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Keine Schmerzen hatte sie mehr, als sie, weiß umhüllt, auf der Tragbahre lag, um in den Operationssaal gebracht zu werden. Sie empfand nur ein fremdes, ein stürmisches Mitleid mit ihrem armen Körper, aber so, als wäre es nicht ihr eigener, sondern der Leib einer andern Frau. Während man sie an irgend einem Spiegel vorbeitrug, erhaschte Gabriele einen Schein von ihrem Gesicht, von ihrem Kopf, den eine weiße Binde (wie eine Nonnenhaube) umschnürte. Das viele Weiß, fand sie, stände ihr gut. Trotz des furchtbaren Augenblicks überkam sie ein leidvolles Wohlgefallen an sich selbst:

›Jetzt bin ich nicht schlecht angezogen. Vielleicht würde auch Judith nichts einzuwenden haben ...‹

Der Assistenzarzt, der den Zug begleitete, glaubte, die Kranke wolle sprechen und könne es nicht. Da ergriff er ihre Hand und streichelte sie. Gabriele schmiegte sich in die Kraftströme, die von dieser gesunden und markigen Hand herfluteten.

Als sie noch Kinder waren, sie und ihr Bruder, hatte Erwins Hand so oft die ihre gehalten. Die unruhige und gierige Knabenhand hatte Gabrieles Hand gedrückt, gepreßt, an ihr genascht, wie an einer Frucht ...

Dieses Arztes harte Hand aber war so ruhig, so zuverlässig. Gabriele atmete tief. Die Hand tat ihr wohl.

Nun lag sie auf dem Schmerzenstisch.

Die Schwestern schlugen vorsichtig die Tücher zurück, mit denen sie bedeckt war:

Wie ein Paket, in dem etwas Zerbrochenes liegt. Sie sah nicht an sich herab, um von dem Furchtbaren nichts zu wissen. Und wirklich, sie wußte jetzt nichts von der Macht, die sie zerschmettert hatte, als wäre das Unglück nicht vor zwei Stunden geschehn, sondern in einer unausdenklichen Vorzeit.

Ihr genügte es, daß sie nur Kopf, nur Gesicht war! Und so klar, so mächtig hatte ihr Kopf noch niemals gelebt. Ganz neu, ganz fremdartig war ihr Gesicht. Gabriele fühlte es und freute sich der neuen Schönheit, die über sie gekommen war. Mit Bildhauerhänden hatten die letzten Stunden das Wesen ihres Wesens, das sie selbst nicht kannte und doch jetzt mit einer stolzen Ehrfurcht spürte, aus ihren Zügen modelliert.

Und dann: Warum hatte sie keine Schmerzen? Sie müßte doch unerträgliche Schmerzen haben! Oder gab es keine Schmerzen in der Welt, sondern nur Angst vor Schmerzen?

Der Professor sah ihr lange und aufmerksam in die Augen, und auch er, der fremde Mensch, der sie das erstemal jetzt sah, er nahm das ›Neue‹ wahr, sie fühlte es, die Verwandlung, die an ihr geschehn. Dieses Neue aber schien ihr unendliche Sympathien zu bringen. Alle hier liebten sie. Der Professor beugte sich zärtlich über sie:

»Haben Sie Angehörige in Berlin, gnädige Frau?«

Gabrieles Augen glitten über die endlosen Schneefelder des Chirurgenkittels. Sie sah Winter. Sie stand in klirrender Landschaft draußen. Alle Berge sind von oben bis unten zugeschneit, mußte sie denken, und es ist doch erst Anfang November. Von einem schwarzen Himmel brannte die Sonne in einer Kugel von Milchglas. Überall kamen Herdenschellen und Schlittenglocken näher ...

Der Professor wiederholte noch zärtlicher seine Frage. Gabriele lächelte ein ihr fremdes Lächeln. Sie dachte nicht daran, ihren Bruder Erwin in diese traurige Sache hereinzuziehn. Er hatte ja anderes vor, in wenigen Tagen fand sein Konzert statt, am Sonntag mußte er Leute bei sich empfangen, und die übrige Zeit war von dem Dienst an Judith völlig ausgefüllt. Sollte sie selbst sterben, würde er es später erfahren, oder vielleicht auch niemals, was ja das Beste wäre. Gabriele sah dem Professor in die Brillen und schwieg.

Der Chefarzt gab seinen Leuten Befehl:

»Lassen Sie im Büro das Telephon- und Adreßbuch nach entsprechenden Namen durchsehn, genau so wie wir es gestern bei den Fällen Statezky und Barber gemacht haben. Die Patientin heißt Gabriele Rittner. Man soll die Polizei noch einmal anrufen. Ich möchte über diesen Fall womöglich genaue Aufklärung haben.«

Gabriele hatte Kraft genug, sich von der Schneelandschaft loszureißen. Wie dumm, dumm sind die Menschen, dachte sie schadenfroh. Warum soll Erwin denn Erwin Rittner heißen? Sie selber hieß ja ungern genug Rittner, obgleich es gewiß schlimmere Männer gegeben hat als den verdorbenen Hofrat Rittner. Das Wort ›Polizei‹ war ihr unangenehm. Plötzlich erschrak sie: Leider habe ich mein Hotel verraten.

Keine Menschenstimme sprach jetzt mehr. Nur Herden und Schlitten wurden immer näher an diesem Tisch vorübergetrieben. Gabriele wollte aber nicht nur ein stummes und hilfloses Opfer sein. Sie wollte wissen, alles wissen ...

Leise versuchte sie ihren Kopf zu heben. Sie sah den Raum. Die Ärzte nahmen tiefernste und schweigsame Waschungen vor. Instrumente wurden auf Glasplatten gereiht. Furchtbare Messer, Zangen, Scheren, Sägen. Überall klirrte gefährliches Metall. Eine zweite Sonne zischte plötzlich nieder.

Da schrie Gabriele auf, das erstemal, nicht sehr laut, als müsse sie bis zum Tode Anstand bewahren. Der Professor stand bei ihr:

»Was ist denn, Kindchen? Nur keine Angst! Es geht ganz schnell vorbei. Sie spüren gar nichts.«

Noch einmal, noch leiser, noch verzagter schrie Gabriele. Sie schrie nicht aus Angst oder Entsetzen, sie schrie, weil sich die Kreatur in ihrer wüsten Einsamkeit zu erkennen geben muß.

Der alte Mann scherzte:

»Gabriele, das ist ein sehr schöner Name. Also Mut, Gabriele!«

Er gab das Zeichen.

Alles war bereit!

Der Assistent trat mit der Maske heran:

»Atmen Sie sehr tief, bitte!«

Ja, sie wollte gerne tief, tief atmen. Nun spürte sie die gute Maske vor dem Mund und gab sich ganz der ernsten Atemarbeit hin. Deutlich zeigte sie ihren Fleiß und war bereit, den Herren durch ihre Dienstwilligkeit zu schmeicheln.

Die Stimme des Professors rollte wie ein milder göttlicher Donner vom Himmel:

»Ich bin neugierig, wie weit Sie kommen werden ... Zählen Sie, Kind, Eins ... Zwei ...«

Nicht das Wort des Professors allein, alles war jetzt Donner. Sie lag in einem hochgewölbten Dom aus Donner:

»Zählen Sie! Eins ... Zwei ...«

Und Gabriele hörte jetzt ihre eigene helle Stimme, die unbekannte, etwas flache Stimme eines aufsagenden Schulkindes:

»... Eins ... Zwei ...«

*

Eins, Zwei, Drei! Eins ..., Zwei, Drei!

Der Zug wechselt seinen Gesang.

Was ist das! Gabriele war ja vor einem Augenblick noch im Gebirge. Einen glatteisbösen Weg hat sie sich emporgemüht. Ein Nachmittagsspaziergang wohl ...

Der Zug schläft nicht mehr im Hinrollen. Energischer, ja zornig durchrüttelt er den werdenden Morgen.

Schnee!? Aber nein, Schnee, das war ja gestern! Dazwischen liegt die Nacht und vor allem das Einschlafen. Eine ganze Weltreise vom Einschlafen. Im Zug schläft man eben nicht anders ein.

Immer häufiger werfen sich donnernde Weichen der Fahrt entgegen. Der tote Boden da unten ist tausendfach unterwühlt.

Natürlich! Der Zug nach Berlin! Aber jetzt läßt sich die Reise nicht mehr ungeschehen machen. Gabriele weiß, sie fährt nach Berlin, um das Unheil zu erleben, an dem sie jetzt in gleicher Stunde vielleicht wird sterben müssen.

Der Tag ist da und die wochenlange Vorfreude, die Erwartung dahin.

Das Graugesicht, das den Fensterplatz innehat, schiebt den Vorhang zur Seite: Nebelfrühe, Kiefern, Bahnwärterhäuschen! Außer ihr haben fünf Menschen noch in diesem verwahrlosten Kupee zweiter Klasse die Nacht, aufrecht sitzend, verbracht. Warum tragen denn diese Menschen alle das gleiche Gesicht? Nicht einmal Mann und Weib läßt sich unterscheiden. Gabriele versucht scharf nachzudenken, ob sie es während der Reise in der Zeitung gelesen habe, daß alle Menschen in der Fremde uns immer das gleiche Gesicht vorweisen.

Jetzt schwanken die Gestalten unter den Stößen der Fahrt hin und her und können nicht recht erwachen. Wozu auch erwachen? Schlafen läßt es sich überall, selbst in der Hölle dieses Geruchs.

Endlich erkennt Gabriele, woher dieses Süßliche und Faulige kommt, das sie schon stundenlang quält: Den Schlafgeruch fremder Menschen, ungereinigter Menschen in einem verwahrlosten Abteil muß sie klaglos erdulden. Sie darf den Atem keineswegs anhalten, denn das Atmen gerade ist ihre Pflicht.

Gabriele sucht die Eau de Cologne-Flasche in ihrem Täschchen. Aber der Flakon ist merkwürdigerweise verschwunden. Dafür ist die Tasche voll von Näh- und Stecknadeln, welche ihr die Hand zerstechen, die sie sofort zurückzieht. Diese Unordnung! Wie soll sie sich nun von dem scheußlichen Geruch befreien?

›Ich rieche Menschenfleisch‹, heißt es im Märchen. Ein Lieblingsausdruck von Erwin übrigens.

Alles ließe sich ertragen, wenn Gabriele nur wüßte, was sie in Berlin will. Warum hat sie Erwins Antwort nicht abgewartet? Gott! Er ist schreibfaul wie alle Künstler. Oder steckt etwas anderes dahinter? Nun ist August schon wochenlang tot. Sie, Gabriele, steht allein in der Welt, sie ist frei und freizügig, denn ihre fünfjährige Erwine zählt nicht. Aber Erwin ist nicht frei und freizügig, er steht nicht allein in der Welt. Er lebt in einer völlig anderen Situation. Aber was soll sie tun? Kann man denn aus dem fahrenden D-Zug springen?

Aus dem fahrenden D-Zug kann niemand springen, aber man kann selbst während der Vorstellung den Zuschauerraum eines Kinotheaters verlassen. Gabriele ist eine Zeitlang überzeugt davon, daß sie in einem stickigen ganz veratmeten Kino sitzt und einen belehrenden Film ertragen muß. Sie ist keine Zeittotschlägerin, sie liebt den Kinogenuß nicht, die schale Sinnlosigkeit des Weibertraumes. Gabriele redet sich willensstark zu, daß sie nicht träume. Das tränende Glas des Waggonfensters, dagegen sie die Stirn preßt, läßt sie erkennen, daß sie wachend im Wagengang steht.

Wie lange fahren wir schon an schmutzigen Ruinen vorbei, an rohen Backsteinburgen, an Riesenhallen mit blinden Fenstern? Und dies ist der Mittelpunkt der Welt! An den räudigen Feuermauern der Bauten dehnen sich ungeheure Schriften, aber Gabriele ist zu müde, all die Namen und Anpreisungen zu lesen. In das endlose Spalier der Feuermauern sind Breschen gelegt. Plötzliche Straßenzüge offenbaren einen regnerischen November, in dem hundert bösgesinnte Fahrzeuge die Menschenmassen zerteilen wie Kielschaum. Brücken starren. Das Wasser der Kanäle aber scheint kein Wasser zu sein, sondern schwarzes Pech, in dem die Zillen und Kähne rettungslos feststecken.

Acht Jahre hat sie ihren Bruder nicht gesehen: Ist dies nicht Grund genug nach Berlin zu fahren! Wann ist sie denn das letztemal mit ihm beisammen gewesen? Im Frontspital von Kolomea damals, als sie den Verwundeten besuchte und bei allen Ärzten und Generälen um seine Versetzung bettelte. Seither war es nur zu kurzer und flüchtiger Begegnung gekommen. Acht Jahre lagen zwischen ihnen und die staubige Luft ihrer Ehe mit August ... Jetzt aber war August tot. Grund genug!

Ein Graugesicht nach dem andern erhebt sich im Kupee und holt seine Gepäckstücke aus dem Netz. Gehässige und rücksichtslose Linien liegen um säuerliche Munde. Nichts bleibt Gabrielen verborgen. Die Nachbarn aber würdigen sie keines Blickes, niemand hilft ihr. Sie ahnt, daß sie für die Nachbarn unsichtbar ist. Mit lahmen Armen langt sie nun selbst ihre Handtasche und ihren kleinen Hutkoffer herunter. Mehr hat sie nicht mit.

Während sie aber ihren braunen Raglan ergreift, fällt es sie an:

»Wird mich Erwin erwarten?«

Zugleich aber weiß sie die Antwort:

»Erwin hat mich nicht erwartet.«

Wie mit Äther überschütten Frage und Antwort ihren Leib. Er verbrennt augenblicklich zu Eis.

»Wieviel Gepäck?«

Ein Träger, böse rollenden Auges, fuchtelt vor Gabrieles Gesicht:

»Eins ... Zwei? ...«

Sie zählt gehorsam:

»Drei ... Vier ... Fünf ...«

Der erbitterte Mann läßt sie stehn.

Der Boden des Anhalter Bahnhofes aber scheint ein Trottoir roulant zu sein. Gabriele, an deren Händen die beiden Habseligkeiten gewichtlos herabhängen, muß ihre Füße nicht bewegen. Und auch all die Graugesichter, deren jetzt viele Hundert sind, müssen es nicht. Die Stadt schluckt die Leute auf bequemste Art mittelst einer Saugvorrichtung ein. Die Graugesichter aber tun so, als müßten sie selber mit schneidiger Kraft weiterstreben, wo doch der ganze Wirbel automatisch besorgt wird. Sie tragen eine angriffsbereite und verdrossene Energie zur Schau, übertrieben sticht ihr Kinn vorwärts und nur ihr Nacken hat Farbe; er ist kindisch-rosarot.

Oh, wie scharf beobachtet Gabriele, trotzdem sie todmüde ist, trotzdem die große Furcht sie unsäglich niederdrückt. Daß Erwin sie nicht erwartet (er steht auch nicht dort, hinter der Sperre), das ist nun selbstverständlich. Man holt die Leute in Salzburg von der Bahn ab oder in Wien. Hier nicht!

Das einzige Wesen unter all diesen Menschen, das nicht mechanisch fortbewegt wird, sondern selbstbewußte Füße zu pochenden Tritten braucht, ist eine Dame, die dem Schlafwagen entstiegen ist. Die Dame trägt einen schweren, kostbaren Nerzmantel, und hinter ihr keucht ein Turm von Gepäckstücken.

Gabriele wendet ihre Sinne nicht von der Pelz- und Parfümwolke, in der die Erscheinung des Weibes schreitet. Könnte es Judith sein?

Etwas fällt ihr schwer aufs Herz. Ihr eigener Mantel, der braune, nicht mehr neue Raglan. Sie schämt sich ihrer armseligen Garderobe.

Die Parfümwolke verwandelte sich in Asphalt- und Benzinqualm.

Der Chauffeur weckt Gabriele:

»Wohin, Fräuleinchen?«

Sie nennt die einzige Straße, die sie kennt, Erwins Adresse: »Hohenzollernstraße.«

Da hört Gabriele neben sich einen befriedigten Ausruf:

»Lassen Sie Hohenzollernstraße notieren, Herr Kollege!«

Der Chauffeur hebt die Stimme, als müsse er mit einer Schwerhöriger verhandeln:

»Die Nummer, Fräulein!?«

Gabriele fürchtet, ein Geheimnis zu verraten. Aber was hilft's, sie hat ja den Befehl bekommen, zu zählen. Sie zählt:

»Eins ... Neun ... Sieben!«

Neuerdings der befriedigte Ruf neben ihr:

»Aufschreiben!«

Der Chauffeur aber, um ihr die Arbeit zu erleichtern, beginnt nun, während des Ankurbelns, Zahlen zu singen, als wär's ein Lied:

»Acht ... Vier ... Zehn ... Sechs ...«

*

Gabriele zieht die Bettdecke bis zum Kinn. Sie hat nicht geschlafen, sondern den Schlaf nur geheuchelt, um seine Verwandten loszuwerden, die sich erboten hatten, der von langer Pflege erschöpften Witwe Gesellschaft zu leisten. Ja, sie hat ein gutes Recht darauf, das Bett zu hüten. Denn vor einer halben Stunde wurde der Hofrat August Rittner abgeholt, um zur ewigen Ruhe gebracht zu werden.

Noch trägt Gabriele ihre eigene einsamkeitshungrige Stimme im Ohr, mit der sie die lauernden Spioninnen gebeten hat, man möge sie allein lassen Und jetzt ist sie allein!

