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Die Geschichte habe ich von ihm selbst gehört. Er war ein kleiner stämmiger Rotkopf mit einem grobporigen Gesicht und den schweren Händen eines Bauern. Seine Augen, die ins Grünliche spielten, hielt er zumeist niedergeschlagen, manchmal aber ließ er sie in einem unbeherrschten Feuer auffunkeln, wodurch der vierzigjährige, vom Leben umhergestoßene Mann einen knabenhaften und trotzigen Ausdruck gewann. Daß er ein katholischer Geistlicher war, sah man ihm nicht an. Er trug weder Kollar noch schwarzen Rock, sondern einen grauen Touristenanzug mit Kniehosen und Wadenstrümpfen. Als ich ihn das erstemal in Paris sah, war dieser Anzug schon recht abgewetzt. Zwei Jahre später in Amerika war er durchaus nicht eleganter geworden. Wir waren einander in Paris flüchtig begegnet. Obwohl mich seine Gestalt und sein Wesen sogleich mit ausgesprochener Sympathie erfüllten, kam es doch zwischen uns zu keiner Annäherung. Man hatte mich nämlich vor Kaplan Ottokar Felix gewarnt ...
Das Mißtrauen ist eine der giftigsten Schattenpflanzen des politischen Exils. Jeder Emigrant mißtraut dem andern und könnte er's, er würde sich selbst verdächtigen, denn seine Seele ist verstört, weil sie nirgendwo hingehört. Wer ist dieser österreichische Kaplan? fragten die Leute. Warum hat er sein Land verlassen? Niemand weiß etwas von ihm. Er ist nicht im Kampf gegen die Nazis gestanden, weder mit Tat noch Wort. Der österreichische Klerus hat nach dem Anschluß Frieden mit ihnen gemacht. Kann dieser famose Priester in Wadenstrümpfen nicht ein Emissär der Partei sein, dessen Aufgabe es ist, uns zu bespitzeln? Wie ist er über die Grenze gekommen? Jüngst hat man ihn übrigens in der Rue de Lille gesehen. In der Rue de Lille befindet sich die Deutsche Botschaft.
Ich hielt all dies Gerede für baren Unsinn, dennoch aber ging ich ihm aus dem Wege. Als er aber plötzlich vor mir stand in meinem Zimmer in Hunters Hotel zu Saint Louis, empfand ich eine unerwartete Freude. Das war jüngst im Spätherbst des Jahres 1941. Ich hatte am Abend vorher einen Vortrag gehalten, in dem ich, über die Krise der modernen Menschheit sprechend, die tiefste Ursache unseres Elends im Verlust des Gottesglaubens zu zeigen versuchte. Kaplan Felix, der unter meinen Zuhörern gewesen, zollte meinen Ausführungen einiges Lob und meinte, ich sei auf dem richtigen Wege, werde aber auf diesem Wege noch tiefer eindringen in das Geheimnis der modernen Verzweiflung. Er sah blaß aus, müde, unterernährt. Als ich mich aber, mit dem Vorsatz ihm zu helfen, nach seinem Ergehen erkundigte, wehrte er mit einer brüsken Handbewegung ab. Er habe alles, was er brauche. Schon während unserer zwei oder drei Begegnungen in Paris hatte er es abgelehnt, über sich selbst und seine Verhältnisse zu sprechen. Die Unterhaltung verließ also die allgemeinen Gegenstände nicht, als mir plötzlich jene Verdächtigungen einfielen, die damals in Frankreich unter den Refugiés gegen ihn laut geworden waren. Sie schienen mir jetzt angesichts dieses Mannes abstruser zu sein als je. Ich aber konnte mich nicht überwinden. Gegen meinen Willen und den Widerstand meines Gefühls fragte ich ihn nach den Erlebnissen, die ihn aus der Heimat vertrieben hatten.
Er sah mich voll an mit seinem treuen verwitterten Gesicht, dessen Sommersprossen und grobe Poren beinahe an Blatternarben erinnerten. Das rote Haar wuchs ihm borstig über einer niedrigen, aber schön zerfurchten Stirn. Die wimperlosen Augen lagen tief in den Höhlen, was ihr Aufleuchten beunruhigend machte.
»Ich bin Ihnen dankbar«, sagte der Kaplan, »daß Sie mich gerade danach fragen, was schon so weit zurückliegt, und nicht etwa nach den Konzentrationslagern in Frankreich, denen ich entkommen bin, nach meiner Flucht mitten durch die deutschen Linien, nach den Schleichwegen in den Pyrenäen, nach all diesen Abenteuern, die schließlich jeder von uns bestanden hat ...«
»Warum sind Sie mir dankbar?«
Er schwieg eine Weile, ehe er antwortete, ohne zu antworten.
»Ja, ja, das kommt daher, daß ich den ganzen Tag an Aladar Fürst denken mußte. Ihr Vortrag ist nicht unschuldig daran ...«
Und als er meine verwunderte Miene sah, lächelte er nachsichtig:
»Das war ein feiner Mann, ein guter Mann, der Doktor Aladar Fürst. Und er ist als erster in diesem großen Krieg vor dem Feinde gefallen, vor dem Weltfeinde. Und niemand weiß von diesem ersten Gefallenen, der für seinen Heldentod keine Medaille empfangen wird. Und dabei hat er mehr getan, als nur im Kriege fallen ...«
»Von welchem Kriege reden Sie? Im Jahre 1938, als Österreich verschluckt wurde, gab es gar keinen Krieg.«
»Oh, Sie werden gleich sehen«, nickte der Kaplan, »daß der große Krieg damals begonnen hat ... Seit gestern hab ich nämlich den Wunsch, Ihnen diese verschollene Geschichte anzuvertrauen, das heißt, sie in Ihre Hände zu legen. Verstehen Sie mich?«
»Was für eine Geschichte?« fragte ich.
Der Kaplan schützte seine empfindlichen Augen mit der Hand, denn grelle Nachmittagssonne stieß durchs Fenster, das auf den großen Park von Saint Louis hinaussah.
»Es ist die Geschichte von einem Juden, der Gottes Namen nicht mißbrauchen wollte«, sagte Felix ziemlich leise und fügte nach einigen Sekunden hinzu:
»Es ist die wahre Geschichte vom geschändeten und wiederhergestellten Kreuz ...«
Pater Ottokar Felix hatte die Pfarre in dem Marktflecken Parndorf inne, der im nördlichen Burgenlande zwischen einem waldigen Hügelzug und dem weitgestreckten Schilfsee von Neusiedl liegt. Das Burgenland, das seinen Namen von den zahlreichen mittelalterlichen Burgen herleitet, die im Südwesten seine Höhen krönen, ist die jüngste, ärmlichste und in mancher Beziehung merkwürdigste Provinz von Österreich. Vor dem ersten Weltkriege hatte es zu Ungarn gehört, das es durch den Zwang der Friedensverträge an seinen österreichischen Nachbarn abtreten mußte. Es ist ein typisches Grenzland, wo Ungarn, die Slowakei, Jugoslawien und Österreich einander begegnen. Demgemäß wird es auch von einem bunten Völkergemisch bewohnt, von ungarischen Gutsbesitzern, österreichischen Bauern, slowakischen Erntearbeitern, jüdischen Handelsleuten, kroatischen Handwerkern, Zigeunern und schließlich von dem undefinierbaren Stamm der Kumanen, die durch die türkischen Invasionen des siebzehnten Jahrhunderts nach Westen gespült wurden.
Parndorf selbst ist mit seinem ringförmigen Marktplatz, dem Gänsetümpel und den niedrigen, von Storchnestern besiedelten Strohdächern eines der trostlosen Kirchdörfer dieser Gegend, deren beinah schon asiatische Schwermut in scharfem Gegensatz steht zur Größe und Lieblichkeit der österreichischen Landschaft. All diesen Ortschaften würde niemand die Nähe Wiens und der edlen Alpenwelt anmerken. Durch sie scheint haarscharf die Grenze zwischen Ost und West zu schneiden. Die einzige Bedeutung Parndorfs besteht darin, daß es an der Hauptstrecke Wien-Budapest liegt und daß die strahlenden Waggons der großen Expreßzüge, die Orient und Okzident miteinander verbinden, an seinem winzigen Bahnhofsgebäude vorübersausen, welche weltweite Auszeichnung den Hauptorten der Provinz nicht zuteil geworden ist.
Warum Ottokar Felix aus der Wiener Arbeiter-Vorstadt Jedlesee, wo er Kaplan an der Hauptkirche war, in das gottverlassene Parndorf versetzt wurde, ist mir nicht bekannt. Da die Versetzung aber im Jahre 1934 erfolgte, nach den traurigen Schlachten zwischen den Wiener Arbeitern und den Regierungstruppen – wer erinnert sich nicht an diese historische Station auf dem Wege zum Absturz –, so nehme ich vermutlich nicht ohne guten Grund an, daß sich der Kaplan durch Parteinahme für die Sozialisten in den Augen seiner Obern kompromittiert haben mochte und nun eine Art strafweise Verbannung zu erleiden hatte. Er machte darüber keine Andeutung, und ich empfand eine Scheu, ihn auszufragen.
