Title: Vor Sonnenaufgang: Soziales Drama
Author: Gerhart Hauptmann
Release date: June 2, 2016 [eBook #52218]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
Credits: Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the Online
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Vor Sonnenaufgang
Von Gerhart Hauptmann erschienen im gleichen Verlage:
Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama. | 9. Auflage. |
Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe. | 4.-5. Auflage. |
Einsame Menschen. Drama. | 13.-14. Auflage. |
De Waber. Schauspiel aus den 40er Jahren. Originalausgabe. | 2. Auflage. |
Die Weber. Schauspiel aus den 40er Jahren. Übertragung. | 27.-28. Auflage. |
College Crampton. Komödie. | 5.-6. Auflage. |
Bahnwärter Thiel. Der Apostel. Novellistische Studien. | 5.-6. Auflage. |
Der Biberpelz. Eine Diebskomödie. | 7.-8. Auflage. |
Hannele. Eine Traumdichtung. Illustriert (vergriffen). | |
Hanneles Himmelfahrt. Eine Traumdichtung. | 9.-10. Auflage. |
Florian Geyer. | 5.-6. Auflage. |
Die versunkene Glocke. Ein deutsches Märchendrama. | 49.-52. Auflage. |
Fuhrmann Henschel. Schauspiel. Originalausgabe. | 13.-16. Auflage. |
Fuhrmann Henschel. Schauspiel. Übertragung. | 9.-12. Auflage. |
Schluck und Jau. Spiel zu Scherz und Schimpf. | 8.-10. Auflage. |
Michael Kramer. Drama. | 9.-10. Auflage. |
Soziales Drama
von
Gerhart Hauptmann
Neunte Auflage
Berlin,
S. Fischer, Verlag,
1902
Sowohl Aufführungs- als Nachdrucks- und Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Den Bühnen gegenüber Manuskript.
Die Aufführung dieses Dramas fand am 20. Oktober statt in den Räumen des Lessing-Theaters, veranstaltet vom Verein „Freie Bühne“. Ich benutze den Anlaß der Herausgabe einer neuen Auflage, um aus vollem Herzen den Leitern dieses Vereins insgesammt, in Sonderheit aber den Herren Otto Brahm und Paul Schlenther zu danken. Möchte es die Zukunft erweisen, daß sie sich, indem sie, kleinlichen Bedenken zum Trotz, einem aus reinen Motiven heraus entstandenen Kunstwerk zum Leben verhalfen, um die deutsche Kunst verdient gemacht haben.
Charlottenburg, den 26. Oktober 1889.
Gerhart Hauptmann.
Besetzung bei der ersten Aufführung. |
||
Krause, Bauerngutsbesitzer | Hans Pagay. | |
Frau Krause, seine zweite Frau | Louise v. Pöllnitz. | |
Helene, | } Krause’s Töchter erster Ehe | Elsa Lehmann. |
Martha, | * * * | |
Hoffmann, Ingenieur, verheirathet mit Martha | Gustav Kadelburg. | |
Wilhelm Kahl, Neffe der Frau Krause | Carl Stallmann. | |
Frau Spiller, Gesellschafterin der Frau Krause | Ida Stägemann. | |
Alfred Loth | Theodor Brandt. | |
Dr. Schimmelpfennig | Franz Guthery. | |
Beibst, Arbeitsmann auf Krause’s Gut | Paul Pauly. | |
Guste, | } Mägde auf Krause’s Gut | Sophie Berg. |
Liese, | Clara Hahn. | |
Marie, | Antonie Ziegler. | |
Baer, genannt Hopslabaer | Ferdinand Meyer. | |
Eduard, Hoffmann’s Diener | Edmund Schmasow. | |
Miele, Hausmädchen bei Frau Krause | Helene Schüle. | |
Die Kuschenfrau | Marie Gundra. | |
Golisch, genannt Gosch. Kuhjunge | Georg Baselt. | |
Ein Packetträger | * * * |
Das Zimmer ist niedrig; der Fußboden mit guten Teppichen belegt. Moderner Luxus auf bäuerische Dürftigkeit gepfropft. An der Wand hinter dem Eßtisch ein Gemälde, darstellend einen vierspännigen Frachtwagen, von einem Fuhrknecht in blauer Blouse geleitet.
Miele, eine robuste Bauernmagd mit rothem, etwas stumpfsinnigem Gesicht; sie öffnet die Mittelthür und läßt Alfred Loth eintreten. Loth ist mittelgroß, breitschultrig, untersetzt, in seinen Bewegungen bestimmt, doch ein wenig ungelenk; er hat blondes Haar, blaue Augen und ein dünnes, lichtblondes Schnurrbärtchen, sein ganzes Gesicht ist knochig und hat einen gleichmäßig ernsten Ausdruck. Er ist ordentlich, jedoch nichts weniger als modern gekleidet. Sommerpaletot, Umhängetäschchen, Stock.
Miele. Bitte! Ich werde den Herrn Inschinnär glei ruffen. Wolln Sie nich Platz nehmen?!
Die Glasthür zum Wintergarten wird heftig aufgestoßen; ein Bauernweib, im Gesicht blauroth vor Wuth, stürzt herein. Sie ist nicht viel besser als eine Waschfrau gekleidet. Nackte, rothe Arme, blauer Kattunrock und Mieder, rothes punktirtes Brusttuch. Alter: Anfang 40, Gesicht hart, sinnlich, bösartig. Die ganze Gestalt sonst gut conservirt.
Frau Krause schreit. Ihr Madel!! ... Richtig! ... Doas Loster vu Froovulk! ... Naus! mir gahn nischt! ... Halb zu Miele, halb zu Loth. A koan orbeita, a hoot Oarme. Naus! hier gibbt’s nischt!
Loth. Aber Frau ... Sie werden doch ... ich ... ich heiße Loth, bin ... wünsche zu ... habe auch nicht die Ab....
Miele. A wull ock a Herr Inschinnär sprechen.
Frau Krause. Beim Schwiegersuhne batteln: doas kenn’ mer schunn. — A hoot au nischt, a hoot’s au ock vu ins, nischt iis seine! Die Thür rechts wird aufgemacht. Hoffmann steckt den Kopf heraus.
Hoffmann. Schwiegermama! — Ich muß doch bitten ... Er tritt heraus, wendet sich an Loth. Was steht zu ... Alfred! Kerl! Wahrhaftig ’n Gott, Du!? Das ist aber mal ... nein das is doch mal ’n Gedanke!
Hoffmann ist etwa dreiunddreißig alt, schlank, groß, hager. Er kleidet sich nach der neuesten Mode, ist elegant frisirt, trägt kostbare Ringe, Brillantknöpfe im Vorhemd und Berloques an der Uhrkette. Kopfhaar und Schnurrbart schwarz, der letztere sehr üppig, äußerst sorgfältig gepflegt. Gesicht spitz, vogelartig. Ausdruck verschwommen, Augen schwarz, lebhaft, zuweilen unruhig.
Loth. Ich bin nämlich ganz zufällig ....
Hoffmann aufgeregt. Etwas Lieberes ... nun aber zunächst leg ab! Er versucht ihm das Umhängetäschchen abzunehmen. — Etwas Lieberes und so Unerwartetes hätte mir jetzt — er hat ihm Hut und Stock abgenommen und legt beides auf einen Stuhl neben der Thür — hätte mir jetzt entschieden nicht passiren können, — indem er zurückkommt — entschieden nicht.
Loth sich selbst das Täschchen abnehmend. Ich bin nämlich — nur so per Zufall auf Dich — er legt das Täschchen auf den Tisch im Vordergrund.
Hoffmann. Setz’ Dich! Du mußt müde sein, setz’ Dich — bitte. Weißt De noch? wenn Du mich besuchtest, da hatt’st Du so ’ne Manier, Dich lang auf das Sopha hinfallen zu lassen, daß die Federn krachten; mitunter sprangen sie nämlich auch. Also Du, höre! mach’s wie damals.
Frau Krause hat ein sehr erstauntes Gesicht gemacht und sich dann zurückgezogen. Loth läßt sich auf einen der Sessel nieder, welche rings um den Tisch im Vordergrunde stehen.
Hoffmann. Trinkst Du was? Sag’! — Bier? Wein? Cognac? Kaffee? Thee? Es ist alles im Hause.
Helene kommt lesend aus dem Wintergarten; ihre große, ein wenig zu starke Gestalt, die Frisur ihres blonden, ganz ungewöhnlich reichen Haares, ihr Gesichtsausdruck, ihre moderne Kleidung, ihre Bewegungen, ihre ganze Erscheinung überhaupt verleugnen das Bauernmädchen nicht ganz.
Helene. Schwager, Du könntest ... Sie entdeckt Loth und zieht sich schnell zurück. Ach! ich bitte um Verzeihung. Ab.
Hoffmann. Bleib doch, bleib!
Loth. Deine Frau?
Hoffmann. Nein, ihre Schwester. Hörtest Du nicht, wie sie mich betitelte?
Loth. Nein.
Hoffmann. Hübsch! Wie? — Nu aber erklär’ Dich! Kaffee? Thee? Grog?
Loth. Danke, danke für alles.
Hoffmann präsentirt ihm Cigarren. Aber das ist was für Dich — nicht?! ... Auch nicht?!
Loth. Nein, danke.
Hoffmann. Beneidenswerthe Bedürfnißlosigkeit! Er raucht sich selbst eine Cigarre an und spricht dabei. Die A.. Asche, wollte sagen der ... der Tabak ... ä! Rauch natürlich ... der Rauch belästigt Dich doch wohl nicht?
Loth. Nein.
Hoffmann. Wenn ich das nicht noch hätte ... ach Gott ja, das bischen Leben! — Nu aber thu mir den Gefallen, erzähle was. — Zehn Jahre — bist übrigens kaum sehr verändert — zehn Jahre, ’n ekliger Fetzen Zeit — was macht Schn... Schnurz nannten wir ihn ja wohl? Fips, — die ganze heitere Blase von damals? Hast du den einen oder anderen im Auge behalten?
Loth. Sach mal, solltest Du das nicht wissen?
Hoffmann. Was?
Loth. Daß er sich erschossen hat.
Hoffmann. Wer? — hat sich wieder mal erschossen.
Loth. Fips! Friedrich Hildebrandt.
Hoffmann. I warum nich gar!
Loth. Ja! er hat sich erschossen — im Grunewald, an einer sehr schönen Stelle der Havelseeufer. Ich war dort, man hat den Blick auf Spandau.
Hoffmann. Hm! — Hätt ihm das nicht zugetraut, war doch sonst keine Heldennatur.
Loth. Deswegen hat er sich eben erschossen. — Gewissenhaft war er, sehr gewissenhaft.
Hoffmann. Gewissenhaft? Woso?
Loth. Nun, darum eben ... sonst hätte er sich wohl nicht erschossen.
Hoffmann. Versteh nicht recht.
Loth. Na, die Farbe seiner politischen Anschauungen kennst Du doch?
Hoffmann. Ja, grün.
Loth. Du kannst sie gern so nennen. Er war, dies wirst Du ihm wohl lassen müssen, ein talentvoller Jung. — Fünf Jahre hat er als Stuccateur arbeiten müssen, andere fünf Jahre dann, so zu sagen, auf eigene Faust durchgehungert und dazu kleine Statuetten modellirt.
Hoffmann. Abstoßendes Zeug. Ich will von der Kunst erheitert sein .... Nee! diese Sorte Kunst war durchaus nicht mein Geschmack.
Loth. Meiner war es auch nicht, aber er hatte sich nun doch einmal drauf versteift. Voriges Frühjahr schrieben sie da ein Denkmal aus; irgend ein Duodezfürstchen, glaub ich, sollte verewigt werden. Fips hatte sich betheiligt und gewonnen; kurz darauf schoß er sich todt.
Hoffmann. Wo da die Gewissenhaftigkeit stecken soll, ist mir völlig schleierhaft. — Für so was habe ich nur eine Benennung: Spahn — auch Wurm — Spleen — so was.
Loth. Das ist ja das allgemeine Urtheil.
Hoffmann. Thut mir leid, kann aber nicht umhin mich ihm anzuschließen.
Loth. Es ist ja für ihn auch ganz gleichgültig, was ...
Hoffmann. Ach überhaupt, lassen wir das. Ich bedauere ihn im Grunde ganz ebenso sehr wie Du, aber — nun ist er doch einmal todt, der gute Kerl; — erzähle mir lieber etwas von Dir, was Du getrieben hast, wie’s Dir ergangen ist.
Loth. Es ist mir so ergangen, wie ich’s erwarten mußte. — Hast Du gar nichts von mir gehört? — durch die Zeitungen mein ich.
Hoffmann ein wenig befangen. Wüßte nicht.
Loth. Nichts von der Leipziger Geschichte?
Hoffmann. Ach so, das! — Ja! — Ich glaube .... nichts Genaues.
Loth. Also, die Sache war folgende:
Hoffmann seine Hand auf Loth’s Arm legend. Ehe Du anfängst: willst Du denn gar nichts zu Dir nehmen?
Hoffmann. Auch nicht ein Gläschen Cognac?
Loth. Nein. Das am allerwenigsten.
Hoffmann. Nun, dann werde ich ein Gläschen .... Nichts besser für den Magen. Holt Flasche und zwei Gläschen vom Buffet, setzt alles auf den Tisch vor Loth. Grand Champagne, feinste Nummer; ich kann ihn empfehlen. — Möchtest Du nicht ....?
Loth. Danke.
Hoffmann kippt das Gläschen in den Mund. Oah! — na, nu bin ich ganz Ohr.
Loth. Kurz und gut: da bin ich eben sehr stark hineingefallen.
Hoffmann. Mit zwei Jahren, glaub ich?!
Loth. Ganz recht! Du scheinst es ja doch also zu wissen. Zwei Jahre Gefängniß bekam ich, und nach dem haben sie mich noch von der Universität relegirt. Damals war ich — einundzwanzig. Nun! in diesen zwei Gefängnißjahren habe ich mein erstes volkswirthschaftliches Buch geschrieben. Daß es gerade ein Vergnügen gewesen, zu brummen, müßte ich allerdings lügen.
Hoffmann. Wie man doch einmal so sein konnte! Merkwürdig! So was hat man sich nun allen Ernstes in den Kopf gesetzt. Baare Kindereien sind es gewesen, kann mir nicht helfen, Du! — nach Amerika auswandern ’n Dutzend Gelbschnäbel wie wir! — wir und Musterstaat gründen! Köstliche Vorstellung!
Loth. Kindereien?! — tjaa! In gewisser Beziehung sind es auch wirklich Kindereien gewesen! Wir unterschätzten die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens.
Hoffmann. Und daß Du nun wirk—lich hinaus gingst — nach Amerika — all—len Ernstes mit leeren Händen .... Denk’ doch mal an, was es heißt, Grund und Boden für einen Musterstaat mit leeren Händen erwerben zu wollen: das ist ja beinahe ver.... jedenfalls ist es einzig naiv.
Loth. Ach, gerade mit dem Ergebniß meiner Amerikafahrt bin ich ganz zufrieden.
Hoffmann laut auflachend. Kaltwasserkur, vorzügliche Resultate, wenn Du es so meinst ...
Loth. Kann sein, ich bin etwas abgekühlt worden; damit ist mir aber gar nichts Besonderes geschehen. Jeder Mensch macht seinen Abkühlungsprozeß durch. Ich bin jedoch weit davon entfernt, den Werth der .... nun, sagen wir hitzigen Zeit zu verkennen. Sie war auch gar nicht so furchtbar naiv, wie Du sie hinstellst.
Hoffmann. Na, ich weiß nicht?!
Loth. Du brauchst nur an die Durchschnittskindereien unserer Tage denken: das Couleurwesen auf den Universitäten, das Saufen, das Pauken. Warum all der Lärm? Wie Fips zu sagen pflegte: um Hekuba!
Um Hekuba drehte es sich bei uns doch wohl nicht; wir hatten die allerhöchsten menschheitlichen Ziele im Auge. Und abgesehen davon, diese naive Zeit hat bei mir gründlich mit Vorurtheilen aufgeräumt. Ich bin mit der Scheinreligion und Scheinmoral und mit noch manchem Anderen ....
Hoffmann. Das kann ich Dir ja auch ohne Weiteres zugeben. Wenn ich jetzt doch immerhin ein vorurtheilsloser, aufgeklärter Mensch bin, dann verdanke ich das, wie ich gar nicht leugne, den Tagen unseres Umgangs. — Natürlicherweise! — Ich bin der letzte, das zu leugnen. — Ich bin überhaupt in keiner Beziehung Unmensch. Nur muß man nicht mit dem Kopfe durch die Wand rennen wollen. — Man muß nicht die Uebel, an denen die gegenwärtige Generation, leider Gottes, krankt, durch noch größere verdrängen wollen; man muß — alles ruhig seinen natürlichen Gang gehen lassen. Was kommen soll, kommt! Praktisch, praktisch muß man verfahren! Erinnere Dich! Ich habe das früher gerade so betont, und dieser Grundsatz hat sich bezahlt gemacht. — Das ist es ja eben. Ihr alle — Du mit eingerechnet — Ihr verfahrt höchst unpraktisch.
Loth. Erklär’ mir eben mal, wie Du das meinst.
Hoffmann. Einfach! Ihr nützt Eure Fähigkeiten nicht aus. Zum Beispiel Du: ’n Kerl wie Du, mit Kenntnissen, Energie etc., was hätte Dir nicht offen gestanden! Statt dessen, was machst Du? Com—pro—mit—tirst Dich von vornherein der—art ... na, Hand auf’s Herz! hast Du das nicht manchmal bereut?
Loth. Ich konnte nicht gut bereuen, weil ich ohne Schuld verurtheilt worden bin.
Hoffmann. Kann ich ja nicht beurtheilen, weißt Du.
Loth. Du wirst das gleich können, wenn ich Dir sage: die Anklageschrift führte aus, ich hätte unseren Verein Vancouver-Island nur zum Zwecke parteilicher Agitation ins Leben gerufen; dann sollte ich auch Geld zu Parteizwecken gesammelt haben. Du weißt ja nun, daß es uns mit unseren colonialen Bestrebungen Ernst war, und was das Geldsammeln anlangt, so hast Du ja selbst gesagt, daß wir alle miteinander leere Hände hatten. Die Anklage enthält also kein wahres Wort, und als Mitglied solltest Du das doch ...
Hoffmann. Na — Mitglied war ich doch wohl eigentlich nicht so recht. — Uebrigens glaube ich Dir selbstredend. — Die Richter sind halt immer nur Menschen, muß man nehmen. — Jedenfalls hättest Du, um praktisch zu handeln, auch den Schein meiden müssen. Ueberhaupt: ich habe mich in der Folge manchmal baß gewundert über Dich: Redacteur der Arbeiterkanzel, des obscursten aller Käseblättchen — Reichstagscandidat des süßen Pöbels! Und was hast Du nu davon? — versteh mich nicht falsch! Ich bin der letzte, der es an Mitleid mit dem armen Volke fehlen läßt, aber wenn etwas geschieht, dann mag es von oben herab geschehen! Es muß sogar von oben herab geschehen, das Volk weiß nun mal nicht, was ihm noth thut — das „Von-unten-herauf,“ siehst Du, das eben nenne ich das „Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-rennen.“
Loth. Ich bin aus dem, was Du eben gesagt hast, nicht klug geworden.
Hoffmann. Na, ich meine eben, sieh mich an! Ich habe die Hände frei: ich könnte nu schon anfangen was für die Ideale zu thun. — Ich kann wohl sagen, mein praktisches Programm ist nahezu durchgeführt. Aber Ihr ... immer mit leeren Händen, was wollt denn Ihr machen?
Loth. Ja, wie man so hört: Du segelst stark auf Bleichröder zu.
Hoffmann geschmeichelt. Zu viel Ehre — vorläufig noch. Wer sagt das? — Man arbeitet eben seinen soliden Stiefel fort. Das belohnt sich naturgemäß — wer sagt das übrigens?
Loth. Ich hörte darüber in Jauer zwei Herren am Nebentisch reden.
Hoffmann. Ä! Du! — Ich habe Feinde! — Was sagten die denn übrigens?
Loth. Nichts Besonderes. Durch sie erfuhr ich, daß Du Dich zur Zeit eben hier auf das Gut Deiner Schwiegereltern zurückgezogen hast.
Hoffmann. Was die Menschen nicht alles ausschnüffeln! Lieber Freund! Du glaubst nicht, wie ein Mann in meiner Stellung auf Schritt und Tritt beobachtet wird. Das ist auch so ’n Uebelstand des Reich.... — Die Sache ist nämlich die: ich erwarte der größeren Ruhe und gesünderen Luft wegen die Niederkunft meiner Frau hier.
Loth. Wie paßt denn das aber mit dem Arzt? Ein guter Arzt ist doch in solchen Fällen von allergrößter Wichtigkeit. Und hier auf dem Dorfe ....
Hoffmann. Das ist es eben: der Arzt hier ist ganz besonders tüchtig; und, weißt Du, so viel habe ich bereits weg: Gewissenhaftigkeit geht beim Arzt über Genie.
Loth. Vielleicht ist sie eine Begleiterscheinung des Genies im Arzt.
Hoffmann. Mein’twegen, jedenfalls hat unser Arzt Gewissen. Er ist nämlich auch so’n Stück Ideologe, halb und halb unser Schlag — reussirt schauderhaft unter Bergleuten und auch unter dem Bauernvolk. Man vergöttert ihn geradezu. Zu Zeiten übrigens ’n recht unverdaulicher Patron, ’n Mischmasch von Härte und Sentimentalität. Aber, wie gesagt, Gewissenhaftigkeit weiß ich zu schätzen! — Unbedingt! — Eh ich’s vergesse .... es ist mir nämlich darum zu thun .... man muß immer wissen, wessen man sich zu versehen hat .... Höre! .... sage mir doch .... ich seh Dir’s an, die Herren am Nebentische haben nichts Gutes über mich gesprochen. — Sag’ mir doch, bitte, was sie gesprochen haben.
Loth. Das sollte ich wohl nicht thun, denn ich will Dich nachher um zweihundert Mark bitten, geradezu bitten, denn ich werde sie Dir wohl kaum je wiedergeben können.
Hoffmann zieht ein Checbuch aus der Brusttasche, füllt einen Chec aus, übergiebt ihn Loth. Bei irgend einer Reichsbankfiliale .... Es ist mir ’n Vergnügen ....
Loth. Deine Fixigkeit übertrifft alle meine Erwartungen. — Na! — ich nehm es dankbar an und Du weißt ja: übel angewandt ist es auch nicht.
Hoffmann mit Anflug von Pathos. Ein Arbeiter ist seines Lohnes werth! — Doch jetzt, Loth, sei so gut, sag’ mir, was die Herren am Nebentisch ....
Loth. Sie haben wohl Unsinn gesprochen.
Hoffmann. Sag’ mir’s trotzdem, bitte! — Es ist mir lediglich interessant, ledig—lich interessant —
Loth. Es war davon die Rede, daß Du hier einen anderen aus der Position verdrängt hättest, — einen Bauunternehmer Müller.
Hoffmann. Na—tür—lich! diese Geschichte!
Loth. Ich glaube, der Mann sollte mit Deiner jetzigen Frau verlobt gewesen sein.
Hoffmann. War er auch. — Und was weiter?
Loth. Ich erzähle Dir alles, wie ich es hörte, weil ich annehme: es kommt Dir darauf an, die Verleumdung möglichst getreu kennen zu lernen.
Hoffmann. Ganz recht! Also?
Loth. So viel ich heraus hörte, soll dieser Müller den Bau einer Strecke der hiesigen Gebirgsbahn übernommen haben.
Hoffmann. Ja! Mit lumpigen zehntausend Thalern Vermögen. Als er einsah, daß dieses Geld nicht zureichte, wollte er schnell eine Witzdorfer Bauerntochter fischen; meine jetzige Frau sollte diejenige sein, welche.
Loth. Er hätte es, sagten sie, mit der Tochter, Du mit dem Alten gemacht. — Dann hat er sich ja wohl erschossen?! — Auch seine Strecke hättest Du zu Ende gebaut und noch sehr viel Geld dabei verdient.
Hoffmann. Darin ist einiges Wahre enthalten, doch — ich könnte Dir eine Verknüpfung der Thatsachen geben ... Wußten sie am Ende noch mehr dergleichen erbauliche Dinge?
Loth. Ganz besonders — muß ich Dir sagen — regten sie sich über etwas auf: sie rechneten sich vor, welch ein enormes Geschäft in Kohlen Du jetzt machtest und nannten Dich einen .... na, schmeichelhaft war es eben nicht für Dich. Kurz gesagt, sie erzählten, Du hättest die hiesigen dummen Bauern beim Champagner überredet, einen Vertrag zu unterzeichnen, in welchem Dir der alleinige Verschleiß aller in ihren Gruben geförderten Kohle übertragen worden ist gegen eine Pachtsumme, die fabelhaft gering sein sollte.
Hoffmann sichtlich peinlich berührt, steht auf. Ich will Dir was sagen, Loth .... Ach, warum auch noch darin rühren? Ich schlage vor, wir denken an’s Abendbrod, mein Hunger ist mörderisch. Mörderischen Hunger habe ich. Er drückt auf den Knopf einer elektrischen Leitung, deren Draht in Form einer grünen Schnur auf das Sopha herunter hängt; man hört das Läuten einer elektrischen Klingel.
Loth. Nun, wenn Du mich hier behalten willst — dann sei so gut .... ich möchte mich eben ’n bischen säubern.
Hoffmann. Gleich sollst Du alles Nöthige .... Eduard tritt ein, Diener in Livree. Eduard! führen Sie den Herrn in’s Gastzimmer.
Eduard. Sehr wohl, gnädiger Herr.
Hoffmann Loth die Hand drückend. In spätestens fünfzehn Minuten möchte ich Dich bitten, zum Essen herunter zu kommen.
Loth. Uebrig Zeit. Also Wiedersehen!
Hoffmann. Wiedersehen!
Eduard öffnet die Thür und läßt Loth vorangehen. Beide ab. Hoffmann kratzt sich den Hinterkopf, blickt nachdenklich auf den Fußboden, geht dann auf die Thür rechts zu, deren Klinke er bereits gefaßt hat, als Helene, welche hastig durch die Glasthür eingetreten ist, ihn anruft.
Helene. Schwager! Wer war das?
Hoffmann. Das war einer von meinen Gymnasialfreunden, der älteste sogar, Alfred Loth.
Helene schnell. Ist er schon wieder fort?
Hoffmann. Nein! Er wird mit uns zu Abend essen. — Womöglich .... ja, womöglich auch hier übernachten.
