Title: Der Dunkelgraf
Author: Ludwig Bechstein
Release date: March 8, 2008 [eBook #24782]
Language: German
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Online.)
Roman
von
Frankfurt a. M.
Verlag von Meidinger Sohn & Comp.
1854.
Der Jüngling.
Motto:
(Falbe nach Theogins.)
Geheimnißvoll murmeln die Wellen und schlagen nur leise an die Ufer des friedlichen Busens, in welchen das Flüßchen Jahde, vorüber rinnend an den einzelnen Häusern des friesischen Dorfes gleichen Namens und der Jahdekirche, sich geräuschlos einsenkt, um dann als breite Stromfläche aus dem zur Fluthzeit fast gerundet erscheinenden Becken mit dem Weserausstrome sich zu vereinen und in die Nordsee sich zu ergießen. Nur wenige größere Fahrzeuge liegen an der Rhede von Färhuk vor Anker, mit Kaufmannsgütern befrachtet, oder auf Einschiffung solcher harrend; es sind Schmakschiffe, die mit vierzig bis fünfzig Lasten die Erzeugnisse des Landes Oldenburg dem Verkehr der nachbarlichen Seehäfen zuführen, und außer ihnen ungleich mehr Barken und Kähne für die Vermittelung des nächstnahen Handelsbetriebes der ausgedehnten Marschlande. Tief in das Land eingebettet, mehr einem großen Binnensee ähnlich, als einem eigentlichen Meerbusen, vor Stürmen geschützt, wie vor heftiger Brandung selbst bei höchster Fluth, ruht dieses Gewässer, und dabei befahrbar von den größten Schiffen, von Klippen frei wie von Treibeis, an jeder Stelle trefflichen Ankergrund darbietend.
Es ist derselbe Jahdebusen, auf welchen in der Gegenwart sich hoffnung- und freudevoll die Blicke zahlreicher deutscher Vaterlandsfreunde richten; auf dem die schwarz-weiße Flagge Preußens von stolzen Kriegsschiffen, die hier ihren Hafen fanden, wehen, und diesem Winkel zwischen Land und Meer dereinst vielleicht eine hohe geschichtliche Bedeutung verleihen wird. Sechs Jahrzehnte zurück! Eine dunkle Frühlingsnacht [4]und dichter Märznebel schleiern all’ die Wellen und Wogen, die Geesten und Sielen ein; kaum erreicht die dämmernde Helle der in den Häusern des Dorfes Jahde brennenden Lichter den Deichdamm, der das Jahder Watt umgrenzt. Ueber das erstorbene flüsternde Schilf und Riethgras des vorigen Jahres in den mit zahlreichen Wassergräben durchzogenen Sumpfstrecken um die Dörfchen Jurgengrave und Moorhusen tanzen lustige Irrwische. Dort liegt das Städtchen Varel mit seinem stattlichen Herrenschloß und seiner ummauerten Kirche; dunkel ragen durch den Nebel die Werke des Forts Christiansburg und zwischen diesem und dem Ort spreitzen sich wie ein riesiges Nachtgeisterpaar zwei Windmühlen von bedeutender Größe. Aber die gewaltigen Flügel rasten und ruhen wie eingeschlafen; Stille schwebt über den Wassern, Stille weht mit Geisterhauchen über das trostlos flache Gefilde. Nur ein ferner Ruderschlag plätschert noch, dem Ufer näher kommend, durch das tiefe Schweigen.
An diesem Lenzabende des Jahres 1794, an welchem das verjüngte Leben der Natur noch nicht zum freudigen Erwachen gelangt war, schritt ein noch junger, gutgekleideter Mann in Jägertracht und mit Jagdgeschoß wohlversehen, begleitet von einem Diener und einem braunen Hühnerhunde, durch den Vareler Busch dem Städtchen zu. Der Jüngling mochte das neunzehnte Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben; der Diener war nur einige Jahre älter und ein Sohn des Ortes, eine kräftige friesische Gestalt, mehr stämmig als schlank, von munterem Blick und einem Ausdruck von biederherziger Treue. Er trug die Jagdbeute, mehrere Schnepfenarten, Rallen und Bekkasinen. Sein ihm schweigsam voranschreitender Gebieter war eine zarte, schlanke Gestalt, die noch größeren Wuchs verhieß. Die Gedanken des Jünglings schweiften zur Ferne, aber nach einer unbestimmten. Ein Lenzgefühl zog durch die junge Brust voll Hoffnungsfreudigkeit und Thatendrang; wie sich’s geheimnißvoll regte im mütterlichen Schooße der Erde, wie das junge Grün mächtig und unaufhaltsam zum Lichte der verjüngten Sonne drängte – wie jene Vögel, von deren Jagd der junge Weidmann heimkehrte, schon wieder nordwärts strichen, dem allmächtigen Wandertriebe folgend, ebenso jene Kranichzüge, die er am Tage erblickt, und jene Güüsvögel und Himmelsziegen, deren gräuliche Stimmen den nächtlichen Wanderer schrecken – und die alle [5]nur dem einen unumstößlichen Naturgesetze gehorsamten – so zog es auch den Jüngling fort aus diesen einförmigen Gefilden, aus einem Kreise einförmiger Thätigkeiten; er sehnte sich zu lernen, zu leben.
Während der junge Mann mit seinem Begleiter durch die gutgepflegten Gehölze und dann durch reizende ausgedehnte Parkanlagen dem Schlosse zuschritt, hatte sich dem Ufer in der Schloßnähe, soweit als möglich, eine Jacht mit niederländischer Flagge genähert, und mehrere Männer waren im Gefolge von Dienerschaft, die sich mit Reisegepäck belud, aus dem Schiffe in einem Boote nach dem Vareler Siel gefahren und hatten das Land betreten.
Im Herrenschlosse war eine Reihe von Zimmern lichterhellt, so daß der Schimmer, der heraus auf den dichten Nebel fiel, fast meteorisch erschien. Es war dies eine ungewöhnliche Erscheinung, denn meist stand das Schloß unbewohnt, nur in treuer Hut eines alten, redlichen Kastellans. Das hohe Geschlecht, welchem Amt und Vogtei oder die edle Herrschaft Varel eigen war, besaß der Schlösser und Güter viele, und die Glieder dieser berühmten Familie wohnten zerstreut, zumal ihrem Verbande jenes einigende schönste Band mangelte, welches Liebe heißt.
Im Schlosse hastete Dienerschaft geschäftig umher. Der Erbherr war angekommen, mit Räthen und Schreibern, nicht in bester Stimmung, wie es schien, und nach einer durch Frühlingsstürme widerwärtigen Wasser-Reise. Sein fester Sporntritt erschütterte Fußboden und Fenster des Zimmers, in welchem er unruhevoll auf- und abging. Es war ein noch junger Herr, erst zweiunddreißig Jahre zählend, aber sein Gesicht zeigte männliche Reife, sein Bart und seine Tracht ließen in ihm den Krieger hohen Ranges erkennen.
An einem Tische, auf welchem zwei silberne Armleuchter brannten, saßen zwei Männer, bemüht, zahlreiche Papiere und Briefschaften, die einem Reisekoffer entnommen wurden, sorglich in einer gewissen Reihe und Ordnung auf den Tisch vor sich hin zu legen; es waren augenscheinlich Documente, denn von mehreren hingen an schwarzgelben oder rothweißen Seidenschnüren große Kapseln, und die Farben dieser Schnüre ließen erkennen, daß es Lehenbriefe römischer Kaiser einestheils, anderntheils der Könige Dänemarks seien, und daß jene Kapseln [6]die Siegel umschlossen, welche den Pergamenten, an denen sie befestigt waren, ihre volle Gültigkeit gaben.
Ein Diener riß die Thüre auf, und rief herein: Der Herr Haushofmeister Ihrer Excellenz der Frau Reichsgräfin Wittwe!
Warten! antwortete kurz und rasch der Graf, und murmelte halblaut durch die Zähne: Hat es sehr eilig, das ancien régime! – Dann sagte er laut: Nehmen Sie, Herr Hofrath Brünings, ein wenig Akt von dem, was der Großbotschafter der chère grand Mère auszurichten und vorzubringen hat, und Sie, Herr Secretär Wippermann, thun, als haben Sie eine Schreiberei vor, und schreiben ein wenig nach, denn in unsern Angelegenheiten darf kein Wort auf die Erde fallen und verloren gehen. Es ist die höchste Zeit für uns, wenn wir nicht als Kirchenmäuse aus unsern Herrschaften davon ziehen wollen, die Neigungen der Frau Großmama anzunehmen und zu sammeln, wenn auch nicht eben antike Münzen.
Nach diesen Worten, welche offenbar eine gereizte Stimmung des Gebieters kund gaben, klingelte der junge Reichsgraf und Erbherr und der Diener öffnete dem Haushofmeister der alten Gräfin die Zimmerthüre. Der Angemeldete trat mit tiefem ehrerbietigem Gruße ein; ein Mann von mittler Größe, würdiger Haltung, bereits ergrautem Haar, von Gesichtsfarbe blaß und angegriffen aussehend, und äußerst fein gekleidet. Der Graf erwiederte die ehrfurchtsvolle Begrüßung des Dieners nur mit einer leichten Fingerbewegung nach dem Haupt, die Herren am Tische, welche bei seinem Eintritt aufgestanden waren, grüßten ebenfalls ziemlich flüchtig, und warfen stechende, lauernde Blicke auf den Haushofmeister.
Nun – Herr Windt – guten Abend! Was bringen Sie? nahm der Gebieter das Wort.
Zuvörderst, Excellenz! unterthänigsten Willkommengruß im edlen Herrenhause Varel Namens gesammter Dienerschaft des Schlosses und gesammter Einwohnerschaft des Ortes, versetzte der Haushofmeister in gebückter Haltung; dann sich aufrichtend, sprach er weiter: Ihre Excellenz, die verwittwete Frau Reichsgräfin lassen Höchstihnen durch mich Hochdero Freude ausdrücken und Dank sagen, daß Excellenz auf Hochderen Ersuchen hierher gekommen sind, und hoffen, es werde nun [7]Alles, was bisher verwirrt und gespalten war, durch dieses persönliche Begegnen sich friedlich lösen und einen lassen.
Hofft die Großmutter das? fragte der Graf. Wie gern hofft’ ich es auch, müßte ich nur nicht das Gegentheil fürchten!
Wollen Excellenz die hohe Gnade haben, mir zu erlauben, Denenselben gleich jetzt das mir Befohlene unterthänigst vorzutragen, oder befehlen Sie eine andere Stunde?
Tragen Sie vor, werther Herr Windt, tragen Sie immerhin vor! versetzte der Graf im vornehm spöttischen Tone. Jedenfalls wird es besser sein, Sie tragen vor, ehe das Essen aufgetragen wird. Ich hoffe ja mit Zuversicht, Sie werden mir nicht gleich den Appetit ganz verderben. Auch dauert es hoffentlich nicht allzulange?
Wie im Scherz zog der Graf seine Uhr, blickte darauf und fuhr fort: Ich gönne Ihnen eine volle Viertelstunde, allein setzen wir uns, setzen wir uns alle, meine Herren; als gesetzte Männer werden wir ohne Zweifel den Vortrag des Herrn Haushofmeisters, General-Intendanten, Geheimen Rathes und Factotums unserer geliebtesten Frau Großmutter um so standhafter anhören. Nehmen auch Sie sich einen Sessel, Herr Windt, und eröffnen wir somit gleich die erste der uns leider sicherlich hier bevorstehenden vielen Sitzungen.
Der Haushofmeister achtete nicht auf den spöttischen stichelnden Ton des jungen Erbherrn, er schrieb ihn dessen Mangel an Schicklichkeitsgefühl im Benehmen gegen ältere Personen zu und dem Verdruß, durch ihn im Auftrag seiner Gebieterin hierher bemüht worden zu sein, gerade zu einer Zeit, wo einerseits der Graf, der jetzt in Holland wohnte, als persönlicher Freund des Erbstatthalters der Niederlande und dessen Sohnes, des Erbprinzen von Oranien, vollauf mit der Bewaffnung der Niederlande gegen Frankreich beschäftigt war, anderseits die politischen Ereignisse in Frankreich fast alle andern und selbst persönliche Angelegenheiten einzelner Familien zurückdrängten und in Schatten treten ließen.
Stets im ehrfurchtsvollen Tone, ruhig und gemessen sprach nun Windt, und richtete sein Wort lediglich an den Grafen, indem er gar nicht zu bemerken schien, daß er außer diesem noch zwei andere Zuhörer hatte: Excellenz! Hochgnädigster Herr Graf! Lange Jahre hindurch sind auf der Frau Gräfin Wittwe ererbtes väterliches Vermögen [8]habsüchtige Anschläge gemacht, und durch mancherlei Mittelspersonen ausgeführt worden, so daß es gewiß jedem billig und edel Denkenden einleuchtet, wie beträchtlich der vielfache Verlust sein muß, welchen Hochdieselbe dadurch erlitten. Einer fast von Haus und Hof, fast von ihrem ganzen Erbe verdrängten, ein halbes Jahrhundert mit ihrem Gemahl, mit ihren leiblichen Kindern und Kindeskindern in Processe verwickelten, nun bereits im neunundsiebenzigsten Lebensjahre stehenden Dame kann das Harte, welches diese traurige Nothwendigkeit für ihre mütterliche, gefühlvolle Seele hatte und stets haben muß, ebenso wenig vergessen gemacht werden, als der wirklich erlittene beträchtliche Schaden ihr je zu ersetzen ist.
Erlauben Sie mir, Herr Windt – unterbrach der Graf: nur die eine Anmerkung, daß in gewisser Beziehung auf die verehrte Frau Großmutter das Sprichwort paßt: Minder gut, wäre besser! Eben diese mütterliche gefühlvolle Seele ist es, die das reiche Familienerbtheil zersplitterte, drückende Verlegenheiten herbeiführte, zu Schritten hindrängte, vor denen man vor dem Auge der Welt erröthen muß. Die vielen Schenkungen, oft an unwürdige Spekulanten, die unnützen Aufkäufe, die verderbliche Sammelsucht, die Eitelkeit, als Gelehrte glänzen zu wollen, und die maaßlosen Täuschungen aller Art, denen die alte Frau anheimfiel – das ist’s, das ist die Ursache alles Unheils von je gewesen. Gott sei mein Zeuge, daß ich und die Familie den Frieden wollen, daß ich und mein Bruder Johann Carl gern bereit sind, selbst mit Opfern ihr, die mit einem Fuß im Grabe steht, wie uns und unsern Kindern endlich Ruhe zu gewinnen.
Der Graf sprach diese Worte mit ernster Männlichkeit, keine Spur mehr in seiner Rede von der vorhinigen leichtfertigen, höhnenden Redeweise, und sie verfehlten nicht ihre Wirkung auf das Gemüth des Vortragenden. Dieser fuhr weich und mit Wärme fort: Wonnereich wird es für meine angebetete Herrin sein, wenn ich ihr verkünde, daß sie den Gedanken jetzt billigerer Gesinnungen ihrer, ihr dadurch gewiß aufs Neue theuerer werdenden Enkel mit Zuversicht hegen darf; wenn sie hoffen darf, es werde endlich einmal dem ebenso verderblichen als widernatürlichen Rechtsstreit ein Ende gemacht werden! In dieser frohen Hoffnung ist auch sie auf jede Weise bereit, alle bisher Jahre lang gehäuften, unbeschreiblichen und zahllosen Kränkungen großmüthigst [9]zu vergessen, ihren Herren Enkeln ihre ganze großmütterliche Liebe zu schenken, allen den beträchtlichen Vortheilen, welche die Rechte ihr gewähren, besonders in Bezug auf die Anspruchsklage wegen der alleräußersten Beeinträchtigung zu entsagen, jedoch nur unter dem ausdrücklichen Beding und nicht ohne denselben, daß die hochgnädigen Herren Enkel auch ihrerseits billigere und den Verhältnissen angemessene Gesinnungen gegenwärtig dadurch bethätigen, daß sie ohne alle bisherige – in den vieljährigen Processen bis zum Ueberfluß angewandten Ränke und Rechtsverdrehungen – die Forderungen Ihrer Excellenz, anstatt der mit vollem Recht anzusetzenden, in das Unermeßliche sich belaufenden, ganz unableugbaren Schäden und Kosten – auf Treue und Glauben als richtig anerkennen, und wo nicht bei Heller und Pfennig vergüten, dennoch eine annehmliche, beträchtliche Abfindungssumme dafür bieten.
So! – warf der Graf gedehnt ein, und ein Strahl bitteren Hohnes blitzte wieder aus seinen Augen. Die Frau Großmama sind in der That gut berathen und wahrhaft eine »weise Frau«. Wenn wir also thun, was sie wünscht und befiehlt, dann werden wir die theueren Herren Enkel sein – wie aber dann, Herr Windt, wenn wir das nicht thun an unserer theuersten Großmama?
Wenn ich mir eine unterthänige Bemerkung und Einrede gestatten darf – nahm jetzt an seinem Tisch der Hofrath Brünings das Wort, ein Mann mit einem langen, kalten Diplomatengesicht, voll strengen Ernstes, ohne Farbe, von stocksteifer Haltung und dabei spindeldürr: so dürften wohl um Wege des Friedens anzubahnen und der künftigen hocherwünschten Einigung fruchtbares Land zu gewinnen, die Oelblätter der Friedenstaube, welche der Herr Haushofmeister dermalen vorzustellen die Ehre haben – nicht in ätzendes Gift getaucht sein, und ihre grünen Zungen nicht zu spitzigen Dolchen werden. Euer Excellenz werden Redensarten, wie Ränke und Rechtsverdrehungen mit gebührendem Protest zurückweisen.
Ich werde das, lieber Hofrath, gewiß, ich werde! versetzte der Graf; doch mag nun Ihre Rüge für das unbedachte Wort genügen. Wir kennen unsere hochgnädige, oft sehr ungnädige Frau Großmutter nur allzu gut; wir wissen, daß sie zwar sorgfältig ihre alten Münzen, aber nie die Worte gegen ihre nächsten Anverwandten auf die Goldwage [10]legt. Es ist nicht Kriegsbrauch, einen Abgeordneten in das feindliche Heerlager für das zu bestrafen, was sein Feldherr ihm auszurichten anbefahl. Fahren Sie fort, Herr Windt: Sie haben immer noch eine halbe Viertelstunde.
Der Haushofmeister wurde unruhig. Herr Graf, – nahm er wieder das Wort: wenn ich auch voraussehe, daß ich nicht im Stande sein werde, in dieser kargen Frist zu Herzen Dringendes und völlig Ueberzeugendes auszusprechen, so darf ich doch wohl, und wie ich ganz gehorsamst zu bitten mich erkühne, ohne fremde Unterbrechung vorerst Folgendes anführen. Das Wichtigste, was ich in vorbereitender Weise und als Grundlage der späteren Verhandlungen mitzutheilen habe, läßt sich in dreizehn Punkten zusammen fassen.
Dreizehn? wiederholte der Graf spöttisch betonend: das ist eine sehr mißbeliebte verhängnißvolle Zahl. Doch lassen Sie hören!
Es sind fast dieselben dreizehn Punkte wieder, fuhr Windt fort, welche dem im Jahre siebzehnhundert und vierundfünfzig zu Berlin geschlossenen Vergleich zur Grundlage dienten, welche dem Reichs-Hofrath siebzehnhundertsechzig vorlagen, und deren Erledigung, ebenso wie eine, der gepriesenen edlen Denkart derer Herren Grafen würdige Erklärung nur durch Diejenigen über alle Gebühr hingezögert wurde, welche darin einen persönlichen Vortheil gesucht und leider nur zu sehr gefunden haben.
Das Diplomatengesicht des Hofrath Brünings schien sich bei diesen Worten in etwas zu verlängern, und seine Nase noch um ein merkliches spitziger zu werden, als sie ohnehin bereits war. Herr Wippermann begann sich unter Kopfschütteln zu räuspern und stampfte unwillig seine Feder auf. Windt aber sprach ruhig weiter: Ohne weitschweifig zu werden, so nimmt meine hochgnädige Gebieterin wiederum in Anspruch, erstens das halb ihrer hochfürstlichen Frau Mutter, halb ihr selbst von der Wittwe de Moore zu Amsterdam vermachte Kapital; zweitens den vollständigen Ertrag der Güter von Varel und Kniphausen bis zum Augenblick ihrer Entsetzung von denselben durch ungerechten Richterspruch und durch Gewalt, nebst vollständiger Rechnungsablage; drittens die Kammerzahlungen von den Vareler Einkünften seit siebzehnhundert und siebenundvierzig, welche die Dänen gewaltsam in Besitz genommen haben, auf wessen Betrieb, wissen [11]Euere Excellenz am besten; viertens die receßmäßige Zahlungsleistung aller Forderungen, auf welche der Frau Reichsgräfin Excellenz Ansprüche der Schadloshaltung zustehen, und von denen sie als rechtmäßige Erbin, Eigenthümerin und Besitzerin durch das auf Schikane begründete Oldenburger Urtheil hinweggedrängt worden ist; ein Urtheil, das vor dem Richterstuhl der gesunden Vernunft, des entschiedensten Rechtes und der selbstredenden Billigkeit in Nichts zerfallen muß, weil bei demselben die Frau Gräfin gar nicht gehört worden sind, und der Hauptgrund aller Verbindlichkeit über den Haufen geworfen wurde.
Wieder wollte Hofrath Brünings mit Heftigkeit entgegnend auffahren, der Graf aber winkte ihm gebieterisch, und sagte: Stille! die Frau Großmutter haben das Wort.
Fünftens – fuhr Windt mit unerschütterlicher Ruhe fort: erneut Ihre Excellenz, die hochgräfliche Wittwe, die Ersatzforderung von zehntausend Thalern nebst aufgelaufenen Zinsen für ihre von dem hochseligen Herrn Grafen versetzten Juwelen. Gewiß werden Recht und Billigkeit liebender, edel denkender Enkel in diesen Ersatz zu willigen keinen Anstand nehmen, und nicht der erlauchten Frau Großmutter ferner ansinnen, aus ihrem Kammervermögen auch noch fernerhin die für diese Schuldsummen auflaufenden Zinsen zu bezahlen. Sechstens haben der Frau Gräfin Wittwe Excellenz für die Summe von sechstausend fünfhundert Thaler von ihrem Silbergeräth verpfändet, und das dafür aufgenommene Geld zum wahren Nutzen, nämlich zu dringend nöthigen Deichverbesserungen verwendet, sonst wäre vielleicht heute Varel nicht mehr vorhanden, sondern wäre in die Reihe jener versunkenen Ortschaften getreten, welche im Jahre fünfzehnhundert und neun durch die Antonifluth der Jahdebusen in seinen Schoos aufnahm. Siebentens begehrt meine hochgnädige Herrin die endliche Rückerstattung des ihr vorenthaltenen, mit den gräflichen Gütern in gar keinem Zusammenhang stehenden Kapitals von Friedrich Even; achtens die der Frau Gräfin im Berliner Vergleich zugesprochenen, aber stets vorenthaltenen Jahrgelder nebst Zinsen vom Jahre siebzehnhundert vierundfünfzig an. Die durch diese Vorenthaltung erlittene Einbuße ist eine schreckliche arithmetische Wahrheit. Neuntens Erstattung aller bisher aufgewendeten Proceßkosten, sowie vieler, bei dem gewaltsamen [12]Ueberfall geraubten Habseligkeiten, wobei unersetzbare Verluste ewig zu beklagen sind. Zehntens haben der Frau Gräfin Excellenz ihrem hochseligen Herrn Gemahl, sowie Kindern und Enkeln mütterliche Schenkungen von achtzig bis neunzigtausend Thalern gemacht, sollten Hochdiese nicht ein Recht beanspruchen dürfen, von so überreichlich begabten Enkeln die Berücksichtigung billiger Wünsche zu erwarten? Eilftens haben die Frau Gräfin Wittwe Excellenz nie und nirgends auf Ersatz der höchst bedeutenden Verbesserungskosten verzichtet, welche auf die Herrschaften, Schlösser und Kammergüter verwendet worden sind. Dennoch will Hochdieselbe jetzt großmüthig darauf verzichten, und nur die unbedeutende Summe für die Anlegung der ungemein nutzbaren Meierei zu Kniphausen in Anspruch nehmen. Nur berühren will ich unterthänig zwölftens den Werth der sechs schweren silbernen Armleuchter, die der hochselige Herr Graf vom Silber-Inventar der Frau Gräfin Wittwe genommen und zu selbsteigenem Gebrauch von Doorwerth nach dem Haag haben bringen lassen. Endlich dreizehntens: wird die billige Denkungsart geliebtester Enkel – gegen alle die beträchtlichen übergroßen Vortheile, welche diese dermalige Entsagung auf die bisherigen, rechtlichen, so eben erwähnten Ansprüche gewährt und in der Folge noch mehr gewähren wird – in der Verpflichtung nur einen geringen Ersatz erblicken, außer der Befriedigung der erwähnten Forderungen auf alle und jede Einsprüche auf letztwillige Verfügungen der Frau Gräfin Wittwe Excellenz zu verzichten, auch alle Vermächtnisse und Schenkungen – wie sie immer heißen mögen, und wie die Hochgenannte über das, was ihr von dem Ihrigen verbleibt, verfügen möge – unverbrüchlich zu halten und feierlichst und verbindlichst allen und jeden Ansprüchen und Einsprüchen entsagen, ebenso der überlebenden Dienerschaft nebst standesmäßigem Trauergeld ihre Jahresgehalte fortzahlen. – Herr Graf, ich bin zu Ende.
Tandem tandemque! rief Hofrath Brünings und Secretär Wippermann legte, tief Odem schöpfend, seine Feder aus der Hand.
Der Graf lächelte bitter und sprach: Ich danke Ihnen, lieber Windt, daß Sie nicht gleich ein Scalpiermesser mitgebracht haben, mir von Kopf bis zu den Füßen auch die Haut vollends abzustreifen, wie weiland Apoll dem Marsyas! Sie erwarten gewiß jetzt keine Antwort von mir. Darf ich bitten, mit diesen beiden Herren mein Gast zu [13]sein? Ich habe auch noch den Kammerrath Melchers herauf bitten lassen.
Soeben wollte Windt Höfliches erwiedern, als der Jäger des Erbherrn, Jacob, die Thüre öffnete und herein rief: Der junge Herr bittet, Euer Excellenz aufwarten zu dürfen.
Ach – das Großmuttersöhnchen! Mag kommen! – erwiederte der Graf, mehr mit einem Tone der Abneigung als der Freude, und jener junge Jägersmann, der vorhin durch das Abenddunkel und den Vareler Busch nach dem Schlosse im Geleit seines Dieners und Hundes gewandert war, trat mit rascher, edler Haltung ein, ging jugendlich unbefangen auf den Erbherrn zu, und sprach ihn offen und zutraulich an: Guten Abend und willkommen zugleich, Vetter Wilhelm! Die Großmama freut sich, gleich mir, wenn du wohl bist.
Guten Abend, edler Junkherr Ludwig Carl auf Varel! erwiederte ohne alle Herzlichkeit der Erbherr, und fuhr fort, da der Jüngling nur ihn im Auge zu haben schien, und die fast widerstrebend zurückgezogene Hand des Grafen zum warmen Druck ergriff: Die Herren! die Herren! Wir sind ja nicht allein, mein ungestümer Vetter!
Diese Zurechtweisung verfehlte ihre Wirkung nicht. Ludwig Carl neigte sich grüßend gegen die Anwesenden, welche sich jetzt anschickten, das Zimmer zu verlassen.
Auf Wiedersehen beim Abendessen, meine Herren! rief der Graf, worauf Brünings und Wippermann sich in das anstoßende Zimmer zurückzogen, Windt aber durch die Hauptthüre abtrat, nicht ohne einen Blick voll Theilnahme und Besorgniß auf den Jüngling fallen zu lassen.
Die beiden Söhne des hohen Hauses standen einander allein gegenüber.
Was fehlt dir, Vetter? du bist nicht wie sonst? fragte Ludwig mit der biederherzigen Offenheit eines jungen Menschen, der Welt und Leben noch wenig kennt, seinen um dreizehn Jahre älteren nahen Verwandten, und erhielt zur Antwort: Möglich, daß du Recht hast; ja, ich bin mißmuthig und unzufrieden, und glaube mir, ich habe dessen übervolle Ursache. Von meiner Laufbahn und meiner Thätigkeit werde ich hierher gezerrt, muß widrige Kämpfe mit Wind und Wellen bestehen und hier – wiederum noch widrigere Kämpfe mit [14]Wellen und Windt. Die Großmutter wälzt ganze Springfluthen von Zorn und Galle und widersinniger Forderungen mir an Bord, und ich sehe abermals des Haders, Zwiespaltes und der äußersten Rechtsverletzungen kein Ende. Wär’ ich doch beim Erbstatthalter geblieben, denn hier auf meinem Eigenthum spiele ich eine wahrhaft klägliche Rolle!
Ich glaube nicht, daß die Großmama dir Unrechtes ansinnt, versetzte der junge Herr.
So? du glaubst es nicht! So lüge ich wohl! fuhr der Erbherr wild und zornig heraus, indem seine Aufregung sich von Minute zu Minute steigerte, je mehr die Menge gehäufter Forderungen, welche Windt vorhin vorgetragen, ihm durch die Gedanken wirrte und ihn völlig rathlos zu machen drohte.
Wenn ich in Alles willigen wollte, ja, wenn ich könnte, was mir in einem Odem angesonnen wird, so könnte ich mit meiner Gemahlin und meinen Kindern, so könnte auch der Graf von Athlone, mein Bruder, mit den Seinen zum Bettelstabe greifen und außer Landes wandern, und wer bliebe dann die Herrschaft der Herrschaften? Die Frau Großmutter und ihr Pathchen, ihr Schoos- und Hätschelkindchen, du! Und das scheint der überlangen Rede kurzer Sinn, daß wir gehen sollen!
Dem Jüngling erschrak das Herz in der Brust bei dieser harten und heftigen Rede. Wilhelm, ich bitte dich, rief er: wie kannst du solches denken und sagen?
Denken? warum nicht? zürnte dagegen der Erbherr. Sagen? warum nicht? Werdet ihr mir Denken und Sagen verbieten oder gar verwehren? Ich lasse mir nichts verwehren! Ich und mein Bruder, wir sind im Rechte – du? Wer bist denn du? Was die Frau Großmutter aus dir macht, das bist du! Ihre Puppe, ihr Spielzeug warst du als Kind, jetzt bist du ihr Münz-Katalogschreiber, ihr Münzwardein, hahaha! du bist noch mehr, du leimst und kleisterst ihr die Pappkästchen zusammen, in der sie den alten Kram einlegt, der oft so schmutzig ist, daß ich ihn nicht mit Fingern anfassen möchte; kurz, du bist des Herrn Windt würdiger Schüler, der Großmama würdiger Zögling und Günstling! Für dich und nur für dich sinnt sie täglich und stündlich darauf, meinen Bruder und mich zu berauben!
[15]Wilhelm! rief Ludwig mit flammendem Blick. Daß du mich so beschimpfst und beleidigst, mich, der ich mit liebevollem und arglosem Herzen zu dir komme, dich in deiner Heimath zu begrüßen, das ist schlecht von dir, das ist ehrlos! So benimmt sich kein deutscher Edelmann; höchstens ein flämischer Bauer!
Was? Mir das! Mir – dem regierenden Erbherrn, dem Officier?! schrie Graf Wilhelm außer sich. Du ehrloser Bube! du Schandfleck unsers Hauses, du Bastard!
Daß dich Gottes Donner treffe für dieses Wort! schrie, jetzt auch zur heftigsten Wuth gestachelt, der junge Herr und seine schwarzen Augen flammten wie glühende Kohlen. Verflucht soll die Stunde sein, in der ich dich wieder meinen Verwandten nenne! Verflucht der morgende Tag, wenn ich in diesem Hause seinen Abend erlebe! – Du sollst nicht gehen, ich gehe schon – aber dir und all’ deinen Häusern bleibe zum ewigen Fluche ewige Verwirrung und ewiger Hader! So lange du lebst, soll dieses Schimpfwort auf deiner Seele brennen! Bin ich ein Bastard, wie du sagst, so bin ich einer von hoher Abkunft, aus hohem Hause, du aber sollst noch herabsteigen in den Koth zu den Leibeigenen, und sollst selbst Bastarde zeugen in wüster, wilder Ehe, und sollst verachtet von der Verwandtschaft deines stolzen Hauses steigende Verarmung gewahren!
Der Teufel redet aus dir, Bube, und seine – meine Großmutter! – das war alles, was Graf Wilhelm noch sprach, den Boden stampfend, daß Alles klirrte und schütterte; in blinder Wuth griff er nach einer geladenen Pistole, die mit anderen abgelegten Reise-Waffen auf einem Seitentisch lag; der Hahn knackte und auf dem Fittig der Secunde schwebte der Verwandtenmord. Aber in demselben Augenblicke, und wie der Graf die Waffe zum Schuß erhob, ging ein rollendes Geräusch durch das Zimmer, wich ein lebensgroßes Ahnenbild zur Seite, aus der verborgenen Thüröffnung strahlte heller Kerzenschein, und mitten in diesem Glanze stand in längst veralteter Tracht, im aschefarbenen schleppenden Seidenkleide eine hagere Greisin mit hellblitzenden blauen Augensternen, aber verwitterten Zügen; sie hob den rechten Arm und den Finger drohend gegen den Grafen, die linke Hand nach Ludwig Carl ausstreckend, und den feingeschnittenen Lippen des zahnlosen Mundes entrollte mit einer tiefen, fast männlichen Stimme das [16]Wort: Halt! Gegen den jungen Herrn gewendet, rief die unverhoffte Erscheinung, die der aus einer andern Welt völlig glich: Zu mir!
Der Erbherr senkte den schon zum tödtlichen Schuß gehobenen Arm, seiner Hand entsank die Waffe; von Grauen überrieselt, blickte er auf die Erscheinung hin, hinter welcher zwei Diener in reich betreßter Livree jeder in der Hand einen kerzenvollen Armleuchter hielten.
Mit festen Schritten trat die Greisin aus der verborgenen Thüröffnung in das Gemach ihres Enkels, das Bild rollte wieder langsam an seine Stelle, trennte die Herrin von ihren Dienern und schloß deren Zeugenschaft bei der bevorstehenden Unterredung aus. Das Bild stellte den Grafen Anton I, einen von des Hauses Ahnherren dar, in der kleidsamen, stattlichen Tracht der Kämpfer des dreißigjährigen Krieges.
Die Hand der alten Reichsgräfin erfaßte schützend die Rechte ihres Lieblings, und den durchbohrenden Blick ihrer blitzenden Augen fest auf den Erbherrn richtend, sprach sie zu diesem mit ihrer tiefen Stimme und mit Eiseskälte: Wer bist du, Mensch, daß du es wagst, mit Bastarden um dich zu werfen und mit Pistolen meinem unschuldigen Enkel zu drohen? Kennst du diesen, unsers Hauses edlen Ahnherrn, deinen Urgroßvater? Auch er war ein Bastard, wenn dir dieses Wort so wohl gefällt, und sein Blut rinnt in deinen Adern, wie in denen meines Ludwig. Wer bin ich, und wer bist du? Ich bin die Erbtochter eines Hauses, das seinen Ursprung weit hinaus in der Zeiten Frühe leitet, das den Ländern Dänemark, Schweden und Norwegen seine Könige, Schleswig, Holstein und Oldenburg seine Herzoge gab und dem Czaarenreiche Rußland seine Kaiser! Meine Großmutter brachte unserm Hause eine Herzogskrone mit, meine Mutter eine Landgrafenkrone. Ich bin ein [17]Abkömmling von Helden, welche die Geschichte mit dem Sternenmantel der Unsterblichkeit bekleidet hat; ich stamme väterlicher Seits von den Herzogen von Aquitanien; Philipp von Poitou ist mein Ahnherr! Meine Vorfahren erwarben Ansprüche auf den Thron von Neapel und meine nächsten Verwandten sind Prinzen von Tarent. Von urgroßmütterlicher Seite sind die heilige Elisabeth und alle die hohen Ahnen der Sachsenfürsten aus thüringischem Stamme und der Kurfürsten und Landgrafen zu Hessen auch die meinen. Und ich, ich war die verblendete Thörin, die all’ diesen Glanz und Hoheit hingab an einen Mann, der meiner nicht werth war, an einen simpeln Freiherrn, einen – Jäger aus Kurpfalz, der durch mich erst vom Kaiser Carl dem Sechsten zum deutschen Reichsgrafen erhoben wurde, sonst würde ich ihm meine Hand sicher nicht gereicht haben. Dafür habe ich des Teufels Dank in vollem Maaße geerntet, und ernte ihn bis zu dieser Stunde; Thörin ich, die ich glauben konnte, indem ich dich zu gütlichem Vergleiche hierher berief, es schlage in deiner Brust ein versöhnliches und dankbares Herz, das nur irregeleitet sei durch deine falschen, rabulistischen Rathgeber! Nein, du hast ein böses, verstocktes Herz, Wilhelm Gustav Friedrich! Erst reizest du den harmlosen Jüngling, der deiner Habgier ein Dorn im Auge ist, weil du glaubst, ich werde ihm etwas zuwenden – durch giftige Stachelreden, und dann willst du ihn, den Wehrlosen, ermorden! Wohlan, morde ihn, morde auch mich, deine Großmutter, und schaue dann vom Vareler Rabenstein herunter, wie dein Geschlecht sich in das reiche Erbe der Grafen von Aldenburg und der Herzoge von la Tremouille theilt!
Diese Rede der alten Herrin war lang genug, daß während ihrer Dauer die stürmischen Gemüthswellen im empörten Blute Ludwig’s sich legen konnten, und sein Schmerzgefühl über die ihm widerfahrene Beleidigung wich dem Gefühl neuen Dankes, das in der Großmutter jetzt auch die Erretterin seines Lebens verehren mußte. Auf Wilhelm’s Herz aber fielen die Worte der alten Frau mit ihrem zermalmenden Gewicht, wie die dröhnenden Schläge eines Hammers auf das auf einen Ambos gelegte glühende, funkensprühende Eisen. Unaussprechliche Wuth kochte und glühte in ihm; seinen Augen entsprühten die Funken, sein Herz hallte das Klopfen der Hammerschläge nach, und [18]dennoch fand er kein Wort zornvoller Entgegnung, denn die also heftig und vernichtend auf ihn einredete, war eine Frau, eine hochbetagte Greisin, und war die Mutter seines Erzeugers. Als sie schwieg, rang trotz des stürmischen Kampfes in seinem empfindlichen und höchst reizbaren Gemüthe der Erbherr dennoch nach Fassung, und sprach: Also das sind die Friedenspräliminarien, Frau Großmama? Das ist Ihre versöhnliche Gesinnung, die mit Forderungen an mich herantritt, die mir Schwindel erregen? Und nun dieser Sturm – wo soll ich Anker werfen in diesem Sturme?
Ankere wo du willst, mein Kreuz ist mein Anker! versetzte die alte Reichsgräfin, anspielend aus das silberne Ankerkreuz im blauen Wappenschild der hohen Familie. Du sollst mich kennen lernen, wenn du mich noch nicht kennst; du sollst erfahren, daß ich nicht beabsichtige, diesen hier, meinen Ludwig Carl, mit euerm Erbtheil zu bereichern. Was habt ihr denn sonderlich, wenn ich, ich und noch einmal ich euch enterbe und diesen, meinen Enkel, an Sohnesstatt adoptire?
Gnädige Großmutter! das will ich nicht, das würde ich nicht annehmen! rief der junge Herr. Lassen Sie ihnen alles – ich schwur zu gehen, und ich gehe, so wahr ein Gott lebt! Ich will mich nicht hier behandeln lassen, wie einen Troßbuben, ich will auch nicht zur Last fallen! Nicht ahnen konnte ich, so verhaßt zu sein, so sehr verachtet, daß man glaubt, man dürfe mich wie einen Hund mit Füßen treten. Sie sollen, ja Sie müssen mir das Räthsel meines Daseins lösen, mir Ihren Segen geben und mich dann ziehen lassen, wohin Gott mich führt!
Du wirst jetzt schweigen, Ludwig Carl, und mir gehorchen! wandte sich die Reichsgräfin zu dem Jüngling; und du, Wilhelm, sollst erfahren, was ich beschließe. Bis dahin vergiß nicht, was du mir schuldest! Vergiß nicht, wer ich bin, und vor allem: vergiß nicht noch einmal deine eigene Würde!
Die alte Reichsgräfin schlug in die Hände, Anton’s I. Bild rollte Raum gebend zur Seite, und den geliebten Enkel – dessen Hand sie während dieser ganzen Zeit nur vorhin einen Augenblick losgelassen, und gleich nach ihrem Zeichen wieder erfaßt hatte – nachziehend, trat sie durch die Thüröffnung in einen genügend breiten [19]Gang, in welchem ihr mit ihr und in ihrem Dienst ergrauter uralter Kammerdiener Weisbrod und Philipp, der Diener des jungen Herrn, noch mit den brennenden Kerzen standen. Alsbald, wie die Thüre sich hinter den Eintretenden wieder geschlossen hatte, schritten beide Diener ihnen voran und geleiteten sie durch den längs mehrerer Zimmer vorüberführenden Gang nach den Gemächern der Gräfin.
Dort sprach die letztere zu ihrem Enkel: Gehe sorgenlos zur Ruhe, mein lieber Ludwig Carl, doch gieb mir in meine Hand dein Wort, nichts zu unternehmen, weder gegen ihn, noch gegen dich, bevor du mich morgen um die neunte Stunde hier noch einmal gesprochen. Weisbrod soll dich zu mir rufen. Gute Nacht, mein armes, schwergekränktes, liebes Kind!
Damit bot sie dem Jüngling die Hand, er legte stumm die seinige in die ihre, und zitternd von der Erregung seines Innern küßte Ludwig die ihm huldreich dargebotene zarte Hand der Matrone, eine Hand, die nur Haut und Knochen, aber fein und fast durchscheinend war, und ließ sich dann durch seinen Diener nach seinen Gemächern vorleuchten. –
Der Erbherr hatte sich in einen Sessel geworfen, die Hände vor das Gesicht geschlagen und lange in einer verzweifelten und entsetzlichen Stimmung verharrt. Die so überraschende Erscheinung der Greisin hatte einen unbeschreiblichen Eindruck auf ihn gemacht; er verhehlte sich nicht, daß dieselbe ihn vor einem Mord bewahrt, der mit tiefer und schwerer Reue ihn belastet haben würde, denn sein Charakter war von Natur weich und empfindsam, nicht im entferntesten hart oder entartet, wohl aber heftig und rasch auflodernd.
In dem jener Wand, durch welche die Gräfin gekommen und gegangen war, entgegengesetzten Zimmer, welches vor kurzem der Hofrath Brünings und der Secretär Wippermann betreten hatten, hofften beide, nachdem sie den laut genug geführten Streit und die Stimme der Gräfin mit innerm Beben vernommen hatten, lange und vergebens darauf, wieder zu ihrem Gebieter beschieden zu werden, oder ihn bei sich eintreten zu sehen. Der Erbherr vermochte es nicht über sich, nach dem, was ihm gesagt worden war, vor die Augen seiner Beamten zu treten, und der Hofrath Brünings zog aus der Tasche seiner brocatnen Weste eine goldene Dose, tippte darauf, bot [20]sie dem Gefährten, nahm dann selbst eine Prise, und flüsterte leise zu dem Secretär: Geben Sie acht, lieber Herr Wippermann! Der Name Varel wird sich nicht an die Namen von Münster, Ryswik und Hubertusburg anreihen.
Nein, gewiß nicht, Herr Hofrath! Heute und übermorgen kommt hier noch kein Friedensschluß zu Stande.
Gleichzeitig benießten beide Herren ihre übereinstimmende Prophezeihung.
Der Erbherr ließ die Herren durch seinen Jäger Jacob ersuchen, ihn zu entschuldigen und mit Kammerrath Melchers und Herrn Haushofmeister Windt heute ohne ihn zu speisen. –
Philipp, sprach, aus seinem Wohnzimmer angelangt, der junge Herr zu seinem Diener im platten Deutsch seines Heimathlandes: morgen reite ich in die Fremde, willst du mit?
Ob ich will, mein gnädiger junger Herr? fragte der Diener. Muß ich nicht, wenn der gnädige Herr mir befehlen?
Du mußt nicht, und ich befehle dir nicht – entgegnete Ludwig. Mein Weg geht weit, vielleicht sehr weit in die Welt hinaus, noch weiß ich selbst nicht, wohin er führt. Du hast hier Aeltern, Angehörige, die siehst du nicht so bald, vielleicht niemals wieder – ich kehre nie wieder in dieses Land zurück. Ueberlege dir es wohl.
Junger gnädiger Herr! versetzte Philipp: Da Sie eingesegnet wurden, kam ich auf Befehl der Frau Gräfin Wittwe Excellenz als Ihr Bedienter zu Ihnen, Sie waren damals dreizehn Jahre alt, ich ein Bürschchen von fünfzehn; jetzt bin ich schon ins sechste Jahr Ihr Diener und Sie haben mich immer gut behandelt, ja, Sie haben noch mehr gethan, Sie haben mich aus dem Wasser gezogen, in das ein Unglück mich geworfen, und mir so mein Bischen Leben gerettet; das gehört nun Ihnen ganz und gar. Ich will immer Ihr Diener bleiben. Was hätt’ ich hier? Arbeit oder Soldatenbrod – nehmen Sie mich mit, ich will Ihnen treu dienen, und Ihnen folgen, und wenn’s bis an der Welt Ende ging’.
Gut, Philipp, so bleibe es dabei, und so wollen wir einpacken; laß die Isabella striegeln und den Braunen, und beide gut füttern, morgen reiten wir von dannen. Dann fare well, Varel!
[21]Mit fester Haltung, bittere und zugleich tiefschmerzliche Empfindungen gewaltsam in sich zurückpressend und in jugendlichen Trotz sich verkehrend, begann Ludwig seine Habseligkeiten, so viel er deren mit sich nehmen wollte, zusammenzulegen, damit Philipp sie in den Mantelsack packe; er lud mit eigener Hand zwei Paar Reiterpistolen und wählte unter zwei krummen Säbeln für Philipp den dauerbarsten und schärfsten; für sich eine Damascenerklinge, auf deren Griff ein Silberplättchen das Wappen der Herzoge von Bouillon zeigte.
Spät suchte Ludwig die Ruhe, noch später fand er sie durch einen kurzen Schlummer; allzuaufgeregt war das Gemüth des Jünglings, der bisher im süßesten Frieden, nur heitern und anregenden Studien obliegend, oder ländlichen Freuden gelebt hatte, und an den nie ein so schneidender Mißton herangetreten war, wie an diesem verhängnißvollen Abende, der vielleicht das Loos über seine ganze Zukunft warf.
Hochbejahrte Personen haben wenig Schlaf; auch der rege Geist der alten Reichsgräfin bedurfte, trotz der morschen Körperhülle, nur wenige Ruhe, eben weil er den Körper beherrschte. Daher mußte die Leibdienerschaft der gräflichen Matrone früh auf sein, das Zimmer angemessen durchwärmen, den belebenden Mokkatrank bereit halten, und dann verbrachte sie gern die ersten Morgenstunden in ungestörter Einsamkeit, und widmete dieselben ihren numismatischen Studien, ihrem weitverzweigten Briefwechsel, dem Ordnen ihrer vielfachen Papiere, die deßhalb dennoch nie die gewünschte völlige Ordnung fanden; dem Nachsinnen und Ueberlegen über die Verwendung ihrer Einkünfte, wie über die traurigen Rechtsstreitigkeiten. Letztere dauerten indessen schon zu viele Jahre, sie war derselben schon zu sehr gewohnt, als daß sie dadurch sonderliche Gemüthsbewegungen auch jetzt noch hätte erfahren können. In ihrer Seele war Alles klar, fest, abgeschlossen, ihre Willenskraft war eisern, wie ihr Sinn, und diese hohe wichtige Errungenschaft fast völliger Leidenschaftlosigkeit war es eben, die der alten Frau diese über das gewöhnliche menschliche Ziel hinausreichende Lebensdauer erhielt und gleichsam sicherte.
Der Nebel der Nacht war gesunken, der Morgen lachte aus blauem Himmel frühlingshell durch die hohen Fenster, die nach dem Parke hinausgingen, an dessen Rändern schon blaue Anemonengruppen und Schneeglöckchen sich blühend zeigten. Die thaubeperlten noch [22]nackten Zweige der Gebüsche erschienen saftgeschwellt und zum Theil rosenroth angehaucht, Knospen öffneten sich schon, und melodische Hainsängerstimmen, die Stimmen von Amseln und Drosseln, durchflöteten mit schallendem Jubel die weitgedehnte Holzung, welche den Namen des Vareler Busches führt.
Die Kammerfrau, welche die Schwester des Haushofmeisters war, trug der Gräfin, die auf bequemem Armstuhl an ihrem großen Schreibtisch saß, an welchen wieder andere Tische gerückt waren, den Kaffee auf und entfernte sich in geräuschloser Stille. Diese Stille liebte die Gräfin so sehr, daß sie in ihrem Zimmer weder Hunde noch Vögel duldete. Nur eine Cypernkatze, ein Prachtexemplar, genoß der großen Gunst, um die Dame weilen zu dürfen, sie bisweilen mit ihrem Geschnurr zu unterhalten und ihre Aufmerksamkeit durch zärtliches Anschmiegen an die hohe Gebieterin von den ernsten Beschäftigungen ab und auf ihre geschmeidige Persönlichkeit zu lenken.
Das Zimmer war hell, hoch und weit, voll Bücher, voll Karten, Globen, Münzschränken, hohe Stöße ausgelochter Tafeln, mit lichtbraunem Leder überzogen, mit untergelegter Pappe zum Einlegen von Münzen waren da und dort zu erblicken. Dokumente und Briefschaften lagen in Fülle umher, das ganze Zimmer glich ungleich mehr dem Arbeitsalon eines reichen Gelehrten, angefüllt mit Geräthen, selbst mit Vasen und Kunstarbeiten, sowie mit Seltenheiten ferner Länder, als dem Zimmer einer Dame, denn da stand auch nicht ein einziges Körbchen, außer dem Papierkorb, da lag kein Band, kein Strickzeug, keine Nadel, keine begonnene Stickerei, kein gepreßtes und gemustertes Luxusbriefpapier, wohl aber zeigten die Bücher stolzen Marokineinband mit Goldschnitt, zeigten in Gold gepreßt auf dem Einband das reichsgräfliche Wappen neben einem fürstlichen, und das Briefpapier, das in starkem Vorrath bereit lag, hatte Goldschnitt.
Indem die alte Reichsgräfin zwischen dem Einnehmen ihres Kaffees und der Unterhaltung mit der schönen Katze, die bei diesem Anlaß stets ein schmarotzender Gast war, sich mit der An- und Durchsicht zahlreicher vor ihr hingebreiteter Papiere und Briefe beschäftigte, sprach sie nach Art bejahrter Personen laut mit sich selbst, indem sie bald dieses bald jenes Papier oder deren mehrere aufnahm, flüchtig ansah, auch nach Befinden länger bei einigen verweilte und das so in Augenschein [23]Genommene gleich wieder in guter Ordnung zur Seite legte, um alsbald nach einem andern zu greifen.
Fiscalische Sache zu Oldenburg – Akta wegen des jetzigen Processes – ditto – ditto – ditto – und noch fünfmal ditto – Briefe vom Prinzen von Talmont – dergleichen vom Marquis de Launoy – armer Bernard-René-Jourdan, armer Marquis! Freundlicher, milder Schatten, den die rebellischen Teufel ermordeten, weil sie dir als Gouverneur der Bastille nicht die Bedingungen halten wollten, unter denen du das feste Haus übergeben – Entwurf meines Testamentes – Wienerische Appellations-Sache – Güldenlöwesche Briefe – Briefe von König Friedrich dem Großen – von meinem Voltaire – von Georgine Cavendish, Herzogin von Devonshire – von meinem Heyne und von meinem Georg Friedrich Benecke zu Göttingen – vom Herzog von Holstein-Plön – das Tagebuch der Großmutter.
Dieses Buch betrachtete die Gräfin mit einer gewissen stillen Wehmuth, die sich aber in keiner Weise äußerlich kund gab. Sie Großmutter einst – sprach sie – ich Großmutter jetzt, und beide fast in gleichen Schuhen.
Das Buch war ein in braunes Leder mit einfachen Goldstreifen gebundener und mit abgegriffenem Goldschnitt verzierter Quartband. – Als die Reichsgräfin flüchtig hineingeblickt, legte sie es zur Seite, und griff nach einem in Umschlag mit Bindfaden umschlungenen Papierheft. Mein Tagebuch – sprach sie – so viel mir davon erhalten blieb – nur achtzehn Monate aus meinem langen – vielbewegten Leben – mögen auch diese Blätter hinschwinden – das Buch meiner Tage ist ja doch nun wohl geschlossen.
Auch diese Bogen legte die Reichsgräfin zu dem alten Band, und fuhr fort mit der Musterung ihrer Papiere: – Ehescheidungsproceß – oh hinweg! – Briefe von der Gräfin von Jaxthausen – von der Prinzessin von Waldeck – von der Fürstin Juliane zu Schaumburg-Lippe – von königlichen Häuptern – von meinem lieben Abbe Eckhel zu Wien. Oh Eckhel! Eckhel!
Das Gefühl, welches die alte Reichsgräfin zu diesem Ausruf bewog, entsprang einem unüberwindlichen Schmerz, und dennoch konnte sie diese Blätter nicht so schnell, wie die andern, flüchtig zur Seite [24]legen; ihre Blicke vertieften sich vielmehr in die festen Schriftzüge des größten Alterthumsforschers und Münzkenners seiner Zeit, und dieselben übten auf die Gräfin gleichsam magnetische Anziehungskraft, sie mußte wieder und wieder lesen, was ihr Pein verursachte, wie der Wundarzt wohl bisweilen eine Wunde wiederholt brennen muß, auf daß sie gründlich heile.
Wo ist er, wo ist er, der grausame Brief des strengen Freundes, dem Wahrheit über Alles heilig ist? Ach, jeder seiner Briefe enthält mehr Tadel als Lob – für was muß er mich halten? Für eine alte Närrin jedenfalls. Und wenn es Narrheit war, was ich trieb und noch treibe, was kostet sie mich nicht? Dann unermeßlich viel, ja mehr, als ich verantworten kann.
Welche Worte auf meine Fragen: »Was ich von den Eroberungen für das Kabinet Ihrer Excellenz halte? Daß unter den Stücken, die nach Hamburg gingen und sich dermalen in so schätzbaren Händen befinden, sehr viele ansehnliche sind, doch müßte ich sie sehen, um über deren Aechtheit zu entscheiden!« – Eine Pille, doch recht schön vergoldet.
»Wie ich mit der Anordnung des Ennerischen Katalogs zufrieden sei? – Sehr schlecht – altväterische Art beibehalten, – strotzt von unendlichen Fehlern, und zwar von einer Art, die man nicht leicht einem Anfänger vergeben würde. Man muß erstaunen, aus Frankreich, das mit seiner Gelehrsamkeit so groß thut und uns Deutsche so gern heruntersetzt, ein so ärgerliches Zeug erscheinen zu sehen. Ich rede unparteiisch, weil ich den Verfasser nicht kenne.«
So Eckhel – und ich habe diesen Katalog mit Entzücken begrüßt und ihn nach allen Seiten hin empfohlen. Van Damme, den Numismatiker zu Amsterdam, mit dem ich Jahre lang Briefe gewechselt, der große Summen für Münzen mir nach und nach abgelockt, enthüllt Eckhel hier als einen schamlosen Betrüger, und dessen Prachtkatalog mit allen seinen Bildern, den jener so sündentheuer verkauft, sei nichts als Aufwärmung der Platten eines elenden holländischen Werkes von Haverkamp, im Grafenhage erschienen. Und ich kenne dieses alte Werk nicht, und besitze eine Bibliothek von zwanzigtausend Bänden! – Und endlich, mein Katalog, das Schmerzenskind meiner [25]Liebe zur edlen klassischen Münzkunde – wie lautet über diesen der Richterspruch des unbestechlichen Wiener Rhadamanth?
»Einen Blick über Ihro Excellenz ganzen Katalog. Ich sehe darin eine Menge der kostbarsten und seltensten Stücke, aber eben dieser Umstand macht, daß sich die ganze Sammlung vor den Augen ächter Kenner in keinem vortheilhaften Lichte zeigt. Jeder Kenner muß in der That über das unnennbare Glück erstaunen, welches so viele und so schätzbare Münzen einem einzigen Privatkabinette sollte zugespielt haben. Zur Probe nur ein Beispiel: auch in den größten Sammlungen, die von großen Fürsten durch viele Jahre sind zusammengebracht worden, findet man oft nicht ein Stück von den bosporischen Königen Ininthimeus, Teiranes, Thotorses – es ist keines im kaiserlichen Kabinet, keines im großherzoglichen, keines im gothaischen und mehren andern; ich habe in meinem Leben keines in Natur gesehen; Herr Baron Herwart, kaiserlicher Gesandter in Konstantinopel, der für das kaiserliche Kabinet durch mehre Jahre in der Nachbarschaft bosporanische Münzen sammelte, und dazu carta bianca hatte, war nicht so glücklich, nur eine einzige Münze von diesen drei Königen zu bekommen, und doch finden sich alle drei in der Sammlung – Ihrer Excellenz! Sollte ein so undenkbares Glück einen Kenner nicht mißtrauisch machen?«
Oder nicht auch ein wenig neidisch? unterbrach die Reichsgräfin ihr Lautlesen mit einem gewissen triumphirenden Gefühl, dann sprach sie weiter, den fernern Inhalt des Briefes überfliegend: Pellerins Kabinet sei das bedeutendste in Bezug auf anekdote und sogenannte einzige Münzen gewesen – ganz besondere Umstände haben ihn begünstigt, langes Leben, verbunden als commis de marine mit allen Konsuln der Levante – ein gewisser La Roche habe in einem kleinen Orte zwischen Grenoble und Lyon mit ganz besonderer Geschicklichkeit die besten pellerinischen Münzen nachgemacht – das der Aufschluß und zugleich mein Münzschlüssel. Eine ganze Schachtel voll angstschweißtreibender Pillen – und der Schluß?
»Ich bitte und hoffe es auch, Ihre Excellenz werden mir mein aufrichtiges Geständniß zu gute halten. Schon beim ersten Anblick des Katalogs wollte ich damit herausrücken, aber ich fürchtete zu beleidigen. Endlich faßte ich mich, weil es meine Rechtschaffenheit von [26]mir forderte und es mir zu arg schien, daß sich schlaue Betrüger länger von der Habe edeldenkender und für die Literatur eingenommener Personen nähren sollten. – Abbe Eckhel.«[1]
[1] Urschriftlich; der Brief ist noch vorhanden.
Genug – er ist nun einmal der Wahrheit unerschütterlich treu; sollte ich dem redlichen Freunde zürnen? Wer die Wahrheit nicht hören will und kann, der ist sehr zu beklagen. Habe ich doch nur das Gute gewollt und die Wissenschaft zu fördern gesucht mit wahrhaft großartigen Opfern – und das Gute und Große aufrichtig gewollt zu haben, gibt schon ein Genügen.
Nun aber hierin nicht weiter – Anderes bringt die andere Stunde.
Die Reichsgräfin legte noch einige Schriften und Briefschaften sich zur Hand, und dann klingelte sie.
Der greise Kammerdiener Weisbrod trat ein.
Ich lasse Herrn Windt bitten!
Was nun werden wird, werden soll, nach dem gestrigen Auftritt? fragte sich die Matrone. O gewiß, ich muß die ganze Last der Sorge mit in die Grube nehmen – doch nicht ungestraft sollen sie mir die letzten Tage meines Alters verbittern, und thun will ich, was ich will, bis zum letzten Athemzuge. –
Windt trat ein, er sah noch bleicher aus, als am gestrigen Abend; seine Gebieterin nahm dies mit ihrem noch immer scharfen Fernblick sogleich wahr und fragte, als sie auf seinen ehrfurchtvollen Gruß gnädig gedankt: Was ist Ihnen, lieber Windt? Sie sehen so sehr angegriffen aus?
Ich bin es, Excellenz! – erwiederte Windt, und seine Stimme war matt und bebend; er war kein Jüngling mehr und die letztvergangene Zeit hatte körperliche wie geistige Anstrengungen in Fülle auf ihn gehäuft.
Es ist auch kein Wunder – fuhr Windt mit offener Freimüthigkeit fort. Ich wurde in Doorwerth von einem heftigen Gichtanfall heimgesucht, zu dem sich etwas Fieber gesellte, da empfing ich dieses kurze Briefchen von dem Herrn Erbgrafen aus dem Haag: »Ich werde nicht über Doorwerth nach Varel gehen, mein lieber Windt, aber gerade [27]von Amsterdam über See und Ostfriesland, weil das viel kürzer ist, und so bitte ich Sie, wenn Sie mit mir die Reise machen wollen, binnen acht Tagen in Amsterdam zu sein. Bis dahin leben Sie wohl und glauben mir, Ihrem« – und so weiter. Aber ich gestehe Ihrer Excellenz, daß ich weder Muth noch Kraft genug in mir fühlte, mich bei dem stürmischen Wetter, wie die letzte Zeit des Aequinoctiums mit sich brachte, auf die See zu begeben und in des Herrn Grafen kleinem Schiffe herum zu treiben. Ich reiste zu Lande, eilend, angestrengt und schlecht. Ich zog mir dadurch eine Lähmung der linken Seite vom Scheitel bis zur Fußsohle zu, und nur einige Ruhe, Wärme und meine gute Natur stellten mich wieder her, auch tragen die guten Nachrichten von Ihrer Excellenz hohem Ergehen dazu bei, mich wieder vollkommen gesund und meinen Diensteifer frisch lebendig zu machen. Und ich will lieber Alles: Hals, Kopf und Kragen verlieren, ehe ich nur eines Haares breit eines Ihrer heiligen Rechte fahren lasse, die ich zwar nicht als Rechtsgelehrter, wohl aber nach gesunder Vernunft und natürlicher Billigkeit als ein redlicher Diener vertheidigen kann. Nur bitte ich um Dauer des hochgnädigsten Vertrauens. Ich sprach, noch ehe ich abreiste, in Doorwerth den Jäger des Herrn Grafen, der mit der Kutsche, zwei Pferden, drei Reitknechten und vier Reitpferden durchkam, um hierher vorauszureisen, und es wurde mir diese Gelegenheit angetragen; die Gesellschaft stand mir aber nicht an. Ich nahm Extrapost.
Sie kennen den gestrigen Vorgang? – fragte die Gräfin.
Ich kenne und beklage ihn, war Windt’s Antwort. Er reißt ein, was ich mühsam aufbaute und anbahnte, die friedliche, willfährig entgegenkommende Gesinnung. Halten es Ihre Excellenz zu Gnaden – aber Höchstihre persönliche Einmischung –
Galt dem Schutz meines Pathen – unterbrach die Herrin, stark betonend. Ich danke Gott, daß mir vergönnt war, zu rechter Zeit mich einzumischen, ich wollte es nicht, ich wollte nur ein wenig lauschen, welche Gesinnungen gegen mich sich aussprächen, da geschah das Aeußerste, da mußte ich den Fuß auf die Springfeder setzen, die das Bild wegschiebt, zwei Secunden vielleicht zu spät, und mein Enkel hätte meinen Enkel erschossen, und dieses mein durch Mord noch nie entweihtes Haus mit einer blutigen Unthat befleckt.
[28]Gegen diese Gründe, Excellenz, kann ich nichts sagen – nahm Windt wieder das Wort.
Und was gedenken Sie zu thun? fragte die Gräfin.
Ich gedenke das Beste für Euere Excellenz zu thun, was sich nur immer thun läßt, obschon ich voraussehe, daß es mir ein Stück Lunge kosten wird; ich hoffe, eine wahre, gründliche und dauerhafte Ruhe zu bewirken, aber Ihre Excellenz müssen mich in Gnaden gewähren lassen, und die Erreichung dieser Absicht wäre mir der höchste Ruhm. Ihre Excellenz dürfen auch nicht das Unmögliche weder fordern noch erwarten. Vor Allem muß aller fremde Einfluß abgeschnitten bleiben, denn ich denke, daß, wenn Hochdieselben mit demjenigen, der nächst Höchstihnen Haupt der Familie, regierender Herr, Erstgeborener und eigentlicher Stammhalter ist, einen Vergleich errichten, durchaus kein Dritter, und wäre er der nächste Agnat, hinein zu reden hat.
So schließen Sie den Bruder und meinen Ludwig so zu sagen aus? fragte die Gräfin gespannt.
Hören Ihre Excellenz mich ruhig an, antwortete Windt. Vieles, was gefordert wird, ist dem Herrn Grafen zu erfüllen geradezu unmöglich; er kann nicht die Glieder der gesammten, in England und Holland verstreuten Familie zu einer bindenden Unterschrift bewegen und zusammenbringen; er kann nicht einhundertundfünfzigtausend holländische Gulden zu sechs Procent, wie jetzt üblich, aufnehmen, sie jährlich mit neuntausend Gulden verzinsen; nicht nach zwölf Jahren dieselbe Summe bezahlen und sie mittlerweile mit sechstausend Gulden verzinsen, dazu das zu gewährende Witthum von jährlich viertausend Gulden, und was noch jährlich an das schrecklich vernachlässigte Doorwerth zu wenden ist. Wenn der Herr Graf zu solchen Dingen sich verpflichten, so können Dieselben weder rechnen, noch Wort halten. Er ist und bleibt arm, seine Kinder vielleicht können dereinst fürchterlich reich werden – er – wird Reichthum nie besitzen. Doorwerth liebt er, dieses wünscht er gern zu haben, es ist gut und heilsam, wenn die Güter ungetrennt beisammen bleiben. Ich bin überzeugt, daß der Herr Graf redlich und im guten Glauben zu Werke gehen und noch edler und großmüthiger handeln würde, wenn er es hätte, wie er es nicht hat.
[29]Ei, Sie sind ja plötzlich mein gegnerischer Anwalt geworden? rief mit schlecht verhehlter Gereiztheit die Reichsgräfin. Wie deut’ ich das? Was hat Sie denn so umgewandelt? Von der edeln großmüthigen Denkart wurde ja gestern Abend ein Pröbchen zum Besten gegeben. Wäre ein neuer tragischer Stoff geworden für Herrn Hofrath Leisewitz in Braunschweig, der ja den Julius von Tarent geschrieben hat und unserm hohen Hause Dinge und Thaten aufbürdet, die nie in ihm geschahen; was ganz schändlich ist, denn nie gab es im Hause der Fürsten von Tarent, das so eng mit meinem eigenen verzweigt und verwachsen ist, eine solche abominable Geschichte, und keiner von allen Fürsten dieses Hauses hieß Constantin, Julius, Guido und wie die von dem laxen Comödienschreiber sonst ersonnenen Namen noch heißen mögen!
Die Poeten, gnädigste Excellenz – entgegnete Windt, heimlich lächelnd über den antidramatischen Zorn seiner Herrin – haben ein Ding, das nennen sie licentiam poeticam – welches ich Hochgräflicher Gnaden, die besser Latein verstehen als ich, nicht zu übersetzen brauche.
Habe nichts dagegen, das Stück ist gut, Herr Lessing hat es gelobt – es ist sogar, wie mir geschrieben wurde, auf fürstlichen Privattheatern – ich glaube am Sachsen-Meiningenschen Hofe, unter Mitwirkung durchlauchter Personen selbst, zur Aufführung gebracht worden; ich verlange nur, die Herren Dichter sollen nicht Namen aus der Luft greifen, sollen nicht das erste beste hohe Haus mit ersonnenen Unthaten beflecken, sondern diese da spielen lassen, wo sie sich geschichtlich zugetragen haben, und sollen ihre Nasen in die Stammbäume stecken und die Leute, die sie brauchen, beim rechten Namen nennen. Des Herrn von Goethe allbewunderter Götz ist auch so ein Ding, das im Nebel und Schwebel spielt, ohne allen geschichtlichen Boden. Er läßt den fehdesüchtigen Raubritter für die deutsche Freiheit sterben, während der alte Kauz daran nicht im Entferntesten dachte, und in aller Gemüthsruhe über achtzig Jahre alt wurde, um Zeit zu haben, seine schlimmen Streiche selbst für die Nachwelt aufzuschreiben. – Ja, sehen Sie mich nur an, lieber Windt, das macht Ihnen wohl rechten Spaß, daß ich alte Frau mich noch über Comödien ereifere, aber sehen Sie, ich bin einmal eine Freundin der Wahrheit, wie [30]mein lieber Abbe Eckhel in Wien auch deren Freund ist, der mich in meiner Eitelkeit und Gelehrsamkeit auf den Tod verwundete, und dem ich, ich sage ich, die Hand noch küssen möchte, mit der er die Feder führte, die mir nicht dumme Schmeicheleien, sondern die reine, in seiner gründlich tiefen und gelehrten Ueberzeugung wurzelnde Wahrheit schrieb. Doch – wie weit schweifen wir ab von unserm Ziele, mein lieber Windt – fahren Sie fort, Sie schlimmer advocatus diaboli!
Um Gott, Excellenz! Dies Wort ist nicht Ihrer Gnaden Ernst. Ich hätte noch viel zu sagen – aber wenn Hochdieselbe mir zürnen –
Halten Sie mich für ein Kind, Windt? Fürwahr, dann wäre ich wohl ein recht altes. Noch denke ich nicht, obschon ich neunundsiebenzig Jahre zähle – kindisch zu sein.
Die Reichsgräfin unterbrach dieses Gespräch, indem sie klingelte. Weisbrod trat ein und erhielt den Befehl, den jungen Herrn zu ihr zu bescheiden. Dann nahm sie den Faden der Rede wieder auf und sprach zu Windt: Die gestrige Scene verlockte uns in den Irrgarten der dramatischen Poesie mit seinen unbeschnittenen Laubgängen – bleiben wir bei der Hauptsache: Warum hat sich Ihr Sinn gewendet? Sind Sie eine Windfahne?
Nein, Excellenz! vertheidigte sich Windt: eine solche bin ich nicht, vielmehr hoffe ich bewiesen zu haben, und denke es ferner zu beweisen, daß mir die Wünsche und Vortheile Ihrer Excellenz über Alles gehen. Aber – Excellenz lieben ja die Wahrheit, und Wahrheit muß Wahrheit bleiben. Was auch gestern Störendes, Widriges und aufs neue Hemmendes vorgefallen sein möge, das darf ich doch kühn behaupten, daß das Gemüth des gnädigen Erbherrn durch mich und meine Briefe zu wahrer Liebe und Ehrfurcht gegen Ihre Excellenz gestimmt war; [31]freilich ist er äußerst empfindlich und reizbar und ein unbedachtes Wort ist im Stande, sein ganzes Wesen in Aufruhr zu bringen. Wie ich den Herrn Grafen kenne, sind wenige Worte im Stande, ihn zu bewegen, daß er Alles um sich nieder wirft und liegen läßt, es gehe wie es gehe, aber sein Charakter ist und bleibt redlich. Er ist nicht der Mann, welcher Excellenz beraubt, geplündert und von Land und Leuten verdrängt sehen will, im Gegentheil, er theilte mir gerade heraus mit: Will meine Frau Großmutter Varel wieder zu eigen haben, so nehme sie es gerne, wenn es nur ohne weitere Schulden und dereinst meinen Kindern bleibt.
In der That – sehr gnädig! – spöttelte die Herrin und machte einen Knix, aber Windt kehrte sich nicht an ihren Spott.
Der redliche Diener fuhr im Tone vollster Ueberzeugung fort: Halten Excellenz es mir zu Gnaden, daß ich so frei heraus meine Meinung sage! Die Hauptsache muß so behandelt werden, daß beide Theile mit Ehren nachgeben, mit Ehren annehmen und mit Ehren ablehnen können. Ich brauche wohl nicht erst an den Wahlspruch im reichsgräflichen Wappen zu erinnern.
Craignez honte! versetzte die Herrin, den Wahlspruch anführend, und fügte hinzu: Bravo, Herr Windt! Ich danke Ihnen für diese Lehre.
Eher würde ich selbst auf Ihrer Excellenz Vortheile verzichten, als im Punkt von Hochderselben Ehre nachgeben, und wenn der Herr Graf Alles anzunehmen verspräche, was Ihre Excellenz von ihm verlangen, so würde ich der Erste sein, der zu ihm sagte: Sie handeln ohne Ueberlegung, ohne Ehre, ohne Zartgefühl, denn Sie können nicht Wort halten. Ihre Excellenz kennen in der That den Herrn Grafen zu wenig, er ist Ihnen entwachsen, er ist noch jung, und bei Gelegenheit wohl spöttisch, sarkastisch oder überreizt – er ist aber wahrhaftig ein edler Mann, und der Beste von den Seinen, so viel ich deren in Holland kennen lernte. Was ich von seinen Handlungen weiß, ist nur ehrenhaft. Um sein gegebenes Wort zu erfüllen, hat er sich mit seiner Frau Mutter auf eine Art entzweit, daß sie nie wieder einig wurden. Das kam so: In der unglücklichen Revolution hing sein Leben im Haag jeden Augenblick an einem Zwirnsfaden, und gleichwohl zeigte er stets den höchsten Grad von Entschlossenheit. Um [32]zu seinem Ziele zu gelangen, mußte er sich eine Partei machen, zu der er auch geringe Bürger und Leute der niederen Klasse herbeizog. Diese wollten aber unter keiner anderen Bedingung ihm anhängen, als daß er ihnen gelobe, nach erkämpftem Siege ihr Schout, so viel wie Grand Baillif zu werden, denn das Volk war, wie das stets bei Revolutionen der Fall ist, mit der Polizei und Gerechtigkeitspflege im Haag höchst unzufrieden und suchte sie zu beseitigen. Der Herr Graf gab sein Wort, seine Partei gewann die Oberhand, und das Volk rief ihn aus Dankbarkeit zu seinem Ober-Amtmann aus. Darüber entsetzte sich seine Frau Mutter, die geborene Baronesse de Tuyll Serooskerken, auf das Aeußerste, wie Ihre Excellenz sich denken können.
Ja wohl, wie ich mir allerdings recht gut denken kann! unterbrach ihn die alte starre Aristokratin. Doch Windt fuhr ruhig fort: Die Frau Mutter des Herrn Grafen drohte, sich gänzlich von ihm loszusagen, wenn er dem Verlangen des Volkes nachgebe, der Graf aber sprach: Ich bin Edelmann und muß im Glücke halten, was ich im Unglücke versprochen habe. Die Zwietracht mit der Mutter blieb, und der Herr Graf blieb Ober-Amtmann.
So spalten die unseligen politischen Parteikämpfe den Frieden und die Herzen der edelsten Familien! rief fast im heftigen Tone die alte Reichsgräfin. Meine Frau Schwiegertochter hat vollkommen Recht! Auch mir schnitt es tief in das Herz, zu sehen, wie ein Angehöriger meiner Familie mit dem Pöbel, der Hefe, zu liebäugeln sich herabließ und sich wegwarf. Aber zuletzt sind Sie selbst solch ein elender Demokrat, Windt!
Der Haushofmeister war einen Augenblick betroffen durch den schneidenden und vorwurfsvollen Ton der alten Frau, deren Gemüth jetzt an der empfindlichsten Stelle und durch eine der unliebsamsten Erinnerungen berührt worden war; doch blieb er gefaßt und entgegnete in seiner zwar unterwürfigen, aber stets würdevollen Redeweise: Ihro Excellenz scheinen sich im Augenblick nicht daran erinnern zu wollen, daß die oranische Partei, für welche der Herr Graf wirkt, nicht die sogenannte Volkspartei war, daß erstere vielmehr durch die untern Schichten gegen die letztere zu wirken suchte, daß aber auch [33]die niederländischen Republikaner keineswegs eine Revolution wollten. Der Herr Graf ist als Oberrichter stets gerecht und unparteiisch erschienen; er hat darauf das wachsamste Auge, daß Niemand Unrecht erleide, er hilft Allen, denen er nur irgend helfen kann, seien es sogenannte Patrioten, oder keine, und viele Unglückliche hat er als geschickter und rechtskundiger Anwalt so vertheidigt, daß sie schweren Strafen entgingen, denen sie ohne ihn anheim gefallen wären; daher verdient sein Benehmen, als das eines Mannes von Wort und von Ehre, weder Tadel noch Mißtrauen. Und was endlich meine »elende Demokratie« betrifft, wie Excellenz sich auszudrücken beliebten, so gebe ich dem Wunsche Worte, es möchte das ganze heilige römische Reich so glücklich sein, lauter Demokraten meines Schlages zu besitzen, dann würde überall Ruhe, Friede und Ordnung, und nirgend Empörung gegen Obere sein. Aber jeder Mensch hat minder oder mehr Gefühl für die Freiheit; wer dieses läugnet oder verläugnet, ist ein feiler Sclave, oder in seiner eigenen Seele selbst ein Stück von einem Despoten; ich bin keins von beiden. Derjenige jedoch, welcher an der gegenwärtigen, fanatischen, wahnsinnigen französischen Freiheitsraserei Theil nimmt und Behagen daran findet, ist ein Jacobiner, ein Anarchist, ein Verbrecher: das bin ich auch nicht, sondern stets zu Ihrer Excellenz Diensten.
Wackerer Windt – vergeben Sie mir, wenn ich Sie kränkte! sprach die Reichsgräfin mit ernstem Gefühl, und immer höher stieg der Mann in ihrer Achtung, der mit dem redlichsten Diensteifer die Würde des Hauses wie seine eigene nicht einen Augenblick aus den Augen setzte.
Der Eintritt des jungen Herrn, der schon fast völlig reisefertig erschien, unterbrach das Gespräch der Gebieterin und des Dieners. Ludwig brachte seiner Gönnerin den üblichen Handkuß als Morgengruß dar und ihr Herz, so fest und stark es war, hart geworden durch die Jahre und die Fülle bitterer und schmerzlicher Erfahrungen, wallte auf bei dem Andenken an die Trennung von dem Liebling, der heute ihr so bleich und trauervoll nahte.
Ein freundlich bittender Augenwink der Reichsgräfin entließ Windt, und gleich nach dessen Entfernung redete sie den Enkel mütterlich liebevoll an.
[34]Du bist heute so blaß, mein Ludwig Carl – du fühlst was ich fühle. Du willst fort, und die Trennung von mir thut deinem kindlichen Herzen weh?
Theuerste Großmutter! antwortete der Enkel: ich wollte, der Erbherr hätte seine That gegen mich gestern vollbracht; glauben Sie mir, mir wäre besser. Mir wurde eine Wunde geschlagen, die niemals heilen wird – Gedanken stürmen in meiner Seele, die ich niemals dachte – ich kannte nicht den Haß, nicht das brennende Gefühl der Rache, nicht die Schaam über einen Makel, den ich ohne Schuld mit mir durchs Leben tragen soll. Beste Großmutter! Ich beschwöre Sie, entdecken Sie mir Alles – bin ich ein Edelmann, gehöre ich zu Ihrer Familie, oder bin ich –?
Wie du kindisch fragst, mein liebes Kind! war die Antwort. Würde ich dich laut und offen meinen Enkel nennen? Würde ich dich mit Sorgfalt und Liebe auferzogen haben? Würde ich dir gestattet haben, unser Wappen zu führen? Glaube das Eine fest, und lasse dich durch das Andere nicht beugen. Du bist auf dem Wege ein Mann zu werden, sei ein Mann! Vergiß das Herbe und Peinliche der gestrigen Stunde; vergieb dem Grafen: er war gereizt, er wußte nicht, was er that.
An ihm wird es daher sein, mich um Vergebung zu bitten, entgegnete der Jüngling, dessen Wangen neu auflodernde Schaam mit Zorn im Bunde wieder röthete.
Lass’ das jetzt, sprach die Gräfin. Entdecken kann und darf ich dir nichts, mein geliebtes Kind! Du mußt das Dunkel deiner Geburt mit dir nehmen als deinen Schatten, denn ich bin nicht berechtigt, die Geheimnisse gewisser Personen zu lösen, die jene mir anvertraut und die mit sieben Siegeln verschlossen und mit den dichtesten Schleiern überhüllt sind. Aber etwas Tröstliches kann und will ich dir sagen. Es ist ein mächtiger Unterschied, den aber die Befangenheit, Mangelhaftigkeit und Starrheit der Gesetzgebung niemals anerkannt hat, zwischen den zur Welt gebrachten Früchten böser Lust und wilder Sinnengier, die ein Rausch des Augenblicks von dem Lebensbaume abschüttelte, und zwischen jenen Kindern hoher und reiner Liebe, gegen deren gesetzliche Einigung gebieterische Verhältnisse unübersteigliche Schranken zogen. Oft verjüngten sich durch solche Sprößlinge uralte bedeutende Geschlechter, und die Welt hat [35]deß kein Arg. Du hörtest gestern aus meinem Munde ein Beispiel; ich könnte dir deren viele sagen. War es gut oder nicht gut, daß der letzte Graf zu Oldenburg und Delmenhorst, da seine Gemahlin ihm keine Kinder schenkte, den Sohn eines geliebten ihm nicht ebenbürtigen Weibes in die Rechte des alten Stammes einsetzte? Ohne diesen Sohn der Elisabeth von Ungnad, Herrin zu Sonneck – wären wir alle nicht. Möge Gottes Gnade trotz dieser Abstammung von einer Ungnad mit uns allen sein! Meine Großmutter, die Abkömmlingin von Königen, wurde Anton’s des Ersten zweite Gemahlin; die erste, eine Gräfin von Wittgenstein, schenkte ihm nur Töchter; meine Großmutter wurde die Fortpflanzerin des Stammes, von dem auch du ein Zweig bist. – König Alphons der Weise in Aragonien und Sicilien zeugte, da seine Gemahlin Maria, Tochter König Heinrich des Dritten in Castilien, ihn nicht mit Kindern beglückte, drei Kinder außer der Ehe. Seinem erstgeborenen und einzigen Sohne Ferdinand dem Ersten, dem Papst Eugen der Vierte selbst die Rechte gesetzlicher Geburt verlieh, hinterließ sein Vater das Königreich Neapel, der zweite Sohn Friedrich ward vertrieben und kam nach Frankreich, wo er starb. Dieser Letztere wurde der Großvater der Erbtochter des Hauses de la Val, Anna, deren Gemahl Franz de la Tremouille, Prinz von Talmont, wurde. Beider ältester Sohn, Ludwig, wie du geheißen, war der erste Herzog von Thouars, er war mein Urgroßvater, und unser Haus wurde auf das Engste verwandt und verschwägert mit allen den hohen, alten, angesehenen Familien derer von Bouillon, von Orleans, von Montmorency, der de la Tour d’Aubergne, der Taleyrand und anderer in Frankreich, der Sforza in Mailand, der Landgrafen zu Hessen, durch meine Urgroßmutter, und der Herzoge zu Sachsen, denn meine Urgroßtante Maria wurde die Gemahlin des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Jena, eine Linie, die leider früh erlosch. Aus diesen Beispielen magst du entnehmen, daß eine in Dunkel gehüllte Abstammung, die vielleicht einst noch in Licht und Glanz zu Tage treten dürfte, je nachdem des Glückes und der Zeiten Gunst oder Ungunst waltet, noch lange kein Schimpf und kein Makel ist, mindestens nicht in den Augen der Einsichtvollen und Vernünftigen, denn überhaupt erinnert das an das alte Sprichwort: »es ist ein wunderkluges Kind, das seinen Vater kennt.«
[36]Der Enkel schwieg zu dieser Rede und blickte mit träumerischem Sinnen auf die Werke seines spielenden Fleißes, die Münztafeln.
Du willst reisen, und du mußt reisen – fuhr die Reichsgräfin fort. Längst fühlte ich das, aber die große Liebe zu dir, die trauliche Macht der Gewohnheit unseres täglichen Beisammenseins, mein Alter, der Gedanke, daß unsere erste Trennung wohl eine Trennung für immer ist, bewältigte meine Einsicht und machte mich schwach und allzu nachgiebig gegen mich selbst. Das Schicksal führte diesen Anstoß herbei, ich muß dich von mir lassen, du liebes Schmerzenskind! Setze dich, höre mich weiter an, und vergiß nie in deinem ganzen Leben – möge es ein langes und glückliches sein – dieser heutigen ernsten und wichtigen Stunde! Wie ich auch gepeinigt, gedrückt, bedrängt und so zu sagen fast ausgezogen worden bin, arm haben sie mich, trotz ihres allerbesten Willens und trotz herzoglich oldenburgischer und königlich dänischer Hülfe doch nicht machen können; es hätte so gar wenig gefehlt, so wäre der deutsche Kaiser vermocht worden, gegen die alte eigensinnige Frau, die ihr Geld nicht alle hergeben wollte, einige Reichstruppen marschiren zu lassen. – Da fast Alles von mir kommt, ist’s zuletzt kein Wunder, daß man es von mir haben will, denn von den Schätzen des Hauses habe ich noch nichts gesehen, und die Lehengüter im Mond tragen höchstens einmal einen Steinregen ein. Gleichwohl will ich ihnen nichts vergeben, nicht auf’s Neue den Vorwurf unüberlegter Schenkungen auf mich laden, wie ich allerdings gethan. Ich selbst bedarf wenig mehr; ich werde keine Bücher, keine Münzen und Medaillen mehr sammeln – ich werde nur für dich leben, so lange der Himmel mir noch meine bereits gezählten Tage fristet.
O gütigste aller Großmütter! rief Ludwig Carl aus, und beugte sich tief auf die treuen Hände, die seine Jugend gepflegt, und jetzt erhoben wurden, um sich segnend auf sein schönes Haupt zu legen.
Nach einer Pause stiller und unaussprechlicher Rührung winkte die Reichsgräfin dem Enkel, ihr ein nahe stehendes, verschlossenes kupfernes Schatzkästchen zu bringen, während sie aus einer zusammengebundenen Anzahl kleiner Schlüssel den rechten suchte. Das Kästchen war leicht, baares Geld augenscheinlich nicht darin. Die Herrin erschloß es, es enthielt nur Papiere. Eines nach dem andern dieser Papiere [37]nahm sie heraus und legte es vor den Enkel, der wieder auf ihren Wink neben ihr Platz genommen hatte, indem sie mit kurzen Worten den Inhalt dieser wichtigen Schriften andeutete.
Dies ist, begann die Aufzählung: der Original-Ehecontract zwischen dem Prinzen Henri Charles de la Tremouille et Talmont und der Prinzessin Emilie zu Hessen-Cassel. Der Brautschatz dieser meiner Urgroßmutter betrug einhundertundfünfzigtausend Livres, und blieb der Vermählten als Wittwe vertragsmäßig zu freier Verfügung, nebst einer Summe von vierundzwanzigtausend Livres für Kleider und Juwelen. Vom Jahr eintausendsechshundertundachtundvierzig.
Hier der Ehecontract meiner Großmutter, vom Jahr eintausendsechshundertundachtzig, mit der Bemerkung, daß die Prinzessin alle Gerechtsame an väterliche und großväterliche Verlassenschaften, auch andere künftige Erbfälle anzusprechen habe, nur nicht die ihrer beiden Brüder und ihrer einzigen Schwester Maria Sylvia. Letzteres hat sich dennoch durch besonderes Vermächtniß geändert.
Hier ein Document, das der Großmutter anstatt der genannten Ansprüche von Seiten ihres Bruders, des Herzogs Charles de la Tremouille, die Summe von sechzigtausend Livres fest zusichert. Aus diesem wichtigen Vergleichsinstrument vom Jahre sechzehnhundertdreiundachtzig geht hervor, daß die de la Tremouille’schen Gütereinkünfte in den Provinzen Poitou, Bretagne, Maine, Xaintoque, Auluis und Laudunois auf das in Paris, Straße Vaugirard, gelegene Palais der Familie gestellt sind.
Hier eine Schrift über die unserm Hause zustehende Baronie Vitré, deren Ertrag als Bürgschaft für ein Kapital von sechzigtausend Livres verschrieben ist, welche Summe meiner Großmutter von ihrer Mutter, der geborenen Landgräfin zu Hessen, vererbt und vermacht wurde. Dieses Kapital ist ebenfalls auf mich übergegangen.
Hier ein Schuldbrief des Bruders der Großmutter wegen Antheils an fünfundzwanzigtausend Livres am Erbe der verstorbenen Prinzessin Maria Sylvia, vom Jahre sechzehnhundertdreiundsechzig.
Hier wieder ein Vergleich vom zwölften Juli siebzehnhundertundeins, betreffend den Antheil der Großmutter von vierzigtausend Livres der Verlassenschaft ihrer königlichen Hoheit, Mademoiselle de Montpensier. [38]Aus dieser Verlassenschaft kam das Herzogthum Chatellerault und die Vicomté Brossé an das Haus de la Tremouille, und es erhellt aus diesem Vergleich des Weiteren die Verwandtschaft unseres Hauses mit den Häusern Orleans, Bourbon, Nassau-Oranien, Bouillon und andern.
Genug mit diesen, der Kasten ist noch halb voll, wir wollen uns nicht ermüden. Kurz und rund: Ich, deine Großmutter, habe an das herzogliche Haus de la Tremouille und Talmont in Frankreich Summa Summarum zweihundertundfünfundfünfzigtausend Livres zu fordern, welche als Erbtheil meiner Frau Großmutter mir überkommen, und die bei dem Stadthause zu Paris, obschon leider mit nur dritthalb Procent verzinslich angelegt sind, so daß sie eine Rente von sechstausenddreihundertundfünfundsiebenzig Livres, die halbjährlich ausgezahlt wird, abwerfen. Seit dem tödtlichen Hintritt meines in Gott ruhenden Herrn Vaters, des Reichsgrafen Anton des Zweiten, sind diese bis zu den letzten Jahren richtig ausbezahlt worden, und weder Krieg noch Friede haben daran gekürzt. Diesen Zinsabfall trete ich an dich ab zu deinen Reisen und deiner ferneren Ausbildung, mein in Wahrheit geliebtester Enkel. Hier hast du die nöthigen Ausweise zu deren Erhebung vom nächsten Monat an. Bedarfst du der Hülfe von Bankiers, so eröffnen dir diese Briefe Credit in Hamburg beim Hause des Procurators, Wechselsensals und Senators Egbertus Bernardus Den Tale, einer niederländischen weltberühmten Firma, und ebenso beim Hause Chapeaurouge dort, in Amsterdam bei dem Hause van der Valck, im Haag bei den Gebrüdern Le Ferrier, in Paris bei Grossier Vater und Söhne.
Wie soll, wie kann ich Ihnen danken für so viele himmlische Güte! rief Ludwig, ganz überrascht von dem Reichthum, der ihn so plötzlich überströmte.
Das sollst du sogleich hören, antwortete die Matrone. Dein Dank bethätige sich dadurch, daß du genau die Lehren befolgst, die ich dir jetzt bei unserm Scheiden herzlich und schmerzlich mit auf den Lebensweg gebe. Halte, mein geliebtes Kind, dein Herz frei und rein von allen unlautern Trieben, wie vom Laster; meide stets das Gemeine im Denken, wie im Thun und Handeln. Halte stets treu am gegebenen Wort und übernommener Pflicht, wenn es dir [39]auch schwer ankommt und Neigung und Sinne sich dagegen sträuben; ja, scheue nicht die größten Opfer, wenn es gilt, Pflichterfüllung und Ueberzeugungstreue zu üben. Suche dich auszubilden und zu lernen so viel als möglich; nützliche Kenntnisse sind eine Macht, und ihre Anwendung bewahrt vor Mißmuth und Langeweile. Gehe mit dem Gelde weise und sparsam um, und lerne dessen selbst erwerben; verlasse dich nicht auf den dir jetzt groß erscheinenden Besitz, denn diese Quelle könnte leicht plötzlich versiegen. Achte treue Freundschaft hoch und hüte dich vor falschen Freunden. Suche dein Glück, wenn du dir Erfahrungen gesammelt, nicht im glanzreichen Hofleben, nicht im Geräusch der großen Städte und glaube mir, daß die Einsamkeit wunderköstliche Stunden gewährt. Führt dein Geschick dich auf eine kriegerische Laufbahn, so vereine mit Muth und Tapferkeit Milde und Menschenfreundlichkeit; sei hülfreich dem Unterdrückten, schütze verfolgte Unschuld – sei das Beste, was du auf Erden werden kannst – ein reiner, guter, edler Mensch!
Ein heiliges überwältigendes Gefühl, wie er gleiches noch nie empfunden, ging durch des Jünglings noch unentweihte Seele. Thränen stürzten aus seinen Augen, und er sank lautlos auf seine Kniee vor der wunderbaren alten Frau nieder, die so treu, so mütterlich, so fest und stark auf ihn einsprach. Ihr nahete nicht leicht eine Rührung, ihre Seele war voll Kraft; dennoch fühlte sie, daß in dieser Stunde ein Theil ihres Herzens sich von ihr losriß; sie fühlte, wie sie ihren Liebling geliebt, fühlte, was sie ohne ihn entbehren werde, hätte so gerne alles Glück der Welt auf ihn gehäuft, hätte ihr Leben in dieser Stunde lassen wollen, wäre damit eine Bürgschaft zu erkaufen gewesen für sein Leben und für seine Zukunft.
Noch einmal legte sie segnend ihre Hände auf das Haupt des vor ihr knieenden Enkels und sprach bewegt: Gott mit dir, sein heiliger Wille führe dich! Auch du wirst durch die schmerzlichen Flammen der Läuterung gehen; o gehe rein aus ihnen hervor! Ehre Gottes Gebote und liebe die Menschen. Sei mildthätig und barmherzig, und vergelte Kränkungen nur mit Wohlthaten, auf daß dereinst in dem Kreise, in den du eingetreten bist, dein Name im Segen fortdauere von Geschlecht zu Geschlecht! –
[40]Stehe auf, mein Ludwig Carl – laß uns recht ruhig noch diese Weihestunde mit einander feiern, es ist ja – o Gott – es ist die letzte!
O nein – nein, meine theure, meine angebetete Großmutter! rief der Jüngling mit schwärmerischem Blick.
Widersprich mir doch nicht, mein Kind, entgegnete die Großmutter mit dem alten gemüthvoll-traulichen Tone, den sie meist beim Zusammensein mit dem Enkel angenommen. Nur in so weit hast du recht, daß ich nicht eher an das Ueberirdische denken soll, bis ich dir das nächstnaheliegende Irdische geordnet. Also höre meinen nächsten Lebensplan für dich. In dieser Brieftasche findest du Wechsel und baares Geld, die deinen Unterhalt mindestens auf ein halbes Jahr bestreiten lassen, für den Fall, daß die blutigen Ereignisse in Frankreich jetzt nicht zuließen, vom Pariser Stadthaus Geld zu erheben, denn dieses Haus ist jetzt ein Tollhaus und ein Schlächterhaus geworden. Daher rathe ich, überhaupt jetzt noch nicht nach Paris zu gehen. Jedenfalls wirst du mich durch Briefe meiner liebevollen Besorgniß um dich, so oft es dir immer möglich ist, entreißen.
Und welchen Namen soll ich führen, Großmutter? fragte der Jüngling mit einem eigenthümlichen Erbangen.
Dieses mein Haus gibt dir einen Namen, – den die Welt achten muß, Graf Ludwig Carl von Varel! entgegnete die Reichsgräfin. Vielleicht – wird dereinst noch ein anderer Name dir zu Theil. Einen Reisepaß auf diesen unsern Namen besorgt Herr Windt in unserer Hofkanzlei.
O Himmel, wie viel möchte ich dir noch sagen – aber ein Gedanke drängt den anderen von hinnen, und das Wort scheiden jagt wie ein Cherub mit dem flammenden Schwerte alles Denken der Liebe aus seinem stillen Paradiese. Doch – sieh, wie vergeßlich das Alter ist – fast hätte ich dir unbehändigt gelassen, was ich eigens als ein Andenken dir zurückgelegt. Möge dieses Buch und mögen diese Blätter dir werth und theuer bleiben, ich gedachte mich nie von ihnen zu trennen, aber mit in die Ewigkeit hinüber kann ich sie ja doch nicht nehmen, so bewahre du sie treulich auf. Dieses Buch ist das Tagebuch meiner Großmutter, Charlotte Aemilie; sie schrieb es mit eigener Hand für ihren Sohn, meinen Vater, nieder, und meine in [41]Gott ruhende Frau Mutter, die geborene Landgräfin, bemerkte dies auf dem Titelblatt mit den Zügen ihres theuren Namens. Das Buch umfaßt sechsundfünfzig Jahre, von der Vermählung bis zum Tode.
Und diese Blätter hier sind Alles, was mir von meinen treugeführten reichhaltigen Tagebüchern übrig blieb, was bei der Beraubung, die ich erdulden mußte, nur der Zufall durch eine treue Hand rettete; lies bisweilen darin und denke meiner dabei in Liebe. Wie der Botaniker aus einem einzigen Blatt einen Baum oder eine Pflanzenart erkennt, der Anatom aus einem Knochen die Art des Thieres, dem der Knochen gehörte, so wird auch der Einblick in diese Blätter dir mich auf’s Neue vor die Seele führen, wer und wie ich bin. Vieles wird dir anziehend sein, mein Verhältniß zum französischen, wie zum preußischen Königshause, meine Befreundung mit Voltaire; viele berühmte Namen findest du darin erwähnt, deren Träger mir mehr oder minder nahe traten in jenem nur kurzen Abschnitt meines Lebens. Ich habe Viel erlebt und Unvergeßliches, vielleicht darf ich sagen: der Verlust meines Tagebuchs ist, wenn nicht ein Verlust für die Welt, doch einer für meine Familie! Du hast die letzten Blätter der alten, nicht mehr in die Zukunft, sondern rückwärtsschauenden Sibylle nun in Händen und bist besser daran, wie jener Tarquinius Priscus, dem die Sibylle Cumana Amalthea ihre Orakelbücher so theuer anbot – du hast sie umsonst. Und nun, mein Liebling, nun noch ein Wort über deine Reisen; du findest in der Brieftasche Empfehlungskarten von meiner Hand an zahlreiche hochgestellte und einflußreiche Personen; deine Jugend und Offenheit, im Bunde mit einem bescheidenen und ehrenhaften Benehmen wird dir überall Wege bahnen, dir Pforten und Herzen öffnen. Bewahre nur dein eigenes Herz, achte es als einen Schatz, wirf es nicht auf die Gasse. Siehe zunächst, wie es dir in Holland gefällt, und was sich dir vielleicht dort bietet; außerdem gehe nach Deutschland, Dänemark, Rußland, die Welt ist groß und überall des Herrn. Und in jedem Lande bleibe treu und bleibe deutsch gesinnt! Das ist mein letztes Segenswort, dies mein: Mit Gott! – Nun gehe – sage mir kein weiteres Lebewohl, denn mit meinem wohl leben ist es längst vorüber!
Noch einmal wollte der Enkel vor der Großmutter auf die Kniee sinken, sie fing ihn aber auf, preßte ihn an sich, drückte einen Kuß [42]mit ihren kalten Lippen auf seine Stirne, wandte sich und schritt rasch in ein Nebenzimmer, aus dem sie nicht wiederkehrte. Sie wollte keine Weichheit, sie wollte keine Thräne zeigen, vielleicht war ihr auch der Quell der Thränen längst versiegt und vertrocknet, und es schmerzte sie, die in ihrem bewegten Leben der Thränen so viele geweint, jetzt keine Thränen mehr zu haben.
Der junge Graf nahm, was ihm gegeben war und trug es aus dem Zimmer, damit Philipp die Schriften noch recht sorglich verwahre. Auf dem Fenstergang, der nach dem Hofe hinabsah, begegnete ihm Windt mit bestürztem Gesicht.
Schlimm! schlimm! schlimm! rief dieser aus. O daß Sie gestern schon, und nicht heute erst den gnädigen Erbherrn begrüßten – Alles, Alles – Alles stände anders. Oleum et operam perdidi! Da – junger Herr, schauen Sie hinab in den Schloßhof!
Ludwig folgte mit den Augen dieser Aufforderung und gewahrte, daß so eben der Erbherr in seinen Reisewagen stieg, der Kammerdiener sich hinten aufschwang, der Jäger Jacob auf dem Reitpferde des Grafen saß, und die drei Reitknechte und Stalldiener auf die übrigen Pferde sich schwangen – wie die Herren Hofrath Brünings, Kammerrath Melchers und Secretär Wippermann tiefe Bücklinge vor dem Grafen machten, ein Theil der Hausdienerschaft neugierig gaffend aus Thüren und Fenstern zusah, und wie der Gebieter ohne einen Blick nach dem Gebäude herauf zu werfen, auf und davon fuhr, von seiner ganzen mitgebrachten Dienerschaft begleitet. – Als der Wagen entrollte, nahmen die Herren Beamten drunten aus Hofrath Brünings goldener Dose jeder eine Prise. – Adieu partie! rief Windt droben mit komischem Zorn und schlecht verhehltem ernstem Aerger. Der kommt sobald nicht wieder! Habe mir die Finger fast abgeschrieben, bin krank und lahm geworden, habe in Doorwerth geschmorcht und geschmachtet, bin davon eine lebendige Satyre auf meinen eigenen Namen, nämlich dürr wie ein Windspiel geworden, habe Himmel und Hölle beschworen, den regierenden Herrn zu bewegen, zur Schließung gütlichen Vergleiches hierher zu kommen, habe mir endlich die Zunge fast aus dem Halse geredet, Ihre Excellenz zu annehmbaren Vergleichsbestimmungen zu bewegen, habe auf große Kosten Ihrer Excellenz und meiner Gesundheit die schändliche Reise gemacht von Arnhem erst [43]nach Amsterdam, dann wieder zurück nach Arnhem und über Deventer durch das reizende Over-Yssel, von dem schon die alte gereimte Schulgeographie singt:
und noch dazu jetzt im März, nach dem geschmolzenen Schnee – und durch die Grafschaft Lingen – auch eine schöne Gegend – und über alle tausend Teufelsnester und Sumpfmoore, so groß, daß man in jedes ein paar kleine deutsche Fürstenthümer versenken könnte – und Alles nun für nichts und wieder nichts!
Aber, bester Herr Windt, Sie sind ja ganz außer sich! entgegnete dem Odemschöpfenden der erstaunte junge Graf. Und an all’ diesem schweren Unheil soll ich die Schuld tragen? War der Erbherr nicht schon vor dem Auftritt mit mir in Harnisch gebracht? Ich frage nicht, durch wen? denn ich habe hier nichts mehr zu fragen, noch zu sagen; doch wenn Sie mich schuldig glauben, lieber Herr Windt, so verzeihen Sie mir, denn ich bin eben im Begriff, mein Vergehen zu sühnen – ich gehe auch fort.
Sie gehen auch fort? rief Windt ganz erstaunt aus.
Heute noch, jetzt – in dieser Stunde – und auf immer. Mit meinem Willen sehe ich Varel nicht wieder. Haben Sie Dank, Herr Windt, für so manche mir erzeigte gütevolle Freundlichkeit, und leben Sie wohl, recht wohl, und bleiben Sie der Großmutter wie bisher der beste, treueste, redlichste Diener.
Ludwig drückte dem alten Manne mit Wärme die Hand, und schritt von dannen, ohne die Gegenrede des von Staunen fast sprachlos Gewordenen abzuwarten. In seinem Zimmer angelangt, empfing Ludwig aus Philipp’s Hand einen Brief: er war vom Erbherrn. Ludwig steckte den Brief zu sich und befahl zu satteln. Eine halbe Stunde später sprengte er und Philipp durch das innere Thor aus dem Schlosse, sie ritten den Parkweg. Mit thränenumflorten Augen blickte Ludwig nach dem Fenster der Großmutter hinauf, droben winkte wehend ein weißes Tuch den schmerzlichen Abschiedsgruß.
Eine Zeitlang ritt Graf Ludwig in trüben Gedanken durch die frühlingsknospende Waldung im stummen Schweigen dahin. Er fühlte, daß seine erste Jugendzeit mit jedem Schritt seines Rosses weiter hinter ihn zurücktrete, wie ein schöner Traum, daß eine eigenthümliche Welt hinter ihm sinke, in der er heimisch und glücklich gewesen war, und mit dem heutigen Tage eine neue fremde Welt sich ihm aufthue, die er noch nicht kannte und die keineswegs geneigt sein werde, ihn mit Liebe zu empfangen und auf Rosen zu betten. Bald genug erinnerte schon der immer schlechtere Weg durch das Gehölz an den rauhen Boden der Wirklichkeit, und störte gewaltsam die Erinnerungen an das entschwundene Jugendglück. Es galt, dem Schritt der Pferde mit Aufmerksamkeit zu folgen und sie so zu lenken, daß sie nicht allzutief in die zahllosen Moraststellen traten. Hie und da lagen noch von Buschwerk geschützte und gehäufte Schneemassen, die weder Sonne noch Regen bisher zu überwältigen vermochten, und so waren Herr und Diener herzlich froh, als nach einem langsamen und beschwerlichen Ritt der Waldweg ein Ende nahm und ein Gehöft erreicht wurde, das aus nur wenigen Häusern bestand und den Namen Clus führte; es saß ein gräflicher Zinsbauer dort und hielt eine kleine Schankwirthschaft.
Dort stieg der junge Graf mit Philipp ab, damit der Knecht des Bauern die Füße der Pferde ein wenig wasche und reinige. Ludwig erging sich in seinen Gedanken, die auf’s Neue brütend und trübe wurden, in der Nähe des Gehöfts, während Philipp dem Knechte behülflich war und mit diesem und dem Bauer schwatzte, und da war ringsum nichts, was aufheiternd auf des Jünglings Seele zu wirken vermocht hätte. Selbst der klare blaue Morgenhimmel hatte getäuscht, den zahllosen Mooren des Landes waren so viele und starke Nebel entdampft, daß sie emporziehend den Himmel wieder völlig verdüstert hatten. So hemmten sie zwar die Aussicht und Fernsicht nicht ganz, [45]aber welche Aussicht und welche Fernsicht ließen sie frei! Oede farblose Haidestrecken, so weit das Auge reichte, und weit reichte es nicht, denn die völlige Fläche der Gegend gönnte keinen ausgedehnten Blick. Der Freund schöner, romantischer Gegenden darf nicht in diese sumpfigen Oeden wallen; hier in diesen Nordseeküstenländern erhebt nur eins die Seele, das ist das Meer, das gewaltige Meer! Zur Rechten streifte der Blick am Vareler Busch, der hier endete, ostwärts bis Seggehorn und Jürgengrave hinab, Oertchen, die der Wald verdeckte. Dort am Nordrande des beschränkten Rundes der Aussicht grenzten der Kirchthurm von Bockhorn und die Windmühle dieses Ortes jene ab. Westwärts das weitgedehnte Marschland des Amtes Neuenburg – dort ein einsames Gehöft – es heißt Grabhorn – dort wieder eins – es heißt Grabstätte – und ganz nahe dem Hofe Clus, im Westen, da erhob sich auf einem niedrigen Hügel jener Ort, den am gestrigen Abend die alte Reichsgräfin in ihrem Zorne genannt: der Vareler Rabenstein, und zeichnete seine düstern Formen wie eine dunkle Gespensterwarte auf die graue Nebelwand, die dahinter stand und nach dieser Richtung hin den Fernblick völlig abschnitt. Das war eine Umgebung, ganz geeignet, Gedanken düsterer Melancholie zu wecken und zu nähren.
Jetzt gedachte Ludwig des empfangenen Briefes, er zog denselben hervor, und stärker klopfte sein Herz – was konnte der Brief enthalten? Jedenfalls eine Ausforderung zum Kampfe auf Tod und Leben – nach dem was vorgefallen war, gab es keinen andern Weg der Sühne für beiderseitige unaussprechliche Beleidigung. Folgendes schrieb der Erbherr:
»Der gestrige Vorgang trennt uns beide für dieses Leben, keiner von uns darf und wird den andern mehr kennen. Verzeihen können wir einander die gegenseitigen, in maßloser Uebereilung ausgestoßenen Beleidigungen, aber vergessen können wir sie nicht. Ein Zweikampf wäre zwecklos und widersinnig, er wäre allzuungleich. Das Leben meines Gegners ist ein noch unbeschriebenes Blatt, es beginnt erst – warum sollte ich es zu vernichten trachten? Ich bin nicht mordlustig. Mein Leben aber gehört nicht mir allein, es gehört meiner Familie, es gehört noch höheren Zwecken, denen ich diene und treu dienen werde, es gehört meinem Vaterlande. Eines nur will [46]ich aussprechen, und das allein ist der Zweck, weshalb ich überhaupt noch einmal das schriftliche Wort ergreife. Die alte Frau – in ihrer stets ungerechten und unbeugsamen Härte, in ihrem unermeßlichen Stolze auf ihre Familie und ihre Abkunft – hat auf das Empfindlichste die Ehre der Familie angegriffen, der sie sich doch ohne Zwang verbunden hat. Wenn nun in meinem Gegner, wie sie zu sagen beliebte, wie in mir, das Blut jenes Ahnherrn, den sie nannte, fließt, so wird derselbe nicht wollen und wünschen, daß seine deutsche Abkunft wegwerfend behandelt und der französischen untergeordnet werde. Auch wir haben Familienehre, auch wir haben einen Namen von hellem Klang und guter Geltung, wenn wir auch nicht voll aragonischer Arroganz mit Königskronen und Sternenmänteln halbmythischer Personen prahlen. Nicht ererbter Glanz und hohe Namen eines wälschen Geschlechtes, das auch in den Schoos seiner Verwandtschaft eine Lucretia Borgia aufnahm, sondern Thaten, Thaten des Muthes, der Aufopferung und der Treue, haben unsern Vorfahren die Wege zu Ruhm und Ehre gebahnt. Jener berühmte William schwang sich durch seine Treue und Einsicht von einem Leibpagen empor zum Baron von Cirenchester, Viscount von Woodstock, zum Grafen – zum Herzog von Portland, zum Pair von England. Er war es, der Wilhelm den Dritten, Prinzen von Oranien, auf den Königsthron Großbritanniens hob, er war es, der den weltgeschichtlichen Frieden zu Ryswik vermittelte und zu Stande brachte, und den von langjährigen Kriegen erschöpften Ländern die Ruhe wieder gab. Das wiegt schwerer als das verdienstlose Glück, in weiblicher Linie von einem vertriebenen Titularkönige von Neapel abzustammen, dem Frankreich das Gnadenbrod bis zu seinem ruhmlosen Tode gab. Meine Vettern in England bekleiden hohe Aemter zu Lande und bei der Marine, sie sind Lords und Ritter des Hosenbandordens, die Töchter des Hauses vermählten sich in die angesehensten englischen Familien, eine mit einem Grafen von Essex, eine andere mit Wilhelm, Lord Byron, u. s. w. Mein Großvater war Präsident des Rathes der Staaten von Holland und Westfriesland, ein Herr zu Rhoon und Pentrecht, welche Herrschaften in Holland noch heute mir und Niemand sonst, als meiner Familie gehören. Der Zwist, in dessen Folge die Großmutter sich von dem Großvater trennte, entsprang über die von [47]ihrer Familie allerdings herrührenden deutschen Güter, und die so oft von der Ersteren im Munde geführte Beraubung ist nichts, als die vom Reichshofrath in Anspruch genommene Hülfe Dänemarks zum Behufe der Wiedereinsetzung meines Vaters in seine wohlerworbenen Rechte. Daß Streitigkeiten zwischen der englischen Linie des Hauses und der niederländischen entstanden, hervorgerufen durch die verschiedenartigsten und ungeheuer verwickelten Rechtsansprüche an die so zerstreut und fern von einander liegenden Besitzungen, ist genugsam bekannt, doch auch erwiesen, daß sie in Güte und für ewige Zeiten feierlich vertragen wurden, und nur die Großmutter ist es, die unaufhörlich ihre an das Fabelhafte grenzenden Ansprüche immer auf’s Neue erhebt, und wiederum auf neue sinnt, wenn man sich irgend geneigt zeigt, in einem und dem andern Punkte nachzugeben. Es ist vorauszusehen, daß nur ihr Tod diesen verwickelten Knoten lösen wird.
Mein Gemüth kennt keinen Haß, keine Rache, auch keinen Neid – nie habe ich gesucht, in ein Familiengeheimniß einzudringen und den Schlüssel einer dunkeln Abkunft zu finden, nie darnach gefragt, mit welchem Recht oder mit welchem Unrecht ein junger Mensch gleichsam als Sohn des Hauses im Hause und als der Großmutter bevorzugter Liebling auferzogen wurde, wenn auch oft durch Andere die Frage darnach an mich gethan ward. Gefällt es der Großmutter, die so gern verhüllt und verheimlicht, den Schleier zu heben, und finden sich dann Rechte an das Familiengut, so werde ich sie gewiß nicht antasten; finden sich aber keine rechtsbegründeten Ansprüche, und werden deren dennoch erhoben, so weiß ich, was ich mir und dem Namen, wie der makellosen Ehre meiner Familie schuldig bin. Damit wünsche ich dem Herrn Prätendenten Glück auf den Weg, und zeichne
Wilhelm Gustav Friedrich,
des heiligen römischen Reiches Graf und regierender Souverain
von In- und Kniphausen etc.
Schloß Varel, am 20. März 1794.«
Mit eigenthümlichen Gefühlen las Ludwig diesen Brief. Der Anfang hatte ihn versöhnt, der Schluß verletzte ihn wieder, das heiße Jugendblut kochte in ihm auf, und Glut trat auf seine Wangen.
[48]So gibt er mir den Laufpaß, der mächtige »Souverain«, der Souverain über ein Paar Quadratmeilen Landes; und sieht mit Hohn auf mich, den nicht ebenbürtigen, ungesetzlichen Sprößling und Eindringling, herab! O Großmutter, Großmutter! Ich sag’ es noch einmal: wärst du doch gestern Abend nicht dazwischen getreten! Was soll mir das Leben mit einem geliehenen Namen, von dem ich nicht weiß, habe ich das Recht, ihn zu führen oder nicht? Ein Mensch ohne Namen ist wie ein Mensch ohne Schatten, beides ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wie sprach die Großmutter? »Du mußt das Dunkel deiner Geburt mit dir nehmen als deinen Schatten!« – Also ein Schatten ist meine ganze Habe, mein Erbtheil – mein Alles – mein Name ist ein Darlehn – auch nur ein Schatten, meine Geburt – meine Abstammung, meine Herkunft – Alles Dunkel und Schatten – so bin ich denn ein Dunkelgraf – Hahaha! Es ist gleich sehr lächerlich, wie zum Verzweifeln!
Es war gut, daß Philipp die gereinigten Pferde vorführte und dadurch den trüben Gang der Gedanken des Jünglings unterbrach, den das Schmerzgefühl, sich namen- und heimathlos in die ihm fremde Welt hinaus gestoßen zu sehen, zu übermannen drohte. Sein Jugendleben war so schön und so sorgenlos, so freudenvoll und so glücklich dahin geflossen, wie ein heller freudiger Murmelbach muntern Laufs durch blumenvolle hellbesonnte Bergmatten rollt, und in Sprüngen über glattes Gestein und glänzende Kiesel hüpft. Treffliche Lehrer hatten ihn gut unterrichtet; ohne auf die Bahn eines Gelehrten geführt werden zu sollen, hatte man ihm doch eine Grundlage von der Kenntniß der alten Sprachen beigebracht, aber Ludwig sprach und schrieb auch gleich geläufig deutsch und holländisch, englisch und französisch. An den ritterlichen Uebungen des Reitens, Fahrens, Fechtens, Eislaufens, wie an den Künsten des Weidwerkes im Wald, auf Feld, auf Fluß und im Meere, war kein Unterricht gespart worden. Der junge, körperlich zart, aber doch kräftig entwickelte Mann vermochte das wildeste Roß zu bändigen, ein Boot durch stürmisch empörte Wellen glücklich zu rudern, und hatte stets Gefallen an solchen Uebungen der Kraft und Gewandtheit gefunden. –
Wohin denn reiten der junge gnädige Herr? mit dieser Frage riß Philipp den Sinnenden aus seinem grübelnden und brütenden Nachdenken, [49]und diese Frage war eine äußerst wichtige, denn es gab nur zwei Wege, einer, der nach Norden zu den Städten und Orten und Inseln der Nordseeküste führte, und ein zweiter, der in gerade entgegengesetzter Richtung nach dem Herzen des Herzogthums Oldenburg und nach dessen Hauptstadt leitete; doch trat dem neuen Herkules am Scheidewege beim Clushof weder eine Gestalt der Tugend, noch eine des Lasters nahe, sondern nur die Gestalt des Bauers und seines Knechtes, die nach einem Trinkgeld für ihre Bemühung lungernd die groben schmutzigen und arbeitgewohnten Hände aufhielten.
Wohin wir reiten, Philipp? fuhr Ludwig aus seinen träumerischen und selbstquälerischen Gedanken auf, indem er die Ansprüche des Bauers und des Knechtes zu befriedigen Anstalt traf; denn wahrlich, er hatte an diese Frage selbst noch nicht gedacht, er hatte keine Absicht, keinen Plan, keinen Zweck, nie wurde mehr ein Ritt ins Blaue hinein, was in das Friesische übersetzt: ins Nebelgraue hinein lautet, angetreten, und so sah sich der Graf Ludwig wider Verhoffen und fast willenlos zu einem fahrenden Ritter und Abenteurer durch des Schicksals Willen gestempelt. Er überdachte einige Augenblicke die an ihn gestellte Frage und erwog deren Schwere. »Nach den Niederlanden!« Dies setzte sich in ihm als Hauptgedanke fest, aber welchen Weg dahin einschlagen? Den endlos langen einförmigen über Oldenburg, Quaakenbrück und Lingen, oder den an der frischen Nordsee, durch Friesland, wo täglich, ja stündlich sich Gelegenheit bot, zu Schiffe zu gehen und die Welt zu durchfahren? Nordwärts lichtete sich der Himmel und die Ferne, und die Bockhorner Mühle ließ ihre gewaltigen Flügel, ein Spiel des Windes, rasch umdrehen; südwärts schleierte die stehende Nebelwand alles ein, und so kam es, daß Ludwig, zumal ihm zu rechter Zeit die abschreckende Schilderung einfiel, welche ihm vor wenigen Stunden noch der Haushofmeister seiner Großmutter, Herr Windt, von seinem Wege gemacht, raschen Entschlusses auf seine Isabelle sich schwang und dem Diener, der ein Gleiches auf seinen Braunen gethan, gegen Bockhorn zu auf der sandigen Haidestraße voransprengte, bis es nöthig wurde, die Thiere wieder im gemachsamen Schritt gehen zu lassen. Der Weg war besser, und führte in schnurgerader Linie nach und durch Bockhorn, von da am Blauhand Grod und an cultivirtem und nicht cultivirtem Geestland [50]vorüber, bis fast nahe zu den Deichdämmen des Jahdebusens, in die Herrlichkeit (soviel als Herrschaft) Gödens hinein und hindurch und endlich in die Herrlichkeit Kniphausen.
Schon erhob sich vor den Blicken des Reiters das stattliche alterthümliche und feste Herrenschloß. Ludwig dachte nicht daran, auf dasselbe, das Besitzthum des Mannes zuzureiten, der sein einziger, aber auch zugleich sein bitterster Feind war, sondern wollte dasselbe rechts liegen lassen, mit seinem Diener noch bis Jever reiten, und dort Nachtrast halten. Ludwig kannte jenes Schloß; die Großmutter hatte mit ihm auch dort bisweilen gewohnt, da der Vetter meist sich in den Niederlanden aufhielt, es war groß und reich ausgestattet. Die Gedanken des jungen Grafen konnten sich, so lange er in dem Bereiche der Besitzungen der Familie sich befand, in der er sich selbst von den ersten Jugenderinnerungen an gefunden und heimisch gefühlt, von dieser nicht losreißen. Er dachte beim Anblick des Schlosses auch an den jüngern Vetter, den Grafen Johann Carl, der sein Vaterland verlassen hatte, um in England Kriegsdienste zu nehmen. Dieser hatte sich mit dem älteren Bruder nie recht vertragen. Ebenso war der Oheim, der zweite Sohn der Großmutter, in englischen Seedienst gegangen, hatte sich dort vermählt und eine jüngere Linie begründet. Diesen hatte Ludwig nicht gekannt; er war vor des Letzteren Geburt bereits im Jahre 1775 verstorben. –
Als am Morgen dieses Tages der Erbherr mißmuthig und schweigsam aus dem Schlosse Varel fuhr, war es seine Absicht, nur bis zum Strande zu fahren, und sich auf seiner Jacht einzuschiffen, seine Dienerschaft aber, bis auf die nöthigste, wieder zurückzusenden. Mit aufgeregtem und grollendem Gemüth, und weit mehr von Haß und Aerger gegen die Großmutter, als gegen den ihm im Wege stehenden Verwandten erfüllt, sehnte er sich wieder auf das Meer, dessen stürmisch bewegte Wellen zu dem unruhevollen Wogen seines Gemüthes paßten. Er wollte dann in rascher Fahrt aus dem Jahdebusen steuern und längs der Inselkette der Nordseeküste, von Wangerooge bis Norderney und Ameland segeln, dann durch die Watten in die Zuyder-See einlaufen und Amsterdam gewinnen, wo jetzt der Schauplatz seiner politischen Thätigkeit war. Vor der Einschiffung aber wollte der Graf einen Weg, den seine Vorfahren um die Mitte des Jahrhunderts angelegt hatten, der in Abfall gekommen und durch ihn erneut worden [51]war, besichtigen und mit eigenen Augen schauen, da er sich einmal im Lande befand, in welcher Weise seine Aufträge vollzogen worden seien. Dieser neue Weg führte über das Gehöft Buppel zu einem zweiten, welches vorzugsweise den Namen: »beim neuen Wege« führte, übersprang dort das kleine Flüßchen Wapel und führte über Heupult nach Jahde, dessen 1523 erbaute Kirche stattlich in Mitten der Häuser des bedeutenden Dorfes stand, welche sich wie ein großer Zug wilder Gänse, oder in Form des Gestirns der Hyaden unabsehbar erstreckten. Mitten hindurch rann das Flüßchen Jahde und ringsum wurde außer den Häusern und wenigen vereinzelten Bäumen nichts erblickt, als Dämme und Deiche, die Zeugen des ewigen Kampfes der die Ufer bewohnenden Menschen mit dem gewaltigen Element des Wassers, das fort und fort wühlend, steigend und fallend, fluthend und ebbend, mit jedem Wellenschlage der Fluth wiederholend und drohend anpocht, und verheißt, seine Drohungen wahr zu machen, die es schon oft und zum starren Entsetzen ganzer, großer, weiter und blühender Landstrecken wahr gemacht hat.
Graf Wilhelm Gustav Friedrich fand den neuen Weg vortrefflich und besser als die Wege außerhalb seiner Herrlichkeit, und fuhr nun in etwas erheiterterer Stimmung über die Vareler Groden nach dem großen und hohen Deichdamm, der in unermeßlicher Zickzackausdehnung den Jahdebusen und seine Geesten umfängt. Als das Deichthor geöffnet war, rollte der Reisewagen rasch über die harte Kiesfläche des unfruchtbaren grobkörnigen Meersandes, dem Jahder und Wapler Siel vorüber und dem Vareler Siel zu, wo die »schöne Susanna«, so hieß die Jacht des Grafen, vor Anker lag. Des Grafen scharfer Blick fand sie bald unter den andern in der Bucht geankerten Fahrzeugen heraus, aber dieser Blick verfinsterte sich, als er mit kundigem Auge entdeckte, daß das Schiff nicht segelfertig sei, und er entsann sich jetzt mit Verdruß, daß er vergessen hatte, dazu Befehl zu geben, vielmehr wußten der Steuermann und die wenigen Matrosen, die der Dienst des kleinen Schiffes erforderte, nicht anders, als der Gebieter werde mehrere Tage am Lande bleiben, daher auch sie sich an demselben nach ihrer Art von der widrigen Seereise zu erholen trachteten. Noch mehr aber stieg der Unwille des Grafen, als er am Hafenplatze den Zimmermann seines Schiffes mit einigen am Lande geholten Arbeitern [52]antraf, der eben nach der Jacht sich zu begeben im Begriff war, und meldete, das Schiff habe eine Beschädigung erlitten, zu deren völliger Ausbesserung mehr als die Zeit eines Tages erforderlich sei, eher könne die schöne Susanne ohne große Gefahr nicht wieder in die See gehen. Da half weder Zürnen noch Schelten, an welchem der Erbherr, ohnedies in der übelsten Stimmung, es nicht fehlen ließ; er mußte sich in das Unvermeidliche fügen, und da er mit seiner Dienerschaft und den Pferden nicht am Strande verweilen konnte, so blieb ihm nur die Wahl, entweder nach Varel zurückzukehren, oder nach einem andern in der Nähe gelegenen bedeutenderen und für ihn angemesseneren Orte zu fahren.
Zur Rückkehr konnte sich der Graf unmöglich entschließen, denn sein schneller Weggang sollte für die Großmutter eine Strafe sein – er faßte daher rasch seinen Entschluß, befahl, daß die Jacht sogleich nach ihrer Wiederherstellung in fahrbaren Stand durch den Busen hinab, an der Ecke von Heppens vorbei, in die Jahde-Strömung einfahren und am Rustringer Siel anlegen sollte. Als dieser Befehl gegeben war, fuhr der Graf längs des sich endlos vor ihm ausdehnenden, vielfach gewinkelten Deichs (Dammes) bis hinunter zur Dan-Geest, ließ das Salze-Brak rechts, fuhr am Ellenser Grod hin, und verließ erst drunten beim Marien-Siel den Deichwall, um aus dem Gebiete des umfangreichen Jahdebusens weiter nordwärts zu eilen. Es verging eine gute Anzahl Stunden, durch mancherlei Aufenthalt und der Wege Unfahrbarkeit, bevor der Graf das Oertchen Accum erreichte. –
Graf Ludwig nebst seinem Diener Philipp ließen ihre Rosse gemachsamen Schritt gehen, als sie von weitem eine Kutsche, die mit vier Apfelschimmeln bespannt war, auf sich zukommen sahen, und plötzlich rief Philipp aus: Sind die toll, oder was ist das? – und Ludwig gewahrte jetzt auch, daß die Pferde in den rasendsten Sätzen galoppirten, daß der Wagen gar nicht mehr auf der Fahrstraße war, daß er schwankend und wankend wie eine Feder emporhüpfte, wenn es über einen durch das Marschland gezogenen schmalen Wassergraben ging, jeden Augenblick umzustürzen drohte, daß der Kutscher wie ein Wüthender an den Strängen zog und zerrte, und bereits den Hut verloren hatte, und daß für Menschen und Thiere die augenscheinlichste [53]Todesgefahr vorhanden war. Das ist ein Unglück! die Pferde gehen durch! – Dies rufend und sein Pferd in Galopp setzend, dem Wagen entgegen, war von Seiten Graf Ludwig’s das Werk eines Augenblicks, Philipp folgte nicht minder rasch dem Beispiele seines Gebieters. Wenn jener Wagen nur noch eine Minute lang in dieser Weise fuhr, so stürzte Schiff und Geschirr und alles in das zwar schmale, aber tiefe Flüßchen, die Made, die von Dickhusen her den Weg kreuzte. Mit einem furchtbaren Satze flog die kräftige Isabella über das Bette des Flüßchens, und Philipp’s Brauner wollte sich nicht an Bravheit von jener übertreffen lassen. Auf Tod und Leben jagte der Graf den durchgehenden Pferden entgegen, Philipp sah mit einem Blick voll Schreck, welcher Gefahr derselbe sich selbst tollkühn aussetzte, stach seinem Rosse die Sporen noch einmal in die Seite und überholte die Isabella, um mit kühner Todesverachtung den ersten Anprall selbst zu empfangen.
Wenige Secunden später, und in einen furchtbaren entsetzlichen Knäuel verwickelt wälzten sich Rosse und Mann am Boden, Philipp hatte sein Pferd gerade auf die entgegenstürmenden über und über mit Schaum bedeckten wilden Pferde losgetrieben, der Graf folgte alsbald und hatte Noth, nicht auch zu stürzen. Die vordern Pferde lagen, die hintern standen zitternd und bebend und heftig schnaubend, immer noch versuchend, sich zu bäumen, und an den innern Seiten war beiden die Haut furchtbar blutig und zerrissen. Philipp arbeitete sich unter den Pferden hervor, wie durch ein Wunder war er unverletzt, der Kutscher sprang, von unerhörter Anstrengung schweißtriefend und an allen Gliedern zitternd, vom Bock, und suchte seinen Pferden aufzuhelfen; der Wagen, ein starker fester Bau, sonst wäre er auf diesem Wege zertrümmert, stand – von fern her liefen einige Menschen herbei, der Jäger und der Jokei, welche bei den heftigen Stößen von ihrem Sitz im hintern Halbtheil des Wagens herabgeschleudert worden waren. Der Graf ritt rasch zum Schlage, – da lag ein marmorbleiches schönes Frauenbild, wie eine geknickte Lilie in regungsloser tiefer Ohnmacht, und ein zartes Kind, ein Mädchen zwischen drei und vier Jahren, umklammerte mit seinen Händchen die Kniee der Mutter und barg sein blondes Lockenköpfchen in deren Schoos, ebenfalls ohne sich zu regen; der Mutter Arme und Hände waren um das Kind [54]angstvoll geschlungen. Rasch schwang sich der Graf vom Roß, riß den Schlag auf und hob das Kind heraus.
Onkel Ludwig! Wir todt! sprach das Kind. Mutter hat sagt: Mariechen – wir todt!
O Himmel, die Gräfin! seufzte Ludwig erschüttert und sprach zu dem Kinde, einen flüchtigen Kuß auf dessen Stirn hauchend: Nicht todt, nicht sterben, kleine Marie, nicht sterben, nicht todt sein!
Doch – Mutter – sterben, Onkel Ludwig! stammelte das Kind und weinte. Das wolle Gott nicht; die gnädige Gräfin ist nur ohnmächtig! Mit Hülfe der herbeigeeilten Dienerschaft und des Wassers der Made geschah alles Nöthige, die ohnmächtige Gräfin in das Leben zurückzurufen; es fand sich im Wagen ein Fläschchen mit kölnischem Wasser. Decken wurden auf den neu hervorsprossenden Rasenteppich gebreitet, die Gräfin wurde sanft und vorsichtig aus dem Wagen gehoben, durch Kissen, die sich vorfanden, ihr Haupt gestützt, und so lag sie sanft und warm und weich, und Graf Ludwig kniete neben ihr und rieb ihr mit der von gewürzreichen Oelen gesättigten geistigen Flüssigkeit, die so falsch kölnisches Wasser heißt, und kölnischer Weingeist heißen sollte, die Schläfe.
Die Gemahlin des Erbherrn von In- und Kniphausen, Ottoline Friederike Louise, geborne Gräfin von Lynden-Reede, Tochter des holländischen Gesandten am königlichen Hofe zu Berlin, schlug die Augen auf, und hauchte nach einigen Secunden: Marie! Meine Marie!
Da bin, Mama! rief das Kind.
O Gott, o Gott, Dank! seufzte die Mutter, und richtete sich empor. Verwundert fiel ihr Blick auf die veränderte Umgebung, auf den um sie bemühten ihr wohlbekannten jungen Mann, auf ihr sich zärtlich an sie anschmiegendes Töchterchen, auf die verwirrte und bestürzte Dienerschaft – doch kehrte ihr schnell Erinnerung und besonnene Fassung zurück. Dort stand der Wagen, dort schnaubten noch die wieder aufgerichteten Pferde stark und heftig, und jetzt sprach Ludwig: Gnädige Frau Gräfin, das war eine entsetzliche Gefahr! Dem Himmel sei Dank, der mich durch wunderbaren Zufall auf diesen Weg führte!
Sie sind es, Vetter! erwiederte die junge Reichsgräfin, und versuchte sich zu erheben, wobei sie aber seiner Unterstützung bedurfte, und mit einem schmachtenden Blick aus ihren schönen blauen Augen [55]ihn lohnend, blieb sie sanft an ihn gelehnt, der ihr eine starke Stütze war, und suchte ihre dahin geschwundene Kraft mit leisem Erathmen zu sammeln.
Da nahte diesem Paare der Kutscher und stürzte in die Kniee vor den beiden Gebietern: Gnädigste Frau Gräfin, gnädigster junger Herr, üben Sie Barmherzigkeit und verzeihen Sie mir! Unversehens stieß die Wagendeichsel beim Ausfahren aus dem Schlosse an einen Prallstein, ohne daß ihr Bruch erfolgte, sonst würde ich denselben gewahrt haben; ich fuhr daher ohne irgend eine Sorge weiter; plötzlich während der Spazierfahrt brach das vordere Holz der Deichsel splitternd ab, und das hintere Theil verwundete nun ebenso plötzlich mit seiner scharfen Spitze die Pferde fort und fort, die dadurch wüthend wurden und durchgingen, und auf die andern Pferde einhieben, daß auch diese wie toll mit von dannen rannten. Wenn der junge gnädige Herr nicht im einzig möglichen Augenblick der Rettung dazukam, so wären wir vielleicht jetzt alle todt, denn die Pferde hätten sich sammt dem Wagen in die tiefe Made gestürzt, auf die sie unaufhaltsam zuliefen. Ich bin unschuldig, das kann ich bei Gott beschwören! – Todt! todt! rief schaudernd die junge, schöne, im vollen Leben reizend blühende Gräfin aus. Todt – ich und meine kleine Marie! – Stehe auf, Klas – mir schaudert. Ich will dir glauben! – Nicht todt, Mama! rief das Kind zu ihr hinauf und langte mit seinen Händchen nach der Hand der Mutter.
Und Sie mein Retter! der Retter meines Lebens, und meines theuren Kindes! rief die Gräfin zu dem ritterlichen Jüngling, der mit mannigfach einander widerstreitenden Gefühlen vor ihr stand.
Zurück nach dem Schlosse! Sie kommen mit, Cousin! sprach Ottoline. Sie hatten uns wohl ohnehin und ohne Zweifel Ihren Besuch zugedacht?
Ich danke, gnädige Gräfin, erwiederte Ludwig verwirrt. Ich war nicht auf dem Wege nach Schloß Kniphausen, ich wollte – zur Seeküste. Ein glücklicher Zufall führte mich Ihnen zur günstigen Stunde entgegen, und ich danke diesem – aber –
Aber? Mein junger Cousin? wiederholte die Gräfin. Wollen Sie Ihren Ritterdienst nur halb thun? Soll ich hier harren, bis vom Schlosse ein anderer Wagen geholt ist? Sehen Sie nicht, daß [56]der Abend naht, und wie ich angegriffen bin? Oder soll ich bis zum Schlosse mit dem Kinde gehen? Denn fahren kann ich doch nicht ohne Deichsel und mit diesen Pferden – und wir sind über eine Viertelstunde von Kniphausen entfernt. Das hilft Ihnen nun nichts, mein lieber Lebensretter. Ich besteige das Pferd Ihres Dieners, nehme mein Kind vor mich, Sie begleiten mich und Ihr Diener folgt mit meinen Leuten, Pferden und dem Wagen uns nach. Wissen Sie einen bessern Rath?
Dann bitte ich nur unterthänig, meine Isabelle, die sanft geht, zu besteigen, und mir die holde Last der kleinen Marie anzuvertrauen, antwortete Graf Ludwig, einsehend, daß er nicht anders könne, als die Gemahlin seines bittern Feindes zu geleiten, es möge daraus folgen, was da wolle.
