Title: Eine vornehme Frau
Author: Hermann Heiberg
Release date: April 1, 2004 [eBook #12113]
Most recently updated: December 14, 2020
Language: German
Credits: Produced by Charles Franks and the PG Distributed Proofreaders Team
Produced by Charles Franks and the PG Distributed Proofreaders Team
Eine vornehme Frau.
von
Hermann Heiberg.
1886
Seiner theuren Mutter,
Asta, geb. Gräfin von Baudissin
gewidmet.
Große, kleine Städte!
Wir sind in einer mittleren Stadt von kaum zwanzigtausend Einwohnern, immer noch winzig genug, daß alles, was nicht diente, hämmerte oder ackerte, eine große Familie bildete, in der man sich kannte und sich miteinander befaßte.
Und doch trennte sich die gebildete Gesellschaft in verschiedene Klassen: und wie stets und überall hielt die eine sich aus besserem Teig gebacken als die andere.
Als der Krieg von 1866 beendet war, empfing die nunmehr preußische Stadt eine Garnison; es wurden, neben Infanterie, einige Schwadronen Husaren nach C. verlegt. Aber die Offiziersfamilien sonderten sich, zumal da sie noch Fremdlinge waren, gänzlich ab, und nur zu den höheren Beamten und dem Adel nahmen sie diejenige Fühlung, welche ihnen gleichsam vorgeschrieben war. Im übrigen konnte die Bürgerschaft mit der stehenden Einquartierung wohl zufrieden sein, denn unter den Husaren befanden sich wohlhabende, sogar reiche Leute, welche das Geld nicht in die Schublade versteckten.
Die neuen Verhältnisse waren dem Städtchen günstig. Der Geschäftsgeist regte sich, und besonders die Bautätigkeit erwachte. Die Bürger verdienten Geld und fanden sich rascher in die neuen Dinge, als man erwartet hatte.
Und so verging die Zeit mit ihrem Wechsel, und so lebte die Einwohnerschaft mit ihrem Spott, ihrer Neugierde und ihrem Gerede über ihre Nebenmenschen wie allerorten in dieser unvollkommenen Welt.
Eines Tages ward die Stadt C. durch eine Annonce überrascht, welche sich in dem täglich erscheinenden Blättchen, scharf umrändert und groß gedruckt, auf der letzten Seite befand: „Gesucht sofort eine große Wohnung von zwölf bis fünfzehn Zimmern mit Stallung und Nebengelassen. Eventuell wird auf ein ganzes Haus reflektiert. Man beliebe sich—“ u.s.w.
Die Neugierde, welche sich zunächst an den Stammtischen der Ressourcen kundgab, ward nicht sogleich befriedigt. Selbst der Redakteur der C.schen Zeitung wußte keine Auskunft zu geben. Endlich lösten sich die Zweifel. Einer der Husarenoffiziere war vor einiger Zeit versetzt worden, und in dem Wohnungssuchenden entdeckte man den neuen Rittmeister.
Zu gleicher Zeit verbreiteten sich allerlei Gerüchte über die Ankömmlinge, welche geeignet waren, die Gemüter zu beschäftigen. Von ihm wurde behauptet, daß er zwar ein vollendeter Kavalier und ein gerechter Vorgesetzter sei, aber von einer so finsteren Schwermut beherrscht werde, daß er den Umgang mit Menschen ängstlich meide, während man ihr neben großer frappanter Schönheit Verschwendungs- und Vergnügungssucht, ja sogar einen leichtfertigen Lebenswandel nachsagte. Erhebliche Erbschaften sollten schon durch ihre Finger geglitten sein, und es ward als ein Glück bezeichnet, daß sich der übrigens große Reichtum des Grafen auf unantastbare Fideikommißkapitalien stütze. Die Frau Gräfin gliche, hieß es, einer heißbrennenden Sonne, vor welcher der eisigste und umfangreichste Goldhügel zerschmelzen müsse.
In jedem Fall war man sehr gespannt auf die neue Bekanntschaft, und in Offizierskreisen ward eifrig überlegt, welche Stellung man zu einer Frau einnehmen solle, der ein solcher Ruf voranging.
Sehr angenehm ward von diesem Wechsel ein Bauunternehmer berührt, der eine von einem parkähnlichen Garten umschlossene große Villa gleich vor der Stadt besaß und nun um einen hohen Preis einem Mieter fand. Der Graf ließ sich Zeichnungen und genaue Beschreibungen einsenden und bewilligte eine ganz erhebliche Summe zur Verschönerung der inneren, ursprünglich für einfachere Ansprüche berechneten Räume.
So wurden beispielsweise sämtliche Gesellschaftszimmer in mattgrüner und blauer Seide tapeziert, und das ganze Haus erhielt einen genau im Muster übereinstimmenden, hellen Teppich in Flur und sämtlichen Gemächern. Aber auch sonst wurden Veränderungen getroffen, welche das Besitztum zu einem fast fürstlichen Aufenthalt umwandelten. Die Thüren mußten ebenholzdunkel gemalt und mit Arabesken in Gold versehen werden. Die Öfen wichen zum Teil Kaminen aus schwarzem oder rotem Marmor, und die Außenwände der Villa wurden durch eine zartgraue Ölfarbe verschönt, wodurch sich das „Schlößchen“ reizend von den umgebenden grünen Bäumen abhob.
Geradezu Bewunderung erregten aber die Pferdeställe. Es erschien zum Zweck ihres Ausbaues ein Lieferant aus Berlin, der rasch alles ausmaß und in kürzester Zeit das Innere derartigen Veränderungen unterwarf, daß die Einwohner von C., und unter ihnen besonders alle Sportfreunde, neugierig herbeigeeilt kamen, um diesen Musterstall in Marmor, Mahagoni und Gußeisen in Augenschein zu nehmen. Es hieß, die ganze Einrichtung sei auf einer der letzten Weltausstellungen prämiiert worden. Und dann trafen endlich auch die Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände ein.
Der Tapezierer berichtete Wunderdinge von den Gemälden, Bildern, ausgelegten Schränken, Bronzen und sonstigen kostbaren Kunstsachen. Die Portièren und Gardinen waren meistens aus geblümtem chinesischem Seidenstoff gefertigt, und kein Tisch, kein Stuhl befand sich in der Sendung, der nicht hätte als ein Musterstück gelten können. Aber—und das erfüllte den Handwerksmeister mit gerechtem Erstaunen—fast nichts war heil und ganz, mit Ausnahme der ohne Zweifel dem Gebrauch des Grafen dienenden Möbel. Eine solche Beschädigung konnte nicht durch den Umzug entstanden sein, sie war sicher das Ergebnis einer grenzenlosen Unordnung und Vernachlässigung.
Auf geschehene Meldung und Anfrage erfolgte keine Antwort, wohl aber erschien nach einigen Tagen der Haushofmeister, ein hagerer, ernst dreinblickender Mann, der erklärte, daß die gräfliche Familie ihm auf dem Fuße folge und jetzt keine Zeit mehr für Reparaturen vorhanden sei. Diese müßten später vorgenommen werden.
An einem Maitage des Jahres 1867 traf die Familie ein. In ihrem Gefolge befand sich eine große Dienerschaft und neben zahlreichen edlen Pferden, auch ein paar herrliche Hunde, die beim Abladen der schier unzähligen Koffer einen gewaltigen Lärm anstimmten und von der graziösen Frau, die mit sechs schlanken Kindern dem Wagen entstieg, wie nach langer Trennung gehätschelt und geliebkost wurden. Sie vergaß darüber das Haus und den Eintritt, bis sie die Augen aufschlug und bei dem Anblick der Villa und des Parkes ihrer frohen Überraschung in lebhafter Weise Ausdruck verlieh. Dabei redete sie auch ihre Dienerschaft an und ermunterte diese, in ihre Bewunderung einzustimmen.
Währenddessen war der Rittmeister in das Haus getreten und rief aus einem Fenster des Hochparterre ungeduldig und streng:
„Ange, komm nun doch und kümmere Dich um die Kinder!“
Etwas Eigenartigeres als diese konnte man nicht sehen. Eins war schöner als das andere. Alle waren blond, aber das Haar hatte jenen goldig schimmernden Anhauch und die Körperhaut jene unnachahmliche Farbe, welche wir an den Menschen des Nordens im Gegensatz zu den Bewohnern des Südens bewundern. Wie schon ein Sonnenstrahl seine Spuren auf dem Milchweiß der Blonden zurückläßt, so flammt auch sichtbarer, und durch den rosenfarbenen Schimmer reizvoller, das Blut durch die Wangen dieser von der Natur bevorzugten Geschöpfe.
Wenn Mutter und Kinder beisammen standen, konnte man sie für Geschwister halten. Frau von Clairefort glich einem menschgewordenen Engel; sie trug mit Recht ihren Namen. Und sie ging auch mit ihren Kindern um, als sei sie selbst noch ein unselbständiges Wesen. Sie blickte sie erstaunt und in ein plötzliches lächeln ausbrechend an, sie tummele sich mit ihnen und lag spielend auf dem Teppich, auf welchem auch die Hunde umhersprangen. Fehlte dies oder das, so riß sie wohl ein Tüchelchen von ihrem vornehm gebauten Hals, statt das fehlende Garderobestück herbeizuholen; und wenn die Kinder sie küßten und um Freiheit bettelten, statt nach der Anweisung der Gouvernante an die Schularbeiten zu gehen, lief sie gar mit ihnen fort und versteckte sich und jene vor den drohenden Stirnfalten der Erzieherin.
Morgens ruhte sie mit der ganzen herbeigeeilten Schar in einem spitzenbedeckten Bett und ließ sich umhalsen und hätscheln. Es war, als ob der eben erwachte Frühling seine Kinder um sich versammelt habe. Was so bezaubernd wirkte, war der naive, unbewußte Liebreiz aller dieser zartgearteten Menschen, und doch war die Gräfin Ange so stählern abgehärtet, ward so wenig beeinflußt von jedweder Anstrengung, daß sie den Schlaf fast wie eine überflüssige Gewohnheit an sich herantreten ließ.
Wo sie erschien, ward alles hell, denn ihr süßes Gesicht, ihre klugen Augen, ihre anmutigen Gebärden, ihr silberhelles Lachen und ihre durch keine Künstelei beeinflußte lebhafte Fröhlichkeit riß die Umgebung fort. Und doch war's niemals eine närrische Laune, von der sie sich leiten ließ, und ihr nicht erst durch Grübeln geweckter Verstand kleidete jeden Gedanken in eine graziöse Form. Ihr Ernst war so tiefsinnig und ihr Urteil über Menschen und Dinge oft so zutreffend, daß man es nicht für möglich hielt, dieselbe Frau habe eben mit kindlich-hilfloser Naivetät die tausend Unarten ihrer kleinen Schar ertragen, sich zuletzt machtlos in einen Winkel vergraben und bitterlich ausgeweint.
„Bitte, bitte, sei artig, Carlitos,“ flehte sie, und trotzig warf Carlitos den stolzen Kopf in den Nacken und beging dieselbe Unart. Aber zornig gegen ihre Engelschar konnte sie überhaupt nicht werden, viel weniger hatte sich ihre Hand jemals zum Schlage gegen diese erhoben, obgleich Ange mit ihrem starken, gestählten Handgelenk das wildeste Pferd zu zähmen imstande war. Reiten und Fahren war Ange Claireforts Leidenschaft. Sie hatte den edelsten Renner im Stall, und nicht minder zärtlich klopfte sie den Hals von „Blitz“, ihrem Lieblingspferd, als die schlanken Glieder ihrer beiden Windhunde.—
Carlitos, der Älteste, war ein wilder, schlanker Bursche mit vielen impertinenten Sommersprossen auf der feingeschnittenen Nase und mit dunklem, gleichsam boshaft leuchtendem Haar in rotem Schimmer. Dann kamen Zwillinge, zwei Mädchen von einer solchen sanften Schönheit und so mädchenhaft in der Erscheinung, daß die Menschen auf der Gasse stillstanden, um ihnen nachzuschauen.
Diesen folgten wieder zwei Knaben. Sie hatten lange, in der Mitte gescheitelte goldblonde Haare, waren tannenschlank gewachsen, lebhaft, ausgelassen, aber doch voll Herzensgüte und schüchtern gegen Fremde. Wenn sie bisweilen mit ihren vornehmen Gesichtern so scheu dreinblickten, ward man unwillkürlich an die Söhne Eduards erinnert.
Die kleine Ange war das Ebenbild der Mutter, nur erschien sie fast noch graziöser. Eine Elfengestalt, dabei träumerisch, für sich, und mit jenem vorwurfsvoll-ernsten Ausblick, der zögern läßt, sich solchen Kindern zu nähern.
Nach vier Wochen redete man in C. von nichts anderem als von dem Grafen Clairefort und seiner schönen Gemahlin. Die bösen Reden waren verstummt, nachdem man sie ein einiges Mal gesehen hatte. Der Graf entsprach dem Bilde, das man sich von ihm gemacht hatte. Er war nur noch zurückhaltender, als er geschildert ward. Man fand einen äußerst aristokratischen, wortkargen, aber im Verkehr mit den feinsten Manieren ausstatteten Mann, der es mit seinen militärischen Obliegenheiten so streng nahm, daß diese Strenge an Härte streifte. Natürlich zerbrach sich auch alle Welt den Kopf, wie wohl zwei so verschieden geartete Menschen miteinander lebten. Stärkere Gegensätze waren nicht denkbar. Er ein ernster, pedantischer, kränklicher Mann, dem sich zu nähern, Überwindung kostete, und der in seinen Gedanken, Anschauungen und Lebensgewohnheiten völlig von dem Durchschnitt der Menschen abwich. Sie dagegen ein frisches, gesundes, liebenswürdiges, ein naiv-kluges Geschöpf, mit einem hinreißenden Temperament und einer nicht minder hinreißenden, ja gefährlichen Schönheit; dazu sorglos, ganz von dem Eindruck des Augenblicks beherrscht und oft spottend allen Regeln der eingebürgerten Sitte.
Wenn sie etwas besonders anregte oder beschäftigte, wenn sie zum Beispiel ausreiten wollte, vergaß sie alles. Da gab's keine Innehaltung einer Zusage oder Verabredung. Da schwiegen alle gewöhnlichen häuslichen Pflichten, da verfingen nicht die strengen Mienen des Grafen. Sie flog ihm an den Hals und herzte ihn.—„Laß, laß, Schatz!—Sei gut, gieb mir meinen Willen.—Du weißt ja doch, daß Du mir nichts abschlägst.—Weshalb mich quälen?—Nein?—Du versagst mir die kleine Freude?—Dann küsse ich Dich niemals mehr auf Deine treuen Hände, auf Deinen verschwiegenen Mund!“—Und ehe er sich's versah, ehe er es hindern konnte, schlang sie sich zu ihm empor und liebkoste seine Wange.
Oft mußten die Kinder helfen, diese wilden, zarten, sanftmütigen Geschöpfe in ihrem seltsamen Gemisch. Und sie thaten alles, was sie wünschte; immer nahmen sie für ihre Mama Partei und umringten den bleichen ernsten Mann, bis sich zuletzt ein Lächeln um den geschlossenen Mund stahl. Und dieses Lächeln war Zustimmung.
„Wenn Du wüßtest, wie schön Du bist, wenn Du lächelst,“ sagte Ange oft: „warum bist Du doch immer so ernst, so bärbeißig, Lieber! Bin ich nicht um Dich, Ange Clairefort, geborene Butin, Herrin auf Schwarzensee und Dürenfort?“ Dazu lachte sie und stolzierte, ihm Kußhände zuwerfend und hinter sich schauend, als ob sie ihre Schleppe betrachte, von dannen. Er neigte dann schwermütig das Haupt und zog sich in seine Gemächer zurück. Oft war's, als ob der strenge Soldat sich vor dem Kinderlärm und der ausgelassenen Unart seiner Umgebung flüchte, als ob jeder Nerv in ihm zucke, ihm Ruhe und Einsamkeit allein wohlthue.
In der That hatten Claireforts schon viel Herzeleid erfahren. Sie verloren beide früh ihre Eltern und standen ohne Verwandte in der Welt. Des Rittmeisters Stammvorfahr, ein Franzose, war nach Deutschland übergesiedelt, um seiner Gemahlin, einer Rheinländerin, zu folgen, und die Butins, wenn auch seit Menschengedenken in deutschen Gauen ansässig, stammten ebenfalls aus französischem Blut. Gerade als Clairefort um die alleinstehende, blutjunge Baronin von Butin anhielt, starb ihr bisheriger Vormund, und dies veranlaßte die später Mündigwerdende, die Gutsbesitzungen zu veräußern; den Erlös brachte sie ihrem Manne als Mitgift in die Ehe.
Claireforts hatten ihre Besuche gemacht und empfingen solche. Es nahm sehr für sie ein, daß sie ihre Visiten nicht auf den vornehmeren und engeren Kreis beschränkten, in welchem die übrigen Familien verkehrten; sie gaben auch ihre Karten bei den angesehenen Einwohnern der Stadt ab und entzückten durch ihre Liebenswürdigkeit alle Welt, mit der sie in Berührung traten. Besonders lebhaft aber entwickelte sich der Verkehr zwischen den unverheirateten Offizieren der Garnison und den Neuangekommenen. Nach wenigen Wochen waren diese fast tägliche Gäste der Villa, in der stets ein Frühstückstisch bereit stand und in der man—auch unangemeldet—immer eine vortreffliche Tafel mit auserlesenen Weinen fand. Es vollzog sich dort alles wie durch Zauberhand geschaffen, und doch war Ange die denkbar schlechteste Hausfrau.
Aber Ernst Tibet, der Kammerdiener, sorgte für alles. Dieser Haushofmeister war ein Mustermensch. So unruhig und wenig umsichtig, so ungleich und lebendig die Gräfin, ebenso ernst, besonnen und zuverlässig war Tibet, ein Mann mit angeborener Würde und höflicher Zuvorkommenheit zugleich.
„Tibet, bester, goldener Tibet, was beginnen wir? Eben haben sich zehn
Personen angesagt! Die Uhr ist zwei! Um fünf wollen wir speisen!“
„Es wird alles nach Ihren Wünschen sein, Frau Gräfin,“ erwidert Tibet, verbeugt sich und geht seiner Arbeit nach.
Und wenn Tibet das sagt, dann kann wohl eine kleine Welt einstürzen, aber wenn sie nicht einstürzt, ist alles auf die Minute, wie er versprochen.
Seltsamerweise bekümmerte sich auch der Graf nicht um das Haus, wenig auch um die Kinder, ebensowenig um seine schöne Ange. Man fragte sich oft, was eigentlich ihn beschäftige, wofür er sich interessiere, welche Gedanken hinter seiner hohen Stirn auf- und abwandern möchten. Niemand vermochte darauf eine zutreffende Antwort zu geben. Es blieb ihm außer seiner dienstlichen Beschäftigung noch viel Zeit, aber man fand ihn weder häufig lesend noch schreibend. Er saß meistens zurückgelehnt in einem alten Erbstuhl des fünfzehnten Jahrhunderts, der vor seinem Schreibtisch stand, stäubte die Bücher und die vielen kleinen Nippesgegenstände ab, rauchte, erhob sich wohl einmal, griff sich, wie um einen Schmerz zu bannen, an den Kopf, schaute in den blühenden Garten und grübelte weiter über etwas, was keiner zu ergründen vermochte.
Tibet war jeden Tag eine Stunde, oft länger bei ihm. Er legte Rechnungen vor, holte sich Anweisungen, empfing Geld, brachte solches, mußte auch wohl Briefe schreiben, Telegramme besorgen und Gänge machen, über die er nie Auskunft gab. Tibet war alles in allem, auch bei dem Grafen, und niemandem begegnete dieser so höflich wie seinem Kammerdiener, wenn er auch ihm gegenüber die Formen beiseite ließ.
Unter den Offizieren, die im Clairefortschen Hause verkehrten, befand sich ein Rittmeister mit Namen von Teut. Alle Welt war erstaunt, daß dieser allem Familienverkehr abholde, nur seinem Dienst, dem Pferdesport, der Jagd und starken Gelagen geneigte, keineswegs mehr junge Mann das Haus des Grafen aufgesucht hatte. Ange war die Veranlagung gewesen. Bei einem Diner, welches der Oberst gab, zwang sie ihn, sich mit ihr zu beschäftigen, wies ihm scherzend nach, daß sie vom Urgroßvater her ein wenig verwandt seien, und fesselte ihn in solchem Maße, daß er beim Nachhausegehen gegen seine Umgebung in die Worte ausbrach: „Schön wie eine Rose, klug wie ein Pferd, naiv wie ein Kind, zudem eine Dame—ein vollendetes Geschöpf!“
Von Teut war ein seltsamer, unberechenbarer Mensch im Verkehr, aber nach übereinstimmendem Urteil ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Sein Reichtum erlaubte ihm die Ausübung der kostspieligsten Liebhabereien. Zu diesen gehörten vor allem Jagd und Pferde. Und dieser Umstand genügte allein schon, sich Ange Clairefort zu nähern.
Oft schlug er eine Kleinigkeit ab, war unduldsam gegen seine Umgebung, und dann, wenn ihn Laune oder Herzensdrang trieben, verschenkte er große Summen. So hatte er einmal einem Kellner im Kasino, der sich selbständig machen und heiraten wollte, ein nicht unbedeutendes Kapital darlehensweise überlassen, und als der erste kleine Weltbürger erschien und jener ihn als Pate einlud, sandte er ihm den quittierten Schuldschein und schrieb darunter:
„Axel von Teut sendet Axel Dorn diese Patengabe und hofft, daß er einst ein braver Bürger und—kommt Zeit und Anlaß—auch ein treuer Königssoldat sein wird.“
Als dies bekannt wurde, sah sich Teut mit Bittschriften überschüttet. Da las man eines Tages in der Zeitung:
„Fortan lasse ich alle Bitt- und Bettelbriefe uneröffnet zurückgehen.
Man spare sich die Mühe! Wer meint, ich säh's ihnen nicht an, irrt sich.
Eine solche Übung, wie ich sie habe, macht erfahren.
Baron von Teut-Eder,
Rittmeister und Eskadronschef.“
* * * * *
Beim Oberst war eine große Fête angesagt. Ange begann auch heute mit ihrer Toilette zu einer Zeit, in der andere Frauen bereits die Handschuhe knöpfen und das Kopftuch um das Haar schlingen. Das kannte Clairefort, seit ihm das schöne Fräulein von Butin das Jawort gegeben, und das ertrug er mit jener Resignation, die entweder einer starken Selbstbeherrschung entspringt oder die sich zuletzt in das Unvermeidliche machtlos fügen muß.
„Ange, bist Du bereit? Schon seit einer viertel Stunde wartet der
Wagen!“ rief der Rittmeister und klopfte ungeduldig an die Thür.
„Gleich, gleich, bester Carlos!“ schmeichelte Ange zurück, huschte freilich erst in diesem Augenblick aus ihrem Hauskleid und steckte, da sie das unruhige Auf und Ab ihres erzürnten Tyrannen hörte, auf einen Augenblick das Köpfchen durch die Öffnung, um ihn mit einem ihrer bezaubernden Blicke zu beruhigen.
Das Gemach, in welchem Ange ihre Toilette machte, glich bezüglich des hastigen und bunten Durcheinander dem Ankleidegemach einer Bühnenkünstlerin. Hier waren Schubladen geöffnet, in denen die Gegenstände wild durcheinander geworfen waren, dort lagen auf Diwan und Stühlen Ballkleider und Spitzenröcke. Wenige Minuten hatten hingereicht, um hier und in die Garderobenschränke eine heillose Verwirrung zu bringen. Aber immer war diese lebhafte, unruhige und der Zeiteinteilungen spottende Frau in ihrer Erscheinung gleich reizend. Wo war der Künstler, um diesen feingeschnittenen Kopf mit dem tief auf die Schultern herabgefallenen Seidenhaar zu malen, diese zarte, in den Formen vollendete Fülle, dieses entzückende Weiß des Nackens, der Arme, der Hände, vornehmlich aber diesen wahrhaft bezaubernden Körperwuchs mit seinen vornehmen Linien?
Bei der Hast, mit der Ange selbst Hand an die Toilette legte oder ihre Umgebung anwies, röteten sich ihre Wangen, die feinen Nasenflügel vibrierten und ihre Kinderhände zupften, zerrten und knöpften an den durchsichtigen, spitzenbesetzten Gewändern umher, als ob tausend unruhige Funken aus ihren Fingern sprühten.
Während ihr Haar geflochten ward, saß sie vor dem Trumeau, öffnete den Mund, betrachtete mit kindlicher Neugier die untadelhaften Reihen ihrer unter dem Rosarot hervorschimmernden Zähne und lachte in den Spiegel hinein oder neigte mit leisem Aufschrei das Köpfchen vor dem ungeschickten Strich des Kammes in dem widerspenstigen Haar. Und dabei erschienen auch Füßchen, die einem Kinde anzugehören schienen und die nun von der Jungfer mit seidenen Schuhen bekleidet wurden.
Als Ange endlich auch in das kostbare pfirsichfarbene Kleid eingespannt war, als sie durch das Zimmer schritt und die einer Königin würdige Schleppe hinter ihr herrauschte, als endlich alle die Perlen und Diamanten in ihrem Haar und an ihrer Brust, die blitzenden Agraffen an dem Stoffe befestigt waren, sahen selbst die Dienerinnen mit einem Blick der Bewunderung auf das Kunstwerk, das unter ihren Händen entstanden war.
„Sieht's gut aus? Sitzt die Taille?“ fragte Ange naiv, und ein glückliches Lächeln flog über ihr Gesicht, als jene lebhaft bestätigten, was sie zu hören wünschte.
„Ange, Ange!“ klopfte es nun abermals. „Die Uhr ist halb neun, und Du bist noch nicht—“
„Ich bin fertig, lange fertig, Carlos! Ich warte ja auf Dich!“ rief sie, blinzelte den Frauen bei ihrer unschuldigen Lüge lächelnd zu und öffnete die Thür.
Aber nun kamen noch die Kinder, die doch eigentlich im Bett liegen sollten. Jorinde weinte und Ben stand mürrisch da. Allerlei Wünsche wurden laut.
„Gewiß, gewiß, sei ruhig, mein Liebling! Ja, ja, Carlitos!—Ah, mein
Riechfläschchen und der Fächer, Maria!—Wie, was? Ja, gleich!“
Sie eilte fort und suchte in irgend einer Schublade nach den Bonbons und
Leckereien, mit denen sie ihre ungeduldige Schar zu beruhigen pflegte.
„Nehmen Sie die Schleppe, Rosa!—Ich komme ja, ich komme, Carlos, geh nur voraus!“
Nun mußten die Kinder noch einmal umarmt und geküßt werden. Ein
Handschuhknopf war abgesprungen, auch eine Naht beim hastigen Anziehen
gerissen. „Schnell ein anderes Paar! Im Schubfach links! Fleischfarbene,
Maria, fleischfarbene! Hörst Du?“
Ange eilte hinab. „Endlich!“ sagte Carlos. „Vorwärts!“
Der Diener, die Hand am Hute, schlug den Wagen zu und schwang sich auf den Bock.
„Halt! halt—noch einen Augenblick!“ rief Ange und klopfte ungestüm an die Scheiben. Die Jungfer kam atemlos mit den Handschuhen. „Zu Befehl, Frau Gräfin!“
So, nun raste endlich der Wagen mit dem Grafen und Ange davon, und die Dienerschaft wandte sich ins Haus zurück. Auf dem Flur, auf der Treppe wehte noch der Duft ihrer Gewänder. In allen Zimmern brannten die Kandelaber—überall die Spuren ihrer lebhaften Unruhe. Die Kinder schmollten, daß sie nun, weniger rücksichtsvoll angehalten als vorher, ins Bett getrieben wurden: und ins heiße, schwüle, von Parfüm erfüllte Ankleidezimmer der Gebieterin, in dem ein halb Dutzend goldene und silberne Leuchter entzündet waren, in welchem die geöffneten Schmuckkästchen mit all ihren zurückgebliebenen Herrlichkeiten achtlos umherstanden und in dem die Luft, die eine schöne, vornehme Frau ausatmet, wie ein unsichtbarer Hauch die Gegenstände zu umhüllen schien, traten die Frauen, um alles an seinen Platz zu bringen.—
Unwillkürlich verstummte das laute Gespräch in den Sälen, unwillkürlich traten die Reihen der Gäste zurück und unwillkürlich mußten auch die eifersüchtigsten Frauen emporblicken, als die Gräfin Ange von Clairefort an der Seite ihres Mannes die Räume in dem Hause des Obersten betrat. Es giebt Frauen, deren Erscheinung in der Gesellschaft wirkt, als ob plötzlich ein Schwan mit lautem Flügelschlag vorüberrauscht.
Ange war nach wenigen Minuten umgeben und umschwirrt von der halben Gesellschaft. Nein, von der ganzen Gesellschaft! Denn diejenigen, die sich ihr nicht näherten, fanden nur nicht den Mut, der schönen, strahlenden Frau auszudrücken was sie bei ihrem Anblick empfanden. Immer birgt die Gesellschaft Zaghafte; sie werden nie aussterben; sie bleiben und gleichen Kindern, welche nur nach wiederholter Ermunterung ein Händchen reichen.
Ange hörte, daß man allein auf sie gewartet habe. Sie rief ein bedauerndes „O! o!“ huschte zu der Frau des Obersten und stellte ihr durch die bezaubernde Art ihrer Abbitte rasch die gesunkene Gesellschaftslaune wieder her. Und da sie in der Zerstreuung den ersten Tanz nicht vergeben hatte und dies zu ihrer freudigen Überraschung bemerkte, schlüpfte sie durch die sich drängenden und sich arrangierenden Paare bis zum Gastgeber und legte sanft den Arm in den seinigen.
„Gnädige Frau?!“
„Den ersten Tanz habe ich wohl ein dutzendmal abgeschlagen, Herr Oberst, da ich ihn für Sie bestimmt hatte. O, ich bitte, kein Refus! Es ist ja eine Polonaise.“ schmeichelte sie und zog den nur leise Widerstrebenden mit sich fort.
Selten mischte sich Ange in die Reihen der Tanzenden, ohne daß die pausierenden Paare ihr zuschauten. Man mußte sie ansehen, denn eine Grazie schien sich unter die Menschen gemischt zu haben.
Nichts Anmutigeres konnte es geben, als sie einen Walzer tanzen zu sehen, wenn das ihr eigene, halb verlegene, halb glückliche Lächeln über die sanften Züge flog und sie das Köpfchen zur Seite neigte. Es lag in dieser Zurückhaltung gleichsam eine Andeutung, daß sie sich zwar jeder Laune ihres Tänzers füge, doch nur dem Zwange folgend, ihm erlaube, den schlanken Leib zu umfassen. Sobald sie sich aber aus dem Arm ihres Kavaliers gelöst hatte, verschwand diese fast mädchenhafte Schüchternheit, und ihr lebhaftes Temperament riß sie wieder fort. Sie schwatzte, lachte und zeigte ein schelmisches Gesicht, sie nickte und hörte mit neugieriger Aufmerksamkeit zu.
Beim Souper richteten sich abermals aller Augen auf Ange. Eine feine Blässe war auf ihr Gesicht getreten. Der wunderbare Abstand der dunklen Augen und Augenbrauen gegen das Goldblond ihres Seidenhaares wirkte neben dem mattseidenen, an dem Ausschnitt mit echten weißen Spitzen besetzten Kleide so überraschend schön, daß man den Blick nicht von ihr zu wenden vermochte. Und dabei funkelten und blitzten die Steine an Hals und Ohren, und oft zitterte ein wahrer Sprühregen aus den Diamanten, mit denen ihr Haupt geschmückt war.
Die Menschen fühlten sich geehrt und beglückt, wenn Ange sie mit ihren treublickenden Augen ansah, und ihre Bescheidenheit machte es unmöglich, daß häßliche Regungen der Mißgunst neben ihr emporstiegen.
Nach Aufhebung der Tafel, nachdem der Champagner Ange ganz in ein fröhliches, nur von der Lust beherrschtes Kind verwandelt hatte, als die ersten Takte eines stürmischen Galopps vom Saale herüberklangen, hielt es sie nicht mehr neben dem Gastgeber, und mit einem seine Verzeihung einholenden Blick entschlüpfte sie, um einem jüngeren Kavalier zu folgen.
Einmal riß eine Perlenschnur, und die kostbaren Schätze rollten unter die Tanzenden. Ein kleines Vermögen stand auf dem Spiel, Ange jedoch lachte und nahm mit entschuldigendem Dank entgegen, was eifrig Suchende gefunden hatten und ihr überreichten.
Wiederholt drängte der Rittmeister zum Aufbruch. Aber die Offiziere umstürmten die reizende Frau, und sie bat wie ein junges Mädchen, das zum erstenmal den Ball besucht, um Aufschub. Während sie davoneilte, guckte sie ihn über ihre Schulter an und holte sich durch bittende Blicke sein nachträgliches Jawort ein.
Und als sie endlich zurückkehrte und er, die zerrissenen Spitzen der Schleppe betrachtend, kopfschüttelnd dreinschaute, streifte sie rasch zu seiner Beruhigung die Handschuhe ab, lehnte sich mit einem: „Nicht schelten! Gut sein! Carlitos, bitte!“ an ihn und bettelte so lange, bis er ihr noch die kleine Abkühlungspause zugestand.
Von der Bewegung beim Tanzen war ihr Haar ein wenig gelockert und ein feines Strähnchen auf die Stirn gefallen, auch einige prachtvolle Rosen, die an ihrer Brust saßen und einen blitzenden Diamant umschlossen, hatten sich entblättert. Ihr Atem glühte, ihre Brust hob und senkte sich unter der zarten Seide, und während der Fächer in heftiger Bewegung war, neigte sie den Körper mit jener elastischen Biegsamkeit, die Frauen so verführerisch macht.
„Nein, komm, komm, Ange.“ drängte Carlos, von ihrer Schönheit hingerissen und nur von dem einzigen Gedanken beherrscht, sie den zudringlichen Blicken ihrer Bewunderer zu entreißen. Sein Auge ruhte mit einem eifersüchtig verlangenden Ausdruck auf ihr, und sie erwiderte seinen Blick mit jenen träumerischen Augen, mit denen sie ihm einst ihre Liebe verraten hatte.
„Ach, es war himmlisch! Ich habe mich prachtvoll amüsiert! Schade, daß es schon vorüber ist!“ seufzte die junge Frau, als sie, nach Hause zurückgekehrt, sich in sanfter Erschöpfung in einen Sessel zurücklehnte. „Aber Du, Armer, hast Dich gelangweilt! Nicht so, Carlos?“
Sie sah ihn zärtlich an. Er schüttelte schwermütig das Haupt und sagte:
„Nicht doch, Ange!“ Und nach einer Weile flüsterte er leise: „Hast Du mich noch lieb, Ange?“
Da stand sie auf und flog ihm an den Hals.
* * * * *
Acht Monate waren vergangen. Teut war ein täglicher Gast im Clairefortschen Hause geworden, verkehrte mit Frau Ange und der Familie, als ob er sie von Kindesbeinen an kenne, und schien überhaupt von Claireforts fortan unzertrennlich. Dieser engere Verkehr führte mit sich, daß er bald in alle Verhältnisse eingeweiht wurde, und daß man ihn, da er neben seiner Einsicht eine entschiedene Art an den Tag legte, auch häufig um Rat fragte. Aber er nahm sich in seiner ehrlichen und derben Weise auch die Erlaubnis, zu tadeln.
„Schlecht, mordschlecht erziehen Sie die kleine Gesellschaft!“ rief er Ange kopfschüttelnd zu, wenn die Kinderschar—ungezogen und trotzköpfig—ihren Höllenlärm anstimmte, die Möbel mit Stöcken und Peitschen bearbeitete und gar auf dem Teppich des Wohnzimmers mit Sand wirtschaftete. Die Dienerschaft war machtlos, denn sie fand keine Unterstützung bei der Gräfin. Entweder erließ sie Verbote, deren Zurücknahme sie sich im nächsten Moment wieder abbetteln ließ, oder sie tröstete Jorinde und Erna, wenn diese von der Gouvernante eine Strafe erhalten hatten.
Nun war eben das Mobiliar—ein Gemach nach dem anderen—neu aufgeputzt, zum Teil mit kostbaren Stoffen überzogen, alles mit einem wahrhaft verschwenderischen Luxus hergestellt worden, und schon zeigten sich deutliche Spuren von übermütigen Gewaltthätigkeiten. Der Graf war mehrmals in einen heftigen Zorn ausgebrochen, hatte Ange ihren Mangel an Ordnungsliebe und ihre grenzenlose Schwäche gegen die Kinder in den härtesten Worten vorgeworfen. Hin und wieder rief er den schnell liebgewonnenen Freund und Vertrauten zum Zeugen an, wie unvernünftig, wie unverständig seine Frau sei und wie ihn ihre Eigenschaften mit den Rückwirkungen auf die Kleinen zum Tadel reizen müßten.
Einmal brach es ungestüm aus ihm heraus, als Teut seine Bewunderung über Ange ausdrückte. „Ja, Freund,“ rief er, „Sie sind nicht mit ihr verheiratet! Sie erfreuen sich an dem Guten, das sie Ihnen entgegenträgt, und schütteln das Unbequeme leicht ab, um so leichter, als Sie nur indirekt davon berührt werden! Ich aber lebe täglich, stündlich mit ihr, ich kämpfe seit Jahren gegen ihre Schwächen ohne Erfolg und habe doch für alles die Verantwortung zu tragen! Ange würde jedes Jahr eine Million verschenken, wenn sie dieselbe zur Verfügung hätte, und eine ganze Weltordnung in Verwirrung bringen, wenn sie über den Wolken herrschte! Jeder ruft mir entgegen: Welch ein reizvolles Geschöpf! und jeden Tag werde auch ich entwaffnet durch den Zauber ihrer Liebenswürdigkeit. Aber sie bringt vermöge ihrer untilgbaren, durch eine grenzenlos verkehrte Erziehung hervorgerufenen Fehler den ruhigsten, besonnensten und geduldigsten Mann zur Verzweiflung. Die größten und besten Eigenschaften eines Menschen verwandeln sich in das Gegenteil, wenn ihnen das Maß fehlt. Sanftmut und Liebenswürdigkeit sinken zur Charakterlosigkeit herab, Herzensgüte wird Thorheit, Geist und Verstand streifen an Insanie und je schöner die Hülle, desto größer der Schmerz, daß sich unter so vollendeten Formen ein so ungeordneter Geist verbirgt.“
„Sie übertreiben, Clairefort!“ rief Teut warm. „Ihre Frau ist ein Engel! Ihre Fehler sind nicht so schlimmer Art; ja, ich behaupte, sie sind auch Tugenden! Weint sie nicht wie ein Kind, wenn man ihr vom Unglück berichtet, möchte sie nicht stets helfen? Hilft sie nicht? Ist sie nicht rührend besorgt um ihre Kinder und sitzt sie nicht wie jüngst, als Carlitos krank war, Tag und Nacht an ihrem Bett? Ist sie nicht stets liebevoll gegen Sie, Clairefort, sieht sie nicht zu Ihnen empor wie zu einem Höhergearteten und nimmt jeden Tadel, jedes Scheltwort ohne Murren entgegen? Ist sie nicht ohne Beispiel selbstlos? Verlangt sie je etwas für sich? Ist es nicht nur immer der Gedanke an andere, der ihre Entschlüsse bestimmt? Sah man je ein so glückliches Gemisch von natürlichem Verstand und Herzensgüte?—Ja, sie ist sorglos, kannte nie eine Einschränkung, weiß nichts von materiellen Sorgen, giebt mit vollen Händen, oft vielleicht unverständig—“
Hier unterbrach Clairefort den Sprechenden, und indem er ihn mit einem Blick anschaute, durch den man eine vertrauensvolle Äußerung einzuleiten und sich Verschwiegenheit zu sichern pflegt, sagte er:
„Nein, nein! Immer, immer unverständig! Maßlos, Freund! Ihre
Verschwendung ist grenzenlos. Wie soll das überhaupt werden? Unter uns:
Wenn das meine Frau noch einige Jahre so forttreibt, bin ich ruiniert.
Schon lange war ich gezwungen, mein Kapital anzugreifen.“
Teut schwieg. Was er hörte, überraschte und beunruhigte ihn aufs höchste. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, weshalb der Mann, wenn die Dinge so lagen, sein Hauswesen, seine Geselligkeit nicht einschränke, die zahllose, meist überflüssige Dienerschaft nicht entlasse und Ange, die ihrer Eigenart nach auch in einfacheren Verhältnissen zufrieden leben würde, die Gelegenheit nähme, so thöricht zu wirtschaften. Aber er fand sich doch nicht berechtigt, dergleichen auszusprechen, und während seines Schwankens kam ihm Clairefort zuvor:
„Ich weiß, was Sie mir erwidern werden, Teut,“ hob er, unter der Bestätigung seiner Gedanken wiederholt das Haupt bewegend, an. „Sie meinen, ich sei nicht minder schuld als Ange. Wir könnten uns anders einrichten und dadurch Einnahmen und Ausgaben in das richtige Gleichgewicht bringen. Auch Tibet drängt mich seit Jahr und Tag, aber dann—dann—“
Er hielt inne. Ein ängstlich unschlüssiger Ausdruck trat in seine
Mienen, und nur mit Überwindung lösten sich die Worte aus seinem Munde:
„Sehen Sie! Es wird Ihnen rätselhaft erscheinen,“ fuhr er endlich abgerissen und in Pausen sprechend, fort. „Ich liebe meine Frau grenzenlos. Ich fürchte dann—ich fürchte—daß sie sich mir entfremden könnte. Eine unbeschreibliche Angst überfällt mich, ich könnte ihre Liebe einmal verlieren—durch einen Wandel der Verhältnisse. Ich sinne selbst ratlos darüber nach, was in meiner Seele vorgeht. Tausend Gedanken bestürmen mich. Oft habe ich schon gedacht: Wenn sie doch einmal das Leben so liebt—ich möchte es ihr erhalten—ihre Fröhlichkeit ist doch lauter Sonnenschein;—und dann—dann—möchte ich, daß sie der Himmel früh zu sich nähme, damit sie Sorge und Kummer nie kennen lernt. Aber kann man eines geliebten Menschen Tod wünschen? Das ist doch unfaßbar. Ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Ich möchte ändern und vermag es nicht—vermag es durchaus nicht. Die Schwächen, die meiner Liebe entspringen, sind größer als meine bessere Einsicht.“
Teut saß stumm und schaute vor sich nieder, denn neben ihm seufzte der Mann in tiefer Bewegung auf.—Welch ein Einblick in das Seelenleben eines Menschen. Voll Klarheit, ja voll Ungeduld und Tadel über unhaltbare Zustände, und doch aus eifersüchtiger angstvoller Liebe zu schwach, um beizeiten ein zweifellos hereinbrechendes Unglück von sich, seinem Weibe und seinen Kindern abzuwenden?!
Einmal zuckte Teut unbehaglich zusammen, denn plötzlich stieg die Zukunft vor ihm auf. Die unabweisbaren Folgen solcher Verhältnisse traten unheimlich vor seine Seele. Vielleicht war ihm in dem Clairefortschen Hause eine große, undankbare Aufgabe beschieden, und jene Selbstliebe, die Unbequemes von sich stößt und nur unbehelligt genießen will, behielt die Oberhand. Was scherten ihn am Ende die fremden Menschen, dieser Mann mit seiner Unschlüssigkeit, seiner Melancholie und seinem ehelichen Unbehagen, diese in den Tag lebende Frau mit ihrer Unerfahrenheit und ihrem sorglosen Lebenswandel?
Aber das war nur eine schnell vorübergehende Regung. Er sprang auf, faßte Claireforts Hand und sagte:
„Und trotz alledem muß geschehen, was Sie für Recht erkennen, lieber Clairefort! Ich bin bereit, Ihnen zu helfen, soweit es in meinen Kräften steht. Soll ich einmal mit Frau Ange reden?“
Bei diesem Anerbieten bohrte sich ein eigentümlicher Blick aus den Augen des Grafen auf den Sprechenden. Aber zum Glück bemerkte Teut ihn nicht, und als die Männer nach längerer Auseinandersetzung schieden, ging jener unter dem Eindruck, daß Clairefort, selbst machtlos zum Handeln, die dargebotene Hand aufs dankbarste ergriffen habe.
Wohlan denn! Teut war beiden näher getreten als kaum anderen Menschen je zuvor; er liebte Ange und die Kinder, die deshalb ein Recht auf ihn gewonnen hatten. Er wollte handeln—handeln wie ein Mann, aber auch wie ein kluger, besonnener Mann!
* * * * *
Seit Stunden ging Teut in seinem Zimmer auf und ab. Immer neue Gedanken durchkreuzten sein Gehirn. Oft warf er sich in einen Stuhl, schlug nach seiner Gewohnheit, wenn ihn etwas erregte, heftig mit den Hacken seiner Reitstiefel aneinander und strich lebhaft seinen langen, blonden Schnurrbart. Die Backenknochen seines stark markierten, mageren Gesichtes traten scharf hervor, und fortwährend ließ er das Glas, das in seinem linken Auge steckte, fallen, um es im nächsten Augenblick wieder an seinen Platz zu schieben. Wenn dies, der neueren Zeit angehörende Monocle nicht sein Gesicht verunziert, und wenn er nicht den Husarenrock getragen hätte, würde man geglaubt haben, einen Ritter früherer Zeiten vor sich zu sehen. Diese hohe, wettergebräunte und schon etwas stark gefurchte Stirn, diese blitzenden, unheimlich kühnen Augen, dieser sarkastische Mund und dieser halbschlanke, große, starke, geschmeidige Körper erinnerten an die Gestalt eines Recken vergangener Jahrhunderte.
„Der Teufel werde klug aus der Geschichte!“ murmelte er, endlich sein
Sinnen unterbrechend, griff in eine Kiste mit schweren Cigarren,
entzündete eine, verschluckte den Rauch und stieß ihn in einer mächtigen
Säule wieder von sich.
In diesem Augenblick öffnete sein Diener Jamp die Thür und überreichte die Rechnung eines Blumenhändlers in Höhe von einigen hundert Thalern. Es war der aufgesummte Betrag für die frischblühenden Bouquets, welche Ange ausnahmslos jeden Tag in ihren Zimmern fand. Teut prüfte, zog das Schubfach und fügte der Zahlung ein reichliches Trinkgeld bei. Nun schloß sich wieder die Thür und nun waren auch Teuts Gedanken wieder bei Ange. Er rief sich die letzte Unterredung mit Clairefort ins Gedächtnis zurück und alles das, was vorhergegangen war. Oft erschien ihm wie ein Traum, was er in den letzten zehn Monaten erlebt, vornehmlich das, was er an sich selbst erfahren hatte.
Als jüngerer Offizier, kurz bevor ihm das Vermögen seines Vaters und seiner Geschwister zugefallen war, hatte er um ein junges Mädchen aus bürgerlichem Stande geworben und seine Heiratspläne unter Umständen aufgeben müssen, die ihm das weibliche Geschlecht verächtlich gemacht hatten. Er sah fortan in den Frauen nur ein Spielzeug, fast weniger als das.
Nun war er Ange Clairefort begegnet und liebte sie nach acht Tagen mit einer brennenden Leidenschaft.
Wenige Tage nach dem erwähnten Gespräch ritt er mit Ange aus. Es war ein wundervoller Herbsttag, einer jener Tage, an denen Frühling und Sommer noch einmal auf die verlangende Erde zurückzueilen und alle ihre Schönheit reifer und gemilderter zugleich über die Welt auszuströmen scheinen.
Die Sonne funkelte in den Bäumen, verwandelte mattes Gelb in glänzendes Gold und braune Blätter in goldkupfernes Metall. Die ganze Natur durchströmte sie mit einer durchsichtigen Helle, mit einer Klarheit, als sei jedes unreine Stäubchen von erfrischenden Lüften fortgeweht, und als seien diese selbst herabgestiegen aus kühlen, stillen Himmelshöhen.
Teut war kein Mensch, der sich jemals in Gefühlsäußerungen erging. Er empfand alles Schöne und Gute, aber es lag nicht in seiner Natur oder es fehlte ihm der Drang, seine Empfindungen in Worte zu übersetzen.
Anders Ange. Die sanften Farben auf ihren Wangen glühten, sie sog die Luft ein, hielt das seit einer Viertelstunde rasch dahintrabende Pferd an und warf einen fragenden Blick auf ihren Begleiter. Sie hatten, seitdem sie das Haus verlassen, kein Wort gewechselt. Niemals war Teut so stumm gewesen wie heute.
„Drüben!“ sagte er und zeigte auf ein kleines unter den Bäumen verstecktes Häuschen. Er hielt nicht, wie Ange, sein Pferd an.
„Weiterreiten?“ fragte sie, als ob sie ihn nicht verstanden. Sie ärgerte sich über seine formlose Art, die sie ihm schon häufig im stillen vorgeworfen hatte. Teut nickte, ohne etwas hinzuzufügen.
So erreichten sie beide—Ange in einer etwas unbehaglichen Stimmung—das Wirtshaus. Ehe der Stallknecht herbeieilen konnte, war Teut herabgesprungen und hatte Ange vom Pferde gehoben. Es war, als ob Christophorus das Jesukindlein über den Fluß tragen wolle. Wie ein zartes Püppchen lag sie ihm im Arm, und wie ein Riese setzte er sie nieder.
„Drüben ist eine herrliche Aussicht. Wollen wir gehen?“ fragte er artig und reichte ihr den Arm.
Aber sie dankte, schürzte das Reitkleid und schritt neben ihm durch einen linksseitig einbiegenden, mit Bäumen besetzten Weg. Nach wenigen Augenblicken berührten sie eine Kirche und einen Gottesacker. Es sah recht verwildert dort aus. Aus der zerbrochenen eisernen Einfriedigung hingen Schlingpflanzen in den Farben des Herbstes, und Unkraut wucherte auf den Gräbern. Dann stiegen sie eine leichte Anhöhe empor und schritten auf einen Eichenwald zu. Kleines, kurzes Gebüsch drängte sich über den Fußpfad, es ging unregelmäßig bergauf, bergab.
Endlich umfing sie der Herbstwald und die Kühle. Hier glänzte es hell durch die Bäume; lange, wundervolle Lichtstreifen lagen auf dem grünen Erdboden. Dort flimmerte es im dichteren Gebüsch, als ob kleine versteckte Sonnen vergeblich hervorzubrechen versuchten, und einmal, bei einem Durchblick zur Rechten, schauten sie in einen verlassenen, gänzlich abgeschlossenen, mit Gras dicht bewachsenen Feldweg, auf dem die Einsamkeit einen märchenhaften Schlaf zu träumen schien. Aber sie schritten weiter, erreichten endlich eine Bank auf einer von blätterreichen Eichen umstandenen Anhöhe, und sahen nun meilenweit ins Land.
Es ging ein sanftes Jubilieren durch die blaue, durchsichtige Luft. Die letzten Vögel zwitscherten, und riesige Lichtströme warf die Sonne über Wiesen, Felder und ferne Wälder. Hier und dort glitzerten Streifen eines in malerischen Windungen auftauchenden Flusses zwischen den sanft dahingestreckten Matten, als ob plötzlich die Erde ausgebrochen sei und flüssiges Silber seine Bahn suche.
Ange ward gedrängt, ihrem Entzücken Ausdruck zu geben, aber ihr
Begleiter war scheinbar noch ebenso mißmutig wie vorher.
„In welch schlechter Laune haben Sie mich heute begleitet?“ hob sie an und richtete ihren lebhaften Blick auf sein unbewegliches Gesicht.
„Nein!“ erwiderte er. „Aber ich habe einiges auf dem Herzen, und hier“—er lud sie zum Sitzen ein—„will ich Ihnen einmal sagen, wozu bisher stets der rechte Augenblick gefehlt hat.“
Die feine Röte auf Anges Gesicht wich einer leichten Blässe. Ein halb zaghafter, halb ungeduldiger Ausdruck stahl sich in ihre Mienen, und sie faßte die Reitgerte fester. Aber sie überwand sich und sagte ungezwungen:
„Wohlan, setzen wir uns und erzählen Sie mir etwas. Aber nichts, nichts
Unangenehmes heute, lieber Teut. Ein andermal. Ich bin fröhlich; weshalb
mir das nehmen? O, ich bin glücklich hier in dieser schönen Welt.
Bitte!“
Teut zuckte zusammen. Immer, wenn sie in diesem zärtlichen und bittenden
Tone sprach, zögerte er, ihr auch nur durch tadelnden Blick eine
Verstimmung zu bereiten. Wieviel besser verstand er jetzt Claireforts
Zaudern als ehedem! Dieses unschuldsvolle Kind mit seiner sorglosen
Fröhlichkeit und seiner Freude am Leben erschien ihm wie ein eben aus
der Hand des Schöpfers hervorgegangenes Kunstwerk. Und diesen reinen
Spiegel sollte er trüben, gar zersplittern? Aber einmal mußte es doch
geschehen. Er strich wiederholt den Schnurrbart und sagte endlich:
„Liebe Frau Ange! Hören Sie zu. Ich bitte Sie bei unserer Freundschaft darum.“
Etwas ganz Besonderes mußte es doch sein. In Anges Gesicht trat ein hilfloser Ausdruck, und ein eigener Glanz schimmerte in ihren sanften Augen.
„Ich höre!“ sagte sie leise und legte die Hände ineinander.
„Sehen Sie, liebe Ange—Darf ich Sie so nennen?“ Er wandte sich zu ihr, sah sie fragend an und über sein edles, männliches Gesicht flog ein hinreißender Zug von Herzensgüte. Und sie nickte mit einer Miene und bejahte mit einem Blicke, als ob sie ein Engel sei, der einem Sünder Gottes Verzeihung überbringe.
„Wir kennen uns nun schon fast ein Jahr. Durch Sie hat sich mein Leben fast ganz verändert. Ich hatte bereits von allem Abschied genommen, was Haus und Familie heißt, und mich in die Rolle eines alten Junggesellen hineingefunden. Meine dienstliche Beschäftigung, der Umgang mit den Kameraden, die Befriedigung allerlei berechtigter und unberechtigter Passionen, nach Umständen einmal ein Stück ungehinderter Freiheit—ich könnte ja ganz ein freier Mann sein und meinen Neigungen leben, aber ich fühle Pflichten in mir gegen mein Vaterland und meinen König—genügte mir. Da sah ich Sie, Ange; und weshalb sollte ich es verhehlen—ich liebte Sie bei unserer ersten Begegnung und werde Sie lieben, solange ein Atem in mir ist.“
Er sah sie nicht an, während er sprach.
Wenn er emporgeschaut hätte, würde er bemerkt haben, daß sie wie träumend ins Land und in die Ferne schaute; aber er würde auch in ihrem Angesicht gelesen haben, wie sie alle seine Worte verschlang und wie die letzten sie erbeben machten.
Ein feuchter Glanz verdunkelte auf Augenblicke ihre Augensterne, und versteckt strichen ihre kleinen Finger über die Wimpern.
„Aber weil ich Ihnen so gut bin—Sie wie ein Bruder und Freund liebe,“ fuhr Teut fort, „muß ich Ihnen etwas sagen, was Ihr Glück betrifft.“ Und nun sprach er in langer Rede auf sie ein. Er tadelte und tröstete, er forderte und flehte. Er teilte ihr Carlos' Worte an jenem Tage mit, klärte sie über ihre Verhältnisse auf und ließ das Bild einer düsteren, vielleicht durch ihre Handlungsweise heraufbeschworenen Zukunft vor ihr Auge treten. Atemlos horchte sie auf und erbebte. Welch drohende, vernichtende Wolken hingen über ihrem ahnungslosen Haupt! Nachdem er geendet, saß sie lange stumm und sprach kein Wort. Aber als dann aus seinem Munde ihr Name drang: „Liebe Ange, liebe Freundin, zürnen Sie mir?“ da überwältigte sie ihr Gefühl und sie neigte das Haupt und schluchzte.
Er wagte es: er strich sanft über ihr Haar; er that, als ob er nichts anderes fühle als Mitleid, nichts anderes geben wolle als Trost, und doch bedurfte er seiner ganzen Kraft, um sie nicht in dem Ausbruch unterdrückter Leidenschaft ans Herz zu ziehen.
* * * * *
Am nächsten Tage nach diesem Ausflug traten Clairefort und Teut nach Tisch—es waren heute ausnahmsweise nur drei Gedecke, da die Kinder früher speisten—in des ersteren Gemach.
Clairefort schien düsterer als je, es war während der Tafel, bei welcher Tibet mit seinem geräuschlosen Schritt bedient hatte, fast keine Silbe über seine Lippen gekommen, und Ange—noch unter dem Eindruck der jüngsten Unterredung—verhielt sich ebenso einsilbig.