Helene. Oh Jeses! Da komme ich nicht zum Abendessen.
Hoffmann. Aber Helene!
Helene. Was brauche ich auch unter gebildete Menschen zu kommen! Ich will nur ruhig weiter verbauern.
Hoffmann. Ach, immer diese Schrullen! Du wirst mir sogar den großen Dienst erweisen und die Anordnungen für den Abendtisch treffen. Sei so gut! — Wir machen’s ’n bischen feierlich. Ich vermuthe nämlich, er führt irgend was im Schilde.
Helene. Was meinst Du, im Schilde führen?
Hoffmann. Maulwurfsarbeit — wühlen, wühlen. — Davon verstehst Du nun freilich nichts. — Kann mich übrigens täuschen, denn ich habe bis jetzt vermieden auf diesen Gegenstand zu kommen. Jedenfalls mach alles recht einladend. Auf diese Weise ist den Leuten noch am leichtesten ... Champagner natürlich! Die Hummern von Hamburg sind angekommen?
Helene. Ich glaube, sie sind heut früh angekommen.
Hoffmann. Also, Hummern! Es klopft sehr stark. Herein!
Postpacketträger. Eine Kiste unter’m Arm, eintretend, spricht er in singendem Tone. Eine Kis—te.
Helene. Von wo?
Packetträger. Ber—lin.
Hoffmann. Richtig. Es werden die Kindersachen von Hertzog sein. Er besieht das Packet und nimmt den Abschnitt. Ja, ja, es sind die Sachen von Hertzog.
Helene. Die—se Kiste voll? Du übertreibst.
Hoffmann lohnt den Packetträger ab.
Packetträger ebenso halb singend. Schö’n gn’n A—bend. Ab.
Hoffmann. Wieso übertreiben?
Helene. Nun, hiermit kann man doch wenigstens drei Kinder ausstatten.
Hoffmann. Bist Du mit meiner Frau spazieren gegangen?
Helene. Was soll ich machen, wenn sie immer gleich müde wird?
Hoffmann. Ach was, immer gleich müde — sie macht mich unglücklich! Ein und eine halbe Stunde ... sie soll doch um Gottes Willen thun, was der Arzt sagt. Zu was hat man denn den Arzt, wenn ...
Helene. Dann greife Du ein, schaff’ die Spillern fort! Was soll ich gegen so ’n altes Weib machen, die ihr immer nach dem Munde geht!
Hoffmann. Was denn? ... ich als Mann ... was soll ich als Mann? ... und außerdem, Du kennst doch die Schwiegermama.
Hoffmann. Wo ist sie denn jetzt?
Helene. Die Spillern stutzt sie heraus, seit Herr Loth hier ist; sie wird wahrscheinlich zum Abendbrod wieder ihr Rad schlagen.
Hoffmann schon wieder in eigenen Gedanken, macht einen Gang durch’s Zimmer; heftig. Es ist das letzte Mal, auf Ehre!, daß ich so etwas hier in diesem Hause abwarte. Auf Ehre!
Helene. Ja, Du hast es eben gut, Du kannst gehen, wohin Du willst.
Hoffmann. Bei mir zu Hause wäre der unglückliche Rückfall in dies schauderhafte Laster auch sicher nicht vorgekommen.
Helene. Mich mache dafür nicht verantwortlich! Von mir hat sie den Branntwein nicht bekommen. Schaff’ Du nur die Spillern fort. Ich sollte bloß ’n Mann sein.
Hoffmann seufzend. Ach, wenn es nur erst wieder vorüber wär’! — In der Thür rechts. Also Schwägerin, Du thust mir den Gefallen: einen recht appetitlichen Abendtisch! Ich erledige schnell noch eine Kleinigkeit.
Helene drückt auf den Klingelknopf, Miele kommt. Miele, decken Sie den Tisch! Eduard soll Sekt kalt stellen und vier Dutzend Austern öffnen.
Miele unterdrückt, batzig. Sie kinn’n ’s ’m salber sagen, a nimmt nischt oa vu mir, a meent immer: a wär ok beim Inschinnär gemit’t.
Helene. Dann schick ihn wenigstens rein.
Miele ab. Helene tritt vor den Spiegel, ordnet dies und das an ihrer Toilette; währenddeß tritt Eduard ein.
Helene immer noch vor dem Spiegel. Eduard, stellen Sie Sekt kalt und öffnen Sie Austern! Herr Hoffmann hat es befohlen.
Eduard. Sehr wohl, Fräulein. Eduard ab. Gleich darauf klopft es an die Mittelthür.
Helene fährt zusammen. Großer Gott! — Zaghaft. Herein! — lauter und fester — herein!
Loth tritt ein ohne Verbeugung. Ach, um Verzeihung! — ich wollte nicht stören, — mein Name ist Loth.
Helene verbeugt sich tanzstundenmäßig.
Stimme Hoffmann’s durch die geschlossene Zimmerthür: Kinder! keine Umstände! — Ich komme gleich heraus. Loth! es ist meine Schwägerin Helene Krause! Und Schwägerin! es ist mein Freund Alfred Loth! Betrachtet Euch als vorgestellt.
Helene. Nein, über Dich aber auch!
Loth. Ich nehme es ihm nicht übel, Fräulein! Bin selbst, wie man mir sehr oft gesagt hat, in Sachen des guten Tons ein halber Barbar. — Aber wenn ich Sie gestört habe, so ...
Helene. Bitte, — Sie haben mich gar nicht gestört, — durchaus nicht. Befangenheitspause, hierauf: Es ist ... es ist schön von Ihnen, daß — Sie meinen Schwager aufgesucht haben. Er beklagt sich immer von ... er bedauert immer, von seinen Jugendfreunden so ganz vergessen zu sein.
Loth. Ja, es hat sich zufällig so getroffen. — Ich war immer in Berlin und daherum — wußte eigentlich nicht, wo Hoffmann steckte. Seit meiner Breslauer Studienzeit war ich nicht mehr in Schlesien.
Helene. Also nur so zufällig sind Sie auf ihn gestoßen?
Loth. Nur ganz zufällig — und zwar gerade an dem Ort, wo ich meine Studien zu machen habe.
Helene. Ach, Spaß! — Witzdorf und Studien machen, nicht möglich! in diesem armseligen Neste?!
Loth. Armselig nennen Sie es? — Aber es liegt doch hier ein ganz außergewöhnlicher Reichthum.
Helene. Ja doch! in der Hinsicht ...
Loth. Ich habe nur immer gestaunt. Ich kann Sie versichern, solche Bauernhöfe giebt es nirgendwo anders; da guckt ja der Ueberfluß wirklich aus Thüren und Fenstern.
Helene. Da haben Sie recht. In mehr als einem Stalle hier fressen Kühe und Pferde aus marmornen Krippen und neusilbernen Raufen! Das hat die Kohle gemacht, die unter unseren Feldern gemuthet worden ist, die hat die armen Bauern im Handumdrehen steinreich gemacht. Sie weist auf das Bild an der Hinterwand. Sehen Sie da — mein Großvater war Frachtfuhrmann. Das Gütchen gehörte ihm, aber der geringe Boden ernährte ihn nicht, da mußte er Fuhren machen. — Das dort ist er selbst in der blauen Blouse — man trug damals noch solche blaue Blousen. — Auch mein Vater als junger Mensch ist darin gegangen. — Nein! — so meinte ich es nicht — mit dem „armselig“; nur ist es so öde hier. So ... gar nichts für den Geist giebt es. Zum Sterben langweilig ist es.
Loth. Giebt es denn nicht zuweilen Bälle oder Kränzchen?
Helene. Nicht mal das giebt es. Die Bauern spielen, jagen, trinken ... was sieht man den ganzen Tag? Sie ist vor das Fenster getreten und weist mit der Hand hinaus. Hauptsächlich solche Gestalten.
Loth. Hm! Bergleute.
Helene. Welche gehen zur Grube, welche kommen von der Grube: das hört nicht auf. — Wenigstens ich sehe immer Bergleute. Denken Sie, daß ich alleine auf die Straße mag? Höchstens auf die Felder, durch das Hinterthor. Es ist ein zu rohes Pack! — Und wie sie einen immer anglotzen, so schrecklich finster — als ob man geradezu was verbrochen hätte.
Im Winter, wenn wir so manchmal Schlitten gefahren sind und sie kommen dann in der Dunkelei in großen Trupps über die Berge, im Schneegestöber und sie sollen ausweichen, da gehen sie vor den Pferden her und weichen nicht aus. Da nehmen die Bauern manchmal den Peitschenstiel, anders kommen sie nicht durch. Ach, und dann schimpfen sie hinterher. Hu! ich habe mich manchmal so entsetzlich geängstigt.
Loth. Und nun denken Sie an: gerade um dieser Menschen willen — vor denen Sie sich so sehr fürchten, bin ich hierher gekommen.
Helene. Nein aber ...
Loth. Ganz im Ernst, sie interessiren mich hier mehr als alles Andere.
Loth. Nein.
Helene. Auch mein Schwager nicht ausgenommen?
Loth. Nein! — Das Interesse für diese Menschen ist ein ganz anderes, — höheres ... verzeihen Sie, Fräulein! Sie können das am Ende doch wohl nicht verstehen.
Helene. Wieso nicht? Ich verstehe Sie sehr gut, Sie ... Sie läßt einen Brief aus der Tasche gleiten, Loth bückt sich darnach. Ach, lassen Sie ... es ist nicht wichtig, nur eine gleichgültige Pensionskorrespondenz.
Loth. Sie sind in Pension gewesen?
Helene. Ja, in Herrnhut. Sie müssen nicht denken, daß ich ... nein, nein, ich verstehe Sie schon.
Loth. Ich meine, die Arbeiter interessieren mich um ihrer selbst willen.
Helene. Ja, freilich, — es ist ja sehr interessant ... so ein Bergmann ... wenn man’s so nehmen will ... Es giebt ja Gegenden, wo man gar keine findet, aber wenn man sie so täglich ...
Loth. Auch wenn man sie täglich sieht, Fräulein ... Man muß sie sogar täglich sehen, um das Interessante an ihnen herauszufinden.
Helene. Nun, wenn es so schwer herauszufinden ... was ist es denn dann? das Interessante mein ich.
Loth. Es ist zum Beispiel interessant, daß diese Menschen, wie Sie sagen, immer so gehässig oder finster blicken.
Helene. Wieso meinen Sie, daß das besonders interessant ist?
Loth. Weil es nicht das Gewöhnliche ist. Wir anderen pflegen doch nur zeitweilig und keineswegs immer so zu blicken.
Helene. Ja, weshalb blicken sie denn nur immer so ... so gehässig, so mürrisch? Es muß doch einen Grund haben.
Loth. Ganz recht! und den möchte ich gern herausfinden.
Helene. Ach Sie sind! Sie lügen mir was vor. Was hätten Sie denn davon, wenn Sie das auch wüßten?
Loth. Man könnte vielleicht Mittel finden, den Grund, warum diese Leute immer so freudlos und gehässig sein müssen, wegzuräumen; — man könnte sie vielleicht glücklicher machen.
Helene ein wenig verwirrt. Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß ... aber gerade jetzt verstehe ich Sie doch vielleicht ein ganz klein wenig. — Es ist mir nur ... nur so ganz neu, so — ganz — neu!
Hoffmann durch die Thüre rechts eintretend. Er hat eine Anzahl Briefe in der Hand. So! da bin ich wieder. — Eduard! daß die Briefe noch vor 8 auf der Post sind. Er händigt dem Diener die Briefe ein, der Diener ab.
So, Kinder! jetzt können wir speisen. — Unerlaubte Hitze hier! September und solche Hitze! Er hebt den Champagner aus dem Eiskübel. Veuve Cliquot: Eduard kennt meine stille Liebe. Zu Loth gewendet. Habt ja furchtbar eifrig disputirt. Tritt an den fertig gedeckten, mit Delicatessen überladenen Abendtisch, reibt sich die Hände. Na! das sieht ja recht gut aus! Mit einem verschmitzten Blick zu Loth hinüber. Meinst Du nicht auch? — Uebrigens, Schwägerin! wir bekommen Besuch: Kahl-Wilhelm. Er war auf dem Hof.
Helene macht eine ungezogene Geberde.
Hoffmann. Aber Beste! Du thust fast, als ob ich ihn ... was kann denn ich dafür? Hab ich ihn etwa gerufen? Man hört schwere Schritte draußen im Hausflur. Ach! das Unheil schreitet schnelle.
Kahl tritt ein, ohne vorher angeklopft zu haben. Er ist ein vierundzwanzigjähriger, plumper Bauernbursch, dem man es ansieht, daß er, so weit möglich, gern den feinen, noch mehr aber den reichen Mann herausstecken möchte. Seine Gesichtszüge sind grob, der Gesichtsausdruck vorwiegend dumm-pfiffig. Er ist bekleidet mit einem grünen Jaquet, bunter Sammtweste, dunklen Beinkleidern und Glanzlack-Schaftstiefeln. Als Kopfbedeckung dient ihm ein grüner Jägerhut mit Spielhahnfeder. Das Jaquet hat Hirschhornknöpfe, an der Uhrkette Hirschzähne etc. Stottert.
Kahl. Gun’n Abend mi’nander! Er erblickt Loth, wird sehr verlegen und macht stillstehend eine ziemlich klägliche Figur.
Hoffmann tritt zu ihm und reicht ihm die Hand aufmunternd. Guten Abend, Herr Kahl!
Helene unfreundlich. Guten Abend.
Kahl geht mit schweren Schritten quer durch das ganze Zimmer auf Helene zu und giebt ihr die Hand. ’n Abend och, Lene.
Hoffmann zu Loth. Ich stelle Dir hiermit Herrn Kahl vor, unseren Nachbarssohn.
Kahl grinst und dreht den Hut. Verlegenheitsstille.
Hoffmann. Zu Tisch Kinder! Fehlt noch Jemand? Ach, die Schwiegermama. Miele! bitten Sie Frau Krause zu Tische.
Miele ab durch die Mittelthür.
Miele draußen im Hausflur schreiend: Frau!! — Frau!! Assa kumma! Sie sill’n assa kumma!
Helene und Hoffmann blicken einander an und lachen verständnißinnig, dann blicken sie vereint auf Loth.
Hoffmann zu Loth. Ländlich, sittlich!
Frau Krause erscheint, furchtbar aufgedonnert. Seide und kostbarer Schmuck. Haltung und Kleidung verrathen Hoffahrt, Dummstolz, unsinnige Eitelkeit.
Hoffmann. Ah! da ist Mama! — Du gestattest, daß ich Dir meinen Freund Dr. Loth vorstelle.
Frau Krause macht einen undefinirbaren Knix. Ich bin so frei! Nach einer kleinen Pause. Nein, aber auch, Herr Doktor, nahmen Sie mir’s ock bei Leibe nicht ibel! Ich muß mich zuerscht muß ich mich vor Ihn’n vertefentiren, — sie spricht je länger, um so schneller — vertefentiren wegen meiner vorhinigten Benehmigung. Wissen Se, verstihn Se, es komm’ ein der Drehe bei uns eine so ane grußmächtige Menge Stremer .... Se kinn’s ni gleba, ma hoot mit dan Battelvulke seine liebe Noth. A su enner, dar maust akrat wie a Ilster. Uf da Pfennig kimmt’s ins ne ernt oa, ne ock ne, ma braucht a ni dreimol rimzudrehn, an ken’n Thoaler nich, ebb ma’n ausgibbt. De Krausa-Ludwig’n, die iis geizig, schlimmer wie a Homster egelganz, di ginnt ke’m Luder nischt. Ihrer is gesturba aus Arjer, weil a lumpigte zwetausend ei Brassel verloern hoot. Ne, ne! a su sein mir dorchaus nicht. Sahn Se, doas Buffett kust’t mich zwehundert Thoaler, a Transpurt ni gerechnet; na, d’r Beron Klinkow keans au ne andersch honn.
Frau Spiller ist kurz nach Frau Krause ebenfalls eingetreten. Sie ist klein, schief und mit den zurückgelegten Sachen der Frau Krause herausgestutzt. Während Frau Krause spricht, hält sie mit einer gewissen Andacht die Augen zu ihr aufgeschlagen. Sie ist etwa fünfundfünfzig Jahre alt; ihr Ausathmen geschieht jedesmal mit einem leisen Stöhnen, welches auch, wenn sie redet, regelmäßig wie—m—hörbar wird.
Frau Spiller mit unterwürfigem, wehmüthig geziertem moll-Ton, sehr leise. Der Baron Klinkow haben genau dasselbe Buffet—m—.
Helene zu Frau Krause. Mama! wollen wir uns nicht erst setzen, dann .....
Frau Krause wendet sich blitzschnell und trifft Helene mit einem vernichtenden Blick; kurz und herrisch. Schickt sich doas? Frau Krause, im Begriff sich zu setzen, erinnert sich, daß das Tischgebet noch nicht gesprochen ist und faltet mechanisch, doch ohne ihrer Bosheit im Uebrigen Herr zu sein, die Hände.
Frau Spiller spricht das Tischgebet.
Komm, Herr Jesu, sei unser Gast.
Segne, was du uns bescheeret hast.
Amen.
Alle setzen sich mit Geräusch. Mit dem Zulangen und Zureichen, welches einige Zeit in Anspruch nimmt, kommt man über die peinliche Situation hinweg.
Hoffmann zu Loth. Lieber Freund, Du bedienst Dich wohl?! Austern?
Loth. Nun, will probiren. Es sind die ersten Austern, die ich esse.
Frau Krause hat soeben eine Auster geschlürft. Mit vollem Mund. In dar Seisong, mein’n Se woll?
Frau Krause und Frau Spiller wechseln Blicke.
Hoffmann zu Kahl, der eine Citrone mit den Zähnen auspreßt. Zwei Tage nicht gesehen, Herr Kahl! Tüchtig Mäuse gejagt in der Zeit?
Kahl. N... n.. ne!
Hoffmann zu Loth. Herr Kahl ist nämlich ein leidenschaftlicher Jäger.
Kahl. D.. d. die M.. mm.. maus, das ist ’n in... in.. infamtes Am.. am.. amf ff.. fibium.
Helene platzt heraus. Zu lächerlich ist das, alles schießt er todt, Zahmes und Wildes.
Kahl. N.. nächten hab ich d.. d.. die alte Szss.. sau vu ins t.. todt g.. g.. geschossen.
Loth. Da ist wohl schießen Ihre Hauptbeschäftigung?
Frau Krause. Herr Kahl thut’s ock bloßig zum Prifatvergnigen.
Frau Spiller. Wald, Wild, Weib pflegten Seine Exellenz der Herr Minister von Schadendorf oftmals zu sagen.
Kahl. I.. i.. iberm.. m.. murne hab’n mer T.. t.. tau.. t.. taubenschießen.
Loth. Was ist denn das: Taubenschießen?
Helene. Ach, ich kann so was nicht leiden; es ist doch nichts als eine recht unbarmherzige Spielerei. Ungezogene Jungens, die mit Steinen nach Fensterscheiben zielen, thun etwas Besseres.
Hoffmann. Du gehst zu weit, Helene.
Helene. Ich weiß nicht —, meinem Gefühl nach hat es weit mehr Sinn, Fenster einzuschmeißen, als Tauben an einem Pfahl festzubinden und dann mit Kugeln nach ihnen zu schießen.
Hoffmann. Na, Helene, — man muß doch aber bedenken ....
Loth irgend etwas mit Messer und Gabel schneidend. Es ist ein schandhafter Unfug.
Kahl. Um die p. poar Tauba ....!
Frau Spiller zu Loth. Der Herr Kahl — m —, müssen Sie wissen, haben zweihundert Stück im Schlage.
Loth. Die ganze Jagd ist ein Unfug.
Hoffmann. Aber ein unausrottbarer. Da werden zum Beispiel eben jetzt wieder fünfhundert lebende Füchse gesucht; alle Förster hier herum und auch sonst in Deutschland verlegen sich aufs Fuchsgraben.
Loth. Was macht man denn mit den vielen Füchsen?
Hoffmann. Sie kommen nach England, wo sie die Ehre haben, von Lord und Ladys gleich vom Käfig weg zu Tode gehetzt zu werden.
Loth. Muhamedaner oder Christ, Bestie bleibt Bestie.
Hoffmann. Darf ich Dir Hummer reichen, Mama?
Frau Krause. Meinswegen, ei dieser Seisong sind se sehr gutt!
Frau Spiller. Gnädige Frau haben eine so feine Zunge — m —!
Frau Krause zu Loth. Hummer ha’n Sie woll auch noch nich gegassen. Herr Dukter?
Loth. Ja, Hummer habe ich schon hin und wieder gegessen —, an der See oben, in Warnemünde, wo ich geboren bin.
Frau Krause zu Kahl. Gell, Wilhelm, ma weeß wirklich’n Gott manchmal nich mee, was ma assen sull?
Kahl. J.. j.. ja, w.. w.. weeß ... weeß G.. Gott, Muhme.
Eduard will Loth Champagner eingießen. Champagner.
Loth hält sein Glas zu. Nein! ... danke!
Hoffmann. — Mach’ keinen Unsinn.
Helene. Wie, Sie trinken nicht?
Loth. Nein, Fräulein.
Hoffmann. Na, hör’ mal an: das ist aber doch ... das ist langweilig.
Loth. Wenn ich tränke, würde ich noch langweiliger werden.
Helene. Das ist interessant, Herr Doktor.
Loth ohne Tact. Daß ich langweiliger werde, wenn ich Wein trinke?
Helene etwas betreten. Nein, ach nein, daß .... daß Sie nicht trinken ...., daß Sie überhaupt nicht trinken, meine ich.
Loth. Warum soll das interessant sein?
Helene sehr roth werdend. Es ist .... ist nicht das Gewöhnliche. Wird noch röther und sehr verlegen.
Loth tollpatschig. Da haben Sie recht, leider.
Frau Krause zu Loth. De Flasche kust uns fufza Mark, Sie kinn’ a dreiste trink’n. Direct vu Rheims iis a, mir satz’n Ihn gewiß nischt Schlechtes vier, mir mieja salber nischt Schlechtes.
Frau Spiller. Ach, glauben Sie mich, — m —, Herr Doktor, wenn Seine Exellenz der Herr Minister von Schadendorf — m — so eine Tafel geführt hätten ....
Kahl. Ohne men’n Wein kennt ich nich laben.
Helene zu Loth. Sagen Sie uns doch, warum Sie nicht trinken!
Loth. Das kann gerne geschehen, ich ....
Hoffmann. Ae, was! alter Freund! Er nimmt dem Diener die Flasche ab, um nun seinerseits Loth zu bedrängen. Denk’ dran, wie manche hochfidele Stunde wir früher mit einander ...
Loth. Nein, bitte bemühe Dich nicht, es ...
Hoffmann. Trink heut mal!
Loth. Es ist alles vergebens.
Hoffmann. Mir zu Liebe!
Hoffmann will eingießen, Loth wehrt ab; es entsteht ein kleines Handgemenge.
Loth. Nein! ... nein, wie gesagt ... nein! ... nein, danke.
Hoffmann. Aber nimm mir’s nicht übel ... das ist eine Marotte.
Kahl zu Fr. Spiller. Wer nich will, dar hat schunn.
Frau Spiller nickt ergeben.
Hoffmann. Uebrigens, des Menschen Wille ... und so weiter. So viel sage ich nur: ohne ein Glas Wein bei Tisch ...
Loth. Ein Glas Bier zum Frühstück ...
Hoffmann. Nun ja, warum nicht? Ein Glas Bier ist was sehr gesundes.
Loth. Ein Cognac hie und da ...
Hoffmann. Na, wenn man das nicht mal haben sollte ... zum Asceten machst Du mich nun und nimmer. Das heißt ja dem Leben allen Reiz nehmen.
Loth. Das kann ich nicht sagen. Ich bin mit den normalen Reizen, die mein Nervensystem treffen, durchaus zufrieden.
Hoffmann. Eine Gesellschaft, die trockenen Gaumens beisammen hockt, ist und bleibt eine verzweifelt öde und langweilige —, für die ich mich im Allgemeinen bedanke.
Frau Krause. Bei a Adlijen wird doch auch a so viel getrunk’n.
Frau Spiller durch eine Verbeugung des Oberkörpers ergebenst bestätigend. Es ist Schentelmen leicht viel Wein zu trinken.
Loth zu Hoffmann. Mir geht es umgekehrt; mich langweilt im Allgemeinen eine Tafel, an der viel getrunken wird.
Hoffmann. Es muß natürlich mäßig geschehen.
Loth. Was nennst Du mäßig?
Hoffmann. Nun, ... daß man noch immer bei Besinnung bleibt.
Loth. Aaah! ... also Du giebst zu: die Besinnung ist im Allgemeinen durch den Alkohol-Genuß sehr gefährdet. — Siehst Du! deshalb sind mir Kneiptafeln — langweilig.
Hoffmann. Fürchtest Du denn, so leicht Deine Besinnung zu verlieren?
Kahl. Iiii..... i.. ich habe n. n. neulich ene Flasche Rrr... r... rü.. rüd.. desheimer, ene Flasche Sssssekt get.. t.. trunken. Oben drauf d.. d.. d.. dann nnoch eine Flasche B.. b... bordeaux, aber besuffen woar ich no n.. nich.
Loth zu Hoffmann. Ach nein, Du weißt ja wohl, daß ich es war, der Euch nach Hause brachte, wenn Ihr Euch übernommen hattet. Ich hab immer noch die alte Bärennatur: nein, deshalb bin ich nicht so ängstlich.
Hoffmann. Weshalb denn sonst?
Helene. Ja, warum trinken Sie denn eigentlich nicht? Bitte, sagen Sie es doch.
Loth zu Hoffmann. Damit Du doch beruhigt bist: ich trinke heut schon deshalb nicht, weil ich mich ehrenwörtlich verpflichtet habe, geistige Getränke zu meiden.
Hoffmann. Mit anderen Worten, Du bist glücklich bis zum Mäßigkeitsvereinshelden herabgesunken.
Loth. Ich bin völliger Abstinent.
Hoffmann. Und auf wie lange, wenn man fragen darf, machst Du diese ....
Loth. Auf Lebenszeit.
Hoffmann wirft Gabel und Messer weg und fährt halb vom Stuhle auf. Pf! gerechter Strohsack!! Er setzt sich wieder. Offen gesagt, für so kindisch ... verzeih das harte Wort.
Loth. Du kannst es gerne so benennen.
Hoffmann. Wie in aller Welt bist Du nur darauf gekommen?
Helene. Für so etwas müssen Sie einen sehr gewichtigen Grund haben — denke ich mir wenigstens.