In Parndorf lebte eine kleine Gemeinde von Juden. Es waren etwa zehn Familien mit dreißig bis vierzig Köpfen insgesamt. In allen Bezirken und Ortschaften des schmalen, aber langgedehnten Burgenlandes lebten solche Gemeinden, in Eisenstadt und Mattersdorf, den großen Städten, in Kittsee und Petronell, dem sogenannten Dreiländereck, wo Ungarn, die Tschechoslowakei und Österreich zusammenstoßen, und in Rechnitz, weit unten im Süden, an der Grenze des südslawischen Königreiches. All diese Gemeinden setzten sich zumeist aus einigen alten Familien zusammen, die durchs ganze Land hin miteinander verwandt oder verschwägert waren. Man stieß überall auf dieselben Namen: Kopf, Zopf, Roth, Wolf, Fürst. Neben der Millionärs-Familie Wolf in Eisenstadt waren die Fürsts die Angesehensten, freilich in einem ganz anderen Sinne als jene. Großes Vermögen hatten sie nicht erworben, jedoch schon seit dem siebzehnten Jahrhundert eine Reihe von Rabbinern und Gelehrten hervorgebracht, die in der absonderlichen Geistesgeschichte des Ghettos eine bedeutende Rolle spielten. Auf zwei Dinge waren die burgenländischen Juden stolz: auf ihre gelehrten Männer und auf ihre Bodenständigkeit. Im Gegensatz zu andern jüdischen Stämmen nämlich hatten sie den Fluch der Wanderschaft und Heimatlosigkeit längst vergessen. Sie waren weder aus Rußland und Polen noch aus Mähren und Ungarn immigriert, sie rühmten sich, von jeher im Lande gesessen zu haben, und nur ein Teil von ihnen war während der Reformationszeit mit den verfolgten Protestanten aus der benachbarten Steiermark ins freiere Grenzgebiet gezogen.
Die namhafte Familie Fürst stammte aus demselben Parndorf, wohin das ungnädige Schicksal den Kaplan Ottokar Felix verschlagen hatte. Dort lebten auch Doktor Aladar Fürst, ein Mann von einigen Dreißig, jung verheiratet, Vater dreier Kinder, von denen das jüngste, ein Knäblein, an dem schwarzen Freitag, da Österreichs Freiheit gemordet wurde, genau drei Wochen alt war. Aladar Fürst muß ein Schwärmer und Abseitsgänger gewesen sein, denn als Doktor der Philosophie und Rechte, als Absolvent des berühmten hebräischen Seminars zu Breslau, als Weltmann, der in verschiedenen Hauptstädten Europas gelebt hatte, wußte er nichts Besseres zu tun, als zu den Strohdächern seines Heimatdorfes zurückzukehren, sich dort in seiner erlesenen Bibliothek zu vergraben und ansonsten das Amt eines ländlichen Rabbiners für Parndorf und einige Nachbargemeinden zu versehen. In einem uralten winzigen Bethaus hielt er Gottesdienst und erteilte in verschiedenen Schulen der Umgebung Religionsunterricht für die israelitischen Kinder.
Es war in diesem kleinen Orte selbstverständlich, daß der Kaplan und der junge Rabbi einander beinahe täglich begegneten. Und nicht minder selbstverständlich war's bei der delikaten Amts-Ähnlichkeit und Amts-Verschiedenheit dieser beiden Männer, daß sie es bis vor kurzer Zeit beim höflichen Gruße hatten bewenden lassen. Jüngst erst, bei Gelegenheit eines Hochzeitsfestes, zu dem auch Doktor Aladar Fürst zugezogen war, ergab sich zum erstenmal ein längeres Gespräch zwischen ihnen. Daraufhin machte Fürst im Pfarrhause einen Besuch, der sofort erwidert wurde. Der Rabbi lud den Geistlichen zu einer Mahlzeit ein. Es entwickelte sich ein regelmäßiger, wenn auch gemessener und förmlicher Verkehr. Zwischen Felix und Fürst stand vermutlich nicht nur die Verschiedenheit des Glaubens als hemmende Macht, sondern die jahrhunderttiefe Fremdheit und ein uralt gegenseitiges Mißtrauen, das sich auch unter höheren Seelen nur schwer überbrücken läßt. Dennoch faßte, wie er mir gestand, der christliche Priester eine rasche Zuneigung zu dem jüdischen Rabbi. Mehr als die Belesenheit und der Geist des Intellektuellen, den er als Mann der Praxis weniger schätzte, erfüllte ihn ein anderer Umstand mit hohem Erstaunen. Sooft er bisher mit einem Sohne Jakobs zu tun hatte, mußte er in dessen Augen eine dunkle Abwehr, ja ein mühsam verhehltes Grauen bemerken, das dem geweihten Priester der einst so feindseligen Kirche galt und jedem Gespräch eine enge Grenze setzte. Fürst unterschied sich von dieser Art sehr auffällig. Er war in allen Fächern der katholischen Theologie unheimlich gut beschlagen und schien ein großes Vergnügen zu empfinden, wenn er sein Licht leuchten ließ; er zitierte Paulus, Thomas, Bonaventura, Newman kenntnisreicher als ein geplagter Dorfkaplan dazu imstande gewesen wäre. Der Geistliche glaubte zu erkennen, daß Aladar Fürst weit über dieses vielleicht noch eitle Wissen hinaus in sich die ebenso alte wie durch unendliches Leid begreifliche Christus-Scheu seiner Väter überwunden hatte, ohne freilich sich von seinem eigenen Glauben auch nur einen Schritt zu entfernen. Felix erzählte mir, daß eine gewisse Bemerkung des Rabbiners auf ihn einen bewegenden Eindruck gemacht habe. Sie fiel während eines Gespräches über die Judenmission, welch heikles Thema nicht er, sondern Fürst erschreckend freimütig aufs Tapet brachte.
»Ich weiß nicht, Hochwürden«, so lautete jene Bemerkung des Rabbi, »warum die Kirche solchen Wert darauf legt, die Juden zu taufen. Kann es ihr genügen, unter hundert streberischen oder schwächlichen Renegaten vielleicht zwei oder drei echte Gläubige zu gewinnen? Und dann, was würde geschehen, wenn sich alle Juden der Welt taufen ließen? Israel würde verschwinden. Damit verschwände aber auch der einzige real-fleischliche Zeuge der göttlichen Offenbarung aus der Welt. Die heiligen Schriften nicht nur des alten, sondern auch des neuen Testaments würden damit zu einer leeren und kraftlosen Sage herabsinken wie irgend ein Mythos der alten Ägypter und Griechen. Sieht die Kirche diese tödliche Gefahr nicht ein? Und gar in diesem Augenblick der totalen Auflösung? ... Wir gehören zusammen, Hochwürden, aber wir sind keine Einheit. Im Römerbrief steht geschrieben, wie Sie wohl besser wissen als ich: ›Die Gemeinde des Christus fußt auf Israel‹. Ich bin überzeugt davon, daß, solange die Kirche besteht, Israel bestehen wird, doch auch, daß die Kirche fallen muß, wenn Israel fällt ...«
»Und woher kommen Ihnen diese Gedanken«, fragte der Kaplan.
»Aus unserem Leid bis auf den heutigen Tag«, versetzte der Rabbi, »denn glauben Sie vielleicht, daß Gott uns so viele Jahrhunderte hätte zwecklos erdulden und überstehen lassen?«
An jenem schwarzen Freitag Österreichs, dem elften Tage des März, da das Unfaßbare geschah, saß der Kaplan Ottokar Felix in seiner Stube. Es war sieben Uhr abends. Er hatte vor einer Stunde im Radio die Abschiedsworte des Kanzlers Schuschnigg vernommen, eine dumpfe Stimme, ›wir müssen der Gewalt weichen‹ und dann ›Gott schütze Österreich‹ und dann ein großes Verstummen und dann eine Musik von Haydn, feierlich und herzzerreißend. Felix saß noch immer vor dem Radio, das er abgestellt hatte, und rührte sich nicht. Ohne zu einer Klarheit zu kommen, überlegten seine lahmen eingerosteten Gedanken, wie er sich würde zu verhalten haben in dieser Katastrophe, die so plötzlich über das arme Land hereingebrochen war.
Da ging die Tür auf und Doktor Aladar Fürst stand in der Pfarrersstube. Er hatte die Anmeldung durch die Wirtschafterin gar nicht abgewartet. Fürst trug einen langen feierlichen Schlußrock. Es war ja der Sabbath schon angebrochen. Sein schmales Gesicht mit den dunkeln langwimperigen Augen und dem dünnen schwarzen Backenbärtchen war um einige Schatten blasser als sonst.
»Verzeihen Sie mir, Hochwürden«, hob er ziemlich atemlos an, »daß ich so ohne alle Umstände bei Ihnen eindringe ... Wir hatten die Feier schon begonnen und so habe ich erst jetzt ...«
»Ich denke wohl, daß die Ereignisse den Sabbath brechen«, bemerkte der Geistliche, als wollte er ihm zu Hilfe kommen, und schob den Lehnstuhl für den unerwarteten Gast heran, der aber niederzusitzen ablehnte.
