehe voraus, ich werde dir mein Glück und meinen Ruf zum Opfer bringen. Ich lese mein Schicksal in deinen schönen Augen. Aber gibt es einen Verlust, über den mich deine Liebe nicht trösten könnte? Die Gaben des Glücks locken mich nicht, der Ruhm erscheint mir wie ein Rauch. Meine Pläne für ein geistliches Leben waren törichte Einbildung. Alles, was ich außer dir erhoffte, ist verächtlich und wertlos, denn es kann sich in meinem Herzen nicht einen einzigen Augenblick gegen einen deiner süßen Blicke behaupten.«
Ich wollte wissen, auf welche Art sie sich von de B. hatte verführen lassen, indem ich ihr zugleich volle Verzeihung ihres Unrechts versprach.
Sie erzählte mir, daß er sie am Fenster gesehen und sich in sie verliebt habe. Er habe ihr seine Erklärung als Steuerpächter gemacht, indem er ihr in einem Briefe mitteilte, daß die Bezahlung ihren Gunstbeweisen entsprechen werde. Sie habe sich ihm hingegeben in der Absicht, ihm eine beträchtliche Summe abzugewinnen, die uns ein bequemes Leben ermöglichen sollte. Er hatte sie durch großartige Versprechungen so geblendet, daß sie sich allmählich überreden ließ. Ihre Reue könne ich schon an dem Schmerz ermessen, den sie mir am Abend unserer Trennung zu erkennen gegeben habe. Und trotz seiner Freigebigkeit habe sie sich niemals glücklich gefühlt, nicht nur, weil sie bei ihm, wie sie sich ausdrückte, das Zartgefühl meiner Empfindungen und die Herzlichkeit meines Wesens vermißte, sondern auch, weil sie inmitten aller Vergnügungen, die sie ihm verdankte, im Grunde ihres Herzens das Andenken meiner Liebe bewahrt und Reue über ihre Treulosigkeit empfunden habe.
Sie sprach von Tiberge und der ungeheuren Erschütterung, in die sie sein Besuch versetzt hatte.
Dann erzählte sie mir, auf welche Weise sie von meinem Aufenthalt in Paris, von meinem Berufswechsel und von meiner Prüfung an der Sorbonne erfahren habe. Sie versicherte mir, sie sei während der Disputation so außer sich gewesen, daß sie die größte Mühe gehabt habe, nicht nur ihre Tränen, sondern auch ihre Seufzer und den Aufschrei ihres Herzens zurückzuhalten. Schließlich habe sie, wie sie mir sagte, als letzte den Ort verlassen, um ihre Verwirrung zu verbergen, und sei dann, einer Eingebung ihres Herzens und dem Ungestüm ihres Verlangens folgend, geradewegs in das Seminar gegangen mit dem Vorsatz, hier zu sterben, wenn ich ihr nicht hätte verzeihen wollen.
Welcher Barbar hätte sich durch eine so aufrichtige und zärtliche Liebe nicht rühren lassen! Ich fühlte in diesem Augenblick, daß ich für Manon alle Bistümer der Christenheit opfern würde. Ich fragte sie, wie sich ihrer Ansicht nach unsere Beziehungen gestalten sollten. Sie sagte, ich müsse vor allem das Seminar verlassen, das Weitere könnten wir dann an einem sicheren Ort besprechen.
Ich stimmte ihren Wünschen ohne Widerrede zu, und sie ging zu ihrem Wagen zurück, um mich an der nächsten Straßenecke zu erwarten. Einen Augenblick später schlich ich mich, vom Pförtner unbemerkt, hinaus. Ich setzte mich zu ihr, und wir fuhren auf den Trödelmarkt, wo ich mir Tressen, Hut und Degen kaufte. Manon bezahlte, da ich keinen Sou in der Tasche hatte. Aus Furcht, irgendein Hindernis könnte sich meiner Flucht aus Saint-Sulpice entgegenstellen, hatte sie mir nicht erlaubt, noch einmal in mein Zimmer zurückzugehen, um mein Geld zu holen. Der Betrag wäre übrigens nicht hoch gewesen, sie aber besaß dank der Freigebigkeit des Herrn de B. genug Geld, um das, was ich im Stich lassen mußte, leicht zu verschmerzen.
Wir besprachen beim Trödler, was weiter zu tun sei, und um mir das Opfer, das sie mir durch ihren Bruch mit de B. brachte, wertvoller erscheinen zu lassen, beschloß sie, nicht die geringste Rücksicht auf ihn zu nehmen.
»Ich will ihm die Möbel lassen«, sagte sie. »Sie gehören ihm. Aber ich behalte, wie es recht und billig ist, meinen Schmuck und die sechzigtausend Franken, die ich in den zwei Jahren von ihm erhalten habe. Ich habe ihm keine Rechte über mich gegeben«, fügte sie hinzu. »Wir können also unbesorgt in Paris bleiben und eine bequeme Wohnung mieten, in der wir glücklich sein werden.«
Ich hielt ihr vor, wenn sie auch keine Gefahr laufe, so drohe mir um so mehr, früher oder später erkannt zu werden, und dann hätte ich das gleiche Unglück zu erwarten, das schon einmal über mich hereingebrochen sei. Sie gab mir zu verstehen, daß sie sich nicht gern von Paris trenne. Ich wollte sie nicht kränken und war daher bereit, mich ihr zuliebe jeder Gefahr der Welt auszusetzen. Schließlich aber fanden wir einen vernünftigen Ausweg und mieteten in einem Dorf bei Paris ein Haus. Von dort aus konnten wir bequem in die Stadt gelangen, sooft es ein Vergnügen oder eine Besorgung erforderten. Wir wählten Chaillot, das in der Nähe liegt. Manon fuhr in ihre Wohnung zurück und ich an den Eingang der Tuilerien, um sie dort zu erwarten.
Eine Stunde später kam sie in einer Droschke mit ihrem Mädchen und einigen Koffern zurück, die ihre Kleider und alles, was sie an Kostbarkeiten besaß, enthielten. Ohne uns weiter zu verweilen, fuhren wir nach Chaillot. Die erste Nacht verbrachten wir in einem Gasthof, um uns anderntags mit Muße ein Haus oder wenigstens eine bequeme Wohnung zu suchen. Wir fanden schon am nächsten Tag etwas nach unserem Geschmack.
Mein Glück erschien mir anfangs unerschütterlich gegründet zu sein. Manon war die Sanftmut und Liebenswürdigkeit selbst. Sie erwies mir so zärtliche Aufmerksamkeiten, daß ich mich für alle ausgestandenen Leiden reichlich entschädigt glaubte. Da wir beide etwas Erfahrung erlangt hatten, so berieten wir gemeinsam über den Umfang unseres Vermögens. Sechzigtausend Franken, die Grundlage unseres Reichtums, waren keine Summe, die für ein ganzes Leben ausreicht. Auch waren wir beide nicht entsprechend veranlagt, unsere Ausgaben einzuschränken. Sparsamkeit war weder Manons noch meine Haupttugend. Ich schlug ihr folgenden Plan vor: »Mit sechzigtausend Franken«, sagte ich, »können wir etwa zehn Jahre auskommen. Wir brauchen, wenn wir weiterhin in Chaillot leben, zweitausend Taler im Jahr. Wir führen ein anständiges, wenn auch einfaches Leben, und unsere größten Ausgaben werden das Halten eines Wagens und der Besuch des Theaters sein. Wir müssen uns darauf einstellen. Du liebst die Oper, und wir besuchen sie zweimal in der Woche. Was das Spiel anbetrifft, so halten wir uns in Grenzen, damit unser Verlust zwei Pistolen niemals überschreitet. Es ist selbstverständlich, daß sich in einem Zeitraum von zehn Jahren in einer Familie Veränderungen einstellen. Mein Vater ist nicht mehr der jüngste und kann sterben. In diesem Fall werde ich ein Vermögen erben, das uns weiterer Sorgen enthebt.«
Diese Regelung wäre noch nicht die größte Torheit meines Lebens gewesen, wenn wir nur die Vernunft besessen hätten, uns danach zu richten. Aber unsere Vorsätze hielten kaum länger als einen Monat vor. Manon hatte einen leidenschaftlichen Hang zum Vergnügen, und ich betete sie an. Fast jeder Augenblick veranlaßte uns zu neuen Geldausgaben, und weit entfernt, die Summen zu bedauern, die sie oft vergeudete, ging ich sogar voran, ihr alles zu verschaffen, was ihr Vergnügen machen konnte. Sogar unsere Wohnung in Chaillot begann ihr lästig zu werden.
Der Winter nahte, und alles zog sich in die Stadt zurück, das Land verödete. Sie schlug mir vor, wieder eine Wohnung in Paris zu mieten. Ich stimmte zwar nicht zu, um ihr jedoch in gewissem Maße entgegenzukommen, sagte ich, wir könnten ja ein möbliertes Zimmer mieten, um dort die Nacht zu verbringen, wenn wir die Gesellschaft, die wir jede Woche mehrmals besuchten, zu spät verließen. Denn gerade die Unbequemlichkeit, so spät nach Chaillot zurückzufahren, war der Vorwand, weshalb sie fortziehen wollte. Wie hielten uns also zwei Wohnungen, eine in der Stadt und eine auf dem Lande.
Dieser Wechsel aber sollte unsere Verhältnisse bald vollständig in Unordnung bringen, denn er führte zu zwei Ereignissen, die unseren Untergang beschleunigten. Manon hatte einen Bruder, der bei der Leibgarde diente und unglücklicherweise in Paris in derselben Straße wohnte wie wir. Eines Morgens erkannte er seine Schwester, als sie an ihrem Fenster stand. Sofort eilte er in unsere Wohnung. Er war ein Rohling ohne Grundsätze. Er trat fluchend in unser Zimmer, und da er einiges von den Abenteuern seiner Schwester wußte, überhäufte er sie mit Schmähungen und Vorwürfen.
Ich war einen Augenblick vorher ausgegangen, zweifellos zum Glück für ihn wie für mich, denn ich war nicht der Mann, der eine Beleidigung eingesteckt hätte. Ich kam erst zurück, als er wieder fort war, erriet aber sogleich an Manons Niedergeschlagenheit, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen war. Sie erzählte mir den peinlichen Auftritt, den sie erlebt hatte, und was sie an brutalen Drohungen von ihrem Bruder habe hören müssen. Ich erregte mich darüber so sehr, daß ich ihn unverzüglich aufgesucht hätte, um Genugtuung zu fordern, wenn sie mich nicht durch ihre Tränen zurückgehalten hätte.
Während ich noch mit ihr über den Vorfall sprach, kehrte der Gardist unangemeldet wieder in unser Zimmer zurück. Ich hätte ihn nicht so höflich empfangen, wie ich es tat, wenn mir sein Charakter bekannt gewesen wäre. Aber nachdem wir uns höflich begrüßt hatten, benutzte er die Gelegenheit, sich bei Manon wegen seiner Heftigkeit zu entschuldigen. Er habe geglaubt, sie führe ein Leben in ungeordneten Verhältnissen, was seinen Zorn verdiene. Jetzt aber habe er sich bei einem unserer Bediensteten erkundigt und über mich so vorteilhafte Auskunft erhalten, daß er den Wunsch hege, mit uns im besten Einvernehmen zu leben.
Obgleich diese Information bei einem meiner Diener seltsam und beleidigend war, nahm ich doch sein Lob mit Höflichkeit entgegen, weil ich glaubte, Manon damit einen Gefallen zu erweisen. Sie schien entzückt zu sein über seine versöhnliche Stimmung, und wir luden ihn zum Essen ein.
In kurzer Zeit fühlte er sich so heimisch, daß er uns unbedingt Gesellschaft leisten wollte, als wir von unserer Rückkehr nach Chaillot sprachen. Wir mußten ihm wohl oder übel einen Platz in unserem Wagen einräumen.
Er ergriff ganz einfach Besitz von uns. Bald gewöhnte er sich daran, uns so oft zu besuchen, daß er bei uns wie zu Hause war und sich gewissermaßen zum Herrn über unser Eigentum erhob. Mich nannte er seinen Bruder, und unter dem Vorwand brüderlicher Rechte erlaubte er sich, alle seine Freunde in unser Haus in Chaillot einzuladen und auf unsere Kosten zu bewirten. Er kleidete sich auf unsere Rechnung prächtig ein und veranlaßte uns sogar, seine Schulden zu bezahlen. Um Manon nicht zu kränken, schloß ich vor dieser Tyrannei die Augen und tat so, als bemerkte ich nicht, wie er ihr von Zeit zu Zeit beträchtliche Summen ablockte. Er war ein großer Spieler, aber ehrlich genug, ihr einen Teil zurückzuzahlen, wenn ihn das Glück begünstigte. Doch unser Vermögen war zu gering, um längere Zeit so großen Anforderungen gewachsen zu sein.
Ich war schon im Begriff, uns durch eine deutliche Erklärung von seiner Zudringlichkeit zu befreien, als ein verhängnisvolles Ereignis mir diese Mühe ersparte und ein Unheil heraufbeschwor, das uns rettungslos in den Abgrund stürzte.
Wir hatten eines Tages, wie das häufig geschah, in Paris übernachtet, als mich am nächsten Morgen die Dienerin, die bei solchen Gelegenheiten allein in Chaillot blieb, benachrichtigte, daß während der Nacht in meinem Hause ein Brand ausgebrochen sei, den man nur mit Mühe habe löschen können. Ich fragte sie, ob unsere Sachen Schaden erlitten hätten, und erhielt die Antwort, die vielen fremden Leute, die Hilfe leisteten, hätten eine solche Verwirrung angerichtet, daß sie für nichts bürgen könne. Mit Schrecken dachte ich an unser Geld, das in einer kleinen Kassette verschlossen war, und begab mich sofort nach Chaillot. Meine Eile war umsonst, die Kassette war verschwunden.
Jetzt lernte ich, daß man auch Geld lieben kann, ohne ein Geizhals zu sein. Der Verlust erfüllte mich mit so heftigem Schmerz, daß ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Ich begriff mit einem Schlag, welch neuem Unheil ich entgegenging und daß der Mangel dabei nicht das Schlimmste war. Ich kannte Manon und hatte nur zu gut erfahren, daß im Unglück kein Verlaß auf sie war, wie treu und anhänglich sie auch im Glück sein mochte. Sie liebte Wohlleben und Vergnügen zu sehr, als daß sie mir sie hätte opfern können.
»Ich werde sie verlieren!« rief ich aus. »Unglücklicher Chevalier, du wirst also wieder verlieren, was du liebst!« Dieser Gedanke versetzte mich in eine so schreckliche Bestürzung, daß ich einige Augenblicke schwankte, ob es nicht besser sei, allen meinen Leiden durch den Tod ein Ende zu machen. Ich bewahrte jedoch noch so viel Geistesgegenwart, zuerst zu prüfen, ob mir gar keine Hilfsmittel blieben. Der Himmel gab mir auch einen Gedanken ein, der meiner Verzweiflung Halt gebot. Ich hielt es nicht für unmöglich, Manon unseren Verlust zu verschweigen und durch Fleiß und Zufallsgunst so viel aufzubringen, daß sie keinen Mangel verspürte.
»Ich habe ausgerechnet«, sagte ich, um mich zu trösten, »daß die sechzigtausend Franken uns etwa zehn Jahre reichen würden. Nehmen wir an, die zehn Jahre seien verflossen, ohne daß die Veränderung in meiner Familie, auf die ich gehofft habe, eingetreten wäre. Welchen Entschluß würde ich dann fassen? Ich weiß es nicht, aber was hindert mich, das, was ich dann tun würde, schon heute zu tun? Wie viele Menschen wohnen in Paris, die weder meine Bildung noch meine natürlichen Anlagen haben und die doch von den ihnen verliehenen Talenten einigermaßen leben!«
Ich dachte über die verschiedenen Möglichkeiten nach. Die Vorsehung, so urteilte ich, hat alles sehr weise eingerichtet. Die Mehrzahl der Reichen und Großen besteht aus Dummköpfen. Ihre Torheit ist für die Armen stets eine ausgezeichnete Einnahmequelle.
Diese Erwägungen machten mich wieder etwas zuversichtlicher und gelassener. Ich beschloß, zuerst Herrn Lescaut, Manons Bruder, zu Rate zu ziehen. Er kannte Paris sehr gut, und ich hatte nur zu oft Gelegenheit gehabt, zu beobachten, daß es weder sein Vermögen noch der Sold des Königs war, die seine Haupteinkünfte ausmachten. Ich besaß kaum noch zwanzig Pistolen, die sich zum Glück in meiner Tasche befunden hatten. Ich zeigte ihm meine Börse, erzählte ihm mein Unglück und meine Besorgnisse und fragte ihn, ob es für mich noch einen ändern Ausweg gebe, als vor Hunger zu sterben oder mir eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Er antwortete mir, sich das Leben zu nehmen, sei der Ausweg für Toren. Was das Verhungern angehe, so müßten sich viele Leute von Geist dazu entschließen, wenn sie nicht von ihren Talenten Gebrauch machten. Ich solle nur selbst prüfen, welche Fähigkeiten mir zustatten kommen könnten. Jedenfalls versicherte er mich seiner Hilfe und seines Rats.
»Das klingt alles sehr unbestimmt, Herr Lescaut«, sagte ich. »Meine Lage erfordert umgehende Hilfe, denn was soll ich Manon sagen«?
»Manon macht Ihnen Sorge«? fragte er. »Gerade sie bietet Ihnen jederzeit die Möglichkeit, sich aller Sorgen zu entledigen, wenn Sie nur wollen. Ein Mädchen wie Manon könnte Sie, sich selbst und mich ernähren.«
Er schnitt mir die Antwort ab, die er für diese Unverschämtheit verdient hätte, indem er fortfuhr, er garantiere mir, daß wir schon an diesem Abend tausend Taler unter uns teilen könnten, wenn ich nur seinem Rat folgen wolle. Er kenne nämlich einen Herrn von großem Ansehen, der in allem, was sein Vergnügen angehe, so freigebig sei, daß es ihm sicherlich auf tausend Taler nicht ankommen werde, wenn er dafür die Gunst eines Mädchens wie Manon erlangen könne.
Ich unterbrach ihn mit den Worten: »Ich hatte von Ihnen eine bessere Meinung, und ich hielt die Beweggründe Ihrer Freundschaft zu mir für edler, als jetzt aus Ihren Äußerungen zu entnehmen ist.«
Er gestand mir schamlos ein, daß er nie anders gedacht habe, und da seine Schwester sich einmal über die Gesetze ihres Geschlechts hinweggesetzt, wenn auch zugunsten des Mannes, den sie am meisten liebe, so habe er sich nur in der Hoffnung mit ihr ausgesöhnt, aus ihrem Lebenswandel Nutzen zu ziehen. Nun konnte ich leicht erkennen, wie er uns bisher zum Narren gehalten hatte. Ich unterdrückte den Unwillen über seine Worte, da ich nun einmal auf ihn angewiesen war, und zwang mich lachend zu der Erwiderung, daß sein Rat die letzte Aushilfe im äußersten Notfall sei und ob er vorerst keinen anderen Weg sähe.
Er schlug nur vor, meine Jugend und mein vorteilhaftes Aussehen zu benutzen, um mich mit einer alten und freigebigen Dame in Verbindung zu setzen. Aber auch dieses Mittel war nicht nach meinem Geschmack, denn ich wäre dadurch zu einer Untreue an Manon gezwungen worden.
Ich sprach zu ihm vom Spiel, das ich für das leichteste und meiner Stellung angemessenste Mittel zur Rettung hielt. Er meinte, das Spiel sei in der Tat ein Rettungsmittel, aber es gebe da noch mancherlei zu bedenken. Denn mit den gewöhnlichen Chancen zu spielen, das hieße meinen Zusammenbruch nur noch zu beschleunigen. Wenn man aber allein und ohne Helfershelfer die kleinen Kunstgriffe anwende, mit denen ein geschickter Mann seinem Glück nachhelfe, so sei das ein gefährliches Handwerk. Allerdings gebe es eine dritte Möglichkeit, die des Kompaniegeschäfts. Er fürchte aber, bei meiner Jugend werden seine Kameraden mich schwerlich für fähig halten, ihrem Bunde zu nützen. Trotzdem stellte er mir seine Fürsprache in Aussicht und bot mir sogar, was ich nicht von ihm erwartet hatte, einiges Geld für meine dringendsten Bedürfnisse an. Ich bat ihn nur um den Gefallen, Manon von dem erlittenen Verlust und von unserem Gespräch nichts zu erzählen.
Ich verließ ihn mißvergnügter, als ich zu ihm gekommen war. Ich bereute sogar, ihm mein Geheimnis anvertraut zu haben, denn er hatte nichts für mich getan, was ich nicht auch ohne diese Eröffnung hätte erreichen können, und mich überkam eine tödliche Angst, er werde sein gegebenes Versprechen, Manon gegenüber nichts verlauten zu lassen, nicht einhalten. Ich hatte auch durch die Offenbarung seiner Gesinnung allen Grund, zu befürchten, er werde, um besseren Nutzen aus ihr zu ziehen, wie er sich ausgedrückt hatte, sie meinen Händen entreißen oder ihr wenigstens raten, mich zu verlassen, um sich mit einem reicheren und glücklicheren Liebhaber zu verbinden. Ich machte mir darüber tausend Gedanken, die nur dazu dienten, mich zu quälen und die Verzweiflung zu erneuern, in der ich mich am Morgen befunden hatte.
Wiederholt dachte ich an die Möglichkeit, an meinen Vater zu schreiben und eine neue Bekehrung zu heucheln, um dadurch seine Hilfe zu erlangen. Aber ich erinnerte mich, daß er mich bei aller Güte wegen meines ersten Vergehens sechs Monate in engem Gewahrsam gehalten hatte. Sicherlich würde er mich nach dem Ärgernis, das meine Flucht aus Saint-Sulpice verursacht haben mußte, diesmal noch viel strenger behandeln.
Schließlich kam mir inmitten meiner verwirrten Gedanken ein Einfall, der mich plötzlich beruhigte, und ich wunderte mich nur, daß ich nicht früher daran gedacht hatte. Ich wollte mich an meinen Freund Tiberge wenden, bei dem ich überzeugt sein durfte, immer die gleiche Treue und Freundschaft anzutreffen.
Ich hielt es für eine göttliche Eingebung, daß ich mich gerade jetzt an Tiberge erinnert hatte, und beschloß, ihn noch am gleichen Tag aufzusuchen. Ich kehrte in die Wohnung zurück, um ihm ein paar Zeilen zu schreiben und ihm einen für unsere Zusammenkunft geeigneten Ort zu nennen. Ich bat um seine Verschwiegenheit und Vorsicht als wichtigsten Dienst, den er mir in meiner augenblicklichen Lage erweisen könne.
Die Hoffnung, ihn zu sehen, machte mir eine solche Freude, daß alle Spuren des Schmerzes ausgelöscht waren, die Manon sonst in meinem Gesicht bemerkt hätte. Ich sprach zu ihr von unserem Unglück in Chaillot wie von einer Kleinigkeit, über die sie sich nicht zu beunruhigen brauche. Und da Paris ohnehin der Ort war, wo sie sich am liebsten aufhielt, war es ihr nur recht, als ich ihr sagte, wir wollten am besten so lange hier bleiben, bis der kleine Feuerschaden in Chaillot wieder beseitigt sei. Eine Stunde später erhielt ich Antwort von Tiberge, der mir versprach, sich an dem bezeichneten Ort einzufinden. Meine Ungeduld trieb mich dahin, obgleich ich mich ein wenig schämte, einem Freund unter die Augen zu treten, dessen bloße Gegenwart ein Vorwurf für meine Verirrung war. Aber mein Glaube an seine Herzensgüte und der Gedanke an Manons Wohl hielten meinen Mut aufrecht.
Ich hatte ihn gebeten, sich im Garten des Palais Royal einzufinden. Er war schon vor mir da und eilte, sobald er mich bemerkt hatte, mir entgegen, um mich zu umarmen. Lange Zeit hielt er mich an seine Brust gedrückt, und ich fühlte, wie seine Tränen mein Gesicht benetzten. Ich gestand ihm die Beschämung, mit der ich vor ihm stand, in meinem Herzen das brennende Gefühl meiner Undankbarkeit. Vor allem aber beschwor ich ihn, mir zu sagen, ob ich ihn noch als Freund betrachten dürfe, nachdem ich seine Achtung und Zuneigung verspielt.
Er antwortete mir im zärtlichsten Ton, nichts auf der Welt könne seine Freundschaft erschüttern. Gerade mein Unglück und, wenn ich ihm das zu sagen erlaube, meine Fehler und Ausschweifungen hätten seine Zuneigung zu mir nur erhöht. Aber dieser Zuneigung sei auch bitterster Schmerz beigemischt, wie man ihn für einen geliebten Menschen empfinde, der seinem Untergang entgegengehe, ohne daß man ihm helfen könne.
Wir setzten uns auf eine Bank. »Ach«, sagte ich zu ihm mit einem Seufzer aus tiefstem Herzen, »dein Mitgefühl muß grenzenlos sein, mein lieber Tiberge, wenn du behauptest, daß es meinem Kummer gleichkommt! Ich schäme mich, ihn dir einzugestehen, denn ich bekenne, daß er keines rühmlichen Ursprungs ist. Aber seine Folgen bekümmern mich so, daß du mich gar nicht so sehr zu lieben brauchtest, um gerührt zu sein.«
Er bat mich, ihm als Freundschaftsbeweis ohne Umschweife alles zu erzählen, was mir seit meiner Flucht aus Saint-Sulpice begegnet sei. Ich folgte seiner Aufforderung und schilderte ihm – weit entfernt, irgendwie von der Wahrheit abzuweichen oder meine Fehler zu beschönigen, um sie entschuldbarer zu machen – meine Leidenschaft in ihrer ganzen Heftigkeit.
Ich stellte sie als ein besonderes Verhängnis dar, wie es einen Unglücklichen ins Verderben zieht, gegen das man sich mit keiner Tugend verteidigen, mit keiner Weisheit schützen kann. Ich schilderte ihm lebhaft die Aufregung, Angst und Verzweiflung, die ich noch vor zwei Stunden empfunden hatte und deren Opfer ich erneut würde, wenn meine Freunde mich unerbittlich wie das Glück verlassen sollten. Ich rührte schließlich den guten Tiberge derart, daß ich ihn von dem Gefühl des Mitleids so ergriffen sah, wie ich es nur im Bewußtsein meines eigenen Schmerzes sein konnte.
Er wurde nicht müde, mich in die Arme zu schließen und mir Mut und Trost zuzusprechen. Aber da er immer noch annahm, daß ich mich von Manon trennen wollte, sagte ich ihm schließlich ganz offen, daß ich eben diese Trennung als das allergrößte Unglück für mich ansehe und daß ich entschlossen sei, lieber das äußerste Elend und den grausamsten Tod zu erleiden, als ein Heilmittel anzunehmen, das mir unerträglicher scheine als alle meine Leiden zusammen.
»Dann erkläre mir bitte«, sagte er, »auf welche Art ich dir helfen soll, wenn du dich gegen meine Vorschläge auflehnst.«
Ich wagte nicht anzudeuten, daß ich Geld benötigte. Schließlich erriet er es, und nachdem er seine Vermutung ausgesprochen hatte, schwieg er eine Weile, wie jemand, der unschlüssig ist.
»Glaube nicht«, fuhr er dann fort, »daß ich zögere, weil mein Eifer und meine Freundschaft erlahmt wären. Aber du bringst mich da in eine zwiespältige Lage, da ich dir entweder die einzige Hilfe, die du annehmen willst, verweigern oder meine Pflicht verletzen muß, indem ich sie dir gewähre. Denn heißt es nicht, an deiner Verirrung teilnehmen, wenn ich dir die Mittel gebe, darin zu verharren«?
Wieder dachte er nach. »Aber vielleicht«, fuhr er dann fort, »beraubt dich nur die große Erregung, in die dich die plötzliche Not versetzt hat, der Freiheit, das bessere Teil zu erwählen. Man muß in ruhiger Gemütsverfassung sein, um Weisheit und Wahrheit würdigen zu können. Ich werde dir eine kleine Summe verschaffen. Erlaube mir jedoch, lieber Chevalier«, fügte er hinzu, indem er mich umarmte, »hieran als einzige Bedingung zu knüpfen, daß du mir deine Wohnung mitteilst und mir gestattest, wenigstens zu versuchen, dich zur Tugend zurückzuführen. Denn ich weiß, daß du sie liebst und daß nur die Gewalt deiner Leidenschaft dich entfernt hat.«
Ich bewilligte ihm aufrichtig alles, was er forderte, und bat ihn, es meinem Unstern zuzuschreiben, wenn ich so wenig Nutzen aus den Ratschlägen eines so tugendhaften Freundes zöge. Er führte mich dann zu einem ihm bekannten Bankier, der mir auf seine Verschreibung hin hundert Pistolen vorstreckte, sein ganzes Guthaben. Ich habe schon erwähnt, daß er von Hause aus nicht reich war; seine Pfründe brachte ihm zwar tausend Taler ein, da sie ihm aber erst in diesem Jahr übertragen worden war, hatte er noch nichts erhoben und unterstützte mich aus seinen kommenden Einnahmen.
Ich empfand den ganzen Umfang seiner Großmut. Ich war so gerührt, daß ich die Verblendung einer Liebe, die mich alle Pflichten verletzen ließ, tief beklagte, und für einen kurzen Augenblick hatte die Tugend in mir genügend Kraft, sich in meinem Herzen gegen meine Leidenschaft aufzulehnen. Wenigstens erkannte ich in diesem lichten Augenblick die Schmach und Schande meiner Fesseln. Aber der Kampf war nicht schwer und dauerte nicht lange. Für Manons Anblick hätte ich mich aus dem Himmel gestürzt, und als ich wieder bei ihr war, wunderte ich mich, daß ich meine Liebe zu einem so reizenden Geschöpf auch nur für einen Augenblick hatte verdammen können.
Manon war ein Geschöpf von ungewöhnlichem Charakter. Es gab wohl kein Mädchen, das so wenig am Gelde hing wie sie, aber sie hatte keinen Augenblick Ruhe, wenn sie einen Mangel auch nur befürchten mußte. Vergnügen und Zerstreuung waren ihr Bedürfnis. Sie hätte niemals einen Sou angerührt, falls es Vergnügungen gegeben hätte, die nichts kosteten. Wenn sie den Tag in Freuden zubringen konnte, fragte sie nicht nach unseren Geldverhältnissen. Da sie weder dem Spiel mit Leidenschaft ergeben noch auf großen Luxus versessen war, war nichts leichter, als sie Tag für Tag mit einiger Kurzweil nach ihrem Geschmack zufriedenzustellen. Aber sie mit Vergnügungen zu beschäftigen war ein unerläßliches Bemühen, wenn man auf ihre gute Laune und Zuneigung Wert legte.
Wenn sie mich auch zärtlich liebte und ich, wie sie mir versicherte, der einzige war, der sie die Süßigkeit der Liebe voll empfinden ließ, so zweifelte ich doch daran, ob ihr Gefühl für mich gewissen Befürchtungen gegen- über standhalten werde. Selbst bei einem bescheidenen Vermögen hätte sie mich aller Welt vorgezogen, aber es war auch sicher, daß sie mich für einen neuen de B. verlassen würde, wenn ich ihr nur noch meine Beständigkeit und Treue anzubieten hätte.
Ich beschloß daher, meine persönlichen Ausgaben zu beschränken, um den ihren immer genügen zu können, und mich lieber des Notwendigsten zu berauben, als ihr selbst das Überflüssige zu versagen. Der Wagen machte mir die meiste Sorge, da ich keine Möglichkeit sah, Pferde und Kutscher weiterhin zu unterhalten.
Ich schilderte Herrn Lescaut meine Besorgnis und verschwieg ihm auch nicht, daß ich von einem Freund hundert Pistolen erhalten hatte. Er wiederholte mir, wenn ich mein Glück im Spiel versuchen wollte, so sei er überzeugt, daß ich auf seine Empfehlung hin in die Zunft der gewerbsmäßigen Spieler aufgenommen würde. Doch wäre es gut, wenn es mir auf hundert Franken nicht ankomme, um mich bei meinen neuen Genossen einzuführen. Obgleich ich nun gegen die ganze Angelegenheit einen starken inneren Widerwillen empfand, gab ich schließlich, durch die harte Notwendigkeit gezwungen, nach.
Herr Lescaut stellte mich noch am gleichen Abend als einen Verwandten vor. Er fügte hinzu, ich hätte um so mehr Aussicht auf Erfolg, als ich in besonderem Maße auf die Gunst des Glücks angewiesen sei. Um aber zu zeigen, daß ich deshalb kein Habenichts sei, sagte er, ich hätte die Absicht, sie zum Souper einzuladen. Die Einladung wurde angenommen, und ich bewirtete sie prächtig. Man unterhielt sich ausführlich über mein sympathisches Äußeres und meine glücklichen Anlagen und behauptete, ich hätte um so bessere Aussichten, als ein gewisses Etwas in meinem Gesicht den ehrlichen Mann verrate, so daß mir niemand meine Kunstgriffe zutrauen werde. Schließlich dankte man Herrn Lescaut, daß er der Gemeinschaft einen Novizen von solcher Begabung zugeführt habe, und beauftragte einen der Kavaliere, mir ein paar Tage den erforderlichen Unterricht zu erteilen. Der Hauptschauplatz meiner Tätigkeit sollte das Hôtel de Transylvanie sein, wo im Saal ein Pharaotisch stand und in der Galerie andere Karten- und Würfelspiele gespielt wurden. Dieses Spielhaus wurde von dem Prinzen R. unterhalten, der damals in Cligny wohnte, und die Mehrzahl seiner Beamten gehörte unserer Gesellschaft an. Soll ich es zu meiner Schande gestehen? Ich machte mir in kurzer Zeit den Unterricht meines Lehrers zunutze. Vor allem erwarb ich eine große Fertigkeit, die Volte zu schlagen und zu eskamotieren, wobei ich mich geschickt meiner langen Manschetten bediente, so daß ich selbst die schärfsten Augen täuschte und mitleidlos eine Menge ehrlicher Spieler ruinierte. Diese außerordentliche Geschicklichkeit vermehrte mein Vermögen so rapide, daß mir in wenigen Wochen beträchtliche Summen zur Verfügung standen, nicht gerechnet das Geld, das ich ehrlich mit meinen Gefährten geteilt hatte.
Ich hatte jetzt keine Bedenken mehr, Manon unseren Verlust in Chaillot mitzuteilen, und um sie über die schlimme Nachricht zu trösten, mietete ich ein möbliertes Haus, wo wir uns üppig und behaglich niederließen.
Tiberge hatte nicht verfehlt, mich während dieser Zeit häufig zu besuchen. Seine Moralpredigten nahmen kein Ende. Immer wieder hielt er mir vor, wie unrecht ich an meinem Gewissen, meiner Ehre und meinem Lebensglück handle. Ich hörte seinen guten Rat in aller Freundschaft an, und wenn ich auch nicht die mindeste Neigung hegte, ihn zu befolgen, war ich ihm doch dankbar für seinen Eifer, dessen Quelle ich ja kannte. Manchmal neckte ich ihn freundschaftlich auch in Manons Beisein und beschwor ihn, es doch nicht genauer zu nehmen als so viele Bischöfe und Priester, die sich trotz ihres heiligen Amtes eine Geliebte nicht versagten.
»Sieh doch ihre Augen«, sagte ich, auf Manon weisend, »und sage mir, ob eine so schöne Ursache nicht jede Sünde rechtfertigt.«
Seine Geduld war grenzenlos. Als er aber sah, daß mein Vermögen sich dermaßen vermehrte, daß ich ihm nicht nur seine hundert Pistolen zurückgeben, sondern mir auch ein neues Haus mieten, meinen Aufwand verdoppeln und mich mehr als je in den Strudel des Vergnügens stürzen konnte, änderte er seinen Ton und sein Verhalten. Er beklagte sich über meine Verstocktheit, er bedrohte mich mit den Strafen des Himmels und prophezeite mir zum Teil jenes Unglück, das mich so bald ereilen sollte.
»Es ist undenkbar«, sprach er, »daß die Summen, die dir zur Bestreitung deiner Ausschweifungen dienen, auf ehrliche Weise in deinen Besitz gekommen sind. Du hast sie unrechtmäßig erworben, und du wirst sie auf die gleiche Weise wieder verlieren. Die schrecklichste Strafe Gottes wäre es allerdings, wenn er sie dich ruhig genießen ließe. Alle meine Ratschläge«, fuhr er fort, »sind umsonst gewesen; ich sehe voraus, daß ich dir in kurzer Zeit lästig fallen werde. Lebe wohl, undankbarer und schwacher Freund. Mögen deine sträflichen Freuden wie Schatten vergehen! Möge dein Glück und dein Wohlstand unwiederbringlich verlorengehen, bis du arm und nackt dastehst und die Eitelkeit der Güter erkennst, von denen du dich so töricht hast berauschen lassen! Dann wirst du mich wieder geneigt finden, dich zu lieben und dir beizustehen, aber heute breche ich allen Umgang mit dir ab, denn ich verabscheue das Leben, das du führst.« Er hielt mir diese apostolische Predigt in meinem Zimmer und in Gegenwart Manons. Er stand auf, um zu gehen. Ich wollte ihn zurückhalten, aber Manon hinderte mich daran, indem sie sagte, er sei ein Narr, den man gehen lassen müsse.
Seine Worte verfehlten nicht ihre Wirkung auf mich. Ihnen schreibe ich es zu, daß mein Herz bei verschiedenen Gelegenheiten sich wieder zum Guten wandte, und der Erinnerung an ihn verdankte ich später unter den unglücklichsten Umständen meines Lebens einen Teil meiner Kraft.
Die Zärtlichkeiten Manons verscheuchten bald den Kummer, den der Auftritt mir bereitet hatte, und wir fuhren fort, unser ganz dem Vergnügen und der Liebe gewidmetes Leben zu führen. Das Anwachsen unseres Reichtums vermehrte auch unsere gegenseitige Zuneigung. Venus und Fortuna hatten nie glücklichere Sklaven als uns. Bei Gott, warum nennt man die Welt ein Jammertal, wenn sie uns so herrliche Wonnen zu kosten gibt! Aber ach, sie vergehen so schnell! Wie ganz anders wäre unser Glück, wenn es niemals ein Ende nähme? Auch unser beider Seligkeit ward vom allgemeinen Mißgeschick verdammt, nur kurze Zeit zu dauern, um dann von bitterer Reue abgelöst zu werden.
Ich hatte beim Spiel so beträchtliche Summen gewonnen, daß ich daran dachte, einen Teil meines Geldes anzulegen. Meine Bedienten wußten um meine Erfolge, vor allem mein Kammerdiener und Manons Zofe, in deren Gegenwart wir uns öfters zwanglos unterhielten. Das Mädchen war hübsch und mein Kammerdiener in sie verliebt. Sie hatten es mit einer jungen und nachsichtigen Herrschaft zu tun, die sie leicht zu betrügen hofften. Sie faßten einen entsprechenden Entschluß und führten ihn in einer für uns so unheilvollen Weise aus, daß sie uns in eine Lage brachten, aus der wir uns kaum wieder erheben konnten.
Herr Lescaut hatte uns eines Abends zum Essen eingeladen, und es war ungefähr Mitternacht, als wir in unsere Wohnung zurückkehrten. Ich rief nach meinem Kammerdiener und Manon nach ihrer Zofe, aber keiner von beiden erschien. Es hieß, man habe sie seit acht Uhr nicht mehr im Hause gesehen. Sie seien fortgegangen, nachdem sie, angeblich auf unsere Anordnung, einige Kisten fortgeschafft hätten. Ich ahnte einen Teil der Wahrheit, aber meine schlimmsten Befürchtungen wurden übertroffen beim Anblick, der sich mir bot, als ich in mein Zimmer trat. Die Tür zu meinem Kabinett war gewaltsam erbrochen und mein ganzes Geld mit allen meinen Kleidern gestohlen. Während ich noch dastand und über das Unglück nachdachte, kam Manon ganz erschrocken zu mir und teilte mir mit, daß ihr Zimmer auf die gleiche Weise ausgeplündert sei.
Dieser Schlag traf mich so hart, daß ich mich mit aller Gewalt zusammennehmen mußte, um nicht in Schreie und Tränen auszubrechen. Die Furcht, Manon mit meiner Verzweiflung anzustecken, zwang mich, Fassung zu bewahren. Scherzend sagte ich zu ihr, ich würde dafür einen Dummkopf im Hôtel de Transylvanie rupfen. Unser Unglück schien sie so zu beeindrucken, daß ihr Schmerz mich weit mehr betrübte, als mein geheuchelter Gleichmut sie aufrichten konnte.