Loth. Der existirt allerdings. Sie, Fräulein! — und Du, Hoffmann! weißt wahrscheinlich nicht, welche furchtbare Rolle der Alkohol in unserem modernen Leben spielt ... Lies Bunge, wenn Du Dir einen Begriff davon machen willst. — Mir ist noch gerade in Erinnerung, was ein gewisser Everett über die Bedeutung des Alkohols für die Vereinigten Staaten gesagt hat. — Notabene, es bezieht sich auf einen Zeitraum von zehn Jahren. Er meint also: der Alkohol hat direct eine Summe von 3 Milliarden und indirect von 600 Millionen Dollars verschlungen. Er hat 300000 Menschen getödtet, 100000 Kinder in die Armenhäuser geschickt, weitere Tausende in die Gefängnisse und Arbeitshäuser getrieben, er hat mindestens 2000 Selbstmorde verursacht. Er hat den Verlust von mindestens 10 Millionen Dollars durch Brand und gewaltsame Zerstörung verursacht, er hat 20000 Wittwen und schließlich nicht weniger als 1 Million Waisen geschaffen. Die Wirkung des Alkohols, das ist das Schlimmste, äußert sich so zu sagen bis in’s dritte und vierte Glied. — Hätte ich nun das ehrenwörtliche Versprechen abgelegt, nicht zu heirathen, dann könnte ich schon eher trinken, so aber ... meine Vorfahren sind alle gesunde, kernige und wie ich weiß, äußerst mäßige Menschen gewesen. Jede Bewegung, die ich mache, jede Strapaze, die ich überstehe, jeder Athemzug gleichsam führt mir zu Gemüth, was ich ihnen verdanke. Und dies, siehst Du, ist der Punkt: ich bin absolut fest entschlossen die Erbschaft, die ich gemacht habe, ganz ungeschmälert auf meine Nachkommen zu bringen.
Frau Krause. Du! — Schwiegersuhn! — inse Bargleute saufen woarhaftig zu viel: doas muuß woar sein.
Kahl. Die saufen wie d’ Schweine.
Helene. Ach, so was vererbt sich?
Loth. Es giebt Familien, die daran zu Grunde gehen, Trinkerfamilien.
Kahl halb zu Frau Krause, halb zu Helene. Euer Aaler, dar treibt’s au a wing zu tull.
Helene weiß wie ein Tuch im Gesicht, heftig. Ach, schwatzen Sie keinen Unsinn!
Frau Krause. Ne, doch hier enner a su ein patziges Froovulk oa; a su ne Prinzessen. Hängst de wieder a mol die Gnädige raus, wie? — A su fährt se a Zukinftigen oa. Zu Loth, auf Kahl deutend. ’s is nämlich d’r Zukinftige, missen Sie nahmen, Herr Dukter, ’s is alles eim Renen.
Helene aufspringend. Hör auf! oder ... hör auf, Mutter! oder ...
Frau Krause. Do hiert doch aber werklich ... na, do sprecha Se, Herr Dukter, iis das wull Bildung, hä? Weeß Gott, ich hal’ se wie mei egnes Kind, aber die treib’s reen zu tull.
Hoffmann beschwichtigend. Ach, Mama! thu mir doch den Gefallen ....
Frau Krause. Neee! groade — iich sah doas nich ein — a su ane Goans wie die iis ... do hiert olle Gerechtigkeit uff ... su ane Titte!
Hoffmann. Mama, ich muß Dich aber wirklich doch jetzt bitten, Dich ...
Frau Krause immer wüthender. Stats doaß doas Froovulk ei der Wertschoft woas oagreft ... bewoare ne! Doa zeucht se an Flunsch biis hinger beede Leffel. — Oaber da Schillerich, oaber a Gethemoan, a sune tummn Scheißkarle, die de nischt kinn’n als lieja: vu dan’e läßt sie sich a Kupp verdrehn. Urnar zum Kränke krieja iis doas. Schweigt bebend vor Wuth.
Hoffmann begütigend. Nun — sie wird ja nun wieder .... es war ja vielleicht — nicht ganz recht ... es ... Giebt Helenen, die in Erregung abseits getreten ist, einen Wink, auf den hin sich das Mädchen, die Thränen gewaltsam zurückhaltend, wieder auf seinen Platz begiebt.
Hoffmann das nunmehr eingetretene peinliche Schweigen unterbrechend zu Loth. Ja .. von was sprachen wir doch? ... Richtig! — vom biederen Alkohol. Er hebt sein Glas. Nun, Mama: Frieden! — Komm, stoßen wir an, — seien wir friedlich, — machen wir dem Alkohol Ehre, indem wir friedlich sind. Frau Krause, wenn auch etwas widerwillig, stößt doch mit ihm an. Hoffmann, zu Helene gewendet. Was, Helene?! — Dein Glas ist leer? ... Ei der Tausend, Loth! Du hast Schule gemacht.
Helene. Ach ... nein ... ich ...
Frau Spiller. Mein gnädiges Fräulein, so etwas läßt tief ....
Hoffmann. Aber Du warst doch sonst keine von den Zimperlichen.
Helene batzig. Ich hab eben heut keine Neigung zum Trinken, einfach!
Hoffmann. Bitte, bitte, bitte seeehr um Verzeihung ... Ja, von was sprachen wir doch?
Loth. Wir sprachen davon, daß es Trinkerfamilien gäbe.
Hoffmann aufs Neue betreten. Schon recht, schon recht, aber ...
Man bemerkt zunehmenden Aerger in dem Benehmen der Frau Krause, während Herr Kahl sichtlich Mühe hat, das Lachen über etwas, das ihn innerlich furchtbar zu amüsiren scheint, zurückzuhalten. Helene beobachtet Kahl ihrerseits mit brennenden Augen und bereits mehrmals hat sie durch einen drohenden Blick Kahl davon zurückgehalten etwas auszusprechen, was ihm so zu sagen auf der Zunge liegt. Loth, ziemlich gleichmüthig, mit Schälen eines Apfels beschäftigt, bemerkt von alledem nichts.
Loth. Ihr scheint übrigens hier ziemlich damit gesegnet zu sein.
Hoffmann nahezu fassungslos. Wieso ... mit ... mit was gesegnet?
Loth. Mit Trinkern natürlicherweise.
Hoffmann. Hm! ... meinst Du? ... ach ... jaja ..., allerdings, die Bergleute .....
Loth. Nicht nur die Bergleute. Zum Beispiel hier in dem Wirthshaus, wo ich abstieg, bevor ich zu Dir kam, da saß ein Kerl so: Er stützt beide Ellenbogen auf den Tisch, nimmt den Kopf in die Hände und stiert auf die Tischplatte.
Hoffmann. Wirklich? Seine Verlegenheit hat den höchsten Grad erreicht; Frau Krause hustet, Helene starrt noch immer auf Kahl, welcher jetzt am ganzen Körper vor innerlichem Lachen bebt, sich aber doch noch so weit bändigt, nicht laut herauszuplatzen.
Loth. Es wundert mich, daß Du dieses — Original — könnte man beinahe sagen, noch nicht kennst. Das Wirthshaus ist ja gleich hier nebenan das. Mir wurde gesagt, es sei ein hiesiger steinreicher Bauer, der seine Tage und Jahre buchstäblich in diesem selben Gastzimmer mit Schnapstrinken zubrächte. Das reine Thier ist er natürlich. Diese furchtbar öden, versoffenen Augen, mit denen er mich anstierte.
Kahl, der bis hierher sich zurückgehalten hat, bricht in ein rohes, lautes, unaufhaltsames Gelächter aus, so daß Loth und Hoffmann, starr vor Staunen, ihn anblicken.
Kahl unter dem Lachen hervorstammelnd. Woahrhaftig! das is ja ... das is ja woahrhaftig der ... der Alte gewesen.
Helene ist entsetzt und empört aufgesprungen. Zerknüllt die Serviette und schleudert sie auf den Tisch. Bricht aus. Sie sind ... — macht die Bewegung des Ausspeiens — pfui! Sie geht schnell ab.
Kahl die aus dem Bewußtsein eine große Dummheit gemacht zu haben, entstandene Verlegenheit gewaltsam abreißend. Ach woas! ... Unsinn! ’s iis ju zu tumm! — Iich gieh menner Wege. Er setzt seinen Hut auf und sagt, indem er abgeht, ohne sich noch einmal umzuwenden: ’n Obend!
Frau Krause ruft ihm nach. Koan Der’sch nich verdenken, Willem! Sie legt die Serviette zusammen und ruft dabei. Miele! Miele kommt. Räum ab! Für sich, aber doch laut. Su ane Gans.
Hoffmann etwas aufgebracht. Ich muß aber doch ehrlich sagen, Mama! ..
Frau Krause. Mahr Dich aus. Steht auf, schnell ab.
Frau Spiller. Die gnädige Frau — m — haben heut manches häusliche Aergerniß gehabt — m —. Ich empfehle mich ganz ergebenst. Sie steht auf und betet still, unter Augenaufschlag, dann ab.
Miele und Eduard decken den Tisch ab. Hoffmann ist aufgestanden und kommt mit einem Zahnstocher im Mund nach dem Vordergrund, Loth folgt ihm.
Hoffmann. Ja, siehst Du, so sind die Weiber!
Loth. Ich begreife gar nichts von alledem.
Hoffmann. Ist auch nicht der Rede werth. — So etwas kommt wie bekannt in den allerfeinsten Familien vor. Das darf Dich nicht abhalten ein paar Tage bei uns ...
Loth. Hätte gern Deine Frau kennen gelernt, warum läßt sie sich denn nicht blicken?
Hoffmann die Spitze einer frischen Cigarre abschneidend. Du begreifst, in ihrem Zustand ... die Frauen lassen nun mal nicht von der Eitelkeit. Komm! wollen uns draußen im Garten bischen ergehen. — Eduard! den Kaffee in die Laube.
Eduard. Sehr wohl.
Hoffmann und Loth ab durch den Wintergarten. Eduard ab durch die Mittelthür, hierauf Miele, ein Brett voll Geschirr tragend, ebenfalls ab durch die Mittelthür. Einige Augenblicke bleibt das Zimmer leer, dann erscheint
Helene erregt, mit verweinten Augen, das Taschentuch vor den Mund haltend. Von der Mittelthür, durch welche sie eingetreten ist, macht sie hastig ein paar Schritte nach links und lauscht an der Thür von Hoffmann’s Zimmer. Oh! nicht fort! Da sie hier nichts vernimmt, fliegt sie zur Thür des Wintergartens hinüber, wo sie ebenfalls mit gespanntem Ausdruck einige Secunden lauscht. Bittend und mit gefalteten Händen inbrünstig. Oh! nicht fort, geh nicht fort!
Der Vorhang fällt.
Morgens gegen vier Uhr.
Im Wirthshaus sind die Fenster erleuchtet, ein grau-fahler Morgenschein durch den Thorweg, der sich ganz allmählich im Laufe des Vorgangs zu einer dunklen Röthe entwickelt, die sich dann, eben so allmählich, in helles Tageslicht auflöst. Unter dem Thorweg, auf der Erde sitzt Beibst (etwa 60jährig) und dengelt seine Sense. Wie der Vorhang aufgeht, sieht man kaum mehr als seine Silhouette, die gegen den grauen Morgenhimmel absticht, vernimmt aber das eintönige, ununterbrochene, regelmäßige Aufschlagen des Dengelhammers auf den Dengelambos. Dieses Geräusch bleibt während einiger Minuten allein hörbar, hierauf die feierliche Morgenstille, unterbrochen durch das Geschrei aus dem Wirthshaus abziehender Gäste. Die Wirthshausthür fliegt krachend ins Schloß. Die Lichter in den Fenstern verlöschen. Hundebellen fern, Hähne krähen laut durcheinander. Auf dem Gange vom Wirthshaus her wird eine dunkle Gestalt bemerklich, dieselbe bewegt sich in Zickzacklinien dem Hofe zu; es ist der Bauer Krause, welcher wie immer als letzter Gast das Wirthshaus verlassen hat.
Bauer Krause ist gegen den Gartenzaun getaumelt, klammert sich mit den Händen daran fest und brüllt mit einer etwas näselnden, betrunkenen Stimme nach dem Wirthshaus zurück. ’s Gaartla iis mei—ne! ... d’r Kratsch’m iis mei—ne ... du Gostwerthlops! Dohie hä! Er macht sich, nachdem er noch einiges Unverständliche gemurmelt und geknurrt hat, vom Zaune los und stürzt in den Hof, wo er glücklich den Sterzen eines Pfluges zu fassen bekommt. ’s ’Gittla iis mei—ne. Er quasselt halb singend. Trink ... ei ... Briderla, trink ... ei ... ’iderla, Branntw... wwein ... ’acht Kurasche. Dohie hä — laut brüllend — bien iich nee a hibscher Moan? .... Hoa iich nee a hibsch Weibla dohie hä? ... Hoa iich nee a poar hibsche Madel?
Helene kommt hastig aus dem Hause. Man sieht, sie hat an Kleidern nur umgenommen, soviel in aller Eile ihr möglich gewesen war. Papa! ... lieber Papa!! so komm doch schon. Sie faßt ihn unterm Arm, versucht ihn zu stützen und ins Haus zu ziehen. K—omm doch ... nur ... schn—ell in’s Haus, komm doch n—ur schn—ell! Ach!
Bauer Krause hat sich aufgerichtet, versucht gerade zu stehen, bringt mit einiger Mühe und unter Zuhilfenahme beider Hände einen ledernen, strotzenden Geldbeutel aus der Tasche seiner Hose. In dem ein wenig helleren Morgenlichte erkennt man die sehr schäbige Bekleidung des etwa 50jährigen Mannes, die um nichts besser ist, als die des allergeringsten Landarbeiters. Er ist im bloßen Kopf, sein graues, spärliches Haar ungekämmt und struppig. Das schmutzige Hemd steht bis auf den Nabel herab weit offen; an einem einzigen gestickten Hosenträger hängt die ehemals gelbe, jetzt schmutzig glänzende, an den Knöcheln zugebundene Lederhose; die nackten Füße stecken in einem Paar gestickter Schlafschuhe, deren Stickerei noch sehr neu zu sein scheint. Jacke und Weste trägt der Bauer nicht, die Hemdärmel sind nicht zugeknöpft. Nachdem er den Geldbeutel glücklich herausgebracht hat, setzt er ihn mit der rechten mehrmals auf die Handfläche der linken Hand, so daß das Geld darin laut klimpert und klingt, dabei fixirt er seine Tochter mit lascivem Blicke. Dohie hä! ’s Gald iis mei—neee! hä? Mech’st a poar Thoalerla?
Helene. Ach, gr—oßer Gott! Sie versucht mehrmals vergebens, ihn mitzuziehen. Bei einem dieser Versuche umarmt er sie mit der Plumpheit eines Gorillas und macht einige unzüchtige Griffe. Helene stößt unterdrückte Hilfeschreie aus. Gl—eich läßt Du l—os! Laß l—os! bitte, Papa, ach! Sie weint, schreit dann, plötzlich in äußerster Angst, Abscheu und Wuth: Thier, Schwein!
Sie stößt ihn von sich. Der Bauer fällt langhin auf die Erde. Beibst kommt von seinem Platz unter dem Thorweg herbeigehinkt. Helene und Beibst machen sich daran, den Bauer aufzuheben.
Bauer Krause lallt. Tr—ink mei Bri’erla, tr— ...
Der Bauer wird aufgehoben und stürzt, Beibst und Helene mit sich reißend, in das Haus. Einen Augenblick bleibt die Bühne leer. Im Hause hört man Lärm, Thürenschlagen. In einem Fenster wird Licht, hierauf kommt Beibst wieder aus dem Hause. Er reißt an seiner Lederhose ein Schwefelholz an, um die kurze Pfeife, welche ihm fast nie aus dem Munde kommt, damit in Brand zu stecken. Als er damit noch beschäftigt ist, schleicht Kahl aus der Hausthüre. Er ist in Strümpfen, hat sein Jaquet über dem linken Arm hängen und trägt mit der linken Hand seine Schlafschuhe. Mit der rechten hält er seinen Hut, mit dem Munde seinen Hemdkragen. Etwa bis in die Mitte des Hofes gelangt, wendet er sich und sieht das Gesicht des Beibst auf sich gerichtet. Einen Augenblick scheint er unschlüssig, dann bringt er Hut und Hemdkragen in der Linken unter, greift in die Hosentasche und geht auf Beibst zu, dem er etwas in die Hand drückt.
Kahl. Do hot ’r an Thoaler .... oaber halt’t Eure Gusche! Er geht eiligst über den Hof und steigt über den Staketenzaun rechts. Ab.
Beibst hat mittels eines neuen Streichholzes seine Pfeife angezündet, hinkt bis unter den Thorweg, läßt sich nieder und nimmt seine Dengelarbeit von Neuem auf. Wieder eine Zeit lang nichts als das eintönige Aufschlagen des Dengelhammers und das Aechzen des alten Mannes, von kurzen Flüchen unterbrochen, wenn ihm etwas bei seiner Arbeit nicht nach Wunsch geht. Es ist um ein Beträchtliches heller geworden.
Loth tritt aus der Hausthür, steht still, dehnt sich, thut mehrere tiefe Athemzüge. H! .. h! .. Morgenluft! Er geht langsam nach dem Hintergrunde zu bis unter den Thorweg. Zu Beibst. Guten Morgen! Schon so früh wach?
Beibst mißtrauisch aufschielend, unfreundlich. ’Murja! Kleine Pause, hierauf Beibst, ohne Loth’s Anwesenheit weiter zu beachten, gleichsam im Zwiegespräch mit seiner Sense, die er mehrmals aufgebracht hin und herreißt. Krummes Oos! na, werd’s glei?! Ekch! Himmeldunnerschlag ja! Er dengelt weiter.
Loth hat sich zwischen die Sterzen eines Exstirpators niedergelassen. Es giebt wohl Heuernte heut?
Beibst grob. De Äsel gihn ei’s Hä itzunder.
Loth. Nun, Ihr dengelt doch aber die Sense ...?
Beibst zur Sense. Ekch! tumme Dare.
Kleine Pause, hierauf.
Loth. Wollt Ihr mir nicht sagen, wozu Ihr die Sense scharf macht, wenn doch nicht Heuernte ist?
Beibst. Na, — braucht ma ernt keene Sahnse zum Futter macha?
Loth. Ach so! Futter soll also geschnitten werden.
Beibst. Woas d’n suste?
Loth. Wird das alle Morgen geschnitten?
Beibst. Na! — sool’s Viech derhingern?
Loth. Ihr müßt schon ’n bischen Nachsicht mit mir haben! Ich bin eben ein Städter; da kann man nicht alles so genau wissen von der Landwirthschaft.
Beibst. Die Staadter glee — ekch! — de Staadter, die wissa doo glee oals besser wie de Mensche vum Lande, hä?
Loth. Das trifft bei mir nicht zu. — Könnt Ihr mir vielleicht nicht erklären, was das für ein Instrument ist? Ich hab’s wohl schon mal wo gesehen, aber der Name ...
Beibst. Doasjenigte, uf dan Se sitza?! Woas ma su soat Extrabater nennt ma doas.
Loth. Richtig, ein Exstirpator; wird der hier auch gebraucht?
Beibst. Leeder Goott’s, nee. — A läßt a verludern ... a ganza Acker, reen verludern läßt a’n, d’r Pauer. A Oarmes mecht a Flecka hoa’nn — ei insa Bärta wächst kee Getreide — oaber nee, lieberscht läßt a’n verludern! — Nischt thit wachsa, ok blußig Seide und Quecka.
Loth. Ja, die kriegt man schon damit heraus. Ich weiß, bei den Ikariern hatte man auch solche Exstirpatoren, um das urbar gemachte Land vollends zu reinigen.
Beibst. Wu sein denn die I..., wie Se glei soa’n, I...
Loth. Die Ikarier? In Amerika.
Beibst. Doo gibbts an schunn a sune Dinger?
Loth. Ja freilich.
Beibst. Woas iis denn doas fer a Vulk: die I... I...
Loth. Die Ikarier? — Es ist gar kein besonderes Volk; es sind Leute aus allen Nationen, die sich zusammen gethan haben; sie besitzen in Amerika ein hübsches Stück Land, das sie gemeinsam bewirthschaften; alle Arbeit und allen Verdienst theilen sie gleichmäßig. Keiner ist arm, es giebt keine Armen unter ihnen.
Beibst, dessen Gesichtsausdruck ein wenig freundlicher geworden war, nimmt bei den letzten Worten Loth’s wieder das alte mißtrauisch feindselige Gepräge an; ohne Loth weiter zu beachten, hat er sich neuerdings wieder ganz seiner Arbeit zugewendet und zwar mit den Eingangsworten: Oost vu enner Sahnse!
Loth, immer noch sitzend, betrachtet den Alten zuerst mit einem ruhigen Lächeln und blickt dann hinaus in den erwachenden Morgen. Durch den Thorweg erblickt man weitgedehnte Kleefelder und Wiesenflächen; zwischendurch schlängelt sich ein Bach, dessen Lauf durch Erlen und Weiden verrathen wird. Am Horizonte ein einzelner Bergkegel. Allerorten haben die Lerchen eingesetzt, und ihr ununterbrochenes Getriller schallt bald näher, bald ferner her bis in den Gutshof herein. Jetzt erhebt sich Loth mit den Worten: Man muß spazieren geh’n, der Morgen ist zu prächtig. Er geht durch den Thorweg hinaus. — Man hört das Klappen von Holzpantinen. Jemand kommt sehr schnell über die Bodentreppe des Stallgebäudes herunter: es ist Guste.
Guste, eine ziemlich dicke Magd: bloßes Mieder, nackte Arme und Waden, die bloßen Füße in Holzpantinen. Sie trägt eine brennende Laterne. Guda Murja, Voater Beibst.
Beibst brummt.
Guste blickt, die Augen mit der Hand beschattend, durch das Thor Loth nach. Woas iis denn doas fer enner?
Beibst verärgert. Dar koan Battelleute zum Noarr’n hoa’nn ... dar leugt egelganz wie a Forr... vu dan luuß der de Hucke vuul liega. Beibst steht auf. Macht enk de Roawer zerecht, Madel.
Guste, welche dabei war, ihre Waden am Brunnen abzuwaschen, ist damit fertig und sagt, bevor sie im Innern des Kuhstalls verschwindet: Glei, glei! Voater Beibst.
Loth kommt zurück, giebt Beibst Geld. Da ist ’ne Kleinigkeit. Geld kann man immer brauchen.
Beibst aufthauend, wie umgewandelt, mit aufrichtiger Gemüthlichkeit. Ju, ju! do ha’n Se au recht ... na da dank ich au vielmools. — Se sein wull d’r Besuch zum Schwiegersuhne? Auf einmal sehr gesprächig. Wissa Se: wenn Se, und Se wull’n da naus gihn auf a Barch zu, wissa Se, do haal’n Se siich links, wissa Se, zängst ’nunder links, rechts gibt’s Risse. Mei Suhn meente, ’s käm do dervoone, meent’ a, weil se zu schlecht verzimmern thäten, meent’ a, de Barchmoanne, ’s soatzt zu wing Luhn, meent’ a, und do giht’s ok a su: woas hust’de, woas koanst’de, ei a Gruba, verstiehn Se. — Sahn Se! — doo! — immer links, rechts gibt’s Lecher. Vurigtes Johr erscht iis a Putterweib, wie se ging und stoand iis se ei’s Ardreich versunka, iich wiß nee amool, wie viel Kloaftern tief. Kee Mensch wußte wuhie — wie gesoa’t, links, immer links, doo gihn Se sicher. Ein Schuß fällt, Beibst, wie electrisirt, hinkt einige Schritt in’s Freie.
Loth. Wer schießt denn da schon so frühe?
Beibst. Na, war denn suste? — d’r Junge, dar meschante Junge.
Loth. Welcher Junge denn?
Beibst. Na, Kahl-Willem — d’r Nupperschsuhn ... Na woart ok blußig due! Ich hoa’s gesahn, a schißt meiner Gitte de Lärcha.
Loth. Ihr hinkt ja.
Beibst. Doaß ’s Goot erbarm’, ja. Droht mit der Faust nach dem Felde. Na woart’ Du! woart’ Du! ...
Loth. Was habt Ihr denn mit dem Bein gemacht?
Beibst. Iich?
Loth. Ja.
Beibst. ’s iis a su ’nei kumma.
Loth. Habt Ihr Schmerzen?
Beibst nach dem Bein greifend. ’S zerrt a su, ’s zerrt infamt.
Loth. Habt Ihr keinen Arzt?
Beibst. Wissa Se, — de Dukter, doas sein Oaffa, enner wie d’r andere! — Blußig inse Dukter, doas iis a ticht’er Moan.
Loth. Hat er Ihnen was genützt?
Beibst. Na — verlecht a klee wing wull au oam Ende. A hoot mer’sch Been geknet’t: sahn Se, a su geknutscht und gehackt un ... oaber nee!! derwegen nich! — A iis ... na kurz un gutt, a hoot mit’n aarma Mensche a Mitleed. — A keeft’n de Med’zin und a verlangt nischt. A kimmt zu jeder Zeet ...
Loth. Sie müssen sich das doch aber irgendwo zugezogen haben?! Haben Sie immer so gehinkt?
Beibst. Nich die Oahnung!
Loth. Dann verstehe ich nicht recht, es muß doch eine Ursache ...
Beibst. Weeß iich’s? Er droht wieder mit der Faust. Woart ok Due! woart ok mit dem Geknackse.
Kahl erscheint innerhalb seines Gartens. Er trägt in der rechten eine Flinte am Lauf, seine linke Hand ist geschlossen. Ruft herüber. Guten Morjen ooch, Herr Dukter!
Loth geht quer durch den Hof auf ihn zu. Inzwischen hat Guste sowie eine andere Magd mit Namen Liese je eine Radwer zurecht gemacht, worauf Harke und Dunggabel liegen. Damit fahren sie durch den Thorweg hinaus auf’s Feld, an Beibst vorüber, der nach einigen grimmigen Blicken und verstohlenen Zornesgesten zu Kahl hinüber seine Sense schultert und ihnen nachhumpelt. Beibst und die Mägde ab.
Loth zu Kahl. Guten Morgen!
Kahl. Wull’n ’S amol was hibsches sah’n? Er streckt den Arm mit der geschlossenen Hand über den Zaun.
Loth nähergehend. Was haben Sie denn da?
Kahl. Rootha See! Er öffnet gleich darauf seine Hand.