»Ich brauche Ihren Rat, Hochwürden ... Denn wissen Sie, ich selbst habe das nicht erwartet, ich war so sehr vertrauensvoll, und jetzt ... Haben Sie gehört, daß der junge Schoch in der Gegend sich aufhält, seit einer Woche bereits, alles war längst abgekartet. Schoch ist Sturmführer der hiesigen SA. Er hat die ganze Bande zusammengetrommelt, die Bauernburschen, die Hilfsarbeiter der Kapselfabrik, die Arbeitslosen, sie sitzen alle besoffen im Wirtshaus und drohen, sie werden alle Juden in heutiger Nacht noch umbringen ...«
»Ich will sofort zum alten Schoch gehen«, sagte der Kaplan, »der Lausbub hat noch immer Angst vor dem Vater ...«
Das war nicht wahr, und Felix wußte selbst sehr genau, daß nicht der Sohn vor dem Vater, sondern der Vater vor dem Sohn heute zitternde Angst hatte. Er hatte nur so gesprochen, weil ihm nichts eingefallen war, um Fürst zu beruhigen.
Der alte Schoch war der reichste Weinbauer des Bezirkes und ein guter Katholik. Mit seinem Jüngsten, dem Peterl, hatte er ausgesprochenes Pech gehabt. Bisher wenigstens. Die Biographie Peter Schochs hat ihre Reize. Nachdem der auffallend hübsche Bursche mit siebzehn Jahren einer Magd des väterlichen Hauses ein Kind gemacht hatte – was nach ländlichen Begriffen noch lange keine Sünde ist –, hatte er das Mädel mitsamt dem Kinde tätlich bedroht, den Koffer der Verängstigten aufgebrochen und ihre ganzen Ersparnisse geraubt. Der alte Schoch, an seinen Jüngsten durch bedenkliche Affenliebe gebunden, geriet diesmal im Gegensatz zu früheren Streichen in die heftigste Wut, vor allem deshalb, weil die gemeine Geschichte unter die Leute geraten war. Er verprügelte mit Hilfe seiner älteren Söhne den Peter erst einmal gründlich und schickte ihn dann auf die Forstschule in die Stadt Leoben. (Neben den Weingärten besaßen die Schochs auch Waldungen.) Da aber der wohlgewachsene Tunichtgut ganze sechs Jahre lang in der untersten Volksschulklasse sitzengeblieben war und noch immer kaum Lesen und Schreiben gelernt hatte, rasselte er in Leoben schon bei der Aufnahmeprüfung durch, die dort jeder bessere Holzknecht leicht bestand. Peter berichtete seine Niederlage keineswegs nach Hause, sondern blieb in der lebhaften Stadt, wo es ihm weit besser gefiel als daheim in dem traurigen Parndorf, und verjuxte eine Menge Geld, das er zu vorgeblichen Studienzwecken seinem Alten zu entlocken verstand.
Peter Schochs ganz erstaunliche Laufbahn hätte in ruhiger Zeit zweifellos schlimm geendet. In unsern so denkwürdigen Tagen aber kam ihm die vom Dritten Reiche in allen Nachbarländern wohlbezahlte ›Bewegung‹ rettend zu Hilfe. Die Bewegung pflegte sich mit weitblickender Weisheit solcher Taugenichtse zu versichern. Sie wußte aus alter Erfahrung, daß die Abneigung gegen Alphabet und regelmäßige Beschäftigung die Eignung für rücksichtsloses Gewalttätertum zur fast ausnahmslosen Folge haben. Für jenen ersten Stoß aber, der den Widerstand des österreichischen Volkes brechen sollte, brauchte man nichts dringlicher als eine Garde entschlossener Gewalttäter. Nicht unwesentlich für das Wohlwollen, das gewisse Parteihäuptlinge für Peter hegten, war sein goldblondes Haar, sein schlanker Wuchs, sein kleines stumpfes Gesicht. Er wirkte im Gegensatz zu den Kahlköpfen, Schmerbäuchen und Hinkebeinen der Führer wie eine strahlende Illustration zu den Lehren der Rassentheorie und ihre Verklärung des nordischen Modellmenschen. Man erwies ihm täglich photographische Ehren, und sein Bild zierte in vielen Exemplaren die Karthotheken der deutschen Rassenämter. So geschah es also, daß der Sohn des reichen Weinbauern von Parndorf ein ›Illegaler‹ wurde. Er bezog von der Münchner Parteikasse eine Unterstützung von solcher Höhe, daß er unter seinesgleichen die Rolle eines imposanten Krösus spielte. Ein paar tollköpfige Missetaten für die Partei machten seinen Namen berühmt, und als er schließlich als Saboteur und Bombenwerfer für einige Monate ins Gefängnis wandern mußte, da war er endlich in die Reihe jener Märtyrer emporgerückt, die nach der Begegnung von Berchtesgaden und dem Zusammenbruch der österreichischen Regierung aus ›Schmach und Not erlöst wurden‹. Dies ist in aller Kürze die Geschichte des jungen Peter Schoch, dessen bloßer Name schon dem Doktor Aladar Fürst bleiches Entsetzen einflößte, und nicht nur ihm.
Jetzt hatte sich der Rabbi endlich doch niedergesetzt. Der Kaplan reichte ihm ein Gläschen Schnaps:
»Man muß nicht gleich an das Allerärgste denken«, meinte er.
»Wieso muß man nicht«, fragte Fürst, den Kopf mit einem Ruck hebend, »vielleicht müßte man ... Hören Sie, Hochwürden«, fuhr er nach einer Weile gepreßt fort, »in einer Stunde geht ein Zug an die ungarische Grenze ... Sollten wir nicht, ich meine die ganze Familie ... Freilich meine arme Frau ist erst vor drei Tagen aus dem Wochenbett aufgestanden ... was soll ich tun. Hochwürden, raten Sie mir ... Ich brauche einen Rat ...«
Und jetzt tat Pater Ottokar etwas, was er sich nie verziehn hat. Anstatt die Achseln zu zucken, anstatt zu sagen, ich weiß nicht, was das richtige ist, gab er einen Rat, einen bestimmten Rat, einen schlechten Rat. – Doch wer kann in solcher Lage ahnen, ob er gut oder schlecht rät?
»Wollen Sie wirklich alles so schnell im Stich lassen, lieber Doktor Fürst?« sagte also der Kaplan, der verhängnisvollerweise seine eigene Lage mit der des andern verglich, »wir kennen noch nicht einmal die neue Regierung, wer weiß, vielleicht kommt in Österreich alles anders, als man denkt ... Warten Sie doch die nächsten Tage ab!«
Aladar Fürst atmete bei diesen Worten erleichtert auf:
»Ich danke Ihnen für diesen Rat ... Sie haben gewiß recht, die Österreicher sind keine Deutschen und ich bin ein guter Patriot ... Es würde mir schrecklich schwerfallen, unser Haus zu verlassen ... Meine Familie lebt seit Menschengedenken hier, unsre Grabsteine auf dem Friedhof reichen bis ins Mittelalter zurück und ich bin eigens aus der Welt nach Parndorf zurückgekommen ... Vielleicht ...«
Der Kaplan begleitete ihn in die sternhelle Nacht hinaus.
»Ich werde mich morgen nach Ihnen umschauen«, sagte er zum Abschied.