Sogleich springt sie aus dem Bett und dehnt ihre Glieder. Vor einer Minute noch hat sie gedacht, die Trennung von August würde ihr nicht leicht fallen, denn Verlust ist Verlust, wenn auch nur der Verlust einer Gewohnheit. Acht Jahre der Gewohnheit und vierzehn Tage strenge Pflege (was die Pflege anbelangt hat sie sich wahrhaftig nichts vorzuwerfen), dies ist doch schließlich eine Macht. Aber warum ist diese Macht jetzt so gründlich erloschen, daß nichts andres von ihr übrig blieb, als ein herausfordernder Übermut, den Gabriele kaum beherrschen kann?

In ihr pocht das gereinigte Gefühl vollen Anfangs. Das erste, was sie tut ist, daß sie ein Gewand hervorholt, welches sie lange Jahre nicht mehr berührt hat. (Mag die Trauerkleidung weiter über dem Bettsessel hängen bleiben!) Dieses Gewand aber, das Gabriele nun anlegt, ist ein buntes phantastisches Morgenkleid.

In diesem Augenblick fühlt die verwitwete Frau Hofrat Rittner ein gutes Recht, den fließenden und nachlässigen Morgenrock anzulegen. Denn erstens ist ihr Mann tot, der mit dem ungewöhnlichen Charakter dieses Kleidungsstückes nicht einverstanden war, zweitens ist sie noch keine neunundzwanzig Jahre alt und drittens fühlt sie sich allein im Hause, denn sie hat selbst ihre kleine Erwine zu Freunden gegeben, damit die Seele des Kindes den Tod nicht kennen lerne.

Gabriele ist tatsächlich allein im Hause. Die Partei Hainzinger, welche den zweiten Stock bewohnt, beteiligt sich vollzählig am Begräbnis. August ist ein hochangesehener und allseitig beliebter Richter gewesen, wie es sich jetzt zeigt.

Haus! Gabriele ist allein mit diesem Haus, das sie nun durchflattert. Einst hat es ihren Eltern, den frühverstorbenen, gehört. In der Wohnung, wo sie die acht Jahre ihrer Ehe lebte, ist sie als Kind aufgewachsen. Sie hat sich niemals entfernt von ihrer Welt wie Erwin.

An Augusts Sterbezimmer flattert sie vorbei: Man hat es abgeschlossen. Ein scharfer Geruch von Räucherwerk und Desinfektionsmitteln dringt ihr entgegen. War dieses kleine und puritanische Zimmer nicht einmal Erwins Knabenstube?

Sie steht auf der Treppe. Sie sieht hinab. Altes Haus! Ein schmales Schienengeleise führt durch den Eingang, den Flur entlang in den Hof. Seit undenklichen Zeiten befindet sich im Hoftrakt eine Drogenhandlung, die Duftwolke von Kampfer, Gewürzen und Spirituosen herüberweht.

Zierliche Musik pocht und pocht. Die kleinen, hellen Hämmer des Goldschmieds sind's, denen Erwin und Gabriele so oft zugehört haben.

Alles wie eh und je!

Aber für Gabriele ist es nicht wie eh und je, denn seit undenklichen Zeiten, die langen Jahre ihrer Ehe hindurch, ist sie blicklos durch dieses Haus gegangen, eine Fremde ...

Jetzt aber nimmt sie es (das längst verlorene Gut) wieder in Besitz. Jetzt flattert sie die Stiegen hinab und hinan. Ein Wind begleitet ihren Flug. Sie hat ihre Pantoffeln verloren. Es ist ein wundersames Gefühl, mit nackten Füßen kalten Stein und kaltes Holz zu berühren.

An der Familie Hainzinger Wohnung vorbei geht der Flug und hält vor der offenen Tür des Bodenraums. Bodenkammer, Sehnsucht und Schauder jeglicher Kindheit! Aber auch wenn ein Abschnitt des Lebens erledigt ist, will man Ordnung machen und in Schubladen stöbern. Immer wieder Kindheit! Und jetzt hat sie selbst schon ein fünfjähriges Kind.

Leichtfüßig dringt Gabriele in der Dunkelheit vor. Eine Luke erhellt dort das umgitterte Geviert. Ihr beschwingter Leib windet sich zwischen Koffern, Kisten, Kasten, Spiegeln, schwerlos hindurch.

Spiegel! Warum hat man sie nicht verhängt, da doch vor einer Stunde noch ein Toter im Hause lag? Dieser Einfall bedrückt sie ein wenig.

Sie steht nun vor einem Tisch. Und auf diesem Tisch sieht sie staubbedeckt und unversehrt das große Puppentheater, das ihre und Erwins größte Freude gewesen ist. Sie erkennt die Kulissen der einzelnen Stücke wieder, die wilden, knorrigen Baumformen des Waldes und die schwungvollen Draperien der Thronsäle, die sie beide mit der Laubsäge gearbeitet haben. Mit ängstlich gespitzten Fingern, die den Staub der Jahrzehnte fürchten, zieht sie Figuren hervor: Genoveva und Golo, Kaspar, Max und Rinaldo.

Aber unter diese Figuren ist plötzlich eine Photographie geraten. Großmamas Bild. Sie wagt es nicht, in die Augen des Bildes zu blicken, als könnte die photographierte Frau etwas erkennen, was Gabriele nicht verraten will. Auch glaubt sie nicht mehr in der Bodenkammer zu sein, sondern in einem engen, finstern Gartenhaus. Draußen ist das spielende Wasser zu hören. Und dann scheint es, als atme jemand neben ihr. Dies aber ist ungehörig. Mit geschlossenen Augen entspringt sie.

Gabriele findet in ihrem Zimmer die lustigste Nachmittagssonne. Sie läßt die Vorhänge herab. Wie merkwürdig leer ist die Straße! Aber gegenüber stehn Fenster offen, und sie möchte jetzt von niemandem beobachtet werden.

Vor dem Spiegel versucht sie ein langes und trillerndes Gelächter, nur um zu sehn, ob in ihr noch nichts eingerostet sei. Den Tanz aber, den sie nun probiert, läßt sie nach wenig Schritten bleiben. Hierin dünkt sie sich zurückgeblieben und ungeschickt.

Auf einmal bemerkt sie, daß sie von großem Hunger gepeinigt wird. Es ist kein rechter Hunger eigentlich, sondern ein wilder, gereizter Appetit. Sie läuft zu ihrem Kasten, in dem sie manchmal eine Frucht oder eine Süßigkeit aufbewahrt. Welche Überraschung! Sie findet eine ganze Menge feinster Bonbonnieren und ein Körbchen mit verzuckerten Früchten vor. Wer hat sie denn so reich beschenkt? August war der Mann nicht dazu und unter seinen Kollegen vom Gericht fände sich schwerlich ein Kavalier, der solcher heimlichen Aufmerksamkeit fähig wäre.

Gabriele stürzt sich auf die Konfitüren. Zuerst nascht sie von den Südfrüchten, dann beginnt sie gierig die Schokoladebonbons zu genießen. An die Wollust des Süßen verloren, bemerkt sie die aufgehende Tür nicht.

Aber die Tür geht auf und in ihr steht August, der Hofrat, ihr Gatte.

Der Tote ist von seiner mühseligen Reise nicht allzu ramponiert. Nur der Flaum auf seiner Glatze ist ein wenig aufgesträubt, das Frackhemd rutscht aus der Weste, die Masche sitzt verschoben und wie von fremdem Griff geschlungen, die weißen Glacéhandschuhe werfen keine Falten auf den Händen.

Gabriele fühlt blutige Röte im Gesicht, weil sie von dem Toten beim Naschen ertappt worden ist. Sie drückt sich steif an den Kasten.

Der Hofrat macht keinen Versuch, die Schwelle zu überschreiten. Die offene Tür genügt ihm vollkommen. Er sagt mit leicht-pressierter Stimme, als hätte er Angst, eine Verhandlung zu versäumen:

»Ich habe natürlich wieder meine Tasche vergessen. Du weißt, die braune Aktentasche ...«

Gabriele versucht anzudeuten, daß sie willens sei, die vergessene Tasche zu suchen.

Des Toten Atem bemüht sich, einen leichten Asthmaanfall von Ungeduld zu verhehlen. Nachlässige Bedeutung liegt in seinen Worten:

»Ich glaube nicht, daß die Tasche in meinem Zimmer zu finden sein wird.«

Gabriele holt mit Anstrengung einen bedenklichen Umblick aus sich hervor, den sie in den Raum schickt, um ihren Zweifel auszudrücken, ob das Bewußte bei ihr gefunden werden könne.

Der Tote schüttelte ironisch-verärgert den Kopf:

»Meine liebe Biela, wer soll im Bilde sein, wenn nicht du?«

Und er winkt gelangweilt ab:

»Lassen wir die Tasche! Es wird deine Sache sein, die Dokumente beizubringen. Ich aber habe den Weg nicht gescheut, dich zu warnen!«

Gabriele spürt die Kanten des Kastens in ihrem Fleisch. Der Tote, der keine Eile mehr zu haben scheint, spricht mit leidendem Ton:

»Vor allem habe ich dich vor Erwin zu warnen!«

Er unterbricht sich, da er müde ist und Kraft sammeln muß. Nach einer Weile:

»Dein ausgesprochener Familiensinn hat – vielleicht weißt du es selber nicht – unsere Ehe vergiftet. Nicht nur hast du auf raffinierte Art mich von meiner armen Mutter entfernt, du hast, liebe Biela, mich auf Schritt und Tritt belogen, betrogen ...«

Gabriele versucht vergebens zu schreien. Der Tote aber läßt sich nicht beirren:

»Hättest du mich mit einem Liebhaber, mit irgend einem Laffen betrogen, ich schwöre dir's, Gabriele, ich wäre nicht wiedergekommen, ich hätte mich zufrieden gegeben. Wenn ich auch niemals darüber geredet habe, es ist keine Stunde vergangen, in der ich nicht wußte, daß du um fünfundzwanzig Jahre jünger bist als ich ...«

Der Tote gönnt Gabriele eine kleine Zeit, sich zu sammeln. Ihr gelingt es auch, hervorzustoßen:

»Ich habe dich gepflegt, zehn Nächte nicht geschlafen ...«

Solch nichtige Abwehr beseitigt der Tote mit einer Handbewegung. Er ist noch immer trauriger als erzürnt:

»Meinen mageren Gehalt von acht Millionen Kronen habe ich dir allmonatlich auf Heller und Pfennig abgeliefert. Und von diesem, unserm kargen Brote hast du beträchtliche Summen gestohlen, um sie deinem Bruder, diesem gewissenlosen Zigeuner von Erwin, zu schicken. Hätte ich in den schweren Jahren mehr Fleisch zu essen bekommen, vielleicht wäre mir das vorzeitige Ableben erspart geblieben ...«

Der Tote vergewissert sich, daß kein Widerspruch gewagt wird. Dann aber kann er den Zorn in seiner Stimme nur schwer beherrschen:

»Eigens dieser Eröffnung wegen komme ich, Gabriele. Ich könnte die Ewigkeit nicht aushalten, wenn ich wüßte, daß du dich freust, mich hereingelegt zu haben. Ich habe nie ein Wort geredet, aber nun weißt du wenigstens, daß ich alles weiß! Denn ich bin kein Engel. Ich bin ganz im Gegenteil – nach deiner Ansicht – ein trockener Mensch, ein Jurist, ein alter Patron, zu keiner Freude mehr gut. Aber eines, Gott sei Dank, bin ich nicht, ich bin nicht Erwin, bin kein feiger Verräter ...«

Da findet Gabriele eine mächtige Stimme in sich:

»Erwin ist ein großer Künstler!«

Der Tote höhnt, ohne daß sich etwas an seiner Erscheinung oder Kleidung bewegt:

»Ein großer Künstler! ... In eurer Familie grassiert eben das Genie! ... Dein Vater war ein großer Kartenspieler, dein Bruder ist ein großer Violinspieler, und du selbst bist eine große Taschenspielerin!«

Da hört Gabriele sich selber verzweifelt ausbrechen:

»Wenn du auch aus dem Jenseits kommst, August, du bist und bleibst ...«

»Was?« dröhnt es ihr entgegen, und so furchtbar, daß sie aufwimmert. Jetzt aber, das erstemal, beginnt sich der Tote zu rühren. Sein Hals schwillt vor Wut an, daß der Kragen platzt, die Hände pendeln unbeherrscht und das Frackhemd rutscht höher und höher. Er versucht mehrmals, die Füße werfend, auszuschreiten und sich ins Zimmer zu bewegen. Endlich gelingt es ihm, über die Schwelle zu treten. Er beginnt, sich Gabrielen zu nähern, die nirgendhin fliehen kann. Dabei keucht es aus ihm:

»Ist in dieser gottverlassenen Republik nicht einmal der Tod mehr Autorität?! Mich reut es, daß ich dich nie geschlagen habe ...«

Immer näher schwankt der Tote mit schrecklich arbeitenden Gliedern. Immer schärfer keucht er:

»Ich werde dir die Autorität des Todes schon zeigen! ... Weib! ...«

Und jetzt:

»Knie nieder vor mir!«

Aufkreischend bricht Gabriele in die Knie. Der Tote besinnt sich, er läßt den Kopf sinken, er schweigt. Denkt er an sein Alter, an ihre Jugend, an verlorene Jahre? Leidet er unter dieser ersten Brutalität gegen sie?

Plötzlich schluchzt es tief in ihm auf, und auch er sinkt schwer und lautlos nieder.

Nun knien Gabriele und der Tote still einander gegenüber.

*

Der Schutzmann gibt mit dem erhobenen Arm noch immer nicht das Zeichen für die Durchfahrt der Automobile, deren Kolonnen immer dichter und ungeduldiger anwachsen.

Auch Gabriele ist ungeduldig bis zur Verzweiflung. Alles Warten und Aufgehaltenwerden ist ihr heute unerträglich. Wie freut sie sich aber, als der Professor neben ihr im Wagen Platz nimmt. Er lächelt:

»Wir schlafen also immer noch nicht? Wir haben große Widerstandskräfte?«

Gabriele fühlt angesichts des Arztes wieder die fast streberische Dienstwilligkeit in sich:

»Soll ich von vorne zählen?«

Der Professor beruhigt sie mit der Langmut eines gütigen Menschen:

»Wir haben ja Zeit. Wir können noch ein wenig warten. (Der Puls ist gut. Nicht wahr, Herr Kollege?) ... Und Sie, Frau Gabriele, wohin haben Sie jetzt vor, zu fahren?«

Gabriele nennt natürlich die Hohenzollernstraße. Der Professor warnt:

»Aber Kindchen, jetzt ist es ja noch viel zu früh, einen Besuch zu machen. Sie können ja die Leute nicht aus dem Bett holen. Bei Verwandten kämen Sie da besonders schön an! Gehen Sie ins Hotel. Schlafen Sie sich aus! Eine Nachtreise nimmt die Nerven her ...«

Gabriele lehnt sich zurück. Sie ist glücklich, daß ein Mensch für sie denkt und sorgt.

In feldgrauer Militäruniform steht der Portier des kleinen Hotels ›Österreichischer Hof‹ in seinem Kämmerchen. Uralt, urstreng ist sein Gesicht. »Eh ich die Dame aufs Zimmer führe, muß ich die Dame pflichtgemäß verhören.«

Gabrieles Finger suchen zitternd nach dem Paß. Der strenge Portier erklärt:

»In unserm Hotel steigt durchwegs nur österreichisches Publikum ab. Die Dame versteht ...«

Gabriele findet den Paß nicht. Die amtliche Stimme hält nicht inne:

»Die Dame wird Auskunft geben müssen, zu welchem Zweck sie nach Berlin gekommen ist.«

Gabriele flüstert schuldbewußt:

»Mein Bruder ...«

Das graue Antlitz schlägt zum erstenmal die Augen auf. Diese Augen wissen alles:

»Der Name des Herrn Bruders?«

»Erwin!«

»Wie alt, bitte?«

»Um ein Jahr jünger ...«

»Verheiratet, natürlich?«

Gabriele hört mit Widerwillen, daß diese Einvernehmung ihre Stimme kleinlaut macht:

»Ja! Verheiratet! Seit drei Jahren. Mit der geborenen Judith Maimon!«

Der Portier nimmt seine Kappe ab, um den Kopf zum Überlegen frei zu bekommen:

»Eine bedenkliche Sache. Die Dame wird versprechen müssen, daß es zu keinem Anstand kommt.«

Gabriele besinnt sich: So nahe hinter der Front muß man nicht nur Strapazen erdulden, sondern sich auch unangenehme Behandlung gefallen lassen. Wir sind ja noch mitten im Kriege. Der ferne Lärm scheint Artilleriefeuer zu sein. Wenn ich nur bis zu Erwin vordringe ...

Der Mann in Feldgrau zündet vorsichtig und umständlich irgend eine Laterne an, deren Licht in der hellen Sonne unsichtbar bleibt, und geht voraus.

Die Hotelgänge und Korridore dehnen sich weit in völliger Finsternis. Die Schritte des vorausmarschierenden Portiers werden immer kürzer und sporenklirrender. Der Weg wechselt. Über kotige Dorfstraßen geht es, an zerschossenen Häusern vorbei, neben langen Wagenschlangen und Knäueln von staubstarrenden, grinsenden Soldaten.

Gabriele glaubt, sie müsse unter der Last ihrer beiden kleinen Gepäckstücke zusammenbrechen.

Wie lange noch?

Sie hört eine Stimme hinter sich:

»Lassen, Gnädige, die Sachen nur ruhig stehn. Ich trag sie schon nach.«

Im frechen und gewitzigten Klang dieser Stimme verbirgt sich ein Feind, ein Dieb. Gabrieles Hände umpressen den Griff und schleppen das Gepäck mit letzter Kraft weiter. Sie schleppt ja, was sie niemandem anvertrauen würde, Liebesgaben für ihren Bruder.

»Erwin!«

Die Augen des Bruders starren groß. Sie spiegeln noch immer den stumpfen und zerrissenen Himmel des täglichen Trommelfeuers.

