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Die Bahn war geöffnet, und Reiter wie Zuschauer harrten erwartungsvoll auf das Zeichen zum Beginn des Rennens. Die Schranken umlagerte eine dichte Volksmenge, und auf den Tribünen war jeder Platz besetzt. Es war jenes bewegte, farbenreiche Bild, das man bei solcher Veranlassung auf allen europäischen Rennplätzen sieht, aber hier, unter einem fremden Himmel, in einer ganz andern Welt, erschien es in so eigenartigem Rahmen, daß sich das oft Gesehene zu einem ganz neuen, fesselnden Schauspiel gestaltete.

Im Hintergrunde dehnte sich weit und hellschimmernd die Stadt aus, ein Meer von Straßen, Palästen und Häusern, aus dem die Kuppeln der Moscheen, die schlanken, zierlichen Minarets überall emportauchten. Dazwischen Gruppen von mächtigen Palmen und, über dem Ganzen thronend, auf der Höhe die Citadelle mit ihren Türmen. Wie eine Märchenstadt lag das schöne Kairo da, überflutet von dem heißen Lichtglanze der afrikanischen Sonne, und darüber wölbte sich der Himmel mit einem so tiefen, leuchtenden Blau, wie es selbst der Süden Europas nicht kennt.

In der Volksmenge, welche sich an den Schranken der Rennbahn drängte, waren alle Völker und Stämme des Orients vertreten. Eine Fülle von seltsamen Gestalten, in der malerisch phantastischen Tracht ihrer Heimat, ein Gewoge von leuchtenden, oft schreienden Farben, von gelben, braunen, tiefschwarzen Gesichtern, deren dunkle, brennende Augen bald an der beim Start versammelten Reiterschar, bald an den Tribünen hingen.

Dort unter den weit ausgespannten Sonnendächern war die ganze vornehme Welt von Kairo versammelt, eine Gesellschaft, die vielleicht nicht weniger bunt zusammengesetzt war als jene, die sich da unten vor den Schranken drängte. Neben den vornehmen Orientalen sah man die ganze Fremdenkolonie der Stadt, und ihr hatte sich der große Strom der europäischen Touristen angeschlossen, die Reiselust oder Erholungsbedürfnis hierher gezogen. Auch hier waren alle Länder vertreten, alle Sprachen schwirrten durcheinander, Nord- und Südländer fanden sich zusammen und neben der reichsten, gewähltesten Toilette zeigte sich der einfachste Reiseanzug. Man sah und hörte es ringsum, daß man sich in einer der großen Fremdenstationen des Orients befand.

Vor den Tribünen stand eine Gruppe von Herren in angelegentlicher Unterhaltung, die selbstverständlich das bevorstehende Rennen betraf. Der mutmaßliche Verlauf desselben wurde sehr lebhaft erörtert und die Meinungen darüber schienen geteilt zu sein, bis ein englischer Oberst, der soeben herangetreten war, mit voller Bestimmtheit erklärte: »Ich kann Ihnen den Ausgang vorhersagen, meine Herren. Bernried schlägt mit seinem ›Darling‹ all die übrigen.«

»Wirklich?« – »Das ist doch noch die Frage.« – »Halten Sie das für so ausgemacht?« klang es von verschiedenen Seiten.

»Gewiß. Ich kenne ›Darling‹, er ist ein vorzüglicher Renner. Wenn ich nur wüßte, wie Bernried zu dem prächtigen Tiere gekommen ist! Ich hätte es gern gehabt, aber mir war der Preis zu hoch – er hat es vor acht Tagen gekauft.«

»Aber schwerlich bezahlt,« warf ein junger Offizier ein, der gleichfalls englische Uniform trug. »Dieser deutsche Baron hat ein großartiges Talent, alles schuldig zu bleiben, obwohl man ihm nirgends mehr Kredit geben will.«

»Da sind Sie doch wohl im Irrtum, Hartley,« sagte der Oberst. »In diesem Falle hat man es sicher gethan, denn Bernried ist bekannt als der beste Reiter, und wenn er nun vollends ›Darling‹ reitet, so gilt sein Sieg als beinahe zweifellos. Die meisten Wetten stehen ja auf den Fuchs. Sie halten gleichfalls auf ihn, Lord Marwood?«

Er wandte sich an einen Herrn, der neben ihm stand und dem Gespräche zuhörte, ohne sich daran zu beteiligen. Auch jetzt fand er es nicht für nötig, eine Antwort zu geben, sondern bejahte nur mit einem leichten Kopfnicken.

»Ich glaubte, du würdest auf die ›Faida‹ des deutschen Generalkonsuls halten, Francis,« sagte Hartley. »Wie steht es denn eigentlich damit? Du mußt es doch wissen, du bist ja oft genug im Hause des Herrn von Osmar.«

»›Faida‹ hat gar keine Aussichten,« ließ sich Lord Marwood jetzt endlich vernehmen. »Sie hat noch kein Rennen mitgemacht und ist überhaupt noch nicht ordentlich trainiert. Aber Miß Zenaide wollte ihr Lieblingspferd durchaus auf der Rennbahn sehen.«

»Und du hältst trotzdem nicht auf ›Faida‹?« neckte der junge Offizier. »Du würdest die Wette verloren haben, aber geschadet hatte dir das durchaus nicht bei deiner Dame, ganz im Gegenteil.«

Dem jungen Lord schien die Neckerei nicht angenehm zu sein, er erwiderte keine Silbe darauf.

Francis Marwood mochte am Ende der Zwanzig stehen. Groß und schlank, mit Zügen, die in ihrer strengen Regelmäßigkeit unbedingt Anspruch auf Schönheit machen konnten, mit den hellen, nur etwas matten Augen und dem vollen aschblonden Haar war er das echte Bild eines vornehmen Engländers. Haltung, Sprache, Bewegung, alles war kühl, förmlich und abgemessen, aber die Erscheinung des jungen Mannes wäre eine sehr angenehme gewesen ohne die kalte, hochmütige Zurückhaltung, die einen hervorstechenden Zug seiner Persönlichkeit bildete und selbst seinen Landsleuten und Standesgenossen gegenüber hervortrat.

»Nun gegen ›Darling‹ hat jedes Pferd einen schweren Stand,« nahm der Oberst wieder das Wort. »Wer reitet denn ›Faida‹?«

Lord Marwood zuckte die Schultern und seine Lippen kräuselten sich verächtlich, als er im wegwerfenden Tone sagte: »Ein Fremder, ein ganz junger Bursche, den Sonneck eingeführt hat und der wahrscheinlich gar nichts vom Reiten versteht!«

»Ah, der junge Deutsche!« rief Hartley. »Wie heißt er doch? Ich habe den Namen vergessen. Ein hübscher, kecker Bursche ist er jedenfalls und reiten wird er wohl auch können, sonst würde ihn Sonneck schwerlich auf seinem Zuge in das Innere mitnehmen. Der berühmte Afrikaforscher pflegt sonst sehr wählerisch zu sein mit seinen Gefährten.«

»Möglich, daß er für den Wüstenzug taugt, aber man führt den ersten besten Abenteurer nicht in ein Haus wie das Osmarsche ein und etwas anderes ist dieser Mensch schwerlich. Niemand weiß, woher er kommt. Man kann da auf sehr unliebsame Enthüllungen gefaßt sein, aber Sonneck schlägt mit seinem Einfluß und seinen Verbindungen jeden Einwand nieder.«

Es lag ein unglaublich verletzender Hochmut in den Worten des jungen Lords, der Oberst aber sagte leichthin: »Ja, Sonneck setzt so ziemlich alles durch, was er will, zumal bei Herrn von Osmar. - Ah, da gibt man das Zeichen! Jetzt gilt's!« Das Zeichen zum Beginn des Rennens war in der That soeben gegeben worden, und die Reiter brausten in vollem Laufe dahin. Alle Gespräche verstummten, und aller Augen richteten sich auf die Bahn, wo der Wettkampf seinen Anfang genommen hatte.

»Sehen Sie, meine Herren, ich behalte recht,« rief der Oberst lebhaft, »Bernried führt, ›Darling‹ ist allen voran!«

»Und ›Faida‹ ist die letzte!« ergänzte Marwood mit herbem Spott. »Ich dachte es mir. Freilich, bei einem solchen Reiter ist nichts anderes zu erwarten. Ich begreife den Konsul nicht, daß er das immerhin kostbare Pferd solchen Händen anvertraut hat.«

»Ja, der Reiter verspricht allerdings nicht viel,« stimmte Hartley bei. »Wenn er das schöne Tier nur nicht zu Fall bringt bei einem der Hindernisse.«

Die Pferde wurden meist von den Besitzern selbst geritten, und die edlen Tiere gehorchten dem leisesten Schenkeldruck. Die Herren waren sämtlich vortreffliche Reiter, aber sie jagten schon nicht mehr in geschlossener Reihe dahin. Gleich nach dem ersten Hindernis hatte sich das Feld gelockert, und die Zurückgebliebenen suchten das Verlorene mit leidenschaftlichem Eifer wieder einzubringen. Das Bild wurde mit jedem Augenblick stürmischer und bewegter. Die Führung hatte ein englischer Fuchs übernommen, ein prächtiges Tier, das sich seiner Ueberlegenheit bewußt zu sein schien. Er hatte, allen voran, das erste Hindernis genommen und jagte nun in langgestrecktem Galopp dahin, die anderen weit hinter sich zurücklassend. Auf ihn waren hauptsächlich von Anfang an die Augen der Zuschauer gerichtet, und der Reiter wurde mit lebhaftem Zuruf begrüßt. Es war ein Mann von einigen dreißig Jahren, mit scharf ausgeprägten Zügen, in denen etwas Herbes, Düsteres lag. Jetzt freilich spielte ein leises triumphierendes Lächeln um seine Lippen. Herr von Bernried schien im Vertrauen auf die Schnelligkeit seines Pferdes seines Sieges vollkommen sicher zu sein.

Da schoß einer von den Nachzüglern, der letzte von allen, plötzlich vorwärts, mit einer so jähen, blitzartigen Schnelligkeit, daß alles aufmerksam wurde. In kurzer Zeit hatte er seine Gefährten erreicht, bald überholte er sie, einen nach dem andern. Jetzt nahm er das Hindernis, leicht und sicher, ohne jede Anstrengung und jagte nun weiter, dem führenden Reiter nach, so daß der Raum zwischen ihnen kleiner und kleiner wurde.

Bernried hatte sich umgesehen und ein halb erstaunter, halb zorniger Blick traf den unerwarteten Gegner. Es war ein noch sehr junger Mann, den man bisher kaum bemerkt, jedenfalls nicht beachtet hatte; er saß wie festgewachsen im Sattel. Der Schimmel, den er ritt, erschien fast klein gegen den riesigen Fuchs, war aber unstreitig von edelster Rasse. Der schlanke Bau des schönen Tieres, der zierliche Kopf mit den großen klugen Augen verrieten das arabische Blut. Jetzt war er dicht hinter »Darling«, jetzt wieder jenes jähe, blitzartige Vorwärtsschießen und beide Pferde waren auf gleicher Höhe.

Der Kampf wurde ernst. Bernried hatte nur eines Blickes bedurft, um zu erkennen, daß der so plötzlich aufgetauchte Gegner ihm ebenbürtig war, daß er absichtlich sein Roß geschont und zurückgehalten hatte, um jetzt erst die volle Kraft einzusetzen. Ein Zucken ging wie Wetterleuchten über sein Gesicht und seine Stirn faltete sich drohend, aber er war nicht der Mann, sich den Sieg so leicht streitig machen zu lassen. »Darling« fühlte die Sporen und setzte seine ganze Kraft ein, aber umsonst. Der Araber blieb dicht an seiner Seite, und Seite an Seite nahmen sie das nächste Hindernis.

Das anfängliche Interesse der Zuschauer an diesem überraschenden Verlauf des Rennens hatte sich längst zur leidenschaftlichen Teilnahme gesteigert. Die anderen Reiter, die in größerer oder geringerer Entfernung nachjagten, wurden kaum mehr beachtet, man sah nur auf die beiden, die so hartnäckig um den Siegespreis rangen. Alles andere trat zurück vor diesem Wettkampfe zwischen dem anerkannt ersten Reiter in der Sportswelt von Kairo und dem jungen Fremden, den die wenigsten kannten. Aber gerade dies Unerwartete, Blitzähnliche seines Erscheinens gewann ihm die Sympathie der Menge, der vornehmen Zuschauer wie des Volkes da unten; wo er vorüber kam, wurde stürmischer Zuruf laut.

Herr von Bernried mochte es wohl fühlen, wem diese Rufe jetzt galten, und je zweifelloser sein Sieg im Anfang geschienen hatte, desto schwerer empfand er die Möglichkeit einer Niederlage. Sein Gesicht war flammendrot, jede Fiber an ihm bebte in wilder Erregung, aber diese Erregung drohte ihm verhängnisvoll zu werden. Er verlor mit der Herrschaft über sich selbst auch die über sein Roß. Wie im Sturmwind jagten die beiden Reiter vorwärts, »Darling« in langen, mächtigen Sätzen, neben ihm »Faida« leicht dahinfliegend wie ein Vogel, so daß ihre zierlichen Hufe kaum den Boden zu berühren schienen.

Da endlich gewann der Araber einen Vorsprung, der Fuchs blieb zurück, erst um Kopfeslänge, dann weiter und weiter, er schien zu ermatten. Gelang es »Faida«, vor ihm das letzte Hindernis zu nehmen, so war der Sieg entschieden. Vielleicht war es dieser Gedanke, der Bernried den letzten Rest von Besinnung und Selbstbeherrschung raubte. Die dunkle Glut in seinem Antlitz wich einer Totenblässe. Mit fest zusammengebissenen Zähnen, jede Muskel gespannt, peitschte er wie wahnsinnig sein Roß. Der Schaum floß am Gebiß »Darlings« nieder, seine Flanken bebten, aber er gehorchte. Mit einer letzten äußersten Anstrengung gelang es ihm, den Araber wieder zu erreichen, und beide setzten fast gleichzeitig zum Sprunge an.

In weitem, mächtigem Satze flog »Faida« über das Hindernis hinweg. Ein halb erstickter Aufschrei, der in demselben Augenblick ertönte, ging unter in dem jubelnden Beifall, mit dem die Zuschauer dies tollkühne Reiterstück begrüßten, dann jagte der Reiter dem Ziele, dem Siege zu, den ihm niemand mehr streitig machte.

Niemand! – »Darling«, der nur einige Sekunden später das Hindernis zu nehmen sich anschickte, war gestürzt bei dem Sprunge. Er lag zusammengebrochen an der Hürde, und sein Herr, aus dem Sattel geschleudert, lag einige Schritte davon, regungslos auf dem Boden ausgestreckt. Rasch hob man den Bewußtlosen auf, trug ihn aus der Bahn und übergab ihn den Händen eines Arztes. Das Rennen selbst erlitt keine Unterbrechung, auf dergleichen Unfälle muß man ja bei jedem Rennen gefaßt sein!

Lauter, stürmischer Jubel empfing den Sieger, der soeben durchs Ziel ritt, von allen Seiten wurde er mit Beifall und Zurufen überschüttet, und die wehenden Tücher der Damen grüßten ihn von den Tribünen her. Er hatte allerdings glänzend gesiegt, denn es vergingen Minuten, ehe die anderen Reiter anlangten.

Der junge Mann – er konnte höchstens drei- oder vierundzwanzig Jahre zählen – hatte die Mütze abgenommen, um zu danken. Es war eine schlanke, aber kraftvolle Gestalt, dichtes blondes Kraushaar legte sich in überreicher Fülle um die Stirn, das leicht gebräunte Antlitz war nicht eigentlich schön, eher das Gegenteil, aber es lag etwas eigentümlich Fesselndes in diesen vollkommen unregelmäßigen Zügen. In den dunklen, feurigen Augen blitzte kecker Uebermut, stolzes Selbstvertrauen, und als er jetzt nach allen Seiten hin sich verbeugte, noch glühend erhitzt von dem wilden Ritte, strahlend im Triumph des Sieges, da erschien er wie die leibhaftige Verkörperung der stürmischen Jugend, in ihrer ganzen Kraft und Schönheit.

Er grüßte nach den Tribünen hinüber, wo in der vordersten Reihe ein älterer Herr und eine junge Dame ihm lebhaft zuwinkten. Der erstere verließ jetzt rasch feinen Platz und kam ihm entgegen.

»Das nennt man ja im Sturme siegen!« rief er in freudiger Erregung. »Meinen Dank, Herr Ehrwald! Da überschüttet man mich mit Glückwünschen von allen Seiten - nein, meine Herren, hier an diesen jungen Reitersmann müssen Sie sich wenden! Er allein hat meiner ›Faida‹ zum Siege verholfen.«

Er hatte deutsch gesprochen und wandte sich bei den letzten Worten an einige Herren, die ihm gefolgt waren und nun den jungen Landsmann gleichfalls mit Glückwünschen umringten.

»Und Sie haben uns beiden den Sieg doch nicht zugetraut, Herr Konsul,« sagte Ehrwald lachend, indem er auf dem Platz vor der Wage aus dem Sattel sprang. »Sie fürchteten im vollen Ernste eine Niederlage und zuckten die Achseln, als ich mich erbot, Ihre ›Faida‹ in acht Tagen für das Rennen zuzureiten.«

»Hätte ich eine Probe Ihrer Reitkunst gesehen, ich wäre wohl zuversichtlicher gewesen,« entgegnete der Konsul, ein älterer Mann von vornehmer Erscheinung. »Nun, in diesem Falle war die Ueberraschung eine sehr angenehme. Aber jetzt gehen Sie zu meiner Tochter, Zenaide möchte ihre ›Faida‹ sehen, sie ist sehr stolz auf deren Sieg.«

Herr von Osmar, der augenscheinlich ebenso stolz war, winkte freundlich mit der Hand und wandte sich dann zu den beiden englischen Herren, die jetzt auch herantraten, während Ehrwald nach einer kurzen Begrüßung derselben das Pferd am Zügel nach der Tribüne führte. »›Faida‹ möchte sich nun auch einen Dank von ihrer Herrin holen,« sagte er, mit einer leichten Verneigung vor der jungen Dame, deren Hand sich liebkosend dem Tiere entgegenstreckte. Es senkte schmeichelnd den schönen Kopf und ließ ein leises Wiehern hören, als sei es sich bewußt, die Liebkosung verdient zu haben.

»Und der Reiter? Will er keinen Dank für seinen kühnen Ritt?« fragte die Dame lächelnd.

»Im Gegenteil, mein gnädiges Fräulein, ich habe Ihnen zu danken,« versetzte Ehrwald, »denn ohne Ihre Fürsprache hätte man mir ›Faida‹ gar nicht anvertraut. Der Herr Konsul war ja anfangs entschieden dagegen und gab nur Ihrer Bitte nach.«

»Spotten Sie nur, Sie haben ja all die Zweifler glänzend geschlagen und auch den armen Herrn von Bernried. Sein Sturz ist doch nicht gefährlich gewesen?«

»Ich hoffe: nicht. Ich habe mich bereits danach erkundigt, aber Lord Marwood, den ich fragte, geruhte nicht, mir eine Antwort zu geben. Ich stand zwar nie in Gnaden bei Seiner Lordschaft, seit Sie aber gesehen haben, daß ich doch einigermaßen fest im Sattel bin, scheinen Sie mich mit Ihrer vollen Ungnade zu beehren. Ich bin ganz untröstlich darüber.« Es lag ein übermütiger Spott in den Worten und eine gewisse Absichtlichkeit in der Bewegung, mit welcher der junge Mann jetzt dicht an die Schranke trat und den Arm darauf stützte. Er hatte recht gut gesehen, daß Lord Marwood, der drüben im Gespräch mit dem Konsul stand, ihn und die junge Dame beobachtete.

Zenaide von Osmar mochte etwa zwanzig Jahre zählen. Es war eine schlanke, zarte Erscheinung, in der trotz der deutschen Abkunft etwas von der fremdartigen, glühenden Schönheit des Landes lag, in dem sie geboren war. Auf dem tiefschwarzen Haar, das einfach gescheitelt und am Hinterhaupt in einem griechischen Knoten aufgenommen war, ruhte ein leichter bläulicher Schimmer und die großen Augen hatten gleichfalls jenes tiefdunkle, sammetartige Braun, das man nur bei den Kindern des Südens findet. Der Blick war sanft und träumerisch, und doch schlummerte darin ein verborgenes leidenschaftliches Feuer. Das Antlitz erschien etwas bleich, es fehlte ihm die rosige Frische, aber mit seinen weichen, zarten Linien hatte es einen ganz bezaubernden Reiz. Die junge Dame hätte wahrlich nicht die Tochter eines der reichsten Männer von Kairo zu sein brauchen, um begehrenswert zu erscheinen.

Das mochte auch Lord Marwood finden, der unausgesetzt hinüberblickte. Seine Lordschaft konnten es augenscheinlich nicht begreifen, daß der »junge Bursche« es wagte, so vertraulich mit der Tochter des Generalkonsuls zu plaudern. Herr von Osmar schien das jedoch nicht zu bemerken, er sprach gerade mit den beiden englischen Offizieren, die ihn gleichfalls beglückwünscht hatten, von dem Sturze des Herrn von Bernried.

»Nun, er scheint noch ziemlich glücklich davongekommen zu sein,« äußerte der Konsul. »Seine Verletzungen sind nicht gefährlich, wie ich hörte. Aber ›Darling‹ ist wirklich verloren?«

»Leider!« bestätigte der Oberst. »Er hat das eine Hinterbein gebrochen. Schade um das prächtige Tier, aber Bernried spornte es ja wie ein Unsinniger. Er ist selbst schuld an dem Verlust, der für ihn den Ruin bedeutet.«

»Er setzte eben alles dran, zu siegen,« sagte Hartley. »Und dieser Ehrwald ritt ja wie auf Tod und Leben. Wer ist denn eigentlich dieser Herr?«

»Ein junger Landsmann, der sein Glück in der weiten Welt versuchen will,« entgegnete Herr von Osmar heiter. »Viel mehr weiß ich auch nicht über ihn. Sonneck hat ihn aus Deutschland mitgebracht und will ihn auf seinem Zuge in das Innere mitnehmen. Mir gefiel er gleich bei der ersten Vorstellung. Ein prächtiger, gescheiter Junge, er sprüht nur so von Feuer und Leben!«

»Ja, solche Leute kann Sonneck brauchen,« sagte der Oberst. »An Tollkühnheit fehlt es diesem Ehrwald jedenfalls nicht. War das ein Sprung, mit dem er über das letzte Hindernis wegsetzte!«

Der Name, auf den die Herren sich vorhin nicht besinnen konnten, war ihnen jetzt sehr geläufig geworden. Er ging ja auch seit einer Viertelstunde wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund, der junge unbeachtete Fremde hatte sich auf einmal in den Vordergrund gestellt. Sein Gespräch mit Fräulein von Osmar wurde bald genug unterbrochen, der Konsul rief ihn ab, um ihn noch einigen Bekannten vorzustellen, und er wurde von neuem mit Glückwünschen überhäuft, während sich »Faida« der gleichen Aufmerksamkeit erfreute.

Man war so ausschließlich mit den beiden beschäftigt, daß niemand sich um den geschlossenen Wagen kümmerte, der soeben im langsamen Schritt davonfuhr und die Richtung nach der Stadt einschlug. Nur ein einzelner Herr befand sich in der Nähe, er hatte dem Kutscher die nötigen Weisungen gegeben und wollte eben nach der Bahn zurückkehren, als er unvermutet angeredet wurde.

»Nun, Herr Doktor Walter, Sie haben leider Arbeit bekommen bei dem heutigen Vergnügen. Es ist wohl Herr von Bernried, der dort nach der Stadt fahrt? Die Sache scheint bei alledem noch verhältnismäßig gut abgelaufen zu sein. Der Unfall ist nicht ernst, wie es heißt.«

»Er scheint im Gegenteil sehr ernst, Herr Sonneck,« sagte der Arzt, der sich rasch umgewandt hatte, und seine Miene bestätigte nur zu sehr die Worte. »Wir haben einstweilen einen Notverband angelegt, die eingehende Untersuchung werde ich erst im deutschen Hospital vornehmen, wohin Herr von Bernried jetzt gebracht wird.«

»Nach dem Hospital?« wiederholte Sonneck betroffen. »Können Sie ihn nicht in seiner Wohnung behandeln?«

»Nein, er hat überhaupt keine eigene Wohnung mehr seit dem Tode seiner Frau, nur ein paar Zimmer im Hotel. Da kann von einer ordentlichen Pflege nicht die Rede sein. Wenn ich nur wüßte, was aus dem Kinde, seinem kleinen Töchterchen, werden soll! Im Hotel kann sie nicht bleiben, denn es kann lange dauern, bis der Vater zurückkehrt – wenn es überhaupt geschieht!«

Sonneck, der mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte, schien bei den letzten Worten zu erschrecken.

»Sie fürchten doch nicht etwa einen tödlichen Ausgang?« fragte er rasch und gepreßt. »Das wäre allerdings sehr traurig.«

»Wer weiß!« sagte der Arzt ernst. »Vielleicht wäre es das beste für den Mann. Der Verlust seines »Darling« hat ihn ja doch ruiniert, und ich glaube nicht, daß er selbst noch Freude gehabt hat an dem Leben, das er in der letzten Zeit führte. Für das Kind war es auch kein Segen, in solchen Verhältnissen und Umgebungen aufzuwachsen, obgleich der Vater es abgöttisch liebte. Ich werde jedenfalls mein möglichstes thun, ihn zu retten, aber viel Hoffnung habe ich nicht.«

Es trat eine Pause ein. Sonneck sah stumm zu Boden, endlich begann er wieder in einem Tone, durch den eine mühsam unterdrückte Bewegung zitterte: »Herr von Bernried scheint nicht besonders beliebt zu sein in Kairo. Man kümmert sich sehr wenig um ihn und seinen Unfall und spricht fast mehr von seinem ›Darling‹ als von ihm. Man begegnete ihm ja auch nie in der eigentlichen Gesellschaft, und Herr von Osmar empfing ihn überhaupt nicht in seinem Hause.«

Der Arzt zuckte mit sehr bezeichnender Miene die Achseln.

»Das ist begreiflich, der deutsche Generalkonsul hat seine Stellung zu wahren und muß sich Persönlichkeiten fernhalten, denen doch mehr oder weniger Bedenkliches anhaftet. Bernried ist ja allerdings von altem deutschen Adel und spielt in der Sportswelt eine Rolle; Freunde hat er aber nie besessen und sein Treiben war auch nicht danach. – Doch da kommt Herr Ehrwald, er scheint Sie zu suchen. Ich will nur noch mit meinem Kollegen sprechen und fahre dann sofort nach dem Hospital hinaus.«

Der Arzt grüßte und ging. Es war in der That Ehrwald, der jetzt den Gesuchten entdeckt hatte und rasch näher kam. Sonneck fuhr mit der Hand über die Stirn, als wollte er irgend eine quälende Erinnerung fortscheuchen, dann ging er dem jungen Manne entgegen und bot ihm die Hand.

»Kann man endlich deiner habhaft werden, du Held des Tages,« sagte er. »Ich konnte dir vorhin nur aus der Ferne zuwinken, so umdrängt warst du von allen Seiten. Meinen Glückwunsch, Reinhart! Du hast ja glänzend gesiegt!«

»Habe ich es gut gemacht?« fragte Reinhart mit aufleuchtenden Augen.

»Beinahe zu gut, denn ich fürchte, man wird dich gründlich verderben mit all der Bewunderung und den Schmeicheleien. Aber warum hast du denn mit aller Welt Komödie gespielt und dich für einen höchst mittelmäßigen Reiter ausgegeben, um erst heute zu zeigen, was du kannst?«

»Weil es mir Spaß machte,« versetzte Ehrwald. »Was war das für eine Verwunderung und für ein Achselzucken, als es bekannt wurde, daß ich mich mit ›Faida‹ in die Bahn wagen wollte, wo der vielbewunderte ›Darling‹ lief! Kein Mensch ahnte, was das Tier wert war, am wenigsten der Konsul selbst, nur Fräulein von Osmar hatte unbedingtes Vertrauen.«

»Fräulein von Osmar – so?« Sonneck streifte mit einem eigentümlich forschenden Blick das Gesicht des jungen Mannes. »Nun, vielleicht galt ihr Vertrauen ebensosehr dem Reiter wie dem Roß.«

»Vielleicht! Jedenfalls habe ich es nicht getäuscht,« sagte Reinhart leichthin.

Sie hatten während des Gespräches den Rückweg angetreten, blieben aber diesmal außerhalb der Schranken, mitten unter der Volksmenge. Sonneck, dessen Namen man in ganz Europa kannte als den eines der kühnsten und erfolgreichsten Afrikaforscher, schien auch hier in Kairo vielfach gekannt zu sein, denn man machte ihm überall ehrerbietig Platz.

Er war kleiner als der schlanke, hochgewachsene Ehrwald, eine mittelgroße, sehnige Gestalt. Das dunkelgebräunte Antlitz mochte in der Jugend schön gewesen sein, jetzt war es tief durchfurcht von all den Linien, die ein ganzes Leben voller Kämpfe und Gefahren, voll Anstrengungen und Entbehrungen darin eingegraben hatte. Das dunkle Haar des kaum vierzigjährigen Mannes zeigte an den Schläfen schon einen weißen Schimmer und in den tiefen grauen Augen lag ein schwermütiger Ernst, der nur selten von einem flüchtigen Lächeln verdrängt wurde.

Er sah schweigsam und zerstreut dem Wettfahren zu, das jetzt auf der Rennbahn stattfand, und plötzlich wandte er sich an seinen jungen Gefährten mit der Frage: »Weißt du, daß der Sturz des Herrn von Bernried ein sehr schwerer gewesen ist?«

Ehrwald sah betroffen auf. »Nein, ich hörte das Gegenteil. Man sagte, daß seine Verletzungen nicht bedenklich sind.«

»So sagte man; aber Doktor Walter, den ich soeben sprach, scheint die Sache sehr ernst zu nehmen. Wir wollen morgen zu ihm gehen und uns erkundigen, wie es steht. – Uebrigens, Reinhart, es war nicht nötig, daß du das letzte Hindernis in dieser tollkühnen Weise nahmst, anstatt einfach darüber hinwegzusetzen. Der Luftsprung hätte dir den Hals kosten können und der armen ›Faida‹ dazu. Solche Kunststücke gehören in den Cirkus, für die Rennbahn passen sie nicht.«

»Ich habe es auch im Cirkus gelernt,« sagte Reinhart lachend.

Sonneck stutzte und sah ihn befremdet an.

»Wo hast du das gelernt?«

»Im Cirkus, bei den Kunstreitern. Ich bin ja fast ein Jahr lang mit ihnen herumgezogen.«

»So? Und das erfahre ich erst heute?«

»Sie fragten mich ja nicht, und ich hatte bisher noch keine Veranlassung, davon zu sprechen. Ein Geheimnis wollte ich Ihnen nicht daraus machen, oder – nehmen Sie Anstoß daran?«

»Nein,« entgegnete Sonneck ruhig. »Ich schenke selten einem Menschen unbedingtes Vertrauen, geschieht es aber einmal, dann pflege ich auch nicht viel mehr zu fragen und zu forschen. Du hast mir offen bekannt, was dich aus deiner Heimat fortgetrieben hat, das ist mir genug, aber du scheinst dich doch bisweilen in etwas bedenklicher Gesellschaft umhergetrieben zu haben. Ich glaube, es war Zeit, daß du wieder in andere Kreise kamst.«

Ueber die Züge des jungen Mannes legte sich ein tiefer Schatten und seine Stimme klang in unterdrückter Bewegung, als er antwortete: »Ja, es war hohe Zeit! Man fühlt es ja selbst, wie man verwildert in solchen Umgebungen, und kann's doch nicht ändern. Ich hatte keine Wahl, wie ich mein Brot verdienen wollte, und leben mußte ich doch. Aber wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn Sie mir nicht rechtzeitig die Hand gereicht und mich emporgerissen hätten! Viel Worte habe ich freilich nicht gemacht mit meinem Danke. Sie wollen es ja nicht; aber ich hoffe, ihn dereinst abtragen zu können.«

»Schon gut,« wehrte Sonneck ab, »du wirst auf unserem Zuge Gelegenheit genug dazu haben. Nun weiß ich doch wenigstens, woher dein tolles Reiten stammt! Aber diese Kunstreiterstücke verbitte ich mir ein für allemal. Ich bestreite dir entschieden das Recht, dir schon hier in Kairo Hals und Beine zu brechen, später geben sich solche Thorheiten von selbst. Wenn man von Gefahren aller Art umringt ist und sich sein Leben täglich erst erkämpfen muß, dann setzt man es nicht mehr so leichtsinnig aufs Spiel um einer bloßen Eitelkeit willen.«

»Wären wir nur erst draußen!« rief Reinhart aufflammend. »Sie ahnen nicht, wie ich mich danach sehne. Wann endlich ziehen wir hinaus?«

»Sobald ich die nötigen Leute und die nötigen Mittel zur Verfügung habe, und das kann noch wochenlang dauern. Mir macht das wahrlich kein Vergnügen, denn mit jeder Woche geht ein Teil der besten Reisezeit verloren. Aber dir ist Kairo ja noch neu und fremd, du mußt ja förmlich berauscht sein von all den Eindrücken, und nach dem heutigen Tage wirst du vollends Glück in der Gesellschaft machen – zumal bei den Frauen!«

Es war derselbe forschende Blick wie vorhin, der bei den letzten Worten das Antlitz des jungen Mannes streifte; aber dieser warf beinahe unwillig den Kopf zurück und seine Lippen kräuselten sich verächtlich. »Was kümmern mich die Frauen. Mich zieht es in die Ferne. Hier ist alles noch so zahm und europäisch, hier ist man noch eingeengt von tausend Formen und Fesseln; aber wenn ich droben auf jenen Höhen stehe und in die Wüste hinausblicke, die sich so weit, so endlos vor mir ausdehnt, dann ist's mir immer, als wäre dort allein, in dieser grenzenlosen Weite die Freiheit zu finden – die Freiheit und das Glück!«

Ueber Sonnecks Gesicht zog ein flüchtiges Lächeln bei diesem stürmischen Ausbruch, aber seine Stimme klang tiefernst, als er sagte: »Du wirst dich auch noch bescheiden lernen. Fesseln gibt es überall, und wenn man sie sich selbst schmieden sollte, und ein Glück ist diese schrankenlose Freiheit nicht! Es kommt eine Zeit, wo man sie gern hingäbe für – doch was nützt das Predigen! Solch ein vierundzwanzigjähriger Feuerkopf glaubt ja doch nicht, was ihm der Erfahrene sagt, und will alles besser wissen. Dich muß das Leben erst in die Schule nehmen, einstweilen bin ich dein Mentor und werde dafür sorgen, daß du nicht gar zu tolle Streiche machst.«

Die Volksmenge kam jetzt in Bewegung, das Wettfahren war zu Ende und damit die letzte Nummer des Programms erledigt, auch die Zuschauer auf den Tribünen brachen auf. Der ganze Platz vor der Rennbahn war gefüllt mit an- und abfahrenden Wagen und dazwischen drängten sich Reiter und Fußgänger.

Herr von Osmar saß mit seiner Tochter bereits im Wagen, und am Schlage stand Lord Marwood, der sich etwas umständlich von der jungen Dame verabschiedete. Er mußte aber leider die Bemerkung machen, daß sie sehr zerstreut war und kaum zuhörte. Sie schien irgend etwas in der Menge zu suchen und mußte es wohl jetzt gefunden haben, denn die dunklen Augen strahlten plötzlich auf, während eine leise Röte das schöne Antlitz färbte. Francis folgte der Richtung jenes Blickes, dort drüben stand Sonneck mit Reinhart Ehrwald und beide grüßten herüber. Der junge Lord biß sich auf die Lippen, er brach plötzlich das Gespräch ab und trat mit kühlem Gruße zurück. Der »Abenteurer«, auf den er so vornehm herabsah, war ihm bisher nur unbequem gewesen, jetzt sah es beinahe aus, als könne er gefährlich werden.

 

»Erlauben Sie, daß wir uns Ihnen vorstellen, Herr Doktor! Sie sind zwar ein Arzt, aber Herr Sonneck sagt, Sie wären trotzdem ein guter Mensch, und ich hoffe, daß er recht hat. Sie sehen wirklich nicht schlimm aus.«

Doktor Walter, dem diese merkwürdige Anrede galt, verneigte sich leicht vor den beiden Damen, die soeben in sein Sprechzimmer getreten waren, und erwiderte, ein Lächeln unterdrückend: »Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich in der That nicht schlimm bin. Sie scheinen das leider bei meinen sämtlichen Kollegen vorauszusetzen.«

»Ich habe meine Erfahrungen!« sagte die Dame mit Nachdruck. »Aber, wie gesagt. Sie sehen ganz menschenfreundlich aus, und überdies sind Sie ein Deutscher, da werden Sie Ihre Landsmänninnen, zwei verlassene, hilflose Frauen, die nach diesem schändlichen Wüstenlande verschlagen sind, nicht schlecht behandeln.«

Die Bezeichnungen »verlassen« und »hilflos« paßten eigentlich nicht zu der Persönlichkeit der Sprechenden, die schon in vorgerückten Jahren stand. Sie war schwarz gekleidet und trug einen ungeheuren Sonnenschirm in der Hand, sah aber nichts weniger als hilfsbedürftig aus. Es war eine lange, hagere Gestalt, mit scharfen Zügen und sehr energischem Gesichtsausdruck. Ihre junge Begleiterin, ein zartes kleines Wesen, mit einem lieblichen, etwas blassen Gesicht, blondem Haar und hellen Augen, war gleichfalls in Trauer gekleidet. Sie sah ungemein schüchtern und ängstlich aus und hielt sich dicht an der Seite ihrer Gefährtin, als müßte sie Schutz bei derselben suchen.

»Es ist durchaus nicht meine Gewohnheit, meine Patienten schlecht zu behandeln,« erklärte der Doktor, der Mühe hatte, ernst zu bleiben, »also, meine gnädige Frau –«

»Unvermählt!« unterbrach ihn die Dame in einem beinahe entrüsteten Tone.

»Ich bitte um Entschuldigung. Also, mein Fräulein, womit kann ich Ihnen dienen?«

Das Fräulein sah ihn noch einmal scharf an, wie um sich zu versichern, ob es ihm mit der zugesagten guten Behandlung ernst sei, schien dann aber in der That Vertrauen zu fassen und begann nun in aller Form die Vorstellung.

»Mein Name ist Mallner, Fräulein Ulrike Mallner, aus Martinsfelde in Hinterpommern. Mein seliger Bruder war Gutsbesitzer, vor zwei Jahren ist er gestorben, und dies hier ist seine Witwe, Frau Selma Mallner, geborene Wendel. Vor acht Tagen sind wir in Kairo angekommen und wir wären wie verraten und verkauft hier, wenn sich Herr Sonneck nicht unser angenommen hätte. Wir wohnen in dem gleichen Hotel und er ist der einzige Mensch dort, unter all den Engländern und Amerikanern, er hat uns zu Ihnen geschickt. So, Herr Doktor, nun wissen Sie Bescheid und nun geben Sie uns Ihren ärztlichen Rat!«

»Sehr gern,« entgegnete Walter, während er mit einem etwas verwunderten Blick die junge Witwe streifte, die höchstens zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte. »Wenn Sie mir nur erst sagen wollten, wem ich diesen Rat geben soll und wer von Ihnen eigentlich die Patientin ist.«

»Nun, Selma natürlich,« sagte Fräulein Mallner, in deren Schätzung der Arzt offenbar bedeutend sank, weil er das nicht gleich herausfand. »Sie hustet, und deshalb mußten wir nach Afrika schwimmen. Wenn man in meiner Jugendzeit den Husten hatte, trank man Brustthee, und das half immer; jetzt wird man nach allen möglichen Weltteilen geschickt, und das hilft natürlich nicht, denn wir sind schon eine volle Woche hier und Selma hustet noch immer! Die Aerzte wissen ja gar nicht mehr, was sie alles erfinden sollen, um die arme Menschheit zu plagen –«

»Aber, Ulrike, ich bitte dich!« mahnte die junge Frau leise und ängstlich und zupfte ihre Schwägerin am Kleide; diese nahm sich denn auch zusammen und lenkte ein.

»Ja so! Nun, Sie sind natürlich nicht gemeint, Herr Doktor, Sie dürfen mir das nicht übelnehmen, denn –«

»Die Anwesenden sind immer ausgenommen!« ergänzte Walter, dem die Sache außerordentlichen Spaß machte. »Seien Sie unbesorgt, mein Fräulein, Ihnen nehme ich nichts übel. Jetzt aber möchte ich doch einiges Nähere wissen. Seit wie lange sind Sie leidend, gnädige Frau, und wie äußert sich dies Leiden?«

Er wandte sich direkt an die junge Frau, und diese machte auch einen schüchternen Versuch, zu antworten, aber die Schwägerin schnitt ihr ohne weiteres das Wort ab.

»Bei Selmas Lunge ist etwas nicht in Ordnung,« erklärte sie. »Der rechte Flügel oder der linke, oder alle beide, ich weiß das nicht mehr so genau, genug, irgend etwas ist los mit den Flügeln. Es heißt, sie hätte sich bei der Pflege meines Bruders überanstrengt. Er war jahrelang krank und wir haben zwei Aerzte gehabt, aber helfen konnten sie ihm natürlich nicht. Die Aerzte können ja alles mögliche, nur nicht ihre Patienten gesund machen. Beruhige dich, Selma, du hörst es ja, der Herr Doktor nimmt nichts übel.«

Walter verlor diesem letzten Ausfall gegenüber denn doch einigermaßen die Geduld. Er hatte eine scharfe Antwort auf den Lippen, aber die Augen der jungen Frau waren so bittend und ängstlich auf ihn gerichtet, daß er beschloß, die rücksichtslose Dame von der komischen Seite zu nehmen. Sie ließ sich auch in ihrem Redefluß durchaus nicht stören.

»Unser Hausarzt hatte sich in den Kopf gesetzt, daß ein Klimawechsel notwendig wäre, und wollte uns durchaus nach Italien schicken. Ich lachte ihn natürlich aus und wir blieben, wo wir waren. Wir haben die gesundeste Luft in Martinsfelde, nie mehr als sechzehn Grad Kälte im Winter, und das bißchen Sturm von der See ist nicht der Rede wert! Aber Selmas Husten wurde immer ärger, und da ließ ich mir unglücklicherweise beikommen, eine sogenannte Autorität zu fragen, den Geheimrat Felder aus Berlin, der auf einem Nachbargute bei Verwandten zum Besuche war. Er kam, untersuchte und dann sagte er kurz und bündig: ›Nach Kairo!‹«

»So, Geheimrat Felder hat Sie hergeschickt!« schaltete der Doktor ein. Fräulein Ulrike nickte grimmig mit dem Kopfe.

»Ja, der! Die große Autorität hat uns auf dem Gewissen! Ich dachte, mich sollte der Schlag treffen, und sträubte mich mit Händen und Füßen, aber da wurde die Autorität grob – so grob ist noch niemand zu mir gewesen – und sagte mir ins Gesicht, wo die Mittel so reichlich vorhanden wären, könnte von einer Weigerung überhaupt nicht die Rede sein. Unser Hausarzt stand ihm natürlich in allen Stücken bei und schließlich drohten sie mir, meine Schwägerin auf eigene Hand nach Kairo zu schicken. Da blieb mir denn nichts anderes übrig als zu packen. Wir reisten ab, schwammen über das Mittelmeer, und nun« – sie trat einen Schritt vor und sah den Arzt herausfordernd an – »nun sind wir da!«

»Das sehe ich,« sagte Walter ruhig. »Und da Sie nun meinen Rat wünschen, so werde ich Frau Mallner zuvörderst untersuchen, dann wird sich das weitere finden. Ich bitte, hier einzutreten, gnädige Frau!«

Er öffnete die Thür des Nebenzimmers, ließ die junge Frau vorangehen und wollte folgen, war aber genötigt, ihrer Schwägerin den Weg zu vertreten, die schon auf der Schwelle stand.

»Ich gehe mit,« erklärte sie sehr entschieden.

»Bitte, Sie bleiben hier,« versetzte der Doktor noch weit entschiedener und schlug ihr die Thür vor der Nase zu.

»Einer wie der andere!« sagte Ulrike entrüstet und setzte sich so nachdrücklich in einen Armstuhl, daß dieser in allen Fugen krachte.

Zum Glück blieb sie nicht lange ihren grollenden Gedanken überlassen, denn der arabische Diener öffnete die Thür des Vorzimmers und ließ Sonneck ein, der sich mit freundlichem Gruße näherte.

»Ah, Fräulein Mallner! Sie haben von meiner Empfehlung Gebrauch gemacht, wie ich sehe. Wo ist denn Ihre Frau Schwägerin?«

Das Fräulein begrüßte den Landsmann, der offenbar hoch in ihrer Gunst stand, wie einen guten Kameraden, indem sie ihm derb die Hand schüttelte, und deutete dann auf die geschlossene Thür.

»Da drinnen, bei dem Doktor! Er will ihre Lunge untersuchen, und mich hat er ohne weiteres ausgesperrt. Ihr vielgerühmter Doktor Walter ist auch kein weißer Rabe, trotz all seiner Höflichkeit und Liebenswürdigkeit. Sobald der Arzt zum Vorschein kommt, wird er grob – so sind sie alle!«

»Ja, so sind sie nun einmal,« stimmte Sonneck lächelnd bei. »Ich kann Ihnen aber die Versicherung geben, daß Frau Mallner sich in den besten Händen befindet. Doktor Walter hat einen ganz bedeutenden Ruf und gilt für eine Autorität –«

»Bleiben Sie mir mit den Autoritäten vom Leibe!« rief Ulrike zornig. »Ich habe genug an dem Berliner Geheimrat. Wenn mein seliger Martin wüßte, daß ich mit seiner Frau hier in Afrika umherlaufe, er würde sich im Grabe umdrehen, dreimal hintereinander!«

»Frau Mallner hat wohl sehr jung geheiratet?« fragte Sonneck, während er neben der erzürnten Dame Platz nahm.

»Mit siebzehn Jahren. Wir hatten sie als Kind in das Haus genommen, als arme Waise, weil wir mit ihren Eltern weitläufig verwandt waren, und als sie herangewachsen war, setzte mein Bruder es sich auf einmal in den Kopf, sie heiraten zu wollen. Ich sagte anfangs nein.«

»Und Sie hatten natürlich die entscheidende Stimme im Hause,« warf der Zuhörer mit kaum verhehltem Spotte ein.

»Natürlich, Martin that nichts ohne meine Zustimmung, aber er grämte sich, denn er hatte sich im vollen Ernste verliebt in das junge Ding, trotzdem er längst graue Haare hatte. Er war auch schon lange kränklich, ich hatte die Gutswirtschaft fast allein in Händen und konnte nicht auch noch Krankenpflegerin sein. Ich überlegte mir also die Sache noch einmal und fand, daß es schließlich das beste sei, ihm den Willen zu thun.«

»Und das junge Mädchen hat gleichfalls eingewilligt?«

»Eingewilligt?« wiederholte Ulrike mit unermeßlichem Erstaunen. »Nun, ich hoffe, sie hat Gott auf den Knieen gedankt für das große Glück, das er einer armen Waise zu teil werden ließ! Sie war auch anfangs ganz bestürzt, als wir ihr die Sache ankündigten, und weinte – vor Freude natürlich! Leicht hat sie es freilich nicht gehabt in ihrer dreijährigen Ehe. Mein seliger Martin war kein geduldiger Kranker, da hieß es Tag und Nacht auf den Beinen sein, und im letzten Jahre ist sie überhaupt nicht aus dem Krankenzimmer herausgekommen. Ich war im ganzen mit ihr zufrieden, sie that, was sie konnte.«

»Und dann erkrankte die junge Frau infolge der Ueberanstrengung?« Es lag ein tiefes Mitleid in der Frage; das Fräulein zuckte verächtlich die Schultern.

»Jawohl, solch ein schwächliches Ding kann ja gar nichts aushalten! Es war ja nicht so arg mit Selmas Krankheit, sie war bald wieder auf den Beinen, aber der Husten blieb. Das dauerte Jahr und Tag, und dann kam die große Autorität, der Geheimrat, und da war's aus, rein aus, wir mußten nach Kairo!«

Es sprach eine so grimmige Verzweiflung aus den letzten Worten, daß Sonneck ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.

»Sie scheinen das als ein großes Opfer zu betrachten,« bemerkte er. »Aber Sie haben mir ja selbst erzählt, daß Martinsfelde ganz einsam liegt und Sie fast gar keinen Verkehr dort haben. Da müßte es doch eine Freude sein für Sie und besonders für die junge Frau, einmal in die weite Welt hinauszukommen und fremde Länder und Menschen zu sehen.«

»Für Selma?« wiederholte Fräulein Mallner in gedehntem Tone. »Nun, ich wollte ihr nicht raten, Geschmack daran zu finden! Denken Sie, ich werde der Witwe meines Bruders erlauben, in der Welt umherzureisen? Einmal habe ich nachgegeben, weil es hieß, ihr Leben stände auf dem Spiel; aber zum zweitenmal geschieht es nicht wieder. Im Frühjahr reisen wir nach Martinsfelde zurück, mit oder ohne Husten! Dahin gehört Selma und da soll sie bleiben, ihr Leben lang!«

Sie stieß zur Bekräftigung der Worte nachdrücklich ihren Schirm auf den Boden. In diesem Augenblick trat der Arzt mit seiner Patientin wieder ein, begrüßte Sonneck und wandte sich dann zu der harrenden Dame, die ihn mit einem erwartungsvollen »Nun?« empfing.

»Ich schließe mich ganz der Meinung meiner Kollegen an,« erklärte er. »Der Winteraufenthalt in Aegypten ist unbedingt notwendig für Frau Mallner. Augenblicklich ist sie noch sehr angegriffen von der Reise, ich werde sie deshalb einige Wochen lang hier in Kairo behandeln und später nach einer der großen Nilstationen, wahrscheinlich nach Luksor, schicken.«

»Schicken Sie uns doch lieber gleich zu den Botokuden!« rief das Fräulein wütend. »Selma, du bringst mich noch um mit deinem Husten, nach Afrika hast du mich schon damit gebracht!«

»Ich kann ja nicht dafür, liebe Ulrike,« bat die junge Frau so demütig, als habe sie wirklich ein Unrecht begangen. »Du weißt, ich habe es nicht gewollt.«

»Nein, du wolltest es nicht,« grollte das Fräulein, »aber die Aerzte wollten es, diese Autoritäten, diese –« sie verschluckte die ferneren Liebenswürdigkeiten und sah den Doktor nur mit einem vernichtenden Blicke an, was dieser in großer Gemütsruhe ertrug.

»Wenn Ihnen der Aufenthalt hier so unangenehm ist, so ließe sich ja wohl ein Ausweg finden,« bemerkte er kühl. »Es wird nicht schwer sein, eine ältere deutsche Dame ausfindig zu machen, die die Stelle einer Gesellschafterin bei Frau Mallner übernimmt. Ich mache mich anheischig, das zu vermitteln. Also reisen Sie in Gottes Namen zurück nach Ihrem Hinterpommern, mein Fräulein, Ihre Schwägerin ist hier ganz gut aufgehoben.«

»Ohne mich?« rief Ulrike starr vor Erstaunen und Empörung. »Ohne mich? Ja, was denken Sie sich denn eigentlich, Herr Doktor? Mein seliger Bruder hat mir auf dem Sterbebette seine Frau übergeben und mir das Versprechen abgenommen, nicht von ihrer Seite zu weichen, und Sie muten mir zu, sie allein zu lassen hier in dem fremden Weltteil! Oder möchtest du das etwa, Selma?«

»O gewiß nicht,« versicherte die junge Frau, mit einem halb furchtsamen, halb dankbaren Aufblick zu der gestrengen Schwägerin. »Ich habe ja niemand als dich auf der Welt, Ulrike! Laß mich nicht allein!«

»Sei ruhig, ich bleibe bei dir,« erklärte das Fräulein gnädig und warf einen triumphierenden Blick auf den Doktor, der nur die Achseln zuckte.

»Wenn Frau Mallner Ihr Bleiben wünscht, habe ich natürlich nichts dagegen einzuwenden. Also ich komme übermorgen zu Ihnen, gnädige Frau, und bitte, einstweilen meine Verordnungen pünktlich zu befolgen. Ihnen aber, mein Fräulein, möchte ich zu bedenken geben, daß Ihre Schwägerin eine sehr zarte Natur ist, die der äußersten Schonung bedarf. Auf Wiedersehen, meine Damen!«

Er begleitete die beiden Damen bis zur Thür und kehrte dann zu Sonneck zurück, der ein schweigsamer Zuhörer geblieben war.

»Das ist ja eine merkwürdige Praxis, die Sie mir da zugewiesen haben,« sagte er lachend. »Dies streitbare Fräulein aus Hinterpommern, das mit allen Aerzten in wütender Fehde lebt und unsereinem fortwährend Injurien ins Antlitz schleudert, ist wirklich ein Original.«

»Das ist sie,« stimmte Sonneck bei. »Sie steht auch fortwährend auf dem Kriegsfuße mit dem Direktor unseres Hotels und der arabischen Dienerschaft. Ich habe da schon verschiedenemal Frieden stiften müssen und die arme kleine Frau scheint sich willenlos ihrem Scepter zu beugen. – Ist der Fall ein schwerer?«

»Nein, durchaus nicht. Ich habe der jungen Frau die besten Hoffnungen geben können und hoffe, sie vollständig herzustellen. Aber über einen anderen Fall kann ich Ihnen leider nichts Tröstliches berichten. Sie wollen doch wohl hören, wie es mit Herrn von Bernried steht?«

»Allerdings, deshalb komme ich zu Ihnen. Nun?«

»Sein Zustand ist hoffnungslos. Ich sah und wußte es schon gestern, als ich die Untersuchung im Hospital vorgenommen hatte, und als ich heute morgen wieder bei ihm war, sah ich, daß auch ein Hinfristen nicht möglich ist. Ich gebe ihm höchstens noch vierundzwanzig Stunden, und wahrscheinlich geht es noch weit schneller zu Ende, denn die Kräfte sinken ungemein rasch.«

»Also doch!« murmelte Sonneck, und als verließe ihn plötzlich die Selbstbeherrschung, trat er rasch an das Fenster und preßte die Stirn gegen die Scheiben.

»Sie nehmen tieferen Anteil an dem Manne,« sagte Walter nach einer kurzen Pause. »Ich sah es schon gestern bei unserem Gespräch. Haben Sie ihn früher gekannt?«

Sonneck wandte sich um, und man las es in seinen Zügen, wie tief ihn der Ausspruch getroffen hatte.

»Ja, Doktor, wir sind einst Freunde gewesen, Jugendfreunde – bis etwas geschah, was uns trennte. Erlassen Sie es mir, Ihnen das zu erzählen, ich kann es nicht über mich gewinnen in dieser Stunde und ich will nichts aussprechen, was wie eine Anklage klingt. Wir haben uns lange Jahre hindurch nicht wiedergesehen, bis ich ihm vor einigen Wochen hier in Kairo begegnete. Von seinem äußeren Leben erfuhr ich genug, er ist ja bekannt in der ganzen Sportswelt, aber Sie scheinen ihn doch näher gekannt zu haben. Ich hörte, Sie seien früher oft in sein Haus gekommen.«

»Allerdings, denn ich habe Frau von Bernried bis zu ihrem Tode behandelt. Sie war schon krank, als sie vor drei Jahren hierher kamen, und siechte langsam dahin. Man sah es noch, daß sie sehr schön gewesen war, und es heißt ja auch, Bernried habe um ihretwillen mit seiner Familie gebrochen.«

»Ja, er warf damals alles hin, um seiner Leidenschaft zu folgen. Wenn sie nur wenigstens stand gehalten hat! War die Ehe glücklich?«

»Ich glaube kaum. Ein Mann vergibt es der Frau selten, wenn er um ihretwillen Reichtum und Lebensstellung opfern muß. Mag sie noch so schuldlos daran sein, sie muß das früher oder später büßen, wenn die Leidenschaft verraucht ist. Als ich Bernried kennen lernte, war er schon tief verbittert, zerfallen mit sich und der Welt, angewidert von dem Leben, das doch seine einzige Hilfsquelle war. Ich fürchte, die arme Frau hat das oft entgelten müssen. Wahrhaft geliebt hat er wohl nur eins auf Erden – sein Kind!«

Sonneck erwiderte nichts, er nickte nur stumm, als habe er diese Auskunft erwartet, wahrend der Arzt fortfuhr: »Wie oft habe ich später versucht, ihn zu bestimmen, die Kleine irgend einer deutschen Familie zur Erziehung anzuvertrauen. Was sollte denn aus ihr werden, wenn sie den größten Teil des Tages einer unwissenden Bonne überlassen blieb, während der Vater sich in den Spielklubs und auf den Rennplätzen umhertrieb. Aber alle Vorstellungen waren umsonst; er behauptete, nicht leben zu können ohne die Nähe des Kindes, an dem er mit unsinniger Zärtlichkeit hing. Ich glaube, er hatte ein instinktmäßiges Gefühl, daß diese Nähe allein noch ihn vor dem Schlimmsten, vor dem völligen Sinken bewahrte, und klammerte sich daran wie an einen Rettungsanker.«

»Ich war heute morgen in seinem Hotel, um nach dem Kinde zu sehen,« sagte Sonneck gepreßt. »Ich hörte aber, Sie seien bereits dagewesen und hätten es mit sich genommen.«

»Ja, ich habe die Kleine zu meiner Frau gebracht, die von jeher eine große Zuneigung für sie hegte, und einstweilen bleibt sie bei uns. Kennen Sie die Verhältnisse näher? Bernried war in dieser Hinsicht sehr verschlossen und sprach nie von seiner Familie, und doch wird man sich an sie wenden müssen.«

»Von den Bernrieds ist nichts zu erwarten,« erklärte Sonneck mit Bestimmtheit. »Sie haben sich dieser Heirat von Anfang an mit vollster Feindseligkeit gegenübergestellt, und das Kind gilt in ihren Augen ebensowenig für ebenbürtig wie die Mutter. Es ist ein hochmütiges, ahnenstolzes Geschlecht. Ich werde dem Großvater der Kleinen, dem Professor Helmreich, Nachricht geben, der jetzt in Kronsberg lebt. Aber vielleicht trifft Bernried selbst noch irgend eine Bestimmung. Ist er bei Besinnung?«

»Bis jetzt nur auf Minuten; aber ich glaube, daß vor dem Tode noch einmal volle Klarheit eintreten wird. Das geschieht oft in solchen Fällen und dann wird er zweifellos nach seinem Kinde verlangen.«

Sonneck schien einige Sekunden lang mit sich zu kämpfen, dann sagte er: »Darf ich ihn sehen?«

»Wenn Sie es wünschen, gewiß. Eine Aufregung ist hier nicht mehr zu fürchten, und vielleicht ist Ihr Kommen noch eine letzte Freude für den Mann, um den sich sonst wohl keiner kümmern wird. Ich fahre heute gegen Abend noch einmal hinaus nach dem Hospital, Sie brauchen mich dort nur aufzusuchen. – Aber jetzt kommen Sie mit hinunter in den Garten, meine Frau ist dort mit der kleinen Elsa, ich möchte Ihnen das Kind zeigen.«

Als die beiden die Treppe hinunterschritten, begegnete ihnen Reinhart Ehrwald, der beim Doktor ein Zusammentreffen mit Sonneck verabredet hatte und ebenfalls kam, um zu hören, wie es mit dem Manne stehe, dem die gestrige Niederlage so verhängnisvoll geworden war. Er schloß sich auf die Einladung des Doktors den Herren an.

Der Garten des Walterschen Hauses lag wie eine kleine grüne Oase mitten in dem Häusermeer der Stadt. Hier duftete und blühte alles in tropischer Fülle und Pracht, und der zierlich gedeckte Frühstückstisch gab dem Orte etwas ungemein Trauliches und Behagliches. Eine Dame war eben beschäftigt, den Thee zu bereiten, und ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren jagte sich im lustigen Spiel mit einem winzigen weißen Hündchen umher.

»Da bringe ich dir die beiden Wüstenhelden!« sagte der Doktor scherzend, indem er mit seinen Gästen an den Tisch trat. Frau Walter, eine noch junge Frau mit feinen, anmutigen Zügen, begrüßte die beiden Herren, die sie bereits kannte, mit einfacher Liebenswürdigkeit und lud sie freundlich ein, an dem Frühstück teilzunehmen.

»Ich kann leider noch nicht den mindesten Anspruch auf den Titel machen, den mir der Herr Doktor gibt,« sagte Ehrwald, indem er den angebotenen Platz einnahm. »Ich habe vorläufig nur den guten Willen, ihn zu verdienen.«

»Und die nötige Tollkühnheit dazu, das haben wir gestern bei dem Rennen gesehen,« ergänzte Walter und wandte sich dann zu dem Kinde, das sein Spiel unterbrochen hatte und neugierig herbeikam, um die Fremden anzuschauen.

»Komm her, Elsa, und gib diesem Herrn die Hand, es ist ein Freund deines Papa!«

Die Kleine gehorchte und bot Sonneck zutraulich das Händchen. Es war ein allerliebstes kleines Geschöpf, schlank und zierlich wie eine Elfe, mit einem rosigen Kindergesicht, aus dem ein Paar großer dunkelblauer Augen hervorblickte. Das blonde Haar, das einen leicht rötlichen Schimmer hatte, fiel offen über Hals und Schultern, deren zarte Farbe es nicht verriet, daß das Kind schon mehrere Jahre lang unter der afrikanischen Sonne lebte. Sein weißes Kleidchen war reich mit Spitzen besetzt, und an seinem Halse funkelte ein Medaillon von feinster arabischer Goldarbeit. Das ganze kleine Wesen war Lust und Leben, und als es jetzt, erhitzt vom Spiel, mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht strich und die Fremden anlachte, da sah es so reizend aus, daß Sonneck es mit einer fast leidenschaftlichen Zärtlichkeit an sich zog und küßte.

Klein-Elsa ließ sich das ruhig gefallen und mit jener Wichtigkeit, mit der Kinder eine Neuigkeit erzählen, sagte sie: »Mein Papa ist verreist, aber er kommt bald zurück, sehr bald, und dann bringt er mir etwas Schönes mit, sagt der Onkel Doktor. Du kennst auch den Papa?«

»Ja, mein Kind,« entgegnete Sonneck, und sich niederbeugend, setzte er so leise, daß nur das Kind ihn verstehen konnte, hinzu: »Ich habe deinen Papa einst lieb gehabt, sehr lieb!«

Elsa sah ihn an, es war, als habe sie eine Ahnung davon, was in diesen Worten lag, denn plötzlich bot sie, ohne jede Aufforderung, dem fremden Manne den kleinen roten Mund zum Kusse dar.

»Nun will ich aber auch eine Hand und einen Kuß haben, kleine Landsmännin,« sagte Ehrwald. »Ich will nicht leer ausgehen, komm zu mir!«

War es der übermütige, etwas befehlende Ton, oder mißfiel dem Kinde sonst etwas an dem jungen Manne, genug, es rührte sich nicht.

»Nun, Elsa, willst du dem Herrn Ehrwald nicht auch die Hand geben?« mahnte Frau Walter, aber Elsa schüttelte den Kopf und ließ ein sehr entschiedenes »Nein!« hören.

Jetzt legte sich Sonneck ins Mittel und redete der Kleinen freundlich zu, aber vergebens. Sie glitt von seinen Knieen auf den Boden nieder und stand nun da wie ein vollendeter Trotzkopf. Sie stampfte mit dem Füßchen und wiederholte mit vollster Heftigkeit: »Nein! Ich will nicht! Ich will ihn nicht küssen!«

»Ei, wie feindselig!« spottete Reinhart. »Da werde ich mir den versagten Kuß wohl erobern müssen.«

Er streckte die Arme nach dem Kinde aus, aber dies entglitt ihm blitzschnell und lief in den Garten. Der junge Mann sprang ihm nach, und nun begann eine förmliche Jagd zwischen den Bäumen und Gebüschen.

Klein-Elsa machte es ihrem Verfolger schwer genug. Wie ein Pfeil schoß sie vor ihm hin, tauchte dann plötzlich im Gebüsch unter, kam an einer ganz andern Stelle wieder zum Vorschein und entwischte ihm immer wieder, wenn er sie zu fassen glaubte. Das weiße Röckchen und die blonden Haare flatterten, während das Kind wie ein großer weißer Falter durch die blühenden Gesträuche huschte, und Ehrwald hatte so viel Mühe, es zu fangen, wie nur irgend ein Schmetterlingsjäger. Endlich aber erreichte er es doch und trug es zu dem Tische zurück.

»Da habe ich sie!« rief er triumphierend und hielt seine Beute mit beiden Händen hoch empor. »Willst du mich nun küssen, Elsa? Ja oder nein?«

»Nein!« rief die Kleine zornig, während sie vergebliche Versuche machte, sich zu befreien. »Laß mich los! Du sollst mich loslassen!«

»Erst den Kuß!« lachte Reinhart, und ohne sich an das Sträuben seiner kleinen Gefangenen zu kehren, drückte er einen Kuß auf das widerstrebende Gesichtchen.

Das Kind schrie auf, so laut und angstvoll, als habe man ihm irgend ein Leid angethan. Dann aber ballte es die kleine Faust und schlug dem jungen Manne so nachdrücklich in das Gesicht, daß er es betroffen, fast bestürzt aus seinen Armen gleiten ließ. Diesmal machte Elsa keinen Versuch, zu flüchten, sie stand regungslos da, aber all die sonnige Liebenswürdigkeit war plötzlich wie ausgelöscht in dem Wesen des Kindes. Die Hände waren noch geballt, die Zähne zusammengebissen, und das waren auch keine Kinderaugen mehr, die zu Reinhart aufblickten. Es sprühte darin seltsam, beinahe unheimlich, er mußte unwillkürlich an die Augen Bernrieds denken, als dieser gestern seinen Gegner maß, während er jene letzte verzweifelte Anstrengung machte, die ihm den Tod bringen sollte.

»Aber Elsa, wie kannst du so unartig sein! Was soll der fremde Herr von dir denken?« rief Frau Walter. Da regte sich das Kind, es lief zu ihr, barg den Kopf in ihrem Schoß und begann laut und bitterlich zu weinen, sein ganzer Körper bebte in krampfhaftem Schluchzen.

»Das ist die Erziehung oder vielmehr der Mangel an Erziehung von seiten des Vaters,« sagte Walter, aber Sonneck schüttelte leise den Kopf.

»Nein, Doktor, es ist das Blut des Vaters, das sich in dem Kinde verrät. Gerade so wild und maßlos bäumte sich Bernried auf, wenn ihm von Menschen oder Verhältnissen ein Zwang geschah, und seine Tochter hat diese unselige Charakteranlage geerbt.«

»Wenn ich nur wüßte, was mit Elsa in der nächsten Woche geschehen soll,« nahm Frau Walter wieder das Wort, während sie sich bemühte, das noch immer schluchzende Kind zu beruhigen. »Wir haben einen Besuch in Ramleh versprochen, wo in der Familie eines uns befreundeten Landsmannes eine Hochzeit gefeiert wird, und mein Mann hat sich mit Mühe für acht Tage frei gemacht. Mitnehmen können wir die Kleine nicht und ebensowenig sie allein unserer arabischen Dienerschaft überlassen. Ich weiß für den Augenblick wirklich niemand –«

»Ueberlassen Sie das mir,« fiel Sonneck rasch ein. »Ich werde Fräulein von Osmar bitten, sich des Kindes anzunehmen, und bin überzeugt, sie thut es mit Freuden.«

»Das wäre freilich ein Ausweg. Aber der Konsul? Wird es ihm recht sein?«

»Gewiß, er läßt seiner Tochter volle Freiheit in solchen Dingen. Ich verbürge mich für seine Zustimmung.«

»Es wäre nur für acht Tage, dann hole ich mir meinen kleinen Liebling wieder. Am liebsten behielte ich ihn ganz, aber das wird wohl nicht möglich sein.«

»Nein, gnädige Frau, denn der Großvater, Professor Helmreich, wird das Kind jedenfalls beanspruchen. Das düstere Haus des alten, strengen Mannes wird freilich ein trauriger Aufenthalt sein für das sonnige kleine Wesen, aber er überläßt seine Enkelin schwerlich fremden Händen.«

Er hatte mit gedämpfter Stimme gesprochen, um von der Kleinen nicht gehört zu werden, aber diese achtete gar nicht auf das Gespräch. Sie hatte sich nach und nach beruhigt und tröstete sich jetzt mit einem Stück süßen Backwerks, das sie gewissenhaft mit dem bittenden Hündchen teilte.

Am Frühstückstische entspann sich jetzt eine lebhafte Unterhaltung, bei der sich nur Sonneck schweigsam und zerstreut zeigte. Man sah es, wie schwer die Nachrichten über Bernried, die er von dem Arzte empfangen hatte, auf ihm lasteten. Ehrwald sprühte dagegen wie gewöhnlich von Uebermut und spielte den Liebenswürdigen bei Frau Doktor Walter, die sich so wenig wie ihr Mann dem Zauber seiner Persönlichkeit entziehen konnte. Endlich brachen die Herren auf, Sonneck verabredete noch mit dem Doktor die Stunde, wo sie im Hospital zusammentreffen wollten, und wandte sich dann wieder zu dem Kinde.

»Nun, Elsa, willst du mir nicht lebewohl sagen?« fragte er freundlich.

Klein-Elsa besaß jedenfalls einen stark ausgesprochenen Eigenwillen. So entschieden sie sich von Ehrwald abgewandt hatte, so zutraulich zeigte sie sich seinem älteren Freunde gegenüber. Sie kam sofort herbei, bot ihm die Hand und ließ sich zum Abschied küssen.

»Nun, kleine Landsmännin, wollen wir nicht auch Frieden schließen?« sagte Reinhart scherzend. »Du hast mich zwar sehr schlecht behandelt, aber ich will es dir nicht nachtragen.«

Er machte Miene, sich gleichfalls zu nähern, aber es bedurfte nur dieser Bemühung, um sofort wieder die ganze Feindseligkeit des Kindes zu entfesseln. Es flüchtete hinter Sonneck und rief angstvoll und zornig zugleich: »Er soll mich nicht wieder küssen! Nicht wahr, du leidest es nicht?«

»Gewiß nicht,« beschwichtigte Sonneck. »Laß das Kind in Ruhe, Reinhart, du siehst ja, es fürchtet sich vor dir!«

»Fürchten?« wiederholte der junge Mann, halb ärgerlich, halb belustigt durch diesen Widerstand. »Da sind Sie doch im Irrtum. Sehen Sie nur, wie das kleine Ding dasteht, als wolle es sich auf Leben und Tod gegen mich verteidigen! Was habe ich dir denn gethan, du Trotzkopf? Ich habe dich ja nur geküßt.«

Da flammte es wieder auf in den Augen des Kindes, ebenso seltsam wie vorhin, und mit der ganzen früheren Leidenschaftlichkeit rief es: »Ich wollte, du hättest mich lieber geschlagen!«

Reinhart trat unwillkürlich einen Schritt zurück, aber seine Stirn zog sich finster zusammen, er schien förmlich beleidigt zu sein.

»Nun, schmeichelhaft ist das gerade nicht für dich,« sagte Sonneck mit leisem Spott. »Du bist etwas verwöhnt in dieser Beziehung, und nun findest du auf einmal eine junge Dame, die lieber einen Schlag als einen Kuß von dir hinnehmen will. Merke dir das, Reinhart!«

Der junge Mann lachte laut auf, aber das Lachen klang etwas gezwungen, und dabei fiel ein tiefgereizter Blick auf das Kind, das ihn unverwandt anschaute.

»Nun, ich werde mich wohl zu trösten wissen über meine Niederlage,« entgegnete er achselzuckend und wandte sich zu dem Doktor und seiner Frau, um sich zu verabschieden.

»Was war denn das heute mit Elsa?« sagte Frau Walter, als sie allein waren. »Das Kind ist sonst so liebenswürdig, so habe ich es ja noch niemals gesehen.«

Der Doktor blickte nachdenklich auf die Kleine, die ihr Spiel mit dem Hündchen wieder begonnen hatte, und entgegnete ernst: »Ich fürchte, Sonneck hat recht, es ist das Blut des Vaters, das sich da verrät. Aber wir wollen Klein-Elsa nicht schelten, heute nicht – denn vielleicht wird sie schon heute abend eine Waise sein.«

 

Der überraschende Verlauf des Rennens bildete noch am nächsten Tage das Hauptgespräch in der Gesellschaft von Kairo. Man sprach überall von der »Faida« des deutschen Generalkonsuls, von Reinhart Ehrwald und auch von dem vielbeklagten »Darling«, der infolge seiner Verletzung hatte getötet werden müssen, von seinem Herrn war nur sehr wenig die Rede. Man fand jenen ersten Ausspruch, daß der Sturz wohl keine schweren Folgen haben werde, sehr bequem, denn nun war man der Mühe überhoben, sich eingehend um den Gestürzten zu kümmern, und konnte in einigen Tagen wieder nachfragen. Es fiel niemand ein, sich näher zu erkundigen oder den Kranken aufzusuchen. Bernried hatte in der That keinen einzigen Freund in Kairo, nur Bekannte, die mit ihm verkehrten, weil er doch nun einmal ein deutscher Baron war und sich in der Sportswelt geltend zu machen wußte.

Seine Abkunft war allerdings zweifellos. Er war der jüngere Sohn einer alten, süddeutschen Adelsfamilie und schien in seiner Jugend ein echtes Kind des Glückes gewesen zu sein. Schön, reich begabt, mit allen möglichen blendenden Eigenschaften ausgestattet, gewann er sich alle Herzen. Er stand als junger Offizier mit seinem Regimente in der Universitätsstadt, wo Sonneck sich kürzlich als Dozent niedergelassen hatte, und dort knüpfte sich die Freundschaft zwischen den beiden an.

Lothar Sonneck, der nur einige Jahre älter war, galt für ernst und verschlossen, aber er hatte schon damals den Kopf voll von all den Zukunftsplänen, die er später so glänzend verwirklichte. Er stammte von armen Eltern, hatte mit eisernem Fleiße seinen Studien obgelegen und gab sich nun mit demselben Eifer seinem Berufe hin. Kurz, er war in allen Stücken der Gegensatz zu dem jungen, lebenslustigen Offizier, dem die reichsten Mittel zu Gebote standen, und vielleicht war es gerade diese Verschiedenheit, die sie zu Freunden machte.

Professor Helmreich, der damalige Rektor der Universität, nahm an dieser wie in der Gesellschaft eine der ersten Stellen ein. Er war mit dem Vater Sonnecks befreundet gewesen und blieb auch dem Sohne ein väterlicher Freund. Lothar verkehrte oft und viel in seinem Hause, wo eine einzige Tochter aufwuchs, und vielleicht war es der geheime Wunsch des Professors, daß der junge hochbegabte Mann, für den er eine glänzende Zukunft voraussah, ihm einst noch näher treten möge. Vorläufig aber gab sich von beiden Seiten keine tiefere Neigung kund und es blieb bei einem fast geschwisterlichen Verhältnis zwischen den jungen Leuten.

Da brachte Sonneck seinen Freund in das Helmreichsche Haus und führte damit, ohne es zu ahnen, das Unheil über dessen Schwelle. Bernried, der leicht entflammt und hingerissen war, verliebte sich leidenschaftlich in das schöne Mädchen und gewann im Sturme dessen Herz, fand aber dann, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, eine unübersteigliche Schranke in dem Widerstande des Professors. Die Bernriedsche Familie war als hochmütig und adelsstolz bekannt und der jüngere Sohn war mit seiner Zukunft ganz auf den Vater angewiesen. Helmreich sah eine endlose Reihe von Kämpfen und Demütigungen für seine Tochter voraus und versagte mit aller Entschiedenheit seine Einwilligung so lange, bis der Bewerber die volle rückhaltlose Zustimmung seiner Eltern bringe.

Bernried wußte am besten, daß man ihm damit eine unmögliche Bedingung stellte, denn, ganz abgesehen davon, daß seine Eltern eine derartige Heirat niemals zugegeben hätten, standen hier noch ganz andere Familieninteressen auf dem Spiel. Da die Güter Majorat waren, das nur der ältere Sohn erbte, hatte man beizeiten Sorge getragen, auch dem jüngeren dasselbe glänzende Los zu sichern. Ihm war bereits die Hand einer entfernten Verwandten, einer reichen Erbtochter, zugesagt, die noch in sehr jugendlichem Alter stand und die er erst in einigen Jahren heimführen sollte. Von einer Preisgabe dieser Pläne von seiten seiner Eltern konnte nicht die Rede sein.

Lothar Sonneck war selbstverständlich der Vertraute des jungen Paares und that, was er nur konnte, um den Freund zum Abwarten, zum ruhigen Ausharren zu bestimmen, bis er wenigstens die Einwilligung des Professors erlangt haben werde; aber er predigte tauben Ohren. Der vom Glück verwöhnte junge Baron war gewohnt, alles im Sturme zu erreichen und zu erringen, und glaubte, das auch hier durchsetzen zu können. Als das erste schroffe Nein von seinem Vater eintraf, zugleich mit dem Befehl, sofort nach Hause zu kommen, damit den »tollen Streichen« ein Ende gemacht werde, griff er ohne Besinnen zu einem Gewaltmittel.

Er bestürmte den Freund, ihm eine letzte Zusammenkunft mit der Geliebten zu ermöglichen, von der ihn das strenge Verbot ihres Vaters fernhielt. Sonneck entschloß sich nur widerstrebend dazu, und erst als Bernried ihm versprach, daß es nur ein Abschied sein sollte, vertraute er und gab nach. Das Vertrauen wurde getäuscht und das gegebene Wort gebrochen. Die beiden jungen Leute benutzten die Zusammenkunft zu einer heimlichen Flucht und gingen auf und davon.

Der Vorfall machte ungeheures Aufsehen in der Universitätsstadt, gerade wegen der hervorragenden Stellung des Professors, und dieser, den der Schlag wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf, brach fast zusammen darunter. Er war von jeher ein ernster, strenger Mann gewesen, dessen starre Ehrbegriffe bis zur Härte gingen, und nun that ihm die einzige Tochter das an! Es änderte nichts an seinen Anschauungen, als nach einigen Wochen zugleich mit der Nachricht, daß die beiden im Auslande getraut seien, die Bitte um Verzeihung eintraf. Er zeigte sich jedem Versöhnungsversuche unzugänglich, beantwortete keinen der Briefe der jungen Frau, auch den letzten nicht, in dem sie ihm die Geburt eines Kindes anzeigte – für ihn gab es hinfort keine Tochter mehr.

Die Familie Bernrieds zeigte sich ebenso unversöhnlich.

Sie verzieh dem ungehorsamen Sohne nicht den eigenmächtigen Schritt und vergab ihm noch viel weniger die Vernichtung ihrer Zukunftspläne, sie sagte sich völlig los von ihm. Der junge Baron seinerseits war viel zu stolz und eigenwillig, um da um Verzeihung zu bitten, wo er nur sein Recht der freien Selbstbestimmung auszuüben geglaubt hatte. Er antwortete auf jene Lossagung in der schroffsten Weise und damit war der Bruch endgültig vollzogen.

Man hatte dem jungen Ehepaare selbstverständlich alle Mittel entzogen, aber für die ersten Jahre reichte das Vermächtnis eines alten Verwandten hin, über das Bernried freie Verfügung hatte. Es wäre vielleicht ausreichend gewesen, irgendwo eine bescheidene, aber sichere Existenz damit zu begründen, doch der im Schoße des Reichtums erzogene Mann, der nie Mangel und Sorge gekannt hatte, dachte nicht an eine solche Verwendung. Er lebte in gewohnter Weise weiter mit seiner Frau, und als die Summe reißend schnell zu Ende ging, verfiel er nach und nach dem Abenteurerleben, zog mit Weib und Kind unstet bald hierhin, bald dorthin und wurde endlich nach Kairo verschlagen, wo seine Laufbahn ein so jähes Ende finden sollte. –

Das deutsche Hospital lag weit draußen in der Vorstadt, in einer Umgebung von Gärten und Villen. Hier sah und hörte man nichts von dem bunten, lärmenden Treiben der Stadt und das helle, freundliche Gebäude lag so friedlich da, als berge es nur Ruhe und Frieden in seinem Innern.

Es war am Spätnachmittage, als Sonneck durch den Garten schritt und in das Haus eintrat. Er bat die Pflegerin, die ihn empfing, den Doktor Walter herbeizurufen, der auch gleich darauf erschien.

»Sie kommen zur rechten Zeit,« sagte er ernst. »Ich habe soeben meinen Wagen nach der Stadt zurückgesandt, um die kleine Elsa zu holen, denn – es geht zu Ende!«

»Schon jetzt?« fragte Sonneck erbleichend.

»Ja, ich habe schon heute morgen befürchtet, daß Bernried den Abend nicht mehr erleben wird, und auch meine andere Voraussetzung hat sich bestätigt. Die Besinnung ist noch einmal voll und klar zurückgekehrt. Ich habe ihn auf Ihren Besuch vorbereitet und er verlangt danach, Sie zu sehen. Kommen Sie!«

Sie schritten durch einen Gang und betraten ein einfach, aber freundlich eingerichtetes Gemach, dessen Fenster weit offen standen. Neben dem Bette, wo der Kranke lag, saß eine der Schwestern, die sich jetzt erhob, als der Doktor ihr einige Worte zuflüsterte, und das Zimmer verließ. Sonneck trat leise näher und beugte sich über den Kranken.

»Ludwig!« sagte er halblaut, aber das ganze Weh dieses traurigen Wiedersehens lag in dem einen Worte.

Der Mann, der sich gestern noch in voller stürmischer Lebenskraft so wild aufbäumte gegen die Möglichkeit einer Niederlage, lag jetzt bleich und still da, aber der Ausdruck herber Verbitterung war aus seinem Antlitz gewichen. Es hatte ausgestürmt in diesen Zügen wie in diesem Leben.

»Lothar!« sagte er matt. »Jetzt endlich kommst du zu mir?«

Lothar verstand den Vorwurf und senkte das Auge. Er wollte sprechen, aber Bernried machte eine abwehrende Bewegung.

»Laß, du hattest ja recht, ganz recht, es hat mir nur so wehe gethan. Ich habe viel Bitterkeit und Demütigung erfahren, seit es – abwärts ging mit meinem Leben, aber das Bitterste war doch die Stunde, wo du an mir vorübergingst, ohne mich kennen zu wollen.«

»Hätte ich gewußt, daß du eines Freundes bedarfst, ich wäre gekommen,« entgegnete Sonneck gepreßt. »Ich ahnte es nicht, Ludwig, daß du so allein standest mitten in dem großen Kreise.«

»Jawohl, allein, ganz allein! Ich hatte niemand als –« der Kranke wandte plötzlich den Kopf nach dem Arzte, der an der anderen Seite des Bettes stand. »Mein Kind, meine kleine Elsa! Ist sie denn noch nicht da? Noch nicht?«

»Sie wird in zehn Minuten hier sein,« beruhigte ihn Doktor Walter. »Ich führe sie dann sofort zu Ihnen.«

Sonneck hatte sich niedergesetzt und die Hand des Kranken in die seinige genommen. Dieser schien körperlich gar nicht zu leiden, aber es sprach eine angstvolle Unruhe aus dem Blick, mit dem er zu dem einstigen Freunde aufsah.

»Ich habe ein Kind, Lothar, ein einziges – was wird aus ihm nach meinem Tode?«

»Ich weiß, ich habe dein Kind heute morgen gesehen,« sagte Lothar mit mühsam unterdrückter Bewegung. »Wie gern nähme ich es schützend in meine Arme! Aber du weißt es ja, ich habe nicht Haus noch Herd, in wenigen Tagen ziehe ich wieder hinaus in die weite Ferne und kehre vielleicht erst nach Jahren zurück. Aber verlassen ist deine Kleine ja nicht, sie hat einen Großvater.«

»Helmreich? – Er hat mir und seiner Tochter nie vergeben – er wird auch unser Kind nicht lieben.«

»Du thust ihm unrecht. Es ist das Kind seiner verstorbenen Tochter, die er trotz alledem mehr als alles andere auf dieser Welt liebte, es ist seine Enkelin, sein Blut, und sie wird sich bald genug in sein Herz stehlen. Wenn du aber wünschest, daß wir uns an deine Familie wenden –«

»Nein, nein, nur das nicht!« unterbrach ihn Bernried erregt. »Nur da nicht betteln! Soll mein Kind das Gnadenbrot essen bei denen, die seinen Vater ausstießen? Versprich mir, Lothar, daß da kein Versuch gemacht wird.«

»Regen Sie sich nicht auf, Herr von Bernried,« mahnte der Arzt besorgt. »Es wird ja alles geschehen, wie Sie es wünschen.«

Das kurze, fieberhafte Aufflammen hatte in der That die Kräfte des Kranken erschöpft. Er sank zurück und lag nun regungslos mit geschlossenen Augen. Da wurde die Thür von neuem geöffnet und an der Hand der Schwester erschien die kleine Elsa. Man hatte ihr gesagt, daß der Papa krank von der Reise zurückgekommen sei und daß sie sehr still und artig sein müsse, wenn sie ihn besuchen wolle. Sie hatte es auch versprochen, aber als sie nun den Vater erblickte, totenbleich, mit geschlossenen Augen, den Kopf mit weißen Tüchern umwunden, da schien dem Kinde doch die Ahnung von irgend etwas Furchtbarem zu kommen. Ehe die Schwester es verhindern konnte, machte es sich los, lief auf das Bett zu und rief mit einem lauten, angstvollen Aufweinen: »Papa! Papa!«

Bernried zuckte zusammen bei dem Klange dieser Stimme und schlug die Augen auf. Er hatte noch die Kraft, die Arme auszustrecken und sein Kind an die Brust zu ziehen, es war ja das einzige, was er wahrhaft geliebt hatte.

»Dein Papa ist sehr krank, Elsa!« sagte Doktor Walter halblaut. »Du darfst jetzt nicht weinen oder laut sprechen, denn das thut ihm wehe, und dann darfst du auch nicht bei ihm bleiben.«

Das Kind sah erschrocken zu ihm auf mit den großen, thränenvollen Augen, aber die Mahnung half. Es schluckte tapfer die Thränen hinunter und versicherte mit rührender Innigkeit: »Ich will ganz, ganz still sein und nimmer weinen, wenn ich nur bei meinem lieben Papa bleiben kann!«

Ein Lächeln – das letzte! – flog über das Antlitz Bernrieds, dann begann er mit seinem Kinde zu reden. Es war nur ein Geflüster, matt und abgebrochen, mit schon erlöschender Stimme, aber die Kleine beruhigte sich dabei sichtlich. Der Vater sprach ja zu ihr mit der gewohnten Zärtlichkeit, nannte sie wie sonst seinen süßen kleinen Liebling; darüber vergaß sie den traurigen Anblick. Sie schlang beide Aermchen um seinen Hals und begann nun auch ihrerseits leise zu plaudern. Sie erzahlte ihm, daß sie jetzt bei dem Onkel Doktor wohne und dort bleiben werde, bis der Papa ganz gesund sei und zurückkomme, erzählte von der guten Tante Walter, dem schönen Garten und dem weißen Hündchen.

Die süße, schmeichelnde Kinderstimme umspann den Sterbenden wie eine weiche, holde Melodie, die allmählich verklingt. Anfangs hörte und verstand er wohl noch die Worte und seine Augen waren unverwandt auf das Gesicht seines Lieblings gerichtet, dann aber sanken die Lider wie todmüde herab und die Melodie erklang ferner und ferner – sie geleitete ihn hinüber in die Ewigkeit.

»Es geht zu Ende!« flüsterte der Arzt Sonneck zu. »Aber es wird kein Kampf stattfinden, wir wollen das Kind bei ihm lassen, wenn er noch irgend etwas fühlt, so ist es seine Nähe. – Du darfst dich jetzt nicht regen, Elsa. Du siehst es ja, der Papa will schlafen. Wecke ihn nicht!«

Die Kleine nickte ernsthaft und verständig und schmiegte leise ihr warmes, rosiges Gesichtchen an die erkaltende Wange des sterbenden Vaters. Tiefes Schweigen herrschte in dem Gemach, das ganz erfüllt war von dem goldigen Glanze der sinkenden Sonne, und durch das offene Fenster sah man weit hinaus in die schimmernde Ferne. Sonneck stand regungslos da, aber ein paar schwere Thränen rollten langsam über seine Wangen, als er auf den Freund blickte, den er im Glanze der Jugend und des Glückes gekannt, den ein einziger falscher Schritt hinausgetrieben hatte in ein unstetes, friedloses Leben und dem der Tod nun als ein Erlöser nahte.

»Vorbei!« sagte Walter leise und legte seine Hand auf die Brust des Toten, wo kein Atem mehr zu spüren war.

Die kleine Elsa hob das Köpfchen, und mit glücklichem Lächeln zu den beiden Männern aufblickend, flüsterte sie: »Nun schläft der Papa!«

Da beugte sich Sonneck nieder, das Kind emporhebend, schloß er es fest an seine Brust und rief mit ausbrechendem Schmerze: »Ja, Elsa, er schläft – und das ist gut für ihn, sehr gut! – Wir wollen ihn schlafen lassen!«

 

Der deutsche Generalkonsul, Herr von Osmar, nahm in Kairo eine in jeder Beziehung hervorragende Stellung ein. In seiner amtlichen Eigenschaft war er selbstverständlich das Haupt der deutschen Kolonie und überdies machten ihn sein Reichtum und seine vielfachen Beziehungen, die bis in die höchsten Kreise hinaufreichten, zu einer sehr einflußreichen Persönlichkeit. In seinem glänzenden, gastfreien Hause verkehrten die Spitzen der Gesellschaft, jeder Fremde von Bedeutung ließ sich dort vorstellen und es galt für eine Auszeichnung, in diesem Hause Zutritt zu haben.

Herr von Osmar war schon seit Jahren Witwer und hatte nicht wieder geheiratet, wohl aus Liebe zu seiner Tochter, der er keine Stiefmutter geben wollte. Ihm war es recht, daß sie noch immer keine Lust zeigte, sich zu vermählen, und gegen all die Bewerbungen, deren Ziel das schöne und reiche Mädchen war, die vollste Gleichgültigkeit zeigte. Er wünschte und erwartete selbstverständlich eine glänzende Partie für Zenaide, aber er hatte durchaus nichts dagegen, wenn dieser Zeitpunkt noch länger hinausgeschoben wurde, die Tochter war ihm allzusehr ans Herz gewachsen.

Das Osmarsche Haus, eine weitläufige, prachtvolle Villa, lag im vornehmsten Teile der Stadt und vereinigte in seiner inneren Einrichtung den europäischen Luxus mit orientalischer Pracht. Nur die persönliche Bedienung des Konsuls und seiner Tochter war deutsch, sonst sah man überall auf Gängen und Treppen die schwarzen oder braunen Gesichter der Eingeborenen in ihrer malerischen Tracht. –

Herr von Osmar befand sich in seinem Arbeitszimmer mit Lord Marwood, der vor einer halben Stunde gekommen war. Das Gespräch der beiden Herren mußte wohl etwas Wichtiges betreffen, denn der junge Lord hatte, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, viel und angelegentlich gesprochen und sah jetzt erwartungsvoll den Konsul an, der mit ruhiger Aufmerksamkeit zuhörte und nun mit derselben Ruhe antwortete: »Es ist mir gerade kein Geheimnis mehr, was Sie mir da eröffnen, Mylord. Ich habe es längst bemerkt, daß Ihre Besuche in meinem Hause meiner Tochter galten, und die näheren Aufschlüsse, die Sie mir soeben über Ihre Familie und Ihr Vermögen gegeben haben, befriedigen mich in jeder Hinsicht. Aber hier handelt es sich doch vor allen Dingen um die Einwilligung Zenaidens. Ich lasse ihr volle Freiheit, ihrer Neigung und ihrem Herzen zu folgen, aber ich habe, offen gestanden, noch nichts von einer solchen Neigung bemerkt.«

»Ich habe auch noch nicht versucht, mich der jungen Dame zu erklären,« warf Francis ein. »Ich hielt es für korrekt, mich mit meinem Antrage zunächst an Sie zu wenden, um Ihre Einwilligung und Ihre Fürsprache zu erbitten.«

»Ganz recht, und ich weiß Ihr Vertrauen vollkommen zu schätzen. Aber meine Zenaide hat ein eigenwilliges, romantisches Köpfchen, in dem sich die Welt und das Leben noch so ganz anders malen, als sie in Wirklichkeit sind. Sie will geliebt und gewonnen sein! Wenn da der Vater kommt und ihr ganz nüchtern einen Antrag vorlegt, den er befürwortet, so sagt sie sicher nein. Ich kenne das, ich bin schon einigemal in diesem Falle gewesen, und eben weil ich Ihnen einen solchen Mißerfolg nicht wünsche, rate ich Ihnen, anders zu Werke zu gehen.«

Der junge Lord zog die Stirne kraus. Man deutete ihm da einen Weg an, den er beim besten Willen nicht gehen konnte, denn die Romantik war seine Sache nun einmal nicht. Er war sich bewußt, mit seinem Reichtum und seinem Range eine glänzende Partie zu sein, selbst für ein so vielumworbenes Mädchen wie Zenaide von Osmar. Er hatte sich mit seiner Werbung ganz »korrekt« an den Vater gewendet und erwartete eine ebenso »korrekte« Antwort. Nun mußte er zu seiner Verwunderung erfahren, daß der Konsul die Vermählung seiner Tochter ganz anders behandelte, als dies in den vornehmen englischen Kreisen Sitte war.

»Ich wünschte vorläufig nur zu erfahren,« hob er wieder an, »wie Sie, Herr Konsul, meine Bitte aufnehmen und ob mir bei Miß Zenaide nicht etwa irgend eine – anderweitige Neigung entgegensteht.«

»Darüber kann ich Sie beruhigen,« erklärte Herr von Osmar zuversichtlich. »In dem Punkte haben Sie vollkommen freie Bahn bei meiner Tochter.«

»Sind Sie wirklich davon überzeugt?«

»Gewiß, ich wüßte nicht, daß Zenaide irgend jemand von der Gesellschaft besonders auszeichnet.«

»Man kann den Begriff der ›Gesellschaft‹ sehr weit ziehen und Miß Zenaide scheint das in der That zu thun.«

Die Worte klangen in so unverkennbarer Gereiztheit, daß der Konsul ihn befremdet ansah. »Was soll das heißen? Sie scheinen eine ganz bestimmte Persönlichkeit im Auge zu haben; da muß ich Sie aber doch bitten, sich näher zu erklären. Ich habe keine Ahnung davon, wen Sie meinen.«

»Das sehe ich und bitte im voraus um Entschuldigung, wenn ich Sie auf unliebsame Dinge aufmerksam machen muß. – Herr Sonneck verkehrt sehr viel in Ihrem Hause.«

»Allerdings, er ist einer meiner nächsten Freunde, aber ihn werden Sie doch kaum in Verdacht haben.«

»Nicht ihn, aber seinen Günstling, der ihn stets begleitet und es gründlich auszunutzen weiß, daß er Ihre ›Faida‹ damals zum Siege geführt hat.«

Osmar stutzte einen Augenblick, dann aber lachte er laut auf.

»Reinhart Ehrwald? Da spielt Ihnen die Eifersucht wirklich einen Streich, Mylord. Der hat ja nichts im Kopfe als die Nilquellen und all die Kämpfe und Abenteuer, die ihn auf dem Zuge erwarten. Er ist weit ungeduldiger, fortzukommen, als Sonneck selbst und kaum mehr in Kairo zu halten. Nein, der träumt nur von der Romantik seines Wüstenzuges, darauf gebe ich Ihnen mein Wort!«

»Und eben das macht ihn interessant für Miß Zenaide,« sagte Francis mit Nachdruck. »Sie haben es ja selbst vorhin zugestanden, daß sie der Romantik sehr zugänglich ist.«

Der Konsul wurde ernster, aber er schüttelte ungläubig den Kopf. »Thorheit! Meine Tochter hört ihm gern zu, wenn er von seinen Zukunftsplänen schwärmt, das thut sie auch, wenn Sonneck von seinen Fahrten erzählt; sie hat nun einmal eine Vorliebe für solche Dinge, aber von einem persönlichen Interesse ist dabei nicht die Rede. Sie sehen Gespenster, Mylord.«

»Ich will es hoffen,« sagte Lord Marwood kühl. »Jedenfalls aber möchte ich Sie bitten, die junge Dame einmal zu beobachten, wenn sie im Gespräch ist mit diesem – diesem kecken Glücksritter, der sich einzubilden scheint, daß ihm nichts unerreichbar bleibt, wenn er verwegen genug ist, die Hand danach auszustrecken. Er rechnet wohl auf Ihre Liebe zu der einzigen Tochter, die selbst eine solche Wahl –«

»Das würde ich mir denn doch sehr verbitten!« fiel Osmar erregt ein. »Wenn ich vorhin erklärte, daß ich der Neigung meiner Tochter freies Spiel lasse, so hatte ich dabei selbstverständlich eine angemessene Wahl im Auge. Aber dieser junge Mann, von dem ich nicht viel mehr weiß als den Namen, über dessen Herkunft und Verhältnisse auch Sonneck nur sehr oberflächlich unterrichtet zu sein scheint, und der nichts auf der Welt besitzt, kann doch füglich nicht ernst genommen werden in dieser Hinsicht. Ich habe ihn um Sonnecks willen in meinem Hause empfangen und ihm damit die Kreise der hiesigen Gesellschaft geöffnet. Ich will hoffen, daß seine Wünsche nicht höher fliegen, sonst wäre ich genötigt, ihn an die Schranken zu erinnern, die ihm gezogen sind.«

Francis sah mit Genugthuung, daß seine Warnung die beabsichtigte Wirkung hatte, und dabei ließ er es vorläufig bewenden. Das Hetzen und Wühlen war seine Sache nicht, dazu dünkte er sich zu vornehm. Er hielt es nur für notwendig, den »kecken Glücksritter« unschädlich zu machen, und das schien erreicht zu sein. Herr von Osmar war in der That bedenklich geworden, wenn er es auch nicht für gut fand, es einzugestehen.

»Uebrigens brauchen wir uns darum keine Sorge zu machen,« begann er wieder. »Es ist ganz überflüssig, so viel Worte zu verlieren um einer Sache willen, die sich von selbst erledigt, auch wenn es sich wirklich um eine flüchtige romantische Laune meiner Tochter handeln sollte. Der Verkehr, der Sie so beunruhigt, nimmt jetzt ein Ende, denn wir gehen schon in der nächsten Woche nach Luksor, auf meine dortige Besitzung.«

»Wie, Sie wollen Kairo verlassen?«

»Jawohl, ich habe mich etwas überarbeitet in der letzten Zeit und spüre jetzt doch die Folgen. Doktor Walter rät mir dringend, mich für einige Wochen von den Geschäften wie von der Geselligkeit zurückzuziehen, deshalb wurde die Reise beschlossen. Ich will dort meine angegriffenen Nerven wieder einigermaßen in Ordnung bringen, und wenn wir zurückkehren, sind Sonneck und Ehrwald längst fort. Ihnen aber, Mylord, möchte ich Gelegenheit geben, Ihre Werbung selbst anzubringen. Wollen Sie unser Gast in Luksor sein?«

Lord Marwood erhob sich in offenbar sehr angenehmer Ueberraschung. »Das bedarf keiner Frage, ich bin Ihnen sehr dankbar für die Einladung.«

»Und das übrige ist dann Ihre Sache,« ergänzte der Konsul lächelnd. »Aber einen Rat möchte ich Ihnen noch geben – lassen Sie sich Zeit mit Ihrer Erklärung. Sie werden ja nun täglich Gelegenheit haben, meine Tochter zu sehen und zu sprechen, aber ich wiederhole es Ihnen, Zenaide will gewonnen sein! Sprechen Sie das entscheidende Wort nicht eher, als bis Sie Ihrer Sache sicher sind. Was ich thun kann, Ihnen den Weg zu ebnen, soll geschehen.«

Er reichte dem jungen Lord die Hand, die dieser mit ungewohnter Lebhaftigkeit ergriff. Es war eine Bundesgenossenschaft, die dieser Händedruck besiegelte, und die beiden Herren schienen gleich befriedigt davon.

Als Herr von Osmar allein war, klingelte er und fragte nach seiner Tochter. Der Diener berichtete ihm, das gnädige Fräulein sei vor einer Stunde ausgefahren, mit den Herren Sonneck und Ehrwald. Die Stirn des Konsuls faltete sich, obgleich er sich erinnerte, daß die Ausfahrt gestern verabredet worden war. Sonneck hatte in irgend einer alten verfallenen Moschee etwas Interessantes entdeckt, das er der jungen Dame zeigen wollte, und Osmar, der sehr wenig Sinn für arabische Bauten und Inschriften hatte, war ganz einverstanden damit, wenn man ihm nur nicht zumutete, mitzukommen. Aber Reinhart Ehrwald war auch dabei, wie immer! Wenn er wirklich verwegene Hoffnungen und Pläne hegte, wie Lord Marwood angedeutet hatte, an Gelegenheit fehlte es ihm nicht!

Der Konsul begann unruhig auf und nieder zu gehen. Jetzt, wo er aufmerksam gemacht worden war, kam ihm manches in Erinnerung, was er früher nicht beachtet hatte. Dieser Ehrwald mit seinem feurigen, lebensprühenden Wesen hatte etwas Bestrickendes, das ließ sich nicht leugnen, er glich so gar nicht den anderen jungen Männern, und Osmar kannte am besten die Vorliebe seiner Tochter für das Ungewöhnliche. Die Sache war vielleicht doch nicht so ganz ungefährlich, und im Hinblick darauf gewann die Werbung des jungen Lords eine erhöhte Bedeutung für den Vater. Begünstigt hätte er sie auch ohnehin, denn es war zweifellos eine Partie ersten Ranges und eine erste Rolle, die Zenaide als Lady Marwood in der englischen Gesellschaft spielen würde. Jetzt aber trat vielleicht noch die Notwendigkeit ein, durch eine standesgemäße Heirat einer etwaigen Thorheit vorzubeugen, und das war entscheidend für den Konsul. Er beschloß, seine ganze väterliche Autorität dafür einzusetzen.

 

Zenaide hatte in der That mit Sonneck und Ehrwald den besprochenen Ausflug unternommen. Es war ein ziemlich langer Weg gewesen, denn die Moschee lag weit draußen, im arabischen Teile der Stadt, und erst nach mehr als halbstündiger Fahrt erreichten sie den in einer engen Gasse ziemlich versteckten Eingang. Es war ein altes arabisches Bauwerk, eines der ältesten und mächtigsten, das Kairo aufzuweisen hatte, aber es diente längst nicht mehr religiösen Zwecken. Halb zur Ruine geworden, bildete es nur noch eine Sehenswürdigkeit für die Fremden, denn die mehr als tausendjährigen Mauern trotzten noch immer der Zeit. Der weite Hof war überflutet von dem letzten Sonnenglanz des scheidenden Tages. Durch die hufeisenförmigen Fenster des Sanktuariums fielen die Strahlen in rötlich zuckenden Lichtern und spielten auf zerbröckelnden Marmorsäulen, auf uralten Mosaiken und halb verwischten Inschriften. Ueberall Verfall und Verödung! Keine Schar von Gläubigen belebte mehr Hof und Hallen, kein Gebetsruf ertönte von dem Minaret. Tiefes Schweigen ringsum, nur eine Schar weißer Tauben, die in den Arkaden nistete, flatterte auf bei den Fußtritten der Nahenden. Sie war das einzig Lebende in diesen Mauern, die lärmende, staubaufwirbelnde Stadt lag wie versunken hinter ihnen.

Sonneck saß am Fuße einer der Säulen, das Skizzenbuch auf den Knieen, und zeichnete den Brunnen, der sich in der Mitte des Hofes erhob. Er lag auch schon fast in Trümmern, nahm sich aber äußerst malerisch aus mit seinem verfallenen Kuppeldach. Drüben zwischen den Arkaden des Sanktuariums wurden von Zeit zu Zeit das helle Gewand Zenaidens und die hohe Gestalt Reinharts sichtbar. Sie schienen den Raum nach allen Richtungen zu durchwandern. Der Zeichnende störte sie nicht, bis sie endlich aus der dämmernden Halle in den sonnendurchleuchteten Hof hinaustraten und sich ihm nahten.

»Nun, Zenaide,« sagte er, sich der Anrede bedienend, die er in seinem väterlich vertraulichen Verkehr mit der Tochter seines Freundes stets gebrauchte, »hatte ich nicht recht, daß diese alte, halbverfallene Gâma eines Besuches wert sei? Sie birgt eine Fülle des Malerischen wie keine andere. Sie und Reinhart haben sich auch nicht satt daran sehen können, wie es scheint.«

»O, das trifft nur bei mir zu,« versetzte die junge Dame lachend. »Herr Ehrwald hat allerdings ritterlich bei mir ausgehalten, aber ich fürchte, er hat sich dabei sträflich gelangweilt, denn er teilt meine Bewunderung durchaus nicht. Ich habe da arge Ketzereien mit anhören müssen.«

»Ich habe nur erklärt, daß ich nicht viel Sinn habe für eine tote Vergangenheit,« verteidigte sich Reinhart. »Mich reizt nur das Lebendige, wo sich noch alle Kräfte regen. Aber wir haben Sie wohl gestört bei Ihrer Arbeit?«

»Nein, ich bin fertig,« erklärte Sonneck. Er wollte das Buch schließen, aber Zenaide streckte die Hand danach aus.

»Bitte, lassen Sie mich sehen! Wie schnell Sie das hingeworfen haben! Kairo hat Ihr Skizzenbuch wohl überhaupt sehr bereichert? – Ah, das ist reizend! Unsere kleine Elsa, wie sie leibt und lebt! Sehen Sie nur, Herr Ehrwald!« Sie hatte in den Skizzen geblättert und hielt jetzt eine derselben dem jungen Manne hin. Es war in der That die kleine Elsa von Bernried, auch nur flüchtig mit dem Stifte hingeworfen, aber die Zeichnung gab das Köpfchen des Kindes in ungemein lebensvoller Auffassung wieder.

»Jawohl, der kleine Trotzkopf ist zum Sprechen ähnlich,« bestätigte Reinhart. »Ich glaube, Herr Sonneck, wären Sie nicht zufällig ein berühmter Afrikaforscher, Sie wären ein berühmter Maler geworden.«

»Ein guter Zeichner vielleicht, weiter nichts,« sagte Sonneck ruhig. »Was aber unsern kleinen Schützling betrifft, Zenaide, so treiben Sie Ihre Güte wirklich zu weit. Ich erbat nur auf acht Tage Ihre Gastfreundschaft für das Kind, nur bis zur Rückkehr des Doktor Walter, jetzt sind bereits drei Wochen verstrichen –«

»Und ich gebe es noch immer nicht heraus!« ergänzte Zenaide scherzend. »Nein, meinen Liebling dürfen Sie mir nicht so schnell wieder nehmen. Das holde kleine Geschöpf ist mir so ans Herz gewachsen, daß Sie es mir durchaus lassen müssen bis zu seiner Abreise, und damit hat es ja noch Zeit.«

»Einstweilen – ja, denn dem Professor Helmreich verbieten Alter und Kränklichkeit die weite Reise hierher. Ich habe ihm aber das Versprechen gegeben, seine Enkelin nur unter sicherem Schutze heimzusenden, und dazu findet sich erst in einigen Wochen Gelegenheit. Ich sagte Ihnen bereits, daß dann einer unserer Missionare, der gegenwärtig noch in Luksor weilt, nach Deutschland zurückkehrt und bereit ist, das Kind unter seine Obhut zu nehmen.«

»Ich weiß, und eben deshalb will ich Elsa mit nach Luksor nehmen. Auch mein Vater meint, es sei das beste, wenn wir sie dort dem geistlichen Herrn übergeben. Gern lasse ich sie freilich nicht fort, sie hängt an mir mit ihrem ganzen kleinen Herzen.«

»Sie verziehen sie aber auch nach Kräften, mein gnädiges Fräulein,« warf Reinhart ein. »Es ist ja ein schönes Kind, aber auch der ausgemachteste Eigensinn, den ich kenne.«

»Nur gegen Sie allein, Herr Ehrwald,« sagte Zenaide vorwurfsvoll. »Aber daran sind Sie selbst schuld. Sie necken und quälen das Kind ja fortwährend und lassen es nie in Ruhe.«

»Weil es mir Spaß macht, daß mir das kleine Ding den erzwungenen Kuß noch immer nicht vergessen kann! Sobald ich nur in Sicht bin, setzt es sich in Kriegsbereitschaft, und gerade das reizt mich immer wieder, mit ihm anzubinden.«

»Ja, dich reizt überhaupt nur der Widerstand, und wenn es der eines Kindes ist!« entgegnete Sonneck. »Was du mühelos erreichen kannst, weißt du nicht zu schätzen. Uebrigens ist es wahr, die Kleine hat eine ungemein energische Empfindung, in der Liebe wie in der Abneigung. Was war das für ein leidenschaftlicher Ausbruch, als wir ihr klar machen mußten, daß der Vater gestorben sei. Das ging weit über ihr Alter hinaus. Doch ich denke, wir steigen jetzt auf den Turm hinauf, sonst geht uns der Sonnenuntergang verloren.« Er deutete auf das Minaret, das an der Westseite aufragte, halb verfallen wie seine Umgebung, aber die gewundenen Treppen, die an der Außenwand emporführten, hielten noch stand. Sonneck schritt, zur Vorsicht mahnend, voran, die anderen beiden folgten und bald standen sie droben auf der Höhe, die einen weiten Ausblick über Nähe und Ferne bot.

Der rote Sonnenball stand schon tief am Horizont, aber er strömte immer noch Licht und Glut über die Erde hin. Tief unten lag die Stadt mit ihrem brausenden Leben, von dem nur einzelne verworrene Laute empordrangen. Dumpfe enge Gassen, wo eine wahre Menschenflut auf und nieder wogte, und weite offene Plätze, wo Wagen und Reiter sich wie im Fluge kreuzten. Die Häuser der Araber in ihrer ganzen Armseligkeit und Verkommenheit und dazwischen die ragenden Mauern und Kuppeln der Moscheen in ihrer ganzen Pracht. Schimmernde Paläste, von Palmengärten umgeben, und der mächtige Nilstrom, der langsam und majestätisch dahinzog – das alles war eingetaucht in die glühende Lichtflut, welche die kahlen gelben Höhenzüge des Mokattam, oberhalb der Stadt, mit tiefem Rot färbte und in dem Wasserspiegel des Nils flammte und blitzte. Dort aber, wo das Häusermeer endete, dehnte es sich weit und grenzenlos aus, eine unabsehbar öde Fläche – die Wüste! Und aus dem goldigen Dunst der Ferne ragten deutlich die Pyramiden auf, die tausendjährigen Wahrzeichen Aegyptens.