In dem matt erleuchteten, dunkel tapezierten Zimmer kam es Teut heute fast unheimlich vor. Seltsam schaute der Marmorkopf einer Venus aus dem Dunkel hervor, und düster starrten ihm die Arabesken aus dem Teppich entgegen, der den Fußboden bedeckte.
Eine Weile saßen beide Männer rauchend und ohne zu reden, nebeneinander. Jedem lagen Worte auf der Zunge, keiner wollte zuerst sprechen. Endlich sagte Clairefort tonlos:
„Sie haben gestern mit Ange gesprochen, Teut?“
Der Angeredete nickte, ohne etwas zu erwidern.
Clairefort wiederholte nun seine Frage.
„Ja,“ sagte Teut, „ich habe mit Ihrer Frau geredet.“
„Was sagte sie, bitte?“
Ohne auf diese Frage unmittelbar zu antworten, entgegnete Teut: „Hat sie Ihnen keine Mitteilung gemacht?“
„Nun—ja und nein! Sie sprach sehr unzusammenhängend. Sie hing sich an meinen Hals, weinte und rief: ‚Ich will mich bessern, Carlos!‘ Ich vermutete, daß diese Äußerung aus dem Gespräch mit Ihnen hervorgegangen sei. Gesagt hat mir Ange nichts.“
Teut horchte auf.—Wie rührend! Welch eine liebenswürdige Reue lag in diesen paar Worten!
„Gut! Warten wir also ab, Clairefort!“
„Ja—“ sagte dieser gedehnt und offenbar unbefriedigt.
Jetzt sah Teut Clairefort versteckt ins Auge. Ein verdrossener, nervöser Zug lag auf seinem Gesicht. Plötzlich stieg in Teut ein beunruhigender Gedanke auf. War Clairefort eifersüchtig? Was stand ihm und Ange bevor, wenn seine Vermutung sich betätigte? Und zugleich überfiel ihn ein gefährlicher Drang, diesen Verdacht zu lösen und zu bekämpfen. Er wollte Vertrauen, er wollte für Freundschaft und Hingebung nicht Mißtrauen, Verstimmung—vielleicht weit Schlimmeres noch.
„Clairefort—!“ hob er durch die peinvolle Stille an. „Clairefort, ich bin Ihr Freund! Sie hatten wohl nie einen aufrichtigeren Freund! Glauben Sie das?“
Clairefort erhob den Blick und sah Teut verlegen an.
„Ja, lieber Teut! Weshalb fragen, weshalb—beteuern Sie?“
Der letzte Satz kam zögernd hervor. Die Worte verfehlten auch ihre
Wirkung nicht, denn Teut sagte abweisend:
„Ich beteuerte nichts! Ich wollte Ihnen nur einmal, ein einziges Mal, nachdem Sie mir ein Vertrauen schenkten, das man höchstens etwa seinem Bruder in ähnlichen Verhältnissen zuwendet, sagen, daß Sie—was immer sich ereignen könnte—darauf rechnen dürfen, daß ich Ihr wirklicher Freund bin und stets als ein solcher handeln werde. Verstehen wir uns jetzt?“
„Ja,“ nickte Clairefort; er schien aber keineswegs überzeugt.
Teut sprang auf. Er trat auf Clairefort zu und faßte seine Hand. „Armer Clairefort,“ sagte er. „Ich bedauere Sie aus tiefster Seele, um so mehr, weil ich verstehen kann, was Sie bedrängt. Aber niemals begegnete ein Mensch einem anderen mit ungerechterem Mißtrauen. Und nun noch einen Rat, bevor wir heute scheiden. Erleichtern Sie Ihrer Frau die Entschlüsse. Handeln Sie, Clairefort, und seien Sie dabei ein Mann und ein wohlwollender Freund zugleich. Verstehen Sie?“
Clairefort antwortete nichts. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Teut wandte sich zur Thür. Als er eben das Zimmer verlassen wollte, erhob sich ersterer rasch, berührte Teuts Schulter und sagte leise:
„Verzeihung, Teut! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!“
Die Erinnerung an diesen Vorfall beschäftigte Teuts Gedanken. Aber doch begriff er eins nicht, und deshalb grübelte er hin und her.
Ange hatte ihm erklärt, die Sorgen ihres Mannes seien sicher ungerechtfertigte. Schon seine Mutter habe unter dem Wahne gelebt, sie könne nicht auskommen und sei doch im Besitz eines ungewöhnlich großen Vermögens gewesen. Dies wäre eine Krankheit aller Claireforts. Es sei ungenau, behauptete sie, daß die Zinsen nicht genügten, um alle Ausgaben zu bestreiten. Sie glaube im Gegenteil zu wissen, daß Tibet vierteljährliche Überschüsse, von denen ganze Familien bequem würden leben können, zum Banquier trage. Auch habe sie selbst ein völlig unberührtes, nach ihrem Tode den Kindern zufallendes Vermögen, das ausreiche, eine Familie mit größeren Ansprüchen zu befriedigen. Trotzdem gebe sie aber zu, daß ihr Aufwand ein großer sei, daß sie vieles verschwende, und daß es verständig sei, alles einschränken.
Sie bat Teut, da ihr Mann Geldverhältnisse, wer weiß aus welchen Gründen, niemals gegen sie berühre, ihn auszuforschen und ihr zu berichten. Sie könne, fügte sie hinzu, auch Tibet fragen, aber dieser sei in solchem Punkte stets verschlossen. Zudem erachte sie es als nicht angemessen, einen Untergebenen zwischen sich und ihren Gemahl zu stellen.
Bei der nächsten Begegnung zwischen Clairefort und Teut nahm sich letzterer vor, diesen Punkt schon deshalb durch eine Frage aufzuklären, weil alle Maßnahmen danach zu treffen waren. Falls Clairefort die Wahrheit gesprochen, mußte Teut, um nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, auf sofortige Einschränkungen dringen, und diese konnten doch, wie die Dinge lagen, nur von Ange ausgehen.
An einem der nächsten Tage, an welchem Clairefort Teut in der alten herzlichen Weise begegnete, knüpfte letzterer an diesen Zwischenfall an und sagte:
„Sie haben mich, Clairefort, in Ihre intimsten Verhältnisse eingeweiht. Ich habe nicht nach den Gründen gefragt. Entweder war es die Folge jenes natürlichen Dranges, der uns in schweren Nöten zur Mitteilung treibt, oder Sie erkannten Ihre Machtlosigkeit und fühlten das Bedürfnis, sich einer Freundeshilfe zu bedienen. Gleichviel! Sie schenkten mir Ihr Vertrauen, und ich gab Ihnen mein Wort, dieses nach bestem Vermögen zu rechtfertigen. Unter solchen Umständen ist nun aber völlige Offenheit eine unbedingte Notwendigkeit.“
In Claireforts Augen blitzte es bei dieser Anrede auf. Eine seltsame Spannung malte sich in seinen Zügen; offenbar mißdeutete oder überschätzte er den Sinn der Worte. Teut verstand nicht, was Clairefort beunruhigte, aber um so mehr beeilte er sich, fortzufahren:
„Eines ist noch der Aufklärung bedürftig,“ sagte er in gelassenem Tone, „und ich bitte meine Frage nicht als eine ungerechtfertigte Einmischung zu betrachten. Ange behauptet, daß Sie nur eine übertriebene Sorge beherrsche, daß Ihre und ihre eigenen Renten so groß seien, daß jährlich erhebliche Überschüsse aus den Zinsen zurückgelegt werden könnten.“
„Nun,“ rief Clairefort, offenbar erleichtert, aber immerhin erregt, und in dieser Erregung nur den letzten Äußerungen Teuts Gehör schenkend, „ich denke, daß wir keine Kinder sind! Es ist, wie ich Ihnen sagte. Mein Ehrenwort darauf,—das ich indes nur erhärtend hinzufüge, weil die Behauptung meiner Frau der meinigen gegenübersteht. Durch den Sturz eines Bankhauses habe ich große Summen verloren, wodurch mein Vermögen ganz außerordentlich zusammengeschmolzen ist. Das weiß auch Ange, denke ich—“
„Nein! Sie weiß gar nichts! Aber gut,“ sagte Teut, „wenn dem so ist, dann werde ich mit Ihrer Erlaubnis handeln!“
* * * * *
Kurze Zeit darauf hatte Teut Gelegenheit, noch einmal mit Ange zu sprechen. Ein Vorfall, der nur allzu bezeichnend für sie war, gab dazu Veranlassung. Er trat am Spätnachmittag ins Haus und fand sie bei der Besichtigung eines seidenen Kleides, das sie gerade der Jungfer mit den Worten zurückgab: „Nein, auch das geht nicht. Ich werde mir dann für das Fest ein neues machen lassen und heute noch ausfahren, um den Stoff auszusuchen.“
„Ich störe wohl, Frau Gräfin—“ hob Teut, rücksichtsvoll ins Zimmer tretend, an.
Sie schüttelte ihren Kinderkopf, raffte errötend und verlegen allerlei auf den Stühlen umherliegende Garderobengegenstände auf, schob sie der Kammerjungfer über den Arm und hieß sie und Erna, welche eben, die Thür sperrweit offen lassend, ins Zimmer gestürmt kam, gehen.
„Nein, halt! Warten Sie, Charlotte!“ unterbrach sie aber doch ihren
Befehl. „Der Herr Rittmeister mag entscheiden.“
Die Jungfer that, wie ihr gesagt wurde. Sie legte die Kleider auf einen Stuhl und suchte unter den überreichen Ballroben eine hervor, die sie ihrer ungeduldig wartenden Herrin überreichte.
„Ich verstehe von Kleidern gar nichts,“ sagte Teut schroff. Es störte ihn, daß Ange in Gegenwart der Zofe mit ihm dergleichen Dinge besprechen wollte.
Ange sah ihn mißmutig an, wollte etwas erwidern, unterdrückte aber die
Entgegnung.
Inzwischen nahm Erna eines der Kleider an sich, fuhr mit den Armen hinein, schob die Schleppe mit den Füßen ungeschickt hin und her, so daß sie diese mit den bestäubten Schuhen berührte, und rief endlich laut: „Mama, Mama, sieh einmal!“
„Aber Erna, Erna!“ flehte Ange und eilte erschrocken hinzu. Das Kind aber hob den seidenen Rock empor, lief rasch davon und rief: „Das müssen Jorinde und Ange sehen! Nein, nein, ich gebe es nicht!“
Ange ließ denn auch das Kind gehen und machte der Zofe ein Zeichen, nachzueilen.
Als sie zu Teut emporblickte, begegnete sie seiner mißbilligenden Miene. „Unverbesserlich sind Sie, liebe Gräfin,“ sagte er und schüttelte den Kopf.
„Nicht schelten!“ bettelte sie und sah ihn mit ihrem bezaubernden Blicke an. „Aber doch ernsthaft raten! Sehen Sie, liebster Teut, das ist mein bestes Kleid, und darin kann ich doch den Ball nicht besuchen, nicht wahr?“
Allerdings: das Kleid war unverantwortlich behandelt. Die Spitzen, mit denen man es besetzt hatte, waren zerrissen; die Schleppe war besudelt, an der Taille fehlten Knöpfe. Im übrigen war der Stoff eine mit anmutigen Blumenbouquets durchwirkte weiße Seide, einer Königin würdig.
„Man könnte die Robe einer geschickten Schneiderin übergeben, sie mit neuen Spitzen garnieren und säubern lassen,“ sagte Teut phlegmatisch. Er war selbst erstaunt über den Umfang seiner Kenntnisse und über seine praktischen Ratschläge.
„Nein, nein!“ sagte Ange, als ob es sich um ein Puppenkostüm handle. „Hier ist ja sogar ein großes Loch!“ und sie zeigte ihm den Rock, in welchem übrigens nur die Naht hinten seitlich eingerissen war.
„Kann genäht werden!“ entschied Teut mit seiner stoischen Ruhe.
„Ach, mit Ihnen über Toilette sprechen! Kommen Sie, Teut! Wir haben wundervolle Melonen erhalten. Der Frühstückstisch ist gedeckt.“
„Nein,“ sagte er, „erst muß ich Sie sprechen. Heute ist die erste
Lektion.“
Sie sah ihn mit ihrem naiven Blick an, dann glitt ein ungeduldiger
Ausdruck über ihr Gesicht.
„Wieder eine Waldpredigt! Nein, heute mag ich nicht; weshalb quälen Sie mich! Ach, wie war ich sonst glücklich! Nun stehen Sie neben mir wie ein Schulmeister; ich bin doch kein Kind mehr!“
„Doch, ja,“ sagte Teut kurz. Und dann weicher: „Sie sind ein Kind, ein liebes, reizvolles Kind. Aber nun kommen Sie! Lassen Sie uns noch einmal reden!“
Er stand auf und schloß die Thür. Ange graute bei diesen Vorbereitungen.
„Zuerst, liebe Freundin—bitte, setzen Sie sich doch mir gegenüber, dort in den Fauteuil“ (sie that es schmollend und zerpflückte eine spät erblühte weiße Rose, deren Blätter sie auf den Teppich fallen ließ)—„ein sehr ernstes Wort! Ich habe mit Clairefort gesprochen; es ist, wie er sagt. Sie besitzen heute nur einen Teil Ihres beiderseitigen Vermögens.“
Er hielt einen Augenblick inne und beobachtete die Wirkung seiner Worte.
„Und wie ist dies zugegangen?“ fragte Ange mehr neugierig als erschrocken.
„Ein Banquier, bei dem Clairefort seine Papiere niedergelegt hatte, mußte seine Zahlungen einstellen. Es ging dort alles verloren.“
„Der arme, arme Clairefort! Ist er sehr betrübt?“ hob sie besorgt an. Sie forschte ängstlich in Teuts Angesicht; sie dachte nur an ihren Mann, wie er die Sache aufgenommen, in welcher Stimmung er sei. Ob sie gehen solle, um ihn zu trösten, ihm zu sagen, daß sie auch fortan sparsamer sein wolle. Es bliebe dann gewiß noch genug, schloß sie.
„Ja, das ist es. Nun sehen Sie doch ein, daß Sie ganz anders leben
müssen, daß Sie den großen, überflüssigen Hausstand einschränken, die
Kinder regelmäßig in die Schule schicken und sich sorgsamer um Ihre
Wirtschaft bekümmern müssen!“ sagte Teut ernst.
Sie nickte wie ein Kind, das gescholten wird, das voll guter Vorsätze ist, zerknirscht anhört, was es verbrochen hat, bis Natur und Freiheit, bis Spiel und Tändelei alles wieder verwischen.
„Das erste wird sein, daß wir auch Tibet ins Vertrauen ziehen. Wir
werden überlegen müssen, wer von der Dienerschaft bleiben kann, welche
Ausgaben überflüssig sind, wie die Geselligkeit zu beschränken, wie
Fuhrwerk und Pferde drunten—“
„Meine himmlischen Pferde auch?“ rief Ange „Und gar die Hunde? Müssen
wir ein anderes Haus, eine andere Wohnung beziehen? Ach, Teut, sagen
Sie, ist's denn so schlimm? Besitzen wir nichts, gar nichts mehr?
Sprechen Sie ein Trostwort!“
Mit tränendem Blick sah sie zu ihm empor und erwartete zitternd seine
Antwort.
Umfang und Bedeutung der eingetretenen Verhältnisse überschätzte sie nun so sehr, daß sie sich, wie ihre weiteren Fragen ergaben, schon in einem kleinen, beschränkten Häuschen sah und mit Ängsten an ihre Kinder dachte, die dadurch Entbehrungen erleiden würden. Teut erkannte besorgt, welchen Eindruck seine Worte hervorgerufen, welche Schreckbilder er unbeabsichtigt heraufbeschworen hatte.
„Sie sollen nichts entbehren, liebe Freundin!“ beruhigte er, hingerissen von Anges Anmut, von ihrem bei alten diesen Erörterungen hervortretenden selbstlosen Wesen, und strich in heftiger Bewegung den Schnurrbart. „Nichts, meine teure Freundin! Ich stehe dafür! Nur Überflüssiges, Thörichtes wollen wir beseitigen. Schon um der Kinder willen werden wir—“ Er betonte die Worte und stockte.
Sie schaute ihn an. Was lag alles in diesen guten, klugen Augen, die sich mit solcher Innigkeit auf sie richteten. Und da riß es sie fort; sie schnellte empor und umschlang den tröstenden Freund in stürmischer Freude mit ihren Armen.
In diesem Augenblick öffnete sich die Thür; beide flogen auseinander. Clairefort aber, der sich zeigte, sagte mit einem eisigen Blick: „Ach, ich störe wohl?“
„Carlos, Carlos!“ rief Ange, ahnend, daß sich etwas Furchtbares ereignen würde, und stürmte dem Fortgegangenen nach. Teut aber schlug heftig mit den Hacken der Reiterstiefel zusammen und seufzte einige Male tief auf.
* * * * *
„Wann kann ich die Ehre haben, Sie zu sprechen?
von Clairefort.“
„Bitte, kommen Sie rasch!
Ange.“
Teut blickte gedankenvoll auf zwei Blättchen, die er empfangen hatte und die diese Worte enthielten. Seit einigen Tagen war er nicht zu Claireforts zurückgekehrt; nun war geschehen, was er hatte kommen sehen.
Er übersetzte sich die Worte seiner Freunde in seine Sprache. „Rechtfertigen Sie sich!“ lauteten diese.—„Eilen Sie, ich bin sehr unglücklich und bedarf Ihres Trostes!“ deutete er sich jene.
Lange Zeit saß Teut grübelnd da und ließ alles, was geschehen war, noch einmal an seinem Geist vorübergehen. Hin und wieder erhob er den Blick, und dieser haftete mechanisch an den vielen Gegenständen, die seine Gemächer ausfüllten. In einem genialen Durcheinander sah man die widersprechendsten Dinge. Auf einem seidenbezogenen Sessel lag ein neuer, ungebrauchter Sattel, an den Wänden zur Linken hingen, flankiert von ausgestopften Vogel- und anderen Tierköpfen, Pistolen, Säbel und sonstige alte und neue Waffen. Die rechte Wandseite nahm ein übergroßes, wundervoll ausgeführtes Frauenbrustbild in der zarten Manier Angelika Kaufmanns ein; daneben waren in unregelmäßigen Abständen Photographieen, zahlreiche Kupferstiche und Lithographieen aufgehängt, teils Porträts, teils Jagd- und Reiterbilder: hier ein Sturz vom Pferde beim Rennen, dort rote Röcke mit Trara hinter dem fliehenden Wild im Walde.
Auf den Tischen lagen Berge von Handschuhen, vertrocknete Blumen, aufgerufene Kartons und Jagdutensilien. Auf einem chinesischen Kästchen erhob sich eine Bronzefigur Napoleons I. mit verschränkten Armen. Ihm zur Seite stand eine halbnackte, zum Sprung ins Bad bereite Frauengestalt aus weißem Marmor. Auf einer an den Tisch gerückten Etagère lagen in merkwürdiger Ordnung zahlreiche Cigarrenetuis: viele mit Wappen in Silber oder Elfenbein; auch kostbar gebundene Bücher; daneben erhoben sich einige Medaillonbilder auf zierlichen Gestellen—und all diese Gegenstände beherrschte eine weißschimmernde marmorne Klytia mit dem schwermütig sanften Blick. Auf dem grünen Teppich, der das ganze Zimmer bedeckte, war vor einem Schreibtisch das riesige Fell eines Eisbären ausgebreitet, und den ersteren bedeckten zahlreiche Schriften, Papier, aufgeschnittene Bücher und Schreibmaterialien, die sich um eine alte französische Uhr gruppierten, welche hier Platz gefunden hatte. Und ringsum saubere hellpolierte oder tiefschwarze Möbel; auch einige primitiv gearbeitete, aber praktisch eingerichtete Schränke, aus deren geöffneten Schubladen Rehposten, Patronen und Pulversäcke hervorschauten. Endlich stand in der Mitte des Zimmers ein mit einem Tigerfell behangener Chaiselongue, der aber selten benutzt zu werden schien, denn eine ganze kleine Bibliothek war hier aufgeschichtet.
Früher hatte Teut täglich viele Stunden in seiner Wohnung zugebracht. Er blätterte in den Journalen, las die neuesten deutschen und französischen Romane, empfing Billetdoux und beantwortete sie, schraubte wohl mit zufriedenem Lächeln einen Flintenlauf vom Kolben oder drückte an dem Schloß und freute sich der schönen Ciselierungen am Rohr. Oder er richtete im Nebengemach, im Eßzimmer, ein Abendessen, bereitete selbst die Bowle und stand in lederner Hausjoppe neben Flaschen und Gläsern. Aber alles hatte seinen Reiz verloren. Jede Stunde, die er nicht im Dienst war, floh er die Räume und eilte zu Ange.
Aber noch mehr. Die rechte Freude am Dasein war dahin; es gab nur noch
Kämpfe, Sorgen, Selbstüberwindungen, um ein gegebenes Wort zu erfüllen.
Ihr guter Geist wollte er ja fortan auf Erden sein, das hatte er
geschworen—ihr Freund—ihr stumm verzichtender Verehrer.—
„Kleine Ange, kleine liebe Ange,“ flüsterte der Mann und grub die Zähne in die Lippen, um seiner innerlichen Erregung Herr zu werden. „Nun beginnt der große Roman—der Roman unseres Lebens!“
* * * * *
Teut beantwortete beide Briefe zugleich. Ange schrieb er:
„Auch von Carlos erhielt ich einige Zeilen. Der kurze formelle Inhalt läßt mich schließen, daß es sich um nichts Gutes handelt! Ich komme bestimmt heut abend. Dann sieht Sie
Ihr getreuer Teut.“
Dem Freunde aber sandte er nur seine Karte und schrieb:
„Ich besuche Sie kurz vor der Theestunde in Ihrem Zimmer.
v.T.“
Als aber der Nachmittag kam, änderte Teut seinen Entschluß. Es fiel ihm ein, daß er den Kameraden versprochen hatte, abends den Besuch eines Freundes im Kasino zu feiern. Er ging deshalb früher zu Claireforts. Als er die Wohnung erreichte, stieg er, in Gedanken verloren und ohne sich umzusehen, die Treppe empor. Er wünschte, obgleich er das Richtige zu vermuten glaubte, zunächst von Ange zu erfahren, was vorgefallen sei, und dann Clairefort aufzusuchen. Zu seiner Überraschung fand er alle Thüren offen und weder jemanden im Empfangssalon noch in Anges Gemächern, überall aber eine große Unordnung.
Hier stand das Schaukelpferd eines der Knaben, dort hing, neben fortgeworfenem Spielzeug, eine Puppe mit gesenktem Kopf und schlaffen Armen rückwärts über einem Stuhlpolster. Auf dem Tisch des Wohngemaches lagen Kinderhüte und der hastig abgestreifte Paletot eines der Kinder. In Anges Schreibtisch war eine Schublade aufgezogen, und eine Sammlung von zartgefärbten Handschuhen lag in wilder Unordnung durcheinander. Einer hing mit schlaffen Fingern über den Rand des Schubfaches hinaus.
Teut schritt weiter bis an die Kinderzimmer. Er fand auch hier niemanden, aber ein ähnliches Durcheinander.
Die Wohnung machte den Eindruck, als ob eine Familie in fliegender Hast, vor einer Gefahr flüchtend und alles im Stiche lassend, davongeeilt sei. Kopfschüttelnd ging Teut weiter und trat gegenüber in Claireforts Privatgemach. Er klopfte. Keine Antwort. Er öffnete behutsam. Hier fand er es wie stets: dieselbe peinlich-übertriebene Ordnung, derselbe düstere Ernst, derselbe Mangel an freundlichen, belebenden Eindrücken. Keine Blume, keine lebhaften Bilder! Ein Hauch von Schwermut lag über dem Gemach ausgebreitet und nur allzu deutlich drückte sich in den Räumen der Charakter seines Bewohners aus.
Natürlich that auch die Dienerschaft, unter solchem Beispiel und keine strenge Hand über sich fühlend, was sie wollte. Nirgends ein männliches oder ein weibliches Wesen, das nach dem Fortgang der Herrschaft die Thüren geschlossen und in den Zimmern Ordnung geschaffen hätte.
Teut wandte sich zurück, und während er noch überlegte, ob er nach Hause zurückkehren oder warten solle, bis die offenbar auf einer Ausfahrt begriffene Familie wiederkommen werde, hörte er Schritte. Er horchte auf und trat einen Augenblick beiseite. Es war Tibet, der geschäftig ausräumte, hier sich nach einem Spielzeug, dort nach einem Kleidungsstück bückte und ordnend die Hand an Tisch und Stühle legte. Ja, Tibet, Tibet! Er übernahm die Pflichten aller.
„Die Herrschaften sind aus gefahren?“ fragte Teut, nun hervortretend und den Kammerdiener begrüßend.
„Jawohl, Herr Baron. Frau Gräfin macht Besuche mit den Kindern; der Herr Graf ist schon früher fortgeritten.“ Er sprach in seiner gewohnten ehrerbietigen Weise und schob eine Puppe, die er gerade in der Hand hatte, verlegen hinter sich.
Teut nickte und ließ sich nieder. Es kam ihm sehr gelegen, den
Vertrauten des Hauses einmal allein zu treffen, und er beschloß, ein
Gespräch mit ihm anzuknüpfen.
„Wie lange sind Sie eigentlich schon in der gräflichen Familie, Tibet?“
„Seit meinem fünfundzwanzigsten Jahre,“ erwiderte dieser mit einem melancholischen Anflug in der Stimme.
„Im Hause der Familie Butin oder bei Claireforts?“
„Bei Claireforts.“
„Und Sie hatten nie eine andere Beschäftigung oder Tätigkeit?“
„Doch, Herr Baron!“
„Und welche?“
„Ich wollte mich ursprünglich dem Kaufmannsstande widmen.“
„So so! Hatten Ihre Eltern schon Beziehungen zu der Familie?“
„Nein, Herr Baron.“
„Sie sind wohl schon ein guter Vierziger, Tibet?“
„Ja, Herr Baron.“
Nein—ja, Herr Baron! Auch im Verfolg des Gespräches gab er diese einsilbigen Antworten. Dieser Mensch sprach nur, wenn man ihn fragte, und dann lediglich das Notwendigste. Teut beschloß, es anders anzufangen, und indem er in bekannter Weise die Stiefelhacken zusammenschlug und den Schnurrbart drehte, sagte er mit starker Betonung.
„Tibet!“
„Herr Baron!“
„Ich weiß, daß Sie eine große Anhänglichkeit an den Herrn Grafen und besonders auch an die Frau Gräfin haben. Sie wissen zugleich, daß ich ein aufrichtiger Freund der Familie bin. Nicht wahr, Sie glauben das?“
Statt zu antworten, sah Tibet Teut einen Augenblick mit höchster Befremdung an. „Ja, ich verehre die Frau Gräfin wie niemand sonst.“ Die zweite Frage überging er.
„Gut. So dachte ich. Aber zu mir haben Sie wenig Vertrauen, Tibet, nicht wahr?“ lächelte Teut.
„Ich verstehe nicht, Herr Baron.“ Tibet schlug verlegen die Augen zu
Boden.
„Sie verstehen recht gut. Sprechen wir einmal offen miteinander.“
Tibet stand noch immer mit der Puppe in der Hand, die wie gelähmt Arme und Beine hängen ließ. Wenn man diesen großen, hageren, ernsthaft dreinschauenden Mann in der dunklen Kleidung so dastehen sah, mußte man unwillkürlich lächeln.
Als Teut die letzten Worte sprach, überfiel Tibet—man sah es deutlich—ein starkes Unbehagen. Zuletzt malten sich eine gewisse Abwehr, ja Trotz in seinen Mienen.
„Also, Tibet,“ fuhr Teut unbekümmert fort, „ohne Umschweife! Hier im Hause ist nicht alles, wie es sein soll. Die Gräfin weiß keine Wirtschaft zu führen, der Graf leidet darunter—nicht nur in seiner Schatulle. Sie wissen das alles.—Das muß anders werden. Beide wünschen es auch, aber die Gräfin versteht es nicht zu ändern, und den Grafen halten andere Gründe zurück. Ich möchte bei Zeiten etwas verhindern, was sonst unabänderlich scheint. Wollen Sie mir helfen?“
„Ich?“ fragte Tibet kurz, starrköpfig und fast aus der Rolle des Untergebenen fallend. „Ich bin ein Diener! Wie dürfte ich wagen, mich in die Angelegenheiten meiner Herrschaft zu mischen?“
„Sie sind kein Diener hier im Hause, sondern ein Freund, zudem ein
braver, ehrlicher Mann, Tibet. Versprechen Sie mir, um dieser
Freundschaft willen, die Sie für die Familie hegen, mein treuer
Verbündeter zu werden!“
Einige Augenblicke stand Tibet unbeweglich; die Puppe war jetzt so tief herabgesunken, daß die kleinen lackledernen Schuhe mit Kreuzbändern den Fußboden berührten. Endlich sagte er aufschauend:
„Herr Baron, ich will es mir überlegen. Ich danke Ihnen für Ihre gute
Meinung. Gestatten Sie mir indessen jetzt—Ah, da kommen die
Herrschaften bereits!“
Und offenbar erleichtert und mit einer entschuldigenden Bewegung eilte er ans Fenster, guckte rasch hier- und dorthin und entfernte sich endlich, alle Siebensachen unter den Arm raffend, durch die nach dem Ausgang führende Thür.
Teut sah nach der Uhr. Es war Tischzeit geworden und für seine Absichten somit zu spät. Während er noch zauderte, trat Clairefort von der entgegengesetzten Seite in den Salon, blickte überrascht auf, als er Teut in dem Stuhl sitzend fand, schritt förmlich auf ihn zu und sagte gezwungen:
„Ah, ich glaubte Sie erst heut abend erwarten zu dürfen! Aber wenn es Ihnen gefällig ist—Zugleich meinen Dank für Ihre Artigkeit. Ich wäre natürlich zu Ihnen—“
„Bitte, bitte!“ erwiderte Teut in seiner kurzen Weise. „Ich bin ja Ihr täglicher Gast! Weshalb wollten Sie sich zu mir bemühen? Ich stehe also ganz zu Ihrer Verfügung.“
Mit diesen Worten machte er einige Schritte, Clairefort zu folgen. Aber zu gleicher Zeit öffnete sich auch die Thür und Ange, in einem reizenden Promenadenkostüm, das goldene Haar rückwärts in zwei nachlässige Knoten geschlungen, die Wangen von der kalten Luft sanft gerötet, das Gesicht ganz umrahmt von einem kleinen, rosaseidenen Hütchen, trat rasch und lebhaft ins Zimmer. Ihr folgte die Schar ihrer Engel, eins schöner; graziöser und vornehmer als das andere. In der That ein entzückender Anblick.
Des Grafen nicht achtend, ganz beschäftigt mit dem Bilde, das sich ihm bot, eilte ihr Teut entgegen, und sie begrüßten sich mit einer Herzlichkeit, als ob sie eine lange Zeit getrennt gewesen wären.
Aber in demselben Augenblick und während die Kinder Teut jubelnd umringten, veränderten sich Anges Züge und erhielten einen furchtsamen Ausdruck.
Da stand der Graf, finster, bleich, und biß sich auf die Lippen. Da stand er, der Herr des Hauses und weder Frau noch Kinder näherten sich ihm. Aber alle umringten ihn—ihn, den Hausfreund, dem auch er sein größtes Vertrauen geschenkt und den er doch in diesem Augenblick mehr haßte als den Tod.
„Wartet mit dem Essen!“ sagte Clairefort, seinen Unmut schlecht verbergend, und machte eine Bewegung gegen Teut, ihm zu folgen. Letzterer sah noch Anges erbleichendes Gesicht und warf ihr einen beruhigenden Blick zu. Dann schloß sich hinter beiden Männern die Thür.
Als sie Platz genommen, knöpfte Clairefort den Rock auf und holte tief
Atem. Teut aber sagte nachlässig und mit einem Anflug von Ungeduld:
„Nun, was steht zu Diensten, Clairefort?“
Durch diesen Ton war jener schon halb entwaffnet; jedenfalls fand er nicht gleich das Wort. Und als er es noch immer nicht fand und, um es zu gewinnen, aufstand und das Fenster öffnete, obgleich von draußen der Spätherbstnachmittag kühl ins Zimmer drang, erhob sich Teut und sagte:
„Nun, Clairefort, dann will ich zuerst sprechen. Sie wünschen abermals über Ihre Frau mit mir zu reden, oder richtiger über Ihre Frau und mich, und Sie wollen mir sagen, daß es besser ist, wenn alles beim alten bleibt, ja noch mehr, daß Sie mich mehr aus der Entfernung schätzen als in Ihrer Nähe und deshalb—nein, ich bitte, lieber Clairefort, wir wollen einmal deutsch sprechen!—und deshalb wünschen, daß ich meine Besuche einstelle. Sie sind in blinder, thörichter Eifersucht befangen und zeigen dadurch, wie wenig Sie den Charakter Ihrer edlen Frau zu schätzen wissen, wie gering Sie auch von mir denken. Aber da ich Ihnen nachfühlen kann, ja heute mich ganz hineinzuversetzen vermag, weshalb es Ihnen schwer wird, zu thun, was Sie als recht befunden, was auszuführen aber eine heilige Pflicht ist gegen Ihre Familie, gegen Ihr künftiges Wohlergehen, deshalb sagte ich als Freund, der Ihre Frau wie eine Schwester liebt und der Ihnen warm und herzlich zugethan ist: ‚ich will Dir helfen. Lasse mich handeln, und wenn's gelungen ist, dann heiße mich meinethalben gehen.‘ So wollte ich es, so dachte ich es! Sie, Clairefort, zweifelten schon bei dem ersten Schritt, den ich that, wie mir scheinen will, an meiner Aufrichtigkeit und an der Reinheit meiner Gesinnungen. Als Ihre Frau mir dankte und es in ihrem kindlichen Herzen überströmte, standen Sie da wie ein zorniger Brigant und kämpften nur mühsam Ihre Leidenschaft nieder. Und nun noch eins! Jederzeit bin ich für Ihre Frau auf der Welt—für sie und ihre Kinder! Aber ich bitte Sie auch um derentwillen, unterdrücken Sie so falsche, durch nichts gerechtfertigte Regungen! Habe ich durch meine Rede unangenehme Empfindungen geweckt, habe ich Ihnen gar wehe gethan, Clairefort, so sehen Sie mir dies nach! Vergessen Sie! Es mußte Klarheit zwischen uns sein! So, und jetzt lassen Sie mich gehen. Ich wünsche noch, Ihrer Frau zu sagen, daß wir uns als Männer ausgesprochen haben. Ich wünsche es, weil ich den furchtsamen Blick in ihrem lieben Gesicht beobachtete und sie niemals leiden sehen möchte, wo immer es in meiner Macht steht, dies zu verhindern.“
Clairefort hatte das Fenster wieder geschlossen. Er stand, das Gesicht der Scheibe zugewendet, bewegungslos. Einigemal hatte es in seinem Körper gezuckt, mehreremal ballte er die Faust—aber er hatte kein Wort entgegnet und sprach auch jetzt nicht. Als Teut sich zur Thür wandte, als sich in seinem langsamen Schritt nicht Zwang, wohl aber die Erwartung einer Erwiderung von jener Seite ausdrückte, kehrte sich Clairefort zu ihm.
Es war feucht in seinen Augen, ein unsagbarer Schmerz irrte um seine zuckenden Mundwinkel, und er sah Teut mit einem so hilflosen Blicke an, daß dieser auf ihn zueilte und ihm die Hand drückte.—
War nun endlich alles im alten Geleise? Teut war darüber nicht im klaren. Ange aber schmiegte sich ängstlich und fragend an den Freund, als er ihr Gemach betrat. Sobald er aber auf ihre hastigen Fragen mit jener vertrauenerweckenden Ruhe antwortete, die ihn so anziehend machte, entwichen die ernsten Schatten auf ihrem Gesicht, wiederbelebte Hoffnung verschönte ihre Züge und in ihrem unzerstörbaren Sanguinismus glaubte sie schon wieder das Beste.
„Sie bleiben heute nicht zu Tisch, Teut? Wann kommen Sie? Wann reiten wir aus? Sie sind doch morgen bei dem Diner? Sehen wir uns noch?“ So fragte sie und so schien bereits alles wieder verwischt, was sie noch eben so zaghaft berührt hatte.
* * * * *
Die Zeit war vergangen.
Teut hatte durchgesetzt, was er wollte. Der größte Teil der Dienerschaft wurde entfernt. In das Hauswesen, in Küche und Keller kam eine andere Ordnung, in die Erziehung der Kinder ein anderer Geist. Die neue Gouvernante erhielt die gemessensten Befehle und empfing Vollmachten, die verhinderten, daß das frühere planlose Treiben fortgesetzt wurde.
Unter dem Vorgeben, daß ein trauriges Familienereignis verbiete, Gesellschaften mitzumachen und in gewohnter Weise Besuch im Hause zu empfangen, ward auch diese kostspielige Seite des bisherigen Lebens einschränkt, und Ange mußte sich dazu verstehen, mit einer streng begrenzten Summe die eigene Toilette und die ihrer Kinder zu bestreiten. Das alles schaute sie mit harter Nüchternheit an; die Schule des Lebens schlägt ihre Pfade nicht durch blühende Büsche, sie fordert Entbehrungen und Kämpfe.
„Wo sind die Kinder?“ fragte Ange, und die Antwort hieß: „Sie lernen, sie haben Unterricht.“ Wenn sie den Kopf in die Thür steckte, sah sie das strenge, unbewegliche Gesicht der neuen Gouvernante und oft genug ein Thränlein in den Augen ihrer Lieblinge. Die Befriedigung augenblicklicher Neigungen stieß auf Schwierigkeiten. Wenn sie Einkäufe gemacht hatte und die Rechnung vorgelegt wurde, gab es Szenen mit Carlos. Er sandte den Diener ohne Geld zurück und dieser stand ratlos da. Tibet lief mit bedrückter Miene hin und her, und durch die offene Thür sah Ange den wartenden Boten, der nicht befriedigt wurde, und die betroffenen Gesichter ihrer Umgebung, die ihre stummen Bemerkungen machten.
„Konrad soll anspannen!“ befahl sie, und wenn sie zum Ausfahren gerüstet, hinabsteigen wollte, stand statt des Wagens der Kutscher vor ihr und erklärte, das eine Pferd sei krank. Ange fragte nicht, weshalb man statt der Schimmel nicht die Braunen anspanne; die Braunen waren verkauft worden.
Wenn es ihr plötzlich durch den Kopf fuhr, wie früher Freunde um sich zu versammeln, schüttelte Carlos den Kopf, und statt des reich beladenen Frühstückstisches, welcher für gern gesehene Gäste immer bereit gewesen war, standen nun kleine Brotschnittchen neben einer bereits angebrochenen Flasche Wein auf der sauber gedeckten, aber kargen Tafel.
Nichts durfte mehr angeschrieben werden. Tibet erklärte, lediglich Geld für die täglichen Bedürfnisse zu haben und besondere Ausgaben nur nach Rücksprache mit dem Grafen bestreiten zu können.
Drunten in Küche und Stall begegnete man mürrischen Mienen. Teils wirkte die Kündigung nach, teils verglich man die alten Zeiten mit den neuen und fand sich enttäuscht. Die reichlichen Trinkgelder, welche die Gäste bei dem täglichen Verkehr und nach den vielen Gesellschaften in die Hände der Dienerschaft hatten gleiten lassen, blieben jetzt aus.
Die Familie Clairefort ward von ihrer eigenen Umgebung hämisch und tadelnd beschwatzt, und an die plötzlichen Veränderungen und Einschränkungen knüpften sich zudem die übertriebenen Vermutungen.
Bisweilen wandte sich Ange in ihrer Ratlosigkeit an Carlos und bat ihn, in einigen Dingen nachzugeben. Sie schilderte ihm die vielen kleinen Ungelegenheiten, berichtete von diesem und jenem und forderte Abhilfe. Wenn sie dann so eindringlich auf ihn einsprach und mit ihrer bezaubernden Art durchzusetzen versuchte, was sie wünschte, gab er wohl nach; ja einigemal brauste er sogar auf, und böse Worte gegen Teut entschlüpften ihm.
Aber nur, wenn Erinnerungen an frühere Zeiten seinen Stolz weckten, wenn er Teuts Hand allzu deutlich zu erkennen glaubte, dann überfiel ihn ein eigensinniger Widerstand, und die Eifersucht verführte ihn zu falschen Deutungen. Es erfolgten dann Auseinandersetzungen mit dem Rittmeister, der aber stets ruhig blieb und immer wieder auf die festen Abmachungen verwies, welche von Anbeginn vereinbart waren.
Anges Klagen entstanden freilich immer nur aus Hilflosigkeit; sie dachte niemals an sich. Wenn aber das Schluchzen der Kinder über die ihnen geraubte Freiheit an ihr Ohr schlug, verließen sie alte guten Vorsätze. Oft flüchtete sie sich mit ihrem Kummer in ein entfernteres Gemach und weinte sich dort aus. Es gab Augenblicke, wo sie hätte Teut hassen können.
Aber dieser feste Charakter ließ sich nicht beirren. Es schien, als ob er unempfindlich sei gegen jeden Angriff, jeden Vorwurf und Tadel. In seiner kurzen, bestimmten Art verteidigte er seinen Standpunkt, ließ sich nicht überreden und nicht überzeugen, und nur einmal, als es ihm gar zu arg wurde, riß er an dem langen Schnurrbart und rief:
„Entweder—oder! Ich habe Euer beiderseitiges Wort! Reut es Euch, macht's nach Eurem Behagen!“
Freilich sah Teut auch, nachdem er alles geordnet, daß die Fröhlichkeit ihren. Auszug aus dem Hause gehalten hatte. Clairefort ward ernster, mißmutiger, unzugänglicher als je, und Ange, der leichtbeschwingte Vogel, der Freiheit und Bewegung, Licht und Luft um sich fühlen mußte, ließ die Flügel hängen. Einigemal griff sich Teut an die Stirn und überlegte, ob er auch recht gehandelt habe. Allerdings, verständige Verhältnisse waren geschaffen, aber alles schien in dem Hause geknickt. Die Kinder, diese frischen, ungebundenen und zärtlichen Geschöpfe, schlichen eingeschüchtert und befangen umher. Die Zucht in den Schulstunden, die Arbeiten, die sie außer diesen beschäftigten, der jetzt fehlende fröhliche Trost, den sie früher bei Mama Ange fanden, machte sie verdrossen und verschlossen, und es zeigte sich, daß sie der Geist der Mutter beherrsche, der nun einmal nur im hellen Sonnenlicht und in der Freiheit gedeihen konnte. Und die Rückwirkung blieb auch bei Teut trotz äußerer Unempfindlichkeit nicht aus. Mit Wehmut sah er, wie ernst Ange geworden war und wie sie sich nach dem alten, zwanglosen Leben zurücksehnte. Selten noch tönte ihr helles, herzliches Lachen durch die Räume.
Einmal fand er sie weinend unter den Kindern sitzen und sich mühend, ihnen bei ihren Arbeiten zu helfen. Kein heiterer Zug glitt über ihr Gesicht, als Teut sich näherte, und die wohlerzogenen Kleinen erhoben sich, gaben ihre Händchen und machten ihre Knixe, statt wie früher stürmisch auf ihn zuzueilen und ihn zu umschlingen.
Jeden Tag sandte Teut das frische Bouquet, jeden Tag nahm es Ange entgegen, aber sie hatte keine Freude mehr daran. „Ach, schicken Sie doch nicht die schönen Blumen, Teut; sie verwelken ja doch—und es ist überflüssig—und kostspielig—“
Sie wandte sich ab und suchte ihre Thränen zu verbergen.
„Ange! Ange!“ rief Teut. „Das von Ihnen? Sagen Sie mir, was Sie bekümmert, weshalb Sie so hart, so ungerecht gegen mich sind?“
„Schaffen Sie die Gouvernante aus dem Hause; ich hasse die Person!“ rief Ange in furchtbarer Erregung. „Aber bald, bald, sonst passiert ein Unglück! Sie vergiftet meine süßen Kinder mit ihrer Strenge, ihrer Pedanterie und ihrer scheinheiligen Christenlehre. Sehen Sie doch—was man aus ihnen gemacht hat? Ist das noch mein feuriger Carlitos, sind das meine Erna und Jorinde; und die beiden besten Kinder, Ben und Fred? Was ist aus ihnen geworden? Ange habe ich ihr schon entzogen! Sie hat das kleine Geschöpf mit einem Lineal geschlagen! O, ich erwürge diese Person nächstens!“
„Ange, Ange, beruhigen Sie sich! Vieles kann ja nach Ihren Wünschen geschehen! Carlos wird gewiß gutheißen, was Sie verständigerweise anordnen.“
„Er? Der? Sitzt er nicht auf seinem Zimmer und grübelt den ganzen Tag? Sehen wir ihn anders als bei den Mahlzeiten? Ist er noch mein bester, heißgeliebter Mann?—Ein verdrießlicher Hypochonder, ein rauher, abwehrender Mensch hockt drüben, der an nichts Freude hat—nicht einmal“—jetzt traf bitterliches Schluchzen Teuts Ohr—„an seiner Familie, an seinen Kindern! O, wie grenzenlos unglücklich bin ich! Wo ist die alte, gute Zeit geblieben! Unser Haus ist ja eine Totengruft geworden!“
Unter heftiger Bewegung hörte Teut das alles an. Trug er denn die Schuld? Hatte er das alles heraufbeschworen?—Vielleicht! Er erkannte, daß meistens nur die Not selbst zur Lehrmeisterin der Menschen wird. Er hatte eingegriffen in die Pläne des Schicksals. Statt aus dem Regen den Sonnenschein von neuem hervorbrechen zu lassen, hatte er diesem zu frühzeitig ein Dach gebaut, und ein Dach, welches das goldene Licht verscheuchte.
* * * * *
Teut saß in seinem Zimmer und arbeitete. Seit Stunden war er nicht vom Schreibtisch gewichen, und einige Male lehnte er sich zurück und blickte sinnend und verloren die Pinselstriche der flüchtigen Malerei zählend, zur Decke empor. Die letzten Vorgänge hatten einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Er litt mit seiner geliebten Ange und verstand alles und sann, wie ihr zu helfen sei. Aber konnte er ihr die sorglose Fröhlichkeit zurückgeben? Konnte er sie wieder jung machen? Was sie innerlich litt, übertrug sich auf ihre Erscheinung. Schon begann sich etwas von dem holden Zauber zu lösen, der sie vor Jahren so unwiderstehlich gemacht hatte.
Und dann sagte er sich doch, daß nicht die veränderte Lebensweise schuld sein könne, sondern ganz andere Dinge Ange beschäftigen müßten. Ja, das war es! Sie war nicht glücklich in ihrer Ehe, und den Ersatz, welchen sie früher in ihren Kindern fand, entbehrte sie jetzt doppelt, da man sie ihr halb genommen hatte. Aber das letztere konnte doch wieder ins rechte Geleis gebracht werden. Ein Wechsel in der Persönlichkeit, die den Unterricht erteilte, war schnell zu bewerkstelligen. Es brauchte nicht alles wie bisher auf die Spitze getrieben zu werden: es gab auch freundliche Ermahnungen statt rücksichtslose Strenge, und es handelte sich nicht um Lernen und Wissen allein. Der gute Mittelweg war auch hier der richtige, und indem man diesen einschlug, würde wiederkehren, wonach Ange verlangte. Eines stand fest in Teut: auch jetzt mußte er eingreifen, da Clairefort zu keiner Initiative zu bewegen war.
Wie oft hatte Ange geklagt, daß sie nicht auszukommen vermöge, wie sehr sie sich einschränken müsse. Clairefort blieb bei alledem taub. Aus ihm war jetzt ein ängstlicher Sparer, ein Geizhals geworden.
„Kann ich Sie heute einmal ruhig sprechen? Sind Sie zu hören aufgelegt, liebe Ange?“ fragte Teut an einem der nächsten Tage. Sie nickte und legte die Hände in den Schoß. Seltsam! Teut bemerkte, daß sie sich vernachlässigte, keinen sonderlichen Wert mehr auf ihr Äußeres legte: auf Blumen und Schmuck wie früher.
Auch heute sah sie unvorteilhaft aus. Das graue Hauskleid stand ihr nicht eben gut, und das wundervolle Haar saß versteckt unter einer Haube, die sie um viele Jahre älter machte.
„Ich wollte Ihnen nach unserem letzten Gespräch eine Bitte vorlegen,“ fuhr Teut fort. „Ich habe viel über das nachgedacht, was Sie mir gesagt haben.“
Sie neigte das Haupt, ohne Ausdruck in ihrem stillen Gesicht.
„Ich höre, daß Carlos seinen Abschied nehmen will, daß er ihn nehmen muß—“
„Wie?“ unterbrach ihn Ange ängstlich.
„Ja! Sein Zustand—sein hartnäckiges Nervenleiden macht ihm die Ausübung seiner militärischen Pflichten unmöglich. Besser denn, bei Zeiten die anstrengende Thätigkeit einstellen. Aber—dadurch wird sich—Ihre Einnahme noch mehr verkleinern, Ange—“
„Ja gewiß!“ sagte sie tonlos.
„Da wollte ich denn—“—er zögerte, riß an seinem Schnurrbart und eine seltsame Röte trat auf seine starken Backenknochen—„Sie bitten, Ange. daß Sie mich wie einen Bruder ansehen mögen, daß Sie—ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Ange—daß wenn Sie etwa einmal einen Wunsch haben—etwa für die Kinder einen Wunsch haben sollten—wenn—wenn—Sie hören nicht, Ange?“
„O, o!“ hauchte die junge Frau. „Nicht weiter!“ Ihre Stimme versagte vor Rührung; sie vermochte nicht zu sprechen, und sie trocknete die Thränen mit dem Tüchelchen, das sie hervorgezogen hatte.
„Doch, doch,“ sagte Teut weich und ergriff ihre Hand, ihre kleine Hand, die so schmal und krank heute aussah. Aber weiter wagte er nicht zu sprechen; es trat eine längere Pause ein. Die Dinge ringsum erschienen noch ernster, stummer als sonst. Es wehte ein Hauch von trostloser Öde durch das Haus, in dem das Lachen erstorben war.
„Und die Gouvernante? die Gouvernante? Schicken wir sie fort?“ flüsterte Ange zaghaft. Sie dachte nicht an sich: immer waren es die Kinder, mit denen sie sich in ihren Gedanken beschäftigte.
„Gewiß, gewiß!“ betätigte Teut lebhaft. „Noch heute spreche ich mit
Carlos! Alles, alles soll sich nach Ihren Wünschen gestalten! Alles, was
Sie, meine teure Ange, wieder fröhlich—und glücklich machen kann!“
„Ein Gott, kein Mensch sind Sie!“ tönte es von Anges Lippen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und schluchzte.
Teut stand auf und trat ihr näher. Sie erhob den Blick—einen Blick, in dem der Abglanz ihrer Seele sich spiegelte, einen Blick, in dem der Mann alles fand, was er je zu hoffen gewünscht, und alles, was im Austausch Liebe gegen Liebe zu geben vermag!
Es war vorauszusehen, daß von dem, was sich im Laufe der Zeit in der Clairefortschen Familie zugetragen hatte, mancherlei hinausdrang, und daß die öffentliche Meinung sich begierig und mit wenig Wohlwollen eines Gegenstandes bemächtigte, der zu so verschiedenen Deutungen Anlaß gab.
In erster Linie ward das Verhältnis Teuts zu Frau Ange besprochen, und es fand kaum ein mündlicher Austausch in den C.schen Gesellschaftskreisen statt, ohne daß die holde Frau mit bösen Nachreden überschüttet ward. Wie der Sturm rücksichtslos über ein in seinem unschuldigen weißen Blütenschmuck stehendes Bäumchen dahinwütet, so zerpflückte man Anges Ehre und guten Ruf. Da der Graf, hieß es, ein bedauernswerter, durch sein Nervenleiden kaum mehr zurechnungsfähiger Mann wäre, sei es nicht zu verwundern, daß das empörende Treiben ungeahndet unter seinen Augen sich vollziehe. Auch könne man es einem lebenslustigen, unverheirateten Husarenrittmeister nicht verübeln, wenn er die süßen Früchte, welche eine so verführerische und gefallsüchtige Frau ihm darbiete, nicht zurückweise. Ärgererregend genug sei es, daß er nicht einmal die gewöhnlichen Rücksichten beobachte und das Verhältnis so offen zu Tage treten lasse; aber auch das werde durch ihr exzentrisches und leichtfertiges Wesen eher entschuldigt.
In dieser und ähnlicher Weise erging sich die Gesellschaft in ihrem Urteil und hielt es—selbst nur allzu erprobt in Dingen, die man jenen unterzuschieben sich unterfing—für unmöglich, daß Menschen etwas anderes verbinden könne als eine strafbare Leidenschaft.
Aber man blieb dabei nicht stehen. Die Vermögensverhältnisse Claireforts wurden gleichfalls einer Beurteilung unterzogen. Es sei nichts mit dem großen Reichtum! Nur der maßlosen Verschwendungssucht der Frau widerstandslos nachgebend, habe Clairefort die Villa in solcher luxuriösen Weise herrichten lassen und einen Aufwand gutgeheißen, der jeder Beschreibung spotte.
Nun sei der Rückschlag bereits eingetreten. Niemand wolle mehr Kredit geben; ja, man habe den Dienstboten, welche man entlassen mußte, kaum den Lohn zahlen können. Des Grafen schwermütiges Leiden sei auf diese mit täglicher Sorge verknüpften Verhältnisse zurückzuführen, und wenn von seinem Abschied die Rede, so sei dieser wohl kein freiwilliger.
Ah, und diese Kinder! Habe man jemals eine unverantwortlichere Erziehung erlebt? Wie die Affen wandelten sie einher und erregten Ärger bei alt und jung durch ihre Geziertheit und ihr hochmütiges Auftreten. Zuletzt gedachte man auch noch des geheimnisvollen Verhältnisses zwischen Tibet und dem Grafen und bezeichnete den Kammerdiener als einen gefährlichen Menschen, der im Trüben fische und das sonderbar erscheinende Vertrauen, das man ihm schenke, lediglich zu seinem Vorteil ausbeute.
Bisher war Teut nichts von allen diesen Dingen zu Ohren gekommen. Es lag auch in der Natur der Sache, daß man gegen ihn Verhältnisse nicht berührte, in denen er selbst eine so hervortretende Rolle spielte.
Inzwischen aber ereignete sich etwas, das ihm über die Anschauungen der Menge die Augen öffnete und was nicht ohne Rückwirkung auf ihn selbst blieb. Die Offiziere verkehrten häufig in der Familie eines Herrn von Ink, eines Gutsbesitzers, der vor längeren Jahren, bei Gelegenheit einer zweiten Heirat, seinen Besitz verkauft und eine Übersiedelung in die Stadt bewirkt hatte. Er war ein mehr als harmloser Mensch, der niemandem sonderlich gefiel, aber auch niemandem im Wege stand. Seine Gattin dagegen gehörte zu jenen Frauen, deren rücksichtsloser Egoismus und deren mit einem bedeutenden Verstand verbundene Thatkraft oftmals bedauern lassen, daß ihnen nicht eine andere Stellung und ein anderer Wirkungskreis in der Welt angewiesen ist.
Frau Olga konnte nur hassen oder lieben; richtiger gesagt: nur hassen oder die Menschen sich dienstbar machen, denn sie besaß neben einem übertriebenen Hochmut, wenig Herz und zertrat ohne Bedenken, was sich ihr hindernd in den Weg stellte. Es war indessen bei allen diesen Eigenschaften bezeichnend, daß sie gegen Menschen, die eine Stellung in der Gesellschaft einnahmen, sich von einer geschmeidigen Höflichkeit zeigte und nicht ruhte, bis es ihr gelang, in einen engeren Verkehr mit ihnen zu treten.
Ihr Hauswesen war musterhaft geordnet; man amüsierte sich gut in dem Inkschen Hause. Frau Olga befolgte eine weise Lehre, die so wenigen bekannt ist und jedenfalls selten befolgt wird. Sie betrachtete den Gast wie einen Vogel, der sich nach seiner Neigung hier oder dort unter den Baum flüchtet, nascht, zwitschert und nach Geschmack und Laune wieder davonfliegt.