Aladar Fürst aber meinte zuletzt, als er Felix bekümmert die Hand drückte:
»Ich fürchte nur eins, Herr Pfarrer ... Ich fürchte, daß unsereins schon zu sehr verweichlicht ist und die alte Kraft und Haltung unsrer Väter in der Verfolgung verloren hat ... Gute Nacht ...«
Um neun Uhr am nächsten Morgen – Kaplan Ottokar Felix überlegte grade, wie weit er sich am Sonntag in seiner Predigt nach dem Evangelium im Kampf gegen die Sieger vorwagen dürfe – wurde er durch Geschrei und wachsenden Lärm aufgestört, der dumpf durch das geschlossene Fenster drang. Er stürzte sofort aus dem Hause, wie er war, ohne Hut und Überrock. Der Ringplatz war von einer Menge angefüllt, so zahlreich, wie sie sich nicht einmal zu Wochenmärkten und Kirchweihfesten zusammenzufinden pflegte. Aus den Ortschaften der öden Parndorfer Heide, ja aus den entfernten Uferdörfern des großen Schilfsees war sie in Erwartung interessanter Ereignisse herangeströmt, Bauern, Bauernknechte und Mägde, Arbeiter aus den Kapsel- und Zuckerfabriken der Gegend und ein Haufen von Arbeitslosen zumal, die keine staatliche Unterstützung mehr empfingen und sich als das unruhigste Element im Volke zu jedem Krawall zu drängen pflegten. Den Kern dieser Menge bildete eine Abteilung von Braunhemden in Reih und Glied, die bereits alle die Binde mit dem Hakenkreuz überm linken Arm trugen. Die Reihe stand mit der Front dem ansehnlichsten Gebäude zugewandt, das Parndorf überhaupt besaß. Es ist wahrscheinlich ungebührlich, daß gerade die Familie Fürst dieses stattlichen Gebäudes Eigentümerin war, eines der wenigen im Orte, das zwei Stockwerke und überdies noch eine Mansarde hatte. Kann man aber Aladar Fürst dafür verantwortlich machen, daß sein Großvater in der glücklichen Zeit vor fünfzig Jahren so unvorsichtig oder so überheblich gewesen, in einer Welt von armseligen Strohhütten dieses großstädtische Haus zu errichten? Im Erdgeschoß, zu beiden Seiten der Toreinfahrt, befanden sich zwei große Kaufläden, das ›bürgerliche Backhaus‹ von David Kopf und die ›Gemischt- und Kolonialwarenhandlung‹ von Samuel Roths Sohn. Die Inhaber dieser Geschäfte, ihre Ehefrauen, Söhne, Töchter, Verwandten, Hilfskräfte standen in einer dichten Gruppe vor dem Haustor und in ihrer Mitte der junge Rabbi Aladar, der einzige, der den Kopf ziemlich hoch trug und im Gegensatz zum gestrigen Abend keinen gebrochenen Eindruck machte. Dem beschatteten Häuflein gegenüber hatte Peter Schoch Posto gefaßt, der Kommandant dieser militärischen Aktion. Er trug mit sichtbarem Herzensvergnügen ein automatisches Gewehr im Arm, dessen Lauf auf Aladar Fürst deutete. Neben ihm stand ein kleiner dürftiger Mann mit einem verzwickten Hexengesicht, das aussah, als könne man es nach Bedarf auseinanderziehen wie eine Ziehharmonika. Auf der Nase saß dem Mann eine Stahlbrille und auf dem Schädel eine rote Dienstkappe, denn es war der Bahnhofsvorstand von Parndorf, Herr Ignaz Inbichler in Person. Als Kaplan Felix hinzutrat, vollendete Peter Schoch gerade eine markige Ansprache, deren zugleich tiefgekränkten und hohnpeitschenden Tonfall er den Radioreden der großen Parteigötter recht trefflich abgelauscht hatte:
»Deutsche Männer und Frauen! Es ist untragbar für deutsche Volksgenossen, unser tägliches Brot aus den Händen einer jüdischen Backstube zu empfangen. Das würde dem internationalen Juden so passen, unsere unschuldigen Kinder mit seinen Mazzes weiter zu vergiften. Diese Zeiten sind vorüber, weil das ein historischer Moment ist. Im Namen der deutschen Volksgemeinschaft erkläre ich das Backhaus Kopf für arisiert. An seine Stelle tritt der deutsche Volksgenosse Ladislaus Tschitschevitzky in Kraft ... Sieg Heil!«
Peter Schoch sprach in einer angestrengten Schriftsprache, durch deren Laute überall der nackte ordinäre Dialekt hindurchlugte. Die Braunhemden brüllten ihm das Sieg-Heil im Takt nach. Die Menge aber blieb seltsam still, voll unbeteiligter Neugier, wie es schien. Jetzt aber nahm der Mann mit der roten Kappe das Wort. In diesem Grenznest waren nicht anders wie in Berlin die beiden Grundcharaktere der nationalsozialistischen Partei am Werke. Schoch repräsentierte den unbedingten Heroismus, Inbichler hingegen die augenzwinkernde Diplomatie, die dem Opfer treuherzig auf die Schulter klopft, dieweil ihm der Heroismus den Bauch aufschlitzt. Also sprach Inbichler, der Bahnhofsvorstand, zu dem Häuflein vor dem Haustor:
»Meine Herrschaften! Es geht alles in Ordnung. Es gibt keine wilde Aktion. Alles verläuft befehlsgemäß. Deutschtum heißt Organisation, keinem von Ihnen wird ein Haar gekrümmt werden. Sie haben nur einen Revers zu unterschreiben, daß Sie uns in voller Freiwilligkeit Ihren Krempel übergeben und den deutschen Grund und Boden sofort verlassen ... Wenn nach fünf Uhr nachmittags ein Bewohner dieses Hauses hier noch angetroffen werden sollte, dann wird er sich die unangenehmen, aber schon sehr unangenehmen Folgen selbst zuzuschreiben haben! Auch ich werde ihm dann nicht mehr helfen können ... Es gibt nur zwei Wege, die Judenfrage zu lösen. In seiner unendlichen Herzensgüte wählt unser Führer den zweiten Weg ...«
Der Kaplan erkannte, daß er durch seine Einmischung hier nicht nur nichts erreichen, sondern sich selbst unnütz gefährden würde. Er rannte daher spornstreichs nach Hause und setzte sich erregt mit der Gendarmerie, mit der Bezirksbehörde und schließlich mit der Provinzialregierung in Eisenstadt in telephonische Verbindung. Überall erhielt er denselben ausweichenden Bescheid. Man könne beim besten Willen nichts gegen jene zweifelhaften Elemente unternehmen, die im Augenblick die Straßen beherrschen. Sie seien Mitglieder der Partei und die Partei erhalte ihre Befehle unmittelbar aus Berlin. Die Stimmen am Telephon vibrierten in peinlicher Verlegenheit. Gewiß waren die Leitungen alle bespitzelt und die Beamten wagten kein offenes Wort. Kurz entschlossen lief Pater Felix zu einem bekannten Gutsbesitzer in der Nähe, in dessen Auto er eine halbe Stunde später nach Eisenstadt sauste. Dort in der Hauptstadt eilte er von Pontius zu Pilatus, um endlich beim apostolischen Administrator des Burgenlandes zu landen, dem Vorstand der Kirchenprovinz, einem Monsignore Soundso. Der bequeme Prälat empfing ihn mit salbungsvoll düsterem Argwohn. Da es der höchsten kirchlichen Stelle, Seiner Eminenz dem Kardinal-Erzbischof von Wien, gefalle, der neuen Obrigkeit, die ja der Lehre gemäß auch von Gott sein müsse, mit Vertrauen entgegenzukommen, so könne er selber den Herren Seelsorgern im Lande nur die gehorsame Nachahmung dieser Haltung anempfehlen. Er wisse genau, was in den Ortschaften dieses Landes heute im Gange sei, spreche aber den dringlichen Wunsch aus, jede Einmengung zugunsten der vertriebenen Juden zu unterlassen. Diese Vorkommnisse seien gewiß verurteilenswert, fallen aber nicht im mindesten in den Aufgabenkreis der Herren Pfarrer. Und die Hände faltend schloß der Prälat:
»Wir wollen für die Juden beten, sonst aber noch einmal und immer wieder uns die Wahrheit vor Augen halten, daß jede Obrigkeit von Gott ist ...«
»Auch wenn der Herrgott den Satan zur Obrigkeit einsetzt, Monsignore?« fragte der Kaplan ein wenig aufrührerisch.
»Auch dann«, sagte Monsignore, zu jedem Kompromiß entschlossen.
Auf der Heimfahrt neigten die Gedanken des Kaplans immer mehr dazu, die Entscheidung des Kardinals und des Prälaten für weise zu halten. Es gab Wichtigeres zu schützen als ein paar ausgeraubte und verjagte Juden. Die Kirche selbst war in Gefahr. War's nicht am besten, sich in den nächsten Tagen im Pfarrhaus zu verkriechen, das Sonntagsamt ohne Predigt zu halten und jegliche Reibung zu vermeiden? Er hätte vermutlich dieser Anwandlung nachgegeben, wären ihm jene Worte Aladar Fürsts nicht immer wieder durch den Kopf gegangen: »Ich bin überzeugt davon, daß, solange die Kirche besteht, Israel bestehen wird, doch auch, daß die Kirche fallen muß, wenn Israel fällt ...«
Als der Kaplan Felix auf dem Ringplatz von Parndorf eintraf, schlug die Kirchuhr gerade drei. Vor dem Hause Fürst standen die beiden Lastkraftwagen der Fuhrunternehmung Moritz Zopf. Aus der Bäckerei, dem Kaufladen und dem Haustor wurden Einrichtungsgegenstände, Betten, Schränke, Tische, Stühle geschleppt und auf einem der beiden Lastwagen verladen. Der Bahnhofsvorstand Inbichler untersuchte jedes einzelne Stück mit kurzsichtiger Eindringlichkeit und der gewissenhaften Inbrunst eines guten Zollbeamten, denn ohne seine Einwilligung wurde den Vertriebenen kein Aschenbecher und keine Zündholzschachtel freigegeben. Er ließ auch jeglichen Gegenstand, der ihm einigermaßen gefiel, sogleich für sich abseits stellen, wobei er die Besitznahme durch ein dumpf gemurmeltes Zauberwort verschleierte, das ungefähr klang wie: ›Deutsches Nationalgut‹. Die Braunhemden hatten ihre Karabiner in Pyramiden aufgebaut und rauchten und lungerten herum. Schoch und sein Stab saßen im Wirtshaus, wo Peter seit mehreren Stunden schon einer üppigen Festtafel präsidierte, zu der sich der Bürgermeister und andere Notabeln von Parndorf mit kriecherischer Eile gedrängt hatten. Es war windstill und ein merkwürdiger milchiger Dunst lagerte über der Ortschaft. Die Gruppe der Verjagten hatte sich beträchtlich vermehrt und zählte schon mehr als dreißig Seelen. Der Kaplan Felix wunderte sich darüber, daß all diese Menschen emsig und kopflos hin und her schossen, hunderterlei unsinnige Gänge machten und mehr durch eine insektenhafte Unruhe als durch vernünftige Planung gelenkt zu sein schienen. Die Kinder unter ihnen starrten keineswegs mit erschreckter, sondern mit gieriger Erregtheit auf das Getriebe. Alle jedoch sahen höchst übernächtigt aus und glichen welken Schatten, die von einem wühlenden Schicksalswind bewegt wurden, der für Christen nicht wahrnehmbar war, obwohl er in heftigen Stößen über den Platz wehte.
