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Es ist eine Nacht zu Beginn des Frühlings. Noch ist der Karneval nicht zu Ende für das lebenslustige Volk der Residenz. Aus vielen Fenstern strahlt Lichterglanz, in den Straßen fahren Wagen, durch deren rotglitzernde Glasscheiben man den Schein funkelnd weißer, unruhiger Ballkleider wahrnimmt. Den Häusern entlang eilen verspätete Ballgäste, einzelne, deren Erwartungen sich nicht erfüllten, kehren verdrossen heim mit nachlässig übergeworfenem Mantel und verschlafenen Augen, ärgerlich über die verstörte Nacht. – Da kommt eben einer des Wegs, just durch eine der elegantesten breiten Straßen; ein junger Mann, der kaum dreißig Jahre zählen mag. Sein Blick gleitet verdrießlich auf dem Boden hin, der Zylinder sitzt tief in der Stirne, der Überzieher ist unten zugeknöpft, oben offen, so daß man auch den Stengel einer halbwelken und zerdrückten Rose sehen kann, die unordentlich im Knopfloch des Fracks steckt; die weiße Krawatte, von tadellosem Schwung in der Anlage, hängt schief und lose, die Hände hat der Mann in die Rocktaschen gesteckt und macht zu alldem ein ziemlich gleichgiltiges Gesicht. Jetzt setzt er sich trotz der recht empfindlichen Kühle auf eine Bank, ohne zu merken, daß in der andern Ecke ein zweiter einsamer Wanderer sich niedergelassen hat, dreht sich eine Zigarette und zündet sie mittelst eines silbernen Feuerzeugs an.
Der Mann in der andern Ecke wandte rasch den Kopf nach dem Ankömmling, strich dann über sein entblößtem Haupt und sah ruhig vor sich hin. So saßen beide eine Weile, ohne sich um einander zu kümmern. Man hörte Glockenschläge vom nächsten Kirchturm, der Herr mit der Zigarette horchte aufmerksam zu und schien die Schläge zählen zu wollen, als die Schläge einer andern Glocke mit denen der ersten sich mischten. Er schüttelte ärgerlich den Kopf und fragte schließlich seinen Nachbar: »Entschuldigen Sie, mein Herr, hat es jetzt zwölf oder eins geschlagen? Meine Uhr hat die üble Gewohnheit, stehenzubleiben, sobald ich einen Schritt getanzt habe, und aus dem Kirchengeläute wird ein vernünftiger Mensch nicht klug.«
»Wenn Sie mich um die Zeit fragen«, erwiderte der andere, »so wenden Sie sich sicher an den Unrechten. Meine Uhr liegt zu Hause, ich vergaß es, sie mitzunehmen, und im übrigen verbringe ich meine Zeit so gleichmäßig, so eintönig, daß mir jede Berechnung für den Verlauf der Minuten, Stunden, beinahe auch für den der Tage abgeht.«
»Sie mögen sich wie immer gelangweilt haben, verehrter Herr, gegen die Langweile, die ich ausgestanden habe, ist Ihre ein Amusement.«
»Ich wollte es nicht auf einen Vergleich ankommen lassen.«
»Wie Sie mich hier sehen, komme ich von einem Ball. Vorher war ich im Kaffeehaus, spielte Billard, – wieder eine Weile früher aß ich in einem Hotel mit zwei sogenannten Freunden zu Mittag, vormittags... Aber entschuldigen Sie, daß ich Ihnen da Dinge erzähle, die Sie nicht im geringsten interessieren können.«
»O bitte, sprechen Sie nur weiter. Jeder Mensch, der schlecht aufgelegt ist, kann gewiß sein, bei mir eine mitfühlende Seele zu finden.«
»Wahrhaftig, Sie sind auch verstimmt?... Das freut mich... Pardon – aber...«
»Ich pardonniere Sie ohne weiters. Mit jeder Stufe der üblen Laune wächst der Egoismus. Ich mache kein Hehl daraus, daß es mir unerträglich ist, um mich herum lachen zu hören, wenn mir alle und jede Lust dazu fehlt.«
»Sie machen eine Miene, als wollten Sie sagen: ›Wenn mir das Weinen näher ist‹.«
»Man ist oft dem Weinen nah, aber man weint sehr selten. Man verbirgt diesen ursprünglichen Ausdruck einer schmerzlichen Empfindung mit einer gewissen Ängstlichkeit selbst seinen besten Freunden.«
»Oder es muß sich eine Träne auf die andere reimen, das Ganze auf Velinpapier gedruckt und mit Goldschnitt verziert sein. Man sieht jetzt diese elegante Wehmut öfter in den Salons oder in Boudoirs auf kleinen Tischen liegen.«
»Darüber kann ich nun allerdings nichts sagen, da ich weder in Salons oder in Boudoirs verkehre.«