Loth. Waas?! — es ist also wirklich wahr: Sie schießen Lerchen! Nun für diesen Unfug, Sie nichtsnutziger Bursche, verdienten Sie geohrfeigt zu werden, verstehen Sie mich! Er kehrt ihm den Rücken zu und geht quer durch den Hof zurück, Beibst und den Mädchen nach. Ab.
Kahl starrt Loth einige Augenblicke dumm verblüfft nach, dann ballt er die Faust verstohlen, sagt: Dukterluder! wendet sich und verschwindet rechts. — Während einiger Augenblicke bleibt der Hof leer.
Helene, aus der Hausthür tretend, helles Sommerkleid, großer Gartenhut. Sie blickt sich ringsum, thut dann einige Schritte auf den Thorweg zu, steht still und späht hinaus. Hierauf schlendert sie rechts durch den Hof und biegt in den Weg ein, welcher nach dem Wirthshause führt. Große Packete von allerhand Thee hängen zum Trocknen über dem Zaune: daran riecht sie im Vorübergehen. Sie biegt auch Zweige von den Obstbäumen und betrachtet die sehr niedrig hängenden, rothwangigen Aepfel. Als sie bemerkt, daß Loth vom Wirthshaus her ihr entgegen kommt, bemächtigt sich ihrer eine noch stärkere Unruhe, so daß sie sich schließlich umwendet und vor Loth her in den Hof zurückgeht. Hier bemerkt sie, daß der Taubenschlag noch geschlossen ist und begiebt sich dorthin durch das kleine Zaunpförtchen des Obstgartens. Noch damit beschäftigt, die Leine, welche, vom Winde getrieben, irgendwo festgehakt ist, herunter zu ziehen, wird sie von Loth, der inzwischen herangekommen ist angeredet.
Loth. Guten Morgen, Fräulein!
Helene. Guten Morgen! — Der Wind hat die Schnur hinaufgejagt.
Loth. Erlauben Sie! Geht ebenfalls durch das Pförtchen, bringt die Schnur herunter und zieht den Schlag auf. Die Tauben fliegen aus.
Helene. Ich danke sehr.
Loth ist durch das Pförtchen wieder herausgetreten, bleibt aber außerhalb des Zaunes und an diesen gelehnt stehen. Helene innerhalb desselben. Nach einer kleinen Pause. Pflegen Sie immer so früh auf zu sein, Fräulein?
Helene. Das eben — wollte ich Sie auch fragen.
Loth. Ich —? nein! Die erste Nacht in einem fremden Hause passirt es mir jedoch gewöhnlich.
Helene. Wie ... kommt das?
Loth. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, es hat keinen Zweck.
Helene. Ach, wieso denn nicht?
Loth. Wenigstens keinen ersichtlichen, praktischen Zweck.
Helene. Also wenn Sie irgend etwas thun oder denken, muß es einem praktischen Zweck dienen?
Loth. Ganz recht? Uebrigens ...
Helene. Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht.
Loth. Was, Fräulein?
Helene. Genau das meinte die Stiefmutter, als sie mir vorgestern den Werther aus der Hand riß.
Loth. Das ist ein dummes Buch.
Helene. Sagen Sie das nicht.
Loth. Das sage ich nochmal, Fräulein. Es ist ein Buch für Schwächlinge.
Helene. Das — kann wohl möglich sein.
Loth. Wie kommen Sie gerade auf dieses Buch? Ist es Ihnen denn verständlich?
Helene. Ich hoffe, ich ... zum Theil ganz gewiß. Es beruhigt so, darin zu lesen. Nach einer Pause. Wenn’s ein dummes Buch ist, wie Sie sagen, könnten Sie mir etwas Besseres empfehlen?
Loth. Le... lesen Sie ... noa! ... kennen Sie den Kampf um Rom von Dahn?
Helene. Nein! Das Buch werde ich mir aber nun kaufen. Dient es einem praktischen Zweck?
Loth. Einem vernünftigen Zweck überhaupt. Es malt die Menschen nicht wie sie sind, sondern wie sie einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich.
Helene mit Ueberzeugung. Das ist schön. Kleine Pause, dann. Vielleicht geben Sie mir Auskunft, man redet so viel von Zola und Ibsen in den Zeitungen: sind das große Dichter?
Loth. Es sind gar keine Dichter, sondern nothwendige Uebel, Fräulein. Ich bin ehrlich durstig und verlange von der Dichtkunst einen klaren, erfrischenden Trunk. — Ich bin nicht krank. Was Zola und Ibsen bieten, ist Medizin.
Helene gleichsam unwillkürlich. Ach, dann wäre es doch vielleicht für mich etwas.
Loth bisher theilweise, jetzt ausschließlich in den Anblick des thauigen Obstgartens vertieft. Es ist prächtig hier. Sehen Sie, wie die Sonne über der Bergkuppe herauskommt. — Viel Aepfel giebt es in Ihrem Garten: eine schöne Ernte.
Helene. Drei Viertel davon wird auch dies Jahr wieder gestohlen werden. Die Armuth hier herum ist zu groß.
Loth. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich das Land liebe! Leider wächst mein Weizen zum größten Theile in der Stadt. Aber nun will ich’s mal durchgenießen, das Landleben. Unsereiner hat so ’n bischen Sonne und Frische mehr nöthig als sonst Jemand.
Helene seufzend. Mehr nöthig, als .... inwiefern?
Loth. Weil man in einem harten Kampfe steht, dessen Ende man nicht erleben kann.
Helene. Stehen wir anderen nicht in einem solchen Kampfe?
Loth. Nein.
Helene. Aber — in einem Kampfe — stehen wir doch auch?!
Loth. Natürlicherweise! aber der kann enden.
Helene. Kann — da haben Sie recht! — und wieso kann der nicht endigen — der, den Sie kämpfen, Herr Loth?
Loth. Ihr Kampf, das kann nur ein Kampf sein um persönliches Wohlergehen. Der Einzelne kann dies, so weit menschenmöglich, erreichen. Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück aller; sollte ich glücklich sein, so müßten es erst alle anderen Menschen um mich herum sein; ich müßte um mich herum weder Krankheit noch Armuth, weder Knechtschaft noch Gemeinheit sehen. Ich könnte mich so zu sagen nur als letzter an die Tafel setzen.
Helene mit Ueberzeugung. Dann sind Sie ja ein sehr, sehr guter Mensch!
Loth ein wenig betreten. Verdienst ist weiter nicht dabei, Fräulein, ich bin so veranlagt. Ich muß übrigens sagen, daß mir der Kampf im Interesse des Fortschritts doch große Befriedigung gewährt. Eine Art Glück, die ich weit höher anschlage, als die, mit der sich der gemeine Egoist zufrieden giebt.
Helene. Es giebt wohl nur sehr wenige Menschen, die so veranlagt sind. — Es muß ein Glück sein, mit solcher Veranlagung geboren zu sein.
Loth. Geboren wird man wohl auch nicht damit. Man kommt dazu durch die Verkehrtheit unserer Verhältnisse, scheint mir; — nur muß man für das Verkehrte einen Sinn haben: das ist es! Hat man den und leidet man so bewußt unter den verkehrten Verhältnissen, dann wird man mit Nothwendigkeit zu dem, was ich bin.
Helene. Wenn ich Sie nur besser .... welche Verhältnisse nennen Sie zum Beispiel verkehrt?
Loth. Es ist zum Beispiel verkehrt, wenn der im Schweiße seines Angesichts Arbeitende hungert und der Faule im Ueberflusse leben darf. — Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Krieg zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten thun, mit einem Menschenabschlachtungs-Instrument, wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz herumzulaufen. Den Henker, der das mit dem Beile thäte, würde man zweifelsohne steinigen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden. Dies sind einige unter Millionen, müssen Sie bedenken. Es kostet Mühe, sich durch alle diese Verkehrtheiten hindurchzuringen; man muß früh anfangen.
Helene. Wie sind Sie denn nur so auf alles dies gekommen? Es ist so einfach und doch kommt man nicht darauf.
Loth. Ich mag wohl durch meinen Entwickelungsgang darauf gekommen sein, durch Gespräche mit Freunden, durch Lecture, durch eigenes Denken. Hinter die erste Verkehrtheit kam ich als kleiner Junge. Ich log mal sehr stark und bekam dafür die schrecklichsten Prügel von meinem Vater. Kurz darauf fuhr ich mit ihm auf der Eisenbahn, und da merkte ich, daß mein Vater auch log und es für ganz selbstverständlich hielt, zu lügen; ich war damals fünf Jahre und mein Vater sagte dem Schaffner, ich sei noch nicht vier, der freien Fahrt halber, welche Kinder unter vier Jahren genießen. Dann sagte der Lehrer auch mal: sei fleißig, halt Dich brav, dann wird es Dir auch unfehlbar gut gehen im Leben. Der Mann lehrte uns eine Verkehrtheit, dahinter kam ich sehr bald. Mein Vater war brav, ehrlich, durch und durch bieder, und ein Schuft, der noch jetzt als reicher Mann lebt, betrog ihn um seine paar Tausend Thaler. Bei eben diesem Schuft, der eine große Seifenfabrik besaß, mußte mein Vater sogar, durch die Noth getrieben, in Stellung treten.
Helene. Unsereins wagt es gar nicht — wagt es gar nicht, so etwas für verkehrt anzusehen, höchstens ganz im Stillen empfindet man es. Man empfindet es oft sogar, und dann — wird einem ganz verzweifelt zu Muth.
Loth. Ich erinnere mich einer Verkehrtheit, die mir ganz besonders klar als solche vor Augen trat. Bis dahin glaubte ich: der Mord werde unter allen Umständen als ein Verbrechen bestraft; danach wurde mir jedoch klar, daß nur die milderen Formen des Mordes ungesetzlich sind.
Helene. Wie wäre das wohl ....
Loth. Mein Vater war Siedemeister, wir wohnten dicht an der Fabrik, unsere Fenster gingen auf den Fabrikhof. Da sah ich auch noch manches außerdem. Es war ein Arbeiter, der fünf Jahre in der Fabrik gearbeitet hatte. Er fing an stark zu husten und abzumagern ... ich weiß, wie uns mein Vater bei Tisch erzählte: Burmeister — so hieß der Arbeiter — bekommt die Lungenschwindsucht, wenn er noch länger bei der Seifenfabrikation bleibt. Der Doktor hat es ihm gesagt. — Der Mann hatte acht Kinder, und ausgemergelt wie er war, konnte er nirgends mehr Arbeit finden. Er mußte also in der Seifenfabrik bleiben, und der Prinzipal that sich viel darauf zu gute, daß er ihn beibehielt. Er kam sich unbedingt äußerst human vor. — Eines Nachmittags, im August, es war eine furchtbare Hitze, da quälte er sich mit einer Karre Kalk über den Fabrikhof. — Ich sah gerade aus dem Fenster, da merke ich, wie er still steht — wieder still steht und schließlich schlägt er lang auf die Steine. — Ich lief hinzu — mein Vater kam, andere Arbeiter kamen, aber er röchelte nur noch, und sein ganzer Mund war voll Blut. Ich half ihn ins Haus tragen. Ein Haufe kalkiger, nach allerhand Chemikalien stinkender Lumpen war er; bevor wir ihn im Hause hatten, war er schon gestorben.
Helene. Ach, schrecklich ist das.
Loth. Kaum acht Tage später zogen wir seine Frau aus dem Fluß, in den die verbrauchte Lauge unserer Fabrik abfloß. — Ja, Fräulein! wenn man dies alles kennt, wie ich es jetzt kenne — glauben Sie mir! — dann läßt es einem keine Ruhe mehr. Ein einfaches Stückchen Seife, bei dem sich in der Welt sonst Niemand etwas denkt, ja, ein paar rein gewaschene, gepflegte Hände schon können einen in die bitterste Laune versetzen.
Helene. Ich hab auch mal so was gesehen. Hu! schrecklich war das, schrecklich!
Loth. Was?
Helene. Der Sohn von einem Arbeitsmann wurde halbtodt hier hereingetragen. Es ist nun ... drei Jahre vielleicht ist es her.
Loth. War er verunglückt?
Helene. Ja, drüben im Bärenstollen.
Loth. Ein Bergmann also?
Helene. Ja, die meisten jungen Leute hier herum gehen auf die Grube. — Ein zweiter Sohn desselben Vaters war auch Schlepper und ist auch verunglückt.
Loth. Beide todt?
Helene. Beide todt .... Einmal riß etwas an der Fahrkunst, das andere Mal waren es schlagende Wetter. — Der alte Beibst hat aber noch einen dritten Sohn, der fährt auch seit Ostern ein.
Loth. Was Sie sagen! — hat er nichts dawider?
Helene. Gar nichts, nein! Er ist nur jetzt noch weit mürrischer als früher. Haben Sie ihn nicht schon gesehen?
Loth. Wieso ich?
Helene. Er saß ja heut früh nebenan, unter der Durchfahrt.
Loth. Ach! — wie? .. Er arbeitet hier im Hofe?
Helene. Schon seit Jahren.
Loth. Er hinkt?
Helene. Ziemlich stark sogar.
Loth. Soosoo. — Was ist ihm denn da passirt, mit dem Bein?
Helene. Das ist ’ne heikle Geschichte. Sie kennen doch den Herrn Kahl? ... da muß ich Ihnen aber ganz nahe kommen. Sein Vater, müssen Sie wissen, war genau so ein Jagdnarr wie er. Er schoß hinter den Handwerksburschen her, die auf den Hof kamen, wenn auch nur in die Luft, um ihnen Schrecken einzujagen. Er war auch sehr jähzornig, wissen Sie; wenn er getrunken hatte, erst recht. Nu hat wohl der Beibst mal gemuckscht — er muckscht gern, wissen Sie, — und da hat der Bauer die Flinte zu packen gekriegt und ihm eine Ladung gegeben. Beibst, wissen Sie, war nämlich früher beim Nachbar Kahl für Kutscher.
Loth. Frevel über Frevel, wohin man hört.
Helene immer unsicherer und erregter. Ich hab auch schon manchmal so bei mir gedacht .... sie haben mir alle mitunter schon so furchtbar leid gethan —: der alte Beibst und ..... Wenn die Bauern so roh und dumm sind wie der — wie der Streckmann, der — läßt seine Knechte hungern und füttert die Hunde mit Conditorzeug. Hier bin ich wie dumm, seit ich aus der Pension zurück bin ... Ich hab auch mein Päckchen! — aber ich rede ja wohl Unsinn, — es interessirt Sie ja gar nicht — Sie lachen mich im Stillen bloß aus.
Loth. Aber Fräulein, wie können Sie nur .... weshalb sollte ich Sie denn ....
Helene. Nun, etwa nicht? Sie denken doch: die ist auch nicht besser wie die Anderen hier.
Loth. Ich denke von Niemand schlecht, Fräulein!
Helene. Das machen Sie mir nicht weis .... nein, nein!
Loth. Aber Fräulein! wann hatte ich Ihnen Veranlassung ...
Helene nahe am Weinen. Ach, reden Sie doch nicht! Sie verachten uns, verlassen Sie sich d’rauf — Sie müssen uns ja doch verachten, — weinerlich — den Schwager mit, mich mit. Mich vor allen Dingen und dazu, da — zu haben Sie wahr... wahrhaftig auch Grund. Sie wendet Loth schnell den Rücken und geht, ihrer Bewegung nicht mehr Herr, durch den Obstgarten nach dem Hintergrunde zu ab. Loth tritt durch das Pförtchen und folgt ihr langsam.
Frau Krause in überladener Morgentoilette, puterroth im Gesicht, aus der Hausthür, schreit. Doas Loaster vu Froovulk! Marie! Ma—rie!! unter men’n Dache? Weg muß doas Froovulk! Sie rennt über den Hof und verschwindet in der Stallthür. Frau Spiller, mit Häkelarbeit, erscheint in der Hausthür. Im Stalle hört man Schimpfen und Heulen.
Frau Krause die heulende Magd vor sich hertreibend, aus dem Stall. Du Hurenfroovulk Du! — Die Magd heult stärker — uuf der Stelle ’naus! Sich Deine sieba Sacha z’samma und dann ’naus! Helene, mit rothen Augen kommt durch den Thorweg, bemerkt die Scene und steht abwartend still.
Die Magd entdeckt Frau Spiller, wirft Schemel und Milchgelte weg und geht wüthend auf sie zu. Doas biin iich Ihn’n schuldig! Doas war iich Ihn’n eitränka!! Sie rennt schluchzend davon, die Bodentreppe hinauf. Ab.
Helene zu Frau Krause tretend. Was hat sie denn gemacht?
Frau Krause grob. Gieht’s Diich oan, Goans?
Helene heftig, fast weinend. Ja, mich geht’s an.
Frau Spiller schnell hinzutretend. Mein gnädiges Fräulein, so etwas ist nicht für das Ohr eines jungen Mädchens wie ...
Frau Krause. Worum ok ne goar, Spillern! die iis au ne vu Marzepane. Mit’n Grußknecht zusoamma gelah’n hot se ei en Bette. Do wißt de’s.
Helene in befehlendem Tone. Die Magd wird aber doch bleiben.
Frau Krause. Weibsstück!
Helene. Gut! dann will ich dem Vater erzählen, daß Du mit Kahl Wilhelm die Nächte ebenso verbringst.
Frau Krause schlägt ihr eine Maulschelle. Du hust’ an’ Denkzettel!
Helene todtbleich, aber noch fester. Die Magd bleibt aber doch, sonst ... sonst bring ich’s herum! Mit Kahl Wilhelm, Du! Dein Vetter ... mein Bräut’jam ... Ich bring’s herum.
Frau Krause mit wankender Fassung. Wer koan doas soa’n?
Helene. Ich! Denn ich hab ihn heut Morgen aus Deinem Schlafzimmer ..... Schnell ab ins Haus.
Frau Krause, taumelnd, nahe einer Ohnmacht. Frau Spiller mit Riechfläschchen zu ihr.
Frau Spiller. Gnädige Frau, gnädige Frau!
Frau Krause. Sp...illern, die Moa’d sss... sool dooblei’n.
Der Vorhang fällt schnell.
Zeit: wenige Minuten nach dem Vorfall zwischen Helene und ihrer Stiefmutter im Hofe. Der Schauplatz ist der des ersten Vorgangs.
Dr. Schimmelpfennig sitzt, ein Recept schreibend, Schlapphut, Zwirnhandschuhe und Stock vor sich auf der Tischplatte, an dem Tisch links im Vordergrunde. Er ist von Gestalt klein und gedrungen, hat schwarzes Wollhaar und einen ziemlich starken Schnurrbart. Schwarzer Rock im Schnitt der Jägerschen Normalröcke. Die Kleidung im Ganzen solid, aber nicht elegant. Hat die Gewohnheit, fast ununterbrochen seinen Schnurrbart zu streichen oder zu drehen, um so stärker, je erregter er innerlich wird. Sein Gesichtsausdruck, wenn er mit Hoffmann redet, ist gezwungen ruhig, ein Zug von Sarkasmus liegt um seine Mundwinkel. Seine Bewegungen sind lebhaft, fest und eckig, durchaus natürlich. Hoffmann, in seidenem Schlafrock und Pantoffeln, geht umher. Der Tisch rechts im Hintergrunde ist zum Frühstück hergerichtet. Feines Porzellan. Gebäck. Rumcaraffe etc.
Hoffmann. Herr Doktor, sind Sie mit dem Aussehen meiner Frau zufrieden?
Dr. Schimmelpfennig. Sie sieht ja ganz gut aus, warum nicht.
Hoffmann. Denken Sie, daß alles gut vorüber gehen wird?
Dr. Schimmelpfennig. Ich hoffe.
Hoffmann nach einer Pause, zögernd. Herr Doktor, ich habe mir vorgenommen — schon seit Wochen — Sie, sobald ich hierher käme, in einer ganz bestimmten Sache um Ihren Rath zu bitten.
Dr. Schimmelpfennig, der bis jetzt unter dem Schreiben geantwortet hat, legt die Feder beiseite, steht auf und übergiebt Hoffmann das geschriebene Recept. So! ... das lassen Sie wohl bald machen; — indem er Hut, Handschuhe und Stock nimmt — über Kopfschmerz klagt Ihre Frau, — in seinen Hut blickend, geschäftsmäßig — ehe ich es vergesse: suchen Sie doch Ihrer Frau begreiflich zu machen, daß sie für das kommende Lebewesen einigermaßen verantwortlich ist. Ich habe ihr bereits selbst einiges gesagt — über die Folgen des Schnürens.
Hoffmann. Ganz gewiß, Herr Doktor ... ich will ganz gewiß mein Möglichstes thun, ihr ...
Dr. Schimmelpfennig sich ein wenig linkisch verbeugend. Empfehle mich. Geht, bleibt wieder stehen. Ach so! ... Sie wollten ja meinen Rath hören. Er blickt Hoffmann kalt an.
Hoffmann. Ja, wenn Sie noch einen Augenblick Zeit hätten ... Nicht ohne Affectirtheit. Sie kennen das entsetzliche Ende meines ersten Jungen. Sie haben es ja ganz aus der Nähe gesehen. Wie weit ich damals war, wissen Sie ja wohl auch. — Man glaubt es nicht, dennoch: die Zeit mildert! ... Schließlich habe ich sogar noch Grund zur Dankbarkeit, mein sehnlichster Wunsch soll, wie es scheint, erfüllt werden. Sie werden begreifen, daß ich alles thun muß ... Es hat mich schlaflose Nächte genug gekostet und doch weiß ich noch nicht, noch immer nicht, wie ich es anstellen soll, um das jetzt noch ungeborene Geschöpf vor dem furchtbaren Schicksale seines Brüderchens zu bewahren. Und das ist es, weshalb ich Sie ...
Dr. Schimmelpfennig trocken und geschäftsmäßig. Von seiner Mutter trennen: Grundbedingung einer gedeihlichen Entwickelung.
Hoffmann. Also doch?! — Meinen Sie, völlig trennen? ... Soll es auch nicht in demselben Hause mit ihr ...?
Dr. Schimmelpfennig. Nein, wenn es Ihnen ernst ist um die Erhaltung Ihres Kindes, dann nicht. Ihr Vermögen gestattet Ihnen ja in dieser Beziehung die freieste Bewegung.
Hoffmann. Gott sei Dank, ja! Ich habe auch schon in der Nähe von Hirschberg eine Villa mit sehr großem Park angekauft. Nur wollte ich auch meine Frau ...
Dr. Schimmelpfennig dreht seinen Bart und starrt auf die Erde. Unter Nachdenken. Kaufen Sie doch Ihrer Frau irgend wo anders eine Villa ...
Hoffmann zuckt die Achseln.
Dr. Schimmelpfennig wie vorher. Können Sie nicht — Ihre Schwägerin — für die Aufgabe, dieses Kind zu erziehen, interessiren?
Hoffmann. Wenn Sie wüßten, Herr Doktor, was für Hindernisse ... außerdem: ein unerfahrenes, junges Ding ... Mutter ist doch Mutter.
Dr. Schimmelpfennig. Sie wissen meine Meinung. Empfehle mich.
Hoffmann mit Ueberfreundlichkeit um ihn herum complimentirend. Empfehle mich ebenfalls! Ich bin Ihnen äußerst dankbar ...
Beide ab durch die Mittelthür.
Helene, das Taschentuch vor den Mund gepreßt, schluchzend, außer sich, kommt herein und läßt sich auf das Sopha links vorn hinfallen. Nach einigen Augenblicken tritt Hoffmann, Zeitungsblätter in den Händen haltend, abermals ein.
Hoffmann. Was ist denn das —? Sag’ mal, Schwägerin! soll denn das noch lange so fort gehen? — Seit ich hier bin, vergeht nicht ein Tag, an dem ich Dich nicht weinen sehe.
Helene. Ach! — was weißt Du!? — Wenn Du überhaupt Sinn für so was hätt’st, dann würd’st Du Dich vielmehr wundern, wenn ich mal nicht weinte.
Hoffmann. — Das leuchtet mir nicht ein, Schwägerin!
Helene. Mir um so mehr!
Hoffmann. ... Es muß doch wieder was passirt sein, hör’ mal!
Helene springt auf, stampft mit dem Fuße. Pfui! Pfui! ... und ich mag’s nicht mehr leiden ... Das hört auf! Ich lasse mir das nicht mehr bieten! Ich sehe nicht ein warum ... ich ... im Weinen erstickend.
Hoffmann. Willst Du mir denn nicht wenigstens sagen, worum sich’s handelt, damit ...
Helene auf’s Neue heftig ausbrechend. Alles ist mir egal! Schlimmer kann’s nicht kommen: — einen Trunkenbold von Vater hat man, ein Thier — vor dem die .... die eigene Tochter nicht sicher ist. — Eine ehebrecherische Stiefmutter, die mich an ihren Galan verkuppeln möchte .. Dieses ganze Dasein überhaupt. — Nein —! ich sehe nicht ein, wer mich zwingen kann, durchaus schlecht zu werden. Ich gehe fort! Ich renne fort — und wenn Ihr mich nicht loslaßt, dann .... Strick, Messer, Revolver! .... mir egal! — ich will nicht auch zum Branntwein greifen wie meine Schwester.
Hoffmann erschrocken, packt sie am Arm. Lene! .... Ich sag’ Dir, still! ... davon still!
Helene. Mir egal! .... mir ganz egal! — Man ist ... man muß sich schämen bis in die Seele ’nein. — Man möchte was wissen, was sein, was sein können — und was ist man nu?
Hoffmann, der ihren Arm noch nicht wieder losgelassen, fängt an, das Mädchen allmählich nach dem Sopha hinzudrängen. Im Tone seiner Stimme liegt nun plötzlich eine weichliche, übertriebene, gleichsam vibrirende Milde. Lenchen —! Ich weiß ja recht gut, daß Du hier manches auszustehen hast. Sei nur ruhig ...! Brauchst es mir gar nicht zu sagen. Er legt die Rechte liebkosend auf ihre Schulter, bringt sein Gesicht nahe dem ihren. Ich kann Dich gar nicht weinen sehen. Wahrhaftig! — ’s thut mir weh. Sieh doch nur aber die Verhältnisse nicht schwärzer, als sie sind —; und dann: — hast Du vergessen, daß wir beide — Du und ich — so zu sagen in der gleichen Lage sind? — Ich bin in diese Bauernatmosphäre hinein gekommen .... passe ich hinein? Genau so wenig wie Du hoffentlich.
Helene immer noch weinend. Hätte mein — gutes — M — Muttelchen das geahnt — als sie .... als sie bestimmte — daß ich in Herrnhut — erzogen .... erzogen werden sollte. Hätte sie — mich lieber ... mich lieber zu Hause gelassen, dann hätte ich ... hätte ich wenigstens — nichts Anderes kennen gelernt, wäre in dem Sumpf hier auf.... aufgewachsen —. Aber so ...