Der Verkehr mit dem sprichwörtlich reichen Rittmeister Baron von Teut-Eder war seit Jahren für Frau Olga eine unerfüllte Hoffnung geblieben. Alle ihre Versuche, ihn heranzuziehen, scheiterten an seiner höflichen, aber entschiedenen Abwehr. Dies reizte Frau von Ink um so mehr, als Widerstand in solchen Fällen den Wert erhöht. Überdies besaß sie drei Töchter, von denen eine aus der ersten Ehe ihres Gatten stammte.
Klara von Ink, ein blasses, äußerst graziöses, aber nicht mehr ganz junges Mädchen, sah man häufig mit verweinten Augen. Zwei Menschen konnten sich nicht ehrlicher hassen als Mutter und Stieftochter, aber selten fand man auch zwei so verschiedene Charaktern.
Klara war eine offene, aufrichtige, allem Schein abgeneigte Natur, während die Tiefen der Seele einer Frau Olga noch niemand ergründet hatte. Natürlich wünschte Frau von Ink ihre beiden recht hübschen Kinder zu verheiraten, aber nicht minder lag ihr daran, sich endlich Klaras zu entledigen. Teut war eine überaus glänzende Partie. Beide paßten im Alter zusammen, und aus dieser Verbindung konnten sich ebensoviele Annehmlichkeiten entwickeln, wie jetzt Mißhelligkeiten an der Tagesordnung waren. Im übrigen würde Frau Olga auch ihrer Tochter gleichen Namens oder der hübschen Eva nichts in den Weg gestellt haben, obgleich der Rittmeister fast deren Vater hätte sein können.
Ink und Teut hatten sich neuerdings bei einem Pferdehandel berührt. Daraus entwickelte sich eine mehrfache Begegnung, die mit sich führte, daß Herr von Ink den Rittmeister eines Vormittags in sein Haus einzutreten und ihn an dem eben servierten Frühstück teil zu nehmen bat. Teut konnte sich dem nicht entziehen, und nun hatte die ehrsüchtige Frau endlich ihren Wunsch erreicht! Bevor der Gast Abschied nahm, mußte er wohl oder übel noch eine Einladung zu einem unmittelbar bevorstehenden Diner annehmen. Welch ein Triumph für Frau Olga, die sicher eine der gewohnheitsmäßigen Absagen im letzten Augenblick gefürchtet hatte, als der vielbesprochene Baron wirklich zu der festgesetzten Stunde eintraf und damit dauernd für das Inksche Haus gewonnen zu sein schien. Aber auch noch einen anderen längst verfolgten Plan hoffte Frau Olga durch die Annäherung an den Rittmeister zu erreichen. Auch Claireforts gehörten zu den Personen, mit denen es ihr nicht gelungen war, in nähere Berührung zu treten, und nun fand sie eine bequeme und, wie sie vermeinte, sichere Anknüpfung durch Teut. Die gräfliche Familie einmal bei sich zu sehen, einen Blick in das dortige Hauswesen werfen zu können oder gar mit Claireforts dauernd zu verkehren, gehörte zu jenen sehnsüchtigen Wünschen, deren Erfüllung sie kaum zu hoffen gewagt.
Schon bei dem Mittagessen—Teut hatte als letzter eingetretener Gast die Ehre, die Frau des Hauses zu führen—brachte Olga das Gespräch auf Claireforts, aber dieser wich geschickt aus. Er erzählte kurz und bedauernd, daß es seinem Freunde körperlich und geistig schlecht gehe, daß die Frau Gräfin sich infolgedessen mehr und mehr von aller Geselligkeit habe zurückziehen müssen und im übrigen die vollendetste Frau unter Gottes Sonne sei. Er ließ auch einiges über seine Person und seine Verhältnisse fallen und erwähnte, daß die Verwaltung seiner Besitztümer durch fremde Hand manche Unzuträglichkeiten mit sich führe. Er sei aber, wie er hinzufügte, ein Gewohnheitsmensch und zudem ein eingereichter Soldat, der nur sein Handwerk, seine Pferde und die Jagd liebe und dabei doch so bequem werde, daß er beispielsweise eine Einladung seines Vetters zu einem auf acht Tage berechneten Feste auf dessen Gütern ausgeschlagen habe.
Nur eins hätte ihn bestimmen können, seines Verwandten Aufforderung Folge zu leisten, und zwar der Wunsch, darauf hinzuwirken, daß dieser unverbesserliche Junggeselle nun endlich heirate.
„Ah, das sagen Sie?“ rief Frau von Ink, von diesem Gespräch besonders gefesselt, „Sie, der Sie ja fast ein Weiberfeind sind, das heißt—mit einer Ausnahme,“ fügte sie lächelnd hinzu.
„Ich bestreite dies entschieden, gnädige Frau,“ erwiderte Teut, ohne den
Schlußsatz zu beachten. „Ich verehre die Frauen wie alles Schöne auf der
Welt, aber ich habe kein Glück und kein Geschick im Verkehr mit ihnen.
Zudem—je älter man wird—“
„Sie sprechen von Alter!?“
Teut nickte. „Gewiß, wie hoch schätzen Sie mich, gnädige Frau?“
„Nun, jedenfalls sind Sie in dem besten—im Heiratsalter. Was, liebes Kind?“ unterbrach sie sich entschuldigend, als plötzlich Eva hinter ihren Stuhl trat und eine Frage an sie richtete.
Teut schob sich artig zurück, während die Damen einige Worte austauschten, und zugleich beobachtete er Olgas Tochter genauer. Eva glich einer wilden Rose in ihrer Erscheinung: sie war in der That sehr hübsch, aber das Gesicht war geistlos.
„Ich bitte um Verzeihung!“ wandte sich Frau Olga wieder zu ihrem Gast.
„Ein schönes junges Mädchen,“ sagte Teut verbindlich und von einer gewissen Absicht beherrscht. „Sie haben hier gleich einen Beweis, daß es unmöglich ist, die Frauen nicht zu verehren.“
Frau Olga sah mit einem Anflug angenehmer Überraschung den Sprechenden an. Hatte sie recht gehört? Sie wußte von Teut, daß er wohl Derbheiten, aber selten Artigkeiten zu sagen pflegte.
„Ah, Sie Spötter!“ erwiderte sie, in der Absicht, mehr zu hören. Teut aber lächelte und schwieg. Es gefiel ihm, sie in Zweifel zu lassen. Endlich sagte er:
„Ihre beiden Jüngsten—Zwillinge, wenn ich nicht irre?—sind gleich liebreizend. Das ist sehr schlimm.“
„Schlimm? Wie so? selbst unter der Voraussetzung der Richtigkeit Ihrer schmeichelhaften Behauptung.“
„Nun schlimm insofern, gnädige Frau! als doch niemand beide Damen zu heiraten vermag, und weil eine von ihnen zu wählen, neben der höchsten Befriedigung des Besitzes zugleich den höchsten Schmerz über einen sicheren Verlust hervorrufen würde.“
„Ich vermute, Sie wollen ein wenig Spott treiben,“ sagte Frau Olga. „Überhaupt—und damit zugleich ein offenes Bekenntnis—, nachdem ich endlich das Glück habe, Sie näher kennen lernen zu dürfen, finde ich doch die Bestätigung dessen, was man mir so oft erzählt hat.“
„Nur eine Bestätigung?“ scherzte Teut. „Ich hatte gehofft, daß meine Person die Beschreibung weit überträfe, denn ich bin überzeugt, Sie finden nur Gutes.“
„Wer weiß! Sie sind der erste Mann, der mir im Leben begegnet ist, vor dessen Sarkasmus ich mich fürchte.“
Dergleichen halbe Artigkeiten und halben Tadel enthaltende Äußerungen liebte Frau Olga. Sie hatte unzählige bereit, wenn sie jemanden fesseln wollte.
Zu ihrem Erstaunen sagte Teut ernst:
„Es liegt vielleicht etwas Berechtigtes darin, gnädige Frau. Ich bin ein so ehrlicher Hasser der gesellschaftlichen Lüge und Vergeltung, daß ich rücksichtslos meine Meinung, oft genug meinen Abscheu dagegen ausspreche. Und natürlich, jeder, der nicht mit Komödie spielt, wird naturgemäß gefürchtet.“
Frau Olga kam in eine etwas unbequeme Stimmung; es war ja fast undenkbar, daß ein Mann von so guter Erziehung wie Teut diese Bemerkung gegen sie persönlich zugespitzt hatte, aber andererseits konnte sie kaum anders, als diese auf sich beziehen.
Es lag auch in ihrer Art, dergleichen nicht zu übergehen, denn ihre Klugheit verließ sie nur allzu häufig, wenn ihre Empfindlichkeit oder ihre Eitelkeit verletzt wurden. Sie entgegnete deshalb in einem recht schroffen Tone:
„Nein, meine Furcht stützt sich auf etwas anderes, Herr Rittmeister. Was Sie hervorheben, könnte ja in unserem Verkehr überhaupt keinen Anlaß zu einer solchen geben!“
„Natürlich,“ sagte Teut ernsthaft, ließ aber einen infam ironischen Zug um seine Mundwinkel spielen. „Und bitte, weiter, meine Gnädige?“
Frau Olga hob in einiger Erregung das Glas empor, das Teut eben gefüllt hatte, trank es hastig aus und erwiderte, mühsam ihren Unmut versteckend:
„Ich liebe die Gradheit und Offenheit wie Sie. Diese kann mich nur mit Respekt erfüllen und wird mir nie Unbehagen einflößen. Aber Ihre—“ Sie stockte.
„Nun, gnädige Frau?“
„Ah, gleichviel!“ machte Olga und zuckte die Achseln.
„Wie, meine gnädige Frau,“ sagte Teut in einem verbindlichen Tone und doch mit demselben teuflischen Lächeln, „Sie laden mich in Ihr sonst so unvergleichliches Haus und wollen mich auf die Folter spannen? Ist das christlich? Ich bitte—wenn nicht etwas Bedenkliches für mich die Folge sein soll—“
„Ja, ja! Das ist es! Sie sind boshaft! Sie sind's auch jetzt! Das ist eine Eigenschaft, die mir allerdings Furcht einflößt, ja, die ich hasse, denn es giebt gegen diese keine Waffen.“
In diesem Augenblick schlug Herr von Ink ans Glas und brachte eine seiner gewöhnlichen geistlosen Gesundheiten aus.
Auch das reizte Frau Olga.
„Sehr, sehr hübsch!“ warf Teut hin und bewegte den Kopf.
Frau Olga hätte ihn mit dem silbernen Fischmesser töten können.
Nach dem Diner ging man in den Garten und nahm den Kaffee. Sodann wurde ein Ausflug zu Pferde und Wagen geplant.
Vor dem Inkschen Hause hielten bereits die Stallknechte mit den
Reitpferden, und die Kutscher warteten auf dem Bock.
Teut, der meistens in einem zierlich gebauten, für zwei Personen berechneten Wagen kutschierte und dessen langgeschweifte, dunkelschwarze Renner ihm allseitig beneidet wurden, bot Frau Olga den Platz in seinem Wagen an. Sie war sehr glücklich über diese Auszeichnung, um so mehr, als bisher nur Frau Ange Clairefort eine solche genossen, freilich so oft genossen hatte, daß der verleumdungssüchtige Mund der Stadt dies Fuhrwerk schon mit einem Spottnamen belegt hatte.
Der Nachmittag war herrlich. Man hatte mit Rücksicht auf den Ausflug früher gespeist, und es winkten angenehme Stunden.
Als alles sich passend zusammengefunden hatte, gab Rittmeister von Zirp, der häufigste Gast des Hauses, ein nicht ganz übler, aber wegen seiner unbedachtsamen Schwätzereien Teut nicht allzu sympathischer Kamerad, das Zeichen zum Aufbruch, und die lustige Kavalkade setzte sich in Bewegung.
Schon bei der Abfahrt hatte sich viel Volk zusammengefunden, das die Kutscher in ihren bunten Livreen und die prächtigen Reitpferde anstaunte. Allen voran fuhr Teut mit Frau Olga. Seine Renner flogen dahin, und in der That war es begreiflich, daß die Augen der Einwohner sich besonders auf dieses Gefährt richteten. War man doch gewohnt, nur Ange an der Seite des Rittmeisters zu sehen, während jetzt die nicht minder viel besprochene Frau von Ink neben dem bizarren Rittmeister dahinkutschierte.
Mit einer großen Spannung sah Olga dem Augenblick entgegen, wo sie an der Clairefortschen Villa vorbeifahren würden. Ob Teut wohl hinüberschauen, ob wohl zufällig die Gräfin auf dem Balkon oder im Garten sein werde? Olgas Triumph über die viel beneidete Frau wäre ein vollendeter gewesen! Aber als sie die Villa erreichten, lag das Haus inmitten seines herrlichen Parkes wie ausgestorben. Nicht einmal eins der Kinder, auch niemand von der Dienerschaft war sichtbar.
Plötzlich machten die Pferde—gewohnt, hier zu halten—eine rasche Seitenbewegung, und Olga ergriff unwillkürlich Teuts Arm, indem sie einen leisen Schrei ausstieß.
„Was ist, meine Gnädige?“ fragte Teut kurz und wandte den Blick in raschem Wechsel von der Villa zu den Tieren und von diesen zu ihr.
Olga erklärte entschuldigend, und der Wagen eilte weiter.
„Sie scheinen etwas ängstlich zu sein! Wünschen Sie, daß ich langsamer fahre?“ fuhr er fort und zog die Zügel an.
Olga verneinte, obgleich das Gegenteil der Fall war.
„Neben einem so vollendeten Pferdelenker kann man keine Furcht empfinden,“ sagte sie, in ihren schmeichelnden Ton zurückfallend; aber sie bereite, gerade dieses Wort gebraucht zu haben, denn Teut fiel ein und rief lachend:
„Ah, also auf dem Bock bin ich nicht gefährlich, gnädige Frau? Wenn Sie sich nur nicht täuschen werden!“
Nach einigen Zwischengesprächen brachte Olga nochmals die Rede auf Ange.
Sie wollte durchaus etwas Näheres über sie aus seinem Munde hören.
„Frau von Clairefort ist wohl eine treffliche Reiterin und soll, wie ich höre, selbst mit Vieren erstaunlich sicher fahren?“
„Allerdings, sie sucht ihresgleichen!“ erwiderte Teut, kurz abbrechend, machte Olga—mit der Peitsche in die Ferne weisend—auf einen hübschen Punkt aufmerksam und erging sich über diesen und die Umgegend in lebhafte Lobeserhebungen.
Olga verstand. Er wollte nicht von Claireforts sprechen. Es ärgerte sie, daß er diese Menschen gleichsam wie seine Domäne betrachtete und durch Sein Ausweichen den Abstand andeuten zu wollen schien, der zwischen ihr und Ange lag.
Sie beschloß aber doch noch einen Versuch zu machen. Vielleicht stand sie auch nur unter einem Vorurteil! Sie nahm letzteres an, weil sie es wünschte.
„Es interessiert mich sehr, etwas über Frau von Clairefort zu erfahren,“ begann sie. „Ich erinnere mich nicht, jemals einer so schönen und interessanten Frau begegnet zu sein, und würde es als eine Bevorzugung ansehen, ihr einmal persönlich näher treten zu dürfen. Sie soll neuerdings sehr ernst geworden sein und sich fast ausschließlich der Erziehung ihrer Kinder widmen? Übrigens, welch eine Schar von entzückenden Geschöpfen!“
Teut fiel bei diesen Worten Anges Trauer und alles das wieder ein, was ihn so lebhaft beschäftigte. Auch reizte ihn die etwas zudringliche Art Olgas, nachdem er hinlänglich an den Tag gelegt hatte, daß er über seine Freunde nicht sprechen wollte. Er sagte deshalb, ganz entsprechend seiner Art:
„Meine Freunde haben ihren Umgang aus vorher schon erwähnten Gründen wesentlich eingeschränkt und leben sehr zurückgezogen. Ich würde sonst mit Vergnügen bereit sein, der Frau Gräfin Ihre Wünsche zu übermitteln, gnädige Frau, und bin überzeugt, daß Sie bestätigt finden würden, was ich Ihnen bereits bei Tisch über die Familie mitteilte. Überdies ist es möglich, daß uns Claireforts verlassen werden, sobald der Graf seinen Abschied genommen hat.“
„Nimmt er seinen Abschied?“ fragte Olga, zugleich durch eine Bewegung ihren Dank für Teuts Bereitwilligkeit ausdrückend. „Ich denke, man giebt ihn dem Herrn Grafen.“
„Wer sagt das?“ fuhr Teut auf und lenkte mit rascher Biegung in einen
Seitenpfad.
„Nun, ich hörte so, Herr Rittmeister. Ich bin indes durch den Ton Ihrer Frage belehrt und bitte um Verzeihung. Übrigens zirkulieren über die Clairefortsche Familie so viele widersprechende Nachrichten und sie bildet so oft den Gegenstand des Gespräches, daß es schwer ist, sich ein einigermaßen zutreffendes Bild von derselben zu entwerfen.“
Teut horchte gespannt auf. Beide Hände waren beschäftigt; nur allzu gern hätte er seinen Schnurrbart gedreht. „Wie? Meine ruhig lebenden, liebenswürdigen Freunde werden so viel besprochen? Es ist das erste Mal, daß ich dies höre. Nun, ich denke, man kann nur Gutes von ihnen sagen, gnädige Frau,“ entgegnete er mit gezwungener Sorglosigkeit.
Olga schwieg. Da sie ihre Pläne vereitelt sah, wollte sie wenigstens ihre kleine Frauenrache.
Teut ließ die Pferde im Schritt gehen, sah mit einem nicht mißzuverstehenden Blick seine Begleiterin an und sagte:
„Sie schweigen, meine gnädige Frau. Ich bitte da Sie selbst das Thema berührten.“
Nun gut! dachte Olga und fuhr laut fort: „Setzt es Sie in Verwunderung, daß man über eine Dame spricht, die so abweichende Gewohnheiten hat wie Frau von Clairefort, die reitet und selbst auf dem Bock sitzt, die so schön und so lebhaft ist, deren Mann sich vor der Welt mit seinem geheimnisvollen Kammerdiener verschließt, und der mit einem so ungewöhnlichen Aufwande sein Hauswesen einrichtete, um plötzlich man sagt so—eine fast ängstliche Sparsamkeit einzuführen?“
Olga brach ab. Was sie sagte, war nicht verletzend, aber sie wußte, daß jedes Wort Teut kränken mußte.
„Sie sprachen noch nicht von mir. Ich gehöre doch auch zu den
Gegenständen dieser sehr überflüssigen Betrachtungen des verehrlichen
Publikums. Wollen Sie nicht die Güte haben, nun auch die Ansichten über
mich beizufügen,“ erwiderte Teut, ohne eine Miene zu verziehen.
„Ich glaube nur die Thatsachen, aus denen Urteile und Ansichten sich folgern, wiedergegeben zu haben, Herr Rittmeister.“
„Ganz recht, meine Gnädige. Und die Thatsachen, die sich auf mich beziehen?“
„Sie sind täglicher Gast im Hause und erscheinen öffentlich stets neben
Frau von Clairefort—“
„Allerdings, und weiter, wenn ich bitten darf?“
„Nun, deshalb glaubt das Publikum ein Recht zu haben, Bemerkungen zu machen, die freilich und natürlich jeder Unbefangene verdammt.“
„Ah, vortrefflich! Und zu diesen Unbefangenen gehören auch Sie, gnädige
Frau, und der Intimus Ihres Hauses, Herr von Zirp?“
Der Ton, in dem Teut diese Worte sprach, war allerdings impertinent, ja beleidigend; aber der Blick, mit dem Olga erwiderte, gab nichts nach.
Das Gespräch verstummte, und unter einer recht peinlichen Stimmung legten beide den übrigen Teil des Weges zurück. Vor Teut war ein Vorhang zurückgezogen, dessen Hintergrund ihn erschreckte. Er biß sich auf die Lippen und knirschte mit den Zähnen. Diesen Engel hatte man zu verdächtigen gewagt, und eine Frau wie seine Begleiterin fand eine boshafte Freude an der Wiedergabe solchen Geschwätzes.
Teut durchschaute Olga nur zu gut. Da er ihr die Aussicht genommen, mit Ange in Berührung zu treten, ließ sie die Maske fallen und zeigte ihr wahres Gesicht—
Ärger und Reue wühlten in ihr. Sie fühlte, daß sie durch dieses Gespräch alles verloren hatte. Ihr entging vielleicht sogar das, was sie mit etwas mehr Selbstbeherrschung sich hätte erhalten können: der künftige Umgang mit dem für sie doch allzu interessanten Rittmeister.
Und diese Einsicht, aber auch die Hoffnung, daß er vielleicht vergessen könne, veranlaßte sie, zuerst wieder das Wort zu ergreifen und in möglichst unbefangener Weise gleichgültige Gesprächsgegenstände zu berühren. Es ward ihr dies erleichtert, da man inzwischen nahe dem Ziele war, und einige Herren, darunter mehrere von Teuts Kameraden, herangaloppierend, sich dem Wagen näherten.
„Wir fürchteten schon, daß Herr Rittmeister von Teut Sie zu entführen gedenke, gnädige Frau!“ rief einer von ihnen, ein junger Assessor. „Sie waren uns gänzlich entrückt, und wir haben Mühe gehabt, Sie einzuholen. Aber da kommen auch die übrigen,“ fuhr er fort, und in der That stob eine Wolke auf, in deren grauem Staubnebel man Pferdeköpfe, blitzende Knöpfe und blanke Uniformen erkannte.
Teut, der an alles dachte, hatte seinen Reitknecht vorausgesandt. Als man am Bestimmungsort eintraf, stand dieser schon wartend da und nahm das Gefährt in Empfang.
Während Teut Olga vom Wagen hob, drückte sie ihm leicht die Hand und flüsterte: „Sie sind verstimmt, Herr Rittmeister. Unsere gute, eben begonnene Freundschaft hat doch keinen Stoß erlitten? Ich hoffe es nicht.“
Teut aber sagte: „Sie hatten doch recht mit Ihrer Befürchtung, meine gnädige Frau. Ich nehme den halben Zweifel, den ich bei Tisch aussprach, jetzt ganz zurück.“
Nach diesen Worten verbeugte er sich artig und ließ Olga betroffen und nach einer Deutung seiner Worte suchend, stehen.
Wie sehr deren Laune durch diesen Zwischenfall gelitten hatte, davon erhielt Klara einen nachdrücklichen Beweis, die, einer guten Regung folgend, auf sie zugeeilt kam, und sich nach ihrem Befinden erkundigte. Ohne ihr darauf zu antworten oder gar zu danken, herrschte Olga sie an:
„Mein Gott, wie Dir nur wieder der Hut sitzt und wie Du Dein Kleid zugerichtet hast! Sieh nur! Wie ein Harfenmädchen siehst Du aus! Geh und ordne Deine Toilette!“
Und unmittelbar nach diesen in einem empörenden Ton gesprochenen Worten wandte sie sich mit ihrem liebenswürdigen Lächeln zu einem der Herren, der an sie herantrat und ihr den Arm bot.
Klara stand einen Augenblick leichenblaß. Ihre Augen füllten sich mit
Thränen des Zorns, und ihr Gesicht glühte vor Erregung.
Die Gesellschaft nahm nach einem kurzen Spaziergang, dessen Ziel ein hübsches Wäldchen gewesen war, das Abendessen auf einer Terrasse ein, welche einen zu dem Wirtshause gehörenden Garten begrenzte. Links- und rechtsseitig von derselben zog sich die Landstraße hin, und geradezu schaute man auf den Fluß.
Es war in der That ein außerordentlich schöner Punkt. Langsam zogen, von der Abenddämmerung schon halb verschlungen, große Segelfahrzeuge vorüber, die, aus der Flut geheimnisvoll auftauchend, einem Traumbilde anzugehören, nicht aber die Vermittler harten Tagewerkes zu sein schienen.
Aber drüben sah man auf der stahlgrauen, vom zarten, rötlichen Abendsonnenschein umrahmten Wasserfläche die größeren Segelfahrzeuge wie abgelöst von der spiegelstillen Flut, und die zwischen ihnen hin- und herirrenden kleineren Böte erhöhten durch den Gegensatz die majestätische Ruhe ihrer Erscheinung.
Im Nachtschlaf ruhten schon die Wälder, von drüben erscholl friedlicher Gesang, mitunter ertönte auch ein helles Hallo über das Wasser; und vom jenseitigen Ufer, an dem die glitzernden Lichter der Wirtshäuser aufblitzten, drang einmal leise Militärmusik herüber.
Und über all diesem: über der silbernen Stahlflut, über den stummen
Gebüschen, über den traumselig dahingleitenden Fahrzeugen, über den
Menschen mit ihren ernsten oder sorglosen Gedanken, schwamm der Mond am
blaudunklen Himmel und sandte sein weltdurchleuchtendes, geisterhaftes
Licht herab.
Im ganzen weiten Umkreis eine einzige gewaltige, schneeweiße Wolke mit Riesenfangarmen und Flügeln, unmittelbar über der Mondscheibe schwebend, gebannt, unbeweglich, gleichsam im Schönheitszauber erstarrt.
Teut stand an dem Rande der Brüstung und überschaute die Landschaft. Auch die übrigen hatten sich erhoben, denn nun rasselte es über der nahen Brücke, und in überschnellem Lauf flog ein Wagen dahin. Deutlich waren Menschen und Dinge noch erkennbar.
Und dann plötzlich erscholl aus Kindermund der laute und jubelnde Ruf: „Onkel Axel! Onkel Axel!“ und aus dem vorübereilenden Wagen winkten Händchen, und eine schöne junge Frau, die den Wagen lenkte, nickte lebhaft, und neigte, die Gesellschaft bemerkend, mit verlegener Artigkeit das Haupt. Es war Ange, die, von einem ihrer Ausflüge heimkehrend, jetzt rasch nach Hause drängte.
Wie sie so dasaß mit dem vornehmen, auf den feinen Schultern ruhenden Kopf, umweht von dem weißen Schleier, der in die Abendluft hinausflatterte, so leicht und graziös in der Erscheinung und doch so fest und sicher die Zügel der raschen und ungeduldigen Pferde regierend, mußte sie die Blicke der Menschen fesseln. In wenigen Sekunden jedoch war sie den Nachschauenden entschwunden, und unwillkürlich wandten sich aller Augen auf Teut.
Es gab wohl niemanden in der Gesellschaft, den nicht der gleiche Gedanke beherrschte, und einer von ihnen gab diesem auch Ausdruck. Es war der Assessor, der mit zudringlicher Vertraulichkeit an Teut herantrat und leicht hinwarf:
„Da war ja Ihre kleine, entzückende Gräfin, Herr Rittmeister—“
Aber er sprach nicht aus, denn Teut wandte sich mit seinem starkknochigen Gnugesicht zu ihm, und indem er den Sprechenden mit einem Blicke musterte, vor dem jener unwillkürlich den seinigen zu Boden senkte, sagte er mit schneidender Zurückweisung:
„Da war die Frau Gräfin Ange von Clairefort, mein Herr! Der von Ihnen beliebte Ausdruck war respektwidrig und äußerst unpassend! Sie werden die Güte haben, sich dies für kommende Fälle zu merken!“
Und dann drehte er dem gemaßregelten Assessor den Rücken und ging auf
Klara von Ink zu, mit der er sich, ohne die übrige Gesellschaft für den
Rest des Abends sonderlich zu beachten, ausschließlich beschäftigte.
Auch bot er, den Augenblick erspähend, wo Olga einen Platz neben Baron von Zirp wählte, jener seinen Wagen an und kutschierte, seinen Reitknecht hinter sich, eilend in die Stadt zurück. Seine Verabschiedung von Inks war überaus höflich, aber förmlich. Auch lehnte es Teut ab, an diesem Abend der Aufforderung seiner Kameraden zum weiteren Beisammenbleiben zu folgen.
Als der Wächter die Morgenstunde abrief, saß er, die Hand an die Stirn
gestützt, noch immer grübeln in seinem juchtenduftenden Arbeitszimmer.
Ein wilder Kampf von Empfindungen, der in seiner Brust tobte, raubte ihm
Ruhe und Schlaf.
* * * * *
Ange ward, als sie dem Wagen entstieg und ihre kleine Schar von der Dienerschaft herabgehoben wurde, von dem ernsten Ausdruck überrascht, der sich in Tibets dienen widerspiegelte. Er stand, wie immer, wenn sie zurückkehrte, vorn auf dem Treppenausbau der Villa und öffnete ehrerbietig die Thür.
„Was ist?“ fragte sie ängstlich und hieß ihn durch ihre lebhaften
Gebärden rascher sprechen, als es seine Gewohnheit war.
„Carlitos hat heute nachmittag einen heftigen Anfall von Ohnmacht und
Erbrechen gehabt; wir haben ihn gleich ins Bett gebracht, Frau Gräfin.“
Ange schrie auf und flog die Stufen empor.
„War der Arzt schon da? Ist der Graf in seinem Zimmer?“ redete sie hastig im Vorübereilen die Kammerjungfer an, ohne die Antwort abzuwarten. Sie durcheilte die Wohnräume und erreichte das Kinderzimmer. Hinter ihr schoß wie immer der Strom der Kleinen, die rasch abgezogenen Kleider und Hüte in den Händen und achtlos nach sich schleifend.
„Stille, stille, süße Kinder! Unser Carlitos ist nicht wohl!“ dämpfte
sie, als jene ins Gemach stürmten. Sie saß bereits an dem Bett ihres
Knaben und ließ die Hand auf seiner heißen Stirn ruhen. „Wachst Du, mein
Carlitos?“ flüsterte sie und neigte sich zu ihm herab.
Er wachte nicht und er schlief nichts; er wälzte sich unruhig hin und her, und die Hände erglühten in trockener Fieberhitze. Ange übergab die lebhafte Jorinde und die übrigen Kinder der eintretenden Jungfer und hieß sie ins Speisezimmer hinübergehen. Sie selbst eilte, nachdem sie kühle Tücher über Carlitos' Stirn gelegt, zunächst in das Zimmer ihres Mannes.
Der Graf saß—ein schmerzerweckender Anblick—in seinem großen Stuhl und hatte den Kopf in die Hände vergraben. Die Vorhänge waren fest zugezogen, die mit einem grünen Schirm umgebene Lampe verbreitete ein mattes, schwermütiges Licht, und eine atembeengende Luft erfüllte das Gemach. Dazu die unheimliche Stille und diese peinliche, den Dingen ihr fröhliches Gesicht raubende Ordnung. Ange erschien der dumpfe Raum wie eine Gruft; unwillkürlich schrak sie zusammen. Und kein Lebenszeichen von ihm, als sie die Thür öffnete. Er war entweder eingeschlafen oder eine Erschöpfung hatte ihn in einen halbwachen, willenlosen Zustand versetzt.
„Lieber Carlos!“ sagte Ange weich und trat an den Stuhl, in dem die große gebrochene Gestalt ruhte.
„Du wünschest?“ fragte eine tiefe Stimme.
„Weißt Du denn nicht, daß unser Carlitos krank ist? Ich komme, Dich zu fragen, was der Arzt gesagt hat. Ich bin in großer Sorge.“
Er neigte langsam und müde den Kopf zur Bestätigung.
„Es ist bis jetzt alles geschehen, was er angeordnet hat. Ich war bei unserem Knaben. Er schläft. Der Doktor meint, man müsse die Nacht abwarten, es würden vielleicht kalte Bäder nötig sein.“
„Und was ist es?“ fragte Ange äußerlich ruhig, innerlich von einer unbeschreiblichen Angst verzehrt.
„Ich weiß es nicht,“ sagte Clairefort tonlos und ließ das Haupt wieder in die gestützte Rechte zurückfallen.
Sie sank neben ihm herab und ergriff die schlaff herabhängende Linke.
„Mein Carlos!“ hauchte sie leise und innig.
Er gab den Druck sanft zurück, aber er hob sie nicht auf, und für
Augenblicke schien es in dem Gemach wie ausgestorben. Nur ein leises
Schluchzen war vernehmbar, das aus Anges bedrängter Seele emporstieg.
Sie wußten beide, um was es sich handelte, weshalb sie neben ihm
hingesunken war und weinte.
War das derselbe Mann, der einst um Ange von Butins Hand geworben, der kräftige Mann, aus dessen Augen das Leben blitzte?
Wie hatte man Ange ihr Glück geneidet! Er hatte sie umworben wie kaum ein Mann ein Weib zuvor. Ihr Lächeln, ihr sanfter Blick berauschten ihn, ihre Fröhlichkeit riß auch ihn mit fort, und jede noch so thörichte Hoffnung auf eine ewige Dauer des Glückes teilte er mit ihr.
Und wie Carlitos geboren ward und später Jorinde und Erna—hatte er nicht im ungestümen Freudentaumel das Haus mit Blumen schmücken lassen, seine Umgebung beschenkt und täglich stundenlang dankerfüllt an ihrem Bett gesessen? Und ähnlich war's noch, als die beiden schönen Knaben zur Welt kamen. Er plante mit Ange, was sie dermaleinst werden sollten, wie er für ihre, für der übrigen Zukunft sorgen könne.
Bei der Geburt der kleinen Ange hatte sich schon manches anders gestaltet. Clairefort war nicht mehr so herzlich, so teilnehmend: andere Dinge beschäftigten ihn.
Es schien, als ob ihn etwas heftig bedrücke, als ob ein schwerer Kummer an ihm nage. Die Rückkehr zu einer heiteren, sorgloseren Stimmung war immer nur eine vorübergehende, und sie war stets mit einem sichtlichen Zwang verbunden. Und dann wurde er immer finsterer, immer wortkarger, immer ausweichender, lebte nur für sich, schalt wohl einmal in heftigem Zorn, aber flüchtete sich doch wieder in seine Einsamkeit.
Bei der Übersiedelung nach C. ergriff ihn scheinbar noch einmal die alte
Freude am Leben. Er überschüttete Ange mit Zärtlichkeit, lauschte ihre
Wünsche ab und sprach von einem neuen Leben in neuen Verhältnissen. Auch
verkehrte er nicht mehr so abgeschlossen und geheimnisvoll mit Tibet.
Aber bald war's wieder wie ehedem, ja schlimmer, denn der alte Kummer schien ihn von neuem zu bedrücken, und auch die Eifersucht verzehrte ihn. Und doch suchte er sein Weib nicht an sich heranzuziehen, und nur vorübergehend war er verständigen Auseinandersetzungen zugänglich. Allmählich ward er leidend die nervösen Beschwerden nahmen zu. Der Arzt hatte es ausgesprochen, es war nicht zu verbergen: ein unheilbares Rückenmarkleiden zehrte an ihm. Zuletzt kam er um seinen Abschied ein.
Nun saß er da; kein Mann, kein Soldat, kein Reitersmann mehr, gebrochen, ein lebensmüder Greis, leise oder laut in Schmerzen wimmernd.
Aber nicht körperliche Leiden hatten allein ihn gelähmt. Er hatte geklagt über jede Ausgabe und doch nicht die Kraft gehabt, etwas zu ändern, oder etwas zu verweigern.
Ja, gewiß, auch die Sorgen quälten und verfolgten ihn.
Und neben diesem gedachte Ange Teuts. Welch ein Mann, welch ein Freund! Wie er eingegriffen hatte in die Verhältnisse, wie er alles so wohl gestaltet, und wie mürrisch ihm Carlos gedankt hatte.
Was sollte nur werden! Wie traurig, wie trostlos starrte der Frau das Leben und die Zukunft entgegen! Heute war sie, von Teut wiederholt ermuntert, einmal wieder hinausgefahren und hatte sich hineingeträumt für Stunden in die alten sorglosen Zeiten.
Ihre Gedanken wurden aber durch die Erinnerung an Carlitos unterbrochen.
„Carlos, mein Carlos!“ flüsterte sie. „Ich leide entsetzlich, weil ich weiß, daß Du leidest. Sag, Carlos“—sie stockte; sie drückte seine Hand und legte ihr Köpfchen an seine Schulter—„liebst Du mich noch?“
„O Ange—Ange!“ preßte der Mann hervor. „Ob ich Dich liebe?“
Plötzlich wandte er sich mit mühsamer, aber rascher Bewegung zu ihr, umfaßte sie mit seinen Armen, hob sie empor und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und—mit Thränen.
„Sag mir, was Dich beunruhigt, mein Carlos, was Dich bedrückt neben Deiner Krankheit, um die ich Tag und Nacht sorge,“ hob Ange endlich an und schmiegte sich fester an die Brust ihres Mannes.
Clairefort zitterte, als ob er an ein Verbrechen erinnert werde. Sie fühlte es. Ein drängendes, unerklärlich angstvolles Gefühl jagte durch ihr Inneres.
Aber er stand ihr nicht Rede, selbst jetzt nicht, wo ihre Seelen in
Liebe und Zärtlichkeit zusammenschmolzen, selbst jetzt nicht, wo das
Höchste sie ergriff, was Menschenbrust zu durchdringen vermag.
Sie war zu vornehm geartet, etwas erzwingen zu wollen, was ihr nicht freiwillig gewährt wurde. Und um ihn nicht im Zweifel zu lassen, flüsterte sie besänftigend:
„Nicht Neugierde läßt mich bitten, mein einziger teurer Carlos, nur
Sorge—Sorge—um Dich—“
Die letzten Worte wurden erdrückt durch ihr Schluchzen. Er aber seufzte, von Seelenschmerz gefoltert, tief auf, und nun sein Haupt an ihrer Brust bergend wie ein Kind, hauchte er: „O Ange, Ange, Du Engel—nicht nur dem Namen nach ein Engel!“
Nachdem Ange ihren Mann verlassen hatte, beherrschte sie nur der einzige Gedanke, wie sie ihrem Kinde helfen könne. Sie ordnete an, daß noch einmal zum Doktor gesandt werde, und widerrief es doch wieder, weil er kaum vor einer Stunde das Haus verlassen hatte. Sie befahl, anzuspannen, um zu ihm zu fahren, und doch sandte sie den Wagen wieder fort. Endlich beschloß sie noch einen anderen Arzt zu Rate zu ziehen und dies bei jenem am nächsten Tage durch ihre Angst und Sorge zu entschuldigen. Sie schrieb auch wirklich ein Billet, und ein Diener mußte damit forteilen; aber er kam unverrichtet Sache zurück, da jener aufs Land gerufen war.
Nun endlich wandte sie sich mit ihren Gedanken zu Teut.
Konnte sie den Freund in so später Abendstunde zu sich bitten?
Sie hockte an dem Bett des Knaben und betrachtete jede seiner Bewegungen. Ach, wenn sie ihm doch nicht nachgegeben hätte, als er darauf bestand, zurückzubleiben, um in dem nahgelegenen Weiher zu fischen! Dort konnten giftige Dünste emporgestiegen sein—er mochte sich heftig erkältet haben—oder ihm war gar ein Unfall zugestoßen, den er verschwiegen hatte. So ging es in ihr auf und ab. Immer von neuem kühlte sie des Knaben Stirn, rückte ihm das Kopfkissen, horchte, lauschte auf seine Atemzüge und war zärtlich und ängstlich um ihn besorgt.
Aber die Krankheit nahm nach Mitternacht einen heftigeren Charakter an.
Carlitos wollte aus dem Bett und sprach wirre Dinge.
Er kämpfte mit ihr, während sie ihm weinend widerstand.
„Ach, sei doch ruhig, mein lieber Carlitos, ich flehe Dich an! Siehst Du nicht, daß Deine Mama bei Dir ist! Bitte, bitte, Carlitos, bleibe liegen und rege Dich nicht auf!“
Aber er kannte sie schon nicht mehr, er raste in heftigem Fieber.
In Todesängsten zog Ange die Schnur. Tibet erschien. Er saß geduldig wartend im Nebenzimmer. „Gehen Sie, gehen Sie und sehen Sie, ob der Graf noch wacht. Wenn er kommen kann, bitten Sie ihn zu mir; sollte er aber ruhen—“ Jetzt rührte sich der Knabe wieder und schlug um sich.
„O Tibet, Tibet, mein Kind! Nein, nein, hören Sie! Eilen Sie! Man soll eine Wanne bringen, Eiswasser und dann—Ich danke Ihnen im voraus, Tibet! Eilen Sie zu Herrn von Teut, sagen Sie ihm, ich ließe ihn flehentlich bitten, zu kommen! Nicht wahr, der Doktor sagte, man solle, wenn das Fieber schlimmer werde, ihn kalt begießen? Ah, und die Fenster sind geschlossen! Wir müssen sie öffnen! Ich hörte, Luft, frische Luft sei vor allem nötig!“
Und Tibet eilte fort, und die Frau war wieder allein mit ihrer Sorge und Angst.
Teut war erschienen, hatte getröstet und hatte geholfen. Er setzte den Kleinen in die Wanne und tropfte Wasser aus großen Schwämmen über das heißglühende Haupt; er hob ihn vom Lager und bettete ihn von neuem; er ordnete an, daß die übrigen Kinder in andere Gemächer geschafft wurden, und bewirkte durch seine Fürsorge, daß Carlitos gegen Morgen in einen ruhigeren Schlaf versank.
Aber war es, daß gegen dieses Rasen des Fiebers keine menschliche Hilfe etwas vermochte, oder daß das unerforschliche Schicksal es bestimmt hatte—das Herz dieser holden Frau sollte brechen. Nach zeitweiliger Besserung tobte die Krankheit nur noch heftiger, und was man mit allen Mitteln zu bannen suchte, schien sich lediglich zu verstärken.
Die Ärzte suchten zu trösten, aber das Kind war verloren. Nach mehrtägigem Ringen fielen des Knaben Wangen ein, eine seltsame Farbe bedeckte sein Gesicht, trocken wurde Stirn und Hände, aus dem Munde drang ein Hauch, vor dem Ange erbebte, und endlich—es ging ein Schrei durch das Krankenzimmer—erlosch der Herzschlag des Kindes.
* * * * *
„Teut,“ sagte Ange, die in einem Zimmer nach Garten gebettet war und—einem Marmorbild vergleichbar, das Thränen vergießt—jedes menschliche Mitleid wachrufen mußte, einige Tage später, „eine Bitte habe ich an Sie, wenn mein süßer Knabe—“—hier brach die Stimme und verlor sich in ein so verzehrendes Schluchzen, daß des starken Mannes Inneres erbebte—„wenn morgen Carlitos begraben wird, lassen Sie Lux und Lady Anna den Totenwagen ziehen. Wissen Sie noch, Teut, wie Carlitos die Tiere liebte? Sie zu besitzen, war sein höchster Wunsch. Er wollte ganz werden wie Sie, Teut. Alles, was Sie thaten, was Sie besaßen, war unnachahmlich. Nicht wahr, Sie haben ihn auch geliebt—?“
Thränen erstickten von neuem ihre Stimme.
Teut wandte sich ab und trat ans Fenster. Ja, ihr Wunsch sollte erfüllt werden, aber es bedurfte dazu einer Vorbereitung, vor der Teut einen Augenblick zurückschreckte. Diese wilden Geschöpfe gingen in keinem bedächtigen Trauerschritt; sie mußten gejagt, erschöpft werden, um sanften Schrittes des Knaben sterbliche Überreste an den Totenacker zu führen. „Es giebt nichts, was ich Ihnen verweigern würde, Ange,“ sagte Teut bewegt und reichte der blassen Kranken die Hand. „Ich gehe jetzt, um alles vorzubereiten.“
Er riß sich gewaltsam von ihr los, besuchte Clairefort, der ganz gebrochen daniederlag, und eilte nach Hause. Hier traf er noch einige auf das Begräbnis bezügliche Anordnungen, und dann ließ er anspannen. Seine zwei Diener mußten sich auf den Rücksitz setzen und nun verließ er die Stadt.
Im Carriere jagte Teut über die Landstraßen, fuhr die ganze Nacht, erbarmungslos auf die Tiere einhauend, und als sie endlich zurückkehrten, als Lux und Lady Anna standen, zitterten sie wie in Fieberschauern und keuchten wie gemarterte Schlachtrufe. Ein Geschirr, mit weißen Rosen, Lilien und Kamelien völlig übersät, war bereits eingetroffen. Es ward Lux und Lady Anna angelegt, und sie selbst vor den dunklen Trauerwagen gespannt, von dem unzählige Rosenbüschel in denselben Farben herabhingen oder zu Blumenkronen aufgebunden waren.
So erreichte Teut, von Scharen Neugieriger gefolgt, die Villa.
Im Hause roch es scharf und unheimlich nach Lebensblumen und Lorbeer, zudem erfüllte eine betäubende Luft alle Räume, denn Kränze und schleifenverzierte Bouquets lagen berghoch in den Vorzimmern.
Endlich war der Augenblick gekommen. Man hob den mit Blüten und
Blättern überschütteten Sarg empor und trug ihn hinab.
Teut führte Clairefort und Ange, die jetzt thränenlos vor Schmerz, mit irrem Blick, an seinem Arme hing, ans Fenster, öffnete es und ließ sie hinausschauen.
In diesem Augenblick ertönte in sanften Akkorden ein Trauermarsch, langgezogen, schmerzvoll und jeden Anwesenden bis ins Herz rührend.
Und dann sah Ange auf Teuts Lieblingspferde, die mit gesenkten Köpfen, gleichsam mittrauernd und mitempfindend, dastanden und deren schwarze Leiber von den weißen Abschiedsblumen umwunden waren, die Teut seinem kleinen Freunde Carlitos mit auf den Weg gab.
„Carlitos, Carlitos—mein einziger süßer Knabe!—O Carlos! Teut—Teut!“ brach es aus Ange hervor, und in den ersterbenden Blick mischte sich ein Ausdruck dankbarer Hingebung, der Teut für alles belohnen konnte.
Endlich überließen die Männer Ange den Händen der Frauen und schlossen sich den in Trauerkleidern harrenden Geschwistern des Verdorbenen an. Wie sie schön waren mit ihren seinen, blassen Gesichtern und mit ihrem goldenen Haar, und vor allem, wie rührend die kleine Ange aussah, die hinter dem Sarge einherschritt.
Es war, als sei die Mutter noch einmal jung geworden, nun aber kein menschliches Gebilde mehr, sondern ein herabgestiegener Engel mit jenem schwermütigen Verzicht in den ernsten Zügen, welche wir in den Heiligenbildern großer Meister bewundern.
Als die Klänge der Musik in der Ferne verhallt, als die letzten dunklen Gestalten Anges Blick entrückt waren, als nun Wirklichkeit geworden, wogegen sich die Gedanken und Empfindungen der Frau in überqualvollen Tag- und Nachstunden aufgelehnt hatten, da schoß auch der Schmerz noch einmal empor, stieß seine brennenden Zungen in das Herz der geprüften Frau und bewirkte, daß sie mit einem dumpfen Schrei zu Boden fiel.
So fand Tibet, der im Nebenzimmer, bleich wie ein Verurteilter, den Vorgängen draußen mit dem Blick gefolgt war und nun erschrocken herbeieilte, seine schöne, arme, geliebte Herrin.
Wenige Wochen waren vergangen. Teut saß in dem Clairefortschen Wohnzimmer und hatte die kleine Ange auf dem Schoß. Das Kind spielte mit einer silbernen Kette, die aus dem Waffenrock hervorschaute, und zerrte zuletzt daran. Schon oft hatte Ange auf das geheimnisvolle Ticken gelauscht, nun trieb sie heute abermals die Neugierde. „Warte,“ sagte Teut gutmütig, löste die Uhr und legte sie in die zarte Hand des holden kleinen Mädchens.
„Carlitos hatte auch eine Uhr,“ hob Ange an, während sie mit den Fingerspitzen auf das Glas tupfte. Und zu Teut aufblickend, fuhr sie fort: „Hat er sie mitgenommen? Ist sie auch beim lieben Gott?“
Als Teut nicht gleich antwortete, glitt sie ihm vom Schoß und rief lebhaft: „Danach muß ich Mama fragen!“
Er aber hielt sie fest und zog sie abermals an sich.
„Bleib, Ange. Mama schläft. Wir dürfen sie nicht stören. Ich will Dir alles erzählen: Nein, mein Liebling, seine Uhr hat Carlitos nicht mitgenommen. Die hat Dein Papa. Vielleicht, wenn Du erwachsen bist, erhältst Du sie.“
„Die ist ja viel zu groß! Das ist ja eine Herrenuhr!“ rief Ange mit abweisender Wichtigkeit; „Mama hat mir eine kleine versprochen—eine ganz kleine, wie Bella ihre—“
„Bella? Wer ist Bella?“
„Das ist doch meine große Puppe.“
„Ach, verzeih, Ange, daß ich das nicht wußte.“
„Soll ich sie holen?“ nickte das Kind lebhaft. Und ohne Antwort abzuwarten, lief sie fort und kam gleich zurück.
„Es geht jetzt nicht, Onkel,“ erklärte sie ernsthaft, „Bella schläft.“
„So? Sie schläft? Kannst Du sie nicht wecken? Bitte, bringe sie, damit ich sie kennen lerne.“
Ange schüttelte den reizenden Kopf, aber in das bleiche Gesichtchen stahl sich ein schelmischer Ausdruck.
„Da ist sie ja! Da ist sie ja! Und Du hast gar nichts gemerkt!“ jubelte sie, zog das hinter dem Rücken versteckte Püppchen hervor und legte es ihm in die Arme. „Ist sie hübsch, Onkel?“
„Sehr hübsch, Ange.“
„Ich habe noch eine, aber—“
„Nun?“
„Ben hat ihr ein Auge eingestoßen und auch die Nase.“
„Da muß ich Dir wohl eine neue schenken, Ange?“
Die Kleine schüttelte den Kopf.
„Nein? Weshalb nicht?“
„Mama sagt, Du schenktest uns schon so viel. Wir dürften Dich nie mehr um etwas bitten.“
„So, das sagt Mama? Aber Du hast ja nicht gebeten, Ange. Ich habe sie
Dir ja angeboten.“
Einen Augenblick sann das Kind und dachte nach, dann nickte es lebhaft:
„Ja, eine recht große, die auch schlafen kann und ein seidenes Kleid hat, Onkel Axel. Schenkst Du sie mir bald—heute?“
„Ich will sehen, Ange. Aber mir fällt etwas ein. Wenn ich Dir nun eine
Puppe bringe und den übrigen keine?“
„Die andern spielen ja gar nicht mehr mit Puppen!“ rief Ange, Teuts
Unwissenheit mit höchster Verachtung strafend.
„Ganz recht! Aber sie möchten gewiß etwas anderes haben, was ihnen
Freude macht. Erna wünscht sich vielleicht einen seidenen Sonnenschirm,
Jorinde einen neuen Hut, und Ben und Fred möchten gerne kleine Ponys
haben.“
„Ja, ja, Onkel Axel,“ rief Ange stürmisch, „schenk ihnen Ponys, dann können wir zusammen ausfahren—“ Aber sie unterbrach sich ebenso rasch: „Nein, Onkel, es geht doch nicht. Mama will ja nicht, daß Du uns etwas schenkst. Papa erlaubt es nicht.“
Teut horchte auf.
„Er fragte Mama, woher sie ihr Geld hätte. Mama weinte und sagte, daß Du uns Geld geschenkt hättest. Da wurde Papa so böse, daß wir auch alle weinten und hinausgehen mußten. Mama darf nichts von Dir nehmen, Onkel. Nein, Onkel, schenke Ben und Fred keine Ponys. Papa nimmt sie ihnen doch weg, und sie werden bestraft. Aber ich will Papa bitten, ob Du mir eine Puppe schenken darfst. Ja, Onkel? Mama soll ihn bitten.“
Teut antwortete nicht. Es schwirrte ihm noch in den Ohren, was das Kind gesprochen, und seine Gedanken waren weit ab.
„Onkel Axel, Onkel Axel! Hörst Du denn gar nicht?“
„Ja, mein liebes Kind,“ flüsterte Teut, wie aus einem Traum erwachend.
„Du wirst Deine Puppe erhalten.“
Ange klatschte in die Hände und sprang von ihm fort.
* * * * *
Am selben Tage in der Nachmittagsstunde öffnete Jamp die Wohnstubenthür seines Herrn und meldete den Rittmeister von Zirp.
„Ah, Zirp! Willkommen! Nehmen Sie Platz!“
„Ich störe doch nicht?“
„Keineswegs—bitte! hier Cigarren.“
Nach wenigen Augenblicken saßen sich die beiden Herren gegenüber.
„Ich komme,“ hob Zirp an, „Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten,
Teut.“
„Bitte, wenn es in meiner Macht steht—“
„Also, ohne Einleitungen. Ich brauche fünftausend Mark, die ich augenblicklich nicht habe, die ich aber durch Bürgschaft erhalten kann. Ich wollte Sie nun bitten, liebster Teut, daß Sie—“
„Bürgschaften übernehme ich nie,“ erwiderte Teut. „Ich habe meinem Vater einen Schwur geleistet, mich niemals in der Weise zu verpflichten. Also dieser Fall ist ausgeschlossen.“
„Fatal! Ich brauche das Geld bereits morgen und weiß es sonst nicht anzuschaffen.“
„Hm, bis morgen—?“ sagte Teut nachdenklich. Und nach einer Pause: „Entschuldigen Sie die Frage, wie die Sache sich so auf die Stunde hat zuspitzen können? Es wird gar nicht möglich sein, Ihnen so rasch zu dienen.“
Teut schlug mit den Hacken zusammen, und in Zirps Mienen malte sich einige Verlegenheit. Er streifte die Asche von der Cigarre auf den Fußboden ab und benutzte dann mit einem nachträglichen „Pardon!“ den bereit gestellten Aschbecher.
„Bitte, bitte!“ schob Teut phlegmatisch ein.
„Hören Sie, lieber Teut,“ begann Zirp mit gezwungenem Anlauf, „ich will offen reden. Ich habe Wechsel ausgestellt, die bereits gestern fällig waren. Ich hoffte sie auf die Stunde bezahlen zu können. Allein meine Schwester, auf die ich sicher rechnete, hat mir mein Ansuchen abgelehnt.“
Er hielt inne, aber Teut kam ihm nicht zu Hilfe. Eine peinliche Pause trat ein.
„Wohl,“ sagte Teut endlich und strich den langen Schnurrbart; „ich begreife. Aber was ich durchaus nicht verstehe“—Zirp fand diesen hochmütigen Ton, dieses etwas schulmeisterliche Wesen Teuts ganz unerträglich—„wie wollen Sie denn nach der üblichen Frist von drei Monaten zahlen?“
Zirp biß sich auf die Lippen und knipste abermals die Asche auf den
Teppich.
„Können Sie eine Garantie geben, daß Sie um jene Zeit die
Schwierigkeiten zu beseitigen vermögen?“
„Gewiß, gewiß!“ erwiderte Zirp leichtfertig.
„Und diese wäre?“ fuhr Teut unerbittlich fort.
„Nun, meine Schwester wird sich breitschlagen lassen—“
„Hm! Aber wenn Sie sich nun doch in dieser Annahme irren?“
„Ah, das ist ja nicht denkbar! Sie muß ja—“
„Sie muß? Weshalb? Entschuldigen Sie—“
„Nun es steht doch alles auf dem Spiel, wenn ich nicht zahle. Sie kennen ja die Konsequenzen.“
Zirp wagte während der Schlußworte das Auge nicht emporzuschlagen.
Teut sah ihn an und schüttelte den Kopf; dann sagte er in einem milden
Ton:
„Zirp! Sie waren bisher leichtsinnig. Ich schätzte Sie aber als
Ehrenmann. Wäre es nicht besser, Sie beugten bei Zeiten einer
Katastrophe vor, die mir bei dieser Sachlage unausbleiblich erscheint?“
Zirp hatte sich erhoben und ordnete auf der Etagère Teuts zahlreiche Cigarrentaschen. Halb gärte es in ihm auf, halb packte ihn die bessere Einsicht. Endlich sagte er: „Ich sehe, daß Sie mir nicht helfen wollen. Bitte—“ unterbrach er seine Rede, als Teut eine Bewegung machte, „ich mache Ihnen daraus keinen Vorwurf. Da Sie aber in bester Absicht gesprochen haben—ohne Zweifel—wie soll ich mit Ihren Ratschlägen und Hindeutungen auf die Zukunft morgen meine Verpflichtungen erfüllen?“
Ohne eine unmittelbare Antwort zu geben, sagte Teut, sich gegen die Fensterbank lehnend und einen Siegelring an seiner kräftigen Hand drehend:
„Wer ist der Inhaber des Wechsels und wieviel sind Sie wirklich darauf schuldig?“
„Matt hat das Papier in Händen,“ ertönte es kleinlaut.
„Ich dachte es mir! Und wie viel empfingen Sie darauf?“
„Dreitausend Mark hat mir der Schuft gegeben.“
Teut sann einen Augenblick nach. Dann erhob er den Blick, sah Zirp freundlich an und sagte kurz entschlossen:
„Gut, dreitausend Mark und einen guten Zins über den landesüblichen will ich Matt zahlen, auch selbst den Kerl vornehmen und alles für Sie ordnen—“
„O Teut, lieber, braver Freund!“
„Halt, Zirp! Ich habe eine Bedingung: Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß
Sie nicht mehr spielen und nie mehr Wechsel unterzeichnen.“
Zirp machte eine zustimmende Bewegung.
