Heinrich Seidel
Eine Weihnachtsgeschichte
Heinrich Seidel

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Heinrich Seidel

Eine Weihnachtsgeschichte

Aus: Heimatgeschichten, Stuttgart und Berlin o. J.

Es hatte vierzehn Tage lang gefroren wie in Sibirien. Auf dem höchsten Berg im Lande saß der alte Wintergreis mit seinem bläulichen Gewande und seinem lang hinstarrenden Schneebart, und ihm war so recht behaglich zumute, wie einem Menschengreise, wenn er hinter dem Ofen sitzt und das Essen ihm geschmeckt hat und alles gutgeht. Zuweilen rieb der alte Winter sich vor Vergnügen die Hände – dann stäubte der feine, schimmernde Schnee wie Zuckerpulver über die Erde; bald lachte er wieder still vor sich hin und es gab Sonnenschein mit klingendem Frost. Der schneidende Hauch seines Mundes ging von ihm aus, und wo er über die Seen strich, zerspaltete das Eis mit langhindonnerndem Getöse, und wo er durch die Wälder wehte, zerkrachten uralte Bäume von oben bis unten.

»Habe Erbarmen, alter Wintergreis!« flehte ich, »und laß ab, denn es ist Weihnachten und ich muß pelzlos nach Hause reisen.« Der Alte fühlte ein menschliches Rühren, lehnte sich mit dem Rücken gegen die uralte Eiche, die auf dem hohen Berge steht, schloß die Augen und drusselte ein wenig. So gelangte ich denn ohne Gefährde in meine Vaterstadt zu meiner Mutter. – Wohl dem, der noch eine sichere Stätte hat in der weiten Welt, wo er sich geliebt weiß, wo die treuen Augen der Mutter auf ihn sehen, die schon voll Liebe auf ihm ruhten, als er noch klein und hilflos auf ihrem Schoße spielte. – Da bin ich wieder in den kleinen, wohlbekannten Zimmern, und die freundlichen Augen werden nicht müde, mich zu betrachten; ich muß erzählen, wie es mir ergangen ist, und auch das Kleinste ist dabei nicht zu unwichtig. Dann stürmt mein Bruder Hermann ins Zimmer, der Primaner und Naturforscher, und kaum hat er mich begrüßt, so erzählt er schon: »Du, Eduard, die Eislöcher auf dem großen See wimmeln von nordischen Enten, die hier überwintern, und am Schloßgartenbach habe ich wieder Eisvögel beobachtet.« – Polly, der braungefleckte Wachtelhund, ein außerordentlich gebildetes Tier und Zögling meines Bruders, springt in ausgelassener Wiedererkennungsfreude an mir empor und muß sofort seine neuerlernten Künste zeigen. Dann kommt auch Murr, der weiße, gelbgestreifte Kater, reserviert wie Katzen sind, leise gegangen und reibt sich schnurrend an meinem Knie, auch er hatte mich nicht vergessen. Er hat Menschenverstand, wie meine Mutter sagt, und wenn er zuweilen des Abends würdevoll mit dem um die Vorderfüße geringelten Schwanz auf der Sofalehne sitzt und einen der Sprechenden nach dem andern aufmerksam anblickt, so ruft meine Mutter oft plötzlich, wenn von Geheimnissen die Rede ist: »Sprecht doch leise, der Kater versteht ja alles!« – Und von Geheimnissen wimmelt das Haus jetzt förmlich; da erscheint Paul, der Jüngste, der Obertertianer, der noch gar nicht weiß, daß ich gekommen bin, plötzlich in der Tür, etwas leicht in Papier Geschlagenes in der Hand tragend. Aber kaum hat er mich erblickt, als er, statt mich zu begrüßen, voll Entsetzen wieder hinausspringt und erst nach einiger Zeit ohne das Paket mit vergnügtem Lächeln wieder zurückkehrt. »Feine Schlittschuhbahn«, lautet sein Bericht, »wir sind gestern schon nach Nußwerder gelaufen, der große See ist ganz zu.«