Auf dem in angedeuteter Weise erfolgenden Rückwege nach dem Schlosse, das in heller Beleuchtung der Frühlingssonne erglänzte und dessen hohe zahlreiche Spiegelfenster diesen Glanz weithin über die flache Gegend zurückstrahlten, sprach die Gräfin zu dem neben ihr reitenden hülfreichen Beschützer, der ihr munter und freudvoll jauchzendes Kind sorglich vor sich hielt: Daß mein Mann in Varel ist, wissen Sie ohne Zweifel. Er eilte eigens von Amsterdam dorthin, um mit seiner alten Großmutter wieder einige der ewigen Familienstreitigkeiten zu schlichten, und einen Vergleich abzuschließen, und hat mir geschrieben, daß er nach drei bis vier Tagen hoffe, auf unserm Schlosse bei mir hier eintreffen zu können. Er werde, wenn er könne, seine Jacht im Rustringer Siel beilegen, dahin wir nur eine gute Wegstunde haben, einen oder zwei Tage hier verweilen, und dann die Rückfahrt zur See nach Amsterdam antreten. Ohne Zweifel kommen Sie doch von Varel, Cousin – was wissen Sie von meinem lieben Mann?
Welche Pein diese unbefangenen Fragen der im höchsten Grade liebenswürdigen Frau dem jungen neben ihr reitenden Mann verursachten, läßt sich nicht schildern. Er erwiederte, indem wechselnde Gluth und Blässe sein Gesicht überflog: Gnädige Gräfin – allerdings komme ich von Varel, aber um nie wieder dorthin zurückzukehren – und der mich von dort wegtreibt, ist – Ihr Gemahl!
Wilhelm? Mein Mann? fragte die Gräfin mit großem Blick.
[57]Ein unseliger Auftritt zwischen uns Beiden trennt uns für immer – das kam wie ein Blitz – ein unbedachtes Wort von mir, das bei meiner Ehre! nicht verletzen sollte, reizte ihn zu maßloser Heftigkeit – auch in mir flammte nun Zorn auf – es fiel hartes Wort um hartes Wort, und ich – gehe – denn ich habe in Varel nichts mehr zu suchen. Auch Ihr Herr Gemahl, gnädige Frau Gräfin, verließ noch vor mir Schloß Varel – wahrscheinlich um zurückzureisen, denn auch mit der Großmutter, die zwischen uns trat, nicht versöhnend, sondern heftig und zürnend, scheint er alles Angebahnte abbrechen zu wollen. Jedenfalls hat der Graf sich auf seine Jacht begeben, doch weiß ich dies nicht gewiß, da ich den Weg über Bockhorn einschlug. Aus diesem allen ersehen Sie, gnädige Frau Gräfin, daß ich ganz unmöglich Ihr Schloß betreten kann und darf, das Haus eines Mannes, der mich haßt und mich, was mir noch schwerer fällt zu tragen, verachtet.
Das ist ja eine schmerzlich betrübende Mär, die Sie mir da verkünden, mein Cousin! versetzte die Gräfin Ottoline. Aber das Alles hilft Ihnen nichts, Sie müssen dennoch mit mir auf unser Schloß. Hat mein Mann Sie beleidigt, so ist er ganz gewiß der Mann, keine Genugthuung zu verweigern, die Sie irgend fordern können, dafür kenne ich ihn, dafür kennen auch Sie ihn sicherlich – und haben Sie ihn und wär’ es tödtlich, beleidigt, so muß er Ihnen vergeben, um meinetwillen, um unsers lieben Kindes willen, meiner süßen Marie, die sich jetzt so sanft und traulich an ihren ritterlichen Lebensretter schmiegt.
Wenn Ihr Herr Gemahl, wie zu erwarten steht, käme, und mich in seinem Schlosse fände, nach dem, was zwischen ihm und mir vorgefallen – was hätte ich zu erwarten? Jedenfalls neue Beleidigung, neue Demüthigung, sprach der junge Graf. Darum bitte ich noch einmal ganz unterthänig, an des Schlosses Pforte mich mit meinem Diener zu entlassen. Es wird das Glück meines künftigen Lebens [58]ausmachen, und ich werde stets dem Himmel dafür danken, daß mir vergönnt wurde – was wir gewiß für eine Fügung Gottes halten dürfen – Ihnen den heutigen Dienst mit Hülfe eines treuen Dieners zu leisten – aber bleiben kann und darf ich hier nun einmal nicht!
Es ist die feurigste aller feurigen Kohlen, die wohl je auf eines Feindes Haupt gesammelt ward, entgegnete die Gräfin: aber mein lieber Cousin, Sie sind nun schon in meinem Bann, hier bin ich Herrin und Verweserin der Herrlichkeit Kniphausen, ich lasse Sie nicht los, Sie sind jetzt mein mir auf Gnade und Ungnade ergebener Gefangener. Wo wollten Sie denn nun auch noch hin – da der Abend schon anbricht? Und Sie wissen ja, daß in unserm Hause die Ungnade als Ahnfrau umherspukt! Wie befindet sich denn unsere noch lebende Ungnade, die Alte?
Wenn diese Frage ihrer Excellenz der alten Frau Reichsgräfin Charlotte Sophie gilt, versetzte Ludwig, in etwas durch die spöttische Weise verletzt, welche die letzte Rede Ottolinens zu einer Spitze schliff, so kann ich berichten, daß hochdieselbe nach den Umständen, die deren hohes Alter mit manchem Weh begleiten, sich leidlich wohl befinden.
Ich höre das immer gern, lenkte die Gräfin ein. Wie schroff und wunderlich auch diese alte Frau erscheinen mag, wie wenig Grund wir auch haben, sie zu lieben, achtungswürdig ist sie mir stets erschienen. Auch ist sie Pathe meiner Marie Antoinette Charlotte. – Wir alle werden nicht besser mit den wachsenden Jahren, und ändern kann sich nun einmal eine Frau von neunundsiebenzig Jahren nicht mehr.
Wie auch immer das Urtheil der hohen Familie über diese würdige Greisin gefällt werde, hold oder abhold, günstig oder ungünstig – versetzte Ludwig: mir steht sie hoch und gilt sie viel. Meine dankbare und liebende Verehrung gegen sie kann und wird nur mit meinem Leben enden – und das eben war es, was ich gegen Ihren Herrn Gemahl äußerte, daß ich nicht glaube, sie werde ihm Ungerechtes ansinnen, und was ihn so furchtbar gegen mich in Harnisch brachte, daß er seiner selbst vergaß.
Lassen Sie uns von all diesem doch lieber jetzt ganz schweigen, mein lieber Cousin! erwiederte die Gräfin ernst und voll der mildesten Freundlichkeit. Es kann sich alles wieder zum Guten und Rechten lenken [59]lassen. Jetzt sind wir hier und die gute Stunde sei die unsere. Ich heiße Sie von ganzem Herzen im Schlosse Kniphausen willkommen.
Es war hier gar nichts Anderes für Ludwig zu thun, als dem edeln Willen zu gehorchen – die Herrin ließ ihn in ein Empfangzimmer geleiten, wo sie ihn ihrer zu harren bat, und indem sie sich in ihr Zimmer zurückzog, gebot sie der Dienerschaft, für Herrn und Diener und deren Pferde die größte Sorge zu tragen. Diese Dienerschaft war ganz erstaunt und verwundert, die Herrin und das Kind so ankommen zu sehen, und nach einer Weile erst die Leibdiener mit dem Kutscher und den blutenden und abgehetzten Pferden, von denen das eine sich im Stalle sogleich auf seine Streu legte und nach einigen Stunden todt war.
Graf Ludwig sah sich mit unruhvoll klopfendem Herzen allein in dem prachtvoll ausgestatteten Zimmer, und wünschte sich weit hinweg, so sehr ihn sein Ritterdienst freute. Aber wenn der Erbherr ankam – um keinen Preis hätte er doch hier ihm gegenüberstehen mögen, und deshalb war er von Unruhe erfüllt, die er durch Betrachtung der Gegenstände, die das Zimmer darbot, zu beschwichtigen suchte, da er einsah, daß sie doch nichts in seiner dermaligen Lage ändern könne und werde. Die Zimmerwände waren von flandrischen Tapisserien überkleidet, deren Gegenstände im großartigen Style Raphaelischer Kunstschöpfungen gehalten und meisterhaft gewirkt waren. Das Getäfel der Fensterwände war von Mahagonyholz gleich den tischhohen Vertäfelungen der Zimmerwände. Hochwerthvolle Portlandvasen standen auf den Marmorplatten der Spiegeltische und manch kostbares Kunstwerk war in dem reizenden Zimmer verstreut, dessen Aussicht nach Osten ging, wo der Blick ungehemmt über die Marschlandfläche auf den breiten Silberspiegel des Jahdestroms und jene Stelle flog, wo am sogenannten hohen Weg (eine Bezeichnung sandiger Untiefen), Jahde- und Weserausstrom sich einen. Dahinter begrenzte das weit nordostwärts sich hinstreckende Geestland und die Hügelwellen der Dünen um die Vogtei Werden die Fernsicht. Dieser Aussicht, welche Graf Ludwig längst kannte, ließ die innere Unruhe, in der er sich befand, keine lange Betrachtung vergönnen, er wandte sich wieder ab, ohne zu sehen, daß ein Reisewagen, von mehreren Männern zu Roß gefolgt, dem Schlosse sich rasch näherte.
[60]Des Grafen Blick weilte jetzt sinnend auf einem ganz außergewöhnlichen Kunstwerk, das auf einem eigens für dasselbe bereiteten Pfeiler von kostbarem Holze stand. Dieses Kunstwerk war fußhoch und stellte einen Falken dar, dessen Körper völlig aus Edelsteinen bestand, die dicht aneinander gereiht in eine steinharte Kittmasse eingefügt, den Kenner neben dem Werth als Kunstwerk auch den außerordentlichen Geldwerth dieses eigenthümlichen Prachtgeräthes erkennen ließen. Der Vogel stand mit hängenden Flügeln in ruhiger, aber wachsamer Stellung auf ungleichem Fußboden, der einen Felsen vorstellte. Die Augen waren zwei künstlich geschnittene Chrysoprase, die gelbe Hornhaut über dem Schnabel war aus Hyacinth gebildet, der Schnabel aus braungelblichem Chalcedon. Die Kopffedern waren eitel Rubinen, die der Flügel bestanden aus formgerecht zugeschnittenen Streifen von edlen Granaten, Pyropen und Smaragden, heller oder dunkler sich in ihren Lagen abschattirend; die lichten Stellen des Leibes deckten herrliche Opale, welche die Stellen der weißen Federn vertraten. Die Füße waren mit himmelblauen Türkissen überkleidet, und die schwarzen Klauen waren aus Labradorstein geschnitten und äußerst natürlich eingefügt[2].
[2] Dieses im Londoner Krystallpalast ausgestellt gewesene bewunderungswürdige, Deutschland leider entzogene Kunstwerk ist in der Londoner illustrirten Zeitung Vol. 19. Juli to Dec. 1851 S. 133 mit der Unterschrift: Jewelled Hawk, exhibed by the Duke of Devonshire abgebildet und ausführlich beschrieben.
Die Thüre ging auf, die Erbgräfin trat ein, Mariechen an der Hand und gefolgt von Dienerschaft, welche Erfrischungen trug. Ein leichtes Hauskleid umwallte die von dem Erlebten noch bleiche reizende Gestalt Ottolinens, die von zartem Bau und mittlerer Größe in ihrem ganzen Wesen die holdeste Lieblichkeit offenbarte.
Sie betrachten den Falken von Kniphausen, begann Ottoline. Wie doch unsere Gedanken sich begegnen! In diesem Augenblick dachte auch ich an dieses kunstvolle Geräth, ein Werk des berühmten königlich sächsischen Hofjuweliers Johann Friedrich Dinglinger, das für uns gar eine hohe und wichtige Bedeutung hat. Es ist ein Versöhnungspokal, ein werthes Erbstück der Familie, gefertigt zum Andenken an eine freudige Einigung in derselben nach langem betrübenden Zwiespalt, und heißt »der Falk von Kniphausen«.
[61]Ottoline erfaßte das Kunstgeräth, schlug leicht den Kopf des Vogels zurück und es zeigte sich, daß das Innere von glänzendem Golde war Einen Diener herbeiwinkend, füllte die Erbgräfin den goldenen Becher mit dem edelsten Wein, während Graf Ludwig die kleine Marie, die zutraulich, als die Mutter ihre kleine Hand los ließ, zu ihm hingetrippelt war, zu sich emporhob und mit eigenthümlichen Gefühlen das schöne Kind liebkosend an sich drückte.
Die Gräfin kredenzte nippend den köstlichen Wein im köstlichsten Trinkgeräth, und sprach, indem sie den Pokal dem Grafen darbot, von Gefühl bewegt und überglüht von einer schönen Wärme des Gemüths: Ich bringe es Ihnen, Cousin, zum Dankeszeichen für Ihre hochherzige That, die ich nie vergessen werde, die dieses, mein mitgerettetes Kind, nie vergessen soll. Sie entrissen mich dem Tode, erhielten mein Leben meinem Gemahl, meinem Mariechen und meiner kleinen erst acht Monate alten Ottoline. Ich kann Ihnen nichts bieten, als das Gefühl innigster Dankbarkeit und lebenslänglicher Freundschaft.
Möge diese Lebensdauer eine glückliche und gesegnete sein bis zu der Tage fernster Ferne! rief Ludwig, indem er aus Ottolinens Hand den Becher ergriff, und mit gehobenem Gefühl seine Augen fest auf ihre himmelvollen Augensterne richtend, ihn zum Munde führte. Draußen im Vorsaal ein starker männlicher Tritt und Schritt, ein rasches Oeffnen der Thür, und der Erbherr stand in ihr, wie angewurzelt, seinen Augen nicht trauend, wie von Eis übergossen.
Wilhelm, mein Wilhelm! rief Ottoline freudig überrascht aus und flog an seinen Hals, aber mit einem finstern Blick nur erwiderte der Erbherr diese Liebkosung und sprach schneidend: Ich störe hier! – indem er zurücktreten zu wollen schien. Erschrocken und ebenfalls im hohen Grade betroffen setzte Ludwig den Becher auf den Tisch und ließ das Kind auf den Boden gleiten; dieses aber wollte ferner von ihm auf dem Arm gehalten sein, und sagte: Onkel lieb! Mariechen tragen!
Ottoline fühlte die ganze Schwere dieser Augenblicke und den ganzen Eindruck, den die lebende Bildgruppe, die sich ihrem Gemahl sichtlich darstellte, auf ihn machen mußte – sie faßte rasch alle ihre geistige Kraft zusammen, und sprach zu dem Erbherrn: Mein Wilhelm, [62]nur jetzt um Gottes Willen keine Ungerechtigkeit! Hier steht der junge Held, dem du es dankst, daß du mich noch hast, daß unsere Kinder noch eine Mutter haben, daß unser Mariechen noch athmet. Ich habe ihm meinen Dank dargebracht nach altritterlicher Frauen Weise, wie du ihm danken wirst, muß ich deinem Gefühl überlassen. Ich weiß, du wirst so danken, wie es deiner würdig ist. – Der Erbgraf faßte sich mühsam, aber er faßte sich, und trat einige Schritte näher zu Ludwig, indem er das Wort nahm: Der Herr Vetter hört hier ein Echo der letzten guten Lehre, welche mir die Frau Großmutter gab; hätte ich doch kaum geglaubt, daß ein Schall von Varel bis zu Schloß Kniphausen reiche. Bin ich in der That so hoch verpflichteter Schuldner geworden, so will ich jetzt nicht mit Worten danken, sondern später durch Thaten. Niemand soll sagen, Schloß Kniphausen sei ein ungastliches Haus geworden, also bis auf Weiteres einstweilen zwischen uns – Waffenstillstand.
Froh bewegt, Thränen der Rührung und Freude in den Augen, eilte Ottoline zum Tische und ergriff den kunstvollen Becher, füllte ihn auf’s Neue, hob ihn gegen den Gemahl und sprach: Ich habe den Pokal dem Retter meines Lebens, dem theuern Gaste, kredenzt. Jetzt trinke auch du mit uns, mein Wilhelm, und sei eingedenk, daß dieser Pokal ein Denkmal ist erneuter Eintracht, die auf Zwietracht folgte, ein Symbol für friedliche und wohlwollende Gesinnung, daß die Stunde, die sein Entstehen aus Künstlerhand hervorrief, eine wichtigere, feierlichere nicht sein konnte, als diese, die wir so eben feiern – denn jene Versöhnung streitender Glieder einer getrennten Familie, die wieder zu einer einzigen werden wollten, galt doch nur dem Mein und Dein des irdischen Besitzthums, während wir ungleich inniger danken sollten für ein höheres neugeschenktes Besitzthum. Darum nicht Waffenstillstand, sondern – Versöhnung!
Hochgnädige Frau Gräfin, nahm Ludwig das Wort: Ihre Güte beschämt mich zu tief. Lassen Sie mich scheiden mit der Versicherung, daß Sie mir mehr als verdient, ja überschwänglich gedankt!
Die junge, im Jahre 1773 geborene, mithin erst im 21sten Lebensjahre stehende liebliche und anmuthvolle Frau, erst seit dem Monat October 1791 mit dem Erbgrafen vermählt, hatte keine Ahnung davon, wie sehr und wie tief sie den Stolz ihres Gemahls durch [63]ihre Worte und ihre Aufforderung verletzte. Sie glaubte, ihr liebevoll bittendes Wort und die Großthat des jungen Verwandten würden schwer genug wiegen, um allen Groll aus ihres Gemahls Gemüth hinweg zu bannen, denn noch nie hatte er ihr eine Bitte versagt, nie sie unfreundlich angeblickt, und es fiel ihm schwer genug, durch die politischen Verhältnisse und die Verpflichtungen, die er übernommen hatte, oft auf längere Zeit von ihr und seinen zarten Kindern getrennt zu sein. Mühsam rang der Graf nach Fassung, bewältigte sein inneres Widerstreben und sprach: Der junge Herr – kennt meine Gesinnung. Sollte noch irgend etwas auszugleichen sein, so stehe ich zu Diensten. Ich gehorche meiner romantischen Gemahlin und trinke aus diesem Falken von Kniphausen. Möge sein Wein nicht die Eigenschaft jenes Getränkes haben, das die Zauberjungfrau im berühmten Oldenburger Horn unserm Ahnherrn, dem Grafen Otto darbot. – Der Erbherr trank und reichte den Pokal an Ludwig.
Dieser hob erheitert und das Herz geschwellt von einer namenlos seligen Empfindung, wie er sie noch nie gekannt, das köstliche Trinkgefäß und sprach: Von ganzem Herzen trinke ich auf das Wohlgedeihen dieses hohen und edeln Hauses!
»Drink al ut!« sprach mit dem sanften Lächeln der schuldlosesten Heiterkeit Ottoline, jenen guten und schönen Spruch, den das Jungfrauenbild am Oldenburger Horne auf einem Zettel emporhält, und begeistert von so liebevollem Wort leerte der junge Graf den Goldpokal bis zur Nagelprobe. Sein Herz war viel zu unbefangen, ebenso wie das Ottolinens, völlig die doppelsinnige Schärfe der Anspielung des Erbgrafen zu verstehen; er gefiel sich in den Banden, welche hier Lieblichkeit und Anmuth mit Dankbarkeit und der seelenvollsten Güte eines jungen weiblichen Herzens um ihn schlangen, und hielt die Versöhnung für vollkommen.
Anderes ging im Gemüthe des Erbherrn vor; sein menschenkundigerer Blick sah eine drohende Doppelgefahr, welche schon, wie er wahrzunehmen glaubte, im Beginn schien, zwei ahnungslose Herzen zu umgarnen: der Scharfblick erwachender Eifersucht glaubte bereits Entdeckungen zu machen, welche die Anspielung auf jenes Wunderhorn der heimathlichen Sage rechtfertigten. Daher blieb Graf Wilhelm den Rest des Abends beim Thee ruhig und kalt-höflich, und sah es [64]nicht ungern, daß Ottoline, indem sie vom Schrecken der überstandenen Gefahr sich doch angegriffen fühlte, sich zeitig zurückzog. Scheidend gute Nacht wünschend, sprach sie noch zu dem Gaste: Morgen beim Frühstück, hoffe ich, wollen wir uns alle frisch und heiter zusammen finden; da soll noch einmal der Falk von Kniphausen kreisen, und dann sollen Sie auch unsere kleine liebe Ottoline sehen. Träumen Sie angenehm in unserm Schlosse! Gute Nacht!
Der Erbherr fand nicht für angemessen, allein bei seinem Gaste zu weilen – er gebot einem Diener, Ludwig nach dessen Zimmer zu bringen, und schied mit höflichem Wunsche.
Das von der jungen Erbherrin erwähnte Frühstück fand nicht Statt. Das von beiden Seiten erhoffte Wiedersehen unterblieb.
Die Erbherrin sah ihren Lebensretter nicht wieder. Ludwig begab sich in seinem Zimmer zur Ruhe. Holde Bilder der Schönheit und Anmuth umgaukelten ihn; das Feuer des alten auserlesenen Weines erregte ihm mächtig die Gluth der Sinne. Wie hätte er sogleich schlafen können nach Allem, was er vom gestrigen bis zum heutigen Abend erlebt! Fort mußte er doch; das fühlte er und wußte es gewiß, daß der Erbherr ihn nicht halten werde, aber wie ungern schied er nun!
Endlich warf der Schlummer doch sein Traumnetz über ihn. Rasch jagten sich des Traumes wechselnde Bilder, eine Zauberwelt voll Wahrheit und Dichtung, durch das Gehirn des Schlummernden – er hielt wieder den Falk von Kniphausen in seiner Hand und trank aus goldener Gluth die goldene Fluth. Aber die Rubinen brannten in seiner Hand wie Feuer. Ottoline schmiegte sich zärtlich an ihn an, ihre Kinder waren seine Kinder, sie küßte ihn und sein Herz wallte auf in namenloser Seligkeit. Da erneute der Traum die Scene des gestrigen Abends; der Erbherr stand ihm gegenüber mit der tödtlichen Waffe, und da stand auch wieder die Großmutter, als ob sie lebe, in der Glorie ihres starren Stolzes zwischen ihm und dem Erbherrn. Aber nicht Jenem galt ihr zürnendes, strafendes Wort, nicht vom Glanze ihres alten ahnenreichen Stammes sprach sie, sondern an ihn, an Ludwig richtete sie ernste Worte mit tiefer männlicher Stimme, fast dieselben, die Ludwig schon einmal vernommen hatte. »Halte, mein Kind, dein Herz frei und rein von allen unlauteren Trieben, wenn es dir auch schwer ankommt, und Neigung und Sinne [65]sich dagegen sträuben. Auch du wirst durch die schmerzlichen Flammen der Läuterung gehen – o gehe rein aus ihnen hervor!« – Diese Traumbilder schwanden schnell hinweg, andere traten an deren Stelle; lebensvolles Gewühl der Straßen und Märkte großer Städte, Waffenlärm der Heerlager, berghohe Meereswogen – Stürme und ruhige See – hohe Burgen und Schlösser – stille Thäler – eine Siedlerklause – eine dunkelschattende Kastanienallee – ein einsames Grab, und in dieses Grab hinabgesenkt alles Ringen und Streben, alles Jubeln und Bangen, alles Hoffen und Fürchten eines langen Erdendaseins – all’ sein Glück.
Als der Erbherr mit seiner Gemahlin allein war, und das Kind zur Ruhe gebracht, blickte er Ottoline eigenthümlich forschend an, ob sie den Blick vor ihm nicht senke, ihr Auge nicht in Verwirrung niederschlage; aber sie sah ihn völlig unbefangen an, und fragte nur, da sein finsterer Blick sie erschreckte: Bist du unzufrieden, lieber Wilhelm? Bist du nicht froh?
Ottoline, sprach er dumpf: es wendet mir das Herz im Busen um, zu erleben, was ich heute und gestern erlebt, daß ich kommen muß und sehen, wie meine Gemahlin den geheiligten Pokal mit ihren Lippen einem Menschen kredenzt, der in toller knabenhafter Hitze meine Mannesehre auf das Ehrloseste beleidigt und dessen Hand und Mund jenes Geräth für immer entweiht haben. Ich will den Falk von Kniphausen niemals wiedersehen, ich trank, von dir gezwungen gleichsam, zum letztenmal daraus. Dein überspanntes Gefühl der Dankbarkeit riß dich hin; daß er die scheugewordenen Pferde aufhielt, war seine Schuldigkeit – die Dienerschaft erzählte mir bei meinem Eintritt ins Schloß schon Alles – die Pferde wären auch wohl von selbst vor der Made stehen geblieben. Ein Mann von Ehrgefühl wäre nicht mit in mein Schloß gegangen.
O Gott! so hätte ich gefehlt, daß ich wiederholt in ihn drang, da er sich doch entschieden weigerte! rief Ottoline.
So? er weigerte sich also entschieden – und doch nicht entschieden genug – sein weiches Knaben-Herz vermochte nicht, der süßen Bitte des holden Mundes meiner Gemahlin zu widerstehen?
Der Ton, mit welchem der Erbherr dies sprach, füllte Ottolinens Herz mit Weh, ihre Augen mit Thränen; sie begann leise zu zittern.
[66]Du machtest mich machtlos gegen ihn, fuhr der Erbherr fort, ich konnte das Gastrecht nicht verletzen, konnte ihn nicht, wie er an mir verdient, aus dem Hause werfen – konnte aber auch die Größe seiner That nicht so hoch würdigen, wie du. Er ist ein Mensch ohne Geburt, ohne Ehre – wir können nicht ferner mit ihm verkehren – und da sein Dünkel und sein Bewußtsein, Schoosliebling der Großmutter zu sein, ihm jedenfalls Anlaß sein wird, die Belohnung, die ich ihm bieten könnte, zurückzuweisen, so mag er sich mit der, die du etwas vorschnell, nur von deinem Gefühl und nicht von Ueberlegung geleitet, ihm zu Theil werden ließest, genügen lassen.
Du machst mir Vorwürfe, Wilhelm? klagte mit matter, gebrochener Stimme Ottoline. O verzeihe mir, wenn ich fehlte – ich konnte ja nicht ahnen, daß –
Hätte er dir verhehlt, daß Spannung zwischen uns getreten? fragte forschend der Graf.
Nein, nicht ganz – er deutete mir an, indem er sich weigerte, mich zu begleiten und hier zu weilen, daß du ihm feindlich gesinnt seist, daß eine unbedachte Aeußerung seinerseits gegen dich, die auf Ehre nicht habe verletzen sollen, dich so sehr gegen ihn aufgebracht habe, daß du ihn haßtest, ja verachtest.
Und das Alles hielt dich doch nicht ab, ihn einzuladen? murrte Wilhelm. Es freut mich, daß er dir ehrlich die Wahrheit sagte, wie er es gewesen, der zuerst mich reizte. Wenn er dies fühlte, war es an ihm, zu widerrufen, aber was that er, als ich ihm heftig entgegnete? In wahnsinniger Wuth fluchte er mir, und mit mir dir, unsern Kindern, unserm ganzen Geschlecht. Ewigen Hader, ewige Verwirrung wünschte er auf uns herab! In seinen blindwüthenden Fluch wob er, da er doch wissen mußte, wie sehr ich dich liebe, Trennung ein zwischen dir und mir – zu einer Leibeigenen soll ich herabsteigen, Bastarde, wie er einer ist, soll ich mit ihr zeugen, die ganze Verwandtschaft soll mich hassen und verabscheuen, und in steigender Verarmung soll ich untergehen.
Das war zu viel für ein zartes, noch von keinem unreinen Gedanken beflecktes Herz. O Gott! o Gott! zu viel, zu viel! rief Ottoline, stieß einen leisen Schrei aus, fuhr mit beiden Händen nach ihrem Herzen, in dem sie einen Schmerz fühlte, als wenn Dolche [67]darin wühlten. Ihr vorhiniges Zittern ging in Zuckungen über, sie fiel in heftige Krämpfe – entsetzt sprang der Graf vom Stuhl auf und bog sich über sein schönes leidendes Weib. Mit stieren Zügen, die sich verzerrten, stieß Ottoline den Gemahl von sich, und er eilte außer sich vor Schmerz und neuerregter Wuth zur Klingel, welche die Kammerfrau herbeirief. – Es war sein Werk, Alles was vorging und folgte. –
Am andern Morgen, als Graf Ludwig sich erhoben, trat Jacob, des Erbherrn Jäger, bei ihm ein und meldete, daß sein Gebieter bedauere, das Frühstück nicht mit dem Gast theilen zu können, die Frau Erbherrin sei in der Nacht wahrscheinlich in Folge der gestrigen Aufregung und des Unfalles, tödtlich erkrankt.
Ludwig’s Herzblut stockte bei dieser Nachricht – er vermochte den nichtssagenden Wunsch baldiger Besserung kaum zu stammeln und den Auftrag, daß er sich der regierenden Herrschaft empfehlen lasse. Philipp wurde sofort mit dem Befehle entsendet, zu satteln.
In Gedanken der schmerzlichsten, schwermuthvollsten Art setzte Ludwig seine Reise fort; der Morgen war heute himmlischschön, nebelfrei – ein seltener Tag in dieser Küstengegend – aber Ludwig’s Gemüth erfreute sich heute nicht am schönen Himmel. Mancher Blick flog noch zum Schlosse Kniphausen zurück, dessen hoher Thurm erst dann den Blicken sich entzog, als Ostringfelde fast erreicht ward. Eine Welt voll Schmerz lastete auf des Jünglings Herzen. Das Dörfchen und Gut Ostringfelde liegt am Wege von Jever nach Varel, und der Weg von Kniphausen über Accum stößt dort auf den ersteren. Aus den malerischen Baumgruppen des gutsherrlichen Gartens erhob sich weit sichtbar und die Umgegend weit überschauend eine alte Warte, ein hoher viereckter Thurm, in jener Gegend ein seltener Anblick, denn der burgähnlichen größern Schlösser sind nur wenige im Lande, dessen Charakter so gänzlich abweicht von den an alten Burgen von malerischer Schönheit reichern Gegenden des mittleren Deutschlands.
Ha! der Marienthurm! – unterbrach in der Nähe dieser Warte Ludwig sein bisheriges Schweigen, indem er stillhielt und sich vom Pferde schwang. Halte die Isabella, Philipp! fuhr er fort, indem er den Zügel seines Rosses dem Diener zuwarf. Ich will noch einmal von da droben das Heimathland überschauen, das ich verlasse. Dieser [68]Ort ist mir lieb und wohlbekannt, hier in der Nähe ließ die Großmutter nach Münzen der alten Römer suchen, ich war dabei und es wurden deren auch wirklich gefunden.
Graf Ludwig betrat den Garten; es war ungewehrt, den alten Thurm zu besteigen, die Treppe war noch wohlerhalten, und die Zinne, damals noch nicht, wie in späterer Zeit, von neuerwachter Pietät mit einem Schieferdach gesichert, gestattete dem, welcher Lust hatte, von ihr einen Blick auf die Gefilde Ostfrieslands zu werfen, diesen Genuß in vollem Maaße.
Auch eine versunkene Herrlichkeit! sprach Ludwig zu sich selbst, indem er zunächst hinabblickte in des Thurmes nächste Umgebung: übergrüntes, von Schutt und Erde bedecktes Gemäuer in weiter Ausdehnung und verwilderte Gärten. Hier stand das bewunderte Schloß der Erbtochter Maria, der schönen Gemahlin Edo Wimmekens, wie die Großmutter mir erzählte. Und dieser Thurm ist der einzige sichtbare Rest jenes stolzen Baues, an dessen Stelle und aus dessen Steinen unten das niedrige Herrenhaus, einstockig und einförmig wie alle die Häuser der hiesigen Landgüterbesitzer, erbaut wurde, niederländisch reinlich, wohnlich und bequem eingerichtet, aber nie darauf berechnet, herrisch in die Ferne zu wirken, wie zum Beispiel Schloß Kniphausen.
Dort lag es, dort lag es, stolz und stattlich und von dieser Thurmhöhe gut erkennbar, das Schloß, nach welchem Ludwig so ernst, so sinnend, so sehnsüchtig und beängstigt zurück blickte, mit aller verzeihlichen Schwärmerei eines neunzehnjährigen Jünglings, den zum ersten Male in seinem Leben der Wunderstrahl des »ewig Weiblichen« berührt hatte, und ihn liebend »hinanzog« in die hohen und reinen Sphären einer idealen Welt. Verloren gingen dem jungen Schwärmer die Reize der zwar flachen, aber doch an Schönheiten keinesweges armen Gegend, des gesegnetsten Landstrichs im heutigen Großherzogthume Oldenburg; die zahlreichen Dörfer und Gutsgebäude mit ihren nach niedersächsischer Art einzeln stehenden, mitten im weiten Umfang jedes Einzelgehöfts gelegenen, strohbedeckten Häusern; das fette, mit grünen Saaten prangende Marschland; die zahlreichen herrlichen Baumgruppen, die sich nur zu belauben brauchten, um durch Lichter und Schatten der Landschaft mannigfaltigen hochmalerischen Schmuck zu verleihen. Dort das Städtchen Jever, die Flecken Accum und Neustadt, dort [69]das kleine Flüßchen, welches sich in einiger Entfernung theilt, um theils nordwärts als Made, auf längerem Wege beim Rustringer oder Knipenser Siel, theils auf kürzerem ohne weitere Benennung beim Marien-Siel in den Jahdebusen zu rinnen. Ludwig konnte genau die verhängnißvolle Stelle an der Made erkennen, einige alte Weiden machten sie ihm kennbar, wo ihm am gestrigen Nachmittag so unerwartetes und unverhofftes Glück begegnet war. Ein Glück, welches nur ein Traum war – ach ein kurzer, schöner und schmerzlicher Traum.
Lebhaft traten an diesem Orte, auf dieser Thurmzinne, Bilder der Vergangenheit vor die Seele des Jünglings: der Großmutter ehrwürdige Gestalt hatte in stillen Stunden in ihrem Arbeitszimmer, wenn er bei ihr saß und für sie thätig war, ihm diese Vergangenheit entrollt in überreicher Fülle, und doch barg sich noch so manches Geheimniß unter den Farbentönen; manche dieser Bilder waren blos oberflächlich übermalt mit dem trockenen Tone der alltäglichen Geschichte, wie die Lehrbücher sie enthalten; das reiche farbenglühende Gemälde darunter konnte ja dem Knaben noch nicht aufgedeckt werden. So war es der Fall mit diesem einstigen Schlosse, mit diesem Thurme. Der letzte Abkömmling in weiblicher Linie von Theodorich dem Glücklichen, Grafen zu Oldenburg, jene Maria, hatte als Erbtheil die reiche Herrschaft Jever besessen. Sie erreichte ein hohes Alter, ohne sich zu vermählen, und erbaute an dieser Stelle das herrliche Schloß, nachdem sie im Jahre 1532 von Kaiser Carl V. als Herzog von Brabant und Burgund die Herrschaft in Lehn genommen. Eigen und wunderbar war ihr Walten; sie war eine Mutter des Landes und allgeliebt, und noch heute lebt ihr Wirken und ihr Name im Lande dankbar gesegnet fort und der Marienthurm selbst wird noch in hohen Ehren gehalten; der von ihr angelegte Siel führt noch ihren Namen.
Viele ihrer Verwandten hofften, alle mit gleicher Berechtigung, auf ihr Erbe, aber starr, wie die alte Reichsgräfin, gab es Maria dem, dem sie die Fülle ihrer gnadenreichen Gunst zugelenkt, Johann dem Sechzehnten, Grafen zu Oldenburg, indem sie ihm ausschließlich die Herrschaft vererbte.
Vergleiche zwischen dem Einst und dem Jetzt lagen dem über die Vergangenheit sinnenden Ludwig nahe genug. Kaum hatte die alte Ahnherrin [70]und noch mit dem Wunsche das Auge geschlossen, es möge ihr Residenzschloß erhalten bleiben – die örtliche Sage kündete, daß in dessen Grundtiefen ein reicherer Schatz vergraben liege, als die Herrschaft Jever und die Herrlichkeiten Varel und Kniphausen zusammen werth seien – und der Erbherr die Herrschaft angetreten, so war auch Zwist und Hader erwacht, und das Schloß sammt der Herrschaft wurde zum Erisapfel. Siegreich gewann Graf Johann den von seinen um die Miterbschaft ringenden Verwandten vor dem brabanter Lehnhof anhängig gemachten Rechtsstreit; aber sein Sohn Anton Günther trat unkluger Weise das schöne, vom Vater ihm überkommene Erbtheil an den Fürsten von Anhalt-Zerbst, den Sohn seiner Schwester Magdalene, ab, und von diesem 1793 aussterbenden Hause fiel die Herrschaft Jever als Kunkellehen an Auguste Friederike, die einzige überlebende Prinzessin des Hauses Anhalt-Zerbst, welche als Kaiserin Katharina II. auf Rußlands Throne saß. Dadurch setzte Rußland seinen Fuß zuerst als reichsfürstlicher Gebieter auf deutschen Boden. So wunderbar fügen und verschlingen sich die Geschicke mancher Orte und Länder. Der Sprößling des Hauses Oldenburg und Delmenhorst, Graf Ludwig, stand jetzt im ehemaligen Lande seiner Väter und Ahnen auf einer russischen Warte. Die weitentfernten Besitzer hatten das Schloß nicht erhalten können, nicht erhalten wollen, so war es verfallen, und fast nur die Sage erzählte noch seine Geschichte, und flüsterte geheimnißvolle Mären von der schönen Erbtochter Maria von Jever, die eine Freundin der nicht minder schönen Maria, Erbtochter von Burgund, gewesen war, von verschwiegener Liebe und von tiefem unheilbarem Herzeleid, wie von Dingen und Thaten, mit denen sich viele Bücher füllen ließen.
Noch einen innigsehnsuchtvollen Scheideblick hinüber zum Schlosse Kniphausen mit liebevollem, zärtlichem Bangen, und dann ein Losreißen von dieser einsamen, erinnerungsreichen Stelle – ein zweiter, stummer tief empfundener Abschied.
In Frankreich stand die Revolution mit allen ihren Schrecknissen und blutigen Gräueln in voller schauderhafter Blüthe. Der Erbadel war abgeschafft, seine Angehörigen waren gouillotinirt oder entwichen, der König und seine Familie war hingerichtet, allen Fürsten Europa’s war der Krieg erklärt, und für alle Länder die Beglückung durch Aufruhr, Mord und Brand ausgerufen und angesagt. Die Girondisten waren der fanatisirten Volksmasse, die aus lauter Henkern bestand, zum Opfer gefallen, und Frankreich wüthete gegen Frankreich, wie nie ein Feind, auch der allergrausamste nicht, gegen dasselbe zu wüthen vermocht hätte. Die Unvernunft versuchte, Gott und den Glauben abzuschaffen, und hob die Vernunft in Gestalt einer nackten Metze auf die entweihten Altäre, bis es der Willkür des Blutmenschen Robespierre gelang, durch den Convent anbefehlen zu lassen, daß es eine Gottheit gebe und eine Unsterblichkeit der Menschenseele. Auch dieses Ungeheuer traf später die rächende Hand aus der Höhe, aber die Unthaten dauerten fort, und jeder Tag erzeugte neue, wie aus dem heißen Schlamm immer neues ekles Gewürm kriecht, und verderbliche Miasmen ausdampfen.
In den Niederlanden war der am 20. Mai 1784 geschlossene Friede von Versailles zwischen England und Frankreich die letzte Epoche gewesen, welche eine kurze Zeit den Janustempel geschlossen hielt. Frankreichs Tollheit wirkte ansteckend nach allen Seiten hin und zudem hatte unterm 1. Februar 1793 der französische Nationalconvent auch an den Erbstatthalter von Holland, wie an England, den Krieg erklärt, und die Wogen der Nordarmee wälzten sich über die Gefilde von Geldern und Flandern, während in der Vendée ein seinem Königshause noch immer treues Volk sich mit heldenhaftem Opfermuthe in den Kampf stürzte, und Schaaren der gegen die Vendée geführten Carmagnolen vernichtete. In solchen Zeiten ist nicht gut reisen, und schwerlich würde Graf Ludwig mit seinem treuen Diener Philipp [72]Scarre, so war dessen Vatername, ohne manchen lästigen Aufenthalt oder persönliche Gefahr das nächste Ziel seiner Reise, Amsterdam erreicht haben, wenn er nicht so einsichtsvoll gewesen wäre, den Weg zur See dem zu Lande vorzuziehen. Nach kurzer Mittagsrast in Jever verfolgte der junge Reisende seine Richtung gerade nordwärts auch ferner, und erreichte nach vier Stunden den Strand der Nordseeküste, das Wangerland.
Da lag es, das unermeßliche Meer, mit seiner langgestreckten Inselkette, und hell, wie ein Silberstreif im Sonnenscheine, zeigte sich in der Ferne die Insel Wangerooge dem Blick. Im Friedrichs-Siel wurde indeß kein Schiff angetroffen, welches groß genug gewesen wäre, die Pferde aufzunehmen, und von seiner treuen Isabella, deren Trefflichkeit ja erst am gestrigen Tage sich ihm so herrlich bewiesen hatte, hätte sich der junge Graf jetzt um keinen Preis trennen mögen – ungern genug hatte er schon auf die Begleitung des Hundes verzichtet, da er sich selbst sagen mußte, daß er auf einer so wechselnden Reise denselben bald genug einbüßen werde. Es war daher der Hund einstweilen oder für immer dem Kammerdiener Weisbrod zu guter Obhut übergeben worden. Die Reiter setzten ihren Ritt längs der Küste Ostfrieslands noch eine kleine Strecke westwärts fort, und hatten bald die Freude, in der Karolinen-Rhede mehrere segelfertige Schiffe zu erblicken, und nach kurzer Unterhandlung mit dem Kapitän eines derselben, das nach der Zuydersee steuerte, an Bord zu gehen. Der Kapitän war in Stand gesetzt, schon nach Verlauf weniger Stunden die Anker heben zu können; der frische Ost, der den ganzen Tag wehte, verhieß gute Fahrt nach Westen, und da das Schiff seinen Curs nicht durch die unsichern Watten zwischen der ostfriesischen Küste und den Inseln des Wangerlandes nahm, sondern zwischen Wangerooge und Spikerooge in die Harle fuhr, so gewann es mit der günstig eingetretenen zurückrollenden Fluth bald das offene Meer, und fuhr auf sicherer, von Sandbänken unbedrohter Bahn Angesichts der Inselkette, an Oster- und Wester-Langeroog und Baltrum vorüber, nach Norderney und Juist zu, während die Nacht sich allmälig und spät dämmernd niedersenkte und der Mond seine zauberische Strahlenfülle auf die unermeßliche Nordsee niedergoß.
[73]Die erste Erscheinung, welche auf dem Schiffe die Aufmerksamkeit des jungen Reisenden, wie seines Dieners in hohem Grade auf sich lenkte, war ein anderer Reisender, welcher mit dem Kapitän sehr gut bekannt, sogar vertraut schien, äußerst gut gekleidet war, und mit dem jungen Grafen eine auffallende Aehnlichkeit hatte, nur daß der Erstere etwas älter aussah und auch wirklich war, sonst hätte man beide für Zwillingsbrüder halten können, und wie diese Aehnlichkeit Ludwig und seinem Diener auffiel, so schien sie auch dem andern Theil aufzufallen. Der Kapitän hatte um so mehr für schicklich gehalten, die Reisenden einander vorzustellen; er konnte dies, denn er hatte den Namen des Jüngeren derselben in dessen Paß gelesen; da aber zufällig der Kanzlist, welcher diesen Namen mit großem Fleiße geschnörkelt, das r im Namen Varel nicht r, sondern ı geschrieben hatte, so war es nicht zu verwundern, daß der Kapitän statt Graf Varel – Graf Vavel las, und unter diesem veränderten Namen ihn seinem Reisenden vorstellte. Ludwig vernahm den Irrthum, fand sich aber nicht veranlaßt, denselben zu berichtigen, um so mehr, als jener ihm dazu gar nicht Zeit ließ, sondern alsbald den Namen des Reisenden nannte: Herr Leonardus Cornelius van der Valck, Sohn von Herrn Adrianus van der Valck, berühmten Kauf- und Handelsherrn zu Amsterdam.
Es gereicht mir zur Freude, mein Herr, nahm Ludwig verbindlich das Wort: Ihre werthe Bekanntschaft zu machen, und wie ich hoffe, einen Reisegefährten in Ihre Vaterstadt zu finden, und dies doppelt, da ich den Namen Ihres Hauses bereits rühmlich nennen hörte, ja ich glaube nicht zu irren, daß ich unter andern an dasselbe sogar empfohlen und gewiesen bin, und dessen guten Rath in einigen geschäftlichen Angelegenheiten mir zu erbitten haben werde.
Der Fremde entgegnete mit einer entsprechenden Offenheit: Mein Herr Graf, ich, wie mein väterliches Haus sind ganz zu Ihren Diensten, und mich besonders wird es freuen, wenn ich nach meiner Rückkehr Sie selbst bei uns einführen darf. Wenn Sie, wie ich vermuthe, noch nicht in Amsterdam waren, so wird es Ihnen immer von Nutzen sein, in dieser großen und jetzt noch dazu sehr aufgeregten Stadt einen kundigen Führer zu haben.
[74]Gewiß, mein Herr, und ich werde Ihnen von Herzen dankbar für jeden Dienst sein, den Sie mir erweisen zu wollen so gütig sind.
Der Kapitän endete die anfangs unvermeidliche steife Förmlichkeit der ersten Unterredung durch den Vorschlag, den zwar etwas kühlen, aber prächtigen Abend auf dem Verdeck bei einer Kumme Punsch zu verplaudern, welcher die Zustimmung aller Theile erhielt, und ein gegenseitiges näheres Bekanntwerden in freundliche Aussicht stellte. Ein gut angebrachtes Segeltuch hemmte den rauhen Luftzug, einige am Mast aufgehangene Laternen streuten freundliche Helle auf die Gruppe der neuen Bekannten nieder, und bald kam lebendiges Gespräch in Gang. Auch die Diener wurden nicht vergessen, jedem ward sein reichlicher Theil von dem heißen, anregenden Tranke, doch hielten sie sich in angemessener Entfernung und plauderten unter sich nicht minder vergnügt wie die Gebieter, und sorgten dafür, daß die kurzen weißen niederländischen Thonpfeifen nicht ausgingen.
Der Kapitän war ein kräftiger Mann von etwa fünfzig Jahren, und hieß Richard Fluit; er war aus dem Haag gebürtig; das Schiff, welches er führte, hieß »de vergulde Rose« und war Eigenthum des Handelshauses van der Valck. Das Gespräch lenkte sich bald genug den Tagesfragen zu, und Fluit und Leonhard waren sehr gespannt auf Nachrichten vom dermaligen Stande der Dinge in Amsterdam, da sie in Hamburg, welches vor einigen Tagen verlassen worden war, nichts Bestimmtes hatten erfahren können. Man hatte nur davon gesprochen, daß Pichegru sich mit seinem Heere gegen die Schelde zu bewegen Anstalten treffe, und Jourdan nach der Sambre aufbrechen wolle. Die erbitterte Stimmung der sogenannten Patrioten gegen die Partei des Erbstatthalters dauere im Haag wie in Amsterdam fort, ohne daß man von wichtigen oder entscheidenden Vorfällen vernommen habe. Bei alledem, nahm der Kapitän das Wort: macht das kriegerische Wesen uns Kauffahrern, die wir es allesammt zum Henker wünschen, tausendfache Plackerei, nächstdem, daß es die Handelschaft hemmt und den Verkehr untergräbt. Sonst stand unser einem frei, an Bord zu nehmen, wen man wollte, und Güter zu laden, welche man wollte; jetzt wird uns ein schwerer körperlicher Eid bei jedem Auslaufen aus dem Hafen abgenommen, und muß jeder Kapitän noch ein besonderes Certificat bei sich [75]führen, daß er diesen Eid geleistet. Darum muß ich jetzt Namen, Rang und Stand, wie Bestimmungsort meiner Schiffsreisenden besonders aufzeichnen und dieselben vorlegen, sobald sie verlangt werden. Ich muß sogar den Sohn meines ehrenwerthen Prinzipals ebenso, wie Sie, Herr Graf, ersuchen, nächstdem, daß ich Ihren Paß bereits gelesen, Ihren werthen Namen eigenhändig in dieses mein Passagierbuch einzutragen, Sie haben aber dafür den Vortheil, dann zu Amsterdam von aller sonst ebenso häufigen als lästigen Paßportplackerei befreit zu bleiben.
Meine Unterschrift steht zu Befehl, Herr Kapitän, antwortete Graf Ludwig: doch wünschte ich Näheres über diese Verpflichtung zu erfahren.
Der Kapitän öffnete seine Schreibtafel, zog einen untersiegelten Stempelbogen hervor und las: »Ich Richard Fluit, gelobe und schwöre zu Gott, dem Allmächtigen, daß ich auf das unter meinem Befehl segelnde Kauffahrteischiff, »de vergulde Rose« genannt, Eigenthümer Mynheer Adrianus van der Valck, Kauf- und Handelsherr zu Amsterdam, welches von Amsterdam nach Hamburg bestimmt ist, weder für meine eigene Rechnung, noch für oder von Jemanden, er sei auch wer er wolle, einige mir unbekannte Handelsgüter, viel weniger das Mindeste von Contrebanden, noch Militär-Personen im Kriege befangener Puissancen[3], es sei in oder außer dem Hafen, noch unterwegs, oder sonst irgendwo auf meiner angedeuteten Reise einladen oder an Bord nehmen will, ingleichen, daß ich nichts weiter geladen habe, noch laden will, als in meinem Manifest benannt ist, und ebenso darauf sehen will, daß dergleichen von meinem Schiffsvolke nicht geschehe. Ich will auch auf meiner Reise kein nicht gehörig unterschriebenes Cognossement, oder das nicht gehörig an Ordre gestellt, oder worin die Waaren nicht richtig ausgedrückt sind, am wenigsten aber Passagiere und Güter ohne richtigen Ausweis an Bord nehmen, überhaupt aber meine Papiere und Documente in gebührender Ordnung halten. So wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort.«
[3] Mächte.
Da müssen wir uns freilich kundgeben, daß wir nicht Contrebande oder gar militärische Ausreißer und Spione sind, lachte Leonardus, tunkte die Feder ein und bot sie höflich dem jüngeren vornehmeren Reisegefährten dar.
[76]Als beide Herren die vorgeschriebene Form erfüllt hatten, betrachtete der Kapitän sinnend und vergleichend die Handschrift beider, und brach dann in den Ausruf aus: Merkwürdig, ganz merkwürdig! Nicht nur daß sich die Herren einander so ähnlich sind, als ob sie Brüder wären, auch Ihre Handschriften gleichen sich in einer auffallenden Weise. Da sehen Sie beide selbst.
Es war in der That so, wie Fluit gesagt; der junge Graf schrieb eine leichte fließende und dabei doch sichere Hand, und der junge Kaufmann keine kaufmännische, sondern eine, deren Ductus bis auf den flüchtigen charakteristischen Schnörkel am Schlußbuchstaben des Namens der des Grafen völlig gleich kam, so daß beide Namenaussteller selbst darüber verwundert waren. – Wer weiß, was das bedeutet! nahm Leonardus das Wort: vielleicht sollen wir näher mit einander bekannt werden, vielleicht zuletzt gar mit einander verwechselt! – Ha, da könnte Ihnen leicht etwas Schlimmes begegnen! warf der Kapitän im Tone leicht spottenden Scherzes hin, gegen den Sprechenden gewendet. Leonardus lächelte und erröthete: Ich will das ja nicht hoffen, erwiderte er. Das gäbe dann freilich keine Freundschaft!
Darf ich fragen, was die Herren meinen? nahm Ludwig das Wort, dem die entdeckte Aehnlichkeit eigene, fast beunruhigende Gedanken erregte: oder ist es unbescheiden, diese Frage zu thun, bei der sich doch mein Gesicht betheiligt sieht?
Warum nicht, Sie dürfen immer fragen, Herr Graf, antwortete Leonardus: und Sie finden mich auch bereit zu antworten. Fast scheint es mir nicht anders möglich, als daß wir Freunde werden müssen, und ich glaube nicht die mindeste Gefahr zu laufen, wenn ich Ihnen mein Geheimniß enthülle, Sie werden dadurch gleichsam mein Verbündeter (es ist nichts Unehrenhaftes, bemerke ich voraus) und können als solcher mir vielleicht nützlich werden.
Also ein Geheimniß? fragte der junge Graf gespannt und voll Antheils. – Dessen Schlüssel auch mir schon längst versprochen wurde! fügte Fluit hinzu.
In der That, wenn ich es Ihnen mittheile, Herr Graf, so gebe ich Ihnen einen Beweis des unumschränkten Vertrauens, das Ihr ganzes offenes Wesen mir einflößt, sprach Leonardus Cornelius van der Valck weiter. Auch ich bin offen, entgegen dem Nationalcharakter [77]meiner Landsleute, aber ich habe viele Reisen gemacht, und habe erfahren, daß Offenheit und Unbefangenheit weiter bringen als Verschlossenheit und heimliches Wesen. Vertrauen erweckt Vertrauen, und meist ist es der Jugend schönes Eigenthum und Vorrecht. Das Alter mag, das begreift sich wohl, mißtrauisch und sorgsam machen, und gerne stützt es und vertheidigt es seine Ansichten mit seinen Erfahrungen; diese Erfahrungen muß aber eben, meine ich, jedes Leben erst machen, damit es im Alter sich auf sie stützen und von ihnen reden könne.
Es ist so, wie Sie sagen, Herr Leonardus! bestätigte der Schiffskapitän. Wer nichts erlebt und erfahren hat, der kann nicht sagen, daß er gelebt habe; und auch aus den Erfahrungen der Aelteren kann ein junger Mann Manches lernen, was er thun und was er meiden soll. Wir wollen erst unsere Kumme und unsere Gläser frisch füllen, und dann mag die Erzählung beginnen. – Das Schiff segelte mit frischem Winde durch das nur wenig und dazu gleichmäßig bewegte Meer und durch die kühle, wunderbare, sternenklare Nacht. Zur Rechten verlor sich der Blick in die Unermeßlichkeit, und man sah nicht, wo Himmel und Meer einander küßten, denn der Himmel warf die Abbilder seiner Sterne wie glühende Küsse in die Wogentiefe, und die goldenen Funken schienen sich freudehüpfend auf den silberkräuselnden Wellen zu schaukeln, die zugleich des Mondes Bild millionenfach gebrochen zurückblitzten. Zur Linken entragten die Inselflächen noch in Sicht des Schiffes, silberweiß stach ihr vom Mond scharf beleuchteter Dünensand von der dunkeln Nordseefluth ab, doch die Orte und Gehöfte darauf waren nicht mehr erkennbar. Die Inseln schienen wie silberne, riesige Nelumbiumblätter auf die Oberfläche gehoben, um im Mondstrahl träumend auf das Erscheinen der königlichen Blüthe zu harren. Nur wenig leuchtete das Meer, denn das eigentliche Leuchten desselben findet nur unter wärmeren Himmelsstrichen Statt, und der Ostwind ist demselben nicht günstig; dennoch schoß das Kielwasser von Zeit zu Zeit einen schnell verschwindenden Blitz von phosphorischem Schimmer, aber die hoch empor gespritzten Wasserstrahlen starker Tummler, die das Schiff auf weite Strecken und in großer Anzahl begleiteten, glichen im verklärenden Mondenglanze den tausend Springbrunnen eines morgenländischen Märchens.
[78]Mein Leben, begann jetzt bei frischgefülltem dampfenden Punschnapf Leonardus seine Erzählung: hat mich von früher Jugend an vielfach zu Wasser und zu Lande umhergetrieben. Ich machte als Knabe meine Schulen leidlich durch, und widmete mich dann der Kaufmannschaft mit angeborener Vorliebe, um so mehr, da sie mir jede Annehmlichkeit des Lebens, und durch meines Vaters günstige Verhältnisse eine glückliche und sorgenfreie Zukunft bot und noch bietet. Ich bin mit Wallfischfahrern in Island gewesen, und habe die eisumstarrten Küsten Grönlands und Spitzbergens gesehen; ich war in Stockholm und in Sanct Petersburg, und ebenso in London, Paris, Madrid und Lissabon; bald hatte ich in Geschäftsaufträgen unsers Hauses dieses, bald jenes unserer Schiffe zu begleiten, denn mein Vater wollte, ich solle recht viel erfahren, alle Handelsgeschäfte wie alle Waaren der verschiedenen handeltreibenden Nationen an ihren Stapelplätzen kennen lernen, und ich habe diesen Wunsch erfüllt, so weit es mir möglich war; ich bin auch in Konstantinopel und in der Levante, in Smyrna und in Tiflis gewesen. Mein Vater gibt mir selbst das Zeugniß, daß ich ein tüchtiger Kaufmann geworden sei. Ganz anders aber und ungleich mißlicher steht es um die Erfüllung eines zweiten Wunsches oder sogar Befehles meines verehrten Herrn Vaters. Derselbe sagte zu mir: Versprich mir, mein Sohn, über dein Herz zu wachen, keine Verbindung anzuknüpfen, die meine Pläne mit dir kreuzt, sonst betrübst du mich und gräbst dir die Grube deines Unglücks. Denn wisse, mein guter Sohn, daß ich für dich bereits gewählt habe, und zwar ein sehr liebes Kind, jetzt freilich noch im zarten Alter, das aber zur lieblichen Jungfrau heranblühen wird. Es ist die Tochter meines besten Freundes, du kennst ihn, kennst sie, sie ist die einzige Erbin, und deine Verbindung mit ihr wird der glücklichste der Tage sein, welche ich noch zu erleben hoffe.
So sprach mein Vater, und ich, damals im neunzehnten Jahre stehend, kannte ja nicht die Zaubermacht der Liebe, und leistete unbedacht und unbedenklich das schwere Versprechen. Meine Braut zählte damals erst zehn Jahre und war in der That ein liebreizendes Kind, jetzt aber zählt sie zwanzig Jahre, und harrt vielleicht mit Trauer oder mit Ungeduld auf den die Welt durchschwimmenden Verlobten, und dieser – –
[79]Herr Gott! fuhr der Kapitän auf, Herr Leonardus! Und das Alles sagen Sie mir jetzt erst! Ach, das bringt mich um Ehre und Credit, schleudert mich vom sichern Steuerbord in die wogenden Wellen!
Bleiben Sie ruhig, Kapitän! bat Leonardus. Sie mußten es endlich doch erfahren, daß Sie trotz Ihres beschworenen Eides und bester Ordnung Ihrer Papiere und Documente, dennoch eine sehr werthvolle Contrebande am Bord haben. Es ist eben die höchste Zeit, mich Ihnen, mein redlicher Freund, ganz zu entdecken, denn ich nahe der Katastrophe, und bedarf treuer, schützender Freunde. Der Befehl meines Vaters ruft mich nach der Heimath, dort harrt meiner die schöne, reiche Braut; unter allerlei Vorwänden entzog ich mich bisher der Heimkehr, ich kann es nicht länger thun, und Gott weiß, was nun werden soll! – Der Ton des Sprechenden, der erst so heiter erschienen war, wurde gegen das Ende seiner Rede kummervoll und beklommen, er senkte den Blick, starrte in sein Glas ohne zu trinken, und ein schwerer Seufzer entrang sich seinem Busen.
Nur nicht muthlos, mein Herr van der Valck! ermunterte der Kapitän. Ich bin gerade so klug gewesen, wie einer dieser Tummler, die da mit uns schwimmen, habe nichts geahnet, bin Alles zufrieden gewesen, und werde bald genug, wenn uns kein rettender Gedanke einfällt, statt auf der Nordsee zu segeln, im schwarzen Meere der Tinte des Hauses van der Valck sitzen und in der Ungnade von Mynheer Adrianus.
Ihre gegenseitigen Worte machen mich sehr gespannt darauf, Weiteres zu vernehmen, gab Ludwig in das Gespräch. Trinken wir einmal, Herr Reisegefährte! Sollte es mir vergönnt sein, Ihnen einen Dienst zu leisten, so rechnen Sie ganz auf mich; ich bin völlig unabhängig, Herr meiner Zeit, und wenn die Wechsel gut sind, auf die ich angewiesen bin, auch in diesem Punkt so gestellt, daß ich fremder Stützen nicht bedarf.
Ich danke Ihnen tausendmal, mein junger edler Freund, für Ihren guten Willen! rief Leonardus mit Wärme, und drückte Ludwigs Hand. Vielleicht führte Sie zu meinem Glück der gütige Himmel uns zu. Hören Sie nun beiderseits weiter, was ich erlebte. – Eine Landreise führte mich im vorigen Sommer durch Frankreich in das Departement Sarthe und in dessen Hauptstadt le Mans; es war kein Vergnügen in Frankreich zu reisen, und ist es auch heute noch nicht, aber es galt, [80]unserem Hause sicher angelegte Kapitalien zu retten, und dieselben nicht in Form der nichtsnutzen und völlig werthlosen Assignaten ausgezahlt zu erhalten. Ich vollbrachte mein Geschäft mit leidlich glücklichem Erfolg, weil die Vendée den Unsinn der Revolutionsgewalthaber nicht anerkannte, hatte aber Mühe genug, nicht für einen verkappten Franzosen gehalten und gezwungen zu werden, in Gemeinschaft mit den tapferen Vendéern, die sich wie ein Mann gegen die Republik und ihre Menschenschlächter erhoben hatten, die Waffen zu ergreifen. Es war im Monat September, und nach den glorreichsten Siegen warf ein grausames Geschick dennoch das Todesloos über das unglückliche Land und seine ihrem König und ihrem Glauben treuanhängliche Bevölkerung. Zwar erkämpften Elbée und Prinz Talmont noch einige dieser Siege, aber von Mainz rückte bald darauf die Garnison, welcher die Capitulation dieser Stadt eine anderweite Wirksamkeit versagte, sechzehntausend Mann stark aus und marschirte gegen die Vendée, und bald standen mehrere Heere vereinigt, die eine Armee von sechzigtausend Mann Linientruppen bildeten, welche Zahl noch durch die Nationalgarde aller Provinzen, durch die das Heer zog, vermehrt werden sollte. Es erfolgten, wie bekannt ist, die allerblutigsten Gräuel; die Vendée sollte ausgefegt werden, kein Alter, kein Geschlecht verschont bleiben, und also geschah es. Doch ich will ja nicht die Gräuel dieser scheuslichen Kämpfe schildern, sondern ein unverhofftes Glück, das mir der Himmel auf eine wunderbare Weise in den Schoos warf. Wieder kam eine Trauernachricht nach der anderen nach le Mans, der tapfere Prinz Talmont und sein Kampfgenosse d’Autichamps waren bei einem Angriff auf Doué, an der Spitze von fünfundzwanzigtausend Mann, geschlagen worden; ebenso vor Thuars General Lescure mit zehntausend, und das Schrecklichste stand bevor. Mit dem Gedanken an die Beschleunigung meiner Abreise beschäftigt und überlegend, wie ich diese am geeignetsten einrichten wollte und auf welchen Wegen ich am schnellsten und gefahrlosesten die nördliche Küste gewinnen könne, gehe ich eines Abends gegen die Zeit der Dämmerung auf dem reizenden Spaziergang, der den Namen le Greffier führt, auf und ab, als ich einige laute Worte, hervorgestoßen von einer rauhen Mannesstimme, vernehme, und dazwischen Schluchzen und Stöhnen eines leidenden Weibes.
[81]Halte mich nicht, Schlange! tobte der Mann, der, wie ich beim Nähertreten erkannte, ein Soldat, ein Offizier war: Mich siehst du nie wieder! Gehe hin zu deinem süßen girrenden Correspondenten, mit dem du nun schon einige Jahre zärtliche Briefe wechselst, wir beide sind getrennt auf ewig, ich scheide mich von dir – ich fluche dir!
Trafen schon diese Worte erschreckend mein Ohr, so erbebte noch mehr mein Herz, als ich die gemißhandelte Frau ausrufen hörte: Um Gottes, um des Kindes Willen, Berthelmy, hab’ Erbarmen!
Wessen Kindes, treulose Schlange? schrie der Mann. Fort, fort, ehe ich mich vergesse, ehe ich dich tödte!
Raschen Schrittes enteilte er, und das arme Weib sank wimmernd in die Kniee.
Mich bannte starrer Schreck an diesen Ort – dieser Name Berthelmy – diese Stimme – außer mir stürzte ich auf die Unglückliche zu und rief: Bist du es, Angés, geliebte Angés! O komme zu dir, fasse dich, der Gott der Liebe sendet dir einen Retter!
Wie, Sie kannten diese Frau? riefen Ludwig und Fluit staunend wie aus einem Munde.
Ja, verehrte Herren, ich kannte sie, ich liebte sie, ich hatte sie verloren, und fand sie hier wieder, wo ich sie nimmer gesucht hätte. Ich muß, um Ihnen Alles klar zu machen, jetzt ein früheres Ereigniß einschalten. Es war im Jahre siebzehnhundertachtundachtzig – ich zählte damals dreiundzwanzig Jahre, als eine Reise mich nach Deutschland führte, wo ich am Niederrhein, in Bonn, Köln, Düsseldorf und deren Nachbarstädten kaufmännische Verbindungen anknüpfte; von da reiste ich in die Pfalz. In Zweibrücken führte mich der Zufall zu einer reichen Kaufmannsfamilie, Namens Daniels, in der ich neben einigen Brüdern ein junges Mädchen kennen lernte, zu welcher sich beim ersten Erblicken mein ganzes Herz hinwandte. Sie stand in der ersten Jugendblüthe, und wurde nicht mit einem deutschen, sondern mit einem französischen Namen gerufen, getreu der in Deutschland so häufig in vornehmen Häusern heimischen Unsitte, die Muttersprache zu verachten und der fremdländischen zu huldigen. Ich liebte das Mädchen heiß und innig, sie wurde das Ideal meiner Jünglingsschwärmerei, ich brach meinem Vater das gegebene Wort, doch nicht in solchem Grade, daß ich ein bindendes Versprechen gegeben hätte. Dazu kam es nicht, aber es [82]entspann sich ein außerordentlich zartes, schönes Verhältniß, der Juwel im Kranze meiner Erinnerungen. Angé’s Eltern und ihre Brüder würden es gar zu gern gesehen haben, wenn ich ohne weiteres mich Angés gleich verlobt hätte, denn einmal gefiel ich ihnen, wie ich mir schmeicheln durfte, persönlich, und dann mochte ihr kaufmännischer Sinn wohl berechnen, daß der Sohn des Hauses van der Valck in Amsterdam keine ungeeignete Verbindung mit ihrem Hause in Aussicht stelle. Um nicht mißdeutet zu werden und das junge Glück unserer seligen Liebe nicht selbst zu zerstören, vertraute ich dem älteren Bruder des geliebten Mädchens an, daß ich ohne meines Vaters Einwilligung nicht über meine Hand verfügen könne, wenn auch mein Herz noch so sehr dazu drängte; daß aber Geduld und Ausdauer den Lohn treuer Liebe begründen würden. Ich genoß mein Glück und blieb so lange wie möglich in dem schönen Zweibrücken, und als ich endlich scheiden mußte, wurde fleißiger Briefwechsel zwischen Angés und mir verabredet, und die Aufschriften und Bestimmungsorte der Briefe festgestellt.
Froh und zugleich schmerzhaft bewegt schied ich von der Geliebten, und wir schrieben einander zuweilen, freilich nur in großen Zwischenräumen – weite Reisen, die wohl ein viertel, ein halbes Jahr lang mich der Heimath entführten, oft in weit entlegene Länder, beeinträchtigten sehr den Briefwechsel mit dem sehnsüchtig auf meine Wiederkehr harrenden geliebten Mädchen, dem ich ja nicht einmal Hoffnung geben konnte, denn in meinem Verhältniß daheim änderte sich nichts. Wohl aber änderte sich viel in dem ihrigen. Sie hielt mich halb und halb für treulos – ein Franzose, Kaufmann wie ich, kam in ihr älterliches Haus, sah Angés und verliebte sich in sie, die er, wie er glaubte, oder wie man ihm glauben gemacht hatte, als eine junge von ihrem Geliebten verlassene Mutter mit der Pflege eines zarten Kindes, eines Mädchens, beschäftigt fand.
Eines Kindes? rief Ludwig lebhaft aus, und es trat ein jungfräuliches Erröthen auf die Wangen des Jünglings.
Eines anvertrauten Kindes, mein Herr, entgegnete Leonardus mit ernstem Blick, der jeden unlautern Verdacht zurückwies: eines Kindes, das ihr viele Sorgen und doch auch unendliche Freude machte und noch immer macht.
[83]Etienne Berthelmy, so hieß jener Franzose, ließ sich durch das Kind nicht abhalten, Angés um ihre Hand zu bedrängen, wies gesicherte Verhältnisse nach, bestürmte Eltern und Brüder um deren Zustimmung, und Angés, die mich aufgeben zu müssen glaubte, gab endlich halb widerstrebend und unter der Bedingung nach, daß sie durch keine andere Macht, als durch den Tod, von dem Kinde getrennt werden dürfe, weil es das ihr anvertraute Pfand einer hohen geheimen Liebe sei.
Von einer Reise zurückkehrend, fand ich einen Brief von Angés vor, der aus Paris geschrieben war; es war ein schmerzlicher Abschiedsbrief, durch den eine leise Reue, eine Bitte um Verzeihung ihres halb erzwungenen Schrittes und eine unvergängliche Liebe hindurchblickte. Ein Mann, der weniger innig und treu geliebt hätte, wie ich, hätte diese Wendung vielleicht nicht ungern gesehen – mich machte sie äußerst bestürzt und ich weinte meinem verlorenen Glücke bittere Thränen nach. Je mehr ich Angé’s Brief wiederholt las, desto mehr las ich zwischen den Zeilen den Wunsch des geliebten jungen Weibes, ihr Freund zu bleiben, ihr nicht zu zürnen, und ich schwur Ersteres ihr und mir in Gedanken zu. Ich schrieb unter der angegebenen Aufschrift wieder an sie, und erhielt auch bald darauf wieder Antwort, und zwar aus Mons. Sie schilderte mir ihr Leben, erwähnte auch des Kindes, ihrer geliebten Sophie, der Eltern ihres Mannes, ihres Wohlstandes und ihres im Ganzen glücklichen Verhältnisses; der Brief überhaupt aber athmete so viele Wärme und so zärtliche Gefühle für den ersten Jugendfreund, wie sie mich nannte, daß mein Herz immer aufs neue befangen ward, und daß ich eine starke Sehnsucht empfand, Angés wiederzusehen. War dieses Verlangen vielleicht sträflich, nun so fand es auch seine volle Strafe. Ich antwortete sogleich, sprach mich im angedeuteten Sinne aus, erwiederte die Offenbarung der alten nie rostenden und ersterbenden Neigung, und fragte an, ob es möglich sein werde, sie wieder zu sehen, ohne ihr Verlegenheiten zu bereiten? Ich erhielt keine Antwort auf diesen Brief, bald darauf aber einen zweiten von ihr, aus dem ersichtlich war, daß Angés meine Antwort nicht erhalten hatte, denn sie klagte, daß ich sie ganz vergessen zu wollen scheine, und führte an, daß es sie tief schmerze, sich von mir verachtet zu sehen.
[84]Ich wunderte mich, und wunderte mich auch nicht, daß mein Brief verloren gegangen sein solle, denn die politischen Bewegungen in Frankreich hatten schon begonnen, auch in den Nachbarlanden manches Wirrniß zu erregen, und so sagte ich mir: was sollst du lange schreiben, wie nahe ist nicht Mons? Ich nahm ein Geschäft zum Vorwand und reiste nach dieser Stadt. Aber da mochte ich fragen, wo ich wollte, nach einem Berthelmy, nach einer jungen Dame aus Zweibrücken, auf der Mairie, auf den Paßbureaus, auf der Post, nirgend eine Spur. Nie sei jemand dieses Namens hier gewesen, wohl aber, so hörte ich auf der Post, ein Brief, der noch unter dem Gitter als unbestellbar ausgelegt sei, an eine Person dieses Namens angelangt. Ich konnte mich von meinem Erstaunen gar nicht erholen, wußte nicht, was ich denken sollte, reiste höchst unzufrieden zurück, und schrieb nun Alles, was ich Angés hatte sagen wollen, in einem Brief nieder, den ich an ihr elterliches Haus zur Weiterbeförderung nach Zweibrücken sandte. Gleich darauf entfernte mich abermals eine lange Reise vom Hause, und auch bei der Rückkehr fand ich keine Antwort vor; wahrscheinlich, so redete ich mir ein, hatte die Einsicht der Eltern für besser gehalten, meinen Brief, als zu nichts Gutem führend, unbestellt zu lassen. Ich betrauerte sie als verloren, konnte sie aber nimmer vergessen.
Da führte mich das Geschick zu einer Reise nach Paris, und von da in die Vendée nach le Mans; da sah ich durch des Zufalls unerforschliches Walten die Geliebte in einem der schmerzlichsten Augenblicke ihres Lebens so unverhofft und plötzlich wieder, und die nächste Minute klärte Alles auf. Sie hatte als Deutsche vor dem Namen ihres neuen Wohnortes das le vergessen, hatte das a undeutlich geschrieben, ich hatte Mons statt Mans gelesen, und an drei Buchstaben lag es, daß unsere Herzen so lange ohne Kunde von einander blieben.
Der Mond war prachtvoll in das Meer hinabgesunken, das seine scheidenden Strahlen noch magisch versilberten; kühler wehte die Nachtluft und unruhiger schlugen die Wellen an die Flanken der »vergulden Rose.« Dunkler und tiefer senkte der Fittich der Nacht sich über das Schiff.
Ich denke, es wird Zeit, meine Herren, die Ruhe zu suchen, unterbrach Leonardus seine Erzählung, indem er sein Glas leerte, und obschon seine beiden Zuhörer noch keinesweges ermüdet waren und gern noch länger dem Weitergange der Erzählung mit lauschenden Ohren gefolgt wären, so wollten sie ihm doch nicht durch die Bitte beschwerlich fallen, sie ferner zu unterhalten, und verließen, obschon nur halb befriedigt und auf den Fortgang gespannt, das Verdeck, um sich in ihre Schlafkojen zu begeben.
Lebhaft beschäftigte das Gehörte Ludwig’s Phantasie; sein ganzer Antheil an dem ferneren Ergehen seines neuen Freundes war rege gemacht, und da er sich wohl denken konnte, daß dessen Verhältniß bei der Heimkehr sich sehr eigenthümlich gestalten könne, sann er darüber nach, wie wohl Leonardus handeln müsse und handeln werde, um die Pflicht des Sohnes mit jener des Freundes einer von ihrem Gatten verstoßenen und im Zorn verlassenen jungen und gewiß auch schönen Frau zu vereinen.
Ueber diesem Nachsinnen beschlich den Jüngling sanfter Schlummer, und das Schiff glitt fort und fort, sicher bewacht und richtig gesteuert, in tiefer Stille durch die schweigende Sternennacht.
Als der Morgen klar und schön wie der gestrige Tag anbrach, war vom Bord der »vergulden Rose« aus kein Land mehr zu erblicken. Das Schiff war schon auf der Höhe des Juister Riffs und mußte in einem großen Bogen das nordwestwärts weit in die See vorspringende Borkumer Riff umsegeln, um dann zu wenden und südwestwärts zu steuern. In der Ferne, wo die Küste gedacht werden mußte, stiegen [86]leichte Nebel empor, und als die Sonne aus dem Schooße des ewigen Meeres hehr und groß sich heraufhob, traten nach und nach die größeren Inseln Schirmonikoog und Ameland in Sicht.
Nach einigen abgethanen Geschäften und nachdem auch der junge Graf nicht versäumt hatte, sich von dem Befinden seiner Isabella und Philipp’s Braunen zu überzeugen, die im Packraum der »vergulden Rose« zwar enge aber sicher eingestellt waren, fanden sich die drei Gefährten in der Kajüte des Kapitäns beim Morgentrunke wieder zusammen, und Leonardus ließ sich nicht lange um die Fortsetzung seiner in der Nacht abgebrochenen Erzählung bitten.
Angés, fuhr er fort: war noch von so lieblicher Blüthe, wie ich sie als Jungfrau gesehen, und der Schmerz gab ihrer Schönheit etwas so Rührendes, Heiliges und Verklärtes, daß ich mich mit Zaubergewalt aufs Neue zu ihr hingezogen fühlte. Da, wo ich sie jetzt sprach, konnten wir nicht bleiben, es war in der Flurthüre ihrer Wohnung; Angés versprach mir, nach kurzer Frist wieder herab auf den Spaziergang zu kommen, und bald hing die zarte, bebende Gestalt tief verhüllt an meinem Arme und erzählte mir Alles.
Ihr Mann hatte, von loyalem Gefühl beseelt, die kaufmännische Feder mit den Waffen des Kriegers vertauscht, er war Bürger-Soldat und hatte, vorher ein glatter, gewandter, ja selbst liebenswürdiger junger Mann, sein Wesen schnell in Rauheit umgewandelt, in die er die Eigenschaften eines tüchtigen Soldaten setzte. Mit dem Wachsen seines Bartes wuchs auch sein verändertes Benehmen gegen die junge, zarte Frau, selbst gegen seine Eltern, deren Bildungsgrad, wie auch der seinige, ein hoher nicht war. Dabei vernachlässigte er sein Geschäft und kam schnell zurück. Daß das Kind, die liebe kleine Sophie, das eigene von Angés sei, ließen weder Berthelmy noch dessen Eltern sich ausreden, und die arme Kleine sah sich unzart behandelt, was wiederum dazu beitrug, Angé’s reines Gemüth zu verletzen und zu verbittern. Dabei quälte den Mann eine maßlose Eifersucht, und Angés wurde von ihm und seinen Eltern mit Argusaugen bewacht, jeder Tritt und Schritt beargwohnt, kaum konnte sie sich einen Spaziergang mit dem Kinde vergönnen. Tausendmal bereute Angés ihren ohnehin durch Ueberredung weit mehr als aus Liebe gethanen Schritt, und wünschte die Fessel gebrochen, die sie an ungeliebte Menschen, an [87]eine freudlose Umgebung und in eine Stadt bannte, die noch, wie die ganze Vendée, niedergehalten im dumpfen Glaubensdruck, ihr, der Deutschen, der Protestantin zumal, durchaus keine gemüthliche Ansprache bot.
Und da war ich nun der erste, und wie sie mir unter Zittern gestand, der einzige, mit aller Jugendglut noch immer umfaßte Geliebte, und sie, zurückgestoßen, gemartert, mißhandelt, auf dem Wege zur Verzweiflung. Wohl war mein Brief aus ihrer Heimath an sie gelangt, aber die eifersüchtige Wuth des Mannes ahnete etwas von diesem Briefwechsel; mit der rohen und frechen Hand eines gänzlich bildungslosen Menschen griff er in ihr Allerheiligstes, erbrach das Fach ihres Schreibtisches, fand und las Tagebücher, kleine zärtliche Herzensergießungen, auch meine, nach ihrer Verheirathung mit Berthelmy empfangenen Briefe und tobte, wie ein unsinniger Wüthrich, gebot Angés, sein Haus mit sammt ihrem Kinde zu verlassen und in ihre ferne Heimath zurückzukehren. Wie hätte sie dies selbst mit allen Mitteln jetzt vermocht, wo das ganze Land unter Waffen stand, alle Tage blutige Scharmützel vorfielen und es eine Sache der Unmöglichkeit war, daß ein zartes, schönes und junges Weib mit einem kleinen Kinde durch die von allen Seiten sich nach der Vendée zuwälzenden Heeresmassen gelangen konnte? Und doch wollte Angés fort um jeden Preis.
Schmerzlich bewegte mich ihre rührende Klage, ihr trostloser Zustand und die heftige Bewegung ihres zartbesaiteten Gemüthes, als Angés dies alles mir mittheilte. Ich sann und sann, wie hier zu helfen sei; daß geholfen werden müsse und daß niemand helfen könne und werde als ich, stand klar vor meiner Seele. Nur das wie? der Hülfe war noch die große und verhängnißvolle Frage. Leicht wäre mit ihr allein mir rasche Entfernung möglich gewesen, denn ich konnte mich schnell reisefertig machen, aber das Kind – von dem Kinde wollte und konnte Angés, wie sie so heilig betheuerte, nicht lassen.
Es dunkelte mehr und mehr, wohl nie wandelte auf dem schönen belebten Spaziergang ein Paar, das Andere für ein glückliches Liebespaar halten mochten, in so ernsten, sorgenschweren Gedanken als ich jetzt mit Angés. Die Viertelstunden verrannen, bis Nachts eilf Uhr mußte alles geschehen sein, was geschehen sollte, denn da wurden die [88]Thore geschlossen, die Straßen durch Patrouillen gesäubert, und niemand durfte ohne wichtige Gründe das Haus und noch weniger die Stadt verlassen.
Mir blieb gar keine Wahl, gar kein langes Besinnen; entweder ich liebte Angés noch, blieb ihr ein treuer Freund, bot die Hand zu ihrer Rettung aus wachsender Pein und Verzweiflung ohne zögerndes Bedenken, oder ich war ein unritterlicher Feigling, nicht werth, daß ein so holdes gequältes Geschöpf mich Freund nenne, nicht werth eines so hohen unbegrenzten Vertrauens; daher sprach ich, wieder mit Angés nach ihrem Wohnhause zugehend: Hole das Kind, nimm was du an Schmuck und Baarschaft besitzest mit, und außerdem belade dich mit nichts. Ich bleibe hier und harre deiner, dann folgst du mir auf gutes Glück.
Es ging alles gut; die Eltern Berthelmy’s, betagte Leute, hatten sich bereits zur Ruhe begeben; er blieb diese Nacht auf Wache; Angés nahm, was sie ihr Eigenthum nennen konnte, that als wolle sie das Kind, das schon schläfrig war, zur Ruhe bringen, kleidete dasselbe aber recht warm an, anstatt es auszukleiden, und kam nach Verlauf einer Viertelstunde mit ihm zu mir herab, der ich in peinlichen und angstvollen Gefühlen ihrer auf der Straße harrte. Die Kleine war still, die süße Stimme ihrer vermeinten Mutter hatte sie leicht beschwichtigt, ich nahm die leichte Last auf meine Arme, und so schritten wir nach meinem Gasthaus, das nicht fern vom le Greffier gelegen war. Meine Pferde hatten geruht, die Nacht war mondhell, ich ließ den Kutscher anspannen, und sagte dem Wirth, daß eine nahe Verwandte von mir mich begleiten werde. Einige Goldstücke über den Betrag meiner Rechnung bewogen meinen gefälligen Wirth, sich zur Mairie zu begeben, um für seine Verwandte, welche mit ihrem Bruder, der aus Amsterdam gekommen sei, sie abzuholen, und mit ihrem Kinde nach Holland zu reisen gedenke, einen Paß zu erbitten, und unser Abenteuer lief ganz glücklich ab; wir waren, als die Mitternachtglocken in le Mans anschlugen, schon weit aus dem Weichbild der uralten Bischofstadt und Angés pries den Himmel und mich unter Freudenthränen für ihre Rettung. Ich hätte unter keiner Bedingung eine solche That, als die meine war, die förmliche Entführung einer verheiratheten Frau, unter andern Verhältnissen begehen mögen, aber [89]hier entschuldigte mich mein Gewissen, denn sie war aufgegeben und hatte gegen das Kind Pflichten übernommen, die ihr geboten, es nicht in der bisherigen Umgebung zu lassen. Wir fuhren, von schöner Herbstwitterung begünstigt, dem geschlängelten Lauf der von Norden herabkommenden Sarthe entgegen, rasteten in Alençon, reisten über Sens und Argentan, Falais und Caën, und gewannen glücklich das Küstenland. Ein kleines Schiff führte uns nach Havre, wo meines Herrn Vaters »vergulde Rose«, Kapitän Richart Fluit, segelfertig lag, um ein paar zarte Lilien an Bord zu nehmen, nebst mich und meinen Diener.
Ja – ja – brummte der Kapitän – ein verteufeltes Wagestück – wollen sehen, wie es enden wird!
Es war gerade, als wir in Havre landeten, ein mir besonders lieber Tag, und ich begann ihn mit dem werthen Freund hier und der theueren Freundin am Bord, in überglücklicher Heiterkeit, sorglos und um die nächste Zukunft unbekümmert – wissen Sie noch, Kapitän? Wir vertilgten damals vielen Champagner und Dry Madeira – es war mein Geburtstag, der 22. September.
Wie, mein Herr? fuhr Ludwig mit rascher Frage auf. Auch ihr Geburtstag ist der 22. September? Ich habe die Ehre, Ihnen zu sagen, daß der meinige auf denselben Tag fällt.
Nun, das grenzt aber in der That an das Wunderbare, rief der Kapitän. Welche Aehnlichkeiten werden wir noch entdecken zwischen diesen beiden Herren! Nun will ich Ihnen auch etwas sagen, meine hochverehrten Passagiere, heute ist mein Geburtstag, den wollen wir feiern, und den Ihrigen noch einmal mit. Ich habe den Schiffskoch schon beauftragt, für ein Frühstück nach Seemannsbrauch zu sorgen. Madeira, der zweimal unter der Mittagslinie hindurchging, wird nicht nur zu Mittag, er wird auch zum Frühstück munden, und mit dem tollen Franzosen, Monsieur Kreideweiß, werden wir auch noch anbinden können, und ihn auf gut niederländisch tractiren.
Der Kapitän entfernte sich mit schallendem Gelächter, nachdem seine Reisenden ihm vereint Glück zum heutigen Tage gewünscht hatten, um alles Nöthige anzuordnen. Mittlerweile faßte Leonardus Ludwig’s Hand, drückte sie mit Wärme und sprach: Junger Herr! es ist in der That wunderbar, wie viel Aehnlichkeit das Geschick uns gegenseitig zu Theil werden läßt. Lasset uns Freunde sein, lasset uns einen Bund [90]schließen für das ganze uns noch vergönnte Leben. Mein Herz ist ganz voll von unbegrenztem Vertrauen zu Euch!
Ludwig dachte in diesem Augenblick der geistigen Mitgabe durch die Großmutter. Sie hatte gesagt: Achte treue Freundschaft und hüte dich vor falschen Freunden. – Ein falscher Freund konnte Leonardus nicht sein, nicht werden; sein offenes blühendes Gesicht drückte Biederkeit aus, seine Augen, blau wie die eigenen des jungen Grafen, strahlten Treue. Ludwig bot daher unbedenklich und mit voller jugendlicher Hingebung gerne beide Hände dar und antwortete: Ich habe von Freundschaft einen hohen Begriff; mein Lehrer in der griechischen Sprache ließ mich die Sprüche des großen Weltweisen Solon lesen und lernen, und da lernte ich: »Gerechte Freundschaft ist der sicherste Besitz! – Kein schöneres Gut auf Erden, als ein Freund! – Den Göttern gleich verehre willig Freunde! – Für Brüder achten sollst wahrhafte Freunde du!«
Ja Bruder! Bruder! rief Leonardus enthusiastisch, und warf sich küssend in Ludwig’s Arme.
Bruder im Leben, im Tode Bruder! sprach Ludwig sehr ernst, und erwiderte den Bundeskuß mit dem heiligen Gefühle eines Jünglingsherzens, das sich bisher in holder Unbefangenheit und in schönen Idealen hatte nähren und aufrichten dürfen.
Ich habe nicht Griechisch gelernt, mein Bruder Ludwig, versetzte Leonardus bewegt, aber ich will dir die hohen und weisen Worte deines Solon mit einem Ausspruch des größten Dichters unserer britischen Nachbarn erwiedern. Shakspeare sagt:
Das Erscheinen des Kapitäns, der vom Koch gefolgt, mit alle dem würdigen Werkzeug eintrat, das gehobene Seelenstimmung hervorzurufen und zu beleben im Stande ist, unterbrach die Ergüsse jugendlicher Erinnerungen an tiefeingeprägte unsterbliche Dichtergedanken, und es begann die heitere Morgenfeier des Geburtstages des treuen und wohlgesinnten Kapitäns.
Schon näherte sich das Schiff der Küste der Insel Ameland, an deren nördlicher Spitze es nahe vorbeisegeln und zwischen den Riffen [91]der Watten links und der Zuyd-Wal rechts die schmale Fahrstraße einhalten mußte. Die »vergulde Rose« behielt nun auf mehrere Stunden zur Rechten die Inseln Ter Schelling und Vliland näher oder entfernter, die friesländische Küste aber in stets gleicher ziemlicher Nähe zur Linken in Sicht, bis es dieser bei dem sagenreichen Stavoren vorüber am nächsten kam.
Als Kapitän Fluit die erste Flasche entkorkt und die geistige Flut in die Gläser hatte rinnen lassen, und der erste Toast ihm von den Freunden ausgebracht war, verließ Leonardus schnell die Kajüte.
Was hat er? Was ist ihm? fragte Ludwig, einigermaßen bestürzt und verwundert über diesen raschen Aufbruch.
Werden es gleich sehen, mein Herr Graf! Werden gleich sehen, was Herr Leonardus hat, gab der Kapitän lachend zur Antwort, und siehe, bald darauf wurde wieder die Kajütenthüre geöffnet und herein trat mit einem freudestrahlenden Blick Leonardus, auf seinem Arm ein über alle Beschreibung schönes Kind tragend, und dicht hinter ihm folgte mit einem unendlich reizenden keuschen Erröthen Angés Berthelmy.
Ludwig und der Kapitän erhoben sich zum freundlichen Gruße der Eintretenden, und indem sie einen schüchternen Blick auf Ludwig warf, erglühte sie noch höher wie zuvor, und rief: Mein Leonardus, dein Herr Bruder!
Ja, mein Bruder, gute Angés, nimm ihn immer dafür! Nicht wahr, sie darf? fragte Leonardus seinen neuen Freund, und dieser erwiderte in einiger Verwirrung, ja fast mädchenhaft: Wohl, sie darf, welch’ eine liebenswürdige Schwester gewinne ich dabei!
Freundlich wurde Angés genöthigt, bei den Freunden sich niederzulassen; sie setzte zwischen sich und Ludwig das Kind, und sich selbst traulich anschmiegend an Leonardus Seite.
Ludwig konnte, nachdem er an Angé’s Schönheit seine Augen vollgeweidet, diese Augen kaum von dem Kinde wenden. Die kleine Sophie war von blühendster Frische und von der zartesten Färbung der Haut, sie hatte ein rundes Gesichtchen, weiches blondes Haar, welches in Ringellocken um das Engelsköpfchen fiel, und die herrlichsten dunkeln Augen, die man nur irgend sehen konnte; das kleine Mädchen mochte vier Jahre zählen, erschien aber im Wachsthum schon [92]voraus und voll Anlage zu einem schlanken Wuchs. Sophiechen sprach blos Französisch. – Nur leise nippte Angés an dem perlenden Schaumwein, ihr ganzes Wesen erschien edel, zart, zaghaft, voll züchtiger Haltung, und dabei voll Hoheit und Tiefe des Gemüths und Charakters, obschon sie dies nicht in Worten kund gab. Sie saß vielmehr befangen bei den Männern, und machte sich, oft erröthend, viel mit dem Kinde zu thun. Das Gespräch lenkte sich der allernächsten Zukunft zu, oder vielmehr Leonardus lenkte es darauf hin, denn es wurde allgemach hohe Zeit, an dieselbe ernstlich zu denken.
Beim heitern Becher wird auch ein ernstes Wort nicht schaden, sprach er. Ludwig, mein Freund, mein Bruder, höre meine, höre unsere Bitte! Nimm dich dieser Verlassenen liebend und in Treue an, so lange ich in Amsterdam zu weilen gezwungen bin. Angés kennt mein ganzes Verhältniß, ich brauche nichts weiter zu erläutern. Auf dem Schiff kann sie nicht bleiben, ohne unserm guten Kapitän Ungelegenheiten zuzuziehen; daher vertraue ich sie dir, deiner Ehre die ihrige vertraue ich an, laß sie unter deiner Obhut wohnen, sage, daß sie deine Verwandte sei, deine Schwester, nimm sie in deinen ritterlichen Schirm und Schutz, Alles, was du für sie und dieses holde, verwaiste, mindestens so gut als verwaiste Kind aufwendest, will ich ja gern vergüten und vergelten. Ich hoffe fest, daß ich mich bald wieder werde befreien können, und dann dich freigeben. Du botest mir deine Dienste freiwillig an, guter Ludwig, zürne mir nun nicht, wenn ich die dargebotene Hand ergreife als den Rettungsanker meines sonst unfehlbar sinkenden Lebensschiffes. O geliebte Angés, theurer Fluit, helft mir ihn bitten!
O, wenn Sie wollten gütig gegen uns sein! sprach Angés mit Flötenlauten, und ihre Augen standen voll Thränen.
Bedarf es noch der Bitte? Bin ich von Stein? Gab ich nicht im Voraus mein Wort? fragte Ludwig mit edelmüthiger Aufwallung. Es bedarf ja nur der Angabe dessen, was ich thun soll und was ihr von mir wünscht, und ich vollbringe es mit Freudigkeit.
O, tausend Dank und tausendfache Vergeltung! riefen Leonardus und Angés, und der Kapitän brummte ein Bravo in den Bart, auf welchem einige Champagnerperlen glänzten, wie Morgenthau auf braunem Riethgras, und füllte von Neuem die Gläser, indem er anklingend [93]rief: Auf gutes Glück! – Auf gutes Glück! Aus voller Seele! Aus vollem Herzen! riefen die andern drei, und tranken die schäumenden Becher leer. Lächelnd und verlangend streckte auch das Kind eines seiner rosigen Händchen nach dem Becher und Angés beugte sich liebevoll zu ihm nieder und ließ es nippen, froh des willkommenen Anlasses, die Thränen der Rührung und Freude zu verbergen, die ihr aus den schönen Augen stürzten.
Das Schiff segelte, während die Mittagsstunde nahte, ohngefähr in der Breite von Harlingen, als der Matrose, der die Wache hatte, nach Seemannsbrauch die Annäherung eines Schiffes ankündigte, welches der »vergulden Rose« nachkomme. Da nun gerade auf der Breite Harlingen zwischen zwei sandigen Untiefen nur ein schmales Fahrwasser sich befindet, so galt es Vorsicht, mit dem gleichen Lauf haltenden Schiffe einen in der Möglichkeit liegenden Zusammenstoß zu vermeiden. Der Kapitän dankte daher seinen Gästen für die Güte, seinen Geburtstag mit ihm gefeiert zu haben, und stieg, von Ludwig und Leonardus begleitet, zum Steuerbord hinauf, während Angés mit dem Kinde sich freundlich grüßend in ihre abgesonderte Kajüte zurückzog. Das Schiff, welches dem Lauf der »vergulden Rose« in gerader Richtung folgte, war ein kleiner Schnellsegler, und Ludwig rief erstaunt aus: Ah! die Jacht! die Jacht!
Wessen Jacht? fragten Fluit und Leonardus.
Kennen Sie nicht die wohlbekannte Flagge des Souveräns, der auf dieser Jacht herumfährt, und uns zuletzt, wenn es ihm möglich wäre, in den Grund segeln würde? fragte Ludwig.
Fluit setzte sein Augenglas an und rief: In der That! die reichsgräfliche Flagge von In- und Kniphausen! Des Grafen Jacht, der der liebste und thätigste Freund unsers Herrn Erbstatthalters ist. Oranien boven! Oranien boven!
Dieser volksthümliche Ausruf, der den ehrlichen Fluit als einen der Partei des Erbstatthalters und seines Hauses ergebenen Mann bezeichnete, war zugleich das Signal, das nahende Schiff durch Aufhissen einer oranischen Flagge zu begrüßen, und augenblicklich flatterte diese auch dort auf der Jacht im Tauwerk empor. Zugleich erhielt der Steuermann Befehl, so viel als möglich links beizudrücken und der leichten Jacht das Fahrwasser freizugeben.
[94]Ludwigs Falkenblick erkannte den Erbherrn, wie er auf dem Bug seines Schiffes stand und durch das Fernrohr nach der »vergulden Rose« blickte. Ludwig drehte sich, da er nicht wünschte, von Jenem gesehen und erkannt zu werden, rasch um und verließ das Steuerbord, und zwar mit einem sehr frohen Dankgefühl und einem verklärten Blick gen Himmel. Er gedachte mit tiefer Empfindung der leidenden Erbherrin, und konnte sich getrost sagen, daß ihr Zustand sich merklich gebessert haben müsse, sonst werde Graf Wilhelm sie gewiß nicht unter der Pflege fremder Hände zurückgelassen haben. Der überaus günstige Nordostwind, der den ganzen Morgen über geweht, hatte die gut segelnde schöne Susanne überaus rasch vorwärts gebracht und südwestwärts getrieben; sie hatte erst am frühen Morgen des heutigen Tages den Jahdebusen verlassen, freilich aber durch ihren nicht tiefen Gang den für leichtere Fahrzeuge kürzeren Wasserweg zwischen der Küste und dem Wangerland einschlagen können. Als die schöne Susanne der »vergulden Rose« ziemlich nahe vorbei rauschte, erfolgten die üblichen Grüße, die der Brauch vorschrieb, und bevor noch zwei Stunden vergingen, war die Jacht, die stricten Curs nach Amsterdam zu hielt, der vergulden Rose außer Sicht. Dieser Kauffahrer, eine einmastige Pinke, schwebte jetzt in ziemlicher Nähe der sechs Seemeilen langen und fast zwei Meilen breiten Untiefe, die einst ein bevölkertes, blühendes Land gewesen war. Nicht ohne geheimes Grauen sieht der Schiffer, wie über diesen weit gedehnten Meeresstrich die Wellen eine andere Gestalt annehmen, sich eigenthümlicher kräuseln, als auf offener See, oder im günstigen tiefen Fahrwasser. Immer ist ein unheimliches Rollen und Rauschen, stärker als an andern Strichen der See vernehmbar, und es ist gar kein Wunder, wenn ein nervösgereiztes Ohr, zumal das eines Sagengläubigen, die Glocken aus der Tiefe von den Kirchthürmen der versunkenen Dörfer mit grellem und schauerlichem Klange läuten hört. Sinnend und ernst blickten die Freunde auf das schöne unermeßlich lang gedehnte, wogenüberströmte, tiefliegende Riff, das bis nach Stavoren hinauf sich erstreckte, und der Kapitän murmelte, gleichsam als trauriger kummerbeschwerter Cicerone halblaut vor sich hin: al daar verdronken – verdronken en’t jaaren van een duizend twee honderd en zeventwintig, en een duizend twee honderd en zeventachtig. – Dort breitete sich [95]vor Stavoren die lange weiße Düne, der Frauensand, auf dem ein junges Saatengrün oder einst in das Meer geworfener Waizen als unfruchtbarer Dünenhafer aufzuschießen begann, und sperrte den Hafen, hemmte dem früher so blühenden Verkehrsort das Anlegen größerer Schiffe. Jetzt lief die »vergulde Rose« ein in das riesige Wasserbecken der Zuider-See. Der Abend sank nieder, als die Höhe von Enkhuizen erreicht war, und als abermals ein schöner Morgen, nur etwas nebelhaft aufglühte, steuerte das Schiff durch den Pampus und das Y, dann tauchte nach kurzer Fahrt schier phantastisch der Mastenwald des Hafens von Amsterdam durch den Nebel der Frühe, und das Klingen unzähliger Glockenspiele von den Thürmen der gewaltigen Großstadt machte einen eigenthümlichen Eindruck. Das Getön war ebenfalls phantastisch, verworren, und bald wurde es überlärmt vom vollen sich früh entwickelnden Leben der Straßen, von tausend und abertausend Karren und Schleifen, dem Wälzen der Fässer, dem Geschrei der Ausrufer und Straßenverkäufer, dem ganzen lauten Getriebe einer steten Messe. Ludwig und die Uebrigen nahmen herzlich dankenden Abschied von dem biedern Kapitän, nicht ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen, und Ersterer dankte dem Himmel, schon beim Ausschiffen einen ortskundigen, berathenden Freund zur Seite zu haben, denn wie überall in großen Städten lauerte auch hier im Hafen der Betrug, die unersättliche Habgier und das Diebesgelüst, das in jedem Ankömmling ein Ziel für die Beraubung sieht, in tausendfacher Gestalt. Aber Alles, was sich in solcher Absicht an die Ausgeschifften herandrängte, stob von dannen, als Leonardus in derben wohlverständlichen Lauten der Muttersprache das lungernde und lauernde Gesindel zurückdonnerte, und nun manch grollendes: Zy zyn geene patrioten, zy zyn van den verdoemten voornaamsten – zy zyn Oranje äppels – Gekken! und dazu ein dem Verdrusse Luft machendes Hohngelächter. Mit großer Gewandtheit und Uebersicht ordnete Leonardus Alles an; ein zurückgeschlagener Wagen ward genommen für ihn, Ludwig, Angés und Sophie, das wenige Gepäck ward untergebracht, Philipp bestieg den Braunen und führte die schöne Isabella dem Wagen nach, die freudig wieherte, als sie nach dem langen ermüdenden Stehen im Schiffsraum wieder sichern Boden unter ihren Hufen fühlte. Und nun ging es bald rascher, bald langsamer durch wimmelvolle [96]Straßen und über geräuschvolle Märkte, bis endlich das Gasthaus erreicht wurde, in welchem Leonardus dem Freund und der Geliebten eine ruhige Unterkunft zu bereiten gedachte. Alles zu Ordnende ordnete sich leicht und rasch. Die Fremden mietheten und bezahlten die ihnen nöthige Zimmerzahl gleich auf eine Woche voraus, und fanden die trefflichste Einrichtung und die berühmte holländische Reinlichkeit in sich selbst übertreffender Weise; Alles auf das Wünschenswertheste, als sei es längst vorausbestellt. Kein Stäubchen auf Gesimsen und Möbeln, jede Bequemlichkeit geboten, Schreibzeug, Federn, Papier, Oblaten und Siegellack, ja es fehlte nicht am Schreibtisch der Kalender, nicht auf dem Betpult die Bibel, und die Kaminsimse prangten mit den allerschönsten und buntesten Figuren, Männchen und Götzenbildern von Porzellan und Speckstein aus dem Reiche der Weltmitte und dem Sonnenlande Nippon. Prächtige starkbauchige Porzellanvasen hauchten in ihrer Eigenschaft als Räuchertöpfe köstlichen Wohlgeruch aus, und in zartgeformten Gefäßen dufteten Veilchen, des nahen Lenzes liebliche Erstlinge.
Ein Plan ward rasch entworfen; Leonardus wollte zuerst das älterliche Haus begrüßen, den Besuch des Freundes anmelden, diesen dann selbst einführen, dann mit ihm zurückkehren und die Nachmittags- und Abendzeit benutzen, ihn und seine Angés den Genüssen zuzuführen, welche Amsterdam in so reicher Fülle darbietet. Wenn es sich einleiten lasse, solle Herr Adrianus von der Valck Angés sehen; sie solle suchen dessen Herz zu gewinnen, und zugleich wollte Leonardus versuchen, das Band zu lösen, das ohne seinen Willen und ohne ihn und seine Zustimmung zu befragen, der Vater um seine Freiheit geschlungen hatte. Angés hörte diese Pläne mit einem Gefühle von Wehmuth an, welches sie niederzudrücken strebte, aber als Leonardus geschieden war, vermochte sie ihre Thränen nicht mehr zurückzuhalten und sprach zu Ludwig, in dessen Gesellschaft sie mit dem Kinde völlig unbefangen blieb: Mein Geschick ist ein sehr schweres und hartes, mein brüderlicher Freund! Ich habe mir schon tausendfache Vorwürfe gemacht, daß ich meinem überwallenden Gefühle und dem geliebten Jugendfreunde folgte; aber ich bin vielleicht auch in etwas zu entschuldigen, wenn ich sein plötzliches Erscheinen in einem Augenblicke, welcher mich der Verzweiflung nahe brachte, für einen Wink Gottes [97]hielt. Ich war nicht fähig, mit ruhigem und kaltem Blute zu überlegen bei der Mißhandlung, die mir widerfahren war, und nie hätte sich mir ein anderer Ausweg zur Flucht geboten. Indessen, wie sehr Leonardus mich liebt, wie sehr mein Wunsch wäre, ihm anzugehören, so darf es ja nicht sein, da ich noch nicht von meinem Manne geschieden bin, und wieder darf es nicht sein, daß ich mich als Last an des edlen Freundes Fersen hänge, daß ich zwischen ihn und seines Vaters Zufriedenheit, zwischen ihn und das Glück seiner Zukunft an der Hand einer reichen Braut, welcher er verlobt wurde, mich dränge. Ich könnte nur störenden Unfrieden hervorrufen, und dafür möge der allmächtige Gott mich bewahren, denn ich weiß, was Unfriede ist und was er wiegt im Leben der Familien; er ist wie ein fressendes Krebsgeschwür, dem nicht Messer, nicht Salbe des Wundarztes völlig Einhalt zu thun vermag.
Ludwig hörte mit herzlicher Theilnahme diese Worte des schönen, noch so jungen und schon so unglücklichen Weibes an; aber er bei seiner eigenen Jugend und Unerfahrenheit, welchen Rath hätte er zu geben vermocht? Er sann einige Augenblicke nach und sprach dann: Ihr Verhältniß, verehrte Freundin, ist allerdings ein sehr eigenthümliches; es wird Alles darauf ankommen, ob des Freundes Liebe zu Ihnen von solcher Stärke ist, daß er alle derselben sich entgegendämmende Schwierigkeiten überwindet, ohne selbst an eigenem Lebens- und Zukunftsglück ein Opfer zu bringen. Es ist nur edel und würdig von Ihnen, daß Sie ein solches Opfer nicht erwarten und fordern, und Sie würden auch nicht glücklich sein können, falls es dennoch dargebracht würde.
Gewiß nicht, mein edler Freund, Sie fühlen wie ich! rief Angés, bot Ludwig ihre Hand und sah ihm mit reinem durch Thränen verklärtem Lächeln schwesterlich liebevoll in die Augen, ganz Hingebung, ganz Vertrauen. Darum preise ich mein Geschick, daß der Himmel Sie uns zuführte, und ich will Ihnen meine Gedanken offen mittheilen. Gelingt es Leonardus, die zu fürchtenden Schwierigkeiten zu überwinden, so wird er auch Rath finden, jene Schritte zu thun, welche nöthig sind, die Scheidung von meinem Manne zu bewirken; gelingt es ihm nicht, so muß ich von ihm scheiden, denn ich will nicht in einem Verhältniß leben, über das die gute Sitte den Stab bricht. [98]War meine Flucht mit Leonardus ein Fehltritt, so war sie doch der einzige, aber ich möchte nicht noch länger den Kampf der innigsten Liebe mit der Pflicht der uns auferlegten Entsagung kämpfen, ich fühle, daß auf die Dauer meine Kraft dazu nicht ausreicht. Und dann habe ich nur einen Wunsch: Ich will zurück in meine Heimath, in mein Elternhaus, und dazu, nur dazu sollen Sie mir Rath und Schutz auf meine Bitte leihen, und sollen helfen, mich vor mir selbst zu retten.
Geleitet von Leonardus betrat Ludwig Graf von Varel, versehen mit seinen Papieren, das elterliche Haus seines Freundes, und mußte erstaunen über dieses von außen ganz einfach sich darstellenden Hauses reiche Prachtfülle, die im Inneren zur Schau trat. Marmortreppen und Geländer, Mahagonigetäfel der Wände, von geschliffenem Spiegelglas alle Scheiben der Fenster. Glänzend gebohnte Fußböden, zum Theil belegt mit bunten Teppichwebereien aus Hindostan, von schwerem Seidendamast alle Vorhänge, herrlich geschnitzte und mit Perlmutter, Bernstein und Achaten ausgelegte Prunkschreine mit Glasscheiben, oben darauf eine Fülle prachtvoller Vasen, von ächt chinesischem und japanischem Porcellan, und innen ein unermeßlicher Reichthum an Gold und Silbergeräthen zur Schau gestellt. An den Wänden, wo nicht französische oder flandrische Gobelins diese mit Farbenbildern ganz bedeckten, werthvolle Gemälde der niederländischen Meister in breiten, phantastisch ausgeschnitzten Mahagonirahmen, da und dort Consolen, auf denen Statuen oder Trinkgeschirre von hohem Werthe standen; auf den Simsen der Kamine und Thüren riesige Wunder der Natur und ferner Länder; Prachtexemplare rother, weißer und schwarzer Korallen, Milleporen und Matreporen, Kästen mit Riesenschmetterlingen aus Surinam und Amboina, Erzstufen aus Peru, von den Küsten von Golkonda und Coromandel. In großen Käfigthürmen von blankem Messingdraht und mit mancherlei Zierrath ausgestattet allerlei lebendes [99]kreischendes, gellendes, mit Ketten rasselndes fremdländisches Gethier, Cacadu’s, Papageien, Affen, Meerkatzen, eine überwältigende Fülle von Gegenständen, die förmlich auf die Sinne eines des Anblicks solchen Reichthums nicht Gewohnten verwirrend und fast bethörend wirkten. Nach flüchtigen Blicken auf die Mannichfaltigkeit all dieser eben vorhandenen, sich gleichsam von selbst verstehenden und ganz ungesucht zur Schau gestellten Herrlichkeiten öffnete Leonardus dem Freunde das Arbeitskabinet seines Vaters. Es war dies ein kleines, fast enges Zimmerchen, das durch eine vergitterte Zwischenwand von einem einige Stufen tiefer liegenden, folglich höheren geräumigen Zimmer abgeschieden war, in welchem die zahlreichen Arbeiter der Schreibstube an einfachen schwarzlakirten, mit allem Nöthigen versehenen Tischen und Tafeln saßen. Ein Schalter, für das Oberhaupt des Geschäftes bequem angebracht, vermittelte den Empfang der hinaus oder hereingereichten Briefschaften, Wechsel, Quittungen und was sonst der tägliche Gang der Geschäfte erforderte. Die Thüre zum Kabinet des alten Herrn führte aus einem etwas größeren, ebenso wie das Kabinet höchst einfach ausgestatteten Empfangzimmer hinein. Der Geruch im Kabinet und in der großen Schreibstube war eine eigenthümliche Vermählung der Gerüche von Schnupftabak und Tinte, und von durchdringender Schärfe.
Herr Adrianus van der Valck war ein kleiner, gut und wohlhäbig aussehender Mann mit schneeweißem Haar, darüber eine kleine Zopfperrücke, welche er mit schwarzem Käppchen bedeckt trug, und nach kurzem grüßenden Lüpfen dieses Käppchens auch bedeckt hielt. Er bediente sich beim Lesen und Schreiben einer jener altmodischen die Nase klemmenden Brillen. Auch die Tracht des Mannes war noch eine altmodische; kurze Beinkleider von Sammtmanchester, seidene Strümpfe mit Zwickeln, Schuhe mit großen, glitzernden, ächten Edelsteinschnallen. Nach den gewöhnlichen förmlichen Begrüßungen beim Eintritt mußte sich Ludwig auf einen der runden drehbaren Polsterschemel setzen, wie sie, um möglichst Raum zu sparen, in den kleinen kaufmännischen Schreibstuben üblich sind, und als dieser Aufforderung von ihm genügt war, überreichte er einen Theil seiner Papiere. Herr Adrianus sah dieselben scharf prüfend an, und fand alles in bester Ordnung. – Sie sind uns gut empfohlen, Herr Graf, nahm der alte Herr das Wort; [100]und ich heiße Sie in Amsterdam willkommen. Welche Absicht führt Sie zu uns und in welcher Weise kann unser Haus Ihnen dienen?
Die erste dieser Fragen gleich überspringend, da deren Beantwortung von keiner Nothwendigkeit geboten war, auch die Absicht, die Welt zu sehen, ohne einen Geschäftszweck damit zu verbinden, dem Herrn Adrianus vielleicht nicht zugesagt haben würde, beantwortete Ludwig gleich die zweite: Meine Frau Großmutter Excellenz weisen mich auf die Erhebung einer gewissen Zinsrente von Kapitalien an, die beim Pariser Stadthaus angelegt sind, und so wollte ich Sie ersuchen, mich entweder bei Ihrem Hause Wechsel darauf ziehen zu lassen, oder mir Ihren gütigen Rath zu ertheilen, wie ich zu dem Gelde gelangen kann, ohne gerade deshalb selbst nach Paris reisen zu müssen, wohin ich zwar allerdings auch zu gehen gedenke, nur dürfte vielleicht eine günstigere Zeit dazu abzuwarten sein.
Herr Adrianus van der Valck ließ Ludwig ganz ruhig ausreden, und machte indessen mit seinen beiden Daumen die Mühle von Innen nach Außen, indem er die gefalteten Hände phlegmatisch auf seinem sammtmanchesternen Schooße ruhen ließ; dann murmelte er vor sich hin: Pariser Stadthaus, l’hôtel de ville, und weiter nichts, aber er begleitete diese Rede mit einem bedenklichen Kopfschütteln. Darauf drehte er sich auf seinem Sessel behend um sich selbst, und entnahm von einem schmalen Büchergestell, das voller Folianten stand, deren Einbände mit chocoladebrauner dicker Leinwand überzogen waren, und zur Bezeichnung auf dem Rücken aufgeschriebene Buchstaben des Alphabets trugen, eines dieser Bücher seinem Platze, legte es vor sich auf seinen Pult und schlug es auf, indem er suchend murmelte: De la Tremouille, de la Tremouille. Halb laut und unverständlich las Adrianus erst Einiges für sich, und sprach dann laut: Ja ja, so ist es. Wollen Sie die Güte haben, mir Ihre Papiere zu zeigen? – Ludwig reichte das Betreffende aus der von der Großmutter empfangenen Brieftasche dar, und Herr Adrianus klemmte nun lesend seine Brille fester und schrieb von Zeit zu Zeit mit der wieder zur Hand genommenen Feder auf die lederne Schreibunterlage rechnend einige Zahlen; ein Wunder, daß er für dieselben noch Raum fand, so unendlich viele Zahlen waren schon in ähnlicher Weise auf dieses alterbraune Leder geschrieben worden.
[101]Nach einer Weile, während der Kauf- und Handelsherr noch mancherlei für sich nach Art alter Leute gemurmelt, nahm er das Wort: Hören Sie mir jetzt aufmerksam zu, mein junger Herr Graf. Die von der Frau Reichsgräfin Excellenz, Ihrer Großmutter, bei dem Stadthause zu Paris belegten zweihundertfünfundfünfzigtausend Livres gehören zu den immerwährenden Renten, welche in den Jahren siebzehnhundertzwanzig und einundzwanzig begründet, und vorzugsweise vor andern Staatsschulden Frankreichs dahin privilegirt wurden, daß die Verzinsung bei denselben Kassen nach wie vor bleibe und daran keine Kürzung geschehen könne. Nur bei Veräußerungsfällen wird der Zinsbetrag eines Jahres in Abzug gebracht.
Die Kapitalsumme solcher ewigen Renten, die bei dem Stadthaus zu Paris angelegt ist, beträgt fünfundzwanzig Millionen Livres, die Kapitalsumme der später geschaffenen Leibrenten, rentes viagères, aber nur vier Millionen, welche durch die Theilhaber an den fünfundzwanzig Millionen bald verschlungen sein würden, wenn der unglückliche Hof und die zahlreichen herzoglichen und prinzlichen Familien Frankreichs im Stande gewesen wären, ihre angelegten Kapitale flüssig zu machen und außer Landes zu führen. Wie wenig die dermalige grenzenlos und bodenlos tolle Wirthschaft in Frankreich die Besitzthümer der französischen Aristokratie achtet, ist bekannt. Sie wird zum Beispiel nicht Gelder in Schutz nehmen, an welchen Seine Hoheit der Herzog von la Tremouille, Prinz von Tarent und Talmont, Theil hat, der gegen die gottheillose Republik ruhmreich die Waffen trägt; wie sie es hält mit den Geldansprüchen auswärtiger Souveräne, ist mir noch nicht bekannt. – Meine Großmutter ist auch königlich dänische Gräfin, warf Ludwig ein, dessen Aussichten sich merklich verdüsterten; aber der alte van der Valck entgegnete: Frankreich hat allen europäischen Souveränen den Krieg erklärt, folglich auch der Krone Dänemark, und diese kann kein Schutzrecht üben, denn sie hat die Republik nicht anerkannt und hat keinen Gesandten in Paris. Es steht überhaupt ziemlich mißlich mit diesen Geldern, fuhr er fort; nur geordnete Zustände taugen für den Gang der Geschäfte. Eine Revolution, die sinn- und zügellos alle Banden sprengt, die, indem sie das Staatsleben läutern will, den Staat in das tiefste Unglück stürzt, ist nicht fähig, auch nur die mindeste Bürgschaft für etwas Anderes zu [102]geben, als für ihren vaterlandsfeindlichen und verderblichen Wahnsinn. Vor einigen Jahren wäre die günstige Zeit gewesen, daß die Interessenten der immerwährenden Renten ihre Contracte hätten verkaufen, und sich mit dem gehobenen Gelde bei den Leibrenten betheiligen können. Aber auch dies würde ohne namhafte Verluste nicht abgegangen sein. Im Jahr siebenzehnhundertsechsunddreißig war der Cours jener immerwährenden Renten bis auf vierundvierzig herabgedrückt, doch hatte er sich kurz vor der Revolution wieder bis zu fünfzig Procent gehoben, was wäre das indeß gewesen? Im günstigen Fall hätte ein Betheiligter statt zweihundert Livres nur einhundert erhalten, und wäre der Zinsen eines ganzen Jahres verlustig gegangen. Gesetzt, das Stadthaus vermöchte seinen Credit aufrecht und seinen Gläubigern Wort zu halten, in was würde es jetzt Zahlung leisten? In Lumpenpapieren, in Assignaten, für die ich, so wahr ich Adrianus van der Valck heiße, nicht einen Deut, nicht einen Pfifferling gebe!
Herr Adrianus war auf seinem Felde, Ludwig aber begann sich über dessen etwas in die Breite gezogene Auseinandersetzung zu langweilen; indeß fuhr Jener unermüdlich fort, nur daß er mit beiden Daumen jetzt die Mühle von Außen nach Innen machte: Vermittelst des Ihnen angeführten Courses und Decourts kann sich jetzt, vorausgesetzt, es stände Alles so gut wie es schlecht steht, bei den immerwährenden Renten ein Interessent über fünf Procent mit Beibehaltung des Kapitals berechnen, und wird also schwerlich bei vorausgesetztem Verluste des Kapitals auf sieben Procent lüstern werden, denn der Abwurf der Leibrente würde höchstens für ihn und eine vielleicht geliebte Person, die gleich ihm im Cölibat lebte und bis an ihren Tod darin beharren wollte, ausreichend sein, wenn sie nicht außerdem noch zu verzehren hätten, denn jenes Kapital würde mit des Nutznießers Tode erlöschen, er möchte verheirathet sein und Leibeserben haben oder nicht.
Derjenige, dem fideicommissarische Einrichtungen lästig fallen, darf an dergleichen Verwandlungen seiner Contracte nicht denken, und die Frau Reichsgräfin Excellenz werden sich gnädigst zu erinnern geruhen, was Hochdieselben im Jahre siebenzehnhundertvierundfünfzig verlangt und wessen sie sich damals erklärt haben, als es sich um den ihrerseits auszustellenden Consens der Erhebung dieser de la Tremouille’schen Renten für ihre Herren Söhne handelte, den sie sich ausdrücklich [103]vorbehielt, und bestimmte, daß von der Veräußerung der Gelder nicht die Rede sein sollte, sondern letztere mit der Substitution ebenermaßen belegt bleiben sollten, da stets beim Verkauf der Contracte nur der offenbarste Schaden in die Augen springt und jetzt gar Nichts zu hoffen und zu erwarten ist. Haben Sie mich verstanden, mein junger Herr Graf von Varel?
Ludwig war, als ob ihm ein Mühlrad im Kopfe mit brausenden Wasserstürzen auf dessen Schaufelrädern umginge, verstört fuhr er auf, und antwortete: Herr Adrianus van der Valck! Sie sehen in mir einen jungen Menschen, der Mancherlei gelernt hat, aber leider nicht gut rechnen. Fragen Sie mich nach antiken Münzen, so kann ich Ihnen die griechischen, römischen und barbarischen nach Städte-, Provinz-, Königs- und Herrschernamen an den Fingern herzählen, ebenso die römischen Consulares, Familiares und Kaisermünzen, aber vom neuen Geld verstehe ich nichts. Ich weiß wohl den Cours eines Schiffes anzugeben, aber nicht den Cours der Papiere, darum erbitte ich mir Ihren gütigen Rath, was ich beginnen soll, mindestens zu versuchen, die angewiesenen Summen ganz oder theilweise zu erheben?
Dies werde ich Ihnen sagen, Herr Graf, versetzte der Kaufherr. Der Name und das Ansehen, so wie die hohe Achtung, welche ich gegen die Frau Reichsgräfin Excellenz hege, würde erstens einem ihrer Angehörigen selbst ohne ausdrücklichen Creditbrief die Hülfe meines Hauses öffnen, gebieten Sie demnach über uns; zweitens ist mein Rath, Sie treten an das Haus Adrianus van der Valck in Amsterdam Ihre Rentenanweisung zum Schein und gegen Recepisse ab, und das Haus macht die Probe, fragt in Paris an, verbittet sich Zahlungsleistung in Assignaten, nimmt nur sichere gültige Wechsel an, und da werden wir nach Verlauf weniger Posttage bald und sicher wissen, wie die Hasen, so zu sagen, laufen. Reisen Sie allein? – Nein mein Herr, eine nahe Anverwandte, Gemahlin eines meiner Herren Vettern mit ihrem Kinde, nebst Dienerschaft –
Beehren uns morgen Abend mit der Dame, Herr Graf, bitte darum, auf ein Schälchen Thee, kleiner Familienkreis; Leonardus wird sich die Ehre geben, Sie allerseits in Ihrem Gasthaus abzuholen, auch alles Erwünschte betreffs Ihrer Papiere ordnen. War mir eine Ehre, eine wahrhafte Ehre, Herr Graf. Werden auch noch rechnen lernen, mein [104]junger Herr Graf, ja ja, recht gut rechnen! Junge Herren verrechnen sich nur gar zu leicht, machen nur zu oft die Rechnung ohne den Wirth, dann sind wir Alten dazu da, ihre Calcule zu prüfen und von Zeit zu Zeit, wo es nöthig ist, einen Strich durch die falschen Rechnungen zu machen.
Bei dieser Rede richtete der alte Herr seine stechenden Blicke mehr auf seinen Sohn, der bei dieser ganzen Verhandlung einen stummen Zuhörer abgegeben hatte, und zuletzt wie auf Kohlen saß, und endlich heilfroh war, daß sein Vater durch das Erheben von seinem Drehsessel und das Lüpfen seines Käppchens diese Sitzung aufhob.
Leonardus führte seinen Freund alsobald auf sein eigenes Zimmer, umarmte ihn mit stürmischer Freude und rief: Es geht Alles herrlich, ganz herrlich! Mein Vater lud dich ein, er wird Angés sehen, sie liebgewinnen, ein Einsehen haben, sich erbitten lassen!
Liebster Freund, entgegnete Ludwig: es thut mir sehr leid, dir sagen zu müssen, daß ich deine Hoffnung nicht theile, daß ein beängstigendes Vorgefühl mir sagt, die Sache könne sehr mißlichen Ausgang gewinnen. Es war etwas Mißtrauisches, Strafendes im Tone deines Herrn Vaters, als er mich entließ; ich weiß nicht, soll ich das auf mich deuten, oder auf dich?
In der That, bemerkte Leonardus betreten: ich habe es auf dich gedeutet, es ist so seine Art, junge Leute zu behandeln, Standesunterschiede kennt er nicht, wenigstens nimmt er keine Rücksichten auf den Vorrang höherer Geburt, er nimmt Alles gar wichtig und blickt stets besorglich in die Ferne. – Ich nahm dergleichen wahr, bestätigte Ludwig; wozu war der ganze Sermon? Ich will ja nicht die Rente verkaufen, habe dazu auch gar keine Ermächtigung, ich habe ausdrücklich nur die Weisung, den alljährigen Zinsabfall derselben zu beziehen.
Theuerer Freund, belehrte ihn Leonardus mit Lächeln: das wird dir in deinem späteren Leben wohl noch oft begegnen, daß sonst ganz einsichtsvolle und verständige Menschen dich mißverstehen. Gar selten hört Einer den Anderen ruhig an; beginnt Einer eine Erzählung, so macht sie der Zuhörende in Gedanken fertig, bevor Jener noch lange nicht bei der Hälfte ist. Mein Vater ist der strengredlichste Kaufmann von der Welt, aber das Geschäft eben ist des Kaufmanns Welt; sein Gedanke flog über die Geringfügigkeit jenes Zinsabwurfs der de la [105]Tremouille’schen Renten hinweg und erfaßte die Möglichkeit des Ankaufs des Grundkapitals, dessen niedriger Stand in der Gegenwart reichen Gewinn für die Folgezeit in Aussicht stellt, sobald eine bessere Zukunft, die nicht ausbleiben wird, die Werthpapiere Frankreichs wieder zum Steigen bringt. Nun verfolgte er seine Lieblingsidee und vergaß, denn er ist alt und wird schwächlich, das eigentliche einfache Hauptanliegen.
Und ich soll Angés mitbringen! begann Ludwig mit neuer Verlegenheit. Wird sie auch mitkommen wollen? Beim Himmel, mir fuhr die Lüge nur so heraus, hinterdrein bereute ich sie im Augenblick. Ich spinne mich da in ein Netz von Täuschungen ein, das mir selbst sehr gefährlich werden kann!
Was könnte denn dir geschehen, bester Bruder? fragte Leonardus empfindlich. Du bist frei, bist unabhängig; wird mein und Angé’s unbegrenztes Vertrauen dir lästig, so kannst du leicht das Band zerreißen, das uns seit so kurzer Zeit erst eint, du kannst uns meiden.
Sprich nicht so, Leonardus! entgegnete Ludwig, und verzeihe mir meine Bedenklichkeiten. Ich bin noch so jung, trete unerfahren in die große Welt, kenne von ihren Verhältnissen noch so wenig; da ist es kein Wunder, daß Manches mich befangen macht, daß ich in mir selbst nicht sicher bin über mein Handeln.
Sei nur unbesorgt, alles wird gut gehen, tröstete ihn der Freund.
Und wenn es nicht gut ausgeht? Was dann, Leonardus? Wenn dein Vater bereits Argwohn geschöpft hätte, durch Kundschafter schon unterrichtet wäre? Kann er nicht im Gewand eines Matrosen auf jedem seiner Schiffe einen solchen Kundschafter haben, der treulich bei jeder Heimkehr ihm Bericht erstattet über Alles, was auf dem Schiffe vorging?
Himmel, welch eine dunkle Wolke der Besorgniß beschwörst du mir da herauf! rief Leonardus, und seine Züge wurden bleich, die angstvolle Ahnung des Freundes wirkte ansteckend auf ihn.
Und sage, was hast du zu thun im Sinne mit der armen Angés? setzte Ludwig seine Rede fort. Kannst du ihre Zukunft nicht sichern, so ist es Pflicht, ihre wie die deine, ihrem väterlichen Hause Nachricht zu geben, und in dieses Haus sie zurückzusenden, das ist auch ihr Verlangen. Sie ist gut und edel, sie will nicht, daß du ihr dein Leben, das Glück deiner Zukunft zum Opfer bringest; und ich meine, es sei [106]besser, ihr trenntet euch, da es noch Zeit ist, wie ihr gelebt in reiner heiliger Freundschaft. Sie konnte sich in le Mans nicht heimisch finden, wird sie es selbst im glücklichsten Fall als Fremdling, als Andersglaubende hier in Amsterdam seyn? Sie ist Protestantin, ihr katholisch.
Wohl, wir sind es, entgegnete Leonardus. Wann aber fragt wohl die wahre Liebe nach dem äußerlichen Glaubensbekenntnis? Wie viele Tausende solcher gemischter Ehen werden nicht alljährlich geschlossen, und gewiß die meisten glücklich! Du wirst bald gewahren, daß bigottes Wesen uns fremd ist; unser Geschäft schärft den Blick für das richtige Verhältniß in Glaubenssachen; gesunde Vernunft lehrt uns Duldung und noch mehr, Anerkennung jener Gleichberechtigung gänzlicher religiöser Ueberzeugung vor dem Throne des allsehenden und allbarmherzigen Gottes.
Gut denn, so komme uns abzurufen, wenn es an der Zeit ist. Daß Angés mitkomme, sei deine Sorge.
Die Freunde machten in Begleitung Angé’s und der kleinen Sophie einen Lustritt und eine Lustfahrt durch Amsterdam; Leonardus wollte ihnen doch so manches Merkwürdige und Schöne seiner Vaterstadt zeigen. Er ritt Ludwig’s Isabella, von Philipp gefolgt. Ludwig saß an Angé’s Seite. Noch einmal wurde das Leben des Hafens in Augenschein genommen, vom ruhigen Sitz des eleganten Wagens das verworrene Treiben mit seinem sinnbethörenden Lärm, mit all seinen gemischten Gerüchen von Tabaken, Häringen, Käsen, Zwiebeln, mit seinen hundebespannten Rollwägen voll Brod, voll Milch, voll Butter, voll Fleisch, voll lebendiger Fische, die in großen Kübeln plätschernd den Fußgängern Wasser in die Augen und auf die Kleider peitschten. Ein wimmelndes Volk von Kärnern, Matrosen, Lastträgern, Soldaten, Verkäufern und Käufern, männlich und weiblich, Kindern und Bettlern zwingt zum langsamsten Reiten und Fahren. Dort die Pracht der riesigen, majestätischen Schiffe, dort die Pracht der Gebäude, die Admiralität, die Werfte; in weiterer Ferne die Schaaren von Windmühlen, die alle arbeiten, als dürften sie nimmer ruhen und rasten, um dieser unzählbaren Menge nur fort und fort genugsames Mehl zu Brod zu verschaffen. Die mannichfaltigsten Physiognomien mischen sich hier, fast alle Nationen des Erdballs sind hier vertreten, alle [107]Trachten der Neuzeit, und manche scheinen sogar einer grauen Vergangenheit anzugehören.
Die Freunde durchfuhren und durchritten mehrere Straßen des nordischen Venedigs, auch die stilleren Viertel, durch die die schiffebelebten Kanäle, die lindenbesetzten Grachten sich ziehen, immer noch voll unermüdlichen Lebens, aber voll Reinlichkeit und schöner Ordnung. Die schönste Brücke Amsterdams, die Hoogeschluys, die sich mit 35 Bogen über die strombreite Amstel spannt, blieb nicht unbesichtigt; das Palais des Erbstatthalters wurde gezeigt, dem berühmten Saal der tausend Säulen, der schönsten Lustorte einer, mit seiner Prachtspiegelfülle, wurde flüchtiger Besuch vergönnt. Philipp, der als Reitknecht seines Dienstes wartete, ergötzte durch seine im friesischen Dialekt vorgebrachten stets verwunderungsvollen Ausrufe ungemein, die kleine Sophie klatschte häufig freudevoll in die Hände, wenn irgend etwas noch nie Geschautes ihre Blicke auf sich zog, und saß zuletzt in einer kleinen Welt von im Vorüberfahren eingekauften Spielwaaren, Südfrüchten, Kuchen, Blumen und bunten Bändern engelfroh und engelschön, ein Bild zum Malen, wie zum Küssen.
Späteren Tagen wurden anderweite gemeinschaftliche Besichtigungen der reichen Stadt vorbehalten: des Stadthauses, der Kirchen, der Märkte, der Theater, der bedeutendsten Gemälde- und sonstiger Sammlungen.
An den damals noch bestehenden umfangreichen Gebäuden, Magazinen, Hallen und Werften der ostindischen Compagnie auf der Insel Oostenburg vorüber lenkten die Freunde wieder nach dem Gasthause zu, in welchem Ludwig und Angés Wohnung genommen, und man bereitete sich vor zum Abendbesuche im Hause des Herrn Adrianus van der Valck.
Es kam die bestimmte Stunde. Leonardus führte seine Freunde mit Absicht etwas früher ein, er wollte und wünschte, daß seine Eltern erst allein, ohne fremde Zeugen, die Auserwählte seines Herzens sehen möchten.
Eine Reihe von Prunkzimmern war geöffnet; Alles verkündete, Alles athmete Pracht und Glanz. Leonardus war davon betroffen; ein kleiner Familienkreis, hatte der Alte doch gesagt, aber die geputzte Dienerschaft, die Zahl der Kerzen, selbst der angelegte Staat der Eltern, die ungemein feierlich den Abendgästen entgegentraten, das [108]Alles kündete Außergewöhnliches an; sollte das ihm, sollte es der Feier seiner Rückkehr in das elterliche Haus allein gelten? Nur alljährlich zwei-, höchstens dreimal wurde große Abendgesellschaft gegeben, bei welcher in dieser Weise Glanz und Reichthum des Hauses van der Valck sich kundgeben durfte; außerdem lebte die Familie bürgerlich einfach, gab höchstens einmal unter der Hand einen kleinen Abendkreis, in welchem der alte Herr gemüthlich sein Pfeifchen schmauchte, ohne sich Zwang anzuthun, und zu welchem nur die nächsten Anverwandten gezogen wurden. Angés war tief verlegen; sie fühlte mit weiblichem Scharfblick heraus, daß ihr Anzug, obschon sie völlig passend und keineswegs ärmlich gekleidet erschien, in diese Räume und was dieselben erwarten ließen, nicht passe, und noch verlegener wurde sie, als der alte Herr, nachdem die Hausfrau sie ehrfurchtsvoll beknixt, sie mit Frau Gräfin Excellenz anredete, sich unendlich schmeichelte, endlich die Gnade zu genießen, sie in seinem geringen Hause begrüßen zu dürfen, und in eine Ueberfülle von Lob über die Schönheit des Kindes ausbrach. War das nur die Frucht der Täuschung, daß Ludwig sie als seine Verwandte angemeldet hatte? Hielt der alte Mann sie wirklich für Ludwig’s Verwandte, die Frau eines seiner Vettern? Konnte, durfte sie seinen Irrthum sogleich widerlegen? Und mußte nicht das beschämende Gefühl sie zu Boden drücken, hier vor diesen würdigen, hochachtbaren alten Leuten als eine landflüchtige Lügnerin und Betrügerin zu stehen? Oder war Alles nur Hohn und Spott, und lauerte auf sie die schmerzlichste Demüthigung? – Während in Angés diese Gefühle kämpften, hatte Leonardus den Freund seiner Mutter Maria Johanna, geborene van Moorsel, einer ebenso freundlichen als ehrwürdigen Matrone, vorgestellt, und diese war in helle Verwunderung ausgebrochen, als sie Ludwig’s Aehnlichkeit mit ihrem einzigen Sohne entdeckte. Als Ludwig sich zu dem alten Herrn wandte, sprach Leonardus die Mutter an: Aber Mutter, was ist das? Wen erwartet Ihr?
Wirst es sehen, wirst es schon sehen, mein Sohn, min Vlugteling! antwortete sie lächelnd. Magst du deine Tante etwa nicht sehen? Nicht deinen Herrn Vetter, den jungen geistlichen Herrn Vincentius Martinus van der Valck? Das wird einmal ein Mann, sag’ ich dir, Leonardus, das wird ein wahrer Priester und ein Rüstzeug des Herrn und unserer geheiligten Kirche! Und deine schönen Nichten? Hast du denn gar [109]kein Herz mehr für die holdseligen Jungfrauen, deine nächsten Verwandtinnen?
Ei warum nicht, geehrte Frau Mutter? Die Verwandten sind mir ja noch alle lieb und werth, aber hätte es deswegen so großen Prunkes bedurft?