„Nein, nein, nicht so rasch! Besinnen Sie sich wohl!—Ferner: Sie beantworten mir eine Frage, wahrheitsgetreu, ohne Rückhalt, als Kavalier.“
Zirp horchte gespannt auf. Des Sprechenden Stimme klang verändert—ernster, fast drohend.
„Ich bitte, sprechen Sie, Teut.“
„Nein, Zirp, erst antworten Sie mir, ob Sie meine Bitte erfüllen wollen. Was ich von Ihnen fordere, ist nichts, was Sie mit Ihren Grundsätzen in Konflikt bringen kann, denn derjenige, der gut genug ist, in intimsten Privatangelegenheiten als Freund zu helfen, ist wohl so viel wert wie diejenigen, bei denen der Antragsteller die Stunden seiner Langenweile vertreibt. Also?“
„Gut! Obgleich mir Ihre Rede unverständlich ist und obgleich ich fast erschreckt bin durch den feierlichen Ton—ich gebe Ihnen hiermit mein Ehrenwort, daß ich Ihre Frage nach bestem Wissen, wahrheitsgetreu, beantworten werde.“
„Nun,“ hob Teut an, „dann frage ich Sie: Hat jemals jemand behauptet, daß—die Gräfin Ange—Clairefort—meine—Geliebte—sei?“ Teut stieß die Worte zögernd, in Absätzen hervor. In scharfer Abgrenzung markierten sich die Linien seines mageren Gesichtes und seine Mundwinkel zuckten. Zugleich schob er das Monocle ins Auge und schien Zirp mit seinen Blicken durchbohren zu wollen.
„Sie schweigen?“ drang es heiser aus Teuts Munde. „Gut! Das ist auch eine Antwort. Ich danke Ihnen. Rechnen Sie auf mich; aber“—und ein so drohender Ernst malte sich auf des Rittmeisters Zügen, daß Zirp unwillkürlich zusammenschrak—„ich rechne auch auf Sie, daß Sie in Zukunft Ihre Reitpeitsche jedem ins Gesicht schlagen, der es wagen sollte, diese edle Frau auch nur durch eine Miene zu verdächtigen!“
Für Augenblicke war es stumm zwischen beiden Männern. Teut hatte sich abgewandt und schaute auf die Gasse. Endlich trat Zirp näher und ergriff dessen Hand.
„Teut, welch ein Mensch sind Sie! Unter Tausenden ist nicht
Ihresgleichen. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich eingedenk sein werde
dieser Stunde und mich Ihnen bewähren werde als Freund. Dank, nochmals
Dank! Ich gehe jetzt. Adieu——.“ Zirp wartete. Keine Bewegung, keine
Antwort.
Erst nach geraumer Zeit veränderte der Mann, dem ein so braves Herz unter des Königs Rock schlug, seine Stellung, und mit einem Blick, in dem sich widerspiegelte das Leiden seiner Seele, drückte er jenem die Hand und bat ihn durch eine Bewegung, das Zimmer zu verlassen.—
Vierzehn Tage später empfing Teut von Zirp die Anzeige, daß dieser sich mit Eva von Ink verlobt habe. Anfänglich starrte Teut das Billet überrascht an und schüttelte den Kopf, bald aber ergriff er die Feder und schrieb unter Beifügung des inzwischen eingelösten Wechsels die nachfolgenden Worte:
„Lieber Freund! Ich gratuliere. Sie haben den Weg eingeschlagen, der Ihnen die Ausführung Ihrer Entschlüsse zu einem neuen Leben erleichtert, ja, wie ich hoffe, sichert! Bravo deshalb!
Stets Ihr
Axel von Teut-Eder.“
Auch der Familie Ink sandte Teut seine Glückwünsche, aber einen Besuch machte er nicht.
* * * * *
Der Sommer 1870 war gekommen, der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich stand vor der Thür. Eine ungeheure Erregung hatte alle Gemüter ergriffen, und auch in C. sprach man von nichts anderem als von diesem drohenden, in alle Verhältnisse eingreifenden Ereignis. Begierig lasen die Männer die Zeitungen, eine Nachricht überholte die andere, und in den militärischen Kreisen herrschte fieberhafte Spannung über die zu erwartenden Marschordres.
„Ist's wahr, ist's möglich?“ rief Ange und eilte Teut entgegen, der sich sogleich zu seinen Freunden begab. „Haben Sie schon Befehl zum Ausrücken erhalten? Wann? Wohin geht's? O, kommen Sie! Carlos ist in großer Ungeduld, Sie zu sehen und zu sprechen.“ Und sie zog ihn mit sich fort in ihres Mannes Gemach.
Clairefort war kaum wiederzuerkennen. Die drei Jahre, seitdem er nach C. versetzt war, hatten ihn völlig verändert. Sein Blick war unheimlich starr, ein schwarzer Bart umrahmte sein Gesicht, und die mageren Finger zuckten in nervöser Erregung. Er bewegte sich unsicher, hielt sich meistens an den Möbeln fest und schritt auch dann mit jenen willenlosen Bewegungen einher, an denen man die Rückenmarkleidenden erkennt. Durch übermäßigen Gebrauch narkotischer Mittel hatte er seinen Zustand nicht gebessert, und oft glich er, wenn er aus dem künstlichen Schlaf erwachte, einem Geisteskranken.
Heute war er klarer; er hob sich in seinem neuerdings für ihn angefertigten Krankenstuhl empor und richtete einen fragenden Blick auf den Eintretenden.
„Schon etwas Neues, Teut? Wann geht's fort? Ah, und ich liege hier, ein ohnmächtiger Kranker, und muß zusehen.“
Ange tröstete mitleidig und verwies auf Besserung, freilich ohne es selbst zu glauben. Teut nickte ernst und gab Antwort auf diese und spätere Fragen.
„Ich denke, wir werden übermorgen C. verlassen“, sagte er. „Dem Oberst ist nur mitgeteilt, daß wir uns bis dahin marschfertig halten sollen. Eine bestimmte Ordre ist noch nicht eingetroffen.“
„Schon übermorgen,“ rief Ange erschrocken, ließ die Arme sinken, die noch eben auf der hohen Lehne des Krankenstuhls geruht hatten, und legte die Hand aufs Herz. Auch Clairefort wiederholte dieselben Worte, aber wie ein Abwesender, der mit seinen Gedanken weit fort ist.
„Bitte, Ange,“ hob er endlich mit sichtlicher Überwindung an, „verlasse uns jetzt. Ich habe etwas mit Teut zu besprechen.“
Ange sah das ernste Gesicht der beiden Männer und wandte sich gehorsam zum Gehen. Teuts Mienen blieben unbeweglich: vergeblich suchte sie seinen Blick.
Nachdem sie das Gemach verlassen hatte, fiel Clairefort zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
„Sie sind bewegt! Was ist Ihnen, Clairefort?“ begann Teut, einen Stuhl herbeirückend und des Freundes Schulter berührend. „Sie wünschen mir etwas zu sagen? Ich höre, Clairefort.“
Er hielt inne und erwartete, daß jener das Wort ergreifen werde. Als
Clairefort stumm blieb, fuhr er fort:
„Reden Sie! Was es auch sei, es fällt in den tiefsten Brunnen! Teilen
Sie sich dem Freunde mit, der alles verstehen, und alles—“
„Verzeihen kann?“ ergänzte der Kranke, richtete sich plötzlich empor und sah Teut mit einem flehenden Blicke an.
„Ja,“ sagte Teut, „der alles verzeihen kann.“
Endlich beim Abschied, vielleicht beim Nimmerwiedersehen löste sich Claireforts Zunge. Wie lange hatte Teut ein Vertrauen herbeigesehnt, das unter den gegebenen Verhältnissen so natürlich war. Immer hatte Clairefort geschwiegen. Oft schien er einen Anlauf nehmen zu wollen, um sein Inneres zu öffnen, um abzustoßen, was ihn bedrückte, aber stets hatte sich sein Mund wieder geschlossen.
„Wohlan, es sei!“ begann Clairefort. „Es drängt mich, Ihnen heute zu sagen, was mich quält, Teut. Wer weiß, ob Sie mich noch lebend finden, wenn Sie zurückkehren. Hoffen wir es nicht, daß ich inzwischen davongehe, nehmen wir aber an, daß wir uns das letzte Mal gegenüberstehen. Vergeben. Sie mir auch—“ Clairefort stockte und holte mühsam Atem—„wenn ich Ihnen so oft wehe gethan habe, Sie durch Empfindlichkeiten, durch eifersüchtige Regungen, durch ein falsches Ehrgefühl kränke. Rechnen Sie, wenn es Ihnen möglich ist, ein wenig mit meinem Zustand, den ich selbst in seiner Bedeutung und seinem Umfang nicht kannte. Ich bin ein willenloser, schwankender Mensch geworden. Ach, Freund—“ Clairefort unterbrach sich, Schweißtropfen traten auf seine Stirn, und die Hände irrten unruhig umher—„ich habe mich unsühnbar vergangen gegen meine Frau und—meine Kinder—“ Er hielt inne, und auf seinem Gesicht malte sich eine furchtbare Angst. Er wollte weiter reden, aber vermochte es nicht.
Teut sprach sanft auf ihn ein: „Erholen Sie sich, Clairefort. Und nochmals: Fürchten Sie keinen Tadel! Was es auch sei, vertrauen Sie sich mir an.“
„Nun denn—“ ächzte jener und griff krampfhaft nach des Freundes Hand. „Nun denn—hören Sie. Ich habe—ich habe—nein, ich vermag Ihnen das Verbrechen—meine Schande nicht aufzudecken! Und doch möchte ich nichts verschweigen einem Manne, der wie keiner mein Vertrauen verdient, der es fordern kann, dem ich schon lange mich hätte eröffnen folgen, zu dem ich aber nicht sprach, weil die Scham mich erdrückte.“
Teut hörte mit angstvoller Spannung zu. Was würde er hören? Schande,
Verbrechen? Vergeblich sann er hin und her.
„Seien Sie ein Mann, Clairefort. Raffen Sie sich auf. Wir sind hier zu zweien. Es bedarf keiner Versicherung, daß nie eine Silbe über meine Lippen kommen wird.“
„Nun denn, Teut, ich habe—unser ganzes Vermögen, das Vermögen meiner Frau, mein eigenes, das meiner Kinder—an der Börse verspielt,“ zitterte es aus des Kranken Munde. „Wir leben schon seit Jahresfrist von dem letzten durch Tibet ohne mein Wissen geretteten Kapital—und stehen in wenigen Wochen vor dem—vor dem Nichts—dem ich—ich—“
Der Mann fiel zusammen wie ein Scheit, das im Ofen zu Asche verglommen, plötzlich sich ablöst.
Teut wurde leichenblaß; es krallte sich um sein Inneres Schmerz und Empörung zugleich. Was er hörte, war mehr als entsetzlich. Das konnte ein Mann thun einem solchen Wesen, solchen Kindern? Er biß sich auf die Lippen und sprang empor. Aber nur einen Augenblicke dann lichtete sich in der Brust dieses seltenen Menschen der Funke edler Gesinnung, und lodernd schoß die Liebe empor für sie, der er geschworen, ein Freund zu sein fürs ganze Leben.
„Clairefort,“ sprach er, „wir erörterten nur einmal Geldangelegenheiten, und es soll heute das letzte Mal sein. Fürchten Sie nichts. Anders wird Ihr Leben sich zwar gestalten, aber Sie werden nicht darben. Axel von Teut meint es ernst mit Freundschaft und Gelöbnissen. Diese Versicherung sei Ihnen genug. Was geschehen, was hinter uns liegt, werde nie wieder zwischen uns berührt. Nur eine Bitte spreche ich aus: Sichern Sie mir zu, daß Ange nie erfahren wird, wie Ihr Vermögen zerronnen, noch weniger, daß es gänzlich dahin ist. Verschweigen Sie namentlich die Rolle, welche fortan der Freund übernimmt. Ich gelte von heute als Verwalter Ihrer Einkünfte und als der Vormund Ihrer Kinder. Sind Sie einverstanden?“
Clairefort hob sich empor. Seine Knie schlotterten, seine Augen glänzten überirdisch, aber indem er die Arme ausstreckte, um sich an des Freundes Brust zu werfen, glitt er aus und fiel schwerfällig auf den Teppich.
Teut beugte sich herab und horchte an seinem Herzen. Es schlug. Rasch eilte er zur Klingel. Gleich darauf trat Ange, von Tibet gefolgt, ins Zimmer.
„Beruhigen Sie sich, Gräfin,“ sagte Teut besänftigend. „Es ist nichts Schlimmes. Bringen wir Carlos ins Bett. Nur eine Ohnmacht. Er fühlte sich so schwach. Es wird vorübergehen.“
Ange forschte angstvoll in den ernsten Mienen des Sprechenden, während
Tibet seinen Herrn aufrichtete und sorgsam zu betten suchte.
Nichts! Nur einmal sah er sie an, und in seinem Auge blitzte die alte, mit Trauer vermischte Zärtlichkeit.
Und dann kam der Abschied. Es war an einem Spätnachmittage. Ange war im Begriff, in den Garten hinabzusteigen, um die abgekühlte Luft zu genießen und nach den Kindern zu sehen. Jorinde und Ben schaukelten unter den schon dunkle Schatten werfenden Buchen in der Hängematte, und Fred und Erna holten Gießkannen herbei, um den Blumen ihrer Beete Wasser zu geben. Aus den Gebüschen, aus dem Erdreich quoll ein sanfter Duft, denn der Tau reizte die zarten Nerven der Bäume und Gräser. Bevor Ange die letzten Treppenstufen erreicht hatte, öffnete sich die Thür und Teut trat ihr entgegen. Sie sah an seinem Blick, daß er komme, um lebewohl zu sagen.
„Ich gehe zu Carlos hinauf,“ sagte Teut, „falls Sie in den Garten wollen, werde ich Sie später dort aussuchen. Noch diesen Abend verlassen wir die Stadt.“
Ange lehnte sich an das Geländer und legte die Hand auf die Brust.
„Also wirklich?“ Sie sah ihn mit einem ihrer stillen Blicke an, und er suchte ihre Augen mit einem Ausdruck, in dem sich nur zu deutlich widerspiegelte, was ihn bewegte.
„Werden Sie mitunter meiner gedenken, Ange?“
Sie antwortete nicht, sie neigte nur leise das Haupt. Wie schön sie gerade heute war! Ein eng anschließendes schwarzes Kleid umspannte ihren Leib, und zwei weiße Rosen schmückten ihre Brust. Um den Kopf hatte sie ein leichtes Tuch geschlagen, unter dem das zarte Gold ihres Haares hervorschaute. Und in dem Blauweiß ihrer Augen schwammen jene sanften und doch so dunkel blitzenden Sterne, welche kein Mann vergaß, wenn er sie einmal gesehen hatte. Während sie so vor ihm stand und das leichte Haupt auf die Hand stützte, fielen die reichen Spitzen des Gewandes zurück, und ein Arm von tadellosem Ebenmaß ward sichtbar. Ihre Gestalt schien in diesem Augenblicke frei in der Luft zu schweben, bei der unnachahmlichen Grazie ihrer Erscheinung von der Erde abgelöst zu sein.
„Liebe Ange!“ flüsterte Teut, von ihrem Anblick hingerissen, und trat einige Schritte vorwärts.
Sie aber glitt langsam die Stufen hinab und bat ihn durch eine Bewegung, ihr zu folgen.
Sie umschritten, ungesehen von den Kindern, das Haus und bogen in einen stillen Laubgang ein. Die untergegangene Sonne webte noch mit schwachen Lichtern in der Ferne; hier war es fast dunkel.
Wortkarg gingen sie nebeneinander her; beiden stockte die Sprache. Als sie zum zweitenmal den Weg maßen, schlug der Ruf eines der Kinder an ihr Ohr. „Mama Ange! Mama Ange! Wo bist du?“
Nun ergriff er hastig ihre Hand, legte seinen Arm um ihren Leib, und indem sie es duldete, fühlte er, daß eine Sekunde ihr Haupt an seiner Brust ruhte.
„Dank, Dank für alles, Teut! Auf Wiedersehen!“ schluchzte sie und riß sich von ihm los. „O Ange, Ange, meine liebe Freundin! Vergessen Sie mich nicht!“ flüsterte der Mann und hielt die aus dem Dunkel wie eine Lichterscheinung hervortretende Gestalt zurück.
„Niemals, niemals, Teut!“ preßte sie unter Thränen hervor. „Doch nun—die Kinder rufen!“
Sie traten aus den sie umgebenden Bäumen heraus. Im Grase zirpte es leise, ein Vogel flatterte schlaftrunken in den Zweigen. Drüben schien die Sonne ganz versunken; der Tag war zur Ruhe gegangen, und ihre Hände lösten sich.
* * * * *
„Lieber Teut!
Gottlob, daß Ihr Brief kam. Sie haben mich aus einer unsagbaren Angst befreit. Jetzt weiß ich, daß Sie am Leben und gesund sind; nun tritt alles übrige in den Hintergrund. Ich schreibe auch gleich, um Ihnen an den Tag zu legen, wie sehr meine Gedanken bei Ihnen sind.
Lassen Sie mich vorerst erzählen, wie es bei uns geht. Carlos' Zustand ist derselbe hilflose, aber er ist zeitweise heiterer und mitteilsamer. Ich war sehr gerührt, als er vorgestern die Kinder zu sich kommen ließ, sie liebkoste und sich mit ihnen beschäftigte. Das ist seit Jahr und Tag nicht mehr der Fall gewesen.
Sie glauben aber auch nicht, wie artig die kleine Schar ist und welche
Fortschritte sie macht.
Ben und Fred gehen nun ins Gymnasium und stolzieren sehr wichtig mit ihren Schulranzen einher. Mit Fräulein Elise, der Gouvernante, geht es fortdauernd gut. Sie ist eine liebenswürdige, gutherzige Dame, und die Mädchen zeigen ihr auch täglich, wie lieb sie dieselbe haben.
Es wird Sie freuen, lieber, vortrefflicher Freund, daß Carlos jetzt auch nicht mehr so übertrieben sparsam ist. Seit Ihrem Fortgang hat er für den Haushalt zugelegt, und auch Tibet hat mehr zur Verfügung als in dem letzten halben Jahre. Ich hatte schreckliche, peinliche Verpflichtungen bei Handwerkern und in meiner Umgebung—schelten Sie nur nichts ich verstand es ja bisher so schlecht, lerne es aber gewiß noch einmal ganz gut—, die nun alle bezahlt sind. Welch ein köstliches Gefühl, keine Schulden zu haben!
Die Villa behalten wir einstweilen, da die Miete ermäßigt ist. Carlos stellte dem Besitzer die Alternative, abzulassen oder der Kündigung gewärtig zu sein.
Sehen Sie, so ist es bei uns. Wäre mein teurer Carlos nicht so krank, lebte Carlitos noch und wären Sie nicht fort, Sie mein lieber, treuer Teut, ich würde sagen, daß wir vollkommen glücklich sind!
Ich bekam neulich, auf Empfehlung von Fräulein Elise, die Briefe der
Madame de Sévigné an ihre Tochter in die Hand. Welch ein Genuß! Jede
Mutter sollte lesen, was diese weltkluge und feinfühlende Frau
geschrieben hat, und suchen, es sich zu eigen zu machen.
Noch eins. Jorinde spielt jetzt wirklich allerliebst Klavier, und neulich hatte sie mit Fred ein kleines vierhändiges Stück zu Carlos' Geburtstag eingeübt, das großen Erfolg hatte. Elise war sehr stolz, und ich habe ihr—das werden Sie, Bärbeißiger, nun wieder höchst unvernünftig finden—eines meiner seidenen Kleider geschenkt.
Ich komme ja doch nicht mehr in die Gesellschaft, habe auch, ehrlich bekannt, wenig Verlangen danach.
Neulich hat Frau von Ink mir einen Besuch gemacht. Ich begegnete Fräulein Eva, der Braut, und nahm sie mit mir. Ich finde es doch sehr artig, daß sie sich persönlich bedankt hat. Ich weiß, Sie mögen die Dame nicht, gestehe aber, daß ich sie sehr liebenswürdig finde, und daß ich den Eindruck habe, sie meine es gut mit mir.
Nein! nein! höre ich Sie sprechen. Nun, wenn Sie kommen, können wir ja den Verkehr wieder einschlafen lassen.
Fred läßt Ihnen sagen, Sie möchten ihm einen französischen Tschako
mitbringen. Werden Sie es nicht vergessen? Ange umarmt Sie zärtlich.
Eben kommt sie herbeigelaufen und will Bonbons. Sie erhält aber keine.
Onkel Axel möchte französische Bonbons schicken! meint sie.
Heute will ich meines Carlitos' Grab besuchen, Teut; ich lege auch in
Ihrem Namen eine Blume darauf nieder.
Und nun leben Sie wohl, Sie Einziger, Bester, und schreiben Sie bald wieder und Gutes Ihrer Sie herzlich grüßenden und dankbaren
Ange von Clairefort.
Ach, wenn doch der schreckliche Krieg erst beendet wäre!“
Als Teut diese Zeilen empfangen hatte, schrieb er einen Feldpostbrief, welcher an seinen Banquier in Berlin gerichtet war. Dieser Brief, von dessen Inhalt Ange später Kenntnis erhielt, möge hier Platz finden.
„Geehrter Herr!
Kurz vor meiner Abreise von C. ersuchte ich Sie monatlich die Summe von tausend Mark an die Adresse des Bankhauses Danz u. Co. in C. abzuführen und demselben mitzuteilen, daß dieser Betrag gegen die eigenhändige Quittung des Grafen Carlos von Clairefort und die Gegenzeichnung des Empfangnehmenden Ernst Tibet auszufolgen sei.
Ich bitte, und zwar vom ersten des kommenden Monats ab, diesen Betrag um fünfhundert Mark zu erhöhen, also fortan fünfzehnhundert Mark zur Begleichung einer Schuld an den Herrn Grafen Clairefort zu zahlen. Wegen der an mich zu sendenden Monatsraten bleibt es bei den früheren Bestimmungen.
Ich ersuche Sie zugleich, sich umzusehen, ob die beiden großen Posten von je dreihunderttausend Mark nicht in Zukunft zu fünf Prozent in zweiten Hypotheken unterzubringen wären. Ich denke, es giebt dergleichen sichere Anlagen, und ich könnte meine Einnahmen erhöhen. Da ich in der Folge vom Zinsenkapital nicht mehr zurücklegen kann, muß ich mich etwas einzurichten suchen.
Dem dortigen Hilfskomitee für die Verwundeten wollen Sie unter A.v.E. gefälligst fünftausend Mark überweisen.
Ich sage Ihnen im voraus meinen Dank und erbitte Ihre baldigen
Mitteilungen.
Baron von Teut-Eder,
Rittmeister und Eskadronchef.“
* * * * *
Die beiden Briefe, nach ihrem Inhalt bezeichnend für Ange und Teut, wurden im September geschrieben, aber bereits zwei Monate später trat im Clairefortschen Hause ein so folgenschweres Ereignis ein, daß alles für die Familie in Frage gestellt schien.
Als sich Ange eines Morgens in das Zimmer ihres Mannes begab, um sich ihrer Gewohnheit gemäß, nach seinem Befinden zu erkundigen, schlug ihr eine unerträgliche Hitze entgegen, und sie fand ihn nicht wie sonst bereits an seinem Schreibtische sitzen. Wenn Clairefort starke Schmerzen in der Nacht fürchtete, pflegte er häufig noch spät abends von Tibet heizen zu lassen, denn nur allzuoft verursachte ihm sein Zustand Schlaflosigkeit.
Als Ange ins Gemach spähte, fand sie zu ihrem Schrecken, den Nachttisch umgeworfen; Glaser, Leuchter und Flaschen waren herabgestürzt und bedeckten Fußboden und Teppich. Clairefort selbst aber lag—das Haupt nach unten und mit den Füßen das Kopfkissen berührend—neben der zurückgeschlagenen Schlafdecke wie ein Lebloser hingestreckt.
Ange flog ans Bett und horchte auf ihres Mannes Atem. Sein Herz schlug so leise, daß sie es kaum zu hören vermochte, und sein Aussehen war so verändert, daß sie—jetzt todesgeängstigt—die Schnur zog.
„Was ist geschehen? Was ist geschehen, Tibet?“ rief sie, als dieser näher trat. „Waren Sie noch in der Nacht bei dem Grafen? Sehen Sie, wie schrecklich er aussieht! Sein Herzschlag geht leise! Ich ängstige mich namenlos!“
Tibet warf einen betroffenen Blick umher und näherte sich seinem Herrn.
„Ich möchte glauben, daß der Herr Graf wohl ein sehr starkes Schlafpulver zu sich genommen hat,“ erklärte er beruhigend. „Während heftiger Träume mag er um sich geschlagen und zufällig den Tisch berührt haben. Das ist früher auch schon vorgekommen.“
„Ach, der Arme!“ sagte Ange mitleidig. „Gewiß hatte er wieder seine furchtbaren Schmerzen. Und meinen Sie, daß er schläft, daß keine Gefahr vorhanden ist, Tibet?“
„Nein, Frau Gräfin, dürfen sich beruhigen.“
Nach dieser Versicherung traten beide ins Wohngemach.
„Glauben Sie nicht,“ fragte Ange nach einer Pause und dämpfte ihre Stimme, „daß diese starken Schlafmittel sehr schädliche Nachwirkungen haben?“
„Ja, Frau Gräfin,“ erwiderte Tibet; „aber viel schlimmer sind noch—“
Er unterbrach sich mit einem Gesichtsausdruck, als ob das letzte Wort ihm nur entschlüpft sei.
Als Ange sah, daß ihr etwas verheimlicht werden sollte, stieg ihre
Angst.
„Nicht doch, nicht doch! Sie wollen mir etwas verschweigen. Ich will und muß es aber wissen. Ach Tibet! War es überhaupt gut, daß Sie nie mitteilsam gegen mich waren? Wer weiß, ob nicht manches hier im Hause anders stände!“
Sie strich sich mit der schmalen Hand über die thränenden Augen.
„Reden Sie, ich beschwöre Sie!“ fuhr sie fort, als er noch immer schwieg. „Was ist noch schlimmer? und welche Heimlichkeiten haben Sie mit meinem Gemahl schon seit Jahren?“
„Ach, Frau Gräfin—“ stotterte Tibet und sah Ange bittend an. „Es ist nichts, gewiß nicht!“
„Ist es denn Neugierde, die mich veranlaßt, Sie zu fragen?“ sagte Ange mit sanftem Ernst und blickte Tibet traurig an. „Ist es nicht die Sorge für meinen geliebten Mann! Ach, ach! wie viele thränenvolle Stunden habe ich schon um seinetwillen gehabt!“
Tibet hatte ganz die Fassung verloren. Er stand da wie jemand, der sich eines schweren Vergebens schuldig fühlt und aus Scham und Verzweiflung kein Wort findet. Endlich raffte er sich auf und sagte:
„Verzeihen Sie mir, Frau Gräfin. In allem, was ich that, folgte ich dem Befehl des Herrn Grafen. Wenn ich unrecht that—ich that gewiß unrecht gegen Sie—o, so vergeben Sie es mir!“
„Nun wohl! Lassen wir Vergangenes! Aber was ist jetzt?“ drängte Ange.
„Sprechen Sie endlich.“
Tibet sah mit scheuem Blick nach der Thür und flüsterte leise: „Schon
seit reichlich einem Jahr nimmt der Herr Graf überaus starke Dosen
Morphium zu sich. Niemand weiß es. Er befahl mir unbedingte
Verschwiegenheit. Auch gegen Sie verbot er, darüber zu sprechen.“
Ange bewegte traurig das Haupt: plötzlich aber schrak sie auf.
„Barmherziger Himmel! Sollte ihm doch bereits etwas zugestoßen sein?“
Sie eilte von Tibet fort, wandte sich ins Nebenzimmer und stieß, hineinblickend, einen Schrei aus.
Clairefort saß wachend aufrecht im Bett. Er sah Ange mit stieren Augen an und schien sie doch nicht zu sehen. Unzusammenhängende Worte glitten über seine Lippen.
„Carlos, Carlos, mein geliebter Carlos!“ rief Ange, flog an sein Lager und ergriff seine Hand.
„Sag, was ist Dir? O, komme zu Dir! Es ist Ange, Deine Ange! Hörst Du sie nicht?“
Er nickte wie ein Abwesender. Offenbar ward er nicht Herr der ihn bedrückenden Vorstellungen, und um sie zu verscheuchen, glitt er wiederholt mit den kranken Händen über Stirn und Haar.
Ange heftete mit zerrissenem Herzen die Augen auf ihren Mann. Auch Tibet war tief erschüttert durch diesen Anblick.
„Wünschest Du das Frühstück, Carlos? Soll ich nicht die Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen? Willst Du aufstehen—Dich in Deinen Stuhl setzen? Sprich Lieber! Was hast Du? Ach, ach!“
Nichts! Er schien nicht zu hören, und sie sank wie zerknickt neben ihm nieder.
Immer starrte er geradeaus, griff sich an die Stirn und suchte mit vergeblicher Anstrengung seinen Geist zu ordnen.
Jetzt erhob sich Ange und riß die Fenster auf.
„O, ich ersticke in dieser Luft! Sie muß auch Dir schädlich sein! Komm, laß Dich mit Wasser benetzen. Tibet helfen Sie! Wir wollen den Grafen drinnen in dem luftigen Zimmer betten.“
Aber Clairefort fiel, ehe sie ihn berührten, schwerfällig zurück, schloß die Augen und blieb bewußtlos liegen. Es hatten ihn abermals der Schlaf oder eine Ohnmacht befallen.
Nun eilte Tibet zu dem Arzt, und inzwischen saß Ange wie eine
Verzweifelte an dem Bett des Kranken.
Nach einer Weile kamen die Kinder, die ihre Mama vergeblich beim Frühstück erwartet hatten. Es schnitt Ange durch die Seele, als sie so fröhlich und ahnungslos hereinstürmten. Noch lag die feine Röte einer gesund verbrachten Nacht auf ihren Wangen, noch umströmte sie in ihren sauberen hellen Morgenkleidern jene aufquellende Frische, die namentlich Kinder nach dem Schlafe wie ein unsichtbarer Hauch umwebt.
„Mama, Mama, wo bleibst Du denn?“ rief die kleine Ange und stand da und sah so schön aus, als ob eine zarte Blüte eben vom Baum geschwebt sei.
Aber sie schraken zurück, als sie den kummervollen Ausdruck in Anges Augen bemerkten, als sie mit ihrem Instinkt begriffen, daß ihrem Papa etwas zugestoßen sein müsse.
„Geht, geht, lieben Kinder!“ sagte Ange sanft und traurig wie damals, als den kleinen Carlitos das furchtbare Fieber erfaßt hatte. „Papa ist sehr krank. Ich muß noch bei ihm bleiben. Ich komme bald! Frühstückt nur allein—und—dann eilt euch. Ben, Fred, ist's nicht schon Zeit für die Schule?“
Sie nickten gehorsam und schlichen auf den Zehen davon.
Und doch war dies nur ein trauriges Vorspiel zu dem noch traurigeren
Ende.
Zwar erholte sich Clairefort, und einige Zeit schien er sogar wieder geistig frischer und körperlich gesunder, aber dann erfaßte ihn von neuem eine wortkarge teilnahmlose Schwermut. Er wollte niemanden sehen und sandte selbst Tibet fort, der neuerdings bei ihm nachts gewacht hatte.
„Nein, nein, gehen Sie! Seit lange hatten Sie keinen ordentlichen Schlaf, Tibet. Ich fühle mich heute ganz wohl und bedarf Ihrer nicht mehr,“ beschied er ihn eines Abends und bestand auf seinem Willen.
Als Tibet sich entfernt hatte—ein ungewöhnlich freundlicher Blick traf ihn heute aus Claireforts Auge—, setzte sich dieser an seinen Schreibtisch und arbeitete mehrere Stunden. Endlich erhob er sich mühsam und trat, sich an Tisch und Stühlen vorwärts tastend, an den Spiegel. Er blickte hinein und schrak vor seinem eigenen Bilde zurück. Es machte ihn sogar ängstlich, denn er schaute sich furchtsam um, und ein Schauer flog über seinen Körper.
„Sterben!“ flüsterte er. „Ja dann fallen alle Gespenster, weichen alle
Schmerzen und sind alle Seelenqualen vorüber.“
Auf dem Wege zu seinem Schlafgemach blieb er noch einmal zaudernd stehen.
Nur allzu lang ist oft die Brücke! Ein einziger plötzlicher Gedanke, irgend eine liebe oder peinliche Erinnerung verknüpft den Menschen von neuem mit dem Leben, und der grauenhafte, blitzartig oder allmählich entstandene Entschluß wird doch zu Nichte.
Clairefort ließ sich aufs Bett nieder und griff mit zitternden Händen tief unter die Decke. Bei dieser Bewegung setzten unerwartet die Schmerzen wieder an, und wimmernd hielt er inne. Aber bald begann er von neuem, fand endlich, was er hier verborgen hielt, und stellte es auf den Tisch. Es waren zwei Flaschen mit verschiedenem Inhalt.
„Dies wird sicher genügen, um nicht wieder aufzuwachen,“ murmelte er. Aber doch verging noch eine lange Zeit, ehe er sich zum Sterben rüstete. Seine Gedanken flogen hin und her wie Herbstvögel; oft traten ihm Thränen ins Auge. Einmal schleppte er sich in sein Wohngemach zurück, öffnete den Schreibtisch und nahm Anges Bild hervor. Es war zur Zeit ihrer Verlobung gemalt.
„Ach, wie schön, wie schön!“ flüsterte der Mann und bedeckte das Glas mit Küssen. „Und Dich soll ich verlassen? Und Euch, Euch, Ihr süßen Kinder—“
Es packte ihn die Angst und die Scham, furchtbare Schauer jagten durch seine Seele. Kalter Schweiß brach hervor auf seiner Stirn. Was wurde aus ihnen? Welch ein erbärmlicher, gewissenloser Mensch war er! Er wollte davongehen, und nicht einmal für das Nächstliegende, ja vielleicht nicht einmal für sein eigenes Totenhemd war gesorgt.
Aber halt! War da nicht ein Geräusch auf dem Korridor?
Hastig verschloß Clairefort das Porträt, als sei's ein Vergehen, es zu betrachten. Er lauschte herzklopfend—schlich wie ein Dieb an seine eigene Thür. Aber es war nichts.
Nun nahm er seinen Platz wieder ein und lehnte sich zurück. Konnte er noch gesund, schmerzensfrei werden?
Nein, jetzt niemals mehr! Ohne Morphium vermochte er überhaupt ferner nicht zu leben. Was that er noch auf der Welt? Seine Pflicht, die Pflicht gegen die Seinigen hielt ihn! Nein, auch die konnte ihn nicht ans Leben fesseln. Er war ja ein Nichts. Er war nur eine Last—nur ein—
Es übermannte ihn die Seelenqual: er schluchzte und erschrak vor den Tönen, die sich seiner eigenen Brust entrangen. Er war nur ein Hindernis für Anges Glück. Fort denn, je schneller, desto besser!—Teut! Teut! Da kam ihm der Gedanke an ihn. Welch ein Mensch! Er würde sie nicht verlassen. Nein, sicher nicht! Gut, also sterben—
Was Clairefort noch zu sagen hat, befindet sich in den Blättern aufgezeichnet, welche Ange morgen finden wird.
Aber wenn er nun nicht stirbt, wenn es nicht gelingt, wie jüngst? Er bewegt den Kopf. Wohl, er wird das Schriftstück unter sein Kopfkissen legen, nicht auf den Tisch. Wacht er abermals auf, dann bleibt seine Absicht verborgen.
Während er sich an sein Bett wendet, ziehen noch einmal die letzten Jahre an ihm vorüber. Wie er zum erstenmal gespielt und ihn dann der Teufel erfaßt hat, wie er vom Glück begünstigt wird und dann doch alles wieder verliert. Und immer von neuem verliert! Wie er innehalten will und doch sich überredet, er werde den Verlust zurückerobern, endlich—ein Verzweifelter—die größten Summen einsetzt, um abermals betrogen zu werden und zuletzt sich sogar am fremden Eigentum vergreift! Das Vermögen seiner Frau, seiner Kinder opfert er auch noch dem wahnsinnigen Gelüste!
Die Decke auf dem kleinen Nachttisch hat sich verschoben. Clairefort zupft daran. Noch im letzten Augenblicks beherrscht ihn der kleinste Gewohnheitsdrang.
Er legte sich nieder, macht fast pedantisch alle Vorbereitungen, zittert, setzt erst das eine Glas an, greift dann zum anderen—
Nun sinkt er zurück——
* * * * *
Noch während Carlos' sterbliche Überreste in der Villa standen, warf Ange einen Blick in die zurückgelassenen Blätter. Sie las den Inhalt in der zweiten beginnenden Nacht, und die Gespenster des Entsetzens drangen auf sie ein.
Sie zerknitterte die Schriftstücke in ihrer Hand, sprang empor und rief nach Tibet. Ernst, bleich, ahnend, was vorgefallen, erschien der Mann und blieb wie angewurzelt an der Thür stehen.
„Tibet! Tibet!“ schrie Ange, blaß, abgehärmt und kaum wiederzuerkennen durch die Wirkungen ihres maßlosen Schmerzes. „Das alles wußten Sie seit langen Jahren und Sie schwiegen? Dem allen waren Sie ein Helfer und kannten und liebten doch meine Kinder? O Mensch, sprechen Sie, damit ich wenigstens einen Grund finde, Ihnen zu verzeihen! Nicht verloren durch Ungemach, alles was wir besaßen—nein, durch Spiel—durch Spiel! Man sitzt über Menschen zu Gericht, tötet sie, wenn sie, von der Leidenschaft fortgerissen, einen andern morden!—Ist Leidenschaft denn Vernunft, und kann man richten, wo die Vernunft fehlte? Aber wie ahndet ein Gott ein so furchtbares Verbrechen?—Wie er es ahndet? An dem Glück Lebendiger, indem er die Unschuldigen ins Verderben zieht! Kinder, reine, arglose Geschöpfe müssen dafür büßen!—Was hier geschehen, sucht seinesgleichen; Ich las wohl Schreckliches, wie Menschen sich gegen Menschen versündigten; ich hörte von Mord, Gift, Verrat, Folter. Ist eine solche Handlungsweise nicht herzloser, unmenschlicher? Ein Familienvater, der weiß, daß ihn Gott mit zehrender Krankheit geschlagen, spielt—spielt auch dann noch ohne Anlaß, ohne Not, vergreift sich an fremdem Eigentum und wagt das letzte um eines Vorteils willen, der ihn um keinen Schatten glücklicher machen konnte. Zuletzt giebt er sich den Tod—ein Selbstmörder!—Ein Selbstmörder?—O leise, leise, daß es niemand hört! Verbrennen wir diese Schande! Rasch, Tibet!—Und doch, nein! Es ist ja von seiner Hand, das letzte von ihm, welcher der Vater meiner Kinder war, den ich so unsagbar liebte, der litt, in Schmerzen sich wand!—Nein, nein, vergessen Sie, was ich sagte! Ich sprach irre. Mit meinem Herzen hatte es nichts zu thun. Ich weiß, wie er gelitten hat. Kein Mensch starb unter solchen Qualen, keinen Menschen gab es, den der Tod bei Lebzeiten schon so marterte!—Aber was soll nun werden? Hier, hier steht's. Ein rätselhafter Satz: ‚Und dennoch ist für Deine Zukunft gesorgt, Ange. Ich glaube es. Dieser Glaube, diese Hoffnung erleichtert mir den Tod. Ich darf nicht reden. Ein Schwur verbietet es. Frage Tibet, ihn bindet kein Gelöbnis.‘—Nun, so reden Sie, Tibet! Was ist's? Um meiner armen Kinder willen flehe ich Sie an! Sprechen Sie! Ach! ach!“
Ange sank in einen Stuhl neben dem Tische nieder, auf dem Carlos' furchtbares Vermächtnis lag, und weinte so herzerbarmend, daß dem Manne, der das alles stumm angehört hatte, bei diesem Jammer das Herz zerschmolz.
Als Tibet immer noch nicht antwortete, schoß Ange empor:
„Sprechen Sie!“ rief sie. „Ich fordere es bei dem Andenken des Unglücklichen! Ich fordere es für die Unmündigen! Ich erbitte es—um meinetwillen—“
Ihre Stimme versagte.
„O, beruhigen Sie sich, Frau Gräfin!“ zitterte es aus Tibets Munde. „Ich will sprechen, da Sie es verlangen, und ich schwöre Ihnen bei dem Gott, an den ich glaube, daß ich unschuldig bin! Ich habe in all den Jahren den Grafen angefleht, von dem unseligen Spiel zu lassen. Ich habe ihm sogar in dem Gedanken an Sie und die Kinder einmal einen Gewinn verheimlicht, bis die Not—“—er stockte, und Ange sah ihn fragend und furchtsam an—„bis die Not mich zwang. Wir hatten nichts mehr zum Leben. Mit diesem Betrage bestritt ich im letzten halben Jahre die Ausgaben bis, bis—“
Ange unterbrach ihn nicht; sie saß wie erstarrt.
„Ein Eid band mir die Zunge. Ich verdanke ja alles dem Herrn Grafen. Ich durfte nicht reden und litt mehr darunter, als Worte zu beschreiben vermögen, Frau Gräfin; glauben Sie mir! O, vernichten Sie mich nicht ganz, indem Sie mir Ihr Wohlwollen entziehen!“
„Gut, gut! Weiter!“ drängte Ange leichenblaß und in steigender Erregung.
„Und das Geheimnis? Ich will alles wissen. Auch das Schrecklichste kann
mich nicht mehr erschüttern, und ist es ein Trost, eine
Erleichterung—nun, um so besser.“
Noch zögerte Tibet; die Zunge war ihm wie gelähmt. Seine Knie schlotterten. Er wußte, was er hervorrief. Er hörte schon den Schrei der Empörung von ihren Lippen.
„Mensch,“ rief Ange und ballte die kleinen Hände in furchtbarer Erregung, „machen Sie nun ein Ende! Ich bin ein Weib, zarter, schwacher geartet, auch nicht vertraut mit Hinterlist und Lügen—“
„O, Frau Gräfin!“ ächzte Tibet bei diesen Worten. Eine fahle Blässe flog über sein Gesicht.
Sie begriff, wie tief sie ihn verwundet. Sie sah es und streckte ihm die Hand entgegen. Sie wußte nicht mehr, was sie sprach. Sie bat es ihm ab, und ein Schimmer dankbarer Freude flog über seine Züge.
„Nun denn—“ sagte Tibet kurz und ohne Betonung, „wir leben bereits seit Ausbruch des Krieges von der Güte des Herrn von Teut. Ich habe monatlich tausend Mark, später fünfzehnhundert Mark bei einem hiesigen Bankhaus für unseren Unterhalt erhoben.“
Ja, nun schrie allerdings die Frau auf, daß die Gegenstände umher zu erbeben schienen. Es hallte durch das ganze Haus, drang in den kleinsten Raum.
„Carlos! Carlos!“ rang es sich aus Anges Brust. Er mußte in seinem Totenschrein aufwachen bei diesem Schrei, denn er umfaßte eine Welt von Empörung, Schmerz und Scham. Derselbe Mann, der Teut durch Eifersucht verwundet, durch Mißtrauen gekränkt, noch jüngst durch hochmütige Zurückweisung von Geschenken verletzt hatte, nahm Wohlthaten in solchem Umfange und verwies im Sterben, im Selbstmord auf die Hochherzigkeit dieses Freundes.
Für Augenblicke war es totenstill in dem Zimmer. Ange brach zusammen, und Tibet stand wie eine Bildsäule. Endlich erhob sie den Blick und winkte ihm, das Gemach zu verlassen.
Bevor Anges Gatte draußen auf dem Kirchhof neben dem kleinen Carlitos bestattet wurde, trat Ange noch einmal an sein Totenlager. Die Vorhänge des nach dem Garten gehenden Zimmers waren herabgelassen, und eine erstickende Luft benahm ihr fast den Atem.
Nun sah sie ihn zum letztenmal: in einer Stunde sollte der Sarg geschlossen werden. Er glich kaum einem Abgeschiedenen. Ruhe lag auf seinen Zügen, und um die Mundwinkel spielte jetzt im Tode jenes milde Lächeln, das Ange für so manchen ernsten Blick und so manche mürrische Miene während seiner Lebenszeit entschädigt hatte.
„Vergieb, Carlos!“ flüsterte sie und berührte mit ihrer Hand die weiße Stirn des Toten. Und in ihren Gedanken fuhr sie, das Auge auf ihn gerichtet, fort: „Im ersten Schmerz bäumte ich mich gegen Dich auf. Ich saß über Dir zu Gericht und vergaß, daß ich allein an allem schuld bin. In den Blättern, die Du mir hinterlassen hast, steht auf jeder Seite, wie sehr Du mich liebtest und wie Deine Gedanken sich immer damit beschäftigten, daß ich nichts entbehren möge von dem, womit Du mich seit unserer Ehe umgeben hattest. Ja, ja, mein Geliebter, Du wolltest unseren Besitz vermehren—nicht aus eitler Gewinnsucht, nein, für mich, damit ich ein Wohlleben nicht einschränken brauchte, in dem Du mich allein glücklich wähntest. Du irrtest, Carlos! Ich nahm alles, weil ich es fand, weil Du mir nie einen Zwang, eine Beschränkung auferlegtest. Ich wäre nicht minder glücklich gewesen in bescheidenen Verhältnissen, denn Deine Liebe, der Besitz unserer Kinder war mein Glück. Ja, vergieb mir, daß ich nicht selbst erkannte, wie thöricht mein Leben war, daß ich nicht aus den mich umgebenden Erscheinungen Vergleiche zog und eine Lebensweise änderte, die schon die tausendfältige Not anderer verbietet. Aber, Carlos, begehrte ich auch für meine Person viel, Du hast mir verziehen, weil ich es nicht besser verstand. Hier, hier schwöre ich Dir in dieser Stunde, mein Carlos, daß ich denen, die Gott mir erhalten hat, eine treue, sorgsame Mutter sein will und—vermag ich es—sie erziehen werde zu braven, tüchtigen, einfachen Menschen. O, wie graut mir heute vor dem Reichtum. Alles, was mich umgiebt, ekelt mich an. Es sind die Bilder des Scheins, der Lüge, der Überhebung.“
Ange sank schluchzend an dem Sarge nieder. Jetzt kamen ihr wieder die Gedanken, die sie bald nach ihres Gatten Tode beherrscht hatten: Was ward aus ihren unmündigen Kindern? Es war begreiflich, daß ein so seelenvolles Wesen wie Ange Clairefort mitten im Schmerz Betrachtungen über ihre Zukunft und die Handlungsweise ihres Mannes angestellt hatte, weil ihr Denken und Fühlen zu eng mit ihren Kindern verwachsen war. So war auch ihre Empörung, so waren auch die Ausbrüche ihrer Verzweiflung nichts anderes als ein Ausfluß ihrer Liebe, und nur zu bald wichen diese Erregungen einem sanfteren Schmerz, in welchem sie alle Schuld von dem Toten abzuwälzen suchte.
Es wäre unnatürlich gewesen, wenn sich Anges Gedanken nicht auch zu Teut gewendet hätten, wenn nicht die Hoffnung in ihr emporgestiegen wäre, er werde sie nicht verlassen, jetzt, wo die Sorge sich an sie heranwälzte.
Aber in diese Hoffnung mischten sich Angst und Scham. Jetzt, vielleicht in diesem Augenblick, war Teut schon nicht mehr unter den Lebenden. Sie zitterte bei diesem Gedanken, aber sie schüttelte sich auch in seelischer Qual, wenn sie überdachte, daß sie fortan allein auf seine Wohlthaten würde angewiesen sein.
Ihr Stolz bäumte sich auf; sie faßte die wirrsten Entschlüsse, bis sie nach langen Irrgängen der Überlegung immer wieder zu der entsetzlichen Einsicht zurückkehrte: Es bleibt entweder nur die Wohlthätigkeit fremder Menschen, damit Deine Kinder leben können, damit sie nicht darben und vergehen, damit sie erzogen werden, um brauchbare Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden, oder—
Ja, da kamen andere furchtbare Gedanken, die sich in ihrem Gehirn festbrannten, die geboren wurden aus Hilflosigkeit und Verzweiflung. Wie wäre es, wenn sie mit ihren Kindern dem folgte, der hier im Sarge lag? Was stand den Armen bevor! Demütigung, Entbehrung, Not—gar Schande.
Sie hörte sie klagen und weinen. Sie scharten sich um ihre Mama. Sie bettelten um die ihnen jetzt entzogenen notwendigen Dinge, sie wollen ihre unschuldigen Liebhabereien, sie kamen, damit ihre kleinen Herzen getröstet wurden.
Und die Menschen! Wie sie zischelten und mit den Fingern zeigten, wie sie sich abwandten und gar hämisch frohlockten, daß diese übermütige, verwöhnte Frau die Bitterkeit des Lebens nun auch endlich kostete wie sie selbst.
Ah, wie das alles ihre Seele marterte! Ja, lieber sollte sie ihre
Kinder, sich selbst töten——
Aber ein Herz wie das ihre mußte schon bei dem bloßen Gedanken an den
Tod ihrer Kinder erstarren.
Nein! nein! Entsetzlich! Lieber Not leiden, ja betteln, als ihren süßen Geschöpfen auch nur ein Haar krümmen! Und Sterben war nicht eine Sache des Willens; zum Selbstmord gehörten tausend Dinge, die sie nicht verstand und bei deren Vorstellung ihr grauste.
„Barmherziger Schöpfer, vergieb! Vergieb auch Du mir, mein Carlos, diese gräßlichen, unreinen Gedanken!“ betete Ange, faltete die Hände und atmete, aus dem Schauder ihrer Vorstellungen befreit, erleichtert auf.
Sie besaß so kostbaren Schmuck, daß sie durch dessen Verwertung noch eine Zeit lang ohne Wohlthaten leben konnte. Diese Überlegung war ihr gekommen in der letzten schlaflosen Nacht und erleichterte ihr wenigstens die nächsten Sorgen.
Bevor Ange, durch die Handwerker aufgestört, das Zimmer verließ, brachen doch noch einmal die Thränen unaufhaltsam hervor. Sie rief eilend die Kinder, ließ sie niederknien und betete mit ihnen.
„Hattet Ihr ihn lieb, Euren Papa?“ schluchzte sie.
Die Kinder nickten ängstlich und scharten sich mit den feinen blassen
Gesichtern um die Mama.
Als sie sich endlich zur Thür wandten, schmiegte sich die kleine Ange an ihre Mutter und sagte: „Wird Papa auch so hübsch begraben wie Carlitos?“
Bei dieser Frage zuckte Ange zusammen.
„Nein, Ange, nein! Onkel Axel ist ja nicht da.“
„Kommt er denn nicht?“
Ange antwortete nicht; sie bewegte nur das Haupt und zog hastig die
Kleinen mit sich fort, die nun zum letztenmal das bleiche Gesicht ihres
Papas gesehen hatten.
* * * * *
Während noch der Graf über der Erde stand, war ein Brief von Frau von
Ink an Ange eingelaufen.
„Ich muß es Ihnen aussprechen, gnädige Gräfin“—schrieb Olga—„wie sehr ich schon bei dem Tode Ihres herrlichen Knaben mit Ihnen fühlte und wie mich heute Ihr Schicksal bewegt! Ein Fremder vermag gegenüber einer solchen Trauer nichts. Das barmherzigste und mitleidigste Wort muß ohne Wirkung verhallen, weil die Besänftigung des Schmerzes nicht abhängig ist von äußerlichen Einflüssen, sondern in dem Menschen selbst sich reisen muß durch die allheilende Zeit. Und unter dieser Erwägung, gnädige und hochverehrte Frau, wird vielleicht auch meine aus aufrichtigster Teilnahme hervorgehende Bitte wirkungslos sein, daß Sie sich Ihrem Kummer nicht allzusehr hingeben mögen und daß Sie sich der Hoffnung nicht verschließen, daß auch für Sie wieder lebensfrohere Tage zurückkehren werden. Ich wünsche es von ganzem Herzen und würde überaus glücklich sein, wenn Sie mir gestatten wollten, Ihnen bald einmal mündlich mein Beileid ausdrücken zu dürfen. Glauben Sie, ich bitte, an das herzliche Mitgefühl und die verehrungsvolle Freundschaft Ihrer sehr ergebenen
Olga von Ink.“
Ange fand in der Aufregung, Unruhe und Sorge der ersten Tage keine Zeit, diesen Brief zu beantworten. Sie ward aber an das Schreiben erinnert, als bald nach dem Begräbnis—es war der Erste des neuen Monats—Tibet sich ihr mit unschlüssiger Miene näherte und erklärte, daß das Bankhaus weitere Zahlungen verweigere. Es habe, berichtete dieser, den bestimmten Auftrag, nur gegen die eigenhändige Quittung des Grafen zu zahlen. Er—der Banquier—wisse ja selbst nicht, aus welcher Quelle jene Summen flössen, und müsse deshalb jedenfalls erst nähere Weisungen rücksichtlich der weiteren Ordnung der Angelegenheit abwarten. Daraus ergebe sich alles übrige.
Ange verlor auf Augenblicke gänzlich die Fassung. Schon der zustimmende Entschluß, Tibet wie bisher den Monatsbetrag erheben zu lassen, war ihr namenlos schwer geworden. Zweimal rief sie ihn, als er sich schon die Treppe hinabwandte, schamerfüllt zurück. Erst des umsichtigen Beraters Auseinandersetzungen über die unbedingte Notwendigkeit: die Bestreitung der durch den Todesfall hervorgerufenen Ausgaben, die täglichen Bedürfnisse des Haushaltes, die fällige Miete, die Kinder, die Dienstboten, endlich dessen beschwichtigender Hinweis, daß dieser Betrag aus irgend welchem Erlös ihres Eigentums zurückerstattet werden könne, schlugen Anges zitternde Bedenken nieder, und stumm nickend, hatte sie ihn endlich gehen lassen.
Und nun wurden alle diese ihrer feinen Seele entsprungenen Qualen doch noch weit mehr vergrößert durch—das Nichts.
Tibet kam mit leeren Händen!
Teut schreiben, ihn bitten, Geld anzuweisen, das vermochte Ange nicht.
Sie wies diesen Gedanken als völlig ausgeschlossen zurück.
Jetzt erinnerte sie sich wieder ihres Schmuckes. Bei dieser Überlegung ängstigte sie es aber, daß Tibet ihn ausbieten, in C. ausbieten, wenige Tage nach Carlos' Begräbnis denselben veräußern solle. Nein, auch das gewann Ange nicht über sich.
Endlich erhob sie den Blick zu dem Manne, der mit der ernsten und bekümmerten Miene vor ihr stand, und sagte: „Was raten Sie, jetzt zu thun, Tibet?“
„Frau Gräfin,“ stieß dieser heraus, „wollen Sie mir nicht zürnen? Ich wüßte wenigstens vorläufig für das Drängendste Hilfe, wenn Sie diese annehmen wollten. Verzeihen Sie, wenn ich mich unbescheiden aufdränge—ich habe ein kleines Kapital gespart, darf ich dieses—“
„O braver Mensch!“ rief Ange gerührt; aber sogleich verbesserte sie sich: „Nein, Tibet, nein! Auch Sie noch der Ungewißheit preisgeben? Niemals! Ich darf Ihr Anerbieten nicht annehmen!“
„Sie können mir ja den Vorschuß später zurückgeben, Frau Gräfin,“ beharrte Tibet stockend. „Es ist ja Ihr eigen Geld—ich empfing es von Ihnen—ich verdanke es Ihrer Güte.“
Ange, zwar ergriffen von Tibets selbstlosem Zureden, aber, ihrer Veranlagung entsprechend, gerade deshalb von ihrem Gefühl lediglich beherrscht, hörte nicht auf seine Worte. Sie schüttelte den Kopf und zeigte in ihren Mienen ein deutliches Nein.
In diesem Augenblick meldete einer der Diener, daß Frau von Ink vorgefahren sei und um die Erlaubnis bitte, der Frau Gräfin aufwarten zu dürfen.
War dies nicht ein Fingerzeig des Himmels? Ange schwankte unschlüssig; endlich neigte sie den Kopf und der Diener eilte fort.