»Wir sind verloren!« sagte sie mit Tränen in den Augen. Vergebens versuchte ich, sie durch Zärtlichkeiten zu trösten. Meine eigenen Tränen verrieten meine Verzweiflung und Bestürzung. Wir waren in der Tat so vollständig ruiniert, daß wir nicht ein Hemd mehr besaßen. Ich entschloß mich, sofort zu Herrn Lescaut zu schicken. Er riet mir, mich unverzüglich zum Polizeidirektor und Oberrichter zu begeben. Ich tat es und beschwor damit nur noch größeres Unheil herauf. Denn abgesehen davon, daß dieser Schritt und alles, was die beiden Beamten auf meine Veranlassung hin unternahmen, erfolglos blieb, gab ich Lescaut in meiner Abwesenheit Zeit, sich mit seiner Schwester zu unterhalten und sie zu einem verderblichen Entschluß zu überreden.
Er erzählte ihr von Herrn de G. M., einem alten Wüstling, der seine Vergnügungen teuer bezahlte, und wußte ihr die Vorteile, die sie durch ein Verhältnis mit ihm genießen würde, so eindringlich zu schildern, daß sie, noch ganz besinnungslos von unserem Unglück, auf alles einging, was er ihr vorschlug. Dieser schmähliche Handel wurde noch vor meiner Rückkehr abgeschlossen und die Ausführung auf den nächsten Tag verschoben, da Lescaut inzwischen Herrn de G. M. benachrichtigen wollte.
Er wartete in meiner Wohnung, bis ich zurückkam. Manon hatte sich in ihrem Zimmer zu Bett gelegt und ließ mir durch ihren Diener sagen, daß sie der Ruhe bedürfe und mich bitte, sie diese Nacht allein zu lassen. Lescaut ging, nachdem er mir einige Pistolen angeboten hatte, die ich annahm.
Es war gegen vier Uhr, als ich zu Bett ging, und da ich noch lange Zeit darüber nachgedacht hatte, durch welche Mittel ich mein Vermögen wiederherstellen könnte, schlief ich so spät ein, daß ich erst gegen elf oder zwölf Uhr wieder erwachte. Ich stand sofort auf, um mich nach Manons Befinden zu erkundigen, und erfuhr, daß sie vor einer Stunde mit ihrem Bruder ausgefahren sei, der sie in einer Droschke abgeholt habe.
So verdächtig mir dieses Beisammensein mit Lescaut auch erschien, zwang ich mich doch, meinen Argwohn zu unterdrücken. Ich ließ einige Stunden vergehen, die ich mit Lesen verbrachte. Dann aber konnte ich meine Unruhe nicht mehr bändigen und ging mit großen Schritten in unseren Zimmern auf und ab. In Manons Zimmer sah ich plötzlich einen versiegelten Brief auf dem Tisch liegen. Er war an mich gerichtet, und ich erkannte ihre Handschrift. Erschrocken riß ich ihn auf und las:
»Ich schwöre Dir, mein lieber Chevalier, daß Du der Abgott meines Herzens bist und daß es niemanden auf der Welt gibt, den ich so lieben könnte wie Dich. Aber siehst Du nicht, geliebte Seele, daß in unserer Lage die Treue eine törichte Tugend wäre? Glaubst Du, man könnte zärtlich sein, wenn man Mangel leidet? Der Hunger könnte mich zu einem fatalen Irrtum verleiten, indem er mir eines Tages einen Todesseufzer statt eines Liebesseufzers entrisse. Ich bete Dich an, glaube mir das, aber laß mir einige Zeit, um unser Vermögen wiederherzustellen! Wehe dem, der in meine Netze fällt! Ich strebe danach, meinen Chevalier reich und glücklich zu machen. Mein Bruder wird Dir von Deiner Manon Nachricht geben, er wird Dir erzählen, daß sie geweint hat über die Notwendigkeit, Dich zu verlassen.«
Ich befand mich, nachdem ich den Brief gelesen hatte, in einem Zustand, den ich schwer beschreiben kann, denn ich weiß heute nicht, welche Art von Gefühl mich bewegte. Aber von welcher Natur auch meine Empfindungen waren – Schmerz, Verachtung, Eifersucht und Scham herrschten vor. Ich hätte es als Glück empfunden, wenn keine Liebe mehr im Spiel gewesen wäre.
»Sie liebt mich«, rief ich aus, »ich will es glauben. Aber müßte sie denn nicht ein Ungeheuer sein, wenn sie mich hassen könnte? Welches Anrecht auf ein Herz kann es denn überhaupt geben, das ich bei ihr nicht geltend machen dürfte? Was sollte ich noch für sie tun, nachdem ich ihr alles geopfert habe? Und trotzdem verläßt sie mich! Und die Undankbare glaubt, sich gegen alle meine Vorwürfe gesichert zu haben, wenn sie mir sagt, sie habe nicht aufgehört, mich zu lieben! Sie fürchtet den Hunger! O heilige Liebe, was für eine Roheit der Gefühle, wie wenig entsprechen sie meiner Rücksichtnahme! Ich habe ihn nicht gefürchtet, ich setzte mich dem Hunger mit Freuden aus, als ich ihretwegen auf mein Vermögen und auf die Annehmlichkeiten meines Vaterhauses verzichtete. Ich habe meine Bedürfnisse auf das Notwendigste beschränkt, um ihre kleinen Launen und Wünsche zu befriedigen! Sie betet mich an, sagt sie. Wenn du mich so sehr liebtest, du Undankbare – ach, ich weiß wohl, welchen Ratschlägen du gefolgt bist – dann hättest du mich nicht verlassen oder hättest mir wenigstens Lebewohl gesagt. Mich muß man fragen, nicht dich, wenn man den grausamen Schmerz der Trennung von einem geliebten Wesen kennen will. Und man muß den Verstand verloren haben, wenn man sich dem freiwillig aussetzt.«
Meine Klagen wurden durch einen Besuch unterbrochen, den ich nicht erwartet hatte. Lescaut trat ins Zimmer.
»Du Teufel!« rief ich, indem ich meinen Degen zog. »Wo ist Manon? Was hast Du mit ihr gemacht«?
Meine Bewegung erschreckte ihn. Er antwortete mir, wenn ich ihn auf diese Weise empfinge, nachdem er mir den größten Dienst erwiesen, den er mir überhaupt habe leisten können, so wolle er sich zurückziehen und nie wieder den Fuß über meine Schwelle setzen.
Ich rannte nach der Tür und verschloß sie sorgfältig. »Bilde dir nicht ein«, sagte ich, indem ich mich zu ihm wandte, »daß du mich noch einmal zum Narren halten und mir Lügen erzählen kannst. Du hast entweder dein Leben zu verteidigen, oder du schaffst mir Manon wieder.«
»Was soll denn die Aufregung!« antwortete er. »Eben deshalb komme ich her. Ich will Ihnen ein Glück ankündigen, von dem Sie sich nichts haben träumen lassen; und vielleicht werden Sie dann auch erkennen, welchen Dank Sie mir schuldig sind.«
Ich verlangte sofortige Aufklärung.
Er erzählte mir, daß Manon die Angst vor der Armut und überhaupt den Gedanken an jegliche Einschränkung unserer Lebenshaltung nicht ertragen könne und ihn daher gebeten habe, ihr die Bekanntschaft von Herrn de G. M. zu vermitteln, der als sehr freigebig gelte. Er scheute sich auch nicht, mir ins Gesicht zu sagen, daß der Rat eigentlich von ihm stamme und daß er ihr den Weg geebnet habe, den sie inzwischen betreten.
»Ich habe sie heute früh hingeführt«, fuhr er fort, »und dieser brave Mann war so entzückt von ihren Vorzügen, daß er sie auf der Stelle einlud, ihm in seinem Landhaus Gesellschaft zu leisten, wohin er auf einige Tage gereist ist. Ich habe sofort erkannt, welchen Vorteil das für Sie bedeuten, kann, und habe ihm offen gestanden, daß Manon schwere Verluste erlitten hat. Ich habe so an seine Großmut appelliert, daß er damit begann, ihr ein Geschenk von zweihundert Pistolen zu machen. Ich sagte ihm, das sei für den Augenblick ausreichend, daß aber meine Schwester in Zukunft größere Ausgaben haben werde. Sie müsse noch für einen jüngeren Bruder sorgen, der nach dem Tode unserer Eltern in unserer Obhut verblieben sei, und wenn er sie seiner Achtung für wert halte, dann dürfe er um ihretwillen den armen Jungen nicht Not leiden lassen, den sie als einen Teil ihres eigenen Selbst ansehe. Meine Erzählung verfehlte nicht, ihn zu rühren. Er versprach, für Sie und Manon eine nette Wohnung zu mieten, da natürlich Sie selbst dieser arme, verwaiste Bruder sind. Er hat mir versprochen, alles nett einzurichten und Ihnen für Ihren Unterhalt monatlich vierhundert gute Livres auszuzahlen, was – wenn ich richtig rechne – im Jahr viertausendachthundert Livres ergibt. Er hat vor seiner Abreise aufs Land seinen Haushofmeister beauftragt, eine Wohnung zu suchen und bis zu seiner Rückkehr bereitzuhalten. Sie werden Manon also bald wiedersehen, die Ihnen tausend Küsse schickt und Ihnen durch mich sagen läßt, daß sie Sie mehr denn je liebt.«
Ich setzte mich, um über die seltsame Veränderung meines Schicksals nachzudenken. Ich befand mich in einem solchen Zwiespalt der Gefühle und daher auch in einer so schwer zu überwindenden Verwirrung, daß ich lange Zeit auf die vielen Fragen, die Lescaut an mich richtete, keine Antwort wußte. Ehre und Tugend ließen mich in diesem Augenblick noch einmal die quälendsten Gewissensbisse fühlen, und seufzend blickte ich im Geiste nach Amiens, nach dem Hause meines Vaters, nach Saint-Sulpice und nach allen Orten, wo ich in Unschuld gelebt hatte.
Welch ungeheurer Abgrund trennte mich jetzt von diesem glücklichen Zustand! Ich sah ihn nur noch in weiter Ferne wie einen Schatten, der wohl noch meine Reue und Sehnsucht weckte, aber doch zu blaß war, um mich zu energischem Handeln anzuspornen.
»Welches Verhängnis«, dachte ich, »hat mich so strafwürdig gemacht? Die Liebe ist eine unschuldige Leidenschaft, wie konnte sie bei mir zu einer Quelle des Elends und der Ausschweifung werden? Was hindert mich, mit Manon ruhig und tugendhaft zu leben? Warum habe ich sie nicht geheiratet, um ihre Liebe zu erhalten? Mein Vater, der mich so zärtlich liebt, würde er nicht schließlich doch zugestimmt haben, wenn ich ihm eine legitime Verbindung vorgeschlagen hätte? Ach, mein Vater hätte sie als eine reizende Tochter aufgenommen, die es verdient, die Frau seines Sohnes zu sein. Wie glücklich würde ich mit der Liebe Manons, der Zuneigung meines Vaters, der Achtung aller rechtschaffenen Leute die irdischen Güter genießen und den Frieden der Seele bewahren! Wie anders ist alles geworden! Welch entehrende Rolle soll ich spielen! Was, ich soll von diesem Geld leben...? Aber bleibt mir denn noch eine Wahl, wenn Manon selbst es so will und ich sie ohne diese Bereitwilligkeit verliere«?
Ich schloß einen Moment die Augen, wie um diese schmerzlichen Vorstellungen zu verscheuchen.
»Herr Lescaut«, rief ich dann, »wenn Sie die Absicht hatten, mir einen Dienst zu erweisen, so danke ich Ihnen. Nur hätten Sie einen ehrenvolleren Weg wählen sollen. Aber die Sache ist wohl nicht mehr zu ändern? Wir wollen also versuchen, aus Ihrer etwas merkwürdigen Fürsorge Vorteile zu ziehen und Ihre Versprechen zu erfüllen.«
Lescaut, dem mein Zorn und das anschließende lange Stillschweigen unbehaglich war, hatte eine andere Antwort befürchtet und fühlte sich erleichtert. Er besaß keinen großen Mut, was ich in der Folge immer mehr erkennen mußte.
»Ja«, beeilte er sich zu sagen, »ich habe Ihnen einen sehr guten Dienst erwiesen, und Sie werden sehen, daß wir größeren Nutzen daraus ziehen, als Sie glauben.«
Wir berieten nun, wie wir am besten dem Mißtrauen begegnen könnten, das Herr de G. M. möglicherweise gegen unsere Geschwisterschaft hegen würde, wenn er sehen müßte, daß ich doch etwas älter war, als er sich vorgestellt hatte. Wir fanden schließlich kein besseres Mittel, als ihm gegenüber ein einfältiges und provinzlerisches Wesen zur Schau zu stellen und ihm vorzutäuschen, daß ich mich dem geistlichen Stande widmen wolle und deshalb täglich das Kollegium besuche. Wir vereinbarten weiter, daß ich mich das erstemal, wenn ich die Ehre hätte, ihm vorgestellt zu werden, sehr einfach gekleidet präsentieren würde.
Drei oder vier Tage später kehrte er in die Stadt zurück. Er führte Manon persönlich in die Wohnung, die sein Hausmeister für sie hatte einrichten lassen. Sie teilte Lescaut sofort ihre Rückkehr mit, und nachdem dieser mich benachrichtigt hatte, begaben wir uns beide zu ihr.
Der alte Liebhaber war inzwischen schon wieder gegangen.
Trotz der Ergebung, mit der ich mich in ihren Willen gefügt hatte, konnte ich bei ihrem Anblick das Widerstreben meines Herzens nicht überwinden. Ich war niedergeschlagen und betrübt. Die Freude des Wiedersehens konnte den Schmerz über ihre Untreue nicht auslöschen. Sie dagegen schien vor Entzücken außer sich, mich wieder zu besitzen, und sie machte mir meine kühle Zurückhaltung zum Vorwurf. Ich konnte mich nicht enthalten, die Worte Verrat und Untreue auszusprechen, die von tiefen Seufzern begleitet waren.
Anfangs scherzte sie über meine Einfalt, als sie aber meine auch weiterhin traurigen Blicke auf sich gerichtet sah und die Mühe bemerkte, mit der ich eine Veränderung ertrug, die mit meinen Gefühlen und Wünschen so wenig in Einklang zu bringen war, ging sie plötzlich in ihr Kabinett. Ich folgte ihr einen Augenblick später und fand sie in Tränen aufgelöst. Ich fragte sie, warum sie weine.
»Es wird nicht schwer sein, das zu verstehen«, sagte sie. »Welchen Sinn soll das Leben für mich haben, wenn mein Anblick dir nur Kummer und Verdruß bereitet? Du bist seit einer Stunde hier und hast mich noch nicht ein einziges Mal geküßt, während du meine Küsse mit der Herablassung eines Großsultans im Serail über dich ergehen läßt.«
»Höre, Manon«, antwortete ich, indem ich sie umarmte. »Ich kann nicht leugnen, daß mein Herz tödlich verletzt ist. Ich spreche jetzt nicht von der Bestürzungen die mich deine plötzliche Flucht versetzt hat, noch von der Grausamkeit, mit der du mich ohne ein tröstendes Wort verließest, auch nicht von der Nacht, die du in einem anderen Bett als dem meinen geschlafen hast – der Zauber deiner Gegenwart würde mich das alles rasch vergessen lassen. Aber glaubst du, ich könnte ohne Seufzer und ohne Tränen« – es rannen mir wirklich Tränen aus den Augen –- »an das traurige und unglückliche Leben denken, das ich hier in diesem Hause führen soll? Lassen wir meinen Stand und meine Ehre beiseite! So schwache Gründe kommen nicht in Betracht bei einer Liebe wie der meinigen. Aber diese Liebe selbst – kannst du dir nicht vorstellen, wie sie leidet, wenn sie sich so übel vergolten oder vielmehr so grausam mißhandelt sieht durch eine undankbare und hartherzige Herrin«?
Sie unterbrach mich.
»Halt, mein Chevalier«, rief sie. »Es ist ungerecht, mich mit Vorwürfen zu quälen, die mein Herz durchbohren, da sie von dir kommen. Ich weiß, was dich verletzt. Ich hoffte, du würdest einem Plan zustimmen, den ich faßte, um uns wieder ein Vermögen zu beschaffen, und den ich nur aus Rücksicht auf dein Zartgefühl ohne dein Wissen eingeleitet habe. Aber ich will ihn aufgeben, wenn du so dagegen bist.«
Sie fügte hinzu, sie fordere nur ein wenig Nachsicht für den Rest des Tages. Sie habe schon zweihundert Pistolen von ihrem alten Anbeter erhalten, und nun habe er ihr versprochen, ihr am Abend ein schönes Perlenhalsband und andere Schmuckstücke sowie die Hälfte des zugesagten Jahresgehalts zu bringen.
»Laß mir also nur so viel Zeit«, sagte sie, »diese Geschenke anzunehmen. Ich schwöre dir, daß er sich noch keiner besonderen Gunstbeweise rühmen darf, denn ich habe ihn auf die Rückkehr in die Stadt vertröstet. Er hat mir unzählige Male die Hände geküßt, und das wahrlich nicht umsonst. Jedenfalls werden fünf- oder sechstausend Franken nicht zuviel sein, wenn man diese Gunst an seinem Reichtum und seinem Alter mißt.«
Ihr Entschluß war mir wesentlich mehr wert als die Hoffnung auf die fünftausend Livres. Ich fühlte deutlich, daß mein Herz noch nicht alles Ehrgefühl eingebüßt hatte, da es so erfreut war, der Schande zu entgehen. Aber mein Geschick hatte für mich nur kurze Freuden und lange Leiden vorgesehen, und das Glück errettete mich nur aus diesem Abgrund, um mich in einen anderen zu stürzen. Als ich durch tausend Zärtlichkeiten Manon zu erkennen gegeben hatte, wie glücklich mich ihre Sinnes änderung machte, sagte ich, wir müßten Herrn Lescaut darüber unterrichten, um unsere weiteren Schritte gemeinsam zu beraten.
Er erhob anfangs Einwendungen, aber als er von den vier- oder fünftausend Livres Bargeld hörte, ging er gern auf unseren Plan ein. Wir beschlossen also, uns aus zweierlei Gründen alle zum Souper bei Herrn de G. M. einzufinden. Erstens wollten wir das hübsche Schauspiel genießen, das ich durch meine Rolle als Schüler und Bruder Manons bot, zweitens aber hinderten wir auf diese Weise den alten Wüstling, sich bei meiner Geliebten infolge des Anspruchs, den er durch seine freigebige Vorauszahlung erworben zu haben glaubte, zu viele Freiheiten zu erlauben. Lescaut und ich wollten uns erst entfernen, wenn er sich in das Zimmer hinaufbegeben würde, in welchem er die Nacht zu verbringen gedachte. Manon sollte dann mir statt ihm folgen, um die Nacht bei mir zu verbringen. Lescaut versprach, dafür zu sorgen, daß rechtzeitig ein Wagen vor der Tür bereitstehen werde.
Die Stunde des Soupers kam, und Herr de G. M. ließ nicht lange auf sich warten. Lescaut befand sich mit seiner Schwester im Speisezimmer. Als erste Galanterie bot der Alte seiner Schönen eine Halskette, Armbänder und Perlenohrringe an, die mindestens tausend Taler wert waren. Dann zählte er ihr in schönen Louisdors die Summe von zweitausendvierhundert Livres auf, die Hälfte ihres Jahresgeldes. Er begleitete sein Geschenk mit zahlreichen altmodischen Schmeicheleien. Manon konnte ihm einige Küsse nicht vorenthalten und erwarb sich dadurch ja auch gewisse Ansprüche auf das Geld, das sie empfangen hatte. Ich lauschte hinter der Tür, um auf Lescauts Zeichen einzutreten. Endlich holte er mich, als Manon Geld und Schmucksachen in Sicherheit gebracht hatte, führte mich zu Herrn de G. M. und forderte mich auf, mein Kompliment zu machen. Ich verneigte mich zwei- oder dreimal sehr tief, und Lescaut sagte:
»Entschuldigen Sie, mein Herr, er ist noch ein Kind und, wie Sie sehen, von der Pariser Lebensart noch weit entfernt. Wir hoffen, daß sich das mit der Zeit geben wird.« Dann wandte er sich zu mir: »Du wirst die Ehre haben, diesen Herrn jetzt öfter zu sehen. Trachte, aus seinem Beispiel Nutzen zu ziehen.«
Der alte Liebhaber schien an meiner Person Gefallen zu finden. Er klopfte mir zärtlich die Wange und nannte mich einen hübschen Jungen, aber ich solle in Paris sehr auf der Hut sein, weil sich hier die jungen Leute so leicht zu Ausschweifungen verführen ließen. Lescaut versicherte ihm, ich sei von Natur aus so tugendhaft, daß ich immer nur davon spreche, Priester zu werden, und von jeher nur an Kirchen Gefallen gefunden hätte.
»Ich finde, daß er Manon ähnlich sieht«, fuhr der Alte fort, indem er mir das Kinn hob.
Ich antwortete einfältig: »Das kommt daher, mein Herr, weil wir beinahe ein Fleisch und Blut sind. Ich liebe meine Schwester wie mein zweites Ich.«
»Hören Sie, was er sagt«? fragte er Lescaut. »Der Junge ist nicht dumm. Schade, daß er nicht etwas mehr Weltgewandtheit besitzt.«
»Oh, mein Herr«, erwiderte ich, »ich habe in meiner Heimat viele Leute in unseren Kirchen gesehen, und ich glaube, daß es in Paris noch dümmere gibt als mich.«
»Sieh an«, meinte der Alte, »für einen Burschen der Provinz ist das nicht schlecht gesagt.«
Unsere Unterhaltung während des Essens war ganz von dieser Art. Manon war in ihrem Übermut ein paarmal nahe daran, in lautes Lachen auszubrechen. Ich nahm die Gelegenheit des Soupers wahr, dem Alten seine eigene Geschichte und den üblen Streich, der ihn erwartete, zu erzählen. Lescaut und Manon zitterten während meiner Erzählung, besonders als, ich sein Porträt ganz naturgetreu schilderte. Aber seine Eigenliebe hinderte ihn, sich zu erkennen, und ich führte meine Geschichte so geschickt zu Ende, daß er der erste war, der über sie lachte. Sie werden sehen, daß ich Ihnen diese lächerliche Szene nicht ohne Ursache so ausführlich beschrieben habe.
Als endlich die Schlafenszeit gekommen war, sprach er von Liebe und seiner Ungeduld. Lescaut und ich zogen uns zurück. Man führte ihn in sein Zimmer, und Manon, die sich unter irgendeinem Vorwand entfernt hatte, traf uns an der Türe. Der Wagen, der drei oder vier Häuser weiter auf uns wartete, fuhr heran, um uns einsteigen zu lassen, und nur wenig später hatten wir bereits den Stadtteil verlassen.
Obwohl diese Tat in meinen eigenen Augen eine regelrechte Betrügerei war, mochte sie doch nicht der schlimmste Gaunerstreich sein, den ich mir vorzuwerfen habe. Meine Spielgewinne verursachten mir größere Gewissensbisse. Indessen sollte uns weder das eine noch das andere längere Zeit zugute kommen, und der Himmel wollte es, daß die geringste dieser beiden Missetaten am härtesten geahndet wurde.
Herr de G. M. brauchte natürlich nicht lange, um zu bemerken, daß er geprellt war. Ich weiß nicht, ob er noch am gleichen Abend Schritte unternahm, uns auszuforschen. Jedenfalls standen ihm genügend Mittel zu einem schnellen Erfolg zur Verfügung, während wir töricht genug waren, der Weitläufigkeit von Paris und der Entfernung unserer Wohnung von der seinigen zu vertrauen. Er machte nicht nur unsere Wohnung und unsere augenblicklichen Verhältnisse ausfindig, sondern erfuhr auch meinen Namen und welches Leben ich in Paris geführt hatte. Er deckte die früheren Beziehungen Manons zu Herrn de B. auf und den Streich, den sie ihm gespielt hatte, kurz – alle dunklen Einzelheiten unserer Geschichte. Er beschloß deshalb, uns festnehmen zu lassen und uns weniger als Verbrecher denn als abgefeimte Sittenstrolche dingfest zu machen.
Wir lagen noch im Bett, als ein Polizeioffizier mit einem halben Dutzend Beamten in unser Zimmer trat. Sie beschlagnahmten zuerst unser Geld oder vielmehr das des Herrn de G. M.; und nachdem sie uns ohne Umstände aufstehen hießen, führten sie uns auf die Straße, wo zwei Wagen standen, von denen der eine ohne jede Erklärung die arme Manon entführte, während der andere mich nach Saint-Lazare brachte.
Man muß solche Schicksalsschläge selbst erlebt haben, um die Verzweiflung zu ermessen, in die sie uns versetzen können. Unsere Wächter waren rücksichtslos genug, mir weder zu gestatten, Manon zu umarmen, noch überhaupt ihr ein Wort zu sagen. Ich wußte lange nicht, was aus ihr geworden war, und es geschah unstreitig zu meinem Glück, daß ich es nicht gleich erfuhr, denn ein so entsetzliches Unglück hätte mich um den Verstand, wenn nicht um das Leben gebracht.
Meine arme Geliebte wurde vor meinen Augen fortgeschleppt und an einen Ort gebracht, den ich nicht ohne Schaudern nennen kann. Welch ein Schicksal für ein unendlich bezauberndes Geschöpf, das, wenn alle Menschen meine Augen und mein Herz hätten, den höchsten Thron in der Welt einnehmen würde! Man behandelte sie dort nicht unmenschlich, aber sie befand sich ohne jede Gesellschaft in einem engen Kerker und war gezwungen, jeden Tag ein gewisses Arbeitspensum zu verrichten als unumgängliche Gegenleistung für das bißchen kümmerliche Nahrung, das man ihr verabreichte. Ich erfuhr diese traurigen Einzelheiten erst viel später, als ich ebenfalls schon mehrere Monate eine strenge und eintönige Strafe erlitten hatte.
Da meine Wächter mir auch nichts über den Ort mitteilten, an den sie mich bringen sollten, erkannte ich mein Schicksal erst vor den Toren der Besserungsanstalt Saint-Lazare. In diesem Augenblick hätte ich den Tod der Situation vorgezogen, der ich mich jetzt ausgesetzt sah, denn ich hatte schreckliche Vorstellungen von diesem Hause. Meine Angst vergrößerte sich noch, als die Wächter bei meiner Ankunft ein zweites Mal meine Taschen untersuchten, um sicher zu sein, daß ich weder Waffen noch sonstige Hilfsmittel bei mir trug.
Der Prior war schon von meiner Ankunft benachrichtigt und begrüßte mich mit großer Freundlichkeit.
»Mein Vater«, sagte ich zu ihm, »bitte keine unwürdige Behandlung! Ich möchte viel lieber sterben als eine solche Erniedrigung erdulden.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, antwortete er. »Sofern Sie sich gut aufführen, werden wir miteinander zufrieden sein.«
Er forderte mich auf, ihm in ein hochgelegenes Zimmer zu folgen, und ich gehorchte ohne Widerstand. Die Wächter begleiteten uns bis zur Türe, dann gab der Prior ihnen ein Zeichen, sich zurückzuziehen.
»Ich bin also Ihr Gefangener«, sagte ich. »Nun gut, mein Vater, was haben Sie mit mir vor«?
Er antwortete mir, daß er sich freue, mich so vernünftig zu sehen. Seine Pflicht sei es, in mir die Neigung zu Tugend und Religion zu wecken, und die meinige, aus seinen Ermahnungen und Ratschlägen Nutzen zu ziehen. Und wenn ich nur ein wenig den guten Willen, den er mir entgegenbringe, würdigen wolle, so werde mir meine Einsamkeit nur Freude bereiten.
»Ach, Freude!« unterbrach ich ihn. »Sie wissen nicht, mein Vater, was allein mir Freude geben kann.«
»Ich weiß alles«, erwiderte er. »Aber ich hoffe, daß Ihre Neigungen sich ändern werden.«
Aus seiner Antwort entnahm ich, daß er über meine Erlebnisse und vielleicht auch über meinen Namen unterrichtet war. Ich bat ihn um eine Erklärung, und er sagte mir offen, daß er in alles eingeweiht sei. Diese Erkenntnis war die schlimmste meiner Strafen.
Ich konnte mich nicht über die Demütigung trösten, zum Gespött für alle meine Bekannten und zur Schande für meine Familie zu werden. Acht Tage verbrachte ich in tiefster Niedergeschlagenheit und war weder fähig, etwas zu hören, noch mich mit etwas anderem als meiner Schmach zu beschäftigen. Sogar die Erinnerung an Manon konnte meinen Schmerz nicht mehr verschlimmern. Sie war nur ein Vorspiel meiner neuen Qualen, und in meiner Seele herrschten jetzt ausschließlich leidenschaftliche Scham und Verzweiflung.
Einen traurigen Vorteil genoß ich in Saint-Lazare. Dem Prior erschien mein Schmerz so außergewöhnlich, daß er schlimme Folgen für mich befürchtete und glaubte, mich mit möglichst viel Güte und Nachsicht behandeln zu müssen. Er besuchte mich täglich zwei- oder dreimal, nahm mich öfters mit auf einen Spaziergang durch den Garten und erging sich eifrig in Ermahnungen und heilsamen Ratschlägen. Ich ließ alles über mich ergehen und zeigte mich sogar dankbar, so daß er auf meine Bekehrung hoffte.
»Sie besitzen ein so zartes und liebenswürdiges Gemüt«, sagte er eines Tages zu mir,»daß ich die Vergehen, deren man Sie beschuldigt, gar nicht begreifen kann. Vor allem setzen mich zwei Dinge in Verwunderung: einmal, wie Sie trotz Ihrer guten Veranlagung sich einer so abscheulichen Zügellosigkeit ergeben konnten, und zweitens wundere ich mich fast noch mehr, wie Sie sich so gutwillig meine Ratschläge und Unterweisungen gefallen lassen, nachdem Sie mehrere Jahre in der Gewohnheit des Lasters zugebracht haben. Wenn dies Reue ist, dann sind Sie ein treffliches Beispiel für die himmlische Barmherzigkeit; wenn es gute Veranlagungen sind, dann haben Sie mindestens eine ausgezeichnete Charaktergrundlage, die mich hoffen läßt, daß wir Sie hier nicht lange zu behalten brauchen, um Sie auf den rechtschaffenen Pfad eines geordneten Lebens zurückzuführen.«
Ich war erfreut über seine gute Meinung über mich und beschloß, sie durch ein Betragen zu fördern, das ihn gänzlich zufriedenstellen mußte; denn ich war überzeugt, auf diese Weise meine Haft am sichersten abzukürzen. Ich bat ihn um Bücher, und er stellte mir die Wahl meiner Lektüre frei, um sich darüber zu wundern, daß ich mich für ernsthafte Autoren entschied. Ich tat, als ob ich mich dem Studium mit äußerster Hingabe widmete, und gab ihm so bei jeder Gelegenheit neue Beweise der von ihm gewünschten Sinnesänderung. In Wirklichkeit war sie nur äußerlich, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich in Saint-Lazare die Rolle eines Heuchlers spielte. Statt in meiner Einsamkeit zu studieren, beschäftigte ich mich nur damit, über mein Geschick zu jammern. Ich verfluchte mein Los und die Tyrannei, die mich im Kerker festhielt. Nachdem die Niedergeschlagenheit nach meinem Fall etwas nachgelassen hatte, quälte mich wieder meine Liebe. Die Trennung von Manon, die Ungewißheit meines Schicksals und die Furcht, sie niemals wiederzusehen, waren der einzige Gegenstand meiner Betrachtungen. Ich glaubte sie in den Armen von Herrn de G. M., denn das war der erste Gedanke, den ich faßte – und weit davon entfernt, zu vermuten, daß man sie ebenso behandle wie mich, war ich überzeugt, er habe mich nur fortschaffen lassen, um sie desto sicherer zu besitzen. Auf diese Weise brachte ich meine Tage und Nächte zu, deren Länge mir wie eine Ewigkeit erschien. Meine einzige Hoffnung war der Erfolg meiner Heuchelei. Ich beobachtete sorgfältig die Mienen und Reden des Priors, um darüber im klaren zu sein, wie er von mir dachte; und ich machte es mir zur Aufgabe, ihm als dem Herrn über mein Schicksal zu gefallen. Ich konnte leicht erkennen, daß ich seine volle Gunst besaß, und ich zweifelte nicht daran, daß er bereit war, mir eine Gefälligkeit zu erweisen. Eines Tages nahm ich mir die Kühnheit, ihn zu fragen, ob meine Freilassung von ihm abhinge. Er sagte mir, daß er darüber nicht zu befinden habe, daß er aber hoffe, seine Fürsprache werde Herrn de G. M., auf dessen Ersuchen mich der Polizeipräfekt habe festnehmen lassen, bewegen, in meine Begnadigung einzuwilligen. »Darf ich mir schmeicheln«, fragte ich unterwürfig, »daß die zwei Monate Gefangenschaft, die ich jetzt überstanden habe, ihm als Buße genügen«? Er versprach, wenn ich es wünsche, mit ihm zu reden, und ich flehte ihn an, mir diesen Dienst zu erweisen. Zwei Tage später teilte er mir mit, Herr de G. M. sei durch das Gute, das er über mich gehört habe, so gerührt, daß er nicht nur die Absicht hege, mir die Freiheit zu schenken, sondern auch den Wunsch geäußert habe, mich näher kennenzulernen, und mich daher im Gefängnis besuchen wolle. Wenn mir auch seine Gegenwart nicht angenehm sein konnte, betrachtete ich sie doch als eine Vorbedingung zur Erlangung meiner Freiheit.
Er besuchte mich wirklich in Saint-Lazare. Ich fand, daß er würdiger und weniger einfältig aussah, als ich ihn aus Manons Haus in Erinnerung hatte. Er sprach einige sehr vernünftige Worte über meine schlechte Aufführung und fügte hinzu, offenbar um seine eigenen Ausschweifungen zu rechtfertigen, daß es der Schwäche der Menschen erlaubt sei, sich gewisse Vergnügungen zu verschaffen, die die Natur verlange, daß aber Betrug und Gaunerei ihre Strafe verdienten.
Ich hörte ihm mit demütigem Gesicht zu, was ihn offenbar befriedigte. Ich ärgerte mich nicht einmal, als er über meine Brüderschaft mit Lescaut und Manon und über meine »geistlichen« Neigungen spottete, denen ich mich, wie er meinte, hier in Saint-Lazare sicher habe mit Muße widmen können, nachdem ich daran ein solches Vergnügen gezeigt. Aber zu seinem und meinem Unglück entschlüpfte ihm die Bemerkung, daß Manon im Arbeitshaus ohne Zweifel den gleichen Neigungen fröne. Obwohl ich bei dem Wort Arbeitshaus innerlich erschauerte, hatte ich noch die Kraft, ihn unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung um eine Erklärung zu bitten.
»Ja«, sagte er, »seit zwei Monaten befindet sie sich im Arbeitshaus, um dort Sittsamkeit zu lernen, und ich hoffe, daß sie ihre Zeit ebenso zu ihrem Vorteil genutzt hat wie Sie in Saint-Lazare.«
Hätte mir ewige Gefangenschaft oder sogar der Tod vor Augen gestanden, ich hätte bei dieser entsetzlichen Nachricht meiner Empörung nicht Herr werden können. Ich warf mich mit einer solch rasenden Wut auf ihn, daß ich – obwohl die Erregung meine Kräfte lahmte – ihn zu Boden warf und bei der Gurgel packte. Ich hätte ihn erwürgt, doch riefen das Geräusch seines Falles und einige gellende Schreie, die er noch mit Mühe hatte ausstoßen können, den Prior und einige Brüder in mein Zimmer, die ihn meinen Händen entrissen.
Ich selbst hatte kaum noch Kraft und Atem übrig. »O mein Gott«, rief ich unter tausend Seufzern. »Muß ich eine solche Gemeinheit überleben«?
Ich wollte mich wieder auf den Grausamen stürzen, der mir fast den Todesstoß versetzt hatte, aber man hielt mich zurück. Meine Verzweiflung, meine Schreie und Tränen waren jenseits aller Vorstellung. Ich führte mich so merkwürdig auf, daß die Umstehenden, die den Grund nicht ahnten, einander entsetzt ansahen.
Herr de G. M. brachte inzwischen Perücke und Halsbinde in Ordnung, und in seinem Zorn über die erlittene Schmach befahl er dem Prior, mich strenger denn je einzusperren und mich mit allen in Saint-Lazare üblichen Züchtigungsmitteln zu bestrafen.
»Nein, mein Herr«, sagte der Prior, »auf solche Weise verfahren wir nicht bei Personen vom Stande des Herrn Chevalier. Sein Verhalten war übrigens so gesetzt und korrekt, daß ich kaum begreife, wie er ohne ganz außergewöhnliche Gründe sich zu einer solchen Ausschreitung hat hinreißen lassen.«
Diese Antwort brachte Herrn de G. M. erst recht aus der Fassung. Er entfernte sich, indem er sagte, er werde sowohl den Prior wie mich und alle, die ihm Widerstand zu leisten wagten, zur Rechenschaft ziehen.
Der Prior gab den Mönchen Befehl, ihn hinauszubegleiten, und blieb mit mir allein. Er beschwor mich, ihm sogleich die Ursache der Auseinandersetzung zu erklären.
»Oh, mein Vater!« sagte ich weinend. »Stellen Sie sich die schreckliche Grausamkeit vor, denken Sie sich die abscheulichste Unmenschlichkeit aus, und sie ahnen, was dieser gemeine und feige G. M. sich erlaubt hat. Oh, er hat mich zutiefst ins Herz getroffen, und ich werde es nie überwinden. Ich will Ihnen alles erzählen«, fuhr ich unter strömenden Tränen fort. »Sie sind gütig, Sie werden Mitleid mit mir haben.«
Ich gab ihm eine Schilderung der unerschütterlichen und unüberwindlichen Leidenschaft, die ich für Manon empfand, der günstigen Vermögenslage, bevor wir von unseren eigenen Bedienten bestohlen wurden, des Anerbietens, das Herr de G. M. meiner Geliebten gemacht hatte, des Handels, den sie miteinander abgeschlossen hatten, und der Art und Weise, wie er geprellt wurde. Ich schilderte ihm die Vorgänge allerdings in einer für uns möglichst vorteilhaften Weise.
»Das also«, fuhr ich fort, »ist der Grund, warum sich Herr de G. M. mit solchem Eifer für meine Bekehrung interessiert. In Wirklichkeit ließ er mich einzig und allein hier einsperren, um seiner Rache freien Lauf zu lassen. Ich verzeihe es ihm. Aber, mein Vater, das ist nicht alles. Er ließ auch die bessere Hälfte meines eigenen Ichs grausam entführen. Er hat sie schändlich ins Arbeitshaus sperren lassen; er besaß die Unverschämtheit, es mir heute mit eigenem Munde zu verkünden. In das Arbeitshaus, mein Vater! Du lieber Himmel, meine reizende Geliebte, meine süße Königin gleich der gemeinsten Kreatur ins Arbeitshaus! Wo finde ich die Kraft, um nicht vor Schmerz und Scham zu sterben«?
Der gute Prior versuchte mich in meiner äußersten Verzweiflung zu trösten. Er sagte mir, er habe meine Abenteuer nie von dieser Seite betrachtet, wie ich sie ihm jetzt geschildert hätte. Er habe nur gewußt, daß ich in liederlichen Verhältnissen gelebt, doch habe er geglaubt, Herr de G. M. interessiere sich für mich aus Achtung und Freundschaft für meine Familie. So habe er es ihm selbst dargestellt. Aber nach dem, was ich ihm heute mitgeteilt, erscheine die Angelegenheit in einem ganz anderen Licht, und da er beabsichtige, hierüber einen Bericht dem Herrn Polizeipräfekten zur Verfügung zu stellen, zweifle er nicht, daß dieser meiner Befreiung dienen werde.
Er fragte mich dann, warum ich noch nicht daran gedacht habe, meine Familie zu benachrichtigen, die ja unschuldig sei an meiner Verhaftung. Ich erwiderte ihm, daß der Kummer, den ich meinem Vater zu bereiten fürchte, und die Scham, die ich selbst empfinde, mich daran hinderten. Schließlich versprach er mir, sich sogleich zum Polizeipräfekten zu begeben.