St! Leonardus! St! wisperte die Alte. Vater hat das Alles so befohlen, weißt, Vaters Wille ist Gesetz im Hause van der Valck. War in meines seligen Herrn Vaters Hause gerade so – eene goede opvooding hebben, ist ryke huwelyks-gift – gute Zucht ist reiche Mitgift. Und wundert’s dich, mein lieber Sohn, daß Vater deinen Freund ehrt und seine Dame? Seit undenklicher Zeit steht unser Haus mit jenem deutschen Hause in Geschäftsverbindung, so gut, wie mit seinen angesehenen englischen Verwandten. Und sind wir nicht treu oranisch gesinnt? Und ist nicht der Vetter deines Freundes der vertrauteste Freund des Herrn Erbstatthalters, wie von dessen Söhnen? Man muß es mit Niemand verderben, by niemand in ongunst raaken.
Freundlich trippelte die gutmüthige alte Frau zu der jugendlich schönen Angés, die ohne den Prunk von Steinen und Brillanten dennoch im frischen Blüthenschimmer ihrer Jugend liebreizend und einnehmend strahlte, ihre Unterhaltung zu übernehmen, und geleitete sie zu bequemen Sesseln, sorgte auch alsbald für des kleinen Mädchens Zerstreuung, indem sie das Kind einem niedlichen Tisch mit kleinem Sopha dahinter zuführte und allerlei Naschwerk und ein großes Bilderbuch auflegte. Leonardus entfernte sich, um seinen Anzug zu verschönern, und Ludwig wandte sich wieder zu dem alten Herrn, der ihn neben sich zum Sitzen nöthigte, und da noch Niemand von den erwarteten Gästen kam, mit ihm ausschließliche Unterhaltung begann, die freilich bald genug wieder den Kaufherrn kundgab. Ludwig konnte sich nicht enthalten, eine Bemerkung über die Pracht des Hauses, die er bereits wahrgenommen, und die auch in diesen Räumen ihn umgab, zu machen, aber auf diese Bemerkung antwortete Herr Adrianus nur mit einem tiefen Seufzer.
Als darauf Ludwig den alten Herrn verwundert anblickte, sprach dieser: Was will das Bischen Flitter sagen? Mein guter junger Herr Graf, vergönnen Sie mir altem Mann ein vertraulich Wort; Ihre Ehre [110]bürgt mir dafür, daß Sie es in Ihrer Brust begraben sein lassen. Ich spreche mich aus gegen Sie, weil Sie der Freund meines Leonardus, meines einzigen Sohnes sind. Mein Sohn birgt mir ein Geheimniß, ich weiß es. Er will nicht eingehen in meine Pläne, die nur sein Glück begründen wollen; er ist mein einziger Sohn; nur eine reiche Heirath kann seine Zukunft golden machen, denn mit mir geht meines Hauses Glück und Glanz zu Ende.
Unglaublich! flüsterte Ludwig. Diese ringsum sichtbare verschwenderische Pracht! Scheiterten Ihnen Schiffe? Fallirten Ihnen bedeutende Häuser?
Ich spreche es noch einmal aus, versetzte Adrianus: was will das Bischen Flitter sagen? Kein Schiff scheiterte mir, kein Freund fallirte zu meinem Schaden, aber ein Haus, ein altes ruhmreiches Haus, in dem all mein Vermögen ruht, das wankt, das bricht, das kommt zu einem entsetzlichen Fall.
Und dieses Haus? fragte Ludwig, erschreckt durch des alten Mannes Erschütterung.
Dieses Haus, Herr Graf – flüsterte der Alte, nur leise hauchend: – ist die holländisch-ostindische Compagnie!
Wie wäre das möglich? fragte Ludwig.
Oh, mein guter gnädiger junger Herr! erwiederte Adrianus fast erschöpft: Sie können noch nicht rechnen, haben’s ja selbst gesagt – ein großer Fehler – ein Rechnungsfehler! Will Ihnen ein Exempelchen vorrechnen, ist leicht, ist faßlich – aus den vier Species, reine Subtraction!
Mein Vater, Leonardus, wie sein Enkel geheißen, hinterließ mir und meinen Geschwistern Petrus und Adriana ein schönes Vermögen. Die Geschwister verheiratheten sich, ich theilte mit ihnen ab und behielt das Geschäft. Schon unsere Vorfahren hatten die holländisch-ostindische Compagnie begründen helfen im Beginne des vorigen Jahrhunderts, ihr Vermögen bestand in den Antheilen, und mehrte sich reichlichst. Unsere Flagge wehte auf allen Meeren, unsere Handelsflotten beherrschten dieselben, und aus eigenen Mitteln führte die Compagnie ihre Kriege mit den Flotten der Portugiesen, der Spanier, der Franzosen und der Engländer; große Strecken Indiens eroberte sie und schrieb dem Weltmarkt Gesetze vor. Die Compagnie nahm den [111]Portugiesen Amboina, Tidor und Ternate; sie bahnte ihrem Handel den Weg in das verschlossene Japan und in das Küstenland von Malabar. Auf den Trümmern des eroberten und verbrannten Jakatra wurde von der Compagnie die Stadt Batavia gegründet und erbaut, Malakka und ein Theil Ceylons wurden ihr unterworfen, und zuletzt das Capland für Holland gewonnen. Bald nach der Gründung trug jedes Hundert holländischer Gulden fünfundsiebenzig Gulden Zins, bald aber standen die Actien der Compagnie zu vierhundertfünfundzwanzig Procent.
Die Compagnie hat ihren Theilhabern im Ganzen bis jetzt zweihundert Millionen Gulden eingetragen; wer rechnen kann, weiß, was das sagen will, ich meine reinen Ertrag nach Abzug aller der ungeheuern Kosten für die Flotten, Mannschaften, Festungen, Soldaten, Beamten, Straßen, Kanäle, Werfte. Wir hatten eine goldene Zeit, sie ist vorüber. Die Compagnie ist ein Bild des irdischen Glückswechsels; als ich geboren ward, im Jahre siebenzehnhundertsiebenundvierzig, standen die Actien fast auf neunhundert, sie hatten aber im Jahre siebenzehnhundertzwanzig auf eintausendzweihundertundsechzig gestanden! Verstehen Sie, Herr Graf, eintausendzweihundertundsechzig Gulden trugen einhundert Gulden früher eingezahltes Kapital jährlich dem Inhaber dieser Actien ein; wer also eintausend Gulden in der Compagniebank stehen hatte, gewann jährlich einmalhundertundsechsundzwanzigtausend Gulden. Wenn doch die de la Tremouilleschen Renten nur ein Jahr lang so ständen; ich wollt’ es Ihnen gönnen, Herr Graf! Aber es ging abwärts und immer rascher abwärts, schon von siebenzehnhundertfünfundzwanzig an. Wissen Sie, wie die Actien jetzt stehen? – Gar nicht stehen sie, sie haben sich zu todt gefallen, wie der Vogel Kukuk im Volkssange. Im Jahre siebenzehnhundertachtzig hat die Compagnie von der Regierung acht Millionen Gulden geborgt – sie sind ft! in die Luft – kein Geld mehr da, Schiffe zu bauen, kein Geld mehr da, Waaren zu kaufen, nicht einmal Geld da, die Beamten in der Capstadt zu bezahlen! Adieu bon esperançe! Wir haben Papiergeld gemacht, o pfui! Ich will nicht sagen, was ich in meinem Grimm mit dem ersten dieser Wische that, der mir in die Hand kam. Im Jahr siebenzehnhunderteinundachtzig hatten wir zwölf Millionen Schulden; vor zwei Jahren waren sie auf einhundertundsieben Millionen gestiegen. Jetzt muß die Compagnie Gott danken, daß der Staat ihre Länder und Flotten übernimmt, und auch ihre Schulden – aber die Kaufmannschaft [112]verarmt; sonst liehen wir allen anderen Nationen, jetzt leihen wir selbst und können uns mit vollerem Recht, wie unsere edeln Vorfahren im Kriege gegen den Bluthund Alba Geusen, das heißt Bettler nennen. Unser Alba, der uns in den Staub tritt, ist die Verarmung.
Erschütternd klang des alten Mannes Rede. Wieder blickte durch den Riß eines schwarzen Vorhanges, der mit Goldflitter besetzt war, der junge Mann in ein Stück Welt, in ein Stück Leben hinein.
Soll Leonardus nun dem Vater und der Mutter folgen, die sein Glück mit liebendem Herzen wollen, oder einer blinden verwerflichen Neigung? Soll er der Chef des hochangesehenen Hauses van der Valck werden oder ein Käsekrämer, ein Parfümeriehändler, ein Likörbrenner? O, Herr Graf, Sie haben Macht über sein Herz gewonnen, reden Sie zum Guten, zum Besten, auf daß ein treues Vater- und Mutterherz nicht breche und vor der Zeit zur Grube fahre!
In den vordern Zimmern wurden schlürfende Tritte vernommen, weibliche Stimmen, es rauschten Gewänder von reichen und schweren Stoffen. Herr Adrianus drückte Ludwig die Hand, erhob sich und sagte: Die Damen kommen, erlauben Sie mir, Herr Graf, die gegenseitige Vorstellung.
Der erwartete Besuch trat ziemlich rasch hinter einander ein, ward begrüßt, begrüßte verwandtschaftlich-freundlich den heimgekehrten Leonardus, den Stolz und die Hoffnung des Hauses van der Valck, und es erfolgte die förmliche Vorstellung, die für Ludwig und Angés wegen der Täuschung, die sie sich an diesem Orte erlaubte, viel Peinliches hatte, was aber nun einmal nicht zu vermeiden und zu umgehen war. Der alte Herr Adrianus führte die Damen zunächst dem jungen Grafen vor, welche, während er ihre Namen nannte, steife Knixe machten; eben so steif war ihre Haltung und Tracht, letztere sehr einfach, aber reich, und Alles an Stoffen der Gewande wie am Schmuck von höchster Gediegenheit.
[113]Frau Clarina Gertruida, geborene von Heynsbroeck, meines ältesten Bruders Petrus van der Valck, der schon im Jahre siebenzehnhundertachtundachtzig starb, trauernde Wittwe. Sie ist die Tochter des Herrn Martinus von Heynsbroeck und der Frau Anna Maria van der Stoot.
Gott helfe mir, dachte Ludwig im Stillen, wenn ich zu jedem dieser kalten, bleichen und langen Gesichter das ganze Geschlechtsregister anzuhören bekomme. – Frau Clarina knixte ab und eine andere Dame, mit jener von ziemlich gleichem Alter, trat knixend heran.
Meine liebe Schwester, fuhr der alte Herr fort: Adriana, leider ebenfalls schon Wittwe und zwar des weiland Kauf- und Handelsherrn Theophilus Lippert, welcher vor drei Jahren aus dieser Zeitlichkeit schied, leider ohne männliche Nachkommenschaft; hier aber sind seine Jungfrauen Töchter, Cornelia Petronella, Helena Maria und Christina Theodora.
Auch die Gesichter dieser Jungfrauen, von denen eine sogar Helena hieß, hatten keine helenischen Physiognomien, und keine sah aus, als werde um ihretwillen ein trojanischer Krieg entstehen. Jetzt trat ein kleiner junger wohlgenährter Herr heran, mit einem blühenden, vollrunden Gesicht, ein schmuntzelndes Lächeln umspielte fast stehend seine frischen Wangen und sein glattes gekelchtes Kinn; man sah ihm an, wie schwer es ihm wurde, ernst oder gar heilig auszusehen.
Mein Neffe, Herr Vincentius Martinus van der Valck, Sohn meiner Schwester Clarina, Wittwe. Wie Sie sehen, Herr Graf, ein geistlicher Herr, Caplan von Sanct Ottilien, welcher sich dem Dienste unserer heiligen Kirche gewidmet hat mit frommem Eifer.
Ja wohl! ganz außerordentlich! fügte, Spott in seinen Mienen, Vincentius Martinus hinzu. Lassen Sie doch das Lob, lieber Herr Oheim! Sie sehen ja, wie schamroth ich werde. Es ist mir eine große Ehre, Herr Graf, Ihre Bekanntschaft zu machen; Sie sind ein Freund meines Vetters, und wer dessen Freund ist, ist auch der meine, vorausgesetzt, daß ich solche Ehre mir anmaßen zu dürfen nicht unwürdig befunden werde.
Wenn mir vergönnt sein wird, Herr Caplan, öfter die Ehre zu haben, in Ihrer Gesellschaft zu sein – hoffe ich –
Blitz! unterbrach ihn, ohne weiter auf die verbindliche Rede Ludwig’s [114]zu hören, Vincentius, Blitz – da kommt die Braut, das Meerwunder!
Ludwig erschrak bei diesem Wort. Er hatte geahnet, daß es so kommen werde, und begann für Leonardus zu zittern, wie für Angés.
Eine hohe stattliche und schöne Jungfrau rauschte herein, gefolgt von noch einigen Frauen und Herren, ihren Verwandten; sie verbeugte sich nach den strengsten Regeln der Complimentirkunst, hielt auch ihren Bastille-Fächer, das Neueste, was die Mode von Paris nach Amsterdam gesendet, kunstgerecht, hatte ein höchst regelmäßiges aber kaltes Gesicht, und war nicht die Jungfrau, der ein liebebedürftiges Herz sich wohl hätte nahen mögen. Auch sie wurde vorgestellt: Mejuffrow Sibylla Nikodema van Swammerdam.
Leonardus war zum Tod erschrocken, ihn graute; er sah was kommen werde, und suchte sich mit Muth zu wappnen. Bitter bereute er nun, dahin gewirkt zu haben, daß Angés im Hause seiner Eltern war. Klar lag der Letzteren Absicht vor seiner Seele, der Glanz, der Prunk, die nach und nach mehr und mehr sich sammelnden Gäste, Verwandte von Vater und Mutter und von Jungfrau Sibylla Nikodema van Swammerdam; nichts Geringeres war im Werke, als mit dem Fest seiner Heimkehr das Fest seiner Verlobung zu feiern. Begrüßen, Vorstellen, zum Sitzen genöthigt werden, um stets wieder aufzustehen, wenn die Förmlichkeit erneuter Vorstellung und Begrüßung wiederkehrte, dauerte noch eine gute Weile fort, indeß unter den silbernen Theekannen die blauen Flammen loderten, Flötenuhren mit zarten und gutgestimmten Glockenspielen beliebte Liederweisen spielten, und köstlicher Wohlgeruch durch alle Zimmer seine balsamischen Düfte strömte. Ludwig näherte sich wieder Angés und ihrem Kinde, das sich’s behaglich schmecken ließ und eine Cyperkatze streichelte, die sich zutraulich an die Kleine schmiegte.
Freund! flüsterte Angés zu Ludwig, ich wollte, ich wäre nicht hierher gekommen, mich drückt all’ diese Pracht, ich fühle mich hier so unendlich arm und so sehr verlassen.
Fast geht es mir eben so, gute Angés. Man hält Sie allen Ernstes für meine Verwandte; ich wünschte, Sie wären es in der That, dann brauchte Ihr Herz nicht beklemmt zu schlagen. Vielleicht können wir das Kind zum Vorwand nehmen, uns bald zu entfernen.
[115]Sehen Sie, wie außerordentlich feierlich Alles ist, sehen Sie, mit welchen Blicken der junge Geistliche mich mustert?
Sie werden ihm gefallen! scherzte Ludwig, um ihre Bangigkeit zu verscheuchen.
O Gott, nicht solchen Scherz! seufzte Angés und legte die Hand aufs Herz, das bange, sehr bange schlug.
Endlich hatte die gute alte Frau van der Valck mit Hülfe ihrer Schwägerinnen ihre Abendgesellschaft zum Sitzen gebracht, und der Thee ward herumgegeben mit aller auserlesenen Zubehör; doch saß die Gesellschaft steif, nach holländischer Weise ziemlich wortkarg, verlegen, die Fremden zu unterhalten, und nur die kleinen braunen japanischen Tassen, leicht wie Luft und zart wie holländisches Papier, in Berührung mit den Theelöffeln ließen sich mit feinem Klang vernehmen. Da schlug plötzlich die kleine Sophie an ihrem Tisch ein schallendes Gelächter auf, und rief laut in die Gesellschaft: Ah – ah – ah – ahi – ahi! Voila! qu’elques drôles caricatures – qu’elques bouffons!
Aller Blicke wandten sich voll Staunen nach dem Kinde hin. – Angés erschrak, dies vorlaute Wesen, das dem Kinde gar nicht eigen war, was hatte das zu bedeuten? Wen konnte Sophie meinen? Himmel, wenn sie des Hauses Gäste meinte!
Doch diesen Schreck milderte alsbald die Matrone, die Herrin des Hauses, welche die Hände zusammenschlug und lächelnd ausrief: Voorwaar, voorwaar – kinderen en gekken spreeken de waarheid!
Beim Himmel! rief der alte Herr: du hast recht, liebe Frau, nie fand ein Sprüchwort bessere Gewährschaft, als dein: Kinder und Narren reden die Wahrheit, hier! Und Herr Adrianus nahm das Bilderbuch und legte es so, daß die Mehrzahl der Gesellschaft die aufgeschlagenen Blätter gewahrte.
Sie sehen hier, Damen und Herren, das neueste Costümebuch der Grande Opera zu Paris, fuhr Adrianus schneidend fort: den abgeschmacktesten und unsinnigsten Mischmasch römischer, mittelalterlich-französischer und spanischer Maskenanzüge und Comödiantentrachten! Möchte man nicht manchen dieser Muscadins und Incroyables fragen: Federbusch, wo willst du mit dem Kerl hin, der dich trägt? Fluch allen diesen blutigen Possenspielern in ihren rothen, schwarzen und [116]purpurverbrämten Mänteln, ihren weißwollenen römischen Togen und Tuniken, ihren Federhüten und Harlekinskappen. Es ist doch nichts als eine heillose Bande von Gurgelabschneidern, Mordbrennern, Räubern, Bluthunden und Brüllaffen!
Es waren in der That die Trachten dargestellt, in welche die große Nation jene Beamten kleidete, durch deren Machtsprüche sie ihre besten Köpfe gouillotiniren ließ. Schlaue Theaterschneider waren es, welche diese Trachten ausgesonnen hatten; keiner hatte sich selbst vergessen; nur Frankreich vergaß sich selbst ganz und gar. –
Während die Abendgesellschaft sich mit dem Beschauen dieser Bilder beschäftigte, waren drei Herren, von Reitknechten begleitet über die Gracht geritten, in welcher van der Valcks Wohnhaus stand, waren eine gute Strecke von demselben abgestiegen und hatten den Dienern die Zügel ihrer Rosse zu halten gegeben, mit dem Befehl, letztere langsam auf- und abzuführen. Diese Herren waren alle drei von stattlichem Wuchs, trugen Soldatenmäntel und waren in Galla-Uniform, im vollen Schmuck blitzender Orden, offenbar Offiziere von hohem Rang. Der Aeltere trug die Uniform eines Vice-Admirals der englischen Marine, und schien dreißig Jahre zu zählen; der zweite erschien einige Jahre jünger, hatte aber gleich jenem eine athletische Gestalt und ernste kriegerische Haltung; der jüngste war ein schlankgewachsener schöner Jüngling, der kaum zweiundzwanzig Jahre zählen mochte. Sein Auge war äußerst lebendig, sein Wuchs wie seine Haltung stattlich, und ein freundlich offenes Wesen mußte für ihn einnehmen.
Noch einmal, lieber Graf! flüsterte der Jüngste dieser Herren dem Mittleren zu, indem sie dem Hause van der Valck zuschritten, Mäßigung und Ruhe; nichts thun, was man hinterdrein bereut! Wer weiß, was der alte Herr gesehen oder gehört hat, und wie er Wunder denkt, welche Freude er Ihnen bereitet, welche Ueberraschung!
Ueberraschung auf jeden Fall, mein –
Still! unterbrach der Andere. Mein Incognito nicht auf der Gracht vor der Zeit offenbaren!
Ueberraschung ganz gewiß, wiederholte der Andere mit schlecht verhehltem Ingrimm. Es ist so, wie soll ich’s denn anders denken? »Wenn dem Hause van der Valck die hohe Ehre des unterthänig erbetenen Besuches zu Theil wird – schreibt mir wörtlich der alte Herr – [117]so wird es Hochdenenselben gewiß zum höchsten Vergnügen gereichen, in meinem Abendzirkel einen liebenswürdigen jungen Verwandten mit einer doppelt liebenswürdigen Verwandtin, Gemahlin eines der verehrten Herren Vettern, und einem Kinde, welches man ein Wunder von Schönheit nennt, zu finden, welche beide gestern mit meiner Pinke, die »vergulde Rose«, Curs Hamburg, Carolinen Siel à Amsterdam, hier eingelaufen sind.
In der That zum Lachen! nahm der englische Vice-Admiral das Wort. Wenn es nicht deine Frau ist, so bin ich äußerst neugierig auf die schöne Verwandte! Denn wer von uns hat denn eine schöne junge Frau und ein so schönes Kind, als du? Der Teufelsjunge fängt gut an. Der Apfel wird wohl nicht weit vom Stamme gefallen sein. Ich denke, ich denke, lieber Vetter, du grollst vergebens; es wird wohl ein Mühmlein vom Hamburger Jungfernsteig sein, Alsterfleisch mit Zulage, das den Gimpel auf der Leimruthe einer hübschen Larve gefangen nahm, und so gnädig ist, in diesem ehrbaren Hause Myn Heeren van der Valck’s die junge Gräfin zu spielen. Was geht das zuletzt uns an? Wenn der Vogel gerupft ist, wird er schon zur Vernunft kommen und das gebrannte Kind sein, welches das Feuer scheut. Jeder muß selbst lernen, an dieser Stange Wasser zu tragen.
Jedenfalls aber muß dieser Trug entlarvt werden! rief der oranische Offizier fast heftig. Wenn er wagen will, unseres Hauses Namen zu führen, so darf er diesen mit solchen Streichen nicht verunehren!
Nur erst prüfen, theurer Graf, nur prüfen; erst noch einmal den alten Herrn selbst sprechen, es wird sich Alles finden! ermahnte der jüngste Begleiter.
Wie kannst du nur, begann der Aelteste wieder, den seltsamen Gedanken hegen, es sei deine Frau, Vetter? Ich hätte große Lust, mich mit dir zu schlagen, daß deine Gedanken dieses treffliche hochherzige Wesen so beleidigen! Als du wegfuhrst, verließest du sie doch leidend; so ätherisch sie ist, so sehr ich sie vor aller Welt für einen Engel, einen Seraph erkläre, eine seraphische Eigenschaft fehlt ihr doch, und das ist sehr gut für dich, sie hat keine Flügel, folglich kann sie dir unmöglich unter den Händen weg voraus geflogen sein.
Was half all’ dieses Reden! Der eifersüchtige Mensch ist stets [118]sinnlos und handelt sinnlos, und wenn er sonst der einsichtvollste, gebildetste, beste Mensch wäre; die Leidenschaften sind Dämonen und werden es ewig bleiben. Die poetische Weltanschauung der Alten nannte sie Götter. Und fürwahr, es erscheint als etwas Göttliches, Hohes und unbegreiflich Wunderbares, daß das kleine Herz jedes einzelnen Menschen, der die Jahre der Reife erreichte, ein Pandämonium ist und bleibt bis zum Grabeshügel.
Ich hoffe, daß ich mich irre, versetzte der von Eifersucht ganz verblendete Mann, aber möglich ist Alles. Die Krankheit kann erheuchelt gewesen sein, die Liebe zu dem jungen hübschen Laffen, dem Lebensretter, übergroß, die Flucht vorbereitet. Ehe ich meine Jacht bestieg, trugen vier oder sechs rasche Pferde sie den Landweg zum Carolinen-Siel; dieser Vorsprung war ein Leichtes.
Ja wohl! spottete der Vetter: und der beste Schlupfwinkel, dir zu entgehen, war jedenfalls Amsterdam, dein jetziger Aufenthaltsort und deiner Rückreise wohlbekanntes Ziel.
Jener schwieg, aber das klirrende Stampfen seines Sporentritts, das durch die Stille der menschenleeren Gracht hallte, kündete seine innere Bewegung an. Jetzt war das Haus erreicht.
Noch ein Wort! sprach der Jüngste der drei Herren. Kein Feldherr unternimmt irgend eine Waffenthat ohne Plan. Erlauben Sie mir, meine Herren, wohl den Entwurf? Heute kundschaften wir nur das Schlachtgebiet aus, ich verbiete jeden Angriff, morgen können dann die Vorpostengefechte beginnen und die Laufgräben eröffnet werden, auf übermorgen sage ich das Haupttreffen an, wenn nicht schon vorher ein günstiger Friedensschluß den Feind zur Unterwerfung nöthigt.
Zu hohem Befehl! erwiderten die Begleiter, der Eine lachend auf den Scherz eingehend, der Andere mit unterdrücktem murrendem Widerwillen.
Herr Adrianus hatte, während die Gesellschaft sich der Betrachtung der erwähnten, wie auch anderer kostbarerer und in jeder Beziehung anziehenderer und werthvollerer Bilderbücher hingab, auf den Wink eines Dieners unbemerkt das Zimmer verlassen und empfing mit ehrfurchtvollem Gruße in einem der vorderen Säle die drei Herren.
Nach gegenseitigen verbindlichen Worten fragte der Mittlere der Gekommenen etwas hastig den Hausherrn: Sind die Personen bei [119]Ihnen, Herr van der Valck, von welchen Sie mir geschrieben? Auch die kleine Marie?
Excellenz halten zu Gnaden! antwortete Herr Adrianus: das Kind ist da, aber Marie ist nicht sein Name; irre ich nicht, so hörte ich dasselbe Sophie rufen.
Da haben wir’s! lachte der Aeltere der drei Herren. Das war einmal wieder ein starker error calculi meines hochgnädigen Herrn Vetters!
Eine Antwort, die mir das Leben wieder gibt! murmelte der Eifersüchtige.
Und da somit die Hauptursache zur Kriegserklärung hinwegfällt, scherzte der jüngste der drei Offiziere, so dächte ich, wir bildeten heute blos ein Beobachtungscorps, ohne irgend einen Angriff. Ich untersage als Bataillonschef selbst jede Plänkelei, zumal wir uns auf neutralem Boden befinden.
Die Gesellschaft im hohen geräumigen Besuchzimmer nahm wahr, daß am Ende der kerzenhellen Zimmerreihe eine Flügelthüre von Dienern nicht ohne Geräusch geöffnet wurde, daß vier Diener mit Kronleuchtern, auf deren jedem vier Kerzen brannten, vorausschreitend eintraten, und in demselben Augenblick erklang von einem großen, in dem Durchgangszimmer aufgestellten automatischen Kunstwerk mit Flöten-, Trompeten und Fagottstimmen, mit türkischen Becken und halbem Mondgeklingel, mit Posaunen- und Paukentönen füllreich und harmonisch bewillkommend die Melodie der niederländischen Nationalhymne.
Leonardus war neben Angés und Ludwig getreten, jetzt flüsterte er, während die ganze Gesellschaft sich überrascht und feierlich erhob, diesen Beiden mit fliegendem Athem zu: Um Gott! was beginnt mein Vater? Se. Hoheit der Erbprinz! der Sohn des Erbstatthalters! Und zwei Generale!
Und einer derselben mein gestrenger Vetter, der souveräne Erbherr von Varel, In- und Kniphausen! rief Ludwig erbleichend aus: ja und wahrhaftig, der Andere ist William, der englische Vice-Admiral, ebenfalls mein Vetter. O Leonardus!
Die Herren verneigten sich artig gegen die Gesellschaft, sprachen begrüßende Worte zur Herrin des Hauses, welche mit einem ganz besondern Antheil, den sie aber ihre Umgebung nicht wahrnehmen ließ, den Vice-Admiral betrachtete, und empfingen in ruhmwürdiger Geduld die Vorstellung aller Adrianen, Cornelien, Helenen, Clarinen, Sibyllen, und [120]was sonst an langen Namen und langen Gesichtern, bis auf das kugelrunde des Capellans Vincentius Martinus, aus den Sippen der Häuser van der Valck und van Swammerdam in dieser Gesellschaft anwesend war.
Und nun? Drei Herzen klopften stark und angstvoll in peinlicher Verlegenheit der noch peinlicheren entgegen. Herr Adrianus lenkte die hohen Gäste den Freunden zu, und sprach mit Bezug auf die Fremden: Diese Herrschaften kennen einander, dies ist mein Sohn Leonardus.
Mit strengem Blick sah der Erbherr auf Ludwig und auf Angés, er sah in ihr ein schönes, aber ihm doch gänzlich fremdes Gesicht, das machte ihn innerlich froh und er fühlte tief, welch großes Unrecht er in Gedanken gegen zwei ihm verwandte Herzen begangen; der Edelmuth, der ungleich dauerbarer in seinem Charakter lag als seine Schroffheit und Gereiztheit, trieb ihn zu einem raschen Entschluß. Während noch der Erbprinz zu Leonardus gütig freundliche Worte sprach, der Vice-Admiral mit wenig verschämter Neugier Angés betrachtete und in sich selbst hineinmurmelte: Schön, außerordentlich schön, kein übler Fisch, und darauf ein Gespräch mit Angés anzuknüpfen begann, winkte Graf Wilhelm Gustav Friedrich seinen jungen Vetter einige Schritte abwärts, und sprach zu ihm: Ludwig Carl, kannst du vergessen?
Gern, wenn ich soll, und du mich es lehren willst, Vetter! gab Ludwig offen zur Antwort.
Ich will es! entgegnete der Erbherr.
Ein gegenseitiger fester, männlicher Händedruck, und die Versöhnung war besiegelt.
Aber sprich, wer ist diese Dame?
Ludwig legte den Finger auf den Mund. Des Freundes Freundin, und incognito! flüsterte er.
Zu Angés gewendet, fragte der Vice-Admiral: Sie sind keine Niederländerin, meine Gnädige? Französin ohne Zweifel?
Eine Deutsche! gab Angés zur Antwort.
Und, wenn ich fragen darf, Ihre Heimath?
Die Pfalz.
Ah so, die Pfalz, ein schönes Land, diese Pfalz, und Ihre Residenz, schöne Pfalz-Gräfin –?
[121]Ach, ich bitte, mein Herr, dieser Titel gebührt vielleicht Personen Ihres hohen Geschlechtes, ich aber muß ihn bescheiden ablehnen.
Betroffen schwieg der Vice-Admiral, er war überrascht von dieser einfachen unbefangenen Antwort, denn er bildete sich ein, Angés kenne genau seine Familie und stichele auf die Abstammung seiner Vorfahren aus ihrem Vaterlande, die leider eben so wenig Pfalzgrafen gewesen waren, wie Angés eine Pfalz-Gräfin war. Indem er sich so für abgefertigt hielt, gewann Angés in seinen Augen, doch mochte er sich nicht wieder blosstellen, sondern wendete sich zum alten Herrn und sagte diesem im scherzhaften Tone: Werthester Herr Adrianus van der Valck, wer hat Ihnen denn das Märchen aufgebunden, daß jenes junge Frauenzimmer unsere Verwandte sei? Wir kennen sie gar nicht, haben sie nie gesehen! – Diese Worte machten Herrn Adrianus ganz verwirrt und bestürzt. – Nicht? nicht? nicht? stammelte er. Ei, wenn ich nicht irre, so sagte mir doch der junge Herr Graf selbst: eine nahe Verwandte, Gemahlin eines meiner Herren Vettern, wie konnt’ ich zweifeln? – Gewiß, lachte fast laut der zu Scherz und Spott stark geneigte Vice-Admiral: wie konnten Sie zweifeln? Die Verwandtschaft des jungen Herrn ist erstaunlich groß, er hat ganz sicher sehr viele Vettern und auch Mühmlein. Er ist ein Luft-, ein Windbeutel, dem es Spaß macht, die Haarbeutel zu vexiren! Lassen Sie auf Ihre goldenen Theelöffel Acht haben, Herr Adrianus, ich glaube, die Dame ist eine feine Spitzbübin, und daß sie des Goldes bedürftig, sehen Sie ja an ihrer übernatürlich einfachen Tracht.
Es fiel dem Vice-Admiral nicht im Entferntesten ein, diese seine Scherzworte ernst zu meinen, aber Herr Adrianus, dem als Kaufmann nichts lieber war als baare Münze, nahm auch diese Worte für solche, und sein Zorn regte sich auf gegen Leonardus, der ihm den luftigen Springinsfeld, wie er nun Ludwig schon in Gedanken nannte, in das Haus gebracht mit der – Landläuferin. Eben im Begriff, sich an Leonardus mit strenger Frage zu wenden, den schon sein blitzender Blick suchte, und den er, zur Steigerung seines Aergers, so eben mit Angés im vertraulich flüsternden Gespräch erblickte, während der Vice-Admiral auf seinen Vetter zuschritt und der Erbprinz sich in ein Gespräch mit der würdigen Familie von Swammerdam eingelassen hatte, trat ihm seine alte gutmüthige Frau in den Weg und fragte: Nun Vater? [122]Willst du nicht bald das Besprochene beginnen? Mache daß die Täubchen endlich zusammenkommen, denn das Sprichwort sagt: waar duiven zyn, daar vliegen duiven na toe; waar geld is, daar wil het geld wezen.
Ja ja, Mutter, ja ja – wenn nur nicht – nun gleich – werde die Sache einstweilen ordnen – doch sorge, daß die Herren zuvor gut bedient werden.
Du siehst ja, daß es geschieht, lieber Adrianus, erwiederte zufrieden die Hausfrau. Des Herrn Erbprinzen Hoheit stippen so eben höchstihren Zuckerkuchen in den Thee.
In Adrianus Innerem kämpften widerstrebende Gefühle und ein Zweifel jagte den anderen. Auf jeden Fall steckte etwas Verborgenes hinter dieser Sache, entweder war der junge Graf das, was dessen Vetter angedeutet, und brachte ihn in Verlegenheit, oder Leonardus steckte dahinter; aber Adrianus hatte nur Vermuthungen, keine Gewißheit. Und jene Dame, die er eingeladen, konnte und durfte er sie nun vor den übrigen Gästen blosstellen? Und wenn sie wieder nicht in diesen Kreis paßte, wie war seine eigene Taktlosigkeit zu rechtfertigen, selbst den Erbprinzen dazu eingeladen zu haben?
Diese Einladung an sich durfte nicht befremden, die reichen Kaufleute Amsterdams bildeten eine höchst achtungswerthe Aristokratie, kein Fürst brauchte sich ihrer zu schämen, das hatten schon die deutschen Kaiser Maximilian I. und Karl V. sattsam bewiesen, und es war gerade nicht unbekannt, daß der Ahnenbaum des Handelshauses van der Valck zu Amsterdam seine Wurzel bis zu den Zeiten Kaiser Sigismund’s hinab erstreckte. – Herr Adrianus war unglücklich in seinem Gemüth und mit sich selbst im Zwiespalt, er hatte sich die Vorgänge des heutigen Abends so schön ausgemalt. Feierlich im Kreise der geladenen nächsten Verwandtschaft wollte er den Sohn mit dessen nun schon alter Braut öffentlich verloben; Vincentius Martinus sollte dazu einen salbungsvollen Segen sprechen, und dann drei Sonntage nach einander diese Verlobung in der St. Ottilien-Kirche öffentlich verkündigen. Die ehrbare Braut, fügsam und gehorsam wie es einer tugendbelobten Jungfrau ziemt, war Alles zufrieden, was die Häuser van der Valck und Swammerdam über sie beschlossen hatten, und war, ohne nur im Entferntesten mit Sehnsucht oder zärtlicher Ungeduld den endlichen letzten Schritt herbeizusehnen, dessen doch in aller Gemüthsruhe gewärtig.
[123]Es erhoben sich die Damen, die Herren; Vincenz that sich den Zwang an, sein stets schalkhaft lächelndes Gesicht in ein ernsthaftes umzugestalten, was ihm unendliche Mühe machte, denn er war noch zu jugendlich munter, um schon seinen Zügen die stehende Type gottverhaßter Heuchelei fest einzuprägen, wozu entweder sehr frühe Uebung oder reifere Jahre gehören. Ein Halbkreis begann sich zu bilden, in welchem die lange hagere Gestalt der Jungfrau Sibylla Nikodema van Swammerdam gegen den Mittelpunkt vorgeschoben wurde, wo sie stocksteif, einer Bildsäule gleich, mit niedergeschlagenen Augen stand, und kein anderes Zeichen von Leben gab, als daß sie mit leisem Rauschen die fein geschnittenen und noch feiner durchbrochenen Elfenbeinblätter ihres Bastille-Fächers aufschlug und wieder zusammen klappen ließ.
Da sich, wie der Augenschein lehrte, etwas Wichtiges vorbereitete, sei es eine Scene, sei es eine Rede, so traten auch die zuletzt gekommenen Gäste in den Halbkreis, und nur Angés wandte sich zu dem Kinde, das jetzt einige Ungeduld wahrnehmen ließ, beugte sich zu ihm nieder und flüsterte der Kleinen zu, daß sie sich bald nach Hause begeben wollten. Sophie zeigte mit kindlicher Freude ihr alle die Spielsachen und Bilder, die sich vorzugsweise ihrer Gunst erfreut hatten, und da das Kind dies nur leise flüsternd that, und Angés sich ebenso mit ihm unterhielt, so störte das nicht im mindesten die Rede, welche Herr Adrianus van der Valck jetzt vor dem Halbkreise, der ihn umgab, zu halten begann, und deren Inhalt sich um die unsterblichen Sätze drehte: daß Gott im Anfang ein Männlein und ein Weiblein erschaffen und in eigener allerhöchster Person geäußert habe, es sei nicht gut, daß der Mensch allein sei, daß folglich jeder Mensch, nämlich Mann, einer Gehülfin bedürfe, die um ihn sei; daß ferner alles irdische Glück, wonach auch alles Streben hauptsächlich ziele, in Erfüllung göttlicher Weltordnung und der Gründung eines häuslichen Herdes gesucht und gefunden werde. Auch sei durchaus unzweifelhaft, daß Gott und seine heilige Kirche nur mit Wohlgefallen auf christliche Eheverlöbnisse blicke, die nach den Wünschen und nach der Zustimmung beiderseitiger Eltern und Verwandten, und nach reiflicher Ueberlegung und vorheriger Verabredung über das irdische Besitzthum, geschlossen und abgeschlossen worden.
Da nun auch zwischen diesem unserem Hause, fuhr Herr Adrianus [124]van der Valck fort: und dem ruhmvollen und ehrenhaften Hause van Swammerdam eine derartige Verabredung schon in früheren Jahren getroffen worden, so soll dieselbige nunmehr zur Wahrheit werden, und so verloben wir, ich, Adrianus van der Valck, als Sohnesvater, mit meiner ehrsamen Hausfrau Maria Johanna, geborene van Moorsel, unsern einzigen eheleiblichen Sohn Leonardus Cornelius, und der Kauf- und Handelsherr, Herr Nepomuck Theophil van Swammerdam, und dessen ehrsame Gemahlin, Frau Susanna Euphemia van Swammerdam, geborene van Neriske, als Tochtereltern, ihre eheleibliche einzige Tochter, die »adelyke« Jufferouw Sibylla Nikodema zu einem rechten christlichen Brautpaar vor diesen allseits achtbaren, hohen und höchsten Zeugen!
Wie Herr Adrianus bei Nennung beider Namen der Verlobten seine vorher leise Stimme stark erhob, und Vincenz mit den Verlobungsringen, die er bereits in den Händen hielt, leise klingelte, fuhr Angés horchend auf und eiskaltes Entsetzen überrieselte sie vom Wirbel bis zur Zehe. Starr lauschte sie hin, beide Hände fest gepreßt auf die ungestüm wogende Brust, auf das angstvoll klopfende Herz; aber muthig rang sie nach Fassung. – Kein Laut soll mich, soll ihn verrathen – zuckte es durch ihr Gehirn – nicht den Triumph einer Schwäche gönne ihnen, Angés – denn er ist nicht dein, wie sehr er auch dein ist; du hast an ihn kein Anrecht; du darfst nicht Kummer häufen auf der Eltern Haupt, nicht ihren Fluch auf dich laden! – Und so stand die schöne, zitternde Gestalt im gewaltigen Kampfe zwischen Liebe und Entsagung da wie die Gestalt einer vom Pfeil des Todesgottes getroffenen Tochter Niobe’s, bleich wie ein antikes Bildwerk aus cararischem Marmor.
Und Leonardus? – In seinem Busen wogten und gährten Höllenangst, Zorn, Schmerz, Liebe, Wuth und Verzweiflung. Außer sich wollte er schon einen unbedachten Schritt thun, da die Mutter auf ihn zukam, ihn nach Brauch und Sitte an die Seite der Braut zu führen, da auch schon Vincentius Martinus vortrat, sein ganzes Gesicht ein geistlicher Adamsapfel; in diesem Augenblicke aber fühlte er seine Hand fest erfaßt und gedrückt, und hinter ihm stand Ludwig und flüsterte: Sei Mann! Verstellung, keine Scene, stelle deine Eltern nicht blos – wir helfen dir heraus!
Diese Worte hörte Angés nicht, denn sie hörte überhaupt nicht [125]mehr, ihr ganzes Sein, Denken und Empfinden lag in ihren Augen, und mit diesen Augen sah sie, wie Leonardus, von seiner Mutter geführt, ganz ehrbar zu seiner Verlobten schritt, und wie die Mutter Sibylla’s Hand in seine Hand legte, und da ward es so dunkel vor ihren Augen, so nachtschwarz trotz der dreihundert Wachskerzen, die in den Zimmern auf Kronleuchtern, Kandelabern und Gueridons brannten, daß sie gar nichts mehr sah; lautlos sank sie in sich zusammen.
Ein heller Ruf- und Angstschrei des Kindes schnitt wie ein Blitzstrahl erschreckend durch die Versammlung und schnitt zugleich den Sermon des Capellans ihm vom Munde ab. Alles war erschrocken, am meisten Leonardus, er sank neben der ohnmächtigen Angés in die Kniee und rief außer sich, Alles um sich und sich selbst vergessend:
Angés! Meine geliebte Angés! Komme zu dir! Erwache! – Der Erbprinz bemühte sich, die kleine Sophie zu beruhigen, er umfaßte liebkosend das schöne Kind; zufällig streifte er dabei den kurzen linken Aermel des Kleidchens in die Höhe, da glühten ihm karminroth von der feinen Haut die Buchstaben entgegen: S. C. B. Er hob mit einem lauten jauchzenden Ausruf die Kleine hoch empor und rief: O Freude! Freude! Freude!
Aller Blicke lenkten sich auf ihn. Angés schlug die Augen auf, und sah das Kind von dem Prinzen emporgehoben, sein Ausruf hatte sie aus ihrer Ohnmacht schneller geweckt, als die stärkenden Essenzen. Eure Hoheit – wurden fragende Stimmen laut: Was ist’s mit dem Kinde? Und Jener rief mit schöner Wallung des Gefühles: Dieses Kind – ist mein –
Ganz Paris war in brausender, flutender Bewegung. Unzählbare, unübersehbare Menschenmassen wälzten sich durch alle Straßen unter einem hellen, wolkenlosen Himmel hin; Alles war feiertäglich gekleidet, an allen Häusern prangten Laubgewinde und Kränze, wehten Tücher, Stoffe und Flaggen in den republikanischen Farben, von allen Fuhrwerken flatterten gleichfarbige Bänder, und ein Jubelruf der begeisterten Menge folgte dem anderen. Es mußte ein großer herrlicher, volksheiliger Tag sein, denn das Unerhörte fand statt, es feierte selbst – die Guillotine.
Hehr und feierlich, wie sonst, als Frankreich oder Paris noch an Gott glaubte und Gottesdienste besuchte, erklang das harmonische Geläute der Prachtkathedrale von Notre-Dame, der Genovevenkirche, der St. Sulpize und anderer durch die Morgenfrühe, aber fast wurden diese Klänge noch übertönt von kriegerischen Musikchören und endlosem Kanonendonner, der von den Höhen des Montmartre, von der Todtenstadt Père la Chaise, von der Anhöhe über den elyséeischen Feldern und von den sanften Erhebungen der Fläche hinter den einsamen Vierteln St. Germain und der Barriere Vaugirard erscholl. Welch ein Tag war das?
Es war ein Tag im Monat Juni des Jahres 1794, welchen Monat der seit dem vorigen Jahre neuersonnene republikanische Kalender Prairial nannte, Wiesenmond, dem deutschen Heumond sich gut annähernd, der Tag selbst aber trug statt des auf den achten dieses Monats fallenden Namenstag des heiligen Medardus der durch Beschluß der großen Nation abgeschafften christkatholischen Kirche den Namen Heugabel, welcher gerade so schön, obschon nicht weniger sinnlos klang, als der 5. Juni: Entrich, der 25. Schleihe oder der 10. April (Germinal): Oculirmesser, der 27. Juli (Messidor): Knoblauch, der 8. September (Fructidor): Hundskohl. Ob wohl die Verfasser dieses abgeschmackten Mischmasches von Oekonomiewerkzeugen [127]und Küchenkräutern, hinter denen man nur Dreschflegelführer und Sudelköche suchen konnte, im Ernst glaubten, als sie sich zu Kalendermachern aufwarfen, ihr Hirngespinnst könne Dauer haben? Diese Frage dürfte nicht minder schwer als jene zu beantworten sein, wie eine Nation, die sich die Große nannte, solchen Gallimathias gutheißen und anerkennen konnte?
Drei junge Männer bewegten sich mit der Menschenströmung dem Nationalgarten zu. Sie trugen weite schwarzwollene Beinkleider, welche mit Kohlensäcken äußerst nahe verwandt schienen; Jacken von demselben Stoff, ein wenig sehr schornsteinfegerhaft angeschmutzt; dreifarbige Westen, welche von einigem Wurstfett gar nicht übel glänzten, kurzgeschorene Perrücken von schwarzborstiger Art, die ein Waldteufel und Kinderschreck nicht schöner haben konnte, und auf diesen Perrücken rothe Jacobinermützen mit tassengroßen dreifarbigen Cocarden, blau, roth, weiß. Ein Schleppsäbel schlotterte jedem an der Seite, und einige Pistolengriffe schauten gemüthlich aus dieser oder jener Tasche des Kleeblatts heraus. Mächtige Schnauzbärte und die Farbe von Staub, Kohlen und Pulver in dreieinheitlicher Vermählung gaben den Antlitzen etwas furchtbar Wildes, und zeigte sie so recht vollständig à la mode, denn solcher Gestalten und Gesichter wogten viele Tausende mit. Es waren sogenannte Carmagnolen.
Schon eine gute Strecke vom Nationalgarten abwärts sackten sich die Massen, und der Strom, der von der Madelaine herab nach dem Mordplatz kam, auf dem der König und die Seinen verblutet hatten, stand schon Kopf an Kopf gedrängt voll. Wachen hielten dort an jener Seite die Zugänge zu dem Garten besetzt, und wer bis an diese gelangen wollte, mußte starke Arme haben und einen Druck und Puff oder sehr viele aushalten können. Dennoch drängten sich Gamins durch das furchtbar drückende Gewühl durch, und boten mit gellendem Schreien, wie sie es auf öffentlichen Plätzen und in den Theatern gewohnt waren, für ein Centimestück, Programmes de spectacle feil.
Aufzüge waren es, welche die wühlenden Massen in Stocken brachten und für welche der Raum im Garten und am Seine-Ufer hin freigehalten wurde. Da zogen Jungfrauen auf das Schönste, wenn auch nicht auf das Anständigste geschmückt, nämlich in flordünnen [128]griechischen Costümen, durch das die Sandalenbänder bis zu den Knieen sichtbar hindurchschienen, Kränze von Aehren und Kornblumen im Haar und Körbchen voll Blumen tragend, in den umfangreichen Garten; Frauen, mit Kindern beladen, denen beiderseits die Hitze des Junitages die unaussprechlichste Pein drohte, wallten stolz daher in einer Tracht, die Allem Hohn sprach, was jemals schön, kleidsam und anständig genannt ward. Es kamen Greise, anzusehen wie alte ausrangirte Theaterfiguranten in der Tracht, mit welcher die Wachsfigurenkabinette die Jünger Christi umhängen, die das Abendmahl feiern, mit schneeweißen Perrücken und abscheulichen Flachsbärten. Diese tugendhaften alten Gauner, aus der Volkshefe zur Darstellung der großartigen Farçe ausgewählt, trugen Degen in den Händen, um sie den Vertheidigern der Freiheit zu überreichen, sobald ihr Stichwort fallen würde. Diese Vertheidiger der Freiheit trugen Eichenzweige und mit Eichenlaub waren auch die Triumpfbögen und Thorfahrten geschmückt. Schonungslos waren alle umliegenden Wälder geplündert und verwüstet worden, um Paris für einen einzigen Tag einen schnell vergänglichen Schmuck zu leihen.
Die drei jungen Männer in der schmutzigen Carmagnolentracht wühlten sich langsam weiter und weiter, bis es ihnen durch Geduld und Ausdauer allmählig gelang, an der Wasserseite gegenüber dem Pavillon der Flora und der Einheit auf der Terrasse einen etwas erhöhten Platz zu gewinnen, von dem aus sich einigermaßen die Festlichkeit übersehen ließ, welche sich vorbereitete. Sie erblickten das zum Zweck des Festes eigens erbaute Amphitheater, das sich bis hinan zum großen Balkon des ehemaligen Tuilerienpalastes hinzog und aus dessen Mitte eine hohe Rednerbühne emporragte. Vom Amphitheater führten Stufen bis herab zum großen runden Wasserbecken des Gartens, welches ganz überbrückt war, und in dessen Mitte statt der zertrümmerten Steinbildsäulen, die dasselbe früher geschmückt, eine allegorische Figurengruppe aufgestellt war, zusammen gezimmert und geleimt aus Holz und Pappendeckel, und von einem Theatermaler bunt angestrichen. Es zeigte sich die abschreckende Riesengestalt des Atheismus, getragen von der Ehrsucht, der Eigensucht, der Zwietracht und der falschen Einheit, und eine Inschrift verkündete, daß dies »die einzige Hoffnung des Auslandes« darstelle und bedeute.
[129]Da bleibt dem armen Auslande blutwenig Hoffnung! spöttelte einer der drei Carmagnolen halblaut zu seinen Gefährten, aber in einer Sprache, die ganz fremdländisch klang und die schwerlich ein Akademiker verstanden haben würde.
Habt Acht! Dort kommt wieder etwas Neues! sprach der zweite der jungen Männer.
Ein Wagen voll Kinder fuhr in dem Gartenraum, ein Wagen voll blinder Kinder.
Sollte er Frankreich allegorisch darstellen, das so blind war, sich von einer Schaar entmenschter Henker den Fuß auf den Nacken setzen zu lassen?
Ein zweiter Wagen brachte Ackergeräthschaften und allerlei Gerümpel, welches die Attribute des Gewerbes und der Künste darstellen sollte.
Ah, der neue Kalender! flüsterte einer der drei. Hacke, Dreschflegel, Wurfschaufel, Bienenstock, Rechen, Jätharke, Heugabel, Sense, lauter Monatstage; die neuen Heiligen!
Lache nicht, Bursche! rief der erste Sprecher, und gab dem dritten Gefährten bei der Rede des zweiten einen Stoß in die Rippen. Ernsthaft, Junge, ernsthaft, sonst ist’s um uns gethan. Ein unzeitiges Lächeln stempelt dich zum Volksfeind und bringt deinen Kopf unter das Beil.
Es dauerte eine lange Zeit, bis Alles eingetroffen war, was eintreffen sollte, und bis die Gruppen der Greise, die der Mütter, der Kinder, der Jünglinge, der Männer u. s. w. nach der Vorschrift des Programms vertheilt waren. Gegenüber den drei Zuschauern erblickte man in einigen Fenstern des vormals sogenannten Tuilerienschlosses, die alle von Zuschauern und noch mehr von Zuschauerinnen besetzt waren, eine Gesellschaft, welche dem angenehmen Geschäft des Frühstückens oblag. Der eine von den drei aufmerksamen Zuschauern flüsterte seinem dicht an ihn gedrängten Nebenmanne mehrere Namen zu. – Jenes Weib mit dem abscheulichen Aufputz, dem fliegenden Mähnenhaar und den weit herauf entblößten Armen, ist die Bürgerin Dumas, die Frau des Präsidenten des Revolutionstribunals. Ihr Mann steht hinter ihr in großem Costüme. Dort stehen neben einander Barrère und Collot d’Herbois, und lassen sich [130]den Wein des Jacobiners Villate schmecken, welcher Villate Geschworner beim Revolutionstribunal ist und ohne Unterschied jeden zur Guillotine verurtheilt, den ihm Fouquier Taineville zusendet. Bürger Villate, der sich jetzt Sempronius Gracchus zu nennen beliebt, war früher ein hungerleidender Seminarist, wofür er sich jetzt entschädigt. Er hat stets Appetit und Durst, selbst ungeheueren Blutdurst nicht ausgenommen. Vor Kurzem sagte er, als er zwanzig Menschen auf einmal zur Guillotine sandte: Die Angeklagten sind doppelt überführt, sie haben nicht nur eine Gefängnißverschwörung angezettelt, sondern auch eine gegen meinen Magen. Es ist bereits Mittag und ich habe durch sie nicht einmal zum Frühstück gelangen können. Lasset sie dafür in den Sack niesen!
Ha! – Sieh hin, das ist er, der jetzt neben Villate an das Fenster des Pavillons tritt und mit freudestrahlendem Blick auf diese gedrängt harrende Menge herabschaut! Eine stolze Freude, zu denken, daß sie auf ihn harrt. Sieh – er trinkt – rothen Wein!
Ob ihn nicht schaudert? flüsterte leise fragend der Eine.
O diese Art hat die Schauder und Regungen der Menschlichkeit längst überwunden.
Er trägt eine grüne Brille, flüsterte jener wieder.
Farbe der Hoffnung auf die Dictatur. –
Das Frühstück bei Sempronius Gracchus schien lange zu dauern, drunten harrte im Brande der Frühlingssonne des heißen Junitages die Menge, theils geduldig, theils auch ungeduldig. Die große Uhr im Pavillon der Einheit (früher d’Horloge) schlug zwölf – sie schlug halb eins – man sah jenen Mann nicht mehr im Fenster des Florapavillons; Andere waren an seine Stelle getreten, die Männer des Revolutionstribunals, hohe schwarze Hüte mit schwarzen Federn, schwarze Bekleidung, schwarze Talare, darüber breite ausgezackte und ausgenähte Kragen, farbige Bänder um die Brust mit metallenen Abzeichen, wie Brüder geheimer Ordensbündnisse – alle Brüder eines Todesbundes, der Menschenleben hinmordete, wie des Mähers Sense die Wiesenblumen in Schwaden dahinstreckt. Es schlug ein Uhr – immer noch harrte die Menge, die Mitglieder des Convents wurden unruhig, einer fehlte, der vorhin doch da gewesen, der Angeber, der Anordner, die Seele des Festes – er war nicht mehr da; dort im Fenster lag von [131]ihm, als er aus dem Zimmer gewankt war, vergessen, sein Blumenstrauß; man suchte ihn, man fand ihn auch – es war der Repräsentant des französischen Volkes, den man gesucht, den man endlich auch gefunden, wie und wo, verbietet der Anstand zu sagen; es war Robespierre, und Robespierre – war betrunken.
Das war der Mann, der jetzt herbeischritt, bleich, mit gerötheten Augen, etwas schwankenden Schrittes, aber angethan mit dem Prunk stattlichen Gewandes, der Mann des Volkes, der Mörder des Königs und der Königin, der Mörder der Girondisten, der Mörder von des Königs Schwester, der Mörder von Danton, Cloot, Hebert, der Mörder von Tausenden; eine Gestalt, im Gesicht so blatternarbig und bleich und feig, und vom Körper so klein und unansehnlich, von einer schlotterigen Untersetztheit. Das war die körperlich und moralisch schreckliche Mißgeburt und die Gottesgeisel, die sich das große Frankreich gleichsam zum Herrscher gesetzt, der es seinen freien Nacken beugte. Das war der Gotteslästerer, der es gewagt hatte, am heutigen Tage ein Fest des höchsten Wesens anzuordnen.
Und ein Jubelruf, ein Beifalldonner der Massen begrüßte das berauschte Scheusal, und es hallte endlos und endlos Vive Robespierre! daß es ihn ernüchterte und ihm das Herz wieder stark machte; jetzt trat er auf die Tribüne und begann vorlesend ein Gekreische, denn eine Rede war es nicht zu nennen, im abscheulichen Dialect von Artois, in dem sich Flämisch und Französisch mischt, und schrie hohe Worte der Versammlung zu – von glücklichem Tag, französischem Volk und höchstem Wesen, von Tyrannei und Trug und Verbrechen auf Erden, von den Unterdrückern des Menschengeschlechts, mit denen eine ganze Nation im Kampfe liege, und diese Nation raste nun von der Blutarbeit, um dem höchsten Wesen, in dessen Auftrag sie ihre heroischen Arbeiten vollbringe, ihre Gedanken und Wünsche zu weihen.
Dieses höchste Wesen pries Robespierre, seinen Cultus empfahl er dem Volke, der heutige Tag sollte ihn festlich begehen. Am Tage vorher waren der Guillotine 20 Blutzeugen gefallen, der nächste sollte 23 dem Beile verfallen sehen.
Vorgeschriebene, im Programm de Spectacle vorgeschriebene Ausrufe der Zustimmung und Bewunderung unterbrachen den Redner, und als dieser mit einem heißeren Gebell, das dem der Hyäne in der afrikanischen [132]Wüste glich, geendet hatte, brausete stürmischer Beifall, obschon nicht ein Tausendtheil der Menge verstanden hatte, was der Redner gesprochen.
Feierlich stieg Robespierre von der Tribüne herab und die Stufen nieder, um symbolisch die »einzige Hoffnung des Auslandes« zu vernichten. Man reichte ihm einen brennenden Kienspahn, und mit dieser stinkenden Brandfackel versuchte er, das pappendeckelne Bildwerk, das mit Brennstoff umwunden war, zu entzünden. Die Einrichtung war so getroffen, daß an die Stelle des Atheismus und seiner symbolischen Träger das Bild der Weisheit in reiner, schöner und edler Gestaltung treten sollte – aber wohl wälzte sich unter Trommelwirbeln und Musikklängen dicker Dampf empor, wie weiland im Mittelalter von einem Hexenbrande – wohl krachten die Bretter und platzten die zusammengeleimten Pappen, wohl brach der Atheismus mit Gepolter zusammen, aber die andern Figuren rührten sich kaum, sie wankten nur etwas zur Seite, und die durch einen schlechten Mechanismus jetzt sichtbar werdende Weisheit trat schwarzangeräuchert wie ein westphälischer Schinken vor das Auge der Menge. Im Programme stand als Vorschrift: Aus der Mitte dieser Trümmer, nämlich der allegorischen Figuren, erhebt sich die Weisheit mit ihrer ruhigen und heitern Stirn; bei ihrem Anblick drängen sich Thränen der Freude und der Dankbarkeit aus aller Augen.
Wie aber die Weisheit als Mohrin zu Tage trat, und die »Hoffnung des Auslandes« unerschüttert stehen blieb, bis einige Schreinergesellen sie zusammenrissen, gab es nur Lachthränen und ein unauslöschliches Gelächter ergoß sich durch des Nationalgartens menschenvolle Räume. Das kümmerte aber den Helden des Tages wenig; er eilte wieder auf die Tribüne und perorirte seine schwülstigen Phrasen von dieser herunter der Menge zu, Phrasen, von denen einige lauteten: Franzosen, ihr bekämpft die Könige, ihr seid also würdig, die Gottheit zu verehren! – Unser Blut fließe für die Sache der Menschheit – das ist unser Gebet, darin besteht das Opfer, welches wir dir darbringen, der Cultus, den wir dir weihen, du höchstes Wesen!
Endlich endete auch diese Rede voll Schwulst, Phrasen und Comödianterie, und der zweite Act der großen Harlekinade begann. Die Menge wälzte sich aus dem Garten dem Marsfelde zu, über die Eintrachtbrücke im dichtgeballten unaufhaltbaren Strome hinüber.
[133]Wollen wir mit? fragte einer der Carmagnolen.
Ich denke nein, antwortete der Gefragte: und ich halte dafür, wir machen uns im wahren Sinne des Wortes aus dem Staube; denn ich bemerkte mehrere auf uns gerichtete verdächtige Blicke, besonders drängte sich ein Kerl in Incroyabeltracht mit einem Spitzbubengesicht – dort steht er noch und läßt uns nicht aus den Augen – an uns heran, entweder hat er Lust zu stehlen, oder zu spioniren, oder am liebsten beides zugleich.
Habe ein wenig Acht auf jenen guten Bürger, wandte sich der erste Sprecher zu dem dritten Begleiter, der hinter den beiden ging, die jetzt, der noch immer drängenden Menge entgegen, den Quai entlang schritten und den Zwischenraum zurücklegten, welcher das Tuilerienschloß vom Louvre trennt.
Sage mir, bester Freund, begann der eine der Carmagnolen zum andern, mit dem er Arm in Arm ging, in derselben ganz fremdländischen Sprache, in der er sich schon vorher mit ihm unterhalten: wie kommst du dazu, diese Leute oder doch mehrere derselben zu kennen, diesen Villate, und selbst den Regisseur, wo nicht vielmehr Director der Pariser Tragödie?
Du weißt ja, daß ich vor nicht langer Zeit hier war, und wirst mir so viel Theilnahme an den Ereignissen der Zeit, die so unheilvoll sind, zutrauen, daß ich meine Augen nicht verschließe, zumal wo Alles so wie hier in die Augen springt, selbst wenn man diese verschließen wollte.
Der Menschenstrom schwand hinter den drei Carmagnolen mehr und mehr, mit einem Male war der Carousselplatz menschenleer, ebenso der ganze Garten, denn Alles und Alles folgte neugierig dem Strom nach dem Marsfelde. Die Freunde schritten langsam und gemächlich auf der hohen Terrasse am Bord der Seine hin und schauten über die niedrige Steinmauer und über den Strom hinüber, wo hoch zum Himmel wirbelnder Staub die Spur der zum Marsfeld wallenden Menschenmenge bezeichnete und von welcher Seite eine vom Schall nur dumpf getragene Musik herüberklang.
Nur der vorhin erwähnte Bürger, der ein Spion schien, tänzelte hinter den Freunden her, und zwar that er, als bemerke er sie gar nicht, sondern schritt gleichsam spielend, wie ein großer Junge, auf der [134]Balustrade der Terrasse hin und pfiff sein Ç’a ira-Stückchen, indem er den Sprechenden näher kam und sich bemühte, ihre Rede zu belauschen.
Der mißtrauische dritte Begleiter nahm jetzt das Wort, und sprach: Diar kommt en holl Tidd jüm uhn – liat ley wör.
Die Freunde schauten sich um, und der Eine sprach: Nä es et en slecht Tidd! Hura! där dü Barlang hen![4]
[4] Da kommt eine hohle Brandung angegangen, laßt sie liegen vorn. – Es ist eine schwache Brandung! Hurrah, hin durch sie.
Ei, Bürger, warum wollt ihr dem Feste auf dem Marsfelde nicht zuschauen? fragte mit kecker Sicherheit der Mann auf der Ballustrade, und lauerte der Antwort entgegen.
Weil wir schon Staub genug geschluckt haben, und weil uns dürstet, ward ihm zur Antwort.
Was ist das für eine Sprache, in welcher ihr euch unterhaltet, Bürger? fragte jener, immer gleichen Schritt mit den Freunden haltend.
Ein Ueberrest der Sprache vom Babelthurmbau vielleicht, wenn du sie nicht verstehst, Bürger!
Bürger, ich glaube nicht, daß ihr Franzosen seid? fuhr jener fort. Doch ich werde mit euch gehen, mich dürstet auch.
Na, denn nem man jarst diar jahn üp, Üppasser![5] schrie mit starker Stimme der Hinterste ihm zu, und im Nu lag der Franzose drunten im Strombette der Seine und plätscherte puhstend, rufend und fluchend in den Wellen.
[5] Nun, so nimm nur erst einen drauf, Aufpasser!
Nä uhn Gotts Namen förward![6] rief der Aeltere der drei Gefährten und bog im rechten Winkel schnurstracks nach der Stadtseite ein, sich mit seinen Gefährten eiligst in die Winkel von Gebäuden und engen Gassen verlierend, die damals noch den Raum zwischen dem Louvre und dem Tuilerienschloß verunzierten.
[6] Nun in Gottes Namen vorwärts!
Mit Noth entraffte sich der Mouchard der Republik dem unschädlichen Bade und zersann sein Gehirn, was das für eine Sprache gewesen sein möge, in welcher die Fremden, die sein Scharfblick gleich als solche erkannt, gesprochen hatten. –
[135]In einem der ersten Gasthäuser der Rue Vivienne saß in seinem Zimmer ein ernster, bereits ergrauter Mann, zwar von noch rüstigem Aeußern, doch etwas krankhaften Zügen, welche die Spur großer geistiger und körperlicher Anstrengungen trugen. Dieser Mann hatte Briefe geschrieben und las sich eben einen derselben mit bekümmerter Miene vor.
»Ihre Excellenz wollen gnädigst entschuldigen, wenn ich nicht im Stande bin, in geordnetem Zusammenhang zu schreiben, denn der Kopf schwindelt mir, Alles dreht sich mit mir um und um, ein Ereigniß drängt das andere, und ich sitze hier mitten in Paris wie ein wahrer Daniel in der Löwengrube; ich darf das sagen, denn ich sehe zu meinem großen Bedauern, daß von meinen Prophezeiungen, welche Excellenz mir stets nicht haben glauben wollen, die wichtigsten eingetroffen sind. Von Amsterdam aus schrieb ich Ihrer Excellenz aux armes de la ville – der Herr Graf hatten kaum Zeit, an die Vergleichung zu denken, so viel gab es für ihn zu thun; den ganzen lieben Tag über bis in die sinkende Nacht ist er schrecklich beschäftigt mit dem Erbstatthalter, dem Erbprinzen, wie mit den Admiralitäts- und anderen Herren. Ich habe ihn nicht im Geringsten unzugänglich gefunden, im Gegentheil habe ich alle Hoffnung auf gute Erfolge, die sich, wenn ich nach Geldernland zurück bin und klaren hellen Tag in der Sache sehe, von Doorwerth aus vollends ordnen lassen. Auch gegen den jungen Herrn Grafen sind der Erbherr nicht mehr aufgebracht; ich glaube, sein Vetter, der Vice-Admiral, ein trefflicher heiterer und jovialer Herr, hat ihn umgestimmt. Uebrigens hat sich damals der junge Herr im Hause unseres alten Herrn Adrianus ein kleines Dementi gegeben, doch aber sich, ich weiß nicht durch was, in große Gunst S. H. des Erbprinzen der Niederlande gesetzt, was ihm jedenfalls nach der Hand sehr zu statten kommen wird. Er hat ein genaues Freundschaftsbündniß mit dem Sohne des alten Herrn van der Valck geschlossen, welcher erstere zwar ein rechtlicher, aber etwas überspannter Mann ist, obschon er über die Schwärmerjahre hinaus sein sollte; dieser hat ein Liebesverhältniß angeknüpft, welches auseinander zu setzen Ihre Excellenz von mir nicht erwarten werden; nur im Betreff unsers jungen Herrn führe ich dies an, weil der junge van der Valck sich mit seinem Vater, wie ich in Amsterdam erfuhr, [136]darüber bis zur Unversöhnlichkeit überworfen hatte. Darauf haben beide junge Herren mitsammt dem geliebten Gegenstande und einem leider auch schon vorhandenen kleinen Kinde Amsterdam verlassen, zu allem Glück nicht eher, als bis ich den jungen Herrn gesprochen und ihm begreiflich gemacht habe, wie thöricht er handle, so mir nichts dir nichts in die Welt hinein zu abenteuern, zumal er ja nicht denken darf, die goldenen Berge zu finden, die Ihre Excellenz ihm vorgespiegelt haben, denn leider ist dazu die Wünschelruthe verloren gegangen. Um zu sehen was zu thun und ob etwas zu retten ist, habe ich mich selbst nach Paris gewagt, in die Löwengrube mitten hinein, und auch die jungen Leute haben die Thorheit begangen, sich an mich anzuschließen und mich gleichsam zum Beschützer jener Dame und besagten Kindes gemacht, obschon ich mich mit Händen und Füßen dagegen sträubte – aber meine gar zu große Gutmüthigkeit und der Trieb, wo möglich allen Hülfsbedürftigen zu helfen, gibt meinem Verstande einen Rippenstoß über den andern. Wir halten uns verborgen und nur die jungen Leute wagen sich in Begleitung Philipp’s unter allerlei Maskeraden in die Stadt, ich hoffe aber alle Geschäfte beschleunigen zu können und dann nach Doorwerth aufzubrechen so schnell als möglich, und die jungen Leute mit dorthin zu nehmen, wo sie wenigstens für jetzt noch sicher sind. Ich war auch in Utrecht bei Hochderen zweitem Herrn Enkel, dem Grafen Johann Carl; Hochdessen Frau Gemahlin, die geborene Gräfin von Athlone und dero Kinder, Gräfin Antoinette, Graf Wilhelm Christian Friedrich, und der kleine erst zweijährige Graf Carl befinden sich im besten Wohlsein und legen sich Ihrer Excellenz zu Füßen. Der Herr Graf werden ohne Zweifel zur englischen Armee sich begeben.
Heute ist Paris wie ausgestorben, Alles ist hinaus nach dem Marsfeld, wo dieselben Republikaner, welche den lieben Gott und das Christenthum abgeschafft haben, ein Fest des höchsten Wesens feiern, während hier doch von nichts Anderem die Rede sein kann, als vom höchsten Unwesen. Diesen Brief erhalten Excellenz nicht von hier aus, denn auf der Post wird jeder Brief erbrochen und gelesen. Die Plackerei mit den Pässen übersteigt alle Grenzen, wir sind indeß als holländische Haarkäufer hier einpassirt, in welchem Handelsartikel hier jetzt haarsträubende Geschäfte gemacht werden. Dieser in Holland stark [137]betriebene Handel ist vielleicht der einzige, der hier nicht befremdet und Argwohn erregt; wir haben auch zum Schein einige Einkäufe dieser Art gemacht, und es wird Ihre Excellenz mit einem Gefühle schmerzlicher Wehmuth erfüllen, wenn ich diesem Briefe eine Locke von dem im Gefängniß schneeweiß gewordenen Haare der unglücklichen Königin Marie Antoinette beifüge. Mir stürzen die hellen Thränen aus den Augen, indem ich dieses schreibe.
Leider muß ich Ihrer Excellenz mittheilen, daß das Handelshaus Grossier Vater und Söhne hier seine Zahlungen eingestellt hat, wodurch, da dasselbe beauftragt war, für Ihre Excellenz die de la Tremouille’schen Rentenzinsen für die letztverflossenen Jahre zu erheben, Höchstsie einen namhaften Verlust erleiden, obschon ich fürchte, daß nicht viel zu erheben gewesen sein wird, denn die Revolution gleicht einem alles Vermögen verschlingenden Danaidenfasse. Wer Geld will, braucht nicht nach Paris zu kommen.
Doch ich eile zu schließen und bin zu den Füßen Ihrer Excellenz Hochdero getreuester
Windt.
Es nahten Tritte, gleich darauf traten in das Zimmer des unwandelbar treuen und geraden Dieners die drei Carmagnolen, und indem Graf Ludwig ohne Weiteres begann, sich der abscheulichen Kleidung zu entledigen, den Säbel abzulegen und den Bart abzureißen, was Leonardus ihm alsobald nachthat, rief Ersterer Philipp zu: Schaffe Waschwasser, daß wir wieder zu Menschen werden! Schaffe Wein, aber keinen rothen, ich muß bei diesem stets an Blut denken, seit ich das Ungeheuer Robespierre habe trinken sehen, Chablis, milden und doch feurigen Chablis schaffe herbei, Uf, das war ein Schauspiel, das war ein Vergnügen, und zuletzt war uns auch noch so ein Hund von einem Spion aus den Fersen, dessen Spürnase zehn Schritte weit in uns die Nichtfranzosen witterte. Eilet, eilet, daß wir uns wieder in ehrliche holländische Hairkoopers umwandeln.
Und so bald wie möglich diese Löwengrube verlassen, setzte Windt hinzu; dann sprach er warnend: Lassen Sie das den letzten verkappten Ausflug gewesen sein, junger Herr! Sie haben nun Paris gesehen, in seiner ganzen Schönheit.
[138]In seiner ganzen schrecklichen Scheuslichkeit, wollen Sie doch wohl sagen, verehrter Herr Intendant! nahm Leonardus das Wort. Ich wäre wahrlich am Liebsten gar nicht hierher gekommen, wenn nicht Ihr gütiger Rath – Der nicht anders gegeben werden konnte, Herr van der Valck, unterbrach ihn Windt. Freilich konnten Sie es viel, viel näher haben, dahin zu reisen, wo ich Ihnen Schutz gewähren kann, aber Sie konnten dorthin nicht ohne mich, und da Sie in Angelegenheiten Ihres Hauses eben so hier zu thun hatten, wie ich in den Geschäften des Hauses, für das ich reise, glaube ich, wir haben immerhin nicht übel daran gehandelt, die Haarkäufercompagnieschaft bis hierher zu erstrecken, oder vielmehr sie hier aufzuthun.
Ich glaube, versetzte Leonardus: mein Vater und meine Mutter rissen sich alle Haare aus, so viel sie deren noch haben, wenn sie erführen, daß ihr einziger Sohn, der Erbe des Hauses van der Valck, in Paris den holländischen Haarkäufer spielt. Mir schaudert jetzt förmlich vor diesem Gewerbe, das wir Gott Lob ja nur zum Schein treiben: denke ich, welch schönes herrliches Haar, auch zarter Jungfrauen und Mütter, von guillotinirten Häuptern jetzt in den Handel kommt, und daß mancher und manche Erbärmliche, ohne es zu ahnen, in ihren Perrücken das Haar von hingerichteten Fürsten und edlen Personen tragen. Gestern sahen wir guillotiniren, ich will es nie wieder sehen, und danke Gott, daß Angés von ihrem Gefühl zurückgehalten ward, dieses entsetzliche Schauspiel, zu dem so viele Tausende entmenschter Weiber sich drängten und täglich drängen, mit anzusehen.
Nur die volle Richtigkeit der genau geprüften Pässe war im Stande, den vier Reisenden nebst dem Kinde wieder ungefährdeten Ausgang aus der Weltstadt zu ermöglichen. Ein einziger Fehler, ein einziger Zweifel, eine einzige kundgegebene Verlegenheit oder Unsicherheit konnte zu einem tödtlichen Ausgang für sie alle führen.
Es war in später Nachmittagstunde, die Volksmassen strömten schaarenweise vom Marsfelde zurück und ergossen sich wieder in die bis dahin fast verödeten Straßen von Paris, erhitzt, hungrig, durstig, fanatisirt, ça ira brüllend, theilweise auch die Farçe mit sarkastischer Lauge kritisirend. Auf der langen, langsamen Fahrt von der Rue Vivienne, dann dem Boulevard entlang bis zur Porte St. Martin vernahmen die Reisenden manches scharfe Wort. Hat sich anschreien [139]lassen: Vive Robespierre! Tod all’ diesen Schreiern! – War betrunken wie eine Kanone! – Will das höchste Wesen selber sein! – Herunter mit ihm! herunter! Muß seine Claqueurs gut bezahlt haben, der blutige Comödiant!
Angés, der in namenloser Angst in den wenigen Tagen das Herz geschlagen hatte, die sie in Paris zugebracht, und welche von ihr benutzt worden waren theils nach le Mans wegen ihrer Scheidung, theils an ihre Eltern in Zweibrücken wegen ihrer Rückkehr die nöthigen Briefe zu schreiben, machte jetzt der Gedanke schwindeln, daß sie es gewagt, das theuere Kind und sich selbst, die für das Kind zu leben und zu sterben gelobt hatte, so großer, mannigfaltiger Gefahr auszusetzen, deren Größe sie freilich nicht ahnen konnte, weil sie glaubte, Paris sei noch dasselbe wie vor einigen Jahren. Sie athmete tief auf, als die Lüfte des schönen Sommerabends sie rein umflossen, drückte das Kind innig liebevoll an ihr Herz, faltete seine Hände still unter den ihrigen und sprach mit sanft zum Himmel emporgerichtetem Blick ein leises Dankgebet. Sie glich so völlig dem Bilde einer jugendlichen heiligen Mutter Anna, wie diese auf schönen Bildern die ewige Jungfrau, der Engel Königin, auf ihrem Schooße hält.
Angé’s Begleiter fühlten, was im Inneren der jungen Frau vorging, und ehrten durch Schweigen die Empfindung, die rein und mächtig durch ihre Seele bebte.
Kein Unfall, kein Hemmniß störte die Reise; es war als ob Engel schützend und schirmend die Reisenden umschwebten.
Im Geldernlande, westwärts von Arnhem, zwischen dieser Stadt und Wageningen, nahe dem Rheine, der an jenen Ufern bereits einen seiner Arme unter dem Namen der neuen Yssel verloren hat, und trüb und träge, als bereue der einst so lebensfrische, jugendliche, dann mannbarkräftige stolze Strom, sein schönes Deutschland verlassen zu haben, dahin rinnt, um sich bald genug noch mehr zu zertheilen und zu entkräften, liegt die Herrlichkeit Doorwerth mit einem stattlichen kastellartigen Herrenschlosse, Parke und Gärten, Wohnungen für Dienerschaften, Oeconomiegebäuden, mit einem Dorfe und mit einer fruchtbaren reichen Feldflur, die ziemlich frei ist von Sümpfen und Morästen, und trotz der flachen Landschaft, die nur nach Norden hin einige sanfte bebuschte Anhöhen, was man eben in diesen Niederungen Anhöhen nennt, begrenzen, doch nicht ohne landschaftliche Schönheit ist. Rings grüne Matten, Tabaks- und Saatfelder, noch mehr unübersehbare, mit Heerden bedeckte Wiesen, durchzogen von zahllosen kleinen Kanälen und Wasserrinnen, längs deren in malerischen Gruppirungen die schönsten alten Weiden, Erlen, Ulmen und die hochstengeligen Schößlinge buntblühender Stauden wachsen. Wer je die Thier- und Landschaftbilder Nicolaus Berghem’s sah und diese Auen, der muß sich sagen, daß in allen Bildern jenes großen Meisters die treueste Wahrheit der Natur herrscht.
Im Frühling des Jahres 1794 war dieser fruchtbare und ergiebige Landstrich noch einer glücklichen Insel zu vergleichen, um die rings empörte Meeresfluthen rollen und branden, aber sie von ihrer Wuth nichts weiter empfinden lassen, als das Geroll ihres Donners.
Rings um das von einem tiefen und breiten Wassergraben umgebene Kastell, dessen Bauart ganz die alter niederländischer Schlösser war, der wir so häufig auf Bildern und Kupferstichen begegnen, standen hohe Bäume, Eschen und Rüstern, uralt und von mächtigem Umfang der [141]Stämme, und deckten ganz den Anblick der Gebäude. Alte Mauern und die ausgedehnten Gärten trugen hohe Blumenvasen von gebranntem Töpferthon, in denen Blumen hätten prangen sollen, allein einigen fehlte die Erde, andere waren halb zerbrochen, und allen fehlte die pflegende Hand des Kunstgärtners, daher nichts in diesen Urnen, die nach Vorbildern der Antike geformt waren, blühte, als was sich an Ritterspornen, Lack, Astern, Levkoien und Trichterwinden alljährlich von selbst aussäete, oder was ein Vogel hineintrug; daher wohl auch Disteln, wilde Nelken und Brennnesseln in manchem dieser Gefäße wuchernd aufgegangen waren. Vom Flusse her sah man kaum etwas von dem Schlosse, so sehr verdeckten es wie ein Wald die dasselbe umgebenden Bäume, obschon es nur eine Viertelstunde vom Ufer des Rheins lag; ja, es führte von diesem Ufer kaum noch ein fahrbarer Weg dorthin, sondern nur ein ganz verwahrloster Fußweg. Früher war eine Fähre da gewesen, auf der man leicht an Stricken sich an das linke Rheinufer hinüber leiern konnte, um auf den Landstrich zwischen dem Rhein und dem schmalen Flüßchen, die Linge, zu gelangen; es stand auch noch das ziemlich verwahrloste Fährhaus, aber jetzt standen außer dem Hause kaum noch die Stöcke, an denen die Ketten und Schlösser einst befestigt waren, mit denen man die Fähre verwahrte. Einige hundert Schritte zwischen dem Rheinufer und dem Schlosse Doorwerth durchschnitt die sich durch die Wiesen schlängelnde Straße, die von Arnhem nach Wageningen führte, die Wiesenfläche und jenen selten betretenen Fußweg; der Hauptweg vom Schlosse aus lief nordwärts, bildete eine schöne Lindenallee, und endete in einem Kreuzweg, dessen nach Norden fort gesetzte Richtung zum Dorfe Wolfsheese führte, der linke Arm zum Schlosse und Dorfe Helsum, und der rechte, längste, am Dörfchen Oosterbeek vorüber gerade nach Arnhem, das auf diesem Wege von Doorwerth aus ein Wanderer in zwei »Uren Gaans«[7] erreichte.
[7] Gehe-Stunden.
Zur Zeit bewohnte ein Rentmeister die eine der Dienstwohnungen, ein Oeconomieverwalter mit Familie und dem nöthigen Gesinde die andere. Außerhalb der Herrschaftsgebäude lag auch noch ein Krug, eine Schenke, zwischen dem Schloß und dem Dorfe. Die Gärtnerwohnung [142]stand leer, und in dem weitläufigen und sehr geräumigen, aber etwas winklich gebauten Kastell waltete Aufsicht führend mit weniger Dienerschaft, nur mit zwei Mägden und einem Hausknecht, der zugleich die Botengänge nach der Stadt zu verrichten hatte, eine Frau von gutmüthigem Aussehen, aber dabei raschem und entschlossenem Wesen. Sie leitete mit Hülfe von Frohnern und Tagelöhnern den Anbau des Gartens, wobei freilich der schönen Gartenkunst nur sparsam Rechnung getragen wurde; sie zog auch wenige Artischoken, aber viele Zwiebeln und Kartoffeln, wenige Hyacinthen und sonstige Blumen, aber desto mehr Blumenkohl, ein Krauthaupt war ihr ungleich lieber, als eine Wassermelone, eine starke Selleriewurzel freute sie fast mehr als ein Spargelstengel, und ein tüchtiger Büschel reifer Lauch dünkte ihr mehr werth als ein ganzes Beet voll blühender Crocus.
Es war ein schöner Juninachmittag, der schon zum Abend neigte, als diese wackere Frau nach vollbrachter Tagesarbeit in bequemster niederländischer Haustracht sich im köstlichen Schatten der nördlichen Allee erging, einen mächtig großen Strickbeutel am Arme; an einem Band am anderen Arme hing ihr ein Fächer von der höchsten Einfachheit, aber von der möglichsten Größe, wie die holländischen Matrosenfrauen sie trugen. Derselbe war von braunem Cedernholz, was das Gestell betraf, und das Papier war grün, weder auf der einen noch auf der anderen Seite war etwas darauf gemalt, auch nicht das kleinste Blümchen. Dieser Fächer, dessen zwar die Eigenthümerin jetzt im Schatten der Allee nicht bedurfte, war indeß bei all seiner Einfachheit ungleich nützlicher und praktischer, als der feinste elfenbeinene, zart durchbrochene Bastillefächer von Paris, und das Verhältniß des Windes, der mit ihm zur Kühlung hervorgebracht werden konnte, war ohngefähr das vom Sausen eines Windmühlenflügels oder dem Hauch eines Blasebalgs.
Von Zeit zu Zeit warf die lustwandelnde Frau einen Blick in die Tiefe der schnurgeraden Allee, endlich sprach sie laut vor sich hin und um so lauter, als Niemand vorhanden war, der sie hörte: Ob er wohl nicht bald kommt? Zeit wär’s! Ein Mann ist doch ein Mann, eine Frau kommt nicht durch; die ganze Wirthschaft hier geht zu Grunde. Alles verfällt, Schloß, Wälle, Reithaus. Woher kommt’s? Von der übergroßen Oeconomie, von der Sparsucht, die den Kukuk [143]taugt; der Pfennig wird zehnmal umgewendet, und hintendrein der Ducaten zum Fenster hinausgeworfen! Was jetzt mit zehn Gulden zu erhalten wäre, muß später mit hundert Gulden wieder hergestellt werden. Immer will die herrschaftliche Kammer kein Geld haben, und wo käme es denn hin? Sie sparen und sparen wie die Hamster, und haben doch niemals Geld zu rechter Zeit, die Haarspalter, dy een hair in vieren kloofen.
In der Tiefe der Allee zeigte sich ein einzelner Reiter. Die Frau blickte scharf nach ihm hin. Mit Einemmale schrie sie laut auf: Herr Gott von Utrecht! Mein Mann! und beschleunigte ihre Schritte in etwas, dem Reiter entgegen, doch nicht eher, als bis sie die Nadel vollends abgestrickt, Strumpf und Garnknaul zusammengesteckt, und dann Beides in die Tiefe des geräumigen Strickbeutels versenkt hatte.
Als der Reiter von Weitem diese Frau erblickte, setzte er sein Pferd in kurzen Galopp, hielt es in ihrer Nähe an, stieg rasch ab und eilte in ihre Umarmung, die sehr zärtlich, aber zugleich sehr kurz war.
Willkommen, Windt! Gott sei Dank, daß du da bist, Windt!
Ja wohl, Gott sei Dank, liebe Jule! antwortete der redliche und unermüdliche Haushofmeister. Das war einmal wieder eine Reise; Haut und Haar und zuletzt den Kopf muß man daran setzen. Wie geht es hier?
Nicht besser als vorher auch; nichts als Nachrichten vom Krieg. Ach Gott, wie lange wird es dauern, so haben wir ihn auch hier, und das ganze Schloß voll Einquartierung.
Gut, sehr gut, Jule, wenn du dich auf solche schon gefaßt gemacht hast; es kommt noch heute Einquartierung in das Schloß.
Was? Mann? Spaß oder Ernst? Das wäre mir!
Ob es dir wäre oder nicht wäre, recht oder unrecht wäre, Jule, das gilt all’ gleich! Der jüngste der gräflichen Herren Enkel kommt, dem wirst du doch das Schloßthor nicht zusperren wollen, Jule? War ja immer dein Liebling, hast ihn auf deinen Händen getragen. Nun bringt er einen Freund mit und dessen junge Frau mit einem Kinde, und seinen Diener, nun was ist es weiter? Raum im Schlosse haben wir, zu essen und zu trinken wird es ja wohl auch noch in [144]Doorwerth geben, und du bist doch niemals glücklicher, Jule, als wenn du alle Hände voll zu schaffen und für recht viele Mäuler zu sorgen hast.
Mein junger gnädiger Herr kommt, Graf Ludwig Carl? rief Frau Windt in höchster Freude. Nun das ist ja ein Weltwunder! Ei, wo ist er denn? Wann kommt er denn? Woher kommt er denn? Wo war er denn? Wohin will er denn?
Ei so klappere, du alte Windmühle! lachte der Haushofmeister. Ich werde den Sack voll Neuigkeiten ja noch ausschütten, habe vorerst nur Geduld und laß mich erst ausschnaufen. Schaffe nur gleich eine gute Wein-Kaltschaale. Der Ritt hat mir warm gemacht.
Wenn ich eine Windmühle bin, antwortete die Frau: so weiß ich, daß ich einen Mühlstein am Halse habe auf dieser Erdenwelt, und der bist du.
Aber auch einen Stein im Brett habe bei unserm Herrn Gott, Alte, setzte Windt das Scherzgespräch fort, an einem Arme seine Frau und mit der Hand des anderen sein Pferd am Zügel nach dem Schlosse führend.
Du brauchst zwei besondere Gastzimmer, eines für die junge Dame und das Kind, und eines für den fremden Herrn.
Und für unseren jungen gnädigen Herrn?
Nun, für den so viele, als er für sich befiehlt. Das versteht sich doch von selbst.
Ei sage, wer sind denn die Gäste? fragte mit verzeihlicher Neugier Frau Windt.
Und wenn ich’s nun nicht wüßte, Jule? Wolltest Du es dann an Niemand verrathen? gab Windt zur Antwort.
Du weißt es doch, ganz gewiß!
Liebe Frau, wer weiß, ob ich’s so ganz gewiß weiß? Es geht damit, wie mit der Höhe des Berges Sinai. Du kennst ja wohl die kleine Anekdote, liebe Jule? Ein Schullehrer stellte diese Frage an seine Jungen; Keiner wußte sie zu beantworten. Da fragte der Keckste von den Jungen: Wie hoch ist denn eigentlich der Berg Sinai, Herr Schulmeister? Was antwortete der?
Ei, das weiß ich ja nicht! erwiederte Frau Windt.
Siehst du, Jule? Das Nämliche antwortete der Schulmeister [145]auch; er antwortete: Dummer Junge! Das kann man so eigentlich nicht wissen!
Du bist ein Schalk, Mann! Immer bringst du neue Schnurren mit heim, wenn du draußen herum gereist bist.
Und immer finde ich, Gott sei Dank, zu Hause meine liebste alte Schnurre wieder. –
Das war eine lange, mitunter doch etwas beschwerliche und ermüdende Reise gewesen, die Reise von Paris bis in das Geldernland, doch hatte der Himmel seinen Schutz und gutes Wetter verliehen, und die Herzen der Freunde waren nur um so inniger in einander verwachsen und verschmolzen, je mehr sich Jeder bemühte, dem Anderen gefällig und hülfreich zu sein, und je mehr sich jedes Einzelnen eigene Vergangenheit erschloß; ja auf Leonardus eigenes Verlangen war zwischen Ludwig und Angés das geschwisterliche Du an die Stelle des förmlichen Sie getreten. Gern und freudig ward als freundlicher Schirmvogt, wegekundiger Geleitsmann, sparsamer Haushalter und durch und durch von Gefälligkeit und Redlichkeit erfüllter Mensch, Herr Windt als Dritter im Bunde der Freunde aufgenommen, und so hatte die Unterhaltung nie gestockt und man war endlich doch, ohne allzugroße Beschwerde und Langeweile zu fühlen, welche die große Einförmigkeit mancher Wegstrecken wohl hätte hervorrufen können, dem vorläufigen Ziele nahe gekommen. Angés, stets liebevoll um das Kind besorgt, das sie gleich dem Stern in ihren Augen hielt und mit der mütterlichsten Zärtlichkeit überwachte, und mit dem sie sich viel unterhielt, was auch die Freunde thaten und sich an seinen klugen und treffenden Antworten ergötzten, hatte Manches von ihrer Heimath erzählt, an welche sie bisweilen mit einem schmerzlichen Sehnsuchtsgefühl dachte, besonders wenn der Anblick der endlosen Flächen, welche durchfahren wurden, sie drückte.
O wie schön, wie zauberschön, rief sie einmal aus, ist doch gegen dieses Land mein Heimathland, die rebenreiche grüne Pfalz! Ein Land voll lieblicher Höhen, rauschender Wälder, durchklungen von heiteren Sängern der Haine. Hier zu Lande rauscht nichts als Schilf und Wasser und Windmühlen, und Vögel sehe ich keine anderen, als langbeinige Störche, Strandläufer und Wassergeflügel – es singt nichts, [146]es piept oder es kreischt nur Alles. Welche Thörin war ich, meine Heimath zu verlassen!
Und doch durch eine höhere Fügung, meine theuere Freundin! sprach Leonardus, indem er suchte, die Heimathstimme, die so laut und mächtig in Angés’ Innerem zu sprechen begann, zu beschwichtigen: Wir sollten uns finden, mußten uns finden, und fanden uns. Selten nur fesselt der Menschen Glück, der Menschen Loose die Hand des Geschickes von Jugend auf an einen bestimmten Ort; noch seltener bindet es an einen solchen alle Zufriedenheit. Das Leben ist Irrfahrt! Glücklich die, denen doch nicht allzuspät ein friedlicher Hafen winkt, liege dieser nun in bergeumgürteter, schattiger Waldbucht, oder liege er im stillen, reizlosen Flachland, das zuletzt doch auch nicht ganz ohne Reiz ist.
Das der Zauberspiegel der Liebe verschönt und die Freundschaft mit grünen Kränzen schmückt! fügte Ludwig hinzu. Jedes Land hat Reize, besonders wenn der Mensch Gemüth und Seele in dasselbe hinein legt oder hinein zu tragen versteht.
Gar manches Andere noch brachte das Gespräch auf dieser gemeinschaftlichen langen Fahrt zur Erörterung, und Vieles davon war sogar nothwendig zu erläutern, damit das von Natur etwas argwöhnische und diplomatische Gemüth des Herrn Windt in Allem klar sehe, und kein Mißtrauen irgend einer Art ihn bewege, die einmal so freundlich dargebotene schützende Hand abzuziehen. Oft noch lenkte das Gespräch sich auf jenen verhängnißvollen Abend hin, ohne welchen die Reisenden wohl schwerlich so vereint, wie sie jetzt es waren, diesen Weg zusammen zurückgelegt haben würden; erst dem Zuge der Hauptstraßen folgend, von Paris nach Brüssel, von Brüssel nach Antwerpen, von da über Turnhout und den Bosch (Herzogenbusch) an die Ufer und Flachlande der Meuse, wie der Wahl, bis sie denn endlich nach dem Städtchen Rheenen gelangten, das vom Rhein seinen Namen führt, aber keine rheinischen Reben, sondern nur Tabak baut, soweit immer sein Weichbild und seine Flurmarkung reichen. Leonardus hatte dem Freunde Windt ausführlich mitgetheilt, wie es nach jenem verhängnißvollen Abend gegangen, wie nämlich, als Seine Hoheit der Erbprinz der Niederlande gerufen: Dieses Kind ist mein – Angés denselben [147]plötzlich mit einem hellen Aufschrei unterbrochen und laut gerufen: Nein! Nein! Es ist nicht Ihr Kind! und gleich darauf wieder in ihre Ohnmacht zurückgesunken sei; wie darauf der Erbprinz die kleine Sophie sanft auf den Boden gestellt und laut, vor der ganzen Gesellschaft und unter Erröthen gesagt habe: Das wollte ich ja gar nicht sagen, daß dieses Kind mein sei, sondern ich wollte sagen: Dieses Kind ist meines Freundes Kind, in welcher Rede ich unterbrochen wurde, und wie dem auch sei, und was immer hier Dunkles und zur Zeit Unerklärtes obwalte, so erkläre ich hiermit, daß ich dieses Kind und die Dame, die es in ihre Obhut genommen, sie sei wer sie wolle, in meinen Schutz nehme, in Folge einer heiligen Verpflichtung. Wie dann darauf Graf Ludwig hervorgetreten sei und gesagt habe: Auch ich habe mich schon feierlich dem Schutze dieser Dame und dieses Kindes gelobt, und ich behaupte mein Näherrecht, und werde niemals dulden, daß diesen Beiden Unbill widerfahre!
Darauf habe der Erbprinz der Niederlande des jungen Grafen Hand ergriffen und zu ihm gesagt: Mein lieber Graf! Sie wissen nicht, wen Sie sich hoch zu Danke verpflichten, aber die Zeit wird kommen, wo Sie es erfahren, und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, Sie werden es nicht zu bereuen haben. Bleiben Sie der edle muthige Ritter dieser Dame und dieses Kindes, denn mich selbst hindern Sohnespflicht und die Unruhe der gegenwärtigen Zeit, diesen Ritterdienst selbst zu übernehmen, bedürfen Sie meiner aber irgend wo und irgend wie, dann wenden Sie sich nur immer getrost und geradezu an mich.
Alles war voll Staunen gewesen über diese Rede des Erbprinzen von Oranien und hatte begriffen, daß hier ein tiefes und wichtiges Geheimniß zum Grunde liegen müsse. Angés und das Kind waren in ein Nebenzimmer gebracht worden, wo erstere sich bald erholte.
Und zu mir, vollendete Graf Ludwig die Mittheilung: traten meine Herren Vettern, und Erbherr Wilhelm sprach zu mir: Das hast du nicht übel gemacht, Vetter, du hast verstanden, dich schnell in hohe Gunst einzuführen. Benutze das, und trage Sorge, daß wir auf dich rechnen können, wenn wir deiner bedürfen! Dann nahm mein englischer Vetter William, der Vice-Admiral, das Wort, welcher nicht zu verwechseln ist mit meinem jüngeren Vetter, William Henry, Lord Cavendish, denn Letzterer ist erst siebenzehnhundertvierundsiebenzig, [148]der Erstere aber siebenzehnhundertvierundsechzig geboren, und sagte mit einem eigenthümlichen Lächeln: Vetter, Vetter! Du wirst entweder ein Diplomat oder ein Feldherr, jedenfalls weißt du deine Pläne gut zu verstecken. Ich verstand nur halb, was mein Vetter mit diesen Worten sagen wollte, denn ich fühle in mir weder die Gaben des Staatsmannes, noch des Kriegers, und erwiederte so gut als Nichts auf seine Rede, was, wie ich vermuthe, wieder für äußerst fein und diplomatisch galt, während es nur das Zeichen meiner grenzenlosen Verlegenheit war. Mir war vor Allem jetzt darum zu thun, an der Stelle meines ganz und gar bestürzten Leonardus zu handeln, und mich unserer armen leidenden Angés und des Kindes in solcher Weise schützend anzunehmen, wie es Freundespflicht war, und wie ich auch gethan haben würde ohne die Aufmunterungen, die mir von dem Erbprinzen und meinen beiden Vettern zu Theil wurden.
Meine Lage und Stimmung war die schrecklichste, schaltete Leonardus ein, und keine Hand nahm hülfreich das Damoklesschwert hinweg, das drohend über meinem Haupte hing. Die Abendgesellschaft ging auseinander. Mein Vetter, der Capellan, raunte mir zu: Leonardus, wenn ich dir mit meinem geistlichen Segen aufwarten kann, so stehe ich zu Dienst; außerdem will ich dich in den Schutz aller Heiligen, insbesondere aber in den der heiligen Theodora von Alexandrien empfehlen, welche ihren Mann verließ und sich in ein Mönchskloster begab, um darin Gelegenheit zu haben, ihre Enthaltsamkeit zu bewähren! Gehabe dich wohl, trauter Vetter! – Meine so eben mir verlobte Braut, Jungfrau Sibylla Nikodema van Swammerdam, sagte zu mir: Ik hef zulkes myn leefdagen niet gezien – die kost is te magtig voor my.[8]
[8] Mein Lebtag habe ich so etwas nicht gesehen, diese Kost ist mir zu ungenießbar!
Meine Mutter schlug die Hände über den Kopf zusammen, sah mit starrem Schreck und rathlosem Erstaunen den allgemeinen Aufbruch und rief einmal über das anderemal: Gód wil dat den besten keeren![9]
[9] Möge Gott dies zum Besten lenken!
Und gar mein Vater! Als alle Gäste hinweg waren und die Diener alle aus den Zimmern, ihnen hinabzuleuchten, da trat er vor mich [149]hin, zitternd und bebend, und sagte nichts, als »Sohn! Sohn!« – Nicht schildern kann ich den Eindruck, den diese Worte und der Zustand des alten Mannes auf mich machten; sein Gesicht sah tief verstört aus, es war, als habe diese unselige Viertelstunde ihn ein Jahrzehnt älter gemacht. Und ich, was sollte, was konnte ich erwiedern? Ich suchte mich zu fassen, ich sprach so ruhig und demüthig als möglich: Bester Vater! zürnt nicht allzuheftig, bevor Ihr meine Rechtfertigung gehört habt. Nie kann und werde ich in die Hand der Jungfrau Sibylla Nikodema van Swammerdam meine Hand als Gatte legen – nein – nie und nimmermehr.
Gut, mein Sohn Leonardus, keuchte mein Vater zitternd und bebend als Antwort. Du hast ganz deinen Willen! Ich spiele nicht mit Comödie! Ich gebe dir keinen Fluch, das fällt mir nicht ein! Mein Fluch wäre viel zu gut für dich! Ich bleibe der alte Adrianus van der Valck, und dir bleibt, wenn ich die Augen schließe – verstehe mich wohl und recht – die Hälfte des Pflichttheils und kein einziger armseliger Deut mehr als die Hälfte deines Pflichttheils, das sei bei dem ewigen, allsehenden und allgerechten Gott geschworen!
Meine Mutter stieß einen Schrei des Schreckens aus; mein Vater brach zusammen, was ich that, was nun geschah, weiß ich nicht mehr; erst bei dir, mein Ludwig, in deinen Armen, an deinem Freundesherzen fand ich Trost, Beruhigung und meine ganz gebrochene Mannheit wieder.
Und was mich marterte und quälte in jener bangen, angstvollen, verhängnißvollen Stunde, fügte nun wieder Ludwig hinzu: das durft’ ich dir und Angés damals ja gar nicht sagen, denn vielleicht hätte dann mich, ja mich euere vereinte Verwünschung getroffen.
Wie? Unsere Verwünschung? fragten Leonardus und Angés mit einem Munde, und Windt horchte mit verdoppelter Aufmerksamkeit der Weiterrede des Jünglings.
Oh, liebe Freunde! seufzte Ludwig. Was euch traf, war der Fluch einer bittern Stunde, der herbsten, schmerzlichsten, die ich noch je durchlebt. Sie entsinnen sich jenes unheilvollen Abends zu Schloß Varel, bester Freund Windt. Ich war es, der damals jene Stunde mit einem Fluche belegte, und die furchtbare Erfüllung dieses Fluches macht mich an eine dunkele dämonische Macht glauben, die unsichtbar [150]uns umgibt, uns umlauert, uns belauscht, unsere unbedachten Reden auf ihre mitternachtdunkeln Schwingen nimmt und sie hinwegträgt an einen Ort, wo sie aufbewahrt bleiben bis zur Erfüllung. Vom Zorn bethört, vom Schmerz außer mir, rief ich damals meinem sonst von mir so geliebten und auch in der That so ehrenwerthen Vetter, dem Erbherrn, zu, dessen Beschimpfung mich vor mir selbst erröthen machte und mich vernichtete. »Verflucht soll die Stunde sein, in der ich dich wieder meinen Verwandten nenne!« Und siehe – in derselben Stunde geschah es, daß er, wie seine Mienen mir kündeten, mit versöhnlichem Herzen und sein mir angethanes Unrecht bereuend, mich zu sich winkte und mit wenigen Worten mir, dem so viel Jüngeren und in jeder Beziehung an Rang und Stand unter ihm Stehenden, zuerst und zuvorkommend die Hand zur Versöhnung bot. Und ich, einsehend, wie sehr damals auch ich, gleich ihm, gefehlt und mit unbedachten Zornreden ihn gereizt und ihn unverzeihlich beleidigt, hätte ich anders handeln können, als von Herzen gern in die Rechte des Vetters einzuschlagen? So that ich denn, was mein Herz mir zu thun gebot, aber der Fluch, den ich auf die Stunde gelegt, erfüllte sich und fiel auf euer schuldloses Haupt.
Alle waren erschüttert von dieser Mittheilung. Leonardus drückte stumm die Hand der geliebten Angés und blickte ihr liebevoll in die Augen, die in Thränen schwammen.
Windt nahm das Wort: Halten Sie zu Gnaden, junger Herr! Wenn ich Sie so reden hörte, ohne zu wissen, daß Sie dermalen aus Paris kommen, so würde ich sogleich sagen: Dieser junge Herr kommt aus Paris. Da schwebt der Fatalismus und der Atheismus in der Luft, wie die Eier der Infusionsthierchen, die der selige Vorfahre der Jungfrau Sibylla Nikodema van Swammerdam und der alte Lehewenhuk mit ihren Mikroskopen entdeckt haben. Wundere mich nur, daß Sie in Paris so viele und auch dazu Zeit gefunden, und Ihren Monsieur Diderot so gut durchstudirt haben, oder lasen Sie vielleicht zu kurzweiliger Erbauung in Varel schon dessen vor zwei Jahren in Berlin herausgekommenes Buch: Jacques le fataliste et son maitre?
Ich las dieses Buch allerdings, lieber Herr Windt! erwiederte Graf Ludwig: und wer liest in unserer Zeit solche Bücher nicht? Soll nie [151]die neue Wissenschaft und die neue Erforschung der Wahrheit durch gebildete Lebenskreise dringen? Heißt nicht unser Jahrhundert mit schönem Vorrecht das philosophische?
Herr Graf! fuhr Windt fast heftig auf: halten Sie mich für keinen Finsterling und Pietisten! Für keinen Mysanthropen und Mysagogen, denn zu solchen Dummheiten habe ich keine Zeit, aber das sage ich Ihnen, daß diese neue Philosophie das Basilisken- und Teufelsei ist, aus dem die Revolutionen kriechen und der Königsmord, die Untreue und der Unglaube, die Verhöhnung und Verläugnung alles dessen, was dem Menschen noch heilig ist auf Erden. Sagen Sie nicht, daß ich urtheile, wie der Blinde von der Farbe, weil ich kein Studirter, kein Gelehrter bin. Was ich rede, gibt mir mein Gefühl, gibt der gesunde Menschenverstand mir ein!
Was verstehen Sie denn eigentlich unter Philosophie, werther Herr Windt? fragte der junge Graf. Sind Sie sich auch bei Ihrem so ganz entfernten Berufskreise schon völlig klar geworden über das Wesen, den Zweck und die Aufgabe der Philosophie für den denkenden Menschengeist?
Was ich unter Philosophie verstehe, Herr Graf? versetzte Windt: Nichts Anderes, als was einfach ihr Name besagt: Weisheitsliebe, Weisheitslehre. Wer sich eine Narrenkappe aufsetzt und mit Schellen umhangen umhertollt, liebt die Weisheit nicht, wer die Gottheit läugnet, lehrt sie nicht. Oder sollte ich mich irren? Neu ist freilich die Sache nicht, das weiß ich; zu allen Zeiten hat es abgeschmackte und aberwitzige Schrägköpfe gegeben, die unter der Vorspiegelung, erhabene Lehren der Weisheit zu verbreiten, der Welt die Schnurrpfeifereien ihres verbrannten Gehirns zum Besten gaben, gerade so und um kein Haar anders, wie unsere jungen neumodischen Philosophen. Sie haben alle ihren Lohn dahin, keiner wandelte eine hohe und erhabene Bahn, keiner nahm allbewunderten Geistesflug, auf elenden Treckschuiten segelten sie zum Orkus und in das Meer der Vergessenheit, ins Schlepptau genommen von den lahmen und zu Tode geschundenen Gäulen ihrer Unvernunft. Auch die Folgezeit wird aus ihrem Schlamme die unaustilgbare Brut solchen Gewürms erzeugen, aber sein Loos wird immerdar dasselbe sein, das Loos der Eintagsfliegen, die aus den ekeln Larven im Morast entstehen, heute uns umschwärmen und morgen dahin sind. Oder könnten Sie vielleicht im Ernst glauben, [152]Herr Graf, daß diese nichtsnutze Wirthschaft in Frankreich, diese blutige Harlekinade, dieser Freiheitsbäumeschwindel, Bäume, die sammt und sonders in der neumodischen Philosophie wurzeln, Dauer habe? Ich glaube es nicht, und ich hoffe, obschon ich nicht mehr jung bin, noch zu erleben, daß diese gottheillose Republik ein Ende mit Schrecken nimmt, und daß Gott diesem Frankreich einen Tyrannen mit einer Eisenfaust sendet, der ihm die Brust zusammenschnürt mit allen Stricken und Ketten der Gewalt, damit es wieder Buße thue im Sack und in der Asche, und die Kirchen wieder aufthue, und nicht das höchste Wesen, welches ein ebenso haltloser und einfältiger Begriff ist, als die französische Gottheit der Vernunft, sondern Gott und seinen eingeborenen Sohn wieder anbeten lerne im Geist und in der Wahrheit.
Sie sind ein Fanatiker der Reaktion, Herr Windt! rief Ludwig, so schlimm und schlimmer noch als jene mißleiteten Republikaner! Ich glaube fast, wenn Sie Macht dazu hätten, Sie strangulirten und guillotinirten alle neueren Philosophen und mich, der ich begonnen habe, mich diesen ein wenig zuzuneigen, zu allererst?
Nun, wenn es auch so schlimm nicht wäre, lenkte Windt ein: meiner Ueberzeugung werde ich mit Macht und ohne Macht treu bleiben, und diese ist die, daß alle Gottesläugner und alle ihre Sippschaft, welche in Gestalt moderner Philosophen die Menschen von den Begriffen des Rechts und der Tugend, des Gehorsams, der Redlichkeit und der Pflichterfüllung, der Wahrheit und der Treue, auf die Pfade der Laster, der Zügellosigkeit, des Atheismus und daraus entspringender blutiger Gräuel des Aufruhrs und der Rebellion hinzuleiten streben, nicht in den Staatsrath, nicht in die Kirche, nicht auf die Lehrkanzel gehören, sondern – an den hellen lichten Galgen! Punktum!
Um Gottes Willen, liebster Windt! Sie werden ja ganz heftig, hören Sie auf, Sie sollen Recht haben! rief Ludwig wieder.
Erlauben Sie, Herr Graf, nur noch eine Bemerkung, dann werde ich nie wieder diese Sache berühren, entgegnete Windt. Ich soll nicht Recht haben, ich habe Recht! Sie können mir kein Recht verleihen oder zugestehen, noch ein solches nehmen, denn nicht der einzelne Mensch hat das Recht in der Hand, wie ein Taschenspieler die Eier in der Gaukeltasche, die er gibt, wem er will, sondern das Recht ist [153]von Ewigkeit her zu Recht beständig, und das Unrecht bleibt Unrecht, und wenn alle Nationen es für Recht ausschreien. Lassen Sie mich nur noch, da ich davon abkam, auf Ihre eigentliche erste Frage einfach antworten, es war diese, ob nie die neue Wissenschaft und die neue Erforschung der Wahrheit durch gebildete Lebenskreise dringen solle? Warum nicht; jede wirklich neue Wissenschaft, die nützt oder erfreut, soll dies thun, eine neue Erforschung der Wahrheit aber gibt es nicht, die Wahrheit ist keine Wissenschaft, die Wahrheit ist ewig wie Gott. Es sind an ihr nicht neue Entdeckungen zu machen, wie in Astronomie und Geographie, dort ein Sternenhaufe im Aethermeere, dort eine Inselgruppe im stillen Ocean. Die Sterne waren vorher da, die Inseln waren auch da, beide sind nichts Neues, sie treten nur als neugefunden in unser Wissen und Erkennen ein. Kein Philosoph der Welt kann einen neuen Gott verkündigen; was bei neuen Götzen herauskommt, hat Frankreich dargethan, als es seine Vernunftgöttin durch eine schamlose Comödiantin vorstellen und vertreten ließ. Zweck und Mittel hielten sich die Wage, die Gottheit und ihr Abbild waren gleichen Schlages, und es wäre keineswegs eine neue Wahrheit, sondern nur eine Wiederkehr alter Narrheit, wenn es irgend einer Nation einfiele, Katzen und Kühe zu vergöttern, und die Götter mit Sperber- und Hundeköpfen darzustellen; ohnehin wird ja schon in Paris Hyänen, Krokodillen und blutlechzenden Tigern göttliche Ehre erwiesen!
Wie es in politisch bewegten Zeiten zu gehen pflegt, alle Parteien bilden sich erregt, heftig und unduldsam aus; die schönsten Kreise spalten sich, der Vater streitet gegen den Sohn, der Sohn gegen ihn und die Geschwister, »es lösen – wie Schiller sagt – sich alle Bande frommer Scheu«, und die besten und einsichtvollsten Menschen werden hingerissen zu maßlosen Reden, wenn nicht selbst zu solchen Handlungen; Streit und Zwietracht walten und zornvoll entflammter Hader, und die schöne Ruhe des Gemüthes, der heitere Friede, der innere Himmel geht auf lange, wenn nicht für immer, vielen Tausenden verloren.
Zum Glück wußten nach Wortwechseln, wie dieser letzte, deren von solcher Schärfe und Heftigkeit noch keiner auf dieser Reise vorgekommen war – wie wäre eine weite gemeinschaftliche Reise ganz [154]und völlig ohne irgend eine vorübergehende Mißstimmung denkbar? – die befreundeten Gemüther immer bald wieder das rechte Maß zu finden und stritten, wenn sie stritten, immer nur sachlich, nie persönlich. Daher erreichte man zuletzt in guter Eintracht und durch die nahe Aussicht auf die Endschaft dieser langen Fahrt erheitert, das Städtchen Rheenen, wo eine Rast gehalten wurde und Windt ein Pferd nahm, um gleichsam als Quartiermacher seiner kleinen Caravane nach Doorwerth vorauszureiten. Als mit dem nahen Sonnenuntergange liebliche Abendkühle einzutreten begann und die Sonne ein zauberisches Licht auf alle die tiefgrünen Bäume und Sträuche warf, welche nach allen Richtungen hin die Landschaft durchzogen, die ganze Flur dieser Landschaft im Sonnengolde wie im heiligen Sabbath ewigen Gottesfriedens ruhte, da war jedes Herz der Reisenden von Freude erfüllt, jeder Gegenstand erregte lebendigen Antheil, und so mußte gleich hinter Rheenen der Kutscher halten, damit die Reisenden einen dicht am Wege sich erhebenden Hügel besteigen und besichtigen konnten, der seiner Form und Art nach aus der germanischen Frühzeit stammte. Es war ein in dieser Gegend seltener Hochpunkt; auf hohen Steinen, gleich kurzen rohen Säulen, lag eine mächtige Steinplatte, ähnlich einem Druidengrabe, vom umwohnenden Volke genannt die Königstafel; welcher König aber hier in der Zeiten Frühe getafelt, das war der Sage entfallen, ebenso der Grund, weshalb der ganze Hügel der Heimenberg genannt wurde und jener eine Strecke weiter davon einzeln stehende hochragende erratische Block der Heimensteen.
Wir wollen uns diese sagenhaften Stätten und Namen, wenn wir nicht auf den Grund ihres Ursprungs kommen, sprach Ludwig, zu günstigen Wahrzeichen und Vorzeichen dienen lassen, daß wir jetzt die Grenze unsers neuen Heim, für eine Zeit lang wenigstens, überschritten haben, daß nach so mancherlei Stürmen eine neue Heimath uns hier sich aufthun soll und will, und gebe nur Gott, auf den ich mehr hoffe und baue als unser übereifriger Freund und Philosophenfeind mir zutraut, daß unser allseitiges Hoffen in Erfüllung gehe!
Eine kurze Strecke von etwa drei Viertelstunden noch und der Wagen rollte durch die wunderschöne Allee auf das stattliche Herrenschloß Doorwerth zu.
Das stille Friedensparadies im Schooße der Herrlichkeit Doorwerth, welches die Freunde aufgenommen, blieb nur kurze Zeit für dieselben ein Schooß der Ruhe. Näher drängten die politischen Ereignisse; mit unruhiger fieberhafter Spannung wurde täglich neuen Zeitungen, Nachrichten und Briefen entgegengesehen, und wenn diese ankamen, waren sie selten erfreuender Art und enthielten mehr Unliebes als Liebes, ja, sie waren ungleich mehr geeignet, Furcht und Bangen zu steigern, als Besorgnisse zu zerstreuen, die immer drückender wurden.
Ludwig und Leonardus nahmen Waffenübungen vor, welche Windt, von früherer Zeit her mit Führung der Waffen wohl vertraut, leitete, sofern dessen außerordentlich in Anspruch genommene Zeit dies vergönnte; es wurden zu solchen Uebungen spätere Stunden des Nachmittags gewählt und die ganze jüngere Dienerschaft, wie die jungen Landleute aus den Ortschaften der Herrlichkeit beigezogen, welche ohnedies durch die Jahreszeit von der Feldwirthschaft nicht allzusehr in Anspruch genommen wurde. Es wurde ein Jägercorps errichtet, und Windt befehligte dasselbe als Hauptmann. Angés lebte mit dem immer lieblicher aufblühenden Kinde still und zurückgezogen, stand Windt’s Frau in häuslichen Geschäften bei, schloß sich an diese an und gewann deren Gunst und Theilnahme dadurch, daß sie ihr sehr viel erzählte. Philipp mußte jeden Morgen nach Arnhem zur Post reiten, die Pferde Isabella und der Braune waren vor der Pariser Reise bereits auf kürzestem Weg von Amsterdam nach Doorwerth gesendet worden.
Windt war von Geschäften ganz umfluthet; es gehörte nur eine so ausdauernd zähe, kernhaftkräftige Natur wie die seine dazu, nicht zu unterliegen, und obschon er beständig über körperliche Leiden zu klagen hatte, hielt er doch wunderbar aus, ließ aber auch die Freunde Einiges aushalten, indem er ihnen seine vielfachen Bedrängnisse häufig [156]mittheilte. Oft gab sein komischer Zorn Stoff zum Lachen, oft forderte er die Mithülfe der jungen Freunde für dies und das, und nie erschien der Augenblick, in welchem irgend einen der gebildeten jetzigen Bewohner des Kastells Doorwerth die Langeweile zu beschleichen vermocht hätte. So war der 22. September herbeigekommen, und die an diesem Tage geborenen Freunde feierten denselben im Bunde mit den befreundeten Seelen Windt und dessen Frau; Angés und die kleine Sophie saßen mit Ludwig und Leonardus beim heitern Mahle, und gern wurde auch des biedern Schiffskapitäns Richard Fluit gedacht und ihm und der »vergulden Rose« einige Becher geweiht. War es doch eine schöne Erinnerung an Fluit’s Geburtstag, der das innige Band der Freundschaft um die Herzen von Ludwig, Leonardus und Angés geknüpft hatte, und wohl werth, am günstigen und geeignetsten Tage sie zu erneuen. Die Verbundenen waren still glücklich; ihre Freude war keine lebhafte und laute, nur Frau Juliane Windt, des Schaumweins ungewohnt, trank sich ein heiteres Räuschchen; Windt selbst hatte den Kopf viel zu voll Gedanken und Geschäfte, Verdruß und Aerger, als daß er hätte die Empfindungen theilen können, welche seine jungen Freunde beseelten. Er nahm daher, nachdem er der Freundespflicht ein Genüge geleistet, und auf Aller Wohl, sein eignes, das er, wie er bemerkte, sehr brauchen könne, nicht ausgenommen, wacker mit angeklungen hatte, keinen Anstand, die fernere Unterhaltung mit dem zu würzen, was ihn beschäftigte und zum Theil bedrängte.
Dem Rentmeister Görlitz muß der Donner auf den Kopf fahren! Er will fort und er soll fort. Er ist ein ungetreuer Hund! Die gnädige Frau Reichsgräfin Excellenz sollen Alles wissen! Die macht mir aber den Kopf auch warm genug. Ich soll durchaus den Vergleich noch zu Stande bringen, der in Varel abgebrochen wurde! Pah! Möcht’ es ja von Herzen gern thun, kann ich denn? Wo ist der Erbherr? Wissen Sie es? Ich weiß es nicht. Ohnlängst war er in Amsterdam, dann im Haag, und wo nun? Wenn ich sicher wüßte, wo ich ihn träfe, ich reiste lieber heute als morgen zu ihm. Sein Agent in Varel, der Kammerrath Melchers, schreibt mir, daß er auf drei Briefe ohne Antwort gelassen sei, auch die gnädige Frau in Kniphausen weiß nicht, wo der Herr ist, und bestürmt Melchers mit Fragen. Sie soll immer leidend sein.
[157]Was sagen Sie, Herr Windt, leidend? fragte Ludwig mit schmerzlichem Gefühle.
Ich sage leidend. Herr Melchers schreibt es, da können wir nun leider Beide nicht helfen, Herr Graf! Nur wenn der Erbherr da wäre, wäre uns vielleicht geholfen. Von Einigen hörte ich, er sei bei der Armee, von Andern, er wolle seine Schwester nach Hamburg zur gnädigen alten Excellenz bringen, wieder von Andern, er wolle seine Gemahlin und deren Kinder, nebst der Frau Schwiegermutter, die jetzt bei ihr ist, mit der Staaten-Jacht auch nach Hamburg bringen und schwärme seiner Gewohnheit nach zu Wasser herum, und ich sitze hier und lauere, und möchte rasend werden, und er gab mir doch sein gräfliches Wort, binnen vierzehn Tagen hierher zu kommen. Es muß ihm etwas ganz Außerordentliches begegnet sein. Hab’ ihm tüchtig und derb geschrieben, was hilft es aber, wenn mein Brief herumwandert wie der ewige Jude, und ihn nirgend findet? Und Gott allein weiß, wie ich hier, gesetzt der Erbherr käme endlich, mit ihm unterhandeln werde!
Die Reihe dieser Erörterungen würde noch ungleich länger gedauert haben, wenn nicht Philipp mit der verschlossenen Brieftasche eingetreten wäre.
Du bliebst heute sehr lange aus, sprach Ludwig zu seinem Diener.
Halten der gnädige Herr zu Gnaden, antwortete der Briefboote: ich mußte lange auf der Post warten. Die Posten sind ungewöhnlich spät eingetroffen; es muß überhaupt was los sein drüben in Arnhem, die Leute rennen mit den Köpfen aneinander und durcheinander, wie ein Ameisenhaufen, habe es nicht klein bekommen können, was es gibt, außer, daß man will in der Ferne kanoniren gehört haben, denn wenn ich mein Maul aufthue und frage, so versteht mich Niemand, und wenn Jemand mir antwortet, so verstehe ich auch Niemand, es ist ein dummes Volk hier zu Lande, ich dächte doch, ich spräche so gutes Deutsch, daß man mich verstehen könnte!
Alle lachten. – Ja ja, mein guter Philipp, du sollst nächstens bei den Niederländern in Arnhem Sprachlehrer werden; dein Deutsch klingt ganz so rein und schön, wie unser Helgoländisch, das wir in Paris sprachen, als du den »Ueppasser« in die Seine warfst, scherzte [158]Ludwig. Komm Bursche und trinke! Es ist heute unser Geburtstag. – Wenn der Kerl nur verdronken wäre! fügte Philipp mit vollem Ernst hinzu. Auf des gnädigen Herren gutes Wohlsein!
Windt erschloß die Brieftasche; sie enthielt der Briefe viele. Mit Freude im Blick rief er aus: Ah! Gott sei Dank, ein Brief vom gnädigen Erbherrn! Hier einer von der alten Excellenz aus Hamburg; hier einer an Sie, Dame Angés aus Zweibrücken; hier einer an Sie, Herr Leonardus van der Valck; halt, noch einer, auch an Sie! Nun, möge es allseits eine gute Festbescheerung geben! – Mit sehr verschiedenen Gefühlen im Herzen der Empfänger wurden diese verschiedenen Briefe entgegengenommen. Welch eigenthümliches Hereintreten der Außenwelt in den Menschenkreis, der dieses einsame Schloß belebte! – Windt erbrach hastig den Brief des Erbherrn, in ihm lag ein Brief an Ludwig beigeschlossen. – Ich war schon gefaßt darauf, leer auszugehen, wie so oft, sprach dieser. Was kann der Vetter mir zu schreiben haben?
Windt las den Brief des Erbherrn laut vor. »Im Haag, den und den. Ich habe Ihre beiden Briefe wohl empfangen, mein liebster Windt, aber da ich zur Zeit ihres Einganges weder in Amsterdam noch im Haag war, sondern in dringenden Geschäften anderswo, so habe ich Ihnen nicht früher antworten können, was mir leid thut. Ich hoffe zu Ende nächster Woche von hier nach Doorwerth reisen zu können; ich kann unmöglich früher; ich habe auch, hoffe ich, das nöthige Geld gefunden. Gebe der Himmel, daß dies Geschäft bald endige, denn mein Kopf geht mit mir um; es ist in diesen Zeiten so drangvoll, daß ich fast nicht weiß, wo anfangen und wie alles Begonnene vollenden. Adieu mein Bester! Leben Sie wohl.
Wilhelm Gustav Friedrich.«
Mit Hast erbrach Windt nun das Schreiben der Reichsgräfin. Ach, rief er aus, halb lachend, halb ärgerlich: der hochgnädig ertheilte Urlaub für mich zur Brunnenkur in Pyrmont, um den ich vor sechs Wochen gebeten! Was hilft er mich nun, wo die Gefahr mit jedem Tage uns näher rückt? Gott weiß, wie sehr ich dieser Cur bedürfte, aber kann ich jetzt fort, darf ich fort? Von Amsterdam die schlechtesten Nachrichten, wo es so steht, daß man dort weniger die Franzosen fürchtet, als die Patrioten; schöne Patrioten das, die den Pöbel auf ihre Seite gelockt haben – so machen es die Hunde von [159]Aufwieglern überall und dann nennen sie sich Patrioten! Und wir hier? Vom Rheine her die anrückenden Armeen der Coalition, von Frankreich her die Carmagnolen, vom Norden her die holländische Armee unter Anführung des Erbprinzen von Oranien, und außerdem noch die Engländer unter dem Herzog von York, und da sollte ich von hier fortgehen? Ein schlechter Soldat, der seine Fahne verläßt, Doorwerth ist meine Fahne! Ich bin Kommandant des Kastells; es ist meiner Obhut anvertraut, ich werde es hüten und halten!
Sie sind stets der ehrenfeste treue Mann, auf den man sich verlassen kann in Noth und Gefahr, lieber Windt! belobte ihn Graf Ludwig und fragte: Doch was schreibt Ihnen die Frau Großmutter weiter?
Windt durchflog murmelnd die Zeilen und begleitete das, was er daraus mittheilte, mit Glossen. Klagt über Kranksein, andere Leute sind auch krank! Sehnt sich in ein Bad – soll doch hingehen, sie hält kein Feind ab, und kein Kriegstrouble wie mich; die Veränderung wird der bejahrten Dame wohler thun und besser bekommen, als alle Recepte und Mittel des Doctor Reimarus, welcher der Leibarzt Ihrer Excellenz in Hamburg ist. Räth mir das Archiv einpacken zu lassen – ist bereits geschehen – gibt einen fürchterlichen Ballast Papier – will nicht glauben, wie es hier aussieht – sollte nur selbst kommen!
Dem Vetter schrieb der Erbherr in einigen flüchtigen Zeilen, daß er ihn noch in Doorwerth zu treffen wünsche, daß er sich aber vorbereiten möge, dann mit ihm zur Armee zu gehen, es sei ihm eine Offizierstelle beim Regiment Orange-Geldern ausgemacht; der Erbprinz wünsche, daß Graf Ludwig in so bewegter Zeit nicht müßig seine Jugend verträume, sondern vielmehr eine Laufbahn einschlage, die zu Ruhm und hoher Stellung im Leben führen könne, und er, der Erbherr, könne diesem Wunsche und dieser Ansicht nur beipflichten.
Leonardus und Angés lasen still die Briefe, welche sie empfangen hatten; Wehmuthsschatten überflogen Angés’ schöne Züge und voll Theilnahme blickten endlich alle zunächst auf sie, Leonardus mit einem verhaltenen Freude-Gefühl, Ludwig mit seelenvollster Zuneigung, Windt mit reinem und gütigem Wohlwollen, und Frau Juliane Windt auch mit Wohlwollen, dem aber ein Zusatz von weiblicher Neugier beigemischt war, daher sie auch zuerst wieder das Wort mit der Frage nahm: Hoffentlich empfingen Sie gute Nachrichten, verehrte Madame?
[160]Angés war nicht geneigt, ausführliche Mittheilungen aus ihrem Briefe zu machen, sie beschränkte sich daher auf eine höflich ausweichende, allgemeine Antwort, während Windt mit dem Finger gegen seine Frau hindrohend nichts sagte, als: Jule! Hat schon wieder die Mühle kein Korn mehr zu mahlen? Muß schon wieder aufgeschüttet werden? Ich dächte doch, es wäre genug aufgeschüttet worden? – Aber als die durch den Bund einer lauteren und seeleninnigen Freundschaft eng Verbundenen unter sich beisammen waren, da wurde gegenseitig Alles mitgetheilt, was von weiter Ferne her in Schriftzeilen vor ihr Auge gekommen war, und mit allseitiger Theilnahme nicht nur, sondern auch mit mannigfaltiger Empfindung vernommen.
Meine Mutter schreibt mir, sprach Angés, daß sie Gott auf den Knieen gedankt habe, wieder Nachricht von mir zu erhalten. Von le Mans aus seien nur Schilderungen voll Härte und Roheit und Verdammungsurtheile eingegangen.
Berthelmy war außer sich, als er, heimkehrend, uns, mich und Sophie, nicht mehr fand. Voll Wuth, wie voll Reue hat er mich überall gesucht und suchen lassen; an Leonardus hat er nicht gedacht er konnte an dich, mein Freund, nicht denken, da er deine Anwesenheit in le Mans nicht ahnen konnte. Zuletzt mußte er sich doch sagen, daß sein rohes Benehmen mich fortgetrieben hatte, und da vielleicht doch noch einige Liebe zu mir in ihm lebte, trotz aller Mißhandlung, die er mir hatte angedeihen lassen, so mag es wohl sein, daß er sich Vorwürfe machte und sich doppelt elend fühlte. Er ist noch im Herbst des vorigen Jahres zur Armee der Vendéer gegangen.
Meiner Rückkehr in die Heimath, in die Arme meiner Familie, schreibt mir die Mutter, stehe nichts entgegen, und meine Ankunft werde der Familie ein Freudenfest sein. Noch schreibt meine Mutter: Auch für die kleine Sophie, deren du dich so mütterlich angenommen, liebe Angés, lichtet sich die Zukunft. Der Prinz tritt offener hervor mit seiner Liebe, die Prinzessin, vor Gott längst seine Gemahlin, wird es gewiß auch noch vor der Welt, und jene liebliche süße Frucht dieser Liebe, aus einer Zeit, wo noch das allertiefste Geheimniß sie umschleiern mußte, darf hoffen, einst an der Hand erhabener Eltern auf sanftgebahnten Wegen durch das Erdenleben zu wallen. Jene heißschlagenden, jugendlichen, feurigen Herzen, die nur ihrer eigenen [161]Stimme folgten, brauchen dann nicht mehr zu erröthen, fehlt es ihnen doch nicht an Vorbildern in der eigenen Familie. Dir ist bekannt, liebe Angés, daß des Prinzen Vater schon eine Prinzessin, seine nachherige Gemahlin, welche älter war als er, feurig liebte, und in früher Jugend Vaterfreuden sich erblühen sah. Der gleiche Fall trat bei dem Sohne ein, dem Kinde dieser flammenden und daher auch früh verrauchten und verzehrten Leidenschaft und wenn wir Louise Maria Therese Bathilde nicht verdammen, so dürfen wir auch Charlotten nicht richten, welche, hingerissen von der Liebe eines jugendlichen Helden zu ihr und von ihrer heißen Erwiderung dieser Liebe, willenlos der Macht beiderseitiger Leidenschaft folgte und die Mutter des herrlichen Kindes wurde, zu dessen Pflege und Ueberwachung wir uns Beide geweiht haben mit heiligem Eide. Daß du es mit dir hinwegnahmst, nachdem es nur kurze Zeit bei uns verborgen gehalten worden, war sehr gut; Niemand ahnete etwas und konnte etwas ahnen. Jetzt, wenn du wiederkehrst, gilt die kleine Sophie Charlotte als dein Kind, das Kind einer Wittwe oder einer von ihrem Gatten treulos verlassenen Frau. Habe nur Acht, liebe Tochter, bei Allem, was dir heilig und theuer ist, beschwöre ich dich, alle mögliche Sorgfalt anzuwenden, daß das Kind an Leib und Seele wohl erhalten bleibe, und gib mir sobald als möglich Nachricht von deiner Ankunft, auf welche mit aller Macht sehnsuchtvoller Liebe hofft deine treue Mutter.«
Hätte es noch irgend eines äußeren Umstandes bedurft, um Leonardus und Ludwig zu überzeugen, daß Sophie nicht das Kind von Angés sei, so würde dieser Brief jedes desfallsige Zeugniß zur Genüge vertreten haben. Verwundert aber rief Ludwig aus: Wie merkwürdig! Also Sophie Charlotte heißt diese Kleine? Gerade wie meine Großmutter!
Jetzt entfaltete auch Leonardus seine Briefe, um Angés und dem Freund aus denselben Mittheilungen zu machen, indem er sprach: Ich habe frohe und schlimme Botschaft zugleich erhalten; zunächst schreibt mir mein Vetter, der Kaplan Vincentius Martinus van der Valck, daß mein Vater Wort gehalten und mich vor Notar und Zeugen so zu sagen enterbte, indem er mich auf die bloße Hälfte des Pflichttheiles gesetzt hat.
[162]Leonardus! rief Angés, und schlug bebend ihre Hände zusammen. Und das um meinetwillen? Das ertrage ich nicht!
Sei ruhig, liebe Angés, erwiederte Leonardus: es muß und es wird sich wohl auch ertragen lassen. Ich kann mir selbst Geld erwerben, auf den Summen der holländisch-ostindischen Compagnie ruhen ohnedies die Flüche der geknechteten Menschheit und entsetzlichen Unrechts millionenfach. Noch leben Vater und Mutter, und der Sinn der Menschen ist veränderlich. Vor der Hand meldet noch mein Vetter, daß mein Vater nicht zu seinen und unserer jungen Muhmen Gunsten testiren wolle, sondern es solle ein Theil des Vermögens an die Seitenverwandten fallen, welche zu Bochum in Westphalen wohnen; an einen Hermann Heinrich van der Valck, der aus Holland nach Deutschland übersiedelte, so viel ich weiß, eine Tochter des Namens Aloysia hat, und dessen Vorfahren mit den unsern der Sage nach, die ganze Grafschaft Valkenburg zwischen dem Hochstift Lüttich und den Herzogthümern Jülich und Limburg besessen haben sollen. – Doch das werde, wie es wolle, mir soll darüber kein graues Haar wachsen; aber nun, liebste, theuerste Angés, höre was das Handelshaus in le Mans, an das ich mit Aufträgen mich gewendet, mir schreibt, höre es, und freue dich! Es ist das mein schönstes Angebinde zum heutigen Tage: Du bist frei! »Auf Ihr Geehrtes«, so schreiben meine Handelsfreunde: »ermangelten wir nicht, sorgfältige Erkundigung nach dem hier wohlbekannten Kaufmann Etienne Berthelmy einzuziehen. Derselbe führte als Hauptmann eine Compagnie, mit welcher er zur Armee der West-Vendée unter Charette stieß, und soll sicherem Vernehmen nach bereits am 11. October des vorigen Jahres bei der Erstürmung und Eroberung der Insel Noirmoutier geblieben sein, zum Mindesten soll sein Name auf der Todtenliste gestanden haben. Sein bejahrter Vater ist mittlerweile auch gestorben, und seine betagte Mutter lebt noch unter betrübten Umständen und nährt sich von einem kleinen Kramladen, dem alleinigen Ueberbleibsel ihres einst blühenden Geschäftes.«
Angés saß stumm und ernst da, und hörte diesen Bericht mit einer Fülle von Gedanken an, die sie erschütterte, endlich reichte sie jedem der beiden Freunde eine ihrer zarten Hände, und sprach: So fällt denn ein dunkler Vorhang nieder und schließt einen, ach und [163]wohl den traurigsten der Acte meines Lebensdrama’s mit dem Bilde eines Sarges, wie ein Traum ist es mir, mich frei zu denken, mich frei zu fühlen, und so wichtig ist diese Nachricht, daß ich mich nicht mit derselben begnügen kann: ich kann auf sie nicht bauen und keinen Schritt der Entscheidung thun, bevor ich nicht die verbürgteste Bestätigung dieser Nachricht in Händen habe; aber, meine lieben, theuern Freunde, erfüllt mir eine Bitte: laßt mich scheiden! Meine Mutter verlangt nach mir, ihrem Kinde, und hier dieses holde und liebe, mir anvertraute Kind, unser Sophiechen, schon in zuviel Gefahren brachte ich’s, ich will es der Heimath wieder zuführen, der es entstammt, ihm will ich dort leben, und deine That, Leonardus, deine Liebe will ich ewig dankbar segnen, deiner Freundschaft, Ludwig, will ich innig eingedenkt bleiben! Wir müssen uns trennen. Du, Leonardus, mußt zu deinem Vater zurückkehren als ein reumüthiger Sohn und seine Verzeihung erflehen. Er wird dir verzeihen, und du wirst noch glücklich sein. Du, Ludwig, wirst auf dem Felde der Ehre wandeln und eine selbstständige hohe Stellung dir erringen, die dich völlig unabhängig macht von deinen Verwandten.