»Erwin!«

Gabriele sitzt auf einem rohgezimmerten Stuhl am Bette ihres Bruders. Ihre Hand greift den Stoff der Leutnantsbluse, die über der Lehne hängt. Hart von Blut ist sie. Der Saal der Verwundeten zieht sich unendlich bis zum hügligen Horizont. Hinter den fernsten Lagern sieht Gabriele die rote Sonne untergehn.

»Erwin!«

Der Verwundete schreit auf. Er reißt die Schwester mit mageren Armen an sich, er umklammert sie:

»Rette mich! Du bist hier, Gabriele! Rette mich! Nur nicht wieder zurück! Nicht wieder hinaus ...«

Er zerpreßt ihr die Hand. Er drückt seinen zerrauften Kopf gegen ihre Brust, als wollte er eindringen in sie, sich in ihres Lebens Leben verstecken. Sie spürt, wie seine Zähne klappern, der Angstschweiß seiner Stirn dringt ihr durch das dünne Kleid und näßt kalt ihre Haut. Sie selbst senkt ihr weinendes Gesicht in sein feuchtes Haar. In einer würzigen Wiese hat sie ihr Gesicht verborgen. Diese Halme, diese Haare duften so gut. Sie duften genau so wie ihre eigenen Haare, sie duften so vertraut wie ihr Kissen, wenn sie es im Schlaf umarmt. Alles ist fremd, nur dieser Geruch ist Verwandtschaft und Heimat. Jetzt ist Erwin ganz bei ihr. Jetzt besitzt sie ihn in stiller Glückseligkeit. Wie rührt es sie, daß der eitle Mann, der so oft mit Mut und Kraft geprahlt hat, wie ein Kind sich nun an ihr festhält, zitternd und ohne Lüge.

Sie streichelt ihn:

»Schlaf nur, Erwin, ich geh nicht fort. Ich laß mich nicht vertreiben von dir ...«

Der Bruder lallt:

»Du wirst mich retten ... Gabriele, ich bin ein Feigling ... Ich fürchte mich vor dem Tod ... Du läßt mich superarbitrieren ...«

Gabriele möchte den Verwundeten in den Schlaf wiegen:

»Hab keine Angst, Erwin! ... Ich bin doch eine Frau ... Ich werde mit den Herren reden ... Gewiß bekomme ich dich frei ...«

Und er:

»Ja, und dann fahren wir heim ... Und immer werden wir zusammenleben ... Ich will schon zu einem Verdienst kommen ... Schlimmstenfalls stelle ich eine Kaffeehauskapelle zusammen ... Das ist ja keine Schande ... Aber du sollst immer bei mir bleiben ...«

»Schlaf, Erwin ... Du wirst dich nicht verzetteln ... Du wirst der größte Virtuose dieser Zeit sein ... Schlaf ...«

Er hebt den Kopf:

»Hörst du?«

Eine kleine Musik klagt und zirpt. Sie atmet aus einem Leierkasten, den ein Invalide vor sich herschiebt. Dieser weißhaarige Invalide trägt durch den blutigen und feldgrauen Spitalsaal die blaue Ausgeding-Montur lang vergangener Zeiten. Aus Erwins noch immer schreckstarren Augen flattert ein flügellahmes Gelächter:

»Das ist ja der Pan Radetzky ... Weißt du noch .. Aus Lans ... Der See ... wo wir mit Großmama waren ... Damals im Sommer ... Der Garten ...«

Der Invalide beachtet die Kinder, die Geschwister nicht. Er schiebt und kurbelt seinen Leierkasten vorwärts, zwischen den unendlichen Bettreihen weiter, zwischen den Matratzenzeilen, die den Fußboden bis zum Horizont bedecken, weiter, bis in den Sonnenuntergang hinein. Er orgelt »Gott erhalte« und »O du lieber Augustin« durcheinander.

Erwin bekommt auf einmal ein böses Gesicht:

»Wird dich dieser dein August mir lassen?«

Gabriele preßt die Knie krampfhaft gegeneinander:

»August ist tot ... Gerade vierzehn Tage ist es her ... Aber, wenn du willst, Erwin, hat August nie existiert ...«

Ein scharfer Ruf hallt durch den Raum:

»Alle Betten, habt acht! Visite!«

Erwin zieht sich zusammen und flüstert:

»Barbarossa.«

Eine Gruppe von Männern geht von Bett zu Bett. Voran der gewaltige Rotbart. Er trägt scharlachpassepoilierte Generalshosen und einen weißen Kittel, der mit drei Reihen von Orden und Auszeichnungen behängt ist. Hinter ihm wandeln einige Gestalten, die merkwürdige maulkorbartige Masken vor dem Gesicht tragen oder deren Kopf von grauen Kapuzen mit Augenlöchern verhüllt ist. Sie gleichen mittelalterlichen Femerichtern. Zuletzt kommen zwei Soldaten mit nacktem Oberkörper, die etwas Längliches und Unsagbares auf den Schultern balancieren. Gabriele fürchtet sich, das Ding zu erkennen. Vielleicht ist es ein Sarg, in dem ein toter Soldat des Spitals gleich fortgeschafft werden kann.

Barbarossa mit seinen Herren steht vor Erwins Bett.

Kommandostimme:

»Nun, wie geht's, Herr Leutnant?«

Gabriele beeilt sich:

»Schlecht, Herr Generalstabsarzt, schlecht! Er fiebert.«

Barbarossa schüttelt ein Fieberthermometer aus dem Ärmel und berührt damit kurz die Stirn des Verwundeten. Dann hält er es gegen das Licht und liest:

»Nichts! Normal!«

Gabriele kann trotz aller Mühe die Angst um Erwin in ihrer Stimme nicht verbergen:

»Ich glaube ... Häusliche Pflege ... Ich könnte ihn ausheilen ...«

Barbarossa runzelt die Stirn:

»Die Frau Gemahlin?«

Gabriele schweigt.

»Das Fräulein Braut?«

Gabriele kann nicht sprechen.

Barbarossa wartet keine Antwort ab.

»Durchschuß harmlosester Art! Solche Wunden pflegen binnen vierzehn Tagen anstandslos zu heilen. Der Herr Leutnant kann hier ruhig abwarten, bis er wieder kriegsdiensttauglich ist.«

Gabriele erhebt sich. Sie weiß, daß sie schrecklich errötet. Sie spinnt ein banges Lächeln aus sich hervor, mit dem sie die entzündeten Augen des Rotbarts umspielt. Dann zeigt sie die Zähne. Sie weiß, ihre Zähne sind sehr schön.

Barbarossa, der jetzt plötzlich einen Frack und weiße Binde trägt, schlägt die Hacken zusammen:

»Darf ich, gnädiges Fräulein, um den nächsten Walzer bitten?«

Gabriele legt ihm gehorsam die Hand auf die Hüfte. Wer ist das nur, sinnt sie. Sie erinnert sich des einzigen Balles, den sie, ein halbes Kind noch, vor dem Krieg besucht hat. Staatsbeamtenkränzchen! Sie flüstert:

»Mein Bruder fiebert.«

Barbarossa schnarrt:

»Ganz wie gnädiges Fräulein befehlen.«

Die Musik spielt den Walzer aus »Lustige Witwe«. Barbarossas riesige Hand ruht höflich und behutsam auf Gabrieles Rücken. Der widerliche nach Schweiß riechende Mensch tanzt altmodisch alle sechs Schritte des Walzers aus. Während des Tanzes berührt sein roter Schnurrbart oft ihre Wange. Sie hört seine Konversation:

»Ich bin, gnädiges Fräulein, nicht nur Barbarossa, General und Arzt ... Ich spiele in der Gesellschaft als Vorstand wohltätiger Vereinigungen und als heiterer Unterhalter eine Rolle. Mein Wahlspruch ist und bleibt: Keine Situation gewissenlos ausnützen! Darum nähere ich mich den Damen der verschiedenen Herren immer nur mit den ernstesten und ehrbarsten Absichten. Ich bin eine unbeschränkte Macht, zwinge aber niemanden ...«

Gabriele, die sich wider ihren Willen mit großer Lust dem Tanze hingibt:

»Morgen nehme ich Erwin mit mir nach Hause.«

Barbarossa versichert galant:

»Aber selbstverständlich! Nur eine kleine Formalität muß noch erledigt werden.«

Der Tanz beschleunigt sich.

Barbarossa zieht seine Tänzerin fester an sich:

»Ihr Bruder ist gerettet. Hätte ich ihn zurück in den Schützengraben geschickt, wäre er gewiß den Heldentod gestorben. So ein Heldentod ist nicht das Ärgste: Sie hätten Ihren Erwin wie einen Gott beweint. Er aber würde Sie ... heute ... in Berlin nicht enttäuscht haben.«

Der Tanz steigert sich immer wilder. Gabriele will sich losreißen. Barbarossa höhnt.

»Moderne Tänze echauffieren weniger als solch ein alter Walzer.«

Die Vermummten treten im Takt den Ort. Die beiden Soldaten, die das Längliche und Unsagbare tragen, umkreisen das Paar. »Mein Sarg«, ruft es in Gabriele, »ich werde ja gerade jetzt operiert.« Barbarossa drückt sie immer furchtbarer an sich, so daß sie den Atem verliert. Er ist wie ein brennendes Haus. Der Teufel! Gabriele weiß mit Bestimmtheit, daß der Teufel eine Art brennendes Haus ist. Oh, wie konnte sie nur je an der Existenz des Teufels zweifeln, den Satan für Kinderspuk halten! Aus Barbarossas rötlichen Fensterhöhlen schlagen Flammen. Rauch und Brandgeruch! Gabriele wird immer wilder um sich selbst gedreht. Jetzt muß sie an Schwindel sterben. Der Teufel aber hebt sie hoch und schleudert sie weithin durch die Luft.

*

Sie wird auf den Potsdamer Platz geschleudert.

Gabriele fürchtet den Tod. Sie will eilig den Verkehrsstrom überqueren. In diesem Augenblick gibt der Schutzmann das Zeichen. Von allen Seiten rattern die Autobusse, Lastkraftwagen, Luxusgefährte, Taxameter vorwärts. In einem langgestreckten blitzenden Prachtwagen sieht sie eine Dame im Pelz am Steuer sitzen. Gabriele erschrickt: Judith! Starr bleibt sie im Brennpunkt stehn und schließt die Augen, umscholten, umtobt, umtutet.

Ein Wunder rettet sie diesmal.

In einem Hausflur atmet sie auf. Tiefe Finsternis!

Sie weiß, daß sie schläft. Es ist aber dringend notwendig, daß sie zur Oberwelt emportauche. Sie hat Fragen zu stellen, die in ihr brennen.

Mit Macht rüstet sie ihren Willen, krampft ihr Muskelwerk zusammen und tritt Wasser, wie sie's als Kind beim Schwimmen gelernt hat.

Es gelingt.

Sie liegt im Operationssaal. Die grauborstige Kopfkugel des Professors schwebt dicht vor ihr. Klar unterscheidet sie alles, selbst das Milchglas der riesigen Fenster. Der Professor donnert in die furchtbare Stille:

»Tupfer! Schneller!«

Gabriele stößt die Frage hervor:

»Darf ich jetzt meinen Besuch machen?«

Der Professor mahnt, ohne den Kopf zu heben:

»Narkose!«

Aber zu Gabriele sagt er scherzhaft:

»Zurück mit Ihnen, Kind! Hinunter!«

Gabriele lacht in sich hinein, als wäre ihr ein guter Streich gelungen. Dann steigt sie schnell in den Fahrstuhl, der bereitsteht.

Gabriele wundert sich, daß sie emporfährt und nicht hinab.

Nun aber steht sie endlich vor der Tür, zu der sie von so weit hergepilgert ist. Bis fünf Uhr nachmittags hat sie den Besuch aufgeschoben, in unerklärlicher Vorangst und Schüchternheit, als wäre sie nicht gekommen, den geliebten Bruder wiederzusehen, sondern wie eine Bittstellerin ... Erwin ist ja verheiratet!

›Ich darf nicht mehr wissen, daß ich schlafe‹, erkennt sie jetzt und ›Alles muß wirklich sein!‹

Gott erhört sie. Der Marmor der Wand, die Glasscheibe der Tür, die sie berührt, sie weichen nicht zurück, sie verwandeln sich nicht. Sie hört das Schrillen der Klingel, die sie niederdrückt. Nur daß dieses Schrillen nicht enden will, trotzdem sie bloß kurz den Taster berührt hat! Das Schrillen der Glocke kann nicht enden, spürt sie, da ja das Läutewerk in ihrer eigenen Herzgrube montiert ist.

Die erste Erniedrigung bereitet ihr der Diener, der öffnet. Er blickt sie erstaunt und befremdet an.

›Ist das Erwins Diener? Kann es möglich sein, daß der arme Musiklehrer Erwin einen herrschaftlichen und strengäugigen Diener unterhält? ... Nein, nein, das ist gewiß ihr Diener!‹

Gabriele schläft nicht. Alles ist wirklich. Der Raum bleibt immer derselbe. Sie ist klar und scharfsinnig, so klar, daß sie deutlich den Eindruck fühlt, den sie auf den Bedienten macht: Schneiderin, Sprachlehrerin.

Sie schlägt den Kragen des braunen Raglans auf, damit man ihr Gesicht nicht sähe, dessen schöner Vornehmheit sie sich voll bewußt ist. Aus Trotz schlägt sie den Kragen auf. Sie will nicht für besser gelten als ihre Kleidung. Sie will mit niemand wetteifern. Den Kampf mit Feinden nimmt sie nicht auf.

Feinde stehen in Gruppen umher, wandeln auf und ab im purpurroten Vorsaal. Gelangweilt promenieren einige dieser Herren, die sich entweder durch Monokel oder durch apart getürmte Stirnen auszeichnen, Namen deren Bedeutung Gabriele nicht oder nur zum Teil versteht, bohren sich ihr ins Gedächtnis! Jeßner, Furtwängler, Strawinsky! Von diesen Namen gehen Ströme des Hochmuts und der Überheblichkeit aus, welche sie überschauern.

Das Läutewerk in ihrer Herzgrube schrillt unermüdlich. Sie kann nichts dagegen tun als sich schämen. (Man müßte das Herz abmontieren.)

Irgendwer komplimentiert sie herablassend in ein Zimmer. Es ist eine große Rumpelkammer, weitab von dem Gesumme der Gesellschaft, das sie hören muß. Warum steht eine überlebensgroße Nähmaschine da wie eine Beleidigung? Es ist wahr: Die Kriegs- und Nachkriegsjahre waren schwer und ihre Hände sind leider hart geworden. Aber darf sie sich demütigen lassen von der reichen Frau, die sich dieses Prachtquartier gemietet hat und ihren Bruder dazu?

Oh, es ist besser, all dies verschwinden zu machen.

Gabriele stampft und tritt Wasser. Doch diesmal hilft es ihr nicht. Alles ist wirklich! Nicht schläft sie. Und schreckerfüllt weiß sie, daß sie nicht betäubt ist.

Erwin!

Gabriele durchdringt das Gesicht des Bruders. Wacher als jetzt war sie niemals. Sie steht in dieser neuen Wachheit wie im eiskalten Flammengezüngel eines geheimnisvollen Scheiterhaufens. Ja! Es ist Erwins Gesicht! Es ist das Gesicht des siebenjährigen Knaben! Es ist das Gesicht des Spielkameraden! Es ist das Gesicht des verwundeten Leutnants, den sie aus dem Krieg erlöste. Nichts ist verändert, nichts älter geworden in diesem Gesicht!

Aber sie selbst ist ja so ganz anders, so ganz eigen wach!

Ihre Wachheit weiß:

Menschen sind Wetterwinkel wie Berge.

Um Erwins Kopf sammelt sich eine fremde, kalte Luft. Unbekannte Winde wehen sie an. Es ist auf einmal eisig in dem Zimmer, eisig in Erwins Nähe, nach der sie sich so viele Jahre lang gesehnt hat. Seine Verlegenheit macht das Thermometer sinken. Und diese Verlegenheit ist weit schmerzhafter als eine Kränkung.

Erwin will Gabriele küssen.

Sie hält die Wange abwehrend hin, so daß der Kuß sie nur peinlich streift.

Erwin heuchelt Freude:

»Du bist also doch gekommen? Schön ist das!«

Also doch gekommen? Sie hat ja in ihrem Telegramm ihr Kommen nicht in Frage gestellt. In diesem Augenblick bricht das Schrillen der Klingel in Gabrieles Herzgrube jäh ab. Das Schrillen war der natürliche Lärm der Welt. Jetzt aber rauscht eine Stille in ihr, wie sie die Welt nicht kennt. Sie horcht in sie hinein. Diese Stille jedoch ist eine monotone Abfolge von fernen Chören; sie erinnert an die gähnenden Litaneien während des vierzigtägigen Gebetes in einer kleineren Kirche. Die Chöre singen:

›Du bist mein Bruder ...‹ – ›Im Sommer waren wir in Lans ...‹ – ›Laubsäge und Brandmalerei ...‹ – ›Zur Geige hab ich dich begleitet ...‹ – ›Um Dir Geld zu schicken, hab ich am Ersten jedes Monats August bestohlen ...‹ – ›Du bist geworden, der du bist ...‹

Sie sagt, um etwas zu sagen:

»Mein Telegramm.«

Erwin blickt sich verzweifelt um:

»Dein Telegramm, natürlich! Ich hätte dich schrecklich gern an der Bahn erwartet. Aber übermorgen habe ich in dieser Saison mein erstes Konzert! Du verstehst ja, was das heißt. Übrigens ist heute Sonntag. Wir sehen sonntags immer Leute bei uns.«

Diese Entschuldigung ist ebenso schmerzhaft wie jene Verlegenheit. Gabriele will mit ihrem neuen Wachsein das Falsche und Harte auflösen, das sie hört.