»Sei es auch nur«, sagte er, »um einem schlimmen Streich des Herrn de G. M. zuvorzukommen, der in sehr schlechter Laune das Haus verlassen hat und genügend Einfluß besitzt, um seinem Willen Geltung zu verschaffen.«
Ich erwartete die Rückkehr des Priors mit der ganzen Aufregung eines Unglücklichen, der seiner Verurteilung entgegensieht. Es war für mich eine unerträgliche Qual, mir Manon im Arbeitshaus vorzustellen. Abgesehen von der Schmach dieses Ortes, wußte ich, welcher Behandlung sie dort ausgesetzt war; und die Erinnerung an Einzelheiten, die ich über diesen Aufenthalt des Schreckens gehört hatte, erneuerte immer wieder meine Verzweiflung. Ich war so fest entschlossen, ihr um jeden Preis und mit allen Mitteln zu helfen, daß ich Saint-Lazare in Brand gesteckt hätte, wenn es mir anders nicht möglich gewesen wäre zu entkommen.
Ich überlegte also, welche Möglichkeiten mir verblieben, falls der Polizeipräfekt mich auch weiterhin gegen meinen Willen festhalten sollte. Ich bot meinen ganzen Scharfsinn auf und bedachte alle Möglichkeiten. Ich fand keinen wirklich zuverlässigen Weg zur Freiheit und fürchtete vielmehr, nach einem mißglückten Versuch noch strenger bewacht zu werden. Ich dachte an einige Freunde, von denen ich Hilfe erhoffen konnte, aber auf welche Weise sollte ich ihnen meine Lage schildern? Endlich glaubte ich einen geeigneten Plan gefunden zu haben, der Aussicht auf Erfolg bot, und nahm mir vor, ihn sofort nach der Rückkehr des Priors genauer zu erwägen, falls ein Mißerfolg seiner Bemühungen es erfordern sollte.
Er kam auch bald zurück, und vergebens forschte ich in seinem Gesicht nach Anzeichen der Freude, die eine gute Nachricht angekündigt hätten.
»Ich habe«, sagte er, »mit dem Herrn Polizeipräfekten gesprochen, aber ich bin zu spät gekommen. Herr de G. M. hat ihn gleich von hier aus aufgesucht und ihn so stark gegen Sie eingenommen, daß er im Begriff war, mir neue Anweisungen für Ihre strengere Bewachung zu erteilen. Als ich ihm aber den wahren Sachverhalt Ihrer Angelegenheit erzählte, schien er sich zu beruhigen. Er lachte über die Ausschweifungen des alten de G. M. und sagte mir, ich solle Sie sechs Monate hier behalten, um ihn zufriedenzustellen. Er fügte noch hinzu, daß dieser Aufenthalt ja nicht ohne Nutzen für Sie sein werde, und empfahl mir, Sie gut zu behandeln. Jedenfalls verspreche ich Ihnen, daß Sie sich nicht über mich zu beklagen haben werden.«
Der ganze Bericht des Priors dauerte lange genug, um mir Zeit zu ruhigem Nachdenken zu lassen. Ich sah ein, daß es meinen Plänen nur schaden würde, wenn ich ein zu heftiges Verlangen nach Freiheit äußerte. Daher sagte ich ihm, daß es bei meinem durch die Notwendigkeit gebotenen Hierbleiben für mich ein süßer Trost sei, seine Achtung gewonnen zu haben. Ich bat ihn dann ungezwungen, mir eine harmlose Gunst zu gewähren, die sehr viel zu meiner Beruhigung beitragen würde. Er möchte einen Freund von mir, einen frommen Geistlichen, der in Saint-Sulpice wohne, benachrichtigen und ihm gestatten, mich hier in Saint-Lazare dann und wann zu besuchen. Diese Gunst wurde mir unbedenklich zugestanden.
Ich hatte natürlich an meinen Freund Tiberge gedacht. Nicht daß ich hoffte, durch ihn die notwendigen Mittel zu meiner Befreiung zu erlangen, aber ich wollte mich seiner, ohne daß er selbst es ahnte, als eines Werkzeugs bedienen. Mein Plan war, an Lescaut zu schreiben und ihn sowie unsere gemeinsamen Freunde mit meiner Befreiung zu beauftragen. Die erste Schwierigkeit bestand darin, ihm meinen Brief zukommen zu lassen, und das sollte Tiberges Aufgabe sein. Da ich aber fürchtete, eine Besorgung an den Bruder meiner Geliebten werde ihm zuwider sein, war mein Plan, meinen Brief an Lescaut in einen anderen Brief zu stecken, den ich an einen zuverlässigen Mann meiner Bekanntschaft mit der Bitte beischloß, den inliegenden Brief sofort an die richtige Adresse weiterzuleiten. Und da ich unbedingt persönlich mit Lescaut sprechen mußte, um mich mit ihm über unsere Maßnahmen zu einigen, wollte ich ihn veranlassen, mich in Saint-Lazare unter dem Namen meines älteren Bruders zu besuchen, der eigens nach Paris gekommen sei, um sich über meine Lage zu informieren. Wir konnten uns auf diese Weise über die zweckdienlichsten und zuverlässigsten Möglichkeiten verständigen.
Der Pater Prior ließ Tiberge von meinem Wunsch, ihn zu sehen, in Kenntnis setzen. Mein treuer Freund hatte mich immer so weit im Auge behalten, daß er über meine Abenteuer unterrichtet war; er wußte auch, daß ich mich in Saint-Lazare befand; vielleicht aber sah er dieses Mißgeschick nicht einmal ungern, weil er es für geeignet hielt, mich zu meiner Pflicht zurückzuführen. Jedenfalls eilte er sofort zu mir.
Unsere Unterredung verlief sehr freundschaftlich. Er fragte mich nach meinen Plänen, und ich öffnete ihm mein Herz bis auf das, was meine Flucht betraf.
»Ich will, lieber Freund«, sagte ich zu ihm, »vor deinen Augen nicht anders erscheinen, als ich bin. Wenn du glaubtest, hier einen frommen und von seinen Leidenschaften befreiten Freund zu finden, einen durch die Strafe des Himmels bekehrten Sünder, mit einem Wort, ein Herz, das sich von der Liebe und von Manons Zauber gelöst hat, dann hast du mir zuviel zugetraut. Du findest mich so, wie du mich vor vier Monaten verlassen hast, noch immer zärtlich und noch immer unglücklich durch diese unheilvolle Verliebtheit, in der allein ich mein Glück suche.«
Er antwortete mir, mein Geständnis entschuldige mich nicht.
»Es gibt wohl Sünder«, sagte er, »die sich an dem trügerischen Glück des Lasters so berauschen, daß sie es ganz öffentlich dem wahren Glück der Tugend vorziehen. Aber sie heften sich dann wenigstens an ein Phantom des Glücks und werden zum Opfer des trügerischen Scheins. Du aber erkennst an, daß der Gegenstand deiner Neigung dich nur in Schuld und Unglück verstrickt, und stürzt dich trotzdem freiwillig in Not und Verhängnis; das zeigt einen Widerspruch zwischen Denken und Handeln, der deinem Verstande nicht zur Ehre gereicht.«
»Tiberge«, erwiderte ich, »du magst leicht recht behalten, wenn man deinen Worten nicht widerspricht. Aber laß mich auch einmal meine Ansichten äußern. Kannst du behaupten, daß das von dir geschilderte Glück der Tugend frei von Schmerzen, Widerwärtigkeiten und Unruhe ist? Wie nennst du Kerker, Kreuzigung, Hinrichtung und Folter der Tyrannen? Willst du mit den Mystikern sagen, daß das, was den Körper quält, ein Heil für die Seele ist? Du wirst nicht wagen, das zu behaupten. Es wäre ein unhaltbarer Widerspruch. Dieses Glück, das du so hoch preist, ist mit tausend Schmerzen erkauft, oder, um mich noch genauer auszudrücken, es ist nur ein Dickicht von Mißgeschick, durch das hindurch man nach ihm strebt. Wenn also die Einbildungskraft in diesen Übeln selbst noch ein Glück sieht, weil sie zu einem erhofften glücklichen Ende führen können, warum bezeichnest du eine ganz ähnliche Verhaltensweise in meinem Leben als widerspruchsvoll und unvernünftig? Ich liebe Manon, ich strebe inmitten von tausend Schmerzen danach, an ihrer Seite glücklich und ruhig zu leben. Der Weg, den ich dabei gehe, ist unheilvoll, aber die Hoffnung, auf ihm zum Ziel zu gelangen, versüßt ihn mir. Es scheinen mir daher die Dinge auf meiner und auf deiner Seite ganz gleich zu stehen, oder wenn es einen Unterschied gibt, dann spricht er eher zu meinem Vorteil.«
Tiberge schien ganz erschrocken zu sein über meine Schlußfolgerung. Er wich zwei Schritte zurück und sagte mir mit todernstem Gesicht, daß das, was ich gesagt hätte, nicht nur der gesunden Vernunft widerspreche, sondern auch ein elender Trugschluß der Verworfenheit und Gottlosigkeit sei.
»Ich gebe zu«, erwiderte ich, »daß es nicht richtig ist. Aber bedenke wohl, daß meine Schlußfolgerung nicht darauf beruht. Ich wollte dir nur das erkären, was du in der Beständigkeit einer unglücklichen Liebe als Widerspruch bezeichnest, und ich glaube bewiesen zu haben, daß du diesem angeblichen Widerspruch ebensowenig entgehen kannst wie ich. Lediglich darum habe ich die Dinge miteinander verglichen, und ich wiederhole, daß sie in der gleichen Richtung liegen. Willst du mir nun antworten, daß das Ziel der Tugend unendlich erhabener ist als das der Liebe? Wer würde das nicht zugeben? Aber steht denn das überhaupt zur Diskussion? Handelt es sich nicht lediglich um die Kraft, die von beiden ausgeht und uns die Schmerzen erträglich macht? Beurteilen wir die Frage nach dem Ergebnis: Wie oft findet man Menschen, die der strengen Tugend untreu werden, und wie selten solche, die der Liebe den Rücken kehren! Du wirst nun wiederum antworten, daß ein tugendhaftes Leben Entbehrungen auferlegen kann – was aber nicht immer und notwendigerweise der Fall zu sein braucht –, daß es heute weder Tyrannen noch Kreuzigungen mehr gibt und man eine große Menge tugendhafter Menschen ein glückliches und ruhiges Leben führen sieht. Dann kann ich dir aber entgegenhalten, daß es friedliche und glückliche Liebesverhältnisse gibt und, was noch ganz besonders zu meinen Gunsten spricht, daß die Liebe, die uns oft enttäuscht, trotzdem Befriedigung und Freude gewährt, während die Religion fordert, daß man sich mit einem eintönigen, asketischen Leben zufriedengibt.«
Ich sah, daß er im Begriff war, mich in zornigem Eifer zu unterbrechen.
»Errege dich nicht«, fuhr ich deshalb fort, »das einzige, was ich hier noch beweisen möchte, ist, daß es keinen schlechteren Weg gibt, einem Herzen die Liebe zu verleiden, als ihm deren Süßigkeiten abzustreiten und ein größeres Glück durch die Ausübung der Tugend zu versprechen. Wir sind nun einmal so geschaffen, daß unser Glück in der Lust besteht, und ich bestreite jede andere Behauptung. Und das Herz braucht nicht lange zu überlegen, um zu fühlen, daß von allen Genüssen die Freuden der Liebe die süßesten Genüsse sind. Es erkennt rasch, daß man es betrügt, wenn man ihm anderswo angenehmere verspricht, und dieser Betrug führt dazu, daß es den aufrichtigsten Verheißungen mißtraut. Darum, ihr Prediger, die ihr mich zur Tugend zurückführen wollt, will ich euch glauben, daß diese Tugend durchaus notwendig ist, aber verheimlicht es mir auch nicht, daß sie bitter und beschwerlich ist. Zeigt, daß die Vergnügungen der Liebe flüchtig, daß sie sündhaft sind und zu ewigen Qualen führen, ja – was vielleicht noch stärkeren Eindruck auf mich machen würde –, daß, je süßer und reizender diese Freuden sein mögen, die Belohnung des Himmels dann um so größer sein wird, wenn wir auf sie verzichten. Aber gesteht, daß sie, wie unsere Herzen nun einmal veranlagt sind, hienieden unser vollkommenstes Glück ausmachen.«
Dieser Schluß meiner Ausführungen gab Tiberge seine gute Laune wieder. Er gab zu, daß etwas Vernünftiges in meinem Gedankengang liege, und machte nur den Einwarf, warum ich denn nicht meinen eigenen Grundsätzen folge und meine Liebe der Hoffnung auf diese Belohnung opfere, von der ich eine so hohe Vorstellung hätte.
»Oh, mein lieber Freund«, antwortete ich, »hieran erkenne ich mein Elend und meine Schwäche. Ach ja, es wäre meine Pflicht, nach meiner Erkenntnis zu handeln, aber bin ich denn Herr über mein Tun? Welcher Hilfe bedürfte ich nicht, um die Reize Manons zu vergessen«?
»Gott verzeihe mir«, fiel hier Tiberge ein, »aber du hast Ansichten, als wärest du ein Jansenist.«
»Ich weiß nicht, was ich bin«, antwortete ich, »aber wenn die Jansenisten sagen, daß das Schicksal von vornherein bestimmt ist, dann weiß ich aus eigener Erfahrung nur zu gut, daß sie recht haben.«
Diese Aussprache förderte zumindest das Mitleid meines Freundes. Er begriff, daß mich mehr meine Schwäche als meine Verdorbenheit verführt hatte. Deshalb war auch seine Freundschaft späterhin um so mehr geneigt, mir seine Hilfe zuteil werden zu lassen, ohne die ich zweifellos in meinem Unglück zugrunde gegangen wäre. Trotzdem ließ ich ihn nichts von meinem Vorsatz ahnen, aus Saint-Lazare zu entfliehen. Ich bat ihn nur, mir meinen Brief zu besorgen; diesen hatte ich schon vor seiner Ankunft geschrieben und unterließ nicht, ihn durch verschiedene Vorwände zu rechtfertigen. Tiberge war auch hilfreich genug, den Brief abzugeben, und Lescaut erhielt ihn, noch ehe der Tag zu Ende ging.
Am nächsten Tag kam Lescaut und gelangte auch glücklich unter dem Namen meines Bruders zu mir. Meine Freude war groß, als ich ihn in meinem Zimmer sah. Sorgfältig schloß ich die Tür hinter ihm zu.
»Verlieren wir keinen Augenblick«, sagte ich zu ihm. »Sagen Sie mir zunächst, was Sie von Manon wissen, und geben Sie mir dann einen Rat, wie ich meine Fesseln brechen kann.«
Er versicherte mir, daß er seit dem Tage, der meiner Festnahme vorangegangen war, seine Schwester nicht mehr gesehen habe, daß er mein und ihr Schicksal erst nach mühsamen Erkundigungen erfahren und sich zwei- oder dreimal im Arbeitshaus gemeldet habe, ohne daß man ihm die Besuchserlaubnis erteilt hätte.
»Elender G. M.«, rief ich aus, »das wirst du mir teuer büßen!«
»Was nun Ihre Befreiung angeht«, fuhr Lescaut fort, »so ist das nicht so einfach, wie Sie vielleicht denken. Ich habe gestern abend mit zwei Freunden alle äußeren Teile dieses Hauses besichtigt, und wir sind zu der Einsicht gekommen, daß es bei der Lage Ihrer Fenster, die – wie Sie schrieben – nach dem rings von Gebäuden umschlossenen Hof gehen, gar nicht so leicht sein wird, Ihnen zur Flucht zu verhelfen. Sie befinden sich außerdem im dritten Stockwerk, und wir können Ihnen weder Stricke noch Leitern zukommen lassen. Ich sehe daher keine Möglichkeit einer Hilfe von außen. Man müßte hier im Hause einen Weg ausfindig machen.«
»Nein«, erwiderte ich, »ich habe alles untersucht, besonders seitdem meine Haft – dank der Nachsicht des Priors – weniger streng ist. Meine Zimmertüre ist nicht mehr verschlossen, ich darf mich nach Belieben in den Wandelgängen der Mönche aufhalten. Aber alle Treppen sind durch dicke Türen verrammelt, die man Tag und Nacht sorgfältig verschlossen hält, so daß es unmöglich ist, mich lediglich durch eine List zu befreien.«
Ich schwieg eine Weile und dachte nach, bis mir plötzlich eine ausgezeichnete Idee kam.
»Passen Sie auf«, rief ich, »könnten Sie mir eine Pistole beschaffen«?
»Das dürfte nicht allzu schwierig sein«, antwortete Lescaut. »Wollen Sie jemanden töten«?
Ich versicherte ihm, ich hätte so wenig die Absicht, einen Menschen umzubringen, daß die Pistole nicht einmal geladen zu sein brauche.
»Bringen Sie mir die Waffe morgen mit«, fügte ich hinzu, »und versäumen Sie nicht, morgen abend um elf Uhr mit zwei oder drei Freunden gegenüber der Pforte auf mich zu warten. Ich hoffe, daß ich zu Ihnen gelange.«
Vergebens drängte er mich, ihm näheren Aufschluß zu geben. Ich antwortete, daß ein Unternehmen, wie es mir bevorstehe, erst dann als vernünftig beurteilt werden könne, wenn es geglückt sei. Ich bat ihn, seinem Besuch ein Ende zu machen, um mich desto leichter am nächsten Tag wieder besuchen zu dürfen. Er wurde tatsächlich auch wieder ohne Umstände vorgelassen. Bei seinem gesetzten Auftreten wäre niemand auf den Gedanken gekommen, ihn für etwas anderes als einen Ehrenmann zu halten.
Als ich mich im Besitz des Werkzeugs befand, das mir zur Freiheit verhelfen sollte, zweifelte ich nicht mehr am Erfolg meines Vorhabens. Es war seltsam und gewagt, aber konnte es bei meinen Beweggründen etwas geben, dessen ich nicht fähig gewesen wäre? Ich hatte, seit ich mein Zimmer verlassen und mich in den Wandelgängen aufhalten durfte, beobachtet, daß der Pförtner jeden Abend die Schlüssel aller Türen zum Prior brachte und daß dann tiefe Stille im Hause herrschte, zum Zeichen, daß alles zur Ruhe gegangen war. Ich konnte ungehindert durch einen Verbindungsgang aus meinem Zimmer in das des Priors gelangen. Mein Entschluß war, ihm die Schlüssel abzunehmen und ihn, falls er Schwierigkeiten machen sollte, mit meiner Pistole einzuschüchtern, um mit Hilfe dieser Schlüssel auf die Straße zu gelangen.
Mit Ungeduld erwartete ich die Stunde. Der Pförtner kam zur gewöhnlichen Zeit, das heißt kurz nach neun. Ich ließ noch eine Stunde vergehen, um sicher zu sein, daß alle Mönche und Dienstleute schliefen. Endlich brach ich mit meiner Waffe und einer brennenden Kerze auf. Ich klopfte leise an die Tür, um den Prior ohne Geräusch aufzuwecken. Er hörte erst beim zweiten Klopfen, und da er offenbar in dem Glauben war, es handle sich um einen Mönch, der sich krank fühle und seiner Hilfe bedürfe, stand er auf, um mir zu öffnen. Trotzdem war er vorsichtig genug, mich durch die Tür zu fragen, wer da sei und was man von ihm wolle. Ich war gezwungen, meinen Namen zu nennen, tat dies aber in so kläglichem Ton, daß er glaubte, ich befände mich nicht wohl.
»Ach, Sie sind es, mein lieber Sohn«? fragte er, indem er die Tür öffnete. »Was führt Sie denn so spät zu mir«?
Ich trat in sein Zimmer, und nachdem ich ihn in die der Tür gegenüberliegende Ecke gedrängt hatte, erklärte ich ihm, daß es mir unmöglich sei, länger in Saint-Lazare zu bleiben. Die Nacht sei eine geeignete Zeit, um unbemerkt zu entkommen, und ich erwarte von seiner Freundschaft, daß er mir die Türe öffnen oder mir die Schlüssel leihen würde, um es selbst zu tun.
Meine höfliche Anrede verblüffte ihn. Eine Weile verharrte er, ohne zu antworten. Da ich keine Zeit zu verlieren hatte, ergriff ich wieder das Wort und sagte ihm, daß ich seine Güte sehr zu schätzen wisse, aber die Freiheit stehe höher als alle Güter, besonders für mich, dem man sie so ungerechtfertigt vorenthalte. Ich sei daher entschlossen, sie mir diese Nacht um jeden Preis zu verschaffen. Und um ihm die Lust zu nehmen, mit lauter Stimme um Hilfe zu rufen, zeigte ich ihm jenen triftigen Grund zum Schweigen, den ich bisher unter meinem Mantel verborgen hatte.
»Eine Pistole!« rief er aus. »Wie, mein Sohn, Sie wollen mir das Leben nehmen zum Dank für die Wohltaten, die ich Ihnen erwiesen habe«?
»Das möge Gott verhüten!« antwortete ich ihm. »Sie sind zu klug und vernünftig, mich in diese Notwendigkeit zu versetzen. Aber ich will frei sein und bin dazu so fest entschlossen, daß es um Sie geschehen ist, wenn mein Plan durch Ihre Schuld mißlingt.«
»Aber, mein lieber Sohn«, erwiderte er, bleich und erschreckt. »Was habe ich Ihnen getan? Aus welchem Grunde begehren Sie meinen Tod«?
»Nein«, antwortete ich ungeduldig. »Ich habe nicht die Absicht, Sie zu töten. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, so öffnen Sie mir das Tor, und ich bin Ihr bester Freund.«
Ich sah die Schlüssel auf dem Tisch liegen, nahm sie und bat ihn, mir so geräuschlos wie möglich zu folgen.
Er war gezwungen, sich zu fügen. Auf dem Wege zum Tor und bei jeder Tür, die er aufschloß, wiederholte er seufzend: »Ach, mein Sohn, wer hätte das geglaubt!«
»Keinen Lärm, mein Vater!« wiederholte ich dagegen jeden Augenblick.
Endlich erreichten wir eine Art Barriere vor dem großen Straßentor. Ich glaubte schon, frei zu sein, und stand, in der einen Hand die Kerze, in der anderen meine Pistole, hinter dem Prior.
Während er sich aufzuschließen bemühte, hörte ein Bedienter, der in der Nähe des Tores in einer kleinen Kammer schlief, das Geräusch der Riegel, erhob sich und streckte den Kopf zu seiner Tür heraus. Der gute Pater hielt ihn offenbar für fähig, mich festzuhalten, und befahl unklugerweise, ihm zu Hilfe zu kommen. Er war ein kräftiger Bursche und stürzte sich, ohne zu überlegen, auf mich. Ich zögerte nicht lange und schoß ihm mitten durch die Brust.
»Das haben Sie verschuldet, mein Vater«, sagte ich schroff zu meinem Führer. »Es soll Sie aber nicht hindern, Ihren Auftrag auszuführen«, fügte ich hinzu und drängte ihn zur Tür.
Er wagte es nicht, mir das Öffnen zu verweigern. Ich gelangte glücklich hinaus und fand vier Schritte entfernt Lescaut, der mich, seinem Versprechen gemäß, mit zwei Freunden erwartete.
Wir suchten das Weite, und Lescaut fragte mich, ob ein Pistolenschuß gefallen sei.
»Das war Ihre Schuld«, sagte ich. »Warum hatten Sie geladen«?
Trotzdem dankte ich ihm für seine Vorsicht, ohne die ich zweifellos noch lange hätte in Saint-Lazare bleiben müssen. Wir gingen zu einem Speisewirt, bei dem wir die Nacht verbrachten und wo ich mich etwas von der mageren Kost der letzten drei Monate erholte. Trotzdem fühlte ich mich nicht sehr wohl und litt unaussprechlich bei dem Gedanken an Manon.
»Wir müssen sie befreien«, sagte ich zu meinen Freunden. »Ich habe mir nur aus diesem Grund die Freiheit gewünscht und bitte Sie, mir mit Ihrer Unterstützung zur Seite zu stehen. Ich selbst werde notfalls auch mein Leben aufs Spiel setzen.«
Lescaut, dem es nicht an Verstand und Vorsicht fehlte, wies darauf hin, daß man äußerst überlegt zu Werke gehen müsse. Meine Flucht aus Saint-Lazare und das Unglück, das ich dabei im letzten Augenblick angerichtet hatte, würden zweifellos Aufsehen erregen. Der Polizeipräfekt würde nach mir suchen lassen, und dieser habe einen langen Arm. Wenn ich also nicht noch Schlimmeres als Saint-Lazare ertragen wolle, dann sollte ich mich einige Tage verstecken und einschließen, bis sich die erste Wut meiner Feinde etwas gelegt habe.
Sein Rat war klug, nur hätte ich auch so vernünftig sein müssen, ihn zu befolgen. Aber so viel Vorsicht und Langsamkeit stimmten nicht mit meinem leidenschaftlichen Charakter überein, und ich versprach ihm lediglich, den ganzen folgenden Tag schlafend zu verbringen. Er schloß mich in sein Zimmer ein, wo ich bis zum Abend verblieb.
Einen Teil dieser Zeit verbrachte ich damit, Pläne und Mittel auszudenken, um Manon zu retten. Ich war fest davon überzeugt, daß ihr Gefängnis noch unzugänglicher sein müsse, als es das meinige gewesen war. Von gewaltsamem Vorgehen konnte also keine Rede sein, es war List erforderlich. Aber selbst die Göttin der Verschlagenheit wäre hier in Verlegenheit gewesen. Die Sache erschien mir so dunkel, daß ich beschloß, mich erst dann mit Plänen zu befassen, wenn ich einige Erkundigungen über die innere Einrichtung des Arbeitshauses eingezogen hätte.
Als mir der Abend die Freiheit wiedergab, bat ich Lescaut, mich zu begleiten. Wir knüpften mit einem der Pförtner, der mir ein vernünftiger Mann zu sein schien, ein Gespräch an. Ich gab an, ein Fremder zu sein, der mit Bewunderung vom Arbeitshaus und der darin herrschenden Ordnung habe reden hören. Ich befragte ihn über die geringsten Einzelheiten, und so kamen wir von einem Gegenstand auf den anderen und schließlich auch auf die Verwaltungsbeamten zu sprechen, nach deren Namen und Eigenheiten ich mich erkundigte.
Seine Auskunft über die Beamten gab mir einen Gedanken ein, zu dem ich mich nur beglückwünschen konnte und den ich sofort ausführte. Ich fragte ihn – als wesentliche Voraussetzung zur Durchführung meines Planes –, ob diese Herren auch Kinder hätten. Er konnte mir darüber keine ganz sicheren Angaben machen. Aber was Herrn de T. angehe, eine der maßgebendsten Persönlichkeiten, so kenne er einen erwachsenen Sohn von ihm, der mehrmals mit seinem Vater in das Arbeitshaus gekommen sei. Diese Information genügte mir.
Ich brach unsere Unterhaltung rasch ab und teilte Lescaut auf dem Heimweg meinen Plan mit.
»Ich glaube«, sagte ich zu ihm, »dieser junge Herr de T., der reich und von guter Herkunft ist, wird, wie die meisten jungen Leute seines Alters, einen gewissen Hang zum Vergnügen haben. Jedenfalls dürfte er kein Feind der Frauen sein und sich daher auch nicht weigern, in einem Liebeshandel seine Hilfe zu gewähren. Ich habe die Absicht, ihn für die Befreiung Manons zu gewinnen. Wenn er ein edler Charakter und ein Mann von Mitgefühl ist, wird er uns schon aus Großmut helfen. Sollte er einer solchen Empfindung nicht fähig sein, so wird er doch wenigstens etwas für ein hübsches Mädchen tun, wenn auch nur in der Hoffnung, an ihrer Gunst teilhaben zu können. Ich werde ihn schon morgen aufsuchen, denn ich fühle mich durch meinen Plan so getröstet, daß es mir ein günstiges Vorzeichen zu sein scheint.«
Lescaut gab zu, daß meine Ideen einige Aussicht auf Erfolg versprächen und daß wir auf diesen Plan unsere Hoffnung setzen könnten. Ich verbrachte die Nacht in sehr zuversichtlicher Stimmung.
Am Morgen zog ich mich so sorgfältig an, wie es mir in meiner dürftigen Situation nur möglich war, und ließ mich im Wagen in die Wohnung des Herrn de T. fahren. Er war überrascht, den Besuch eines ihm Unbekannten zu empfangen. Sein Gesichtsausdruck und sein zuvorkommendes Wesen ließen mich sofort Gutes hoffen, und ich erzählte ihm unbefangen, was mir am Herzen lag. Um vor allem sein natürliches Mitgefühl anzusprechen, schilderte ich meine Leidenschaft und die Vorzüge meiner Geliebten wie Dinge, die mit nichts verglichen werden konnten. Er sagte mir, er habe Manon zwar nie gesehen, aber doch von ihr reden hören, falls es sich um die ehemalige Geliebte des alten de G. M. handle. Natürlich war ich nicht im Zweifel, daß er über meinen Anteil an der ganzen Geschichte unterrichtet sei, und um ihn durch mein Vertrauen noch mehr für mich einzunehmen, erzählte ich ihm ausführlich alles, was Manon und mir zugestoßen war.
»Sie sehen, mein Herr«, fuhr ich fort, »daß ich das Schicksal meines Lebens und meiner Liebe in Ihre Hände lege. Das eine gilt mir nicht mehr als das andere. Ich habe Ihnen nichts verheimlicht, weil man mir von Ihrem Edelmut erzählt hat und die Gemeinschaft unseres jugendlichen Alters mich hoffen läßt, daß auch unsere Gesinnung übereinstimmt.«
Meine Offenheit und Treuherzigkeit beeindruckten ihn sehr. Er antwortete mir wie ein Mann von Welt, der zugleich auch Gefühl hat – was in der Welt nicht immer selbstverständlich ist, in der die Gefühle verlorengehen –, und sagte, daß er meinen Besuch zu den guten Ereignissen seines Lebens rechne, daß er meine Freundschaft als eine seiner glücklichsten Erwerbungen betrachte und sich bemühen werde, sie durch tatkräftige Anteilnahme zu verdienen. Er versprach nicht, mir Manon zurückzugeben, weil er, wie er mir sagte, nur einen geringen und unsicheren Einfluß habe. Aber er erbot sich, mir das Vergnügen zu verschaffen, sie zu sprechen, und wollte alles tun, was in seiner Macht lag, um sie in meine Arme zurückzuführen.
Ich war mehr befriedigt von dem Eingeständnis der Fragwürdigkeit seiner Hilfe, als ich es von einer uneingeschränkten Versicherung der Erfüllung aller meiner Wünsche gewesen wäre. Ich sah gerade in der Zaghaftigkeit seines Anerbietens ein mich beruhigendes Zeichen seiner Offenheit. Mit einem Wort – ich erhoffte mir alles von seinem ehrlichen Wohlwollen. Allein das Versprechen, mich Manon sehen zu lassen, hätte mich bewogen, alles für ihn zu tun. Wir umarmten uns zärtlich und wurden Freunde.
Er ging in den Beweisen seiner Zuneigung noch weiter, denn nachdem er meine Erlebnisse erfahren hatte, begriff er, daß ich mich nach meiner Flucht aus Saint-Lazare nicht gerade in den besten Verhältnissen befinden konnte; und er drängte mich, seine Börse anzunehmen. Aber ich schlug sie aus.
»Das ist zuviel, mein lieber Freund«, sagte ich zu ihm. »Wenn Sie durch Ihre große Güte und Freundschaft es mir ermöglichen, meine teure Manon wiederzusehen, dann bin ich Ihnen für mein ganzes Leben verbunden.
Und wenn Sie mir dieses liebe Geschöpf ganz und gar zurückgeben, dann glaube ich nicht, es Ihnen je vergelten zu können, auch wenn ich für Sie mein Blut vergösse.«
Wir trennten uns, nicht ohne Zeit und Ort zu verabreden, wo wir uns wiedersehen wollten. Er war gefällig genug, dieses Wiedersehen nicht länger als bis zum Nachmittag des gleichen Tages zu verschieben.
Ich erwartete ihn in einem Kaffeehaus, wo er mich gegen vier Uhr abholte, und wir fuhren zusammen zum Arbeitshaus. Meine Knie zitterten, als ich die Höfe durchschritt.
»O heilige Liebe«, sagte ich, »ich werde den Abgott meines Herzens, den Gegenstand so vieler Tränen und Sorgen wiedersehen! Himmel, laß mich nur so lange leben, bis ich zu ihr gelange, und verfüge dann über mein Schicksal und meine Tage. Ich habe keine andere Gnade zu erbitten.«
Herr de T. sprach mit einigen Aufsehern des Hauses, die sich erboten, ihm in allem, was von ihnen abhinge, zu seiner Verfügung zu stehen. Er ließ sich in jenen Teil des Gebäudes bringen, in dem Manon ihr Zimmer hatte, und man führte uns dahin und öffnete uns die Türe mit einem Schlüssel von ungeheurer Größe. Ich fragte den uns begleitenden Wärter, dem auch ihre Beaufsichtigung oblag, auf welche Weise sie ihre Zeit an diesem Ort verbracht habe.
Er sagte uns, sie sei von einer engelhaften Sanftmut und er habe nie ein rohes Wort von ihr gehört. Während der ersten sechs Wochen nach ihrer Ankunft habe sie unaufhörlich Tränen vergossen, aber seit einiger Zeit scheine sie sich in ihr Geschick mit größerer Geduld zu fügen und beschäftige sich – mit Ausnahme einiger Stunden, die sie lesend verbringe – vom Morgen bis zum Abend mit Näharbeiten.
Ich fragte ihn noch, ob sie gut behandelt worden sei, und er antwortete mir, daß es ihr wenigstens am Nötigsten niemals gefehlt habe.
Wir näherten uns ihrer Tür, und mein Herz schlug heftig.
»Treten Sie allein ein«, sagte ich zu Herrn de T., »und bereiten Sie sie auf meinen Besuch vor; denn ich fürchte, es wird sie zu sehr erregen, wenn sie mich plötzlich vor sich sieht.«
Die Tür wurde geöffnet, und ich blieb im Gang. Trotzdem konnte ich ihr Gespräch hören. Er sagte zu ihr, er sei gekommen, um ihr ein wenig Trost zu bringen. Er sei ein Freund von mir und nehme großen Anteil an unserem Geschick. Sie fragte ihn in lebhafter Erregung, ob er ihr nicht sagen könne, was aus mir geworden sei. Da versprach er ihr, sie werde mich so zärtlich und so treu, wie sie mich nur wünschen könne, zu ihren Füßen sehen.
»Wann«? rief sie aus,
»Noch heute«, antwortete er. »Dieser glückliche Augenblick ist nicht fern, und wenn Sie es wünschen, wird er sogleich eintreten.«
Sie begriff, daß ich vor der Tür stand, und gerade als sie eilends auf dieselbe zustürzte, trat ich ein. Wir umarmten uns mit jener überströmenden Zärtlichkeit, die für wahrhaft Liebende nach einer Trennung von drei Monaten das höchste Glück ist. Unsere Seufzer, unsere Ausrufe der Verzückung und die tausend Liebesworte, die wir beide voller Innigkeit sprachen, boten eine Viertelstunde lang Herrn de T. ein ergreifendes Schauspiel.
»Ich beneide Sie«, sagte er, indem er uns niedersetzen hieß. »Es gibt kein noch so ruhmreiches Schicksal, dem ich nicht eine so schöne und so leidenschaftliche Geliebte vorziehen würde.«
»Darum verzichte ich auf alle Herrlichkeiten der Welt«, antwortete ich, »um mich des Glücks ihrer Liebe zu versichern.« Natürlich war auch der weitere Verlauf einer so inbrünstig ersehnten Unterredung unendlich zärtlich. Die arme Manon erzählte mir ihre Erlebnisse und ich ihr die meinigen. Wir vergossen bittere Tränen über den Zustand, in dem sie sich befand und dem ich soeben entronnen war. Herr de T. tröstete uns durch das erneute Versprechen, sich mit vollem Eifer einzusetzen, um unserem Elend ein Ende zu machen. Er riet uns, diese erste Zusammenkunft nicht zu lange auszudehnen, um es ihm zu erleichtern, uns neue Gelegenheiten zu verschaffen. Es kostete ihn viel Mühe, daß wir seinem guten Rat Gehör schenkten. Vor allem konnte sich Manon nicht entschließen, mich wieder fortzulassen. Sie drückte mich wohl hundertmal wieder auf meinen Stuhl nieder und hielt mich an den Kleidern und den Händen fest.
»Ach, an welchem Ort läßt du mich hier zurück!« sagte sie, »Wer bürgt mir, daß ich dich wiedersehe«?
Herr de T. versprach ihr, oft mit mir zu Besuch zu kommen.
»Was diesen Ort angeht«, fügte er liebenswürdig scherzend hinzu, »so darf man ihn nicht länger ein Arbeitshaus nennen. Es ist ein Versailles, seit eine Dame hier wohnt, die es verdient, über alle Herzen zu herrschen.«
Als wir gingen, machte ich dem Wärter, der sie zu betreuen hatte, ein Geschenk, um ihn zu verpflichten, mit Eifer für sie zu sorgen. Der Bursche hatte eine weniger gewöhnliche und harte Seele als seine Kameraden. Er war Zeuge unseres Zusammenseins gewesen, und dieses zärtliche Schauspiel hatte ihn gerührt. Durch einen Louisdor, den ich ihm gab, versicherte ich mich seiner Ergebenheit, und als wir zum Hof hinabstiegen, nahm er mich beiseite.
»Mein Herr«, sagte er zu mir, »wenn Sie mich in Ihren Dienst nehmen oder mir eine angemessene Entschädigung für den Verlust meiner Stelle bieten, wird es mir leicht sein, Fräulein Manon zu befreien.«
Ich schenkte diesem Vorschlag gern Gehör, und obgleich ich von allen Mitteln entblößt war, machte ich ihm Versprechungen, die weit über seine Wünsche hinausgingen. Ich rechnete darauf, daß es mir kaum schwerfallen dürfte, einen Mann seines Standes zu entschädigen.
»Sei überzeugt, mein Freund«, sagte ich zu ihm, »daß es nichts gibt, was ich nicht für dich täte, und daß dein Glück ebenso gesichert ist wie das meinige.«
Dann fragte ich ihn, welche Mittel er anzuwenden beabsichtige.
»Kein anderes«, sagte er, »als ihr eines Abends die Türe ihres Zimmers aufzuschließen und sie bis zur Haustür zu führen, wo Sie sich bereithalten müssen, sie in Empfang zu nehmen.« Ich fragte ihn, ob denn nicht zu befürchten sei, daß sie auf dem Weg durch die Gänge und Höfe erkannt werde. Er gestand, daß freilich eine Gefahr bestehe, meinte aber, daß man ein gewisses Risiko immer auf sich nehmen müsse.
Obgleich ich froh war, ihn so entschlossen zu sehen, wandte ich mich noch an Herrn de T., um ihm den Plan und das einzige Bedenken, das ihn zweifelhaft machen konnte, mitzuteilen. Er fand die Sache noch bedenklicher als ich, wenn er auch einräumte, daß sie auf diese Art entkommen könne.
»Aber, wenn sie erkannt wird«, fuhr er fort, »und auf der Flucht ergriffen wird, dann ist es vielleicht für immer um sie geschehen. Im übrigen müssen Sie beide Paris sofort verlassen, denn Sie können sich vor den Nachforschungen hier nicht sicher genug verstecken. Auf Grund der Akten über Sie und Ihre Geliebte wird man die Nachforschungen verdoppeln. Ein Mann allein kann leicht entfliehen, aber es ist unmöglich, mit einer hübschen Frau unerkannt zu bleiben.«
So vernünftig mir auch sein Einwand erschien, er konnte doch nicht eine so nahe Hoffnung, Manon zu befreien, in meinem Geist besiegen. Ich sagte es Herrn de T. und bat ihn, meiner Liebe die Unbesonnenheit und Verwegenheit nachzusehen. Ich fügte allerdings hinzu, es sei meine Absicht, Paris zu verlassen und mich, wie schon bei früherer Gelegenheit, in einem benachbarten Ort aufzuhalten.
Wir kamen also mit dem Gefängnisdiener überein, unser Unternehmen schon am nächsten Abend durchzuführen, und um den Erfolg so gut wie möglich zu sichern, beschlossen wir, Männerkleidung zur Erleichterung der Flucht zu beschaffen. Es war nicht leicht, sie einzuschmuggeln, aber ich fand schließlich eine entsprechende Möglichkeit. Ich bat Herrn de T., am nächsten Tag zwei leichte Röcke übereinander anzuziehen, für das andere wollte ich selber sorgen.