Dann wird alles revidiert im ganzen Hause, das Alte, ob es noch das Alte ist, und dann das Neue. Alle die bekannten Ecken und Eckchen, aus denen die Erinnerung lächelt, die alten Bücher, aus denen dem Kindersinn der Zauber der Dichtung emporblühte. Selbst der Garten wird aufgesucht, und dann geht es den Gang zwischen bereiften Hecken hinunter zum See, der weit in seiner glänzenden Eisdecke schimmernd daliegt, denn hier hat es gar nicht geschneit, und es ist eine Schlittschuhbahn wie selten. Ich probiere einmal vorläufig das Eis, und dann geht es wieder zurück zu den Stübchen meiner Brüder. Dort sind Hermanns selbst erzogene afrikanische Finken zu bewundern, ausländische Schildkröten und Molche und andere naturhistorische Errungenschaften. Paul hatte aus Holz gesägte Sachen vorzuzeigen, und eine heimliche Zigarrenspitze, deren vorzügliche Angerauchtheit, und eine unerlaubte Pfeife, deren echten Weichselholzgeruch ich bewundern muß.

Dann kommt nun der Weihnachtsabend selber, und mit ihm die gute Tante Amalie, die mich schon so oft auf die Strümpfe gebracht hat, denn sie strickt mir immer so schöne, warme, und ihr Dienstmädchen trägt einen höchst verdächtigen Korb, und mit Tante Amalie kommt Cousine Helene, meine kleine Feindin. Sie ist nun eigentlich kaum meine Cousine, denn die Verwandtschaft ist so künstlich, daß Tante Amalie fünf Minuten braucht, um sie auseinanderzusetzen, und ich sie noch nie begriffen habe. Aber wir nennen uns Cousine und Vetter und du, denn wir kennen uns schon von der Zeit an, als Tante Amalie die kleine zehnjährige Waise zu sich nahm, und das ist nun gerade acht Jahre her. »Kinder, vertragt euch!« ist das erste, was Tante Amalie zu uns sagt; sie weiß aus Erfahrung, daß es dieser Warnung bedarf, denn wir stehen im allgemeinen auf dem Kriegsfuß. »O, ich werde schon mit ihm fertig!« sagt Helene mit einem kleinen Trotzblick, der wenig Gutes verspricht.

Die Mutter und Tante Amalie verschwinden zu heimlichen Vorbereitungen in den Festgemächern, und ich petitioniere ebenfalls um Zulassung, da ich – mit einem Blick auf Helene – doch nicht mehr zu den Kindern zu rechnen sei. »Nehmt den alten Meergreis nur mit«, meint sie, aber es wird mir nicht gestattet. »Schenkst du mir denn auch etwas, Helenechen, mein Schwänechen?« frage ich mit einem alten Kinderreim. Sie ist immer schlagfertig: »Ich schenke dir kein Tränechen, doch Tante Malchen schenkt dir was für deine langen Benechen«, sagt sie schnippisch. – »Ich weiß auch gar nicht«, läßt sich der biedere Paul vernehmen, »ihr hackt euch doch immer, wo ihr euch seht.«

»Du ahnungsvoller Engel, du«, meint Helene und streichelt sein würdiges Haupt. – »Hast du schon mal einen Engel gesehen«, fragt Hermann nun ironisch, »der karierte Hosen anhat und heimlich Zigarren raucht?« – »Ihr seid schrecklich, alle miteinander«, sagt Helene, »ist das eine Weihnachtsstimmung und sind das Weihnachtsgespräche?« »Das ist nur äußerlich«, meine ich, »innerlich, da sind Lichter in unseren Herzen angezündet, und das Gemüt ist voll Weihnachtsduft.«

»Um Gottes willen!« seufzt Helene.

Das Klavier steht geöffnet. »Laßt uns singen«, bitte ich. – Helene sieht mich fast dankbar an: »Aber was denn?« – »Unser Weihnachtslied: ›Morgen, Kinder, wird's was geben, morgen werden wir uns freun‹.« Und nun wird es gesungen, das alte harmlose Lied, das eigentlich gar nicht mehr paßt, da dies »Morgen« schon heute ist. Dann singt Helene mit ihrer klaren Stimme: »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit . . .« und dann: »Es ist ein Ros' entsprungen . . .« und dann mit einmal tönt die Glocke, und der Moment, der so manches Mal mein Herz mit süßem Schauer erfüllt hat, ist da.