Erwin redet immer schneller:

»Du darfst nicht böse sein, Biela. Aber der Mensch verändert sich. Mit Sentimentalitäten kommt man hier nicht vom Fleck. Hammer oder Amboß sein! Besser aber Hammer! Man muß es lernen, sonst ist man gleich von Gestern. Berlin, Berlin, das ist so 'ne Sache!«

Die Stille singt:

›Abtrünnig!‹ – ›Er hat dich verraten, die Eltern verraten, das Haus verraten, alles was du bist, alles was er ist.‹ – ›Und er kann ja nicht mehr seine Sprache sprechen.‹

Gabriele hört jetzt ihre eigenen Worte in der litaneidurchklagten Stille: »Ich werde abreisen, Erwin. Du brauchst dich aber weiter nicht zu alterieren. Denn ich muß nur ein paarmal stampfen und bin schon verschwunden, bin schon ganz anderswo, wenn ich es will, zu Hause. Ich glaube aber nicht, daß du jemals wieder nach Hause kommen kannst, Erwin ...«

Erwin lacht mit falschem Ton. Seine Sprechweise klingt noch krampfhafter und fremder:

»Abreisen! Was fällt dir ein? Freue mich riesig mit dir. Will dich gleich der Gesellschaft vorstellen. Und dann werden wir zusammen Abendbrot essen.«

Warum sagte er ›Abendbrot‹? Das ist doch Lüge.

Aber schon steht Gabriele in einem hohen Raum, der sich leise dreht, unter vielen Menschen ...

*

Sanft drehen sich die hohen Räume um Gabriele. Die erlesenen Gegenstände an den Wänden gleiten wie leises Ringelspiel. Erwin, der arme Konservatorist, bewohnt einen Prunkpalast. Sie aber kann sich dessen nicht freuen, denn sie allein fühlt, wie er leidet unter seiner Lüge und Abtrünnigkeit.

Warum kann sie sich jetzt nicht befreien? Warum stürzt ihr Leben nicht mehr von Bild zu Bild? Warum ist die Zeit so langsam geworden, langsamer als sie sein darf? Was ist geschehn? Gottes Uhrwerk geht nach. Gott hält sie endlos in der Sekunde fest, deren Bitterkeiten keine ihr geschenkt bleibt. Sie muß der Feindin standhalten und darf nicht fliehn.

Die Feindin ist größer und schlanker als sie. Aber Gabriele bemerkt scharfäugig, daß die feine gelbliche Haut ihres Gesichts nur unvollkommen einen reizenden Totenkopf verbirgt.

Judith wiegt und wendet sich vor Gabriele wie vor einem Spiegel. Bei jeder Wendung trägt sie ein neues Gewand:

Schwarz und Silber jetzt, eine Brillantriviere um den hohen Hals ...

Weiß und Gold im nächsten Augenblick, mit Schwanendunen geziert, einen wolkigen Fächer in der Hand ...

Wie langsam ist die Zeit, wie unerschöpflich Judiths Garderobe!

Endlich wechselt der Feindin Bild nicht mehr. Sie bleibt in einer Farbe. Ein wunderbares Amethyst-Lila ist's, zum schwarzen Haar, zum dunklen Aug getönt. Trotz allem kann Gabriele den entzückten Blick von dieser Farben-Augenweide nicht losreißen.

Judith lächelt:

»Wollen Sie denn nicht ablegen?«

Gabriele krampft mit ihrer Hand fest den braunen Mantel überm Leib zusammen. Wie könnte sie ablegen! Sie trägt ja unterm Mantel nichts anderes als ihr Nachtgewand, das kleinstädtisch und altmodisch ist.

Judiths ironisches Gesicht verbirgt ihr nicht, daß sie alles weiß, wenn sie jetzt auch mit herzlichem Tone meint:

»Sollten wir uns nicht Du sagen? Wir sind ja Schwestern!«

Der Kuß aber, der getauscht wird, ist voll Gefahr.

Gabriele preßt die Lippen fest zusammen, damit kein Tropfen des Giftes in sie eindringe. Aber schon brennt es ihr auf dem Munde. Nennt man es »Schwägerinnengift« und bekommt man es in der Apotheke zu kaufen?

Die Schwester sieht den Bruder an, der unendlich geniert ihrem Blick ausweicht. Jetzt versteckt er sich, als geschähe es unbewußt, hinter Judiths Rücken. Ja! Zur Ehe superarbitriert! Kriegsdienstuntauglich! Aber könnte sie's, vielleicht würde ihn Gabriele jetzt in den Krieg stoßen.

Erwin beginnt mit aller Macht und recht gassenbübisch eine Melodie zu pfeifen. Gabriele läßt sich nicht täuschen. Dies kennt sie schon. Immer pfeift er, wenn er etwas angestellt hat. Und diesmal will er damit noch beweisen, daß er mutig genug ist, sich gehen zu lassen,

Judith befiehlt:

»Erwin ...! Du hast den Schlüssel zu meinem Kasten ... Bring mir ... Worauf wartest du ...? Du weißt doch, was du bringen sollst ...«

Erwin entspringt. Es ist klar, die Herrscherin will zeigen, wie folgsam der Sklave apportiert. Sie seufzt:

»Es war nicht immer leicht, liebe Gabriele. Zwischen Erwin und mir gab es soviel Fremdheit zu überbrücken. Wir kommen ja beide aus verschieden Welten. Aber jetzt begreift er endlich das Wesentliche ...«

Erwin überreicht Judith ein goldenes Revolverchen. Ist es ausgefallener Toilettengegenstand der Raffinierten, ist es eine Waffe, die der Mann ausliefert? Judith macht ein gelangweiltes Gesicht:

»Weißt du noch immer nicht, was ich brauche?«

Erwin eilt davon.

Gabrieles Schwägerin urteilt:

»Dein Bruder hat einen wunderschönen Ton. Aber er ist ein wenig träge und besitzt keine Energie. Das Übel aller Österreicher: Musikantenblut und kein Mark!«

Erwin kommt beladen zurück. Er trägt ganze Stöße von Seidenstrümpfen, Spitzen und Batistsachen. Judith nimmt ihm Stück für Stück ab und streut sie, da sie nichts brauchen kann, rings umher auf den Boden. Erwin bückt sich jedesmal. Endlich hat die Schöne, was sie will. Ein paar Briefe, die sie an sich nimmt. Gabriele erkennt ihre eigene Schrift auf den Adressen. Ihre Briefe an Erwin, uneröffnet!

Warum geht Gottes Uhrwerk nach? Warum läuft die Zeit so langsam, als würde Pan Radetzky die Kurbel seines Leierkastens immer träger drehen? Warum muß man so genau das Leben erleben? Und jetzt das Schwere, Schwerste so genau?

Erwin drückt seine Wange an die Geige, nicht anders als früher. Er horcht in das Gemüt des Instruments, errötend und mit geschlossenen Augen, wie er es immer getan. Hört er noch das Gescherze und Geflüster der Kindheit im Rauschen des göttlichen Holzes? Und ist es die tirolerische Steiner-Geige, die sie ihm zum zwanzigsten Geburtstag nach einem Jahr strenger Sparsamkeit geschenkt hat?

Nein, diese Geige – eine Stradivari, eine Amati gewiß – hat ihm mit einem Federstrich Judith zum Präsent gemacht. Aber wo ist der süße Ton der alten Geige hin?

Nicht Gabriele, sondern Judith sitzt am Klavier und schlägt mit strengen Fingern, denen nichts am Wohllaut liegt, die Tasten an.

Erwins rechter Arm ist auf einmal eine durchsichtige Stange aus Glas. Gabriele sieht, wie in dieser Stange eine schwarzblaue tintige Flüssigkeit vordringt und sie ausfüllt, bis der Arm wieder Arm ist. Das starke Judithsche Gift. Der Bogen zittert in der vergifteten Hand und das Spiel beginnt.

Nicht das Mendelssohnkonzert erklingt, nicht Tschaikowsky, Grieg, Schubert, keines der Stücke, der Sonaten, die Erwin und Gabriele einst gemeinsam geübt haben, sondern eine gehässige und wütende Musik, eine Musik Judiths. Die Hexe hat einen träumerischen Verräter erkoren (gekauft hat sie ihn), um durch sein Talent Rache zu üben. Rache an ihr, Gabriele, an ihrer geschwisterlichen Vergangenheit, an ihrer Seele, an ihren Eltern und Voreltern!

Erwins elektrisierte Finger flitzen. Die rachsüchtigen Passagen taumeln durch den Raum. Die spitzen Griffe am Steg kreischen wie Hilfeschreie.

Der krampfige Geiger dort weiß es gar nicht, daß der wahre Erwin in ihm um Hilfe ruft. Doch wie soll die gelähmte Gabriele ihm helfen.

Judith aber sitzt gar nicht am Klavier, sondern am Schaltbrett einer Maschine. Sie drückt Akkorde von Kontakten nieder, sie setzt Pedalhebel triumphierend in Bewegung. Erwin ist die Maschine. Eine Gliederpuppe, die von dem starken Strom hin und her gezückt und gerissen wird. Gabriele fühlt die Schläge des Stromes, der mit ihrem Bruder so unerbittlich umspringt, in ihrem eigenen Körper.

Dem Namen Christi allein und dem heimlichen Kreuz, das sie schlägt, hat sie es zu verdanken, daß sie von einem süßen und unsichtbaren Willen herausgeleitet wird mitten durch all diese spitzfindigen Menschen hindurch, die ebenso rachsüchtige und gehässige Mienen machen wie diese Musik.

Nun wähnt sie sich endlich, endlich einsam in einem weiten, farblosen Raum, der nicht Haus ist und nicht Natur. Aber sogleich muß sie erkennen, daß sie nicht einsam ist.

Mit dem Rücken ihr zugewendet, stehen Erwin und Judith da. Judith trägt wieder ein anderes Kleid, und ein Hermelinkragen leuchtet von ihren Schultern. Erwin neigt demütig sein Ohr der Herrin. Und Gott, der die Zeit so grausam verlangsamt, zwingt Gabriele, zu lauschen. Judiths Stimme tönt mit gleichgültiger Schärfe:

»Lieber Freund, sei vorsichtig! Ich rate dir, zeige dich nicht viel mit dieser Provinzlehrerin! Es ist eine ziemlich unbedeutende Person und sieht dir in ihrer hübschen blonden Fadheit erschreckend ähnlich. Und wie sie angezogen geht! Diese Schwester ist die denkbar schlechteste Folie für dich.«

Und Erwin, ihr Bruder, ihr Kamerad, ihr Erwin, besinnt sich nicht, fährt nicht auf, errötet nicht, stammelt nicht, sondern sagt mit unfaßlicher Ruhe:

»Hab keine Angst, Judith, ich werde sie schon auf irgend eine Art loswerden!«

Gabriele geht langsam, stillatmend, vorwärts in den farblosen und leeren Raum.

Ihr ist, als ob sich der entsetzliche Schmerz von ihr abgelöst hätte und dieser Schmerz und sie selbst nun zweierlei seien. Sie trägt es ruhig vor sich her, das unendliche Leid. Wird sie nun schlafen dürfen?

Ihr Auge ruht auf den starkduftenden Zyklamen, die sie in der Hand trägt.

*

Jetzt weiß Gabriele, daß sie schläft.

Nur im Schlaf gleitet man so leicht durch die Welt, fährt man so angenehm im Kahn. Ist das der Lanser See? Wer rudert denn? Pan Radetzky! Der Invalide zählt hundert Ortschaften her und berichtet, ob sie sich gegen ihn freiwillig oder knauserig benehmen, wo er mit Geld entlohnt wird, wo nur mit Lebensmitteln.

Gabriele hört der murmelnden Stimme fromm zu.

Aber bei der ersten Gelegenheit schon springt sie über den Kies der Gartenwege daher. Nur einen Augenblick lang verwundert sie sich über ihr Hüpfen, als wäre ein anderer erwachsener Gang ihr gemäßer. Sie versucht auch, ein paar ruhige und gleiche Schritte zu machen. Sofort aber verfällt sie wieder ins Hüpfen. An diesem Hüpfen und an dem Reifen, der vor ihr herrollt, erkennt sie, daß sie ein Kind sein muß.

Laut lacht sie auf. Etwas Wüstes und Wirres kommt ihr in den Sinn, das sie erlebt hat und nicht enträtseln kann. Nur das Knie tut ihr so furchtbar weh. Während der wüsten und wirren Geschichte ist sie hingefallen und hat sich das Knie zerschlagen.

Jemand springt und hüpft an ihrer Seite. Jemand quetscht und preßt ihre Hand. Erwin hat trotz Großmamas Verbot seinen neuen Matrosenanzug an, was Gabriele bekümmert. Erwin will keine alten Sachen auftragen. Erwin ist ein ›Urasser‹. Einen Hochstapler nennt ihn Großmama. Eigentümlich ist es, daß Gabriele genau weiß, wie Erwin gekleidet ist, daß sie ihn selbst aber nicht sieht, noch von seinem Knaben-Aussehn eine rechte Vorstellung hat, ebensowenig wie von dem ihren.

Obgleich sie also kein Bild von ihm hat, nimmt sie dennoch all seine Gesten wahr. Jetzt zum Beispiel zeigt er mit der Hand hinüber, über das Wasser:

»Was ist das dort?«

Gabriele sieht die grau-weißen Gipfelzüge der Alpen und dicke Wolken. Sie sieht Waldkuppen und dort, dicht überm Ufer, verstrüppte und geheimnisvolle Anhöhen.

Erwin erklärt verbissen:

»Das ist die andere Seite!«

Und während dieses Wort furchtsam in Gabriele nachtönt, schließt er prahlerisch:

»Und dorthin brenn ich noch einmal durch.«

In Gabriele wird's immer ängstlicher:

»Erwin! Es ist gefährlich. Räuber sind dort oder fremde Völkerstämme.«

Erwin meint verächtlich:

»Höchstens Goldgräber.«

In seinen Worten leuchtet es jetzt gierig auf:

»Aber ganz gewiß werde ich drüben Amethyste und Totenkopffalter finden.«

Totenkopffalter! Auch dieses Wort erregt Gabriele mit einer vielfachen Bedeutung.

Der Gymnasiast fragt streng und eingebildet seine ungelehrtere Schwester:

»Was heißt Totenkopffalter auf lateinisch?«

»Asa Juditha«, behauptet Gabriele eilfertig und ist überzeugt von der Richtigkeit ihrer Übersetzung.

Ein kleines spitzes Gebell.

Es ist Amor, das junge Hündchen, das zu diesem Garten gehört. Erwin liegt auf der Erde und spielt mit dem Tier.

Aber Amor ist nicht nur ein kleiner Hund, Amor ist zugleich auch Erwine, Gabrieles Kind.

(Ob die Pflegeleute das Kind auch warm genug halten!? Ich habe am vorigen Donnerstag vier wollene Unterleibchen gekauft. Bei der Mahlzeit muß man sich besondere Mühe geben. Die Kleine würde verhungern, wenn man sie nicht mit Unermüdlichkeit zum Essen zwänge: Einen Löffel für die Mama! Einen Löffel für den Onkel Erwin! Einen Löffel für den Pa...)

Amor kläfft, Erwine weint. Erwine kläfft, Amor weint. Erwin aber lacht. Gabriele spürt seine böse Lust, seine krampfhafte Angespanntheit. Sie hört, wie es aus ihm knistert vor Vergnügen. ›Hammer oder Amboß!‹ – ›Besser aber Hammer!‹ Erwin ärgert den Hund.

Amor aber ist bis zum Bersten gefüllt mit Charakter. Er knurrt erbittert, verfolgt die Bewegungen des Feindes und schnappt nach seiner Hand.

Aus Gabriele schreit es:

»Nicht quälen, du Tierquäler!«

Erwin wird immer boshafter. Gabriele erkennt den niederträchtigen Rausch, von dem der Bruder besessen ist. Welch ein Leid in ihr! Sie mahnt:

»Gestern, als dich die Kirnigbuben an den Marterpfahl gebunden haben, wolltest du superarbitriert werden ...«

Er ist nicht zu bändigen:

»Gestern war gestern und heut ist heut!«

»Nicht quälen, Erwin!«

Erwin wendet vom Boden den Blick auf:

»Soll ich lieber dich quälen?«

»Ja, quäl lieber mich als das Kind!«

Erwin springt auf die Beine:

»Gut! Ich werde mich totstellen. Ich werde tot sein!«

Totsein, das ist das furchtbarste von allen Spielen, die Erwin erfindet, um die Schwester in Angst zu versetzen. Sie schluchzt:

»Nein! Um Gottes willen nicht tot sein! Nicht ... Nicht ... tot sein!«

Erwin packt Amor und läuft mit ihm zum Wasser. Aber zur Untat kommt es nicht, denn Gott sendet, um Amor zu retten, ein Gewitter.

Es ist ein schreckliches Gewitter. Der Garten tanzt. Die Bäume hüpfen mit geschlossenen Füßen von Ort zu Ort. Der Himmel stürzt zackige Donnerfelsen von den Bergen. Und die Kinder werden wie Blätter gedreht.