Am nächsten Morgen kehrten wir in das Arbeitshaus zurück. Ich trug für Manon Wäsche, Strümpfe und dergleichen bei mir und über meinem Rock noch einen Überrock, der die vollgestopften Taschen verbarg. Wir blieben nur einen Augenblick in ihrem Zimmer. Herr de T. überließ ihr einen seiner Röcke, ich gab ihr meine Jacke, da mir der Überrock beim Hinausgehen genügte. So fehlte nichts an ihrer Kleidung als die Hose, die ich unglücklicherweise vergessen hatte. Ein solch unerläßliches Kleidungsstück vergessen zu haben, hätte uns sicherlich Anlaß zum Lachen gegeben, wenn die Verlegenheit, in der wir uns befanden, nicht so ernst gewesen wäre. Ich war verzweifelt, daß uns eine solche Kleinigkeit einen Strich durch die Rechnung machen sollte. Schließlich faßte ich den Entschluß, ohne Hose fortzugehen, indem ich Manon die meine überließ. Mein Überrock war lang, und mit Hilfe von einigen Stecknadeln gelang es mir, ohne aufzufallen zum Tor hinauszukommen.
Der Rest des Tages schien mir unerträglich lang. Als endlich die Nacht gekommen war, begaben wir uns in einem Wagen bis in die Nähe des Arbeitshauses. Wir hatten noch nicht lange gewartet, als Manon mit ihrem Begleiter erschien. Unsere Wagentür stand offen, und sie stiegen schnell ein. Ich nahm meine Geliebte in die Arme, die wie Espenlaub zitterte. Der Kutscher fragte mich, wohin er fahren solle.
»Fahr ans Ende der Welt«, sagte ich, »und führe mich an einen Ort, wo ich niemals wieder von Manon getrennt werden kann.«
Diese Überschwenglichkeit, derer ich nicht Herr war, hätte mich beinahe in eine schlimme Verlegenheit gebracht. Der Kutscher dachte über meine Worte nach, und als ich ihm dann die Straße nannte, wohin wir fahren wollten, antwortete er, daß er fürchte, sich in eine böse Geschichte eingelassen zu haben. Er sehe wohl, daß dieser hübsche junge Mann, der sich Manon nenne, ein Mädchen sei, das ich aus dem Arbeitshaus entführt habe, und er sei nicht gesonnen, sich mir zuliebe ins Unglück zu stürzen.
Das zarte Gewissen dieses Halunken entsprang natürlich nur dem Wunsch, möglichst viel zu verdienen. Noch waren wir dem Arbeitshaus zu nahe, um so mit ihm zu verfahren, wie er es verdient hätte.
»Schweig«, rief ich ihm daher zu, »du sollst einen Louisdor erhalten!«
Dafür hätte er mir geholfen, das Arbeitshaus in Brand zu stecken.
Wir erreichten das Haus, in dem Lescaut wohnte. Da es schon spät war, hatte Herr de T. uns unterwegs mit dem Versprechen verlassen, uns am nächsten Tag zu besuchen. Nur der Gefängnisdiener blieb bei uns.
Ich hielt Manon so fest in meinen Armen, daß wir im Wagen nur einen Platz beanspruchten. Sie weinte vor Freude, und ihre Tränen benetzten mein Gesicht.
Als ich aussteigen mußte, um zu Lescaut hinaufzugehen, bekam ich mit dem Kutscher wieder Unannehmlichkeiten, die sehr verhängnisvolle Folgen hatten. Ich bereute es, ihm einen Louisdor versprochen zu haben, nicht nur, weil der Betrag unangemessen hoch war, sondern aus einem anderen, viel triftigeren Grunde – ich sah mich nämlich überhaupt nicht in der Lage, ihn zu bezahlen. Ich ließ daher Lescaut rufen; er kam herab, um die Haustüre zu öffnen, und ich flüsterte ihm ins Ohr, in welcher Verlegenheit ich sei. Da er aber schlecht gelaunt und auch nicht gewohnt war, mit einem Kutscher große Umstände zu machen, fragte er mich, ob ich scherze.
»Einen Louisdor!« fügte er hinzu. »Zwanzig Stockhiebe reichen für den Gauner!«
Ich versuchte, ihm leise vorzustellen, daß er uns ins Verderben stürzen werde, aber er entriß mir meinen Stock und machte Miene, den Kutscher zu verprügeln. Dieser war vielleicht schon einmal einem Gardisten oder Musketier in die Hände gefallen – er machte mit seinem Wagen kehrt und schrie, ich hätte ihn betrogen, aber ich werde noch von ihm hören. Vergebens rief ich ihm hinterher, er möge halten.
Seine Flucht erfüllte mich mit größter Besorgnis, denn ich zweifelte nicht, daß er die Polizei benachrichtigen werde. »Sie stürzen mich ins Unglück«, sagte ich zu Lescaut. »Bei Ihnen bin ich nicht sicher, ich muß sofort weiter.«
Ich reichte Manon den Arm, und wir verließen schnell diese gefährliche Straße. Lescaut begleitete uns. –
Der Chevalier des Grieux hatte über eine Stunde erzählt, und ich bat ihn, sich etwas zu erfrischen und uns beim Essen Gesellschaft zu leisten. Er ersah aus unserer Aufmerksamkeit, daß wir ihm voller Teilnahme zugehört hatten, und versicherte uns, wir würden im weiteren Verlauf seiner Geschichte noch interessantere Erlebnisse zu hören bekommen. Als wir mit dem Essen fertig waren, fuhr er fort:
Es ist etwas Wunderbares in der Art, wie die Vorsehung die Begebenheiten verkettet. Kaum waren wir fünf oder sechs Schritte gegangen, als ein Mann, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte, auf Lescaut zutrat. Offenbar lauerte er ihm in der Nähe seiner Wohnung in einer schrecklichen Absicht auf, die er auch in die Tat umsetzte.
»Das ist Lescaut«, sagte er, indem er eine Pistole auf ihn abfeuerte. »Heute kann er mit den Engeln zu Abend speisen.«
Er verschwand sofort, und Lescaut fiel ohne das geringste Lebenszeichen zu Boden. Ich drängte Manon zur Flucht, denn unsere Hilfe wäre bei einer Leiche vergebens gewesen; zudem fürchtete ich, von der Wache, die jeden Augenblick erscheinen konnte, verhaftet zu werden. Ich bog mit ihr und dem Wärter in die erste kleine Seitengasse ein.
Manon war fast bewußtlos, und ich hatte Mühe, sie aufrecht zu halten. Endlich bemerkte ich am Ende der Straße eine Droschke, und wir stiegen ein. Als mich der Kutscher fragte, wohin wir fahren wollten, wußte ich keine Antwort. Ich besaß keinen sicheren Zufluchtsort, keinen vertrauten Freund, an den ich mich hätte wenden können. Von Schrecken und Müdigkeit überwältigt, saß Manon halb ohnmächtig neben mir. Außerdem beschäftigte die Ermordung Lescauts meine Einbildung, und ich fürchtete noch immer die Wache. Welchen Entschluß sollte ich fassen?
Zum Glück erinnerte ich mich an den Gasthof in Chaillot, in dem ich einige Tage mit Manon verbracht hatte, als wir in dieses Dorf gekommen waren, um uns dort häuslich niederzulassen. Ich hoffte, hier nicht nur in Sicherheit zu sein, sondern auch einige Zeit ohne Bezahlung wohnen zu können.
»Fahr uns nach Chaillot«, sagte ich zum Kutscher.
Er weigerte sich, für weniger als eine Pistole so spät dorthin zu fahren, was mich in neue Verlegenheit setzte. Endlich einigten wir uns auf sechs Franken – das ganze Geld, das ich in der Tasche hatte.
Unterwegs tröstete ich Manon, aber im Grunde meines Herzens war ich selbst verzweifelt. Tausendmal lieber wäre mir der Tod gewesen, wenn ich nicht das einzige, was mich ans Leben fesselte, in meinen Armen gehalten hätte. Nur der Gedanke an sie hielt mich aufrecht.
»Ich habe wenigstens sie«, sagte ich mir. »Sie liebt mich, sie gehört mir. Tiberge hat gut reden, daß dies nur ein Scheinbild des Glücks sei. Ich könnte ruhig zusehen, wie die ganze Welt untergeht. Warum? Weil mir alles außer ihr gleichgültig ist.«
Ich empfand wirklich so. Trotzdem aber war es mir gerade jetzt, da ich mir so wenig aus allen Gütern der Erde machte, durchaus klar, daß ich wenigstens einen kleinen Teil von diesen Gütern besitzen mußte, um den Rest desto stolzer verachten zu können. Die Liebe ist stärker als der Überfluß, stärker als alle Schätze und Reichtümer, aber sie braucht dennoch deren Hilfe, und nichts kann einen zartfühlenden Liebhaber so in Verzweiflung bringen, als eben dadurch wider Willen sich auf das Niveau der menschlichen Gemeinheit herabgezogen zu sehen.
Es war elf Uhr, als wir in Chaillot ankamen. Wir wurden in dem Gasthof als alte Bekannte aufgenommen. Man war nicht erstaunt, Manon in Männerkleidung zu sehen, denn in Paris und in seiner Umgebung ist man daran gewöhnt, daß die Frauen allerlei Verkleidung tragen. Ich ließ so reichlich auftischen, als befände ich mich in den besten Vermögensverhältnissen. Sie wußte nicht, daß ich kein Geld hatte, und ich hütete mich auch, ihr etwas davon zu sagen, denn ich war entschlossen, am nächsten Tag allein nach Paris zurückzukehren, um ein Heilmittel gegen diese fatale Krankheit aufzutreiben.
Beim Essen sah ich, wie bleich und abgemagert sie war. Ich hatte es im Arbeitshaus nicht bemerkt, denn das Zimmer, in dem ich sie besuchte, war nicht sehr hell gewesen. Ich fragte sie, ob dies etwa noch eine Folge des eben erlebten Schreckens sei. Sie versicherte mir, sosehr sie dieses Ereignis auch ergriffen habe, so rühre ihre Blässe doch nur daher, daß sie drei Monate lang meine Abwesenheit erdulden mußte.
»Du liebst mich also sehr«? fragte ich.
»Tausendmal mehr, als ich dir sagen kann«, antwortete sie.
»Und du würdest mich auch nie wieder verlassen«? fügte ich hinzu.
»Nein, niemals«, erwiderte sie.
Diese Versicherung bekräftigte sie mit so vielen Küssen und Beteuerungen, daß es mir wirklich unmöglich erschien, sie könne sie jemals vergessen. Ich war stets von ihrer Aufrichtigkeit überzeugt. Welchen Grund sollte sie auch haben, sich so weitgehend zu verstellen? Sie war nur viel flatterhafter, als ich je gedacht, oder vielmehr, sie war völlig willenlos und kannte, sobald sie sich in Armut und Not befand und andere Frauen im Überfluß sah, keine Selbstbeherrschung. Ich sollte dafür bald einen letzten Beweis erhalten, der alle früheren in den Schatten stellte und das seltsamste Abenteuer zur Folge hatte, das jemals einem Mann von meiner Herkunft und meinen Verhältnissen widerfahren ist.
Da ich diese Gemütsanlage Manons kannte, beeilte ich mich, am nächsten Tag nach Paris zu gelangen. Der Tod ihres Bruders und die Notwendigkeit, Wäsche und Kleider für sie und mich zu besorgen, waren so gute Gründe, daß ich nicht erst einen besonderen Vorwand zu suchen brauchte. Ich verließ, wie ich Manon und dem Wirt sagte, den Gasthof in der Absicht, mir eine Droschke zu besorgen. Aber das war nur Aufschneiderei, denn die Not zwang mich, zu Fuß zu gehen. Ich marschierte so schnell wie möglich bis Cours-la-Reine, wo ich Rast machen wollte. Ich hatte tatsächlich etwas Einsamkeit und Ruhe nötig, um mir zu überlegen, was ich in Paris unternehmen könnte.
Ich setzte mich ins Gras und überließ mich einem Meer von Gedanken und Betrachtungen, die sich nach und nach alle auf drei Hauptpunkte konzentrierten. Ich benötigte sofort Geld für eine große Anzahl dringender Bedürfnisse; ich mußte eine Möglichkeit finden, die mir wenigstens Hoffnung für die Zukunft gab, und – was nicht von geringerer Bedeutung war – ich mußte Erkundigungen einziehen und Maßnahmen ergreifen, die zu Manons und meiner Sicherheit dienten. Als ich mich in Plänen und Erwägungen über diese drei Punkte erschöpft hatte, kam ich zu dem Schluß, die beiden letzteren vorläufig noch zurückzustellen. In unserem Zimmer in Chaillot waren wir ja vorerst sicher, und was die zukünftigen Bedürfnisse anging, so hatte ich wohl noch Zeit, daran zu denken, sobald erst einmal die augenblicklichen befriedigt waren.
Es handelte sich also zunächst darum, meine Börse zu füllen. Herr de T. hatte mir großzügig die seine angeboten, aber es widerstrebte mir, ihn daran zu erinnern. Was ist das für eine klägliche Rolle, wenn man einem Fremden sein Elend schildern und ihn bitten muß, mit Geld zu helfen!
»Tiberge«, sagte ich mir, »der gute Tiberge –- wird er sich weigern, mir nach bestem Vermögen zu helfen? Nein, mein Elend wird ihn rühren, aber er wird mich mit seinen Moralpredigten umbringen. Ich werde seine Vorwürfe, seine Beschwörungen und Drohungen aushalten müssen. Er wird mich für seine Hilfe so teuer bezahlen lassen, daß ich lieber auch noch die zweite Hälfte meines Blutes dahingäbe, als mich diesem peinlichen Auftritt auszusetzen, der mir nur Aufregung und Gewissensbisse verursachen konnte. Gut!« fuhr ich fort, »ich muß also auf jede Hoffnung verzichten, denn es bleibt mir kein anderer Ausweg, wenn ich von diesen beiden Möglichkeiten so ungern Gebrauch mache, daß ich lieber die Hälfte meines Blutes vergösse, ehe ich mich zu einer von beiden entschiede, das heißt, daß ich lieber mein ganzes Blut hingäbe, ehe ich beides erwählte. Ja, all mein Blut«, fügte ich nach kurzem Nachdenken hinzu, »opferte ich lieber, als mich zu einer erniedrigenden Bettelei herbeizulassen.«
Ich brauchte nicht lange, um nach dieser Überlegung zu einem Entschluß zu kommen. Ich machte mich wieder auf den Weg und nahm mir vor, zuerst zu Tiberge und dann zu Herrn de T. zu gehen.
Als ich in Paris ankam, nahm ich eine Droschke, obgleich ich kein Geld hatte, um sie zu bezahlen, ich rechnete auf die Hilfe, um die ich bitten wollte. Ich ließ mich zum Luxembourg fahren und schickte Nachricht zu Tiberge, daß ich ihn dort erwarte. Er entsprach meiner Ungeduld durch ein schnelles Erscheinen, und ich teilte ihm ohne Umschweife mit, in welcher äußersten Not ich mich befände. Er fragte mich, ob die hundert Pistolen, die ich ihm zurückgegeben hätte, mir genügen würden, und ohne auch nur ein Wort einzuwenden, holte er sie mit jener Bereitwilligkeit und Großmut, die nur die Liebe und die wahre Freundschaft kennt.
Ich hatte nicht im geringsten am Erfolg meiner Bitte gezweifelt, war aber erstaunt, sie so leichten Kaufs, das heißt ohne Vorwürfe wegen meiner Unbußfertigkeit, erfüllt zu sehen. Aber ich täuschte mich, als ich glaubte, ganz ohne Vorwurf davonzukommen. Denn als er mir das Geld aufgezählt hatte, bat er mich, mit ihm einen Gang durch die Anlagen zu machen. Ich hatte ihm noch nichts von Manon gesagt, und er wußte nicht, daß sie sich in Freiheit befand. Darum richtete sich seine Strafpredigt auch nur gegen meine waghalsige Flucht, und er gab seiner Besorgnis Ausdruck, daß ich, statt die empfangenen Ermahnungen zur Tugend zu beherzigen, mich wieder in mein ausschweifendes Leben stürzen werde.
Er erzählte mir, daß er am Tage nach meinem Entweichen mich in Saint-Lazare besuchen wollte und dort zu seiner unbeschreiblichen Bestürzung erfuhr, auf welche Weise ich entkommen war. Er habe dann mit dem Prior eine Unterredung gehabt, und dieser gute Pater sei, obwohl er sich noch nicht von seinem Schrecken erholt hatte, so großmütig gewesen, dem Polizeipräsidenten die näheren Umstände meines Entweichens zu verheimlichen und auch den Tod des Bedienten zu verschweigen, so daß ich also in dieser Hinsicht nichts zu befürchten habe. Wenn mir aber noch ein Rest von Gottesfurcht geblieben sei, müsse ich die glückliche Wendung nützen, die der Himmel meinem Schicksal gegeben habe. Vor allem müsse ich an meinen Vater schreiben, mich mit ihm aussöhnen und, wenn ich einmal seinem Rate folgen wolle, Paris verlassen und in den Schoß meiner Familie zurückkehren.
Ich hörte seine Worte bis zu Ende an. Sie enthielten viel Gutes. Vor allem war ich erleichert, nichts mehr von Saint-Lazare befürchten zu müssen, denn nun konnte ich mich wieder frei in den Straßen von Paris bewegen. Zum zweiten beglückwünschte ich mich, daß Tiberge nicht die geringste Ahnung von Manons Befreiung und ihrer Rückkehr zu mir hatte. Mir fiel sogar auf, daß er es ausdrücklich vermied, sie mir gegenüber zu erwähnen, weil er wahrscheinlich der Meinung war, nachdem ich ihm so gefaßt erschien, mein Herz habe sich mehr oder weniger von ihr gelöst.
Ich beschloß, wenn auch nicht zu meiner Familie zurückzukehren, so doch, wie er mir riet, meinem Vater zu schreiben und ihm meine Bereitwilligkeit mitzuteilen, die Pflichten des Gehorsams zu erfüllen. Ich hoffte, ihn – unter dem Vorwand, meine Studien fortsetzen zu wollen – zu veranlassen, mir Geld zu schicken; denn ich hätte ihn schwerlich davon überzeugen können, daß ich in den geistlichen Stand zurückkehren wollte. Im Grunde war ich auch gar nicht abgeneigt, mein Versprechen zu halten. Im Gegenteil, es wäre mir sehr angenehm gewesen, einer anständigen und vernünftigen Beschäftigung nachzugehen, vorausgesetzt, daß sich diese mit meiner Liebe vereinbaren ließ. Ich rechnete mit der Möglichkeit, meine Studien zu betreiben und zugleich mit meiner Geliebten zusammenzuleben.
Diese Gedanken stimmten mich so zufrieden, daß ich Tiberge versprach, noch am gleichen Tag einen Brief an meinen Vater abzuschicken. Sobald wir uns getrennt hatten, ging ich in eine Schreibstube und schrieb ihm so zärtlich und ergeben, daß ich mir schmeichelte, von der Güte meines Vaters etwas erhoffen zu dürfen.
Obgleich ich jetzt durchaus in der Lage war, einen Wagen zu nehmen und ihn zu bezahlen, machte ich mir ein Vergnügen daraus, den Weg zu Herrn de T. stolz zu Fuß zu gehen. Es freute mich, von meiner Freiheit Gebrauch zu machen, für die ich nach der Versicherung meines Freundes nichts zu fürchten hatte. Aber plötzlich fiel mir ein, daß diese Zusicherung sich ja nur auf Saint-Lazare bezog und daß ich, ganz abgesehen von der Ermordung Lescauts, in die ich zumindest als Zeuge verwickelt war, noch das Abenteuer im Arbeitshaus zu verantworten hatte.
Dieser Gedanke versetzte mich in solchen Schrecken, daß ich mich in den nächsten Hausflur flüchtete und eine Droschke holen ließ. Ich fuhr sofort zu Herrn de T., der mich wegen meiner Angst auslachte. Sie erschien mir selber lächerlich, als er mir erzählte, daß ich weder wegen des Arbeitshauses noch wegen Lescaut etwas zu fürchten habe. Er sagte, er sei schon am Morgen ins Arbeitshaus gegangen aus Sorge, man könnte vermuten, daß er an der Entführung Manons beteiligt gewesen wäre. Er tat so, als hätte er von den Ereignissen keine Ahnung, und fragte, ob er Manon sprechen könne. Aber weit entfernt, ihn oder mich zu beschuldigen, beeilte man sich im Gegenteil, ihm den Vorfall als unerklärliche Neuigkeit zu berichten. Man habe sich gewundert, daß ein so hübsches Mädchen wie Manon mit einem Gefangenenwärter davongelaufen war. Kühl erwiderte er darauf, daß es ihn eigentlich nicht erstaune, da jeder schließlich bereit sei, für seine Freiheit alles auf sich zu nehmen. Herr de T. erzählte mir weiter, daß er anschließend zu Lescaut gegangen sei in der Hoffnung, dort mich und meine reizende Geliebte anzutreffen. Der Hauswirt, ein Stellmacher, versicherte ihm, weder Manon noch mich gesehen zu haben. Aber es sei auch kein Wunder, daß wir nicht zu ihm gekommen wären; sicherlich hätten wir erfahren, daß Lescaut um die gleiche Zeit ermordet wurde.
Und dann teilte er mir auch mit, was er über den Grund und die näheren Umstände dieser dunklen Tat wußte: Ungefähr zwei Stunden vorher war ein mit Lescaut befreundeter Gardist zu ihm gekommen und hatte ihn zum Spiel eingeladen. Lescaut gewann so schnell, daß der andere in weniger als einer Stunde hundert Taler, sein ganzes Geld, verlor. Der Unglückliche, der sich ohne einen Sou sah, hatte Lescaut gebeten, ihm die Hälfte der verlorenen Summe zu leihen, was zu einer Auseinandersetzung führte, die schließlich in einen äußerst heftigen Streit ausartete. Lescaut weigerte sich, herauszukommen und die Angelegenheit mit dem Degen auszutragen, worauf der andere fortging und schwor, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen. Und das habe er dann auch am gleichen Abend getan.
Herr de T. fügte freundschaftlich noch hinzu, daß er sich infolge dieses Berichts sehr über uns beunruhigt habe, und bot mir noch einmal seine Dienste an. Ich hatte keine Bedenken, ihm unser Versteck zu nennen, und er bat mich, ihm zu gestatten, mit uns zu Abend zu essen.
Da ich nur noch Wäsche und Kleider für Manon zu kaufen hatte, schlug ich ihm vor, mich sogleich zu begleiten, wenn er so gütig sein wolle, mit mir kurz bei einigen Geschäften vorzusprechen. Ich weiß nicht, ob er in meinem Vorschlag eine Absicht sah, seine Freigebigkeit in Anspruch zu nehmen, oder ob es nur die natürliche Regung seiner edlen Seele war – jedenfalls stimmte er sofort zu und fuhr mit mir in die Geschäfte, bei denen auch seine Familie einzukaufen pflegte. Er drängte mich, mehrere Stoffe auszuwählen, die mehr kosteten, als ich beabsichtigt hatte auszugeben; und als ich bezahlen wollte, verbot er den Händlern, von mir auch nur einen Sou anzunehmen. Diese Aufmerksamkeit erwies er mir mit einem solchen Taktgefühl, daß ich glaubte, sie annehmen zu dürfen, ohne mich schämen zu müssen. Wir fuhren dann zusammen nach Chaillot, wohin ich weit ruhiger zurückkehrte, als ich fortgegangen war.
Meine Gegenwart und die Herzlichkeit des Herrn de T. zerstreuten bei Manon allen Kummer, der sie vielleicht noch beunruhigt haben mochte.
»Vergessen wir, meine liebe Seele«, sagte ich zu ihr, als ich eintrat, »die Schrecken der Vergangenheit, und beginnen wir ein glücklicheres Leben als je zuvor. Die Liebe ist ein guter Lehrmeister, und das Schicksal kann uns nicht so viele Schmerzen bereiten, wie es uns Freuden zu kosten gibt.«
Unser Essen war ein wahres Festmahl. Mit Manon und meinen hundert Pistolen war ich stolzer und zufriedener als der reichste Finanzpächter in Paris samt allen seinen aufgehäuften Schätzen. Man muß die Reichtümer danach bemessen, wieweit man damit seine Wünsche befriedigen kann. Mir blieb nichts mehr zu wünschen übrig. Auch die Zukunft machte mir wenig Sorgen. Ich war fest davon überzeugt, daß mein Vater mir ohne großen Widerstand genügend bewilligen werde, um anständig in Paris leben zu können, denn ich war zwanzig Jahre alt und ohnehin in kurzer Zeit berechtigt, den mir gehörigen Anteil meines mütterlichen Erbes zu verlangen. Ich verschwieg Manon nicht, daß mein ganzes Vermögen in nur hundert Pistolen bestand. Das reichte jedoch, um geduldig auf besseres Glück zu warten, das auf keinen Fall ausbleiben konnte, sei es kraft meiner natürlichen Rechte, sei es durch das Spiel.
Ich dachte also während der ersten Wochen nur daran, ruhig mein Leben zu genießen. Mein Ehrgefühl sowie die Furcht vor der Polizei veranlaßten mich, die Erneuerung meiner Bekanntschaft mit den Genossen aus dem Hôtel de Transylvanie von Tag zu Tag hinauszuschieben. Ich begnügte mich, in einigen weniger verrufenen Gesellschaften zu spielen, und die Gunst des Glücks ersparte mir die Erniedrigung, mich wieder meiner Kunstgriffe bedienen zu müssen. Einen Teil des Nachmittags verbrachte ich in der Stadt, und wenn ich zum Abendessen nach Chaillot zurückkam, begleitete mich oft Herr de T., dessen Freundschaft für uns von Tag zu Tag wuchs.
Auch Manon fand Mittel gegen die Langeweile. Sie schloß sich in der Nachbarschaft einigen jungen Damen an, die der Frühling dort versammelt hatte. Spaziergänge und weibliche Handarbeiten beschäftigten sie abwechselnd. Eine Spielpartie, der enge Grenzen gesetzt waren, hatte für die Kosten eines Wagens aufzukommen. Sie schöpften im Bois de Boulogne frische Luft, und wenn ich abends heimkehrte, fand ich Manon hübscher, zufriedener und zärtlicher als je.
Zwar erhoben sich dann und wann einige Wölkchen, die den Himmel meines Glücks zu trüben drohten, aber sie konnten schnell wieder zerstreut werden, und die fröhliche Laune führte zu so überraschend spaßhaften Lösungen, daß noch die Erinnerung daran die ganze Zärtlichkeit und den liebenswürdigen Reiz ihres Charakters wachruft.
Der einzige Diener, den wir hatten, nahm mich eines Tages beiseite, um mir sehr verlegen zu gestehen, daß er mir ein wichtiges Geheimnis anzuvertrauen habe. Ich forderte ihn auf, sich offen auszusprechen. Nach einigen Umschweifen gab er mir zu verstehen, daß ein fremder, vornehmer Herr sich heftig in Fräulein Manon verliebt zu haben scheine.
»Liebt sie ihn wieder«? unterbrach ich ihn heftiger, als es vielleicht klug war, wenn ich die Wahrheit erfahren wollte.
Meine Heftigkeit erschreckte ihn. Er antwortete ängstlich, das könne er nicht beurteilen. Er habe aber bemerkt, daß dieser Fremde seit mehreren Tagen beharrlich in den Bois de Boulogne komme, dort aus seinem Wagen steige und – da Fräulein Manon sich allein in die Nebenwege begebe – eine Gelegenheit zu suchen scheine, sie zu sehen oder zu sprechen. Er sei daher auf den Gedanken gekommen, sich mit dem Diener des Fremden bekannt zu machen, um dessen Namen zu erfahren. Es handle sich um einen italienischen Fürsten, dem man allerlei galante Abenteuer zuschreibe. Weitere Aufschlüsse habe er aber nicht erlangen können, da der Fürst aus dem Wäldchen herausgetreten und freundlich auf ihn zugegangen sei, indem er ihn nach seinem Namen gefragt habe. Dann, als ob er erraten hätte, in wessen Diensten er stehe, habe er ihn beglückwünscht, der reizendsten Dame der Welt aufwarten zu dürfen.
Ungeduldig wartete ich auf die Fortsetzung seines Berichts. Er beschloß ihn mit ängstlichen Worten der Entschuldigung, die ich als Folge meiner unklugen Erregung hinzunehmen hatte. Vergebens drängte ich ihn, freimütig fortzufahren. Er beteuerte, er wisse weiter nichts, denn das, was er soeben erzählt, habe sich erst gestern zugetragen, und inzwischen habe er die Leute des Fürsten nicht wieder gesehen. Ich ermutigte ihn durch Lob und eine gute Belohnung und empfahl ihm mit ruhigen Worten, ohne ihm gegenüber das geringste Mißtrauen gegen Manon zu äußern, alle Schritte des Fremden zu überwachen.
Im Grunde weckte sein Erschrecken quälende Zweifel in meinem Herzen, denn es konnte ihn veranlaßt haben, einen Teil der Wahrheit zu verschweigen. Nach einigem Nachdenken verlor sich jedoch meine Unruhe, und ich bedauerte, ein solches Zeichen der Schwäche gezeigt zu haben. Schließlich konnte ich es Manon nicht als Verbrechen anrechnen, wenn sie geliebt wurde. Die Wahrscheinlichkeit sprach sehr dafür, daß sie von ihrer Eroberung gar nichts wußte. Und was für ein Leben würde mir bevorstehen, wenn die Eifersucht so leicht in mein Herz Eingang fände?
Am nächsten Tag fuhr ich wieder nach Paris, um durch höheren Einsatz im Spiel mein Vermögen rascher zu vermehren. Ich wollte mich in den Stand setzen, Chaillot beim ersten Anlaß zur Besorgnis verlassen zu können.
Am Abend erfuhr ich nichts Beunruhigendes. Der Fremde war wieder im Bois de Boulogne aufgetaucht, hatte sich wieder meinem Vertrauten genähert und zu ihm von seiner Liebe gesprochen, aber in Ausdrücken, die kein Einvernehmen mit Manon verrieten. Er hatte ihn nach tausend Kleinigkeiten gefragt und schließlich durch große Versprechungen versucht, ihn für seine Interessen zu gewinnen, indem er einen Brief hervorzog und ihm vergebens einige Louisdor anbot, wenn er ihn seiner Gebieterin aushändigte.
Zwei Tage vergingen, ohne daß sich etwas ereignete; der dritte aber war stürmisch. Als ich ziemlich spät aus der Stadt zurückkam, erfuhr ich, daß sich Manon während des Spaziergangs von ihren Gefährtinnen entfernt hatte, worauf der Fremde, der ihr in einiger Entfernung gefolgt war, sich ihr auf ein Zeichen näherte und von ihr einen Brief erhielt, den er mit überschwenglicher Freude in Empfang nahm. Er konnte aber nur in verliebter Weise die Schriftzeichen küssen, da sie sich sofort wieder entfernte. Sie habe übrigens den ganzen Tag eine ungewöhnlich heitere Ausgelassenheit gezeigt, die auch nach ihrer Rückkehr in die Wohnung nicht geschwunden sei.
Ich habe zweifellos bei jedem Wort meines Dieners gezittert.
»Bist du ganz sicher«, fragte ich traurig, »daß dich deine Augen nicht täuschten«?
Er rief den Himmel als Zeugen seiner Wahrhaftigkeit an.
Ich weiß nicht, wohin mich die Folterqualen meines Herzens noch gebracht hätten, wenn nicht Manon, die mich hatte kommen hören, ungeduldig und mir mein langes Ausbleiben vorwerfend, erschienen wäre. Sie wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern überhäufte mich mit Küssen, und als sie sah, daß sie mit mir allein war, machte sie mir heftige Vorwürfe über meine Angewohnheit, neuerdings immer so spät zurückzukommen. Da mein Schweigen ihr Zeit ließ, weiterzureden, sagte sie zu mir, daß ich schon seit drei Wochen keinen einzigen ganzen Tag mit ihr zusammen verbracht hätte. Sie könne meine lange Abwesenheit nicht ertragen und wolle wenigstens dann und wann einmal einen Tag von mir. Jedenfalls bat sie mich, bereits am nächsten Tag von morgens bis abends bei ihr zu bleiben.
»Ich will bei dir bleiben, sei unbesorgt«, antwortete ich verdrossen. Sie beachtete meine Schroffheit nicht, und in ihrem freudigen Übermut, der mir tatsächlich auffallend schien, plauderte sie munter über die Art und Weise, wie sie den Tag verbracht hatte.
»Seltsames Mädchen!« sagte ich mir im stillen. »Was soll ich von diesem Vorspiel halten«?
Die Begebenheiten unserer ersten Trennung kehrten in meine Erinnerung zurück. Trotzdem schien mir ihre Freude und Zärtlichkeit nicht gespielt und mit dem äußeren Anschein in Einklang zu stehen.
Es fiel mir nicht schwer, meine Traurigkeit, gegen die ich während des Essens vergebens ankämpfte, einem Spielverlust zuzuschreiben, den ich angeblich am Nachmittag erlitten hatte. Es war mir sehr willkommen, daß sie selbst den Vorschlag machte, Chaillot am nächsten Tag nicht zu verlassen. Hierdurch gewann ich Zeit zum Nachdenken, und meine Anwesenheit beseitigte für den morgigen Tag alle Besorgnis. Ich war sogar entschlossen – wenn ich nichts bemerkte, was mich zwang, meine Entdeckungen einzugestehen –, den übernächsten Tag in die Stadt umzuziehen, und zwar in einen Stadtteil, in dem ich nichts von italienischen Fürsten zu befürchten hatte. Dieser Plan ermöglichte mir eine ruhige Nacht; aber der Schmerz, vor einer neuen Treulosigkeit zittern zu müssen, ließ sich nicht besiegen.
Als ich erwachte, erklärte Manon, wenn ich diesen Tag auch in unserer Wohnung zubrächte, so dürfe ich mich deshalb nicht nachlässiger kleiden, und sie wolle mir mit eigenen Händen das Haar in Ordnung bringen. Ich besaß sehr schönes Haar, und sie hatte sich schon öfter dieses Vergnügen gemacht. Heute aber schien sie ganz besondere Sorgfalt walten zu lassen. Um sie zufriedenzustellen, mußte ich mich vor ihren Toilettentisch setzen und mich zu all den kleinen Experimenten hergeben, die sie sich ausdachte, um mich zu schmücken. Während ihrer Arbeit veranlaßte sie mich mehrmals, ihr mein Gesicht zuzuwenden, und indem sie sich mit beiden Händen auf meine Schultern stützte, betrachtete sie mich mit prüfender Neugier. Wenn sie dann durch einen oder zwei Küsse ihrer Befriedigung Ausdruck verliehen hatte, mußte ich mich wieder hinsetzen, damit sie ihr Werk fortsetzen konnte.
Mit dieser Tändelei verbrachten wir die Zeit bis zum Mittagessen. Das Vergnügen, das ihr diese Beschäftigung gewährte, erschien mir so natürlich, und in ihrer Fröhlichkeit lag so wenig Verstellung, daß ich solche Anzeichen der Zuneigung in keiner Weise mit der Absicht eines Verrats in Übereinstimmung bringen konnte und ein paarmal geneigt war, ihr mein Herz auszuschütten, um mich der Bürde zu entledigen, die mir immer schwerer wurde. Aber ich hoffte, sie werde mir von sich aus alles erzählen, und empfand darüber schon im voraus einen köstlichen Triumph.
Wir kehrten in ihr Kabinett zurück. Sie begann sich wieder mit meinen Haaren zu beschäftigen, und ich fügte mich bereitwillig allen ihren Wünschen; da meldete man ihr, daß der Fürst... sie zu sprechen wünsche. Dieser Name versetzte mich in eine sinnlose Wut.
»Was soll das heißen«? schrie ich, indem ich sie zurückstieß. »Wer? Was für ein Fürst«?
Sie antwortete mir auf keine meiner Fragen. »Führen Sie ihn herauf!« sagte sie kühl zum Diener.
Dann wandte sie sich zu mir. »Teurer Geliebter«, bat sie mich, »ich bete dich an, aber ich bitte dich nur für einen Augenblick um einen Gefallen. Nur für einen einzigen Augenblick! Dafür werde ich dich tausendmal mehr lieben und dir mein ganzes Leben dankbar sein.«
Entrüstung und Überraschung lähmten mir die Zunge. Sie wiederholte ihre Bitten, und ich suchte nach Worten, sie mit Verachtung zurückzuweisen. Da hörte sie, wie die Tür zum Vorzimmer geöffnet wurde, fuhr mit der einen Hand in mein über die Schultern wallendes Haar und ergriff mit der anderen ihren Toilettenspiegel. Unter Aufbietung all ihrer Kraft zog sie mich bis zur Tür des Kabinetts, und indem sie die Tür mit dem Knie aufstieß, bot sie dem Fremden, den das Geräusch mitten im Zimmer festgehalten hatte, ein Schauspiel, das ihm ohne Zweifel sehr ungewöhnlich erscheinen mußte. Ich erblickte einen sehr gut gekleideten, aber ebenso häßlichen Mann.
Trotz der Verwirrung, in die ihn die Szene versetzte, versäumte er es nicht, eine tiefe Verbeugung zu machen.
Manon ließ ihm nicht die Zeit, den Mund zu öffnen, und hielt ihm ihren Spiegel vor.
»Hier, mein Herr«, sagte sie zu ihm, »betrachten Sie sich gut, und antworten Sie mir ehrlich. Sie bitten mich um meine Liebe. Dies ist der Mann, den ich liebe und dem ich für mein ganzes Leben Liebe geschworen habe. Stellen Sie selbst einen Vergleich an. Wenn Sie glauben, ihm mein Herz streitig machen zu können, dann sagen Sie mir, auf welcher Grundlage das geschehen soll, denn ich erkläre Ihnen, daß in den Augen Ihrer so ergebenen Dienerin alle Fürsten aus Italien nicht so viel gelten wie ein einziges dieser Haare, die ich in der Hand halte.«
Während dieser tollen Rede, die sie sich offenbar vorbereitet hatte, bemühte ich mich vergebens, mich zu befreien; und da ich mit diesem vornehmen Mann Mitleid empfand, wollte ich ihre Beleidigung durch Höflichkeit einigermaßen wiedergutmachen. Aber er hatte sich schnell gefaßt, und seine sehr scharfe Antwort ließ mich diesen Gedanken sofort wieder verwerfen.
»Mein liebes Fräulein«, sagte er mit gezwungenem Lächeln, »ich mache in der Tat meine Augen auf und finde, daß Sie weit erfahrener sind, als ich gedacht hatte.«
Ohne noch einen Blick auf sie zu werfen, zog er sich sofort zurück, indem er mit leiserer Stimme hinzufügte, daß die französischen Frauen nicht besser seien als die italienischen. Mir war nichts daran gelegen, ihm eine bessere Meinung über das schöne Geschlecht beizubringen.
Manon ließ meine Haare wieder los, warf sich in einen Sessel und erfüllte das ganze Zimmer mit lautem Lachen. Ich kann nicht verhehlen, daß mich ihr Opfer, das ich ihrer Liebe zuschreiben durfte, zutiefst gerührt hatte. Trotzdem erschien mir ihr Scherz etwas zu weit getrieben, und ich machte ihr entsprechende Vorwürfe.
Sie erzählte mir, daß mein Rivale, nachdem er sie mehrere Tage lang im Bois de Boulogne verfolgt und ihr durch Gesten seine Gefühle offenbart hatte, den Entschluß faßte, sich in einem Briefe mit seinem Namen und allen seinen Titeln offen zu erklären. Den Brief habe er ihr durch den Kutscher des Wagens, in dem sie mit ihren Gefährtinnen saß, überreichen lassen. Er versprach ihr darin jenseits der Alpen glänzende Reichtümer und seine ewige Anbetung. Anfangs sei sie in der Absicht nach Chaillot zurückgekehrt, mir das Abenteuer zu erzählen, dann aber sei ihr eingefallen, daß wir uns einen Spaß erlauben könnten, und so erlag sie sehr rasch der Versuchung dieses Gedankens. Sie habe daher dem italienischen Fürsten in einer sehr schmeichelhaften Antwort die Erlaubnis erteilt, sie in ihrer Wohnung zu besuchen, und sich zugleich ein zweites Vergnügen daraus gemacht, mich in ihrer Posse eine Rolle spielen zu lassen, ohne daß ich ein Ahnung davon hatte. Ich sagte ihr natürlich kein Wort über die Informationen, die mir von anderer Seite zuteil geworden waren, und hieß in der Trunkenheit meiner triumphierenden Liebe alles gut.