Der Weihnachtsbaum, mit Silber- und Goldketten, Fähnchen, Netzen und Sternen und mancher verlockenden Frucht behangen, strahlt mir entgegen, ach, nimmer so herrlich wie einst, da sein Glanz durch das ganze Jahr einen wärmenden Schein breitete und schon lange vorher beim Ausblasen einer Wachskerze das Herz in süßem, ahnungsvollem Schauer erbebte: »Es riecht nach Weihnachten.«

Wir suchen nun jeder den Ort, wo ihm die Liebe etwas aufgebaut hat. Selbst Polly und Murr sind nicht vergessen. Jenem ist unter dem Tisch auf einem Schemelchen die delikate Knackwurst in einem Kranz von Pfeffernüssen zugedacht und ein eigenes Lichtlein dabei angezündet. Der würdige Kater dagegen findet seine Bescherung auf seinem Lieblingsplatz, dem Fensterbrett. Sie besteht in einem Schälchen Milch und einem Halsband mit seinem Familiennamen, von Helenens kunstfertiger Hand gestickt. »Es ist eigentlich unchristlich für so unvernünftige Tiere«, sagt Tante Amalie, aber sie lächelt doch im stillen darüber. Das heimliche Paket, das Paul vorhin so schnell verbarg, gibt sich als ein aus Holz künstlich gesägter Gegenstand zu erkennen, der in Gestalt eines luftigen Schweizerhäuschens meiner Taschenuhr zum nächtlichen Wohnplatz dienen soll. Er hat überhaupt diesen Industriezweig auf alle Anwesenden ausgedehnt. Tante Amalie meint: »Du hast uns wohl alle besägt.«

Plötzlich wird die Tür aufgerissen, und die zu einer unnatürlichen Tiefe verstellte Stimme des Dienstmädchens läßt sich vernehmen: »Julklapp!« und ein in Papier gewickelter Gegenstand fällt ins Zimmer. »An Eduard« ist's adressiert. Viel Papier fliegt hastig abgerissen zu Boden, und Helene macht sich durch eine schlecht verhehlte Spannung verdächtig. Endlich kommt ein zierlich in Perlen gesticktes Hausschlüsselfutteral zum Vorschein. »Von dir, Helene?«

»Nur aus Bosheit«, ist die Antwort, »weil ich weiß, daß du gestickte Sachen verabscheust.«

»Das mußt du anerkennen«, sagte Tante Amalie, »es ist eine sehr mühsame Arbeit, sie hat drei Wochen daran gearbeitet.« – »Ach, nicht doch«, meint abwehrend Helene. – »Ich will es dir zu Ehren alle Abende benutzen«, sage ich. – Dagegen protestiert nun aber die Mutter: »Was, ihr wollt meinen Ältesten auf Abwege bringen?!« – Wieder geht die Türe auf, wieder eine andere Nuance von Dorotheas wandelfähigem Organ: »Julklapp!« und eine große Kiste wird hereingeschoben mit der Adresse: »An Helene.« Diese sieht mich voller Verdacht von der Seite an. »Darin ist gewiß eine große Schändlichkeit von dir«, meint sie, »ich mache es gar nicht auf«, aber sie hat schon den Deckel der Kiste abgeschoben. Ein mächtiges Paket, in Papier gesiegelt, kommt zum Vorschein. Aus dem Papier entwickelt sich eine zweite Kiste. Helenchen wird ganz aufgeregt, denn in dieser Kiste steckt wieder eine und so fort, die Papiere fliegen umher, und das ganze Zimmer steht voll Kisten. »Es ist abscheulich«, sagt Helene, »gerade wie in dem Märchen von der alten Frau, die ein Haus hatte und in dem Hause eine Kammer und in der Kammer einen Schrank und in dem Schrank eine Kiste und in der Kiste wieder eine Kiste und so fort und in der letzten eine Schachtel und so weiter, und in der letzten kleinsten Schachtel war ein Papierchen, und in dem Papierchen wieder ein Papierchen und in dem allerletzten Papierchen ein Pfennig, der war ihr einziges Vermögen.« Endlich kommt ein runder, in Seidenpapier gewickelter Gegenstand zum Vorschein. »Nun geht's los!« rufen alle. Es ist aber nur eine runde, große Apothekerschachtel. Das Seidenpapier fliegt, eine Schachtel nach der andern kommt hervor, die Spannung wird fast unerträglich. Endlich in der zehnten Schachtel ein kleiner schwerer, in Papier gewickelter Gegenstand. »Das ist der Pfennig!« ruft Helene, »die gute, alte Frau schenkt mir ihr ganzes Vermögen zu Weihnachten!« Es ist aber kein Pfennig, sondern ein kleines, zierliches, goldenes Kreuz an einer feinen Kette. »Gerade wie ich es mir gewünscht habe!« ruft Helene verwundert, und ein fragender Blick trifft mich. Ich nicke und mit einem Male hat sie meine Hand mit ihren beiden erfaßt und schaut mir herzhaft in die Augen. »Ich danke dir, Eduard.« – »So freundlich hast du mich lange nicht angesehen, Helene.« – »Wenn du immer ein artiges Kind bist«, antwortete sie, »so wirst du noch öfter freundlich angesehen.«