Gleich darauf hörte sie auch schon, wie Olga in ihrer ungestümen, etwas plumpen Weise den Wagenschlag hinter sich zuwarf und die Treppen der Villa hinaufeilte. Und nun trat sie, von Tibet gemeldet, ins Zimmer, umarmte Ange mit allen Zeichen der Betrübnis und setzte sich ihr mit dem Ausdruck aufrichtigster Teilnahme gegenüber. Dabei streifte ihr Blick das Gemach, und die kleinen Unordnungen blieben ihr nicht verborgen.
Nach einem längeren Austausch über den Verlauf der Krankheit und die letzten kummervollen Tage nahm Olga das Wort und sagte:
„Und nun noch eins, Frau Gräfin. Sollte ich Ihnen in etwas dienen können, bitte, verfügen Sie ganz über mich. Ich versichere Sie, daß ich außerordentlich glücklich sein würde, wenn ich Ihnen in irgend einer Weise meine Freundschaft und Teilnahme an den Tag legen könnte!“
Ange, der es in ihrer angstvollen Lage und angesichts von so viel Herzlichkeit schon auf den Lippen gezuckt hatte, vorzutragen, was sie beschäftigte, atmete erleichtert auf und nahm sogleich das Wort:
„Sie kommen mir in Ihrer Güte zuvor, gnädige Frau: ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich hätte allerdings wohl eine große Bitte—“ Sie stockte.
Olga horchte auf. Diese Gesprächswendung berührte sie aufs angenehmste. Was konnte Ange Großes wünschen, und wie hoch würde eine Frau wie diese ihr den geringsten Dienst anrechnen!
Auch die Rückwirkungen auf Teut überlegte sie rasch. Noch immer hoffte
Olga auf einen Ausgleich mit dem Rittmeister, und in dem geheimsten
Schubfach ihres Innern nicht nur auf diesen, sondern, zuguterletzt auch
auf eine bedeutungsvolle Anknüpfung zwischen ihm und einer ihrer
Töchter.
„Sprechen Sie, sprechen Sie, gnädige Frau—Ich bitte!“ rief Olga lebhaft nach Anges Worten.
Und nun setzte Ange dieser kaltherzigen, nur von ihren eigenen Interessen beherrschten Frau in ziemlich unzusammenhängender und unklarer Weise auseinander, daß sie durch den plötzlichen Tod ihres Gatten in peinlichste Verlegenheit geraten und vorübergehend einer größeren Summe Geldes benötigt sei.
„Arme Gräfin! Auch das noch! Die kleinlichen Nebensorgen bei so großem Schmerz und Kummer!“ rief Olga mit vortrefflich gespieltem Ausdruck der Teilnahme in den Mienen, in Wirklichkeit erfaßt von einer mit Schadenfreude vermochten äußerten Befremdung. „Ja wie ist da zu helfen? Offenheit gegen Offenheit, liebe Frau Gräfin! Wir haben allerdings ein aus unserem Gutsverkauf hervorgegangenes, recht ansehnliches Vermögen, aber alles, das weiß ich, ist unkündbar festgelegt für eine lange Reihe von Jahren, und die Summe, deren Sie bedürfen—Sie nannten fünftausend Mark, wenn ich recht verstand? Nicht wahr, Frau Gräfin? Ja, ja, ganz richtig!—ist etwa der fünfte Teil unserer ganzen Zinseneinnahme im Jahre.“ Diese Redewendung—ein feiner Dolchstoß—war absichtlich. „Zudem habe ich persönlich gar keine Verfügung; meinen Mann müßte ich schon ins Vertrauen ziehen.“
Ange hatte in ihrer Unerfahrenheit nur von ihren Verlegenheiten und von deren Abhilfe gesprochen. Über die Rückzahlung ließ sie nichts fallen, diese war ja in ihren Augen selbstverständlich, aber so unterblieb dasjenige, was für Olga natürlich die Hauptsache war. Die letztere war sogar überzeugt, daß Ange diesen Punkt nur in ihrer Erregung und in ihrer Naivetät nicht berührt hatte, aber sie hütete sich, selbst eine Brücke zu schlagen, die ihr eine Ablehnung erschwerte. Obgleich sie deshalb entschlossen war, nicht einmal mit ihrem Manne die Möglichkeit einer Hilfe in Überlegung zu ziehen, fügte sie doch hinzu:
„Wenn Sie gestatten, werde ich also mit Ink sprechen und alles thun, was in meinen Kräften steht—natürlich—selbstverständlich, liebe Frau Gräfin! Aus diesem Grunde aber will ich mich auch gleich wieder empfehlen. Ich möchte bald etwas Gutes melden, da ich den unerträglichen Zustand begreife, in welchem Sie sich befinden. Würde es möglicherweise in einigen Tagen früh genug sein?“ fuhr sie heuchlerisch fort. „Ja? Nun gut. Ich denke sicher, es wird sich machen! Mein Mann ist ja so teilnehmend und gut, daß ich ihn zu überreden hoffe, wenn es irgend möglich ist.“
Ange, die schon alles gewonnen glaubte, dankte mit gerührten Worten. Besonders beglückt aber war sie, als ihr Olga beim Abschied die Hand drückte und die Worte zuflüsterte: „In jedem Fall, wie sich auch die Dinge gestalten“ (hier deckte sich Olga nicht nur den Rückzug, sondern vergoldete diesen auch noch durch eine Äußerung, deren Wirkung auf Ange sie richtig berechnete) „seien Sie versichert, daß niemand von dieser Angelegenheit etwas erfahren wird, daß sie bei mir unter einem stummen Munde ruhen bleibt.“
Nach diesen Worten und nach einer abermaligen zärtlichen Umarmung ging sie.
An demselben Abend hatte Ange bereits eine von vielen schönen Worten umrankte Ablehnung, und um dieselbe Stunde fand eine Unterredung zwischen ihr und Tibet statt. Sie verhehlte ihm weder den Inhalt von Olgas Brief, noch die jetzt in ihr emporsteigende Befürchtung, daß jene nicht verschwiegen sein werde. Sie bewegte sich in leisen Hoffnungen, daß ihr Tibet in diesem Punkt nicht recht geben werde, aber er nickte zustimmend und sagte:
„Frau Gräfin, wenn Sie nur das nicht gethan hätten! Morgen wird's die ganze Stadt wissen!“
Ange erschrak. Was sie beängstigte, bestätigte Tibet mit kalter Einsicht. Ihr Stolz bäumte sich auf, und eine angstvolle Scheu vor den Menschen bemächtigte sich ihrer. Nun würde auch ihre Umgebung, ihre Dienerschaft bald darum wissen, daß sie in ihrem fürstlich eingerichteten Hause eine Bettlerin sei. Sie sah schon die Mienen derer, die bald geschmeidige Katzen, bald fletschende Wölfe sind, je nachdem sie glauben oder fürchten, es könne ihnen des Teufels bestlockender Köder werden oder entgehen.
Und nun kam Ange in ihrer Ratlosigkeit auf die Verwertung der Diamanten zu sprechen, und Tibet widerriet lebhaft.
Es ist eine eigentümliche, sich stets wiederholende Erscheinung, daß einfache Leute den Verlust geringfügiger Dinge in solchen Lebenslagen schwerer empfinden als irgend etwas anderes. Das Unglück selbst entlockt ihnen nicht so viele Thränen als die Aussicht, sich von gewissem Tand trennen zu müssen. Die Pfändung einer Uhr, einer Kette, eines Medaillons, ja oft eines blitzenden Küchengeräts raubt ihnen den letzten Trost und versetzt sie in einen Zustand heftiger Gemütserregung. Ebenso erging es Tibet, bei dem überdies noch die gleichsam ins Blut übergegangene Ehrfurcht vor den Personen und Dingen, unter denen er gleichsam aufgewachsen, mitwirkte.
Er war außer sich, als Ange ihre Absicht zu erkennen gab, und bot in fast demütiger Weise von neuem seine Ersparnisse an.
Aber in Ange kämpfte edle Vorsicht mit der Scheu, sich ihrem Diener zu verpflichten. Sie wies Tibets Anerbieten abermals aufs entschiedenste zurück.
Tibet schlug nun vor, wenigstens den Verkauf nicht in C., sondern in einer anderen Stadt zu bewirken. Es sei kaum einmal wahrscheinlich, daß am Orte jemand eine so große Summe dafür hergeben oder darauf anleihen werde. Den Schmuck lediglich zu verpfänden, empfahl Tibet zudem dringend, immer in der Hoffnung, dieser könne Ange doch noch gerettet werden.
Ange nahm seinen endlichen Vorschlag, nach Frankfurt zu reisen, lebhaft auf. Sie eilte fort, kam zurück und öffnete ihr Schmuckkästchen.
Als es aus Auswählen ging, ward's ihr schwer. Nicht der Verlust der Juwelen ließ sie zaudern, aber es schien ihr wie eine Entheiligung, fortzugeben, woran sich so viele teure Erinnerungen knüpften.
„Hier, hier!“ rief sie indessen schnell wieder gefaßt. „Ich weiß, daß diese Perlen Tausende wert sind. Wie kann ich fragen? Ich muß an meine Kinder denken, an die Pflichten, die ich gegen meine Umgebung habe, solange sie zu fordern hat. Alles andere ist nebensächlich.“
Nun machten sie sich daran, den Wert des Schmuckes abzuschätzen.
„Und wenn das dahin ist?“ zuckte es in Ange auf. „Wenn das dahin, was dann?“
Immer wieder packte sie ein angstvolles Grauen vor der Zukunft, immer wieder mußte sie sich zurückrufen, daß das alles Wahrheit, keine Vorstellung, kein Roman sei, den eine lebhafte Phantasie sich ausgedacht hatte. Nein! nein! Carlos war tot; sie blieb zurück mit fünf lebendigen Geschöpfen und besaß außer diesen Kleinodien und ihrer Einrichtung nichts!
* * * * *
Einige Tage nach diesem Zwischenfall—es war am Spätabend und die Kinder ruhten bereits—überreichte der Diener Ange ein Telegramm. Die Gouvernante, die noch eben an ihrer Seite gesessen, hatte das Zimmer verlassen, und da Ange allein war, gab sie sich ganz ihren Gedanken hin. Im Kamin brannte ein lebhaftes Feuer, das einen hellen Schein und zugleich wohlthuende Wärme in dem Gemach verbreitete. Draußen aber fuhr ein rücksichtsloser Sturm durch die Bäume und rüttelte den hohen Schnee, der die Erde bedeckte, aus seiner Ruhe auf.
Ange öffnete hastig die Depesche, und mit einem leisen Schrei sank sie zurück.
„Auch das noch!“ glitt es von ihren Lippen.
„Bin wegen Diebstahlsverdacht verhaftet. Wertsachen sind mit Beschlag belegt. Frau Gräfin persönliches Erscheinen hier auf dem Kriminal-Kommissariat möglichst bald erforderlich. Bedaure unendlich hervorgerufene Unruhe.
Gehorsamst Tibet.“
„Auch das noch!“ wiederholte Ange noch einmal und blickte wie eine Irrsinnige ins Leere. Es schien mit den Prüfungen erst der Anfang gemacht; immer Neues ballte sich zusammen, um die gequälte Frau zu ängstigen, zu verwirren und völlig mutlos zu machen.
Als Ange damals Olgas Billet empfangen hatte, saß sie wie erstarrt. Aber zunächst waren es nicht die dadurch wieder emporsteigenden Geldsorgen, die sie beunruhigten, sondern es jagten Scham und Enttäuschung und neben diesen die Gefühle bitterer Reue durch ihre Seele. Sie sah Teut vor sich, der ernst und vorwurfsvoll den Kopf schüttelte und ihr zurief: „Sie haben wieder Ihren Verstand spazieren geschickt und sich mit Ihrem Gemütsdrang auf den Weg gemacht. Warnte ich Sie nicht vor dieser Frau? Das alles hätte ich Ihnen vorherigen können, und unnötig, ja, zu Ihrem Schaden haben Sie sich bloß gestellt. Frau von Inks Gutherzigkeit ist nur Maske, und überall, wenn das Unglück in die Hinterpforte schleicht, ist die Welt plötzlich von Menschen ausgestorben.“
Als die Gouvernante zurückkehrte, verbarg Ange die Depesche, schützte Müdigkeit vor und zog sich zurück. In ihrem Zimmer angekommen, sank sie in einen Stuhl und weinte sich aus.
„O Carlos, Carlos! Wer sang mir an meiner Wiege von so viel Herzeleid!“ flüsterte Ange. „Bin ich ein so schwacher Mensch, daß die Angst Tag und Nacht durch mein Inneres jagt, daß ich nicht mehr lachen, daß—ach—ach—“—hier brachen die Thränen durch die zarten Finger—„daß der Anblick meiner Kinder mich nicht mehr zu trösten vermag?“
Sie ergriff die Lampe und wandte sich in das Zimmer ihres Mannes.
Der eigentümliche Duft, der stets die Räume durchweht hatte, erfüllte sie auch heute noch. Carlos saß nicht mehr in dem hohen Stuhl. Ringsum die Spuren eines lebenden, nun für immer dahingegangenen Menschen. Geradlinig wie sonst standen die Bücher in den Regalen. Im unverschobenen Winkel lag die Schreibmappe. Hier hing sein Säbel, die Militärmütze, dort standen noch seine Reiterstiefel, und drüben lagen die weißledernen Handschuhe, die er abgestreift hatte, als er des Königs Rock auszog.
Von einer unheimlichen Angst erfaßt, drehte Ange den Schlüssel zu Carlos' Schlafgemach ab. Ihr war plötzlich, als ob der Tote in der Thür erschienen sei und nicht mitleidig, nein, ernst und vorwurfsvoll sie angeblickt habe. Weilte sein Geist noch in den Räumen, wirkte sein Wesen noch nach, das fieberhaft und reizbar jeden Eintritt abgewehrt hatte?
Ange suchte sich zu fassen und öffnete die Schubladen des
Schreibtisches.
Ein plötzlicher unerklärlicher Drang hatte sie hierher getrieben. Noch einmal mußte sie die Aufzeichnungen durchblättern, die er ihr hinterlassen. Sie wußte, daß sie nichts darin finden werde als neuen Anreiz für ihren Schmerz; aber ein ruheloses Gefühl durchhastete sie, seine Schriftzüge zu lesen, an seinem Mitleid Trost zu finden.
Ja das war es! Sie sehnte sich nach Trost, weil sie keinen Menschen auf der Welt hatte, an dessen Brust sie sich werfen und ausweinen konnte. Einen gab es doch! Ja, er wog alle übrigen auf: aber er war fern, kam vielleicht nie zurück.
Ange sann nach, ehe sie zu lesen begann.
Wie abergläubische Menschen ein Buch aufschlagen und nach der Auslegung eines zufällig gefundenen Wortes ihren Entschluß fassen, so tastete Ange in Carlos' Nachlaß nach einem erlösenden Ausdruck. Tiefer zurückgeschoben, fand sie, beim Ausräumen, noch einige Blätter, die sie bisher nicht beachtet hatte. Sie waren durchstrichen, offenbar ausgesondert und zum Vernichten beiseite gelegt. Sie griff hastig danach und begann zu lesen.
Das Schriftstück datierte noch aus der Zeit ihrer ersten Liebe und war viele Jahre vor ihrer Übersiedelung nach C. geschrieben.
In diesem Augenblick glaubte Ange einen Ruf zu vernehmen. Kam er aus dem Schlafgemach der Knaben drüben? Ängstlich lauschte sie—ja unheimlich ward ihr—aber er wiederholte sich nicht. Stumm war die Nacht.
„Für meine teure Ange, wenn ich einmal gestorben sein werde. Ich schreibe diese Worte unter dem Eindruck, daß mir nur kurz zu leben bestimmt ist. Ich habe keinen thatsächlichen Anhalt dafür, es beherrscht mich aber ein ahnendes Gefühl. Heute ist ein Mensch frisch und thatkräftig, morgen ist er dahin. Auch ein böser Zufall kann uns plötzlich abrufen.
„Sieh, Ange, da drängt es mich, Dir an dieser Stelle noch einmal mein Herz zu öffnen und Dir zu sagen, wie unbeschreiblich ich Dich geliebt habe. Als ich Dich zum erstenmal sah, hielt ich es nicht für möglich, daß ein so holdes Wesen wie Du, mich vor allen anderen auswählen könne, und als ich es endlich aus Deinem Munde hörte, schwankte ich zwischen Furcht und Glückseligkeit. Weshalb? Weil mich ein trauriges Vorgefühl beherrschte. Ich fühlte, daß ich Dir nie würde etwas abschlagen können, und doch hatte ich, da Du ein unerfahrenes Kind warst, die Aufgabe, Dich für das Leben zu erziehen, Dich zu leiten und zu belehren.
„Weißt Du, Ange, daß ich mich mitunter ins Freie geflüchtet habe in zitternder Angst, wenn Dir das Geringste zugestoßen war. Ich bin im Schlachtgetümmel gestanden, die Kugeln haben um meinen Kopf gepfiffen, und ich habe, das Zeichen zum Angriff gebend, empfindungslos mich in den Kampf gestürzt; ich kenne auch keine Furcht vor greifbaren Dingen, aber ich bebte bei dem Gedanken, daß Du littest, daß ich Dich durch dieses Leiden verlieren könne.
„Wenn ich einmal mürrisch gegen Dich gewesen war, folterten mich
Vorwürfe, und ein heißer Drang, Dich zu versöhnen, Dir von neuem
Liebesbeweise zu geben, quoll in mir auf. Freilich unterließ ich sie.
Ich habe diesen Zwiespalt nie begriffen.
„Deine Schönheit, Dein Liebreiz, Deine unbeschreibliche Herzensgüte ängstigten mich. Ich fühlte, daß Du einst darunter leiden und daß wir beide dadurch zu Grunde gelten müßten.
„Ich zittere bei dem Gedanken, daß ich früher aus der Welt gehen werde als Du, aber nur deshalb, Ange, meine teure Ange—glaube mir—, weil ich weiß, daß Du, so gut auch altes bestellt sein mag, niemals verstehen wirst, Dich einzurichten und—gänzlich unbekannt mit dem Wert des Geldes—vermöge Deines unbesonnenen Dranges, aller Welt zu helfen, immer nur auf das Geben, nie auf eine Beschränkung bedacht sein wirst.
„Ich dachte darüber nach, unser Vermögen so festzusetzen und durch fremde Hand so für Dich verwalten zu lassen, daß Dir unübersteigbare Schranken in Deinen Ausgaben auferlegt werden würden. Aber abgesehen davon, daß die Wirkung dieser Vorsicht dennoch eine zweifelhafte sein kann, widersteht es mir auch, Dich in solcher Weise zu bevormunden. Ich beschwöre Dich aber bei der Liebe und bei dem Glück unserer Kinder, sieh Dich um in der Welt und traue nicht jedermann. Wo Dein Herz am lautesten spricht, sei am vorsichtigsten.
„Aber noch mehr! Thue Du, was ich unterlasse. Berate Dich mit unserem Anwalt und gieb ihm zu erkennen, was ich als Wunsch Dir hier ausgesprochen habe. Hörst Du, Ange? Willst Du diese Bitte ansehen als meinen letzten Willen, ihn ausführen als einen Akt der Pietät gegen mich?
„Ich hoffe, unser Vermögen noch so zu vermehren, daß selbst die größten Ansprüche zu befriedigen sein werden. Vielleicht, wenn Du diese Worte liest, ist es mir bereits gelungen. Tibet wird Dir alles vorlegen. Ihm kannst Du ganz vertrauen. Ich habe ihn erprobt und fand ihn bewährt in allen Verhältnissen, ja selbst unter Versuchungen, denen andere kaum widerstanden haben würden. Ich bitte Dich, daß Du Dich seines verständigen Rates, seiner Hilfe bedienst, wenn ich nicht mehr unter Euch sein werde, und namentlich hoffe ich, daß Du ihn niemals von Deiner Seite läßt, es sei denn, daß er selbst zu gehen begehren sollte. Betrachte ihn nicht als einen Diener, als einen Untergeordneten. Sein Herz ist von Gold, sein Verstand—obgleich in der großen Welt nicht gestählt—kühl und besonnen. Bedenke ihn auch einst reichlich!
„Du findest in unserem Testament, wie ich wünsche, daß er für alle mir geleisteten Dienste belohnt werden soll.
„Ange, Ange! Wenn ich mir vorstelle, Du könntest je unglücklich sein aus
Herzenskummer, aus Sorge! Wenn ich daran denke, es könnte Dich eine böse
Krankheit erfassen und Du müßtest mit täglichen Schmerzen kämpfen! Ich
bitte das Schicksal, alles von Dir abzuwenden.“
Anges Augen flossen über; sie beugte sich über die Blätter und stützte das Haupt.
Aus Liebe hatte er gefehlt; diese Aufzeichnungen erhärteten es nur allzu überzeugend. Nun war auch das letzte verwischt, was in ihrem Herzen sich noch in Zweifeln hätte bewegen können. Nichts blieb zurück als sanfte Trauer und Schmerz des Mitleides.
Mochte die Welt Carlos schmähen, sie wußte ihn frei von Schuld; eine nicht minder große traf sie selbst, und ihre Kinder wollte sie lehren, sein Andenken hoch zu halten für alle Zeiten.
Und Tibet? Wohlan! Ange mußte handeln! Am nächsten Tage beschloß sie abzureisen, um ihn aus seiner peinlichen Lage zu befreien.
* * * * *
Ange erhob sich am nächsten Morgen ihrer Reisevorbereitungen wegen schon in aller Frühe. Einer der Diener mußte forteilen, sich nach dem Abgang der Züge zu erkundigen, und die Jungfer ward herbeigerufen, die Garderobe einzupacken. Während Ange noch den sie umringenden Kindern Antwort erteilte, sich auch beschwatzen ließ, den Knaben wegen ihrer Abreise die Schule zu erlassen, ja überlegte, ob sie nicht etwa die kleine Ange mitnehmen solle, die ihr diese Bitte unter zärtlichen Schmeichelworten vortrug, fiel ihr plötzlich ein, daß sie vielleicht nicht einmal genügend Geld für die Eisenbahnfahrt habe. Sie eilte in ihr Kabinet, öffnete den Schreibtisch und zählte mit fiebernder Hast, was noch vorhanden sei. Bis zum letzten Augenblick war sie gewohnt gewesen, daß Tibet alle Geldangelegenheiten besorgte. Es fiel ihr jetzt sogar ein und es bedrückte sie, daß sie diesem nicht einmal das Reisegeld eingehändigt habe. Sie würde in der Folge fast nichts ihr eigen nennen! Nur diese Thatsache in ihrer Allgemeinheit und in ihrem nüchternen Schrecken waren in ihr hasten geblieben. Was augenblicklich nötig war, was sie noch in ihrem Besitz fand, darüber hatte sie nicht nachgedacht.
Als nun Ange ihren Schreibtisch durchsuchte, fand sie nur noch drei kleine Goldstücke. Völlig enttäuscht, ließ sie die Arme sinken und beugte mutlos das Haupt.
„Darf ich denn mitreisen, Mama?“ schmeichelte in diesem Augenblick eine Stimme. Es war die kleine Ange, welche ihr leise nachgeeilt war und sich nun bittend an sie drängte.
„Ach, nein, nein, mein Liebling!“ rief Ange, aus ihrer Ratlosigkeit aufgeweckt. „Ich weiß selbst noch nicht einmal, ob ich heute fortkomme. Laß mich jetzt, süße Ange. Geh hinüber; ich bin gleich bei Euch.“
Die Kleine schlich verdrießlich und weinend von dannen und nur zu fühlbar ward Ange durch die Frage des Kindes erinnert, wie heute alles anders sei, denn ehedem!
Was sollte nun geschehen?
Tibet war in einer Lage, aus welcher die Pflicht gebot, ihn so rasch wie möglich zu befreien. Ange durfte keinen Augenblick zögern, und nun ward sie doch aus solchen Gründen vielleicht am Reisen verhindert!
Und was sollte sie ihrer Umgebung sagen, wenn sie etwa alle Vorkehrungen wieder aufhob?
Nach der abschlägigen Antwort von Olga, bei der Befürchtung, alle Welt vermute, wisse bereits um ihre Lage, vermeinte sie, sich durch das Nebensächlichste bloßzustellen und unliebsamen Vermutungen Nahrung zu geben.
War es denn Wirklichkeit? Sie besaß nicht einmal mehr die genügenden
Mittel, eine kleine Reise anzutreten, und doch war sie rings umgeben von
Luxus und erhob noch immer den Anspruch auf einen großen Haushalt?
Dieser Schein, diese Widersinnigkeit erhöhten Anges bedrückte Stimmung; dazu trat ihre Unkenntnis menschlicher Verhältnisse. Brauchte sie für die Reise nach Frankfurt das Dreifache oder Fünffache, was sie besaß? Sie wußte es nicht. Sie war schon so scheu und unsicher geworden, daß sie nicht nach den Kosten der Fahrt zu fragen wagte, weil sie fürchtete, dies werde auffallen.
Auch die Mittel und Zwecke nach ihrer Bedeutung verwechselte sie bereits. So überlegte sie, ob sie noch das Recht habe, in einem Coupé erster oder zweiter Klasse zu fahren. Nein! Wer nichts besaß, hatte die Pflicht sich einzuschränken. Sie durfte nur das billigste Billet kaufen.
Aber sie sollte an den Bahnhof eilen in ihrem eigenen Wagen, gefolgt von einem Diener, zurücklassend einen solchen Haushalt, und einen Sitz neben rauchenden, vielleicht trunkenen Männern einnehmen in einem ungeheizten Coupé? Sie, die vornehme Dame, in dem kostbaren Reisemantel, der ein kleines Vermögen gekostet halte?
Ah! der Pelz kostete Hunderte, und sie sorgte um einen Bruchteil, wollte um diesen fast verzweifeln? Hatte er einen so großen Wert, weshalb ihn nicht veräußern?
Das war es ja eben! Sie war machtlos zum Handeln, jetzt wenigstens in diesen ersten Tagen. Immer wieder diese Gegensätze von Wahrheit und Schein!
„Carlos, Carlos!“ schrie Ange auf. Noch einmal stieg das Gefühl der Bitterkeit empor, freilich um in dieser sanften Seele ebenso schnell wieder zu verlöschen.
Zuletzt ward Ange noch von einem anderen unruhigen Gedanken beherrscht. Wenn sie nicht zurückkehrte! Wenn jemand ihres Gatten Papiere fand, sie las und der Welt offenbar ward, er habe Hand an sich selbst gelegt—?
Höher als alles stand doch die Pflicht, seinen Namen über das Grab hoch zu halten. Sie beschloß, seine Aufzeichnungen zu vernichten, und ihre Pietät ließ sie doch wieder mit der Ausführung zaudern.
So stand das arme Weib, in der Hand die wenigen Goldstücke und das Herz voller Zweifel, Sorgen und Ängsten. Sie befand sich in einem Zustande des grausamsten Kampfes. Ihre gute Natur lehnte sich auf gegen die geheimen Flüsterstimmen ihres inneren, welche ihr zuriefen: Sprich irgend eine Lüge und Du wirst Dich aus Deiner Sorge befreien!
Immer wieder durchkreuzten ihre Gedanken die Frage: Wo schaffst Du Dir
Geld? Und immer wieder antwortete das geschäftige Teufelchen: Meide die
Wahrheit, umgehe, verschweige sie und verbirg Deine Not unter einer
sorglosen Miene.
Und diese flüsternde Stimme hatte nicht ganz unrecht. Olgas Brief gab den Beweis. Einmal beschloß Ange, sich der Gouvernante anzuvertrauen, aber sie verwarf diesen Plan wie alle anderen. Lügen, verheimlichen konnte sie nicht: offen alles darzulegen, verbot ihr nach den gewonnenen Erfahrungen die Klugheit.
Inzwischen kehrte der Diener zurück und meldete, daß der Zug um die Mittagszeit abginge. Es fehlten noch einige Stunden. Schon wollte er sich nach Erledigung seines Auftrages entfernen, als Ange gleichgültig hinwarf:
„Wissen Sie zufällig den Preis des Billets, Philipp?“
Der Diener bejahte, indem er in einem Kursbuch nachschlug, das er gekauft hatte und Ange einhändigte.
Wie bezeichnend war es!
Während er suchte, beunruhigte Ange der Gedanke, daß dieses Büchlein noch bezahlt werden müsse, daß der Diener den Betrag verauslagt habe.
Nun nannte dieser den Fahrpreis für die erste Klasse.
„Und die zweite?“ fragte Ange obenhin, indem sie in ihren Gedanken die genannte Summe hastig mit ihrem kleinen Besitz verglich. „Gut, ich danke Ihnen.“
Der Diener verbeugte sich und ging. Es war Ange beinah ein Trost, daß jener als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, daß sie die erste Klasse wählen werde. Noch schien ihre Umgebung von den gänzlich veränderten Verhältnissen nichts zu wissen.
Und das Geld, das Ange besaß, reichte. Freilich, es blieb nichts im Hause zurück, aber in zwei Tagen war ja auch sicher alles geschehen! So beruhigte sie sich und beschloß zu reisen. Sie gab die letzten Anordnungen, redete der kleinen Ange so lange begütigend zu, bis diese sich zufrieden gab, und fuhr endlich zur festgesetzten Stunde an den Bahnhof. Die Kinder bestiegen mit ihr den Wagen und wurden wie stets, wenn sie erschienen, von den Menschen neugierig beobachtet.
Da stand die Gouvernante; in ehrerbietiger Entfernung auch ein Teil der Dienerschaft; vor dem Portal hielt die offene Kalesche, geschmückt mit dem gräflichen Wappen; auf dem Bock saß der Kutscher in der prächtigen Livree, das Coupé bestieg die schöne, vornehme Frau in dem wundervollen Pelz. Kein Wunder, daß der einzelne den Abstand zwischen sich und jener abwog. Gewiß, sie war doch eine beneidenswerte Frau! Wenn sie auch Herzeleid gehabt hatte, sie kämpfte doch nicht mit den täglichen Nadelstichen des Lebens. Sie saß wenigstens in ihren prachtvollen Räumen in Fülle und Wohlleben, war in ganz anderen Verhältnissen als jene, die umherstanden!
Und nun Umarmungen und Lebewohl! Ein heißes Thränlein funkelte in Anges
Auge. Und noch ein Abschiedskuß, und noch einer. Jetzt pfiff die
Lokomotive. „Adieu, adieu! Seid folgsam und artig, süßen Kinder!“ Ein
weißes Tüchlein flatterte noch eine Weile aus dem Coupé. Nun war Mama
Ange abgereist.
* * * * *
Ange blieb allein, und die Fahrt verlief rasch. Ihre Gedanken waren so lebendig, daß sie kaum bemerkte, was um sie her vorging. Vornehmlich beschäftigte sie sich mit Teut. Sie hatte ihm in kurzen Worten geschrieben und ihn gebeten, daß er ihr gleich antworten möge. Wenn sie doch erst einen Brief von ihm in Händen halten, wenn seine Trostworte. wenn sein Mitgefühl sie berühren würden!
Es beängstigte sie, daß er so lange nichts hatte von sich hören lassen.
Freilich, die Truppen zogen von Ort zu Ort, Kämpfe wurden ausgekämpft,
Schlachten wurden geschlagen; wo blieb Zeit und Ruhe selbst für die
wichtigsten Dinge!
Wie oft überfiel Ange ein heftiges Verlangen nach ihm! Sie sehnte sich nach seinem Blick, nach seinem Wort. Wo er wirkte, fügten sich die Dinge von selbst. Ein unbeschreibliches Gefühl der Sicherheit hatte sie stets durchdrungen, wenn Teut in ihrer Nähe war und ihr ratend zur Seite stand.
Und dann richteten sich abwechselnd ihre Gedanken auf Tibet und die Kinder. Die Dinge, die jenen betrafen, so peinlicher Natur sie waren, beunruhigten sie weniger, aber es beschäftigte ihre Gedanken, ob ihnen nichts zustoßen werde. Ben sollte den Magen schonen, Erna hatte Medizin zu nehmen, fand sie abschreckend bitter, und nur ihre Mama vermochte sie bisher zu überzeugen, daß diese ihr notwendig sei. Und die Schularbeiten der Knaben, und der Kummer der kleinen Ange! Ob sie sich wohl beruhigt haben würde? Wie bitterlich hatte sie am Bahnhof geweint.
Einigemal warf Ange den Blick aus dem Fenster und ließ die schon halb unter dem Dämmerlicht verblassenden Dinge an sich vorüberziehen. Ein unruhiges, stürmisches Wetter mit Schneetreiben war aufgekommen und legte seine Himmelsflocken dicht und erbarmungslos auf die Landschaft ringsum. Hier tauchten im raschen Fluge Dörfer, Städte, ein einzelnes Haus, dort ein Feuerfunken in die Luft sendender Fabrikschornstein empor; dann kleine, wie verlorene Posten in der Schnee-Einöde erscheinende Wärterhäuschen, scharf begrenzte Telegraphendrähte, bald sich neigend, bald emporstrebend zu den glockengezierten Stützen, blitzartig wie dunkle Erdfäden sichtbar werdend und verschwindend. Und jetzt wieder flaches, endloses, schneebedecktes Land, aus dem ein einzelner entblätterter Baum wie ein roh entkleidetes Wahrzeichen der Jahreszeit melancholisch sich abzeichnete. Und fort, immer fort in rasender Eile, stundenlang, bis dem schrillen Pfiff der Lokomotive das Stöhnen der Bremse folgte, und sowohl die Szenerie draußen, wie auch das tobende Geräusch des dahinstürmenden Zuges seinen Charakter veränderte: Jetzt hohle, wie unterirdisch klingende Schläge, hervorgerufen durch einige düster aufstrebende, auf den Nebengeleisen flehende Eisenbahnwagen; kleine rote und grüne Lichter, wie unheimliche Erdgeister, allmählich hellere Luft, als Reflex des auftauchenden Lebens in Häusern und Hütten, und dann ein letzter kurzer Schrei der Lokomotive, nochmals kreischendes Bremsen und endlich Stillstand und Ruhe.
Und jetzt Rufe, eilende Schritte, lautes Sprechen, das Rasseln der Postpacketwagen, Auf- und Zuschlagen von Thüren, und um die Coupéfenster zugleich ein pfeifendes Sausen aus der sturmdurchwehten Bahnhofshalle.
Dann ging's abermals wie auf einem von Furien gepeitschten, lebenden Ungetüm hinaus in den Sturm, in den Schnee und in die Nacht. Und wieder dieselben oder ähnliche Bilder: Reihen von ungleichen Häusern, weißglitzernde Dächer, Hunderte von Lichtern, lange, von spärlicher Helle beschienene, verlassene Gassen, aus der umnebelten Luft wie erstarrt emporragende Kirchtürme, wieder Güterwagen, eine einzelne wie ein Dämon mit roten Feueraugen vorbeisausende Lokomotive—ein Ruck, noch ein rücksichtsloser Ruck an den Weichen, und nun endlich ein gleichmäßiges, jagendes, keuchendes, stoßendes Stampfen des dahinfliegenden Kurierzuges.
Nach einstündiger Fahrt hielt der Zug wiederum eine Minute. Die Thür in
Anges Coupé ward aufgerissen. Es schien eine der letzten Stationen vor
Frankfurt zu sein. Rasche Worte erfolgten zwischen einem in hastigem
Laufe herbeieilenden Passagier und dem Schaffner. „Schnell hier! Es ist
höchste Zeit—“
Ein Pfiff des Zugführers—ein Schlag;—ein Herr stieg ein, noch ein
Pfiff der Lokomotive, und nun brauste der Zug von neuem davon.
Der Fremde, scheinbar den besseren Ständen angehörend, grüßte Ange flüchtig und schien anfangs, trotz der schwachen Beleuchtung, ganz in die Lektüre einer Zeitung vertieft. Allmählich aber begann er seine Blicke auf Ange zu richten und sie endlich in einer so zudringlichen Weise zu betrachten, daß sie dies lebhaft beunruhigte. Der Mann sah unheimlich aus. Er trug einen dunklen Knebelbart, hatte suchende Augen, jene Augen, die eine furchtbare, stumme Sprache reden, und neben gewählter Kleidung eine bis an den Hals zugeknöpfte scharfrote Sammetweste mit weißen Knöpfen. Ange vermochte sich nicht zu erklären, weshalb ihr gerade diese Weste ein so unheimliches Gefühl einjagte.
Endlich brach der Mann das Schweigen und fragte in französischer Sprache, ob ihr wohl—sie möge verzeihen—ein Hôtel in Frankfurt bekannt wäre. Er sei fremd und habe versäumt, sich zu erkundigen. Ange verneinte und gab, wenn auch höflich, durch ihre Miene zu verstehen, daß sie keinerlei Gespräch anzuknüpfen wünsche.
„Werden Sie auch in Frankfurt übernachten, gnädiges Fräulein?“ begann der Fremde trotzdem von neuem.
„Vielleicht—mein Herr!“ und Ange wandte zur größeren Erhärtung ihrer entschiedenen Abwehr den Blick gegen das Fenster und schaute hinaus.
Der Fremde verharrte eine Zeitlang unschlüssig, nahm aber dann noch einmal das Wort und machte eine mit feinem Spott vermischte Entschuldigung. Zugleich veränderte er den Platz und suchte in verletzender Zudringlichkeit Anges Aufmerksamkeit zu erregen.
Ange erbebte, aber sie beschränkte sich diesmal auf einen einzigen Blick, durch welchen sie den Fremden an seinen Platz zurückzuweisen suchte.
In der That schien der Mann endlich belehrt zu sein; er schwieg.
Nun drückte sich Ange mit geschlossenen Augen in die Ecke des Sitzes. Aber noch durch die Lider sah sie in ihrer aufzeigenden Angst die rote Weste und die funkelnden Augen des Fremden vor sich. Von draußen ertönte das hastende Geräusch der dahinfliegenden Wagen; einmal ein kurzer Pfiff der Lokomotive; nun jagte ein anderer Zug, von Frankfurt kommend, über die Schienen. Wie die wilde Jagd raste und stob er mit kurzem, sausendem Gezisch, den Sturmwind im Rücken, an ihnen vorüber. Dann trat das frühere regelmäßige Geräusch wieder ein.
„Mein gnädiges Fräulein! Ich bitte, mein gnädiges Fräulein!“ drang nun die Stimme des Fremden in halb bittendem, halb zudringlichem Tone an Anges Ohr.
„Mein Herr, ich muß dringend ersuchen, daß Sie mich nicht ferner belästigen! Sie haben eine Dame vor sich! Noch einmal, zum letztenmal; ich habe bereits deutlich gezeigt, daß ich keine Konversation wünsche.“
Aber der Fremde rührte sich nicht von der Stelle. Ange schien ihm in ihrem Zorn nur noch reizvoller.
„Wie kann man sich so erregen, so ungehalten sein!“ begann er abermals kopfschüttelnd, suchte Anges Augen, rückte näher und tastete unter weiteren besänftigenden Worten sogar nach ihrer Hand. Eine heiße leidenschaftliche Hand streifte in der That während einer Sekunde Anges Rechte.
„Mein Herr, mir fehlen die Worte für Ihr Benehmen! Ich befehle Ihnen, sich sofort zurückzuziehen!“ rief Ange, flog empor und richtete ihre schlanke, in die dunklen Trauerkleider gehüllte Gestalt so gebietend vor dem Manne auf, daß er zurückprallte. „Wenn Ihr besseres Gefühl nicht von selbst erwacht, wenn Sie Ihre empörenden Zudringlichkeiten nicht einstellen, werde ich die Zugleine ziehen! Ich thue es bei Gott jetzt, sogleich—“
Als der Fremde trotz der Entwaffnung, die sich in seinen Mienen widerspiegelte, dieser Aufforderung dennoch nicht folgte, faßte Ange den Riemen, riß das Fenster auf und rief, während sie nach der Leine tastete, in das Dunkel hinaus nach Hilfe.
Die schwarze Nacht schielte mit ihrem mitleidlosen Gesicht in den schwach erleuchteten Raum, Flocken ihres weißen Totenbettes wirbelten in das Coupé, kalte, eisige Zugluft drängte sich hinein.
Jetzt pfiff die Lokomotive; der schwarze, mit tausend unsichtbaren Atomen geschwängerte Rauch warf seinen stinkenden Atem ins Coupé, drang mit der eisigen Luft in Anges Kehle und tötete jeden Laut. Vorwärts! vorwärts! Der Zug raste dahin! Was scheren den stummen Zeiger an der großen Zeituhr menschliche Vorgänge, gar der Schrei eines geängstigten Menschenkindes, was die Laune eines Zudringlichen?
Zum Glück für Ange hatte der Zug nun bereits das Frankfurter Weichbild erreicht. Der Fremde machte sich hastig mit seinen Sachen zu schaffen, und Ange wandte sich, noch atemlos vor Aufregung, ins Coupé zurück. Wenige Augenblicke und der letzte Pfiff ertönte. Die Wagen hielten, die Thüren wurden aufgemacht, der Fremde sprang mit kurzem, scheuem Gruß eilend hinaus, so eilend, daß Ange ihn in der nächsten Sekunde aus den Augen verlor, und sie selbst verließ, noch unter den Nachwirkungen der Schrecken, die über ihr geschwebt, den unheimlichen Raum und fuhr in die Stadt.
* * * * *
Als Ange nach einer Nacht voll aufregender Träume und Beunruhigungen zu einer Überlegung der Aufgaben des Tages gelangte und zunächst sich erinnerte, daß sie sich einige Geldmittel verschaffen müsse, saß sie lange grübelnd da und vermochte sich nicht zu einem Entschlusse aufzuraffen. Nur wer sich in einer Lebenslage jemals befunden hat, in der das Notwendigste nicht allein fehlt, sondern auch der Blick in die Zukunft das Traurigste vor Augen stellt, wird den Zustand von Mutlosigkeit und Unsicherheit begreifen, in welchem sie sich befand.
Die Rückwirkung der Aufregung des verflogenen Abends, die Geldsorge, die dadurch hervorgerufenen Eindrücke, namentlich das Gefühl, etwas anderes zu scheinen, als die Umgebung voraussetzte, die fremde Stadt, die bevorstehende polizeiliche Vernehmung—dies alles übte eine solche Wirkung auf Ange aus, daß sie, zum Fortgang schon gerüstet, auf der Treppe noch einmal umkehrte, sich in ihr Zimmer zurückbegab, und weinend nach Fassung rang.
Und diese ward ihr endlich! Ja, noch mehr. Was bisher zu keinem Ausdruck gelangt war, weil der richtige Prüfstein fehlte, gestaltete sich allmählich klar und kräftig in ihrem Inneren. Sie gedachte ihrer Kinder, und bei der Erinnerung an diese stärkte sich ihr Pflichtgefühl. Der Adel ihrer Seele half ihr zu einem unabänderlichen Entschluß und zu einem festen Willen. Nun zeigte sich, daß sie aus einem besseren Holz geschnitten war als der Durchschnitt derer, die in der Welt umherwandeln.
Kein Rückblick mehr auf frühere sorglose Zeiten, keine Vergleiche! Geradeaus wollte sie ihr Auge richten! Ein heiliger Ernst durchdrang sie: jener sittliche Ernst bemächtigte sich ihrer, ohne den niemand wagen darf, auf den Kampfplatz des Lebens zu treten, mit dem aber jeder ein Feld sich eröffnet, dessen Enden ohne Grenzen zu sein scheinen.
Ange beschloß, zunächst einen Wagen zu nehmen und nach einem Pelzgeschäft zu fahren; von dort wollte sie sich ins Polizeigebäude begeben. Nachdem sie Erkundigungen bei dem Portier eingezogen—sie wurde rot bei ihrer Frage—, fuhr sie ab.
Kaum zehn Minuten später betrat sie das Magazin und legte den Mantel, den sie im Wagen abgezogen hatte, dem Käufer, einem jungen Menschen mit einer verdrießlichen Geschäftsmiene, vor.
„Ich bin auf der Reise. Dieser Pelz ist mir überflüssig, ich wünsche ihn zu veräußern. Wollen Sie die Güte haben, ihn zu prüfen und einen Preis zu nennen?“
Der Angeredete schob das kostbare Stück hin und her, nickte und sagte endlich: „Ich glaube, daß wir den Mantel erwerben würden. Aber der Chef ist augenblicklich verreist. Wollen Sie ihn nicht bis übermorgen zur Verfügung halten? Ich kann den Handel allein nicht abschließen!“
Ange erwiderte, daß dies nicht möglich sei, und bat um eine andere
Adresse. Nachdem eine mürrische Antwort erfolgt war, entfernte sie sich.
Ange fuhr durch eine Reihe weitläufiger Straßen und Gassen, bevor sie ihr Ziel erreichte. Die großen Geschäftshäuser mit ihren geschmückten Läden türmten sich vor ihr auf. Sie sah die eilenden Fuhrwerke und Menschen, blickte in den Dunst und Wirrwarr des Verkehrs und ward hier angezogen, dort abgestoßen von den Bildern des geräuschvollen Lebens. Aber diese Eindrücke gingen gleichsam nur wie ein Schatten neben den Gedanken einher, die sie beschäftigten.
Und da plötzlich tauchte beim Hinausschauen eine Gestalt vor ihr auf, die sie kannte. Im Fluge des Vorüberfahrens sah Ange ihren Reisegefährten; sie bemerkte auch während weniger Sekunden die Dreieckzipfelchen seiner roten Weste unter dem zugeknöpften Rock. Der Mensch hatte Frankfurt also nicht verlassen! Doch gleichviel; wirkte auch die Erinnerung auf sie und ließ diese ein angstvolles Unbehagen in ihr emporsteigen—das war glücklich überwunden. Jetzt, in der belebten Stadt empfand sie keinerlei Furcht.
Endlich hielt der Wagen. Aber hier war nicht, was Ange suchte. Sie befand sich in einer kleinen Gasse und begriff nur zu bald, daß der Kutscher sie falsch verstanden habe. Ange sah auf die Uhr; es war schon spät. Unter raschem Entschluß befahl sie, nach dem Polizeigebäude zu fahren. Sie wollte den Wagen warten lassen, auf ihrer Rückkehr den Mantel veräußern, und dann den Mann ablohnen.
„Warten Sie!“ sagte Ange, nachdem das Polizeigebäude erreicht war. Und in einer unzeitigen Ehrlichkeit fügte sie hinzu: „Es kann etwas lange dauern.“
„Dann lohnen Sie mich ab!“ rief der Kutscher. „Mein Pferd geht schon seit gestern abend; ich möchte ausspannen.“
Ange erschrak. „Ich habe kein kleines Geld—“
„Ich werde wechseln gehen,“ wandte der Mann ein und sprang vom Bock.
„Nein, nein, warten Sie!“ erklärte Ange, eilte rasch an die Thür und schnitt somit alle weiteren Fragen ab, die ihr Ungelegenheiten bereiten konnten. Das Geld, das sie in C. zu sich gesteckt, hatte eben für die Reise gereicht; sie vermochte den Kutscher nicht einmal zu bezahlen.
Nachdem Ange von dem Portier verständigt worden war, betrat sie das Zimmer des Kriminalkommissarius. Einer der dort anwesenden Beamten wußte nicht genau Bescheid, der Vorsteher war nicht anwesend. Es blieb Ange die Wahl zu warten oder wieder zurückzukehren. Sie schwankte.
Bevor sie sich zum Gehen entschloß, fragte sie nach Tibet, und nach einigem Hin- und Herreden empfing sie den Bescheid, der Inkulpat sei in Haft, und es sei nicht möglich und gestattet, ihn zu sehen oder zu sprechen.
Der Beamte, der höflich, wenn auch kurz Auskunft erteilt hatte, sah befremdet empor, als Ange, in Gedanken verloren, vor sich hinstarrte. Nun raffte sie sich auf und erklärte, in einigen Stunden wieder anfragen zu wollen.
In der Thür wandte sie sich noch einmal um. „Ich bitte, dem Herrn Kommissar bei seiner Rückkehr meine Karte übergeben zu wollen und zu melden, daß ich mich eingefunden habe.“
Der Beamte schielte auf die Adresse, nickte gleichgültig und sah auf seine Arbeit.
„Adieu!“
Dieser Gruß ward kaum erwidert. So ging Ange.
Ins Hôtel zurückgekehrt, ließ sie den Kutscher ablohnen und machte sich nach etwas Ruhe und Erholung abermals nach dem Polizeibureau auf den Weg.
Als sie nach längerem Warten endlich vorgelassen wurde, stand sie einem ernsten Mann mit forschendem Blick gegenüber, und es entspann sich ein längeres Gespräch.
„Ich komme, Herr Kommissar, wegen meines am vorgestrigen Tage verhafteten Dieners Ernst Tibet.“
„Ich habe die Ehre, die Frau Gräfin von—“ Der Beamte suchte nach Anges Namen, bat sie mit einer höflichen Bewegung, Platz zu nehmen, griff hinter sich nach einem Aktenfascikel, blätterte darin und neigte zustimmend den Kopf, als jene inzwischen das Wort „Clairefort“ selbst hinzufügte.
„Ganz recht! Der Verhaftete beruft sich auf die Zeugenschaft der Frau Gräfin Ange von Clairefort, geborenen Baronin von Butin, Gemahlin des verstorbenen Rittmeisters Carlos von Clairefort. Ist dies richtig, gnädige Frau!“ Der Kommissar erhob fragend den Blick.
Ange verbeugte sich.
„Die Vorgänge, die Umstände, welche die Verhaftung des Ernst Tibet herbeiführten, sind Ihnen bekannt, gnädige Frau?—Nein?—Ich werde Ihnen dann zunächst das Protokoll vorlesen. Indes, eine Vorfrage: Vermögen Sie sich zu legitimieren? Ich bitte um Ihre Papiere.“
Ange wußte bei den mehrfach und gleichzeitig gestellten Fragen nicht unmittelbar zu antworten; von allen blieb die letztere in ihr hasten. „Legitimation? Ich verstehe nicht, Herr Kommissar!“
„Es würde ein amtlich beglaubigtes Schriftstück aus C., etwa von dem dortigen Polizeimeister, genügen.—Sie haben kein solches?—Vielleicht können Sie sich durch eine hiesige Persönlichkeit rekognoszieren lassen.—Auch nicht?—Hm, das erschwert allerdings die Angelegenheit.“
In Anges Mienen trat ein Ausdruck von Enttäuschung und Unruhe zugleich, und da ein Kriminalkommissarius wie ein Luchs auf der Lauer liegt und jede verdächtige Bewegung beobachtet, auch niemals annimmt, daß ihm die Wahrheit gesagt wird, sondern stets das Gegenteil vermutet, so sprachen diese Dinge nicht eben zu Anges gunsten.
„Eine Legitimation ist durchaus erforderlich, gnädige Frau,“ fuhr der Beamte achselzuckend fort. Die Schwierigkeiten, die sich unvermutet erhoben, ängstigten Ange. Sie sah ihr Gegenüber einen Moment ratlos an.
„Ich müßte schon nach C. zurückreisen, Herr Kommissar. Ich weiß keinen anderen Weg. Hier kenne ich niemanden. Giebt's keine Möglichkeit? Ich bitte freundlichst um Ihren Rat.“
Der Beamte machte eine zweifelnde Bewegung, und in seinem Gesicht malte sich nichts, was Ange hätte ermutigen können.
„Ich glaube allerdings, es wird nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie an Ort und Stelle—“
„Aber bedenken Sie, Herr Kommissar, ich bin gestern in aller Eile abgereist, nun wieder zurück und abermals hierher!“
„Allerdings eine mißliche Aufgabe, gnädige Frau. Aber woher soll ich die Überzeugung nehmen, daß ich die Ehre habe, mit der Frau Gräfin von Clairefort zu sprechen? Die ganze Angelegenheit macht, ich muß es Ihnen offen bekennen, einen wenig vertrauenerweckenden Eindruck. Der Inkulpat hat sich äußerst verdächtig benommen. Nachdem er die sehr wertvollen, wie ich hier berichtet finde, auf eine ganz ungewöhnlich große Summe abgeschätzten Diamanten anfänglich als sein Eigentum bezeichnet hatte, zog er später diese Aussage zurück und weigerte sich, den Namen seines Auftraggebers zu nennen. Der Juwelier mußte Verdacht schöpfen und war in der That selbst die Veranlassung, daß die Verhaftung erfolgte. Was ist denn Ihnen über den Fall bekannt, gnädige Frau?“
Ange berichtete, was sie wußte. Sie erzählte, daß sie ein Telegramm und in diesem die Aufforderung erhalten habe, sofort nach Frankfurt zu eilen. Und während sie das erörterte, kam ihr, wie ihr schien, eine zutreffende Bemerkung.
„Daß ich die Gräfin von Clairefort bin, Herr Kommissar,“ fuhr sie fort, „mag genügend daraus erhellen, daß nur ich die ohne Zweifel mit Ihrer Genehmigung abgesandte Depesche empfangen konnte und solche auch in der That erhielt. Wollte der Verhaftete eine andere Persönlichkeit einschieben, welche Möglichkeit Sie anzunehmen scheinen, so mußte er entweder diese zugleich benachrichtigen oder sich in der Zwischenzeit mit mir in Verbindung setzen. Wie sollte das geschehen sein? Ich erkläre, daß ich die Gräfin von Clairefort bin, daß ich meinen Diener beauftragt habe, meine Diamanten zu veräußern, und daß er nur aus Delikatesse meinen Namen verschwieg. Die Umstände, welche ihn dazu veranlaßten, sind so trauriger Art“—Ange stockte und senkte das Auge—„daß Sie darin nur etwas Selbstverständliches finden würden, Herr Kommissar, wenn Ihnen solche bekannt wären.“
Der Beamte sah Anges Bewegung und legte ihr durch einige artige Worte seine Teilnahme an den Tag. Dann aber nahm er zu dem Gegenstand selbst Stellung und sagte:
„Was Sie als untrüglichen Nachweis anführen, meine gnädige Frau, ist für mich keiner. Ich bitte, nur den einen Fall ins Auge zu fassen, und ein solcher ist unzähligemal vorgekommen. Was kann bei solchen Gelegenheiten nicht alles vorbedacht und abgesprochen sein! Stößt dem Schwindler oder Dieb eine Ungelegenheit zu, bezeichnet er als Entlastungszeugen eine mit ihm im Bunde stehende Persönlichkeit, die sich also im vorliegenden Fall etwa—Frau von Clairefort nennt. Diese erscheint, macht ihre Aussagen, und der gemeinsame, an einer dritten Person ausgeführte Diebstahl—wer weiß wo; in Paris, Madrid oder sonst in der Welt!—bleibt nicht nur unentdeckt, sondern die Komplicen ziehen noch mit triumphierender Miene ab.—Ohne Zweifel verhält sich das alles in diesem Falle nicht, wie ich hier dargelegt habe, aber bedenken Sie, daß es doch möglich sein könnte und welche Verantwortung auf mir lastet. Meine vielen Geschäfte gestatten mir im allgemeinen nicht, mich mit Zeugen in Erörterungen über Eventualitäten einzuladen. Ich gehe streng nach meinen Vorschriften. Wird erfüllt, was ich gesetzlich zu verlangen habe, schreite ich an die Prüfung und entscheide. Legitimieren Sie sich, und ich werde Ihre Aussagen protokollieren, diese mit denen des Tibet vergleichen, Sie beide konfrontieren und, wenn ich die Überzeugung gewinne, daß ein falscher Verdacht vorliegt, mit größter Genugthuung Ihren Diener entlassen und Sie in den Besitz Ihres Eigentums setzen.“
Ange ließ mutlos den Kopf sinken.
„Also es giebt gar keinen—gar keinen Ausweg, Herr Kommissar?“ fragte sie und sah ihn mit feuchten Augen an. „Bedenken Sie gütigst! Ich, eine einzelne Dame! Noch stehe ich unter den Nachwirkungen einer so ernsten Trauer, mein Gatte ist eben gestorben. Ich reiße mich von allem los und eile hierher; nun soll ich nochmals zurück! Und dazu die Peinlichkeit, in dieser Angelegenheit mit den Ortsbehörden zu verhandeln!—Diamantendiebstahl! Verhaftung! Das alles klingt, als ob wirklich ein Vergehen vorläge, und doch ist alles so korrekt wie nur möglich. Ich bitte, ich flehe Sie an, helfen Sie mir! Ich schwöre Ihnen zu, daß ich die Wahrheit rede! Sehe ich aus wie eine Betrügerin? Ihr scharfer Blick muß es erraten, daß ich die volle Wahrheit rede!“
Der Beamte sann einen Augenblick nach, dann sagte er:
„Meinen persönlichen Empfindungen darf ich nicht folgen. Diese sprechen zu Ihren gunsten, gnädige Frau—ich bitte, beruhigen Sie sich.“ (Ange brach in Thränen aus.) „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: ich werde an den Polizeimeister in C. telegraphieren. Vermag dieser zu recherchieren, daß Sie in C. wohnen, gestern abgereist sind—wann, bitte, mit welchem Zug?—Sehr wohl!—auch Ihr Signalement und dasjenige Ihres Dieners beizufügen—würden Sie endlich das Original der Depesche mir einhändigen können, welche Sie von Ihrem Diener empfingen, so wäre ich hinreichend gedeckt und verspreche Ihnen eine rasche Untersuchung und Erledigung.“
Ange atmete erleichtert auf.