»Dorthin führt unser Weg!« sagte Sonneck, indem er nach Süden deutete. »Wir gehen nilaufwärts bis zu den Katarakten und schlagen dann erst den Landweg ein.«

»Ja, aber wann – wann?« fiel Ehrwald stürmisch ein. »Wir liegen ja hier wie festgekettet, schon seit Wochen, und von einem Tage zum andern werden wir vertröstet und hingehalten – es ist zum Verzweifeln!«

»Fesselt Sie unser schönes Kairo so wenig?« fragte Zenaide scherzend, aber es lag ein Vorwurf in der Frage und in dem Blick der schönen dunklen Augen. Doch Reinhart schien beides nicht zu verstehen. »Aber, mein gnädiges Fräulein, ich bin doch nicht hier, um die Schönheiten Kairos zu genießen,« versetzte er unmutig. »Unser warten große kühne Aufgaben, und eben darum ertrage ich nicht diesen erzwungenen Müßiggang. Ich begreife Herrn Sonnecks Geduld nicht, ich hätte längst einen Gewaltstreich gemacht und wäre trotz alledem aufgebrochen! Die Mittel sind uns ja bewilligt und zugesagt, man muß sie uns gewähren, und wenn wir nur erst unterwegs sind, kann und wird man uns nicht im Stich lassen.«

»Weißt du das so genau?« fragte Sonneck gelassen. »Ich dächte, du hättest jetzt auch erfahren, mit welchen Schwierigkeiten selbst eine gesicherte Expedition zu kämpfen hat, ehe es wirklich zum Aufbruch kommt, ich kenne das längst. – Ja ja, Zenaide, ich habe meine Not mit diesem Heißsporn, der immer mit dem Kopf durch die Wand möchte. Er ginge am liebsten noch in dieser Stunde auf und davon und unternähme auf eigene Hand den Wüstenzug, ohne danach zu fragen, ob ich nachkomme!«

»Nein, so undankbar bin ich nicht,« verteidigte sich Reinhart, »aber geträumt habe ich freilich oft davon, mich aufs Roß zu werfen und hineinzujagen in die Wüste, immer weiter und weiter, dem Glück entgegen, das dort in der Ferne liegt, das ich erringen und erjagen muß!«

»Und das du nie erreichst!« fiel Sonneck mit schwerem Nachdruck ein. »Nimm dich in acht, es ist die Fata Morgana, der du nachjagst! Kennst du nicht die alte Wüstensage?«

»Fata Morgana!« wiederholte Zenaide träumerisch, »Ich habe oft schon davon gehört. Hat sie sich Ihnen schon einmal gezeigt, Herr Sonneck?«

»O ja, mehr als einmal. Sie taucht ja selten genug auf, aber so ein alter Weltwanderer wie ich, ist doch vertraut mit ihr. Du wirst sie auch noch kennen lernen. Reinhart, die lockenden, tückischen Geister der Wüste, die Djinns. Sie malen dir fern am Horizont das Land deiner Träume, ein Wunderland voll Glanz und Licht, aber noch hat keines Sterblichen Fuß es je betreten. Je mehr du ihm nachjagst, desto weiter und weiter weicht es zurück, es bleibt ewig in endloser Ferne. Und wenn du Weg und Steg verloren hast und verschmachtend zusammenbrichst, dann zerfließt das Trugbild höhnend vor deinen Augen. Hüte dich davor!«

Die Worte klangen tiefernst und der junge Mann mochte ihren geheimen Sinn wohl verstehen, aber mit seinem ganzen Uebermut warf er den Kopf zurück.

»Pah, ich fürchte mich nicht vor allen Djinns des Orients, ich nehme es auf mit ihnen! In unserer deutschen Märchenwelt wimmelt es ja auch von Hexen und Kobolden und von allerlei tückischem und dämonischem Geisterspuk. Als ich noch ein Knabe war, hat mich nichts so gereizt als die Sagen von dem Drachen und Zauberwesen, die hoch oben auf steiler Felsenhöhe oder tief unten in Höhlen und Klüften hausen und jedem Verderben drohen, der ihnen naht. Aber zuletzt kommt doch immer der eine, der sie bezwingt, der zu ihnen dringt durch tausend Flammen und Gefahren und sie ohne Grauen fest in die Arme preßt. Dann sinkt die Hülle und die düstere Zaubergestalt verwandelt sich in ein leuchtendes Schönheitsbild. Dann ist der Bann gelöst und aus der Tiefe steigt das versunkene Reich in Pracht und Herrlichkeit – warum soll ich nicht dieser eine sein?«

»Sehr bescheiden!« spottete Sonneck. »Finden Sie das nicht auch, Zenaide? Er nimmt sich ohne weiteres die Rolle des Märchenprinzen!«

Zenaidens Augen hingen unverwandt an dem jungen Schwärmer, dessen Augen so feurig blitzten im kühnen Wagemut, und halblaut, wie unwillkürlich, sagte sie: »Ich glaube, Herr Ehrwald wäre einer solchen Rolle gewachsen.«

»Sehr schmeichelhaft, mein gnädiges Fräulein,« lachte Reinhart, indem er sich scherzend verbeugte. »Ich werde mir Mühe geben, die gute Meinung zu verdienen. An mir soll es nicht fehlen und an den Kämpfen und Gefahren hoffentlich auch nicht. Wer weiß, vielleicht erobere ich mir dabei eine von den schönen Feen des Morgenlandes und mit ihr das Zauberreich der Fata Morgana!«

Die Sonne war gesunken und auch die rote Glut im Westen begann zu erblassen. Der Abendwind, der mit Sonnenuntergang aufgewacht war, machte sich fühlbar hier oben auf der luftigen Höhe. Er wehte scharf vom Nil herüber und ließ den Schleier am Hute der jungen Dame hoch aufflattern. Sonneck mahnte zum Aufbruch. »Wir müssen fort, es wird kühl und Sie sind sehr leicht gekleidet, Zenaide. Aber seien Sie vorsichtig beim Hinabsteigen, die Stufen sind uneben. Soll ich Sie führen?«

Die Frage war überflüssig, denn Ehrwald hatte der jungen Dame bereits die Hand geboten und leitete sie abwärts. Ihr Fuß glitt leicht genug über die zerbröckelnden Stufen und ihr Auge blickte schwindelfrei in die Tiefe, dennoch lehnte sie die angebotene Unterstützung nicht ab, ihre Hand lag fest in der Reinharts und ihre Wangen färbten sich höher dabei. Sonneck, der ihnen unmittelbar folgte, mochte seine eigenen Gedanken haben, denn es spielte ein leises Lächeln um seine Lippen, während sein Blick auf den beiden ruhte.

Jetzt hatten sie den Boden erreicht und schritten über den weiten öden Hof der Moschee, den kein Sonnenglanz mehr erfüllte, nur durch die Fensteröffnungen sah man noch den lichten Abendhimmel. In den Säulengängen lagerten schon tiefe Schatten und der Taubenschwarm hatte seine Schlupfwinkel aufgesucht. Ueberall Abendruhe und Stille, aber als sich die Pforte vor ihnen öffnete, empfing die Hinaustretenden wieder das ganze brausende Leben Kairos und umwogte sie während der Fahrt, bis der Wagen vor dem Osmarschen Hause hielt. Hier verabschiedeten sich die beiden Herren von der jungen Dame und kehrten zu Fuß nach ihrem Hotel zurück. Es dunkelte bereits, als sie dort anlangten, aber es war noch eine volle Stunde bis zum Diner und Sonneck, der ungern in geschlossenen Räumen verweilte, suchte mit seinem Begleiter das flache Dach des Hauses auf, das man mit einzelnen Sitzen und Zierpflanzen zu einer Art hochgelegener Terrasse umgestaltet hatte. Es bot einen schönen Ausblick über die Stadt und wurde von den Gästen häufig aufgesucht. Jetzt freilich befand sich niemand mehr dort, und die beiden späten Besucher konnten ungestört plaudern.

Sie hatten sich niedergelassen und ihr Gespräch drehte sich, wie jetzt zumeist, um die bevorstehende Expedition. Reinhart ließ wieder seiner Ungeduld den Zügel schießen und erging sich in allen möglichen Plänen und Vorschlägen zur Beschleunigung der Sache, aber Sonneck schüttelte nur den Kopf dazu.

»Das ist alles nicht ausführbar,« sagte er. »Hier heißt es warten und Geduld haben. Was stürmst und drängst du denn so ungestüm vorwärts? Dich müßte Kairo doch jetzt mehr fesseln als jeden anderen und – wer weiß – wenn es endlich zur Abreise kommt, bist du es vielleicht, der sie verzögert und hinausgeschoben zu sehen wünscht.«

»Ich? Niemals!« rief der junge Mann heftig. »Was soll mich hier fesseln?«

»Eine seltsame Frage! Siehst du wirklich nichts, oder willst du nicht wissen, daß du nur die Hand auszustrecken brauchst, um ein Glück zu gewinnen, um das dich ganz Kairo beneiden würde.«

»Und wenn ich es wüßte! – Halten Sie es für ein Glück, der Mann einer reichen Frau zu sein?«

»Nein,« sagte der Aeltere ernst, »aber der Gatte eines holden, liebenswerten Geschöpfes zu sein, das mit ganzer Seele an dir hängen würde – das ist ein Glück, und der Glanz und Reichtum, der es hier umgibt, würden es wohl nicht gerade beeinträchtigen.«

Es vergingen einige Sekunden, ehe Reinhart antwortete, endlich fragte er halblaut: »Und Herr von Osmar? Glauben Sie, daß ich ihm als Freier willkommen wäre? Daß Zenaide sich entschließen könnte, einem Manne anzugehören, den sein Beruf immer wieder von ihrer Seite reißt, der nur Monate bei ihr weilen kann und dann wieder hinauszieht in die Ferne?«

Sonneck zuckte mit vielsagendem Lächeln die Achseln.

»Das fragst du mich? Du mußt eben die Probe machen, das Zagen und Bedenken ist doch sonst deine Sache nicht! Uebrigens ist das ein Los, das die Frau jedes Schiffskapitäns auf sich nimmt, und wie ihr beide nun einmal geartet seid, ist es das einzige, was eurem Glücke Dauer verspricht. Die Gewohnheit, das Alltagsleben einer friedlichen Ehe ertragt ihr vielleicht beide nicht, aber Trennung und Gefahr würden eurer Liebe immer neuen Reiz geben und jedes Wiedersehen wäre eine neue Brautzeit. – Doch wozu all diese Erörterungen, hier handelt es sich nur um eins – liebst du Zenaide?«

Reinhart hatte sich wieder niedergelassen und stützte den Kopf in die Hand. »Ich weiß nicht,« sagte er langsam. »Ich habe mich bisher noch nie ernstlich gefragt.«

»So frage dich und dann rede – oder schweige. Ich will dich nicht beeinflussen, aber eine Natur wie die deinige braucht einen Zügel, muß irgendwo Wurzel fassen, wenn sie sich nicht ins Schrankenlose verlieren soll. Da träumst du von einem märchenhaften, unermeßlichen Glück, das da irgendwo in endloser Ferne liegt, und hast kein Auge dafür, daß die holde Wirklichkeit dicht neben dir steht und dir die Hand bietet. Entscheide dich – noch hast du die Wahl!«

Er stand auf und wandte sich zum Gehen. Reinhart gab keine Antwort und folgte ihm auch nicht, aber man sah es, die Mahnung war diesmal nicht wirkungslos geblieben; wohl zehn Minuten lang verharrte der junge Mann unbeweglich an seinem Platze, dann erhob er sich und trat an die Brüstung.

Tief unten brauste der Straßenlärm von Kairo, der gegen Abend nur zuzunehmen schien, und überall blinkten die Lichter auf. Dort, über dem Gebiet des Nils, lag jetzt Nacht und Dunkel, aber die Sternbilder leuchteten am Himmel in ihrer vollen Pracht, sie schienen so viel größer, so viel näher als in der fernen nordischen Heimat. Diese geheimnisvolle, sternfunkelnde Nacht des Orients, sie hatte auch etwas von dem lockenden gefährlichen Zauber, der Reinhart jetzt wieder mit Macht umfing. Das schöne Antlitz mit den dunklen sehnsüchtigen Augen, das eben noch so deutlich vor ihm stand, erblich mehr und mehr und sein Blick verlor sich in jene Sternenweiten. Er träumte – träumte von der Fata Morgana.

 

In der Muski, der großen Verkehrs- und Geschäftsstraße Kairos, wogte das bunte, rastlose Treiben, das sich hier tagtäglich vom frühen Morgen bis zum späten Abend entfaltete. Vor den Kaufgewölben, die in ununterbrochener Reihe die beiden Seiten der Straße säumten, standen Händler und Käufer, anpreisend und feilschend, ganz unbekümmert um das Menschengewoge, das sich an ihnen vorüberdrängte und schob. Ernste, würdevoll dahinschreitende Gestalten mit lang herabwallenden Bärten, den Turban auf dem kahlgeschorenen Haupte, Frauen in schleppenden dunkelblauen Gewändern, Kopf und Antlitz so dicht verhüllt, daß nur die Augen allein sichtbar waren. Schwarze und braune Burschen, nur halb bekleidet, allerlei Waren ausrufend und anbietend. Dazwischen rollten die Wagen, deren Kutscher Mühe hatten, die schnaubenden, bäumenden Pferde in dem Gewühl vorwärts zu bringen, hochbeladene Kamele schritten langsam und feierlich dahin, Reitesel, deren Führer ihre mit bunten Ketten und Münzen aufgeputzten Tiere mit lautem Geschrei Fremden und Einheimischen anpriesen, drängten die Fußgänger beiseite. Ueberall Staub und Lärm, überall ein dichtes Gewühl von Menschen und Tieren, das in der engen Straße oft lebensgefährlich zu werden drohte, und dazu brannte die Mittagssonne mit einer wahren Sommerglut, obwohl man sich mitten im Winter befand. Der Anblick war sinnverwirrend und doch so malerisch und phantastisch, so reizvoll in seinem ewigen Wechsel, daß sich das Auge nicht satt daran sehen konnte.

Am Eingange zu den Bazaren, wo das Gedränge am ärgsten war, tauchte jetzt eine lange, hagere Gestalt auf, die sich mit Schultern und Ellbogen sehr energisch Platz machte. Dabei schwang sie einen ungeheuren Sonnenschirm wie ein Notzeichen über dem Kopfe und rief unaufhörlich mit lauter durchdringender Stimme: »Selma! Selma!« Der Ruf ging völlig unter in dem Straßenlärm und wurde auch nicht beachtet, man rief und schrie ja hier alles mögliche aus, nur ein Herr in europäischer Kleidung, der gerade vorüberging, blieb stehen, sah sich um und grüßte dann flüchtig.

»Guten Tag, Fräulein Mallner.«

»Herr Doktor Walter!« rief Ulrike, die nicht sobald den Doktor erblickt hatte, als sie sich schleunigst zu ihm durcharbeitete und ihn am Arme packte. »Gott sei Dank, daß ich Sie finde! Sie müssen mir helfen. Meine Schwägerin ist mir abhanden gekommen, sie ist verloren gegangen und ich kann sie nicht wiederfinden!«

»Ah!« sagte Walter überrascht, aber Fräulein Mallner fuhr ihn mit gewohnter Rücksichtslosigkeit an: »›Ah!‹ kann jeder sagen! Sie sollen mir suchen helfen!«

»Das kann auch jeder sagen,« versetzte der Doktor trocken. »Wollen Sie mir nicht gefälligst erklären, wo und wie Sie von Ihrer Schwägerin getrennt worden sind?«

Ulrike deutete auf den Eingang zu den Bazaren.

»Da drüben an jener Ecke standen wir und wollten nach Hause. Selma war wie immer dicht an meiner Seite. Da kommt auf einmal einer von diesen verrückten arabischen Hochzeitszügen, bei denen man alles mögliche sieht und hört, nur die Hauptperson, die Braut, nicht. Alles rennt herbei, wir werden gedrängt und gestoßen und auf einmal ist Selma verschwunden. Ich rufe und suche überall, laufe zurück in die Bazare, umsonst – sie ist nicht wiederzufinden.«

»Nun dann wird sie irgendwo in der Muski sein.«

»Aber nicht mehr lebendig! Sie ist überfahren, totgetreten, man ist ja seines Lebens nicht sicher in diesem schändlichen Wirrwarr und Selma ist ohne mich hilflos wie ein Kind. Aber das kommt davon, wenn man nach Afrika geschickt wird, eines bloßen Hustens wegen. Wenn mein seliger Martin das wüßte! – Selma! Selma!«

»Das Rufen nützt nichts,« sagte der Doktor. »Man hört es in dem Straßenlärm ja kaum einige Schritte weit; wir müssen die Sache strategisch anfangen. Suchen Sie in dem oberen Teile der Straße, ich werde den unteren auf mich nehmen, hier an den Bazaren treffen wir wieder zusammen. Wenn Frau Mallner überhaupt noch hier ist, müssen wir sie finden.«

»Ja, so wird es gehen,« stimmte Ulrike bei, der dieser Vorschlag einleuchtete. Sie trat schleunigst ihren Entdeckungszug an, während der Doktor sich gleichfalls ohne weiteren Gruß nach der andern Richtung wandte. Er war längst dahingelangt, die Dame ebenso rücksichtslos zu behandeln, wie sie es sich gegen ihn erlaubte, und hätte sich schwerlich herbeigelassen, ihrer Aufforderung nachzukommen, wenn es sich nicht gerade um seine Patientin gehandelt hätte, deren Unselbständigkeit und Schüchternheit er kannte.

Die junge Frau befand sich allerdings noch in der Muski, aber in völliger Ratlosigkeit und Verzweiflung. Als sie sich so plötzlich von ihrer Begleiterin getrennt sah, hatte sie freilich versucht, diese wieder aufzufinden, aber da sie sich dabei nach der falschen Richtung wandte, entfernten sie sich immer mehr voneinander. Die arme Selma, der man kaum daheim in Martinsfelde erlaubt hatte, allein auszugehen, und die hier nun vollends nicht von der Seite ihrer Schwägerin kam, war in der That hilflos wie ein Kind! Es fiel ihr gar nicht ein, einen Wagen zu suchen, um nach dem Hotel zu fahren, dessen Namen der Kutscher doch wohl verstanden hätte, sie spähte immer nur angstvoll nach Ulrike und ließ sich dabei von der Menschenmenge geduldig schieben und stoßen. Aber ihre Furcht wurde immer größer dabei, und als sich nun vollends zwei Eselsjungen dicht an sie herandrängten und mit lautem, zudringlichem Geschrei ihre Tiere anpriesen, flüchtete sie in Todesangst in eine kleine Mauernische, drückte sich dicht an die Wand und brach in Thränen aus.

»Grüß Gott, Frau Mallner!« sagte auf einmal eine Stimme in deutscher Sprache neben ihr, und sich umwendend, gewahrte sie einen jungen Mann, dessen ganzes Gesicht strahlte in freudiger Ueberraschung, als er fortfuhr: »Das nenne ich Glück! Gleich bei meinem ersten Ausgang in Kairo treffe ich mit Ihnen zusammen!«

Er mußte der jungen Frau wohl als ein Helfer in der Not erscheinen, denn sie atmete auf bei seinem Anblick, aber sie wurde zugleich dunkelrot. »Ach, Herr Doktor!«

»Zu Befehl! Doktor Bertram, wohlbestallter Schiffsarzt vom Lloydschiffe ›Neptun‹, hat die Ehre, sich zu melden. Also haben Sie mich doch nicht ganz vergessen, gnädige Frau? Ich hörte freilich nichts weiter von Ihnen, seit wir Sie in Alexandrien landeten. Aber was ist Ihnen denn, Sie sehen ja ganz verstört aus?«

»Ich ängstigte mich so,« gestand Selma. »Ich wurde im Gedränge von meiner Schwägerin getrennt und nun bin ich ganz allein in dem Menschengewühl –«

»Jetzt nicht mehr, denn jetzt bin ich da,« erklärte der junge Arzt, indem er sich wie ein Baum vor der Mauernische aufpflanzte. »Seien Sie ganz unbesorgt, gnädige Frau, ich bleibe an Ihrer Seite.«

»Ich – ich danke Ihnen,« sagte Selma schüchtern. »Wenn Sie mir nur helfen wollten, meine Schwägerin aufzufinden!«

»Das sollten wir ruhig abwarten,« meinte Doktor Bertram, der gar keine Eile zu haben schien, auch diese zweite Reisebekanntschaft zu erneuern. »Fräulein Mallner wird schon irgendwo wieder zum Vorschein kommen!«

»Nein, nein, ich habe schon zu lange gewartet,« rief die junge Frau ängstlich. »Bitte, helfen Sie mir Ulrike suchen.«

»Wie Sie befehlen.« Er bot ihr den Arm, Selma zögerte, ihn anzunehmen; sie war an solche Aufmerksamkeiten gar nicht gewöhnt. Aber der Doktor ließ ihr keine Zeit zum Besinnen, sondern bemächtigte sich ohne weiteres ihres Arms und führte sie mitten hinein in das Straßengewühl.

Der junge Arzt, der am Ende der Zwanzig stehen mochte, war eine stattliche hübsche Erscheinung. In dem von Sonne und Seeluft gebräunten Antlitz blitzte ein Paar lustiger, brauner Augen und die Marinemütze mit dem Abzeichen des Lloyd saß keck und schief auf dem dunklen, leicht gekrausten Haar. Er war offenbar sehr vergnügt über dies unerwartete Zusammentreffen und über seine Beschützerrolle und es gelang ihm auch, seine Schutzbefohlene etwas zutraulicher zu machen. Die kleine zarte Frau hing wie ein Kind an seinem Arme, aber sie kam sich auf einmal so geschützt und geborgen vor, antwortete auch bald nicht mehr so scheu und einsilbig wie im Anfang und lachte sogar bisweilen über die lustigen Bemerkungen ihres Begleiters. Dabei verlor sie aber den Zweck ihres Ganges einigermaßen aus den Augen und Fräulein Ulrike Mallner trat etwas in den Hintergrund.

Aber diese Dame wußte sich schon rechtzeitig wieder in den Vordergrund zu stellen. Urplötzlich tauchte sie in Lebensgröße vor den beiden auf und schoß wie ein Stoßvogel auf die verloren gegangene Schwägerin los. »Selma, habe ich dich endlich! Du warst –« sie verstummte urplötzlich und stand da wie eine Salzsäule. Die unerhörte Thatsache, die Witwe ihres Bruders am Arme eines fremden Mannes zu sehen, raubte ihr für den Augenblick Sprache und Bewegung.

Als sie jedoch den Begleiter ihrer Schwägerin erkannte, kam ihr endlich die Sprache wieder, und sie fuhr in sehr gedehntem Tone fort: »Herr Doktor Bertram – wo kommen Sie denn her?«

»Direkt von Alexandrien,« versetzte der junge Arzt, indem er die Hand grüßend an die Mütze legte. »Ich hatte das Vergnügen, Frau Mallner zu treffen und ihr meinen Beistand anzubieten, um Sie wieder aufzufinden, mein Fräulein.«

»So – nun jetzt bin ich wieder da,« sagte Ulrike, die diesen Beistand sehr überflüssig zu finden schien. »Ich begreife nicht, Selma, wie du so unachtsam sein konntest, mich aus den Augen zu verlieren. Komm, wir wollen nach Hause!«

Selma wollte sich gehorsam von ihrem Begleiter losmachen, aber dieser hielt nachdrücklich ihren Arm fest und versetzte, ganz unbekümmert um den sehr deutlichen Wink: »Frau Mallner ängstigt sich in dem Menschengewühl, und es ist auch wirklich lebensgefährlich hier in der Muski. Sie gestatten wohl, daß ich Sie noch eine Strecke weit begleite.«

Das Fräulein sah ihn von oben bis unten an ob dieser Keckheit. »Wir danken, Herr Doktor, Sie können es uns getrost überlassen, allein – ja, was soll denn das heißen?«

Mit diesem entrüsteten Ausruf unterbrach sie sich plötzlich, denn sie hatte eine ganz merkwürdige Berührung an ihrem Hute gespürt, und sich umwendend, gewahrte sie dicht über ihrem Kopfe den langen Hals eines Kamels, das einen schwarzbraunen Aegypter trug. Es konnte augenblicklich in dem Gedränge nicht vorwärts und benutzte diese Muße dazu, um mit harmloser Neugier den Hut der Dame zu untersuchen, aber da kam es bei dieser übel an. Sie hob den Sonnenschirm und gab dem Tiere einen so nachdrücklichen Schlag auf die Nase, daß es erschrocken zurückschnellte, während der Reiter in ein lautes, drohendes Geschrei ausbrach.

»Ja, schrei nur, du Affengesicht!« rief Ulrike, noch immer im hellen Zorn. »Denkst du vielleicht, ich werde mich von diesem afrikanischen Untier so ohne weiteres auffressen lassen? Dergleichen verbitte ich mir ein für allemal!«

»Die Kamele nähren sich für gewöhnlich nicht von lebenden Menschen,« sagte der junge Schiffsarzt lachend. »Das Tier war nur neugierig, es wollte Ihnen nichts Böses thun.«

»So wollte es meinen Hut fressen, und den gebe ich auch nicht her,« beharrte das Fräulein. »Aber nun vorwärts, daß wir endlich herauskommen aus diesem Hexensabbath! Mein Lebtag gehe ich nicht wieder in diese verwünschte Muski.«

»Ja, ohne Begleitung ist das auch für Damen nicht ratsam,« stimmte Doktor Bertram sehr bereitwillig bei. »Aber unter dem Schutz eines Herrn –«

»Wir haben Begleitung,« schnitt ihm Ulrike das Wort ab. »Doktor Walter erwartet uns bei den Bazaren.«

Wenn sie glaubte, damit den unwillkommenen Begleiter los zu werden, so irrte sie sich; er rief in freudiger Ueberraschung: »Ah, Kollege Walter, den wollte ich ohnehin aufsuchen! Ich habe ihn erst kürzlich in Ramleh bei einem Landsmann getroffen. Den muß ich sofort begrüßen!« Dabei hielt er seine Dame unbeirrt fest und steuerte seelenvergnügt mit ihr durch das Gedränge. Die arme Selma stand dabei Todesangst aus, sie wußte, daß sie diese Begleitung werde büßen müssen, so unschuldig sie daran war, und atmete förmlich auf, als sie endlich den Eingang der Bazare erreichten. Doktor Walter, dessen Suchen natürlich erfolglos geblieben war, wartete hier bereits und rief ihnen entgegen: »Nun, da ist ja meine verloren gegangene Patientin! Sieh da, Kollege Bertram! Also haben Sie Wort gehalten und sind auch einmal nach Kairo herüber gekommen? Das freut mich!«

Der junge Arzt schien sich über dies Zusammentreffen noch weit mehr zu freuen, denn er begrüßte den alten Kollegen so stürmisch, daß dieser ihn ganz verwundert anschaute. Uebrigens schloß er sich ohne weiteres der kleinen Gesellschaft an, war aber nunmehr genötigt, hinter den beiden Damen herzugehen. Fräulein Mallner hatte sich in dem Augenblick, wo die Herren einander begrüßten, ihrer Schwägerin bemächtigt und ließ sie nicht wieder los. Am Ausgange der Muski machte sie überhaupt jeder ferneren Begleitung ein Ende, indem sie einen Wagen herbeiwinkte und kurz und bündig zu Walter sagte: »Wir fahren nach Hause – adieu!«

»Aber das Wetter ist so wundervoll,« versuchte Bertram einzuwerfen. »Wäre es nicht besser –«

»Wir fahren!« unterbrach ihn das Fräulein mit einem niederschmetternden Blick. «Vorwärts, Selma, steig ein – adieu!«

Sie stellte sich dicht vor den Schlag, weil sie sah, daß der junge Schiffsarzt Miene machte, ihrer Schwägerin beim Einsteigen zu helfen. Dann schob sie Selma in den Wagen, stieg gleichfalls ein, und in der nächsten Minute fuhren sie davon.

»Fräulein Mallner ist eine sehr kriegerisch angelegte Natur,« sagte Bertram lachend, indem er dem Wagen nachsah. »Sie kommandiert wie ein Unteroffizier und schleppt ihre Schwägerin davon wie eine eroberte Beute. Eine liebenswürdige Verwandtschaft!«

»Ja, es ist eine merkwürdige Dame,« stimmte Walter bei. »Sie und ich sind nachgerade dahin gelangt, uns mit aller gegenseitigen Hochachtung so grob wie nur möglich zu behandeln. Auf diese Weise kommen wir aus. – Aber wie ist's, Kollege, darf ich Sie gleich mit nach Hause nehmen? Ihre Zeit wird sehr knapp sein, denn der ›Neptun‹ liegt ja immer nur drei Tage vor Anker in Alexandrien, aber ein paar Stunden müssen Sie uns jedenfalls schenken!«

»Der ›Neptun‹ ist schon wieder auf der Rückfahrt. Ich habe einen vierwöchigen Urlaub genommen, um mir Kairo einmal gründlich anzusehen. Man muß das doch kennen lernen.«

Der junge Arzt warf das anscheinend ganz unbefangen hin, aber Walter stutzte und sah ihn scharf an.

»Jetzt, in der Hauptsaison des Lloyd, nehmen Sie Urlaub, um sich hier in Kairo zu amüsieren? Das könnte ich mir nicht leisten. Ich habe schon Mühe genug gehabt, mich für die acht Tage in Ramleh frei zu machen, und da lag eine ganz besondere Veranlassung, die Hochzeit eines Freundes, vor.«

»Ja, Sie lassen in solchem Falle auch Ihre ganze große Praxis im Stich. Auf dem Schiffe handelt es sich ja nur darum, daß überhaupt ein Arzt da ist, und ein junger Kollege aus Triest, der vorläufig noch keine Stellung hat, vertritt mich einstweilen. Aber nun eine Frage. Sie nannten Frau Mallner vorhin Ihre Patientin, haben Sie die Behandlung übernommen? Das trifft sich ja ausgezeichnet!«

»Trifft sich? Wieso?«

»Nun, ich meine das natürlich vom medizinischen Standpunkt aus. Der vorliegende Fall scheint sehr interessant zu sein.«

»Daß ich nicht wüßte, er liegt im Gegenteil sehr einfach. Sie hatten also Veranlassung, sich auch damit zu beschäftigen? War Frau Mallner krank während der Ueberfahrt?«

»Das nicht, ihre Schwägerin war seekrank und konnte während der ganzen Fahrt ihre Kabine nicht verlassen, die junge Frau dagegen kam mit einem leichten und ganz kurzen Anfall am ersten Tage davon. Ich verordnete ihr, möglichst viel auf Deck zu sein, da die frische Seeluft ihr wohlthat –«

»Und da haben Sie den interessanten Fall gründlich studiert,« ergänzte Walter mit vollkommen ernster Miene. »Ja, wir Aerzte können das nicht lassen, auch wenn uns die Sache eigentlich nichts angeht.«

»Ich bin aber noch keineswegs im klaren darüber,« sagte Bertram, der in seinem Eifer und seiner Ungeduld, den Kollegen zum Sprechen zu bringen, den Spott gar nicht merkte. »Vom bloßen Sehen und Berichten läßt sich da wirklich nichts feststellen, dazu gehört eine Untersuchung, die Sie jedenfalls vorgenommen haben. Ist der Fall ein schwerer?«

»Je nachdem – es kommt ganz auf die Behandlung an.«

»Auf die Behandlung? Wie meinen Sie das? Ist wirklich ein Lungenleiden vorhanden? Ist es ernster Natur? Mein Gott, Kollege, so reden Sie doch endlich!«

Doktor Walter war boshaft genug, noch einige Sekunden mit der Antwort zu zögern, dann aber sagte er mit einem bedeutsamen Achselzucken: »Nach allem, was ich sehe und höre, ist der Fall allerdings ernst, so ernst, wie er überhaupt nur sein kann.«

»Um Gottes willen!« fuhr der junge Arzt so bestürzt auf, daß der Aeltere den angenommenen Ernst aufgab und ihm lachend die Hand auf die Schulter legte.

»Strafe muß sein! Wenn Sie hartnäckig darauf bestehen, mir etwas vorzulügen, so bezahle ich mit gleicher Münze. Uebrigens bleibe ich dabei, der Fall ist sehr ernst – bei Ihnen nämlich! Also lassen Sie gefälligst den medizinischen Standpunkt fahren und beichten Sie, sonst erfahren Sie nichts von mir, keine Silbe.«

In das hübsche, gebräunte Antlitz des jungen Mannes stieg eine dunkle Röte, und er sah stumm zu Boden, während Walter fortfuhr: »Der lange Urlaub in dieser Jahreszeit war mir gleich verdächtig, jetzt begreife ich ihn allerdings. Gestehen Sie es nur ein. Sie haben sich verliebt in die junge Frau, gründlich verliebt! Sie sind eigens nach Kairo gekommen, um die Bekanntschaft fortzusetzen, und wollen nun vor allen Dingen wissen, ob Sie überhaupt werben können und dürfen. Wir Aerzte kennen ja am besten die Gefahr der Vererbung bei Lungenkrankheiten – oder wollen Sie jetzt noch leugnen?«

»Nein, nein, ich gebe alles das zu!« rief Bertram. »Aber spannen Sie mich auch nicht länger auf die Folter und sagen Sie mir die Wahrheit. Darf ich –?«

»Wenn's durchaus nicht anders geht – ja! Von Schwindsucht ist hier keine Rede, es handelt sich nur um eine hochgradige Erschöpfung des ganzen Nervensystems. Die arme kleine Frau ist bei der jahrelangen Pflege des alten Mannes, den sie, wie es scheint, halb gezwungen nahm, in der unerhörtesten Weise angestrengt worden. Sie ist fast niemals aus dem Krankenzimmer hinausgekommen, hat die Nächte hindurch wachen müssen und der selige Martin und seine Schwester werden auch das möglichste gethan haben, ihr das Leben schwer zu machen. Als sie nach seinem Tode selbst erkrankte, wurde sie ebenso rücksichtslos behandelt; Fräulein Mallner mit ihrer Berserkernatur weiß ja gar nicht, was Schonung ist, und da kam es dann schließlich so weit, daß nur das energische Eingreifen des Geheimrats Felder einem wirklich unheilbaren Leiden vorbeugte.«

»Aber er hat doch von einem Lungenleiden gesprochen,« warf Bertram ein, der mit atemloser Spannung zuhörte.

»Ja, er war gescheit genug, mit der Schwindsucht zu drohen, weil diese Reise eine Lebensfrage für die junge Frau war, und weil sich ihre Schwägerin sonst nun und nimmermehr dazu hätte bringen lassen. Unser berühmter Kollege wußte so genau wie ich, daß Brust und Lunge bei unserer Patientin vollkommen gesund sind, daß sie überhaupt gar keine Anlage zu einer solchen Krankheit hat. Das Nervenleiden ist zu beseitigen, die vier Wochen hier in Kairo haben schon überraschenden Erfolg gehabt, und wenn Frau Mallner den Winter hier bleibt, bürge ich für ihre Herstellung.«

»Hurra, dann wird geheiratet!« rief der junge Arzt mit ausbrechendem Jubel. »Kollege, liebster, bester Kollege, nehmen Sie es mir nicht übel, aber für die Nachricht muß ich Ihnen um den Hals fallen, es geht nicht anders!« Und damit überfiel er wirklich auf offener Straße den Kollegen mit einer herzhaften Umarmung.

»Nur nicht so zuversichtlich,« warnte dieser lachend. »Die Sache ist noch keineswegs ausgemacht. Ich dächte, Sie hätten schon vorhin einen Vorgeschmack davon erhalten, was Ihnen bei Ihrer Werbung bevorsteht.«

»Sie meinen den Kampf mit dem Drachen, der meinen Schatz bewacht? Pah, den fürchte ich nicht!«

»Nehmen Sie die Sache nicht zu leicht! Die junge Frau ist grenzenlos verschüchtert und unselbständig. Sie wird es gar nicht wagen, sich der Bevormundung ihrer Schwägerin zu entziehen, und diese hat sie, wie es scheint, zu ewiger Witwentrauer verdammt.«

»Jawohl, sie führt das Gespenst des seligen Martin immer im Koffer mit sich und läßt es bei jeder Gelegenheit auftauchen, um die arme Selma zu schrecken. Mich schreckt sie nicht damit, ich schlage mich herum mit dem seligen Bruder und der lebendigen Schwester. Ich hatte nur eine Furcht, und die haben Sie mir, Gott sei Dank, genommen. Alles andere schlage ich aus dem Felde!«

Das Gesicht des jungen Arztes strahlte in so glückseligem, siegesgewissem Uebermut, daß Walter ihm herzlich die Hand hinstreckte.

»Nun denn, Glückauf dazu! Aber Sie werden den Kriegsschauplatz verlegen müssen, denn ich schicke die beiden Damen schon in den nächsten Tagen nach Luksor. Jetzt aber kommen Sie mit zu meiner Frau, da wollen wir gemeinschaftlich den Angriffsplan überlegen. Ich wiederhole es Ihnen, leicht ist die Sache nicht. Gnade Gott der armen kleinen Frau, wenn die gestrenge Schwägerin erst dahinter kommt, was bei den ›medizinischen Studien auf Deck‹ eigentlich passiert ist!«

Dann ergriff er den Arm seines jungen Kollegen und zog ihn mit sich fort.

 

Bei dem deutschen Generalkonsul fand eine größere Festlichkeit statt. Er versammelte vor seiner Abreise noch einmal den ganzen Freundes- und Bekanntenkreis, und dazu gehörte so ziemlich alles, was Kairo an hervorragenden Persönlichkeiten aufzuweisen hatte.

Die weiten, lichtstrahlenden Gesellschaftsräume des Osmarschen Hauses machten einen blendenden Eindruck; denn hier vereinigte sich der moderne Luxus mit echt orientalischer Pracht. Die schweren Goldstickereien der Stoffe, welche die Wände bis zur halben Höhe bedeckten, die kostbaren Teppiche, die auf dem Boden, auf den Diwans oder als Vorhänge an den Thüren ihre leuchtenden Farben zeigten, all die zierlichen oder prächtigen Werke arabischer Kunst aus alter und neuer Zeit, welche die Salons schmückten, gaben diesen etwas Phantastisches, und die Fächer der Palmen, die hier einen Ruhesitz überschatteten, dort eine kleine Fontäne umgaben, erinnerten vollends daran, daß man sich unter einem fremden Himmel befand.

Die Gesellschaft, welche sich in diesen Räumen bewegte, trug ein ähnliches Gepräge. Zwischen den Seiden- und Atlasroben der Damen, den Uniformen der Herren tauchte überall der orientalische Fez auf. Die deutsche Kolonie war natürlich in erster Reihe vertreten, aber auch viele der englischen Offiziere mit ihren Damen waren anwesend, einige hohe ägyptische Würdenträger und all die Fremden und Einheimischen, für die das glänzende gastfreie Haus einen Mittelpunkt bildete. Das alles wogte und flutete durcheinander. Was nur Anspruch darauf erhob, zur ersten Gesellschaft von Kairo zu gehören, das war hier erschienen.

Herr von Osmar, seine Tochter zur Seite, empfing und begrüßte die Gäste. Zenaide, die früh ihre Mutter verloren, hatte es auch schon früh gelernt, die Dame des Hauses zu spielen, und sie that das mit ebensoviel Unmut wie Sicherheit. Man konnte es dem Konsul nicht verdenken, wenn er keine Eile hatte, sie zu vermählen; er verlor zu viel, wenn sie aus seinem Hause schied.

Lord Marwood schien sich solchen Erwägungen allerdings nicht hinzugeben. Jetzt, wo er der Einwilligung des Vaters sicher war, wagte er es auch, den Anschein der Berechtigung in seine ganz offen dargebrachten Huldigungen zu legen, und die kühle Aufnahme derselben beirrte ihn durchaus nicht. Er war unausgesetzt an der Seite der jungen Dame; wo sie auch weilte, wohin sie sich wandte, überall tauchte die hohe Gestalt des Engländers neben ihr auf, und dabei gab er sich offenbar Mühe, so liebenswürdig wie nur möglich zu sein.

Sonneck und Ehrwald waren gleichfalls anwesend. Der Konsul hatte den jungen Mann, der wochenlang in seinem Hause verkehrt hatte, heute füglich nicht ausschließen können, und es war ja auch keine Gefahr mehr bei der Sache, da die Trennung unmittelbar bevorstand. Zu der ihm so dringend empfohlenen Beobachtung fand Herr von Osmar allerdings jetzt keine Zeit, er wurde als Wirt von allen Seiten in Anspruch genommen und mußte mit aller Welt sprechen, aber er sah zu seiner Beruhigung, daß Lord Marwood die Beobachtung übernommen hatte. Dieser würde es schon zu verhindern wissen, daß nicht etwa in letzter Stunde noch eine unliebsame Annäherung erfolgte.

Augenblicklich befand sich der Konsul im Gespräch mit einem alten Herrn, der soeben erst gekommen war und den er jetzt einigen Mitgliedern der deutschen Kolonie vorstellte: »Herr Professor Leutold, unser Landsmann, dessen Name Ihnen jedenfalls bekannt sein wird und der uns nach langer Zeit einmal wieder mit seinem Besuche erfreut.«

Die Herren verbeugten sich. Der Name des deutschen Gelehrten hatte wie der Sonnecks einen Klang, der weit über sein Vaterland hinausreichte. Er selbst zeigte trotz seiner weißen Haare in Sprache und Bewegungen noch eine jugendliche Rüstigkeit. Das geistvolle, scharfgezeichnete Gesicht verriet freilich, daß er bereits an der Schwelle der Siebzig stand, aber die Augen leuchteten noch hell und ungetrübt hervor unter den weißen Brauen.

»Ja, es sind beinahe zehn Jahre her, daß ich in Kairo war,« sagte er. »Wenn man auf einem deutschen Lehrstuhl sitzt, kann man sich selten genug Zeit nehmen zu solchen Ausflügen. Jetzt aber habe ich mich für einige Monate frei gemacht und denke, mich nun hier von all den Amtspflichten zu erholen. Sie wissen ja, die ägyptischen Studien sind von jeher mein Steckenpferd gewesen, und ich gedenke, die Königsgräber von Theben diesmal gründlich zu durchforschen.«

»Und das nennen Sie eine Erholung?« rief Osmar lachend. »Ich gratuliere zu den Studien in Staub und Wüstensand! Da werden wir uns also baldigst wiedersehen. Sie nehmen doch wohl Ihren Aufenthalt in Luksor?«

»Das weiß ich wirklich noch nicht,« versetzte der Professor. »Ich überlasse mich darin ganz der Führung Sonnecks, er weiß hier ja am besten Bescheid und wird uns das Hauptquartier aussuchen.«

Der Konsul stutzte, er wußte allerdings, daß die beiden Herren befreundet waren, aber die letzte Bemerkung befremdete ihn doch.

»Geht denn Sonneck gleichfalls nach Luksor?« fragte er. »Ich weiß ja keine Silbe davon.«

»Es wurde auch erst gestern beschlossen. Ich habe ihn bestimmt, mitzugehen, er ist augenblicklich noch frei, allerdings zu seinem großen Mißvergnügen, aber es ist doch schließlich gleich, ob er es hier oder in Theben abwartet, daß die Herren am grünen Tisch ihm endlich die Möglichkeit geben, aufzubrechen. Er will ja ohnehin den Weg nilaufwärts nehmen, da muß er Luksor in jedem Fall passieren, und mir ist seine Führung und Begleitung von sehr großem Wert.«

»Allerdings – und Herr Ehrwald geht natürlich auch mit?«

»Ehrwald? Ach so, der junge Landsmann, den Sonneck in Deutschland aufgegriffen hat und mitnehmen will auf seinem Zuge. Nebenbei gesagt, ein prächtiger Bursche – ja, der geht auch mit.«

In dem Gesichte des Herrn von Osmar malte sich eine sichtlich unangenehme Ueberraschung bei dieser Eröffnung. Er war zwar überzeugt, daß die eifersüchtigen Befürchtungen Lord Marwoods übertrieben seien, und glaubte nicht an eine ernstliche Neigung seiner Tochter, aber dieser Entschluß Sonnecks kam ihm doch äußerst ungelegen, denn er brachte den »kecken jungen Glücksritter« aufs neue in die Nähe Zenaidens. Für den Augenblick ließ sich indessen nichts thun, man mußte den tückischen Zufall hinnehmen. Der Konsul brach deshalb ab, sprach von anderen Dingen und überließ nach einigen Minuten den Professor den deutschen Herren, während er sich zu Lieutenant Hartley wendete, der eben eintrat.

Reinhart Ehrwald verkehrte inzwischen ganz unbefangen in der Gesellschaft, wo er trotz seines kurzen Aufenthaltes in Kairo bereits heimisch geworden war. Der Sieg, den er damals beim Rennen gewann, und das tollkühne Reiterstück, das er dabei zum besten gab, hatten das allgemeine Interesse auf ihn gelenkt, und seine Persönlichkeit war ganz danach, es dauernd zu fesseln. Er hatte entschieden Glück in diesen Kreisen, zumal bei den Damen, und gerade das Stürmische, Gewaltsame, das in seinem Charakter lag und das er nie ganz zu beherrschen vermochte, sicherte ihm seine Erfolge. Er war etwas so ganz anderes als die jungen Herren, denen man dutzendweise in den Salons begegnete, die frische Ursprünglichkeit seiner Natur gewann jeden und wußte jeden festzuhalten.

Er hatte bei seinem Kommen selbstverständlich Fräulein von Osmar begrüßt, zu einem längeren Gespräche aber keine Gelegenheit gefunden, da sie die Pflichten der Wirtin zu üben hatte, und überdies stand der langweilige Lord Marwood wie eine Schildwache an ihrer Seite. Reinhart bezeigte keine Lust, seine Unterhaltung mit der jungen Dame der Kontrolle Seiner Lordschaft zu unterbreiten, und wandte sich nach einigen Minuten der übrigen Gesellschaft zu, die sich jetzt zwanglos in die einzelnen Räume verteilte. Man fand sich in größeren oder kleineren Gruppen zusammen, man begrüßte sich und plauderte in allen Sprachen. Es war das gewohnte Treiben des Salons, nur daß es hier farbenreicher, vielgestaltiger und durch die Menge der verschiedenartigen Elemente auch interessanter erschien.

Die Glasthüren des großen Empfangssaales, die auf die Terrasse hinausgingen, waren der Hitze wegen weit geöffnet. Dort stand Sonneck im Gespräch mit dem Professor Leutold. Die beiden Herren waren seit langer Zeit befreundet. Sonneck hatte vor zwanzig Jahren als junger Student die Vorlesungen an der Universität gehört, wo der Professor schon damals wirkte, und wenn er inzwischen auch selbst zur Berühmtheit und zu einem Weltruf gelangt war, so bewahrte er dem verehrten Lehrer doch die alte Anhänglichkeit. Sie hatten von Deutschland gesprochen, von der Universität und den dortigen Bekannten, als Sonneck plötzlich fragte: »Wissen Sie etwas Näheres von dem Professor Helmreich? Ich habe ihn nicht gesehen, als ich kürzlich in Europa war, denn auf meine briefliche Anfrage erhielt ich eine kurze, kühle Antwort, aus der ich herauslas, daß mein Besuch ihm nicht erwünscht sei. Infolgedessen unterließ ich es, ihn aufzusuchen.«

»Daran thaten Sie sehr recht,« entgegnete Leutold. »Ich bin im vergangenen Sommer bei ihm gewesen, als ich einen Ausflug in die Berge machte; er ist aber so verbittert und menschenfeindlich geworden, daß das Zusammensein sehr unerquicklich war. Ich begreife überhaupt nicht, wie ein Mann von der Vergangenheit und dem Wissen Helmreichs sich in einen solchen Ort vergraben kann. Dies Kronsberg ist ein kleines abgelegenes Bergnest, das nicht die geringste geistige Anregung bietet. Freilich, er will ja auch keinen Verkehr, lebt einzig und allein seinen Studien und ist ganz außer sich darüber, daß sich in unmittelbarer Nähe der Stadt ein freilich noch sehr bescheidener Badeort entwickelt, weil ihn das in seiner Einsamkeit stört.«

»Sie wissen es ja, was ihn in die Einsamkeit getrieben hat,« sagte Sonneck halblaut.

»Ja freilich, die Geschichte machte damals Aufsehen genug, aber deshalb gibt man doch nicht sein Amt und seinen ganzen Freundeskreis auf, wie Helmreich es that. Für ihn hatte die Welt doch nur Mitleid und Teilnahme.«

»Und eben das ertrug sein Stolz nicht. Ueberdies – es war sein einziges Kind, das er bis dahin geliebt hatte mit der ganzen Kraft seiner herben Natur; daß der Schlag gerade von dieser Seite kam, konnte er nicht verwinden.«

»Nun, die Sache wurde aber doch durch die Heirat wieder ausgeglichen. Jeder andere Vater hätte sich da erweichen lassen und schließlich verziehen. Helmreich hielt seinen Groll fest bis über das Grab hinaus. Die junge Frau ist ja wohl gestorben?«

»Vor zwei Jahren. Und vor vier Wochen habe ich auch Ludwig von Bernried zu Grabe geleitet.«

»Hier in Kairo?« rief der Professor überrascht. »Wie ist er denn hierher gekommen?«

»Wie so manche gescheiterte Existenz, die ihr Heil schließlich in der Fremde sucht. Es war ein ruheloses, verfehltes Leben, das ein jäher Tod endigte. Ich habe ihn erst auf dem Sterbebett wiedergesehen.« Sonnecks Stimme bebte hörbar bei den letzten Worten, auch Professor Leutold war ernst geworden.

»Ich weiß, Sie waren befreundet mit ihm,« sagte er. »Und er zog Sie in die traurige Geschichte mit hinein. Haben Sie Helmreich Nachricht von dem Tode seines Schwiegersohns gegeben?«

»Ich mußte es wohl, denn Bernried hat ein Kind hinterlassen, ein kleines Mädchen von acht Jahren, das nun ganz verwaist ist. Es soll in einigen Wochen nach Kronsberg reisen.«

Der Professor schüttelte bedenklich den Kopf.

»Ein Kind in dem Hause und bei dem Manne, der vollständig zum Sonderling wurde! – Ein trauriges Los für die Kleine.«

»Das fürchte ich auch,« stimmte Sonneck bei. »Aber das Kind hat sonst keine andere Zuflucht und der Großvater nimmt es auch mit aller Entschiedenheit in Anspruch.«

Vor ihm tauchte das Bild des kleinen sonnigen Wesens auf, mit dem rosigen Gesichtchen und dem frohen Kinderlachen, mit den Augen, die so sehr denen des Vaters glichen, wenn sie im jähen Trotze aufflammten, und kaum hörbar setzte er hinzu: »Armes Kind, was wird aus dir werden in solchen Händen!«

»Jetzt wollen wir uns aber mit den alten trüben Geschichten nicht die heitere Gegenwart verderben,« sagte der Professor jovial. »Hier schwimmt ja alles in Vergnügen und der junge Herr da plätschert nun vollends darin wie ein Fisch im Wasser. Ja, die Jugend mit ihrer beneidenswerten Genußfähigkeit!«

Die letzten Worte galten Ehrwald, der soeben herantrat und lachend erwiderte: »Man muß ja leider mit dem Strome schwimmen, Herr Professor.«

»Nun, so unangenehm scheint Ihnen diese Beschäftigung gerade nicht zu sein,« spottete Leutold. »Sie spielen ja den Liebenswürdigen bei dem ganzen weiblichen Kairo und, soviel ich bemerken konnte, mit unleugbarem Erfolg.«

»Ja, man verwöhnt ihn hier in jeder Hinsicht,« meinte Sonneck. »Und er nimmt das so unbekümmert hin, als ob es sich ganz von selbst verstünde. Es ist Zeit, daß wir fortkommen, sonst verdreht man dir noch vollständig den Kopf.«

»Glauben Sie, daß ich ihn mir so leicht verdrehen lasse?« fragte der junge Mann mit spöttisch sich kräuselnden Lippen.

»Gönnen Sie es ihm doch heute noch,« fiel Leutold ein, »die Herrlichkeit nimmt ja bald ein Ende. In Zukunft kann er nur noch den schwarzen oder kaffeebraunen Schönheiten den Hof machen, und das dürfte doch nicht ganz nach seinem Geschmack sein. Ihnen ist es wohl nicht recht, Herr Ehrwald, daß wir jetzt schon das glänzende Kairo hinter uns lassen? Ich kann es mir denken!«

»Mir?« rief Reinhart aufflammend. »Wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie Herrn Sonneck zum Aufbruch nach Luksor bestimmten! Es ist doch wenigstens eine Erlösung von dem thatenlosen Harren und Warten, das uns nachgerade zur Folter wird, wenigstens ein Schritt vorwärts auf unserem Wege!«

»Nun, der ›Schritt‹ bedeutet immerhin fünf Tagereisen,« sagte lächelnd der Professor, dem das ungestüme Vorwärtsdrängen des jungen Mannes zu gefallen schien. »Aber da ist Doktor Walter! Ich muß ein paar Worte mit ihm sprechen; ich möchte mir vor der Abreise das Deutsche Hospital ansehen. Kommen Sie, Sonneck!«

Die beiden Herren gingen und Ehrwald war im Begriff, ihnen zu folgen, blieb aber plötzlich stehen. Während er seine Artigkeiten überall verschwendete, hatte er es gar nicht gesehen, daß ein Paar dunkler Augen ihn suchte und immer wieder suchte. Jetzt sah er es, und auch sein Blick hing minutenlang an der jungen Herrin des Hauses, die sich eben losmachte von dem Kreise, der sie mit Aufmerksamkeiten und Huldigungen aller Art umgab.

Zenaide von Osmar war eine liebreizende Erscheinung, und heute, im Festschmucke, mehr als je, aber auch bei ihr zeigte sich jene eigentümliche Vermischung des Europäischen mit dem Morgenländischen, die sich in der ganzen Umgebung ausprägte. Ueber dem weißen, golddurchwirkten Kleide von halb durchsichtigem Stoff trug sie das ärmellose, orientalische Jäckchen von dunklem Sammet mit reicher Goldstickerei. Im Haar leuchtete nur eine einzige Purpurrose, ein Strauß der gleichen Blumen schmückte die Brust, aber das kostbare Geschmeide, das an Hals und Armen funkelte, verriet, daß die junge Dame die Tochter eines der reichsten Männer Kairos war.

Sie schritt langsam durch den Saal und trat bald zu dieser, bald zu jener Gruppe, hier ein paar Worte, dort einen Gruß oder ein Lächeln spendend. Das zwanzigjährige Mädchen war schon die vollendete Weltdame, die mit unbedingter Sicherheit alle Formen beherrschte. Nur die Augen redeten eine andere Sprache, diese dunklen feuchten Augen, in denen etwas lag wie Sehnsucht nach einer ganz andern Welt, als dies bunte glänzende Gewühl sie ihr darbot. Der unvermeidliche Lord Marwood war natürlich dicht neben ihr und an der andern Seite ging Lieutenant Hartley, der in sehr beredten Worten seinem Kummer über die bevorstehende Abreise Ausdruck gab, von der er erst heute erfahren hatte.

»Also unwiderruflich in der nächsten Woche? Mein gnädiges Fräulein, können Sie es wirklich verantworten, Kairo so ganz verwaist zurückzulassen?«

»Ich glaube, Kairo wird sich zu trösten wissen,« sagte Zenaide, die zerstreut zuhörte, mit einem flüchtigen Lächeln.

»Im Gegenteil, wir hüllen uns alle in die tiefste Trauer bis zu Ihrer Wiederkehr. Nicht wahr, Francis?«

»Ich wenigstens habe keine Veranlassung dazu,« erklärte Marwood. »Herr von Osmar war so freundlich, mich nach Luksor einzuladen. Sie sind doch davon unterrichtet, mein gnädiges Fräulein?«

»Jawohl, Papa sagte es mir gestern bei meiner Rückkehr.«

Die Antwort klang sehr kühl und die väterliche Einladung wurde von der Tochter nicht wiederholt, wie es doch wohl die Artigkeit erfordert hätte. Der junge Lord schien das nicht zu bemerken, Hartley aber rief mit komischer Entrüstung: »Natürlich, du bist immer der Bevorzugte, Beneidenswerte! – Guten Tag, Herr Ehrwald. Haben Sie es schon gehört, welcher Verlust uns allen bevorsteht? Sie bleiben ja auch noch einige Wochen in Kairo.«

»Das hat sich inzwischen geändert,« erklärte Reinhart, der jetzt herantrat. »Unsere Abreise ist schon auf übermorgen festgesetzt, aber wir gehen einstweilen nur bis Luksor. Sonneck und Professor Leutold wollen gemeinsam die Königsgräber durchforschen.«

Ein zornerfüllter Blick, wie man ihn den matten Augen Marwoods gar nicht zugetraut hätte, traf den jungen Mann und dann wandte sich der Blick auf Zenaide. Sie sprach auch diesmal kein Wort der Zustimmung, der Einladung, aber ihre Augen strahlten in so verräterischer Glückseligkeit auf, daß Francis sich auf die Lippen biß. Hartley dagegen rief halb lachend, halb ärgerlich: »Sie auch? Nun dann bleibt mir wahrhaftig nichts übrig, als einen Einfall des Mahdisten herbeizuwünschen, damit mein Regiment schleunigst nach dem Nil kommandiert wird – selbstverständlich mit einer längern Station in Luksor.«

Er unterbrach sich plötzlich und trat mit einer Verbeugung seitwärts, denn eben kam die Gemahlin seines Kommandanten angerauscht und nahm ihn und seinen Freund in Beschlag, zum großen Mißvergnügen dieses letztern. Es half ihm nichts, daß er sich einer außerordentlichen Schweigsamkeit befleißigte, die Dame sprach um so mehr. Sie war weitläufig mit seiner Familie verwandt, wollte Nachrichten darüber haben und verwickelte ihn rettungslos in eine Unterhaltung, der er sich ohne direkte Unart nicht entziehen konnte. Er sah es trotzdem, daß Fräulein von Osmar im Gespräch mit Ehrwald sich dem Ausgange zuwandte und schließlich mit ihm auf die Terrasse hinaustrat.

Durch die große Mittelthür fiel ein breiter heller Lichtstreifen auf die Marmorfliesen, der übrige Teil der Terrasse lag im Halbdunkel. Im Gegensatz zu den heißen, menschenerfüllten Sälen mit ihrem grellen Lichte und ihrem glänzenden Treiben herrschte hier die vollste Stille und Einsamkeit. Dort standen Zenaide und Reinhart, zu ihren Füßen lag der Garten der Villa im nächtlichen Dunkel, aber aus diesem Dunkel stiegen süße Düfte empor und umwehten die beiden wie ferne, geheimnisvolle Grüße und über ihnen funkelte die leuchtende Sternenpracht des Nachthimmels. Aber diesmal verlor sich der Blick des jungen Mannes nicht in jene endlosen Weiten, er haftete auf der schlanken, weißen Gestalt, die dort an der Brüstung lehnte. Er hatte es ja auch gesehen, das Aufleuchten jener Augen bei der Nachricht, die ein Wiedersehen verhieß.

Sie sprachen deutsch miteinander und hatten bisher von gleichgültigen Dingen geredet, aber die Stimme Zenaidens klang gedämpft, verschleiert und der Ton Ehrwalds hatte eine eigentümliche Weichheit, die ihm sonst gar nicht eigen war.

»Lord Marwood wird Sie nach Luksor begleiten?« fragte er.

»Wenigstens wird er uns dahin folgen. Mein Vater hat ihn eingeladen, ich –« sie brach plötzlich ab und unterdrückte die Aeußerung, die sie schon auf den Lippen hatte.

»Sie hätten es nicht gethan?« ergänzte Reinhart.

»Nein!« erklärte Zenaide mit voller Bestimmtheit.

»Ich fürchte, er hat eine Ahnung davon,« spottete der junge Mann. »Aber Seine Lordschaft besitzt die Tugend der Beharrlichkeit im höchsten Grade. Sie werden mir freilich das Gleiche vorwerfen, aber ich versichere feierlichst, daß ich unschuldig bin an dem Reiseplan, für den Professor Leutold allein verantwortlich ist, ich erfuhr erst gestern abend davon.«

»Sie verteidigen sich ja förmlich dagegen, als wenn es ein Unrecht wäre,« sagte Zenaide lächelnd. »Warum denn?«

»Weil ich nicht auch ein unwillkommener Gast sein möchte. Die Herren werden Sie und Herrn von Osmar jedenfalls aufsuchen.«

»Gewiß, das ist doch selbstverständlich, ebenso wie unsere Freude an dem Besuch. Herr Sonneck ist ein Freund meines Vaters und steht unserem Hause sehr nahe.«

»Und ich?«

Zenaide schwieg.

»Und ich?« wiederholte Reinhart. »Sie haben auch mir kein Wort der Zustimmung gesagt, als ich von unserem Reiseplane sprach. Ich weiß ja nicht einmal – ob ich kommen darf.«

Sie sprach auch jetzt nicht, aber in ihren Augen, die sie zu ihm emporhob, stand die Antwort und sie war deutlich genug. Er trat einen Schritt näher und beugte sich zu ihr nieder.

»Zenaide – darf ich kommen?«

Sie bebte leise zusammen, als sie ihren Namen von diesen Lippen hörte, aber kein zorniger Blick, kein Verbot traf den Kecken, der sich unterfing, sie so anzureden. Ihm wurde eine Kühnheit verziehen, die sich Francis Marwood nie hätte erlauben dürfen, und er fühlte das Zugeständnis, das darin lag.

»Ein Glück, um das dich ganz Kairo beneiden würde!« hatte ihm Sonneck damals zugerufen. Ja, es war ein hoher Preis! Das schöne, gefeierte Mädchen, an dessen Hand ein fürstliches Vermögen hing, und dieser Preis war sein, sobald er wollte! Reinhart hätte kein Mann sein müssen, wenn dies Bewußtsein ihn nicht berauscht hätte, wenn sein trotziges Selbständigkeitsgefühl, sein glühender Freiheitsdrang davor standgehalten hätte. All die phantastischen Zukunftsträume wichen zurück in weite Ferne, er sah jetzt auch nur die holde Wirklichkeit, die ihm zur Seite stand.

»Darf ich kommen?« fragte er noch einmal, aber dringender, leidenschaftlicher.

»Ja,« kam es leise von den Lippen Zenaidens, und wie einer plötzlichen Eingebung folgend, zog sie eine der Rosen aus dem Strauße, der ihre Brust schmückte, und reichte sie dem jungen Manne; sie wehrte ihm auch nicht, als er die Hand festhielt, die ihm die duftende Gabe spendete, und sie an seine Lippen zog.

Aber in dem gleichen Augenblick fiel ein Schatten in den hellen Lichtkreis vom Saale her. Lord Marwood stand auf der Schwelle. Er konnte bei der halben Dämmerung, die hier draußen herrschte, den Handkuß wohl kaum gesehen haben, aber er sah, daß die beiden dicht nebeneinander standen in leiser angelegentlicher Unterhaltung und daß sie sofort verstummten bei seinem Nahen. Langsam kam er näher und verbeugte sich vor der jungen Dame, während er Ehrwald nicht zu bemerken schien.

»Sie entziehen sich uns so ganz, gnädiges Fräulein? Man vermißt Sie sehr in der Gesellschaft und Herr von Osmar sucht Sie überall.«

Zenaide hatte sich rasch gefaßt, sie war zu sehr Weltdame, um auch nur mit einem Blick oder einer Bewegung zu verraten, wie unwillkommen ihr die Störung war. Sie wandte sich zu dem jungen Lord und erwiderte scheinbar unbefangen: »Es ist so erstickend heiß in den Sälen! Papa hätte meinen Vorschlag annehmen und den Garten mit in unser Fest hineinziehen sollen, aber er fand das bedenklich in dieser Jahreszeit. Doch ich werde ihn jetzt wohl aufsuchen müssen.« Sie neigte leicht das Haupt gegen die beiden Herren und verließ die Terrasse.

Marwood folgte ihr nicht, er hatte längst die Rose in der Hand Ehrwalds bemerkt und ein Blick auf den Strauß Zenaidens hatte ihm auch gezeigt, woher sie stammte. Seine Haltung war kalt und hochmütig wie immer, aber auf seinem Gesicht lag eine fahle Blässe. Es gab doch einen Punkt, wo die Kälte und Gleichgültigkeit seiner Natur nicht standhielt, und das war seine Neigung zu der schönen Tochter Osmars. Er sah es freilich, daß sie nicht erwidert wurde, aber mit der ganzen Zähigkeit und Hartnäckigkeit seines Charakters hielt er den Gedanken fest, Zenaide zu besitzen. Als er sich nun vollends in diesem Besitz bedroht sah, von einem Manne bedroht, den er unendlich tief unter sich glaubte, da flammte seine Eifersucht hell auf und er beschloß, um jeden Preis den kecken Glücksritter unschädlich zu machen.

»Sie sprachen vorhin die Absicht aus, nach Luksor zu gehen, Herr Ehrwald,« begann er. »So viel ich weiß, haben Sie keine Einladung dorthin erhalten.«

Reinhart lehnte in sehr nachlässiger Haltung an der Brüstung und ebenso nachlässig klang sein Ton, als er erwiderte: »Haben Sie die Einladungen für Luksor zu vergeben, Lord Marwood? Das erfahre ich wirklich erst in diesem Augenblick, werde aber nicht verfehlen, Herrn Sonneck mitzuteilen, daß er sich bei Ihnen die Erlaubnis zu unserem Ausfluge holen muß.«

»Herr Sonneck und sein Begleiter verfolgen wissenschaftliche Zwecke,« sagte Francis, der es unter seiner Würde hielt, den Spott zu bemerken. »Welchen Zweck verfolgen Sie?«

»Interessieren Sie sich so sehr dafür?« lautete die kühle Gegenfrage. »Das ist mir sehr schmeichelhaft, doch bedaure ich, keine Auskunft darüber geben zu können.«

Die spöttische Ueberlegenheit seines Gegners reizte den jungen Lord um so mehr, als er ihr nicht gewachsen war. Es war überhaupt nicht seine Absicht, sich in einen Wortstreit mit diesem Menschen einzulassen, er bemerkte daher kurz und scharf: »Es ist nicht jedermanns Sache, ein unwillkommener Gast zu sein.«

»Ganz meine Meinung!« stimmte Reinhart bei. »Ich bin darin durchaus Ihrer Ansicht, Mylord. Ich sprach gerade vorhin über diesen Punkt mit Fräulein von Osmar.«

Er verharrte noch immer in seiner nachlässigen Stellung und spielte dabei herausfordernd mit der Rose. Das war zuviel für Francis Marwood, der schon diese Haltung als eine Beleidigung empfand und nur zu gut wußte, wohin die letzten Worte zielten; er richtete sich auf und mit dem ganzen verletzenden Hochmut, der ihm so meisterhaft zu Gebote stand, sagte er: »Herr Ehrwald, ich mache Ihnen bemerklich, daß ich Ihre Anwesenheit in dem Hause des Herrn von Osmar nicht für passend erachte.«

Reinhart blieb vollkommen ruhig und seine Stimme verriet nicht die mindeste Erregung, als er antwortete: »Lord Marwood, ich mache Ihnen bemerklich, daß ich diese Aeußerung für eine Unverschämtheit erachte.«

»Mein Herr!« fuhr Francis auf.

»Für eine Unverschämtheit oder Frechheit! – Sie können wählen zwischen den beiden Worten.«

Ein halb unterdrückter Ausruf der Wut entrang sich den Lippen Marwoods, er hob die geballte Faust und machte eine Bewegung, als wollte er sich auf den Beleidiger stürzen. Da aber richtete sich dieser gleichfalls empor und stand drohend, mit blitzenden Augen vor ihm. »Wollen wir vielleicht eine Prügelscene hier aufführen? Das dürfte noch weniger passend sein für das Haus des Herrn von Osmar und ich bin es überhaupt nicht gewohnt, Streitigkeiten in solcher Weise auszufechten.«

Francis wurde dunkelrot bis an die Stirn, als sein Gegner ihn an die Pflichten des Anstands erinnern mußte. Langsam ließ er den erhobenen Arm sinken. »Sie werden von mir hören!« knirschte er, indem er ihm den Rücken wandte und die Terrasse verließ. Reinhart sah ihm nach und zuckte die Achseln. »Ein Duell so unmittelbar vor der Abreise – das gibt einen Sturm mit Herrn Sonneck! Pah, er braucht ja gar nichts davon zu erfahren, ich werde die Sache schon allein abmachen.« Mit diesem Gedanken wandte er sich gleichfalls nach dem Saale, wo das Fest jetzt seinen Höhepunkt erreicht hatte. Das wogte, schimmerte und glänzte überall und der junge Mann schloß sich so unbekümmert der Gesellschaft wieder an, als sei die Begegnung, die er soeben gehabt hatte, nur ein ganz harmloser Wortwechsel gewesen.

Er war bald hier, bald da, so daß Lieutenant Hartley, der ihn suchte, Mühe hatte, ihn aufzufinden. Der junge Offizier teilte durchaus nicht die Abneigung seines Freundes und pflegte heiter und unbefangen mit Ehrwald zu verkehren, jetzt aber näherte er sich ihm in sehr förmlicher Weise. »Ich werde mir erlauben. Sie morgen früh aufzusuchen, Herr Ehrwald,« sagte er leise. »Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit. Ich finde Sie doch zu Hause?«

Reinhart verneigte sich. »Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Was aber die fragliche Angelegenheit betrifft, so bitte ich sehr um möglichste Beschleunigung. Unser Dampfer geht übermorgen und ich möchte die Abfahrt nicht versäumen.«

Hartley sah ihn etwas verwundert an, diese sorglose Zuversicht im Angesicht eines Zweikampfes war ihm doch neu, aber er erwiderte ebenso artig und ebenso förmlich wie vorher: »Wir werden uns darin nach Ihren Wünschen richten. Auf morgen früh also!«

Sie tauschten noch einen Gruß aus und trennten sich dann. Ehrwald trat zu der Gruppe, deren Mittelpunkt Zenaide bildete, umschwärmt und gefeiert wie immer. Ihr Auge streifte ihn wie mit einer Frage. Sie fand es ja natürlich, daß er ihre Rose nicht offen vor aller Welt im Knopfloch trug, man hätte doch vielleicht erraten, woher sie stammte, denn diese leuchtenden Purpurblüten trug nur Eine heute abend, und sie war ihm dankbar für dies Zartgefühl. Er hatte die duftende Gabe wohl auf der Brust geborgen. Arme Zenaide! Wenn sie gewußt hätte, daß der Mann, den sie liebte, es gar nicht bemerkt hatte, als die Rose ihm vorhin bei dem Wortwechsel mit Lord Marwood entfiel. Sie welkte draußen auf dem Marmorboden der Terrasse. Reinhart hatte sie einfach – vergessen.

Die Morgendämmerung begann eben dem vollen Tageslichte zu weichen und die weißen Nebel, die über dem Nil lagerten, fingen an, unruhig zu wogen und zu wallen. Die sonst so belebte Straße, die von Kairo nach den Pyramiden hinausführte, war zu dieser frühen Stunde noch ziemlich einsam, nur einige Fellahweiber zeigten sich, die nach der Stadt wanderten, und jetzt wurde ein offener Wagen sichtbar, der von dort kam und in dem zwei Herren saßen. Er hatte etwa drei Viertel des Weges zurückgelegt, als die rasche Fahrt gehemmt wurde; die Herren stiegen aus, der jüngere gab dem Kutscher einige Weisungen, dann schritten beide querfeldein und nahmen die Richtung nach einem kleinen Palmengehölz, das eine Viertelstunde seitwärts von der großen Straße lag.

»Die Morgen sind vor Sonnenaufgang doch recht kalt hier im Orient,« sagte der ältere, indem er sich fester in seinen Mantel hüllte. »Sie haben auch eine verwünscht frühe Stunde gewählt, Herr Ehrwald. Um acht Uhr wäre es auch noch Zeit gewesen.«

»Nein, dann sind wir nicht mehr sicher vor unliebsamen Störungen,« versetzte Ehrwald, der nur ein leichtes Plaid über die Schultern geworfen hatte. »Dann pflegen die Touristen auszuschwärmen und die ganze Gegend unsicher zu machen. Ueberdies muß ich um neun Uhr wieder in Kairo sein, denn eine Stunde später reisen wir ab und ich möchte Herrn Sonneck und den Professor nicht warten lassen.«

Der andere, es war Doktor Bertram, sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Sie scheinen mit aller Bestimmtheit einen glücklichen Ausgang anzunehmen. Sie haben wirklich eine beneidenswerte Zuversicht.«

»Soll ich die Sache etwa tragisch nehmen? Auf unserm Zuge in das Innere werden wir uns Tag für Tag mit der Gefahr herumschlagen müssen, da haben wir mit den Menschen, der Natur, den Elementen zu kämpfen – und hier handelt es sich um ein harmloses Duell.«

»Bei dem man sich gegenseitig als Scheibe dient. So harmlos finde ich das gerade nicht.«

»Nun derartige Annehmlichkeiten werden wir wohl noch öfter haben, wenn wir von feindlichen Stämmen angegriffen werden,« lachte Reinhart. »Das ist eine kleine Vorübung. Lord Marwood will nun einmal schießen. Meinetwegen! Ich werde ihm das Vergnügen machen, er soll nur nicht verlangen, daß ich es ernsthaft nehme.«

»Der Lord schießt gut,« sagte Bertram ernst. »Ich hörte es von seinem Sekundanten.«

»Möglich, aber ich schieße vermutlich noch besser und übrigens muß man sich in solchen Fällen auf das Glück verlassen. Mich hat es noch nie im Stich gelassen, ich bin so eine Art Sonntagskind. Wie oft schon ist es drunter und drüber gegangen in meinem Leben und schließlich blieb ich doch immer oben.«

»Aber wenn Lord Marwood fällt oder schwer verwundet wird, ist die Sache ebenso bedenklich für Sie,« warf der junge Arzt ein. »Bei seiner Stellung in der« Gesellschaft –«

»Er wird nicht fallen,« unterbrach ihn Reinhart. »Das kostbare Leben Seiner Lordschaft wird der Welt und der Menschheit erhalten bleiben. Aber nun thun Sie mir den Gefallen, Herr Doktor, und legen Sie diese Leichenbittermiene ab, die so gar nicht zu Ihrem Gesicht paßt. Sie ist allerdings offiziell bei solchen Gelegenheiten, aber ich erlasse sie Ihnen, wenigstens so lange bis Sie mich feierlichst zu Grabe geleiten.«

»Sie sind ein unverbesserlicher Spötter,« sagte Bertram halb lachend. »Das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen, daß ich hier in Kairo noch Dienste als Sekundant leisten muß. Ich glaubte, Sie würden Herrn Sonneck darum ersuchen.«

»Ums Himmels willen nicht! Das hätte eine endlose Strafpredigt gegeben und schließlich wären noch Versöhnungsversuche gemacht worden. Herr Sonneck darf keine Silbe erfahren von dem Vorfall, aber Sie hat mir mein guter Stern zugeführt, Doktor. Ich wußte wirklich nicht, woher ich in aller Eile einen Sekundanten nehmen sollte. Die englischen Herren mochte ich nicht darum bitten und einen Deutschen fand ich nicht. In meiner Verzweiflung lief ich endlich zu Doktor Walter, obgleich ich auch da eine Moralpredigt und allerlei Schwierigkeiten voraussah. Da traf ich Sie dort und nahm Sie auf der Stelle in Beschlag!«

»Ja, es war eine merkwürdige Bekanntschaft. Wir waren kaum einander vorgestellt, da zogen Sie mich auf die Seite und machten mir die Eröffnung. Nun, ich war selbstverständlich gern bereit, einem Landsmanne beizustehen, aber ich hätte mir doch eine andere Gelegenheit dazu gewünscht.«

»Warum? Die Gelegenheit ist vortrefflich. Doch da sind wir am Platze, ich glaube, er ist gut gewählt.«

Sie hatten das Palmenwäldchen erreicht, das weit genug von der Straße entfernt lag, um neugierigen Augen die Zusammenkunft zu entziehen. Die Gegner waren noch nicht da, doch wurde jetzt auch ihr Wagen sichtbar. Sie ließen gleichfalls in einiger Entfernung halten und legten den letzten Teil des Wegs zu Fuß zurück.

Eben ging die Sonne auf und die Riesengestalten der Pyramiden, die sich hier in voller Nähe zeigten, leuchteten rot, als sei Leben in den Steinmassen. Kairo selbst lag noch im weißen Nebelduft, der jetzt langsam vor den Sonnenstrahlen zu zerfließen begann. Anfangs waren nur die Höhen des Mokattam und die Türme der Citadelle sichtbar, dann tauchten, wie aus einer schimmernden Flut, die Kuppeln und Minarets hervor, dann die Paläste und höher gelegenen Punkte, bis sich endlich das ganze weite Häusermeer den Blicken zeigte, die letzten Nebel verwehten und zerflatterten. Kairo hatte sich entschleiert und lag nun da in leuchtender Morgenschönheit.

Reinhart war so versunken in den Anblick, daß er gar nicht auf die Nahenden achtete; erst als sein Gefährte sagte: »Da kommen die Herren!« fuhr er auf.

»Wer? Ah so, unsere Gegner! Sehen Sie nur diesen wundervollen Anblick! Wenn ich Sonnecks Talent hätte und das in einer Skizze festhalten könnte – das müßte ein Bild geben!«

Doktor Bertram meinte im stillen, daß man jetzt doch wohl an andere Dinge zu denken habe als an Skizzen und Bilder. Die Herren kamen inzwischen näher, Lord Marwood mit dem Lieutenant Hartley, seinem Sekundanten, und dem englischen Oberst, der damals beim Rennen so entschieden für den voraussichtlichen Sieg Bernrieds eingetreten war; überdies hatten sie den Regimentsarzt mitgebracht.

»Alt-England ist in der Majorität!« spottete Reinhart halblaut. »Welch ein ausführlicher Apparat, weil ein paar Schüsse losgeknallt werden sollen, aber anders thun es die Herren nun einmal nicht.«

»Lord Marwood sieht sehr mißgestimmt aus,« bemerkte Bertram. »E scheint die Sache ernster zu nehmen als Sie.«

»Er hat vermutlich aristokratische Beklemmungen wegen des Duells. Sie müssen nämlich wissen, daß er es für eine ungeheure Herablassung hält, sich mit mir zu schlagen, der ich weder einen Stammbaum noch eine Million besitze. Ich habe also eigentlich gar keinen Anspruch auf die Ehre, von Seiner Lordschaft niedergeschossen zu werden, und bin tief durchdrungen von dem Gefühl dieser meiner Unwürdigkeit.«

»Ehrwald, ich bitte Sie, seien Sie ernsthaft!« mahnte der junge Arzt leise und halb unwillig. Reinhart zuckte nur die Achseln, aber er hatte mit seinem Spott das Richtige getroffen. Lord Marwood bereute es in der That, daß er sich so weit hatte fortreißen lassen, denn durch diese Forderung gestand er dem Gegner ja gerade die gesellschaftliche Berechtigung zu, die er ihm bestreiten wollte. In seinem Hochmut hatte er wirklich geglaubt, ihn mit jener beleidigenden Zurechtweisung unschädlich zu machen; aber als Ehrwald die Beleidigung verdoppelt auf ihn zurückwarf, blieb ihm nur die Wahl, sie entweder hinzunehmen oder zu rächen. Er hatte natürlich das letztere gewählt, aber sein ganzes aristokratisches Bewußtsein empörte sich dagegen, daß er den »Abenteurer« zu einer Art von Ebenbürtigkeit erhob, indem er sich mit ihm schlug.

Er betrat mit seinen Begleitern jetzt das Wäldchen; den Gegner grüßte er nur mit einem steifen Kopfnicken, während die anderen höfliche, aber kühle Grüße mit Reinhart und Bertram austauschten. Von den Zeugen kannte keiner den wahren Grund der Forderung, sie wußten nur von einer im Gespräch gefallenen Beleidigung von seiten Ehrwalds, die vermutlich durch eine verletzende Aeußerung Marwoods hervorgerufen war; dieser hatte ja nie ein Hehl aus seiner Abneigung gegen den jungen Deutschen gemacht.

Der ausgewählte Platz lag auf der andern Seite des Wäldchens, am Rande desselben. Durch die Palmen war man gegen jede Beobachtung von der Straße her gedeckt und drüben auf den weiten Feldern zeigte sich niemand. Oben in der Luft kreiste ein Sperber und ließ seinen heisern Schrei ertönen, sonst regte sich nichts, ringsum herrschte tiefe Morgenstille.

Die Vorbereitungen waren bald getroffen, die Sekundanten maßen die Schritte ab und luden die Waffen, und die beiden Gegner nahmen ihre Plätze ein.

»Sehen Sie nur, wie dieser Ehrwald dasteht,« sagte der Oberst leise und halb ärgerlich zu Hartley. »Als wenn es zum Tanze ginge!«

»Ich fürchte, es ist sein letzter Uebermut,« gab der junge Offizier ebenso leise zurück. »Marwood hat den ersten Schuß und er ist furchtbar erbittert.«

Reinhart stand in der That nicht da, als gälte es einen Kampf auf Tod und Leben. In seiner Haltung lag jener Uebermut, der gewohnt ist, mit der Gefahr zu spielen, und dem dies Spiel ein Vergnügen ist, und gerade das schien den Lord aufs äußerste zu reizen. Als er langsam die Pistole hob und ihr fest und sicher die Richtung nach der Brust seines Gegners gab, da sah man es an seinem Gesichte, daß er entschlossen war, den verachteten und doch gefürchteten Nebenbuhler aus dem Wege zu schaffen.

Der Oberst gab das Zeichen, da plötzlich schoß der Sperber aus der Höhe herab und stieß in einiger Entfernung auf den Boden nieder, wo er wohl eine Beute erspäht hatte. In demselben Augenblick krachte der Schuß Marwoods, die Kugel pfiff dicht an der Schulter Reinharts vorüber, er selbst stand unverletzt da. Sein Glück hatte ihn in der That nicht im Stiche gelassen, das jähe, blitzartige Niederschießen des Vogels, der sich jetzt, die zappelnde Beute in den Krallen, wieder in die Luft erhob, hatte den Gegner gestört und gerade im entscheidenden Augenblick seiner Waffe die tödliche Richtung genommen.

Jetzt war die Reihe an Ehrwald, und in der nächsten Minute schoß auch er, aber er schien gleichfalls gefehlt zu haben. Der Lord stand noch fest an seinem Platze, wandte sich aber plötzlich um und winkte Hartley herbei, dem er in sichtbarer Erregung einige Worte sagte. Dieser antwortete ebenso, und nach einem kurzen, leise geführten Gespräch kam er zu Reinhart hinüber, der, die abgeschossene Pistole noch in der Hand, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen dastand.

»Lord Marwood läßt Sie um Auskunft darüber ersuchen, Herr Ehrwald, was dieser Schuß eigentlich bedeuten sollte,« begann der junge Offizier mit scharfer Betonung.

»Bedeuten?« wiederholte Reinhart anscheinend ganz unbefangen. »Sie werden mich doch hoffentlich nicht dafür verantwortlich machen, meine Herren, daß ich schlecht geschossen habe.«

»Sie haben in die Luft geschossen!« sagte der Oberst. »Wir sahen es alle und bitten um eine Erklärung.«

»Wozu? Ich habe die Forderung meines Gegners angenommen und mich seiner Kugel gestellt – das übrige ist wohl lediglich meine Sache.«

»Ich dächte, es ginge auch einigermaßen den Lord an. Er hat das Duell ernst genommen.«

»Das sah ich!« versetzte Reinhart kalt. »Er wünschte mich zu treffen, ich wünschte ihn zu fehlen, wir waren da beiderseitig in unserm Rechte.«

»Wenn das eine Großmut sein soll, so mache ich Ihnen bemerklich, daß sie beleidigend ist,« sagte Hartley mit Nachdruck. »Lord Marwood setzte selbstverständlich unbedingte Gegenseitigkeit voraus. Ich glaube nicht, daß er mit diesem Gange seine Forderung für erledigt halten wird.«

Reinhart zuckte gleichgültig die Achseln. »Wenn mein Gegner einen zweiten Kugelwechsel für nötig hält, so bin ich bereit, aber ich werde genau so schießen wie das erste Mal.«

»Herr Ehrwald!«

»Mein Wort darauf, Herr Lieutenant!«

Hartley zögerte einen Moment, er wußte offenbar nicht sogleich, wie er sich dieser Erklärung gegenüber verhalten sollte. Dann wandte er sich und ging zu seinem Freunde zurück; die mit diesem nun halblaut geführte Verhandlung schien ziemlich erregt zu sein.

»Sie sind ein Tollkopf!« sagte Bertram leise, »Ich glaube, Sie wären im stande, Wort zu halten.«

»Gewiß, zweifeln Sie etwa daran?«

»Nein, leider nicht im geringsten. Aber wenn der Lord den tollen Vorschlag nun annimmt?«

»Schwerlich! Zu einem bloßen Mordhandwerk gibt sich Marwood nicht her. Uebrigens stehe ich in jedem Fall bei meinem Worte.«

Nach einigen Minuten kam Hartley zurück und erklärte kurz und förmlich: »Lord Marwood läßt mitteilen, daß er unter diesen Umständen auf die Fortsetzung des Duells verzichtet.«

Reinhart verbeugte sich. »So ist die Sache erledigt, und ich habe mich nur den Herren zu empfehlen. Kommen Sie, Doktor!«

Er grüßte noch einmal nach der andern Seite, was diesmal nur von dem Oberst und dem englischen Arzte erwidert wurde, und ging dann in Begleitung Bertrams. Als sie außer Hörweite waren, sagte der letztere mit einem Vorwurf, den er nicht zurückhalten konnte: »Das war ein merkwürdiger Ausgang! Uebrigens bin ich der Meinung des Lieutenant Hartley, ein Duell ist immer eine ernste Sache, und Sie machten eine Komödie daraus.«

»Es ist ja auch im Grunde nichts anderes,« versetzte Reinhart wegwerfend. »Oder finden Sie es so besonders geistreich, wenn zwei Menschen sich gegenüberstehen und in Gegenwart von so und so viel Zeugen feierlichst aufeinander losknallen. Ich habe das stets sehr abgeschmackt gefunden.«

»Und doch haben Sie die Forderung angenommen?«

»Was blieb mir denn sonst übrig? Die Beleidigung war nun einmal gefallen, von beiden Seiten, prügeln konnten wir uns doch nicht und ich hatte keine Lust, mich von der gesamten Gesellschaft Kairos als Feigling in Acht und Bann thun zu lassen, wenn ich das Duell verweigerte. Aber ich habe diesem hochmütigen Burschen eine Lehre gegeben! Er wollte mir wirklich die Ehre erweisen, mich höchsteigenhändig niederzuschießen, und ich – schonte ihn! Das vergibt er mir natürlich niemals, aber er wird sich hüten, mir wieder mit einer Unverschämtheit nahe zu kommen, wenn wir uns in Luksor begegnen, ich habe ihn damit zahm gemacht.«

»Sie spielten aber ein gewagtes Spiel,« warf der junge Arzt ein. »Marwood zielte mit voller Sicherheit; wenn ein glücklicher Zufall es nicht gefügt hätte, daß der Sperber im letzten Augenblick niederstieß und ihn störte, so lägen Sie jetzt vermutlich sterbend am Boden.«

»Ja wenn – wenn!« rief Reinhart lachend. »Der Zufall ist aber doch gekommen, und ich stehe in voller Lebendigkeit vor Ihnen. Die Worte ›wenn‹ und ›aber‹ habe ich längst aus meinem Leben gestrichen, und auf diese Weise wird man am besten fertig. Doch jetzt ist die Sache abgemacht, und nun meinen Dank, Doktor, für den Freundschaftsdienst, den Sie mir geleistet haben! Wenn Sie einmal einen Gegendienst brauchen, ich stehe zur Verfügung.«

»Aber hoffentlich beanspruche ich ihn nicht in dieser Weise,« sagte Bertram lachend, Ehrwalds Händedruck herzlich erwidernd. »Ich bin froh, daß ich Sie heil und gesund nach Kairo zurückbringe.«

Sie hatten inzwischen das Gehölz durchschritten und traten ins Freie. Die ganze weite Ebene des Nils lag jetzt im hellsten Sonnenschein, die Pyramiden mit ihren starren Linien standen wie ernste, dunkle Rätselbilder in der goldenen Lichtflut, schimmernd grüßte die Stadt aus der Ferne und hoch oben in der blauen Luft kreiste der Sperber und spähte nach neuer Beute. Reinhart blieb unwillkürlich stehen.

»Das Leben ist doch schön!« sagte er mit einem tiefen Atemzuge, »und am schönsten dann, wenn man es einer Todesgefahr abgewonnen hat. Sie haben recht, ich danke es dem geflügelten Burschen da oben; aber einen Zufall nannten Sie das? Mein Glück war es, das da aus luftiger Wolkenhöhe zu mir niederstieß und mich rettete! Und da predigt mir Sonneck immer, daß es nur eine trügerische Fata Morgana ist, die zerfließt, sobald ich es versuche, ihr zu nahen. Ich habe auch heute wieder seinen Hauch und seine Nähe gespürt wie so oft schon. Und wenn es noch so hoch und noch so fern ist – ich erjage es doch!«

 

Heiße Sonnenglut lag über den gelbschimmernden Wogen des Nils, die Felder des Fruchtlandes drüben am jenseitigen Ufer leuchteten in hellem Grün und die kahlen, gelbgrauen Höhenzüge der libyschen Gebirge, die hier nahe an den Fluß traten, hoben sich in scharfen Linien ab von dem tiefblauen Himmel.

Auf der Terrasse des großen neuerbauten Hotels in Luksor saß eine kleine Gesellschaft, Fräulein Ulrike Mallner mit ihrer Schwägerin und einem Herrn im hellen Touristenanzuge. Sie sprachen deutsch, das heißt Ulrike sprach und die anderen beiden hörten pflichtschuldigst zu; nur der Herr erlaubte sich bisweilen eine kurze Antwort oder eine Bemerkung, während Selma sich ganz schweigsam verhielt.

Sie war eben damit beschäftigt, auf ihrem Hut einen blauen Schleier zu befestigen, zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht, und man brauchte sie nur anzusehen, um dem Doktor Walter recht zu geben, wenn er von einem überraschenden Erfolge sprach. Das schmale blasse Gesichtchen war voller und rosig geworden, der müde Ausdruck der Augen hatte sich verloren, ebenso wie die matte gebeugte Haltung. Die junge Frau blühte sichtlich auf in diesem Klima, das für sie die beste Arznei war. Nur ihre Schüchternheit schien sich nicht gemindert zu haben, trotz des Reiselebens und all seiner wechselnden Eindrücke. War doch auch die gestrenge Schwägerin immer an ihrer Seite und zog einen förmlichen Bannkreis um sie, den nur wenige Auserwählte überschreiten durften. Der Herr, der den beiden Damen Gesellschaft leistete, gehörte offenbar zu diesen Auserwählten und er verdankte diesen Vorzug in erster Linie dem dringenden Bedürfnis des Fräulein Mallner, deutsch zu sprechen. Zu ihrer großen Entrüstung befanden sich auch hier im Hotel vorwiegend Engländer und Amerikaner, da wurde die sehr bescheidene Annäherung des Landsmannes, der sich ebenso vereinsamt fühlte, in Gnaden angenommen.

Es war ein Mann von einigen vierzig Jahren, eine kleine, ziemlich unbedeutende Erscheinung mit einem freundlichen, gutmütigen Gesicht und einem ungemein höflichen Wesen. Trotz der erst achttägigen Bekanntschaft stand er aber bereits vollständig unter dem Scepter seiner energischen Landsmännin, die ihn regelrecht kommandierte, ihm ihrer Gewohnheit nach die rücksichtslosesten Dinge ins Gesicht sagte und ihn bei Spaziergängen und sonstigen Gelegenheiten ohne weiteres ins Schlepptau nahm. Sie hatte eben einen längeren Vortrag gehalten und machte jetzt notgedrungen eine Pause, die er benutzte, um auch einmal zu Wort zu kommen.

»Unsere berühmten Landsleute gönnen sich heute einen Ruhetag,« hob er an. »Die gestrigen Forschungen waren freilich sehr anstrengend, wir waren bis zum späten Abend in Theben.«

Er betonte das »wir« mit einem gewissen Selbstbewußtsein, aber das trug ihm nur ein Achselzucken von seiten des Fräulein Mallner ein, die in ihrer derben Weise sagte: »Jawohl, Herr Ellrich, Sie waren natürlich auch drüben. Sie sind ja so lange um die Herren herumscherwenzelt, bis Sie mitgenommen wurden.«

Herr Ellrich schien den Ausdruck »herumscherwenzeln« übelzunehmen, er erwiderte in etwas empfindlichem Tone: »Ich glaube nicht, daß es Vorwurf verdient, wenn man große Männer bewundert und die Gelegenheit benutzt, sich ihnen anzuschließen. Dieser berühmte Sonneck, der seine verwegenen Züge in das Herz von Afrika so gemütsruhig unternimmt, wie wir eine Landpartie machen, dieser gelehrte Professor, der mit den jahrtausendalten Mumien sozusagen auf du und du steht –«

»Und dieser naseweise Ehrwald,« fiel Ulrike ein, »der weder berühmt noch gelehrt ist und doch immer thut, als ob ihm die ganze Welt gehöre! Herrn Sonneck lasse ich gelten, allenfalls auch noch den Professor, obgleich er eine wahre Manie hat, in dem alten Heidengerümpel herumzustöbern.«

»Heidengerümpel?« wiederholte Ellrich entsetzt. »Aber mein Fräulein, das sind Funde von unermeßlicher Wichtigkeit, Denkmäler einer mächtigen Vergangenheit, Zeugen einer untergegangenen Kulturepoche –«

»Jawohl, so steht es im Reisehandbuch, und da haben Sie es wahrscheinlich auswendig gelernt,« fiel ihm Fräulein Mallner ins Wort. »Ich weiß auch Bescheid damit, wir haben uns in Kairo im Museum die ganze Herrlichkeit angesehen und nur heidnisches Gerümpel gefunden. Und was nun vollends die alten Mumien betrifft, so ist es geradezu eine Sünde, sie aus dem Wüstensande, wo sie schon ein paar tausend Jahre liegen, wieder herauszuwühlen.«

»Bitte, sie lagen in den Felsengräbern, drüben in Theben,« schaltete der angehende Forscher mit großer Sachkenntnis ein.

»Meinetwegen! Ich krieche nicht hinein, und ich würde es mir überhaupt verbitten, wenn man mich nach meinem Tode wieder ausgraben und öffentlich ausstellen wollte, dergleichen Unverschämtheiten ließe ich mir ein für allemal nicht gefallen. Gott sei Dank, bei uns in Martinsfelde kann dergleichen nicht passieren, da wird man wenigstens anständig begraben.«

»Guten Tag, meine Damen!« klang es plötzlich in deutscher Sprache, aber der Gruß hatte eine eigentümliche Wirkung auf die beiden Damen. Die ältere richtete sich kerzengerade auf und starrte den Fremden an, der eben in die offene Thür des Speisesaales getreten war, als sähe sie ein Gespenst. Die jüngere dagegen wurde dunkelrot, der Hut, mit dem sie noch beschäftigt war, entglitt ihren Händen und fiel zu Boden – glücklicherweise, denn während sie sich bückte, um ihn aufzuheben, konnte sie ihre vollständige Fassungslosigkeit einigermaßen verbergen. Der neue Ankömmling schien aber doch etwas davon bemerkt zu haben, denn seine Augen leuchteten auf, als er rasch näher trat.

»Also glücklich angekommen, meine Damen? Das freut mich. Wie befinden Sie sich, gnädige Frau? Ich habe die Ehre, Fräulein Mallner, wir sind ja alte Bekannte.«

Er machte Miene, der »alten Bekannten« freundschaftlich die Hand zu schütteln, aber sie wich mit einer sehr entschiedenen Bewegung aus und rief mit einer Entrüstung, die sie sich keine Mühe gab zu verbergen: »Herr Doktor Bertram – sind Sie schon wieder da?«

Der Empfang war nicht gerade ermutigend, aber Doktor Bertram lächelte so verbindlich, als habe man ihn mit offenen Armen aufgenommen.

»Ja, ich bin wieder da. Ich bin gestern abend angekommen, es ist doch merkwürdig, daß wir immer wieder zusammentreffen, wirklich sehr merkwürdig!«

Er hätte diese Merkwürdigkeit damit erklären können, daß auf dem Dampfer, den die beiden Damen benutzten, kein einziger Platz mehr verfügbar gewesen war, daß er deshalb zu seinem großen Mißvergnügen auf das nächste Schiff hatte warten müssen, mit dem er nun schleunigst nachgefahren war, aber er verschwieg das weislich und wandte sich grüßend an Herrn Ellrich, der neben der jungen Frau saß.

»Ein Landsmann, wie ich vermute? Ich hörte, daß Sie deutsch sprachen, als ich heraustrat. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle – Doktor Bertram.«

»Mein Name ist Ellrich,« versetzte dieser, indem er sich artig erhob, aber da hatte der Doktor schon einen leeren Stuhl an der Hand, schob ihn dem Höflichen zu und ergriff die Lehne des neben Selma freigewordenen, während er sagte: »Bitte, bemühen Sie sich nicht. Sie wollen mir Ihren Platz abtreten? Das ist wirklich zu liebenswürdig –« Damit saß er schon neben Selma und machte ein außerordentlich vergnügtes Gesicht.

Herr Ellrich sah etwas betroffen aus, als er sich auf den neuen Sitz niederließ. Inzwischen blickte Fräulein Mallner den Eindringling wütend von der Seite an und bemerkte in grollendem Tone: »Ich denke, Sie sind längst wieder auf Ihrem Schiffe. Das ist ja eine merkwürdige Stellung, die Ihnen erlaubt, wochenlang in Aegypten herumzureisen, während der ›Neptun‹ regelmäßig seine Fahrten macht.«

Bertram seufzte und nahm eine melancholische Miene an.

»Ich habe leider Urlaub nehmen müssen, ganz gegen meinen Willen. Ich bin nämlich leidend.«

Selma hob erschrocken die gesenkten Augen empor; glücklicherweise war das Aussehen des Herrn Doktors so durchaus beruhigend, daß Ellrich verwundert äußerte: »Sie sehen ja aber aus wie die Gesundheit selbst.«

»Ja, es ist ein Herzleiden,« erklärte der junge Arzt. »Das kann man dem Patienten nie ansehen, aber es ist sehr gefährlich, besonders wenn es so hochgradig auftritt wie bei mir. Doch Sie haben mir noch gar nicht auf die Frage nach Ihrem Befinden geantwortet, gnädige Frau. Erlauben Sie, daß ich von meinem ärztlichen Vorrechte Gebrauch mache,« und damit ergriff er die Hand der jungen Frau und begann die Pulsschläge zu zählen.

»Doktor Walter ist unser Arzt!« fuhr Ulrike mit voller Schärfe dazwischen, aber Bertram ließ sich in seiner ärztlichen Beobachtung durchaus nicht stören.

»Ich weiß, mein Fräulein, aber Kollege Walter hat mir seine Patientin ausdrücklich empfohlen, als er hörte, daß ich nach Luksor ginge. Ich habe versprochen, ihm genauen Bericht zu erstatten. Nicht wahr. Sie haben Vertrauen zu mir, gnädige Frau?«

Er zählte noch immer gewissenhaft die Pulsschläge und fand es dabei für nötig, seiner jungen Patientin angelegentlich in die Augen zu sehen. Selmas Gesicht war wieder wie in Glut getaucht, aber sie ließ sich dies Anschauen ganz ruhig gefallen und machte auch keinen Versuch, ihre Hand zurückzuziehen. Das trug ihr allerdings einen niederschmetternden Blick der Schwägerin ein, die höhnisch die Achseln zuckte.

»Vertrauen? Sie können ja nicht einmal Ihr eigenes Herzleiden kurieren und wollen anderen helfen? Aber so sind die Aerzte! Sie wissen und verstehen natürlich alles und werfen immer mit großen Worten um sich, aber gesund machen können sie niemand!«

Es half ihr aber nichts, daß sie ihre Zuflucht zur äußersten Grobheit nahm, der geschmähte Arzt nickte ihr freundlich zu und sagte im gemütlichsten Tone: »Ja, so sind wir nun einmal! Aber die Menschheit braucht uns leider und muß uns hinnehmen, in unserer ganzen Erbärmlichkeit. Sie sind ein Original, Fräulein Mallner, und ich freue mich täglich mehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben! Es ist wirklich herzerfrischend, in unserer Zeit der Redensarten und der Heuchelei noch eine solche Offenheit und Aufrichtigkeit zu finden. Sind Sie nicht auch der Meinung, Herr Ellrich?«

Herrn Ellrich wurde es etwas unheimlich bei dem Gespräch, er begriff natürlich nicht den Zusammenhang, aber sah es doch, daß die Stimmung seiner verehrten Landsmännin eine gewisse Aehnlichkeit mit einem Pulverfaß hatte, das eben explodieren will. Er suchte deshalb möglichst abzulenken und entgegnete: »Fräulein Mallner und ich sind nur leider ganz verschiedener Meinung über Aegypten. Ich bewundere die mächtige Vergangenheit des Pharaonenlandes, die großartige Einförmigkeit seiner Landschaften –«

»Großartig langweilig sind sie, weiter nichts!« schnitt ihm Ulrike das Wort ab, die sich auf diesen neuen Gegenstand des Gesprächs förmlich stürzte, um ihre mühsam zurückgehaltene Wut daran auszulassen. »Rechts die arabische und links die libysche Wüste, wo gar nichts wächst, und in der Mitte dieser Nil, von dem sie so viel Wesens machen und der ebenso langwellig ist. Sandbänke hat er, wir sind auf der Herfahrt zweimal sitzen geblieben, aber Brücken und sonstige Kultureinrichtungen hat er nicht. Mit der Kultur ist es hier überhaupt jämmerlich bestellt. Und nun sitzen wir hier, eines Hustens wegen, der gar nicht mehr da ist. Selma ist ganz gesund, und wenn Doktor Walter vernünftig gewesen wäre, hätte er uns längst nach Hause reisen lassen. Aber als ich auf der Abreise bestand, that er ja, als wäre das ein Verbrechen, und drohte mir wieder mit Selmas Lungenflügeln, die noch immer nicht in Ordnung sein sollen. Nun gut, ich habe auch noch dies Opfer gebracht, aber es ist das letzte. Wenn wir erst in Martinsfelde sind und es kommt mir wieder eine sogenannte ärztliche Autorität über die Schwelle, dann –«

Sie vollendete nicht, aber der Blick, mit dem sie den gerade anwesenden Repräsentanten des verhaßten Standes anschaute, hätte diesen eigentlich vernichten müssen; statt dessen verbeugte sich Bertram mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

»Sie überschätzen mich, Fräulein Mallner,« versicherte er. »Ich bin keineswegs eine Autorität, nur ein ganz bescheidener Jünger Aeskulaps, aber ich bin Ihnen unendlich verbunden für Ihre schmeichelhafte Meinung.«

Ulrike stand plötzlich auf, sie war zu Ende mit ihrem Vorrat an Grobheit, diesem Menschen war nicht beizukommen. Sie erklärte deshalb, es sei zu heiß auf der Terrasse und man müsse hineingehen. Selma und Herr Ellrich erhoben sich gleichfalls, aber Doktor Bertram that genau dasselbe und trat mit in die große Halle, als gehörte er zu der Gesellschaft.

»Unser Hotel ist vollständig besetzt!« sagte das Fräulein mit unverkennbarer Schadenfreude.

Bertram hatte diese betrübende Thatsache schon gestern abend erfahren, wo er vom Dampfer schleunigst hergestürzt war, um sich ein Zimmer zu sichern; sie überraschte ihn also nicht, und er versetzte mit heiterer Unbefangenheit: »O, ich bin in dem meinigen recht gut untergebracht. Ich will nur eine Nachricht für meinen Freund Ehrwald zurücklassen, der hier wohnt. Er ist leider ausgeritten, aber ich werde am Nachmittage wiederkommen. Ich werde ihn überhaupt sehr oft besuchen, denn es gefällt mir hier ausnehmend.«

Mit dieser tröstlichen Versicherung empfahl er sich nun endlich und ging, um dem schwarzen Pförtner eine Karte für Ehrwald zu übergeben. Es war wohl nicht bloßer Zufall, daß Selma gleich darauf so eilig die Treppe hinauslief, um ihren Hut und das Arbeitskästchen nach ihrem Zimmer zu tragen. Ulrike blieb mitten in der Halle stehen, wo sich zum Glück sonst niemand befand, sah ihren Landsmann an und fragte mit dumpfer Stimme: »Was sagen Sie dazu?«

Der Landsmann sagte vorläufig gar nichts. Er hegte eine dunkle Furcht, daß sich das Pulverfaß gegen ihn entladen werde, wenn er irgend eine unliebsame Antwort gebe, endlich erwiderte er vorsichtig: »Sie scheinen den Herrn Doktor Bertram nicht besonders gern zu sehen.«

»Diesen Menschen?« rief das Fräulein mit einem krampfhaften Auflachen. »Freilich, Sie haben ihn ja heute zum erstenmal gesehen und wissen nicht, daß er uns schon wochenlang verfolgt. Von Alexandrien ist er uns nach Kairo gefolgt, von Kairo nach Luksor. Ich habe alles mögliche versucht, ihn los zu werden, zuerst versuchte ich es mit der Grobheit, und ich kann sehr grob sein, das versichere ich Ihnen!«

Sie schaute den kleinen Herrn herausfordernd an, ob er sich etwa erlaube, daran zu zweifeln, er machte aber nur eine zustimmende, etwas ängstliche Verbeugung, die hinreichend ausdrückte, daß er diese hervorragende Eigenschaft der Dame in ihrem vollen Umfange kannte und schätzte, und dadurch befriedigt, fuhr sie fort: »Aber bei dem verfängt das nicht! Seit wir ihm damals in der Muski begegneten, heftet er sich förmlich an unsere Fersen. Wir gehen aus, um noch ein paar Einkäufe für die Reise zu machen, da taucht er plötzlich auf, gesellt sich zu uns und behauptet, er müsse auch einkaufen. Wir sind bei dem Doktor Walter, um uns zu verabschieden, da erscheint er auf einmal, sagt dem Diener: ›Ich muß den Kollegen augenblicklich sprechen, eine dringende medizinische Angelegenheit!‹ und dabei marschiert er in das Sprechzimmer, wo der Doktor sich mit Selma befindet, während ich draußen sitze. Wir gehen an Bord des Dampfers, da steht er schon auf dem Verdeck und erklärt, er wolle uns lebewohl sagen. Er blieb denn auch bis zur letzten Minute und kam nur noch mit genauer Not ans Land. Hier in der Wüste glaubten wir wenigstens vor ihm sicher zu sein, und jetzt ist er schon wieder da – es ist furchtbar!«

»Aber welchen Grund hat denn dieser Herr, Sie so unausgesetzt zu verfolgen?« fragte Ellrich, der bei dieser Schilderung ganz ängstlich geworden war.

Ulrike antwortete nicht sofort, obgleich es ihr nachgerade klar geworden war, welcher Magnet den jungen Arzt anzog. Sie hatte sich lange gesträubt, daran zu glauben, daß irgend ein Mensch – und wäre es selbst ein Arzt – sich bis zu der Höhe des Frevels versteigen könne, um die Witwe des seligen Martin zu freien und sie ihrer Witwenschaft abwendig zu machen; aber schließlich sah sie doch ein, daß diese Frevelthat wirklich beabsichtigt war, und seitdem war ihr ganzes Dasein ein ununterbrochener Kampf dagegen gewesen.

»Auf meine Schwägerin hat er es abgesehen!« brach sie endlich aus. »Und alle Welt kommt ihm zu Hilfe. Auch Herr Sonneck findet gar nichts so Ungeheuerliches an dieser Heirat.«

»Ah so, heiraten will der junge Mann!« rief Ellrich erleichtert. »Weiter nichts?«

»Ist das etwa nicht genug?« Das Fräulein rückte ihm bei dieser Frage so drohend auf den Leib, daß er ängstlich zurückwich.

»Ja gewiß – natürlich – aber wenn nun Frau Mallner damit einverstanden ist?«

»Das wollte ich ihr nicht raten, und diese himmelschreiende Undankbarkeit traue ich ihr denn doch nicht zu! Als blutarme Waise haben wir sie aufgenommen, jetzt ist sie eine vermögende Frau und auf ihr Vermögen allein hat es dieser Doktor abgesehen, das habe ich Selma schon hundertmal gesagt.«

»Weiß er denn überhaupt davon?« warf Ellrich ein.

»Nein, aber er spekuliert darauf,« behauptete Ulrike in höchst unlogischer Weise. »Aber noch bin ich da und ich werde dafür sorgen, daß der schändliche Plan nicht gelingt. Mein seliger Martin würde sich ja im Grabe umdrehen, er würde im Jenseits keine Ruhe haben, und wenn er wiederkommt – dieser Spekulant, dieser Intrigant, dieser –« Fräulein Mallner suchte nach Worten, die eine noch höhere Verachtung ausdrücken sollten, fand sie aber nicht und wiederholte deshalb drohend: »Noch bin ich da – und Sie, Herr Ellrich, Sie werden mir helfen, Selma zu bewachen, wir dürfen sie nicht eine Minute allein lassen!«

Herr Ellrich schien nicht gerade erbaut zu sein von der ihm zugewiesenen Rolle und machte einen Versuch, sie abzulehnen.

»Aber ich werde in den nächsten Tagen gar nicht hier sein. Professor Leutold und Herr Sonneck haben mich so freundlich eingeladen, sie zu begleiten, und da kann ich doch nicht –«

»Sie bleiben hier!« unterbrach ihn Ulrike gebieterisch. »Sie werden uns beistehen als Landsmann und Deutscher, als Mann überhaupt, denn wir sind zwei verlassene hilflose Frauen, ohne Schutz – das versteht sich ganz von selbst!«

Der kleine Herr blickte mit kläglicher Miene zu der »verlassenen hilflosen Frau« empor, die von ihm verlangte, er solle sie als Mann und Deutscher schützen, und ihn dabei so ingrimmig ansah, als wolle sie ihn im Weigerungsfalle gleich über den Haufen werfen. Vollständig eingeschüchtert versprach er alles, was sie nur begehrte. Sie nickte ihm gönnerhaft zu und stieg dann die Treppe hinauf, um das Strafgericht über ihre Schwägerin abzuhalten. Herr Ellrich blieb unten stehen und sah ihr nach.

»Eine merkwürdige Frau!« sagte er halblaut, mit scheuer Bewunderung. »Ich möchte wohl wissen, ob Doktor Bertram mit ihr fertig wird!«

 

An dem hohen Uferrande des Nils lag eine Gruppe von Dattelpalmen, deren mächtige Kronen Schutz gewährten vor den sengenden Strahlen der Sonne. Es war ein glühend heißer Tag, wie er in dieser Jahreszeit selbst hier zu den Seltenheiten gehört, und die hier weilenden Europäer hielten sich meist in den kühlen Zimmern eingeschlossen.