Betrachte ich mein Leben, so mache ich die Beobachtung, daß der Himmel mich immer dann mit den schwersten Züchtigungen traf, wenn mir mein Glück am meisten gesichert schien. Ich glaubte mich durch die Freundschaft des Herrn de T. und die Liebe Manons so beglückt, daß mir niemand vor einem neuen Unglück hätte Angst einflößen können. Und doch zog sich schon ein finsteres Unheil zusammen, das mich in jenen Zustand versetzte, in dem Sie mich in Passy sahen. Nach und nach geriet ich in so grauenhafte Situationen, daß Sie meiner wahrheitsgetreuen Erzählung nur mit Mühe werden Glauben schenken können.
Eines Abends hatten wir Herrn de T. zu Gast, als wir das Geräusch eines Wagens hörten, der vor dem Eingang unseres Gasthofes hielt. Aus Neugierde erkundigten wir uns, wer wohl um diese Stunde noch kommen könne, und erfuhren, daß es der junge de G. M. sei, der Sohn meines Todfeindes, des alten Wüstlings, der mich nach Saint-Lazare und Manon ins Arbeitshaus gebracht hatte. Sein Name trieb mir das Blut ins Gesicht.
»Der Himmel hat ihn hergeführt«, sagte ich zu Herrn de T., »damit ich an ihm die Gemeinheiten seines Vaters bestrafen kann. Er wird mir nicht entkommen, ohne seinen Degen mit dem meinen gemessen zu haben.«
Herr de T., der ihn kannte und sogar einer seiner guten Freunde war, bemühte sich, mir eine andere Meinung über ihn beizubringen. Er versicherte mir, er sei ein liebenswürdiger junger Mann und einer Mitschuld an der Handlungsweise seines Vaters so unfähig, daß ich ihn nur zu sehen brauche, um ihm meine Achtung zu schenken und mir die seine zu wünschen. Nachdem er noch tausend Dinge zu seinen Gunsten hinzugefügt hatte, bat er mich um Erlaubnis, ihn einzuladen, uns Gesellschaft zu leisten und mit dem Rest unseres Abendessens vorliebzunehmen.
Meinem Einwand, daß wir Manon einer Gefahr aussetzen würden, wenn wir dem Sohn unseres Feindes ihren Aufenthalt verrieten, begegnete er mit der Versicherung auf Ehre und Gewissen, daß wir keinen glühenderen Verteidiger finden könnten, wenn uns der junge Mann erst einmal kenne. Natürlich erhob ich nach solchen Beteuerungen keinen weiteren Einspruch.
Ehe Herr de T. ihn uns vorstellte, hatte er ihm gesagt, wer wir seien. Als er in unser Zimmer trat, nahm uns sein Aussehen sofort für ihn ein. Er umarmte mich, und wir setzten uns. Er bewunderte Manon, mich und alles, was uns gehörte, und aß mit einem Appetit, der unser Mahl ehrte.
Sobald abgedeckt war, wurde die Unterhaltung ernster. Er schlug die Augen nieder und sprach von den Ausschreitungen, die sich sein Vater uns gegenüber erlaubt hatte. Dabei brachte er seine Entschuldigung an.
»Ich will mich nicht länger bei diesem Thema aufhalten«, sagte er, »um nicht eine Erinnerung aufzufrischen, die mich zu sehr mit Scham erfüllt.«
Wenn seine Worte schon von Anfang an aufrichtig klangen, so waren sie es im weiteren Verlauf des Abends erst recht; denn er hatte sich noch keine halbe Stunde mit uns unterhalten, als ich schon den großen Eindruck bemerkte, den die Reize Manons auf ihn machten. Seine Blicke und sein ganzes Benehmen wurden immer gefühlvoller. Zwar ließ er sich in seiner Unterhaltung nichts anmerken, aber ich besaß auch ohne den Stachel der Eifersucht genügend Erfahrung in der Liebe, um alles zu entdecken, was aus dieser Quelle entsprang.
Er leistete uns noch bis spät in die Nacht Gesellschaft; als er uns verließ, beglückwünschte er sich, unsere Bekanntschaft gemacht zu haben. Auch bat er um die Erlaubnis, uns dann und wann mit seinem Besuch und seinen guten Diensten aufwarten zu dürfen. Am anderen Morgen fuhr er mit Herrn de T., den er in seinem Wagen mitnahm, wieder ab.
Wie ich schon sagte, empfand ich nicht die geringste Eifersucht, zumal ich mehr denn je den Schwüren Manons vertraute. Dieses reizende Geschöpf war so uneingeschränkt Herrin meiner Seele, daß ich für sie nur Achtung und Liebe empfinden konnte. Weit entfernt also, ihr daraus einen Vorwurf zu machen, daß sie dem jungen de G. M. gefallen hatte, war ich stolz auf die Macht ihrer Reize und pries mich glücklich, von einem Mädchen geliebt zu werden, das alle Welt liebenswürdig fand.
Ich hielt es deshalb auch nicht für angebracht, ihr meinen Verdacht mitzuteilen. Wir waren einige Tage lang damit beschäftigt, neue Garderobe für sie herrichten zu lassen und zu erörtern, ob es möglich wäre, ins Theater zu gehen, ohne erkannt zu werden. Herr de T. besuchte uns am Wochenende, und wir berieten uns auch mit ihm darüber. Er verstand sofort, daß er Manon zu Gefallen »ja« sagen müsse, und wir beschlossen, noch am gleichen Abend mit ihm hinzugehen.
Aber dieser Entschluß kam nicht zur Ausführung, denn Herr de T. zog mich beiseite und sagte zu mir:
»Ich befinde mich seit meinem letzten Besuch bei Ihnen in größter Verlegenheit, und mein heutiger Besuch steht damit im Zusammenhang. Herr de G. M. liebt Ihre Geliebte; er hat es mir selbst gesagt. Ich bin ein guter Freund von ihm und stehe ihm in allem zur Verfügung, aber ich bin nicht minder auch Ihr Freund. Ich bin der Ansicht, daß seine Wünsche ein Unrecht sind, und mißbillige sie. Ich würde sein Geheimnis nicht verraten, wenn er die Absicht hätte, Manons Neigung mit den üblichen Mitteln zu erringen. Aber er kennt Manons Sinnesart. Er hat – ich weiß nicht, auf welche Weise – in Erfahrung gebracht, daß sie Luxus und Vergnügungen liebt, und da er im Besitz eines beträchtlichen Vermögens ist, erklärte er mir, er wolle sie durch ein wertvolles Geschenk und das Anerbieten einer Rente von zehntausend Franken in Versuchung führen. Wenn Ihre Mittel die gleichen wären, hätte es mich vielleicht eine größere Überwindung gekostet, ihn zu verraten. Aber außer meiner Freundschaft spricht auch mein Gerechtigkeitsgefühl zu Ihren Gunsten, um so mehr, als ich durch den Umstand, daß ich ihn bei Ihnen eingeführt habe, die unfreiwillige Ursache seiner Leidenschaft bin. Ich fühle mich deshalb verpflichtet, die Folgen des von mir herbeigeführten Übels zu verhüten.«
Ich dankte Herrn de T. für einen so wichtigen Dienst und gestand ihm in aufrichtiger Erwiderung seines Vertrauens, daß der Charakter Manons tatsächlich der Vorstellung des Herrn de G. M. entspreche, das heißt, daß sie den Gedanken der Armut nicht ertragen könne.
»Da es sich aber«, fuhr ich fort, »nur um mehr oder weniger handelt, glaube ich nicht, daß sie mich um eines anderen willen verlassen könnte. Ich bin in der Lage, es ihr an nichts fehlen zu lassen, und rechne damit, daß sich meine Verhältnisse von Tag zu Tag bessern werden. Ich fürchte nur das eine«, fügte ich hinzu, »daß Herr de G. M. seine Kenntnis von unserem Aufenthaltsort dazu mißbraucht, uns einen bösen Streich zu spielen.«
Herr de T. versicherte mir, daß ich in dieser Hinsicht völlig beruhigt sein könne, da Herr de G. M. zwar einer verliebten Torheit, aber keiner Schurkerei fähig sei. Wenn er aber wirklich so erbärmlich sein sollte, so würde er, de T., der erste sein, der ihn dafür zur Rechenschaft zöge und so das Unglück, das er herbeigeführt habe, wiedergutmache.
»Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Gesinnung«, sagte ich. »Aber wenn das Unglück einmal geschehen ist, dann wird die Wiedergutmachung sehr fraglich sein. Darum wäre es das klügste, allem zuvorzukommen, indem wir Chaillot verlassen und uns eine andere Wohnung suchen.«
»Das ist richtig«, erwiderte Herr de T., »aber Sie werden das kaum so schnell bewerkstelligen können, wie es erforderlich wäre, denn Herr de G. M. wird voraussichtlich zu Mittag schon hier sein. Er hat es mir gestern gesagt und mich dadurch zu meinem plötzlichen Besuch veranlaßt, um Ihnen seine Absicht rechtzeitig mitzuteilen. Er kann jeden Augenblick eintreffen.«
Eine so dringende Mahnung bewirkte, daß ich die Sache nun doch ernster bedachte. Da es mir unmöglich schien, dem Besuch des Herrn de G. M. zu entgehen, und zweifellos auch ebenso unmöglich, eine Aussprache mit Manon zu verhüten, beschloß ich, sie selbst über die Gesinnung dieses neuen Nebenbuhlers aufzuklären. Ich war der Ansicht, daß sie genügend Kraft besitzen werde, die Anträge, die er ihr machen wollte, zurückzuweisen, wenn sie mich darüber unterrichtet wisse. Ich teilte Herrn de T. meine Gedanken mit, der mir jedoch seine Zweifel nicht vorenthielt.
»Ich gebe das zu«, sagte ich. »Aber, wenn es Gründe gibt, einer Geliebten sicher zu sein, so darf ich mich auf ihre Treue verlassen. Es könnte sie nur die Großzügigkeit des Angebots in Versuchung bringen, und ich sagte Ihnen schon, daß sie nicht habsüchtig ist. Sie schätzt ein angenehmes Leben, aber sie liebt auch mich; und so wie meine Verhältnisse jetzt liegen, vermag ich nicht zu glauben, daß sie mir den Sohn jenes Mannes, der sie ins Arbeitshaus geschickt hat, vorzieht.«
Kurz und gut, ich blieb bei meiner Auffassung, und indem ich mich mit Manon entfernte, erzählte ich ihr ganz offen alles, was ich erfahren hatte.
Sie dankte mir für die gute Meinung, die ich von ihr besäße, und versprach mir, das Angebot des Herrn de G. M. so aufzunehmen, daß ihm die Lust vergehen sollte, es zu wiederholen.
»Nein«, sagte ich zu ihr, »du darfst ihn nicht durch eine schroffe Antwort erbittern; er kann uns schaden. Aber du weißt ja recht gut, du Närrin«, fügte ich lachend hinzu, »wie man sich einen unangenehmen oder unbequemen Liebhaber vom Halse schafft.«
»Ich habe eine großartige Idee«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »G. M. ist der Sohn unseres schlimmsten Feindes. Wir wollen uns an seinem Vater rächen, aber nicht durch seinen Sohn, sondern durch seine Börse. Ich will ihn erhören, seine Geschenke annehmen und ihm einen Streich spielen.«
»Der Gedanke ist nicht schlecht«, antwortete ich. »Aber du vergißt, mein armes Kind, daß dies der Weg ist, der uns schon einmal ins Gefängnis geführt hat.«
Ich mochte ihr die Gefahren des Unternehmens noch so klar auseinandersetzen, sie sagte, es komme eben darauf an, unsere Maßnahmen geschickt zu treffen, und sie fand auf alle meine Einwürfe eine Antwort. Man nenne mir einen Liebhaber, der nicht blind auf alle Launen seiner angebeteten Geliebten eingeht, und ich will nicht leugnen, daß es falsch war, so leicht nachzugeben. Wir hatten den Entschluß gefaßt, de G. M. zum Narren zu halten, aber das launische Schicksal wollte es, daß man am Ende mich selbst zum Narren hielt.
Gegen elf Uhr sahen wir seinen Wagen vorfahren. Er entschuldigte sich liebenswürdig, daß er sich die Freiheit nehme, bei uns zum Essen zu erscheinen, und schien nicht erstaunt, Herrn de T. anzutreffen, der ihm am Vorabend versprochen, sich ebenfalls einzufinden, und Geschäfte vorgeschützt hatte, um nicht mit ihm im gleichen Wagen fahren zu müssen. Obgleich sich nun unter uns nicht einer befand, der nicht im Herzen Verrat hegte, setzten wir uns leutselig und freundschaftlich zu Tisch. G. M. fand leicht Gelegenheit, Manon seine Gefühle zu gestehen. Ich war ihm kaum hinderlich und entfernte mich sogar absichtlich für einige Minuten.
Bei meiner Rückkehr bemerkte ich, daß Manon ihm keine übergroße Strenge gezeigt hatte. Er befand sich in bester Laune, und ich bemühte mich, ebenso zu erscheinen. Innerlich lachte er über meine Einfalt und ich über die seine. So spielten wir den ganzen Nachmittag hindurch einer für den anderen ergötzlich Komödie, und noch vor seiner Abfahrt gönnte ich ihm wieder einige Augenblicke des Alleinseins mit Manon, so daß er meine Gefälligkeit ebenso wie die gute Bewirtung loben konnte. Sobald er mit Herrn de T. in den Wagen gestiegen war, lief mir Manon in die ausgebreiteten Arme und umarmte mich hell auflachend. Sie wiederholte mir seine Erklärungen und Anträge Wort für Wort: Er wollte mit ihr die vierzigtausend Franken Rente teilen, über die er verfügen konnte, ohne das zu rechnen, was ihm nach dem Tode seines Vaters zufallen würde. Sie sollte die Herrin seines Herzens und seines Vermögens sein, und als Liebespfand wollte er ihr einen eigenen Wagen, ein wohleingerichtetes Haus, eine Kammerzofe, drei Diener und einen Koch zur Verfügung stellen.
»Der Sohn ist erheblich großzügiger als sein Vater«, sagte ich zu Manon. »Aber sage mir ehrlich, wirst du durch ein solches Angebot nicht in Versuchung geführt«? »Ich«? erwiderte sie – und einen Vers von Racine parodierend, fügte sie hinzu:
»Ich? Ich könnte dich so sehr betrüben, Ich ein verhaßtes Antlitz lieben, Das an das Arbeitshaus mich stets erinnert«?
»Nein«, erwiderte ich und setzte die Parodie fort:
»Nein, die Erinnerung kann nie verblassen, Du müßtest diesen Menschen immer hassen.
Aber trotzdem«, fuhr ich dann fort, »ein eigenes Haus mit einer Kammerzofe, einem Koch, einem Wagen und drei Dienern sind eine Versuchung, wie sie die Liebe allein kaum zu bieten hat.«
Sie beteuerte mir, daß ihr Herz mir immer gehören und daß sie niemals andere Geschenke als die meinen annehmen werde.
»Die Versprechungen, die er mir gemacht hat«, sagte sie, »sind für mich mehr ein Anreiz zur Rache als eine Versuchung zur Liebe.«
Ich fragte sie, ob sie die Absicht habe, das Haus und den Wagen anzunehmen. Sie antwortete jedoch, daß sie nur sein Geld wolle.
Die Schwierigkeit bestand darin, das eine ohne das andere zu erlangen, und wir beschlossen, zunächst die Mitteilung der Wünsche des Herrn de G. M. abzuwarten, die er ihr in einem Brief angekündigt hatte. Am anderen Tage empfing sie tatsächlich einen Brief durch einen Lakaien ohne Livree, der sich sehr geschickt Gelegenheit verschaffte, sie ohne Zeugen zu sprechen. Sie sagte ihm, er möge auf Antwort warten, und brachte den Brief dann mir.
Wir öffneten ihn gemeinsam.
Außer den üblichen Liebesbeteuerungen enthielt er die Vorschläge meines Nebenbuhlers. Er beschränkte ihre Ausgaben in keiner Weise und verpflichtete sich, ihr zehntausend Franken auszuzahlen, sobald sie das Haus in Besitz nähme.
Außerdem wollte er ihre Ausgaben laufend ersetzen, so daß sie die ursprüngliche Summe stets in voller Höhe zur Verfügung habe. Das Datum der Übergabe war nicht weit hinausgeschoben. Er verlangte nur zwei Tage für seine Vorbereitungen und nannte ihr den Namen der Straße und des Hauses, in dem er sie am Nachmittag des zweiten Tages erwarten wolle, falls sie sich von mir lösen könne. Nur in diesem einzigen Punkt beschwor er sie, ihn zu beruhigen. Alles andere schien ihm keine Sorge zu machen. Er fügte aber hinzu, sähe sie Schwierigkeiten, von mir loszukommen, dann würde er Mittel ausfindig machen, ihr die Flucht zu erleichtern.
G. M. war schlauer als sein Vater. Er wollte seine Beute erst in Händen haben, ehe er sie bezahlte. Wir berieten nun, wie sich Manon am besten verhalten sollte. Noch einmal versuchte ich, ihr das ganze Unternehmen auszureden, und wies sie auf alle Gefahren hin. Aber nichts war imstande, sie in ihrem Entschluß wanken zu lassen.
In einer kurzen Antwort versicherte sie G. M., daß es ihr nicht schwerfalle, sich am festgesetzten Tag nach Paris zu begeben, und daß er sie mit Bestimmtheit erwarten dürfe.
Wir vereinbarten nun, daß ich sogleich eine neue Wohnung in einem Dorf auf der anderen Seite von Paris mieten und unser kleines Gepäck dorthin schaffen sollte. Am folgenden Nachmittag würde sie sich verabredungsgemäß und rechtzeitig nach Paris begeben und G. M., sobald sie seine Geschenke empfangen hatte, bitten, sie ins Theater zu führen. Soviel sie von dem erhaltenen Geld tragen konnte, sollte sie zu sich stecken und den Rest dem Diener anvertrauen, den sie mitnehmen wollte. Es war dies übrigens noch immer derselbe, der sie aus dem Arbeitshaus befreit hatte und uns äußerst ergeben war.
Ich selbst sollte mich in einem Wagen am Ende der Rue Saint-André einfinden und ihn bis sieben Uhr dort warten lassen, um nach Eintritt der Dunkelheit langsam bis zum Eingang des Theaters zu gehen. Manon versprach mir, einen Vorwand zu finden, um die Loge einen Augenblick zu verlassen und zu mir hinabzukommen. Alles übrige schien uns kein Problem zu sein. Wir hätten rasch unsere Droschke erreicht, um dann über den Faubourg Saint- Antoine in unsere neue Wohnung zu fahren.
So abenteuerlich unser Plan auch war, so schien er uns doch wohlüberlegt. In unserem törichten Leichtsinn sahen wir nicht ein, daß wir uns später niemals wieder vor unseren Verfolgern hätten blicken lassen dürfen, auch wenn alles gut gegangen wäre. Wir setzten uns all dem mit dem tollkühnsten Selbstvertrauen aus. Manon fuhr mit Marcel, unserem Diener, ab. Mit Kummer sah ich sie gehen.
»Manon«, sagte ich, indem ich sie küßte, »wirst du mir treu bleiben? Täuschst du mich nicht«?
Sie beschwerte sich zärtlich über mein Mißtrauen und erneuerte alle ihre Schwüre.
Sie beabsichtigte, gegen drei Uhr in Paris anzukommen. Ich fuhr erst später ab und verbrachte den Rest des Nachmittags voller Unruhe im Café de Feré am Pont Saint-Michel. Dort blieb ich bis zum Anbruch der Dunkelheit und nahm dann einen Wagen, den ich unserer Abmachung entsprechend am Anfang der Rue Saint-André warten ließ, und ging zu Fuß zum Eingang des Theaters.
Ich wunderte mich, Marcel nicht zu sehen, der mich hier hätte erwarten sollen. Ich mischte mich unter eine Gruppe von Lakaien und wartete geduldig eine ganze Stunde, indem ich die Passanten beobachtete. Als es schließlich sieben Uhr schlug, ohne daß ich irgend etwas wahrgenommen hätte, was im Einklang mit unseren Plänen stand, löste ich ein Theaterbillett, um Manon und G.M. in einer der Logen ausfindig zu machen. Sie waren nicht da. Ich ging wieder an den Eingang zurück, wo ich eine weitere Viertelstunde, außer mir vor Aufregung und Unruhe, wartete. Als niemand kam, kehrte ich zu meinem Wagen zurück, ohne mich zu irgendeinem Entschluß aufraffen zu können.
Sobald der Kutscher mich erkannte, kam er mir einige Schritte entgegen, um mir zuzuflüstern, daß eine hübsche Dame mich seit einer Stunde im Wagen erwarte. Er habe gleich erkannt, daß sie mich suche, und sie habe sich bereit erklärt, auf mich zu warten, als sie hörte, daß ich zurückkommen werde.
Ich glaubte natürlich, es sei Manon, und näherte mich ihr. Aber ich sah ein hübsches junges Gesicht, das nicht das ihrige war. Die Fremde fragte mich, ob sie das Vergnügen habe, mit dem Herrn Chevalier des Grieux zu sprechen. Ich erwiderte, dies sei mein Name.
»Ich habe einen Brief für Sie«, fuhr sie fort, »der Ihnen den Grund meines Hierseins angeben und erklären wird, woher mir Ihr Name bekannt ist.«
Ich bat sie, mir Zeit zu lassen, den Brief in einem nahegelegenen Restaurant zu lesen. Sie wollte mich begleiten und riet mir, ein Separatzimmer zu nehmen.
»Von wem kommt der Brief«? fragte ich sie, während wir die Treppe hinaufstiegen. Sie verwies mich auf seinen Inhalt. Ich erkannte die Schriftzüge Manons. Sie hatte etwa folgendes geschrieben: G. M. habe sie mit einer Aufmerksamkeit und Großzügigkeit empfangen, die alle ihre Erwartungen übertrafen. Er habe sie mit Geschenken überhäuft und ihr das Leben einer Fürstin in Aussicht gestellt. Trotzdem versichere sie mir, sie werde mich in ihrem neuen Glanz nicht vergessen; da sie aber G. M. nicht habe überreden können, sie heute abend ins Theater zu führen, so müsse sie das Vergnügen, mich zu sehen, auf einen anderen Tag verschieben. Um mich inzwischen über den Schmerz zu trösten, den, wie sie voraussehe, diese Nachricht mir bereiten werde, schicke sie mir eines der hübschesten Mädchen von Paris, mir diesen Brief zu überreichen. Unterzeichnet war der Brief: »Deine treue Geliebte, Manon Lescaut.«
Es lag etwas so Grausames und Beleidigendes in ihren Worten, daß ich, eine Weile zwischen Zorn und Schmerz schwankend, mir vornahm, meine undankbare und eidbrüchige Geliebte für immer und ewig zu vergessen. Ich warf einen Blick auf das Mädchen vor mir. Sie war ausnehmend hübsch, und ich wünschte, sie wäre hübsch genug gewesen, um auch mich eidbrüchig und treulos werden zu lassen. Aber ich fand bei ihr weder die zärtlichen und schmachtenden Augen, noch den göttlichen Wuchs, die von Amor selbst geschaffene rosige Haut, noch überhaupt jenen unerschöpflichen Reichtum an Reizen, den die Natur an die treulose Manon verschwendet hatte.
»Nein, nein«, rief ich, indem ich den Blick abwandte. »Die Ungetreue, die Sie geschickt hat, wußte sehr wohl, daß Sie sich umsonst bemühen. Kehren Sie zu ihr zurück, und sagen Sie ihr, sie möge sich ihres Verbrechens erfreuen und, wenn sie dazu imstande sei, es ohne Reue genießen. Ich verlasse sie für immer, und ich entsage zu gleicher Zeit allen Frauen, die nicht so bezaubernd, aber zweifellos ebenso niedrig und treulos sind.«
Ich stand im Begriff, meiner Wege zu gehen, ohne noch weiter einen Anspruch auf Manon zu erheben. Und da die tödliche Eifersucht, die mir das Herz zerfleischte, sich in eine traurige und düstere Resignation auflöste, glaubte ich mich der endgültigen Heilung um so näher, als ich nichts von jener heftigen Erregung spürte, die ich sonst bei gleichen Gelegenheiten gefühlt hatte. Ach, ich war nicht weniger ein Opfer der Liebe, wie ich ein Opfer von G. M. und Manon zu sein glaubte!
Als das Mädchen, das mir den Brief gebracht hatte, sah, daß ich die Treppe hinabsteigen wollte, fragte sie mich, was sie Herrn de G. M. und der Dame, die bei ihm war, ausrichten solle. Auf diese Frage hin kehrte ich noch einmal in das Zimmer zurück, und infolge eines Umschwungs meiner Stimmung, wie er jedem, der nicht ähnliche Leidenschaften empfunden hat, unglaublich vorkommen muß, sah ich mich plötzlich aus meiner vermeintlichen Resignation in rasende Wut versetzt.
»Geh«, sagte ich zu ihr, »schildere dem Verräter G. M. und seiner treulosen Geliebten die Verzweiflung, in die mich dieser verfluchte Brief versetzt hat. Aber sage ihnen auch, daß sie nicht lange lachen werden und daß ich sie beide mit eigener Hand erdolchen werde.«
Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken, mein Hut und mein Stock fielen zu Boden. Zwei Ströme bitterer Tränen quollen aus meinen Augen. Der Wutanfall wich bitterstem Schmerz. Ich weinte, schluchzte und seufzte.
»Komm zu mir, mein Kind, komm zu mir!« rief ich, indem ich mich an das junge Mädchen wandte. »Komm zu mir, sie hat dich geschickt, um mich zu trösten. Sage mir, ob du einen Trost weißt gegen Wut und Verzweiflung, gegen das Verlangen, sich selbst den Tod zu geben, nachdem man zwei Treulose getötet hat, die nicht zu leben verdienen. Ja, komm zu mir«, fuhr ich fort, als ich sah, daß sie einige ängstliche und zögernde Schritte machte. »Komm und trockne meine Tränen. Komm, um mir den Frieden zu bringen, um mir zu sagen, daß du mich liebst, damit ich mich an ein anderes Mädchen anstelle meiner treulosen Manon gewöhne. Du bist hübsch, vielleicht kann ich dich lieben.«
Das arme Kind, das keine sechzehn oder siebzehn Jahre alt war und schüchterner schien, als es sonst Mädchen ihrer Art zu sein pflegen, war von diesem seltsamen Auftritt aufs äußerste betroffen. Trotzdem näherte sie sich mir mit einigen Zärtlichkeiten. Aber ich wich ihnen aus und stieß das Mädchen wieder zurück.
»Was willst du von mir«? sagte ich zu ihr. »Du bist ein Weib, du gehörst zu einem Geschlecht, das ich verachte und das ich nicht mehr ertragen kann. Dein süßes Gesicht bedroht mich wieder mit Verrat. Geh und laß mich allein.«
Sie verneigte sich, ohne zu wagen, ein Wort an mich zu richten, und wandte sich dann zur Tür. Aber ich rief ihr nach, noch dazubleiben.
»Wenigstens mußt du mir noch erklären«, sagte ich, »warum, wieso und in welcher Absicht man dich zu mir geschickt hat. Wie hast du meinen Namen und den Ort erfahren, wo ich zu finden bin«?
Sie erzählte mir, daß sie Herrn de G. M. schon lange kenne. Um fünf Uhr habe er nach ihr geschickt, und sie sei mit dem Lakaien, der sie abgeholt hatte, in ein großes Haus gegangen, in dem er mit einer hübschen Dame Piquet gespielt habe. Beide hätten sie beauftragt, mir den Brief zu bringen, den sie mir ja auch gebracht habe, und ihr gesagt, daß sie mich in einem Wagen am Ende der Rue Saint-André finden werde.
Ich fragte sie, ob sie ihr weiter nichts aufgetragen hätten.
Sie antwortete errötend, sie hätten ihr Hoffnung gemacht, daß ich sie zur Gesellschaft behalten würde.
»Man hat dich getäuscht, du armes Mädchen«, sagte ich. »Man hat dich getäuscht. Du bist eine Frau und brauchst einen Mann. Aber du brauchst einen, der reich und glücklich ist, und den kannst du hier nicht finden. Kehre zu Herrn de G. M. zurück. Er besitzt alles, was man braucht, um von schönen Frauen geliebt zu werden. Er verschenkt elegant eingerichtete Häuser und Equipagen. Ich kann nur meine Liebe und Treue anbieten, und die Frauen verachten meine Armut und machen sich über mich lustig, wenn ich ihnen Vertrauen schenke.«
Ich sagte noch tausend traurige und leidenschaftliche Dinge, je nachdem die Erregung, die sich meiner bemächtigt hatte, nachließ oder wieder stärker wurde. Indessen ließ meine Aufwallung schließlich doch so weit nach, nachdem sie mich genug gequält hatte, daß sie der Überlegung Platz machte. Ich verglich dieses neue Unglück mit meinen ähnlichen früheren Erfahrungen, und fand, daß ich nicht mehr Grund zur Verzweiflung hatte als früher auch. Ich kannte Manon; warum sollte ich mich über ein Mißgeschick betrüben, das ich hätte voraussehen müssen? Warum sollte ich nicht lieber nach Abhilfe suchen? Noch war es Zeit, und ich durfte keine Mühe sparen, wenn ich mir nicht später vorzuwerfen haben wollte, durch Gleichgültigkeit zu meinen eigenen Enttäuschungen beigetragen zu haben. Ich begann darüber nachzudenken, ob nicht irgendein Ausweg Hoffnung biete.
Es wäre ein verzweifelter Versuch gewesen, danach zu trachten, sie den Händen des G. M. mit Gewalt zu entreißen. Ich hätte mich dabei nur selbst in Gefahr gebracht und nicht die geringste Aussicht auf Erfolg gehabt. Aber wenn ich nur die kürzeste Aussprache mit ihr herbeiführen könnte, so glaubte ich, würde ich ganz sicher einen Weg zu ihrem Herzen finden. Ich kannte ja alle ihre empfindlichen Seiten so gut! Ich war sicher, daß sie mich noch liebte! Selbst der abwegige Einfall, mir zum Trost ein hübsches Mädchen zu schicken, war sicher von ihr ausgegangen und ein Ausdruck ihres Mitleids mit meinem Kummer.
Ich beschloß, alles aufzubieten, um sie zu sehen. Unter den vielen Möglichkeiten, die ich eine nach der anderen erwog, blieb ich schließlich bei dieser: Herr de T. hatte mir mit solcher Ergebenheit seine Freundschaft unter Beweis gestellt, daß ich nicht den geringsten Zweifel an seiner Aufrichtigkeit und seinem Wohlwollen hegte. Ich nahm mir daher vor, auf der Stelle zu ihm zu gehen und ihn zu veranlassen, G. M. unter dem Vorwand einer wichtigen Angelegenheit rufen zu lassen. Ich brauchte nur eine halbe Stunde, um mit Manon zu sprechen. Meine Absicht war, mich in Manons Zimmer führen zu lassen, und ich glaubte, daß mir das in der Abwesenheit des G. M. nicht schwerfallen würde.
Da dieser Entschluß mich sehr beruhigte, belohnte ich das junge Mädchen, das noch immer bei mir war, um so großzügiger und bat sie – um ihr die Lust zu nehmen, dorthin zurückzukehren, woher sie gekommen war – um ihre Adresse und versprach ihr, die Nacht bei ihr zu verbringen. Ich stieg in meinen Wagen und ließ mich in schnellster Fahrt zu Herrn de T. bringen. Ich war sehr erleichtert, ihn zu Hause anzutreffen. Mit einigen Worten unterrichtete ich ihn über mein Unglück und über den Dienst, den ich von ihm erhoffte.
Er war sehr erstaunt, als er erfuhr, daß G. M. Manon hatte verführen können. Und da er von meiner Mitschuld an dem Unglück nichts wußte, bot er mir großmütig an, alle seine Freunde herbeizurufen, um ihre Arme und Degen zur Befreiung meiner Geliebten aufzubieten. Ich machte ihm begreiflich, daß ein solcher Gewaltakt Manon und mir verderblich werden könnte.
»Sparen wir unser Blut für den Notfall«, sagte ich zu ihm.
»Ich habe einen weniger schroffen Weg erwogen, von dem ich mir nicht geringeren Erfolg verspreche.«
Er verpflichtete sich bedingungslos zu allem, was ich von ihm verlangte, und als ich ihm erklärt hatte, daß es sich nur darum handele, G. M. zu einer Besprechung zu rufen und ihn dann eine Stunde oder zwei festzuhalten, machte er sich sofort mit mir auf den Weg, um meinen Wunsch zu erfüllen.
Wir suchten nun nach einem Vorwand, ihn so lange aufzuhalten. Ich riet, ihm zunächst aus einem Restaurant einen kurzen Brief zu schicken und ihn zu bitten, in einer dringenden und unaufschiebbaren Angelegenheit sich sofort dorthin zu bemühen.
»Ich werde dann«, erklärte ich, »den Augenblick, da er das Haus verläßt, dazu benutzen, um ohne Mühe hineinzukommen, da mich dort außer Manon und meinem Diener Marcel niemand kennt. Was Sie betrifft, so sagen Sie G. M., wenn dieser bei Ihnen ist, daß Sie ihn in einer Geldangelegenheit so dringend sprechen müßten. Sie hätten im Spiel verloren und dann mit hohem Einsatz und mit dem gleichen unglücklichen Ergebnis auf Ehrenwort gespielt. Er wird einige Zeit brauchen, Sie zu seiner Kasse zu führen, und ich kann inzwischen in aller Ruhe meine Absicht ausführen.«
Herr de T. befolgte diesen Plan genau. Ich trennte mich in einem Restaurant von ihm, wo er seinen Brief schrieb, während ich mich inzwischen in die Nähe von Manons Haus begab. Ich sah den Boten mit dem Brief ankommen und G. M. einen Augenblick später, gefolgt von einem Lakaien, das Haus zu Fuß verlassen. Ich wartete, bis er aus der Straße verschwunden war, näherte mich der Tür meiner Ungetreuen und klopfte trotz meines Unmuts so ehrfurchtsvoll an, als sei es die Tür zu einem Heiligtum. Zum Glück war es Marcel, der mir öffnete, und ich bedeutete ihm zu schweigen. Obgleich ich nun von den anderen Dienern nichts mehr zu befürchten hatte, fragte ich ihn leise, ob er mich unbemerkt in das Zimmer führen könne, in dem sich Manon befand. Er antwortete mir, daß dies nicht schwer sei, wenn ich leise die Haupttreppe hinaufginge.
»Also rasch«, erwiderte ich, »und sorge dafür, daß uns niemand stört, solange ich bei ihr bin.« Ich erreichte ungehindert Manons Zimmer. Manon las, und ich hatte erneut Gelegenheit, den sonderbaren Charakter dieses Mädchens zu bewundern. Weit davon entfernt, über meinen Anblick zu erschrecken oder in Verlegenheit zu geraten, verriet sie nur jenes leichte Erstaunen, das uns unwillkürlich beim Anblick eines Menschen überkommt, den wir weit entfernt glauben.
»Ach, du bist es, mein Herz«, sagte sie und kam auf mich zu, um mich mit gewohnter Zärtlichkeit zu umarmen. »Du lieber Himmel, wie kühn du bist! Wer hätte dich heute ausgerechnet hier erwartet«?
Ich befreite mich aus ihren Armen, und anstatt ihre Liebkosungen zu erwidern, stieß ich sie mit Abscheu von mir und trat zwei oder drei Schritte zurück, um sie mir vom Leibe zu halten. Mein Verhalten verfehlte nicht, sie außer Fassung zu bringen. Sie blieb reglos stehen und richtete, die Farbe wechselnd, ihre Augen auf mich.
Ich war im Grunde so entzückt, sie wiederzusehen, daß ich trotz meines berechtigten Zorns nur mit Mühe imstande war, den Mund aufzutun, um ihr Vorwürfe zu machen. Aber in meinem Herzen blutete die grausame Wunde, die sie mir zugefügt hatte, und ich rief sie mir so lebhaft wie möglich ins Gedächtnis, um meinen Groll zu wecken. Dabei versuchte ich, in meinen Augen eine andere Glut funkeln zu lassen als die der Liebe. Da ich eine Weile schweigend dastand und sie meine Erregung bemerkte, begann sie, offenbar aus Furcht, zu zittern.
Diesen Anblick konnte ich nicht ertragen.
»Ach, Manon«, sagte ich zärtlich, »du ungetreue und eidbrüchige Manon! Womit soll ich meine Anklage beginnen? Ich sehe dich bleich und zitternd und bin noch immer so empfänglich für deinen geringsten Kummer, daß ich fürchte, dich mit meinen Vorwürfen zu sehr zu betrüben. Aber, du kannst mir glauben, Manon, der Schmerz über deinen Verrat hat mein Herz durchbohrt, solche Schläge fügt man einem Liebhaber nur dann zu, wenn man seinen Tod wünscht. Es ist nun das dritte Mal, Manon. Ich habe es wohl gezählt – man kann so etwas nicht vergessen. Du mußt dir in dieser Stunde noch klarwerden, welchen Entschluß du fassen willst, denn mein betrübtes Herz hält die Prüfungen einer so grausamen Behandlung nicht mehr aus. Ich fühle, wie es sich zusammenzieht und nahe daran ist, vor Schmerz zu brechen. Ich ertrage es nicht«, fügte ich hinzu, indem ich mich auf einen Stuhl sinken ließ. »Ich habe kaum noch die Kraft, zu sprechen und mich aufrecht zu halten.«
Sie gab mir keine Antwort, als ich mich jedoch hingesetzt hatte, ließ sie sich auf die Knie fallen und verbarg ihren Kopf in meinen Händen. Ich fühlte sofort, wie sie meine Finger mit ihren Tränen benetzte. Mein Gott, welche Empfindungen durchströmten mein Herz!
»Ach, Manon, Manon«, fuhr ich seufzend fort, »deine Tränen kommen sehr spät, nachdem du mir vorher den Tod gegeben hast. Du heuchelst eine Trauer, die du unmöglich empfinden kannst. Dein größter Schmerz ist wahrscheinlich meine Gegenwart, die deinen Vergnügungen stets im Wege steht, öffne die Augen, sieh, wer ich bin. Man vergießt nicht so zarte Tränen um einen Unglücklichen, den man verraten hat und auf so grausame Weise im Stich läßt.«
Sie küßte meine Hände, ohne ihre Stellung zu verändern.
»Unbeständige Manon«, fuhr ich weiter fort, »undankbares und treuloses Mädchen! Wo sind deine Versprechungen und Schwüre? Du unendlich flatterhafte und grausame Geliebte, was hast du dieser Liebe angetan, die du mir noch heute geschworen hast? Gerechter Himmel, darf eine Ungetreue, nachdem sie dich so feierlich zum Zeugen angerufen hat, jetzt über dich lachen? Wird der Meineid noch belohnt? Werden Verzweiflung und Verlassenheit dem zuteil, der anhänglich und treu ist«?
Diese Worte waren von so bitteren Empfindungen begleitet, daß ich unwillkürlich einige Tränen vergoß. Manon bemerkte das am veränderten Ton meiner Stimme und brach endlich ihr Schweigen.
»Ich muß wohl sehr schuldig sein«, sagte sie traurig, »daß ich dir so viel Schmerz und Aufregung verursacht habe. Aber der Himmel möge mich bestrafen, wenn ich mir dessen bewußt gewesen bin oder überhaupt nur etwas davon geahnt habe.«
Diese Bemerkung schien mir so sinnlos und gewissenlos, daß ich mich meiner Erbitterung nicht erwehren konnte.
»Abscheuliche Heuchelei!« rief ich. »Ich sehe mehr denn je, daß du nur eine verworfene Verräterin bist.
Ich erkenne jetzt deinen niedrigen Charakter. Lebe wohl, elendes Geschöpf«, fuhr ich fort, indem ich mich erhob. »Lieber will ich tausend Tode sterben, als mit dir in Zukunft noch die geringste Gemeinschaft haben. Der Himmel möge mich strafen, wenn ich dich jemals wieder auch nur eines Blickes würdige! Bleibe bei deinem neuen Liebhaber, liebe ihn, verabscheue mich, entsage jedem Ehrgefühl und Anstand. Ich lache nur darüber.«
Mein Zornesausbruch hatte sie so erschreckt, daß sie noch immer neben dem Stuhl, von dem ich mich erhoben hatte, auf den Knien lag und mich zitternd ansah, ohne daß sie auch nur zu atmen wagte. Ich ging mit zurückgewandtem Kopf einige Schritte in Richtung auf die Tür, doch blieben meine Augen starr auf sie gerichtet. Ich hätte kein menschliches Gefühl mehr haben müssen, um solchen Reizen gegenüber ungerührt zu bleiben.