Jetzt sitzen sie im Blockhäuschen des Gartens, im ›Salettl‹. Es ist stockfinster. Nur wenn ein Blitz hereingrellt, erkennt Gabriele die Bildchen an der Wand, die sie selber ausgeschnitten und mit Reißnägeln befestigt hat. Mit großer Deutlichkeit erkennt sie all ihre Lieblings-Illustrationen aus dem ›Kränzchen‹, dem ›Guten Kameraden‹ und aus ›Über Land und Meer‹. Sie erkennt auch das Puppentheater, das staubig und zusammengeworfen auf dem Tisch steht. Die Figuren an ihren langen Drähten lehnen und liegen durcheinander. Manchmal erzittern sie und zucken auf wie Fische, die man geschlagen hat und aus denen plötzlich noch ein Rest von Leben schnellt. Erwin sitzt dicht neben ihr auf der Bank. Sie flüstert, um Gott nicht aufmerksam zu machen:

»Willst du nicht die Petroleumlampe anzünden, Erwin?«

»Ich habe ... vielleicht ... keine Streichhölzer bei mir, Biela. Und du, hast du Angst vor dem Gewitter?«

Sie zittert ja vor Angst. Aber Erwin, der Mann:

»Ich habe gar keine Angst vor Gewittern. Angst wegen des bißchen Elektrizität?! Übrigens ist der liebe Gott auch nichts anderes als Elektrizität. Da, schau an!«

Und Erwin in seiner Furchtlosigkeit stößt die Tür auf und tritt in das Wetter. Ein wütender Blitz und prasselnder Einschlag! Erwin kommt lachend in die Finsternis zurück:

»Das ist gar nichts für einen Menschen, der vierzehn Tage lang ununterbrochen im Trommelfeuer gestanden hat.«

Gabriele packt des Bruders Hand. Sie fürchtet, daß die Strafe für seine Lästerung ihn niederschmettern werde. Zugleich aber bewundert sie ihn. Ja, das ist Erwin, für den es sich lohnt zu leben. Er aber streichelt sie, er nascht an ihrer Hand mit gierigen Fingern:

»Warum fürchtest du dich, Biela, wenn ich neben dir bin? Fühl doch einmal meine Muskeln an! Ich bin sogar stärker als der Halbhuber aus der Quarta ...«

Immer näher kommt er.

»Uns kann nichts auseinanderbringen, Biela! Wir beide werden die letzten Menschen auf der Welt sein.«

Gabriele wimmert. Aber es ist ihr wohlig zumute. Erwins Stimme ist auf einmal leise und tief:

»Ich werde nie heiraten und du wirst auch niemals heiraten, Biela!«

Die ganze Welt ist erfüllt von einem Wolkenbruch. Die Sintflut ist es. Und das Salettl fährt auf dem Wasser dahin wie die Arche. Einige Schwalben, die sich vor dem Regen in die Arche geflüchtet haben, zwitschern und flattern zu Häupten der Geschwister. Erwin küßt Gabriele.

Jetzt weiß sie wieder, daß dies Schlaf ist. Und sie wendet ihr Gesicht nicht ab wie vorhin, so daß der Kuß sie voll berührt.

Durch die unendliche Stimme des Regens aber, die wie der Trab von Millionen Zwergpferden auf einem Holzpflaster klappert, durch diese unendliche Stimme tönt eine andere, eine ferne und überirdische Frauenstimme:

»Erwin, Gabriele!«

Großmama, die auf der Terrasse des unsichtbaren Hauses steht und die Kinder ruft.

Gabriele reißt sich los, um zu gehorchen.

Erwin aber packt sie schmerzhaft an und zieht sie in die Finsternis zurück:

»Bleib, Biela, ich werde dir etwas zeigen!«

Gabriele sucht fiebernd die Tür:

»Laß mich, Erwin, laß mich!«

Aber wie hastig sie auch mit zuckenden Händen an den Wänden tastet, sie findet die Schnalle nicht. Die Tür ist versunken, verschwunden.

»Gabriele, Erwin!«

In der weithintönenden, heimrufenden Stimme schallt jetzt ein angstvolles Mahnen und eine gewaltige Drohung.

*

Gabriele fährt aus dem Schlaf.

Das Hotelzimmer! Ach ja! Österreichischer Hof! Wer ist denn hier?

Erwin sieht seine Schwester mit einem bedrückten und unsicheren Ausdruck an:

»Störe ich dich, Gabriele? Ich komme nur, mich ein wenig nach dir umsehn.«

Er legt seinen Mantel nicht ab. Gabriele rührt sich nicht. Es wird immer dunkler in der schlechten Kammer und Erwin wird immer bedrückter: »Du kannst soviel Theater- und Konzertbilletts haben, als du nur willst.«

Gabriele rührt sich nicht:

»Ich würde dir raten, viel ins Theater zu gehn, Musik, moderne Musik zu hören ...«

Gabriele hat die furchtbaren Worte im Ohr: ›Ich werde sie schon auf irgend eine Art loswerden.‹ Sie rührt sich nicht.

»Theater und Konzerte! Die gibt es auf der ganzen Welt nicht großartiger. Du hast ja keine Ahnung, was bei uns in Berlin alles los ist.«

Bei uns! Gabriele rührt sich nicht. Aber sie weiß – wie immer – alles, was in Erwin vorgeht. Sie weiß, daß er sich jetzt ins Gegensätzliche steigert, sie weiß, daß er jetzt, mehr noch als in Judiths Gegenwart, der Bote dieser Fremden ist, und nur ihre Worte sprechen kann. Sie weiß auch, daß er sich schämt:

»Glaub mir, Biela, in der Provinz stirbt man ab. Es gibt eine Zurückgebliebenheit, die trennend auf Menschen wirkt. Man muß sich der Gegenwart anpassen. Wenn du schon hier bist, nütze die Zeit!«

Gabriele hört sich sprechen:

»Zum Theater gehören schöne Kleider. Bildung ... die ist nur für Judith da.«

Sie schaut zu Boden, der mit feuchtem und schmutzigem Herbstlaub bedeckt ist. Hart ist die Holzbank der städtischen Parkanlage, auf der sie mit Erwin sitzt. Nebel verfinstert die Bogenlampe. Graugesichter ziehen des Weges. Hinter Gabrieles Rücken aber steht Judith.

So vorsichtig sie auch mit ihren zarten Wildlederschuhen aufgetreten sein mag, das Herbstlaub hat doch geraschelt.

Gabriele ahnt, daß in diesem Raum etwas Scharfes und Spitzes gegen sie gezückt wird. Eine Hutnadel vielleicht oder ein Blick. Sie ist nicht sicher, ob sich Judith nur angeschlichen hat, um ihr Gespräch mit Erwin zu belauschen, um den Mann nicht allein zu lassen, oder ob sie jetzt die Stelle wählt, wo sie zustoßen wird. Mag sie zustoßen! Und schnell! Gabriele ist zu müde, um sich umzudrehn und die Mörderin zu entlarven.

Sie hört Erwin zu:

»Ich fühle, daß du von Judith ein Zerrbild siehst, Gabriele. Sie ist ein fabelhafter Mensch und du solltest dich bemühn, sie zu erkennen. Sie kommt natürlich aus andern Kreisen als wir, aus viel geweckteren Kreisen übrigens, aber ich habe in ihr die erste und einzige geistige Frau gefunden, die ich kenne!«

Gabriele rührt sich nicht. Auch Judith hinter ihr rührt sich nicht.

Erwin läßt nicht ab, Judiths Lob zu singen:

»Du kannst es gewiß nicht ganz ermessen, wie fertig ich nach dem Krieg gewesen bin, Gabriele. Die Gleichgültigkeit des Untergangs war das. Was sollte aus mir werden? Ich hatte nicht zu leben und kannte Niemand. Meinesgleichen gab es Hunderte. Wenn mir Judith nicht begegnet wäre, ich säße heut in einer Barkapelle oder als zweiter Geiger in einem Operettenorchester.«

Gabriele rührt sich nicht. Judith rührt sich nicht.

Erwins Rede wird immer eindringlicher:

»Judith kommt aus dem höchsten Glanz. Alle Lebensgüter sind ihr selbstverständlich. Du hast gar nicht den Maßstab, Judith richtig zu sehn. Wir stammen ja aus guter, alter Familie und ich will nichts gegen unsere Jugend sagen. Aber diese entsetzliche Enge, Biela, in der wir aufgewachsen sind, dieser Aberglaube und diese ewige Knappheit! Oh, ich könnte mich fast schämen! Schau, Judith hat mir die andere Seite des Lebens gezeigt ...«

Gabriele rührt sich nicht. Judith rührt sich nicht.

Erwin bekennt:

»Was ich geworden bin, habe ich ihr zu verdanken ... Und meine Kunst? Hier, lies selber!«

Gabriele sieht, wie Erwin mit einer neuen und schamlosen Geste in die Rocktasche greift und Zeitungsausschnitte hervorholt. Aber ein Windstoß entreißt sie ihm und wirft sie unter Laub und Schmutz.

Die Schwester verwundert sich über ihre eigenen Worte, die nun aus ihr dringen:

»Für alles, was du Judith verdankst, Erwin, müssen wir ihr dankbar sein.«

In diesem Augenblick verschwindet Judith im Rücken Gabrieles. Die so lang Bedrohte zuckt zusammen. Sie weiß nicht, ob sie verwundet ist oder nicht.

Erwin ist plötzlich voll kleinlauter Zärtlichkeit:

»Glaub nicht, Gabriele, daß ich jemals vergessen kann, was du für mich getan hast.«

Gabriele rührt sich nicht.

Erwins Stimme klingt weinerlich:

»Du hast dich aufgeopfert für mich, wo du nur konntest. Du hast diesen alten Hofrat geheiratet. Du hast mich immer über Wasser gehalten und vielleicht auch Dinge getan, die ich nicht wissen will ...«

Gabriele sieht Erwin an:

»Warum redest du so viel, Erwin? Ich bin ja nicht mehr in Berlin. Jetzt mußt du aber gehn, denn an der Ecke dort wartet Judith auf dich.«

Erwin stöhnt:

»Was für ein Unsinn! Vergangenheit ist Vergangenheit. Wir sind ja nur Bruder und Schwester. Was willst du eigentlich von mir? Wenn du mich brauchst, werde ich für dich immer da sein!«

»Ich werde dich nie wieder brauchen, Erwin.«

Er schlägt sich an die Stirn:

»Wahnsinn, sentimentaler Wahnsinn! Und gehört das in diese Stadt?!«

O Erwin, trüber Mensch, trüb wie eine qualmbeschlagene Scheibe, was weißt du von deiner Schwester? Ahnst du denn die klare Begeisterung, die sie jetzt erfüllt, da du das Unvergängliche zerstört hast? Ahnst du die engelhafte Freiheit, die sie beschwingt? Könntest du in deinem satten, stumpfen Sinn sonst fragen:

»Was ist dir, Gabriele? Weinst du?«

Gabrieles Augen drängen Erwin in den Nebel zurück:

»Ich? Weinen? Warum? Ich sage dir nur Adieu.«

Sie läßt ihn hinter sich. Mit jedem Schritt Entfernung ist sie freier, immer höher hebt sie sich vom Erdboden, und nun, von einer unbeschreiblich angenehmen Gleichgültigkeit emporgetragen, fliegt sie.

*

Dies aber ist völlig neu.

Nicht mehr durchmißt die gleiche Gabriele den Raum. Nicht mehr irrt die gleiche schlafende und wachende Frau durch ein großes Haus, wo jede Tür in ein andres Zimmer des Schlafens oder Wachens führt. Diese süße Gleichgültigkeit, diese Leichte des Flugs gehört einem neuen Wesen an, das den braunen Mantel abgeworfen hat.

Das Eigentümliche ist, daß Gabrielen jeder Weg offen steht. Eines freien Willens ohne Grenzen ist sie sich bewußt. Wollte sie ihr Kind besuchen, der Wunsch allein hätte Macht, sie zu Erwine zu führen.

Aber nicht Erwine sucht sie, sie sucht Näheres, sich selbst.

So schwebt Gabriele jetzt im Operationssaal, wo Gabriele unter den Händen der Ärzte in ihrem Blute auf dem Tische liegt. Das schwebende Wesen empfindet zum liegenden Wesen keine liebende oder leidende Beziehung, sondern nur stille Neugier und kühle Beobachtung. Die freie Gabriele betrachtet die angeschnallte Gabriele, ihr gelbes Gesicht mit der kleinen weißen Maske. Sie sieht mit voller Klarheit die in ihrem Fleisch arbeitende Hand des Professors, sie sieht die Instrumente in dieser Hand und an den Fingern die glitschigen Gummihandschuhe. Sie sieht das Blut, ihr Blut, das durch eine besondere Vorrichtung, eine Traufe, auf den Kachelboden niedertropft. Sie sieht den Assistenten, der ihren Puls belauscht. Sie sieht die Instrumentarschwestern, die sich mit erregten Wangen über sie beugen. Sie vernimmt, feinsten Gehöres, das leichte Wimmern des Ventilators. Sie hört das Niederklirren der Pinzetten und Messer. Sie hört in der atemanhaltenden Stille die kurzen, zuckenden Befehle des Professors:

»Klammer! Schneller!«

Eine Schwester stürzt zum Sterilisator.

»Puls?!«

Der Assistent hebt ein wenig ihre Hand.

»Fünfundvierzig!«

Der Professor beschimpft einen Gehilfen:

»Kamel!«

Dies alles hört und sieht Gabriele voll lässiger Neugier. Sie empfindet kein Mitleid mit dem kämpfenden Leben dort. Ihr ist, als wäre das todfarbige Gesicht auf dem Operationstisch nur ein einziges unter ihren unzähligen Gesichtern, wie ihr Leib als etwas tausendfach Austauschbares ihr erscheint.

Das Allermerkwürdigste aber: Wohl fühlt sich Gabriele schweben. Doch es ist nicht ein bestimmter Punkt im Raum, wo sie schwebt. Ohne daß sie sich bewegt, ist sie zugleich unter der zischenden Bogenlampe, über ihrem eigenen Kopf, bei der Tür oder an den Fenstern. Sie hat die Empfindung einer auf diesen Raum beschränkten Allgegenwart und Substanzlosigkeit, doch weiß sie, daß sie nichts hindern könnte, hier zu sein und zugleich in ihrer Heimat.

Nur etwas ist außer ihr noch gegenwärtig, das mit eigenartiger Kraft ihr Schweben bedrängt. Der Ort scheint vollgepfropft mit Existenzen zu sein, welche der ihren gleichen.

Von diesen Existenzen und ihren durcheinander wirkenden Willenswirbeln geht ein gleich gerichteter Magnetismus aus, der zu einem gemeinsamen Ziele hinstrebt. Es entsteht eine Strömung, die von Nu zu Nu stärker wird und der sich Gabriele nicht entziehen kann.

In ihr selbst lebt dieses Ziel, das sie nicht kennt und nicht zu benennen vermag, obgleich ein unbestimmtes Wort sie durchtönt, welches in die Sprache des Bewußtseins übersetzt die Bedeutung etwa von ›Versammlungsort‹ hat.

Schon aber ist sie nicht mehr Herrin ihres Willens, die Strömung betäubt sie und reißt sie mit sich fort. Der Gehorsam gegen diese mächtige Strömung befriedigt sie wie eine fromme Tat. Sie genießt die unerklärliche Freude eines selbstbewußten Nicht-Seins.

Erst als sie eine elektrische Lichtwolke umgibt, sammelt sie sich wieder. Von der Lichtwolke geht eine Gegenkraft aus wider den reinen Einfluß, der sie weiterziehen will. Einen unendlichen Augenblick lang besinnt sie sich, welcher der beiden Kräfte sie sich hingeben soll.

Es ist ein unaussprechlicher Augenblick der Entscheidung. Mit dem Gefühl, etwas sehr Unanständiges zu tun, läßt sie sich locken, läßt sie sich fallen, gibt sie es auf, das unerklärliche Ziel zu verfolgen.

Nun ist sie allein. Eine ausgelassene und liederliche Stimmung bemächtigt sich ihrer. Sie glaubt betrunken zu sein, so abenteuerlich und lüstern ist ihr zumut. Sie erkennt ihr eigenes Lachen nicht, so heiser und verkommen klingt es, als sie sich auf der Straße findet.

*

Vor allem: Gabriele hat sich irgendwo und irgendwann umgekleidet. Die Herkunft der schönen Kleider, der glänzenden Elegance ist ihr unerfindlich. Aber die neue Gewandung ist zugleich ein neuer Leib, der sich um den Kern ihres Lebens schließt.

Fast wollüstig sieht sie ihre Beine schreiten, die der kurze Rock kaum bis zum Knie verhüllt. Sie spürt die dick aufgestrichene Salbe auf ihren Lippen und die dunkel-bläuliche Entourage, aus der ihre Augen blicken. Sie ist sich langer, lauernder Blicke seltsam bewußt und eines selbstverliebten Spieles aller Bewegungen, das ihr fremd bleibt.

Der Kern ihres Lebens aber vibriert von übermütiger Rachsucht. Rache wofür? An wem? Das kümmert sie wenig, da der lustvolle Trieb sie bis an den Rand erfüllt. Mit der Vergangenheit hat sie abgerechnet. Niemals wieder wird sie einen braunen Strapaziermantel tragen, sparen, sich plagen und ihre Hände mit Nähen und Waschen verderben. Endlich ist sie frei und allen Gefängnissen entkommen. Keine Rücksicht gilt mehr für sie. Auf wen auch hätte sie Rücksicht zu nehmen?

Vom göttlichen Ziel, dem die Existenzen dort oben in blinder Strömung zustreben, ist sie abgefallen. Jetzt will auch sie es mit dieser Stadt versuchen. Jetzt darf sie leben. Und leben heißt – diese Überzeugung brennt in ihr – sich hinwerfen, sich wegwerfen.

Die Straße brüllt. Niegesehen wilde Lichtreklamen peitschen rot, grün, blau, orangene Geflechte in die Nacht. Inmitten des unendlichen Autotrubels, der Kinopaläste, Massenrestaurants, Cafés und der zynisch-bekümmerten Menschenzüge sieht Gabriele eine große Kirche. Wie ein riesiges Tintenfaß klappt diese Kirche jetzt ihre Kuppel auf und eine scheußliche Orgel gießt ihr Klangspülicht über die weite Kreuzung. Sollte man es für möglich halten, das Gottesinstrument donnert einen Schlager in die Welt. In die heiligen Pfeifen und Register scheint eine Jazzband eingebaut zu sein.