Liebe Angés, nahm Leonardus das Wort: deine Entschlüsse sind ehrenhaft, und was du sagst, ist gut, aber es ist nicht ausführbar, du kannst jetzt nicht reisen. Alle Lande am Nieder-, Mittel- und Oberrhein wimmeln von Truppen. Thue keinen Schritt, der dich reuen könnte, aber folge in Einem deiner Mutter, achte auf das anvertraute Kind; setze nicht dieses zarte Leben auf das Spiel, um mit nicht ganz reiflich überlegten Entschlüssen durchzudringen. – Auch ich muß Leonardus beistimmen, setzte Ludwig hinzu. Hier bist du sicher und wohlgeborgen mit deinem Kinde, Angés, und reichte das Schloß nicht aus, so gibt es in dem nahen Busch voll Moorbrüche einzelne Hütten und Häuser genug, zu denen kein Krieger zu dringen vermag und die Pfade findet; laß erst die herrannahende Wolke des Kriegsgewitters vorüberziehen, ja, wenn es sein muß, vorüberbrausen, weiche nicht aus diesem Asyle, es wird sich dir nirgend ein sichereres bieten und öffnen.
Das Gespräch wurde unterbrochen; Windt klopfte stark an, und trat erhitzt ein. Hören Sie es, meine Herrschaften? war seine Frage, und da man nicht zu verstehen schien, was er wolle, so ließ er die Zimmerthüre [164]offen stehen und machte eine Geberde, die zum Horchen und Lauschen aufforderte. Und kaum war dieser Aufforderung genügt, so hörten Alle in bestimmten Zwischenräumen einen dumpfen Schall.
Was ist es, lieber Herr Windt?
Freudenschüsse sind es wahrscheinlich, zu beiderseitiger hoher Geburtstagfeier! Eine Kanonade ist es, meine Verehrtesten, und jetzt entsteht die Frage: Was thun? Feiglinge würden rufen: Rette sich wer kann! Ich rufe: Ausharren und treu bleiben! Für mich ist das keine Frage. Halten Sie sich bereit, meine Herren, mich zu unterstützen! Der Augenblick wird kritisch, sehr kritisch, doch nur keine Furcht. Das hiesige Archiv fährt, in einige fünfzig Kisten verpackt, nach Arnhem; alle Papiere des gräflichen Hauses, der Lehn- und Rentenkammer, ich stelle sie unter den Schutz des dortigen Magistrates. So wie eine Abtheilung der holländischen oder der englischen Armee sich nähert, werden Sie, Herr Graf, zu deren Befehlshaber zu reiten so gütig sein, und um Schutzwachen für Doorwerth, Helsum, Rosendael und Wolfsheese bitten. Es geht bereits ganz lustig und kunterbund zu, die Wege sind mit Flüchtlingen aus Brabant bedeckt, Adelige, Geistliche und sonst vornehme Leute, in Arnhem sind schon Flüchtlinge aus Mastricht angelangt. Dort packt Alles ein und hat sich schrecklich beezig[10] und consternirt. Die Stadt wird stark befestigt. Etwas Neues ist auch noch, daß der Graf Johann Carl schon einige Male durch Helsum gekommen ist, ohne hier vorzusprechen. In Rheenen, wo wir ja ohnlängst durchkamen, soll das englische Lazareth hingelegt werden. Im Haag sogar, vernahm ich heute, wird eingepackt, leider ist die prinzliche Partei die einpackende. Doch zu den schlimmen Nachrichten nun auch eine gute, erfreuliche. Robespierre ist todt, das blutige Scheusal; mit ihm fielen eine ganze Anzahl seiner schändlichen Helfershelfer, unter ihnen der elende Schuster Simon, der Quäler des Dauphins, dem Racheschwert der unausbleiblichen Vergeltung anheim. Wäre Zeit, sich der Freude zu überlassen, so wollt’ ich’s im vollen Maaße thun. Sie räumen hübsch auf, die Herren Franzosen, einundzwanzig Henkersknechte sind zugleich mit ihrem Meister zur Hölle gefahren, und am [165]Tage darauf einundsiebenzig. Die Zeit ist endlich da, wo die Drachenzähnesaat aufgeht und sich selbst erwürgt. –
[10] Rührig.
Es kamen schlimme Tage für den treuen Windt, die seine Geduld, seinen Muth und seine Ausdauer im Beschützen des Besitzthums seiner Gebieterin auf harte Proben stellten. Ein Theil der englischen Armee überfluthete bereits die Gegenden von Arnhem bis Deventer und die Rhein- und Ysselufer, und wie es immer zu geschehen pflegt, wenn die Furien des Krieges entfesselt sind, die Engländer benahmen sich nicht, wie Hollands Verbündete, sie nahmen blos, und zwar Alles was sie fanden und stahlen wie die Raben. In allen Ortschaften wurde verkündigt und öffentlich angeschlagen, Niemand solle über die politischen Ereignisse reden oder schreiben; alle Boote, Kähne und dergleichen Fahrzeuge mußten nach Arnhem eingeliefert werden und Niemand durfte zur Abend- oder Nachtzeit über den Rhein. Man trug sich mit Listen der Gutsbesitzer und Schlösser, welche geplündert, oder Herrlichkeiten, welche zerstört werden sollten. Doorwerth hatte die Ehre, oben anzustehen, Helsum, Mariendael und Rosendael, drei gräfliche Besitzungen, folgten zunächst. Die Herrlichkeit Rosendael (sprich Rosendahl), mit prächtigem Schloß und prangenden Ziergärten, liegt nahe bei Arnhem. Wer irgend ein werthes Besitzthum zu bergen hatte, der suchte es zu bergen und floh in nördlicher Richtung aus dem neuen Schauplatz des Kriegs; Arnhem, Doesburg, Zuitphen wurden leer von Wohlhabenden, das Gesindel blieb und plünderte auf eigene Hand und auf Rechnung der Soldaten.
Und mitten in diese Bedrängniß hinein kamen zu Windt drängende Briefe von der alten Reichsgräfin wie Bomben geflogen, oft ungehaltenen und ungnädigen Inhalts; der ins Stocken gekommene Vergleich sollte endlich abgeschlossen, der Erbherr zu einer Entscheidung gedrängt werden, er sollte Doorwerth käuflich übernehmen und einen Theil der Kaufsumme gleich baar erlegen. Windt, oft ernstlich krank, mußte fast täglich Briefe nach allen Richtungen schreiben; mittlerweile flüchteten sich zahlreiche Bekannte mit ihrer Habe aus der nächstbedrohten Nachbarschaft zu ihm und hofften in dem Kastell Aufnahme und Schutz zu finden. Dabei begannen schon Krankheiten auszubrechen und die Theurung der Lebensmittel stieg auf eine bedenkliche Höhe. Jeden Tag, ja stündlich hatte Windt seinen Freunden Neues mitzutheilen, [166]Ludwig und Leonardus bildeten gleichsam mit ihm den Kriegsrath im Kastell; alle drei trugen aus guten Gründen militärische Uniformen und ebenso steckte die Dienerschaft in Jäger-Monturen. Nebenausgänge aus dem Kastell waren verrammelt, das Hauptthor bewacht, die Zugbrücke aufgezogen. Dieser Widerstand sollte nicht gegen kriegerischen Angriff gelten, sondern blos Schutz gewähren gegen Raubrotten, und den leistete das so bewehrte und bewachte Kastell Doorwerth trefflich. Es war ein ungleich besserer strategischer Punkt, als die kleine, unbedeutende und halb verfallene Dunenschanze, die in des Schlosses nächster Nähe nach dem Strome zu lag. – Wieder war ein Tag voll Unruhe angebrochen, Windt hatte den treulosen Rentmeister entlassen und seiner Pflicht entbunden, und hatte einen Brief vom Hofrath Brünings aus Varel erhalten, wo auch kein schönes Wetter war. Brünings äußerte sich halb ironisch, voll Hoffnung, daß das »große Werk« nun wohl bald zu Stande kommen werde und schrieb: »Man hört hier von Holland, in Ansehung der inneren Unruhe, viele düstere Gerüchte. Gott gebe, daß sie ohne Grund sind. Hier nimmt der Geist des Jakobinismus noch gar nicht ab. Die reichen Bauern wollen keine Steuern mehr zahlen, die armen können nicht, unsere herrschaftlichen Kassen sind leer.«
Und was in unseren hiesigen liegt, ist auch kein Gold und kein Silber, seufzte Windt. Und jetzt nun soll Doorwerth verkauft werden! Es ist unsinnig. Aber hab’ ich’s nicht schon vor vier, vor drei und zwei Jahren voraus gesagt, daß man warten und zögern werde, bis die politischen Angelegenheiten Alles verderben und aufs Spiel setzen würden? Siehe, da ist’s handgreiflich wahr geworden. Und dem Erbherrn, welcher kommen und Geld mitbringen wollte, geht es wie mir, er ist krank vor Sorge und Anstrengung. Er hat sein Leben daran gesetzt, ein neues Corps zu errichten. Er nimmt sich mit dem edelmüthigsten und tapfersten Sinne der Landesangelegenheiten auf das Aeußerste an und soll ganz elend aussehen. Alle Geldmittel, deren er hat habhaft werden können, hat er seinen patriotischen Zwecken geopfert, und wo sollte er nun Geld für Doorwerth hernehmen? Keiner borgt jetzt dem Andern einen Deut. Die Zeit ist aus ihren Fugen gekommen, sagt Hamlet. Die so schleunige Wendung der Dinge macht es dem Erbherrn unmöglich, Geld zu schaffen, selbst wenn er Zeit hätte, [167]sich danach umzuthun, er hat alle Hände voll mit seinem neuen Landrattencorps zu thun, wie ich erfahren habe; sein Cabinet und Zimmer liegen voll Monturen, Hüte, Schuhe, Gewehre, und Alles läuft Tag und Nacht bei ihm um, wie sein eigener Kopf. Wie ich mit ihm fahren werde, weiß Gott! Jetzt sind die Zinsen von der Herrlichkeit Rosendael fällig, die verpachtet ist – kein Deut zu haben, und ich soll tausend Gulden Schatzung von den gräflichen Häusern nach Arnhem liefern. Alles Unheil schlägt zusammen, wie der Donner in die Töpfe!
Mitten in die endlosen Klagen des redlichen Intendanten leuchtete ein Strahl der Freude; unverhofft kam der Erbherr an, geleitet von einer Reiterabtheilung, und sah sich freudig begrüßt; doch konnte sich Windt nicht enthalten, als er jenen von Weitem erblickte, auszurufen: Gott wie sieht unser Herr aus? Wie ein Busch verhagelter Petersilie!
Der Erbherr, allerdings sehr angegriffen und mitgenommen aussehend, saß bald im vertrauten Gespräch mit Windt; es handelte sich um die verwickelte Angelegenheit, der beste Wille war da, aber Geld fehlte und neue Schwierigkeiten thürmten sich entgegen. Windt erhob das große wichtige Bedenken, ob es besser sei, daß Doorwerth bei einem doch immer möglichen Ueberzug dieser Gegend durch die französische Armee Eigenthum eines feindlichen Offiziers sei, Mitgliedes der holländischen Ritterschaft und Oberamtmannes im Haag; oder Eigenthum einer jetzt in der freien Stadt Hamburg lebenden Gräfin, die dem neutralen dänischen Reiche angehöre?
Da thäte es Noth, lieber Windt, warf der Erbherr ein, das dänische Grafendiplom aus dem Kniphäuser Archiv, wo nicht gar aus Kopenhagen erst hierher kommen zu lassen – ehe das kommt, steht hier kein Stein mehr auf dem andern!
Mit nichten, gnädigster Erbherr, entgegnete Windt. Hier ist es schon in bester Form und beglaubigter Abschrift auf einem Stempelbogen, der »Een Rigsdaler« gekostet hat. Nos Christianus quintus his literis patentibus und so weiter, beglaubigt, unterschrieben und untersiegelt mit dem Kongelige Danske Cancellier Seigl.
Was Sie für ein Diplomat sind, Herr Windt! Fürwahr, ich bewundere [168]Sie immer mehr! rief der Erbherr. Ich will Sie der geliebten Großmama nicht abwendig machen, aber sollte sie die Augen zuthun, so daß ich es erlebe, so ernenne ich Sie zu meinem Rath, Ihre Treue und Umsicht verdient noch mehr!
Windt verneigte sich und erwiederte: Wollte Gott, es wäre Zeit zu scherzen, mein gnädigster Herr Graf! Der Frau Reichsgräfin Excellenz helfen jetzt weder deutsche noch dänische Grafendiplome, und wenn Karl der Große sie ausgestellt hätte, statt Karl der Fünfte von Dänemark. Holländische Ducaten sind die Losung, das ist die vis unita nicht nur, es ist auch die vis unica, nicht die einige blos, sondern die alleinige mächtige Hülfe. Alle Einkünfte stocken; hier ist nichts, Rosendael liefert nichts, Varel liefert auch nichts – und die gnädige Frau Großmutter Excellenz –
Braucht Geld, und zwar viel, wie immer, ergänzte der Erbherr. Ich hatte Hoffnung, aber sie schwand wieder, denn keiner meiner Vettern und auch mein eigener Bruder in Utrecht, von dem ich so eben komme, kann oder will Etwas beisteuern, ja mein Bruder Johann Carl sagte mir geradezu in das Gesicht: »Wenn, wie zu fürchten steht, der Feind in das Land kommt, so gebe ich für dein eigenes Leben keinen Heller, geschweige für deine Güter; denn mit aller Herrlichkeit der Herrlichkeiten wird es dann ein schnelles Ende nehmen. Man verlangt jetzt hier in Utrecht bei Anleihen den drei- bis vierfachen Werth des Kapitals als Hypothek und in was? In alten holländischen Obligationen.« Wer aber solche besitzt, braucht nicht zu borgen. Mein bester Freund, Baron Grovesteins, der mir früher zehntausend Gulden angeboten hatte, sagte mir, daß er mir jetzt nicht einhundert Gulden leihen würde, und wenn er das Geld in Haufen liegen habe und mit Schepeln messen könne. Es sind einhundert Gulden baar nicht zu bekommen, und wenn man eintausend dafür verschreiben wollte!
Während dieses Gespräches hatte auch Leonardus mit Ludwig eine lange und ernste Unterredung, in welcher der Erstere dem Freunde die ganze Fülle seines offenen und redlichen Charakters erschloß und zugleich den Blick auf ihre beiderseitige Zukunft lenkte.
Folge du, mein Ludwig, sprach Leonardus, jetzt dem an dich ergangenen Winke, nimm den Kriegsdienst an, der dir ehrenvolle Lebensstellung [169]sichert, und folge meinem wohlüberlegten und brüderlichen Plane. Unterdeß wirke ich, und wir werden von einander hören. Angés muß mein werden, wenn Gott mir das Leben fristet; wäre Letzteres nicht, so bleibe sie in deinen edeln Schutz gestellt, und dann erfülle die Verpflichtung, die mein Vertrauen dir auferlegt, die deine Liebe mir zugesichert. Sieh, dann bringst du mir ein ungleich höheres und dankenswürdigeres Opfer, als ich dir, indem ich beizutragen suche, deine Stellung im Leben einigermaßen zu sichern. Und nun kein Wort weiter! Der Bruderbund ist aufs Neue geschlossen, und dieser Kuß besiegle ihn.
Wenn nun Euer Gnaden, sprach Windt weiter zum Erbherrn, sich an den Herzog von Portland wendeten? Könnte und würde dieser nicht –?
Hab’ es gethan, lieber Windt, hab’ es gethan! antwortete der Erbherr bekümmert: mein Vetter, der Vice-Admiral, schrieb selbst den Brief, da ich mich nicht blos geben wollte. Die Antwort kam schnell genug zurück, denn pünktlich sind diese Engländer und rechnen, ah, sie rechnen, auch wenn sie in der Pairskammer sitzen. Der Herzog schrieb an seinen Verwandten und Namensvetter William: Es sei ein recht artiger Einfall von mir, daß ich fünftausend Pfund Sterling von ihm leihen wolle, und er müsse nur bedauern, meine Artigkeit und mein Vertrauen nicht in gleichem Maaße erwiedern zu können.
Da stand nun Windt rathlos und sah abermals all’ sein treues Bemühen zu nichte gemacht, und der Erbherr schaute finster drein und schwieg.
Diese peinliche Pause unterbrach der Eintritt Ludwig’s.
Störe ich? fragte er, und machte Mienen, sich zurückzuziehen.
Bleibe immerhin, Vetter! rief der Erbherr. Unser Geschäft ist zu Ende.
Darf ich dir Glück wünschen zu Doorwerth? fragte der junge Graf.
Leider nein! erwiederte der Erbherr kurz und mit Achselzucken.
Woran fehlt es, daß der Kauf nicht zu Stande kommt?
Hm – am Besten, am Geld! erwiederte Windt verdrießlich.
Doorwerth ist dein, Vetter! rief Ludwig mit blitzenden Augen. Jene starrten ihn an.
[170]Es ist dein, ich kaufe es für dich, ich leihe dir das Geld! Hier sind einstweilen fünfzigtausend Gulden in englischen Banknoten!
Vetter! Vetter! rief der Erbherr außer sich, und die so plötzlich nahe tretende Erfüllung eines seit Jahren gehegten Lieblingswunsches erfüllte seine Seele mit hohem Entzücken.
Die Flüchtlinge.
Motto:
Schiller.
Anders sah es aus in der Herrlichkeit Doorwerth, aber nicht besser. Die Gefahr wuchs von Stunde zu Stunde. Die Engländer, welche Windt nie anders als »saubere Alliirte« nannte, drohten ein Lazareth in das Kastell zu legen. Fort und fort hörte man in der Ferne kanoniren, sah den feurigen Flug der Bomben und die Flammen in Brand geschossener Magazine. Der Herzog von York that mit seiner Armee sein Möglichstes, um Holland zu decken, aber von den Zinnen und Warten des Kastells erblickte man täglich ganze Säulen flüchtender Soldaten, welche die Wege nordwärts einschlugen. Die Nachrichten vom Kriegsschauplatze jagten einander bald verbürgt, bald unverbürgt. Grevecoeur, der Schlüssel zu dem Bosch (Herzogenbusch) ist über, hieß es; dann sollte der Bosch auch über sein; dann wurde die Nachricht wiederrufen, unter dem fernher vernehmlichen Donner des gröbsten Geschützes. »Die Carmagnolen haben fünf Brücken über die Maas geschlagen – die Menge und Tapferkeit der Franken macht jeden Widerstand unmöglich, was flüchten kann aus Städten und Orten, das flüchtet – die Franken sind nahe vor Nymwegen – in die Werke von Nymwegen haben sich sechstausend Engländer geworfen – die zurückgedrängte englische Armee will sich wieder bei Gorkum setzen – die in großer Zahl ausgewichenen Bataver haben ein Comité gebildet, und durch dasselbe mit der französischen Republik über Vertragsbedingungen unterhandelt – die Franken sollen die Städte der neuen batavischen Republik mit Truppen besetzen – die Regierungsform soll provisionell bleiben, wie sie ist – die entlassenen Beamten sollen wieder [174]in ihre Stellen einrücken – die Geflüchteten sollen zurückkehren – Holland soll die französische Republik anerkennen, soll sein Bündniß mit England brechen, sich mit Frankreich verbinden und an England, Preußen und Oesterreich den Krieg erklären – des Statthalters und seiner Partei soll in keiner Weise mehr gedacht werden.« – So drängten sich und wirrten die Nachrichten durcheinander, als schon der October herbeigekommen war.
Ludwig und Leonardus waren als Führer in das berittene Corps eingetreten, das der Erbherr errichtet hatte; Angés mit dem Kinde blieb in Windt’s Schutz gestellt in Doorwerth, und für Frau Windt war es ein großer Trost, eine weibliche Seele als Freundin zur Seite zu haben, die ihr manchen Beistand leistete.
Windt bot Alles auf, mehr und mehr Lebensmittel in das Kastell zu schaffen, denn es kam ihm im Geiste vor, als wenn der bedrohliche Zustand sobald nicht enden werde. Man sah ihn häufig, von einem oder zwei Reitknechten begleitet, in seiner kleidsamen Offiziersuniform durch die Fluren und die nächstgelegenen Ortschaften reiten; Graf Ludwig hatte dem redlichen Freund seine Isabella geschenkt, halb aus Liebe zu Windt, halb aus Liebe zur Isabella, deren Leben er dadurch besser zu sichern hoffte, als wenn er das treue Pferd der Gefahr beim Heere aussetzte – und überall war Windt willkommen; seine Anordnungen wurden genau befolgt, die Bauern liebten ihn, weil er sie von dem Rentmeister befreit, der sie gedrückt und geschunden hatte, um sich zu bereichern, und weil Windt sie menschenfreundlich behandelte. Jeden Morgen fast saß Windt am Schreibpulte und schrieb Briefe an seine Herrin, oft in fliegender Hast und Hetze, Alles bunt durcheinander, aber sie wollte und mußte Alles wissen. Doorwerth und dessen guter Verkauf bildete jetzt einen Theil ihrer noch übrigen Lebenshoffnungen.
»Ich bin im Handgemenge mit den Engländern!« schrieb Windt unter Andern in seiner eigenthümlichen, raschen und keinerlei Umstände machenden Weise, die sein ganzes Wesen an Tag legte: »Gestern war ein hoher Offizier hier, um das Kastell mit Allem, was dazu gehört, für verwundete Offiziere in Besitz zu nehmen, so wie sie die Kirchen in Helsum, Renkum und Velp[11] für Kranke in Besitz genommen, [175]letztere liegt bereits voll davon, ebenso wie ganz Rosendael, wo ein Lager aufgeschlagen ist und alles Holzwerk, jung und alt, zerstört wird. Der Offizier war genau unterrichtet, wem die Herrlichkeit gehört, wie viele Einwohner sie zählt; der Bürgermeister von Wageningen, wo auch Alles voll liegt, hat ihn mir auf den Hals zu laden gesucht. Der Donner soll diesem Bürgermeister, den ich kenne, dafür auf den Kopf fahren! Sobald ich hinüber komme, will ich ihm sagen, was er wissen soll. Ich war gestern in der Stadt und sprach mehrere Engländer und balgte mich bis zum Säbelziehen mit ihnen herum. Wer meine Dispute mit den Engländern angehört hat, kann sich eine Vorstellung vom babylonischen Thurmbau machen, sie haben mich indessen besser verstanden, als ich mich selbst verstehe. In Arnhem hat man mich zum Bürgergardehauptmann gewählt. Gehorsamer Diener! Erst kommt Doorwerth und dann kommt es noch einmal, und dann kommt Arnhem noch lange nicht.«
[11] Renkum, niederländisch Renekom, Dorf zwischen Helsum und Wageningen; Velp, Dorf ohnweit Arnhem und Rosendael.
»Ihre Excellenz sind sehr besorgt um das hier befindliche Silber. Dies kann ich nicht eher bergen, als bis ich mich selbst bergen muß, denn es ist höchst gefährlich, Werthsachen wegzusenden und selbst zu bleiben; nichts wegzusenden und Vertrauen zu zeigen, ist das einzige Mittel, um sich bei den Carmagnolen in Achtung zu setzen; selbst von dem Meinigen sendete ich weder Kleider, noch Waffen fort. Geld habe ich ohnehin nicht fortzuschaffen, Geld gibt es nicht. Der schurkische Rentmeister hat die Renten bis Petri des nächsten Jahres voraus eingetrieben und mir nichts zurückgelassen, als für mehr als 1000 Gulden unbezahlter Rechnungen. Ich bin froh, dieses Ungeziefer los zu sein, die Bauern sind auch froh. Ohne Zweifel wird er sich Ihrer Excellenz in Hamburg vorzustellen frech genug sein, aber die geringste Höflichkeit, die ihm in Hochdero Hotel zu Theil wird, nehme ich für mich als die höchste Beleidigung. Wenn er kommt, lassen Ihre Excellenz ihn durch den Büttel aus den Thoren der Stadt bringen!«
»Was aus Doorwerth, was aus der ganzen Republik Holland werden will, weiß Gott allein! Ich bin ein gehetztes Wild, voll Angst und Trübsal, Mühe und Arbeit, Last und Hast, und Ihre Excellenz sind jetzt für ein wenig Silber besorgt, aber nicht für mich. Ich bitte meine arme Schwester, die ängstlich besorgt um mich ist, zu trösten. Es ist immer noch möglich, so gefährlich es auch aussieht, [176]daß wir diesseit des Rheines noch einige Zeit von den Franken befreit bleiben, obgleich General Pichegru darauf gewettet haben soll, den Winter in Nimwegen zuzubringen und seine Armee diesseits des Rheines Winterquartiere aufschlagen zu lassen.«
»Heute habe ich den holländischen General-Quartiermeister von hier aus bis auf den halben Weg nach Nimwegen gebracht, es sieht übel aus auf den Straßen, es ist eine bitterböse Zeit; wo man hin hört und sieht, vernimmt man nichts und hört man nichts, als von Raub und Plünderung, Mord und Brand, Krankheit und Theurung. Das Pfund Butter kostet in diesem so butterreichen Lande 1 Gulden.«
»Gestern ist die Frau Landgräfin zu Hessen-Philippsthal, Ulrike Eleonore, welche die Belagerung von Hertogenbosch treulich mit ihrem tapferen Gemahle ausgehalten, durch Arnhem gekommen. Sie wird mit dem Landgrafen nach Bückeburg gehen, zur gnädigen Frau Schwägerin, der trefflichen Fürstin Juliane.«
Diesen Brief konnte Windt erst Abends vollenden. Er schrieb: »Rundum uns her ist ein fürchterliches Getümmel; so eben komme ich, 7 Uhr Abends, aus einer Bataille mit Irländern zu Pferde nach Hause, die in Wolfsheese und längst der Doorwerth marodirten und ein Zetergeschrei unter dem armen Volke erregten. Ich jagte ihnen aber, unterstützt von meinen Leuten, ihre Beute wieder ab; allein es wird zu arg mit dem Rauben der sauberen Alliirten; Bauern, die ihre Habe vertheidigen, werden aufgehenkt und ihre Häuser werden in Brand gesteckt. Die Irländer namentlich haben stets Hunger wie die Pierrots in der Pantomime. Und wenn diese Feinde der Ordnung aus dem Lande sind, dann wird dasselbe Spiel von den Carmagnolen begonnen werden, wobei, wie eben auch in der Pantomime, höchst wahrscheinlich die Pierrots von den Harlekinen Prügel bekommen.«
»Ueberall ist der Teufel los; Gott lasse mich nur jetzt nicht krank werden, sonst ist hier Alles verloren! Fort und fort Kanonendonner auch jetzt, indem ich dies schreibe, in der Richtung nach Nimwegen hin. Vorgestern kam der Herzog von York nach Arnhem; Prinz Friedrich zu Hessen lag mit seinem Regiment in Rosendael und wohnte wahrscheinlich dem gestrigen Treffen bei. Ich ritt stracks nach Arnhem, um beim Herzoge Schutz zu suchen; er war aber nicht zu sprechen; gestern ritt ich wieder hinüber und war so glücklich, Sauvegarden für die [177]Ortschaften von ihm zu erhalten, es wäre auch sonst kein Einhalt mehr zu thun gewesen, und ich bin des Reitens und ewigen Brutalisirens bei Tag und Nacht müde; ich spüre in allen meinen Knochen einen Höllenschmerz.«
»Was den Kauf von Doorwerth betrifft, über den ich Ihrer Excellenz schon unterthänig berichtete, so waren der gnädige Erbherr und ich nicht weniger erstaunt, als Ihre Excellenz selbst es sind über das großmüthige und räthselhafte Anerbieten des jungen Herrn. Ich hielt es für Pflicht, diesen zu warnen, eine solche hohe Summe auf das Spiel zu setzen; selbst der Erbherr sträubte sich lebhaft gegen diesen Edelmuth, allein Graf Ludwig entgegnete: Dieses Geld wurde mir anvertraut zu beliebiger Verfügung; wie könnte ich es besser anlegen, als in einem werthvollen Grundstück, welches ich, da es doch einmal verwerthet werden soll, dadurch der Familie erhalte? Ich baue unbedingt auf meines Vetters Ehre und da wird ohne Zweifel dieses Geld in den besten Händen sein. – Wahrlich Excellenz, ich schäme mich nicht, es zu sagen, daß dieser Beweis eines wahrhaft edeln Herzens und Charakters Hochihres jüngsten Enkels mich auf das Innigste rührte und was im Gemüthe des Erbherrn vorging, konnte ich in dessen Mienen lesen. Wir beriethen nun die Sache ernstlich; der junge Herr sollte auf Doorwerth einstweilen nur 25,000 Gulden anzahlen, und dafür eine Obligation auf Varel erhalten, die anderen 25,000 Gulden wollte der Erbherr auch annehmen und auf Rhoon versichern. Ihre Excellenz sollten die Gnade haben, mir förmliche Vollmacht zu ertheilen, alle nöthigen Schriftdocumente zu entwerfen, die Summe in Empfang zu nehmen und in Hochdero Namen bündig zu quittiren, welche Quittung zugleich als Interims-Verschreibung auf gedachte Herrlichkeit Doorwerth mit Zubehör gelten solle, bis zu Ertheilung der förmlichen Obligation und Ausfertigung des zur Sicherheit weiter Erforderlichen. Diese Verhandlung erfolgte ebenfalls unter beständigem fernen Kanonendonner; da kam auf einmal der auf Kundschaft ausgesandte Diener des jungen Herrn, Philipp Scarre, im vollen Jagen angesprengt und brachte die Nachricht, die Engländer seien geschlagen, ein ganzes Regiment derselben an der Wahl gefangen genommen, ein anderes völlig vernichtet, die ganze hannoversche Infanterie unter Graf Walmoden habe sich nach Nimwegen geworfen. [178]Das nöthigte den Erbherrn zum schleunigen Aufbruch und es blieb nur noch so viele Zeit, zu verabreden, daß, wenn der Feind nicht über den Rhein käme, demnächst wo möglich eine neue Zusammenkunft und Verhandlung stattfinden solle. Einstweilen gebe ich Ihrer Excellenz anheim, mit den nöthigen Papieren und Hochdero Zustimmung mich zu versehen, und bin zu Füßen Hochdero unterthäniger Windt.« –
Feindselig war die Zeit aller Liebe und jeder Liebeshoffnung in den von der Geißel wilder Kriege furchtbar heimgesuchten Ländern. Wittwen und Waisen machte der Krieg in Menge, Thränen und Jammer brachte er in zahllose Hütten, Häuser und Paläste, Glück nirgend hin, in kein einziges Haus. So war es damals, war es früher, und so ist es immer noch; fort und fort erneuen sich die Häupter dieser lernäischen Schlange. Der Mächtigen Laune, oder Ländergier, oder Herrschsucht, ebenso wie der Völker Wahnsinn beschwören den Dämon des Krieges aus dem finstern Orkus herauf, sie entfesseln ihn zur Peinigung, zur Knechtung, zur Vernichtung der Menschheit, und vermögen ihn dann sobald nicht wieder zu bannen. Kaum ein Jahrhundert vermag die Wunden zu heilen, die ein blutiger Krieg den Ländern, den Völkern schlägt, aber vergebens und immer vergebens rathen Religion und Vernunft, Gerechtigkeit und Sitte, Bildung und Fortschritt vom Beginn solcher Greuel ab; vergebens kämpfen weise Männer unter dem Wehen der Oelzweige und der Friedenspalmen gegen den Krieg; dort sind es die Gewalthaber, hier sind es ganze Völker, die beide in unsinnigster Verblendung seine Furien wachrufen, und sich, gleich den Fanatikern Indiens, mit Freude vom Donnerwagen Krischna’s bei der Pagode von Jagernaut zermalmen lassen.
Angés saß bei Frau Windt im stillen Zimmer, die Herbstsonne kämpfte mit den schweren Nebeln der weitgedehnten Flächen und der nahen moorigen Brüche. Auch die kleine Sophie saß bei den Frauen, und übte mit Eifer eine Arbeit, welche sie jene ebenfalls üben sah, eine Arbeit, die der Krieg aufdrängt dem zarten Geschlecht, die an Schmerz und Pein, an Blut und Wunden fort und fort erinnert: sie zupften Charpie.
Wer mag wissen, wem diese Leinwand dienen wird, warf Angés trübsinnig die Frage auf, und ihre angstvollen Gedanken flogen nach Leonardus hin, der es verschmäht hatte, in Doorwerth müßig zu weilen, während [179]sein Freund sich vielleicht die Lorbeeren der Schlachten pflückte. Sie sah im Geist den Freund ihres Herzens verwundet und sich als seine liebevolle Pflegerin. Frau Windt aber antwortete: Das möchte ich nicht einmal wissen; am Besten, sie würde gar nicht gebraucht, da brennte ich das Zeug zu Zunder und steckte mein Licht an ihm an; wär’ auch ein guter Gebrauch, besser als der, für den diese Leinwand bestimmt ist, nämlich Solchen zu dienen, deren Lebenslicht mit dem Erlöschen bedroht ist.
Das Kind begann in dieser Zeit etwas Holländisch und etwas Deutsch sprechen zu lernen, und die beiden Frauen ertheilten ihm den Unterricht so eifrig und vortrefflich, daß bald sein Deutsch äußerst holländisch und sein Holländisch äußerst deutsch klang, was manchen Anlaß zum Lachen gab.
Mit leiser, längst auf dem Herzen getragener Frage wandte sich in dieser traulichen Stunde, und indem sie mit wahrhaft mütterlichem Wohlgefallen auf die Kleine blickte, Frau Windt an Angés: Sie wollten mir immer von dem schönen Kinde erzählen, meine Beste! Heute hätten wir Zeit; es ist außen einmal etwas ruhig; mein Mann ist nach Arnhem geritten, halb in Geschäften und halb aus Neugierde, um den Grafen von Artois zu sehen, den Mann, der sich für den künftigen König von Frankreich hält, aber nichts thut, sein Königreich wieder zu gewinnen. Er wohnt als Gast auf der Sip, einem Gute des Herrn von Brantsen, nur ein halbes Stündchen von Arnhem, und ist umgeben von einem kleinen Kreise Emigranten, welche alle denken wie der Herr Graf von Artois, und ihr Königthum in Gedanken mit sich herumtragen, wie die Juden ihre Bundeslade auf der Reise durch die Wüste. Der Herzog von York hat gestern beim Grafen von Artois gespeist; auf dem Park wohnt der Prinz Louis von Rohan; gestern ist auch der Kurfürst von Köln in Arnhem angekommen, und der tapfere und berühmte Kriegsheld Graf von Clairfait. Man spricht davon, daß das Hauptquartier der verbündeten niederländischen und holländischen Armee nach Arnhem gelegt werden soll.
Ein flüchtiges Roth flog auf Angés zarte Wangen bei einem der Namen, welche Frau Windt ihr nannte, diese bemerkte dasselbe aber kaum, oder schob es auf Rechnung ihrer Aufforderung an die junge Freundin, ihr Etwas mitzutheilen, was Angés bisher immer mit [180]Aengstlichkeit zu verhüllen gesucht hatte. Wenn aber Angés erwog, welche große Ansprüche auf Dank sich Windt und dessen gutmüthige und liebevolle Frau um sie verdienten, welch ein trauliches und gewiß auch sicheres Asyl sich ihr, der Heimathlosen und Flüchtigen, in Doorwerth erschlossen, und endlich, wie wenig eine Mittheilung an diese Freundin, welche wohl kaum deren Schicksal weit über die Grenzen Gelderns und höchstens wieder einmal in die ostfriesischen und oldenburgischen Gefilde führen werde, irgend ihr oder dem Kinde dereinst Schaden bringen könnte, zumal wenn sie jeden Namen sorglich verschweige, so hielt sie sich nicht nur für berechtigt, sondern sogar durch Dankbarkeit verpflichtet, in etwas dem Wunsche der älteren Freundin nachzugeben. Sie begann daher, wenn auch nicht ganz ohne Zagen:
Was Sie zu erfahren wünschen, beste Frau Windt, und was ich selbst weiß und sagen darf, sollen Sie erfahren. Ein junger, schöner und höchst liebenswürdiger Prinz aus einem sehr vornehmen Hause faßte eine glühende Neigung zu einer Prinzessin, die nur wenige Jahre älter ist als er selbst, und einer Familie entstammt ist, in welcher die Leidenschaft der Liebe stets ein vorwaltender Charakterzug der Träger ihres Namens war. Vorbedeutungsvoll ist auch jener Prinz gleich nach seiner Geburt durch Feuer und Flammen gegangen. Ihn wie seine heimlich angebetete Geliebte trieb die Revolution aus ihrem beiderseitigen Vaterlande, dem schönen Frankreich, hinweg, und die Einsamkeit eines verborgenen Zufluchtsortes nährte die wachsende Flammengluth der jungen stürmischen Herzen und riß sie völlig hin.
Nichts hätte unter andern Verhältnissen den gegenseitig Ebenbürtigen im Wege gestanden, sich mit einander zu vermählen, aber die Zeit des Jahres siebenzehnhundertundneunzig war nicht günstig für Freuden und Hochzeiten der armen Flüchtlinge; war es doch erst kaum ein Jahr, daß der Graf von Artois, dessen Sie, beste Frau Windt, vorhin erwähnten, wie auch die Prinzen Condé, Broglio, Bretueil und auch die Polignac’s ihr Vaterland gemieden hatten; man vernichtete, das heißt man hob in Frankreich alle Vorrechte der Geburt und des Standes auf, und es war kaum zu wagen, an eine Rückkehr in das geliebte Vaterland, oder an eine Rückkehr der alten Ordnung zu denken. Der junge Prinz, welcher bisher mehrere Reisen gemacht hatte, von denen er immer wieder an den Ort seiner verborgenen [181]Liebe zurückkehrte sah sich veranlaßt, zu dem Heere zu gehen, das die Bestimmung hatte, die verlorene Heimath mit Gewalt der Waffen wieder zu erobern.
Die Bestimmung – ja – aber nicht Macht, nicht Muth genug! warf Frau Windt ein.
Niemand ahnete die Folgen der glühenden Liebe des Prinzen und der Prinzessin, fuhr Angés fort. Der geheime und gutgewählte Zufluchtsort auf deutschem Boden, auf dem Boden meines Vaterlandes, half die Verborgenheit sichern, doch bedurfte die Prinzessin mindestens einer ganz vertrauten Person, um ihr Geheimniß tragen zu helfen; zu dieser Vertrauten wurde meine Mutter erkoren. Es ist mir noch, als ob es vor wenigen Tagen geschehen sei, so lebhaft erinnere ich mich daran, wie eines Abends in der Dämmerung – ich war noch ein ganz junges Mädchen und saß mit Leonardus in der Rebenlaube vor unserm Hause im zärtlichen kosenden Gespräche – eine verschleierte Dame bei uns eintrat, von jugendlicher Haltung und schönem Wuchs, und mit einer zarten, außerordentlich wohlklingenden Stimme und im reinsten Französisch nach meiner Mutter fragte. Ich verließ Leonardus und geleitete die Fremde zur Mutter, es fiel mir dieser Besuch gar nicht auf, weil meine Mutter vor ihrer Verheirathung mit meinem Vater in Paris gelebt und in einem hochangesehenen Hause in einem gewissen dienstlichen Verhältniß gestanden hatte. Die Fremde schlug ihren Schleier nicht zurück und fragte meine Mutter, ob sie dieselbe nicht ohne Zeugen sprechen könne, worauf ich mich sogleich zurückzog, und nur noch auf dem Vorsaal meine Mutter in jenem Zimmer laut ausrufen hörte: O ciel! O ma très chère gracieuse Princesse! – Ich eilte, weit entfernt horchen zu wollen, schnell zu meinem in der Laube harrenden Geliebten zurück, und dachte kaum noch an die Fremde, so sehr beschäftigt ein junges Mädchen seine Liebe und das Glück, den geliebten Gegenstand sich nahe zu wissen, bis erstere wieder aus dem Hause trat und von meiner Mutter unter ehrerbietigen Verbeugungen schied, ohne daß beide dabei ein Wort wechselten. Meine Mutter weihte meinen Vater in das Geheimniß ein, und endlich mit großer Vorsicht auch mich, das heißt, sie sagte mir nur, was sie für mich nöthig hielt, von der Sache zu wissen, weil auf meine Hülfe Rechnung gemacht werden mußte, um nicht an [182]noch andere Personen das Geheimniß hinzugeben. Ich hatte so ziemlich die Größe der fremden Dame, von welcher ich vorerst nur erfuhr, daß sie die Tochter einer Freundin meiner Mutter sei, daß sie Paris in Folge der Revolution gleich Andern verlassen habe, und daß sie wohl nach einiger Zeit wieder kommen, und eine Zeit lang bei uns wohnen würde, doch solle davon nicht gesprochen werden. Es wurde ein von der Straße ganz entlegenes stilles Zimmer unseres Hauses eingerichtet, um einen weiblichen Besuch aufzunehmen; ich erhielt einige neue Kleider und die Weisung, bisweilen und nach und nach bei Ausgängen verschleiert zu gehen, so daß die Einwohnerschaft gewohnt werde, mich so zu sehen. Ein neues Dienstmädchen vom Lande wurde angenommen, welches an der französischen Grenze bereits gedient hatte und ganz hübsch Französisch sprach. Der Name dieser Dienerin war Sophie Botta; ihr Geburtsort hieß Westbacherhof, vier Stunden von Kaiserslautern. Am Tage des Abgangs ihrer Vorgängerin und Sophiens Antritt fuhr meine Mutter mit mir nach dem unserer Stadt ganz nahen Dörfchen Ixheim, einem Vergnügungsort der Zweibrückner vornehmen Welt, und hatte mir vorher genau meinen Anzug bestimmt. Dort fanden wir jene fremde Dame, die Prinzessin, ohne alle Begleitung, und zwar genau so gekleidet wie ich. Diese junge Dame sehen und sie liebgewinnen, war bei mir die Wirkung jenes Augenblicks, als ich sie ohne Schleier sah; welche Huld, welche Güte, welche süße Verwirrung und Scham strahlte aus diesen himmlischen dunkeln Augen, voll eines Feuers, das nur durch unendliche Sanftmuth gemildert war, die über ihr ganzes Wesen sich ergoß! – Diese Dame, sagte meine Mutter zu mir nach den ersten Begrüßungen und dem Anknüpfen der Bekanntschaft, wird statt deiner mit mir zurückfahren, liebe Angés, und du wirst dann die kleine Wegstrecke als angenehmen Spaziergang zurücklegen. Dabei bezeichnete sie mir die Straßen, durch welche ich gehen solle, und meinen Weg in das elterliche Haus durch unsern an dessen Hintergebäude angrenzenden Garten, zu dessen Thüre sie mir den Schlüssel behändigte. Es wurde mir nun klar, daß die Fremde mit mir nur eine Person darstellen sollte, sie kehrte mit der Mutter verschleiert als deren Tochter Angés nach Hause zurück, ich kam in der Abenddämmerung durch das Hinterpförtchen in das Haus, und konnte durch eine Treppe im Hofe alsbald in das obere Stockwerk [183]gelangen. Dieser Plan war außerordentlich leicht auszuführen, und wurde auch eben so leicht ausgeführt. Das neue Dienstmädchen fand bei seinem Antritt die Dame, ohne zu wissen, ob sie zum Hause gehörte, oder nicht? Es bediente daher dieselbe mit gleicher Treue, wie meine Mutter und mich.
Frau Windt hörte Angés Erzählung mit wachsendem Erstaunen an, und unterbrach dieselbe nur, um für einige Herzstärkungen zu sorgen, die ihr, der eingebornen und nicht mehr jungen Niederländerin, ungleich mehr Bedürfnis waren, als Angés. Dann aber drängte die gute Holländerin um die Fortsetzung der ihren ganzen Antheil lebhaft erregenden Erzählung.
Nach einiger Zeit, fuhr Angés erglühend und fast flüsternd fort: gebar die fremde bei uns wohnende Dame dieses schöne Kind. Die Sage-femme wurde durch Geld schweigsam gemacht, unsere Sophie mußte zum Schein krank werden, das heißt, sie mußte die hohe Wöchnerin auf das Sorgsamste warten und pflegen und ein anderes Mädchen versah indeß ihre Stelle. Die guten Zweibrückner hörten zwar und glossirten nach deutscher Kleinstädter Weise das Ereigniß, daß unsere junge Dienerin ziemlich bald ein Gastgeschenk in unser Haus gebracht, vor dem sich in der Regel Jedermann zu bedanken pflegt, indeß war man so gütig, meine rechtlichen Aeltern und auch mich dabei zu bedauern, die man frisch und munter und jetzt wohlweislich ohne Schleier täglich auf der Straße gehen sah, und war ferner so gütig, die Schuld einem meiner Brüder in die Schuhe zu schieben. Auch dieses Reden wäre zu vermeiden gewesen, wenn man das Kind zeitig aus dem Hause gebracht hätte, aber dagegen widersetzte sich die junge Mutter, und da das Kind getauft werden mußte, so ließ sich diese Handlung nicht außer dem Hause vornehmen. Ein schönes Stück Geld bewog leicht die junge Dienerin, ihren Namen herzuleihen, und so wurde das Kind nach seiner angeblichen Mutter, der kleinen französisch plaudernden Westbacherhoferin Sophie Charlotte Botta getauft, und die große Sophie verließ dann reichlich belohnt und mit zugesichertem Wiedereintritt nach einiger Zeit, der guten Sitten halber, mein elterliches Haus.
Nun wissen Sie, beste Frau Windt, wie sehr es in unserer weiblichen Natur liegt, daß wir uns zu kleinen Kindern hingezogen fühlen, besonders wenn sie hübsch und wenn sie hülflos sind. Mein liebesehnsüchtiges [184]Herz, das seinen Gegenstand entbehrte, wandte die ganze Fülle seiner Gefühle diesem Kinde zu und dessen junge Mutter gewahrte dies mit hohem Entzücken.
O Angés! sprach sie einstens zu mir: wie engelgut Sie sind, wie Sie mein Kind lieben! Dies kann ich nie vergelten, wie auch nie Ihrer Frau Mutter deren unendliche Güte. Ach, schon zerreißt der Gedanke an Trennung von dem Kinde mir das Herz, und doch muß, muß, muß ich von ihm scheiden! Einst, ich flehe das von Gott, wird es seine Mutter wieder sehen, wird sie kennen lernen und von aller Welt anerkannt, sich nie wieder von ihr trennen, wie auch nie von seinem herrlichen Vater! O Henri, o mein Henri!
Ich ward ganz hingerissen von der Liebe und dem Schmerz der schönen Prinzessin, bedeckte in ihrer Gegenwart ihr Kind mit Küssen und rief mit einem flammenden Entschlusse: Darf und soll dieses holde, süße, unschuldige kleine Wesen bei uns bleiben, so weihe ich mich ihm zur treuesten Pflegerin, die es auf Erden finden kann! So schwöre ich Ihnen.
Schwören Sie nicht, edles Mädchen, unterbrach mich die Prinzessin. Sie fühlen jetzt so schön und groß! Wird dies Gefühl Dauer haben können? Sie sind jung, auch Sie lieben, Sie werden sich vermählen, eigene Kinder werden dies fremde Kind von Ihren Armen hinweg, aus Ihrem Herzen drängen. Rasch sind Gelübde gethan, schwer, oft unendlich schwer sind sie zu erfüllen und dauernd zu halten.
Ich weiß, welche Pflicht ich übernehme! entgegnete ich der Prinzessin. Nie will ich von diesem Kinde mich trennen, wie meinen Augapfel will ich es hüten und bewachen, und zwar so lange, bis Höchstsie selbst oder von Ihnen Beauftragte es von mir fordern werden.
Die Prinzessin umarmte mich unter Thränen; nie vergesse ich den rührenden Anblick dieser unglücklichen und durch ihr Kind doch so glücklichen jungen Mutter. Welchen Lohn, rief sie schluchzend aus: welchen Lohn darf ich Ihnen bieten, der würdig wäre der Größe meines Dankgefühls?
Einen Lohn, Prinzessin? rief ich bestürzt aus. Welchen Lohnes wäre ich bedürftig? Keines anderen als Ihrer Liebe!
Es wurde nun Alles ernst und ruhig unter Zuziehung des Beirathes meiner Mutter besprochen. Das Kind sollte von mir aufgezogen [185]werden, vorerst vor allen Augen unberufener Neugier geborgen; unser an das Haus anstoßender Garten war geräumig genug, ihm die Wohlthat frischer Luft täglich zu gönnen, auch war das Kind völlig gesund. Unter geheimen Aufschriften wurden die Orte bestimmt, wohin allwöchentlich Nachricht von seinem Befinden gegeben werden sollte, auch ward verabredet, der Kleinen ein Zeichen einzuätzen, daran die Mutter oder der Vater sie erkennen könnten, und als das einfachste Zeichen solcher Art schlug ich vor, die Anfangsbuchstaben ihres Namens S. C. B. zu wählen. Die Prinzessin schüttelte erst mit dem Kopf, als wolle sie meinen Vorschlag verwerfen – augenscheinlich mißfiel ihr der bäurische Name – mit einemmale aber überstrahlte Freude ihr Gesicht, als sie ein wenig nachgesonnen hatte, und sie rief: Ja, theure Angés, nicht anders, nicht anders, als S. C. B.! Das muß ja nicht Botta heißen? Nicht wahr? O, es kann ganz anders heißen! C–B– ja, so ist es recht, so sei es! Wohl kann es anders heißen, es kann Namen bedeuten, denen nicht viele gleichstehen auf Erden an Glanz und Hoheit, Alter und Ehre, wenn sie auch die Zeit, gewiß nicht für immer, verdunkelt hat und eine blutrothe Wolke vor jene große Sonne getreten ist.
Voll Verwunderung hörte Frau Windt diese Mittheilung an; mit einer gewissen scheuen Ehrfurcht blickte sie auf das Kind, das da neben ihr im kleinen Stübchen unbefangen und in holder Unschuld saß und Charpie zupfte, vielleicht für die Wunden eines Kriegers, der dem Vater dieses Kindes und seiner Mutter die Rückkehr in das heißgeliebte Vaterland erkämpfen helfen wollte. Thränen der Rührung traten in die Augen der freundlichen Frau, als ihr fragender Blick auf Angés fiel, denn Frau Windt erging es wie Faust’s Famulus bei Goethe: sie wußte nun viel, doch mochte sie gern vollends Alles wissen. Angés fuhr fort:
Noch kein Jahr war das Kind bei uns in heimlicher Pflege, und mein einziges Glück, meine liebste Zerstreuung; sein Lächeln war Balsam auf mein trauerndes Herz, da ich mich von Leonardus treulos verlassen glaubte, da kam die neue Bekanntschaft, mit ihr mein Unglück. Von allen Seiten wurde ich bestürmt, ich willigte endlich ein, doch nur unter der Bedingung, daß ich nicht von dem Kinde mich trennen müsse. Meine Mutter fragte brieflich an, schilderte alles treulich, [186]doch theilte sie der Prinzessin nur mit, daß ich mich verheirathen würde und fest entschlossen sei, das Kind als mein eigenes mit mir zu nehmen – und so willigte diese denn ein, sandte reiche Geschenke und eine nicht unbedeutende Geldsumme zur Verpflegung des Kindes und Bestreitung aller seiner Bedürfnisse. Oh, sie hat mir auch nicht wenige Sorge gemacht, die kleine liebe Sophie, sie hat zweimal an Kinderkrankheiten darniedergelegen, doch mein brünstiges Gebet für ihre Erhaltung wurde erhört, auch aus der größten Noth half Gottes allmächtige Hand, der ich nun hier in stiller Demuth vertraue, und hoffe, daß er das Kind und mich wieder glücklich nach der Heimath führen und geleiten werde. Dann werden Sie, beste Frau Windt, schloß Angés mit lieblichem Lächeln: die lange getragene Doppellast los.
Sie waren und sind mir in Wahrheit keine Last, gute Angés! versetzte Frau Windt. Bleiben Sie bei Ihrem Gottvertrauen, denn Gottes Rath ist wunderbarlich und führet es herrlich hinaus.
Der unerschrockene und muthvolle Schirmvogt des Kastells und der Herrlichkeit Doorwerth ritt, von Arnhem zurückkehrend, eben durch die Allee und in das Schloß ein, als von der entgegengesetzten Seite aus einem Schiffe, das den Rhein herabgekommen war, ein bunter Haufe Soldatenvolkes sich nach dem Kastell zu bewegte; es mochte dieser Haufe über hundert Mann stark sein, und es war nicht zu unterscheiden, unter welchen Fahnen dieses Volk stand und wem es diente; es waren rothe, blaue, grüne und andere Uniformen und Monturen, und deren Träger offenbar englische, französische, niederländische und wohl auch deutsche Soldaten, die sich, wie es schien, zusammengethan hatten, um gänzlich unbekümmert um den Krieg, den die Nationen, welchen sie angehörten, mit einander führten, auf eigene Faust einen kleinen Plünderungskrieg gegen die Habe der Landleute in diesen Gegenden zu führen, und stark genug, selbst wohlbewaffnet [187]genug, sogar ein herrschaftliches Schloß anzugreifen, an welchen Schlössern dieser geldern’sche und utrecht’sche Landstrich außerordentlich reich ist.
Als dieser Haufe in wilder Unordnung, unter Geschrei und lautem Streit, nebst eitel unnützem Lärm, zu dem sich wohl auch das Losfeuern eines Gewehres gesellte, sich dem Kastell näherte, gab sogleich der Wächter auf dem Thurme ein Nothzeichen mit der Sturmglocke, das in dem Augenblick ertönte, als Windt sich eben aus dem Sattel schwang. Rasch flog sein Blick zum Thurm hinauf und der Wächter schrie vom Thurme herunter durch sein Sprachrohr: Marodeurs! Moeskoppers! Zoldaats, van den Rhin!
Zum Donner mit den Teufeln! schrie Windt, die kleine Pforte auf und gleich hinter mir wieder fest zugeschlossen! Vorwärts! – Und seinen zwei Dienern, auf die er sich verlassen konnte, winkend, schritt Windt, ohne sich um Anderes zu bekümmern, durch das schnell geöffnete heimliche Rheinpförtchen, dessen schwere Riegel hinter ihm zuklirrten. Drei Männer voll entschlossenen Muthes wollten sich einem wüsten Haufen von einem vollen Hundert entgegenstellen. Aber die gemessenen Pulse der Sturmglocke hallten über die stille flache Gegend hin, und ihr hülferufender Schall drang bis Helsum und Renkom, ja bis Wolfheese und Oosterbeck. Windt stand ruhig in ernster, strenger, stolzer Haltung, die Hand am krummen Säbel, geladene Doppelpistolen im Gurt; seine Begleiter waren auf ähnliche Weise bewaffnet; Entschlossenheit blitzte aus jedem Blick der Männer. Der Haufe kam näher, immer näher, nichts als Galgengesichter, Auswurf der Armeen, Ausreißer, Sträflinge, denen gelungen war, den Latten und Ketten zu entlaufen, den Spießruthen sich zu entziehen.
Achtung! Halt! Was soll’s? donnerte Windt die Rotte an.
Essen! Trinken! Quartier! war die Antwort.
Hier ist kein Quartier! Kann einer von euch lesen, ihr Helden? Hier ist die Sauvegarde des Herzogs von York!
Gelächter und Gespött war die Antwort. Eine papierene Sauvegarde! Schafft uns gleich Brod und Branntwein! Laßt uns ohne Widerstand in das Kastell, Herr General oder Maire, oder Platzcommandant, was Ihr immer sein mögt.
Achtung! commandirte Windt. Linksum! Abschwenken, grad aus! [188]Der Nase nach! Dort ist die Schenke! und damit deutete er auf ein Haus, das von Gärten und Buschwerk umgeben war. Einem übermäßig hohen dicken Strohdach, das an einigen Stellen das Sparrenwerk in etwas zusammengedrückt und folglich hie und da eine schiefe Stellung eingenommen hatte, dessen First mit dichten Moospolstern übergrünt war, aus denen sich zahlreiche rothe Blüthenstengel der Hauswurz erhoben, entragte ein schadhafter steinerner riesiger Schornstein. Das Gebäude selbst war steinern und alt, die dicken Mauern waren mit sich selbst in mancherlei Zwiespalt gerathen; hie und da schien es, als seien vor undenklichen Zeiten Breschen in das Gemäuer geschossen worden, zu denen sich nie eine ausbessernde Hand gefunden hatte. Eine Thüre reichte fast bis unter das Dach, eine andere war im Bogen gewölbt, klein und niedrig. Ein einziges, aber sehr großes Fenster mit trüben Scheiben erleuchtete die geräumige und einzige Stube des Krugs; zwischen dem Strohdach starrten einige schwarze Lucken, wie schlaftrunkene, halbgeschlossene Augen. Wohnlich sah es nicht aus, reinlich sah es nicht aus, und schön sah es gar nicht aus, dieses Haus mit seiner Umgebung, welche völlig derjenigen glich, die auf Rembrandt’s Rattenfänger dargestellt ist. Es war der Typus der meisten Landhäuser in diesem Gebiete. Dorthin lenkte Windt den Schritt der Gäste und gebot dem Schenkwirth, ihnen Brod und Branntwein und was sonst vorräthig sei, verabfolgen zu lassen, indem er ihm einen bedeutsamen Wink gab. Der hungrige Haufe fiel über die aufgetragenen Nahrungsmittel her, und in ganz kurzer Zeit verschwanden zahllose Häringe, Käse, Aepfel, Birnen, Zwiebeln, Rettige, Rüben, Brode und was irgend Eßbares sich vorfand; inzwischen aber marschirte aus Helsum und aus Renkom und aus Wolfsheese je ein Trupp gut bewaffneter Schützen im Eilschritt nach Doorwerth zu. Windt hatte sich zu den Schnapphähnen gesetzt, aß und trank auch, fragte Dieses und Jenes, ließ sich erzählen, und hörte mit großer Geduld die Aufschneidereien der Marodeurs an, unter denen sich besonders ein fadenscheinig gekleideter, hagerer Franzose hervorthat, der mit seinem Mundwerk stets voran war. Dieser war auch der, welcher mit seiner Sättigung zuerst fertig wurde, aufsprang und bramarbasirend ausrief: Vive Monsieur le Maire! Vive le Général! Nun gut Quartier in die Schloß für die brav Einquartier!
[189]Windt hatte einigemal durch das Fenster geblickt und gesehen, was er sehen wollte. Die ganze Mannschaft des Kastells hatte sich mit der des Dorfes vereinigt war bewaffnet über die Zugbrücke gegangen und machte in ziemlicher Nähe Front gegen die Schenke.
Ich will euch mairen, ihr Canaillen! Beim Teufel sollt ihr Quartier finden, aber nicht hier! schrie Windt, warf Geld zur Bezahlung seiner Zeche auf den Tisch, nahm in jede Hand eine seiner lütticher Doppelläufer, ließ die Hähne knacken und herrschte dem Gesindel zu: Allons enfants pertues de la patrie! Bezahlt, oder beim Satan! Ihr sollt, wie die Holländer, die Suppe nach der Mahlzeit auslöffeln, die Prügelsuppe nämlich!
Hu, was machten die ungeladenen Gäste da für Augen! Flüche, Zorn- und Drohworte schrecklicher Art, Waffengerassel, Toben, Geschrei – dennoch wagte keiner von allen diesen Helden, den Arm gegen Windt zu erheben, denn furchtbar blitzten die vier kleinen dunkeln Augen auf Alle zugleich, die Mündungen der Pistolen – und gar nicht lange dauerte der Lärm, als er plötzlich von starkem Trommelschall unterbrochen ward – draußen Gewehrkolben am Boden klirrten, Befehlshaberstimmen laut wurden und Bajonette blitzten.
Jetzt ging es wie vom Wirbelwinde gefegt zur Stube hinaus; Einige suchten sich im Hause zu verkriechen, Andere traten in das Freie und suchten das Hasenpanier zu ergreifen, aber überall war der Weg verstellt, und aus jedem Munde der Führer scholl der Zuruf: Streckt die Waffen! Ergebt euch!
Einige riefen auch in der That angstvoll: Pardon! Pardon! und warfen die Waffen von sich, die Wildesten und Tapfersten aber nicht; der oben bezeichnete Franzose verzerrte sein Gesicht zu verzweiflungsvoller Wildheit und schrie seinen Gefährten zu: Seht ihr nicht, daß es nur eine Handvoll Bauernlümmel sind? Und ihr ausgediente Soldaten, wollt ihr euch in’s Bockshorn jagen lassen? Achtung! Stellt euch! Schließt ein Quarrée!
Der Muth erwachte, wie er in Herzen zügelloser Banden erwachen kann, die Alles zu gewinnen und Nichts zu verlieren haben, und wenn dieser Haufe, gereizt wie er war, durch hitziges Getränk angefeuert, und aus angreifenden angegriffene und zur Nothwehr getriebene [190]Männern werdend, sich ernstlich zur Wehre setzte, so stand, wenn auch keine Niederlage, doch ernstliche Gefahr für Windt’s Person, wie für das Häuflein seiner Getreuen in Aussicht; allein es sollte schnell und überraschend anders kommen.
Galoppschlag von Rosseshufen, Säbelgerassel, wehende Fähnlein, Trompetengeschmetter – sechzig Uhlanen und berittene Jäger (Chasseurs) vom Corps de Rhoon, an ihrer Spitze Graf Ludwig und Leonardus, sprengten auf den kleinen Schauplatz überraschend heran; die Säbel flogen aus den Scheiden – da fiel kein Schuß, im Nu war der Marodeurhaufe umritten, im Nu streckte er die Waffen und bat um Pardon. Das war nur ein Vortrab; es folgte eine starke Schaar niederländische Gardereiterei unter einem Escadronchef, an der Zahl 237 Mann aus der Elite der Armee. O weh, wie wurde da dem marodirenden Gesindel! Hinter den Gardereitern vom Regimente Oranien kamen eine Menge Staabsoffiziere hohen und höchsten Ranges geritten, blitzend in der Pracht des Schmuckes und der Waffen, die Brust manches Einzelnen von Sternen und Orden strahlend. Windt selbst war ganz voll Erstaunen; er ließ sein kleines Commando schnell alle wohl eingeübten und üblichen soldatischen Ehrenbezeugungen machen; da sprengte der Erbherr an ihn heran und rief: Bravo, bester Windt! Bravo! Ich bringe Ihnen leider viele Einquartierung – allein Noth lehrt beten! Thun Sie, was Ihnen möglich ist! Besorgen Sie uns einen Stegreifimbis, wie Sie’s eben haben! Im Kriege nimmt man’s nicht genau; man hat nicht Zeit für Etikette, oft kaum für Toilette! Seine Hoheit der Erbstatthalter und seine beiden Söhne, der Erbprinz und Prinz Friedrich folgen uns auf dem Fuße, mit ihnen ein Prinz von Condé, Prinz Ernst August von Großbritannien, Herzog von Cumberland, der Prinz von Solens und Andere.
Ich sinke in die Erde, gnädigster Herr Graf! rief Windt erschrocken.
Oh, versetzte lachend der Erbherr: das wäre in diesem hiesigen Boden gar keine Kunst, lieber Windt! Nein, bleiben Sie, wie bisher, auf festem Boden! Erschrecken Sie nur nicht zu sehr; wir bleiben nicht Alle – aber eine gute Besatzung lassen wir Ihnen im Kastell; den Obrist der Gardereiter mit seinen Adjutanten, Bedienten und [191]Wagen, nebst fünfundzwanzig Pferden, auch Ludwig und Leonardus mögen hier bleiben! Das Hauptquartier kommt nach Arnhem, wir müssen von unsern Leuten etwas in die Herrlichkeit legen; ich kann doch mein eigenes Corps als Besitzer dieser Güter nicht in die Sümpfe betten! Das Kastell muß jetzt, es geht nicht anders, denn ich gab mein Wort, wenigstens verwundete Offiziere aufnehmen.
Ehe noch Windt Etwas erwiedern konnte, grüßten alle in Reih und Glied stehenden und zu Roß haltenden Truppen militärisch, bließen die Trompeter, füllte ein donnerndes »Oranien boven!« um das andere die Luft, und es ritten der Herzog von York, der Prinz Statthalter und die vorhin von dem Erbherrn bereits genannten Prinzen heran, denen noch die Generale Harcourt, Fox und Walmoden folgten.
Das bunte Gewimmel, das sich auf den Wiesenteppichen und in den Alleen mehr und mehr um Schloß Doorwerth entfaltete, bot ein anziehendes Bild, und Frau Windt, Angés und die kleine Sophie, die der Schall der Trompeten aus ihren Zimmern gelockt, schauten mit Lust, in die sich ein gewisses Bangen mischte, von einer gedeckten Bastei herab. Hinter den Prinzen und der hohen Generalität folgte die Legion Rohan, welche unter dem Befehle des Herzogs von Condé stand, und an diese schloß sich der Rest des fliegenden Corps leichter Reiter, Jäger von Rhoon an, welches der Erbherr gebildet hatte und als Chef führte, dessen Namen es trug und bei welchem Graf Ludwig und Leonardus als Hauptleute standen.
Großes und Wichtiges drängte sich in gleichem Maße wie die Fülle hier versammelter bedeutender Persönlichkeiten in die Macht des Augenblickes zusammen. Windt wurde als Commandant des Kastells mit belobenden Worten flüchtig vorgestellt und auf seine Anfrage, was es mit den Gefangenen werden solle, antwortete der Erbherr: Die wollen wir nicht auch noch füttern! Er gab Befehl, daß Ludwig und Leonardus sie mit einigen Reitern nach dem Strome mit Zurücklassung aller ihrer Waffen geleiten sollten, wobei freigestellt blieb, ihnen sammt und sonders auf fühlbare Art die Wiederkehr zu ähnlicher Mahlzeit zu verleiden. Der Abtheilung, welche die Marodeurs nach ihrem Schiffe eskortirte, schloß auch Philipp sich an, der sich im Felddienste zu einer ungemein kräftigen Natur entwickelt hatte und [192]guten Takt nebst einer stets zum Dreinschlagen bereiten Herzhaftigkeit an Tag legte.
Philipp sah sich mit scharfem Blicke die Mannen an, die voll Aerger, verbissener Wuth und in tiefem Schweigen von den Kriegern umringt ihres Weges gingen, und heftete fest und anhaltend seine Blicke auf jenen Sprecher und Schreier, der kurz zuvor eine Art Häuptling der nichtsnutzen Bande gespielt. Einmal drückte er sein Pferd so nahe an diesen Gesellen heran, daß derselbe unwillig in seiner Muttersprache laut wurde. Ha Kiebitz, dich kenn’ ich! dachte Philipp und ließ den Marodeur nicht mehr aus den Augen.
Am Rheinufer, wo das Schiff in nächstmöglicher Nähe von Doorwerth anhielt, gab es nun eine nicht eben ästhetische Scene, vielmehr gab es viele und sehr bedeutende Prügel und flache Klingenhiebe von Seiten der Reiter auf die Marodeurs als Valet und Angedenken, während dessen Philipp von seinem Braunen sprang, diesen dem Reitknecht von Leonardus zu halten gab und sich dicht an den Franzosen drängte, auch denselben bis hart an den ziemlich hohen und vom Wasser schroff abgespühlten Uferbord folgte und ihn schützte, als einer der Kameraden auch auf diesen losfuchteln wollte. Als aber der Franzose so eben im Begriffe war, seinen Fuß nach dem Schiffe zu lenken, ergriff Philipp ihn mit starker Hand am Kragen, riß ihn zurück, schüttelte ihn derb und tüchtig und rief ihm spöttisch zu: Bürger, wenn ich nicht irre, so dürstet Euch wieder? He? Und seht so schmutzig aus, Bürger! Habet lange kein Bad genommen! Nehmet man jarst diar jahn üp! – und mit einem gewaltigen Griff, gegen den kein Sträuben half, nahm Philipp den Franzosen, hob ihn auf beiden Armen hoch in der Schwebe und gab ihm einen Schwung, daß er einen Burzelbaum in der Luft schlug und Kopfüber hinab in den Rhein schoß, zur großen Ergötzlichkeit derer, die es sahen.
Philipp! Philipp! bist du toll! zürnte Graf Ludwig, der zu spät diese That gewahrte, aber Philipp entgegnete ganz pflegmatisch und wie in gutem Recht: Halten zu Gnaden, gnädiger Herr Hauptmann, das war der verdammte »Ueppasser« von Paris – hat lange nicht kalt gebadet, der Kerl! – Dort nach dem jenseitigen Ufer hinüber sah man den Franzosen schwimmen wie einen Frosch; mit Noth gewann er den halb in das Wasser gesunkenen Stamm einer alten Weide, an [193]den er sich hielt, seine Rettung abzuwarten, denn auch das Ufer der linken Seite war jetzt, bei niedrigem Wasserstand, zu tief, als daß es an dieser Stelle zu erklimmen gewesen wäre, und mit wüthender Grimasse drohte er herüber.
Windt entließ mit freundlichem Danke seine Hülfsmannschaften, nicht ohne Anweisung, sich auf seine Kosten für ihren raschen Zuzug gütlich zu thun; der größere Theil der Fürsten und der hohen Generalität setzte sogleich ihren Weg nach der nahen Stadt fort, wo Alles zu ihrem Empfange bereit war, und der Erbherr führte, indem er einen Theil der Truppen Jenen zu folgen, einen anderen zum Verweilen beorderte, seine hohen und erlauchten Gäste in das Kastell ein, das er nun als sein Eigenthum vorläufig ansah. Windt war vorausgeeilt und bot im Schlosse alle Kräfte auf, das Mögliche zu thun, was zu leisten war, damit die kleine Bewirthung, zu welcher der Erbherr mehrere seiner hohen Gönner und Freunde eingeladen, doch einigermaßen eine Art habe, und es fehlte auch keineswegs an Eß- und Trinkmitteln, noch an helfenden Händen; die Kamine eines kleinen Saales waren schnell geheizt, ganze Batterien von Flaschen berühmter Weine rasch aus den Tiefen, in denen sie ruhten, an das freundliche Licht des Tages gefördert, und es boten sich westphälische Schinken, hannoversche Würste, holländische Käse, marinirte Fische, hamburger Rauchfleisch und dergleichen gediegene Waaren in genügender Fülle zur Auswahl der Gäste dar, die mit soldatischem Muth mörderlich einzuhauen und das edle Blut der Reben zu vergießen begannen.
Das heiß ich Rep und Ruhr! rief Windt voll Hast und Unruhe seiner Frau zu, als er ihr und Angés den Besuch mit kurzen Worten meldete und die Mithülfe beider Frauen im Beschicken des nöthigen Tischzeuges erbat – ja Rep und Ruhr, eine Redensart, die nur der holländischen Sprache eigen ist und so viel bedeutet, wie das deutsche: Alles durcheinander wie Kraut und Rüben.
Indessen dergleichen geht auch vorüber; es währte gar nicht lange, so war Alles im besten Zuge; die hohen Herren tafelten vergnügt, manche unterhielten sich sehr lebhaft, andere stiller und zu den Letzteren gehörten der Erbprinz der Niederlande und einer der fremden Prinzen, eine jugendlich schöne Gestalt, zarter gebaut, wie sein fürstlicher Freund, blond, herrliche Blauaugen, deren Strahl nur Liebenswürdigkeit [194]verkündete. Diese beiden jungen Herren hatten sich ein wenig abgesondert, ohne daß es auffiel, und ihr Gespräch galt nicht dem belagerten Nimwegen, nicht dem Hauptquartier, nicht den Armeen – es galt nur einem kleinen Kinde.
Deine beiden Günstlinge vermisse ich, den Grafen und den Kaufmann, die Hauptleute beim reitenden Jägercorps Rhoon – sprach der fremde Prinz.
Wo die sind, kann ich mir wohl denken, mein theurer Henri! entgegnete der Prinz Statthalter, und du sollst sie sehen, doch glaube ich, dir ungleich Anziehenderes im Kastell Doorwerth, dem Besitzthum meines theueren Freundes des Grafen von Rhoon und Pendrecht, zeigen zu können.
Hier? Und mir? Wie so, Oranien?
Erinnere dich einmal, mein theuerster Henri, entgegnete der Erbprinz: jener schönen und unvergeßlichen Stunde, in der wir den Bund unserer Herzen schlossen, voll jugendlicher Träume, die wir ja hoffentlich noch nicht ganz ausgeträumt haben. Ich gestand dir meine Liebe zu meiner angebeteten Louise, der Tochter des Königs Friedrich Wilhelm des Zweiten zu Preußen, deren hochbeglückter Mann ich dann – zur unaussprechlichen Freude meiner Mutter wurde, welche Louise wie eine leibliche Tochter liebt. Du gestandest mir deine Liebe, über welche Zeit und Verhältnisse dich zwangen, den Schleier des Geheimnisses zu decken. Du gestandest mir Alles, denn jedes Menschenherz hat den Drang, in irgend ein Herz sein Geheimniß nieder zu legen, irgend einer treuen Brust zu vertrauen, und der Lohn deines Vertrauens soll dir heute noch, in dieser Stunde noch die süßeste Frucht tragen.
Ich verstehe dich kaum, begreife dich nicht, Guillaume, sprach der Prinz, hoch erröthend und mit ahnungsbangem Herzklopfen.
Höre mich, und du wirst mich gleich begreifen! flüsterte Jener weiter. In Amsterdam traf ich im letzten Frühjahre im Zirkel eines reichen Kaufmannes eine junge sehr hübsche Frau und bei dieser ein engelschönes Kind. Es gab leider zu meinem Leidwesen über gewisse Familienverhältnisse und sich kreuzende Interessen eine Scene, bei welcher jene hübsche Frau von einer Ohnmacht befallen wurde. Während man [195]sich mit ihr beschäftigte, suchte ich, von einem wunderbaren Gefühle getrieben, das erschrockene Kind zu beschäftigen, die kleine Sophie Charlotte.
Sophie Charlotte, sagst du? fuhr der Prinz auf.
Nicht anders, und der Zufall ließ mich die in des Kindes linken Arm eingeätzten drei Buchstaben entdecken, die dir bekannt sind und deren du gegen mich Erwähnung gethan hast.
Nicht möglich, nicht glaubhaft! Mein Kind – und in Amsterdam! Es ist ja ganz undenkbar!
Wenn du das Kind sehen wirst, wird jeder Zweifel von dir abfallen, mein Henri, wie Schuppen von den Augen, denn es gleicht dir auf wunderbare Weise.
Sehen? Ich! Es sehen! O Gott, wie wäre dies möglich! Wir können uns Beide jetzt in Amsterdam nicht sehen lassen!
Leider! versetzte der Erbprinz. Zum Danke dafür, daß mein Vater und ich Holland mit Gut und Blut gegen Frankreich schützen und vertheidigen, verbannt es uns und will nichts von uns wissen.
Das laß immer geschehen, warf der Prinz ein. Das sind wandelbare Geschicke, deshalb wirst du doch noch Statthalter der Niederlande, ja wohl noch in einer besseren Zeit, wenn die wahre Freiheit und die rechte Vernunft zur Geltung kommen, König! Aber sprich, Guillaume, sprich von meinem lieben Kinde!
Angés – du kennst ganz sicher den Namen von Sophiens treuer Pflegerin – hatte, wie sie gelobt, das Kind nie von sich gelassen. Sie hatte sich, wie ich später von ihrem Freunde und treuen Anbeter Leonardus van der Valck erfuhr, nach le Mans in der Vendée verheirathet; dort entwich sie den Mißhandlungen ihres eifersüchtigen Mannes unter Leonardus Schutz und kam nach Amsterdam. Es folgte ein Zerwürfniß des Leonardus mit seinem Vater; ein inniges Freundschaftsbündniß fesselte Leonardus an den jungen Grafen, den Vetter meines wackeren Rhoon; an diesem hängt mit voller Seele und Hingebung der biederherzige Commandant und Verweser dieses Kastells und der Letztere erschloß den Flüchtlingen Leonardus und Angé’s Doorwerth als ein Asyl, da an eine Weiterreise in Angés’ Heimath, welche Erstere mit dem Kinde beabsichtigt, unter den jetzigen Umständen nicht zu denken ist.
[196]Dem französischen Prinzen war, als ob er träume. Wundersameres konnte nicht geschehen, als daß er hier, mitten im Lärm der Waffen, das theuere Pfand seiner schönen, zärtlichen Liebe wiederfinden sollte.
Ludwig und Leonardus saßen bei Angés und Sophie, Vieles gab es zu fragen, zu erzählen und mitzutheilen, die kurze Stunde, welche diesem Wiedersehen vielleicht nur vergönnt war, mußte genutzt werden zu rascher gegenseitiger Mittheilung. Da blickte Windt in das Zimmer und winkte Ludwig auf einen Augenblick hinaus. Gleich darauf traten zur größten Ueberraschung von Leonardus der Erbprinz von Oranien und der französische Prinz ein; verwirrt erhoben er und Angés sich von ihren Stühlen.
Verzeihung, daß wir Sie stören! sprach der Erbprinz, und gegen seinen Freund gewendet, auf Leonardus deutend: dies ist Hauptmann van der Valck, ihm danken Eure königliche Hoheit es, diese Ihnen bekannte Dame hier zu finden und ich empfehle den wackern Mann zu höchsten Gnaden. Sie aber, lieber Hauptmann, ersuche ich, diesen Herrn einige Augenblicke bei der Dame und diesem Kinde zu lassen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß in keiner Weise hier etwas zu befürchten ist.
Leonardus war höchlich überrascht, Angés nicht minder. Sie hatte ja den fremden Prinzen noch nicht gesehen, und obschon beim Anblick seiner Züge eine Ahnung in ihr aufstieg, wußte sie doch kaum, ob sie dieser eine Bedeutung beilegen sollte.
Leonardus grüßte soldatisch den Prinzen und folgte ganz unbedenklich der Weisung des Erbprinzen, indem er mit diesem das Zimmer verließ.
Sie sind Angés Daniels, und dieses Kind? fragte der Prinz in Verwirrung.
Angés antwortete nur durch eine stumme Verbeugung, aber wie die Kleine mit dem holdseligsten Lächeln und ganz unbefangen ihre dunkeln Augen aufschlug zu dem stattlichen jungen Mann, der im vollen Schmuck des Kriegers schlank und edel da stand und nach Worten, nach einem Ausdruck der Gefühle rang, da war der stumme Augenblick zu heilig, als daß ein irdischer Laut ihn hätte entweihen dürfen.
[197]Angés beugte sich zu dem Kind nieder, schlug den Aermel des Kleidchens empor und der Prinz kniete hin vor sein Kind, küßte die Buchstaben und küßte Sophie, ja er überströmte sie mit Küssen und Freudenthränen und endlich rief er erschüttert und voll innigster Sehnsucht der Liebe aus: O, Charlotte! meine angebetete Charlotte! Daß du bei mir wärst, mit mir diesen wonneseligen Augenblick zu feiern! O, meine Sophie! Meine himmlische Sophie!
Sie sind mein Vater? fragte das Kind mit dem vollen Wohlklang seiner Stimme. Ich weiß es, daß Sie mein Vater sind.
Und wer sagte dir dies, mein liebes, mein theures Kind?
Weil der Vater sein Kind küßt, antwortete die Kleine. Mich hat noch kein Vater küssen dürfen, meine Angés litt es nicht. Sie sagte oft: einst wird Ihr Vater kommen, liebe Sophie, und wird Sie küssend in seine Arme schließen, und Sie werden eine große Freude empfinden. Ich empfinde jetzt diese Freude, und sie sagt mir, daß Sie mein Vater sind.
Der Prinz war entzückt über den Geist, mit dem sein Kind sich ausdrückte, wie darüber, dasselbe auch körperlich so schön ausgebildet zu finden, so daß Sophie in der That für ein Jahr älter angesehen werden konnte, als sie wirklich war; er wiederholte seine innig zärtlichen Liebkosungen, welche das Kind, von Sympathie durchglüht, von der Allmachtstimme der Natur geleitet, in gleicher Zärtlichkeit erwiederte. Angés ließ Beide lange im ungestörten Genuß dieses überaus reinen und beseligenden Glückes, und erst als der Prinz an das Scheiden denken mußte, wagte sie die Frage: Königliche Hoheit haben ohne Zweifel Nachricht von Ihrer Hoheit, der Prinzessin?
Es geht Charlotten gut, erwiederte der Prinz: doch hat sie mächtige Sehnsucht nach dem Kinde, da Ihr Aufenthalt ihr unbekannt ist. O, eilen Sie, eilen Sie nach jenem Lande, hinweg aus diesem von den Gefahren des Krieges rings und mehr als je umdrohten Zufluchtsort! Ich sorge für Alles; nehmen Sie eine Dienerin an, der bequemste Reisewagen soll zu Ihrer Verfügung gestellt sein, eine Escorte meines Regiments soll Sie sicher durch die Armee den Rhein hinauf geleiten, und in einem ruhigeren unbedrohten Lande und in der Nähe der herrlichen Mutter dieses Kindes, nicht allzufern von Ihrer eigenen Mutter, sollen Sie ein schönes Asyl finden und allen Dank der Liebe [198]ernten, den Ihre aufopfernde Treue verdient. Und ich selbst werde Sie Beide geleiten, so weit es mir irgend möglich ist. – Alles Gold, was der Prinz bei sich trug, vertheilte er an Sophie und an Angés; jubelnd empfing das Kind die blanken Bilder vieler geharnischter Ritter, nagelneu aus der Münze zu Amsterdam hervorgegangen, als angenehmes Spielzeug. Angés fand keine Gründe, das Erbieten des Prinzen zurückzuweisen, dasselbe kam ihren Wünschen ganz entgegen, denn nach der Heimath, der schönen, gemüthvollen, geliebten deutschen Heimath sehnte sich ihr ganzes Herz.
Die Kriegshelden hatten mittlerweile den gegen sie durch Windt aufgefahrenen Flaschen-Batterien sehr bedeutende Niederlagen beigebracht. Die meisten der Geschosse waren vorläufig völlig unbrauchbar gemacht und viele insofern vernagelt worden, als ihr Inhalt bis zur Nagelprobe ausgeleert war, so daß es ganz unmöglich war, aus ihnen in dem Zustande, in welchem sie sich gegenwärtig befanden, noch einmal Feuer zu geben. Windt hatte sich glänzend bewährt, auch in diesen Stücken, und allerseits ward ihm das freudige Anerkenntniß, daß er zum Siege des heutigen Tages das Meiste, ja eigentlich Alles, beigetragen habe. Er empfing daher das volle Lob nicht nur eines, sondern aller Chefs, die hier versammelt waren, und wenn er weder an diesem Tage, wie auch an keinem sonstigen einen Orden empfing, so fehlte es doch nicht an Ordres, lauten und geheimen, und er konnte seelenvergnügt und aufathmend seine drei Kreuze schlagen, als der letzte der fürstlichen und prinzlichen Gäste aus dem Thor des Kastells geritten und über die Zugbrücke hinüber war.
Es war angeordnet, daß eine bedeutende Schutzmannschaft im Kastell Doorwerth verbleibe, welcher aus guten und freundlichen Gründen der Erbherr auch einen Theil seiner Leute zugesellte und sie unter die Befehle von Ludwig und Leonardus stellte. Diesen Freunden stand nach dem, was vorgegangen war, die Trennung von Angés aufs Neue, ja vielleicht auf immer bevor, wenn nicht Angés die Nachrichten empfing, auf die sie hoffte, oder ihre Liebe zu Leonardus so mächtig war, daß sie jedes Hinderniß ohne Rücksicht brach.
Jener Prinz, Sophiens erlauchter Vater, dem Alles daran gelegen war, sein Kind zu sichern und dasselbe vom bedrohlichen Schauplatz des Krieges zu entfernen, führte für die drei in Liebe und Freundschaft [199]verbundene Herzen die einmal unaussprechliche Trennung rasch herbei, und Alles, was den Freunden vergönnt blieb, war, die scheidende Angés auf ihrer Reise mit dem Kinde über den Rhein hinüber zu begleiten, welche Reise sich von Arnhem über Emmerich und Wesel nach Düsseldorf lenkte, und zwar so weit zu begleiten, als noch irgend eine Gefahr zu drohen schien. Dann reiste Angés mit Sophie, auch für den Weiterweg in den Schutz erprobt tapferer Krieger aus der Legion Rohan gestellt, völlig ungefährdet weiter, bis endlich nach langer Fahrt ein stilles Gebirgsdörfchen des Schwarzwaldes sie in seinen Friedensschoos aufnahm, in dem jetzt keines Kriegers Waffe, sondern nur zur Sommerzeit der Mäher Sense über den duftausströmenden Waldeswiesen blinkte, und kein anderer Schuß fiel, als zu Zeiten der eines heiteren Weidgesellen, der auf nichts weniger ausging, als auf Menschenmord. Angés hatte mit festem Sinn die Gluth ihrer Liebe zu Leonardus in sich verschlossen; mit starkem Frauensinn hatte sie sich gelobt, ihrer Leidenschaft, die sie mit tausend Sehnsuchtbanden in die Arme des geliebten Mannes zog, zu bewältigen, und sie ging als Siegerin aus diesem Kampfe hervor, obschon nicht ohne eine tiefschmerzende Seelenwunde. Der Abschied zerriß ihr Herz, und trübe Ahnungen durchschauerten ihre Seele. Ein Briefwechsel wurde, als sich von selbst verstehend, verabredet; Leonardus Briefe sollten alle auf der Post zu Lahr liegen bleiben und von dort durch zuverlässige Boten abgeholt werden.
Frau Windt empfing neben manchem schönen Andenken die Zusicherung nie erlöschender Dankbarkeit. Sie vermißte schmerzlich die gute hülfreiche Angés, als sie sich nun, nach ihres Mannes Lieblingsausdruck, fast fort und fort in »Rep und Ruhr« befand. Diese Verwirrung nahm noch lange kein Ende; doch Windt hatte sich nun eingelebt in das bewegte kriegerische Leben, ritt oft mit den Freunden nach Arnhem, führte erbitterten Krieg gegen alles marodirende Gesindel, und hatte an Philipp dabei einen stets kampflustigen handfesten Gehülfen. Unterdessen dauerten die Kämpfe fort; an der Wahl schlug man sich mit der heftigsten Erbitterung, und der fortwährende Kanonendonner erschütterte den Erdboden so heftig, daß sich Windt’s Tisch zitternd bewegte, an dem er saß, an seine Gebieterin schrieb und ihr Bericht erstattete.
[200]Nimwegen, die Festung Grape an der Maas, Thiel in der Betuwe (sprich Betaue) an der Wahl, wurden zu gleicher Zeit bombardirt, Bommel war hart bedroht, fast das ganze Reich von Nimwegen (Bezeichnung des Landstrichs zwischen Wahl und Maas) stand in Flammen. Endlich gingen die Franzosen zwischen Lent und Pandeeren unter stetem fürchterlichen Feuern und in einem dichten Nebel über die Wahl, und versuchten auf dem Bommeler Weerd zu landen. Ringsum und überall war das Land in offnem Kriege.
Da Windt das ihm anvertraute Kastell Doorwerth in sicherem Schutz wußte und ihn verlangte, gewissere Nachrichten über den Stand der Dinge auf dem Kriegsschauplatz einzuziehen, als ihm zukamen, um seine eigenen Maßregeln danach zu nehmen, so forderte er seine jungen Freunde Ludwig und Leonardus auf, mit ihm in Begleitung berittener Dienerschaft einen Auskundschafts-Ritt in die obere Betaue zu machen, welcher Vorschlag Jenen nur willkommen war. Sie ritten längs des Rheines über das kleine Flüßchen, die Doorwerth, nach Wageningen, wo Windt nicht unterließ, den Bürgermeister nach seinem Ausdruck »zu bezahlen«, dafür, daß dieser gleichsam über das Kastell verfügen zu wollen sich erdreistet hatte; dann setzten sie ihren Weg nach Rheenen fort, wo eine Fähre sie an das linke Rheinufer brachte. Von da verfolgten die Reiter ihren Weg durch die unabsehbaren Wiesenfluren der Nieder-Betaue, welche aber bereits in die weiße Schlummerdecke des Winters eingehüllt waren, was den Ritt erleichterte, denn die Wege waren etwas hart gefroren, bis zum Flüßchen die Linge, über welches sich eine steinerne Brücke spannte und bis zum Dorf Isendoorn, ohnweit welchem die Wahl ihre langsame und trübe Flut wälzte. Längs der Wahl immer westwärts reitend, näherten sich die Freunde mit Vorsicht der Stadt Thiel, und befragten hie und da begegnende Landleute nach den jüngsten Ereignissen, ohne jedoch wichtige Aufklärungen zu erhalten, denn das Landvolk zeigte sich scheu [201]und furchtsam, mißtrauisch und träge, und nahm um so weniger Antheil daran, ob der Freund oder der Feind siege, weil es längst die Ueberzeugung gewonnen hatte, daß der Freund es unmöglich schlimmer mit ihm machen könne als der Feind, eine Ueberzeugung, welche Windt im vollen Maße theilte, denn, sagte er, die Englischen und Holländischen nehmen, was sie finden – und mehr als sie finden, werden die Franzosen auf keinen Fall nehmen können, dies ist logisch und unumstößlich richtig.
Die Freunde nahmen wahr, daß die Landleute, sobald sie des Reitertrupps ansichtig wurden, sich, so schleunig es gehen wollte, hinter Hecken und Weidenbüsche verkrochen, in Gräben duckten, und sich so eilig unsichtbar zu machen suchten, wie die Feldmäuse, die hie und da noch aus ihren Löchern geschlüpft, ihre letzte Nachernte hielten, worüber Windt, da auf diese Weise kaum Jemand seinen Fragen Stand hielt, sich nicht wenig erzürnte. Die Reiter sahen schon den mächtigen Kirchthurm von Thiel vor sich aus der endlosen Ebene emporragen, und waren an eine Stelle gelangt, wo zwischen dem Dörfchen Oyen und Sandyk sich mehrere Wege kreuzten, als Windt’s scharfes Auge einen Menschen gewahrte, den er schon einmal und zwar vor Kurzem gesehen zu haben glaubte, welcher Mensch eine blaue Bluse trug und unter derselben dunkel gefärbte Beinkleider; ein breitkrämpiger Bauernhut bedeckte seinen Kopf; dieser Mensch hatte scharf nach den Reitern gesehen und duckte sich jetzt hinter Erlen und Weiden nieder, die am Ufer eines Grabens standen.
Wieder so ein verdammter Ausreißer! rief Windt. – Er hatte es aber noch nicht völlig ausgerufen, so galoppirte schon Philipp mit einer geschickten Schwenkung so rasch um das Gebüsch herum, daß er jenem Menschen in dem Augenblick den Weg verritt, als derselbe in einen am Ufer befestigten Kahn springen wollte. Der Flüchtling erschrak, lief rechts, da kam ihm Ludwig, er lief wieder links, da kam ihm Leonardus mit lautem Anschrei entgegen. Noch einmal rannte er nach dem Wasser zurück, während er ein Pistol zog und den Hahn spannte, aber Philipp ritt stracks auf ihn zu, und hätte ihn unfehlbar über den Haufen geritten, wenn er nicht in die Knie gesunken wäre und gerufen hätte: Mille pardon! mille pardon! während er die Waffe aus der Hand warf.
[202]Sieh, sieh, Leonardus! Wiederum unser Pariser! rief Ludwig, und Leonardus erwiederte: Wahrhaftig, der Citoyen von der Seineterrasse, der Ça ira-Mann von der Balustrade!
Das Großmaul von neulich! Was zum Kukuk hat der Bursche hier zu thun?
Der Wasserspringer! gab Philipp dazu. Ich kannt’ ihn gleich von Weitem an seinen langen dünnen Schlenkerbeinen, gnädige Herren Hauptleute. Soll ich ihn in die Wahl schmeißen?
Da hätte er die Wahl zwischen Seine und Rhein! lachte wortspielend Ludwig. Nein, bindet den Kerl und laßt uns ihn mitnehmen. Täuscht mich nicht Alles, so erfahren wir von ihm mehr als von irgend Jemand.
Henkt ihn auf, dort an jene Weide! schrie Windt, den ein Gefühl wilder Rache gegen den Mann überkam, der ohnlängst als Führer einer Bande das Schloß mit großer Gefahr und ihm selbst das eigene Leben bedroht hatte. Mit angstvoll verzerrtem Gesicht sich am Boden windend und unter einer Ueberfülle flehender Worte bettelte der Franzose um sein armseliges Leben.
Uebt Gnade, übt Barmherzigkeit, meine gnädigen Herren! Ich bin ein armer von Gott und der Welt verlassener Mensch! Ich will Alles bekennen, was ich weiß! Ich will euch Alles berichten! Nur nicht henken, nur nicht henken! Sollte mein Hals doch daran? Ich bin aus Paris entflohen, meinen Hals zu retten; ich scheute die Berührung des Guillotinebeils mit meinem Halse! Ich bin von der Armee dessertirt, weil dort mein Hals in Gefahr war! Schont ihn, schont ihn, ich habe nur diesen einen!
Pardon für ihn, lieber Windt! Er ist ja unser Gefangener, riefen die Hauptleute.
Nun denn, wie Sie befehlen! erwiederte Windt; aber bindet ihn fest, Philipp, laßt ihn nicht einen Augenblick aus den Augen. Diese Art ist wie ein Aal! Gürtet ihn mit einer Halfter fest an den Schweif eines Pferdes. Reitet ihm zur Rechten und zur Linken, ihr Bursche, und einer dicht hinter ihm, die Klingen blank! Wenn er nur eine Miene macht zu entwischen, haut ihn auf der Stelle zusammen, den Coujon!
[203]Ich will nicht entfliehen! Ach habt nur Gnade, mein gestrenger Herr General! flehte der Franzose.
Der Teufel ist dein General, nicht ich! zürnte Windt, und nachdem seine Anordnungen vollbracht waren, wurde der Rückweg angetreten.
Nicht uninteressant waren die Aufschlüsse, welche der gefangene Franzose über seine eigene Person und über die Ereignisse auf dem Kriegsschauplatze gab. Wie viel an Allem, was er aussagte, Wahres oder Falsches sei, ließ sich freilich nicht ermitteln. Was ihm nach und nach, bisweilen nicht ohne Nöthigung und ernstliche Androhung, abgefragt wurde, ließ sich in die nachstehenden Aussagen zusammenfassen.
Mein Name ist Clement Aboncourt, mein Geburtsort Saarlouis; mein Vater war Friseur, ich wurde Schneider. Mein Meister war Theaterschneider, das brachte mich zeitig auf die Bretter. Ich probirte fleißig neugefertigte Garderobestücke an meinem eigenen Leib und fand, daß sie mir herrlich zu Gesicht standen; ich wurde Schauspieler und siedelte von einer der zahlreichen Frankreich durchziehenden Banden zur andern über. Die Charaktereigenheit der Mehrzahl meiner Collegen, nie zufrieden zu sein, in den angenehmsten Verhältnissen nicht gut zu thun, stets sich auch mit den besten Directoren auf gespannten Fuß zu setzen und nur den Augenblick abzuwarten, der eine bessere Aussicht eröffnet, um contractbrüchig davon zu laufen, war auch mir in vollem Maße eigen. Nebenbei war ich, da ich ziemlich viel Talent für das Fach der Komiker wie der Intriguants hatte, stets der bescheidenen Ansicht, die fast jeder von seiner Person festhält, daß ich bei jeglicher Gesellschaft, mit der ich spielte, das bedeutendste Talent sei, der hervorragendste Mime, alle Collegen neben mir nur Stümper und Lumpe; was Wunder, daß ich zeitig begann die Wandelbühnen zu verachten, daß das einzige Paris mein Ziel wurde? Dort gelangte ich hin, fand auch Anstellung auf einem Vorstadttheater und trat in gleicher Weise wie früher von einer Bühne zur andern; ich spielte indeß mit sehr mäßigem Beifall, und gefiel zuletzt mir selbst noch weniger wie dem Publikum, so daß ich mich doppelt verkannt sah. Die Revolution fegte alle den kleinen Bühnenkram zur Seite, ich wurde [204]brodlos und war zuletzt froh, ein kleines Stellchen bei der geheimen Polizei zu erhalten. Dies war die Zeit, wo ich die Ehre hatte, Sie, meine Herren, als verkleidete Ausländer in Carmagnolentracht zu entdecken und die gute Absicht hegte, Sie als Spione des Auslandes, für welche ich Sie hielt, unter das Beil zu liefern. Die nicht eben tapfere That Ihres Begleiters vereitelte mein Vorhaben und hatte für mich sehr trübe Folgen. Einer meiner Collegen – befehligt, gleich mir, auch auf jeden Mouchard, der ihm bekannt war, ein scharfes Augenmerk zu richten – stand am jenseitigen Ufer der Seine, blickte nach mir herüber und sah mich plötzlich den unfreiwilligen Saltomortale herab in die Seine machen. Er gab mich an, und ich wurde, nachdem man mich verhört hatte, mit dem Prädicat eines grenzenlosen Dummkopfs und dem Rathe, ohne Verzug das Weichbild der guten Stadt Paris zu verlassen und es nie wieder zu betreten, meines Aemtchens entsetzt, und hatte nun zu dem vielen Wasser, das Sie mich hatten schlucken lassen, nicht einmal trockenes Brod. Der Hunger mehr noch als der Durst trieb mich jetzt zur Armee, und so kam ich in diese Gegend. Wie es den armen Soldaten geht, werden Sie wissen, meine Herren, Hunger, Durst und Kälte und feindliche Kugeln, das sind die ganzen Annehmlichkeiten, die heut zu Tage ein tapferer Franzose zu erwarten und zu genießen hat, der für die glorreiche Republik kämpft. Ich eignete mir eine Flasche Cognac zu, um eine Schutzwaffe gegen zeitweiligen Durst und die unerträgliche Kälte zu haben, und der Eigenthümer derselben wagte die Behauptung, daß ich dies heimlich gethan, erklärte auch einige Zehnlivresstücke, die sich in meiner Tasche fanden, für die seinigen, ja, er steigerte sogar seine schändlichen Anklagen zu solcher Höhe, daß er behauptete, diese schlechten Hosen, welche ich hier anhabe, seien auch die seinigen. Darauf hin war man so über alle Maßen grausam, mich henken lassen zu wollen, und es kostete mir unsägliche Mühe, bevor der Strick um meinen Hals wirklich zugezogen wurde, mich einer so entehrenden Behandlung ganz zu entziehen, indem ich nämlich durchging, eine Sache, in welcher meine theatralische Laufbahn mir jene Ausbildung verliehen, welche meine Muttersprache mit dem trefflichen Worte Routine bezeichnet. Ich ging zu einer andern Heeresabtheilung über, bei der ich mich als Auskundschafter meldete, und als solcher willkommen war. Als solcher mischte ich mich unter [205]die Marodeurs, an deren Spitze ich ohnlängst der Ehre theilhaft wurde, Ihnen, sehr geehrte Herren, zu begegnen, um die Ausreißer unsers Heeres wo möglich an den Galgen zu liefern. Mir fiel, bei meiner Ehre sei es geschworen, nicht ein, zu plündern, ich war der Unschuldige unter jenen Schuldigen, ich mußte nur so thun, wie ich that, um im Vertrauen jenes Gesindels zu bleiben, und ich sehe in der That nicht ein, weshalb jener Herr sich so darauf steift, mich in alle möglichen Flüsse Europas zu werfen, da ich doch ein Franzose bin, der gern auf dem Trocknen ist und der in diesem Lande verbreiteten Secte der Wiedertäufer ganz und gar nicht angehört.
Dieser mit kläglichem und beweglichem Geberdenspiel von Seiten des Spions gehaltene Vortrag belustigte die Zuhörer und benahm jedem Einzelnen derselben den etwaigen Gedanken irgend einer gegen den gefangenen Mann zu übenden Grausamkeit. Ihn unschädlich zu machen, mindestens für die Sache Hollands, konnte genügend erscheinen, doch wollte Windt die Habhaftwerdung der nichtsnutzen Person des Spions mindestens dadurch nutzbar machen, daß Clement Aboncourt nun offen und haarklein Alles sagen sollte, was ihm vom Stande der französischen Armee oder sonst von seinen Landsleuten bekannt sei. Unter dieser Bedingung sollte Aboncourt das Leben geschenkt und er nur so lange im Kastell in Haft gehalten werden, bis entweder der Feind über den Rhein und die Yssel in’s Land brechen oder ein Friedensschluß zu Stande kommen würde, dem die hartmitgenommenen Länder sehnlich entgegenhofften.
Nun denn, was ich weiß, will ich sagen, begann Clement Aboncourt seine Mittheilung: Schaden bringt es Niemand und mir bringt es Nutzen, wenn ich offen rede, denn ich bin ein Mensch, der einen Hals besitzt, welchen ich zu ganz anderen Verrichtungen bestimmt glaube, als der, durch einen Strick zugeschnürt zu werden. Eine Abtheilung der französischen Armee, etwa viertausend Mann, bewerkstelligte zur Nachtzeit eine Landung auf den Bommeler Waard oder Weerd; sie wurden aber mit so großer Höflichkeit empfangen und ihnen mit so vieler Artigkeit zurückgeleuchtet, daß nur wenige von ihnen das jenseitige Ufer der Maas, die sie überschritten hatten, wieder gewannen. Das Fort Sanct André, das die große Insel zwischen Maas und Wahl, welche beide Ströme vor ihrem Zusammenfluß bilden, an der [206]östlichen Spitze beschützt, wurde fünfmal mit der größten Wuth bestürmt und ebenso vielmal wurden wir zurückgeschlagen. Die holländische Garde hat Wunder der Tapferkeit verrichtet, gleichwohl wird das Alles nichts helfen, das Fort wird auf’s Neue nun mit sechs Schiffen, drei von der Maas und drei von der Wahl aus, beschossen werden. Schon rücken unsere Regimenter auf dem rechten Wahlufer herunter; ich eilte den Vorposten voraus, und wenn die Herren eine Stunde oder nur eine halbe Stunde sich dorthin wagten, wo sie mich gefangen nahmen, so säßen wir jetzt Alle miteinander ganz sicherlich nicht hier.
Es ist ein kitzlich Ding im Kriege, fuhr der Spion fort, indem er sich unwillkürlich an seinen Hals griff: es ist Alles, wie Hand umwenden. Heute mir, morgen dir – sagen die Deutschen. Wir müssen die Wahl nehmen, wir müssen Bommel haben; entweder herein in das Land des Feindes oder ganz zurück, denn wir sind ausgehungert, völlig ausgehungert, trotz allen Siegen – es fehlt am Besten!
An Geld? fragte Windt spöttisch. Ich dächte, dieses stehlt ihr ihr – wie wir vorhin hörten.
Nein, mein General, versetzte der Spion: Geld ist nicht das Beste – es fehlt an Etwas, was sich nicht nur so stehlen läßt, es fehlt an Salz und das bringt die Armee fast zur Verzweiflung; denn je mehr das Salz fehlt, desto salziger wird ihre Haut. – Aha, spottete Leonardus, und da hofft ihr in Holland Salz zu finden, weil es so viele Häringe einsalzt!
Leider! – leider! Wenn uns die Suppe nicht, wie neulich mir, versalzen wird! seufzte der Spion mit einer Grimasse und fuhr fort: Das letzte Salz in Herzogenbusch, so viel als man gewöhnlich um acht niederländische Gulden kauft, ist zu fünfhundert Gulden verkauft worden.
Ist die Grave über oder ist sie nicht über? fragte Ludwig.
Das weiß ich nicht, mein Herr Oberst, erwiederte Aboncourt: allein ich bezweifle es, sonst würde die Maas mehr von Feinden geräumt sein und es wäre weniger Mangel in unserer Armee vorherrschend, die immer einen schweren Stand haben wird; denn es marschiren in [207]diesen Tagen zweitausend Kaiserliche nach Arnhem und Holland hat auf den Grund eines geheimen Tractates fünfundzwanzigtausend kaiserliche Soldaten in seinen Sold genommen, die nach und nach anrücken, um die Wahl zu decken; die englische und hannoversche Reiterei dagegen geht nach Westphalen.
Woher weiß so ein miserabler und lumpiger Kerl, wie du einer bist, das Alles? fragte Windt barsch.
Herr! entgegnete Clement Aboncourt: haben Sie die Gnade und henken Sie mich lieber, als daß Sie mich schimpfen! Da ich in Ihnen einen guten Legitimisten voraussetzen darf, so bedenken Sie, daß ich ein König war.
Auf deinen Schmierbühnen, du Meerschwein!
Ja leider – nirgends als dort, sonst wäre ich nicht hier! fuhr jener unter komischen Seufzern fort: denn wenn ich ein König oder ein königlicher Prinz in der Wirklichkeit wäre – ich wollte mich bei Gott anders und besser halten, wie zum Beispiel der Herr Graf von Artois.
Was ist’s mit dem? fragte Ludwig aufmerksam.
Je nun – antwortete wegwerfend der Spion: er liegt im Hauptquartiere der feindlichen Verbündeten, läßt sich als Gast von den deutschen und niederländischen Edelleuten bewirthen, schmarozt wie ein Abbé und führt ein müßiges Schlaraffenleben. Er stolzirt in einem rothen goldgestickten Rock einher und trägt am Hut eine weiße Cocarde, so groß wie ein Teller. Ludwig der Sechszehnte mochte sein wie er wollte, besser wie dieser war er auf alle Fälle und an dem verliert Frankreich wahrhaftig nichts. Wenn die Emigranten, die den kleinen Hof und Schweif dieses Grafen Artois bilden, ihn mit der weißen Cocarde sehen und er ein weissagendes Gesicht schneidet, denken sie Wunder, wie gut ihre Sache stehe und wie bald man sie zurückrufen werde, und rufen gläubig aus: Ah! Nos affaires sont bien, le Comte d’Artois a souri à la lecture de ses lettres.
Ja ja – brummte Windt: sie haben einen starken Glauben und der Glaube kann Berge versetzen.
Aber nicht Armeen, fügte Leonardus hinzu und fragte den Spion: Weißt du nichts vom Frieden, nichts von wichtigen Veränderungen, spricht man im feindlichen Heere nicht von einem Waffenstillstand?
[208]Waffenstillstand wäre unser Tod! erwiederte der Spion: der wäre wahrlich für keine Partei eine goldene Brücke, denn die Heere blieben zehrend wie Heuschrecken in den Ländern liegen. Und der Winter wird streng, das werden Sie wahrnehmen. Der National-Convent hat der Armee sogar das Beziehen von Winterquartieren verboten, er wird in keinen Waffenstillstand willigen. – Neues ist, wenn Sie es nicht bereits wissen, daß der Herzog von York plötzlich von der Armee abberufen worden und nach England gereist ist und daß Prinz Friedrich von Oranien ihn bis nach dem Haag begleitet hat. Dieser Prinz wird preußische Dienste nehmen, da er durch seine Mutter und seine Gemahlin Preußen so nahe steht. Das hannoversche Hauptquartier bleibt zur Zeit in Arnhem; der Graf von Walmoden führt den Oberbefehl; die englischen Truppen gehen zum Theil nach ihrem Vaterlande zurück; General Harcourt führt über diese das Commando. Man sieht ein von Seiten Ihrer Armeen, daß man alles tapferen Widerstandes ohnerachtet die Wahl nicht länger vertheidigen kann, sie ist unser und wir rücken gegen den Rhein vor. Man wird jetzt plötzlich den Rhein Ihrerseits befestigen wollen, aber zu spät. Wissen Sie, wie viele Schanzen in der Herrlichkeit Doorwerth aufgeworfen werden?
Schanzen? Nein! rief Windt gespannt aus.
So will ich es Ihnen verrathen und will auch gestehen, daß ich neulich nicht nahe bei Ihrem Kastell landete, um es zu plündern oder um zu zechen, sondern, daß mein Auftrag, dessen ich mich auch vollkommen entledigt habe, dahin ging, die Beschaffenheit der bereits vorhandenen Schanzen zu untersuchen; ich fand aber keine als die halbverfallene Dünen- oder Hünenschanze. Nun will man in aller Eile fünf neue aufwerfen, eine Ihrem Kastell gerade gegenüber.
Herr Gott! schrie Windt. Da geht ja, wenn die Schanze vom Rhein aus beschossen wird, das Kastell drauf! Das darf nimmermehr geschehen! Da wäre Alles verloren!
Nun, warten Sie es doch ab, lieber Windt! suchte Ludwig zu beschwichtigen, aber Windt rief leidenschaftlich: Nein! Da ist nichts abzuwarten, aut Caesar, aut nihil!
Vielleicht wird Friede oder doch Waffenstillstand auf alle Fälle! nahm Leonardus das Wort.
[209]Ich will Ihnen auch sagen, fuhr Aboncourt fort: wie bereits die Winterquartiere Ihrer Armeen angeordnet sind, falls Sie das nicht schon wissen.
Nicht so ganz genau, erwiederte Ludwig.
In Arnheim bleiben die hannover’schen Truppen, berichtete der Spion: in Zuitphen wird das Generalquartier der Hessen aufgeschlagen; nach Doesburg kommen die Hessen-Darmstädtischen Truppen; die Franzosen unter dem Prinzen von Condé und im englischen und niederländischen Solde kommen in die Provinz Utrecht zu liegen. Der Graf von Artois wird sich nach Hamm oder auf die Hamburg begeben, man verwechselt diese Ortsnamen leicht.
O ja, wenn man ein Franzose ist! spottete Windt.
Nun? Ist Hamburg nicht die Burg von Hamm? fragte ganz unbefangen der Spion und ließ sich nicht beirren, als ihm ins Gesicht gelacht wurde, sondern fuhr fort: Das Hauptquartier der kaiserlichen Armee ist in die Weselgegend bestimmt, unter General Joseph Freiherrn von Alvinczy. Zweitausend Mann von diesen Truppen gehen noch nach Arnhem und eine gleiche Zahl zieht einen Cordon an der Wahl.
Diese und andere Mittheilungen erweckten gegen den Spion unter dessen Zuhörern eine günstigere Stimmung; sie sahen einen Mann, den das Leben in allerlei Lagen herumgeworfen hatte und der keine andere Aufgabe zu kennen schien, als eben dieses Leben, so armselig und mühevoll es war, zu fristen und zu erhalten. Man versah ihn daher mit allem Nöthigen und hielt ihn in leidlicher Haft, gedachte auch, da man ihn auf eigene Hand gefangen genommen und auf eigene Hand ihm das Leben versichert hatte, ihn den Befehlshabern nicht anzuzeigen, denn sonst wäre ihm höchstwahrscheinlich Kugel oder Strang dennoch zu Theil geworden.
Kastell Doorwerth glich jetzt ungleich mehr einer Festung, als einem Lustschloß; es wimmelte darin von Soldaten aller Truppengattungen und so umfangreich und zahlreich die Räume des Schlosses waren, so blieb für Windt zuletzt nur noch ein enges Thurmgemach übrig. Die Einquartierung oder Besatzung des Kastells und der Herrschaft wechselte häufig, da die Verhältnisse beständige Truppenbewegungen herbeiführten. Als die englischen Jäger und Uhlanen fort waren, kam niederländische Gardereiterei, welche in den Ortschaften [210]der Herrlichkeit ihre Cantonnirung angewiesen erhielt. Dieser folgte das englische Freicorps von Salm-Kyrburg; dazwischen hatte Windt über tägliche Lasten zu klagen, Durchmärsche, Plünderungsversuche, Aerger und Verlust im Uebermaß. Dem erwähnten Freicorps folgten Jäger vom Regimente Hompesch – diesen ein Bataillon von Hohenlohe – dann kam das achte und das vierzehnte Regiment englische leichte Dragoner. Alles Land von Nimwegen bis Leiden war mit Truppen überschwemmt.
Von Zeit zu Zeit kamen auch mehrere der hohen Befehlshaber aus Arnhem herüber geritten, und eines Tages geschah es, daß der Erbherr den Prinzen Ernst August von Großbritannien und noch einen Herrn in sein Schloß einführte, die Bewohner desselben freundlich begrüßte und sich genau nach allen Verhältnissen erkundigte, da diese jeder kommende Tag wieder anders gestaltete. Prinz Ernst August, von dem Niemand glauben konnte, da ihm noch drei ältere Brüder, Georg, Friedrich von York und Wilhelm, Herzog vom Clarence lebten, welche alle zum Königsthrone gelangten, daß auch er einst die Krone eines Königreichs tragen werde, forderte Windt und Leonardus zu einem Recognitionsritt in die Umgegend auf, und der Erbherr sagte zu seinem Vetter Ludwig, er möge ihm und dem zweiten Gast einstweilen Gesellschaft leisten, indem er seinen Vetter diesem Gaste vorstellte. Dieser Fremde war der niederländische Gesandte, Graf Brantsen, derselbe, der die Ehre gehabt, auf seinem Schlosse Sip den Grafen von Artois zu bewirthen. Als die drei Herren vertraulich beisammen saßen und ihr Gespräch sich, wie es nicht anders sein konnte, auf die bewegte Zeit lenkte, äußerte sich der Gesandte: Dieses Wirrsal kann keine Dauer haben; es müssen Schritte geschehen, die den Völkern und Ländern den Frieden wieder geben. Mit der Waffengewalt geschieht dies noch lange nicht. Dazu führt ungleich schneller und unblutiger jene kleine feine Waffe, zu deren Führung es nicht der beiden Hände oder doch der ganzen Faust, sondern nur dreier Finger bedarf, und ein gewisses Maß von Kenntnissen, mit einem klaren Verstande, nebst redlichem Willen.
Du wirst verstehen, lieber Vetter, was der Herr Ambassadeur meinen, erläuterte der Erbherr: und seine Güte, die ich für dich in Anspruch zu nehmen mich erkühnte, um dir einen recht guten und treuen [211]Dienst zu leisten, hat mir zugesagt, dir nützlich sein zu wollen. Sieh, lieber Vetter, ich glaube dich nicht falsch zu beurtheilen, wenn ich meine, daß du nicht für den Kriegerstand geboren bist. Dir sagt wohl mehr, wie du von Jugend auf es geführt hast, ein beschauliches Stillleben zu, und ich möchte dich glücklich wissen, denn du weißt, und ich weiß, was ich dir Alles danke. Was soll dir dieser Krieg und besonders die Art, wie er jetzt in diesem Lande geführt wird? Man spricht nicht von Schlachten, in denen ein junges Heldenherz sich Lorbeeren erkämpfen kann, sondern von Winterquartieren, man denkt nicht auf Vorzüge, sondern auf Rückzüge, man ficht nicht mit der Waffe der tapfern Hand, sondern nur mit grobem Geschütz. Zum Vorrücken in höheren Dienstrang ist keine Gelegenheit, und für was solltest du dein Leben auf das Spiel setzen? Du bist in Deutschland geboren, weshalb solltest du für Holland kämpfen? Daher bin ich der Meinung, du weilest nicht länger hier unter dem rauhen und doch so nutzlosen Getöse der Waffen, sondern versuchst in einer andern Laufbahn dein Glück, versuchst wenigstens in ihr den Grund einer zukünftigen ehrenvollen Stellung im Leben zu legen. Unser Windt ist ein trefflicher, lieber, edeldenkender Mann, ich schätze ihn außerordentlich, und seine Frau ist ja überaus brav und rechtlich, allein beide sind doch auf die Dauer kein Umgang für dich; du mußt eintreten in höhere Lebenskreise. Dein Blick muß geschärft, deine Ansicht vom Leben und dessen höchsten Aufgaben geläutert und festgestellt, ja selbst dein Herz muß geprüft und gebildet werden durch höheren Umgang. Sage selbst, ob ich nicht Recht habe?
Ja, du hast Recht, Vetter, sprach Ludwig, doch so schwankend, als erwache er aus einem Traume.
Mag Paris jetzt vielen Frommen als ein Sündenpfuhl, ein Sodom und Gomorrha, Andern als eine Löwengrube, noch Andern als Niniveh und Babylon erscheinen, welches demnächst der Zorn des Höchsten zertrümmern wird – dem Auge des vorurtheilfreien Weltmannes erscheint es anders, erscheint es immer als die europäische Weltstadt, in der das gesellige Leben seinen höchsten Blüthenstand erreicht, in der dasselbe am heißesten pulst, und das stets die höchste Bildung über alle Lebenskreise ausstrahlt. Der Herr Gesandte geht in diesen Tagen nach Paris ab, und ist so sehr gütig, dich als Attaché [212]mit dorthin nehmen zu wollen. Bei wenig Mühe wirst du leicht und sicher die Pflichten und Dienstleistungen, die dir dann obliegen werden, das Abfassen mancher Correspondenzen und dergleichen, dir aneignen, und hauptsächlich jene gesellige Gewandtheit, die ebenso fern von unwürdiger Kriecherei als lächerlichem Hochmuth den gebildeten Mann befähigt, sich mit Anstand und sittlicher Haltung in allen Kreisen des Lebens zu bewegen.
Sie sind sehr gnädig, Herr Graf, richtete Ludwig sein Wort an den Gesandten, daß Sie sich eines so jungen und noch so unbedeutenden Menschen, wie ich bin, annehmen wollen. Es ist wahr und ich gestehe ein, daß mein Herr Vetter Recht hat; der Kriegsdienst ist nicht meine Sphäre, es lebt kein Verlangen in mir, auf die Länge hin Soldat zu sein, wie ehrenvoll dieser Stand auch ist, aber ich fürchte sehr, daß ich Ihnen eine Last sein werde; jedenfalls glaube ich zu wenig unterrichtet zu sein, um die schwierige Bahn eines Diplomaten –
Man wird nicht über Nacht ein Diplomat, mein junger Herr Graf, unterbrach der Gesandte den Sprechenden. Sie legten eine gute Grundlage in den alten Sprachen. Sie sprechen und schreiben viele der neueren: niederländisch, französisch, englisch, deutsch, das ist schon viel. Selbststudium durch gediegene Schriften wird in der höhern diplomatischen Geschichte der europäischen Länder und Höfe Sie bald befestigen; die Grundzüge des europäischen Staats- und Völkerrechts werden Sie sich bald aneignen; es bleibt Ihnen unverwehrt, in Paris einen Cursus dieser Wissenschaften an der Universität zu hören; vertrauen Sie mir nur, ich werde Sie gut und sicher und mit Wohlwollen führen.
Ludwig verbeugte sich verbindlich dankend, dann aber ward er nachsinnend und sprach endlich zu seinem Verwandten: Aber Leonardus?
Herr Leonardus van der Valck, Kaufmann aus Amsterdam, wandte der Erbherr seine Rede erläuternd an den Gesandten: derselbe Mann, der mit Seiner Königlichen Hoheit dem Prinzen und Herrn Commandant Windt vorhin zum Recognosciren ausritt, ist der Freund meines Vetters und wird gewiß nicht derjenige sein wollen, der dessen künftigem Glück hemmend in den Weg tritt.
Er ist ein Freund, ein Freund im schönsten und edelsten Sinne [213]des Wortes, ein Freund, auf den auch nicht der kleinste Schatten fallen darf! rief Ludwig mit edler Aufwallung, da ihm schien, als erkenne sein Verwandter nicht seines Leonardus volle Seelengröße vollständig an. Es bedarf nicht, daß ich ihn rühme, fuhr Ludwig fort: ich will nur sagen, daß ich nicht gesonnen bin, mich von ihm zu trennen; ich habe, kaum aus der Welt meiner Jugendjahre getreten, bereits der tiefschmerzlichen Trennungen schon zu viele erlebt.
Dem Erbherrn zuckte es bei diesen Worten in der Brust, als brenne ihn plötzlich eine alte Wunde, und er bedurfte einiger Augenblicke, die bittere Empfindung niederzuringen, die in ihm lebendig wurde, während der Gesandte das Wort nahm: Wenn Herr Leonardus van der Valck so treu an Ihnen hängt, Herr Graf, als Sie an ihm, so wird ihm nichts im Wege stehen, uns nach Paris zu begleiten. Kann ich ihn auch nicht – und wer weiß, ob es nicht in der Folge doch geschehen könnte – in meinem Bureau anstellen, so kann ich ihn doch unter den Schutz der Gesandtschaft stellen, er kann als Volontair pro forma mit Ihnen arbeiten; Sie können ungetrübter, als irgendwo, das Glück ihrer beiderseitigen Freundschaft genießen. Hier im Getümmel der Waffen droht Ihnen unversehens vielleicht die schmerzlichste Trennung.
Leonardus mag entscheiden! sprach Ludwig fest. Wir sind, was wir äußerlich nur scheinen, innerlich in Wahrheit geworden, Brüder – und da mir die Süße der Familienbande versagt ist, meine Heimath mir fernab liegt, da ich losgerissen bin von geliebten Herzen, so will ich doch an dem einen Anker mich halten, so lange es Gott vergönnt, ich will Leonardus, den ich zum Bruder mir erwählt, auch Bruder bleiben bis zum letzten Athemzuge meines Daseins.
Schnell und rasch war die Wendung in Ludwig’s Schicksal; Leonardus, der des Freundes Gefühle so innig theilte, willigte mit Freuden ein, denn auch ihm konnte das Leben, wie es jetzt hier zu führen die Nothwendigkeit gebot, auf die Dauer nicht zusagen. Aber wie ganz anders war der jetzige zweite Abschied Ludwig’s von dem redlichen Windt? Beim ersten Abschied galt dieser dem jungen Grafen nur als der unwandelbar treue Diener der alten Großmutter, als ein etwas steifer, förmlicher Kanzleimensch, ein gutes, brauchbares Inventarstück, das sich durch seine Dauerbarkeit empfahl. Um wie Vieles höher war [214]Windt in Ludwig’s Achtung, ja in seiner dankbaren Liebe gestiegen? Welche Verdienste hatte sich der treue Mann nicht um Leonardus, um Angés, um jenes Kind erworben, und um Ludwig selbst, ja auch um dieses Schloß, diese Herrschaft. Ludwig schenkte ihm alle seine Waffen, nur die Damascenerklinge mit den bourbonischen Lilien auf blauem Grunde am Griff behielt er für sich. Auch Philipp’s Brauner blieb Windt zum Geschenke, und Leonardus’ Reitknecht trat in dessen Dienste, da einer von seinen Dienern ihn verließ. Windt und seine Frau weinten, als die Freunde schmerzlich bewegt von ihnen Abschied nahmen. Der Erbherr wünschte aufrichtig Glück – vielleicht noch etwas aufrichtiger als damals in seinem Briefe. Was lag nicht Alles zwischen jener Trennung und der heutigen? Philipp begleitete als gemeinschaftlicher Diener die Freunde.
Der Gesandte war ein angenehmer und liebenswürdiger Mann, feingebildet, ganz für seine Stellung geschaffen. Leicht gewannen die Freunde seine Gunst, und schon seine Unterhaltung war in hohem Grade belehrend. Sie fuhren mit Extrapost von Station zu Station, das Gepäck kam nach; der Gesandtschaftspaß beseitigte jede Gefährdung.
Unterwegs peitschte der Postillon nach dem Rücksitz – es war in Rheenen – um einen Mann, der sich hinten aufgesetzt, zum Herabspringen zu bewegen; jener hielt und duckte sich lange, endlich sprang er doch herab. Ludwig bog sich aus dem Schlage und blickte zurück. Die Postkalesche rollte unaufhaltsam fort – der Mann zog den Hut und machte Bücklinge und komische Grimassen. Es war Clement Aboncourt.
Am Jungfernstiege stand mitten unter den andern palastgleichen Häusern der schönsten Straßen Hamburgs ein altes Gebäude von gediegener Aufführung im reinsten und edelsten Style der Renaissance. Weitbogige vergoldete, mit Blumen und Blattwerk reich verzierte Eisengitter sicherten die Fenster des untern Geschosses gegen Einbruch, metallene riesige Löwenköpfe trotzten an dem schweren Eichengetäfel der Thürflügel, die mit vergoldeten Bronzebändern in gekreuzter Gitterform überdeckt waren, wie grimmige Wächter. Das Portal zierten füllreiche Karyatiden, und über demselben hoben sich unter einer fürstlichen Krone, kunstvoll in Marmor gehauen, zwei schräg aneinander gelehnte Wappenschilde.
Das eine dieser Wappenschilde zeigte auf einer großen Tafel von Lapis Lazuli, aus massivem Silber getrieben, ein Ankerkreuz.
Es war das Haus, es waren die Wappen der alten Reichsgräfin.
Bis zu dem Dachgesimse hinan war die Außenwand dieses Palastes mit reizenden steinernen Arabesken und mancherlei Emblemen geschmückt, und hinter den doppelten Spiegelscheiben der hohen Fenster nickten herrliche Blumen, die schönste Winterflora, die nur immer von den Gewächshäusern der bedeutendsten Kunstgärtnereien Hamburgs geboten werden konnte. Die Matrone saß in einem höchst vornehm, aber wohnlich eingerichteten Zimmer, dessen Boden mit weichen Teppichen belegt war, dessen Sophas schwellende gestickte Kissen bedeckten, und dessen Wände einige Oelbilder von guten Künstlern zierten, darunter auch an einer Wand vereinigt drei reizende Seitenstücke von der Meisterhand Philipp Wouwermann’s, darstellend die drei Schlösser Varel, Kniphausen und Doorwerth, mit im Genre dieses berühmten Künstlers mannichfach belebten Vordergründen. Die Matrone saß, [216]wie sie gewohnt war, von Büchern, Schriften und Schreibmaterialien umgeben, in einem bequemen Armsessel am Schreibpult, und überlas eine so eben von ihr selbst entworfene Schrift:
»Interims-Quittung.
Für zwanzigtausend Mark Hamburger Banco, welche Uns von Seiten Unsers ältesten Herrn Enkels, des Grafen Wilhelm Gustav Friedrich, Grafen zu Varel, In- und Kniphausen, Herrn zu Rhoon und Pendrecht u. s. w., nach Maßgabe der mit demselben in Betreff Unserer habenden und dargelegten beträchtlichen Anforderungen sowohl, als wegen einer Cession Unserer Herrlichkeit Doorwerth cum pertinentis geschlossenen Haupt-Conditionen zum Vergleich (dessen völliger Abschluß und Vollziehung durch die inmittelst eingetretenen Zeitläufte bisher behindert worden) in Abschlag des am 3. September jüngst bereits zu entrichten gewesenen ersten Terminis von fünfzigtausend Gulden Holländisch ausgezahlt und von Uns, reservatis reservandis in Empfang genommen worden. Hamburg vom Heutigen.
Charlotte Sophie.«
So wird es ja wohl recht sein, sprach die Schreiberin, wenn der Rath Melchers nicht noch einige Wenn und Aber drum und dran macht, nach der Juristen Gewohnheit, der Styl aber ist abscheulich, in welchem man solche Dinge sich förmlich abquälen muß. Wenn ein Lateiner so geschrieben hätte, ein Franzose so schriebe! Für unsere Kanzleien und Gerichtshöfe leben und streben die edelsten und berufensten Geister der deutschen Nation vergebens. In diese Marterkammern unserer Sprache dringt kein Hauch von Klopstock, kein Geistesstrahl von Lessing, kein Blitz von Goethe. Ihre »Instrumente« bleiben ewig stumpf und darum um so peinlicher.
So, dies wäre gethan, das Geschäftliche abgemacht, jetzt zum rein Menschlichen! – Die Reichsgräfin klingelte, ihre Kammerfrau trat ein.
Ich bin fertig, sagen Sie das meinen lieben Gästen, der Herzogin und der regierenden Reichsgräfin und Erbherrin, gebot die Matrone, und jene entfernte sich wieder.
Warten Sie noch einen Augenblick, meine Liebe! rief die Gräfin ihre Dienerin zurück. Weißbrod soll keinen Fleiß sparen, daß die [217]Arrangements zu meinem heutigen Cirkel nichts zu wünschen übrig lassen. Vier Spieltische; die neuesten Zeitungen in das Lesecabinet, die Sessel mit der Krone, welche mit blauem Purpursammet beschlagen und mit silbernen Lilien gestickt sind, an eine besondere Tafel zu sechs Gedecken. Dann ordnen Sie einstweilen meine Toilette, keine Brillanten, nur Perlen, die schwarze Sammetrobe mit den aufgestreuten Trauerweidenzweigen von Silber-Filigranarbeit. Man muß den Schmerz ehren und der Theilnahme einen sichtbaren Ausdruck geben, auch ziemt kein anderer Schmuck meinen Jahren.
Ich bin gespannt, sprach die Reichsgräfin dann zu sich selbst weiter. Es widerfährt meinem Hause eine schöne Auszeichnung, doch wer dürfte hier in Hamburg auch nähere Rechte auf dieselbe haben, als ich, die nächste Verwandte? Wohl vereinen hier sehr glänzende Cirkel einheimische und fremde geistreiche Männer aller politischen Farben, der alte blinde Busch und mein guter Doctor Reimarus mit den Seinen geben sich alle Mühe, ausgezeichnete Fremde an sich zu ziehen, und Sieveking machte ja sein Neumühlen im vergangenen Sommer förmlich zum Taubenschlag, allein diese Gesellschaften sind zu gemischt, es kann nicht ein Jeder sie besuchen, mein Vetter zum Beispiel, Prinz Talmont, würde sich unglücklich in einem solchen Kreise fühlen.
Die Flügelthüre des Zimmers wurde vom alten Weißbrod und einem jüngeren Lakaien in reich gallonirter Livrée ehrerbietigst geöffnet und es trat eine Dame von wunderbarer Schönheit ein, eilte freundlich auf die alte Reichsgräfin zu und begrüßte sie nach allen Regeln höfischen Herkommens. Es war keine junge Frau, aber ihr Wesen, die liebliche Fülle ihrer Formen, die frische Farbe ihrer Wangen und der helle Strahl ihrer Augen kündeten jene innerliche Jugendlichkeit an, die nicht welkt mit der äußern körperlichen Hülle, der im warmen Herzen die Nährquelle dauernder Schönheit entspringt.
Georgine! Mein lieber Gast! Meine Sonnenblume! begrüßte die Gräfin jene Dame mit Herzlichkeit.
Ach, Mutter – Sie erlaubten mir ja unter uns Beiden diesen süßen heiligen Namen – entgegnete jene, sagen Sie Herbstblume! Die Sonnenzeit ist dahin – leider!
[218]Alles Schöne im Leben geht dahin, mein geliebtes Kind!
Altes Kind, das ich bin – ja wohl!
Es ist schrecklich, wie dies junge Herz sich über seine Jahre betrübt, spöttelte lächelnd die Reichsgräfin. Sieh doch mich an! Und wie alt ist Ludwig?
Eine Purpurgluth trat auf die Wangen Georginens, ein Sturm von Erinnerungen stürmte auf sie ein, und mit einem Gefühle tiefster Wehmuth sich auf die Hände der Gräfin niederbeugend, flüsterte sie: Darf ich denn noch an ihn denken? Darf ich denn? Oh, meine Mutter!
Du darfst es ohne Scheu, ohne Erröthen, theure Georgine, entgegnete sanft die Matrone. Mein Sohn war frei, war getrennt von seiner herrischen überstolzen Reneira, du warst frei, beide verletztet ihr kein drittes Anrecht, ihr liebtet euch wahrhaft, ihr wolltet euch vermählen, nur wenige Hindernisse waren noch zu beseitigen, dein Vater, der dir den Gemahl schon ausersehen, wollte noch nicht einwilligen, ihr erlagt dem Sturme eurer Leidenschaft, wie Tausende vor und nach euch, es wäre Alles noch in das rechte Geleise gebracht worden und dein Bewerber, der Großschatzmeister von Irland, hätte dir entsagen müssen, da starb mein armer Sohn Johann Albert auf seinen Gütern in Norfolk, und du, Aermste, wurdest als heimlich verlobte Braut schon Wittwe. Mir war es eine traurige, aber eine süße Pflicht, dich ganz unter die Flügel meines Schutzes und meiner Liebe zu nehmen, und Schloß Varel lag so einsam und so fern von London, und du warst bei mir zu Besuch auf lange Zeit, und ich konnte unseres Schmerzenskindes mich annehmen. Dann war ich selbst es, die dir anrieth, deine Trauer zu bannen, dein Herz stark zu machen, dem Willen deines Vaters Gehorsam zu leisten und die Hand des Mannes anzunehmen, der sich mit glühender Neigung um die Gunst der gefeiertsten Schönheit Londons bewarb und statt einer Grafenkrone mit einer Herzogskrone dein Haupt schmücken wollte. Du warst nicht nur schön, über alle Maßen schön, meine theure Georgine, du warst auch klug, du bezwangst dein Herz, folgtest meinem mütterlichen Rathe und bist noch immer, nachdem zwanzig Jahre seit deiner Vermählung vergangen sind, eine schöne, bewunderte, beneidete und eine glückliche Frau!
[219]O, ich weiß, welche Fülle von Liebe, Güte und Großmuth ich Ihnen danke, beste Mutter! erwiederte Georgine voll tiefer Rührung. Und Ludwig? fragte sie leise, von Neuem erglühend.
Ich habe einen Brief, antwortete die Gräfin, doch nicht du allein sollst ihn hören; es schlägt noch ein Herz unter diesem meinem Dache, das Theil an ihm nimmt, das ihn in Gedanken begleitet. Der Knabe würde von Glück sagen können, wenn junge Herzen so voll Liebe für ihn schlügen, wie hier zwei ältere und mein – uraltes.
Das ewig frisch und jung bleibt!
Ist Schmeicheln geistreich, meine geistreiche Georgine? Sage, das ewig treu und wahr bleibt, so lange nämlich diese irdische Ewigkeit noch dauert.
Nicht auch drüben, meine Mutter?
Ich hoffe, daß es ein Drüben gibt, und wenn es ein Drüben gibt, so denke ich nicht, daß dort ein Herz sich selbst untreu werden könne, zumal wenn es hienieden sich und Andern treu war.
Dies Gespräch unterbrach der Eintritt einer dritten und zwar jüngeren, sehr zarten Frau, deren Aussehen matt und leidend war, und die sich von den beiden schon anwesenden Frauen liebevoll begrüßt sah.
Wie ist Ihnen, meine Beste? fragte die Herzogin.
Jene verneigte sich tief und antwortete mit einer matten Stimme: Nicht zum Besten, meine Hochgnädige! Mich drückt die Winterkälte, meine Brust kann diese Luft nicht ertragen, und meine Nerven sind stets in fieberhafter Erregung.
Meine arme Ottoline! sprach mit Theilnahme die Reichsgräfin. – Bitte, meine Damen, lassen Sie sich nieder! Es ist betrübend, daß der Schöpfer es für uns arme Menschen so eingerichtet hat, daß die Freude nur einfach ist, nur geistig, aber der Schmerz doppelt, geistig und körperlich.
Oh, theure Großmutter! entgegnete mit einem Seufzer deren jugendschöne aber bleiche Enkelgemahlin: auch die körperliche Freude ist da, wer so glücklich ist, sie zu besitzen, wir haben nur ein anderes Wort dafür, es ist die Gesundheit. Wir sind uns ihrer nicht bewußt, so lange wir sie ungestört besitzen, wir denken kaum an sie, aber so [220]bald sie uns verläßt, ja wenn sie nur uns zu verlassen droht, da möchten wir mit tausend Banden die entfliehende halten und an uns fesseln.