Am Fuße einer der Palmen saß Lothar Sonneck, der, längst an dies Klima gewöhnt, die Hitze kaum zu empfinden schien, das Skizzenbuch auf den Knieen, und zeichnete. Er besaß ein ausgesprochenes Talent dafür, wenn sein Reiseleben ihm auch nie Zeit und Muße gelassen hatte, es wirklich künstlerisch auszubilden, aber seine Mappen bargen eine Fülle von Motiven und Entwürfen, um die ihn jeder Maler hätte beneiden können. Augenblicklich zeichnete er den Landsitz des Herrn von Osmar, der sich in geringer Entfernung auf einem Vorsprunge des Ufers erhob, von schönen Dum- und Dattelpalmen umgeben. Er war eben mit seiner Skizze fertig geworden und schloß das Buch, als Schritte hinter ihm ertönten. Gleich darauf stand Reinhart Ehrwald neben ihm und reichte ihm ein Telegramm.

»Eine Depesche aus Kairo, wahrscheinlich von unserm Agenten,« sagte er hastig. »Vielleicht bringt sie endlich die ersehnte Nachricht, wir warten ja täglich und stündlich darauf.«

»Und da hast du es natürlich nicht ausgehalten, bis ich zurückkam, und bist im Sturmschritt hierher gelaufen,« tadelte Sonneck, mit einem Blick in das glühend erhitzte Gesicht des jungen Mannes. Doch dieser unterbrach ihn mit stürmischer Ungeduld: »Schelten Sie mich nachher, aber jetzt, bitte, lesen Sie!«

Lothar öffnete das Telegramm und durchflog es, dann reichte er es seinem jungen Gefährten, der mit äußerster Spannung in seinen Zügen zu lesen versuchte.

»Nun ja, du hattest recht, es ist die erwartete Nachricht. Der Agent teilt mir mit, daß die letzten Schwierigkeiten gehoben sind. Wir können aufbrechen.«

»Endlich! Endlich!« jubelte Reinhart laut auf. »Es war auch die höchste Zeit.«

»Das war es allerdings, wir haben fast zwei Monate verloren und müssen uns beeilen, wenn wir das Versäumte wieder einbringen wollen. Ich werde zurücktelegraphieren, daß unsere Leute mit dem Gepäck sofort aufbrechen sollen. Wenn sie für die Hälfte des Weges die Bahn benutzen, können sie in drei bis vier Tagen hier sein und dann –«

»Dann geht es hinaus in die Weite,« ergänzte Ehrwald mit strahlenden Augen. »Hinein in das Reich der Fata Morgana!«

»Du jubelst ja wie ein Kind bei der Weihnachtsbescherung,« sagte Sonneck. »Wird es dir wirklich so leicht, von Luksor zu scheiden, ich meine – von dort?« Er wies hinüber nach dem Landsitz des Generalkonsuls, der junge Mann lächelte flüchtig.

»Nun, man braucht ja nicht auf immer zu scheiden, man kann sich ja sagen: Auf Wiedersehen!«

»Gewiß, und das hängt wohl nur von dir ab, aber mir scheint, als hättest du das Osmarsche Haus in der letzten Zeit eher gemieden als aufgesucht. Das ist von gewisser Seite sehr ungnädig bemerkt worden und ich bin beauftragt, dir deswegen den Text zu lesen.«

»Beauftragt – von wem? Doch wohl nicht von dem Herrn Konsul?« fragte Reinhart scharf.

»Nein, von Zenaide, aber weshalb fragst du?«

»Weil Herr von Osmar sein Benehmen gegen mich geändert hat. Er ist ja höflich genug, aber die Güte und Vertraulichkeit fehlt, mit der er mich sonst behandelte. Bisweilen habe ich sogar das Gefühl, als seien ihm meine Besuche überhaupt lästig und als nehme er sie nur um Ihretwillen hin.«

Sonneck hatte längst die gleiche Beobachtung gemacht, aber er erwiderte mit vollster Gelassenheit: »Er wird wohl entdeckt haben, wie es zwischen dir und Zenaide steht. Hast du etwa erwartet, er werde dich mit offenen Armen aufnehmen, dich, der nichts in die Wage zu legen hat als seine Zukunft, während auf der andern Seite ein Bewerber steht wie Lord Marwood? Du mußt darauf gefaßt sein, um die Braut zu kämpfen, und du liebst ja sonst den Kampf so sehr, scheust du ihn hier allein?«

»Den Kampf mit dem Vater – nein!« sagte Reinhart heftig. »Aber den mit dem reichen Manne, der in mir vielleicht nur eine Art Glücksritter sieht und mich als solchen verachtet – der Gedanke schießt mir oft heiß durch den Kopf! Wenn ich das jemals empfinden müßte, dann freilich hätte ich das Osmarsche Haus zum letzten mal betreten!«

»Das heißt also – du würdest Zenaide aufgeben?«

Die Frage klang einst und vorwurfsvoll. Der junge Mann antwortete nicht, aber in seinen Zügen prägte sich ein herber Trotz aus.

»Wenn du das kannst, dann liebst du sie nicht,« fuhr Sonneck mit Nachdruck fort, »und dann ist es allerdings besser, du scheidest ohne Erklärung. Lord Marwood wird dir sehr dankbar sein, wenn du ihm den Platz räumst.«

Es trat eine Pause ein, Reinhart schien mit sich zu kämpfen, endlich sagte er halblaut: »Halten Sie es für möglich, daß Zenaide einem Manne wie diesem Marwood die Hand reichen könnte?«

»Wenn sie ihren Jugendtraum begraben muß und der Vater in sie dringt – wahrscheinlich! Eine Konvenienzheirat ist ja gewöhnlich das Los von ihresgleichen. Zenaide wollte freilich lieben und geliebt sein! Doch ich möchte dich da nicht beeinflussen. Es ist immer schwer und verantwortungsreich, in ein Menschenschicksal einzugreifen, am schwersten dann, wenn es nicht die gewöhnlichen Bahnen des Alltagslebens geht. Wenn wir Luksor verlassen, muß die Entscheidung ja doch gefallen sein – so oder so!«

Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. »Ich werde jetzt unverzüglich die Depesche nach Kairo aufgeben. Kommst du mit?«

»Nein,« versetzte Ehrwald einsilbig, »ich möchte hier bleiben.«

Sonneck winkte einen kurzen Abschiedsgruß und entfernte sich, während sein junger Gefährte sich auf den Boden niederwarf und träumerisch in die Kronen der Palmen hinaufblickte.

Liebte er denn Zenaide wirklich? Er war nicht gleichgültig geblieben dem schönen Mädchen gegenüber, gewiß nicht, aber der geschmeichelte Stolz, der allein Bevorzugte zu sein, wo sich sonst niemand eines Vorzuges rühmen konnte, hatte wohl auch seinen Anteil an dieser Empfindung. Vorhin, als die Nachricht von dem nahen Aufbruch eintraf, da hatte er aufgejubelt in stürmischer Freude. Jetzt endlich that sich die ersehnte Ferne vor ihm auf wie ein goldenes Zauberland, und jetzt empfand er es fast wie eine Fessel, daß er einer Frau Wort und Treue verpfänden sollte, sich binden sollte für die Rückkehr. Mochte der Besitz noch so kostbar sein, eine Fessel blieb es doch!

»Ich glaube, ich tauge nicht für die Liebe!« sagte er halblaut. »Da liegt es nicht, was ich ersehne, das große, das märchenhafte Glück – aber wo dann?«

Da ertönte helles Kinderlachen in unmittelbarer Nähe. Am Rande des Ufers, das hier ziemlich hoch und steil gegen den Nil abfiel, tauchte ein Köpfchen auf, von einem breitrandigen Strohhut beschattet, dann wurde eine kleine, zierliche Gestalt sichtbar, die sehr geschickt emporkletterte und sich endlich leicht wie ein Vogel auf das Ufer schwang, und nun jubelte eine Kinderstimme: »Ich bin doch die erste! Komm, Hassan, komm! Ich bin schon oben!«

Reinhart hob den Kopf und gewahrte die kleine Elsa von Bernried, die dort drüben stand und mit beiden Händchen winkte; jetzt zeigte sich auch eine zweite, dunkelfarbige Gestalt, die nicht größer war und eiligst nachstrebte. Sie gewann gleichfalls das Ufer, und nun rannten die beiden Kinder erhitzt, atemlos, aber mit lautem Jauchzen den Palmen zu.

»Elsa, wie kommst du hierher?« rief der junge Mann erstaunt, die Kleine außerhalb des Osmarschen Gartens und ohne jede Aufsicht zu sehen. Elsa gewahrte erst jetzt den Daliegenden, zeigte aber keine besondere Ueberraschung bei seinem Anblick. Sie verstand es sonst, einen sehr zierlichen Knicks zu machen, und man hatte sie gelehrt, jeden fremden »Onkel« damit zu begrüßen. Reinhart Ehrwald gehörte aber in ihren Augen nun einmal nicht zu dem weitverbreiteten Geschlechte der Onkel, sie war nie zu bewegen gewesen, ihm diesen Namen zu geben. Sie zog ihren kleinen braunen Gefährten mit sich in den Palmenschatten und antwortete: »Wir sind fortgelaufen. Wir sollen immer im Garten spielen und nie an den Nil hinuntergehen! Das ist so langweilig! – Aber heute wurde Fatme in das Haus gerufen und kam nicht wieder, da rief ich den Hassan und husch! waren wir fort.«

»Das war sehr unartig,« sagte Reinhart strafend.

»Ja, aber es war so lustig,« versetzte die Kleine, die sich sehr über den Streich zu freuen schien. »Wir haben so schön gespielt und das Lustigste war das Hinaufklettern, nicht wahr, Hassan?«

Der kleine Aegypter stand ungefähr in dem gleichen Alter wie seine Spielgefährtin; besonders schön war er gerade nicht, aber das dunkelbraune Gesichtchen mit den schmalgeschlitzten, pechschwarzen Augen und den wulstig aufgeworfenen Lippen hatte einen ungemein drolligen Ausdruck. Man hatte zwar das möglichste gethan, um ihn zu verschönen, und ihm nach morgenländischer Sitte den winzigen, braunen Schädel ganz kahl geschoren. Nur an beiden Seiten, über den Ohren, waren zwei Haarbüschel stehen geblieben, die einsam emporstrebten und ihm eine gewisse Aehnlichkeit mit einem jungen Uhu gaben. Seine Kleidung bestand in einem Hemde von blauem Baumwollenstoff, das nur leider viel zu lang geraten war, es schleppte am Boden nach und war sehr hinderlich beim Gehen. Dies einzige Kleidungsstück wurde mit vieler Würde getragen, aber das ganze braune Kerlchen war trotzdem behend und flink wie ein Aeffchen.

Die beiden Kinder sprachen ein ganz merkwürdiges Kauderwelsch, aus arabischen und deutschen Brocken gemischt, die sie wohl im gegenseitigen Verkehr gelernt hatten, aber sie verstanden sich vollkommen und wo die Worte nicht ausreichten, nahmen sie eine höchst ausdrucksvolle Zeichensprache zu Hilfe.

Elsa hatte ihren Strohhut abgenommen und setzte sich nun, ihr Röckchen sorgsam aufhebend, auf den Boden. Es konnte nicht leicht einen größern Gegensatz geben als die kleine Europäerin, in dem luftigen weißen Kleidchen, mit dem rosigen Gesicht und dem offenen Blondhaar, sonnig und licht wie eine Elfe, und dem dunkelfarbigen kleinen Afrikaner, der sich an ihrer Seite niedergekauert hatte und sie unverwandt anstarrte wie ein treuer Pudel, der das Auge nicht von seinem Herrn läßt. Auch Ehrwald drängte sich dieser Kontrast auf.

»Du hast dir ja da einen echt afrikanischen Kavalier ausgesucht,« spottete er. »Viel Staat kannst du gerade nicht mit ihm machen, aber ich glaube, ich habe dies kleine Affengesicht schon einigemal in eurem Garten gesehen.«

»Hassan ist kein Affe!« belehrte ihn entrüstet die Kleine, die diese Bezeichnung ihres Spielgefährten sehr übelnahm. »Er ist der Sohn unseres Gärtners und ich spiele immer mit ihm, denn er thut alles, was ich will.«

»Und das ist dir jedenfalls die Hauptsache,« ergänzte Reinhart. »Also durchgegangen seid ihr und habt trotz des Verbotes unten am Nil gespielt? Da wird Tante Zenaide dich schelten.«

»Tante Zenaide schilt nie,« sagte Elsa. »Sie ist sehr, sehr gut, aber auf dich ist sie böse, weil du gestern nicht gekommen bist. Sie hat geweint darüber.«

»Geweint?« Der junge Mann richtete sich halb auf und stützte sich auf den Ellbogen. »Woher weißt du das?«

»Ich habe es gesehen. Ich glaube, Tante Zenaide mag dich leiden, aber der Onkel Konsul mag dich gar nicht.«

»O, du siebenjährige Weisheit, hast du das auch schon herausgefunden?« lachte der junge Mann. »Magst du mich denn jetzt, kleine Else?«

»Nein!« kam es mit herber Entschiedenheit von den Lippen der Kleinen, die sich jetzt zu Hassan wandte und mit ihm zu plaudern begann.

»Ich gehe nun sehr bald fort,« erklärte sie. »Weit fort über das Meer, viele hundert Meilen weit, zu meinem Großpapa nach Deutschland und dann können wir nicht mehr miteinander spielen, Hassan, denn du kannst nicht mitreisen und mußt in Afrika bleiben. Hast du das verstanden?«

Hassan verstand die größtenteils deutsche Erzählung durchaus nicht. Er hörte mit offenem Munde zu und grinste höchst vergnügt seine Spielgefährtin an, die sich darob sehr beleidigt fühlte. Sie wiederholte daher die Worte »Weit, weit fort!« in der Landessprache und bemühte sich, ihm halb arabisch, halb pantomimisch die bevorstehende Trennung klarzumachen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der kleine Aegypter das begriff, er hatte es aber nicht sobald gefaßt, als er auch sofort in ein lautes Geheul ausbrach und unter fortwährendem stoßweisen Schluchzen immer wieder »La! La!« schrie.

»Er sagt nein,« triumphierte Elsa mit einem Blick nach Ehrwald hinüber. »Aber das hilft dir nichts, Hassan, ich gehe doch fort und du darfst nicht so schreien darüber. Nu bist ja ein Bub'! Schäme dich doch!«

Der Appell an sein Ehrgefühl fand gar keinen Anklang bei Hassan. Er brüllte weiter, faßte mit seinen schwarzbraunen Händchen den Arm der Spielgefährtin, als wollte er sie festhalten, und brach bei jedem Versuche, ihn zu beruhigen, in ein erneutes Jammergeschrei aus. Elsa war offenbar sehr befriedigt von diesem Eindruck.

Sie wollte ihr Taschentuch hervorziehen, um die Thränen abzutrocknen, die über die Wangen des kleinen Aegypters kugelten, vermißte es jedoch.

»Mein Tuch!« rief sie. »Wo hast du es gelassen, Hassan? Ich hatte es dir ja über den Kopf gebunden, weil die Sonne gar so arg brannte und sie dir alle Haare abgeschnitten haben. Hast du es verloren?«

Da sie diesmal gleich die Pantomime zu Hilfe nahm, so verstand Hassan sofort, er hörte auf zu schreien und griff sehr betroffen nach seinem Kopfe, wo das Tuch sich nicht mehr fand. ,

»Dann liegt es unten am Wasser,« rief die Kleine. »Geh gleich hinunter und hole es mir!«

Das war jedoch nicht nach dem Geschmack Hassans, er wollte hier im Palmenschatten bleiben und wehrte sich auf arabisch gegen die nochmalige Rutsch- und Kletterpartie in dem glühenden Sonnenbrand. Da kam er aber übel an bei der kleinen Tyrannin.

»Du gehst und suchst das Tuch!« befahl sie aufspringend und zeigte gebieterisch auf die Stelle, wo sie emporgeklommen waren. »Du hast es verloren, du mußt es mir wiederbringen. Lauf, Hassan, lauf!«

Hassan gab den seinern Widerstand auf. Er trottete ab wie ein gehorsamer Pudel, setzte sich glatt auf den Uferrand und fuhr rittlings hinab in die Tiefe.

»Du bist sehr befehlshaberisch angelegt, kleine Else,« sagte Reinhart, der, obgleich er ganz andere Gedanken im Kopfe hatte, es nicht lassen konnte, sie wieder zu necken. »Aber dies Spielen am Nil sollte man euch ernstlich verbieten. Dem Hassan schadet es nichts, wenn er ins Wasser fällt, der puddelt wieder heraus wie ein junger Hund, du aber würdest ertrinken, wenn ich nicht zufällig in der Nähe wäre, um dich herauszufischen.«

»Du sollst mich nicht herausfischen, das leide ich nicht!« fuhr die Kleine entrüstet auf, aber ihr Zorn reizte den jungen Mann nur noch mehr zum Lachen.

»Oho, ist die Feindschaft so groß, daß du lieber ertrinken willst? Trotzkopf! Hast du den Kuß von damals noch nicht vergessen?«

Elsa antwortete nicht, aber sie blitzte ihn feindlich an mit ihren dunkelblauen Augen. Doch Reinhart schien nun einmal ein eigenes Vergnügen daran zu finden, in diese feindseligen Kinderaugen zu blicken, und er that das auch jetzt unverwandt.

»Also du reisest nun fort?« hob er wieder an; die Kleine nickte.

»Ja, zu meinem Großpapa nach Kronsberg.«

»Kronsberg!« Es legte sich wie ein finsterer Schatten auf die Stirn Ehrwalds und er wiederholte das Wort mit einem eigentümlich grollenden Ausdruck.

»Und da ist es sehr schön, sagt Onkel Sonneck,« fuhr Elsa fort. »Er weiß es vom Großpapa. Bist du auch schon einmal dagewesen?«

»Ja!« sagte Reinhart kurz und hart.

»O – erzähl' mir davon!«

Die Neugier der Kleinen überwog ihre Abneigung, sie kam näher, stellte sich vor den jungen Mann hin, und als er noch immer schwieg, drängte sie ungeduldig: »So erzähl' mir doch! Ist es schön da? So schön wie hier?«

Er hatte sich erhoben und strich langsam mit der Hand über die Stirn, während sein Auge hinausschweifte in die sonnendurchglühte Landschaft.

»Es ist anders, Elsa, ganz anders! Dort sind hohe Berge, viel höher als hier, sie reichen bis an den Himmel und auf ihren Häuptern liegt Eis und Schnee. Und weite Wälder sind ringsumher, dunkle Tannen, in denen es rauscht und weht und flüstert. Von den Bergen stürzen die Wasser, schäumend und tosend, an den Felswänden jagen die Wolken hin, und wenn die Stürme brausen um die Schneegipfel und durch die Thäler, dann wird es Frühling – in der Heimat!«

Er sprach halblaut und träumerisch, mehr zu sich selber als zu dem Kinde, das ihn nur halb verstand, aber es wehte etwas wie Sehnsucht hervor aus den Worten. Die Schilderung regte trotzdem die Phantasie der Kleinen an, vielleicht dämmerte auch in ihrem Köpfchen eine dunkle Erinnerung an das Land auf, wo sie geboren war und von dem ihr der Vater erzählt haben mochte. Sie hörte gespannt zu und fragte dann lebhaft: »Und da wohnt der Großpapa? Wirst du auch wieder hinkommen?«

»Nein – niemals!«

»Warum denn nicht?«

»Weil ich es hasse!« brach Reinhart plötzlich mit wilder Heftigkeit aus. Seine Stirn war finster wie die Nacht und seine Augen flammten drohend, während er die Worte zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervorstieß. Der jähe, wilde Ausbruch hätte ein anderes Kind sicherlich erschreckt, aber die kleine Elsa glich nun einmal nicht anderen Kindern. Sie hatte dem jungen Manne bisher die vollste Abneigung gezeigt, jetzt schien sie seltsamerweise zutraulich zu werden. Sie kam dicht an seine Seite und fragte angelegentlich: »Waren sie bös mit dir, die Leute dort?«

»Ja, sehr bös,« sagte Ehrwald herb. »Ich habe ihnen freilich auch Schlimmes angethan!«

»Und da hast du geweint?« fragte mitleidig die Kinderstimme. Reinhart lachte laut aus, aber es war ein grelles, höhnisches Lachen.

»Geweint? Nein, kleine Elsa, da weint man nicht. Man beißt die Zähne zusammen und schlägt um sich, gleichviel, wohin es trifft. Man macht sich Bahn durch das Gesindel und geht davon auf Nimmerwiederkehr. So habe ich es gemacht, und das hat mir die Freiheit eingebracht, die goldene herrliche Freiheit. Jetzt soll es einer versuchen, sie mir wieder zu nehmen!«

Der Mann, der in seiner sprudelnden Heiterkeit, seinem kecken Uebermut jedem nur als die Verkörperung heißer, stürmischer Lebensfreude erschien, war wie verwandelt in diesem Augenblick. Es that sich da plötzlich eine dunkle, drohende Tiefe auf, die sich sonst vor aller Welt verschloß, selbst vor dem väterlichen Freunde, der ihm ein so großmütiges Vertrauen bewies. Jetzt öffnete sie sich vor einem Kinde, das nichts davon verstand und in der nächsten Stunde schon den seltsamen Ausbruch vergaß; aber was da auf dem Grunde ruhte, versunken und halb vergessen, das brach nun plötzlich mit elementarer Gewalt hervor, als müßte es sich Luft machen um jeden Preis. Das Kind blickte halb scheu, halb mitleidig zu ihm auf, es begriff nichts von dem allem, aber es fühlte instinktmäßig, daß der Mann dort litt.

Die Mittagsstunde nahte und die Luft wurde immer schwüler und drückender. Luksor lag seitwärts hinter den Palmen, die es den Blicken entzogen.

Dort über der fernen Wüste lagerte es wie eine Wolke von glühendem Dunst, die anfangs farblos und gestaltlos erschien, aber allmählich sich goldig zu färben begann. Bisweilen schien es, als wollte der Dunst sich lichten, und dann zeigten sich seltsame Bilder darin, schwankend und schleierhaft, aber sie zerflossen, sobald das Auge sie festzuhalten versuchte.

Die ganze Landschaft ringsum war wie in brennende Sonnenglut getaucht. Gelb leuchteten die kahlen Wüstenberge drüben am jenseitigen Ufer, gelb schimmerten die Fluten des Nils, die langsam in kaum sichtbarer Bewegung dahinzogen, und dort, wo seine Windungen sich in der Ferne verloren, dehnte sich das gelbe Sandmeer der Wüste aus. Alle anderen Farben schienen zu erblassen und zu erlöschen in dem grellen blendenden Lichte der Mittagssonne, selbst die Palmenwälder standen grau und farblos in der heißen flimmernden Luft.

Reinhart stand unbeweglich an den Stamm der Palme gelehnt und blickte hinaus in die Ferne. Die gelbe Dunstwolke dort am Wüstenrande schimmerte jetzt im tiefen Goldton, es leuchtete und zuckte darin wie von verborgenen Strahlen, und wieder zeigten sich jene Bilder, anfangs nur wie lichte Schemen, aber sie wurden immer klarer, immer deutlicher. Es war, als hebe sich langsam ein Schleier von einer fremden, geheimnisvollen Welt, die sich hinter jenem glühenden Nebel barg.

Da formten sich Kuppeln und Türme, und eine ganze Märchenstadt von schimmernden Palästen dämmerte hervor aus der goldigen Lichtflut. Riesenpalmen hoben ihre mächtigen Fächer in die Luft, und dahinter ragten hohe Berge empor, deren Gipfel verschwammen im schneeigen Glanz. An ihren Fuß schmiegte sich ein See mit leuchtender, wogender Flut und nun erglühte das Ganze im rosigen Scheine, als sei es angestrahlt von Morgengluten. Das erträumte Wunderland, das Land voll Glanz und Licht, da stand es, fern, fern am Horizont, in unerreichbarer Weite, aber geisterhaft schön!

»O, was ist das?« fragte die kleine Elsa verwundert und entzückt. Reinhart verharrte noch immer regungslos an seinem Platze, aber sein Auge hing wie gebannt an dem schimmernden Luftgebilde und leise, als könnte ein lautes Wort den Zauber zerstören, sagte er: »Das ist die Fata Morgana!«

»Fata Morgana?« sprach das Kind nach und dann schwieg es gleichfalls und schaute, weit vorgebeugt, mit großen Augen auf das Wüstenbild.

Das dauerte Minuten oder Viertelstunden – sie wußten es nicht, dann entschwebte die Erscheinung, langsam und geheimnisvoll, wie sie aufgetaucht war. Die hohen Berge verdämmerten im rosigen Duft, der See schien sich weit und immer weiter auszudehnen, er wurde zum uferlosen Meere und darin versanken die Palmen und die schimmernde Märchenstadt. Jetzt erblaßte auch der rosige Schein und alles zerfloß und zerrann in eine einzige Goldflut. Aber auch sie wurde matter und matter, dichter ballte sich der Nebel zusammen, nur jenes seltsame Leuchten zuckte noch bisweilen hindurch. Endlich erlosch auch das, und über der fernen Wüste lagerte wieder der glühende Dunst.

»Das schöne Land – jetzt ist es fort!« rief die kleine Elsa. Reinhart fuhr auf, wie aus einem Traum erwachend. Er sah auf das Kind und dann umher, als müßte er sich erst besinnen, wo er sei.

»Ja, jetzt ist es verschwunden!« sagte er mit einem tiefen Atemzuge. »Aber ich habe es doch geschaut – nun werde ich es auch zu finden wissen!«

Elsa sah ihn zweifelnd an, sie mochte doch das Unirdische jenes glänzenden Luftbildes ahnen, das in den Wolken zu schweben schien, und schüttelte das Köpfchen.

»Es ist aber sehr, sehr weit! Können wir denn hinkommen?«

»Wir? Willst du mit, kleine Else?« fragte Reinhart, bei dem jetzt wieder der alte stürmische Uebermut aufflammte. »Dann nehme ich dich vor mich aufs Roß und wir jagen hinein in die Wüste, jagen Tag und Nacht, immer weiter und weiter, bis wir es erreicht haben, das Wunderland, wäre es auch mit einem Ritt auf Leben und Tod!«

Die Augen des Kindes strahlten. Es war noch ganz märchengläubig und hatte ja eben erst einen Blick in eine Märchenwelt gethan – da erschien ihm dieser phantastische Ritt, den es natürlich buchstäblich nahm, durchaus glaubhaft. Es schlug jubelnd in die Hände und rief: »Ja, ja, ich will mit!«

»Mit mir? Ich denke, du magst mich nicht leiden,« neckte der junge Mann. »Hast du jetzt Frieden mit mir gemacht? Aber ich fürchte, ich kann dich trotzdem nicht mitnehmen, denn du reisest ja fort, weit über das Meer, nach Deutschland.«

Das Gesicht der Kleinen wurde sehr nachdenklich, sie überlegte augenscheinlich, ob der versprochene Wüstenritt nicht doch am Ende der Fahrt über das Meer vorzuziehen sei, endlich versetzte sie etwas kleinlaut: »Onkel Sonneck sagt, ich müsse heim zum Großpapa.«

»Heim – jawohl!« wiederholte Reinhart in einem eigentümlich verschleierten Tone. Er beugte sich nieder und sah tief in die blauen Kinderaugen, während er fortfuhr: »Und wenn du heimkommst, zu den hohen Bergen und den dunklen Wäldern, den stürzenden Wassern, dann – dann bringe ihnen einen Gruß, hörst du, Elsa!«

»Von wem?« fragte die Kleine unbefangen. Da hob sie Ehrwald mit beiden Armen empor und preßte sie fest an sich, sie fühlte ein paar heiße, zuckende Lippen auf den ihrigen und eine bebende, halberstickte Stimme flüsterte: »Von dem verlorenen Sohn!«

Seltsam, diesmal sträubte sich das Kind nicht gegen die ungestüme, fast wilde Liebkosung, es schaute mit seinen großen Augen unverwandt in das Gesicht des jungen Mannes und sagte ernsthaft: »Siehst du – nun weinst du doch!«

Reinhart zuckte zusammen und setzte mit einer heftigen Bewegung die Kleine wieder auf den Boden.

»Nein, ich weine nicht!« sagte er rauh.

Elsa strich mit den kleinen Fingern über ihre Stirn, wo ein paar heiße brennende Tropfen zurückgeblieben waren, und sah dann wieder empor; sie schien nicht recht an die Ableugnung zu glauben. Da ließen sich Stimmen in einiger Entfernung hören, von denen die eine in arabischen Lauten abwechselnd schalt und jammerte, während eine Kinderstimme in derselben Sprache antwortete. Die Kleine horchte auf.

»Das ist Fatme, sie sucht mich und den Hassan hat sie schon gefunden.«

In der That wurde jetzt an einer andern, minder abschüssigen Stelle des Ufers Hassan sichtbar, mit dem glücklich gefundenen Tuche, das er gewissenhaft wieder über den Kopf gebunden hatte, und hinter ihm eine alte Negerin, die, sobald sie Elsa erblickt hatte, schleunigst auf sie zustürzte und sie halb scheltend, halb liebkosend an sich zog.

»Ja, da sind sie, die beiden Durchgänger,« sagte Reinhart, gleichfalls auf arabisch. »Das nächste Mal gib besser acht, Fatme, sonst laufen sie dir wieder davon.«

Fatme erschöpfte sich in Entschuldigungen und Beteuerungen, dann nahm sie die Kleine fest an die Hand, als fürchtete sie ein erneutes Fortlaufen, und führte sie davon, während Hassan der Spielgefährtin eiligst nachlief. Elsa folgte willig, aber nach einigen Schritten wandte sie sich um, blickte zurück und rief beinahe triumphierend: »Und du hast doch geweint!«

Reinhart blieb allein. Er stampfte wie zornig über sich selbst mit dem Fuße. »Daß man sie doch nicht los wird, die alten Erinnerungen! Man wird noch ganz und gar zum Schwächling dabei und schämt sich dann vor einem Kinde. Pah, was hat es verstanden davon!«

Er warf mit einer energischen Bewegung den Kopf zurück und richtete sich empor. »Fort mit der Vergangenheit, ich habe sie abgeschworen! Hinter mir Nacht – vor mir Tag und was für ein herrlicher goldener Tag! Du hast mir den Weg gezeigt, du leuchtende Fata Morgana – ich komme!«

 

Professor Leutold nahm es ernst mit seinen ägyptischen Studien, und die Stätte des alten Theben, der »hundertthorigen Stadt«, lieferte ihm unerschöpflichen Stoff dazu. Er gab sich mit nie rastendem Eifer seinen Forschungen hin und ertrug mit jugendlicher Rüstigkeit die damit notwendig verbundenen Strapazen. Fast täglich war er drüben bei den Königsgräbern und quartierte sich bisweilen sogar für die Nacht in einem der nahegelegenen Fellahdörfer ein, um die tägliche Ueberfahrt über den Nil und den zeitraubenden Ritt zu ersparen. Er fand dabei einen treuen Gefährten an Sonneck, der sehr zufrieden war, die lange Zeit des Wartens doch nicht ganz thatenlos verbringen zu müssen, und selbstverständlich war Reinhart Ehrwald der stete Begleiter der beiden Herren bei diesen Ausflügen. Der Professor hatte einige neue Entdeckungen gemacht, hoffte, noch weitere zu machen, und so waren die drei Wochen, die man nun schon in Luksor weilte, ungemein schnell vergangen.

Wer sich aber durchaus nicht glücklich und zufrieden fühlte, das war Herr Ellrich, der mit jedem Tage melancholischer wurde. Der Aufenthalt am Nil hatte so schön für ihn begonnen, ein günstiges Geschick führte ihn mit dem berühmten Professor Leutold zusammen, der mit all den tausendjährigen Mumien auf du und du stand, und mit dem noch weit berühmteren Sonneck, der Afrika so gemütsruhig durchquerte, wie andere eine Landpartie machen. Die beiden Herren hatten seine bescheiden geäußerte Bewunderung freundlich aufgenommen, ihm bisweilen an ihren Ausflügen teilzunehmen erlaubt, und der rührende Eifer, mit dem er sich zu allen möglichen Dienstleistungen hergab, gewann ihm ihr ganzes Wohlwollen.

Aber das Glück dauerte nur etwa acht Tage, da tauchte der Störenfried auf, dieser unselige Doktor Bertram. Nicht als ob dieser Herrn Ellrich irgendwie zu nahe getreten wäre, er behandelte ihn im Gegenteil stets mit der ausgesuchtesten Höflichkeit; aber Fräulein Mallner hatte ihre Drohung wahr gemacht und den Landsmann zu einem Schutz- und Trutzbündnis gezwungen, das ihm gar keine Zeit mehr übrig ließ, sich den Berühmtheiten anzuschließen. Er versuchte es vergebens, sich dagegen aufzulehnen. Ulrike nahm ihn beim Wort. Er mußte stets zur Hand sein, wenn der Feind sich im Anzuge befand, und das war eigentlich immer der Fall.

Der junge Arzt bekundete nämlich ein dringendes Bedürfnis, seinen Freund Ehrwald alle Tage zu besuchen, und das ging so weit, daß er sogar diese Besuche machte, wenn der Freund gar nicht da war, sondern sich in Theben befand. In diesem Falle pflegte sich der Doktor stundenlang im Zimmer Reinharts einzuquartieren, den er natürlich ins Vertrauen gezogen hatte, und benutzte den kleinen Balkon dieses Zimmers als Beobachtungswarte. Sobald sich die Damen nur blicken ließen, war er da und ließ sich weder durch Grobheit noch durch List fortbringen. Fräulein Ulrike ihrerseits verteidigte mit grimmiger Energie die Witwe ihres seligen Bruders gegen diese frevelhafte Werbung; es gelang dem Doktor nie, die junge Frau auch nur eine Minute lang allein zu sprechen, und wenn der Cerberus, wie er höchst unehrerbietig die Dame nannte, wirklich einmal wich, dann mußte Herr Ellrich diesen beneidenswerten Posten einnehmen.

Es war noch ziemlich früh am Morgen, als Fräulein Ulrike Mallner und ihr Verbündeter im Garten des Hotels auf und nieder gingen. Selma war augenblicklich nicht bei ihnen, sondern befand sich in ihrem Zimmer, um auf Weisung ihrer Schwägerin einen Brief an den Inspektor von Martinsfelde zu schreiben. Da der Feind zu so früher Stunde noch nicht anzurücken pflegte, so konnte man es wagen, die junge Frau auf kurze Zeit allein zu lassen; übrigens behielt man den Eingang des Hauses scharf im Auge.

»Also Sie gehen mit nach Karnak?« fragte Herr Ellrich. »Ich glaubte anfangs, es sei ein Irrtum, denn Sie machen ja sonst niemals Ausflüge.«

»Herr Sonneck hat uns aufgefordert,« versetzte Ulrike, »und da er in einigen Tagen abreist, mochte ich es ihm nicht abschlagen,«

Herr Ellrich machte ein betrübtes Gesicht, er hatte gehofft, bei dem Ausfluge wenigstens einige Stunden lang ein freier Mann zu sein, nun war es wieder nichts damit.

»Unsere Gesellschaft wird ziemlich zahlreich sein,« hob er wieder an. »Professor Leutold, die Herren Sonneck und Ehrwald, wir drei und die beiden englischen Familien aus dem Hotel, die sich anschließen wollen. Eine ganze Kavalkade!«

»Und er ist natürlich auch dabei,« ergänzte Fräulein Mallner, die sich in der letzten Zeit angewöhnt hatte, den Gegenstand ihres Hasses nur mit dem Fürwort zu bezeichnen.

Ellrich schüttelte den Kopf. »Der Doktor? Ich glaube nicht, daß er mitreitet, er weiß ja gar nichts von dem Ausfluge, der erst gestern abend beschlossen wurde.«

»Er weiß alles!« erklärte das Fräulein düster. »Und er erfährt auch alles. Es nützt gar nichts, wenn ich mit Selma zurückbleibe, dann belagert er uns hier im Garten. Wissen Sie denn schon, welche neue Bosheit dieser Mensch wieder ausgebrütet hat? Da Ehrwald abreist, hat er dessen Zimmer mit Beschlag belegt und siedelt in einigen Tagen über, dann haben wir ihn vom Morgen bis zum Abend hier. Aber wir werden unsere Maßregeln nehmen, wir werden Selma vor ihm retten, ich verlasse mich ganz auf Sie!«

»Nein, bitte, das thun Sie nicht,« fiel der kleine Herr in einem Tone ein, den er für sehr energisch hielt, der aber ziemlich kleinlaut war. »Ich – ich halte das wirklich nicht länger aus.«

Das Fräulein blieb mit einem plötzlichen Ruck stehen.

»Was halten Sie nicht aus?«

»Das ewige Aufpassen und Schildwachstehen« – er nahm einen Anlauf zur Kühnheit – »schließlich bin ich doch nicht deswegen nach Afrika gekommen! Ueberhaupt: der Doktor, ich habe gar nichts gegen ihn, er ist ein netter Mann, Frau Mallner findet das auch und ich glaube, sie will sich gar nicht retten lassen.«

Die kecke Behauptung sollte ihm übel bekommen, er entfesselte damit einen Sturm ohnegleichen. Ulrike geriet außer sich bei der Andeutung einer solchen Möglichkeit und goß die Schale ihres Zorns nicht bloß über Selma und den Doktor, sondern auch über den ganz schuldlosen Ellrich aus.

Da traten zwei wohlbekannte Gestalten in den Garten, der Doktor und Ehrwald, der ihn abgeholt hatte. Sie grüßten ganz unbefangen und »er« trieb die Bosheit so weit, freundschaftlich an seine Feindin heranzutreten.

»Guten Morgen, Fräulein Mallner! Schon fertig zum Ausfluge? Wir brechen ja erst in einer Stunde auf, ich reite natürlich mit.«

»Das habe ich mir gedacht,« sagte das Fräulein und warf ihm einen Basiliskenblick zu. Er lächelte sehr vergnügt.

»Ja, ich war sogleich bereit, als mein Freund Ehrwald mich aufforderte. Wie befindet sich Frau Mallner? Hoffentlich gut! – Auf Wiedersehen, meine Herrschaften!«

Ulrike würdigte ihn keiner Antwort, sondern ging im Sturmschritt davon und zwang ihren bisherigen Verbündeten mit einem gebieterischen: »Kommen Sie mit!« ihr zu folgen. Das war aber auch für den sanftmütigen Herrn Ellrich zu viel. Erst wurde er schlecht behandelt und dann befahl man ihn zur Begleitung in solchem Tone, und das noch dazu vor den Ohren der feindlichen Partei, die höhnisch dazu lächelte. Er ging zwar mit, aber nur bis zum Eingang des Hauses, da setzte er sich störrisch auf die Terrasse, behauptete, er sei müde, und wälzte finstere Entschlüsse in seiner sonst so gutmütigen Seele.

»Der Blick hätte mich eigentlich spießen sollen, glücklicherweise bin ich gut gepanzert,« sagte der junge Arzt lachend, als die beiden außer Hörweite waren. »Es bleibt also dabei, ich nehme Ihr Zimmer, wenn Sie abreisen; übrigens muß die Sache jetzt zur Entscheidung kommen. Mit einer bloßen Belagerung ist die Festung nicht zu nehmen, das sehe ich nachgerade ein. Da heißt es stürmen!«

»Armer Doktor, Ihnen wird es schwer gemacht,« spottete Ehrwald. »Sie müssen sich Ihr künftiges Eheglück sauer verdienen, ein anderer hätte da längst den Mut verloren.«

»Ja, ich habe mir den Kampf mit dem Drachen auch leichter gedacht,« meinte Bertram. »Aber ich bin nun einmal entschlossen, den Sankt Georg zu spielen und die gefangene Prinzessin zu erlösen.«

»Haben Sie denn schon Gewißheit, daß man sich von Ihnen erlösen lassen will?«

»Gewißheit? – Nein! Aber es gibt eine Art von Freimaurerei, die sich mit Blicken und Zeichen verständigt, die habe ich mit Erfolg angewandt, auch meist Antwort erhalten. Ich glaube, ich kann den Sturm wagen.«

»Dann hätte Frau Mallner Ihnen aber Gelegenheit zum Alleinsein geben müssen,« warf Reinhart ein. »So etwas ist doch zu erzwingen, wenn man ernstlich will.«

»Gewiß, aber Selma hat gar keinen eigenen Willen, sie ist so grenzenlos verschüchtert, daß sie es kaum wagt, mir zu antworten, wenn ich in Gegenwart der Schwägerin mit ihr spreche.«

Ehrwald warf spöttisch die Lippen auf. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Doktor, aber das gibt eine etwas langweilige Ehe. Eine Frau, die überhaupt keinen Willen hat und immer ja sagt – das hielte ich nicht vier Wochen aus!«

»Das ist Geschmackssache,« sagte der junge Arzt trocken. »Mir ist es gerade recht, wenn meine künftige Frau keinen andern Willen kennt als den meinigen. Vorläufig steht sie allerdings noch unter der Schreckensherrschaft von Martinsfelde. Und wenn nun noch das unselige Koffergespenst auftaucht –«

»Koffergespenst? Was meinen Sie damit?«

»Den seligen Herrn Mallner, diesen alten Egoisten, der das arme verwaiste Kind schändlicherweise geheiratet hat, ohne es auch nur zu fragen. Ich möchte ihm noch nachträglich den Hals dafür umdrehen! Er wird wohl seiner liebenswürdigen Schwester ähnlich gewesen sein. Dafür hat sie auch sein Andenken mit in den Koffer gepackt und läßt bei jeder Gelegenheit das Gespenst auftauchen. Die arme Selma wird damit halb tot gequält. Wie oft sich dieser Selige schon in seinem Grabe umgedreht hat, das ist gar nicht mehr zu zählen!«

»Sie reden sich ja in eine förmliche Wut hinein,« lachte Reinhart. »Machen Sie doch der Sache ein Ende!«

»Das will ich auch und womöglich noch heute. Ehrwald. Sie haben mir damals bei Ihrem Duell einen Gegendienst versprochen, jetzt nehme ich Sie beim Wort! Ich muß Selma allein sprechen und der Ritt nach Karnak bietet vielleicht Gelegenheit dazu. Halten Sie mir die Leibgarde vom Halse, nur eine halbe Stunde lang, mehr brauche ich nicht, um ins reine zu kommen!«

»Das ist ein schwieriger Auftrag,« sagte Ehrwald bedenklich, »indessen, ich will es versuchen. Dann müssen Sie aber den sanften Herrn Ellrich auf sich nehmen, ich habe genug mit Fräulein Ulrike zu thun, die fordert den ganzen Mann.«

»Abgemacht, wir teilen uns in die Aufgabe. Unserem Landsmann werfe ich irgend einen Hieroglyphenköder hin. Ich erzähle ihm von einer neuen und höchst merkwürdigen Entdeckung, die Sie gestern in Theben gemacht haben, dann geht er Herrn Sonneck und dem Professor einstweilen nicht von der Seite und ich kann die Zeit benutzen. Da sitzt er ja noch! Ich mache mich sofort an ihn.«

Die beiden jungen Männer trennten sich und Bertram schritt nach der Terrasse. Dort saß Herr Ellrich in der That noch, tiefgekränkt und wehmütig. Es war ihm erst nachträglich recht zum Bewußtsein gekommen, wie schmählich er behandelt worden war, und mit welchem Undank seine Aufopferung belohnt wurde. Welch ein Recht hatte denn diese gewaltsame Landsmännin eigentlich, ihn so zu tyrannisieren, und warum ließ er sich das gefallen? »Ja, warum lasse ich mir das gefallen?« wiederholte er ganz laut, verstummte aber erschrocken, denn in diesem Augenblick trat Doktor Bertram herzu und redete ihn an.

»Nun, Herr Ellrich, Sie sitzen ja so einsam und melancholisch da! Was haben Sie denn?«

»Mir geht es schlecht,« versetzte der Gefragte in dumpfem Tone.

»Was? Sie sind doch nicht etwa krank? Lassen Sie mich einmal Ihren Puls fühlen.«

Der kleine Herr wehrte die Hand des Arztes ab und schüttelte traurig den Kopf. »Das ist es nicht. Ich meine nur, ich werde so schlecht behandelt.«

»Sie? Von wem denn?«

Herr Ellrich sandte einen anklagenden Blick zu den Fenstern des ersten Stockes empor, aber trotz dieser etwas verschleierten Antwort wurde er sofort verstanden.

»Von Fräulein Mallner? Nicht möglich, Sie sind ja ihr treuester Bundesgenosse!«

»Ja, das war ich bis jetzt, aber wenn man so behandelt wird!«

Der Doktor zog einen Stuhl heran und ließ sich nieder. »Das ist ja merkwürdig, das müssen Sie mir erzählen,« sagte er.

Herr Ellrich war gerade in der Stimmung, sein Herz auszuschütten. So begann er denn zu klagen über den unfreiwilligen Verzicht auf die geliebten wissenschaftlichen Ausflüge, über die Tyrannei, der er sich hatte beugen müssen, und kam immer wieder auf die schlechte Behandlung zurück, die er für all diese Mühe und Aufopferung geerntet hatte. Bertram hörte mit unendlicher Teilnahme zu und tröstete ihn liebevoll über sein Mißgeschick.

»Ja, Sie haben mir das Leben recht schwer gemacht in den letzten vierzehn Tagen,« sagte er, »aber ich habe es Ihnen nie nachgetragen, denn ich wußte, Sie standen unter höherer Gewalt

Herr Ellrich fand diese Gesinnung sehr edelmütig, aber das brachte ihn nur noch mehr auf und mit einem Anfall von Heldenmut rief er: »Ich werde aber dies Joch abschütteln – ja, das werde ich!«

»Bravo!« sagte der Doktor. »Ich habe das längst von Ihnen erwartet. Sie sind die begabtere, die höhere Natur, Sie dürfen sich nicht unterordnen.«

Der kleine Herr war ganz gerührt von dieser Auffassung. Er sah erst jetzt ein, wie unrecht er dem jungen Manne gethan hatte, der nun fortfuhr: »Ich darf wohl annehmen, daß es Ihnen kein Geheimnis mehr ist, warum ich immer wieder versuche, mich den Damen zu nähern. Mein Gott, es ist doch kein Unrecht, wenn man liebt und den Gegenstand seiner Neigung zu besitzen wünscht!«

»Nein, das ist im Gegenteil höchst vernünftig,« erklärte Ellrich. »Sie und Frau Mallner sind jung, und die Jugend will ihr Recht haben. Ich hätte es Ihnen überhaupt nie bestritten.«

»Aber das ist ja herrlich!«

»Und ich werde ihr jetzt zeigen, daß ich so denke. Ich bleibe von jetzt an neutral. Erklären Sie sich, Herr Doktor, machen Sie Ihren Antrag, heiraten Sie in Gottes Namen! Meinen Segen haben Sie!«

»Danke ergebenst,« sagte der junge Arzt und wollte dem Segnenden freundschaftlich die Hand schütteln, aber dieser wich erschrocken aus und blickte wieder zu den Fenstern hinauf.

»Um Gottes willen! Wenn sie das sähe –«

»Nun, was thut denn das? Ich denke, Sie wollen das Joch abschütteln?«

»Ja, aber – aber nicht gleich. Ich muß mich dazu doch erst sammeln!«

»Gut, so sammeln Sie sich, und wenn der Drache – ich meine, wenn unsere verehrte Landsmännin wieder versucht, Sie schlecht zu behandeln, dann wenden Sie sich nur an mich, ich werde schon mit ihr fertig werden.«

Damit stand Doktor Bertram auf und trat in das Haus. Herr Ellrich blickte ihm bewundernd nach. Das war ein Mann! Der fürchtete sich vor keinem Menschen, nicht einmal vor Fräulein Ulrike Mallner.

Aber auch der junge Arzt war sehr befriedigt von dieser Unterredung, und als er die Treppe zu Ehrwalds Zimmer hinaufstieg, war er mit sich einig, daß der Hieroglyphenköder, mit welchem er Herrn Ellrich unschädlich zu machen gedacht hatte, gar nicht mehr nötig sei.

Eine halbe Stunde später versammelte sich die Gesellschaft zum Aufbruch. Auf dem Platz hinter dem Hotel standen die Reitesel mit ihren Führern, aber es dauerte immer noch eine Weile, bis alles zur Stelle und in Ordnung war. Sonneck half ritterlich seinen beiden Landsmänninnen beim Aufsteigen. Selma schwang sich mit seinem Beistande leicht und gewandt auf das weißgraue Eselchen, das für sie bestimmt war und mit seinem bunten Zaumzeug einen sehr muntern Eindruck machte, dagegen kam ihre Schwägerin erst nach Ueberwindung von allerlei Schwierigkeiten in den Sattel. Zwar stand der große schwarze Esel, der den historischen Namen Ramses führte, wie ein Lamm, und der Führer, ein halberwachsener brauner Bursche, mit einem schlauen Gesicht und listigen, kohlschwarzen Augen, zeigte sich ungemein dienstfertig, aber es kostete einige Mühe, der Dame, die zum erstenmal ritt, den Gebrauch des Steigbügels und des Zügels klarzumachen. Endlich thronte sie oben und spannte feierlichst ihren unzertrennlichen Begleiter, den riesigen Sonnenschirm, auf. Sie wollte schlechterdings nicht begreifen, daß dies beim Reiten besser unterbleibe, sondern behauptete, sie werde den Sonnenstich bekommen ohne das gewohnte Schutzdach. Man ließ ihr schließlich den Willen und Sonneck gab das Zeichen zum Aufbruch.

Ehrwald und Doktor Bertram waren bereits im Sattel, sie hielten dicht nebeneinander und sprachen leise und angelegentlich. Eben als der Zug sich in Bewegung setzte, sagte Reinhart: »Also ich nehme die Sache auf mich. Ibrahim ist ein schlauer Bursche, ich kann mich auf ihn verlassen. Benutzen Sie Ihre Zeit gut – und nun vorwärts!«

Die Gesellschaft war ziemlich zahlreich, aber es dauerte nicht lange, so teilte sie sich in zwei Hälften. Sonneck und die englischen Herren mit ihren Namen, die sämtlich gute Reiter waren, hielten es nicht aus, im Schritt zu reiten, sie trabten lustig vorwärts und waren schon nach kurzer Zeit eine ganze Strecke voraus. Professor Leutold dagegen ritt langsam und bedächtig, Herr Ellrich und die beiden Damen desgleichen. Es war nur merkwürdig, daß Ehrwald, sonst stets der erste bei solchen Ausflügen, sich diesmal zum Nachtrab hielt. Er ritt neben Fräulein Mallner und verschwendete seine ganze Liebenswürdigkeit an sie, leider ohne Erfolg. Als Freund des Doktor Bertram war er gleichfalls verfemt und erhielt die unliebenswürdigsten Antworten.

Selma dagegen, die leicht und furchtlos im Sattel saß, war so heiter, als es die Gegenwart der gestrengen Schwägerin nur zuließ. Sie trug noch immer schwarze Kleidung, weil ihr keine andere erlaubt wurde, aber der helle Strohhut mit dem weißen Schleier war doch ein Zugeständnis, das man dem Klima hatte machen müssen, und das Gesicht der jungen Frau blickte rosig und lieblich darunter hervor. Sie war vollends aufgeblüht in den letzten Wochen, und heute strahlte ihr ganzes Antlitz vor Freude über dies ungewohnte Vergnügen.

Fräulein Mallner bewachte sie und den Doktor wie ein Argus; die Ruhe des Feindes, der sich selbstverständlich auch im Nachtrab befand, täuschte sie durchaus nicht. Er hatte zwar keinen Versuch gemacht, Selma beim Aufsteigen zu helfen, und jetzt ritt er ganz friedlich neben dem Professor und unterhielt sich mit ihm, aber dahinter barg sich sicher eine neue Heimtücke. Sie saß förmlich dräuend auf ihrem Esel und harrte augenscheinlich nur auf ein Opfer, an dem sie ihren Grimm auslassen konnte.

Den Beschluß des Zuges machte Herr Ellrich, der sich in ziemlich niedergedrückter Stimmung befand. Er hatte zwar gar keine Gewissensbisse wegen seiner Fahnenflucht, aber um so größere Furcht vor der Entdeckung derselben. Er »sammelte« sich noch immer zu der bevorstehenden Rebellion.

Der Ritt ging durch das weite, offene Land. Zur Linken der Nil, der jetzt, wo die Sonne noch nicht hoch stand, wie ein breites silbernes Band schimmerte, zur Rechten, noch von blauem Morgenduft umwoben, die fernen arabischen Gebirge. Hie und da erhoben sich einzelne Palmengruppen und in der Ferne zeigte sich bereits das Ziel, die Tempelruinen von Karnak. Darüber wölbte sich der Himmel im tiefsten, klarsten Blau und heller Sonnenglanz erfüllte die ganze Landschaft.

»Ein herrlicher Morgen!« sagte Reinhart zu seiner Nachbarin, »Wir hätten nur etwas früher aufbrechen sollen, die Sonne fängt schon an, sich lästig zu machen, und wir haben heute den dreiundzwanzigsten Dezember – nach deutschen Begriffen ein merkwürdiges Klima!«

»Ein verrücktes Klima ist es!« rief Ulrike ärgerlich. »Jetzt haben wir in Martinsfelde zwanzig Grad Kälte und dichtes Schneegestöber!« Sie seufzte, als empfände sie Sehnsucht nach den eben geschilderten Annehmlichkeiten, und fuhr dann zornig fort: »Und das nennt sich nun hier Weihnachtszeit! Aber in diesem Wüstenlande ist ja alles verkehrt, sogar die Jahreszeiten sind aus Rand und Band. Hier schwitzt man schon am frühen Morgen und noch dazu auf einem Esel. Es ist ein schändliches Vergnügen, das Reiten!« Sie ritt in dräuender Haltung weiter und blickte mit unendlicher Verachtung auf den braven »Ramses« nieder, der sich diese Geringschätzung durchaus nicht anfechten ließ und ruhig vorwärts trottete. Der kleine braune Führer trabte nebenher und schaute mit seinen listigen schwarzen Augen unverwandt zu Reinhart empor, bis dieser ihm ein paar arabische Worte sagte.

Auf einmal blieb »Ramses« stehen und war nicht mehr vorwärts zu bringen. Alles Reißen und Zerren half nichts, er schien den weiteren Dienst verweigern zu wollen.

»Oho, was ist denn das? Ibrahim, was hat das Tier?« rief Ehrwald und griff nun selbst in die Zügel; das hatte aber nur zur Folge, daß der Esel sich in einer ganz merkwürdigen Weise herumdrehte und mit dem Kopf nach rückwärts zu stehen kam. In demselben Augenblick gab ihm Ibrahim einen tüchtigen Schlag und nun lief »Ramses« allerdings, aber in der verkehrten Richtung; der Junge, anstatt ihn aufzuhalten, rannte mit gellendem Geschrei hinter ihm drein und machte die Sache dadurch nur ärger. Reinhart warf sofort sein Tier herum und galoppierte nach, er erreichte den Flüchtling auch nach wenigen Minuten, aber dieser sah das als eine Aufforderung an, gleichfalls zu galoppieren. Er griff tüchtig aus und wie die wilde Jagd ging es nach Luksor zurück.

Die Zurückgebliebenen hatten natürlich Halt gemacht und Selma rief in tödlichem Schrecken: »Um Gottes willen – Ulrike! – Das Tier geht mit ihr durch!«

»Nicht doch, es galoppiert nur ein wenig,« beruhigte sie der Doktor, der sofort an ihrer Seite war. »Ehrwald ist ja dabei, da geschieht nichts, wir können ganz ruhig weiter reiten. Nicht wahr, Herr Professor?«

»Jawohl!« versetzte der Professor in kühlem Tone. »Aengstigen Sie sich nicht, Frau Mallner, wenn Ehrwald dabei ist, hat die Sache keine Gefahr. Sehen Sie, er bringt das Tier ja schon zum Stehen! Wir kommen zu spät nach Karnak, wenn wir uns zu lange aufhalten. Ich reite weiter.«

»Ich auch!« rief Herr Ellrich kühn. Man sah, allerdings in ziemlich weiter Entfernung, daß die Tiere standen und daß Ehrwald aus dem Sattel sprang, trotzdem weigerte sich Selma, weiter zu reiten, und wollte durchaus warten. Da beugte sich der Doktor zu ihr hinüber und sagte so leise, daß nur sie ihn verstehen konnte: »Machen Sie es uns doch nicht so schwer! Ehrwald opfert sich ja nur auf, für mich – für uns beide.«

Die junge Frau wurde purpurrot, sie fing erst jetzt an, den Zusammenhang zu begreifen, und in höchster Verwirrung stammelte sie: »Wenn nur – wenn nur keine Gefahr dabei ist!«

»Nicht die mindeste, mein Wort darauf. Ehrwald hat die Verantwortung übernommen. Kommen Sie!«

Selma warf noch einen Blick zurück, sie sah, daß Ulrike jetzt mit Hilfe des jungen Mannes abstieg, und nun widerstrebte sie auch nicht länger, der kleine Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Inzwischen machte Fräulein Mallner ihren Wüstenritt mit ihren beiden Begleitern. Ramses galoppierte, was er nur konnte; zur Rechten rannte Ibrahim und schrie aus vollem Halse: »Yalla! Yalla!« Zur Linken jagte Reinhart, bereit, jeden Augenblick einzugreifen, wenn die Sache gefährlich wurde, aber er unterschätzte die Energie der Dame, die sich bei diesem Abenteuer durchaus nicht furchtsam, aber um so wütender zeigte. Als nun vollends ihr Sonnenschirm wie ein Luftballon davonflog und sich ausgespannt auf dem Wüstenboden niederließ, da hätte sie beinahe eine wirkliche Gefahr heraufbeschworen, indem sie den unschuldigen Esel zu prügeln begann. Sich mit der Rechten am Sattelknopf festhaltend, puffte sie mit der Linken den armen »Ramses«, der das jedoch übelnahm. Er machte einen so bedenklichen Sprung, daß Ehrwald nichts übrig blieb, als in die Zügel zu greifen und ihn zum Stehen zu bringen. Sie machten Halt. Ulrike war vorläufig noch atemlos. Ehrwald wetterte und schalt auf arabisch mit Ibrahim, der das anscheinend sehr zerknirscht hinnahm. Aber nach Verlauf von einigen Minuten bekam das Fräulein die Sprache wieder und nun brach das Ungewitter los. »Was ist ja eine heillose Wirtschaft hier in dieser Wüste! Dis Sonnenschirme gehen verloren und die Esel gehen durch. Und dieser braune Range rennt und schreit wie besessen, anstatt zuzugreifen, der dümmste Bauernjunge in Martinsfelde hätte sich klüger benommen.«

»Ja, Ibrahim hat vollständig den Kopf verloren, ich habe ihn auch deswegen tüchtig ausgescholten,« sagte Reinhart, aber nun kam die Reihe an ihn. Ulrike, anstatt sich für die geleistete Hilfe dankbar zu zeigen, fuhr ihn an: »Nun, Sie haben sich auch nicht viel klüger benommen! Sie galoppierten ja eine ganze Weile neben mir, ohne die Hand zu rühren. Warum griffen Sie nicht gleich in die Zügel?«

»Das war mir leider nicht möglich. Aber ich glaube, es ist besser, Sie steigen ab, dem Tiere muß irgend etwas sein, ich werde nachsehen.«

Fräulein Mallner war diesmal ausnahmsweise einverstanden mit dem Vorschlag, sie stieg mit Reinharts Hilfe ab und sah sich nun erst nach der andern Gesellschaft um. Sie gewahrte mit namenloser Entrüstung, daß man von ihrer Abwesenheit gar keine Notiz nahm, sondern ruhig weiter ritt. Wer weiß, was da geschah! Ulrike geriet in die äußerste Ungeduld und als die Untersuchung des braven »Ramses«, der jetzt wieder lammfromm dastand, noch immer kein Ende nahm, fuhr sie dazwischen.

»Sind Sie denn noch nicht fertig? Wir müssen aufsteigen, die andern sind schon weit voraus.«

»Ich fürchte, Sie können den ›Ramses‹ nicht wieder besteigen,« erklarte Reinhart mit bedenklicher Miene. »Dem Tiere ist durchaus nichts, aber es scheint bösartige Mucken zu haben, und das kann gefährlich werden. Wir wollen gleich einmal die Probe machen.«

Er setzte sich quer auf den Damensattel und ritt eine kurze Strecke weit, aber unter seiner Hand fing der Esel augenblicklich an zu bocken und vorn und hinten auszuschlagen, die Sache sah äußerst gefährlich aus.

»Ich dachte es mir!« sagte der junge Mann, indem er wieder herabsprang. »Sie werden den Ausflug aufgeben müssen, Sie hatten ja ohnehin keine Lust dazu.«

Fräulein Mallner sah ihn argwöhnisch an, in ihrer Seele tauchte ein dunkler Verdacht auf, die Sache gehe nicht ganz mit rechten Dingen zu.

»Das würde Ihnen und dem Doktor wohl passen?« fragte sie höhnisch. »Es fällt mir gar nicht ein, zurückzubleiben. Geben Sie mir Ihren Esel, wir tauschen die Sättel und Sie werden mit dem bösartigen Vieh schon fertig werden.«

»Mein Esel trägt keinen Damensattel, er ist nur für Herren zugeritten,« behauptete Reinhart mit der größten Bestimmtheit. »Wenn Sie durchaus auf den Ritt bestehen, dann müssen wir Ibrahim nach Luksor zurückschicken und ein anderes Tier holen lassen. Es kann aber eine Stunde dauern, bis er zurückkommt.«

»Und wenn es zwei Stunden dauert, ich will nach Karnak, ich warte!«

Mit dieser energischen Erklärung setzte sich Ulrike zum Schrecken ihres Begleiters mitten in den Wüstensand, gleichzeitig machte sie Ibrahim durch Zeichen begreiflich, er solle ihren Sonnenschirm holen, der in nicht allzuweiter Entfernung lag. Das war nun allerdings eine verzweifelte Lage für Ehrwald, er konnte doch füglich nicht auf und davon reiten und das Opfer seiner Intrigue mutterseelenallein hier zurücklassen, und der unschuldige »Ramses« war nun einmal für boshaft und gefährlich erklärt worden, man mußte notgedrungen dabei stehen bleiben. Reinhart machte noch einige Versuche, die energische Dame umzustimmen, aber vergebens, sie blieb sitzen, und so ergab er sich denn in das Unvermeidliche. Er sandte Ibrahim mit seinem Esel nach Luksor zurück und schalt ihn der Form wegen noch einmal aus. Der Junge trabte davon, immer noch ganz zerknirscht, mit gesenktem Kopfe, er war aber kaum hundert Schritte weit entfernt, da streichelte er seinen »Ramses«, als wollte er ihn für das ausgestandene Ungemach entschädigen, und lachte wie ein Kobold.

Reinhart überreichte inzwischen mit einer ritterlichen Verbeugung den zurückgebrachten Sonnenschirm, dann setzte er sich gleichfalls in den Wüstensand und sagte: »So, Fräulein Mallner, nun haben wir eine Stunde Zeit – nun wollen wir uns freundschaftlich unterhalten!« –

Sonneck und seine Begleiter waren längst in Karnak eingetroffen, aber sie warteten auf den Professor, der versprochen hatte, den Führer zu machen, und der denn auch eine Viertelstunde später mit dem übrigen Nachtrab anlangte. Es wurde ihnen zuvörderst die Abwesenheit der beiden Zurückgebliebenen erklärt; sie kamen jedenfalls bald nach und konnten sich dann der Gesellschaft anschließen, die sofort die Wanderung durch die Tempelruinen begann. Aber schon nach wenigen Minuten waren Herr Doktor Bertram und Frau Selma Mallner verschwunden, was freilich nur Sonneck und Herr Ellrich bemerkten. Der erstere lächelte still vor sich hin und der letztere hielt gewissenhaft die versprochene Neutralität ein. Er wich nicht von der Seite des Professors und – ließ der Jugend ihr Recht.

So war mehr als eine Stunde vergangen, die Gesellschaft wanderte in den weit ausgedehnten Tempel- und Säulenhallen umher, staunte die Macht und Größe einer versunkenen Welt an und lauschte andächtig den Erklärungen des Professors. Aber zweie gab es, für die all diese Größe und Weisheit verloren war. Sie hatten weder Auge noch Ohr für die tote, mächtige Vergangenheit, sie hatten nur mit der lebendigen Gegenwart zu thun.

Fern am Rande des Tempels, wo eigentlich gar nichts zu sehen war und wohin sich nur selten der Fuß eines Besuchers verirrte, saß das junge Paar, vor sich die weite, sonnenbeglänzte Landschaft, über sich den tiefblauen Himmel, und auf den alten tausendjährigen Trümmern blühte ein junges neues Menschenglück empor.

Selma saß auf einer umgestürzten Säule und neben ihr Doktor Bertram, der den Arm zärtlich um sie gelegt hatte. Das blonde Köpfchen ruhte an seiner Schulter und die blauen Augen blickten zu ihm empor, aber es standen ein paar Thränen darin.

»Ja, ich bin dir gut!« sagte die junge Frau, einfach und innig. »Und ich bin dir so dankbar für deine Liebe. Mich hat ja niemand lieb gehabt seit meiner frühsten Kinderzeit, wo die Eltern starben, ich habe es immer nur hören müssen, daß man mir Gnade und Barmherzigkeit erwies, die ich eigentlich gar nicht verdiente, und ich bin so unglücklich gewesen in dem düstern Hause von Martinsfelde – so grenzenlos unglücklich!«

Bertram streichelte leise das blonde Haar; man hätte nicht geglaubt, daß die Stimme des sonst so übermütigen jungen Mannes einen so ernsten, weichen Klang haben könne wie jetzt, als er antwortete: »Mein armes, süßes Kind! Ich weiß es ja, wie einsam und trostlos dein Dasein gewesen ist, aber jetzt ist die schlimme Zeit vorbei, jetzt kommt der Sonnenschein. Ich werde es meiner Selma schon zeigen, daß das Leben auch Glück gewährt.«

Das glückselige Lächeln, mit dem Selma zu ihm aufschaute, verriet, wie unbedingt sie dieser Versicherung glaubte, und sich fester an ihn schmiegend, flüsterte sie: »Du sagst ja, ich sei gesund und würde es bleiben. Damals, als ich krank wurde, wäre ich gern gestorben, aber jetzt – jetzt möchte ich so gern leben!«

»Das wollte ich mir auch ausbitten!« rief der Doktor. »Ich fange ja auch jetzt erst an zu leben. Ich bin allerdings frei gewesen und lustig durch die weite Welt gefahren, aber das Beste hat mir doch gefehlt, das halte ich erst jetzt in den Armen, und nun will ich es auch festhalten, mein Leben lang!«

Damit küßte er seine Braut, das heißt, er fing damit an und hörte vorläufig nicht auf, während er ab und zu ihr leise zärtliche Worte in das Ohr flüsterte, und Selma ließ sich das ohne Widerstreben gefallen, die beiden hatten die ganze Welt vergessen.

»Ich gratuliere von ganzem Herzen!« ertönte plötzlich Ehrwalds Stimme, der hinter einer Säule auftauchte. »Bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich störe, aber ich muß das Sturmsignal geben – sie ist im Anzuge!«

»Hat nichts mehr zu sagen, wir sind einig!« rief der Doktor, indem er freudestrahlend aufsprang. »Ehrwald – hier meine Braut!«

Selma hatte sich gleichfalls erhoben und empfing errötend den wiederholten Glückwunsch Reinharts, der jetzt zum Aufbruch drängte. »Und nun hin zu der Gesellschaft und die Verlobung bekannt gemacht! Sie haben noch zehn Minuten Zeit und es ist am besten, die Sache wird gleich veröffentlicht.«

Bertram war durchaus einverstanden mit diesem Vorschlag, ihm war es nicht entgangen, daß Selma bei der Nachricht von der Ankunft ihrer Schwägerin erschrocken zusammenfuhr. Wenn die Verlobung öffentlich verkündet war, gab es keinen Widerspruch mehr. Sie kehrten alle drei zu der Gesellschaft zurück.

Inzwischen hielt Ulrike Mallner ihren Einzug durch das Thor des Tempels. Der zweite Ritt war ohne Hindernis verlaufen, aber der Ritter, der bisher getreulich bei ihr ausgehalten, hatte sie kurz vor dem Ziele verlassen, um das »Sturmsignal« zu geben. Er überließ es Ibrahim, ihr aus dem Sattel zu helfen.

Sie brauchte die Gesellschaft nicht erst zu suchen, ein lautes, fröhliches Stimmengewirr zeigte ihr den Weg, aber beim Eintritt in die große Säulenhalle blieb sie stehen, als sei sie, wie die Frau des seligen Loth, in eine Salzsäule verwandelt. Die ganze Gesellschaft drängte sich um einen einzigen Mittelpunkt, das war er, der Doktor, mit Selma an seinem Arme! Alles gratulierte und schüttelte ihnen die Hände und Herr Ellrich, dieser Verräter, war mitten darunter! Ulrike sah es mit einem einzigen Blick, die Schlacht war verloren, der Feind hatte gesiegt!

Er zögerte auch nicht, diesen Sieg zu benutzen. Kaum gewahrte er seine Gegnerin, so ging er mit seiner Braut auf sie zu und sagte mit einer wahrhaft vernichtenden Artigkeit: »Sie finden hier ein Brautpaar, Fräulein Mallner. Selma hat mich durch ihr Jawort sehr glücklich gemacht, wir erlauben uns, auch um Ihren Glückwunsch zu bitten.«

Und Selma, die schüchterne willenlose Selma, schien im Bewußtsein des Schutzes, den sie genoß, auf einmal mutig geworden zu sein. Sie zitterte nicht und sank nicht in den Boden, als sie der Blick ihrer Schwägerin traf, sie bestätigte vielmehr das Unglaubliche, leise aber doch mit ziemlich fester Stimme: »Ja, liebe Ulrike, ich habe mich soeben verlobt.«

Der selige Martin hatte sich nach der Versicherung seiner Schwester im Laufe der letzten Monate sehr oft in seinem Grabe umgedreht, und zwar pflegte er dies nach derselben Quelle gewöhnlich dreimal hintereinander zu thun. Jetzt hatte das keinen Zweck mehr, er blieb ganz ruhig liegen, seine Rolle als Gespenst war ausgespielt.

Glücklicherweise beugte der Professor einer peinlichen Scene vor. Er machte der jungen Frau scherzhafte Vorwürfe, daß seine altägyptischen Erklärungen durch ihre Verlobung einen ganz modernen Schluß erhalten hätten und daß er sich das nicht gefallen lassen könne. Währenddessen fand der Doktor endlich Zeit, Ehrwald heimlich die Hand zu drücken.

»Ich danke Ihnen,« sagte er leise, »das war ein Freundschaftsstück.«

»Aber das heißeste, das ich je geleistet habe!« gab Reinhart lachend zurück. »Eine volle Stunde habe ich im Wüstensande gesessen mit dieser liebenswürdigen Dame und mich schlecht behandeln lassen wie Herr Ellrich – die Schuld von damals ist mit Zinsen heimgezahlt.«

Ulrike hatte sich inzwischen einigermaßen gefaßt. Sie wäre am liebsten wie ein Racheengel zwischen die beiden getreten, aber so viel Besinnung besaß sie doch, sich zu sagen, daß, wenn Selma überhaupt den Mut hatte, sich ihrer Bevormundung zu entziehen, sie machtlos war. Noch ein Opfer wenigstens mußte sie haben und so stürzte sie sich auf den armen Ellrich und schleppte ihn bis an den Fuß einer fernen Säule.

»Auf Sie habe ich mich verlassen!« raunte sie ihm mit halberstickter Stimme zu. »Aber Sie haben mein Vertrauen schmählich getäuscht. Sie haben dabei gestanden und ohne Einsprache alles mit angesehen!«

»Nein, dabei gestanden habe ich nicht,« erklärte Herr Ellrich, der sich nun endlich genügend »gesammelt« hatte und kühn die Rebellion begann. »Das haben die Herrschaften ganz allein unter sich abgemacht. Aber gratuliert habe ich, und ich war der erste, der es that!«

Ulrike rang nach Atem, um ihrer Entrüstung freien Lauf zu lassen, da trat Sonneck heran.

»Fügen Sie sich ins Unvermeidliche, Fräulein Mallner,« sagte er begütigend. »Sehen Sie nur, wie glücklich das junge Paar ist, und gönnen Sie ihm doch dieses Glück! Ich habe es stets für ein Unrecht gehalten, daß Sie so hartnäckig widerstrebten. Ich war von Anfang an auf Seiten des Doktors.«

Ulrike sah ihn an, der Blick sagte deutlich: Auch du, der einzige, den ich für einen Menschen gehalten habe! Dieser letzte Schlag machte sie verstummen, sie wandte sich um und schritt in die tiefste Tiefe der Säulenhalle, aber sie mußte es doch noch mit anhören, welche Rache Herr Ellrich für seine lange Sklaverei nahm. Er trat nämlich in die Mitte des Kreises und rief, so laut er nur konnte: »Das Brautpaar soll leben – hoch!«

Und »hoch!« hallte es von allen Seiten wider, die ganze Gesellschaft fiel freudig ein, sogar die Eselsjungen draußen, die neugierig hereinschauten, schrieen mit. Sie verstanden zwar durchaus nicht, was da drinnen vorging, aber sie merkten doch, daß es etwas sehr Vergnügliches war.


Im Hause des Herrn von Osmar wurde das Weihnachtsfest gefeiert und er hatte selbstverständlich die drei deutschen Herren dazu eingeladen. Sonneck, der am nächsten Tage seine Leute mit dem Gepäck aus Kairo erwartete, wollte dann unverzüglich aufbrechen, und aus diesem Grunde waren die Einladungen nicht weiter ausgedehnt worden. Man wollte noch einmal im engsten Kreise bei einander sein, bevor der Freund des Hauses auf lange Zeit schied. Man sah ihn freilich diesmal nicht ungern scheiden, denn mit ihm zog auch der Störenfried, der nun einmal sein unzertrennlicher Begleiter war, hinaus in die weite Ferne.

Her Konsul hatte es während der letzten Zeit doch eingesehen, daß die thörichte Schwärmerei seiner Tochter ernster zu nehmen sei als eine bloße Laune, wenn er auch noch immer nicht an eine wirkliche Gefahr glaubte. Daß Zenaide eine geheime Neigung für diesen Reinhart Ehrwald hegte, war nicht zu verkennen, aber Osmar wollte seinen Freund nicht beleidigen, indem er dessen Schützling sein Haus verbot. Ueberdies wünschte er jeden gewaltsamen Schritt zu vermeiden, denn das hätte der Sache eine Wichtigkeit gegeben, die sie nicht haben sollte und durfte, es war am besten, sie einfach totzuschweigen. Der Konsul zweifelte nicht daran, daß seine Tochter sich schließlich doch seinen Wünschen fügen werde; und der Roman nahm von selbst ein Ende, sobald der Held desselben vom Schauplatz verschwand. Zum Glück war der junge Mann taktvoll oder empfindlich genug, den wortlosen Wink zu verstehen, den man ihm gab, und blieb möglichst fern.

Lord Marwood, der sich nun schon mehrere Wochen als Gast in Luksor befand, war freilich mit seiner Bewerbung noch keinen Schritt vorwärts gekommen. Die Hoffnungen, welche er auf das tägliche ungestörte Beisammensein gesetzt hatte, verwirklichten sich nicht. Wenn Zenaide in Kairo ihm gegenüber gleichgültig gewesen war, so zeigte sie jetzt eine entschieden ablehnende Haltung, so daß der junge Lord noch gar nicht versucht hatte, mit einem Antrage hervorzutreten, dessen Mißerfolg er voraussah. Trotzdem dachte er nicht daran, seine Werbung aufzugeben. Francis gehörte zu jenen zähen beharrlichen Naturen, die das, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt haben, um jeden Preis durchführen, sei es auch aus bloßem Eigensinn. Er wußte. welchen mächtigen Rückhalt er an dem Vater hatte, und baute darauf. Mit Ehrwald, den er bei dessen seltenen Besuchen doch immerhin sehen mußte, hatte er sich auf den Fuß eisiger Ablehnung gestellt, die kaum durch die äußeren Formen der Höflichkeit verschleiert wurde, und das war in der That die einzig mögliche Art des Verkehrs zwischen ihnen.

Der Landsitz des Generalkonsuls entsprach ebenso wie sein Haus in Kairo seinem Reichtum, aber hier am Nil herrschte das orientalische Element entschieden vor. Es war ein Sommerpalast, wie ihn die vornehmen Aegypter zu bewohnen pflegen, ein weißes, schimmerndes Gebäude mit luftigen Hallen und Terrassen, von einem förmlichen Walde der schönsten Palmen umgeben. Wie ein Märchenschloß lag es da am hohen Uferrande des Nils und blickte weit hinaus in das Land.

Die große Halle, die den ganzen mittleren Raum des Hauses einnahm, trug gleichfalls ein echt morgenländisches Gepräge. Die Diwans an den Wänden waren mit reichen Teppichen bedeckt, Schaukelstühle, kleine Tische und Sessel aus zierlichem Bambusgeflecht standen überall zerstreut, und in der Mitte sandte eine Fontäne ihren hellen kühlen Strahl empor, von Palmenfächern und blühenden tropischen Gewächsen umgeben. Hier stand auch der Christbaum, eine hohe Tanne, die vom Südabhange der deutschen Alpen stammte, man hatte sie mit der Wurzel ausgehoben und keine Mühe gespart, um sie frisch zu erhalten. Sie hatte die weite Reise über das Meer und den Nil aufwärts gemacht, jetzt stand sie hier im fernen Wüstenlande und breitete ihre dunkelgrünen, harzduftenden Zweige aus, die nach deutscher Sitte mit Lichtern geschmückt waren.

Die kleine Gesellschaft war soeben vom Tische aufgestanden und hatte sich in der Halle niedergelassen; man befand sich im lebhaften Gespräch, nur Zenaide nahm fast gar keinen Anteil daran. Sie lehnte schweigsam und träumerisch in einem Schaukelstuhl, der etwas abseits stand, die kleine Elsa dagegen lief mit lautem Jubel um den Christbaum und staunte die strahlenden Lichter an. Man hatte sie bereits angezündet, obwohl es draußen noch Tag war, aber in dem hohen halbdunklen Raume leuchteten sie schon mit vollem Glanze.

»Sieh dir den Christbaum an, Reinhart!« sagte Sonneck halb scherzend. »Wer weiß, wann du wieder einen zu sehen bekommst. Wir kehren ja jetzt der ganzen europäischen Zivilisation auf Jahre hinaus den Rücken.«

»Denken Sie so lange fortzubleiben?« fragte Lord Marwood in seiner gewohnten kühlen Art.

»Ich habe vorläufig zwei Jahre für unsere Expedition in Aussicht genommen, das heißt, wenn wir ohne Hindernisse und Zwischenfälle unser Ziel erreichen und den Rückzug ebenso bewerkstelligen können. Darauf ist aber nicht zu rechnen bei einem solchen Unternehmen. Wir werden mit den elementaren Gewalten ebenso zu kämpfen haben wie mit der Feindseligkeit der Eingeborenen und der Unzuverlässigkeit unserer eigenen Leute. Ein Weg, den man offen glaubt, verschließt sich oft durch irgend ein zufälliges Ereignis. Wo man vorwärts zu kommen hoffte, wird man tage- und wochenlang aufgehalten, und der Durchzug durch manche Gebiete muß erst erobert werden. Das alles ist unberechenbar, und es kann leicht noch ein Jahr länger dauern, bevor wir zurückkehren.«

Der junge Lord schien diese Auskunft ungemein befriedigend zu finden, mit beinahe heiterer Miene trat er zu der jungen Dame und versuchte eine Unterhaltung anzuknüpfen. Der Konsul aber sagte kopfschüttelnd: »Ein aufreibendes Leben, voll ewiger Kämpfe und Gefahren! Mich soll nur wundern, wie lange Sie es noch aushalten, Sonneck! Ich wäre nicht geschaffen dafür.«

»Man gewöhnt sich eben daran wie an alles, und der wilde Bursche da« – Sonneck wies auf seinen jungen Gefährten – »der freut sich ja maßlos darauf. Er weiß sich gar nicht zu lassen vor Jubel darüber, daß es nun endlich fortgeht und er die Ferne mit ihren Wundern wie mit ihren Gefahren kennen lernen soll. Nun, sie wird ihm beides nicht schuldig bleiben.«

»Das hoffe ich!« rief Reinhart aufflammend. »Ich habe es mir auch verdient durch das lange, endlose Warten. Jetzt geht es hinaus – Gott sei Dank!«

Die stürmische Freude, die in den Worten lag, entlockte sogar Herrn von Osmar ein flüchtiges Lächeln. Der junge Mann da mochte ja vielleicht einmal kecke Wünsche und Hoffnungen gehegt haben, aber er hatte wohl längst eingesehen, daß sie sich nicht verwirklichen ließen. Jetzt stand die alte Abenteurerlust wieder bei ihm im Vordergrunde, und die gönnte er ihm von Herzen.

»Ja, so ist die Jugend!« sagte Professor Leutold ärgerlich. »An den ernsten wissenschaftlichen Zweck denkt sie gar nicht, sie hat nur die Abenteuer der Reise im Kopfe, und je toller es dabei zugeht, um so besser ist es.«

Lord Marwood hatte sich inzwischen Mühe gegeben, die Aufmerksamkeit der jungen Dame zu wecken, aber umsonst. Sie antwortete einsilbig und zerstreut und schien kaum zu hören, was er sagte. Sie war überhaupt heute abend auffallend bleich und still, und ihr Auge verlor sich immer wieder träumend in die Ferne, als sei sie mit ihren Gedanken ganz wo anders.

Da trat Reinhart Ehrwald heran und wandte sich mit einer ganz gleichgültigen Frage an sie. Zenaide schreckte leicht zusammen bei dem Klang seiner Stimme, aber ihr blasses Antlitz gewann einen rosigen Schein, der Blick belebte sich, fort waren Zerstreutheit und Träumerei und auf ihren Lippen erschien jenes Lächeln, das sie so reizend machte. Francis zog finster die Stirn zusammen, er kannte ja diese Zeichen, die er nicht zum erstenmal beobachtete, aber sie erfüllten ihn immer wieder von neuem mit eifersüchtiger Wut.

Eben ging drüben hinter den Palmen des jenseitigen Nilufers die Sonne unter und nun entfaltete sich jenes sinnberückende Farbenspiel, das hier stets den Sonnenuntergang zu begleiten pflegt. Himmel und Erde erglühten in feuriger Pracht, das leuchtete, flammte und blitzte überall und spiegelte sich wieder in den Fluten des Stromes. Es war ein Bild, wie mit Glutfarben gemalt, von fremdartiger, blendender Schönheit.

»Ein seltsames Weihnachtsfest!« sagte Reinhart, der wie verloren schien in den Anblick. »Im vergangenen Jahre, hatte ich es mir nicht träumen lassen, daß ich es hier am Nil verleben würde.«

»Und doch finden Sie auch hier einen Gruß aus der Heimat!« warf Zenaide lächelnd hin. »Unsere Tanne stammt aus den deutschen Alpen.«

Ehrwald wandte sich um und blickte auf den strahlenden Christbaum.

»Die arme Tanne! Sie steht so fremd hier im heißen Afrika, unter Palmen und Tropenblüten. Es ist, als sehne sie sich nach Eis und Schnee.«

»Ja, das können wir ihr hier freilich nicht schaffen,« scherzte die junge Dame. »Ich glaube beinahe, Sie sehnen sich auch danach, und wir feiern doch hier ein viel schöneres Weihnachtsfest als droben im kalten Norden, wo es stürmt und schneit. Mich friert schon bei dem bloßen Gedanken daran.«

»Weil Sie es nicht kennen! Das ist ja kein Weihnachten, was Sie hier feiern, unter diesem flammenden Himmel, das ist ein Fest wie jedes andere, eins von den Märchen, aus ›Tausend und eine Nacht‹. In unsern Bergen, da kommt das Christfest mit klingendem Frost, mit sternfunkelndem Himmel und leuchtendem Mondesglanz. Blendender Schnee ringsum, auf den Höhen, in den Thälern, auf den dunklen Tannen, die ganze Welt erstarrt in eisiger Pracht wie ein funkelndes Zauberreich. Aber um Mitternacht, da löst sich der Bann, da ziehen die Glockenklänge über Berg und Thal, das fernste Kirchlein, das kleinste Kapellchen erhebt seine Stimme, um die heilige Nacht zu grüßen, und aus den Tiefen des finstern verschneiten Waldes, da taucht er wieder auf, der Weihnachtszauber, der uns in unserer Kindheit umspann mit seinen Märchen und Sagen – das muß man erlebt haben, um es zu lieben!«

Zenaidens Augen hingen an seinen Lippen, diese halb phantastische, halb leidenschaftliche Sprache fand einen Widerhall in ihrem Innern. Lord Marwood mußte wieder einmal die Erfahrung machen, daß er gar nicht da zu sein schien für die junge Dame, sobald jener andere in ihrer Nähe war. Trotzdem wich und wankte er nicht von seinem Platze; glücklicherweise that der Professor jetzt eine Frage an Ehrwald, die diesen nötigte, wieder zu den Herren zu treten, und Francis behauptete das Feld. Da kam die kleine Elsa gelaufen, mit einem Tannenzweig, den ihr Sonneck vom Christbaum gebrochen hatte, und rief fröhlich: »Schau, Tante Zenaide, was ich habe! Ich will in den Garten gehen und es Hassan zeigen. Darf ich?«

»Ja, Elsa, ich gehe mit dir – komm, mein Kind,« sagte die junge Dame, indem sie sich rasch erhob. Sie nahm die Hand des Kindes, neigte leicht das Haupt gegen Marwood und schritt über die Terrasse in den Garten. Francis biß sich auf die Lippen, und in seinen matten Augen lag ein beinahe drohender Ausdruck, als er ihr nachblickte. Es war gut, daß dieser Mensch nun endlich ging, sonst ließ man sich doch noch einmal hinreißen ihm gegenüber!

Am Ende des Gartens, weit entfernt von dem Hause, breitete eine mächtige Sykomore ihre dunklen Aeste über einen Ruhesitz. Hier saß Zenaide, sie hatte beide Arme um ihren kleinen Liebling gelegt und das lange zurückgehaltene Weh machte sich jetzt in Thränen Luft. Sie hatte alles gehofft von diesem Aufenthalte in Luksor, wo man sich öfter und zwangloser sehen konnte als in der Stadt, und nun war ihr Reinhart hier so fern gewesen wie nie zuvor. Er war kaum dreimal gekommen in der ganzen Zeit. Wagte er es wirklich nicht, um die reiche, gefeierte Erbin zu werben, oder hatte sie sich getäuscht damals, als er so weich und bittend fragte: darf ich kommen? Jetzt stand die Trennung unmittelbar bevor und er hatte nicht gesprochen!

Das Kind versuchte vergebens, seine junge Beschützerin zu trösten, an der es mit großer Zärtlichkeit hing; es schmeichelte, bat und fragte immer wieder, warum denn die Tante so weine. Da preßte Zenaide die Kleine an sich und flüsterte in ausbrechendem Schmerz und völliger Selbstvergessenheit: »Weißt du es denn nicht, Elsa? Er geht ja fort und kommt vielleicht niemals wieder!«

Klein-Elsa war ein kluges Kind, sie wußte ganz genau, wer in den nächsten Tagen fortging, und wußte auch, daß mit dem »er« nicht der Onkel Sonneck gemeint sei. Aber der kurze Waffenstillstand, den sie in jener seltsamen Mittagsstunde mit ihrem alten Gegner geschlossen hatte, war längst schon wieder vorüber. Sie warf daher trotzig das Köpfchen zurück und sagte mit großer Entschiedenheit: »Laß ihn gehen, Tante Zenaide! Du sollst nicht um ihn weinen, ich mag ihn gar nicht!«

Da ertönten Schritte in unmittelbarer Nähe, Zenaide schreckte empor, aber sie hatte keine Zeit mehr, ihre Thränen zu trocknen, denn Ehrwald stand bereits vor ihr. Er wollte rasch näher treten, da warf er einen Blick auf ihr Gesicht und hielt bestürzt inne.

»Mein gnädiges Fräulein – ich bitte um Verzeihung – ich störe wohl?«

Die junge Dame hatte sich rasch gefaßt, sie erhob sich, die Arme noch um die Schultern des Kindes gelegt, und versuchte zu lächeln.

»Nicht doch, ich – ich weinte nur, weil ich nun meinen kleinen Liebling verlieren soll, und ich hätte ihn doch so gern behalten. Er soll ja fort, schon in den nächsten Tagen!«

Reinhart sah sie an, er wußte es besser, welcher Trennung diese Thränen galten, aber er gab sich natürlich den Anschein, dem Vorwande zu glauben, und begann ein Gespräch. Sie fanden aber beide den gewohnten Ton nicht, sie hatten etwas ganz anderes auf dem Herzen als die gleichgültigen Worte, die von ihren Lippen fielen, und es traten immer wieder längere oder kürzere Pausen ein.

Die Farbenglut des Sonnenunterganges war verblaßt, nur am westlichen Horizont schimmerte noch tiefer Purpur, und sein letzter Widerschein glänzte in den Fluten des Nils. Drüben am jenseitigen Ufer schritt langsam ein Zug von Kamelen dahin, auf dem ersten ein Beduine, in weißem wallenden Gewande, die anderen trugen hochgetürmte Lasten. Sie hoben sich scharf und dunkel wie Silhouetten ab von dem lichten Abendhimmel. Auf dem Nil schwamm eine Dahabîye vorüber, das Segel leicht geschwellt vom Abendwinde, während die Ruder sich taktmäßig hoben und senkten. Der Gesang der Schiffer klang herüber durch die Stille, eine einförmige, schwermütige Weise, die vielleicht schon vor mehr als tausend Jahren erklungen war auf den Wogen des alten heiligen Stromes.

»Ich komme auch, um lebewohl zu sagen,« hob Reinhart nach einem längern Stillschweigen wieder an.

Zenaide erbleichte. »Schon jetzt?«

»Ich werde morgen mit Herrn Sonneck den förmlichen Abschiedsbesuch machen, aber da sehe ich Sie nur in Gegenwart Ihres Vaters und des Lord Marwood, und ich wollte Sie vorher noch einmal allein sehen und sprechen.«

Das junge Mädchen antwortete nicht, aber alles Blut drängte stürmisch nach ihrem Herzen. Wollte er jetzt endlich das entscheidende Wort sprechen – endlich?

»Ich bin in der letzten Zeit Ihrem Hause größtenteils ferngeblieben,« fuhr Reinhart fort. »Sie haben mir einen Vorwurf daraus gemacht, ich weiß es.«

»Wenigstens habe ich es mir nicht erklären können. Warum kamen Sie nicht?«

»Weil ich es nicht ertragen kann, ein unwillkommener Gast zu sein.«

»Unwillkommen – bei mir?«

»Nicht bei Ihnen, aber bei Ihrem Vater!«

»Er hat Sie doch nicht beleidigt?« Es klang eine geheime Angst in der Frage.

»Nein, dann wäre ich nicht hier. Der Herr Konsul behandelt mich sehr höflich – sonst war er gütig gegen mich.«

Zenaide schwieg, sie hatte ja auch die wortlose, aber unzweideutige Abwehr ihres Vaters bemerkt und kannte längst seine Pläne hinsichtlich Lord Marwoods, aber sie hatte seinem voraussichtlichen Widerstände nie größeres Gewicht beigelegt, wenn sie auch darauf gefaßt war, für ihre Liebe kämpfen zu müssen. Der Vater liebte seine einzige Tochter über alles, er würde schließlich doch nachgeben.

Die kleine Elsa schien dies Gespräch mit den langen Pausen sehr langweilig zu finden. Ueberdies sah sie, daß Tante Zenaide jetzt vollständig getröstet war, sie ergriff daher ihren Tannenzweig und rief: »Nun will ich gehen und Hassan suchen!«

»Ja, geh, Elsa, wir können dich jetzt ohnehin nicht brauchen,« sagte Reinhart und griff scherzend nach dem Blondhaar, das offen über die Schulter des Kindes fiel. Das nahm die Kleine aber gewaltig übel, sie wich zurück und rief zornig: »Laß mich! Du bist schuld daran, daß Tante Zenaide geweint hat. Du bist immer schuld, wenn sie weint!«

»Elsa!« rief die junge Dame bestürzt, aber die Kleine sprach unerbittlich weiter: »Warum gehst du fort? Tante Zenaide mag das nicht. Sie will, du sollst hier bleiben, dann weint sie nicht mehr!«

Sie blitzte ihn noch einmal zornig an mit ihren großen Augen und lief dann fort. Zenaide war in tödlicher Scham und Verlegenheit auf den Sitz niedergesunken und verbarg das Gesicht in den Händen. Reinhart beugte sich tief zu ihr hinab und sagte leise: »Zenaide!«

Sie regte sich nicht, aber er hörte einen Laut, der wie unterdrücktes Schluchzen klang.

»Zenaide – hat das Kind recht?«

Sie ließ langsam die Hände sinken und hob die Augen zu ihm empor, die Antwort stand so deutlich darin, daß wohl jeder andere ohne weitere Erklärung die Geliebte an sein Herz gezogen hätte; der sonst so stürmische Ehrwald that das nicht. Er ließ sich nur an ihrer Seite nieder, aber seine Stimme hatte wieder jenen weichen, verschleierten Ton, den sie nur einmal von seinen Lippen gehört hatte, damals in Kairo, als sie allein waren auf der dunklen Terrasse, unter dem sternfunkelnden Himmel. Jetzt vernahm sie ihn wieder und in die Worte hinein klang jener Gesang vom Nil her, die uralte schwermütige Weise, aber sie tönte leiser und ferner, wie das Schiff immer weiter und weiter dahinzog.

»Zürnen Sie mir, daß ich bisher noch nicht gesprochen habe? Ich sah Sie ja niemals allein hier, aber jetzt, wo die Trennung unmittelbar bevorsteht, habe ich noch eine Frage, eine Bitte auf dem Herzen und ich möchte die Antwort mit mir hinausnehmen in die Ferne. Sie wissen es ja, ich muß fort –«

»Warum müssen Sie? Es zwingt Sie ja niemand dazu!« unterbrach ihn die junge Dame unbedacht.

Er sah sie groß und erstaunt an.

»Warum? Soll ich etwa hier bleiben?«

Zenaide sah bereits ihre Uebereilung ein. Sie hatte allerdings gemeint, ihr künftiger Gatte brauche nicht erst hinauszuziehen in tausend Gefahren, um sich eine Lebensstellung zu erringen, aber sein beinahe zorniges Erstaunen zeigte ihr, daß sie es nicht wagen dürfte, diesen Punkt wieder zu berühren.

»Ich soll mir auf dieser Reise ja erst die Sporen verdienen,« begann er von neuem. »Aber Sie haben es vorhin von Sonneck gehört, es kann Jahre dauern, ehe wir zurückkehren, und bis dahin ist der Abwesende wohl längst vergessen.«

»Nein!« sagte Zenaide leise.

»Wirklich nicht?«

»Nein, Reinhart, ich vergesse Sie nie!«

Die dunklen feuchtschimmernden Augen blickten mit der vollsten Hingebung der Liebe zu ihm auf. Vom Nil her klangen halb verweht die letzten Töne des Gesanges, dann erstarben sie in der Ferne.

Reinhart hatte den Arm um die zarte, bebende Gestalt gelegt, sie ließ es geschehen und ihr Haupt sank an seine Schulter, während er leidenschaftlich flüsterte: »Nun, so laß es mich denn aussprechen und dir sagen –«

»Zenaide! – Ehrwald!« tönte plötzlich eine zornige Stimme. Die beiden fuhren auf, wenig Schritte von ihnen entfernt stand Herr von Osmar, der soeben aus dem Gebüsch hervorgetreten war, und sah mit sprühenden Augen auf die Gruppe.

Reinhart faßte sich zuerst, er hatte Zenaide aus dem Arm gelassen und trat rasch auf Osmar zu.

»Herr Konsul, gestatten Sie mir, Ihnen zu erklären –«

»Es bedarf keiner Erklärung, ich sah genug!« herrschte ihm der erzürnte Vater entgegen. »Sie haben vergessen, in wessen Hause Sie sind – entfernen Sie sich sofort!«

Dem jungen Manne stieg das Blut heiß in die Schläfe bei diesem Tone, aber er richtete sich hoch und fest auf.

»Sie sind im Irrtum, Herr Konsul. Ich weiß sehr gut, wo ich mich befinde, aber ich hatte eine Frage an Fräulein von Osmar zu richten, eine Frage, die ich schon in der nächsten Stunde bei Ihnen wiederholt haben würde. Sie begreifen es wohl, daß ich zuerst Zenaidens Antwort hören mußte.«

Osmar glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen: das war ja eine Werbung in aller Form, so hätte Lord Marwood sprechen dürfen, wenn der Vater ihn zufällig bei seinem Antrage überrascht hätte! Was erlaubte sich denn dieser junge Mensch eigentlich? Aber es galt, sich zu beherrschen, zum Glück war niemand in der Nähe, doch in der Abendstille hörte man deutlich das Lachen und Jauchzen der kleinen Elsa, die nun ihren Spielgefährten glücklich aufgefunden hatte und sich mit ihm umherjagte. Ein lautes, erregtes Gespräch konnte wohl auch im Hause gehört werden, der Konsul dämpfte die Stimme, aber sie klang trotzdem in äußerster Gereiztheit, als er sagte: »Ich ersuche Sie ein für allemal, mich mit solchen Fragen zu verschonen! Zenaide, du kehrst augenblicklich in das Haus zurück, überlaß mir die Auseinandersetzung mit diesem Herrn da.«

Es war das erste Mal, daß Osmar seiner Tochter gegenüber einen Befehl aussprach, aber er irrte sehr, wenn er auf Gehorsam rechnete. Zenaide hatte ihre anfängliche Bestürzung bereits überwunden und stellte sich nun entschlossen an die Seite des Geliebten, während sie halb angstvoll, halb bittend rief: »Papa, du beleidigst Herrn Ehrwald! Ich habe ihm das Recht zu einer solchen Frage gegeben, und ich werde ihm auch die Antwort geben, die –«

»Du hast noch nicht über dich zu verfügen,« schnitt ihr Osmar das Wort ab. »Die Entscheidung steht mir zu, und ich denke, du bist nicht im Zweifel darüber, wie sie lautet. Herr Ehrwald, ich ersuche Sie noch einmal, sich zu entfernen und mein Haus nicht wieder zu betreten.«

Zenaide blickte mit dem Ausdruck flehender Angst zu Reinhart empor. Sie sah es nur zu gut, wie sein ganzes Innere sich aufbäumte bei dieser Behandlung, wie er nur mit dem Aufgebot der äußersten Willenskraft seine Selbstbeherrschung behauptete. Ohne dem Konsul zu antworten, wandte er sich zu ihr.

»Zenaide, Sie werden es begreifen, daß ich dieser Aufforderung unverzüglich nachkomme. Die Art, wie Herr von Osmar die Sache auffaßt, macht jede weitere Auseinandersetzung unmöglich.«

Er wandte sich zum Gehen, aber das junge Mädchen legte beide Hände auf seinen Arm und rief mit verzweiflungsvoller Energie: »Bleiben Sie, Reinhart, mein Vater wird diese Worte, diese Beleidigung zurücknehmen, wenn ich ihm sage, daß ich Sie liebe, daß ich nur Ihnen angehören will und keinem andern! Du hast es gehört, Papa, ich liebe Reinhart, und wenn er mich zum Weibe fordert, so folge ich ihm, wohin er mich auch führt.«

Sie sprach zu ihrem Vater, aber ihre Augen hingen dabei an dem Geliebten, doch jenes beseligte Aufflammen, das sie nach dieser Erklärung erwartete, das hätte kommen müssen, hier blieb es aus! Der beleidigte Stolz überwog bei dem jungen Manne, er zog ihre Hand an die Lippen, aber er sprach nicht, sondern blickte stumm und finster zu dem Konsul hinüber, der im ersten Augenblick ganz fassungslos war. Er sah erst jetzt den ganzen Ernst der Sache, die er sorglos genug hatte wachsen lassen, weil er sie nicht für bedrohlich hielt. Jetzt blieb freilich nur noch der Gewaltschritt übrig, den er hatte vermeiden wollen, und er zögerte nicht, ihn zu thun.

Scheinbar ruhig trat er zu seiner Tochter, löste ihre Hände und zog ihren Arm in den seinigen, aber seine Stimme hatte eine eisige schneidende Schärfe, als er sagte: »Mein Kind, du bist noch sehr jung und unerfahren, es ist nicht schwer gewesen, dich zu bethören. Zum Glück bin ich noch da und werde dich davor bewahren, die Beute des ersten besten – Glücksritters zu werden, der mit deiner Hand Reichtum und Lebensstellung zu erringen versucht!«

Die Worte erreichten nur zu gut ihren Zweck. Ehrwald zuckte zusammen, als habe ihn ein Schlag getroffen, die Glut des Zornes in seinem Antlitz wich einer Totenblässe und mit einem halb erstickten Aufschrei machte er eine Bewegung, als wollte er sich auf den Beleidiger stürzen. Erst Zenaidens Ruf »Reinhart, um Gottes willen!« brachte ihn wieder zur Besinnung. Er trat zurück, aber es lag ein erschreckender Ausdruck in seinem Gesicht, und als er endlich sprach, hörte man es seiner Stimme an, was die wenigen Worte ihn kosteten: »Mein gnädiges Fräulein, vergessen Sie, was ich vorhin gesprochen habe, wie ich Ihre Antwort vergessen werde. Ich habe keine Frage und keine Bitte mehr an Sie zu richten – leben Sie wohl!«

Er ging, Zenaide wollte ihm nacheilen, aber der Vater hielt ihren Arm fest und gab sie nicht frei.

»Was hast du gethan!« rief sie außer sich.

»Was notwendig war!« entgegnete Osmar kalt. »Wie notwendig, das sehe ich erst in diesem Augenblick. Fasse dich, Zenaide, Kind! Ich habe dir jetzt einen Jugendtraum zerstören müssen, du wirst es mir einst noch danken, daß ich es dir verwehrte, dich ins Unglück zu stürzen.«

»Danken?« brach das junge Mädchen verzweiflungsvoll aus. »Das Glück meines Lebens hast du mir genommen, ich finde es nur bei ihm! Du hast Reinhart bis auf den Tod beleidigt, das vergibt er dir nie, aber ich – ich gebe mein Vaterhaus, meinen Reichtum, gebe alles, alles hin, um seinetwillen – wenn er es fordert!«

Der Konsul stand erschreckt und bestürzt vor diesem Ausbruch einer glühenden, wilden Leidenschaftlichkeit, die plötzlich wie mit elementarer Gewalt aus dem Innern des sonst so sanften, zarten Wesens hervorblitzte. Er kannte seine Tochter gar nicht wieder.

»Zenaide, bist du von Sinnen?« rief er, mehr angstvoll als zornig. Sie antwortete nicht, aber sie riß sich los, und auf den Ruhesitz niedersinkend, brach sie in ein lautes, krampfhaftes Weinen aus.

Reinhart schritt inzwischen in stürmischer Eile durch den Garten. Er wollte nur fort von dieser Stätte und ihr auf immer den Rücken kehren. In diesem Augenblick haßte er den Konsul bis aufs Blut und hatte nicht einmal Empfindung für die mutige Hingebung, mit der Zenaide ihre Liebe verteidigt hatte – das ging alles unter in dem erlittenen Schimpf! Mit fest zusammengebissenen Zähnen und einem Gesicht, das den ganzen Aufruhr seines Innern verriet, eilte er vorwärts, als brenne ihm der Boden unter den Füßen.

Da wurde plötzlich ein Gebüsch ihm zur Seite auseinander gebogen und das Köpfchen der kleinen Elsa lugte hervor. Sie spielte Verstecken mit Hassan; als sie aber den jungen Mann gewahrte, vergaß sie das Spiel, lief auf ihn zu und fragte: »Gehst du nun doch fort?«

Reinhart blieb stehen, die Kinderstimme schien eine eigentümliche Wirkung auf ihn zu üben. Er strich langsam mit der Hand über die Stirn, aber in seiner Stimme klang die herbste Bitterkeit, als er antwortete: »Ja, ich gehe – und ich komme nie wieder!«

Die Kleine sah fragend zu ihm auf, da hob er sie plötzlich mit beiden Armen hoch empor, wie damals in jener geheimnisvollen Mittagsstunde, als die Fata Morgana vor ihnen auftauchte, und flüsterte in einem seltsam leidenschaftlichen Tone: »Und dich sehe ich auch wohl niemals wieder im Leben, kleine Elsa. Wenn du heimkommst, dann vergiß nicht den Gruß, den ich dir aufgetragen habe, den Gruß an die Heimat, hörst du? Leb wohl, du böses – du süßes kleines Ding!«

Und rasch, ehe das Kind sich noch sträuben konnte, küßte er es, setzte es dann auf den Boden nieder und stürmte davon.

 

Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages. Zenaide befand sich in ihrem Zimmer mit Lothar Sonneck, der vor einer halben Stunde gekommen war. Man sah es an ihrem bleichen, überwachten Antlitz, daß sie die Nacht durchweint hatte, und ihr ganzes Wesen verriet eine fieberhafte Erregung.

»Also auch Sie versagen uns Ihren Beistand?« fragte sie mit schmerzlichem Vorwurf. »Auf Sie hatte ich gebaut. Sie waren meine letzte, meine einzige Hoffnung, und Sie wollen uns nicht helfen?«

»Ich kann nicht, Zenaide,« entgegnete Sonneck ernst. »Ihr Vater würde es als einen Verrat an unserer Freundschaft ansehen, wollte ich heimlich begünstigen, was er offen verbietet – und mit vollem Rechte.«

»Mit vollem Rechte – wo er selbst so ungerecht, so grenzenlos hart ist?«

»Gleichviel, es ist Ihr Vater, und Sie müssen sich seinem Willen fügen, für den Augenblick wenigstens.«

»Ich will mich aber nicht fügen!« rief das junge Mädchen ungestüm. »Ich will mir nicht durch ein bloßes Machtwort mein ganzes Lebensglück zertrümmern lassen. Sie wissen ja, was geschehen ist.«

»Allerdings, und eben deshalb halte ich jedes Eingreifen für nutzlos. Hier ist nichts mehr zu vermitteln.«

»Weil Reinhart bis auf den Tod beleidigt ist? Ich weiß es, und eben deshalb muß ich ihn noch einmal sprechen. Ich muß, koste es, was es wolle, und Sie müssen uns dazu helfen. Wenn unsere Zusammenkunft in Ihrer Gegenwart, unter Ihrem Schutze geschieht, kann sie nicht mißdeutet werden.«

»Aber ich trage die volle Verantwortung dafür!« fiel Sonneck mit schwerem Nachdruck ein. »Ich wiederhole Ihnen, daß ich das nicht kann und darf. Erzwingen Sie sich von Ihrem Vater die Erlaubnis zu diesem letzten Wiedersehen, und ich bin gern bereit, es unter meinen Schutz zu nehmen, aber heimlich, hinter seinem Rücken – nein!«

»Aber wenn ich Sie bitte!« Zenaide legte wie beschwörend beide Hände auf seinen Arm. »Wenn ich Sie anflehe in Todesangst? Mein Gott, es ist ja nichts Böses, was ich will! Ich kann Reinhart nicht zumuten, das Haus wieder zu betreten, wo man ihm das angethan hat, und wenn er jetzt geht, mit dieser grenzenlosen Bitterkeit im Herzen, dann geht er für immer. Ich will ihn ja nur noch einmal sehen, ihm sagen, daß ich bei meinem Worte bleibe, trotz allem, was man versucht hat und noch versuchen wird, um uns zu trennen; daß ich sein bin im Leben und Tod! Herr Sonneck, Sie haben mich schon als Kind gekannt. Sie haben mich lieb gehabt und sind mir stets ein väterlicher Freund gewesen, können Sie mir denn wirklich diese erste, diese einzige Bitte versagen?«

Ihre Stimme bebte in angstvollem, rührendem Flehen und aus den Augen, die zu ihm aufblickten, stürzten heiße Thränen. Sonnecks Züge verrieten die mühsam unterdrückte Bewegung, aber er nahm sanft die Hände des jungen Mädchens und schloß sie in die seinigen.

»Halten Sie mich nicht für hart und grausam, Zenaide, wenn ich bei meinem Nein bleibe, ich habe einst eine bittere Lehre erhalten. So wie Sie bat damals mein Freund, der meinem Herzen am nächsten stand, und seine Braut, von der ihn der Wille des Vaters trennte, war mir lieb wie eine Schwester. Ich gab nach, ich führte die beiden heimlich zusammen – und es ist Unheil daraus geworden! Der Vater schleuderte mir den Vorwurf zu, daß ich es verschuldet hätte; ich trug ohnehin genug an meinem Selbstvorwürfen. Einmal habe ich auf solche Weise eingegriffen in fremdes Leben, zum zweitenmal geschieht es nicht wieder, die Lehre war allzu hart.«

Zenaide zog plötzlich ihre Hände aus den seinigen und, sich mit einer jähen Bewegung abwendend, trat sie an das Fenster.

»Nun gut, dann müssen wir uns allein helfen.«

»Was haben Sie vor?« fragte Sonneck unruhig.

»Nichts – da Sie uns verlassen!« entgegnete sie herb; aber ihre Züge hatten einen Ausdruck verzweiflungsvoller Entschlossenheit. Lothar trat zu ihr.

»Zenaide, unternehmen Sie nichts Gewaltsames, ich bitte Sie. Ich gehe jetzt zu Ihrem Vater und werde versuchen, es von ihm zu erreichen, daß er dies letzte Wiedersehen gestattet – vielleicht gelingt es mir.«

Zenaide antwortete nicht und schien kaum auf die tröstenden Worte zu hören, mit denen er sich verabschiedete, aber als er gegangen war, schlang sie krampfhaft die Hände ineinander, und es brach wie ein Verzweiflungsschrei aus ihrem Innern hervor: »Auch er verläßt mich! Jetzt habe ich niemand als dich, Reinhart! Rette mich – für dich!«

Herr von Osmar war gleichfalls in einer gereizten Stimmung, als Sonneck bei ihm eintrat; er sprang hastig von seinem Schreibtisch auf und ging ihm entgegen.

»Gut, daß Sie kommen,« sagte er mit einer gewissen Unsicherheit. »Wir werden uns doch wohl über den peinlichen Vorfall von gestern abend aussprechen müssen.«

»Ich komme von Zenaide,« entgegnete Sonneck mit kühler Zurückhaltung. »Sie sandte heute morgen zu mir und bat dringend um meinen Besuch, sonst wäre ich nicht gekommen.«

»Wollen Sie mir etwa Vorwürfe machen?« fragte der Konsul, dem der Ton und die zurückweisende Haltung des Freundes nicht entgingen. »Ich hätte wohl eher das Recht dazu. Sie wußten jedenfalls um die Sache, warum gaben Sie mir nicht rechtzeitig einen Wink?«

»Sollte das wirklich notwendig gewesen sein? Ich dachte, die Neigung Ihrer Tochter wäre auch Ihnen kein Geheimnis geblieben. Sie mußten gleichfalls darum wissen.«

»Nun ja, aber ich habe das nicht für ernst, nicht für bedrohlich gehalten, und um Ihretwillen, Sonneck, wollte ich keinen Schritt thun, der Sie verletzen konnte. Nun ist mir doch nichts weiter übrig geblieben, nachdem Ihr Schützling sich so weit vergessen hat.«

»Vergessen? Daß ich nicht wüßte!«

Osmar sah ihn befremdet an.