»Auch niemals verkehrten?... Aber wir sind nun hier in ein Gespräch gekommen, ohne auch nur unsere Namen zu nennen. Ich habe das Vergnügen, mich Ihnen als Richard von Mertens vorzustellen.«
»Mein Name ist Bonifaz Friedus.«
»Also Herr Friedus«, fuhr Mertens fort, »Sie verkehrten niemals in derartigen Kreisen?«
»Seit lange nicht. Und nie in intimer Weise.«
»Beneidenswerter!«
»Das sagen Sie mir?... Wissen Sie, was ich bin? – Ich bin – aber Ihnen wird die Fülle des Unglücks gar nicht klar sein, die in dem Worte steckt – ich bin ein Gelehrter. Das heißt natürlich, in die Sprache der Vernunft übersetzt: Ich bin kein Gelehrter. Glauben Sie mir, verehrter Herr von Mertens, ich bin nichts weniger als das, was ich bin.«
»Bescheidenheit, Herr Friedus.«
»O gewiß nicht. Ich werde mich ebensowenig scheuen zu sagen, daß ich sehr viel studiert habe, als daß ich nichts weiß. – Aber ich langweile Sie mit altbekannten Dingen. Es gibt nichts Gewöhnlicheres als die Unbefriedigung.«
»Sie fanden das Glück der Wahrheit nicht, und ich, ich suche vergeblich nach der Wahrheit des Glücks.«
»Sie, Herr von Mertens, verließen aus Überdruß den Tanzsaal, ich aus Überdruß die Studierstube. Wir finden uns beide auf der Straße, sympathisieren, weil wir uns ennuyieren, und werden uns wieder trennen, um von neuem auf so verschiedenen Bahnen zum selben Ziel zu wandeln.«
»Ach Bonifaz Friedus, ich gäbe den Rest meines Lebens für einen Tag, an dem mir was begegnete, was ich früher noch nicht erlebt. Ich möchte sterben für was Neues!«
»Sie sind noch nicht verloren, Herr von Mertens, denn Sie haben noch Leidenschaft.«
»Aber ich fühle – fühle mit Schrecken, wie es von Tag frostiger und kühler um mein Dasein weht, – mich freut nichts mehr, Spiel und Wein und Weiber. Und ich bin erst dreißig Jahre alt, Herr Friedus!«
»Ich bin zwei Jahre jünger.«
»Wie soll das weitergehn, wenn man mit dreißig Jahren fertig ist?«
»Die selben Fragen, die ich mir Tag für Tag stelle. Die Antwort ist trostlos. Jawohl, wir sind beide fertig.«
»Ach Sie, Herr Friedus! was für ein weites Feld liegt zu Ihren Füßen! Sie durchmessen es niemals. Auch wenn Sie Tag und Nacht ruhelos Ihr Werk zu vollbringen suchen.«
»Und das sagen Sie mir zum Troste. Mit meinem Studieren ist's aus, nach Bücherwissen sehne ich mich nicht mehr. Band um Band hab' ich heut in die Ecke geworfen. Ob ich nun einen Blick in die Geschichte warf, oder in die Astronomie, oder in die Medizin, oder in die Mathematik – Sie sehen, ich bin überall herumvagiert, aber es gefällt mir nichts mehr von alldem. Fahr' hin, Gelehrsamkeit, ich bin zu Ende!«
»Die Kunde von der Menschheit und des Menschen Entwicklung, die Wissenschaft von Welt und Welten... und Sie lassen all das fahren? und Sie können es mit leichtem Mute?«
»Mit leichtem Mut kann ich's nicht lassen, weil mein Geist von nichts weiter entfernt ist als von leichtem Mute. Aber ich lasse es, weil ich zu Ende bin. Weit weniger begreiflich ist, wie Sie sich lossagen können von dem Getriebe voll Abwechslung und glühender Lebhaftigkeit, in dem Sie sich bewegen. Immer neu atmet und pulst es in jenen Regionen, Freude, Liebe wogt um Sie, und lebendige Augen glänzen und spiegeln sich in den Ihren.«
»Sie schwärmen!«
»Von Ihrem Glück.«
»Glück?«
»Und Sie können all das fahren lassen?«
»Ich schenk's dem ersten besten Menschen, der's haben will, und gehe auf und davon. – Ah, Sie nannten es Glück, Friedus! Versuchen Sie's doch, kosten Sie es durch und sagen Sie mir dann, wie es Ihnen behagt.«
»Ein Gedanke, Mertens. Was fragten Sie doch früher nur?... Wie ich all das gelehrte Zeug so leicht missen könnte. Wollen Sie werden, was ich gewesen?... Wollen Sie von Ihrem alten Leben Abschied nehmen und das meinige fortsetzen?«
»Mit tausend Freuden. Eine Flut von Wißbegierde durchströmt mich. Lernen will ich, zur Erkenntnis gelangen, den Weg gehen, den Sie bis jetzt gewandelt sind, Blumen, weiße Krawatten, Zylinderhüte, lebt wohl, ich bin alles los, was mich bedrückte.«