Die Straße nimmt den frechen Rhythmus der Orgel an. Auch Gabriele setzt die Füße zum Takte der Musik. Warum denn nicht?

Eine Stimme neben Gabriele:

»Kleine protestantische Abendmusik!«

Sie beschleunigt ihre Schritte nicht.

Die Stimme:

»Heiße Soundso! Bin Gentleman! Komme ins Haus, Karte genügt.«

Die Stimme trägt einen kleinen schwarzen Schnurrbart und Monokel. Die Orgel dröhnt. Gabriele sagt sich, ich muß mir all seine Worte genau merken. Aber Totenkopffalter lenken sie ab, die vor ihren Augen flattern. Soundso erkundigt sich:

»Gedenken, Gnädige, den Abend zu verbringen?«

Aber natürlich! Ihr stehen ja Eintrittskarten in alle Theater und Konzerte zur Verfügung. Sie soll sich bilden, damit man sie auf irgend eine Art loswerden könne. Niemand aber wird sie zwingen, vergiftetes Abendbrot zu essen. Sie braucht keine Gnaden. In der ersten Minute schon hat sie Antwort gefunden.

Die Stimme mit dem schwarzen Schnurrbart ist amüsant und hat einen angenehmen Klang trotz ihrer komisch krähenden Worte. Jetzt flüstert sie in Gabrieles Ohr:

»Erstklassige Scherzartikel und andere Qualitäten bei mir garantiert!«

Gabriele bleibt stehn und staunt wiederum über ihr heiseres Lachen.

Dann hängt sie sich in die Stimme ein.

»Bitte dankbar das Händchen geben! Hiermit wohnst du den letzten Runden des Sechstagerennens bei.«

Die Stimme mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart bläht sich:

»Pünktlich um Mitternacht Finish!«

Gabriele trinkt süßen Likör.

Sie übersieht mit klaren Augen von ihrer Loge her das wahnsinnige Treiben des Sportpalastes. Noch immer lebt in ihr ein Rest jener kalten Gleichgültigkeit, jenes Überall und Nirgend, jenes unfaßbaren Augenblicks, da sie sich selbst geschaut hatte auf dem Schmerzenstisch. Er lebt in ihr als eine unbeteiligte Verstandesschärfe, die sie noch niemals an sich kennengelernt hat.

Sie begreift die Spielregeln des Sechstagerennens mit einem hellen Blick, noch ehe ihr Begleiter sich anschickt, sie fachmännisch zu erklären. Sie begreift, hört, sieht überhaupt alles um einen Zeitbruchteil früher, als es vor sich geht. Wie der Vorschlag einer Note in der Musik ist das. Soundso wird jetzt trinken, weiß sie, und in der nächsten Sekunde trinkt er wirklich. Jetzt wird ein Kellner sein Tablett mit Tellern zu Boden fallen lassen; und im nächsten Nu schon splittert und klirrt es irgendwo.

Manchmal beginnt Gabriele wieder außer sich zu schweben und allgegenwärtig im Raum zu sein; aber der Antrieb ist schwach, sie vermag sich nur unbedeutend von ihrer Loge zu entfernen. Wenn sie zurückkehrt, lacht die Stimme mit dem schwarzen Schnurrbart belustigt.

Doch weniger denn je träumt sie. Sie ist fähig, die Märsche der Zirkusmusik zu verfolgen. Sie hört den immer wieder gestachelten Aufschrei der Menge, ohne etwas von den Witzen und Zutunlichkeiten ihres Gegenübers zu verlieren. Sie liest die Resultatmeldungen des Rennens auf der Leinwand, und die Schärfe ihres Gedächtnisses prägt sich mühelos die Nummern der Sieger ein.

Längst weiß sie, daß Judith hier ist.

Gabriele hat keinen Grund, sich zu verstecken. Sie schämt sich ganz und gar nicht, daß sie einen Kavalier gefunden hat. Ihre fade Blondheit schreckt nicht alle ab. Sie ist auch in Berlin nicht verlassen, trotzdem sie Erwin nicht von der Bahn abgeholt und durch seinen Verrat so tief verwundet hat. Judith steht hochaufgerichtet in der Nebenloge.

Gabriele fixiert ihren dunklen reizenden Totenkopf! Sie selbst aber scheint für die Schwägerin unsichtbar zu sein. Sie muß ja unsichtbar für Judith sein; denn mit ehrgeizbesessenen Augen blickt die Feindin hinab in die Manege, die wie ein weißes Stück Totenstille aus dem surrenden, siedenden Umkreis der Arena gespart ist. Auf den geneigten Rädern dieser weißen Totenstille rasen die Kämpfer, wie Liebende hingebungsvoll über ihren Rädern liegend.

Nummer Sieben aber – dies erkennt Gabriele – ist ihr Bruder Erwin.

Wie Möwenblitz über Wassern, Runde für Runde, kreist die dichtgereihte Folge der Räder um und um.

Die Stimme:

»Sechs Tage, sechs Nächte jedes Paar im Sattel! Spitzenleistung der modernen Menschheit. Die alten Turnierritter tun mir leid!«

Irgendwo wird der vernünftige Sinn dieses Rennens bezweifelt.

Die Stimme fährt herum, begehrt auf:

»Erlauben Sie 'mal! Angebot und Nachfrage ist nichts?? Prima-Existenz ist nichts?!«

Ein tausendstimmiger Schrei:

»Sieben bricht aus!«

Und dann:

»Vorwärts Sieben!!«

Gabriele sieht, wie Judith die nackten Arme hochhebt, sie hört den erstickten Ruf der Feindin:

»Erwin überrundet alle!«

Sie aber läßt die rasende Anstrengung des Mannes kalt, der die Nummer Sieben auf dem Rücken seines Dreß trägt. Wie hat sie sonst zu Gott gebetet, daß ihr Bruder ein Sieger des Lebens werde. Aber nun hat sie ja Abschied von ihm genommen, und er ist ein Fremder, eine Nummer Sieben. Dieser Sieg geht sie nichts an. Es ist Judiths Sieg.

Erwin löst sich, waagrecht auf dem Rade keuchend, von der Spitze der Fahrerkette. Er gewinnt Vorsprung. Eine Staubwolke, steigen die tobenden Stimmen zur Höhe.

Gabriele ist ruhig.

O Erwin, was tust du, Verlorener!? Nie wieder kann dich Gabriele schützen. Glaubst du wirklich, daß dich Judith liebt? Sie hetzt dich, sie peitscht dich, sie reißt dir das Leben aus dem Leib ...

Prasselnder Triumph. Krach der Musik. Revolverschüsse gellen gegen die Wände. Soundso wirbelt vor Begeisterung um sich selbst. Nummer Sieben hat die Bahn überrundet. Er nähert sich schon dem Nachtrab der Kette.

Da strömt in Gabriele eine erschütternde Gotteserkenntnis auf:

›Jetzt bist du der Letzte, Erwin! Denn die Ersten sind die Letzten, weil alles ein Kreis ist.‹

Eine alte Hand streichelt leicht über Gabrieles Kopf:

»Die Ersten werden die Letzten sein.«

Mein Gott, das ist ja Hochwürden Franz Xaver Überberger, Gabrieles Katechet, der ihre Schulklasse gefirmt hat.

Beim Religionsunterricht pflegte der dicke alte Herr den Mädchen die Beantwortungen seiner eigenen Fragen immer selber zuzuflüstern. Auch wenn ein Höherer zur Inspektion kam, hat er sich dieser Methode nicht geschämt. Jetzt flüstert er seiner Schülerin wieder zu:

»Dies alles hier, meine kleine Gabriele Pacher, ist auf Sand gebaut.«

Die leisen Worte scheinen die Beantwortung einer schwierigen Katechismusfrage zu sein, denn unter ihnen beginnt der Sportpalast zu wanken.

Die gichtische Bauernhand ruht auf Gabrieles Stirn:

»Erinnerst du dich noch, wie ich mit euch botanisiert habe? Nun, unsere Berge werden hierherwandern. Denk dir, ich hab heut in der Hohenzollernstraße Enzian und Zyklamen gepflückt.«

Die Wölbung der alten Kirche schwebt über der Manege. Franz Xaver Überberger flüstert noch immer:

»Das Sechstagerennen ist ein Hundertjahrerennen. Laß sie nur kämpfen und brüllen! Die starken Blumen siegen zuletzt.«

Gabriele blickt sich nach dem besänftigenden Sprecher nicht um. Wie eine Wohltat ist es ihr, daß hier ein heimlicher vielhundertjähriger Krieg geführt wird. Sie kann es nicht ausdenken, aber sie begreift, daß es um ihre Sache geht. Ja, ein Krieg der Ihrigen, der Stillen und Langsamen gegen den besinnungslosen Tumult. Die Letzten werden die Ersten sein. Erwin aber ist zum Feinde übergelaufen.

Soundso mahnt:

»Schluß!«

Hochwürden Überbergers Stimme wird immer zärtlicher:

»Was erzähle ich dir da, meine liebe Freundin Gabriele Pacher? Du siehst ja viel viel mehr als ich ...«

Und wirklich, Gabriele sieht so viel, daß sie es nicht einmal auseinanderhalten kann. Sie sieht die lorbeerbekränzten Radfahrer um einen Hochaltar herumblitzen. Sie sieht Kellner mit Kirchenfahnen in der Hand vorüberlaufen. Die wüste Menge drängt sich den Ausgängen zu. Aber mitten in dieser Menge erblickt sie, in weißem Firmungskleidchen, ihre Freundinnen: Hier die Mizzi Trimbacher, dort Ursula Höpler und Franzi Hufschmied. Sie sehen nicht anders aus, als sie ausgesehen haben. Aber im Abgrund der Manege, von Felsen umstanden, steigt der dunkle Spiegel des Lanser Sees.

Die Stimme mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart ist ungeduldig.

Gabriele fragt, selber flüsternd, ihren alten Lehrer:

»Ist es genug? Darf ich mich jetzt setzen? Darf ich in die Bank zurück?«

Der Katechet lächelt hinter ihrem Rücken wohlwollend-nachsichtig:

»Diesmal genügen die zehn Gebote, der Englische Gruß und das Vaterunser nicht. Die Inspektion ist mit ihren Prüfungsfragen noch nicht fertig. Aber hab keine Angst, Gabriele Pacher! Ich werde dir einsagen ...«

Daraufhin nimmt der geistliche Herr voll komischer Anmut Gabriele unterm Arm und führt sie mit einer altertümlichen Verbeugung ihrem Begleiter zu.

›Warum lassen alle Männer ihre Hosenträger herabhängen, wenn sie sich entkleiden? Kommt das daher, weil sie von den Affen abstammen?‹

So klar kann Gabriele denken. Und klar sieht sie das verschmierte Tapetenmuster, die mürben Vorhänge, die schmutzige Bürohängelampe in diesem Hotelgarni-Zimmer. Sie fühlt unter sich ein feucht-kaltes Bettuch, das gewiß nicht sauber, sondern nur überbügelt ist. Aber sie, die Reinliche, schaudert heute nicht zusammen unter solcher Berührung, denn sie weiß: Jede Seele hat ihre hunderttausend Körper. Wie soll man all diese hunderttausend Körper vor Schmutz bewahren!

Die Stimme mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart schmeichelt:

»Du bist ein Puzzelchen. Wirklich fein, daß ich dich habe!«

Gabriele zuckt nicht zusammen. Was will diese fremde, fremde Stimme:

»Bist du denn gar nicht neugierig, meinen Namen zu erfahren?«

Welchen Namen? Der tabakdurchräucherte Atem nähert sich. Das Männliche dringt auf einen ihrer Körper vor.

Sie spürt nichts. Sie weiß nichts. Sie sitzt am Bette der kleinen Erwine.

Das Kind erwacht, blinzelt und verzieht das Gesichtchen:

»Mami! Kommst du bald wieder?«

»Aber ich bin doch hier bei dir, Winerl.«

»Nein, du bist nicht hier, Mami.«

»Sei nur ruhig, Winerl! Warst du schön brav?«

»Nein, Mami, ich hab geweint, ich war schlimm.«

»Warum denn?«

»Weil du fort bist, Mami. Ich hab nicht essen wollen.«

»Trägst du auch immer das Leiberl unterm Hemd, wie ich's der Tante gesagt hab. Jetzt im November mußt du es immer anziehn ...«

Die Mutter überzeugt sich mit tastender Hand davon, ob ihr Auftrag auch wirklich erfüllt wird. Das Kind beginnt zu weinen.

»Warum weinst du denn, Winerl?«

»Mami, Mami, ich hab so viel Angst, daß du nimmer wiederkommst.«

»Schlaf, Winerl! Ich komme wieder, wenn ich weiß, wie er heißt!«

Jetzt in der Finsternis ist die Stimme mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart nur mehr ein schnarchender Atem. Gabriele setzt sich leise im Bett auf. Sie horcht, sie zittert:

»Wie heißen Sie?«

Keine Antwort! Der fremde Atem geht seines Weges. Gabriele wird von ihrem jagenden Herzen hin und her geschüttelt:

»Wie heißen Sie?«

Der Atem unterbricht sich. Eine fette Zunge schnalzt und schmatzt. Und jetzt! Das ist nicht mehr die fremde Stimme. Das ist eine abgehackte, von Betretungshohn berstende Stimme, die Unverständliches aus einem dünnen Schlafe lallt.

Gabriele springt gejagt aus dem Bett:

»Wie heißen Sie?«

Da kräht es zurück:

»August!«

Zugleich mit dem gräßlichen Schrei, der aus Gabriele fährt, grellt das Licht auf.

Der Tote wälzt sich auf dem Lager. Aber es ist nur zur Hälfte ein Bett. Große Schollen schwarzer Erde häufen sich auf dem Laken. Verfaulte Holzbretter liegen quer über der spitzengesäumten Decke, braunes Laub bedeckt das Kopfkissen und das Drahtskelett eines Kranzes hängt zur Seite. Vergeblich versucht der Tote, sich aus der Umklammerung des Grabes zu lösen. In Fetzen flattert der Frackanzug von seinen arbeitenden Gliedern. Er röchelt:

»Polizei! Die Diebin, die Ehebrecherin hat mir die Brieftasche gezogen! Aufhalten die Diebin! Warte nur ...«

In schwerer Finsternis springt Gabriele die hundert gewundenen Treppen eines Turmes hinab. Ihr nach die Stimme des Toten:

»Aufhalten!«

*

Wesen der geheimen Polizei ist es nicht, die Verfolgten zu stellen und zu verhaften, sondern nach höherem Befehl ein unberechenbares Spiel mit ihnen zu treiben. Die Geheimpolizei verzichtet darauf, Uniformierte oder Zivilbeamte gegen die Angeklagte vorzusenden. Sie begnügt sich damit, eine Macht zu sein, die auf ihre Art und mit undurchdringlichen Absichten manchmal nahekommt und öfter noch sich weit entfernt. Vor allem aber hat Gabriele und alle andern die unbeschränkteste Bewegungsfreiheit.

Es ist also nicht verständlich, warum sie sich das Leben aus dem Leibe rennt. Vielleicht ahmt sie nur ihre Leidensgenossen nach. Denn neben ihr trabt es gleichmäßig und unsichtbar durch die Nacht. Sie tut nichts dazu, die Gesellen zu erkennen. Der Trab durch die Nacht ist nicht unangenehm. Man läuft in allerhand Minen, in den Tunnels und Schächten der Untergrundbahn. Man läuft nur deshalb, weil Laufen die einzige Lebensform ist, und Stehenbleiben etwas, was keinem gelingen würde. Unter den Mitläufern befindet sich viel Frauenhaftes. Das beruhigt Gabriele. Doch ist sie froh, als sie wieder frische Luft atmet.

Die Gesellen verlieren sich. Gabriele läuft jetzt allein. So frei sie sich fühlt, in tiefster Seele weiß sie, daß ihre Freiheit Schritt für Schritt vorherbestimmt ist. Die Fliehende hat den Verdacht, daß alles, was ihr begegnet, eigens gestellt ist, um ihr irgendwelche Fallen zu legen.

Sie hastet den Damm eines pechigen Kanals entlang. Da sieht sie, daß beim mißduftenden Licht einer Karbidlampe einige Männer eine Frau wieder zum Leben erwecken wollen. Gabriele ahnt, daß sich in dieser Ertrunkenen einer ihrer tausend Leiber verbirgt, daß sich ihr eigenes Schicksal dort begibt. Eine bittere, schier unbezwingliche Lust wandelt sie an, der Leblosen ins Gesicht zu sehn. Aber ihr Verdacht sagt sofort: Das Ganze ist eine Falle. Sie flieht weiter.

Im nächsten Augenblick hört sie hinter sich einen kleinen keuchenden Atem und zugleich das rhythmische Geklirre einer im Lauf zitternden Halskette. Sie weiß sofort: Ein armes Kind!

Da beginnt das Stimmchen zu weinen:

»Helfen Sie, meine Dame!«

Gabriele läuft, ohne sich umzudrehn.

Das Stimmchen fleht immer bitterlicher:

»Helfen Sie, meine Dame! Ich kann nicht nach Hause gehn. Die Mutter kommt nicht wieder.«

Eine wehmütige Versuchung, das Kind in die Arme zu nehmen, wächst mächtig in Gabriele. Aber sie widersteht mit aller Kraft. Denn auch dies ist nur eine Falle.

Noch, als sie weit draußen über sandige, pfützige, gestrüppbestandene Flächen saust, wimmert und klingelt es hinter ihr drein. Aber jetzt ist es vielleicht Amor.

Wie lange soll dieser Lauf noch dauern!? Immer wieder rollende Straßen entlang, gefährliche Kreuzungen, Bahnkörper überquerend, wenn von beiden Seiten Lokomotiven anbrausen! Dann die Ebene draußen, deren Äcker und Wiesen von ziehenden Segeln durchschnitten sind. Nichts ruht. Immer ist alles in Bewegung, als wäre die ganze Welt nichts andres als eine träge und sinnlose Flucht vor einer noch sinnloseren Verfolgung.