»Ich denke, Sie sind unterrichtet über die Sache. Ehrwald hat eine förmliche Werbung versucht.«

»Allerdings – nun?«

»Sie scheinen das ganz in Ordnung zu finden,« rief der Konsul verletzt. »Ich muß gestehen, ich war nicht gefaßt auf eine derartige Keckheit des jungen Mannes, dessen einziges Verdienst es ist, Ihr Schützling zu sein. Mit welchem Rechte wagt er es, um meine Tochter zu werben?«

»Mit dem Rechte der Zukunft, die er sich jetzt erobern soll und auch, wenn er am Leben bleibt, erobern wird, dafür bürge ich Ihnen.«

Der ernste Nachdruck, mit dem die Worte gesprochen wurden, machte sichtlich Eindruck auf Herrn von Osmar, aber er zuckte die Achseln.

»Ein Wechsel auf die Zukunft ist immer etwas Ungewisses, im besten Falle wird er erst nach Jahren eingelöst. Ich würde meiner Tochter nie gestatten, sich durch ein übereiltes Versprechen zu binden und ihre ganze Jugend zu opfern; selbst wenn es sich um einen Bewerber aus unsern Kreisen handelte, und nun vollends hier. Wer und was ist denn dieser Ehrwald? Seine Herkunft und seine Vergangenheit sind dunkel. Sie selbst wissen nichts Näheres darüber. Sie brauchen auch nicht danach zu fragen, wenn Sie einen Gefährten für Ihren Zug wählen, wo es nur Kraft und Verwegenheit gilt, aber ich habe denn doch andere Rücksichten zu nehmen bei der Wahl meines Schwiegersohns.«

Sonneck schwieg, er mußte diesen Standpunkt gelten lassen, und was er von Reinharts Vergangenheit wußte, ermöglichte ihm nicht, den Konsul zu entwaffnen. Endlich sagte er: »Ich bestreite Ihnen sicher nicht das Recht, die Hand Ihrer Tochter zu versagen, aber die Form, in der das hier geschah, war mehr als rücksichtslos. Man weist einen Freier ab, aber man beschimpft ihn nicht.«

»Ich wollte der Sache ein für allemal ein Ende machen,« erklärte der Konsul, der denn doch die Gerechtigkeit dieses Vorwurfs empfand. »Hätte ich geahnt, daß es je so weit kommen würde, ich hätte längst gehandelt und uns allen diese peinliche Katastrophe erspart. Also Zenaide hat Sie gerufen? Sie rechnet auf Ihren Einfluß bei mir und hat um Ihre Vermittelung gebeten?«

»Nein, aber Sie bat mich, ihr eine geheime Zusammenkunft mit Reinhart möglich zu machen.«

»Das hat sie gewagt?« fuhr Osmar erschreckt und entrüstet auf.

»Sie hat mich darum angefleht mit einer wahren Todesangst. Ich habe es selbstverständlich verweigert, aber versprochen, mich bei Ihnen zu verwenden, ob Sie nicht doch ein Wiedersehen in meiner Gegenwart –«

»Um keinen Preis!« fiel ihm der Konsul heftig ins Wort. »Soll diese unselige Neigung etwa neue Nahrung erhalten? Sonneck, ich baue auf Ihre Freundschaft, es handelt sich nur noch um einen einzigen Tag, da Sie morgen aufbrechen! Sorgen Sie dafür, daß Ehrwald nichts Unsinniges unternimmt.«

»Er unternimmt nichts, darauf gebe ich Ihnen mein Wort,« erklärte Sonneck mit scharfer Betonung. »Sie unterschätzen den jungen Mann, Osmar! Wenn er das wäre, wofür Sie ihn halten, hätte er sich schon damals in Kairo Zenaidens Wort gesichert, er brauchte nur zu sprechen, und, ich sage es Ihnen offen heraus, wenn er jetzt noch will, so erklärt sie sich offen zu seiner Braut, Ihnen und der ganzen Welt zum Trotz. – Beruhigen Sie sich, er will nicht mehr, und nach dem, was gestern geschehen ist, kann ich ihm nur recht geben.«

»Sie meinen also, ich verdanke es nur der Großmut des Herrn Ehrwald, wenn ich meine Tochter überhaupt behalte,« sagte Osmar gereizt. »Freilich, sie ist ja förmlich im Banne dieses Mannes, aber der Bann wird brechen, sobald er fort ist, und dann habe ich ein Mittel in Bereitschaft, diese Kinderei in Vergessenheit zu bringen.«

»Sie meinen die Bewerbung Marwoods. Haben Sie ihm bestimmte Hoffnungen gemacht?«

»Er hat mein Wort, unter dem Vorbehalt von Zenaidens Einwilligung.«

»Osmar – drängen Sie Ihre Tochter nicht zu dieser Verbindung,« sagte Sonneck langsam. »Es wird ein Unglück daraus!«

»Warum? Marwood ist ein Ehrenmann.«

»Daran zweifle ich nicht, aber er und Zenaide sind Gegensätze, die sich niemals ausgleichen werden. Sie wird unglücklich, muß es werden an der Seite dieses eisigen, hochmütigen Mannes, der für eine Natur wie die ihrige gar kein Verständnis hat, der ihr höchstens eine kühle, matte Alltagsneigung gewährt.«

»Die aber für das Leben auszuhalten pflegt, wo die sogenannte romantische Liebe wie ein Strohfeuer verpufft,« fiel der Konsul mit voller Schärfe ein. »Zenaide ist dafür geschaffen, eine glänzende Rolle im Leben zu spielen, und ich will mein Kind an dem Platze sehen, der ihm gebührt. Marwoods Name, Vermögen und Familienbeziehungen genügen meinen Ansprüchen, seine Gemahlin wird eine der ersten in der Gesellschaft sein, und er hat mir versprochen, alljährlich einige Monate mit ihr in Kairo zuzubringen. Da kann und wird sie wohl den Jugendtraum verschmerzen.«

»Wahrscheinlich! Aber sie wird noch etwas anderes vom Leben fordern als Glanz und Reichtum, die ihr ja nichts Neues sind – das Glück! Zenaide ist nicht das sanfte, träumerische Wesen, als welches sie sich Ihnen und uns allen zeigt. Tief in ihrem Innern schlummert eine leidenschaftliche Glut, die gefährlich werden kann, und in den Fesseln einer unglücklichen Ehe wird sie verderblich. Ich bitte Sie noch einmal, erzwingen Sie dies Jawort nicht. Sie könnten es bereuen!«

»Ich denke selbstverständlich nicht daran, meine Tochter zu zwingen,« erklärte Osmar. »Aber ich bin überzeugt, sie wird vernünftigen Vorstellungen nachgeben, sobald der erste Schmerz der Trennung vorüber ist. Ich kenne auch diese verborgene Leidenschaftlichkeit in ihrem Charakter, ich habe erst gestern abend eine Probe davon erhalten, und gerade deshalb halte ich es für notwendig, sie beizeiten in ruhige und feste Bahnen zu lenken. Wer von uns hat nicht einen Jugendtraum begraben und sich mit dem Leben abfinden müssen, wie es nun einmal ist! Ich kann mein Kind auch nicht davor bewahren, ich habe ja nur sein Glück im Auge.«

Er sprach ruhig, aber mit einer Entschiedenheit, die hinreichend zeigte, daß er entschlossen war, nicht nachzugeben, und daß die Macht der sonst vergötterten Tochter hier ein Ende gefunden hatte. Jetzt fuhr er mit der alten Herzlichkeit fort: »Und nun wollen wir uns die Abschiedsstunde nicht auch noch verbittern mit dieser unseligen Geschichte. Was auch geschehen sein mag, wir bleiben ja doch die alten Freunde.«

Er streckte Sonneck die Hand hin und dieser legte die seinige hinein, aber er murmelte dabei mit einem halbunterdrückten Seufzer: »Arme Zenaide!«

 

Während im Osmarschen Hause ein tiefer Zwiespalt zwischen Vater und Tochter ausgebrochen war, herrschte auch im Hotel, wo die deutschen Herren abgestiegen waren, seit zwei Tagen erbitterte Fehde.

Fräulein Ulrike Mallner hatte sich von ihrer anfänglichen Betäubung bei jener Ueberraschung in Karnak schnell genug erholt und that nun das möglichste, um dem Brautpaar das Leben schwer zu machen. Unmittelbar nach der Rückkehr von dem Ausfluge, sobald die beiden Schwägerinnen allein waren, hatte es natürlich einen Sturm gegeben, das heißt, Ulrike stürmte und bot alles auf, die Witwe ihres Bruders zu überzeugen, daß ihre Wiedervermählung nicht viel weniger als ein Verbrechen sei. Selma ihrerseits weinte tapfer drauf los, ließ sich aber durchaus nicht zu dem erhofften Widerruf bewegen und flüchtete unmittelbar nach jener Scene in den Schutz ihres Bräutigams, der der feindlichen Dame denn auch in nachdrücklichster Weise klar machte, daß ihre Macht zu Ende sei. Das wußte Ulrike freilich selbst, aber sie baute auf die Unselbständigkeit ihrer Schwägerin, auf die Macht der langen Gewohnheit. In diesem Falle vergebens! Die junge Frau, die zum erstenmal in ihrem Leben Glück und Liebe kennen lernte, war doch nicht so schwach, sich beides wieder rauben zu lassen, nachdem sie es kaum gewonnen hatte, und blieb fest. Sie wußte zu gut, welch ein Leben ihrer wartete, wenn sie in die alte Sklaverei von Martinsfelde zurückkehrte.

In den Morgenstunden dieses sonnigen Weihnachtstages saß der glückliche Bräutigam auf der Terrasse des Hotels und neben ihm Herr Ellrich, der gleichfalls sehr vergnügt und zufrieden aussah. Er hatte auch alle Ursache, mit seinem Kurswechsel zufrieden zu sein, und brauchte sich nicht mehr über schlechte Behandlung zu beklagen. Der Doktor behandelte ihn sehr gut und nahm ihn bei jeder Gelegenheit in Schutz gegen Fräulein Mallner, die große Lust zeigte, sich an dem Ueberläufer zu rächen.

»Selma kommt noch immer nicht!« sagte Bertram mit einem ungeduldigen Blick nach den Fenstern hinauf. »Wahrscheinlich wird ihr wieder eine Predigt gehalten. Wenn sie in fünf Minuten nicht hier ist, gehe ich hinauf und hole sie!«

»Ja, Fräulein Mallner intrigiert noch immer gegen die Verlobung, die sie nicht hindern konnte,« bemerkte Herr Ellrich. Der Doktor lachte.

»Nun, ich meinesteils würde ihr dies Vergnügen gönnen, helfen thut es ihr nichts. Aber meine Braut wird in unverantwortlicher Weise damit gequält, und das leide ich nicht länger. Ich werde der Sache ein Ende machen.«

»Wie wollen Sie denn das anfangen?« fragte neugierig der kleine Herr.

»Ganz einfach, wir reisen ab.«

»Mit Fräulein Mallner?«

»Bewahre, wir packen sie auf einen Dampfer und schicken sie direkt nach Martinsfelde, dann haben wir Ruhe vor ihr.«

Herr Ellrich sah mit Bewunderung auf den Mann, der sich ein solches Heldenstück nicht bloß vornahm, sondern zweifellos auch ausführen würde, doch er schüttelte bedenklich den Kopf.

»Aber es geht doch nicht. Sie können doch unmöglich –«

»Es geht alles, wenn man nur ernstlich will!« unterbrach ihn der junge Arzt. »Aber die fünf Minuten sind jetzt um, nun hole ich meine Braut.«

Die Ausführung dieses Entschlusses blieb ihm erspart, denn in diesem Augenblick erschien Selma in Begleitung ihrer Schwägerin. Das Gesicht der letzteren zeigte wieder die Gewitterstimmung, in der sie sich jetzt immer befand, sie nahm kaum Notiz von Herrn Ellrich, der sich nur einen scheuen Gruß aus gemessener Entfernung erlaubte, und schritt geradeswegs auf den Doktor zu, aber dieser eilte an ihr vorüber seiner Braut entgegen.

»Guten Morgen, mein Lieb! Und ein frohes, glückliches Weihnachtsfest!« sagte er zärtlich, indem er sie umfaßte und küßte. Die junge Frau nahm das mit tiefem Erröten und glücklicher Verwirrung hin; Ulrike aber hob ihre Nasenspitze hoch in die Luft und rief entrüstet: »Herr Doktor – das ist unschicklich!«

»Was ist unschicklich?« fragte er ruhig.

»Daß Sie Selma hier im offenen Garten und vor Zeugen küssen.«

»Ja, in Martinsfelde würde sich das allerdings nicht schicken,« versetzte Bertram mit unerschütterlichem Ernst. »Aber wir sind hier am Nil, und bei den alten Aegyptern war es Sitte, daß ein Bräutigam nach öffentlich proklamierter Verlobung seine Braut auch öffentlich küßte. Wir fügen uns nur der Landessitte.«

Fräulein Mallner hielt es unter ihrer Würde, eine Antwort zu geben, sie spannte nur ihren großen Sonnenschirm mit einem so heftigen Ruck auf, daß es krachte.

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen,« begann sie. »Selma weiß bereits, um was es sich handelt.«

»Ja, lieber Adolf, Ulrike möchte dir einen Vorschlag machen,« sagte die junge Frau, aber sie sah dabei so ängstlich aus, als fürchtete sie diesen Vorschlag. Der Doktor verbeugte sich.

»Ich stehe ganz zur Verfügung; Sie wissen ja, es macht mir stets außerordentliches Vergnügen, Ihren Wünschen nachzukommen.«

»Ich will nicht stören,« sagte Herr Ellrich, indem er Miene machte, sich zu entfernen: Ulrike dagegen befahl in ihrem gewohnten Tone: »Du gehst mit, Selma, ich will den Doktor allein sprechen.«

»Bitte, meine Braut steht nicht unter militärischem Kommando,« sagte Bertram sehr ruhig, aber sehr bestimmt. »Wenn du zu bleiben wünschest, liebe Selma –«

»Nein, nein, es ist mir lieber, wenn du die Sache allein mit Ulrike besprichst,« fiel die junge Frau hastig ein. »Ich plaudere inzwischen mit Herrn Ellrich.«

»Das ist etwas anderes. Herr Ellrich, ich übergebe meinen Schatz feierlichst Ihrer Obhut. Hüten Sie ihn gut, ich rate es Ihnen!«

Er trat wie im Scherze an den kleinen Herrn heran und fuhr dabei leise fort: »Das wird wieder eine hübsche Katzbalgerei werden! Bitte, halten Sie Selma möglichst fern, sie ängstigt sich immer so dabei.«

Ellrich nickte. Er hatte gegen diese Art der Bewachung gar nichts einzuwenden und empfand eine geheime Schadenfreude darüber, daß seine Tyrannin nun endlich auch ihren Meister gefunden hatte. Er schlug der jungen Frau vor, nach dem Dampfer auszuschauen, der heute von Kairo kommen sollte, und führte sie plaudernd nach dem Garten hinunter.

Drüben nahm inzwischen die »Katzbalgerei«, wie Bertram es in seiner drastischen Weise nannte, ihren Anfang. Fräulein Mallner hatte volle zwei Tage gebraucht, um einzusehen, daß sie die Wiedervermählung ihrer Schwägerin in der That nicht hindern konnte. Für sie war es schon eine unglaubliche Selbstüberwindung, daß sie das als Thatsache anerkannte und sich bequemte, damit zu rechnen. Ihre Einleitung klang denn auch demgemäß.

»Sie bestehen also noch immer auf dieser Verlobung, wie es scheint?« begann sie im Tone eines Richters, der den Angeklagten zum Geständnisse veranlassen will.

»Ja, es scheint in der That so,« bestätigte der Doktor, indem er ihr verbindlich einen Stuhl hinschob, auf dem sie denn auch Platz nahm.

»So werden wir wohl das Nötige besprechen müssen. Es gibt da noch vielerlei Bedenken.«

»Gar keine Bedenken gibt es, mein verehrtes Fräulein. Ich heirate Selma, und zwar so bald als möglich, das ist die einfachste Sache von der Welt.«

»Wollen Sie vielleicht als Schiffsarzt heiraten?« fragte Ulrike höhnisch.

»Warum denn nicht? Wenn in der kleinsten Hütte Raum für ein glückliches Paar ist, warum nicht auch in einer Schiffskabine? Ich kann mir eigentlich gar nichts Idealeres denken! Es ist eine Hochzeitsreise in Permanenz, um die Wirtschaft brauchen wir uns nicht zu kümmern und können ganz unserem Glücke leben.«

»Was?« rief die Dame, indem sie entrüstet vom Stuhle aufsprang. »In einer Schiffskabine wollen Sie wohnen und mit Ihrer Frau fortwährend zwischen zwei Weltteilen hin und her fahren? Wenn das Ihr Ernst ist –«

»Beruhigen Sie sich, es ist nicht mein Ernst,« unterbrach sie Bertram lachend. »Dergleichen möchte ich meiner Frau denn doch nicht zumuten. Ich werde natürlich meinen Abschied nehmen und mir irgendwo in Deutschland eine Praxis gründen. Wir werden uns für den Anfang freilich einrichten müssen, denn ich habe kein Vermögen und bin ganz auf meinen Beruf angewiesen, aber Selma ist eine anspruchslose Natur und wird sich auch in bescheidenen Verhältnissen glücklich fühlen.«

Das Fräulein sah ihn einige Sekunden lang ganz verblüfft an, brach dann aber mit gewohnter Rücksichtslosigkeit los: »Stellen Sie sich doch nicht so an! Sie müssen es ja doch längst wissen, daß Selma Vermögen hat.«

»Nein, das weiß ich nicht,« erklärte der junge Arzt. »Ich habe bei unserer Verlobung wirklich vergessen, mich danach zu erkundigen, aber ein Hindernis ist das in meinen Augen nicht. Fürchten Sie nichts, die Partie geht deshalb nicht zurück. Ich bin entschlossen, Selma trotzdem zu nehmen.«

»Ich bitte mir aus, daß Sie ernsthaft sind!« rief Ulrike scharf. »Wir haben von ernsten Dingen zu sprechen, und da brauchen Sie nicht so empörend vergnügt auszusehen.«

»Warum denn nicht, ich bin ja Bräutigam!« sagte der Doktor mit einem so seelenvergnügten Gesicht, daß seine Gegnerin hätte aus der Haut fahren mögen.

»Es handelt sich um die Vermögensangelegenheit,« betonte sie. »Selma versteht nicht das mindeste von solchen Dingen, also muß ich mich mit Ihnen auseinandersetzen.«

»Gut, setzen wir uns auseinander. Die Sache ist hoffentlich nicht verwickelter Natur.«

Ulrike hatte sich wieder niedergesetzt und sah ihn mit einem vernichtenden Blick an.

»Nein, leider ist sie das nicht, denn mein seliger Bruder hat es natürlich nicht für möglich gehalten, daß seine Witwe sich wieder verheiraten könnte, sonst hätte er Maßregeln dagegen ergriffen.«

»In welcher Weise?« fragte Bertram mit unzerstörbarer Ruhe. »Unsere Gesetze gestatten unbedenklich die Wiedervermählung.«

»Das weiß ich, das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen!« grollte das Fräulein. »Aber mein Bruder würde in solchem Falle testiert und seine Frau von der Erbschaft ausgeschlossen haben. Jetzt ist er ohne Testament gestorben und das Vermögen fiel zu gleichen Teilen an uns beide. Die Verwaltung habe ich natürlich allein geführt, und ich sage es Ihnen ein für allemal, Martinsfelde behalte ich, die Wirtschaft lasse ich mir nicht nehmen.«

»Ganz einverstanden! Ich wüßte wirklich nicht, was ich als Arzt mit Martinsfelde anfangen sollte, und Selma hat gar keine Neigung für die Landwirtschaft.«

»Nein, sie hat in ihrer Zimperlichkeit und Schwächlichkeit nie dafür getaugt,« sagte Ulrike verächtlich, aber etwas besänftigt durch die Antwort, die so ganz mit ihren Wünschen übereinstimmte. »Und nun zu meinem Vorschlag! Sie wollen sich eine Praxis gründen – kommen Sie nach Martinsfelde!«

»Ich – nach Martinsfelde?« wiederholte Bertram, der so erstaunt war, daß er nicht wußte, was er sagen sollte.

»Ja, wir brauchen dringend einen Arzt in der Umgegend. Die nächste Stadt ist zwei Stunden entfernt und der alte Doktor, der dort seinen Sitz hat, kann die Landpraxis nicht mehr bewältigen. Sie könnten in Martinsfelde wohnen –«

»Und alles bliebe beim alten! Das würde allerdings ein liebevolles Zusammenleben werden, die reine Idylle. Ich bin tief gerührt von Ihrer Anhänglichkeit an meine Braut, die so groß ist, daß Sie sogar mich in Kauf nehmen wollen, und Selma wird gleichfalls gerührt sein, aber – wir danken ergebenst.«

»Sie wollen nicht?« rief das Fräulein und stampfte mit ihrem Sonnenschirm auf den Boden.

»Unter Ihrem Scepter leben? Nein, mein verehrtes Fräulein. Ich ziehe es denn doch vor, das Kommando in meinem Hause selbst zu führen.«

Ulrike sprang auf. Sie sah den letzten Versuch scheitern, die Oberherrschaft über ihre Schwägerin zu behaupten; mit diesem Menschen war nichts anzufangen!

»So sind wir fertig!« sagte sie kurz. »Die Abrechnung über Selmas Vermögen und meine Verwaltung werden Sie erhalten, aber ich habe unter diesen Umständen keine Lust, hier zu bleiben und die Wirtschaft daheim drunter und drüber gehen zu lassen. Wenn Selma gesund genug ist, sich zu verloben und zu heiraten, dann wird sie wohl auch unser Klima aushalten können. Ich bleibe nicht noch monatelang in diesem elenden Wüstenlande.«

»Dazu liegt auch gar keine Veranlassung vor,« versicherte der Doktor mit dem liebenswürdigsten Lächeln, »denn wir reisen mit dem nächsten Dampfer ab.«

Fräulein Ulrike, die schon im Begriff war, zu gehen, blieb plötzlich wie an den Boden gewurzelt stehen.

»Wer reist ab?«

»Meine Braut und ich. Selma ist allerdings so gut wie genesen, ich halte es aber für unbedingt notwendig, daß sie den ganzen Winter in Aegypten bleibt, damit ihre Gesundheit sich vollständig befestigt. Ich geleite sie nach Kairo zu meinem Kollegen Walter, dessen liebenswürdige Frau sich erboten hat, meine Braut in ihr Haus zu nehmen bis zum Frühjahr, wo ich sie abhole, und dann heiraten wir ohne Zögern.«

Es war ein bitterer Augenblick für die bisher so unumschränkt regierende Dame, als ihr auf diese Weise ihre vollständige Ueberflüssigkeit klargemacht wurde. Sie hatte geglaubt, einen letzten, entscheidenden Trumpf auszuspielen, als sie mit ihrer Abreise drohte, und mußte es nun erleben, daß man von ihrem Bleiben oder Gehen überhaupt gar keine Notiz nahm.

»Nach Kairo? Zum Doktor Walter?« wiederholte sie. »Woher wissen Sie denn, ob er und seine Frau einverstanden sind? Ihr Brief kann ja noch nicht einmal abgegangen sein.«

»Das ist auch nicht nötig,« war die ruhige Antwort. »Ich schicke nur ein Telegramm voraus mit der Nachricht unserer Ankunft. Alles übrige wurde schon vorher abgemacht.«

»Vorher – was soll das heißen? Vielleicht ehe Sie –«

»Ehe ich nach Luksor kam – ganz recht! Ich kam ja mit der ausgesprochenen Absicht, Selmas Hand zu erringen, und glaubte auf Gegenliebe hoffen zu dürfen. Da habe ich beizeiten vorgesorgt.«

Ulrike rang nach Atem. Das war zu viel. »Das ist ja unerhört!« brach sie los. »Das ist – Sie sind ja ein – ein –«

»O bitte, machen Sie mir keine Komplimente, ich verdiene sie wirklich nicht,« lehnte der Doktor bescheiden ab. »Sie sehen, es liegt gar kein Grund vor, daß Sie sich noch länger Ihrem Martinsfelde entziehen, reisen Sie in Gottes Namen. Und nun gestatten Sie wohl, daß ich meine Braut aufsuche und ihr mitteile, daß wir alles freundschaftlich geordnet haben.«

Damit verneigte er sich und ging, wahrend Fräulein Ulrike Mallner wie erstarrt stehen blieb.

Als der junge Arzt seine Braut antraf, fand er sie im Gespräch mit Herrn Ellrich und Ehrwald, der sich zu ihnen gesellt hatte. Der letztere gab sich offenbar Mühe, heiter zu erscheinen, aber auf seiner Stirn ruhte eine Wolke und sein Uebermut hatte heute etwas Erzwungenes. Selma dagegen blickte ihrem Bräutigam mit einer gewissen Unruhe entgegen.

»Hast du mit Ulrike gesprochen?« fragte sie schüchtern. Der Doktor lächelte und zog ihren Arm in den seinigen.

»Jawohl. Denken Sie sich, meine Herren, Fräulein Mallner machte mir die liebenswürdige Zumutung, mit meiner Frau künftig in Martinsfelde zu wohnen und uns dort gemeinschaftlich mit ihr des Daseins zu erfreuen. Was sagen Sie dazu?«

»Gott bewahre Sie in Gnaden davor!« rief Herr Ellrich, mit einem solchen Ausdruck des Entsetzens, daß die beiden anderen Herren in lautes Lachen ausbrachen.

»Ich habe gerührt und dankend abgelehnt,« fuhr Bertram fort, »und dabei zugleich von unserer bevorstehenden Abreise Mitteilung gemacht. Es bleibt also dabei, wir gehen in drei Tagen nach Kairo. Aber wo bleibt der Dampfer, ist er noch nicht in Sicht?«

»Nein, noch immer nicht,« sagte Reinhart ungeduldig. »Er hätte schon in den Morgenstunden hier sein müssen, und gerade heute, wo er unsere Leute bringen soll, verspätet er sich – Verzögerungen bis zum letzten Augenblick!«

»Können Sie es denn gar nicht erwarten, der schnöden Kultur den Rücken zu kehren und sich da draußen in der Wildnis mit Löwen und Tigern herumzuschlagen?« fragte der Doktor lachend. »Wir haben gar nichts dagegen, wieder in die Kultur zurückzukehren, nicht wahr, Selma?«

In diesem Augenblick erschien eine alte Negerin, die jemand zu suchen schien. Sie hatte Ehrwald kaum erblickt, als sie sich ihm in unterwürfiger Haltung näherte; er sah sie etwas überrascht an.

»Was willst du, Fatme?« fragte er auf arabisch.

Fatme antwortete in derselben Sprache und zog einen Brief aus ihrem Gewande hervor, den sie dem jungen Mann übergab. Er trat rasch mit ihr seitwärts, öffnete das Schreiben und durchflog es. Die Antwort darauf schien mündlich erteilt zu werden, denn nach einem kurzen leisen Gespräche verabschiedete sich Fatme mit dem üblichen orientalischen Gruß und Reinhart kehrte zu den anderen zurück.

»Was sind denn das für geheimnisvolle Botschaften?« neckte der Doktor. »Ehrwald, Ehrwald! Ich fürchte wirklich, mein Beispiel wirkt ansteckend.« Reinhart lachte, aber es lag eine gewisse Gereiztheit in seinem Ton, als er antwortete: »Warum nicht gar! Dazu wäre auch gerade jetzt Zeit, da wir morgen aufbrechen. Es war eine Nachricht für Herrn Sonneck, ich habe einstweilen in seinem Namen die Antwort gegeben.«

»Da kommt der Dampfer!« sagte Ellrich und richtete sein Fernglas auf das Schiff, das jetzt in der That sichtbar wurde.

»Endlich!« rief Reinhart, »und da kommt auch Herr Sonneck!«

Er eilte nach der Terrasse, zu Sonneck, der eben aus dem Osmarschen Hause zurückgekommen war. Wenige Worte genügten zur Verständigung, und die beiden Herren schritten nach dem Nil hinunter, um das Schiff zu erwarten, das langsam und ruhig heranzog.

 

Es war Abend geworden und das Leben und Treiben, mit dem die fremden Gäste aus allen Weltgegenden Luksor zu erfüllen pflegen, war allmählich verstummt. Die Hotels lagen still da, mit geschlossenen Thoren, und auch in der nahen Araberstadt regte sich nichts mehr zu dieser späten Stunde. Durch den schlummernden Ort schritt eine hohe dunkle Gestalt, mit raschem festen Tritt, und schlug den Weg nach den Tempelruinen von Luksor ein, die kaum eine Viertelstunde entfernt lagen. Jetzt trat sie aus dem Schatten einer Mauer hervor in das helle Mondlicht und man sah die Züge Reinhart Ehrwalds.

An dem hohen Uferrande des Nils blieb er wie unwillkürlich stehen, gefesselt von dem Anblick, der sich ihm bot. Der Abend war schon weit vorgerückt, jetzt nahte auf leisen Schwingen die Nacht, eine Vollmondnacht, voll Licht und Glanz. Ringsum war es taghell, die Palmen, die sich hier am Ufer erhoben, wurden voll getroffen von dem weißen Lichte, jedes Blatt der mächtigen Kronen hob sich deutlich ab. Es war dieselbe Stelle, wo Reinhart damals in jener glühenden Mittagsstunde das geheimnisvolle Luftgebild geschaut hatte, wo die alte Wüstensage vor seinen Augen lebendig geworden war. Damals lag die weite Landschaft vor ihm sonnentrunken, im heißen blendenden Tageslicht; jetzt ruhte sie halb verschleiert im bleichen Scheine des Nachtgestirns, in dem alle Formen und Farben sich zu lösen und zu zerfließen schienen. Der Nil war nur eine leise wogende und wallende Silberflut, die gelben kahlen Höhen dort drüben gewannen einen seltsamen, beinahe rosigen Schimmer, und über die Wüste, wo damals die Fata Morgana erschienen war, spannen die Mondstrahlen einen silberduftigen Nebel, der die ganze Ferne erfüllte mit einer bläulich schimmernden Lichtflut.

Reinharts Auge hing unverwandt an jenem Punkte. Morgen! Da sollte sich ja endlich der Schleier heben, da sollte die Ferne sich vor ihm öffnen, mit ihren Wundern und ihrem Drohen, die Märchenwelt aus »Tausend und eine Nacht«. Und doch zog in diesem Augenblick durch die Seele des jungen Mannes wie ein Traum die Erinnerung an die ferne nordische Heimat, die jetzt in Eis und Schnee vergraben lag, wo die Glockenklänge durch Berg und Thal zogen und aus dem dunklen tiefverschneiten Walde der Weihnachtszauber auftauchte. Sie gehörten wohl auch in diese Erinnerung, die leuchtenden blauen Kinderaugen, die damals so verwundert und entzückt auf das ferne Wüstenbild geschaut hatten, denn Reinhart sah sie jetzt so deutlich vor sich, als sei das Kind wirklich an seiner Seite.

Auf einmal aber fuhr er auf und besann sich. Welche Thorheit, hier die Zeit zu verträumen, er wurde ja erwartet und sollte einem Rufe folgen, der an ihn ergangen war! Noch einen Blick warf er auf die mondbeglänzte Landschaft, dann wandte er sich ab und schritt rasch weiter.

Auch die Ruinen des Tempels lagen in tiefster Einsamkeit und der Schritt des Wanderers war kaum hörbar auf dem weichen Sande des Bodens. Er war ja nicht zum erstenmal hier, er kannte den Ort und hatte ihn in den letzten Wochen oft betreten, im hellen Sonnenschein, in Gesellschaft Sonnecks und des Professors Leutold. Aber der stürmische Ehrwald mit seinem glühenden Lebensdrang hatte kein rechtes Verständnis gehabt für die tote Pracht einer längst vergangenen Zeit, sie war ihm fremd geblieben.

Reinhart betrat jetzt den weiten Vorhof, der ganz erfüllt war vom Mondenglanz, und sein Blick flog suchend umher. Noch zeigte sich niemand, er war allein und schritt nun langsam weiter nach der andern Seite, wo er sich in dem Schatten einer Säule barg und zugleich den Eingang des Tempels im Auge behielt. Eine Minute nach der andern verrann, es wurde eine Viertelstunde daraus und der Fuß des jungen Mannes schlug leise und ungeduldig auf den Boden, aber diese Ungeduld hatte nichts von der sehnenden, hoffenden Erwartung eines Liebenden. Die Wolke von heute morgen ruhte noch immer auf seiner Stirn und es sah nicht aus, als ob er freudig jenem Rufe gefolgt sei.

Da endlich wurde zwischen den Säulen des Eingangs eine Frauengestalt sichtbar, sie war ganz eingehüllt in einen orientalischen Burnus von weißem Kaschmir und hatte die Kapuze tief über den Kopf gezogen. Mit flüchtigen Schritten kam sie näher. Reinhart eilte ihr entgegen und in der nächsten Minute schmiegte sich die zarte bebende Gestalt an ihn, als wollte sie Schutz bei ihm suchen. Zenaide, was haben Sie gewagt!« sagte er leise.

Zenaide mochte wohl einen andern Empfang erwartet haben, betroffen, fast bestürzt blickte sie zu ihm auf. Das klang ja wie ein Vorwurf!

»Hat man uns denn eine Wahl gelassen?« fragte sie, noch atemlos vom raschen Gange. »Ich habe Sonneck gebeten, angefleht, uns dies Wiedersehen unter seinem Schutze zu gewähren! Er verweigerte es mir, er wollte nicht einmal die Botschaft an Sie übernehmen, und ich wußte doch, daß Sie darauf warteten und harrten –«

»Nein,« unterbrach sie Reinhart düster. »Ich habe nichts mehr erwartet nach dem, was gestern abend geschehen ist.«

»Nichts mehr? So wären Sie gegangen, ohne mir lebewohl zu sagen, ohne mich auch nur zu sehen? Reinhart, das ist unmöglich!«

»Rechten Sie mit denen, die es mir unmöglich gemacht haben,« sagte er herb. »Oder glaubten Sie, ich würde das Haus wieder betreten, aus dem man mich so fortgewiesen?«

»Nein, nein, das mutete ich Ihnen nicht zu!« fiel sie heftig ein, »aber ich hoffte, durch Sonneck Nachricht zu erhalten. Er hatte keinen Auftrag, nicht ein Wort brachte er mir von Ihnen. Ich harrte vergebens bis zum Mittag, da griff ich zum letzten Mittel und sandte Ihnen Fatme mit dem Briefe. Ich wußte es, Sie würden dem Rufe folgen.«

»Ihrem Rufe – gewiß! Aber Sie hätten nicht diesen Ort und diese Stunde wählen sollen. Wir sind hier nicht sicher vor Ueberraschungen. Wie oft werden die Ruinen im Mondschein von Fremden aufgesucht. Wenn Sie gesehen würden!«

»Daran habe ich nicht gedacht, als ich hierher kam,« sagte Zenaide mit einem Vorwurf, den sie nicht zu unterdrücken vermochte; aber Reinhart schien ihn nicht verstehen zu wollen, denn er entgegnete ernst: »So muß ich es thun – um Ihretwillen! Hier können wir nicht bleiben, es ist taghell und jeder zufällig Eintretende erblickt Sie sofort. Kommen Sie, Zenaide!«

Er führte sie nach dem Säulengange, der im tiefen Schatten lag, Zenaide folgte, aber es legte sich wie ein Eiseshauch auf ihre heißen Empfindungen. Sie hatte so viel gewagt, hatte in Todesangst geharrt auf den Augenblick, wo es ihr möglich wurde, unbemerkt das Haus zu verlassen. Wie gejagt war sie hierher geeilt, in der Erwartung, der Geliebte werde ihr entgegenstürzen, sie stürmisch an seine Brust schließen und ihr überschwenglich danken für diesen Beweis ihrer Liebe, und nun? Er hatte wohl den Arm um sie gelegt, aber nur, um sie zu schützen, und war nur ängstlich bestrebt, sie vor unberufenen Augen zu verbergen, ein Wort der Zärtlichkeit hatte er nicht für sie!

Seltsam, Zenaide empfand diese Sorge für ihren Ruf, diese Rücksicht des Mannes, der sonst keine Rücksichten kannte, fast als eine Beleidigung. Wie konnte er in diesem Augenblick überhaupt an etwas anderes denken als an das Wiedersehen! Sie fragte nichts nach der ganzen Welt, was brauchte er danach zu fragen! Und er bediente sich noch immer des fremden, kalten »Sie« und zwang sie damit zu der gleichen Anrede. Sie hatte ja doch gestern, in jenem seligen Augenblick, wo sie in seinen Armen ruhte, das erste Du aus seinem Munde gehört.

Keines von den beiden sprach, während er sie tiefer hineinführte in die Ruinen, und je weiter sie schritten, desto weiter schien die Welt da draußen zurückzuweichen und zu versinken, und eine andere Welt voll von Wundern und Geheimnissen that sich vor ihnen auf. Wohl herrschte Oede und Verfall in diesen Hallen, Säulengängen und Tempelgemächern, die sich endlos ausdehnten. Halbversunkene Mauern, zerstörte Altäre, umgestürzte Säulen gaben Zeugnis davon, daß auch dieser Bau nicht für die Ewigkeit geschaffen war, aber was der helle Sonnenschein dem Auge unbarmherzig enthüllte, das verschleierte und verklärte das Mondlicht. In seinem Scheine ragten all diese Hallen und Säulen so mächtig auf, wuchsen so riesengroß empor, als hätten nicht Menschen-, sondern Geisterhände sie gefügt. Jahrtausende waren vorübergezogen, und sie standen noch immer da und ragten hinein in die Gegenwart als ein übermächtiges Denkmal der Vergangenheit.

In dem zweiten Vorhofe des Tempels blieb Reinhart stehen, hier waren sie weit genug vom Eingang entfernt und keine Ueberraschung war zu fürchten. Ringsum strebte ein Wald von Säulen empor und dazwischen erhoben sich Riesengestalten von Stein, uralte Götterbilder und die Statuen von Königen, die einst hier gelebt und geherrscht hatten. Sie alle waren überflutet von dem weißen Licht, das diese ganze Tempelwelt erfüllte. Es lag blendend hell auf dem Boden, es stahl sich in das tiefste Dunkel der Gänge und trieb dort zwischen den Säulen sein phantastisches Spiel, es floß nieder an den Wänden, deren Bilder und Hieroglyphen noch deutlich erkennbar waren. Und das Dach dieser weiten Halle war das weite Himmelsgewölbe mit seinen mattfunkelnden Sternbildern.

Ringsum herrschte das tiefe Schweigen der Einsamkeit. Das Ohr fing keinen Laut auf, und doch regte sich überall geheimnisvolles Weben und in dem bleichen Lichte schienen die Steinbilder Leben zu gewinnen. Es war, als regten sie sich, als löste die Vollmondnacht den tausendjährigen Bann, der sie gefangen hielt, als wollte all diese tote Größe und Herrlichkeit noch einmal zum Leben erwachen. Reinhart brach zuerst das Schweigen, er mochte es doch wohl fühlen, wie erkältend auf Zenaide sein Empfang gewirkt haben mußte, denn in seiner Stimme lag etwas wie Abbitte, als er sagte: »Ich danke Ihnen, Zenaide, daß Sie mir dies Lebewohl ermöglichten. Ich konnte und durfte es nicht erzwingen, nach der Art, wie meine Werbung aufgenommen wurde, das sehen Sie doch ein?«

Zenaide sah das allerdings nicht ein, aber es bedurfte nur dieses weichen, bittenden Tones, um sie zu entwaffnen. Ihr Vater hatte recht, sie war gänzlich im Bann dieses Mannes; sobald er ihr nur Liebe zeigte, flog ihre ganze Seele ihm wieder zu.

»Sie sind tödlich gekränkt!« sagte sie leise. »Ich begreife es nur zu sehr und kann Ihnen ja nur sagen, daß es mich ebenso schwer getroffen hat, daß ich es im tiefsten Innern mitempfinde, deshalb kam ich her, und nun –?« sie vollendete nicht, aber ihr Auge suchte mit banger Frage das seinige.

»Nun müssen wir uns lebewohl sagen!« ergänzte er mit schwerer Betonung.

»Heute schon, Reinhart? Ich dachte, erst morgen.«

»Morgen? Das ist unmöglich! Unsere Leute sind endlich heute mittag eingetroffen, und nun dürfen wir keinen Tag mehr verlieren. Wir wollen bei Tagesanbruch fort, da kann ich mich auch nicht eine Minute frei machen, und ein Aufbruch wie der unsrige, mit einer ganzen Karawane, vollzieht sich überhaupt nicht unbemerkt. Die sämtlichen Gäste des Hotels werden da sein, um uns ihre Abschiedsgrüße und Wünsche für die Expedition mitzugeben, ganz Luksor wird zusammenströmen, so etwas ist ja ein Ereignis für den Ort.«

Zenaide warf die Kapuze des weiten Burnus zurück, die bisher ihr Haupt verhüllte. Der Mond beleuchtete voll ihr Antlitz, es war bleicher als sonst, aber es trug den Ausdruck einer beinahe triumphierenden Entschlossenheit.

»Ich weiß es und ich will Sie auch nicht allein sprechen, Reinhart. Mein Vater glaubt, daß dieser Aufbruch unsere Trennung besiegeln werde, und gerade er soll uns vereinigen!«

Ehrwald sah sie betroffen und fragend an.

»Ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie thun, Zenaide?«

»Alles, alles will ich thun um deinetwillen!« brach sie leidenschaftlich aus. »Kein Machtwort meines Vaters soll mich von dir reißen, du wirst mich deiner würdig finden! Morgen früh werde auch ich da sein und Abschied von dir nehmen, aber offen, vor aller Welt! Man wird erfahren, daß wir uns verlobt haben, und du wirst vor all den Zeugen deine Braut zum Lebewohl in die Arme schließen. Dann gehe ich zu meinem Vater und sage ihm, was geschehen ist, und dann kann er uns nicht mehr trennen!«

Sie sprach mit glühendem, stürmischem Triumph, so erfüllt und hingerissen von ihrem kühnen Plane, daß sie Reinharts Schweigen gar nicht einmal bemerkte. Das glückliche, siegesgewisse Lächeln lag noch auf ihren Lippen, als sie leiser, aber mit vollster Innigkeit fortfuhr: »Du siehst, wir brauchen uns hier nicht so ängstlich zu bergen vor fremden Augen. Wenn wir überrascht werden, nun, dann erfährt man schon heute, was morgen jeder wissen wird, und einem Brautpaar wird man wohl auch das Recht eines einsamen Spaziergangs am letzten Abend vor der Trennung zugestehen.«

Reinhart schwieg noch immer, er hatte keine einzige Silbe erwidert, und jetzt fragte er langsam: »Und Herr von Osmar?«

»Mein Vater wird einwilligen, er muß es; wenn ich diesen Schritt thue, dann bleibt ihm keine Wahl mehr.«

»O ja, er wird einwilligen!« sagte Ehrwald mit schneidender Bitterkeit, »und dabei aus tiefster Seele den Glücksritter verwünschen und verachten, der klug genug war, sich noch im letzten Augenblick seine ›Beute‹ zu sichern. Soll ich mir das vielleicht zum zweitenmal sagen lassen?«

»Reinhart!«

»Nein, beim Himmel, das thue ich nicht! Es war genug und übergenug an dem einen Mal!«

Er wandte sich ungestüm ab, Zenaide stand völlig fassungslos da. Sie hatte nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß er ihren Plan, der ja unfehlbar zum Ziele führen mußte, mit leidenschaftlichem Entzücken begrüßen würde, und nun nahm er ihn so auf! Die Eiseshand legte sich wieder kalt auf ihr heiß klopfendes Herz.

»Hast du denn nur Sinn für die Beleidigung?« fragte sie mit bebender Stimme. »Gilt dir unsere Liebe nichts dagegen? Ich gebe dir ja alles, alles! Mein ganzes künftiges Leben lege ich in deine Hand – ist dir das nicht genug?«

Reinhart wandte sich um, er sah das Weh in dem schönen Antlitz, sah die heiß aufquellenden Thränen in den dunklen Augen, und in aufflammender Reue ergriff er die Hände des jungen Mädchens und preßte seine Lippen darauf.

»Vergib! Ich bin undankbar und verdiene deine Liebe nicht. Ich fühle die ganze Größe des Opfers, das du mir bringen willst, aber – ich kann es nicht annehmen!«

Zenaide zuckte zusammen, wortlos, aber in tödlichem Schrecken blickte sie ihn an, während er fortfuhr: »Ich sollte gehen und dich allein lassen in einem Kampfe, wo ich dir nicht zur Seite stehen kann? Ich soll es geschehen lassen, daß dir täglich wieder der schmachvolle Verdacht zugeflüstert wird, während ich fern bin? Und wenn ich zurückkehre – ich kann mir da draußen auf unserem Zuge einen Namen und eine Lebensstellung erringen, aber Reichtümer und ein Adelswappen sind da nicht zu erobern, und das fordert dein Vater ja doch nun einmal von dem, der um seine Tochter wirbt. Ich habe das nicht in die Wagschale zu legen, ich bleibe ihm nach wie vor der Abenteurer, der nur die – Erbin erbeuten will, erst recht, wenn er von uns zur Einwilligung gezwungen wird.«

»Immer diese unseligen Worte!« rief Zenaide verzweiflungsvoll. » Kannst du sie denn nicht vergessen?«

»Nein!« war die finstere Antwort.

»Aber um meinetwillen! Mein Vater glaubt ja selbst nicht daran, er sprach es ja nur aus, um uns zu trennen. Reinhart – um meinetwillen!«

»Nein, Zenaide, ich kann nicht!«

»Dann liebst du mich nicht!« brach sie mit vollster Heftigkeit aus. »Dann hast du mich nie geliebt!«

»Soll ich um meiner Liebe willen Erniedrigung dulden?« fragte er herb. »Könnte ich dich losreißen von allem, was dich jetzt umgibt, und dich mit mir nehmen, ich würde die Probe auf deine Liebe wagen! Du weißt ja, daß das unmöglich ist, und das Haus deines Vaters betrete ich nie wieder, auch in Jahren nicht. Ich,« er richtete sich hoch empor und in seinen Augen sprühte es wild auf, »ich hasse ihn nun einmal bis aufs Blut, denn er hat mir einen Schimpf angethan, den ich nicht rächen kann! Er ist dein Vater, ihn klage an, nicht mich, er hat mit jenen Worten unserer Liebe das Urteil gesprochen!«

Zenaide war unwillkürlich zurückgewichen vor diesem Ausbruch eines maßlosen Hasses, der ihrem Vater galt, dem Manne, der bisher doch nur Zärtlichkeit, ja Vergötterung für sein einziges Kind gehabt hatte. Sie sah es deutlich, die Liebe war machtlos dagegen, aber sie fühlte auch, daß die wahre Liebe anders gesprochen hätte.

Es war eine Stunde, wo zwei Menschenschicksale sich trennen sollten für immer, und sie war doch so märchenhaft schön, als könnte sie nur Segen und Glück bringen. Der Mond stand jetzt hoch am Himmel und seine Lichtflut ergoß sich bis in die fernsten Räume. Ein breiter leuchtender Streif fiel in den dunklen Säulengang und die steinernen Riesengestalten waren wie gebadet in den Strahlen. Sie blickten starr und düster nieder auf die beiden Menschenkinder, die ihr Glück und Leid hineintrugen in die alte tausendjährige Opferstätte, wo das Leben längst verstummt war, und doch regte sich jetzt wieder jenes geheimnisvolle Weben. Es war wohl nur ein Windhauch, der von der Wüste oder vom Nil herüberkam und sich hier verlor, aber es zog wie ein Raunen und Flüstern durch die Tempelhallen. Vielleicht ein Nachhall jenes Liedes, das so alt ist wie die Menschheit selbst; es ward schon damals vernommen, als man sich noch vor den Götterbildern niederwarf und sich dem Scepter der Pharaonen beugte, und heute erklang es den Kindern der Gegenwart – das Lied vom Scheiden und Meiden!

Es war eine lange, schwere Pause eingetreten, Zenaide lehnte am Fuße der Ramsesstatue, sie war totenbleich und wandte jetzt langsam das Antlitz dem jungen Manne zu, der finster vor sich niederblickte.

»Also – du gibst mich auf?« fragte sie leise.

»Ich nicht, Zenaide,« entgegnete er dumpf. »Aber frage dich selbst, ob irgend ein Verhältnis zwischen mir und deinem Vater möglich ist.«

»Mein Vater?« wiederholte sie mit aufquellender Bitterkeit. »Nun ja, er ist trennend zwischen uns getreten, aber ich habe dennoch den Weg zu dir gefunden und ich zeigte dir auch den Weg, der uns trotz alledem vereinigt hätte – du aber willst ihn nicht gehen!«

»Du thust mir unrecht,« fiel Reinhart heftig ein. »Ich wiederhole es dir, ich darf dein Opfer nicht annehmen, um deinetwillen nicht.«

»Wenn du mich liebtest, würdest du es ebenso freudig annehmen, wie ich es dir biete, da gibt es kein Abwägen und kein Bedenken. Ich war bereit, alles zu wagen, mich an deine Brust zu werfen und offen vor aller Welt zu bekennen, daß ich dir allein angehören will, du bist es, der das zurückweist – also müssen wir wohl scheiden!«

Ehrwald stand wie im innern Kampfe da. Es wurde ihm ja nicht leicht, das holde Wesen aufzugeben, das ihm eine so grenzenlose Hingebung zeigte. Noch einmal stand er am Scheidewege. Ein heißes Liebeswort aus vollem Herzen, ein Ausbreiten der Arme, und das Mädchen war trotz alledem sein, die Augen, die so angstvoll, so flehend die seinigen suchten, schienen dies Wort von ihm zu fordern – aber es wurde nicht ausgesprochen, der Groll war stärker als die Liebe.

»Ja, wir müssen,« sagte er endlich düster. »Das Schicksal trennt uns unerbittlich für immer.«

Zenaide richtete sich empor, noch zuckte das Weh um ihre Lippen, aber ihr tief verletzter Stolz bäumte sich jetzt auch empor, als der Mann, der sonst alles erstürmte und erzwang, sich so ruhig einem »Schicksal« beugte, dem sie zu trotzen bereit war.

»So leb wohl!« sagte sie tonlos.

Reinhart zog sie noch einmal in seine Arme und drückte seine Lippen auf ihre Stirn.

»Leb wohl, Zenaide! Vergiß, daß ich in dein Leben getreten bin und dir Schmerz gebracht habe – ich werde dich nie vergessen!«

Sie antwortete nicht, sondern machte sich los aus seinen Armen und wandte sich zum Gehen. Vielleicht hoffte sie, er werde ihr nachstürzen, sie zurückhalten, aber er verharrte unbeweglich an seinem Platze und blickte ihr nach. Er sah, wie die weiße Gestalt über den Tempelhof schritt, wie sie in den breiten Mondesstreif trat, der den Säulengang erhellte, und zuletzt im Schatten dieser Säulen verschwand.

War es wirklich sein Glück, das ihm da entschwand? Hatte er es von sich gestoßen?

Reinhart war allein mit den starren Riesenbildern, und wieder erhob sich jenes Raunen und Flüstern, das wie aus Geistermunde zu kommen schien, aber eine Antwort auf jene Frage gab es nicht! – –

 

Der Tag war soeben angebrochen, und an dem Ufer von Luksor war die ganze Bevölkerung des Ortes und der größte Teil der hier weilenden Fremden trotz der frühen Stunde versammelt. Es galt einen Anblick, den man nicht oft hatte, den Aufbruch eines Entdeckungszuges in das Innere von Afrika unter einem der berühmtesten Führer. Es war in der That eine ganze Karawane; einen Teil der Leute hatte man erst hier angeworben, die andern waren gestern aus Kairo gekommen, und was noch fehlte, das sollte an Ort und Stelle ergänzt werden, sobald man erst die bekannten Gegenden hinter sich ließ und in das eigentliche Innere eindrang.

Sonneck hatte beschlossen, den Weg, der noch einige Tagereisen nilaufwärts ging, zu Lande zu machen. Die Leute und die Reit- und Lasttiere, welche man mitnahm, waren schon über den Strom gesetzt, und eben stieß das Boot ab, in dem sich der Führer mit seinem jungen Gefährten befand. Es war schon völlig hell, aber noch lag die Landschaft grau und farblos da, nur im Osten kündete ein roter Schein, der immer größer und dunkler wurde, den nahenden Sonnenaufgang.

Während Sonneck freundlich die Grüße erwiderte, die man vom Ufer aus den Scheidenden nachwinkte, stand Ehrwald aufrecht im Boote, den Blick gleichfalls nach dem Ufer zurückgewandt, aber sein Auge hing an dem weißen palastähnlichen Hause, das sich dort aus den Palmen erhob und in welchem noch alles in tiefem Schlaf zu liegen schien.

»Nun, Reinhart, willst du nicht noch einmal grüßen?« fragte Sonneck. »Professor Leutold und Doktor Bertram winken uns ja fortwährend.«

Reinhart schreckte wie aus einem Traum auf, rasch zog er sein Tuch hervor und erwiderte die Grüße, aber dann kehrten seine Augen wieder zu jenem Punkt zurück und glitten von da zu den Tempelruinen hinüber, die jetzt, wo das Boot die Mitte des Stromes erreichte, sichtbar wurden. Auch sie lagen öde und grau da in dem fahlen Morgenlicht, so ganz anders als in dem träumerischen verklärenden Mondesglanz, der sie gestern abend erfüllte.

Sonneck mochte wohl ahnen, was den jungen Mann so ernst und schweigsam machte bei diesem doch so lang und heiß ersehnten Aufbruch, obwohl ihm Reinhart nichts von der letzten Zusammenkunft mitgeteilt hatte. Aber er berührte die Sache mit keinem Wort. Sie war zu Ende, mußte zu Ende sein, wozu sie wieder aufwecken?

Das Morgenrot leuchtete hell und heller auf, schon stand der ganze Osten im Purpurschein und in seinem Abglanz gewann auch die Landschaft Licht und Farbe, es floß wie ein Hauch von Glut und Leben darüber hin.

Jetzt landete das Boot und die beiden Herren sprangen an das Ufer, von dem lauten Zuruf ihrer Leute begrüßt. Es war ein malerisches, bewegtes Bild, all diese schwarzen und braunen Gestalten der Eingeborenen, meist prächtige Erscheinungen, in allen möglichen Trachten, die sich um den Führer drängten. Ein riesiger Neger hielt zwei Pferde am Zügel, die für die beiden Europäer bestimmt waren, kraftvolle, feurige Tiere, ein Geschenk des Herrn von Osmar an seinen Freund. Sonneck stand wie ein Feldherr inmitten seiner Truppe, befehlend und ordnend, Reinhart war bald hier, bald dort. Es kostete immerhin einige Mühe, Ordnung in dem Gewühl zu schaffen.

Endlich war alles bereit, der Führer setzte sich an die Spitze des Zuges und nun schwang sich auch sein junger Begleiter in den Sattel und ritt an seine Seite.

Der ganze Himmel loderte jetzt in blutroter Pracht, die Sonne sandte ihren Flammengruß voran und die Erde empfing ihn in leuchtenden Morgengluten. Die Höhenzüge am Ufer des Nils standen im roten Feuerschein, während die Wogen des alten heiligen Stromes sich purpurn färbten, und wie auf flammendem Hintergrunde erhob sich drüben der Tempel mit seinen Säulen und seinen Riesenbildern. Dort über der fernen Wüste schoß es jetzt empor wie feurige Lohe und mitten darin zuckte ein Blitz auf – der erste Sonnenstrahl – dann stieg es langsam auf und schwebte immer höher, das leuchtende Gestirn, das die Alten als einen Gott verehrten.

»Nun, Reinhart, bist du jetzt endlich zufrieden?« fragte Sonneck, sich zu seinem jungen Gefährten wendend. »Jetzt sind wir auf dem Wege, nun geht es hinein in die ersehnte Ferne.«

Reinhart hatte sich hoch im Sattel aufgerichtet, kein Blick flog mehr zurück nach den Stätten, die man soeben verlassen hatte, er schaute nur vorwärts, und sein ganzes Wesen schien wieder aufzuflammen in stürmischer Lebensfreude, in glühendem Freiheitsdurst, als er rief: »Ja, es geht vorwärts – der Sonne entgegen! Schelten Sie nicht, Herr Sonneck, aber ich kann jetzt nicht im Schritt reiten, nur auf eine Viertelstunde lassen Sie mich voranjagen, ich muß hinaus!«

Sonneck schüttelte lächelnd das Haupt.

»Nun, so reite, du Ungestüm! Wirst endlich auch wohl müde werden. Jage voran, wir holen dich schon noch ein.«

Mit einem Jubelruf ließ Reinhart seinem Roß die Zügel und es stob dahin wie vom Wind getragen. Der Sand wirbelte auf unter seinen Hufen und der Reiter jagte hinein in den flammenden, leuchtenden Morgen, hinein in das Wunderreich der Fata Morgana!

 

Der Mai war gekommen und die Frühlingsstürme brausten um die Gipfel des Hochgebirges, die noch ihr Schneegewand trugen. Der Winter war diesmal ungewöhnlich hart und lang gewesen und auch jetzt wich er nur langsam und zögernd dem erwachenden Frühling.

In der kleinen Bergstadt, die, von einem alten, einst befestigten Schlosse überragt, so malerisch inmitten des Thales lag, grünten schon die Linden, aber die Häuser und Villen des nahen Badeortes waren noch größtenteils geschlossen. Kronsberg war früher wenig bekannt gewesen, es lag tief im Herzen des Gebirges, abseits von all den großen Touristenwegen, und die nächste Eisenbahnstation war volle drei Stunden entfernt. Da kamen nur selten Fremde in das abgeschiedene Städtchen. Man hatte zwar in unmittelbarer Nähe desselben eine Heilquelle entdeckt und infolgedessen war ein kleiner Badeort entstanden, er wurde aber wenig besucht. Im Hochsommer pflegten ein paar hundert Kurgäste zu kommen, die teils in dem neuen Badehause, teils in der Stadt selbst wohnten. Es herrschten die allereinfachsten Verhältnisse und in weiteren Kreisen wußte man kaum etwas davon.

Da hatte sich vor etwa zehn Jahren ein junger, aber sehr tüchtiger Arzt in Kronsberg niedergelassen. Die Heilquelle hatte seine Aufmerksamkeit erregt, er behauptete, sie habe eine bedeutende Zukunft, da auch die klimatischen Verhältnisse die günstigsten seien, und in der That nahm der kleine Kurort unter seiner Leitung einen ungeahnten Aufschwung.

Doktor Bertram, der eine junge Frau mitbrachte, hatte von seiner früheren Stellung als Schiffsarzt her Bekanntschaften und Verbindungen an allen Ecken und Enden der Welt und wußte sie für seine neue Heimat zu interessieren. Ein Buch, das er über die Kronsberger Quellen geschrieben und an die bedeutendsten Aerzte gesandt hatte, lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit darauf, und ein paar glückliche und erfolgreiche Kuren begründeten den Ruf des aufstrebenden Badeortes wie den des jungen Doktors. Die herrliche Lage und die an sich schon heilkräftige Alpenluft thaten das übrige. Die Gäste strömten immer zahlreicher herbei und bald erhob sich vor den Thoren der Stadt eine ganz neue Ortschaft, wo im Sommer ein reges Badeleben herrschte.

Ueberdies kam den Kronsbergern noch ein ganz besonderer Umstand zu Hilfe. Die Fürstin des Landes war seit Jahren leidend, das Uebel widerstand allen Kuren und Bädern und drohte jetzt eine sehr gefährliche Wendung zu nehmen. Da beschloß der Leibarzt, dem Doktor Bertram gleichfalls sein Buch zugesandt hatte, einen Versuch mit den Kronsberger Quellen zu machen, die bei ähnlichen Zuständen angewendet wurden, und der Erfolg war ganz überraschend. Das Leiden der fürstlichen Frau besserte sich bedeutend und die Wiederholungen der Kur in den nächsten Jahren beseitigten es beinahe ganz. Schließlich wurde das Schloß, das sich über der Stadt erhob, aber von seinem bisherigen Besitzer nie benutzt worden war, von seiten der fürstlichen Familie angekauft und eingerichtet, um bei der regelmäßigen Wiederkehr einen eigenen Wohnsitz zur Verfügung zu haben.

Damit war der Eintritt Kronsbergs in die Reihe der großen Kurorte entschieden. Der Ruf seiner Heilquellen wurde in alle Welt hinausgetragen und der alljährliche Besuch des Hofes zog eine Menge der reichsten und vornehmsten Familien hierher. Das kleine, weltabgeschiedene Bergstädtchen hatte sich im Laufe eines Jahrzehnts zu einem Badeort ersten Ranges aufgeschwungen. Es verdankte dies schnelle Emporblühen allerdings in erster Linie der Energie und der unermüdlichen Thätigkeit des Doktor Bertram, der denn auch eine Hauptperson in Kronsberg war. Er nahm in allen Kurangelegenheiten die erste Stelle ein, obgleich sich ihm nach und nach ein Dutzend Kollegen zugesellt hatte, und genoß in dieser Eigenschaft auch den Vorzug, in Gemeinschaft mit dem Leibarzt die alljährliche Kur der Fürstin zu leiten. Selbstverständlich wollten die vornehmsten Kurgäste nun auch von ihm behandelt sein, er galt überhaupt für einen der tüchtigsten und erfolgreichsten Aerzte. Seine Beziehungen zum Hofe hatten ihm auch bereits Titel und Orden eingetragen – kurz die Kronsberger hatten alle Ursache, ihrem Hofrat Bertram dankbar und auf ihn stolz zu sein, und das waren sie denn auch im vollsten Maße.

In einiger Entfernung von der Stadt, auf einer mäßigen Anhöhe, lag eine kleine Besitzung, ganz einsam, denn der Badeort mit seinen Villen und Anlagen zog sich drüben an der andern Seite des Thales hin. Aus dunklen Tannenwipfeln blickte das hohe Giebeldach eines altertümlichen Hauses hervor, das offenbar aus dem vorigen Jahrhundert stammte. Es mochte wohl ursprünglich eine Art Jagdhaus gewesen sein, dessen Besitzer hier in der wald- und wildreichen Alpengegend dem Weidwerk oblagen, denn ein mächtiges in Stein gemeißeltes Hirschgeweih über dem Eingang deutete noch auf eine solche Bestimmung hin. Eine breite, niedrige Steintreppe mit halb eingesunkenen moosbewachsenen Stufen führte zu einer kleinen Terrasse und zu der Hauptthür, deren schwere eichene Flügel augenblicklich offen standen. Man sah eine tiefe gewölbte Flurhalle, zu deren beiden Seiten die Zimmer lagen, während im Hintergrund eine gewundene Treppe mit geschnitztem Geländer in den oberen Stock führte. Das Haus hatte, obwohl sich hier und da Anzeichen des Verfalls kundgaben, doch etwas Vornehmes, freilich auch etwas Düsteres.

Die Lage war sehr schön, man übersah von hier aus das ganze Thal mit den umliegenden Hochgipfeln und der Stadt im Vordergrund. Ein umfangreicher schattiger Garten zog sich an der Berglehne hin, aber er machte gleichfalls einen düstern Eindruck mit seinen hohen, alten Bäumen und dem dichten dunklen Gesträuch, das hier üppig wucherte; es fehlte jeder Blumenschmuck. Eine ziemlich hohe Mauer schloß die Besitzung nach allen Seiten hin ab, nur durch das eiserne Gitterthor hatte man einen Blick auf das Haus, und das Ganze machte den Eindruck vollster Abgeschlossenheit.

Zur Rechten der Eingangshalle befand sich das Wohn- und Empfangszimmer, ein großes Gemach, mit dunkelgrünen Vorhängen an den Fenstern, die von den Tannen draußen dicht beschattet wurden, und altertümlichen Möbeln, deren Polster dasselbe dunkle Grün zeigten. An den Wänden hingen nur ein paar alte, sehr wertvolle Kupferstiche in geschnitzten Rahmen, sonst fehlte es an jedem Schmuck: keine Blumen, nichts von all den zierlichen Kleinigkeiten, welche die Wohnräume erst freundlich und behaglich machen.

In dem Lehnstuhl am Fenster saß ein alter Herr, der offenbar schon über die Siebzig hinaus war, eine hagere, gebeugte Gestalt mit spärlichen weißen Haaren und tief eingesunkenen Zügen, die einen ungemein herben, verbitterten Ausdruck hatten. Nur die Augen waren noch scharf und klar und gaben Zeugnis davon, daß in diesem gebrechlichen Körper noch volle geistige Frische wohnte.

Ihm gegenüber saß Doktor Bertram, der sich in den zehn Jahren nicht allzuviel verändert hatte. Aus dem jungen, übermütigen Schiffsarzt war freilich ein stattlicher Mann geworden, der Fremden gegenüber auch das ernste gesetzte Wesen zeigte, das seine jetzige Stellung ihm zur Pflicht machte, aber in den Augen blitzte noch immer der alte lustige Uebermut und das ganze Aussehen des nunmehrigen Hof- und Sanitätsrates bewies ja auch zur Genüge, daß er mit sich und mit der ganzen Welt außerordentlich zufrieden war.

»Ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich nun schon seit Jahr und Tag predige,« sagte er soeben, »Luft und Bewegung, soviel Ihre Kräfte es nur erlauben, und vor allen Dingen Zerstreuung, damit Sie nicht den lieben langen Tag und auch noch die halbe Nacht hindurch über Ihren verwünschten Büchern sitzen. Aber Sie machen sich ja ein besonderes Vergnügen daraus, immer das Gegenteil von dem zu thun, was ich verordne. Ich habe noch nie einen so widerspenstigen Patienten gehabt wie Herrn Professor Helmreich!«

»Ich gehe täglich in den Garten,« erklärte der Professor ärgerlich über die Strafpredigt, die ihm gehalten wurde, »und die Luft habe ich aus erster Hand, sobald ich nur das Fenster öffne.«

»Jawohl, die schönste Moderluft, die Sie mit einer förmlichen Kunst gezüchtet haben hier in unsern gesegneten Alpen. In Ihren Garten fällt schon längst kein Sonnenstrahl mehr und die Tannen wachsen Ihnen nachgerade zu den Fenstern hinein. Warum lassen Sie nicht endlich einmal lichten? Ich sollte nur ein paar Tage hier Herr und Meister sein, die Hälfte von all dem Baum- und Strauchzeug ließe ich niederschlagen.«

»Solange ich lebe,« fiel Helmreich mit vollster Gereiztheit ein, »wird kein Baum angerührt, kein Strauch ausgerodet. Das leide ich ein für allemal nicht!«

»Nun dann behalten Sie in Gottes Namen Ihren Rheumatismus,« versetzte Bertram trocken. »Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen.«

Er stand auf und machte Miene, zu gehen. Nunmehr schien es dem alten Herrn doch geraten, einzulenken, er sagte in nachgiebigerem Tone: »Das Studieren dürfen Sie mir nicht verbieten. Es ist das einzige, was mir das Dasein noch erträglich macht. Wenn Sie mir meine Bücher nehmen, nehmen Sie mir die Lebenslust.«

»Das weiß ich,« entgegnete der Arzt ernster. »Deshalb bestehe ich auch nicht darauf, daß Sie das Studium aufgeben, obwohl es das Beste für Ihren Zustand wäre. Aber schonen sollen Sie sich und Ihren dreiundsiebzig Jahren nicht mehr zumuten, was Sie in der Vollkraft des Lebens geleistet haben. Hier im Hause kommen Sie nicht los von den Büchern, deshalb müssen Sie täglich auf ein paar Stunden hinaus. Wenn Ihnen das Gehen beschwerlich fällt, so fahren Sie doch aus.«

»Ausfahren?« wiederholte der Professor, förmlich beleidigt von diesem Vorschlag. »Wohin denn? Wohl auf die Promenade Ihres vielgerühmten Kurorts, damit die alberne Gesellschaft dort noch etwas mehr zum Gaffen hat?«

»Was haben Sie denn eigentlich gegen den Kurort? Die Saison dauert kaum drei Monate, während der ganzen übrigen Zeit leben wir in unserm Hochalpenthal abgeschieden wie die Trappisten und stecken acht Monate lang im Schnee wie die Eskimos – mehr können Sie doch wirklich nicht verlangen!«

»Und während des Sommers sitzt dafür die halbe Welt in Kronsberg, und der Hof auch noch dazu!« grollte der Professor. »Nicht einen Schritt kann man aus dem Hause thun, ohne auf Menschen zu stoßen, in seinen eignen vier Pfählen ist man nicht sicher vor ihnen.«

Bertram lachte, es war noch das alte frische Lachen, das auch der jetzige Hofrat nicht verlernt hatte.

»Nun, ich dächte, Sie verstehen es schon, sich ungebetene Gäste vom Leibe zu halten. Erstens haben Sie Haus und Garten wie eine Festung mit einer Mauer umzogen, damit nur ja kein Mensch einen Blick hineinwerfen kann, zweitens haben Sie sich den ›Wotan‹ angeschafft, dies Ungetüm, das auf jeden Fremden losstürzt, der sich nur dem Gitterthor naht, und schließlich taucht noch der alte Bastian auf, mit seiner unverwüstlichen Grobheit und seiner unumstößlichen Ueberzeugung, daß die Gäste überhaupt nur da sind, um hinausgeworfen zu werden. Wenn man die drei Instanzen glücklich durchgemacht hat, dann kommt erst das Hauptverfahren, dann kommen Sie, Herr Professor, und daß das gerade keine Herzerquickung ist, haben die paar armen Kurgäste erfahren müssen, die auf die unselige Idee gerieten, hier oben die Aussicht zu bewundern! Sie schlagen noch jetzt drei Kreuze bei der Erinnerung daran.«

»Das ist ja sehr freundlich von Ihnen, mir dergleichen ins Gesicht zu sagen!« rief Helmreich grimmig. »Denken Sie vielleicht, es macht mir Vergnügen, fortwährend Ihre Strafpredigten anzuhören und mich in all meinen Gewohnheiten maßregeln zu lassen? Wenn Sie nicht mein Arzt wären –«

»Dann hätten Sie mich auch schon längst hinausgeworfen! Genieren Sie sich nicht, Herr Professor, wir stehen ja auf dem Standpunkt gegenseitiger Offenheit! Eben deshalb bestehe ich jetzt im vollen Ernst darauf, daß Sie meine Verordnungen befolgen; geschieht es nicht, dann komme ich nicht wieder. Sie mögen noch so oft schicken – nun machen Sie, was Sie wollen!«

Der alte Herr brummte etwas Unverständliches, aber er widersprach wenigstens nicht und Bertram schien das für eine Zustimmung zu nehmen, er griff nach seinem Hut.

»Die neue Arznei werde ich Ihnen heute nachmittag herüberschicken, und nun noch eins. Elsa ist ja so lange nicht bei meiner Frau gewesen. Sie haben es ihr doch hoffentlich nicht verboten, unser Haus ist ja das einzige, das sie besuchen darf.«

»Sobald die Saison anfängt, lasse ich Elsa nicht mehr nach dem Bade hinüber,« erklärte der Professor. »Ich will es nicht, daß sie von den Herren Kurgästen in der unverschämtesten Weise angestarrt wird.«

»Nun, das kann ich den Kurgästen eigentlich nicht verdenken,« lachte der Hofrat. »Sie ist schon des Anschauens wert und dies unschuldige Vergnügen können Sie den jungen Herren immerhin gönnen.«

»So?« rief Helmreich erbost. »Sie finden es wohl auch ganz in der Ordnung, daß im vorigen Sommer ein paar von den jungen Laffen mein Haus ausgekundschaftet haben und um die Mauern herumgeschlichen sind? Aber Bastian kam ihnen bald auf die Spur und hat sie gründlich heimgeschickt.«

»Kann ich mir denken,« sagte Bertram ruhig. »Also deshalb erscheint Ihre Enkelin jetzt nur noch mit der Leibgarde, dem Bastian rechts und dem Wotan links? Mit den beiden Ungetümen zur Seite ist sie freilich sicher, da wagt es keiner, sie auch nur anzusehen! Adieu, Herr Professor, und wenn Sie nächstens einmal Selbstschüsse in Ihren Garten legen wollen, dann benachrichtigen Sie mich gefälligst davon, damit ich bei meinen ärztlichen Besuchen nicht Leib und Leben riskiere.«

Damit ging er. Der Professor sah ihm grollend nach, er verabscheute diesen jovialen Ton, wußte aber längst, daß der Hofrat sich darin keine Vorschriften machen ließ. Dieser schritt inzwischen durch den Garten und wurde als wohlbekannter Hausarzt von den beiden »Ungetümen« natürlich nicht belästigt. Er gelangte unangefochten ins Freie und schlug den Weg nach der Stadt ein; da kam ihm von dort ein Herr entgegen, der grüßend stehen blieb.

»Ah, Herr Sonneck!« rief Bertram, ihm die Hand entgegenstreckend. »Wo steckten Sie denn heut morgen? Ich habe Sie ja nicht gesehen.«

»Ich machte direkt von der Quelle einen Morgenspaziergang in die Berge,« entgegnete Sonneck, den Händedruck erwidernd. »Jetzt will ich zu Professor Helmreich; Sie kommen wohl eben von ihm?«

»Jawohl, ich habe wieder einmal versucht, ihm den Kopf zurechtzusetzen, natürlich umsonst! Er ist vollständig zum Hypochonder geworden und spinnt sich immer mehr in seine Grillen und Marotten ein. Ich bin froh, daß Sie da sind. Sie bringen ihn mit Ihren Erzählungen wenigstens stundenweise auf andre Gedanken. Sie und ich, wir sind ja überhaupt die einzigen, denen sich das verwunschene Schloß da droben öffnet.«

»Nun, ich habe mir den Eingang auch halb und halb erzwingen müssen,« erklärte Sonneck mit einem flüchtigen Lächeln. »Der Professor war nichts weniger als entgegenkommend, als ich ihn im vorigen Sommer aufsuchte; aber er wollte dem Schüler und Freunde, der ihm einst so nahe gestanden hatte, doch nicht geradezu die Thür weisen. Da ich mich nicht an seine ablehnende Haltung kehrte und regelmäßig wiederkam, gewöhnte er sich schließlich an meine Besuche und ich glaube, im Winter hat er sie beinah vermißt.«

»Das schien mir auch so; man muß den Alten förmlich zwingen zu dem, was ihm gut thut. Heute ist er wieder in seinen galligsten Launen. Sie werden Ihre Not mit ihm haben. Ich habe mich wie gewöhnlich mit ihm gezankt und ihm derb die Wahrheit gesagt, aber helfen wird es schwerlich. Mich dauert nur das arme Kind, die Elsa, sie ist ja wie lebendig begraben in dem düstern Hause und bei diesem unvernünftigen Großvater, der alles haßt, was Leben und Freude heißt.«

»Sie hat ja nie die Lebensfreude gekannt,« sagte Sonneck mit einem halbunterdrückten Seufzer, »oder doch nur als Kind gekannt und längst vergessen. Da scheint sie jetzt kaum etwas zu vermissen.«

»Ja, sie ist gut dressiert,« stimmte der Hofrat ärgerlich bei. »Das war freilich nicht anders möglich bei einer solchen Erziehung. Der Alte ist ein Tyrann in seinem Hause und wehe dem, der sich nicht unbedingt seinem Willen beugt! – Doch nun zu Ihnen, Herr Sonneck, wie steht es mit Ihrem Befinden?«

»Ganz erträglich, lieber Hofrat. Ich fühle mich in den vierzehn Tagen, daß ich hier bin, schon bedeutend wohler, und Sie wissen ja am besten, wie schlimm es mit mir stand, als ich im vorigen Jahre zu Ihnen kam. Ich setze meine ganze Hoffnung auf die Kronsberger Quellen.«

»Das dürfen Sie auch!« sagte Bertram zuversichtlich. »Nach dem Erfolge, den wir im vergangenen Jahre erzielten, hoffe ich das Allerbeste von der jetzigen Wiederholung der Kur. Sie müssen freilich auch diesmal den ganzen Sommer hierbleiben, unsere Alpenluft ist die beste Arznei für Sie.«

»Das weiß ich und habe mich schon darauf eingerichtet, aber ich möchte eingehender mit Ihnen darüber sprechen. Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie ein Stück Weges begleite?«

»Selbstverständlich! Zu dem alten Isegrim da drüben kommen Sie noch immer früh genug,« rief der Hofrat, und beide Herren traten gemeinschaftlich den Rückweg an.

Sonneck zog bei dem scharfen Winde den Mantel fester um die Schulter. Man sah es ihm an, daß er nicht mehr die frühere eiserne Gesundheit besaß, und er hatte auch sichtbar gealtert in den zehn Jahren. Die sehnige, einst so kraftvolle Gestalt hatte eine müde Haltung und in dem Antlitz stand ein unverkennbarer Leidenszug eingegraben. Das Haar war ergraut und der Ernst, der von jeher in den tiefen grauen Augen lag, war zur Düsterheit geworden. Aber trotzdem war in der ganzen Erscheinung noch etwas, das auf den ersten Blick fesselte und sie weit über das Gewöhnliche hinaushob. Wer in das tiefgebräunte und durchfurchte Gesicht dieses Mannes blickte, der fühlte es, auch ohne ihn zu kennen, daß er einem bedeutenden Menschen gegenüberstand.

»Ich möchte eine ernste Frage an Sie richten,« hob er wieder an. »Es handelt sich für mich darum, gewisse Bestimmungen zu treffen und vielleicht einen weittragenden Entschluß zu fassen, deshalb wollte ich –«

»Nur nichts von Afrika!« unterbrach ihn der Hofrat mit voller Entschiedenheit. »Ich habe es Ihnen nie verhehlt, daß von einer Rückkehr dorthin keine Rede sein kann. Das Tropenklima und die Ueberanstrengungen Ihrer Reisen haben Ihnen das Leiden zugezogen und es war ernst genug, als Sie herkamen. Sie sind ja in den letzten zwanzig Jahren kaum dreimal in Europa gewesen und dann immer nur auf einige Monate. Sie haben sich entschieden zu viel zugemutet und hätten weit früher in die Heimat zurückkehren müssen.«

Ueber Sonnecks Züge flog ein schwermütiges Lächeln, als er entgegnete: »Das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen, das fühle ich selbst und habe es eigentlich schon langst gefühlt, schon damals, als ich bei der Rückkehr von meinem großen Zuge in das Innere von Afrika so schwer erkrankte. Aber ich sträubte mich noch jahrelang dagegen, meinen Lebensberuf aufzugeben und meine übrigen Tage in Unthätigkeit hinzubringen. Ich raffte mich immer wieder auf und versuchte zu erzwingen, was sich doch nicht erzwingen ließ, bis ich schließlich zusammenbrach. Die letzte Krankheit ist mir eine harte Lehre gewesen. Ich habe mich jetzt vertraut gemacht mit der Notwendigkeit und bin entschlossen, in Deutschland zu bleiben.«

»Bravo! Auf der Grundlage können wir weiter verhandeln. Also, was wollten Sie wissen?«

»Ob es sich für mich überhaupt noch lohnt, Entschlüsse zu fassen und mein Leben neu zu gestalten, mit einem Worte, ob mein Leiden heilbar ist oder nicht. Seien Sie offen gegen mich, ich habe dem Tode so oft ins Auge gesehen und hänge so wenig mehr am Leben, daß mich ein Todesurteil aus Ihrem Munde sehr ruhig lassen würde. Ich fürchte nur eins – daß der Spruch auf lebenslängliches Siechtum lauten könnte. Jedenfalls will ich Gewißheit darüber haben, also sagen Sie mir die volle Wahrheit!«

»Fürchten Sie nichts, der Spruch lautet auf Gnade,« sagte Bertram ernst. »Im Herbst, als Sie von uns gingen, konnte und wollte ich mich darüber noch nicht aussprechen, ich mußte erst den Winter abwarten, den ersten, den Sie wieder in Europa zubrachten. Jetzt habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß Ihr Leiden zu heben ist; Sie müssen nur Geduld haben und nicht erwarten, daß die Kronsberger Quellen in ein paar Monaten wieder gut machen, was ein zwanzigjähriger Aufenthalt in den Tropen verschuldet hat. Die alte eiserne Kraft und Gesundheit werden Sie freilich nie zurückgewinnen, das sage ich Ihnen offen, und von schweren körperlichen oder geistigen Anstrengungen kann auch in Zukunft keine Rede mehr sein. Wenn Sie aber in Europa bleiben und Ihr Leben so regeln, wie Ihre jetzigen Kräfte es nun einmal verlangen, hoffe ich, Ihnen die Herstellung verbürgen zu können.«

Ein tiefer befreiender Atemzug hob die Brust Sonnecks und in seinen bleichen Zügen stieg eine leichte Röte auf, während er wie unwillkürlich den Blick nach dem alten Hause zurückwandte, das hinter ihnen lag.

»Sie sprechen mir also das Leben und bedingungsweise auch die Gesundheit zu?« fragte er leise. »Das ist mehr, als ich hoffte; aber wenn ich daraufhin den Versuch mache, noch einmal – zu leben, so schiebe ich Ihnen die Verantwortung zu.«

»Das thun Sie nur getrost!« lachte der Arzt. »Selbst wenn der Entschluß, von dem Sie vorhin sprachen, auf eine Heirat hinauslaufen sollte – ich nehme kein Wort zurück.«

»Aber lieber Hofrat!«

»Nun, das wäre doch am Ende nichts Ueberraschendes, da Sie sich jetzt entschlossen haben, in Deutschland zu bleiben. Bei Ihnen machen die grauen Haare nichts aus! Sie mit Ihrem Weltruf und Ihrer Persönlichkeit können noch um die Jüngste werben, ohne einen Korb befürchten zu müssen. Ich glaube, die meisten unserer Damen würden sich eine Ehre daraus machen, die Gattin des berühmten Sonneck zu heißen!«

»Nur keine Komplimente,« wehrte der andere ab. »Vor allen Dingen machen Sie mich gesund!«

»Ich werde nicht ermangeln, schon um der Reklame willen für unser Kronsberg! Wir haben schon Ihre Hoheit die Fürstin hergestellt; wenn wir nun noch eine Wunderkur an unserm ersten Afrikaforscher vollbringen, dann ist der Weltruf unserer Quellen fertig. Vorläufig bleiben Sie also bis zum Herbste hier, und ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie sich nicht gerade als Verbannter fühlen werden. Die Saison läßt sich ungewöhnlich gut an, die meisten Wohnungen sind bereits bestellt und, wie es scheint, kommt diesmal alle Welt nach Kronsberg. Für den Augenblick sind allerdings erst einige Familien da – wir stecken ja noch halb im Schnee – aber schon in der nächsten Woche haben wir einen interessanten Kurgast zu erwarten – englische Hocharistokratie – Lady Marwood!«

»Marwood?« fuhr Sonneck lebhaft auf. »Doch nicht etwa –«

»Eine frühere Bekannte von Ihnen – jawohl! Die Tochter unseres einstigen Generalkonsuls in Kairo, der vor fünf Jahren starb; Sie waren ja, soviel ich weiß, befreundet mit ihm. Ich habe damals in Luksor die junge Dame einigemal gesehen und dort verlobte sie sich auch mit dem englischen Lord. Es war gerade an dem Tage, wo Sie mit Ehrwald zu Ihrem großen Zuge in das Innere aufbrachen!«

»Gerade an dem Tage!« wiederholte Sonneck langsam. »Ich weiß es, Osmar hat es mir später erzählt.«

Es lag ein eigentümlich schwerer Klang in den Worten. Bertram bemerkte das nicht und sprach unbefangen weiter.

»Als ich im April wieder nach Kairo kam, um meine Braut abzuholen, wurde gerade die Vermählung gefeiert, mit unglaublicher Pracht. Die ganze Stadt sprach von nichts anderem und gleich darauf reisten die Neuvermählten nach England ab. Ich hörte aber später, die Ehe sei durchaus nicht glücklich, die junge Frau war viel mehr in Kairo bei dem Vater als in England bei dem Gemahl und schließlich hieß es sogar, sie hätten sich ganz getrennt.«

Sonneck gab keine Antwort auf die letzte Bemerkung, er fragte nur: »Wo ist denn Lady Marwood jetzt?«

»In Rom, wenigstens kam ihre Bestellung von dort. Sie hat hier eine ganze Villa gemietet und bringt, wie es scheint, einen förmlichen Hofstaat mit, Equipagen und Dienerschaft. Nun, die Erbin des Osmarschen Vermögens kann sich das immerhin leisten, ganz abgesehen von dem Reichtum ihres Gemahls. Sie werden sie doch aufsuchen?«

»Gewiß, ich bin ja ein alter langjähriger Freund ihres Vaters gewesen. Doch nun muß ich umkehren, ich will noch zu Helmreich.«

Die beiden Herren schüttelten sich die Hände und trennten sich. Bertram setzte seinen Weg nach der Stadt fort, aber dabei sagte er halblaut, mit gutmütigem Spott: »Er behauptet, ein Todesurteil aus meinem Munde würde ihn sehr ruhig lassen, und dabei flammte er förmlich auf, als ich ihm das Leben zusprach. Ja ja, wir hängen doch alle an dieser erbärmlichen Welt und diesem ›jämmerlichen‹ Leben, wie der Alte da oben es nennt! Ich meinesteils befinde mich in dieser Welt ganz außerordentlich wohl.«

 

Es mochte etwa vierzehn Jahre her sein, daß sich Professor Helmreich in Kronsberg niedergelassen hatte, das damals noch ein ganz unbedeutendes Bergstädtchen war. Er hatte einen Sommer lang dort gewohnt, angeblich um seine Gesundheit in der Alpenluft zu kräftigen, und dann schon im Herbste die Besitzung Burgheim erworben, die gerade zum Verkauf stand.

Man erfuhr bald, daß er einen nicht unbedeutenden wissenschaftlichen Ruf besaß und an einer großen Universität einen philosophischen Lehrstuhl bekleidet, sein Amt aber schon vor einigen Jahren niedergelegt habe. Der Professor hatte beim Abschluß des Kaufes erklärt, er habe seine Stellung aufgegeben, um ganz seinen Studien zu leben und ein größeres wissenschaftliches Werk in ungestörter Ruhe zu vollenden. Weiter verlautete nichts, aber das erklärte auch vollständig die Zurückgezogenheit des Gelehrten, der sich hartnäckig von jedem Verkehr abschloß. Er widmete in der That seine ganze Zeit seinen Studien, die er mit einer wahren Leidenschaft trieb, und das Ergebnis derselben waren denn auch mehrere philosophische Werke, die in den betreffenden Kreisen sehr geschätzt, im Publikum aber kaum dem Namen nach bekannt waren.

Vor zehn Jahren hatte er dann seine Enkelin, nach dem jähen Tode ihres Vaters in Kairo, zu sich ins Haus genommen, aber die Ankunft des damals achtjährigen Kindes hatte nicht das Geringste an den einsiedlerischen Gewohnheiten des Großvaters geändert. Die Kleine wurde zu demselben Leben verurteilt, das er selbst führte, und grundsätzlich von jedem Umgang mit Altersgenossen ausgeschlossen. Helmreich hatte sie sogar selbst unterrichtet, nur um zu verhindern, daß sie in der Schule mit andern Kindern in Berührung kam. So wuchs denn die kleine Elsa heran, in dem alten düstern Hause, ohne Spielgefährten, ohne Kinder- und Jugendfreuden, immer nur auf den Verkehr mit dem strengen, finstern Großvater angewiesen, der nach und nach ganz zum Sonderling geworden war.

Sonneck hatte, als er sich von dem Hofrat trennte, den Rückweg nach Burgheim angetreten. Er erreichte eben das Thor und wollte es öffnen, als ein wütendes Gebell ertönte und ein riesiger Hund, der aus dem Garten horvorstürzte, sich drohend hinter dem Gitter aufrichtete, ihm den Eingang zu verwehren.

»Ruhig, Wotan – ich bin es!« rief der Gast. Wotan hörte kaum die bekannte Stimme, als sein Gebell sich in freudiges Gewinsel verwandelte. Es war ein prächtiges Tier, riesengroß und offenbar auch riesenstark; das dichte dunkelgraue Fell war hier und da mit schwarzen Streifen gezeichnet, der mächtige Kopf, den eine förmliche Mähne schmückte, hatte etwas Wolfsartiges, aber das eben noch so zornige Tier schmiegte sich jetzt schmeichelnd und wedelnd an den Eintretenden und ließ es sich nicht nehmen, ihn nach dem Hause zu begleiten.

Das Gebell des Hundes hatte inzwischen noch einen zweiten Wächter herbeigezogen. Am Fuße der Steintreppe tauchte ein alter, aber noch rüstiger Mann auf, eine kräftige Gestalt, in Lodenjacke und Kniehosen, mit einem verwitterten, griesgrämigen Gesicht. Er schien Diener und Gärtner in einer Person zu sein und nicht übel Lust zu haben, den schweren Spaten, den er in der Hand hielt, gegen den Eindringling zu brauchen. Beim Anblick desselben wurde seine grämliche Miene zwar nicht freundlicher, aber doch minder grimmig. Er zog den Hut und ließ ein brummiges »Grüß Gott!« hören. Dann gab er den Eingang frei und ging, um eilig das Gitterthor zu schließen, das halb offen geblieben war. Sonneck mußte unwillkürlich lächeln, die »Instanzen« blieben auch ihm nicht erspart. Er hatte dem Alten flüchtig zugenickt und trat nun in das Haus.

Der Professor befand sich jetzt in seinem Arbeitszimmer, das ebenso groß, aber womöglich noch düsterer war als das Wohngemach und auf der andern Seite der Flurhalle lag. Hier sah man nur Bücher und nichts als Bücher, die ganze umfangreiche Bibliothek Helmreichs war in diesem Raume untergebracht. Die offenen Schränke nahmen die ganzen Wände bis hinauf zur Decke ein und ließen gar keinen Platz für andere Gegenstände. Am Fenster stand ein großer Schreibtisch, der mit Papieren, Büchern und Manuskripten förmlich belastet war, und davor ein hoher Lehnstuhl, mit schwarzem Leder überzogen. Beide zeigten die Spuren langjähriger Benutzung, sonst fehlte auch hier jeder Zimmerschmuck und damit jede Behaglichkeit. Dort, wo der Schreibtisch stand, hatte man allerdings einen Teil der Tannenzweige draußen entfernt, um Licht für die Arbeit zu schaffen, dafür drängten sie sich vor dem andern Fenster um so dichter zusammen, so daß in diesem Teile des Zimmers eine halbe Dämmerung herrschte.

Professor Helmreich saß in dem Lehnstuhl und vor ihm auf einem niedrigen Sessel ein junges Mädchen, das ihm aus einem Buche vorlas, sich aber beim Eintritt des Gastes sofort erhob.

»Guten Tag, Fräulein Elsa!« sagte dieser, ihr die Hand reichend. »Wie geht es, Herr Professor? Leider, wie ich eben hörte, nicht zum besten, ich bin gerade dem Hofrat begegnet.«

»Jawohl, er hat mich wieder einmal gequält mit seinen Verordnungen und Befehlen,« murrte der Professor. »Helfen kann er mir natürlich nicht. – Nehmen Sie Platz, Lothar! Du kannst jetzt gehen, Elsa.«

»Ich muß dir erst deinen Wein bringen, Großvater,« erinnerte das junge Mädchen.

»Laß mich in Ruhe, ich mag nicht!«

»Aber der Hofrat hat mir eigens aufgetragen, dir vormittags –«

»Den Hofrat soll der Kuckuck holen – ich will nicht, sage ich dir!«

Elsa schwieg bei dieser unfreundlichen Abweisung und blickte nur wie Hilfe suchend zu Sonneck hinüber, der denn auch nicht zögerte, einzugreifen: »Ich denke, Sie wollen sich arbeitsfähig erhalten für Ihr letztes großes Werk,« sagte er ruhig. »In Ihrem Alter geht das nicht ohne solche Kräftigung, das müssen Sie sich doch selbst sagen.«

»Der Hofrat hat mir ja das Arbeiten verboten,« grollte Helmreich, den der Besuch des Arztes offenbar in die übelste Laune gebracht hatte.

»Nicht verboten, nur beschränkt, und da hat er recht. Nehmen Sie sich an mir ein Beispiel! Glauben Sie, daß es mir, der nie gewußt hat, was Schonung heißt, jetzt leicht wird, mich all den Vorschriften der Kur zu fügen? Ich trage eben der Notwendigkeit Rechnung, das müssen wir alle.«

Die ruhige Bestimmtheit dieser Worte verfehlte nicht ihren Eindruck auf den alten eigensinnigen Mann, er machte eine ungeduldige, aber doch zustimmende Bewegung.

»Nun denn, meinetwegen – gib das Zeug her!«

Elsa trat an einen kleinen Tisch, der an dem andern Fenster stand, und goß aus einer Karaffe schweren dunklen Wein in das bereitstehende Glas. Sonnecks Blick hing dabei unverwandt an dem jungen Mädchen, das er einst als Kind in den Armen gehalten und nun erst nach zehn langen Jahren wiedergesehen hatte.

Von dem Kinde war freilich nichts mehr zu entdecken in dieser hohen, schlanken Mädchengestalt, aber sie hatte auch keinen Zug mehr von dem kleinen sonnigen Wesen, das einst so süß schmeicheln und so trotzig aufflammen konnte, wenn es gereizt wurde. Schön war Elsa von Bernried allerdings geworden. Was damals noch in der Knospe schlief, das entfaltete sich jetzt in der vollen, rosigen Frische der Jugend, aber es lag etwas eigentümlich Kaltes, Ernstes in der ganzen Erscheinung, und das jugendliche Antlitz hatte einen Ausdruck, der beinahe herb erschien. Und doch war das Mädchen kaum achtzehn Jahre alt.

Das blonde Haar war im vollsten Widerspruch mit der herrschenden Mode einfach gescheitelt und legte sich in zwei schweren, goldig schimmernden Flechten um den Kopf, den sie wie ein Kranz schmückten. Das war aber auch der einzige Schmuck, denn weder das graue Hauskleid, noch das glatte weiße Schürzchen zeigten auch nur das Geringste von jenem zierlichen Tand, mit dem die Jugend sich so gern schmückt, sie waren von höchster Einfachheit. Auch die Bewegungen Elsas hatten, trotz aller Anmut, etwas Einförmiges, Abgemessenes und ihr auffallend schweigsames und zurückhaltendes Wesen vollendete noch das Befremdende des ganzen Eindrucks, der so vollständig im Widerspruch mit der Schönheit und dem Alter des Mädchens stand.

Sie brachte jetzt das gefüllte Glas dem Großvater, der es widerwillig genug nahm und dann kurz und herrisch seinen frühern Befehl wiederholte: »Und nun geh, wir wollen allein sein!«

Elsa gehorchte schweigend, sie schien vollständig an diese Behandlung gewöhnt zu sein. Sonnecks Augen folgten ihr auch jetzt, als sie das Zimmer verließ, dann sagte er halblaut: »Sie haben sich eine sehr gehorsame Enkelin erzogen, Herr Professor.«

»Nun ja, es hat auch Mühe genug gekostet,« entgegnete Helmreich kühl. »Sie ahnen nicht, was ich im Anfang für Not hatte mit dem verzogenen kleinen Geschöpf, das gewohnt war, überall seinen Willen zu haben, und gar nicht wußte, was Gehorsam ist. Es zeigte bei jeder Gelegenheit einen Trotz und eine Leidenschaftlichkeit, die gar nicht zu bändigen waren. Nun, ich habe sie gebändigt, aber ich mußte zu den allerschärfsten Mitteln meine Zuflucht nehmen. Ja, Lothar, da runzeln Sie nun wieder die Stirn, ich weiß es längst, daß Sie meine ganze Erziehungsweise für eine Grausamkeit halten. Sie haben mir das oft genug zu verstehen gegeben, aber ich habe es erfahren, wohin es führt, wenn man ein Kind verwöhnt und vergöttert, wenn man ihm jeden Wunsch erfüllt, jede Freiheit gestattet. An mir hat sich das schwer genug gerächt – das Ende war Unheil und Schande.«

»Schande haben Sie an Ihrer Tochter nicht erlebt, die Ehe von Elsas Eltern war eine völlig korrekte!« warf Lothar mit Nachdruck ein. »Sie ließen sich ja nach jener Flucht trauen, freilich ohne den Segen des Vaters.«

Helmreich lachte herb und höhnisch auf.

»Jawohl, ohne den Segen des Vaters! Das heißt, sie lief bei Nacht und Nebel davon mit ihrem Geliebten und die ganze Universität zeigte mit Fingern auf ihren Rektor, dem das feine Tochter anthat! Schweigen Sie mir davon, ich kann noch jetzt nicht daran denken, aber ich will es nicht zum zweitenmal erleben! Deshalb habe ich Elsa so und nicht anders erzogen.«

»Und dabei haben Sie ihre eigentliche Natur vollständig gebrochen – freilich, das wollten Sie ja!«

»Ganz recht, das wollte ich, denn darin lag die größte Wohlthat für das Mädchen. Ich weiß es nur zu gut, von wem diese ›Natur‹ stammte, dieser störrische Eigenwille, diese maßlose Leidenschaftlichkeit, die sich gegen alle Schranken und Pflichten aufbäumt. In dem achtjährigen Kinde schon verriet sich das Blut des Vaters, dieses Buben, der mir die Tochter stahl –«

»Ludwig von Bernried ruht seit zehn Jahren im Grabe, lassen Sie ihn ruhen!« unterbrach ihn Lothar ernst; aber die Mahnung fruchtete nichts bei dem Erregten, er fuhr mit bitterem Spott fort: »Sie haben ihn wohl sehr betrauert, Ihren Busenfreund, und er hat doch auch Sie betrogen, damals als Sie die Hand boten zu jener Zusammenkunft – Lothar, das habe ich Ihnen auch heute noch nicht verziehen!«

»Ich glaubte, es handelte sich um einen Abschied, Bernried hatte mir sein Wort gegeben.«

»Und es dann gebrochen! Der ehrlose Verräter!«

Sonneck erhob sich plötzlich und trat dicht vor ihn hin.

»Nicht weiter, Herr Professor, wenn Sie mich nicht forttreiben wollen! Ludwigs Wortbruch hat mich damals schwer genug getroffen, viel schwerer als Ihre Vorwürfe, aber er hat gebüßt mit einem verfehlten Leben und einer bittern Todesstunde. Der Tod löschte seine Schuld – ich dulde es nicht, daß er noch im Grabe geschmäht wird!«

Die Worte wurden mit einer solchen Entschiedenheit gesprochen, daß der alte verbitterte Mann davor verstummte, er lehnte sich finster in seinen Stuhl zurück.

»Nun, so lassen Sie auch die alten Erinnerungen,« murrte er. »Sie wissen es ja, ich kann sie nicht vertragen.«

»Habe ich diese Erinnerungen wachgerufen? Sie sind es, der sich in unaufhörlicher Selbstquälerei damit martert. Brechen wir ab davon. Sie wollten ja schon gestern etwas Wichtiges mit mir besprechen, waren aber zu unwohl, um eine längere Unterhaltung zu führen.«

»Ganz recht, und der Anfall hat mir gezeigt, daß ich nicht mehr viel Zeit zu verlieren habe, wenn ich Verfügungen treffen will. Meine Tage sind gezählt.«

»Der Hofrat meint, daß eine nahe Gefahr nicht vorhanden sei,« warf Sonneck ein, indem er wieder seinen Platz einnahm. Der Professor zuckte verächtlich die Achseln.

»Jawohl, das hat er mir auch gesagt, er wollte mich wahrscheinlich trösten damit. Lächerlich! Als ob es ein Vergnügen wäre, diesen elenden, gebrechlichen Körper noch ein paar Jahre länger mit sich herumzuschleppen. Und was das Leben selbst betrifft, dies erbärmliche Dasein, das nichts als Not und Elend bringt, das habe ich schon seit zwanzig Jahren satt. Ich möchte nur mein letztes großes Werk noch abschließen und das ist in ein paar Monaten gethan, dann mag die Geschichte ein Ende nehmen, je eher desto besser!«

Es lag eine so herbe Bitterkeit in dem Ausbruch, daß man wohl sah, dem Manne war es ernst mit seiner Verachtung des Lebens. Lothar wußte das längst und hatte es auch längst aufgegeben, dagegen anzukämpfen, jetzt aber mahnte er in vorwurfsvollem Tone: »Und Ihre Enkelin?«

»Elsa? Ja, darüber wollte ich eben mit Ihnen reden. Burgheim ist immerhin etwas wert, besonders seit der – berühmte Weltkurort da drüben seine Arme immer weiter ausstreckt. Es ist schuldenfrei und wird, wenn es nach meinem Tode verkauft wird, Elsa ein bescheidenes Los sichern. Aber wohin mit dem Mädchen? Ich stehe mit niemand mehr in Verkehr und habe all meine früheren Beziehungen abgebrochen.«

Sonneck hatte schweigend zugehört, ohne ihn zu unterbrechen, jetzt fragte er ruhig: »Wollen Sie mir Elsas Zukunft anvertrauen?«

»Ihnen?« Helmreich sah ihn erstaunt an. »Ich denke, Sie gehen nach Afrika zurück, sobald Sie völlig wiederhergestellt sind?«

»Nein, ich bin entschlossen in Deutschland zu bleiben, wenn auch der Entschluß kein freiwilliger ist. Hofrat Bertram hat mir keinen Zweifel darüber gelassen, daß ich das Tropenklima ein für allemal meiden muß, wenn ich überhaupt noch auf Leben und Gesundheit rechnen will. Ich besitze ja keine Reichtümer, aber doch immerhin genug, um ganz unabhängig leben zu können. Ich werde mich also irgendwo in Deutschland niederlassen.«

Das finstere Gesicht des Professors hatte sich bei dieser Erklärung mehr und mehr aufgehellt und jetzt richtete er sich mit ungewohnter Lebhaftigkeit auf.

»Da nehmen Sie mir eine drückende Sorge vom Herzen, Lothar; auf diesen Ausweg hatte ich gar nicht gehofft. Jetzt kann ich bei meinem Tode alle Verfügungen in Ihre Hände legen und meine Enkelin Ihrer Vormundschaft übergeben. Sie sind ja alt genug, um ihr Vater sein zu können – nun erschrecken Sie nur nicht, ich meine das nicht buchstäblich! Ich werde Ihnen selbstverständlich nicht zumuten, sich eine solche Last aufzubürden.«

Lothar hatte in der That bei dem Worte »Vater« eine ablehnende, halb unwillige Bewegung gemacht, jetzt aber flog ein Lächeln über seine Züge, während er halblaut wiederholte: »Eine Last? Halten Sie es wirklich dafür?«

»Ein Mädchen ist immer eine Last!« sagte Helmreich in herbem Tone. »Denken Sie etwa, daß es mir leicht geworden ist, in meinem Alter noch ein Kind, ein heranwachsendes Mädchen in das Haus zu nehmen und da noch den Erzieher zu spielen? Mir blieb keine Wahl, denn erzogen mußte das kleine Geschöpf doch werden; aber Sie sollen natürlich kein Opfer bringen, sondern nur dafür sorgen, daß Elsa in irgend einer stillen bescheidenen Familie untergebracht wird. Ich werde sofort meinem Testament die nötigen Bestimmungen wegen Ihrer Vormundschaft hinzufügen und Ihnen unbeschränkte Vollmacht geben, dann ist die Sache erledigt.«

In den Worten lag keine Spur von Herzlichkeit oder wirklicher Fürsorge, sie zeigten deutlich, daß der Großvater seine Enkelin in der That nur als eine Last betrachtete. Er war offenbar froh, einer Sorge überhoben zu sein, die ihn weit mehr gestört und geärgert als bekümmert hatte. Sonneck erhob sich und seine Stimme verriet den kaum verhehlten Unwillen, als er entgegnete: »Herr Professor, Sie haben sehr wenig Herz für Ihre Enkelin, sie hat es von jeher bei Ihnen büßen müssen, die Tochter ihres Vaters zu sein.«

»Nur keine Predigten, das verbitte ich mir!« fuhr Helmreich gereizt auf. Dann lenkte er ein und sagte milder: »Wollen Sie etwa schon wieder fort? Ich wollte Ihnen erst noch eine Stelle aus meinem neuesten Kapitel vorlesen.«

»Spater – möchte ich bitten. Jetzt will ich Elsa aufsuchen, ich habe mit ihr zu sprechen.«

»Worüber denn?« grollte der Professor. »Es soll wohl wieder allerlei Verhaltungsregeln für mich geben, die dieser Hofrat ausgeheckt hat? Der Mensch ist mir unerträglich mit seiner ewigen Rechthaberei!«

Lothar antwortete nicht, sondern wandte sich mit einem kurzen »Also auf Wiedersehen!« nach der Thür und verließ das Zimmer, während Helmreich zur Feder griff und bei dem Manuskripte, das vor ihm auf dem Schreibtische lag, mit der Durchsicht fortfuhr.

Elsa befand sich im Wohnzimmer; sie saß am Fenster, mit einer Handarbeit beschäftigt, als Sonneck eintrat und einen Augenblick lang auf der Schwelle stehen blieb. Das düstere Gemach sah heute an dem trüben Sturmtage noch düsterer und unwohnlicher aus als sonst, das einzig Lichte war der blonde Kopf des jungen Mädchens, der sich über die Arbeit beugte.

»Bleiben Sie sitzen, Elsa,« sagte Lothar, rasch zu ihr tretend, als sie sich erheben wollte. »Ich habe etwas Ernstes mit Ihnen zu besprechen, wollen Sie mich anhören?«

Elsa sah ihn groß und erstaunt an, sie war es nicht gewohnt, daß man etwas mit ihr besprach, und noch weniger, daß man erst fragte, ob sie es auch hören wolle. Sie verriet aber nicht die mindeste Neugier, sondern neigte nur bejahend das Haupt und wartete schweigend auf eine Erklärung.

Es vergingen jedoch einige Sekunden, ehe Sonneck sprach. Der Mann, der die halbe Welt kannte und gewohnt war, mit den verschiedensten und bedeutendsten Persönlichkeiten zu verkehren, schien seltsamerweise hier befangen zu sein. Er suchte offenbar nach einer Einleitung, aber die helle Röte in seinem Antlitz, der gepreßte, etwas unsichere Klang seiner Stimme verrieten eine mühsam niedergehaltene Erregung, als er endlich begann: »Ihr Großvater ist recht leidend gewesen in der letzten Zeit und darunter müssen auch Sie leiden, nicht wahr? Er ist eben krank, und ein Kranker quält oft wider Willen seine ganze Umgebung, selbst das, was ihm lieb ist.«

»Der Großvater hat mich nicht lieb,« sagte das junge Mädchen herb.

»Elsa!«

»Nein, Herr Sonneck, er hat mich nie lieb gehabt, auch damals nicht, da ich als kleines Kind zu ihm kam, und mein Papa –«

Sie brach plötzlich ab und preßte die Lippen zusammen, als sei ihr das Wort wider Willen entflohen.

»Nun?« fragte Sonneck nach einer Pause. Das Mädchen schwieg und beugte sich wieder über die Arbeit.

»Sie wollten von Ihrem Vater sprechen, Elsa. Erinnern Sie sich seiner noch?«

Sie schüttelte langsam verneinend den Kopf. »Nein, bisweilen ist es mir wohl, als wollte sein Bild auftauchen, aber es ist ganz nebelhaft und unbestimmt, und wenn ich versuche, es festzuhalten, dann zerfließt es ganz. Sprechen durfte ich ja nie von dem Papa und auch niemals nach ihm fragen; der Großvater hat mich stets hart gescholten und gestraft, wenn ich das that.«

»Gestraft? Wenn ein Kind nach seinem Vater fragt! Das ist ja –« Lothar hatte eine sehr harte Aeußerung auf den Lippen, unterdrückte sie aber; er konnte den alten tyrannischen Mann doch nicht vor seiner Enkelin anklagen, und so sagte er ernst: »Zu mir dürfen Sie von ihm sprechen, Elsa. Ich war der Jugendfreund Ihres Vaters, er ist mir einst sehr teuer gewesen und ich stand auch an seinem Sterbebette. Das Leben hatte ihm in den letzten Jahren viel Bitteres gebracht und es gab nur eins, was ihn hier zurückhielt – sein Kind, das er nun allein und freundlos zurücklassen mußte. Ich konnte die schwere Sorge nicht von ihm nehmen, denn ich hatte ja keine Heimat und stand unmittelbar vor meinem großen Zuge in das Innere Afrikas, der jahrelang dauerte – es hat mir damals wehe genug gethan!«

Elsa hatte die Hand an die Stirn gelegt, als wollte sie sich auf etwas besinnen, doch gelang es ihr offenbar nicht und sie fragte nur leise: »Mein Papa ist schon lange, sehr lange tot? nicht wahr?«

»Seit zehn Jahren, und zwei Monate später traten Sie die Reise nach Deutschland an. Erinnern Sie sich gar nicht mehr der großen fremden Stadt auf afrikanischem Boden? Der schönen, jungen Dame, zu der ich Sie nach dem Tode Ihres Vaters brachte? Des breiten, mächtigen Nilstroms mit den hohen Palmen und der fernen Wüste? Sie waren doch damals bereits acht Jahre und in dem Alter pflegt man sonst schon Eindrücke aufzunehmen.«

Das junge Mädchen hörte aufmerksam zu, aber es war nur jene Aufmerksamkeit, mit der man einem fremden wundersamen Märchen lauscht. Sonnecks Worte berührten augenscheinlich keine Saite in ihrer Erinnerung. «Ich habe das alles wohl noch gewußt, als ich hierher kam,« erwiderte sie wie entschuldigend. »Hofrat Bertram sagt es wenigstens; ich bin jedoch einmal lange und schwer krank gewesen, und als ich wieder gesund wurde, hatte ich alles vergessen – alles!«

Das klang nicht bitter und nicht traurig, sondern nur gleichgültig. Sonneck unterdrückte einen Seufzer.

»Nun, so wollen wir es auch ruhen lassen,« entgegnete er. »Ihr Großvater erträgt es ohnehin nicht, wenn von den alten Erinnerungen die Rede ist, und wir haben allen Grund, ihn zu schonen. Sie wissen es ja längst, Elsa, daß seine Krankheit ernster Natur ist, und wenn auch keine nahe Gefahr droht, so fühlt er es doch selbst am besten, daß ihm keine lange Lebensdauer mehr beschieden ist. Er hat vorhin ausführlich mit mir darüber gesprochen und wünscht für den Fall seines Todes, Sie meinem Schutze zu übergeben – sind Sie damit einverstanden?«

Es flog etwas wie ein heller Schein über die Züge des jungen Mädchens und ohne Zögern und Bedenken antwortete sie: »O gewiß, Herr Sonneck! Sie sind immer so gut gegen mich gewesen.«

Lothar nahm ihre Hand und schloß sie fest in die seinige, seine Stimme gewann einen weichen bebenden Klang, als er weiter sprach: »Und wenn ich dies Recht nun für immer in Anspruch nehmen wollte – für das ganze Leben? Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, was mir damals verwehrt war, als ich die kleine Waise aus den Armen des toten Vaters nahm. Komm an mein Herz! Ich will dich schützen und behüten bis zu meinem letzten Atemzug. Du sollst das Glück, der Sonnenschein meines Hauses sein, und alles, was ich bin und habe, soll dein sein! – Was würden Sie mir antworten?«

Er beugte sich in atemloser Erwartung vor, aber die Antwort klang seltsam kühl und ernst auf die leidenschaftliche Frage.