Die alte Reichsgräfin suchte dem Gespräch wie den Gedanken ihrer geliebten Verwandten andere Richtung zu geben, und wußte es geschickt so zu lenken, daß auf Ludwig die Rede kam, indem sie erst Windt’s und Doorwerth’s, dann des Erbherrn und seines Vetters William, des Vice-Admirals, der zur Zeit auch ein Gast ihres Hauses war, beiläufig erwähnte, dann seinen Namen nannte, und mit heimlicher Freude sich daran ergötzte, wie bei diesem Klange auf Ottolinens bleiche Wangen ein sanfter Rosenschimmer flog, und die Herzogin ihre Blicke erglühend senkte. Da sie nun inne hielt und die Letztere es nicht über sich vermochte, auch nur einen Laut zu äußern, um nicht ihr Gefühl vor der in ihr Geheimniß durchaus nicht eingeweihten Enkelin der Reichsgräfin blos zu geben, so war Ottoline fast genöthigt, das Wort zu nehmen, und fragte mit sanfter Theilnahme: Wie geht es dem jungen Herrn und wo weilt er jetzt?
Das war es, was die Matrone gewollt; sie nahm den schon bereit liegenden Brief, entfaltete ihn und sprach: Es geht ihm ganz gut, und er würde für diese freundliche und gnädige Frage sehr dankbar sein, wenn er sie ahnte. Er ist jetzt zum zweiten Male in Paris.
In Paris? fragten wie aus einem Munde die Herzogin und die Erbherrin.
Ja, in Paris, und werde ich gefragt, wie er dahin kam, so dürfte dieser Brief zur Lösung dieser Frage wohl das Meiste beitragen.
O, gewiß, beste Gräfin! theuerste Großmutter! riefen Georgine und Ottoline, und die Reichsgräfin sprach wieder: Mein geliebter Enkel hat mir bisher stets auf das Treulichste von seinem Ergehen Nachricht gegeben, von dem Tage an, an welchem er in Varel von mir schied, bis zu der neuesten Zeit. Mein Blick konnte ihn überall finden, auf der Meerfahrt am Bord der »vergulden Rose« bis Amsterdam, wie im Hause des reichen Handelsherrn Adrianus van der Valck, wo er mit seinem Vetter sich versöhnte.
Ja, sie versöhnten sich, dachte Ottoline mehr, als sie es sprach: und ich mußte so tief und bitter und schmerzlich leiden über den [221]Zwist der Männer, daß mir fast das Herz darüber brach, und halb – ist’s ja ohnehin gebrochen. Ich bin noch nicht wieder gesund und noch nicht wieder froh geworden, seit ich aus dem Falken von Kniphausen trank, ach, in jenem Tranke lag gewiß ein Zauber!
Wie Ludwig dann, fuhr, ohne auf Ottolinens Bewegung zu achten, die Reichsgräfin fort: unter falschem Namen nach Paris reiste, nachdem er Windt getroffen, wie Beide vergebens sich bemüht, für mich Günstiges zu bewirken, wie sie aus mancherlei drohender Gefahr sich retteten, und begleitet von seinem Freund und dessen Geliebter nebst einem schönen Kinde nach Doorwerth eilten. Wie jene schöne Frau mit ihren sanften Augen ihn stets an dich, meine Ottoline, erinnere, wie er sich absorge um dein Wohlsein, wie seine Gedanken fort und fort um Schloß Kniphausen flögen, gleich den Raben um die Warte von Kiphausen droben im deutschen Harzgebirge, unter der eine holdselige Prinzessin, des Kaisers Barbarossa zauberschöne Tochter, in den Banden magischen Schlummers ruhen und träumen soll. Er hat das gar schön auszumalen gewußt, der liebe Knabe. Er malt gut und treffend.
Es muß sehr schön sein, schaltete Georgine fast schwärmerisch ein: in der Ferne ein so junges unentweihetes Herz zu wissen, das an uns verehrend denkt, vielleicht mit voller hingebender Liebe denkt.
Ottoline schwieg, doch konnte sie ihre innere Bewegung nicht verbergen. Charlotte Sophie nahm den geöffneten Brief und las:
»Meine theuerste, geliebteste Großmutter!
»Die letzten Briefe, die ich Ihnen aus Doorwerth sandte, schilderten Ihnen mein und meiner Freunde dortiges Leben, die angenehmen und schönen Bekanntschaften, die ich dort gemacht, die kurze Reise, die ich in Begleitung meines Leonardus eine Strecke rheinaufwärts auf der deutschen Seite vornahm, um ihn und meine Freundin Angés mit dem wunderholden Kinde zu geleiten.«
»Ich reiste mit Leonardus in Gesellschaft des niederländischen Gesandten hierher nach Paris und arbeite jetzt unter ihm, ich gestehe, daß diese Arbeit mir ungleich besser zusagt, als das zu Pferde sitzen und Umherreiten ohne rechten Zweck und Nutzen, wie wir es in und bei Doorwerth treiben mußten, so lange wir uns im Corps [222]des Vetters Wilhelm Gustav Friedrich befanden. Haben Sie Nachricht von dessen Frau Gemahlin, o, so theilen Sie mir dieselbe recht bald mit, möge dieselbe günstig lauten! Täglich denke ich ihrer und beklage stets aufs Neue schmerzlich, daß mir kein Wiedersehen vergönnt ward, vielleicht auch nie vergönnt sein wird.«
Wahrscheinlich nie, wenn nicht drüben! seufzte Ottoline vor sich hin: denn die Tage deiner Freundin sind gezählt, du lieber seelenguter Ludwig!
»Ueber das hiesige Leben kann ich nicht viel schreiben, und darf es auch kaum. Dem gesammten Gesandtschaftspersonal ist streng untersagt, sich mündlich oder schriftlich über Frankreichs Politik zu äußern, oder Mittheilungen nach Außen zu machen, die nicht auch in den Zeitungen stehen. Jedenfalls lesen Sie den Moniteur hochverehrte Großmutter, der enthält die Quintessenz aller Ereignisse.«
»Unsere Gesandtschaft hat den Zweck, zwischen Frankreich den Frieden zu vermitteln, und der Erbstatthalter hat dazu dem Minister die ausgedehntesten Vollmachten ertheilt; allein ich fürchte, daß die günstigen Anerbietungen Hollands nicht mehr genügen, und daß Pichegru Alles aufbieten wird, um vorzudringen und Holland zu unterwerfen, dann wird wohl Friede werden, denn die Neigung zum Frieden geht jetzt durch die meisten Cabinette Europa’s. Viele aber werden auch leiden; ich fürchte sehr für meinen Vetter, den Erbherrn. Alles, was er dem Vaterlande und der treuen Anhänglichkeit an den Erbstatthalter und den Erbprinzen zum Opfer gebracht hat, wird verloren sein, ja selbst seine Freiheit ist bedroht. Ihr zweiter Enkel, beste Großmutter, Graf Johann Carl, ist zur Zeit, wo ich dies schreibe, Statthalter in Utrecht – ich fürchte ebenfalls, daß diese Statthalterschaft nur von sehr kurzer Dauer sein wird. Der Vice-Admiral soll, wie ich vernahm, sich jetzt in Hamburg aufhalten; sollte dies der Fall sein, so wird er ohne Zweifel bei Ihnen wohnen, und dann bitte ich gehorsamst, ihn freundlich zu grüßen. Er ist ein jovialer Mann, der mir Achtung und Liebe abgewonnen hat, trotz seiner Neigung zu Spott und Satyre.«
»Die Pariser Luft, die freilich vielen Leuten in diesen Zeiten nicht zusagte, behagt auch mir nicht, beste Großmutter. Ich fühle mich [223]heimlich krank, beklommen; möglich auch, daß es noch Folge der spätherbstlichen Sumpfluft ist, die in Doorwerth mich umwehte. Mein Arzt, den ich auf Anrathen meines Chefs und auf Leonardus Drängen befragte, sagte mir, ich müsse Seeluft athmen, die würde mich stärken.«
Seeluft! Seeluft! ich weiß eine ganz andere Luft, in deren reiner Sphäre ich mich gesund baden würde!«
Unser Liebling schwärmt, bemerkte lächelnd die Vorleserin, und die Herzogin sagte: Schreiben Sie ihm, theuerste Excellenz, er solle nach England reisen, da kann er Seeluft genießen und Gebirgsluft, senden Sie ihn in unsere Grafschaft, in deren blühenden Garten.
In die Nebelforste und Marschen Ihres Dartmoor? fragte Ottoline besorgt.
Nein, auf unser Schloß Chatsworth, erwiederte die Herzogin: dort will ich selbst ihn bewirthen, und Sie mit, meine Gnädige, wenn Sie meiner Einladung nach jener meiner schönen Heimath Folge leisten wollen.
Mir wäre eine solche Veränderung des Klima’s vielleicht sehr heilsam, warf Ottoline unbefangen hin. Die Reichsgräfin sprach lächelnd: Stellen Sie sich, liebe Enkelin, mit dem Beginn des Frühjahrs unter den Schutz Ihrer Freundin, und wenn Sie wollen, auch unter den unseres Vice-Admirals, und besuchen Sie einmal unsere Verwandten in England. Ich aber muß unterthänig für Ihre freundliche Einladung danken, beste Herzogin! Sehen Sie mich altes Wrack nur einmal recht an. Sollte ich noch einmal in See gehen? Unter welcher Lebensflagge sollte ich segeln? Mein Segeltuch heißt Todtenhemd, mein Schifflein Sarg, und mein Anker, der wird zum Kreuz über meinem Grabe. Doch, vollenden wir den Brief unseres Ludwig:
»Die gesellschaftlichen Zustände stehen hier unter dem Gefrierpunkt, fast hätte ich gesagt, durch alle Klassen, was ein großer Fehler meinerseits gewesen wäre, denn hier gibt es keine Klassen mehr. Die englische Handelssperre, das unfruchtbare Jahr, der strenge Winter erzeugten allgemeinen Mangel. Das so heißblutige Paris hungert und [224]friert jetzt. Die Waarenpreise in Beziehung zu den Assignaten stehen etwa so: ein Louisd’or in Gold ist sechzehn- bis achtzehntausend Livres werth, nämlich stets in Assignaten; ein paar Schuhe kosten zweitausend, eine Flasche Wein zweihundert, ein Ei zwanzig Livres; ein Pfund Butter fünfhundert, ein Pfund Kaffee vierzehnhundert, ein Sack Kohlen dreitausend Livres. Der Arzt, den ich um Rath gefragt habe, war so gütig, mir für seinen einzigen Besuch nur sechshundert Livres abzunehmen. Silbergeld ist äußerst willkommen, wer dessen hat, bekommt ein Pfund Zucker gegen baar für vierzig Livres. Eine Klafter Brennholz kostet vierundzwanzigtausend Livres. Da wir an Gold und Silber keinen Mangel haben, so kommen wir leidlich durch, aber von Vergnügen, von geistvollen Kreisen, von jenen schönen und angenehmen Vereinigungen gebildeter Menschen ist keine Rede mehr. Doch ich eile zum Schlusse und küsse meiner theuersten Großmutter in kindlichster Liebe und Verehrung die treuen Hände, die mich durch mein Jugendleben geleitet haben. Hier fühle ich erst recht, was es sagen will, den Pardisesgarten, jener stillen und reinen Freuden hinter sich zu haben.
Ihr ewig dankbarer Ludwig.«
Dieser junge Mann beste Frau Gräfin, taugt nicht in die große Welt, äußerte Georgine. Wer in diesen Jahren sich in ihr nicht heimisch fühlt, wird sie später schwerlich lieb gewinnen. Lassen Sie ihn jagen, fischen, Häuser bauen und Parks anlegen, ich halte dafür, daß er dazu besser geschaffen sei.
Mit zwanzig Jahren ist mancher junge Mann noch Nichts, versetzte die Reichsgräfin, wenn das Leben ihn nicht recht zeitig in seine rauhe Schule nahm. Das war bei meinem jüngsten Enkel nicht der Fall, ich will es nur eingestehen, ich verzog ihn. Ich führte ihn nicht in die Welt der Salons ein, sondern in die Welt der Wissenschaft, der Bücher, der Alterthumskunde – ohne doch ihm hinderlich zu sein an ritterlichen Leibesübungen. Er übte sie, ohne an einer dieser Künste vorzugsweise Gefallen zu finden. Ich glaube, daß er nie tanzen wird, musikalisch ist er auch nicht geworden, nur am Malen fand er einige Freude, und am Lesen die meiste. Weil ich fühlte, wie mangelhaft und unvollendet noch seine Erziehung sei, entschied ich mich dafür, ihn reisen zu lassen, damit das Leben ihn in die Schule nehme und er [225]durch das Leben sich selbst bilde. Kaum setzte er den Fuß von der Schwelle jenes heimathlichen Schlosses, das dort im Bilde hängt, so hat ihn auch schon das Leben erfaßt, aber nicht wie ich gehofft und gewünscht habe. Viel zu tief sah er im Beginn seiner Laufbahn in zwei schöne Augen, die nun im Wachen und Träumen vor seiner Seele stehen und ihn zurückwinken nach der kaum verlassenen Heimath. Bald darauf muß er wieder in ein seltsames Verhältniß verwickelt werden, in welches ich noch gar nicht recht klar sehe. Er und Windt schreiben mir nicht bestimmt darüber, aber so viel läßt die Erfahrung eines langen Lebens mich zwischen den Zeilen lesen, daß ohngeachtet der schönen verbotenen Heimathaugen doch ein neuer Himmel ihm in einem Augenpaar der Fremde aufging, und daß er, ohne sich dies selbst zu gestehen, sich in stiller Liebe zu der Freundin seines Freundes verzehrt. Darum ist es sehr gut, gut für Alle, daß jenes Kleeblatt auseinanderging.
Ludwig ist zu edel, um auf Verrath gegen den Freund zu sinnen, sagte Ottoline mit mühsam errungener Fassung.
Gewiß, das meine ich auch, meine Beste, versetzte die Reichsgräfin: eben weil er edel ist, ringt er mit sich selbst den stillen gefährlichen Kampf. Ein unedler Mensch versucht sein Glück, betrügt und verräth den Freund, wenn der Gegenstand der beiderseitigen Flamme ihn nicht mit Entschiedenheit abweist, und geschieht dies, nun so verschmerzt er’s leicht und sieht sich nach einer andern, vielleicht williger ihm entgegenkommenden Neigung um. Aber unser Ludwig soll und darf sich nicht in solche Labyrinthe verlieren; und ich glaube, daß nur die Leitung einer edeln Frauenhand ihn auf die Pfade des richtigen Lebensweges führen kann. Wie glücklich wäre ich, wie sehr verdient um meinen Enkel würden Sie sich machen, Frau Herzogin, wenn ihm nach Ihrer Rückkehr nach England dort in Ihre Kreise einzutreten vergönnt würde. Das schwebte mir schon lange vor, doch wollte ich mit Absicht ihn erst eine Zeitlang frei gewähren lassen und zusehen, wohin seine Neigung ihn lenke.
Georgine fühlte, wie unendlich viel für sie in diesen Worten lag, die Ottoline so und nicht anders zu deuten vermochte, wie sie gesprochen wurden; die lebhafte Herzogin aber rief flammend aus: An mir, sollte Ihr Enkel gewiß eine wahrhaft mütterliche Freundin finden, senden Sie ihn mir, er soll mit offenen Armen empfangen werden. [226]Sind wir doch längst als Freundinnen vereint, und die Familien stehen sich nahe, ist doch mir und Ihrem berühmten Verwandten, dem Lord William Henry, ein hoher Name gemeinsam, der Name Cavendish.
Und ich will alle meine Wünsche und mein Gebet mit Ihnen vereinen, daß es ihn, den Retter meines Lebens, wie den meines Kindes, zu Heil und Segen führe, was Sie Beide vereint Gutes für Ludwig beschließen! rief Ottoline tief bewegt aus und barg ihre hervorbrechenden Thränen in ihrem Tuche. –
Ach, nur zu schnell verrauschen die schönen Augenblicke, in denen der Menschen Herzen und Seelen sich hochemporgehoben fühlen über alles Flüchtige und Vergängliche, was das Leben umgiebt, wie ein Gewand aus Erdenstoff gebildet – auch diese Minuten flogen schnell dahin – die Thüre ging auf und Weisbrod brachte einen Brief.
Die Reichsgräfin nahm denselben, entließ den alten Diener mit gnädigem Winke und sprach mit ihrer gewohnten Ruhe: Ein Schreiben Windt’s; es ist angenehm, daß nach dem, was wir so eben besprochen und beschlossen haben, die Wirklichkeit wieder in ihr Recht zu treten begehrt, denn wir verloren uns in das Gebiet der Zukunft mehr als gut ist. Hören wir noch, bevor wir an unsere Toilette für den heutigen Abend denken, was unser ehrlicher Stadthagener, mein treuer Hausintendant schreibt. Von Formen und Formeln ist er kein Freund, er kennt nur eine Formel, die heißt: zu Füßen, oder aux pieds. Außerdem überspringt er alle die läppischen Schnörkel der gedruckten Briefsteller, drückt sich aus, wie er spricht, und stets ungemein verständlich, ja bisweilen selbst drastisch. Dabei hat er einen völlig klaren praktischen Blick in die Verhältnisse, die ihn umgeben. Nun, Sie vernahmen ja schon sein Lob aus meines Enkels Brief. Wir werden gleich sehen, was sich zur Mittheilung eignet.
Die Reichsgräfin öffnete den Brief und las abwechselnd bald leise für sich, bald laut, den Inhalt ihren Freundinnen vor. Leider lauteten die Nachrichten nicht sehr erfreulich, wie denn überhaupt in jener Zeit Erfreuliches fast von keiner Seite her zu erwarten war. »Daß mein Nest ausgeflogen und leer von seinen liebsten Bewohnern, wissen Ihre Excellenz bereits, nur die Unlieben blieben nebst meiner braven Jule. Ich sah die schöne junge Frau Angés, wahrscheinlich Wittwe, mit dem himmlischen Kinde nicht ohne Wehmuth scheiden. Das [227]kleine Mädchen ist ein Engelskind! Es hat Kräfte, Artigkeit und Verstand weit über sein Alter hinaus. Es ist ein Glück, daß sie fort sind, lieb ist mir auch, daß der junge Herr Graf und Herr van der Valck weg sind, denn als Hauptleute waren beide nur ein fünftes Rad am Wagen, und es herrscht bei mir fortwährend eine gräuliche Verwirrung und wird von Tage zu Tage schlimmer. Ich sitze, wie ein züngelnder Wappenlöwe, als Thorwächter in einer Trophäe zwischen eitel Pauken, Spießen, Trompeten, Standarten und Hellebarten.«
Die fernere Mittheilung aus Windt’s Brief wurde durch Weisbrod’s Wiedereintritt unterbrochen, welcher abermals mehrere Briefe und Karten brachte. Die Mehrzahl dieser Billets war französisch geschrieben; Baron von Binder bezeugte seinen Respect und bedauerte, mit seiner Frau absagen zu müssen. Frau Gräfin von Schimmelmann schrieb: »Empfangen Sie unsere Entschuldigung, daß wir nicht die uns zugedachte Ehre genießen können, an Ihrem Zirkel Theil zu nehmen. Meine Schwiegertochter leidet an den Folgen einer heftigen Erkältung und dies hält uns zu unserem großen Bedauern ab, in die Stadt zu fahren; ich ersehne aber mit Ungeduld den Augenblick, Ihrer Excellenz die Gefühle meiner größten Ergebenheit zu wiederholen, mit welchen ich – und so weiter.
Und hier noch – ein versiegeltes Billet – ah, von unserem ehrwürdigen alten Legationsrath und markgräflich badenschen Hofrath, was schreibt doch der? »Gnädigste Frau Gräfin Excellenz! Ihre Güte entschuldigt wohl mich alten Mann, wenn ich mit gehorsamem Danke auf Hochdero gnädige Einladung verzichte. Ich tauge nicht mehr in die Kreise der heutigen Welt. Der Kreis, in welchem Sie so gnädig sind, mich dulden zu wollen, besteht, wie ich höre, aus Personen, deren Unglück mir gewiß heilig ist, ohne daß ich aber die Vergötterung billigen kann, welche die Deutschen ihnen, den Ausländern, [228]den Flüchtlingen, angedeihen lassen. Ich müßte mir selbst untreu werden, denn was ich einst sang, ist noch heute das Wort meiner Ueberzeugung:
Diese Worte dürften mir schwerlich vergeben werden, wenn ich mich immer noch zu denselben bekenne. Mit der tiefsten Verehrung!«
Nun, das ist stark! rief Georgine aus. Wer ist dieser kühne Mann?
Es ist Deutschlands größter Dichter – es ist unser Klopstock, antwortete Ottoline.
So ist es, bestätigte die Reichsgräfin. Wieder ein Typus des ächten deutschen Gelehrten, gerade wie mein Abbé Eckhel in Wien, gerade durch, starrköpfig, liebenswürdig und zu Zeiten sehr – wahrhaftig.
Die Reichsgräfin nahm nach dieser Unterbrechung Windt’s Brief wieder auf und fuhr fort darin zu lesen.
»Die beiden Grafen du Boutier, nach denen Excellenz sich bei mir erkundigen, befinden sich zur Zeit zu Schloß Brunsberg bei Zütphen, unter dem Schutze der Legion Rohan, von wo sie sich nach Hamburg begeben werden; vielleicht sind sie schon dort. Es ist sehr gefährlich, sich mit Emigranten in irgend eine Verbindung einzulassen, und die Carmagnolen sind auf nichts so wüthend und erbittert, als auf sie und wer ihnen Vorschub leistet. Ich sage es Excellenz gerade heraus, ich bin kein Emigrantenfreund. Das Betragen dieser Leute ist die verkörperte Anmaßung und ihre Belohnungen für erwiesene Dienste bestehen nur aus Undank. Ich habe sie im Kastell gehabt und habe nur eine einzige Ausnahme zu rühmen, diese machte ein junger, sehr schöner Prinz von Condé.«
»Durch den hannover’schen Feldpostmeister, frühern Secretär bei Graf Walmoden, erhalte ich die Hamburger Zeitung, ich kann aber mittheilen, daß alle die hiesigen Vorfälle darin ganz unwahr und falsch angegeben und des Lesens unwerth sind. Graf Walmodens Gemahlin wollte erst in Arnhem in Brantsens Hause Wochenbett halten, wird sich aber nun nach Osnabrück begeben.«
[229]»Ich bin so mit Fremden und Geschäften besetzt und beladen, daß es kein Quartiermeister bei der Armee im stärkeren Grade sein kann. Außer den Jägern von Hompesch habe ich einen Theil der hessischen Artillerie, hundertvier Pferde und vierzig Mann gehabt. Ohnlängst fiel zwischen den hessischen Dragonern von Prinz Friedrich und den leichten englischen Dragonern ganz in unserer Nähe eine blutige Attaque vor; Letztere hatten acht Todte und vierzehn Verwundete.«
Das ist ja entsetzlich, rief Georgine: wenn die Verbündeten einander selbst bekämpfen!
Die Reichsgräfin las weiter:
»Man bricht sich die Hälse um eine einzige Bauernhütte, während bei dem Feinde die vollste Eintracht herrscht.«
»Prinz Ernst August von England war zum öftern hier, er hat mich gerne bei sich und sprach viel vom Frieden. Vom Commandanten der holländischen Garde, die hier lag, erhalte ich fortwährend die freundschaftlichsten Briefe und Danksagungen, auch von Amsterdam aus allerlei Lebensmittel, ungeheuere Pasteten, Liqueure, Citronen; der Commandant der Jäger von Hompesch, Major Baron von Pheilitzer aus Kurland, hat mir Büschings Erdbeschreibung in prächtigem Einband verehrt; die Emigranten hingegen, die mir die meiste Last gemacht haben, sind undankbare Menschen und drücken die Ohren auf den Hals. Um unsere Truppen sieht es trübselig aus, sie stehen bis über die Kniee im Morast und Eis, und Holland ist in Nöthen, wie das Sprichwort sagt.«
»Dem Prinzen Ernst August habe ich die Infamie begreiflich gemacht, eine Batterie gerade dem Kastell gegenüber anzulegen und ihm bewiesen, daß es eine Thorheit sei, den Rhein auf diese Weise vertheidigen zu wollen. Zum Glück hat die Kälte alle Arbeiten gehindert, und sie waren auch völlig überflüssig, denn es ist schnell anders geworden, wie ein Handumwenden. Die Kälte, wie sich einer ähnlichen Niemand erinnert, nimmt jeden Augenblick zu; sie wird die beste Friedensgesandtschaft sein. Gott gebe es! Haben es die Engländer bei uns schlimm gemacht, so machen es die Oesterreicher noch toller. Den alten Landdrosten Rhencke van Parkeloes haben sie in seinem eigenen Hause schier todt geschlagen. Sieben Menschen wurden an einem Morgen auf den Straßen in Arnhem todt [230]gefunden. Das schöne neue Kastell zu Lune ist mit allen Nebengebäuden bis auf den Grund niedergebrannt; Tag und Nacht sehen wir Häuser brennen. Die Krieger sind durch Mangel und Kälte zur Verzweiflung gebracht. Ich hatte neulich neunhundert Mann und ebenso viele Pferde unterzubringen; alle Vorräthe gehen zu Ende, ich muß bei Ihrer Excellenz um ein Stück geräuchertes Fleisch betteln.«
»Mit allen Friedensgerüchten war es nichts; die Gesandtschaft des Herrn Brantsen nach Paris ist eine fruchtlose und vergebliche gewesen; der Feind hat sich Meister gemacht vom Bommeler Weerd. Und welcher Feind! Der französische General Daendels, ein Parteigänger an der Spitze von siebentausend Holländern und Brabantern, lauter Patrioten, die für den Feind ihr Vaterland erobern. Man fuhr über die Wahl und den fest zugefrorenen Rhein unter Wageningen mit sechsspännigen Geschützen und den schwersten Packwagen. Unsere ganze Armee brach dorthin auf, Prinz Ernst August kam noch einmal hierher, speiste und nahm Abschied; er steht an der Spitze des zweiten Regiments hannoversche Kavallerie und führt es nach Amerongen. Er ist voll Feuer und Eifer, obgleich er schon einen lahmen Arm bekommen hat; ich mußte ihm die Hand darauf geben, daß ich ihm hier ein Zimmer bereit halten wolle, er möge gesund oder verwundet zurückkommen. Der Feind ist guter Dinge und hat sich wieder verproviantirt, auf unserer Seite aber ist Nachlässigkeit und Verwirrung an der Tagesordnung. Entweder will man es so und nicht anders haben, oder es müssen in manchem Hirnkasten viele Schrauben los sein, oder mein Verstand ist so klimperklein, daß ich von Allem gar nichts mehr verstehe, welches wohl das Wahrscheinlichste ist. – Unser Erbherr eilte sogleich, als die üble Nachricht kam, nach Gorkum; von da aus, von Geldermaalseen aus und von Heßel aus sollte nun der Feind durch drei Heersäulen holländischer, englischer und hessischer, darmstädter und hannoverscher Truppen zugleich angegriffen werden, aber die englische Colonne kam zu spät. Die Franken sind vor den Thoren von Arnhem, ich sehe schon ihre Vorposten in unseren Feldern herum reiten, bald werden ihre Kanonen unter meiner Nase feuern. Es geht gräulich zu und wird noch schlimmer. Das Herz im Leibe blutet mir über das Elend der Menschen; wenn ich weggegangen wäre, so wäre die Herrlichkeit jetzt eine Einöde. Die Leute sehen, [231]was ich für sie thue und theilen ihren letzten Bissen mit mir; so eben geht ein Bauer von mir, der gab mir sein letztes halbes Brod und fünf Eier, weil sie wissen, daß wir an Allem Mangel leiden. Solche Leute zu verlassen, wäre himmelschreiend. Ich lege mich zu Füßen.«
Die Reichsgräfin endete und Gräfin Ottoline beurlaubte sich von den beiden Damen. Nach ihrem Weggang sagte die Matrone zu ihrer Freundin, der Herzogin: Ach, liebstes Kind! Da steht noch eine schlimme Nachschrift, die durfte Ottoline nicht vernehmen, es hätte sie niedergeworfen. Hören Sie die Hiobsbotschaft!
»Man spricht für gewiß, daß demnächst Pichegru in Utrecht einziehen und dann straks aus Amsterdam losrücken werde, daß unsere Flotte im Texel sitzt und eingefroren ist, daß die Stelle des Erbstatthalters, welcher bereits flüchtig sein soll, aufgehoben sei und dieser für sich und den Erbprinzen auf seine Würde Verzicht leisten werde und müsse – und endlich – erschrecken Sie nicht – soll der Erbherr gefangen genommen und nach der Citadelle Woerden abgeführt worden sein.«
Großer Gott! rief die Herzogin erbleichend.
Mein armer Enkel! seufzte die Reichsgräfin. Und mit dieser Nachricht, mit diesen Gefühlen im Herzen gebe ich heute den royalistischen Emigrées grande Assemblée. –
Der Abend war da und die Säle strahlten; die Versammlung fand sich ein, zahlreich und glänzend – es ging ein widerlicher Moschusduft durch die Räume, als lägen hier hundert Kranke in den letzten Zügen. Diesen ganz abscheulichen Geruch fand damals die vornehme Welt, besonders die Frauenwelt, außerordentlich salonwürdig und angenehm.
Alles glänzte in der kostbaren Pracht der Frisuren, Coiffüren und der großen Trauer-Toiletten; man trug im Haar hochemporstehende schwarze Marabuts oder auch Blumen aus schwarzer Wolle; das Haar war in große Locken gepufft, mit Perlen durchflochten, auch wohl mit kleinen turbanförmigen leichten Kopfzeugen bedeckt und gepudert, oder zeigte auch kleine mit schwarzen Steinen besetzte Diademe. Die Damen trugen an dunkeln Schnüren übergroße Medaillons, welche meist unglückliche Zeitgenossen und Personen der ermordeten Königsfamilie Frankreichs darstellten. Die Taillen waren von mehr als bäuerischer Unform, von einer fast fabelhaften Kürze und die schönen [232]herrlichen Formen des weiblichen Oberkörpers erschienen in dieser Verkürzung als ein auffallender Gegensatz zu dem endlos lang erscheinenden Unterkörper. Die Kleider und Roben selbst waren nicht ohne Geschmack verziert und garnirt, doch herrschte in ihren Stoffen das Kleinblumige vor, was zu großen und füllereichen Gestalten nicht paßt. Die Tracht der Herren war die bekannte des Zeitalters, bei den Deutschen mehr einfach, bei den Franzosen mehr als je gesucht und auffallend, als wolle man den guten Deutschen so recht bemerklich machen, was Mode sei. Die Herzogin trug sich nach altenglischer Weise, sie trug noch eine Art Reifrock, hatte die wundervollste Taille, eine Büste zum Anbeten, strahlte von Juwelen und überstrahlte alle, selbst die jüngsten Damen, an Glanz und Pracht ihrer äußeren Erscheinung. Viele Französinnen blickten mit Neid auf die schöne Tochter Albions, und Georgine schien in Wahrheit die ihr in Ueberfülle dargebrachten Schmeicheleien zu bestätigen, daß sie einer Fee gleiche, die aus einer andern Welt herabgeschwebt sei, um Alles zu bezaubern, was gewürdigt ward, sich ihres Anblicks zu erfreuen.
In den glänzenden Kreis der Geladenen traten zuletzt die Angehörigen der Königsfamilie Frankreichs, die der Zufall oder eigene Wahl auf kurze Zeit in Hamburg vereinte. Sie traten auf, nicht wie aus ihrem Vaterland Vertriebene, nicht wie geächtete Flüchtlinge, sondern mit allem Pomp eines regierenden Hofes – grand cortège – ein Heer von Kammerdienern voraus, eine Schaar hoher Militärpersonen, Adjutanten und Gardeoffiziere – dann nach einer Pause der Graf von Artois, an seinem Arme führend seine Nichte Marie Therese, des enthaupteten Königs Tochter, vermählte Herzogin von Angoulême; diesem Paare folgte der Herzog Ludwig von Angoulême, der Gemahl der vor ihm Gehenden, am Arm die Gemahlin des Grafen von Artois, auch eine Marie Therese, Tochter des Königs Victor Amadeus III. von Sardinien. Nach diesen erschien Louis Heinrich Joseph von Bourbon, Herzog von Condé, an seinem Arm die reizende Prinzessin Charlotte von Rohan-Rochefort, und dem Paare auf dem Fuße folgte ohne weibliche Begleitung ein schöner, junger, schlanker Herr in reicher Militärtracht, dem ein etwas älterer Herr, ebenfalls in kriegerischem Waffenschmuck, aber mit Zeichen der Trauer, zur Linken ging. Dieser Letztere war der [233]nächste Verwandte der Reichsgräfin, war Charles Bretagne Marie Joseph Herzog von Tremouille, Prinz von Tarent und Talmont; er stand im Heere des Herzogs von Condé, das er mit ihm auf kurze Zeit verlassen hatte, und die Abzeichen seiner Trauer galten seinem Vater, dem Herzog August Philipp, dem tapfern Vertheidiger des Königthums, der früher als treuanhänglicher Adjutant des Grafen von Artois manchen Sieg in der Vendée erfochten hatte, endlich aber als Cavallerie-General an der Spitze der kriegerischen Vendéer in Gefangenschaft gerieth und seine Treue gegen das Königshaus mit dem Tode büßte. Kein Wunder, daß der junge Prinz von Talmont ernst einherschritt, und daß man ihm ansah, er komme nicht in diesen Kreis, sich und Andere zu erfreuen, sondern er folge dem Zwang des Herkömmlichen wie des Dienstes, der ihn an einen Prinzen aus königlichem Blute bannte.
Die Assemblée hatte ihren Gang, die Franzosen zeigten sich steif und förmlich, in jedem Gesicht lag der peinliche Ausdruck, als suche dasselbe etwas, das vermißt werde und nicht zu finden sei. Waren es die Räume des Louvre, oder der Tuilerien, waren es die Zimmer der Schlösser von St. Cloud, St. Germain, Fontainebleau oder Versailles, die hier gesucht und nicht gefunden wurden? Sehnte man sich hier unter Hamburgs Himmel in das idyllische Schäferdörfchen von Klein-Trianon zurück? Wer vermochte dies zu sagen, wer konnte im Innern so vieler Personen lesen? Man sprach, man lächelte fein, man schmeichelte, man witzelte und erging sich auch zum Theil in hohlen Phrasen.
Der Graf von Artois wandte sich an die Reichsgräfin mit dem schmeichelhaften Kompliment: Frau Comtesse! Ihr Hotel ist la France – ah – la France ist im Hotel d’Aldenbourg zu Hamburg.
Ein Höfling, einer der Boutier’s, schnappte diese fade Schmeichelei auf und wisperte sie weiter; sie ging durch alle Zimmer, von Mund zu Mund, wie der Orakelspruch eines Propheten. Man besprach allerdings auch vielfach die Ereignisse der Zeit, aber stets aus einem einseitigen, meist falschen Gesichtspunkt, betäubt von dem Schwindel unerfüllbarer Hoffnungen, in die man sich einwiegte, triumphirend über die Volksaufstände, die in Paris der Hunger hervorrief, und in diesen Aufständen die Strohhalmen einer erfolgreichen Reaction erblickend, [234]an die man sich zu klammern versuchte. Daß bei dem furchtbaren Mangel an baarem Gelde und Lebensmitteln die Abgeordneten des National-Convents ihre Diäten auf 36 Livres erhöhten und dadurch die geld- und besitzlose Menge gegen sich aufbrachten, wurde voreilig genug als ein gutes Zeichen baldigen Umschlags gedeutet.
Die alte Reichsgräfin ließ jetzt auf goldenem Teller ein Kästchen herbeitragen, welches von dem reinsten durchsichtigen Bernstein gefertigt und mit Purpursammt ausgefüttert war, und als sie es öffnete, erblickten die um sie Versammelten eine Anzahl einzelner, mit einem schwarzen schmalen Seidenbändchen gebundener greiser Locken.
Sehen Sie hier, meine allerhöchsten und allergnädigsten Gäste, sprach die Matrone mit Ernst und Würde: eine geweihte Reliquie, über welche freilich nicht der Papst seinen Segen gesprochen hat. Sie ist geweiht mit dem Blute des gesalbten Hauptes, das diese Locken trug, diese Locken, die einst blond waren, und die der Kerker in kurzer Frist weiß färbte. Eine treue Hand setzte sich in den Besitz dieses Haares und übergab es der meinen, und die meinige soll nicht weniger treu befunden werden. Sie alle, meine hochverehrtesten Verwandte und Freunde, deren gemeinsame Abstammung aus dem uralten Königshause Capet Sie dem Hause Bourbon verbindet, sollen von mir, wie von ihr, der Unvergeßlichen, eine dieser Locken zum Andenken empfangen; es ist das Haar Ihrer unglücklichen Königin, es ist das Haar Marie Antoinettens von Frankreich!
Jede einzelne Locke lag in einem großen goldenen Medaillon zwischen zwei feingeschliffenen ovalen Platten von Bergkrystall hermetisch verschlossen, und in das Gold am untern Rande war auf der einen Seite die Chiffre MA und darunter die verhängnißvolle Jahrzahl, auf der andern aber der einfache Namenszug der Geberin, wie sie gewöhnlich zu unterzeichnen pflegte, und die Jahrzahl 1795 eingegraben.
Prinz Talmont stand bei der Reichsgräfin und bei Georgine, und sprach ernst über die ernste Zeit. Georgine, welcher im hohen Grade die Schattenseite der Emigranten aufgefallen war, die bei dem Prinzen Talmont wenig, und noch am Wenigsten bei dem jüngeren Prinzen Condé hervortrat, bekämpfte die eitle Selbsttäuschung, welcher die Emigranten sich hingaben, indem sie sagte: Ich muß Ihnen eine Stelle unseres Thomson mittheilen, mein Prinz, nicht um Ihr Gefühl [235]zu verletzen, oder irgend einem Würdigen damit weh zu thun, das sei ferne; aber im Allgemeinen ist auf Ihre geflüchteten Landsleute jenes Dichterwort anwendbar, welches lautet: »Wo bist du, lügenhafte Eitelkeit? Ihr immer lockenden, ihre immer täuschenden Wünsche, wo seid ihr und was Anders erreichtet ihr, als Beunruhigung, Kummer und Gewissensbisse? Ach und dennoch, schwer niederbeugender Gedanke! ist kaum ein Auftritt des gauklerischen Trugspiels abgespielt, so erwacht aufs Neue der getäuschte Mensch aus kurzem Schlummer, gestärkt von neuer Hoffnung, zu des schwindelvollen Kreislaufs abermaligem Beginn.«
Ihr Thomson ist ein demokratischer Visionär, erwiderte Prinz Talmont: er hat ja die liebe Freiheit in einem Lehrgedicht besungen, daraus sich noch viel Anderes gegen uns würde anführen lassen. Erlauben Sie mir aber, Frau Herzogin, Ihnen auf Ihres Dichters Worte mit denen eines französischen zu antworten, der mit ungleich weniger Worten das ausdrückt, was wir alle fühlen, die wir im Unglück und aus unserem Vaterlande verbannt sind; es ist Corneille, den ich meine. »Ein großes Herz kann einem Thron entsagen, und kann dies mit Ehren thun; die That der Tugend wird gekrönt vom Nachruhm. Aber wer auf Das freiwillig verzichtet, was sein Herz mit flammender Liebe umfaßt, der ist ein Feiger und weiß nicht zu lieben.« Was unser aller Herzen mit flammender Liebe umfassen, Frau Herzogin, das ist unser Frankreich, unser Vaterland. An ihm hangen und halten wir, unsere Vaterlandsliebe ist unser Palladium, sein unsichtbares Bild tragen wir mit uns in Ferne und Verbannung, wie Anchises aus Troja’s Flammen die sichtbaren Bilder seiner Laren mit von dannen trug. Nehmen Sie uns Franzosen diese Liebe, diese Treue, dann ist uns Alles genommen, dann sind wir ganz vernichtet. Würden wir unsere Liebe aufgeben, dann verdienten wir, daß unsere Namen ausgetilgt würden von den Tafeln der Geschichte.
Georgine schwieg, sie fühlte sich tief getroffen, nicht durch die allgemeine Wahrheit, die in den Worten des Dichters und des Prinzen ausgedrückt wurde – noch etwas Anderes, etwas Besonderes traf und berührte empfindlich ihr Herz. War sie es nicht, die Dem freiwillig entsagt hatte, was ihr Herz mit flammender Liebe umfaßte? Hatte sie sich nicht ihres Sohnes entäußert durch so lange Jahre? Ruhig hatte sie es geschehen lassen, daß eine fremde Hand ihn pflegte und auferzog, zufrieden [236]und beruhigt war ihr Gemüth, daß ihr Geheimniß so trefflich bewahrt blieb, daß Niemand die leiseste Ahnung davon hatte, daß sie vor ihrer Vermählung schon einmal Mutter geworden. War sie denn diesem Sohne gar nichts schuldig? Sollte die einfache Gabe des Lebens sein ganzes mütterliches Erbtheil sein?
Alle diese Gedanken fuhren wie Blitze durch der Herzogin Seele, indem sie schweigend in ihrer Hoheit und Schönheitfülle dastand und manche Blicke an ihr bewundernd hingen. Niemand aber ahnte, was hinter diesen sanft gesenkten Wimpern, hinter dieser herrlich geformten Stirne von rosigem Marmor leuchtete. Sie gelobte sich, Versäumtes gut zu machen.
Die Reichsgräfin hatte indeß gegen den Prinzen das Wort genommen: Was Sie empfinden und aussprachen, mein Prinz, war eine gute und edle Entgegnung, und Jeder wird die Gefühle ehren, denen Sie im Namen aller Ihrer unglücklichen Landsleute so eben Worte gaben. Doch möchte ich, da wir uns eben mit den Federn fremder Gedanken schmücken, als mahnenden Zuruf ein Wort meines Lieblingsdichters zur Geltung bringen, und ich wünsche, ich könnte dasselbe für eine große Anzahl Ihrer Landsleute zum Glaubensartikel erheben; mein Dichter ist Horaz, und seine Worte, die ich meine, sind diese: »Wem allzusehr das Glück die Seele schwellte, den erschrecken die Wechsel der Geschicke auf das Heftigste. Denn von Allem, was wir bewunderten, reißen wir uns ungern los. Fliehe das große Leben! Es ist gestattet, unter niederem Dach Könige und Königsfreunde zu übertreffen.«
Und Könige und Königsfreunde zu bleiben! fiel die Prinzessin von Rohan-Rochefort ein, welche den Sprechenden nahe getreten war und diese Worte vernommen hatte. Zur Reichsgräfin gewendet, fuhr sie fort: Gewiß, Comtesse, dies ist ein schönes Wort, und wir, die Meinen und ich, haben es bereits zur Wahrheit gemacht. Die Gnade des Markgrafen von Baden hat uns in seinem Lande ein stilles Asyl gewährt; ich wünschte es nie zu verlassen!
Glücklich Die, Prinzessin, welche leichthin ein Vaterland aufzugeben und es mit einem andern Lande zu vertauschen vermögen ohne Kummer und nagenden Schmerz in der Seele! sprach mit bewegter Stimme der Prinz Talmont und mit sanftem Vorwurf, den er durch den Zusatz [237]milderte: Kindesliebe ist der Frauen Panier, Vaterlandsliebe das der Männer. Bleibe Jedem das Seine!
Der Graf von Artois hatte alle seine schönen Redensarten verbraucht und gab der Gesellschaft das Zeichen zum Aufbruch, der auf seiner und seiner nächsten Umgebung Seite ebenso feierlich und ceremoniös war, wie sein Eintritt.
Bald darauf zerstreuten sich diese vornehmen und zum Theil jetzt so unglücklichen Personen, welche nicht ohne Absicht in der freien Stadt Hamburg eine flüchtige Vereinigung zur Besprechung ihrer Angelegenheiten gehalten hatten, nach verschiedenen Richtungen hin. Der Graf von Artois begab sich nach Hamm, der Prinz von Condé wieder zur Armee an den Rhein. Die Angehörigen der Familie Rohan-Rochefort suchten ihr Asyl in Baden wieder auf; Georgine hatte mit ihrer würdigen Freundin noch einige sehr wichtige Unterredungen, welche alle das Lebensglück Ludwigs zum Gegenstand hatten, der nicht ahnte, daß zarte weibliche Hände den Versuch zu machen unternahmen, in die Räder seines Lebensganges bestimmend und lenkend einzugreifen. Armer Sterblicher schwaches Mühen! Wie kurzsichtig ist oft selbst die reinste Liebe! Nichts läßt im Voraus sich bestimmen; alle Fäden lenkt allein die allmächtige Hand des Geschickes, und kaum vergönnt sie der einzelnen Menschenhand, diesen Fäden eine hellere oder dunklere Färbung zu geben. Mancher Lebensfaden blitzt freilich glanzhell, wie ein Sonnenstrahl, andere sind lebenslänglich hoffnungsgrün, andere aber sind düster gefärbt und manche völlig nachtschwarz.
Die ältere und die jüngere Freundin beschlossen in ihren vertraulichen Berathungen, daß der Graf Ludwig zur Stärkung seiner Gesundheit nach England kommen und durch Empfehlungsbriefe seiner Großmutter sich bei der Herzogin einführen solle. Diese wollte ihn dann in hohe Kreise ziehen, ihm die edelsten Herzen zu gewinnen suchen, und vielleicht eine glückliche Vermählung zwischen ihm und einer liebenswürdigen jungen Lady zu Stande bringen. Der Graf sollte in die Fußtapfen seiner Verwandten treten, und entweder unter der Leitung der angesehenen Glieder der englischen Familie des gemeinsamen Stammes die Laufbahn eines Staatsmannes beginnen, oder, falls ihm das minder zusage, wollte man ihm ein Landgut kaufen, das er nach Lust und Liebe bewirthschaften könne. Glücklich sollte er werden, der gemeinsame [238]Liebling, durch Glück und Lebensfreuden in Fülle entschädigt werden für des Dunkel seiner Geburt. Auch noch ein Name von irgend einer Besitzung sollte ihm zufallen, auf daß er ein neues Geschlecht begründe, das mit ihm beginne.
Ottoline verweilte noch mit ihren Kindern in Hamburg, Georgine ging nach England zurück; William blieb aus unbekannten Gründen; er erheiterte oft in guten Stunden die alte Verwandte und wußte sich ihr angenehm zu machen durch Eingehen auf ihre Ideen und Lieblingsbeschäftigungen; denn ganz vermochte sie sich doch nicht von ihren lieben Büchern und Münzen zu trennen, wenn sie auch das sich selbst auferlegte Gelübde hielt, deren nicht mehr zu kaufen. Der Vice-Admiral war auch ein Enkel der Reichsgräfin, der Sohn ihres Sohnes Johann Albert.
Auch bei den Verhandlungen über den Verkauf der Herrlichkeit Doorwerth verfehlte William nicht, seinen Rath zu ertheilen, und verkehrte viel darüber mit Kammerrath Melchers, dem rechtskundigen Geschäftsführer der Gräfin. Beiden war unter Anderm die einfache Quittung, welche die Besitzerin von Doorwerth entworfen, nicht genügend; sie kalkulierten und spintisirten so lange, bis sie nachstehenden Zusatz ausgegrübelt hatten, zu welchem die Matrone ihre Einwilligung zu geben durch beider Rathgeber überwiegende Gründe sich bewogen fand.
Additamentum zur Interims-Quittung
in Abschlag des am 3. Sept. jüngst bereits zu entrichten gewesenen ersten Termins von Fünfzig Tausend Gulden Holländisch ausgezahlt und von Uns, reservatis reservandis, und mit dem ausdrücklichen Beifügen in Empfang genommen worden, daß dadurch an Unsern Gerechtsamen und Forderungen nichts praejudicirliches eingeräumet sein soll, die gedachte Cession Unsrer Herrlichkeit Doorwerth und übriger in der Provinz Geldern belegenen Güter auch von selbst wegfallen würde, falls gedachter Unser Herr Enkel die eingegangenen Bedingungen zu erfüllen außer Stande sein oder an dem völligen Abschluß des Vergleichs selbst sich in der Folge sonstige Hindernisse ergeben sollten; in welchen unverhofften Fällen Wir Uns jedoch verpflichtet achten, demselben diese einstweilen ausgezahlte Summe der Zwanzig Tausend Mark Hamburger Banco, nach desfalls zu nehmender [239]Abrede, zurückzuzahlen oder Uns an Unseren aus den Gräflich Aldenburgischen in Deutschland belegenen Gütern zu beziehenden Aliment- und Jahresgeldern successive kürzen zu lassen.
Hamburg den 1. Februar 1795.
In dieser Form wurde die Quittung nach hinlänglich langer Kanzleiverzögerung abgesendet, ohne Rücksicht darauf, daß der erwähnte Enkel als politischer Gefangener und als ein des Handelns in dieser Sache ganz ohnmächtiger Mann in der niederländischen Festung Woerden saß.
Jetzt besaß der Erbherr Doorwerth und besaß es auch nicht.
Hollands Loos war gefallen; der Erbstatthalter hatte sich in Scheveningen eingeschifft, sein Sohn, der Erbprinz, hatte die Armee verlassen; Pichegru war mit zehn Bataillonen zerlumpter, ausgehungerter Soldaten, von denen ein Theil in Holzschuhen einherklapperte, oder in Strohsocken leise schritt, in Amsterdam eingezogen. Aber diese erbärmlich aussehenden Soldaten waren Helden, die mit Muth für die Sache der Freiheit kämpften, für die sie nun einmal begeistert waren, die mit eiserner Ausdauer Kälte und Ungemach und jede Beschwerde eines Winterfeldzugs ertragen hatten. Mit solchen Truppen wären Welttheile zu erobern gewesen, warum nicht ein Land, in welchem die Mehrzahl der Bevölkerung den Feind als Freund begrüßte und ihm entgegenjubelte? Und was einzig dasteht in der Weltgeschichte, war geschehen; einige Geschwader, nicht Schiffe, sondern leichte Reiter hatten Hollands stolze Flotte erobert. Denn die Flotte saß im Eise fest und ließ sich nicht träumen, daß Cavallerie den Kampf mit Schiffen unternehmen werde.
Der Feldzug Frankreichs gegen Holland war beendet; an die Stelle der Erbstatthalterschaft und an die obere Leitung der Staatsgeschäfte trat der einsichtsvolle Schimmelpennink. Mitten in diesen Wirren, [240]die eine vergangene Zeit abschlossen und eine kommende begannen, starb Herr Adrianus van der Valck in Amsterdam. Der alte Mann konnte den Wechsel der Dinge weder gut heißen, noch ertragen, und sank mit dem, was dahinsank. Dasselbe Jahr, das die holländisch-ostindische Compagnie zu ihrer Auflösung führte, deren letzten Tag er nicht sehen und erleben wollte, raffte ihn dahin.
Mit bekümmerter Miene und einem schwarz gesiegelten Brief in der Hand trat Leonardus zu Ludwig ein und sprach zu diesem: Mein Vater ist gestorben – der Vetter, Vincentius Martinus, meldet es mir – meine Mutter ist sehr gebeugt, die Erben, denen zu Gunsten ich beraubt bin, werden lachen. Ich reise nach Amsterdam, um die Mutter zu trösten, deren Liebe mir geblieben ist, und die Hälfte meines Pflichttheils mir zu sichern. Bei der Gesandtschaft, deren Zweck ohnehin ein verfehlter war, und die vielleicht binnen Kurzem abgerufen wird, bin ich entbehrlich – am Ende auch du, Ludwig. Begleite mich, es wird dich zerstreuen.
Sollte ich es wagen dürfen in dieser Jahreszeit? fragte Ludwig zurück, auf dessen Angesicht eine gewisse Stubenfarbe lag und der viel an Frische verloren hatte. Doch vor Allem, mein Freund, mein Bruder, nimm das Wort meiner Theilnahme. Wie traurig, daß dein Vater unversöhnt mit dir von hinnen ging!
Er ruhe im Frieden! antwortete Leonardus. Ihm folgt von meiner Seite nur Dank und Segen, kein Unmuth und kein Vorwurf nach. Er war des Hauses Haupt, ich war zwar Sohn, doch auch zugleich ein Diener des Geschäfts; ich lehnte mich auf gegen den Willen meines Chefs, und er entließ den ungehorsamen Diener; das ist das klare Sachverhältniß. Jetzt liegt mir ob, zu sehen, was ich rette aus meinem Schiffbruch, ich hoffe immer noch, mich leidlicher einrichten zu können, als Robinson auf seiner Insel.
Gewiß bist du nicht arm, bestätigte Ludwig. Dein Vater klagte gern, war nur das größte Verhältniß gewohnt; seine Armuth reichte wohl hin, um Viele reich zu machen, auch bleibt dir ja noch dein Muttererbe.
Gott erhalte das Leben meiner theuern Mutter noch recht lange! Ich warte nicht auf ihren Tod; sie ist so unendlich gut und liebt mich so sehr.
[241]Du Glücklicher, dem noch eine liebende Mutter lebt! rief Ludwig schmerzlich aus. Wie sehne ich mich bisweilen nach solchem Glück! Mutterliebe ist eine helle Leuchte auf dem Lebenspfad – ich irre im Dunkel – oh – mein Schatten!
So freue dich an meinem Glück, noch die Mutter zu haben, komme mit mir. Du sollst ja Seeluft athmen, will der Arzt, die hast du halb und halb schon in Amsterdam, und wenn es dir nicht mehr bei mir gefällt, dann gehst du nach England, dessen mildes Klima dich neu beleben wird. Ludwig, du neigst dich zu düsterer Schwermuth, das ist nicht gut in so jungen Jahren; doch ich kenne diese innern Kämpfe.
Sieh’ mich an! Habe ich nicht auch schwer an Leid zu tragen? Weine ich nicht über Trümmern schöner niedergesunkener Hoffnungen? Was ist der Verlust irdischen Besitzes gegen den Verlust eines Herzens? Jene große und edle Seele meiner Angés riß sich los von mir, auf daß unsere Liebe eine reine bleibe, auf die wir ohne Reue noch in späten Tagen zurückblicken sollen; ich bezwang alle Glut meiner Gefühle – ich ließ sie ziehen, und nur schwach ist meine Hoffnung, daß ich sie wiedersehe. Aber darum doch kein unmännliches Zagen und Muthloswerden! Hinaus, wie der rastlose Schiffer, immer auf’s Neue hinaus in den Sturm und Drang der Lebenswogen, mitten durch die Brandung, denn im Sturme läutern sich die Gefühle, und immer muß der Mann suchen, sein Bestes zu retten, seine Selbständigkeit und seine sittliche Freiheit.
Ich gehe mit dir, Leonardus! sprach Ludwig. Dein Rath ist immer treu und deine Gesinnung wie Gold. Ich werde auch meine Schwachheit überwinden, die, wie ich fühle, krankhafter Natur ist; an deinem Beispiel soll meine Kraft sich aufrichten.
Viel Schweres gibt das Leben uns zu tragen, nahm wieder Leonardus das Wort. Wir müssen in der Jugend lernen, uns mit dem Panzer der Unverwundbarkeit zu rüsten; das Herz darf nicht brechen unter den Keulenschlägen des Schicksals, es muß hoffen und dauern. [242]Wir wissen nicht, was uns Beide noch bedroht und wie lange wir beisammen bleiben; so lange uns dies aber noch vergönnt ist, muß Einer im Andern und Einer für den Andern leben.
Und wie hast du schon für mich gelebt, mein treuer Leonardus! rief Ludwig gerührt aus und drückte des Freundes Hände mit Innigkeit. Welchen großen Theil deines Vermögens gabst du in meine Hand, auf kein anderes Pfand, als mein Wort, ein Vermögen, von dessen Abfall in einer kleinen deutschen Stadt, wenn ich fünf Procent rechne, ein Mann schon leidlich gut als unabhängiger Rentner leben könnte.
Leonardus konnte sich, so sehr Trauer sein Gemüth füllte, bei diesen Worten Ludwig’s eines Lächelns nicht erwehren und sprach: Ich nehme mit Freude wahr, daß mein seliger Vater richtig prophezeit hat, als er dir sagte: werden auch noch rechnen lernen, mein junger Herr Graf, ja ja, recht gut rechnen!
Wenn ich nur nicht fürchten müßte, lieber Leonardus, versetzte Ludwig ernst bleibend, mich schon verrechnet zu haben. Mein Vetter hat nur zum kleinsten Theil das ihm dargeliehene Geld auf Doorwerth abgezahlt, den ungleich größern Theil hat er für sich verwendet. Noch haben wir keine Quittung, noch keine rechtsgültige Verschreibung in Händen.
Wir haben das Ehrenwort deines Vetters, des Erbherrn, beruhigte ihn Leonardus.
Und wenn er außer Stande wäre, es zu halten? fragte Ludwig besorgt.
Der Fall kann kommen, versetzte Leonardus: und dennoch bin ich ohne Sorgen, das Geld zu verlieren; im schlimmsten Fall verlörest du es, und das und um dich wäre mir es leid. Sieh, mein brüderlicher Freund, ich kenne vielleicht besser als du deines Herrn Vetters Schuldenlage. Höre mich an, liebster Ludwig, und lerne vom Kaufmann rechnen, immer mehr und mehr rechnen! Die Rechnenkunst ist die Kunst aller Künste; ich brauche dir ohnehin nicht zu sagen, daß die Mathematik, in welcher auch die Arithmetik wurzelt, die erhabensten Wissenschaften in sich schließt, die Gestirnkunde und die Meßkunst des Himmels und der Erde. Aber auch die vier Species mit benannten und unbenannten Zahlen sind gar nicht zu verachten, und aus der [243]Bruchrechnung kann Einer lernen, wie Mancher, der nicht rechnen lernte, in die Brüche kommt, zum Beispiel dein Herr Vetter. Er besitzt schöne Güter, aber sein Herr Vater überlud diese mit Schulden, und als seine Frau Mutter vor mehreren Jahren starb, belastete dies furchtbar ihr Herz und erschwerte ihren Todeskampf, da sie wußte, daß sie ihren Söhnen ein Heer von Processen und achtzigtausend Reichsthaler Schulden hinterließ; die fressen viele Zinsen, lieber Ludwig. Es soll kläglich und beweglich gewesen sein, wie sie noch in den letzten Augenblicken ihres Lebens geschrieen und geseufzt, und es hat dies Alles auf das Gemüth der Frau Erbherrin einen erschütternden Eindruck gemacht. Der Erbherr brachte seinem Patriotismus sein und der Seinen und anderer Leute Vermögen zum Opfer. Arm jetzt, wie eine Kirchenmaus, hülflos und gefangen – ist gegenwärtig ihm ebensowenig zu helfen, als Etwas von ihm zu verlangen oder zu erlangen. Dazu aber kommt, daß man für gewiß sagt, daß die einhundert Millionen Gulden, welche Holland an Frankreich bezahlen soll, aus den Gütern und Besitzungen des Statthalters und seiner Anhänger genommen werden sollen; wir müssen daher Gott danken, daß in des Erbherrn Papieren, welche durchzusehen man nicht ermangelt haben wird, sich noch keine Cessionsurkunde von Doorwerth auf ihn vorfindet, denn dann wäre die Herrlichkeit zum Kukuk, während sie als Besitzthum einer deutschen und dänischen Gräfin Niemand antasten wird – und so lange Doorwerth im Besitz deiner Frau Großmutter Excellenz, wäre es auch nur scheinbar, bleibt, ist Doorwerth so wenig verloren, wie Polen. Zudem ist noch Sorge getragen worden, die Herrlichkeit im ganzen Lande als totaliter verwüstet, ausgebrannt und ausgeplündert zu verschreien, so daß sie als ein völlig heruntergekommenes Besitzthum erscheint, und kaum einer Abschätzung unterworfen werden wird.
Wer hat sie denn so verschrieen? fragte Ludwig.
Ich! erwiderte Leonardus.
Du? fragte Ludwig mit großen Augen.
Bin ich umsonst ein Vierteljahr Lehrling im diplomatischen Corps zu Paris gewesen? fragte Leonardus lächelnd zurück. Ein Kaufmann kann sehr leicht Finanzmann werden, frage doch nach, welche Anfänge die größten Männer in diesem Gebiet der Staatswirthschaftskunst hatten? [244]Die Meisten waren entweder geborene oder doch gelernte Kaufleute. Ist nun Doorwerth so entwerthet, das heißt, erscheint es so, dann wird der Erbherr in England geltend machen können, daß er sein Eigenthum für die gemeinsame Sache zum Opfer gebracht, daß er englische Truppen im Uebermaß verköstigt; er wird darthun, daß England die Herrlichkeit habe ruiniren helfen, und von dem Inselstaate eine Entschädigung fordern, und eine solche vielleicht wirklich erlangen, denn die englischen Prinzen selbst müssen bezeugen, daß sie beigetragen haben, Doorwerth mit zu verzehren; vielleicht aber erlangt er sie auch nicht.
Er verarmt also; das ist, was ich deiner ganzen Rede entnehme! O mein unseliger Fluch! rief Ludwig.
Nun, ich muß bekennen, du verstehst gut, dich selbst zu quälen, schloß Leonardus diese Unterredung. Es wurde bald nach derselben die Reise der beiderseitigen Freunde nach Amsterdam festgestellt.
Daselbst traf Leonardus seine Mutter in tiefer Trauer und weit untröstlicher über den Tod des Gatten, als über dessen starren Eigensinn, Leonardus zu enterben; aber des Sohnes verständiges Wesen benahm jenes Bangen der alten, stets das Schlimmste fürchtenden Kaufmannsfrau. Vor Allem war er bemüht, alles Nöthige zu ordnen, das Vermögen seiner Mutter gegen das seines Vaters festzustellen, und die Erben in diejenigen Rechte einzusetzen, die sie nach dem Gesetze beanspruchen konnten. Als er mit Ludwig und Vincentius Martinus, der auch einigermaßen bedacht worden war, sich gemeinschaftlich über seine Angelegenheiten unterhielt und der Letztere äußerte: Du wirst doch, lieber Leonardus, nun bei uns bleiben, wirst dein eigenes Geschäft beginnen und uns die Freude machen, dich in unserer Verwandtschaft zu behalten und deine alte Mutter pflegen? – da antwortete Leonardus: Ich werde thun, was mir gut dünkt, Vetter! Erbt ihr Alle doch in Gottes Namen, was zu erben ist. Ich brauche euch nicht, ihr bedürft meiner nicht. Wenn ich dem heiligen Martinus gleichen sollte, der seinen Mantel theilte und die eine Hälfte einem Armen gab, so soll mindestens keiner von euch der Arme sein, der meine Mantelhälfte bekommt – ich will es machen wie mein Vater, will die nächsten Verwandten hintansetzen und mir selbst einen Erben suchen, der mein Mantelkind sein soll. Hier steht er, es ist mein Freund, mein Bruder, mein Ludovicus.
[245]O Freund, rief Ludwig: sprich mir nicht so, ich will und werde dich nicht beerben, ich werde vor dir dorthin gehen, wo man nicht freit und gefreit wird, wo man irdischer Güter nicht bedarf. Wie viel thatest du schon für mich! In der letzten Zeit hast du ja alle Ausarbeitungen für mich gemacht, damit ich mich pflegen und meine Gesundheit schonen konnte; mir zu Liebe hast du dich mit doppelter Arbeit überladen!
Was thut’s? Ist es doch Niemand gewahr worden, da wir ganz einerlei Handschrift schreiben! scherzte Leonardus.
Vincentius Martinus sah diese innige Zuneigung seines Vetters Leonardus zu dem Freunde, von welcher Ersterer so gar kein Hehl machte, nichts weniger als gern. Sein Herz war schon zu sehr eingeschult in geistlichen Gehorsam und in die beschränkte Sphäre seines Amtes, als daß er das herrliche Glück einer idealen Freundschaft hätte fassen können, und zugleich regte sich in ihm der Stachel des Neides. Vincentius sprach in diesem Sinne, doch verblümt sich aus, indem er sagte: Ich denke nicht, Leonardus, daß du es dem heiligen Crispin wirst gleich thun wollen, welcher den Reichen das Leder stahl, um den Armen Schuhe daraus zu fertigen?
Ich bin nicht so bewandert in der Legende wie du, mein geistlicher Vetter, spöttelte Leonardus. Doch weiß ich, daß ich nicht auf dem Rost des Neides brate, wie dein Schutzpatron Sanct Vincentius auf einem Rost briet. Ich suche meinem Schutzpatron, dem heiligen Leonardus, nachzueifern, der der Verfolgten und Gefangenen sich annahm. Daß ihr mich gern ins Haus schlachten möchtet als einen alten Krämer-Junggesellen, glaub’ ich euch gern, werdet’s aber nicht an mir erleben – ich will mir erst noch ein und das andere Stück Welt besehen. Indeß mache dich auf ein recht langes Leben gefaßt, wenn du mich zu beerben gedenkst, denn ich denke es noch eine hübsche Weile zu treiben, mein guter Vetter! Du sollst auch stets Nachricht von mir haben, und wenn ich einmal nicht mehr schreibe, so denke, daß ich gestorben bin, und lies dann für meine arme Seele so viele heilige Messen, als dir für mein unsterbliches Theil heilsam dünkt.
Ich werde einstweilen eifrig zum heiligen Rochus für dich beten, daß er dich auf deiner Weltpilgerfahrt beschütze, nicht unter die [246]Räuber und Mörder dich fallen lasse, im Uebrigen empfehle ich mich als Geschäftsträger am hiesigen Ort, wenn die beiden gnädigen Herren Ambassadeurs vielleicht hohe Aufträge für mich armes Priesterlein und Knechtlein der heiligen Jungfrau haben sollten!
Es war nichts wie Spott und heimlich verhaltener Groll in den Worten Vincenz Martinus, allein Leonardus machte ihm nicht die Freude, sich darüber ärgerlich zu zeigen, vielmehr nahm er alle prickelnden Stichelreden ruhig hin.
Schwerer war des Sohnes Stand bei seiner Mutter, als er dieser mittheilte, daß er die Absicht habe, sie wieder zu verlassen, denn Leonardus hatte sich gelobt, das Leben daran zu setzen, um mit Angés vereinigt zu werden; er wollte zunächst wieder eintreten in das diplomatische Corps, da er sich volle Befähigung zu dieser Laufbahn zutraute und er zur Zufriedenheit des Gesandten gearbeitet hatte; er hatte deßhalb schon vorsorglich bewirkt, daß ihm der Eintritt offen gehalten wurde; dann wollte er noch einmal nach le Mans reisen und nicht ruhen, bis er entweder die gerichtlich verbriefte Ueberzeugung von Etienne Berthelmy’s Tode in Händen habe, oder bis er diesen, falls er noch am Leben, zur Scheidung bewogen. Leonardus gebot über nicht geringe Geldmittel, denn einmal hatte er auch für sich selbst auf seinen weiten Reisen gearbeitet, war von Einsicht unterstützt und vom Glück begünstigt worden, und dann war auch der alte verstorbene Herr Adrianus van der Valck keineswegs so arm geworden, als derselbe damals Ludwig glauben zu machen versucht hatte, und endlich blieb ihm an der treuen Mutter für Fälle der Noth noch eine mächtige Stütze. Es war nicht blos Großmuth, daß er damals die Hälfte des Kaufgeldes für Doorwerth für den Erbherrn hergab; Leonardus rechnete darauf, daß er in dieser Herrschaft auf einem der Schlösser ein stilles Asyl finden könne für sich und seine Liebe, sei es in Miethe, sei es als Mitbesitzer, je nachdem ihm nun der Erbherr sich dankbar bezeigen wollte und als redlicher Schuldner; daher war Leonardus auch geneigt, die zweite Hälfte jenes Kaufschillings zu beschaffen, aber daß nun freilich der Erbherr das Geld größtentheils anders verwandte und nur einen geringen Theil am Kaufgeld baar anzahlte, das war einer von den Strichen durch die Rechnung, von denen Herr Adrianus so ernst gesprochen, daher beschloß Leonardus, [247]vorläufig auf weitere Schritte bezüglich des Güterankaufs im Geldernlande zu verzichten.
Die Freunde trennten sich, als die Zeit da war, daß Leonardus nach Paris zurückeilte, nicht ohne Kummer und trübe Gedanken. Ludwig machte sich Sorgen um des Freundes Zukunft, die eben so verhüllt vor ihm lag, wie seine eigene, und Leonardus war von Besorgniß erfüllt über des Freundes Gesundheitsumstände und dessen Neigung zu stillbrütender Schwermuth, die in dem Nebellande Albion zuletzt mehr gemehrt als gemindert werden konnte. Beide trennten sich, als die Scheidestunde da war, mit den Schwüren fester Treue, mit dem heiligen Versprechen öfteren brieflichen Verkehrs. Leonardus begleitete Ludwig vorher zum Hafen, um ein nach England bestimmtes Schiff aufzufinden, und siehe, hell strahlte im erneuten Glanze unter den vielen hundert Schiffen das Bild der »vergulden Rose«, welche in anderen Besitz übergegangen war nach dem Tode des alten van der Valck, aber immer noch den treuen Kapitän Richard Fluit zum Befehlshaber hatte. Groß war das Glück der drei Freunde, sich so unverhofft wieder zusammen zu finden, und daß Fluit es nicht fehlen ließ, dieses Wiedersehen seemännisch zu feiern, lag in der Natur der Sache.
O könnt’ ich doch, ihr lieben guten Freunde, rief Fluit, als die Drei beim kreisenden Becher in der Kajüte beisammen saßen: könnt’ ich doch wieder mit euch hinfahren in so schöner Nacht, wie damals, denselben Strich, den wir hierher zuhielten! Aber verdammt, erstlich sieht es mit aller Seefahrerei äußerst windig aus, wenn nicht bald Thauwetter einfällt, und dann hab’ ich Frachten nach England, nicht nach Hamburg, muß nach Plymouth segeln!
Ludwig und Leonardus sahen bei dieser Mittheilung Fluit mit strahlenden Gesichtern an, und Leonardus rief: Bravo, das ist der rechte Cours! Möchte beim Himmel unter solchen Umständen selbst mit – doch – es kann nicht sein – aber, wackerer Fluit, was gebt Ihr dem Freund hier, wenn er mit Euch die Fahrt hinüber macht?
Ei, das wäre! rief Fluit. Freie Fahrt, freie Kost, freie Kajüte, freien Schiffskeller, in welchen, unberufen sei es gesagt, seit die »vergulde Rose« die Meere befährt, noch nie ein Tropfen Wassers [248]gekommen – ich meine den Schiffsweinkeller, nicht den süßen Wasservorrathkeller, versteht sich.
Wir werden uns darüber einigen! sprach Ludwig lächelnd: aber wahrlich, das achte ich als ein Zeichen von meines Geschickes Gunst, daß ich mit dem braven Freund und nicht mutterseelenallein in das Meer hinaus steuern soll, daß ich im Lande meiner nächsten Bestimmung und zumal in der wimmelnden Hafenstadt wieder einen so kundigen Führer finde, wie ich ihn einst in meinem Leonardus zu Amsterdam fand.
Vieles hatten sich die wackeren Freunde einander mitzutheilen, theils was ihre eigenen Gemüther, theils was die Welt bewegte, und wahrlich, die Zeit ließ es nicht am mannichfaltigsten Stoff zu Gesprächen fehlen. Die Patriotenpartei in Holland hatte nun gesiegt, sie hatte das Verderben über ihr eigenes Vaterland heraufbeschworen, wie das stets der Fall ist, wenn die Unvernunft alles gerechte Maß überschreitet und nicht eine verstandvolle geregelte Regierung das Steuer des Staatsschiffes lenkt, sondern ein Haufe entflammter Schreier und selbstsüchtiger Volksmänner dem Volke seine Beglückungsideen vorschwindelt. Die Franzosen, die Feinde waren es, die der niederländischen Patriotenbrutalität selbst Schranken setzen mußten; die Mannszucht der Franzosen war vortrefflich, ihr Benehmen in Holland damals achtungswerth – Windt empfand dies im vollen Maße und sprach sich darüber in seinen Briefen an seine Gebieterin mit gewohnter Unumwundenheit aus. Holland kam fast ganz um seine einst mit so großen Opfern erkaufte Freiheit, es wurde wenig mehr, als eine französische Provinz; es mußte den Schiffen Frankreichs freie Fahrt auf seinen Strömen gestatten, mußte 100 Millionen Gulden Kriegskosten aufbringen, mußte, so lange der Krieg dauerte, die 25,000 Mann starke französische Besatzung verköstigen und kleiden, und dabei wurde sich des Kunststückes bedient, daß, wenn 25,000 Mann ausgerüstet waren, diese wieder in das schöne Frankreich zurückmarschirten, worauf andere 25,000 Mann nachrückten, die abermals gekleidet wurden. Holland hat damals an 200,000 Mann auf diese Weise gekleidet, was den niederländischen Tuchfabriken außerordentlich zu Gute kam, die nie bessere Zeiten gesehen hatten. Nicht minder hob sich der Lederhandel. Frankreich ließ dem niederländischen Volke und [249]seinen politischen Gauklern das Spielwerk eigener Constitutionen und unterjochte das Land dabei gründlich; es ließ ihnen die ansteckende Nachäfferei der eigenen Staatseinrichtungen, im Umtausch gegen die bisher bestandenen guten alten; es nahm Holland sein Gold und Silber und gab ihm sein Lumpenpapier, seine Assignaten; es zerstörte seinen blühenden Welthandel, und rief England gegen Holland in die Waffen, hauptsächlich in allen überseeischen Provinzen, dadurch verlor Holland den größten Theil seiner Besitzungen am Cap der guten Hoffnung und in Indien; es verlor seine zehn Millionen Gulden werthe indische Flotte; Hollands Flagge beherrschte nicht mehr, wie einst, die Meere. Die Vermögenssteuer wurde von zwei ein halb auf sechs vom Hundert gesteigert. Diese und noch andere den Boden der Staatswohlfahrt auf Jahrhunderte hinaus untergrabenden neuen Einrichtungen waren das Glück, welches Frankreich und die französische Freiheit, Gleichheit und Brüderschaft Holland schenkte und das die Patrioten Hollands ihrem Vaterlande bereitet hatten. –
Als Leonardus von seiner Mutter Abschied nahm, reich von ihr beschenkt, und die alte Frau, aufgelöst in Schmerz und Thränen, in seinen Armen weinte, rief sie: O, mein Leonardus! So muß es denn sein, daß du scheidest! O vergiß mich nicht, mein einziger Sohn, vergiß nicht deine alte Mutter!
Beruhiget Euch, liebe Mutter! versuchte Leonardus sie zu trösten. Wenn ich erreiche, was ich zu erreichen strebe, dann komme ich zu Euch, oder Ihr ziehet zu mir. Jetzt aber muß ich noch einmal hinaus in die Fremde, ich muß meinem Glücke nachgehen und nachstreben, da es mir nicht von selbst in den Schooß fällt.
Ich will es ja ertragen, mein geliebter Sohn, dich fern zu wissen! Aber um Gottswillen, stirb mir nur nicht in der Ferne! Solche Nachricht ertrüge ich nicht, sie würde mich augenblicklich tödten.
Ihr sollt diese Nachricht nicht empfangen, beste Mutter! sicherte Leonardus ihr zu.
Wie kannst du das versprechen, mein Sohn? fragte Frau Maria Johanna van der Valck.
Ihr sollt sie nicht empfangen, es stürben denn zwei, wiederholte Leonardus mit Bestimmtheit, eingedenk eines Planes, der längst in seiner Seele gereift, einer Seele, die so von Liebe, Freundestreue, [250]Großmuth und Hochherzigkeit der Gesinnung erfüllt war, daß sie an die edelsten Seelen des Menschengeschlechts hinanreichte. –
Weit von einander waren die Freunde, weit von einander alle die Herzen, die des Lebens rollende Wogen und der Geschicke seltsame Fügung erst nahe gebracht und dann wieder von einander gerissen hatte, hierhin und dorthin. Ludwig hatte das glücklichste Loos gezogen; er weilte eine Zeit lang in London als ein lieber Gast im Palast seiner hohen Freundin, er trat in die angesehensten Kreise der stolzen Aristokratie Alt-Englands; er sah sich getragen und gehoben von der Hand edler Frauengunst, daß es ihm fast die Sinne verwirrte. Er durfte jenen berühmten Lord Henry Cavendish als Vetter begrüßen, der später eine Königin von Großbritannien durch die Gewalt sittlicher Obmacht zwang, England zu verlassen und auf lange Reihen von Jahren auf fremder Erde umherzuirren; der zur Herrschaft eines General-Gouverneurs von Indien sich emporschwang und von den Eingeborenen das schwere Zugeständniß erzwang, auf das Verbrennen ihrer Wittwen zu verzichten. Jenem gleichnamigen stolzen Herzog William Cavendish, einem der unbeugsamsten Häupter der Opposition, wurde Ludwig vorgestellt, und lernte aus einigen Unterhaltungen mit diesem geistbegabten Ritter des Hosenbandordens mehr Politik und mehr Einblick in das höhere Staatsleben und die höhere Staatenlenkung, als mancher sehr achtungswerthe Staatsmann durch sein ganzes Leben in seinen Kopf zusammen zu bringen vermag. Entschiedener Gegner Pitts und Freund von dessen geharnischtem Widersacher Fox, hielt der Herzog gegen Niemand mit seiner politischen Ansicht zurück, und seine Gemahlin, die herrliche, reizvolle Prachtgestalt, die Alles um sich fesselte, theilte die Gesinnung ihres Gemahls und gab Proben ihrer eigenen thätig eingreifenden Begeisterung für die Erreichung politischer Zwecke, welche die Welt in Staunen setzten. Sie war es, diese allbewunderte Georgine, die einen Bund gleichgesinnter Freundinnen gründete, der persönlich in die Wahlen sich einmischte, als es galt, Charles James Fox die Stimme des Volkes für die Stelle eines Parlamentsmitgliedes von Westmünster zu gewinnen; sie war es, die auf offener Straße einem Bürger Londons den Lohn für seine Stimme für Fox zuertheilt, um den derselbe, alles Gold verschmähend, gebeten – ihm einen Kuß ihres wonneschönen Mundes vergönnt hatte.
[251]Aber aller Antheil Georginens an der Politik hielt sie nicht ab, mit der zärtlichsten Liebe für Ludwig zu sorgen. Fast verweichlichend war für den jungen Mann ihre Gastfreundschaft; Londons berühmteste Aerzte mußten ihren Rath ertheilen und ertheilten denselben, ohne daß sie ergründeten, was dem jungen Manne fehle. Ihm fehlte nichts, als ein ernster Beruf und ein entschiedenes Streben, und ein Herz, das ihn verstand. Und dies Herz fand Ludwig jetzt in der Frau, deren hoher Geist den seinigen emporflügelte, die ihm den Blick schärfte für die Geschicke der Länder, für den Gang der Weltgeschichte, die ihn lehrte, den hohen Flug der Gedanken zu fliegen und zu lernen, daß doch so Vieles nichtig und unwesentlich, was Viele für so groß und wichtig halten, wobei sie meist mit dem eigenen unbedeutenden Ich beginnen.
Wohl hörte Ludwig aufmerksam zu, wohl lauschte er dem Wohllaut der holden Rede seiner mütterlichen Freundin, wohl fühlte er sich nirgend so sicher, so heimisch, so wohlgeborgen, als in ihrer Nähe; aber es war eben mehr als der Inhalt der Worte, die Georgine oft zu ihm sprach, es war jener wundersame Zauber, der sie umfloß, der ihren Hörer umwob, wie das Fächeln eines süßen Maienlüftchens die Blüthenlauben eines Rosengartens. Magisch fühlte Ludwig von Georgine sich angezogen, wie ein höheres Wesen erschien sie ihm, in ehrerbietiger Ferne wußte sie mit zartem Gefühl ihn stets zu halten. Sie wählte für ihn die Bücher oder half sie ihm wählen, deren Inhalt ihm müßige Stunden belehrend ausfüllen half, sie wandelte mit ihm durch die Labyrinthe der speculativen Philosophie, sie berichtigte seine Ansichten, verwarf oder bestärkte seine Meinungen, lehrte ihm Sinn für Unabhängigkeit, und wie der denkende Mensch nur durch strenge und unausgesetzte Selbstüberwindung und Selbstbeherrschung letztere sich gewinnen könne. Georgine erzog Ludwig zum zweitenmale, und zwar besser und in ungleich kürzerer Zeit, als die Großmutter diesen erzogen hatte. Kenntniß mit Anmuth, Heiterkeit mit stillem Ernst paarend, verscheuchte Georgine Ludwig’s anfänglichen Trübsinn, war auf Erheiterungen für ihn bemüht, leitete ihn zu mancher praktisch-nützlichen Beschäftigung hin, zu kleinen Ausflügen und erzählte ihm von der Pracht der Schlösser, Parke und Berge der Grafschaft. Dabei wurde der Lenz mit Sehnsucht erwartet, um dann durch die grünen [252]Gefilde hinzuziehen zur Lust, zur Jagd, zum Besuch der Schlösser mit der Fülle von tausend Annehmlichkeiten und aufgehäuften Schätzen der Literatur und Kunst. Wohin Ludwig nur immer seine Blicke wenden mochte, gab es Neues zu beschauen, zu bewundern und zu lernen, und Albions milde Natur, früh erwachend trotz des strengen Winters, unter dessen Härte andere Länder zu klagen und zu leiden hatten, athmete reinen Hauch der Genesung, und in mancher ländlichen Abgeschiedenheit meilenweiter Parke bot sich in lieblichen Cottagen die süße Beschränkung eines idyllischen Friedens. Diesen nun suchte Ludwig vorzugsweise, weil es so in seinem Wesen, in seiner Jugendbildung und in seiner Gemüthsrichtung lag; er war auf die Dauer nicht für die Politik zu gewinnen, nicht für die Freuden der Jagd, noch viel weniger für Fuchshatzen und Kirchthurmrennen – und mit Lächeln hörte er es an, als die feurige Georgine ihn einmal gradezu deßhalb ausschalt und zu ihm sprach: Graf, Sie sind ein unverbesserlicher deutscher Träumer!
Schöne Herzogin! erwiederte er mild: ich bin vielleicht ein verzogenes, aber doch ein gehorsames Kind. Sehen Sie, ich folge immer noch der Großmutter, die mich verzog, denn ach, ich habe ja nie eine Mutter gekannt, nie hat, so weit mein Erinnern reicht, ein Mutterkuß meine Lippen berührt und geweiht und geheiligt. Die Großmutter sagte mir beim Abschiede, ich solle deutsch gesinnt bleiben; kann ich nun dafür, wenn mein Gehorsam so blind ist, daß ich nicht in Holland, nicht in Frankreich und nicht in England meine deutsche Natur zu verläugnen vermag? Daß ich nie ein Holländer, nie ein Franzose und nie ein Brite werde? Ist es denn ein Unrecht, wenn mein Wunsch, meine Forderungen an das Leben nur bescheiden sind, wenn ich höheren Zielen nachzustreben kein Verlangen trage? Haben Sie Geduld mit mir, der nur zu tief empfindet, was ihm mangelt, und nehmen Sie mich wie ich bin, oder heißen Sie mich gehen, verbannen Sie mich aus dem schönen Asyle, das in Ihrer Nähe sich mir aufgethan!
Georgine hatte bisher stets ihr eigentlichstes und innerstes Wesen vor Ludwig sorglich verhüllt. Sie hatte ihm mit Absicht nur die hochstehende, vornehme und geistreiche Frau gezeigt, welche sie war, die achtunggebietende, ihre Kreise beherrschende Königin aller Schönheit und aller Würde; die reiche unendliche Fülle ihres Gemüthes hatte sie [253]ihm zum Theil noch verborgen, jedes zärtliche Wort vermieden, auf daß nicht der weich gebildete junge Mann, dessen Herz sich im Kahne einer unbestimmten Sehnsucht wiegte, zuletzt in Liebe und Leidenschaft sich zu ihr neige und im Flammenstrahle der Erkenntniß dann vergehe, wie Semele verging, als Zeus sie mit der Glut seines Feuerhimmels umarmte.
Sie liebte ihn, den schönen, weichen, milden Sohn, tief und innig, mit aller Macht mütterlicher Liebesfülle, aber sie bebte zurück vor der Entdeckung, sie wollte erst seine Kraft prüfen, mit der er tragen würde das unaussprechlich tiefe Geheimniß. Aber sie vermochte sich nicht mehr zu halten. Sie überstrahlte Ludwig mit einem wunderbar süßen und zärtlichen Blick, ihr Herz schlug hoch, ihr Busen wogte – ach, er stand so scheu, mit so leidendem Ausdruck, so befangen vor ihr und wußte nicht, wie ihm geschah, als Georgine ihn plötzlich sanft umfing, seine Stirne küßte und mit bebender Stimme flüsterte: Ludwig! Ludwig! Du klagst, daß nie ein Mutterkuß deine Lippen berührt und geweiht und geheiligt habe! Nun denn so empfange diesen Kuß! Ludwig, mein Ludwig! Ich bin deine Mutter!
Sie waren weit von einander getrennt, die beiden Freunde Ludwig und Leonardus, die sich in so treuer ausdauernder Liebe zusammen gefunden. Als Leonardus allein war, als er dem Freund, der mit Fluit nach Plymouth gesegelt, den letzten Abschiedsgruß zugewinkt, hatte er nirgend mehr eine bleibende Stätte. Er ging nach Paris zurück, fand, daß man seiner nicht nothwendig im diplomatischen Corps bedürfe, und nahm weiteren Urlaub. Auf dem geradesten Wege eilte er nach le Mans, wo er wieder als Kaufmann auftrat und einige Geschäfte abschloß, die dann ein ihm befreundetes Amsterdamer Handelshaus zur Vollziehung brachte. Bald begann er seine Nachforschungen nach Berthelmy – sie waren und blieben jedoch erfolglos. Er machte [254]Bekanntschaft mit dem Maire, bewirthete und beschenkte diesen, um ihn willfährig zu machen, und dieser beschied ihn auf die Mairie, wo in seiner Gegenwart Nachforschungen in den Acten angestellt werden sollten. Als Leonardus sich eingefunden hatte, sprach der Maire, der zwischen Actenhaufen vergraben saß, nachdem er den Fremden zum Sitzen eingeladen hatte: Sie kennen, Bürger, die Ereignisse der jüngsten Zeit. Sie war sehr blutig für die Vendée. Ich fürchte sehr, man hat nicht Papier genug gehabt, um die Namen der vielen vielen Tausende niederzuschreiben, welche der Krieg hinwürgte. Von der Familie Berthelmy lebt jetzt Niemand mehr in le Mans. Jener Mann, den Sie suchen, soll geblieben sein, sein Weib ging davon, oder verschwand auf räthselhafte Weise, seine Eltern sind beide todt, Geschwister hat er nicht gehabt. Daß er mit zu Felde zog, ist durch Acten verbürgt, daß er blieb, ist nicht verbürgt.
Kann man denselben nicht in den öffentlichen Blättern ausschreiben lassen? fragte Leonardus.
Wohl könnte man das, entgegnete der Maire: allein es würde wenig fruchten. Lebte der Bürger Etienne Berthelmy noch, so würde er längst wieder hier erschienen sein, um sein kleines Erbtheil in Empfang zu nehmen; sollte er aber wirklich noch am Leben sein, so würden ihn dennoch unsere Zeitungen schwerlich erreichen.
Könnte er nicht für todt erklärt werden?
Nein, Bürger, zu einer solchen Erklärung ist die Zeit seiner Abwesenheit viel zu kurz. Aber weßhalb dies Alles?
Ich bin ein Verwandter von Berthelmy’s vormaliger Frau; sie hat Gelegenheit, eine andere Wahl zu treffen, und will dies nicht eher, als bis sie rechtlich von ihrem Mann geschieden ist.
Der Maire lächelte und sprach ironisch: Diese gute Frau scheint eine schlechte Bürgerin zu sein, daß sie noch so veraltete Rechtsbegriffe hegt. Wir haben uns, nachdem am dreizehnten December vorigen Jahres General Marceau in hiesiger Stadt fünfzehntausend Menschen an einem und demselben Tag erschießen ließ, ohne Ansehen des Alters und des Geschlechts, der glorreichen und untheilbaren Republik unterworfen; wir haben keine Kirche und kein Sacrament der Ehe mehr. Der Bürgerin Berthelmy steht es völlig frei, sich als geschieden zu betrachten und zu freien, wann und wen sie will.
[255]Angés Berthelmy ist eine Deutsche! warf Leonardus ein.
Ah so! versetzte der Maire gedehnt. Die Deutschen sind noch halbe Barbaren, sie haben noch viele wunderliche Begriffe und Vorurtheile, aber unsere glorreiche Republik wird sie schon in gleicher Weise beglücken, wie die Vendée beglückt worden ist. Wenn dir zu rathen ist, Bürger, so suche so schnell als möglich aus diesem Lande zu kommen, denn die höllischen Colonnen morden Jeden, der ihnen aufstößt und nicht zu ihnen gehört, er trage gute und richtige Pässe bei sich, gehöre einer Gesandtschaft an, oder nicht. Diese Colonnen sind selbst eine Gesandtschaft – die des Todes.
Leonardus ging, mit einem verzweifelnden Gefühle im Herzen. In tausend Gefahren, die in einem durch und durch vom blutigsten, gräuelvollsten Kriege zerwühlten und zerrütteten Lande sein Leben bedrohten, hatte er sich gestürzt, und so völlig fruchtlos, so ganz vergebens! Was nun weiter? Sollte er Angés aufsuchen? Und mit welcher Nachricht konnte er vor sie treten, wenn er sie fand? Blieb noch irgend eine Hoffnung in einer Zeit, in welcher jeder Tag Tausende hinmordete, in welcher an geregelte Zustände auf lange hinaus nicht zu denken war, Nachrichten über Leben und Tod eines einzelnen Mannes zu finden, der sich durch nichts hervorgethan hatte, der im großen Strome des unglücklichen Vendéerheeres spurlos verschwunden war?
Düster wurde es bei solchen Betrachtungen in Leonardus sonst so frohem und hellem Gemüth, sein Herz war zu einer Wildheit, zu einem Groll gegen sein Schicksal aufgeregt, die ihm fast die Sinne verwirrten. Er wünschte jetzt, Berthelmy möchte noch leben, möchte ihm lebend entgegentreten, mit Waffen in der Hand, er wollte mit ihm kämpfen und ringen auf Tod und Leben um den Besitz des geliebten Weibes. Aber kein Berthelmy trat ihm entgegen, nichts stellte sich ihm in den Weg, ungefährdet konnte er Paris wieder erreichen. Aber wiederum litt es ihn nicht dort, Alles erschien ihm schaal und farblos, nur in weiter Ferne schwamm in einer lichten Aetherstelle die rosenrothe Wolke seiner Liebe, seiner Sehnsucht, unerreichbar für ihn, gleich jener Wolke, die der kühne Held statt der Göttin umarmte. –
Windt hatte einen Brief an die Reichsgräfin vollendet, den er, bevor er ihn absandte, seiner Frau mittheilte; Frau Juliane liebte [256]das, sie erfuhr auf diese Weise manches Neue, das in ihres Mannes Leben trat und sie oft unmittelbar mit berührte, zu dessen besonderer Mittheilung ihr Mann jedoch keine Zeit fand.
Ich habe von Tag zu Tag weniger Zeit zum Briefschreiben, sprach Windt zu seiner Frau: ach! es ist jammerschade, daß du keine Federheldin geworden bist, liebe Jule, du müßtest sonst mein Geheimschreiber sein, mein Wippermann.
Bin froh, sehr froh, lieber Windt, bin sehr froh darüber, hätte sonst noch mehr zu thun! vertheidigte sich Frau Windt. Hab’ ich nicht ohnehin alle Hände voll zu schaffen, und fast Tag und Nacht?
Hast recht, liebe Alte! begütigte Windt. Was wir Beide hier durchmachen, kann uns nimmermehr vergütet werden. Unsere alte Gnädige, oder unsere gnädige Alte hat davon keine Idee, wie es hier zugeht, – nun, ich hab’ es ihr geschrieben, wie mich im Januar die Kaiserlichen aus dem Bette geholt und geplündert, wo ich nur wie durch ein Wunder mit dem Leben davon kam, wie ich mehr wie hundertmal Bajonnette und Carabiner mit aufgezogenen Hahnen auf meiner Brust hatte, wie sie mir mein letztes Geld, meine mühsam gesparten hundert Ducaten, die ich zu einer Brunnenkur in Pyrmont bestimmt, meine beiden Uhren und meine Gewehre stahlen. – Brunnenkur! Beim Element! Die kann ich jetzt hier auf das Schönste genießen, brauche nicht erst nach Pyrmont, denn meinen Wein haben die Schurken mir ausgetrunken bis auf die letzte Flasche! Was brauch’ ich Uhren? Ich armer geschlagener Mann weiß ohnehin, wie viel es geschlagen hat, und wozu Gewehre, da ich doch gänzlich wehrlos war?
O, gerechter Gott, es war schrecklich und jammervoll, Windt! rief Frau Juliane schluchzend und von schmerzlicher Erinnerung bewegt aus: wie du, so wie du gingst und standest, das Kastell verließest.
Um beim französischen General zu Arnhem eine Schutzwache zu erbitten gegen diese wallonischen rohen Teufel und Spitzbuben! ergänzte Windt; und wie ich an das Thor von Arnhem komme, höre ich, daß die Stadt noch gar nicht von den Franzosen besetzt ist. Ich hatte seit vierzehn Tagen in meinen Kleidern und Stiefeln geschlafen, war todmüde, und mußte mich im Geleite eines Trompeters nach Wageningen schleppen, um dort für das Kastell um französischen Schutz zu betteln.
[257]Nun und was hast du denn geschrieben, und was hilft dich dein Schreiben, Windt? fragte die Hausfrau des vielgeplagten und vielgeprüften Mannes, dessen Redlichkeit und Diensttreue alle Feuerproben der drangvollsten Erlebnisse bestanden.
Was mein Schreiben helfen wird? fragte Windt: gar nichts wird es helfen und kann auch nichts helfen! Aber es ist meine Schuldigkeit. Noch ist die alte Excellenz Herrin dieser Herrlichkeit, sie muß unterrichtet werden, wie es um ihre Besitzungen steht. Es ist ein Unglück in dieser Zeit Schlösser am Rhein zu haben; ich habe Alles so vorauskommen sehen, wie es gekommen ist, habe gerathen, habe gewarnt, Alles vergebens, ich war ja kein Rath, bin nur der Haushofmeister, und der Mensch ist stets ein Narr, der einen Rath gibt, ehe ein solcher von ihm verlangt wird; ich bin eben immer der dumme gutmüthige Narr.
Gut bist du, Windt, das muß wahr sein, wenn du auch bisweilen unwirsch und kurz angebunden bist, schmeichelte seine Frau, öffnete ein geheimes Wandschränkchen in dem sichern Thurmgemach, das sie jetzt bewohnten, und brachte eine Flasche alten Port à Port daraus zum Vorschein.
Komm her, Alter, ich habe noch Etwas gerettet, du sollst das Doorwerther Wasser nicht trinken, es schmeckt abscheulich und ist trüb wie Lehmbrühe.
Ist das ein Wunder, jetzt, bei der furchtbaren Ueberschwemmung? Wein zu wenig und Wasser zu viel. Bist ein Goldkorn, Jule! Was wär’ ich ohne deine treue Hülfe! rief Windt, ließ sich willig einschenken, trank und begann zu lesen:
»Auf gut Glück, da ich nicht weiß, ob die Post von Amsterdam nach Hamburg wieder geht, schreibe ich Ihrer Excellenz, daß ich noch lebe, und daß ich gegenwärtig eine französische Schutzwache im Kastell habe. Mir ist von den französischen Generalen und Commandanten mit einer Menschenfreundlichkeit, einer wahrhaft brüderlichen Güte und in allen meinen Gesuchen mit einer Willfährigkeit begegnet worden, die ich nie genug rühmen kann, so wenig als die gute Ordnung und Mannszucht, die von den Truppen beobachtet wird. Ich habe nach und nach bereits sieben französische Sauvegarden gehabt, Sergeanten, Husaren, Jäger, Dragoner, Cuirassiere, und kann mit Grund der Wahrheit sagen, daß ich allen bei ihrem Abgang das beste Zeugniß [258]ausstellen konnte. Was ich aber vorher gelitten, stets im Mittelpunkt der gegenseitigen feindlichen Vorposten, während der Gefechte, in die ich zweimal persönlich hinein gerieth, als ich Hülfe suchend ausgeritten war, ist unbeschreiblich und unglaublich. Doch es gereut mich nicht, hier ausgehalten zu haben, es würde auch sonst um Doorwerth elend genug aussehen. Alle die, welche feig aus der hiesigen Gegend gewichen sind und ihre Wohnungen verlassen haben, brauchen nicht zurückzukehren, um dieselben zu suchen, denn sie finden sie nicht mehr. Gleichwohl bleibt meine Lage immer noch gefährlich und bedenklich. In den Städten geht Alles gut, aber auf dem platten Lande, in meinem unbändig großen Kastell so fast ganz allein zu sein, ist eine Lage, die nicht Jeder durchführt. Die Avantgarde der Republikaner rückte hier am siebenzehnten Januar ein. Das Schicksal des Erbherrn werden Excellenz aus den öffentlichen Blättern nun ganz kennen, doch kann ich mit Bestimmtheit mittheilen, daß er in seinem Unglück frisch, munter, fröhlich und guten Muthes ist – sehr gut für ihn. Sobald als möglich denke ich selbst ihn aufzusuchen, hoffe ihn sprechen zu dürfen und zu erfahren, wie es um ihn steht. Wenn Excellenz wüßten, wie schlecht die Emigranten es hier getrieben haben, sie schlössen Ihre Thüre vor Jedem derselben zu. Hätten diese Menschen so viel Herz gehabt, in ihrem Vaterlande zu bleiben und auf ihrem Posten, wie ich es gemacht, ich wäre nicht so unglücklich, wie ich jetzt bin, ganz Frankreich und Alle, die unter dem Druck der jetzigen Zeiten leiden, wären es nicht.«
Windt! Windt! unterbrach Frau Juliane. Das hättest du nicht schreiben sollen, das beleidigt ja die Excellenz. Bedenkst du denn gar nicht, daß der Herzog von la Tremouille, Prinz Talmont, ihr Vetter ist?
Wenn die Herzöge und Prinzen von la Tremouille, Talmont und was sie sonst für Namen haben mögen, entgegnete Windt: nicht furchtsam und voreilig ausgewichen wären, sondern anders gehandelt hätten, so wäre der sonst wackere August Philipp, Prinz von Talmont, der wirklich tapfer war, nicht im December des vorigen Jahres gefangen und im Hofe seines eigenen Schlosses erschossen worden. Was ich der alten Excellenz schrieb, ist stets meine aufrichtige Meinung, ist die Wahrheit, die sie liebt und die sie mir nicht übel nimmt. Sie nannte mich einmal scherzend ihren »alten Wahrsager,« und ich [259]antwortete: Excellenz haben ganz recht, ich sage immer wahr und sage das Wahre, nur Schade, daß Excellenz meinen Wahrsagungen nicht glauben, wenn Sie auch so gnädig sind, meine Wahrheiten nicht übel aufzunehmen.
Windt fuhr nach dieser Unterbrechung im Lesen seines Briefes fort: »Künftig bitte ich Excellenz, an mich nur unter der Adresse zu schreiben: Au Citoyen Windt à Doorwerth, franco Amsterdam. Ueber Amsterdam ist und bleibt von Hamburg aus der beste Postweg. Zum Pettschaft nehmen Sie nicht Ihre Wappen, sondern etwa eins mit einer Devise, sonst schmeißt die Post den Brief ins Feuer; es ist in Amsterdam von Seiten der Municipalität eine Commission ernannt, an welche Briefe nach Hamburg und Bremen offen eingeliefert werden müssen, ich schließe daher diesen meinen Brief an die Adresse der Frau Mutter des mit Graf Ludwig hier gewesenen braven Holländers Leonardus van der Valck ein und ersuche Excellenz, Rückantworten auch auf diesem Wege an mich gelangen zu lassen, auch wollen Hochdieselben sich über die närrische Adresse dieses Briefes nicht wundern. Man will der Besitzung Doorwerth den Namen einer Herrlichkeit, Seigneurie, nicht mehr zugestehen, und was Ihrer Excellenz Geltendmachung dessen betrifft, daß Hochdieselben eine dänische Gräfin sind, so wünschte ich, Sie hörten darüber einmal die Aeußerungen der französischen Generale. Denen ist dieses Alles Null, es gibt für diese keinen Respect mehr vor Fürsten, Grafen und Herren, wie man im lieben deutschen Reiche, Gott behüte es vor dem Franken-Reiche! zu sagen pflegt. Sehr lieb ist mir, daß der Wechsel auf die zwanzigtausend Mark banko honorirt wurde; im Uebrigen können Excellenz dieser Angelegenheit halber ruhig schlafen. Sie sind noch zur Zeit durchaus an Nichts gebunden; das Ganze war ein Werk meines vielleicht übertriebenen Diensteifers, ich machte in der Stille mit dem Erbherrn, mit dem jungen Herrn und mit Herrn Leonardus van der Valck mündlich auf Treue und Glauben Alles ab, um Ihrer Excellenz Geld zu schaffen, weil Sie dessen bedurften und Sie gleich mir Emigranten zu verköstigen hatten; fast scheint mir, und die Schnörkelform Ihrer Quittung läßt dies vermuthen, als seien Glauben und Treue zu den verrufenen Münzen gerechnet, zu den Paduanern, die aber doch als ächte in Hochdero berühmter Sammlung prangen, und über [260]welche Ihnen der Herr Abbé Eckhel in Wien so vieles Aufklärende geschrieben hat.«
Windt! Windt! Um Gottes Willen! rief die besorgliche Frau. Du machst es zu arg, du beleidigst!
Sorge nicht, es ist die Wahrheit! beruhigte Windt und las weiter: »Es war Ihnen so wenig eine Quittung abgefordert, als mir; Alles, was wir schriftlich machten, war die Obligation des Erbherrn für die empfangenen fünfzigtausend Gulden auf Varel. Ihre Rathgeber, Excellenz, scheinen diese Sache nicht von dem richtigen Gesichtspunkt aus anzusehen, das liegt im Unverstand Ihrer Rechnungskammer. Diese Herren rechnen und rechnen und danken Gott, wenn ihre Papiere von oben bis unten voll Zahlen stehen, sie merken aber nicht, daß ihnen häufig darüber das Licht des gesunden Menschenverstandes ausgeht. Doch was hilft’s – die Zeit ist einmal aus den Fugen, wie Hamlet sagt; wenn Undank und Mißkennung mich bewegen könnten, anders zu handeln als ich handle, dann wäre durch Ihrer Excellenz hochweise Räthe meinem Diensteifer längst eine Schranke gesetzt, dann wäre ich nicht hier geblieben, und hätte Hals und Kragen, Blut und Leben, Gut und Habe nicht daran gesetzt, Ihrer Excellenz Herrlichkeit, so weit nur in eines Menschen Kräften steht, zu schützen und zu schirmen. Wer auch hier war von fremden Offizieren, Engländer, Holländer, Kaiserliche und jetzt die Republikaner, keiner hat glauben wollen, daß ich nur ein Bedienter sei, sondern Jeder meinte, daß ich ganz bestimmt der Herr oder Erbe von Doorwerth selbst sein müsse. Alle Güter rings um die Herrlichkeit sind totaliter devastirt, Doorwerth allein ist noch im leidlichen Zustand. Der Strich von der hiesigen Grenze bis Arnhem sieht sich nicht mehr gleich; von Arnhem bis Zuitphen kann keine Maus mehr leben; alle die herrlichen Alleen sind über Bord, keiner der prächtigen Lindenbäume um die Stadt steht mehr, die größten und schönsten Häuser sind Pferdeställe oder Lazarethe, das Holz der Thüren und Mobilien ist verbrannt. Ich habe wieder seit Kurzem fünfzehnhundert Rationen Heu liefern müssen, habe augenblicklich sechs Offiziere im Kastell, zwei Ordonnanzen, einen Husaren. Im Dorfe liegt eine Compagnie Volontärs, in Helsum liegen zwei, und noch dreizehn Husaren für die Correspondenz, in allen andern Orten der Herrschaft liegen dreißig bis einhundertundfünfzig Mann in jedem [261]Hause. Nachdem ich die fürchterlichen Durchzüge und Einquartierungen der Alliirten, dann alle möglichen Freicorps, Emigrantencorps, lumpigen Andenkens, dann den schleunigen Rückzug, auf welchem ganze Colonnen zur Nachtzeit hier einfielen, darauf die heftige, fast unerträgliche Kälte, darauf wieder den Durchgang und die Einquartierung der Nordarmee, welcher die Sambre- und Maas-Armee auf dem Fuße folgte – nachdem ich dies Alles vertragen und überstanden habe, kämpfe ich jetzt mit einer Wassersnoth, wie sie seit hundert Jahren nicht erlebt wurde. Ich habe in Helsum Brücken schlagen lassen, zu denen ich, um Holz zu bekommen, ein Paar Scheuern abbrechen ließ, damit die Armee nur weiter konnte, sonst hätte sie sich hier gestauet, wie ein überschwellender Krötendeich, und uns vollends mit Haut und Haar aufgefressen.«
»Ich hoffe und bitte, Excellenz werden nun auch für mich Etwas thun, um meine alten Tage zu sichern und mir darüber eine Beruhigung ertheilen, die dem Gefühl von Menschlichkeit, Billigkeit und Rechtschaffenheit entspricht, das ich Excellenz zutraue. Ich muß ganz nothwendig eine durchgreifende Kur im Sommer brauchen, wenn ich nicht ganz zu Grunde gehen soll. Auch muß ich endlich wieder an einem andern Orte wohnen, denn hier kann und will ich mit meiner Frau, welche sich der Wirthschaft auf das Allertreueste annimmt, meine mir noch vergönnten Tage nicht beschließen. Excellenz haben das große Haus in Hamburg, haben bedeutende Allodialgüter, auch Bau- und Weideland genug, um einen alten wahrhaft treuen Diener lebenslänglich zu versorgen. Eine Pension in Geld wirft Doorwerth nicht ab, und für den hiesigen Rentmeisterdienst müßte ich danken.«
»Heute wird unter großen Feierlichkeiten zu Arnhem der Freiheitsbaum aufgepflanzt; die Stadt ist so voll Freiheitsglück, daß sie die ganze Besatzung mit Wein bewirthen wollte; der Commandant aber, General Lefebre, der ein eben so kluger als tapfrer Mann ist, hat den Wein zwar angenommen, aber ihn zur Stärkung der Kranken und Verwundeten bestimmt. Auch rings um die Herrlichkeit her, in Wageningen, Husum, Deventer, und ebenso in Doesburg und Zuitphen, auf Voorst, auf Rhoon und überall sind Freiheitsbäume gepflanzt worden; ich meinestheils habe es zur Zeit noch unterlassen. So viel ich Laie von Forstkultur verstehe, schlagen Bäume, die man ohne Wurzeln [262]pflanzt, nicht an, sondern gehen kläglich zu Grund, daher lohnt solche Kultur nicht die Kosten und ist eine ebenso vergebliche als fruchtlose Mühe, eigentlich nur ein Holzfrevel. Unterthänigst bitte ich, meiner Schwester Beruhigendes über unser hiesiges Befinden zu sagen, meine Frau grüßt dieselbe bestens. Meine Schwester soll an meinen Bruder, den Kammerrath Windt in Bückeburg, schreiben, ihn von mir grüßen und ihn bitten, mir doch endlich einmal Nachricht von seinem Ergehen zukommen zu lassen. Im Uebrigen entschuldigen Excellenz die Länge meines Briefes, wer weiß, wann ich wieder Zeit finde, weitern Bericht zu erstatten, da es beständig um mich her von Fremden wimmelt. Stets zu Füßen! Carl Heinrich Windt.«
Stets auf meinen Füßen, solltest du schreiben, lieber Windt, sprach die wackere Hausfrau.
Das bin ich so schon, das brauch’ ich nicht zu schreiben, das kann die alte Excellenz zwischen den Zeilen lesen, scherzte Windt.
Schau, was kommt denn da wieder für ein Ritter von der traurigen Gestalt durch das Wasser des Weges her auf das Kastell zu? unterbrach er sich, indem er einen Blick durch das schmale Thurmfenster hinab auf den Dammweg warf, der nach dem Schlosse führte; er gewahrte einen Reiter, welcher in einem nichts weniger als glänzenden Aufzuge und keineswegs empfehlenden Aussehen, langsam einherritt und jetzt vor der Zugbrücke hielt, um der wachehabenden Schutzmannschaft ein gültiges Papier, das sein Einlaßgesuch rechtfertigte, darzureichen.
Ja, was in aller Welt ist denn das? rief Windt, scharf und immer schärfer hinblickend. Täuscht mich denn mein Auge nicht? Wie soll ich das deuten? Geschwind, Alte! Trage etwas auf! Etwas Hamburger Rauchfleisch, westphälische Schinken, Edamer Käse, frische Butter. Vor Allem koche eine Suppe. – Und ohne abzuwarten, was seine Frau zu seiner Verwunderung und zu dieser raschen Anordnung sagen werde, eilte Windt voll Hast aus dem Thurmgemach, sprang die Treppe in schnellen Sätzen hinab, und schritt nicht minder rasch durch den Hof, dem so eben eingelassenen Reiter entgegen, der ihn mit mattem Blick begrüßte, abstieg und in Windts Arme sank.
Sind Sie’s denn? Sind Sie’s denn, oder ist es Ihr Geist, Herr Leonardus? Herr Leonardus van der Valck?
[263]Wohl bin ich’s, heute und morgen bin ich’s noch, mein lieber, redlicher Freund, erwiederte mit fast tonloser Stimme Leonardus: nicht mehr lange und ich bin es nicht mehr, und wenn Sie dann eine Gestalt sehen, die der meinen gleicht, so ist es mein Geist.
Um des Himmels Willen, was muß Ihnen begegnet sein? rief Windt erschreckt und verwundert. Sie sehen sehr übel aus. Doch kommen Sie herauf, ruhen Sie aus, pflegen Sie sich! Für Ihr Pferd wird gesorgt, ich erkannte Sie gleich, traute aber meinen Augen nicht, glaubte nicht, daß Sie es seien, der da geritten kam.
Leonardus bedurfte auf der Treppe zum Thurmzimmer hinan der Unterstützung des Freundes, so matt und angegriffen fühlte er sich, und als ihn jetzt erschrocken und erfreut zugleich Windts redselige Frau begrüßte, saß er einige Minuten lang, tief und langsam athmend, auf einem Lehnsessel, mit geschlossenen Augen, einer Ohnmacht nahe, und hob die Hände vor sein Gesicht, als wolle er alle Erinnerungen seiner jüngsten Vergangenheit wie einen bösen Traum verwischen.
In diesem Augenblick brachte ein Diener ein so eben angelangtes Briefpaket von Amsterdam. Windt war von den Freunden zum Vermittler ihres Briefwechsels ausersehen worden, und so blieb er auch selbst in steter Kenntniß, wo Jene sich befanden. Von Leonardus hatte Windt lange keine Nachricht erhalten, Angés hatte nur einmal geschrieben, dankerfüllt, und ein werthvolles Geschenk gesendet. Sie hatte mit dem Kinde glücklich das Ziel erreicht, lebte als dessen treue Pflegerin, wie sie schrieb, im angenehmsten und wünschenswerthesten Verhältniß, hatte Windt herzliche Grüße an die Freunde aufgetragen, aber ihren Aufenthaltsort nicht genannt, »größerer Sicherheit halber«, schrieb sie, »da dieser Ort als Asyl nicht mein Geheimniß allein ist, da politische Rücksichten dazu nöthigen, den Aufenthalt des Kindes auf das Tiefste zu verbergen.« Wer an sie schreiben wolle, möge die Firma ihres älterlichen Hauses benutzen und in diese Aufschrift Briefe einlegen. Jetzt war nun Leonardus wieder gekommen und konnte aus erster Hand die soeben anlangenden Briefe empfangen.
Er erholte sich, genoß Etwas, und indem ein Gefühl unendlichen Friedens ihn überkam, sprach er: O hätte ich doch diesen einsamen lieben Zufluchtsort nicht verlassen, mir wäre wohler, als mir jetzt ist! Mein ganzes Ergehen seit der Trennung von Ihnen, mein [264]theurer Freund, war nichts als eine Kette von Schmerz und Bitterkeit, und diese Trennung hat mich mit raschen Schritten dem Ziele meiner Tage näher gebracht.
Ich will nicht hoffen? fragte Windt mit aller Lebhaftigkeit seines Wesens.
Sie sollen Alles erfahren, wenn Sie mich wieder ein Weilchen hier dulden wollen, sprach Leonardus.
Dulden wollen? Sind Sie nicht halb und halb der Eigenthümer dieses Hauses und dieser ganzen Herrschaft? rief Windt.
Ich bedarf nur wenig, mein Lieber, ein kleines Zimmer, ein Lager, schmale Kost und Ruhe, erwiederte Leonardus.
Zimmer und Lager stehen zu hinreichender Auswahl zu Befehl, nahm Frau Windt das Wort. Die Kost werden Sie schmaler finden als Ihnen lieb ist, werther Herr van der Valck! Und die Ruhe, was diese betrifft, da läßt sich nur wenige Bürgschaft leisten. Sie wissen ja, wie es hier zugeht, es ist seit Ihrer damaligen Abreise mit dem jungen Herrn, bei uns noch nicht anders geworden. Doch wenn Sie mit dem höchsten Zimmer dieses Thurmes vorlieb nehmen wollen, so werden sie vom Lärmen im untern Hause und im Hofe wenig wahrnehmen; hoffentlich kehrt die Zeit der Kanonaden nicht wieder.
Ich werde mit tausendfachem Danke annehmen, was Ihre Güte mir bietet, und darf vielleicht hoffen, mindestens in Etwas bei Ihnen mich zu erholen. O, Sie werden mich beklagen, wenn Sie erfahren, was ich erlebte! Jetzt kann ich es Ihnen noch nicht erzählen, es erschüttert mich allzusehr. Lassen Sie mich des Freundes Brief lesen, ich hoffe, seine Freundschaft wird ein Balsam für mich sein. O, wie sehr sehnt sich mein Herz nach Nachricht von ihm, wie oft dachte ich an ihn, wäre er an meiner Seite gewesen und vielleicht der treue Philipp, Alles wäre besser geworden.
Beruhigen, erholen, pflegen Sie sich, betrachten Sie dies Haus als das Ihre, ohne Redensart, es ist mein ganzer Ernst; Sie haben dazu das volle Recht, ermunterte ihn Windt. Ich will jetzt gehen und nach den Geschäften sehen, und dann wiederkommen, um von Ihnen zu hören, wie unser junger Herr sich befindet; ich theilte so eben meiner Frau einen Brief an Graf Ludwigs Großmutter mit; es wird die hohe Dame erfreuen, wenn ich über ihren Liebling eine [265]günstig lautende Nachricht hinzufügen kann. Du, liebe Frau, besorge droben Alles nöthige, so gut du’s hast. –
Leonardus blieb allein in dem Wohnzimmer von Windt und dessen Gattin zurück. Wie oft hatte er mit dem Freund bei diesen braven Leuten in demselben Gemach gesessen, wenn es draußen stürmte, so wie jetzt. Weithin standen die Wiesenflächen unter Wasser, das Dorf und Kastell gleich einer Insel, die Ströme: der Rhein, die Yssel, die Wahl und die Maas hatten ihre Betten überschritten, selbst die Dämme waren bedroht; ohne Pferd hätte er nicht bis zum Schloß gelangen können, denn an einzelnen Stellen waren in der Allée schon beträchtliche Rinnen, die das mehr und mehr andringende Wasser gebildet hatte, und jede kommende Stunde drohte sie noch größer zu machen.
Erinnerungen an vergangene Zeiten zogen durch Leonardus Gemüth. Schon war ein Jahr und darüber vergangen, daß er den Freund gefunden, welche Fülle von Erlebnissen lag nur allein in diesem einen Jahre! Hier hatten sie beisammen gesessen, hatten Pläne geschmiedet für die Zukunft, deren schönster der war, daß Ludwig diese Herrschaft erwerben solle mit der Hülfe und den Mitteln des Freundes. Dieser selbst wollte dann in Rosendael wohnen in dem schönen Herrenhaus mit seinen herrlichen Gärten und Parken. Was ließ sich nicht Alles an diesem thun, wenn der Geschmack und die angeborene Vorliebe eines der Natur befreundeten Menschen hier schaffend thätig war? Da sollte Angés bei ihm wohnen, seine liebe, treue, angebetete Hausfrau, da sollte auch jenes Kind sich naturgemäß entfalten, wie die geheimnißvolle Blüthe der prachtvollen Wunderblume, welche die Kunstgärtner die Königin der Nacht nennen. Ach, das waren schöne Träume gewesen!
Oft war die Zeit, waren deren mannichfache Wandlungen besprochen worden von den Freunden, man hatte Meinungen ausgetauscht, nicht ohne Lebhaftigkeit, nicht ohne Streit. Oder es hatte bisweilen auch das Schachspiel die Gedanken zu ernstem Nachsinnen hingelenkt, jenes bedeutsame »Spiel der Könige« mit seiner uralten Symbolik. Das Alles war vorüber, und Leonardus van der Valck saß jetzt in ungleich anderer Lage und Stimmung, als damals, allein in diesem traulichen Gemach. Der Wind erschütterte mit heftigen Stößen den Thurm, [266]und dumpf mischte sich mit seinem pfeifenden Sausen das Wellenrauschen der ringsum die Gegend überfluthenden Gewässer, aus denen wie lauter Inseln die umflossenen Dörfer, Gehöfte und Schlösser herausragten. Leonardus öffnete erwartungsvoll den Brief seines liebsten Freundes, dem er auf Erden vor vielen sein ganzes Herz geweiht, dem er sein Inneres erschlossen, wie keinem zweiten, den er mit der wahrhaftesten Treue liebte.
Ludwig schrieb: »Mein Leonardus! Seit unserer Trennung in Amsterdam habe ich so viel erlebt, daß ich das Meiste und Beste auf die mündliche Mittheilung versparen muß, denn ich kann unmöglich diesem armen Papiere anvertrauen, das durch so viele ungeweihte Hände geht, was mein Inneres voll Leid und wieder voll hoher Freude bewegt, daher nimm vorlieb mit diesen flüchtigen Zeilen, welche dir nur einen Umriß des Bildes geben sollen, das ich mit hellen Farben ausmalen werde, wenn wir uns wieder umarmen. Wohlbehalten kam ich nebst meinem Philipp im Hafen von Plymouth an, wo unser wackerer Fluit Alles that, um mich gut unterzubringen und für den ferneren Theil meiner Reise zu unterweisen. Ich reiste tiefer in das Land, das reich und reizend ist, von hoher Kultur geschmückt, Park an Park; ich fand überall schon vorbereitete gute Aufnahme, fand geistvolle Verwandte, fand mich in die höchsten Kreise gezogen, und fand endlich das Allerhöchste, was mein Herz mit nie gekannten Gefühlen erfüllte, es in Seligkeit schwelgen ließ, Alles auf Erden mich vergessen machte, selbst dich eine kurze Stunde, und alle die Freunde, selbst meine Großmutter, aber ich darf nicht schreiben, was ich fand, nur mit leisem Flüsterwort in das Ohr darf ich dies theure und wunderbare Geheimniß dir vertrauen, und selbst dir nur halb.«
Wohl ihm, er fand ein Herz, unterbrach sich Leonardus im Lesen: so wird er nicht mehr nach unbestimmten Fernen mit Sehnen und Seufzen blicken, nicht nach den unerreichbaren Sternen fassen, er wird die Sternblumen pflücken, die im irdischen Eden seiner Liebe blühen!
»Und doch, Leonardus! Bei dieser Fülle von Glück kann und darf ich nicht länger mehr in England weilen, einmal verbieten es mir die zartesten Rücksichten, und dann gebietet mir die Sorge für meine noch immer wankende Gesundheit die Rückkehr nach dem Festlande.«
[267]Wie – er liebt, er betet an, wie diese glühende Sprache seines Briefes bekundet – und will doch fort, aus zartesten Rücksichten? Das ist mir ein Räthsel! sprach Leonardus zu sich selbst. – »Die hiesige Luft, so sehr sie gepriesen wird, ist meiner Gesundheit ganz und gar nicht zuträglich, und was die Seeluft betrifft, so mag ein empfänglicherer Sinn, als der meine, dazu gehören, deren Einwirkung auf den kranken Organismus wahrzunehmen. Ich sehne mich nach deutscher Luft, es wird mir nirgends wohl werden, als in der deutschen Heimath. Leider kränkle ich immer noch, trotz all’ der freudigsten und wohlthuendsten Erregungen, die mir in England, in London und auf all’ den herrlichen Landsitzen zu Theil wurden. Ich möchte mich, und wohlmeinende Freunde rathen mir das an, einem deutschen Arzt anvertrauen; man hat mir Starke genannt, welcher ein berühmter Arzt in der kleinen sächsischen Universitätsstadt Jena ist. Ueberhaupt hörte ich stets vieles Gute von den kleinen sächsischen Städten und Höfen; humane und gebildete Fürsten regieren dort ihre Länder; gründen, fördern und erhalten Anstalten für Wissenschaften und Künste; legen zu diesen Zwecken bedeutende Sammlungen an und vergönnen deren belehrenden Genuß und Gebrauch ihrem Volke; während, was hier die Herzoge und Lords sammeln, gleichsam vergraben wird und ärger gehütet, als das goldene Vließ zu Kolchis. Ich denke es mir sehr angenehm, einmal in dieses Herzland des heiligen römischen Reiches zu reisen, ein Reich, von dem wir keine rechte Idee haben. Hoffentlich wird mir dort wieder wohl, und vielleicht finde ich den inneren Frieden, der mir, selbst im Schooße des Glückes, noch mangelt. Ach, wie hat mich in England das rastlose Ringen und Streben der Vornehmen nach Erreichung politischer Zwecke gedrückt und unangenehm berührt – selbst meine Munterkeit litt darunter; was ich ersehne, mein Leonardus, das ist Stille, das ist Einsamkeit, wie die Großmutter mir beim Scheiden sagte: Glaube, daß die Einsamkeit wunderköstliche Stunden gewährt.«
Der Eintritt Windt’s unterbrach Leonardus im Weiterlesen, und dieser theilte nun dem redlichen Freund die Besorgnisse mit, welche Ludwig in Bezug auf seine Gesundheit aussprach, so wie die herzlichen Grüße, die der Brief an das Haus Doorwerth und dessen Bewohner enthielt. Der Graf schrieb weiter: »Wüßte ich dich, mein lieber Leonardus, in Amsterdam zu finden, oder in Doorwerth, so käme ich noch einmal dorthin, und würde mit Sehnsucht den Augenblick erwarten, der uns wieder vereinigte, um dir so recht herzlich für alle mir erzeigte brüderliche Freundschaft zu danken. Den geraden Weg von Kastle Chatsworth, einem Schloß des Herzogs von Devonshire, wo ich jetzt weile, über London nach Hamburg scheue ich; er ist mir zu lang; vielleicht ermittelst du mir einen Ruhepunkt aus, ich werde einen Brief von dir abwarten, auf den ich mich äußerst freue. Möchte ich doch von dir, von Windt und auch über das Geschick meines Vetters, des Erbherrn, gute Nachrichten erhalten. Die Aristokratie Alt-Englands schätzt meinen Vetter außerordentlich hoch wegen seiner treuen Anhänglichkeit an den Erbstatthalter und dessen Söhne, die beiden Prinzen, und ich freue mich, ihn so hoch geachtet zu sehen. Wüßte ich ihn nur frei und in besseren Verhältnissen; seine Lage macht mir schweren Kummer. Unser Windt wird wissen, wo des Erbherrn Gemahlin jetzt lebt, und wie sie sich befindet. Mein Gedanke sucht sie bei der Großmutter in Hamburg, doch vielleicht hat das Geschick ihres Gemahls für sie einen anderen Wohnort zur Folge gehabt. Noch werden die Schlösser Varel und Kniphausen öde stehen – ich möchte wieder einmal dort sein, und zwar mit dir, mein Leonardus. Ach – wo möchte ich nicht alle sein! Und doch habe ich keine Wünsche, die in das Schrankenlose hinausschweifen, ich glaube vielmehr, daß ein beschränktes Verweilen an einem bestimmten Ort meinem Geist besser zusagen wird, als das Umherschwärmen von Lande zu Lande. Meine [269]Natur scheint mehr zur Abgeschlossenheit sich hinzuneigen, obschon ich die Menschen liebe und gerne recht Vielen Gutes erzeigen möchte.«
»Du glaubst nicht, lieber Leonardus, wie unruhig mich der Gedanke macht, daß ein Hinderniß für mich eintreten könnte, wieder bei euch zu sein, und wie ein Wiedersehen mit dir und Windt sich am Besten herbeiführen ließe, ohne euch zu belästigen, und mir zu viele Zeit zu rauben. Allerlei Pläne gehen mir im Kopfe herum. Der Großmutter habe ich bereits meine baldige Ankunft in Deutschland gemeldet; sie, die erfahrene Frau, wird mir am Besten rathen, was ich thun soll zur Wiederherstellung meiner Gesundheit. Meine Nerven leiden, ein Uebel, das man sonst häufiger bei Frauen, als bei Männern findet, zumal bei jungen. Unregelmäßiges starkes Geräusch ist mir sehr zuwider, üble Gerüche, überlaute Reden, Gezänk, das greift mich Alles an; regelmäßiges Geräusch, wie das Rauschen der Mühlräder, der Donner der Wasserfälle, die Klänge der Orgel, macht mir eher Vergnügen; hoffentlich wird die Ueberreiztheit, die mein Wesen oft bis zu einer krankhaften Empfindlichkeit steigert, sich ja wieder heben lassen, und ihr, meine Freunde, werdet Geduld mit dem Halbkranken haben.«
»Vom Leben in England ließen sich Bücher voll Mittheilungen schreiben, darüber mündlich; über das politische Verhältniß Englands gegenüber den übrigen Mächten Europa’s ist mir hier im Lande die Gewißheit und Ueberzeugung geworden, daß es das bestregierteste Land unter der Sonne ist. Wie die tausend und abertausend noch so verwickelt zusammengesetzten Maschinen Tag um Tag, oft auch Nacht für Nacht ihren geregelten Gang gehen, so das große Getriebe der Staatsmaschine. England ist die einzige Macht, die in ihren Grundsätzen fest und unerschütterlich beharrt. Im Lande nimmt Niemand wahr, daß England Kriege führt, da geht stets Alles seinen ruhig geregelten Gang. Nur die Theurung ist fühlbar, freilich zuletzt auch mehr für den an hohe Preise für alle Bedürfnisse nicht gewöhnten Ausländer, als für den Inländer, der es nicht anders weiß, und dessen Einnahmen zu dieser Theuerung im geeigneten Verhältniß stehen. Manche Unannehmlichkeit drängt sich dem Ausländer, zumal dem Deutschen, auf, dennoch verlasse ich England mit hoher Achtung vor seinem Staatsleben, seinem Volke und seiner Betriebsamkeit. Die [270]Vervollkommnung der Dampfmaschinen ist in einem riesenhaften Fortschritte begriffen; denke dir, man trägt sich jetzt mit der Idee, auch Schiffe zu bauen, welche, statt durch Segel und Ruder, blos durch Dampf getrieben werden, an Schnelligkeit der Fahrt Alles übertreffen und das Unglaubliche leisten sollen. Es wird damit wohl so schnell nicht gehen, die Sache liegt noch in ihrer Kindheit. Wer aber kann wissen, wohin der Fortschritt auf seinen Riesenflügeln den Geist der Erfindung trägt?«
»Lebe wohl, mein Leonardus, und schreibe mir unter der beigelegten Adresse, sobald du diese Zeilen empfangen hast.« –
Dieser Brief hätte mich lange suchen können, sprach Leonardus mit einem Seufzer. Wenn ich nun nicht hierher kam? Sie hätten denselben nach Paris gesandt, ich komme nicht von Paris, und wäre der Brief mir von dort aus nachgesendet worden, er würde mich schwerlich gefunden haben. Was ist Ihre Ansicht, lieber Herr Windt? Was können wir thun, um dem Wunsche Ludwig’s zu entsprechen?
Erst ruhen Sie sich bei uns aus und pflegen sich, mein verehrter Herr und Freund! entgegnete Windt. Sie sind leidend, ich sehe es Ihnen an, Sie sind kränker als mein guter junger Herr Graf, der ist nur ein malade imaginaire. Sollte nur einmal acht Tage lang an meiner Stelle sein! Beim Kreuz! da würde ihm das Kranksein, Siecheln und Süchteln gleich vergehen! Bin auch krank gewesen, war ganz auf dem Hund – aber die Unruhe bei Tag und Nacht hat mich wieder gesund gemacht. Wenn der junge Herr nicht tüchtige Arbeit bekommt, so weiß ich nicht, wie er das Leben ertragen will. Gottes Gnade hat mir im letzten Winter eine Gesundheit verliehen, für die ich nicht genug danken kann, nie aber brauchte ich dieselbe auch nothwendiger, doch fange ich an mich unwohl zu fühlen, mein Lebensschiff muß einmal frisch kalfatert werden – eine Erholungsreise thut mir Noth. Ich wollte nach Pyrmont, hat sich was! – Die Kaiserlichen haben mir meinen Sparpfennig abgepreßt, kann also nicht hin; auch brenne ich danach, das Geschäft meiner Gebieterin mit ihren Enkeln endlich ganz zu ordnen, eher kann ich mich nicht ruhig niederlegen, ich bin nun einmal so. Wir wollen miteinander nach Amsterdam und nach dem Haag gehen, dorthin mag Graf Ludwig auch kommen, der Erbherr sitzt [271]nicht mehr in Woerden, sondern ist nach Muiden gebracht worden. Mir ist noch gar nicht wohl bei der Sache; die Untersuchung wird streng geführt, der Rathspensionär van der Spiegel, der tapfere Admiral van Kinsbergen und unser Erbherr sind Leidensgenossen, und wir haben Terroristen im Rathe der Generalstaaten sitzen. Ich habe Nachricht, daß die Gefangenen entweder nach Amsterdam oder nach dem Haag gebracht werden, wir wollen uns darüber bald Entscheidung verschaffen, nur kann ich hier nicht gut abkommen, so lange noch französische Einquartierung hier liegt, denn es ist in der ganzen Herrlichkeit kein Mensch, der Französisch spricht, und Niemand kommt so gut als ich mit den Franzosen zurecht.
Sie erwähnten vorhin Pyrmont, lieber Herr Windt, was ist das für ein Kurort? fragte Leonardus.
Einer der besten, die ich kenne, belehrte ihn der Haushofmeister. Dieser Badeort vereinigt Stahl- und Soolquellen, die Ersteren übertreffen alle Stahlbrunnen Deutschlands, das wäre auch gut für unseren jungen Freund, Graf Ludwig. Der Brunnen wirkt nervenstärkend und belebend, er verjüngt, deshalb wollte ich hin, und Sie sehen mir gerade darnach aus, als ob Pyrmonts Quellen auch Ihnen Stärkung und Genesung wieder geben könnten!
Die Freunde beriethen lange und reiflich ihren Reiseplan, und als sie ihn gefaßt hatten, erhielt Ludwig von ihnen Nachricht, mit der Bitte, gegen die Mitte des Monats Juni im Haag einzutreffen, dort werde er Einen von ihnen oder Beide, und im schlimmsten Fall, bei Verhinderung wider alles Verhoffen, wenigstens Briefe vorfinden.
Es war ein schmerzliches Scheiden zwischen Mutter und Sohn. Georgine fühlte um ihrer Ruhe, um ihrer Stellung in der Welt willen die Nothwendigkeit, daß ihr Geheimniß verschleiert, ja begraben bleibe, sie konnte den geliebten Verwandten nicht auf die Dauer bei sich behalten, sie mußte ihn von sich lassen, mußte den bitteren Kampf kämpfen und ihr Mutterherz stark machen. Sie sprach nicht viel zu Ludwig, als die letzte verschwiegene Stunde nahte, in welcher Mutter und Sohn noch einmal weinend ihre theuersten Gefühle aussprachen.
[272]Zuletzt sagte die schöne Herzogin zu Ludwig: Ich bin dir eine Entschädigung schuldig, mein Sohn, dafür, daß du die Mutter in der schönsten Zeit entbehren mußtest, in der dem Kinde der Besitz einer geliebten Mutter ja Alles ist, und das ist eine Schuld, die ich niemals ganz abtragen kann; aber Etwas mußte ich doch für dich thun, es war meine heilige Pflicht. Deine Großmutter liebt dich innigst, und gewiß, ihr lebhaftester Wunsch ist, dich einst reich und glücklich zu wissen; wohl möchte sie dir Etwas von deines Vaters Erbe zuwenden, aber sie kann und darf es nicht, wenn sie nicht durch offenes Aussprechen unseres Geheimnisses mich blosstellen und dich dem Hasse deiner Verwandten offen Preis geben will. Dein Bruder, der Vice-Admiral, der es nie erfahren möge, daß du sein Bruder bist, ist ein braver Mann, aber nicht frei von Eigennutz, auch hat er zunächst Verpflichtungen gegen die Seinigen; er würde dir bitter zürnen, wolltest du Ansprüche an ihn erheben, zu denen dir kaum ein Recht zusteht, da es das Unglück so gefügt hat, daß dein theurer Vater vor unserer Vermählung mit Tode abging. Du wirst William noch näher kennen lernen, er ist minder edel, als der Erbherr. Des Kaufes von Doorwerth entschlage dich und warne deinen Freund, nicht die Halmen seines Vermögens in das Schuldenmeer deines Vetters zu schleudern, die den Sinkenden doch nicht oben schwimmend erhalten können; übernimm nicht die schwere Bürde der Bürgschaft für Andere gegenüber deinem redlichen Freund, damit du es nicht bist, der ihn um das Seine bringt, damit nicht aus Freundschaft Feindschaft entstehe. Was die Großmutter noch für dich thun kann, wird sie thun, ich aber bezweifle, daß es Viel sein wird, sie hat schon gar zu viele Schenkungen gemacht, welche ihre dereinstige Hinterlassenschaft bedeutend schmälern und wegen deren es an langwierigen Processen nicht fehlen wird, die sich über ihrem Grabe so endlos ausdehnen und kreuzen werden, wie die Gewebe der Herbstspinnen auf einem Stoppelfelde. Dich glaubte sie recht glücklich zu machen, sie dachte dir die Nutznießung der Tremouille’schen Renten zu. Die gute Großmutter! – Sie konnte die Revolution nicht ahnen, sträubte sie sich doch mit aller Starrheit, an dieselbe nur zu glauben, wie sie schon da war, sonst hätte sie wohl früher einsehen lernen können, daß jenes ganze große Kapital sammt allen Zinsen unwiederbringlich verloren [273]ist. Doch ich will nicht, daß mein Sohn, der Sohn meiner ersten flammendsten Liebe und unendlicher Schmerzen, leer und blos in die Welt hinaus gestoßen werde, ich habe gethan, was ich thun konnte und was ich thun mußte. Empfange, mein Ludwig, dieses Patent, das mir der König auf meine Bitten bewilligt, denn ich darf mit Stolz sagen, König Georg der Dritte von Großbritannien ist mein Freund, seine Gemahlin, die Königin Sophie Charlotte, die den Vornamen deiner Großmutter trägt, ist meine Freundin, dieses Patent erhebt dich in die Baronetage von England und ertheilt dir historisch den Ritterschlag mit dem Zurufe: »Rise Sir!« Stehe auf, Herr! – Diese Documente bestätigen dich in dem Besitz der Baronie Versay, deren Ertrag deine Zukunft sichert, und ich habe alle Verfügungen bereits getroffen, daß diese Renten dir sicherer und gewisser zugehen, als jene leider verlorenen des edeln Hauses de la Tremouille. Die Baronie bleibt dein Besitzthum, und geht auf deine rechtmäßigen Erben über; bliebest du hingegen ohne Erben, so fällt ihr Besitz zurück an die Meinen. Es steht dir frei, wo du auch weilest, dich Graf von Varel oder Baron von Versay zu nennen; das gilt von jetzt an ganz gleich, du kannst auch beide Namen vereinigen. Es steht dir ferner frei, dich ganz nach deiner Herzenswahl zu verbinden. Das Weib deiner Liebe wird deine rechtmäßige Gemahlin, sei sie aus hohem, sei sie aus geringem Stande, nicht ein Fürst braucht sie zu adeln, du wirst es sein, der sie erhebt, wenn sie nicht aus adeliger Familie ist. Frauen bedürfen in Albion keiner namhaften Ahnen, weil – fügte Georgine lächelnd hinzu: der Stammbaum einer jeden in den Himmel hineinreicht.