Felix betrat die Wohnung des Rabbi Aladar. Die kaum genesene Wöchnerin, eine zarte, helläugige Frau, die aus dem Rheinland stammte, wirtschaftete atemlos herum. Ihre weiße Stirn unterm gescheitelten braunen Haar war von übermäßiger Anstrengung tief gerunzelt. Sie stand inmitten eines Berges von Bett-, Tisch- und Leibwäsche, die sie in einem schon überfüllten Reisekorbe vergeblich noch unterzubringen suchte. Manchmal hob sie die Augen. Sie waren feucht glänzend von Schwäche und Verständnislosigkeit. Vom Nebenzimmer her hörte man friedliches Kindergeplapper und dann und wann das aufbegehrende Greinen eines Säuglings.
Der Kaplan fand Aladar Fürst vor seinen Bücherschränken, die alle vier Wände des großen Wohnraumes bis zur Decke füllten. Ein paar hundert Bände, die er unter den vielen Tausenden ausgesucht hatte, wuchsen zu seinen Füßen in schwanken Türmen. Er aber hielt ein Buch in der Hand und las, las tief versunken mit dem Schimmer eines Lächelns um seinen Mund. Er schien über der Seite, die er angeblättert hatte, die ganze Wirklichkeit vergessen zu haben. Der Anblick dieses hingebungsvoll lesenden Juden mitten im Zusammenbruche seiner Welt machte einen starken Eindruck auf den Kaplan, wie er mir ausdrücklich gestand.
»Ehrwürden Doktor Fürst«, sagte er nun, »ich habe Ihnen leider einen schlechten Rat gegeben ... Daß dieser schlechte Rat mein Gewissen sehr quält, hilft Ihnen nicht und mir nicht ... Glücklicherweise besitzen Sie aber einen ungarischen Paß ... Vielleicht meint es der Herrgott mit Ihnen und den Ihrigen besser als mit uns ... Es wäre nicht das erstemal, daß er das Volk, in dem er sich offenbart hat, in Sicherheit brachte, als er es zu strafen schien ...«
Doktor Aladar Fürst sah den Priester mit einem langen verlorenen Blick an, der diesen so sehr bewegte und beunruhigte, daß er selbst mit Hand anlegte und die zur Mitnahme ausgewählten Lieblingsbücher hinabtragen half.
Eine Stunde später war man reisefertig. Inbichler hatte das beste Gut der Vertriebenen zurückbehalten, die wertvolleren Möbel, alles Silber, den ganzen Schmuck der Frauen, die Effekten und Geldbeträge, deren er habhaft geworden war, denn jeder der Ausgewiesenen, auch Fürst, wurde bis aufs Hemd ausgezogen und einer peinlichen Durchsuchung unterworfen. Der Rabbi nahm diese erniedrigende, durch höhnische Bemerkungen der Braunhemden verschärfte Prozedur mit der gleichmütigsten Geistesabwesenheit hin, so daß Felix sich beinahe über ihn ärgerte. Ich würde um mich schlagen, dachte er. Das einzige, was Inbichler ohne Kontrolle und mit einer wegwerfenden Handbewegung passieren ließ, waren die Bücher.
Da aber nach Inbichlers Worten ›alles in Ordnung gehn‹ mußte und ›Deutschtum Organisation‹ war, stellte er über jeden der zurückgehaltenen Gegenstände eine genaue Bescheinigung aus, wodurch der nackte Raub gleichsam auf die Höhe des Gesetzes und einer staatspolitischen Maßnahme gehoben wurde, um so süßer dadurch für den Räuber.
Peter Schoch, der sich jetzt neben den Lenker des ersten Wagens gesetzt hatte, gab wütende Signale. Es war vier Uhr. In spätestens zwei Stunden brach die Nacht an.
Die Braunhemden stießen ihre Opfer mit Puffen und Tritten auf den ersten Kamion, wo sie zuerst durcheinanderkollerten und dann auf dem Boden Platz nehmen mußten. Jetzt erst wurde es den kleineren Kindern unbehaglich und einige begannen zu zetern. Die dichte Menge der Zuschauer blieb totenstill, und ihren neugierigen Blicken war nicht zu entnehmen, ob sie diese Geschehnisse billigten oder verdammten. Schon machten Schochs Leute ihre Motorräder bereit. Da trat der Kaplan Ottokar Felix scharf auf Ignaz Inbichler zu:
»Chef«, sagte er und richtete sich mit einem Ruck auf, »ich weiß nicht, ob und in wessen amtlichem Befehl Sie handeln ... Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, sollten Sie auf eigenen Befehl handeln, daß man Sie zur Verantwortung ziehn wird, morgen, übermorgen, einmal, so oder so ... Diese Leute da leben erwiesenermaßen seit Jahrhunderten hier und das Volk hat niemals zu klagen gehabt über sie ... In Wien und in den Großstädten mag das anders sein, hier aber ist es so ... Sie haben ihnen jetzt einen gewaltigen Schreck eingejagt, Chef, das ist Strafe und Rache genug, mein' ich. Lassen Sie's dabei bleiben und warten wir alle die gesetzliche Regelung der Judenfrage ab!«
Der Verzwickte mit dem Ziehharmonika-Gesicht sog wollüstig an seiner Zigarette und blies dem Geistlichen eine Rauchschwade ins Gesicht:
»Nur nicht drängeln, Euer Hochwürden«, säuselte er liebenswürdig, »es kommt ein jeder dran. Die Herren Pfaffen könnten ganz gut die nächsten sein. Den Einfall hab' ich schon gehabt ... Wenn Sie aber die Saujuden so gern haben, können Sie ihnen gleich Gesellschaft leisten ...«
»Das will ich auch«, sagte der Kaplan und sprang mit einem Satz auf das Lastauto, ohne zu wissen, wie dieser lebensgefährliche Entschluß über ihn gekommen war. Es war auch gar kein Entschluß. Es war eine Handlung, die nicht aus seinem eigenen Willen zu stammen schien. Die Juden starrten ihn ungläubig an. Frau Fürst saß als einzige auf einem Stuhl, den man für sie in den Wagen gehoben hatte. Sie hielt den Säugling im Arm, während der Vater gerade das zweite Kind, ein winziges Mädchen, zu beruhigen suchte. Da nahm der Kaplan den Ältesten des Rabbi, einen vierjährigen Jungen, auf den Schoß und begann mit ihm zu scherzen ...
Der Motor sprang an. Der mächtige Wagen setzte sich mit einem Holperstoß in Bewegung, denn die Straße war voll von tiefen Löchern. Der zweite Wagen folgte. Die Motorräder der Braunhemden ratterten hinterdrein.
Die Fahrt holperte die schlechte Bezirksstraße am großen Schilfsee entlang, der sich aber von hier aus nicht blicken läßt. Diese Straße führt zu einer gottverlassenen Übergangsstelle der ungarischen Grenze. Warum nicht die Hauptstrecke zu dem wichtigen Grenzort Hegyeshalom gewählt wurde, blieb ein tückisches Geheimnis Peter Schochs. In dem ersten der Lastautos, vollgepfropft mit durcheinandergeschüttelten Menschen, sprach niemand ein Wort. Wenn Kaplan Ottokar Felix versuchte, den Ausgestoßenen Mut zuzusprechen, hörten ihm alle mit den angestrengten und wäßrigen Augen von Taubstummen zu. Man mußte schon den mächtigen Steinbruch von Rust im Rücken haben, als zugleich mit der Dämmerung vom Schilfsee her einer der dicken erstickenden Nebel einbrach, die das Volk dieses Landstriches so abergläubisch fürchtet.
Schoch ließ die ganze Kolonne halten. Die Braunhemden stiegen von den Motorrädern. Ein kurzer Befehl:
»Alles aussteigen! Abladen! Die Wagen zurück!«
Im hexenhaften Dampf, darin das Tageslicht versickert war, warfen sich die Sturmleute auf das zweite Lastauto. Kommoden, Kredenzen, Schränke, wohlbehüteter Hausrat, Kisten mit Tisch- und Küchengeschirr jeglicher Art krachten unter Hohngelächter von Turmeshöhe in den Straßendreck und zerschellten. Ein wehleidiger Aufschrei der Frauen! Außer sich packte der Kaplan den Schoch beim Handgelenk:
»Was soll das? ... Sind Sie verrückt?«
Schoch versetzte dem Priester einen Faustschlag vor die Brust, daß dieser zurücktaumelte:
»Dich kauf ich mir noch vor dem Nachtmahl, Pfaff elendiger«, lachte er.
Jetzt folgten die Bücher des Rabbi dem ermordeten Hausrate nach. Aladar Fürst lief mit weit ausgebreiteten Armen hinzu. Als sich Felix aber bückte, um wenigstens eins oder das andere der Bücher aufzulesen, machte Rabbi Aladar, so schien es dem Kaplan, eine bis zum Grotesken jüdische Geste der Resignation:
»Was verloren ist, soll verloren sein«, sang er vor sich hin und der schmale Kopf lag ihm dabei auf der rechten Schulter.