In diesem Moment hob Bonifaz Friedus den Hut, den Mertens auf den Boden geworfen, bedächtig auf, setzte ihn sich auf den Kopf und sagte: »Ich will Weltmann sein.« Er nahm den Zylinder wieder herunter, drehte ihn in seinen Händen herum, betrachtete ihn und sprach dann: »Wir wollen tauschen, Mertens, und ich will der lustigste Patron sein, der jemals existiert hat. Ich will Sie vor allem in mein Heim führen; alles, was bis jetzt mir gehörte, sei Ihr Eigentum.«
»Und das meine vermache ich feierlich Ihnen«, setzte Mertens hinzu. »Lassen Sie uns gehen und führen Sie mich. Auf dem Wege können wir das Nähere besprechen. Ich will Sie vollkommen in meine Verhältnisse – das heißt in die, in welchen Sie sich von morgen bewegen sollen, einweihen.«
»Ich will Ihnen alles im Angesicht der Dinge und Personen erklären, auf welche sich die Erklärungen beziehen, und ich denke, es wird gut sein, wenn Sie dasselbe tun. Meine Wohnung, Herr von Mertens, ist in der Nähe; ich denke, wir gehen gleich hin.«
Die beiden Männer bogen nach kaum hundert Schritten in eine Seitenstraße ein, ein ganz enger Fußpfad führte von hier in ein sehr ruhiges Gäßchen, in dem ein paar niedrige Häuser und eine kleine Kirche standen. Vor dieser Kirche blieb Bonifaz Friedus stehen. Im Haus gegenüber nahm er an einem Fenster einen matten Lichtschein wahr. Er lächelte und sagte: »Blühdorn arbeitet noch.« Hierauf wandte er sich zu Richard von Mertens mit den Worten: »Hier wohne ich, dieses Häuschen ist mein eigen.« Er öffnete das Tor, ein Mädchen kam ihnen mit einem Licht entgegen und leuchtete ihnen über die düstere, in einem mächtigen Winkel gewundene Stiege zur Wohnung hinauf »Geben Sie mir jetzt das Licht, Wilhelmine«, sagte Bonifaz. »Treten Sie ein, Herr von Mertens. Gleich durch dieses Stübchen ist das Empfangszimmer, wo ich übrigens schon seit Jahr und Tag keinen Menschen empfangen habe... so, und nun von hier in das Studierzimmer.« Bonifaz öffnete die Tür, und Richard von Mertens warf einen neugierigen Blick in den geräumigen Saal, über den sich nur ein schwaches unbestimmtes Licht ergoß. Vor den drei Fenstern ragte ein graues Gebäude in die Höhe; es schien so nahe zu stehen, daß man die dunkelfarbigen Steine mit der Hand glaubte greifen zu können. Das war die Kirche. An den Wänden des Saals gingen Reihen von Brettern herum, vom Fußboden bis auf die Decke eins über dem andern; drauf lagen Bücher und Folianten, nicht in der besten Ordnung; auf dem Fußboden stehen Globen, Retorten, Röhren, einige mit sonderbarem Saft gefüllt, aus vielen strömt Rauch und Dunst; an der Wandstelle zwischen dem ersten und zweiten Fenster steht ein Pult, zwischen dem zweiten und dritten ein kleiner Tisch. Auf diesem liegen verstreute Schädelknochen; an der Mauer lehnt ein Bild, das eine Leiche darstellt; die einzelnen Teile des Körpers sind mit Buchstaben versehen, die auf wissenschaftliche Anmerkungen hinweisen. Unter dem Tisch steht eine Kiste mit einem zerbrochenen Skelett; auf dem Pult liegt mannigfaches Schreibzeug, von den Fächern sind einige geöffnet, und man bemerkt darin kleine Bücher und Hefte.
Bonifaz Friedus schritt rasch auf den kleinen Tisch zu, er warf die Knochen in die Kiste.
»Nicht doch«, sagte Richard von Mertens, mit einem leisen Lächeln, »was tun Sie denn?«
»O verehrter Freund«, erwiderte Bonifaz, »es mag nicht sonderlich angenehm sein, nach einem Ball auf so zudringliche Weise ans Ende aller Bälle und aller andern schönen Dinge erinnert zu werden.«
»Vergessen Sie nur nicht«, entgegnete Richard, »daß ich nun hier in meinem Reiche bin.« Er bückte sich und nahm ein Totenbein in die Hand.
»Das ist das Schläfenbein«, sagte Bonifaz.
Richard nahm einen mächtigen Folianten her und blätterte darin.
»Eine Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs«, erläuterte Bonifaz. »Und dies hier, ein astronomisches Werk aus dem vorigen Jahrhundert.«
In diesem Moment ließ sich ein Brodeln und Zischen vernehmen. Aus einem gläsernen Gefäß spritzte bräunlicher Schaum hervor. Ein Herr im blauen Arbeitsrock mit langen blonden Haaren, mit einer Brille kam aus dem Nebenzimmer, faßte die Henkel des Gefäßes mit beiden Händen und trug es rasch wieder hinaus, ohne sich umzuwenden. »Blühdorn«, rief Bonifaz.