Es war einer jener inbrünstigen Augenblicke, in denen ihn die Empfindung seines Glückes mit unwiderstehlicher Süßigkeit überkam. Er saß vor dem Café Impérial, an einem der kleinen Tische, die man aus den dunstigen Zimmern auf die offene Straße hinausgebracht hatte, wo die Strahlen der Sommernachmittagssonne sengend lagen. Er rauchte andächtig seine Havanna und dachte an Annette.
An Annette! An ihre großen, braunen Augen und an ihr schwarzes Haar, das sie im Sommer in Flechten trug. Er dachte an das Landhaus, das sie bewohnte, ganz nahe von Wien und doch einfach abgeschlossen, eine Villa, an deren Türe er ein- oder zwei-, auch dreimal in der Woche abends anklopfen konnte, um mit tausend Küssen von wilden, süßen Lippen empfangen zu werden. Und dann dachte er an den Gatten, der tagelang unsichtbar war und sonntags, wenn man doch einmal draußen mit ihm zusammentraf, sich nach Tisch auf den Diwan legte, mit halbgeschlossenen Augen Zigaretten drehte und rauchte.
Emil liebte ihn beinahe, diesen ernsten, gereiften Mann mit dem grauen Kopf- und Barthaar, und ein Gefühl von Hochachtung und Mitleid beschlich ihn, wenn er die hohe Stirne dieses ahnungslosen Betrogenen sah. Und nun dachte er jenes letzten Zusammenseins. Annette und er saßen neben dem kleinen Tischchen, auf dem der schwarze Kaffee stand, und ihre Augen glühten in die seinen, während sie aus der Schale schlürfte. Da fiel dem Gemahl die Zigarette aus der Hand. Er schlief. Annette lächelte und stand auf. Auf den Zehenspitzen eilte sie zur Tür, die in den Garten führte, und winkte Emil. Er folgte ihr langsam, während sie voranlief. Er fand sie zwischen zwei großen Bäumen auf der Hängematte liegen, mit schwellenden Lippen, feuchten Augen, mit verlangendem Atem! Sie küßte ihn und biß ihn in die Wange. Er mußte fast schreien. Doch erinnerte er sich an den Schläfer im Zimmer. Sie schien seine Gedanken zu erraten. »Der wacht nicht auf«, sagte sie, lachte und nahm Emils Kopf in die Hände und hauchte ihren warmen Atem über sein Haar.
... Doch wie, das alles geschah ja vor eben drei Tagen, wie kommt es denn, daß ich seitdem nicht draußen war, dachte Emil. Warum hat sie mir nicht geschrieben? Vielleicht finde ich einen Brief, wenn ich nach Hause komme. Einen jener Briefe, auf dem nur zwei Worte stehen: »Heute abend.« Und dann werde ich mich in das Kupee setzen und hinausfahren. Sie wird mir entgegenkommen, und wir werden den Waldweg einschlagen. Sie wird mir vielleicht, wie neulich, den letzten Brief zeigen, den ich ihr geschrieben, den sie am Busen verwahrt, den sie zerknittert, geküßt, ans Herz gepreßt hat...
So dachte Emil und sah zugleich, ohne sich dessen recht bewußt zu werden, einen hochgewachsenen Mann in dunkler Kleidung von der anderen Seite der Straße auf das Kaffeehaus zukommen. Geradewegs zu dem Tische, an welchem Emil saß, nahm er den Schritt. Es war Annettens Mann! Schon zwei- oder dreimal des Sommers war er nachmittags ins Café Impérial gekommen, hatte eine Zeitung gelesen und war wieder gegangen. Jetzt setzte er sich nach einem höflichen und eiskalten Gruß an Emils Tisch, indem er sagte: »Ich dachte Sie hier zu finden.«
Emil fühlte eine leichte Beklommenheit, die er hinwegzuscherzen suchte. Er betrachtete lächelnd den schwarzen Anzug des Mannes und bemerkte: »So düster an einem schönen Sommertag?«
Der Herr achtete nicht auf die Worte und sagte nur kurz: »Ich habe Ihre Briefe gelesen.«
In Emil stieg eine schauerliche Ahnung auf, er lächelte aber wieder und entgegnete: »Ich habe Ihnen noch nie geschrieben.«
Im selben Augenblick kam ihm diese Antwort albern und elend vor. Der andere aber, ruhig wie bisher, fuhr fort: »Ihre Briefe an meine Frau.«
Emil zuckte zusammen. Er wollte etwas reden und nahm die Miene eines Beleidigten an. Zugleich traf ihn aber der Blick des andern, fürchterlich ernst, bannend: Emil brachte nur ein Wort mit gepreßter Stimme hervor: »Wieso...«
»Wieso ich sie gelesen habe?« setzte sein Nachbar fort. »Nun, sehr einfach. Ich habe sie geerbt.«
Emil starrte ihn an.
Ganz ruhig aber sprach jener weiter: »Annette ist gestern gestorben. Der Arzt sagt, ein Herzschlag, was für uns beide, glaube ich, gleichgültig ist. Als sie zusammensank, löste man ihre Kleider, ihr Mieder, man fand Briefe. Sie begreifen, daß ich einiges Interesse daran fand, meine Erbschaft sogleich anzutreten. Nach zwei Minuten wußte ich, daß Sie Annettens Geliebter waren.«
Vor Emil versank alles. Der schöne Sommertag, die sonnige Straße – er sah irgendeinen weißen Glanz, der ihm in den Augen wehe tat –, und der Mann im schwarzen Traueranzug saß regungslos mitten in diesem Glanze. Emil sah auch den Flor am Hute des Mannes, und zu seinem eigenen Erstaunen schoß ihm der peinliche Gedanke durch den Kopf, daß er auch sich einen solchen Flor um den Hut schlingen müßte. Sprechen aber konnte er keine Silbe.