»Direktion links von der Straße«, kommandierte Peter Schoch gellend. »Vorwärts marsch!«
Und die Zögernden, alt und jung, wurden von den Braunhemden ins freie Feld getrieben. Niemand durfte zurückbleiben. Auf die Greise wurde keine Rücksicht genommen und auf die Kinder auch nicht. Wenn eines oder mehrere von den Judenbälgen auf dem Gewaltmarsch verendete, um so besser! Hier waren völlig Vogelfreie, hier waren Menschen außerhalb des Gesetzes, Menschen, die keine staatliche Macht der Welt mehr schützte, hatten sich doch die Regierungen Englands, Frankreichs und Amerikas nicht nur nicht zu einem entscheidenden Protest aufgerafft, sondern die eilige Versicherung abgegeben, sie würden sich jeder Einmischung in innerpolitische Geschehnisse weise enthalten. Es war nicht nur in den leitenden Kreisen der Partei, sondern hinab bis zum einfachsten Partisanen bekannt, daß der englische Premier, Mr. Chamberlain, samt seiner Anhängerschaft ein augenzwinkernder Freund sei und den Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus (in Parndorf von Aladar Fürst vertreten) mit verschwiegenem Wohlwollen betrachte. Wann anders also als jetzt und hier kam man mitten in Europa und einer weichen Zeit zu dem urtümlich heldischen und dazu noch erlaubten Vergnügen einer regelrechten, einer patentierten Menschenjagd? Das ging ins Blut mit frischfröhlichem Halali! Die lusterregten Jäger schüttelten sich vor Lachen über die jüdischen Schatten, die im Nebel vor ihnen einherkeuchten.
Der Nebel verfärbte sich immer dunkler. Plötzlich fühlte der Kaplan, daß er bis zu den Knöcheln und dann bis unterhalb der Knie durch eiskaltes Wasser wate. Man war in die schmatzenden Sümpfe geraten, die bei Mörbisch dem See vorgelagert sind. Ottokar Felix riß den Vierjährigen hoch, den er bisher an der Hand geführt hatte ... Nun trug er ihn auf dem linken Arm, während er mit der freien Hand die junge Mutter stützte, die ihren Säugling und sich selbst mechanisch weiterschleppte ...
Ich erinnere mich, daß Felix bei dieser Stelle der Erzählung innehielt. Die grauen Augen in dem grobporigen Gesicht starrten mich an. Ich benutzte die Pause und fragte:
»Was haben Sie sich damals in den Sümpfen von Mörbisch gedacht, Herr Kaplan?«
»Ich weiß nicht, was ich mir damals gedacht habe«, erwiderte er, »vermutlich gar nichts ... Jetzt aber denke ich: Die Menschheit muß sich ununterbrochen selbst bestrafen. Und zwar sehr logisch, für die Sünde der Lieblosigkeit, aus der unser ganzer Jammer entsteht und sich Glied um Glied weiterentwickelt ...«
Es war wie ein Wunder, daß man nach dieser ›Abkürzung des Weges‹ innerhalb verhältnismäßig rascher Zeit den Sümpfen entkam, um die Straße wieder zu erreichen. Und es war ein noch größeres Wunder, daß niemand Schaden genommen oder in Verlust geraten war. Mit Einbruch der Nacht wurde es schneidend kalt und der Nebel zerriß. Dort, das waren schon die Lichter von Mörbisch. Alles geriet ins Laufen. Hinter den letzten Häusern von Mörbisch lag die ersehnte Grenze. Schon war die Heimat, gestern noch die selbstverständliche Stätte des trauten Lebens von Anfang an, zu einer fremden Hölle geworden, nach der man sich nur mit Grauen umblickt.
Die Nacht war sehr dunkel. Ein eisiger Wind kam angesprungen. Vom österreichischen Zollhaus flatterte schon die Fahne des Eroberers. Als aber die alte Grenzwache, die noch nicht abgelöst war, Peter Schoch mit seinen Braunhemden und ihren Opfern erblickte, verschwand sie so schnell von der Bildfläche, als hätte der Sumpf sie verschluckt. Der Weg zum ungarischen Grenzhaus hinüber, keine hundert Schritte weit, lag frei. Aladar Fürst sammelte die Pässe der Vertriebenen. Die meisten davon, darunter auch der seine, waren ungarische Papiere, hatte doch ein großer Teil der Burgenländer, ungeachtet der Friedensschlüsse von St. Germain und Trianon, die ursprüngliche ungarische Staatsbürgerschaft aus verschiedenen Gründen beibehalten. Es konnte kein Zweifel herrschen, daß sich die magyarische Grenzschranke zumindest all jenen, die ordnungsgemäße Dokumente vorweisen konnten, widerstandslos öffnen werde. Das war ja Gesetz und Recht! Rabbi Aladar wanderte mit dem Stoß von Pässen in der Hand nach dem ungarischen Zollhaus hinüber. Der Kaplan begleitete ihn schweigend. Peter Schoch folgte ihnen, vergnügt schlenkernd und pfeifend. Der Beamte drüben in der Kanzlei warf nicht einmal einen Blick auf die Pässe:
»Haben die Herren bitte die Permission vom Königlich Ungarischen Generalkonsulat in Wien«, fragte er mit größter Höflichkeit.
Die Lippen des Aladar Fürst wurden weiß:
»Was für eine Permission um Gottes willen?«
»Gemäß Verordnung von heute zehn Uhr vormittag ist der Grenzübertritt nur mit Permission des Generalkonsulats gestattet ...«
»Aber das ist ja ganz unmöglich«, stammelte Fürst, »wir haben davon nichts gewußt und hätten uns diese Permission gar nicht verschaffen dürfen. Man hat uns doch unter Todesdrohung nur sechs Stunden Frist gegeben ...«
»Bedaure sehr«, zuckte der Grenzbeamte die Achseln, »aber da kann ich nichts machen. Die Herren müssen die Permission des Generalkonsulats vorweisen ...«
Peter Schoch trat vor und knallte die ›Reverse‹ auf den Tisch, in welchen die Verjagten mit ihrer eigenhändigen Unterschrift bekräftigten, daß sie ihre Heimat freiwillig und ohne Zwang zu verlassen gesonnen waren.
»Holen Sie Ihren Kommandanten her«, sagte der Kaplan und er sagte es so, daß der junge Beamte aufstand und ohne Widerrede gehorchte. Nach zehn Minuten etwa kehrte er mit einem schlanken graumelierten Offizier zurück, dem man es ansah, daß er noch in der alten glorreichen Armee gedient hatte. Er nahm die Pässe in die Hand wie ein Kartenspiel und blätterte sie nervös an, während ihn der Kaplan scharf anging:
»Ich bin Zeuge, Herr Major, daß man diese Leute vor wenigen Stunden bis auf die Haut ausgeraubt und durch den Sumpf an die Grenze gejagt hat, schlimmer als Tiere ... Doktor Fürst ist ungarischer Staatsbürger und viele andere auch, wie Sie an den Pässen sehen können ... Es gibt unter zivilisierten Menschen keine Verordnung, die diesen schutzsuchenden Staatsbürgern die Aufnahme verweigern könnte ...«
»Na ... na ... Herr Pfarrer«, sagte der Offizier und sah Felix mit dunkeln bittern Augen an, »es gibt unter zivilisierten Menschen so mancherlei ...« Und er fügte kalt hinzu: »Ich habe nach Vorschrift zu handeln ...«
»Wir sind doch nur wenige«, bat Aladar Fürst. »Die meisten von uns haben in Ungarn Verwandte. Wir werden dem Staat nicht zur Last fallen ...«
Der Major schob das Kartenspiel der Pässe mit angeekelter Hand von sich. Er würdigte keinen der Anwesenden eines Blickes, weder Fürst noch Felix, noch Schoch. Nach einer Weile gerunzelten Nachdenkens sagte er ziemlich grob:
»Gehen Sie jetzt über die Grenze zurück und warten Sie ab!«
Erst als der Kaplan ihn entsetzt anschaute, murmelte er:
»Ich werde nach Sopron telephonieren, an den Herrn Obergespan ...«
Vor dem österreichischen Zollhaus lag ein freier Platz. Links führte der Weg zu den Schilfufern des Sees, rechts verlor er sich im dichten Rebengelände. Auf dem Platz hatten die Braunhemden mit den Scheinwerfern ihrer Motorräder eine Art von belichteter Bühne geschaffen. Sie trieben in diesen Lichtkreis die alten Männer zusammen und vergnügten sich nach dem Muster der deutschen Konzentrationslager damit, diese Hinfälligen in raschem Tempo Kniebeugen und andre gymnastische Übungen vollführen zu lassen: »Auf – nieder! Eins – zwei!« Nach einer Weile brach der achtzigjährige David Kopf, der Vater des Bäckers, mit Herzkrämpfen zusammen. Der Kaplan war nahe daran, in die Reihe der Gemarterten zu treten und sich mit ihnen erniedrigen zu lassen. Er wußte aber zu gut, daß er damit nichts andres hervorgerufen hätte als das äffische Hohngelächter der Siegestrunkenen. Ein Gedanke durchdrang immer wieder seinen Sinn: Diese Glücklichen müssen sündigen, diese Unglücklichen dürfen büßen. Wer also sind die Glücklichen und wer die Unglücklichen?