»Julklapp!« tönt es wieder in Dorotheas höchsten Fisteltönen; sie sucht uns offenbar einzubilden, daß sich ein ganzes Heer von verschiedenen Geschenkspendern draußen ablöst. Da man jedesmal vor dem Julklappruf die Haustürklingel hört, so habe ich sie sogar im Verdacht, daß sie zur größeren Wahrscheinlichkeit ihrer oratorischen Darstellung jedesmal die Treppe hinabläuft, zuvor einen Eintretenden zu fingieren. – Die Julklappen nehmen endlich ein Ende, und Dorothea tritt nun selber ein, ganz rot im Gesicht von der Anstrengung, aber harmlos, als wisse sie von nichts, um auch ihr bescheidenes Weihnachtstischchen aufzusuchen.

Allmählich brennen die Wachskerzen nieder, und eine nach der andern erlischt knisternd in dem Nadelwerk des Baumes. Nach der festlichen Aufregung ist eine beschauliche Stille eingetreten. Die beiden Jungen haben sich über die bescherten Bücher hergemacht und blättern vorkostend darin umher. Im Nebenzimmer hört man die Stimmen der Mutter und der Tante Amalie, die im Hinblick auf das morgige Festgericht in einen interessanten Meinungsaustausch über die Anwendung von saurer Sahne verwickelt sind. Polly und Murr liegen wohlbehaglich an ihren Lieblingsplätzen, im innersten Gemüt befriedigt, ihre Weihnachtsbescherung verdauend, und ich habe mich in meine dunkle Weihnachtslieblingsecke auf den Lehnstuhl hinter dem Tannenbaum zurückgezogen. Dort schweifen meine Blicke bald in das grüne, nur noch stellenweise beleuchtete Geäst des Weihnachtsbaumes nach den niederbrennenden Lichtern, bald nach Helenen, die, noch immer vor ihrem Weihnachtstische stehend, nach Mädchenweise stets von neuem die Geschenke und Geschenkchen zierlich ordnet und eingehend betrachtet. Sie steht abgewendet von mir, und nur zuweilen bei einer Bewegung zeigt sich das zierliche Profil ihres Gesichtes. Die kleinen widerspenstigen Löckchen, die sich nicht dem allgemeinen Gesetz der Haartracht fügen wollen, umgeben wie ein goldener Schimmer das Köpfchen.