„Wann darf ich also wieder erscheinen, Herr Kommissar?“
„Ich denke, übermorgen vormittag werde ich im Besitz alles dessen sein, was erforderlich ist.“
„Nicht früher?“ warf Ange enttäuscht ein.
„Ich glaube nicht, daß es möglich sein wird.“
„Und darf ich meinen Diener sprechen?“
„Ich bedaure, gnädige Frau—“
„Aber er könnte doch benachrichtigt werden, daß ich hier bin und daß alles eingeleitet ist! Sie würden mich sehr verbinden. Der arme Mensch wird in einer entsetzlichen Unruhe sein, und Sie begreifen, daß ich ihn daraus befreien möchte.“
„Diese Bitte will ich auf Ihren besonderen Wunsch erfüllen, gnädige
Frau.“
Der Kommissar klingelte.
„Ich danke Ihnen für diese besondere Rücksicht, Mein Herr,“ sagte Ange, stark betonend.
Der Beamte neigte höflich den Kopf und erhob sich. „Also auf übermorgen zehn Uhr. Ich stehe dann zu Diensten. Ich empfehle mich Ihnen, gnädige Frau.“
Eine stumme Verbeugung, nochmals ein Dankeswort, dann war Ange draußen.
„Nach der Pelzhandlung von M.!“
„Straße? Nummer?“
Ange antwortete, stieg ein und der Wagen rollte fort. Nach zehn Minuten befand sie sich an Ort und Stelle. Sie brachte ihr Anliegen vor und wartete voll Ungeduld auf die Entscheidung. Diese erfolgte erst nach längerer Zeit.
„Wir haben im ganzen nicht viel Neigung zum Kauf, obgleich der Pelz sehr schön ist,“ sagte der Händler, welcher sich mit seiner Umgebung beraten hatte. „Für derartige Ware haben wir hier so gut wie keine Verwendung. Indessen, wollen Sie ihn mit achtzig Thalern abgeben, kann das Geschäft gemacht werden.“
Seit Wochen hatte sich Ange nicht so glücklich gefühlt. Sie hätte aufjauchzen können in der Erleichterung ihrer Seele. Achtzig Thaler! Sie hatte zwar mehr erwartet, da der Pelz mehrere Hunderte gekostet hatte, aber sie empfing Geld—überhaupt Geld, und—dann fand sich alles andere.
Ange nickte, that noch eine Frage wegen Rückkaufs, empfing den Betrag und entfernte sich.
Nach einer Abwesenheit von fast zwei Stunden kehrte sie nun abermals ins
Hôtel zurück.
* * * * *
Wer das Leben beobachtet, wird finden, daß diejenigen das höchste Ansehen genießen, welche allezeit den Kopf über das Herz stellen, und in der That sind diese Menschen die eigentlichen Erhalter unserer sozialen Verhältnisse. Was sollte heute aus einer Welt werden, in der die Menschen nach den idealen Vorschriften einer biblischen Bergpredigt handeln wollten?
Anders steht es mit dem Glück solcher Personen. Die tausendfachen Reize, welche den Gemütsmenschen zu teil werden—und mögen diese auch nur bestehen in dem Wechsel zwischen Erfolg und Enttäuschung—entgehen ihnen. Der Gemütsmensch genießt jede Sekunde, der Verstandesmensch entbehrt oft alles. Jener befindet sich bis zum Grabe in einem köstlichen Rausche, dieser—oft ohne wesentlichen Kampf mit der Außenwelt, der Illusionen bar, lernt den eigentlichen Zauber des Lebens gar nicht kennen.
Ange hatte den furchtbaren Ernst ihrer Lage begriffen, und der feste Entschluß, ein neues, auf Pflichttreue beruhendes Leben zu beginnen, war stark und lebendig in ihr geworden; aber ihre lebensfrohe Weltanschauung und ihre sorglose Unerfahrenheit gewannen doch leicht wieder die Oberhand und verführten sie, mehr dem Impuls des Augenblicks zu folgen, als das Ende der Dinge ins Auge zu fassen. Gestärkt durch neue Hoffnungen und im Besitz einiger Mittel, verwischten sich vorübergehend die Eindrücke der letzten Tage, und mit dem halbbewußten Anreiz, sich ihre glückliche Stimmung zu erhalten, durchschritt sie nach dem eingenommenen Mittagessen die Hauptstraßen, guckte in die Läden und betrachtete mit naiver Freude alles, was sich neues ihrem Auge bot.
Die schönen Gegenstände, welche in den Schaufenstern ausgebreitet lagen, reizten ihre Kauflust. Was ihr gefiel, hatte sie bisher stets erhalten—sich erbeten oder selbst gekauft; niemals fand sie den geringsten Widerstand. Nun fielen ihr die Kinder ein! Statt eines Tages würde sie viele Tage fortbleiben! Dafür mußten ihre Lieblinge doch in etwas entschädigt werden!
Unter diesem Gefühlsdrange betrat sie ein Magazin und wählte aus: da war etwas für die kleine Ange, hier etwas für Jorinde und Fred, und da keines der Kinder bevorzugt werden durfte, kaufte sie auch einige hübsche Überflüssigkeiten für Ben und Erna.
Als der Verkäufer die Rechnung summierte, erschrak Ange. Aber dann stellte sie sich die Freude und den Jubel der Kleinen vor, gedachte nochmals der mancherlei Entbehrungen, welche sie durch ihre Abwesenheit erleiden würden, und befahl ohne Zaudern, die Gegenstände abzusenden.
Und dennoch tauchte, als sie draußen zum Nachdenken gelangte, ein bekanntes ernstes und tadelndes Gesicht vor ihr auf; ja sie hörte eine Stimme, die sie sanft schalt und ihr zurief: „Niemals wirst Du die Erfahrungen des Lebens Dir zu nutze machen! Immer wissender wirst Du werden, nicht weiser!“ Es war Teut, der auch diesmal vor ihrem inneren Auge erschien.
Ange erschrak vor sich selbst. Selbsterkenntnis war ihr gekommen, seitdem sie Teut kennen gelernt, Entschlüsse waren in ihr gereift, nachdem Carlos davongegangen und sie in Not zurückgelassen hatte, aber der Gang durch die Schule des Lebens war noch zu kurz, um seine volle Wirkung zu üben.
Den Rest des Tages benutzte sie, um an die Kinder und nochmals an Teut zu schreiben. In ihrem ersten Briefe an ihn hatte sie nur Kunde gegeben von Carlos' plötzlichem Tode; nun bat sie den Freund, ihr in ihrer Lage zu raten. Mit ihrem Zartgefühl zauderte sie lange, die Zukunft zu berühren. War in diesem Falle Rat erbitten nicht gleichbedeutend mit einem Anspruch auf Teuts erneuerte opferthätige Freundschaft?
Dennoch schrieb Ange.
Nachdem sie aber die Feder aus der Hand gelegt, nochmals alles überlesen hatte, und nun den Brief einfalten wollte, stiegen plötzlich Stolz und Scham wie heiße Feuer in ihr empor. Sie zauderte, und aus diesem Zaudern entstand ein unabänderlicher Entschluß. Ange zerriß, was sie dem Papier anvertraut, und warf's in den Kamin.
Es war ein qualvoller, heftiger Widerstreit, der sich in ihrem Inneren erhob. Hier winkten Sorglosigkeit, Fülle vielleicht, mindestens aber alles, was ihre Kinder schützen würde vor der Grausamkeit des Lebens. Dort, in der Zukunft, lagen harte Arbeit, Entbehrung und alle die entsetzlichen Begleiter dieser Quälhexe des Daseins.
Und dennoch, und dennoch! Schon die bisherigen Wohlthaten Teuts brannten wie glühendes Eisen auf ihrer Seele. Und diese noch vermehren?—Niemals! Um keinen Preis! Es war jetzt, wie's war! Etwas blieb! Darben würde sie nicht, wenn sie alles veräußerte. Am besten, sie floh vor dem Freunde für immer, um so mehr, weil sie ihn liebte und weil diese Liebe sie zu einer nachgiebigen Schwäche hinreißen konnte, die sie sicher bereuen würde.
* * * * *
Vier Tage nach dem eben Erzählten saßen sich Ange und Tibet in einem
Zimmer des Hotel de Russie gegenüber.
Letzterer war am Tage vorher aus der Haft entlassen worden, und hatte
Anges Eigentum zurückerhalten. Eben hatte er, der Aufforderung seiner
Herrin folgend, Platz genommen und sich einer ehrerbietigen Haltung
entäußert, die unter den bestehenden Verhältnissen auch als etwas
Nebensächliches erscheinen mußte.
„Endlich, endlich, mein guter, braver Tibet!“ sagte Ange und reichte dem treuen Menschen die Hand. „Und nun berichten Sie! Ist alles gut verlaufen? Wieviel haben Sie empfangen?“
Über Tibets Gesicht flog ein zufriedenes Lächeln; er griff in die Seitentaschen seines Rockes und legte Ange ein Papier vor, das diese zwar neugierig betrachtete, aber ohne Verständnis wieder aus der Hand gleiten ließ.
„Es ist ein Check auf die Firma Erlanger, Frau Gräfin.
Fünfundfünfzigtausend Mark haben wir erhalten.“
„Wie? Fünfundfünfzigtausend Mark? Viel; nicht, Tibet?“ rief Ange naiv und voller Freude.
„Ich glaube, daß wir mehr bekommen hätten, Frau Gräfin, wenn—“
„Wenn?“
„Die Frau Gräfin wünschten eine rasche Erledigung. Wenn ich das Angebot in scheinbar längere Überlegung gezogen hätte, würde möglicherweise ein größerer Preis erzielt worden sein!“
„Vielleicht, vielleicht, Tibet! Aber unter den gegebenen
Verhältnissen—“
„Wenn die Frau Gräfin meine Bitte erfüllt haben würden, wenn ich vorläufig hätte eintreten dürfen—“
„Nun kommen Sie schon wieder mit den alten Dingen! Ist's denn nicht gut so? Fünfundfünfzigtausend Mark! Das ist weit über meine Erwartung! Wieviel meinen Sie, Tibet, daß die Veräußerung meiner Einrichtung bringen wird? Hatte der Graf versichert? Wissen Sie etwas darüber?“
„Es ist eine sehr große Summe, Frau Gräfin. Ich erinnere mich nicht genau, wieviel es gewesen ist. Allein die Gemälde im Salon haben einen bedeutenden Wert.“
„Ah, so daß ich doch nicht ganz eine arme Kirchenmaus sein werde! Wie hoch belaufen sich unsere Schulden, die rückständigen Zahlungen der letzten Zeit?“
„Sie sind nicht unbedeutend, Frau Gräfin. Aber falls Frau Gräfin, was ich nicht hoffe, die Einrichtung veräußern, wird wohl gewiß das Doppelte von dem herauskommen, was ich heute für die Diamanten erzielt habe.“
„Also viel, Tibet, sehr viel! Nehmen wir an, daß mir hunderttausend Mark bleiben—werde ich diese wohl behalten, nachdem die Schulden, auch diejenigen an Baron von Teut, abgetragen sind?—Ja?—Sie wissen nicht?—Nun, nehmen wir an, daß mir so viel bliebe—wieviel Zinsen giebt das vom Kapital?“
„Viertausend Mark, wenn dieses sicher angelegt werden soll, Frau
Gräfin.“
„Viertausend Mark—und damit sollten wir uns in einer kleinen Stadt nicht bescheiden einrichten können? Wie glücklich bin ich, daß wenigstens das meinen Kindern erhalten bleibt!“
Tibet seufzte. Er schien Anges Hoffnungen keineswegs zu teilen.
„Nun. Sie Zweifler, was ist denn jetzt wieder?“
„Der Herr Baron wird sicher nicht leiden, daß die Frau Gräfin Ihre Einrichtung verkaufen. Schon wegen der Diamanten werde ich einen schweren Stand mit ihm haben.“
Aber Tibet bereute, was er gesprochen hatte, denn die Frau, die ihm gegenüber saß, sagte in einem völlig veränderten und keinen Widerspruch duldenden Ton:
„Was hat Herr von Teut mit diesen Angelegenheiten zu thun? Ist er mein Vormund? Ich wünsche durchaus keine Einmischungen in meine Geldangelegenheiten von seiner Seite. Und damit Sie es wissen, ein für allemal wissen, Tibet: ich verbiete Ihnen, ohne meinen Willen und meine Zustimmung dem Baron irgendwelche Mitteilungen über meine Verhältnisse zu machen. Ja, noch mehr. Wenn ich C., was unmittelbar geschehen wird, verlasse, darf er meinen Aufenthalt nicht erfahren. Ich würde irgendwelche Äußerung von Ihrer Seite, die ohne meine Genehmigung geschieht, als eine Indiskretion, ja als einen Treubruch ansehen, und Sie würden meine Freundschaft verlieren, die Sie heute in so hohem Grade besitzen.“
„Frau Gräfin—“
„Und überall und zur Klarstellung über das, was ich unabänderlich beschlossen, Tibet,“ fuhr Ange, ohne Tibets Einwand zu beachten, in einer diesem Mann gegenüber vielleicht ungeeigneten, aber ihrer Natur entsprechenden Offenheit fort, „merken Sie sich folgendes: Sie werden es verstehen, und ich sage es Ihnen, weil wir uns in diesem Augenblicke nicht gegenübersitzen als Herrin und Diener, sondern als zwei durch lange Jahre und nun auch durch ein trauriges Schicksal verknüpfte Personen. Es giebt niemanden auf der Welt, den ich so hoch schätze wie den Baron von Teut; er ist mein bester, mein treuester Freund, wie Sie, Tibet, es meinem verdorbenen Gemahl gewesen sind. Aber die Dauer der Freundschaft ist fast immer bedingt durch Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse. Da diese sich verändert haben, so könnte unser bisheriges gutes Einvernehmen Schaden leiden, und um unter allen Umständen solches zu verhüten, will ich ihn in Zukunft meiden. Ich kenne ihn. Seine freigebige Hand kann sich nicht schließen, ich aber will keine Wohlthaten empfangen, und wenn ich hungern sollte! Daraus ergiebt sich alles. Auch wir müssen uns trennen, mein braver Tibet! Ich vermag Ihnen nichts zu bieten und darf Sie nicht zurückhalten, sich ein anderes sicheres Brot zu suchen.“
„Wie—auch mich wollen Sie von sich stoßen, Frau Gräfin?“ rief Tibet.
„Ich will Sie nicht von mir stoßen! Ach, Tibet, ich trenne mich nur allzu schwer von Ihnen. Aber gestehen Sie selbst! Meine Einnahme wird in der Folge gering sein, meine Familie ist zahlreich; ich kann Sie nicht belohnen, wie ich es möchte. Ja, noch mehr: ich kann Ihnen überhaupt nicht—“
„Ich wünsche auch gar nichts, Frau Gräfin. Ich bitte nur, bei Ihnen und
den Kindern bleiben zu dürfen, die mir ans Herz gewachsen sind.“ Den
Schlußsatz sprach Tibet, dieser unverbesserliche Egoist, nicht ohne
Berechnung. Und er täuschte sich auch nicht bezüglich der Wirkung seiner
Worte.
Immer, wenn die Kinder in Frage kamen, ward Ange wieder schwach oder schwankend. Sie hingen voll Zärtlichkeit an dem alten Diener des Hauses. Sie stellte sich vor, wie gut er stets mit ihnen gewesen, wie er ihre Schwächen kannte und wie günstig er sie stets beeinflußt hatte; ja, welche Entbehrung eintreten werde, wenn er nicht mehr in ihrer Nähe sein würde.
Ange schüttelte denn auch nur den Kopf; sie bewegte ihn wie jemand, der nicht nein und nicht ja zu sagen vermag.
Aber endlich gewann doch das Vernünftige wieder die Oberhand, und sie sagte:
„Und dennoch nein—nein, Tibet. Sie sind nicht mehr jung—wollen Sie die besten Ihnen noch bleibenden Jahre sich verkümmern, gar mit der Aussicht in eine Abhängigkeit treten, welche sicher ein sorgenfreies Alter abschneidet?“
„Dafür ist gesorgt, Frau Gräfin. Ich habe ein kleines Kapital, wie Sie aus meinem bescheidenen Anerbieten bereits erfahren haben. Ich strebe nicht nach Geld! Lassen Sie mich wenigstens vorläufig bei Ihnen bleiben! Die nächste Zeit erfordert so viel! Zuerst werde ich die ganze Abwickelung in C. besorgen müssen, dann kommt der Umzug, die Neueinrichtung, die Eingewöhnung in die neuen Verhältnisse. Das erfordert gewiß ein Jahr, in dem ich mich Ihnen nützlich machen kann.“
Ange sah dem trefflichen Menschen ins Auge, und eine Thräne der Rührung stahl sich in ihr eigenes.
„Gut, unter einer Bedingung, Tibet!“ entschied sie, während sie ihre Empfindungen zurückdrängte „Sie versprechen mir, daß Sie meine vorher geäußerten Wünsche erfüllen, daß Sie dem Baron von Teut—“
Tibet hatte bei den ersten Worten dankbar das Haupt geneigt, jetzt trat ein unverkennbarer Ausdruck der Unruhe in seine Züge.
„Nun, Tibet?“ unterbrach sich Ange.
„Darf ich offen sprechen, Frau Gräfin?“
Ange nickte, ergriff einen kleinen Gegenstand, der auf dem Tische lag, rollte ihn in ihrer Hand auf und ab und horchte mit einem Anflug von Spannung auf.
„Ich gab Herrn Baron von Teut beim Abschied mein Wort, Frau Gräfin, ihm von allem Mitteilung zu machen, was die gräfliche Familie anbeträfe. Ich meine,“ setzte er schnell auf einen stolzen Blick aus Anges Augen hinzu, „ihm sogleich Nachricht zu geben, wenn bei den einmal begehenden Verhältnissen Ungelegenheiten eintreten sollten. Ich versprach es nach einigem Zaudern, denn früher—damals, als der Herr Baron zuerst ins Hauswesen eingriff—hatte ich jede derartige Zumutung abgelehnt. Nun wußte ich sicher, daß ich etwas Gutes, Ihnen nur Nützliches damit bewirken könne, und sagte zu, was er von mir wünschte. Aber noch etwas anderes, Frau Gräfin: der Herr Baron ist, soviel ich weiß, von dem seligen Herrn Grafen zum Vormund der Kinder eingesetzt, und derselbe hat ihm auch Vollmacht gegeben, Ihre Vermögensangelegenheiten selbständig in die Hand zu nehmen. Haben Sie nichts in dem letzten Willen des Herrn Grafen—in seinem Testament gefunden?“
„Ah!“ murmelte Ange erregt und wie abwesend vor sich hinstarrend.
„Und zudem, Frau Gräfin,“—fuhr Tibet, Mut gewinnend, fort—„welchen Nutzen wird es haben, wenn Sie alles verkaufen? Sie bedürfen doch einer Einrichtung, auch an einem anderen Ort! Und glauben die Frau Gräfin nicht, daß der Herr Baron bald ausfindig machen wird, wo Sie sich aufhalten, und wird er nicht—“
Ange erhob sich und ging unruhig im Zimmer auf und ab.
Sie rückte an den mit Plüsch bezogenen Stühlen, zupfte an der Tischdecke und stieß mit dem kleinen Füßchen ein Schnitzelchen Papier unter das Sofa.
„Nein!“ sagte sie und richtete sich empor. „Ich weiß nichts von diesem letzten Willen meines Gemahls, und ich fand nichts Derartiges unter seinen Papieren. Wozu sollte das auch dienen? Bin ich nicht selbst der natürliche Vormund meiner Kinder?“ Und nach kurzer Pause fuhr sie, in ihren naiven Ton zurückfallend, fort: „Müßte ich mich denn fügen, wenn wirklich ein solches Abkommen vorhanden wäre?“
„Ohne Zweifel, Frau Gräfin.“
„Nun, dann mag es sein! Mag der Vormund raten, aber—“
Ange fiel in den Sessel zurück und bewegte in starker Erregung den Kopf. Was sie eben gesprochen, hatte sich unwillkürlich hervorgedrängt. Es war nichts, was an Tibet gerichtet war. Er verstand dies auch, denn er schwieg taktvoll.
„Meine Kinder sollen“—hob Ange von neuem an—„etwas Tüchtiges lernen, und wenn es ein Handwerk ist. Je früher sie leistungsfähige Menschen werden, desto eher werden sie sich ihr Brot verdienen können. Darauf wird sich meine Sorge richten müssen. Freilich, für die Mädchen ist es schwer!
Ich werde sehen, was sie zu begreifen und später nützlich zu verwerten vermögen. Das ist mein Plan und mein unumstößlicher Entschluß. Wo ich in Ehren mir Erleichterungen verschaffen kann—Erleichterungen, die man Unbemittelten in den Schulen durch Stipendien in ähnlichen Fällen gewährt, werde ich sie suchen. Komme ich in die Lage, ein Darlehen zu nehmen, so werde ich das als ein Geschäft betrachten—kurz, Tibet, ich gehe meinen eigenen geraden Weg, und nichts, nichts wird mich davon zurückbringen oder abhalten!“
„Gewiß, gewiß, Frau Gräfin,“ bestätigte Tibet einlenkend und voll Staunens. War das dieselbe Frau, die er seit so vielen Jahren in fast hilfloser Weise sich hatte bewegen sehen, die immer wie ein unerfahrenes, von jedem Impuls getriebenes Wesen gehandelt, die selbst einem Teut seiner Zeit das um ihrer Kinder willen abgebettelt, was sie doch als recht und vernünftig erkannt hatte!?
Er machte, von der Entschiedenheit ihres Wesens betroffen, auch fernerhin keinen Einwand mehr, verneigte sich nur stumm und bat, ihn wegen der Reisevorbereitungen zu entlassen.—
Die Nachwirkung der vorhergegangenen Aufregung trat erst später bei Ange ein. Zunächst hielt sie noch die Sehnsucht nach den Kindern, dann die freudige Erwartung des Wiedersehens aufrecht.
Als der Zug sich am Tage der Rückkehr C. näherte, als Ange sich vorstellte, alle ihre Lieblinge am Bahnhofe wiederzusehen, klopfte ihr das Herz so gewaltig, daß ihr fast der Atem stockte: und als endlich das Ziel erreicht war, als die Kinder ihre Händchen ausstreckten und sie beim Aussteigen küssend und jubelnd umringten, da erschien Ange alles, was vorgegangen, geringfügig gegen diesen Augenblick des Glücks.
* * * * *
Ange hatte bereits auf der Rückfahrt noch einmal mit Tibet überlegt, welche Schritte für die Zukunft einzuschlagen seien. Sie blieb dabei, ihren Haushalt aufzulösen und C. zu verlassen; Tibet sollte nicht nur mit dem Besitzer der Villa wegen einer früheren Auflösung des Mietvertrages sprechen, sondern auch die Dienerschaft sofort entlassen. Das sämtliche entbehrliche Mobiliar, Pferde und Wagen, alle Kunst- und Luxusgegenstände wollte Ange veräußern und sich mit dem Erlös aus diesen und anderen zu verkaufenden Gegenständen in eine kleine Stadt zurückziehen. Über den Ort hatte sie sich noch nicht schlüssig gemacht. Jeder Tag, an welchem der kostspielige Haushalt fortdauerte, schmälerte das Kapital, das Ange unter Berücksichtigung der noch zu lösenden Verpflichtungen endlich verbleiben konnte.
Eine Stütze fand sie in dem Polizeimeister von C., dem sie gleich nach ihrer Rückkehr einen Besuch machte, um ihm für seine erfolgreiche Hilfe zu danken. Er riet ihr, vor der öffentlichen Veräußerung der Einrichtung abzurufen, und versprach, mit Rat und That beizustehen. Auch überlegte er in einer längeren Unterredung mit ihr den Wohnort und gab Ange Ratschläge, die ihr bei ihrer Unerfahrenheit von großem Nutzen waren.
Anges Entschlüsse wurden auch nicht erschüttert, als nun an einem Morgen endlich zwei Briefe einliefen, von denen einer von Teut selbst mit zitternder Hand geschrieben war und die Worte enthielt: „Heute nur mein innigstes Beileid, liebe Ange; Carlos' Tod hat mich aufs tiefste ergriffen. Ich bin voll Sorge daß ich nicht jetzt bei Ihnen sein kann, um Sie zu trösten und Ihnen helfend zur Seite zu stehen. Aber ich liege schwerverwundet darnieder und—“
Hier brach das Schreiben ab, dem nur noch ein undeutliches A.v.T. später hinzugefügt war.
Der zweite Brief, der von Teuts Diener Jamp abgefaßt und einige Tage später abgesandt war, teilte im Auftrage des Herrn Rittmeisters mit, daß die Geschäftsangelegenheiten geordnet werden würden, daß der Herr Rittmeister neuerdings einen Rückfall gehabt habe, daß der Herr Rittmeister den Kindern Grüße sende und daß der Herr Rittmeister ausführlicher schreiben werde, sobald er nur wieder bei Kräften sei.
Ja, einige Tage später kam noch ein Schreiben, das folgendermaßen lautete:
„Frau Gräfin werden verzeihen, wenn ich nochmals schreibe, indem Herr Rittmeister neulich stark phantasierten, und sollte ich heute Frau Gräfin schreiben, daß ich nach Herrn Rittmeisters Verwalter geschrieben hätte, alles für Frau Gräfin auf Schloß Eder in Bereitschaft zu setzen, und Frau Gräfin so gut sein möchten, dahin abzureisen, aber Herrn Verwalter vorher in ergebende Kenntnis zu setzen, wann Frau Gräfin einträfen.
Herr Rittmeister raten Frau Gräfin nichts zu unternehmen, zu thun, bis
Herr Rittmeister wieder gesund sind, aber bald abzureisen.
In Ehrerbietung und Gehorsamkeit
Jamp.“
Als Ange diesen Brief gelesen hatte, überwältigte sie ihr Gefühl; Teilnahme und Rührung kämpften in ihrem Inneren. „Ich wußte es ja, ich wußte es ja,“ murmelte sie, „Du unvergleichlicher Freund würdest meiner gedenken, selbst in eigener Not. Im größten Körperschmerz, im Fieber, vielleicht nur auf Minuten mit klarem Bewußtsein, hattest Du Gedanken für mich und rafftest Dich um meinetwillen auf. O, Du Trefflicher, Unvergleichlicher!“
Und nun drängte Tibet noch einmal, Teuts Rat zu befolgen, nichts zu verkaufen, nur die Dienerschaft zu entlassen und höchstens die überflüssigen Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände bis auf spätere Entscheidung zu verpacken und beiseite zu stellen.
Aber Ange Clairefort hatte zu Furchtbares erfahren, um noch an äußeren
Dingen zu hängen.
Nicht nur die einschneidenden Gegensätze: die Gefahren des Reichtums, des sorglosen Genießens, die Wandelbarkeit des Glückes, die Vereinsamung, die den Unglücklichen trifft, hafteten in ihrem Inneren—auch der Adel ihrer Gesinnung widersetzte sich, heute noch etwas anderes zu scheinen, als sie war. Sie wußte ja, was sie besaß, und die Ehre gebot, fortan alles abzuweisen, was Luxus und Wohlleben hieß.
„Kommt, Kinder,“ sagte sie an demselben Abend zu ihren Kleinen, die sie umringten und die sie heute bei der Erinnerung an frühere Zeiten: an Carlos' Tod und Teuts schwere Krankheit in ihrer überströmenden Empfindung so oft, und scheinbar ohne Anlaß an die Brust gedrückt hatte. „Bevor ihr einschlaft, faltet die Hände und betet recht inbrünstig zum lieben Gott, daß er Onkel Axel bald gesund machen möge. Er ist im Kriege verwundet, liegt gefährlich krank und bedarf Eurer kindlichen Fürbitte.“
* * * * *
Einige Tage nach der Frankfurter Reise saß Tibet um die Abendzeit eifrig schreibend in seinem Zimmer. Man hätte ihn auf den ersten Blick kaum wiedererkannt. In dem Hausrock, welchen er gegen den schwarzen Frack vertauscht hatte, den er allezeit zu tragen pflegte, wirkte seine Erscheinung ganz fremdartig.
Aber die peinliche Ordnung in dem wohnlichen Gemach stand im Einklang zu dem bedächtig arbeitenden Manne mit dem hageren glatten Gesicht, in dem sich Ernst und Nachdenken spiegelten. Langsam, oft innehaltend und überlegend, schrieb er nieder, was durch seine Gedanken ging.
Als er seine Arbeit beendet hatte, waren es viele Stunden nach Mitternacht geworden. Nun las er noch einmal den Brief durch, und fügte hier und dort ein Tüttelchen und ein fehlendes Komma hinzu. Das lange, sorgfältig verfaßte Schreiben war an Teut gerichtet und lautete in überraschend glatter Form, wie folgt:
„Hochzuverehrender Herr Baron!
Ihrem Befehl und meiner Zusage entsprechend, verfehle ich nicht, Ihnen heute Nachgehendes ganz gehorsamst zu melden:
Ich sende voraus, daß mich unliebsame Zwischenfälle und Abhaltungen zögern ließen, Ihnen früher Bericht zu erstatten. Ich fürchte, und noch jetzt stehe ich unter diesem Eindruck, daß Ihnen entweder mein Schreiben vorenthalten werden würde oder daß sein Inhalt Ihnen eine schädliche Aufregung bringen könnte.
Ich muß aber mein Bedenken niederschlagen wegen der eingetretenen Umstände und gebe mich der Hoffnung hin, daß ich für alle Beteiligten das Richtige erwähle, wenn ich meine Zeilen an Sie absende. Ich befinde mich zudem in einem Zustande des Zweifels, der mich solchergestalt bedrückt, daß ich gleichzeitig auch um meinetwillen Ihnen die Verhältnisse darlegen muß.
Als Sie, gnädiger Herr, C. verließen, trat ich gewissermaßen in Ihre
Dienste, und Sie nahmen mir das Wort ab, in dieser Stellung nur das
Beste für meine Herrschaft, die gräfliche Familie, im Auge zu behalten.
Sie gaben mir genaue Instruktionen und banden mich durch mein Wort, daß
unser eigentliches Verhältnis, wenn es mir gestattet sein darf, diesen
Ausdruck zu gebrauchen, ein Geheimnis zwischen uns bleibe.
Unter den Gesichtspunkten, unter denen Sie mich mit Ihrem Vertrauen beehrten, glaubte ich nicht nur nichts Unrechtes zu thun, sondern gerade wie ein gewissenhafter Freund gegen die gräfliche Familie zu handeln.
Ich nehme mir die Freiheit, dies zu rekapitulieren, weil die eingetretenen Umstände entweder neue Instruktionen erforderlich machen oder ich meines Wortes entbunden werden muß.
Wenn ich nun zunächst über die Vorgänge seit dem Tode des Herrn Grafen zu berichten mir gestatte, so bitte ich von vornherein zu verzeihen, daß ich Dinge berühre, über die auszulassen, mir im Grunde nicht beikommt. Aber nur durch Erwähnung dieser werden Sie, gnädiger Herr, einen richtigen Einblick in die gegenwärtige Lage gewinnen und mir zweckmäßige Befehle erteilen können.
In meinen ersten beiden Schreiben hatte ich die Ehre zu melden, daß der Herr Graf ohne Zweifel durch tödlich starke Dosen Morphium und Chloral seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe.
Sodann berichtete ich, daß das Bankhaus die Zahlungen an uns eingestellt. Ich weiß nicht, ob Ihnen das zweite Schreiben zugegangen ist. Die Frau Gräfin befanden sich in einem sehr traurigen Zustande, der zwischen heftigem Schmerz und Ausbrüchen des Vorwurfs gegen den verstorbenen Herrn Grafen und mich selbst wechselte. Den Höhepunkt erreichte die Erregung der Frau Gräfin, als ich—ich bitte, mich deshalb nicht zu verdammen—derselben Mitteilung machen mußte, wie die gegenwärtige Vermögenslage sei, und welche Stellung Sie, gnädiger Herr, zu dieser bereits eingenommen hätten.
Frau Gräfin befahlen mir zu sprechen; ich stand bei Stillschweigen vor der Wahl einer falschen Beurteilung, Ungnade und Entlassung.
Es handelte sich um Geld; wir hatten keines. Ich mußte also die monatliche Rate einfordern und mich rechtfertigen, als ich wegen ungenügender Quittung mit leeren Händen zurückkehrte. Die Hergabe meiner kleinen Ersparnisse wies die Frau Gräfin wiederholt schroff zurück.
Nach allem wenden Sie, gnädiger Herr, verstehen, daß einer Erklärung gar nicht auszuweichen war. Trotz all meiner Vorstellungen bestand Frau Gräfin nach Einblick in ihre trostlosen Verhältnisse auf Veräußerungen ihrer Diamanten und sonstigen Schmuckgegenstände.
Ich gelange nun zu demjenigen Punkt, bei dessen Erwähnung ich Ihre Nachsicht, gnädiger Herr, einholen muß: die Frau Gräfin erklärte mir auf das bestimmteste, daß sie ihren Hausstand aufzulösen wünschte und aus dem Erlöse ihrer überflüssigen Wertgegenstände gesonnen sei, neben den übrigen Verpflichtungen in erster Linie diejenigen gegen den Herrn Baron abzulösen.
Die Frau Gräfin äußerte, daß diese Vorschüsse sie im höchsten Maße bedrückten, und daß sie lieber Not leiden wolle, als irgend welche Darlehen oder gar Freundesgaben aus Ihrer Hand fernerhin empfangen. Das Freundschaftsverhältnis zu Ihnen, gnädiger Herr, das unter den bisherigen gleichen Lebensverhältnissen ein so gutes gewesen sei, könne Schaden leiden, und Frau Gräfin zögen es daher vor, sich Ihrer freundschaftlichen Hilfe (da diese ohne Zweifel auf Ratschläge sich nicht beschränken werde) nicht mehr zu bedienen, sondern sogar Ihnen in Zukunft fern zu bleiben. Die Frau Gräfin, die C. verlassen und nach einem kleinen, noch nicht feststehenden Orte übersiedeln will, um sich dort mit den ihr bleibenden Mitteln einzurichten, stellten sogar das Ansinnen an mich, Ihnen nicht zu verraten, wohin sie gehen werde, und nehmen als selbstverständlich an, daß ich Ihnen auch sonst keinerlei Mitteilungen zukommen lassen würde.
Da Frau Gräfin sich so sehr gegen alles, was sich ihrem Entschlusse entgegenstellen könnte, auflehnt, bin ich völlig machtlos. Um die erwähnten Pläne auszuführen, bleibt ja allerdings nichts anderes übrig, als den gegenwärtigen Besitz zu Geld zu machen. Ich schätze die Zinseneinnahme in Zukunft auf kaum viertausend Mark, welches einem baren Kapital von hunderttausend Mark entsprechen würde.
Was befehlen Sie nun, gnädiger Herr?
Soll ich scheinbar den Verkauf zulassen und etwa das Ganze ohne Wissen der Frau Gräfin für des Herrn Baron Rechnung ankaufen? In solchem Falle ist schnelle Instruktion erforderlich. Ferner: Wie soll ich mich in Zukunft verhalten? Darf ich noch mit dem Herrn Baron korrespondieren? Soll ich nach der Neuordnung aller Verhältnisse den Dienst bei der Frau Gräfin verlassen?
Wenn ich die letztere Frage aufwerfe, so bitte ich diese nicht mißzuverstehen. Ich habe mich gegen die Frau Gräfin bereit erklärt, ohne Entschädigung zu bleiben, und würde mich nur entfernen, wenn der Herr Baron darin etwas Zweckmäßiges für die Frau Gräfin erkennen würden. Mir ist dies zur Zeit allerdings als vorteilhaft nicht ersichtlich.
In jedem Falle werden Sie, gnädiger Herr, gewiß verstehen, daß ich kein doppeltes Spiel treiben kann und mich eines wirklichen Vertrauensbruches schuldig machen würde, wenn unsere Verabredungen ganz in der bisherigen Weise bestehen bleiben.
Sofern es meine Befugnis nicht überschreitet, möchte ich mir den gehorsamen Vorschlag gestatten, daß ich bei der Frau Gräfin ausharre, aber nichts thue, was mit den Entschließungen der Frau Gräfin in Widerspruch gerät, und somit nur in dem Sinne zur Verfügung des Herrn Baron bleibe, daß ich nach besten Kräften über das Wohlergehen der Familie wache. Wenn ich die Hand dazu biete, das Eigentum der Frau Gräfin für Rechnung des Herrn Baron zu erwerben, so glaube ich, dadurch nicht unehrlich gegen die Frau Gräfin zu handeln.
Nochmals bitte ich um Verzeihung, meine Befugnisse durch Darlegung persönlicher Anschauungen und durch die Berührung intimer Verhältnisse überschritten zu haben, und hoffe im übrigen, daß der gnädige Herr aus meinen Darlegungen ein richtiges Bild zu gewinnen vermögen.
Ich empfehle mich dem ferneren Wohlwollen und der Nachsicht des gnädigen
Herrn und erwarte weitere Befehle.
Ganz gehorsamst
Tibet,
Kammerdiener.“
Bereits am nächsten Morgen begann Ange mit den Vorbereitungen zu ihrem Umzuge und ward bei diesen von Tibet eifrigst unterstützt. Es galt eine Auswahl unter denjenigen Gegenständen zu treffen, welche veräußert werden und welche der künftigen Wohnungseinrichtung dienen sollten. Zu diesem Zwecke wurden zunächst einige Räume leer gemacht, und nun begann das Wählen. Claireforts Zimmer beschloß Ange zu behalten, ebenso wurden die Möbel aus dem Zimmer der Kinder für den ferneren Gebrauch zurückgestellt. Dazu kamen noch die Kücheneinrichtungen und all derjenige Hausrat, durch den sich eine Wohnung in bescheidener Weise vervollständigt.
Tibet war plötzlich ganz gefügig und erhob nicht einen einzigen Einwand.
Er fertigte eine genaue Liste für den Auktionator an und machte mit
Hilfe der noch vorhandenen Dienerschaft eine so übersichtliche
Aufstellung, daß schon nach wenigen Tagen die Arbeit im wesentlichen
beendet war.
Sodann beriet er mit Ange, wie alles übrige abzuwickeln sei, verhandelte mit dem Hausbesitzer und mit dem Personal, einigte sich mit jenem, entließ dieses sogleich bis auf eins der Mädchen, welches in Anges Diensten zu bleiben wünschte, und beglich auch alle Rechnungen, welche zu bezahlen waren. Es erübrigte nun nur noch die Summe, welche die Familie von Teut empfangen hatte, und bevor Tibet diese zu dem Banquier trug, hatte er noch eine Unterredung mit Ange, in welcher auch der zukünftige Wohnort zur Erörterung gelangte.
Ange war nicht minder thätig gewesen, wenn auch alles nach ihrer besonderen Art geschah. Sofern sich in den hohen Bergen von unnützen Kleinigkeiten und Firlefanzereien etwas befand, das der Kinder Verlangen reizte und das sie wieder hervorzogen, konnte Ange ihren Bitten nicht widerstehen und packte es in die ohnehin schon mit vielen Überflüssigkeiten belasteten Koffer.
Bisweilen hielt sie inne und vergaß, was sie eben beschäftigt hatte. Bei diesem und jenem Gegenstand kamen ihr Erinnerungen, die ihre Gedanken ganz in Anspruch nahmen, und Vergleiche stiegen auf zwischen heute und früher. Da stahlen sich denn häufig Thränen ins Auge, und mutlos ließ sie die Arme sinken.
Oft wunderte sie sich, daß alles so glatt verlief, daß niemand Einspruch erhob, wenn sie etwas anordnete. Früher handelten andere für sie, sie ließ sich belehren und befolgte zweckmäßige Ratschläge. Ange hatte es als selbstverständlich angesehen, daß sie die Dinge nicht verstand und daß ihre Umgebung für sie handelte. Jetzt fiel ihr plötzlich ein, wie schwer es doch eigentlich sei, praktisch einzugreifen, und fast wunderte sie sich, daß sie so ruhig und besonnen in Frankfurt aufgetreten sei. Also, sie vermochte es doch! Daran richtete sich denn ihr gesunkener Mut wieder auf.
Gewiß, wenn erst alles in dem neuen Geleise sein werde, würde sie vorsichtig überlegen, nicht mehr nach plötzlichen Impulsen handeln, sich's vernünftig und sparsam einrichten und auch das Kleine achten. Ihr Kopf war voll von Plänen und guten Vorsätzen, und ihre Zuversicht wuchs, bis dann die Kinder mit ihren berechtigten und unberechtigten Bedürfnissen vor ihr auftauchten und sie vorübergehend doch voll Zweifel in die Zukunft blickte.
„Nun, mein lieber Tibet!“ sagte Ange und ließ sich in Carlos' Zimmer, das gegenwärtig als Wohngemach diente, ermüdet und abgespannt in einen Sessel gleiten. „Haben Sie auch die Zahlung an Herrn Baron von Teut bereits geleistet oder müssen wir diese verschieben, bis die Auktion stattgefunden hat?“
„Wenn Frau Gräfin wirklich meinen, daß auch dieser Betrag—“
„Wenn—Tibet!—Dieser Betrag steht in erster, in gleicher Linie mit allen übrigen! Natürlich! Darüber habe ich Ihnen meine Ansicht bereits wiederholt ausgesprochen. Ich komme nur auf diesen Gegenstand zurück, weil die Summe hoch ist und ich nicht weiß, ob gegenwärtig schon unsere Mittel reichen.“
„Allerdings, Frau Gräfin, es scheint durchaus ratsam, daß wir warten. Um so mehr möchte ich dies vorschlagen, weil gerade Umzug und Neueinrichtung viel größere Summen verschlingen werden, als wir in vorläufige Berechnung gezogen haben. Unser Bestand schmolz schon gewaltig zusammen—ganz gewaltig.“
„Nun wohl! Wir haben aber keine Schulden mehr? Alles ist bezahlt?—Welch ein Wort!“
„Ganz recht, Frau Gräfin! Indessen—“
„Nun?“
„Es wird mir recht schwer—ich möchte die Frau Gräfin nicht entmutigen, aber ich fürchte, wir behalten bei weitem nicht die ursprünglich gedachte Summe, aus deren Zinsen Sie sich einrichten müssen. Ich bin besorgt, Frau Gräfin, und muß deshalb die Frage in Ihrem Interesse nochmals anregen, ob es nicht doch zu überlegen sein würde, die Vorschüsse des Herr Baron einstweilen auf sich beruhen zu lassen.“
Auf Anges Gesicht malten sich Schrecken und Enttäuschung zugleich. Nach einer kurzen Pause fragte sie, und aus dieser Frage klang der Zwang hervor, den sie sich anthun mußte:
„Wie hoch beläuft sich—doch noch—der Betrag, welchen wir Herrn Baron von Teut schulden?“
Tibet gab Antwort.
„Das ist sehr viel!“ sagte sie kaum hörbar und ganz mit ihren Gedanken beschäftigt.
„Vielleicht der fünfte Teil alles dessen, was Ihnen bleibt, Frau
Gräfin.“
„Und wieviel glauben Sie, Tibet, daß mir im schlechtesten, allerschlechtesten Falle an Zinsen werden könnte?“
„Ich erlaubte mir, Frau Gräfin, schon auf der Reise auseinandersetzen, daß bei wirklich sicherer Geldanlage nur auf einen Zins von vier Prozent gerechnet werden darf.“
„Und Sie meinen wirklich, das ursprünglich angenommene Kapital würde mir nicht einmal bleiben?“
„Ich fürchte, nein, Frau Gräfin—wenn Herr von Teut bezahlt werden soll! Die Frau Gräfin können nach den vorgelegten Quittungen selbst berechnen.“
Ange konnte eigentlich nicht berechnen, aber sie nickte und schwieg.
„Wieviel braucht wohl im Durchschnitt eine gebildete Familie mit fünf Kindern unter bescheidenen Verhältnissen, Tibet?“ hob sie nach einer kleinen Pause an.
Mit der Beantwortung dieser Frage fielen alle Illusionen, welche Ange sich bisher gemacht hatte. Tibet litt bei diesen Gesprächen. Vielleicht fühlte er sogar noch tiefer als Ange den Schmerz, die Enttäuschung, obgleich er scheinbar so teilnahmlos die Wahrheit ans Licht zu ziehen bemüht war. Er gewann es auch nicht über sich, der mut- und trostbedürftigen und mit so guten Vorsätzen ihr neues Leben beginnenden Frau den Vorhang ganz hinwegzuziehen. Er umging ihre Frage und erwiderte:
„Es kommt ja sehr auf die Stadt an, ob das Leben teuer oder billig ist.
In kleinen Städten gestaltet sich alles besser.“
„Es ist wohl fast ein Unterschied um die Hälfte?“ fiel Ange hoffend und lebhaft ihre eigenen Worte bestätigend, ein.
„Ich möchte es glauben, Frau Gräfin.“
„Ich weiß nicht, wie ich's richtig mache, Tibet. Nur so viel ist mir klar, daß ich keinen ruhigen Tag, keine ruhige Stunde haben werde, wenn ich Schulden besitze, wenn namentlich—“ sie stockte und fuhr dann fast heftig fort: „Wir müssen Herrn von Teut zahlen, was er meinem Gatten geborgt hat, sobald die Dinge hier geordnet sind; wie's auch immer sein mag! Werde ich weniger besitzen, werde ich doch das unvergleichliche Bewußtsein haben, niemandem mehr verpflichtet zu sein!“
Und nach dieser vorläufig alle Gegeneinwendungen abschneidenden
Entscheidung verbeugte sich Tibet und brachte das Gespräch auf Umzug und
Wohnort.
„Haben die Frau Gräfin schon eine Entscheidung getroffen? Bleibt es
Eisenach, wozu der Herr Polizeimeister geraten?“
Ange bestätigte.
„Es würde sich dann wohl empfehlen, daß ich zunächst dahin abreise, um eine Wohnung zu mieten, und dann wieder zurückkehre, um hier den Verkauf des Mobiliars zu beaufsichtigen. Ich weiß nun aber nicht, ob ich der Frau Gräfin Wünsche bezüglich dieser treffen werde. Vielleicht entschließen Sie sich, die Reise ebenfalls anzutreten.“
Das Gespräch wurde unterbrochen, weil die beiden Knaben herbeigeeilt kamen, die draußen auf der Straße gespielt hatten. Ihre Mienen waren betroffen, und Ben kam zorngerötet ins Zimmer gelaufen.
„Was ist? Was habt Ihr?“ fragte Ange besorgt.
„Der—der—Karl von drüben—vom Krämer sagt, daß—“ hob Ben an.
„Wir haben uns gestritten; er stieß, ich stand Ben bei!“ fiel Fred ein.
„Nun?“
„Er sagte, wir wären schöne Grafen. Mama hätte nicht mal die Rechnung bezahlt. Sein Vater könnte kein Geld kriegen und die anderen auch nicht—“
„Er schimpfte; er brauchte Ausdrücke von uns—na, ich hab's ihm gegeben!“ ergänzte Ben.
Ange sah Tibet fragend an, und Blässe trat auf ihre Wangen. Tibet verstand und nahm rasch das Wort:
„Es ist alles—das letzte schon gestern bezahlt, Frau Gräfin!“
„Ah!“ riefen beide Knaben zu gleicher Zeit, und ihre Blicke flammten.
„Dem wollen wir's geben!“
„Nicht so, nicht so, Kinder!“ rief Ange angstvoll, aber suchte sich in
Gegenwart der Knaben zu fassen. „Laßt den Streit! Geht ruhig Eures Weges
und meidet die Nachbarskinder. Hört Ihr? Ihr hörtet, daß er die
Unwahrheit sprach. Und nun geht! Ich habe noch mit Tibet zu sprechen.“
Die Knaben entfernten sich gehorsam, aber noch erregt und lebhaft sprechend.
„Es wird Zeit, daß ich fortkomme,“ rief Ange. „Je eher, je besser; es brennt der Boden unter mir. Was die Menschen wohl alles reden! Wie sie sich mit uns beschäftigen! Schon bei dem Gedanken steigt mir das Blut in die Schläfen.—Wann können Sie reisen, Tibet?“
„Heute—Morgen, Frau Gräfin—“
„Gut, also morgen! Sie werden eine Wohnung wählen und rasch zurückkehren. Wollte Gott, ich säße schon an einem anderen Ort und fände endlich Ruhe und—“ Ange brach in heftige Thränen aus.
„Es wird alles gut werden, Frau Gräfin! Gewiß, gewiß! Sie sollten sich durch dergleichen Dinge nicht aufregen!“ besänftigte Tibet, heftete einen besorgten Blick auf seine Gebieterin und suchte bescheiden ihr Auge, um in diesem zu lesen, daß seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt hätten. Wirklich stahl sich ein Lächeln um Anges Mund bei Tibets Worten; es war aber ein trauriges Lächeln.
* * * * *
Nach den vorerwähnten Ereignissen war reichlich ein halbes Jahr verflossen, als an einem warmen Juniabend des Jahres 187- zwei Männer in dem kleinen Gärtchen saßen, welches zu dem sogenannten Sommerhause des Hotels „Zur Rose“ in Wiesbaden gehört.
Auf dem im Freien gedeckten Tische standen die Reste eines reichlichen
Abendessens, und eben hatte der Kellner ein Licht gebracht, mit dem die
Cigarren entzündet worden waren.
„Hm, hm,“ sagte der Major von Teut—denn er war es—zu dem ihm gegenübersitzenden Manne und blies den Rauch einer starken Cigarre nach seiner Gewohnheit durch die Nase. „Das klingt ja alles so gut und doch wieder auch so ernst, wie ich's mir gedacht habe. Aber vielleicht—zunächst—wer weiß—war's auch besser so!?—Was haben Sie denn der Gräfin über Ihre Reise gesagt? Wie haben Sie diese begründet?“
„Ich gab vor, daß ich die Meinigen besuchen wolle.“
„Ah! Sie haben Familie, Tibet? Das ist mir ja ganz neu! Auch der verstorbene Graf und die Gräfin haben mir nie davon gesprochen.“
„Sie wußten auch davon nichts, gnädiger Herr.“
Teut wollte diesen Gegenstand offenbar des näheren berühren, denn er blickte fragend empor. Aber ein anderer Gedanke überholte, was sich ihm eben aufgedrängt hatte. Er sagte abbrechend: „So, so—Aber noch eins! Wie haben Sie es angefangen, daß die Gräfin nichts von all den kleinen Hinterlisten gemerkt hat? Glaubt sie, daß ihre Einnahme bisher immer reichte, und daß sie lediglich durch ihre Sparsamkeit alles gut gemacht hat?“
Über das immer noch bleiche Gesicht des Sprechenden flog ein fragendes
Lächeln, und er strich den Schnurrbart in sichtlicher Spannung.
„Allerdings, aber es hat mancherlei Künste gekostet, gnädiger Herr!“ entgegnen Tibet, und in der Erinnerung des falschen Spiels, das er getrieben, sichtlich bedrückt. „Anfänglich, damals, als Sie auf meinen Brief antworteten und mir Verhaltungsmaßregeln gaben, war ich zweifelhaft, ob's möglich sein werde, diese auszuführen. Ich mußte mir erst alles zurechtlegen und förmlich ausklügeln, wie ich dem Argwohn der Frau Gräfin begegnen könne. Wenn ich Einkäufe machte, erklärte ich, die Waren seien im Preise gesunken, und die Frau Gräfin sah mich dann groß an und machte ein zufriedenes Gesicht. Im Anfang freilich wollte sie überhaupt nichts von dergleichen hören. Ich erlaubte mir den Vorschlag, daß ich wie früher die Wirtschaft besorgen dürfe, und that dies insbesondere, weil ich dann alles ohne Schwierigkeit einrichten konnte. Aber darauf wollte die Frau Gräfin nicht eingehen. Sie müsse die Dinge selbst übersehen, meinte sie, sonst könne sie nicht wirtschaften lernen. Mit der Miete hätte sich bald alles verraten. Ich machte, des gnädigen Herrn Befehl folgend, dem Wirte Mitteilung, daß er von uns nur die Hälfte erhalten, daß das übrige anderweitig berichtigt werden würde. Ich nahm ihm das Versprechen ab, gegen die Frau Gräfin Stillschweigen zu beobachten und auch seine Umgebung zu verständigen. Eines Morgens nun unterhielt sich die Frau Gräfin mit einem Einwohner, und bei dieser Gelegenheit war von den Wohnungen in Eisenach die Rede. Da äußerte dieser die unsere sei nicht billig, während die Frau Gräfin gerade ihrem Erstaunen Ausdruck gab, wie preiswürdig dieselbe sei. Ein Wort gab das andere. Endlich ward ich herbeigerufen und bestätigte die Aussagen meiner Herrin. Als jener sich entfernt hatte, betrachtete mich die Frau Gräfin bereits mit einigem Mißtrauen und brach endlich in die Worte aus: ‚Haben Sie gehört? Er hat vor uns dies Haus bewohnt und das Doppelte bezahlt. Wie ist es möglich, Tibet, daß Sie die Villa um die Hälfte mieten konnten?‘—‚Die Frau Gräfin haben ja den Mietskontrakt in Händen,‘ erwiderte ich, als ob ich den eigentlichen Sinn dieser Nachfrage gar nicht verstanden hätte. Kopfschüttelnd ging die Frau Gräfin davon. Schon fürchtete ich, daß alles würde entdeckt werden.“
„Und das Schulgeld?“ fragte Teut, der mit größter Aufmerksamkeit zugehört hatte. „Wie haben Sie das gemacht?“
„Ich habe gleich das ganze Semester bezahlt und der Frau Gräfin gesagt—“—Tibet hielt inne, dunkle Schamröte färbte seine Wangen—„daß der Direktor auf meine Vorstellung dasselbe erlassen habe.“
„Und das glaubte die Gräfin?“
„Vorläufig ja, Herr Baron. Aber ich zittere doch jeden Tag, daß es ans
Licht kommt, und dann—“
„Und Steuern?“ fragte Teut und konnte sich des Lächelns nicht erwehren, weil er wie ein Beichtvater alle Vergehen aus dem armen Sünder herausholte.
„Die habe ich gar nicht erwähnt! Davon hat die Frau Gräfin keine Ahnung.
Ich fing den Steuerboten ab und—“
„Und drohten ihm mit allen Folterqualen der Hölle, wenn er noch einmal erscheine?“ schaltete Teut mit gutmütigem Spotte ein.
„Ja, Herr Baron, Sie können wohl scherzen.“ sagte Tibet, nun wieder von dem Ernst und der Verantwortlichkeit seiner Aufgabe erfaßt. „Aber Sie mögen mir glauben, daß die Dinge sich nicht so freundlich abspielen werden, wenn die Frau Gräfin jemals erfahren sollte, was wir gethan haben.“
Teut trank seinen Wein und wollte, um einer aufsteigenden Empfindung
Herr zu werden, die Stiefelhacken zusammenschlagen. Aber es war nur eine
Bewegung. Mit einem leisen Anflug von Schmerz hielt er inne. Nicht ohne
Grund! Das eine, das linke Bein fehlte, er hatte es im Kriege eingebüßt.
„Aber die Kinder?“ fragte Teut nach einer Pause. „Wie geht's denen?
Entwickeln sie sich gut? Sind sie fleißig?“
Tibet nickte. „Gewiß, gnädiger Herr! Wir helfen beide, die Frau Gräfin und ich, bei den Schularbeiten.“
„Ist die kleine Ange hübsch geworden, Tibet? Sie versprach sehr schön zu werden!“
Tibet betätigte lebhaft. „Ange ist ein sehr schönes Kind, gnädiger Herr, und so klug, daß es mich oft fast ängstlich macht. In der kurzen Zeit von einem halben Jahre spielt sie schon kleine Stücke auf dem Klavier und ist so sicher dabei, daß man erstaunen muß.“
„So, so! Wer unterrichtet sie denn?“
„Die Frau Gräfin selbst, Herr Baron! Jeden Nachmittag erhält Ange Unterricht von der Frau Gräfin, und Erna und Jorinde müssen ebenfalls täglich bei ihr üben. Sie machen alle gute Fortschritte.“
Teut machte eine Bewegung, er murmelte auch etwas vor sich hin, das
Tibet nicht verstand. „Wie ist denn Eure Tageseinteilung, Tibet? Die
Frau Gräfin muß ja sehr in Anspruch genommen sein. Sie hat doch Mädchen
zur Hilfe?“
„Nur eins, Herr Baron! Aber die wurde uns gleich schwer krank und mußte wochenlang das Bett hüten. Da hat die Frau Gräfin selbst morgens Kaffee gemacht, die Stuben geräumt, die Kinder angezogen und in die Schule befördert. Die Frau Gräfin ist überhaupt von morgens früh bis abends spät unausgesetzt in der Wirtschaft und um die Kinder beschäftigt.“
Teut murmelte wieder etwas.