Meine Mutter! rief Ludwig tief bewegt: mit welcher Fülle von Güte und Liebe überschütten Sie mich! Wie zeigt Ihr großes Herz mir den Himmel offen, aus dem Sie abstammen, ach, nur einen seligen Augenblick, da sich mir dieser Himmel so schnell und wohl auf immer verschließt.
O, nicht auf immer, mein Sohn! Warum so düstere Gedanken? entgegnete Georgine, fest des scheidenden Lieblings Hände in den ihrigen haltend. Warum sollten wir uns nicht wiedersehen? Einst komme ich, und finde dich glücklich an der Seite eines treuen deutschen Weibes, und sonne mich an deinem Glücke – dann wohnst du still und waltest in ruhiger selbsterwählter Thätigkeit an einem Orte, wo mich Niemand [274]umspäht, wo ich Mutter sein darf ohne Hehl, wenn auch Niemand von deiner Umgebung ahnet, wer eigentlich die alte Frau ist, die dich besucht und eine Zeitlang bei dir weilt.
Ludwig knieete zu den Füßen seiner schönen Mutter nieder; die herrliche Gestalt beugte sich über ihn, küßte und segnete ihn, und da er, von Schmerz fast gebrochen, vor ihr knieen blieb, erhob sie ihn mit kräftigen Armen und rief: Rise, Sir! Erhebe dich, Mann! umschlang ihn noch einmal mit aller Flammenglut ihres Herzens, küßte ihn noch einmal und noch einmal, dann enteilte sie und sah ihn nicht wieder. –
Leonardus hatte sich im Hause der Freunde erholt; es kamen schöne Tage, und es trat eine Ruhe ein nach den vielfachen Stürmen, die über Doorwerth dahin gebraust waren, obschon diese Ruhe freilich noch immer keine dauernde war.
Windt und Leonardus nahmen für eine Zeitlang herzlichen Abschied von der braven Hausfrau und traten ihre Reise an. Das Land jubelte, aller Orten wurde der Friede ausgerufen, der goldene Friede.
Lieber Gott! sprach Windt auf dem Wege von Wageningen nach Utrecht, als die Reiter, gefolgt von einem Diener, dem geschlängelten Laufe des schmalen »krummen Rheins« folgten, durch reizende Fluren, durch die der wahrhaft mäanderische Fluß sich schlängelnd wand, vorüber an den herrlichsten Lustschlössern, Gärten und Parken, in denen die niederländische Gartenkunst ihre höchsten Triumphe feierte und die des Krieges rauhe zerstörende Hand zum Glück unberührt gelassen hatte – lieber Gott, wie die Leute über den Frieden jubeln! Wie lange wird er denn dauern? Ungleich vernünftiger wäre es, keinen Krieg zu beginnen und der Länder und der Völker Loose nicht auf ein maßlos ungerechtes Spiel zu setzen. Was hilft ein Friede, wenn unter den bittern Nachwehen des Krieges sich die Länder verbluten? Seuchen reißen ein, die Menschen sterben wie die Mücken; fünfundzwanzigtausend fremde Hungerleider müssen wir täglich sättigen; Doorwerth muß doppelte Schatzung zahlen, als wenn es nicht schon doppelt und dreifach und zehnfach geschätzt worden wäre!
In Utrecht ließ es sich der wackere Mann gleich nach der Ankunft angelegen sein, Etwas von dem Grafen Johann Carl, dem Bruder des Erbherrn zu erfahren. Er begab sich, während Leonardus im [275]Gasthaus zurückblieb, zunächst in das Haus, das der Graf Johann bewohnte. Es kam ihm ein flottes Bürschchen entgegen, auf dem Kopf die leichte Mütze mit der dreifarbigen Cocarde der Republik, nöthigte ihn in das Zimmer und fragte höflich: Was wünschen Sie, Bürger? Wünschen Sie Wein oder Liqueur, Curaçao, Extrait d’Absynthe, Eau de Genever?
Windt sah den Mann groß an, ob das Gastfreundschaft sein sollte, oder ob er es mit einem Kaffeewirth zu thun habe? Er sah sich in dem Saale um, da stand noch das Prachtmobiliar, das einst auf seine Bestellung in Hamburg gefertigt und dem Enkel bei dessen Verheirathung von der Großmutter zur Aussteuer gesendet worden war; auf dem schönsten Sammt-Polsterstuhle lag ein Hund, ein fauler Rattenfänger, mit einem so ächt confiscirten Gesicht, als nur irgend ein Rattenfänger haben kann, und knurrte den Gast, in welchem er den Aristokraten sogleich herauswitterte, grimmig an.
Nicht das Eine, nicht das Andere wünsche ich, Bürger, erwiederte Windt: ich wünsche den Hausherrn zu sprechen.
O, die nicht sein hier – gab der Franzose zur Antwort: wenn sie werden sein hier, ich nicht werden sein hier, il est emigrée – sie sind gegangen fort. Ich aben die Err su sein un Vivantier, si voulez vous de vin, ou si voulez vous des liqueures. Von die slecht emigrées weißen ik nix.«
Windt drehte sich rasch um und ging fort; er suchte die Wohnung des Milord Athlone, des Schwiegervaters des Grafen Johann Carl auf, welcher eine Zeitlang in Utrecht Wohnsitz genommen. Das Haus war voll französischer Soldaten, keine Spur mehr von der Familie vorhanden.
Die Freunde setzten nun ihre Reise nach Amsterdam fort, wo Leonardus seinen Begleiter mit zu seiner Mutter nahm, die hochbeglückt war, den Sohn wiederzusehen, und doch auch zugleich erschreckt durch dessen verändertes und krankhaftes Aussehen. Leonardus schob dasselbe auf die Mühen seiner Reisen, die nachtheiligen Einflüsse der Witterung und suchte die Besorgniß seiner Mutter soviel als möglich zu zerstreuen. Windt besorgte alle seine Geschäfte in Amsterdam, ging nach der vormaligen Wohnung des Erbherrn auf dem sogenannten Prinzenhof, den er zum Seecomptoir umgewandelt fand, und erfuhr hier, daß das Haus [276]binnen vier Tagen habe geräumt werden müssen, daß man das Mobiliar des Erbherrn gesichert habe, im Uebrigen aber von ihm und seinem Schicksal nichts wisse.
Um sich etwas zu zerstreuen, besuchten Windt und Leonardus den Saal der tausend Säulen, wo sich stets zahlreiche Gesellschaft fand, wo man fleißig politisirte, Domino und Schach spielte, Zeitungen las und über die Weltgeschicke in derselben Weise entschied, wie überall, nämlich so, daß die Weltgeschicke sich nachträglich ganz anders gestalteten, wie die politischen Kannegießer sie prophezeiten.
Windt hatte ein niederländisches Zeitungsblatt ergriffen, las, runzelte die Stirne und murmelte durch die Zähne: Verdammt! Verdammt!
Was gibt es, was haben Sie? fragte gespannt Leonardus.
Vergeblich! Dumm! Albern! knirschte Windt. Alles vorbei, Alles verrathen! Da muß der Donner hineinfahren!
Darf ich nicht erfahren –? fragte Leonardus.
Wenn ich den vorlauten Schwätzer hätte, der das Geheimniß und den Plan verplaudert hat, bevor er ausgeführt ward, den Hals könnt’ ich ihm umdrehn, und nicht einmal, sondern siebenmal, wie einer Katze! eiferte Jener, und flüsterte Leonardus zu: Es war Etwas im Werke; ich wußte darum, auch Fluit wußte darum; dieser befehligt jetzt, weil England den holländischen Handel ganz in Ketten und Bande legte, die Jacht des Erbherrn, die schöne Susanne. Von der Festung Woerden aus waren die Gefangenen nach Muiden gebracht worden, von dort sollten sie entwischen, Alles war vorbereitet, die Jacht des Erbherrn hatte ein anderes Bild, andere Flaggen, war äußerlich unkenntlich gemacht und lag dicht vor Muiden in der Veght vor Anker. Der Plan wurde verrathen, die Jacht entkam, aber ohne die Gefangenen am Bord zu haben; diese wurden, um ihnen das Entwischen schwerer zu machen, nun um so strenger bewacht. Ein gottverdammter Schwätzer plauderte den Anschlag zu ihrer Befreiung aus, ehe sie erfolgt war, und nun steht hier in dem Zeitungswisch diese Anzeige, die das Uebel nur ärger, die Bewachung der Gefangenen noch strenger macht, und auf’s Neue ihrer Feinde Augen und Ohren schärft. Da lesen Sie!
Leonardus nahm das Blatt und las:
[277] »Bericht an das Publikum.«
»Da wir es als eine unserer ersten und vornehmsten Pflichten betrachten, der Wahrheit so viel als möglich zu huldigen und einer offenbaren und ehrlosen Lügenmäre mit aller Verachtung, welche dieselbe verdient, zu begegnen, so können wir nicht anders als höchst entrüstet über den Inhalt eines gewissen Schandlibells sein, das man ohnlängst verbreitet hat, und worin gesagt wird, »daß auf die Vorstellung des französischen Gesandten der Ex-Rathspensionär van der Spiegel und der van Rhoon, Ex-Oberamtmann von dem Haag, für unschuldig erklärt wären, ihre Freiheit wieder erhalten hätten und mit einer Jacht aus ihrem Gefängniß zu Woerden oder Muiden abgeholt worden seien«. Wir sind von hoher Hand unterrichtet, und vollkommen versichert, daß diese Zeitung von allem Scheine der Wahrheit entblößt ist, ihren Ursprung nicht verläugnen kann, und auf nichts weiter hinzielt, als die Wohlfahrt des Vaterlandes schroff hervortretenden gewinnsüchtigen Absichten aufzuopfern und die schnödeste Arglist ins Werk zu stellen, um den besseren Theil der Nation irre zu leiten, Furcht und Unruhe in den Gemüthern hervorzurufen, und Mißtrauen im Busen gegen ländliche und städtische constituirte Mächte und deren Verhalten zu wecken. Es ist hohe Zeit, solcher Menschen Handlungen öffentlich aufzudecken, und mit den schwärzesten Farben sie zu schildern, da sie nichts bezwecken, als Zwietracht und Aufruhr anzufachen, die gute Ordnung umzustoßen, die Gesetze kraftlos zu machen und sich, in Mitten der Parteien und der Empörung, über die sie sich heimlich erfreuen, die verkehrte Begeisterung einer verblendeten Menge zu Nutzen zu machen, um ihren ehrlosen Zweck zu erreichen und ihre eigene Größe auf den Steinhaufen einer zertrümmerten Republik zu befestigen.«[12]
[12] Wörtlich: de verkeerde geestdrift van eene verblinde menigte ten nutte te maken, om hun eerloos doel te bereiken, en hunne eigene Grootheyd op de puinhoopen van eene verbrysselte Republik te vestigen.
Pah, lachte Leonardus, indem er das Blatt an Windt zurückgab. Eine Zeitungstirade von einem holländischen enragirten Parteimann, und darüber können Sie sich ärgern? Was hätten diese Mannekins, [278]wenn sie nicht fort und fort den Ueberfluß ihrer Gemeinheit in den Zeitungen absetzen könnten? Da hätten Sie, lieber Herr Windt, einmal in Paris und ganz Frankreich die Pamphlets lesen sollen, Sie haben aber auch in Paris lieber geschrieben als gelesen. Hu! das fliegt wie Schneeflockengewirbel und Hagelschlag, daß es rasselt und prasselt, und hinterdrein wird doch wieder gutes Wetter und klarer Himmel. Wie würde nun dieses Kerlchen von einem Zeitungsscribler erst schimpfen, wenn die Gefangenen wirklich entkommen wären, da es jetzt schon bei der bloßen falschen Nachricht solch ein Geschrei erhebt?
Das ist’s nicht, was mich ärgert und kümmert, entgegnete Windt verstimmt; sondern daß ich vielleicht den Erbherrn nun gar nicht spreche, weil man ihn fester verwahren und die Wachsamkeit verdoppeln wird.
In dieser Voraussetzung irrte der treue Windt sich nicht; er erfuhr noch an demselben Tage als gewiß, daß die Gefangenen von Muiden aus nach dem Haag abgeführt worden seien, und schon der folgende Morgen fand beide Freunde auf dem gleichen Wege dort hin, da ja diese schöne und reiche Stadt ohnehin ihr Reiseziel war.
Zu ihrer unaussprechlichen Freude fanden sie Ludwig bereits angekommen und ihrer harrend, und es erfolgte zwischen ihm und Leonardus ein Austausch der innigsten und zärtlichsten Gefühle, während Windt darauf gar wenig achtete, vielmehr stets beweglich, wie er war, sogleich Bekannte aufsuchte, neue Verbindungen anknüpfte und auf sein Ziel schnurgerade lossteuerte. Den ersten Besuch machte er bei der Schwiegermutter des Erbherrn, welche im Haag wohnte. Jene Nachricht, welche Windt früher einmal erhalten hatte, der Erbherr wolle diese Dame nach Hamburg bringen, war eine falsche gewesen. Er erhielt Einladung, bei der Frau Gräfin von Lynden-Reede zu speisen, traf dort den Besitzer des Gutes: die Park, nahe bei Arnhem, dessen Windt einige Male in Briefen an die Reichsgräfin erwähnt hatte, welcher Herr dem Erbherrn eine ziemliche Summe schuldig war, und benutzte die Gelegenheit, diesen Schuldner so sanft als es ihm möglich war, beim Ehrgefühl zu fassen und ihm das Versprechen abzunöthigen, baldigst zu zahlen. Auch Gräfin Lynden erhob große Klage darüber, daß Doorwerth so entsetzlich verwüstet sei; Windt [279]lachte heimlich hinter seiner Serviette, zwinkte der alten Dame mit den Augen, und hütete sich wohl, durch Berichtigung dieser Wehklage den Herrn von der Park in seinen guten Vorsätzen wankend zu machen.
An wen sich wenden, um den Herrn Grafen zu sprechen? war Windt’s hauptsächlichste Frage.
Sie werden ihn auf keinen Fall sprechen, daran ist gar nicht zu denken, ward ihm zur Antwort.
Ich muß ihn aber sprechen, und ich werde ihn sprechen! entgegnete Windt mit Bestimmtheit.
Versuchen Sie’s auf Ihre Gefahr, ich aber rathe ernstlich ab, sprach Gräfin Lynden. Die Wächter sind unbestechlich.
Fällt mir auch gar nicht ein, diese braven Bürger der batavischen Republik in Versuchung zu führen, versetzte Windt. Bin zudem nicht mit Geld zu Bestechungen versehen.
Ehe eine halbe Stunde verging, seit Windt vom Tische der Gräfin weg war, stand er schon im Sitzungszimmer der hochmögenden Herren. Diese Herren hatte doch noch das Bürgerregiment gelassen, obschon der Titel vielen tausend Revolutionsmännern ein Pfahl im Fleisch und ein Dorn im Auge war. Windt sprach in seiner einfachen und schlichten Weise, nachdem er seine Persönlichkeit in aller gesetzlichen Form kund gegeben: Ich habe den gefangenen Rhoon nur eine halbe Stunde zu sprechen, und zwar blos über Familien-Angelegenheiten, und wenn es sein muß, im Beisein von Jedermann; ich habe die Ehre, Diener von des Gefangenen Großmutter zu sein, und möchte gerne, da ich im Begriffe stehe, nach Deutschland zu reisen, wo dieselbe wohnt, Aufträge von ihm mit dorthin nehmen.
Die hochmögenden Herren beriethen sich ganz kurze Zeit und fanden gar kein Bedenken darin, Windt zu willfahren. Er wurde an die Commissäre Bürger Kops und de Lange gewiesen, fand auch an diesen die artigsten Männer von der Welt, und empfing von ihnen ohne die mindeste Schwierigkeit und ohne einen Sous zahlen zu müssen, eine gedruckte Erlaubnißkarte.
Die Lage des staatsgefangenen Erbherrn war durchaus keine schreckliche. Er wohnte in den Zimmern, die früher Prinz Friedrich von Oranien inne gehabt; er spielte sich eben zum Zeitvertreib ein [280]Stückchen auf der Guitarre vor, als Windt in Begleitung eines einzigen Aufsehers zu ihm eintrat, und war vor Erstaunen außer sich, als er den alten Bekannten erblickte. Windt fand das Zimmer ganz anständig ausmöblirt, auf einem Tisch lagen Malergeräthschaften und eine angefangene Malerei, auf einem anderen befanden sich Bücher, und der Erbherr bewirthete den alten redlichen Diener, der wahrlich den höheren Rang, den er in des Grafen Herzen einnahm, verdiente, mit einem Glase köstlichen Kapweins.
Patientia-Wein gibt es nicht, lieber Windt – scherzte der Erbherr, und winkte zum Sitzen: darum trinke ich Constantia-Wein, welcher auch große Tugenden besitzt.
Ich freue mich Ihres Wohlseins, Herr Graf! sprach Windt, und trinke auf dessen fernere Dauer; Sie haben zwar etwas von Ihrer Frische verloren, weil Sie nicht mehr so wie früher gleich einem Seeraben umherschweben können, aber ich sehe schon aus Allem, daß Sie guten Muthes sind, und das ist sehr viel werth, denn ein alter Lateiner soll gesagt haben: Mit gutem Muth die schlimme Zeit zu tragen, frommt.
Das war Plautus, liebster Windt! versetzte der Erbherr. Da war auch ein alter Grieche, hieß Euripides, der sprach: Sei guten Muthes, denn Großes kann Gerechtigkeit dir nützen. Ich habe treu dem Vaterlande gedient, und wäre wohl des bessern Lohnes werth, doch nichts davon. Was bringen Sie mir? Haben Sie Nachrichten aus Deutschland, von der Großmutter, von meiner Frau? Wo ist mein Bruder, wo ist der Vetter Ludwig?
Letzterer war in England und ist hier, Leonardus ist auch mit hier, wir holen den Grafen ab, er fühlt sich leidend und sehnt sich nach Deutschland.
Zur Großmutter, kann mir’s denken!
Ihrer Excellenz Frau Gemahlin befinden sich, so viel mir bewußt ist, wieder in Kniphausen, und sind leider immer noch nicht vollkommen genesen.
Leider! leider! seufzte der Erbherr mit einem ironischen Lächeln. Alles leidend – Sympathie schöner Seelen!
Die alte Excellenz scheint in gleichbleibender Rüstigkeit ihre Tage fortzuleben, sie schreibt mir oft oder läßt mir durch Weisbrod oder [281]meine Schwester schreiben, und kapitelt mich häufig sehr ungnädig ab, während ich Kopf und Kragen daran setze, um ihre Güter in gutem Stande zu erhalten.
Was wird es mit Doorwerth?
Deßhalb bin ich hier bei Ihnen, Herr Graf. Die Sache muß so oder so ein Ende nehmen; längeres Hinziehen stellt Alles auf das Spiel. Für Doorwerth muß Geld geschafft und zum endlichen Vergleich, den jene unglückliche Geschichte in Varel abbrach, geschritten werden.
Sie sehen, liebster Windt, sprach der Erbherr, indem er in aller Gemüthlichkeit die Gläser wieder füllte: daß ich ein gefangener Mann bin, daß ich gar nichts zu sagen habe, gar kein Versprechen geben kann. Richten Sie das, was in Ihren Händen liegt, nach Ihrer besten Einsicht ein. Ich habe außer Rhoon und Pendrecht in Holland keine Güter, fügte er betonend und mit einem Wink auf den Aufseher hinzu. Meine Lage, die jetzt leidlich scheint, kann noch schlimm werden, es ist gar nicht unmöglich, daß ich dieses Zimmer nur verlasse, um unten auf dem Platz erschossen zu werden. Meine Schriften liegen sämmtlich unter Siegel; aus ihnen würde man vielleicht mildere Urtheile über mich gewinnen, allein man untersucht sie zur Zeit noch nicht. Man verschiebt es, bis der National-Convent organisirt ist, und dann – nun, wie Gott will! Man wird mich als einen Mann finden!
Als einen Ehrenmann, ganz gewiß, Herr Graf, bestätigte tiefbewegt der Haushofmeister.
Ich muß endlich bitten, Bürger, nahm der Aufseher das Wort: man spricht hier nicht von Grafen, Herren und Excellenzen!
O zum Donner! rief Windt, sich mit komischer Geberde auf den Mund schlagend: Verzeiht, Bürger, ich bitte tausendmal! Ich bin ein dummer deutscher Teufel, bin noch nicht eingebürgert in der heillosen, wollte sagen, theillosen Republik. Müsset meiner Sprechart was zu Gute halten. Ich schwör es Euch zu, ich habe vor eurer Republik den heiligsten Respect!
So laß’ ich’s gelten, brummte der Aufseher, ohne die Ironie zu verstehen, die in diesen Worten lag.
[282]Windt drängte, was er zu sagen hatte, in geflügelte Worte zusammen; gute Wünsche für baldige Befreiung, die Nothwendigkeit, wenn diese in der nächsten Stunde erfolgen sollte, ohne Verweilen die Angelegenheit zu ordnen, und da dieses nur in Deutschland geschehen könne, dorthin zu reisen, Windt in Doorwerth abzuholen und ihn mit nach Hamburg oder wo die Reichsgräfin sonst sich aufhalten werde, zu nehmen. Falls Windt bereits in Pyrmont, Bückeburg oder Stadthagen sei, solle ihn der Erbherr ohne Verzug von jedem gethanen oder beabsichtigten Schritt unterrichten.
Windt fand den gefangenen Herrn zu Allem willig, erhielt Grüße von ihm an alle Freunde und Bekannte und schied mit der Beruhigung im Herzen, abermals zum guten Werke endlichen Vergleiches beigetragen und seinen Aufbau, wenn auch nicht merklich höher, doch in Etwas weiter gefördert zu haben. Der Abend vereinte die drei Freunde in gemüthlicher Unterhaltung auf einem ihrer Zimmer.
Leonardus war Windt bisher immer noch die Erzählung von Dem schuldig geblieben, was ihm begegnet war, seit er zum letztenmale le Mans verlassen hatte, und was eigentlich Ursache an seinem Kranksein und der ganzen traurigen Verfassung sei, in welcher er jüngst zu Doorwerth angekommen war. Der Diener besorgte daher zur gemüthlichen Plauderstunde für Windt und Leonardus die unvermeidlichen holländischen Thonpfeifen, und als der köstlichste Tabak das Zimmer durchduftete, begann Leonardus seine Erzählung.
Ich hatte nicht Rast nicht Ruhe, eine unaussprechliche und unbezwingliche Sehnsucht trieb mich an, Angés zu suchen, und ganz vergebens war die Stimme der Vernunft, die mir zurief: was willst du bei ihr? Störe nicht die Ruhe dieser so edlen Freundin, wecke nicht neuen Schmerz auf, errege nicht neue Kämpfe, strebe nicht nach einem Siege über sie, der dir nicht ehrenvoll und rühmlich wäre! Dämonisch [283]riß es mich hin, und der alte Gemeinplatz: der Mensch kann seinem Schicksal nicht entgehen, wurde leider auch an mir zur vollen Wahrheit. Ja, ich glaube jetzt, daß ein Fatum waltet, aber thun Sie, liebster Freund Windt, mir deßhalb die Ehre nicht an, mich für einen neumodischen Philosophen zu halten, ich habe nie ein philosophisches Buch gelesen, ach, es bedarf der Bücher nicht, das Leben dictirt uns seine schmerzdurchwebte Weisheit laut genug und tief in die Seele hinein. Ich stürmte aufs Neue fort und wandte mich gegen den Rhein; ich war wieder Kaufmann und schloß Geschäfte ab für ein Haus in Amsterdam, bei dem ich mit einem Kapital, gleichsam als stillschweigender Compagnon, eingetreten bin. Der Geschäftsreisende erleidet auch in kriegerischer Zeit wenig Störung. Der vermehrte Bedarf macht den Verkehr, besonders in Colonialwaaren, lebhafter als je und da die überseeischen Zufuhren stockten und England den Continentalhandel hemmte, so ließen sich die alten Vorräthe um so vortheilhafter zu hohen Preisen verwerthen; ich war daher dort, wo ich Geschäfte machen wollte, überall willkommen, und gewann schon dadurch, daß ich reiste und in Stand gesetzt war, immer noch zu billigeren Preisen als Andere notiren zu können, bedeutende Summen. Die Vorräthe unseres Hauses waren groß und in guten Zeiten sehr billig eingekauft; jetzt ließen Kaffee, Zucker, Rosinen, Gewürze, Tabake zu einer Preishöhe sich absetzen, die eben nur der Krieg erzeugen kann. Meine Kenntnisse der Sprachen kamen mir auf der Reise stets gut zu Statten. Während Frankreich fort und fort noch zerrissen war von den blutigsten und grausamsten Kämpfen im Innern, im Süden und im Westen, und obendrein noch von England bedroht, das zugleich die Rüstungen der Reaction unterstützte, ging ich nach dem Rheine. Unruhig genug sah es auch an den beiden Ufern dieses gottgesegneten deutschen Stromes aus. Den Rhein solltet ihr sehen, Freunde, in seiner Herrlichkeit, in seiner Schönheit! Der schmale Arm von ihm, der bei Doorwerth vorüberfließt, ist freilich dagegen nur ein reizloser Canal. Aber wer konnte auf die Reize der Natur achten zur Zeit eines Krieges, der alle Heerstraßen, alle Städte, alle Dörfer und Höfe mit Soldaten füllte? Auch die schöne Pfalz war Kriegsschauplatz geworden, die ich so ganz verändert und von Heeren überschwemmt wiedersah. Mein liebes Zweibrücken, der Ort, wo ich zuerst Hand in Hand [284]mit Angés das süßeste, lauterste Glück meines Jugendlebens genossen hatte, war im Spätherbst des vergangenen Jahres nach den Schlachten, welche die Rheinarmee unter Pichegru und Hoche den Preußen und Sachsen bei Kaiserslautern und bei Moorlautern geliefert, zum Sammelplatz des geschlagenen Franzosenheeres geworden, das siebentausend Mann verloren hatte; nachdem sich dieses französische Heer gestärkt, drängte es seine Gegner unter Wurmser wieder über den Rhein zurück. Ich erschien im Elternhause Angé’s in Zweibrücken, welche Stadt französische Besatzung behielt; meine Erscheinung war im Anfang augenscheinlich keine willkommene, denn man sah in mir den Mann, der Angé’s Unglück verschuldet; endlich gelang es mir jedoch, mit ihrer Mutter ein verständigendes Gespräch zu beginnen. Wenn Sie mir zürnen, verehrte Frau Daniels, sprach ich zu ihr, so thun Sie mir großes Unrecht. Ich hielt ja Ihrer Tochter die gelobte Treue, strebte rastlos danach, durch meinen eigenen Fleiß so viel zu erwerben, um eine schöne sorgenlose Zukunft, so weit solche voraus zu bestimmen in menschlicher Macht liegt, Angés zu bereiten. Dem Kaufmann aber, dem bedeutenden, fällt selten das Glück daheim und hinter dem Ofen in den Schoos; er muß hinaus, handelnd und strebend, in ferne Weiten, in entlegene Länder. Mir, dem Treuen, brach Angés die Treue, und wurde dazu hier überredet. Ich hing immer noch voll Zärtlichkeit an ihr, und eine Fügung war’s, gewiß eine wunderbare, daß ich ausersehen ward, ihr Retter und Befreier aus einer unwürdigen Lage zu werden.
Ganz gewiß, erwiederte Frau Daniels, und Angés ist Ihnen mit uns dafür zu stetem Danke verpflichtet; freilich hätten wir gewünscht, sie wäre gleich in ihr elterliches Haus zurückgekehrt und hätte nicht erst eine so weite Irrfahrt gemacht.
Daran trug der Krieg die Schuld; auf gradem Wege hätte uns entweder Berthelmy’s Verfolgung ereilt, oder wir wären dem Verderben geradezu entgegen gefahren.
Ich will es glauben, versetzte Angé’s Mutter, und ich fragte sie nun: Wo lebt jetzt Angés?
Ich weiß es nicht!
Sie wissen es nicht? O, wohl wissen Sie es, aber Eins wissen Sie nicht, verehrte Frau! rief ich empfindlich aus. Sie wissen nicht, [285]daß ich zu viel weiß, um mich also abfertigen zu lassen, daß das Herz Ihrer Tochter mein ist, daß ich Angés suchen und sie finden werde, sollte ich auch im Schwarzwald von Dorf zu Dorf, von Hütte zu Hütte ziehen.
Frau Daniels erschrak, als ich den Schwarzwald nannte, doch suchte sie mir dies zu verbergen, und fragte auf’s Neue: Was wollen Sie von Angés?
Ich komme von le Mans!
Haben Sie Berthelmy’s Todtenschein? fragte die Frau jetzt mit leuchtenden Augen.
Den habe ich nicht und brauche ihn nicht, es kann auch niemals einer gegeben werden. Es gibt dort keine Kirchen und keine Kirchenbücher mehr; der Maire sagt mir, das Papier habe nicht hingereicht, um die Namen aller Todten aufzuzeichnen. Was sich geschieden habe, sei geschieden, Niemand frage danach.
Das mag dort in le Mans so sein, entgegnete mir die verständige Frau. Hier in Zweibrücken aber denken wir noch anders. Die Feinde mögen uns Alles nehmen; unsere Kirche, unsern Glauben, unsern Gott lassen wir uns nicht nehmen! Wir singen nicht vergebens unsers Luther Lied:
Ja, wohl hat uns Noth betroffen, harte Noth, aber Gott wird uns helfen!
Ich hatte nicht Lust, mit der wackern Frau einen Glaubensstreit zu beginnen, der mich auf keinen Fall gefördert haben würde, sondern einlenkend sprach ich: Ich habe Ihre Tochter in Ehren gehalten, als sie ganz in meiner Macht, in meinem alleinigen Schutze war, und ich hoffe nicht, seitdem schlechter geworden zu sein. Ich will sie noch einmal fragen, sie und nur sie selbst hat hier zu entscheiden, und dann wird mein Loos gefallen sein; darum nennen Sie mir den Ort, wo ich sie finde, ich flehe Sie darum an bei Allem, was Ihnen und mir heilig ist!
Nun denn! rief Frau Daniels: Wenn Sie mir auf dieses Evangelienbuch, das Ihnen gewiß so heilig ist wie uns, schwören, daß der [286]Name dieses Ortes niemals gegen einen Dritten über Ihre Lippen gehen soll, dann nenne ich Ihnen meiner Tochter Aufenthalt.
Ich schwur, und erfuhr den Namen des Ortes am Fuße des Schwarzwalds.
Am nächsten Tage reiste ich mit Courierpferden über Bitsche und Hagenau nach Straßburg, ging bei Kehl über den Rhein, und fuhr über Lahr und Mahlberg nach einem nahen Städtchen, das ich in der Nacht erreichte und wo ich mich bald zur Ruhe begab. Das Gasthaus, das mich aufgenommen hatte, war ein sehr gewöhnliches. Mein Bett stand an einer Bretterwand, und ich war noch nicht eingeschlafen, als ich an Schritten im anstoßenden Zimmer merkte, daß ich männliche Nachbarschaft habe. Zwei Männer unterhielten sich bald darauf lebhaft mit einander in französischer Sprache, und wunderbar, mir kamen beide Stimmen bekannt vor; ich verhielt mich mäuschenstill und suchte den Inhalt ihres Gespräches zu erlauschen, ohne noch zu ahnen, wie nahe derselbe mich selbst berühren würde. Je mehr Worte ich hörte, desto schrecklicher tagte es in mir, diese eine Stimme, nur einmal in meinem Leben hatte ich ihren rauhen Klang gehört, und doch hatte er sich tief in meine Erinnerung eingeprägt. O ich beklagenswerther Mann, die geliebte Angés suchte ich – war ihr schon nahe – und fand – Berthelmy – und Berthelmy war es, der nahe bei mir gegen seinen Gefährten zornvoll und erbittert über Angés sprach.
Ausgemittelt hab’ ich’s endlich, sagte er: das Nest der Schlange, der falschen, treulosen Schlange, und bin nun da, die Natter zu zertreten, wenn sie sich nicht reuig mir in die Arme wirft und mir dann die Hand bietet, das Netz des Verderbens um die niederträchtigen Vaterlandsfeinde, die sich hier auf deutschem Boden verborgen halten, zu schlingen, und denen sie sich dienstbar gemacht hat noch obendrein!
Uebereile nichts, Berthelmy! sprach der Andere: verdirb nicht um deiner eigenen Angelegenheit willen unser Spiel. Wir dürfen nie offen hervortreten, müssen alles vermeiden, was irgend einen Verdacht auf uns lenken kann; du kennst noch nicht den Dienst, Etienne, bist mein Schüler, mußt mir gehorchen.
Zum Donner! murrte Berthelmy: seit ich bei der Insel Noirmoutier in die Gewalt der Republikaner fiel, seit mein rachedürstendes Herz alle Parteiung und alle menschliche Rücksicht abschwur, ist mir [287]noch nicht so gewesen, wie jetzt. Ich möchte gleich auf der Stelle jemand ermorden!
Nur mich nicht, das bitte ich ganz gehorsamst, spöttelte der Andere. Du bist zu hitzig, ich bin abgekühlt, Etienne. Wenn du einmal in der Seine gelegen hättest, und einmal im Rhein, und sehr nahe daran gewesen wärst, auch in die Wahl geworfen zu werden, wie ich, würdest Du weniger hitzig sein.
Was zum Henker schwatzest du da für Unsinn, Clement Aboncourt? –
Es war unser Mann von Paris, von Doorwerth und Thiel, er erzählte in kurzem Umrisse seinem Bettkameraden seine Lebensgeschichte fast so, wie wir sie ebenfalls von ihm hörten. Er war aus Holland weggegangen und hatte sich nach dem Süden gewendet, hatte seine Kunst und Gewandtheit als Spion geltend gemacht, und jetzt den Auftrag, die im friedlichen Schutze Badens weilenden Emigranten hoher Abkunft zu umspähen, ihre Schritte zu belauern und von Allem Nachricht dahin zu ertheilen, wo diese willkommen war und erwartet wurde.
Indem nun dieser Mensch vom elendesten Gewerbe seine Mittheilungen an Etienne Berthelmy machte, ging aus des Letztern Aeußerungen hervor, daß er ebenfalls ein Verworfener war, daß er an seiner Heimathstadt zum Verräther geworden, auch nicht ohne heimlichen Antheil geblieben an jenem entsetzlichen Blutbade, das der Würger Morceau in derselben vollziehen ließ, sowie daß er, aus dem Heere schimpflich verstoßen, zufällig Aboncourts Bekanntschaft gemacht und an diesen sich angeklammert hatte, wie nach dem deutschen Sprüchwort sich Gleich und Gleich gern gesellt. Mir graute, wenn ich dachte, daß die engelreine Angés ihr Loos noch einmal an dieses Ungeheuer ketten sollte, daß Berthelmy ihr nur noch einmal in den Weg treten könne, und ich fand, auch als jene schwiegen und eingeschlafen waren, keinen Schlaf, so müde ich von meiner angestrengten Reise war. Ich überlegte die Gefahr, die Angés, die ihren Gebietern drohte, überlegte die Mittel, die ich anwenden wollte, um diese Gefahr abzuwenden. Mir selbst mußte daran gelegen sein, nicht von Aboncourt gesehen zu werden, denn sehr möglich war es, daß er in mir jenen Mann wieder erkannte, der bei Doorwerth ihn fortgeschafft hatte und Zeuge seines zweimaligen Wassersprunges gewesen war, und der [288]mit beigetragen hatte, in der Nähe von Thiel ihn zu fangen und in Haft zu nehmen.
Kaum graute der Morgen, so machte ich mich auf und fragte im Hause, wer die Reisenden seien; Niemand wußte es, Niemand kannte sie, sie waren noch vor mir leise aufgebrochen und nirgend mehr zu sehen. Zu so früher Stunde und so geradezu konnte ich mich Angés schicklicher Weise nicht nahen; ich umkreis’te aber ihren Wohnort und das Haus, das mir von ihrer Mutter als dasjenige bezeichnet war, in welchem sie mit dem Kinde weilte; es war die Dienstwohnung eines Lehrers, welcher dem Kinde Unterricht in Religion und andern Gegenständen ertheilte. Ein alter Klosterbau und dessen Lage in einem Waldthale machte den Ort romantisch, und der Frühling ließ Alles ringsum paradiesisch erscheinen. O, wie wohl that mir diese Ruhe, und wie unendlich glücklich würde sie mich gemacht haben, hätte ich ohne Furcht und Bangen jetzt durch diese lieblichen Fluren am Abhang eines der schönsten und eigenthümlichsten Gebirge Deutschlands wandeln können. Ich wußte meinen Spaziergang so einzurichten, denn ein solcher war es, da das Oertchen, wo Angés ihr Asyl gefunden hatte, etwas entfernt von dem Städtchen lag, – daß ich die Thüre von ihrer Wohnung und die Wege, die von dort in das Thal führten, stets im Auge behielt; dabei spähte ich fleißig umher, ob ich nicht etwas Verdächtiges entdecken würde, allein Alles blieb ruhig und still. Endlich, o Freude, hüpfte die kleine Sophie aus dem Hause im sommerlichen Morgengewand, dem lieblichen Kinde folgte Angés; sie traten heraus in die Frühlingsmorgenfrische, gleich schönen Sylphen, welche ausfliegen, um die Blumen zu küssen und fröhlich im Tagesglanze umherzuschweben.
Ich wartete noch, um Beiden nicht gleich auf dem Fuße zu folgen; da sah ich einen bejahrten Mann aus dem Hause treten, augenscheinlich einen Kammerdiener. Angés und das Kind schritten längs des Baches hin, der vom Gebirge herabkam, an einem Dörfchen vorüber, das den gleichen Namen trägt, wie die Ahnenwiege eines alten deutschen Fürstenstammes. Ich nahm einen Umweg, um Angés einen Vorsprung abzugewinnen, und durchschritt ein Vorholz, darin die schönsten Frühlingserstlinge blühten. Als ich aus diesem Gehölz auf den Waldweg trat, gewahrte ich, wie ein Mann, der bis jetzt [289]am Wege gelegen, plötzlich aufsprang und dem nachfolgenden Diener entgegen trat, anscheinend, um diesen nach dem Wege zu fragen, denn Jener deutete rückwärts, nach dem Münster und in der Richtung nach dem Städtchen hin. Offenbar aber war jenes Menschen Absicht keine andere, als den alten Mann mit allerlei Fragen aufzuhalten, was ihm auch eine Zeitlang gelang. Plötzlich, wie ich mein Auge wieder nach der mir nun ganz nahe kommenden Angés wandte, nahm ich wahr, daß auch vor sie und das Kind ein Mann hintrat; ich näherte mich den Dreien auf der Stelle und hörte, wie der Mann Angés fragte: Kennst du mich, Angés Berthelmy? Kennst du deinen Mann nicht mehr?
Diese fuhr zusammen, faßte alsbald Sophiens Hand und antwortete heftig: Ich kenne Sie nicht, mein Herr! Ich habe keinen Mann mehr; der Mann, den ich hatte, war ein Ungeheuer, der mich in der letzten Stunde, in der ich ihn sah, mit empörender Grausamkeit von sich stieß!
Angés! rief Berthelmy: Ich habe tausendmal bereut, bitter bereut! O vergieb mir, sei wieder mein! Vergieb mir!
Nie und nimmermehr! Lassen Sie mich, oder ich werde um Hülfe rufen!
Da schlug Berthelmy ein entsetzliches Hohngelächter auf, daß es von allen Bergwänden des Thales zurückhallte.
Nicht?! schrie er: Ha, du treulose Natter! Was hält mich ab, dich zu tödten? Dabei zog er ein blinkendes Stilet, das Kind stieß einen lauten Angstschrei aus, mit dem sich ein zweiter von Angés mischte – plötzlich sah sie mich, wie ich den Erbärmlichen zurückriß, und rief mit brechendem Blick: Leonardus! Leonardus!
Wüthend wandte sich Berthelmy gegen mich und drang mit dem Dolche auf mich ein; ich hielt ihm meinen rasch gezogenen Stockdegen vor, in den er rannte, aber mit solcher Heftigkeit, daß die Klinge abbrach, und nun versetzte er mir Stich auf Stich, bis ich ihn mit dem Griff des Stockes, der in meiner Hand geblieben war, dermaßen mitten in das Gesicht schlug, daß er nieder taumelte.
In diesem Augenblicke wurde es dunkel vor meinen Augen – ich hörte den lauten Hülferuf einer männlichen Stimme, wahrscheinlich jenes alten Dieners, wurde in demselben Augenblick von hinten [290]angepackt und heftig zu Boden geworfen – ich hörte nur noch den Einen dieser Buben rufen: Ha! das sind ja die Täubchen, die aus dem Taubenschlag der Bastei zu Doorwerth auf uns niedersahen, und das ist ja der Spießgeselle jener Hunde, die mich fingen und in’s Wasser warfen! Sollst an mich denken, Hund! – Ein schwerer Tritt auf meine Brust, und die Sinne vergingen mir.
Allmächtiger Gott! Das ist ja unerhört! riefen bei dieser Erzählung Leonardus’ die Freunde aus.
Armer, armer Freund! Was magst du gelitten haben! sprach Ludwig und drückte dem Freund bewegt die Hand.
Ja, gelitten, viel, und schwer und lange, erwiederte dieser, von der schmerzvollen Erinnerung mächtig ergriffen. Nach einer Pause fuhr er dann fort:
Als ich wieder unter glühenden Schmerzen zum Bewußtsein kam, lag ich in einem kleinen, dunkelverhangenen Zimmer, mit Pflastern bedeckt und blutbefleckt. Jeder Athemzug verursachte mir Pein, ich glaubte ein verlorener Mensch zu sein. Sechs Stichwunden waren mir in die Schultern, auf die Brust und in den linken Arm gegeben worden, ein Wunder, daß keiner tief eingedrungen war, keiner das Herz getroffen hatte. Aber dafür war ich zu namenlosen Leiden aufgespart.
An meinem Schmerzenslager saß der alte Diener, den ich bei Angés erblickt hatte, und winkte mir Ruhe zu, als ich sprechen wollte; denn so wie ich dies zu thun versuchte, kam Blut.
Nur langsam besserte sich’s mit mir; nur langsam heilten die Wunden, am längsten aber blieb der Schmerz in der Brust, und dieser ist es, den ich noch mit mir herumtrage, der oft wiederkehrend, mich an jene Stunden mahnt und an meinen nahen – Hingang. Dieser mag kommen, wann er will, ich bin gefaßt auf ihn, ich habe mit dem Leben abgeschlossen.
Als ich wieder so weit war, daß ich ohne Nachtheil zu reden vermochte, kam Angés. Sie kniete an meinem Lager nieder, legte mir ihre weichen Hände auf Mund und Brust, sie blickte mich tief schmerzlich aus ihren himmelvollen Augen so lange an, bis diesen Augen ein Strom von heißen Thränen entquoll, der nicht enden wollte.
[291]Angés! Geliebte Angés! flüsterte ich, und mein Herz wallte über von Wonnegefühl, dem holden Wesen wieder nahe zu sein, ihre Gegenwart besiegte die brennenden Wundschmerzen, und ich begann mich glücklich zu preisen und meine Feinde zu segnen, deren Wuth und Barbarei ich diese Seligkeit verdankte.
Angés bat mich inständig, mich zu schonen, und erzählte mir noch folgendes Nähere über jenen abscheulichen Ueberfall: Wie der alte Diener, welcher Jacques hieß und Franzose war, den Schrei des Kindes gehört, hatte er sogleich Aboncourt, der ihn aufhalten wollte, zur Seite gestoßen, und war auf uns zugeeilt. Alles Andere nicht berücksichtigend, erfaßte er das Kind, hob es auf seinen Arm und eilte mit ihm nach dem Dorfe zurück. Angés war ohnmächtig hingesunken, als sie den heftigen blutigen Kampf zwischen mir und Berthelmy sah; zu plötzlich stürmten unter den entsetzlichsten Umständen Schmerz, Abscheu, Liebe und Seelenangst auf sie zugleich ein, und der Schreck warf sie machtlos nieder, da sie einen Moment später sehen mußte, wie Berthelmy über und über im Gesicht blutend, taumelte, und mich der tückische Aboncourt zu Boden riß. Daß der Unmensch mich auf die Brust trat, gewahrte sie schon nicht mehr.
Aboncourt glaubte sich an mir hinlänglich gerächt zu haben, er sah Leute vom nahen Felde auf den Weg zueilen, stürzte sich auf Berthelmy, hob ihn auf und verschwand mit ihm im Walde. Angés wurde wieder zu sich selbst gebracht, aber nur um im verzweiflungsvollen Schmerz sich an meine Seite niederzuwerfen und den Himmel um Hülfe und Erbarmen anzuflehen. Bewußtlos wurde ich dann in ihre Wohnung getragen und der Pflege der Aerzte und Wundärzte übergeben, die man schleunig aus dem nahen Städtchen herbeirief. Gensd’armen mußten die ganze Gegend nach jenen Spionen durchstreifen, sie fanden nichts, als eine kurze Blutspur, denn leicht bargen die zahlreichen Gebirgsschluchten des Schwarzwaldes diese Elenden. Wie es geworden wäre, wenn ein wunderbares Geschick mich nicht in jenem verhängnißvollen Augenblick zu Angés geführt hätte, fragten wir uns oft und wußten es nicht zu sagen.
Das letzte Band, was noch in ihrem Gewissen Angés an Berthelmy fesselte, war freventlich zerrissen, sie verabscheute ihn, sie wollte mein eigen sein mit Leib und Seele, aber nur – [292]was frommte es mir, und wie lange hatte ich noch zu lebend? Doch war ihre milde, freundliche Nähe mir unaussprechlich wohlthuend. Oft seufzte sie: Ach, daß wir in Doorwerth geblieben wären! Hier ist unser Friede gestört, ich muß fortan nur in Furcht und Zittern leben, darf ja keinen Ausgang wagen, sehe fort und fort den Stahl des Mordes und der Rache gegen meine Brust gezückt! Und nicht um mich allein ist mir bange! Das galt nicht allein mir, das war eine Doppelverfolgung, die ein guter Engel, wenn nicht die allwaltende göttliche Vorsehung selbst, von dem Gegenstand dem sie eigentlich galt, ab und gegen mich lenkte! Ich meine von dem Kinde ab und auf mich, und auch auf dich, mein Leonardus.
Mein Schmerzenslager überstreute die reine, keusche und erhabene Liebe dieses engelgleichen Weibes mit Rosen. Mir wurde klar, wie die Heiligen in den schönen, andacht- und poesiedurchglühten Legenden meiner Kirche ihre Dornenlager nicht fühlten, wie die Feuergluten sie kühlten, statt sie zu versengen, wie die Qual der Martern ihnen nicht die Jammerlaute des Schmerzes über ihr blutiges Märterthum entlockte, sondern Psalmen und lobpreisende Hymnen. Die allen Schmerz verklärende Liebe war es, die mich also emporhob und beseligte. Ach, wie arm und nichtig sind die kurzen flüchtigen Wonnen eines Sinnenrausches gegen das Ineinanderströmen reiner Flammen! Ich empfing mein Theil am irdischen Glück, verlange nicht mehr, und beklage nur, daß ich nicht hinüberging in jenen Entzückungen; daß ich immer noch meinen wunden und schmerzgequälten Leib durch das Leben tragen muß. Jene unvergeßlichen Stunden kehren nie zurück – können nicht wiederkehren; ich darf und werde Angés niemals wiedersehen.
Die Freunde hörten staunend und schweigend, ja in stiller Bewunderung und voll innigster Theilnahme Leonardus’ Erzählung an. Endlich, nach langem Schweigen, denn eines jeden Herz war erschüttert, fragte Ludwig den Freund: Und du verließest Angés?
Nein, erwiederte Leonardus: ich wurde verlassen. Meine Genesung, durch die sorgfältigste ärztliche Behandlung und die aufmerksamste Pflege befördert, war endlich so weit vorgeschritten, daß ich ohne Gefahr das Lager und das Zimmer verlassen und den ersten Ausgang wagen konnte. Heilende im jungen Frühling hervorgesproßte Kräuter, theils den [293]Wäldern, theils den Wiesen und sonnigen Rainen entnommen, hatten zu Tränken gepreßt Wunder an mir gethan.
Noch einmal hatte ich einen schönen Mondscheinabend mit Angés in glücklicher Zufriedenheit verplaudert, und wir hatten uns jener Wonneabende erinnert, in denen wir in der Rebenlaube vor der Thüre ihres Hauses in Zweibrücken saßen, auch jenes Abends, an welchem der verhängnißvolle Besuch jener hohen Dame erfolgte, die so bedeutsam auf Angés’ Leben einwirkte. Die Jugendzeit unserer Gefühle war uns noch einmal erblüht, denn das Herz altert ja nicht, und wo einmal wahre Liebe im treuen jugendlichen Herzen lodert, da wird sie von selbst zur Vestaflamme, die wie ein Mond die Sommerzeit des Lebens erhellt, und wie eine reine Ampel mit strahlender Wärme noch in späten Wintertagen dem gealterten Herzen wohlthut.
Am andern Tage lag ein Briefchen auf dem Tische, der an meinem Lager stand. Es war Angés’ Hand – ich bebte. Zitternd öffnete ich, und las:
»Mein ewiggeliebter Leonardus!«
»Pflicht und Ehre mahnen zu scheiden! Du bist genesen. Ich folge dem Gebote der Pflicht, die mich diesen Ort auf lange, vielleicht auf immer verlassen heißt. Die Sicherheit meiner Pflegebefohlenen, meine eigene fordern es. – Lebe wohl! O, lebe tausendmal wohl! Wir sind auf Erden einander nicht bestimmt, aber droben! droben! Leonardus! Mein letzter zitternder Seufzer, der, wenn ich sterbe, über meine Lippen haucht, soll dein Name sein! In Ewigkeit und für die Ewigkeit deine, nur deine treuverbundene
Angés.«
Ach, da kamen alle meine Schmerzen wieder, doch ward auf das Beste fort und fort für meine Pflege gesorgt. Als ich aber Erkundigungen einzog, wußte mir Niemand Etwas zu sagen – Angés, Sophie, der alte Diener – auch ein Dienstmädchen, dieselbe, welche Angés früher in Gesprächen erwähnt – wie hieß sie doch? Sophie? Ja, Sophie Botta hieß sie – alle waren fort, und keine Spur, wohin sie sich gewendet. Ich war allein – ich hatte mein Weh getragen, hatte mein Glück genossen, und konnte gehen. Niemand sprach zu mir, ich möchte gehen, Niemand hieß mich bleiben; ich war in einer [294]fremden Welt unter Landleuten, deren allemannischen Dialekt ich so schwer verstand, wie sie meine holländisch-deutschen Ausdrücke.
Endlich zog ich von dannen, mit welchen Gefühlen – könnt ihr euch denken; doch nein, ihr könnt es nicht denken, denn das erlebte Keiner. So niedergedrückt an Körper und Seele zugleich, so freudenarm, so hoffnungsleer, so erstorben der Welt und gleichgültig gegen Alles! Ich mußte langsam reisen, und litt unendlich, ich erfuhr manche rohe und unfreundliche Begegnung – ertrug aber Alles mit einem Gleichmuth, den ich nicht stoisch nennen will, weil er nicht aus meinem festen Willen hervorging, sondern aus völliger Lähmung meines geistigen Seins. Ich wurde auch einmal angefallen und beraubt, ich weiß nicht mehr, wo es war, und wie viel es war, was man mir nahm, es galt mir gleich, denn was konnte ich nun noch verlieren, da ich Angés verloren hatte?
Eine düstere Wolke von Schwermuth lagerte sich über Leonardus’ Züge, und die Freunde gewahrten mit Schmerz, wie zerstörend die Heftigkeit seiner Liebe auf ihn einwirkte. Sie vereinten ihre Bitten, daß er ihnen nach Deutschland, vor Allem nach Pyrmont oder Stadthagen folgen möge, wo heilende und stärkende Quellen ihn körperlich wieder kräftigen und die gesunkene Springkraft seines Geistes neu beleben würden.
Leonardus sagte nicht ab und nicht zu; er wollte, da die Rückreise doch wieder über Amsterdam genommen werden mußte, und Windt auch, bevor er eine Reise nach Deutschland antrat, noch einmal nach Doorwerth zurück wollte, in Amsterdam alle seine Geschäftsangelegenheiten völlig ordnen, von seiner Mutter den letzten Segen erbitten, und dann in Gottes Namen den Freunden folgen. –
Nachdem Windt im Haag Auftrag gegeben, ihm stets auf das Schleunigste vom Ergehen und Befinden des Erbherrn Nachricht zu ertheilen, traten die Freunde die Rückreise an, rasteten in Amsterdam und hatten dort die Freude, den treuen Richard Fluit noch einmal zu finden und einen Abend mit ihm heiter zu verbringen.
Die Rückreise nach Doorwerth von Amsterdam aus über Utrecht war keine erfreuliche; Leonardus litt schrecklich an erneuerten Brustschmerzen, er sagte jetzt sich selbst, er hätte sich länger pflegen und an Reisen noch nicht denken sollen, eine Ansicht, der auch die unterwegs [295]zu Rathe gezogenen Aerzte beipflichteten. An eine Weiterreise nach Deutschland war für den Kranken jetzt nicht zu denken.
Frau Windt hatte mit größter Sehnsucht auf die Rückkehr ihres Mannes gehofft. Es lag wieder eine halbe Brigade Franzosen in der Herrschaft, ein Theil jener 25,000 Mann, die vertragsmäßig im Lande blieben. Die Soldaten der holländischen Armee desertirten compagnien-, ja regimenterweise, der ganze Busch nach Norden hin, der sich bis in die Nähe von Horderwyk und Elburg zum Strande der Zuider-See hinabzog, steckte voll Flüchtlinge und Ausreißer, es mußte Reiterei gesandt werden, um sie einzufangen, und für Windt ging alle alte Plage von Neuem wieder an.
Die alte Reichsgräfin in ihrem Palast am Jungfernsteig zu Hamburg war außer sich vor Zorn, der sich wie ein schweres Gewitter auf ihre unschuldige Kammerfrau, die betagte Schwester Windt’s, entlud. Die Gräfin hatte zwei Briefe zugleich erhalten, jener vor der Abreise nach dem Haag geschriebene war wegen mangelhaften Ganges der Postschiffahrt lange in Amsterdam liegen geblieben; aber weder diesen, noch den anderen hatte sie geöffnet, sondern beide mit Heftigkeit auf den Fußboden geworfen.
Toll geworden muß Ihr Bruder sein, liebe Windt, sage ich, völlig toll! brach der Zorn der alten Herrin endlich aus. Sie wissen, was ich mir Alles von ihm gefallen lasse, manche Ungeschliffenheit, die sich kein anderer Diener gegen seine Gebieterin erlauben würde; er ist ein alter Mann, ist treu wie Gold, das steht für sich, ist abgemacht, aber so muß er mir nicht kommen, mir nicht, der Reichsgräfin, der Verwandtin von Kaisern!
Aber um Gottes Willen, Excellenz! Was ist es denn? Was hat denn mein unglücklicher Bruder verbrochen? Excellenz haben ja die Briefe noch gar nicht gelesen! rief Windt’s Schwester unter Thränen.
[296]Habe nicht – will nicht – werde nicht! War mir als stächen mich Nattern! Fragen Sie nicht, heben sie die Briefe auf, lesen Sie die Aufschriften und sehen Sie die Siegel an! An dieser Signatur wird der ganze Mann erkannt!
Windt’s Schwester gehorchte, hob die Briefe auf, las, und erschrak.
A la Citoyenne Varel am Jungfernsteig à Hambourg, franco Amsterdam.
An die Bürgerin Varel! schrie die Reichsgräfin außer sich. Kann man Verrückteres, Unanständigeres erleben, hat man es je erlebt? Und die Rückseite! Da steht: Per Adresse Meveroow Adrianus Valck! Van der Valck muß es heißen! Wer in aller Welt hat ein Recht, den Leuten ihre uralten ererbten Namen zu nehmen? Welche Narren können sich das unterfangen? Können’s nicht, und wenn sie zehntausendmal wollten. Und das Siegel! Sehen Sie nur das Siegel an. Der Namenszug innerhalb eines Kränzchens, und darüber emporragend eine Jacobinermütze oder Narrenkappe, und die Umschrift? Lesen Sie!
»Je suis libre!« las die zitternde Kammerfrau.
Je suis libre! fuhr die Reichsgräfin in ihrem Zorneifer fort. In die Livrée will ich ihn wieder stecken, die er früher trug, meinen Bedienten! Ich will ihm sein »je suis libre« anstreichen, ich, sage ich! Oeffnen Sie, lesen Sie mir vor, aber zuerst rühren Sie mir einen Theelöffel voll Cremor Tartari in Zuckerwasser an. Bürgerin Varel! Bürgerin Varel! Nein, es ist um den Schlag zu kriegen!
Die Dienerin that, wie ihr geheißen war, erbrach zitternd ihres Bruders Brief, und theilte nach dem Datum deren Inhalt mit. Der erste Brief wurde mit sehr wechselnden Gefühlen angehört, und häufig glossirt. Gleich im Eingang, der von der französischen Besatzung sprach, rief die alte Dame: Da haben wir den Franzosenfreund, nun wieder gar der Lobredner dieser Republikaner! Und wie er auf die armen unglücklichen Emigranten erbittert ist! Wie er sich nicht entblödet, selbst auf meine hohen Verwandten zu schmähen! Er will auch ein Bürger sein, auch ein Citoyen – wie ich eine Bürgerin sein soll! Das macht mich lachen, liebe Windt! Vielleicht will er auch mit mir theilen? Ich soll nicht mit meinem angeborenen und [297]angestammten Wappen siegeln! Nun, er hat wahrlich Recht, das Sprichwort Hamlets, das Ihr Bruder so gern im Munde führte: die Welt ist aus ihren Fugen! erfüllt sich. Ich soll mich über die närrische Aufschrift nicht wundern? Das ist doch mindestens ein vernünftiges Wort, aber nicht närrisch ist diese Aufschrift – sie ist verrückt! Was die Herren französischen Generale über meine gräfliche Würde urtheilen, das gilt mir ganz gleich. In Frankreich kann jeder Schuhputzer jetzt General werden, solchen Leuten gestehe ich kein Urtheil über meine Person zu. Was den Respect vor deutschen Fürsten, Grafen und Herren betrifft, so wird schon eine Zeit kommen, wo sie den Respect wieder lernen, wo er ihnen hinlänglich fühlbar gemacht werden wird, diese – doch was ärgere ich mich? Immer hält Ihr Bruder sich Lobreden! Das ist albern – und was er mir über die Paduanischen nachgemachten Münzen unter die Nase reibt, das ist infam! Schweigen Sie – ich will nichts mehr hören – ich ärgere mich zu sehr – nur unter den Bajonetten der Republikaner kann ein Untergebener sich solche Aeußerungen gegen seine Herrschaft erlauben! Er soll aber meinen Zorn dafür schon gewahr werden. Legen Sie die Briefe hin, gehen Sie!
Die Kammerfrau verließ schweigend das Zimmer. Eine lange Weile blieb die Reichsgräfin in ihrem Armsessel sitzen, starr und steif, regungslos wie ein Steinbild. Von Zeit zu Zeit schüttelte sie blos heftig den Kopf, wie von einem Krampfe befallen, dann griff sie selbst nach Windt’s Briefen und murmelte: Es mag ihm freilich wohl bisweilen schlimm und schlecht ergangen sein, ich will nur sehen, welche Kostenrechnungen über alle diese Kriegslasten eingehen. Ich begreife nicht, wovon er sie bestreitet, da in der dortigen Rentnerei kein Geld ist. Er bittet für sich um eine Versorgung, wohl, verdient hat er sie, muß aber nicht so ungewaschenes Zeug in seine Briefe setzen. Was ist das, mit den Freiheitsbäumen? Hat noch keinen setzen lassen? So hätte ich ihm zuletzt doch Unrecht gethan? Denn hier spricht er wie Salomo der Weise. – Durch diesen Gedanken versöhnlicher gestimmt, griff die Reichsgräfin nach dem zweiten Briefe ihres treuen und nur zu offenherzigen Intendanten. Der Inhalt desselben bildete die kurze Schilderung der Reise, gab Nachricht über das Befinden des Erbherrn und Graf Ludwig’s, wie der Frau Gräfin [298]von Lynden. Von der zahlreichen Desertion der Holländer wurde Meldung gemacht, und wie täglich 70 bis 80 Gefangene durch die berittenen Jäger in das Kastell gebracht würden. »Ich bin jetzt«, schrieb Windt: »bei den hier herum lagernden Heeren so bekannt, wie ein bunter Pudel, und zwar unter dem Namen le citoyen d’Autrefér – denn Doorwerth können sie nicht über ihre wälschen Zungen bringen. Ich habe so viele Einquartierung, wie früher auch, und für mich selbst kaum so viel Zeit, um mich dann und wann einmal hinter den Ohren zu kratzen. In diesen Tagen kam ein Theil des Husaren-Regimentes Esterhazy hierher ins Quartier; ich brachte die Gemeinen und Unteroffiziere bei den Bauern unter; den Commandeur nahm ich ins Kastell und begleitete ihn dann nach Helsum, wo das ganze Regiment sich sammelte. Nie sah ich so schöne Husaren. Es sind lauter Elsasser. Auch das Husaren-Regiment von Lausanne habe ich hier gehabt. Von diesen waren fünf so gütig, in Helsum einigen Bauern die Fenster einzuschlagen; ich verklagte sie, sie mußten den Schaden mit sechzehn Gulden ersetzen, und haben auf drei Monate Arrest bei Wasser und Brod; ein theures Fensterln! – Vom Haag bekomme ich fast täglich Nachricht. Im Verhältniß des Gefangenen hat sich nicht das Geringste geändert. Die französischen Truppen sind fast alle aus dem Haag, in Amsterdam liegen nur ohngefähr 80 Mann. Preußische Werber hatten ohnlängst die Nachricht ausgestreut, Prinz Friedrich von Oranien stehe an der Grenze und werbe ein Heer; da strömten die holländischen Ausreißer in Schaaren hin und fielen den Preußen in die Hände.«
»Der junge Herr Graf, der mit mir vom Haag hierher reiste und halb krank ankam, ist beinahe gänzlich und fast wunderbar schnell wieder hergestellt worden, aber sein armer Freund, der die fünfzigtausend Gulden zum Ankauf von Doorwerth herlieh, davon leider nur zwanzigtausend Mark Banko in Ihrer Excellenz Hände gekommen sind, gibt wenig Hoffnung, noch lange zu leben. Das wird unseren guten jungen Herrn, der mit ganzer Seele an diesem Holländer hängt, bis zum Tode betrüben; er hat ohnehin ein sehr empfindsames Gemüth, und fühlt sich nirgend recht heimisch, nirgend recht glücklich. Es gibt Menschen, denen die Begabung mangelt glücklich zu sein, auch wenn sie äußerlich gegen Sorgen des irdischen Lebens ganz sicher gestellt sind.«
[299]Leider! Leider! Da hat der Windt Recht! seufzte die Reichsgräfin. Es gehört Prädestination zum Glück, das ist mein fester Glaube, den ich schon als treue Bekennerin der reformirten Lehre festhalte. Gewiß, es gibt eine Gnadenwahl, wenn auch nicht im strengen orthodoxen Sinne unsers Calvin, aber Auserwählte durch die göttliche Gnade hat es von je gegeben, deren Auge hell blickt, deren Wesen rein, frei und heiter ist, über die das irdische Leid keine Macht hat, und die von ihm unberührt ihre Pilgerbahn vollenden. Aber sie sind selten, die auserwählt Glücklichen und glücklichen Auserwählten, ich und mein Haus gehören nicht zu ihnen! –
Als für Doorwerth wieder eine ruhigere Zeit eingetreten war und Leonardus Befinden sich in Etwas gebessert hatte, begleiteten die Freunde Windt auf der kleinen Erholungsreise, die der wackere Mann sich endlich vergönnte, in das Land Lippe-Schaumburg. Dort feierte Windt mit seinem nicht minder biedersinnigen, doch höher gestellten Bruder, dem fürstlichen Kammerrath zu Bückeburg, ein frohes Wiedersehen, dann begab er sich im Geleite der Freunde, indem er auf das etwas theure Pyrmont verzichtete, nach Stadthagen, wo ihm auch liebe Verwandte und Bekannte lebten, wo ebenfalls heilkräftige Gesundbrunnen der Erde mütterlichem Schooße entquellen, und wohin er sich zum Trinken Pyrmonter Brunnen kommen ließ. Selbst jetzt versäumte es sein Diensteifer nicht, die Nachrichten aus Holland, die er sich dorthin senden ließ, nach Hamburg zu schreiben, und kein Fürst Europa’s hatte einen so zuverlässigen und unermüdlichen Geschäftsträger, als die kleine halbsouveräne Reichsgräfin und Herrin von Varel und Kniphausen. Windt machte mit den Freunden oft Ausflüge in die Gegend, die wohl selbst bis Bückeburg ausgedehnt wurden, und die Luft der waldigen Gelände, der Anblick malerisch sich hinziehender schön bewachsener Hügel- und Bergketten wirkte in Verbindung mit dem so ganz veränderten Klima höchst vortheilhaft auf Alle ein, selbst Leonardus fühlte sich erleichtert und schöpfte wieder neue Lebenshoffnung.
Die Neuigkeiten, welche Windt seiner Gebieterin meldete, lauteten dahin, daß die Gefahr, in welcher der gefangene Erbherr schwebe, sich mit jedem Tage vermehre, da die Oranische Partei gegen die Batavische Republik aufs Neue rüste. »In Osnabrück liegen 1500 [300]holländische Offiziere, die ihren Abschied genommen haben und ein Corps errichten wollten. Sie haben bereits,« schrieb Windt, »unter sich die Chargen vertheilt und hoffen auf den Prinzen Friedrich von Oranien, wie die Juden auf ihren Messias. Auch würde der Prinz von Braunschweig aus nach Osnabrück kommen, und das Schloß daselbst ist bereits für ihn in Stand gesetzt. Unterwegs sprachen wir auch den Herrn Vice-Admiral, der dem Prinzen nach Osnabrück vorausgereist ist, und ich habe ihn gebeten, den vorherigen Gouverneur von Utrecht, der sich jetzt in Lingen befindet, zu warnen, nicht nach Holland zurückzugehen, denn es ist ein Brief von ihm aufgefangen worden, der ihm alsbald das Schicksal des Erbherrn zuziehen würde. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich eine Unternehmung gegen Holland vorbereitet. In der Gegend von Osnabrück steht ein Corps preußische Jäger, ein Regiment Hessen ist von Rinteln aus nach Osnabrück marschirt, zwei Regimenter Emigranten, die in hiesiger Gegend lagern, sind ebenfalls dorthin aufgebrochen; aus der Gegend von Bremen ein Corps Engländer. Das Alles ist aber so gut als Nichts, wenn nicht Preußen kräftigen Beistand zu Lande leistet, und England zur See angreift. Wehe aber den armen Ländern Geldern und Ober-Issel, wenn die Engländer hin kommen, denn deren Plünderungslust kennt keine Grenzen. In Pyrmont liegen auch noch zwei Regimenter Emigranten, die Alles vertheuern und ganz unerträgliche Gesellschafter sein sollen. Uebrigens herrscht im Geldernlande jetzt nicht blos vollkommene Demokratie, sondern fast völlige Anarchie. Zum Glück wird in Paris wie in Amsterdam daran gearbeitet, alle sogenannten nichtsnutzen Klubs, Societäten, Genoodschappen und dergleichen gänzlich aufzuheben und abzuschaffen, was nur heilsam für das allgemeine, wie für das besondere Beste wirken wird. Die würdige, weise und edle Frau Fürstin Juliane ist nicht hier, sondern reiste nach Philippsthal, ihrer Heimath, um dort einen längeren Aufenthalt zu nehmen; ich habe derselben daher nicht Ihrer Excellenz Grüße und meinen unterthänigsten Respect zu Füßen legen können. Ihrer Excellenz Meinung, bezüglich des Verkaufes von Doorwerth, Alles auf bessere Zeiten zu verschieben, theile ich ganz und gar nicht. Ich habe der Frau Gräfin Lynden so zugesetzt, daß sie für die dem Erbherrn geliehenen fünfzigtausend Gulden einstehen will; davon würde dann der erste Termin vollends bezahlt werden können. Für den [301]zweiten sehe ich bei den gegenwärtigen so sehr mißlichen Umständen der Familie, und den Unglücksfällen und Widerwärtigkeiten, welche dieselben betroffen haben, allerdings keinen Rath, doch hoffe ich noch ein kleines Kapital von etwa fünfzehntausend Gulden anzuschaffen. Da Excellenz mit der Frau Gräfin Lynden wie mit deren Frau Tochter selbst im Briefwechsel stehen, so bescheide ich mich des Weiteren, und bin zu Höchstdero Füßen der alte Windt.«
Mit Antwortschreiben an den gräflichen Intendanten empfing auch Ludwig eine Zuschrift der Großmutter, deren Inhalt für ihn später noch ungleich wichtiger werden sollte, als er es im Augenblick war. Wie oft hängt an einem armseligen Blatt Papier eines Menschen Lebensloos und das Wohl und Wehe seiner Zukunft!
Die alte Reichsgräfin schrieb ihrem Enkel freundlich und vertraulich, und hatte in ihren Brief einige andere Blätter eingelegt.
»Du glaubst nicht, lieber Ludwig,« schrieb die Großmutter, »wie sehr mir das Glück meiner Enkel am Herzen liegt, wenn auch nicht alle in dem Maaß meine Liebe verdienen, wie du, mein Liebling! Ich kann nicht ruhig zusehen, daß fort und fort über dem Haupte deines gefangenen Vetters das Schwert des Damocles schwebt, und biete daher im Stillen Alles auf, zu seiner Befreiung mitzuwirken. Niemand weiß, welche Fäden ich anknüpfe, wie ich sie weiter spinne, oft kommt mir der Wunsch, ich möchte noch einmal jung sein; ich wollte meine Lebenstage dann gewiß nicht mit Sammlung alter Münzen vertreiben, sondern ich würde der Länder und Menschen Loose lenken und leiten helfen, nicht eine Münznärrin würde ich dann geworden sein, sondern eine Diplomatin, und unendlich bedauere ich, daß deine Eigenthümlichkeit, mein Ludwig, dich nicht eine Bahn auf die Dauer beschreiten ließ, die Ehre, Macht, Ansehen und irdische Mittel vollauf gewährt. Mag den Staatsmann auch manche Verkennung, Zurücksetzung und die Folge manchen Irrthums treffen, immer ist es etwas Hohes, nach dem Höchsten gestrebt und dieses Ziel erreicht zu haben, selbst um den Preis, nach einer kurzen Zeit von der erklommenen Höhe wieder herabzusteigen. Man bleibt nicht ewig auf hohen Bergen, man baut nicht Hütten auf dem Montblanc und dem Chimborasso, aber das stolze Gefühl: ich war droben, das gibt dem Leben Halt und Höhe bis an die Grabestiefe. Ich habe mich nach London gewendet an meinen Freund, [302]den Baron von Kutzleben, und dessen Vermittlung angesprochen; ich schrieb an den Grafen von Bernstorf, königlich dänischen Gesandten zu Berlin, nicht minder an den holländischen Minister von Hartsinck, und bat alle um ihre Verwendung, eben so schrieb ich an den Prinzen Statthalter. Baron von Kutzleben hat meinen an diesen eingeschlossenen Brief dem Baron von Vogel übergeben, welcher jetzt holländischer Gesandter am englischen Hofe ist und sich im Augenblick beim Prinzen von Oranien befindet. Der Prinz Statthalter aber ist leider dermalen in trauriger Lage. Vor Allem erfreute mich in derselben Angelegenheit ein Brief der liebenswürdigsten herrlichsten Prinzessin, den ich dir beilege und als ein Heiligthum anvertraue; auch ihr hatte ich mich anvertraut, und diese Seele voll Engelgüte hat mir auf das Freundlichste geantwortet. Es ist Luise, die Kronprinzessin von Preußen K. H., geborene Prinzessin von Mecklenburg Strelitz, die ich in Darmstadt bei ihrer trefflichen Großmutter, welche die Erziehung dieser Prinzessin leitete, kennen lernte. Dann sah und sprach ich sie wieder bei ihrer Schwester Charlotte, Herzogin zu Sachsen-Hildburghausen, wohin sie vor einigen Jahren gegangen war, da Darmstadt sich von feindlichem Ueberzug der Franzosen bedroht sah. Diese Prinzessin und ihre beiden Schwestern athmen nur Geist und Liebenswürdigkeit, und wenn du in Deutschland reisest, so versäume ja nicht, dich an dem preußischen, mecklenburgischen, hessischen und sächsischen Höfen vorzustellen. Dem Haus Sachsen-Hildburghausen sind wir ohnehin verwandt, denn schon die Tochter König Christian des Sechsten von Dänemark, Luise, vermählte sich dem Herzoge Ernst Friedrich zu Sachsen-Hildburghausen; sie brachte diesem Hause ein schönes Heirathsgut mit, und reiche Sammlungen an Seltenheiten der Natur und Kunst, die man in dem gebildeten und glücklichen Sachsenlande höher als sonst wo zu schätzen weiß. Es bedarf in Hildburghausen nur der Nennung meines Namens, um dich dort einzuführen, mein geliebter Enkel. Du findest einen sehr gebildeten, umgänglichen und menschenfreundlichen Hof; findest wissenschaftliche Anstalten dort in Blüthe, und auch in der Bevölkerung ungleich mehr Bildung als in vielen anderen Staaten Deutschlands. Es ist auf alle diese Ernestiner Etwas übergegangen vom Geist und Strebesinn ihres großen Ahnherrn, Herzog Ernst des Frommen zu Sachsen, ein Fürst, der für die Wohlfahrt [303]eines Landes und Volkes Alles that, und für Wissenschaften und Künste mit Aufopferung thätig war.«
Mit Freude griff Ludwig nach dem eingelegten Briefe der Kronprinzessin von Preußen und las:
»Madame!
Ich war sehr geschmeichelt von dem Zeichen des Vertrauens, welches Sie mir gegeben, indem Sie in meine Hände Ihre kostbarsten Interessen legten. Auch hatte ich nichts Eiligeres zu thun, als gleich darauf an meinen Gemahl zu schreiben, welcher ganz gewiß alles ihm Mögliche thun wird, um Ihnen zu dienen. Gebe der Himmel, daß diese Angelegenheit nach Ihren Wünschen gelinge. Wenn er meine Wünsche zu erhören geruht, so wird Ihnen, Madame, Ihr Enkel erhalten bleiben und ich werde mich sehr aufrichtig freuen, in Etwas zu Ihrer Zufriedenstellung beigetragen zu haben. Mit der vollkommensten Hochachtung habe ich die Ehre zu sein
Ihre ergebene Dienerin
Luise.«[13]
[13] Die Urschrift dieses Briefes ist französisch.
Diese Zeilen einer reizendschönen, edelgesinnten und über alle Worte herrlichen jungen Fürstin, welche von Gott berufen war, dereinst der angebetete Schutzengel Preußens und der Stolz des ganzen großen deutschen Vaterlandes zu werden, entzückten Ludwig, und er hielt dieselben mit Ehrfurcht in seiner Hand.
Die Großmutter schrieb noch: »Du findest in diesen Sächsischen Residenzen die herrlichsten und ausgezeichnetsten Gemäldesammlungen, Münzsammlungen, Kunst-Museen, Bibliotheken, und ich rathe dir, da du doch nach Thüringen zu gehen gedenkst und in Jena den Hofrath Starke zu Rathe ziehen willst, ja nicht zu versäumen, den Weimarischen Hof zu besuchen und dort mein Andenken zu erneuern. Vielleicht weckt das Beisammenleben strebender Geister in der schönen Literatur dich auf, und du gefällst dir dort. Der Herzog Carl August kennt mich, und seine Gemahlin Luise Auguste, eine Frau von trefflichem und hochsinnigen Charakter, hat mich von Jugend auf als eine ältere Freundin geehrt. Dann gehe nach Gotha, nach Meiningen und von da nach Hildburghausen, du wirst, von mir empfohlen, dich überall gut aufgenommen [304]und ausgezeichnet sehen. Versäume das nicht, man kann nicht wissen, ob nicht eines dieser kleinen Herzogthümer dich einst dauernd fesselt, und es steht dieser mein Rath nicht im Widerspruch mit dem, den ich dir bei unserm Scheiden gab, auch – wenn du es in Einsamkeit suchen solltest, in Einsamkeit dein Glück zu finden – denn du kannst dort ganz nach deinem Gefallen leben und bist, wenn du den Landesgesetzen gemäß dich hältst, von deinem Thun und Lassen Niemandem Rechenschaft schuldig.«
Ja, ja – das wäre wohl das Beste, sprach Graf Ludwig vor sich hin; ein Asyl – ein stilles Asyl, mit Leonardus, mit Angés. – Ich will der Großmutter Rath befolgen, ich will jene Länder und Städte sehen, aber Leonardus – wird er mit können? Und Angés? Wird sie mit wollen? Und wo, ach wo sie finden, da sie sich selbst dem heißgeliebten Jugendfreund in züchtiger Strenge entzogen hat? – Diese Betrachtungen unterbrach Leonardus, welcher bleich und wankend in das Zimmer trat, und mit dem letzten Aufgebot seiner Kraft zu ihm sagte: Bruder! Es geht zu Ende – wir scheiden!
Was fällt dir ein? Wie ist dir? rief Ludwig erschrocken und stützte den auf einen Stuhl zusammengesunkenen Freund, indem er heftig klingelte und dem eintretenden Philipp zurief: Herrn Windt! Eilig! Und den Arzt!
Laß das doch, Bruder, die können mir nicht helfen! sprach Leonardus. Ich fühle, daß ich sterben muß, nichts weiter – und mir ist, wie einem eben ist bei diesem so bedenklichen Wechsel. Bruder – ich habe keine Stunde mehr zu leben – die Besserung war nur ein trügender Schein. Nun – mein Haus ist bestellt – diese Papiere habe ich bereits in Amsterdam gerichtlich bezeugen lassen. Was ich besitze, – ist Alles dein – geknüpft an meine letzte Bitte, die du auch schriftlich aufgezeichnet findest, für den Fall, daß mir nicht vergönnt gewesen wäre, sie noch mündlich an dein Herz zu legen. In mir stirbt Leonardus Cornelius van der Valck aus Amsterdam – in dir lebt Leonardus Cornelius van der Valck aus Amsterdam fort – mindestens so lange noch, als meine gute Mutter am Leben bleibt – ihr darf, ihr soll der Sohn nicht sterben! Du schreibst ihr von Zeit zu Zeit, als wenn ich noch bei dir wäre, du empfängst und beantwortest in meinem Namen alle an mich eingehenden Briefe; ich habe das so testamentarisch [305]geordnet, die Gleichheit unserer Handschrift erleichtert es. Stirbst du ohne Erben, so mögen dann meine nächsten Verwandten ihr Erbtheil erheben, so viel dessen eben noch vorhanden sein wird. Außerdem aber bleibt Alles deinen Erben ohne jede beschränkende Klausel. – Ich sterbe für Angés – siehst du sie, so sage ihr meinen letzten Segensgruß! Wäre sie je in Noth, und diese käme zu deiner Kenntniß – dann brauche ich wohl nicht erst eine Bitte auszusprechen – dein eigenes Herz – wird – o Gott – ich kann nicht mehr – meine Brust – zerspringt! –
Freund! Bruder! Leonardus! rief Ludwig mit Heftigkeit, und umschlang den Leidenden, der ihm das versiegelte Schriftenpaket in die Hand drückte. Sprich, was kann ich für dich thun?
Mir nicht die Scheidestunde durch Jammer erschweren, seufzte der sterbende Leonardus. Habe Dank für deine Liebe, mit der dein jüngeres Herz sich an das meine anschloß! Es war ein schöner, nur zu kurzer Lebenstraum – wir hätten wohl länger mit einander gehen sollen – das Schicksal – o Gott!
Stirb nicht, Leonardus! Stirb nicht! rief Ludwig außer sich. Ich sah noch Niemanden sterben und soll jetzt meinen liebsten Freund – meinen Bruder dahin gehen sehen?
Windt, der Arzt und Philipp stürzten in das Zimmer – Hülfe ward versucht, der Arzt fühlte den Puls, dieser stockte schon. Durch einen Wink bedeutete er der Umgebung, daß hier seine Hülfe zu spät sei. Schon umflorte der Tod die brechenden Augen – Leonardus tastete nach der Hand des Freundes und lallte mit gedämpfter Stimme: Ludwig – dunkel – Gute Nacht!
Es trat Blut auf die Lippen des Sterbenden.
O Angés!
Dies war sein letzter Hauch.
Nie zuvor trat ein größerer Schmerz in Ludwig’s Leben. Er stand stumm, vernichtet, fand nicht einmal Thränen. Der Arzt ging hinweg, Philipp weinte.
Windt’s klarer Verstand zeigte sich auch bei diesem Falle thatkräftig, entschieden handelnd.
Auf dem Schriftenpaket stand unter der Aufschrift: an Graf Ludwig, die Weisung: »Sogleich nach meinem Tode zu eröffnen!« [306]Ludwig wollte dies nicht thun, sein Gefühl verbot es ihm, ein edles und rein menschliches Gefühl.
Ich ehre Ihren Schmerz, Herr Graf, sprach Windt, ich ehre ihn nicht nur, ich fühle ihn mit, ich theile ihn, aber der Wille eines Todten ist Gesetz. Ich habe alle Ursache, zu glauben, daß der verklärte Freund Wichtiges für den Fall seines Ablebens verfügte, erlauben Sie mir zu öffnen.
Gleich oben lag ein Blatt des Inhalts: »Da ich für meine Mutter fortleben will, so muß eine Täuschung Statt finden, die Niemand schadet. Ein Paß liegt bei, der auf einen andern Namen lautet, dessen ich mich auf Reisen bisweilen bediente. Es kann nicht in Zeitungen oder in ein Todtenregister geschrieben werden, daß Leonardus Cornelius van der Valck aus Amsterdam hier in Stadthagen gestorben und begraben worden sei, denn ein solches Blatt, eine solche Kunde würde leicht nach Amsterdam gelangen. Ich wünsche in der Stille, in früher Morgenstunde begraben zu werden, ohne alles Gepränge, wünsche weder Kreuz noch Stein mit einer Grabschrift, und mache meinem Herrn Erben die Befolgung dieses meines letzten Wunsches zur ersten Pflicht.«
Sie sehen wie sehr ich Recht hatte, Herr Graf, sprach Windt, und nun kommen Sie auf ein anderes Zimmer, fassen Sie sich, und beweinen Sie den Freund; wahrlich es schlug in ihm ein edles, reines Herz, mir aber überlassen Sie mit Philipp die Beschickung alles Nöthigen.
Ludwig folgte Windts Weisung fast willenlos, es hing über ihm, wie der Trauermantel eines Katafalks, wie ein dunkler, dumpfer Traum, er wankte hinüber auf des Freundes Zimmer, fand überall in Kleidern und Geräthen dessen irdische Spur, und mußte sich nun sagen, daß Leonardus nie wieder lebend in dieses Zimmer eintreten werde.
Windt öffnete von Zeit zu Zeit leise die Thüre, um nach Ludwig zu sehen, doch überließ er ihn der Wohlthat stiller Thränen, hütete sich wohl, durch herkömmliche Redensarten jene heilige Stimmung zu stören, die mit dem Dahingeschiedenen noch liebend lautlose Worte redet und im Stillen der aufwärtsschwebenden befreiten Psyche das schmerzliche Geleite gibt. Es machte kein großes Aufsehen, daß in einem Gasthause zu Stadthagen ein fremder Badegast gestorben war. [307]Da Leonardus nur den Freunden gelebt und mit Ludwig jede Gesellschaft gemieden hatte, so war sein wahrer Name nie genannt worden. Der fremde Paß genügte, und das in aller Rechtsform aufgesetzte und gehörig besiegelte Testament in holländischer Sprache, welches den Grafen und Baronet Ludwig Carl Varel de Versay als Universalerben einsetzte, machte jede Weitläufigkeit einer Versiegelung überflüssig.
In früher, nebeltrüber Morgenstunde eines Herbsttages wurde Leonardus eingesenkt. Windt hatte zwei Gräber nebeneinander gekauft. Philipp fragte: Für wen das zweite Grab? – Windt gab keine Antwort.
In stiller Stunde saßen dann Ludwig und der Haushofmeister beim Ordnen von des Freundes nachgelassenen Papieren.
Leonardus war weit reicher gewesen, als Jene geglaubt hatten. Es fanden sich mehrere Tausende in vollgültigen holländischen Staatsobligationen und in Noten der englischen Bank, mehrere Tausende in noch zu erhebenden Wechseln und Anweisungen auf auswärtige Handlungshäuser, alle in der besten Form, es fand sich eine Obligation im Werthe von fünftausend holländischen Gulden mit der Bestimmung, daß sie Windt’s Frau als Witthum verbleiben sollten, wenn ihr Mann vor ihr stürbe. Philipp empfing als Andenken ein Kapital von eintausend Gulden. Es fand sich ferner eine kleine Schachtel voll großer brasilianischer Diamanten, die Leonardus die Freunde nie hatte sehen lassen, deren Werth geradezu unschätzbar war. Von dem Gelde, welches er in Amsterdam stehen hatte, lagen Uebersichten vor, es ergab dasselbe eine Jahresrente von fünftausend Gulden; diese hatte Leonardus dadurch erworben, daß er sein einst zu erhoffendes Muttererbe an seine Verwandten mit Zustimmung seiner Mutter käuflich abgetreten hatte – um nach ihrem Tode, falls er denselben erlebte, aller Geschäfte dort überhoben zu sein. Von dem Tode der Frau van der Valck an aber vermehrte sich dieser Rentenbezug um abermals fünftausend Gulden.
Ludwig überließ es Windt, das vom Freund überkommene Vermögen geeignet anzulegen und zu sichern, und dieser war so gerührt von Leonardus Großmuth, daß er ausrief: Sie müssen Herr von Doorwerth und der ganzen Herrlichkeit werden! Aus dem Kaufe des Erbherrn wird in Ewigkeit nichts! Die fünfzigtausend Gulden, darüber [308]wir Quittung in Händen haben, gehören jetzt Ihnen. Und wenn Sie die Herrlichkeit besitzen, dann will ich auch dort bleiben, wenn Sie mich nicht wegjagen, außerdem aber auf keinen Fall! Sobald meine Kur hier beendet ist, reise ich nach Hamburg zur Excellenz, ich bringe sie ganz sicher herum, denn Sie sind ja doch der Liebling, und Ihnen gönnt sie das schöne und reichlich zinsende Besitzthum vor Allen, darauf wollt’ ich wetten, zumal Sie ja derjenige sind, welcher Doorwerth baar bezahlen kann!
Mein lieber Windt, entgegnete Ludwig: Allerdings ist die Herrlichkeit Doorwerth eine schöne Besitzung, allein sie ist wirklich nicht das Ziel meiner Wünsche. Entweder muß der Besitzer eines so ausgedehnten Gutes selbst Landwirth sein und dieses Fach verstehen, oder er muß Beamte haben, wie Sie Einer sind. Solche gibt es aber nur wenige. Sie haben am letzten dortigen Rentmeister ein Beispiel erlebt; was hat ein Güterbesitzer davon, wenn sein Beamter das, was erspart wird, sich als Gratification in die Tasche leitet, wie jener Bauernschinder gethan? Das gemahnt mich gerade so, als wenn in einem Staats-Haushalt gewisse Leute das Wort Ersparnisse stets auf der Zunge haben, und wenn sie genug Haare geviertheilt und genug Kümmelkörner gespalten haben, und Alles über ihre Klugheit seufzt und flucht, sich in ihrer eingebildeten Unfehlbarkeit Wunder was dünken, sich selbst beloben, da sie sonst Niemand lobt, und schließlich einen hübschen Theil der Ersparnisse klug und weise in ihre eigenen Taschen stecken. Nein, lieber Windt, ich möchte kein Wasserschloß besitzen – ich vertrage die Luft dieser morastigen Flächen nicht. Ich werde nun den Wunsch der Frau Großmutter erfüllen, ich werde reisen, schlicht und einfach, nur von Philipp begleitet. Ich werde Angés suchen! Ich will, wenn ich sie finde, mit ihr die Diamanten theilen, sie theilt gewiß mit mir die Thränen um unsern verklärten Freund. Wir aber, Windt, wir beide wollen nicht außer Verbindung treten, Sie geben mir wohl zuweilen Nachricht von Allem, was in der gräflichen Familie vorgeht, besonders Nachricht von der Gemahlin des Erbherrn, und vergessen Sie nicht, mein braver, edler, wackrer Windt, daß Sie an mir in allen Verhältnissen des Lebens einen wahren und treuen Freund haben.
Ludwig leistete dem Rathe der Großmutter Folge; von seinem treuen Diener begleitet, mit guten Pässen versehen und mit allen Mitteln ausgestattet, war es ihm leicht, sich allenthalben Eingang zu verschaffen. Seine edle gewinnende Persönlichkeit machte ihn bald zum Gegenstand der Aufmerksamkeit. Er verhüllte sich nicht, so wenig als er es liebte, sich zu offenbaren und sein Vertrauen an den Ersten den Besten hinzugeben; er suchte keine neuen Freunde, ach, an dem lieben entschlafenen Freund hing noch mit aller trauernden Wehmuth seine ganze Seele! Häufig, ja fast immer bediente er sich des ganz auf ihn lautenden Passes des Verstorbenen; der Unterschied der Jahre kam dabei nicht in Betracht, es war ja gleichviel, wie alt der junge Graf war, und sein Ernst, wie die Spuren eines stillen Leidens, ließen ihn ohnehin älter erscheinen, als er wirklich war. Graf Ludwig reiste zu seiner Belehrung; er hatte überall ein offenes Auge für die Reize der Natur, die Beschaffenheit und Ergiebigkeit des Bodens, für den Stand der Kultur in den verschiedenen deutschen Ländern, für die Sammlungen der Künste und Wissenschaften, und fühlte sich angezogen vom Umgang ausgezeichneter Menschen. Er selbst galt entweder für einen Franzosen, da er in der Sprache dieses Landes völlig fehlerfrei sich ausdrückte, oder für einen Holländer, da durch den längeren Aufenthalt in den Niederlanden allerdings manche Eigenthümlichkeit dieser Nation an ihm haften geblieben war, und um so lieber gab er sich für einen solchen aus, wenn er als Leonardus Cornelius van der Valck reiste. Auch in seiner Weise, sich schriftlich auszudrücken, so schön er auch Deutsch zu schreiben verstand, floß bisweilen eine niederländische Redeform mit ein.
Manchen Scherz hatten Herr und Diener auf ihren mannichfaltigen Reisen dadurch, daß sich die Leute weit mehr darüber die Köpfe zerbrachen, wer und woher der Diener eigentlich sei, als woher der [310]Herr stamme. Wenn Philipp zu seiner Erholung Abends in bürgerliche Bier- und Kegel-Gesellschaften gegangen war, hatte er stets am andern Morgen seinem Herren lachend zu erzählen, was er Alles gefragt worden sei, für wen man ihn Alles gehalten habe. Auch konnte er dem Grafen nicht lebhaft genug schildern, wie groß die Neugierde des biedern Sachsenvolkes sei, absonderlich der verschiedenen kundigen Thebaner und Athener am Ilm- und Saalestrande. Mehr als hundertmal war er schon gefragt worden, wer sein Herr eigentlich sei, und wenn er nun zur Antwort gab: sein Herr sei ein Kaufmann, dann lautete insgemein das Urtheil der guten Leute dahin, daß sie ihm das gleich angesehen hätten. Erzählte hingegen Philipp, sein Herr sei ein Graf, dann hieß es ebenso bestimmt, man sähe ihm den Grafen auf hundert Schritte an.
Diese oft sehr aufdringliche und lästig werdende Neugier der guten Mitteldeutschen war es, die den Grafen bewog, mehr und mehr eine ernste Zurückhaltung zu beobachten und mehr aus den Mittheilungen Anderer, die so häufig und selbst unverlangt gegeben wurden, zu lernen und Gewinn zu ziehen, als sich selbst mitzutheilen, und mit diplomatischer Ruhe und einem besonnenen Schweigen durch alle Lebenskreise zu schreiten.
So erschien er als ein feiner, gebildeter Weltmann an manchem Hofe, überall räthselhaft schnell eingeführt durch wenige Zeilen, die er vorwies; man zog ihn zu den fürstlichen Tafeln, erzeigte ihm Aufmerksamkeiten, unterhielt sich gerne mit ihm in der beliebten Modesprache der Höfe; aber da er nirgend lange verweilte, so ging seine Erscheinung gleich andern flüchtig vorüber und wurde schnell wieder vergessen. Er aber gewann für sein ganzes späteres Leben den Vortheil, manchen großen und berühmten Mann persönlich kennen gelernt zu haben, auch Einblicke gethan zu haben in manches Verhältniß, das glänzende Außenseiten zeigte und innerlich morsch und zerrüttet war. Häufig trat dem Reisenden offen und unverhüllt die Selbstsucht der Menschen entgegen, der gelehrte Dünkel, die Schriftsteller-Eitelkeit, der Künstler-Stolz, stets mit einem guten Theil Anmaßung und Rechthaberei gepaart; die Klatsch- und Verkleinerungssucht in ihrer ganzen Widerwärtigkeit, und Trugsucht und Heuchelei unter allen möglichen Larven.
[311]Nirgends ließ sich der Graf in ein ihn bindendes Verhältniß ein, wie sehr man auch bemüht war, ihn da und dort zu fesseln, denn er schien wohl des Besitzens werth zu sein. Jugend, Schönheit, Reichthum, Adel, Verstand und Bildung, Alles war in ihm vereinigt, und für ein edles Gemüth, für ein sanftes Herz sprach der Zug sinnigen Ernstes, die leise Melancholie in seinen Mienen, sprachen auch die Züge eines ganz besonders in seinem Charakter hervortretenden Wohlthätigkeitssinnes, der aber sorgsam sich und seine Liebesthaten in Dunkel hüllte. Wenn es je zu Tage kam, wer der gewesen, der manche Thränen der Noth und verschämter Armuth getrocknet, und die Beglückten ihm danken wollten, dann war er gewöhnlich schon abgereist.
Mit der Reichsgräfin blieb er im ununterbrochenen Verkehr, sie war entzückt von seinen Briefen und theilte sie gerne ihrer geliebten, stets leidenden Ottoline mit, welche jetzt wieder das Schloß zu Kniphausen bewohnte, und oft die Besuche der Großmutter ihres immer noch gefangen gehaltenen Gemahls vom nachbarlichen Schlosse Varel empfing.
»In Jena, schrieb Ludwig unter Anderm: »habe ich an den Doctoren Starke und Loder vortreffliche Aerzte gefunden. Starke hat mir guten Trost gegeben, und mir gesagt, ich solle meiner Gesundheit halber ganz außer Sorgen sein, ich solle wo möglich guten starken Wein trinken, und kein Lichtenhainer Bier, überhaupt kein Bier, das nur dickes Blut verursache. Man trinkt hier zu Lande fabelhaft viel Bier, besonders thun das die Studenten, die dessen bis zum Uebermaß in sich hineingießen und eine Bravheit darin erblicken, sich durch Unmäßigkeit die Gesundheit zu untergraben und das Leben zu kürzen. Ich habe hier auch den Hofrath und Professor Schiller kennen gelernt, den berühmten Dichter, dessen erste Stücke Ihnen, geliebteste Großmutter, damals äußerst mißfallen haben. Er ist ein Mann von großen Gaben, aber kein Mann der Gesellschaft; er hält sich sehr zurückgezogen, und ist in seiner Kunst mit Titanenschritten weiter gegangen; von dem anfänglich Rohen und Gewaltthätigen in die Region des Maßes und der Schönheit. Sein Don Carlos befriedigt alle Ansprüche. Leider ist der gefeierte Dichter brustkrank, und es war eine wahrhaft hochherzige That des Herzogs von Holstein-Augustenburg [312]und Ihres wackeren Freundes, des Grafen Ernst Heinrich von Schimmelmann, Schiller auf drei Jahre ein Einkommen von eintausend Thalern zu sichern, damit er der Wiederherstellung seiner Gesundheit leben könne. Sie glauben nicht, geliebteste Großmutter, wie armselig in diesen Ländern die Gelehrten bezahlt werden; während manche Professuren und andere Stellen häufig als Sinecuren betrachtet werden, sind es in Wahrheit permanente Hungercuren und die Leute haben, wie man hier zu Lande zu sagen pflegt, zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig.«
»Gegenwärtig hat Schiller an einem dramatischen Gedicht: Wallenstein, zu arbeiten begonnen, welches jedenfalls Epoche machen wird.«
»Ich war auch in Weimar, und bin dort mit großer Güte und Zuvorkommenheit aufgenommen worden. Der ganze Hof hat sich nach Ihrem Befinden auf das Theilnehmendste erkundigt. Ich lernte immer mehr und mehr bewundern, welche hohe Achtung und welches große, ruhmvolle Ansehen Sie, theuerste Großmutter, in ganz Deutschland genießen. Sie hatten vollkommen Recht, als Sie mir sagten, daß man in diesen sächsischen Staaten die Wissenschaften höher schätze, als irgend wo anders. Bei äußerlich ziemlich beschränkten Mitteln geschieht für dieselben das Mögliche; man will viele Gelehrte, viele gute Köpfe um sich sehen, daher entspringt dann der vorhin erwähnte Mangel an Mitteln, um dieselben Alle nach Verdienst zu belohnen. Dieses kleine Weimar, als Stadt ziemlich unansehnlich, ist eine Centralsonne deutschen Geisteslebens, die weithin über die Welt ihre lichten Strahlen wirft. Ich habe dort mehr berühmte und bedeutende Männer kennen gelernt, als, etwa mit Ausnahme der Staatsmänner und großen Politiker Englands und Frankreichs – sonst in meinem ganzen früheren Leben. Vom Hofe selbst schreibe ich Ihnen nicht, Sie kennen denselben besser als ich, auch bin ich, Gott sei Dank, nicht angesteckt von der klein- und spießbürgerlichen Klatschsucht, die sich darin gefällt, die Blätter ihrer Skandalchroniken mit Schattenseiten aus dem Leben berühmter Männer anzufüllen, und halte solches Thun geradezu für eine Erbärmlichkeit; nur das Eine kann ich nicht unterdrücken zu sagen, daß der Herzog Carl August ein Mann von hoher Genialität, seine Mutter eine Fürstin von der anerkennenswerthesten Hoheit der [313]Gesinnung, und seine Gemahlin Luise Auguste ein Engel an Liebenswürdigkeit und Herzensgüte ist, ganz so, wie Sie, geliebte Großmutter, mir diese Personen schon früher geschildert haben.«
»Von Weimar begab ich mich nach Erfurt, wo ich dem geistvollen und so sehr menschenfreundlichen Statthalter, Coadjutor von Dalberg, aufwartete; dieser ist ein Prälat nach dem Herzen Gottes, ein Mann, der für das Wohl seiner Untergebenen auf das Eifrigste bemüht ist, und der mir die größte Hochachtung gegen sein ganzes Wesen, Wissen und Wirken abnöthigte. Am Hofe zu Gotha fand ich in Herzog Ernst II. den trefflichen Sohn einer ausgezeichneten Mutter, jener herrlichen Herzogin Luise Dorothea, geborene Prinzessin zu Sachsen-Meiningen, welche, gleich Ihnen, geliebteste Großmutter, eine Freundin König Friedrichs des Großen und Voltaires war, und, wenn ich nicht irre, auch mit Ihnen im Briefwechsel stand. Der Herzog ist ein sehr gelehrter Herr, so wie ein Freund und Beschützer der Gelehrten, er erweist den französischen Emigranten viele Freundlichkeiten. Auf seinen besonderen Befehl mußte mir das herzogliche Münzkabinet gezeigt werden, und ich wünschte lebhaft meine beste Großmutter zu mir, um diesen für Sie gewiß sehr anziehenden Genuß zu theilen. Die Münzbibliothek allein umfaßt gegen 6000 Bände; mit besonderer Anerkennung zeigte man mir in derselben auch Ihren dorthin verehrten Catalog Ihres eigenen Cabinets. Ich sah dort auch das theuerste Buch der Welt, die berühmte Handschrift des Jacob von Strada über die orientalischen Münzen in 31 Folio-Bänden, mit 9000 Abbildungen, deren jede als sauberste Handzeichnung einen Dukaten in Gold gekostet hat.«
»Ich war der Letzte, der vielleicht auf lange Zeit dieses bewunderungswürdige Münzkabinet sah, denn so eben hatte der Herzog Befehl gegeben, dasselbe einzupacken, da sich die Herren Franzosen nähern, und so sehr der Herzog ein Verehrer der Sprache, Literatur und Geistesbildung dieser Nation ist, so wenig scheint er von ihrer Freiheit, Gleichheit und Brüderschaft zu halten, und hat nicht Lust, diese auf seinen Münzschatz erstreckt zu sehen. Auch die herzoglichen Kunstsammlungen wie die große Bibliothek sind sehr bedeutend. Mit einem Wort, Herzog Ernst II., der mit seiner Gemahlin, Maria Charlotte, auch einer Prinzessin zu Sachsen-Meiningen, im innigsten [314]Einverständniß lebt, ist für Gotha ganz das, was Carl August für Weimar, ein Mäcen der Wissenschaften und Künste und der Erwecker einer neuen Literatur-Aera.«
»Von Gotha reiste ich über den Thüringer Wald nach Meiningen, dessen Herzog, Georg, den beiden genannten Herzögen innig befreundet ist. Alle diese Fürsten beseelt das gleiche Streben, eine bessere Zeit, als die vergangene, für ihre Länder heraufzuführen. Ich fand in Meiningen einen gebildeten Hofkreis, fern vom allzusteifen Etikettenzwang, den der Herzog, ein freisinniger Fürst, abgeschafft hat.«
»Noch immer ist man in Meiningen sehr aufgebracht über eine elende Klatscherei, die der Ihnen sicher bekannte Tourist, Herr von Heß aus Hamburg, in seinem Buche: Durchflüge durch Deutschland, die Niederlande und Frankreich, vor einigen Jahren aufgetischt hat. Mit unendlicher Breite ergoß sich die verletzte Eitelkeit dieses Herrn in völlig lügenhaftem Geträtsch und in Ausfällen gegen den Herzog, den er als einen kleinen Tyrannen schilderte. Vier Seiten seines Geschreibsels verwendete Herr von Heß blos auf die Schilderung des Gesichtes eines Thorschreibers.«
»Von Meiningen fuhr ich nach Hildburghausen, wo vor einer Reihe von Jahren ein großer Brand gewüthet hat, und wo ich gegenwärtig noch verweile. Der Herzog Friedrich steht seinen Vettern an Geist nach, aber er ist äußerst gutmüthig, sehr gesprächig und außerordentlich gern mittheilsam über Alles, was ihn irgend Neues berührt oder begegnet, daher ich ihm unter keiner Bedingung ein Geheimniß anvertrauen möchte; dagegen ist die Herzogin, seine Gemahlin, eine außerordentlich liebliche Erscheinung; sie singt gern und entzückend schön. Denken Sie, sie singt in jeder Osterwoche in Grau’s Tod Jesu die Hauptstimme vor einem großen Kreise ihrer Verehrer. Das fürstliche Haus hat manches Mißgeschick zu ertragen; durch frühere üble Wirthschaft ist das Land in große Verlegenheiten gebracht worden, die den Hof mit treffen, zwei Töchter und ein Sohn starben bald nach der Geburt, doch versprechen die leben gebliebenen Prinzen und Prinzessinnen eine gute Entwicklung. Es sind schöne Kinder, drei Prinzen und drei Prinzessinnen. Die Vergnügungen des Hofes sind die gewöhnlichen, [315]und die gute Jahreszeit wird abwechselnd auf nahen Jagd- und Lustschlössern, welche sich zu Heldburg, Hellingen, Eishausen und Seidingstadt befinden, zugebracht. Die Heldburg ist ein stattlicher spätmittelalterlicher Bau, auf hohem Felsenkegel ragend und weit das Land überschauend, majestätisch wie ein Königsschloß; Hellingen erinnert nach Lage und Anlage an Doorwerth, nur ist es weniger groß und es fehlen ihm die Parke. Dort wohnte unsere Verwandte, die Gemahlin des Prinzen Ludwig Friedrich zu Sachsen-Hildburghausen, Christine Luise, geborene Prinzessin von Holstein-Plön. Seidingstadt ist das Trianon des hiesigen Hofes; Schloß Eishausen liegt etwas abseit der Straße, die nach Coburg führt, ernst und einsam neben einem Dorfe, still und wie geschaffen für die Einsamkeit der Weltüberwinder.«
»Leider ist der idyllische Frieden dieses Hofes und des Ländchens in der Gegenwart hart bedroht durch die Kriegswirren, die sich bedenklich nahen. Zwischen hier und dem Mainstrom hausen bereits die Franzosen wie Kanibalen und ärger als die so übel verschrieenen Kroaten im dreißigjährigen Kriege. Ich werde mit Philipp in Begleitung eines herzoglichen Rathes und begleitet von dem Kammerdiener Grimm, der mit dem Günstling der Kaiserin Maria Theresia, Prinz Joseph Hollandinus Herzog zu Sachsen-Hildburghausen, schon einige Feldzüge des Prinzen mitmachte, einen Ritt in das bedrohte Gebiet machen, um zu sehen, ob ich vielleicht dazu beitragen kann, einigen Schaden von dem Lande abzuwenden, da ich ein wenig verstehe, wie man mit den Emigranten und Republikanern verhandeln muß, und hier sich Alles schrecklich vor beiden fürchtet, auch der Herzog selbst nicht der Mann ist, mit persönlichem Muth einer Gefahr unter die Augen zu treten. Die Mehrzahl seiner Räthe wird ebenfalls schwerlich große Heldenthaten verrichten.«
Die Reiter nahmen ihren Weg nach Heldburg und von da nach Hellingen. Schon in Heldburg hörten sie von Bürgern und Landleuten, die neugierig auf die Höhe geeilt waren, welche zwischen beiden Ortschaften sich hinzieht, daß in Hellingen Alles drunter und drüber hergehe, daß es brenne, und Mord und Todschlag von den Franzosen unter dem General Wartensleben, die von Königsberg in Franken herüber gekommen, verübt werde. Rasch galoppirten die Reiter den [316]sandigen Weg zur Höhe hinan, und der Graf überblickte durch ein Fernglas die weiten fränkischen, sonst so friedlichen Ebenen, die im milden Glanze eines Sommertages sich unter ihm ausbreiteten, und jetzt der Schauplatz eines Krieges werden sollten, in denen sich die Söhne eines und desselben Landes, im blutigen Streite zwischen Königthum und Republik, zerfleischen wollten. Große Heereszüge schwenkten durch die sanftgehügelten Ebenen, dort blitzten Flinten und Bajonette, dort Helme und Cürasse im Sonnenglanze; dort zogen in endloser Reihe Rüst- und Pulverwagen und Geschütze heran, dort schlug Dampf auf, in welchem helle züngelnde Flammen leckten; von den Thürmen der zahllosen katholischen und protestantischen Kirchen in diesem dichtbevölkerten fruchtbaren Lande tönten die Sturmglocken, vom nahen Marktflecken Hellingen scholl wüstes Geschrei und Gebrüll des Viehes verworren zur Höhe, wie bei einem Brande, obschon ein solcher nicht ausgebrochen war. Es war ein wimmelndes Gedränge in dem Ort und außer dem Ort, es war die Furie des Krieges in ihrer ganzen Scheußlichkeit, die hier bereits ihr verheerendes Wüthen begonnen hatte.
Der herzogliche Beamte, Graf Ludwig’s Begleiter, ein wackerer und sonst unerschrockener Mann, erbebte doch beim Anblick dieser Gräuel. – Was meinen Sie, Herr Graf? richtete er mit bedenklicher Miene an Ludwig die Frage: sollen wir uns in diese Gefahr hinein stürzen?
Haben Sie Jourdans Schutzbrief? fragte Ludwig, und als der Beamte bejahte, sprach er: Geben Sie ihn mir! Dann zu dem Diener sich wendend, fragte er: Wie steht’s, willst Du mit, Philipp?
Hm! brummte Philipp: Ich weiß nicht, warum Sie mich erst fragen, gnädiger Herr!
Und Sie, Herr Grimm? –
Das ist mir nur ein Spaß! antwortete dieser. Bin schon bei ganz anderen Affairen gewesen, habe zwar nicht immer die Victoria beim Schopf erwischt, war aber nicht mein durchlauchtigster Herr kaiserlich königlicher Reichsgeneral-Feldmarschall schuld daran, sondern die Reißaus-Armee, die er zu befehligen hatte, seine »sechzigtausend Läufer«, wie der alte Fritz sagte.
[317]Wohlan denn, hinunter! rief Ludwig, und trieb sein Pferd zu raschem Schritt, die Diener folgten und der Beamte, welcher dem Grafen einen vom General Jourdan dem herzoglichen Hofe eigens ertheilten Schutzbrief für das Land zugestellt hatte, folgte nicht ohne Herzklopfen nach.
Gräuelvoll war der Anblick in Hellingen, darin die Schaaren der den Ort durchziehenden Colonnen sich verbreiteten. Bereits war alles Getreide, das noch auf dem Halm stand, niedergetreten oder niedergeritten. Die eingeernteten Garben wurden aus den Scheunen gerissen, alles Vieh der Einwohner aus den Ställen in die Kirche getrieben, die zum Schlachthaus diente. Jeder Einwohner, der nur die mindeste Gegenwehr versuchte, wurde mit Kolben gestoßen, geschlagen, mit Füßen getreten, mit Bajonetten bedroht, oder gar mit scharfer Klinge gehauen. Dort sendete man einem fliehenden Bauer Musketenkugeln nach, dort versuchte man einen Andern an den Beinen aufzuhängen, dort verübte man den schändlichsten Muthwillen gegen Mütter und selbst Greisinnen, dort pfiff man gellend auf den Pfeifen, die aus der Orgel in der Kirche gerissen waren. In den Häusern wurde Alles geraubt, zerstört, verwüstet, aus den Fenstern schüttelte man die Federn aus den aufgehauenen Betten, aus den Kellern schleppte der rasende Feind die Fässer voll Frankenweines und ließ, was er nicht trank, auf die Straßen laufen. Ueber alle dem Lärm, dem Wehgeheul und den Jammerrufen hörten Wenige den von Königsberg herübertönenden Schall einer heftigen Kanonade. Mit Entsetzen sahen Graf Ludwig und seine Begleiter das unermeßliche Elend nur in diesem einen Dorfe, und doch ging es so in jedem, das die Heersäulen der Franzosen auf ihrem Zuge berührten.
Wo ist der General? Wo sind die Kommandirenden? schrie Ludwig herrisch einem Trupp Reiter zu, der ihm mitten im Orte aufstieß.
Im Pfarrerhaus! war die Antwort, und zugleich zeigten ihm die Soldaten, die ihn für einen Landsmann und Courier hielten, die Richtung nach der Wohnung des Pfarrers Link, die ein alter räucheriger, architectonisch mit Schnitzwerk und krummen, verschränkten Kreuzbogen gezierter Bau war, gegen welchen die erst vor zwei Jahren als schöner Neubau vollendete Kirche seltsam abstach.
[318]Dort ging es her wie auf einem Jahrmarkte. Aus der unten am Flur liegenden Küche schlug heller Feuerschein hervor, die Flur selbst lag ganz voll von Geflügel aller Art: Gänse, Enten, Tauben, Rebhühner, denen allen die Köpfe fehlten. Ein Koch war beschäftigt, zu sieden und zu braten, Soldaten rupften und weideten aus, den Hof, die Flur und das ganze Haus füllten lauter Offiziere an, welche Ludwig militärisch grüßte und die Frage an sie richtete, ob er den Chef dieser Heeresabtheilung nicht sprechen könne? Nach einer Weile trat der Reiterbrigadegeneral aus dem Hause, ein Mann von Mittelgröße und martialischem Aussehen; ihm auf dem Fuße folgte sein General-Adjutant, ein Mann von wahrhaft riesigem Bau, dabei von vollendeter Formschöne und nicht unfreundlichen Zügen; hinter diesen schritt noch ein zweiter Adjutant, und ein Kreis von vielleicht fünfzig bis sechzig Offizieren umdrängte nun die Ankömmlinge. Ludwig und der Beamte schwangen sich rasch von ihren Pferden. Mein Bürgergeneral! begann der Graf ganz ohne Verlegenheit seine Anrede: darf ich bitten, mir einiges Gehör zu gönnen, und mir vor Allem zu sagen, mit wem ich die Ehre habe, zu sprechen? Ich bin nebst diesem Herrn ein Abgeordneter des Herzogs von diesem Lande.
Ich bin General d’Hautpoule, Bürger! antwortete der Anführer. Hier mein General-Adjutant, Bürger Mortier, hier mein Aide de Camp, Bürger David. Womit können wir dienen?
Bürger Jean Baptist Jourdan, sprach Ludwig: der Oberbefehlshaber der Rheinarmee hat ausdrücklich durch eine schriftliche Zusicherung dieses Land gegen alle feindliche Begegnung gesichert. Hier steht, daß er die dem Gesammthause Sachsen zugestandene Neutralität auch gegen das Haus Sachsen-Hildburghausen so lange wolle beobachten lassen, als diese Neutralität vom Directorium der Republik nicht verworfen wird. Wenn ein Neutralitätsvertrag nicht vollständig zu Stande kommt, soll dem herzoglichen Hause die Nachricht officiell mitgetheilt werden, daß die Feindseligkeiten ihren Anfang nähmen. Dieses letztere ist zur Zeit nicht geschehen, und dennoch, wie feindselig hausen Deine Truppen, Bürger-General, in diesem friedlichen und neutralen Lande!
D’Hautpoule warf einen flüchtigen Blick auf das von Jourdan eigenhändig unterzeichnete Schutzpapier, schlug leicht mit der Hand [319]darauf und entgegnete, indem er es zurückgab: Was wissen wir vom Geschmier der Kriegskanzleien! Hier ist Krieg und keine Kanzlei!
Der Herr General erlauben gnädigst – nahm jetzt auch der herzogliche Beamte das Wort: Unsere Regierung hat Sorge getragen, und es ist auch vom Obergeneral an alle Divisionen der republikanischen Armee der Befehl ergangen, bekannt zu machen, wie mir selbst ohnlängst in einem Nachbarort französische Offiziere, die wir verpflegten, mitgetheilt haben, daß die Sächsische Neutralität beim ganzen Heere respectirt werden und jede Thätlichkeit gegen die Einwohner unterbleiben soll.
Nun denn! wandte sich d’Hautpoule lachend gegen Mortier, so wollen wir die Neutralität respectiren, so viel sich thun läßt. Gib sogleich Befehl, Bürger David, und allen Bürger Kapitäns sei es gesagt, es soll sich Keiner unterstehen, noch eine Feder oder einen Strohhalm Werths zu rauben oder auch nur anzufassen. Sacre Dieu! Keiner!
Eine Bewegung entstand, die Offiziere trafen Anstalt, den erhaltenen Befehl zu vollziehen, da kam der Schulmeister gelaufen, drängte sich an seinen Pfarrer, der neben den Beamten getreten war, und flüsterte: Um Gotteswillen Herr Pfarrer! Die Soldaten zerstören uns die ganze Orgel!
Sagen wir das laut! rief der Pfarrer, der eine sehr sonore Stimme hatte, trat zum General und sprach: Herr General! Ihre Soldaten zerstören unsere schöne neue Orgel! Ich bitte, retten Sie! Schonen Sie!
Sacre bleu! schrie der General: Wo? Wo? und schwang den Stock, den er in der Hand führte, denn er war bereits ein ergrauter Sechziger, und folgte mit raschen Schritten dem Schulmeister, der ihm voran in die neue Kirche eilte. Der alte Kriegsmann rannte wie rasend die Treppe hinauf und theilte auf die das werthvolle Orgelwerk freventlich zerstörenden Soldaten so viele und schwere Prügel aus, daß die Uebelthäter laut aufschrieen und schwuren, in ihrem Leben keine Orgel wieder anzurühren.
Mittlerweile hatte sich der Riese Mortier auf ein Pferd geworfen, David und andere Offiziere waren ihm gefolgt, und es verging keine Viertelstunde, so war Ruhe, Ordnung und Stille im Flecken; alle nachrückenden Truppen mußten sofort ohne Rast hindurchziehen, aus [320]der Kirche kam d’Hautpoule sehr erheitert zurück und sprach zu Ludwig und dem Beamten: Nichts wirkt schneller und heftiger, wie Prügel. Diese Sprache verstehen die Hallunken aller Völker, Prügel sind die wahre Weltsprache, und die Gelehrten werden sich vergebens die Köpfe zerbrechen, um eine bessere zu erfinden.
Bald kamen auch Mortier und die andern Offiziere in den Pfarrhof zurück; das Geschrei der Einwohner verhallte allmählig. Mortier, so riesenhaft seine Leibesgröße war, sah gar nicht aus wie ein Soldat; die Haut seines Gesichts und seiner Hände war zart und weiß. Er drückte dem Grafen, dem Beamten und dem Pfarrer oft die Hände und versicherte allen, er meine es gut, allein die Soldaten seien schwer im Zaum zu halten.
Man begab sich in die Stube des Pfarrers, in deren Mitte eine Bütte stand, welche mit Wein gefüllt war. D’Hautpoule war sehr artig gegen den Besuch aus Hildburghausen; er lud die Herren ein, an seinem Male Theil zu nehmen, fuhr mit bereitstehenden Biergläsern eigenhändig in die Bütte, füllte diese voll Wein, reichte sie seinen Gästen und dem Pfarrer dar und rief lustig und froh gelaunt. A votre santé et bonheur! Alle andere Offiziere, soviel die Stube faßte, drängten sich herzu, schöpften ebenfalls und tranken; man setzte sich auf hölzerne Stühle, der General saß auf einem dreibeinigen Schemel, Mortier und David hatten die Ofenbank besetzt. Der Koch brachte mächtige Bratenstücke herein, der Pfarrer schaffte Brod, weder Teller noch Messer und Gabeln waren vorhanden, man aß aus der Hand, nur der General schnitt sein Fleisch mit einem Schnappbastelmesser. Die Bütte Wein war bald geleert, eine zweite wurde aus dem Keller herauf geschafft, dann erfolgte ein rascher Aufbruch, ein kurzes Adieu.
Ein Wehe war dahin, wie geschrieben steht in der Offenbarung, »aber siehe, es kommen noch zwei Wehe.« Dem Volke d’Hautpoule’s folgte die Division des General Colaud nach, 15,000 Mann stark, und der General richtete sogleich seinen Weg nach dem Pfarrhaus. Dort kam ihm Ludwig entgegen, erbat Schutz für den Ort, für alle Orte dieses Landstrichs, auf Jourdans Schrift sich berufend. Mittlerweile war der Divisionsgeneral Lefebre ebenfalls im Orte angelangt und hatte sich nach dem Schlosse begeben, ihm folgte dessen Division Avantgarde, [321]25,000 Mann stark, da galt es! Alle Beredsamkeit mußte aufgeboten werden, um den Schutzbrief zur Geltung zu bringen; es gelang Ludwig, aber nur hier in dem einen Orte; was der Schreckenszug außerhalb Hellingen berührte, litt dennoch unendlich. Die Generale zeigten sich menschenfreundlich und zur Hülfe gern bereit; wo ihre gebietende Persönlichkeit einen Ort beschützte, war es gut, sie ließen wohl auch Schutzwachen zurück; aber wenn sie abgezogen waren, erpreßte die Letztere selbst von den armen Leuten Geld und Kleider. Ein Lieutenant nahm zwei im Waschzuber liegende schmutzige Hemden aus demselben, rang sie geschickt aus und schob sie in seinen Tornister.
Was bei diesen Durchzügen das Allerschlimmste war, die bedrängten Landbewohner wußten oft nicht einmal, wer Freund, wer Feind war: Feinde wie Freunde drückten, raubten, brandschatzten und hauseten ärger wie Teufel.
Es war Ludwig nicht möglich, mit seinen Begleitern an demselben Tage nach Hildburghausen zurückzukehren. Vom edelsten Eifer beseelt, Hülfe zu leisten so viel nur immer möglich war, blieb er bis zur späten Nachmittagsstunde in Hellingen, wo nach dem Abzug Lefebre’s der berühmte Divisionsgeneral Kleber einrückte, und wo sich Alles in gleicher Weise wiederholte: Fürsprache und Fürbitte und freundliche Gewähr, so weit sie nur immer erfolgen konnte. Um der vorzugsweise bedrohten Gegend, dem Amte Königsberg, das bei diesen Ueberzügen und Durchmärschen am meisten litt, vielleicht Hülfe zu bringen beschloß Ludwig, Kleber nach Königsberg zu begleiten, welcher Jourdan’s linken Flügel befehligte, und dieser nahm gern die Herren aus Hildburghausen zu Geleitsmännern mit; so wurde der Ritt dorthin über die Flecken Maroldsweissach und Burgproppach angetreten. Auf den Wegen und in den Dörfern sah es schauderhaft aus, keine Feder schildert die Gräuel dieser Verwüstung, die Klagen, welche die gemißhandelten und beraubten Landleute erhoben.
[322]Nahe bei Königsberg begegnete den Anrückenden ein von Hildburghausen aus dorthin beorderter Beamter, Hofadvocat Merk, dessen Bemühen es so eben gelungen war, einen Königsberger Bürger dem Tode, womit ein Commando Franzosen ihn bedrohte, durch seine Kenntniß der Sprache zu befreien. Er schilderte mit ergreifenden Worten alles Schreckliche, was er in Königsberg erlebt hatte. Als die Nachrichten dorthin kamen, daß die französischen Truppen erst bis Schweinfurt, und dann den Main herauf bis Haßfurt gerückt seien, wo sie brandschatzten und plünderten, zitterte das arme Städtchen bereits. Die ersten Truppen waren kaiserliche Husaren, diesen folgte ein Theil des Generalfeldzeugmeister von Wartensleben’schen Armeecorps, unter den Generalen Murray, Clairfait und Beaulieu, und überschwemmte die ganze Gegend; es war ein buntes Gemisch von allerlei Volk, Wallonen, Warasdiner, Kroaten, Ulanen, Tiroler Scharfschützen, die Corps von Bourbon, Carneville, von la Tour, Royal Saxe, Husaren von Rohan und von Versey und andere. Die Generale suchten gute Mannszucht zu halten, besonders General Gontreuil und Oberst von Brady, die im Schlößchen zu Königsberg einquartirt waren. Das kaiserliche Heer marschirte ab, die Franzosen drangen über den Main, kamen auch nach Königsberg, die Plünderungen und Mißhandlungen begannen. Alles wurde durchsucht, durchwühlt nach verborgenen oder vergrabenen Schätzen; mit dem Waizen der jüngsten Ernte wurden die Pferde gefüttert; die Gegend von Königsberg hat schönen Weinbau; man schlug die Zapfen aus den Fässern und ließ den Wein in die Keller laufen, das gemahlene Getreide wurde aus den aufgehauenen Säcken in die Höfe geschüttet, kurz, jeglicher Unfug getrieben. Die Generale Lefebre, Soult, Laval und Richepau legten sich in das erste Gasthaus, sie verlangten auf Silber zu speisen und waren wüthend darüber, daß der Wirth im kleinen Städtchen nicht Silber und Servietten genug besaß; am Schlimmsten erging es auf den Dörfern den Pfarrern, da waren Gelder, Uhren, Kleider, Wäsche, Stiefeln, Schinken, Würste die willkommenste Beute.
General Lefebre, und überhaupt die hohen Offizieren, zeigten sich gern zur Hülfe bereit, und als Ludwig vorsichtig und mit ruhigem Blick die schwierige Sachlage überschaute und einsah, wie gar wenig es fruchten könne, wenn wenige einzelne Vermittler sich in den Koloß [323]dieser Heereszüge warfen, so erbat er vom General Lefebre geradezu einen neuen Schutzbrief für das Land Hildburghausen, namentlich für die Residenz, und nächst diesem eine eigene Schutzwache von zehn Mann Unteroffizieren und Gefreiten, welche ihn begleiten, den Schutz der hohen Generalität wo es nöthig beglaubigen, und so lange auf Kosten des Hofes in Hildburghausen weilen und verpflegt werden sollten, bis die französischen Armeen völlig diese Gegend verlassen haben würden.
So eigenthümlich diese Zumuthung war, die Artigkeit, mit welcher Ludwig dieselbe vorbrachte, seine rührenden, menschlich schönen Beweggründe, die Mittheilung besonders, daß in demselben Lande, für welches jetzt Schutz begehrt wurde, in der Nachbarstadt Haldburg eine Anzahl gefangener französischer Offiziere, welche dorthin escortirt waren, vom Magistrate dieser Stadt gastlich verpflegt worden seien, worüber der Hildburghäuser Beamte deren in warmen Worten ausgedrückte schriftliche Dankesbescheinigung bei sich führte und vorzeigte, bewirkte zuletzt die Erfüllung der gestellten Bitte; es wurde versprochen, man wolle zur Erleichterung des Landes alles Mögliche thun, auch sollten keine Truppenabtheilungen weiter in das Land hineinstreifen und die Etappenstraßen nicht verlassen.
Am anderen Morgen brach das Heer zum Weitermarsch auf und Ludwig nahm mit seinen Begleitern den Rückweg über Heldburg und das coburgische Städtchen Rodach. Er sorgte dafür, daß die zehn Mann Bedeckung sich häufig Etwas zu Gute thaten und gewann sich so dieser Leute Zuneigung. Sie plauderten gern, wie alle Franzosen, und kürzten den Weg durch heitere Gespräche und muntere vaterländische Chansons.
Man war nur noch anderthalb Stunden von Hildburghausen auf dem eingeschlagenen Wege entfernt, war im Dorfe Eishausen angelangt, und hielt vor dem Gasthause dieses Dorfes, das dicht an der Hochstraße liegt, die vom deutschen Süden nach dem deutschen Norden führt. Der Beamte war müde und hatte sich in einem Sessel in der Wirthsstube niedergelassen; Philipp und der Kammerdiener Grimm hatten längst gute Kameradschaft mit einander gemacht, und saßen beim Bierkrug gemüthlich beisammen, während einige Knaben des Dorfes die Pferde der Herren, wie jene der Diener hielten. Es hatten sich bereits ziemlich viele Dorfjungen vor dem Hause gesammelt, [324]neugierig die fremden Soldaten zu sehen, die zum Theil vor dem Hause gruppirt, Bier oder auch Branntwein tranken. Ludwig ging in stillen Gedanken auf und ab, und diese Gedanken schweiften weit in die Ferne, nach einem theueren Grabe, nach Ottolinen, nach der Großmutter, nach Doorwerth, in sein Jugendheimathland, nach Paris, Amsterdam, dem Haag, nach London, nach Castle Chatsworth.
Wenn sie Zauberspiegel hätten, meine Lieben in der Ferne, sprach er zu sich selbst: und sähen mich hier umhergehen, in dieser Thalstille, in dieser eigenthümlichen Umgebung, an der Landstraße, dort drüben das große, schöne, aber öde Schloß, und von Soldaten der französischen Republik umgeben, sie würden sich wundern, würden fragen: Was soll das bedeuten? Wo ist er, und wie kommt er dorthin?
Und doch, wie ist es hier so still und friedlich! Mild weht die Luft, das Obst an den Bäumen reift schon dem Herbste entgegen, mit einem traulichen Gemurmel wälzt sich der rasche Bach durch die Wiesenflur. Welche Gegensätze, hier diese schöne ländliche Stille, und nur wenige Stunden jenseits der südlichen Hügelkette alle Greuel blutigen Krieges, Armeen, heute schon vielleicht die eine siegreich, die andere geschlagen, zersprengt, flüchtig und von der Hand der Vergeltung alle strenge Züchtigung empfangend für das Unglück, womit sie die Länder heimgesucht, die unter ihren ehernen Tritten bluteten und noch bluten!
Von der Ferne, aus der schönen Allee, die von Eishausen nach dem nahen Dorfe Adelhausen führt, schallten Posthornklänge, es schien eine Extrapost zu nahen, Ludwig war eben wieder vor dem Gasthof angelangt. Die Soldaten zechten lustig und wohlgemuth auf seine Rechnung und sangen im Chor ein französisches Liedchen:
[325]Welcher Leichtsinn lebt nicht in diesen Leuten! Gestern noch hörten sie den Donner feindlicher Kanonen und heute singen sie die leichtfertigsten Gassenhauer! sprach Ludwig.
Die mit vier Pferden bespannte Postkutsche nahte; der Postillon machte Miene, am Gasthause zu halten, in demselben Augenblick sah jedoch ein Herr aus dem Schlage, hörte und erblickte die Soldaten, und rief mit ängstlicher Stimme dem Postillon zu: Soldaten der Republik! Nicht halten! Vorbei! Rasch vorbei, auf Tod und Leben! – Ein Lakai auf dem Bock wiederholte diesen Ruf und trieb gleichfalls zur Eile.
Ludwig blickte, während der Postillon mit Unmuth an den Zügeln riß, um die Pferde wieder in die Mitte der Straße zu lenken, in den Wagen. Das schöne, jugendliche Gesicht dieses Herrn hatte er schon einmal gesehen, ganz gewiß, neben ihm saß eine verschleierte Dame, zwischen Beiden ein junges bildschönes Mädchen, und dieses Mädchen rief mit heller Stimme: »Oh mon Dieu! mon Dieu! Dieser Herr ist unser Freund vom Kastell Doorwerth.«
Maßloses Staunen erfaßte den Grafen, aber aus dem Soldatenhaufen heraus schrie jetzt ein bärtiger Sergeant: Morbleu! Sacre bleu! Un Bourbon! un Prince de Condé! und sein Ruf brachte schnell die ganze Mannschaft zusammen; allein der Postillon hieb wie toll auf die Pferde und jagte im gestreckten Galopp aus dem Dorfe, so wie die Höhe hinan, die dicht hinter Steinfeld in nordwestlicher Richtung sich lange empor zieht. Es war kein Zweifel, das war derselbe Prinz, den Ludwig in Doorwerth als Freund des Erbprinzen der Niederlande gesehen und gesprochen hatte, derselbe, der, wie Leonardus ihm vertraut, damals Angés und das Kind besucht hatte, während Ludwig mit dem Prinzen Ernst August von Großbritannien und Windt einen Recognitionsritt in die Herrlichkeit machte. Das Kind, das Ludwig jetzt im Vorüberfahren nur einen flüchtigen Augenblick gesehen, dessen süße und liebliche Stimme sein Ohr so eben berührt, es war Sophie gewesen, kein Zweifel, die kleine liebliche Sophie, Angé’s theuere Schutzbefohlene! – Noch hatte Graf Ludwig alle diese Vorstellungen kaum ausgedacht, so fuhr eine zweite Extrapostkutsche heran, neben dem Kutscher saß ein Kammermädchen; aus [326]dem Schlage wehte ein grüner Schleier, ein Blick auf die im Wagen sitzende Dame und Ludwig schrie Philipp zu: Mein Pferd! Mein Pferd!
Auch der zweite Postillon, da er seinen Kameraden so eilen sah, hieb stark auf die Pferde ein, und die Kutsche flog pfeilgeschwind an Ludwig vorüber. Dennoch konnte er sehen, wie eine darin sitzende Dame den Schleier zurück schlug und jauchzend rief er aus: Halt! Halt! Angés! O Angés! – Aber der Postillon, im Wahne, daß seinen Reisenden Gefahr drohe, denn die Dame war nicht allein, es saß noch ein ältlicher Mann im Wagen bei ihr, trieb unaufhaltsam die Pferde von dannen und jenem ersten Wagen nach.
Mein Pferd! Mein Pferd! rief Ludwig noch einmal, schwang sich eilend auf und ritt im sausenden Galopp hinterdrein, was den Postillon in dem Glauben bestärkte, daß er ernstlich verfolgt werde, er jagte deshalb die Pferde zur Höhe hinan, daß sie dem Stürzen nahe kamen. Dennoch erreichte der Graf im raschen Ansprengen den Wagen und donnerte dem Kutscher mit einem gespannten Doppelterzerol in der Hand ein Halt! zu. Das wirkte, der Postillon ließ die Pferde im Schritt gehen, Ludwig ritt an den Schlag, und rief hinein: Angés! Um des Himmels Willen, Angés! Bist du es wirklich?
Ja, ich bin es, o ich bin es, Graf Ludwig! O Gott! – Und du? – Wie treffen wir uns hier?
Wunderbar! Wunderbar! rief Ludwig. Und wohin eilst du, Angés? Woher? Wohin?
Weit – weit fort! mein lieber Freund! Es ist keine Sicherheit mehr in Deutschland! Wir sind verscheucht aus jedem Asyle. Die Prinzessin flieht, ich folge, und auch hier, Herr Jacques in Diensten Seiner königlichen Hoheit des Prinzen.
So sehe ich dich, nur um dich abermals zu verlieren, Angés? rief der Graf erschüttert aus.
Es ist so des Schicksals Wille! seufzte Angés und Thränen entströmten ihren Augen.
Warum entzogst du dich unserm treuen Leonardus? fragte er sie nach einer Weile, nicht ohne einigen Vorwurf im Tone.
[327]O mein lieber, lieber Freund! Es ging ja nicht anders; ich konnte nicht anders, ich mußte so handeln! Sprich Freund, – wo ist er? Siehst du ihn wieder? Erzählte er dir von mir? Gewiß, das that er, sonst könntest du mich nicht so fragen!
Ludwig schwieg betreten – er fand nicht alsbald die Antwort; erst nach einer Pause erwiderte er: Angés, ich muß dich ruhiger sprechen. Ich kann unmöglich so mich mittheilen. Wird die Herrschaft nicht Rast machen?
Nur so lange, als auf der nächsten Station umgespannt wird, war ihre Antwort.