Hoffmann hat Helene sanft auf das Sopha gezwungen und sitzt nun, eng an sie gedrängt, neben ihr. Immer auffälliger verräth sich in seinen Tröstungen das sinnliche Element. Lenchen —! Sieh mich an, laß das gut sein, tröste Dich mit mir. — Ich brauch’ Dir von Deiner Schwester nicht zu sprechen. Heiß und mit Innigkeit, indem er sie enger umschlingt. Ja, wäre sie wie Du bist! ... So aber ... sag’ selbst: was kann sie mir sein? — Wo lebt ein Mann, Lenchen, ein gebildeter Mann, — leiser — dessen Frau von einer so unglückseligen Leidenschaft befallen ist? — Man darf es gar nicht laut sagen: eine Frau — und — Branntwein ... Nun, sprich, bin ich glücklicher? .... Denk an mein Fritzchen! — Nun? ... bin ich am Ende besser dran, wie? ... Immer leidenschaftlicher. Siehst Du: so hat’s das Schicksal schließlich noch gut gemeint. Es hat uns zu einander gebracht. — Wir gehören für einander! Wir sind zu Freunden voraus bestimmt, mit unsren gleichen Leiden. Nicht, Lenchen? Er umschlingt sie ganz. Sie läßt es geschehen, aber mit einem Ausdruck, der besagt, daß sie sich zum Dulden zwingt. Sie ist still geworden und scheint mit zitternder Spannung etwas zu erwarten, irgend eine Gewißheit, eine Erfüllung, die unfehlbar herankommt.
Hoffmann zärtlich. Du solltest meinem Vorschlag folgen, solltest dies Haus verlassen, bei uns wohnen. — Das Kindchen, das kommt, braucht eine Mutter. — Komm! sei Du ihm das; — leidenschaftlich gerührt, sentimental — sonst hat es eben keine Mutter. Und dann: — bring ein wenig, nur ein ganz, ganz klein wenig Licht in mein Leben. Thuu’s! — thu — ’s! Er will seinen Kopf an ihre Brust lehnen. Sie springt auf, empört. In ihren Mienen verräth sich Verachtung, Ueberraschung, Ekel, Haß.
Helene. Schwager! Du bist, Du bist ... Jetzt kenn ich Dich durch und durch. Bisher hab ich’s nur so dunkel gefühlt. Jetzt weiß ich’s ganz gewiß.
Hoffmann überrascht, fassungslos. Was ...? Helene ... — einzig, wirklich.
Helene. Jetzt weiß ich ganz gewiß, daß Du nicht um ein Haar besser bist .... was denn! schlechter bist Du, der schlecht’ste von allen hier!
Hoffmann steht auf, mit angenommener Kälte. Dein Betragen heut ist sehr eigenthümlich, weißt Du!
Helene tritt nahe zu ihm. Du gehst doch nur auf das eine Ziel los. Halblaut in sein Ohr. Aber Du hast ganz andere Waffen als Vater und Stiefmutter oder der ehrenfeste Herr Bräutigam, ganz andere. Gegen Dich gehalten sind sie Lämmer, alle mit ’nander. Jetzt, jetzt auf einmal, jetzt eben ist mir das sonnenklar geworden.
Hoffmann in erheuchelter Entrüstung. Lene! Du bist .... Du bist nicht bei Trost, das ist ja heller Wahn.... Er unterbricht sich, schlägt sich vor den Kopf. Gott, wie wird mir denn auf einmal, natürlich! ... Du hast .... es ist freilich noch sehr früh am Tage, aber ich wette, Du hast .... Helene, Du hast heut früh schon mit Alfred Loth geredet.
Helene. Weshalb sollte ich denn nicht mit ihm geredet haben? Es ist ein Mann, vor dem wir uns alle verstecken müßten vor Scham, wenn es mit rechten Dingen zuginge.
Hoffmann. Also wirklich! ... Ach sooo! .... na jaaa! .. allerdings ... da darf ich mich weiter nicht wundern — So, so, so, hat also die Gelegenheit benützt, über seinen Wohlthäter ’n bischen herzuziehen. Man sollte immer auf dergleichen gefaßt sein, freilich!
Helene. Schwager! das ist nun geradezu gemein.
Hoffmann. Finde ich beinah auch!
Helene. Kein Sterbenswort, nicht ein Sterbenswort hat er gesagt über Dich.
Hoffmann ohne darauf einzugehen. Wenn die Sachen so liegen, dann ist es geradezu meine Pflicht, ich sage, meine Pflicht, als Verwandter, einem so unerfahrenen Mädchen gegenüber wie Du bist .....
Helene. Unerfahrenes Mädchen —? Wie Du mir vorkommst!
Hoffmann aufgebracht. Auf meine Verantwortung ist Loth hier in’s Haus gekommen. Nun mußt Du wissen: — er ist — gelinde gesprochen — ein höchst ge—fähr—licher Schwärmer, dieser Herr Loth.
Helene. Daß Du das von Herrn Loth sagst, hat für mich so etwas — Verkehrtes — etwas lächerlich Verkehrtes.
Hoffmann. Ein Schwärmer, der die Gabe hat, nicht nur Weibern, sondern auch vernünftigen Leuten die Köpfe zu verwirren.
Helene. Siehst Du: wieder so eine Verkehrtheit! Mir ist es nach den wenigen Worten, die ich mit Herrn Loth geredet habe, so wohlthuend klar im Kopfe ....
Hoffmann im Tone eines Verweises. Was ich Dir sage, ist durchaus nichts Verkehrtes.
Helene. Man muß für das Verkehrte einen Sinn haben, und den hast Du eben nicht.
Hoffmann wie vorher. Davon ist jetzt nicht die Rede. Ich erkläre Dir nochmals, daß ich Dir nichts Verkehrtes sage, sondern etwas, was ich Dich bitten muß, als thatsächlich wahr hinzunehmen .... Ich habe es an mir erfahren: er benebelt einem den Kopf, und dann schwärmt man von Völkerverbrüderung, von Freiheit und Gleichheit, setzt sich über Sitte und Moral hinweg .... Wir wären damals um dieser Hirngespinste willen — weiß der Himmel — über die Leichen unserer Eltern hinweggeschritten, um zum Ziele zu gelangen. Und er, sage ich Dir, würde erforderlichen Falls noch heute dasselbe thun.
Helene. Wie viele Eltern mögen wohl alljährlich über die Leichen ihrer Kinder schreiten, ohne daß Jemand ....
Hoffmann ihr in die Rede fallend. Das ist Unsinn! Da hört alles auf! ... Ich sage Dir, nimm Dich vor ihm in Acht, in jeder .... ich sage ganz ausdrücklich, in jeder Beziehung. — Von moralischen Skrupeln ist da keine Spur.
Helene. Ne, wie verkehrt dies nun wieder ist. Glaub’ mir, Schwager, fängt man erst mal an d’rauf zu achten .... es ist so schrecklich interessant .....
Hoffmann. Sag’ doch, was Du willst, gewarnt bist Du nun. Ich will Dir nur noch ganz im Vertrauen mittheilen: ein Haar, und ich wäre damals durch ihn und mit ihm greulich in die Tinte gerathen.
Helene. Wenn dieser Mensch so gefährlich ist, warum freutest Du Dich denn gestern so aufrichtig, als ....
Hoffmann. Gott ja, er ist eben ein Jugendbekannter! Weißt Du denn, ob nicht ganz bestimmte Gründe vorlagen ....
Helene. Gründe? Wie denn?
Hoffmann. Nur so. — Käme er allerdings heut und wüßte ich, was ich jetzt weiß —
Helene. Was weißt Du denn nur? Ich sagte Dir doch bereits, er hat kein Sterbenswort über Dich verlauten lassen.
Hoffmann. — Verlaß Dich d’rauf! Ich hätte mir’s zweimal überlegt und mich wahrscheinlich sehr in Acht genommen, ihn hier zu behalten. Loth ist und bleibt ’n Mensch, dessen Umgang compromittirt. Die Behörden haben ihn im Auge.
Helene. Ja, hat er denn ein Verbrechen begangen?
Hoffmann. Sprechen wir lieber darüber nicht. Laß es Dir genug sein, Schwägerin, wenn ich Dir die Versicherung gebe: mit Ansichten, wie er sie hat, in der Welt umherzulaufen, ist heutzutage weit schlimmer und vor allem gefährlicher als stehlen.
Helene. Ich will’s mir merken. — Nun aber — Schwager! hörst Du? Frag’ mich nicht — wie ich nach Deinen Reden über Herrn Loth noch von Dir denke. — Hörst Du?
Hoffmann cynisch kalt. Denkst Du denn wirklich, daß mir so ganz besonders viel daran liegt das zu wissen? Er drückt den Klingelknopf. Uebrigens höre ich ihn da eben hereinkommen.
Loth tritt ein.
Hoffmann. Nun —? gut geschlafen, alter Freund?
Loth. Gut, aber nicht lange. Sag’ doch mal: ich sah da vorhin Jemand aus dem Haus kommen, einen Herrn.
Hoffmann. Vermuthlich der Doktor, der soeben hier war. Ich erzählte Dir ja ... dieser eigenthümliche Mischmasch von Härte und Sentimentalität.
Helene verhandelt mit Eduard, der eben eingetreten ist. Er geht ab und servirt kurz darauf Thee und Kaffee.
Loth. Dieser Mischmasch, wie Du Dich ausdrückst, sah nämlich einem alten Universitätsfreunde von mir furchtbar ähnlich — ich hätte schwören können, daß er es sei — einem gewissen Schimmelpfennig.
Hoffmann sich am Frühstückstisch niederlassend. Nu ja, ganz recht: Schimmelpfennig!
Loth. Ganz recht? Was?
Hoffmann. Er heißt in der That Schimmelpfennig.
Hoffmann. Du sagtest es doch eben. Ja, der Doktor.
Loth. Dann .... das ist aber auch wirklich wunderlich! Unbedingt ist er’s dann.
Hoffmann. Siehst Du wohl, schöne Seelen finden sich zu Wasser und zu Lande. Du nimmst mir’s nicht übel, wenn ich anfange; wir wollten uns nämlich gerade zum Frühstück setzen. Bitte, nimm Platz! Du hast doch wohl nicht schon irgendwo gefrühstückt?
Loth. Nein!
Hoffmann. Nun dann, also. Er rückt, selbst sitzend, Loth einen Stuhl zurecht. Hierauf zu Eduard, der mit Thee und Kaffee kommt. Ae! wird .. e .. meine Frau Schwiegermama nicht kommen?
Eduard. Die gnädige Frau und Frau Spiller werden auf ihrem Zimmer frühstücken.
Hoffmann. Das ist aber doch noch nie ....
Helene das Service zurechtrückend. Laß nur! Es hat seinen Grund.
Hoffmann. Ach so .. Loth! lang’ zu .... ein Ei? Thee?
Loth. Könnte ich vielleicht lieber ein Glas Milch bekommen?
Hoffmann. Mit dem größten Vergnügen.
Helene. Eduard! Miele soll frisch einmelken.
Hoffmann schält ein Ei ab. Milch — brrr! mich schüttelt’s. Salz und Pfeffer nehmend. Sag’ mal, Loth, was führt Dich eigentlich in unsre Gegend? Ich hab’ bisher ganz vergessen, Dich danach zu fragen.
Loth bestreicht eine Semmel mit Butter. Ich möchte die hiesigen Verhältnisse studiren.
Hoffmann mit einem Aufblick. Bitte ...? ... was für Verhältnisse?
Loth. Präcise gesprochen: ich will die Lage der hiesigen Bergleute studiren.
Hoffmann. Ach, die ist im Allgemeinen doch eine sehr gute.
Loth. Glaubst Du? — Das wäre ja übrigens recht schön .... Doch eh ich’s vergesse: Du mußt mir dabei einen Dienst leisten. Du kannst Dich um die Volkswirthschaft sehr verdient machen, wenn ....
Hoffmann. Ich? I! wieso ich?
Loth. Nun, Du hast doch den Verschleiß der hiesigen Gruben?
Hoffmann. Ja! und was dann?
Loth. Dann wird es Dir auch ein Leichtes sein, mir die Erlaubniß zur Besichtigung der Gruben auszuwirken. Das heißt: ich will mindestens vier Wochen lang täglich einfahren, damit ich den Betrieb einigermaßen kennen lerne.
Hoffmann leichthin. Was Du da unten zu sehen bekommst, willst Du dann wohl schildern?
Loth. Ja. Meine Arbeit soll vorzugsweise eine descriptive werden.
Hoffmann. Das thut mir nun wirklich leid, mit der Sache habe ich gar nichts zu thun. — Du willst bloß über die Bergleute schreiben, wie?
Loth. Aus dieser Frage hört man, daß Du kein Volkswirthschaftler bist.
Hoffmann in seinem Dünkel gekränkt. Bitte sehr um Entschuldigung! Du wirst mir wohl zutrauen ..... Warum? Ich sehe nicht ein, wieso man diese Frage nicht thun kann? — und schließlich: es wäre kein Wunder .... Alles kann man nicht wissen.
Loth. Na, beruhige Dich nur, die Sache ist einfach die: wenn ich die Lage der hiesigen Bergarbeiter studiren will, so ist es unumgänglich, auch alle die Verhältnisse, welche diese Lage bedingen, zu berühren.
Hoffmann. In solchen Schriften wird mitunter schauderhaft übertrieben.
Loth. Von diesem Fehler gedenke ich mich frei zu halten.
Hoffmann. Das wird sehr löblich sein. Er hat bereits mehrmals und jetzt wiederum mit einem kurzen und prüfenden Blick Helenen gestreift, die mit naiver Andacht an Loth’s Lippen hängt, und fährt nun fort. Doch .... es ist urkomisch, wie einem so was ganz urplötzlich in den Sinn kommt. Wie so was im Gehirn nur vor sich gehen mag?
Loth. Was ist Dir denn auf einmal in den Sinn gekommen?
Hoffmann. Es betrifft Dich. — Ich dachte an Deine Ver..... nein, es ist am Ende tactlos, in Gegenwart von einer jungen Dame von Deinen Herzensgeheimnissen zu reden.
Helene. Ja, dann will ich doch lieber ....
Loth. Bitte sehr, Fräulein! .. bleiben Sie ruhig, meinetwegen wenigstens — ich merke längst, worauf er hinaus will. Ist auch durchaus nichts Gefährliches. Zu Hoffmann. Meine Verlobung, nicht wahr?
Hoffmann. Wenn Du selbst darauf kommst, ja! — Ich dachte in der That an Deine Verlobung mit Anna Faber.
Loth. Die ging auseinander — naturgemäß — als ich damals in’s Gefängniß mußte.
Hoffmann. Das war aber nicht hübsch von Deiner .....
Loth. Es war jedenfalls ehrlich von ihr! Ihr Absagebrief enthielt ihr wahres Gesicht; hätte sie mir dies Gesicht früher gezeigt, dann hätte sie sich selbst und auch mir manches ersparen können.
Hoffmann. Und seither hat Dein Herz nicht irgendwo festgehakt?
Loth. Nein.
Hoffmann. Natürlich! Nun: Büchse in’s Korn geworfen — heirathen verschworen! verschworen wie den Alkohol! Was? Uebrigens chacun à son goût.
Loth. Mein Geschmack ist es eben nicht, aber vielleicht mein Schicksal. Auch habe ich Dir, soviel ich weiß, bereits einmal gesagt, daß ich in Bezug auf das Heirathen nichts verschworen habe; was ich fürchte, ist: daß es keine Frau geben wird, die sich für mich eignet.
Hoffmann. Ein großes Wort, Lothchen!
Loth. Im Ernst! — Mag sein, daß man mit den Jahren zu kritisch wird und zu wenig gesunden Instinkt besitzt. Ich halte den Instinkt für die beste Garantie einer geeigneten Wahl.
Hoffmann frivol. Der wird sich schon noch mal wiederfinden — lachend — der Instinkt nämlich.
Loth. — Schließlich, was kann ich einer Frau bieten? Ich werde immer mehr zweifelhaft, ob ich einer Frau zumuthen darf, mit dem kleinen Theile meiner Persönlichkeit vorlieb zu nehmen, der nicht meiner Lebensarbeit gehört — dann fürchte ich mich auch vor der Sorge um die Familie.
Hoffmann. Wa... was? — vor der Sorge um die Familie? Kerl! hast Du denn nicht Kopf, Arme, he?
Loth. Wie Du siehst. Aber ich sagte Dir ja schon, meine Arbeitskraft gehört zum größten Theil meiner Lebensaufgabe und wird ihr immer zum größten Theil gehören: sie ist also nicht mehr mein. Ich hätte außerdem mit ganz besonderen Schwierigkeiten ....
Hoffmann. Pst! klingelt da nicht Jemand?
Loth. Du hältst das für Phrasengebimmel?
Hoffmann. Ehrlich gesprochen, es klingt etwas hohl! Unser einer ist schließlich auch kein Buschmann, trotzdem man verheirathet ist. Gewisse Menschen geberden sich immer, als ob sie ein Privilegium auf alle in der Welt zu vollbringenden guten Thaten hätten.
Loth heftig. Gar nicht! — denk ich gar nicht d’ran! — Wenn Du von Deiner Lebensaufgabe nicht abgekommen wärst, so würde das an Deiner glücklichen materiellen Lebenslage mitliegen.
Hoffmann mit Ironie. Dann wäre das wohl auch eine Deiner Forderungen.
Loth. Wie? Forderungen? was?
Hoffmann. Ich meine: Du würdest bei einer Heirath auf Geld sehen.
Hoffmann. Und dann giebt es — wie ich Dich kenne — noch eine lange Zaspel anderer Forderungen.
Loth. Sind vorhanden! Leibliche und geistige Gesundheit der Braut zum Beispiel ist conditio sine qua non.
Hoffmann lachend. Vorzüglich! Dann wird ja wohl vorher eine ärztliche Untersuchung der Braut nothwendig werden. — Göttlicher Hecht!
Loth immer ernst. Ich stelle aber auch an mich Forderungen, mußt Du nehmen.
Hoffmann immer heiterer. Ich weiß, weiß! ... wie Du mal die Literatur über Liebe durchgingst, um auf das Gewissenhafteste festzustellen ob das, was Du damals für irgend eine Dame empfandest, auch wirklich Liebe sei. Also sag’ doch mal noch einige Deiner Forderungen.
Loth. Meine Frau müßte zum Beispiel entsagen können.
Helene. — Wenn ... wenn .... Ach! ich will lieber nicht reden ... ich wollte nur sagen: die Frau ist doch im Allgemeinen an’s Entsagen gewöhnt.
Loth. Um’s Himmels willen! Sie verstehen mich durchaus falsch. So ist das Entsagen nicht gemeint. Nur in sofern verlange ich Entsagung, oder besser, nur auf den Theil meines Wesens, der meiner Lebensaufgabe gehört, müßte sie freiwillig und mit Freuden verzichten. Nein, nein! im Übrigen soll meine Frau fordern und immer fordern — alles was ihr Geschlecht im Laufe der Jahrtausende eingebüßt hat.
Hoffmann. Au! au! au! ... Frauenemancipation! — wirklich Deine Schwenkung war bewunderungswürdig — nun bist Du im rechten Fahrwasser. Fritz Loth, oder der Agitator in der Westentasche! ... Wie würdest Du denn hierin Deine Forderungen formuliren, oder besser: wie weit müßte Deine Frau emancipirt sein? — Es amüsirt mich wirklich Dich anzuhören — Cigarren rauchen? Hosen tragen?
Loth. Das nun weniger — aber — sie müßte allerdings über gewisse gesellschaftliche Vorurtheile hinaus sein. Sie müßte zum Beispiel nicht davor zurückschrecken zuerst — falls sie nämlich wirklich Liebe zu mir empfände — das bewußte Bekenntniß abzulegen.
Hoffmann ist mit frühstücken zu Ende. Springt auf, in halb ernster, halb komischer Entrüstung. Weißt Du? das ... das ist ... eine geradezu unverschämte Forderung! mit der Du allerdings auch — wie ich Dir hiermit prophezeihe — wenn Du nicht etwa vorziehst sie fallen zu lassen, bis an Dein Lebensende herumlaufen wirst.
Helene mit schwer bewältigter, innerer Erregung. Ich bitte die Herren mich jetzt zu entschuldigen — die Wirthschaft ... Du weißt, Schwager: Mama ist in der Stube und da ...
Hoffmann. Laß Dich nicht abhalten.
Helene verbeugt sich; ab.
Hoffmann mit dem Streichholzetui nach dem Cigarrenkistchen, das auf dem Buffet steht, zuschreitend. Das muß wahr sein ... Du bringst einen in Hitze, ... ordentlich unheimlich. Nimmt eine Cigarre aus der Kiste und läßt sich dann auf das Sopha links vorn nieder. Er schneidet die Spitze der Cigarre ab und hält während des Folgenden die Cigarre in der linken, das abgetrennte Spitzchen zwischen den Fingern der rechten Hand. Bei alledem ... es amüsirt doch. Und dann: Du glaubst nicht, wie wohl es thut, so’n paar Tage auf dem Lande, abseit von den Geschäften, zuzubringen. Wenn nur nicht heute dies verwünschte ... wie spät ist es denn eigentlich? Ich muß nämlich leider Gottes heute zu einem Essen nach der Stadt. — Es war unumgänglich: dies Diner mußte ich geben. Was soll man machen als Geschäftsmann? — Eine Hand wäscht die andere. Die Bergbeamten sind nun mal d’ran gewöhnt. — Na! eine Cigarre kann man noch rauchen — in aller Gemüthsruhe. Er trägt das Spitzchen nach dem Spucknapf, läßt sich dann abermals auf das Sopha nieder und setzt seine Cigarre in Brand.
Loth am Tisch; blättert stehend in einem Prachtwerk. Die Abenteuer des Grafen Sandor.
Hoffmann. Diesen Unsinn findest Du hier bei den meisten Bauern aufliegen.
Loth unter dem Blättern. Wie alt ist eigentlich Deine Schwägerin?
Hoffmann. Im August einundzwanzig gewesen.
Loth. Ist sie leidend?
Hoffmann. Weiß nicht. - Glaube übrigens nicht — macht sie Dir den Eindruck? —
Loth. Sie sieht allerdings mehr verhärmt als krank aus.
Hoffmann. Na ja! die Scheerereien mit der Stiefmutter ...
Loth. Auch ziemlich reizbar scheint sie zu sein!?
Hoffmann. Unter solchen Verhältnissen ...... Ich möchte den sehen, der unter solchen Verhältnissen nicht reizbar werden würde ...
Loth. Viel Energie scheint sie zu besitzen.
Hoffmann. Eigensinn!
Loth. Auch Gemüth, nicht?
Hoffmann. Zu viel mitunter .......
Loth. Wenn die Verhältnisse hier so mißlich für sie sind — warum lebt Deine Schwägerin dann nicht in Deiner Familie?
Hoffmann. Frag’ sie, warum! — Oft genug hab ich ihr’s angeboten. Frauenzimmer haben eben ihre Schrullen. Die Cigarre im Munde, zieht Hoffmann ein Notizbuch und summirt einige Posten. Du nimmst es mir doch wohl nicht übel, wenn ich ... wenn ich Dich dann allein lassen muß?
Loth. Nein, gar nicht.
Hoffmann. Wie lange gedenkst Du denn noch ...?
Loth. Ich werde mir bald nachher eine Wohnung suchen. Wo wohnt denn eigentlich Schimmelpfennig? Am besten, ich gehe zu ihm. Der wird mir gewiß etwas vermitteln können. Hoffentlich findet sich bald etwas Geeignetes, sonst würde ich die nächste Nacht im Gasthaus nebenan zubringen.
Hoffmann. Wieso denn? Natürlich bleibst Du dann bis morgen bei uns. Freilich, ich bin selbst nur Gast in diesem Hause — sonst würde ich Dich natürlich auffordern ... Du begreifst ...!
Hoffmann. Aber sag’ doch mal — sollte das wirklich Dein Ernst gewesen sein ....?
Loth. Daß ich die nächste Nacht im Gast....?
Hoffmann. Unsinn! ... Bewahre! Was Du vorhin sagtest, meine ich. Die Geschichte da — mit Deiner vertrackten descriptiven Arbeit?
Loth. Weshalb nicht?
Hoffmann. Ich muß Dir gestehen, ich hielt es für Scherz. Er erhebt sich, vertraulich, halb und halb im Scherz. Wie? Du solltest wirklich fähig sein, hier ... gerade hier, wo ein Freund von Dir glücklich festen Fuß gefaßt hat, den Boden zu unterwühlen?
Loth. Mein Ehrenwort, Hoffmann! Ich hatte keine Ahnung davon, daß Du Dich hier befändest. Hätte ich das gewußt ....
Hoffmann springt auf, hocherfreut. Schon gut! schon gut! Wenn die Sachen so liegen .... siehst Du, das freut mich aufrichtig, daß ich mich nicht in Dir getäuscht habe. Also, Du weißt es nun, und selbstredend erhältst Du die Kosten der Reise und alles, was drum und dran baumelt, von mir vergütet. Ziere Dich nicht! Es ist einfach meine Freundespflicht .... Daran erkenne ich meinen alten, biederen Loth! Denke mal an: ich hatte Dich wirklich eine Zeit lang ernstlich im Verdacht .... Aber nun muß ich Dir auch ehrlich sagen, so schlecht, wie ich mich zuweilen hinstelle, bin ich keineswegs. Ich habe Dich immer hochgeschätzt, Dich und Dein ehrliches, consequentes Streben. Ich bin der letzte, der gewisse, — leider, leider mehr als berechtigte Ansprüche der ausgebeuteten, unterdrückten Massen nicht gelten läßt. — Ja, lächle nur, ich gehe sogar so weit zu bekennen, daß es im Reichstag nur eine Partei giebt, die Ideale hat: und das ist dieselbe, der Du angehörst! .... Nur — wie gesagt — langsam! langsam! — nichts überstürzen. Es kommt alles, kommt alles, wie es kommen soll. Nur Geduld! Geduld ....
Loth. Geduld muß man allerdings haben. Deshalb ist man aber noch nicht berechtigt, die Hände in den Schooß zu legen!