„Ah! herrliches Weib!“ glaubte Tibet zu hören.
„Und Sie, Tibet?“ fragte Teut dann kurz und mit einem scheinbaren
Vorwurf, während in sein Auge ein silbernes Pünktlein trat.
„Ich, ich?“ erwiderte Tibet arglos und verlegen zugleich. „Ich habe morgens alle die Stiefel geputzt, die—die—gröbere Arbeit in den Schlafstuben besorgt und der Kinder Betten gemacht und—und auch gekocht während der Zeit. Kochen kann die Frau Gräfin nicht; aber sie lernt es schon ganz gut. Neulich hatten wir zwei Gerichte, die sie ganz allein zubereitet hatte. Ihre Augen glänzten, als es den Kindern so gut schmeckte. Die Frau Gräfin war so glücklich, daß sie im Zimmer herumtanzte.“
„Aber Freund!“ schaltete Teut scheinbar tadelnd ein. „Weshalb haben Sie denn damals nicht eine Hilfe genommen?“
„Die Frau Gräfin wollte es durchaus nicht, gnädiger Herr! Sie meinte, es sei der beste Weg, alles zu lernen. Freilich, ich folgte auch nichts thun—aber ich habe sie sogar überrascht und in einer Nacht mit Hilfe einer Frau die Wäsche besorgt. Die Alte hat die Garderobengegenstände vorgenommen, ich machte mich an Servietten und Tischzeug. Gegen Morgen haben wir aufgehängt, jeder sein Teil.“
„Allen Respekt!“ murmelte Teut, trank in hastigen Zügen und schenkte von neuem aus der Flasche ein. „In der That, über alles Lob erhaben! Aber das muß doch anders werden!“ Und nach einer Pause: „Wenn ich nur einen Weg wüßte—“
Tibet hatte nur halb gehört, aber doch genug, um zu verstehen. Er nahm sich, in der Sorge um seine Herrin, die Erlaubnis einzufallen, und sagte:
„Wenn der Herr Baron mir gestatten wollten, einen Vorschlag zu machen?“
Teut bewegte den stolzen Kopf und sagte in seiner kurzen, unhöflich klingenden Weise:
„Nun, was soll's?“
Tibet ward durch diesen Ton eingeschüchtert. Er fürchtete, sich eine
Vertraulichkeit angemaßt zu haben, die ihm nicht zukam. Takt und
Vorsicht riefen ihm zu, sich in den bisherigen Grenzen zu halten. Er
entgegnete deshalb rasch:
„O, es war doch nichts, gnädiger Herr—“
Teut blickte auf und sah, daß Tibet mit dem Ausdruck einer gewissen
Enttäuschung vor ihm saß. Er verstand und bereute seine Schroffheit.
Ohne auf den Gegenstand zurückzukommen, dessen Berührung von jener Seite ihm nach den wunderbaren seelischen Schwankungen, denen jeder, selbst der beste und vorurteilsfreiere Mensch, unterworfen ist, plötzlich widerstrebt hatte, sagte er:
„Eine Angelegenheit will ich doch heute gleich berühren, Tibet. Mein
Zustand verhinderte mich, Ihnen das bisher zu schreiben:
Vom Ersten des nächsten Monats sind Sie bei mir für Lebenszeit als Sekretär engagiert. Es werden Ihnen monatlich dreihundert Mark von meinem Rendanten ausbezahlt werden. Alle Ihre Auslagen seit vorigem Jahr werden Sie mir baldigst aufgeben, und auch das Honorar für die verflossene Zeit werde ich ordnen. Sind Sie damit einverstanden, Tibet?“
„Herr Baron!—Gnädiger Herr!“ rief Tibet. Er erhob sich und neigte in seiner überströmenden Empfindung das Gesicht auf die Hand des Mannes, der seine Worte mit einem Blick begleitet hatte, in dem sich die ganze Fülle seines unvergleichlichen Herzens widerspiegelte.
„Aber Waschen und Kochen ist nun vorbei! Das paßt nicht für den Sekretär und Vertrauten des Herrn von Teut-Eder, nicht wahr? Und nun wollen wir morgen weiter reden, Tibet! Es wird kühl, ich muß ins Haus, Jamp, Jamp!“ rief er mit seiner schneidigen Stimme, und dieser eilte herbei, um ihn ins Gartenhaus zu geleiten.
Nachtfalter und weiße Sommermotten irrten durch die warme Luft. Drüben zirpte es in dem dunklen Garten, und aus dem Rasen drang der sanfte erdige Geruch des Sommers. Im Hôtel zur Rose aber blitzten Lichter durchs ganze Haus, und durch die Abendstille ertönte noch einmal verspätetes Lachen sich haschender Kinder. Eine Zeit lang stand Tibet wie träumend da. Endlich warf er den Blick gen Himmel, und eine Thräne stahl sich in die ernsten Augen des Mannes.
Er gedachte seines zerstörten Lebensglückes und der Menschen, die er liebte—seiner schon ein halbes Jahr nach der Trauung unheilbar erkrankten Frau, seiner Mutter, seiner Schwester—, aber das Naß, das in seine Augen trat, entquoll diesmal der unbeschreiblichen Empfindung, daß nun sicher für die Zukunft jener gesorgt sei.
* * * * *
Tibet wurde am nächsten Morgen zu Teut zum Frühstück befohlen und fand den Major, umgeben von tausend Siebensachen, die auf Tischen und Stühlen umherlagen, bereits eifrig schreibend. Er trug einen kurzen, seidenen Hausrock, und um den offenen Hals war lose ein weißes Tuch von demselben Stoff geschlungen. Aus den Ärmeln guckte eine feine Batistmanschette hervor, und sein Fuß steckte in einem roten ledernen Schuh.
„Guten Morgen, Herr Sekretär!“ rief Teut, ohne sich umzuwenden. „Bitte, nehmen Sie Platz! Gut geschlafen?“
Tibet bejahte. „Darf ich mich erkundigen, wie der Herr Baron geruht haben?“
„Ah—nicht zum besten, Tibet! Die verteufelte Sache beschäftigt mich allzusehr. Wie Ameisen laufen die Gedanken in meinem Kopfe herum. Aber ich glaube jetzt einen Ausweg gefunden zu haben.“ Hier wandte sich der Major um, sah, daß Tibet noch immer stand, und unterbrach seinen Satz durch die wiederholte Aufforderung, einen Stuhl zu nehmen.
„Also, wie ich schon gestern sagte, Tibet, so geht die Sache auf die
Länge doch nicht!“ hob Teut an, humpelte durchs Zimmer, winkte dem
herbeieilenden Tibet ab, klingelte, gab dem eintretenden Jamp einen
Befehl und ließ sich dann an dem Frühstückstisch nieder.
Mit inniger Teilnahme sah Tibet, wie unbehilflich der bisher so kernfeste, kräftige Mann mit dem künstlichen Bein sich bewegte und welche Spuren Strapazen und Krankheit auf seinem Angesicht zurückgelassen hatten.
„Bedienen Sie sich!—Also, Tibet, so geht's nicht. Aus diesem Grunde bat ich Sie auch, mich hier zu besuchen. Sie sollen mit der Gräfin sprechen; ich habe einen Plan, dem sie hoffentlich beipflichten wird. Die Sommerferien sind vor der Thür, die Gräfin wird gewiß wünschen, ihren Kleinen ein Vergnügen zu bereiten und selbst sich ein wenig nach all den Aufregungen und Sorgen zu zerstreuen. Ich werde sie einladen, auf Schloß Eder diese Wochen zuzubringen, und will meiner Cousine, der Gräfin Aspern, schreiben, dort die Honneurs zu machen. Ich werde dann vielleicht auch—später—nachkommen und bei dieser Gelegenheit auszuführen suchen, was ich seit dem Tode des Grafen in mir herumtrage. Was meinen Sie dazu, Tibet?“
„Vortrefflich, Herr Baron! Aber ich fürchte, daß die Frau Gräfin dieser Einladung ein entschiedenes Nein entgegenstellen wird. Wir haben so oft über diese Dinge gesprochen—alles war fruchtlos. Die Frau Gräfin geht—darf ich mich ganz offen äußern, Herr Baron?“—Teut erhob den Kopf, nickte und trennte die eben mit dem silbernen Löffel zerschlagene Schale von einem Ei.—„Die Frau Gräfin geht davon aus, daß der gnädige Herr sie beeinflussen will, Wohnort und jetzige Lebensweise zu ändern. Dagegen sträubt sie sich—der Herr Baron kennen die Gründe—zum Teil wenigstens—“
„Hm—zum Teil?“ fragte Teut. „Ist's noch etwas anderes, als was Sie mir mitteilten und was ich bei dem Charakter der Gräfin auch wohl verstanden habe?“
Tibet zuckte die Schultern nur machte die Miene eines Menschen, der wohl sprechen möchte, aber sich's doch nicht getraut.
„Nun?“ forschte Teut ungeduldig. Aber dann in einen anderen Ton übergehend sagte er: „Ein für allemal, Tibet! Ich nannte Sie gestern meinen Vertrauten, aber noch mehr, ich betrachte Sie als meinen Freund! Sprechen Sie, was es auch sei! Das Schicksal, das Wohlergehen dieser Frau beschäftigt mich mehr als mein eigenes. Der Zweck, ja der ganze Zweck meines Lebens ist, sie glücklich zu machen. Ich versprach's dem Grafen beim Abschied, und viel früher hatte ich mir's selbst zugeschworen. Das alles wissen Sie am besten. Also, weshalb hinterm Berge halten, wo diesem Vorhaben genützt werden kann!?—Ah!“ fuhr Teut seufzend und stark betonend fort und lehnte sich zurück. „Ich sollte nur kein Krüppel sein! Wir säßen nicht hier und berieten! Nur dieser Umstand hat verhindert, daß ich—alles wäre lange—“ Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, und ein Ausdruck von tiefer Trauer blieb in seinen Zügen haften.
„Nun, Herr Baron,“ sagte Tibet, rasch den Rest des Frühstücksbrötchens hinabschluckend und seinem Herrn ins Auge schauend, „wenn ich denn sprechen darf, wie mir's ums Herz ist?—Ich meine—ich meine—die Frau Gräfin hat—eine—tiefe Neigung zu dem gnädigen Herrn, und darin ist alles zu suchen! Wenn die Frau Gräfin sich so scheu zurückzieht, so—so—“
Tibet spähte ängstlich auf Teuts Angesicht, während er sprach. Trotz aller Ermunterung stand er unter dem Eindruck, dies, eben dies hätte er niemals ansprechen dürfen.
Teut hatte sich gerade erhoben, um sich eine Cigarre zu holen. Nach Tibets Worten blieb er am Fenster stehen und schaute lange wortlos hinaus.
Als er sich wieder umwandte, blickte er Tibet mit freundlichem Ernst ins Auge und schüttelte den Kopf. „Sie täuschen sich, Tibet! Täuschen sich gewiß! Und wenn nicht—wenn nicht—Nein, solche Gedanken habe ich begraben ein für allemal—“
Nun ging er abermals ans Fenster und ließ gewaltige Rauchwolken der angezündeten Cigarre durchs Zimmer schweben. Der eindringende Sonnenstrahl fing sie auf und verwandelte sie in lichtes Blau. Eine lange Pause trat ein, ohne daß eine Silbe gesprochen ward.
„Ah! ja!“ rief dann Teut plötzlich. „Es muß so sein! Hören Sie mich an, Tibet! Machen Sie also der Gräfin den Vorschlag auf mein Anerbieten einzugehen. Sie wissen ja, wie und wo am besten einzusetzen ist. Stecken Sie sich hinter die Kinder! Wenn diese betteln, daß ihr Wunsch erfüllt wird, kann sie nicht widerstehen! Und wenn die Gräfin auf den leidigen Punkt kommt—Sie wissen—meine gefürchtete offene Hand und dergleichen Thorheiten mehr—so sagen Sie ihr—ja, so sagen Sie ihr, was Sie wollen, aber in allen Fällen, daß ich ihr verspräche, niemals diesen Punkt zu berühren, viel weniger ihren Absichten entgegen zu handeln.“
„Zu Befehl, Herr Baron! Ich hoffe, Ihrem Vertrauen Ehre zu machen. Ich werde mein möglichstes thun.—Nur eins! Wenn ich diesen Auftrag erhalte, muß ich eingestehen, daß ich Sie gesehen habe, und das wird den Argwohn der Frau Gräfin wecken. Je scheinbar unvorbereiteter ich das vortrage, um so besser ist es!“
„Nun, im Flunkern haben Sie ja schon gute Übung, Tibet!“ lächelte Teut und suchte doch durch seine Miene den auf Tibet hervorgerufenen Eindruck zu verwischen. „Ich denke, Sie müßten schon sagen, Ihre Angehörigen wohnten hier in der Gegend, und zufällig hätten Sie mich getroffen. Wo wohnen denn eigentlich die Ihrigen?“
Tibet nannte den Ort.
„Ah—in M.! Sind Sie auch dort geboren?“
„Ja, Herr Baron.“
„Und lebt Ihr Vater noch?“
„Nein, Herr Baron.“
„Ihre Mutter ist Witwe?“
„Ja, Herr Baron—“
Teut unterbrach Tibet lächelnd und sagte, sich eines Gesprächs erinnernd, das er einst im Clairefortschen Hause mit demselben Manne geführt, der jetzt so einsilbig Antwort ereilte: „Ganz wie damals:—ja—nein, Herr Baron!—antworten Sie mir, Tibet. Aber ich will gar nicht in Ihre Geheimnisse dringen. Nur mein Interesse für Ihre Person ließ mich fragen.“
„Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, Herr Baron. Mich leitete etwas anderes. Was ich über die Meinigen mitzuteilen habe, ist sehr wenig erfreulicher Natur. Ich habe nie darüber geredet, schon deshalb nicht, weil meine Person dabei eine nicht gleichgültige Rolle spielt.“
„In der That,“ sagte Teut teilnehmend, „geht es den Ihrigen schlecht?
Haben Sie etwa noch unversorgte Geschwister?“
„Ich habe“—hier stockte Tibet eine Weile—„eine arme kranke Frau, unheilbar krank und gelähmt seit der ersten Zeit unserer Ehe, die mir ein kurzes Glück gewährte; sie lebt bei meiner Mutter und meiner Schwester, die sie pflegt, gnädiger Herr. Auch meine Mutter war schon völlig gelähmt, als mein Vater, der als Musiker sein Brot verdiente, starb. Vermögen war keins vorhanden bei seinem Tode. Ich hatte ursprünglich das Gymnasium bis zur Aufnahme in die Prima besucht und wurde dann—wie ich früher schon mitzuteilen mir erlaubte—Kaufmann. Ich hatte aber darin kein Glück, es wollte mir nicht gelingen, vorwärts zu kommen. Die dringende eigene Not und die meiner Angehörigen, die ganz auf mich angewiesen waren, bestimmte mich, die Stellung eines Haushofmeisters bei dem Herrn Grafen von Clairefort anzunehmen, die ich seit so vielen Jahren bekleidet habe. Ich mußte verdienen, gleichviel in welcher Lebensstellung, und hier fand ich, was ich suchte. Während dieser Zeit habe ich die Meinigen ernährt, ja mir selbst ein wenig sparen können für meine späteren Tage. Was ich empfand, gnädiger Herr, als Sie mir gestern die Aussicht eröffneten, fürs Leben an Ihrer Seite bleiben zu dürfen, vermag ich nicht zu sagen. Und Sie werden nach dieser Darlegung auch verstehen, welche Sorge von mir genommen ist. Ich bin ja nun sicher, daß die Meinigen—“ In dem hageren Gesicht stieg's bei diesen Worten auf, wie wenn der Sonnenschein plötzlich durch dunkle Wolken bricht, und die Rührung übermannte den Mann so sehr, daß er sich abwandte.
„Wie? Alle die Jahre haben Ihre Frau, Ihre Mutter und Schwester lediglich von Ihrem Fleiß gelebt?“ sagte Teut voll bewundernden Erstaunens. „Braver Mann! Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen! Ich schätze es um so höher, weil selbst Ihre engsten Freunde von diesen Dingen nichts wußten. Es bleibt wahr: Die echten Perlen liegen versteckt in den Muscheln tief auf dem Meeresgrund! Man muß sie mühsam hervorholen. Eine echte Perle ist solche Pflichterfüllung und den Ruhm nicht an den breiten Weg stellen! Sie üben sie um ihrer selbst willen, in der Stille, ohne Geräusch. Das heißt ein Christ sein! Hier meine Hand, Sie braver Mensch! Ich bitte jetzt um Ihre Freundschaft! Ich biete sie Ihnen nicht mehr an!“
Tibet richtete sich bei diesen Worten in seiner ganzen Größe empor; ein ungewöhnlicher Glanz trat in seine Augen, und über sein Angesicht flog der Widerschein eines Sturmes von Empfindungen.
„O, zu viel! Zu viel, gnädiger Herr!“ rief er in jenem Rausche, der nur die Brust solcher Menschen zu durchdringen vermag. „Mit diesem Worte habe ich nicht umsonst gelebt! Mit diesem Tage werde ich ein anderer in dieser Welt und die Welt eine andere für mich! Aber mit diesem Worte, gnädiger Herr, haben Sie auch Ernst Tibet zu Ihrem Schatten gemacht für alle Tage und Stunden seines Lebens! Was ich bin und habe für die Zukunft, gehört Ihnen!“
* * * * *
Es war Morgenzeit. Ange öffnete voll Ungeduld einen Brief, den sie soeben erhalten hatte. Derselbe war von Tibet, welcher mitteilte, daß er an dem heutigen Tage zurückkehren werde. Als Ange dies mittags den Kindern kundgab, faßten sie einstimmig den Beschluß, ihn vom Bahnhof abzuholen. Nun standen sie erwartungsvoll da und schauten über den Perron hinaus. Als der Zug endlich näher kam, drängten sie sich zusammen, und waren voll Ungeduld, den Langersehnten zu begrüßen.
„Tibet! Tibet! Hier!“ riefen sie und stürmten auf den Ankömmling zu, der sich gerührt zu ihnen hinabbeugte und ihre Liebkosungen entgegennahm. Alle griffen zugleich nach seiner Hand, um einen besonderen Vorzug zu genießen, bis endlich Jorinde und Ange sich seine Rechte und Linke eroberten.
Tibets erste Frage galt der Mama, und diese ward zufriedenstellend beantwortet. Mama Ange ginge es gut; sie habe auch an den Bahnhof kommen wollen, sei aber abgehalten worden. Dann setzte sich die kleine Schar, Tibet in der Mitte, in Bewegung.—
An demselben Abend saßen sich Herrin und Diener im Wohnzimmer gegenüber.
Tibet erzählte, wie's ihm auf der Reise ergangen sei, und Ange hörte freundlich und aufmerksam zu.
„Auch den Herrn Major von Teut habe ich gesehen und gesprochen,“ warf Tibet in unbefangenem Tone hin, nachdem er den ersten Bericht erstattet hatte. „Er läßt sich der Frau Gräfin aufs angelegentlichste empfehlen.“
Ange blickte im höchsten Grade befremdet empor. „Wie? Sie haben Herrn von Teut gesehen, Tibet? Wann? Wo? Und ganz zufällig?“
Tibet nickte und erzählte eine Geschichte, die er sich unterwegs zurecht gelegt hatte.
„Und geht's ihm besser? Geht's ihm wieder gut?“ fuhr Ange zögernd fort.
Tibet betätigte und wollte schon, froh, daß die Dinge sich so günstig gefügt hatten, fortfahren. Aber entweder wünschte Ange das Gespräch nicht fortzusetzen oder sie wollte Zeit gewinnen. Sie brach ab und kam auf allerlei häusliche Angelegenheiten.
Inzwischen grübelte Tibet, wie er die Dinge nach seinen Wünschen einrichten könne, und sagte endlich, eine kleine Pause benutzend, ziemlich unvermittelt:
„Ich habe auch einen Auftrag an die Frau Gräfin von dem Herrn Baron auszurichten. Ich vergaß vorher—“
Ange sah Tibet fest ins Auge, aber sie hinderte ihn nicht am
Weitersprechen. Nur ein kurzes: „Nun?“ glitt von ihren Lippen.
„Zunächst läßt sich der Herr Baron für den Brief der Frau Gräfin recht sehr bedanken. Er würde denselben schon beantwortet haben, wenn er nicht wünschte, der Frau Gräfin mündlich—“
Tibet hielt inne; er fürchtete nun sicher eine Unterbrechung. Aber zu seiner Überraschung sagte Ange nichts, nur ihr Blick blieb noch ebenso ernst, ja, so eigentümlich auf ihm haften, daß er unwillkürlich die Augen niederschlagen mußte. Er raffte sich aber auf und fuhr fort:
„Der Herr Baron hofft in einigen Wochen wieder so weit hergestellt zu sein, daß er Wiesbaden verlassen kann. Er will dann nach Eder reisen und auf dieser Reise die Frau Gräfin gern in Eisenach begrüßen.“
„Und was sagten Sie dazu, Tibet?“ fragte Ange kalt.
„Ich—ich—Frau Gräfin—“ Er sprach nicht aus. Einen Augenblick schwiegen beide: nur Anges fleißige Nadel, die auf-und abflog, unterbrach die Stille. In dem Gemache stand ein runder Tisch, der von einer Lampe erhellt ward. Ringsum befanden sich die Möbel, welche einst in Carlos' Zimmer Platz gefunden hatten. Dieselben Bilder schmückten die Wände; selbst die kleinen Nippessachen von damals standen auf dem Schreibtisch. Plötzlich legte Ange die Arbeit aus der Hand, und sagte, dem Manne, der ihr gegenübersaß, forschend ins Auge schauend:
„Tibet!“
„Frau Gräfin?“
„Was soll ich von Ihnen denken? Sie haben Herrn Baron von Teut gesehen und einen solchen Auftrag übernommen? Ich werde irre an Ihnen. Ich muß es Ihnen aussprechen. Also war's doch wie ich vermutete. Hinter meinem Rücken! Also war's doch, wie ich fürchtete, als Sie mir von einer notwendigen Reise sprachen!“
„Frau Gräfin—ich bitte—ich verstehe nicht—“
„Sie verstehen ganz gut, Tibet! Mehr noch. Sie waren befangen, als Sie in unserem Gespräch auf diesen Gegenstand kamen, und da ich nicht arglos war, beobachtete ich Sie.“
Ange stützte schwermütig den Kopf und schien für Augenblicke ganz mit anderen Gedanken beschäftigt. Sie hörte nichts von Tibets Beteuerungen, nichts von seiner geläufigen Rede, durch die er ihr das Mißtrauen zu nehmen suchte. Erst als er zu einem anderen Mittel griff, sie seinen Plänen gefügiger zu machen, und plötzlich sagte: „Sehr, sehr verändert hat sich doch der Herr Baron. Sie wissen, Frau Gräfin, das Traurige noch gar nicht. Ich gelangte noch nicht dazu, dies Ihnen mitzuteilen. Der Herr Baron hat das linke Bein im Kriege verloren!“ überwogen Teilnahme und Sorge alle anderen Gedanken.
„Wie? was?“ rief Ange erregt, ließ die Arbeit fallen, erhob sich von ihrem Stuhl und blickte Tibet mit allen Zeichen der Bestürzung an. „Amputiert? Das Bein verloren?“
Tibet atmete erleichtert auf.
„Mein armer, armer Freund!“ flüsterte Ange vor sich hin. „Ist er sehr ernst, sehr bedrückt deshalb, Tibet? Sie sagen, er habe so leidend ausgesehen? O, und das wußte ich nicht einmal! Das verschwieg er mir. Ich möchte zu ihm eilen, ihn trösten, ihn pflegen—“
Aber sie unterbrach sich ebenso rasch, setzte sich wieder und ergriff still und wortlos die eben fallen gelassene Arbeit.
„Erzählen Sie weiter, Tibet. Berichten Sie mir, was Herr von Teut Ihnen gesagt hat,“ hob sie dann gelassen an. „Natürlich verlangt es mich Näheres zu erfahren.“
„Zu Befehl, Frau Gräfin. Ich fand den Herrn Baron sehr wortkarg und offenbar tief verstimmt. Er äußerte die Absicht, sich ganz von allem zurückzuziehen, fortan in Eder zu wohnen und jeden Verkehr einstellen. Welche Stimmung den Herrn Baron beherrschte“—nun hielt Tibet es an der Zeit, seine Pläne auszuführen, und er that es mit zitterndem Herzen—„mögen Frau Gräfin daraus erkennen, daß, als zufällig in einem Gespräch zwischen dem Herrn Baron und einem dort anwesenden Freunde die Rede auf des letzteren bevorstehende Heirat kam und derselbe den Herrn Baron scherzend auf Gleiches hinwies, dieser sagte: ‚Lieber Freund, das war längst und ist jetzt erst recht für alte Zeiten begraben! Nichts blüht mir noch auf Erden, selbst meine besten Freunde habe ich—ohne meine Schuld, ich darf es sagen—verloren!‘“
Tibet schwieg und wartete. Weiße Rosen brachen hervor auf Anges Wangen. Eine Blässe färbte diese, vor der Tibet erschrak. War er zu weit gegangen, hatte er zu rasch, zu unvermittelt gehandelt. Gewiß, so schien es, denn Ange sagte bitter: „Galt mir die letzte Bemerkung, Tibet? Nur das wünsche ich noch zu wissen.“
Der Mann schwieg.
„Nun?“ wiederholte sie hart.
„Ich glaube—ich weiß nicht, Frau Gräfin.“
„Und was sagen Sie zu alle dem, Tibet?“
Plötzlich brachen die Thränen unter Anges Wimpern hervor; ihre Augen verschleierten sich, und jener zaghafte Ausdruck trat in ihre Mienen, der das Gesicht von Kindern und Erwachsenen gleich rührend verändert.
Tibet wollte reden, aber Ange schüttelte den Kopf und wehrte ihm ab. „Ich habe schon zu viel heute abend gehört,“ sagte sie kurz und in seltsamer Weise abbrechend. „Wir sprechen morgen weiter. Gute Nacht.“
Noch stand der Mann eine Weile; er hoffte, Ange würde wenigstens noch einmal emporblicken. Nichts! Nun verbeugte er sich und ging.
Sobald Tibet das Zimmer verlassen hatte, sprang Ange auf und durchmaß den Raum mit erregten Schritten. Ihre Gestalt hatte trotz der Anstrengungen des letzten Jahres an reizvoller Fülle gewonnen. Die Züge ihres Gesichtes waren ausdrucksvoller geworden ihre dunklen gesättigten Augen hatten eine eigene Glut und jenen rätselhaften, halb schmachtenden, halb in sich gekehrten Ausdruck, der uns so unwiderstehlich zu Frauen hinzieht. Noch immer wirkte ihre Erscheinung überraschend, noch immer war sie eine blendend schöne Frau. Wie es in ihrem Innern gärte nach diesen Mitteilungen! Jene Liebe, die sich noch unter dem Schmerz um einen teuren Verdorbenen in zartem Empfinden gegen eine andere auflehnt, jene tiefe wahre Liebe, die ihre Neigung ängstlich verbirgt, jene stolze Liebe, die fürchtet, sie könne nicht um ihrer selbst willen begehrt werden, durchdrang das Herz der Frau—und nun war alles vernichtet, was doch hoffend in dem tiefsten Winkel ihrer Seele geschlummert hatte. Denn es giebt Wünsche, die der Mensch aus besserer Einsicht zurückdrängt bis zum letzten Atemzug—Wünsche auch, von denen er weiß, daß sie sich nie erfüllen können, aber die doch beglücken, so lange ein Wahrscheinlichkeitsschimmer bleibt.
Teut ein Krüppel! Teut des Trostes, vielleicht noch der Pflege bedürftig; Teut abwehrend gegen alles, was sonst Menschen mit Menschen verbindet; Teut voll Verbitterung. Teut—die Liebe, den Besitz eines Weibes ein für allemal von sich weisend im mißmutigen Verzichten!
Und sie stieß ihn von sich, wo sie ihm vielleicht ersetzen konnte, wonach sein Herz verlangte; sie erfüllte—vielleicht in falschem Stolze—nicht einmal die Pflichten dankbarer Freundschaft!?
Ange verlor den Faden für den richtigen Maßstab dessen, was Recht und
Pflicht geboten.
Was sollte sie thun? Ehre, Stolz, Scham und Liebe kämpften in ihr und ließen sie zu keinem Entschluß gelangen. Einmal hatte sie alles zurückgedrängt, nur ein Gedanke beherrschte sie: Wie's auch kommen, wie's auch sein mochte, sie mußte an seiner Seite stehen, solange sie ihn unglücklich, zweifelnd und zagend wußte.
Schon glaubte sie klar zu sein und den Kampf überwunden zu haben. Aber dann nahm doch wieder die angstvolle Befürchtung von ihr Besitz, Teut könne jetzt gerade zu dem Schlusse gelangen, sie suche nur nach einem Vorwand, sich ihm zu nähern. Diese Annäherung könne als eine stumme Werbung von ihrer Seite erscheinen, sie sei noch die alte leichtfertige, nur dem Genuß lebende und nach plötzlichen Eingebungen handelnde Frau von ehedem, dasselbe nur von halben Pflichten erfüllte Wesen ohne rechte Grundsätze, festen Willen und Thatkraft.
Und dann würde in diesem Falle an sie herantreten, was sie zurückweisen wollte um jeden Preis: die Mildtätigkeit aus seiner Hand. Sie, gerade sie hatte doch einen so großen, ja vielleicht allen Anteil an der entsetzlichen Nacktheit der Dinge nach Carlos' Tode, und Teut war es gewesen, der sie gewarnt und dessen Warnung sie nur ein halbes Ohr geschenkt; er hatte in der Not geholfen und kam nun wieder und mußte helfen, weil sie es nicht verstand, sich einzurichten, immer gleich thöricht und unbeholfen dem Leben gegenüberstand. Scham und Stolz, auch Quellen falscher Scham, falschen Stolzes brachen wieder in ihr auf und ließen sie, wie bisher so oft, den rechten Weg verfehlen.
* * * * *
Am folgenden Vormittage fand sich für Tibet keine Gelegenheit, abermals mit Ange zu sprechen. Er forschte auf ihrem Gesicht, ob das Gespräch des vorhergehenden Abends böse Nachwirkungen zurückgelassen habe, und in der That schien es ihm, als ob ihr Blick ernster als sonst, ihr Morgengruß nicht so warm sei, wie er stets gewesen. Er war voll Ungeduld, mit ihr zu sprechen, um so mehr, als er bisher nur die Vorbereitungen für den Auftrag getroffen hatte, der ihm von Teut geworden war.
Nachmittags gab Ange einer Bitte der Kinder nach, mit ihnen einen
Spaziergang zu unternehmen. Sie verständigte Tibet, daß sie zum
Abendbrot zurückkehren werde, und machte sich mit ihren Lieblingen auf
den Weg zur Wartburg.
Ange sehnte sich selbst hinaus; in der freien Natur hoffte sie besser der sie bestürmenden Gedanken Herr zu werden und zu irgend einem Entschlusse zu gelangen, der Teut wenigstens bewies, daß sie ihm nicht teilnahmlos gegenüberstand.
Niemals war ihr der Sommer so schön erschienen wie in diesem Jahre. Die Bäume standen in blütenschwerer Fülle, und als sie den Weg zur Wartburg hinaufstiegen, hemmte sie immer von neuem ihre Schritte, um ihre Blicke ringsum auf die Gegend zu werfen, oder bei Lichtpunkten auf das vor ihnen liegende Thal hinabzuschauen.
Ange wohnte vor der Stadt in einer von ihrem Auslugepunkte linksseitig belegenen kleinen Villa. Auch heute ruhten die Kinder nicht eher, als bis die unter dem Grün hervorschimmernden weißen Mauern herausgesucht und alle Einzelheiten festgestellt worden waren.
Als sie die Burg fast erreicht hatten, streiften sie bei einer Wegwendung einen älteren Herrn, vor dem Ben und Fred eilfertig die Mütze zogen und der freundlich dankte. Bei dieser Gelegenheit entglitt jenem der Spazierstock, und die Kinder eilten herzu, um denselben aufzuheben.
„Dank, liebe Kinder! Ah, Ben und Fred Clairefort!“ sagte er. „Seid Ihr alle kleine Claireforts?“ fuhr er fort und lüftete, gegen Ange gewendet, den Hut und verbeugte sich artig.
„Es ist unser Herr Direktor, Mama,“ flüsterte Fred und forderte Ange durch Zeichen und Geberden auf, stehen zu bleiben.
Inzwischen war der Herr selbst schon näher getreten und sagte mit ausnehmender Höflichkeit:
„Ich habe wohl die Ehre, der Frau Gräfin von Clairefort gegenüberstehen?“
Ange bejahte, und bald entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, dem die Kinder, nach kleiner Menschen Art, neugierig und mit halb offenem Munde zuhörten. Als aber auf die beiden Knaben die Rede kam, ihres Fleißes und ihrer Fortschritte gedacht ward, verscheuchte Ange sie durch einen Blick, und sie traten beiseite. Beim endlichen Abschied drängte es sie, dem Direktor noch einige Worte zu sagen.
„Ich habe Ihnen schon schriftlich meinen Dank ausgesprochen für die große Güte, die Sie mir erwiesen haben, Herr Direktor. Gestatten Sie, daß ich Ihnen diesen für Ihre Befürwortung und die mir dadurch entstandene Erleichterung auch mündlich wiederhole.“
Der Direktor blickte überrascht empor, und da er offenbar nicht verstand, worauf Ange hinzielte, zuckte er unter einigen darauf bezüglichen Worten die Achseln.
„Ich bitte, gnädige Frau, ich verstehe nicht ganz. Meine
Befürwortung?—Ihr Brief?—Ich habe keinen solchen erhalten.“
„Ich spreche von der Erlassung des Schulgeldes für meine Knaben, Herr
Direktor; Sie erinnern sich, daß Sie die Freundlichkeit hatten—“
„Hier liegt wohl ein Irrtum vor, gnädige Frau,“ berichtigte jener mit höflicher Wendung. „Es ist nach dieser Richtung von Ihnen nie ein Antrag gestellt worden, wenigstens mir nicht zugekommen, Frau Gräfin. Wohl aber hat Ihr Bevollmächtigter seiner Zeit das Schulgeld auf Ihren besonderen Wunsch für das ganze Semester berichtigt.“
Ange war so verwirrt, daß sie im ersten Augenblick nicht zu sprechen vermochte; die Röte höchster Verlegenheit stieg ihr in die Wangen. Dann aber brach sie mit einem gezwungenen Lächeln und wie unter plötzlichem Besinnen das Gespräch ab und sagte: „Ach, ganz recht. Es war allerdings—ein—Irrtum meinerseits!“
Noch wenige Sekunden, dann war der Direktor auf dem der Stadt zugewendeten Wege verschwunden und Ange mit ihren Kindern auf dem Weitermarsche nach der Burg.
Dieser Zwischenfall weckte in Anges Innerem ein solches Heer von widerstreitenden Empfindungen, daß sie zerstreut und völlig wortlos neben ihrer kleinen Schar einherschritt.
Das gestrige Gespräch mit Tibet und nun diese Eröffnung! Was würde sie alles erfahren! Sie konnte es nicht erwarten, nach Hause zurückzukehren, und nur die Rücksicht auf die Kinder veranlaßt sie, den Spaziergang fortzusetzen.—
Nach dem Abendbrot—die Kleinen waren früh ins Bett geschickt—ersuchte Ange Tibet unter dem Vorwande zu bleiben, daß sie noch einige Fragen an ihn zu richten habe. Auf Tibet hatte es den ganzen Tag wie eine schwere Last gelegen, und einmal hatte er es schon verwünscht, Teuts Auftrag übernommen zu haben. Dennoch ergriff er nach einem kurzen Vorgespräch zuerst wieder das Wort in dieser Angelegenheit.
„Ich wollte gestern noch hinzufügen,“ begann er, und suchte eine unbefangene Miene anzunehmen, „daß der Herr Baron der Frau Gräfin den Vorschlag macht, die Sommerferien auf Schloß Eder zuzubringen. Der Herr Baron ging namentlich davon aus, daß dies den Kindern Freude machen werde.“ Tibet forschte in Anges Gesicht. „Und auch der Gräfin sei, wie der Herr Baron meinte, Luftveränderung und Ruhe nach den Aufregungen und Anstrengungen sicher außerordentlich förderlich. Der Herr Baron bittet die Frau Gräfin dringend, diese Einladung annehmen zu wollen.“
„Tibet!“ sagte Ange, schüttelte den Kopf und sah den Mann mit demselben vorwurfsvollen Blick an wie am gestrigen Tage.
„Frau Gräfin?“
„Was hatten Sie mir versprochen? Was hielten Sie selbst, nach meinen Auseinanderlegen und Ihrer damaligen Miene nach zu deuten, für richtig? deshalb schenkte ich Ihnen mein Vertrauen—ein Vertrauen, das sich nicht auf oberflächliche Erklärungen beschränkte, sondern auch die Gründe entwickelte? Nur einem Freunde öffnet man sein Herz, wie ich es gethan. Sie haben mich hintergangen, Sie haben gegen meinen Willen gehandelt, Sie haben mich betrogen. Und da Sie mich betrogen haben, verliere ich den Glauben an die Menschheit. Ich glaube nichts—nichts mehr!“
Bei den letzten Worten erhob sich Ange, die in steigender Erregung gesprochen hatte, trat an ihren Schreibtisch und blieb dort abgewendet und von ihren Gefühlen überwältigt, stehen.
Tibet war blaß geworden und zerrte an den Knöpfen seines Rockes. Er wollte sprechen, aber er vermochte es nicht.
„Ihre Anschuldigungen, Frau Gräfin, sind so schwere,“ stieß er endlich heraus, „daß ich vergeblich nach Worten ringe. Um mich verteidigen zu können, bitte ich, mir nähere Aufklärungen geben zu wollen. Was habe ich gethan, um Vertrauen und Freundschaft zu verlieren? Ja, es ist wahr, ich habe einen Auftrag von dem Herrn Baron entgegengenommen, und ich habe nicht gezögert, mich desselben zu entledigen, weil der Vorschlag nach meiner unmaßgeblichen Ansicht ein guter, der Frau Gräfin und den Kindern ein nützlicher war. Daß aber die Frau Gräfin daraus—“
„Ach, reden wir endlich deutsch! Gehen wir nicht ferner um das Wesen der Sache herum!“ fiel Ange Tibet heftig in die Rede. „Sie wissen so gut wie ich, worin der Schwerpunkt liegt! Sie sind sich wohl bewußt, weshalb ich erregt, erschreckt, empört bin! Werfen Sie die Maske endlich ab, Tibet, seien Sie wenigstens jetzt ehrlich und gestehen Sie, daß Sie Teuts Agent sind, daß Sie von ihm Verhaltungsmaßregeln empfingen in Angelegenheiten, die ich abzuweisen suchte mit allen Mitteln, in Angelegenheiten, welche hervorgingen aus zartester Empfindung und deshalb von Ihnen hätten geachtet werden sollen als etwas Heiliges! Ja, ja, jetzt glaubt man mir das alles bieten zu können! Hätten Sie gewagt, gegen meine Befehle, gegen meine Bitten zu handeln, als ich noch die gebietende, von Reichtum umgebene Frau von Clairefort war? Nein, sicher nein! Aber nun, da ich arm, verlassen und durch die Verhältnisse gedemütigt bin, glauben Sie das Recht einer Bevormundung gewonnen zu haben, meinen Sie, mir Ihre unzarten Dienstleistungen aufdrängen zu dürfen—“ Sie hörte Tibets raschen Atem, sah sein erregtes Gesicht und fuhr doch fort: „Also richtig war meine Ahnung und allzusehr traf ein, was ich fürchtete, obgleich ich mir schon vorwarf, diese Dinge zu viel und zu oft berührt zu haben! Nun erfahren Sie es nochmals, obgleich es das A und O aller meiner Gespräche war, die ich mit Ihnen pflog: nicht als etwas Gutes, Dankenswertes sehe ich das alles an, sondern als etwas Unwürdiges, Beleidigendes!—Ehrlos—ja, ehrlos handelten Sie, wenn Sie mich gegen meinen Wunsch und Befehl nach Ihren eigenen kleinlichen Auffassungen zu messen sich erdreisteten und danach handelten!“
„Frau Gräfin! Frau Gräfin!“ drang's aus Tibets Munde, und wie einst, als Carlos gestorben war und ihn Anges beleidigte Worte trafen, stand er bebend am ganzen Leibe. „Ehrlos—sagen Sie? Ehrlos?—Nun, dann darf ich in der Folge Ihre Schwelle nicht mehr berühren! In dies reine Haus darf kein Ehrloser treten!“
„Nein, nein, Sie haben recht!“ rief Ange außer sich in gekränktem Stolz und in der Verzweiflung ihrer vernichteten Liebe. „Gehen Sie! Gehen Sie! Ich will versuchen, Ihnen zu verzeihen im Gedenken des vielen Guten, das ich von Ihnen empfing. Auch das in der Erregung gesprochene Wort nehme ich zurück. Aber unseres Beisammenbleibens ist nicht mehr! Gehen Sie!“ Nach diesen Worten wandte sie sich von ihm ab und wollte, nicht mehr Herrin ihrer Gefühle, das Zimmer verlassen.
„Ich thue, was Sie befehlen!“ flüsterte Tibet. „Wie sehr Sie mir aber unrecht thaten, Frau Gräfin—“
„Wie—unrecht?“ rief sie, nochmals zurücktretend, und reckte ihre schlanke Gestalt hoch empor. „Unrecht?“ wiederholte sie. Ihre feinen Nasenflügel vibrierten und ihre Augen blitzten. „Trieben Sie Ihre zudringliche und bevormundende Dienstfertigkeit nicht so weit, daß ich heute wie eine Närrin vor dem Direktor des Gymnasiums stand? Ich dankte ihm für seine Güte gegen die Knaben. Solche Güte anzunehmen, schämte ich mich nicht, denn es ist der Staat, der den Bedrängten einen Teil der Pflichten abnimmt, die ihnen obliegen, um ihre Kinder zu tüchtigen Menschen heranzubilden. Er thut damit nur etwas Weises. Sie vermögen es ihm einst zu lohnen, indem sie gute Bürger werden. Wissen Sie, was er erwiderte? Daß er weder eine Eingabe noch einen Dankesbrief von meiner Hand empfangen! Nun, was sagen Sie dazu?—Sie unterschlugen Eingabe und Brief, Sie belogen mich, während ich Ihnen Hab und Gut hingab in grenzenlosem Vertrauen, ja mehr noch, mich Ihnen sogar anvertraute in Dingen, die schwer, wohl nie über die Lippen eines Weibes dringen, selbst unter gleichen Verhältnissen. Nun, Tibet, sind Sie der Agent des Herrn Baron von Teut?—Einmal wenigstens seien Sie wahr!“
Tibet schüttelte sich, als ob er die Flamme, die in seiner Brust emporstieg, auslöschen, als ob er die übermenschliche Erregung, die jeden Nerv pulsieren machte, abstreifen könne. Und dann drang es heiser aus seinem Munde: „Und doch waren meine Gedanken rein, meine Absichten die besten, meine Handlungsweise selbstlos; und doch war alles—so falsch die Mittel sein mochten—das Ergebnis meiner unbegrenzten Hingabe an Ihre Person. Das sagt Ihnen, Frau Gräfin, Ernst Tibet, der sich heute für immer von Ihnen verabschiedet.“
Er sprach's und verließ das Zimmer. Ange stand da, wie ein weißer Stein. Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Sie hörte, wie der Mann auf sein Zimmer ging. Sie sah durch die Mauern, daß er sich eilte, seine Sachen zu packen. Eine wahnsinnige Angst erfaßte sie; sie hätte aufschreien und ihm nachstürzen mögen, und doch hielten sie die nachwirkende Empörung—und das einmal gesprochene Wort zurück.—Nun ging auch er, der letzte, den sie hatte und der doch—sie wußte es—ein Freund war, wie außer Teut seinesgleichen nicht zu finden auf dieser liebeleeren Welt.
* * * * *
Umfang und volle Bedeutung dessen, was geschehen war, stieg vor Ange erst in den nachfolgenden Tagen auf. Auch die Reue blieb nicht aus, aber Ange erstickte diese Regung. Ein Mensch, der für seine Überzeugung kämpft, für den giebt's kein Rechts und kein Links. Nur ein einziger gerader Pfad ist vorgezeichnet. So war es auch hier. Sprach ihr Herz zu gunsten Tibets, so verwischte doch ihr stolzes, beleidigtes Gefühl wieder die versöhnlichen Regungen. Das waren keine bloßen Worte gewesen, die sie einst in Frankfurt gesprochen und deren Inhalt sie ihm später so oft wiederholt hatte. Sie wollte, sie mußte den Weg gehen, welchen sie ihm bezeichnet hatte. Ihr besseres Ich, ihr Ehrgefühl hatten gesprochen, und diesen mußte sie folgen.
Vielleicht—es mochte sein—hatte sie die Dinge zu sehr auf die Spitze getrieben, ließ ihrem verletzten Stolze zu sehr die Zügel schießen. Aber lag nicht gerade in dieser Form, ihr Erleichterungen zu verschaffen, etwas von jener leis spöttelnden Bevormundung, welcher sie sich entziehen, zu der sie gerade Teut Recht und Veranlassung hatte nehmen wollen?——So blieb in ihr haften, wogegen sich doch im Grunde ihr Herz und ihr Verstand auflehnten, und sie tötete die mahnende Stimme ihres Innern, die ihr sogar zurannte, daß ihre Handlungsweise gegen Tibet den Grundsätzen hochherziger Gesinnung schon deshalb nicht entsprach, weil sie ihn—sie mußte es eingestehen—zugleich schuldlos für die Enttäuschungen ihrer Liebe hatte büßen lassen.
Schon am nächsten Tage traf ein vollkommen geschäftlich gehaltenes Schreiben von Tibet ein, in welchem er die genaueren Angaben machte über alles, was seither seiner Sorge anvertraut gewesen war und jetzt Ange allein obliegen sollte. Insbesondere machte er ihr über ihre Geldangelegenheiten Mitteilung und gab in höflich gemessener Form Ratschläge, indem er auf den bisher von ihm beobachteten Gebrauch hinwies. Um sie vor ferneren Enttäuschungen zu bewahren, bekannte er in diesem Briefe, welche Ausgaben er ohne ihr Zuthun bestritten hatte, und fügte endlich hinzu, daß er im Auftrage des Barons von Teut gehandelt habe. Eine Angabe über die Höhe derjenigen Summe, mit welcher letzterer für Ange eingetreten war, gab er aber nicht, und sie beeilte sich deshalb—unter welchen Empfindungen ist leicht zu bemessen—ihn schriftlich zu ersuchen, ihr sofort darüber eine Nachricht zukommen zu lassen. Am Schluß des Tibetschen Briefes hieß es:
„Frau Gräfin werden über die Zwischenfälle heute nicht anders, aber ruhiger denken, das ist meine sehnliche Hoffnung. Und da auch ich den Dingen nach der gestrigen Unterredung mit veränderten Ansichten gegenüberstehe, so mag es mir mit Rücksicht auf die jahrelangen Beziehungen, die ich zu der Frau Gräfin pflegen durfte und in deren Verlauf die gnädige Frau mir so oft ein Lob und ein freundliches Wort zu erteilen geruhten, gestattet sein, zu sagen: daß ich tief bereue und stets wiederkehren werde, sobald mich die Frau Gräfin rufen. Wenn diesem Rufe hinzugefügt sein wird, daß die Frau Gräfin mir vergeben haben—ich bitte Gott, daß dieser Tag mir noch einmal werden wird—, dann bin ich entschädigt für alles, was auch mir Schweres, Ernstes und Sorgenvolles in meinem Leben begegnete und das mich doch nicht hinderte, meine höchste Lebensaufgabe darin zu erkennen, der Frau Gräfin und Ihrer Familie ein bescheidener, wahrer, wenn auch in den Mitteln häufig irrender Freund zu sein.
Ich bitte gehorsamst, die gräflichen Kinder grüßen zu wollen, denen ich nicht einmal ein Lebewohl sagen konnte u.s.w.“
Ange las diesen Brief in tiefster Bewegung. Was hätte sie darum gegeben, wenn die Dinge, die sich enthüllt hatten, nicht geschehen wären.
Plötzlich lag ihr Leben vor ihr wie eine endlos zu durchschreitende Wüste, und doch fühlte sie jetzt schon, daß sie erlahmte. Ihr Herz erbebte, obgleich sie kaum den Fuß über die Grenzen gesetzt hatte. Aber sie raffte sich auf zum ernsten Tagewerk, und ruhige Überlegung gewann die Oberhand.
Ange begann zu rechnen. Zum erstenmal in ihrem Leben beschäftigte sich Ange von Clairefort mit Zahlen. Bis spät in die Nacht, wenn die Kinder schon schliefen, schrieb und summierte sie, stellte fest und strich wieder aus, fügte hinzu und kürzte von neuem. Und sie ward gewahr, was jedem sich offenbart, der mit diesen unerbittlichen Ausrufungs- und Fragezeichen zu kämpfen hat. Auch ihr erschienen alle Einnahmeposten wie Quecksilberkügelchen, die man fassen zu können wähnt, und die dann plötzlich in bisher unsichtbare Poren verschwinden, während die Ausgabesummen zudringlich emporschießen, wachsen und sich vermehren.
Als Ange zum erstenmal alles zusammengestellt hatte und, glücklich aufatmend, zu dem Resultat gelangt war, es werde gehen, da fiel ihr plötzlich ein, daß Schulgeld und Steuern noch fehlten, daß der Feuerung für den Winter, ihrer eigenen Garderobe, der Abzahlung an Teut nicht gedacht sei, daß die unvorhergesehenen Ausgaben—und sei's auch nur eine Gabe der Wohlthätigkeit—nicht mit vorgesehen wären.
Nun ging's abermals ans Rechnen, aber die Zahlen waren wenig biegsam und trotzten allem Beschönigen. Und mit diesem Unvorhergesehenen war's nicht einmal am Ende! Wenn—wenn—Krankheit kam? Arzt, Apotheker—das Vielerlei, was zu einer sorgfältigen Pflege gehört! Ange sann und plante. Wo konnte noch gespart werden? Gab's nicht einen Posten, der überflüssig erschien?—Nein, nein!—Und wenn sie nun selbst krank ward, wenn sie gar—Was wurde aus den Kindern? Konnte sie nicht sterben? War's nicht erste, vornehmste Pflicht, an diesen Fall zu denken? Mußte sie nicht ihr Leben versichern?—Aber woher nehmen? Da fiel's wieder wie Regenschauer auf ihre Seele, da raunte ihr eine fürchterlich nüchterne Stimme zu, daß selbst der beste, ehrlichste Anfang doch nur ein schlechtes Ende haben könne. Sie vermochte mit ihrem kleinen Zinskapital nicht alles zu bestreiten. Es war unmöglich, unmöglich!
Aber Ange erstarkte in ihrem Pflichtgefühl und in ihrer Liebe zu den Kindern und beschloß zu handeln. Sie schrieb an den Direktor des Gymnasiums und bat um Nachlaß des Schulgeldes, indem sie begründete, worauf sie schon einmal hingedeutet hatte. Wegen einer Ermäßigung der Steuern befragte sie an einem der kommenden Tage ihren Nachbar um Rat. Sie empfand keine Scham dabei, während sie doch ehedem schon gezittert hatte, ihr Diener könne bemerken, daß ihr das Geld zur Reise fehle. Sie schüttelte verwundert den Kopf, als sie dieser Zeit gedachte; ja, sie begriff heute nicht, daß ihr das Eingeständnis ihrer bedrängten Lage jemals schwer geworden sei.
Und nun begann in der Folge der wirkliche Lebenskampf. Welche Auseinandersetzungen mit den Kindern, wenn sie nach alter Gewohnheit irgend etwas begehrten, das ihnen die Laune eingab!
„Nein, nein!“ sagte Ange.
„Weshalb nicht, Mama?“
„Weil ich es nicht will; weil es überflüssig ist.“
Die kleine Ange, bisher ohne eine Entbehrung, schielte dann wohl zum Einholen eines beipflichtenden Lächelns wegen dieser unerwarteten Worte zu den älteren Geschwistern hinüber. Aber sie fand kein Echo für ihren kindlichen Unverstand. Jene fühlten mit ihrem Instinkt, daß die Sache durchaus nichts Komisches habe.
* * * * *
Das erste, was Ange nach Tibets Fortgang überlegte und in der Folge auch zur Ausführung brachte, war eine noch strengere Tageseinteilung als bisher. Sie stand in aller Frühe auf und sorgte, daß die Kinder Frühstück erhielten und in die Schule gelangten.
Während die Magd Einkäufe machte und nach diesen an die Vorbereitung für das Mittagessen ging, besorgte Ange die übrige Hausarbeit.
Gleich nach Tisch begannen die Arbeitsstunden für die Kinder. Ange suchte den Knaben sowohl behilflich zu sein wie den Mädchen und gab den letzteren auch täglich den von Tibet erwähnten Musikunterricht.
Wenn die Witterung es erlaubte, ward ein gemeinsamer Spaziergang unternommen, und den Rest des Tages beschäftigte sich Ange mit dem Vielerlei, was zu einer Wirtschaft gehört: dem Ausbessern der Kleider, mit Handarbeit und ihrem kleinen Rechnungswesen.
Alle ihre Gedanken waren auf die Kinder gerichtet. Aus den
Schulbibliotheken wurden Bücher herbeigeholt, und abwechselnd las eines
der Kinder abends vor. Die sich daran knüpfenden Fragen beantwortete
Ange nach bestem Können, und wenn dieses nicht ausreichte, griff sie zu
Hilfsmitteln, die sich unter Carlos' Nachlaß befanden, und saß dann—ein
Kind unter Kindern—und suchte auch sich neugierig zu belehren.
Jeden Wunsch, der in ihren Lieblingen aufstieg, hörte sie an, und überlegte vorher, ob er erfüllbar sei. Sie hatte sich zum Grundsatz gemacht, nie gleich ja zu sagen, sondern sich erst Bedenkzeit auszubitten. Wenn sie dann—wie meistens—eine abschlägige Antwort erteilte, begann wohl ein: „Warum nicht, Mama? Bitte!“ und ein Betteln und Drängen, dem sie nur schwer zu widerstehen vermochte. Die Kinder hatten so viele Grunde wie draußen Blüten auf den Bäumen, und wo diese fehlten, schmeichelten sie und machten Angriffe auf Anges schwaches Herz. Aber sie blieb fest, wenn es auch heiß in ihrem Inneren aufstieg. Ben stand ihr stets zur Seite und wehrte die übrigen ab. Er hatte viel Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Carlitos. Der Knabe war voll Herzensgüte, er besaß Charakter, und für seine Jahre überraschte er durch die Reise seines Urteils und das Gesetzte seines Wesens. Dabei war er voll Aufopferung für seine Mutter, die er zärtlich liebte. Sobald es ihr galt, war ihm keine Arbeit zu schlecht oder zu schwer; wenn keiner Zeit hatte—er hatte sie stets. Er half ihr, selbst bei Küchenarbeit, und lief fort, wenn etwas rasch besorgt werden mußte.
Der Knabe fühlte nicht mehr instinktiv, sondern war sich bewußt, wie die
Dinge lagen, und sein Herz trieb ihn, seiner Mutter die täglichen
Beschwerden zu erleichtern.
Das alles aber trat nur zum Vorschein im Hause. Draußen war der Knabe
ein völlig anderer. Vor allen übrigen besaß er einen brennenden Ehrgeiz.
Jeden Tag berichtete er, was in der Schule geschehen, wie ihm Recht oder
Unrecht geworden, und er überlegte, wie er es anzufangen habe, auf den
Sprossen seiner Sturmleiter weiter emporzusteigen.
Und alles stand ihm gut; er konnte nicht anders sein, wie er war. Wenn aber einmal ein Lächeln über sein hübsches Gesicht glitt oder gar seine Augen tiefere Empfindungen widerspiegelten, dann war der so schön, daß er einem Maler hätte Modell stehen können.