Zuschauer hatten sich ringsum versammelt, Leute aus Mörbisch und die Soldaten der ungarischen Grenzwache. Diese verbargen nicht ihren Abscheu und Zorn. Felix sah, wie ein Unteroffizier ausspuckte und empört zu seinem Nebenmann knurrte:
»Wenn ich so was erleben müßte, ich würde mich umbringen, mich und meine ganze Familie, auf der Stelle.«
Nach einer Stunde traf ein Automobil ein, in dem der Obergespan (so lautet der Titel eines ungarischen Provinzgouverneurs) höchst persönlich saß. Sopron, die Hauptstadt des Komitats, lag nur wenige Meilen von der Grenze entfernt. Der Bezirksgewaltige war ein freundlicher dicker Herr, von jener federnden Elegance, wie sie korpulente Würdenträger oft zu beweisen lieben. Er hatte ein puterrotes Gesicht, einen schneeweißen Schnurrbart und schwitzte sichtbar trotz der Bärenkälte. Nachdem er mit sicherer Nonchalance in den Lichtknoten der Scheinwerfer getreten war und alle jovial zu sich herangewinkt hatte, stemmte er die Fäuste in die Hüften, um dadurch seine überquellende Gestalt vorteilhafter herauszumodellieren, und wippte reitermäßig auf den Zehenspitzen:
»Kinder, was macht ihr mir da für Geschichten«, begann er väterlich, wobei er sich ausschließlich an die Vertriebenen wandte. »Ich kann gesetzliche Verordnungen nicht umstoßen. Ich bin nur ein ausführendes Organ. Ich hafte dem Ministerium des Innern in Budapest. Ungarn ist ein Rechtsstaat und wir haben den christlichen Kurs, gewiß ... Aber ultra posse nemo teneatur ... Ich darf keinen Präzedenzfall schaffen. Denn warum? Wenn ich euch heute über die Grenze lasse, kommen morgen andere und berufen sich darauf, morgen und übermorgen und vielleicht viele Monate lang. Das wäre so was, das müßt ihr ja selbst einsehen ... Ungarn ist ein Land, dem man Arme und Beine abgeschnitten hat, und es hat beinahe eine Million israelitischer Staatsbürger und es hat Arbeitslose ohne Zahl, das wäre noch besser ... Ihr habt mich verstanden, nicht wahr? Na also! Dann geht jetzt schön nach Haus', alle miteinander und macht mir keine Schwierigkeiten ... Mir persönlich tut es leid, daß ich nichts für euch tun kann ...«
Der Obergespan hatte wie ein gütiger alter Herr gesprochen, der ungezogene Kinder dazu bewegen will, von einem dummen Streich abzustehen und brav heimzukehren. Er hatte seine Rede an die Falschen gerichtet, die bewaffneten Braunhemden nur dann und wann mit einem verlegenen Blick streifend. Da sagte Peter Schoch in die tiefe Stille hinein:
»Ehe daß die hier nach Hause gehen, schießen wir sie alle über den Haufen ...«
Und jeder wußte, daß diese Worte des Sturmführers keine leere Drohung waren. Zuerst versuchte Aladar Fürst dem Obergespan mit ruhiger Stimme darzulegen, daß es tiefe Nacht und doch völlig ausgeschlossen sei, Säuglinge, kleine Kinder, eine Frau knapp nach den Wochen und eine Anzahl kranker alter Leute im Freien (was heißt im Freien?), im Nichts nächtigen zu lassen, denn hier, wo weder das eine noch das andere Land ist, hier sei doch wahrhaftig das Nichts. Seine Stimme flehte nicht, sondern klang müde, wie die Stimme eines Mannes, der weiß, daß keine Bitte und kein Ruf zur Vernunft fruchten wird. Die Stimme des Kaplans aber klang flehend jetzt. Er beschwor den hohen Beamten in Christi Namen, die Ausgestoßenen wenigstens in dieser Nacht jenseits der Grenze zu beherbergen, denn sie würden ja weder in Mörbisch noch in einer anderen österreichischen Ortschaft Aufnahme finden, und die Morddrohung der Bewaffneten sei bitter ernst zu nehmen. Der Obergespan wippte eifrig auf seinen Fußspitzen und wischte sich den Schweiß:
»Aber hochwürdiger Herr«, klagte er beinahe gekränkt, »warum machen Sie mir meine Situation noch schwerer, gerade Sie? ... Glauben Sie, ich bin kein Mensch? ... Ein für allemal! Die Regierung hat die Grenze gesperrt. Ich bedaure lebhaft ...«
Zum Trost ließ daraufhin der Obergespan von seinem Chauffeur an die Frauen und Kinder einige Lebensmittel verteilen, die er aus Sopron mitgebracht hatte. Vielleicht war's ein Zufall, vielleicht lag es an seinem Charakter, daß diese Lebensmittel zumeist aus den klebrigen Zuckerwaren bestanden, wie sie an Straßenecken feilgeboten werden. Der graumelierte Major stand wortlos die ganze Zeit dabei und betrachtete seine Stiefelspitzen. Da bat der Obergespan ihn und den Kaplan abseits. Sie gingen auf der Straße zwischen den beiden Grenzhäusern auf und ab.
Und nun entwickelte er seinen Plan:
»Mir ist da etwas eingefallen«, begann der Obergespan, »vielleicht ist das ein Ausweg, der dem Herrn Pfarrer gefallen wird ... Ich darf aber von der ganzen Sache nichts wissen, verstehen Sie, Herr Major?«
Der Major möge ›die Gesellschaft‹ zum Schein die Grenze übertreten lassen, sie aber im Laufe der Nacht wieder nach Österreich zurückschmuggeln, am besten auf einer der platten Barken, die den See befahren. Damit sei zugleich dem Gesetz und der Menschlichkeit Genüge getan ...
Der Major blieb stehen und straffte sich:
»Herr Obergespan brauchen nur zu zwinkern und ich werde in diesem Fall das Gesetz umgehen ... Aber ich bin selbst Familienvater und dazu gebe ich mich nicht her, Frauen und Kinder massakrieren zu lassen, und sie werden massakriert werden, wenn wir sie zuerst aufnehmen und dann wieder ausliefern.«
»Bitte sehr, mein Lieber, es war ja nur so eine Idee«, lächelte der Obergespan sehr empfindlich und bestieg seinen Wagen, ohne auf die erhobenen Hände des Kaplans zu achten.
Die Nacht hatte sich ein wenig erhellt. Ein sehr weißer Viertelmond war aufgestiegen, der die Kälte zu verschärfen schien. Im nahen Rebengelände zeichnete sich eine Winzerhütte ab, die während der Weinlese als Schutzdach für Wind und Wetter diente. Dorthin brachte Aladar Fürst die erschöpfte Frau und seine Kleinen. Der Kaplan trug den Vierjährigen, der in seinen Armen eingeschlafen war, in die Hütte. Indessen hatte der Major aus der ungarischen Grenzkaserne Strohsäcke und Decken bringen und Brot und Kaffee verteilen lassen. Auch befahl er seinen Leuten, zwei Zelte für die Vertriebenen aufzustellen, eines für die Männer, eines für die Frauen. Die Braunhemden betrachteten diese Zurüstungen höchst mißgünstig, wagten aber nicht, sie zu verhindern, da sie von einer fremden bewaffneten Macht getroffen wurden, deren Freundschaft und Wohlwollen man im Augenblick noch bedurfte. Der Kaplan widerstand der Versuchung, sich nach Mörbisch zu begeben und dort im Pfarrhaus ein Nachtlager zu erbitten. Aladar Fürst hatte ihn selbst dazu bewegen wollen. Bis zum Morgen könne sich ja nichts mehr ereignen, sagte der Rabbi. Felix aber war ein abgehärteter Mann, und eine unbequeme Nacht wog leicht für ihn. Er hatte vom Major eine große Flasche Milch für die Kinder von Fürst erbeten und erhalten. Als er aber mit dieser Gabe sich der Winterhütte näherte, erscholl vom Platz her ein kurzes Hornsignal und ein scharfes Kommando der schneidenden Stimme Schochs:
»Vergatterung! Alle Männer antreten!«
Die Schatten, die sich in und vor den Zelten soeben zum Schlaf hingestreckt hatten, taumelten auf und versammelten sich hohläugig und grell angestrahlt im Licht der Motorräder. Zuletzt kam Aladar Fürst heran und hinter ihm Felix. Während manche der alten Männer stöhnten wie aus einem schweren Schlaf heraus, blickte Rabbi Aladar jetzt sanft und verträumt drein. Peter Schoch stapfte gravitätisch auf ihn zu, sehr langsam, die kleinen Augen wollüstig zugekniffen und einen schiefen vielversprechenden Zug um den Mund. Die Braunhemden lachten alle aus vollem Halse. Jetzt kam gewiß das Hauptvergnügen, wofür es sich hoch lohnte, im Siegesrausch mehrere Nächte um die Ohren zu schlagen. Peterl, der Sturmführer, war ja weitberühmt für seine trefflichen und witzigen Einfälle. Jetzt stand er blond und rank vor Fürst, die kleine Gestalt des Rabbi hoch überragend. Er hielt in seiner Rechten ein hölzernes Hakenkreuz, das er als schlichtes Armen-Grabkreuz vom Mörbischer Friedhof entwendet und durch flüchtig angenagelte Querbrettchen in das Symbol des Sieges verwandelt hatte, und zwar eigens für den Spaß, den er im Sinne trug. Noch gab es keine Hakenkreuze im Lande, und so war Schoch in der Not auf den Gedanken verfallen, den eingesunkenen Grabhügel eines Vergessenen seines Christenschmucks zu berauben. Er hob diese seltsame makabre Swastika hoch über den Kopf wie ein Kreuzritter:
»Saujud und Knoblauchfresser«, rief er, und man hörte seiner Stimme an, wie er sich selbst amüsierte. »Du bist der Rabbiner, he? Bist du der Rabbiner?«
Keine Antwort.