»Ich würde Ihnen gewiß sehr dankbar sein und mir alle Mühe geben, Ihre Güte zu verdienen. Ich habe ja so manches gelernt und führe den Haushalt des Großvaters schon seit Jahren, da könnte ich mich gewiß auch in Ihrem Hause nützlich machen.«

Lothar ließ plötzlich ihre Hand fallen und stand heftig auf.

»Nützlich machen? Glauben Sie denn, daß ich eine Haushälterin aus Ihnen machen will? Kind, Sie verstehen mich nicht!«

Die großen Augen des Mädchens hingen wieder fragend und erstaunt an seinem Gesicht. Sie verstand ihn in der That nicht und begriff seine unwillige Abwehr so wenig wie vorhin seine hervorbrechende Zärtlichkeit. Sonneck sah, daß er deutlicher sprechen mußte.

»Sie sind im Irrtum, Elsa,« sagte er, an ihren Stuhl tretend, und legte leise den Arm auf die Lehne desselben. »Sie sehen in mir nur den väterlichen Freund, der Ihnen eine Zuflucht in seinem Hause bietet – es ist etwas anderes, was ich von Ihnen fordere, etwas ganz anderes. Freilich, Sie halten es wohl nicht für möglich, daß der Mann, dem die Jugend längst versunken ist, es noch wagt, um Glück und Liebe zu werben, um ein holdes junges Wesen zu werben, das erst eintreten soll in das Leben. Es ist eine Thorheit, ich weiß es und habe den ganzen Winter lang mit mir gekämpft, ob ich überhaupt nach Kronsberg zurückkehren, Sie wiedersehen solle, allein die Sehnsucht war mächtiger als alle Vernunft. Komme was da will, ich muß wenigstens Gewißheit haben!«

Elsa schien jetzt endlich zu begreifen, um was es sich handelte, sie machte eine Bewegung, aber es war ein vielleicht unbewußtes, scheues Zurückweichen. Lothar sah das, seine Hand glitt langsam von der Lehne des Sessels nieder und er trat zurück.

»Soll ich schweigen? Sagen Sie ein Wort und – ich gehe für immer.«

»Nein, nein! Es war nur – ich wollte Sie nicht beleidigen, gewiß nicht!« Das klang fast wie die Abbitte eines Kindes. Sonneck lächelte flüchtig und traurig.

»Beleidigen! weil Sie erschrecken, wenn ein Mann mit grauen Haaren Ihnen von Liebe spricht? Ich hätte freilich früher daran denken sollen, aber in den Jahren, wo die Jugend noch schwärmt und träumt, da verließ ich bereits Europa und ging hinaus in ein Leben, das mir gar keine Möglichkeit ließ, an ein häusliches Glück zu denken. Ein halbes Menschenalter lang bin ich umhergeschweift da draußen in der weiten Ferne, mein Frühling und mein Sommer sind darüber vergangen und Liebe und Glück sind mir ferngeblieben. Jetzt, im Herbst meines Lebens, tauchen sie endlich vor mir auf – zu spät! Ist es wirklich zu spät, Elsa? Das sollst du mir sagen. Ich stelle trotz alledem die entscheidende Frage an mein Schicksal, an dich! Willst du mein Weib sein, mein geliebtes, angebetetes Weib? Sprich – ich lege mein ganzes Geschick in deine Hände.«

Es war keine stürmische, leidenschaftliche Werbung, aber aus jedem Worte sprach eine grenzenlose Zärtlichkeit und Innigkeit. Elsa hörte zu mit einem starren, ungläubigen Staunen, sie konnte es noch immer nicht fassen, daß der Mann, der ihr stets so hoch und fern gestanden hatte, zu dem sie nur mit scheuer Ehrfurcht aufblickte, ihr jetzt von Liebe sprach, daß er sie zum Weibe begehrte. Als er geendet hatte, saß sie noch immer da, die verschlungenen Hände im Schoße, und regte sich nicht.

»Hast du kein Wort für mich?« mahnte er endlich in bebender Unruhe. »Sprich, und wenn es ein Nein ist, ich will es tragen, aber gib mir Gewißheit!«

Elsa hob das Auge zu ihm empor, nur eine Sekunde lang, dann streckte sie die Hand aus und legte sie wortlos in die seinige.

»Heißt das – Ja?« fragte er in aufflammender Hoffnung.

»Ja!« sagte das junge Mädchen ruhig und einfach.

Da leuchtete es auf in den Zügen Lothars, ein Strahl unendlichen Glückes brach daraus hervor. Er schloß seine junge Braut in die Arme und nun strömte eine Flut von Zärtlichkeit über sie hin, die das so einsam und liebeleer aufgewachsene Mädchen wie ein Traum umfing. Sie sah es jetzt zum erstenmal, daß diese tiefen grauen Augen, die ihr immer bisher so düster erschienen, sehr schön waren; freilich leuchteten sie auch heute zum erstenmal in diesem sonnenhellen Glanz. Das ganze Wesen des sonst so ernsten, ruhigen Mannes war wie verklärt von Glück.

»Meine Elsa!« sagte er leise, und seine Stimme zitterte in tiefster Bewegung. »Habe Dank für dieses Ja, tausendfachen Dank – du ahnst es nicht, wie unaussprechlich glücklich du mich gemacht hast!«

 

Professor Helmreich hatte sich weiter in sein Manuskript vertieft und alles andere darüber vergessen, als Lothar Sonneck mit seiner jungen Braut am Arme eintrat und sie zu dem Großvater führte. »Herr Professor, Sie haben mir vorhin erklärt, daß Sie Elsas Zukunft mit vollem Vertrauen in meine Hand legen,« sagte er. »Ich nehme Sie beim Wort und bitte um Ihren väterlichen Segen für meine Braut und mich.«

Helmreich fuhr vom Stuhle auf und starrte die beiden an, als traute er seinen Augen und Ohren nicht. »Lothar, ich glaube, Sie haben den Verstand verloren!« rief er in seiner rücksichtslosen Art.

»Sie meinen, weil der Altersunterschied zwischen uns so groß ist?« fragte Lothar mit ruhigem Ernst. »Den kenne ich am besten, aber er geht nur meine Elsa allein an, und sie hat mir trotzdem ihr Jawort gegeben. Wir warten nur auf das Ihrige, das Sie uns doch wohl nicht verweigern?«

Der Professor begriff jetzt erst, daß es mit der Sache ernst sei, aber er fand sich merkwürdig schnell darein, denn er erkannte, daß sie für ihn im höchsten Grade wünschenswert sei.

»Heiraten wollen Sie das Mädchen!« sagte er. »Hm, die Geschichte ist im Grunde gar nicht so unsinnig, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Wenn Sie sich ein Heim gründen wollen, müssen Sie natürlich auch eine Hausfrau haben. Es wirtschaftet sich schlecht mit Fremden, das habe ich erfahren, und Elsa versteht etwas vom Haushalt. Im Grunde haben Sie ganz recht, Lothar, und mir kann es nur recht sein, wenn ich das Mädchen geborgen weiß an Ihrer Seite. Ich bin einverstanden.«

Er sah die ganze Sache offenbar nur vom Nützlichkeitsstandpunkte an und setzte es als selbstverständlich voraus, daß auch Sonneck keinen anderen Beweggrund habe für seine Werbung. Elsa schien die unglaubliche Herzlosigkeit, die darin lag, kaum zu fühlen, um so mehr wurde Lothar durch sie verletzt, seine Stirn zog sich finster zusammen.

»Herr Professor, Ihre Enkelin wartet auf den Glückwünsch des Großvaters,« mahnte er in einem Tone, der Helmreich doch daran erinnerte, daß er in diesem außergewöhnlichen Fall auch etwas Besonderes thun müsse, und so entschloß er sich denn dazu.

»Komm her, Elsa,« sagte er. »Du weißt, ich halte nicht viel von den Menschen, aber der da, dein künftiger Gatte, der ist einer von den Besten, einer von den wenigen, mit denen es sich lohnt zu leben. Du kannst stolz darauf sein, daß er dich gewählt hat, und ich hoffe, du wirst dich dankbar dafür erweisen und im vollsten Maße deine Pflicht thun.«

Die Worte hatten wohl einen Anflug von Wärme, aber doch nur, soweit sie Sonneck betrafen, für seine Enkelin hatte der Professor nur eine Mahnung an ihre künftigen Pflichten. Sie erwiderte keine Silbe darauf, sondern trat zu dem Großvater und empfing einen Kuß auf die Stirn, den ersten seit Jahren. Dann wandte sie sich wieder zu Sonneck, der sie in die Arme schloß, als wollte er sie schützen vor dem alten harten Mann, dem tiefe Verbitterung nicht einmal die Liebe für das einzige Kind seiner Tochter übrig gelassen hatte. Lothars tiefe graue Augen blickten wieder in die ihrigen so voll unendlicher Zärtlichkeit; aber Elsa hatte es noch nicht gelernt, diese Sprache zu verstehen.

 

Das Haus des Hofrats Bertram lag inmitten des Badeorts. Es war eine hübsche geräumige Villa, von geschmackvollen Gartenanlagen umgeben, aber der vollste Gegensatz zu dem düstern Burgheim. Hier war alles hell, luftig und sonnig, und das weiße Haus, mit seinen Altanen, die im Sommer von wildem Wein umrankt waren, sah so recht aus, als ob das Glück und die Zufriedenheit darin wohnten.

Für den Augenblick freilich gaben sich dieses Glück und diese Zufriedenheit in etwas lärmender Weise kund. In dem Speisezimmer, dessen Fenster und Thüren auf den Garten hinausgingen, tobte die gesamte Nachkommenschaft des Herrn Hofrats umher, drei kräftige Buben, mit krausen Haaren, braunen Augen und roten Backen, allesamt dem Vater ähnlich. Der älteste hatte seine beiden jüngern Brüder als Pferdchen an eine lange Leine gespannt und trieb sie unter lautem Hallo mit der Peitsche an. Das ging um Tisch und Stühle herum, gelegentlich auch darüber hinweg, und es war ein Lachen und Jauchzen ohne Ende.

In diesen Lärm hinein gerieten nun die Eltern, die aus dem Wohnzimmer kamen und von der wilden kleinen Gesellschaft beinahe umgerannt wurden. Wenn Bertram selbst nur etwas stattlicher geworden, aber im großen und ganzen doch derselbe geblieben war wie vor zehn Jahren, so hatte sich seine Gattin um so auffallender verändert. Niemand würde in dieser kleinen blühenden Frau, die von Gesundheit förmlich strahlte, das zarte, blasse und schmächtige Wesen von früher wiedererkannt haben, das vor Schüchternheit kaum die Augen aufzuschlagen wagte und überhaupt nur sprach, wenn die gestrenge Schwägerin es erlaubte. Die Frau Hofrätin war noch immer eine sehr anmutige Erscheinung, wenn ihre Gestalt auch etwas zur Fülle neigte, und das zierliche Spitzenhäubchen auf dem blonden Haare, der moderne und geschmackvolle Anzug standen ihr jedenfalls besser als damals die dunkle Trauerkleidung. Von ihrer Schüchternheit schien auch nicht viel übrig geblieben zu sein, denn sie fuhr mitten unter ihre Sprößlinge mit einer Energie, die nichts zu wünschen übrig ließ.

»Wollt ihr wohl Ruhe halten, ihr Jungen! Das ist ja ein Höllenlärm, den ihr da vollführt, man kann sein eigenes Wort nicht verstehen!«

»Ruhe!« kommandierte jetzt auch Bertram. »Achtung – Stillgestanden – Richt euch!«

Das Kommando wurde pünktlich befolgt, die Jungen standen wie die Mauern und der älteste salutierte mit der Peitsche.

»Brav gemacht!« lobte der Vater. »Ihr wißt wenigstens Order zu parieren.«

»Auf zwei Minuten,« fiel Selma ein. »Dann geht die wilde Jagd von neuem los. Du läßt den Knaben zu viel Freiheit, sie sind schließlich gar nicht mehr zu bändigen in ihrer Wildheit.«

»Nun, du bändigst sie schon, sie haben vor dir ja mehr Respekt als vor mir,« meinte der Hofrat. »Aber jetzt lauft hinüber in den Stall, Jungen, sagt dem Sepp, er solle anspannen und an der Gartenseite vorfahren – marsch!«

Der Auftrag wurde mit einer förmlichen Begeisterung aufgenommen, die drei Knaben stürzten in den Garten und unternahmen dann einen Wettlauf nach dem Stallgebäude, Bertram blieb mit seiner Frau allein.

»So, jetzt haben wir Ruhe!« sagte er. »Ich will zu Lady Marwood fahren. Ich habe um zwölf Uhr meinen Besuch angesagt und bin neugierig, was aus dem zarten schönen Mädchen geworden ist, das wir damals in Luksor sahen. Erinnerst du dich noch ihrer, Selma?«

»O gewiß. Ich sah sie bereits gestern bei ihrer Ankunft, als sie hier vorbeifuhr; aber sie trug einen dichten Schleier, so daß ich die Züge nicht unterscheiden konnte. Glaubst du, daß sie ernstlich leidend ist?«

»Es scheint so, da sie mich gleich am ersten Tage rufen läßt und sich für einen längern Aufenthalt in Kronsberg eingerichtet hat, die Villa ist für den ganzen Sommer gemietet. Indessen, diese vornehmen Damen bilden sich oft ein, leidend zu sein, wenn sie Langeweile haben. Wir werden ja sehen, jedenfalls kann ich mich bei ihr mit einer willkommenen Nachricht einführen. Sie weiß es vermutlich noch nicht, daß Sonneck hier ist, er hat mir selbst gesagt, daß er seit Jahren nicht mehr in Verkehr mit ihr steht.«

Selma hatte sich niedergesetzt und stützte nachdenklich den Kopf in die Hand. »Was sagst du eigentlich zu Sonnecks Verlobung?«

»Bravo! habe ich gesagt. Es war das Gescheiteste, was er thun konnte, nun es entschieden ist, daß er in Deutschland bleibt, und die Elsa ist auch gescheit, daß sie ihn nimmt, denn einen bessern Mann bekommt sie überhaupt nicht.«

»Glaubst du denn, daß sie freiwillig ja gesagt hat? Der Großvater wird es wohl befohlen haben. Dieser Egoist bedenkt sich ja nicht einen Augenblick, sie dem alten Manne zu opfern, weil es sein Freund ist.«

»Dem alten Manne?« wiederholte Bertram unwillig. »Nun, auf Sonneck paßt doch diese Bezeichnung sicher nicht, der ist interessanter als ein ganzes Dutzend unserer jungen Herren, zumal für ein Mädchen wie Elsa.«

»Aber sie ist achtzehn Jahre alt und er vierundfünfzig!«

»Nun dafür ist er eben Lothar Sonneck, bei dem machen die Jahre nichts aus. Elsa wird künftig einen weltberühmten Namen tragen und eine Stellung einnehmen, um die sie manches junge Mädchen beneiden dürfte.«

»Aber dann ist es eine bloße Vernunftheirat, lieben kann sie ihn doch unmöglich.«

»Warum denn nicht?« rief der Hofrat ungeduldig. »Du meinst wohl, es müsse bei jeder Werbung so romantisch zugehen wie bei uns? Ich mußte dich deiner liebenswürdigen Schwägerin ja erst abkämpfen und ein förmliches Komplott mit Ehrwald schmieden. Weißt du noch, wie er die unglückliche Ulrike eine volle Stunde lang mitten in den heißen Wüstensand setzte, nur damit ich dir auf den Trümmern des Karnak-Tempels eine Liebeserklärung machen konnte? Ja, ja, mir ist es sauer genug geworden.«

»Die Liebeserklärung oder der Kampf?« fragte die Frau Hofrätin mit einiger Schärfe.

»Beides, denn es war eine Erklärung mit Hindernissen,« versetzte Bertram lachend. »Aber was schreibt dir denn Ulrike eigentlich? Du erhieltest ja vorhin einen Brief aus Martinsfelde. Ist es nun endlich verkauft? Die Bahngesellschaft wollte ja Ernst machen und drohte mit dem Zwangsverfahren. Das hat hoffentlich gewirkt.«

»Jawohl, der Verkauf ist vor acht Tagen abgeschlossen worden. Du weißt ja, Ulrike sträubte sich bis zum letzten Augenblick dagegen und hätte freiwillig nie ihre Zustimmung gegeben. Sie ist schließlich der Notwendigkeit gewichen, scheint aber ganz verzweifelt darüber zu sein.«

»Sie ist nicht gescheit!« sagte der Hofrat ärgerlich. »Sie wird sich doch nicht bis in ihr spätes Alter hinein mit der Wirtschaft plagen wollen, und einen solchen Preis wie die Bahngesellschaft zahlt ihr niemand. Jeder andere würde diesen Verkauf als einen Glücksfall betrachten und sie lamentiert darüber!«

»Mir thut Ulrike leid,« erklärte Selma. »Solange sie die Wirtschaft führte, hatte sie doch immer noch eine Beschäftigung, einen Lebenszweck. Jetzt ist das zu Ende und ein anderes Gut wird sie sich schwerlich kaufen, sie hing ja mit allen Lebensfasern an Martinsfelde, das schon ihren Eltern gehörte. Ihr herbes rücksichtsloses Wesen hat ihr nirgends Freunde geschaffen, nun steht sie ganz vereinsamt da und sieht einem öden, trostlosen Alter entgegen. Ihr Brief zeigt, wie tief sie das fühlt, er klingt ganz verzweifelt. Was meinst du, Adolf, ich möchte sie für einige Wochen einladen. Ist es dir recht?«

»Warum denn nicht?« lachte Bertram. »Ich fürchte mich nicht vor deiner gestrengen Schwägerin und es steht ja wohl auch nicht mehr zu befürchten, daß du wieder unter ihr Scepter gerätst. Treibt sie es gar zu arg, so komplimentiere ich sie mit der größten Liebenswürdigkeit zum Hause hinaus; du weißt ja, das verstehe ich ausgezeichnet.«

Sie wurden unterbrochen, denn eben fuhr draußen der Wagen vor, geleitet von den drei Jungen. Nun gab es ein jubelndes Abschiednehmen von dem Vater und dann hing sich die ganze Gesellschaft an die Mutter und begleitete sie unter Lärmen und Lachen in das Wohnzimmer. Es ging immer sehr lustig zu im Hause des Hofrat Bertram.

 

Kronsberg hatte die Genugthuung, diesmal schon sehr früh einen vornehmen Kurgast zu begrüßen. Sonst pflegten um diese Zeit nur jene Familien zu kommen, die die hohen Preise der Hauptsaison scheuten. Es war ein Ausnahmefall, daß eine Persönlichkeit wie diese reiche englische Dame schon im Mai eintraf, und sie mußte sehr reich sein, das bewies ihr Auftreten.

Sie hatte nicht nur die schönste und teuerste Villa des ganzen Kurortes für sich allein gemietet, sondern auch einen Kammerdiener vorausgesandt, der alles nach ihren Wünschen und Gewohnheiten einrichten mußte. Ihm folgten Wagen und Pferde, dann traf die Dienerschaft ein und endlich erschien Mylady selbst. Die ganze Villa bevölkerte sich zum Dienste einer einzigen Frau und der Haushalt wurde auf einem Fuß eingerichtet, wie es sonst nur bei Fürstlichkeiten zu geschehen pflegt.

Es war um die Mittagsstunde, als Lothar Sonneck in das Haus trat und dem Diener, der ihn in Empfang nahm, seine Karte übergab. Die Villa war erst vor einigen Jahren entstanden, als Kronsberg bereits den Aufschwung zum Weltkurorte nahm, und konnte selbst einem verwöhnten Geschmack als Sommersitz für einige Monate genügen, aber die ganze innere Einrichtung war jetzt ergänzt und teilweise völlig umgestaltet worden, das zeigte sich schon in dem Salon, wohin der Gast geführt wurde. Kostbare Decken und Teppiche, reichgewirkte Vorhänge, die offenbar aus dem Orient stammten, eine Fülle von Blumen und eine Menge wertvoller und künstlerischer Kleinigkeiten, die überall aufgestellt waren, gaben dem Raume ein ebenso vornehmes wie behagliches Ansehen. Sonneck fand aber nicht viel Zeit, sich umzublicken, er war kaum eingetreten, als sich eine Seitenthür öffnete und Lady Marwood erschien.

»Herr Sonneck, welche unverhoffte Freude!« rief sie, ihm beide Hände entgegenstreckend. »Sie sind auch in Kronsberg, und hier, in dem fernen deutschen Alpenlande, sehen wir uns wieder!«

»Nach zehn Jahren!« ergänzte er, die dargebotenen Hände mit vollster Herzlichkeit ergreifend. »Sie sehen, ich mache von einem alten Rechte Gebrauch und überfalle Sie gleich am ersten Tage Ihres Aufenthalts, Mylady.«

»Um Gottes willen, nur nicht diesen Titel!« wehrte sie heftig ab. »Für Sie bin und bleibe ich Zenaide, wie Sie mir der alte teure Freund bleiben. Aber nun kommen Sie, lassen Sie uns plaudern! Was führt Sie nach Kronsberg? Sind Sie der Kur wegen hier? Ich las es in einer Zeitung, daß Sie eines hartnäckigen Leidens wegen nach Europa zurückgekehrt seien, ist das wahr?«

Sie that all diese Fragen hastig nacheinander, ohne eine Antwort abzuwarten, zog ihn neben sich auf den Diwan nieder und begann ein lebhaftes Gespräch, in das Lothar ebenso lebhaft einstimmte; allein sein Auge hing dabei fragend und forschend an dem Antlitz der schönen Frau, die er nicht wiedergesehen hatte seit jener Stunde, wo er in Luksor von ihr Abschied genommen.

Aus dem schlanken Mädchen mit den sanften, träumerischen Zügen war eine blendende, siegesbewußte Schönheit geworden, und die einst so elfenhaft zarte Gestalt hatte sich zum vollsten, üppigsten Reiz entwickelt. Der herrliche Kopf mit dem bläulich schwarzen Haar wurde jetzt so hoch und stolz getragen, als wollte er die ganze Welt herausfordern, und jenes orientalische Element, das trotz ihrer deutschen Abkunft schon damals, wenn auch verschleiert, in der Erscheinung Zenaidens lag, trat jetzt schärfer und deutlicher hervor. Es war, als ob etwas von dem glühenden Hauch ihrer Heimat sie umschwebte und durchflammte, und jenes Feuer, das einst halb verborgen in den großen tiefdunklen Augen schlief, war heraufgestiegen aus der Tiefe und loderte heiß und verzehrend in dem Blick.

Lady Marwood war schöner, viel schöner als Zenaide von Osmar es je gewesen, doch jener eigenartige, halb schwermütige Reiz, der das junge Mädchen umgab, war verschwunden, die glänzende Weltdame zeigte keine Spur mehr davon. Ihre Unterhaltung war sprühend lebendig, aber es lag etwas Ruheloses, Unstetes darin. Sie sprang ganz unvermittelt von einem Gegenstande zum andern über und ihr ganzes Wesen verriet eine nervöse Ueberreiztheit.

»Ja, ich bin so eine Art Zugvogel geworden,« sagte sie lachend. »Immer auf der Wanderung, von einem Ort zum andern! Ich war in Deutschland und Italien, in Frankreich und der Schweiz, gelegentlich auch einmal wieder in Kairo, und nun haben mich die Aerzte eines Nervenleidens wegen nach Kronsberg geschickt, das ja jetzt Mode geworden ist und aller Welt helfen soll. Ich hätte auch gar nichts dagegen gehabt, die Saison hier zuzubringen, aber welch ein Einfall, mich schon im Mai hierherzuschicken, wo der Ort noch wie ausgestorben ist und das Gebirge noch halb im Schnee begraben liegt! Ich wollte von Rom, wo es nachgerade unerträglich heiß wurde, noch auf sechs Wochen nach Paris gehen und dann herkommen, aber die Aerzte sind Tyrannen. Sie schreckten mich mit allerlei düstern Prophezeiungen, bis ich nachgab und in die eisige Verbannung ging.«

»Die Verbannung ist so schlimm nicht,« versetzte Sonneck lächelnd. »Der Frühling zieht ja endlich auch hier ein, wenn auch spät genug, und die Umgebung ist wunderschön, ein großartiges, mächtiges Alpenpanorama.«

»Aber keine Menschen! kein Leben! keine Bewegung! Und das alles brauche ich.«

»Wirklich? Sonst liebten und suchten Sie gerade die Einsamkeit –«

»Sonst, ja sonst!« unterbrach sie ihn ungeduldig. »Das ist eben anders geworden. Jetzt kann ich die Einsamkeit nicht ertragen und gerade dazu wollen die Aerzte mich verurteilen. Nur deshalb allein haben sie mich nicht nach Paris gelassen. Ruhe! Ruhe! Darauf läuft ja ihre ganze Weisheit hinaus. Ein abscheuliches Wort – ich werde schon krank, wenn ich es nur höre!«

Sie sprang auf und begann hastig und ruhelos im Zimmer hin und her zu gehen. Sonneck sah es jetzt erst, wie krankhaft das Wesen der jungen Frau war, deren Bild er so ganz anders in der Erinnerung hatte. Als er damals von seinem Zuge in das Innere Afrikas zurückkehrte, war Zenaide mit ihrem Gemahl in England gewesen, und auch bei seinen spätern Besuchen in Kairo hatte er sie niemals getroffen, obwohl sie oft monatelang bei dem Vater weilte.

»Sie sind seit drei Jahren nicht in Kairo gewesen,« hob er wieder an. »Ich hörte es, als ich auf meiner Rückkehr nach Europa wieder dort rastete. Ihr Haus stand verschlossen und verödet.«

»Jawohl, verödet!« wiederholte sie mit Bitterkeit. »Das ist es für mich immer seit dem Tode meines Vaters gewesen, selbst wenn ich es bewohnte. Seitdem liebe ich Kairo nicht mehr, es ist mir, als hätte ich mit ihm meine Heimatsrechte dort verloren. Und unsern Landsitz am Nil habe ich verkauft. Ich mochte nicht wieder den Fuß dorthin setzen, mochte überhaupt nicht mehr daran erinnert sein!«

»An Luksor, wo Ihre liebsten Kindheits- und Jugenderinnerungen wurzeln?«

»Und wo das Unglück meines Lebens seinen Anfang nahm – ich hasse Luksor!« Sie schleuderte das Wort mit einer wilden Energie heraus. Lothar schwieg, er wußte ja, daß sie sich dort mit Marwood verlobt hatte, und kannte auch den Tag, an dem es geschehen war, er ahnte langst den Zusammenhang. Zenaide blieb plötzlich stehen und richtete finster das Auge auf ihn.

»Wozu denn dies rücksichtsvolle Schweigen? Sie wissen ja doch alles, mein Vater hat Ihnen später oft genug sein Herz ausgeschüttet. Mein armer Vater! Er klagte sich so bitter an, weil diese Heirat sein Wunsch gewesen war, und doch hat er mich nicht dazu gedrängt, nicht einmal überredet. Ich war es, die freiwillig den Entschluß faßte, die Schuld trifft mich allein!«

»Ihre Ehe war keine glückliche, ich weiß es,« sagte Sonneck halblaut. Die junge Frau lachte grell und höhnisch auf.

»Wie rücksichtsvoll Sie sich ausdrücken! Nein, sie war in der That nicht glücklich, das ist jetzt auch der Welt kein Geheimnis mehr! Ich liebte Marwood ja nicht, darüber täuschte ich mich auch nicht einen Augenblick, als ich ihm die Hand reichte; aber ich glaubte mich geliebt, weil er so beharrlich um mich warb und sich durch keine Kälte, keine Ablehnung zurückschrecken ließ. Schon in den ersten Wochen meiner Vermählung sah ich klar: es war Eitelkeit, Eigensinn gewesen, die Hartnäckigkeit eines Charakters, der gerade das Versagte erzwingen will. Die träge kalte Natur dieses Mannes ist ja überhaupt keiner Liebe fähig, und nun war ich an ihn gekettet und sollte mein Leben lang die Kette tragen, die mir ein Unheil, ein Fluch geworden war!«

»Zenaide, Sie regen sich furchtbar auf mit diesen Erinnerungen,« mahnte Lothar in dem Wunsche, sie abzulenken. »Wir wollen sie ruhen lassen, wenigstens in den ersten Stunden des Wiedersehens.«

»Nein, nein!« unterbrach sie ihn ungestüm. »Ich muß mich endlich einmal aussprechen, ich bin ja immer nur von Dienern und Fremden umgeben! Wie konnte mein Vater es zulassen, daß Marwood mich nach England führte? Er kannte es ja doch; mir hatte man es in den glänzendsten Farben geschildert, aber als ich zum erstenmal die Küste betrat, in Reif und Nebelgrau, da fror ich bis ins innerste Herz hinein. Ich, deren Heimat das Sonnenland war, sollte in Kälte und Nebel atmen. Ich war an den freien großen Verkehr im Hause meines Vaters gewöhnt, und nun dies Leben, das wir in London und auf unsern Gütern führten! Abgeschlossen von allem, was nicht zur englischen Hocharistokratie gehörte, denn mein Herr Gemahl war ungemein exklusiv in diesem Punkte! Es war immer derselbe tödlich langweilige Kreislauf von Jagden und Dinners auf dem Lande, von Routs und Bällen in der Stadt, die Menschen um mich nur Marionetten, von lächerlichen Vorurteilen wie von einer chinesischen Mauer umgeben, kein Schritt unbewacht, kein Atemzug frei – ich erstickte in diesem Leben!«

Sie preßte beide Hände gegen die Brust, als fühlte sie noch jetzt dies Ersticken, und fuhr dann in steigender Erregung fort: »Solange mein Vater lebte, schreckte ich noch vor dem Aeußersten zurück. Er litt schon so schwer unter dem innern Zerwürfnis meiner Ehe, er sollte sie nicht auch noch öffentlich beklatscht und in den Staub gezerrt sehen. Als er jedoch tot war, als ich nicht mehr zu ihm flüchten konnte, da war es vorbei mit meiner Fähigkeit zum Ertragen, da zerriß ich die Ketten und wurde frei – frei! Die Freiheit hat mich freilich viel gekostet, meinen Glauben an Gott, an die Menschen, an mich selbst – ich habe nichts mehr auf der Welt!«

Die letzten Worte erstickten fast in einem krampfhaften, thränenlosen Schluchzen; die junge Frau warf sich stürmisch in einen Sessel und verbarg das Gesicht in den Polstern. Sonneck trat zu ihr und legte leise seine Hand auf ihren Arm.

»So dürfen Sie nicht sprechen, Zenaide,« sagte er mit tiefem Ernst. »Sie sind ja Mutter!«

»Eine Mutter, der man ihr Kind genommen hat!« fuhr sie auf, mit sprühenden Augen. »Ich habe meinen Percy ja zurücklassen müssen. Marwood beansprucht natürlich seinen Sohn und Erben, und doch ist er mein Kind, er hat mein Blut in den Adern. Da sehen Sie es selbst, ob er seinem Vater gleicht oder mir!« Sie wies auf ein Aquarellbild, das auf dem Schreibtisch den Hauptplatz einnahm und einen Knaben in Matrosenkleidung darstellte. Es war ein schönes Kind mit dunklen Haaren und den großen dunklen Augen der Mutter. Lothar schritt dorthin und blickte prüfend auf das Bild.

»Ja, er hat Ihre Züge,« sagte er mit voller Bestimmtheit. »Vor allem Ihre Augen.«

»Nicht wahr? Und seit drei Jahren habe ich ihn nicht gesehen und muß es dulden, daß er fern von mir, daß er im Hasse gegen mich erzogen wird!«

»Sie übertreiben, ein achtjähriges Kind kann man doch noch nicht zum Haß erziehen.«

»Warum denn nicht, wenn es planmäßig geschieht? Und daran wird Marwood es nicht fehlen lassen! Sie kennen ihn nicht, wie ich ihn kenne! Wie oft habe ich daran gedacht, mein Kind heimlich zu entführen und mit ihm zu fliehen, zunächst nach Kairo und dann weiter, immer weiter und wäre es bis in die fernste Wüste, wo niemand uns findet, wo –«

»Um Gottes willen, nur das nicht!« fiel Sonneck erschrocken ein. »Marwood würde Sie zu finden wissen, er würde Ihnen das Kind gewaltsam entreißen, ihm steht das Gesetz zur Seite.«

Die junge Frau lachte wieder auf, so wild und verzweifelt wie vorhin. »O ja, das weiß ich, das hat man mir hinreichend klar gemacht: der Sohn gehört dem Vater! Die Rechte der Mutter schützt kein Gesetz, die darf man ungestraft mit Füßen treten – ich habe es erfahren!«

Ein leises Klopfen an der Thür unterbrach die erregte Scene und gleich darauf trat der Diener ein, um zu melden, daß Herr Hofrat Bertram soeben vorgefahren sei. Zenaide sah auf und fuhr mit dem Taschentuch über das glühende Antlitz.

»Ah, der Arzt! Ich vergaß, daß er sich für diese Stunde angemeldet hat. – Sie wollen schon fort? Nein, nein, das dürfen Sie nicht! Wir haben noch gar nicht von Ihnen gesprochen und ich habe noch so unendlich viel zu fragen und zu hören.«

»Der Arzt hat immer den Vortritt,« warf Sonneck ein, der in der That Miene machte, zu gehen, obgleich auch er noch eine Mitteilung auf dem Herzen hatte.

»O, sein Besuch wird nicht allzulange dauern und dann bin ich wieder ganz zu Ihrer Verfügung. Das Gute muß man festhalten, es wird einem selten genug zu teil. Nicht wahr, Sie bleiben?«

Die Bitte klang beinahe leidenschaftlich und Lothar gab nach. Er übernahm es, den jetzt eintretenden Hofrat vorzustellen, und betonte, daß er mit ihm befreundet sei. Lady Marwood empfing denn auch infolgedessen den Arzt sehr liebenswürdig.

»Herr Sonneck ist mir eigentlich mit seinem Besuche zuvorgekommen,« sagte Bertram nach der ersten Begrüßung. »Ich wollte mich mit der Nachricht von seinem Hiersein bei Ihnen einführen, Mylady, und hoffte dann nicht so unwillkommen zu sein, als es der Arzt gewöhnlich ist.«

Zenaide hatte sich längst wieder gefaßt, sie war jetzt ganz die vornehme Dame und ihre Lippen kräuselten sich spöttisch, als sie erwiderte: »Unwillkommen? Man lehrt uns ja die Aerzte als Retter und Heilbringer zu betrachten!«

»Aber Sie glauben nicht daran, Mylady?«

»Ich bin in diesem Punkte sehr ungläubig. Sie sehen jedoch, ich gebe mich trotzdem in Ihre Hände. Herr Sonneck, ich bitte Sie, mich für eine Viertelstunde zu entschuldigen. Ich sende Ihnen inzwischen eine Erinnerung an Kairo. Betrachten Sie sich ganz als zu Hause, Sie haben das ja bei uns stets gethan.«

Sie klingelte, gab mit leiser Stimme einen Befehl und ersuchte den Arzt dann, ihr in das Nebenzimmer zu folgen. Sonneck war wieder an den Schreibtisch getreten und betrachtete nachdenklich das Bild des kleinen Percy, als die Mittelthür sich öffnete und ein junger Orientale erschien.

Er war kaum dem Knabenalter entwachsen, etwa sechzehn Jahre alt und von tiefbrauner Färbung, mit einem Gesicht, das durchaus nicht hübsch zu nennen war, denn die charakteristischen Kennzeichen der afrikanischen Rasse, die niedrige Stirn und die breiten, aufgeworfenen Lippen prägten sich sehr deutlich darin aus. Er trug die reiche Tracht, in welche die vornehmen Familien Kairos ihre eingeborenen Diener zu kleiden pflegen, weite orientalische Beinkleider, über dem weißen, faltigen Obergewand ein offenes goldgesticktes Jäckchen und einen gleichfalls reichgestickten Fes auf dem dunklen Haar. Der junge Aegypter brachte ein vergoldetes Kaffeeservice von feinster arabischer Arbeit und ein mit Elfenbein ausgelegtes Kästchen, in dem sich Cigaretten befanden. Verwundert riß er die glänzend schwarzen Augen auf, als der fremde Herr ihn in der Sprache seiner Heimat anredete.

»Nun, Hassan, bist du mit nach Europa gekommen? Wie gefällt es dir in dem fremden Lande mit den hohen Bergen und den dunklen Wäldern?«

»Herr, du kennst mich?« stammelte Hassan ganz verwirrt und bestürzt.

»Ich sah dich vor sechs Jahren in Kairo bei deinem Herrn und auch schon früher in Luksor. Weißt du noch von Luksor und von dem schönen weißen Kinde, das deine junge Herrin damals begleitete, und mit dem du spielen durftest? Es trug immer weiße Kleidchen –«

»Und langes goldenes Haar!« fiel Hassan mit aufleuchtenden Augen ein, »aber es ging fort, weit über das Meer und kam nicht wieder.«

»Nun, wer weiß, vielleicht siehst du es einmal hier wieder,« sagte Sonneck lächelnd. Es freute ihn, daß Elsa noch nicht vergessen war, Das »schöne weiße Kind mit dem langen goldenen Haar« hatte freilich bei dem damals so verwahrlosten kleinen Aegypter die Rolle einer Märchenfee gespielt, und deshalb mochte ihm die Erinnerung an sie nicht ganz erloschen sein.

Hassan staunte noch immer darüber, daß der Fremde, der so ganz das Aussehen eines vornehmen Europäers hatte, das Arabische so fließend sprach, aber es machte ihn zutraulich und er antwortete bereitwillig auf alle Fragen. Er berichtete, daß sein Vater, der einstige Gärtner auf der Osmarschen Besitzung, schon seit Jahren tot sei. Seine ältere Schwester war schon als Kind für den persönlichen Dienst der jungen Herrin bestimmt und ihrer Fürbitte verdankte es der Bruder, daß man auch ihn später mit nach Kairo nahm. Nach dem Tode des Konsuls hatte Lady Marwood den Knaben mit nach Europa genommen, wo er und die Schwester sie auf ihren Reisen begleiteten. Er hatte auch schon etwas Deutsch gelernt, denn die Herrin liebte nichts, was an England erinnerte, sie sprach immer nur deutsch oder arabisch mit ihrer Umgebung.

Die orientalische Unterhaltung wurde durch die Rückkehr Bertrams unterbrochen. Lothar ging ihm rasch entgegen und fragte mit gedämpfter Stimme: »Nun, wie steht es? Doch hoffentlich kein ernstes Leiden?«

Der Arzt zuckte die Achseln.

»Wir haben es mit den Nerven zu thun. Damit ist eigentlich nichts und doch wieder alles gesagt, denn hier handelt es sich leider um mehr als um die Modekrankheit. Lady Marwoods Nerven sind in einer so gefährlichen Weise überreizt, daß es die höchste Zeit ist, ernstlich einzugreifen, wenn nicht schweres Unheil entstehen soll. Leider scheint die Dame keine sehr gehorsame Patientin zu sein und ich werde wohl öfter auf Ihren Einfluß rechnen müssen, denn wir haben einen schlimmen Feind zu bekämpfen – das Morphium! Doch darüber sprechen wir noch, jetzt muß ich fort.«

Er reichte ihm die Hand und ging. Gleich darauf erschien auch Zenaide, gab Hassan einen Wink, sich zu entfernen, und nahm ihrem Gaste gegenüber auf dem Diwan Platz.

»Nun wollen wir es uns heimisch machen,« sagte sie. »O, ich habe Ihre kleinen Liebhabereien nicht vergessen, ich kenne sie noch ganz genau.« Sie reichte ihm den Kaffee und die Cigaretten. Sonneck bemerkte mit einigem Befremden, daß sie gleichfalls eine der letztern nahm. Die Damen rauchten ja viel in Kairo, Zenaide hatte das jedoch nie gethan, sondern stets den größten Widerwillen dagegen gezeigt. Das war eben auch »anders geworden«, wie so vieles!

»Wie gefällt Ihnen Hofrat Bertram?« fragte er. »Flößt er Ihnen Vertrauen ein?«

»Wenigstens mehr als meine römischen Aerzte, er hat eine ruhige, bestimmte Art, die sehr angenehm berührt. Im übrigen singt er genau dasselbe Lied wie seine Herren Kollegen. Ruhe, Stille, Einsamkeit – das habe ich nun nachgerade bis zum Ueberdruß gehört. Doch wir wollten ja von Ihnen sprechen! Der Doktor sagt mir, Sie würden nicht nach Afrika zurückkehren, sondern in Europa bleiben, er habe Ihnen das zur unabweisbaren Pflicht gemacht. Werden Sie denn ein ruhiges Privatleben aushalten?«

»Ich werde es wohl müssen. Man fügt sich schließlich immer der eisernen Notwendigkeit, und die Früchte meiner zwanzigjährigen Arbeit da drüben, das, was ich für mein Vaterland erreicht und errungen habe, das ist ja nicht verloren. Es bleibt freilich noch viel zu thun übrig, aber ich habe es in starke, kühne Hand gelegt. Ich habe mir ja in Reinhart einen Nachfolger erzogen.«

Sonnecks Blick streifte wie unwillkürlich das Gesicht der jungen Frau, als er den Namen aussprach, aber sie stäubte ruhig die Asche von ihrer Cigarette und fragte kühl: »Reinhart? Wer ist das?«

»Erinnern Sie sich des Namens nicht mehr? Mein junger Gefährte, der mich damals auf meinem Zuge begleitete. Er ist seitdem oft und viel genannt worden in der Oeffentlichkeit – Reinhart Ehrwald!«

»Ah so! Nun, der Name ist freilich bekannt genug. Man kann ja keine Zeitung in die Hand nehmen, wo von Afrika die Rede ist, ohne auf diesen Herrn Ehrwald zu stoßen. Er wird auf eine Weise in den Vordergrund gestellt, die beinahe kränkend ist für Sie und Ihre Verdienste. Sind Sie nicht eifersüchtig?«

»Auf meine Freunde bin ich nie eifersüchtig,« versetzte Lothar ruhig, »und Reinhart ist mir ein Freund geworden, wie man ihn selten findet. Ich wußte es freilich schon damals, als ich ihn mit nach Kairo nahm, daß mein Schüler mich dereinst überflügeln werde, aber es geschah schneller, als ich dachte. Damals war ich noch sein Mentor, der den jungen Tollkopf zügeln und bändigen mußte; sobald jedoch der Ernst an ihn herantrat, zeigte er sich als Mann. Ich verdanke es nur seiner Energie und Aufopferung, daß ich lebend von jenem Zuge zurückkehrte.«

»Sie erkrankten damals schwer, ich weiß,« warf Zenaide ein.

»Ja, es war der erste schwere Anfall jenes Leidens, das mich seitdem nie ganz verlassen hat. Es war mir noch vergönnt, das Ziel zu erreichen und die Entdeckung und ihre Früchte dem deutschen Namen zu sichern. Aber nun handelte es sich um die Rückkehr, auf einem Wege, den vor uns noch kein Europäer gezogen war, durch Gebiete, wo die Gefahren nur so aus dem Boden emporwuchsen. Als ich mich dafür entschied, wußte ich, daß ich meine ganze Kraft und Erfahrung einzusetzen hatte, und da gerade warf mich die Krankheit nieder und hielt mir monatelang Geist und Körper in Bann. Ich konnte nichts leiten, nicht einmal mehr Rat geben, denn das Fieber machte mich größtenteils besinnungslos, ich mußte alles in Reinharts Hände legen.«

Er hielt einen Augenblick inne, als erwartete er irgend eine Aeußerung, die aber nicht erfolgte, und fuhr dann mit steigender Wärme fort: »Da führte er, der damals Sechsundzwanzigjährige, der sich auf dieser Reise erst die Sporen verdienen sollte, die ganze Expedition allein zurück. Er regierte mit eiserner Hand unsere Leute, die nach Art der Eingeborenen mehr als einmal in Meuterei ausbrechen wollten, als sie sahen, daß ich nicht mehr an der Spitze stand; er bezwang jede Gefahr, warf jedes Hindernis nieder, und das alles mit dem Hemmnis eines Todkranken, den er mit sich führte. Wie oft hat er seine und des ganzen Zuges Sicherheit preisgegeben, nur um mich zu schützen, wie oft das Unglaublichste geleistet, um mir die nötige Hilfe und Erquickung zu schaffen! Er brachte mich glücklich zurück zur Küste, wo ich genas. Was das heißen will unter solchen Verhältnissen, das weiß ich allein! Wenn man ihn jetzt wirklich in den Vordergrund stellt, selbst gegen mich – bei Gott, er hat es verdient!«

Es geschah vielleicht nicht ganz ohne Absicht, daß Sonneck so viel von dem Manne sprach, den er einst als jungen unbekannten Fremdling in das Osmarsche Haus eingeführt hatte. Sein Auge ruhte noch immer forschend auf dem Antlitz der jungen Frau, aber die unausgesprochene Frage fand keine Antwort. Zenaide hatte sich in die Kissen des Diwans zurückgelehnt und blies langsam blaue Rauchwölkchen aus ihrer Cigarette. Sie hörte zu, aber mit einer Miene, als erzählte man ihr die gleichgültigsten Dinge.

»Nun, jedenfalls haben Sie ihm den Weg zur Höhe geebnet,« sagte sie endlich mit einem leichten Achselzucken. »Er hat vermutlich nur eine Schuld der Dankbarkeit abgetragen. In welchem Teile Afrikas weilt er denn jetzt?«

»Augenblicklich ist er in Europa und auf dem Wege hierher.«

Die junge Frau richtete sich plötzlich auf. »Hierher – nach Kronsberg?«

»Allerdings. Er geht nach Berlin, um persönlich mit der deutschen Regierung zu verhandeln, die ihm eine Stellung im Kolonialdienst angeboten hat. Da wir uns seit Jahresfrist nicht gesehen haben, so wird er mich zuerst hier aufsuchen. Sein letzter Brief kam aus Genua, ich kann ihn jeden Tag erwarten.«

Es trat eine augenblickliche Pause ein, dann warf Zenaide ihre Cigarette fort und sagte ebenso kühl wie vorhin: »So? Nun, das ist für Sie ja sehr erfreulich. Doch nun zu einer Frage, die mir – verzeihen Sie – für jetzt interessanter ist. Kronsberg war ja der Ort, dem ich damals meinen Liebling, die kleine Elsa von Bernried, abtreten mußte. Das Kind war mir ans Herz gewachsen, ich hätte es so gern behalten, aber der Großvater verlangte es mit aller Entschiedenheit. Er hieß ja wohl Helmreich?«

»Allerdings,« bestätigte Sonneck, erstaunt über dies treue Gedächtnis, das nur in einem einzigen Punkte zu versagen schien – wenn es sich um »diesen Herrn Ehrwald« handelte, dessen Vornamen man nicht einmal mehr kannte.

»Der alte Herr ist vermutlich längst tot. Wissen Sie, was aus seiner Enkelin geworden ist? Ich wollte schon in den nächsten Tagen Erkundigungen einziehen, aber Sie können mir jedenfalls die beste Auskunft geben.«

»O ja, das kann ich,« versetzte Lothar lächelnd. »Und da komme ich auch endlich zu einer Mitteilung, die ich die ganze Zeit schon auf dem Herzen habe. Professor Helmreich ist nicht gestorben, wie Sie voraussetzen. Er wohnt eine halbe Stunde von hier und seine Enkelin lebt in seinem Hause.«

»Wie, klein Elsa ist hier? Ich kann sie sehen?«

»Gewiß, aber aus klein Elsa ist ein großes, schönes Mädchen geworden, das Sie schwerlich wiedererkennen würden und das seit acht Tagen – meine Braut ist!«

Zenaide fuhr auf und blickte ihn in grenzenloser Ueberraschung an. »Ihre Braut? Unmöglich – Sie scherzen!«

Ueber Lothars eben noch so strahlende Züge legte sich ein Schatten und in seiner Stimme klang eine leise Bitterkeit, als er erwiderte: »Ist das Ihr Urteil über meine Verlobung?«

»Nein, nein!« fiel die junge Frau hastig ein. »Sie mißverstehen mich! Mein Erstaunen galt nur Ihrem Entschluß, sich überhaupt noch zu vermählen.«

»Und Sie meinen, daß dieser späte Entschluß eine Thorheit ist und vielleicht auch ein unverzeihlicher Egoismus, wenn es sich dabei um ein achtzehnjähriges Mädchen handelt? – Vielleicht haben Sie recht!«

»Ich meine, daß Ihr Weib glücklicher sein wird, als ich es gewesen bin an der Seite eines Mannes, dessen Jahre den meinigen entsprachen,« sagte Zenaide ernst. »O, darin liegt das Glück nicht, ich habe es erfahren! Meine herzlichsten, innigsten Wünsche für Sie und Ihre junge Braut!« Sie streckte ihm in der That mit vollster Innigkeit die Hand hin, die er bewegt an seine Lippen zog.

»Ich danke Ihnen für diese Worte. Zenaide, glauben Sie mir, ich bedarf der Ermutigung!«

»Weshalb?« fragte sie neckend. »Vielleicht weil mein süßer kleiner Trotzkopf es Ihnen angethan und sie so ganz erobert hat? Ja, Sie werden nicht so sehr leicht mit ihm fertig werden! Klein Elsa hatte schon damals einen sehr entschiedenen Willen und mußte ihn nachdrücklich durchzusetzen. Nehmen Sie sich in acht! Ich fürchte, ich fürchte, der große Afrikaheld beugt sich ganz dem Scepter seiner jungen Frau.«

Es lag etwas unendlich Liebenswürdiges in ihrer Neckerei, in der Art, wie sie ihm mit dem Finger drohte, aber Sonneck schüttelte leise den Kopf.

»Sie sind im Irrtum. Elsa ist ein ernstes, stilles Mädchen geworden, das weder Trotz noch Uebermut mehr kennt. Der Großvater hat da mit einer allzu strengen Erziehung viel oder vielmehr alles geändert. Doch Sie werden das ja selbst sehen.«

Er stand auf, um sich zu verabschieden, und verhieß, in den nächsten Tagen mit seiner jungen Braut wiederzukommen. Lady Marwood entließ ihn mit der ganzen Herzlichkeit und Vertraulichkeit der frühern Zeit, aber Lothars Stirn war umwölkt, als er das Haus verließ. Er dachte an jene Warnung, die er damals gegen Osmar ausgesprochen hatte, und die nicht gehört worden war. Es war gekommen, wie er es vorhersagt, wie er es gefürchtet hatte!

 

Das Thal von Kronsberg lag im hellen Mondlichte, und Mitternacht mochte bereits nahe sein, als eine dunkle Männergestalt den Weg hinaufstieg, der nach Burgheim führte. Aber der rasche, feste Schritt wurde langsamer, je mehr er sich dem Ziele näherte, und eine Strecke davon entfernt blieb der Fremde stehen und blickte auf den Giebel des alten Hauses, der sich hell beschienen aus den Tannen emporhob. Minutenlang stand der einsame Wanderer regungslos da, dann stieg er vollends zu der Höhe empor und trat unter eine mächtige Linde, die ihre Aeste weithin streckte. Sie trug das erste zarte Grün, das noch keinen Schatten gab, und durch die erst halb belaubten Zweige fiel das volle Mondlicht auf den Mann, der sich an den Stamm lehnte. Es war eine hochgewachsene Gestalt in dunkler Reisekleidung, unter dem Hute hervor drängte sich üppiges blondes Haar, das mit der auffallend dunklen Färbung des Gesichts im Widerspruch zu stehen schien, und der Blick schweifte langsam, wie suchend über die ganze Umgebung.

Das Thal und die Berge ruhten im träumerischen Glanze der Mondnacht. Das weiße Licht lag hell auf den Dächern und Häusern der alten Bergstadt mit ihrer jetzt zum Fürstenschloß gewordenen Feste. Man sah deutlich die hohen Giebel, die engen Straßen, die Brücke, welche über den Fluß führte, und jenseit derselben die weißen Häuser und Villen des Badeortes. Und über dem allen lag tiefe Ruhe und tiefer Frieden.

Es war eine kalte, beinahe rauhe Frühlingsnacht, aber der Fremde dort unter der Linde atmete die herbe Luft in so tiefen, vollen Zügen, wie ein Durstiger den erquickenden Trank schlürft, und jetzt richtete er sich empor und lauschte weit vorgebeugt. Die Luft war ruhig, kein Windhauch regte sich, aber von den Bergen herüber kam ein Hallen und Rauschen, das in der stillen Nacht weithin vernehmbar war. Dort oben, unter den starren, weißen Gipfeln schien ein geheimnisvolles Leben erwacht zu sein, es klang wie fernes, fernes Brausen und Tosen, wie dumpfe Meeresbrandung.

»Ah, die Gletscherbäche!« sagte der nächtliche Wanderer halblaut, mit einem tiefen Atemzug. »Der Schnee schmilzt da droben, die Wasser stürzen – es wird Frühling im Lande!«

Er wandte sich wieder nach Burgheim zurück und versuchte durch das Gitterthor einen Einblick zu gewinnen, aber das war nicht möglich, denn das Haus lag still und dunkel da im Schatten der hohen Bäume, es war kaum in seinen Umrissen sichtbar.

»Mauern und Gitterthor!« murmelte er. »Sonst war eine lebendige Hecke hier und eine kleine Gartenpforte, Das Haus scheint unverändert zu sein, aber die Tannen sind hochgewachsen und die alte Linde hier draußen auch. Ob ich mir den Eingang suche? Da drinnen schläft ja alles und im schlimmsten Falle – gleichviel, ich muß hinein!« Ein Druck an der Gitterthür zeigte ihm, daß sie fest verschlossen war, er betrachtete prüfend die Mauer, die, hoch und glatt, nicht den mindesten Stützpunkt für den Fuß bot, aber die weit ausgebreiteten Aeste der Linde reichten bis in den Garten und der Fremde blickte mit einem flüchtigen Lächeln zu ihr hinauf.

»Nun, so versuche ich es mit dir, du alter Freund. Hast mich ja oft genug getragen, so thu es heut noch einmal!«

Er klomm gewandt an dem knorrigen Stamm empor, schwang sich auf den größten Ast und gewann die Höhe der Mauer. Ein kecker Sprung trug ihn hinunter in den Garten. Drinnen im Hause schlug ein Hund an, kurz und laut, aber da der Eindringling die Vorsicht gebrauchte, einige Minuten lang regungslos stehen zu bleiben, so schien sich das Tier wieder zu beruhigen, es verstummte.

Langsam schritt nun der nächtliche Wanderer durch den halb verwachsenen und verwilderten Garten dem Hause zu. Das Mondlicht, das draußen so hell auf der Erde lag, schien hier abzugleiten an den schwarzen finstern Tannen, nur hin und wieder ließen die Zweige oder das dichte Gebüsch einzelne Strahlen hindurch, die gespenstig über den Boden hinhuschten. Die stille Mitternachtsstunde, das dunkle, einsame Haus, das dämmernde bläuliche Licht, das alles hatte etwas Geisterhaftes, etwas, das fernab zu liegen schien von dem Leben und der Welt im hellen Strahl des Tages.

»Die echte deutsche Märchenstunde!« sagte der Fremde. leise. »Kaum setzt man den Fuß auf den alten Boden, so ist man auch schon wieder in dem alten Bann, und ich glaubte doch frei geworden zu sein in den langen Jahren. Da dringe ich wie ein echter, rechter Märchenheld ein in das verwunschene Schloß, das im Zauberschlafe liegt, und mache mich unglaublich lächerlich, wenn ich dabei ertappt werde – aber lassen kann ich es nicht!«

Er stand jetzt vor dem Hause, dessen Läden fest geschlossen waren, nur der hohe Giebel ragte hinein in das Mondlicht, alles andere lag in tiefem Schatten. Aber durch zwei Tannenwipfel hindurch fiel ein breiter heller Streifen gerade auf die Terrasse und auf die halbeingesunkenen, moosbewachsenen Stufen, die zu dem Eingang hinaufführten. Der fremde Mann blickte stumm und unverwandt darauf nieder, lange, lange Zeit, dann plötzlich warf er sich auf die Kniee und drückte seine Lippen auf die verwitterten moosigen Steine, so heiß, so leidenschaftlich wie ein Pilger, der die heilige Stätte grüßt – wie der verlorene Sohn, der die Schwelle der Heimat küßt!

Da schlug drinnen im Hause von neuem der Hund an, diesmal lauter und anhaltender und es mußte auch noch jemand wach sein, denn man vernahm eine gedämpfte Frauenstimme, die das Tier beschwichtigte: »Still, Wotan! Es ist ja Bastian – kennst du ihn denn nicht?«

Der Fremde war aufgesprungen und wollte den Rückzug antreten, aber das Klirren eines Riegels verriet ihm, daß es bereits zu spät war. Wenn er jetzt durch den Garten eilte, mußte er bemerkt werden, der Hund spürte ihn jedenfalls auf. Er trat deshalb rasch seitwärts in das dichte Tannendunkel, das keinen Mondstrahl hindurchließ, und drückte sich fest an einen Baumstamm.

Der Riegel wurde in der That zurückgeschoben, ein heller Lichtschein fiel auf die Steintreppe und in der geöffneten Thür zeigte sich eine schlanke Mädchengestalt. »Bist du schon zurück, Bastian?« klang es in die Nacht hinaus. »Wird der Arzt kommen?«

Es erfolgte keine Antwort, der Fremde stand regungslos unter der Tanne und blickte auf die Erscheinung, die nun freilich so ganz dieser »Märchenstunde« entsprach. Die Lampe, die das junge Mädchen in der Hand hielt, beleuchtete voll ihr Gesicht und die reichen, goldig schimmernden Flechten, die sich wie ein Kranz um den Kopf legten; aber neben ihr wurde jetzt auch ein mächtiger schwarzgrauer Hund sichtbar, der trotz der Beschwichtigung argwöhnisch und spürend den Kopf hoch emporstreckte.

Befremdet durch das Ausbleiben der Antwort, setzte Elsa die Lampe in der Flurhalle nieder und trat vollends heraus. Wotan aber schien jetzt zu wittern, daß sich irgend etwas Fremdes in der Nähe befand. Er stieß ein dumpfes, drohendes Knurren aus und drängte sich an seiner Herrin vorüber auf die Terrasse; dann aber schoß er plötzlich mit lautem wütendem Gebell die Stufen hinab und auf die Tannen zu, er hatte den Eindringling entdeckt.

Jeden andern würde der Anfall des riesigen Tieres niedergeworfen haben, hier aber taumelte es, von einem furchtbaren Faustschlag getroffen, halb betäubt zurück, doch nur einen Augenblick lang. Dann stürzte es sich von neuem mit noch größerer Wut auf den Unbekannten und es schien sich ein wilder Kampf zwischen den beiden zu entspinnen.

»Wer ist da? Was hast du, Wotan?« rief das junge Mädchen, das gespannt lauschte, was denn Wotan etwa Feindseliges aufgespürt habe. Da klang eine fremde Stimme von drüben her: »Rufen Sie den Hund zurück! Ich bin in der Notwehr – wenn er mich nicht losläßt, erwürge ich ihn!«

Das schien keine bloße Prahlerei zu sein, denn das eben noch so laute Gebell Wotans klang jetzt dumpf und halberstickt, als fehlte ihm der Atem. Ohne Besinnen eilte Elsa die Stufen hinunter zu den Ringenden, die während des minutenlangen Kampfes in das Freie gelangt waren. Der riesige Wotan stand halb aufrecht, die Tatzen auf den Schultern des Fremden, den er gepackt hielt, aber dieser hatte beide Fäuste an der Gurgel des Tieres, das vergebens seine ganze Kraft aufbot, sich frei zu machen. Die eisernen Hände dort ließen nicht los und machten es wehrlos, seine wilden Laute erstarben in einem angstvollen Keuchen und Röcheln.

»Lassen Sie los!« rief das junge Mädchen halb erschrocken, halb befehlend und riß den Hund am Halsbande zurück. »Wotan, hierher – leg' dich nieder!«

Der Fremde gehorchte, seine Hände lösten sich und er trat zurück, aber auch Wotan folgte dem Rufe seiner jungen Herrin. Mit dumpfem drohendem Murren kauerte er sich an ihrer Seite nieder, aber er erneuerte den Angriff nicht. Elsa schien seine Nähe für einen genügenden Schutz zu erachten, denn sie machte keine Miene, in das Haus zu flüchten, sondern hielt dem unerwarteten Abenteuer stand.

»Was wollen Sie hier? Wer sind Sie?« fragte sie in einem Tone, der mehr Unwillen als Furcht verriet. Der Unbekannte zog den Hut und machte eine Verbeugung, so ruhig und artig, als stehe er in einem Salon und habe nicht soeben erst einen gefahrvollen Kampf bestanden. »Ein Fremder, mein Fräulein,« antwortete er, »der um Verzeihung zu bitten hat, daß er unberechtigterweise in Ihren Garten geraten ist.«

Elsa stutzte beim Laut dieser Stimme, es war ihr, als hörte sie diesen vollen tiefen Klang nicht zum erstenmal. Betroffen sah sie auf den Mann, der nur wenige Schritte von ihr entfernt im hellen Mondlichte stand, denn der Mond war jetzt über die Tannenwipfel emporgestiegen und erhellte den ganzen Platz vor dem Hause. Sie blickte in ein völlig fremdes Gesicht, in ein paar große flammende Augen, die unverwandt auf ihr ruhten und ihr dieselbe Empfindung erweckten, als habe sie diese Augen schon einmal gesehen.

»Der Garten ist fest verschlossen,« sagte sie mit scharfer Betonung. »Wie sind Sie hereingekommen?«

»Ueber die Mauer!« versetzte der Fremde so gelassen, als sei dieser Weg ganz selbstverständlich. »Ich kann Ihnen trotzdem die Versicherung geben, mein gnädiges Fräulein, daß ich weder ein Räuber noch ein Dieb bin. Sie haben durchaus nichts von mir zu fürchten.« Es lag etwas in der Sprache und der Haltung des Mannes, das seine Worte zu bestätigen schien, ein energischer Stolz, der jede beleidigende Annahme zurückwies. Auch Elsa mochte das fühlen, denn sie wiederholte in gemildertem Ton ihre Frage von vorhin: »Und was wollten Sie hier, zu dieser Stunde?«

»Mir den Garten und das Haus etwas näher ansehen! Das glauben Sie mir nicht, mein Fräulein? Ich begreife das vollkommen, es ist mir aber leider nicht möglich, Ihnen eine andere Erklärung zu geben. Ich bitte nochmals um Verzeihung wegen der Unruhe, die ich unfreiwillig veranlaßt habe.«

Er blickte auf den Hund, den das junge Mädchen noch immer am Halsband festhielt. Wotan war an strengen Gehorsam gewöhnt. Da seine Herrin ihm befohlen hatte, ruhig zu sein, so regte er sich nicht, aber er bewachte mit glühenden Augen seinen Feind, bereit, sich beim ersten Zeichen wieder auf ihn zu stürzen, und ließ von Zeit zu Zeit einen dumpfen, drohenden Ton hören.

Elsa war offenbar im Begriff, die Unterredung abzubrechen; da sah sie an der herabhängenden Hand des Fremden einen schmalen roten Streifen, es war Blut, das aus dem Aermel herabrieselte.

»Sind Sie verwundet?« fragte sie rasch.

Er lachte kurz und spöttisch auf und blickte gleichfalls auf seine Hand nieder. »Es scheint so. Ein kleines Liebeszeichen Ihres Wotan! Es ist nicht von Bedeutung, aber ich habe seine Zähne doch gespürt, als er mich vorhin an der Schulter packte.«

»Wotan hat nur seine Pflicht gethan,« sagte das junge Mädchen mit herber Entschiedenheit. »Er soll das Haus bewachen und darf es nicht dulden, daß ein Fremder zur Nachtzeit hier eindringt. Sie können von Glück sagen, daß ich herbeikam und ihn zurückhielt, er hätte Sie sonst vielleicht zerrissen.«

»Glauben Sie das, mein Fräulein?« fragte der Fremde, dessen Augen noch immer auf ihrem Gesichte ruhten. »Ich fürchte, der Ausgang wäre ein anderer gewesen, denn ich hätte mich schwerlich gutwillig zerreißen lassen, und ich habe wohl noch andere Kämpfe bestanden als den mit einem gereizten Hunde. Es hätte Ihnen wahrscheinlich das schöne Tier gekostet.«

War es der Spott in diesen Worten, der Elsa reizte, oder der Gedanke, ihr Liebling hätte wirklich das Opfer werden können, sie richtete sich plötzlich empor, sah den kecken Eindringling, der es nun gar noch wagte, zu drohen, von oben bis unten an und wies dann mit einer verächtlichen Gebärde hinaus. »Gehen Sie! Der Weg über die Mauer ist ja immer offen für Sie und Ihresgleichen. Ich werde den Hund so lange festhalten, bis Sie draußen sind.«

Der Fremde zuckte leicht zusammen bei diesem verächtlichen Tone und sein Blick sprühte zornig auf, man hörte die Gereiztheit in seiner Stimme, als er erwiderte: »Sie gebrauchen Ihr Hausrecht sehr nachdrücklich. Freilich, es ist meine Schuld, wenn ich hier wie der erste beste Ritter von der Landstraße behandelt werde. Ich kann Ihnen nur wiederholen, daß ich weder rauben noch stehlen wollte. Vielleicht gelingt es mir noch einmal, Sie davon zu überzeugen, für jetzt habe ich die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen, Fräulein von Bernried!«

Er legte einen beinah hohnvollen Nachdruck auf das letzte Wort, verbeugte sich noch einmal und verschwand im Dunkel der Gebüsche. Ein Geräusch in der Nähe der Linde verriet bald darauf, daß er den Garten auf demselben Wege verließ, auf dem er gekommen war, und einige Minuten später sah man die hohe dunkle Gestalt am Gitterthor vorübergehen. Das junge Mädchen ließ jetzt den Hund los, der es offenbar nicht begriff, daß der Eindringling so unbehelligt gehen durfte, und sehr unzufrieden damit war. Er stürzte schleunigst nach dem Gitter und begann dann rastlos den ganzen Garten zu durchstreifen, als wollte er sich überzeugen, daß niemand mehr dort sei.

Elsa achtete nicht darauf, sie stand noch immer da und hatte die Hand an die Stirn gelegt, als sinne sie angestrengt über etwas nach. Wo hatte sie diese Stimme schon gehört, diese Augen gesehen? Der Mann war ihr ja fremd, sie kannte ihn nicht und doch war es ihr, als sei er ihr schon einmal begegnet, vor langer, langer Zeit. Und als hätten jene flammenden Augen einen Bann gebrochen, so tauchten jetzt seltsame Bilder auf, die längst versunken und vergessen waren: eine weiße, leuchtende Stadt, ein breiter schimmernder Strom, hohe fremdartige Bäume, die ihre Kronen bis in den Himmel hoben, und über dem allen heiße, brennende Sonnenglut. Das alles schwankte und zerfloß in nebelhaften Umrissen, es versank und tauchte wieder auf, die Bilder waren nicht festzuhalten, aber sie gaben auch keine Ruhe mehr.

Das junge Mädchen träumte mit offenen Augen, träumte in der kalten nordischen Frühlingsnacht von dem fernen Sonnenlande. Die Alpengipfel ringsum starrten in Schnee und Eis, aber wieder klangen jene geheimnisvollen Stimmen herüber, jenes dumpfe Brausen und Tosen. Der Schnee löste sich da droben, die Wasser stürzten. – Es wurde Frühling im Land!

 

Lothar Sonneck hatte, wie im vergangenen Jahre so auch diesmal, seine Wohnung in der Bertramschen Villa genommen, deren oberer Stock in den Sommermonaten vermietet wurde, und der Hofrat und seine Frau thaten das möglichste, es dem berühmten Gaste in ihrem Hause behaglich und angenehm zu machen. Reinhart Ehrwald, der von Tag zu Tag erwartet wurde, sollte gleichfalls hier wohnen, und die drei Jungen des Doktors hatten bereits verschiedene Empfangsfeierlichkeiten für den neuen »afrikanischen Onkel« geplant, selbstverständlich mit allerlei afrikanischen Anspielungen. Leider kam diese schöne Idee nicht zur Ausführung, denn der Erwartete traf ganz plötzlich, ohne vorherige Anmeldung ein. Er kam eines Morgens zu Fuß und ohne Gepäck, fragte nach Herrn Sonneck und begab sich sofort zu ihm.

Im Wohnzimmer Lothars saßen die beiden Gefährten, die fast ein Jahrzehnt lang unzertrennlich gewesen waren und gemeinsam Gutes und Böses durchlebt und getragen hatten. Der eine mit grauen Haaren und schwindender Kraft, der andere noch in der ersten Blüte des Mannesalters und der Vollkraft des Lebens. Aber das Verhältnis zwischen ihnen war ein anderes geworden. Der ältere, dem Jahre und Erfahrungen einst ein so großes Uebergewicht über seinen Schützling gaben, behandelte diesen jetzt auf dem Fuße völliger Gleichheit, und der jüngere hatte längst das respektvolle »Herr Sonneck« fallen lassen und gab ihm das brüderliche Du.

Auch an Ehrwald war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Seine hohe Gestalt, welche die Sonnecks weit überragte, war sehniger, markiger, die Züge waren fester und tiefer geworden. Das Leben voll Kampf und Gefahr, voll Anstrengungen und Entbehrungen hatte auch bei ihm Spuren zurückgelassen, aber sie standen dem Antlitz gut, das die afrikanische Sonne so dunkel gebräunt hatte. Nur das blonde Haar, das sich ebenso üppig wie einst um die hohe Stirn krauste, verriet noch den Deutschen. Seine Haltung war ruhiger, seine Erscheinung überhaupt reifer und ernster geworden, aber in den dunklen Augen flammte noch immer das alte Feuer. Jenes heiße, volle Leben, das einst so stürmisch das ganze Wesen des Jünglings durchflutete, war auch dem Manne geblieben. Er war noch jung, trotz seiner vierunddreißig Jahre.

»Mußt du denn immer so überraschend und blitzartig kommen und gehen!« sagte Sonneck in einem Tone, der vorwurfsvoll sein sollte und doch die ganze Freude dieser Ueberraschung verriet. »Da warte ich täglich auf das Telegramm, das mir deine Ankunft melden soll, und auf einmal trittst du selber zur Thür herein. Bist du die ganze Nacht hindurch gefahren?«

»Nein, ich bin schon gestern abend angekommen,« versetzte Reinhart. »Es war aber sehr spät und da wollte ich das Haus hier nicht in Unruhe bringen mit meiner nächtlichen Ankunft. Ich stieg deshalb im Hotel ab, das heißt, ich schickte meinen Wagen mit dem Gepäck dorthin, und ich selber –« er hielt inne.

»Nun, und du?«

»Ich bin zur Abwechslung einmal sentimental gewesen und ein paar Stunden lang im Mondschein umhergestreift. Ich wollte sie doch wiedersehen – die alte Heimat!«

Die Worte klangen halb spöttisch, Sonneck sah ihn prüfend an.

»Ja, Reinhart, es hat lange gedauert, ehe ich erfuhr, daß Kronsberg deine Heimat ist. Du schwiegst jahrelang hartnäckig darüber und ich mochte nicht in dich dringen. Warst du – in Burgheim?«

»Ja!« Das Wort klang beinah grollend.

»Ich dachte es mir! Du wirst nicht viel gesehen haben von dem Hause. Helmreich hat den ganzen Garten mit einer Mauer umziehen lassen, da ist ein Einblick zur Nachtzeit kaum möglich.«

Ehrwald schwieg. Es wäre doch nur natürlich gewesen, das nächtliche Abenteuer dem Freunde zu erzählen, der, wie er längst wußte, ein täglicher Gast in Burgheim war, aber es war, als ob irgend etwas dem Manne die Lippen schließe, er brach rasch ab.

»Doch nun vor allen Dingen, wie geht es dir? Deine Briefe brachten mir ja die besten Nachrichten! Bist du ganz genesen?«

»Wenigstens zum größten Teil, und Bertram stellt mir in einigen Monaten die volle Genesung in Aussicht. Jetzt heißt es nur noch Schonung – Ruhe – Geduld! Das sind freilich Worte, die wir beide nie gekannt haben, aber ich habe sie lernen müssen. Laß dir das zur Warnung dienen, Reinhart, du bist auch zehn volle Jahre lang nicht in Europa gewesen. Man nutzt sich schnell ab in den Tropen, und auch deine eiserne Gesundheit wird schließlich erliegen, wenn du dir nicht einmal Ruhe gönnst.«

»War das möglich in unserm bisherigen Leben?« fragte Reinhart achselzuckend. »Uebrigens hängen meine nächsten Zukunftspläne ja von den Verhandlungen in Berlin ab. Das ist wieder eine von deinen Aufopferungen, Lothar! Man hatte dich für die Stellung in Aussicht genommen, ich weiß es, und du lehntest ab und setztest deinen ganzen Einfluß für mich ein.«

»Weil ich schon damals wußte, daß ich einer solchen Stellung nicht mehr gewachsen bin,« sagte Lothar ernst. »Damit ist's für mich zu Ende. Ich habe allerdings, als ich im Winter in Berlin war, das möglichste gethan, dir dort die Wege zu ebnen; ob du aber bei deinem stolzen Selbständigkeitsgefühl fertig wirst mit den Herren am grünen Tisch, ist eine andere Frage. Doch das wird sich ja finden, einstweilen bin ich froh, dich ein paar Wochen für mich zu haben. Auch Bertram und seine Frau freuen sich sehr, dich wiederzusehen, und dann wirst du auch noch eine andere Bekannte aus früherer Zeit wiederfinden – Lady Marwood ist hier.«

»Zenaide von Osmar?« rief Ehrwald überrascht. »Hast du sie bereits gesehen?«

»Jawohl, gestern. Sie soll die Kronsberger Quellen gebrauchen und beabsichtigt, den ganzen Sommer hier zu bleiben. Du weißt wohl, daß sie von ihrem Gemahle getrennt lebt?«

»Allerdings – man spricht in Kairo sehr viel über sie.«

»Das hat man leider von jeher gethan. Marwoods Name und Rang stellen ihn nun einmal in die erste Reihe und Zenaide ist eine gefeierte Schönheit in der großen Welt. Solche Persönlichkeiten sind immer die willkommensten Gegenstände für die üble Nachrede.«

Reinhart antwortete nicht. Es schien, als wünschte er den Gegenstand fallen zu lassen, doch Sonneck hielt ihn fest.

»Hast du etwas Näheres gehört?« fragte er. »Ich habe bei meinem letzten Aufenthalt in Kairo kaum mit jemand verkehrt, ich war schwer leidend damals und schiffte mich sobald als möglich ein. Du aber bist jetzt wochenlang dort gewesen – was spricht man eigentlich?«

»Alles mögliche! Die englischen Kreise in Kairo sind ja stets sehr genau unterrichtet über alle Vorgänge in der Londoner Gesellschaft, aber – sie nehmen entschieden Marwoods Partei.«

»Wirklich?« rief Sonneck peinlich überrascht.

»Fast ohne Ausnahme, und in den einheimischen Kreisen hört man dasselbe. Lady Marwood soll sich in England sehr excentrisch benommen und sich rücksichtslos über alles hinweggesetzt haben, so daß schließlich nur die Trennung übrig blieb; die gesetzliche Scheidung unterblieb wohl nur des Kindes wegen, auf das keines der Eltern verzichten wollte; es heißt aber, daß Marwood sie anstrebt. Seitdem reist seine Gemahlin allein in der Welt umher, taucht überall wie ein Meteor auf und streut das Geld mit vollen Händen aus, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Dabei hat sie immer einen Schwarm von Verehrern hinter sich und umgibt sich überall mit einem förmlichen Hofstaat von Bewunderern, der ihrem Rufe nicht gerade förderlich ist. Ich mag nicht wiederholen, was man da alles flüstert und klatscht, aber etwas davon wird wohl auch bis zu dir gedrungen sein.«

»Ja, aber ich habe es nie geglaubt. Diese unselige Ehe, die von Anfang an den Keim des Unheils in sich trug! Es war ja, als ob man Eis und Feuer aneinander ketten wollte! Zenaide mag unvorsichtig gewesen sein der Gesellschaft gegenüber; mag es jetzt doppelt sein, wo sie die Fesseln gebrochen hat – an wirklich Schlimmes glaube ich nicht.«

Ehrwald schwieg, aber seine Miene verriet, daß er nicht derselben Meinung war.

»Du wirst doch nicht umhin können, sie wiederzusehen,« hob Lothar wieder an, »denn ich verkehre mit ihr auf dem alten freundschaftlichen Fuß, und hier in Kronsberg kann man sich überhaupt nicht ausweichen.«

»Weshalb denn auch?« fragte Reinhart gelassen. »Doch nicht etwa wegen der einstigen Jugendschwärmerei, die wir füreinander hegten? Dergleichen trägt man doch nicht sein Leben lang mit sich herum. Lady Marwood ist inzwischen eine gefeierte Weltdame geworden und ich – nun, ich bin auch nicht der junge ›Abenteurer‹ mehr, dem Herr von Osmar so verächtlich die Thür wies. An deiner Seite, in den Wüsten und Wäldern Afrikas habe ich mir Namen und Lebensstellung errungen. Wir treten uns als zwei völlig neue Menschen gegenüber, und wenn da wirklich die alten Erinnerungen wieder auftauchen, werden wir darüber lächeln wie über Kinderthorheiten. Etwas anderes ist ja die sogenannte Jugendliebe überhaupt nicht, sie hält niemals stand für das Leben.«

Es war derselbe gleichgültige Ton, mit dem Lady Marwood von »diesem Herrn Ehrwald« sprach. Sonneck war offenbar überrascht davon, er hätte anders empfunden und hatte deshalb mit einer gewissen Unruhe an dies Wiedersehen gedacht, das ein Spiel des Zufalls hier herbeiführte. Diese Gleichgültigkeit der beiden, die sich einst so nahe gestanden, nahm ihm eine geheime Sorge vom Herzen.

»Jugendliebe?« wiederholte er. »Hast du Zenaide denn wirklich geliebt? Dann hättest du sie schwerlich so leicht und schnell aufgegeben, weil ein erzürnter Vater zwischen euch trat. Ich glaube, Reinhart, du kannst überhaupt nicht lieben! Was hilft dir dein beinah sprichwörtlich gewordenes Glück bei den Frauen? Ein wahres Glück hat es dir ja doch nie gebracht! Wie oft sind dir seitdem Jugend, Schönheit und Liebe entgegengekommen, wie oft brauchtest du nur die Hand auszustrecken, um zu erreichen, was anderen als der höchste Preis des Lebens gilt – und wie oft hast du damit gespielt, in einer unverantwortlichen Weise gespielt! Aber du selbst bliebst immer kühl bis ans Herz hinan! Freilich, das alles war ja nahe und wirklich, deshalb genügte es dir nicht. Jenes große unendliche Glück, das du dir zusammenphantasierst, hat es nie und nirgends in der Welt gegeben, und anstatt zu nehmen, was sich dir bietet, jagst du noch immer dem alten unerreichbaren Traumbild nach, dieser –«

»Fata Morgana!« ergänzte Reinhart lachend. »Ja, das ist deine alte Predigt, wie oft hast du mich schon ausgescholten deshalb, aber kann ich's ändern? Es ist nun einmal mein Verhängnis, nur daß ich einst glaubte, ich könnte das Traumbild herabzwingen in die Wirklichkeit. Das ist vorbei, jetzt weiß ich, daß sie nie zur Erde herabsteigt, meine schöne Fata Morgana, aber lassen kann ich doch nicht von ihr. Vielleicht umfange ich sie einst im Tode!«

Er legte dem Freunde die Hand auf die Schulter und seine Stimme wurde plötzlich tiefernst, als er fortfuhr: »In einem irrst du doch. Ich kann lieben, auch das Nahe und Wirkliche, aber geliebt ohne Wandel und Enttäuschung habe ich nur eins auf der Welt – dich, Lothar! Du allein hast mir immer Wort gehalten, im Leben wie im Tode, denn wir beide haben ja oft genug zusammen dem Tode ins Auge geschaut. Was du mir warst und bist, das kann mir niemals ein Weib sein – nie!«

»Schmeichler!« wehrte Lothar ab, aber man hörte es an seinem Tone, wie viel ihm dies Geständnis galt.

»Nein, bei Gott, das ist keine Schmeichelei,« brach Reinhart leidenschaftlich aus. »Das ist die volle echte Wahrheit.«

»Das weiß ich, mein Junge,« entgegnete Sonneck warm, »und was du mir bist, das brauche ich dir wohl nicht erst zu sagen, aber trotzdem werden wir es lernen müssen, einander zu entbehren. Du kennst ja das Ultimatum, das Bertram mir gestellt hat, und er wird dir bestätigen –«

»Ah, da ist er ja selbst!«

Es war in der That der Hofrat, der jetzt die Thür öffnete und noch auf der Schwelle sagte: »Verzeihung, wenn ich störe, aber die erste Stunde des Wiedersehens ist verstrichen, und nun möchte ich doch auch unsern ›Afrikaner‹ begrüßen. Willkommen in Deutschland, Ehrwald!«

Er trat vollends ein und streckte Reinhart die Hand hin.

Dieser ergriff sie herzlich, fragte aber mit einiger Verwunderung: »Woher wissen Sie denn schon, daß ich hier bin? Ich kam ja ganz inkognito.«

»In meinem Hause geht nichts inkognito ein und aus, dafür sorgen meine Jungen,« erklärte Bertram. »Ihre Gesichtsfarbe hat Sie verraten; mein Aeltester behauptete steif und fest, der ›afrikanische Onkel‹ sei angekommen, und die Beschreibung stimmte. Noch einmal herzlich willkommen! Auch meine Frau freut sich sehr auf den lieben Gast, der damals bei unserer Liebes- und Leidensgeschichte am Nil so eine Art Schutzgeist für uns gewesen ist.«

»Auf Kosten des armen Fräulein Mallner,« lachte Ehrwald. »Ich glaube, sie hat mir das niemals verziehen. Ist sie denn noch am Leben?«

»Natürlich, und sie wird sogar baldigst in voller Lebensgröße hier erscheinen. Doch wie finden Sie Herrn Sonneck? Er hat sich sehr erholt, nicht wahr?«

»Lothar sieht wie verjüngt aus! Da haben Ihre Kronsberger Quellen in der That ein halbes Wunder gethan.«

Um die Lippen des Hofrates zuckte wieder der alte lustige Spott, als er entgegnete: »Nun, unsere Quellen sind vorzüglich, das ist ausgemacht; ob sie aber gerade an dieser ›Verjüngung‹ schuld sind, möchte ich bezweifeln. Das wird wohl einen andern Grund haben ... Ah so,« unterbrach er sich, indem er einen Wink Sonnecks auffing. »Er weiß noch gar nichts? Nun, da will ich Ihnen die Ueberraschung nicht verderben.«

»Was weiß ich nicht?« fragte Reinhart ahnungslos. Bertram lachte.

»Eine große Neuigkeit, die erst acht Tage alt ist, und so lange sind Sie gerade unterwegs. Sie können freilich noch nichts wissen, wenn Sie es nicht gleich in der ersten Stunde hier erfuhren, aber ich will nicht vorgreifen. Doch noch eins, Herr Sonneck! Ich bin heute schon vor Tagesgrauen in Burgheim gewesen. Bastian kam in der Nacht, um mich zu rufen. Der Professor hatte wieder einen argen Anfall seines alten Leidens.«

»Steht es schlimm?« fragte Sonneck besorgt.

»Nein, für den Augenblick ist die Gefahr beseitigt. Helmreich hat eine ungemein zähe Natur, die solche Anfälle immer wieder überwindet. Daß sein Zustand hoffnungslos ist, habe ich Ihnen ja längst mitgeteilt, aber es kann noch bis zum Herbste dauern.«

»Eine traurige Frist unter diesen Umständen!« sagte Lothar ernst. »Jedenfalls will ich noch am Vormittag nach Burgheim.«

»Thun Sie das,« stimmte der Arzt bei. »Sie sind der einzige, der noch etwas bei ihm ausrichtet. Die arme Elsa hat natürlich während der ganzen Nacht kein Auge geschlossen. Sie erinnern sich ihrer doch noch, Ehrwald?«

»Gewiß – da ist sie ja, meine kleine Feindin!« rief Reinhart, indem er zum Schreibtisch trat und ein dort stehendes Bild ergriff. »Das achtjährige Fräulein erklärte mir damals den Krieg auf Tod und Leben, weil ich einen Kuß erzwang, den es mir verweigerte. Es war wirklich nicht ratsam, dem kleinen Trotzkopf nahe zu kommen, wenn er übler Laune war.«

Die Worte waren wohl scherzhaft gemeint, aber sie hatten eine eigentümliche Beimischung von Gereiztheit. Sonneck war zu ihm getreten und sah mit leisem glücklichem Lächeln auf das Bild nieder, das er damals in Kairo gezeichnet und später in Aquarell ausgeführt hatte. Das Kinderköpfchen der kleinen Elsa blickte dem Beschauer mit seinem ganzen Liebreiz entgegen, doch mit jener zarten, beinah scheuen Zurückhaltung, die der ältere Mann stets beobachtete, wenn von seiner jungen Braut die Rede war, schwieg er auch jetzt noch über die »große Neuigkeit«. Die Gegenwart Bertrams legte ihm einen Zwang auf: das, was ihn am tiefsten berührte, sollte der Freund erst unter vier Augen erfahren.

»Ich habe es dir ja geschrieben, was die Erziehung Helmreichs aus dem einst so lebhaften und leidenschaftlichen Kinde gemacht hat,« sagte er. »Es war ein Unglück, daß es gerade in die Hände dieses alten, verbitterten Mannes kam. Er hatte gar kein Verständnis für das kleine, sonnige Geschöpf, das in seinem jungen Leben nur Liebe und Zärtlichkeit empfangen hatte und den Sonnenschein und die Freude brauchte, um zu gedeihen. Seine Erziehung war überhaupt so widerspruchsvoll wie nur möglich, einerseits unterrichtete er seine Enkelin selbst und gab ihr eine Bildung, die weit über das gewöhnliche Maß hinausging, und andrerseits kettete er sie förmlich an den Haushalt fest –«

»Aus krasser Selbstsucht!« fiel Hofrat Bertram mit einer ihm sonst ganz fremden Bitterkeit ein. »Er wollte seine Behaglichkeit im Hause haben und sah, daß die alte Zenz nicht mehr viel leisten konnte, also mußte sie in Elsa ihre Nachfolgerin erziehen. Er brauchte jemand, der ihm halbe Tage lang vorlas oder nach seinem Diktate schrieb, und es störte ihn, wenn das verständnislos geschah, also wurden dem jungen Mädchen alle möglichen gelehrten Dinge eingetrichtert – lehren Sie mich den alten Egoisten kennen!«

»Sie scheinen kein besonderer Freund des Professor Helmreich zu sein,« bemerkte Ehrwald, der das Bild noch immer in der Hand hielt und es betrachtete.

»Nein, wahrhaftig nicht!« brach Bertram aus. »Wir sind sogar heimlich geschworene Feinde, und wenn ich die ärztliche Behandlung in seinem Hause nicht aufgab, so geschah es nur Elsas wegen. Ich konnte ihm die Grausamkeit gegen das Kind nicht verzeihen, das doch sein eigenes Fleisch und Blut war; ich glaube, er hat es von jeher gehaßt, weil es das Kind seines tiefgehaßten Schwiegersohnes war. Als ich mit meiner jungen Frau hierher kam, war die Kleine etwa ein halbes Jahr bei dem Großvater, und da war der Kampf noch im vollen Gang, denn sie wehrte sich anfangs verzweifelt gegen diese sogenannte Erziehung. Sie wurde ja wie in einem Gefängnis gehalten, sogar die Spielgefährten blieben ihr versagt, jede kleine Unart, jeder kindische Trotz wurde in der erbarmungslosesten Weise gestraft, und wenn sie nun vollends von ihrem Vater und von dem Leben in Kairo sprach, geriet der Alte geradezu in Wut.«

»Ja, das war von jeher das Schlimmste!« bemerkte Lothar.

»Sagen Sie lieber: das Unvernünftigste! Und das Kind hing mit einer solchen Leidenschaft an dem Andenken des Vaters – wie glücklich war es, wenn es bei mir und meiner Frau davon plaudern durfte, es verzehrte sich förmlich in Sehnsucht und Erinnerung! Helmreich brachte ja schließlich die große Heldenthat fertig, den Widerstand des neunjährigen Kindes zu brechen, aber wie das geschah, das muß man mit angesehen haben – es hat der Kleinen beinah das Leben gekostet.«

Reinhart legte plötzlich das Bild nieder, trat an das Fenster und blickte hinaus, während Sonneck mit verfinstertem Gesicht zuhörte.

»Das Kind war damals schwer krank, ich weiß,« warf er ein.

»Ja, es war eines Tages in seiner Verzweiflung entflohen, war fortgelaufen von dem ›bösen, bösen Großvater‹, hinaus in die Winternacht in Schnee und Eis, soweit die Füßchen es trugen, bis es zusammenbrach. Erstarrt und leblos wurde es aufgefunden; die Folge war eine schwere Krankheit, und es war zum Erbarmen, wie das arme kleine Ding im Fieber nach dem toten Vater weinte und die Aermchen nach ihm ausstreckte. Ich glaube: damals hat sogar dem Professor das Gewissen geschlagen. Ich sagte es ihm freilich ins Gesicht, daß, wenn es mir nicht gelänge, das Kind zu retten, er an seines Tode schuld sei, und das hat er mir bis auf den heutigen Tag nicht verziehen!«

Der sonst so heitere Mann hatte sich in eine förmliche Erbitterung hineingeredet; jetzt fuhr er ruhiger fort: »Sie begreifen es nun wohl, daß ich nicht viel Mitleid mit dem Alten da oben habe, trotz seines Leidens. Die Kleine genas ja endlich nach wochenlanger Gefahr, und da war ihre Widerstandskraft gebrochen und die früher so lebhafte Erinnerung völlig erloschen. Sie wußte kaum mehr, daß sie früher in einem andern Lande, unter ganz andern Verhältnissen gelebt hatte, sogar das Andenken des Vaters war nebelhaft und undeutlich geworden und ich hütete mich wohl, das wieder aufzuwecken, denn damit hörte auch die krankhafte Sehnsucht auf und das war ein Glück. Schließlich ist ihr das alles ganz entschwunden!«

Die beiden Männer hatten schweigend zugehört. Sonneck sprach auch jetzt nicht, aber man sah es, wie die Erzählung ihn erregt hatte. Reinhart stand noch immer mit verschränkten Armen am Fenster, ohne sich umzuwenden, da erhob sich drunten im Garten ein Lärm, der aber freudiger Natur zu sein schien, denn man hörte Jubel- und Hurrarufe. Bertram wurde aufmerksam.

»Was gibt es denn da draußen? Sind die Jungen toll geworden?« rief er und trat gleichfalls an das Fenster, wo er nun allerdings die Ursache entdeckte. Im Garten stand ein riesiger Neger, der verschiedene Reiseeffekten trug, während hinter ihm ein Träger mit einem großen Koffer sichtbar wurde. Die drei hofrätlichen Sprößlinge hatten den Schwarzen beim Eintritt abgefangen und gaben nun ihre Verwunderung und ihr Entzücken über diesen neuen afrikanischen Besuch in der stürmischsten Weise kund.

»Es ist mein Achmet mit dem Gepäck,« sagte Ehrwald. »Wollen Sie so freundlich sein, ihn zurechtzuweisen? Ich weiß ja noch gar nicht, wo meine Zimmer liegen.«

»Hier, neben denen des Herrn Sonneck, aber ich werde wohl selbst hinunter müssen, um da Ordnung zu stiften!«

Damit ging er und die beiden blieben allein. Sonneck war offenbar tief verstimmt durch jene Erzählung, und Reinhart schien gleichfalls den peinlichen Eindruck verwischen zu wollen, denn er fragte ablenkend: »Was ist denn das für eine Neuigkeit, auf die Bertram vorhin anspielte? Soll ich sie nicht endlich erfahren?«

»Gewiß, ich wollte nur allein mit dir darüber sprechen. Es handelt sich da um meine Zukunftspläne. Du weißt es ja durch meine Briefe, daß die Laufbahn da drüben in Afrika für mich zu Ende ist, auch wenn ich genesen bin.«

»Ja, Lothar, und das muß ein furchtbarer Schlag für dich gewesen sein!« rief Reinhart mit leidenschaftlich aufflammender Teilnahme. »Noch im besten Mannesalter zur Unthätigkeit verdammt zu werden – das hältst du ja gar nicht aus!«

»Vielleicht halte ich es besser aus, als du denkst,« entgegnete Lothar mit einem vielsagenden Lächeln. »Die Zeit der innern Kämpfe liegt jetzt hinter mir. Ein Leben, wie ich es mehr als zwanzig Jahre lang geführt habe, gibt immer noch Gelegenheit zur Thätigkeit. Ich habe viel Wertvolles gesammelt und aufgezeichnet, das alles nun geordnet und ausgearbeitet werden muß, und das wird Jahre dauern. Ueberdies – was wirst du sagen, wenn ich dir das Geständnis mache, daß ich im Begriff stehe, mir ein häusliches Glück zu gründen?«

»Du willst heiraten?« rief Ehrwald in unverkennbarer, aber offenbar freudiger Ueberraschung. »Nun, das ist ein Entschluß, den ich mit tausend Freuden begrüße, zumal jetzt! Der Gedanke, wie du die vollständige Aenderung deines Lebens ertragen würdest, hat mir oft schwer auf der Seele gelegen. Du hast das Sehnen nach Liebe und Heimat ja stets mit dir herumgetragen, und was mir als eine Fessel erschien, galt dir als das höchste Glück, aber du hättest dich nie gebunden ohne eine wahre, tiefe Neigung. Hast du sie so spät noch gefunden?«

»Ja, so spät noch!« wiederholte Sonneck ernst. »Vielleicht allzu spät, denn der Altersunterschied zwischen mir und meiner Braut ist sehr bedeutend, und mitten in all dem Glück liegt es mir doch fast wie ein Vorwurf, wie eine Schuld auf der Seele, daß ich ein junges Wesen, das noch gar nichts vom Leben kennt und weiß, an das meinige gefesselt habe. Ich kann meiner Gattin keine Jugend mehr geben, und wenn sie das je fühlen, wenn sie unglücklich werden sollte an meiner Seite –«

»Ein Weib, das du liebst und an dein Herz nimmst, wird nicht unglücklich!« fiel Ehrwald beinah stürmisch ein. »Was sie auch aufgeben mag um deinetwillen, sie tauscht Besseres dafür ein. Nein, Lothar, wehre das nicht ab, ich kenne dich wie kein anderer, ich darf es sagen! Aber nun laß mich endlich Näheres hören. Jetzt will ich wissen, wer deine Braut ist!«

»Du hast sie ja soeben gesehen!« Lothar wies lächelnd nach dem Schreibtisch hinüber. »Dort steht ihr Bild.«

»Elsa?« Reinharts Augen richteten sich groß und starr auf den Freund. »Elsa von Bernried? – Sie ist deine Braut?«

»Gewiß. Ueberrascht dich das so sehr? Freilich, deine weise Theorie von der ›sogenannten Jugendliebe‹, die im Grunde eine Kinderthorheit ist, bestätigt das nicht. Du siehst, bei mir hat sie stand gehalten, denn eigentlich habe ich klein Elsa schon damals in Kairo geliebt, wenn ich auch noch nicht ahnte, was sie mir dereinst werden sollte.«

Ehrwald stand noch immer da und sah ihn an, mit einem seltsamen Ausdruck, als könnte er das eben Gehörte nicht begreifen, dann aber sagte er kurz und beinah schroff: »Du hast in dem Kinde nur den Vater geliebt, der dir einst so nahe stand.«

»Du scheinst das ja besser zu wissen als ich,« scherzte Sonneck. »Aber du hast mir noch nicht einmal einen Glückwunsch gesagt.«

»Ich wünsche dir Glück!« sprach Reinhart langsam, indem er ihm die Hand reichte. »Wann wirst du dich vermählen?«

»Sobald als möglich. Du hörst ja, wie es mit Helmreich steht. Er hat nur noch Monate zu leben, und was er auch an dem Kinde gesündigt haben mag, ich kann dem todkranken Manne gerade jetzt seine Enkelin nicht nehmen. Ich hoffe es durchzusetzen, daß unsere Vermählung schon in sechs Wochen in aller Stille gefeiert wird, und dann bleiben wir vorläufig hier. Mir ist der Aufenthalt in Kronsberg ja ohnehin bis zum Herbst vorgeschrieben; wir werden ihn ausdehnen, bis wir dem Professor die Augen zugedrückt haben. Auf diese Weise verliert er Elsa nicht, sie kann nach wie vor sein Haus und seine Pflege überwachen, aber ich werde dafür sorgen, daß die Krankenpflege selbst in andere Hände gelegt wird. Als Gatte habe ich das Recht dazu und werde es brauchen. – Doch da höre ich den Achmet schon in deinen Zimmern. Komm, Reinhart, sie liegen hier gleich nebenan!«

Er öffnete eine Seitenthür und trat in das Nebengemach, aber Reinhart folgte ihm nicht sogleich. Im Begriff, an dem Schreibtisch vorüber zu schreiten, blieb er plötzlich stehen und blickte wieder auf das Bild der kleinen Elsa, so unverwandt, als suchte er in dem Gesicht des Kindes die Züge, die er heute nacht im hellen Mondlicht gesehen hatte.

»Lothars Braut!« murmelte er halblaut. »Ja freilich, da werden wir wohl Frieden schließen müssen, oder doch wenigstens Waffenstillstand. – Ob sie mir wohl wieder so verächtlich die Wege weisen wird, wenn ich mit ihm nach Burgheim komme?«

Er lachte kurz und spöttisch auf, und mit einer beinah rauhen Bewegung das Bild beiseite schiebend, richtete er sich hoch auf und folgte seinem Freunde.

 

Kronsberg fing allmählich an, sich zu bevölkern. Trotz der verhältnismäßig noch rauhen Jahreszeit kamen doch schon Gäste von nahe und fern und die Frühsaison versprach sehr belebt zu werden. Ehrwald hatte sich in den drei Tagen, die seit seiner Ankunft verstrichen waren, ausschließlich seinem Freunde gewidmet und verkehrte sonst nur noch mit der Bertramschen Familie, die in der That alles aufbot, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen. Besonders die jüngsten Familienglieder leisteten darin Außerordentliches, sie spielten ihm und Sonneck zu Ehren nur noch »Afrikaner«, und zwar meist unter der sachverständigen Leitung Achmets, der das doch verstehen mußte. Zum Glück sprach er etwas deutsch und die drei kleinen Europäer hingen sich wie die Kletten an den gutmütigen Schwarzen. Daß bei diesen orientalischen Spielen noch etwas mehr Lärm vollführt wurde als gewöhnlich, war selbstverständlich, störte aber niemand, und man war allerseits sehr zufrieden miteinander.

Sonneck selbst war täglich einige Stunden in Burgheim bei seiner Braut, hatte aber bisher weder seinen Freund dort vorstellen, noch das Versprechen halten können, das er Lady Marwood hinsichtlich Elsas gegeben hatte. Professor Helmreich befand sich zwar bedeutend besser, sein Zustand erlaubte aber seiner Enkelin noch nicht, Besuche zu machen oder anzunehmen.

In den Vormittagsstunden pflegte im Bertramschen Hause gewöhnlich Ruhe zu herrschen, denn die beiden ältesten Knaben, die schon in dem vorgeschrittenen Alter von sieben und acht Jahren standen, befanden sich dann in der Schule, und das war auch heute der Fall. Der Jüngste, der erst vierjährige Hans, vergnügte sich inzwischen im Kinderzimmer mit einem ganz neuen Spielwerk, einer Art Flöte, die ihm Achmet sehr kunstvoll geschnitzt hatte, und welcher der junge Virtuos jetzt Töne entlockte, die allerdings mehr merkwürdig als schön waren.

Die Frau Hofrätin saß im Wohnzimmer mit einer Handarbeit beschäftigt, als die Thür sich öffnete und das Stubenmädchen sich zeigte, offenbar in der Absicht, jemand anzumelden, aber es kam nicht so weit. Das Mädchen wurde plötzlich zur Seite geschoben, eine ältere, sehr lange Dame trat ein, die in der einen Hand eine Reisetasche, in der andern einen großen Regenschirm trug und mit dem letztern nachdrücklich auf den Boden stampfte, während sie kurz und bündig sagte: »Guten Tag, Selma! Da bin ich!«

»Ulrike!« rief die junge Frau, überrascht aufspringend. »Du kommst schon jetzt? Deinem Briefe nach erwarteten wir dich ja erst gegen Abend.«

»Ich bin die Nacht durch gefahren und habe mir an der Bahnstation einen Wagen genommen,« erklärte Ulrike. »Draußen steht er mit dem Gepäck. Laß es hereinbringen!«

Es war noch der alte herrische Ton, der jetzt sehr ungewohnt in den Ohren der Frau Hofrätin klang; trotzdem begrüßte sie ihre Schwägerin freundlich, war ihr beim Ablegen ihrer Sachen behilflich und gab dem Mädchen Weisung, das Gepäck nach dem Fremdenzimmer zu schaffen. Ulrike sah sich inzwischen in dem geschmackvoll und behaglich eingerichteten Wohnzimmer um, dann bemerkte sie trocken: »Nun, vornehm genug sieht es hier bei euch aus. In Martinsfelde war es einfacher. Und nun habt ihr euch gar einen schwarzen Lakaien angeschafft. Ich denke, ich komme in ein deutsches, christliches Haus, und das erste, was ich sehe, ist solch ein rabenschwarzes heidnisches Ungetüm, wie sie am Nil zu Hunderten herumlaufen. Das grinst mich an und will mir meine Reisetasche nehmen, in der ich das Geld habe, aber ich drohte ihm mit dem Regenschirm, daß es zurückfuhr.«

»O, das war der Achmet des Herrn Ehrwald,« lachte Selma. »Ich schrieb es dir ja, daß wir die beiden berühmten Gäste Sonneck und Ehrwald im Hause haben. Achmet ist sehr gutmütig und dienstfertig, er hat die Tasche nur tragen wollen.«

»Einerlei, ich leide es nicht, daß man mir meine Sachen so aus den Händen reißt,« erklärte Fräulein Mallner, »und diesem afrikanischen Diebsgesindel traue ich ein für allemal nicht. Aber nun laß dich einmal anschauen, Selma, wir haben uns ja zehn Jahre lang nicht gesehen!«

Sie musterte die kleine blühende Frau, die mit dem rosigen lachenden Gesicht allerdings himmelweit verschieden war von der blassen, ängstlichen und verschüchterten Witwe des seligen Martin. Aber auch Selma kam jetzt erst dazu, ihre Schwägerin genauer anzusehen. Schöner war Fräulein Ulrike Mallner im Laufe der Jahre nicht geworden, aber noch etwas hagerer und sehr viel älter. Das nunmehr ganz einsame Leben, das sie in Martinsfelde geführt hatte, schien sehr ungünstig auf sie gewirkt zu haben, denn während sie früher nur herrisch und rücksichtslos gewesen war, hatte ihr ganzes Wesen jetzt einen Zug von Verbitterung und Verbissenheit, der sofort hervortrat.

»Dir ist es gut gegangen, das sieht man!« sagte sie im herbsten Ton. »Mir nicht. Mein Martinsfelde haben sie mir genommen, du weißt es ja, und nun bin ich obdachlos in die Welt hinausgetrieben worden.«

»Du hättest ja aber das Gut nicht sofort zu übergeben brauchen,« wandte Selma ein. »Man wollte dir ja Zeit lassen bis zum Herbst, nötigenfalls bis zum nächsten Frühjahr.«

»Glaubst du etwa, daß mir das Vergnügen gemacht hätte?« fuhr das Fräulein zornig auf. »Soll ich vielleicht noch ein Jahr lang arbeiten, wenn ich weiß, daß dann Haus und Hof dem Boden gleich gemacht werden, um Raum zu schaffen für diese verwünschten Bahnbauten. Da ich nun einmal fort mußte, ging ich lieber gleich.«

Der rücksichtslose Ton berührte die Frau Hofrätin sehr peinlich und es kam ihr der Gedanke, daß sie mit dieser Einladung doch wohl einen Fehlgriff begangen habe. Da erhob sich nebenan im Kinderzimmer ein lautes Zetergeschrei, dazwischen tönten zwei streitende Knabenstimmen und das Gepolter eines umfallenden Stuhls. Ulrike wurde aufmerksam.

»Was gibt es denn da?« fragte sie. »Ist etwas geschehen?«

»O nein, es sind nur meine Jungen,« versetzte Selma mit vollster Seelenruhe. »Sie werden sich wohl wieder prügeln, wie gewöhnlich,«

»Und das leidest du?« rief die Schwägerin entrüstet.

»Warum denn nicht? Das liegt nun einmal in der Natur der Jungen und Adolf meint, es sei eigentlich eine sehr gesunde Bewegung. Aber sie sollen nicht solchen Lärm dabei machen, ich werde sie gleich zur Ruhe bringen.«

Damit stand Selma auf, ebenso gelassen wie vorhin, und öffnete die Thür des Nebenzimmers, wo sie ihre Voraussetzung denn auch bestätigt fand. Die beiden ältesten Knaben waren soeben nach Hause gekommen, denn sie trugen den Schulranzen noch auf dem Rücken, und hatten das neue Spielzeug ihres jüngsten Bruders schleunigst begutachten und probieren wollen. Dieser aber wehrte sich dagegen; er verteidigte tapfer sein Eigentum, und als er der Uebermacht weichen mußte, erhob er ein lautes Hilfegeschrei. Die beiden andern aber waren nun ihrerseits über die eroberte Flöte in Streit geraten und augenblicklich bildeten alle drei einen Knäuel und pufften eifrig und vergnüglich aufeinander los, als die Mutter dazwischen fuhr.

Sie faßte ihren ältesten Sprößling mit der rechten, den zweiten mit der linken Hand und gab jedem eine schallende Ohrfeige, dann raffte sie ihren Jüngsten auf, der zappelnd am Boden lag, und schalt sie alle aus.

»Könnt ihr denn niemals Ruhe halten? Was soll die fremde Tante denken, die eben angekommen ist! Schämt ihr euch denn gar nicht?«

Die Neuigkeit wirkte. Die Knaben wurden augenblicklich ruhig und besahen sich die fremde Tante, die erst heute abend ankommen sollte und nun schon da war. Diese aber stand starr und steif auf der Schwelle und blickte auf die kleine Frau, die so energisch Ruhe stiftete.

»Nun, das muß man sagen – du hast dich ganz merkwürdig verändert!« brach sie endlich aus.

»Ja, wenn man drei solche Wildfänge hat, kommt man mit der Sanftmut nicht durch!« meinte Selma. »Jetzt folgt mir ins Wohnzimmer, gebt der Tante die Hand und benehmt euch artig!«

Die Knaben gehorchten und die beiden ältesten, Adolf und Ernst, wie der kleine Hans wurden jetzt in aller Form vorgestellt. Fräulein Mallner sah jeden einzelnen scharf an, dann zuckte sie die Achseln und sagte mit Bedauern: »Allesamt dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! Deshalb sind sie auch so geraten! Im übrigen weißt du ja, Selma, daß ich Kinder nicht leiden kann, also halte sie mir möglichst vom Leibe.«

Das war aber leichter gesagt als gethan, denn die drei Jungen belagerten die neue Tante von allen Seiten und versuchten Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen. Sie erzählten ihr mit ungemeiner Wichtigkeit, daß sie zwei »afrikanische Onkel« im Hause hatten und auch den Achmet, der kein Onkel sei, aber gleichfalls aus Afrika komme, und brachten Ulrike durch die fortwährende Erwähnung des verhaßten Wüstenlandes in die übelste Laune. Die Geduld riß ihr aber vollends, als der kleine Hans ganz naiv fragte: »Kommst du auch aus Afrika?«

»Nein, aus Hinterpommern!« schnaubte sie ihn an und machte dazu ihr grimmigstes Gesicht. Der kleine Bursche schaute sie anfangs ganz verdutzt an, dann aber schien er diesen Ton und dies Gesicht sehr komisch zu finden, denn er fing laut und herzlich an zu lachen, seine beiden Brüder stimmten ein und es erhob sich ein förmlicher Jubel über die neue Tante, die so köstlichen Spaß zu machen verstand.

»Nun lacht mich die kleine Bande gar noch aus!« rief das alte Fräulein gereizt und wollte aufspringen, aber Hans kletterte ohne weiteres auf ihren Schoß und setzte sich da fest und die andern beiden blockierten sie rechts und links.

Ulrike hatte nie mit Kindern verkehrt, die der unfreundlichen, ewig scheltenden Dame immer scheu auszuweichen pflegten. Diese Zutraulichkeit machte sie daher so bestürzt, daß sie gar nicht versuchte, sich zu wehren, sondern ruhig sitzen blieb. So fand sie denn auch der eintretende Hofrat, der draußen schon von ihrer Ankunft gehört hatte und sie nun in seiner jovialen Art begrüßte.

»Guten Tag, Fräulein Mallner! Bitte, behalten Sie Platz, das ist ja sehr freundlich, daß Sie sich meiner Jungen so annehmen!«

»Die Jungen haben mich genommen,« erklärte Ulrike, die nun allerdings einen Versuch machte, ihre Bedränger abzuschütteln. Aber das gelang nur teilweise, denn Hans behauptete seinen Platz auf ihrem Schoß und verkündete sehr energisch: »Ich will bei der Tante bleiben!«

Diese ließ sich das merkwürdigerweise gefallen, aber sie gewann es nicht über sich, ihrem alten Widersacher freundlich zu begegnen, obgleich sie sich jetzt als Gast in seinem Hause befand. Ihr Ton war nichts weniger als freundschaftlich, als sie jetzt fortfuhr: »Ihre Frau hat mich eingeladen – ob es Ihnen recht ist, weiß ich nicht.«

»Was meine Frau thut, ist mir immer recht,« versetzte Bertram artig. »Und überdies kennen Sie ja die Hochachtung, die ich stets vor Ihnen gehegt habe. Also, Sie haben Martinsfelde verkauft –?«

»Genommen hat man es mir – schändlicherweise!« unterbrach ihn das Fräulein in voller Gereiztheit.

»Sie thun, als habe man Ihnen das Gut geraubt oder gestohlen,« warf er ein. »Sie haben doch einen schönen Preis dafür bekommen, fast das Doppelte des Bodenwertes, und könnten eigentlich damit zufrieden sein.«

»Zufrieden!« fuhr Ulrike zornig auf. »Glauben Sie, ich hätte mir mein altes Erbgut, den Hof, auf dem schon meine Eltern saßen, für irgend einen Preis abkaufen lassen, wenn man mir nicht mit dem Zwangsverfahren gedroht hätte? Was soll ich denn mit all dem Gelde anfangen?«

»Vermachen Sie es meinen Jungen,« rief der Hofrat. »Das ist eine sehr nützliche Verwendung.«

»So?« Sie sah ihn argwöhnisch an. »Haben Sie mich vielleicht deswegen eingeladen?«

»Einzig und allein deswegen! Ich stelle Ihnen die ganze Familie Bertram hiermit als Erbschleicher vor!«

Dabei lachte der Herr Doktor ebenso übermütig wie einst, Selma stimmte mit ein und für die drei Knaben war jedes Lachen ein Stichwort, auf das sie immer einfielen. Fräulein Mallner ließ den kleinen Hans unsanft von ihrem Schoße gleiten und sprang auf.