Ich war so weit davon entfernt, eine solche barbarische Kraft zu besitzen, daß ich plötzlich, in das Gegenteil verfallend, zu ihr zurückkehrte – vielmehr wie besinnungslos auf sie zustürzte. Ich schloß sie in meine Arme und gab ihr tausend zärtliche Küsse. Ich bat sie um Verzeihung wegen meiner Heftigkeit, ich klagte mich an, ich sei ein Unmensch und verdiene nicht, von einem solchen Mädchen geliebt zu werden.
Ich ließ sie sich hinsetzen, und indem ich nun selbst vor ihr niederkniete, beschwor ich sie, mich in dieser Stellung anzuhören. Und alles, was ein unterwürfiger und leidenschaftlicher Liebhaber sich nur an Worten der Verehrung und Zärtlichkeit ausdenken konnte, das faßte ich jetzt in meiner Entschuldigung zusammen. Ich bat sie um die Gnade, mir ihre Verzeihung auszusprechen. Sie ließ ihre Arme auf meinen Hals fallen und sagte, sie selbst bedürfe meiner Güte, um mich all den Kummer, den sie mir bereitet habe, vergessen zu lassen. Auch fange sie mit Recht an zu fürchten, daß alles, was sie zu ihrer Rechtfertigung vorzubringen habe, kaum meine Billigung finden werde.
»Ich sollte das nicht billigen«, unterbrach ich sie schnell. »Ach, ich verlange von dir keine Rechtfertigung, ich billige alles, was du getan hast. Ich habe nicht nach den Gründen deines Handelns zu fragen. Ich bin ja schon zufrieden und glücklich, wenn meine teure Manon mir nicht die Liebe ihres Herzens versagt! Aber«, fuhr ich fort, ohne noch weiter an die Lage meines Schicksals zu denken, »allmächtige Manon, du, die mir nach Laune Lust und Leid zufügt, nachdem du nun genugsam meine Unterwürfigkeit und die Zeichen meiner Reue genossen hast, darf ich jetzt von meiner Traurigkeit und von meinen Schmerzen sprechen? Werde ich erfahren, was heute aus mir werden soll und ob du unwiderruflich mein Todesurteil unterzeichnest, indem du diese Nacht mit meinem Nebenbuhler verbringst«?
Sie dachte einen Augenblick über ihre Antwort nach.
»Mein Chevalier«, sagte sie dann, wieder ruhiger werdend, »hättest du dich gleich so ausgedrückt, so hättest du dir viel Kummer und mir eine schmerzliche Szene erspart. Da deine Schmerzen nur eine Folge deiner Eifersucht sind, so hätte ich sie mit meinem Anerbieten, dir bis ans Ende der Welt zu folgen, leicht geheilt. Aber ich glaubte, der Brief, den ich dir unter den Augen des Herrn de G. M. schrieb, und das Mädchen, das wir dir geschickt haben, hätten deinen Kummer verursacht. Ich nahm an, du hieltest meinen Brief für eine Verspottung und sähest in dem Mädchen einen Beweis dafür, daß ich dich verlassen wolle, um mich mit G. M. zu verbinden. Dieser Gedanke hat mich ganz verwirrt, denn so unschuldig ich war, so mußte ich doch zugeben – wenn ich darüber nachdachte –, daß der Schein gegen mich sprach. Aber du sollst nun selbst mein Richter sein, nachdem ich dir den wahren Zusammenhang erklärt habe.«
Sie erzählte mir nun alles, was ihr begegnet war, seit sie G. M. getroffen hatte, der sie an dem Ort, wo wir uns jetzt befanden, erwartete. Er hatte sie tatsächlich wie eine Prinzessin empfangen und ihr alle Zimmer gezeigt, die ein Wunder an Geschmack waren. Er hatte ihr in ihrem Kabinett zehntausend Franken überreicht und einige Schmuckstücke hinzugefügt, unter denen sich auch der Halsschmuck und die Armbänder befanden, die sie schon einmal von seinem Vater erhalten hatte.
Anschließend hatte er sie in einen Salon geführt, den sie noch nicht gesehen und wo ein ausgesuchter Imbiß auf sie wartete. Er ließ sie durch neue Lakaien bedienen, die er eigens für sie angeworben hatte mit dem Auftrag, sie in Zukunft als ihre Herrin zu betrachten. Schließlich hatte er ihr den Wagen, die Pferde und seine übrigen Geschenke gezeigt und ihr vorgeschlagen, die Zeit bis zum Abendessen mit einer Partie Piquet zu verbringen.
»Ich gestehe dir«, fuhr sie fort, »daß ich von dieser Großzügigkeit doch beeindruckt war. Ich überlegte, daß es bedauerlich wäre, uns all diese Reichtümer entgehen zu lassen und uns damit zu begnügen, die zehntausend Franken und den Schmuck mitzunehmen. Hier bot sich dir und mir ein ganzes Vermögen an, und wir hätten auf Kosten des G. M. recht angenehm davon leben können.
Anstatt ihm also den Theaterbesuch vorzuschlagen, setzte ich mir in den Kopf, ihn über dich auszuforschen, um beurteilen zu können, welche Möglichkeiten sich anbieten, uns zu sehen. Ich fand, daß er sehr fügsam war. Er fragte mich, was ich von dir dächte und ob ich es nicht doch bedauerte, dich zu verlassen. Ich antwortete ihm, du seist so liebenswürdig gewesen und habest mich immer so gut behandelt, daß es unnatürlich wäre, wenn ich dich hassen wollte. Er gab zu, daß du sicherlich Vorzüge besäßest und daß er selbst den Wunsch hätte, deine Freundschaft zu gewinnen.
Er wollte dann wissen, wie du meine Flucht aufnehmen würdest, besonders, wenn du erführest, daß ich in seinen Händen sei. Ich antwortete ihm, unsere Liebe währe schon so lange, daß sie sich etwas abgekühlt habe. Im übrigen befändest du dich in ziemlich schlechten Vermögensverhältnissen und sähest deshalb vielleicht meine Flucht gar nicht als ein so großes Unglück an, da sie dich von einer beschwerlichen Last befreie. Ich fügte noch hinzu, ich sei überzeugt, daß du dich friedlich verhalten werdest. Du hättest auch keine Schwierigkeiten gemacht, als ich dir sagte, ich müsse in Paris einige Besorgungen machen. Du hättest zugestimmt und mich sogar begleitet, und du wärest, als ich dich verließ, durchaus nicht beunruhigt erschienen.
»Wenn ich annehmen dürfte«, sagte er zu mir, »daß er geneigt wäre, mit mir in gutem Einvernehmen zu bleiben, so würde ich der erste sein, ihm meine Dienste und Hilfe anzubieten.
Ich versicherte ihm, daß – soweit mir dein Charakter bekannt sei – du zweifellos deinen guten Willen zeigen würdest, besonders, wenn er dir in deinen Vermögensverhältnissen helfen könnte, die seit deinem Bruch mit deiner Familie sehr ungesichert seien. Er unterbrach mich mit der Zusage, daß er dir – soweit es an ihm liege – alle Dienste erweisen wolle, und wenn du einer neuen Liebschaft nicht abgeneigt wärest, so würde er dir ein hübsches Mädchen verschaffen, das er mir aufgeopfert habe.
Ich billigte seinen Vorschlag«, fügte sie hinzu, »um in jeder Weise seinem Mißtrauen vorzubeugen, und da ich mich immer mehr in meinem Plan bestärkte, wünschte ich mir nur noch eine Möglichkeit, dich aufzuklären, denn ich fürchtete, du könntest dich zu sehr beunruhigen, wenn ich unsere Verabredung nicht einhielte. Nur in dieser Absicht habe ich ihm vorgeschlagen, dir diese neue Geliebte noch am gleichen Abend zu schicken, denn auf diese Weise bot sich eine Gelegenheit, dir zu schreiben. Ich mußte mich dieser List bedienen, denn ich hatte keine Hoffnung, daß er mich auch nur einen Moment allein lassen werde.
Er lachte über meinen Vorschlag und rief seinen Diener, um ihn zu fragen, ob er seine frühere Geliebte zu finden wisse. Dann ließ er sie holen. Er war der Meinung, er müsse dich in Chaillot aufsuchen lassen. Aber ich erzählte ihm, wir hätten, als wir uns trennten, verabredet, daß du vor dem Theater in einem Wagen auf mich warten würdest. Daher sei es besser, dir deine neue Geliebte dorthin zu senden, damit du nicht die ganze Nacht warten müßtest. Ich überzeugte ihn auch von der Notwendigkeit, dir in einem Briefe meine Sinnesänderung zu erklären, die dir sonst sehr unglaubwürdig erscheinen würde.
»Nun weißt du«, fügte Manon hinzu, »wie alles gekommen ist. Ich verhehle dir nichts, weder von meinen Taten noch von meinen Absichten. Das junge Mädchen kam, und ich fand sie hübsch. Da ich nicht daran zweifelte, daß mein Ausbleiben dir Kummer verursachen würde, so hoffte ich aufrichtig, sie möge dir wenigstens vorübergehend Zerstreuung bieten. Denn die Treue, die ich von dir erhoffe, ist die des Herzens. Ich wäre froh gewesen, wenn ich dir Marcel hätte schicken können, aber ich fand auch nicht einen Augenblick Zeit, um ihm das zu sagen, was ich dir gern mitgeteilt hätte.«
Sie schloß ihren Bericht damit, daß sie mir erzählte, in welche Verlegenheit G. M. durch den Brief des Herrn de T. versetzt wurde.
»Er hat geschwankt«, sagte sie, »ob er mich allein lassen dürfe, und mir versichert, daß er bald wieder zurück sein werde. Das ist auch der Grund, weshalb ich dich mit einiger Unruhe hier sehe und warum ich über deinen Besuch so erschrocken war.«
Ich hatte mit großer Geduld zugehört, obgleich ihr Bericht manches Verletzende und Demütigende für mich enthielt, denn die Absicht ihrer Untreue war so klar, daß sie sich nicht einmal die Mühe gab, sie zu verbergen. Sie konnte nicht hoffen, daß G. M. sie die ganze Nacht als eine Vestalin behandeln würde. Sie nahm es also auf sich, diese Nacht mit ihm zu verbringen. Welch ein Geständnis für einen Liebenden!
Trotzdem schrieb ich mir selber auch einen Teil der Schuld zu, denn ich hatte ihr die Gefühle des G. M. selber erklärt und war dann blindlings auf ihren verwegenen und abenteuerlichen Plan eingegangen. Im übrigen rührte mich bei meiner eigenartigen Veranlagung die Aufrichtigkeit ihrer Erzählung und die naive, offene Art, mit der sie mir sogar die kränkendsten Einzelheiten erzählte.
»Sie sündigt ohne bösen Willen«, sagte ich mir. »Sie ist leichtsinnig und töricht, aber sie ist auch offen und ehrlich.«
Dazu kam, daß schon meine Liebe allein genügte, um mir über alle ihre Fehler die Augen zu verschließen. Ich war zu erfreut durch die Aussicht, sie noch heute Abend meinem Nebenbuhler wieder abzunehmen.
Trotzdem sagte ich zu ihr: »Und mit wem wolltest du diese Nacht verbringen«?
Diese resigniert ausgesprochene Frage brachte sie in Verwirrung. Sie stammelte nur ein paar zusammenhanglose Worte. Schließlich tat sie mir leid in ihrer Verlegenheit, und ich erklärte ihr kurz, indem ich das Gespräch abbrach, ich erwarte, daß sie mir unverzüglich folge.
»Ich bin selbstverständlich einverstanden«, sagte sie. »Aber billigst du meinen Vorschlag nicht«?
»Wie«, erwiderte ich, »ist es denn nicht genug, daß ich alles gebilligt habe, was du bis jetzt getan hast«?
»Und die zehntausend Franken sollen wir auch nicht mitnehmen«? fragte sie. »Er hat sie mir doch geschenkt, sie gehören mir.«
Ich riet ihr, alles zurückzulassen und an nichts zu denken als an unsere schnelle Flucht, denn wenn ich bisher auch kaum eine halbe Stunde bei ihr war, so fürchtete ich doch die Rückkehr des G. M. Sie bat mich jedoch so dringend, nicht mit leeren Händen zu gehen, daß ich glaubte, ihr ein Zugeständnis machen zu müssen, nachdem sie mir so viel zugestanden hatte.
Während wir uns zur Flucht fertigmachten, hörte ich, wie an der Haustür geklopft wurde. Ich zweifelte nicht daran, daß es G. M. sei, und in meinem Ärger über diese Situation sagte ich zu Manon, es sei um sein Leben geschehen, wenn er sich blicken lasse. Ich befand mich tatsächlich noch immer in so erregter Stimmung, daß ich mich bei seinem Anblick nicht hätte beherrschen können. Marcel machte meiner Unruhe ein Ende, als er mir einen Brief überreichte, den er an der Tür für mich empfangen hatte. Er kam von Herrn de T.
Herr de T. schrieb mir, er wolle – da G. M. fortgegangen sei, um in seinem Hause das Geld zu holen – seine Abwesenheit benutzen, um mir einen spaßhaften Einfall mitzuteilen. Er sei der Meinung, daß ich mich nicht besser an meinem Nebenbuhler rächen könnte, als wenn ich sein Souper verzehrte und diese Nacht in seinem Bett verbrächte, in dem er mit meiner Geliebten zu schlafen gehofft hatte. Dieser Plan erscheine ihm leicht ausführbar. Ich brauchte mir nur drei oder vier Mann zu nehmen, die den Mut hätten, ihn auf der Straße zu überfallen, und zuverlässig genug wären, ihn bis zum kommenden Morgen festzuhalten. Was ihn, Herrn de T., angehe, so verspreche er, ihn noch eine Stunde unter verschiedenen Vorwänden aufzuhalten, die er schon für seine Rückkehr bereithalte.
Ich zeigte Manon den Brief und erzählte ihr, welcher List ich mich bedient hatte, um mir Zutritt zu ihr zu verschaffen. Mein Einfall und auch der des Herrn de T. erschienen ihr großartig. Wir lachten eine Weile voller Schadenfreude; als ich aber über den Vorschlag des Herrn de T. wie über einen Scherz sprach, bemerkte ich, daß sie mit vollem Ernst und Begeisterung bereits an die Ausführung dachte. Vergebens fragte ich sie, wo ich denn jetzt plötzlich Leute auftreiben solle, die imstande wären, G. M. zu überfallen und sicher zu bewachen. Sie meinte, ich müsse es wenigstens versuchen, da uns Herr de T. noch eine Stunde garantiert habe. Und auf meine übrigen Einwände erwiderte sie nur, ich führe mich wie ein Tyrann auf und verhalte mich sehr ungefällig. Sie finde die Idee ganz ausgezeichnet.
»Du wirst beim Essen auf seinem Platz sitzen«, wiederholte sie mir. »Du wirst in seinem Bett schlafen, und morgen in aller Frühe wirst du seine Geliebte und sein Geld entführen. Du wirst aufs beste gerächt sein, sowohl am Vater wie am Sohn.«
Ich gab ihrem inständigen Bitten nach, obwohl ich eine heimliche Unruhe im Herzen hatte, die mich vor einem schlimmen Ausgang zu warnen schien. Ich entfernte mich, um zwei oder drei Soldaten, deren Bekanntschaft ich Lescaut verdankte, damit zu beauftragen, G. M. zu überfallen. Ich traf nur einen in seiner Wohnung an, aber er war ein unternehmungslustiger Kerl, der mir – kaum daß er erfuhr, um was es sich handle – guten Erfolg versprach. Er verlangte zehn Pistolen, um drei Kameraden anzuwerben, mit denen er den Streich ausführen wollte.
Ich ersuchte ihn, keine Zeit zu verlieren, und er brachte sie in weniger als einer Viertelstunde zusammen. Ich wartete vor seiner Wohnung, und als er mit seinen Freunden erschien, führte ich sie selbst an die Ecke einer Straße, durch die G. M. bei seiner Rückkehr in Manons Wohnung kommen mußte. Ich wies ihn an, G. M. nicht zu mißhandeln, ihn aber bis sieben Uhr morgens gut zu bewachen, damit ich sicher sein könne, daß er nicht entweiche. Er sagte mir, er wolle ihn auf sein Zimmer führen und ihn zwingen, sich auszuziehen oder sogar in seinem Bett zu schlafen, während er und seine drei Kumpane die ganze Nacht mit Trinken und Spielen verbringen würden.
Ich blieb bei ihnen bis zu dem Augenblick, wo ich G. M. kommen sah, und versteckte mich dann in der Nähe in einem dunklen Winkel. Der Soldat trat mit der Pistole in der Hand auf ihn zu und erklärte ihm höflich, er wolle weder sein Leben noch sein Geld. Wenn er aber die geringste Schwierigkeit mache, ihm zu folgen, oder den leisesten Schrei ausstoße, so sei er gezwungen, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen. G. M. sah, daß sein Gegner von drei Soldaten begleitet wurde, und fürchtete sich ohne Zweifel auch vor der geladenen Pistole. Er leistete daher keinen Widerstand. Ich sah, wie sie ihn wie einen Hammel abführten.
Ich kehrte sofort zu Manon zurück, und um bei den Dienern kein Mißtrauen aufkommen zu lassen, sagte ich beim Eintreten zu ihr, sie dürfe Herrn de G. M. nicht zum Souper erwarten, da er durch dringende Geschäfte wider Willen aufgehalten sei und mich gebeten habe, ihr seine Entschuldigung auszurichten und mit ihr zu Abend zu speisen. Bei einer so schönen Dame dürfe ich das als eine große Gunst betrachten.
Sie unterstützte sehr geschickt meine Absicht. Wir nahmen an der Tafel Platz und machten ein würdiges Gesicht, solange die Diener zugegen waren. Als wir sie endlich entlassen hatten, verbrachten wir einen der schönsten Abende unseres Lebens. Ich befahl Marcel heimlich, einen Wagen zu beschaffen, der am nächsten Morgen gegen sechs Uhr vor der Haustür warten solle. Ich tat so, als verließe ich Manon gegen Mitternacht, nachdem ich mich aber heimlich mit Marcels Hilfe wieder hereingeschlichen hatte, schickte ich mich an, die Stelle des G. M. im Bett einzunehmen, so wie ich sie schon bei Tisch eingenommen hatte.
Inzwischen aber wirkte unser böses Geschick an unserem Verderben. Wir befanden uns in einem Taumel des Leichtsinns, während das Schwert über unseren Häuptern hing. Der Faden, der es hielt, war dem Zerreißen nahe, aber damit alle Umstände unserer Katastrophe verständlich werden, muß ich auch die Zusammenhänge erzählen.
G. M. war, als ihn der Soldat festnahm, von einem Lakaien begleitet. Dieser eilte voller Bestürzung über das Abenteuer seines Herrn zurück und hatte zum Beistand nichts Eiligeres zu tun, als dem alten G. M. von dem Geschehen Mitteilung zu machen.
Eine so schlimme Nachricht mußte diesen natürlich sehr beunruhigen, denn es handelte sich schließlich um seinen einzigen Sohn. Zunächst wollte er von dem Diener alles wissen, was sein Sohn am Nachmittag getan hatte, ob er mit jemandem einen Streit gehabt oder sich am Streit eines anderen beteiligt oder ob er sich in einem verdächtigen Haus aufgehalten habe. Der Diener, der seinen Herrn in der größten Lebensgefahr glaubte und nichts verschweigen wollte, um ihm Hilfe zuteil werden zu lassen, erzählte alles, was er über die Affäre mit Manon und die großen Ausgaben wußte, die für sie gemacht worden waren. Er erzählte ihm, wie sein Sohn den Nachmittag bis etwa gegen neun Uhr zu Hause verbracht habe und dann ausgegangen sei, um auf dem Heimweg dieses Unglück zu erleben.
Das genügte, um den Alten auf die Vermutung zu bringen, sein Sohn habe einen Streit in einer Liebesangelegenheit gehabt. Obwohl es schon nach halb elf war, zögerte er nicht, sich sofort zum Polizeihauptmann zu begeben. Er bat ihn, allen Wachtpatrouillen entsprechende Hinweise zu geben. Dann ließ er sich selbst eine Patrouille als Begleitung zuteilen und eilte in die Straße, in der man seinen Sohn überfallen hatte. Er durchforschte alle Orte der Stadt, wo er hoffen konnte, ihn zu finden, und als er keine Spur entdeckte, ließ er sich endlich in das Haus der Geliebten seines Sohnes führen, weil er feststellen wollte, ob er inzwischen wohl zurückgekehrt sei. Ich wollte gerade zu Bett gehen, als er kam. Die Tür des Zimmers war verschlossen, und das Klopfen an der Haustür hatte ich nicht gehört. Er kam in Begleitung von zwei Polizisten ins Haus, und nachdem er sich vergebens nach dem Schicksal seines Sohnes erkundigt hatte, kam er auf den Gedanken, dessen Geliebte zu sehen, um vielleicht von ihr einen Hinweis zu erhalten. Er schritt also in Begleitung der zwei Polizisten die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Er öffnete die Tür, als wir uns gerade ins Bett legen wollten, und ließ durch seinen Anblick uns das Blut in den Adern erstarren.
»O Gott, der alte G. M.«, sagte ich zu Manon.
Ich sprang nach meinem Degen, der unglücklicherweise in meinem Gurt verwickelt war. Die Polizisten, die meine Bewegung gesehen hatten, entrissen ihn mir. Ein Mann im Hemd ist wehrlos, und so nahmen sie mir jede Möglichkeit zur Verteidigung.
Wenn G. M. durch diesen Auftritt auch überrascht war, so erkannte er mich doch sofort. Und noch leichter erkannte er Manon.
»Täusche ich mich nicht«? fragte er ernst. »Sehe ich den Chevalier des Grieux und Manon Lescaut vor mir«?
Ich war so wütend vor Scham und Schmerz, daß ich keine Antwort gab. Er schien eine Zeitlang alle möglichen Gedanken zu erwägen, und als ob diese plötzlich seinen Zorn angefacht hätten, schrie er, indem er sich an mich wandte:
»Unglückseliger, du hast meinen Sohn ermordet!«
Diese Beschuldigung empörte mich. »Alter Schurke«, antwortete ich stolz, »wenn ich die Absicht hätte, jemanden von deiner Familie zu töten, dann würde ich mit dir anfangen.«
»Haltet ihn fest«, sagte er zu den Polizisten. »Er soll mir sagen, wo mein Sohn ist. Wenn er mir nicht auf der Stelle sagt, was er mit ihm gemacht hat, lasse ich ihn morgen früh aufhängen.«
»Du willst mich aufhängen lassen«? rief ich. »Elender, deinesgleichen gehört an den Galgen. Merke dir, daß ich von edlerem und reinerem Blute bin als du. Ja«, fügte ich hinzu, »ich weiß, was deinem Sohne widerfahren ist, und wenn du mich noch mehr reizt, lasse ich ihn noch vor Tag erdrosseln und verspreche dir das gleiche Schicksal.«
Es war eine Torheit, zuzugeben, daß ich den Aufenthalt seines Sohnes wisse. Aber das Übermaß meines Zorns verleitete mich zu diesem Eingeständnis. Er rief sofort fünf oder sechs weitere Polizisten, die vor der Haustür warteten, und hieß sie sämtliche Bedienten des Hauses festnehmen.
»Mein Herr Chevalier«, fuhr er spöttisch fort, »Sie wissen also, wo mein Sohn ist, und Sie sagen, Sie werden ihn erdrosseln lassen? Verlassen Sie sich darauf, daß wir das verhindern werden.«
Ich merkte jetzt, welchen Fehler ich begangen hatte.
Er näherte sich Manon, die weinend auf dem Bett saß, und sagte ihr einige ironische Komplimente über den Eindruck, den sie auf Vater und Sohn gemacht habe, und die kluge Art, wie sie diesen Einfluß ausnutze. Das alte, unzüchtige Scheusal wollte sich sogar einige Vertraulichkeiten erlauben.
»Hüte dich, sie anzurühren«, schrie ich, »auch Gott könnte dich dann nicht mehr vor meinen Händen retten!« Er ging hinaus und ließ drei Polizisten im Zimmer, die dafür sorgen mußten, daß wir sofort unsere Kleider anlegten.
Ich weiß nicht, was er in diesem Augenblick mit uns vorhatte. Vielleicht hätten wir die Freiheit wiedererlangt, wenn wir ihm gesagt hätten, wo sich sein Sohn befand. Ich überlegte, während ich mich anzog, ob das nicht schließlich das beste wäre. Aber wenn G. M. auch beim Verlassen des Zimmers dazu bereit gewesen wäre, so kehrte er mit ganz anderen Absichten zurück. Er hatte alle Diener Manons, die von den Polizisten festgenommen waren, ausgefragt. Von den Dienern, die sein Sohn ihr gegeben hatte, konnte er nichts erfahren, aber als er hörte, daß Marcel uns schon früher gedient hatte, beschloß er, ihn durch Drohungen zum Sprechen zu bringen.
Marcel war ein treuer Mensch, aber einfältig und ungeschickt. Die Erinnerung an seinen Anteil bei der Befreiung Manons aus dem Arbeitshaus und der Schrecken, den ihm G. M. einflößte, machten einen solchen Eindruck auf seinen schwachen Kopf, daß er sich einbildete, man werde ihn zum Galgen führen oder auf das Rad binden. Er versprach, alles zu sagen, was ihm bekannt sei, wenn man ihm nur das Leben lasse. Dies brachte G. M. zu der Überzeugung, es müsse hinter unseren Angelegenheiten noch etwas Schlimmeres und Strafwürdigeres verborgen sein, als er sich bisher vorgestellt hatte. Darum verhieß er Marcel für sein Geständnis nicht nur die Freiheit, sondern auch noch eine Belohnung.
Der Unglückliche erzählte ihm nur einen Teil unseres Plans, denn wir hatten uns nicht gescheut, in seiner Gegenwart davon zu sprechen, da er ja selbst dabei eine Rolle spielen sollte. Zwar wußte er nichts von den Änderungen, die wir in Paris besprochen hatten, aber er war bei der Abreise aus Chaillot über das Unternehmen und seinen Anteil daran unterrichtet worden. Er erklärte also dem G. M., wir hätten beabsichtigt, seinen Sohn zum Narren zu halten. Manon sollte zehntausend Franken bekommen, oder habe sie schon erhalten, und nach unserem Plan solle dies Geld nie wieder in den Besitz der Familie de G. M. zurückkehren.
Nach dieser Entdeckung kehrte der wütende Alte wieder in unser Zimmer zurück und begab sich ohne ein weiteres Wort in das Kabinett, wo er ohne Mühe das Geld und die Schmuckgegenstände entdeckte. Mit zornrotem Gesicht kehrte er zu uns zurück, zeigte uns, was er unseren Raub nannte, und überschüttete uns mit den schmählichsten Vorwürfen. Er hielt das Perlenhalsband und die Armbänder Manon vor die Augen.
»Erkennen Sie das wieder«? fragte er sie mit spöttischem Lächeln. »Es ist nicht das erstemal, daß Sie das sehen. Wahrhaftig, es ist der gleiche Schmuck. Er war nach Ihrem Geschmack, meine Schöne, das glaube ich gern! Die armen Kinder!« fügte er hinzu, »sie sind wirklich reizend, alle beide, aber sie stehlen zu gern.«
Mein Herz wollte vor Wut bersten bei diesen beleidigenden Worten. Für einen Augenblick der Freiheit, barmherziger Himmel, was hätte ich nicht dafür gegeben! Endlich zwang ich mich, ihm mit einer Mäßigung, hinter der sich nur meine äußerste Wut verbarg, zu antworten.
»Mein Herr«, sagte ich, »verzichten Sie endlich auf diesen beleidigenden Hohn! Sagen Sie, um was es sich handelt? Was haben Sie vor«?
»Es handelt sich darum, Herr Chevalier«, antwortete er, »von hier aus ins Châtelet zu wandern. Wenn morgen wieder Tag ist, werden wir etwas Licht in unsere Angelegenheiten bringen, und ich hoffe, daß Sie dann auch so gütig sein werden, mir zu sagen, wo mein Sohn ist.«
Ich begriff ohne viel Nachdenken, daß es schreckliche Folgen haben könnte, wenn wir erst einmal im Châtelet eingesperrt wären. Bebend stellte ich mir alle Gefahren vor, und trotz meines Stolzes erkannte ich, daß ich mich unter der Last meines Schicksals beugen und meinem grausamsten Feind schmeicheln müsse, um durch meine Unterwürfigkeit einen Vorteil zu gewinnen. Darum bat ich ihn höflich, uns einen Augenblick Gehör zu schenken.
»Mein Herr«, sagte ich zu ihm, »ich sehe mein Unrecht ein. Ich gestehe, daß mich meine Jugend veranlaßt hat, große Fehler zu begehen, daß Sie ein Recht haben, sich über mich zu beschweren. Aber wenn Sie die Gewalt der Liebe kennen und beurteilen können, was ein armer, unglücklicher Jüngling leidet, dem man alles nimmt, was er liebt, dann werden Sie es vielleicht verständlich finden, wenn ich die Genugtuung einer kleinen Rache gesucht habe, oder Sie werden wenigstens erkennen, daß mein erlittener Schimpf Strafe genug ist. Sie brauchen mir weder mit Kerker noch Tod zu drohen, um den Aufenthaltsort Ihres Sohnes zu erfahren. Ihr Sohn befindet sich in Sicherheit. Es war weder meine Absicht, ihm Gewalt anzutun, noch Sie zu beleidigen. Ich bin bereit, Ihnen den Ort zu nennen, wo er in Ruhe die Nacht verbringt, wenn Sie mir die Gunst erweisen, uns die Freiheit zu schenken.«
Weit entfernt, von meiner Bitte gerührt zu sein, wandte mir der alte Tiger lachend den Rücken. Er ließ nur ein paar Worte fallen, um mir anzudeuten, daß er unsere Absichten von Anfang an kenne. Was seinen Sohn angehe, fügte er schroff hinzu, so würde er sich schon wieder einfinden, nachdem ich ihn nicht habe ermorden lassen.
»Bringt sie ins Châtelet«, sagte er zu den Polizisten, »und paßt auf, daß euch der Chevalier nicht entwischt. Er ist ein Schlaukopf, der schon einmal aus Saint-Lazare ausgerissen ist.«
Er ging hinaus und ließ mich in einem Zustand zurück, den Sie sich leicht vorstellen können.
»Himmel«, rief ich aus, »ich will mich allen Schicksalsschlägen, die deine Hand mir schickt, unterwerfen. Aber daß ein solcher Schurke die Macht hat, mich so tyrannisch zu behandeln, das bringt mich in die äußerste Verzweiflung.«
Die Polizeibeamten ersuchten uns, sie nicht länger warten zu lassen. Sie hatten einen Wagen vor der Tür stehen. Ich reichte Manon die Hand, als wir hinuntergingen.
»Komm, meine teure Königin«, sagte ich zu ihr. »Komm und unterwirf dich der ganzen Härte unseres Schicksals. Vielleicht gefällt es dem Himmel, uns eines Tages glücklicher zu machen.«
Wir fuhren im gleichen Wagen, und sie lehnte sich an mich. Ich hatte sie seit der Ankunft des G. M. kein Wort sprechen hören, aber jetzt, als sie mit mir allein war, sagte sie mir tausend Zärtlichkeiten und beschuldigte sich, die Ursache meines Unglücks zu sein. Ich versicherte ihr, ich wolle mich niemals über mein Schicksal beklagen, solange sie nur nicht aufhöre, mich zu lieben.
»Nicht ich bin zu beklagen«, fuhr ich fort. »Ein paar Monate Gefängnis schrecken mich nicht, und ich ziehe das Châtelet dem Aufenthalt in Saint-Lazare vor. Aber für dich, du liebe Seele, zittert mein Herz. Welch ein Schicksal, für ein so zartes Geschöpf! Himmel, wie kannst du so grausam mit deinem vollkommensten Geschöpf umgehen! Warum sind wir nicht beide mit Eigenschaften geboren, die unserem Elend entsprechen? Wir besitzen Geist, Geschmack und Gefühl. Ach, welch armseligen Gebrauch machen wir davon, während so viele niedrige Seelen, die unser Geschick verdienten, jede Gunst des Glücks genießen!«
Diese Gedanken erfüllten mich mit Schmerz, aber noch viel bedrückender waren meine Gedanken an die Zukunft, denn ich verzehrte mich vor Angst um Manon. Sie war schon im Arbeitshaus gewesen, und wenn sie auch glücklich entkommen war, so wußte ich doch, daß man einen Rückfall sehr scharf ahnden würde. Gern hätte ich ihr meine Besorgnisse mitgeteilt, aber ich fürchtete, sie noch ängstlicher zu machen. Ich zitterte für sie, ohne zu wagen, sie auf die Gefahr aufmerksam zu machen, und ich umarmte sie seufzend, um sie wenigstens meiner Liebe zu versichern, die wohl das einzige Gefühl war, dem ich Ausdruck zu geben wagte.
»Manon«, sagte ich, »sprich ganz offen zu mir. Wirst du mich immer lieben«?
Sie antwortete mir, sie wäre sehr unglücklich, wenn ich daran zweifeln würde.
»Nun gut«, fuhr ich fort, »ich zweifle nicht daran, und mit dieser Gewißheit will ich allen unseren Feinden entgegentreten. Ich werde mich an meine Familie wenden, um aus dem Châtelet herauszukommen, und ich werde mein Leben wagen, um auch dich zu erretten, sobald ich frei bin.«
Wir erreichten das Gefängnis, und man trennte uns voneinander. Dieser Schlag traf mich weniger hart, weil ich damit gerechnet hatte. Ich empfahl Manon dem Schließer, indem ich ihn wissen ließ, daß ich ein Mann von Stand sei, und ihm eine beträchtliche Belohnung versprach. Ich umarmte meine teure Geliebte, bevor ich mich von ihr trennte. Ich beschwor sie, nicht zu traurig zu sein und keine Angst zu haben, solange ich am Leben sei.
Ich war nicht ohne Geld. Ich gab ihr einen Teil, und von dem, was mir blieb, bezahlte ich dem Schließer für sie und für mich für einen Monat reichliches Kostgeld voraus. Meine Freigebigkeit hatte eine gute Wirkung. Man brachte mich in einen ausreichend ausgestatteten Raum und versicherte mir, Manon werde auf gleiche Weise behandelt.
Ich beschäftigte mich sofort mit den Möglichkeiten, meine Freilassung zu beschleunigen. Es war klar, daß ich durchaus nichts Strafbares begangen hatte, und selbst angenommen, daß ein beabsichtigter Diebstahl durch die Aussage Marcels bewiesen wäre, so wußte ich doch recht gut, daß man die bloße Absicht nicht bestrafen konnte. Ich beschloß, sofort an meinen Vater zu schreiben und ihn zu bitten, persönlich nach Paris zu kommen. Ich schämte mich, wie gesagt, weniger, im Châtelet zu sein als in Saint-Lazare. Im übrigen hatten, wenn ich auch die gebührende Achtung vor der väterlichen Autorität bewahrte, Alter und Erfahrung meine Schüchternheit sehr vermindert. Ich schrieb ihm also, und man machte auch im Gefängnis keine Schwierigkeiten, meinen Brief zu befördern. Doch ich hätte mir die ganze Mühe sparen können, wenn ich geahnt hätte, daß mein Vater schon am andern Morgen in Paris ankommen würde. Er hatte meinen Brief erhalten, den ich ihm vor acht Tagen geschrieben, und sich darüber unendlich gefreut. Aber welch große Hoffnung auf eine Bekehrung ich auch erweckt hatte, hielt er es doch nicht für angebracht, sich ganz auf meine Versprechungen zu verlassen. Er beschloß, sich von meiner Besserung persönlich zu überzeugen und sein Verhalten auf die Aufrichtigkeit meiner Reue abzustellen. So traf er einen Tag nach meiner Verhaftung ein.
Zunächst besuchte er Tiberge, denn ich hatte ihn gebeten, seine Antwort an diesen zu richten. Mein Freund konnte ihm aber weder meine Wohnung noch meine gegenwärtigen Umstände mitteilen. Er berichtete ihm nur in großen Zügen über die Abenteuer, die ich nach meiner Flucht aus Saint-Sulpice zu bestehen hatte. Er äußerte sich dabei in sehr günstigem Sinn über meine guten Vorsätze, die ich bei unserer letzten Aussprache zu erkennen gegeben hatte. Er fügte hinzu, er glaube, daß ich mich endlich von Manon getrennt habe, doch sei er überrascht, seit acht Tagen keine Nachricht von mir erhalten zu haben.
Mein Vater ließ sich nicht täuschen. Er ahnte, daß sich hinter dem Schweigen, über das sich Tiberge beklagte, etwas verberge, was sich dessen Scharfsinn entzog, und bemühte sich um so eifriger, mich ausfindig zu machen, bis er zwei Tage nach seiner Ankunft erfuhr, daß ich mich im Châtelet befinde.
Bevor ich seinen Besuch empfing, den ich keineswegs so schnell erwartet hatte, besuchte mich der Polizeipräfekt, das heißt – um die Sache beim richtigen Namen zu nennen –, ich wurde einem Verhör unterzogen. Er machte mir einige Vorwürfe, die aber weder hart noch unfreundlich klangen. Mit milden Worten beklagte er meine schlechte Aufführung und meinte, daß es unklug von mir gewesen sei, mir einen Mann wie den Herrn de G. M. zum Feinde zu machen. Natürlich sei leicht zu ersehen, daß ich mehr aus Unerfahrenheit und Leichtsinn als aus schlechter Veranlagung gehandelt habe, doch sei es immerhin schon das zweitemal, daß ich mich vor Gericht befinde, und er habe gehofft, ich wäre durch die zwei oder drei Monate in Saint-Lazare vernünftiger geworden.
Ich war sehr erfreut, daß ich es mit einem so verständnisvollen Richter zu tun hatte, und erklärte mich ihm in einer so ehrerbietigen und sachlichen Art, daß er mit meinen Antworten sehr zufrieden zu sein schien. Er sagte mir, ich solle mich nicht zu sehr dem Kummer überlassen und er sei geneigt, mir mit Rücksicht auf meinen Stand und meine Jugend behilflich zu sein.
Ich wagte es jetzt, ihm Manon zu empfehlen, und pries ihre Sanftmut und ihren guten Charakter. Er antwortete mir lachend, er habe sie noch nicht gesehen, sie sei ihm aber als eine gefährliche Person geschildert worden. Diese Worte kränkten meine Liebe so sehr, daß ich ihm tausend leidenschaftliche Worte zur Verteidigung meiner armen Geliebten sagte und mich auch nicht enthalten konnte, einige Tränen zu vergießen. Er gab Befehl, mich wieder in mein Zimmer zu führen.
»O Liebe, Liebe!« rief dieser würdige Beamte aus, als er mich hinausgehen sah. »Wirst du dich denn nie mit der Vernunft verbinden können«?
Ich ging noch meinen traurigen Gedanken nach und grübelte über die Unterredung, die der Polizeipräfekt mit mir geführt hatte, als ich hörte, wie meine Zimmertür geöffnet wurde. Mein Vater trat ein. Obgleich ich auf seinen Anblick vorbereitet sein mußte, da ich ihn in diesen Tagen erwartete, war ich doch so betroffen, daß ich lieber in den Abgrund der Erde gestürzt wäre. Ich eilte auf ihn zu, um ihn mit allen Zeichen der äußersten Verwirrung zu umarmen. Er setzte sich hin, ohne daß einer von uns ein Wort sagte.