Da knistert wieder eines der Lichter am Baume in die Nadeln, ein kurzes Aufleuchten, und es ist erloschen; das ganze Zimmer ist schon von dem Weihnachtsduft der Nadeln und Lichter erfüllt. Meine Blicke wenden sich wieder zu Helene. Sie blättert gerade in einem kleinen Büchlein, das ich ihr für ihre Mädchenminiaturbibliothek geschenkt habe. Meine Gedanken fangen an, eigentümliche Wege zu gehen. Es ist wieder Weihnachten, und ein blitzender, strahlender Tannenbaum aufgebaut, und zwei Menschen stehen davor Hand in Hand und schauen sich in die Augen, aus denen es noch viel schöner leuchtet, denn das Glück schimmert daraus hervor. Und merkwürdig – diese zwei Menschen sind Helene und ich. Und meine Phantasie arbeitet weiter, denn die Phantasie tut nichts halb, und ich höre ganz deutlich das Blasen von Kindertrompeten und das Stampfen von kleinen Steckenpferdreiterbeinchen und glückseliges Kinderlachen . . .

»Eduard, du schläfst wohl?« fragt Helene plötzlich. – »Ich träume nur«, antworte ich mit einem halben Seufzer. – »Kinder, kommt zum Essen!« ruft die Mutter aus dem Nebenzimmer.

 

Am zweiten Weihnachtstag war ich zu Mittag bei Tante Amalie eingeladen, und nachher wollten Helene und ich auf den großen See zur Einweihung der neuen Schlittschuhe, die sie zu Weihnachten bekommen hatte. Aus den kleinen, zierlichen Zimmerchen der Tante stiegen neue Kindererinnerungen hervor. Ich kannte dort alles, das feine, geblümte Porzellan, die alten Kupferstiche an den Wänden, die alte, schwarze Rokokouhr mit dem Sensenmann, die eine so sonderbare Gangart hatte, daß man alle Augenblicke meinte, sie müsse stillestehen, die alten verblichenen Stickereien und die hundert zierlichen Kleinigkeiten auf der Spiegelkommode. Am Fenster standen dieselben Lieblingsblumen, und derselbe feine Duft herrschte in dem Zimmer, der mich als Kind schon immer so feierlich stimmte und der mir in der Fremde, wenn ich ihm begegne, unwiderruflich meine gute Tante vor Augen zaubert.

Nach Tische zog ich Helene das enganschließende Pelzjäckchen an und hüllte den Kopf in eine blauseidene Kapuze, aus deren weißem Schwanbesatz das frische Gesicht mit dem blonden, widerspenstigen Löckchenkranz gar anmutig hervorschaute.

»Was siehst du mich denn so an?« fragte sie plötzlich.

»Ich freue mich über meine hübsche Cousine«, antwortete ich. – Ihr stieg ein klein wenig Rot in die Stirne, und sie sprach rasch: »Du gewöhnst dir wohl auf deine alten Tage das Schmeicheln an.«

Wir gelangten nach kurzem Wege an den See. Der alte Wintergreis auf seinem hohen Berge schlief noch immer. Es war noch nicht Tauwetter, allein durch die Stille der Luft erschien es wärmer, als es war, und die Sonne hatte am Tage so viel Macht, daß sie die gefrorene Erde an der Oberfläche auftaute.

»Wir laufen doch zum Nußwerder?« fragte Helene, als wir die Schlittschuhe angeschnallt hatten.

»Wie du willst!« war meine Antwort, »die Bahn ist ja noch weiter abgesteckt.«

Unterdes hatten wir uns in Bewegung gesetzt und waren auf die breite, mit Büschen und Stangen angedeutete Bahn gelangt, die jedes Jahr abgesteckt wurde, um einen ungefährlichen Weg zu den beliebten Vergnügungsorten zu bezeichnen.

»Wir bleiben doch nicht auf der langweiligen Bahn?« fragte Helene, und ihre Blicke schweiften über die weite, schimmernde Eisfläche hinaus.

Plötzlich ward ein fröhliches Stimmengewirr hinter uns hörbar, und brausend kam ein Schwarm von Schülern herangefahren und zog, die Mützen schwenkend, an uns vorüber. Ein einzelner sonderte sich von ihnen, es war Hermann.