„Wie heißt Du?“
„Graf Benno von Clairefort.“
Nie nannte er sich anders, aber seltsamerweise rief dies selbst bei
Erwachsenen kein Lächeln hervor.
* * * * *
Bisweilen schien Ange altes, was früher gewesen, wie ein Traum, und in diesem Bilde ihrer Vorstellungen tauchte immer von neuem Teut auf. Wer ihr einstmals gesagt hätte, sie werde ihn ängstlich fliehen, und deshalb fliehen, weil er Wort gehalten in allem, was er ihr damals in besseren Tagen im Walde versprochen, und welches doch das Höchste war, was ein Mensch dem anderen gewähren konnte—den würde sie einen unverständigen Thoren gescholten haben. Und doch war's kein Traumbild. Sie war heute vielleicht von ihm getrennt—fürs ganze Leben! Würde er, nach der bisherigen Beurteilung ihrer Person, ihre Haltung nicht als eine Weiberlaune deuten? Sie sah ihn vor sich—das überlegene Lächeln umspielte seinen Mund, er schüttelte über solche Kindereien den Kopf. Hatte er gar recht?
Und dann kam's wieder über sie eines Tages in dem grübelnden Suchen nach dem Rechten, in der ängstlichen Besorgnis, den verletzt zu haben, dem sie so viel verdankte und der nun stumm blieb, als ob er unter die Toten gegangen.
Sie beschloß, ihm zu schreiben und ihren Standpunkt zu verteidigen. Aber mitten darin hielt sie wieder inne.
Was sie auch schrieb, sie konnte seine Gedanken nicht beeinflussen. Vielleicht betrachtete er den Inhalt ihres Briefes nur als Vorwand ihrer veränderten Gesinnung. Und war's nicht auch begreiflich, natürlich, daß sich nun auch sein Stolz regte? War er einer von denen, die sich anderen zudringlich nähern? Nein! Und da er ihr nicht mit denselben Gefühlen gegenüberstand—sie wußte es nun aus Tibets Munde—, hatte er ihr Andenken vielleicht ausgelöscht—ausgelöscht für immer?
Und nun sollte sie das erste Wort geben, in ihm den Eindruck hervorrufen, endlich sei sie durch Lebensnot und Sorge, gedrängt auch von ihrer alten Natur, doch gekommen und habe erbeten, was sie einst so schroff zurückgewiesen? Nimmermehr! Vorbei war's mit all den Hoffnungen, die sich an frühere Zeiten knüpften! Es gab nur einen Lichtstrahl: das Glück der Kinder, und in diesem allein mußte sie ihr eigenes suchen. Somit unterblieb das Schreiben.
Aus dem schwankenden Herbst schritt allmählich der Winter mit rücksichtslosen Schritten hervor, stäubte, des Widerstandes nicht achtend und seines Rechtes sicher, mit Schneewirbeln über die Landschaft und schlug die ganze Natur in seine weißen Decken ein.
Aber mit dem Winter traten auch die Sorgen wie weiße Gespenster an Ange heran. Als sie von ihrem Bankhause die Quartalszinsen erhielt und einen Überschlag machte, was noch zu bezahlen und was nötig war, bis das neue Jahr erschien, sah sie, daß ihr jetzt schon fast nichts mehr blieb. Ange hatte trotz äußerster Sparsamkeit kleine Schulden machen müssen, und die von Tibet gemeldete erschrecklich hohe Summe, welche Teut in dem ersten halben Jahre zu ihrem Haushalt beigesteuert hatte, ragte noch drohend über dem übrigen empor. Gerade diese zu tilgen, beschäftigte immer aufs neue, zulegt fast ausschließlich Anges Gedanken. Schon machte sie sich Vorwürfe, daß sie nicht früher abgezahlt hatte. Teut triumphierte vielleicht, daß sie so eilfertig und trotzig darnach begehrt—und nun doch alles still war.
Sie beschloß—es war ein falscher Entschluß—ihren Nachbar, einen kleinen, mit einer Haushälterin lebenden Kapitalisten—um eine größere Summe darlehnsweise zu bitten und solche Teut sogleich einzusenden.
Als sie schon auf dem Wege war, flüsterte ihr eine besonnene Stimme zu, daß ein einziges Goldstück als Abtrag genügen werde, um sich vor sich selbst und vor Teut zu rechtfertigen. Aber mit leiser Eitelkeit vermischter Stolz überwog, was bessere Einsicht ihr zurannte, und sie zog die Klingel und betrat das Haus.
Es giebt Wohnungen, denen eine kalte Luft entströmt, selbst zur Sommerszeit. Frostiges Selbstbehagen, das einen engen, abwehrenden Kreis um sich zieht, die übrige Welt nur sieht, sie nur anhört und sich nur mit ihr beschäftigt, sofern diese keinerlei Ansprüche erhebt, durchdringt die Bewohner und wirkt so erkaltend, daß es sich selbst den toten Dingen mitzuteilen scheint.
Als Ange den Flur beschritt, überfiel sie jene Zaghaftigkeit, welche fast immer den allzu raschen Vorstellungen unserer Phantasie zu folgen pflegt.
Auf dem großen Flur standen zwei in peinlicher Sauberkeit gehaltene, in Eichenholzfarbe gemalte Schränke, die den Eintretenden schon kalt anstarrten. Und sonst nichts ringsum: kein Spiegel, keine Stühle, keine Kleiderhaken, keine Uhr. Was eine rasche Hand etwa stehlen konnte, war weislich entfernt. Ein kalter, übersauberer, abgeschlossener Raum, in dem die Klingel impertinent laut nachtönte! Nun klopfte Ange.
„Ah, Frau Gräfin!“ sagte die Gesellschafterin artig. Es war eine alte Dame in einem einfachen dunklen Kleide und mit einer weißen Mütze auf dem Kopf. „Bitte, Herr Putz ist zugegen.“
Putz hatte nichts in der Welt zu thun; er schwatzte überaus gern, sprach eigentlich nur von sich und stand trotz seines Egoismus und der Langenweile, die er ausströmte—lediglich im Raterteilen war er ein Verschwender—unter dem Eindruck, der Verkehr und Umgang mit ihm sei für andere ein ungewöhnlicher Vorzug. Daß er nur seinen Neigungen dabei folgte, lediglich sich selbst die Zeit vertrieb, und daß durch den Verkehr irgend eine Gegenseitigkeit erwachse, diese Gedanken kamen nie in seinen Kopf.
Während Ange sich umschaute, hatte sie beim Anblick der Personen und der altbekannten Dinge plötzlich die Überzeugung, ihre Bitte werde ihr abgeschlagen werden. War's doch Putz, den sie bereits in ihre Verhältnisse einen Einblick hatte thun lassen, indem sie ihn um Auskunft wegen Ermäßigung der Steuern gebeten. Es war ihr unfaßlich, daß sie das nicht vorher bedacht, und sie schalt ihren Mangel an Überlegung nun, da es zu spät war.
Ange fand übrigens nicht so rasch Gelegenheit dem Alten vorzutragen, was sie beschäftigte. Die Gesellschafterin war ein unliebsamer Zeuge, und selbst, als diese einmal fortging, fand sich kein Anknüpfungspunkt.
So wurden denn gleichgültige Gesprächsgegenstände berührt, und Ange empfand doppeltes Unbehagen an der Unterhaltung, da sie ihre Absicht nicht auszuführen vermochte.
Plötzlich sagte Putz: „Nun, haben Sie Nachricht von der Steuerbehörde,
Frau Gräfin? Ich wollte schon immer fragen.“
Ange bejahte. Sie berichtete, daß man sie aufgefordert habe, ihre Anträge nachweislich zu belegen, und daß dann eine nochmalige Prüfung stattfinden solle. Vorläufig müsse die Summe gezahlt werden, zu der sie eingeschätzt sei.
„Ganz recht, ganz recht! So, so!“ sagte der Alte, und nach kurzer Pause fuhr er fort: „Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein könnte, Frau Gräfin—recht gern, mit größtem Vergnügen!“
Die Gesellschafterin war noch nicht zurückgekehrt. Diese freundlichen Worte ermutigten Ange. Nun, so konnte es denn sein! Plötzlich war sie wieder voller Hoffnungen.
„Ich danke Ihnen sehr, Herr Putz. Ich wollte auch noch in einer anderen
Sache Ihren Rat oder vielmehr Ihre Hilfe erbitten.“
„Bitte, bitte, Frau Gräfin!“ Der Alte war immer neugierig. Das Gespräch hatte schon etwas geschleppt, nun ward es wieder anziehend.
„Also, Herr Nachbar, ich möchte Sie fragen, ob Sie mir wohl zwölfhundert Mark würden leihen wollen, die ich nach und nach abzahlen könnte. Ich, ich—“ Ange stockte.
„Bitte, Frau Gräfin!“ Putz wollte alles hören. Es fiel ihm nicht ein, auf dergleichen Dinge einzugehen, aber hören wollte er. Anges Vertrauen wuchs.
„Ich habe,“ fuhr sie geläufiger fort, „eine einzige alte Schuld, die mich zwar nicht drückt, durchaus nicht drückt—ich meine, derentwegen ich nicht gedrängt werde, die ich aber aus anderen Gründen—“
„Hm, ich begreife,“ sagte Putz. Und als Ange nicht gleich fortfuhr, fügte er, seine Neugierde nur schlecht unterdrückend, hinzu: „Von einem Verwandten wahrscheinlich?“
„Nein, nicht von einem Verwandten; ich habe überhaupt nicht einen einzigen Verwandten auf der Welt, weder von seiten meiner Eltern noch von seiten meines Gatten.“ Wie unvorsichtig war diese Offenherzigkeit! Ange sah es ein—zu spät. Ihr war plötzlich, als ob sie Olga von Ink gegenübersäße, und all ihre Hoffnungen sanken in einen tiefen Brunnen. „Ich habe das Geld von—von—“ Nun stand Ange sogar vor dem Namen; sie sollte vor diesem Menschen Teuts Namen aussprechen! Wohin war sie geraten! Sie suchte und griff in ihrer Ratlosigkeit zu einer Unwahrheit, vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben, wo es sich um ernste Dinge handelte. „Von Herrn Tibet,“ platzte sie heraus.
„Ah so!“ sagte Putz, offenbar aufs höchste überrascht, und zog die Augenbrauen über die listigen Augen. „Von Herrn Tibet? Er ist fort, nicht wahr? Kehrt er überhaupt nicht zu Ihnen zurück?“
Ange bereute, was sie gesagt; wie bereute sie überhaupt jetzt, daß sie gesprochen! Es wurde ihr klar, daß der Mann nur seine Neugierde befriedigen wolle und daß der Gegenstand ihn nicht im geringsten interessiere.
Sie war nun auf demselben Punkt angelangt, von dem sie in richtiger Erkenntnis ausgegangen. Sie hatte endlich wirklich die Enttäuschung, nach der sie verlangt hatte.
„Nein, er kehrt nicht zurück,“ sagte sie kurz abweisend. „Aber, um wieder auf die Sache zu kommen: wie ist es, Herr Putz, würden Sie mir die Hand bieten?“
Auskosten mußte Ange die Enttäuschung bis auf den Grund.
„Ich kann nicht, Frau Gräfin, mit dem besten Willen kann ich nicht!
Aber—Sie gestatten, daß ich ein freundschaftliches Wort hinzufüge und
meine Ansicht ausspreche. So sehr ich begreife, daß man seinem
Dienstboten kein Geld schuldig bleiben möchte—“
Ange unterbrach den Sprechenden und sagte stolz: „Sie gebrauchten den Ausdruck Dienstbote! Das ist durchaus nicht zutreffend! Tibet war der Sekretär und Bevollmächtigte meines Gatten und zugleich Haushofmeister in unserem früheren großen Hauswesen. Er folgte mir aus Freundschaft, nachdem meine Lage sich verändert hatte.“
„Ah, ah, ganz wohl! Dann steht die Sache ja sehr günstig. Erlauben Sie einem erfahrenen Mann, Frau Gräfin! Selbst wenn ich Ihnen dienen könnte, würde ich mir den Vorschlag erlauben, daß Sie dort Stundung erbitten und lieber den alten Gläubiger behalten, trotz etwaiger Peinlichkeiten. Geld ist Geld! Wer's giebt, will Sicherheit, und—und—“
„Sie haben recht!“ fiel Ange fast übereilig ein. „Sprechen wir nicht weiter davon! Nur eins zu meiner Rechtfertigung! Ich ging davon aus, daß es Ihnen nicht unbequem sein werde, und da völlige Sicherheit in meiner Person liegt—“
„Natürlich, natürlich, Frau Gräfin! Ich würde Ihnen das Geld auf bloßen
Schuldschein geben—selbstverständlich!“
* * * * *
Nachdem vier Wochen vergangen waren, fand sich Ange fast völlig von Geld entblößt, und sie sann und sann, auf welche Weise sie sich helfen könne. Auch der Nachbar kam ihr wieder in den Sinn. Gewiß, wenn sie nicht ihrer thörichten Eingebung gefolgt wäre—von ihm hätte sie eine kleine Aushilfssumme bereitwillig erhalten. Ob er sie jetzt noch geben würde? Vielleicht! Aber die Scham überwog den Drang der Not, und sie gab den Gedanken auf.
Einmal überlegte sie auch, an das Bankhaus zu schreiben und um einen Vorschuß auf das Januarquartalsgeld zu bitten. Daß dergleichen von ihr versucht werden könne, war ihr bisher nicht einmal in den Sinn gekommen. Nun weckte die Sorge praktische Gedanken. Aber auch diesen Plan ließ sie wieder fallen.
Der Jahresanfang erforderte so viel, daß sie schon nicht wußte, wie auskommen. Schaffte sie jetzt Hilfe, so entbehrte sie in der Folge. Das war nur ein schwacher Notbehelf, und vielleicht gelang's nicht einmal, und sie bereute später den Schritt.
Mit einemmal türmte sich wieder vor ihr auf, wie schwer, wie ganz unmöglich es sein werde, mit ihren geringen Mitteln auszukommen, und zu dieser Einsicht schlich sich ein anderer Gedanke, der sie so ängstlich peinigte, daß ihr die Röte in die Wangen stieg. Hatte sie überhaupt ein Recht gehabt, ihren Nachbar um Geld in solcher Höhe anzugehen? War's nicht leichtsinnig gewesen und mußte sie sich nicht schämen, daß sie so stolz auf ihre Person als Sicherheit hingewiesen hatte?—
Eines Abends machte sich Ben, nachdem die übrigen Kinder bereits zur
Ruhe gegangen waren, im Wohnzimmer zu thun. Ange nähte an der kleinen
Ange Schulmappe, an der ein Riemen sich gelöst hatte. Die Nadel war zu
fein, es ward ihr schwer.
Plötzlich setzte sich der Knabe ihr gegenüber, blieb einen Augenblick stumm und begann dann mit einem eigentümlichen Ton in der Stimme:
„Du, Mama, weshalb ist eigentlich Tibet fortgegangen? Du erzähltest neulich, ihr hättet ein Zerwürfnis gehabt; war es etwas—etwas mit Geld?“
Ange neigte den Kopf; dann sagte sie: „Ja, ja, Ben, das verstehst Du nicht.“
„Doch, Mama. Wollte er Geld von Dir haben und konntest Du es ihm nicht geben?“
„Nein, Ben, es war umgekehrt.“
„Umgekehrt—wie? Wolltest Du Geld von ihm—“
„Du verstehst falsch, Ben. Er wollte—er gab mir Geld—das heißt—Nein, das ist auch nicht richtig. Ich weigerte mich, von ihm—etwas anzunehmen, und deshalb—“
Des Knaben Pupillen erweiterten sich, und es jagte über sein Gesicht.
„Er wollte Dir Geld geben, und weil Du es nicht nehmen wolltest, ging
Tibet fort?“
„Nein, Ben, ich hieß ihn gehen. Aber ich wiederhole, daß ich Dir das nicht erzählen, nicht erklären kann.“
„Doch, Mama!“ sagte Ben fest. „Erzähle mir alles, bitte. Ich bin nicht mehr ruhig, wenn ich nicht alles weiß. War Papa nicht sehr reich? Hat er all sein Geld verloren?“
Ange nickte.
„Hat Tibet damit zu thun?“
„Nein, Ben. Papa war allerdings sehr reich, verlor aber sein Geld in dem Bestreben, es für Euch noch zu vermehren. Als er starb, war nichts mehr da.“
„Nichts? Das war unrecht. Das war—“ Der Knabe unterbrach und bezwang sich. „Ah, und nun wollte Tibet Dir helfen, und Du wolltest nichts nehmen, und—“
„Ja, ja, so ähnlich war es, mein lieber Junge. Aber noch einmal: Du vermagst den inneren Zusammenhang nicht zu verstehen, frage mich nicht weiter.“
„Er meinte es doch aber gut, Mama!“
Ange senkte den Kopf.
„Bist Du ihm böse? Werdet Ihr Euch nicht wieder vertragen?“
„Ich weiß es nicht, mein guter Ben. Ich glaube es nicht—“
„Und weshalb? Nur, weil—“
Abermals bewegte Ange sanft zustimmend das Haupt.
„O, hab ich Dich lieb!“ stieß der Knabe hervor und umhalste seine
Mutter. „Wenn ich doch erst groß wäre und—und—“
Kraft und Eroberungslust blitzten in seinen Augen. Wenn's an ihm gelegen hätte, er würde seine liebe Mama auf die Arme genommen und durch das Gewühl der Welt getragen haben.
Als sie ihn nach einer zärtlichen Umarmung entließ und er schon mit einem „Gute Nacht!“ in der Thür stand, überflog sein Auge noch einmal ihre Gestalt. Er kehrte zurück, umfaßte sie stürmisch und flüsterte:
„Bitte, arbeite nicht zu lange. Ich schlafe nicht ein, bevor Du zu Bett gehst. Ja, Mama?“
Welche heiße Liebe blitzte aus beider Augen! Nun schlüpfte er fort und suchte sein Lager auf.
* * * * *
Das war ein Winter. Seit Tagen lag ein starrer, unbeweglicher Schnee auf der Landschaft, und die Luft trug jenes liebeleere Grau, bei dessen Anblick uns schon fröstelt und schaudert. Dazu kam ein rücksichtsloser, Mark und Bein durchkältender Ostwind, der seinen Hauch durch die festverschlossenen Thüren jagte und aller Abwehr in den Häusern Widerstand entgegensetzte.
Die Kinder kamen mittags, von Frost und Kälte geschüttelt, nach Hause, und da die in dem oberen Teil der Villa gelegenen Schlafgemächer nicht geheizt wurden, war morgens das Wasser in den Krügen kegelspitz gefroren, und nur ein Fingernagel vermochte die Arabesken des Eises zu durchdringen, mit dem die Fenster beschlagen waren.
Die Feuerung war schon wieder verbraucht. Die Magd meldete, daß sie die letzten Körbe vom Boden herabgeholt habe. Fred kam nach Hause und hatte sich auf dem Eise beschädigt. Die Beinkleider waren auf dem Knie geplatzt, und Ange schalt und suchte unter dem Vorrat nach anderen. Was aber der Knabe an Garderobe besaß, war zu leicht, und so mußte Ange nach dem Schneider senden, um sie ausbessern zu lassen, da sie solche Arbeit nicht verstand. Das war am Ende nichts, aber oft sind's eher die kleinen Verdrießlichkeiten, die uns das Leben erschweren, als die großen.
Über Ernas Winterhut hatten die Mädchen in der Schule allerlei Spott getrieben. Der gehöre wohl ihrer Mama oder sei aus einer Komödiantengarderobe? so berichtete sie aufgeregt. „Freue Dich, daß Du einen Hut hast, mein Kind: er ist heil und sauber. Laß die Kinder reden.“
Aber wenn Ange dies auch sagte, schnitt es ihr doch ins Herz. Es war allerdings ein Hut, den sie selbst abgelegt hatte, und das Kind sah seltsam darin aus. Einen anderen kaufen? Nein! Sie hatte nicht einmal Geld, Feuerung zu bestellen, die so bitter nötig war.
Im Anfang hatten die Kinder noch alle hübsche, ja äußerst kleidsame Gewänder. Die beiden Mädchen sahen so zierlich und vornehm aus, daß die Menschen sich nach ihnen umschauten. Aber inzwischen war so vieles schadhaft geworden und nicht erneuert. Die kleine Ange trug zum erstenmal auf den Knieen gestopfte Strümpfe und zog das Kleid herunter, das dadurch doch nicht länger ward und nichts verbarg.
Die Kopfbedeckungen der Knaben waren reichlich abgenutzt, und Kragen und
Manschetten mußten länger dienen als früher. Bisweilen drang's Ange mit
Messern durch die Brust, wenn sie das Aussehen ihrer Lieblinge mit dem
anderer Kinder verglich.
An einem dieser Abende saß Ange unthätig an ihrem gewohnten Arbeitsbuch und stützte voller Kummer und Sorge das Haupt. Sie dachte aber nicht einmal an die Gegenwart, sie beschäftigte sich mit der Zukunft. Sie mußte rasch die jetzige Wohnung aufgeben, sie war zu teuer. Auch konnten die Mädchen so kostspielige Schulen ferner nicht mehr besuchen. Die guten Kleider, die Ange noch besaß, waren besser zu verkaufen oder für die Kinder zu ändern. Ja, das alles mußte—mußte geschehen! Nur wenn sie die bisherigen Ausgaben um die Hälfte einschränkte, dann konnte sie auskommen.
„Du bist wieder so betrübt“ flüsterte Ben, seine Mutter sanft umschlingend. Die übrigen Geschwister waren noch anwesend; immer scheute sich der Knabe, seine Gefühle vor ihnen zu zeigen. Gerade hustete Jorinde ängstlich auf und draußen pfiff und tobte es um die lose befestigten Fensterladen.
„Nein, nein!“ erwiderte Ange, vor den Tönen zusammenschauernd. „Geh ins Bett, mein süßes Kind.—Und ich komme gleich nach und bringe Dir einen heißen Trank,“ fuhr sie, zu Jorinde gewendet, fort, die aufgestanden war und sich an sie schmiegte.
„Es ist so kalt oben; ich fürchte mich auch. Soll Erna nicht auch zu
Bett gehen, Mama?“
Es war so kalt! Und Ange konnte nicht heizen. Während der letzten Tage hatte sie eine völlige Apathie erfaßt; die Dinge mußten sich durch irgend etwas ändern;—wie, das wußte sie nicht; sie that auch nichts dafür. Aber es konnte sich doch nichts ändern, ohne daß sie handelte.
„Ich will Dir, solange es noch so kalt ist, das Bett drinnen auf dem Sofa einrichten,“ entschied Ange. „Ja, ja, mein liebes Kind, es ist zu frostig oben, es ist nicht gut für Deine Brust. Wir müssen sehen, wie wir's machen.“
In diesem Augenblick entstand ein Streit zwischen den Geschwistern. Fred neckte die beiden Mädchen, Ange weinte und Erna schrie auf, als er die Hand gegen sie erhob. Bisher hatte Ben stumm neben seiner Mutter gesessen. Er hörte alles und es grub sich in ihn ein. Er sprang empor und fuhr gegen seinen Bruder auf. Er packte ihn an die Brust und schüttelte ihn wie eine Katze, die sich einer Maus bemächtigt hat. Unter der seelischen Erregung, unter dem Mitgefühl für seine Mutter, unter dem Leid um seine kranke Schwester ging es zehrend durch sein Inneres. Nun hatte ihn die Empörung erfaßt, daß der leichtfertige Ruhestörer selbst jetzt keine Rücksicht nahm.
„Ben! Ben!“ rief Ange voller Schrecken und mischte sich unter die kämpfenden Knaben. Fred hatte seinen Bruder in die Haare gefaßt und suchte ihn unter keuchendem Atem herabzuziehen.
„O, Du! Du! Kannst Du nicht einen Augenblick Rücksicht nehmen? Ich wollte Dir schon lange eine Lektion geben! Nein, lass' mich, lass' mich, Mama!“ trotzte Ben gegen Anges Befehl und Mahnung auf. „Er hat es verdient! Er ist es gar nicht wert, daß Du ihn so lieb hast!“
Und nun lagen beide auf der Erde, und Ben schlug seinen Bruder in besinnungsloser Wut auf Kopf und Schultern. Und die kleine Ange weinte geängstigt, die Kranke hustete und Erna stand voll Mitgefühl da und faltete ratlos die Hände. So wüteten Krankheit, Sorge und Unfriede im Hause.
„Auch das noch!“ seufzte Ange wie verzweifelt und ließ sich in ihren Stuhl fallen. „O Ben, Fred! Daß ihr mir auch noch solchen Kummer macht!“ Sie weinte und schluchzte.
Es giebt Augenblicke, in denen alles tot und trostlos um den Menschen ist; in denen seine Seele weint, und ihm traurig ist zum Sterben.
Die Knaben hatten sich erhoben und ordneten ihre Kleider. Ihr hastiger Atem ging durchs Gemach; ihre Glieder bebten unter der Erregung. Als Ben aber seiner Mutter Stimme hörte, als die gerechte Anklage sein Ohr traf, zog plötzlich jähe Blässe über sein Gesicht; er stürzte hinaus, eilte im Dunklen auf sein Zimmer, warf sich ins Bett und vergrub das weinende Antlitz in die Kissen.
Als endlich der Schlaf ihn übermannen wollte, als nach wühlenden Gedanken und nagenden Vorwürfen die Erschlaffung eintrat, blitzte in dem kalten, von dem Silberweiß des Winters umrahmten Gemach plötzlich ein Licht auf, und fast wie eine überirdische, aber trostreiche Erscheinung trat zu ihm seine Mutter mit den tiefen dunklen Augen und dem blassen zarten Gesicht. Eine sauste Hand legte sich auf seinen Kopf, und weiche Wangen schmiegten sich zärtlich an die seinigen.
„Du Trotzkopf!“ sagte sie und sah ihm in die Augen. „Nun schlaf' Dich aus und—Ben, thu's mir zuliebe—vertrag' Dich morgen mit Deinem Bruder und gieb ihm das erste Wort!“
Er zögerte, aber er nickte doch, da sie es wollte.
„Ich weiß, ich weiß, Du ängstigst Dich um mich; um meinetwegen erhobst
Du die Hand gegen ihn,“ flüsterte Ange bewegt. „Aber es war nicht recht,
Ben! Du thust's nicht wieder, Ben, mein Ben?“
Und da schlangen sich seine Knabenarme um ihren Nacken. Weinend und schluchzend hing er an ihrem Halse und bereute, daß er aus Liebe gefehlt hatte.
* * * * *
Ange entschloß sich nach schwersten Kämpfen, an einem der nachfolgenden Tage nun doch mit ihrem Nachbar zu sprechen und ihn um etwas Geld anzugehen. Sie wußte keinen Rat mehr, war am Ende mit der geringfügigen Summe, welche ihr geblieben war, und stand vor einer Not, vor welcher alle Bedenken schweigen mußten.
Sie schrieb an Putz zu diesem Zwecke einen kurzen Brief, in welchem sie die Bitte aussprach, sie wegen einer dringenden Angelegenheit bei seinem gewohnten Morgenspaziergang durch einen Besuch erfreuen zu wollen.
„Nun, verehrte Frau Gräfin, da bin ich,“ sagte er, stieß den Schnee von den Füßen und trat in das Wohnzimmer.
Ange stand noch in einer weißen Schürze, und ihre Hand hielt ein Wischtuch und einen Staubwedel, mit welchem sie Winkel und Ecken gesäubert hatte. Ben, der nun auch wie Jorinde wegen eingetretener Erkältung das Zimmer hüten mußte, befand sich im Nebengemach. Er trat bei des Nachbars Erscheinen einen Augenblick hervor, verbeugte sich höflich und zog dann leise die Thür an. Nun war Ange mit Putz allein.
„Bitte, nehmen Sie Platz, lieber Herr Nachbar,“ sagte sie etwas verlegen, streifte die Schürze ab, strich über die erregte Stirn und holte einen Stuhl herbei, um sich ihm gegenüber zu setzen.
„Wollen Sie nicht im Sofa—“
„Nein, bitte, bitte, ich sitze hier sehr gut. Muß auch gleich wieder fort,“ erwiderte er kurz, legte während des Sprechens die Hände auf den Knopf seines Spazierstockes und richtete sein noch von der Kälte umwehtes, aus dem hohen Pelz herausschauendes listiges Gesicht auf Ange. „Sie schrieben mir, daß Sie mich zu sprechen wünschten, Frau Gräfin.“
„Ja, Herr Putz, und ich habe zunächst um Entschuldigung zu bitten, daß ich Sie bemüht habe, statt zu Ihnen zu kommen.“
„Das hat ja nichts auf sich,“ erwiderte er ebenso kurz und fuhr mit einem Anflug von Ungeduld fort: „Nun also, Frau Gräfin, bitte—“
„Ich sprach neulich mit Ihnen über eine Geldsache, Herr Putz. Sie hatten die Güte, mir Ihren Rat zu erteilen, und ich fand bei näherer Überlegung, daß Sie recht hatten,“ begann Ange rücksichtsvoll. „Heute handelt es sich um Ähnliches, aber um etwas—“ Ange hielt mitten im Sprechen inne, erhob sich, ging an ihren Schreibtisch und nahm ein Geldbriefkouvert heraus. „Sehen Sie, Herr Putz, das ist die letzte Geldsendung, welche ich am ersten Oktober empfing. Es sind Zinsen, die ich vierteljährlich erhalte. Ich komme bis Neujahr nicht aus—ich hatte viele unerwartete Ausgaben gerade in den letzten Tagen. Da wollte ich Sie nun freundlich bitten, Herr Putz, daß Sie die große Güte haben möchten, mir bis Januar mit einer Summe auszuhelfen.“
Ange hielt zaghaft inne und blickte den Mann an, der wie eine
Brunnenfigur vor ihr saß und keine Miene verzog.
Er schielte auf das Kouvert, das Ange auf den Tisch gelegt hatte, sah nur zu genau, that aber, als ob er gleichgültig hinüberblinzele, und sagte dann kalt:
„Ja, ja, kann's mir wohl denken—würde auch wohl gefällig sein, Frau Gräfin. Ich will aber gleich bemerken, daß ich vor Neujahr auch sehr, sehr knapp bin. Ich erhalte Anfang Januar—gerade wie Sie—mein Geld, und jetzt, gegen Ende des Monats und um das Fest herum, ist's fast unmöglich! Wieviel brauchen Sie denn?“
Ange nannte eine beträchtlich geringere Summe, als sie vor diesen in einem so wenig ermunternden Tone gesprochenen Worten hatte erbitten wollen.
Putz schien nach einem festen Grundsatz zu handeln, denn er sagte ohne
Besinnen einfallend:
„Ich bedauere, Ihnen nur die Hälfte vorschießen zu können, Frau Gräfin.
Schon das macht mir sogar Ungelegenheiten. Wie gesagt—“
„Ah!“ machte Ange nur allzu enttäuscht. Was er ihr bot, war neben der
Bestreitung dringendster Ausgaben kaum ausreichend für die nächsten acht
Tage, und bis Weihnachten waren noch fast drei Wochen.
„Und wann gebrauchen Sie das Geld? Heute schon?“ nahm Putz das Wort und erhob sich, ohne Anges sichtliche Unruhe zu beachten.
Und wie immer der Ertrinkende nach dem Strohhalm greift, so griff auch Ange nach dem Geringen, das sich ihr bot, nahm dankend an, versprach die prompte Rückgabe im Januar und unterschrieb einen Schuldschein, den Putz sogleich ausfertigte.
Auch den Betrag erhielt sie sofort aus einer Brieftasche, die Putz in der Seitentasche seines Rockes bei sich führte. Er schien sich auf die Sache vorbereitet zu haben. Weshalb hatte sie ihn sprechen wollen? Doch sicherlich um Geld! Natürlich! Was er, ohne ihre Wünsche zu kennen, geben wollte, war schon vorher von ihm überlegt worden.
Während Ange und Putz noch einige Worte austauschten, erschien in der verbindenden Thür die schlanke Gestalt von Ben, der altes gehört hatte. Ein Ausdruck zorniger Erregung malte sich in seinen Zügen, aber auch Schmerz, Scham und Mitleid spiegelten sich auf dem Angesicht des stolz erhobenen Kopfes. Nun wandte sich Ange zurück, und der Knabe verschwand rasch, bevor sie seiner gewahr wurde.
Nach kaum acht Tagen hatte Ange freilich noch Feuerung im Hause, aber sonst lagen die Dinge ebenso, fast schlimmer als vordem. Von dem Drange getrieben, achselzuckenden Mienen vorzubeugen, machte sie der Nachbarschaft größere Abzahlungen, als sie ursprünglich vorgesehen hatte, und erfuhr dabei, was jeder täglich beobachten kann, daß Geld der fahnenflüchtigste Geselle ist, der je einem Kriegsherrn diente.
Aber nun kam das Weihnachtsfest immer näher, an dem sogar jeder Tagelöhner seinen Kindern eine Freude zu bereiten suchte. Ange hatte für die Kinder nichts eingekauft, aber diese arbeiteten eifrig und versteckt an Geschenken für sie und erinnerten sie dadurch immer von neuem, daß sie auch Überraschungen von ihr erwarteten.
Selbst Fred war fleißig mit Gummi und Radiermesser bei einer Zeichnung beschäftigt, geschickter allerdings mit diesen, als mit Bleifeder und Kreide. Er war einmal ein flüchtiger kleiner Geselle.
* * * * *
Es war einige Tage vor dem heiligen Feste und um die Abendzeit. Ein starker Schneefall hatte die Gegend in starre, bleiche Gewänder gefüllt. Von. Mondlicht umflossen, ragte die Wartburg wie ein von Geistern bewohntes Schloß unter den weißbedeckten Wäldern hervor. Ringsum in den Villen aber glitzerten hinter den Scheiben kleine unruhige Lichter, die seltsam, fast unheimlich abstachen gegen, die schweigsame, aller lebendigen Farben entkleidete Natur.
Es mochte gegen zehn Uhr abends sein, als ein großer kräftiger Mann, der sich soeben auf offener Landstraße von seinem ihn offenbar über Ort und Gelegenheit orientierenden Gefährten getrennt hatte, mit langsam schwerfälligen Bewegungen die Höhe hinaufstieg, auf der das Häuschen lag, welches Ange bewohnte. Je näher er seinem Ziele kam, desto bedächtiger wurden seine Schritte. Einigemal hielt er inne und schaute spähend um sich. Aber nirgends zeigte sich etwas Lebendiges: die Gegend war wie ausgestorben.
Endlich erreichte er das Haus, in welchem noch Licht war, klinkte leise eine kleine Pforte auf und wandte sich mit vorsichtigen Bewegungen rechtzeitig in den Garten. Vor dem nach diesem herausschauenden Fenster war kein Vorhang herabgelassen, es gestattete ungehinderten Einblick.
Der Mann—es war Teut—dämpfte seinen raschen Atem, blieb stehen und schaute lange und unverwandt ins Innere des Gemaches. Oftmals griff er sich in tiefer Bewegung an die Brust und einmal traten silberfunkelnde Tropfen der Rührung in seine Augen über das, was er erblickte.
Ange saß, das Gesicht ihm zugewandt, an dem Tisch, der mitten im Wohnzimmer stand, und betrachtete prüfend ein Kleidungsstück, das vor ihr auf dem Tische lag. Teut erkannte es als ein Militärbeinkleid, das Clairefort gehört haben mochte. Die bleiche Frau prüfte und maß, indem sie das kürzere Gewand eines der Knaben dagegen hielt.
Nachdem sie nach einigem Hin und Her zu einem Entschluß gelangt war, trennte sie die Nähte auseinander, breitete jeden Teil für sich aus, legte das Knabenbeinkleid darüber, schnitt mit vorsichtiger Hand das erstere danach zurecht und nähte dann die einzelnen Teile zusammen. Ohne auch nur ein einziges Mal aufzuschauen, saß sie über die Arbeit gebückt, und nur einmal ließ sie die Nadel ruhen, lehnte sich zurück, hob das neue Gewand empor und zupfte an dem Stoff.
Nun vermochte ihr Teut voll ins Angesicht zu schauen, und fiebernd flog es durch seine Brust, als ihr liebes, zärtliches und blasses Gesicht vor ihm aufstieg.
Einmal war's ihm, als ob sie seiner ansichtig geworden sei, denn plötzlich wandte sie mit verändertem, ängstlichem, gleichsam gebanntem Blick ihr Auge gegen das Fenster, hinter dem er lauschte. Er trat unwillkürlich zurück und spähte aus dem tieferen Dunkel ins Gemach.
Hatte sie ihn gesehen?—Nein! Vielleicht war's einer jener seltsamen Ahnungsschauer, die uns erfassen können, wenn auch diejenigen weit von uns sind, mit denen wir uns—in blitzartiger Erinnerung—beschäftigen.
Später stützte Ange den Kopf, starrte sinnend vor sich hin, griff dann nach einem Bleistift und machte sich auf einem Blättchen Papier allerlei Notizen. Offenbar beschäftigte sie sich mit ihren Kindern, vielleicht stellte sie noch einmal deren Wünsche für Weihnachten zusammen. Und dann begab sie sich abermals voll Eifer an die Arbeit, rührte fleißig die Hand und machte nur Pausen, um die Nähte mit dem Fingernagel nachzuglätten.
Wer sie heute so sah und einst gekannt hatte! Ein Gefühl heißer Rührung mußte emporsteigen und sich in Bewunderung verwandeln.
Einmal über das andere strich Teut in starker Erregung den Schnurrbart. Wie lange stand er nun schon da, und doch flog ihm die Zeit wie eilende Sekunden. Es waren lebhafte Gedanken, die ihn beschäftigten. Er sah, was vor sich ging, und sah's doch nicht; denn während er den Blick hineintauchte, gingen zahlreiche Gedanken durch seinen Kopf.
Und nun bewegte Ange in leisem Frost den Oberkörper und fuhr, die Nadel falten lassend, wiederholt über die sinkenden Lider. Sie starrte vor sich hin, sann und grübelte, bis endlich die Müdigkeit sie überwand und ihre Augen sich schlossen. Einmal blinzelte sie noch kämpfend auf, dann sank das Haupt tiefer und tiefer, und endlich saß sie regungslos da. Sie war eingeschlummert.
„Ange, Ange,“ murmelte der Mann in heftiger Bewegung, richtete noch einmal einen langen Blick auf die Schlummernde und verließ nun vorsichtig und fast erschreckt durch seine eigenen Schritte auf dem hartgefrorenen, knarrenden Erdboden den Ort, an welchem er gesehen, was eine stumme, aber so beredte Sprache geredet hatte.
* * * * *
Am folgenden Vormittage schlich Ange—sie hatte durch Zufall erfahren, wo sie gegen Pfand ein Darlehen erhalten konnte—mit zagendem Herzen ins Versatzamt und verschaffte sich das Geld, dessen sie so dringend benötigt war. Sie hatte unter anderem ihre goldene Uhr—ein kostbares Stück—hingegeben und befand sich durch den dafür erhaltenen hohen Betrag sogar in der Lage, ihrem Nachbar die vorgeschossene Summe zurückzahlen zu können. Sein zögernd gewährter Dienst brannte ihr wie Feuer auf der Seele, und sie fand keine Ruhe, bis sie die Summe in seine Hände zurückgelegt hatte.
„Wer seine Schulden bezahlt, verbessert sein Vermögen,“ sagte Putz, ohne eine Befremdung über den früher innegehaltenen Termin an den Tag zu legen, und entließ auch Ange ohne Nachfrage oder Angebot für andere Fälle.
An demselben Nachmittag machte Ange sich auf den Weg, um Einkäufe zu machen, und Ben, der ihr Helfer und Vertrauter in allen Dingen geworden war, mußte sie begleiten. Als sie ziemlich wortkarg neben ihm herschritt, schmiegte er sich zärtlich an sie, und als sie ihm seine Besorgnisse durch eine fröhliche Miene zu nehmen suchte, sah er sie mit seinen tiefen Augen an und drückte ihren Arm fester, den sie gefaßt hatte, als sei er ihr kleiner Kavalier.
Als Ange unterwegs noch einmal alles überrechnete und mit einem: „Du armer Kerl wirst wenig oder nichts erhalten!“ bedauernde Worte gegen ihren Liebling fallen ließ, sagte der Knabe:
„Ich will gar nichts, ich brauche nichts, Mama!“
„Du bekommst auch wirklich nichts, mein lieber Junge, sei ohne Furcht!“ betätigte sie mitleidig. „Was ich Dir zugedacht habe, ist etwas, das Du dringend nötig hast und was ich Dir gern besser gegönnt hätte!“
Am nächsten, dem letzten Abend vor dem Feste, wollten Ange und Ben den Baum ausputzen. Heute saß sie noch mit fleißiger Hand und arbeitete an einem wollenen Halstuch für Jorinde, der es besser ging, die aber geschont und vor kalter Luft in acht genommen werden mußte.
Anges Gesicht war etwas fröhlicher; ein stiller, sanfter Zug lag in ihren dienen. Was sie erreicht hatte, erfüllte sie wenigstens vorübergehend mit einer glücklichen Befriedigung, und nur eins drängte sich schwermütig in ihre Gedanken: daß das Fest ohne Tibet gefeiert werden müsse. Sie gedachte auch Carlos', ihres Mannes, aber vornehmlich trat Teut in ihre Gedanken. Sie seufzte tief auf. Eine verzehrende Sehnsucht erfaßte sie nach ihm. Sie verlangte nach seiner festen Stimme, nach seinem Blick, nach seiner Teilnahme, nach seiner—Liebe.
Ange sah nach der Uhr. Es schlug gerade zehn. Noch wollte sie aufbleiben, länger als gestern, wo sie zu ihrem Leidwesen dem Schlaf erlegen war.
Und gerade in diesem Augenblick vernahm sie draußen ein Geräusch an der
Thür, und im nächsten wurde auch die Klingel gezogen. Überrascht,
erschreckt wandte sie den Blick ins Freie. Das Mädchen war schon zur
Ruhe gegangen, die Kinder schliefen. Sie begriff nicht, wer noch so spät
Einlaß begehren könne.
Statt auf den Flur zu gehen, trat sie ans Fenster und spähte behutsam hinaus. Aber wie von einem Blitz getroffen fuhr sie zurück, denn als sie den Vorhang verschob, sah sie unmittelbar neben der Mauer einen Mann, von dessen Gestalt sie nur die Umrisse zu erkennen vermochte, dessen Züge ihr aber in der Dunkelheit verschleiert blieben. Einen Augenblick! Dann faßte sie sich, drückte, ihre Erregung zu dämpfen, die Hand aufs Herz und fragte kurz mit künstlicher Fassung: „Wer ist da und was wird gewünscht?“
„Liebe Gräfin! Liebe Freundin! Ich bin's, Teut! Erschrecken Sie nicht!
Soeben bin ich angekommen. Ich muß Sie durchaus sprechen. Bitte, öffnen
Sie. Verzeihen Sie dieses späte Eindringen.“
Teut—so plötzlich—ohne Anzeige—in später Nacht?—Ange verlor den Atem, fast die Besinnung. Es war seine Stimme, dieselbe Stimme, die sie so lange nicht gehört und bei deren Klang ihr Herz zu zerspringen drohte.
Noch einmal schaute sie hinaus, dann überwog ihr ahnendes Gefühl Bedenken und Furcht. Mit einem leisen, zitternden: „Ich komme—ich mache auf!“ trat sie hinaus und öffnete.
Ja, es war Teut! Mit einem unterdrückten Schrei, totenblaß—und als er nun auf sie zutrat und ihre Hand ergriff—mit dem brennenden Rot der Erregung übergossen, stand sie da und war keines Wortes mächtig. Aber als sie nun das Zimmer erreicht hatten, als das Licht über seine Züge fiel, als die hohe, kräftige Gestalt vor ihr auftauchte, als dieser ernste und doch so gütige Blick aus seinen Augen sie traf, da folgte sie der unwillkürlichen Bewegung seiner Hände, trat zu ihm heran und lag plötzlich sanft weinend an seiner Brust.
Einige Augenblicke verharrten die beiden Menschen in jener stummen, inneren Bewegung, in der jeder Gedanke hinabtaucht in eine einzige Empfindung und in der Worte zu Thränen werden.
Dann aber faßte er sie und lehnte sie sanft in einen Stuhl, beugte sich über sie und schaute ihr lange in die Augen.
„Das alles konnten Sie thun und ganz vergessen, daß Axel von Teut nur einen Lebenszweck auf dieser Welt hatte: Sie glücklich zu machen? Aber ich komme nicht, zu hadern, sondern Ihnen zu sagen, daß ich meiner Unruhe nicht mehr Herr wurde und meine fiebernden Gedanken sich zusammendrängten in dem einzigen Wunsche: Sie endlich wiederzusehen! Und nun hören Sie mich an und unterbrechen Sie mich nicht. Wollen Sie?“
Leise zustimmend bewegte Ange das Haupt.
„Nehmen, lesen Sie zuvörderst, um Ihnen den Anlaß meines plötzlichen Kommens zu erklären,“ fuhr Teut fort und entfaltete einen Brief. „Oder nein! Lassen Sie mich,“ unterbrach er sich und begann, Anges Zustimmung durch einen sanften Blick einholend:
„Lieber Onkel Axel!“ Ange horchte erschreckt auf bei dieser Einleitung. Eine Ahnung des Zusammenhanges stieg in ihr empor und wurde schon zur halben Gewißheit.
„Sei nicht böse, wenn ich Dir heute schreibe. Nicht einmal genau weiß ich Deine Adresse. Ich habe in der letzten Zeit so viel geweint um meine Mama und kann nicht mehr ansehen, daß sie so traurig ist. Lieber Onkel Axel! Mama hat so viele Sorgen; ganz gewiß. Tibet ist nicht mehr bei uns. Ich weiß weshalb. Wenn Du kommst, erzähle ich Dir alles. Und Du wirst kommen, bald, bald, wenn ich Dich bitte. Nicht wahr, lieber Onkel? Gewiß würde ich Dir dies nicht schreiben, aber ich muß es thun. Schreibe mir, bitte, und adressiere an meinen Schulkameraden, den Tertianer Carl von Trock in Eisenach. Er wird mir den Brief geben. Niemals aber darf Mama von meinem Brief an Dich wissen. Du sagst es ihr nicht? Bitte, lieber Onkel! Und nun grüßt Dich Dein Dich liebender
Benno von Clairefort.
Begreifen Sie jetzt, liebe Freundin? Gewiß, Sie verstehen, und ich habe nun endlich erreicht, wonach ich verlangt habe seit Carlos' Tode, was mein Recht war, aus einer Zusammengehörigkeit zwischen uns, wie menschliche Beziehungen sie kaum wieder aufzuweisen haben. Lassen Sie mich von vorn beginnen, damit ich Ihnen erkläre, wie alles sich so gestalten mußte. Lassen Sie mich auch deshalb zurückgreifen, um Ihnen zu beweisen, daß es nichts gegeben hat, was ich in Ihrer Handlungsweise nicht verstand, nicht ehrte.“ Und mit bewegter Stimme rief er das Geschehene in ihr Gedächtnis zurück.
„O, wehren Sie mir nicht!“ sagte er, als er ihre Erschütterung sah.
„Weinen Sie nicht! Sind es noch Thränen des Zorns oder Thränen der
Versöhnung? Ist's gar—darf ich es hoffen?—ein Beweis, daß ich Ihnen in
diesem Augenblick die Genugthuung gab, nach der Sie verlangten? Ja, Frau
Ange?—Ich danke Ihnen.—Und nun hören Sie weiter!“
Teut machte eine kurze Pause, und dann sagte er, behutsam seine Worte abwägend und mit einer Zartheit, wie sie nur ihm eigen:
„Ich habe mir folgendes gedacht, liebe Frau Ange: Sie überlegen, ob wir nicht an einem Orte gemeinsam wohnen können und uns—als alte Freunde—täglich sehen; ja, durch unseren Verkehr uns das Glück verschaffen, was uns neben dem Wohlergehen Ihrer Kinder noch auf Erden beschieden sein kann. Wenn ich sage ‚uns‘, so verzeihen Sie dieses Wort; ich hätte nur von mir sprechen sollen. Ich habe keinen anderen Wunsch, als in Ihrer Nähe zu leben und Ihnen zu zeigen, wie sehr ich Ihnen zugethan bin. Fürchten Sie keine aufdringliche Freundschaft, Ange, ich verspreche Ihnen, daß ich Ihre Ansichten und Absichten ehren werde wie ein Gottesgebot. Stimmen Sie zu! Ist es nicht thöricht, daß wir, die wir schon zueinander gehörten, als wir uns zum erstenmal begegneten, uns voneinander abschließen wie Feinde? Sind wir nicht Freunde? Gingen Sie, wenn auch begreiflicherweise bei den furchtbaren Gegensätzen Ihres Lebens—nicht zu—weit, nicht zu sehr ins Extrem? Ist es nicht auch eine Größe, nehmen zu können? Mißverstehen Sie mich nicht! Wenn ich sprach, wünschte ich nur von den natürlichen Rechten der Freundschaft ein Wort fallen zu lassen; nicht einen Vorwurf wollte ich Ihnen machen, liebe Freundin. Mich zu entschuldigen wünschte ich. Ich ließ mich hinreißen von dem unbeschreiblichen Glück, das den Geber durchdringt—ich fehlte; aber Sie gaben nicht einen Finger, um mir dieses Glück zu gönnen.—Ich habe nichts mehr zu sagen.—Nun, liebe Frau Ange, was meinen Sie?“
Er stand auf und faßte ihre beiden Hände, er suchte ihre verschleierten Augen und drängte sich mit seiner Seele zu der ihrigen. Und als dann plötzlich so viele Tropfen unter ihren Wimpern zuckten, da wußte er, daß sie vergeben hatte, daß alles zwischen ihnen war wie ehedem.
* * * * *
Bevor Teut sich an dem eben geschilderten Abend von Ange trennte, erwirkte er auch Verzeihung für Tibet, der seit seiner Trennung von Ange bei ihm in Eder sich aufgehalten und ihn auch nach Eisenach begleitet hatte.
Ange aber schloß kein Ange in dieser Nacht. So unvorhergesehen, so plötzlich war alles über sie gekommen, so mit einem Schlage waren alle Dinge verändert, daß sie sich wiederholt an die Stirn griff; ob's denn auch Wahrheit und kein Traum sei. Haltende, brennende Ströme jagten durch ihr Inneres. Die stille Liebe zu Teut hatte sich durch das Wiedersehen in einen drängenden, stürmischen Frühling verwandelt. Er war an ihrer Seite und sie sollte ihn vielleicht wieder verlieren?
Als Ange am nächsten Morgen ihren Kindern mitteilte, Onkel Axel und Tibet seien wieder da und würden an dem Weihnachtsfest teilnehmen, erscholl lauter Jubel durchs Haus. Ben drängte sich an seine Mutter, als sie allein war, und forschte in ihren Augen. „O ja, ja, Du bist wieder fröhlich! Ich sehe es!“ preßte er heraus und umhalste sie. Sie aber legte die Hand auf sein Haupt und sah ihm forschend ins flammende Auge.
„Wußtest Du gar nichts von Onkel Axels Kommen? Gar nichts?“ Ben bewegte stumm den Kopf und preßte die Lippen aufeinander. Und dann schoß plötzlich brennende Röte über sein Gesicht und mit raschem Anlauf drückte er seine Mama noch einmal an sich. „Nicht böse sein!“ flüsterte er und verschloß unter Küssen ihren Mund.
Einen rührenden Anblick bot es, als Tibet am Mittag zum erstenmal wieder die Schwelle des Hauses betrat. Ange war in der Küche, als der Jubel zu ihr drang. Als sie sich ihm näherte, machte er eine tiefe, unsichere Verbeugung und wartete, wie seine Herrin ihm begegnen würde.
„Willkommen, Tibet!“ sagte Ange, trat auf ihn zu und legte tiefbewegt ihre Hand in die seinige. „Alles ist vergessen. Und“—hier brach es aus ihren Augen so heftig heraus, daß sich die Kinder unwillkürlich zurückzogen—„vergeben Sie—auch mir!“
„O, Frau Gräfin! Frau Gräfin!“ stotterte der Mann und neigte das Haupt.
Und der Festabend kam; Ange war aufgeblüht in ihrem Glück. Sanfte Rosen lagen auf ihren Wangen und ihre Augen glänzten, als hätten Diamanttropfen Sonnenstrahlen aufgesogen.
Sie trug dasselbe Kleid—sie hatte es bewahrt und nun hervorgesucht—, das damals ihre Gestalt umschloß, als Teut Abschied nahm und in den Krieg zog.
Auch eine vollblühende Rose hatte sie sich zu verschaffen gewußt, die nun ausgebrochen an ihrer Brust lag wie ein Symbol ihrer reiferen Schönheit.
Teut war wie gebannt, als sie ihm gegenüber trat. Für ihn hatte sie sich geschmückt, und der zarte Duft der Blüte drang berauschend auf ihn ein.
Ihm war's, als ob sie mit ihrer blendenden Erscheinung nicht in diesen Raum gehöre, ihm plötzlich gegenüberträte wie damals in der Villa, und alles sei wie ehedem.
Und nun wirkten auch alle anderen Dinge bestrickend auf ihn. Mit welcher anmutigen Sicherheit waltete sie im Hause, wie gut, aber wie verständig war sie mit ihren Kindern; das Zuviel, das leichte „Ja“ waren abgestreift. Das Irrelose, Bewegliche, Hastige in ihrem Wesen war gewichen, ein sanfter Ernst umgab sie, der sie verschönte.
Und mit welcher zarten Rücksicht begegnete sie ihm selbst, mit welchem Takt wußte sie den Ausgleich zu finden zwischen dem Vergangenen und Heute. Alles, was jemals in ihm emporgestiegen war, ward zur brennenden Flamme. Saß er ihr auch ernst und mit besonnenem Ausdruck gegenüber, so schlug doch bebend sein Herz; richtete er auch nur einen stillen Blick auf sie, so hämmerten doch seine Pulse, und einmal ballte er, abgewendet, die starken Hände und riß sich zurück aus der überwältigenden Qual, die ihm die Brust einschnürte.
Und doch konnte, durfte er nicht sprechen, und wenn seine Seele sich auch teilte und wenn sein Verzicht sein Lebensglück vernichtete.
Einmal kamen die Kinder während des Abends ins Nebenzimmer und Tibet folgte ihnen. Da trat Teut an Ange heran.
„Wie schön sind Sie, Frau Ange!“ sagte er, ergriff ihre Hand und sah sie mit seinen tiefen, guten Augen an. Ange errötete wie ein furchtsames Mädchen, und ihre Handflächen bebten in den seinen.
„Und wie gut, wie trefflich sind Sie, liebe Freundin!“ fuhr er leiser fort und suchte ihren Blick.
Er sprach's, und die Frau neben ihm zitterte. Nun kam Ben; sie wichen von einander. In dem bleichen Angesicht des Knaben blitzte es auf. Er sah überrascht auf seine Mutter und auf Teut. Ahnte ihm etwas? Einen Augenblick stand er wie erschrocken, dann aber glühte es in seinen dunklen Augen, und mit einer unwillkürlichen raschen Bewegung—gab's ihm ein Gott ein, oder wußte er selbst nicht, was er that?—eilte er auf beide zu, ergriff ihre Hände und neigte sein blondes Haupt auf diese herab.
„O, wie ich Euch lieb habe!“ drang es aus des Knaben Brust. Und da beugten sich auch unwillkürlich Ange und Teut hernieder und berührten gleichzeitig des Knaben Scheitel.
Aber auch ihre Wangen stahlen sich aneinander, und der Liebesgott ließ zwei Flammen emporsteigen, die zusammenschlugen in feuriger Lohe.
Derselbe Gedanke durchzog ihr Inneres: die Vorsehung war's, die ihre Hände durch den Knaben verband, durch den stolzen, herrlichen Knaben mit seiner heißen Seele. Diese legte ihre Hände in einander für immerdar.
Am Tannenbaum nebenan brannten noch die Lichter. Der feine Duft der Nadeln und des Wachses durchwehten den Raum in ihrer belebenden Mischung. Es war ja Weihnacht—Weihnacht, das Fest der Freude! Drinnen ertönte das fröhliche Lachen der Kinder, dazwischen ertönte Tibets rauhere, aber gütige Stimme.
Und da waren auch die beiden Menschen, die schon so lange füreinander bestimmt waren, nicht mehr mächtig ihrer Gefühle.
Wie ein Sturmwind brauste es durch Teuts Brust, wie ein Kind hob er Ange empor, und sie umschlangen sich mit ihren Armen, um sich zu halten fürs ganze Leben.