Da ich mit niedergeschlagenen Augen und gesenktem Kopf stehenblieb, brach er endlich das Schweigen. »Setz dich«, sprach er streng, »setz dich hin! Dank dem skandalösen Aufsehen, das deine Ausschweifungen und Gaunereien erregten, habe ich deinen Aufenthaltsort erfahren. Es ist der Vorzug solcher Verdienste, wie du sie erworben hast, daß sie nicht verborgen bleiben können. Du bist auf dem sichersten Wege, berühmt zu werden, und ich darf hoffen, daß du dein Ziel, das Schafott, bald erreicht hast, wo du den Ruhm genießen kannst, von aller Welt bewundert zu werden.«
Ich schwieg, und er fuhr fort:
»Wie unglücklich ist doch ein Vater«, sagte er, »der seinen Sohn zärtlich liebt und nichts gespart hat, um aus ihm einen rechtschaffenen Mann zu machen, wenn er sieht, wie dieser zu einem Spitzbuben wird, der ihm zur Schande gereicht! Über einen Unfall kann man sich trösten. Die Zeit löscht ihn aus, und der Schmerz schwindet. Aber welch ein Mittel gibt es gegen ein Übel, das täglich schlimmer wird, wie es die Ausschweifungen eines lasterhaften Sohnes sind, der jedes Ehrgefühl verloren hat! Was hast du zu antworten, Unglücklicher? Sieh einer diese falsche Bescheidenheit und diese heuchlerische Sanftmut an! Müßte man ihn nicht für den anständigsten Menschen der ganzen Welt halten«?
Wenn ich auch einsehen mußte, daß ich einen Teil dieser Vorwürfe verdiente, schien es mir doch, als ob sie zu weit gingen. Ich glaubte, daß es mir erlaubt sei, ihn darauf hinzuweisen.
»Ich versichere Ihnen, mein Vater«, sagte ich, »daß die Bescheidenheit, mit der Sie mich hier vor Ihnen stehen sehen, keineswegs geheuchelt ist. Sie ist das selbstverständliche Verhalten eines guten Sohnes, der vor seinem Vater, zumal vor seinem gekränkten Vater, eine unendliche Ehrfurcht hat. Ich gebe mich auch nicht für den besten Menschen der Welt aus. Ich bekenne, daß ich Ihre Vorwürfe verdient habe. Aber ich beschwöre Sie, ein wenig Güte walten zu lassen und mich nicht als den schändlichsten aller Menschen zu behandeln. So harte Namen verdiene ich nicht! Sie wissen, daß es die Liebe ist, die mich zu allen meinen Taten verführt hat. Teurer Vater«, fügte ich zärtlich hinzu, »haben Sie etwas Mitleid mit einem Sohn, der immer voll Verehrung und Liebe war, der nicht, wie Sie denken, der Ehre und der Pflicht entsagt hat und der tausendmal mehr zu beklagen ist, als Sie glauben.«
Bei diesen Worten standen mir Tränen in den Augen. Ein Vaterherz ist das Meisterstück der Natur. Sie lenkt es, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit besonderer Umsicht und setzt alle seine Triebkräfte selber in Bewegung. Meinen Vater, der noch dazu ein Mann von Geist und Geschmack war, rührte die Art und Weise, wie ich meine Entschuldigung vorgebracht hatte, so tief, daß er diese Gefühlsaufwallung nicht vor mir verbergen konnte.
»Komm, mein armer Chevalier«, sagte er, »komm und umarme mich. Ich habe Mitleid mit dir.«
Ich umarmte ihn, und er drückte mich so innig an seine Brust, daß ich wohl ahnen konnte, was in seinem Herzen vor sich ging.
»Aber welche Maßnahmen soll ich ergreifen«, fuhr er fort, »um dich von hier fortzubringen? Erzähle mir deine Abenteuer der Wahrheit entsprechend.«
Da in meiner ganzen Handlungsweise nichts war, was mich hätte entehren können, wenigstens nicht im Vergleich zum Verhalten anderer junger Leute gewisser Kreise, und da eine Geliebte in einem Jahrhundert wie dem unsrigen ebensowenig wie eine gewisse Geschicklichkeit beim Spiel als ehrenrührig gilt, beichtete ich meinem Vater aufrichtig alle Einzelheiten des Lebens, das ich geführt hatte. Bei jedem Fehler, den ich eingestand, trug ich Sorge, berühmte Beispiele anzufügen, um mein Vergehen weniger beschämend erscheinen zu lassen.
»Ich lebte mit einer Geliebten zusammen«, sagte ich, »ohne daß ich mit ihr ehelich verbunden war. Der Herzog ... unterhält deren zwei vor den Augen von ganz Paris, und Herr de ... hat eine seit zehn Jahren, die er mit einer Treue liebt, wie er sie seiner Gattin nie erwiesen hat. Zwei Drittel aller vornehmen Leute von Frankreich rechnen es sich zur Ehre an, eine Mätresse zu besitzen. Ich habe mich einiger Tricks beim Spiel schuldig gemacht – der Marquis de ... und der Graf de ... leben ausschließlich von derartigen Einnahmen; der Fürst ... und der Herzog ... sind Häupter einer Schar von Glücksrittern gleicher Art.«
Was meine Absichten auf die Börse der beiden G.M. betrifft, so hätte ich ihm mit Leichtigkeit beweisen können, daß ich auch darin nicht ohne Vorbilder war, aber ich besaß noch zu viel Ehrgefühl, um mich selbst mit denen zu verurteilen, die ich als Beispiel hätte anführen können. Deshalb bat ich meinen Vater, diese Schwäche mit den zwei heftigen Leidenschaften zu entschuldigen, die mich dazu getrieben hatten – dem Rachegefühl und der Liebe.
Er fragte mich, ob ich ihm andeuten könnte, auf welchem Weg meine Freiheit am raschesten wiederzuerlangen sei, ohne Aufsehen zu erregen. Ich erzählte ihm von der freundlichen Einstellung des Polizeipräfekten.
»Wenn Sie auf irgendwelche Schwierigkeiten stoßen«, sagte ich, »so können sie nur von Seiten des G.M. kommen. Deshalb glaube ich, daß es angebracht wäre, wenn Sie sich die Mühe machten, ihn zu besuchen.«
Er versprach es mir. Ich wagte nicht, ihn zu bitten, sich für Manon zu verwenden. Es geschah dies nicht aus Mangel an Mut, sondern aus Besorgnis, ich möchte ihn durch meinen Vorschlag erzürnen und zu einer für sie und für mich unheilvollen Maßnahme veranlassen. Ich weiß heute noch nicht, ob nicht gerade diese Besorgnis mein größtes Unglück heraufbeschworen hat, indem sie mich davon abhielt, die Absichten meines Vaters in Erfahrung zu bringen und mich zu bemühen, ihn für meine arme Geliebte einzunehmen. Vielleicht hätte ich auch hier sein Mitleid erregt und dem schlechten Einfluß vorbeugen können, der mir allzu selbstverständlich von dem alten G.M. ausgehen mußte. Aber wer kann das wissen? Mein Unstern hätte vielleicht doch noch alle meine Bemühungen vereitelt, aber ich hätte dann vielleicht nur dieses Geschick und die Grausamkeit meiner Feinde als die Urheber meines Unglücks anzuklagen brauchen.
Mein Vater verließ mich und besuchte den alten de G. M. Er traf ihn in Gesellschaft seines Sohnes an, dem der Soldat redlich die Freiheit zurückgegeben hatte. Ich habe niemals die Einzelheiten ihrer Unterredung erfahren, aber ich konnte sie mir nach ihren entsetzlichen Folgen leicht ausmalen. Beide Väter gingen zusammen zum Polizeipräfekten, den sie um zwei Vergünstigungen baten: erstens, mich sofort aus dem Gefängnis zu entlassen, und zweitens, Manon lebenslänglich einzusperren oder sie nach Amerika zu schicken. Man begann zu jener Zeit, zahlreiche zweifelhafte Existenzen nach dem Mississippi einzuschiffen, und der Polizeipräfekt gab ihnen sein Wort, Manon mit dem ersten Schiff deportieren zu lassen.
Herr de G. M. und mein Vater kamen sofort, um mir meine Freilassung zu verkünden. Herr de G. M. sagte mir ein paar verbindliche Worte über das Vorgefallene, und nachdem er mich zu einem solchen Vater beglückwünscht hatte, ermahnte er mich, in Zukunft aus seinen Lehren und seinem Beispiel Nutzen zu ziehen. Mein Vater gebot mir, mich bei ihm wegen der angeblichen Beleidigung, die ich seiner Familie zugefügt hatte, zu entschuldigen und ihm zu danken, daß er sich zugleich mit ihm für meine Befreiung eingesetzt hatte.
Wir gingen zusammen hinaus, ohne ein Wort über meine Geliebte zu sprechen. Ich wagte in ihrer Gegenwart nicht einmal, die Aufseher über sie zu befragen. Ach, meine armseligen Empfehlungen wären auch erfolglos geblieben, denn der grausame Befehl war zugleich mit meiner Befreiung eingetroffen. Das unglückliche Mädchen wurde eine Stunde später in das Arbeitshaus gebracht und sollte sich dort einer Gruppe von mehreren anderen armen Geschöpfen, die zum gleichen Schicksal verurteilt waren, anschließen.
Mein Vater hatte mich genötigt, ihm in das Haus zu folgen, in welchem er abgestiegen war, und es wurde fast sechs Uhr abends, ehe ich eine Gelegenheit fand, mich seinen Blicken zu entziehen und in das Châtelet zurückzukehren. Ich beabsichtigte nur, Manon einige Erfrischungen zu bringen und sie dem Schließer zu empfehlen, denn ich erhoffte kaum, die Erlaubnis zu einem Besuch zu erhalten. Ich hatte übrigens noch gar nicht die Zeit gehabt, auch über einen Befreiungsplan nachzudenken.
Ich verlangte, den Schließer zu sprechen. Meine Freigebigkeit und Freundlichkeit hatten ihn sehr für mich eingenommen, so daß er in der Absicht, mir etwas Gutes zu erweisen, mit mir über Manons Schicksal wie über ein Unglück sprach, das ihm sehr leid tue, besonders da es mich so betrüben müsse. Ich begriff nicht, was das heißen sollte, und wir unterhielten uns eine Weile, ohne uns zu verstehen. Schließlich merkte er, daß ich noch keine Ahnung hatte, und erzählte mir das, was ich Ihnen schon mit Entsetzen sagte und was mich noch heute mit Entsetzen erfüllt.
Kein jäher Schlag konnte plötzlichere und schrecklichere Wirkung haben. Ich stürzte unter so schmerzlichen Zuckungen des Herzens zu Boden, daß ich in dem Augenblick, da ich mein Bewußtsein verlor, glaubte, mein Leben sei für immer zu Ende. Ein Nachhall dieses Gedankens blieb in mir noch zurück, als ich wieder zu mir kam. Ich richtete meine Blicke in alle Winkel des Zimmers und auf mich selbst, als wollte ich mich vergewissern, ob ich noch immer so unglücklich sei, ein lebender Mensch zu sein. Wäre ich dem natürlichen Gefühl gefolgt, nach dem wir uns von unseren Schmerzen zu befreien suchen, so wäre mir in diesem Augenblick der Verzweiflung und Niedergeschlagenheit nichts süßer erschienen als der Tod. Selbst die Religion bedrohte mich im Jenseits mit keinen unerträglicheren Martern als die, welche grausam mein Inneres zerrissen. Indessen fand ich durch ein nur der Liebe bekanntes Wunder bald wieder genügend Kraft, um dem Himmel zu danken, daß er mir Bewußtsein und Vernunft gelassen hatte.
Mein Tod konnte nur mir selbst nützen, aber es war Manon, die mein Leben brauchte, damit sie befreit werde, damit ihr Hilfe zuteil werde, damit sie gerächt werde. Ich schwor, mich ohne jede Rücksicht nur dieser Aufgabe zu widmen.
Der Schließer leistete mir jeden Beistand, wie ich ihn nur von meinem besten Freund hätte erwarten dürfen. Ich dankte ihm für seinen Eifer mit der lebhaftesten Erkenntlichkeit.
»Alle Welt verläßt mich, sogar mein Vater ist gewiß einer meiner grausamsten Verfolger, niemand hat Mitleid mit mir. Sie allein hier an diesem Ort der Härte und Unmenschlichkeit, Sie bezeigen dem elendesten aller Sterblichen Ihre Anteilnahme!« sagte ich zu ihm.
Er riet mir, nicht auf die Straße zu gehen, bevor ich mich nicht von meiner Erregung etwas erholt hätte.
»Lassen Sie mich«, rief ich, indem ich hinausging. »Ich werde Sie vielleicht eher wiedersehen, als Sie denken. Halten Sie Ihren dunkelsten Kerker für mich bereit, ich werde mir Mühe geben, ihn zu verdienen.«
Tatsächlich war es mein erster Entschluß, mich der beiden G. M. und des Polizeipräfekten zu entledigen und mit bewaffneter Hand an der Spitze einer Bande, die ich anwerben wollte, in das Arbeitshaus einzudringen. Meinen eigenen Vater hätte ich kaum geschont bei einer Rache, die mir so gerecht erschien, denn der Schließer hatte mir nicht verschwiegen, daß er und G. M. die Urheber meines Unglücks waren.
Als ich aber auf der Straße einige Schritte gegangen war und die frische Luft mein Blut und meine Stimmung etwas abgekühlt hatte, machte meine Raserei allmählich vernünftigeren Gefühlen Platz. Der Tod unserer Feinde hätte Manon nur wenig genützt, aber er hätte mich zweifellos aller Möglichkeiten beraubt, ihr zu helfen. Übrigens – hätte ich mir wirklich mit einem feigen Meuchelmord helfen dürfen? Gab es keinen anderen Weg, mich zu rächen? Besser war es, zunächst mit allen Kräften und Gedanken an der Befreiung Manons zu arbeiten und alles übrige aufzuschieben, bis das wichtigste Unternehmen geglückt war.
Es blieb mir nur wenig Geld, und doch war dies eine notwendige Grundlage, um wenigstens einen Anfang zu machen. Ich sah nur drei Menschen, an die ich mich hätte wenden können: Herrn de T., meinen Vater und Tiberge. Es war nicht wahrscheinlich, von den beiden letzteren etwas zu erhalten, und den ersten mit meinen Zudringlichkeiten zu belästigen, schämte ich mich. Aber in der Verzweiflung läßt man jede Rücksicht fahren.
Ich begab mich also unverzüglich in das Seminar von Saint-Sulpice, ohne mich darum zu kümmern, ob man mich erkennen würde. Ich ließ Tiberge rufen und merkte an seinen ersten Worten, daß er von meinen jüngsten Abenteuern noch nichts wußte. Deshalb beschloß ich, meine ursprüngliche Absicht, sein Mitleid zu erregen, aufzugeben. Ich erzählte ihm flüchtig von der Freude über das Wiedersehen mit meinem Vater und bat ihn dann, mir etwas Geld zu leihen, wobei ich vorgab, ich müsse vor meiner Abreise aus Paris noch einige Schulden bezahlen, die ich geheimzuhalten wünschte. Er reichte mir sofort seine Börse, und ich nahm fünfhundert Franken von den sechshundert, die ich darin fand. Ich bot ihm einen Schuldschein an, doch er war zu großmütig, ihn anzunehmen.
Von dort eilte ich zu Herrn de T. und erzählte ihm rückhaltlos mein ganzes Unglück und meine Verlegenheit. Er kannte meine Lage schon bis in die geringsten Einzelheiten, da er Sorge getragen hatte, das Abenteuer des jungen G. M. nicht aus den Augen zu verlieren. Er ließ mich trotzdem ausreden und bedauerte mein Mißgeschick.
Als ich ihn um seinen Rat bat, auf welche Weise man Manon befreien könnte, antwortete er traurig, er sehe so wenig Aussichten auf eine Befreiung, daß jede Hoffnung umsonst sei, wenn der Himmel kein Wunder geschehen lasse. Er sei in das Arbeitshaus gegangen, um Manon zu sprechen, doch habe man ihm die Erlaubnis verweigert. Die Befehle des Polizeipräfekten seien äußerst streng, und um das Unglück vollzumachen, sei die Abreise der unglückseligen Geschöpfe, zu denen sie jetzt gehöre, schon für den übernächsten Tag festgesetzt worden.
Ich war von seiner Mitteilung so bestürzt, daß er noch eine Stunde hätte weitersprechen können, ohne daß es mir eingefallen wäre, ihn zu unterbrechen. Er sagte mir noch, er habe mich absichtlich nicht im Châtelet besucht, weil er mir leichter helfen könne, wenn man annahm, daß er keine Verbindung mit mir habe. Aber seit meiner Freilassung habe er nicht gewußt, wo ich mich aufhalte. Er habe den Wunsch gehegt, mich bald zu sehen, um mir den einzigen Rat zu geben, durch den ich noch hoffen könne, das Schicksal Manons zu wenden. Aber es sei ein gefährlicher Rat, so daß er mich bitten müsse, seinen Anteil daran zu verschweigen. Ich sollte ein paar Strolche anwerben, die den Mut besäßen, Manons Aufseher zu überfallen, sobald sie Paris mit ihr verlassen hätten. Herr de T. wartete nicht ab, bis ich ihm von meinem Geldmangel sprach.
»Hier sind hundert Pistolen«, sagte er, indem er mir seine Börse reichte. »Sie dürften Ihnen von einigem Nutzen sein. Wenn sich Ihre Verhältnisse wieder gebessert haben, geben Sie sie mir wieder zurück.«
Er fügte noch hinzu, wenn die Sorge um seinen Ruf es ihm erlaubte, ihre Befreiung selbst in die Hand zu nehmen, so würde er mir seinen Arm und seinen Degen zur Verfügung gestellt haben.
Das Übermaß seines Edelmuts rührte mich bis zu Tränen. Ich sprach ihm mit allem Feuer, das mir in meinem bedrückten Zustand noch geblieben war, meine Dankbarkeit aus. Ich fragte ihn, ob von einem Gesuch an den Polizeipräfekten nichts zu erhoffen sei. Er antwortete mir, er habe daran gedacht, halte aber einen solchen Versuch für zwecklos, denn eine so weitgehende Vergünstigung könne man nicht ohne Angabe besonderer Gründe erbitten, und er wisse nicht, welchen Grund ich angeben könnte, um eine so hochgestellte und gewichtige Persönlichkeit in Anspruch zu nehmen. Die einzige Möglichkeit, etwas von dieser Seite zu erhoffen, wäre, Herrn de G.M. und meinen Vater umzustimmen und sie zu veranlassen, selbst den Herrn Polizeipräfekten um Aufhebung seines Befehls zu bitten. Er erbot sich, alles zu versuchen, um den jungen G.M. zu gewinnen, obgleich dieser ihm gegenüber etwas kühler geworden sei, da er offenbar wegen des Vorgefallenen einen gewissen Verdacht geschöpft habe. Gleichzeitig beschwor er mich, keine Mühe zu sparen, um meinen Vater umzustimmen.
Das war für mich jedoch kein leichtes Unterfangen, und zwar nicht nur wegen der Widerstände, die dabei zu überwinden waren, sondern auch aus einem anderen Grunde, der mich schon vor einem bloßen Zusammentreffen mit meinem Vater zurückschrecken ließ: Ich hatte seine Wohnung gegen seinen Befehl verlassen und war fest entschlossen, als ich das traurige Geschick Manons erfuhr, nicht mehr dorthin zurückzukehren. Ich hatte allen Grund zur Befürchtung, er könnte mich gegen meinen Willen festhalten und selbst in die Provinz bringen. Mein älterer Bruder hatte das schon einmal getan. Zwar war ich jetzt älter geworden, aber mein Alter half mir wenig gegen die Gewalt.
Trotzdem fand ich eine Möglichkeit, mich gegen diese Gefahr zu sichern, indem ich ihn unter einem falschen Namen an einen öffentlichen Ort bitten ließ. Ich faßte sofort diesen Entschluß.
Herr de T. ging zu G. M., und ich begab mich nach dem Luxembourg, von wo aus ich meinen Vater benachrichtigte, daß ein ihm ergebener Edelmann ihn dort erwarte. Ich fürchtete, er werde sich nicht entschließen können zu kommen, da es schon später Abend war. Trotzdem erschien er nach kurzer Zeit in Begleitung seines Dieners, und ich bat ihn, mit mir einen Seitenweg einzuschlagen, wo wir ungestört wären. Wir gingen etwa hundert Schritte, ohne ein Wort zu sprechen. Zweifellos verstand er, daß ich nicht ohne gewichtige Gründe so große Vorbereitungen getroffen hatte. Er wartete auf meine Eröffnung, und ich überlegte sie mir.
»Sie sind ein guter Vater«, begann ich zitternd. »Sie haben mich mit Wohltaten überhäuft und mir eine unendliche Zahl von Fehlern vergeben. Darum möge auch der Himmel mein Zeuge sein, daß ich für Sie alle Gefühle eines respektvollen und liebenden Sohnes hege. Aber es scheint mir ... daß Ihre Strenge ...«
»Nun, meine Strenge«? unterbrach mich mein Vater, für dessen Ungeduld ich wahrscheinlich zu langsam sprach.
»Ja, mein Vater«, fuhr ich fort, »es scheint mir, daß Ihre Strenge in der Behandlung, die Sie der unglücklichen Manon haben angedeihen lassen, außerordentlich ist. Sie haben sich dabei auf Herrn de G.M. verlassen. Sein Haß hat sie Ihnen in den schwärzesten Farben geschildert, so daß Sie sich eine abschreckende Vorstellung gebildet haben. In Wirklichkeit aber ist sie das zarteste und liebenswürdigste Geschöpf, das jemals gelebt hat. Warum gefiel es nicht dem Himmel, Ihnen den Gedanken einzugeben, sie einen Augenblick zu besuchen! Ich weiß ebenso bestimmt, daß sie Ihnen gefallen würde, wie ich weiß, daß sie reizend ist. Sie hätten für sie Partei ergriffen, Sie hätten die schwarzen Ränke des G.M. verabscheut, Sie hätten mit ihr und mit mir Mitleid empfunden. Ach, ich bin dessen gewiß! Ihr Herz ist nicht unempfindlich, Sie hätten sich rühren lassen.«
Er unterbrach mich noch einmal, als er sah, daß ich mit einer Glut sprach, die mir nicht so bald erlaubt hätte, zu Ende zu kommen. Er verlangte zu wissen, was ich mit meiner leidenschaftlichen Rede beabsichtigte.
»Mein Leben will ich von Ihnen erbitten«, antwortete ich, »das ich in dem Augenblick verlieren muß, da Manon nach Amerika fährt.«
»Nein, niemals«, sagte er in strengem Ton. »Lieber will ich dich ohne Leben als ohne Vernunft und ohne Ehre sehen.«
»Gehen wir nicht weiter«, rief ich, indem ich ihn am Arm zurückhielt. »Nehmen Sie mir dieses verhaßte und unerträgliche Leben, denn in der Verzweiflung, in die Sie mich hinabstürzen, wird der Tod für mich eine Gnade sein. Er ist ein Geschenk, das eines Vaters würdig ist.«
»Ich würde dir nur geben, was du verdienst«, erwiderte er. »Ich kenne genug Väter, die nicht so lange gezögert hätten, dein eigener Henker zu sein. Meine übergroße Güte ist es, die dich ins Unglück gestürzt hat.«
Ich warf mich vor ihm nieder. »Ach, wenn Sie noch ein wenig Güte bewahrt haben«, flehte ich, indem ich seine Knie umschlang, »so verhärten Sie sich nicht gegen meine Tränen. Bedenken Sie daß ich Ihr Sohn bin ... Ach, denken Sie an meine Mutter. Sie haben sie zärtlich geliebt! Hätten Sie es gelitten, daß man sie Ihren Armen entreißt? Sie würden sie bis in den Tod verteidigt haben. Und besitzen nicht andere Menschen auch ein Herz wie Sie? Kann man von Stein sein, wenn man einmal empfunden hat, was Liebe und Schmerz ist«?
»Sprich mir nicht von deiner Mutter«, entgegnete er unwillig. »Diese Erinnerung erregt meine Empörung. Sie wäre vor Schmerz gestorben, wenn sie deine Ausschweifungen hätte mit ansehen müssen. Brechen wir dieses Gespräch ab«, fügte er hinzu. »Es ist mir lästig und wird mich nicht in meinem Entschluß wankend machen. Ich kehre in meine Wohnung zurück und befehle dir, mir zu folgen.«
Der harte und trockene Ton, in dem er diesen Befehl gab, zeigte mir, daß sein Herz unbeugsam war. Ich wich einige Schritte zurück, aus Besorgnis, er könne auf den Gedanken kommen, mich mit eigener Hand festzuhalten.
»Vermehren Sie nicht meine Verzweiflung«, sagte ich, »indem Sie mich zwingen, Ihnen ungehorsam zu sein. Es ist mir unmöglich, Ihnen zu folgen. Ebensowenig kann ich weiterleben, nachdem Sie mich mit solcher Härte behandelt haben. Darum sage ich Ihnen auf ewig Lebewohl. Vielleicht werden Sie«, fügte ich traurig hinzu, »wieder die Gefühle eines Vaters für mich empfinden, wenn Sie, wie es bald geschehen wird, von meinem Tod erfahren.«
»Du weigerst dich, mir zu folgen«? rief er in hellem Zorn, als er sah, wie ich mich umwandte, um ihn zu verlassen. »Geh, renne in dein Verderben, du undankbarer und ungehorsamer Sohn!« – »Leben Sie wohl«, rief ich in sinnloser Erregung. »Leben Sie wohl, unmenschlicher und unnatürlicher Vater!«
Ich verließ sofort den Luxembourg und lief wie ein Wahnsinniger durch die Straßen, bis ich vor das Haus des Herrn de T. kam. Unterwegs hob ich Augen und Arme empor, als wollte ich alle Mächte des Himmels anrufen.
»O Himmel«, rief ich, »bist du ebenso unerbittlich wie die Menschen? Jetzt bleibt mir nur noch deine Hilfe.«
Herr de T. war noch nicht nach Hause zurückgekehrt und kam, nachdem ich einige Minuten gewartet hatte. Seine Bemühungen waren ebenso erfolglos geblieben wie die meinigen. Er erzählte es mir mit bekümmertem Gesicht. Obgleich der junge G M. weniger aufgebracht gegen mich und Manon war als sein Vater, hatte er sich doch geweigert, mit diesem zu unseren Gunsten zu sprechen. Er hatte sich damit verteidigt, daß er selbst vor diesem rachsüchtigen Alten Angst habe, der ihm schon voller Zorn den Handel mit Manon vorgeworfen habe.
So blieb mir also nur noch die Möglichkeit eines gewaltsamen Vorgehens, wie es mir Herr de T. vorgeschlagen hatte. Ich setzte meine ganze Hoffnung darauf.
»Die Aussichten sind allerdings sehr ungewiß», sagte ich zu ihm. »Aber eines ist sicher und tröstlich – daß ich im Falle eines Mißlingens der Unternehmung meinen Tod finden werde.«
Ich verließ ihn mit der Bitte, mir mit seinen guten Wünschen beizustehen, und ich dachte nur noch daran, Kameraden zu finden, denen ich einen Funken meines Mutes und meiner Entschlossenheit einflößen konnte.
Der erste, an den ich dabei dachte, war der nämliche Soldat, der mir geholfen hatte, G.M. zu überfallen. Ich hatte auch die Absicht, die Nacht in seinem Zimmer zu verbringen, da mein Kopf während des Nachmittags zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war, um an die Beschaffung einer Wohnung zu denken. Ich traf ihn allein, und er freute sich, daß man mich wieder aus dem Châtelet entlassen hatte. Er bot mir herzlich seine Dienste an, und ich erklärte ihm, was ich von ihm wünsche. Er besaß Verstand genug, um alle mit dem Unternehmen verknüpften Schwierigkeiten vorauszusehen, war aber doch so gefällig, an ihre Bewältigung zu gehen.
Wir verbrachten einen Teil der Nacht damit, meinen Plan zu erörtern. Er erwähnte die drei Soldaten, deren er sich auch das letztemal als Männer von erprobtem Mut bedient hatte. Herr de T. hatte mir die genaue Zahl der Bewachungsmannschaft mitgeteilt, die Manon begleiten sollte; es waren nur sechs. Fünf mutige und entschlossene Männer genügten, um diese Elenden in die Flucht zu jagen. Derartige Kreaturen verteidigen sich nicht ernsthaft, wenn sie den Gefahren des Kampfes durch Flucht aus dem Weg gehen können. Da es mir nicht an Geld fehlte, riet mir der Soldat, nichts zu sparen, womit ich den Erfolg unseres Angriffs sichern könnte.
»Wir brauchen Pferde«, sagte er, »Pistolen und jeder von uns einen Karabiner. Ich werde diese Vorbereitungen morgen übernehmen. Wir brauchen außerdem Zivilkleidung für unsere Soldaten, da sie es nicht wagen, bei einem solchen Unternehmen die Uniform ihres Regiments zu tragen.«
Ich übergab ihm die hundert Pistolen, die ich von Herrn de T. empfangen hatte, und sie wurden am nächsten Tag bis auf den letzten Sou ausgegeben. Die drei Soldaten wurden mir vorgestellt, und ich munterte ihren Mut durch große Versprechungen auf. Um ihnen jedes Mißtrauen zu nehmen, begann ich damit, daß ich jedem von ihnen zehn Pistolen schenkte.
Sobald der Tag der Ausführung gekommen war, schickte ich am zeitigen Morgen einen von ihnen zum Arbeitshaus, wo er sich mit eigenen Augen über den Zeitpunkt des Aufbruchs der Bewachungsmannschaft mit ihrer Beute unterrichten sollte. Obgleich ich diese Vorsicht nur aus übertriebener Umsicht und Besorgnis gebraucht hatte, zeigte es sich, daß sie durchaus berechtigt war. Ich hatte mich auf falsche Auskünfte über den Reiseweg verlassen und war der Meinung, die beklagenswerte Schar werde in La Rochelle eingeschifft. Vergeblich hätte ich sie dann auf der Straße nach Orléans erwartet. Der Soldat aber teilte mir mit, daß sie den Weg durch die Normandie eingeschlagen hätten, um sich in Le Havre-de-Grâce nach Amerika einzuschiffen.
Wir begaben uns sofort zum Tor Saint-Honoré, wobei jeder von uns aus Vorsicht eine andere Straße benutzte. Erst außerhalb der Vorstadt trafen wir wieder zusammen. Unsere Pferde waren ausgeruht. Bald entdeckten wir die sechs Soldaten und die beiden elenden Karren, die Sie vor zwei Jahren in Passy gesehen haben. Dieser Anblick raubte mir fast alle Kraft und meine Besinnung.
»O Schicksal«, rief ich aus, »grausames Schicksal! Nun schenke mir wenigstens den Tod, wenn nicht den Sieg.«
Wir berieten einen Augenblick über die Art und Weise, wie wir unseren Angriff durchführen sollten. Die Wächter hatten kaum vierhundert Schritte Vorsprung, und wir konnten sie überholen, wenn wir über ein kleines Feld setzten, um das sich die Landstraße zog. Der Soldat riet, diesen Weg zu nehmen, um sie durch einen plötzlichen Überfall zu überraschen. Ich billigte seinen Vorschlag und spornte als erster mein Pferd an. Aber das Schicksal stellte sich erbarmungslos meinen Wünschen entgegen.
Als die Wächter fünf Reiter auf sich zukommen sahen, zweifelten sie nicht daran, daß es sich um einen Überfall handle. Sie setzten sich zur Wehr, indem sie ihre Bajonette aufsteckten und entschlossen ihre Gewehre gefechtsbereit machten.
Dieser Anblick, der den Soldaten und mich nur noch mehr anfeuerte, benahm unseren drei Gefährten allen Mut. Sie hielten wie auf Verabredung an, wechselten einige Worte, die ich nicht verstand, und warfen ihre Pferde herum, um mit verhängten Zügeln wieder nach Paris zurückzujagen.
»Himmel«, rief der Soldat, der über diese schändliche Fahnenflucht ebenso bestürzt zu sein schien wie ich, »was sollen wir anfangen? Wir sind nur zu zweit.«
Ich hatte vor Wut und Überraschung die Sprache verloren und hielt an, ungewiß, ob ich meine erste Rache nicht in der Verfolgung dieser Feiglinge suchen sollte, die uns im Stich gelassen hatten. Ich sah sie fliehen und richtete dann meine Blicke nach der anderen Seite auf die Wächter. Wäre ich imstande gewesen, mich zu teilen, ich hätte mich zugleich auf die beiden Objekte meiner Erbitterung gestürzt, um sie beide zu zerfleischen. Der Soldat, der an der Verwirrung meiner Blicke meine Unentschlossenheit erkannte, bat mich, seinen Rat anzuhören.
»Da wir nur zwei sind«, sagte er, »wäre es ein Wahnsinn, sechs Mann anzugreifen, die ebenso gut bewaffnet sind wie wir und uns standhaft zu erwarten scheinen. Wir müssen nach Paris zurück und versuchen, zuverlässigere Helfer zu finden. Die Wächter werden mit ihren schweren Karren nur langsam vorwärts kommen, so daß wir sie morgen ohne große Mühe einholen können.«
Einen Augenblick dachte ich über diesen Vorschlag nach; da ich aber auf allen Seiten nur Ursache zur Verzweiflung sah, faßte ich einen fast selbstmörderischen Entschluß, indem ich dem Soldaten Lebewohl sagte. Statt die Wächter anzugreifen, wollte ich sie demütig bitten, mich in ihre Schar aufzunehmen, um Manon bis Le Havre-de-Grâce zu begleiten und dann mit ihr über das Meer zu fahren.
»Die ganze Welt verfolgt oder verrät mich«, sagte ich zu dem Soldaten. »Ich kann mich auf niemanden verlassen. Ich erwarte nichts mehr, weder vom Schicksal noch vom Beistand der Menschen. Mein Unglück hat seinen Gipfel erreicht, und mir bleibt nichts mehr übrig, als mich zu unterwerfen. Und so entsage ich jeder Hoffnung. Möge der Himmel Ihren Edelmut belohnen! Leben Sie wohl, ich will meinem Mißgeschick helfen, meinen Untergang zu besiegeln, indem ich ihm freiwillig entgegengehe.«
Vergebens versuchte er, mich zur Rückkehr nach Paris zu bewegen. Ich bat ihn, er möge mich meinen Entschluß ausführen lassen und mich auf der Stelle verlassen, damit die Wächter nicht der Meinung seien, wir hegten weiterhin feindliche Absichten.
Langsam und allein ritt ich mit so traurigem Gesicht auf sie zu, daß sie in meiner Annäherung keine Gefahr sehen konnten. Trotzdem verharrten sie in Verteidigungsbereitschaft.
»Seien Sie beruhigt, meine Herren«, rief ich ihnen zu, indem ich zu ihnen trat. »Ich hege keine feindseligen Absichten, sondern will eine Bitte an Sie richten.«
Dann ersuchte ich sie, unbesorgt ihren Weg fortzusetzen, und erzählte ihnen, was ich von ihnen wünschte.
Sie berieten untereinander, wie sie meinen Vorschlag aufnehmen sollten. Der Anführer der Truppe ergriff für die anderen das Wort und antwortete mir, sie hätten Befehl, ihre Gefangenen strengstens zu bewachen; da ich ihnen aber ein besonnener Mann zu sein scheine, seien er und seine Gefährten bereit, mir entgegenzukommen. Aber ich müsse verstehen, daß ich sie dafür zu entschädigen habe.
Ich besaß fünfzehn Pistolen und sagte ihnen offen, wie es um meine Barschaft stehe.
»Nun gut«, sagte der Wächter, »wir wollen Ihnen entgegenkommen. Jede Stunde Unterhaltung mit dem Mädchen, das Ihnen am besten gefällt, kostet einen Taler. Das ist der übliche Preis in Paris.«
Ich hatte ihnen nichts von Manon gesagt, denn ich wollte sie nicht zu Vertrauten meiner Leidenschaft machen. Sie glaubten zunächst auch, es handle sich nur um eine jugendliche Laune und ich wolle mir mit diesen Geschöpfen die Zeit vertreiben. Als sie dann aber merkten, daß ich verliebt war, erhöhten sie ihre Forderungen so, daß meine Börse bereits bei unserem Aufbruch von Mantes erschöpft war, wo wir einen Tag vor unserer Ankunft in Passy übernachtet hatten.
Was soll ich Ihnen über den traurigen Inhalt meiner Gespräche mit Manon auf dem Marsch erzählen oder über den Eindruck, den ihr Anblick auf mich machte, nachdem ich von den Wachsoldaten die Erlaubnis erkauft hatte mich ihrem Karren zu nähern? Ach, meine Worte können kaum die Hälfte meiner Empfindungen wiedergeben! Stellen Sie sich meine beklagenswerte Geliebte vor – mit einer Kette um ihre Taille gefesselt, auf einigen Bündeln Stroh sitzend! Ihr Haupt lehnte traurig gegen eine Seite des Wagens, das Gesicht war bleich und von Tränen feucht, die durch ihre Lider drangen, obwohl sie die Augen stets geschlossen hielt.
Neben dem Wagen reitend, sah ich sie lange an. Dabei war ich so wenig bei mir selbst, daß ich ein paarmal nahe daran war, einen gefährlichen Sturz zu tun. Meine häufigen Seufzer und Ausrufe bewirkten schließlich, daß sie mir einen Blick zuwarf. Sie erkannte mich, und ich bemerkte, daß sie sich in der ersten Erregung aus dem Wagen stürzen wollte, um zu mir zu kommen, da sie aber durch ihre Kette zurückgehalten wurde, sank sie wieder in ihre frühere Haltung zurück.
Ich bat die Soldaten, aus Mitleid einen Augenblick halten zu lassen, und sie willigten habgierig ein. Ich stieg vom Pferd und setzte mich neben Manon. Sie war so hinfällig und schwach, daß es lange dauerte, ehe sie sich ihrer Zunge bedienen oder auch nur ihre Hände bewegen konnte. Ich benetzte sie mit Tränen, und so saßen wir beide, ohne daß wir ein Wort hervorbringen konnten, in der traurigsten Lage da, die es je gegeben hat. Aber auch als wir unsere Sprache wiedergefunden hatten, waren unsere Worte nicht weniger traurig als wir selbst. Manon sprach wenig. Es schien, als hätten Schande und Schmerz ihre Stimme verändert. Sie klang matt und zitternd.
Sie dankte mir, daß ich sie nicht vergessen hatte und ihr die Freude bereitete, indem ich ihr gestatte – wie sie sich seufzend äußerte –, mich noch einmal zu sehen und mir ein letztes Lebewohl zu sagen. Als ich ihr aber versicherte, daß nichts imstande wäre, mich von ihr zu trennen, und daß ich entschlossen sei, ihr bis an das Ende der Welt zu folgen, um für sie zu sorgen und ihr zu dienen, um sie zu lieben und mein elendes Schicksal untrennbar an das ihre zu knüpfen, überließ sich das arme Mädchen so zärtlichen und schmerzlichen Empfindungen, daß ich infolge ihrer heftigen Gemütsbewegung für ihr Leben fürchtete.
Alle Regungen ihrer Seele schienen sich in ihren Augen zu vereinen. Sie hielt sie fest auf mich gerichtet. Manchmal öffnete sie den Mund, ohne die Kraft zu finden, die Worte auszusprechen, die sie sagen wollte; dennoch entschlüpften ihr einige – Äußerungen der Bewunderung für meine Liebe, zärtliche Vorwürfe über deren Übermaß, Zweifel daran, ob sie das Glück verdiene, mir eine so leidenschaftliche Anhänglichkeit eingeflößt zu haben, Ermahnungen, ich möge die Absicht, ihr zu folgen, aufgeben und anderswo ein meiner würdiges Glück suchen, das ich bei ihr wohl niemals finden könne.
Trotz meines unendlich traurigen Geschicks fand ich meine Seligkeit in ihren Blicken und in der Gewißheit, von ihr geliebt zu werden. Ich wußte, daß ich alles verloren hatte, was die Menschen sonst zu schätzen pflegen, aber ich besaß Manons Herz, das einzige Gut, daran mir gelegen war. Ob ich in Europa oder in Amerika oder weiß Gott an welchem Ort der Welt lebte, war ich nicht überall glücklich, wenn ich mit meiner Geliebten vereint war? Ist nicht die ganze Welt das Vaterland für zwei Liebende? Sind sie sich nicht Vater, Mutter, Verwandte, Freunde, Reichtum und Glück?
Wenn mir etwas Unruhe verursachte, so war es die Furcht, Manon dem Mangel der Armut ausgesetzt zu sehen. Ich sah mich schon mit ihr in einem unwirtlichen, von Wilden bewohnten Lande.