Hoffmann. Ganz meine Ansicht! — Ich hab’ Dir überhaupt in Gedanken weit öfter zugestimmt als mit Worten. Es ist ’ne Unsitte, ich geb’s zu. Ich hab’ mir’s angewöhnt, im Verkehr mit Leuten, die ich nicht gern in meine Karten sehen lasse .... Auch in der Frauenfrage .... Du hast manches sehr treffend geäußert. Er ist inzwischen an’s Telephon getreten, weckt und spricht theils in’s Telephon, theils zu Loth. Die kleine Schwägerin war übrigens ganz Ohr ... In’s Telephon. Franz! In zehn Minuten muß angespannt sein ... Zu Loth. Es hat ihr Eindruck gemacht ... In’s Telephon. Was? — ach was, Unsinn! — Na, da hört doch aber ..... Dann schirren Sie schleunigst die Rappen an ..... Zu Loth. Warum sollte es ihr keinen Eindruck machen? ... In’s Telephon. Gerechter Strohsack, zur Putzmacherin sagen Sie? Die gnädige Frau .... die gnä... Ja — na ja! aber sofort — na ja! — ja! — schön! Schluß! Nachdem er darauf den Knopf der Hausklingel gedrückt, zu Loth. Wart’ nur ab, Du! Laß mich nur erst den entsprechenden Monetenberg aufgeschichtet haben, vielleicht geschieht dann etwas ... Eduard ist eingetreten. Eduard! Meine Gamaschen, meinen Gehrock! Eduard ab. Vielleicht geschieht dann etwas, was Ihr mir alle jetzt nicht zutraut .... Wenn Du in zwei oder drei Tagen — bis dahin wohnst Du unbedingt bei uns — ich müßte es sonst als eine grobe Beleidigung ansehen — er legt den Schlafrock ab — in zwei bis drei Tagen also, wenn Du abzureisen gedenkst, bringe ich Dich mit meiner Kutsche zur Bahn.
Eduard mit Gehrock und Gamaschen tritt ein.
Hoffmann indem er sich den Rock überziehen läßt. So! Auf einen Stuhl niedersitzend. Nun die Stiefel! Nachdem er einen derselben angezogen. Das wäre einer!
Loth. Du hast mich doch wohl nicht ganz verstanden.
Hoffmann. Ach ja! das ist leicht möglich. Man ist so raus aus all den Sachen. Nur immer lederne Geschäftsangelegenheiten. Eduard! ist denn noch keine Post gekommen? Warten Sie mal! — Gehen Sie doch mal in mein Zimmer! Auf dem Pult links liegt ein Schriftstück mit blauem Deckel, bringen Sie’s raus in die Wagentasche. Eduard ab in die Thür rechts, dann zurück und ab durch die Mittelthür.
Loth. Ich meine ja nur: Du hast mich in einer Beziehung nicht verstanden.
Hoffmann sich immer noch mit dem zweiten Schuh herumquälend. Upsa! .... So! Er steht auf und tritt die Schuhe ein. Da wären wir. Nichts ist unangenehmer als enge Schuhe ..... Was meintest Du eben?
Loth. Du sprachst von meiner Abreise .....
Hoffmann. Nun?
Loth. Ich habe Dir doch bereits gesagt, daß ich um eines ganz bestimmten Zweckes willen hier am Ort bleiben muß.
Hoffmann auf’s Äußerste verblüfft und entrüstet zugleich. Hör’ mal ....! Das ist aber beinahe nichtswürdig! — Weißt Du denn nicht, was Du mir als Freund schuldest?
Loth. Doch wohl nicht den Verrath meiner Sache!?
Hoffmann außer sich. Nun, dann ... dann habe ich auch nicht die kleinste Veranlassung, Dir gegenüber als Freund zu verfahren. Ich sage Dir also: daß ich Dein Auftreten hier — gelinde gesprochen — für fabelhaft dreist halte.
Loth sehr ruhig. Vielleicht erklärst Du mir, was Dich berechtigt, mich mit dergleichen Epitheta .....
Hoffmann. Das soll ich Dir auch noch erklären? Da hört eben verschiedenes auf! Um so was nicht zu fühlen, muß man Rhinoceroshaut auf dem Leibe haben! Du kommst hierher, genieß’st meine Gastfreundschaft, drisch’st mir ein paar Schock Deiner abgegriffnen Phrasen vor, verdrehst meiner Schwägerin den Kopf, schwatzest von alter Freundschaft und so was gut’s und dann erzählst Du ganz naiv: Du wolltest eine descriptive Arbeit über hiesige Verhältnisse verfertigen. Ja, für was hältst Du mich denn eigentlich? Meinst Du vielleicht, ich wüßte nicht, daß solche sogenannte Arbeiten nichts als schamlose Pamphlete sind? ... Solch eine Schmähschrift willst Du schreiben und zwar über unseren Kohlendistrict. Solltest Du denn wirklich nicht begreifen, wen diese Schmähschrift am allerschärfsten schädigen müßte? Doch nur mich! — Ich sage: man sollte Euch das Handwerk noch gründlicher legen, als es bisher geschehen ist, Volksverführer! die Ihr seid! Was thut Ihr? Ihr macht den Bergmann unzufrieden, anspruchsvoll, reizt ihn auf, erbittert ihn, macht ihn aufsässig, ungehorsam, unglücklich, spiegelt ihm goldene Berge vor und grapscht ihm unter der Hand seine paar Hungerpfennige aus der Tasche.
Loth. Erachtest Du Dich nun als demaskirt?
Hoffmann roh. Ach was! Du lächerlicher, gespreizter Tugendmeier! Was mir das wohl ausmacht, vor Dir demaskirt zu sein! — Arbeite lieber! Laß Deine albernen Faseleien! — Thu was! Komm zu was! Ich brauche Niemand um zweihundert Mark anzupumpen. Schnell ab durch die Mittelthür.
Loth sieht ihm einige Augenblicke ruhig nach, dann greift er, nicht minder ruhig, in seine Brusttasche, zieht ein Portefeuille und entnimmt ihm ein Stück Papier (den Chec Hoffmann’s), das er mehrmals durchreißt, um die Schnitzel dann langsam in den Kohlenkasten fallen zu lassen. Hierauf nimmt er Hut und Stock und wendet sich zum Gehen. Jetzt erscheint Helene auf der Schwelle des Wintergartens.
Helene leise. Herr Loth!
Loth zuckt zusammen, wendet sich. Ah! Sie sind es. — Nun — dann — kann ich Ihnen doch wenigstens ein Lebewohl sagen.
Helene unwillkürlich. War Ihnen das Bedürfniß?
Loth. Ja! — es war mir Bedürfniß —! Vermuthlich — wenn Sie da drin gewesen sind — haben Sie den Auftritt hier mit angehört — und dann .....
Helene. Ich habe alles mit angehört.
Loth. Nun — dann — wird es Sie nicht in Erstaunen setzen, wenn ich dieses Haus so ohne Sang und Klang verlasse.
Helene. N — nein! — ich begreife —! ..... Vielleicht kann’s Sie milder gegen ihn stimmen ... mein Schwager bereut immer sehr schnell. Ich hab’s oft ...
Loth. Ganz möglich —! Vielleicht gerade deshalb aber ist das, was er über mich sagte, seine wahre Meinung von mir. — Es ist sogar unbedingt seine wahre Meinung.
Helene. Glauben Sie das im Ernst?
Loth. Ja! — im Ernst! Also .... Er geht auf sie zu und giebt ihr die Hand. Leben Sie recht glücklich! Er wendet sich und steht sogleich wieder still. Ich weiß nicht ....! oder besser: — Helenen klar und ruhig ins Gesicht blickend — ich weiß, weiß erst seit ... seit diesem Augenblick, daß es mir nicht ganz leicht ist, von hier fortzugehen .... und .... ja ... und ... na ja!
Helene. Wenn ich Sie aber — recht schön bäte .... recht sehr ... noch weiter hier zu bleiben —?
Loth. Sie theilen also nicht die Meinung Ihres Schwagers?
Helene. Nein! — und das — wollte ich Ihnen unbedingt ... unbedingt noch sagen, bevor ... bevor — Sie — gingen.
Loth ergreift abermals ihre Hand. Das thut mir wirklich wohl.
Helene mit sich kämpfend. In einer sich schnell bis zur Bewußtlosigkeit steigernden Erregung. Mühsam hervorstammelnd. Auch noch mehr w—ollte ich Ihnen ... Ihnen sagen, nämlich ... näm—lich, daß — ich Sie sehr hoch—achte und — verehre — wie ich bis jetzt .... bis jetzt noch — keinen Mann ...., daß ich Ihnen — vertraue, — daß ich be—reit bin, das ..... das zu beweisen — daß ich — etwas für — Dich, Sie fühle ... Sinkt ohnmächtig in seine Arme.
Loth. Helene!
Vorhang fällt schnell.
Wie im zweiten Akt: der Gutshof. Zeit: eine Viertelstunde nach Helenens Liebeserklärung.
Marie und Golisch, der Kuhjunge, schleppen sich mit einer hölzernen Lade die Bodentreppe herunter. Loth kommt reisefertig aus dem Hause und geht langsam und nachdenklich quer über den Hof. Bevor er in den Wirthshaussteg einbiegt, stößt er auf Hoffmann, der mit ziemlicher Eile durch den Hofeingang ihm entgegenkommt.
Hoffmann, Cylinder, Glacéhandschuhe. Sei mir nicht böse. Er verstellt Loth den Weg und faßt seine beiden Hände. Ich nehme hiermit alles zurück! ... Nenne mir eine Genugthuung! ... Ich bin zu jeder Genugthuung bereit! .... Ich bereue, bereue alles aufrichtig.
Loth. Das hilft Dir und mir wenig.
Hoffmann. Ach! — wenn Du doch ... sieh mal ....! Mehr kann man doch eigentlich nicht thun. Ich sage Dir: mein Gewissen hat mir keine Ruhe gelassen! Dicht vor Jauer bin ich umgekehrt, .... daran solltest Du doch schon erkennen, daß es mir Ernst ist. — Wo wolltest Du hin ....?
Loth. In’s Wirthshaus — einstweilen.
Hoffmann. Ach, das darfst Du mir nicht anthun ...! Das thu mir nur nicht an! Ich glaube ja, daß es Dich tief kränken mußte. ’S ist ja auch vielleicht nicht so — mit ein paar Worten wieder gut zu machen. Nur nimm mir nicht jede Gelegenheit .... jede Möglichkeit, Dir zu beweisen .... hörst Du? Kehr um! .... Bleib wenigstens bis ... bis morgen. Oder bis ... bis ich zurückkomme. Ich muß mich noch einmal in Muße mit Dir aussprechen darüber; — das kannst Du mir nicht abschlagen.
Loth. Wenn Dir daran besonders viel gelegen ist ....
Hoffmann. Alles! ... auf Ehre! — ist mir daran gelegen, alles! .... Also komm! ... komm!! Kneif ja nicht aus! — komm! Er führt Loth, der sich nun nicht mehr sträubt, in das Haus zurück. Beide ab.
Die entlassene Magd und der Kuhjunge haben inzwischen die Lade auf den Schubkarren gesetzt, Golisch hat die Traggurte umgenommen.
Marie, während sie Golisch etwas in die Hand drückt. Doo! Gooschla! hust a woas!
Der Junge weist es ab. Behaal’ Den’n Biema!
Marie. Ae! tumme Dare!
Der Junge. Na, wegen menner. Er nimmt das Geld und thut es in seinen ledernen Geldbeutel.
Frau Spiller von einem der Wohnhausfenster aus, ruft: Marie!
Marie. Woas wullt Er noo?
Frau Spiller nach einer Minute aus der Hausthür tretend. Die gnädige Frau will Dich behalten, wenn Du versprichst ....
Marie. Dreck! war ich er versprecha! — Foahr zu, Goosch!
Frau Spiller näher tretend. Die gnädige Frau will Dir auch etwas am Lohn zulegen, wenn Du ..... Plötzlich flüsternd. Mach Der nischt draus, Moad! se werd ok manchmal so’n bisken kullerig.
Marie wüthend. Se maag siich ihre poar Greschla fer sich behahl’n! — Weinerlich. Ehnder derhingern! Sie folgt Gosch, der mit dem Schubkarren vorangefahren ist. Nee, a su woas oaber oo! — Do sool eens do glei’ ... Ab. Frau Spiller ihr nach. Ab.
Durch den Haupteingang kommt Baer, genannt Hopslabaer. Ein langer Mensch mit einem Geierhalse und Kropfe dran. Er geht barfuß und ohne Kopfbedeckung; die Beinkleider reichen, unten stark ausgefranst, bis wenig unter die Knie herab. Er hat eine Glatze; das vorhandene braune, verstaubte und verklebte Haar reicht ihm bis über die Schulter. Sein Gang ist straußenartig. An einer Schnur führt er ein Kinderwägelchen voll Sand mit sich. Sein Gesicht ist bartlos, die ganze Erscheinung deutet auf einen einige Zwanzig alten verwahrlosten Bauernburschen.
Baer mit merkwürdig blökender Stimme. Saaa—a—and! Saa—and!
Er geht durch den Hof und verschwindet zwischen Wohnhaus und Stallgebäude. Hoffmann und Helene aus dem Wohnhaus. Helene sieht bleich aus und trägt ein leeres Wasserglas in der Hand.
Hoffmann zu Helene. Unterhalt ihn bissel! verstehst Du? — Laß ihn nicht fort — es liegt mir sehr viel daran. — So’n beleidigter Ehrgeiz .... Adieu! — Ach! Soll ich am Ende nicht fahren? — Wie geht’s mit Martha? — Ich hab so’n eigenthümliches Gefühl, als ob’s bald ..... Unsinn! — Adieu! ... höchste Eile! Ruft. Franz! Was die Pferde laufen können! Schnell ab durch den Haupteingang.
Helene geht zur Pumpe, pumpt das leere Glas voll und leert es auf einen Zug. Ein zweites Glas Wasser leert sie zur Hälfte. Das Glas setzt sie dann auf das Pumpenrohr und schlendert langsam, von Zeit zu Zeit rückwärts schauend, durch den Thorweg hinaus. Baer kommt zwischen Wohnhaus und Stallung hervor und hält mit seinem Wagen vor der Wohnhausthür still, wo Miele ihm Sand abnimmt. Indeß ist Kahl von rechts innerhalb des Grenzzaunes sichtbar geworden, im Gespräch mit Frau Spiller, die außerhalb des Zaunes, also auf dem Terrain des Hofeingangs, sich befindet. Beide bewegen sich im Gespräch langsam längs des Zaunes hin.
Frau Spiller leidend. Ach ja — m — gnädiger Herr Kahl! Ich hab — m — manchmal so an Sie — m — gedacht — m — wenn ... wenn das gnädige Freilein ... Sie ist doch nun mal — m — so zu sagen — m — mit Sie verlobt, und da .... ach! — m — zu meiner Zeit ...!
Kahl steigt auf die Bank unter der Eiche und befestigt einen Meisekasten auf dem untersten Ast. W — wenn werd denn d.. dd.. doas D... d... d... dukterluder amol sssenner W... wwwege gihn? hä?
Frau Spiller. Ach, Herr Kahl! ich glaube — m — nicht so bald. — A.. ach, Herr — m — Kahl, ich bin zwar so zu sagen — m — etwas — m — herabjekommen, aber ich weiß so zu sagen — m —, was Bildung ist. In dieser Hinsicht, Herr Kahl ...., das Freilein — m — das gnädige Freilein ...., das handeln nicht gut gegen Ihnen — nein! — m — darin, so zu sagen — m — habe ich mir nie etwas zu Schulden kommen lassen — m — mein Gewissen — m — gnädiger Herr Kahl, ist darin so rein ... so zu sagen, wie reiner Schnee.
Baer hat sein Sandgeschäft abgewickelt und verläßt in diesem Augenblick, an Kahl vorübergehend, den Hof.
Kahl entdeckt Baer und ruft. Hopslabaer, hops amool!
Baer macht einen riesigen Luftsprung.
Kahl vor Lachen wiehernd, ruft ein zweites Mal. Hopslabaer, hops amool!
Frau Spiller. Nun da — m — ja, Herr Kahl! ...... ich meine es nur gut mit Sie. Sie müssen Obacht geben — m — gnädiger Herr! Es — m — es ist was im Gange mit dem gnädigen Fräulein und — m — m —
Kahl. D.. doas Dukterluder ... ok bbbblußig emool vor a Hunden — blußig e.. e.. e.. emool!
Frau Spiller geheimnißvoll. Und was das nun noch — m — für ein Indifidium ist. Ach — m — das gnädige Freilein thut mir auch soo leid. Die Frau — m — vom Polizeidiener, die hat’s vom Amte, glaub ich. Es soll ein ganz — m — gefährlicher Mensch sein. Ihr Mann — m — soll ihn so zu sagen — m — denken Sie nur, soll ihn — m — geradezu im Auge behalten.
Loth aus dem Hause. Sieht sich um.
Frau Spiller. Seh’n Sie, nun jeht er dem gnädigen Freilein nach — m —. Aa... ach, zuu leid thut es einem.
Kahl. Na wart’! Ab.
Frau Spiller geht nach der Hausthüre. Als sie an Loth vorbeikommt, macht sie eine tiefe Verbeugung. Ab in das Haus.
Loth langsam durch den Thorweg ab. Die Kutschenfrau, eine magere, abgehärmte und ausgehungerte Frauensperson, kommt zwischen Stallgebäude und Wohnhaus hervor. Sie trägt einen großen Topf unter ihrer Schürze versteckt und schleicht damit, sich überall ängstlich umblickend, nach dem Kuhstall. Ab in die Kuhstallthür. Die beiden Mägde, jede eine Schubkarre, hoch mit Klee beladen, vor sich herstoßend, kommen durch den Thorweg herein. Beibst, die Sense über der Schulter, die kurze Pfeife im Munde, folgt ihnen nach. Liese hat ihre Schubkarre vor die linke, Auguste vor die rechte Stallthür gefahren, und beide Mädchen beginnen große Arme voll Klee in den Stall hinein zu schaffen.
Liese leer aus dem Stalle herauskommend. Du, Guste! de Marie iis furt.
Auguste. Joa wull doch?!
Liese. Gih nei! freu’ die Kutscha-Franzen, se milkt er an Truppen Milch ei.
Beibst hängt seine Sense an der Wand auf. Na! doa lußt ok de Spillern nee ernt derzune kumma.
Auguste. Oh jechtich! nee ok nee! bei Leibe nich!
Liese. A su a oarm Weib miit achta.
Auguste. Acht kleene Bälge! — die wull’n laba.
Liese. Ne amool an Truppen Milch thun s’ er ginn’n ... meschant iis doas.
Auguste. Wu milkt sie denn?
Liese. Ganz derhinga, de neumalke Fenus!
Beibst stopft seine Pfeife; den Tabaksbeutel mit den Zähnen festhaltend, nuschelt er. De Marie wär’ weg?
Liese. Ju, ju, ’s iis fer gewiß! — der Pfaarknecht hot gle bein er geschloofa.
Beibst den Tabaksbeutel in die Tasche steckend. Amool wiil jedes! — au’ de Frau. Er zündet sich die Pfeife an, darauf durch den Haupteingang ab. Im Abgehen. Ich gih a wing frihsticka!
Die Kutschenfrau den Topf voll Milch vorsichtig unter der Schürze, guckt aus der Stallthür heraus. Sitt ma Jemanda?
Liese. Koanst kumma, Kutschen, ma sitt ken’n. Kumm! kumm schnell!
Kutschenfrau im Vorübergehen zu den Mägden. Ok fersch Pappekindla!
Liese ihr nachrufend. Schnell! S’ kimmt Jemand. Kutschenfrau zwischen Wohnhaus und Stallung ab.
Auguste. Blußig ok inse Frele.
Die Mägde räumen nun weiter die Schubkarren ab und schieben sie, wenn sie leer sind, unter den Thorweg, hierauf beide ab in den Kuhstall.
Loth und Helene kommen zum Thorweg herein.
Loth. Widerlicher Mensch! dieser Kahl, — frecher Spion!
Helene. In der Laube vorn, glaub ich ... Sie gehen durch das Pförtchen in das Gartenstückchen links vorn und in die Laube daselbst. Es ist mein Lieblingsplatz. — Hier bin ich noch am ungestörtesten, wenn ich mal was lesen will.
Loth. Ein hübscher Platz hier. — Wirklich! Beide setzen sich, ein wenig von einander getrennt, in der Laube nieder. Schweigen. Darauf Loth. Sie haben so sehr schönes und reiches Haar, Fräulein!
Helene. Ach ja, mein Schwager sagt das auch. Er meinte, er hätte es kaum so gesehen — auch in der Stadt nicht ... Der Zopf ist oben so dick wie mein Handgelenk ... Wenn ich es losmache, dann reicht es mir bis zu den Knien. Fühlen Sie mal —! Es fühlt sich wie Seide an, gelt?
Loth. Ganz wie Seide. Ein Zittern durchläuft ihn, er beugt sich und küßt das Haar.
Helene erschreckt. Ach nicht doch! Wenn ...
Loth. Helene —! War das vorhin nicht Dein Ernst?
Helene. Ach! — ich schäme mich so schrecklich. Was habe ich nur gemacht? — Dir ... Ihnen an den Hals geworfen habe ich mich. — Für was müssen Sie mich halten ...!
Loth rückt ihr näher, nimmt ihre Hand in die seine. Wenn Sie sich doch darüber beruhigen wollten!
Helene seufzend. Ach, das müßte Schwester Schmittgen wissen .... ich sehe gar nicht hin!
Loth. Wer ist Schwester Schmittgen?
Helene. Eine Lehrerin aus der Pension.
Loth. Wie können Sie sich nur über Schwester Schmittgen Gedanken machen!
Helene. Sie war sehr gut ....! Sie lacht plötzlich heftig in sich hinein.
Loth. Warum lachst Du denn so auf einmal?
Helene zwischen Pietät und Laune. Ach! .. Wenn sie auf dem Chor stand und sang ... Sie hatte nur noch einen einzigen, langen Zahn .... da sollte es immer heißen: Tröste, tröste mein Volk! und es kam immer heraus: ’Röste, ’röste mein Volk! Das war zu drollig .... da mußten wir immer so lachen .... wenn sie so durch den Saal .... ’röste! ’röste! Sie kann sich vor Lachen nicht lassen, Loth ist von ihrer Heiterkeit angesteckt. Sie kommt ihm dabei so lieblich vor, daß er den Augenblick benutzen will, den Arm um sie zu legen. Helene wehrt es ab. Ach nein doch ....! Ich habe mich Dir .... Ihnen an den Hals geworfen.
Loth. Ach! sagen Sie doch nicht so etwas.
Helene. Aber ich bin nicht schuld, Sie haben sich’s selbst zuzuschreiben. Warum verlangen Sie .....
Loth legt nochmals seinen Arm um sie, zieht sie fester an sich. Anfangs sträubt sie sich ein wenig, dann giebt sie sich drein und blickt nun mit freier Glückseligkeit in Loth’s glücktrunkenes Gesicht, das sich über das ihre beugt. Unversehens, aus einer gewissen Schüchternheit heraus küßt sie ihn zuerst auf den Mund. Beide werden roth, dann giebt Loth ihr den Kuß zurück; lang, innig, fest drückt sich sein Mund auf den ihren. Ein Geben und Nehmen von Küssen ist eine Zeit hindurch die einzige Unterhaltung — stumm und beredt zugleich — der beiden. Loth spricht dann zuerst.
Loth. Lene, nicht? Lene heißt Du hier so?
Helene küßt ihn ... Nenne mich anders ... Nenne mich, wie Du gern möcht’st.
Loth. Liebste! ............
Das Spiel mit dem Küssetauschen und sich gegenseitig Betrachten wiederholt sich.
Helene von Loth’s Armen fest umschlungen, ihren Kopf an seiner Brust mit verschleierten, glückseligen Augen, flüstert im Ueberschwang. Ach! — wie schön! Wie schön —!
Loth. So mit Dir sterben!
Helene mit Inbrunst. Leben! ... Sie löst sich aus seinen Armen. Warum denn jetzt sterben? .... jetzt ...
Loth. Das mußt Du nicht falsch auffassen. Von jeher berausche ich mich ... besonders in glücklichen Momenten berausche ich mich in dem Bewußtsein, es in der Hand zu haben, weißt Du!
Helene. Den Tod in der Hand zu haben?
Loth ohne jede Sentimentalität. Ja! und so hat er gar nichts Grausiges, im Gegentheil, so etwas Freundschaftliches hat er für mich. Man ruft und weiß bestimmt, daß er kommt. Man kann sich dadurch über alles Mögliche hinwegheben, Vergangenes — und Zukünftiges .... Helenen’s Hand betrachtend. Du hast eine so wunderhübsche Hand. Er streichelt sie.
Helene. Ach ja! — so ..... Sie drückt sich auf’s Neue in seine Arme.
Loth. Nein, weißt Du! ich hab’ nicht gelebt! ... bisher nicht!
Helene. Denkst Du ich? ... Mir ist fast taumelig ..... taumelig bin ich vor Glück. Gott! wie ist das — nur so auf einmal .....
Loth. Ja, so auf ein—mal ...
Helene. Hör’ mal! so ist mir: die ganze Zeit meines Lebens — ein Tag! — gestern und heut — ein Jahr! gelt?
Loth. Erst gestern bin ich gekommen?
Helene. Ganz gewiß! — eben! — natürlich! .... Ach, ach! Du weißt es nicht mal!
Loth. Es kommt mir wahrhaftig auch vor .......
Helene. Nicht —? Wie ’n ganzes, geschlagnes Jahr! — Nicht —? Halb aufspringend. Wart’ ....! — Kommt — da nicht .... Sie rücken aus einander. .... Ach! es ist mir auch — egal. Ich bin jetzt — so muthig. Sie bleibt sitzen und muntert Loth mit einem Blick auf näher zu rücken, was dieser sogleich thut.
Helene in Loth’s Armen. ... Du! — Was thun wir denn nu zuerst?
Loth. Deine Stiefmutter würde mich wohl — abweisen.
Helene. Ach, meine Stiefmutter .... das wird wohl gar nicht .... gar nichts geht’s die an! Ich mache, was ich will ..... Ich hab mein mütterliches Erbtheil, mußt Du wissen.
Loth. Deshalb meinst Du .....
Helene. Ich bin majorenn. Vater muß mir’s auszahlen.
Loth. Du stehst wohl nicht gut — mit allen hier? — Wohin ist denn Dein Vater verreist?
Helene. Verr... Du hast ...? Ach, Du hast Vater noch nicht gesehen?
Loth. Nein! Hoffmann sagte mir ....
Helene. Doch! ... hast Du ihn schon einmal gesehen.
Loth. Ich wüßte nicht! ... Wo denn, Liebste?
Helene. Ich ... Sie bricht in Thränen aus. Nein, ich kann — kann Dir’s noch nicht sagen .... zu furchtbar schrecklich ist das.
Loth. Furchtbar schrecklich? Aber Helene! ist denn Deinem Vater etwas ...