»Ich wollte dir nur sagen, Eduard, geht lieber nicht nach den Entenlöchern und weicht überhaupt nicht weit von der Absteckung ab. Es sind viele von den Vögeln eben verlassene Stellen da, die nur ganz leicht überfroren sind und sich sehr wenig von dem übrigen Eis unterscheiden. Es tut mir nur leid, daß ich jetzt mit meinen Kameraden laufen muß, sonst würde ich euch gern dahin geleiten, ich weiß genau dort Bescheid, denn ich habe manche Stunde daselbst mit dem Fernrohr zugebracht und nach den Enten gesehen. Morgen können wir ja einmal zusammen dorthin laufen!« – Damit eilte er mit doppelter Geschwindigkeit den übrigen nach, und bald hatte ihn das schwarze Häuflein wieder eingeschlungen.

Wir glitten eine Weile schweigend dahin. Manchmal schaute ich seitwärts auf Helenens zierliche Gestalt, wie sie so ebenmäßig und anmutig dahinfuhr und wie der Luftzug die Kleider an die schönen Linien ihres Körpers schmiegte. Endlich standen wir eine Weile. Vor uns lag Nußwerder noch in ziemlicher Entfernung, von feinem, violettem Duft des Winters angehaucht; seitwärts über den See hinaus erblickte man in der Ferne eine dunkle Linie über dem Eise, und darüber schwärmte es ab und zu von unzähligen Möwen.

»Da sind die Enten«, sagte Helene, »ich möchte sie gar zu gerne einmal in der Nähe sehen.«

»Du hast ja gehört, was Hermann sagte«, antwortete ich. »Komm, in einer Viertelstunde können wir auf Nußwerder sein.«

»Ich fürchte mich gar nicht«, sagte Helene, indem sie einen kleinen, zierlichen Bogen schlug, und mir dann gerade ins Gesicht sah; »du bist doch ein rechter Sicherheitskomissarius.«

»Ich für meinen Teil würde mich nicht scheuen, das weißt du auch recht gut, Helene, ich bin noch im vorigen Jahre allein dort gewesen und kenne den See, allein ich darf es jetzt deinetwegen nicht, ich bin dafür verantwortlich, wenn ein Unglück geschieht.«

»Ich brauche deine Verantwortlichkeit gar nicht«, sagte sie, verächtlich das Köpfchen aufwerfend, »und es nützt dir auch gar nicht, deine Furchtsamkeit durch solche Gründe zu bemänteln. Wenn du nicht mitwillst, so laufe ich allein!« Und damit setzte sie sich langsam in Bewegung. – »Helene!« rief ich. – Sie wandte sich um und sah mich spöttisch an. »Willst du mitkommen? Ich ziehe dich heraus, wenn du ins Wasser fällst.«

»Du kränkst mich mit Absicht, Helene«, sagte ich ruhig, »und das ist nicht schön von dir. Ich gebe nach, aber nur unter einer Bedingung, die du mir nicht verweigern wirst. Ich bleibe stets zehn Schritte vor dir, damit ich dich in genügender Sicherheit weiß.«

Ihr Auge leuchtete plötzlich auf, jedoch antwortete sie nicht, sondern neigte nur bejahend das Haupt, und wir setzten uns in der verabredeten Weise in Bewegung.

Es war nun doch eine Verstimmung zwischen uns, und niemand wollte anfangen zu reden.

Das Eis war glatt und jungfräulich, wo wir liefen, und von jenem dunklen Glanz, der auf die Tiefe des Wassers deutet. Rings war es still bis auf das unablässige Geräusch der Schlittschuhe; nur zuweilen ging ein klingendes Hallen durch die Eisfläche, oder ein Eisstückchen, von leisem Luftzug getrieben, klirrte vorüber. »Sieh einmal«, sagte Helene plötzlich und hielt an, indem sie auf den Grund deutete. Es war eine flachere Stelle des Sees, und durch die klare Eisdecke konnte man bis auf den weißen Sandgrund sehen und die feinen, gefiederten Wassergewächse deutlich erkennen. Zuweilen sah man große Fische vorüberhuschen. Ich bemerkte eine heimliche Ängstlichkeit in Helenes Zügen, denn dieser Anblick des tiefen Grundes, von dem man nur durch eine durchsichtige Decke getrennt ist, hat für den Ungewöhnten etwas Schauerliches.