»Aber gewiß«, dachte ich, »wird es unter ihnen nicht so grausame Menschen geben wie de G. M. und meinen Vater. Sie werden uns wenigstens in Frieden leben lassen. Wenn die Berichte über sie der Wahrheit entsprechen, so befolgen sie die Gesetze der Natur. Sie kennen weder die wilde Habgier, von der de G. M. besessen ist, noch die trügerischen Ehrbegriffe, die mir meinen Vater zum Feind gemacht haben. Sie werden zwei Liebende nicht beunruhigen, die ein ebenso einfaches Leben führen wie sie selbst.«
In dieser Hinsicht fühlte ich mich durchaus beruhigt, aber ich machte mir weniger romantische Vorstellungen hinsichtlich allgemeiner Bedürfnisse des alltäglichen Lebens. Ich hatte nur zu oft erfahren, daß es unabdingbare Notwendigkeiten gibt, zumal für eine zarte Frau, die an Wohlleben und Bequemlichkeit gewöhnt ist. Ich war verzweifelt, daß ich so sinnlos mein Geld verschwendet hatte und der geringe mir noch verbliebene Rest in Gefahr war, die Beute der spitzbübischen Wächter zu werden. Ich begriff, daß in Amerika, wo das Geld selten war, eine kleine Summe nicht nur ausgereicht hätte, mich eine Weile zu erhalten, sondern auch ein Unternehmen zur dauernden Versorgung zu begründen.
Diese Erwägung brachte mich auf den Gedanken, an Tiberge zu schreiben, der immer so schnell bereit gewesen war, mir die Hilfe seiner Freundschaft zuteil werden zu lassen. Ich schrieb ihm in der ersten Stadt, in der wir rasteten. Ich teilte ihm mit, daß ich Manon nach Le Havre-de-Grâce begleiten würde, und gab ihm für meine Bitte keinen anderen Grund an als die drückende Not, in der ich mich, wie ich voraussah, dort befinden würde. Ich bat ihn um hundert Pistolen.
»Laß sie dem Postmeister in Le Havre für mich zugehen«, schrieb ich. »Du siehst, daß es das letztemal ist, daß ich an deine Freundschaft appelliere. Da meine unglückliche Geliebte mir für immer entrissen wird, kann ich sie nicht ohne einige Tröstungen reisen lassen, um ihr hartes Los und meinen unsäglichen Schmerz zu lindern.«
Als die Wächter die Heftigkeit meiner Leidenschaft erkannt hatten, zeigten sie sich so unzugänglich, daß sie beständig den Preis ihrer geringsten Gefälligkeiten erhöhten und mich bald dem äußersten Mangel aussetzten. Dabei gestattete mir ja auch meine Liebe nicht, meine Börse zu schonen. Vom Morgen bis zum Abend weilte ich in Manons Nähe, und nicht mehr Stunden wurden mir berechnet, sondern ganze Tage.
Schließlich war meine Börse gänzlich leer, und ich fand mich nun den Launen und der Willkür dieser sechs Halunken preisgegeben, die mich mit unerträglicher Herablassung behandelten. Sie haben sich ja selbst in Passy davon überzeugt. Die Begegnung mit Ihnen war ein kurzer Lichtblick, den mir das Schicksal gewährte. Ihre Anteilnahme beim Anblick meiner Leiden war meine einzige Empfehlung bei Ihrem edelmütigen Herzen. Dank der Hilfe, die Sie mir so freigebig gewährt hatten, gelangte ich nach Le Havre, und die Wächter hielten ihr Versprechen redlicher, als ich befürchtet hatte.
Als wir in Le Havre ankamen, ging ich sofort zur Post, aber Tiberge hatte noch keine Zeit gehabt, mir zu antworten. Ich erkundigte mich, an welchem Tag mit seiner Antwort zu rechnen sei. Sie konnte erst zwei Tage später eintreffen, und infolge einer seltsamen Fügung meines unglückseligen Geschicks sollte am Morgen des gleichen Tages, an dem ich die Post erwarten durfte, unser Schiff auslaufen. Sie können sich meine Verzweiflung kaum vorstellen.
»Wie!« rief ich aus. »Muß ich denn mitten im Unglück noch durch ein Übermaß ausgezeichnet werden«?
»Ach«, antwortete Manon, »verdient es ein so elendes Leben, daß wir uns noch so viel Sorgen machen? Laß uns in Le Havre sterben, mein teurer Chevalier. Mag der Tod mit einem Schlag all unser Elend enden! Sollen wir es in ein unbekanntes Land hinüberschleppen, wo uns zweifellos schreckliche Qualen erwarten, da man mich dahin schickt zur Strafe? Sterben wir«, sagte sie noch einmal, »oder gib wenigstens mir den Tod und suche dir in den Armen einer glücklicheren Geliebten ein besseres Leben!«
»Nein, nein«, rief ich. »An deiner Seite unglücklich zu sein, ist für mich ein beneidenswertes Schicksal.«
Ihre Worte ließen mich erbeben, denn ich erkannte, wie ihre Leiden sie überwältigt hatten. Ich zwang mich, ruhiger zu erscheinen, um sie den trüben Gedanken an Tod und Verzweiflung zu entreißen. Ich beschloß, mich auch in Zukunft so zu verhalten, und ich habe die Erfahrung gemacht, daß nichts einer Frau so viel Mut einflößen kann wie die Unerschrockenheit des Mannes, den sie liebt.
Als ich die Hoffnung aufgegeben hatte, von Tiberge Geld zu erhalten, verkaufte ich mein Pferd. Das Geld, das ich erlöste, zusammen mit dem, das mir noch dank Ihrer Freigebigkeit geblieben war, machte die kleine Summe von siebzehn Pistolen aus. Sieben davon verwendete ich dazu, für Manon einige notwendige Gegenstände zu besorgen, die anderen zehn bewahrte ich als Grundlage unseres Lebensglücks und unserer Hoffnungen in Amerika sorgfältig auf.
Es machte keine Mühe, auf dem Schiff Aufnahme zu finden, denn man suchte damals junge Leute, die sich freiwillig den Kolonisten anschlössen. Überfahrt und Kost wurden mir umsonst gewährt. Da am nächsten Tage die Post nach Paris abgehen sollte, hinterließ ich einen Brief für Tiberge. Er war rührend und muß ihn wohl aufs tiefste ergriffen haben, denn er veranlaßte ihn zu einem Entschluß, der nur aus einer unerschöpflichen Fülle von Liebe und Großmut gegenüber einem unglücklichen Freund entstehen konnte.
Nach einer Seefahrt von zwei Monaten landeten wir endlich an dem ersehnten Gestade. Auf den ersten Blick bot das Land nichts Angenehmes. Es bestand aus einer öden und unbewohnten Ebene, auf der kaum etwas Gestrüpp und einige durch den Wind entblätterte Bäume standen. Von Mensch und Tief war keine Spur zu entdecken. Als aber der Kapitän ein paar Schüsse hatte abfeuern lassen, dauerte es nicht lange, bis wir einen Trupp Einwohner aus New Orleans sahen, die sich mit allen Anzeichen der Freude näherten. Wir hatten die Stadt, die sich hinter einer kleinen Anhöhe versteckte, noch nicht bemerkt.
Diese armen Einwohner empfingen uns, als wären wir vom Himmel herabgestiegen, und überschütteten uns mit tausend Fragen über die Verhältnisse in Frankreich und in den verschiedenen Provinzen, aus denen sie stammten. Sie umarmten uns wie Brüder oder teure Gefährten, die ihr Elend und ihre Einsamkeit teilen wollten. In ihrer Begleitung begaben wir uns in die Stadt, waren aber überrascht, als wir entdeckten, daß das, was man uns als eine gute Stadt gepriesen hatte, nichts als ein Haufen elender Hütten war. Fünfhundert bis sechshundert Menschen wohnten dort. Das Haus des Gouverneurs schien durch seine Größe und Lage ausgezeichnet zu sein. Wir wurden ihm sofort vorgestellt. Er unterhielt sich lange allein, mit dem Kapitän und betrachtete, indem er sich uns näherte, die Mädchen, die mit dem Schiff angekommen waren. Es waren ihrer dreißig, denn wir hatten in Le Havre noch einen anderen Trupp vorgefunden, der sich uns angeschlossen hatte. Nachdem der Gouverneur sie sorgfältig geprüft hatte, ließ er verschiedene junge Männer aus der Stadt kommen, die sich um eine Frau bewarben. Die Vornehmsten erhielten die hübschesten, die übrigen wurden ausgelost. Mit Manon hatte er noch nicht gesprochen, als er aber den anderen befahl, sich zu entfernen, ließ er sie und mich zu sich kommen. »Ich höre vom Kapitän«, sagte er zu uns, »daß Sie verheiratet sind und daß er Sie auf der Reise als Leute von Bildung und Verstand kennengelernt hat. Ich will Sie nicht nach den Ursachen, die Sie ins Unglück gestürzt haben, fragen; wenn Sie wirklich so viel Lebensart haben, wie es Ihre ganze Erscheinung verspricht, so werde ich es an nichts fehlen lassen, Ihr Schicksal zu erleichtern, und erwarte meinerseits, daß auch Sie dazu beitragen, mir den Aufenthalt in dieser öden Wildnis angenehmer zu machen.«
Ich antwortete ihm in einer Art, wie ich sie für die geeignetste hielt, um ihn in seiner Ansicht über uns zu bestärken. Er gab Anweisung, uns in der Stadt eine Wohnung zur Verfügung zu stellen, und lud uns zum Abendessen ein. Ich fand, daß er für ein Oberhaupt unglücklicher Verbannter sehr viel Lebensart besaß. Er stellte uns keine Fragen über den Grund unseres Unglücks. Die Unterhaltung verlief in gefälliger Form, und trotz unserer Niedergeschlagenheit bemühten Manon und ich uns, zu ihrer Auflockerung beizutragen.
Am Abend ließ er uns in die Wohnung führen, die er für uns bestimmt hatte. Wir fanden eine aus Brettern und Lehm errichtete elende Hütte, die zwei oder drei Zimmer im Erdgeschoß und darüber einen Dachboden enthielt. Er hatte sechs Stühle und das zum Leben Notwendigste beschaffen lassen.
Manon schien über den Anblick einer so traurigen Behausung erschrocken, aber sie sorgte sich mehr um mich als um sich selbst. Als wir allein waren, setzte sie sich hin und begann bitterlich zu weinen. Anfangs versuchte ich, sie zu trösten. Als sie mir aber zu verstehen gab, daß sie nur mich beklage und in unserem gemeinsamen Unglück nur das der Beachtung wert halte, was ich zu leiden habe, zeigte ich mich durchaus zuversichtlich und sogar erleichtert, um sie ebenfalls froh zu stimmen.
»Worüber soll ich mich denn beklagen«? fragte ich sie. »Ich besitze alles, was ich wünsche. Du liebst mich, nicht wahr? Habe ich jemals ein anderes Glück begehrt? Überlaß dem Himmel die Sorge um unser Geschick, ich finde es nicht so hoffnungslos. Der Gouverneur ist ein höflicher Mann. Er hat uns mit Auszeichnung behandelt und wird es uns nicht am Nötigsten fehlen lassen. Was den ärmlichen Zustand unserer Hütte und unserer Möbel betrifft, so hast du sicher schon bemerkt, daß hier nur wenige Leute besser zu wohnen und eingerichtet zu sein scheinen. Außerdem bist du eine wunderbare Zauberin«, fügte ich hinzu, indem ich sie umarmte. »Du verwandelst alles in Gold.«
»Dann wirst du also der reichste Mann der Welt sein«, antwortete sie. »Denn, wenn es niemals eine Liebe wie die deine gegeben hat, so ist es auch unmöglich, daß man zärtlicher geliebt wird als du. Ich will gerecht gegen mich sein«, fuhr sie fort. »Ich weiß, daß ich eine so grenzenlose Anhänglichkeit, wie du sie mir bewiesen hast, nicht, verdient habe. Ich habe dir Kummer verursacht, den du mir ohne deine unendliche Güte nie hättest verzeihen können. Ich war leichtsinnig, flatterhaft und undankbar, obwohl ich niemals aufgehört habe, dich unendlich zu lieben. Aber du kannst nicht glauben, wie sehr ich mich verändert habe. Meine Tränen, die du seit unserer Abreise aus Frankreich so oft hast fließen sehen, habe ich nicht ein einziges Mal um mein eigenes Unglück geweint. Dieses Unglück habe ich nicht mehr gefühlt, seit du es mit mir geteilt hast. Ich habe nur aus Liebe und Mitleid mit dir geweint, und ich kann mich nicht darüber trösten, daß ich dich auch nur einen einzigen Augenblick im Leben habe betrüben können. Ich höre nicht auf, mir meine Untreue vorzuwerfen, und mit Bewunderung sehe ich, wozu deine Liebe zu einer Unglücklichen fähig war, die deiner nicht wert ist und die«, so fügte sie unter einer Flut von Tränen hinzu, »mit all ihrem Blut nicht die Hälfte der Leiden vergelten kann, die sie dir zugefügt hat.«
Ihre Tränen, ihre Worte und der Ton, in dem sie dies sprach, machten auf mich einen so ungewöhnlichen Eindruck, daß mein Herz zutiefst erschüttert war.
»Sei still«, sagte ich zu ihr, »sei still, meine liebe Manon. Ich habe nicht Kraft genug, so lebhafte Äußerungen deiner Liebe zu ertragen. Ich bin an ein solches Übermaß der Freude nicht gewöhnt. O mein Gott!« rief ich aus, »nun erbitte ich nichts mehr von dir. Ich weiß, daß mir Manons Herz gehört. Es ist so, wie ich es mir ersehnt habe, um glücklich zu werden, und ich kann jetzt nicht mehr aufhören, es zu sein. Mein Glück ist vollkommen.«
»Das ist es«, stimmte sie zu, »wenn es von mir abhängt; und ich weiß auch, wo ich das meine immerdar zu finden habe.«
Mit diesen beglückenden Gedanken, die meine Hütte in einen Palast verwandelten, der des größten Königs der Welt würdig gewesen wäre, legte ich mich zur Ruhe. Amerika erschien mir als ein gesegnetes Land.
»Man muß nach New Orleans kommen«, sagte ich zu Manon, »wenn man die wahren Freuden der Liebe kosten will. Hier liebt man sich ohne Eigennutz, ohne Eifersucht, ohne Unbeständigkeit. Unsere Landsleute reisen hierher, um Gold zu suchen, sie ahnen nicht, daß wir viel kostbarere Schätze gefunden haben.«
Wir pflegten sehr sorgfältig die Freundschaft des Gouverneurs. Einige Wochen nach unserer Ankunft hatte er die Güte, mir ein kleines Amt zu übertragen, das im Fort frei geworden war. Wenn es auch nicht bedeutend war, erschien es mir doch wie ein Geschenk des Himmels, denn es erlaubte mir, mich zu erhalten, ohne jemandem zur Last zu fallen. Ich nahm einen Diener für mich und ein Mädchen für Manon. Unsere Geld Verhältnisse regelten sich, meine Lebenshaltung war gesichert und die Manons nicht minder. Wir ließen uns keine Gelegenheit entgehen, unseren Nachbarn gefällig zu sein und Gutes zu tun. Dieses freundliche Verhalten und unser entgegenkommendes Betragen verschaffte uns das Vertrauen und die Zuneigung der ganzen Kolonie. Wir waren nach kurzer Zeit so angesehen, daß wir nach dem Gouverneur zu den ersten Bürgern der Stadt zählten.
Unsere rechtschaffene Lebensweise und die Ruhe, die uns hier umgab, bewirkten, daß wir uns nach und nach wieder religiösen Idealen zuwandten.
Unsere stets ernsthaft geführten Gespräche lenkten unseren Geschmack immer mehr auf den Weg der tugendhaften Liebe.
»Uns fehlt«, sagte ich zu ihr, »der Segen des Himmels zu unserem Bund. Wir haben beide eine zu edle Seele und ein zu gutes Herz, um in bewußter Pflichtvergessenheit zu leben. Wenn wir auch in Frankreich so gelebt haben, wo es uns in gleichem Maße unmöglich war, auf unsere Liebe zu verzichten und uns auf legitime Weise zu verbinden. Hier in Amerika, wo wir nur auf uns selbst gestellt sind, wo wir uns um willkürliche Gesetze des Ranges und der gesellschaftlichen Rücksichten nicht zu kümmern brauchen und wo man uns sogar vermählt glaubt, hält uns nichts davon ab, es auch zu sein und unserer Liebe durch das von der Religion vorgeschriebene Gelübde eine höhere Weihe zu geben. Was mich betrifft«, fügte ich hinzu, »so biete ich dir nichts Neues, wenn ich dir mein Herz und meine Hand antrage, aber ich bin bereit, diese Gabe vor den Stufen des Altars zu erneuern.«
Ich sah, wie meine Worte sie mit Freude erfüllten. »Glaubst du«, erwiderte sie, »daß ich, seit wir in Amerika sind, selbst schon tausendmal das gleiche gedacht habe? Die Furcht, dir zu mißfallen, hat mich veranlaßt, meinen Wunsch im Herzen zu verschließen. Ich erhebe nicht den Anspruch, deine Gattin zu heißen.«
»Ach, Manon«, sagte ich, »du würdest bald die Frau eines Königs sein, wenn mich der Himmel als Erben einer Krone zur Welt gebracht hätte. Darum wollen wir nicht länger zögern, wir haben kein Hindernis mehr zu fürchten. Ich will noch heute mit dem Gouverneur sprechen und ihm gestehen, daß wir ihn bis jetzt getäuscht haben. Überlassen wir es den niedrigen Seelen«, fügte ich hinzu, »die unauflöslichen Bande des Ehestands zu scheuen. Sie würden sie nicht fürchten, wenn sie so sicher wären wie wir, die Fesseln der Liebe für immer zu tragen.«
Dieser Vorsatz entzückte Manon.
Ich bin überzeugt, daß es keinen anständigen Mann auf der Welt gibt, der nicht meine Absichten gebilligt hätte, besonders unter den gegebenen Umständen einer unbezwinglichen Leidenschaft, die ich nicht besiegen konnte, und der verzehrenden Gewissensbisse, die ich nicht ersticken konnte. Und würde einer meine Klagen ungerecht schelten, wenn ich über die Grausamkeit des Himmels seufze, der einen Plan zunichte machte, den ich nur ihm zu Gefallen gefaßt hatte? Ach, und er machte ihn nicht nur zunichte, sondern bestrafte ihn sogar wie ein Verbrechen! Er hat mich voller Nachsicht gewähren lassen, solange ich blind auf dem Pfad des Lasters wandelte; und erst als ich zur Tugend zurückkehrte, erhielt ich seine härteste Züchtigung. Ich weiß nicht, ob ich noch genügend Kraft besitze, die Erzählung des unheilvollsten Ereignisses, das je einem Menschen zugestoßen ist, zu Ende zu bringen.
Ich begab mich, wie ich es mit Manon verabredet hatte, zum Gouverneur, um seine Einwilligung zu unserer Eheschließung zu erbitten. Natürlich hätte ich mich wohl gehütet, mit ihm oder sonst jemand von unserer Absicht zu sprechen, wenn ich hätte hoffen können, daß sein Feldkaplan, der einzige Priester in der Stadt, mir diesen Dienst ohne sein Mitwissen geleistet hätte. Da ich aber nicht erwarten konnte, daß er sich zum Stillschweigen verpflichten würde, zog ich den Weg der Aufrichtigkeit vor.
Der Gouverneur hatte einen Neffen, namens Synnelet, der ihm außerordentlich teuer war. Er war ein Mann von dreißig Jahren, tapfer, aber heftig und jähzornig. Er war noch unverheiratet. Nun hatte die Schönheit Manons schon am Tage unserer Ankunft einen starken Eindruck auf ihn gemacht, und zahllose Gelegenheiten, bei denen er sie in den neun oder zehn Monaten unseres Aufenthalts gesehen hatte, hatten seine Leidenschaft so entflammt, daß er sich heimlich nach ihr verzehrte. Da er aber ebenso wie sein Onkel und die ganze Stadt überzeugt war, daß wir verheiratet seien, hatte er seine Liebe beherrscht und verheimlicht, ja, verschiedene Male hatte er mich sogar sehr freundlich seine Ergebenheit erkennen lassen.
Als ich ins Fort kam, traf ich ihn bei seinem Onkel an, und da ich keinen Grund sah, vor ihm meine Absicht zu verschweigen, zögerte ich nicht, mich in seiner Gegenwart zu erklären. Der Gouverneur hörte mich mit seiner gewohnten Güte an. Ich erzählte ihm einen Teil meiner Geschichte, der er mit Interesse folgte, und als ich ihn schließlich bat, der beabsichtigten Eheschließung beizuwohnen, stellte er mir großzügig in Aussicht, alle Kosten der Feierlichkeiten zu übernehmen. Ich verließ ihn sehr zufrieden.
Eine Stunde später besuchte mich der Feldkaplan. Ich erwartete einige Belehrungen über die bevorstehende Zeremonie, aber nach einer sehr frostigen Begrüßung erklärte er mir in kurzen Worten, daß der Gouverneur mir jeden Gedanken an eine Eheschließung untersage, da er andere Absichten mit Manon habe.
»Andere Absichten mit Manon!« rief ich aus, während mein Herz erstarrte. »Und welche wären das, Herr Feldkaplan«?
Er antwortete mir, ich wisse doch sehr wohl, daß der Gouverneur hier tun und lassen könne, was er wolle, und da Manon aus Frankreich in die Kolonie geschickt worden sei, stehe sie zu seiner Verfügung. Bisher habe er von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht, da er sie verheiratet glaubte. Nachdem ich ihm jedoch selbst mitgeteilt hätte, daß dies nicht zutreffe, halte er es für richtig, sie Herrn Synnelet zu überlassen, der sie liebe.
Meine Erregung ließ mich jede Vorsicht vergessen. Stolz befahl ich dem Feldkaplan, mein Haus zu verlassen, und erklärte, daß weder der Gouverneur noch Synnelet, noch die ganze Stadt es wagen dürfe, meine Frau oder meine Geliebte, wie immer sie sie nennen wollten, anzurühren.
Sofort teilte ich Manon die bedrohliche Botschaft mit, die ich soeben empfangen hatte. Wir waren der Ansicht, daß Synnelet nach meinem Fortgehen den Sinn seines Onkels umgestimmt habe und daß dies die Folge einer lange gehegten Leidenschaft sei. Die beiden waren stärker als wir. Wie befanden uns in New Orleans wie inmitten des Meeres, das heißt, wir waren von der übrigen Welt durch unermeßliche Räume getrennt. Wohin sollten wir fliehen in einem unbekannten, öden Land, das von wilden Tieren und ebenso wilden Eingeborenen bewohnt war? Ich war in der Stadt geachtet, aber ich konnte nicht hoffen, das Volk so zu meinen Gunsten zu erregen, daß ich mir eine ausreichende Hilfe in dieser Situation hätte versprechen können. Dazu hätte ich Geld gebraucht, und ich war arm. Übrigens war auch der Erfolg einer Volksbewegung ungewiß, und falls sie mißglückte, hätte sie unseren Untergang erst recht besiegelt.
All diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, und ich teilte sie Manon mit. Ich erörterte immer neue Pläne, ohne daß ich ihre Antwort abgewartet hätte. Ich faßte einen Entschluß und verwarf ihn um eines anderen willen. Ich redete ganz allein und antwortete laut auf meine eigenen Gedanken. Kurz, ich befand mich in einer Erregung, die nicht zu schildern ist, weil sie niemals ihresgleichen hatte.
Manon heftete ihre Blicke auf mich, sie schloß aus meiner Erregung auf die Größe der Gefahr, und wenn sie auch mehr für mich fürchtete als für sich selbst, wagte dieses zarte Wesen nicht, auch nur den Mund zu öffnen, um mir ihre Ängste zu gestehen.
Nach endlosen Überlegungen beschloß ich, den Gouverneur aufzusuchen und alles zu versuchen, um ihn durch einen Appell an sein Ehrgefühl und die Beteuerung meiner Ergebenheit zu rühren und seine Zuneigung zu gewinnen.
Manon wollte mich zurückhalten. »Du gehst in den Tod«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Sie werden dich töten, und ich werde dich nie wiedersehen.«
Ich hatte unendliche Mühe, sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß ich hingehen und sie in der Wohnung auf mich warten müsse. Ich versprach ihr, so schnell wie möglich wieder zurück zu sein. Ach, sie ahnte nicht, und ich ahnte auch nicht, daß der ganze Zorn des Himmels und die Wut unserer Feinde auf sie selber fallen sollten.
Ich begab mich in das Fort. Der Gouverneur war in Gesellschaft seines Feldkaplans. Um ihn zu rühren, ließ ich mich zu Selbsterniedrigungen herbei, die mich vor Scham hätten sterben lassen, wenn ich sie aus einem anderen Grunde hätte auf mich nehmen müssen. Ich beschwor ihn bei allem, was ein Herz nur zu erschüttern vermag, wenn es nicht das eines wilden Tigers ist.
Dieser Unmensch wußte auf meine Klagen nur zwei Antworten, die er hundertfach wiederholte. Manon, sagte er, stehe ihm zur Verfügung, und er habe seinem Neffen sein Wort gegeben. Ich war entschlossen, mich bis zum äußersten zu mäßigen, und begnügte mich, zu erwidern, ich betrachte ihn zu sehr als meinen Freund, um glauben zu können, er wolle meinen Tod, den ich dem Verlust meiner Geliebten vorzöge.
Als ich ihn verließ, war ich nur zu sehr davon überzeugt, daß ich von diesem halsstarrigen Alten, der sich für seinen Neffen tausendmal um die ewige Seligkeit hätte bringen lassen, nichts zu erhoffen hatte. Trotzdem bewahrte ich bis zum Schluß eine gewisse Mäßigung, entschlossen, wenn man die Ungerechtigkeit auf die Spitze triebe, Amerika das blutigste und grausamste Schauspiel zu geben, das die Liebe je in Szene gesetzt hat.
Auf dem Heimweg beschäftigten mich solche Gedanken, als das Schicksal –- um meinen Untergang zu beschleunigen –- mir Synnelet in den Weg führte. Zweifellos erriet er meine Gedanken aus meinen Blicken. Ich sagte schon, daß er tapfer war. Er kam jetzt auf mich zu.
»Suchen Sie mich«? fragte er. »Ich weiß, daß meine Absichten Sie verwunden, und ich habe damit gerechnet, mich mit Ihnen schlagen zu müssen. Lassen Sie uns sehen, wer von uns beiden der glücklichere ist.«
Ich antwortete ihm, er habe recht, und nur der Tod könne unserem Streit ein Ende machen.
Wir entfernten uns etwa hundert Schritte von der Stadt und kreuzten unsere Degen. Ich verwundete und entwaffnete ihn fast im gleichen Augenblick. Er war so erbittert über seine Niederlage, daß er sich weigerte, um sein Leben zu bitten und auf Manon zu verzichten. Vielleicht hätte ich das Recht gehabt, ihm beides zugleich zu nehmen, aber ein edles Geblüt verleugnet sich nie. Ich warf ihm seinen Degen hin.
»Versuchen wir es noch einmal«, sagte ich, »und bedenken Sie, daß jetzt kein Pardon gegeben wird.«
Er griff mit unbeschreiblicher Wut an, und ich muß gestehen, daß ich kein geschickter Fechter war, da ich nur drei Monate in einem Pariser Fechtsaal trainiert hatte. Aber die Liebe führte meinen Degen. Synnelet gelang es, mir den Arm zu durchbohren, aber dabei gab er sich gleichzeitig eine Blöße, und ich versetzte ihm einen so heftigen Stoß, daß er regungslos zu meinen Füßen niedersank.
Trotz der Freude über den siegreichen Ausgang eines Kampfes auf Leben und Tod bedachte ich sogleich die Folgen seines Todes. Für mich war weder Begnadigung noch Aufschub der Strafe zu erhoffen. Ich kannte die Vorliebe des Gouverneurs für seinen Neffen viel zu gut und war überzeugt, daß ich das Bekanntwerden dieses Ereignisses keine Stunde überleben werde.
So berechtigt diese Sorge war, sie war nicht der Hauptgrund meiner Beunruhigung. Manon, meine Sorge um Manon, die Gefahr, in der sie schwebte, das Bewußtsein, sie zu verlieren – diese Gedanken erregten mich so, daß mir schwarz vor den Augen wurde und ich nicht mehr wußte, wo ich war. Ich beneidete Synnelet um sein Los, ein schneller Tod war es, den ich als das Heilmittel gegen alle meine Nöte erkannte.
Indessen rief gerade dieser Gedanke meine Lebensgeister rasch wieder zurück und befähigte mich, einen Entschluß zu fassen.
»Was!« rief ich aus. »Ich will sterben, um meinen Qualen ein Ende zu machen? Gibt es denn eine schlimmere Qual, als die zu verlieren, die ich liebe? Nein, dulden will ich das Letzte und Schlimmste, um meiner Geliebten beizustehen und erst zu sterben, wenn sich alle Leiden als vergeblich erwiesen haben.«
Ich schlug den Rückweg in die Stadt ein und fand in meiner Wohnung Manon halb tot vor Schrecken und Angst. Meine Anwesenheit belebte sie. Ich konnte ihr das schreckliche Ereignis nicht verschweigen, zu dem es nun einmal gekommen war. Als sie vom Tod Synnelets und meiner Verwundung hörte, sank sie mir ohnmächtig in die Arme. Ich brauchte über eine Viertelstunde, um sie wieder zur Besinnung zu bringen.
Ich war selber mehr tot als lebendig und sah weder für sie noch für mich die geringste Aussicht auf Rettung.
»Manon, was sollen wir tun«? fragte ich, als sie wieder etwas zu Kräften gekommen war. »Ach, was sollen wir machen? Ich muß unbedingt fort. Willst du in der Stadt bleiben? Ja, bleibe hier, du kannst noch glücklich werden. Ich suche fern von dir bei den Wilden oder unter den Klauen der Raubtiere meinen Tod.«
Sie erhob sich trotz ihrer Schwäche, nahm mich bei der Hand und führte mich zur Tür.
»Wir wollen zusammen fliehen«, sagte sie, »und keinen Augenblick verlieren. Die Leiche Synnelets kann durch Zufall rasch gefunden werden, und dann bleibt uns nicht einmal mehr die Zeit zur Flucht.«
»Aber, teure Manon«, fragte ich unschlüssig, »wohin sollen wir denn fliehen? Siehst du irgendeinen Ausweg? Wäre es nicht besser, du versuchst hier ohne mich zu leben, und ich biete dem Gouverneur freiwillig meinen Kopf an«?
Dieser Vorschlag bestärkte sie nur um so mehr in ihrem Eifer, mit mir zu fliehen. Ich mußte nachgeben. Doch besaß ich noch so viel Geistesgegenwart, beim Fortgehen etwas Weinbrand, der sich zufällig im Hause fand, und so viel Lebensmittel mitzunehmen, wie ich in meinen Taschen nur unterbringen konnte. Wir sagten unseren Dienern im Nebenzimmer, wir wollten unseren gewohnten Abendspaziergang machen. Und dann entfernten wir uns schneller aus der Stadt, als ich es bei Manons Zartheit hätte erhoffen dürfen.
Wir gingen so lange, wie es der Mut Manons erlaubte – ungefähr zwei Meilen. Diese unvergleichliche Geliebte weigerte sich standhaft, früher auszuruhen. Erst als sie vor Erschöpfung fast zusammenbrach, gestand sie mir, daß es ihr unmöglich sei, weiterzugehen. Es war schon finster, und wir lagerten uns mitten in einer weiten Ebene, ohne daß wir auch nur einen Baum zu unserem Schutz gefunden hätten.
Ihre erste Sorge war, den Verband meiner Wunde zu wechseln, den sie mir selbst vor unserem Aufbruch noch angelegt hatte. Vergebens widersetzte ich mich ihrem Willen; ich hätte sie zu Tode betrübt, wenn ich ihr die Genugtuung verweigert hätte, mich versorgt und außer Gefahr zu wissen, bevor sie an ihre eigenen Bedürfnisse dachte. Ich fügte mich ihrem Willen und überließ mich schweigend und beschämt ihrer Fürsorge.
Als sie aber ihrer Zärtlichkeit Genüge getan hatte, ließ ich ihr mit um so größerer Glut die meine zuteil werden! Ich entledigte mich aller Kleider, um sie ihr unterzulegen und ihr die harte Erde weniger fühlbar werden zu lassen. Ich zwang sie, sich wohl oder übel von mir jede Bequemlichkeit gefallen zu lassen. Ihre Hände erwärmte ich durch meine heißen Küsse und meinen glühenden Atem. Ich brachte die ganze Nacht damit zu, neben ihr zu wachen und Gott zu bitten, ihr einen sanften und ruhigen Schlaf zu gönnen. O Himmel, wie treu und innig waren meine Gebete, und welch ein strenges Gericht hast du als Antwort über mich verhängt!
Verzeihen Sie, wenn ich mit wenigen Worten einen Bericht beende, der mich fast tötet.
Wir hatten einen Teil der Nacht ruhig verbracht. Ich glaubte, meine teure Geliebte sei eingeschlafen, und wagte nicht, den leisesten Seufzer auszustoßen, aus Furcht, ihren Schlaf zu stören. Bei Tagesanbruch bemerkte ich, als ich ihre Hände berührte, daß sie kalt waren und zitterten. Ich zog sie an meine Brust, um sie zu erwärmen. Manon fühlte diese Bewegung, und mit großer Anstrengung ergriff sie meine Hände und sagte mit schwacher Stimme, sie glaube sich ihrer letzten Stunde nahe.
Anfangs hielt ich diese Worte nur für die Sprache des Unglücks und antwortete mit zärtlichen Beteuerungen meiner Liebe. Aber ihre häufigen Seufzer, ihr Schweigen auf meine Fragen und das Zucken ihrer Hände, die noch immer die meinen umschlossen hielten, ließen mich erkennen, daß das Ende ihrer Leiden bevorstand.
Erwarten Sie nicht von mir, daß ich Ihnen meine Gefühle schildere und Ihnen ihre letzten Worte berichte. Ich habe Manon verloren, aber noch im Angesicht ihres Todes empfing ich Zeichen der Liebe. Das ist alles, was ich Ihnen von diesem furchtbaren und erschütternden Ereignis mitzuteilen vermag.
Mehr als vierundzwanzig Stunden blieb ich – meinen Mund auf das Gesicht und die Hände meiner teuren Manon gepreßt – liegen. Mein Wille war es, hier zu sterben, aber am Morgen des folgenden Tages kam mir der Gedanke, daß ihr Körper nach meinem Hinscheiden den wilden Tieren preisgegeben wäre. Ich beschloß daher, sie zu begraben und über ihrem Grab auf meinen Tod zu warten.
Es wurde mir schwer, an dem Ort, wo ich mich befand, die Erde aufzuwühlen, denn es handelte sich um eine mit Sand bedeckte Ebene. Ich zerbrach meinen Degen, um mich seiner zum Graben zu bedienen, aber ich kam damit nicht besser vorwärts als mit meinen bloßen Händen. Ich machte eine tiefe Grube und bettete die Göttin meines Herzens hinein, nachdem ich sie sorgfältig mit meinen Kleidern umhüllt hatte, damit der Sand sie nicht berühre. Ehe ich dies tat, umarmte ich sie tausendmal mit aller Leidenschaft und der glühendsten Liebe. Ich setzte mich neben sie, ich betrachtete sie lange Zeit und konnte mich nicht entschließen, das Grab zuzuschütten. Endlich, als meine Kräfte wieder nachzulassen begannen und ich befürchten mußte, sie ganz zu verlieren, bevor meine Aufgabe vollendet war, begrub ich für immer in den Schoß der Erde das Schönste und Reizendste, was sie jemals besessen hat. Ich warf mich über das Grab, das Gesicht in den Sand gepreßt. Ich schloß die Augen mit dem Gedanken, sie nie wieder zu öffnen, betete um den Beistand des Himmels und wartete mit Ungeduld auf meinen Tod.
Nach dem, was Sie schon gehört haben, ist der Schluß meiner Geschichte so belanglos, daß es kaum die Mühe lohnt, ihn anzuhören. Als man den Körper Synnelets in die Stadt zurückgebracht und seine Wunden sorgfältig untersucht hatte, ergab sich nicht nur, daß er nicht tot, sondern daß er nicht einmal lebensgefährlich verletzt war. Er teilte seinem Onkel mit, was sich zwischen uns ereignet hatte, und seine Charakterstärke veranlaßte ihn, meine Großmut offen anzuerkennen. Man suchte mich, und da man weder mich noch Manon fand, vermutete man, daß wir geflohen seien. Es war aber schon zu spät, noch nach unseren Spuren zu suchen, aber der nächste und übernächste Tag wurden auf meine Verfolgung verwandt.
Man fand mich ohne eine Spur von Leben auf dem Grabe Manons, und die Leute, die mich in diesem Zustand entdeckten, fast nackt und aus meiner Wunde blutend, zweifelten nicht, daß ich beraubt und ermordet worden sei, und brachten mich in die Stadt zurück. Die Bewegung weckte mich, und die Seufzer, die ich ausstieß, als ich die Augen aufschlug und mich zu meinem Schmerz unter den Lebenden befand, ließen sie erwarten, daß ich noch zu retten sei. Und ihren Bemühungen ward ein nur allzu guter Erfolg zuteil.
Man unterließ nicht, mich in strengen Gewahrsam zu nehmen und machte mir den Prozeß. Da nämlich Manon verschwunden blieb, klagte man mich an, sie in einer Aufwallung von Wut und Eifersucht aus dem Wege geräumt zu haben. Ich erzählte mein tragisches Erlebnis, und Synnelet war trotz des übergroßen Schmerzes über meinen Bericht edelsinnig genug, für mich um Gnade zu bitten. Sie ward mir gewährt.
Ich war so schwach, daß man mich aus dem Gefängnis in mein Bett tragen mußte, an das mich drei Monate lang eine schwere Krankheit fesselte. Mein Haß gegen das Leben ließ nicht nach, ich rief unaufhörlich den Tod herbei und wies lange Zeit alle Arzneien zurück. Langsam kehrte eine gewisse Ruhe in meine Seele zurück, und dieser Veränderung folgte auch bald meine Genesung. Ich ließ mich ganz von den Geboten der Ehre leiten und fuhr fort, mein kleines Amt zu verwalten, während ich auf die Ankunft des Schiffes aus Frankreich wartete, das einmal im Jahr in diesen Teil von Amerika kommt. Ich war entschlossen, in mein Vaterland zurückzukehren, um dort durch ein tugendhaftes und ordentliches Leben das Ärgernis meines früheren Lebenswandels auszulöschen.
Es war ungefähr sechs Wochen nach meiner Genesung, als ich eines Tages allein am Ufer spazierenging und ein Schiff anlegen sah, das Handelsgeschäfte nach New Orleans führten. Neugierig sah ich der Ausschiffung der Besatzung zu und war völlig überrascht, als ich unter denen, die sich der Stadt näherten, Tiberge erblickte. Der treue Freund erkannte mich schon von weitem, trotz der Veränderungen, die die Trauer auf meinem Gesicht bewirkt hatte. Er teilte mir mit, daß der einzige Grund seiner Reise der Wunsch gewesen sei, mich zu sehen und mich zur Rückkehr nach Frankreich zu bewegen.
Als er den Brief erhalten hatte, den ich ihm aus Le Havre schrieb, begab er sich sofort auf die Reise, um mir persönlich die erbetene Hilfe zu bringen. Mit tiefstem Schmerz erfuhr er, daß ich schon abgereist sei, und er wäre mir sofort nachgereist, wenn ein segelfertiges Schiff zur Verfügung gestanden hätte.
Ich konnte einem so edelmütigen und treuen Freund nicht genug Dankbarkeit erweisen. Ich führte ihn in mein Haus und stellte ihm alles, was ich besaß, zur Verfügung. Dann erzählte ich ihm, was mir seit meiner Abreise aus Frankreich begegnet war, und bereitete ihm durch die Erklärung, daß das Samenkorn der Tugend, das er einst in mein Herz eingepflanzt habe, jetzt aufgegangen sei und Früchte trage, mit denen er zufrieden sein werde, eine unerwartete Freude. Er beteuerte mir, daß eine solche Freudenbotschaft ihn für alle Mühsal während seiner Reise reichlich entschädige.
Wir verbrachten zwei Monate zusammen in New Orleans, bis ein Schiff aus Frankreich eintraf. Dann schifften wir uns ein und landeten vor zwei Wochen in Le Havre-de-Grâce. Sofort nach meiner Ankunft schrieb ich an meine Familie. Mein älterer Bruder teilte mir in seiner Antwort den Tod meines Vaters mit, den mein Verhalten vielleicht noch beschleunigt haben mag. Da der Wind nach Calais günstig war, schiffte ich mich sofort ein, um mich zu einem verwandten Edelmann zu begeben, der einige Meilen außerhalb der Stadt wohnt und bei dem mich mein Bruder, wie er mir schrieb, erwarten will.