Philipp kam jetzt nachgaloppirt, Angés erschrak, sie wähnte, es sei ein Verfolger. Ludwig beruhigte sie, gebot seinem Diener zurückzureiten und dem Beamten zu sagen, er möge mit der Schutzmannschaft nachkommen. Ludwig war nicht geneigt, den Wagen, in welchem Angés saß, aus den Augen zu verlieren, aber welche mächtige Gefühle durchwogten kämpfend seine Seele. Sie glaubte Leonardus noch lebend, sie verließ wahrscheinlich Deutschland, weshalb that sie das? O, sie liebt nicht heiß, nicht wahrhaft! sagte Ludwig sich selbst. Was kann sie zwingen, ihre Freiheit hinzuopfern? Wie in aller Welt vermag sie das über sich? Ach, und wie schön ist sie noch! Wie himmlisch, wie rührend schön!
Ich reise in Deutschland, erzählte Ludwig flüchtig im Nebenherreiten, – komme über jene Höhen da droben, war bei der Armee – o Angés, ich hatte mir vorgenommen, demnächst nach Süddeutschland zu gehen und unablässig nach dir zu suchen.
Angés erglühte, ihre Lage war peinlich, sie konnte nicht frei ihrem Gefühle Ausdruck verleihen, der alte Jacques, den die angestrengte rastlose Reise sehr angriff, machte ein grämliches Gesicht, sie ließ also Ludwig sprechen und antwortete fast nur durch Zeichen und Lächeln. –
Vor dem Gasthause in Eishausen wurde es immer voller und lauter, aus einer Thalenge vom nahen Thüringerwaldgebirge herunter hatte sich auf einsamen Feldwegen eine Zigeunerbande herabgeschlichen, die unter der Leitung einer hexenhaft aussehenden Altmutter stand, und sich bald genug durch das Dorf verbreitete, ihre bekannten Künste, Wahrsagen, Betteln und am Liebsten Stehlen zu üben. Das ganze Leben und Treiben der verschiedenen Volksgruppen vor dem Wirthshaus [328]gab ein reiches Bild; die braunen Zigeuner, dies heimathlose Volk, die munteren Franzosen, die deutschen Bauern und deren blühende zahlreiche Sprößlinge, endlich, damit auch der höhere Stand nicht unvertreten sei, der vornehm gekleidete herzogliche Rath, der stattliche und gravitätische Grimm, der seinen Zopf ganz genau so trug, wie sein hochseliger Gebieter Prinz Joseph Hollandinus den seinen getragen hatte – das Alles hätte einem Maler mannichfachen Stoff zu einem lebensvollen Bilde mit reicher Gruppirung geboten. Kammerdiener Grimm, der wohl schon häufiger mit Zigeunern verkehrt haben mochte, trat der Altmutter nahe und sagte: Nun, du schwarze Hexe! Willst du mir nicht prophezeien?
Gern, mein allerschönster Herr! entgegnete die Alte – lasse mich nur in deine große und gewiß sehr freigebige Hand blicken. – Alles drängte näher heran, und so konnten sich die Glieder der Bande unbeobachtet im Dorfe zerstreuen.
Ist das ein gewaltiger Mann! Ei! Stehst in hohen Gnaden, Herr! Bist auch im Felde gewesen, da steht’s, bist an manchem Galgen vorbei geritten, hast viel geliebt, alter Junge – bist dem Weibsvolke noch immer nicht gram! Ach, und diese Länge! Diese Länge! Mann, du hast eine Lebenslinie, die ja fast schnurgerade über die ganze Hand hinausläuft! Hab’ Acht! Die Natur hat deinen Lebensfaden doppelt genommen, du wirst noch viel erleben! Die, denen du jetzt dienst, denen wirst du später nicht mehr dienen! Sie werden dich und du wirst sie verlassen – wirst aber gute und geruhige Tage haben, wirst steinalt werden.
Dummheit! fuhr Grimm die Alte an. Wenn ich weiter nichts haben soll, dann würde ich am Ende auch so eine Schönheit wie du werden, so eine Vogelscheuche und Nachteule!
Ei, warum hast du dich denn nicht lieber jung henken lassen? fragte die Alte.
Komm her, prophezeie einmal einer Jungen, aber ich sage dir, Alte, was Gescheidtes! rief Grimm.
Mit raschem Griff erfaßte er eine frische junge Frau, die er zu kennen schien, und zog die Widerstrebende ohne Umstände in den Kreis der Zuschauer. Still gehalten, Frau Schmidtin! Nicht gemuckst, Hand auf! Wenn dein Mann da wäre, dein alter Böhmack, der würde sich freuen – wer weiß, ob dieses alte Teufelsgehänge da [329]nicht deines Mannes Großmutter ist? Ist auch so vom Walde herüber geweht, dein Schmidt, wie diese da, – kein Mensch weiß, wo er eigentlich her ist – doch will er ja aus dem Zigeunerlande Böhmen sein, aus Hirschberg. – Wir sind nicht aus Böhmen, Herr, nahm ein junges braunes Weib, das sich nahe bei der Alten hielt, das Wort: Wir stammen aus Aegypten!
Ach, wollt unser einem doch nicht solche Dummheiten aufbinden! rief Grimm. Ich will’s euch besser sagen, ihr Diebs- und Lumpengesindel, wo ihr her seid! Aus des Teufels Kotze seid ihr gehüpft! Nun geschwind, geschwind, Schmidtin! Schönes Heldburger Stadtkind! Holdeste weiland Jungfrau Grätzer – ach, es war das schönste Mädel weit und breit! Laß dir wahrsagen!
Mit großem Widerstreben bot endlich die junge Frau der Alten ihre Hand, und diese murmelte nach einer Pause: Wirst noch Mancherlei durchzumachen haben, schönes junges Weib! Wirst aber stets dabei flink auf deinen Füßen sein! Wirst in einem großen Hause wohnen, aber das Haus wird nicht dein sein! Ein fremder Herr wird kommen, den Niemand kennt, der kann dich glücklich und zufrieden machen! Mußt aber immer treu sein – treu wie Gold und mußt noch eine große Kunst lernen, die wenig Weiber können, ach, die ist Goldes werth, du liebes Kind!
Und welche Kunst denn? fragte schüchtern die junge Frau.
Ja, umsonst ist der Tod, mein liebstes Herzchen! entgegnete die Alte.
Hier hast du etwas, alte Wetterhexe! rief Kammerdiener Grimm. Aber mach es kurz!
Die Alte richtete sich hoch auf, überflog mit einem flammenden Blick den ganzen Kreis, der sie umgab, und sagte dann mit tiefem und bedeutungsvollen Ausdruck:
Der Wagen und der denselben begleitende Reiter hatten jetzt den Endpunkt der Höhe erreicht, die sich auf dieser Seite steilab zum Wiesenthale der Werra niedersenkte, im goldenen Reize des Sommerabends breitete sich zu Füßen die nach einem verheerenden Brande im Jahre 1779 neu erstandene herzogliche Residenzstadt Hildburghausen mit [330]regelmäßig und schön gebauten Häusern und neuen Ziegeldächern aus, an ihrer südlichen Seite das große, stattliche Residenzschloß, vor dem ein Wasserspiegel wie Silber erglänzte. Das kleine Thalflüßchen, die Werra, die sich durch die breiten Wiesenflächen schlängelt, erhöhte noch den Reiz der Landschaft.
Bald war die Stadt erreicht und Angés sah mit Sorgen dem Augenblick entgegen, wo sie Angesichts der Prinzessin, an welche sie ihr Leben gebunden hatte, mit einem fremden Manne vertraulich sprechen sollte. Sie bat daher Ludwig, noch ehe die ersten Häuser erreicht waren, vorauszureiten, oder ihr nachzufolgen.
Der Graf machte ein bejahendes Zeichen und hielt sein Pferd an. Zum alten Jacques sagte Angés: Dieser Herr ist mir ein sehr werther Freund, und ist zugleich der innigste Freund jenes Freundes, den Sie kennen, den Sie so treulich pflegten!
Der alte Jacques antwortete Angés gar nicht, er schlief. Ludwig war sehr verstimmt; Angés’ Furchtsamkeit und ihre große Rücksicht auf jene Fremden, die doch eigentlich jetzt nichts mehr waren als heimathlose Flüchtlinge, verletzte sein Gefühl, trat seinem Ehrgeiz, seinem Selbstbewußtsein, trat vor Allem einer sich selbst nie vollkommen eingestandenen zärtlichen Neigung feindlich entgegen, und er überlegte wirklich einen Augenblick, ob er Angés während des gewiß nur sehr kurzen Aufenthaltes noch einmal sprechen, oder sie ohne Wiedersehen dahin ziehen lassen solle, wohin das stärkere Band sie zog?
Aber nur einen Augenblick schwankte er so. Ein zärtliches Herz sucht und findet tausend Entschuldigungen bei einem Zweifel, und sein Vertrauen gleicht einer rauschenden Fontaine, die wohl bisweilen kleiner wird, in sich selbst zusammen zu sinken droht, dann aber wieder frisch und kräftig ihre leuchtende Garbe in die Höhe treibt.
Ludwig, den Philipp, während es noch die Anhöhe hinaufwärts ging, zum zweitenmale eingeholt hatte, stieg ab, gab dem Diener sein Pferd und ging nach dem Posthause, das zugleich ein Gasthof war.
Die Herrschaft war ausgestiegen und hatte ein Zimmer genommen, die Prinzessin und das Kind waren tief verschleiert. Sie zogen sich gleich darauf in ein zweites Zimmer zurück und verschlossen dasselbe. Ludwigs Blicke suchten Angés, er fand sie nicht, der alte Kammerdiener [331]Jacques grüßte ihn freundlich und sprach: Freut mich, freut mich, Herr Leonardus, Sie wieder so frisch zu sehen, hätt’s nicht gedacht, daß Sie sich so schnell erholen würden. Waren doch recht herunter! Die verdammten Hunde die – werden auch noch ihren Lohn bekommen! Ist doch nicht eine Spur von den Canaillen zu entdecken gewesen!
Ludwig erwiederte nichts, er sah, daß ihn jener Mann, den er nie zuvor gekannt, für Leonardus hielt. Wie er sich umwandte, stand Angés hinter ihm, faßte seine beiden Hände und sah ihn dabei so innig, so flehend an, – hätte er ihr auch auf den Tod gezürnt, er hätte ihr um dieses Blickes willen vergeben müssen.
Sieht er nicht wieder trefflich aus, unser guter Herr Leonardus? fragte der Kammerdiener Angés. – Ja ja, hat sich recht erholt. Sie lächelte schmerzlich über den Irrthum des guten alten Mannes, und dem Grafen klopfte ängstlich das Herz. Was sollte er thun? Sollte er hier, bei diesem flüchtigen Begegnen, der Freundin die herbe Todesnachricht mittheilen? Sollte er ihr dieselbe mitgeben auf den langen weiten Weg, wo sie Niemand hatte, der mit freundlichen Worten des Trostes heilenden Balsam auf ihr wundes Herz legte? – Aber durfte er es ihr denn verschweigen, durfte er die Grüße des sterbenden Freundes, die ihm aufgetragen waren, unterschlagen? – Der Kampf war bitter, der in ihm rang – Angés’ Worte unterbrachen denselben: Lieber Freund! Seine Hoheit, der Prinz, lassen bitten! Ohne Ceremonie – die wäre hier nicht am Ort! Ohne Verzug, denn jede Minute ist kostbar!
Sie zeigte auf die Thüre des Zimmers, in welches die fremde Herrschaft eingetreten war. Ludwig ging hinein, der Prinz trat ihm freundlich entgegen und verriegelte sogleich die Thüre.
Was sie hier miteinander besprachen, ob dem Grafen das Glück zu Theil wurde, die junge Dame wieder zu sehen, die ihn als kleines geistvolles Mädchen zu Doorwerth entzückt hatte, – ob er die Prinzessin gesprochen, die sich dieses Kindes jetzt mit so großer Liebe angenommen zu haben schien, und welche von Angés als Gesellschafterin auf dieser eiligen Reise aus dem deutschen Süden in den fernen Norden begleitet wurde – darüber können wir nichts berichten.
Tiefer Ernst lag auf des Grafen Zügen, als er aus dem Zimmer des Prinzen trat. Die Wagen waren neu bespannt, die Reisenden [332]hatten eine Erfrischung eingenommen, sie traten rasch aus dem Hause, stiegen ebenso rasch ein, – Ludwig war ehrerbietig zur Seite getreten. Als Angés folgte, drückte er ihr noch einmal mit allem Gefühle die Hand, und sagte ihr nichts, als: Angés! Wir sehen uns wieder! Der alte Kammerdiener, seinen Sitz einnehmend, sprach noch aus dem Wagen heraus: Leben Sie recht wohl, mein Herr Leonardus! Es hat mich sehr gefreut, Sie so wohl zu sehen! – Dort rollten die Wagen hin, der Prinz bog sich tief in den Grund zurück, Angés grüßte ihn noch einmal aus dem Schlage mit dem wehenden Tuche. Ludwig stand wie betäubt.
Am Abende dieses Tages saß er noch lange und schrieb mehrere Briefe, einen an die Großmutter, in welchem er ihr Nachricht ertheilte über seine jüngsten Erlebnisse; einen anderen an Windt, einen dritten nach Amsterdam an Leonardus Mutter – eine für ihn doppelt schmerzliche Aufgabe, als deren Sohn die Erlebnisse seiner Reise im Sinne und Geist des verklärten Freundes ihr zu schildern. Einen schmerzlichen tiefempfundenen Brief schrieb er ferner an seine mütterliche Freundin in England, die jetzt auf dem Lande, zu Castle Chatsworth wohnte. Eine Stelle in diesem Briefe lautete: »Mein Leben, o meine innigstverehrte Freundin, ist fast nichts als eine Kette der schmerzlichsten Trennungsstunden, deren jede einzelne mir, ich fühle es, ein Stück vom Herzen reißt. Und was bleibt mir zuletzt? Muß ich nicht fürchten, am Ende ganz einsam zu werden? Wie soll ich dem Leben und den Menschen ein Herz bieten, wenn das Leben und die Menschen mir mein Herz so grausam nehmen? Ist es nicht hart, in so jungen Jahren schon so viel Leid tragen zu müssen? Meine Kindheit, meine Knaben- und Jünglingsjahre flossen ungetrübt dahin; auf einmal nahte mir, ein Blitz aus heiterem Himmel, die Bitterkeit der Welt, ihr Wehrmuthbecher war so mit herber Säure gemischt, daß ihre Wirkung mir das Herz zusammenschnürte. Im Paradiese war ich und wußte es nicht, eine einzige böse Stunde, und ich war aus ihm, verstoßen, nicht ohne meine Schuld! O, wie jener Gedanke an meinen unseligen Fluch mich quält, der mir selbst zum Fluche wird! Immer stehen vor meiner Seele jene drei Gemälde Wouwermann’s, welche das Wohnzimmer der Großmutter in ihrem Hause zu Hamburg schmücken. Das eine, Schloß Varel, mit [333]einer Gruppe fröhlich von der Hühnerjagd heimkehrender Jäger, mit Gewehren, Hühnerhunden, ein buntes fröhliches Gewimmel. Auch ich kehrte einst fröhlich und heiteren Muthes unbefangen dorthin zurück, ein junger frischer Weidmann mit reichlicher Jagdbeute für der Großmutter Küche. Am andern Tage erfolgte der Abschied von ihr, der theueren Greisin, und der Sohn des Hauses sah dieses Haus mit dem Rücken an. Neben Schloß Varel hängt Schloß Kniphausen, von demselben Meister. Hier ist es eine Gesellschaft edler Damen und Herren zu Roß und zu Fuß, die mit Falken zur Reiherbeize ausziehen. O, wie tief hat sich mir jener Tag in die Seele geprägt, immer denke ich des Falken von Kniphausen, des Wunderpokals, den ihre Lippen für ewig weihten! Dieses Kleinod möchte ich besitzen und sonst kein anderes in der Welt, nicht die Diamanten der reichsten Krone! Was war mein Glück? Wie heißt es? Scheiden und Meiden.«
»Und neben dem Bild von Kniphausen hängt das von Schloß Doorwerth, von der Rheinseite aus betrachtet; im Vordergrund der Strom, zur Seite das Fährhaus, in der Tiefe das stattliche mächtige Kastell mit seinen Thürmen, Basteien, Schießscharten und der Zugbrücke. Kriegerisch blickt es auf die flache Landschaft nieder, und so hat der Meister auch nach der ihm eigenthümlichen Weise den Vordergrund belebt; ein Schiff liegt am Uferbord, Kriegergruppen tummeln sich dort umher zu Fuß und Roß, eine Schanze wird aufgeworfen, es ist die Dünenschanze. Erlebte ich dort nicht des kriegerischen Wesens genug? Mußte ich nicht auch dort scheiden von Seelen, die mein Herz im Stillen liebte?«
»Und ein viertes Schloß, davon ich kein Bild kenne außer demjenigen, welches in meinem Innern in glühenden Farben prangt, das nicht in Friesland liegt, nicht in Holland, wie war es dort so schön, wie umblühte es der holdeste Zauber der allliebenden Natur, zwei Gestalten wandeln auf diesem Bilde – und was nahm ich mit hinweg? Wieder den tiefsten Schmerz einer Trennung. Trennung, und immer Trennung, so wird es fortgehen, bis ich ganz allein stehe, ich werde keine Seele, die ich liebe, mehr um mich haben, ungenannt, ungekannt wird das dunkle Leben des Dunkelgrafen verklingen, der durch das Leben seinen Schatten trug. Vom wackersten Freunde mußte ich zuletzt mich trennen, den geliebtesten Freund mußte ich begraben, [334]glauben Sie mir, theuerste Freundin, daß ich stets zittere, wenn mein treuer Philipp mir Briefe bringt. Wird nicht wieder eine Todesnachricht darin stehen? denke ich jedesmal. So verfolgt mich mein dunkler Schatten, die Nacht meiner Gedanken, wie Andere mein unseliger Fluch verfolgt! Haben Sie Acht, was Alles noch wahr wird! Und erst heute, ein Wiedersehen, an dessen nächste Secunden abermals eine Trennung sich knüpfte. Körperlich bin ich gesünder geworden, geistig leide ich mehr als je. Ich habe kein Lebensziel, mein Dasein hat keinen würdigen und erhabenen Zweck, das ist ein Unglück, ich selbst kann mir keinen schaffen, das ist ein noch größeres! Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, einen zu finden, und sollte ich ihn weit, recht weit suchen.«
»Leben Sie tausendmal wohl, und froh und reich und glücklich! Ich erwarte auf diesen verworrenen Brief keine Antwort, aber streuen Sie aus der Ferne die frommen Blumen Ihres Segens auf den umdunkelten Lebensweg Ihres
Ludwig.«
Der herzogliche Beamte rückte mit dem Kammerdiener Grimm und den zehn Mann Schutzmannschaft Abends in Hildburghausen ein. Als er seinem Gebieter am anderen Morgen vom Erfolg seiner Sendung Bericht erstattete, in der Meinung, der Graf habe dies schon am Abend vorher gethan, fragte der Herzog: Wo ist der Varel, wo ist er? Ist nicht bei mir gewesen, hat mir Nichts gesagt, sagt überhaupt nicht gerne was, der Sonderling, der!
Der Büchsenspanner Eberlein trat ein, und brachte Karten, höfliche Abschiedskarten.
Graf Ludwig war abgereist.
Am nächsten Tage war er vergessen.
Was er Gutes für das Land gethan, auch die ausgewirkte Schutzmannschaft, das Alles wurde jetzt dem Verdienst des Beamten angerechnet, der den Grafen begleitet hatte, er empfing das volle anerkennende Lob seines Herrn, des Herzogs, und nahm es bescheiden hin, wie einem treuen Diener ziemt.
Eins nur fesselte aus jenen Tagen in Hildburghausen dauernd des Grafen Erinnerung. Das war jenes stille friedliche Dorf, wo er zuerst Sophie, wo er Angés wiedergesehen hatte.
Das stille Schloß.
Motto:
Goethe.
Trübe schaurige Herbsttage, mit denen des Jahres unfreundlichster Monat, der November, die Fluren überschleierte, wechselten mit unheimlichen Nächten. Zwischen heftigen Sturmstößen, welche die Schlösser erschütterten und sie in ihren Grundfesten erbeben machten, wurde zu Varel wie zu Kniphausen von fern her der Wogendonner der Nordsee vernommen, sie und die Flut im Jahdebusen schlug hohe Wellen. Es regnete und schneite zu gleicher Zeit fast unaufhörlich durcheinander. In ihrem Zimmer saß die alte Reichsgräfin, starr, mit ganz verfallenen Zügen, aber immer noch körperkräftig und noch weniger verlassen von den Kräften ihres seltenen Geistes. Sie war ganz allein; die schöne Cyperkatze, die sich einst so traulich an sie angeschmiegt, war längst gestorben. – Im leisen Selbstgespräch bewegte die alte Frau die Lippen des zahnlosen Mundes, und gab den Empfindungen Worte, die ihr Herz in schwerem Kampf bewegten.
Es ist Alles eitel unter der Sonne, Alles, sprach sie mit den Worten Salomo’s, deren erschütternde Wahrheit der Mensch mehr und mehr erkennen lernt, je näher er dem letzten Ziel dieses irdischen Lebens kommt. Hier stehe ich nun, eine in sich selbst zusammenbrechende Ruine, und was habe ich nicht Alles erlebt, gethan, geschaffen, für wie Viele mich abgemüht, und was habe ich mit Alledem erreicht? Stehe ich nicht da, wie jener große Weise des Alterthums, kann ich nicht sprechen gleich ihm: »Ich machte mir Gärten und Lustgärten, und pflanzte allerlei fruchtbare Bäume darein?« – Mein Marienthal grünt hier noch fort, und die Nachwelt erlabt sich seiner kühlen [338]Schatten. »Ich machte mir Deiche, daraus zu wässern den Wald der grünenden Bäume.« Noch andere Deiche schuf ich, die das Land beschützen vor den drohenden Meereswogen, ich opferte mich auf für dieses Land. »Ich hatte Knechte und Mägde und Gesinde,« habe sie noch, füttere und nähre Viele umsonst, deren ich nicht mehr bedarf, die aber meiner bedürfen. »Ich sammelte mir auch Silber und Gold, und war den Königen und Ländern ein Schatz«, spricht der weise Prediger. So that auch ich; ich sammelte einen reichen Schatz in Gold und Silber und in Erz, welches der edle Rost von Jahrtausenden ziert, meine Münzen. Und was wird das Loos dieser Sammlung sein? Die sie nach mir besitzen, werden gemünztes Gold und Silber nöthiger brauchen, werden meinen Schatz verkaufen, und er wird allmählig wieder kommen in die Hände der Händler, wird zerstreut werden, wie er vor mir zerstreut war, denn es ist Alles eitel, ja, »da ich ansah alle meine Werke, die meine Hand gethan hatte, und die Mühe schätze, die ich gehabt hatte, siehe da war es Alles eitel und Jammer und Nichts mehr unter der Sonne.« Jammer, ja wohl, Jammer! O du hoher Prophet, du Weiser im Purpurmantel! Theure und werthe Verwandte sah ich verbannt werden und in Jammer und Elend ziehen, werthes Besitzthum sah ich verloren gehen und mich dessen beraubt werden, womit ich Andere glücklich machen wollte, mein geliebtester Enkel ist weit, weit von mir gegangen, wird mir nicht die Augen zudrücken, zieht einem jungen schönen Stern liebend nach, und drüben in Kniphausen bricht ein reines, edles Herz an einem Weh, das unaussprechlich ist. Jammer! Jammer! Und so werde ich mit vollem Rechte sagen müssen mit dem Prediger: »Mich verdroß alle meine Arbeit, die ich unter der Sonne hatte, daß ich dieselbe einem Menschen lassen mußte, der nach mir sein soll. Denn wer weiß ob er weise oder toll sein wird, und soll doch herrschen in aller meiner Arbeit!«
Fort mit den thörichten Gedanken! rief aus ihrem trüben Sinnen sich aufrichtend die Reichsgräfin; mit derartigen Gedanken sich zu quälen, ist auch eitel, und »der Herr,« singt der Psalmist, »der Herr weiß die Gedanken der Menschen, daß sie eitel sind.«
Die Matrone klingelte, der Diener trat ein: Ich lasse die Herren bitten!
[339]Es stand ein großer grüner Tisch im Zimmer, fünf Polsterstühle umstanden denselben. Die Reichsgräfin ließ sich auf dem Sessel am oberen Ende dieses Tisches nieder und blätterte in einigen vor ihr liegenden Actenheften. Die Thüre ging auf, die Herren traten unter Verbeugungen ein; es waren der Hofrath Brünings, der Rath Melchers, der Secretär Wippermann und der Haushofmeister Windt, der immer noch den alten Titel hatte, der aber zu Dem, was er wirklich leistete und geleistet hatte, wenig paßte.
Ich grüße Sie, meine Herren! Wollen Sie gefälligst Platz nehmen! sprach mit leisem Neigen ihres Hauptes die alte stolze Herrin, und als ihrem Winke Folge geleistet worden war, redete sie fest und wie ein Mann die Anwesenden an: Nach langer, sehr langer Unterbrechung sehen wir uns heute wieder vereinigt, um Unterhandlungen und Verträge aufs Neue aufzunehmen, deren völliger Abschluß stets durch unverhoffte Widerwärtigkeiten hinausgeschoben und verzögert wurde, von denen die wichtigste die langwierige Haft meines geliebten ältesten Enkels, des regierenden Herrn, war. Nach unsäglicher Mühe, die wir es uns kosten ließen, durch Verwendungen bei Gott und der Welt, ist es mir endlich gelungen, den Erbherrn frei zu machen und ihn den Seinigen zurückzugeben, was nimmermehr geschehen wäre, wenn ich nicht Himmel und Hölle beschworen hätte, denn ich muß es immer sein, die in meiner Familie handelt. Mein zweiter Enkel ist nach England übergesiedelt und hat mit seinem Vetter William, dem Vice-Admiral, Separatverträge abgeschlossen. Höchst erwünscht wäre für uns die Anwesenheit meines ältesten Enkels, der uns nahe genug ist, aber ihn hindert das schwere Kranksein seiner Gemahlin, hier zu erscheinen; und da drüben das Aeußerste zu befürchten ist, so würde es zwecklos sein, unsere Berathung auf die nächste Zeit zu verschieben. Ihnen Allen ist bekannt, wie es der lebhafteste Wunsch meines ältesten Herrn Enkels war und ist, sich im Besitz der Herrlichkeit Doorwerth zu sehen, wie hier mein getreuer Herr Windt Alles aufgeboten hat, im beiderseitigen Vortheil zu handeln und beiderseitigen Wünschen zur Erfüllung zu verhelfen. Es war Alles im besten Gange, mein Enkel bot willig aufs Neue die Hand zu gütlichem Vergleich, er machte selbst eine Anzahlung, da hemmt seine unglückliche Haft wieder Alles, Vergleich, Verträge und fernere Zahlungen. Und doch, meine Herren, wenn [340]jetzt kein Vergleich in aller Form Rechtens zu Stande kommt, dann kommt ein solcher zwischen mir und meinen Enkeln nie zu Stande, denn ich fühle es, ich bin zum Letztenmale hier in Varel und mein Leben neigt sich rasch zu Ende – ist es doch ein Wunder, daß der altersmorsche Bau so lange ausgedauert hat. Hören Sie den entsetzlichen Sturm draußen, meine Herren? So heftige Stürme im Innern, im Gemüthe haben mich gar oft durchschüttert, endlich bricht der Damm, endlich fluthet die letzte Düne in der wild brandenden Wirbelwelle des Lebens dahin! Sagen Sie, bester Herr Rath Melchers, dem Bevollmächtigten meines ältesten Enkels Herrn Hofrath Brünings die neu zu Papier gebrachten Vergleichsbedingungen, und Sie Herr Secretär Wippermann, nehmen Alles genau zu Protocoll. Sie, mein lieber Windt, theilen dann den geehrten Herren das Weitere mit, und dann berathen Sie gemeinschaftlich, während ich mich zurückziehe, allseits nach bester Einsicht.
Die Reichsgräfin erhob sich, und ging mit festen Schritten aus dem Zimmer in das anstoßende Gemach.
Melchers that wie ihm geheißen war; er las aus einer Schrift die Vergleichsbedingungen vor, welche mannichfache Abänderung erfahren hatten, und jetzt in der Kürze folgenden Inhaltes waren: Alle Processe sollten ab sein für immer, alles vorhergegangene Unangenehme gegenseitig vergeben und vergessen, alle gegenseitigen Ansprüche sollten fallen, wechselseitiges Vertrauen, Freundschaft und vollkommene Eintracht sollen künftig in der hohen Familie herrschen. Doorwerth solle noch bei Lebzeiten der Frau Reichsgräfin Excellenz an den Erbherrn abgetreten werden, dagegen der letztere jene Summe zahlen, welche namhaft gemacht worden, nämlich 150,000 holländische Gulden in näher zu bestimmenden Terminen, 14,000 Reichsthaler in Gold jährlich und bis 2 Jahre nach dem Tode der Reichsgräfin an deren Miterben für den Besitz der deutschen Güter ebenfalls in den bisher gewöhnlichen Terminen, und über diese Summe solle der Frau Reichsgräfin Excellenz die Verfügung völlig frei stehen, ebenso wie über ihren sämmtlichen Hamburgischen Nachlaß, jedoch mit Ausnahme jener Edelsteine, die Fideicommißgut des reichsgräflichen Hauses seien, was sich von selbst verstehe und nur angeführt werde, damit nach Illustrissimä Ableben gar keine Handhabe zu irgend neuen Zwiespalten zu finden sei, und [341]nach so manchem traurigen Zerwürfniß hinfort Alles ehren- und standesgemäß verhandelt werde.
Es sind dies, nahm Hofrath Brünings das Wort: dieselben Artikel, mein verehrter Herr College Melchers, zu welchen sich meines gnädigen Herrn Grafen Excellenz in meinem Beisein verpflichtet haben.
Und zu deren Aufsetzung auch ich das Meinige gethan, sprach Windt, um Ihre Hochreichsgräfliche Excellenz die Frau Großmutter zu überzeugen, daß es auf keine längere Verzögerung abgesehen ist von Seiten des regierenden Erbherrn.
Es würden demnach, nahm Brünings das Wort, in die Vergleichs-Artikel einzuschalten sein die Bedingungen, daß, unter Vorbehalt der Erfüllung alles Zugesagten, die Frau Reichsgräfin Excellenz ihrem Herrn Enkel die Herrlichkeit Doorwerth mit aller Zubehör zum eigenthümlichen Besitz übertrage und gänzlich cedire, wie ich bitten muß, mit den bestimmt ausgedrückten Worten: daß wir zum Behufe unsers Enkels, des hochgeborenen Herrn, und so weiter, und seiner Erben zum vollen und vollkommenen Eigenthum cedirt und übergeben haben, cedirt und übergeben, kraft dieses Instrumentes, unsere hohe und freie Herrlichkeit Doorwerth; auch ferner wörtlich den Passus, daß inmittelst Seine Hochgeboren der regierende Herr Graf in Ansehung aller so Feudal- als Allodial-Güter handeln könne nach seinem Wohlgefallen.
Ich weiß doch nicht, hochverehrtester Herr College, sprach hierauf der Rath Melchers: ob man wohl thut, diese Sache so zu beschleunigen? Wozu Eile in Rechtssachen? ist ein alter Spruch. Mir leuchtet der zwar jetzt von mir vorgetragene, aber von Ihnen entworfene Plan und Modus durchaus nicht ein, und ich würde meiner gnädigsten Gebieterin ebenso wenig anrathen können, die von Ihnen, Herr Hofrath, so eben angeführten Stellen wörtlich in den Vergleichs-Vertrag aufzunehmen, bevor nicht wirklich statt der nur erst angezahlten zwanzigtausend Mark Hamburger Banco die erstbedungene Zahlung von fünfzigtausend Gulden völlig und baar entrichtet worden ist; denn die Hauptfrage bei diesem Geschäft bleibt doch immer die: Kann des gnädigen Herrn Grafen Excellenz zahlen oder kann Hochderselbe nicht zahlen?
[342]Wenn er nicht zahlen könnte, mein verehrter Herr College, entgegnete Hofrath Brünings, indem er mit einiger Raschheit eine Priese nahm: so würde Hochderselbe sich nicht zur Zahlung verpflichten!
Ihr Wort in Ehren, bester Herr College, versetzte Rath Melchers sehr ruhig. Nehmen Sie um des Himmelswillen nicht, was ich sage, und im Namen, wie im Interesse meiner hohen Gebieterin äußern muß, selbst wenn Hochdieselbe mir diese Bemerkungen nicht auftrug, nehmen Sie dies in keiner Weise persönlich; ich hege ja gegen den gnädigen Erbherrn die großmöglichste Verehrung. Aber sagen Sie selbst, wollen und können Sie es verhehlen, daß derselbe arm ist? Hatte er nicht allen Credit verloren schon vor seiner Gefangenschaft? Hat ihm nicht, wie Freund Windt mir bestätigen wird, der eigene Bruder jede Hülfe abgesagt, ebenso der beste Freund, Graf Grovestein? Ebenso der hohe Verwandte, der Herzog von Portland? Und nur ein Kaufmann aus Amsterdam war es, der dem jungen Herrn damals die Summe von fünfzigtausend Gulden zur Verfügung stellte, mit der dieser ebenso großmüthig als unbedachtsam dem Erbherrn zu helfen glaubte, damit aber nur Wasser in die Zuider-See goß! Nie wird diese Summe, die, statt ganz auf Doorwerth angelegt und angezahlt zu werden, für politische Gaukeleien zersplittert wurde, zurück bezahlt werden können, denn sie wird ja nicht einmal verzinst.
Herr! fuhr Hofrath Brünings auf: Nennen Sie den edelsten Patriotismus, die heilige Vaterlandsliebe in der Brust eines wahrhaften Edel- und Ehrenmannes, eine politische Gaukelei?
Ereifern Sie sich nicht, geehrter Herr! erwiederte Melchers, ein schon ziemlich bejahrter Mann mit einem vollen gemüthlichen Gesicht, das zu dem feinen, spitzen und hohlwangigen Antlitz des Hofrath Brünings einen sehr angenehmen Gegensatz bildete: wir sind nicht hier, um uns über politische Ansichten zu streiten. Ich bekämpfe nicht die Ihrigen, und will die Meinen nicht bekämpfen lassen. Gaukelei im erwähnten Sinne nenne ich jedes Unternehmen und jede That auf dem politischen Gebiete, die der Welt unnütz sind und dem, der sie ohne Voraussicht, ohne Ueberlegung beginnt, nur Schaden und nicht den mindesten Nutzen bringen.
Für Leute solchen Schlages, warf Brünings voll sittlicher Entrüstung und tiefer Verachtung hin: gibt es keine Mannestugend, keine [343]Vaterlandsliebe, keine Aufopferungsfähigkeit; ihnen schlägt nie das Herz in der Brust unruhiger beim Unglück ihres Volkes, beim Jammerruf der geknechteten Menschheit, sie verschließen ihr Ohr der Wehklage um die hingemordete Freiheit und dem Rufe der Sturmglocken bei der Noth des Vaterlandes!
Mit Absicht verschließe ich nie mein Ohr, hochgeschätzter Herr College, versetzte Melchers mit heiterer Ruhe; aber ich frage Sie, war etwa unser Vaterland in Noth, als die Unterthanen in den hiesigen Herrlichkeiten keine Steuern mehr geben wollten? War das Volk unglücklich, daß es in toller Nachäfferei Frankreichs sich von seiner Herrschaft lossagen und diese womöglich fortjagen wollte? Waren es Weise Griechenlands oder waren es Affen Frankreichs, die im Casino zu Varel auf einmal ihre Hüte auf den Köpfen behielten und einander den Titel Bürger beilegten? Doch genug, bester Herr College, über dieses in der That affreuse Kapitel.
Ich bitte, meine Herren, nach dieser interessanten Abschweifung wieder zurück und auf unser Hauptthema zu kommen, ermahnte Windt die Streitenden mit ironischem Lächeln. Wir werden hier am friedlichen Jahdebusen nimmermehr auskämpfen, was im Weltmeer der Geschichte gährt und streitet. Wir Deutsche sind überhaupt niemals unpolitischer, als wenn wir ins Politisiren hineingerathen. Herr Kammerrath Melchers also sind der Ansicht, daß des regierenden Herrn Grafen Excellenz nicht die Mittel finden werde, zur rechten Zeit oder überhaupt jemals Zahlung leisten zu können?
Die Sache steht so, erwiederte Melchers: die an Ihre Excellenz die Frau Reichsgräfin zu zahlende Summe beträgt einhundertundfünfzigtausend Gulden, davon sollen im ersten Termine acht Wochen nach Unterzeichnung und Austausch der Contracte, fünfzigtausend Gulden angezahlt werden, mit Ingebriff der bereits angezahlten zwanzigtausend Mark Hamburger Banco. Acht Wochen später und zwar nach erfolgter Uebergabe der Herrlichkeit Doorwerth soll der zweite Termin nicht mit der gleichen Summe, sondern mit hunderttausend Gulden erfolgen, und außerdem soll der Erbherr, innerhalb der ersten acht Tage, in denen er im Besitz der Herrlichkeit ist, der hochgräflichen Frau Großmutter eine bündige Obligation auf fünfundzwanzigtausend Reichsthaler in Gold behändigen.
[344]Eine Obligation, nahm Brünings hastig das Wort, welche der gnädige Herr sehr gut ausstellen kann, da ausdrücklich bedungen ist, daß diese Summe nicht verzinst, auch weder von der Frau Gräfin selbst, noch von einem sonstigen Besitzer baar eingefordert werden kann und soll, bis sich günstigere Finanz- oder besondere Glücksumstände ereignen.
O weh, Herr College! rief Melchers. Bauen Sie auf solchen Grund den Palast Ihrer Hoffnungen? Auf Finanzverbesserungen hoffen Sie? Ich sehe in der Zukunft nur Verschlimmerungen! Oder auf Glücksumstände? Da thun Sie mir leid, das sind die trüglichen Hoffnungen eines Spielers! Bedenken Sie doch selbst als erfahrener Finanzmann, denn in Ihrem Fach sind Sie nicht so unpraktisch, wie in Ihren politischen Ideen, was ist die Obligation eines Mannes werth, der insolvent ist? Wer bürgt für ihn? Auf welche Besitzungen kann er erste Hypotheke geben? Wo fließen ihm außergewöhnliche Einnahmequellen? Und das Alles in einer Zeit, in welcher Niemand sagen kann, daß sein Vermögen gedeckt und gesichert sei, und seine zeitlichen Umstände nicht schneller Umwandlung erliegen? Möglich ist Alles, und es wird ja genugsam auf den Umsturz hingearbeitet. Dann sind wir die längste Zeit Herren in den Herrlichkeiten gewesen. Dänemark greift zu und vereinigt dieses Land mit Holstein.
Nun denn, sprach Brünings: wenn es so steht, daß an die Stelle erwarteten Vertrauens das offenbare Mißtrauen tritt, wenn statt bedachter Klugheit die Klügelei vorwaltet, dann rathe ich und muß ich rathen, mit dem Vergleich und dem Verkaufs-Geschäft noch zu warten, und Alles einer sich ruhiger gestaltenden Zukunft zur weiteren Entwickelung anheim zu geben.
Concedo, mein werther Herr College! rief Melchers: dacht’ es gleich, daß wir uns einigen würden; inzwischen wird wohl für meine hochgnädige Gebieterin das Beste sein, die Güter, wie ganz in der Ordnung, und wie es auch billig ist, lieber an sich zu behalten, als sie so auf ein Gerathewohl hinzugeben; darum denke ich, meine Herren, wir machen Schicht!
Und sind so weit wie zuvor! rief plötzlich die Stimme der still wieder eingetretenen Reichsgräfin mit heftigem Tone. Wahrlich, wenn [345]Rußland, Frankreich, England, Oesterreich, Preußen, Deutschland, Schweden, Dänemark und die Türkei mit einander Kriege führen und zuvor die Streitfrage diplomatisch ausfechten wollten, so könnte kaum langweiliger und unentschiedener gehandelt werden, als hier der Fall ist um ein einziges Kammergut. Ich will Doorwerth verkaufen, ich will es meinem ältesten Enkel verkaufen. Warum kommen die Herren nicht überein, warum wird nicht abgestimmt und abgeschlossen kurz und rund, wie ich es will?
Die ganz nach Art zaghafter und bedenklicher Bureaukraten, denen es völlig einerlei ist, ob die Welt untergeht, wenn nur ihre Rechnungen stimmen und kein Deficit in ihren Geldtruhen ist, hingezögerte und verklügelte Verhandlung wurde hier plötzlich durch den Eintritt des alten Dieners Weißbrod unterbrochen, welcher sich mit der Meldung zu der Reichsgräfin wandte: Ihre Excellenz verzeihen mir gnädigst die Störung, aber die Sache ist dringend. So eben kam ein reitender Bote, über und über triefend, und halb erstarrt, von Kniphausen herauf.
O Gott! Was gibt es? rief die alte Dame, von einer dunklen Vorahnung ergriffen:
Der Bote kommt vom gnädigen Herrn! berichtete Weißbrod: er hat keinen Brief, der Herr haben ihm mündlich aufgetragen und auszurichten anbefohlen, daß –
Was? Heraus damit, rief die Gräfin fest und entschieden, als Jener in seiner Rede stockte.
Des Erbherrn Gemahlin wären sehr krank und wünschten dringend Ihre Excellenz noch einmal zu sprechen.
Ottoline! Das arme Herz, ich hab’ es geahnt, sprach die Reichsgräfin leise vor sich hin: wohl denn, es geschehe ihr Wille.
Aber Excellenz, rief Weißbrod bestürzt; das entsetzliche Wetter!
Gegenüber dem Willen eines Sterbenden gibt es kein Wetter, Alter! Lasse gleich den großen Glaswagen anspannen, sage der Windt, daß sie mich begleiten soll, auch Sie, Herr Windt, darf ich wohl bitten, mir den Gefallen zu thun und mitzufahren. Nehmen Sie doch aus den Acten jene Quittung mit – das Weitere flüsterte sie so leise, daß nur der Haushofmeister es vernahm, dann wandte sie sich wieder zu den Uebrigen. Ihnen, meine Herren, danke ich für die abermalige fruchtlose Bemühung ganz nach Verdienst. Ich sehe ein, daß Sie [346]allseits es redlich und treu mit mir meinen, aber langweilig ist die Sache, sehr langweilig. Selbst das hochweise Kammergericht zu Wetzlar ist nicht langweiliger und weitschweifiger. Und nun soll gar Nichts aus dem ganzen Handel werden, gar Nichts, nun will ich nicht mehr! Niemand soll wieder davon mit mir zu reden anfangen, ich verbitte und untersage dies ernstlich. Adieu, meine Herren!
Bitterböse rauschte die Reichsgräfin aus dem Zimmer und warf dessen Thüre mit ungnädiger Heftigkeit hinter sich zu.
Ein böses Wetter heute, meine Herren! sprach Hofrath Brünings und zog die Dose. Nehmen wir noch eine Prise mit auf den Heimweg! Und Sie, Herr Haushofmeister, erkälten Sie sich nicht. Ich beneide Sie nicht um die bevorstehende Spazierfahrt, Sie werden dabei viel Sturm auszustehen haben.
Mit Windeseile jagten sechs stattliche Rappen durch Sturm und Regen über Meereskies und Marschland auf dem besten Wege von Varel nach Kniphausen dahin. Herr Brünings aber hatte sich doch geirrt; die hochbejahrte Frau, die den Aufruhr der Elemente nicht scheute, um den Wunsch einer dem Tode nahen Enkelin zu erfüllen, hatte ihr Antlitz in Schleier gehüllt und saß während der ganzen Fahrt still und regungslos im Wagen. Vor ihr hatten Windt und dessen Schwester den Rücksitz eingenommen. Da die Herrin nicht redete, wagten auch ihre Begleiter nicht zu sprechen. Die Made war furchtbar angeschwollen, fast war die Brücke bedroht, jetzt zeigte sich formlos in Nebelschleiern das stattliche Schloß, grau wie ein Gespensterhaus.
Einige Augenblicke legte sich der Sturm, da drang ein heißerer Schrei herüber vom einsam ragenden Marienthurme; ein Falke, der im Gemäuer sein Nest hatte, schrie so laut und ängstlich. Noch eine bange Viertelstunde und Schloß Kniphausen war erreicht. Der Tag war der 24. November des Jahres 1799.
Der Erbherr trat der Reichsgräfin verstört entgegen, es war ein trauriges Wiedersehen. Großmutter und Enkel wechselten nur wenige Worte, die Dienerschaft stand bleich und bekümmert auf den Gallerien, viele hatten verweinte Augen. Den Erbherrn hatte die lange Haft und manche Sorge sehr verändert: jetzt beugte ihn tiefer Kummer nieder, denn er hatte seine Gemahlin wahrhaft geliebt, wenn [347]auch sein oft rasches und verletzendes Wesen durchaus nicht zu Ottolinens sanftem Charakter und ihrer idealen Anschauung des Lebens stimmte – wenn auch, was ihrem scharfen Blick nicht entgangen war, die Anwesenheit ihrer Kammerfrau, die erst während seiner Abwesenheit in das Schloß gekommen war, und, obschon die Tochter eines Bauern, doch bei ungemein viel Schönheit auch ungemein viel Bildungsfähigkeit besaß, ihn sichtbar interessirte und unruhig machte. Es war dies die Jungfrau Sara Margaretha Gerdes.
Der Erbherr ging mit stiller Fassung in demselben Gemache auf und ab, in welchem noch auf seiner alten Stelle der Falk von Kniphausen stand; Windt war bei ihm, ihre Gespräche galten Doorwerth.
Im Zimmer Sara’s weilten Ottolinens Kinder; die älteste Tochter Maria Antoinette Charlotte, und Ottoline Friederike Luise, holde Mädchen von sechs und sieben Jahren, die bisher der kranken Mutter einziges Glück gewesen, und nun dieses liebevolle, zärtliche Herz verlieren sollten.
Am Lager der schwer kranken Herrin saß die alte Reichsgräfin. Ottoline hielt deren hagere Hand in der ihrigen, und blickte aus den tiefeingesunkenen großen blauen Augen schmerzlich zu der treuen Matrone empor.
Wo ist jetzt Ludwig? fragte die Kranke mit leisem Hauche.
Er hat Deutschland verlassen, antwortete die Reichsgräfin; er zog seinem Glücke nach – fast fürchte ich, er findet es niemals.
Ach, – der grausame Freund! seufzte Ottoline. Warum rettete er damals mein Leben für so viele Qual und Pein? Warum lernte ich zu spät ihn kennen, – ach – ihn lieben! Fünf Jahre hindurch trug ich sieben Schwerter im Herzen, ein Schwert der Liebe, ein Schwert der Reue, ein Schwert der Buße, ein Schwert der Sehnsucht, ein Schwert der Hoffnungslosigkeit, ein Schwert der Krankheit, ein Schwert der Schmerzen – und nun – sind sie alle von mir genommen – ich fühle keinen Schmerz mehr – ich fühle mich leicht – aber kalt. Meine Füße haben schon keine Empfindung mehr.
Nicht zu viel sprechen, meine Beste! mahnte sie die Reichsgräfin.
Ach, ich ließ Sie ja bitten, würdige Großmutter, flüsterte Ottoline: weil ich sprechen wollte zu Ihnen – mit Ihnen – von ihm. Jetzt, wo alle Banden abfallen von der frei werdenden Seele, jetzt [348]sage ich es, und sage es Ihnen, und bitte Sie, es ihm wieder zu sagen, daß ich ihn unendlich geliebt habe – ja unendlich – unendlich! Das sagen Sie ihm, beste Großmutter – und er soll meiner nie vergessen – ach, ich möchte so gern – ihm ein Andenken geben – wäre nur der Falke mein – der Falke, aus dem wir tranken – den ich ihm kredenzte – er sollte ihn haben – das wollte ich Ihnen sagen, Großmutter – das ist mein letzter Wunsch auf Erden.
Ich sichere dessen Erfüllung zu, antwortete die alte Herrin, und ein stummer, aber leuchtender, schon halb verklärter Blick dankte ihr; dann erhob Ottoline beide Hände, und rief: Meine Kinder! Wo sind meine Kinder? Ich will sie noch einmal sehen und sie segnen!
Die Reichsgräfin gebot die Mädchen zu bringen, sie nahm sie selbst in Empfang und führte sie an das Lager ihrer sterbenden Mutter. Ottoline weinte ihre letzten Thränen, der Erbherr trat herein im stummen männlichen Schmerz, der Schloßkaplan, die Kammerfrauen, Windt, die Dienerschaft, Alle still, leise schluchzend.
Bereits am Morgen dieses Tages hatte Ottoline das heilige Nachtmahl empfangen. Jetzt begann der Schloßkaplan laut zu beten, während die ganze Dienerschaft auf die Kniee sank.
Auf den Schwingen des Gebetes entfloh Ottolinens reine Seele, sie verschied ohne Kampf, ohne Schmerz, kaum mit einem leisen Röcheln – und über das stille bleiche Antlitz, über die vom Tode selbst sanftgeschlossenen Augenlieder mit ihren langen seidenen Wimpern lagerte sich der Friede Gottes.
Noch einmal erhob der Geistliche die Stimme, indem er nahe zum Lager der Verblichenen trat, die Hände erhob und das Zeichen des Kreuzes über sie schlug. –
Die Reichsgräfin weilte später mit dem Erbherrn im Fremdenzimmer, beide im stummen Schweigen. Solche Stunden voll heiliger Weihe des Schmerzes machen nicht gesprächig.
Die alte Dame klingelte einem Diener, Jakob, der Jäger, trat ein.
Rufe er den Hausmeister Mack einmal herauf, Jakob, auch Herrn Windt!
Was wollen Sie befehlen, gnädige Großmama? fragte der Erbherr, überrascht von diesem Worte.
[349]Du sollst es gleich erfahren, gab die Reichsgräfin zur Antwort, und Beide schwiegen wieder.
Die beiden gerufenen Haushofmeister traten fast zu gleicher Zeit ein. Bringen Sie uns doch, Herr Mack, das lederne mit Sammet ausgefütterte Futteral zu dem Falken! gebot die Herrin.
Nun, gnädige Großmama? fragte der Erbherr. Was haben Sie?
Ich will meinen Falken mitnehmen!
Wie, Excellenz, Ihren Falken? Ich weiß nicht anders, als daß die Edelsteine Fideicommiß sind?
Mein Diamantenschmuck, ja, die Diamanten deiner theueren Verstorbenen desgleichen, der Schmuck, dessen sich Frau von Varel, deines Bruders Gemahlin, geborene Gräfin Lynden, außer ihrem eigenen bedient, desgleichen. Der Falk von Kniphausen aber ist mein – ich ließ ihn hier, weil er hier an würdiger Stelle stand, und weil Ottoline an ihm ihre Freude hatte. Doch damit in dieser ernsten Stunde deine Gedanken nicht mich und nicht dich selbst verletzen, mein theuerer Enkel, so bitte, lieber Windt – das Papier, das ich Sie ersuchte, zu sich zu nehmen. Hier, mein guter Wilhelm!
Der Erbherr nahm das Papier und blickte hinein, es war die Rechnung über den Falken, »gefertigt auf Befehl der Reichsgräfin Sophie Charlotte, Herrin zu Varel und Kniphausen, mit namhafter Angabe des zu dem Kunstwerk verwendeten Goldes, so wie aller Edelsteine, und der hohen Frau Bestellerin zu Dank vergnügt quittirt von den Gebrüdern Dinglinger, Königlichen Hofjuwelieren zu Dresden«.
Intendant Mack brachte das Futteral; die Reichsgräfin schob den Falken mit eigener Hand hinein, und Windt trug ihn hinab zum Wagen.
Graf Ludwig weilte wieder auf deutschem Boden. Er war jenen Reisenden hohen Ranges Begleiter geworden; ein ungewöhnliches Vertrauen hatte ihn beglückt, Angés hatte dieses Vertrauen bewirkt, ja selbst Sophie, das herrlich sich entfaltende Kind, hatte dazu beigetragen. Den Herzog nöthigten Pflicht und Ehre, seinen Lieben nur bis zur Grenze des Sachsenlandes das Geleite zu geben; er lernte auf der Reise den Grafen, der ihn im Thüringerwalde einholte, kennen und hochachten, und ihm, dem ganz unabhängigen, der Sprachen wie der politischen Verhältnisse kundigen Mann, vertraute er unbedenklich den Schutz und die Führung seiner Lieben an, beruhigter eilte er zum Heere zurück und an die Spitze des Corps, welches unter Prinz Ludwig Joseph von Condé errichtet war und dessen Namen trug. Manche tapfere That wurde vollführt, bis der Präliminarfriede von Leoben den Krieg hemmte, und der Wiener Hof die Verabschiedung des Condéischen Corps bewirke. Aber dieses wollte sich nicht auflösen; da erfolgte von Seiten des Kaisers von Rußland eine Einladung an das ganze Corps, und der Prinz von Condé ging ihm voraus. Der junge muthige Herzog, dem noch höher als die Liebe, der Muth die Seele schwellte, blieb als Oberbefehlshaber des Corps an dessen Spitze, leitete den Marsch durch Oesterreich, führte das Heer, 10,000 Mann stark, nach Volhynien, eilte nach Petersburg, seine Angehörigen zu begrüßen, und fand dort Gelegenheit, den Grafen Ludwig für seine treue Anhänglichkeit und außergewöhnlichen Dienstleistungen angemessen und durch eine entsprechende äußere Stellung zu belohnen.
Das Jahr 1799 rief den Prinzen von Condé und sein Heer wieder unter die Waffen; der Herzog führte zwei Emigrantenregimenter und das russische Infanterieregiment Titow nebst andern Truppen und rückte nach Schwaben und der Schweiz vor, wo die rühmlichste Tapferkeit entfaltet wurde und der Herzog große Triumphe feierte. Verhältnisse des höheren politischen Lebens, hauptsächlich der Rücktritt des [351]Kaisers Paul von Rußland von der Coalition, bestimmten den Herzog, auf den Schutz, den das Theuerste, was er besaß, in Petersburg bisher genossen hatte, zu verzichten, er gab Weisungen, daß die Frauen und ihre Dienerschaft sich in eine deutsche Stadt, die unbedroht vom Kriege war, begeben sollten. Da der Rath des freundlichen Geleiters, den man als einen weitläufigen Verwandten durch seine mütterliche Abstammung betrachtete und ihm volles Vertrauen schenkte, von der Prinzessin erbeten wurde, so schlug Graf Ludwig Hamburg vor, nicht nur, weil er selbst sich wieder nach Deutschland zurück und in eine bekannte Gegend sehnte, sondern auch, weil er die Ueberzeugung hatte, daß die Prinzessin dort ganz nach ihren Wünschen zurückgezogen und in völliger Freiheit leben könne, während bei aller Aufmerksamkeit, die man ihr erwies, das Leben am russischen Hofe ihr doch auf die Dauer drückend geworden war.
Im Verhältniß Ludwig’s zu Angés hatte sich Nichts geändert; es war und blieb wie es von je gewesen, eine auf die höchste gegenseitige Achtung sich gründende, reinste Freundschaft. Zart und schonend hatte ihr endlich Ludwig des Freundes Ableben mitgetheilt, viele Thränen waren noch gemeinschaftlich um Leonardus geflossen; Ludwig hatte des Freundes Miniaturbild und die Bilder von vier Frauen, die er alle aus der Erinnerung gemalt und mit vielem Glück getroffen, der Freundin anvertraut. Es war das Bild der treuen Großmutter, der herrlichen Mutter, es war das Bild der reizenden Ottoline und jenes der lieblichen Angés, es war der Kranz von Bildern edler Menschen, die alle tiefen, wunderbaren und unvergänglichen Eindruck auf sein Herz gemacht hatten, jede einzelne Persönlichkeit auf verschiedene Weise, und alle einig in dem Bestreben, ihn zu beglücken. Ottoline hatte ihn freilich so wenig mit reichen Gaben bedenken können, wie Angés, aber sie hatte sein Herz mit hohen Empfindungen erfüllt; der erste Strahl aus einem reinen Frauengemüth war aus ihren Blicken in seine Seele gefallen, hatte ihm seine Jugend verklärt, seinen Geist erhoben, dem fortan kein unreiner Gedanke nahte. Und in Angés hatte Ludwig erkennen lernen, welchen Reichthum edler Gefühle ein Frauenherz birgt; er hatte in ihr jenen wahrhaften Seelenadel gefunden, der seinen Ursprung nicht aus alter Abstammung und hoher Geburt herleitet, sondern aus dem eigenen unentweihten [352]Gemüthe, das wohl sich emporzuringen vermag auf den Gipfel reinster sittlicher Größe und Hoheit.
Angés war die große und doch so zärtliche Seele, die über sich selbst den herrlichen Sieg gewann, die flammende Neigung zweier Freunde zu bekämpfen und ihr zu widerstehen, die Beide der Liebe so würdig waren, die an ihrem Beispiel lernten, sich selbst zu beherrschen, und von denen sie den Einen mit aller verhaltenen Glut ihrer Empfindung, mit aller innigen Freundschaft den Andern liebte.
So beharrend in würdiger und edler Selbstbeherrschung war Angés sich selbst treu geblieben, und so hatte auch die Prinzessin ihr Wesen und ihren Charakter von je erkannt und hochgeschätzt; sie wurde von dieser wie eine Schwester behandelt und Angés blieb auch später die Ausbildung und Leitung des geliebten Kindes überlassen. Die Einrichtung war so getroffen, daß Angés nur in den nöthigen Fällen mit der Prinzessin öffentlich erschien, daß die Wohnungen getrennt waren und keine Seele den Antheil errathen konnte, den die Prinzessin an dem Kinde nahm.
Graf Ludwig wußte, als er in Hamburg mit seinen Schutzbefohlenen anlangte, noch Nichts vom Ableben der regierenden Reichsgräfin Ottoline; er hatte auch von der Großmutter lange keine Nachricht erhalten und leicht konnten ihn jetzt Briefe verfehlen. Indeß vermuthete er seine würdige Gönnerin in Hamburg, und hatte sich nicht getäuscht. Er miethete sogleich in der Nähe des großmütterlichen Hauses eine Wohnung für sich und seine Begleitung und erfuhr, daß auch Windt anwesend und die Reichsgräfin bedenklich erkrankt sei.
Ludwig suchte den alten Freund auf, und diesen versetzte das unvermuthete Wiedersehen in eben so viel Freude als Bestürzung.
Sie finden Ihre Frau Großmutter bedeutend krank, Herr Graf! sprach Windt; und was die Vergleichssache angeht, so sind wir noch keinen Schritt weiter, außer daß der jüngere Graf, Johann Carl, sich ganz nach England übersiedelt hat und bereits Generallieutenant geworden ist. Derselbe hat mit dem Erbherrn und dem Vice-Admiral William eigene Verträge abgeschlossen für den zu erwartenden Todesfall der Frau Großmutter, und geben Sie Acht, liebster Herr Graf, wenn sie die Augen zuthut, so wird es heißen: »Sie haben meine [353]Kleider getheilt und um meinen Rock haben sie das Loos geworfen; ja ich vermuthe fast, sie haben dies bereits gethan, denn ich hörte neulich ein Vöglein pfeifen, unter uns gesagt, Herr Wippermann hat geplaudert, als ich ihn jüngst in einen Austernkeller mitnahm und seine sonst schwere Zunge mit Champagner löste; die Sache soll so abgekartet sein, daß der Erbherr Varel und Kniphausen behält, so wie die Güter in Holland, wenn er sie nämlich wieder bekommt, der Admiral aber die Herrlichkeit Doorwerth mit allen ihren Schlössern, Dörfern, Höfen, Wonnen und Weiden, Aeckern und Wiesen und auch ein hübsches Stück Busch; dafür findet er den Grafen Johann Carl mit Geld ab und tritt in dessen ganzes Erbrecht ein.
Mögen sie das Alles ganz nach ihrem Gefallen machen, wenn es sie nur zufrieden stellt. Also der Erbherr ist frei? das freut mich; wie lebt er? wie leben die Seinen? fragte Ludwig.
Sie leben in Trauerkleidern! entgegnete Windt. Es wird Sie schmerzen, Herr Graf; ich sehe schon, mein Brief hat Sie nicht mehr getroffen; ich hatte Befehl, Ihnen den betrübenden Fall zu melden.
Um Gott, welchen Fall?
Ottoline, die regierende Frau Reichsgräfin, diese sanfte Dulderin, wandelt nicht mehr unter den Lebendigen.
O, mein Gott! seufzte Ludwig, und ein tiefer Schmerz durchschauerte sein Gemüth.
Sanft, wie sie gelebt, war ihr Verscheiden; ihre Kinder segnend, gehoben durch die Tröstungen der Religion, ging sie ein zum Frieden. Sie hat viel und lange gelitten, und Ihrer, Herr Graf, hat sie, wie mir Ihre Frau Großmutter vertraute, noch in den letzten Minuten gedacht.
Und der Erbherr, wie trug er diesen Verlust? fragte der Graf.
Er empfand ihn tief und schmerzlich, ganz gewiß, antwortete Windt, wenn er auch die Größe des Verlustes nicht zu ermessen wußte. Doch verdammen wir ihn nicht, Verschiedenheit der Charaktere und Neigungen, langes Fernsein vom heimischen Herde, die rauhe Soldaten- und Seemannsnatur. – Sie begreifen was ich noch sagen könnte. Doch die Zeit wird das Weitere lehren.
Und die Großmutter, seit wann ist sie krank? fragte Ludwig.
Ihre Krankheit ist das Alter! versetzte Windt. Denken Sie, fünfundachtzig Jahre! Und fuhr noch in einem Wetter, in dem man keinen [354]Hund aus der Thür jagt, von Varel nach Kniphausen hinüber, um den Wunsch der sterbenden Erbherrin zu erfüllen. Aber es ergriff sie schwer, nicht auf dem Hinweg, nicht auf dem Herweg sprach sie mit mir und meiner Schwester auch nur ein Sterbenswort. Sobald die Wege winterhart wurden, reisten wir hierher, doch ist sie seitdem nicht wieder aus dem Hause gekommen und ich gebe Ihnen mein Wort, Herr Graf, daß sie lebend auch nicht wieder über dessen Pforte kommt.
Sie sagen mir viel, o, allzuviel Trübes und Schmerzliches, liebster Windt! seufzte Ludwig. Wie hatte ich mich gefreut auf mein Hierherkommen, ich wollte der Großmutter eine Prinzessin wieder zuführen, die eine Verwandte und die ein Engel an Liebenswürdigkeit ist, die auch schon hier war, und jenes Kind, das Sie so liebevoll in Doorwerth gehalten, jene kleine Sophie, die jetzt eilf Jahre alt ist und noch Jemand.
Angés! rief Windt voll ungeheuchelter Freude. So haben Sie sie gefunden, und sie hat endlich – ihr Herz – Ihnen –?
Nein, da irren Sie, mein Lieber! erwiederte Ludwig ernst. Angés ist sich gleich geblieben, und ich habe überwunden. Es war ein herber Kampf mit Liebe und Leidenschaft, der Sieg war schwer, aber jene Strophe stärkte mich, die mein verklärter Freund mir einst zurief.
Wir siegten und wandeln nun in treuer Freundschaft verbunden neben einander wie Bruder und Schwester.
Windt ließ die alte Reichsgräfin durch seine Schwester auf das Erscheinen ihres Enkels vorbereiten, und die dem Todte nahe Frau fühlte sich dadurch neu belebt; sie sammelte nochmals ihre ganze Kraft und in der That war es das letzte Gefühl irdischer Freude, das sie hob und kräftigte; sie konnte mit voller Stimme und im Tone alter Herzlichkeit ihm zurufen: Sei mir tausendmal willkommen, mein geliebtester Enkel! Du heißersehnter Liebling! Dich noch einmal zu sehen, ist Wonne meinen alten fünfundachtzigjährigen Augen, ist mir eine köstliche Arzenei, heilsamer als Alles, was Doctor Reimarus in der Apotheke für mich zusammenbrauen läßt!
[355]Ludwig stand bewegt am Lager der gänzlich abgezehrten Greisin, deren Augen aber immer noch hell blickten, deren Gedanken immer noch klar waren.
Nach einer Pause, die der augenblicklichen Aufregung folgte, sprach sie in Gegenwart von Windt’s Schwester, die auf den Wink der Herrin bleiben mußte: Du kommst noch eben recht, um dir ein Andenken zu holen, das außerdem nicht in deine Hände gekommen wäre, es ist ein Doppelandenken und Ottoline bestimmte dir’s, rathe, Ludwig, was es ist?
Ottoline mir ein Andenken? Wie sollt’ ich das errathen, beste Großmutter!
Die kranke Reichsgräfin winkte ihrer Kammerfrau, und diese brachte ein Lederfutteral herein.
Nun öffne lieber Ludwig, und schaue das Andenken an, das ich und Ottoline, die mich in ihrer Sterbestunde bat, dir dieses Kleinod zu gönnen, dir bestimmt haben, ein Andenken an sie und mich.
Ludwig öffnete die Hülle, und die Juwelenpracht des einzigen Kunstwerks strahlte ihm entgegen. Der Falk von Kniphausen! rief er, starr vor Staunen.
Von nun an dein Eigenthum, flüsterte die Kranke.
Das kann nicht sein, rief Ludwig: dies Kunstwerk ist eine Grafschaft werth, ach – und für mich – noch unendlich mehr – o jener Tag – ach, Ottoline!
Und wenn es zehn Grafschaften werth wäre, sprach die Gräfin: so wird es dir auch werth bleiben – du wirst es nicht verschachern und verschleudern, wie meine herrliche Münzsammlung dereinst verschleift und verschleudert werden wird, über die ich bethörter Weise schon früher verfügte. Dir – dir hätte ich sie geben und hinterlassen sollen!
Sie haben mich ja schon so überreich begabt, beste Großmutter! fiel Ludwig ein.
Mache keine vielen Worte und nimm den Falken an dich – die Andern sollen ihn nicht haben – sie sollen nicht wieder daraus trinken – du – nur du – und die, welcher du dein Herz schenkest! Nimm ihn – behalte ihn. Die Urkunde, daß ich dir den Falken [356]schenke, steckt bereits im Innern des Vogels. Trinke dich gesund daraus, drink all ut!
Die Reichsgräfin entließ ihren Enkel, das Wiedersehen und das Sprechen griffen sie an. Ihre starke Natur aber erlag dieser Aufregung dennoch nicht, vielmehr schlief sie ruhiger und anhaltender, wie seit lange.
Am folgenden Tage fühlte sich die Kranke merklich besser; es war als ob der Anblick desjenigen ihrer Enkel, der ihrem Herzen von seiner frühen Jugend an am Nächsten stand, der gleichsam ihr Eigenthum geworden war, sie neu belebt habe, und sie sandte bei guter Zeit nach Ludwig, damit er ihr von seinen bisherigen Schicksalen erzählen möge. Dies that denn auch der Graf ausführlich; die Alte hörte schweigend zu und blieb ganz ruhig, dann sagte sie: Bitte, mein gutes Kind, bitte die Prinzessin Hoheit, mir die Ehre ihres Besuches nur auf eine Viertelstunde zu schenken, sie wird mir dies nicht abschlagen, denn sie hat mir immer, als ihr Haus noch gute Tage sah, viele Zuneigung erwiesen. Was ich ihr zu sagen habe ist wichtig. Sie wird auch schon deshalb auf meinen Wunsch eingehen, weil ich ihren Angehörigen Gutes erzeigte.
Theuerste Großmutter, entgegnete darauf Ludwig: Ihr Wunsch kommt der Bitte jener hohen Frau zuvor, sie hat auf der ganzen Hieherreise von Sanct Petersburg nach Hamburg sich darauf gefreut, Sie wieder zu sehen, Ihnen das Kind zuzuführen.
Ihr Kind? fragte die Reichsgräfin.
Nicht vor dem Auge der Welt, vor dem Ihren aber unverschleiert, war Ludwig’s Antwort.
Ist das hohe Paar nicht vermählt? forschte die Reichsgräfin weiter.
Wohl sind sie vermählt, diese einander so heiß und feurig liebenden Herzen, ich selbst war Zeuge, es geschah nach der Ankunft Seiner königlichen Hoheit des Herzogs in Petersburg in stiller Abendzeit, in einer katholischen Kapelle, wo auch das Kind die Weihe der Firmung empfing. Aber sie haben beschlossen, ihre Vermählung noch als ein Geheimniß zu bewahren, bis zu einer günstigeren Zeit, bis die beiderseitigen Verhältnisse sie sicherer stellen, und es sollen die nächsten Angehörigen nicht mehr erfahren, als was sie bereits wissen, daß nämlich der Herzog und die Prinzessin einander in untrennbarer [357]Liebe angehören. Ueber die holde Tochter soll noch, zu deren eigener Sicherheit, das tiefste Schweigen beobachtet werden.
Nun denn, das Alles ist mir lieb zu hören, sagte die Gräfin: und so bitte ich dich, die Prinzessin mit der Tochter zu mir einzuladen. Jedenfalls weilt sie hier doch incognito?
Sie hat den Namen einer Gräfin von Clermont angenommen, versetzte Ludwig.
So gehe und führe sie zu mir, da ich heute noch einmal einen guten Tag habe, lange wird es nicht mehr dauern, und du, mein liebes Kind, entferne dich nicht allzuweit, daß ich dich kann rufen lassen, wenn der Genius mir die Fackel umstürzt. Noch einmal fesselt dich die alte Großmutter, die dich so lange mit Fesseln der Liebe hielt, an ihr Sterbebette, dann bist du ganz frei und die weite reiche Welt ist dein.
Die reiche Welt, sprach Ludwig bewegt: gibt mir doch nicht, was ich bedarf, wonach mein Herz und mein Seele dürstet – Liebe!
Harre und hoffe! dir kann noch das höchste, das reinste Glück der Liebe erblühen. Wer mit fünfundzwanzig Jahren schon die schönsten Rosen seines Lebens abgepflückt hat, der hat sich selbst beraubt. Spare dich auf, ich sage dir, Ludwig, du wirst noch viele beglückte Tage sehen.
Der Graf ging und einige Stunden später befand sich die Prinzessin und das liebliche Kind im Zimmer der Reichsgräfin. Als die gewöhnlichen Formeln der Höflichkeit gewechselt waren, klingelte die Gräfin ihrer Kammerfrau und sprach zu der Eintretenden: Zeigen Sie doch der jungen Comtesse die Gemälde und die kleinen Raritäten im grünen Salon, den meine Freunde scherzhafter Weise immer mein »grünes Gewölbe« nennen.
Mittlerweile hatten sich des Kindes Augen schon auf ein Bild an der Wand geheftet, und mit Lebhaftigkeit rief es aus: O Himmel, welch ein schönes Bild! Das ist ja Schloß Doorwerth! Liebe Tante! mit diesen Worten wandte sie sich zu der Prinzessin, bitte, sehen Sie dieses Bild an! In diesem Schlosse bin ich gewesen – in diesem Thurm hier – zur rechten Seite – haben wir gewohnt, meine liebe Angés und ich – dort von jener Zinne haben wir herabgesehen, als so viele Soldaten um das Schloß versammelt waren, und die Prinzen dorthin kamen – mein theurer – Oncle!
[358]Die Prinzessin blickte mit Antheil auf das Bild von Doorwerth. Dann führte die Kammerfrau die Kleine weg, um ihr in den anstoßenden Sälen noch andere schöne und werthvolle Dinge zu zeigen, während die Reichsgräfin mit der Prinzessin allein blieb, um mit dieser Wichtiges zu besprechen, was keine Zeugen litt.
Als diese später mit dem Kinde die Reichsgräfin wieder verließ, beide in dichte Schleier gehüllt und von Windt nach dem Gasthof geleitet, verbarg die Prinzessin mit Mühe eine heftige Bewegung; erst als sie sich mit Sophie allein in ihrem Zimmer sah, umarmte sie mit Ungestüm die holde Tochter, küßte sie auf die Stirne und rief: Gott segne dich, Gott segne und erfülle, was in dieser Stunde über deine Zukunft beschlossen ward!
Es war am 4. Februar des Jahres 1800. Charlotte Sophie sollte die Sonne eines neuen, kommenden Jahrhunderts nicht mehr sehen.
Graf Ludwig kniete an ihrem Sterbebette, noch einmal lag ihre erkaltende Hand segnend auf seinem Haupt; die Reichsgräfin endete ruhig und ernst, als ihre Seele entflohen war, glich ihr Antlitz dem Marmorbild einer Olympierin. –
Bei der mit ihm trauernden Angés verlieh Ludwig seinem tiefen Schmerz über das Weh, das ihn hier doppelt berührt, Worte, indem er sprach: Wieder eine Seele weniger auf Erden, die für mich betet. Wäre ich Katholik, so würde ich sagen, meine Lieben werden alle zu Heiligen, um droben für mich zu bitten. Aber was bleibt mir, wenn Alle, die ich liebe und ehre, von hinnen ziehn?
Immer bleibt dir, mein Freund, entgegnete Angés: die Thatkraft und die allbelebende Hoffnung. Du wirst noch mehr des Schmerzlichen erleben und dich dennoch aufrecht halten müssen.
Das sagte mir die Großmutter auch, in der letzten Stunde, versetzte der Graf; als ihr vom Tode erhelltes Auge prophetisch in die Zukunft blickte. Streit und Zwietracht wird sein, sprach sie: unter den Völkern, unter den Herrschern der Welt, Streit und Zwietracht auch im Schooß der Familien. Dein Name wird nicht in meinem Testamente stehen, mein Ludwig, damit nicht der Haß gegen dich aufgestachelt werde. Dein Bruder soll nicht wissen, daß er dein Bruder ist, denn es steht geschrieben, daß ein Bruder wider den [359]anderen streiten wird. Lass’ sie Alles an sich reißen, meine lachenden Erben, du hast genug, und ein Höheres ist dir noch beschieden, wenn du ferner auf richtiger Bahn wandelst. Ich fahre dahin, ohne erlebt zu haben, was ich so sehnlich hoffte, wonach ich mit allen Opfern und Anstrengungen rang und trachtete: Eintracht, Liebe, Frieden; aber nein, die wohnen nun einmal nicht in unserem Hause, seit der böse Feind die Saat des Unfriedens vor langen Jahren in die Gefilde von Jever, Varel und Kniphausen säete. Laß fahren dahin – sie haben’s nicht Gewinn!
Eine erhabene Seele, diese verklärte Großmutter! sprach Angés. Und was prophezeite sie sonst noch?
Daß ich noch mehr als einen schmerzlichen Verlust würde zu beweinen haben, erwiederte Ludwig; daß mir beschieden sei, arm an Freuden und dennoch reich an Liebe in einen Hafen einzulaufen, dessen Wellen kein Sturm der Außenwelt berühre. Wachsamkeit empfahl sie mir, »darum« so sprach sie: »habe ich dir den Falken von Kniphausen gegeben, daß er dir ein Bild der Wachsamkeit sein möge, neben einer werthen Erinnerung. Wachen sollst du, mein Sohn, wachen und hüten, wie geschrieben steht im achten Vers des einhundertundzweiten Psalms: Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel. Hüte dein Kleinod und lebe wohl!«
Jedenfalls verstand sie unter diesem Kleinod jenes köstliche Geräth in Falkengestalt, das sie mir schenkte – fügte Ludwig hinzu.
Wenn sie nicht ein anderes Kleinod darunter verstand, ein höheres, herrlicheres! sprach Angés ahnungsvoll und lächelte still vor sich hin.
Der Graf verstand sie nicht, aber er versank in ihr Anschauen. Da war Alles Klarheit, Alles Licht und Liebe – ein überreicher Wunderhort der edelsten seelvollsten Weiblichkeit.
Romantischer Naturfriede und klösterliche Waldeinsamkeit umflossen und umschatteten das reizende Münsterthal zu Sanct Landelin, über das noch vor Kurzem der Krummstab des Hochstifts Straßburg geherrscht hatte. Zum zweiten Male hatte dieses reizende Thal jene beiden Liebenden aufgenommen, welche schon einmal dort weilten, und zwar zu der Zeit, wo gegen Leonardus Cornelius van der Valck die meuchlerische Gewaltthat verübt ward. Man war vorsichtiger geworden, obwohl man eine Wiederholung solchen Ueberfalles nicht befürchtete; denn man hielt sich sicher unter dem unmittelbaren Schutze eines nahe verwandten Kirchenfürsten, der im Schlosse des Städtchens als römischer Hauptpriester und letzter vormaliger Fürstbischof von Straßburg seine Residenz aufgeschlagen hatte, und mit jener Gastfreundschaft, welche vor alten Zeiten schon das Kloster und Münster in großartiger Ausdehnung geübt hatte, Manchem eine gesicherte Zufluchtsstätte bot, und häufig Verwandte und Freunde bei sich sah.
In diesen Gefilden, so nahe sie dem Rheinstrom lagen, herrschte der Friede, und keine Kriegerschaaren, nur Züge andachtsvoller Wallfahrer und Pilger strömten zu dem Gnadenort, an welchem einst der heilige Landelin, der Sage nach, seinen Martyrertod gefunden hatte, und nach dem Tode Wunder übte. Stattliche Gebäude erhoben sich rund umher und gaben dem Klosterhof ein bedeutendes Ansehen. Zahlreiche Dörfer und Höfe der Nachbarschaft waren früher dem Kloster zinsbar gewesen, und gegen das große Weinfaß, welches einst im Keller des Münsters aufbewahrt und von den alljährlich neu zuströmenden Spenden des Weinzinses vollgefüllt gehalten wurde, war das weltberühmte Heidelberger Faß nur ein Zwerg, denn dieses letztere faßt nur 283,000 Flaschen, jenes aber hielt 480,000 Flaschen oder 3000 Ohm edlen Rebensaftes.
Edlen Beschäftigungen und heiterem Naturgenuß hingegeben, verweilten hier die in Liebe und reinen Neigungen verbundenen Personen. [361]Da am Orte ein kleines Bad sich befand, so lebte Graf Ludwig mit seinem Diener, der sich nie von ihm trennte, als Badegast daselbst und beschäftigte sich mit anziehenden Studien über die Geschichte dieser Landestheile; er nahte Angés nur, um sie in Gesellschaft von Jacques und ihrer kleinen holden Schutzbefohlenen auf Spaziergängen zu begleiten, die aber niemals wieder nach jenem Orte schaurigen Andenkens, sondern meist in der Richtung nach dem Städtchen und dessen Umgebungen unternommen wurden. Hier begegneten sie bisweilen einer schönen verschleierten Dame, die das fürstbischöfliche Schloß bewohnte und eine Nichte des Fürstbischofs war; dies fiel Niemand auf, und ebensowenig konnte Jemand ein Arges dabei denken, oder gar das wahre Verhältniß ahnen, das diese Personen in mannichfacher Weise miteinander verband. Außer Jacques folgte auch stets Philipp gut bewaffnet seinem Gebieter, und spähte sorglich nach irgend einer drohenden Gefahr umher.
Jener liebenswürdige junge Herzog hatte, während er von Allem was er liebte getrennt war, und nachdem er sein Heer wieder nach Deutschland zurückgeführt, mit wechselndem Kriegsglück gekämpft, bald sah er seine Brust von der Hand des Kaisers von Rußland mit dem Großkreuz des Maltheserordens geschmückt; endlich aber hemmte ihn mitten in ruhm- und ehrenvoller kriegerischer Laufbahn der lüneviller Friedensschluß. Dieser führte die völlige Auflösung des Condéischen Corps herbei. Einer der Prinzen dieses Hauses hatte sich bereits im Jahre 1795 nach England begeben, und es ward lebhaft gewünscht, daß ihm sein Vater und sein Sohn jetzt dorthin folgen sollten, denn England war es, das diese Prinzen schützte und unterstützte. Den Vater zog es dem Sohne nach, aber den Sohnessohn fesselte die Liebe, die mächtige, starke Liebe oder – sein Verhängniß, und er lebte nun in dem neu gewonnenen Asyle seines Lebens glücklichste Zeit, füllte die Stunden einer schönen Muße mit dem Vergnügen der Jagd aus, die er leidenschaftlich liebte, gab sich der Lust am Gartenbau hin, unternahm auch wohl kleine Reisen und Ausflüge, kehrte aber stets mit neuer Sehnsucht zu ihr zurück, der alle sein Denken und Empfinden geweiht war.
Das Landesgebiet, das diese reizenden Asyle bot, war an Baden gekommen, dessen Kurfürst nicht nur dauernden Schutz Allen vergönnte, [362]die dessen unter der neuen Regierung bedurften, sondern der sich auch des Herzogs besondern Dank noch außerdem dadurch erwarb, daß er ihm ein noch größeres Jagdgebiet einräumte, als derselbe bisher schon inne gehabt hatte.
Mehr als einmal lud der Herzog den Grafen ein, ihn auf seinen Jagden zu begleiten; dieser leistete aber nur einmal Folge und dann nicht wieder. So sehr der Herzog ihm zusagte, und so sehr er diesen verehrte, um so weniger fand Ludwig sich von seiner männlichen Umgebung angezogen. Dafür diente er ihm in anderer Weise; er half ihm Werke der Wohlthätigkeit in verschwiegener Stille üben. Glückliche geben ja gerne, und der Herzog war so überaus glücklich, Ludwig nahm Philipp zu Hülfe, um verschämte Arme aufzufinden, und manche stillgeweinte Thräne des Schmerzes wurde durch vereintes Wohlthun in die Thräne der Freude und des Segens umgewandelt. Stilles Wohlthun war ein Grundzug im Wesen des Grafen, und wie gern verband er sich in diesem Sinne dem jungen mildthätigen Fürsten.
In der Stille dieses Thalfriedens, im Zauber dieser romantischen Natur ging Ludwig ein neuer Stern auf, ein neuer Lebensfrühling, schöner als er ihn je geahnet hatte. Mit wunderbarer Magie erklang in ihm der tönende Memnonruf, der ihn für eine neue, beseligende Liebe weckte. Die kleine Sophie entfaltete sich frühreifend zur holdesten Jungfräulichkeit und Niemand pries eifriger gegen Ludwig deren Seelengüte, deren ächtweibliches Gemüth, deren Schönheitszauber als Angés, der es Wonne schuf, den Mann, der die ganze Fülle ihrer reinsten Freundschaft besaß, einem beglückenden Loose zuzuführen. Angés war der reine Schwan, der wie in der lieblichen indischen Sage von Nal und Damajanti neigungweckende Worte von einem Ohre zum andern trug, von einem Herzen zum andern. Im Glücke ihrer beiden Lieblinge gedachte sie sich dereinst zu sonnen, ihnen Freundin zu bleiben und Genossin ihres Glücks, dieser Gedanke bildete ihren seligsten Zukunfttraum. Was sie von den äußeren Verhältnissen des Grafen kannte, erschien ihr vollkommen beruhigend, vielleicht hielt sie ihn für reicher als er war. Sophie konnte unter günstigen Verhältnissen dereinst noch eine der reichsten Erbinnen werden, denn das Vermögen der Familie Condé-Bourbon, das man [363]diesem Hause geraubt und zum Staatseigenthum gemacht hatte, dieses Vermögen war unermeßlich.
Nach diesem Reichthum richtete sich indeß gar mancher Blick der Habgier und mancher andere Blick des Argwohns richtete sich nach dem edlen und unbefangenen Herzog; der Blick der Vatertreue aber flog über’s Meer herüber voll banger Besorgniß. Die kurzen Abwesenheiten und Reisen des Herzogs, meist in aller Stille unternommen, fanden Mißdeutung; sie nährten auf der einen Seite den politischen Verdacht, auf der anderen vermehrten sie die wohlmeinende Warnung. Aber wann vernahm der Tannhäuser im Zauberberge der Liebe die Warnestimme des treuen Eckart? Eine graue Spinne wob größer und größer, weiter und weiter ein unsichtbares Netz – sie hieß Verrath.
Schon im Sommer des Jahres 1803 hatte des Herzogs Vater, der zu Wanstead in England weilte, warnend an den Sohn geschrieben.
Mein Vater, sprach damals mittheilend der Herzog zu seiner Angebeteten: hegt seltsamen Verdacht. Höre, was er schreibt, meine Charlotte: »Man behauptet hier in Wanstead, daß du eine Reise nach Paris gemacht habest, Andere sagen, du seist nicht in Straßburg gewesen. Es leuchtet wohl ein, daß es mehr als zwecklos wäre, deine Freiheit und dein Leben auf das Spiel zu setzen.«
Wer mag es gewesen sein, der deinem Vater diese Nachrichten hinterbracht hat? fragte die Prinzessin, welcher das Herz bange zu schlagen begann.
Das weiß nur Gott, nicht ich, meine Liebe, entgegnete der Herzog.
Und thatest du wirklich keinen so gefährlichen Schritt, mein Henri? Oder thatest du ihn? Vergaßest du mich und unser Kind? fragte mit liebevollster Besorgniß und voll Seelenangst Charlotte und schloß den Gemahl in ihre Arme, als fürchtete sie, ihn zu verlieren.
Der Herzog küßte sie und erwiederte halb zärtlich, halb schwermüthig: Nein, Charlotte, ich habe diesen Schritt nicht gethan, aber wenn ich ihn gethan hätte, wer wollte mir ihn, außer den Feinden unseres Hauses, verargen? Diese hier ausgesprochenen Befürchtungen liegen so [364]nahe, und es wundert mich gar nicht, wenn Einige glauben, daß der Blick in eine Zukunft, die aller Hoffnung beraubt ist, mich verleiten könnte, mich mit den Feinden unseres Hauses in Verträge einzulassen; Andere hingegen, daß ich Tag und Nacht darauf sänne, eine Lage, die mich niederdrückt und völlig lähmt, zu verändern. Der Sold Englands brennt mir in der Hand! Wann war England Frankreichs wahrer Freund? Aus Haß gegen Frankreich unterstützt es jetzt uns, und stempelt uns zu Feinden Frankreichs, uns, die wir unser geliebtes Vaterland so heiß, so innig lieben! Ist das nicht fürchterlich? Mein Vater – fuhr der Herzog fort, kennt mich besser. Er schreibt über den ersterwähnten Verdacht, daß er ihn nicht theile, aber daß die Gefahr mir sehr nahe liege. »Hüte dich,« schreibt er, »und vernachlässige keine Vorsicht, um dich rechtzeitig zu sichern, im Fall der erste Consul beabsichtigten sollte, dich aufheben zu lassen.«
O, mein Henri! rief Charlotte: Verachte nicht die Warnung deines treuen Vaters! Mir zittert das Herz, laß uns fliehen, weit fort von der Ufernähe des Rheins, wir sind hier Frankreich allzunahe!
Und doch so schrecklich fern! seufzte der Herzog. Wollten wir uns noch weiter von dem theuern Lande entfernen? – Der Herzog blieb, aber die Prinzessin sann im Stillen darauf, einen andern Zufluchtsort zu nehmen. Eine Jugendfreundin, eine deutsche Fürstin, deren Residenzschloß in der romantischen Künzelsau im Jaxtkreis des Landes Würtemberg gelegen war, sollte ein neues Asyl gewähren; in jene anmuthigen und reizvollen Thäler des Kocher und der Jaxt wollte man sich zurückziehen, und dort unter den Schleiern des tiefsten Geheimnisses friedlich wohnen. Der Mensch baut Pläne, damit das Schicksal sie vereitle.
An einem überaus schönen Morgen ergingen sich Sophie, Angés und Ludwig unter der gewöhnlichen Begleitung ihrer männlichen Bedienung in der Nähe von dem Münster und Münchweiler, und ruhten dort aus an einer von uralten Bäumen umschatteten Stelle, auf einer Steinbank, über der ein Crucifix von dunkelem Marmor sich erhob, neben diesem standen Marie und der Jünger, den Jesus lieb hatte. Dicht daneben stand eine uralte Martyrsäule. Trunknes Entzücken sog Ludwig aus jedem Blick Sophiens, die in lieblicher Jugendschöne ihm gegenübersaß, in ihren Blicken jene Verklärung, welche das erste [365]Erwachen jungfräulicher Empfindungen begleitet, jenes süße Bewußtwerden ahnungsreicher Gefühle, die das Herz unruhiger klopfen machen. Da naht ein leiser Anhauch von Schwermuth und Schwärmerei, da irren die Gedanken wie gaukelnde Schmetterlinge dahin und dorthin, da schlägt ein unbewußtes Sehnen die bisher vom tiefen Schlummer geschlossenen Augen auf, wie die Prinzessin Dornröschen im deutschen Märchen ihre Augen aufschlug, als der Königssohn sie küßte.
Ludwig durchströmte alle Süßigkeit, alles Ahnen einer keuschen Liebe, doch verschloß er tief in seiner Brust was er fühlte, denn noch dünkte ihm dieses holde Wesen ein unnahbares Heiligthum, wie deutlich auch schon ein hohes Vertrauen ihn hatte verstehen lassen, man werde in seinem Schutz dies Kleinod gern geborgen wissen.
Die Sommerluft hauchte erfrischende Kühle; aus der Vorhalle der nahen Kirche rieselte plätschernd Sanct Landelin’s geheiligter Wunderquell, von dem die Lustwandelnden getrunken hatten; auf den Steinstufen lagen im stillen Gebete andächtige Waller und beteten leise und eifrig ihren Rosenkranz ab. Auf des Münsters und dieses Gnadenortes Ursprung lenkte sich die Unterhaltung und Ludwig erzählte: Ein edler Schotte, Namens Landelin, verließ gleich vielen andern Mönchen Schottlands, sein Vaterland, in welchem früh die Christuslehre Wurzel geschlagen hatte, um in den damals noch rauhen und wilden Gefilden Galliens und Deutschlands dessen heidnischen Bewohnern das Christenthum zu predigen. Er ward in Frankreich Begründer der nach ihm genannten Stadt Landelles, wo sein Gedächtniß im Namen Sauveur de Landelin noch heute fortlebt. Der fromme Mann kam auch in diesen Gau, den der Heidenfürst Gisock beherrschte. Landelin ließ sich an der Stelle, wo wir eben verweilen, als Einsiedler nieder und begann in der Stille sein Werk der Bekehrung. Davon kam zu Gisock die Kunde, dessen Zorn heftig gegen den Neuerer und die neue Lehre entbrannte, und der seinen Leuten befahl, den frommen Mann zu ermorden. Landelin sank von ihren Dolchstichen getroffen in sein Blut.
Ach! schrie Angés auf, und fuhr mit der Hand nach der Stelle ihres Herzens; war es ihr doch, als empfinde sie selbst einen Stich, so ergriff sie diese Sage, im Bunde mit der Erinnerung an die Gefahr, die ihr selbst weiter aufwärts im Thale einst gedroht hatte. Ihr [366]Ausruf erschreckte die Gefährten, ja sie störte damit sogar die Andacht der Betenden, denn ein Paar Mönche in dunkeln Kutten kehrten sich nach ihr um; sie weckte auch Philipp’s Aufmerksamkeit, der in der Nähe weilte, und mit raschen Schritten hinzu trat. Angés, seltsam bewegt, bat Ludwig, in seiner Erzählung fortzufahren. Philipp sah scharf nach den Mönchen, mit Blicken voll Mißtrauen, der Graf fuhr fort: An der Stelle, wo der fromme Landelin unter den Dolchen der Meuchelmörder sein Leben verblutet hatte, entsprang ein Heilquell, welcher Kranken zu wunderbarer Genesung verhalf. Die Gefährten des Märtyrers trugen den entseelten Leichnam thalaufwärts, wo sie ihn zur Erde bestatteten. Die Stelle, wo Landelin starb, und die, wo er seine irdische Ruhestätte gefunden hatte, wurden dem Volke bald heilig, des Blutzeugen Märtyrtod und sein Wunder gewann den ganzen Gau für die Christuslehre. Dieser Ort trägt von ihm den Namen Sanct Landelin, über dem Wunderquell erbaute Herzog Etticho eine Kirche, voll Gnadenbilder und begabt mit reichem Ablaß. Zahlreiche Mönche siedelten sich hier an und weilten in diesem Thale an den Ufern der Umlitz, wie der Thalbach in früheren Zeiten genannt wurde; sie erbauten Hütten in der Nähe jenes geweiheten Grabes. Von diesem Verweilen der Mönche erhielt der allmählich entstehende Ort den Namen Münchweiler, und außerdem entstand auch noch auf jener nahen Anhöhe über dem Wallfahrtsort das Kloster Mönchszelle. Dessen Bewohner versahen den Gottesdienst in der Kirche zu Sanct Landelin. Noch aber wogten gewaltige Völkerkämpfe; die Franken brachen heraus in dieses Alemanische Land und verheerten es, das Klösterlein versank bald in tiefste Armuth. Da geschah es, daß ein frommer Mönch desselben, Namens Widegera, aus dem Breisgau, im Jahr siebenhundertundzwanzig Bischof zu Straßburg wurde, und viel zur Erhaltung von Mönchszelle that. Nach ihm wurde, doch lag dazwischen wieder eine lange Zeit voll Noth, Gefahr und Kämpfe, Etto, der Sohn Herzog Etticho’s, welcher letztere die nahe Stadt Ettenheim gründete, durch Kaiser Karl den Großen Bischof von Straßburg. Er war es, der Mönchszelle aufs Neue erhob, und nahe dem Wunderquell des heiligen Landelin das Münster neu erbaute, das wir als Ettenmünster nun vor uns in den stattlichen Bauten erblicken, das fortan ihm zur Ehre seinen Namen Etto als Ettenheimmünster fortführt. Zugleich wurde Etto des [367]Münsters erster Abt, an der Spitze einer Reihe von zweiundfünfzig Aebten, die durch gute und böse Zeiten hindurch dieses Kloster regierten. Immer schlimmer wurden indeß die bösen Zeiten und die guten hörten endlich ganz auf; der goldenen und silbernen folgte die eiserne Zeit mit ihren Gewaltthaten, ihrem Waffenlärm und ihrer Hab- und Raubsucht, wobei von den natürlichen Schirm- und Schutzherrn, den Herren von Geroldseck einer nach dem andern sich als Feinde des Klosters erwiesen und es mehr und mehr verkürzten, bis mit dem Frieden von Lüneville dessen Aufhebung erfolgt ist.
Nach dieser Mittheilung erhoben sich die Spaziergänger zum Weggehen und wandelten wieder ihrer nahen ländlichen Wohnung zu. Langsam und keineswegs bemüht sie einzuholen, folgten ihnen in gemessener Entfernung die erwähnten Mönche auf demselben Wege, aber zwischen ihnen und der Herrschaft ging Philipp, nicht ohne sich oft nach Jenen mißtrauisch umzusehen.
Graf Ludwig hatte sich kaum von Angés und Sophie verabschiedet, als Philipp mit sorgenvoller Miene zu ihm trat. Der Ausdruck seiner Züge machte den Grafen betroffen.
Nun, Philipp, was hast du? fragte er ihn verwundert.
Gnädiger Herr! entgegnete der Diener mit verhaltenem Zorn: Er ist da! Ich hab’ ihn gesehen!
Wer ist da und wen hast du gesehen? fragte Ludwig.
Der Citoyen, der Wasserspringer, gnädiger Herr! versetzte Philipp. Das Spitzbubengesicht vergess’ ich all’ mein Lebtag nicht, ich erkannt’ es gleich wieder, obschon ich’s nur einen Augenblick sah. Einer der beiden Mönche war’s, die uns langsam nachfolgten, die vorher, wie Sie die Geschichte von dem alten Kloster erzählten, dort in der Vorhalle der Kirche knieten. Wie dieser Kerl den Kopf wandte, wie er herübersah nach Ihnen und den Damen, da hatte ich’s los: Es war ein Blick, wie der einer Schlange. Geben Sie Acht, Herr Graf, das könnte nichts Gutes bedeuten!
Diese Nachricht überraschte und erschreckte Ludwig und er nahm sie keineswegs leicht auf.
Vielleicht irrtest du dich, vielleicht auch nicht, sprach der Graf; immer wird es wohlgethan sein, daß wir auf der Hut sind. Siehe zu, ob du die Mönche wiederfindest, spähe aus, wohin sie gehen, wo [368]sie bleiben, ich werde das Meinige thun. Sobald du zurückkommst, sattle das Pferd, ich werde nach der Stadt reiten, du aber bleibst so lange in der Wohnung der Damen als Wächter und hütest sie sorgsam mit all der Treue, die ich an dir kenne.
Mir soll Keiner kommen, gnädiger Herr, darauf verlassen Sie sich. Wehe dem Kerl, der dazu geholfen hat, den guten seligen Herrn Leonardus van der Valck hinüber zu befördern, ich zermalme, ich zerquetsche ihn, und sollte es mich den Kopf kosten!
Ludwig blieb im tiefernsten Sinnen allein. Philipp’s Meldung weckte allerhand sorgenvolle Gedanken in ihm auf; schon längst hatte er wahrgenommen, daß sich, begünstigt von der Freiheit des Gnadenortes, gar mancher verdächtige Geselle in dieses Thal gestohlen, daß Späheraugen umherschlichen, daß vom nahen Frankreich aus jene Netze herübergeworfen wurden nach dem Fürsten, der, so oft man ihn auch warnte, an eine Gefahr nicht glaubte und nicht glauben wollte.
Philipp erschien nach einiger Zeit wieder und meldete seinem Gebieter, daß es ihm nicht gelungen sei, von jenen beiden Mönchen auch nur die leiseste Spur zu entdecken, beharrte aber auf seiner Behauptung und betheuerte hoch und heilig, daß Jener kein anderer als Clement Aboncourt, der Spion, gewesen sei.
Ludwig befahl ihm wiederholt, in der Nähe der Wohnung der beiden Damen zu bleiben, auch Jacques zur Wachsamkeit aufzufordern; dann ritt er nach dem Städtchen, wo er ohne Aufenthalt Audienz bei der Prinzessin forderte. Gütig und mit dem freundlichsten Wohlwollen wie immer empfangen, theilte nun der Graf der edlen Frau ganz offen und unumwunden nicht nur die Wahrnehmung und Vermuthung seines Dieners mit, sondern brachte auch so manches Andere zur Sprache, was Ludwig von andern Fremden, von Einwohnern, von Leuten der Gasthäuser flüchtig und gesprächsweise vernommen hatte, und was Alles darauf hinauslief, daß französische Emissäre, Commissäre und Spione sich im Münsterthale verbreiteten, sogar in die Stadt sich wagten, und daß jedenfalls ein Schlag gegen die in derselben verweilenden Emigranten sich vorbereite. Man sprach laut davon, daß die stärksten Vermuthungen gehegt würden, die in diesem Lande verweilenden Angehörigen und Anhänger des vertriebenen Königshauses betheiligten sich an Anschlägen gegen das Leben des ersten Consuls den [369]die Bourbons naturgemäß hassen mußten. Schon waren Thaten geschehen, die es offenkundig machten, daß es Menschen gab, welche nicht an die Göttlichkeit der Sendung des neuen Messias von Frankreich glaubten, obschon dieser, mit hohem Muthe gewappnet, seine Feinde vor sich niederwarf und die staatliche Ordnung wieder herstellte.
Graf Ludwig entdeckte der Prinzessin, daß man sich in die Ohren flüstere, der Herzog sei mit George Cadoudal im Einverständniß, habe für denselben das rothe Band und den Generallieutenantstitel vom Grafen von Artois ausgewirkt, stehe auch mit Pichegru im geheimen Bündniß und es sei ganz zweifellos, daß eine große weitverzweigte Verschwörung existire, die der Herrschaft und dem Leben des ersten Consuls ein Ende zu machen beabsichtige. Zu diesem Ende reise der Herzog von Zeit zu Zeit verkleidet zu George, wo demselben im Kreise der Verschwornen königliche Ehren erwiesen würden.
Die Prinzessin erschrak heftig über diese Nachrichten und traf auf der Stelle ihre Anstalten.
Ich sehe klar, sprach sie, daß hier ein ganz anderes Complott vorliegt, als blos das gegen Leben und Freiheit meines Gemahls! Man weiß, daß wir auf dem Punkte stehen, unsere bis jetzt heimlich gehaltene Verbindung vor aller Welt zu erklären, man sieht ein, daß durch diese Verbindung das Vermögen des Herzogs nicht an Die, welche darauf hoffen, sondern an dessen rechtmäßige Erben fallen wird, daher will man den letzten Zweig vom Hause Condé abhauen, auf daß der ganze Stamm verdorre, und will dies durch Verdächtigungen bewirken. Tausendfacher Dank sei Ihnen gesagt, mein bester Graf! Sie sind der Freund, auf dessen Hochherzigkeit ich in allen Fällen fest vertraue. Lassen Sie uns rasch und entschieden handeln, retten Sie mein Kind! In Ihre treue Hut übergebe ich, die Mutter, es für Leben und Sterben. Der Herzog hört auf keine Warnung, ist blind für die Gefahren, die ihn umdrohen; ich muß selbständig handeln, Mutterpflicht und Mutterliebe gebieten es mir. Sie, bester Graf, rüsten sofort Alles zur Abreise, Sie gehen noch heute, höchstens morgen mit Sophie, die ich nur noch einmal sehen und segnen will, in Begleitung von Angés, Jacques und Sophie Botta nach Ingelfingen, und verbergen dort durchaus Herkunft und Stand von Ihnen Allen. Mittlerweile werde ich den Herzog überzeugen und bewegen, daß er mit mir Ihnen folgt und [370]sich dem gefährlichen Netz entzieht, das sich hier um ihn und uns Alle herumspinnt. Säumen Sie nicht, ich werde sogleich den Wagen senden und Sophie herüber holen lassen, für die ich zittre. Ach, bester Graf, welch’ unschätzbares Gut vertraue ich Ihnen an! O, Himmel, und ich bin so ganz ohne Bürgschaft!
Gnädigste Frau Prinzessin! unterbrach lebhaft und ganz gegen die Form der Courtoisie der Graf die Sprechende: sagen Sie nicht ohne Bürgschaft! Ich stelle Ihnen diese Bürgschaft, bei Gott dem Allmächtigen, ich stelle sie! – Und indem der Graf in leidenschaftlicher Erregung auf seine Kniee sank, fuhr er fort: Bei dem ewigen Gott, den ich in dieser feierlichen Stunde zum Zeugen anrufe, bei dem Gott, vor dem, und nicht vor Ihrer Hoheit, ich jetzt kniee, stelle ich Ihnen meine Bürgschaft: das Herz eines deutschen Mannes, und weihe mich, mein Leben, mein Hab und Gut, meine Zukunft, mein ganzes Erdendasein dem himmlischen Geschöpf, welches Sie Ihre Tochter nennen! Ich will ihr Alles sein, wozu Sie mich ernennen, wozu sie selbst mich erwählt, Vater, Bruder, Freund, Beschützer, Wächter, Alles, Alles! Ich will um Sophien willen der Welt, ich will dem Leben entsagen, wenn dies gefordert wird! Unter hundert Schleiern will ich sie verbergen, ihr Geheimniß will ich bewahren, und wenn Sie, oder der erlauchte Vater es nicht lösen, so soll keine Macht oder Gewalt, selbst nicht die furchtbare Macht des Todes das dreimalheilige Siegel brechen, das meine Lippen schließt. Ich weiß, Hoheit, was ich Ihnen verspreche – ich bin frei, bin unabhängig, bin durch schmerzliche Erlebnisse abgelöst von der Welt – und – daß ich es sage, weil ich es sagen muß, o Prinzessin, zürnen Sie nicht, richten Sie nicht – ich liebe Sophie! Ich bete Sophie an!
Graf, sprach die Prinzessin, im Innersten erschüttert, während ihre Thränen unaufhaltsam strömten und sie dem Knieenden beide Hände bot, ihn emporzuheben: Sie sind ein edler Mensch! Sie sind würdig des höchsten Glückes, das die Erde bieten kann, o möcht’ Ihnen für Ihren treuen und festen Wille ein Himmel auf Erden werden! Gehen Sie, und bringen Sie mir Sophie, daß ich Sie Beide segne. –
Graf Ludwig ging, den Himmel im Herzen und große Entschlüsse in seiner Seele. Noch an demselben Abend fuhr er mit Sophie und [371]Angés nach der Stadt, – auf dem Kutschersitz saß wohlbewaffnet Jacques, hinten auf nicht minder gut bewehrt Philipp. Weder auf dem Hin- noch auf dem Rückwege zeigte sich Etwas, das Besorgniß hätte erregen können.
Liebevoll vertraute die Mutter ihrem Kinde, daß die größte Gefahr ihnen Allen drohe, daß Graf Ludwig großmüthig entschlossen sei, ihr Retter, ihr Ritter, ihr Beschirmer zu werden, daß sie in eine kurze Trennung von dem liebenden Mutterherzen sich fügen müsse und daß, es komme wie es wolle, ihr Geschick sich an das des Grafen knüpfen werde.
Sophie weinte, wie es nicht anders sein konnte, aber sie sprach unter Thränen zur Mutter die verständigen Worte: Was Sie befehlen, meine gnädigste Mutter, ist meine Pflicht. Was der Herr Graf mir befehlen wird, werde ich befolgen, als seien es Gebote aus Ihrem Munde. Ich kenne und ehre den Herrn Grafen aus frühen Kindheittagen; er war schon, als ich noch ein Kind war, auf dem Schiffe in Amsterdam, auf der Reise und zu Schloß Doorwerth die Güte selbst gegen mich, er war auf der Reise nach Rußland mein Führer, mein Lehrer, ebenso in Hamburg, ich danke ihm so viel, daß ich nichts erdenken kann, was ich besäße, um ihm damit für alles Das zu lohnen, was er mir Gutes und Liebevolles erwiesen hat.
Den größten Dienst steht der Graf jetzt im Begriffe, uns und dir zu leisten, aus der größten, drohendsten Gefahr dich zu retten, sprach die Prinzessin. So gehe denn in des Grafen Schutz, in Gottes, in Mariens, in aller Heiligen Schutz, mein theures, ewig theures Kind! Wir sehen uns wieder! Gott gebe bald, recht bald!
Der Herzog war nicht bei dieser Abschiedscene zugegen, er war nicht im Orte, vielleicht verreist, vielleicht auf der Jagd.
Es war zu sehr früher Morgenstunde, der Tag graute kaum, – Alles war still und feierlich in den Nachbarorten Ettenmünster, Münchweiler und Sanct Landelin. Die mannichfaltigen großen Gebäude erschienen noch höher, gewaltiger, ausgedehnter als bei Tage, die Thalferne war nebelgrau umflort und düster. Der Ettenbach rollte stark hinab nach der Stadt, als eile er, recht wie ein fleißiger Arbeiter in der Frühstunde zu Felde zieht, seine Mühlen zu treiben, [372]oder seine Thalwiesen wässernd zu befruchten. Alles war gepackt, geordnet und zur Reise bereit. Zwei Wagen sollten die Reisenden aufnehmen, im ersten sollten der Graf, Sophie und Angés, im zweiten die Dienerschaft fahren.
Als es nun zum Einsteigen kam, weigerte sich Angés entschieden, sich zu Ludwig und Sophie in den Wagen zu setzen, behauptete das Rückwärtsfahren nicht gut zu vertragen, und was sie sonst für Vorwände zur Hand nahm; der wahre Grund aber lag in Angés zartem Sinn, sie wollte Sophie jetzt einzig beim Schmerz über diese Trennung von den geliebten Eltern der Tröstung ihres Begleiters überlassen, denn es gibt Augenblicke im Leben, wo zwischen zwei Personen auch die allervertrauteste Dritte stört.
Der Postillon des ersten Wagens stieß in’s Horn, stimmte die Melodie eines schwarzwälder Volksliedes an und dasselbe schien allen bewaldeten Bergwänden des Münsterthals so wohl zu gefallen, daß sie’s im Echo nachtönten. – Diese Posthornklänge und des Wagens Rollen auf harter Straße, die frisch mit Bergkies bedeckt war, ließ einen gellenden Aufschrei überhören, der plötzlich hinter ihnen dicht am zweiten Wagen ausgestoßen wurde, einen Schrei, der herzzerschneidend alle Diejenigen durchdrang, welche ihn vernahmen.
Der anbrechende Morgen war trüb und düster, und über der Straße, die durch das Gebirge nach Tübingen zu führte, hingen schwere Nebel, die an den Waldbergen hinzogen. Ein solcher Morgen weckt keine frohe Stimmung, und der heutige entsprach außerdem noch so ganz der Lage der Reisenden. Sophie war still und ergeben, sie fühlte sich geschützt, einer drohenden Gefahr entrissen, von der Zukunft hoffte sie nichts; ihre Gedanken kehrten zurück zu den geliebten Herzen, die sie hatte verlassen müssen; ihre einzige Hoffnung war die Verheißung des baldigen Wiedersehens.
[373]Graf Ludwig war von anderen Betrachtungen bewegt. Er fühlte sich stolz und mächtig gehoben in dem Gedanken, daß Sophie ihm nun so unerwartet schnell anvertraut sei; er gedachte seines heiligen Gelübdes, und schwur sich noch tausendmal zu, es zu halten. Er sprach zu Sophie sanfte, ehrerbietige Worte, und wußte gleich in der ersten Stunde seines Alleinseins mit ihr mit sicherem Tacte den Ton zu finden, der sich für beide ziemte.
Was ich von Ihnen erbitte, nahm er das Wort, ist, daß Sie mir erlauben wollen, auch fernerhin zu Ihnen in dem Tone reden zu dürfen, den unsere vielfachen gemeinschaftlichen Reisen und das nothwendige Incognito der späteren Zeit uns finden ließen. Ich werde Sie ehren, als seien Sie eine Königin, ich werde Sorge tragen, daß diese Ehrerbietung von Allen ausgehe, die Sie künftig umgeben und Ihnen dienen, aber ich werde Sie nicht Prinzessin nennen, denn dieses Wort würde nur die argwöhnische Neugier wecken. Sie müssen um Ihrer eigenen Sicherheit willen stets vor den Augen anderer Menschen verschleiert erscheinen, und bei Ihrem Leben gegen keine Seele sich mittheilen. Es ist eine große Last, die das Schicksal einem noch so jungen Herzen auferlegt, und manche Lebensfreude, auf welche Jugend, Schönheit und Anmuth Anspruch haben, wird Ihnen versagt bleiben, doch wird Alles geschehen, um Sie, so viel es möglich ist, zu entschädigen, und gewiß wird nach einiger Zeit diese Fessel auch wieder von Ihnen genommen; Sie werden an der Hand der erlauchten Eltern wieder in die Welt treten und die Huldigungen empfangen, welche Ihnen gebühren.
Ich habe keinen anderen Wunsch, Herr Graf, entgegnete Sophie, als den, mit meinen Eltern recht bald wieder vereinigt zu werden; bis dies geschieht, werden Sie mich in Allem folgsam und gehorsam finden, was Sie mir anbefehlen.
Ich werde Ihnen nie Etwas befehlen, Sophie, entgegnete Ludwig; aber jede der Bitten, die ich an Sie richte, wird Ihr Wohl zum Zweck haben.
Ihre Wünsche werde ich so achten, erwiederte Sophie, als wenn mein Vater oder meine Mutter dieselben mir an’s Herz legten. –
Die Fahrt hatte schon eine Zeitlang gedauert, als an einer Stelle, wo es langsam bergan ging, der Graf sich aus dem Wagen bog, [374]um zu sehen, ob der zweite Wagen hinter ihm sei? Ludwig bedauerte im Stillen Angés Weigerung, sich zu ihnen in den ersten Wagen zu setzen; er hätte gerne ihre Stimme gehört, sich ihrer gemüthvollen Unterhaltung erfreut, es war ihm nicht möglich, ganz ohne Befangenheit mit dem fürstlichen Kinde zu sprechen, und sich gleich völlig in das ihm so neue Verhältniß hinein zu finden und einzuleben. So sehr die Glut der Liebe ihn durchzitterte, so sehr hielt die höchste Achtung, die ehrfurchtvollste Scheu ihn ab, Sophien schon jetzt diese glühende Neigung zu offenbaren.
Der Wagen folgte in ziemlicher Entfernung, halb vom Nebel eingeschleiert, der rings die Fernsichten hemmte, und nicht einmal die benachbarten Berggipfel erkennen ließ.
An einer Waldschmiede hielten nach der Fahrt von zwei Stunden die Postillons, um einem der Pferde ein losgegangenes Eisen festnageln zu lassen, und da glücklicher Weise neben der Waldschmiede auch eine Waldschenke stand, so benutzten die Lenker des Viergespannes diese Gelegenheit zur Einkehr in dieselbe.
Ludwig stieg einige Augenblicke aus und sah dem nachkommenden Wagen verlangend entgegen, um Angés zu grüßen, und sie auf Sophiens Wunsch zu ersuchen, im ersten Wagen bei ihnen Platz zu nehmen.
Jener Wagen kam langsam nach, als er nahe genug war, sah der Graf zu seiner Bestürzung, daß es eine völlig fremde Kutsche sei. Er rief den Kutscher an, ob er nicht einen Reisewagen mit Gepäck und vier Pferden überholt habe? Dieser, eine nichts weniger als gutmüthige Schwarzwälder Physiognomie, schüttelte sein mit einem breiten Hute bedecktes Haupt, ohne ein Wort weiter zu sagen, und peitschte sein Gespann, welches einige Neigung zeigte, auch vor der Waldschenke zu halten.
Das war Ludwig unangenehm, ja es berührte ihn peinlich, daß jener zweite Wagen nicht nachkam – er sah die Zögerung des Postillons nicht ungern, hoffte und hoffte, blickte verlangend und voll Ungeduld auf den zurückgelegten Weg, so weit dieser sich überschauen ließ, und immer vergebens. Der zweite Wagen kam nicht, die Fahrt des ersten ging weiter. Die Station wurde erreicht, wo die Pferde gewechselt wurden, neuer Aufenthalt – der zweite Wagen blieb noch [375]immer aus. Es wurden einstweilen frische Pferde für ihn bestellt und dem zurückreitenden Postillon aufgetragen, den Nachfolgenden Eile anzuempfehlen.
So ging es von Station zu Station, immer banger wurde es dem Grafen um’s Herz. Was war geschehen? Was konnte diesen räthselhaften Aufenthalt veranlaßt haben? Der Abend dämmerte nieder und der Tag, der für Ludwig so verheißungsreich begonnen, sank ihm sehr trübe, seine Verlegenheit mehrte sich von Stunde zu Stunde; er begann jetzt unwillig zu werden über Angés’ Laune, wie er es nannte, und mußte doch diesen Unwillen vor Sophie unterdrücken, durfte die noch Ahnungslose nicht schrecken und mit seinen Befürchtungen ängstigen.
Tübingen war erreicht, das Ziel des ersten Reisetages, wo Nachtrast gehalten werden sollte, und Ludwig’s Verlegenheit wuchs mit jeder Minute. Sollte die Prinzessin der weiblichen Bedienung entbehren, sie, die von Kindheit auf die sorgsamste Aufmerksamkeit gewohnt war?
Ludwig ordnete an, daß eine Staffette dem Wagen entgegen gesendet werde, die die ganze Straße entlang nach der zurückgebliebenen Reisebegleitung forschen und nöthigenfalls bis zur Post nach Ettenheim weiter befördert werden sollte, wenn keine Spur sich fände.
Nach einer Stunde sorgenvollen Harrens kam die Staffette zurück und rief zum Fenster des Gasthauses hinauf, aus dem der Reisende heruntersah, daß der Wagen sogleich kommen werde.
Voll hoher Freude warf der Graf ein paar brabanter Laubthaler in den Hut des Postillons, der von dannen ritt, und bald rollte in der That der langersehnte Wagen heran. Voll Unruhe und Ungestüm eilte Ludwig die Treppe hinunter, um Angés selbst aus dem Wagen zu heben.
Philipp war bereits von seinem Außensitz herabgesprungen, sein sonst so frisches rothes Gesicht war bleich; er blickte seinen Herrn mit dem Ausdruck tiefen Kummers an, öffnete den Schlag, – Sophie Botta, die Dienerin, stieg aus, aufgelöst in Thränen, der alte Jacques folgte – Angés fehlte.
Was ist das? Wo ist Angés? fragte Ludwig erschrocken.
Philipp antwortete: Ach, bester gnädiger Herr! Ach das Unglück! Kommen Sie in das Haus!
[376]Der Graf eilte in raschen Sätzen die Treppe hinauf und gebot Philipp, ihm sogleich zu folgen. Sophie öffnete die Thüre des Zimmers, in welches sie abgetreten war, Graf Ludwig winkte ihr stumm, zog den Diener in sein Zimmer und stammelte: Sprich! Sprich! Was ist’s mit Angés? Wo habt ihr sie gelassen?
Ach, erschrecken Sie nur nicht allzusehr, gnädiger Herr! stammelte Philipp. Ach, der liebe gute Engel!
Angés! schrie der Graf: was ist’s mit ihr?
Sie ist nicht mehr – sie ist todt – schändlich ermordet!
Todt? Ermordet, sagst du?
Wie ich Ihnen sage, schluchzte Philipp.
Jetzt kam auch die Kammerzofe herauf, überlaut weinend, und da die Prinzessin diese hörte, öffnete sie wieder die Thüre und ließ sie zu sich eintreten; bald wurde auch das junge Herz Sophiens von einer Nachricht erschüttert, die ihr das Blut erstarren machte.
Es dauerte eine ziemliche Weile, bis es zu einer zusammenhängenden Erzählung des Ereignisses von Seiten Philipp’s kam.
Wir waren eben im Einsteigen begriffen, berichtete dieser: als der Wagen des Herrn Grafen wegfuhr. Die Jungfer saß bereits auf dem Rücksitze, Angés wollte gleichfalls einsteigen, ich und Jacques hatten nur noch einen Koffer aus dem Hause zu schaffen, den ich vor mich auf den Kutschersitz nehmen wollte, und im Augenblicke, wo ich zuerst meinen Fuß auf die Stufe vor der Schwelle des Hauses setze, höre ich einen entsetzlichen Schrei, sehe Angés sinken, während eine Gestalt wie ein Schatten um die Ecke des Hauses huscht. Ich lasse gleich den Koffer fallen, schreie Jacques zu: Helft dort! und stürze dem Schatten nach, dort prasselt ein aufgestellter Haufen Holz zusammen, Scheiter fallen auf mich – aber mich hält nichts zurück, jetzt hart an der Ferse bin ich ihm – es war eine dunkle Gestalt – sie will über einen Zaun – verfängt sich in der Kutte, wendet sich – ratz! reißt die Kutte in Fetzen, und auf mich stürzt’s und ich hab’ einen wüthenden Stich in der linken Schulter. Da pack’ ich die Hand und breche sie am Gelenke ab, – sie kracht, aber fest bleiben die Teufelsfinger um den Dolch gekrallt. – Ich trete den Kerl zusammen, fasse ihn an der Gurgel und stoße ihn gegen eine Mauerwand, [377]so lange und in einem fort, bis der Athem ihm ausgeht. Nieder werf’ ich ihn, mit Füßen tret’ ich ihn, an den Haaren schleif’ ich ihn vor nach der Stelle, wo er seine blutige That vollbracht – wo Jacques die arme unglückliche Angés als Leiche in den Armen hält, und laut um Hülfe ruft und jammert. Es gibt Lärm, die Postillons springen von ihren Pferden, die Jungfer stürzt aus dem Wagen, die Hausleute eilen herbei – ach, was half das Alles? Angés war starr und kalt – von einem Dolchstoß mitten ins Herz getroffen – der Mörder mußte sich hinter dem Wagen versteckt gehalten und ihr beim Einsteigen den Mantel erst abgerissen haben, denn dieser lag am Boden, dann hatte der Hallunke seinen sicheren Stoß geführt.
Das Unglück war da, das große, entsetzliche Unglück. Nach dem Schultheißen, nach Polizei, nach Gensd’armen wurde gerufen, die ganze Ortschaft kam in Allarm. Dort lag noch der feige elende Mörder – Angés war in das Haus getragen worden, das sie bewohnt – ach, wer hätte eine solche Rückkehr geahnt! – Es wurde heller Tag – das Volk sah nicht die ermordete Angés, den Mönch sah es, und schrie: Ein frommer Pater ist erschlagen! Mord! Mord! Die Postillons wurden gezwungen, ihre Pferde abzuspannen. Jetzt sah ich erst, daß ich selbst beträchtlich blutete, es wurde mir ganz elend – ich trank ein Glas Rum und riß meine Kleider ab. Ein Bader fing gleich seine Kur mit mir an, mitten in der Wirthshausflur – des drängenden Volkes wurde immer mehr – sie wollten den Leichnam des Mannes aufheben und ihn in die Kirche tragen, wie ich aus ihren Reden vernahm – da stieß ich den Bader zurück und schrie: Den Hund, den Meuchelmörder in die Kirche? In das Gotteshaus? Auf den Schindanger gehört er, wenn ihr es wissen wollt! Ein frommer Pater wäre er, bildet ihr euch ein? O, ich weiß auch, wie ein Pater beschaffen ist! Schaut her! – Dabei riß ich ihm die Kaputze vom Kopfe, und es war nun hell genug, daß jeder sehen konnte, daß der Kerl keine Tonsur hatte. Der ein Pater? Ein französischer Spion ist’s, wenn ihr’s wissen wollt!
Wie? War es etwa jener Clement Aboncourt? rief Ludwig tief erschüttert aus.
Nein, gnädiger Herr, – der war es nicht, aber der Spießgeselle, [378]der mit ihm ging, auf alle Fälle derselbe Hund, der dem guten Herrn Leonardus den Tod brachte. Jetzt erschien Polizeimannschaft – da man an mir Blut sah, und zwar dessen nicht wenig, so sollte ich der Mörder des Mörders sein, – und schlecht genug wär’ es mir auch sicherlich ergangen, wenn der Kerl wirklich todt gewesen wäre; aber mit Einemmale fing er an, Gesichter zu schneiden und zu gurgeln und wurde wieder lebendig, wie eine Katze, die man heute dreimal todt schlägt, und übermorgen läuft sie wieder auf dem First des höchsten Daches, als wäre ihr nichts geschehen. Er wurde sogleich mit Stricken geschnürt und ins Gefängniß gebracht. Wir wollten Ihnen nun nachfahren, denn wir konnten ja doch nicht helfen – die Postillone spannten wieder an, aber sie mußten dennoch zurück. Die Polizei bestand darauf, daß wir mit nach der Stadt fuhren, um dem Gericht über Alles Aufschlüsse zu geben. Daraus entstand der endlos lange Aufenthalt – da mußte Alles an den Tag, wer wir seien, woher wir kämen, wohin wir wollten und wer den Mörder so übel zugerichtet habe? – Ich sagte, daß er mich gestochen und daß ich mich zur Wehre gesetzt habe. Was der Nichtswürdige aussagte, habe ich nicht erfahren, ich drängte zur Eile – die Zofe lief von einem Polizeisoldaten begleitet, zu einer hohen Dame, die bewirkte, daß wir freigelassen wurden und fortfahren durften. Jener Mörder wird wohl der Vergeltung nicht entgehen, aber uns allen war bitterlich weh um’s Herz über der unschuldigen Frau Angés’ Tod, die wir noch einmal sahen, und die so überirdisch schön da lag, wie eine blasse geknickte Lelibloem – so plötzlich dahinzugeben das noch so junge liebliche Leben!
Welch’ ein Schmerz für Ludwig wie für seine Schutzbefohlene!
Das war ein mehr als trüber Beginn des neuen Lebensabschnittes, der mit dem heutigen Tage für Beide angebrochen war – das war eine schwere Prüfung, eine finstere Vorbedeutung.
Der Graf ließ Philipp sogleich wundärztlich behandeln; die Wunde war übrigens nicht von Bedeutung. Des treuen Burschen Natur war nicht zart und empfindlich, er hatte zwar in der Nacht ein wenig Fieber, war aber am andern Morgen bei sehr früher Zeit wieder auf, und bereit, den Befehlen seines Herrn zu folgen. Dieser versah ihn mit Geld; er sollte sogleich mit Extrapost zurückfahren und [379]Angés’ Leichenbestattung in ehrenvoller angemessener Weise anordnen, dabei auch der Prinzessin Kunde vom Befinden ihres Kindes bringen, das der treuen Pflegerin seiner Kindheit und Jugend den traurigen Zoll der aufrichtigsten Thränen nicht versagte, ja ganz außer sich war über alle die Betrübniß, die auf sein Herz einstürmte.
Daß die Weiterreise nach Ingelfingen keine heitere war, lag in der Natur der Umstände; düstere Wehmuthschatten umwölkten die Stimmung der Reisenden, aber die tiefe und gerechte Trauer, welche der Graf und Sophie bei diesem plötzlichen, schrecklichen Hinscheiden ihrer gemeinsamen Freundin empfanden, näherte ihre Herzen einander mehr, als die hellsten Freudentage vermocht hätten.
Ingelfingen war erreicht; nach wenigen im ersten Gasthaus daselbst zugebrachten Tagen ward eine Miethwohnung in der Apotheke bezogen. Die Fürstin, an welche der Graf und Sophie empfohlen waren, war abwesend, unsere Reisenden waren also auf sich allein beschränkt, die äußerste Zurückhaltung wurde beobachtet, besonders von Seiten Sophiens; sie verließ, erschreckt und eingeschüchtert durch jenen schauderhaften Mord an ihrer geliebten Angés, kaum ihr Zimmer. Denn konnte nicht sie es sein, die der Dolch des Mörders gesucht und verfehlt hatte? War es nicht möglich, daß jene Habgierigen, welche nach ihrem einstigen Vermögen trachteten, mit Mörderdolchen ihr nachschlichen, um sie aus der Welt zu schaffen? Ihre jugendliche lebhafte Phantasie malte ihr dies Schreckbild mit den düstersten Farben aus.
Graf Ludwig hatte den einen Wagen mit Philipp zurückgesendet; für den anderen kaufte er ein schönes Rossepaar und fuhr häufig mit der Prinzessin spazieren, welche stets verschleiert neben ihm saß. Bisweilen lustwandelte sie auch am Arm ihres Beschützers, ebenfalls tief verschleiert, und Alles an ihnen ließ die Einwohner des Städtchens errathen, daß der fremde Herr wie die fremde Dame den höchsten Gesellschaftskreisen angehörten. Die Ingelfinger waren gerade so neugierig wie alle andern Kleinstädter im lieben deutschen Vaterlande, zerbrachen sich die Köpfe darüber, wer dieses so geheimnißvolle Paar sein möge, und da es ganz unmöglich war, Etwas über dasselbe zu erfahren, so suchte man in der Phantasie Rath und Auskunft dafür, und bald circulirten allerlei abenteuerliche Gerüchte über das fremde Liebespaar.
[380]Trotz der Nähe der Geliebten war Ludwig’s Herz sorgenbelastet und schwer, denn er fühlte sich fast von allen Banden losgerissen, die das Leben so freundlich knüpft und in einander verschlingt. Wen hatte er denn noch draußen in der Welt, seit auch Angés ihm entrissen war? Nur noch das Herz einer Mutter, der sich schriftlich mitzutheilen die Verhältnisse verboten; doch blieb Georgine nicht ohne Nachricht und nahm aufrichtigen Antheil an des entfernten Lieblings Wohl und Wehe. Mit den eigenen Verwandten war der Graf außer Verbindung gekommen, sie sahen seine Abwesenheit nicht ungern, es hatte Keiner nach dem Tode der Großmutter gefragt, ob Ludwig nicht auch Ansprüche oder Wünsche habe, und er selbst hielt sich in stolzer Zurückhaltung von den Verhandlungen über das großmütterliche Erbe ferne, obschon er nicht ohne ein gewisses Vergnügen die Briefe Windt’s las, die ihn in seiner Einsamkeit auffanden.
»Für mich gibt es jetzt,« schrieb ihm einst der alte Freund: »alle Hände voll zu thun, bald in Varel, bald in Doorwerth, bald in Hamburg. Die Herren, der regierende Graf und der Vice-Admiral, haben sich in Varel ganz gut verglichen; nur schade, daß sie nicht bei diesem Vergleich aus dem Falken von Kniphausen trinken konnten! Ich bin jetzt in Hamburg und betreibe den Verkauf des Nachlasses meiner hochseligen Gebieterin, so weit die Erbherren denselben nicht für sich behalten wollen. Graf William ist noch hier und überhäuft mich erschrecklich mit Schreibereien und Uebersetzungen aus dem Deutschen und Holländischen, um sich vollkommene Kenntniß in der Nachlaßsache zu verschaffen. Ich sitze bis über die Ohren unter den vermaledeiten Papieren, welche ich nebst dem ganzen Testamente lieber heute als morgen dem Feuer opferte. Hier in Hamburg sieht es auf allen Seiten elend und jammervoll aus. Ich warte nur auf Nachricht vom Erbherrn, der mir von Varel aus schreiben will, ob und wann es nöthig sei, daß ich dahin komme und mit ihm nach Doorwerth gehe; das hält mich allein noch hier auf, sonst würde ich meine brave Schwester zu meinem Bruder nach Bückeburg gebracht haben, der sie zu sich nehmen will. Glauben Sie mir, bester Herr Graf, man wird endlich müde. Denken Sie, daß ich jetzt fast ganz auf meine Kosten hier leben muß, ich bin nicht besonders bedacht worden, es wurde mir auch noch keine Sicherheit angeboten, und ich werde [381]zuletzt dem Spott, dem Hohn und dem Jammer ausgesetzt sein für sechsunddreißigjährige Dienste.«
Wie, sollte Windt Noth leiden? rief Sophie mit Bestürzung. Das dürfen wir nicht zugeben. Ich bitte Sie, Herr Graf, sorgen Sie für den braven Mann, der so treu an Ihnen hängt.
Wie erfreut und rührt mich Ihr schönes Gefühl, entgegnete Ludwig bewegt. Ich werde das Meine thun, obschon es mir kaum glaublich ist, daß Windt so blosgestellt sein sollte. Hören wir weiter, was er mittheilt:
»Das Münzkabinet hat seinen Erben gefunden; warum die Hochselige es Ihnen, Herr Graf, nicht vermacht hat, ist mir ein großes Räthsel, das sie noch nach ihrem Tode mir zu lösen aufgibt, wie sie’s im Leben so oft gethan hat. Die herrliche Bibliothek muß unter den Hammer, der Buchhändler Perthes will so gut sein und die Anzeige der Auction verbreiten, sowie auch den Catalog drucken. Das Porzellan, Glas, die Leuchter, Spiegel u. dgl. kommt Alles unter den Hammer, auch ein Theil der Bilder. Soll ich nicht die Ansichten der drei Schlösser für Sie, Herr Graf, ersteigern? Ich gönnte Ihnen die Besitzungen freilich lieber alle drei in natura. Das Silber, über sechshundert Pfund, hat die hochselige Excellenz sammt und sonders einer Jugendfreundin in Sachsen vermacht, ein hübsches Andenken, die Herren Grafen sind wüthend darüber, können aber nichts dagegen machen, höchstens es zurückkaufen.«
Habeant sibi! sprach Graf Ludwig: was nützt aller Reichthum, wenn der Mensch nicht innerlich beglückt ist? Ich will dem braven Windt eine lebenslängliche Rente sichern; verdient irgend ein Mensch auf der Welt Dank, Lohn und Anerkennung, so ist er es; es wäre himmelschreiend, wenn er sich über Undank beklagen müßte!
Ein anderer Brief Windt’s, in Doorwerth geschrieben, den Ludwig allein las, begann:
»Ich sitze hier am Orte meiner Qual, und inventire, registrire, katastrire wie närrisch darauf los, damit der Herr General-Erbe, der Herr Vice-Admiral, welcher Doorwerth übernimmt, Alles im besten Stande finde; dann heißt es bei mir: fahr’ zu, Kutscher, dann gehe ich nach Stadthagen, setze mich endlich zur Ruhe, und will nichts mehr hören und sehen von Doorwerth, Kniphausen, Varel und Hamburg. [382]Wer hätte das gedacht, daß Alles so wunderlich gekartet würde, daß Graf William, und nicht Graf Wilhelm Gustav Friedrich die Herrlichkeit übernähme, der doch erst Alles daransetzte, sie zu erlangen. Es ist in den letzten Lebenstagen der hochseligen Frau Gräfin und bei der Anwesenheit dieses guten Grafen William vielfach à la Cagliostro zu Werke gegangen worden, doch was geht das mich an? Der Vice-Admiral ist nach London gereist. Von Berlin aus ist Anfrage ergangen, ob das Münzkabinet nicht verkauft würde; der Anfrager soll ein berühmter Antiquarius sein, der dasselbe jedenfalls zu schätzen weiß. Wenn der Erbe es ihm gibt, so wird sich eine Weissagung der Hochseligen erfüllen, welche dieselbe oft aussprach: Von diesen Münzen und Medaillons, die ich mit Mühe und großen Opfern zusammengebracht, wird es einst heißen: Gehet hin in alle Welt.«
»Das Reich ist noch nicht ganz einig, erst im kommenden Herbst soll die Frucht der Harmonie reifen; wenn sie sich nur nicht spalten, wie ein Granatapfel, der unzeitig vom Stamme fällt.«
»Vom Erbherrn ist Nichts zu hören, Nichts zu sehen, nur unverbürgt habe ich vernommen, daß er bei seinem letzten Aufenthalt in Varel den Prinzen von la Tremouille und Talmont zu sich dorthin habe kommen lassen.«
»Nachträglich noch eine, mir erst kürzlich zugekommene neue Märe, die ich aber durchaus nicht gesagt haben will. Die Ihnen, Herr Graf, wie mir gewiß unvergeßliche verewigte Frau Erbherrin ist vergessen und alle Liebe der Demoiselle Sara Gerdes, vormals Kammerjungfer, dann Kammerfrau der hochseligen Erbherrin, dermalen zum Range einer Schloßverwalterin zu Varel erhoben, zugewendet worden, welche die Ehre genießen wird, die Stellvertreterin einer Ottoline zu werden. Dieses nicht mehr junge Mädchen stammt aus Bockhorn, das, wie Ihnen genugsam bekannt ist, zwischen Varel und Kniphausen liegt, und der Großvater derselben zählte zu den Hörigen der Herrschaft, der Vater aber ist jetzt ein freier Landbebauer. Was sagen Sie dazu?«
Diese Meldung erschütterte den Grafen Ludwig sehr; als er allein war, rief er fast in Verzweiflung aus: Mein Fluch, mein Fluch! Welche Dämonen habe ich heraufbeschworen über das Haus, dem ich entstamme! – Nun sehe ich, wie sich Alles, Alles erfüllen wird, der [383]dauernde Hader, die Zwietracht, die Verachtung, die Verarmung, Alles, bis auf den letzten Punkt!
Sich zu zerstreuen, ging er hinunter in die Wohnung seines Hausmanns, des Apothekers, der ein sehr unterrichteter und dabei jovialer Mann war. Es war Gewohnheit der vornehmeren Einwohner des Städtchens, sich Sonntag Vormittags zu einem Glase Wein in der Apotheke einzufinden, und die Weinstube hatte dadurch, daß auch der fremde Herr, der im Hause wohnte, dieselbe besuchte, einen neuen Reiz gewonnen, zumal Ludwig sich eine Menge solcher Zeitungen des Auslandes kommen ließ, von denen sonst nie ein Blatt nach Ingelfingen gedrungen wäre. Erfuhren auch die Herren nicht, was sie für ihr Leben gern gewußt hätten, wer eigentlich dieser vornehme, zurückhaltende schöne Mann sei, so sahen sie doch seine Persönlichkeit in ihrer nächsten Nähe, sahen, daß ihm der Wein nicht minder mundete wie ihnen, und hörten ihn gern sprechen, wenn er über die Ereignisse der Zeit über die Hoffnungen und Befürchtungen in politischer Beziehung sich äußerte. Auch hatte der Postmeister der Gesellschaft vertraut, der fremde Herr empfange fast mehr Briefe, als der erste Kaufmann von Ingelfingen. – Sophie beschäftigte sich stets in Gegenwart ihres Kammermädchens, wenn der Graf ihr nicht Gesellschaft leistete, mit leichter weiblicher Arbeit, oder las gute französische Bücher, übte sich auch bisweilen im Deutschen, worin jedoch ihre Fortschritte nur langsam waren; besonders fiel das Nachmalen der deutschen Schrift ihr schwer. Manche stille Thräne weinte sie um die dahingeschiedene Angés und die Trennung vom Mutterherzen, und ängstlich vermied sie Jemanden zu begegnen; ein fremder Tritt auf der Treppe oder im Vorsaal machte sie erbeben. Philipp ritt oder fuhr während des Aufenthaltes in Ingelfingen fast wöchentlich einmal als Sendbote in das badische Land; denn es wurde ein lebhafter Briefwechsel mit der Prinzessin unterhalten.