Helene. Ach! — frag’ mich nicht! Jetzt nicht! Später!
Loth. Was Du mir nicht freiwillig sagen willst, danach werde ich Dich auch gewiß nicht mehr fragen ... Sieh mal, was das Geld anlangt ... im schlimmsten Falle .... ich verdiene ja mit dem Artikelschreiben nicht gerade überflüssig viel, aber ich denke, es müßte am Ende für uns beide ganz leidlich hinreichen.
Helene. Und ich würde doch auch nicht müßig sein. Aber besser ist besser. Das Erbtheil ist vollauf genug — Und Du sollst Deine Aufgabe .... nein, die sollst Du unter keiner Bedingung aufgeben, jetzt erst recht ....! jetzt sollst Du erst recht die Hände frei bekommen.
Loth sie innig küssend. Liebes, edles Geschöpf! ......
Helene. Hast Du mich wirklich lieb ...? ... Wirklich? ... wirklich?
Loth. Wirklich.
Helene. Sag hundert Mal wirklich?
Loth. Wirklich, wirklich und wahrhaftig.
Helene. Ach, weißt Du! Du schummelst!
Loth. Das wahrhaftig gilt hundert wirklich.
Helene. So!? wohl in Berlin?
Loth. Nein, eben in Witzdorf.
Helene. Ach, Du! ... Sieh meinen kleinen Finger und lache nicht.
Loth. Gern.
Helene. Hast Du au—ßer Dei—ner er—sten Braut noch andere ge....? Du! Du lachst.
Loth. Ich will Dir was im Ernst sagen, Liebste, ich halte es für meine Pflicht .... Ich habe mit einer großen Anzahl Frauen ...
Helene schnell und heftig auffahrend, drückt ihm den Mund zu. Um Gott ...! sag’ mir das einmal — später — wenn wir alt sind .... nach Jahren — wenn ich Dir sagen werde: jetzt — hörst Du! nicht eher.
Loth. Gut! wie Du willst.
Helene. Lieber was Schönes jetzt! ... Paß auf: sprich mir mal das nach:
Loth. Was?
Helene. „Ich hab’ Dich —
Loth. „Ich hab’ Dich —
Helene. „und nur immer Dich —
Loth. „und nur immer Dich —
Helene. „geliebt — geliebt Zeit meines Lebens —
Loth. „geliebt — geliebt Zeit meines Lebens —
Helene. „und werde nur Dich allein Zeit meines Lebens lieben.“
Loth. „und werde nur Dich allein Zeit meines Lebens lieben,“ und das ist wahr, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin.
Helene freudig. Das hab ich nicht gesagt.
Loth. Aber ich. Küsse. ...
Helene summt ganz leise. Du, Du liegst mir im Her—zen ....
Loth. Jetzt sollst Du auch beichten.
Helene. Alles, was Du willst.
Loth. Beichte! Bin ich der erste?
Helene. Nein.
Loth. Wer?
Helene übermüthig herauslachend. Koahl-Willem.
Helene. Ach nein! weiter ist es wirklich Keiner. Du mußt mir glauben ... Wirklich nicht. Warum sollte ich denn lügen ...?
Loth. Also doch noch Jemand?
Helene heftig. Bitte, bitte, bitte, bitte, frag’ mich jetzt nicht darum. Versteckt das Gesicht in den Händen, weint scheinbar ganz unvermittelt.
Loth. Aber ..... aber Lenchen! ich dringe ja durchaus nicht in Dich.
Helene. Später! alles, alles später.
Loth. Wie gesagt, Liebste ....
Helene. S’ war Jemand — mußt Du wissen — den ich, ... weil ... weil er unter schlechten mir weniger schlecht vorkam. Jetzt ist das ganz anders. Weinend an Loth’s Halse, stürmisch. Ach, wenn ich doch gar nicht mehr von Dir fort müßte! Am liebsten ginge ich gleich auf der Stelle mit Dir.
Loth. Du hast es wohl sehr schlimm hier im Hause?
Helene. Ach, Du! — Es ist ganz entsetzlich, wie es hier zugeht; ein Leben wie — das ..... wie das liebe Vieh, — ich wäre darin umgekommen ohne Dich — mich schaudert’s!
Loth. Ich glaube, es würde dich beruhigen, wenn Du mir alles offen sagtest, Liebste!
Helene. Ja freilich! aber — ich bring’s nicht über mich. Jetzt nicht ..... jetzt noch nicht! — Ich fürcht’ mich förmlich.
Loth. Du warst in der Pension?
Helene. Die Mutter hat es bestimmt — auf dem Sterbebett noch.
Loth. Auch Deine Schwester war ....?
Helene. Nein! — die war immer zu Hause ... Und als ich dann nun vor vier Jahren wiederkam, da fand ich — einen Vater — der .... eine Stiefmutter — die .... eine Schwester ... rath mal, was ich meine!
Loth. Deine Stiefmutter ist zänkisch. — Nicht? — Vielleicht eifersüchtig? — lieblos?
Helene. Der Vater ....?
Loth. Nun! — der wird aller Wahrscheinlichkeit nach in ihr Horn blasen. — Tyrannisirt sie ihn vielleicht?
Helene. Wenn’s weiter nichts wär ... Nein! ... es ist zu entsetzlich! — Du kannst nicht darauf kommen — daß .... daß der — mein Vater .... daß es mein Vater war — den — Du ....
Loth. Weine nur nicht, Lenchen! .... siehst Du — nun möcht ich beinah ernstlich darauf dringen, daß Du mir ...
Helene. Nein! es geht nicht! Ich habe noch nicht die Kraft — es — Dir ....
Loth. Du reibst Dich auf, so.
Helene. Ich schäme mich zu bodenlos! — Du ... Du wirst mich fortstoßen, fortjagen ....! Es ist über alle Begriffe .... Ekelhaft ist es!
Loth. Lenchen, Du kennst mich nicht — sonst würd’st Du mir so etwas nicht zutrauen. — Fortstoßen! fortjagen! Komme ich Dir denn wirklich so brutal vor?
Helene. Schwager Hoffmann sagte: Du würdest — kaltblütig .... Ach nein! nein! nein! das thust Du doch nicht! gelt? — Du schreitest nicht über mich weg? thu es nicht!! — Ich weiß nicht — was — dann noch aus — mir werden sollte.
Loth. Ja, aber das ist ja Unsinn! Ich hätte ja gar keinen Grund dazu.
Helene. Also Du hältst es doch für möglich?!
Loth. Nein! — eben nicht.
Helene. Aber wenn Du Dir einen Grund ausdenken kannst.
Loth. Es gäbe allerdings Gründe, aber — die stehen nicht in Frage.
Helene. Und solche Gründe?
Loth. Nur, wer mich zum Verräther meiner selbst machen wollte, über den müßte ich hinweggehen.
Helene. Das will ich gewiß nicht — aber ich werde halt das Gefühl nicht los.
Loth. Was für ein Gefühl, Liebste?
Helene. Es kommt vielleicht daher: ich bin so dumm! — Ich hab’ gar nichts in mir. Ich weiß nicht mal, was das ist, Grundsätze. — Gelt? das ist doch schrecklich. Ich lieb’ Dich nur so einfach! — aber Du bist so gut, so groß — und hast so viel in Dir. Ich habe solche Angst, Du könntest doch noch mal merken — wenn ich was Dummes sage — oder mache — daß es doch nicht geht, .... daß ich doch viel zu einfältig für Dich bin .... Ich bin wirklich schlecht und dumm wie Bohnenstroh.
Loth. Was soll ich dazu sagen?! Du bist mir alles in allem! Alles in allem bist Du mir! Mehr weiß ich nicht.
Helene. Und gesund bin ich ja auch .....
Loth. Sag’ mal! sind Deine Eltern gesund?
Helene. Ja, das wohl! das heißt: die Mutter ist am Kindbettfieber gestorben. Vater ist noch gesund; er muß sogar eine sehr starke Natur haben. Aber ....
Loth. Na! — siehst Du; also ...
Helene. Und wenn die Eltern nun nicht gesund wären —?
Loth küßt Helene. Sie sind’s ja doch, Lenchen.
Helene. Aber wenn sie es nicht wären —?
Frau Krause stößt ein Wohnhausfenster auf und ruft in den Hof.
Frau Krause. Ihr Madel! Ihr Maa..del!!
Liese aus dem Kuhstall. Frau Krausen!?
Frau Krause. Renn’ zur Müllern! S’ giht luus!
Liese. Wa—a, zur Hebomme Millern, meen’ Se?
Frau Krause. Na? lei’st uff a Uhr’n? Sie schlägt das Fenster zu.
Liese rennt in den Stall und dann mit einem Tüchelchen um den Kopf zum Hofe hinaus. Frau Spiller erscheint in der Hausthür.
Frau Spiller ruft. Fräulein Helene! ... Gnädiges Fräulein Helene!
Helene. Was nur da los sein mag?
Frau Spiller sich der Laube nähernd. Fräulein Helene.
Helene. Ach! das wird’s sein! — die Schwester. Geh fort! da herum. Loth schnell links vorn ab. Helene tritt aus der Laube.
Frau Spiller. Fräulein .....! Ach da sind Sie endlich.
Helene. Was is denn?
Frau Spiller. Aach — m — bei Frau Schwester flüstert ihr etwas in’s Ohr — m — m —
Helene. Mein Schwager hat anbefohlen, für den Fall sofort nach dem Arzt zu schicken.
Frau Spiller. Gnädiges Fräulein — m — sie will doch aber — m — will doch aber keinen Arzt — m — Die Aerzte, aach die — m — Aerzte! — m — mit Gottes Beistand ...
Miele kommt aus dem Hause.
Helene. Miele! gehen Sie augenblicklich zum Dr. Schimmelpfennig.
Frau Spiller. Aber Fräulein ...
Frau Krause aus dem Fenster, gebieterisch. Miele! Du kimmst ruff!
Helene ebenso. Sie gehen zum Arzt, Miele. Miele zieht sich in’s Haus zurück. Nun, dann will ich selbst .... Sie geht in’s Haus und kommt, den Strohhut am Arm, sogleich zurück.
Frau Spiller. Dann — m — wird es schlimm. Wenn Sie den Arzt holen — m — gnädiges Fräulein, dann — m — wird es gewiß schlimm.
Helene geht an ihr vorüber. Frau Spiller zieht sich kopfschüttelnd ins Haus zurück. Als Helene in die Hofeinfahrt biegt steht Kahl am Grenzzaun.
Kahl ruft Helenen zu. Woas iis denn bei Eich luus?
Helene hält im Lauf nicht inne, noch würdigt sie Kahl eines Blickes oder einer Antwort.
Kahl lachend. Ihr ha’t wull Schweinschlachta?
Das Zimmer wie im ersten Akt. Zeit: gegen 2 Uhr Nachts. Im Zimmer herrscht Dunkelheit. Durch die offene Mittelthür dringt Licht aus dem erleuchteten Hausflur. Deutlich beleuchtet ist auch noch die Holztreppe in dem ersten Stock. Alles in diesem Akt — bis auf wenige Ausnahmen — wird in einem gedämpften Tone gesprochen.
Eduard mit Licht tritt durch die Mittelthür ein. Er entzündet die Hängelampe über dem Ecktisch (Gasbeleuchtung). Als er damit beschäftigt ist, kommt Loth ebenfalls durch die Mittelthür.
Eduard. Ja ja! — bei die Zucht ... ’t muß reen unmenschen meglich sint, een Oge zuzuthun.
Loth. Ich wollte nicht mal schlafen. Ich habe geschrieben.
Eduard. Ach wat! Er steckt an. So! — na jewiß! — et mag ja woll schwer jenug sin .... Wünschen der Herr Doktor vielleicht Dinte und Feder?
Loth. Am Ende ... wenn Sie so freundlich sein wollen, Herr Eduard.
Eduard, indem er Dinte und Feder auf den Tisch setzt. Ick menn all immer, was ’n ehrlicher Mann is, der muß Haut und Knochen dransetzen um jeden lumpichten Jroschen. Nich mal det bisken Nachtruhe hat man. — Immer vertraulicher. Aber die Nation hier, die duht reen jar nischt; so’n faules, nichtsnutziges Pack, so’n ... Der Herr Doktor mussen jewiß ooch all dichtig in’t Zeuch jehn, um det bisken Lebensunterhalt wie alle ehrlichen Leute.
Loth. Wünschte, ich brauchte es nicht!
Eduard. Na, wat meen’ Se woll! ick ooch!
Loth. Fräulein Helene ist wohl bei ihrer Schwester?
Eduard. Allet wat wahr is: d’ is ’n jutes Mä’chen! jeht ihr nich von der Seite.
Loth sieht auf die Uhr. Um 11 Uhr früh begannen die Wehen. Sie dauern also ... fünfzehn Stunden dauern sie jetzt bereits. — Fünfzehn lange Stunden —!
Eduard. Weeß Jott! — und det benimen se nu ’t schwache Jeschlecht — sie jappt aber ooch man nur noch so.
Loth. Herr Hoffmann ist auch oben!?
Eduard. Und ick sag Ihnen, ’t reene Weib.
Loth. Das mit anzusehen ist wohl auch keine Kleinigkeit.
Eduard. I! nu! det will ick meenen! Na! eben is Doktor Schimmelpfennig zujekommen. Det is ’n Mann, sag ick Ihnen: jrob wie ’ne Sackstrippe, aber — Zucker is ’n dummer Junge dajejen. Sagen Sie man bloß, wat it aus det olle Berlin .... Er unterbricht sich mit einem Jott Strambach! da Hoffmann und der Doktor die Treppe herunter kommen.
Hoffmann und Doktor Schimmelpfennig treten ein.
Hoffmann. Jetzt — bleiben Sie doch wohl bei uns.
Dr. Schimmelpfennig. Ja! jetzt werde ich hier bleiben.
Hoffmann. Das ist mir eine große, große Beruhigung. — Ein Glas Wein ...? Sie trinken doch ein Glas Wein, Herr Doktor!?
Dr. Schimmelpfennig. Wenn Sie etwas thun wollen, dann lassen Sie mir schon lieber eine Tasse Kaffee brauen.
Hoffmann. Mit Vergnügen. — Eduard! Kaffee für Herrn Doktor! Eduard ab. Sie sind .....? Sind Sie zufrieden mit dem Verlauf?
Dr. Schimmelpfennig. So lange Ihre Frau Kraft behält, ist jedenfalls directe Gefahr nicht vorhanden. Warum haben Sie übrigens die junge Hebamme nicht zugezogen? Ich hatte Ihnen doch eine empfohlen, so viel ich weiß.
Hoffmann. Meine Schwiegermama ... was soll man machen? Wenn ich ehrlich sein soll: auch meine Frau hatte kein Vertrauen zu der jungen Person.
Dr. Schimmelpfennig. Und zu diesem fossilen Gespenst haben Ihre Damen Vertrauen?! Wohl bekomms! — Sie möchten gern wieder hinauf?
Hoffmann. Ehrlich gesagt: ich habe nicht viel Ruhe hier unten.
Dr. Schimmelpfennig. Besser wär’s freilich, Sie gingen irgend wohin, aus dem Hause.
Hoffmann. Beim besten Willen das .... ach, Loth! da bist Du ja auch noch. Loth erhebt sich von dem Sopha im dunklen Vordergrunde und geht auf die beiden zu.
Dr. Schimmelpfennig aufs Aeußerste überrascht. Donnerwetter!
Loth. Ich hörte schon, daß Du hier seist. Morgen hätte ich Dich unbedingt aufgesucht.
Beide schütteln sich tüchtig die Hände. Hoffmann benutzt den Augenblick, am Buffet schnell ein Glas Cognac hinunterzuspülen, darauf dann sich auf den Zehen hinaus und die Holztreppe hinauf zu schleichen.
Das Gespräch der beiden Freunde steht am Anfang unverkennbar unter dem Einfluß einer gewissen leisen Zurückhaltung.
Dr. Schimmelpfennig. Du hast also wohl ... hahaha die alte, dumme Geschichte vergessen? Er legt Hut und Stock bei Seite.
Loth. Längst vergessen, Schimmel!
Dr. Schimmelpfennig. Na, ich auch! das kannst Du Dir denken. — Sie schütteln sich nochmals die Hände. Ich habe in dem Nest hier so wenig freudige Ueberraschungen gehabt, daß mir die Sache ganz curios vorkommt. Merkwürdig! Gerade hier treffen wir uns. — Merkwürdig!
Loth. Rein verschollen bist Du ja, Schimmel! Hätte Dich sonst längst mal umgestoßen.
Dr. Schimmelpfennig. Unter Wasser gegangen wie ein Seehund. Tiefseeforschungen gemacht. In anderthalb Jahren etwa hoffe ich wieder aufzutauchen. Man muß materiell unabhängig sein, wissen Sie ... weißt Du! wenn man etwas Brauchbares leisten will.
Loth. Also Du machst auch Geld hier?
Dr. Schimmelpfennig. Natürlicherweise und zwar so viel als möglich. Was sollte man hier auch anderes thun?
Loth. Du hätt’st doch mal was von Dir hören lassen sollen.
Dr. Schimmelpfennig. Erlauben Sie ... erlaube, hätte ich von mir was hören lassen, dann hätte ich von Euch was wieder gehört, und ich wollte durchaus nichts hören. Nichts, — gar nichts, das hätte mich höchstens von meiner Goldwäscherei abhalten können.
Beide gehen langsamen Schritts auf und ab im Zimmer.
Loth. Na ja — Du kannst Dich dann aber auch nicht wundern, daß sie ... nämlich ich muß Dir sagen, sie haben Dich eigentlich alle, durch die Bank, aufgegeben.
Dr. Schimmelpfennig. Sieht ihnen ähnlich. — Bande! — sollen schon was merken.
Loth. Schimmel, genannt: das Rauhbein!
Dr. Schimmelpfennig. Du solltest nur sechs Jahre unter diesen Bauern gelebt haben. Himmelhunde alle miteinander.
Loth. Das kann ich mir denken. — Wie bist Du denn gerade nach Witzdorf gekommen?
Dr. Schimmelpfennig. Wie’s so geht. Damals mußte ich doch auskneifen, von Jena weg.
Loth. War das vor meinem Reinfall?
Dr. Schimmelpfennig. Ja wohl. Kurze Zeit nachdem wir unser Zusammenleben aufgesteckt hatten. In Zürich legte ich mich dann auf die Medicinerei, zunächst um etwas für den Nothfall zu haben; dann fing aber die Sache an mich zu interessiren, und jetzt bin ich mit Leib und Seele Medicus.
Loth. Und hierher ...? Wie kamst Du hier her?
Dr. Schimmelpfennig. Ach so! — einfach! Als ich fertig war, da sagte ich mir: nun vor allen Dingen einen hinreichenden Haufen Kies. Ich dachte an Amerika, Süd- und Nord-Amerika, an Afrika, Australien, die Sundainseln .... am Ende fiel mir ein, daß mein Knabenstreich ja mittlerweile verjährt war; da habe ich mich denn entschlossen in die Mausefalle zurückzukriechen.
Loth. Und Dein Schweizer-Examen?
Dr. Schimmelpfennig. Ich mußte eben die Geschichte hier noch mal über mich ergehen lassen.
Loth. Du hast also das Staatsexamen zwei Mal gemacht, Kerl!?
Dr. Schimmelpfennig. Ja! — Schließlich habe ich dann glücklicherweise diese fette Weide hier ausfindig gemacht.
Loth. Du bist zähe, zum Beneiden.
Dr. Schimmelpfennig. Wenn man nur nicht plötzlich mal zusammenklappt. — Na! schließlich ist’s auch kein Unglück.
Loth. Hast Du denn ’ne große Praxis?
Dr. Schimmelpfennig. Ja! Mitunter komme ich erst um fünf Uhr früh zu Bett. Um sieben Uhr fängt dann bereits wieder meine Sprechstunde an.
Eduard kommt und bringt Kaffee.
Dr. Schimmelpfennig, indem er sich am Tisch niederläßt, zu Eduard. Danke Eduard! — Zu Loth. Kaffee saufe ich ... unheimlich.
Loth. Du solltest das lieber lassen mit dem Kaffee.
Dr. Schimmelpfennig. Was soll man machen?! Er nimmt kleine Schlucke. Wie gesagt — ein Jahr noch, dann — hört’s auf ... hoffentlich wenigstens.
Loth. Willst Du dann gar nicht mehr practiciren?
Dr. Schimmelpfennig. Glaube nicht. Nein ... nicht mehr. Er schiebt das Tablette mit dem Kaffeegeschirr zurück, wischt sich den Mund. Uebrigens — zeig’ mal Deine Hand. Loth hält ihm beide Hände hin. Nein? — keine Dalekarlierin heimgeführt? — Keine gefunden, wie? .... Wolltest doch immer so ’n Ur- und Kernweib von wegen des gesunden Blutes. Hast übrigens recht: wenn schon, denn schon ... oder nimmst Du’s in dieser Beziehung etwa nicht mehr so genau?
Loth. Na ob ...! und wie!
Dr. Schimmelpfennig. Ach, wenn die Bauern hier doch auch solche Ideen hätten. Damit sieht’s aber jämmerlich aus, sage ich Dir, Degeneration auf der ganzen ... Er hat seine Cigarrentasche halb aus der Brusttasche gezogen, läßt sie aber wieder zurückgleiten und steht auf, als irgend ein Laut durch die nur angelehnte Hausflurthür hereindringt. Wart’ mal! Er geht auf den Zehen bis zur Hausflurthür und horcht. Eine Thür geht draußen, man hört einige Augenblicke deutlich das Wimmern der Wöchnerin. Der Doktor sagt, zu Loth gewandt, leise: Entschuldige! und geht hinaus.
Einige Augenblicke durchmißt Loth, während draußen Thüren schlagen, Menschen die Treppe auf- und ablaufen, das Zimmer; dann setzt er sich in den Lehnsessel rechts vorn. Helene huscht herein und umschlingt Loth, der ihr Kommen nicht bemerkt hat, von rückwärts.
Loth sich umblickend, sie ebenfalls umfassend. Lenchen!! Er zieht sie zu sich herunter und trotz gelinden Sträubens auf sein Knie. Helene weint unter den Küssen, die er ihr giebt. Ach, weine doch nicht, Lenchen! Warum weinst Du denn so sehr?
Helene. Warum? weiß ich’s?! .... Ich denk immer, ich treff’ Dich nicht mehr. Vorhin habe ich mich so erschrocken ....
Loth. Weshalb denn?
Helene. Weil ich Dich aus Deinem Zimmer treten hörte — Ach! ... und die Schwester — wir armen, armen Weiber! — die muß zu sehr ausstehen.
Loth. Der Schmerz vergißt sich schnell und auf den Tod geht’s ja nicht.
Helene. Ach, Du! sie wünscht sich ihn ja ... sie jammert nur immer so: laß mich doch sterben ... Der Doktor! Sie springt auf und huscht in den Wintergarten.
Dr. Schimmelpfennig im Hereintreten. Nun wünschte ich wirklich, daß sich das Frauchen da oben ’n bissel beeilte! Er läßt sich am Tisch nieder, zieht neuerdings die Cigarrentasche, entnimmt ihr eine Cigarre und legt diese neben sich. Du kommst mit zu mir dann, wie? — hab’ draußen so ’n nothwendiges Uebel mit zwei Gäulen davor, da können wir drin zu mir fahren. Seine Cigarre an der Tischkante klopfend. Der süße Ehestand! ja, ja! Ein Zündholz anstreichend. Also noch frisch, frei, fromm, froh?
Loth. Hättest noch gut ein Paar Tage warten können mit Deiner Frage.
Dr. Schimmelpfennig bereits mit brennender Cigarre. Wie? ... ach ... ach so! — lachend — also endlich doch auf meine Sprünge gekommen.
Loth. Bist Du wirklich noch so entsetzlich pessimistisch in Bezug auf Weiber?
Dr. Schimmelpfennig. Ent—setzlich!! Dem Rauch seiner Cigarre nachblickend. Früher war ich Pessimist — so zu sagen ahnungsweise ...
Loth. Hast Du denn inzwischen so besondere Erfahrungen gemacht?
Dr. Schimmelpfennig. Ja, allerdings! — Auf meinem Schilde steht nämlich: Specialist für Frauenkrankheiten. — Die medicinische Praxis macht nämlich furchtbar klug ... furchtbar — gesund, ... ist Specificum gegen ... allerlei Staupen!
Loth lacht. Na, da könnten wir ja gleich wieder in der alten Tonart anfangen. Ich hab’ nämlich ... ich bin nämlich keineswegs auf Deine Sprünge gekommen. Jetzt weniger als je! ... Auf diese Weise hast Du wohl auch Dein Steckenpferd vertauscht?
Dr. Schimmelpfennig. Steckenpferd?
Loth. Die Frauenfrage war doch zu damaliger Zeit gewissermaßen Dein Steckenpferd!
Dr. Schimmelpfennig. Ach so! — Warum sollte ich es vertauscht haben?
Loth. Wenn Du über die Weiber noch schlechter denkst, als ...
Dr. Schimmelpfennig ein wenig in Harnisch, erhebt sich und geht hin und her, dabei spricht er. Ich — denke nicht schlecht von den Weibern. — Kein Bein! — Nur über das Heirathen denke ich schlecht ... über die Ehe ... über die Ehe, und dann höchstens noch über die Männer denke ich schlecht ... Die Frauenfrage soll mich nicht mehr interessiren? Ja, weshalb hätte ich denn sonst sechs lange Jahre hier wie ’n Lastpferd gearbeitet? Doch nur um alle meine verfügbaren Kräfte endlich mal ganz der Lösung dieser Frage zu widmen. Wußtest Du denn das nicht von Anfang an?
Loth. Wo hätte ich’s denn her wissen sollen?
Dr. Schimmelpfennig. Na, wie gesagt ... ich hab auch schon ein ziemlich ausgiebiges Material gesammelt, das mir gute Dienste leisten ... bsst! ich hab’ mir das Schreien so angewöhnt. Er schweigt, horcht, geht zur Thür und kommt zurück. Was hat Dich denn eigentlich unter die Goldbauern geführt?
Loth. Ich möchte die hiesigen Verhältnisse studiren.
Dr. Schimmelpfennig mit gedämpfter Stimme. Idee! Noch leiser. Da kannst Du bei mir auch Material bekommen.
Loth. Freilich, Du mußt ja sehr unterrichtet sein über die Zustände hier. Wie sieht es denn so in den Familien aus?
Dr. Schimmelpfennig. E—lend! ..... durchgängig ... Suff! Völlerei, Inzucht und in Folge davon — Degenerationen auf der ganzen Linie.
Loth. Mit Ausnahmen doch!?