Für ihre Beine fürchtet Gabriele nicht. Sie sind jung und stark genug, noch viele Stunden durch Disteln und sumpfige Stellen zu stapfen. Hunger und Durst aber quälen unerträglich.

Was bleibt ihr andres übrig, als nach Hause zu gehn und ein Restchen Speise und Trank zu suchen. Sie biegt in ihre Heimatstraße ein, sie tritt ins Haus. Der Goldschmied hämmert seine zierliche Musik, der Kampferduft aus der Drogerie schlägt ihr entgegen. Sie sucht in allen Kästen ihres Zimmers nach Zuckerwerk. Aber die Schokoladeschachteln und Fruchtkörbchen sind längst geleert. Vielleicht wird etwas in der Küche zu finden sein ...

Da starrt sie die offene Tür des Totenzimmers an, die von dickem Infektionsqualm erfüllt ist. Eine Falle! Gabriele stürzt aus dem Haus.

Auf irgend einer Straße der Welt überlegt nun die arme Seele, was sie tun soll, ihren tödlichen Durst zu löschen. Wen hat sie noch, daß er ihr zu trinken gäbe? Oh, könnte sie doch eine andere Antwort finden! Aber es gibt nur eine einzige Antwort: Erwin! Man kann einsam leben und einsam sterben. Aber trinken muß jeder Mensch. Dem Durst kann er sich nicht entziehn. Und im Durst verschmachtet jeder Stolz.

So wandert sie denn, da ihr alle Flugkraft verlorenging, durch den bleischweren Raum ihres Lebens zu Erwins, zu Judiths Haus. Man hat sie ja eingeladen zu dem, was man Abendbrot nennt.

Aber im erleuchteten Flur sinkt ihr der Mut. Wie sieht sie aus? Zerzaust im zerrissenen Nachthemd, die nackten Füße vom Kot der Straßen beschmutzt.

Die Sonntagsgesellschaft scheint noch immer versammelt zu sein. Der strengäugige Diener und ein Mädchen mit Karaffen, Flaschen, Platten durcheilen den Vorraum. Klirren und Gelächter dringt aus der Tür.

Die Verdurstende will umsinken. Da tritt Erwin heraus und schaut suchend nach allen Seiten. Noch einmal nimmt Gabriele alle Kraft zusammen. Lieber diese Qualen ertragen, als Erwins gestörten, verlegenen Blick. Nur fort von hier!

Gabriele irrt noch durch viele Straßen. Anspringende Gefahren und immer ärgere Widerwärtigkeiten erlebt sie: Gemeine Blicke, scheußliche Worte und Begebenheiten, die gegen sie entsendet werden.

Endlich aber findet sie sich in einer großen Halle, dem Wartesaal dritte Klasse eines Bahnhofs ähnlich.

Allerhand Gesindel hat sich hier zusammengerottet. Arme Leute, Auswanderer wohl, die ihren Zug erwarten, schlafen auf ihren Bündeln.

Gott sei Dank! Das Büfett ist geöffnet. Gabriele verlangt ein Getränk. Ein Kellner ohne Kragen (sie sieht deutlich, daß ihm zwei Finger der rechten Hand fehlen) schiebt ihr das unsaubere Glas hin. Endlich darf sie trinken. Aber nach dem ersten Schluck schon läßt sie das Glas zu Boden fallen. Flüssiger Pfeffer rinnt ihr durch die Kehle.

Nicht besser ergeht es ihr, als sie zwei Bissen essen will. Auf der bierüberschwemmten Platte des Büfetts steht ein Aufsatz mit belegten Broten. Gabriele greift nach einem der Brötchen. Aber wie sie es zum Munde führen will, bewegt sich der kleine Fisch auf der ranzigen Fläche und schlägt mit dem Schwänzchen. Sie wirft mit Entsetzen die Speise fort.

Unauffällig versucht sie, davonzugehn.

Der Kellner erhebt die drohende Stimme:

»Und wer bezahlt, meine Dame?«

Gabriele spürt eine betäubende Blutwelle. Sie tastet in die Luft. Ihre Handtasche ist fort. Verloren- oder liegengelassen.

Der Kellner mahnt mit ermüdeter Schärfe:

»Hat die Dame keinen zahlenden Herrn bei sich?«

Gabriele ergibt sich. Sie ist in die Falle gegangen. Der Kellner beginnt laut zu schimpfen und zu höhnen:

»Feine Wirtschaft das! Mit der Zeche durchgehn! Ich werde Sie nach der Polizeisperre als Pfand mit mir nehmen.«

Der Kellner hetzt immer weiter. Die Leute bilden einen lachenden und murrenden Kreis um Gabriele. Unter ihnen sind die ›Schergen‹ aufgetaucht, die Gabriele aus einem historischen Roman kennt. Diese Schergen sind ungewöhnlich gekleidet. Sie tragen Stulpenstiefel und ganz kurze gezackte Wämser, die ihnen kaum zum Nabel reichen. Der Unterleib ist nackt. Eigentümlicherweise fehlt ihnen das männliche Glied, an dessen Stelle eine dicke rote Narbe zu sehen ist.

Einer der Schergen deutet auf die Aktentasche, die er unterm Arm hat:

»Die Tasche vom Herrn Hofrat. Ich trag sie ihm nach.«

Ein andrer betastet das Leder:

»Was ist drin?«

»Die saldierten Rechnungen des Herrn Konzertmeisters. Jetzt hat er es nicht mehr nötig, Schulden zu machen. Der Herr Hofrat aber hat dran glauben müssen.«

Der Kellner erkundigt sich:

»Woran ist der Herr gestorben? An Lungenentzündung, nicht wahr?«

Der Scherge:

»Was fällt Ihnen ein, Herr Ober? An Hungerödem ...«

Die Mitteilung erregt Interesse. Alles drängt näher. Der Scherge verbreitet sich:

»Der Herr Hofrat hat dreimal im Tag starke Fleischmahlzeiten verordnet bekommen. Aber die Zeiten nach dem Krieg waren schwer und die Frau wollte sparen. Nun ja! Die Ausbildung des Bruders hat das halbe Gehalt verschlungen ...«

Jemand läßt sich vernehmen:

»Das ist eine strafbare Handlung.«

Der Scherge bekräftigt:

»Natürlich ist das eine strafbare Handlung, dem Herrn Bruder nachlaufen. Bis nach Berlin. Gehört sich das? Und er kann sie gar nicht loswerden ...«

Gabriele hört, wie eine alte Frau, die sie von daheim kennt, einem Schergen erklärt:

»Das Ganze kommt daher, weil sie nicht ins Kloster gegangen ist.«

»In welches Kloster?«

Die Frau zischelt:

»Wissen Sie das nicht? Sie hat mit zwölf Jahren ein Gelübde abgelegt und dann gebrochen. Damals hat sie genau gespürt, daß mit ihr etwas nicht in Ordnung ist.«

Ein Herr mit hochgeschlossenem schwarzen Rock doziert:

»Seinen Kinderglauben bewahren, ist gefährlich. Seinen Kinderglauben verlieren, ist gefährlicher. Aber das Weder-Noch ist am gefährlichsten. Daraus entsteht lauter ungebildete Schweinerei.«

Der oberste der Schergen gibt einen Wink:

»Am besten wäre es, Departement V anzurufen: Totenreich!«

Widersprechende Stimmen:

»Unmöglich! Wissen Sie denn nicht, daß die Toten streiken?«

»Was!? Auch Telephon und Telegraph?«

»Lesen Sie nur die Abendblätter, bitte! Generalstreik der Toten!«

Mittlerweile sind die armen Schläfer erwacht und treten hinzu. Die Stimmung der Leute wird immer feindseliger. Furchtbare Schläge gellen gegen den Kopf der Gefangenen:

›Sie soll sich ausweisen!‹ – ›Eine Ausländerin!‹ – ›Die Personalien abnehmen!‹

Mag geschehn was will! Länger kann sich Gabriele nicht wehren. Wenn nur jetzt der Leiter des Ganzen käme und ein Ende machte mit ihr!

Aber es kommt ein Helfer, wenn es auch nur ein alter und schwacher Helfer ist. Pan Radetzky hat sich von der Bank, wo er unter den Armen schlief, aufgerappelt:

»Laßt sie laufen, Leute! Hat sie denn verzehrt, was sie bezahlen soll? Seit wann bezahlt man, was man nicht verzehrt? Laßt sie! Sie ist ja auch nur ein Auswanderer und wartet auf den Zug ...«

Das Murren beruhigt sich. Die Menschen kehren auf ihre Plätze zurück. Gabriele sieht, wie Pan Radetzky mit dem Kopf wackelt und seinen Leuten vorseufzt:

»Bezahlen! Man soll auch noch bezahlen, was man nicht verzehrt hat. Als ob das Leben ein Wucherer wäre!«

Jetzt aber gellt eine böse Glocke und Stimme durch das Lokal:

»Fünf Uhr! Raum freigeben!«

Unter eine große Menschenmenge gekeilt, wird Gabriele ins Freie gedrängt.

Eine öde Morgendämmerung liegt in den Straßen, liegt auf ihren Augen, liegt auf allen Augen. Stumpf und hell wie die Pupillen von Starblinden sind die Augen der armen Seelen, die sich dem Tag entgegenschicken. Und der Tag der Welt selbst ist grauer Star, der sich vor Gottes Licht schiebt.

Die Strömung trägt sie. Aber nicht mehr jene heitere Strömung schwerloser Existenzen, sondern Graus und Häßlichkeit, die Strömung der Schlacken. Schlechte, übelduftende Kleider und Leiber umpressen Gabriele. Dies vielleicht ist das über sie verhängte Urteil: Ein hilfloser Teil zu sein dieser traurigen Masse, die zu hoffnungsloser Arbeit zieht. Und der Leib verschmachtet vor Durst, Ekel und Schande. Immer dichter umhüllt sie der fuslige Atem der Tausenden mit einer Verlassenheit, in der sie ersticken wird.

Gabriele weiß, wenn jetzt das winzige, mühsame Aufflackern in ihr mißlingt, ist sie verloren für ewig.

Beten! Aber alle Gebete in ihr sind ausgelöscht von einer schweren Hand. Nicht einmal mehr den Namen Christi kann ihr Gedächtnis bilden.

Der Tag beginnt. Die Masse schiebt sich vorwärts. Zeitungsburschen jagen wie Wahnsinnige dahin. Die Stadt räuspert sich heiser und böse. Verloren!

Da blitzt es durch Gabrieles Erinnerung: ›Bezahlen! Zahlen!? Ich soll ja zählen!‹

Zuerst vermag in ihr keine Zahl zu werden. Vergessen jedes Wort, vergessen jede Ziffer! Ihre ganze Kraft pocht in verzweifelten Stößen gegen den Widerstand.

Die Straße spült die Menschenzüge auf einen Platz. Man kann freier atmen. Der Asphalt vibriert wie ein riesiges Gummiband. Roll-Läden rasseln empor.

Und jetzt bricht es mit erlöstem Schrei aus Gabriele:

»Eins, Zwei, Drei ...«

Sogleich entsteht um sie ein leerer Raum und die Gewalt der Zahl Drei reißt sie wie ein ungeheurer Sturm empor und zum Himmel.

*

Das erste, was geschieht, ist, daß Gabriele den großen runden Holznapf voll Milch austrinkt.

Sie stürzt den gütigen Trank hinunter, dann, nach gelöschtem Durst schlürft sie immer langsamer, während Sonne, Insektengesumme, Blätterschatten, hundert schwebende Bilder des Lebens sie leicht umschaukeln und eine unbeschreibliche, tierhafte Wonne in sie einzieht.

Sie greift nach dem Brot, das ihr Großmama hinschiebt und brockt und kaut mit tief-aufmerksamer Bewußtlosigkeit die Gabe: Das Brot schmeckt wie gutes Korn- und Hausbrot. Und doch, es ist noch ein anderer, würzigerer Geschmack dabei, eine Kraft, die sich dem Blute sofort mitteilt, nicht nur als holde Befriedigung, sondern auch als feines unsägliches Wissen.

Gabriele kaut gelassen. Geborgenheit umspült sie wie ein Bad. Sie sieht mit unbewegten weitgeöffneten Augen hinaus. Der alte wohlbekannte Garten. Drüben, jenseits des Wassers, die Gipfelzüge der andern Seite. Hier das ›Platzerl‹ unter dem Nußbaum auf dem kurzen Rasen, der den Fußsohlen so wohltut.

Großmama schält mit einem Taschenmesser Walnüsse. Ihre Finger sind schon ganz braun. Die grünen Schalen wirft sie auf die Erde, die Nüsse in einen Korb. Gabriele sucht Großmama, unter deren Herrschaft sie nach dem frühen Tode der Eltern aufgewachsen ist, wiederzuerkennen. Großmama hat sich stark verändert, so daß man fast daran zweifeln könnte, ob sie es wirklich ist. Sie scheint größer und knochiger geworden und hat einen überlegen-scharfen Gesichtsausdruck bekommen. Oft sieht sie aus wie eine alte Bäuerin, oft wie eine gebietende Frau, die einem großen Hause vorsteht.

Jetzt öffnet sie mit dem Messer eine Nuß und löst mit zierlicher Sorgfalt das gelbe Häutchen ab. Den Kern steckt sie der Enkelin in den Mund.

Gabriele schmeckt wollüstig die Süßigkeit des Nußkerns. Sogleich bemerkt sie, daß ihre Zunge mit einer merkwürdigen und neuen Kraft des Geschmacks begabt ist. Es scheint ihr, als hätte sie noch niemals eine Nuß im Mund gehabt. Sie fragt:

»Was ist das? Was schmecke ich in der Nuß?«

Die Frau schält immer weiter mit braunen Fingern:

»Schau dir solch einen Kern nur gut an, Mädel! Jede Nuß ist ein Kopf, ein Gehirn. Vor dieser Welt war einmal eine Welt, in der die höchsten Geschöpfe, die damaligen Menschen, Nüsse waren. Gott hat diese sehr weise Welt zerstört. Aber im Geschmack der Nüsse ist etwas von ihr übrig geblieben. Auch das Öl in der Haut, es war der Haß, das Bitterböse, ohne das nie etwas gelebt hat ...«

Gabriele ist sehr eingenommen von diesem Märchen. Wie ein Kind möchte sie noch mehr hören von der Natur und den neuen Sinnen, die ihr geschenkt worden sind. Aber die Frau ist wieder eifrig mit den Nüssen beschäftigt und deutet mit ihrem Schälmesser unbestimmt in die Welt, als wollte sie sagen: Sieh dich selber um!

Gabriele erblickt einen Strauß von Zyklamen auf dem Tisch. Sie riecht zu den Blüten. Niemals noch hat sie erfahren, wie übermächtig dieser Duft ist, denn auch ihr Geruchssinn ist verwandelt; nicht allein ein genießender Sinn mehr, sondern ein geistiger Sinn. Von der Lebensgewalt der Alpenveilchen betroffen, ruft sie aus:

»Der Geruch singt.«

Die Frau verzieht keine Miene:

»Hör nur gut zu!«

Die Schalen fallen auf die Erde, die Früchte in den Korb. Gabriele aber riecht das Lied der Zyklamen:

Wir sind ein Geschlecht der Berge,
Die herrlichste Sippschaft unter allen Veilchen.
Darum sind wir stolz auf uns.
Und grüßen einander,
Wenn unsere Nähe erklingt
Zwischen Moos, zwischen Wurzeln, Latschen und Steinen.
Allstündlich erzittern wir vor Freude,
Und die Freude allein
Macht stark den Duft und das Lied der Geschöpfe.
O so stark, o so ruhig ist unsre Freude!
Wie die witternden horchenden Tiere ihre Ohren zurücklegen,
So legen wir unsere Blütenblätter zurück
In anbetender Aufmerksamkeit,
Und öffnen unsren großen runden Mund,
Licht und Wasser zu empfangen.
Wir segnen die Elemente der Ernährung:
Licht und Wasser!
Wir fluchen nicht den Kräften der Zerstörung:
Nacht, Sturm und Frost!
Denn auch der Tod ist wohltätig,
Weil er nicht lange dauert ...

Tränenüberströmt reißt sich Gabriele vom Lied der Zyklamen los, das nicht endet. Ein ungeheures Leben erschließt sich vor ihr. Sie möchte das Wort aller Blumen vernehmen. Großmama aber nimmt ihren Arm. Sie gehn über den Kiesweg. Gras, Strauch, Bäume scheinen nicht aus festem Stoff gefügt, sondern nichts anderes als eine verschieden abgestufte Strömung und Formung der Farben.

Es ist nicht das mächtige Zirpen der Grillen allüberall, was man zu hören vermeint, sondern der Brandungston des Lichtes, wenn es von Erde und Gras zurückgeworfen wird. Denn das Licht ist kein ruhig waltendes Element, sondern ein kristallener Platzregen. Gabriele hält ihre Hand gegen die Sonne. Da sieht sie ihr Blut brennen, was nur Kindern zu sehn vergönnt ist, denn Erwachsene halten ihre Hand nie gegen die Sonne. Sie erkennt, daß auch das Blut verlangsamtes, dickflüssiges und vom Herzschatten verdunkeltes Licht ist.