Der andere fuhr fort: »Ich danke Ihnen, mein Herr, daß Sie es überflüssig finden, mir etwas zu erwidern. Sie ersparen uns eine längere Unterhaltung. Ich brauche Ihnen auch weiter nicht die letzten Gründe meines Kommens auseinanderzusetzen.« Er hielt ein und nahm den Hut ab, worauf er sich mit der Hand über Stirn und Augen fuhr.
»Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung«, brachte Emil tonlos, doch verständlich genug hervor.
»Ich erwartete nichts anderes«, entgegnete der Witwer. »Nur muß ich, so peinlich das auch sein mag, auf einige Eile in der Austragung dieser Angelegenheit dringen. Morgen mittag findet das Leichenbegängnis Annettens statt.«
»Also übermorgen früh«, meinte Emil, wobei sein Gesicht einen außerordentlich verbindlichen Ausdruck annahm, da einige Herren von den Nebentischen zu den zweien herüberschauten.
»Das wäre zu spät«, erwiderte ihm der Mann. »Ich muß Ihnen bemerken, daß es mein ethisches Gefühl beleidigen würde, wenn zur Zeit, da man meine... die Tote in die Erde senkt, noch ihre beiden Männer die Möglichkeit hätten, an ihrem Grabe zu weinen... wenn überhaupt noch beide unter den Lebenden weilten. Sie sehen das ein?«
»Vollkommen«, erwiderte Emil, dem es unterdessen gelungen war, seine Haltung wiederzufinden. »Morgen früh also, wenn es Ihnen beliebt.« Er wollte aufstehen und sagte: »Wir können das übrige von diesem Augenblicke an den anderen Herren überlassen. Und was den Arzt anbelangt, wo werde ich selbst...«
»Wir werden keinen nötig haben«, erwiderte ihm der Witwer, indem er sich erhob.
Jetzt erst gewahrte Emil große Schweißtropfen, die jenem von der Stirne ins Barthaar rannen. Während er den Hut wieder aufsetzte, bemerkte er noch: »Meine Wohnung ist Ihnen bekannt. Verständigen Sie gefälligst Ihre Herren Sekundanten, daß die meinen um acht Uhr abends in meiner Wohnung ihres Besuches gewärtig sein werden.«
Auch Emil stand auf. Der andere grüßte und ging gemessenen Schrittes auf die andere Seite der Straße. Emil, der mit einer leichten Verbeugung dankte, setzte sich wieder und griff mechanisch nach der Tasse schwarzen Kaffees, der noch unberührt vor ihm stand. Er trank und wunderte sich, daß er noch ganz warm war. Dann wollte er seine Zigarre frisch anzünden, sie brannte noch. Er fühlte, wie sein Herz klopfte, wie seine Beine zu zittern begannen, und er schämte sich. Nun wollte er fort, seine Sekundanten suchen. Leutnant Fechner von den Achter-Husaren und Doktor Willner hatte er dazu ausersehen. Es fiel ihm ein, daß er dem Kellner noch nicht gezahlt habe. Morgen, dachte er einen Moment lang. Da fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf, daß es vielleicht kein Morgen früh für ihn gäbe. Es war ihm, als könnte er sich von seinem Sessel nicht erheben. Er sah ihn sich gegenüberstehen mit der Pistole in der Hand. Wer wird den ersten Schuß haben? Unwillkürlich schwebte ihm ein Bild aus einem Witzblatte vor, wo zwei Duellanten abgebildet waren, die beide mit Pistolen, beide zugleich getroffen, der Länge nach auf den Boden hinfallen. Er versuchte sich auf den Witz zu besinnen, der unter dem Bilde stand. Doch es gelang ihm nicht. Jene zwei Leute erhoben sich am Nebentische und gingen in den Kaffeehaussaal, während einer sagte: »Also eine Partie Karambole. Ich gebe dir zehn vor.«
Kann man heute Billard spielen, dachte Emil. Es kam ihm sonderbar vor. Jetzt erschien der Kellner, offenbar hatte Emil ihn gerufen, ohne etwas davon zu wissen. Er zahlte seinen Kaffee und stand auf »Wenn Doktor Willner kommt, möge er auf mich warten, auch Leutnant Fechner.« Dann warf er seine Zigarre weg, die ihm nicht mehr schmeckte, und ging auf die Straße. Die Steine waren hart, die Füße schmerzten ihn. In einem Fiaker fuhr eine Schauspielerin an ihm vorüber, er mußte einen Moment stehenbleiben und sah dem hübschen Weibe voll und starr ins Gesicht. Er hätte aufschreien mögen. Jetzt erst dachte er an Annette...
Am nächsten Tage stand nur einer von Annettens Männern an ihrem Grabe. Der rechtmäßige! Der andre lag mit durchschossener Brust auf der Bahre. Auf der Stelle war er tot hingesunken, in das hohe, weiche Gras, und der Leutnant von den Achter-Husaren hatte ihm die Augen zugedrückt.
»Mein Lebtag werde ich daran denken«, erzählte der am Abend seinen Kameraden im Kaffeehaus, »wie ich mit dem Toten in einem Fiaker mit herabgezogenen Rouleaux nach Wien zurückfahren mußte, weil kein anderes Fahrzeug zu finden war. Es war schauerlich. Das Blut auf seinem Hemde trocknete ein, und ich mußte den Kopf immer halten, damit er nicht vornüber sänke.«
Alle schwiegen und waren ernst. Es kam ihnen vor, als ob die Gasflammen trüber brannten und der Cognac kein Feuertrunk wäre wie sonst. Auch das Pferdebahngeklingel auf der Straße klang müde und traurig.