Wir waren den Enten schon ziemlich nahe gekommen und hörten nun deutlich ihr wirres Geschnatter und das Schreien der Möwen. Nicht weit von uns bemerkte ich den sogenannten »Großen Stein«, einen mächtigen Granitblock, der aus dem Wasser hervorragt und den Kahnschiffern als Wahrzeichen gilt, denn die Gegend um ihn herum ist voller Untiefen. Indem wir darauf zuhielten, trafen wir auf die erste offene, von den Enten bereits verlassene Stelle und umfuhren sie in weitem Bogen. Zugleich erhob sich in der Ferne mit Geschrei und gewaltigem Flügelschlagen eine Anzahl der Vögel und ging in brausendem Flug über den See zu anderen offenen Stellen, die etwa eine Meile weiterhin gelegen waren. Bei dem Großen Steine angelangt, standen wir und sahen dem Wirren und Schwirren zu. Die ziemlich große Wasserfläche war bedeckt mit Tausenden von nordischen Enten, vorwiegend Schnell- und Eisenten, die hier, unseren Norden als ihren Süden betrachtend, Winterquartiere bezogen hatten. Eine große Anzahl von Möwen tummelte sich zwischen ihnen, aus der Luft auf das Wasser niederstoßend, oder wie helle Punkte zwischen den dunklen Enten schwimmend. In der Nähe auf dem Eise saß ein großer Vogel, zwischen den Klauen mit dem Schnabel etwas zerpflückend, daß die Federn davonstoben. »Siehst du den Seeadler?« sagte ich zu Helene, »der hat jetzt leichtes Spiel, er braucht nur zuzustoßen, wenn er Hunger hat.« Unterdessen war ihm wohl unsere Nähe unheimlich geworden, denn plötzlich erhob er sich und flog mit gewaltigen Flügelschlägen über den See dem Lande zu.

Wir hatten eine ziemliche Zeit dort gestanden und, mit dem Betrachten der Enten beschäftigt, auf nichts weiter geachtet, und so fiel es mir jetzt auf, als ich dem Seeadler nachblickte, daß das gegenüberliegende Ufer, das wir vorhin deutlich gesehen hatten, ganz in bläulichem Dämmer verschwunden war. Ich schaute mich um nach Nußwerder – nur noch wie ein matter Schein zeichnete es sich in die dicke Luft, und mit einem Male fing es an, ganz leise und sanft zu schneien.

»Helene!« rief ich, »wir müssen schnell fort, denn wenn der Schnee stärker wird und unsere Spur verdeckt, so können wir uns leicht verirren.«

Wir machten uns nun schnell auf, die Spur der Schlittschuhe auf unserem Herwege verfolgend. Langsam und stetig mehrten sich die Flocken, und kaum waren wir eine kurze Strecke vorwärts gelangt, so war das Eis von dem Schnee leicht bedeckt und die Spur verloren. Wir hielten an und schauten nach der Bahn aus. Aber nichts war ringsum zu sehen, überall nur das leise, stetige Niedersinken der großen Flocken, das sich weiterhin in einen weißen, wimmelnden Dämmer verlor. Ich schlug auf Geratewohl die Richtung ein, in der ich die Bahn vermutete, und dann ging es wieder vorwärts. Nach einer Viertelstunde war nichts erreicht, wir mußten diese Richtung verfehlt haben. Wir standen nun und horchten, ob nicht ein Laut uns zu Hilfe komme. Aber es war ringsum so totenstill, daß man das leise Geräusch der fallenden Flocken vernehmen konnte. Nun mehrte sich auch schon der Schnee und fing an, beim Laufen hinderlich zu werden, und das Schlimmste war, daß die Gefahr der unsicheren Stellen durch die gleichmäßig alles verhüllende Schneedecke verdoppelt ward. Wir glitten nach einer anderen Richtung vorsichtig weiter. So irrten wir eine Weile umher, und ich bemerkte, daß Helene anfing, müde zu werden. Plötzlich sah ich etwas Dunkles vor mir aus dem Schnee ragen, und da waren wir wieder bei dem Großen Stein; wir waren richtig im Kreise gelaufen.