Dr. Schimmelpfennig. Kaum!
Loth unruhig. Bist Du denn nicht zuweilen in ... in Versuchung gerathen eine ... eine Witzdorfer Goldtochter zu heirathen?
Dr. Schimmelpfennig. Pfui Teufel! Kerl, für was hältst Du mich? — Ebenso könntest Du mich fragen, ob ich ...
Loth sehr bleich. Wie... wieso?
Dr. Schimmelpfennig. Weil ... Ist Dir was? Er fixirt ihn einige Augenblicke.
Loth. Gar nichts! Was soll mir denn sein?
Dr. Schimmelpfennig ist plötzlich sehr nachdenklich, geht und steht jäh und mit einem leisen Pfiff still, blickt Loth abermals flüchtig an und sagt dann halblaut zu sich selbst. Schlimm!
Loth. Du bist ja so sonderbar plötzlich.
Dr. Schimmelpfennig. Still! Er horcht auf und verläßt dann schnell das Zimmer durch die Mittelthür.
Helene nach einigen Augenblicken durch die Mittelthür; sie ruft. Alfred! — Alfred! ... Ach da bist Du — Gott sei Dank!
Loth. Nun, ich sollte wohl am Ende gar fortgelaufen sein? Umarmung.
Helene biegt sich zurück. Mit unverkennbarem Schrecken im Ausdruck. Alfred!
Loth. Was denn, Liebste?
Helene. Nichts, nichts!
Loth. Aber Du mußt doch was haben?
Helene. Du kamst mir so ... so kalt ... Ach, ich hab’ solche schrecklich dumme Einbildungen.
Loth. Wie stehts’s denn oben?
Helene. Der Doktor zankt mit der Hebamme.
Loth. Wird’s nicht bald zu Ende gehen?
Helene. Weiß ich’s? — Aber wenn’s ... wenn’s zu Ende ist, meine ich, dann ...
Loth. Was dann? .... Sag’ doch, bitte! was wolltest Du sagen?
Helene. Dann sollten wir bald von hier fortgehen. Gleich! Auf der Stelle!
Loth. Wenn Du das wirklich für das Beste hältst, Lenchen —
Helene. Ja, ja! wir dürfen nicht warten! Es ist das Beste — für Dich und mich. Wenn Du mich nicht jetzt bald nimmst, dann läßt Du mich heilig noch sitzen, und dann ... dann ... muß ich doch noch zu Grunde gehen.
Loth. Wie Du doch mißtrauisch bist, Lenchen!
Helene. Sag’ das nicht, Liebster! Dir traut man, Dir muß man trauen! .... Wenn ich erst Dein bin, dann ... Du verläßt mich dann ganz gewiß nicht mehr. Wie außer sich. Ich beschwöre Dich! geh nicht fort! Verlaß mich doch nur nicht. Geh — nicht fort, Alfred! Alles ist aus, alles, wenn Du einmal ohne mich von hier fortgehst.
Loth. Merkwürdig bist Du doch! .... Und da willst Du nicht mißtrauisch sein? ... Oder sie plagen Dich, martern Dich hier ganz entsetzlich, mehr als ich mir je .... Jedenfalls gehen wir aber noch diese Nacht. Ich bin bereit. Sobald Du willst, gehen wir also.
Helene gleichsam mit aufjauchzendem Dank ihm um den Hals fallend. Geliebter! Sie küßt ihn wie rasend und eilt schnell davon.
Dr. Schimmelpfennig tritt durch die Mitte ein, er bemerkt noch, wie Helene in der Wintergartenthür verschwindet.
Dr. Schimmelpfennig. Wer war das? — Ach so! In sich hinein. Armes Ding! Er läßt sich mit einem Seufzer am Tisch nieder, findet die alte Cigarre, wirft sie bei Seite, entnimmt dem Etui eine frische Cigarre und fängt an, sie an der Tischkante zu klopfen, wobei er nachdenklich darüber hinausstarrt.
Loth, der ihm zuschaut. Genau so pflegtest Du vor acht Jahren jede Cigarre abzuklopfen, eh’ Du zu rauchen anfingst.
Dr. Schimmelpfennig. Möglich —! Als er mit Anrauchen fertig ist. Hör’ mal, Du!
Loth. Ja, was denn?
Dr. Schimmelpfennig. Du wirst doch — so bald die Geschichte oben vorüber ist, mit zu mir kommen?
Loth. Das geht wirklich nicht! Leider.
Dr. Schimmelpfennig. Man hat so das Bedürfniß, sich mal wieder gründlich von der Leber weg zu äußern.
Loth. Das hab ich so genau wie Du. Aber gerade daraus kannst Du sehen, daß es heut absolut nicht in meiner Macht steht, mit Dir ....
Dr. Schimmelpfennig. Wenn ich Dir nun aber ausdrücklich und — gewissermaßen feierlich erkläre: es ist eine bestimmte, äußerst wichtige Angelegenheit, die ich mit Dir noch diese Nacht besprechen möchte .... besprechen muß sogar, Loth!
Loth. Curios! Für blutigen Ernst soll ich doch das nicht etwa hinnehmen?! Doch wohl nicht? — So viel Jahre hätt’st Du damit gewartet und nun hätte es nicht einen Tag mehr Zeit damit? — Du kannst Dir doch wohl denken, daß ich Dir keine Flausen vormache.
Dr. Schimmelpfennig. Also hat’s doch seine Richtigkeit! Er steht auf und geht umher.
Loth. Was hat seine Richtigkeit?
Dr. Schimmelpfennig, vor Loth still stehend, mit einem geraden Blick in seine Augen. Es ist also wirklich etwas im Gange zwischen Dir und Helene Krause?
Loth. Ich? — Wer hat Dir denn ...?
Dr. Schimmelpfennig. Wie bist Du nur in diese Familie ....?
Loth. Woher — weißt Du denn das, Mensch?
Dr. Schimmelpfennig. Das war ja doch nicht schwer zu errathen.
Loth. Na, dann halt um Gottes Willen den Mund, daß nicht ....
Dr. Schimmelpfennig. Ihr seid also richtig verlobt?!
Loth. Wie man’s nimmt. Jedenfalls sind wir beide einig.
Dr. Schimmelpfennig. Hm —! wie bist Du denn hier herein gerathen, gerade in diese Familie?
Loth. Hoffmann ist ja doch mein Schulfreund. Er war auch Mitglied — auswärtiges allerdings — Mitglied meines Colonial-Vereins.
Dr. Schimmelpfennig. Von der Sache hörte ich in Zürich. — Also mit Dir ist er umgegangen! Auf diese Weise wird mir der traurige Zwitter erklärlich.
Loth. Ein Zwitter ist er allerdings.
Dr. Schimmelpfennig. Eigentlich nicht mal das. — Ehrlich, Du! — Ist das wirklich Dein Ernst? — die Geschichte mit der Krause?
Loth. Na, selbstverständlich! — Zweifelst Du daran? Du wirst mich doch nicht etwa für einen Schuft ...
Dr. Schimmelpfennig. Schon gut! Ereifere Dich nur nicht. Hättst Dich ja verändert haben können während der langen Zeit. Warum nicht? Wär auch gar kein Nachtheil! N’ bissel Humor könnte Dir gar nicht schaden! Ich seh’ nicht ein, warum man alles so verflucht ernsthaft nehmen sollte.
Loth. Ernst ist es mir mehr als je. Er erhebt sich und geht, immer ein wenig zurück, neben Schimmelpfennig her. Du kannst es ja nicht wissen, auch sagen kann ich Dir’s nicht mal, was dieses Verhältniß für mich bedeutet.
Dr. Schimmelpfennig. Hm!
Loth. Kerl, Du hast keine Idee, was das für ein Zustand ist. Man kennt ihn nicht, wenn man sich danach sehnt. Kennte man ihn, dann, dann müßte man geradezu unsinnig werden vor Sehnsucht.
Dr. Schimmelpfennig. Das begreife der Teufel, wie Ihr zu dieser unsinnigen Sehnsucht kommt.
Loth. Du bist auch noch nicht sicher davor.
Dr. Schimmelpfennig. Das möcht ich mal sehen.
Loth. Du redst wie der Blinde von der Farbe.
Dr. Schimmelpfennig. Was ich mir für das bischen Rausch koofe! Lächerlich. Daraus eine lebenslängliche Ehe zu bauen .... da baut man noch nicht mal so sicher als auf’n Sandhaufen.
Loth. Rausch — Rausch — wer von einem Rausch redet, — na! der kennt die Sache eben nicht. ’N Rausch ist flüchtig. Solche Räusche hab ich schon gehabt, ich geb’s zu. Aber das ist was ganz Anderes.
Dr. Schimmelpfennig. Hm!
Loth. Ich bin dabei vollständig nüchtern. Denkst Du, daß ich meine Liebste so — na, wie soll ich sagen?! — so mit ’ner — na, wie soll ich sagen?! mit ner großen Glorie sehe? Gar nicht! — Sie hat Fehler, ist auch nicht besonders schön, wenigstens — na, häßlich ist sie auch gerade nicht. Ganz objectiv geurtheilt, ich — das ist ja schließlich Geschmackssache — ich hab’ so’n hübsches Mädel noch nicht gesehen. Also, Rausch — Unsinn! Ich bin ja so nüchtern wie nur möglich. Aber, siehst Du! das ist eben das Merkwürdige: ich kann mich gar nicht mehr ohne sie denken — das kommt mir so vor wie ’ne Legirung, weißt Du, wie wenn zwei Metalle so recht innig legirt sind, daß man gar nicht mehr sagen kann, das ist das, das ist das. Und alles so furchtbar selbstverständlich — kurzum, ich quatsche vielleicht Unsinn — oder was ich sage, ist vielleicht in Deinen Augen Unsinn, aber so viel steht fest: wer das nicht kennt, ist ’n erbärmlicher Frosch. Und so’n Frosch war ich bisher — und so’n Jammerfrosch bist Du noch.
Dr. Schimmelpfennig. Das ist ja richtig der ganze Symptomen-Complex. — Daß Ihr Kerls doch immer bis über die Ohren in Dinge hineingerathet, die Ihr theoretisch längst verworfen habt, wie zum Beispiel Du die Ehe. So lange ich Dich kenne, laborirst Du an dieser unglückseligen Ehemanie.
Loth. Es ist Trieb bei mir, geradezu Trieb. Weiß Gott! mag ich mich wenden, wie ich will.
Dr. Schimmelpfennig. Man kann schließlich auch einen Trieb niederkämpfen.
Loth. Ja, wenn’s ’n Zweck hat, warum nicht?
Dr. Schimmelpfennig. Hat’s Heirathen etwa Zweck?
Loth. Das will ich meinen. Das hat Zweck! Bei mir hat es Zweck. Du weißt nicht, wie ich mich durchgefressen hab’ bis hierher. Ich mag nicht sentimental werden. Ich hab’s auch vielleicht nicht so gefühlt, es ist mir vielleicht nicht ganz so klar bewußt geworden wie jetzt, daß ich in meinem Streben etwas entsetzlich Ödes, gleichsam Maschinenmäßiges angenommen hatte. Kein Geist, kein Temperament, kein Leben, ja wer weiß, war noch Glauben in mir? Das alles kommt seit ... seit heut wieder in mich gezogen. So merkwürdig voll, so ursprünglich, so fröhlich ... Unsinn, Du capirst’s ja doch nicht.
Dr. Schimmelpfennig. Was Ihr da alles nöthig habt, um flott zu bleiben, Glaube, Liebe, Hoffnung. Für mich ist das Kram. Es ist eine ganz simple Sache: die Menschheit liegt in der Agonie, und unser einer macht ihr mit Narkoticis die Sache so erträglich als möglich.
Loth. Dein neuester Standpunkt?
Dr. Schimmelpfennig. Schon fünf bis sechs Jahre alt und immer derselbe.
Loth. Gratulire!
Dr. Schimmelpfennig. Danke!
Eine lange Pause.
Dr. Schimmelpfennig nach einigen unruhigen Anläufen. Die Geschichte ist leider die: ich halte mich für verpflichtet ... ich schulde Dir unbedingt eine Aufklärung. Du wirst Helene Krause, glaub ich, nicht heirathen können.
Loth kalt. So, glaubst Du?
Dr. Schimmelpfennig. Ja, ich bin der Meinung. Es sind da Hindernisse vorhanden, die gerade Dir ...
Loth. Hör’ mal Du: mach’ Dir darüber um Gottes Willen keine Scrupel. Die Verhältnisse liegen auch gar nicht mal so complicirt, sind im Grunde sogar furchtbar einfach.
Dr. Schimmelpfennig. Einfach furchtbar solltest Du eher sagen.
Loth. Ich meine, was die Hindernisse anbetrifft.
Dr. Schimmelpfennig. Ich auch zum Theil. Aber auch überhaupt: ich kann mir nicht denken, daß Du diese Verhältnisse hier kennen solltest.
Loth. Ich kenne sie aber doch ziemlich genau.
Dr. Schimmelpfennig. Dann mußt Du nothwendigerweise Deine Grundsätze geändert haben.
Loth. Bitte, Schimmel, drück’ Dich etwas deutlicher aus.
Dr. Schimmelpfennig. Du mußt unbedingt Deine Hauptforderung in Bezug auf die Ehe fallen gelassen haben, obgleich Du vorhin durchblicken ließt, es käme Dir nach wie vor darauf an, ein an Leib und Seele gesundes Geschlecht in die Welt zu setzen.
Loth. Fallen gelassen? ... fallen gelassen? Wie soll ich denn das ...
Dr. Schimmelpfennig. Dann bleibt nichts übrig ... dann kennst Du eben doch die Verhältnisse nicht. Dann weißt Du zum Beispiel nicht, daß Hoffmann einen Sohn hatte, der mit drei Jahren bereits am Alkoholismus zu Grunde ging.
Loth. Wa... was — sagst Du?
Dr. Schimmelpfennig. S’ thut mir leid, Loth, aber sagen muß ich Dir’s doch. Du kannst ja dann noch machen, was Du willst. Die Sache war kein Spaß. Sie waren gerade wie jetzt zum Besuch hier. Sie ließen mich holen, eine halbe Stunde zu spät. Der kleine Kerl hatte längst verblutet.
Loth mit den Zeichen tiefer, furchtbarer Erschütterung an des Doktors Munde hängend.
Dr. Schimmelpfennig. Nach der Essigflasche hatte das dumme Kerlchen gelangt in der Meinung, sein geliebter Fusel sei darin. Die Flasche war herunter- und das Kind in die Scherben gefallen. Hier unten, siehst Du, die vena saphena, die hatte es sich vollständig durchschnitten.
Loth. W... w...essen Kind sagst Du ...?
Dr. Schimmelpfennig. Hoffmann’s und eben derselben Frau Kind, die da oben wieder ... Und auch die trinkt, trinkt bis zur Besinnungslosigkeit, trinkt, soviel sie bekommen kann.
Loth. Also von Hoffmann ... Hoffmann geht es nicht aus?!
Dr. Schimmelpfennig. Bewahre! Das ist tragisch an dem Menschen; er leidet darunter, so viel er überhaupt leiden kann. Im Übrigen hat er’s gewußt, daß er in eine Potatorenfamilie hinein kam. Der Bauer nämlich kommt überhaupt gar nicht mehr aus dem Wirthshaus.
Loth. Dann freilich — begreife ich manches — nein! Alles begreife ich — alles. Nach einem dumpfen Schweigen. Dann ist ihr Leben hier ... Helenens Leben — ein ... ein — wie soll ich sagen?! mir fehlt der Ausdruck dafür — ... nicht?
Dr. Schimmelpfennig. Horrend geradezu! Das kann ich beurtheilen. Daß Du bei ihr hängen bliebst, war mir auch von Anfang an sehr begreiflich. Aber wie ges...
Loth. Schon gut! — verstehe ... Thut denn ...? Könnte man nicht vielleicht ... vielleicht könnte man Hoffmann bewegen etwas ... etwas zu thun? Könntest Du nicht vielleicht — ihn zu etwas bewegen? Man müßte sie fortbringen aus dieser Sumpfluft.
Dr. Schimmelpfennig. Hoffmann?
Loth. Ja, Hoffmann.
Dr. Schimmelpfennig. Du kennst ihn schlecht ... Ich glaube zwar nicht, daß er sie schon verdorben hat. Aber ihren Ruf hat er sicherlich jetzt schon verdorben.
Loth aufbrausend. Wenn das ist: ich schlag ihn ... Glaubst Du wirklich ...? hältst Du Hoffmann wirklich für fähig ...?
Dr. Schimmelpfennig. Zu allem, zu allem halte ich ihn fähig, wenn für ihn ein Vergnügen dabei heraus springt.
Loth. Dann ist sie — das keuscheste Geschöpf, was es giebt ...
Loth nimmt langsam Hut und Stock und hängt sich ein Täschchen um.
Dr. Schimmelpfennig. Was gedenkst Du zu thun, Loth?
Loth. ... Nicht begegnen ...!
Dr. Schimmelpfennig. Du bist also entschlossen?
Loth. Wozu entschlossen?
Dr. Schimmelpfennig. Euer Verhältniß aufzulösen.
Loth. Wie sollt ich wohl dazu nicht entschlossen sein?
Dr. Schimmelpfennig. Ich kann Dir als Arzt noch sagen, daß Fälle bekannt sind, wo solche vererbte Uebel unterdrückt worden sind, und Du würdest ja gewiß Deinen Kindern eine rationelle Erziehung geben.
Loth. Es mögen solche Fälle vorkommen.
Dr. Schimmelpfennig. Und die Wahrscheinlichkeit ist vielleicht nicht so gering, daß ...
Loth. Das kann uns nichts helfen, Schimmel. So steht es: es giebt drei Möglichkeiten! Entweder ich heirathe sie, und dann ... nein, dieser Ausweg existirt überhaupt nicht. Oder — die bewußte Kugel. Na ja, dann hätte man wenigstens Ruhe. Aber nein! So weit sind wir noch nicht, so was kann man sich einstweilen noch nicht leisten — also: leben! kämpfen! — Weiter, immer weiter. Sein Blick fällt auf den Tisch, er bemerkt das von Eduard zurecht gestellte Schreibzeug, setzt sich, ergreift die Feder, zaudert, und sagt: Oder am Ende ...?
Dr. Schimmelpfennig. Ich verspreche Dir, ihr die Lage so deutlich als möglich vorzustellen.
Loth. Ja, ja! — nur eben ... ich kann nicht anders. Er schreibt, adressirt und couvertirt. Er steht auf und reicht Schimmelpfennig die Hand. Im Übrigen verlasse ich mich — auf Dich.
Dr. Schimmelpfennig. Du gehst zu mir, wie? Mein Kutscher soll Dich zu mir fahren.
Loth. Sag’ mal, sollte man denn nicht wenigstens versuchen — sie aus den Händen dieses ... dieses Menschen zu ziehen? ... Auf diese Weise wird sie doch unfehlbar noch seine Beute.
Dr. Schimmelpfennig. Guter, bedauernswürdiger Kerl! Soll ich Dir was rathen? Nimm ihr nicht das ... Wenige, was Du ihr noch übrig läßt.
Loth tiefer Seufzer. Qual über ... hast vielleicht — recht — ja wohl, unbedingt sogar.
Man hört Jemand hastig die Treppe herunter kommen. Im nächsten Augenblick stürzt Hoffmann herein.
Hoffmann. Herr Doktor, ich bitte Sie um Gottes Willen ... sie ist ohnmächtig ... die Wehen setzen aus ... wollen Sie nicht endlich ...
Dr. Schimmelpfennig. Ich komme hinauf. Zu Loth bedeutungsvoll. Auf Wiedersehen! Zu Hoffmann, der ihm nachfolgen will. Herr Hoffmann, ich muß Sie bitten ... eine Ablenkung oder Störung könnte verhängnißvoll ... am liebsten wäre es mir, Sie blieben hier unten.
Hoffmann. Sie verlangen sehr viel, aber ... na!
Dr. Schimmelpfennig. Nicht mehr als billig. Ab.
Hoffmann bleibt zurück.
Hoffmann bemerkt Loth. Ich zittere, die Aufregung steckt mir in allen Gliedern. Sag’ mal, Du willst fort?
Loth. Ja.
Hoffmann. Jetzt mitten in der Nacht?
Loth. Nur bis zu Schimmelpfennig.
Hoffmann. Ach so! Nun ... wie die Verhältnisse sich gestaltet haben, ist es am Ende kein Vergnügen mehr bei uns ... Also leb’ recht ...
Loth. Ich danke für die Gastfreundschaft.
Hoffmann. Und mit Deinem Plan, wie steht es da?
Loth. Plan?
Hoffmann. Deine Arbeit, Deine volkswirthschaftliche Arbeit über unseren District, meine ich. Ich muß Dir sagen ... ich möchte Dich sogar als Freund inständig und herzlich bitten ...
Loth. Beunruhige Dich weiter nicht. Morgen schon bin ich über alle Berge.
Hoffmann. Das ist wirklich — unterbricht sich. —
Loth. Schön von Dir, wollt’st Du wohl sagen?
Hoffmann. Das heißt — ja — in gewisser Hinsicht; übrigens Du entschuldigst mich, ich bin so entsetzlich aufgeregt. Zähle auf mich! Die alten Freunde sind immer noch die besten. Adieu, Adieu.
Ab durch die Mitte.
Loth wendet sich, bevor er zur Thür hinaustritt, noch einmal nach rückwärts und nimmt mit den Augen noch einmal den ganzen Raum in sein Gedächtniß auf. Hierauf zu sich. Da könnt ich ja nun wohl — gehen. Nach einem letzten Blick ab.
Das Zimmer bleibt für einige Augenblicke leer. Man vernimmt gedämpfte Rufe und das Geräusch von Schritten, dann erscheint Hoffmann. Er zieht, sobald er die Thür hinter sich geschlossen hat, unverhältnißmäßig ruhig sein Notizbuch und rechnet etwas; hierbei unterbricht er sich und lauscht, wird unruhig, schreitet zur Thür und lauscht wieder. Plötzlich rennt Jemand die Treppe herunter und herein stürzt Helene.
Helene noch außen. Schwager! In der Thür. Schwager!
Hoffmann. Was ist denn — los?
Helene. Mach Dich gefaßt: todtgeboren!
Hoffmann. Jesus Christus! Er stürzt davon.
Helene allein.
Sie sieht sich um und ruft leise: Alfred! Alfred! und dann, als sie keine Antwort erhält, in schneller Folge: Alfred! Alfred! Dabei ist sie bis zur Thür des Wintergartens geeilt, durch die sie spähend blickt. Dann ab in den Wintergarten. Nach einer Weile erscheint sie wieder. Alfred! Immer unruhiger werdend, am Fenster, durch das sie hinausblickt: Alfred! Sie öffnet das Fenster und steigt auf einen davor stehenden Stuhl. In diesem Augenblick klingt deutlich vom Hofe herein das Geschrei des betrunkenen, aus dem Wirtshaus heimkehrenden Bauern, ihres Vaters. Dohie hä! biin iich nee a hibscher Moan? Hoa’ iich nee a hibsch Weib? Hoa’ iich nee a poar hibsche Tächter dohie hä? Helene stößt einen kurzen Schrei aus und rennt wie gejagt nach der Mittelthür. Von dort aus entdeckt sie den Brief, welchen Loth auf dem Tisch zurückgelassen. Sie stürzt sich darauf, reißt ihn auf und durchfliegt ihn, einzelne Worte aus seinem Inhalt laut hervorstoßend: „Unübersteiglich!“ ... „Niemals wieder!“ Sie läßt den Brief fallen, wankt. Zu Ende! Rafft sich auf, hält sich den Kopf mit beiden Händen, kurz und scharf schreiend. Zu En—de! Stürzt ab durch die Mitte. Der Bauer draußen, schon aus geringerer Entfernung: Dohie hä? iis ernt’s Gittla ne mei—ne? Hoa’ iich ne a hibsch Weib? Bin iich nee a hibscher Moan? Helene, immer noch suchend, wie eine halb Irrsinnige aus dem Wintergarten hereinkommend, trifft auf Eduard, der etwas aus Hoffmann’s Zimmer zu holen geht. Sie redet ihn an. Eduard! Er antwortet. Gnädiges Fräulein? Darauf sie: Ich möchte ... möchte den Herrn Dr. Loth ... Eduard antwortet: Herr Dr. Loth sind in des Herrn Dr. Schimmelpfennig’s Wagen fortgefahren!
Damit verschwindet er im Zimmer Hoffmann’s. Wahr! stößt Helene hervor und hat einen Augenblick Mühe aufrecht zu stehen. Im nächsten durchfährt sie eine verzweifelte Energie. Sie rennt nach dem Vordergrunde und ergreift den Hirschfänger sammt Gehänge, der an dem Hirschgeweih über dem Sopha befestigt ist. Sie verbirgt ihn und hält sich still im dunklen Vordergrund, bis Eduard, aus Hoffmanns Zimmer kommend, zur Mittelthür hinaus ist. Die Stimme des Bauern, immer deutlicher: Dohie hä, biin iich nee a hibscher Moan? Auf diese Laute, wie auf ein Signal hin, springt Helene auf und verschwindet ihrerseits in Hoffmanns Zimmer. Das Hauptzimmer ist leer, und man hört fortgesetzt die Stimme des Bauern: Dohie hä, hoa’ iich nee die schinsten Zähne, hä? Hoa’ iich ne a hibsch Gittla? Miele kommt durch die Mittelthür. Sie blickt suchend umher und ruft: Freilein Helene! und wieder Freilein Helene! Dazwischen die Stimme des Bauern: ’s Gald iis mei—ne! Jetzt ist Miele ohne weiteres Zögern in Hoffmanns Zimmer verschwunden, dessen Thüre sie offen läßt. Im nächsten Augenblick stürzt sie heraus mit den Zeichen eines wahnsinnigen Schrecks; schreiend dreht sie sich zwei — dreimal um sich selber, schreiend jagt sie durch die Mittelthür. Ihr ununterbrochenes Schreien, mit der Entfernung immer schwächer werdend, ist noch einige weitere Sekunden vernehmlich. Man hört nun die schwere Hausthüre aufgehen und dröhnend in’s Schloß fallen, das Schrittegeräusch des im Hausflur herumtaumelnden Bauern, schließlich eine rohe, näselnde, lallende Trinkerstimme ganz aus der Nähe durch den Raum gellen: Dohie hä! Hoa’ iich nee a poar hibsche Tächter?
Herrosé & Ziemsen, Wittenberg.
Anmerkungen zur Transkription
Die Schreibweise und Zeichensetzung des Originales wurden weitgehend beibehalten. Nur offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):