»Als Rabbiner mit Peikes und Rokelores springst du herum am Schabbes vor der Bundeslade, wie, Mojschehamazze, Schojrehascheisse ...«
Die Motormänner brüllten, beseligt von dieser Parodie des Hebräischen. Fürst stand schweigend da, beinahe unaufmerksam.
»Als Rabbiner küßt du am Schabbes deine Bundeslade, he?«
Keine Antwort.
Da versetzte Schoch mit der Linken Aladar Fürst einen kurzen Faustschlag gegen den Magen, daß er in die Knie brach. Dann wandte er sich an die Braunhemden:
»Niemand soll sagen, daß wir euch schlecht behandeln ... Ich gebe dir die Ehre, Saujud, das Hoheitszeichen der germanischen Rasse mit deinem dreckigen Maul zu küssen ... Und der Pfaff dort soll Kyrie eleison singen dazu ...«
Aladar Fürst, noch immer auf seinen Knien, nahm ruhig das Hakenkreuz, das ihm Schoch, der jetzt einen Schritt zurücktrat, entgegengehalten hatte. Er hielt es zuerst unschlüssig in der Hand, dieses grobe morsche Grabkreuz eines unbekannten Toten, das nach nasser Frühlingserde roch. Ottokar Felix betete während dieser gespannten Sekunden, Fürst möge nichts Unvorsichtiges tun, sondern das Hakenkreuz küssen. Es geschah aber etwas völlig Unerwartetes.
Der Kaplan sagte wörtlich zu mir, seine Erzählung unterbrechend:
»Ein jüdischer Rabbi hat das getan, was ich, der Priester Christi, hätte tun müssen ... Er stellte das geschändete Kreuz wieder her ...«
Aladar Fürst handelte mit halbgeschlossenen Augen, wie in einem fernen Traum verloren und durchaus nicht mit raschen, sondern mit nachdenklichen Bewegungen. Er knickte eins nach dem andern die nur lose angenagelten Seitenbrettchen ab, die aus dem Kreuz ein Hakenkreuz machten. Da aber das Kreuz schon sehr von Wind und Wetter zermürbt war, brach bei dem Knicken das eine Ende des verfaulten Querholzes mit ab, wodurch es sich zeigte, daß das rückverwandelte Kreuz Schaden genommen hatte und nicht mehr dasselbe war wie früher. Totenstille herrschte. Niemand hinderte den Verlorenen an der langsamen Vernichtung des triumphierenden Symbols. Peter Schoch und die Seinen schienen nicht zu verstehen, was diese Tat bedeute. Sie standen mehr als eine Minute hilflos da und wußten nicht, was sie tun sollten. Ein schwebendes Lächeln lag auf dem Gesicht Rabbi Aladars, das sich voll dem Kaplan zuwandte, der neben ihm stand. Und er reichte dem Priester das Kreuz hin wie etwas, das diesem gehörte und nicht ihm. Kaplan Felix nahm es mit der rechten Hand. In der Linken hielt er noch immer die Milchflasche ...
Da rief jemand aus der Reihe der Braunhemden:
»Saujud, hörst du nicht, daß der Ungar dort dich haben will ... Lauf, Saujud, lauf ...«
Und wirklich. Aladar Fürst taumelte auf, blickte um sich, atmete schwer, sah fern unter den Lichtern des anderen Zollhauses die Gruppe ungarischer Soldaten, die sich dorthin zurückgezogen hatten. Er zögerte noch einen Augenblick, dann begann er in wilden Sprüngen in die Richtung Ungarns zu laufen, in die Richtung des Lebens. Zu spät. Der erste Schuß fiel. Und dann noch einer. Und jetzt das Geknatter automatischer Gewehre. Fürst war keine zwanzig Schritt weit gekommen. Die Braunhemden warfen sich über den Gestürzten und trampelten mit ihren genagelten Stiefeln auf ihm herum, als wollten sie ihn in die Erde stampfen.
Drüben erschollen peitschend magyarische Kommandoworte. Mit gefälltem Bajonett ging die ungarische Grenzwache gegen die Mörder vor, von Wut und Kampflust bebend, allen voran der Major, die Pistole in der Faust.
Bei diesem Anblick ließen Schoch und seine Leute ihr Opfer liegen, machten kehrt, schwangen sich auf die Motorräder und verdufteten mit Benzingestank. Es gehörte nämlich nicht nur zum Genie ihrer Parteipolitik, sondern ebenso zu der Eigenart ihres Mördermutes, immer auf das Genaueste zu wissen, wie weit man gehen dürfe, ohne die große Sache zu gefährden.
Der Verwundete wurde ins ungarische Grenzhaus getragen und dort auf eine der Pritschen gebettet. Er war bewußtlos. Bald kam der vom Major herbeigerufene Arzt. Er stellte eine Verletzung des Rückenmarks und zwei Lungenschüsse fest. Außerdem waren dem Mißhandelten mehrere Rippen gebrochen und schwere Quetschungen zugefügt worden. Der Kaplan bemühte sich um Frau Fürst, die durch das Schreckliche Stimme und Sprache verloren hatte. Mit weit aufgerissenen Augen hockte sie neben dem Gatten und bewegte verzweifelt und tonlos die Lippen. Das dünne scharfe Schreien des Säuglings durchschnitt den Raum. Die Mutter konnte ihm die Brust nicht reichen.
Gegen Morgen starb Aladar Fürst, der Rabbi von Parndorf. Bevor es zu Ende ging, schlug er die dunklen Augen auf, groß ... Sie suchten die Augen des Kaplans von Parndorf. Ihr Ausdruck war gelassen, weit entfernt und nicht unzufrieden.
Durch seinen Tod rettete Aladar Fürst seine Gemeinde. Der Major verging sich gegen den Regierungsbefehl und setzte seine eigene Existenz aufs Spiel, indem er den Frauen, Kindern und Greisen den Grenzübertritt gestattete. Diese wurden nach Sopron gebracht. Neun Männer in der Vollkraft ihrer Jahre blieben zurück. Ihnen riet der Major, sich nordwärts zu wenden. Er habe Nachricht, daß die tschechoslowakische Grenze für Flüchtlinge geöffnet worden sei. Sie mögen auf Gott vertrauen und jenseits des Schilfsees eine Fahrgelegenheit suchen ...
»Und Sie, Herr Kaplan«, fragte ich.
»Und ich«, wiederholte Ottokar Felix geistesabwesend. Dann nahm er seinen Hut: »Um mich ging es ja gar nicht in dieser Geschichte, die Ihnen nun anvertraut ist. Da es Sie aber interessiert, nach Parndorf konnte ich nicht mehr zurückkehren, das war ja klar. So bin ich denn mit den neun Männern als der zehnte an einem unbewachten Punkt über die slowakische Grenze entkommen. Wir schwammen über einen Fluß. Seitdem wandere ich mit den Kindern Israels von Land zu Land.«
Wir traten aus dem Portal von Hunters Hotel auf die Straße. Die Sonne ging glorreich unter hinter dem riesigen Park. Es war Freitagabend und eine linde Stunde. Die Menschen kehrten heim. Dichter Verkehr herrschte. Vier Reihen von Autos kamen nicht vorwärts auf der Straße. Die Frauen waren sehr schön mit ihrem nackten leuchtenden Haar. Ihre lachenden Stimmen durchwirkten den Lärm. Frieden und Fröhlichkeit lag über Amerika.
»Sehn Sie«, blinzelte Felix in das Treiben hinaus, »sehen Sie doch diese freundlichen Menschen, alles wohlgekleidet, satt und guten Willens. Diese Unschuldigen ahnen noch nicht, daß sie längst in den Krieg verwickelt sind, in den ersten Krieg ihrer Geschichte, in dem es wirklich um Sein oder Nichtsein geht. Sie ahnen noch nicht, daß Peter Schoch über ihnen ist und vielleicht auch unter ihnen. Viele von diesen Männern werden fallen. Sie werden ausziehen, um das anständige Leben und die Freiheit ihres Volkes zu verteidigen. Aber viel mehr steht auf dem Spiel als Freiheit und anständiges Leben, das geschändete Kreuz nämlich, ohne das wir in Nacht versinken müssen. Und Gott allein weiß, ob eine ganze Welt wird tun dürfen, was der kleine Jude Aladar Fürst getan hat mit seinen schwachen Händen.«