Sie beginnt dem Geheimnis nachzuhängen: Blut! Im Blute dieser Frau waren sie, Erwin und Gabriele, inniger, näher, dereinst verschwistert gewesen, als im Blute der leiblichen Mutter. Gerade aber vor ihr ist es so schwer, darüber zu sprechen. Dennoch kommt es über Gabrieles Lippen: »Ist es denn etwas Böses, daß ich Erwin lieb habe?«

Großmama schweigt und schaut bekümmert drein. Gabriele sucht Unsagbares zu erklären und zu verteidigen:

»Wenn man miteinander aufwächst ... Ich denke seine Gedanken, ich atme seinen Atem, ich weiß seinen Willen schon vorher ... Jede Zuckung in ihm spüre ich, von der Judith noch nichts ahnt ... Was sind das für falsche Worte: Ich hab ihn lieb? ... Das ist ja alles viel einfacher ... Unser Haar riecht gleich ... Die Zyklamen lieben einander auch ... Und das soll etwas Böses sein? ... Wenn wir auf Bäumen wüchsen, wäre es nichts Böses ...«

Die alte Frau verkneift ablehnend den Mund. Gabriele aber kann sich nicht bezwingen:

»Großmama! Wenn er arm geblieben wäre, ich könnte das glücklichste Wesen auf der Welt sein. Aber er hat sich verkauft und weggeworfen. Und das Schlimmste: Er ist nicht mehr er selber und darum auch nicht mehr ich selber. Er spricht nicht seine, unsre Worte mehr, denk dir, er spricht schon ganz berlinerisch. Daß er verlegen war, das muß ich ihm verzeihen. Aber wie soll ihm Gott verzeihen, daß er nicht mehr er selber ist, sondern ein unsicherer und deprimierter Mensch? Ach, er war mein Stolz und mein Vorbild. Ich habe von ihm erhofft, daß er mit unserm Geigenton die Welt erobern wird. Jetzt aber hopst er wie ein Verrückter und kratzt den Willen Judiths auf der Geige. Denn das Weib hat ihn mit ihrem schwarzen Öl angefüllt bis oben. Sie ist die gelbe Haut, das Bitterböse in der Nuß und der Kern schmeckt schon ganz giftig. Machen die fremden Frauen alle den Mann bitterschmeckend mit ihrem Öl?«

Dies und noch viel mehr fühlt Gabriele aus ihrem Herzen strömen. Garten und Mittag aber sind von solcher Klarheit, daß die trüben Worte des Bekenntnisses wie Winterrauch ihr vor dem Munde schweben bleiben. Das macht sie sehr unzufrieden mit sich selbst.

Großmama wehrt ab:

»Du bist ja so müde, Gabriele. Ich werde dich schlafen legen.«

Ja, sie ist müde und voll Neugier auf den Schlaf. Es wird ein wunderbares Erlebnis sein, wie Essen, Trinken und das Lied des Geruchs.

Die Frau geht voran in das Haus, das ein Bauernhaus ist und doch wieder nicht. Bekannt und unbekannt zugleich scheint es Gabrielen. Großmama öffnet eine Tür:

»Das ist dein Zimmer!«

Gabriele weiß sogleich: Dies ist selbstverständlich mein Zimmer, dies und kein andres auf der Welt. Nichts könnte ihrem Wesen gemäßer sein als der kleine Raum mit dem schmalen Bett, den hellen Wänden, den vielen Blumen und der weitaufgetanen Fenstertür, die auf einen kleinen Balkon führt. Dieses Zimmer, diese Zelle ist sie selbst. Nirgends wird sie zu Hause sein als hier. Sie denkt:

»Das also ist die Ewigkeit! Warum denn nicht?«

Großmama, die jetzt eine Nonnenhaube trägt, öffnet die Tür ins anstoßende Zimmer. Gabriele folgt ihr. Der Raum gleicht genau dem ihren. Nur gibt es hier keine Blumen und ein kleiner Bücherschrank steht da, auf dessen oberer Platte der Geigenkasten liegt. Ein Milchnapf und Butterbrote sind vorbereitet. Aber der kleine Balkon fehlt.

Gabriele müßte nicht erst die alten Schulbücher und den Geigenkasten wiedererkennen, um zu wissen, daß dies Erwins Zimmer ist. Die Miene der alten Frau wird immer unerbittlicher und härter. Mit festem Ruck schließt sie Fenster und Läden dieser Stube. Es wird dunkel. Dann nimmt sie Milchnapf und Brotlaib und drängt Gabriele gebieterisch aus Erwins Zimmer in das ihre zurück.

Nun stellt sie die Speisen nieder und sperrt umsichtig und gründlich mit einem ziemlich großen Schlüssel des Bruders Kammer ab. All dies geschieht schweigend. Mit steigender Angst verfolgt Gabriele das harte Wesen der Frau:

»Was tust du, Großmama?«

»Absperren!«

»Und Erwin darf nicht nach Hause?«

»Nein!«

»Und ich werde ihn nicht wiedersehen?«

»Nein!«

Gabriele will die Hand der Alten packen, greift aber ins Leere. Sie stößt hervor: »Und hierher führen darf ich ihn auch nicht?«

Mit zwei Schritten tritt die Großmutter auf den Balkon. Ihr Bauernrücken beugt sich unversöhnlich. Weit ausholend wirft sie den Schlüssel in die Tiefe. Antwort genug! Sie müßte gar nicht erst brummen!

»Wenn du dir den Schlüssel holst!«

Was erlebt Gabriele alles in dem Schwindel des überfüllten Augenblicks? Zimmer und Schlaf ziehen sie zurück, der Gedanke an Erwin reißt sie vorwärts und nicht minder stark die Sehnsucht, sich wieder unter die unklaren und schmutzigen Dinge des Lebens zu mischen, die sie fürchtet. In einem plötzlichen Wind steht sie auf dem Balkon. Eine kurze spitze Angst noch ... Und sie wirft sich, immer schneller stürzend, dem unendlichen Raum in die Arme.

*

Der Raum tötet sie nicht.

Wie ein treues Kamel sinkt er in die Knie und läßt sie sanftmütig niedergleiten mitten auf der gewaltigsten Straßenkreuzung Berlins.

In diesem Augenblick gibt der Verkehrsschutzmann das Zeichen. Von allen Seiten rattern die Autobusse, Lastkraftwagen, Luxusgefährte, Taxameter vorwärts. Gabriele weicht, zur Seite springend, einem langgestreckten blitzenden Prachtwagen aus, da wirft sie die Wucht des Omnibusses nieder. Der langschmetternde übermenschliche Schmerz schleift sie ins Erwachen.

Als Gabriele nach der furchtbaren Operation in ihrem Hospitalzimmer erwachte, bemerkte es niemand.

Es hätte auch schwer bemerkt werden können, denn die Kranke gab kein Lebenszeichen von sich. Sie allein wußte, daß sie erwacht und wieder in der Welt sei. Ihre Augen zu öffnen hatte sie die Kraft nicht. Aber die Lider waren so dünn geworden und durchscheinend, daß sie alles sah, was um sie herum geschah, ebenso wie sie alle Worte hörte, die gesprochenen und auch die ungesprochenen.

Zuerst erkannte sie die Krankenschwester und den Assistenten, die an ihrem Bette standen. Der Assistent hielt noch immer ihren Puls. In der Mitte des kleinen Zimmers sah sie den Professor, den Guten, den sie liebte. Er trug keinen weißen Kittel mehr, sondern einen Pelz und stand aufbruchbereit da. Im Schatten der Tür bemerkte Gabriele noch zwei andere Gestalten, die eine Scheu zu haben schienen, tiefer ins Zimmer zu treten. Die eine: Ein fremder Herr, der einen Notizblock in der Hand hielt. Der andere Mann aber war Erwin, ihr Bruder.

Ja! Dies war Erwins leise Stimme:

»Und Sie geben keine Hoffnung, Herr Professor?«

Wie machtvoll, wie beruhigend sah der Professor in seinem Pelz aus! Wenn er nur bliebe! Gabriele hörte ihn:

»Es wird alles vom Herzen abhängen.«

Natürlich, davon wird alles abhängen. Wie schnell mußte Erwin gelaufen sein! Sein Atem keuchte hörbar. Er wischte sich die Stirn immer wieder mit dem Taschentuch ab. Sein Mantel – auch er trug einen braunen Raglan – stand offen. Eine blonde, feuchte Strähne hing ihm fast in die Augen. Jetzt kam eine weinerliche Frage aus ihm:

»Wie ist das nur möglich gewesen!?«

Und er wiederholte immer wieder, wie ohne Bewußtsein:

»Entsetzlich, unbegreiflich, entsetzlich ...«

Fast schmerzhaft drang die allzuklare und nahe Stimme des Assistenten in Gabrieles Ohr.

»Wenn Sie wüßten, wieviel Unfallsverletzte während eines Tages in der Charité eingeliefert werden!«

Der fremde Herr zwang seinem Schnarren einen sanft-bedauernden Klang ab:

»Ich bitte um Verzeihung, aber meine Pflicht verlangt, daß ich ein paar Fragen an den Herrn richte. Eine Formalität. Aber nach dem Bericht von Augenzeugen scheint ein Selbstmordversuch nicht ganz ausgeschlossen zu sein.«

Gabriele empfand es, wie Erwin über die Zumutung, daß sie einen Selbstmordversuch begangen haben könnte, empört auffuhr:

»Aber das ist ja ein Unsinn, ein krasser Unsinn!«

Der Herr bemerkte höflich:

»Ein Augenzeuge erzählt, daß er die Dame beobachtet habe, wie sie längere Zeit ohne Ziel wie eine Blinde über die Straße geirrt sei und dann dem Autobus geradezu in die Räder lief ...«

Erwin jammerte gequält:

»Unsinn, vollkommen unlogischer Unsinn ...«

Der fremde Herr stellte mit amtlichem Beileidston die Frage:

»Wie lange schon ist die Frau Schwester in Berlin?«

Erwin schien von einer gehetzten Redseligkeit ergriffen zu sein.

»Ganz kurz! Sie ist gestern früh sieben Uhr fünfzig mit dem Passauer Zug aus Österreich eingetroffen. Leider hat sich ein Mißverständnis ereignet. Meine Schwester hatte depeschiert, und ich, gehetzt, wie ich leider leben muß, habe den Ankunftstag und die Stunde falsch gelesen, habe mich verlesen. Dadurch ist es geschehen, daß ich nicht an der Bahn war. Ich bin furchtbar erschrocken darüber, aber dann ist es zu spät gewesen. Sie müssen wissen, meine Herren, Gabriele ... meine Schwester ... ist äußerst empfindlich, was sage ich, feinfühlig, ja schwärmerisch veranlagt. O mein Gott, wir stehen inniger zueinander als Geschwister sonst; wir waren seit frühester Jugend die besten Kameraden! Sie ist immer mein guter Engel gewesen, fanatisch geradezu, und dies in Zeiten, wo kein Mensch an mich geglaubt hat. Ach, was erzähle ich Ihnen da, mein Gott, mein Gott ...«

Erwin unterbrach sich, warf einen Schreckensblick auf Gabriele und verzog sein Gesicht, als müsse er und könne nicht weinen:

»Und jetzt ... dieses entsetzliche Unglück!«

Der Fremde sah auf seinen Notizblock:

»Die Frau Schwester hat im Hotel ›Österreichischer Hof‹ Logis bezogen?«

Erwin wischte sich heftiger die Stirn und sprach immer schneller, so daß Gabriele Mühe hatte, kein Wort zu verlieren:

»Jawohl! In einem schlechten Hotel! Auch das! Wir hätten Platz genug gehabt. Unsere Wohnung ist sehr groß. Sie gehört zwar meiner Frau. Aber das gilt doch gleich. Es war eben eine ganze Kette von Mißgeschick. Schon dieser unglückselige Sonntag. Da haben wir – daß heißt meine Frau – nun wir sehen viele Menschen bei uns, Freunde. Es wird über künstlerische Dinge geredet, musiziert. Weder meine Frau noch ich waren vorbereitet auf Gabriele ... auf meine Schwester ...«

Gabriele hörte die leise Stimme des Professors:

»Hat es etwa Mißhelligkeiten zwischen Ihnen gegeben?«

Erwin entgegnete, durch diese Frage beleidigt:

»Ganz und gar nicht! Wo denken Sie hin, Herr Professor? Mißhelligkeiten! Warum denn Mißhelligkeiten? Es war einfach ein Durcheinander! Ich bin vollkommen überrascht gewesen, als Gabriele vor mir stand. Man macht ein dummes Gesicht, wenn man überrascht wird. Und meine Schwester hatte doch jedes Anrecht auf die wahnsinnigste Wiedersehensfreude. Denn wir haben uns viele Jahre lang nicht gesehen. Jetzt bereue ich es tief. Denn auf einmal steht man einander gegenüber, und die vielen Jahre ... Was sagen Sie, Herr Professor?«

Der Professor hatte nichts gesagt.

Erwin wandte sich nervös an den Fremden.

»Wozu solche extreme Vermutungen? Erklären Sie mir, wo liegt ein Grund für Ihre Annahme vor? Wir haben doch gestern ganz normal miteinander geplaudert ... Meine Frau war natürlich noch weniger auf den Besuch vorbereitet. Sie wissen ja, wie Frauen sind. Andre Welten! Eifersucht auf die Gegenwart! Eifersucht auf alles Vergangene! Man steht dazwischen ... Aber ich rede und rede. Und dort liegt sie ...«

Gabriele fühlte am Stimmklang des Professors, wie tief er in ihr Schicksal vordrang:

»Ist Ihre Frau Schwester verheiratet?«

Warum überstürzten sich Erwins Worte?

»Witwe, Herr Professor! Er ist vor drei Wochen gestorben. Hofrat August Rittner, hoher Beamter, anständiger Mensch, nur leider um fünfundzwanzig Jahre älter als sie. Ich hätte unter besseren Umständen die Einwilligung zu dieser Ehe, die übrigens durchaus glücklich war, keinesfalls gegeben ...«

Erwin lehnte sich, als habe ihn Schwindel erfaßt, gegen die Wand und schloß die Augen:

»Aber das Leben, meine Herren!«

Der Fremde, der sich von der Tür nicht fortrührte, setzte jetzt seinen unbeteiligt-sachlichen Ton gegen Erwins Erregung:

»Die Frau Schwester hat den gestrigen Abend nicht in Ihrer Gesellschaft verbracht.«

»Das ist es ja eben. Sie hat versprochen, daß sie zum Abendbrot bliebe, und plötzlich war sie verschwunden.«

»Die Frau Schwester wohnte gestern nachts in Begleitung eines Herrn dem Abschluß des Sechstagerennens bei.«

Erwin sah tieferstaunt den Fremden an.

»Aber davon habe ich ja keine Ahnung. Ich selbst hab das Sechstagerennen nie gesehn ...«

Die Kriminalbeamtenstimme schwelgte in Feststellungen:

»Der Unfall ereignete sich um acht Uhr dreißig morgens. Um fünf Uhr nachts wurde die Dame gesehn, und zwar in der Bahnhofsrestauration am Zoo.«

Gabrieles Hand spürte das Zornigwerden in der Hand, die ihren Puls hielt. Dieser Zorn zitterte auch in der Frage des Assistenten:

»Ist Ihre Frau Schwester das erstemal in Berlin?«

Erwin antwortete kleinlaut, als müsse er einen Vorwurf abwehren:

»Sie hat sehr jung geheiratet und ist deshalb selten über Salzburg hinaus gekommen.«

Fest und klar kam es vom Munde des Assistenten:

»Meine Herren, ich halte es nicht für unwahrscheinlich, daß die Kranke das meiste von dem hört, was hier gesprochen wird. Außerdem ist es sehr unnütz, Mutmaßungen über Gründe und Ursachen anzustellen. Niemandem hilft das. Es gibt sehr viele Ursachen für das Unglaublichste. Übrigens stamme ich selbst aus einer österreichischen Kleinstadt und bin eines Morgens das erstemal auf dem Anhalter Bahnhof angekommen ... Verstehn Sie mich recht! Der Verkehr allein ist die Gefahr nicht ...«

Der Assistent unterbrach sich, als hätte er keine Hoffnung, verstanden zu werden. Er brummte vor sich hin:

»Jedenfalls ist der Verkehr in London viel größer ...«

Plötzlich aber faßte er die Hand fester, beugte sich vor und horchte.

Gabriele sah durch ihre geschlossenen Lider den bedeutsamen Blick des Professors, der auf den Assistenten gerichtet war. Scharf und wie verabredet klangen die Worte des Assistenten:

»Wenn Herr Professor befehlen, werde ich jetzt die Injektion vornehmen.«

Der Professor knöpfte seinen Pelz zu und kommandierte mit unvermittelter Grobheit:

»Ich bitte die Herren das Krankenzimmer zu verlassen!«

Gabriele sah nichts mehr.

Aber sie hörte den schnellen und schluchzenden Atem neben sich. Sie wußte, daß Erwin an ihrer Seite kniete. Sie wußte, daß er weinte. Auf ihrer fühllosen Hand spürte sie seine Küsse und Tränen. Sie spürte, daß er diese ihre Hand hielt wie eh und je, daß er sie drücke und presse, an ihr nasche wie an einer Frucht ...

Aber auch Gabriele hält Erwins Hand. Es ist gelungen. Das Fremde ist zerschmolzen. Die Jahre sind zerstäubt. Sie hat den Bruder wiedergewonnen. Sie darf ihn zurückführen ins Haus.

Aber zu keinem Haus und durch keinen Garten führt der Weg. Sie muß mitten durch den See wandern. Hold und lau schließt sich das Gewölbe des Wassers um sie. Und göttlich leicht läßt es sich atmen im grünlich-blauen Wasserraum. So wohl tut ihr dieses Leben, daß Gabriele es gar nicht merkt, wie lange sie schon Erwins Hand verloren hat.

In der Tiefe des Raums aber erblickt sie die Großmama. Die Frau schreitet immer hinter sich, und Gabriele muß sich beeilen, um nicht führerlos zu werden. Sie ist noch nicht geschickt genug, in diesem Element rasch vorwärts zu kommen. Großmama hat keine Zeit und scheint ungeduldig zu sein. Gabriele hört die ferne Mahnung:

»Komm schneller, damit ich dir endlich dein Leben erzählen kann!«