Während wir eine Weile ruhten, fiel mir plötzlich eine Bemerkung ein, die ich vorhin gemacht hatte. Es war mir aufgefallen, daß die Entenkolonie, der Große Stein und Nußwerder in einer geraden Linie lagen, danach konnte man die Richtung bestimmen. Gelang es uns, diese gerade Linie einzuhalten, so mußten wir unbedingt auf Nußwerder treffen, von wo aus die Bahn mit Leichtigkeit zu erreichen war.

Wieder glitten wir in den Schnee hinaus, Helene immer etwa zwanzig Schritt hinter mir. Als wir eine Weile gelaufen waren, glaubte ich vor mir in dem Schneegewimmel etwas Dunkles ragen zu sehen wie die Umrisse von Bäumen. Unwillkürlich vermehrte ich meine Schnelligkeit, da plötzlich ertönte hinter mir ein gellender Schrei, und als ich mit scharfem Ruck meinen Lauf anhielt, ward ein Knistern und Senken zu meinen Füßen bemerkbar, das mir kaum Zeit ließ, in schneller Wendung zurückzutaumeln. Wie erstarrt stand Helene hinter mir. Ich sah sie wanken und eilte, sie in meinen Armen aufzufangen. Dann blickte ich unwillkürlich zurück und sah jenen kleinen dunklen Wasserfleck, der in der fast zugefrorenen Öffnung noch frei geblieben war und Helenen zu dem Warnungsruf veranlaßt hatte. Sie lag an meiner Brust und schluchzte leise. »Helene«, tröstete ich, »es ist ja alles gut.« Sie schlang plötzlich den Arm um mich und rief leidenschaftlich: »Ich will dich nie wieder necken, Eduard, niemals wieder!«

Ich fühlte die schöne Gestalt in meinen Armen, ihr Busen wogte an meinem, und ich beugte mich zu ihr nieder und fragte sie leise: »Auch dann nicht, Helene, wenn wir immer beieinander sein werden, immer?« Sie hob fast verwundert den Kopf und schaute mir fragend in die Augen. Dort mochte sie wohl die richtige Deutung lesen, denn langsam stieg ein Rot in ihrem reinen Antlitz auf, und sie verbarg es wieder an meiner Brust. Es war eine kleine Pause, indes ich sie sanft an mich drückte. »Auch dann nicht«, flüsterte sie leise.

Wir hatten beide vergessen, daß wir verirrt in der großen Einsamkeit des Schneegestöbers standen; was kümmerte uns, daß wir den Weg verloren hatten, hatten wir doch den schöneren zu unseren Herzen und zu unseren Lippen gefunden!

»Eduard – Helene – Eduard!« rief es plötzlich aus der Ferne, und fast erschreckt fuhren wir auseinander. Und wieder rief es, ich erkannte die Stimme meines Bruders. Ich gab Antwort, und ein vielstimmiges Jubelgeschrei war die Folge. Dann nach einer Weile sah ich die dunkle Gestalt Hermanns aus dem Schnee hervortauchen, und weiterhin kam dann eine zweite Gestalt und eine dritte und so fort, alle, wie ich beim Näherkommen bemerkte, an ein langes Seil aufgereiht, an das sie sich in Zwischenräumen verteilt hatten, während der letzte Flügelmann die Bahn innehielt. Sie hatten uns von dem hochgelegenen Wirtshaus, das sie besucht hatten, zufällig mit dem Fernrohr beobachtet und wußten, daß wir vom Schnee überrascht, auf dem Eise sein mußten. So hatten sie denn die lange Wäscheleine des Wirtes requiriert, um uns mit Sicherheit aufsuchen zu können.

Als wir zu Hause bei der Mutter, die uns schon mit Sorgen erwartet hatte, anlangten, rief Hermann, der unterwegs eingeweiht war, durch die Tür übermütig hinein: »Julklapp!« und Helene und ich traten Hand in Hand ins Zimmer. Ein Blick der Mutteraugen genügte, und ihre Arme umschlossen uns beide. »Mein Lieblingswunsch«, sagte sie glücklich, »und ihr bösen Kinder habt euch so angestellt? Und was wird Tante Amalie sagen?«