»Das scheint ja hier recht lustig zuzugehen,« rief sie entrüstet. »Wird hier immer so gelacht?«

»Meistenteils,« bestätigte der Hofrat. »Sie sehen, ich bin noch immer so ›empörend vergnügt‹ wie damals in Luksor, und meine Jungen schlagen in dieser Beziehung ganz nach dem Vater.«

Jetzt mischte sich Selma ein, sie schlug vor, den Gast nach dem Fremdenzimmer zu führen, und die drei Knaben beteiligten sich schleunigst an dem Aufbruch. Adolf stürzte sich auf die Reisetasche, Ernst auf den Regenschirm, um sie hinaufzutragen, und der kleine Hans, der nichts mehr zum Tragen fand, hing sich an das Kleid Ulrikens und schrie aus vollem Halse: »Ich will auch mit!«

»Laß die Tante in Ruhe, Hansel,« sagte Bertram. »Du reißt ihr ja das Kleid vom Leibe, du bleibst hier!«

Fräulein Mallner schien aber dies Verbot merkwürdigerweise übelzunehmen, denn sie fuhr nicht den kleinen zudringlichen Burschen, sondern dessen Vater an: »So lassen Sie doch das ewige Verbieten! Was liegt an dem alten Kleide – Hansel, du kommst mit.«

Dabei packte sie ihn derb am Arme und schleifte ihn mit sich, was dem Hansel ein unendliches Vergnügen bereitete, er jauchzte förmlich darüber.

Das Zimmer für den neuen Gast lag im obern Stock, und als die ganze Gesellschaft in den Hausflur trat, traf sie mit Sonneck und Ehrwald zusammen, die gerade die Treppe herabkamen. Da gab es nun natürlich ein gegenseitiges Erkennen und Begrüßen. Für Fräulein Ulrike Mallner war Sonneck immer noch der einzige »Mensch« und folglich der einzige, den sie mit ihrem Wohlwollen beehrte. Sie schüttelte ihm freundschaftlich die Hand und wandte sich dann zu seinem Gefährten mit der liebenswürdigen Bemerkung: »Nun, und Sie sind ja inzwischen auch ein großes Tier geworden, von dem die halbe Welt spricht.«

»Ja, so eine Art Wüstentier!« versetzte Reinhart, der mit der Ausdrucksweise der Dame noch zu vertraut war, um das übelzunehmen. »Verabscheuen Sie das Wüstenland noch immer so, Fräulein Mallner? Ich denke stets mit Vergnügen an unsern Ausflug nach Karnak, wo ich die Ehre hatte, Sie eine volle Stunde lang unterhalten zu dürfen, allerdings bei erhöhter Temperatur, während wir uns im heißen Sande gegenüber saßen. Und inzwischen benutzte dieser hinterlistige Hofrat die Gelegenheit zu einer Liebeserklärung und Verlobung.«

»Wovon Sie natürlich keine Ahnung hatten,« warf Ulrike ein, in einem Tone, der verriet, daß sie jetzt über den Zusammenhang im klaren war.

»Nicht die geringste! Aber im Grunde hatte er recht. Sehen Sie sich nur diese drei prächtigen Jungen an!«

Damit hob Reinhart den kleinen Hansel empor, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf.

»Lassen Sie doch diese gefährliche Spielerei!« schalt das Fräulein. »Das Kind kann ja fallen.«

»Es fällt nicht, dafür sorge ich schon,« lachte Ehrwald. »Und übrigens schadet den Bertramschen Jungen auch ein Luftsprung nicht, die sind von guter Rasse.«

Er machte Miene, das Spiel zu wiederholen, das stets ein Hauptvergnügen für den Hansel war, jetzt aber fuhr Ulrike dazwischen und riß ihm den Kleinen förmlich aus den Händen.

»Das haben Sie wohl bei Ihren Wilden gelernt?« rief sie zornig. »Den kleinen schwarzen Kobolden schadet es freilich nicht, wenn sie auf den dicken Schädel fallen, ich will es aber nicht mit ansehen, wie der Hansel sich hier vor meinen Augen Arme und Beine bricht. Und die Eltern stehen ganz ruhig dabei – das geht ja barbarisch zu in diesem Hause!« Damit nahm sie den Hansel auf den Arm und steuerte mit ihm eiligst nach der Treppe, als wollte sie ihn in Sicherheit bringen.

Während Selma ihr oben im Zimmer die Aussicht zeigte, widmeten die Knaben ihre ganze Aufmerksamkeit dem Gepäck, das man bereits heraufgebracht hatte, und der kleine Hans machte sich zum Sprachrohr der allgemeinen Erwartung, indem er sich vor die Tante hinstellte und angelegentlich fragte: »Tante Ulrike, was hast du uns eigentlich mitgebracht?«

Fräulein Mallner geriet vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben in Verlegenheit. Sie hatte natürlich nicht daran gedacht, den Kleinen Selmas irgend eine Freude zu machen, aber den drei frohen erwartungsvollen Kindergesichtern gegenüber fühlte sie doch so etwas wie Beschämung. Als jedoch Adolf und Ernst anfingen, die Herrlichkeiten aufzuzählen, die Onkel Ehrwald ihnen mitgebracht hatte, ärgerte sie sich von neuem.

»Dieser unerträgliche Ehrwald!« grollte sie innerlich. »Ueberall will er die erste Rolle spielen, sogar bei den Kindern, aber den Spaß werde ich ihm verderben. – Was möchtest du denn eigentlich, Hansel?« fragte sie den Kleinsten.

»Ein Schaukelpferd!« rief Hansel mit strahlenden Augen und maß den Koffer der Tante, ob er wohl groß genug sei, um das Gewünschte zu bergen.

»Nun, wir wollen sehen!« sagte Ulrike verheißungsvoll, und zu Selma gewendet, fügte sie leise hinzu: »Man kann solches Zeug doch hoffentlich hier in eurem Nest kaufen? – Aber nun macht, daß ihr hinauskommt, ihr Jungen, ich will auspacken!«

Die drei Herren waren am Fuße der Treppe zurückgeblieben und Sonneck sagte zu dem Arzte gewandt: »Wir wollen nach Burgheim, der Professor hat sich so ziemlich wieder erholt und ich möchte Reinhart nun endlich meiner Braut vorstellen. Aber ich fürchte, lieber Hofrat, Sie und Ihre Frau haben sich mit dieser Einladung eine arge Rute aufgebunden. Fräulein Mallner scheint noch unliebenswürdiger zu sein als früher.«

»Ja, Bertram, ich bewundere Ihren Mut, diesen Drachen ins Haus zu nehmen,« fiel Ehrwald ein. »Glauben Sie denn wirklich, daß Sie mit ihm auskommen werden?«

»Das überlasse ich meinen Jungen,« sagte der Hofrat mit ruhiger Zuversicht. »Die werden mit allem fertig, auch mit der Tante Ulrike, vor allem der Hansel. Geben Sie acht, der macht sie zahm!«

 

In Burgheim war der alte Bastian im Garten beschäftigt und blickte mit grämlicher Verwunderung auf, als draußen ein Wagen vorfuhr. Sonneck kam gewöhnlich zu Fuß und es war auch nicht der Wagen des Hofrats Bertram, der vor dem Eingang hielt, sondern eine fremde Equipage, mit zwei prachtvollen Pferden bespannt. Vom Bock sprang ein ganz merkwürdiges Menschenkind, in seltsam bunter Tracht, mit tiefbraunem Gesicht, trat an den Schlag, aus dem sich eine Dame beugte, und läutete dann an der Pforte.

Die Fremden begehrten offenbar Einlaß, was Bastian natürlich für eine Unverschämtheit erachtete. Er verwies zwar den mit lautem Gebell herbeistürzenden Wotan mit Rücksicht auf den kranken Hausherrn zur Ruhe, aber es fiel ihm nicht ein, das Gitterthor zu öffnen. Er streckte nur die Hand hindurch, um eine Karte in Empfang zu nehmen, die, wie jener braune Bursche ihm in gebrochenem Deutsch erklärte, für Fräulein von Bernried bestimmt war, und trollte damit ab, ließ jedoch weislich den knurrenden Wotan zur Bewachung des Eingangs zurück.

Elsa trat gerade aus dem Schlafzimmer ihres Großvaters, als der Alte erschien und ihr die Karte übergab, auf der sie zu ihrer Ueberraschung den Namen: »Zenaide Marwood« las. Bastian erhielt zu seinem höchsten Erstaunen und Mißvergnügen die Weisung, das Thor schleunigst zu öffnen und die Dame eintreten zu lassen. Wenige Minuten später schritt Lady Marwood durch den Garten und wurde von dem jungen Mädchen auf den Stufen der Terrasse empfangen.

»Meine Elsa, mein geliebtes Kind, da bin ich!« begrüßte sie Zenaide. »Da du dein Versprechen nicht hältst, mich aufzusuchen, so komme ich zu dir. Ich mußte dich endlich wiedersehen!«

Elsa verneigte sich, offenbar in Verlegenheit gesetzt durch die vertrauliche Anrede. Sonneck hatte ihr ja alles Nähere über Lady Marwood mitgeteilt, aber die schöne Frau, die sie jetzt mit so stürmischer Zärtlichkeit in die Arme schloß, war ihr doch eine völlig Fremde.

»Ich war bisher wohl entschuldigt, Mylady,« entgegnete sie. »Die Erkrankung meines Großvaters –«

»Ich weiß, mein liebes Kind, ich weiß!« fiel Zenaide ein. »Sonneck hat es mir geschrieben und eben deshalb bin ich hier. Aber es kostete Mühe, bis zu dir zu dringen, der grimmige alte Pförtner schien mir den Eingang verwehren zu wollen und der prächtige Hund da richtete sich so drohend auf, als wollte er seine junge Herrin auf Tod und Leben verteidigen. Du bist ja bewacht und behütet wie irgend eine verzauberte Prinzessin, und deine Heimat hat auch etwas von dem Märchenhause im tiefen Wald.«

Sie blickte lächelnd auf den verwilderten Garten und die dichten, düsteren Tannen. Elsa stand noch immer in scheuer Befangenheit vor ihr, sie wußte jetzt freilich von ihrem Aufenthalt im Osmarschen Hause, von der liebevollen Güte, mit der man die kleine Waise dort aufgenommen, und der leidenschaftlichen Neigung, die Zenaide damals für ihren Schützling gefaßt hatte. Sonneck hatte ihr das alles ausführlich erzählt, als er sie auf den Besuch bei Lady Marwood vorbereitete, aber in ihrer Erinnerung antwortete nichts darauf und so fand sie denn auch jetzt keine Antwort, sondern bat ihren Gast nur, einzutreten.

Ueber die Schwelle des alten Hauses war wohl noch nie eine so blendende Erscheinung gerauscht. Zenaide sah in der Frühjahrstoilette von violettem Sammet und dem Hute mit den weißen Straußenfedern wie die verkörperte Vornehmheit und Eleganz aus, aber sie blickte sich betroffen um in den düsteren Räumen mit ihrer einfach nüchternen Einrichtung.

» Hier bist du aufgewachsen?« fragte sie mitleidig. »Armes Kind, hier atmet es sich ja wie hinter Gefängnismauern –! Jetzt begreife ich es freilich, daß mein süßer, kleiner Trotzkopf so ganz anders geworden ist, so ernst und still, so scheu und fremd. Aber das muß fallen zwischen uns. Erinnerst du dich meiner gar nicht mehr?«

Elsa blickte stumm, aber mit unverhohlener Bewunderung in das schöne Antlitz, das sich so vertraulich zu ihr neigte, doch die Erinnerung wollte auch jetzt nicht aufdämmern. Die glänzende Erscheinung, die blendend und blitzähnlich wie ein Meteor in die stille düstere Häuslichkeit brach, glich freilich nicht mehr der einstigen Zenaide von Osmar. Das junge Mädchen konnte sich offenbar nicht darin finden und entgegnete wie entschuldigend: »Ich war damals noch ein Kind, Mylady, und es ist so lange her –«

»Mylady?« unterbrach sie diese unwillig. »Sonst nanntest du mich Tante Zenaide. Die Tante werden wir freilich wohl fallen lassen müssen, aber das Du behalten wir. Sprich es aus, Elsa, ich will es auch von deinen Lippen hören!«

Das klang halb zärtlich bittend, halb ungeduldig befehlend, allein das junge Mädchen verharrte in der scheuen Zurückhaltung. Dies stürmische Drängen nach Vertraulichkeit schien ihre Verschlossenheit nur noch zu steigern, sie gab eine ausweichende Antwort.

»Sie müssen Nachsicht mit mir haben, Mylady. Ich bin sehr einsam aufgewachsen und verstehe es noch nicht, Freundlichkeiten zu erwidern – lassen Sie mir Zeit dazu.«

»Nun, so lerne es, du scheues Reh!« sagte Zenaide lächelnd. »Ich sehe es wohl, daß ich dir Zeit lassen muß, aber ich werde mir deine Liebe schon zurückerobern. Den ersten Platz muß ich jetzt freilich einem andern lassen, du bist ja Sonnecks Braut. Hat der ernste Mann es wirklich verstanden, dein Herz zu gewinnen, trotz seiner Jahre? Er scheint dich grenzenlos zu lieben.«

Elsas Antlitz belebte sich und ihre Stimme gewann zum erstenmal einen warmen Klang, als sie entgegnete: »Lothar ist so unendlich gütig gegen mich. Er hat mir in den Krankheitstagen meines Großvaters so liebevoll, so aufopfernd zur Seite gestanden, daß ich es ihm nie genug danken kann.«

»Ja, er ist ein seltener Mensch,« stimmte Lady Marwood bei. »Aber was weißt du achtzehnjährige Einsiedlerin davon! Du kennst ja nur deinen alten, kranken Großvater und deinen Verlobten. Wenn du freilich an seiner Hand in die Welt und in das Leben trittst, dann werden dir die Menschen nicht wehe thun.«

»Wir werden gar nicht in der großen Welt leben,« sagte das junge Mädchen ruhig. »Lothars Gesundheit legt ihm Schonung auf und er hat es mir ja gesagt, daß er nur ein stilles, häusliches Glück ersehnt.«

»Ein stilles, häusliches Glück?« Es war ein halb schmerzlicher, halb spöttischer Ton, mit dem Zenaide die Worte wiederholte. »Nun, euch beiden ist es vielleicht beschieden. Sonneck hat das Leben hinter sich und du sollst es gar nicht erst kennen lernen an seiner Seite. O, er hat recht, wenn er dich davor schützen will, ganz recht! Sehne dich nie nach dieser Welt, Kind, die von ferne so blendend und berauschend erscheint und doch innerlich so schal und leer ist – schal bis zum Ekel!«

Elsa hörte betroffen zu, sie begriff nicht, wie die schöne, glänzende Frau zu dieser Bitterkeit kam. Sonneck hatte es in seinem Zartgefühl nicht über sich gewonnen, seiner jungen Braut das schwere, unheilbare Zerwürfnis zwischen Marwood und seiner Gemahlin zu entschleiern, er hatte nur angedeutet, daß die Ehe keine glückliche sei. Das junge Mädchen wagte daher nur die halblaute Bemerkung: »Und doch leben Sie in der großen Welt?«

»Ich?« Zenaide lachte auf, aber es war ein herbes, höhnisches Lachen. »Nun ja, was soll ich denn sonst thun? Mich in die Einsamkeit vergraben? Das halte ich nicht aus, es ist fürchterlich, das Alleinsein, mit seinem Denken und Träumen! Da mache ich lieber die tolle Hetzjagd mit, von einem Vergnügen zum andern. Es ist doch wenigstens Bewegung und Zerstreuung und man kommt leichter hinweg über die endlosen Tage und Wochen. – Was siehst du mich so fragend an mit deinen großen Kinderaugen? Das sind Dinge, die du nicht verstehst. Danke es deinem künftigen Gatten, wenn er dich rettet an seinen stillen Herd, da wirst du nie erwachen aus dem Kindertraum, wirst es nie kennen lernen, das wilde, verzweifelte Sehnen und Ringen nach Liebe und Glück. Ich habe danach gesucht all die Jahre lang und habe es nie gefunden! Ich weiß es ja, daß der Trank vergiftet ist, daß er verzehrt; doch was fragt der Verschmachtende in der Wüste danach, er trinkt sich zu Tode an dem vergifteten Quell!«

Das klang in der That so wild und verzweifelt, daß es den Zuhörer erschrecken konnte; allein hier hatte es die entgegengesetzte Wirkung. Die leidenschaftliche Frau hatte sich wie immer von ihrer Stimmung fortreißen lassen und darüber ganz vergessen, zu wem sie sprach; aber Elsa, die sich der schmeichelnden Zärtlichkeit gegenüber so spröde gezeigt hatte, schien jetzt auf einmal Vertrauen zu fassen, sie sagte leise und bittend: »Zenaide!«

»Ah, endlich!« rief diese beinah jubelnd. »Muß man dir erst Schmerz und Verzweiflung zeigen, wenn man den Weg zu deinem Herzen finden will? O, habe mich lieb, meine süße Elsa, du ahnst nicht, wie ich mich danach sehne, wie arm ich an Liebe bin, wie bettelarm!« Und damit zog sie das junge Mädchen in ihre Arme und küßte es leidenschaftlich.

Da schlug Wotan draußen an, aber diesmal mit freudig winselndem Gebell. Elsa horchte auf.

»Das ist Lothar,« sagte sie. »Er wollte heute seinen Freund mitbringen.«

»Ah so – Herrn Ehrwald!« Lady Marwood richtete sich plötzlich auf und ließ das junge Mädchen aus ihren Armen. »Nun, da kann ich ja gleich eine alte Bekanntschaft erneuern. Geh, mein Kind, empfange deinen Verlobten!« Und als Elsa zögerte, drängte sie ungeduldig: »Geh, du sollst mich nicht als einen fremden Besuch betrachten! Begrüße deinen Bräutigam, ich bitte dich!«

Es schien fast, als wollte sie einige Minuten allein sein, denn als das junge Mädchen nun wirklich ging, sprang sie auf und trat an das Fenster. Dort blieb sie unbeweglich stehen und blickte hinaus, den Kommenden entgegen.

Elsa durchschritt inzwischen die Flurhalle und trat auf die Terrasse hinaus; auf einmal zuckte sie leicht zusammen. Die auffallend hohe Gestalt des Mannes, der da an der Seite ihres Verlobten den Gang heraufkam, das dunkel gefärbte Antlitz, die charakteristischen Züge, das alles hatte sie schon gesehen, freilich nur im hellen Mondlicht und auf wenige Minuten, aber sie erkannte den nächtlichen Eindringling, der so verwegen den Weg über die Mauer genommen hatte.

Sonneck gewahrte seine Braut und eilte ihr entgegen. Er küßte sie auf die Stirn – seit seiner Werbung hatte er sich noch keine andere Liebkosung erlaubt – und wandte sich dann, ihre Hand in der seinen haltend, zu seinem Freunde.

»Da bringe ich dir meinen Reinhart, Elsa!« sagte er mit vollster Innigkeit. »Laß ihn keinen Fremden für dich sein, wenn du dich auch seiner nicht mehr erinnerst.«

Reinhart verneigte sich mit jener ritterlichen Artigkeit, die er den Frauen gegenüber stets zeigte.

»Ich bin nicht so kühn, einen Platz in Ihrer Erinnerung zu beanspruchen, mein gnädiges Fräulein, die Zeit liegt allzuweit zurück. Aber als Lothars Freund darf ich wohl hoffen, von Ihnen nicht als völlig fremd angesehen zu werden. Wollen Sie mir erlauben, Ihnen meinen Glückwünsch auszusprechen?«

Seine blitzenden Augen streiften dabei mit einem halb fragenden Ausdruck das Antlitz des jungen Mädchens, als erwartete er irgend ein Zeichen des Wiedererkennens, irgend eine Bemerkung über jene nächtliche Begegnung. Aber Elsas Lippen waren fest zusammengepreßt, mit einem eigentümlich herben Ausdruck, und als sie sich endlich öffneten, geschah es nur zu jenen kühlen, förmlichen Worten, mit denen man den Glückwunsch eines Fremden erwidert.

»Ich danke Ihnen, Herr Ehrwald. Es ist wohl selbstverständlich, daß mir Lothars Freund willkommen ist.«

Sonneck sah etwas enttäuscht aus, er kannte ja die Schweigsamkeit und Zurückhaltung seiner jungen Braut anderen gegenüber, hier aber hatte er doch eine wärmere Begrüßung erwartet. Elsa wußte es ja, was ihm Reinhart war, er hatte ihr oft genug davon gesprochen.

»Lady Marwood ist bei dir?« fragte er. »Wir sahen ihren Wagen und den Hassan draußen. Ich hatte es ihr geschrieben, weshalb wir unsern Besuch vorläufig noch aufschieben mußten. Komm, Reinhart, du mußt sie doch auch begrüßen!«

Er bot Elsa den Arm und führte sie in das Haus. Reinhart stand noch unten im Garten und blickte auf die alten moosbewachsenen Stufen nieder, auf denen jetzt der helle Sonnenschein lag. Es sah fast aus, als scheute er sich, sie zu betreten, dann aber setzte er plötzlich wie in aufflammendem Trotz den Fuß auf die verwitterten Steine und stieg mit raschen, festen Schritten hinauf.

Lady Marwood begrüßte die Eintretenden oder vielmehr Sonneck mit der gewohnten Vertraulichkeit, denn die Begrüßung galt ihm allein. »Sie sehen, ich habe den Zugang gefunden zu Ihrem verborgenen Schatz, wenn Sie ihn auch hinter Gittern und Mauern verschließen,« rief sie ihm entgegen. »Ja, lächeln Sie nur, ich kam in der schlimmen Absicht, Ihnen etwas davon zu rauben. Der künftige Herr und Gemahl wird freilich Alleinherrscher sein wollen in seinem Reiche, aber ich beanspruche auch einen Platz darin. Nicht wahr, meine süße Elsa?«

Sie zog das junge Mädchen schmeichelnd neben sich nieder und schien es dabei ganz zu übersehen, daß noch jemand eingetreten war, der hinter Sonneck stand. Dieser lächelte in der That, als er erwiderte: »Ich bin durchaus nicht so tyrannisch angelegt, wie Sie voraussetzen, ich beanspruche nur den ersten Platz bei meiner Elsa. Doch nun gestatten Sie mir, Zenaide, Ihnen einen alten Bekannten zuzuführen, der Sie jetzt auch auf deutschem Boden begrüßen möchte. Sie wußten ja, daß ich ihn erwartete.«

Er sprach im unbefangensten Tone, aber sein Blick ruhte dabei forschend auf den beiden, die sich jetzt zum erstenmal wiedersahen seit jener Trennung in Luksor. Sie waren freilich beide auf dies Wiedersehen vorbereitet.

»Ah, Herr Ehrwald!« Zenaide streckte mit nachlässiger Grazie die Hand aus. »Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen hier in Kronsberg! Ich glaube, wir haben uns sehr lange nicht gesehen.«

Sie sah in der That aus, als entsänne sie sich dieser Zeit kaum mehr. Reinhart kam ihrem Gedächtnis zu Hilfe.

»Volle zehn Jahre, Mylady,« erwiderte er, seine Lippen auf die dargereichte Hand drückend. »Ich hatte bei meiner öfteren Anwesenheit in Kairo leider nie das Glück, Sie dort wieder zu treffen.«

»Ich bin auch seit drei Jahren nicht dort gewesen. Und Sie haben sich also herbeigelassen, einmal wieder nach Europa zu kommen? Sie hielten es wohl für notwendig, sich leibhaftig inmitten der Zivilisation zu zeigen, damit Sie für das Publikum nicht ganz und gar zur Sage werden, zum Märchenhelden aus ›Tausend und Eine Nacht‹«.

»Sie scherzen, Mylady,« sagte Ehrwald, den Spott mit ruhiger Artigkeit parierend.

»Nun, was die Zeitungen von Ihnen berichten, grenzt doch oft genug an das Märchenhafte, zumal der letzte Zug, den Sie allein gegen den rebellischen Wüstenstamm unternahmen. Herr Sonneck war ja wohl damals schon in Deutschland.«

»Ja, da war er so recht in seinem Element,« nahm Lothar das Wort. »Keine Verhandlungen und Rücksichten wie sonst, wo man immer erst den gütlichen Weg versuchen muß! Da hieß es, nur vorwärtsgehen und niederwerfen, was sich nicht ergab. Das ist von jeher der Gegensatz zwischen uns beiden gewesen. Ich war immer nur der Forscher, der Entdecker, der die Kämpfe und Gefahren beim Vorwärtsdringen als eine harte Notwendigkeit ansah. Reinhart ist der Eroberer, der alles mit stürmender Hand nehmen möchte und dem das auch meistenteils glückt. Ob es nun gegen feindliche Stämme geht, gegen die Elemente oder die Schrecken der Wüsten und Urwälder, das gilt ihm gleich, wenn er nur kämpfen und siegen kann. Wie oft habe ich ihm den Zügel anlegen müssen und wie ungeduldig hat er das stets ertragen!«

»Aber doch nur im Anfang,« warf Reinhart ein. »An deiner Seite habe ich bald genug Ruhe und Besonnenheit gelernt.«

»Mußten Sie das wirklich erst lernen, Herr Ehrwald?« fragte Zenaide. »Ich glaube, Sie waren immer sehr – besonnen, sobald Sie nur wollten.«

»Sobald ich mußte, Mylady. Es gibt Fälle, wo die Besonnenheit zur Pflicht wird.«

Die Augen der beiden begegneten sich und ruhten einige Sekunden lang ineinander. Sie dachten wohl beide an die Stunde, in der sie sich zum letztenmal gesehen hatten, in den Tempelhallen von Luksor, wo das geisterhafte Licht des Mondes hinflutete über die alte Opferstätte und die steinernen Riesenbilder niederblickten auf die beiden jungen Menschenkinder, die damals voneinander gingen. Der eine hinaus in die Wüste, in die glühende Tropenwelt, die andere wenige Monate später in die kalten Nebel des Nordens! Eine endlose Ferne hatte sich zwischen sie gelegt und jetzt saßen sie sich wieder gegenüber, so nahe – und so fremd!

Sonneck mochte wohl die geheime Bedeutung der letzten Worte ahnen, denn er lenkte rasch ab und sprach von anderen Dingen. Das Gespräch wurde allgemein, doch Lady Marwood beherrschte es vollständig. Sie sprühte jetzt wieder von Feuer und Leben und riß die beiden Herren zu der gleichen Lebhaftigkeit fort. Sie schilderte das Leben in Rom, wo sie den Winter zugebracht und, wie es schien, in der Gesellschaft den Ton angegeben hatte; sie spottete über die Verbannung in Schnee und Eis, zu der man sie verurteilte, und über die biederen Kronsberger, die sich bei jeder Gelegenheit auf ihren Weltkurort beriefen und dabei so unendlich spießbürgerlich seien. Sie neckte Elsa wegen ihrer Schweigsamkeit und erklärte lachend, sie werde das »Trappistengesetz« von Burgheim ein für allemal durchbrechen. Das ging wie in atemloser Hast von einem Gegenstande zum andern, streifte jeden und hielt keinen einzigen fest; ihr Geplauder blitzte nur so von übermütigem Spott und geistreichen Bemerkungen.

Endlich brach sie auf und reichte zum Abschiede Sonneck die Hand. »Nun aber lasse ich keine Entschuldigung mehr gelten. Professor Helmreich ist außer Gefahr, wie ich höre, jetzt verlange ich den versprochenen Besuch.«

»Wir kommen morgen,« versicherte Lothar, sie lächelte und wandte sich zu Reinhart.

»Und Sie, Herr Ehrwald? Werde ich das Vergnügen haben, auch Sie bei mir zu sehen?«

Er verneigte sich mit vollendeter Artigkeit.

»Sie haben nur zu befehlen, Mylady. Ich werde es als eine Gunst betrachten, wenn Sie mir erlauben, Ihnen meine Aufwartung zu machen.«

»Also auf Wiedersehen, meine Herren!« Lady Marwood neigte das Haupt gegen beide und ging dann, von Elsa geleitet. Draußen in der Flurhalle aber blieb sie stehen und sah mit einem seltsam dunklen Blick auf die geschlossene Thür des Wohnzimmers.

»Noch ganz der alte!« sagte sie halblaut. »So ritterlich und so – eisig, trotz all des Feuers, das da zu flammen scheint. Wie findest du diesen Ehrwald eigentlich, Elsa? Gefällt er dir?«

»Nein!« Das Wort kam ohne jedes Zögern, aber mit so herber Entschiedenheit von den Lippen des jungen Mädchens, daß Zenaide sie betroffen ansah.

»Sieh, wie energisch! Da blitzte endlich wieder etwas auf von meiner kleinen Elsa. Aber nimm dich in acht, Kind, das wird den ersten Streit mit deinem Verlobten geben, er vergöttert seinen Freund.«

Elsa blieb die Antwort schuldig, ihre Augen hingen an der schönen Frau, die ihr mit jeder Minute rätselhafter wurde. Sie hatte sich vorhin fast gar nicht an der Unterhaltung beteiligt, aber mit immer größerem Erstaunen zugehört. War das noch dieselbe Frau, die vor einer Viertelstunde neben ihr gesessen hatte, aus deren Innern es hervorbrach wie ein Aufschrei der tiefsten Qual und Verzweiflung und die nun so übermütig lachte und spottete? War denn diese Zenaide ein Doppelwesen? Sie lachte auch jetzt und brach mitten darin ab, um beide Hände gegen die Brust zu pressen, als fehlte ihr auf einmal der Atem. Dabei wurde ihr Gesicht totenbleich und sie lehnte sich wie halb ohnmächtig gegen die Wand.

»Um Gottes willen – was ist das?« rief Elsa erschrocken, indem sie beide Arme um die Wankende legte. »Nichts, nichts!« murmelte Zenaide. »Aengstige dich nicht – es geht vorüber!«

Ihr Haupt sank auf die Schulter des jungen Mädchens und ein heißes, halbersticktes Schluchzen rang sich aus ihrer Brust hervor. Elsa fragte nicht und rief nicht um Hilfe, sie fühlte instinktmäßig, daß man da drinnen nichts ahnen durfte von diesem Zufall.

Er dauerte freilich nur wenige Minuten, dann richtete sich Zenaide auf und versuchte zu lächeln, aber ihre Lippen zuckten, als sie abgebrochen sagte: »Ein nervöser Anfall, nichts weiter – ich habe wieder zu viel gesprochen, mich zu sehr erregt – der Hofrat hat mich ja gewarnt davor. Sage den beiden Herren nichts davon, ich bitte dich darum – und nun leb wohl, wir sehen uns ja morgen wieder!«

Das junge Mädchen fühlte noch einen heißen Kuß, dann riß sich Lady Marwood los und eilte, jede fernere Begleitung abwehrend, davon. Hassan stand bereits da und öffnete seiner Herrin den Wagenschlag; sie winkte noch einen Gruß zurück, dann brauste das Gefährt davon und die glänzende Erscheinung war verschwunden, so schnell und blitzähnlich, wie sie gekommen war.

Eine halbe Stunde später schritten die beiden Herren durch den Garten. Sie waren in lebhaftem Gespräch, aber zwischen Ehrwalds Brauen stand eine tiefe Falte und in seiner Stimme klang eine unverkennbare Gereiztheit, als er sagte: »Gib dir doch keine Mühe, Lothar, das abzuleugnen! Ich werde nun einmal nicht zu Gnaden angenommen bei deiner Braut, ich dächte, das hättest du so gut gesehen wie ich.«

Die Bemerkung mußte wohl Grund haben, denn Sonnecks Antwort verriet einige Verlegenheit.

»Elsa ist eben eine spröde, eigenartige Natur, die langsam gewonnen sein will. Ueberdies hat sie nie mit Menschen verkehrt, da ist es doch am Ende natürlich, daß sie sich scheu und zurückhaltend zeigt.«

»Ob es gerade Scheu ist, was mir Fräulein von Bernried zeigte? Ich habe es für Abneigung gehalten und das sollte mich eigentlich nicht überraschen. Sie duldete ja schon als Kind von mir nicht die geringste Liebkosung, während sie die deinigen ruhig hinnahm, und als ich das erzwingen wollte, strafte mich die kleine Hand in sehr nachdrücklicher Weise. Ich habe auch jetzt nicht das Glück, ihr zu gefallen, aber du wirst mir zugeben, daß die Schuld diesmal nicht auf meiner Seite liegt. Ich habe alle Register meiner Liebenswürdigkeit gezogen, allein umsonst.«

»Und das hast du verwöhnter Herr natürlich sehr übelgenommen,« scherzte Lothar. »Ich glaube freilich, es ist das erste Mal, daß dir dergleichen passiert. Aber im Ernst, Reinhart, du hast immer noch das trotzige, eigenwillige Kind von einst im Gedächtnis. Die Jahre und die Erziehung haben aus Elsa etwas ganz anderes gemacht, das solltest du doch sehen.«

»Glaubst du denn wirklich, daß solche Naturanlagen sich vernichten lassen?« fragte Ehrwald mit leisem Spott. »Sie können unterdrückt, gebannt werden, vielleicht auf Jahre hinaus, und deine Elsa steht auch unter solch einem Bann. Dies Starre, Leblose, das in ihrem ganzen Wesen liegt, ist geradezu unheimlich bei einem Mädchen von achtzehn Jahren. Hältst du das etwa für ihre wirkliche Natur? Laß nur einmal den Sonnenschein hereinbrechen in ihr Leben, gib ihr nur einmal Glück und Freiheit zu kosten – und sie wird erwachen!«

»Da hört man wieder den alten Phantasten!« rief Sonneck lachend. »Du hast ja schon damals in Kairo mir und Zenaide vorgeschwärmt von deinen Bergsagen mit ihren gebannten Zauberwesen, die auf Erlösung harren, und der erlösende Held warst natürlich immer du in deinen Jugendträumen. Damals hättest du den Traum vielleicht verwirklichen können, aber du wolltest ja den Schatz nicht heben, der dir so verheißungsvoll entgegenblinkte, und da ist er – versunken. Zenaide wäre als dein Weib eine andere geworden, als sie jetzt ist. Bei meiner Elsa müßte ich nun freilich das erlösende Wort sprechen, aber sie ist Gott sei Dank kein solches Rätselwesen, da ist alles klar und hell.«

Sie standen jetzt am Gitterthor, um Abschied zu nehmen, denn Sonneck wollte bis zum Abend hier bleiben. Vor dem Ausgange lag Wotan, der heute übler Laune war, weil er fortwährend zurückgehalten und zur Ruhe verwiesen wurde. Er wußte, daß er sich still verhalten mußte, wenn die Hausbewohner oder Sonneck mit jemand verkehrten, bei dem Nahen Ehrwalds jedoch erhob er sich, ließ ein zorniges Knurren hören und machte Miene, auf ihn loszugehen.

»Was hast du denn, Wotan?« fragte Lothar unwillig. »An den Herrn hier mußt du dich gewöhnen, es ist ein Freund.«

Er legte wie zur Bestätigung die Hand auf Reinharts Schulter. Das genügte sonst stets, um Wotan zur ruhigen Duldung eines Fremden zu veranlassen, aber diesmal half es nichts. Der Hund erkannte zweifellos den nächtlichen Eindringling wieder, dessen Hand ihn mit so eisernem Griff an der Kehle gepackt und fast erwürgt hatte. Er murrte dumpf und drohend und ließ sich offenbar nur durch Sonnecks Nähe von einem Angriff abhalten. Ehrwald lachte, aber seine Stimme klang fast schneidend, als er sagte: »Laß doch dem Tier sein Vergnügen! Es folgt ja nur dem Beispiel seiner Herrin, sie zeigen mir beide, wie wenig willkommen ich in Burgheim bin. Leb wohl, Lothar!«

Er reichte ihm die Hand, und sich rasch umwendend, schlug er den Weg ein, der in das Thal hinabführte.

 

Im Hochgebirge hatte der Frühling nun endlich seinen Einzug gehalten. Er war spät gekommen, nun kam er aber auch in seiner ganzen Herrlichkeit. Die Alpenmatten waren wie übersät mit goldenen Himmelsschlüsseln und tiefblauem Enzian, die Wälder standen in voller Lenzespracht, auf allen Höhen, an allen Felswänden grünte und blühte es, und von den Gletschern und Schneefeldern stürzten die Bäche, befreit von den eisigen Fesseln des Winters, mit brausendem Ungestüm zu Thal.

Einige Stunden oberhalb Burgheim lag auf weiter grüner Matte ein einsamer Hof, ein altes, wetterfestes Haus, mit steinbeschwertem Dache, dessen Besitzer eine kleine Bergwirtschaft eingerichtet hatten. Der Ort suchte allerdings an Schönheit seinesgleichen in der ganzen Umgegend. Tief unten lag das Kronsberger Thal, mit der Stadt und der alten Feste, ringsum standen die Berge mit ihren schroffen Wänden und düsteren Schluchten, und darüber hinaus hoben sich die Hochgipfel mit ihren schneegekrönten Häuptern.

Es war ein Blick in die Alpenwelt, der es an Großartigkeit mit den berühmtesten Aussichtspunkten aufnehmen konnte. Dennoch wurde der Ort nicht allzuhäufig besucht. Der Aufstieg war steil und beschwerlich und die Bewirtung sehr einfach. Das war nichts für die verwöhnte Badegesellschaft von Kronsberg, die ihre Ausflüge meist nur zu Wagen oder zu Pferde unternahm und dabei keine der gewohnten Bequemlichkeiten entbehren wollte.

Sonneck hatte im vorigen Sommer auf einer seiner Streifereien den Ort entdeckt und ihn jetzt wieder in Begleitung seiner Braut und seines Freundes aufgesucht. Sie waren am frühen Morgen aufgebrochen und wollten noch vor Abend zurück sein, Helmreichs wegen, der die Teilnahme seiner Enkelin an dem Ausfluge überhaupt nur sehr ungern zugelassen hatte. Am Nachmittage brach jedoch ein heftiges Gewitter aus, das mehrere Stunden anhielt und den an sich schon beschwerlichen Abstieg geradezu gefährlich machte. Es war nicht ratsam, den Weg in der Dunkelheit und in Begleitung einer Dame zurückzulegen. So entschloß man sich denn, oben zu bleiben und mit der sehr bescheidenen Unterkunft bis zum nächsten Morgen vorlieb zu nehmen. Professor Helmreich wußte seine Enkelin ja im Schutze der beiden Herren und erwartete sie gewiß heute abend nicht mehr.

Es war noch in der ersten Morgenfrühe und im Hause regte sich noch nichts, als Elsa aus der Thür trat. Ringsum lagerte dichter Nebel und über die Matte jagten feuchte Dunstwolken hin, das junge Mädchen kannte jedoch die Wetterzeichen hinreichend, um zu wissen, daß gerade dieser dicht verhüllte Nebelmorgen einen Sonnentag verhieß. Sie wandte sich der mächtigen alten Tanne zu, die einige hundert Schritte weit am Abhang stand, mit sturmzerzaustem Wipfel, aber mit frisch grünenden Aesten. Von dort hatte man den vollen Ausblick über das Thal und die ganze Umgebung.

Elsa hatte sich auf der kunstlos gezimmerten Bank niedergelassen. Sie war in einen dunklen Regenmantel gehüllt, hatte aber auf den kurzen Weg den Hut nicht mitgenommen. Den Kopf an den Stamm des Baumes gelehnt, blickte sie hinaus in das Nebelwogen, das die ganze Landschaft noch in dichte Schleier hüllte.

Seit vier Wochen war sie Sonnecks Verlobte, aber die junge Braut blickte noch immer so kühl und ernst aus den blauen Augen wie sonst und der herbe Zug um die Lippen war nicht gewichen. Es hatte sich ja freilich auch wenig genug geändert in ihrem Leben, nur daß der Großvater sie nicht mehr so rücksichtslos behandelte und mit seinen Launen quälte, weil ihr Lothar schützend zur Seite stand. Aber dieser war doch immer nur auf Stunden in Burgheim und mußte den äußerst reizbaren Kranken schonen, der keinen Widerspruch vertrug. Sonneck hatte längst eingesehen, daß jetzt, wo ihm noch nicht die Autorität des Gatten zu Gebote stand, jedes tiefere Eingreifen nur eine Reihe von peinlichen und nutzlosen Kämpfen mit dem Professor heraufbeschwören würde, aber er hatte es erreicht, daß die Vermählung schon für Anfang Juli festgesetzt war.

Vermählung! Hochzeit! Der Gedanke, der jede Braut mit heimlicher Glückseligkeit durchschauert, hatte für Elsa kaum eine andere Bedeutung als den Eintritt in einen neuen Kreis von Pflichten. Sie blickte noch immer mit scheuer Bewunderung zu ihrem künftigen Gatten auf, konnte es noch immer nicht fassen, daß der Mann, der durch seine kühnen Forschungsreisen sich Weltruhm errungen, den selbst der ewig grollende, mit der ganzen Welt zerfallene Großvater »Einen von den Besten!« nannte, gerade sie gewählt hatte, die in ihrer Jugend, in ihrer vollsten Unbekanntschaft mit dem Leben ihm so gar nicht ebenbürtig war. Er freilich sah mit froher Zuversicht in die Zukunft. Was er suchte, war ein stilles häusliches Glück, fernab von der Welt, in deren Kampf und Treiben er so lange gestanden! Jetzt wollte er ausruhen davon an der Seite seines jungen Weibes, im Frieden seines Hauses, und da konnte er keine bessere Gefährtin wählen als das ernste, schweigsame Mädchen, das, in vollster Einsamkeit aufgewachsen, die Welt und ein Leben voll Abwechslung gar nicht vermissen würde.

Noch wenige Wochen, dann war sie sein Weib – und dann ging auch Reinhart Ehrwald, der nur noch der Vermählung seines Freundes beiwohnen und dann nach Berlin reisen wollte! Elsa atmete unwillkürlich auf bei dem Gedanken – die Nähe dieses Mannes lag nun einmal auf ihr wie ein Schatten. Er hatte zwar nach jenem ersten Besuche, der so kühl verlief, keinen Versuch gemacht, ihr irgendwie näher zu treten. Lothars Bitten, selbst seine leisen Vorwürfe hatten es nicht erreicht, daß seine Braut die seltsame, fast beleidigende Zurückhaltung aufgab, die der stolze, empfindliche Ehrwald nur zu gut fühlte.

Es war das erste Mal, daß Elsa einem Wunsche ihres Verlobten widerstrebte, aber sie wehrte sich dabei halb unbewußt gegen die quälende Empfindung, die immer wieder aufwachte unter jenem Blick und jener Stimme, gegen die undeutlichen, verworrenen Bilder und Gestalten, welche sein Erscheinen in ihr wachgerufen, die nach Klarheit zu ringen schienen und doch nicht klar werden wollten. Sie waren nicht zur Ruhe gekommen seitdem und lasteten wie ein schwerer Traum auf ihr, den man fühlt und aus dem man doch nicht erwachen kann. Der Nebel geriet jetzt in eine unruhig wallende Bewegung. Das öde gestaltlose Grau wurde lichter, es ballte sich zusammen in einzelnen Wolkenzügen und wie durch einen Schleier blickte einer der hohen eisumstarrten Gipfel hindurch, nur auf eine Minute, dann flossen Nebel und Wolken wieder darüber hin. Durch die tiefe Morgenstille klang das Tosen des Wildbachs, der, vom Gewitterregen geschwellt, dort drüben in der Schlucht niederstürzte. Man sah ihn nicht, denn die Schlucht war noch dicht verhüllt, aber sein Brausen klang fern und geheimnisvoll herüber.

»Guten Morgen, mein gnädiges Fräulein!« sagte eine Stimme in unmittelbarer Nähe des jungen Mädchens. »Sie sind schon wach und im Freien? Ich glaubte, der erste heute morgen zu sein.«

Elsa war leicht zusammengefahren beim Klang dieser Stimme; sie wandte sich um und entgegnete dann ruhig: »Ich wollte den Sonnenaufgang erwarten. Der Nebel fällt gewöhnlich um diese Jahreszeit, sobald die ersten Strahlen durchbrechen. – Schläft Lothar noch?«

»Er erwachte, als ich aufbrach, ich habe ihn aber zu einer längern Morgenruhe bestimmt. Er soll sich ja noch schonen, und der gestrige Aufstieg war schon genug für die Kräfte eines eben erst Genesenen. Der feuchte Nebelmorgen könnte ihm schädlich werden.«

»Das fürchtete ich auch, deshalb verriet ich nichts von meinem Wunsche, sondern ging allein.«

»Ich kam in der gleichen Absicht; der Nebel scheint in der That zu weichen – warten wir es ab!«

Elsa schien nicht gerade angenehm berührt von diesem Zusammentreffen. Sie erwiderte nichts, aber in ihrem Gesichte erschien wieder jener Ausdruck verhaltener Ablehnung, und das gerade reizte ihn, zu bleiben. Er machte keinen Versuch, die Unterhaltung fortzusetzen, er ging aber auch nicht, sondern lehnte sich mit verschränkten Armen an den Stamm des Baumes. Dabei richtete er den Blick mit gespanntem Ausdruck auf sie.

Wie konnte Lothar dies Mädchen nur für scheu und willenlos halten! Sah er denn nicht jenen Zug energischer Willenskraft, der sich einst schon in dem Kinde verriet und der jetzt wohl verschleiert, aber nicht verschwunden war? Und war es etwa Scheu gewesen, mit der das junge Mädchen einem Unbekannten standhielt, der um Mitternacht in ihren Garten eindrang und ihm dann so verächtlich den Weg über die Mauer wies? Dem Verlobten, dem künftigen Gatten war es nicht gelungen, den Bann zu brechen, der wie ein eisiger Hauch über dem ganzen Wesen seiner jungen Braut lag. Sollte es deshalb unmöglich sein? Es kam auf die Probe an!

Elsa hatte sich wieder in ihre gewohnte Schweigsamkeit gehüllt, aber sie mußte wohl den Blick fühlen, der so unverwandt auf ihr ruhte, denn sie wandte jetzt den Kopf und sagte: »Ein solcher Nebelmorgen ist Ihnen wohl etwas sehr Ungewohntes?«

»Ungewohnt – ja, aber nicht unwillkommen,« entgegnete Reinhart, der in vollen Zügen die feuchte Nebelluft einatmete. »Wie oft habe ich mich unter der glühenden afrikanischen Sonne gesehnt nach Sturm und Wolken, nach Eis und Schnee, gesehnt wie ein Verschmachtender nach dem frischen Trunke. Es gab Stunden, wo ich all die Palmenwälder mit ihrer ganzen tropischen Herrlichkeit hingegeben hätte für eine einzige schneebedeckte Tanne in ihrer herben Pracht!«

Das junge Mädchen streifte ihn mit einem halb verwunderten Blicke bei diesem Ausbruch leidenschaftlicher Empfindung.

»Lothar behauptet doch, Sie hätten das Heimweh nie gekannt.«

»Ja, das glaubt Lothar. Ich habe es auch geglaubt und habe es doch mit mir herumgetragen jahrelang.

Das liegt im Blut wie ein schleichendes Fieber, man weiß es nur nicht oder will es nicht wissen, und dann plötzlich bricht es aus, mit wilder, verzweifelter Sehnsucht, und quält und martert Tag und Nacht und reißt uns gewaltsam zurück zu den alten Stätten. Heimweh! Man sagt, es gibt Menschen, die daran sterben – ich begreife das. Haben Sie es nie gekannt?«

»Ich? Ich bin ja in Deutschland geboren.«

»Ich weiß, aber Sie haben es doch schon in den ersten Lebensjahren verlassen und Ihre ganze Kindheit in Aegypten verlebt. Als Sie so ganz plötzlich in den kalten Norden versetzt wurden, haben Sie da nie Heimweh empfunden nach dem Sonnenlande?«

»Möglich! Ich weiß nichts mehr davon.«

Das klang wieder sehr kühl und abweisend, und doch war das Gesicht des jungen Mädchens nachdenklich und träumerisch geworden, während sie in die feuchten Dunstwolken schaute, die noch immer auf der Matte wallten und jetzt zu zerrinnen und zu zerfließen begannen. Sie hingen sich als schwere Tropfen an die Zweige der Tannen und sanken als leichter weißer Reif zu Boden. Auch die dichte Nebelwand, die dort über dem Thale stand, begann zu weichen. Langsam sank sie tiefer und tiefer, langsam tauchten die Bergeshäupter daraus empor, aber sie standen nicht mehr kalt und weiß im grauen Morgenlicht, es wob sich wie ein rosiger Hauch von Gipfel zu Gipfel – das aufdämmernde Morgenrot.

»Sie hatten damals noch keine Vorstellung von der Alpenwelt,« hob Reinhart wieder an. »Ich erzählte Ihnen einmal von den hohen Bergen, die bis in den Himmel ragen, und an deren Häuptern Eis und Schnee liegen, von den dunklen Wäldern, den stürzenden Wassern und den Stürmen, die über Berg und Thal brausen. Das war in Luksor, unter den Palmen des Nils, das war in jener Stunde, wo uns die Fata Morgana erschien.«

»Fata Morgana?« wiederholte das junge Mädchen leise und hob, wie einem geheimen Zwange folgend, die Augen zu dem Sprechenden empor. Das waren noch die großen blauen Kinderaugen und es dämmerte etwas darin wie erwachende Erinnerung. Ehrwald trat einen Schritt näher, er stand jetzt dicht an ihrer Seite und seine Stimme verschleierte sich, sie hatte einen seltsam weichen und doch leidenschaftlichen Klang, als er fortfuhr: »Wir waren damals allein wie jetzt, über uns ragten die Palmen und um uns her lag das Schweigen der glühenden Mittagsstunde. Tief unten zogen die Fluten des Nils dahin, drüben am andern Ufer standen die kahlen gelben Höhenzüge und in der Ferne schimmerte das Sandmeer der Wüste, und das alles flimmerte und brannte in den heißen sengenden Strahlen. Dort über dem Wüstensaum lagerte es wie eine Wolke von glühendem Dunst und da tauchte es empor, da entschleierte sich uns das Zauberreich der alten Wüstensage! Sie waren damals ein Kind, aber solch eine Stunde erlebt man nur einmal, und die prägt sich auch der Erinnerung eines Kindes ein – Sie müssen sich besinnen!«

Das klang halb gebieterisch und halb in leidenschaftlicher Bitte. Elsa hörte zu, in atemlosem Lauschen, ihre Augen hingen wie gebannt an jenem heißen dunklen Blick, der den ihrigen festzuhalten schien, und als habe er wirklich die Macht, das längst Versunkene und Vergessene aus der Tiefe heraufzuzwingen, so dämmerte es langsam wieder auf, was das Kind einst geschaut hatte: die Glutwolke über der fernen Wüste, in der es leuchtete und zuckte wie von verborgenen Strahlen, in der die seltsamen Bilder auftauchten und zerflossen. Und es hob sich der Schleier von einer fremden, geheimnisvollen Welt, die hinter jenem glühenden Nebel lag.

Und das alles einte sich so seltsam mit der Wirklichkeit. Auch hier brandete ein weißes Nebelmeer in der Tiefe und seine Wogen schienen sich zu brechen an den Hochgipfeln, die jetzt aufflammten im Lichte der steigenden Sonne. Sie schwebte ohne Strahlen, wie ein roter glühender Ball in dem Gewölk, das den Osten umlagerte, und glutrot stieg auch der Morgen in das Thal nieder. Aus der wogenden, gärenden Nebelflut tauchte Bild an Bild empor, mächtige Felsenhäupter, mit schroffen Wänden und wilden Klüften, dunkle Wäldermassen und grüne Matten, und dazwischen blinkte der weiße Gischt der Wildbäche auf, die sich von der Höhe in das Thal niederstürzten.

Und an das Ohr des jungen Mädchens klang dieselbe Stimme wie damals unter den Palmen, im fernen Sonnenlande: »Ich habe die Fata Morgana wohl seitdem öfter gesehen, wie die meisten sie erblicken, undeutlich, schleierhaft, ein bloßes Spiel der Wolken. So klar und leuchtend hat sie sich mir nur einmal entschleiert! Sie stand wie ein strahlendes, glückverheißendes Zeichen am Beginn meiner Laufbahn und wie eine Verheißung habe ich es mit mir hinausgenommen in das Leben. Sehen Sie, so dämmerte es auch damals hervor aus Glut und Nebel – will uns das Zeichen zum zweitenmal erscheinen?«

Tief unten im Thale wallten noch die weißen Schleier, schwebten hierhin und dorthin und zerflossen endlich in Duft und Licht. Jetzt tauchte das Schloß auf mit seinen Türmen und Zinnen, jetzt die alte Bergstadt mit ihren Mauern und Giebeln, aber das alles stand so seltsam fremdartig und unirdisch in dem glühenden Morgenlicht, als sei es losgelöst von seinem Boden, als sei es nur ein leuchtender Schemen, der zerrinnen mußte wie die roten Morgenwolken dort oben. Das war nicht mehr Kronsberg, das war eine Märchenstadt, von goldigem Duft umwoben, und zu ihren Füßen brandete es wie Meeresfluten, zu ihren Häupten ragten die Berge, deren Gipfel im schneeigen Glanz verschwammen. Da lag es fern in der Tiefe, nur dem Auge erreichbar, aber geisterhaft schön!

Das Gespräch auf der Matte war verstummt, wortlos standen die beiden nebeneinander. Elsa hatte sich erhoben; weit vorgebeugt, mit verhaltenem Atem blickte sie auf das Bild, das sich dort zu ihren Füßen entschleierte; aber in ihren Augen leuchtete es, als sei mit der Erinnerung auch ein Strahl des Sonnenlandes dort aufgegangen, und das Lächeln, das um die sonst so herb geschlossenen Lippen lag, hatte etwas von dem alten frohen Kinderlachen.

Da kam es endlich, das Erwachen! Reinhart sah es mit einer beinahe wilden Freude, jetzt wollte er den Bann brechen, um jeden Preis, er wollte das schöne trotzige Kind wiedersehen, das »böse, süße, kleine Ding«, das er damals in den Armen gehalten und geküßt hatte, als er das Osmarsche Haus verließ, um es nicht wieder zu betreten.

»Fata Morgana!« sagte er, seine Stimme hatte noch immer jenen seltsam berückenden Klang, aber sie steigerte sich bis zur vollsten Leidenschaftlichkeit. »Sie kennen sie ja wohl auch, die alte Wüstensage von dem Wunderland, dem Lande voll Glanz und Licht, wo das Glück wohnt in unerreichbarer Ferne. Noch hat keines Sterblichen Fuß es je betreten, und alle, die ihm nachjagten, sind verdorben, verschmachtet im glühenden Sande, im Todesschweigen jener furchtbaren Oede. Mich hat das nie geschreckt. Auch die lockende, dämonische Djinn der Wüste neigt sich zuletzt dem einen, der sie erreicht. Ich würde mich nicht bedenken, Leben und Heil einzusetzen – könnte ich es nur einmal in meine Arme schließen, das große, das grenzenlose Glück, von dem ich so oft geträumt – und dann vergehen!«

Das war wieder der alte stürmische Reinhart, der da glaubte, er könnte mit seinem trotzigen Wagemut die ganze Welt erobern, für den es keine Schranken, keine Fesseln gab. So hatte er damals unter den Palmen gestanden, als er der Fata Morgana sein jubelndes »Ich komme!« zurief, und so stand er jetzt vor dem jungen Mädchen, das stumm, aber mit glühenden Wangen diesen phantastischen, diesen gefährlichen Träumereien lauschte.

Ein großes, ein grenzenloses Glück! Der Gedanke war noch nie in Elsas Leben getreten. In dem Dasein, das sie bisher geführt, war kein Raum dafür gewesen, und was ihr mit Lothars Werbung, mit seiner Liebe nahte, das war doch etwas anderes, etwas ganz anderes. Sie hatte nie dies leidenschaftliche Sehnen und Ringen gekannt, und doch verstand sie es in diesem Augenblick wie durch Offenbarung. Es war, als ob ein Echo antwortete in ihrer Brust.

»Sie wollten ihm ja damals nachjagen und es erreichen, das Wunderland,« sagte sie leise. »O, ich weiß es noch!«

»Wirklich? Erinnern Sie sich daran?« rief Reinhart aufflammend. »Ja, ich erzählte dem Kinde ein Märchen. Ich wollte die kleine Elsa vor mich nehmen auf das Roß und mit ihr hineinjagen in die Wüste, Tag und Nacht, ohne Rast und Ruhe, bis wir es erreichten, das Land der Fata Morgana. Das Kind hörte mir gläubig zu und jubelte auf dabei, und da hob ich es empor in meine Arme, hoch empor und küßte es!«

Es klang wie stürmisch ausbrechender Jubel in den Worten. War es dieser Ausbruch oder der heiße versengende Strahl, der aus den dunklen Augen blitzte – Elsa wich plötzlich zurück, als flüchtete sie vor einer Gefahr. Das sonnige Leuchten in ihren Zügen erlosch, und sich hoch aufrichtend, sagte sie kalt und ernst: »Das Kind ist jetzt die Braut Ihres Freundes – das haben Sie wohl vergessen, Herr Ehrwald.«

Er zuckte zusammen. Jawohl, er hatte alles vergessen in den letzten Minuten, alles, sogar den Freund und dessen eben erst geknüpftes Band!

»Ich bitte um Verzeihung, mein gnädiges Fräulein,« sagte er, sich rasch fassend. »Ich glaube nicht, daß es Lothar beleidigen kann, wenn ich seiner Braut von Erinnerungen spreche, die in ihrer frühesten Kinderzeit liegen.«

Elsa schwieg, es waren ja nicht die Worte, es war der Blick, der Ton gewesen, die sie mit so rätselhafter Angst durchschauerten. Noch verstand sie ihn nicht, es war nur die dunkle Ahnung von etwas Schwerem, Unheilvollem, das da drohte, sie floh instinktmäßig davor.

»Es ist wohl Zeit, daß ich gehe,« sagte sie gepreßt. »Guten Morgen, Herr Ehrwald!«

Sie neigte leicht das Haupt und wandte sich dem Hause zu. Reinhart stand unbeweglich und sah ihr nach; sein dunkles Antlitz war fahl geworden bei der Erkenntnis, die wie ein Blitz mit blendender, betäubender Gewalt in seinem Innern aufgezuckt war. Sie hatte ihm den Abgrund gezeigt, an dem er stand – mit der Braut seines Freundes.

Das Morgenrot verblaßte und mit ihm schwand auch der goldige Duft, der ganze traumhafte Märchenschimmer. Dort in der Tiefe verschwebten die letzten Nebel, und mit der Sonne, die sich jetzt durch die Wolken kämpfte, erwachte überall das Leben. Hoch über den Bergesgipfeln kreiste ein Adlerpaar und im Thal schossen die Schwalben hin und her. Der Morgenwind, der über die Matte hinstrich, schüttelte die Zweige der Tanne, und ein Regen von Tropfen, die noch an den Aesten hingen, ergoß sich über den Mann, der da so einsam und düster am Stamm lehnte. Er fuhr auf und strich mit der Hand über die Stirn.

»Ja, es war Zeit!« sagte er halblaut. »Und auch für mich ist es hohe Zeit – zum Erwachen.«

Er wandte sich zum Gehen, dabei glitt sein Blick noch einmal über die Landschaft und ein unendlich herbes Lächeln zuckte um seine Lippen.

»Da liegt's! Und das ist kein Luftgebilde, das ist volle Wirklichkeit, aber sie behält doch recht, die alte Wüstensage. Unnahbar, unerreichbar! Und wer sie umfassen will, dem zerfließt sie in den Armen – die Fata Morgana!«

 

Es war im Anfang des Juli und in Kronsberg stand die Saison in voller Blüte. Hofrat Bertram hatte recht, wenn er behauptete, diesmal komme alle Welt nach Kronsberg. Der Badeort war überfüllt, keine einzige Wohnung mehr verfügbar, und die große Kurpromenade bot ein ungemein glänzendes und belebtes Bild.

Der Hof war schon seit einigen Wochen hier und ihm folgte ein ganzer Schweif von vornehmen und reichen Familien, die Kurliste wies die glänzendsten und bekanntesten Namen auf, kurz Kronsberg machte seinem Range als aufblühender Weltkurort alle Ehre, und Lady Marwood hatte keine Veranlassung mehr, über ihre »Verbannung« zu klagen.

Sie hatte sich denn auch sofort zum Mittelpunkt der tonangebenden Kreise gemacht, in denen die schöne geistvolle Frau eine der ersten Rollen spielte. Man sprach sehr viel von der Gemahlin des englischen Lords, aber nicht immer Günstiges. Die offenkundige Trennung von ihrem Gatten, die rücksichtslose Art, mit der sie sich über jede Form hinwegsetzte, die ihr unbequem war, der Schwarm von Verehrern, der sie stets umgab, das alles gab Anlaß genug zu Klatschereien. Man flüsterte viel über sie, deutete allerlei an und beugte sich trotzdem vor ihr. Eine Frau von ihrem Range und ihrem Reichtum durfte sich eben erlauben, was man einer andern nicht verziehen hätte, und sie erlaubte sich nahezu alles.

Lady Marwood hatte die blendendsten Toiletten, die schönsten Equipagen, in ihrer Villa fand sich immer eine Schar von Gästen zusammen, und der Luxus, den sie entfaltete, war das Gespräch von ganz Kronsberg. Wo sie sich nur mit ihrer orientalischen Dienerschaft zeigte, war sie der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, und sie zeigte sich überall. Sie stürmte förmlich von einem Vergnügen, einer Zerstreuung in die andere, ohne sich an den Einspruch und die Warnungen ihres Arztes zu kehren. Bertram lernte jetzt den ganzen Eigenwillen seiner vornehmen Patientin kennen, die sich auch seiner Autorität nicht beugte. Was die erzwungene Ruhe und Einsamkeit in den ersten Wochen ihres Aufenthalts ihr gewonnen hatte, das ging freilich verloren in dem Strudel dieses Lebens, aber danach fragte Zenaide nicht.

Zerstreuung und Abwechslung gab es jetzt allerdings genug in Kronsberg; der Kurvorstand war vollständig auf der Höhe seiner Aufgabe und fühlte die Verpflichtung, den verwöhnten Gästen der Hauptsaison möglichst viel Unterhaltung zu bieten, und das geschah denn auch. Man führte so ziemlich dasselbe Leben wie im Winter in den Hauptstädten, nur daß es sich hier auf dem mächtigen Hintergrunde der Alpen abspielte.

Augenblicklich stand ein Ereignis im Vordergrunde des allgemeinen Interesses, die Vermählung Sonnecks, die in diesen Tagen stattfinden sollte. Der berühmte Afrikaforscher war gleichfalls eine vielgenannte und vielgesuchte Persönlichkeit, aber er zog sich ganz im Gegensatz zu Lady Marwood so viel als möglich zurück, seine Verlobung und seine noch nicht ganz befestigte Gesundheit gaben ihm den besten Vorwand dazu. Er hatte allerdings vielfache Beziehungen zum Hofe. Der Fürst verkehrte sehr gern mit ihm und hatte ihn erst kürzlich bei diesem Zusammentreffen in Kronsberg durch die Verleihung des Adels ausgezeichnet.

Von Fräulein von Bernried wußte man nicht viel mehr, als daß sie noch sehr jung sei und bei ihrem Großvater, dem alten menschenscheuen Sonderling, da oben in Burgheim lebe; sie hatte sich ja noch nie öffentlich mit ihrem Bräutigam gezeigt. Eigentlich wunderte man sich darüber, daß die Wahl Sonnecks gerade auf dies junge und, wie es hieß, sehr einfach und einsam erzogene Mädchen gefallen war; ihm hätten ganz andere Partien offen gestanden, obwohl er die Mittagshöhe des Lebens längst überschritten hatte. Er war eben Lothar Sonneck, und mehr als eine Dame der Gesellschaft wäre gern bereit gewesen, den berühmten Namen zu tragen. –

Es war ein schöner, sonnenheller Julitag, der für die Vermählung festgesetzt war. Der standesamtliche Akt sollte am Vormittage stattfinden und dann um ein Uhr die kirchliche Trauung folgen, nach katholischem Ritus, da Elsa wie ihre Eltern dieser Kirche angehörten. Sonneck befand sich noch in seiner alten Wohnung in der Bertramschen Villa und wartete auf den Wagen, der ihn nach Burgheim zu seiner Braut bringen sollte. Der Mann sah heute aus, als habe er einen Verjüngungstrank genossen. Seine Haltung war aufrecht, die Bewegungen leicht und elastisch, man sah ihm keine Spur des Leidens mehr an und sein ganzes Wesen war wie verklärt und durchleuchtet von Glück. Er sprach mit Ehrwald, der erst gestern abend aus Berlin eingetroffen war und ihm bei der bevorstehenden Ziviltrauung als Zeuge dienen sollte.

»Ich begreife dich diesmal wirklich nicht, Reinhart,« sagte er in vorwurfsvollem Tone. »Erst im letzten Augenblick einzutreffen! Ich hätte dich so gern noch ein paar Tage an meiner Seite gehabt, ehe ich nach Burgheim übersiedle.«

»Ich schrieb es dir ja, daß die Verhandlungen in Berlin sich endlos in die Länge zogen,« entgegnete Reinhart. »Ich glaubte schon, es würde mir gar nicht möglich sein, überhaupt zu kommen, aber du erließest ja einen förmlichen Ukas und beschiedest mich diktatorisch nach Kronsberg zu dem heutigen Tage. Du hättest es mir nie verziehen, wenn ich ausgeblieben wäre.«

»Nein, wahrhaftig nicht, und es wäre auch unverzeihlich gewesen. Ein seltener Zufall fügt es, daß du gerade jetzt in Europa und in Deutschland bist, und du solltest mir fehlen an dem glücklichsten Tag meines Lebens? Schäme dich, Reinhart!«

»Nun, du siehst es ja, ich bin hier,« sagte Ehrwald mit einem flüchtigen Lächeln. »Zanke nicht mit mir, Lothar, ich konnte wirklich nicht früher kommen.«

Lothar sah ihn einige Sekunden ernst und prüfend an, dann trat er zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter.

»Reinhart – was fehlt dir?«

»Mir? Nichts! Was soll mir denn fehlen?«

»Das frage ich eben. Seit wann hast du Geheimnisse vor mir? Dich hat irgend etwas fortgetrieben! Erst versprichst du, bis zu meiner Hochzeit hier zu bleiben, und meldest dich für Juli in Berlin an und dann brichst du urplötzlich dahin auf und läßt dich durch keine Bitten halten –«

»Ich sagte dir ja, daß der Minister wünschte, die Sache beschleunigt zu sehen, daß mir selbst daran lag –«

»Ja, das sagtest du – also werde ich es wohl glauben müssen.«

Der forschend ernste Blick schien Ehrwald zu peinigen, er wandte sich mit einer ungeduldigen Bewegung ab und trat an das Fenster, während er antwortete: »Nun, Freude habe ich von dem Aufenthalt in Berlin sicher nicht gehabt. Ich habe mehr als einmal die Geduld verloren bei diesen unfruchtbaren und unerquicklichen Verhandlungen. Wenn ich von den Herren am grünen Tisch, die keine Ahnung von afrikanischen Dingen haben, jeden meiner Schritte kontrollieren lassen, jede Maßregel, die ich zu treffen für gut finde, erst ihrer weisen Zustimmung unterbreiten soll, so danke ich für die mir zugedachte Ehre! Ich trage die volle Verantwortlichkeit, also muß ich auch die volle Selbständigkeit haben. Entweder man gesteht mir das zu oder ich werfe ihnen all ihre Anerbietungen vor die Füße – das habe ich ihnen offen herausgesagt, und dahin wird es wahrscheinlich kommen: ich stehe auf dem Punkte, abzubrechen!«

Er sprach in voller Gereiztheit. Sonneck schüttelte mit leiser Mißbilligung den Kopf.

»Mußt du denn immer ein ›Entweder – oder‹ stellen! Ich habe es beinah gefürchtet, daß die Sache daran scheitern wird; du bist viel zu stürmisch und leidenschaftlich für solche Verhandlungen. Uebrigens hast du recht, wenn du dir nicht die Hände binden lassen willst. Eine Natur wie die deinige erträgt das am wenigsten und dir stehen andere Wege genug offen. Du kennst ja meine Beziehungen zum hiesigen Hofe.«

»Gewiß, du hast ja auch kürzlich den Adel erhalten, ich habe dir noch nicht einmal meinen Glückwunsch gesagt.«

Lothar zuckte ruhig die Achseln.

»Man hat mir eine Auszeichnung, eine Anerkennung meiner Leistungen gewähren wollen, und da blieb jetzt, wo ich zurücktrete, kaum ein anderer Weg übrig. Auf die Sache selbst lege ich so wenig Gewicht wie du. Also ich war vorgestern im Schlosse und da war hauptsächlich von dir die Rede. Der Fürst interessiert sich ungemein für dich und will dich auf jeden Fall kennen lernen. Du brauchst nur zu wollen und man kommt dir hier in jeder Weise entgegen. Ich muß noch ausführlich mit dir darüber sprechen.«

»Aber doch nicht heute! Du bist sicher nicht in der Stimmung, solche Dinge zu erörtern.«

»Nein, heute nicht,« sagte Sonneck mit aufleuchtenden Augen. »Da mußt du es schon ertragen, wenn der Freund hinter den Bräutigam zurücktritt. Wer hätte gedacht, daß ich dir auf diesem Wege vorangehen würde. Vielleicht folgst du mir doch, früher oder später.«

»Nein!«

Das Wort klang in so herber Bestimmtheit, daß Lothar einen Moment lang stutzte, dann aber lächelte er. »Du Ehefeind! Nun, einstweilen hast du bei meiner Hochzeit den Brautführer zu machen. Du hörst ja, daß Helmreich seit dem letzten Anfall seiner Krankheit das Zimmer nicht mehr verläßt, für ihn ist die Fahrt zur Kirche ausgeschlossen, also fällt das Amt dir zu.«

»Da du es ausdrücklich wünschest –«

»Gewiß wünsche ich es, du stehst mir doch von allen am nächsten! Aber was ist das für ein Ton, Reinhart? Gesteh es nur, du bist eifersüchtig.«

»Ich?« fuhr Reinhart jäh und heftig auf. »Was fällt dir ein?«

»Jawohl, eifersüchtig, im Grunde hast du mir meine Verlobung nie verziehen. Du willst eben überall Alleinherrscher sein, auch bei mir, und bist es ja auch so lange gewesen. Jetzt aber wirst du dich doch wohl entschließen müssen, zu teilen, die Hälfte des Reiches gehört fortan meiner Elsa, merke dir das!«

Es lag ein beinah übermütiger Scherz in den Worten des sonst so ernsten Mannes. Ehrwald verteidigte sich nicht gegen den Vorwurf, er sah den Freund mit einem rätselhaften Ausdruck an und plötzlich warf er sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit an seine Brust. »Vergib, Lothar! Du weißt es ja, daß ich dir dein Glück trotz alledem gönne aus vollem Herzen, daß ich dich lieb habe, grenzenlos lieb.«

»Mein lieber Junge!« sagte Lothar leise; er gebrauchte unwillkürlich die Anrede, die ihm einst seinem jungen Schützlinge gegenüber geläufig war. »Ja, das weiß ich und da braucht es nicht dieser stürmischen Abbitte. Wenn auch jetzt meine Ehe und später die Trennung zwischen uns tritt, wir bleiben doch, was wir uns stets gewesen sind, in alter Treue.«

»In alter Treue!« wiederholte Reinhart sich aufrichtend. »Da fährt der Wagen vor! Komm, Lothar – zu deiner Trauung!«

Und den Arm um die Schulter des Freundes legend, geleitete er ihn hinaus. –

Die alte gotische Pfarrkirche von Kronsberg war in den Mittagsstunden dicht gefüllt. Die Trauung sollte ja in aller Stille und nur vor wenigen Zeugen stattfinden, aber man hatte Tag und Stunde in Erfahrung gebracht und nun war fast die ganze Kurgesellschaft erschienen. Der berühmte Afrikaforscher stand nun einmal im Vordergrunde des allgemeinen Interesses, man wollte ihn als Bräutigam sehen, wollte vor allen Dingen die Braut sehen, die bisher so merkwürdig unsichtbar geblieben war. Ueberdies wußte man, daß Reinhart Ehrwald zur Hochzeit seines Freundes eintreffen werde. Er war wohl im Frühjahr einige Wochen lang hier gewesen, als Kronsberg noch ganz verödet lag, aber von der jetzigen Gesellschaft kannte ihn niemand. Um so mehr hatte man von ihm gehört und Sonneck hatte recht: wenn man in ihm den Forscher ehrte, so umgab seinen jüngern Gefährten der ganze Nimbus des Afrikahelden. Kurz, die Erwartung der Versammlung, die meist aus sehr weltlichen Gründen in der Kirche erschien, war aufs höchste gespannt, und die Feier, die sich nur im engsten Kreise vollziehen sollte, gestaltete sich auf diese Weise fast zu einem öffentlichen Akt.

Jetzt setzte die Orgel ein, und von einem Adjutanten des Fürsten als dessen Vertreter geleitet, trat der Bräutigam ein. Die Aufmerksamkeit teilte sich zwischen ihm und Lady Marwood, die wie gewöhnlich in blendender Toilette erschien. Auch die wohlbekannte Gestalt des Hofrats Bertram gewahrte man in dem kleinen Kreise, der sich vor dem Altar versammelte, und jetzt richteten sich alle Blicke auf die Sakristei, in deren Thür die weiß umschleierte Gestalt der Braut am Arme Ehrwalds sichtbar wurde.

Ein Flüstern der Ueberraschung ging durch die ganze Versammlung, als das Paar aus dem dämmernden Raum in das helle Sonnenlicht trat, das die Kirche erfüllte. Man hatte erwartet, ein hübsches, einfaches Mädchen zu sehen, schüchtern und befangen, ganz demütige Hingabe an den künftigen Gatten, und jetzt sah man diese Erscheinung!

Elsa von Bernried nahm sich heute im Brautgewande freilich anders aus als in der klösterlich einfachen Tracht, zu welcher der Wille des Großvaters sie bisher verurteilt hatte. Die hohe, schlanke Gestalt in dem weißen Atlaskleide, dessen lange Schleppe rauschend nachfolgte, hatte trotz aller mädchenhaften Zartheit etwas Königliches, und aus den duftigen Falten des Schleiers hob sich das Antlitz, zwar sehr ernst, viel zu ernst für eine junge Braut, aber das war ja eine Schönheit, die eben erst aus der Knospe erblühte. Der Kranz lag in den blonden Flechten, auf denen ein leichter rötlicher Schimmer ruhte, und sie gleißten auf wie Gold, als der Sonnenstrahl sie traf. Die Augen waren groß und voll aufgeschlagen, ohne Scheu und Befangenheit, herrliche tiefblaue Augen – ja freilich, da hatte Sonneck recht mit seiner Wahl!

Wenn der Anblick der Braut eine Ueberraschung war für die sämtlichen Zuschauer, so entsprach der Brautführer dagegen ganz dem Bilde, das man sich von ihm gemacht hatte. So mußte der Mann aussehen, der dort auf dem heißen Boden Afrikas Erfolg auf Erfolg errungen, von dessen Energie und Kühnheit man Dinge gehört hatte, die an das Märchenhafte grenzten. Die hohe, kraftvolle Erscheinung, das tiefgebräunte Antlitz mit den dunklen blitzenden Augen, das stolze Selbstbewußtsein, das sich in der Haltung ausprägte und ihr etwas Gebieterisches gab, das alles deckte sich völlig mit der Gestalt, die man aus so vielen Berichten und Erzählungen kannte.

Freilich, auch Ehrwalds Züge waren ernst, beinah finster, sie schienen wie aus Erz gegossen; nicht die leiseste Regung zeigte sich darin, als er die Braut mit ritterlichem Anstand zum Altar führte, aber unwillkürlich drängte sich jedem der Gedanke auf, daß eigentlich dies Paar zusammengehörte in seiner Kraft und Schönheit. Das gab sich deutlich genug in dem Flüstern und den Blicken der Damen kund, und zum erstenmal sah man mit kritischen Augen auf den Mann mit den grauen Haaren, der da am Altar seine junge Braut erwartete.

Elsa sah und hörte von dem allen nichts, ihr Auge und Ohr nahm nur mechanisch die Eindrücke auf, ohne daß sie ihr klar zum Bewußtsein kamen. Die dicht gefüllte Kirche, die hohen gotischen Pfeiler mit ihren dunklen Wölbungen, die breiten goldigen Streifen des Sonnenlichtes, das durch die Fenster hereinflutete, das alles glitt undeutlich, schattenhaft an ihr vorüber, und die Orgeltöne, die so mächtig durch die Hallen brausten, schienen aus weiter Ferne zu kommen. Es lag wie ein Schleier auf ihrer Seele, der das alles so unwirklich erscheinen ließ, sie fühlte nur eins, die dunkle geheimnisvolle Gewalt, die von dem Manne an ihrer Seite ausging, die rätselhafte Angst vor seiner Nähe, und der kurze Weg schien sich endlos auszudehnen.

Jetzt trat Sonneck ihr entgegen und empfing ihre Hand aus der des Freundes; jetzt führte er sie die Stufen zum Altar hinauf und sie knieten nieder. Wie im Traume hörte Elsa die Worte des Priesters, fühlte sie, daß ihre und Lothars Hand zusammengefügt wurden, und dann war das bindende Ja gesprochen und sie waren vereint für das Leben.

»Mein Weib!« flüsterte Lothar leise, aber mit vollster Innigkeit. Zenaide schloß die junge Frau in die Arme. Der Adjutant und die anderen Herren traten glückwünschend heran – und dann klang die Stimme des Mannes, der als der letzte von allen zu ihr trat: »Gnädige Frau, erlauben Sie auch mir, Ihnen meinen Glückwunsch zu Ihrer Vermählung auszusprechen.«

Die Stimme war kalt und unbewegt wie das Antlitz Ehrwalds. Er beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf den Handschuh der jungen Frau, aber als er sich jetzt emporrichtete, traf sein Blick den ihrigen und es war ihr, als flammte plötzlich ein jähes, grelles Licht auf, das sie schmerzte. Nur einen Augenblick lang, dann war es erloschen und nur ein dumpfes Wehegefühl blieb zurück. Dann reichte der Gatte ihr den Arm und führte sie hinaus und der Wagen trug die Neuvermählten nach Burgheim.

 

Es war am Abend desselben Tages, die Villa, die Lady Marwood bewohnte, strahlte im vollen Lichtglanz, denn es war der wöchentliche große Empfangstag. In Burgheim hatte nach der Trauung nur ein kurzes Frühstück stattgefunden und Zenaide, die natürlich die Zeit bis zum Abend »ausfüllen« mußte, hatte mit einer größern Gesellschaft einen Ausflug in die Berge unternommen, dem sich auf ihre Einladung auch Ehrwald anschloß. Von einer ganzen Schar ihrer getreuen Ritter und gewohnten Begleiter umgeben, war sie davongesprengt und erst kurz vor Beginn der Empfangsstunde wieder angelangt, so daß ihr kaum Zeit blieb, das Reitkleid mit der Gesellschaftsrobe zu vertauschen.

Die Gesellschaft war zahlreich und glänzend, es gehörte zum guten Ton, bei Lady Marwood vorgestellt zu sein und dort empfangen zu werden. Was man auch über sie flüstern und klatschen mochte, sie behauptete unbestritten ihre Stellung an der Spitze der tonangebenden Kreise. Was nur von bedeutenden und interessanten Persönlichkeiten in der Kurgesellschaft auftauchte, das war auch hier zu finden und das gab dem Verkehr natürlich einen besondern Reiz.

Auch heute hatte man das ganz unerwartete Vergnügen, den »Wüstenhelden«, den man in der Kirche nur gesehen hatte, kennen zu lernen. Er war, wie man erfuhr, ein alter Bekannter von Mylady und hatte in Kairo viel in ihrem Vaterhause verkehrt. Das war nun wieder etwas Neues und Interessantes, dessen man sich sofort bemächtigte. Ehrwald wurde von allen Seiten umdrängt und ausgezeichnet und bildete neben der schönen Herrin des Hauses den Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft.

Man fand ihn sehr liebenswürdig und er schien auch in der That heute in besonders guter Laune zu sein, denn er, der sich sonst einem fremden Kreise gegenüber sehr ablehnend verhielt und durchaus nicht dem ersten besten seine Unterhaltung gönnte, war heute zugänglich für jeden. Er hatte schon am Nachmittag während des Rittes eine beinah stürmische Heiterkeit gezeigt und jetzt wetteiferte er mit Lady Marwood an sprühender Lebendigkeit.

In einem der Seitengemächer stand Hofrat Bertram im Gespräch mit zwei jungen Herren, die zu dem gewöhnlichen Hofstaat Zenaidens gehörten, vornehme, elegante Müßiggänger, die nach Kronsberg gekommen waren, weil der Ort in der Mode war, und sich nun bemühten, die Zeit hier totzuschlagen. Sie waren natürlich auch heute mittag in der Kirche gewesen und versuchten nun, von dem Arzte noch allerlei Einzelheiten über das neue Ehepaar zu erfahren, um das morgen auf der Brunnenpromenade weitererzählen zu können.

»Ja, wir waren grenzenlos überrascht, alle Welt war es!« sagte der jüngere, indem er wohlgefällig sein zierliches Schnurrbärtchen drehte. »Diese junge Frau ist ja eine Schönheit, die in der Gesellschaft Sensation machen wird. Wer hätte gedacht, daß der alte Sonderling da oben einen solchen Schatz hütet? Sie haben es freilich gewußt, Herr Hofrat, Sie sind ja Hausarzt dort, aber Sie verrieten schnöderweise nie etwas davon!«

»Dazu hatte ich nicht die mindeste Veranlassung, Herr von Verden,« war die ruhige Antwort. »Professor Helmreich hütete in der That seine Enkelin eifersüchtig vor fremden Augen und Burgheim war unzugänglich für Besuche.«

»Ja, das haben wir erfahren,« fiel der andere Herr ein. »Wir gerieten kürzlich ganz zufällig dorthin und wollten durch das Gitterthor nur einen Blick auf das Haus werfen, als ein riesiger Hund mit wütendem Gebell herbeistürzte und eine so drohende Haltung einnahm, daß wir schleunigst den Rückweg antraten.«

Bertram lächelte etwas spöttisch, er wußte sehr gut, daß nur die Neugier die beiden Herren dorthin geführt hatte.

»Ja, Burgheim ist gut bewacht,« meinte er. »Ich hätte Ihnen auch nicht raten wollen, den Eintritt zu versuchen, Herr Baron. ›Wotan‹ versteht keinen Spaß in solchen Dingen. Jedenfalls ist der Schatz jetzt gehoben, Sonneck hat ihn sich gesichert.«

»Der Beneidenswerte!« rief der Baron mit einem Pathos, das mit seiner stutzerhaften Erscheinung nicht recht im Einklang stand. »Nun, hoffentlich verbirgt er ihn nicht vor der Welt wie dieser unvernünftige Großvater. Er wird seine junge Frau doch in die Gesellschaft einführen?«

»Das glaube ich kaum, er hat wenig Neigung für das, was man die große Welt nennt, und für diesen Sommer habe ich ihm überhaupt die Zurückgezogenheit noch zur Pflicht gemacht, damit er sich völlig erholt.«

Der Herr Baron sah sehr enttäuscht aus bei dieser Nachricht, doch Verden sagte tröstend: »Nun, bei Lady Marwood wird man ihn und seine Frau jedenfalls sehen, sie scheinen eng befreundet zu sein. Mylady zieht ja wie ein Magnet alles an, was interessant ist. Dieser Afrikaner, dieser Ehrwald, hat sich noch nirgends gezeigt, aber hier findet man ihn natürlich. Das war eine Ueberraschung, als sich der Wüstenheld urplötzlich als ein Kronsberger Kind zu erkennen gab!«

»Das wissen Sie bereits?« fragte der Hofrat. »Ich habe es selbst erst heute morgen erfahren, als er sich auf dem Standesamt als Zeuge nennen mußte.«

»Wir wissen alles!« erklärte der Baron selbstgefällig. »Kronsberg kann sich Glück wünschen zu diesem berühmten Sohne; das habe ich ihm auch bereits gesagt, aber er lachte und meinte, die Kronsberger hätten sich dieser Ehre sehr unwürdig gezeigt, sie hätten ihn früher in Acht und Bann gethan, seiner wilden Streiche wegen.«

»Nun, eine Probe seiner Wildheit haben wir heute nachmittag bei dem Ritt erhalten,« fiel Verden ein. »Es war ja vorauszusetzen, daß ein Mann wie Ehrwald verwegen reitet, aber die tollkühnen Wagestücke, die er da vollführte, überstiegen doch alle Begriffe. Als er den steilen Abhang in die Schlucht hinabjagte, schrie alles auf vor Schrecken und es sah auch wahrhaftig aus, als wollte er sich den Hals brechen. Aber er lachte und spottete über unser Entsetzen und kam auch glücklich und unversehrt wieder zum Vorschein.«

Bertram schwieg, auch ihm war die so seltsam überreizte Stimmung Ehrwalds während des ganzen Tages aufgefallen. Das Gespräch wurde aber jetzt unterbrochen, da der Gegenstand desselben herantrat. Er suchte offenbar den Hofrat, doch die beiden jungen Herren bemächtigten sich schleunigst seiner. Sie überschütteten ihn mit Komplimenten und wollten den »kühnen Pionier der Kultur in Afrika« in ein eingehendes Gespräch über diese Kulturmission verwickeln. Ehrwald schien jedoch nicht aufgelegt dazu, um seine Lippen zuckte ein unverhehlter Spott, als er antwortete: »Sie sind sehr liebenswürdig, meine Herren, aber leider muß ich diesmal auf die interessante Unterhaltung verzichten. Lady Marwood befiehlt Sie nach dem Salon. Es soll musiziert werden, und da scheint man auf Sie zu rechnen.«

Das war etwas anderes – ein Befehl von Mylady! Die beiden Herren stoben förmlich davon; Reinhart zuckte verächtlich die Achseln, als er ihnen nachblickte.

»Und mit solchem Volk muß man nun seine Zeit verlieren!« sagte er halblaut. »Sie merken es nicht einmal, daß man sich über sie lustig macht. Ich begreife Lady Marwood nicht, daß sie diese faden geschniegelten Burschen um sich duldet, das war doch sonst ihr Geschmack nicht.«

»Er ist es wohl auch jetzt nicht,« bemerkte Bertram. »Aber sie hat nun einmal das Bedürfnis, sich mit einem möglichst zahlreichen Hofstaat zu umgeben, und da darf man nicht so wählerisch sein. Man kann nicht lauter Berühmtheiten um sich haben wie ›den kühnen Pionier der Kultur in Afrika‹.«

»Aergern Sie mich auch noch damit!« fuhr Ehrwald auf. »Dies verwünschte Schlagwort habe ich heute schon mindestens ein dutzendmal gehört, man scheint es förmlich auswendig gelernt zu haben. Die Afrikaforschung ist ja jetzt leider Mode geworden und wir sind die Opfer dieser Modenarrheit, wo wir uns nur zeigen.«

»Warum denn so grimmig?« lachte der Hofrat. »Sonst lachten Sie doch höchstens über solche Dinge und jetzt sind Sie förmlich wütend über die Huldigungen, mit denen man Sie von allen Seiten umgibt. Sie scheinen heute überhaupt in einer merkwürdigen Stimmung zu sein; Verden hat es mir erzählt, wie Sie die ganze Gesellschaft in Angst und Schrecken gejagt haben mit Ihren tollen Reiterstücken.«

»Ja, die Herren bilden sich ein, reiten zu können, wenn sie stutzerhaft im Sattel sitzen und auf glattem Wege galoppieren,« spottete Reinhart. »Ich habe ihnen einen andern Begriff davon beigebracht.«

»Und sich beinah den Hals dabei gebrochen! Ueber den jähen Abhang in die Schlucht hinunter zu jagen, das ist ja heller Wahnsinn! Wenn Sie nicht Ihr altes unerhörtes Glück vor dem Sturze bewahrt hätte –«

»So hätte auch nicht viel daran gelegen!« ergänzte Ehrwald, indem er sich in einen Sessel warf und sich das Haar von der erhitzten Stirn strich. »Mir wäre es recht gewesen!«

Der Arzt stutzte und sah ihn forschend an. Das Zimmer war während der letzten Minuten leer geworden, denn drüben erhob sich jetzt die Tenorstimme Verdens, der ein Duett mit einer jungen Dame sang. Das zog die übrigen Gäste gleichfalls nach dem Salon und die beiden Herren blieben allein.

»Ich glaube, Lady Marwood hat Sie angesteckt mit ihrer nervösen Ueberreiztheit,« hob Bertram wieder an, indem er sich ebenfalls niederließ. »Und Sie haben doch, Gott sei Dank, keine ›Nerven‹.«

»Nein, wenigstens in Ihrem Sinne nicht. Uebrigens ist die Stimmung von Lady Marwood allem Anschein nach ausgezeichnet, sie strahlt ja von Heiterkeit und Liebenswürdigkeit.«

»Jawohl, das Morphium hat wieder seine Schuldigkeit gethan, sie greift immer wieder dazu, trotz meines strengen Verbots. Sie weiß, daß es Gift für sie ist, ich habe ihr keinen Zweifel darüber gelassen; aber sie stürmt mit offenen Augen zum Abgrund.«

»Nehmen Sie die Sache so ernst?« fragte Reinhart, der jetzt aufmerksam wurde. »Sie versprachen sich ja damals bei meiner Abreise den besten Erfolg von Ihrer Behandlung.«

»Weil ich hoffte, sie würde sich meinen Vorschriften fügen, die hauptsächlich auf Ruhe und Zurückgezogenheit hinausliefen, und sie that das ja auch anfangs; aber seit die Hochsaison begonnen hat, stürzt sie sich wieder in den Strudel aller möglichen Zerstreuungen. Was war das heute wieder für ein Tag! Am Morgen auf der Brunnenpromenade läßt Mylady sich von aller Welt den Hof machen; dann fährt sie stundenlang von einem Besuche zum andern, ist heute mittag bei der Trauung Sonnecks, und als wir von Burgheim aufbrechen, wirft sie sich aufs Pferd und jagt mit einem ganzen Gefolge von Kavalieren in die Berge. Bei der Rückkehr hat sie wieder großen Empfang und nachts ist dann natürlich von Schlaf keine Rede. Da werden die stärksten Betäubungsmittel gebraucht, um nur ein paar Stunden Ruhe zu schaffen – geht das noch ein halbes Jahr lang so fort, dann ist das Ende da, und welches Ende!«

Ehrwald hörte in steigender Betroffenheit zu, er hatte sich auch täuschen lassen durch die strahlende Erscheinung der schönen Frau, die nur Uebermut und Lebenslust zu atmen schien, und hastig fragte er: »Haben Sie denn wirklich keine Macht, da einzugreifen? Ihre ärztliche Autorität –«

»Versagt in diesem Fall ganz. Ich habe ihr rückhaltlos gezeigt, wohin dies Leben führt, ich bin grausam aufrichtig gewesen, aber da hilft weder Warnen noch Drohen. Sie gibt mir ähnliche Antworten wie Sie vorhin! Was liegt daran! Je eher, desto besser! Aber was bei Ihnen eine augenblickliche Verstimmung ist, aus der Ihre energische Natur sich schon in der nächsten Stunde wieder aufrafft, das ist bei ihr bitterer Ernst. Es stirbt sich nur nicht so leicht, wie sie glaubt, und dann droht bei dieser furchtbaren Nervenüberreizung das schlimmste – der Wahnsinn oder der Selbstmord!«

»Um Gottes willen, Doktor!« sagte Reinhart erbleichend, »das ist ja eine entsetzliche Prophezeiung!«

»Die sich aber leider erfüllen wird, wenn nicht noch in letzter Stunde eine rettende Hand eingreift. Ich habe Sonneck bestimmt, seinen Einfluß geltend zu machen, und er hat es auch redlich gethan, aber es war umsonst, sie hört auch auf ihn nicht mehr – und da habe ich an Sie gedacht!«

»An mich?« fuhr Reinhart betreten, beinahe unwillig auf. »Wie kommen Sie darauf?«

Der Arzt rückte seinen Sessel um einen Schritt näher und dämpfte die Stimme, als er fortfuhr: »Nun, ich bin ja damals bei dem Duell mit Marwood Ihr Sekundant gewesen und es ist mir schließlich kein Geheimnis geblieben, was die Veranlassung dazu war. Der Lord sah in Ihnen das größte Hindernis seiner Bewerbung, und wohl mit Recht. Man sprach ja auch bereits in der Gesellschaft von Kairo über die Vorliebe des Fräuleins von Osmar für Sie. Was später dazwischengetreten ist, werden Sie wohl am besten wissen, aber ich bin der Meinung, daß Sie der einzige Mensch sind, der jetzt noch Einfluß auf Lady Marwood hat.«

Ehrwald hatte die Arme verschränkt und sah finster zu Boden, endlich sagte er halblaut: »Sie sind im Irrtum, Bertram – das ist vorbei – längst vorbei!«

»Das käme doch auf die Probe an. Sie sollten die Frau nur einmal sehen, wie ich sie leider öfter sehe, wenn ihr die Maske vom Gesichte fällt, wenn sie erschöpft zusammenbricht und mit all den Leiden kämpft, die bereits der Anfang vom Ende sind. Es ist doch ein Jammer, daß dies schöne, reichbegabte Geschöpf rettungslos dem Untergange verfallen soll. Ehe ich das zulasse, wollte ich wenigstens noch das Letzte versuchen und Sie zur Hilfe aufrufen – jetzt thun Sie, was Sie wollen!«

Reinhart gab keine Antwort, aber auch der Hofrat brach ab und sagte, zu seinem alten jovialen Ton zurückkehrend: »Ja, es ist eine Gottesgabe, wenn man das Talent hat, das Leben leicht zu nehmen. Ich habe es von jeher gehabt und meinen Jungen werde ich das anerziehen. – Doch was ist denn das für ein Aufstand da im Salon? Ah so, Mylady geht selbst an den Flügel! Kommen Sie, Ehrwald! Das dürfen wir nicht versäumen. Sie läßt sich nur äußerst selten herab dazu, aber Sonneck sagt, sie spiele meisterhaft.«

Im Salon war in der That alles in Bewegung geraten. Zenaide hatte den stürmischen Bitten nachgegeben und war an den Flügel getreten, und sofort schloß sich ein dichter Kreis um sie. Alles drängte heran, und dann trat atemlose Stille ein.

Lady Marwood spielte allerdings meisterhaft, nicht wie eine Salondame, sondern wie eine Künstlerin, und es war auch nichts Eingelerntes, was sie ihren Zuhörern gab, sondern freie Phantasien. Da wogte ein berauschendes Meer von Tönen auf, aber es war ein sturmbewegtes Meer. Das jagte und stürmte dahin im jähen Wechsel, jetzt schien es zu jubeln und aufzujauchzen in glühender Luft und dann wieder klagte es in düsterer Schwermut, es hielt die Zuhörer wie in einem dämonischen Bann.

In der Nähe des Flügels gab sich eine leichte Bewegung kund. Herr von Verden und der Baron machten artig dem eben herantretenden Ehrwald Platz, er stand jetzt in unmittelbarer Nähe. Zenaide war aufmerksam geworden, ein flüchtiger Blick fiel nach jener Seite hinüber, aber sie spielte weiter.

Wieder brauste es auf unter ihren Händen, voll Glut und Leidenschaft doch jetzt rang sich etwas daraus empor, das kein Lied, eigentlich auch keine Melodie war, eine seltsame, fremdartige Weise, die unendlich einförmig und unendlich schwermütig immer nur dieselben Töne wiederholte. Erst tauchte sie nur in einzelnen verlorenen Klängen auf und ging wieder unter, dann wurde sie immer klarer, immer deutlicher und endlich herrschte sie allein und wehte hinüber zu den erstaunten Zuhörern wie eine Sprache aus einer ganz andern Welt.

Nur zwei gab es, die diese Sprache verstanden, die jene Weise kannten, und als sie jetzt wieder ertönte, nach langer, langer Zeit, da versank den beiden der lichtstrahlende Salon mit all den Menschen, die ihn erfüllten, und statt dessen tauchte ein anderes Bild auf: die schimmernde Flut eines mächtigen Stromes im letzten Abglanz des scheidenden Tages. Drüben am jenseitigen Ufer ragten die Palmen und ein langer Zug von Kamelen schritt langsam dahin, scharf und dunkel sich abhebend von dem lichten Abendhimmel, während auf die ferne Wüste weiche graue Dämmerung niedersank. Und vom Bord des Schiffes, das leise auf jener schimmernden Flut dahinzog, erklang die uralte Weise, einförmig und schwermütig, wie sie schon vor Jahrtausenden hier erklungen war.

Sie wehte herüber in den Palmengarten, wo ein junges glückliches Wesen mit dunklen, sehnsüchtigen Augen das Haupt an die Brust des geliebten Mannes lehnte, und wo dieser Mann sich niederbeugte, um das Wort auszusprechen, das sie einen sollte für das Leben. Leise und fern verklang das Lied, aber aus jener weichen, träumerischen Dämmerung schien es heranzuschweben, wovon die beiden träumten, das große, das grenzenlose Glück, und ihnen zu nahen mit seinen leuchtenden Schwingen.

Die Weise brach plötzlich ab, wie mit einem schneidenden Mißlaut, grelle, wilde Töne fluteten darüber hin, so daß die Zuhörer fast erschraken, und mit einem rauschenden Fortissimo schloß das Spiel.

Lady Marwood erhob sich und man umringte sie von allen Seiten mit lauter Bewunderung. Man fand diese Art zu spielen originell, geistreich, blendend und fand nicht Worte genug, um sein Entzücken und seine Begeisterung auszusprechen. Zenaide lächelte, aber es zuckte dabei wie herber Spott um ihre Lippen. Bildeten sich denn diese Menschen wirklich ein, man habe für sie gespielt? Der eine, dem es galt, sprach kein Wort der Bewunderung und machte auch keinen Versuch, sich zu nahen, er verharrte noch immer an seinem Platze, aber er fuhr wie aus einem Traum auf, als Hofrat Bertram, der hinter ihm stand, halblaut sagte: »Ihr Spiel ist wie sie selbst – nervös und krankhaft überreizt. Was war das wieder für ein jähes Abbrechen und für ein wilder Schluß! So etwas versteht man ja gar nicht!«

»Nein, Sie können es auch nicht verstehen,« versetzte Reinhart ernst, »aber Sie haben recht« – er brach plötzlich ab, und dem mahnenden Blick des Arztes begegnend, setzte er leise hinzu: »Ich will es versuchen!«

 

Es war bereits spät geworden und die Gäste der Lady Marwood fingen an aufzubrechen. Einer nach dem andern trat heran, um sich zu verabschieden, es wurde stiller und leerer in den glänzenden Räumen. Zenaide schritt gerade durch den Salon, als auch Ehrwald sich ihr nahte, um Abschied zu nehmen.

»Darf ich mir die Ehre geben, Ihnen morgen mittag meine Aufwartung zu machen, Mylady?« fragte er in gedämpftem Tone. Sie sah ihn etwas befremdet an.

»Warum denn so förmlich? Es bedarf doch keiner Anmeldung. Sie sind mir immer willkommen.«

»Aber ich darf wohl kaum darauf rechnen, Sie allein zu finden, und diese Gunst möchte ich mir erbitten.«

»Allein? Haben wir uns wirklich noch etwas zu sagen?« fragte Zenaide mit bitterem Spott.

»Vielleicht doch – darf ich auf die Erfüllung meiner Bitte hoffen?«

»Da Sie es so feierlich verlangen, werde ich wohl die erbetene Audienz bewilligen müssen, aber das kann schon heute geschehen. In einer Viertelstunde werden die Gäste fort sein, dann bin ich allein.«

Reinhart warf einen Blick auf die Uhr, die bereits auf Mitternacht zeigte. »Wäre es nicht besser, Mylady, wenn ich morgen –«

»Nein, wer weiß wann und wie ich dann in Anspruch genommen bin. Heute sind wir ungestört, bleiben Sie, Herr Ehrwald!«

Das war wieder der herrische, übermütige Ton, mit dem Lady Marwood stets über ihre Umgebung verfügte. Reinhart hörte ihn freilich zum erstenmal. Er verneigte sich und trat zurück, aber sein Auge folgte der schönen Frau, die sich nach dem kurz und leise geführten Gespräch wieder zu den anderen Gästen wandte.

Ja, sie war blendend schön, als sie da unter dem Kronleuchter stand. Das Licht der Kerzen spielte in den schweren Falten des mattgelben Atlasgewandes und blitzte in den kostbaren Juwelen, die Hals und Arme schmückten. Der herrliche Kopf mit dem bläulich schwarzen Haar und den dunklen Augen hob sich so stolz und siegesbewußt und die Lippen lächelten, die Augen strahlten, die ganze Erscheinung war wie aus Licht und Glanz gewoben. Aber Reinharts Blick war jetzt geschärft, er sah das nervöse Zucken dieser Lippen, den fieberhaften Glanz dieser Augen, das Unnatürliche, Krampfhafte in dieser sprudelnden Lebhaftigkeit. Jawohl, das Morphium that seine Schuldigkeit – aber wie lange noch?

Eben verabschiedeten sich die letzten Gäste, zu denen Herr von Verden und der Baron gehörten. Sie waren vorhin um die Unterhaltung mit der afrikanischen Berühmtheit gekommen und wollten das nun nachholen.

»Wir gehen wohl zusammen, Herr Ehrwald?« sagte Verden. »Unser Weg führt an der Villa des Hofrats vorbei, und wenn Sie uns gestatten –«

»Herr Ehrwald bleibt noch hier,« fiel Zenaide ein. »Nicht wahr? Wir wollten ja noch von alten Erinnerungen plaudern.«

»Ah, dann bitte ich um Entschuldigung,« versetzte Verden geschmeidig; aber er wechselte dabei einen sehr bedeutsamen Blick mit seinem Freunde. Das schien ja eine merkwürdig intime Bekanntschaft zu sein. Dieser Afrikaner hatte unglaubliches Glück bei Mylady, die sonst ihre ganze Umgebung mit souveräner Gleichgültigkeit behandelte.

Ehrwald sah diesen Blick, der sein Blut in Wallung brachte. Er runzelte die Stirn und sagte, als jene auch gegangen, mit unterdrückter Heftigkeit: »Ich that doch wohl unrecht, zu bleiben, Mylady!«

»Weshalb?«, fragte sie nachlässig, sich in einen Sessel werfend.

»Weil es mißdeutet werden kann. Ich fürchte, da wird eben eine Klatscherei hinausgetragen, die vielleicht morgen die Runde durch ganz Kronsberg macht.«

»Haben Sie wirklich Zeit und Luft, sich um Klatschereien zu kümmern?« fragte Zenaide mit einem verächtlichen Achselzucken.

»Wenn es Sie betrifft, allerdings.«

»Nun, ich thue es nicht. Was kommt's darauf an, was solche Nullen denken oder schwatzen!«

»Und doch umgeben Sie sich täglich mit solchen Nullen?«

»Mein Gott, man braucht doch ein Gefolge, wenn man in der Welt auftritt. Zu Schleppenträgern sind diese Menschen gut genug. Wenn sie lästig werden, verabschiedet man sie einfach.«

»Und dann rächen sie sich durch die giftigsten Verleumdungen. Sie sollten doch nicht so gleichgültig sein gegen das Urteil der Welt, Mylady.«

»Das Urteil der Welt?« Zenaide lachte laut auf, aber es war ein hartes, höhnisches Lachen. »Haben Sie etwa noch Respekt davor? Ich bin längst fertig damit. Ich kenne sie zur Genüge, die große Komödie, die wir uns da Tag für Tag vorspielen, und die im Grunde so kleinlich und erbärmlich ist. Wer es nur versteht, zu heucheln und sich hinter die sogenannten Anstandsregeln zu verschanzen, der darf sich alles erlauben, alles, und wird geehrt und gepriesen. Wer es wagt, sich frei und offen zu geben, wie er ist, der wird verhöhnt und verlästert, wird gehetzt und gequält. Da gibt es nur ein Mittel, man muß dieser Gesellschaft den Fuß auf den Nacken setzen und ihr zeigen, wie tief man sie verachtet – dann beugt sie sich!«

Es war ein Ausbruch furchtbarer Bitterkeit, den Ehrwald nur zu gut verstand. Er wußte ja, wie man in der englischen Gesellschaft über Lady Marwood urteilte, wußte, daß sie nahezu ausgestoßen war aus den Kreisen ihres Gemahls. Jetzt ließ sie auch ihm gegenüber die Maske fallen, die sie vor der Welt trug; aber was war aus dem zarten sanften Mädchen mit den großen sehnsüchtigen Augen geworden! Es traf ihn wie ein Vorwurf.

»Und doch leben Sie freiwillig in dieser Welt, die Sie so tief verachten?« fragte er endlich. » Doch verzehren Sie sich darin! Bertram hat mir erst vorhin diese Befürchtung ausgesprochen.«

»Ah, mein Tyrann, der Doktor! Hat er mich auch bei Ihnen verklagt, wie bei Sonneck? Ja, dieser liebenswürdige, lustige Hofrat kann verzweifelt ernst sein, wenn er den Arzt herauskehrt. Er ängstigt mich oft grausam mit seinen düsteren Prophezeiungen.«

»Und erreicht trotzdem nichts damit, Sie folgen seinem Rate nie.«

»Ich kann nicht!«

»Mylady!«

»Ich kann nicht!« wiederholte Zenaide mit voller Heftigkeit, indem sie aufsprang. »Er will mich zu einem Trappistendasein verdammen und das halte ich nicht aus. Ich habe es ja versucht, wochenlang, aber ich bin fast wahnsinnig dabei geworden! – Kommen Sie hinaus auf die Veranda! Es ist erstickend schwül hier, ich muß einmal im Freien aufatmen!«

Sie schritt nach der Balkonthür, die auf eine mit wildem Wein umrankte Veranda führte, es war in der That noch sehr heiß im Salon, trotz der weit geöffneten Fenster. Draußen umfing die beiden die kühle weiche Nachtluft in ihrer köstlichen Frische, auch Reinhart atmete auf, als er ins Freie trat.

Kronsberg lag bereits still und finster da, nur hier und dort schimmerte noch Licht in einzelnen Fenstern, aber über der dunklen Erde leuchtete der Sternenhimmel in seiner funkelnden Pracht. Es war so ganz anders als damals auf der Terrasse des Osmarschen Hauses, wo die berauschenden Düfte aus dem Palmengarten emporstiegen und fernher der Straßenlärm Kairos brauste. Hier war alles so still, so ernst und feierlich. Dunkel und mächtig blickten die Riesengestalten der Berge in das Thal nieder, und im matten Sternenglanz schimmerten die Schneefelder dort oben. Es war eine nordische Sommernacht in ihrer ganzen ruhigen Schönheit.

Lady Marwood war an die Brüstung getreten, und Ehrwald stand einige Schritte entfernt; aber in dem gedämpften Lichtschein, der durch die Glasthür auf die Veranda fiel, erschien die helle Gestalt in dem Atlasgewande, mit den Juwelen und Spitzen fast noch schöner als vorhin im blendenden Glanze des Kronleuchters. Sie stand zur Hälfte abgewendet und es vergingen Minuten, ohne daß ein Wort gesprochen wurde, endlich sagte Reinhart halblaut: »Zenaide – warum spielten Sie heute gerade diese Weise?«

War es ihr Name auf diesen Lippen oder der Ton, mit dem er ausgesprochen wurde, Zenaide zuckte leicht zusammen, sie wandte sich langsam um, aber ihre Antwort klang in bitterem Spott: »Kennen Sie die Melodie wirklich noch? Ich glaubte, Sie hätten sie längst vergessen.«

Er kam einige Schritte näher und stand jetzt neben ihr, sein Auge suchte das ihrige, als er, ohne auf den Spott zu achten, fortfuhr: »Zenaide – ich habe Ihnen damals wehe gethan –«

»Ja!« sagte sie mit herber Aufrichtigkeit und es lag etwas wie verhaltener Groll in dem Worte.

»War das meine Schuld allein? Sie wissen es ja, was zwischen uns trat. Ihr Vater –«

»Mein Vater war zu gewinnen und ich war zu jedem Kampfe bereit, aber Sie wollten ja nicht um mich kämpfen, Reinhart. Sie wollten nur hinaus in die Freiheit, in die Weite und sich das Glück erjagen. Haben Sie es denn nun gefunden, dies unermeßliche Glück, Ihre lockende winkende Fata Morgana?«

»Nein!« sagte Ehrwald schwer und dumpf.

»Also auch dort nicht, in Wüsten und Urwäldern! Ich habe es gesucht in der Welt, unter den Menschen, aber da ist's auch nicht. Trösten Sie sich, wir teilen das gleiche Los.«

»Und Sie hatten längst schon das Los über Ihr Schicksal geworfen. Zenaide – wie konnten Sie sich einem Marwood zu eigen geben!«

Sie sah ihn nur an, aber in diesen großen düsteren Augen lag die Antwort, lag ein so schwerer Vorwurf, daß er wie ein Schuldbewußter das Haupt senkte.

Wieder trat eine lange Pause ein, dann richtete sich Lady Marwood empor, mit einer so heftigen, jähen Bewegung, als wollte sie irgend etwas von sich werfen.

»Da sind wir wieder mitten in den alten Erinnerungen und in der alten Sentimentalität!« sagte sie mit jenem harten Lachen, das dem Ohre wehe that. »Und wir beide sollten doch längst darüber hinaus sein. Wir sind ja alt und vernünftig geworden, o, so sehr vernünftig! Und übrigens haben Sie mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie diese Unterredung wünschten. Wollten Sie mir etwas mitteilen?«

»Nein, ich wollte nur eine Bitte an Sie richten – Zenaide, um Gottes willen, was haben Sie, was ist Ihnen?«

Zenaide hatte plötzlich mit beiden Armen die Brüstung umklammert, als wollte sie sich daran festhalten. Sie schwankte und wäre zu Boden gesunken, wenn Reinhart sie nicht rasch umfaßt hätte. Halb bewußtlos, mit geschlossenen Augen lag sie in seinen Armen, ihr Antlitz war zur Totenfarbe erblaßt, die Brust rang schwer und angstvoll nach Atem und das Herz pochte in so wilden unregelmäßigen Schlägen, als wollte es jeden Augenblick stille stehen.

Das dauerte freilich nur Minuten. Als Ehrwald sie zu einem Sessel trug und darin niedergleiten ließ, schlug sie bereits wieder die Augen auf und ihr Blick traf den des Mannes, der sich angstvoll über sie beugte.

»Ich will Hilfe rufen,« sagte er hastig. »Ich werde die Kammerfrau –«

Zenaide schüttelte den Kopf, und eine matte Bewegung ihrer Hand verbot ihm das Forteilen.

»Nein – niemand! Es geht vorüber – ich weiß es!«

Es ging in der Tat vorüber, der Anfall schwand fast so schnell, wie er gekommen war. Die Farbe kehrte in ihr Antlitz zurück und der Atem wurde ruhig. Ehrwald stand stumm und finster neben ihr. Wenn er wirklich noch an den Worten des Arztes gezweifelt hätte, hier sah er den Beweis.

»Habe ich Sie erschreckt?« fragte Zenaide, jetzt wieder mit voller Selbstbeherrschung. »Es ist nicht von Bedeutung, ich mache solche Anfälle oft genug durch.«

»Und ein solcher Anfall wird Sie schließlich töten!« fiel er stürmisch ein. »Sie vernichten sich ja mit diesem Leben, das Sie Tag für Tag führen, Sie hören auf keinen Rat, keine Warnung und machen es Ihrem Arzte unmöglich, Sie zu retten. Zenaide! Können Sie sich denn nicht schonen?«

»Für wen?« fragte sie herb. »Vielleicht für Lord Marwood? Ich habe den Mann, der mein Gatte heißt, hassen gelernt, denn er hat mich nur gequält und gemartert. Mein Kind ist mir genommen, es kennt die Mutter nicht einmal mehr, mein Vater ist tot, und die Menschen, die mich täglich umgeben, möchte ich am liebsten mit dem Fuße von mir stoßen. Einen Freund habe ich noch, einen einzigen, aber Sonneck hat ja jetzt sein junges Weib, sein neues Glück, da bleibt für mich höchstens das Mitleid übrig, und ich will kein Mitleid. Ich will auch das Leben nicht, das sich so öde, so endlos vor mir ausdehnt wie eine Wüste, ich weiß es ja, daß ich endlich darin verschmachten und verderben muß! Es lohnt auch gerade der Mühe, sich dafür zu schonen!«

»Nun denn, so thun Sie es um – – meinetwillen!«

Es ging wie ein Beben durch die Gestalt der furchtbar erregten Frau, ihr Auge heftete sich groß und fragend auf Ehrwald, der sich jetzt zu ihr niederbeugte und leise wiederholte: »Um meinetwillen, Zenaide! Ich bitte Sie darum.«

Da fuhr sie auf und aus ihrer Brust rang es sich empor wie ein Weheruf: »Reinhart – warum hast du mich damals verlassen?«

»Weil ich ein Thor war,« sagte er dumpf. »Ein Thor, der einem Phantom nachjagte und darüber das Glück nicht sah, das an seiner Seite stand. Zenaide, ich fühle es jetzt erst, was ich dir gethan habe, aber laß mir nicht diesen Vorwurf auf der Seele! Versprich mir, dem Arzte zu folgen! Versprich mir, dies unselige Mittel von dir zu weisen, mit dem du dich elend machst und das dir noch den Tod gibt! Du sollst nicht untergehen, du mußt leben. Ich fordere es von dir!« Es sprach heiße Angst aus den Worten. Zenaide antwortete nicht, regte sich nicht, nur ein paar schwere Thränen rollten über ihre Wangen, auf welchen ein leises, glückliches Lächeln dämmerte.

»Das Versprechen!« wiederholte Reinhart, ihre Hand fest in die seine schließend. »Du gibst es mir?«

»Ja!« flüsterte sie kaum hörbar.

Er beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf die Hand.

»Dank! Ich baue darauf – gute Nacht, Zenaide!«

Er ging, Zenaide blieb allein. Sie preßte das Antlitz in die Polster des Sessels und weinte; aber das war nicht jenes wilde Schluchzen, das sich bei ihr sonst wie in einem Krampfe Luft machte, das waren erlösende Thränen, die Ruhe und Schlaf brachten, Thränen, die sie seit Jahren nicht geweint.

 

Fast zwei Monate waren vergangen, der Hochsommer ging zu Ende und in Kronsberg begann es stiller zu werden, wenn es auch immer noch eine stattliche Zahl von Gästen aufweisen konnte.

Es war an einem schönen Augusttage, in den Nachmittagsstunden, als Fräulein Ulrike Mallner durch die Straßen des Kurortes schritt, in der Rechten ihren unzertrennlichen Begleiter, den großen Sonnenschirm, in der Linken eine Tasche von gleichfalls ziemlich bedeutendem Umfang. An ihrer Seite ging ein kleiner Herr, im grauen Touristenanzuge, mit einem sehr gutmütigen und freundlichen Gesicht. Er hatte ein großes Fernglas umgeschnallt und trug einen Schleierhut, der sich hier in dem nordischen Bergorte etwas komisch ausnahm. Aufmerksam hörte er der Dame zu, die eben sagte: »Ich glaube, es gibt nachgerade keinen Menschen, der nicht in Kronsberg gewesen ist. Wir haben im Sommer alle möglichen Sorten hier gehabt, Potentaten und Minister, Millionäre und Künstler, Engländer und Afrikaner – nun sind Sie auch noch da, Herr Ellrich, aber doch wohl nicht als Kurgast?«

»Nein, ich befinde mich Gott sei Dank ganz wohl,« versetzte Herr Ellrich, der sich in den zehn Jahren kaum verändert hatte, nur sein Haar war grau geworden, »Ich habe eine Reise ins Gebirge gemacht und da wollte ich mir das jetzt so vielgenannte Kronsberg doch auch ansehen, um so mehr, als Hofrat Bertram hier Badearzt ist. Ich habe ihn in all den Jahren nicht gesehen, aber öfter von ihm gehört; es heißt ja, daß der Badeort vor allen ihm diesen schnellen Aufschwung verdankt.«

»Ja, er ist ein ›großes Tier‹ geworden und spielt hier die erste Geige,« bemerkte Ulrike trocken. »Die reichen und vornehmen Patienten laufen ihm nur so zu und der Hof hat vollends einen Narren an ihm gefressen. Kürzlich bekam er schon wieder einen Orden – der Mensch hat von jeher mehr Glück als Verstand gehabt!«

»Ich glaube, Doktor Bertram hatte stets Glück und Verstand,« erlaubte sich der kleine Herr zu erwidern. »Er hat bereits einen Namen in der Wissenschaft und wird zweifellos später eine Berühmtheit werden.«

»Sind Sie noch immer so versessen auf die Berühmtheiten?« fragte Fräulein Mallner, ärgerlich über das Lob, das ihrem alten Widersacher erteilt wurde. »Die wimmeln förmlich bei uns in Kronsberg! Sonneck ist hier, Ehrwald ist hier, und die beiden können Sie gleich heute nachmittag anschwärmen, denn Ehrwald wohnt bei uns und Sonneck wollte mit seiner jungen Frau kommen. Sie wissen doch, daß er vor sechs Wochen geheiratet hat?«

»Ich weiß, es hat ja in allen Zeitungen gestanden, und er hat eine junge schöne Frau – der Glückliche!«

»Ja, das ist er!« bestätigte Ulrike. »Man braucht ihn nur anzusehen, der Mann geht umher wie verklärt und thut, als ob er mitten im Paradiese säße. Nun, dem gönne ich es, dem allein auf der ganzen Welt, denn er verdient es!«

»Nun, Sie werden doch auch Ihrer Frau Schwägerin das Glück gönnen,« warf Ellrich ein. »Nach allem, was ich hörte, ist die Ehe sehr glücklich und es sind auch drei liebe Kinderchen da.«

»Drei liebe Kinderchen?« wiederholte das Fräulein höhnisch. »Jawohl, drei Kinder sind da – die gottlosesten, ungezogensten Rangen auf der weiten Welt! Natürlich, sie sind nach ihrem Vater geraten und bei dem ist von Erziehung keine Rede, der läßt sie aufwachsen wie die Wilden. In dem Hause wird überhaupt nur gelacht und die Lustigkeit reißt gar nicht ab vom Morgen bis zum Abend. Und Selma ist immer mitten darunter und prügelt ihre Jungen, daß es nur so eine Art hat.«

»Die Frau Hofrätin – prügelt?« fragte Herr Ellrich ganz bestürzt. Er hatte immer noch die blasse kleine Frau im Sinne, die vor Schüchternheit gar nicht wagte, die Augen aufzuschlagen.

»Ja, das hat sie gelernt und es thut auch not,« sagte Ulrike mit Anerkennung. »Aber helfen thut es nichts, diese wilde Berserkerbande tobt durch Haus und Garten, daß einem Hören und Sehen vergeht. Aber jetzt habe ich sie unter die Fuchtel genommen und das gründlich. Ich weiß schon, wie ich ihnen den Mund stopfe, ganz genau weiß ich das!«

Sie sah unendlich grimmig aus bei der Erklärung und schwenkte triumphierend ihre große Tasche. Der kleine Herr schielte ängstlich darauf hin; diese Tasche barg zweifellos verschiedene Strafinstrumente für die armen Kleinen, die vielleicht etwas ausgelassen waren. Er begriff nur nicht, wie der Hofrat es dulden konnte, daß seine Kinder so behandelt wurden, er hatte sich doch bei seiner Verlobung so energisch gezeigt der herrschsüchtigen Dame gegenüber, und nun schien sie ihn und sein ganzes Haus unter der Fuchtel zu haben. Jedenfalls war sie in einer gefährlichen Stimmung, und Herr Ellrich kannte das noch von früher her, wo seine verehrte Landsmännin wochenlang einem Pulverfaß mit brennender Lunte glich. Er versuchte deshalb vorsichtig abzulenken.

»Es war doch eine schöne Zeit damals in Aegypten,« hob er wieder an. »Diese Palmenlandschaften, diese Tempel und Pyramiden, dieses Volk in seiner malerischen Ursprünglichkeit –«

»Nun, diese malerische Ursprünglichkeit können Sie auch hier genießen,« unterbrach ihn Ulrike, »Wir haben das schwarze Ungetüm, den Achmet, im Hause, und drüben in der Villa der Lady Marwood sitzen auch ein paar von den braunen Affengesichtern. Sie hat sich einen ganzen orientalischen Hofstaat mitgebracht! Es fehlen nur noch die Kamele, dann haben wir das Wüstenland leibhaftig hier in Kronsberg.«

»O, das ist ja höchst interessant!« rief Ellrich erfreut, »Da werde ich meinen Aufenthalt doch verlängern. Ich komme immer noch früh genug in mein einsames Heim. Ich trage mich freilich mit gewissen Zukunftsplänen –«

»So? Wollen Sie wieder nach Aegypten?«

»Das nicht, ich bin so viel gereist und fange nun an, mich nach Ruhe zu sehnen, aber was mir fehlt, ist eine Häuslichkeit, ist –« Herr Ellrich seufzte und blickte verschämt zu Boden, als er leise hinzufügte: »eine Lebensgefährtin.«

»Sie sind wohl nicht bei Troste!« fuhr ihn Ulrike an. »Sie haben reichlich Ihre fünfzig Jahre auf dem Rücken, haben schon graue Haare und wollen noch einen solchen Unsinn begehen!«

»Herr Sonneck hat ihn doch auch begangen,« versetzte der kleine Herr empfindlich, »und er ist zwei Jahre älter als ich.«

»Herr Sonneck ist eben Herr Sonneck!« erklärte Fräulein Mallner mit Nachdruck. »Der kann sich das erlauben. Sind Sie ein berühmter Afrikaforscher? Haben Sie die Nilquellen entdeckt?«

»Nein, aber eine Inschrift habe ich in Theben entdeckt, damals, als ich dem seligen Professor Leutold bei seinen Forschungen half. Ich fand sie zuerst und der Professor entzifferte sie dann. Sie gab uns sehr wertvolle Aufschlüsse über Ramses und Seti und über die Dynastien von –«

Es half dem armen Ellrich gar nichts, daß er mit seiner von dem Professor Leutold aufgeschnappten Wissenschaft seiner Begleiterin zu imponieren versuchte. Fräulein Mallner ließ sich nun einmal nicht imponieren, sie fiel ihm ärgerlich ins Wort.

»Bleiben Sie mir mit den vertrackten Namen vom Leibe, Sie wissen, ich kann die alten Mumien nicht leiden! Also heiraten wollen Sie noch auf Ihre alten Tage? Mein seliger Martin hat es freilich auch so gemacht, aber dafür mußte er es noch im Grabe erleben, daß seine Witwe wieder heiratete und jetzt drei Jungen hat, die sich den ganzen Tag prügeln. Das hatte er davon! Aber wenn sich die Männer einmal eine Dummheit in den Kopf setzen, dann hilft es nichts, wenn man ihnen Vernunft predigt – die Dummheit wird gemacht!«

Herr Ellrich schwieg tiefgekränkt, er wurde schon wieder schlecht behandelt von der rücksichtslosen Dame, die in den zehn Jahren nicht das Geringste von ihrer Grobheit eingebüßt hatte, eher schien sie Fortschritte darin gemacht zu haben. Aber er war doch bedenklich geworden: das Schicksal des seligen Martin, »der im Grabe noch so etwas erlebte,« schien ihm nicht gerade beneidenswert.

Man war inzwischen bei der Bertramschen Villa angelangt, aus deren Garten lauter fröhlicher Lärm ertönte. Die drei Jungen spielten natürlich wieder »Wilde« und hatten sich dazu mit dem nötigen afrikanischen Beiwerk ausgestattet. Sogar der kleine Hans trug einen Büschel von alten Hahnenfedern auf dem Kopfe und bemühte sich, die allerentsetzlichsten Grimassen zu schneiden, während er eine kleine Gartenspritze als Mordinstrument schwang. Bei dem Anblick des Fräulein Mallner jedoch wurde das Spiel unterbrochen und die ganze Gesellschaft stürzte mit lautem Hallo der Tante entgegen, umringte sie und begann eine Art Kriegstanz um sie herum aufzuführen. Ulrike drohte ihnen scheltend mit dem Sonnenschirm und versuchte, ihre Tasche in Sicherheit zu bringen, aber gerade darauf hatte es die wilde kleine Bande abgesehen, sie mochte wohl schon ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht haben.

»Tante ist die Karawane,« kommandierte der Aelteste. »Die überfallen und plündern wir. Eins – zwei – drei – Hurra!«

»Hurra!« schrieen auch die beiden anderen und dann stürzten sie sich gemeinsam auf die Karawane, die in aller Form geplündert wurde und das Gepäck hergeben mußte. Es wurde allerdings nicht ernstlich verteidigt und die Sieger fielen schleunigst über die eroberte Beute her.

Herr Ellrich traute seinen Augen nicht, als aus der Tasche, die ihm so gefährlich erschienen war, allerhand gute Dinge zum Vorschein kamen. Ein großes Paket Schokolade, verschiedene Tüten mit Kuchen, ein Körbchen mit überzuckerten Früchten und zuletzt ein Bilderbuch. Jeder einzelne Gegenstand wurde mit lautem Freudengeschrei begrüßt und Fräulein Ulrike stand dabei, sah mit grimmigem Behagen zu und fragte dann, zu ihrem Begleiter gewendet: »Nun, habe ich nicht recht? Sind es nicht gottlose ungezogene Rangen?«

»Die Kinder scheinen nicht gerade Furcht vor Ihnen zu hegen,« meinte Herr Ellrich, der maßlos erstaunt war.

»Diese heillose Bande hat vor niemand Furcht, und wenn der Gottseibeiuns in eigener Person käme, sie würde ihn auslachen,« sagte das Fräulein entrüstet. »Jetzt teilt euch in den Kuchen, das übrige wird bis morgen aufgehoben und das Bilderbuch gehört dem Hansel, verstanden?«

Damit marschierte sie nach dem Hause und winkte ihrem Begleiter, zu folgen. In der Veranda fanden sie denn auch Bertram und seine Frau, die beim Kaffee saßen und mit freudiger Ueberraschung den alten Bekannten begrüßten.

»Herr Ellrich,« rief der Hofrat, ihm die Hand hinstreckend. »Das ist brav, daß Sie Wort halten und uns einmal in Kronsberg besuchen. Wie ist es Ihnen denn ergangen?«

Herr Ellrich hatte seine Höflichkeit ebenso unverändert bewahrt wie Fräulein Mallner ihre Grobheit. Er sprach in wohlgesetzten Worten seine Freude über das Wiedersehen aus, war entzückt über das blühende Aussehen der Frau Hofrätin, gratulierte zu den drei Jungen, deren Bekanntschaft er soeben gemacht habe, und nahm dann den angebotenen Platz ein.

»Ja, ich habe ihn unterwegs aufgefischt,« sagte Ulrike. »Ich kam gerade von Birkenfelde. Uebrigens ist die Sache dort abgemacht, wir sind handelseins geworden.

»Bravo!« rief Bertram, »Sie werden mit dem Kaufe zufrieden sein,« und zu Ellrich gewendet, fügte er erläuternd hinzu: »Fräulein Mallner ist im Begriff, sich hier anzukaufen und unsere hochverehrte Mitbürgerin zu werden – sie kann nämlich nicht leben ohne meine Jungen, und nur um in ihrer Nähe zu bleiben, kauft sie Birkenfelde.«

»Dergleichen Scherze verbitte ich mir!« fuhr Ulrike zornig auf. »Sie wissen doch am besten, daß ich nur fortgehe, um Ruhe im Hause zu haben. Hier macht Ihre Berserkergesellschaft ja einen Lärm, daß man aus der Haut fahren möchte. Aber in Birkenfelde bin ich Herr und Meister, da sollen mir die Jungen nur kommen, ich werde ihnen die Wege weisen!«

Sie nickte dräuend mit dem Kopfe, unterbrach sich aber plötzlich und horchte auf, denn draußen im Garten gab es in der That schon wieder Lärm, die drei hoffnungsvollen Sprößlinge waren einander in die Haare geraten. Hansel hatte sich in aller Bescheidenheit die allergrößte Portion Kuchen zugeeignet, und als seine Brüder ihm dieselbe wieder abnehmen wollten, wehrte er sich und schrie aus vollem Halse: »Tante Ulrike! Tante Ulrike!«

Diese säumte denn auch nicht, ihrem Liebling zu Hilfe zu kommen, sie ließ ihren Kaffee im Stich und schoß wie ein Stoßvogel davon und mitten hinein in die streitende Gruppe. Sie hatte sich längst den praktischen Griff angewöhnt, mit dem Frau Selma bei ihren Jungen Ruhe zu stiften pflegte, und so faßte sie denn auch jetzt den Adolf mit der Rechten und den Ernst mit der Linken und schüttelte sie, daß ihnen Hören und Sehen verging. Dann nahm sie den triumphierenden Hansel samt seinem Kuchen auf den Arm und trug ihn nach der Veranda.

»Fräulein Mallner scheint sich ja ganz merkwürdig verändert zu haben,« sagte Herr Ellrich, der sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen konnte. Bertram lachte.

»Ja, sie stellt sich noch grimmig genug an, aber sie ist ganz unschädlich geworden, und das haben unsere Jungen zu stande gebracht. Sie zankt zwar den ganzen Tag mit ihnen, aber dabei verzieht und verwöhnt sie sie in der unglaublichsten Weise und der Hansel hat sie nun vollends zu seiner Sklavin gemacht.«

Die beiden ältesten Knaben schienen sich in der That nicht viel aus der empfangenen handgreiflichen Zurechtweisung zu machen, denn sie hingen wie die Kletten an der Tante, als diese mit hochrotem Gesichte wieder erschien und dem Hofrat erklärte, er könne es vor Gott und den Menschen nicht verantworten, daß er der Welt eine so heillose Bande erziehe.

»Ja, das sind auch meine Jungen – das ist das Gesetz der Vererbung!« sagte Bertram, ihr freundschaftlich zunickend, während Selma drängte: So erzähle uns doch von Birkenfelde, du liefst ja mitten in dem Berichte davon.«

»Nun, da ist nicht viel zu erzählen, die Sache ist in Ordnung,« erklärte Ulrike. »Dein Mann hatte ganz recht, mir den Kauf anzuraten, die Besitzung ist sehr preiswert, das Haus hübsch und geräumig und gerade so viel Landwirtschaft dabei, um nicht aus der Uebung zu kommen. Morgen wird der Kaufvertrag unterzeichnet und in vier Wochen ziehe ich hinaus. – Ja, ja, ihr Jungen, dann gehe ich fort und komme nicht wieder.«

Die Jungen machten große Augen bei dieser Ankündigung und die beiden älteren erhoben sofort leidenschaftlichen Widerspruch. Hansel aber, der noch auf dem Schoße der Tante saß, nahm die Sache sehr gemütsruhig und erklärte mit großer Entschiedenheit: »Ich gehe mit!«

»Das wirst du bleiben lassen,« sagte der Vater strafend. »Die Tante geht überhaupt nur fort, weil sie euren Lärm und eure Ungezogenheiten nicht mehr aushalten kann. Wenn ihr euch in Birkenfelde sehen laßt, wirft sie euch zur Thür hinaus.«

»Das geht Sie gar nichts an, was ich in Birkenfelde mache,« rief Fräulein Mallner, ihm einen wütenden Blick zuwerfend. »Sie gönnen Ihren Kindern wohl nicht das bißchen Vergnügen? Nun gerade sollen sie mich besuchen und den Hansel nehme ich überhaupt gleich mit auf acht Tage. Dann bekommt er auch einen kleinen Wagen mit zwei Ziegen, wie er ihn sich längst schon gewünscht hat, aber Sie erfüllen ihm natürlich den Wunsch nicht, da kann er lange bitten.«

Hansel jauchzte laut auf bei dieser Verheißung und strampelte vor Vergnügen, die anderen beiden aber benutzten schleunigst die Gelegenheit, um der Tante nun auch verschiedene Wünsche ans Herz zu legen. Diese hielt sich die Ohren zu, der Hofrat aber sagte mit ernster Miene: »Tante Ulrike, Sie können es vor Gott und den Menschen nicht verantworten, wie Sie meine Jungen verziehen. Ich lege als Vater feierlichst Verwahrung dagegen ein.«

 

In Burgheim hatte die Vermählung Elsas äußerlich nur wenig geändert. Im obern Stock des Hauses, der für gewöhnlich nicht benutzt wurde, hatte man, da es sich ja nur um einen vorübergehenden Aufenthalt für den Sommer handelte, einige Zimmer für das neue Ehepaar eingerichtet, und zur persönlichen Bedienung des Professors Helmreich war eine erprobte Pflegerin angenommen worden. Der Professor war freilich durchaus nicht einverstanden damit. Er hatte in seinem grenzenlosen Egoismus geglaubt, daß er nach wie vor unbeschränkt über seine Enkelin verfügen werde und sie rücksichtslos wie bisher mit seinen Launen quälen könne, aber Sonneck machte jetzt ebenso ruhig als entschieden die Rechte des Gatten geltend. Er hatte Elsa ein für allemal von der Pflege befreit, die unter diesen Umständen eine doppelt schwere war, sie durfte hinfort nur auf Stunden bei dem Großvater sein und dann war Lothar gewöhnlich zugegen und hielt die Rücksichtslosigkeit Helmreichs in Schranken. Mehr als einmal hatte er bei dessen gewohnten Ausfällen seiner Frau den Arm geboten und sie aus dem Zimmer geführt. Der Professor war im höchsten Grade beleidigt und erbittert darüber, er murrte und grollte den ganzen Tag und machte seiner Umgebung das Leben unendlich schwer; aber wo es sich um seine junge Gattin handelte, blieb Sonneck unbeugsam, wenn er auch sonst die weitestgehende Schonung gegen den Kranken übte. Er wußte ja so gut wie Elsa, daß es zu Ende ging. Helmreich war längst schon an den Lehnstuhl gebannt und seine Kräfte sanken rasch. Nach dem Ausspruche Bertrams handelte es sich nur noch um Wochen, wenn nicht irgend ein Zufall, eine heftige Erregung, die bei der ungemeinen Reizbarkeit des Professors oft aus einem Nichts entstand, das Ende schon früher herbeiführte.

Unter diesen Umständen fand man in Kronsberg, wo das hinreichend bekannt war, die Zurückgezogenheit des Herrn und der Frau von Sonneck begreiflich und geboten. Wenn Lothar seinen vielfachen Beziehungen auch nicht ganz fern bleiben konnte, so fand ein näherer Verkehr doch nur mit Lady Marwood und mit der Bertramschen Familie statt, selbstverständlich auch mit Ehrwald, der noch in Kronsberg zurückgehalten wurde. Es war jetzt entschieden, daß er vorläufig nicht in den Kolonialdienst treten, sondern sich an die Spitze einer neuen Expedition stellen sollte, um tief im Innern Afrikas neue und bisher noch unbekannte Gebiete zu erschließen, aber die Vorbereitungen dazu und die Verhandlungen darüber forderten einstweilen noch seine Gegenwart in Deutschland.

Die Strahlen der späten Nachmittagssonne fielen in den Garten von Burgheim, der trotz seiner Düsterheit heute ganz durchleuchtet war von dem goldigen Schein. Unter einer der hohen Tannen stand ein Tisch, der mit Tagebüchern, Notizen und Skizzen bedeckt war, und daneben lag ein angefangenes Manuskript. Sonneck hatte bereits die Vorarbeiten zu dem geplanten großen Werke begonnen, in dem er all seine Erfahrungen und Erlebnisse auf afrikanischem Boden niederlegen wollte.

Für den Augenblick aber ruhte die Arbeit, Lothar saß in einen Gartenstuhl zurückgelehnt, eines der Tagebücher in der Hand, aus dem er seiner jungen Frau vorgelesen hatte, und knüpfte nun eine längere Erzählung daran. Er war ein ruhiger, aber vortrefflicher Erzähler, wenn er auch nicht die feurige, hinreißende Art seines Freundes Ehrwald hatte, der seine Zuhörer das alles miterleben ließ und sie wie in atemlosem Bann hielt, solange er sprach. Sonneck dagegen zeichnete in klaren, festen Zügen Bild auf Bild, indem er kein Auge von Elsa verwandte, die auf einem niedrigen Schemelchen an seiner Seite, fast zu seinen Füßen saß. Es war ein anmutiges Bild, aber ein Fremder würde geglaubt haben, Vater und Tochter zu sehen, für ein Ehepaar hätte er die beiden schwerlich gehalten.

Die junge Frau in dem hellen luftigen Sommerkleide war freilich eine ganz andere Erscheinung als das stille ernste Mädchen, um das Sonneck geworben hatte. Wie eine Knospe, die, noch gefangen in ihrer grünen Hülle, die einstige Schönheit nur ahnen läßt und sich dann über Nacht zur duftenden Rose erschließt, so war Elsa von Sonneck in den wenigen Monaten aufgeblüht. Die Züge hatten Leben gewonnen, die Augen schimmerten in tiefem, feuchtem Glanz, als habe ein Sonnenstrahl das ganze Wesen des jungen Weibes durchleuchtet und es geweckt aus einem langen Traum. Als sie so dasaß, die Hände um die Kniee geschlungen, im gespannten Lauschen zu dem Gatten aufblickend, da hatte sie wieder ganz den Ausdruck, wie er in jenem Kinderköpfchen lag, das Lothar einst gezeichnet und das nun auf seinem Schreibtische drinnen stand.

»Nun aber genug für heute!« schloß er seine Erzählung. »Wirst du denn nie müde zuzuhören? Einst lag dir das alles so fern und fremd, daß ich fast daran verzweifelte, dein Interesse dafür zu erwecken, und jetzt habe ich in meiner kleinen Frau das erste und dankbarste Publikum für meine Lebenserinnerungen.«

»O, du hast so viel, so unendlich viel erlebt!« sagte Elsa mit kindlicher Bewunderung. »Ich könnte Tag und Nacht zuhören, wenn du mir von dem Sonnenlande da drüben erzählst.«

»Nun, du bist doch auch ›da drüben‹ gewesen,« scherzte Lothar. »Du hast das freilich alles nur mit den Augen eines Kindes geschaut und jahrelang war es dir ganz entschwunden, bis ich die Erinnerung wieder weckte. Aber ich bereue das beinahe, denn jetzt träumst du unaufhörlich davon, und deine Gedanken, die von Rechts wegen bei mir sein sollten, fliegen immer nur hinaus in die Weite.«

»In die Weite!« wiederholte die junge Frau leise, während sich ihre Augen träumerisch in die Ferne verloren. »Ja, sie muß schön sein, die weite große Welt, und wenn du davon sprichst, dann ist es mir immer, als müßte ich hinausfliegen über all die Berggipfel, über das Meer, immer weiter in die endlose Ferne, als müßte ich dort etwas suchen und finden. Was – das weiß ich nicht, irgend etwas Großes, Herrliches –«

»Wie es im Märchen steht!« ergänzte Sonneck lächelnd. »Gerade wie Reinhart! Der schwärmte auch so, als er das erste Mal mit mir den afrikanischen Boden betrat, der wollte es sich erjagen, sein großes, grenzenloses Glück. Erreicht hat er es nicht, aber er ist trotz all der Phantastereien doch ein echter Mann der Wirklichkeit geworden, mit einem eisernen Willen. Nein, mein Kind, da in der Ferne liegt das Glück nicht, aber ich kenne einen, der es gefunden hat – hier in der Heimat.«

»Lothar!«

»Willst du das nicht hören? Und du kennst doch den einen so genau wie ich. Als ich damals nach Europa zurückkehrte, krank, allein, mit dem vernichtenden Bewußtsein, daß es mit meinem Wirken zu Ende sei, da glaubte ich, die Heimat würde nur noch ein Grab für mich übrig haben, und sie gab mir das höchste Glück, gab mir dich, meine Elsa. Sie sei tausendfach dafür gesegnet!« Es wehte eine unendliche Zärtlichkeit aus den Worten, die junge Frau antwortete nicht, aber sie beugte sich nieder und drückte ihre Lippen auf die Hand ihres Mannes, doch er entzog sie ihr mit einer raschen, beinahe unwilligen Bewegung.

»Elsa, ich bitte dich!«

»Darf ich das nicht?« fragte sie unbefangen. »Ich thue es doch so gern.«

»Aber mich beschämt es. Einem Vater küßt man die Hand, dem Gatten nicht. Du thust mir weh mit dieser kindlichen Ehrfurcht, die mich immer wieder an das erinnert, was ich so gern vergessen möchte, daß beinahe vierzig Jahre zwischen uns liegen, daß du deine Jugend einem Manne gegeben hast, der an der Schwelle des Alters steht. Kann er dich denn glücklich machen?«

»Du bist so gut!« sagte Elsa in überströmender Dankbarkeit, »so unendlich gütig und liebevoll, ich habe nie Liebe erfahren, seit mein armer Vater starb. Du weißt ja, der Großvater – doch ich muß jetzt wohl zu ihm, es ist Zeit.«

»Noch nicht,« widersprach Lothar. »Willst du mir nicht einmal eine halbe Stunde gönnen?«

»Wir sitzen ja bereits seit zwei Stunden hier.«

Sonneck zog die Uhr hervor und warf einen höchst erstaunten Blick darauf. »Wahrhaftig! Nun dann noch ein paar Minuten!«

»Ich fürchte nur, der Großvater erwartet mich um diese Stunde,« sagte die junge Frau zögernd. »Er ist heut' noch viel reizbarer und erregter als sonst. Wir müssen es beide büßen, wenn ich nicht pünktlich bin.«

Lothars Stirn umwölkte sich und er unterdrückte einen Seufzer.

»Jawohl, und vor allem du, mein armes Lieb! Es scheint oft, als wolle er sich förmlich dafür rächen, daß ich dich größtenteils seiner Macht entziehe. Es ist ja eine schwere Pflicht, die du noch zu leisten hast, und ich kann sie dir nicht abnehmen; aber wenn die müden Augen da drinnen sich geschlossen haben, ihm und uns zur Erlösung, dann führe ich dich in unser eigenes Heim und dann soll meine Liebe dich für alles entschädigen, was du jetzt noch zu ertragen hast, meine Elsa, mein süßes, geliebtes Weib!«

Er zog sie an sich und drückte einen Kuß auf ihre Stirn; es lag etwas so unendlich Zartes in seiner Zärtlichkeit und seinen Liebkosungen, daß es selbst die scheue Zurückhaltung der jungen Frau überwand. Sie lehnte leise das Haupt an seine Brust, doch plötzlich ging es wie ein Beben durch ihren ganzen Körper, und mit einer fast angstvollen Bewegung schmiegte sie sich fester an den Gatten, der sie befremdet ansah.

»Was hast du? Was ist dir?«

»O nichts! Ich meine nur – ich muß doch jetzt zum Großvater.«

»Freilich – nun so geh!« sagte Lothar, indem er sie aus den Armen ließ und sich erhob. Dabei sah er auf und ließ dann einen Ausruf der Ueberraschung hören.

»Reinhart, du bist da? Was stehst du denn so fern und stumm wie ein Fremder?«

Es war in der That Ehrwald, der drüben aus den Tannen hervorgetreten war und wohl schon einige Minuten lang dort gestanden haben mochte, jetzt kam er langsam näher.

»Ich wollte nicht stören. Guten Tag, Lothar – ich habe Ihnen einige Zeilen von Lady Marwood zu bringen, gnädige Frau. Ich komme eben von ihr.« Er reichte dem Freunde die Hand und übergab der jungen Frau ein Briefchen, sie nahm es mit einigen Dankesworten, sagte aber dann mit einer gewissen Hast: »Sie müssen mich entschuldigen, Herr Ehrwald, ich wollte eben zu meinem Großvater, er ist heut' besonders angegriffen, und da darf ich ihn nicht warten lassen.«

Damit wandte sie sich nach dem Hause, Sonnecks Augen folgten ihr mit einem leuchtenden glücklichen Ausdruck, während Reinhart halblaut fragte: »Steht es schlimmer mit dem Professor?«

»Nein, der Zustand ist so ziemlich unverändert, aber die Kräfte sinken immer mehr und seine Stimmung ist meist unerträglich für die Umgebung. – Doch was bringst du mir?«

»Nicht viel, ich habe Nachrichten aus Berlin erhalten. Jetzt möchte man wieder anknüpfen und mir nachträglich die geforderte Selbständigkeit zugestehen, jetzt, wo es zu spät ist und ich mich hier gebunden habe.«

»Sie sehen also ein, was sie an dir verlieren,« meinte Lothar. »Ich riet dir ja zum Abwarten, aber du warst gleich Feuer und Flamme, als der Fürst hier den Plan faßte, die Expedition auszurüsten, und sagtest ihm sofort die Führerschaft zu.«

»Und ich bereue das keinen Augenblick. Ich tauge nicht für den Kolonialdienst, wenigstens jetzt noch nicht. Ich muß noch einmal die Freiheit kosten und mich als Herr und Herrscher fühlen bei meiner Truppe, wo ich niemand zu gehorchen habe. Ich muß wieder hinaus in Kampf und Gefahr und mich mit all den feindlichen Mächten herumschlagen, die ich so oft schon gezwungen habe. Ich muß, Lothar! Du ahnst nicht, wie notwendig mir das gerade jetzt ist.«

»Hast du immer noch nicht ausgestürmt?« fragte Sonneck mit leisem Kopfschütteln. »Gleichviel, für die nächsten Jahre ist die Entscheidung nun gefallen und der Kolonialdienst bleibt dir immer noch für die Zukunft. Wann reisest du?«

»In vier Wochen, eher wird es nicht möglich sein. Ich ginge freilich lieber heut' als morgen.«

Die Worte klangen in äußerster Ungeduld, und mit einer beinahe ungestümen Bewegung warf sich Reinhart in einen der Gartenstühle und musterte flüchtig den Tisch mit den Papieren.

»Da liegt ja ein angefangenes Manuskript. Bist du schon bei der Arbeit?«

»Es ist nur die Einleitung, die Arbeit selbst werde ich wohl erst im Winter beginnen können. Ich habe das ganze überreiche Material noch zu sichten und zu ordnen, und das kann Monate dauern.«

»Eine mühevolle Arbeit! Ich hätte kaum die Geduld dazu.«

»Für mich ist sie nicht mühevoll,« sagte Lothar lächelnd. »Elsa hat sich zu meinem Sekretär gemacht und zeigt dabei einen Eifer und ein Interesse, wie ich es nicht für möglich gehalten habe. Ja, Reinhart, diesmal hast du doch schärfer und tiefer gesehen als ich: du behauptetest ja schon vor Monaten, ihr ganzes Wesen läge wie in einem Bann, aus dem man sie erwecken müsse. Du hattest recht! Und es war so süß, dies Erwachen, dies Sichlosringen von den Fesseln einer tyrannischen Erziehung, dies Aufblühen zu einem neuen Dasein – ich staune es oft wie ein Wunder an.«

Ehrwald hatte eines der Tagebücher ergriffen, die auf dem Tische lagen, und blätterte darin. Er sah nicht auf, als er jetzt langsam fragte: »Du bist sehr glücklich, Lothar?«

»Fragst du das im Ernst?« Lothars tiefe Augen leuchteten wieder wie vorhin in jener innigen Glückseligkeit. »Manchmal ist es mir, als müsse ich dem Schatten dankbar sein, den die Krankheit und die Verbitterung Helmreichs über uns wirft. Ich kenne ja den alten Spruch und fürchte die Götter, wenn sie allzu günstig sind, und mir haben sie fast zu viel, mir haben sie alles gegeben!«

»So preise sie dafür!« sagte Ehrwald beinahe herb, indem er das Buch auf den Tisch warf und aufstand. Er lehnte sich mit verschränkten Armen an den Baum und merkte es gar nicht, daß eine minutenlange Pause eintrat und Sonneck ihn schweigend und forschend beobachtete, er sah stumm und düster in die Ferne hinaus.

»Reinhart!«

Der Gerufene schreckte empor wie aus einem Traume.

»Was sagtest du? Verzeih, ich habe es nicht gehört.«

»Ich sagte nichts, aber ich dachte soeben, daß es sehr egoistisch von mir ist, dir hier von meinem Glücke vorzuschwärmen, während du – armer Junge, ich weiß ja längst, wie es um dich steht!«

»Du weißt –?« fuhr Reinhart auf; es lag etwas wie Entsetzen in dem Blick, mit dem er den Freund anschaute.

»Hast du wirklich geglaubt, mir das verbergen zu können, mir, der dich so genau kennt wie niemand auf der Welt? Ich habe es gesehen, wie es in dir wühlt und kämpft. Leugne nicht, Reinhart, du bist ein anderer geworden, seit du in Kronsberg bist.«

Ehrwald machte keinen Versuch, zu leugnen, aber er war totenbleich geworden und seine Hand krampfte sich um die Lehne des Sessels, als wollte er sie zerbrechen. Wie ein Schuldbewußter stand er da, während Sonneck fortfuhr: »Ich wollte mich nicht in dein Vertrauen drängen, aber es that mir wehe, daß du es mir versagtest – zum erstenmal! Sind wir denn nicht mehr die alten Freunde?«

»Ja, wir sind es!« sagte Reinhart tonlos, aber fest.

»Nun denn, so fordere ich mein Freundesrecht. Sei endlich offen gegen mich – wie stehst du mit Zenaide?«

»Mit – Zenaide?« Es rang sich wie ein befreiender Atemzug aus der Brust des Mannes empor. »So – das meintest du?«

»Was denn sonst? Du hast sie einst geliebt. Damals freilich standen dein glühender Freiheitsdrang, dein Ehrgeiz im Vordergrunde, und als nun vollends dein Stolz ins Spiel kam, gabst du sie auf. Jetzt ist das wieder aufgeflammt, jetzt bist du ganz beherrscht von dieser Leidenschaft, die dich förmlich verzehrt. Dies Wiedersehen ist verhängnisvoll geworden für dich und auch für sie. Denkst du, ich weiß es nicht, welche Macht Bertram zu Hilfe gerufen hat? Womit er es erreichte, daß Zenaide sich so vollständig aus der Gesellschaft zurückzog, daß sie jetzt mit einer beinahe rührenden Fügsamkeit jeder Verordnung folgt? Du bist eben allmächtig bei ihr, aber – was soll daraus werden?«

»Ich weiß nicht! Quäle mich nicht, Lothar!« stieß Reinhart plötzlich mit wilder Heftigkeit hervor. »Laß dies Gespräch – frage mich nicht – ich kann dir nichts sagen!«

Er sah in der That aus, als ob er eine Folter ausstehe, Sonneck legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm.

»Nun, so höre wenigstens, was ich dir zu sagen habe, es geht dich und Zenaide gleich nahe an. – Ihr Gemahl ist hier, nur wenige Stunden entfernt.«

»Lord Marwood?«

»Ja, mit seinem Sohne. Ich erfuhr es heute morgen, wo ich einen überraschenden Besuch erhielt. Du erinnerst dich wohl noch des Lieutenants Hartley, der im Osmarschen Hause verkehrte?«

»Marwoods nächster Freund – gewiß!«

»Er nahm später den Abschied, kehrte nach England zurück und vermählte sich. Seine Frau stammt aus Deutschland und sie bringen gewöhnlich den Sommer in Malsburg zu, das Mistreß Hartley von ihrem Vater erbte. Dort ist jetzt auch Marwood als Gast seines Freundes, und dieser kam jedenfalls in seinem Auftrage, wenn er auch nur einen Besuch vorschützte. Es sollte vermutlich sondiert werden.«

»Und zu welchem Zwecke? Eine Versöhnung vielleicht?«

»Nein, im Gegenteil, Marwood will die Scheidung, die unter diesen Umständen freilich nur noch eine gesetzliche Form ist. Zenaide trägt noch den Namen ihres Gemahls, getrennt haben sie sich ja längst und ihr vom Vater ererbter Reichtum macht sie völlig unabhängig. Für sie wäre es ein Glück, wenn die Kette vollends gebrochen würde, aber Marwood stellt eine grausame Bedingung: sie soll jedem Anspruch auf das Kind entsagen, auch für die Zukunft – das ist der Preis ihrer Freiheit!«

»Und das wagt er einer Mutter zuzumuten?« rief Ehrwald empört.

»Er glaubt eben, ihr jetzt die Wahl stellen zu können,« sagte Sonneck bedeutsam. »Ich fürchte, es hat drüben in Malsburg etwas von den Klatschereien verlautet, die hier im Umlauf sind. Zenaide ist sehr unvorsichtig der Welt gegenüber. Als sie sich aus dem Strudel des Gesellschaftslebens zurückzog, erfuhr man freilich, daß es auf strengen ärztlichen Befehl geschah. Bertram sorgte dafür; aber du wurdest nach wie vor empfangen, wo man allen anderen die Thür verschloß, und das ist natürlich sehr bemerkt worden. Man spricht über euch beide nur zu viel, und ich hätte dir schon längst einen Wink gegeben, wenn nicht – doch da kommt Elsa zurück! – Schon jetzt?«

Er hatte allerdings Grund zur Verwunderung. Helmreich pflegte sonst die junge Frau nicht so rasch freizugeben, diesmal aber kam sie mit einem Auftrage von ihm. Er wollte Lothar sprechen, es sei ein Brief von seinem Verleger gekommen, der erledigt werden müsse. Es lag ganz in der rücksichtslosen Art des Professors, auch über den Gatten seiner Enkelin ohne weiteres zu verfügen, obgleich er von Elsa erfahren, daß Lothar Besuch von seinem Freunde hatte. Aber man war es in Burgheim gewohnt, dem Leidenden in solchen Dingen stets nachzugeben, und Sonneck erhob sich sofort. »Es handelt sich um das letzte große Werk Helmreichs, das eben abgeschlossen ist,« sagte er erklärend zu Ehrwald. »Das Schreiben ist ihm kaum mehr möglich, und da habe ich die Korrespondenz mit dem Verleger übernommen. – Nein, Reinhart, du darfst noch nicht aufbrechen, Elsa bleibt ja hier, und ich komme gewiß bald zurück.«

Ehrwald hatte in der That Miene gemacht, aufzubrechen, und fügte sich mit einigem Zögern der Bitte; er nahm seinen Platz wieder ein, während Lothar zu dem Professor ging. Elsa machte sich mit dem Ordnen der Bücher und Papiere zu schaffen und einige Minuten lang herrschte völliges Schweigen. Dann fragte die junge Frau: »Also Sie wollen uns nun doch bald verlassen?«

»In vier Wochen, gnädige Frau,« lautete die einsilbige Antwort.

»Lothar wird Sie sehr vermissen. Ich sehe es schon jetzt, wie unendlich schwer ihm die Trennung wird.«

»Doch wohl nicht so schwer wie mir. Lothar hat vollen Ersatz, ich – ziehe allein hinaus in die Weite. Nun, ich habe sie ja jetzt wiedergesehen, die alte Heimat. Da wird mich das Heimweh wohl künftig in Ruhe lassen.«

»Die Heimat ist sehr stolz auf ihren berühmten Sohn,« warf Elsa hin. »Sie erhalten oft genug Beweise davon!«

»O ja!« Um Ehrwalds Lippen zuckte ein Ausdruck herber Verachtung. »Die guten Kronsberger geben mir meine Berühmtheit Tag für Tag zu kosten. Sie haben mir eine Deputation über den Hals geschickt, eine Adresse votiert, es fehlt nur noch, daß sie mir bei Lebzeiten ein Denkmal setzen. Einst galt ich ihnen als der ausgemachteste Taugenichts auf Gottes weitem Erdboden – so ändern sich die Zeiten!«

Die Worte sollten scherzhaft klingen, allein es lag eine tiefe Bitterkeit darin. Die Augen der jungen Frau streiften wie mit einer Frage sein Antlitz.

»Sie verschwiegen es so lange, daß Burgheim Ihre Heimat ist,« sagte sie. »Ich hatte keine Ahnung davon –«

»Als ich jenen nächtlichen Einbruch unternahm,« ergänzte Reinhart, da sie innehielt. »Ich wurde freilich dabei ertappt, Wotan empfing mich äußerst grimmig und seine Herrin – o bitte, gnädige Frau, keine Entschuldigung: Sie waren nur in Ihrem Recht. Wer nachts wie ein Dieb über die Mauern in fremde Gärten steigt, darf sich nicht wundern, wenn er als Verdächtiger behandelt wird. Aber Sie wissen ja jetzt, was mich herzog. Es war doch immer mein Vaterhaus, von dem ich mich freilich losgerissen hatte. Lothar wird Ihnen das wohl längst erzählt haben.«

»Lothar hat mir nur einiges angedeutet, er glaubte wohl zum Schweigen verpflichtet zu sein.«

»Da gibt es nicht viel zu verschweigen,« sagte Ehrwald mit einem Achselzucken, »die Sache war ja Stadtgespräch. Sie haben nie viel in Kronsberg verkehrt, gnädige Frau, sonst hätten Sie wohl früher schon verschiedene Schauergeschichten von dem ›tollen Reinhart‹ gehört. Ich galt meinen lieben Landsleuten, wenn nicht für den Satan selbst, so doch für seinen nahen Verwandten und sie ließen mich das entgelten. Sie haben mich so lange gehetzt und gequält, verleumdet und verlästert, bis ich schließlich auf und davon ging. Doch das wird Sie schwerlich interessieren.«

»Doch, es interessiert mich.«

»Wirklich?« Sein Auge traf aufflammend das ihrige, das sich senkte vor diesem Blick, während sie leise hinzufügte: »Sie sind ja Lothars nächster Freund.«

»Ja so, um Lothars willen!« Er fiel wieder in den kühlen, beinahe spöttischen Ton zurück, in dem er bisher gesprochen. »Nun, die Geschichte ist bald erzählt, sie handelt von einem wilden, unbändigen Knaben, der keinem Zügel gehorchen wollte. Wenn man in voller Freiheit aufwächst, bei einem Vater, der den einzigen Jungen vergöttert, bei einer schwachen, zärtlichen Mutter, da wird man nicht zahm und ich hatte überhaupt nie Anlage dazu, aber glücklich bin ich gewesen in jener goldenen Knabenzeit! Doch die Herrlichkeit nahm bald ein Ende! Als ich zwölf Jahre alt war, starb mein Vater und ich kam unter die Zuchtrute meines Herrn Vormundes, eines Verwandten, der in Kronsberg lebte und dem bald noch eine andere Autorität zur Seite stand. Meine Mutter reichte ihm die Hand und so wurde er mein Stiefvater. Er hatte es sich nun leider in den Kopf gesetzt, mich zu ›bändigen‹, und da gab es denn natürlich Kämpfe ohne Ende.«

Elsa hatte den Kopf in die Hand gestützt und hörte schweigend zu, das klang so seltsam an ihre eigenen Kindheitserinnerungen an. Auch sie war ja im Sonnenschein der Liebe aufgewachsen und dann unter die »Zuchtrute« des alten Mannes geraten, der ihre ganze Jugend vernichtet hatte mit seiner lieblosen Strenge und Härte. Das hatte also schon einmal hier in Burgheim gespielt, freilich mit anderem Ausgang!

»Zwischen mir und meinem Stiefvater war von Anfang an offener Krieg,« fuhr Ehrwald fort. »Waffenstillstand gab es nur, wenn ich fern vom Hause war, denn ich ließ mich eben nicht bändigen. Meine Mutter hatte nie einen eigenen Willen gehabt und stand gänzlich unter dem Einfluß ihres zweiten Gatten; sie hielt mich auch nur für den Zügellosen, den schon halb Verlorenen. Der Mann, der die Stelle meines Vaters eingenommen, hatte mir auch ihre Liebe geraubt. Als ich von der Universität zurückkehrte, kam die Katastrophe. Ich hatte eingesehen, daß ich für den Aktenstaub der Juristenlaufbahn nicht tauge, und erklärte, ich wolle zur See gehen, nur um hinauszukommen in die weite Welt, die mich nun einmal unwiderstehlich lockte; und da gab es eine Scene auf Leben und Tod. Ich war einundzwanzig Jahre alt und wurde behandelt wie ein ungezogener Schulbube, wurde gescholten, bedroht, und schließlich vergaß sich mein Stiefvater so weit, die Hand gegen mich zu erheben. Da war es aus – ich schlug ihn zu Boden! Wie es eigentlich geschah, das weiß ich nicht, ich sah nur, daß er blutend dalag, daß meine Mutter sich über ihn warf und mir das Wort zuschleuderte, ich sei das Unglück und das Unheil ihres Lebens. Mit dem Segenswunsch ging ich hinaus in die Welt, und als ich die alten Stufen dort hinabschritt, da wußte ich, wie einem Mörder zu Mute war!«

»War er – tot?« fragte Elsa mit stockendem Atem.

»Nein, das hat mir das Schicksal gnädig erspart. Er kam mit einer mehrwöchigen Krankheit davon. Ich hatte mir auf Umwegen Nachricht verschafft, und als ich erst wußte, daß er lebte, da fühlte ich mich auch wieder im Recht, da hatte ich auch wieder die alte Kraft und den alten Mut; sie waren freilich das einzige, was ich jetzt besaß, aber es war genug.«

Die junge Frau blickte in das dunkle, energische Antlitz des Mannes, wo jeder Zug eiserne Willenskraft verriet.

»Dann folgten ein paar schlimme Jahre,« hob er wieder an. »Ich mußte den Kampf ums Dasein aufnehmen, und ich habe ihn ja auch durchgefochten, aber ich fühlte doch, daß ich mehr und mehr den festen Boden unter den Füßen verlor bei diesem wilden, unsteten Leben, daß der Strudel mich immer mehr ergriff und mich hinabzuziehen drohte. Vielleicht wäre ich zu Grunde gegangen darin, da führte mir das Schicksal Lothar entgegen. Er reichte mir die Hand, er entriß mich jenem Leben und stellte mich an seine Seite. In den ersten Jahren ist er mir Freund, Vater, Lehrer – ist er mir alles gewesen. Was ich geworden bin, was ich erreicht und errungen habe – ich danke es ihm allein!«

Es sprach eine leidenschaftliche Empfindung aus den Worten und sie hatten den Ton der vollen echten Wahrheit, aber die Stirn Reinharts war so finster dabei und es war ein seltsam düsterer Blick, mit dem er die junge Gattin seines Freundes streifte. Er erhob sich und trat dicht an ihre Seite.

»Und Sie sind jetzt sein Weib!« sagte er mit einer Stimme, deren Beben er doch nicht ganz zu beherrschen vermochte. »Machen Sie ihn glücklich. Er verdient es und er liebt Sie über alles!«

»Ich weiß es –« Elsa verstummte mitten in der Antwort, sie begegnete wieder jenem rätselvollen Blick, der den ihrigen wie mit geheimnisvoll zwingender Gewalt festzuhalten schien, unter dem sie zuerst erwacht war aus dem langen Traum. Ihr Gatte wußte es freilich nicht, wann dies Erwachen gekommen war – damals auf der einsamen Hochgebirgsmatte, als ringsum das graue Nebelmeer wogte, aus dem dann die sonnig leuchtende Welt emporstieg, als die Fata Morgana aufdämmerte, das Märchenreich, mit der Verheißung von dem großen, dem grenzenlosen Glück.

»Elsa!« tönte plötzlich eine scharfe, heisere Stimme. Die junge Frau zuckte zusammen und Reinhart richtete sich mit einer jähen Bewegung auf. Der schrille Klang kam aus dem Zimmer Helmreichs, das im Erdgeschoß lag. Man hatte seinen Lehnstuhl dicht an das offene Fenster gerollt, um ihm den Genuß der milden Sommerluft und den Einblick in den Garten zu ermöglichen. Dort saß er jetzt und blickte unverwandt zu den beiden unter der Tanne hinüber. »Elsa!« rief er noch einmal, beinahe drohend.

»Verzeihen Sie, der Großvater ruft mich – ich muß zu ihm,« sagte Elsa gepreßt und hastig, und mit derselben Hast eilte sie dem Hause zu. Ehrwald preßte die geballte Hand gegen die Schläfe und es klang fast wie ein Stöhnen, als er murmelte: »Und das soll ich noch vier Wochen aushalten. Tag für Tag! Ich bin bald zu Ende mit meiner Kraft, und dazu Lothars Ahnungslosigkeit – es ist zum Wahnsinnigwerden!«

Nach einigen Minuten wandte er sich gleichfalls dem Hause zu, er wollte sich sofort von Lothar verabschieden, gleichviel unter welchem Vorwande, aber für heute wenigstens mußte die Folter ein Ende nehmen. Ehrwald hatte den Professor nicht allzuhäufig gesehen, aber er war doch bekannt genug mit ihm, um sich den Eintritt in sein Zimmer zu erlauben, wenn Sonneck dort war. Er schritt rasch über die Terrasse in den Hausflur und wollte die nur angelehnte Thür öffnen, als sein eigener Name, im scharfen, hohnvollen Tone ausgesprochen, an sein Ohr schlug. Betroffen blieb er stehen, Elsa schien allein zu sein mit dem Großvater und dieser sprach von ihm. So wenig es sonst Reinharts Art war, zu lauschen, hier fing er doch etwas von dem Gespräche auf, und es ging ihn nahe genug an. – – – – – –

 

Helmreichs Leiden hatte in der letzten Zeit rasende Fortschritte gemacht. Der Kranke lag gebrochen im Lehnstuhl, von Kissen gestützt. Er hatte sich sehr verändert in den letzten beiden Monaten und der gänzliche Verfall seiner Züge deutete auf das nahe Ende hin. Nur die Augen allein hatten ihre alte durchdringende Schärfe behalten, es war, als drängte sich die ganze schwindende Lebenskraft nur noch in dem Blick zusammen.

»Du bist allein, Großpapa?« fragte Elsa überrascht, als sie ins Zimmer trat. »Ich glaubte, Lothar sei bei dir. Wo ist er denn?«

»In seiner Wohnung, er schreibt die Antwort auf den Brief, die noch mit der heutigen Post fort muß. Du kümmertest dich natürlich nicht um mich, hattest ja so angelegentlich zu reden mit dem da draußen!«

»Du hast mich ja selbst fortgeschickt, und Lothar bat mich ausdrücklich, seinem Freunde Gesellschaft zu leisten.«

»Seinem Freunde!« wiederholte Helmreich mit höhnischer Bitterkeit. »Freilich, er kann ja nicht leben, wenn er den nicht täglich sieht. Er hat schon einmal Unglück gehabt mit einem Busenfreunde und sollte sich diesmal besser vorsehen.«

»Mit welchem Freunde? Wen meinst du?«

»Deinen Vater meine ich, dem er auch so blind vertraute und der ihn dann hinterging, ihm Wort und Treue brach –«

»Großpapa, laß das!« fiel die junge Frau erregt ein. »Du weißt, ich ertrage von dir jede Härte, jede Bitterkeit, aber meinen Vater laß ruhen in seinem Grabe. Sprich nicht in diesem Tone von ihm, ich kann und will das nicht hören.«

»Sieh, wie energisch!« höhnte der Professor. »Du willst nicht? Hast ja viel Selbständigkeit gelernt bei deinem Manne. Sonst kanntest du überhaupt keinen eigenen Willen; aber freilich, wenn man den ganzen Tag lang angebetet wird, dann wird man übermütig. Ich hätte Lothar für vernünftiger gehalten. Ich glaubte dich einem ernsten Manne zu geben, der über solche Narrheiten längst hinaus ist, und nun verliebt er sich in dich und treibt eine förmliche Abgötterei mit dir. Es ist lächerlich!«

Elsa antwortete nicht, sie beugte sich ruhig nieder, um die Decke aufzuheben, die herabgeglitten war, und breitete sie sorgfältig wieder über die Kniee des Kranken; aber gerade ihr Schweigen schien diesen noch mehr zu reizen, er fuhr in dem gleichen Tone fort: »Der gute Lothar! Da freut er sich über dein sogenanntes ›Erwachen‹ und staunt es wie ein Wunder an – fürchten sollte er es! Da erzählt er dir den ganzen Tag lang von seinen Zügen und Fahrten, rollt die ganze Welt vor dir auf und weckt die alte unbändige Sehnsucht, die mir in deinen Kinderjahren schon so viel zu schaffen machte. Ist der Mann denn mit Blindheit geschlagen? Die Elsa, die er aus meiner Hand empfing, hatte er behalten, denn die wußte, was Pflicht und Gehorsam heißt, aber sein ›angebetetes Weib‹, das er nicht schnell genug freimachen konnte von den Fesseln meiner ›Tyrannei‹, das wird er verlieren, hat er vielleicht schon verloren und er merkt es nicht einmal!«

»Du bist ungerecht gegen Lothar und mich,« sagte Elsa ruhig. »Aber du bist krank, Großpapa –«

»Und deshalb verzeihst du mir großmütig, nicht wahr? Nimm dich in acht, die Augen des Kranken sehen schärfer als die der Gesunden, sehen mehr, als dir lieb ist!« Er faßte plötzlich mit hartem Druck ihre Hand, die sich noch an der Decke zu schaffen machte. »Was hast du gesprochen mit diesem Ehrwald, vorhin, als er so dicht an deine Seite trat? Antworte, ich will es wissen!«

»Wir haben von Lothar gesprochen.«

Der Professor ließ ein heiseres Lachen hören. »Wirklich? Spielt er dir noch Komödie vor? Ich habe ihn von Anfang an nicht leiden können, den Burschen mit den schwarzen Feueraugen, der immer so stolz und gebieterisch dreinschaut, als hätte er der ganzen Welt zu befehlen, aber dir gefällt er wohl um so besser?«

»Großpapa, laß mich,« bat die junge Frau beklommen und versuchte sich loszumachen, aber die Hand des Großvaters lag feucht und eiskalt auf der ihrigen und hielt sie gewaltsam fest, während er ihr in drohendem Tone zuraunte: »Hast du es noch nicht begriffen oder willst du es nicht begreifen? Verliebt ist er in dich! In das Weib seines Freundes!«

Elsa bebte zusammen bei den Worten, die so jäh und erbarmungslos den Schleier von einem Unheil rissen, dessen Nahen sie wohl dunkel und angstvoll gefühlt hatte, das ihr aber nie zum klaren Bewußtsein gekommen war. Entsetzt, keines Wortes mächtig, blickte sie den alten Mann an, dessen unheimlich glühende Augen sich förmlich einbohrten in ihr Antlitz.

»Was wirst du denn auf einmal so totenbleich?« fragte er. »Brauchst dich ja nicht darum zu kümmern, wenn du weißt, was Ehre und Pflicht heißt. Oder kümmerst du dich vielleicht doch darum? Denkst du, ich habe es nicht gesehen, wie ihr nebeneinander standet, als ob die ganze Welt um euch versunken wäre, wie er dir minutenlang ins Auge sah und du ihm nicht wehrtest? Freilich, wo wäre auch Ehre und Treue zu finden bei dem Bernriedschen Geschlecht! Lothar hat schon einmal das Unheil über meine Schwelle geführt, ohne es zu ahnen, jetzt führt er es in sein eigenes Haus mit dem vielgeliebten Freunde. Damals war es Ludwig Bernried, dieser Schurke, und heut' –«

Ein Aufschrei der jungen Frau unterbrach ihn, sie riß ihre Hand aus der seinigen und trat mit einer stürmischen Bewegung zurück. »Sage das nicht noch einmal! Nenne meinen Vater nicht mit solchem Namen – oder ich vergesse, daß du krank bist, daß ich dich schonen muß – vergesse alles! Ich ertrage das nicht!«

»Willst du es mir vielleicht verbieten?« rief Helmreich, aufs äußerste gereizt durch den Widerspruch. »Du weißt ja jetzt vieles, nahezu alles von deinem Vater – Lothar hat es dir erzählt – hast auch gerade Ursache, stolz auf ihn zu sein! Nachdem er sich und sein Weib zu Grunde gerichtet hatte, überließ er dich meiner Barmherzigkeit. Ich, den er bis auf den Tod beleidigt hatte, mußte sein Kind erziehen. Nichts hat er auf dich vererbt als dies leidenschaftliche Blut, das sich so rebellisch aufbäumt gegen alles, was Pflicht und Gehorsam heißt. Ich habe es ausrotten wollen bei dem Kinde und habe es doch nur unterdrücken können. Sobald ich die Hand von dir lasse, bricht es wieder hervor. Es wird noch das Unglück deines Lebens werden!«

Weder er noch Elsa bemerkten es in der Erregung, daß die Thür sich öffnete, daß Ehrwald auf der Schwelle stand, bereit zum Schutze der jungen Frau; allein sie bedurfte keines Schutzes mehr. Als würfe sie eine lange getragene Last ab, so richtete sie sich jetzt empor und brach mit vollster Heftigkeit aus: »Das Unglück meines Lebens bist du gewesen – ja du, Großvater, mit deiner erbarmungslosen Härte! Als ich zu dir kam, eine kleine, verlassene Waise, die nichts auf der Welt hatte als dich allein, da hätte ein jeder andere verziehen und das Kind an sein Herz genommen, wenn er auch die Eltern verstieß – du hast mich gehaßt um meines Vaters willen, jawohl, gehaßt! Ich habe es gefühlt vom ersten Augenblick an, wenn ich es auch erst viel später erkennen lernte. Es hat dir Freude gemacht, mich zu quälen und alles, was von Kraft und Leben in mir war, zu brechen. Du hättest mich am liebsten zum geistigen Tode verdammt. Ich bin schon einmal hinausgelaufen in Nacht und Schnee, beinahe in den Tod, nur um dir zu entfliehen, und jetzt möchte ich Lothar auf den Knieen danken, daß er mich deiner Macht entrissen hat. Mein armer Vater hat eine Jugendsünde, zu der ihn doch nur die Liebe trieb, so schwer büßen müssen, aber du hast zehnfach mehr gesündigt an ihm und an mir, du, der keine Liebe und kein Verzeihen kennt. Und du willst ihn jetzt noch im Tod beschimpfen, vor seinem Kinde beschimpfen? Versuche das nicht noch einmal, oder ich gehe von dir und lasse dich allein in deiner Sterbestunde!«

Sie stand vor ihm in glühender, leidenschaftlicher Empörung und schleuderte ihm drohend all die Anklagen ins Antlitz, und der alte Mann, der seiner ganzen Umgebung ein Tyrann ohnegleichen war, der nicht den geringsten Widerspruch ertrug, er verstummte vor diesem jähen Ausbruch und sank scheu davor zusammen. Er hatte Furcht vor seiner Enkelin, vielleicht auch vor ihrer Aehnlichkeit mit dem toten Vater, die in diesem Augenblick in fast erschreckender Weise hervortrat.

Aber noch einem anderen drängte sich diese Aehnlichkeit auf. So hatten Ludwig Bernrieds Augen geflammt bei jenem Todesritte, als er den Gegner maß, der ihm den Sieg entriß. Ehrwald hatte eintreten wollen, aber er stand wie festgewurzelt an der Schwelle und sein Auge hing mit dem Ausdruck leidenschaftlicher Bewunderung an der jungen Frau. Da hatte eine grausame Erziehung nichts vernichten, sie hatte nur fesseln können und jetzt wurde die letzte Fessel abgeworfen! Das war wieder das schöne wilde Kind, das so lieblich schmeicheln, so maßlos trotzen konnte und es gerade mit diesem Trotz dem jungen Landsmanne angethan hatte, als er es emporhob in seine Arme und den versagten Kuß erzwang!

Das starre, entsetzte Staunen Helmreichs dauerte freilich nur Sekunden, dann kam ihm mit dem Zorn auch die Sprache zurück. Er lachte auf, so heiser und höhnisch wie vorhin.

»Und du willst Lothars Frau sein? Dich hat der Mann gewählt, der sich nur nach Ruhe sehnt, den du pflegen sollst in seinem stillen Heim? Wenn er dich jetzt sähe, es würde ihm klar werden, was er gethan hat. Zu dem anderen gehörst du, dem das Feuer auch so aus den Augen sprüht wie dir jetzt. Der ist deinesgleichen, er wird dich an sich ketten mit jener dämonischen Gewalt, die auch dein Vater hatte, und du – du wirst früher oder später thun, was deine Mutter that, als sie aus meinem Hause floh. Aber ehe es dahin kommt, ehe ich das zum zweitenmal erlebe, eher möchte ich dich mit eigener Hand –«

Er vollendete nicht, aber seine zuckende Hand griff nach dem schweren Leuchter, der neben ihm auf dem Tische stand, und mit dem letzten fieberhaften Aufflammen der Lebenskraft schleuderte er ihn nach der jungen Frau. Doch in demselben Augenblick stand auch schon Ehrwald da und riß sie zurück. Der Leuchter fiel schmetternd zu Boden, gerade da, wo sie gestanden hatte.

»Sie sind von Sinnen, Herr Professor!« sagte Reinhart in jenem strengen, gebieterischen Tone, in dem man zu einem Wahnsinnigen spricht, der gebändigt werden soll. »Sie hätten Ihre Enkelin getötet ohne mein Dazwischentreten!«

Dies Dazwischentreten war das Schlimmste, was geschehen konnte, es erregte den Kranken aufs äußerste. In seinen Augen funkelte maßloser Haß, als er kaum verständlich hervorstieß: »Sie – Sie sind es? Fort, hinaus! Was wollen Sie hier?«

»Frau von Sonneck schützen, bis ihr Gatte zur Stelle ist. Kommen Sie, gnädige Frau! Sie sehen es ja. Ihr Großvater ist unzurechnungsfähig.« Er wollte sie fortführen, aber Elsa machte sich los und eilte mit einem Schreckensrufe zu dem Professor, der plötzlich zurückgesunken war. Sein ganzer Körper wurde von einem Krampfanfall geschüttelt, aber er stieß die Hand seiner Enkelin zurück, als sie ihm Hilfe leisten wollte.

»Fort von mir! Lothar soll kommen. Lothar!«

In diesem Augenblick erschien Sonneck wirklich, die immer lauter werdenden Stimmen hatten ihn herbeigezogen. Er eilte gleichfalls zu Helmreich. »Was ist geschehen? Kam der Anfall so plötzlich? Gib ihm die Tropfen, Elsa, vielleicht geht es wieder vorüber.«

Aber es ging diesmal nicht vorüber. Der Kranke wurde zwar schon nach wenigen Minuten ruhiger und lag fast regungslos, allein seine Brust hob sich schwer und röchelnd und seine Lippen bewegten sich, als ob er sprechen wollte. Sonneck beugte sich tief zu ihm nieder.

»Wir sind bei Ihnen,« sagte er beruhigend. »Ich bin's, Lothar, ich und meine Elsa.«

Da flammte es noch einmal auf wie Hohn und Haß in den Augen des Sterbenden. Seine Stimme hatte keinen Klang mehr, ein hohles, geisterhaftes Geflüster streifte, nur Sonneck vernehmbar, an dessen Ohr hin: » Deine Elsa? Du armer Thor! Hüte dich vor dem da – vor dem da! Und hüte sie vor ihm – wenn es nicht schon zu spät ist!«

Seine zuckende Hand hob sich und wollte auf Ehrwald weisen, aber sie fiel kraftlos nieder, es war das letzte Aufflackern des Bewußtseins, das jetzt zu erlöschen schien.

»Was sagte er dir? Hast du ihn verstanden?« fragte Elsa angstvoll.

»Nichts, Phantasien eines Sterbenden,« entgegnete Sonneck halblaut, aber er war bleich geworden bis in die Lippen.

Helmreich sah und fühlte offenbar nicht mehr, daß man sich mit allen möglichen Hilfeleistungen um ihn bemühte. Noch ein kurzer schwerer Kampf, dann erstarrte alles in der eisigen Ruhe des Todes, es war zu Ende.

»Er hat ausgelitten. Wir wollen ihm den Frieden gönnen,« sagte Lothar, indem er sich emporrichtete; seine Stimme war klanglos und ein eigentümlich schwerer und fragender Blick streifte den Freund und die junge Frau, die stumm und thränenlos vor der Leiche des Großvaters kniete. Es folgte eine lange Pause. Niemand sprach, die unheimliche Stille des Todes herrschte in dem Gemach, endlich trat Reinhart zu seinem Freunde und bot ihm die Hand. »Es ist wohl besser, ich lasse dich jetzt allein mit deiner Frau. Auf morgen, Lothar!«

Er neigte sich schweigend vor Elsa und ging. Lothar sah ihm nach, wieder mit jenem seltsam fragenden Blick, dann wandte er sich zu seiner Gattin und hob sie empor.

»Komm, mein armes Kind, weine dich hier aus!« sagte er tiefernst und schloß sie in die Arme, während die junge Frau in ein lautes, leidenschaftliches Schluchzen ausbrach.


Jenseit der Bergeskette, die das Kronsberger Thal von allen Seiten einschloß, lag der mächtige Alpensee, dessen Ufer zum Teil die Grenze des Landes bildeten. Man hatte nur vier bis fünf Stunden bis dahin, aber die Landschaft trug einen durchaus andern Charakter. Weithin dehnte sich die schimmernde Fläche des Sees, dessen jenseitige Ufer kaum sichtbar waren, die Berge traten überall zurück und die freundlichen Ortschaften zu ihren Füßen lagen inmitten von blühenden Wiesen und prächtigen Baumgruppen wie in einem großen Garten da.

Die heitere Schönheit der Landschaft hatte auch viel Freunde gefunden, das zeigten die zahlreichen Ansiedlungen, die sich überall an den Ufern erhoben, bescheidene Landhäuser, von dichtem Grün umrankt, und schloßartige Villen, von Parkanlagen umgeben, und dazwischen all die großen Hotels, die zur Sommerszeit dem auf und ab flutenden Strome der Reisenden Aufnahme gewährten.

Auf der Terrasse eines dieser Hotels saß Lothar Sonneck und blickte hinaus in die Landschaft, die heute im hellen Sonnenglanz ein ungemein reizvolles Bild zeigte; aber er sah offenbar nichts davon, sondern schien ganz in düstere Träumerei verloren. Sein Antlitz war wohl immer ernst gewesen, doch jetzt stand ein grübelnder Zug darin und die Augen hatten jenes Aufleuchten verlernt, das noch vor wenigen Wochen von so viel heimlichem Glücke sprach. Der alte verbitterte Mann, der nun schon seit drei Wochen im Grabe ruhte, hatte noch mit dem letzten Atemzuge Unheil über drei Menschen gebracht.

Da nahte ein leichter Schritt, Sonneck blickte auf und lächelte; seine junge Frau, die jetzt herantrat, bekam nichts von der Düsterheit zu sehen, die eben noch sein Antlitz so schwer beschattete. Elsa trug Trauer um den Großvater und das tiefe Schwarz hob die rosige Frische ihrer Erscheinung nur um so mehr. Sie nahm ihrem Gatten gegenüber Platz und sagte mit einem halbunterdrückten Seufzen: »Ich komme allein – Zenaide ist soeben nach Malsburg gefahren.«

»Also doch! Du hast sie nicht zurückhalten können?«

»Nein, sie hört weder auf Bitten noch auf Vorstellungen und will ein Wiedersehen mit ihrem Kinde erzwingen.«

»Das wird eine schlimme Scene geben!« sagte Lothar sorgenvoll. »Zenaide ist maßlos leidenschaftlich und unbesonnen. Was für unsinnige Pläne habe ich schon verhindern müssen, seit sie weiß, daß das Kind in ihrer Nähe ist, und sie gab doch immer nur für den Augenblick nach, wenn ich ihr die Unmöglichkeit der Ausführung klar machte.«

»Konntest du sie nicht wenigstens begleiten?« warf Elsa ein.

»Das wäre nutzlos gewesen. Marwood hätte es zweifellos als ein unberechtigtes Eindrängen zurückgewiesen, und Zenaide wünschte es ja nicht einmal.«

»Der Lord hat sie aber auch aufs Aeußerste getrieben,« sagte die junge Frau erregt. »Zweimal hat sie ihm geschrieben und verlangt, daß er ihr ihren Sohn nur auf einen Tag nach Kronsberg sende – er verweigerte es. Mein Gott, eine Mutter wird doch das Recht haben, ihr Kind zu sehen!«

Gewiß, aber wenn es einmal so weit gekommen ist wie zwischen den beiden, wer fragt da noch nach dem Rechte! Uebrigens begreife ich Marwoods Weigerung. Er fürchtet, daß, wenn seine Frau das Kind erst einmal in Händen hat, sie es freiwillig nicht wieder zurückgibt und es auf gewaltsame Maßregeln ankommen läßt. Das fürchte ich auch und deshalb allein entschloß ich mich zu der Reise mit dir. Ich versuchte durch Hartley das Zugeständnis zu erlangen, daß der Kleine für einige Stunden hierher in das Hotel zu seiner Mutter gesandt würde, wenn ich die Bürgschaft für seine Rückkehr übernähme. Ich ließ Marwood melden, daß Zenaide in unserer Begleitung ist; vergebens, er beharrt auf seiner Weigerung, Hartley selbst brachte mir heute morgen die Nachricht. Da können wir nichts thun als der Sache ihren Lauf lassen – Gott allein weiß, wie sie endigt!«

Es trat eine Pause ein, sie schwiegen beide und blickten auf den sonnenbeglänzten See hinaus. Soeben legte der Dampfer, der vom jenseitigen Ufer kam, in der Nähe des Hotels an und ein Teil der Reisenden stieg ans Land. Die junge Frau war an die Brüstung getreten und schaute gleichgültig auf das Gewühl; auf einmal aber erbleichte sie und ihre Augen richteten sich groß und starr auf einen Punkt. In der nächsten Minute jedoch wandte sie sich zu ihrem Mann und sagte anscheinend ruhig: »Ich habe vergessen zu sagen, daß wir heute allein speisen wollen. Ich werde es wohl bestellen müssen.«

Es war noch eine volle Stunde bis zur Mittagszeit, aber Sonneck machte keinen Versuch, seine Frau zurückzuhalten, wie sonst in Burgheim, wo er jede Minute zählte, die sie fern von ihm war. Er sah ihr nur mit einem langen düstern Blicke nach, bis sie verschwunden war. Dann stand er rasch auf, als wollte er sich seinen Gedanken entreißen, und musterte zerstreut die Fremden, die der Dampfer gelandet hatte und die eben durch den Garten kamen. Auf einmal aber stutzte er und ließ einen Ausruf der Ueberraschung hören. Was war das? Wie kam Reinhart hierher? Er war ja in der Residenz, um dort persönlich die letzte Rücksprache wegen seiner Expedition zu nehmen, und wollte erst in acht Tagen nach Kronsberg zurückkehren, um lebewohl zu sagen. Und doch war es seine hohe Gestalt, die all die anderen überragte. Er kam gerade auf das Hotel zu, jetzt bemerkte er auch den Freund auf der Terrasse und eilte mit allen Zeichen der Ueberraschung die Stufen hinauf. »Du bist es, Lothar! Ich glaubte dich in Burgheim. Wie kommst du hierher?«

»Die Frage gebe ich dir zurück,« entgegnete Sonneck ebenso erstaunt. »Was thust du hier? Ich denke, du bist in der Residenz.«

»Ich bin heute morgen von dort abgereist und es hat Mühe genug gekostet, mich jetzt schon frei zu machen, aber« – er brach plötzlich ab und setzte rasch hinzu: »Hast du Zenaide hierher begleitet?«

»Allerdings. Du weißt es, daß sie hier ist?«

»Ich kam auf ihren Ruf, sie schrieb mir vor einigen Tagen.«

»Um Gottes willen, welche neue Unvorsichtigkeit!« rief Lothar erschrocken. »Will sie denn Marwood immer mehr Waffen gegen sich in die Hand geben? Du warst der letzte, an den sie sich wenden durfte, und du hättest auch nicht kommen dürfen, Reinhart, unter keiner Bedingung!«

Statt aller Antwort zog Reinhart seine Brieftasche hervor und entnahm ihr einen Brief, den er seinem Freunde hinreichte.

»Lies! Und dann sage mir, ob ich da ausweichen oder mit einer Weigerung antworten konnte.«

Sonneck durchflog den Brief und gab ihn dann mit einem Seufzer zurück. »Also deshalb wollte sie anfangs meine Begleitung nicht annehmen, ich mußte sie ihr förmlich aufdrängen! Der Brief klingt allerdings verzweiflungsvoll. Sie ruft dich, ihren ›einzigen Freund‹, zu Hilfe? Ich bin es ihr nicht mehr, seit ich mich den Unmöglichkeiten widersetzte, die sie versuchen wollte. Weißt du, weshalb sie dich rief?«

»Ich errate es nur zu gut, denn sie machte mir schon damals Andeutungen, als ich mich von ihr verabschiedete. Sie will sich um jeden Preis in den Besitz ihres Kindes setzen, es nötigenfalls entführen –«

»Wozu du doch nimmermehr die Hand bieten wirst?« fiel Sonneck heftig ein.

»Nein, denn die Folgen würden mit ihrer ganzen Schwere auf Zenaide selbst zurückfallen. Ihr Gemahl hat ja das Gesetz zur Seite und wird es schonungslos brauchen. – Der abenteuerliche Plan konnte nur in dem Kopfe einer Frau entstehen, die fast bis zum Wahnsinn gebracht ist, und das ist Marwoods Werk! Ihr sogar den Anblick des Kindes zu versagen – es ist eine schändliche Grausamkeit!«

»Ich fürchte, es ist eine planmäßige Berechnung. Er will sie zu einem Gewaltschritte treiben, der sie ihm gegenüber in das vollste Unrecht setzt, um dann seinerseits die Bedingungen der Scheidung zu diktieren und sich seinen Sohn zu sichern. Und er wird seinen Zweck erreichen! Schon deine Nähe kann da ausgebeutet werden; du weißt es ja, was für Klatschereien über dich und Zenaide im Umlauf sind.«

»Ja, ich weiß es,« sagte Ehrwald einsilbig.

Sonnecks Blick ruhte auf ihm, mit einem geheimen, angstvollen Forschen; er hätte alles darum gegeben, wenn Reinhart sich jetzt das Geständnis seiner Liebe zu Zenaide hätte entreißen lassen und ihm die Gewißheit gegeben hätte, daß jene letzten Worte Helmreichs nur eine aberwitzige Einbildung gewesen seien; aber Reinharts Züge blieben unbewegt, es ließ sich nichts darin lesen.

»Es ist nur ein Glück, daß ich hier bin – mit Elsa,« hob Lothar wieder an, er sprach den Namen ganz unvermittelt aus.

»So? Deine Frau hat dich begleitet?« fragte Reinhart kühl.

»Ja, und unser Hiersein kann wenigstens den Vorwand für dein Erscheinen hier geben. Du hast natürlich uns aufgesucht, und wir haben gemeinschaftlich dies Zusammentreffen verabredet! Uebrigens müssen die nächsten Stunden schon irgend eine Entscheidung bringen, denn Zenaide ist trotz aller Abmahnungen nach Malsburg gefahren und man kann sie doch nicht von der Schwelle weisen. – Doch jetzt komm, Reinhart, wir müssen daran denken, dir ein Zimmer zu sichern, das Hotel ist sehr besetzt.«

Sie schritten dem Hause zu, ernst und schweigend, von der hellen Freude, mit der sie sonst beide jedes Wiedersehen begrüßten, war keine Spur mehr geblieben. Ehrwald ahnte ja nichts von jenem unseligen Argwohn, der in die Seele seines Freundes geworfen war und nun verzehrend fortglimmte; aber es lag zwischen ihnen wie ein kalter Schatten. – – –

 

Inzwischen rollte der Wagen, in dem sich Lady Marwood befand, am Seeufer dahin. Man war bereits im September, aber es war ein glühend heißer Tag, wie mitten im Hochsommer. Die Sonne brannte und blitzte auf der weiten Wasserfläche, und drüben an den Bergen sammelte sich dunkles Gewölk, das auf ein Spätgewitter hinzudeuten schien.

Malsburg, die Hartleysche Besitzung, lag nur eine halbe Stunde entfernt. Es war eine große Villa, inmitten eines weiten schattigen Parkes, alles im vornehmsten Stil gehalten. Zenaide übergab dem Diener, der bei der Anfahrt des Wagens herbeieilte, ihre Karte und ließ sich bei dem Herrn des Hauses melden. Nach einigen Minuten erschien denn auch der ehemalige Lieutenant Hartley, jetzt ein stattlicher, ernster Mann, und begrüßte die Dame, zwar mit vollster Artigkeit, aber doch mit kaum verhehlter Verlegenheit und Bestürzung.

»Ah, Mylady, Sie selbst? Wir sind sehr erfreut – leider befindet sich Mistreß Hartley nicht wohl und ist außer stande –«

»Ich bedauere!« schnitt ihm Zenaide das Wort ab. »Ich will durchaus nicht stören, Mister Hartley; mein Besuch gilt nur meinem Sohne, der sich in Ihrem Hause befindet und den ich zu sehen wünsche.«

»Mylady, ich weiß nicht –«

»Den ich zu sehen wünsche!« wiederholte sie mit vollem Nachdruck. »Ich bitte, mich zu ihm zu führen.«

Hartley sah in das Antlitz der schönen Frau, der auch er einst gehuldigt hatte. Ja, sie war noch blendend schön, aber eine andere war sie geworden, und jetzt stand in ihrem Antlitz ein Zug verzweiflungsvoller Entschlossenheit, der ihm zeigte, daß hier jede Ausflucht umsonst sei.

»Percy ist in der Obhut seines Vaters,« entgegnete er, »und Sie wissen ja, welchen Standpunkt Francis einnimmt. Ich fürchte, Sie haben sich umsonst bemüht, Mylady. Ich selbst bin leider außer stande –«

»Soll das etwa heißen, daß Sie mir den Eintritt in Ihr Haus versagen?« fuhr Zenaide auf.

»Mylady, ich bitte Sie –« die Stimme des Hausherrn klang in peinlichster Verlegenheit. »Wie können Sie meine Worte so auffassen! Ich glaube doch Herrn Sonneck bewiesen zu haben, wie gern ich bereit bin, Ihnen meine Dienste anzubieten, aber ich habe wirklich nicht das Recht, hier eigenmächtig zu handeln, gegen den Willen Ihres Gemahls. Sie werden sich an ihn selbst wenden müssen.«

»Gut, so benachrichtigen Sie ihn von meiner Ankunft! Ich war gefaßt auf diese Begegnung, als ich hierher kam.«

Hartleys Miene verriet, daß er diese Begegnung fürchtete; doch es blieb ihm nichts übrig, als sich der mit so großer Bestimmtheit ausgesprochenen Forderung zu fügen. Er verneigte sich daher und bot der Dame den Arm, um sie in das Haus zu führen. Hier geleitete er sie in einen Salon und ging dann unverzüglich zu seinem Freunde.

Zenaide hatte sich niedergelassen, aber schon in der nächsten Minute sprang sie auf und trat an das Fenster, um es gleich darauf wieder zu verlassen. Die lächelnde, sonnige Schönheit der Landschaft da draußen erschien ihr wie ein Hohn. In fieberhafter Unruhe begann sie in dem Gemach auf und nieder zu schreiten, man sah es, daß sie zum Aeußersten entschlossen war. Sie hatte es ja gewußt, daß sie sich das Wiedersehen mit ihrem Kinde erst werde erkämpfen müssen – nun gut, sie war zum Kampfe bereit!

Da öffnete sich die Thür und Lord Marwood erschien auf der Schwelle. Er war noch immer ein schöner Mann, fast unverändert in seiner äußeren Erscheinung, vornehm, kalt, hochmütig wie sonst, nur daß sich diese Kälte und dieser Hochmut noch schärfer ausprägten als früher, und jetzt vollends lag in seiner Haltung eine eisige Unnahbarkeit.

Er machte seiner Gemahlin eine Verbeugung, so förmlich und abgemessen, als stünde er einer völlig fremden Dame gegenüber. Sie erwiderte den Gruß nicht und sprach auch nicht, nur ihre Augen waren voll und finster auf den Mann gerichtet, der noch ihr Gatte hieß und der Vater ihres Kindes war. Er nahm zuerst das Wort.

»Sie wünschen mich zu sprechen, Mylady, wie ich von Hartley höre. Darf ich fragen, was mir die Ehre dieses unerwarteten Besuches verschafft?«

»Wollen wir uns die Komödie nicht lieber ersparen?« fragte Zenaide herb. »Sie haben mir keine Wahl gelassen und wich gezwungen, meinen Sohn hier bei Ihnen aufzusuchen, haben mich zu dieser Begegnung gezwungen, von der ich befreit zu sein hoffte für alle Zeit. Sie erraten wohl, was mich das kostet – gleichviel, ich bin hier und will meinen Percy sehen! Ich fordere mein Recht, das Recht der Mutter, das Sie mir bisher in so unerhörter Weise versagt haben und das kein Gesetz mir abstreiten kann!«

»Das wäre doch noch die Frage,« entgegnete Marwood kalt. »Als Sie England verließen, freiwillig verließen, da leisteten Sie Verzicht auf Ihre Rechte als Gattin und Mutter und es steht bei mir, ob ich sie noch anerkennen will.«

»Und das sagen Sie mir!« rief Zenaide mit sprühenden Augen. »Sie, der mich zu diesem Schritte getrieben hat? Ja, ich bin einem Leben entflohen, das für mich zur Hölle geworden war – durch Sie! Ich habe die Fesseln zerrissen, mit denen Sie mich an die Welt ketteten, der Sie angehören, wo jede warme Regung, jedes Gefühl erstickt wird in kalten lügenhaften Formen. Hätte ich ahnen können, daß Sie das benutzen würden, um mir mein Kind zu nehmen, vielleicht hatte ich trotz alledem diese Hölle ertragen.«

Marwoods Antlitz blieb völlig unbewegt bei diesem leidenschaftlichen Ausfall und auch seine Stimme verriet nicht die mindeste Erregung, als er erwiderte: »Sie sind sehr aufrichtig, Mylady, aber Sie lieben es nun einmal, sich in excentrischen Ausdrücken zu ergehen. Jedenfalls haben Sie kein Recht, sich über diese ›kalten lügenhaften Formen‹ zu beklagen, denn Sie haben sich von jeher in einer Weise darüber hinweggesetzt, die der Gesellschaft immer wieder von neuem Veranlassung gab, mich wegen meiner Wahl – zu bedauern.«

»Die Gesellschaft, jawohl!« Zenaide lachte bitter auf. »Das ist für Sie das einzig Maßgebende in der Welt, und daß ich diese hochmütige englische Gesellschaft stets verachtet habe, das verzeihen Sie mir nicht! Weshalb warben Sie um mich mit solcher Beharrlichkeit? Sie wußten es ja, daß ich Sie nicht liebte, ich habe Ihnen nie ein Hehl daraus gemacht, und doch setzten Sie alles daran, mich zu gewinnen. Sie haben mich nie geliebt, Francis, jetzt hassen Sie mich und ich gebe Ihnen den Haß zurück aus vollster glühender Seele, denn Sie haben mich jahrelang gepeinigt und gemartert mit diesem kalten Hohn, der darauf berechnet war, mich zur Verzweiflung zu treiben! Sie haben es dahin gebracht, daß ich dem Tage fluchte, wo ich meine Hand in die Ihrige legte, daß ich diese unselige Ehe –«

»Mylady, ich bitte Sie, keine Scenen!« unterbrach sie der Lord. »Das ist allerdings Ihre stärkste Seite, aber ich verabscheue sie nun einmal. Wozu denn überhaupt diese Vorwürfe? Wir sind ja vollkommen einig in dem Wunsche, unsere längst getrennte Ehe nun auch gesetzlich aufzuheben, und ich komme Ihnen darin durchaus entgegen. Sie wissen, ich stelle nur eine einzige Bedingung.«

Aus seinen Worten und seiner ganzen Haltung sprach in der That der »kalte Hohn«, gegen den seine Gemahlin sich so aufbäumte. Man begriff es nur zu sehr, daß dieser Mann die leidenschaftliche Frau zu einem Verzweiflungsschritte getrieben hatte. Sie brach auch jetzt mit furchtbarer Heftigkeit aus: »Sprechen Sie mir nicht von dieser unmöglichen, dieser schmachvollen Bedingung! Ich soll jedem Anspruch auf meinen Sohn entsagen? Bin ich eine Verbrecherin, die das Recht verwirkt hat, ihn in die Arme zu schließen? Ich gäbe sonst alles darum, frei zu werden von der Kette, die mir noch am Fuße klirrt, aber um diesen Preis – nimmermehr!«

»Ueberlegen Sie sich die Sache, Mylady,« sagte Marwood eisig. »Jetzt stelle ich Ihnen noch die Wahl, und wenn Sie nachgeben, vollzieht sich unsere Scheidung mit gegenseitiger Einwilligung, ohne peinliche Zwischenfälle. Im andern Falle würde ich diese Bedingung gerichtlich stellen und mich auf das Gesetz berufen müssen. Sie haben mein Haus verlassen, gegen meinen Willen, und sind jahrelang fern geblieben, und die Art, wie Sie diese eigenmächtig genommene Freiheit brauchten, wird nicht gerade zu Ihren Gunsten sprechen in dem Scheidungsprozeß. Ich bin sehr genau unterrichtet darüber.«

»Haben Sie mich vielleicht mit Spionen umgeben?« fragte Zenaide verächtlich. »Es scheint beinahe so. Ich weiß, daß man allerlei Klatschereien und Verleumdungen über mich ausgestreut hat – man hat gelogen!«

»Das wäre doch erst noch zu beweisen.«

»Glauben Sie Ihren Spionen mehr als den Worten Ihrer Gemahlin? Ich sage Ihnen, man hat gelogen!«

Der Lord zuckte statt aller Antwort die Achseln. »Wir wollen jetzt nicht darüber streiten, kommen wir auf die Hauptsache zurück! Sie haben doch wohl nie daran gezweifelt, daß ich meinen Sohn und Erben, den Stammhalter meines Hauses, selbst zu erziehen und ihn nicht von meiner Seite zu lassen gedenke. Sie haben Percy seit Jahren nicht gesehen und es dürfte Ihnen auch jetzt nicht schwer werden, darauf zu verzichten – Sie haben ja vollen Ersatz.«

»Ersatz? Wofür? Was meinen Sie?«

Um Marwoods Lippen spielte ein unglaublich verletzendes Lächeln. »Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich genau unterrichtet bin. Ich meine den Helden Ihrer romantischen Jugendliebe, der jetzt wieder aufgetaucht ist. Beruhigen Sie sich, ich bin nicht eifersüchtig, bin es eigentlich nie gewesen; ich fand es nur vermessen, daß der kecke junge Glücksritter seine Augen so hoch erhob. Nun, er hat ja wirklich Glück gehabt in der Welt, er ist zu einer Berühmtheit geworden, und Sie sind frei, sobald Sie es wollen. Ich glaube, es kostet Ihnen nicht viel Ueberwindung, den Namen und Rang einer Lady Marwood mit dem einer – Frau Ehrwald zu vertauschen. Sie waren nie aristokratisch angelegt.«

Zenaide erwiderte keine Silbe, nur ihre Augen flammten drohend dem Manne entgegen, der sie mit jedem Worte, jedem Blicke verletzte. Sie raffte den letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung zusammen.

»Genug! Machen wir ein Ende mit dieser Unterredung. Ich kam nicht, um mit Ihnen zu streiten, meinen Sohn will ich sehen – hören Sie, ich will! Und wenn Sie es mir jetzt noch verweigern, dann dringe ich gewaltsam in sein Zimmer und will doch sehen, ob man es wagen wird, die Mutter von seiner Schwelle fortzuweisen.«

Es lag eine so wilde Energie in den Worten, daß der Lord einsah, er könnte seine Weigerung nicht aufrecht erhalten, wenn er nicht eine peinliche Scene heraufbeschwören wollte, und er verabscheute ja die Scenen, zumal hier in dem fremden Hause, wo er nur Gast war. Er gab nach, aber um seine Lippen spielte ein kaltes, grausames Lächeln, das nichts Gutes verhieß.

»Es sei, da Sie darauf bestehen! Ich hole Percy.«

Er ging, Zenaide preßte beide Hände gegen die Brust und atmete tief auf. Nun war es endlich erzwungen, sie sollte ihr Kind, das sie jahrelang entbehrt hatte, wieder in die Arme schließen. Und dann? Sie dachte nicht über dies »dann« nach, für sie drängte sich alles zusammen in dem einen Gedanken des Wiedersehens.

Nach etwa zehn Minuten kehrte Marwood zurück, den kleinen Percy an der Hand. Der siebenjährige Knabe war ein schönes Kind, hatte aber auch nicht einen einzigen Zug von seinem Vater. Das tiefschwarze Haar und die großen dunklen Augen gehörten nicht dem blonden, helläugigen Geschlechte der Marwoods an, und so kindlich das Gesicht auch noch war, es verriet doch schon eine unverkennbare Aehnlichkeit mit dem der Mutter. Man hatte es dem Kleinen wohl gesagt, daß man ihn zu seiner Mutter führe, aber er schien keine Erinnerung mehr an sie zu haben, denn er blickte scheu und fremd zu ihr hinüber und schmiegte sich fest an den Vater.

Zenaide aber vergaß beim Anblick ihres Sohnes alles andere. Mit dem Aufschrei: »Percy, mein Percy!« stürzte sie auf ihn zu, riß ihn in ihre Arme und bedeckte ihn mit heißen Küssen. Der Knabe, überrascht und bestürzt, duldete das im ersten Augenblick, dann aber sträubte er sich gegen die Liebkosungen.

»Laß mich!« rief er und versuchte sich loszumachen. »Laß mich los! Du sollst mich nicht küssen, ich leide es nicht!«

Zenaide zuckte schmerzvoll zusammen bei diesem Tone und dieser Abwehr; aber freilich, das Kind hatte sie ja so lange nicht gesehen, die Mutter war ihm fremd geworden!

»Percy, kennst du mich denn nicht mehr?« schmeichelte sie mit stürmischer Zärtlichkeit. »Ich bin's ja, deine Mama, die dich so grenzenlos lieb hat. O, das sind noch deine großen Augen, das ist dein süßes, süßes Gesichtchen! Mein Kind, mein alles, endlich habe ich dich wieder! Willst du deine Mama nicht lieb haben?«

Sie schloß ihn von neuem in die Arme und überströmte ihn mit leidenschaftlichen Liebkosungen. Die zärtlichen Schmeichellaute schienen in der That in dem Kinde eine Erinnerung an frühere Zeiten zu erwecken, wo die Mutter noch bei ihm weilte, es schaute sie groß an und wandte dann den Kopf fragend nach dem Vater zurück.

Lord Marwood stand einige Schritte entfernt, ohne das Wiedersehen zu stören, und jetzt sagte er, wie zur Antwort auf die stumme Frage: »Gewiß, Percy, es ist deine Mama. Du weißt es ja, daß sie so lange fort gewesen ist.«

Die Worte klangen schneidend scharf und sie mußten wohl eine Bedeutung für den Knaben haben, denn er riß sich plötzlich ungestüm los.

»Nein, ich will dich nicht lieb haben!« rief er zornig. »Du hast mich auch nicht lieb. Du hast mich und den Papa allein gelassen und bist fortgegangen, weit fort. Du bist so bös! Ich will bei meinem Papa bleiben; geh wieder fort, ich mag dich nicht!«

Zenaide war totenbleich geworden, ihr Auge suchte ihren Gatten, der scheinbar ganz unbewegt dastand, aber sie sah den Triumph in seinen Zügen und mit halb erstickter Stimme stieß sie hervor: »Das ist Ihr Werk!«

»Was, Mylady?« gab er eisig zurück. »Daß Percy seinen Vater liebt, der ihn erzog, und nicht die Mutter, die ihn verließ? Ich meine, das ist nur natürlich.«

»Percy, komm zu mir!« rief Zenaide außer sich. »Du sollst zu mir kommen, du mußt mich lieben! Percy, hörst du nicht?«

Es lag eine Todesangst in dem verzweifelten Ausruf, aber der Knabe hörte nur das Gebieterische darin und jetzt flammte sein ganzer Trotz auf.

»Nein – nein!« schrie er mit einer Leidenschaftlichkeit, die nur zu sehr an die Mutter erinnerte, »ich will nicht zu dir! Komm mir nicht nahe!« Und als sie trotzdem versuchte, sich ihm zu nahen, schlug er nach ihr und floh zu seinem Vater, an den er sich anklammerte.

Marwood legte den Arm um seinen »Sohn und Erben« und um seine Lippen spielte wieder dasselbe grausame Lächeln wie vorhin, als er ging, ihn zu holen. Er hatte ja den Verlauf der Sache vorausgewußt.

»Ich glaube, das erledigt unsern Streitpunkt,« sagte er. »Sie werden schwerlich wünschen, daß sich derartige Begegnungen wiederholen. Es muß ja peinlich sein für Sie, und Percy leidet auch darunter. Ich bin überzeugt, jetzt werden Sie auf meine Bedingung eingehen, und dann – ich wiederhole es Ihnen – sind Sie frei und können ganz Ihren Neigungen leben!«

Er hatte kein Erbarmen mit der gequälten Frau und ersparte ihr selbst in diesem Augenblick nicht den hämischen Spott; aber das wurde nicht mehr gefühlt. Zenaide war verstummt, seit sich die kleine Hand dort gegen sie gehoben hatte. Nur ein Blick voll Todesqual fiel noch auf das Kind, dann brach sie zusammen und die furchtbare Erregung machte sich in einem Weinkrampf Luft.

War es jener Blick oder das verzweiflungsvolle Weinen, Percy schien jetzt erst zu fühlen, daß er der Mutter wehegethan hatte. Er blickte erst zu dem Vater empor, dann zu ihr hinüber und sagte endlich scheu und leise: »Mama weint!«

Der Lord runzelte die Stirn; Krämpfe und vielleicht gar Ohnmachten, das fehlte nur noch! Wollten die Scenen denn gar kein Ende nehmen? Er trat zu seiner Gemahlin.

»Ich bedaure, Mylady. Ich hatte gewünscht, Ihnen diesen Auftritt zu ersparen, aber Sie haben ihn erzwungen. Ich fürchte, daß meine Nähe Ihnen jetzt peinlich ist, und will Sie davon befreien. Komm, Percy!«

Er nahm die Hand seines Sohnes und wollte ihn hinausführen, aber Percy zögerte. Er blickte noch immer zu der Mutter hinüber und wiederholte fast bittend: »Mama weint so sehr!«

Die Falte auf der Stirn Marwoods vertiefte sich, er zuckte die Achseln.

»Mama ist unwohl, wir werden ihr Hilfe senden,« sagte er kurz und zog den Knaben mit sich fort; dieser folgte auch, aber auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um und sah zurück. Es war, als habe das Kind eine Ahnung von der Grausamkeit, die bis auf den Tod verwundete Frau jetzt allein zu lassen. –

Es war Nachmittag geworden. In Malsburg war man soeben vom Tische aufgestanden, Mistreß Hartley hatte sich zurückgezogen und die beiden Herren gingen auf der Terrasse auf und nieder, während Percy mit dem großen Bernhardiner spielte. Bei Lord Marwood hatte die erregte Scene, die vor einigen Stunden hier stattgefunden, anscheinend gar keinen Eindruck hinterlassen, er gab sich mit voller Behaglichkeit dem Genuß seiner Cigarre hin. Hartley dagegen war ernst und nachdenklich und es lag ein Vorwurf in seiner Stimme, als er jetzt sagte: »Ich fürchte, du bist sehr hart gewesen, Francis. Lady Marwood sah furchtbar aus, als ich sie zum Wagen geleitete.«

»Ich bin nur fest geblieben und das ist solchen excentrischen Naturen gegenüber eine unbedingte Notwendigkeit,« erklärte Francis gelassen. »Diesem ewigen Stürmen und Drängen nach dem Kinde mußte endlich einmal ein Ende gemacht werden.«

Hartleys Miene verriet, daß er mit seinem Freunde nicht einverstanden war, aber er schwieg und hob erst nach einem kurzen Stillschweigen wieder an: »Du willst also die Scheidung jetzt unverzüglich einleiten?«

»Gewiß, sobald ich nach England zurückgekehrt bin. Jetzt brauche ich mir den Alleinbesitz Percys nicht erst gerichtlich zu erstreiten und die Scheidung vollzieht sich ohne jeden Skandal – das ist die Hauptsache.«

Für Lord Marwood schien dies wirklich die Hauptsache zu sein. Er sah ungemein befriedigt aus, als er die blauen Wölkchen seiner Cigarre in die Luft blies, und ruhig zu einem andern Thema übergehend, fuhr er fort: »Wie steht es denn mit unserer Bootsfahrt? Es wird nun wohl Zeit dazu, die Hitze hat ja nachgelassen und jetzt macht sich der Wind auf, gerade recht zum Segeln.«

Hartley blickte nach den Bergen hinüber, die sich immer mehr verschleierten, dann entgegnete er etwas bedenklich: »Da drüben scheint sich ein Wetter zusammenzubrauen, und wenn der Wind umspringt, faßt es uns gerade auf dem See.«

»Thorheit! Das Wetter droht schon den ganzen Tag und hier auf dem friedlichen Alpensee hat es doch überhaupt keine Gefahr.«

»Unser See ist nicht so harmlos, wie du glaubst. Du hast ihn noch nicht im Sturme gesehen; dann ist er so tückisch und gefährlich wie das Meer. Indessen, wenn du Lust hast, ich bin bereit; aber ich denke, wir lassen Percy diesmal zu Hause.«

»Weshalb? Er freut sich immer so auf die Bootsfahrt.«

»Aber wenn sie stürmisch wird –«

»Nun, dann lernt er das eben kennen. Ich will keinen Weichling aus meinem Sohn machen, er hat ohnehin Anlage dazu, von der Mutter her.«

»Es wird auch nichts zu sagen haben,« meinte Hartley, mit einem nochmaligen prüfenden Blick auf das Gewölk, »und im Notfall können wir anderswo anlegen.«

»Ich werde nach dem Boote sehen,« sagte Marwood. »Geh hinauf, Percy, und laß dich fertig machen, wir fahren bald.«

Er schritt die Stufen hinunter und ging nach dem Strande, wo das Boot lag. Hartley folgte ihm, blieb aber noch einen Augenblick bei dem kleinen Percy stehen, der heut' ungewöhnlich still war. Er jagte sich nicht wie sonst lustig mit dem Hunde umher, sondern streichelte ihn nur, und dabei waren seine Augen mit einem träumerischen Ausdruck auf den Weg gerichtet, der am Ufer hinführte.

»Nun, Percy, jetzt geht es auf den See hinaus, du liebst das ja so sehr,« sagte Hartley. Der Knabe pflegte das sonst stets mit hellem Jubel zu begrüßen, diesmal aber nickte er nur stumm, zur Verwunderung des Hausherrn, der befremdet fragte: »Was hast du denn heute, mein Junge?«

»Papa hat mich gescholten, weil ich von Mama sprach,« sagte Percy halblaut, und plötzlich drängte er sich dicht an Hartley und fragte dringend: »Ist es wahr, daß Mama so böse ist, daß sie mich gar nicht lieb hat? Sie hat doch so sehr geweint.«

Hartleys Stirn verfinsterte sich, er strich über das Haar des Knaben und sagte begütigend: »Frage nicht, Percy, das sind Dinge, die du noch nicht verstehst. Geh jetzt hinauf und hole dir dein Matrosenhütchen, und wenn ich neben dir sitze, darfst du auch das Steuer halten.«

Darüber pflegte Percy sonst entzückt zu sein. Er war ungemein stolz, wenn er die Hand am Steuer haben und sich einbilden konnte, das Schiff zu lenken; aber heute verfing auch das nicht. Die großen Augen des Kindes blickten wieder träumerisch in die Ferne und leise und traurig wiederholte es: »Mama hat so sehr geweint!«

 

Das Wetter war heraufgekommen, ein Spätgewitter, das von den Bergen heranzog und jetzt gerade über dem See stand, wo es sich mit voller Macht entlud. Dabei hatte sich ein Sturm aufgemacht, der in seiner Heftigkeit schon der Vorbote des nahenden Herbstes zu sein schien, und die vor wenig Stunden noch so lachende, sonnige Landschaft lag jetzt dicht verschleiert im Regensturm.

Der sonst so friedliche See war in der That tückisch und gefährlich bei solchem Wetter, das wußten alle, die mit ihm vertraut waren, und die zahlreichen Boote, die sich auf der weiten Wasserfläche befanden, flohen denn auch beim ersten Anzeichen der Gefahr mit vollen Segeln den Ufern zu. Es war nicht leicht, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, denn der Sturm brach fast plötzlich los, und der große Dampfer, der in der Nähe des Hotels seine Haltestation hatte, kam erst nach einem heftigen Kampfe mit den Wogen und mit genauer Not an das Ufer. Dort landete er die geängstigten Passagiere, aber die nächste Fahrt mußte unterbleiben, das Schiff blieb einstweilen liegen. Auch im Hotel war alles von der Terrasse in das Haus geflüchtet und die Gäste blickten von den Fenstern auf den See, der in seinem wilden Toben ein schauerlich schönes Bild bot.

Nur in einem Zimmer sah und hörte man nichts davon, Lady Marwood hatte sich seit ihrer Rückkehr von Malsburg eingeschlossen und war den ganzen Nachmittag hindurch unsichtbar geblieben. Sonneck und Ehrwald, die sie bei der Ankunft empfingen, erschraken bei ihrem Anblick; aber sie wehrte jede Frage ab und nicht einmal Elsa durfte bei ihr bleiben, sie wollte allein sein.

Erst gegen Abend hatte sie Reinhart zu sich rufen lassen. Er stand jetzt vor der Frau, die wie gebrochen in einem Sessel lag und matt und tonlos sagte: »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, aber es bedarf dessen nicht mehr. Ich wußte mir keinen Rat in meiner Verzweiflung und der kluge, weise Sonneck bewies mir ja immer wieder von neuem, daß alle meine Pläne unsinnig, unmöglich, unausführbar seien. Sie wären nicht davor zurückgeschreckt, ich weiß es. Sie hatten mir geholfen – das ist jetzt zu Ende!«

»Sie haben eine Begegnung mit Lord Marwood gehabt?« fragte Reinhart.

»Ja!«

»Und Sie haben Ihr Kind gesehen?«

»Ja, mein Kind, das man gelehrt hat, seine Mutter zu hassen! Es wandte sich von mir, weil ich ›so bös bin‹, es riß sich aus meinen Armen und schlug

In dem Ausruf lag ein so grenzenloses Weh, daß Reinhart unwillkürlich die Hand ballte. »Der Elende!« murmelte er.

»Nicht wahr, das haben Sie auch nicht geglaubt?« fragte Zenaide mit zuckenden Lippen. »Er – Marwood – forderte meinen Verzicht auf Percy als Preis meiner Freiheit. Ich bäumte mich auf dagegen und erklärte, nun und nimmermehr einzuwilligen – er hat trotzdem gesiegt. Ich werde den Preis zahlen, mein Kind ist mir ja doch verloren!«

Sie barg das Gesicht in den Händen und brach in ein wildes thränenloses Schluchzen aus; es schien, als wollte der Weinkrampf sich wiederholen. Ehrwald trat rasch zu ihr und beugte sich über sie.

»Zenaide, Fassung, Ruhe! Sie töten sich ja mit diesen endlosen Aufregungen! Ich habe es gefürchtet, daß diese Begegnung so endigen würde, ich eilte hierher, um Sie zurückzuhalten, und kam zu spät. Zenaide, hören Sie mich nicht?«

Seine Stimme und seine Nähe übten die alte Macht über sie aus, ihr krampfhaftes Schluchzen wurde zu einem leisen Weinen und willenlos überließ sie ihm ihre Hand, die er ergriffen hatte und fest in die seinige schloß, während er fortfuhr: »Sie hätten es ahnen können, daß Marwoods Feindseligkeit Ihnen nicht einmal die Liebe Ihres Kindes lassen würde – nun aber reißen Sie sich auch los von diesem Manne, um jeden Preis! Retten Sie sich Ihre Freiheit und wenn Sie sie todeswund erringen! In den Ketten stirbt man an der Wunde – in der Freiheit kann man davon genesen.«

Er sprach mit leidenschaftlicher, glühender Teilnahme. Er maß sich ja die Schuld bei an dem Unglück der Frau, die, als sie ihm entsagen mußte, den Verzweiflungsschritt that und diese Ehe schloß. Aus jedem Worte sprach die Angst um sie, das stürmische Verlangen, sie von der selbstgeschmiedeten Kette zu lösen. Zenaide sah und fühlte das und mitten durch Weh und Schmerz dämmerte es ihr auf wie die Verheißung eines fernen Glücks.

»Genesen?« wiederholte sie. »Können Sie mir dazu helfen, Reinhart?«

»Wenn ich es könnte! Aber, Sie wissen es ja, ich muß fort, schon in den nächsten Wochen verlasse ich Europa.«

»Und ich mit Ihnen! Ich bleibe nicht länger auf diesem Boden.«

Sie schien sich plötzlich zu diesem Entschluß aufzuraffen. Ehrwald hatte ihre Hand losgelassen und sah sie betroffen und fragend an.

»Sie wollten zurückkehren –?«

»Nach Kairo, ja! Was glauben Sie denn, das mich festgehalten hat in diesem kalten, rauhen Norden? Ich wollte nicht eine so endlose Weite zwischen mich und Percy legen, ich wollte mir die Möglichkeit wahren, ihn wiederzusehen. Was soll ich jetzt noch hier? Ich kehre zurück in meine Heimat, in mein Sonnenland – unser Weg ist der gleiche.«

»Ich gehe in das Innere Afrikas, Zenaide,« sagte Reinhart ernst. »Es kann Jahre dauern, ehe ich wieder nach der Küste zurückkehre.«

»Ich weiß,« entgegnete sie leise. »Ich werde lange, lange allein sein und ich muß ja auch erst losgesprochen werden von jenem Band. Aber ich will geduldig harren, auf meine Freiheit und – auf dich!«

Ehrwald erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie sah es nicht, denn in ihren Augen standen noch die heißen Thränen, als sie weiter sprach: »Du hast es ja nicht ausgesprochen, nicht aussprechen wollen, was wir doch beide wußten, und ich habe dir oft gezürnt deswegen. Doch du hattest recht – nun können wir uns ohne Vorwurf in die Augen sehen. Jetzt aber, wo wieder eine Trennung über uns verhängt wird, wo du wieder hinausziehst in Kampf und Gefahr, jetzt muß es doch gesagt werden!«

Draußen jagten die schwarzen Gewitterwolken an den Fenstern vorüber, sie hüllten das Gemach in halbe Dämmerung und warfen ihren düstern Schatten auf das Antlitz des Mannes, in dem es zuckte wie innerer Kampf und mühsam verhaltene Qual. Nun sollte er sprechen und der Frau, die so fest an seine Liebe glaubte, die sich daran klammerte wie an einen Rettungsanker, den Todesstoß geben! Sie war in diesem Augenblick so ganz wieder die Zenaide von einst, das holde Geschöpf, das noch unberührt von all den Stürmen, welche die Zukunft barg, mit so sehnsüchtigen Augen in das Leben hinausblickte und auf das Glück wartete. Es lag eine unendlich weiche, rührende Hingebung in ihrem ganzen Wesen, als sie, ohne sein seltsames Verstummen zu bemerken, sich erhob und zu ihm trat.

»Du hast mich geliebt, Reinhart, du hast um mich geworben, aber dein harter, böser Stolz wollte sich nicht beugen, und das haben wir beide so schwer büßen müssen. Nun stehst du ja auf der einst erträumten Höhe und kannst deiner Zenaide die Hand bieten, die sie schon damals so gern, ach, so gern genommen hätte, als der junge, unbekannte Fremdling sie ihr bot. Diese Erinnerung allein hat mich ja festgehalten im Leben, in jener furchtbaren Zeit, wo ich an allem verzweifelte, sie allein hat mich bewahrt vor der Versuchung, wenn ich sah, daß so viele mir zu Füßen lagen, und ich war so grenzenlos allein. Du glaubst der Verleumdung nicht, Reinhart, ich weiß es, du glaubst mir, wenn ich dir sage, daß ich es wert bin, dein Weib zu heißen! Nun, so nimm mich hin! Ich habe ja nichts mehr auf der Welt als dich allein – dich und deine Liebe!«

Durch das Zimmer zuckte ein greller Blitz und ein lang anhaltender Donner rollte über den See hin. Reinhart hatte sich emporgerichtet, noch ein tiefer, qualvoller Atemzug rang sich aus seiner Brust empor, dann sagte er fest: »Zenaide – ich kann nicht lügen!«

Was war das für eine seltsame Antwort? Zenaide bebte zusammen und sah ihn groß und fragend an. Er zögerte noch eine Sekunde lang, dann kam das Geständnis dumpf und leise von seinen Lippen: »Ich weiß es, was du mir mit deiner Hand bietest, weiß, was ich zum zweitenmal verliere. Vielleicht sollte ich es trotz alledem an mich reißen und dich in deinem Wahn lassen, aber ich will dich nicht mit einer Lüge erkaufen. Du forderst von deinem künftigen Gatten die volle, heiße Liebe, und die kann ich dir nicht geben – ich liebe eine andere!«

Nun war es ausgesprochen. ... Es folgte eine lange, schwere Pause, draußen zuckten die Blitze unaufhörlich und um das Haus tobte der Gewittersturm. Hier drinnen aber war es totenstill geworden. Zenaide fuhr nicht auf, regte sich nicht, sie stand da, als habe eine Eiseshand sie berührt und alles, was von Leben in ihr war, erstarren lassen.

»Nun weißt du es,« hob Ehrwald endlich wieder an. »Ich war dir die volle Wahrheit schuldig, und wenn sie grausam ist – Zenaide, hörst du mich nicht?«

Sie strich langsam mit der Hand über die Stirn, als wollte sie die Gedanken zurückrufen, und wiederholte mechanisch, mit völlig ausdrucksloser Stimme: »Ja, ich höre – du liebst eine andere – wer ist es?«

»Erlaß mir das, ich bitte dich! Ich werde sie nie besitzen, sie ist unnahbar, unerreichbar für mich, und wenn ich jetzt hinausziehe in die Ferne, sehe ich sie niemals wieder. Verzeih mir dies Geständnis – ein Glück hast du mir nicht zu verzeihen, es ist mir verloren wie dir.«

Zenaide stand noch immer da und sah ihn an, als wollte sie in seinem Gesichte den Namen lesen, den er ihr verschwieg, auf einmal aber zuckte die Wahrheit vor ihr auf.

»Elsa!« schrie sie auf. »Sie ist es!«

Er schwieg und senkte den Blick zu Boden.

»Sprich, ich will es wissen! Du liebst Elsa?«

»Ja – das Weib meines Freundes! Und schon der Traum von Glück ist Verrat an ihm. Ich muß fort, für immer.«

Zenaide raffte ihre ganze Kraft zusammen, sie wollte nicht zusammenbrechen vor seinen Augen.

»Geh!« sagte sie kaum hörbar. »Laß mich allein!«

Er trat wie in aufflammender Reue einen Schritt näher.

»Hätte ich schweigen sollen? Bin ich denn dazu verdammt, dir immer nur Weh und Schmerz zu bringen – es ist wie ein Verhängnis zwischen uns!«

»Geh!« wiederholte Zenaide mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit. »Verlaß mich! Ich kann nicht mehr! Sei barmherzig und laß mich allein!«

Reinhart sah es in der That, daß er ihr jetzt nicht nahen durfte. Gehorchen war die einzige Schonung, die er üben konnte; er wandte sich zum Gehen.

»Vergib – ich konnte nicht anders – lebe wohl!«

Die Thür schloß sich hinter ihm, Zenaide war allein. Aber diesmal folgte kein leidenschaftlicher Ausbruch, dieser letzte, schwerste Schlag hatte zerschmettert, was noch von Kraft in ihr war.

Diese nie vergessene, nie überwundene Jugendliebe hatte sie wie ein Heiligtum in ihrem Innern gehütet, und so bitter sie Reinharts Stolz anklagte, der die Trennung verschuldet hatte, an seiner Liebe hatte sie nie gezweifelt, daran hatte sie fest und unverbrüchlich geglaubt. Nun lag auch das in Trümmern – sie fühlte es in diesem Augenblick, er hatte sie nie geliebt!

Also Elsa! Sie hatte ihn die Leidenschaft kennen gelehrt. Freilich, er hatte ja schon unbewußt das schöne wilde Kind geliebt, weil es ihm widerstand, weil es ihm trotzte, und jetzt liebte er die schöne herbe Gattin seines Freundes, die ihm so eisig kalt gegenüberstand. Sie war ihm verloren, aber er opferte ihr doch die Frau, die ihm mit so grenzenloser Hingebung ihr ganzes Dasein bot, er wollte kein anderes Glück.

Der Sturm riß plötzlich das nicht fest geschlossene Fenster auf, die Flügel schlugen klirrend auseinander und der Regen sprühte herein. Zenaide blickte auf, sie erhob sich langsam und schritt dorthin. Ihre großen, dunklen Augen leuchteten geisterhaft aus dem totenblassen Antlitz, als sie sich an das Fenster lehnte und hinausblickte auf den stürmenden See ... Wie wild die Wogen brausten und schäumten! ... Aber unter ihnen war die Tiefe – die Ruhe!

Es war nicht das erste Mal, daß Zenaide Marwood diesen zugleich lockenden und drohenden Stimmen Gehör gab. Sie raunten in ihr oft genug und suchten sie in einen Bannkreis zu ziehen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab, aber sie verstummten immer wieder vor einer Erinnerung, die nie erloschen war. Das junge Mädchen hatte auch einst geträumt von einem großen, endlosen Glück, und es war ja auch erschienen, wie eine leuchtende Fata Morgana – und wieder entschwebt. Aber die Sehnsucht danach war geblieben und flüsterte immer wieder, daß es noch nicht zu Ende sei, daß das Glück wiederkehren werde mit dem, der es mit sich genommen hatte in weite Ferne. Nun war der Mann ihrer Liebe zurückgekehrt und mitten aus Weh und Schmerz tauchte das Traumbild wieder auf, goldig und verklärend. Sie streckte die Arme danach aus, sie wollte sich daran klammern – da zerfloß höhnend das Truggesicht und sie war allein, allein in der pfadlosen Wüste!

Zenaide richtete sich empor mit der Ruhe eines unabänderlichen Entschlusses. Sie fühlte in diesem Augenblick nichts mehr von der Qual der letzten Stunden, in ihr war alles leer und tot. Nur einmal noch zuckte ein dumpfes Weh auf, als sie nach Malsburg hinüberblickte, wo ihr Kind sich so ungestüm aus ihren Armen gerissen, wo seine Hand sich zum Schlage gegen sie erhoben hatte. Nun, Percy sollte seine Mutter nicht mehr hassen, man würde es ihm ja bald sagen, daß sie tot sei!

Sie holte aus dem Nebenzimmer ihren dunklen Reisemantel, hüllte sich darein, zog die Kapuze fest über den Kopf, um möglichst unerkannt zu bleiben, und trat dann den letzten Gang an.

 

In der Veranda des Seehotels, die sich an die Terrasse anschloß, standen Sonneck und Elsa im Gespräch mit einem Manne in Schiffertracht. Es mußte wohl irgend etwas Besonderes sein, was sie hier draußen in der halboffenen Halle festhielt, wo Wind und Regen hereinschlugen. Die junge Frau hatte zum Schutze dagegen ihr Plaid umgeworfen und blieb an der Seite ihres Gatten, der mit besorgter Miene unverwandt durch das Fernglas blickte.

Der See bot jetzt ein Bild entfesselter Wildheit, der Sturm wühlte ihn auf in allen seinen Tiefen. Die Bergeskette drüben war völlig unsichtbar geworden, und die nahen Villen und Ortschaften lagen kaum erkennbar im Regenschleier. Unaufhörlich stürmten die Wogen gegen die hochgelegene Terrasse, schlugen über die Brüstung und zerrannen zischend auf den Steinfliesen.

»Sie müssen die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt haben,« sagte Sonneck soeben, »oder sie hofften, die Rückfahrt noch erzwingen zu können. Glauben Sie wirklich, daß es das Boot des Mister Hartley ist?«

Der Mann, an den die letzten Worte gerichtet waren, nickte bestätigend. Es war der Schiffsmeister, der die Aufsicht über die Boote führte, die an der Landungsstelle für die Ausflüge der Fremden bereit lagen.

»Es ist das Boot von Malsburg, ich kenn' es gut. Vor zwei Stunden erst ist es hier vorbeigesegelt, ehe das Wetter heraufkam.«

»Er hat recht,« sagte Lothar, indem er seiner Frau das Fernglas reichte. »Ich sehe die englische Flagge am Mast. Das Schiff kämpft furchtbar mit den Wellen, es versucht, ans Land zu kommen, wird aber immer wieder zurückgeworfen.«

»Die kommen überhaupt nicht mehr an Land, die sind zu weit draußen,« erklärte der Schiffer mit voller Bestimmtheit. »Das Steuer muß ihnen gebrochen sein, denn sie halten ja gar keine Richtung mehr ein.«

»Aber läßt sich denn da keine Hilfe bringen?« fragte Elsa, der das Fernglas jetzt auch die Gefahr des Schiffes zeigte. »Es muß doch möglich sein!«

»Nein, gnädige Frau, das ist nicht möglich. Sie sehen es ja, nicht einmal der Dampfer wagt sich hinaus. Der liegt fest am Ufer und rührt sich nicht, und ein kleines Boot,– ich möchte den sehen, der sein Leben damit wagte, ich thät' es nicht.«

»Es würde auch nichts nützen,« meinte Sonneck kopfschüttelnd. »Das englische Boot ist jedenfalls fester gebaut und hält mehr aus als die kleinen Fahrzeuge da unten. Sie haben es vorhin gesehen, als es vorübersegelte? Wer war darin?«

»Der Herr von Malsburg war es und der englische Lord, der jetzt bei ihm ist. Ich kenne sie alle beide, sie sind ja täglich auf dem See, sind auch tüchtige Segler, aber das hilft ihnen nichts bei solchem Wetter.«

Das Wetter wurde in der That immer schlimmer, aber die Not des Schiffes, des einzigen, das sich jetzt noch auf dem See befand, war nicht unbemerkt geblieben. Der Kapitän des Dampfers stand mit der ganzen Bemannung auf Deck, und am Ufer drängte sich, trotz des strömenden Regens, eine Menge von Leuten zusammen, meist Schiffer, die die Fahrzeuge, welche sonst unten am Strande lagen, höher hinaufgezogen und vor der anstürmenden Flut geborgen hatten. Man rief und schrie einander zu und aller Augen waren auf das gefährdete Boot gerichtet; aber niemand traf Anstalt zu einer Hilfe, die nicht möglich zu sein schien.

Da trat Ehrwald ein, der seinen Freund in dessen Zimmer gesucht hatte und offenbar überrascht war, ihn hier zu finden, wo man kaum vor dem Wetter geschützt war. Sonneck wandte sich rasch zu ihm.

»Du kommst von Zenaide? Sie ließ dich ja rufen; hast du endlich erfahren, was in Malsburg vorgefallen ist?«

»Ja, ich werde es dir später erzählen,« entgegnete Reinhart ausweichend, während er langsam näher trat.

»Und wie geht es Zenaide?« fragte Elsa besorgt. »Jetzt endlich darf ich doch zu ihr? Ich will sofort –«

»Bleiben Sie, gnädige Frau, ich bitte darum,« unterbrach sie Reinhart. »Lady Marwood ist sehr angegriffen, und ich glaube, in ihrer jetzigen Stimmung ist das Alleinsein eine Notwendigkeit für sie.«

Er dachte an das Geständnis, das er vorhin ausgesprochen und wie Zenaide es aufgenommen hatte; jetzt wenigstens mußte ihr der Anblick Elsas erspart bleiben! Die junge Frau sah betroffen und enttäuscht aus, aber ihr Gatte hielt sie gleichfalls zurück.

»Bleib, Elsa, wir müssen erst abwarten, was die nächste Stunde bringt, sie kann alles ändern. Siehst du das Boot da draußen, Reinhart?«

»Ein Boot auf dem See, bei diesem Sturme? Nun, dem gnade Gott!« rief Ehrwald. »Ganz recht, ich sehe es deutlich, es scheint in der äußersten Gefahr zu sein.«

»Jawohl, es ist das Malsburger Schiff, und Marwood und Hartley sind darin, da ist kein Zweifel mehr.«

In äußerster Betroffenheit nahm Ehrwald das Fernglas, das der Freund ihm reichte, und gab es nach einigen Minuten schweigend zurück. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich und in ihren Zügen stand der gleiche Gedanke. Das konnte freilich alles ändern, das Schicksal selbst schien hier einzugreifen; aber so sehr die beiden auch gegen Marwood eingenommen waren, in diesem Augenblick war er ihnen doch nur ein Mensch, der da draußen mit den Wogen um sein Leben kämpfte. Elsa blickte stumm und angstvoll hinaus, während die beiden Herren halblaute Bemerkungen austauschten und der Schiffsmeister hin und wieder eine Erläuterung dazu gab.

»Das Wetter muß doch endlich ein Ende nehmen,« sagte Sonneck, »vielleicht halten sie es so lange aus.«

»Vielleicht! Ich glaub's nicht,« brummte der Schiffer. »Es ist ja ein Unwetter, wie wir es seit Jahren nicht erlebt haben, und was der See da hat, das gibt er nicht wieder her.«

»Hoffentlich sind die beiden Engländer als Sportsleute auch gute Schwimmer,« warf Ehrwald hin. »Das bleibt ihre einzige Rettung, wenn das Boot kentert, und das steht jeden Augenblick zu befürchten.«

Der Schiffsmeister zuckte die Achseln.

»Nun, viel hilft ihnen das auch nicht bei dem Wellengang, wenn keine Hilfe in der Nähe ist, und dann haben sie ja auch das Kind bei sich.«

Die drei Zuhörer wandten sich gleichzeitig mit einem Ausruf des Schreckens um.

»Das Kind? – Um Gottes willen! Der Knabe ist mit im Boote?«

»Jawohl, der kleine Lord. Ich sah ihn deutlich, als sie hier vorüberkamen, er saß neben seinem Vater am Steuer.« Der Schiffer unterbrach sich plötzlich, legte die Hand über die Augen und lugte scharf hinaus.

»Da bricht der Mast und reißt das ganze Takelwerk mit herunter! Wenn's nur wenigstens über Bord geht! Sonst legt sich das Schiff auf die Seite und dann ist's aus.«

Die Herren überzeugten sich bald genug, daß der Mann recht hatte. Elsa blickte zu den Fenstern empor.

»Wenn Zenaide das wüßte! Sie hat keine Ahnung von der Gefahr, in der ihr Kind schwebt.«

»Sie darf auch nichts davon erfahren,« fiel Sonneck ein. »Die Angst wenigstens muß ihr erspart bleiben. Zum Glück ist sie in ihrem Zimmer eingeschlossen und sieht und hört nichts von dem, was draußen vorgeht. Komm, Elsa, du wirst hier ja ganz durchnäßt, der Wind treibt den Regen gerade herein. Drüben ist es trocken und du hast auch dort den ganzen Ueberblick.«

Er führte sie nach der andern Seite der Veranda, die allerdings geschützter war, und kehrte nach Verlauf von einigen Minuten zu Ehrwald zurück. Dieser hatte vorhin keine Silbe gesprochen und verhandelte jetzt leise und angelegentlich mit dem Schiffsmeister, der sah ihn jedoch mit dem Ausdruck des vollsten Entsetzens an und sagte halblaut: »Nein, Herr! Bieten Sie mir, was Sie wollen, aber das thu' ich nicht. Das heißt ja Gott versuchen!«

»Was gibt es? Was hast du vor?« fragte Lothar, der eben herantrat und die Worte hörte.

»Ich will hinaus!« sagte Reinhart kurz, indem er auf den See wies.

»Bei diesem Sturme? Ich bitte dich, das ist ja heller Wahnsinn!«

»Das habe ich dem Herrn auch gesagt,« fiel der Schiffer ein, »aber der Herr will ja nicht hören, er will mitten hinein in das Höllenwetter.«

»Nimm Vernunft an, Reinhart,« mahnte Sonneck. »Es geht nicht. Wenn das große feste Boot es nicht aushält, werden die kleinen Nußschalen da unten zerschmettert von den Wellen, und dein Leben ist denn doch mehr wert als das eines Marwood.«

»Marwood mag sich selbst helfen, wenn er kann, aber du hörst es ja, das Kind ist im Boote, Zenaidens einziger Sohn, und der muß ihr gerettet werden, es muß wenigstens versucht werden. – Sie wollen also nicht mit?« wandte er sich an den Schiffer. »Nun, so schaffen Sie mir einen Ihrer Kameraden her! Er soll fordern, was er will, ich zahle es ihm.«

Der Mann sah ihn noch immer an, als zweifelte er an seinem gesunden Verstand.

»Das glaube ich schon,« entgegnete er endlich, »aber Sie finden doch keinen, da ist das Fragen ganz umsonst! Und wenn Sie den Leuten eine Tonne Goldes böten, ihr Leben ist ihnen doch lieber und das ist hin, wenn sie jetzt hinausfahren, wir kennen unsern See.«

Ehrwald stampfte in ausbrechender Heftigkeit mit dem Fuße.

»Nun denn, so fahre ich allein! Lassen Sie ein Boot fertig machen, das beste und stärkste von denen da unten, aber schnell, schnell! Es ist die höchste Zeit!«

Der Schiffer schüttelte den Kopf, aber er gehorchte und ging zu den Booten hinunter.

»Du siehst, es findet sich keiner,« sagte Lothar ernst, »und man kann es den Leuten nicht verdenken, denn es geht um das Leben bei solcher Fahrt. Bleib, Reinhart! Du allein hältst das Boot nicht bei dem Sturme, kannst es nicht halten, das geht über Menschenkräfte. Willst du dich denn nutzlos aufopfern?«

Reinhart machte eine Bewegung der äußersten Ungeduld.

»Predige mir jetzt nicht Vernunft, ich kann nicht darauf hören! Ich habe ja so oft schon erzwungen, was anderen unmöglich schien, vielleicht glückt es auch diesmal und bei Zenaide habe ich noch eine alte Schuld einzulösen. Sie soll jetzt bezahlt werden, und wenn es mit meinem Leben ist. Ich muß fort. Leb wohl!«

Er wollte gehen, aber Sonneck legte die Hand auf seinen Arm und hielt ihn zurück.

»Nun denn, wenn es durchaus nicht anders geht – so nimm mich mit!«

Ehrwald blieb stehen und blickte ihn betroffen an.

»Dich, Lothar? Nein, nein, das nicht!«

»Weshalb nicht? Wir sind ja so oft zusammen in die Gefahr gegangen und haben sie Seite an Seite bestanden, wir thun das heute noch einmal.«

»Aber du bist noch nicht völlig genesen, du hast nicht mehr die alte Kraft und dann – deine junge Frau!«

Sonneck richtete sich empor und sein ganzes Wesen schien aufzuflammen in der einstigen Energie.

»Meine Elsa soll sehen, daß sie keinen bloßen Siechling zum Manne hat, und für eine Stunde wird die alte Kraft wohl noch ausreichen. Keine Einwendung, Reinhart! Einer ist verloren bei solcher Fahrt, zwei haben wenigstens die Möglichkeit des Gelingens, also muß ich der Zweite sein.«

Ehrwald zögerte noch einen Augenblick, dann streckte er ihm die Hand hin. »Nun, wenn du willst – ich lasse das Boot fertig machen.«

»Ich folge dir sogleich, ich will nur noch meiner Frau lebewohl sagen. Geh voran!«

Sie wechselten noch einen kurzen, festen Händedruck, dann eilte Reinhart nach dem Landungsplatz hinunter und Lothar ging zu seiner Frau, die ihm entgegenkam und hastig fragte: »Nun, wie steht es? Glaubt ihr, daß das Boot verloren ist?«

»Noch nicht,« erwiderte er ruhig. »Man wird versuchen, ihm zu Hilfe zu kommen.«

Elsa erbleichte, sie hatte vorhin den Händedruck gesehen, den die beiden Männer tauschten, jetzt erblickte sie Ehrwald unten bei den Booten und verstand nun alles.

»Lothar, du willst –?«

»Ja, es gibt kein anderes Mittel. Sei mutig, Kind! Es ist ja nicht die erste Gefahr, die ich bestehe – Elsa, ängstigst du dich so um mich?«

Die letzten Worte klangen in stürmisch aufwogender Freude. Er sah die Todesangst in dem Gesicht seines jungen Weibes und die mußte ihm doch gelten, ihm allein, er hatte ja gar nicht von einem Gefährten gesprochen. Elsas Auge irrte über die tobende schäumende Flut und kehrte dann zu dem Landungsplatze zurück, wo man eben das Boot herabzog an den Strand. Sie machte keinen Versuch, ihren Gatten zurückzuhalten, aber ihre Stimme klang halb erstickt, als sie fragte: »Lothar – muß es sein?«

»Ja, es muß sein!« entgegnete er ernst. »Es gilt drei Menschenleben. Reinhart wollte es allein unternehmen, aber das ist unmöglich, also gehe ich mit ihm, und meine Elsa wird nun zeigen, daß sie die Frau eines Weltfahrers ist, und nicht mehr bangen, als nötig ist. Versprich mir das!«

Er schloß sie in die Arme; eine Gefahr bedeutete allerdings nicht viel für Lothar Sonneck, aber als er jetzt seine junge Gattin zum Abschied küßte, wurden ihm doch die Augen feucht, er riß sich schnell los.

»Leb wohl – sei tapfer, meine Elsa! – Auf Wiedersehen!«

Inzwischen stand Ehrwald unten bei den Booten, umgeben von den Schiffern und einer Menge von Leuten, die herbeigeeilt waren, als sie hörten, um was es sich handelte, und nun mit Warnungen und Abmahnungen auf ihn eindrangen. Es war ja die bare Tollheit, jetzt hinauszufahren auf den tobenden See. Keiner von ihnen hätte das gewagt, und sie verstanden doch ihr Handwerk, und nun wollte es der fremde Herr wagen! Das Boot da draußen war verloren, das stand fest, und ein kleines Schiff, das ihm zu Hilfe kommen wollte, war es erst recht! Der Herr solle doch Vernunft annehmen und nicht blindlings in das Verderben gehen, das dürfe man ja gar nicht zulassen!

Reinhart hörte das alles ruhig mit an, während er die Instandsetzung des Bootes überwachte, und zuckte höchstens von Zeit zu Zeit die Achseln. Als jedoch der Schiffsmeister sagte: »So, jetzt wären wir fertig. Aber ich sage es Ihnen noch einmal, Herr, lassen Sie es bleiben. Sie kommen nicht lebendig zurück« – da fuhr er auf: »Hört endlich auf mit eurem Geschwätz und laßt mich in Ruhe! Wenn euch euer bißchen Leben so kostbar ist, ich habe es wohl schon um Geringeres in die Schanze geschlagen. Wir haben die Stromschnellen des Kongo gezwungen, da werden wir wohl auch euren See noch meistern. – Ist das Steuer in Ordnung? – Gut!«

Die Leute schwiegen ganz verdutzt und schauten den fremden Mann an, der so verächtlich von dem Leben sprach und ihren See meistern wollte, aber er imponierte ihnen doch, und sie wagten keine Einwendung mehr.

»Das Segel auf!« befahl Ehrwald. «Es wird zwar nicht lange halten bei dem Sturme, aber es muß uns helfen, schnell vorwärts zu kommen, sonst wird es zu spät. Und nun vorwärts!«

Er sprang in das Boot, Sonneck folgte ihm auf dem Fuße. Die Blicke der beiden Männer flogen noch einmal zurück und mit ihnen ein letzter Gruß zu der jungen blonden Frau, die dort oben stand; dann hieß es, Auge und Sinn von allem andern losreißen und nur auf die Fahrt richten. Das Boot war kaum abgestoßen, da erfaßten es auch schon die Wellen und rissen es hinaus. Es erschien plötzlich hoch oben auf dem Wogenkamme und glitt dann wieder hinab in die Tiefe, das Segel blähte sich und flatterte im Sturme, und als habe er es auf seine Schwingen genommen, so schoß das kleine Fahrzeug dahin.

Elsa stand noch am Ausgange der Veranda, weit vorgebeugt. Sie weinte nicht und regte sich kaum. Ihr war es nun einmal nicht gegeben, wie Zenaide Schmerz und Qual in leidenschaftlichen Ausbrüchen auszuströmen, aber sie litt vielleicht mehr unter dieser stummen Todesangst, die sich nicht einmal in Thränen Luft machen konnte. Nur ihre Augen waren mit einem unsagbaren Ausdruck auf das gebrechliche kleine Fahrzeug gerichtet, das ihren Gatten hinaustrug auf die tobende Flut, ihn – und noch einen andern!

Der Regen hatte für den Augenblick aufgehört, so daß es klarer wurde; man sah es jetzt auch mit bloßem Auge, daß das Boot da draußen wie ein Ball umhergeschleudert wurde, von einem Lenken, einer Richtung war keine Rede mehr, und der Sturm schien an Heftigkeit noch zuzunehmen. Immer höher schlugen die Wellen über das Ufer, der See selbst war nur noch eine wild gärende Masse von dunkler Flut und spritzendem weißen Gischt und darüber hing schwarzgraues Gewölk, aus dem Blitz auf Blitz niederzuckte, während der Donner rollend in hundertfachem Echo von den Bergen zurückkam. Die ganze Natur war im Aufruhr.

Das kleine Schiff hielt doch besser aus, als man gedacht hatte. Wie ein Sturmvogel schoß es durch die schäumenden Wellen, verschwand in ihnen und kam immer wieder zum Vorschein, und immer näher kam es dem gefährdeten Boote, das schon fast ganz auf der Seite lag. Die Insassen bemühten sich offenbar, es von den Trümmern des Mastes und des Takelwerkes zu befreien, die es in die Tiefe zu ziehen drohten. Das gelang ihnen auch endlich; doch die Gewalt des Stoßes, mit der die ganze Masse über Bord ging, wurde verhängnisvoll. Man sah auf einmal nur hochaufspritzenden Schaum und dann nichts mehr an der Stelle, wo eben noch das Boot sichtbar gewesen war. Als es nach einigen Minuten wieder auftauchte, trieb es – den Kiel nach oben – dahin.

Da war aber auch schon das kleine Schiff herangekommen, und einer von den beiden Männern, die es führten, stand oben auf der Ruderbank. Es war der größere, der jüngere, er hatte den Rock abgeworfen und stürzte sich nun plötzlich mitten hinein in das Flutgebraus. Da entlud sich wieder das tief niederhängende Regengewölk mit voller Macht, und in den stürzenden Wassermassen und dem jagenden Nebel verschwand für die Augen der bang am Ufer Harrenden alles andere.

 

Als Lady Marwood durch eine Seitenthür das Haus verließ, war das Unwetter teilweise vorüber. Der Regen hatte nachgelassen, der Donner grollte fern und dumpf, und durch das sich lichtende Gewölk zuckte nur noch hin und wieder ein Blitz. Aber der See tobte noch mit derselben Wildheit wie vorhin, wenn auch der Sturm bedeutend abgenommen hatte, und am Ufer befand sich eine Menge von Leuten, die hin und her liefen und einander zuschrieen. Zenaide achtete nicht darauf, es war nicht ihre Absicht gewesen, ihr Vorhaben in der Nähe des Hotels auszuführen, wo man es zu früh entdecken und dann verhindern konnte. Eine Strecke seitwärts lag ein kleines Gehölz, das sich dicht am Ufer hinzog; dort war sie sicher vor fremden Augen, und langsam wandte sie sich jener Richtung zu.

Der hochgelegene Strandweg war sonst noch eine ganze Strecke vom See entfernt, jetzt schäumte die Flut bis unmittelbar an den Rand. Wie ein Heer von sich bäumenden, zischenden Schlangen kamen die Wogen heran und stürzten sich auf alles, was sie erreichen konnten. Ein Gebüsch, das sie entwurzelt hatten, wurde in einem Augenblick hinausgerissen und verschwand in dem Strudel. Zenaidens Blick folgte ihm mit düsterer Befriedigung. Es war die rechte Stunde; ein kurzer Anlauf dort hinter den Bäumen und es war geschehen!

Da hörte sie hinter sich ihren Namen rufen, eine Frauengestalt eilte ihr nach und dann sah sie Elsa neben sich und hörte deren Stimme: »Zenaide, um Gottes willen, wie hast du es erfahren? Wir wollten es dir ja verschweigen, um dir die Angst zu ersparen! Hat ein Zufall es dir verraten?«

Zenaide war stehen geblieben und sah sie groß und starr an. Sie verstand die Worte nicht, sie fühlte nur, daß sie aufgehalten wurde, aber in ihrem Gesichte lag etwas, was Elsa erschreckte, so daß sie beide Arme um die bleiche Frau schlang.

»So fasse dich doch! Die Gefahr ist ja vorüber, das Boot kommt zurück und dein Kind ist gerettet. Hast du es denn nicht gesehen, wie Ehrwald sich ihm nachwarf in die Flut?«

Zenaide blickte sie noch immer an, als redete Elsa in einer fremden Sprache.

»Mein Kind?« wiederholte sie mechanisch. »Percy? Wo ist er?«

»Er war ja in dem sinkenden Boote, mit seinem Vater! Hast du denn das nicht gewußt? Mein Gott, Zenaide, was wolltest du denn hier am Strande?«

Zenaide gab keine Antwort, aber sie fing allmählich an, zu begreifen. Percy war auf dem See gewesen in dem Sturme, und in derselben Stunde, wo sie sich den Wellen zum Opfer hinwerfen wollte, hatte man ihnen ihr Kind entrissen. Das durchzuckte sie wie eine furchtbare Mahnung und brach die starre tote Ruhe, die ihr ganzes Wesen gefangen hielt. Sie fuhr empor und wandte sich mit einem Aufschrei dem Boote zu, das dort herankam.

Das kleine Fahrzeug hatte wacker ausgehalten, wenn auch sein Segel zerfetzt am Maste hing. Es hatte jetzt, wo der Wind ihm entgegenstand, schwere Mühe, vorwärts zu kommen, doch jetzt waren es drei Männer, die sich in die Arbeit teilten. Man mußte die beiden Frauen am Strande bemerkt haben; es war noch zu weit, um einen Ruf hinüberzuschicken, aber Ehrwald stand aufrecht im Boote und hielt mit beiden Armen den kleinen Percy empor, um ihn der Mutter zu zeigen.

Noch eine bange Viertelstunde verging, dann wurde den Nahenden vom Ufer ein Tau entgegengeworfen, Reinhart fing es auf und befestigte es an dem Boote, das nun rasch ans Land gezogen wurde. Sonneck saß am Steuer, auf seinem Antlitz lag eine stolze, freudige Genugthuung: die letzte Stunde hatte ihm gezeigt, daß es mit seiner Kraft doch nicht so ganz zu Ende war, sie hatte diesmal noch völlig Stich gehalten. Es war keine Kleinigkeit, das Schiff zu führen bei solcher Fahrt, jetzt brachte er es glücklich zurück, und dort am Strande stand sein junges Weib und harrte seiner.

Da auf einmal erlosch der freudige Ausdruck in seinen Zügen und seine Hand glitt langsam von dem Steuer nieder. Er sah es deutlich, Elsas Augen suchten nicht ihn, sondern einen andern, der hochaufgerichtet im Boote stand. Ihm galt der leuchtende Strahl des Glücks, der aus ihren Augen hervorbrach, ihm die Bewegung, mit der sie den Landenden entgegenstürzen wollte, um dann plötzlich wie gefesselt stehen zu bleiben, und auch sein Blick flog zu ihr hinüber, mit einem stummen und doch so leidenschaftlichen Gruße. Es war ja nur eine Sekunde, in der die Blicke der beiden sich suchten und fanden, aber sie verriet alles.

Reinhart stieg zuerst aus, mit dem kleinen Percy im Arm; er hatte ihn den Wogen entrissen, er legte ihn auch jetzt in die Arme der Mutter.

»Ich war Ihnen ein Leben schuldig, Zenaide – hier ist es!« sagte er leise. »Hier ist Ihr Kind!«

Der Knabe war noch halb betäubt vor Schreck und Todesangst. Er war so lange da draußen umhergeschleudert worden zwischen Leben und Tod; er hatte den Vater und Hartley vor seinen Augen versinken sehen, während er selbst, an das Boot geklammert, noch einige Minuten lang oben blieb; dann hatte ihn auch die Flut verschlungen und er war erst wieder in dem andern Schiffe erwacht. Nun ging es wieder durch Sturm und Wogendrang, und die schwer arbeitenden Männer hatten nicht viel Zeit, das Kind zu trösten und zu beschwichtigen, das zitternd zwischen ihnen am Boden kauerte. Auch jetzt noch floß das Wasser aus seinen Kleidern, das schwarze Haar fiel in nassen Strähnen über sein totenbleiches Gesichtchen und seine großen dunklen Augen irrten verstört umher. Erst als die Arme der Mutter den Knaben umschlangen, als er ihre heißen Küsse auf seinen eiskalten Lippen und Wangen fühlte, erst da schien es ihm zum Bewußtsein zu kommen, daß er in Sicherheit sei. Er umklammerte krampfhaft ihren Hals, schmiegte sich fest an sie, als wollte er Schutz bei ihr suchen, und rief mit einem lauten Aufweinen: »Mama! Mama!«

Ein halbunterdrückter Ausruf des Jubels brach von den Lippen Zenaidens bei dieser ersten unbewußten Regung der Zärtlichkeit; von neuem überströmte sie ihr Kind mit leidenschaftlichen Liebkosungen und richtete sich dann erst empor, um den Rettern zu danken. Da gewahrte sie Hartley, der neben Ehrwald stand, ihn allein, und da zuckte eine Ahnung der Wahrheit in ihr auf.

»Sie sind es, Mister Hartley?« fragte sie mit stockendem Atem. »Und – und Percys Vater?«

Hartley gab keine Antwort, er sah düster zu Boden, auch Reinhart schwieg – da trat Sonneck heran. Er war sehr bleich und auf seinem Antlitz lag es wie ein schwerer Schatten, aber seine Stimme klang ruhig und fest, als er mit tiefem Ernste sagte: »Lord Marwood ist tot – Sie sind Witwe, Zenaide!«

 

Es war Abend geworden, das Wetter hatte ausgetobt und klar und leuchtend lag der Sternenhimmel über dem See, der noch unruhig wogte, aber doch bereits in seine alten Grenzen zurückgekehrt war. In Malsburg lag das Opfer, das er gefordert hatte. Als der Sturm und damit die Gefahr vorüber war, hatte man sich aufgemacht, um die Leiche Francis Marwoods zu suchen, und sie denn auch gefunden.

Der Lord war, ebenso wie sein Freund, ein guter Schwimmer gewesen, aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ihn bei dem plötzlichen Untergange des Bootes ein Schlag desselben oder des stürzenden Mastes getroffen und betäubt, denn er kam nicht wieder zum Vorschein, wahrend Hartley sofort wieder auftauchte und schwimmend das andere Schiff erreichte. Ehrwald, der den kleinen Percy versinken sah, war ihm sofort nachgesprungen und hatte sich mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft zu dem Kinde hingearbeitet, das er denn auch glücklich erreichte und an Bord brachte.

Das Boot war trotz der augenscheinlichen Gefahr noch eine Weile kreuzend an der Unglücksstelle geblieben, um vielleicht dem Lord Marwood noch Hilfe zu bringen; aber dieser war und blieb verschwunden, man konnte nicht mehr zweifeln an seinem Untergang. Bei der Rückfahrt hatte sich die Wut des Sturmes bereits gebrochen, es war noch immer ein hartes Stück Arbeit gewesen, doch Hartley, der sich sofort erholte, half wacker mit. Die kühne Fahrt hatte wenigstens zwei Menschenleben dem Tode entrissen.

In den Zimmern, die Zenaide bewohnte, schimmerte noch Licht, sie wachte am Bett ihres Knaben, der, erschöpft von der ausgestandenen Angst, in den Armen der Mutter eingeschlafen war. Elsa befand sich bei ihr und Ehrwald war noch in Malsburg, wohin er die Leiche Marwoods geleitet hatte.

Am Rande jenes kleinen Gehölzes, das sich dicht am Ufer hinzog, stand Sonneck, der so spät noch einen Gang in das Freie unternommen hatte. Nie letzten Stunden waren so unruhevoll gewesen. Die Sorge für das Kind, das fast erstarrt war in den nassen Kleidern, die Anstalten zur Auffindung des Toten und der Zustand Zenaidens, die furchtbar erschüttert war, als Lothar ihr den Bericht darüber brachte, hatten ihn nicht zum Nachdenken kommen lassen. Er hatte sie auch gefürchtet, diese erste Stunde ruhigen Nachdenkens, nun war sie da und nun hieß es, der Wahrheit ins Auge sehen.

Jener unselige Argwohn hatte ja schon seit Wochen in seinem Innern genagt und gewühlt, allein es war doch immer noch keine Gewißheit gewesen und immer wieder flüsterte die Hoffnung, daß der sterbende Helmreich sich getäuscht habe, daß er gar nicht mehr bei klarer Besinnung gewesen sei, als er die Warnung aussprach; sie wurde ja durch nichts bestätigt. Da kam das Wiedersehen nach der überstandenen Todesgefahr und riß den Schleier von den Empfindungen der beiden. Lothar wußte es jetzt, wem die Liebe seines Weibes galt, und er wußte es nun auch, wen Reinhart liebte.

Ja, es war ein verhängnisvoller Irrtum gewesen, die eben erst erblühende Jugend an sein Alter zu fesseln, und das rächte sich schnell genug. Freilich, damals war Elsa ein ernstes, stilles Mädchen gewesen, dessen wahre Natur wie in einem Bann gefangen lag; da erschien Reinhart, in seiner vollen stürmischen Lebens- und Jugendkraft, da wachte sie auf aus dem langen Traume, und es war gekommen, was kommen mußte, die beiden waren ja geschaffen füreinander.

Was nun? Es lag keine einzige Regung von niedriger und gemeiner Eifersucht in der Seele des Mannes, der in dieser Stunde sein ganzes Glück begrub. Er wußte es ja, er hatte keinen Treubruch zu fürchten von dem Freunde oder von seinem Weibe. Reinhart ging fort, schon in den nächsten Tagen, und er kam nicht wieder, solange noch ein Funke dieser Leidenschaft in ihm war, dessen war er sicher. Und Elsa blieb an seiner Seite als eine pflichtgetreue Gattin. Die beiden würden sich nie wiedersehen und stumm und tapfer das Elend eines ganzen Lebens tragen – um seinetwillen! Sonnecks Hand krampfte sich zusammen in wildem Schmerz, Nein, nein, das nicht! Dies Bewußtsein ertrug er nicht.

Gab es denn keinen Ausweg? Eine Scheidung vielleicht? – Thorheit! Reinhart würde eher sterben, als sein Glück aus der Hand des Freundes nehmen, wenn er wußte, daß diesem das Herz darüber brach, und Elsa hing fest an ihrem katholischen Glauben. Ihr war die Ehe ein Sakrament, das kein weltlicher Richterspruch löste; das löste nur der Tod!

Lothar blickte hinab zu der dunklen wogenden Flut und dann hinauf zu den Sternen, die so klar, so friedevoll leuchteten, und halblaut wiederholte er den letzten Gedanken: »Der Tod! – Nun, wir wollen es überlegen!«

 

In Kronsberg sah es schon herbstlich aus, obgleich man sich erst in den letzten Tagen des September befand, aber der Frühling kam spät und der Herbst früh in das Hochalpenthal. Die Häuser und Villen des Badeortes waren fast sämtlich geschlossen, mit Ausnahme der Villa Lady Marwoods, die noch hier verweilte, und in den Kuranlagen flatterten die welken Blätter bereits von den Bäumen und Gesträuchen.

Auch die alte Linde vor dem Gitterthor von Burgheim trug schon das Herbstgewand, ihre grüne Laubkrone hatte sich bunt gefärbt. Jetzt, im hellen Mittagssonnenschein, leuchtete sie rot und goldig in ihrem Blätterschmuck und an ihrem Stamm lehnte wieder die Gestalt des Mannes, der sie in jener Mondnacht als den alten Freund seiner Kindheit begrüßt hatte. Damals war er nach langen Jahren und aus weiter Ferne zurückgekehrt, heute kam er, um Abschied zu nehmen von der Heimat, für immer.

Ehrwalds Abreise war auf morgen festgesetzt und er wollte jetzt in Burgheim lebewohl sagen. Sein Blick schweifte langsam über das Thal und die Berge und kehrte dann nach dem Hause zurück. Er wußte ja, daß er das alles nicht wiedersehen würde, nicht wiedersehen durfte, das alte Haus, die moosbewachsenen Stufen, die dunklen Tannen und die großen tiefblauen Augen, die ihm geleuchtet hatten in jener mondbeglänzten Frühlingsnacht – nie, niemals wieder!

In der Brust des sonst so eisernen Mannes bäumte sich ein wildes, verzweiflungsvolles Weh auf, doch er zwang es nieder, wenigstens für den Augenblick. Er hatte es ja so lange getragen, nun galt es noch, die Abschiedsstunde zu tragen, und da war Lothar gegenwärtig – Gott sei Dank! da blieb man Herr seiner selbst!

Reinhart öffnete das Gitterthor und schritt durch den Garten. Er fand Sonneck in seinem Arbeitszimmer mit dem Hofrat Bertram, der bei ihm war und dem Eintretenden in seiner jovialen Art entgegenrief. »Da sind Sie ja, Ehrwald! Wir sprachen eben von Ihnen und ich erzählte, daß mein ganzes Haus in Sack und Asche trauert, weil Sie morgen fortgehen. Meine Jungen zumal können es nicht begreifen, wie sie ohne den afrikanischen Onkel und ihren Spielgefährten, den Achmet, fertig werden sollen, und haben nicht übel Lust, auch nach Afrika durchzugehen. Ich werde auf meiner Hut sein müssen.«

»Ja, sie haben mir auch derartige Pläne anvertraut,« entgegnete Ehrwald mit einem flüchtigen Lächeln, während er seinem Freunde die Hand reichte. »Ich habe ihnen aber geraten, sie noch einstweilen aufzuschieben. Ich komme eben von Lady Marwood, wo ich lebewohl gesagt habe. Percy war noch im Bett, ist aber sonst ganz munter, und die Mutter bestand darauf, daß ich ihn zum Abschied noch einmal sah und mich von ihm küssen ließ.«

»Nun, er hat auch alle Ursache, seinem Retter dankbar zu sein,« sagte der Hofrat. »Uebrigens hat sich der kleine Lord tapfer gehalten, es war keine Kleinigkeit, diese stundenlange Todesangst und dann die schwere Erkältung in den nassen Kleidern; aber er kam mit einem tüchtigen Fieberanfall davon, der zum Glück nicht lange dauerte. In den ersten Tagen hatte ich ernstliche Sorge um das Kind und auch um die Mutter, denn bei ihr handelte es sich auch um Sein oder Nichtsein. Ich vergesse nicht den Aufschrei des Glückes, mit dem sie an dem Bettchen in die Kniee sank, als ich ihr erklären konnte, daß die Gefahr vorüber und nichts mehr zu befürchten sei. Der kleine Bursche hat sich das freilich wohl gemerkt und tyrannisiert sie schon gründlich. Sobald sie nur einen Augenblick von seiner Seite geht, ruft er nach seiner Mama und verlangt diktatorisch, daß sie bei ihm bleibe, aber sie ist ganz selig über diese Tyrannei.«

»Ja, sie hat ihren Percy schnell genug zurückgewonnen,« mischte sich Sonneck ein. »Ein Kind fühlt ja die Mutterliebe, besonders wenn es krank ist und die Mutter Tag und Nacht nicht von ihm weicht. Ich glaube auch kaum, daß Percy jemals Liebkosungen von seinem Vater empfangen hat; Marwoods kaltes, abgemessenes Wesen ließ das nicht zu, so stolz er auch auf seinen Erben sein mochte. Du hast also bereits Zenaide lebewohl gesagt, Reinhart? Wirst du sie in Kairo nicht wiedersehen?«

»Nein, du weißt ja, daß ich mich diesmal gar nicht an der Küste aufhalte und sobald als möglich den Marsch in das Innere antrete, auch nimmt Zenaide noch einen Herbstaufenthalt in Italien, wie ich eben hörte.«

»Es geschieht des Knaben wegen,« bestätigte Bertram. »Er ist ein zartes Kind und eben erst genesen, da darf man ihn nicht sofort aus der rauhen Hochgebirgsluft in das jetzt noch so heiße Aegypten bringen, deshalb schrieb ich die Uebergangsstation vor. In acht bis zehn Tagen, hoffe ich, wird Seine kleine Lordschaft reisefähig sein. – Doch nun zu Ihnen, Herr von Sonneck! Sie gefallen mir gar nicht, seit Sie zurückgekehrt sind. Ich fürchte, Sie haben Ihren Kräften zu viel zugemutet bei jener Rettungsfahrt und müssen das nun büßen.«

»Nicht doch, ich befinde mich vollkommen wohl. Ich versichere es Ihnen,« erklärte Sonneck, doch sein Aeußeres widersprach dieser Versicherung. Er sah bleich und angegriffen aus und seine Haltung hatte wieder das Müde, Gebeugte, das wahrend der Zeit seines jungen Eheglücks völlig verschwunden gewesen war.

»Ja, du hast dich zu sehr angestrengt bei der Fahrt,« sagte Ehrwald, mit einem besorgten Blick in das Gesicht des Freundes. »Ich hätte es nicht zulassen sollen, allein in der Gefahr denkt man immer nur an das Nächstliegende. Du mußt dich künftig mehr schonen, Lothar, dergleichen ist nichts mehr für dich. Zum Glück sind solche Abenteuer nur Ausnahmen hier in Deutschland.«

»Die Wiederholung würde ich auch entschieden verbieten,« fiel der Hofrat ein. »Das muß ja eine Riesenarbeit gewesen sein, sich bis zu dem sinkenden Schiffe durchzuringen. Es hat auch Aufsehen genug gemacht, die Zeitungen haben es in alle Welt hinausgetragen, und man bewundert unsere beiden Afrikahelden nun auch neuerdings noch als kühne Seefahrer.«

»Ja, Aufhebens genug hat man davon gemacht,« meinte Reinhart mit einem Achselzucken. »Die Geschichte war aber im Grunde gar nichts so Besonderes. Unsereins muß eben in allen Sätteln gerecht sein.«

»Für Sie allerdings nicht,« lachte Bertram. »Sie haben wohl schon ein Dutzend solcher Heldenstücke vollführt und werden vermutlich noch ein zweites Dutzend leisten, wenn Sie erst wieder in Ihren Wüsten und Urwäldern sind. Uebrigens scheint auch Herr von Sonneck heute afrikanische Anwandlungen zu haben, es ist doch sonst nicht seine Art, das Mordgewehr mitten unter seine friedlichen Papiere zu legen.«

Er wies scherzend nach dem Schreibtische, wo allerdings eine sehr schöne Pistole lag, offenbar von älterer Form und Arbeit, deren Lauf im Sonnenschein blinkte. Sie lag gerade auf dem Manuskripte des großen Reisewerkes und so offen, daß sie jedem ins Auge fallen mußte.

»Es ist ein Abschiedsgeschenk für Reinhart,« sagte Sonneck ruhig. »Ich habe die Waffe vor Jahren in Kairo gekauft und sie jetzt erst wieder hervorgesucht. Schöne arabische Arbeit, nicht wahr?«

»Prächtig!« rief der Hofrat bewundernd, indem er den sehr kunstvoll eingelegten Griff betrachtete. »Ja, in solchen Dingen sind die Orientalen Meister.«

»Das ist in der That ein schönes Geschenk. Ich danke dir, Lothar,« sagte Ehrwald und wollte danach greifen, aber Lothar, der die Waffe aufgenommen hatte, um sie dem Arzte zu zeigen, behielt sie in der Hand.

»Ich will sie erst noch einmal probieren und reinigen,« bemerkte er. »Sie ist jahrelang nicht gebraucht worden; ich bringe sie dir heut' abend.«

»Nur vorsichtig mit solchen alten Schußwaffen,« warnte Bertram. »Das Ding ist doch hoffentlich entladen?«

»Natürlich!« versetzte Sonneck mit voller Gelassenheit.

»Was fällt Ihnen denn ein, Doktor? Ich verstehe es doch wahrhaftig, mit Waffen umzugehen.«

Damit legte er die Pistole, ohne sie aus der Hand zu geben, in das obere Fach des Schreibtisches. Der Hofrat brach jetzt auf, er wollte noch zu Lady Marwood, um nach dem kleinen Percy zu sehen, und die beiden anderen blieben allein.

»Ich bin auf dem Wege hierher mit Hartley zusammengetroffen,« hob Reinhart wieder im. »Er kam von dir und wollte zu Zenaide. Hast du Rücksprache mit ihm genommen?«

»Gewiß und sehr ausführlich. Marwood hat kein Testament hinterlassen, er stand ja auch in voller blühender Lebenskraft. Es sind also keine Bestimmungen vorhanden, die Zenaide in ihren Mutterrechten irgendwie beschränken, dagegen tritt der Ehevertrag in Kraft, der damals bei der Vermählung abgeschlossen wurde. Er sichert der Gemahlin ein reiches Wittum; die englischen Familiengüter fallen selbstverständlich an den Sohn und Erben. Hartley wird als der nächste Freund des Verstorbenen in Gemeinschaft mit einem der Marwoods die Vormundschaft übernehmen, wenn Zenaide keinen Einspruch erhebt.«

»Das wird sie schwerlich thun. Hartley hat sich ihr niemals feindselig gegenübergestellt, sondern im Gegenteil stets zu vermitteln gesucht. Ich glaube, er hatte einst eine Neigung für sie, die nie ganz erloschen ist.«

»Möglich, jedenfalls wird er ihr bei der Erziehung des Knaben keine Schwierigkeiten machen, und das wird auch von Seiten der Marwoodschen Familie nicht geschehen, wenn Zenaide sich entschließt, jährlich einige Zeit mit ihrem Sohne auf den englischen Gütern zu verbringen. Zu diesem Opfer muß und wird sie sich verstehen. Percy ist in England geboren und darf seinem Vaterlande nicht ganz entfremdet werden.«

»Gewiß nicht,« stimmte Ehrwald bei. »Aber jetzt, wo der Vater tot ist, hat die Mutter das alleinige Recht auf ihr Kind. Da hat das Schicksal einmal rettend eingegriffen! Zenaide war auf dem Wege, sich selbst zu verlieren, und Gott weiß, wie das geendet hätte. Das Kind wird ihr den Glauben an das Leben und an das Glück wiedergeben; seit ich sie am Bette Percys gesehen habe, fürchte ich nichts mehr für sie.«

Sonneck richtete das Auge ernst und forschend auf ihn.

»Und ihr beide seid zu Ende miteinander? Ich weiß es, und es ist am besten so. Es gab eine Zeit, wo ich eine Verbindung zwischen euch wünschte und erhoffte, weil ich glaubte, ihr würdet das Glück miteinander finden; das war ein Irrtum. Zenaide hätte sich nie dem Berufe gefügt, der doch nun einmal der deinige ist, sie hätte dich nie von ihrer Seite lassen wollen und dich selbst aus der Ferne mit ihrer Angst um dich gequält. Du brauchst ein starkes Weib, das nicht jammert und verzweifelt, wenn es dich in Gefahr weiß, und zur Not auch einmal die Gefahr mit dir teilt.«

»Wie kommst du darauf?« fragte Reinhart befremdet. »Ich habe ja nie daran gedacht, mich zu vermählen, und jetzt, wo ich wieder auf Jahre hinausziehe, kann doch vollends davon keine Rede sein.«

Lothar ließ die Frage unerörtert, er wiederholte nur: »Auf Jahre! Und dann werden wieder Jahre vergehen, bis du einmal nach Europa kommst. Wer weiß, ob du mich dann noch findest, ich bin alt geworden, sehr alt. Vielleicht ist dies der letzte Abschied, den wir nehmen!«

»Thorheit, wer wird an so etwas denken!« rief Ehrwald mit einem erzwungenen Lachen.

»Nun, der Gedanke liegt doch nah genug. Und wir haben in den zehn Jahren unseres Zusammenwirkens doch auch den Inhalt eines ganzen Lebens ausgekostet, denn es waren Kriegsjahre, die zählen doppelt. Das hat uns zusammengeschmiedet in Glück und Not und wir haben uns lieb gehabt dabei – nicht wahr, Reinhart?«

»Ja,« sagte Reinhart einfach, aber es lag mehr in dem einen Worte als in einer langen Beteuerung.

»Und das soll uns bleiben, auch wenn wir jetzt scheiden,« ergänzte Lothar. »Doch nun geh hinunter zu Elsa und sag ihr lebewohl!«

»Willst du nicht mitkommen?« fragte Ehrwald betroffen.

»Nein, ich – ich will zu Hartley. Ich habe versprochen, ihn im Hotel aufzusuchen, und muß ihn jedenfalls noch sprechen, wenn er von Zenaide kommt.«

»Dann begleite ich dich zur Stadt,« fiel Reinhart hastig ein. »Mein Abschiedsbesuch bei deiner Frau wird nicht lange dauern, warte die paar Minuten.«

»Ich kann nicht, es ist ein Uhr und ich habe versprochen, pünktlich zu sein. So eilig brauchst du es ja nicht zu machen mit dem Abschiede. Geh, du findest Elsa unten im Wohnzimmer und wir beide sehen uns ja noch. Ich komme jedenfalls zu Bertram, um den letzten Abend mit dir zu verbringen.«

Ehrwald zögerte noch einige Sekunden; als er aber sah, daß Lothar nach seinem Hute griff, blieb ihm nichts übrig, als sich zu fügen. Sie stiegen zusammen die Treppe hinunter und trennten sich erst dort. Sonneck war stehen geblieben und sah mit einem langen, düstern Blicke dem Freunde nach.

»Er fürchtet dies Alleinsein!« sagte er halblaut, »und ich schicke ihn geradeswegs hinein in die Versuchung; aber es hilft nichts, ich muß auch noch dies Letzte wissen. Wenn es unausgesprochen bleibt zwischen ihnen, wenn er geht ohne Geständnis, vielleicht überwinden sie es dann beide. Wenn nicht – nun dann sollst du das ›Abschiedsgeschenk‹ haben, Reinhart, es ist das Kostbarste, was ich besitze.«

Er wandte sich um, aber nicht nach dem Ausgange, sondern nach dem Schlafzimmer Helmreichs, das jetzt verschlossen war. Er zog einen Schlüssel hervor und öffnete leise die Thür. Das Gemach stieß unmittelbar an das Wohnzimmer, man hörte jedes Wort, das dort gesprochen wurde.

Die junge Frau saß am Fenster und las, wenigstens hatte sie ein Buch in der Hand, aber ihre Augen folgten mechanisch den Worten, ohne daß ihr auch nur ein einziges davon zum Verständnis kam. Sie wußte ja, daß Ehrwald im Hause war und daß er kommen würde, um ihr lebewohl zu sagen. Da öffnete sich die Thür und er trat ein, aber allein, und Elsa erbebte unwillkürlich. Sie hatte gehofft, daß der Abschied in Gegenwart ihres Gatten stattfinden würde – wo blieb Lothar?

Reinhart verneigte sich, so kühl und förmlich, wie er gewöhnlich mit der Gattin seines Freundes zu verkehren pflegte, und ebenso klang seine Anrede: »Ich komme, um mich zu verabschieden, gnädige Frau. Gestatten Sie mir. Ihnen nochmals Dank zu sagen für all die Freundlichkeiten, die ich in Ihrem Hause empfangen habe.«

Elsa neigte das Haupt und ihre Antwort klang ebenso förmlich: »Bitte, Herr Ehrwald, es ist Lothar und mir eine Freude gewesen. Sie wollen also morgen fort?«

»Morgen früh. Ich denke dann mittags die Bahnstation und den Eilzug zu erreichen.«

»Und dann gehen Sie direkt nach dem Süden?«

»Jawohl, ich reise ohne Aufenthalt nach Brindisi und schiffe mich dort ein.«

Es trat eine längere Pause ein; sie fühlten beide das Drückende derselben und hatten doch nicht den Mut, weiter zu sprechen oder sich anzusehen. Ehrwalds Blick schweifte in den Garten hinaus und Elsas Augen blieben gesenkt. Die Zeit, wo sie sich über ihre Empfindungen täuschten, war vorüber, auch für die junge Frau; die grausamen Worte des sterbenden Großvaters hatten den Schleier von ihrem Innern gerissen. Sie wußte es jetzt, welche geheimnisvolle, unentrinnbare Macht sie zu diesem Manne zog – er freilich hatte es längst gewußt! Dann kam jene Stunde der Todesangst, wo sie ihn auf der tobenden Flut wußte, und jene Minute, wo er gerettet ans Land sprang. Wenn auch noch kein Wort der Erklärung zwischen ihnen gefallen war, sie sahen beide klar genug.

»Sie werden diesmal lange fortbleiben?« hob Elsa endlich wieder an.

»Wahrscheinlich jahrelang, es ist ein weiter Weg, den ich vor mir habe, und wenn ich an das Ziel gelangt bin, wird es noch Mühe und Arbeit kosten, uns die Früchte des Zuges zu sichern.«

»Aber Lothar hofft, daß Sie dann nach Europa zurückkehren, wäre es auch nur, um ihn wiederzusehen.«

»Gewiß, das hoffe ich auch. Wir nehmen ja nicht für immer Abschied.«

Er sprach die Unwahrheit aus, obgleich er wußte, daß sie nicht geglaubt wurde. Sie kannten ja beide die Bedeutung dieser Abschiedsstunde, das zeigte das bleiche Antlitz der jungen Frau und das dunkle Gesicht des Mannes, der ihr gegenüberstand. Wieder trat jenes bange, lastende Schweigen ein, das Minuten dauerte, dann richtete sich Ehrwald auf einmal jäh empor. Wozu denn die Qual verlängern, wozu lügenhafte Worte tauschen und sich hinter leeren Formen verschanzen! Es mußte ja doch ein Ende gemacht werden, so mochte es schnell geschehen!

»Leben Sie wohl,« sagte er dumpf. »Denken Sie bisweilen meiner!«

Er wartete noch einige Sekunden auf eine Antwort, die nicht erfolgte, und ging dann. Aber an der Thür wandte er sich noch einmal um, sein Blick flog zurück und jetzt sah er die Augen, die sich ihm bisher verschleiert hatten, sah, wie sie ihm folgten, und das ganze herzzerreißende Weh des Abschieds stand darin. Da brach seine Selbstbeherrschung zusammen, in der nächsten Minute war er wieder an ihrer Seite.

»Elsa!«

Der Name kam zum erstenmal von seinen Lippen. Sie wich zurück. »Gehen Sie! – Ich bitte – gehen Sie!«

»Ich gehe ja,« sagte er herb, »und für immer! Sie glauben es doch nicht, Elsa, daß ich zurückkehre?«

»Nein!« war die leise Antwort.

»Nun, dann geben Sie mir auch ein Wort zum Abschied mit. Ich warte darauf.«

»Leben Sie wohl – reisen Sie glücklich!«

»Glücklich?« wiederholte Reinhart mit tief aufquellender Bitterkeit. »O gewiß, mein Glück in all den Gefahren ist ja beinah sprichwörtlich geworden. Es war mir immer zur Seite, nur da, wo es sich um mein Lebensheil handelte, da wurde es mir treulos. Nun frage ich auch nicht mehr nach dem Leben überhaupt, wenn ich es diesmal lassen muß – mir ist es recht!«

Das Geständnis, das er bisher noch nicht ausgesprochen, lag in diesen grollenden Worten und auch Elsa machte keinen Versuch mehr, sich oder ihm die Wahrheit abzuleugnen, sie fuhr auf in bebender Angst.

»Reinhart, um Gottes willen, was heißt das? Sie suchen den Tod da draußen?«

»Nein,« sagte er finster, »aber ich werde ihm auch nicht mehr aus dem Wege gehen. Sonst, wenn ich mir mein Leben wieder einmal zurückerobert, wenn ich es all den feindlichen Mächten abgekämpft hatte, dann flammte die Lust am Dasein so heiß und freudig wieder auf! Das ist vorbei – vor mir liegt ja nur die Wüste.«

»O, Reinhart, nicht so!« bat die junge Frau mit gefalteten Händen. »Gehen Sie nicht hinaus mit dieser wilden Bitterkeit und Verzweiflung! Ich muß es ja auch tragen, das ganze, lange, furchtbare Leben, und muß lächeln dabei. Lothar darf ja nichts ahnen, er ist mein Gatte –«

»Und mein Freund!« ergänzte Ehrwald mit schwerer Betonung. »Das macht mich wehrlos gegen das Geschick. Als ich zurückkehrte, waren Sie ja noch nicht sein Weib, Elsa, der Schwur am Altare war noch nicht geleistet! Ich hätte Sie der ganzen Welt abgekämpft, hätte Heil und Leben dafür eingesetzt – mit ihm konnte ich nicht kämpfen, ihm nicht sein Glück entreißen, es war ein Verhängnis.«

Elsa hatte sich erhoben, sie fühlte es ja, daß sie diese Sprache nicht hören durfte, aber sie war wieder im Bann seiner Stimme, seiner Augen, und anstatt zu gehen, blieb sie und lauschte den Worten, die gedämpft und doch so leidenschaftlich von seinen Lippen kamen: »Dies Verhängnis hat ja schon damals über uns gewaltet, in jener glühenden Mittagsstunde, unter den Palmen des Nils, als wir die Fata Morgana erblickten. Es erschien uns beiden, das leuchtende Zeichen, und ich ahnte nicht, daß das Glück, das es mir verhieß, an meiner Seite stand. Aber so oft nur das geheimnisvolle Wüstenbild wieder auftauchte, im Traume wie im Wachen, immer schwebten darüber die großen blauen Kinderaugen, die es mit mir geschaut hatten. Ich bin ihm nachgejagt durch Länder und Meere, ich hab' es gesucht in der brennenden Wüste, in den Tiefen des Urwalds, auf steilen Bergesgipfeln und habe es nie gefunden. Da kehrte ich zurück und da stand es an der Schwelle meiner Heimat, das große, das grenzenlose Glück, von dem ich so oft geträumt, und sah mich an mit jenen leuchtenden Kinderaugen. Da fand ich es – um zu erfahren, daß es mir auf immer verloren sei!«

Er stand noch immer an ihrer Seite, ohne auch nur ihre Hand zu berühren, aber in jedem Worte bebte der mühsam verhaltene Sturm seines Innern, und diese Sprache fand nur ein zu lautes Echo in der Brust des jungen Weibes. Dort klang es auch wie ein Aufschrei nach Glück und Liebe! Doch Elsa war nicht umsonst in der strengen Schule der Pflichten und der Entsagung aufgewachsen. Das hatte ihr die Jugendfreude genommen, aber auch ihre Kraft gestählt und die hielt stand, selbst in dieser schweren Stunde; sie entriß sich dem gefährlichen Bann.

»Nicht weiter, Reinhart! Hören Sie auf mit diesen Geständnissen, die ich nicht hören darf. Denken Sie an Lothar!«

»Nun, wenn es ein Unrecht ist gegen ihn, dann wird es gesühnt durch die Qual dieser Stunde,« brach Reinhart mit wilder Heftigkeit aus. »Ich will dich ja nicht besitzen, Elsa, dich ihm nicht nehmen, aber eins darfst du mir nicht verweigern! Sage es mir, daß du mich liebst, laß es mich von deinen Lippen hören! Es ist ja nur ein Wort und ich nehme es mit mir hinaus in die Ferne, in den Tod vielleicht. Denke, es ist ein Abschied für das Leben!«

Er war vor ihr niedergestürzt und sein Blick flehte noch heißer als seine Worte. Ein Abschied für das Leben! Das wußte auch Elsa und da beugte sie sich über ihn.

»Ja, Reinhart, ich liebe dich grenzenlos! – Nun weißt du es – nun geh!«

»Elsa!« Er sprang auf, es lag Seligkeit und Verzweiflung zugleich in dem Rufe. »Und nun sollen wir uns nie, niemals wiedersehen! Kannst du es denn tragen – ich kann es nicht.«

»Du mußt,« sagte sie leise. »Ich muß es auch. Geh! Du hast es mir versprochen.«

Da fühlte sie sich von Reinharts Armen umschlossen, an seine Brust gerissen. Es war nur ein einziger Augenblick, dann brach ein glühendes, halbersticktes «Lebewohl!« von seinen Lippen und er stürzte davon.

 

Im Garten der Bertramschen Villa gingen Selma und ihre Schwägerin, die in der nächsten Woche nach Birkenfelde übersiedeln wollte, im Gespräch auf und nieder. Es herrschte heute ausnahmsweise Stille in ihrer Umgebung, denn die drei Jungen befanden sich im Hause bei ihrem Vater und halfen ihm bei den Vorbereitungen zu einer kleinen Abschiedsfeier, die dem »afrikanischen Onkel« galten. Auf diese Weise hatte auch Achmet Ruhe, der ein noch gesatteltes Reitpferd am Zügel auf und ab führte, offenbar, um es abzukühlen, denn das Tier dampfte und trug alle Spuren eines heftigen Rittes. In Kronsberg wurden während des Sommers stets Reitpferde gehalten, zur Verfügung für die vornehmen Kurgäste, und Ehrwald ritt täglich einige Stunden, wenn er hier war. Auch heute war er dieser Gewohnheit treu geblieben und eben erst nach Hause gekommen.

»Die Kronsberger Gäule werden froh sein, wenn dieser Wüstenmensch erst fort ist,« bemerkte Ulrike in ihrer gewohnten liebenswürdigen Ausdrucksweise. »Und ihre Herren erst recht, er reitet ihnen ja die Tiere zu Schanden. Da ist er nun wieder wie toll umhergejagt, man sieht es dem armen Geschöpfe an.«

»Ja, Ehrwald kann nicht leben, wenn er nicht täglich ein paar Stunden im Sattel ist,« sagte Selma. »Er ist allzusehr daran gewöhnt, sein Beruf bringt das so mit sich.«

»Dann soll er aber reiten wie ein Christenmensch und nicht seine wilden afrikanischen Gewohnheiten mit hierher bringen,« grollte Ulrike, bei der Reinhart nun einmal nicht zu Gnaden angenommen wurde. »Viel Vergnügen habt ihr übrigens in der letzten Zeit nicht gehabt von eurem ›berühmten Gast‹. Er geruhte immer übler Laune zu sein, und vollends heute, als er von Burgheim kam und gleich darauf fortritt, machte er ein Gesicht wie zehn Donnerwetter.«

»Ich finde auch, daß er seit einiger Zeit verstimmt ist,« pflichtete die Frau Hofrätin bei. »Aber das begreift sich, es ist der Abschied von Sonneck, der ihm schwer wird und auf ihm lastet.«

»Ein Glück, daß wir den behalten,« sagte Fräulein Mallner, für die Lothar Sonneck immer noch der »einzige Mensch« auf der Welt war und blieb. »Diesen Ehrwald gönne ich den Wilden von ganzem Herzen. Der gehört mit seinen halsbrecherischen Gewohnheiten überhaupt nach Afrika, wo er überall den Herrn und Meister spielen und Menschen und Tiere maltraitieren kann. Zu einem Wüstenhäuptling hat er das Zeug, aber nicht zu einem vernünftigen Menschen wie Herr Sonneck, der sich gescheiterweise hier in Deutschland zur Ruhe gesetzt hat. Er kommt doch heut' abend?«

»Gewiß, er hat es versprochen; aber Elsa werden wir leider nicht sehen, sie ließ mir durch meinen Mann sagen, daß sie heute bei Lady Marwood sein werde.«

Ein lautes Hallo verkündete, daß man drinnen mit den Vorbereitungen fertig war. Die drei Jungen kamen schleunigst herbeigestürzt, um das zu verkünden und die Mama und die Tante aufzufordern, sich die Herrlichkeit anzuschauen. Die beiden Damen ließen sich denn auch dazu bereit finden und die ganze Gesellschaft verfügte sich in das Haus.

Ehrwald befand sich unterdessen in seinem Zimmer, wo schon alles für die Abreise gepackt stand. Man sah es ihm an, daß er sich mit der Ermüdung nicht die Ruhe erjagt hatte, und doch galt es, heute abend bei dem letzten Zusammensein mit Lothar eine ruhige Stirn zu zeigen. Aber das Schwerste war ja überstanden, nun mußte auch dies Letzte noch ertragen werden.

Da ließ sich draußen ein eiliger Schritt hören, die Thür wurde aufgerissen und Hofrat Bertram erschien, mit einem ganz verstörten Gesicht.

»Da sind Sie ja, Ehrwald!« rief er hastig. »Wir müssen sofort nach Burgheim, eben kam ein Bote von dort. Es ist ein Unglück geschehen – mit Sonneck.«

Reinhart, der eben im Begriff war, noch einige Papiere in die Reisemappe zu legen, ließ diese fallen und fuhr auf.

»Lothar? Was ist mit ihm? Was ist geschehen?«

»Er hat die Pistole probieren oder reinigen wollen. Sie wissen ja, das Geschenk für Sie. Das unselige Ding war vermutlich doch nicht entladen, oder es ist sonst etwas damit passiert. Genug, Sonneck hat einen Schuß in die Brust erhalten, wahrscheinlich schwer, denn er liegt besinnungslos, der Bote meint gar – er läge im Sterben.«

Ehrwald stand wie erstarrt.

Der Mann, der doch mit Schrecknissen aller Art vertraut war, schien wie gelähmt durch die Nachricht. Aber was sich in seinen Zügen ausprägte, war mehr als Schreck, die Ahnung von etwas Entsetzlichem, Ungeheurem.

»Ich lasse eben anspannen,« fuhr Bertram fort. »In zehn Minuten wird der Wagen da sein, wir fahren bei Lady Marwood vorüber und nehmen Elsa gleich mit. – Mein Gott, Ehrwald, Sie sind ja wie vernichtet! Vielleicht ist die Nachricht übertrieben, man muß nicht gleich das Schlimmste fürchten! Jedenfalls müssen wir auf der Stelle hinaus!«

Die letzten Worte brachten Ehrwald zur Besinnung, er stürzte an das Fenster, riß es auf und rief dem Neger zu, der eben das Pferd aus dem Thore führte: »Zurück mit dem Pferde, Achmet – ich brauche es! Kommen Sie nach, Bertram, jagen Sie, was die Tiere laufen können! Ich muß voran!«

Damit eilte er auch schon die Treppe hinunter in den Garten, riß Achmet die Zügel aus der Hand und warf sich auf das Roß. Das Tier, erschöpft von dem vorhergehenden scharfen Ritte, wollte den Gehorsam versagen, aber der Reiter trieb es wie wahnsinnig an. Im rasenden Galopp ging es durch den Kurort, über die Brücke an der Stadt vorüber und den Weg nach Burgheim hinauf. Vor dem Gitterthor sprang Ehrwald aus dem Sattel, überließ das Tier sich selber und stürmte in das Haus.

In seinem Zimmer lag Sonneck auf dem Sofa, das Haupt mit Kissen gestützt, regungslos mit geschlossenen Augen und ohne Lebenszeichen, während sich der alte Bastian und eines der Mädchen mit allerlei Hilfeleistungen um ihn bemühten. Unter dem geöffneten Rock war das blutgetränkte Hemd sichtbar; es war offenbar noch nicht gelungen, das Blut zu stillen. Reinhart war an das Lager geeilt; ohne sich mit einer einzigen Frage aufzuhalten, entfernte er die Tücher und begann die Wunde zu untersuchen, während Bastian unaufgefordert berichtete, was er wußte.

Er hatte im Garten den Schuß gehört und war sofort hinaufgeeilt, da fand er den Herrn in seinem Blute. Herr Sonneck hatte noch die Kraft gehabt, ein paar Worte zu sprechen und das Unglück zu erklären, ehe er das Bewußtsein verlor. Demnach hatte er die Pistole reinigen wollen, sie hatte sich entladen, und die Kugel, die noch im Lauf steckte, traf ihn gerade in die Brust.

Ehrwald hörte das an, ohne ein Wort zu sprechen. Seit er die Wunde gesehen hatte, war sein Gesicht fast so farblos wie das des Schwerverletzten, aber er that mit gewohnter Geistesgegenwart, was der Augenblick forderte. Er schickte das Mädchen fort, um Wasser zu holen, befahl Bastian, die Hausapotheke herbeizuschaffen, und inzwischen legte er mit dem, was gerade zur Hand war, einen Notverband an.

Der Schmerz bei Berührung der Wunde erweckte Sonneck aus seiner Bewußtlosigkeit, er schlug langsam die Augen auf.

»Reinhart – du?« fragte er leise.

»Sprich nicht, rege dich nicht, sonst fließt das Blut wieder,« sagte Reinhart mit fliegendem Atem, während er den Verband vollendete; aber der Verwundete machte eine matte abwehrende Bewegung.

»Laß – es ist umsonst! Eine Unvorsichtigkeit – die Waffe entlud sich – ich wußte nicht –«

Er verstummte, denn Ehrwald hatte sich über ihn gebeugt und seine Augen bohrten sich förmlich ein in das Antlitz des Freundes. Es stand eine furchtbare Frage in diesem Blick voll stummer Todesangst, wenn sie auch die Lippen nicht aussprachen, und Sonneck schien das zu fühlen.

»Fasse dich,« murmelte er. »Sei ein Mann!«

»Lothar!« schrie steinhart plötzlich auf, es war ein Ruf der wildesten Verzweiflung. »Lothar!«

Sonneck zuckte leise zusammen bei dem Tone und wandte den Kopf seitwärts.

»Laß mich – du thust mir wehe!«

Da sank Ehrwald in die Kniee und brach in ein lautes Weinen aus. Er hatte die Thränen nicht gekannt seit seinen Knabenjahren, und es lag etwas Erschütterndes in diesem Weinen des sonst so eisernen Mannes.

»Mein armer Junge!« sagte Lothar weich. »Du hast mich sehr geliebt, ich weiß es, dir übergebe ich mein Liebstes, Elsa – nimm sie in deinen Schutz.«

»Nein, nein!« fuhr Reinhart mit einem Ausdruck des Entsetzens auf. »Nimmermehr! Das darfst du nicht fordern.«

Da legte sich die Hand des Sterbenden schwer und kalt auf die seinige und seine Stimme klang fast gebietend, in dem Aufflammen der letzten Kraft: »Ich will es! Ehre meinen letzten Willen!«

Ehrwald warf sich über ihn und umfaßte ihn mit beiden Armen, er sah ja, daß es hier nichts mehr zu schonen gab, aber er hörte auch die jetzt schon erlöschende Stimme, die jene Forderung wiederholte: »Elsa – laß sie nicht allein im Leben! Dein Versprechen, Reinhart – dein Wort!«

Die tiefen grauen Augen Lothars waren unverwandt auf ihn gerichtet und der nahende Tod gab ihnen etwas Geisterhaftes. Es stand kein Vorwurf darin, nur die verzeihende Liebe des Mannes, dem der Freund doch vielleicht teurer gewesen war als sein junges Weib. Reinhart wollte sich noch einmal aufbäumen, sich weigern, aber er stand unter dem Zwange jenes geisterhaften Blicks, der von ihm forderte, daß das Opfer nicht vergebens, daß das Blut, das der Todeswunde entquoll, nicht umsonst geflossen sei – da neigte er das Haupt auf die erkaltende Hand und preßte seine Lippen darauf. »Ich – verspreche es!«

Das waren die letzten Worte, die gesprochen wurden. Tiefes Schweigen herrschte in dem Gemach, das ganz erfüllt war von dem goldigen Glanze der Abendsonne, wie einst ein anderes Sterbezimmer im fernen Afrika. Aber hier blickten schneegekrönte Berggipfel durch das Fenster, und das Leben, das sich hier verblutete, war nur Segen gewesen für andere – selbst der Tod war es!

Reinhart hielt den Sterbenden in den Armen, aber er zwang den Sturm der Verzweiflung nieder, er wollte dem Freunde nicht wieder »wehe thun«. Ohne Laut, ohne Regung sah er Lothars Augen sich verschleiern und nahm den letzten Hauch von seinen Lippen, dann aber brach er wie vernichtet zusammen.

Draußen fuhr in stürmischer Eile ein Wagen vor und hielt vor dem Eingang. Er brachte den Arzt, der hier nicht mehr nötig war – und eine junge Witwe!

 

In den Straßen von Kairo flutete das gewohnte Leben und Treiben in unaufhörlichem Wechsel und ewiger Rastlosigkeit. Wagen und Pferde, lange Züge von Kamelen und die buntgezäumten Reitesel machten sich oft nur mühsam Bahn durch das Menschengewühl. Zwischen den dunkelfarbigen Gestalten der Orientalen in ihren bunten Gewändern sah man Europäer aller Nationen. Fliegende Händler priesen ihre Waren an, dicht verschleierte Frauen bewegten sich durch das Gedränge und im blendenden Glanze der Mittagsonne ragten die Paläste, die Moscheen und Palmengärten der schimmernden Stadt auf. Es war das alte malerische und phantastische Bild, und es hatte in all den Jahren nichts verloren von seinem reizvollen Zauber.

»Nun habe ich aber genug von diesem Staub und dieser Hitze,« sagte ein Herr, der mit einer Dame am Arm durch das Gewühl steuerte, in deutscher Sprache. »Man merkt es, daß wir in Afrika sind. Es ist Anfang Februar und wir werden langsam geröstet in der Sonnenglut! Und dazu dieser Lärm! Die Nerven hat man sich hier in Kairo gründlich abzugewöhnen.«

»Ja, Sie sind Ihr stilles Kronsberg gewöhnt, Herr Hofrat,« entgegnete die Dame; es war Frau Doktor Walter. »Wir sind hier mitten im Treiben der orientalischen Weltstadt.«

»Und wir sind Weltkurort, schon seit Jahren,« erklärte Hofrat Bertram mit Selbstgefühl. »Ich bin tief beleidigt, gnädige Frau, daß Sie Kronsberg noch immer für ein stilles kleines Bergnest zu halten scheinen, und bestehe darauf, daß Sie es sich diesmal in der Hauptsaison ansehen, wozu mir Kollege Walter bereits Hoffnung gemacht hat. Da können wir Ihnen mit einem halben Dutzend Potentaten aufwarten, die Millionäre wimmeln nur so auf unserer Kurpromenade und die Berühmtheiten sind überhaupt gar nicht mehr zu zählen.«

»Er streicht seine Schöpfung nach Kräften heraus,« sagte lachend Doktor Walter, der mit der Frau Hofrätin am Arme vorausging. »Sie haben ja doch eigentlich Kronsberg entdeckt, Kollege.«

»Zum Heil der Menschheit!« bestätigte dieser. »Allerdings auch zu meinem eigenen Heile. Meine jetzige Stellung ist doch etwas einträglicher als jene, welche ich damals als junger Schiffsarzt beim Lloyd bekleidete.«

»Und sie hat Ihnen doch das Allerbeste eingebracht,« scherzte Walter, mit einem Blick auf die blühende kleine Frau an seiner Seite. »Aber da sind wir bei unserem Hause, und im Garten ist es schattig und kühl, da können Sie sich von der afrikanischen Glut erholen.«

Sie hatten in der That das Waltersche Haus erreicht und traten jetzt in den Garten, der ebenso wie das Haus unverändert war, nur die Bäume waren höher, die Gebüsche dichter geworden; allein das erhöhte nur das Trauliche des Ortes, der noch immer wie eine kleine grüne Oase in dem Häusermeer der lärmenden, staubwirbelnden Stadt lag. Die kleine Gesellschaft ließ sich denn auch in aller Behaglichkeit an einem schattigen Platze nieder. Hofrat Bertram war mit seiner Frau erst vor acht Tagen angelangt und hatte den befreundeten Kollegen wieder aufgesucht. Das gab ein frohes Wiedersehen, auch zwischen den beiden Damen; Selma hatte ja ihre ganze Brautzeit in dem Walterschen Hause verlebt und man war stets im Briefwechsel geblieben.

»Es bleibt also dabei: Sie besuchen uns in Kronsberg, wenn Sie im Sommer nach Europa kommen,« hob Bertram wieder an. »Unsere Heilquellen werden Sie interessieren, Kollege, und bei der Gelegenheit können Sie auch eine alte Bekanntschaft erneuern. Ich schrieb es Ihnen ja, daß die Schwägerin meiner Frau sich in unserer unmittelbaren Nähe angekauft hat und seit drei Jahren auf ihrem Landgute lebt.«

»Jawohl, und wir haben Ihnen unser tiefstes Mitgefühl nicht vorenthalten,« versetzte Walter. »Meine Frau und ich, wir haben ja beide das Glück, Fräulein Ulrike Mallner zu kennen.«

»Bitte, die kennen Sie nicht,« widersprach der Hofrat. »Respekt vor unserer Tante Ulrike! Die ist der Abgott unserer Jungen, und mein Jüngster, der Hansel, verleugnet schnöde seine eigenen Eltern, wenn er bei der vielgeliebten Tante bleiben kann. Sie ist überhaupt ein wahrer Schatz für uns! Bei unserer Abreise hat sie sich die ganze kleine Gesellschaft nach Birkenfelde geholt, wo die Jungen natürlich nichts als Unfug anstiften. Sie wissen eben, daß sie sich dort alles erlauben dürfen, und werden dabei in unglaublicher Weise verzogen.«

Der Doktor und seine Frau schienen das für Scherz zu halten und hörten mit sehr ungläubiger Miene zu, aber Selma pflichtete ihrem Manne bei: »Gewiß, ich hätte mich ja nie zu der langen und weiten Reise entschlossen, wenn ich die Kinder nicht in den allerbesten Händen wüßte. Ulrike hat sie schon im vorigen Winter in ihre Obhut genommen, als wir in Berlin waren; sie vertritt Mutterstelle in aufopfernder Weise.«

»Nun, gnädige Frau, da Sie es so ernsthaft sagen, werden wir es wohl glauben müssen,« meinte Walter. »Es geschehen also noch Zeichen und Wunder auf Erden! Und auch Sie stehen sich jetzt gut mit der streitbaren Dame, Kollege?«

»Ausgezeichnet, wir zanken uns allerdings, so oft wir uns sehen, aber das ist nur äußerlich. Unsere verehrte Erbtante – ich nenne sie stets so, und sie ist jedesmal wütend darüber – schämt sich nämlich unendlich ihrer Bekehrung. Es soll kein Mensch etwas davon merken, deshalb benimmt sie sich möglichst berserkerhaft.«

»Das kann ich mir denken,« sagte Frau Walter lachend. »Ich erinnere mich ihrer noch ganz genau, sie war ein Original.«

»Das ist sie noch heute. Die Art zum Beispiel, wie sie mir ihre Testamentsbestimmungen ankündigte, war höchst originell. ›Freuen Sie sich nur nicht auf die Erbschaft!‹ schrie sie mich an. ›Sie bekommen nichts, keinen Pfennig, und Selma bekommt auch nichts, es ist alles den drei Jungens vermacht. Es sind zwar gottlose Rangen, aber sie können ja nicht dafür, daß sie so schlecht erzogen werden, und der Hansel wird Landwirt, das bitte ich mir aus, denn der erbt Birkenfelde.‹ So treibt sie es immer, und dabei überschüttet sie die Kinder mit Geschenken. – Gott sei Dank, jetzt fange ich an, mich hier im Schatten wieder menschlich zu fühlen! Wir Hochgebirgsleute müssen uns erst in Afrika acclimatisieren. Eigentlich kann ich es Frau Elsa nicht verdenken, daß sie nach Giseh hinausgegangen ist, um nicht tagtäglich den Staub und Lärm von Kairo zu haben. Da draußen sieht sie freilich nichts als die Pyramiden und die Wüste, und das ist auf die Dauer doch etwas einförmig. Was sagen Sie eigentlich zu Frau von Sonneck, Kollege?«

»Nun, ich dächte, da gebe es nur eine Meinung,« versetzte der Gefragte lächelnd. »Es war ja immer ein reizendes Kind, jetzt ist es eine vollendete Schönheit geworden.«

»Das will ich meinen! Wenn sie im Sommer von Burgheim kam, um uns zu besuchen, war die ganze männliche Kurbevölkerung auf den Beinen und promenierte an unserer Villa vorüber, allein sie zeigte sich unendlich gleichgültig dagegen.«

»Ja, Elsa ist mir in manchen Dingen rätselhaft,« sagte Selma nachdenklich. »Sonneck mag ja der trefflichste Gatte gewesen sein, aber er war doch beinahe vierzig Jahre älter als sie, und ihr Ehe hat überhaupt nur drei Monate gedauert. Dennoch beharrt sie auf ihrer Zurückgezogenheit. Wir waren ganz erstaunt, als sie mit dem Vorschlage zu dieser Reise hervortrat, sie gab ja eigentlich die Veranlassung dazu. Uebrigens wollte sie heute nach der Stadt kommen, um bei Lady Marwood einen Besuch zu machen.«

»Ja so, Lady Marwood!« fiel Bertram ein. »Sie war so liebenswürdig, mir zu erklären, ich und Kronsberg hätten sie gesund gemacht. Wir haben das wenigste dabei gethan. Die Erlösung von den Ketten dieser unglücklichen Ehe und der unbestrittene Besitz ihres Kindes, das brachte ihr die Genesung. Der kleine Percy hat sich ja prächtig entwickelt, und seine Mutter scheint hier in Kairo die erste Rolle zu spielen.«

»Gewiß, sie ist der strahlende Mittelpunkt unserer Gesellschaft und hat die großartige Gastfreundschaft des einstigen Osmarschen Hauses im vollsten Maße wieder aufgenommen. Man findet bei ihr alles, was auf Bedeutung Anspruch macht. Aber obwohl die noch immer sehr schöne Frau mit ihrem fürstlichen Reichtum von allen Seiten umworben wird, verlautet von einer zweiten Ehe noch nichts.«

»Das hat vielleicht seine Gründe,« sagte der Hofrat mit einem vielsagenden Lächeln. »Wer weiß, ob uns die nächste Zeit nicht eine Ueberraschung bringt – Ehrwald kehrt ja jetzt von seinem Zuge zurück.«

»Allerdings, er hatte nach den letzten Nachrichten bereits die Nilstation erreicht und kann jeden Tag eintreffen. Glauben Sie wirklich, daß zwischen ihm und Lady Marwood –?«

»Wenigstens wurde in Kronsberg viel über die beiden gesprochen. Es soll sich da um eine alte Jugendneigung handeln. Freilich, als Ehrwald vor drei Jahren Europa verließ, dachte er nicht an solche Dinge. Der Tod Sonnecks hatte ihn in einer Weise getroffen, die ich bei dem sonst so eisernen Mann gar nicht für möglich gehalten hätte.«

»Es war aber auch ein tragisches Geschick,« sagte Doktor Walter ernst. »Sonneck hatte so viele Gefahren überstanden und noch im letzten Jahre eine schwere Krankheit glücklich überwunden, und nun erlag er einem bloßen Zufall, einer Unvorsichtigkeit, und die eigene Waffe gab ihm den Tod.«

»Ja, es war ein entsetzlicher Vorfall,« stimmte Bertram bei, »und Ehrwalds Schmerz über den jähen Verlust war wohl zu begreifen. Aber er war förmlich zerschmettert dadurch, und sobald die Bestattung vorüber war, brach er auf, als jagte ihn etwas davon. Er war keinen Tag länger zu halten.«

»Die deutsche Kolonie plant einen großen Empfang bei seiner Rückkehr,« erklärte Walter, »und wir haben auch alle Ursache, ihn zu feiern. Was hat der Mann wieder geleistet und errungen auf diesem Zuge! Welche Gebiete hat er uns erschlossen! Wenn Lady Marwood wirklich einen Entschluß faßt, wie Sie ihn andeuten, so wird das niemand überraschen. Der Name Reinhart Ehrwald hat jetzt einen Klang, der ihren Rang und Namen aufwiegt.«

Die kleine Gesellschaft begann jetzt ausführlich diese Frage zu erörtern, sie ahnte nicht, daß die Ueberraschung, die ihr allerdings in den nächsten Tagen bevorstand, eine ganz andere und ganz ungeahnte sein werde. –

Das Osmarsche Haus, das nach dem Tode des Konsuls jahrelang verschlossen und verlassen gestanden, hatte seine Pforten wieder geöffnet. Lady Marwood brachte jetzt stets den Winter in Kairo zu, während sie im Sommer regelmäßig einige Monate mit ihrem Sohne in England, auf den Marwoodschen Gütern verlebte. In die lange verödeten Räume war das einstige glanzvolle Leben wieder eingezogen, und die Herrin dieses Hauses war in der That der strahlende Mittelpunkt der Gesellschaft, welche jetzt Lady Marwood nicht weniger feierte als einst Zenaide von Osmar. Jene Gerüchte und Klatschereien, die sich früher an ihren Ruf gewagt, hörten auf mit den peinlichen Verhältnissen, die sie hervorriefen. Die Gemahlin des englischen Lords, die getrennt von ihrem Gatten allein und unstet in der Welt umherreiste, hatte der Verleumdung nur zu sehr Stoff geboten, sich mit ihr zu beschäftigen. Die Witwe und Mutter, die ganz in der Zärtlichkeit für ihr Kind aufging, hatte das nicht zu befürchten. Freilich war auch ihre Art zu leben eine andere geworden.

Auf der Gartenterrasse des Osmarschen Hauses befanden sich Lady Marwood und Elsa von Sonneck. Zenaide hatte sich nur wenig verändert, sie war noch dieselbe blendende Schönheit wie vor drei Jahren in Kronsberg, aber das Fieberhafte, krankhaft Ueberreizte, das damals in ihrem ganzen Wesen lag, war verschwunden. Statt dessen umgab sie wieder etwas von jenem träumerischen, halb schwermütigen Reiz, der einst das junge Mädchen umschwebte.

Sie saß in einem Morgenkleide von kostbarem orientalischen Stoff im Schaukelstuhl, den Kopf nachlässig zurückgelehnt; wer diesen herrlichen Kopf mit dem bläulich schwarzen Haar und den tiefdunklen, feuchten Augen sah, der begriff es, daß Zenaide Marwood nicht nur ihres Reichtums wegen von allen Seiten noch umworben wurde, obgleich die Jugend bereits hinter ihr lag.

In der jungen Frau dagegen, die neben ihr stand und in den Garten hinausblickte, hätte niemand eine Frau oder gar eine Witwe vermutet, denn ihre ganze Erscheinung hatte noch etwas ungemein Zartes und Mädchenhaftes. Elsa war freilich kaum einundzwanzig Jahre alt, und so sieghaft sich ihre Schönheit auch entfaltet hatte, es lag darin noch immer etwas von der tauigen Frische einer eben erst erblühten Knospe.

Jetzt, wo der jahrelange Druck einer tyrannischen Erziehung geschwunden war, erinnerte wieder so vieles an das kleine sonnige Wesen, das einst hier auf dieser Terrasse gespielt hatte. Das war wieder jener berückende Liebreiz, mit dem sich das schöne blonde Kind in alle Herzen stahl, und zugleich jener Zug leidenschaftlichen Trotzes, der sich selbst jetzt noch in leichter Andeutung verriet. Vielleicht war es gerade diese leise Beimischung von Herbheit, die der jungen Frau diesen eigenartigen Zauber gab, sie war und blieb nun einmal die Tochter Bernrieds.

Nie beiden Damen sprachen von dem, was jetzt so ziemlich alle Kreise in Kairo beschäftigte, von der bevorstehenden Rückkehr Reinhart Ehrwalds, und Lady Marwood erörterte das im Tone ruhiger, freundschaftlicher Teilnahme.

»Also auch Hofrat Bertram und seine Frau wissen noch nichts?« fragte sie. »Ihnen hättest du doch bei der Abreise die Wahrheit eingestehen können.«

»Ich bin mit Reinhart übereingekommen, daß unsere Verlobung bis zu seiner Ankunft Geheimnis bleibt,« entgegnete Elsa. »Dir freilich konnte ich es nicht ableugnen, du hattest es ja längst erraten.«

»Erraten – jawohl!« Zenaide mochte an die Stunde denken, wo sie von Ehrwalds eigenen Lippen das Geständnis gehört hatte, aber sie fuhr ruhig fort: »Seit du Witwe bist, wußte ich, daß eure Verbindung nur eine Frage der Zeit war. Ihr wollt also hier in Kairo eure Vermählung feiern?«

»Ja, sobald als möglich, und dann kehren wir vorläufig nach Europa zurück. Reinhart will ja mit diesem Zuge seine Entdeckungsfahrten abschließen.«

»Um sich nicht immer wieder von dir trennen zu müssen,« ergänzte Zenaide. »Ich begreife das.«

»Ich glaube auch, daß ihn das hauptsächlich bestimmt hat,« sagte die junge Frau, »aber es wurden schon vor drei Jahren Verhandlungen von anderer Seite angeknüpft, die sich damals zerschlugen. Jetzt hat man ihm in Berlin neue und glänzende Anträge gemacht, die er vermutlich annehmen wird.«

»Das war vorauszusehen. Nach den großartigen Erfolgen, die er jetzt wieder errungen hat, wird man alles mögliche aufbieten, um ihn zu gewinnen und sich seine Kraft zu sichern. Wann erwartest du ihn?«

»Der Nildampfer soll morgen eintreffen. Reinhart hat mich gebeten, ihn in Giseh zu erwarten, damit wir wenigstens die erste Zeit des Wiedersehens für uns allein haben.«

»Er hat ganz recht, hier in Kairo würde man euch keine ruhige Stunde lassen. Sobald er da ist, drängt sich alles an ihn, um ihn zu feiern und zu beglückwünschen. Ihr werdet noch später genug davon aushalten müssen – und ihr müßt euch ja doch eigentlich erst kennen lernen.«

»Kennen lernen?« Die junge Frau lächelte. »Wir lieben uns ja.«

»Meinst du, daß das genug ist für die ganze Zukunft?«

»Ich denke doch!«

»Du hast Reinhart drei Jahre lang nicht gesehen, nur brieflich mit ihm verkehrt, und denkst es dir so leicht, an seiner Seite zu leben? Ich fürchte, du wirst noch bisweilen mit ihm kämpfen müssen, trotz seiner Leidenschaft für dich. Lerne erst diesen Mann ergründen, der mit seiner stürmischen, gewaltsamen Natur alles in seinen Bannkreis reißen will, der in seinem Wesen so manche dunkle Tiefe hat, die du noch nicht kennst. Hast du keine Furcht davor?«

Elsa hob den blonden Kopf mit einer beinah trotzigen Bewegung.

»Nein, vor dem Manne, den ich liebe, habe ich keine Furcht. Es mag ja sein, daß mir noch manches in ihm dunkel und fremd ist, aber er kennt mein innerstes Wesen vielleicht auch noch nicht, er muß das auch erst kennen lernen.«

»Das klingt sehr stolz,« sagte Zenaide mit leisem Spott. »Nimm dich in acht, Elsa, und fordere nicht zu viel von ihm! Da draußen auf seinen Zügen ist er jahrelang der unumschränkte Gebieter gewesen, der Herr über Leben und Tod, und die Herrschsucht liegt überhaupt in seinem Charakter. Glaubst du, daß er da ein fügsamer Gatte sein wird?«

»Nein, und das fordere ich auch nicht, aber was ich ihm gebe, das muß er mir zurückgeben in demselben Maße. Wenn er bei anderen der Herr und Gebieter ist, bei seinem Weibe muß er um Liebe werben und sie sich erhalten – wer weiß, ob ich ihm das so leicht mache!«

Die letzten Worte klangen wie Scherz, und doch, als die junge Frau so dastand und die blauen Augen aufsprühten, lag in ihrer Haltung wieder jene herbe Sprödigkeit, die bisweilen durch all die sonnige Liebenswürdigkeit ihres Wesens brach. Zenaide hatte sich emporgerichtet und streifte sie mit einem seltsam düstern Blick. Sie, die gefeierte Schönheit, die reiche Erbin, hatte nur hingebende Liebe gekannt für den Reinhart, der damals doch noch ein unbekannter Fremdling war, und dies junge Wesen stellte sich so ruhig, so zuversichtlich an die Seite des Mannes, der jetzt auf der Höhe seiner Erfolge stand, und forderte von ihm, er solle noch werben um die bereits gewonnene Braut. Und vielleicht gerade dadurch hatte sie Reinhart angezogen und gewonnen!

Elsa faßte dies Schweigen falsch auf, sie sagte hastig, als gälte es, ein Unrecht wieder gut zu machen: »O, du darfst mich nicht mißverstehen. Ich wäre jeden Augenblick bereit, mein Leben für Reinhart hinzugeben –«

»Aber nicht deinen Willen,« ergänzte Zenaide. »Das hast du ihm ja schon als Kind gezeigt, bei eurer ersten Begegnung. Er wollte dich küssen und du wolltest es nicht leiden, da erzwang er übermütig den Kuß. Ein anderes Kind hatte sich gefügt oder geweint, du schlugst ihn dafür im vollsten Zorn und trotztest noch wochenlang mit ihm – da fing er schon an, dich zu lieben!«

Die junge Frau senkte die Augen und eine tiefe Röte stieg in ihrem Antlitz auf.

»O, das war eine Kinderei!«

»Und doch entscheidend für euch beide. Ein Mann wie Ehrwald erträgt nun einmal keine bedingungslose Hingebung. Die ist wertlos für ihn. Du wirst ihn zwingen, auch als Gatte immer wieder von neuem um dich zu werben – dich wird er lieben, bis ans Ende.«

Es lag eine kaum verschleierte Bitterkeit in den Worten und Elsa fühlte das, doch bevor sie noch etwas erwidern konnte, wurde die Thür des Gartensaals geöffnet und Percy stürmte auf die Terrasse. Er hatte eine kleine Reitpeitsche in der Hand und kam eben von dem kurzen Morgenritte zurück, den er täglich mit seinem Erzieher machte, aber er begrüßte seine Mutter mit so ungestümer Zärtlichkeit, als habe er sie tagelang nicht gesehen. Zenaide streckte ihm die Arme entgegen und strich ihm dann die Haare aus dem erhitzten Gesicht.

»Da bist du ja, du Wildfang!« sagte sie zärtlich. »Aber siehst du denn Tante Elsa nicht?«

Der kleine Lord bemerkte in der That erst jetzt die junge Frau und beeilte sich, ihr die Hand zu küssen, dann aber kehrte er schleunigst zu seiner Mutter zurück. Seine Aehnlichkeit mit ihr trat jetzt noch deutlicher hervor als damals vor drei Jahren. Es waren Zenaidens Züge, ihre Augen, selbst ihre Leidenschaftlichkeit, die sich in dem ganzen Wesen des Knaben verriet. Auch nicht das geringste erinnerte an den Vater. Er begann jetzt allerlei kleine Erlebnisse von seinem Ritt zu berichten und verlangte schließlich, die Mama solle mit ihm zu dem Pony- und Eselreiten fahren, das am heutigen Nachmittag stattfand.

»Nein, mein Liebling, heute nachmittag sehe ich Gäste bei mir, das weißt du ja,« sagte Zenaide. »Aber ich fahre gegen Abend mit dir aus.«

»Gäste?« schmollte Percy, mit einem bitterbösen Gesichtchen. »O Mama, dann sehe ich dich wieder zwei oder gar drei Stunden nicht.«

»Du bist ein eifersüchtiger kleiner Herr,« sagte Elsa lächelnd. »Willst du denn deine Mama für dich ganz allein haben? Du mußt sie doch auch einmal der Gesellschaft gönnen.«

»Nein, meine Mama gönne ich keinem, die gehört mir ganz allein!« erklärte Percy trotzig und legte den Arm um sie, als wollte er sein Alleinrecht wahren. Zenaide zog ihn an sich und küßte ihn.

»Sie will auch niemand gehören als dir, mein Percy – Willst du schon fort, Elsa?«

»Ich möchte noch zu Doktor Walter fahren und denke, dort meine Reisegefährten zu finden. Entschuldige mich für heute!«

»Nun denn auf Wiedersehen!« sagte Lady Marwood, indem sie sich erhob und ihr die Hand hinstreckte.

»Und wenn Ehrwald kommt, so sage ihm auch ein Willkommen von mir und Percy. Wir lassen ihn grüßen!«

Die junge Frau küßte den kleinen Lord und verabschiedete sich dann. Zenaide war an die Brüstung der Terrasse getreten und brach jetzt eine der dunkelroten Rosen, die sich über den weißen Marmor rankten. Eine solche duftende Purpurblume hatte einst Reinhart aus ihrer Hand empfangen und er hatte sie achtlos verloren und verwelken lassen. Doch das schöne herbe Edelweiß da droben, auf steiler Felsenhöhe, zu dem er hinaufdringen mußte mit Mühe und Gefahr, das barg er als köstliches Gut an seiner Brust.

Arme Rose! Sie entglitt den Händen der schönen Frau und fiel zu Boden. Percy jedoch hob sie auf und steckte sie in seine Sammetbluse. Er war ganz Eifer und Aufregung, denn er hatte den Gruß gehört, den Elsa bestellen sollte. Der kleine Lord wußte sehr gut, wer ihn gerettet hatte bei jenem Sturme, der seinem Vater das Leben kostete, und Ehrwald, von dessen Zügen und Thaten er so viel gehört hatte, war der Held seiner Knabenphantasie geworden. Er bestürmte daher die Mutter mit allen möglichen Fragen.

»Du läßt Onkel Ehrwald grüßen, Mama – ist er denn schon da? Woher kennt ihn Tante Elsa? Sie ist ja eben erst aus Europa gekommen und er war so lange in Afrika? Und weshalb kommt er zuerst zu ihr und nicht zu uns?«

»Weil Tante Elsa seine Braut ist!« sagte Zenaide leise.

»Ah!« rief Percy überrascht. »Dann hat er sie wohl sehr lieb?«

»Ja – sehr lieb!«

Der Knabe fragte weiter, er wollte alles mögliche wissen, erhielt aber keine Antwort. Zenaidens Augen blickten wie traumverloren in die Ferne. Da tauchte sie noch einmal auf, die Jugendliebe, die so lange wie eine leuchtende Fata Morgana am Horizont ihres Lebens gestanden hatte. Sie grüßte zum letztenmal und entschwebte dann für immer.

»Mama, du weinst ja!« rief Percy und schlang beide Arme um die Mutter. Das rief sie in die Wirklichkeit zurück. Aus dem Thränenschleier, in dem jenes Traumbild unterging, dämmerte das schöne lebensvolle Antlitz ihres Knaben hervor und sie hörte seine halb angstvolle, halb schmeichelnde Bitte: »Mama, süße Mama, nicht weinen!«

Da richtete sich Zenaide empor, und ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an ihre Brust pressend, flüsterte sie: »Nein, ich weine nicht mehr. Ich habe ja dich, mein Percy, mein geliebtes Kind, mein Alles!« – –

 

Die Schwalben sammelten sich bereits zum Fluge über das Meer, um dem Norden die Botschaft des nahenden Frühlings zu bringen. Auch der Dampfer, der jetzt die Reede von Alexandrien verließ, nahm seinen Kurs nach Norden. Es war in der ersten Morgenfrühe, die Passagiere, die gestern abend schon an Bord gekommen waren, schliefen noch in den Kajüten, und außer dem Kapitän, der auf der Kommandobrücke stand, und der Mannschaft befanden sich nur ein Herr und eine Dame auf dem Deck, ein neuvermähltes Paar, das aus Kairo nach Deutschland zurückkehrte. Das Schiff steuerte der offenen See zu, noch waren die Stadt und der Hafen deutlich sichtbar, aber sie lagen im kalten farblosen Morgenlichte, nur ein aufdämmernder rosiger Schein im Osten verkündete den nahen Sonnenaufgang.

Reinhart Ehrwald hatte den Arm um seine junge Gattin gelegt, die ihm erst vor wenigen Tagen angetraut worden war, und sie blickten beide zurück nach der entschwindenden Küste. Es war kein tändelndes Liebesgeflüster, das sie tauschten, stürmisch und leidenschaftlich wie die ganze Natur des Mannes war auch seine Werbung gewesen und das verriet sich jetzt in seiner Zärtlichkeit.

In Ehrwalds äußerer Erscheinung hatten die letzten drei Jahre nichts geändert, es war noch die hohe, kraftvolle und markige Gestalt, das dunkle energische Antlitz, die flammenden gebieterischen Augen. Das alles war unberührt geblieben von den neuen Kämpfen und Thaten, die er zu den alten gefügt hatte. Aber ein Zug hatte sich in seine Stirn gegraben, der früher nicht dagewesen war und der auch nicht jenen Kämpfen und Gefahren entstammte. Die tiefe düstere Falte, die jetzt zwischen den Brauen stand, hatte er aus der Heimat mitgebracht – vom Grabe des Freundes.

»Nun bist du mein, endlich mein!« sagte er, mit einem tiefen Atemzug. »Die Verheißung, die mir vor Jahren hier aufging, hat doch Wort gehalten. Sie gab mir das Glück!«

Elsa lächelte und lehnte das Haupt an seine Schulter.

»Hast du deshalb darauf bestanden, daß unsere Vermählung hier vollzogen werde? Freilich, du hast dir ja ein Heimatsrecht erobert in dieser fremden Welt.«

Reinharts Antlitz verdüsterte sich und seine Stimme sank, als er antwortete: »Das war es nicht, weshalb ich dich bat, mich hier zu erwarten. Ich wollte deine Hand nicht in Kronsberg empfangen, nicht dort, wo Lothar unter den Tannen von Burgheim schläft, wo er – starb.«

»Mir ist die Stätte teuer,« sprach Elsa leise. »Ich habe Lothar wie einen teuren Vater geliebt und betrauert; er war so gut und edel, er würde sicher keinen Vorwurf für unser Glück haben.«

»O nein, er nicht!« sagte Reinhart dumpf und schwer. »Er hat dich mir ja noch sterbend ans Herz gelegt.«

»That er das wirklich?« In dem Auge der jungen Frau quoll eine heiße Thräne auf. »Ich fand ihn ja nicht mehr lebend und du wolltest mir damals nichts sagen über seine letzten Augenblicke, du hattest nur finsteres Schweigen auf all meine Fragen. Auch jetzt noch, Reinhart?«

Ehrwald sah nieder auf das schöne Antlitz, das so bittend, so ahnungslos zu ihm aufblickte, und tiefer und düsterer grub sich jene Falte in seine Stirn, aber er schwieg. Das, was nie ausgesprochen, nie zugestanden worden war und dennoch als furchtbare Gewißheit in seiner Seele stand, das blieb sein Geheimnis. Er trug es ja, allein er brauchte seine ganze eiserne Kraft, um es zu tragen. Elsa durfte nicht ahnen, um welchen Preis ihr Glück erkauft war, ihr hätte es das Leben und die Zukunft vergiftet.

»Erlaß mir das!« sagte er endlich. »Ich kann nicht darüber sprechen, auch zu dir nicht. Ich kann nicht, Elsa«

Es lag eine mühsam verhaltene Qual in den Worten. Elsa wußte, wie sehr er den Freund geliebt hatte, und sie fragte und forschte nicht weiter, sie sah es ja, daß er litt durch ihre Fragen.

Der Mastenwald des Hafens und die Stadt mit ihren weißschimmernden Häusern und Türmen wichen weiter und weiter zurück. Bald war nur noch die Küste sichtbar, die auf den Meereswogen zu schwimmen schien mit ihren ragenden Palmen, aber der rosige Schein war zur dunklen Glut geworden.

Reinharts Blick hing unverwandt daran. So hatte sie ihn einst gegrüßt, die Ferne, der er mit stürmischer Sehnsucht zujubelte. Nun hatte er sie durchmessen und bezwungen, aber was er dort gefunden, war nur Kampf und Streit gewesen, nur heißes, mühevolles Ringen. Jenes Wunderland voll Glanz und Licht, das er zu erjagen träumte, das stand auch heute noch so fern am Horizont wie die leuchtende Küste dort, das stieg nimmer herab zur Wirklichkeit. Aber das Glück, das er in jenem Traumland gesucht, das stand jetzt wieder neben ihm, wie einst, wo er es noch nicht erkannte, und sah ihn an mit den großen leuchtenden Kinderaugen – aus dem Antlitz seines Weibes.

»Da entschwindet uns das Sonnenland!« sagte die junge Frau leise.

»Aber nicht für immer,« ergänzte Ehrwald. »Wir werden ja jetzt bald die Heimat grüßen, aber früher oder später mußt du doch wieder mit mir hinaus in die weite Ferne. Wird dich das Heimweh nicht verzehren, Elsa? Es lebt sich schwer unter fremdem Himmel, unter fremden Völkern. Du wirst viel vermissen und viel entbehren in jenen heißen Zonen.«

»Aber ich werde bei dir sein – und wir lieben uns ja!«

Es waren dieselben Worte, die Elsa so freudig, so siegesgewiß der Warnung Zenaidens entgegengesetzt hatte, und sie bannten auch jetzt die düstere Wolke auf der Stirn ihres Gatten. Seine ganze leidenschaftliche Liebe flammte auf und mit ihr der alte feurige Lebensmut, der Mut, glücklich zu sein, trotz der düstern Erinnerung und ihres Schattens.

»Ja, wir lieben uns!« wiederholte er fest. »Und damit wollen wir es uns schaffen und erhalten, unser Glück.«

Der ganze östliche Himmel loderte jetzt in purpurner Pracht, die ferne Küste schien in rotem Feuerschein zu stehen. Wie auf flammendem Hintergrunde erhoben sich die Palmen, hinter denen es jetzt emporschoß wie feurige Lohe. In leuchtenden Morgengluten grüßte es noch einmal die Scheidenden und versank dann in den blauen Wogen – das Wunderreich der Fata Morgana.