Ludwig beschäftigte sich in seinen zahlreichen Mußestunden mit Studien, zu denen seines Hauswirthes Beruf und Büchersammlung den meisten Anlaß bot. Da standen wohlgeordnet die Werke der Koryphäen der pharmaceutischen Wissenschaft neben einander: Göttling, Buchholz, Tromsdorf, Schrader, Wiegleb waren durch ihre Schriften und Almanache für Scheidekünstler vertreten; eine Sammlung von Pharmacopöen, [384]die mit der Schule von Salerno begann und mit der berühmten und allverbreiteten würtembergischen Pharmacopöe abschloß, ließ Einblicke thun in den Geist und in die Fortschritte der pharmaceutischen Wissenschaft und Chemie. Praktische Arbeiten, die nur im Winter vorgenommen werden können, wie die Bereitung und Destillation der Naphten, ja selbst das Pulvern zäher Harze, die nur Winterkälte so hart macht, daß sie zu Staub zermalt werden können von der schweren Wucht der Mörserkeulen, des Gelbanum, die Asa u. a., boten dem Beschauer manches Anziehende dar, nicht minder chemische Experimente, die mannichfach erfreuten.
Der Graf gewann die Achtung Aller, denen Gelegenheit wurde, ihn persönlich kennen zu lernen. Ueber politische Verhältnisse äußerte er sich nur mit großer, fast diplomatischer Vorsicht und vermied absichtlich, als Parteimann zu erscheinen; doch verhehlte er nicht, daß ihm die alte Dynastie Frankreichs lieber war, als die gegenwärtige Regierung, daß er aber noch zur Zeit ungleich mehr die Revolution selbst verabscheue, als ihren muth- und kraftvollen Bezwinger.
Während nun fort und fort die Wißbegierde in Ingelfingen wach blieb, zu wissen, wer der fremde Herr eigentlich sei, ob er nicht, wie Einige muthmaßten, ein französischer Prinz, ja ob er nicht gar Monsieur selbst sei, weshalb ihn auch einige Male der Postmeister Monseigneur anredete, was aber mit guter Absicht von Ludwig ganz überhört wurde, machte ein unseliges Ereigniß dem Aufenthalte des Gegenstandes so vieler heimlichen Fragen und so vielen Kopfzerbrechens zu Ingelfingen ein urplötzliches Ende.
Philipp kam von Ettenheim zurück, mit demselben bestürzten und verstörten Aussehen, wie damals, als er die Botschaft von Angés’ Ermordung überbrachte, und erstattete seinem Herrn einen Bericht, der diesem das Haar emporsträuben machte.
Gnädiger Herr! begann er athemlos: Sie müssen mir sogleich einen sichern Paß verschaffen, daß ich weiter kann! Ich darf keine Stunde hier weilen, ich muß weiter!
Was ist geschehen? fragte Ludwig betroffen.
Was geschehen ist? Herr Gott im Himmel! Unerhörtes und Entsetzliches ist geschehen! Lesen Sie, gnädiger Herr! Damit übergab er seinem Gebieter einen Brief, der in Eile zusammengefaltet und [385]äußerst flüchtig gesiegelt war. Er war von der Prinzessin, und diese schrieb ihm: »Fliehen Sie, Graf, fliehen Sie mit Sophie, weit, so weit als Ihnen möglich ist! Retten Sie die Tochter, da der Vater unrettbar verloren ist. In Verzweiflung schreibe ich diese Zeilen. Der Herzog war gewarnt, treu gewarnt, es war verabredet, daß wir morgen oder übermorgen nach Ihrem Aufenthaltsort eilen wollten, vorher aber sollte eine feierliche Erklärung unserer Verbindung auch vor dem Auge der Welt Geltung verschaffen. Es war bereits ein offenkundiges Geheimniß, daß von Seiten Frankreichs dem Herzog nachgestellt und aufgelauert werde, Schaaren von Spionen trieben sich in dem Städtchen herum, Alles war schon ausgekundschaftet, aber keine Warnung fruchtete und statt zu fliehen, ging der Herzog unbesorgt auf die Jagd; den nächsten Tag erst wollte er die Rathschläge seiner Treuen befolgen. Wie Alles so entsetzlich schnell gegangen, weiß ich selbst noch nicht, ich begreife überhaupt Nichts, als daß wir Alle unaussprechlich elend sind! Es wurde Lärm in der Nacht, die ganze Bürgerschaft rannte auf die Straßen, der scheuslichste Verrath ward geübt worden, der Herzog wurde in seiner Wohnung überfallen und gefangen genommen; der Kirchthurm war von Bewaffneten besetzt, damit Niemand Sturm läute, unter meinen Fenstern sah ich meinen geliebten Gemahl im Morgengrauen auf einem Karren vorüberfahren, von Wachen mit Gewehren und blitzenden Bajonetten umgeben – ach, mir ahnet, ich sah ihn zum Letztenmale! Es mußte ein ganzes Bataillon französischer Soldaten vom Rhein herübergekommen sein, um diesen Landfriedensbruch und gewaltsamen Menschenraub zu verüben. Die Umgebung meines theueren Gemahls war mit verhaftet, – ach, noch einige Tage vielleicht, und unsere Sophie hat keinen Vater mehr! – Ich warf mich in einen Wagen, folgte dem Gefangenen bis nach Straßburg, ich flehte meinen Gemahl sprechen zu dürfen, vergebens, ich sah – ich sprach ihn nicht! Wo sie Henri hinschleppen, weiß ich nicht – nach Paris ohne Zweifel – der Löwe verlangt nach dem Blute des letzten Bourbons! – Gott mit Ihnen – mit Sophie – ich kann nicht mehr – ich bin vernichtet!
Ch.«
Der Graf starrte wie betäubt auf den Unglücksbrief! – So fällt auf mich ein Schlag nach dem andern, sprach er dumpf vor sich hin, [386]doch – ich muß – ich will sie tragen alle diese Schläge, nur Sophie soll sie nicht mitfühlen.
Was hörtest du selbst noch außerdem von dem schrecklichen Unglück, das mir hier gemeldet wird? fragte Ludwig seinen Diener.
Ich lag auf Kundschaft, berichtete dieser, hatte nachgeforscht, wie es um jenen Hallunken stände, den Mörder der guten Angés, und ob er schon gerichtet sei. Hat sich was – gerichtet! Entsprungen war dieser Teufel abermals, entsprungen mit Hülfe seines schurkigen Spießgesellen. Beide waren Spione und verkleidete französische Gensd’armen gewesen. Ich hatte mich etwas unkenntlich gemacht, entdeckte richtig den Einen unter den Herumtreibern und ließ ihn nicht wieder aus den Augen; ich kochte vor Wuth und Grimm gegen diesen verruchten Menschen, wo er hinschlich, schlich auch ich hin, stellte mich so, daß er mich nicht gewahrte, ich aber ließ ihn nicht aus den Augen, die ganze Nacht nicht. Ich schwur es mir zu, Beide zu verderben, oder mindestens den von ihnen, der in meine Hand fallen würde. Wohl merkte ich, daß das Volk Etwas vorhabe, aber was, darum bekümmerte ich mich nicht. Er war bei der Schaar, die in der Nacht des Prinzen Haus umzingelten, gegen Morgen hörte ich in meinem Versteck plötzlich lautes Rufen, der Prinz wurde gefangen genommen, die Wachen umringten ihn, er wurde auf einen Karren gesetzt und durch den Ort geführt, ich schlich mich nach und hatte mir meinen Mann gut gemerkt. Der Morgen kam herauf, es ging auf eine Mühle zu, nahe der Stadt vorbei, die dicht umbuscht war; der Ettenbach, der diese Mühle trieb, rauschte stark und gewaltig, angeschwollen vom geschmolzenen Schneewasser des Schwarzwaldes. Schon verzweifelte ich am Gelingen meines Vorhabens, denn mitten aus der Compagnie konnte ich mir meinen Mann nicht herausholen. Alle meine Gedanken schossen hinter ihm drein, als wollten sie ihn fesseln, und ich glaube, sie haben ihn gefesselt; denn auf einmal blieb Clement Aboncourt zurück, um an seinem Tornister etwas zu ordnen. Niemand war in der Nähe, die Gefangenen sind in das Mühlhaus geschleppt worden, die Bedeckung blieb davor. Dicht unterm Damm, auf dem der Weg hinläuft, wälzt sich die rasche Fluth dem Rheine zu. Der Spion war in meiner Macht. Ein Wurf meiner längst bereit gehaltenen Schlinge, wie nach einem Pferd auf unseren Marschen, ein Ruck – und mein Mann stürzt’ rückwärts nieder – ich auf ihn los! [387]Bist du’s, vermaledeiter Satan und Mordgeselle! Ich schau’ ihn an, er war’s, er verdrehte die Augen, er zappelte und schlug mit krampfhaft geballten Fäusten nach mir. Ich stieß ihn in den brausenden Waldbach, und die Wellen thaten hohe Freudensprünge, als der Hallunke hinabflog, seinen Tornister warf ich gleich hinterdrein ihm auf den Kopf. So hat doch einer seinen Lohn, denn der blieb unten; ich lief eine Stunde dem Mühlenbach entlang, um zu sehen ob er wieder auftauche, aber der wohlverdiente Strick hat ihn daran verhindert.
Ludwig wandte sich schaudernd ab.
In der Weinstube des Apothekers zu Ingelfingen herrschte am 18. März des Jahres 1804 eine ungewöhnliche Bewegung. Der interessante Fremde, den man so gerne in der Gesellschaft gesehen und reden gehört hatte, war mit seiner Begleitung plötzlich abgereist. Er hatte noch am Samstag spät am Abend Extrapostpferde bestellt, und war am frühen Sonntag von dannen gefahren, gar zu gern hätte man gewußt wohin, Niemand aber konnte Auskunft geben. Dem Hausbesitzer war in blankem Golde die Miethe bis zum Ende des Monats bezahlt worden, außerdem hatte ihn noch ein Geschenk gelohnt, dessen er sich gar nicht versehen, und das ihm die größte Freude machte; es war eine nagelneue, in Paris gefertigte Voltaische Säule mit sechzig Plattenpaaren von Laubthalergröße und allem Zubehör. Für den Postmeister, der ein sehr starker Raucher war, war ein kostbarer großer ächter Meerschaumkopf mit Silberbeschlag zurückgelassen worden, und für die übrigen Herren des Weinstübchens Kruggestellgläser mit silbernen Deckeln, auf welchen das Wort »Andenken« stand und die Buchstaben L. C. v. d. V. eingegraben waren.
Der Apotheker war eben bemüht, vor seinen Gästen die Säule aufzubauen, die davon noch gar keinen Begriff hatten, als ein neuer Gast eintrat und der Gesellschaft die so eben eingetroffene Nachricht [388]von der Gefangennehmung des Herzogs auf dem friedlichen badischen Gebiete durch französische Gensd’armen und Offiziere hohen Ranges mittheilte, obschon diese Nachricht mit vielen Unrichtigkeiten vermischt war.
Es konnte nicht fehlen, daß die schnelle Abreise des Unbekannten mit seiner stets verschleierten Begleiterin sofort mit diesem von Frankreich aus auf deutschem Boden verübten schändlichen Gewaltstreich in Verbindung gebracht und lebhaft besprochen wurde. Bald waren alle Anwesenden fest davon überzeugt, daß jener fremde Herr gleichfalls ein geflüchteter Bourbone gewesen sein müsse.
Vom Postmeister erfuhren auch noch nachträglich die Gäste, daß die Dienerin des Fremden die hohen Reisenden nicht begleitet habe, sondern reichlich beschenkt mit der Post auf entgegengesetztem Wege wieder zurückgereist sei.
Ludwig und Sophie hatten an Angés’ Mutter gedacht, sie überlegten, was diese gute Frau leiden müsse, wenn sie nichts Näheres über den Tod ihrer Tochter erfahre; auch sehnte sich Sophie Botta nach ihrer geliebten Pfalz zurück; die Prinzessin selbst hatte ihr dieses Bekenntniß abgefragt, und in ihren Entschlüssen entschieden und von einem hohen selbständigen Gefühle geleitet, hatte sie sofort dem Grafen erklärt, sie wolle freiwillig auf die fernere Begleitung der Dienerin verzichten; sie könne ihre einfache Toilette allein ordnen, und wenn ein Ort längern Aufenthaltes erreicht werde, so werde es auch an weiblicher Bedienung nicht fehlen. Gleichwohl trennte sich die junge Prinzessin nicht ohne Wehmuth von der einstigen Wärterin und Dienerin und entließ sie mit vielen Geschenken, gab ihr auch Angés’ ganze Garderobe mit, mit dem Auftrag, den sämmtlichen Nachlaß der armen Mutter ihrer unglücklichen Freundin zur Verfügung zu stellen, nebst Allem was Angés sonst noch angehört hatte, selbst deren Bild nahm Ludwig nicht wieder an sich; die Mutter sollte es gleichfalls haben. So waren denn Ludwig, Sophie und der treue Philipp ohne weiteres dienendes Gefolge abgereist; wohin? wußte Niemand. –
Bald trugen die Zeitungen durch die ganze Welt die Kunde von dem scheußlichen Mord, den der Gewalthaber Frankreichs an dem gefangenen Herzog hatte verüben lassen, und ein Schrei der Entrüstung [389]ging durch ganz Europa über diese rasche blutige That auf Verdächtigungen hin, die jeder Wahrheit entbehrten.
Mit stets erneutem Schmerz vernahm Graf Ludwig auf der Fortsetzung seiner Reise immer und immer wieder diese Nachricht, und mußte auf das Sorgsamste Alles aufbieten, um dieselbe vor seiner holden Begleiterin zu verbergen, die er in ruhigerer Stimmung und vielleicht erst dann, wenn er einen Brief der Herzogin in Händen hatte, von dem schrecklichen Vorfall unterrichten wollte.
Die Freunde in der Weinstube des Apothekers zu Ingelfingen wurden einige Zeit nach der Abreise der Fremden auf’s Neue und sehr lebhaft an den geheimnißvollen Herrn erinnert, als eines Abends der Postmeister ernster als gewöhnlich eintrat und ein Zeitungsblatt hervorzog. Wir haben gewissermaßen Trauer bekommen, sagte er nach einer Pause bewegt. Da bringt unser Schwäbischer Merkur eine merkwürdige Nachricht, welche im Auszug lautet, daß sicherem Vernehmen nach ein französischer Emigrant von Bedeutung, der sich vor einigen Monaten längere Zeit zu Ingelfingen aufgehalten haben solle, zu Mainz mit Tode abgegangen sei. Es war, so wird gemeldet, ein Mann von ungemein viel Liebenswürdigkeit im Charakter und Benehmen, auch wissenschaftlich gebildet und vielseitig bekannt mit hervorragenden Persönlichkeiten. Seiner äußern Gestalt nach war er von Mittelgröße, hatte schwarzes Haar und dergleichen Bart, erschien stets auf das Feinste, dabei sehr einfach gekleidet; seine Sprache war meist die französische, doch ließ er bisweilen niederländische Accente durch den Strom seiner lebhaften und geistvollen Unterhaltung klingen. In der deutschen Sprache drückte er sich mit vollkommener Reinheit aus. Dieser Fremde, der durch nichts auffiel, als durch sein vornehmes und gebildetes Wesen und seinen Ernst im geselligen Umgang, scheint seinen nahenden Tod gefühlt, und kurz vor demselben alle seine Papiere vernichtet zu haben, denn es fand sich nicht das Mindeste bei ihm vor, was irgend einen Aufschluß über seine Persönlichkeit hätte geben können. – Der Postmeister schwieg und die Theilnahme der guten Bürger zu Ingelfingen wurde laut:
Es ist unser Mann, daran ist gar kein Zweifel! O weh! – Schade um den Mann! – Er hätte hier bei uns bleiben sollen, so wäre er vielleicht nicht gestorben! – Zu Ingelfingen ist gut wohnen. [390]– Er konnte sich hier ankaufen – es stehen ja jetzt in dieser erbärmlichen Zeit gegen zehn Häuser zum Verkauf ausgeboten. – Er konnte hier Bürger werden – wäre wohl in den Stadtrath gewählt werden. – Wie viele französische Emigranten haben sich nicht in den letzten Jahren in deutschen Städten und Städtchen niedergelassen, und sind angesehene Leute geworden? – Schade um ihn!
Während Ludwig also mit aller Theilnahme biederer schlichter Herzen für todt beklagt wurde, saß er mit Sophie gesund und wohlbehalten im Gasthaus einer fremden Stadt. Die edle Jungfrau vergoß die schmerzlichsten Thränen – der Tod ihres armen Vaters war ihr endlich enthüllt worden. Die Mutter selbst hatte darüber an sie und ihren Begleiter geschrieben. Ach, wie erschütternd waren die Einzelnheiten jener schrecklichen Katastrophe! Wie viele Herzen wurden von ihr auf das Tiefste berührt, auf das Härteste betroffen! Dort weinte ein mit hohem Ruhme genannter Heldengreis um den Enkel, und hätte gern allen verdienten Lorbeer, ja das eigene Leben dahingegeben um jenes theure, in blühender Jugend hingemordete Leben zurückzurufen. Schmerzlich beklagte der tapfere Vater den Tod des inniggeliebten Sohnes. Ach, und die geliebte Vermählte! Welch hohes Glück hatte sie besessen und nun auf immer und unersetzlich verloren!
Alles hätte anders kommen können, wenn nicht die bübische Feigheit eines Kammerherrn, der beständig um den unglücklichen Herzog war, jeden Versuch einer Vertheidigung von Seiten des Letztern bei dem nächtlichen Ueberfall verhindert hätte, falls es nicht Schlimmeres als Feigheit war. Ein Wort dieses Mannes, das einzige Wort: Ich! auf die Frage der Häscher: Wer von Ihnen Beiden ist der Herzog? konnte den Letzteren retten, und dies Wort konnte unbedenklich ausgesprochen werden, denn den armseligen Höfling hätte man wahrlich nicht hingerichtet. Aber Jener schwieg, und der junge Fürst ward zum Tode abgeführt. Mit Verachtung wies er den feigen Verräther zurück, als derselbe in Rheinau sich zu ihm in den Wagen setzen wollte. In Straßburg wurde der Herzog von seiner Dienerschaft völlig getrennt, seine Hände wurden in Fesseln gelegt. Fünf Tage lang dauerte mit nur wenigen Unterbrechungen die traurige Reise bis nach Paris, der Gefangene wurde in den Tempel gebracht, dort harrte schon der Befehl, ihn nach Schloß Vincennes zu senden. Die richterlichen [391]Verhöre, die mit ihm vorgenommen wurden, und die der Welt wörtlich mitgetheilt sind, brachten keine Schuld heimlicher Verschwörung gegen das Leben des ersten Consuls auf den Herzog, aber wer waren seine Richter? Werkzeuge in der Hand eines Despoten! – Das ist der Inhalt jenes Justizmordes in nuce, was auch Alles für und gegen ihn geschrieben wurde. Ein Brief, der dem Herzog unterwegs an die Prinzessin, die er noch nicht öffentlich seine Gemahlin nannte, zu schreiben erlaubt worden war, wurde von einem der Schergen unterschlagen. Mit Mannesmuth beantwortete der Herzog alle Fragen, gestand ein, den ganzen Krieg mit dem Condé’schen Corps mitgemacht zu haben, sagte aber aus, daß er den Gehalt von England als Pension beziehe, um zu leben, nicht um damit zu conspiriren. Die Richter des Herzogs darf die Geschichte nicht schonungslos verdammen; es war ihnen, lauter Offizieren von hohem Range, und ohne daß sie irgend vorbereitet waren, ohne daß sie Kenntnisse vom Rechte hatten, befohlen, den Herzog zu richten, sobald er eingestehen werde, die Waffen gegen Frankreich getragen zu haben. Dies gestand derselbe mit aller Freimüthigkeit ein, und fügte seinem Geständniß die Worte hinzu: »Nie kann ein Condé anders, als mit den Waffen in der Hand nach Frankreich zurückkehren.« Das Todesloos fiel. Ohne legalen Richterspruch, ohne einen Vertheidiger wurde der Meuchelmord vollzogen. Die Richter waren noch in einem Zimmer, gleichsam abgesperrt, beisammen, um zu berathen, auf welchem Wege ein gemildertes Urtheil vom ersten Consul zu erlangen sein dürfte, da knallten schon im Festungsgraben die tödtlichen Schüsse. Die Richter waren sehr unglücklich – auf sie und nicht auf den Vollstrecker der übereilten Hinrichtung lenkte sich das Verdammungsurtheil der ganzen gebildeten Welt. Hier hatte die Willkür das Urtheil vollzogen, ehe es noch begründet und in gesetzlicher Form bestätigt war. Der Herzog mußte sterben, denn er war in der Gewalt des Mannes, der ihn fürchtete und haßte, und war – ein Bourbon!
Mit mildem Trost sprach Ludwig zu der tiefgebeugten Tochter, und seine Worte fielen in ihr Herz, wie heilender Balsam sanft auf Wunden träufelt. Das schöne thränennasse Antlitz zu ihm erhoben, faßte Sophie Ludwig’s Hände und sprach mit leisem Beben: Nun habe ich also keinen Vater mehr! Nun seien Sie mein Vater! Sie, dem ich anvertraut [392]bin als ein armes, heimathloses Kind – ach eine Waise – o, wie schwer wiegt dieses Wort; ich will ihnen so gern gehorchen, ich will Sie ehren gleich meinem Vater, und wenn ich fehle, so üben Sie Nachsicht mit meiner Unwissenheit und meiner Schwäche!
Wie unendlich liebreizend erschien sie ihm da in ihrem tiefen Schmerze! Sie glich einer prächtigen Incarnat-Passiflore, in deren Nektarkelche Thränen zittern, die gebeugt steht und doch voll Schönheit ist, die in Demuth sich neigt und doch voll Hoheit prangt.
Ein Gegensatz, wie das Leben ihn häufig bietet, zu diesem wahren Schmerz, dieser schwermuthvollen Trauer, dieser Verehrung auf der einen, und der kindlichsten Hingebung an den Mann ihres Vertrauens auf der andern Seite, bildete eine andere Trauerbotschaft aus Holland, die aber nicht so herzzerreißender Art war; dort hatte nur eine betagte schlichte Frau den Zoll der Natur bezahlt, und war abgerufen worden in das verhüllte Jenseits. Leonardus Mutter, Frau Maria Johanna van der Valck, geborene van Moorsel, war nicht mehr.
Vincentius Martinus schrieb Folgendes an seinen noch stets am Leben geglaubten Vetter Leonardus, nachdem er ihn in einer frommen Einleitung seines Briefes auf die Trauerkunde vorbereitet und ihm dann die schmerzliche Nachricht mitgetheilt hatte: »Ich komme so eben aus der Kirche, mein theuerer Leonardus, woselbst ich für die Seele deiner guten Mutter eine Messe gelesen habe; von deinem kindlichen Sinn darf ich wohl voraussetzen, daß du es gut heißest, wenn ich für die Seligentschlafene die Zahl dieser Seelenmessen bis auf Einhundert steigere, und dir dann nach deren Vollendung das Laus Deo darüber einsende. Die Wohlselige hat noch auf ihrem Todtenbette, und als ich sie mit den heiligen Sterbesacramenten als christliche Wegzehrung auf der langen Pilgerschaft nach der Ewigkeit versah, für dich gebetet und dir alles Glück gewünscht, auch läßt sie dir noch innigst und herzlich für die lieben und guten Briefe danken, welche du ihr von so verschiedenen Orten aus geschrieben hast; nur konnte die selige Tante nie begreifen und ich konnte es derselben auch nicht begreiflich machen, weshalb du dich eigentlich jetzt und wie es scheint ohne ein Geschäft, welches doch die Basis eines ehrbaren und christlichen Lebens ist, in Deutschland herumtreibst. Nun, ich gewahre mit Freude, wie gut mein Gebet für dich anschlägt, mein geliebter Vetter, und wie der heilige [393]Rochus dich noch immer beschützt. Nach den Verträgen, die du mit den Verwandten abgeschlossen hast, beziehst Du nun von dem Hause van der Valck eine Jahresrente von zehntausend Gulden, erst fünftausend, und nun nach dem Tode deiner frommen Mutter nochmals fünftausend. Gratulire! Ach, wie gern hätte die Wohlselige mein armes Kirchlein zu Sanct Ottilien bedacht, aber die Hände waren ihr ja durch jene Verträge gebunden. Möchtest du, werther Leonardus, nicht deine milde Hand aufthun und ihren besten Wunsch erfüllen? Ich würde dich dann auch der ganz besonderen Gnade dieser heiligen und gebenedeiten Schutzpatronin empfehlen und ihre Fürbitte durch mein eifriges Gebet für dich erflehen. Du wirst wissen, geliebter Leonardus, daß die heilige Ottilia die Schutzpatronin der Augen ist, und sie wird durch mein Gebet Fürsorge tragen, daß deine Augen stets erfreuet werden, wie geschrieben steht: Unsere Augen sehen nichts wie Manna, und ferner: Gib mir die, so meinen Augen wohlgefällt. Anliegende versiegelte Kapsel, die wohl ein Bild enthalten dürfte, gab die Verblichene mit dem ausdrücklichen Wunsche in meine Hände, dasselbe dir gleich nach ihrem Abscheiden zu senden, welcher Pflicht ich hiermit nachkomme. Möge dies letzte Andenken für dich viel Erfreuliches enthalten!«
»Komisch ist, trotz aller Trauer, die ich dir pflichtschuldigst melden muß, daß nach dem Tode deiner seligen Frau Mutter mehr Lusttragende, sie zu beerben, als Leidtragende, sie zu bestatten, von allen Seiten herbeikamen. Wir sind auf einmal äußerst reich – an lieben Verwandten geworden, und der Baum der van der Valckischen Sippschaft hat mehr Aeste, als mir bekannt war; bis nach Herzberg im Harzgebirge in Deutschland, ja bis nach Dahne im Königreich Preußen wohnen Menschenkinder, die unsere Verwandten sein wollen. Meinerseits konnte ich alle diese guten Seelen nur auffordern, sich mit mir, oder falls ihnen dies lieber wäre, mit Hiob zu trösten, und ihnen versprechen, daß ich sie in mein frommes Gebet einschließen wolle, doch glaube ich fast, daß ihnen daran Nichts gelegen ist, denn die gottlose Welt hat den rechten Glauben verloren.«
»Noch muß ich dir, geliebter Leonardus, eine Nachricht als Neuigkeit mittheilen, welche dir gewiß eine große Freude machen wird. Du erinnerst dich sicherlich noch des vormaligen Schiffskapitäns auf deines wohlseligen Herrn Vaters »vergulder Rose«; diese Pinke hat Herr [394]Richard Fluit verlassen, und statt der »vergulden Rose« eine guldene Herbstaster geentert, mit der er in den geruhigen Hafen des heiligen Ehestandes eingelaufen ist. Ich selbst war das auserwählte Rüstzeug, wie deine selige Frau Mutter zu sagen pflegte, welches in unserm armen Kirchlein zu Sanct Ottilien das traute Paar ehelich verband, und wer war die Braut? Wenn du das erräthst, bester Leonardus, so heiße ich Jantjé und esse hundert Austern mit sammt der Schale.«
»Vernimm und staune! Herrn Fluit’s Erwählte ist Niemand anders, als die wohledelgeborene und tugendbelobte Mejouffrouwe Sibylle Nikodema van Swammerdam, vormals deine Verlobte, und mit ihr macht Fluit, was den Geldpunkt anbetrifft, ein ungeheueres Glück, welches du, geliebter Leonardus, dir seinerzeit hast entgehen lassen. Wie schön wird jene Flöte zu dieser Meertrompete stimmen, wenn sie Beide zu tönen anfangen! Beide lassen dich als alten Freund herzlich grüßen. Schicke ihnen ja ein schönes Hochzeitgeschenk, damit du Aussicht auf eine Pathenschaft gewinnst, falls die alte Meerminne und ihr Zeekoning einen Dolphyn mit einander gewinnen sollten.«
Das ist nun der Mann nach dem Herzen Gottes, das Kirchenlicht! sprach Ludwig unmuthsvoll und warf den Brief, den er Sophien nicht sehen lassen wollte, bei Seite.
Hierauf enthüllte er das versiegelte Päckchen und fand eine zweite Verpackung mit der Aufschrift: »An meinen lieben Sohn Leonardus Cornelius, zu öffnen am ersten 22. September nach meinem Tode.« – Es war dies die eigene Handschrift der Verstorbenen. Mithin stand der Inhalt, wie anzunehmen, mit dem Geburtstag des verstorbenen Leonardus in Verbindung. Ludwig ehrte den Willen der Verblichenen und legte schweigend das Päckchen zur Seite, indem er dasselbe gut verschloß.
Nicht lange nach dem Empfange dieses Briefes liefen auch wieder Nachrichten von Windt ein, und zwar war es kein gewöhnlicher Brief, sondern ein ziemlich bedeutendes Paket, welches in Frankfurt am Main angekommen und dort eine geraume Zeit auf der Post liegen geblieben war, bevor der zum Empfang Berechtigte selbst in diese Stadt kam. Dieses Paket trug die Aufschrift: »Documente« und enthielt eine hohe Werthbezeichnung.
[395]Sehr neugierig darauf, welche Documente man ihm, dem gleichsam Vergessenen und Abgefundenen, noch nachträglich zu senden habe, öffnete Ludwig.
»Es ist Jammerschade, hochverehrtester Herr Graf,« schrieb Windt: »daß Sie nicht ohnlängst mit in Kniphausen waren! Das war eine Herrlichkeit in der Herrlichkeit! Ich übersende Ihnen treu copirte und vidimirte Abschriften mancher Actenstücke, aus denen Sie sich über den Stand der Dinge ungleich besser unterrichten können und werden, als ich mit meinem Geschreibsel es vermöchte; kurz, es ging hoch her und Niemand fehlte dabei als Sie, oder doch der Falk von Kniphausen!«
»Unter A finden Sie im Original, welches auf mein Ersuchen auch eigens für Sie gefertigt, unterschrieben und besiegelt wurde, den zu Varel geschlossenen Vergleich zwischen dem Erbherrn und dem Besitzer von Doorwerth; unter B einen Auszug des Testamentes meiner hochseligen Gebieterin, und unter C ein dem Kopfe des Herrn Hofrath Brünings entsprungenes Memorandum, welches aber mit der aus Jovis Haupt entsprungenen Minerva Nichts gemein hat, als daß ihm ein Harnisch mit Drachenschuppen um den Leib geschnallt ist. Was dieses invita Minerva entstandene Curiosum enthält, werden Sie selbst lesen, es geht Sie an.«
»Der junge Sohn aus der Gewissensehe, welche der Erbherr mit Demoiselle Sara Gerdes geschlossen hat, und bei dem der Herr Vice-Admiral Pathenstelle versah, ist hier in Hamburg, wo die Mutter im Palast der hochseligen Frau Großmutter ihre Wochen hielt, auf die Namen William Friedrich getauft worden, und befindet sich wohl. Diese Frucht aus dem ländlichen Garten von Bockhorn ist so schön, als immerhin eine andere im Park eines reichsgräflichen Ahnenschlosses erzeugte. Der Erbherr hat zu Varel seinem Pfarrer Hansing anderthalb Jahre nach dem Tode der holdseligen Erbherrin Ottoline erklärt, daß er als Wittwer, durch Familienverhältnisse und aus andern Gründen zu einer anderweit standesgemäßen Verbindung nicht schreiten wolle, aber auch nicht ohne Liebebeglückung durch das ihm noch vergönnte Leben zu wandeln gedenke, und feierlich jene seine Geliebte zur Stellvertreterin seiner verewigten Gemahlin erkoren und ernannt, mit der er, in vor Gott gültiger Gewissensehe zu leben gedenke, auch ohne die formelle kirchliche Sanction, mit dem Vorbehalt, die letztere so wie die Erhebung seiner [396]zweiten Lebensgefährtin zur rechtmäßigen Gemahlin und Reichsgräfin zu einer ihm geeignet scheinenden Zeit nachzuholen.«
»Der Erbherr ist Souverän, er liebt jene Frau und ehrt sie, ihr Betragen ist würdevoll und gütig, sie ist ihrem Sohn eine zärtliche Mutter und Alles geht seinen guten Gang, Niemand hat dermalen ein Recht, die in ihrem Gewissen ehelich Verbundenen zu verdammen, wohl aber werden die Agnaten früher oder später dies thun, und es wird in der Folge wieder zu Streitigkeiten kommen, die dann wahrscheinlich kein Friedenstrank aus dem Falken von Kniphausen beizulegen vermögen wird, posito sie hätten den Falken.«
»Ich sitze immer noch hier in Hamburg und plage mich wie ein Pferd, obschon ich todtmatt bin.«
»Aus der bereits erwähnten Anlage ersehen Sie, bester Herr Graf, daß man nicht übel Lust hat, Ihnen die rara avis, den Falken, wieder abzulocken und denselben auf eine oder die andere Art wieder nach Kniphausen zu bekommen. Mir ziemt nicht, Ihnen Rathschläge zu geben, ich aber wüßte was ich thäte – ich rückte ihnen den Falken auf ewig aus den Augen.«
»Meine Frau empfiehlt sich Ihnen und läßt gehorsamsten Respect vermelden. Der schreckliche Tod der armen Angés hat uns Beide außerordentlich erschüttert. Sie war zu gut für diese Welt, und ihr ist wohl, wenn nur nicht ein so bitteres Sterben ihr zu Theil geworden wäre. Sanft ruhe die Asche dieser wahrhaft guten und edlen Freundin!«
»Ich war sehr krank, und bin nur wie durch ein Wunder dem Tode entronnen. Der liebe Gott muß noch etwas Absonderliches mit mir vor haben, dazu er mich aufspart. Der Reimarus gab mich völlig auf, auch hatte ich bereits, ehe es so ganz schlimm mit mir wurde, Auftrag ertheilt, daß der Consul Höfer meine Habseligkeiten und Papiere versiegeln sollte, und ebenso hatte ich das Begräbniß in hiesigem Dom angeordnet. Gottes Gnade hat mich abermals errettet, aber fort will ich von hier – muß fort, meine Aufenthaltskosten übersteigen mein geringfügiges Legat. Ich habe mir einen kleinen Wagen gekauft, darin will ich sobald als möglich mein Bette anbringen, und gen Stadthagen segeln, möge es mir eine Stadt Hafen sein! Ich bedarf dessen, ich sehne mich nach Ruhe; wer weiß wie bald [397]bestürmt Sie, mein gnädiger lieber Herr Graf, der alte Windt nicht mehr mit seinen unruhigen Briefen! Alles Glück sei mit Ihnen, und bedürfen Sie meiner für Ihre Aufträge in irgend einer Sache, so werden dieselben von mir vollzogen, ich mag sein, wo ich immer sei, nur nicht, wenn ich im Himmel bin; doch selbst dort noch
Ihr ganz ergebenster W.«
Mit neugierigem Verlangen griff der Graf nach den Documenten und sprach schmerzlich lächelnd: Ich will doch nicht hoffen, daß sich um mich ein Schriften- und Actenwerk drängt, wie um die alte selige Großmutter; am Besten wird es sein, ich werfe, was mir nicht gefällt, gleich in’s Feuer.
Das erste Papier war ein mit zwei schwarzen Siegeln versehener und vom Erbherrn wie von dem Vice-Admiral eigenhändig unterschriebener Vertrag in französischer Sprache, welcher ins Deutsche übersetzt lautete:
Wir, die Unterzeichneten, Wilhelm Gustav Friedrich, regierender Graf von Rhoon, Herr von Varel und Kniphausen, und Wir, William, Graf und Herr von Doorwerth mit Zubehör (cum annexis) erklären und erkunden, daß alle die Rechtsfragen, Streitpunkte und Zwistigkeiten, die vorher zwischen der Reichsgräfin Charlotte Sophie, verwittweten Gräfin und Frau zu Varel, In- und Kniphausen, geborene Gräfin von Aldenburg einerseits, und dem obengenannten regierenden Grafen, wie auch die zwischen seinem seligen Vater, dem Herrn von Varel, seiner Frau Mutter und seinem Großvater anderseits Statt gefunden haben, auf eine freundliche Art für immer abgethan und verglichen sein sollen, so daß Wir, der regierende Graf und Herr von Doorwerth, als einziger Erbe der seligen Frau Gräfin, unserer Großmutter, im vollkommensten Einverständniß über Alles sind, was Rechte und Vorrechte in unsern Familien betrifft, und daß wir so wohl für uns als für unsere Nachkommenschaft, die es angeht, uns verbunden haben, niemals diese gemeinschaftliche Uebereinkunft zu verletzen. Damit aber unsere oben ausgesprochene, gemeinschaftliche Vereinigung weder Zweifel noch Widerspruch erleide, so haben wir diesen gegenwärtigen Act unterschrieben und besiegelt. Geschehen zu Varel etc.
Es waren die richtigen beiderseitigen Wappen; das des Erbherrn stand in einem gekrönten hermelinverbrämten Fürstenmantel, über [398]dem Wappen vier schwebende Kronen, deren jede ein besonderes Kleinod trug. Zwei Löwen dienten als Schildhalter, die auf Palmenzweige traten, um die sich eine Bandrolle mit dem Wahlspruch: Craignez honte wand. Das Wappen des Vice-Admirals war im Ganzen ebenso, aber es stand nicht in einem Fürstenmantel, auf dem Wappen ruhten vier gekrönte Helme mit den Kleinodien, und der Wahlspruch fehlte.
Ja wirklich, Windt hat Recht, spöttelte Ludwig, zu dieser Einigungsacte hätte nothwendig aus dem Falken von Kniphausen getrunken werden müssen, wie vor Zeiten bei der uralten Einigung der streitenden Linie. Schade, daß sie ihn nicht an Ort und Stelle hatten!
Die Auszüge aus dem Testament der Großmutter, welche Ludwig rasch überflog, enthielten meist ihm Bekanntes; das Testament umfaßte so viele Legate und Schenkungen, daß den Erben alles Lachen darüber vergangen war.
Nun aber, was soll diese dritte Schrift? rief der Graf, und hob sie verwundert empor; sie war 22½ Seiten lang und von einer Advocatenhand geschrieben. Dieselbe berührte die einem jungen Menschen zu dessen Erziehung, Ausbildung und zu Reisen gemachte Schenkung, über die sich ein Nachlaß, eine Aufzeichnung vorgefunden hatte; gedachte ferner eines Testamentes, in welchem der Falk von Kniphausen ausdrücklich erwähnt worden sei, als spurlos verschwunden, kam dann auch auf das vorhandene Testament zu sprechen, kraft dessen der Vice-Admiral Graf William zum Universal-Erben eingesetzt sei; sprach klagend über die vielen Schenkungen, und vermißte in denselben die Anführung des werthvollen Geräthes, jenes Falken von Kniphausen, das ganz unschätzbar sei. Da nun »dem Vernehmen nach ein gewisser junger Herr dieses Kleinod von der Erblasserin aus freier Hand und aus eigenem Willen in unbekannter Form und Weise erhalten habe, so erscheine wünschenswerth, den dermaligen Aufenthaltsort jenes Herrn zu erkunden, und denselben wo möglich zu bewegen, jenes hochwerthvolle Familienkleinod, sofort er sich über den rechtmäßigen Besitz werde genügend ausweisen können, gegen eine Geldsteuer wieder an die Familie abzutreten, sintemalen alte Sagen und Ueberlieferungen im Umlauf gingen, deren superstitiösem Wahn allerdings keine Folge zu geben, daß an diesen Falken das Glück des hochgräflichen Hauses so gebannet sei, wie das Glück der Grafen von Ranzau an jene Kleinode aus [399]Zwergengold: fünfzig Rechnenpfennige, ein Häring und zwei Spindeln. Es werde sonder Zweifel der dermalige Inhaber besagten Kleinods sich mit ohngefähr vier- bis fünftausend Mark Hamburger Banco zu Dank begnügen lassen, um so mehr, als der hochgnädige Erbherr die frühere übergroße Schenkung großmüthig wolle passiren lassen, ohngeachtet ihm C. 32, Cod. de donationibus und die prononcirte Meinung Schaumburgs in Comp. ff. ad tit. de donat. §. X, nebst andern mehr, hinlänglichen Stoff zu Einreden an die Hand geben könnten.
Ludwig hatte Mühe, in Sophiens Gegenwart seinen Zorn zu beherrschen, der bei Lesung dieser Schrift in ihm aufflammte, aber seine Hände zitterten, während er dieses Memorandum las, bis er es plötzlich, wie es war, mit dem Ausruf: Dänische Spinne! von oben bis unten zerriß und zusammenknitterte.
Was sagte die selige Großmutter? rief er entschlossen. »Sie sollen ihn nicht haben!« sprach sie. »Sie sollen nicht wieder daraus trinken!« Und die Worte eines Sterbenden sollen uns heilig sein! Wohl ist dieses kunstvolle und köstliche Geräth ein hochwerthes Kleinod und für mich in der That ganz unschätzbar – o es schließt Herzen unsichtbar in sich ein, theure edle Herzen! Aber bedarf es für diese Herzen eines sichtbaren Andenkens? Nein, bei mir nimmermehr, so lange ich athme. Darum will ich rasch mich scheiden von seinem Besitze, ehe List oder Uebereilung oder Raub oder Bitte es mir abdringen.
Schnell war sein Entschluß gefaßt; in den nächsten Minuten saß er schon am Schreibtisch und schrieb an die Herzogin Georgine:
»Hochgnädigste mütterliche Freundin!
Aus der Hand meiner sterbenden Großmutter empfing ich das beifolgende Kunstwerk. Stets auf Reisen und noch ohne dauernden Wohnsitz macht es mir große Sorge, daß ein unglücklicher Zufall mich um dieses mir doppelt heilige Unterpfand hoher Liebe bringen könnte. Die Urkunde über meinen völlig rechtmäßigen Besitz ist dem Kunstwerke beigegeben. Ich sende es Ihnen, wo es sicher und in treuer Hand bewahrt bleibt; heben Sie mir diesen Falken liebevoll auf, bis ich denselben zurückfordere. Geschieht dies nicht, so sei und bleibe der Juwelenfalk, der unter keiner Bedingung an einen andern als an mich selbst, wenn ich denselben wieder fordere, gegeben werden [400]darf, ein Eigenthum Ihrer hohen Familie und erfreue noch durch die Kunst der Arbeit, die Pracht seines Glanzes und den Werth seiner Juwelen die spätesten Nachkommen. Gewiß, Sie lassen mich keine Fehlbitte thun, edelste großmüthigste Freundin, und bauen diesem Falken seinen Horst im Castle Chatsworth, wo derselbe Sie an mich und an mein Herz erinnern möge, das voll Dank und verehrender Liebe ist und es bis zum letzten Hauche bleibt.«
Noch Eins geschehe! sprach Ludwig, indem er sich erhob und Philipp klingelte. Wie sprach die Großmutter ferner? »Nur du – und die, welcher du dein Herz schenkst, sollen aus dem Falken trinken.« So sprach sie, und auch das erfülle sich!
Der Diener kam; Ludwig gebot ihm den Falken zu bringen, und eine Flasche des edelsten Weines zu bestellen. Als Alles da war, nahm der Graf das Gefäß und den Wein und ging zu Sophie hinüber.
Die Prinzessin staunte mit leuchtenden Augen die Pracht des Falken an; sie hatte Aehnliches noch nie gesehen. Noch mehr aber war sie verwundert, als sie gewahrte, daß der Kopf des Vogels sich aufschlagen ließ, und das Innere eine goldene Höhlung zeigte.
Ludwig goß den Wein in den Pokal und bedeckte ihn dann wieder mit dem Haupte des Vogels. Dann sprach er: Sophie, dieses Geräth wurde mir anvertraut von jener verehrten Greisin, bei welcher Sie einst mit Ihrer erlauchten Frau Mutter zu Hamburg einen Besuch machten. Sie sprach damals zu mir das bedeutungsvolle Wort: Trinke du daraus und Die, welcher du dein Herz schenkst. – Sophie, ich stehe allein in der Welt, fast Alle, denen ich früher mein Herz geschenkt hatte, sind mir gestorben, wem sollte ich nun mein Herz schenken? Darf ich es wagen, Sie einzuladen, Sophie, daß Sie mir diesen Trank mit Ihren reinen Lippen weihen?
Ein hohes Roth trat auf ihre Wangen; sie entgegnete sichtbar ergriffen: Ich habe gelesen, daß bei den alten Ritterspielen edle Frauen und Jungfrauen den Siegern die Pokale kredenzten, oder diese ihnen als Kampfespreise reichten; das nannte man Dank. Mein ganzes Herz, Graf, ist Dank, inniger Dank; darum erfülle ich gern, herzlich gern Ihren Wunsch und trinke von diesem Weine auf das Wohl eines edlen Siegers! – Sie schlug des Vogels Haupt zurück, führte mit fester Hand den schweren Goldpokal zum Munde und flüsterte, bevor sie [401]trank: Auf Ihr Wohl, Graf Ludwig, und auf eine bessere, schönere Zukunft!
Nachdem ihre Lippen den Juwelenkelch berührt und dessen Wein gekostet hatten, gab sie den Falken mit freundlichem Blick in des Grafen Hand zurück, und auch er trank mit einem vollen, überströmenden Gefühle, das keine Worte fand; dann sprach er: Und diesem mir doppeltgeweihten Gefäß, aus dem ich nun zweimal süßen Zauber getrunken, muß ich entsagen; glauben Sie, theure Sophie, das ist kein leichter Entschluß, aber ich will Sieger über mich selbst sein, ich will es, weil ich es mir selbst gelobt habe.
Noch an demselben Tage kam der Falk von Kniphausen zur Post, wohlverwahrt und weich gebettet, um bald darauf über den Kanal zu reisen, von zarter Hand enthüllt und mit Staunen begrüßt zu werden. Die ganze reiche Grafschaft Devonshire bewahrte kein Kleinod von Künstlerhand, das diesem an Pracht, Schönheit und Werth sich gleichstellen konnte.
Eine lange Zeit der Unruhe war über den Grafen verhängt, der so sehr nach Ruhe und abgeschlossener Stille sich sehnte. Briefe kamen von Sophiens Mutter, alle mehr oder minder voll Furcht und Bangen, wie voll Klagen, daß sie durch Bande der Pflicht gebunden, nicht in der Lage sei, mit der geliebten Tochter sich wieder zu vereinen. Dennoch wollte sie deren Leben und Zukunft so gern gesichert sehen. An einem deutschen Hofe durfte dies nicht geschehen, denn an einem solchen konnte die junge Prinzessin nicht incognito auftreten, sie würde, wenn ihre Herkunft bekannt geworden wäre, jedenfalls eine mißliche Rolle gespielt haben. Da fiel der besorgten Mutter zuletzt ein Ausweg ein, sie wollte sich einem hohen Freund anvertrauen, dem es ein Leichtes war, ihrer Tochter, und wenn diese es wünschte, auch deren treuen Beschützer und Begleiter ein sicheres und unnahbares Asyl zu gewähren. Prinzessin Charlotte hatte beim Aufenthalt in [402]Petersburg den Großfürsten Alexander kurz vor seiner Thronbesteigung kennen gelernt. Die persönliche Liebenswürdigkeit dieses jugendlichen Monarchen, den selbst Napoleon einen Apoll nannte, hatte auch die Prinzessin für ihn eingenommen.
Sie hatte ihn dann am Hofe zu Baden bei seiner Vermählung mit der schönen Tochter des fürstlichen Hauses, Prinzessin Elisabeth, wiedergesehen, rechnete auf des Kaisers Huld und Gunst und schrieb an ihn.
Alexanders Antwort sandte die Prinzessin an Ludwig, sie lautete: »Stellen Sie, Prinzessin, mir diejenigen Personen vor, deren Schutz Sie von mir wünschen, ich werde Alles zu deren Zufriedenheit und zu Ihrer Beruhigung thun. Sie kennen meine Gesinnung und meine Theilnahme an dem Unglück, das Sie betroffen, ich habe bei dieser grausamen Verletzung des Völkerrechts und jenem Meuchelmord, vor dem ganz Europa noch immer schaudert, als deutscher Reichsfürst Schritte gethan, daß Genugthuung für die Gebietsverletzung des Kurfürstenthums gefordert werde, allein welche Genugthuung wäre hinreichend, Ihrem Herzen zu genügen. Kaum die, daß ich im Bunde mit Oesterreich Frankreich den Krieg erklärt habe.«
»Reisen Sie, bester Graf,« schrieb die Prinzessin an Ludwig, »mit Sophie zum Kaiser, hören Sie dessen Befehle, ich überlasse alles Weitere Ihrer Einsicht, Ihrer Freundestreue, Ihrer Ehre und Ihrer Anhänglichkeit an mich und mein Kind. Der Himmel führe Sie Beide! Sie treffen, wenn Sie nicht säumen, den Kaiser noch in Wien. Eilen Sie dorthin und beruhigen Sie bald eine unglückliche Mutter, die für ihr Kind zittert, während sie bereits um ihren gemordeten Gatten der Verzweiflung anheimfiel!« –
Graf Ludwig billigte in seinem Innern diesen eigenthümlichen Vorschlag keineswegs. Es war eine Abneigung in ihm gegen alles Russische, wie sehr er auch den persönlichen Eigenschaften des jungen Kaisers Verehrung zollte. Diese Abneigung entsprang gleichsam einem ererbten Familiengroll, der im Blute lag; das Haus, dessen Sohn Ludwig war, konnte es nie verschmerzen, daß die russisch gewordene Herrschaft Jever – in ihr bestand das deutsche Reichsfürstenthum Kaiser Alexanders I., an welches Ludwig durch des Kaisers Brief erinnert wurde – die einst dem Hause gehört hatte, jetzt von diesem abgerissen [403]war, daß zwischen Jever und Kniphausen der russische Grenzpfahl stand, von dem ein Adlerkopf nach Kniphausen, und der andere nach Varel sich neigte, gerade als ob in diesem schlimmen und starken Vogel Lust vorhanden sei, auch diese beiden Herrlichkeiten zu rauben. Es kämpfte daher mächtig in dem Grafen, ob er der erhaltenen Aufforderung Folge leisten solle oder nicht, zumal sich schon halb und halb in ihm ein Plan gebildet hatte, von dem er sich ein reines Zukunftglück versprach, der Sophien Schutz und ihm Freiheit zur Hingabe an seine Lieblingsneigungen und an ein ihm besonders zusagendes gemüthliches Stillleben gewähren sollte.
Gleichwohl ehrte Ludwig die Prinzessin, Sophie und das Geschick Beider zu sehr, um nicht zu fühlen, daß er vor dem Wunsche der Ersteren seine eigene Neigung aufopfern müsse. Er theilte daher der jungen Prinzessin den Brief ihrer Mutter mit und diese, obgleich erst fünfzehn Jahre zählend, war doch hinlänglich durch den Schmerz für den Ernst des Lebens gereift, um nicht die Bedeutung eines solchen Schrittes vollkommen würdigen zu können.
Sie schlug das seelenvolle Auge zu Ludwig auf und sprach bewegt: Ich habe keinen Willen, ich folge der Mutter, ich folge Ihnen, ich beuge mich in Demuth Allem, was über mich verhängt wird.
Sophie, entgegnete Ludwig: mich schmerzt, was Sie mir erwiedern, obschon ich weiß, daß Sie mich nicht durch Ihre Worte verwunden wollen. Wenn auch die Verhältnisse Ihnen die tiefste Zurückhaltung und Verschlossenheit der Welt gegenüber als eine schwer zu tragende Fessel auferlegen, so dürfen Sie doch mir gegenüber sich frei und offen äußern, denn Sie wissen ja, fügte er, um den Ernst seiner Rede zu mildern, im leichten scherzenden Tone hinzu: daß Sie nicht meine Untergebene, sondern meine Gebieterin sind. Daher dürfen Sie Ihr Verhältniß zu mir nicht so nehmen, als seien Sie ein willenloses Lamm oder ein Opfer der Politik, nein, im Gegentheil, ich werde Nichts unternehmen, in das Sie nicht willigen, da ich im Voraus weiß, wie Ihre klare Einsicht Ihnen sagt und Ihr Gefühl Ihnen sagen wird, daß ich nur an Ihr Heil sinne und denke.
Gewiß, dies fühle ich lebhaft, lieber Graf! versetzte Sophie: und ich will mich bessern; da nun aber meine geliebte Mutter befiehlt, so glaube ich, gehorchen zu müssen, wenn Ihre Meinung damit übereinstimmt. [404]Sie müssen wissen, Graf, ob von dem Erbieten Seiner Majestät des Kaisers von Rußland etwas Günstiges für uns zu hoffen ist; nur das Eine erlaube ich mir zu bemerken, daß, wenn der zugesicherte Schutz eben in einem Aufenthalt im russischen Reiche, auf einem der Kronschlösser oder zuletzt gar in einem russischen Kloster bestehen sollte, ich sehr dafür danke. So lebhaft hat Rußland mich nicht angezogen, und so sehr hat es mir selbst in Sanct Petersburg nicht gefallen, daß ich den Wunsch fassen könnte, in Rußland meine Tage zu verleben. Ich bin in Deutschland geboren, und wenn sich mir auch für die Zukunft das Vaterland meiner Eltern verschließt, so will ich doch ungleich lieber in Deutschland wohnen, als in irgend einem andern Lande, denn Deutschland gefällt mir und ich liebe es.
Wir wollen, nahm Ludwig nach einigem Zögern das Wort: dem Befehl Ihrer Frau Mutter Gehorsam leisten, es steht dann immer noch bei Ihnen, eine dargebotene Gnade anzunehmen oder abzulehnen. Die Hauptfrage ist nur die, wird Ihre Gesundheit die Anstrengung einer Reise mit Courierpferden vertragen? Der Weg von Frankfurt nach Wien ist weit und Eile ist dringend nöthig; denn wenn auch, wie die Zeitungen melden, der Kaiser Alexander in den nächsten Tagen nach Wien kommt, so ist doch diesem Monarchen in so bewegter Zeit nirgend ein langer Aufenthalt vergönnt.
Ich bin Gott sei Dank gesund, mein bester Graf, erwiederte Sophie: und habe Jugendkraft. Frische Luft thut mir wohl, und die Reize wechselnder Landschaften und Orte, die ich ohne Schleierhülle betrachten darf, geben anmuthige Zerstreuung, wenn gutes Wetter solche Fahrt begünstigt. Sie wissen ja, daß ich armes Mädchen so zu sagen eine geborene Reisende bin. Nicht in der Nähe eines traulichen Heimathherdes kam ich zur Welt. Ehe ich noch recht zum Selbstbewußtsein gelangte, wurde ich als Kind in weite Ferne geführt. Zu Wasser und zu Lande war immer Gottes Hand über mir. Sie wissen dies Alles, weßhalb sollte also eine Reise nach Wien mich schrecken? Ich folge Ihnen unbedingt, heute noch, wenn es sein muß!
Wohlan denn, so schreiben Sie, während ich alles Nöthige anordne, einige Zeilen an Ihre Mutter, daß wir ohne Verzug nach Wien abreisen, [405]und ihr vom Erfolg dieser Reise sogleich von dort aus Nachricht geben würden.
Ludwig schrieb seinerseits noch einige rasche Briefe, ließ durch Sophiens Bedienung deren Garderobe, durch Philipp die seine einpacken, und war jetzt erst recht von Herzen froh, daß er den Falken fortgesendet hatte, dessen Besitz eine stete Sorge für ihn gewesen wäre.
Auf dem geradesten Wege ging die Fahrt von Frankfurt nach Würzburg, und von da nach Nürnberg, wo man sich eine Nachtrast gönnte, dasselbe war am folgenden Tage in Linz der Fall, und am dritten schon waren die Reisenden bei guter Zeit in Wien.
Kaiser Alexander empfing sie mit der ganzen Herzlichkeit seines Wesens und seiner Humanität, die ihn zu einem der ausgezeichnetsten Monarchen des Jahrhunderts machten. Er bezeugte der jungen liebenswürdigen Prinzessin sein inniges Beileid, und sprach mit freundlicher Herablassung zu Ludwig: Sie, mein lieber Graf, begrüße ich als alten Nachbar! Wenn Sie mich als solchen vielleicht nicht gern gesehen haben sollten, so will ich Ihnen zum Troste sagen, daß diese Nachbarschaft sich in Kurzem lösen wird, ich bin entschlossen, meine Herrschaft Jever an Holland abzutreten, und gratulire Ihrem Hause im voraus zum neuen Nachbar.
Diese Aeußerung des Selbstherrschers aller Reussen setzte Ludwig einigermaßen in Verlegenheit, denn was sollte er ihm darauf erwiedern? Sein Name allein mochte den Kaiser glauben gemacht haben, er habe irgend noch ein Mit-Anrecht an jene Herrschaft, doch viel zu wichtig war der Augenblick, um ihn auf derartige Erörterungen zu verwenden. Es war Hochwichtiges in Wien zu verhandeln, der Kaiser hatte keine Zeit für Familienangelegenheiten, Fürst Metternich war schon angemeldet, dieser konnte jeden Augenblick eintreffen. Alexander wandte sich wieder zu Sophien und fragte sie, ob sie der Gast seiner Gemahlin in Sarskoe-Selo sein wolle? Dies kaiserliche Lustschloß stehe ihr offen, oder, wenn sie dies vorziehe, würde sie ein gleiches Asyl zu Oranienbaum finden. – Ihre nächsten Verwandten, mein lieber Graf – wandte sich der Kaiser wieder scherzend zu Ludwig: sind ja sehr für Oranien, und gewiß auch Sie selbst! Wissen Sie auch, daß der regierende Graf von Varel und Kniphausen vor Kurzem bei mir in Sanct Petersburg war, um die alten Ansprüche und [406]Anwartschaften auf Jever geltend zu machen? Er war sehr dringend, und ich habe ihm ein Jahrgehalt von fünftausend Silberrubeln als Entschädigungssumme auf Lebenszeit zugesichert, mehr konnte ich nicht thun. Ich habe dem Souverän von Varel und Kniphausen mein aufrichtiges Bedauern darüber ausgesprochen, daß die Verhältnisse gebieterisch fordern, die Ueberzahl dieser reichsgräflichen und reichsfreiunmittelbaren deutschen Standesherrn, da factisch das deutsche Reich aufhört, zu mediatisiren. – Wollen Sie, Herr Graf, in meinen Militärdienst treten, so sollen Sie mir willkommen sein.
Bei dieser Anrede des Kaisers durchzuckte blitzesschnell ein Gedanke Ludwig’s Seele. Ich soll von Sophie getrennt leben, sie soll am Ende gar Hofdame in Sarskoe-Selo werden – und wozu dies Alles? Bedürfen wir dieser kaiserlichen Gnaden?
Allerunterthänigst muß ich für das Glück und die Auszeichnung danken, Eurer Majestät Offizier zu werden, antwortete Ludwig im bescheidensten Tone: ich bin körperlich zum Militärdienst untauglich. Die Prinzessin Sophie wird die Huld Eurer Majestät zu würdigen wissen und sich für die Annahme einer der Gnaden entscheiden, die allerhöchst ihr anzubieten Eure Majestät geruht haben. Majestät geruhen den Ausdruck unterthänigsten Dankes im Voraus entgegen zu nehmen.
Der Kaiser nickte gnädig zum Zeichen der Entlassung, und bat Sophie noch, ihre schöne Mutter von ihm zu grüßen. Die Prinzessin zitterte an Ludwig’s Arme, als sie, in ihren Schleier gehüllt, durch die mit besternten Kammerherren und hohen Militärchargen angefüllten Vorsäle, durch die Schaar goldbetreßter Diener schritt; sie athmete tief auf, da sie endlich im Wagen saßen, um nach ihrem Hotel zurückzufahren. Verwundert sahen die Höflinge dem Paare nach. Wer war der Mann, der eine Prinzessin, wie man sprach, zur Audienz beim Kaiser führte, im schlichten schwarzen Bürgerkleid und hatte nicht einmal einen Orden auf der Brust!
Was sagten Sie dem Kaiser, Graf? Ich hörte es nicht genau vor Zittern und Zagen, fragte Sophie. Ich würde mich für Annahme einer der mir angebotenen Gnaden entscheiden? War es nicht so?
Allerdings, ich konnte nicht anders sprechen, entgegnete Ludwig: ich konnte, nachdem ich für meine Person abgelehnt hatte, nicht [407]auch in Ihrem Namen, ohne vorher Ihren Willen zu kennen, Nein sagen.
Und wünschten Sie, daß ich Ja sagte, Graf? fragte Sophie. Wünschen Sie mich los zu werden? Habe ich Ihnen nicht bereits meinen Willen und meinen Entschluß, in Rußland nicht zu verweilen, offen ausgesprochen?
O Himmel, Sophie! Sie geben mir das Leben wieder! rief der Graf freudig bewegt und führte ihre Hand an seine Lippen. Ich zitterte Ihrer Entscheidung entgegen, und wollte Sie nicht binden; ich hatte dazu kein Recht. Alles Glück, alle Freuden, auf welche Hoheit und Liebreiz Ansprüche haben, wären Ihnen vom Kaiserhofe zu Theil geworden; Ihre Frau Mutter hätte das wohl am Liebsten gesehen.
Ich will bei Ihnen bleiben, entgegnete Sophie mit sanftem Erröthen: will mit Ihnen gehen, wohin Sie mich führen, in die Stille, nur in die Stille, auch Sie lieben ja die Stille, und ich sehne mich gleichfalls nach ihr.
Ludwig war selig in seinem Gefühl – eine Vorahnung heiliger Stille, süßen Friedens kam über ihn und erfüllte sein ganzes Herz. Er sah nun, wie kein Gedanke in Sophie den Wünschen widerstrebte, die den holden Traum seiner Zukunft ausmachten.
Bei der Rückkehr in das Gasthaus trat ein stattlicher Herr dem Paare entgegen, kraftvoll gebaut, von militärischer Haltung, viele Ordensinsignien auf der Brust. Ludwig gab es einen Stich in’s Herz, er wollte schnell mit seiner Begleiterin an ihm vorübergehen, aber Jener vertrat ihm den Weg, und rief erstaunt: Ludwig! Vetter! Du hier?
Wie du siehst, Wilhelm, erwiederte der Graf. Ich bin im Augenblick zu deinem Befehle, erlaube nur, daß ich diese Dame erst nach ihrem Zimmer begleite.
Der Reichsgraf blickte ganz verwundert den Beiden nach; Sophiens edle Haltung, ihre zarte Gestalt fielen ihm auf. Nicht übel, murmelte er: nicht übel! – Ja, das muß wahr sein, schöne Mädchen gibt es in der Kaiserstadt, oder sollte das eine Fremde sein?
Der Reichsgraf hatte nicht die entfernteste Ahnung von dem zarten und innigen Verhältniß Ludwig’s zu den hohen Frauen, die das Schicksal in jene Asyle am Rhein geführt. – Da Windt [408]Ludwig’s nie gedacht hatte, zumal der Erbherr immer sichtlich vermied, nach ihm zu fragen, so konnte dieser auch Nichts erfahren, und wenn Ludwig’s je einmal, wie es bei der Unterredung bezüglich des Falken der Fall gewesen war, Erwähnung geschah, so berührte der treue Intendant doch auf keine Weise jenes Verhältniß.
Der Graf theilte Sophien vor deren Zimmer in flüchtigen Worten mit, daß jener Herr derselbe Verwandte sei, von dem so eben Kaiser Alexander gesprochen habe; dann eilte er wieder zu diesem hinab, worauf die beiden Vetter sich mit einander in ein abgesondertes Zimmer begaben, um ihr Wiedersehen nach so langer Trennung bei einer Flasche Champagner zu feiern.
Das Gespräch lenkte sich auf allerlei; der Reichsgraf war in einer recht gemüthlichen Stimmung; das drohende Gespenst der Mediatisation schien nicht auf dieselbe einzuwirken. Was ihm am Meisten am Herzen lag, der Wiedergewinn jenes kostbaren Trinkgeschirres, das er in Ludwig’s Händen wußte, wurde auch bald Gegenstand der Unterhaltung. Als Graf Ludwig von dem Tod der Großmutter erzählte, daß er noch ihren letzten Segen erhalten habe, rief der Reichsgraf mit Bitterkeit:
Und noch mehr, noch Besseres erhieltest du von ihr. Du empfingst auch noch den Falken!
Allerdings, und zwar mit verbriefter und besiegelter Urkunde rechtmäßigen Besitzes in Folge freier Schenkung, versetzte Ludwig.
Was gedenkst du damit anzufangen? fragte der Reichsgraf mit schlecht verhehltem Aerger.
Nichts, antwortete Jener trocken.
Man sollte doch dies Geräth bei der Familie lassen, Vetter! sprach der Graf nach einer Pause.
Bei welcher? Bei der deinen oder bei meiner zukünftigen? fragte mit scharfer Betonung Ludwig, und diese seine Frage verwirrte den regierenden Herrn ganz und gar, ja es fehlte wenig, so hätte sie ihn aufgebracht; doch bezwang er sich und sprach ruhig weiter: Mit einem Wort, Vetter: wir, der Admiral und ich, hätten den Falken gern wieder, überlass’ ihn uns, tritt ihn uns käuflich ab, stelle deine Forderung, wir schaffen die Summe!
[409]Ludwig blickte eine Weile sinnend vor sich hin, als wolle er sich die Sache überlegen, dann sprach er: Wirklich? Ihr schafft die Summe? Ach, da thut es mir in der That recht leid, daß ich nicht im Stande bin, euren so billigen Wunsch erfüllen zu können.
Warum nicht?
Weil ich nicht mehr im Besitz jenes seltenen Vogels bin.
Um des Himmels Willen, was muß ich hören! fuhr der Graf erschrocken auf. Wurde er dir entrissen? Gabst du ihn hin? An wen gabst du ihn und wie theuer?
Nie würde ich so unwürdig handeln, dieses werthvolle Familienstück zu verkaufen, Vetter! Das denkst du gewiß nicht von mir!
Nun denn, wo kam der Falke sonst hin? fragte der Erbherr in ungeduldiger Spannung.
Ich habe ihn verschenkt, war Ludwig’s ruhige Antwort.
Verschenkt! Hör’ ich recht, verschenkt! schrie Jener außer sich. Ich bitte dich, Ludwig! Wußtest du, was du thatest?
Ich wußte, was ich that, mein lieber Vetter, ich war bei vollem Bewußtsein; mit der einzigen Bedingung, den Falken nie wieder aus den Händen zu geben, schenkte ich den armen Vogel einer vornehmen und sehr reichen Dame, die ich liebe.
Der Reichsgraf stieß sein Champagnerglas so heftig auf den Tisch, daß es klirrend zersplitterte.
Fahr hin, Glück von Edenhall! sprach dazu Ludwig ganz kaltblütig, mit einer Anspielung auf eine bekannte Sage.
Was ist’s mit dem Glück von Edenhall? fragte Graf Wilhelm rauh und hastig, indem er seinen Grimm zu bemeistern suchte.
Als ich in England, in der Grafschaft Devonshire war, erzählte Ludwig, nachdem er ein frisches Glas und eine frische Flasche Champagner bestellt hatte: fand ich auf dem reizenden Schloß Chatsworth, in einem Zimmer, darin die unglückliche Maria Stuart sechzehn Jahre ihres Lebens vertrauerte und neben dem mein Schlafkabinet war, eine alte schottische Chronik, darin ich von einem schönen Krystallbecher las, welcher dem Grafenhause von Castle Edenhall in Cumberland als Geschenk einer Fee gehörte, und »das Glück von Edenhall« genannt ward. So lange es existirte, sollte des Hauses Glück unwandelbar blühen. Ein Sproß des Hauses von wildem Sinn wollte das Glück [410]versuchen, stieß das Glas auf, und da zerbrach es unter schrillem Klang. Wie jener Becher zersprungen war, wich alles Glück vom Hause der Lords von Edenhall, es spaltete sich die Familie, ein Unfriede herrschte darin und Alles ging zu Grunde. Seitdem lebt das Sprichwort dort im Volke, wenn Jemand mit Absicht oder auch ohne Absicht ein Geräth zerbricht: Fahr hin, Glück von Edenhall!
Eine düstere Wolke des Mißmuths lagerte sich über die Stirne des Reichsgrafen.
Erst nach einer Pause fragte er, als könne er den Gedanken noch immer nicht fassen, mit erneutem Erstaunen: Du hast also wirklich den Falken verschenkt? Sage mir, Mensch, hast du den Stein der Weisen gefunden? Kannst du Gold machen?
Wer weiß, entgegnete Ludwig geheimnißvoll, dem es eine wahre Lust war, den Grafen durch Zweifel zu quälen. Als ich die Bäder von Buxton gebrauchte, besuchte ich auch die in jener Gegend gelegene berühmte Peakhöhle bei Castleton; ich stand in der gothischen Geisterkirche dieser majestätischen Stalaktitenhöhle, einer Kirche, welche die Hand der Natur für den Weltgeist wölbte; ich lauschte dort einem Chorgesang, der wunderbar erklang, tief schwermüthig, und was tönten diese fernen Stimmen unsichtbarer Sänger? Es waren Strophen einer altschottischen Ballade, davon lautete die letzte:
Ja, es war schön und reizend im Castle Chatsworth. Und siehst du, Vetter, dort könnte ich wohl auch den Stein der Weisen gefunden haben.
Wie finde ich dich so ganz anders, als ich mir dich dachte, Vetter Ludwig, rief Graf Wilhelm. Du scheinst viel Glück gehabt zu haben! Bist wohl sehr reich?
Hm, es geht an! versetzte Jener mit leichtem Tone, so reich bin ich mindestens, daß mich nicht nach russischen Rubeln gelüstet!
Wie kommst du darauf, Mensch, der Grafschaften verschenkt? fragte betroffen der Reichsgraf.
[411]Siehst du, geliebter Vetter, erwiederte Ludwig: wenn ich Grafschaften verschenke, so befreie ich mich dadurch nur von einer großen Furcht und Sorge, und ich habe mir nun einmal fest vorgenommen, sorgenlos zu leben.
Welche Sorge meinst du? fragte Wilhelm gespannt.
Ich meine die Sorge, mediatisirt zu werden, entgegnete Ludwig trocken.
Was, Mensch? Bist du ein Dämon! Welche Geheimnisse trägst du mit dir herum? Wer hat dir von russischen Rubeln gesagt? Wer von Mediatisirung? Niemand weiß etwas davon!
Willst du es durchaus wissen? – Ja! – Nun denn, der Kaiser von Rußland, vorhin, als ich bei ihm war.
Beim Kaiser von Rußland, rief Graf Wilhelm, dessen ganz verstörter Zustand nunmehr Ludwig’s Mitleid rege machte. Er sprach daher mit vieler Freundlichkeit zu ihm: Lieber Vetter, zürne mir nicht; ich war ein wenig böse auf dich und neidisch auf den Vice-Admiral.
Ha! glaub’s wohl, wegen Doorwerth! rief Graf Wilhelm.
Nicht doch, versetzte Ludwig, sondern daß ihr mich so ganz vergessen und zur Seite geschoben habt; konnte ich nicht auch Gevatter bei dir stehen und Vetter Williams Pathchen mit aus der Taufe heben? Vielleicht hätte ich deinem Sohne den Falken eingebunden. Doch was reden wir da! Nimm die fünfzigtausend holländische Gulden, die ich dir in Doorwerth lieh und lasse dir davon einen andern Falken machen. Ich schenke sie dir, sammt den Zinsen von zwölf Jahren.
Redest du im Ernst, Ludwig, oder im Fieber? fragte ganz verwirrt der Reichsgraf.
Mir war selten so wohl, wie heute, wo ich meinen theueren Vetter so unvermuthet wiederfinde, versetzte Ludwig.
Sieh, geliebter Vetter, fuhr er nach einer Pause mit Wärme fort: du zeigtest mir damals selbst im Zorne ein edles Herz. Ich hatte dir die ärgste Kränkung angethan; selbst von dir zuerst beleidigt, hätte ich dich nicht so wieder beleidigen dürfen, wie ich es that; du konntest mich fordern und todt schießen; du hast mein Leben aufgespart zu vielem herben Weh, aber auch zu unendlichen Wonnen, die mir entgegenblühen, darum nimm mich nun, wie ich bin, aufrichtig und ohne [412]Falsch. Auch warst du es, der als der Aeltere mir zuerst die Hand zur Versöhnung bot; dein Edelmuth gewann dir meine ganze volle Liebe, und nun von allen diesen Geschichten kein Wort mehr. Laß uns anstoßen: Unsere lieben Todten sollen leben!
Theuere Namen klangen durch Ludwig’s Erinnerung: Ottoline, Leonardus, Sophie Charlotte, Angés. Thränen entstürzten seinen Augen, er sprang auf, umarmte Wilhelm mit stürmischer Innigkeit und eilte fort.
Der Abend dieses Tages fand Sophie und Ludwig schon nicht mehr in Wien. Rasch, wie sie gekommen waren, verließen sie die Kaiserstadt wieder, aber sie fuhren nicht mit gleicher Schnelle nach Frankfurt. Sie rasteten in Pölten, und gönnten sich an den übrigen Tagen Zeit, von der schönsten Witterung begünstigt, die herrlichen Ufer des Donaustromes zu bewundern. Sie sahen Regensburgs alte versinkende Herrlichkeit, sahen das alte Nürnberg und sein immer jugendliches Leben. Ueber Bamberg und Coburg reisten sie dann nach dem Dorf Eishausen; der Graf hatte Befehl gegeben, dort anzuhalten, und führte die junge Prinzessin durch die Hauptstraße des Ortes.
Erinnern Sie sich nicht, schon einmal hier gewesen zu sein? fragte er sie.
Allerdings ist es mir so, erwiederte sie: doch weiß ich mich nicht mehr zu entsinnen, wann es war.
Es ist derselbe Ort, sprach der Graf, in welchem ich Sie und die selige Angés nach langer Trennung zum Erstenmale wiedersah, als Sie mit Ihren theueren Eltern nach Rußland reisten.
Ach ja, jetzt entsinne ich mich! rief Sophie gerührt: Dort stand eine schöne Kirche, dort ein ziemlich großes Schloß, hier vor dem Wirthshaus war ein Haufe Soldaten der Republik, der Vater fürchtete von ihnen erkannt zu werden, wir fuhren daher sehr schnell weiter.
Nach kurzer Rast wurde die Reise nach Hildburghausen fortgesetzt. Als der Weg sich von dem hohen Stadtberg thalwärts niedersenkte, als zur Rechten der Blick auf Wald, Wiesen und Dörfer frei ward, zur Linken auf grünende Berggärten und heitere Gelände, und unten im Thale die schöne Stadt so friedlich ruhte, das Abendsonnengold gerade wie damals über die ganze Flur ein magisches Zaubernetz warf und eine Glocke vom stattlichen Kirchthurme herab die Feierabendstunde [413]verkündete, da überkam unsere Reisende ein unnennbar süßes Gefühl der Ruhe, der sanften traulichen Befriedigung. Es war als schließe hinter ihnen die Welt voll Sturm, voll Unfriede, voll Haß und Verfolgung sich ab, und ein neues Leben, nur dem Frieden und der Liebe geweiht, thue sich vor ihnen auf.
Dasselbe Gasthaus, in dem damals die fürstlichen Reisenden während des Pferdewechsels eingetreten waren, der »Englische Hof« in Hildburghausen, nahm sie auch diesmal wieder auf, heute jedoch zu ungleich längerem Aufenthalt. Bald nach ihrer Ankunft suchte der Graf um eine Audienz bei der regierenden Herzogin Charlotte nach. Diese gebildete Fürstin, deren Geist und edles Herz noch heute im treuen Andenken von Stadt und Land fortlebt, empfing den Grafen mit Güte und dankbarer Erinnerung.
Ich komme, Ihre Durchlaucht um die Gnade zu bitten, mich eine Zeitlang hier aufhalten zu dürfen, sagte Ludwig nach der ersten Begrüßung. Ich suche mit einer Gefährtin von hoher Geburt die Einsamkeit, die tiefste Stille. Ueber jener Dame Abkunft schließt mir ein theures Gelübde den Mund, das nur ein strenger Befehl lösen würde, der dann zugleich mein Verbannungsurtheil, meine Ausweisung wäre. Mein Ehrenwort leistet dafür Bürgschaft – ich selbst darf nichts sagen, wie gerne ich auch einem so edlen Frauenherzen, wie dem Ihrer Durchlaucht, Alles vertrauen würde.
Ich verstehe Sie vollkommen, lieber Graf! erwiederte die Herzogin lächelnd. Wir sind hier am Hofe etwas schwatzhaft geartet, meinen Sie nicht? Nun, Sie mögen nicht so ganz unrecht haben! Uebrigens sollen Sie sehen, daß ich eine Regel von der Ausnahme mache, und damit Sie gleich den Beweis davon haben, gebe ich Ihnen hiermit das Versprechen, Ihr Geheimniß jederzeit zu ehren, und Sie und die unbekannte Dame, für deren Ritter Sie sich erklären, nach Kräften zu schützen. Je länger es Ihnen bei uns gefällt, um so mehr soll es mich freuen; aber von Einem seien Sie zum voraus fest überzeugt: Bin auch ich nicht neugierig, hinter Ihr Geheimniß zu kommen, so werden’s andere Leute dafür um so eifriger sein. Mit einem Wort: Hüten Sie sich vor der delphischen Weisheit unserer guten Residenzbewohner.
Die Fürstin hatte richtig prophezeit; die Frage, wer das geheimnißvolle Paar sein möge, welches zwar mit nur weniger Bedienung, aber doch mit vielem Aufwande im »Englischen Hof« wohnte, war schon nach wenigen Tagen das Hauptthema jeder Unterhaltung in der kleinen Residenz, und die Nachbarn betrachteten das so wohl bekannte Hotel um seiner geheimnißvollen Gäste willen mit Blicken des Befremdens und der Neugierde.
So lange die unbekannte Herrschaft noch im Gasthaus wohnte, durfte nie ein Kellner die Zimmer derselben betreten. Man hatte eigenes Tafel-, Tisch- und Bettzeug mitgebracht, oder es kam bald nach dem Eintreffen der Fremden von auswärts an, ebenso waren Service angekauft worden. Später miethete der Graf die schönste Wohnung, welche in Hildburghausen zu haben war, in einem Eckhause am Markt, das nach jener Zeit als Regierungsgebäude diente. Hier wohnte Ludwig im dritten Stock, kein Nachbar konnte ihm in die Fenster blicken. Täglich fuhr er, nur von einem einzigen Diener begleitet, mit der stets verschleierten Dame im eignen eleganten Wagen spazieren. Ein herrliches Paar Schimmel, wie sich selbst im herzoglichen Marstall kein schöneres befand, erregte die allgemeinste Bewunderung.
Allmählig füllten sich alle Gesellschaftskreise der Stadt mit Nachrichten über den räthselhaften Fremden und seine Begleiterin. Daß die öffentliche Meinung den Grafen für einen französischen Emigranten hielt, war in den Verhältnissen und Ereignissen der Zeit begründet; darüber war man im Allgemeinen einig – aber noch gar manches Andere blieb dafür um so räthselhafter und spottete aller Nachforschungen.
Zu ihrer großen Belustigung hörten sie bald, mit welcher Romantik die erfinderische Fantasie der guten Kleinstädter sie Beide umkleide; [415]und es gewährte ihnen manchen heitern Zeitvertreib, sich die Abenteuerlichkeiten erzählen zu lassen, die über sie im Mund der Leute umgingen.
Mit Hülfe der Zeitungen, deren der Graf mehrere hielt, blieb er im steten Verkehr mit der Außenwelt, während sie Ludwig zugleich ein Mittel boten, Sophien in mannichfaltiger Weise zu unterhalten und zu belehren. Beim Thee, den sie selbst mit vieler Anmuth bereitete, las er ihr vor, oder er erzählte ihr aus seiner Kindheit und Jugend, aus dem Leben der Großmutter, aus der Geschichte seines Hauses, von seinem Aufenthalt in England, so daß keine Stunde der Langeweile die junge lebhafte Prinzessin beschlich. Graf Ludwig verstand es, den so häufig trocknen Ton der Zeitblätter zu würzen und sie mit vielem Humor zu erläutern. Die Zeit war schwer, viel Gutes brachten die Zeitungen nicht; auf Deutschland drückte lähmend wie ein Alp Napoleons Herrschaft. Jede freie Aeußerung, welche deutschen Sinn athmete, wurde unterdrückt, und deutscher Vaterlandsliebe drohten Fesseln und Kerker. Da mußten die einsamen ganz auf sich beschränkten Fremden in der kleinen Stadt noch zu einem andern Mittel greifen, um die Stunden zu verkürzen und das Leben zu weihen, und dieses Mittel bot ihnen die Poesie. Mit Entzücken nahm Sophie den Geist deutscher Dichtung auf, mit Begeisterung führte sie der Freund in die schöne Literatur ein.
Mit den Zeitungen über die trübe Zeit brachte Philipp eines Tags auch einen Brief, der das Poststempel London trug. Ludwig erschrak beim Anblick des Trauersiegels, er ging hastig in ein Nebenzimmer, zitternd öffnete er – ach, schon sagte sein Herz ihm Alles!
Meine Mutter! O meine schöne, edle, liebe Mutter! war Alles, was er in seinem Schmerze hervorbringen konnte und laut weinend warf er sich auf’s Sopha.
Sophie eilte herbei, sein Anblick erschreckte sie auf’s Heftigste und bestürzt rief sie aus: Was ist Ihnen, theurer Freund? Darf ich Ihren Schmerz nicht theilen? O, sagen Sie mir, welche Schreckenskunde Sie so tief erschüttert?
Ach, meine Mutter! seufzte Ludwig: oder doch zum Mindesten geliebt von mir wie eine Mutter! Lesen Sie, theure Sophie, am dreißigsten März, neun und vierzig Jahre alt, und welche Frau!
Aus Ihrem Schmerz entnehme ich die Größe Ihres Verlustes! [416]sprach Sophie bewegt. Lassen Sie mich Ihre Trauer theilen, wie Sie einst die meine theilten! Erzählen Sie mir von der Verklärten, das wird Sie erleichtern und mich zugleich in den Stand setzen, Ihren herben Verlust zu theilen.
Ludwig fühlte, wie tief und wahr die Theilnahme dieses jungen reinen Herzens war, und suchte sich zu fassen. Auf’s Neue erkannte und segnete er den Engel, den das Schicksal ihm in Sophien zur Seite gestellt hatte. Auch dieser Kelch mußte geleert, auch dieses Leid ertragen werden.
Mitten in diesem Kummer traf ihn ein neuer Trauerbrief aus Bückeburg; der Kammerrath Windt meldete darin das am 26. Januar erfolgte Ableben seines Bruders, des reichsgräflichen Haushofmeisters Windt. Er war in Stadthagen sanft verschieden und ruhte ohnweit des Grabes seiner treuen Hausfrau, die ihm kurze Zeit vorher vorangegangen war.
In dem untern Stock des Hauses, welches der Graf bewohnte, befand sich die herzogliche Hofbuchdruckerei; eines Tages kam in derselben Feuer aus, welches bald entdeckt und in ganz kurzer Zeit gelöscht wurde. Dennoch trug Sophie einen heftigen Schrecken davon, was den Grafen veranlaßte, die Miethe auf der Stelle zu kündigen. Bald fand sich ein anderes Haus, in der schönen neuen Vorstadt gelegen, welche auch von Emigranten angebaut war. Im Anfang war die Eigenthümerin dieses Hauses unschlüssig, ob sie den Fremden ihr Haus einräumen solle; denn das Geheimnißvolle ihrer Personen und die vielen über sie umlaufenden Gerüchte und Mährchen schreckten sie ab. Als betagte Wittwe eines hohen Staatsbeamten, und als eine Frau von Welt und Bildung, mochte sie sich keiner Gefahr aussetzen, und da sie vernommen hatte, daß die Herzogin den geheimnißvollen Fremden kenne, so ging sie zu dieser und fragte sie geradezu, ob sie ihr rathe, den Grafen und seine Umgebung in ihr Haus aufzunehmen? Leicht beseitigte diese jede Besorgniß bei ihr und der Graf mit seiner Begleiterin und seiner Bedienung nahmen vom obern Stockwerk ihres Hauses Besitz.
Stille, lautlose Stille, deren Aufrechthaltung und Ueberwachung den Mitbewohnern fast peinlich vorkam, waltete um diese Wohnung und brachte den Grafen in den Ruf eines menschenscheuen Sonderlings, während er doch nur Sophiens Wunsch erfüllen wollte, die in [417]dieser völligen Abgeschlossenheit gegen die Außenwelt einen Genuß, einen Trost fand. Das Publikum hingegen, das die junge Dame selten und dann stets nur verschleiert erblickte, fing allmälig an zu argwöhnen, man halte sie mit Gewalt und gegen ihren Willen von der Welt abgesperrt und der Graf sei eine Art Othello oder Ritter Blaubart.
Heute flog diese, morgen jene Neuigkeit über die geheimnißvollen Fremden durch die Stadt und bildete den Inhalt der Gespräche ebensowohl an der Gasttafel im »Englischen Hof,« als auf der Bank der äußersten Vorstadt-Kneipe. Einmal erzählte man sich, der Postillon habe sich auf dem Bock umgedreht, um den im Wagen Sitzenden Etwas mitzutheilen, und in Folge davon habe der fremde Graf dem Postmeister ein Billet geschrieben, des Inhalts, daß er sich diesen Postillon wie jeden andern, der sich unterstünde, während des Fahrens zurück und in den Wagen zu sehen, ein für allemal verbitten müsse. Ein anderes Mal war ein Jude, der bis an das Zimmer des Grafen gedrungen war, die Treppe mehr herabgeflogen, als gegangen, nachdem ihn der erzürnte Graf mit Doppelterzerolen bedroht hatte. So ging es fort und fort, eine sonderbare Nachricht verdrängte die andere, der geheimnißvolle Graf, der sein Leben mit der Tarnkappe verschlossenster Zurückhaltung und mit dem Mantel der tiefsten Verschwiegenheit umkleidete, ließ die Leute zu keiner Ruhe kommen.
Um den Garten des Hauses lief ein hoher Bretterzaun, gegen die Seite der Allee; wenn Ludwig und Sophie mit einander in den frühen Morgenstunden spazieren gingen, dann lustwandelten sie gewöhnlich in der alten schattigen Allee, welche sich um die Hälfte der Stadt längs der Umfassungsmauer hinzog, zu andern Tagesstunden aber ergingen sie sich in dem geräumigen Gemüsegarten dicht am Hause. Nachbarskinder bohrten Löcher in die Bretter der Umzäunung und blickten neugierig hindurch, denn schon in die Kinderwelt herab war das Mährchen, das sich so gerne den Kindern, seinen Lieblingen, befreundet, herabgestiegen und hatte verkündet, daß da drinnen eine verwünschte Prinzessin umgehe, welche keinen Mund habe; während Andere behaupteten, die fremde verschleierte Dame habe einen Todtenkopf.
Darüber kam es zum Wortwechsel, von diesem zu Prügeln, und während die liebe Gassenjugend draußen vor dem Garten zu Rittern [418]der Poesie des Volksmährchens wurden, standen Ludwig und Sophie an der bretternen Wand und belachten herzlich der großen und kleinen Kinder Abenteuersucht. Gewöhnlich mußte dann Philipp Brettstückchen sägen und die Löcher im Zaune wieder zunageln.
Nie gab es auffallendere Gegensätze, als das Leben dieses geheimnißvollen Paares, wie es nach Außen hin in seiner räthselhaften Abgeschlossenheit der alltäglichen Umgebung erschien, und Jenes, das Beide in Wirklichkeit führten; nach Innen die reine, lautere Wahrheit, nach Außen die romantische und selbstersonnene Täuschung.
Mitunter gab es auch Tage, an welchen die Postpferde schon zu sehr früher Morgenstunde vor dem Hause sein mußten; Philipp half dieselben rasch an den Wagen des Grafen spannen und schwang sich dann zum Postillon auf den Bock empor. An solchen Tagen durften weder die Köchin noch die Aufwärterin das Haus betreten. Einmal geschah es indessen, daß die Erstere, welche einen Schlüssel zur Küche bei sich führte, bei einer solchen Abwesenheit der Herrschaft das bestehende Verbot brach. Sie übersah aber, daß ein Spinnfaden quer über das Schlüsselloch gezogen war. Als die Herrschaft zurückkehrte, wurde diese Köchin mit Belassung ihres Gehaltes für den vollen Rest des Jahres auf der Stelle verabschiedet.
Wohin die Fremdlinge fuhren? – Jede nächste Poststation bot andere Pferde, andere Postillone, wer konnte also erfahren, wie weit und nach welcher Richtung hin ihr Reiseziel ging? Viele vermutheten, ein religiöses Bedürfniß führe sie zu den Gnadenorten des nachbarlichen Frankenlandes, nach Vierzehnheiligen, oder nach Sanct Ursula, oder zum Gipfel des heiligen Kreuzbergs.
Dem in so geheimnißvoller Eintracht verbundenen Paare, dessen Leben der gesammten Umgebung ein so großes Räthsel war, kam ein wichtiger Tag. Längst hatte Sophie im Stillen dessen gedacht, längst sich mit ihm beschäftigt, zweierlei sollte den Mann überraschen, an den ihr Geschick sie so wundersam gebunden, ja gekettet hatte. Es war der 22. September des Jahres 1808.
Heimlich, in stillen, unbelauschten Stunden hatte sie sich bemüht, Deutsch schreiben zu lernen, was ihr anfangs sehr schwer fiel.
Noch nie war, außer im innersten verschwiegensten Herzen, das traute Du über die Lippen dieser Liebenden gekommen. Dem Genius [419]der französischen Sprache ist es fremd, nun aber war das deutsche Sie Sophien nicht minder fremd und unbegreiflich, und das Ihr klang ihr im Deutschen so seltsam, daß sie bei sich beschloß, in dem Briefe, der ihre erste Uebung im deutschen Styl werden sollte, das Du zu brauchen, selbst auf die Gefahr hin, daß es so kindlich klinge, als wenn ein Kind sein erstes Gebet stammelt.
So entstand jener noch vorhandene und in Hildburghausen wohlbekannte Brief, der so manche falsche Auslegung fand, der so Viele glauben machte, er sei, weil nicht nach den Regeln der großen deutschen Sprachschulmeister Campe, Adelung und Heinsius stylisirt und geschrieben, nur ein Zeugniß von Mangel an Bildung oder von ganz untergeordneter Stellung jener Persönlichkeit, die das Räthsel ihrer Existenz mit so dichten Schleierhüllen umwob.
Und dabei bleibt es immer noch eine große Frage, ob jener Brief nicht Abschrift einer fremden, der Orthographie unkundigen Hand war. – Du! klang es in Sophiens Seele zu Ludwig, wie es längst in der seinen geklungen; Du! hallte diesen trauten Klang das jungfräulich erbebende Herz nach, da es sich gedrungen fühlte, dem edlen Mann mehr zu sein als Pflegbefohlene, mehr als Tochter.
Als der Graf an diesem 22. September früh nach seiner Gewohnheit das Lager verlassen und aus seinem Schlafkabinet in sein Wohnzimmer trat, lag auf einem geschmückten Tisch ein frischer Kranz, und neben diesem eine schöne Stickerei, ein Sophakissen im Geschmacke jener Zeit, erhabene Blumen von geschorener Seide. Diese Blumen waren Lilien, drei an der Zahl, auf einem himmelblauen Felde, und neben diesen drei zarten Lilien, welche mit täuschender Kunst die Natur nachahmten, stand von Silberlahn gefertigt, ein Anker. Zwischen diesem Kunstwerk und dem Kranze lag ein Brief, ohne Aufschrift, gesiegelt mit einem Petschaft, dessen Abdruck in einem kleinen ovalen Schildchen unter einer Königskrone drei Wappenlilien zeigte.
Bewegt nahte Ludwig diesen freundlichen Gaben einer so unendlich theuern Hand; sein Geburtstag, an den sie ihn sogleich erinnerten, war ihm wichtig geworden, seit er Leonardus kennen gelernt hatte. Er brachte still seinen Dahingeschiedenen ein Todtenopfer. Dahin, dahin waren sie Alle, nur er sonnte sich noch am lieblichen Strahle des Daseins. Aus dem Leben waren sie geflohen, hatten ihn treulos [420]verlassen, Jeder von ihnen war ein Strahl gewesen, der sein Dasein geschmückt und verklärt hatte, jetzt waren diese Strahlen alle zusammengeflossen zu einem Strahle, der ihm ein einzig holder, ach! sein letzter Stern war.
Mit freudigem Beben öffnete der Graf endlich den Brief und las; er las nicht die fehlerhaften Zeilen einer Anfängerin in der deutschen Rechtschreibekunst und Grammatik, er las das beredte Gefühl und den heiligen Ausdruck einer unschuldigen, liebenden Seele!
»Lieber guter Ludwig!
Ich wünsche dir zu deinem Geburtetag[14] viel Glück und Segen! Der Himmel erhalte dich gesund bis in das späteste Alter. Ach, lieber Ludwig, es sind schon viele Geburtetage, die ich bei dir erlebe, und der Himmel segne dich für Alles, was du schon an mir gethan hast, und an mir noch thust!
Ach, lieber guter Ludwig, es thut mir leid, daß ich dir zu deinem Geburtetag keine bessere Freude machen kann. Ich habe hier eine Kleinigkeit für dich gestickt, ich schäme mich, daß sie nicht besser ist. Aber gewiß wirst du, lieber guter Ludwig, es doch von deiner armen Sophie annehmen, als einen Beweis meiner Liebe und Dankbarkeit. Ach, verzeihe mir, mein guter Ludwig, wenn ich bisweilen fehle! Ich bitte den Himmel, daß er mich lehre, meine Fehler zu verbessern. Möchtest du doch mit mir zufrieden sein, ich aber im Stande, alles dir nach Wunsch zu thun, alles dir angenehm zu machen. Ach, lieber guter Ludwig, ich weiß, daß meine Lage schrecklich war und ich danke dir nochmals! Der Himmel segne dich für alles! Behalte mich lieb, lieber Ludwig! Ich bleibe im Schutze Maria’s und dem deinen.
Deine arme Sophie bis in’s Grab.
Den 22. September 1808.
[14] Dem holländischen Geboortedag nachgebildet. Der Brief ist, bis auf die verbesserte Rechtschreibung, ganz urkundlich.
Voll unaussprechlicher Rührung stand Ludwig noch lange vor seinem holden Angebinde, und immer und immer wieder las er Sophiens Brief und netzte mit seinen Thränen diese theuren Zeilen.
Ohne daß er es gewahrte, trat sie leise ein, ätherisch schön, geschmückt, in hellen Farben, von Gewändern umflossen, die sie reizend kleideten, eine liebliche feengleiche Gestalt, blühend wie die schönste Rose Irans, das holde Antlitz von bräutlicher Röthe überhaucht, ein verkörpertes Ideal jungfräulicher Schönheit. Endlich blickte er auf. Sophie! Ludwig! – und sprachlos sanken sie einander in die Arme, Herz an Herz, und geschlossen war der hohe Liebesbund für ein langes, reiches, vollbeglücktes Leben. Vergessen war alles irdische Leid, abgefallen aller bisherige Zwang der scheuen Zurückhaltung; wie zwei Lieblinge des Himmels standen sich die edlen Gestalten gegenüber, froh bewußt ihrer Bestimmung, ihres Zieles, daß sie nun einander angehörten für das Erdensein, für eine gemeinsame Bahn, ein gemeinsames Streben. Der Tag war reizend angebrochen, es war Herbstesanfang, während die Liebenden auf die Sonnenhöhe des Lebens traten; die Morgensonne strahlte hell in die Zimmer, die Natur lachte noch in voller Sommerfrische, und hatte das reiche Füllhorn mannichfaltiger Blumenpracht über die Schöpfung geschüttet.
Voll seliger Freude machten Sophie und Ludwig an diesem Tage ihren Morgenspaziergang; ach, welch strahlendes Entzücken blitzte aus diesem holden Augenpaar hinter der dichten Schleierhülle! Wer hatte diesen zarten Fingern in den feinen Glacéehandschuhen solchen warmen Druck gelehrt? Wer diesen frischen Mund der Liebe lieblichkosendes Flüstern?
Fast hätte in seinem Glück, das so überraschend und übergewaltig an diesem Tage auf ihn einstürmte, Ludwig jenes kleinen Päckchens vergessen, welches Vincentius Martinus gesendet, und welches Leonardus Mutter ihrem vermeinten Sohne als letztes Angedenken bestimmt [422]hatte. Endlich dachte er daran, entsiegelte es, las, und las mit immer wachsendem Erstaunen.
»Mein geliebter Leonardus!« so begann der letzte Brief einer todten Mutter an ihren todten Sohn: »wenn deine Augen auf diesen Zeilen weilen, wandle ich nicht mehr unter den Lebenden, bitte aber Gott, daß du an einem guten und dir Heil und Glück bringenden Tage lesen mögest, was ich niedergeschrieben habe, weil ich ein Geheimniß nicht mit unter die Erde nehmen will, das mich bisweilen bedrückte, das ich aber nicht offenbaren wollte aus Liebe zu dir. Du wirst mir nicht zürnen, mein lieber Leonardus, denn ich habe dir immer und immer die lebendigste Muttertreue bewiesen, obgleich ich nicht deine Mutter bin, mein Mann Adrianus nicht dein Vater ist, du, lieber Leonardus, unser Sohn nicht bist, obschon für unsern Sohn gehalten und als unser Sohn gehalten. Das eigenthümliche und seltsame Ereigniß, welches unser eigenes Kind uns nahm und ein fremdes Kind in unsere Arme legte, will ich dir mittheilen, du wirst darüber erstaunen, doch mir nicht zürnen, wenigstens glaube ich nicht, daß du dazu Ursache hast.«
»Es war im Jahre 1765; Herr Adrianus van der Valck, mein Gemahl, hatte ein, einen längeren Aufenthalt erforderndes Handelsgeschäft in London abzuschließen; wir waren noch im ersten Jahre unseres Ehestandes, liebten uns herzinnig und konnten uns nicht zu einer langen Trennung entschließen; ich begleitete daher meinen Mann nach London und gebar dort nach einiger Zeit einen Sohn, dem wir in der heiligen Taufe den Namen Leonardus Cornelius beilegen ließen. Mit diesem Sohn, einem zarten Säugling, und mit meinem Manne schiffte ich mich später zur Rückfahrt ein. Das große Kauffahrteischiff, auf welchem wir fuhren, war unser Eigenthum; mit uns fuhr eine deutsche Herrschaft, nämlich eine schon bejahrte, wenigstens fünfzig Jahre zählende sehr stolze, aber doch auch wiederum sehr gute und außerordentlich kenntnißreiche Dame, welche mein Mann sehr verehrte, sie stets Frau Reichsgräfin nannte, und mit welcher er allerlei Geldgeschäfte abzumachen hatte. Diese Frau war begleitet von einer jungen Dame, ihrer Schwiegertochter, deren Gemahl in England zurückgeblieben war. Es war zwar auch eine sehr stolze, gegen mich aber doch gütige Frau, welche, gleich mir, auch in London [423]geboren hatte, und ihr Kind von einer Amme stillen ließ. Wir erzeigten uns gegenseitig alle Freundlichkeit und Gefälligkeit, unterhielten uns vielfach über unsere Kinder, fanden sogar ein wenig Aehnlichkeit zwischen beiden, und theilten uns nach Frauenweise unsere gegenseitige Herkunft und Jugenderlebnisse mit. Diese Dame hieß Reneira, und war die Tochter eines Baron van Tuyl zu Serooskerken; sie zählte erst einundzwanzig Jahre; ihr Gemahl war der Reichsgraf Johann Albert von Jever, Varel und Kniphausen, und eine ältere Schwester von ihr, Maria Katharine van Tuyl zu Serooskerken, war an ihres Gemahles älteren Bruder verheirathet. Beide Männer waren die Söhne der Reichsgräfin, welche sich mit auf unserem Schiffe befand. Als wir bereits zwischen dem »Helder« und dem »Texel« hindurch waren, und die Insel Wiwingen in Sicht hatten, sprang der Wind um, wuchs und wuchs und wurde zu einem furchtbaren Sturme. Du kennst Seestürme aus eigener Erfahrung hinlänglich, mein geliebter Leonardus, aber die Feder einer alten schwachen Frau ist nicht vermögend, den zu schildern, der mit allen Schrecken der empörten Elemente uns heimsuchte. Alles stürzte durcheinander, wir armen Frauen, unsere Kinder, unsere Dienerinnen. Dazu Seekrankheit, Todesangst, Nothschüsse, Gekreisch, Hülferufe, und Alles in stockfinsterer Nacht, denn unter Deck mußten alle Lampen und Laternen ausgelöscht werden, um Feuersgefahr zu verhüten. Der Sturm dauerte in gleicher Heftigkeit furchtbar lang, es war das Grauenhafteste, was ich jemals erlebt habe. Wir Frauen waren mehr todt als lebendig, lagen alle auf den Knieen mit Kindern und Dienerinnen in der großen Kajüte, und erwarteten mit jeder neuen Welle unser Ende. Unser Aller bemächtigte sich zuletzt eine gänzliche Hoffnungslosigkeit, eine tödtliche Abspannung, denn der Sturm dauerte zwei Tage und zwei Nächte und das Schiff litt über die Maßen. Als der zweite Morgen graute, rannte es auf eine Sandbank und wurde leck, die Mannschaft wurde nun an die Pumpen beordert, obschon sie so ermattet war, daß fast kein Matrose mehr ein Glied rühren konnte. Jetzt wurden die Boote ausgesetzt, man trug uns Frauen in dieselben, da das Schiff zu sinken drohte, kaum war es möglich, uns hinunter zu bringen; während dies geschah, hörte ich plötzlich einen Schrei der Amme jener deutschen Dame, gleich nachher einen zweiten von der Gebieterin selbst, und verworrene Stimmen riefen, [424]daß ihr Kind todt sei! Um so fester drückte ich das meinige an meine Brust; Jene kamen in ein anderes Boot, bald trennten uns die donnernden Wogenberge von einander; dennoch war Gottes Hand über uns, und ich war die Glückliche, die ihr eigenes Leben und das ihres Kindes gerettet sah, als der Sturm sich endlich legte und ein Schiff uns aufnahm. Auch unser großes Schiff sank nicht; als der Sturm nachließ, gelang es den weiteren Bemühungen der Mannschaft, das Leck zu stopfen und das Schiff wieder flott zu machen. Aber kaum war ich zu Hause angekommen, so fiel ich in eine lange schwere Krankheit, in welcher mein Mann und alle die Meinen um mein Leben zitterten, und von der ich erst nach vier Wochen wieder genaß. Während dessen hatte mein Kind entwöhnt werden müssen, das auch leidend geworden war, doch hatte Gott es mir und mich ihm erhalten. Ohne die treue und sorgliche Pflege meiner Schwägerin Adriane van der Valck, welche damals noch unverheirathet war, wäre weder ich noch das Kind mit dem Leben davon gekommen. Wer beschreibt aber mein Gefühl, als, nachdem ich wieder außer Gefahr war, Adriane, die bei mir saß, das Kind wiegte, und mich zu unterhalten bemüht war, mich fragte: Warum ist denn deinem kleinen Leonardus ein fremdes Hemdchen angezogen worden, liebe Schwägerin, und von wem liehst du denn die feine, gestickte Windel? – Adriane! entgegnete ich: du scherzest wohl? Ich besitze selbst feine Windeln genug und brauche keine zu leihen, so wenig wie fremde Hemdchen.«
»Nimm es mir nicht übel, gute Maria Johanna, erwiederte mir Adriane; ich wußte nicht, daß du in deine Kinderwäsche Grafenkronen hast sticken lassen.«
»Grafenkronen, Adriane? Ich bitte dich, wie wäre das möglich? rief ich aus. – Da zog Adriane aus einer Schublade ein kleines Hemdchen und eine gestickte Windel hervor und zeigte mir Beides, ich sah mit starrem Schrecken, daß diese Wäsche nicht mein und nicht meines Kindes war. Jetzt packte mich ein jäher Schauder, ich wollte aufschreien, denn klar stand Alles plötzlich vor meiner Seele, aber ich bezwang mich, und sagte dumpf vor mich hin: Es mag wohl auf dem Schiffe geschehen sein – die Wärterin wird sich vergriffen und die Wäsche verwechselt haben – es war noch ein zweites Kind mit auf dem [425]Schiffe. Aber ich hörte auch im Getümmel des Sturmes die Nachricht, daß es todt sei, jenes arme Kind, ja todt – todt!«
»Vor meiner Seele tagte es furchtbar, ich hatte das fremde Kind gerettet, mein Leonardus war todt, Beide waren in jener schrecklichen Stunde, wo uns Müttern die Kinder mehrmals aus den Armen stürzten, verwechselt worden.«
»Dieser Gedanke schnitt mir wie ein Messer durch die Seele, aber ich machte mich stark, sprach ihn nicht aus, sondern liebte das fremde Kind wie mein eigenes und dachte, Gott der Herr hat es mir gegeben. Nun entsann ich mich auch, daß jener Sohn der fremden Gräfin William hieß, diesen William hatte ich; und du, mein geliebter Leonardus, bist dieser William, bist ein geborner Graf und Herr von Varel und Kniphausen.«
Wunder! Wunder über alle Wunder! rief Ludwig aus und sprang von seinem Sitz empor. Hörst du es, theure Sophie? So sprach die Stimme der Natur in Leonardus und in mir stark und mächtig als wir zum Erstenmale uns auf der »vergulden Rose« sahen.
Ich verstehe dich nicht, lieber Ludwig! erwiederte Sophie, die den Zusammenhang noch nicht zu fassen vermochte, sonderbar bewegt.
Leonardus, erwiederte der Graf bebend, Leonardus war, wenn auch von einer anderen Mutter, meines Vaters Sohn, war mein leiblicher Bruder! Doch lesen wir weiter.
»Wohl machte mein Gewissen mir bisweilen Vorwürfe, daß ich ein Kind bei mir behielt, welches nicht mein war, allein ich fand auch Gegengründe, mit denen ich die innere Stimme wieder beschwichtigte. Wäre die Verwechselung gleich entdeckt worden, ehe ich so schwer erkrankte, so konnten die nöthigen Schritte geschehen. Aber nun, mein Mann war ganz glücklich, einen Erben zu haben, und sein Sohn war ja doch todt. Jene Frau hat nun ihren Schmerz um ihr vermeintliches todtes Kind überwunden, dachte ich, und ich selbst hatte im Stillen diesem meinem Kinde viel herbe Thränen nachgeweint, aber dafür das mir angeeignete fremde Kind, dich, mein Leonardus, um so lieber gewonnen. Sollte ich nun durch ein so spätes Eingeständniß meinen geliebten Mann erzürnen und betrüben, sollte ich nun noch den Schmerz tragen, mich von dem Kinde zu trennen? Ich entdeckte mich bei diesen Zweifelqualen endlich meinem Beichtvater und [426]der sprach mir göttlichen Trost in die Seele. Gottes unerforschlicher Wille hat vielleicht, ja ganz gewiß, es so gefügt; beten Sie ihn in Demuth an. Vergebens ist das nicht geschehen, und die unergründliche Weisheit des Herrn wird Sie nicht ungetröstet lassen. Erziehen Sie dieses Kind in der Furcht des Herrn und zu seinem Wohlgefallen.«
»Dies beruhigte mich, gleichwohl erkundigte ich mich oft sehr lebhaft bei meinem Mann, welcher, wie dir, geliebter Leonardus, bekannt ist, die Geschäfte jener hohen Familie in Amsterdam besorgte, nach derselben, so daß Herr Adrianus mich sogar einmal eine neugierige Frau schalt; aber denke dir, wie mir zu Muthe wurde, als mir die Kunde ward, jenes Kind der vornehmen Dame, mein Kind – sei damals nur in der ersten Verwirrung für todt gehalten worden, es lebe und verspreche fröhlich heranzuwachsen. Wie freute sich darüber mein Mutterherz! Aber sollte ich nun reden? Sollte ich nun jene Mutter mit einer Eröffnung betrüben, die damals die Verwechselung gar nicht wahrgenommen hatte, denn die Amme des Kindes, wenn diese den Irrthum wirklich inne geworden war, hatte jedenfalls die anders gezeichnete Wäsche erkannt, dieselbe beseitigt und geschwiegen, sonst wären wohl Briefe an uns gelangt.«
»Fort und fort erkundigte ich mich lange Jahre hindurch nach jenem Sohn, denn ich liebte ihn, mußte ihn lieben, ich hatte ihn ja unter meinem Herzen getragen, aber ich liebte nicht minder dich, mein Leonardus, und verkürzt warst du auch nicht erheblich. Der Reichthum des Hauses van der Valck überwog den jenes Hauses, zumal dasselbe später durch die französische Revolution unendlich und viel an Kapitalien verlor, die in Frankreich angelegt waren und das Vermögen sich durch mehrere Erben theilte, du aber unser einziges Kind bliebst, und wenn du auch kein Graf geworden bist, so ist der Adel unseres Hauses wohl so alt, wie jener des gräflichen; unser Wappen-Falke im purpurrothen Felde ist so viel werth, wie das Wappen jener Familie; unsere Vorfahren waren auch Grafen, die Grafschaft Valckenburg, zum Herzogthum Brabant gehörend, umfaßte ein weites Land, Stadt und Schloß Valckenburg, auf Französisch Fauquemont, an der Geul waren die Herrensitze. Du hast dich, lieber Leonardus, unseres Namens daher nicht zu schämen und wirst deiner alten Mutter, obschon sie nur deine Pflegemutter war, nicht zürnen, daß sie dich so geliebt hat, [427]und dich ewig lieben und im Himmel, wo sie zu weilen hofft, wenn du dieses liest, für dich bitten wird.«
Ludwig endete, Sophie hatte mit Verwunderung zugehört.
Und was würdest du nun thun, lieber Ludwig, fragte sie sonderbar bewegt, wenn du Leonardus wärst?
Was Leonardus ganz sicher selbst gethan haben würde, entgegnete der Graf feierlich. Tief in Grabesschweigen würde ich ruhen lassen alles Vergangene, was längst dahin ist und vergessen. Von mir soll Niemand diese Aufschlüsse erhalten, ich werde sie vernichten. Zugleich freue ich mich, daß Leonardus diese Zeilen nicht vor sein Auge bekam; wozu frommen solche Aufschlüsse, solche Bekenntnisse? Nur beunruhigen können sie, oder verwirren. Was frommt alte Abkunft, was frommen Ahnenreihen, Wappenschilde, hohe Namen, wenn nicht das Glück eines ungetrübten innern Friedens im Herzen wohnt? Was gilt uns Bourbon? Was gilt uns Condé? Du hast das zart und sinnig empfunden, meine engelholde Sophie, indem du jene Sinnbilder auf dein Geschenk für mich sticktest. Was sollen uns die Lilien eines Stammwappens? Die Gartenlilien sind schöner. Was sollte uns ein heraldisches Ankerkreuz? Der Anker ist schöner als das Sinnbild der Hoffnung, der Festigkeit und der ausdauernden Treue.
Die du mir bewiesen hast, du lieber Mann, so treu wie Gold und treuer noch! rief Sophie mit Zärtlichkeit.
Und weißt du, meine Liebe, ob sich gegen diese Angaben der guten Frau Maria Johanna van der Valck, denen ohnehin auch nicht ein Schein von Rechtsgültigkeit innewohnt, nicht noch die stärksten Zweifel erheben lassen? fuhr der Graf nach einer Pause fort. Kann nicht die Dienerin von Leonardus Mutter sich vergriffen haben im Tumult, im Sturm, im Dunkel und ihrer Herrin Kind mit Stücken aus der Garderobe des reichsgräflichen bekleidet haben?
Aber die Aehnlichkeit? entgegnete Sophie; und was du vorhin sagtest, die Stimme der Natur?
Eins konnte Zufall und Täuschung sein wie das Andere. Mir bleibt freigestellt, für gewiß anzunehmen, daß unser verklärter Freund mein leiblicher Bruder war, und ich empfinde sogar eine hohe Freude in diesem Glauben; aber er ist uns entrissen, ist dahingegangen, von wo nimmer eine Wiederkehr, wo ihm Niemand seine [428]Stammbäume und seine irdischen Besitzthümer streitig machen wird. Darum bedecke Vergessenheit auch dieses Ereigniß mit ihrem ewigen Dunkel. –
Graf Ludwig nährte immer mehr den Vorsatz, sich und sein hohes Glück den Augen der Welt zu entziehen. Die reichen Mittel, über welche er zu gebieten hatte, unterstützten den Plan und erleichterten ihm dessen Ausführung; sie vergönnten ihm selbst einen gewissen Nimbus des Geheimnißvollen um sich und seine nächste Umgebung zu verbreiten.
Da es ihm auch in der Vorstadt noch zu geräuschvoll war, so strebte er unablässig nach einem noch stilleren Asyl, und fand dies zuletzt zu seiner Freude in dem herrschaftlichen Schloß im Dorfe Eishausen. Dieses Schloß, früher im Besitz reicher Edelleute, jetzt aber sammt seinen Liegenschaften herzogliches Kammergut, stand bis auf den unteren Raum, der einem Verwalter zur Wohnung angewiesen war, völlig leer. Drei Stockwerke umfaßten eine große Anzahl heller Zimmerräume und einen schönen geräumigen Saal.
In diesem Hause gedachte Graf Ludwig sich seines Glückes still und ungetrübt erfreuen zu können und gewann auch bald einen zuverlässigen Mann, der sich des Geschäfts unterziehen wollte, das Schloß von der herzoglichen Kammer für ihn zu miethen. Schon am 22. September des Jahres 1810, feierte Ludwig mit Sophie die Wiederkehr seines Geburtstages still und glücklich in den Räumen dieses Hauses.
Die wirthschaftliche Einrichtung wurde nun nach einem wohlüberdachten Plane geordnet und geregelt: da aber dieselbe von den einfachen ländlichen Bedürfnissen der Bewohner des Dorfes so ganz abweichend war, so wurde Alles, was davon zur öffentlichen Kunde gelangte, bis in’s Kleinste bekritelt und romantisch ausgeschmückt. Bald war auch hier der Graf als ein Sonderling ersten Ranges bekannt und wiewohl der große Haufe ihn kaum kannte, wußte er doch Allerlei an ihm auszusetzen. Es erschien den guten Leuten gegen alles Herkommen, daß der Mann sich so abgeschlossen hielt und jedem Umgang ängstlich aus dem Wege ging. Außerdem hatte er unverzeihlich viel Geld, und selbst, als er durch reiche Spenden an Arme und Bedürftige dem Volke Wohlthaten erwies, erntete er nur Undank und Mißdeutung seiner guten Absichten. Nie stand in der ganzen [429]Gegend die Fabeldichtung in so glänzender Blüthe als in dem Zeitraume, in dem das stille Schloß seine fremden, einsamen Bewohner hatte, das jeder Neugier auf das Strengste verschlossen blieb. Kluge und alberne Leute bemächtigten sich mit gleicher Vorliebe eines so anziehenden Stoffes und schufen daraus die abenteuerlichsten Phantasiegebilde. Noch heute cirkuliren in jener Gegend eine Menge Romanepisoden von dem »Dunkelgrafen« und seiner verschleierten Dame.
Der Winter mit seinen Schauern nahte heran, aber er brachte keine Störung in das behagliche Stillleben der Einsiedler im stillen Schlosse. Bücher aller Art und täglich die gelesensten Zeitungen, nebst einem lebhaften Briefwechsel gaben der Lust an Beschäftigung und geistigem Austausch hinreichenden Anhalt. Selbst den Briefwechsel mit dem Pfarrer Vincentius Martinus van der Valck unterhielt Ludwig noch als fortlebender Leonardus, wobei die eigenthümlich humoristische Schreibart jenes frommen Weltgeistlichen ihm großes Vergnügen gewährte. – Ebenso gaben die noch fortwährend für Leonardus einlaufenden Briefe zärtlicher Verwandten, die bald mit mehr bald mit minderer Offenheit auf sein Geld speculirten, Stoff zu den heitersten Betrachtungen. Graf Ludwig untersagte seiner sämmtlichen Dienerschaft jeden Umgang mit den Bewohnern des Dorfes und der Umgegend. Diese Abgeschlossenheit war es, die alles Zutrauen der Landbewohner zu den Schloßbewohnern fern hielt, und so kam es, daß Aeußerungen wie: der Mann ist ein Narr – ein Sonderling – ein Menschenfeind, er ist ein der Strafe entflohener Verbrecher – an der Tagesordnung waren, so oft man von dem Grafen sprach. Alles was Ludwigs Empfindlichkeit reizte und seine kleinen Eigenheiten hervortreten ließ, wurde, sobald es bekannt war, auf das Lächerlichste und Boshafteste verdreht und entstellt, wurde aufgetischt als Neuigkeit, wurde glossirt als Rechtsfrage, verhandelt als Ereigniß, ohne jedoch dabei nur im Geringsten den vielen vortrefflichen Eigenschaften der beiden Verbundenen die geringste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
So war das wichtige und verhängnißvolle Jahr 1813 herangekommen. Zahlreiche Truppendurchzüge fanden statt und auch das Schloß zu Eishausen bekam häufig Einquartirung. Doch wurde dadurch in dem gewohnten Gang des häuslichen Lebens längere Zeit nichts wesentlich geändert, bis ein ebenso unerwartetes als erschütterndes Ereigniß eintrat, das wir hier erzählen wollen.
Eines Tages geschah es nämlich, daß neue Einquartirung anlangte, ein französischer Hauptmann mit zehn bis zwölf Waffengefährten. Es waren Flüchtlinge der großen Armee aus Rußland, des Hauptmanns von Narben zerrissenes Gesicht hatte einen finster trotzigen Ausdruck. Der auf dem Gute wohnende Verwalter und Philipp, der in jener unruhigen Zeit Haushofmeister und Diener in einer Person war, empfingen die Soldaten, die dem Verhungern nahe waren. Der kleine Trupp war mit seinem Führer über den Wald versprengt worden und weit von dem in Eilmärschen dem Rheine zumarschirenden Hauptcorps abgekommen. Man beeilte sich, die armen, durch wochenlange Eilmärsche entkräftete Soldaten durch Speise und Trank zu laben; Philipp selbst brachte dem Hauptmann ein großes Glas Bordeaux dar, dessen finstere Züge sich bei dem langentbehrten Genuß zu erheitern begannen. Plötzlich schrak Philipp heftig zusammen, so daß ihm fast die Flasche entfallen wäre, aus der er Jenem eingeschenkt hatte, einen Moment starrte er sprachlos, wie vom Donner gerührt, dem französischen Kapitän in’s Gesicht, faßte dabei krampfhaft des Verwalters Arm, ließ ihn dann schnell wieder los und eilte davon. Auch der Franzose zeigte sich plötzlich wie verwandelt, auch er hatte Philipp mit dem gleichen Schrecken angestarrt, stürzte das Glas Wein vollends hinunter und rief: C’est impossible! Impossible!
Während dessen war Philipp nach seiner Stube gerannt, versah sich hier mit zwei geladenen Pistolen, war mit einem Sprung aus [431]dem Fenster im hinteren Hofe, eilte in den Stall und sattelte ein Pferd. Alles war das Werk weniger Minuten.
Der Hauptmann saß während dessen, den Kopf in die Hand gestützt, am Tische, wie in düsteres Hinbrüten versunken. Jetzt fuhr er mit glühenden Blicken auf, schlug mit geballter Faust auf den Tisch und that mit rauher Stimme auf Französisch schnell hintereinander mehrere Fragen an den Verwalter, die dieser, der französischen Sprache unkundig, nicht beantworten konnte. Endlich fragte Jener auf Deutsch: Wo ist der Mann hingekommen, der eben hier war? Wer ist der Herr dieses Hauses! Ich will zu ihm, ich muß ihn sprechen! – Der hochbejahrte Verwalter gerieth in eine große Verlegenheit. Indem trat der Kammergutspachter Kaiser in das Haus, ein Mann von rüstiger Kraft und herkulischem Körperbau; dieser befreite sogleich den zaghaften Verwalter von dem barschen Ungestüm des Fremden. Entschlossen trat er vor den Franzosen und sagte: Was schwadronirt Er da? Ist es nicht genug, daß wir euch zu essen und zu trinken geben, und wenn ihr euch gut aufführt, eine Streu zum Nachtlager obendrein? Zum gnädigen Herrn wollt ihr? Zum Teufel sollt ihr! Denkt ihr, es wäre noch achzehnhundert zwölf? Die Glocke hat anno dreizehn geschlagen! Geht hinauf, der Herr ist oben – untersteht’s euch nur! Hinauf geht ihr, herunter tragen wir euch in eurem Blute. Der Herr schießt euch todt wie einen tollen Hund, daß ihr’s wißt. Denkt ihr Lumpenhunde, wir fürchten uns? Muckst euch nur, so ziehen wir die Sturmglocke, schlagen euch mit Dreschflegeln todt, und kein Hahn kräht mehr nach euch! – Der französische Hauptmann gerieth bei dieser energischen Drohung in eine kaum zu beschreibende Wuth. Bleicher als es war, konnte sein Gesicht nicht werden; grimmig schleuderte er das Glas, aus dem er getrunken, mit einem wilden Fluche zur Erde, knirschte in ohnmächtiger Wuth mit den Zähnen, rief seinen Leuten einige Worte auf Französisch zu und stürzte aus dem Hause. Philipp stand in der Stallthüre und hatte schon das gesattelte Pferd am Zügel, seine Absicht war, nach Hildburghausen zu jagen, Hülfsmannschaft für den bedrohten Ort herbeizuholen und den Hauptmann in Haft nehmen zu lassen, denn er hatte ihn und jener hatte Philipp erkannt – es war kein Anderer als Berthelmy, Angés’ verruchter Meuchelmörder. Wie der [432]treue Diener ihn aus dem Hause stürzen sah, ließ er das Pferd los und eilte Jenem nach. Berthelmy ging zwischen dem Dorf und dem Bach, welcher sich rasch und rauschend ergoß, auf die Wiesenfläche – augenscheinlich um sich zu sammeln und in seiner kritischen Lage irgend einen Plan zu fassen. Sein Blut kochte in ohnmächtigem Grimme; es war, das sah er selbst wohl ein, kein Spaß mehr mit diesen deutschen Bauern zu machen, die Erinnerung des Landvolkes an den Druck, an den Uebermuth der Franzosen war noch zu neu und lebendig; überall mußten dies die Franzosen auf ihrer Flucht nach dem Rheine empfinden, das Landvolk besonders kannte oft kein Erbarmen mit einzelnen Flüchtlingen und Manchen derselben traf blutig die rächende Nemesis.
Kaum war der Hauptmann aus dem Hause und Philipp ihm vom Hof aus nachgefolgt, indem er rasch einen Steeg überschritt und längs des mit hoher Planke umfriedeten Wiesengartens abwärts, dem Bache der Rodach nachging, so winkte Pachter Kaiser einem Knecht im Hofe und gebot ihm, hinüber in das Dorf zu laufen, die Bauern zur Hülfe zu rufen, und wenn es sein müßte, selbst die Sturmglocke ziehen zu lassen.
Der Hauptmann verschwand unter den Weiden, die ziemlich dicht an einer Stelle der Thalwiesen standen. Als er sein Blut beruhigt glaubte, kehrte er wieder um, – da stand Philipp vor ihm, wie aus der Erde gewachsen und vertrat ihm den Weg.
Die versprengten Soldaten im Schlosse hielten sich ruhig, sie fielen mit der Gier halbverhungerter Menschen über die Speisen und Getränke her, die man ihnen willig reichte; indessen sammelte sich bald ein Bauernhaufe vor dem Schlosse, mit allerlei Schießgewehr, Säbeln und Dreschflegeln.
Als der Pachter diesen Succurs anlangen sah, rief er den Soldaten zu, daß sie nun suchen sollten davonzukommen.
Die Franzosen riefen vergebens nach ihrem Kapitän, den sie erst jetzt vermißten. Bald sahen sie ein, daß sie dieser Uebermacht gegenüber den Kampf nicht wagen dürften. Die Bauernschaar verstellte den Flüchtigen den Weg ins Dorf und nach der Stadt, nöthigte sie einen Feldweg einzuschlagen, der sich gleich hinter dem Schloß und den Gutsgebäuden nach Streifdorf und südwärts zog, und gab ihnen unter deutschen Kernflüchen noch eine Strecke weit das Geleite.
[433]Mittlerweile sank die Herbstnacht in das Thal herab; die laut plaudernde Bauernschaar kehrte nach ihrem Dorfe zurück und bald wurde es wieder ganz still um das Schloß, ja recht todtenstill, nur die Wellen der Rodach unterbrachen das tiefe Schweigen ringsum.
Jetzt kam Philipp langsam von der Wiese her nach dem Hause geschlichen, der Verwalter erschrak über seinen Anblick, denn Jener war bleich wie der Tod, stöhnte, hielt sich die Seite und konnte nur stammelnd mit gepreßtem Athem den Ruf nach dem Chirurgen hervorbringen. – Er mußte sogleich zu Bette gebracht werden.
Voll Bestürzung eilte der Graf herbei und ihm erzählte dann Philipp unter heftigem Schmerzgestöhn, was sich zwischen ihm und dem französischen Hauptmann auf der Wiese hinterm Schloß, dicht am Ufer der Rodach, begeben habe. Auf den ersten Blick hatte er in Jenem den abscheulichen Berthelmy wieder erkannt und der Gedanke, daß derselbe nicht lebend das Schloß wieder verlassen dürfe, stand sogleich sicher vor seiner Seele. So ging er ihm nach, so vertrat er dem Feinde den Weg, und warf sich mit einer wahren Tigerwuth auf ihn. Berthelmy, ein kräftiger Mann, wehrte sich verzweiflungsvoll, aber Philipp gab die Rache Riesenstärke; bald war der verruchte Mörder der herrlichen Angés völlig in seiner Gewalt, Philipp’s Faustschläge betäubten ihn und obwohl es Jenem noch gelang, seinen Angreifer mit einem Stilett tief in der rechten Seite zu verwunden, so achtete Philipp dessen doch nicht, und auf Berthelmy’s Brust knieend, drückte er ihm so lange die Kehle zu, bis derselbe kein Glied mehr regte. Dann schleifte er den Leichnam an den Haaren nach der nahen Rodach und warf ihn in den dunkelschäumenden Bach.
Graf Ludwig schauderte bei diesem Schreckensbericht, der Zustand des treuen Dieners ließ ihn jedoch jeden anderen Gedanken, jede andere Betrachtung zurückdrängen. Er sandte sogleich einen reitenden Boten nach dem Arzt in die Stadt, als aber dieser eintraf, hatte sich der Zustand des Kranken bereits so sehr verschlimmert, daß der Arzt an seinem Aufkommen zweifelte. Berthelmy’s Stilett hatte noch einmal, zum Letztenmal den Weg zu dem Sitze eines edlen Lebens gefunden, unter unsäglichen Schmerzen gab Philipp in der Nacht den Geist auf, aber erst einige Wochen nach seinem Tode fand man die Leiche des von ihm erdrosselten Berthelmy in den Weidengebüschen der Rodach auf.
Wo bliebe ein irdisches Dasein von den Stürmen des Schicksals unberührt? Und wo blühte das Menschenleben, dem alle Hoffnungen sich erfüllten? Auch hinter Ludwig und Sophie hatte sich damals, als sie das Schloß von Eishausen bezogen, die Welt der Stürme und der herben Geschicke nicht völlig abgeschlossen, aber dennoch waren sie glücklich; der Himmel verlieh ihnen Mäßigung, jene kleinen Leiden als das Unabwendbare zu ertragen, und Tugend, großer Freuden würdig zu sein. So schwanden ihnen die Jahre dahin, nur ihre Herzen und deren treuer Liebesbund alterten nicht.
Eines Tages, als Sophie eben ihre Lieblinge, die Katzen fütterte, trat Ludwig mit einem Briefe zu ihr und sagte mit einer recht bitter ironischen Miene: Mein Berichterstatter aus der Heimath, Herr Rath Wippermann, früher Secretär meines Vetters, des Reichsgrafen, der so gütig ist, mir zuweilen mitzutheilen, wie es zu Hause steht, meldet mir als neueste Neuigkeit, daß Seine Erlaucht, Graf Wilhelm, sich bewogen gefunden hat, über alle und jede Hindernisse sich zu erheben, und seiner mit Madame Sara Margarita Gardes eingegangener Gewissensehe jetzt auch das öffentliche, kirchlich und weltlich gültige Sigill aufzudrücken.
Was ist das? fragte Sophie: Ich verstehe diese Ausdrücke nicht, bester Ludwig?
Der Graf schlug den Brief auseinander und las: »Seine Erlaucht haben sich am achten September achtzehnhundertsechzehn mit unserer nunmehrigen, allgemein verehrten Frau Reichsgräfin in Höchstihrer Herrschaft Kniphausen, und zwar zu Accum, in der dortigen Kirche reformirter und zugleich eigner Confession feierlich copuliren lassen.«
Ich meine, der Reichsgraf habe daran Recht gethan? bemerkte Sophie.
[435]Nicht anders, und ich lobe ihn auch drum, versetzte Ludwig. Er folgt der Eingebung seines Gemüthes und verachtet die Formen des alten Herkommens.
Wird aber diese Ehe nicht angefochten werden von den Agnaten des Hauses? Werden diese ihr volle Gültigkeit zugestehen? fragte Sophie weiter.
Angefochten? Ganz sicher; denn der Streit darf ja nicht enden, der Hader nicht schweigen, ich habe ja diesen furchtbaren Fluch ausgesprochen, aber ein hoher Trost ist im Buche aller Bücher enthalten, welcher lautet: »Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet, denn nachdem er bewähret ist, wird er die Krone des Lebens empfahen.« Mein Vetter ist treu und beharrlich, das freut mich wahrhaft, er setzt seinen Willen durch trotz aller widrigen Schicksale, die ihn betroffen, und Niemand hat ein Recht, ihn zu tadeln, daß er seinem Herzen folgt, daß er der Frau, die er wahrhaft liebt, daß er der Mutter seiner Söhne, und dadurch den letzteren selbst die Rechte gibt, die ihnen gebühren, die aber ganz sicherlich auf das Heftigste werden angefochten und bestritten werden.
Ich verstehe Nichts von dem Recht und den Rechten solcher alten deutschen Familien, sprach Sophie. Ich glaube auch nicht, daß in allen Ländern so strenge und peinliche Ansichten und Gesetze herrschen. Du selbst hast mir früher einmal erzählt, daß man hierüber in England ungleich vernünftiger denke, wie in Deutschland. Auch in Frankreich herrscht für die Herzen mehr edle Freiheit.
Unsere deutschen Gesetzgeber sind sammt und sonders Juristen, deren Zöpfe so lang und unförmlich sind, wie das weiland römische Reich selber. Da darfst du nicht nach Gefühl und nach dem Herzen fragen, sondern nur nach Pergament und Schweinsleder. Es ist ein Jammer damit und wird es ewig bleiben, wenn nicht einmal am guten Tag ein reformatorischer Titane von Gott berufen den ganzer Plunder des alten sogenannten römischen Rechts mit all’ seinen Pandekten, Institutionen, Digesten, Glossen und wie das Zeug weiter heißt, aus Deutschland hinausfegt, und an die Stelle der Verdrehung, der wälschen Wortklauberei, Spitzfindigkeit, Lüge und Fälschung den Altar des einfachen urheiligen Naturrechts und der ewigen Wahrheit errichtet. So lange wir Deutsche noch berechtigt sind, mit Goethe zu klagen:
so lange wird es auch mit unsern Rechtszuständen nicht besser werden. Und liegt nicht, um das nächste Beispiel aufzugreifen, selbst für mich in diesen Goethe’schen Worten eine unendliche Wahrheit? Sind die Processe im reichsgräflichen Hause nicht eine ewige Krankheit? Rücken sie nicht sacht fort, und wie sacht! Langsam, langsam, wie der Gletscher im Alpenlande, der sich fast unmerklich vorschiebt und im Weiterschreiten rings um sich alles Leben erstarren macht, alle Hoffnung raubt, alle Liebe ertödtet. Ist es nicht naturgemäß und vernünftig, daß der Sohn des Vaters Erbe sei? Aber das stets naturwidrige starre Recht wandelt diese Vernunft in Unsinn, sie knüpft an tausend Clauseln, Formeln und Bedingungen das Erbrecht an, und macht die Söhne der reinsten Liebe zu ausgestoßenen, ja durch die Geburt schon im Mutterschooße gebrandmarkten Bettlern. »Wohlthat wird Plage.« Weißt du, daß Hofrath Brünings mir einen Proceß an den Hals werfen wollte wegen des Falken von Kniphausen? Ich sollte mein Recht auf dieses Geschenk der Großmutter sonnenklar documentiren, sollte schwören, daß der Falke rechtlich mein sei, ich sollte mich vor Gericht stellen, sollte in meiner schönen Einsamkeit die ganze Plage der Verhandlungen mit Advocaten haben und durch diese Gabe der unvergeßlichen Frau das centnerschwere Gewicht jener Worte Goethe’s empfinden:
Zum Glück hat mein Vetter, der Reichsgraf, jener diplomatischen dänischen Spinne zu verstehen gegeben, daß sie ein giftiger Kanker ist, und mich in Ruhe lassen solle, zumal ich ja ohnehin auf das Recht verzichte, »das mit mir geboren ist«.
Du wolltest mir längst Ursache und Ursprung jener Streitigkeiten mittheilen, lieber Ludwig, sprach Sophie: welche seit so langer Zeit in deiner Familie erblich sind. Nicht, daß ich neugierig darnach fragen [437]will, aber um des Dichters Ausspruch zu widerlegen »und doch einmal die bestrittene Frage nach jenem Rechte zu erheben, von dem die Frage ist.«
Ich werde dir diese äußerst verwickelten Verhältnisse in gedrängtester Kürze mittheilen, meine theuerste Freundin, antwortete Ludwig. Es sind sehr viele Schriften darüber vorhanden, und kam jemals in Deutschland »ein lautes Geheimniß« wie Calderon eines seiner Stücke nannte, vielfach zur Aufführung, so ist es das unseres Hauses. In der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts lebte Einer der Ahnherren, des Namens Anton Günther, als der letzte des Stammes der Grafen von Oldenburg und Delmenhorst. Es war der Sohn jenes Grafen Johann des Sechzehnten, dem die Erbtochter von Brabant, Marie, ihre Grafschaft Jever schenkte und vererbte. Wenn sein Stamm mit ihm ausstarb, so fielen die Güter, welche Mannslehen waren – mit Töchtern war das Haus in Ueberfülle gesegnet – an das stammverwandte Königshaus Dänemark, und sein Sohn, der mit einem deutschen Freifräulein außerehelich erzeugt war, ging leer aus. Da nun dennoch dieser Sohn ein tüchtiger Mann zu werden verhieß, so verschaffte ihm der Vater erst den Adel, dann die Erhebung in den Reichsfreiherrnstand, er hieß nun Freiherr von Aldenburg und edler Herr zu Varel, und endlich erwirkte der treugesinnte Vater ihm sogar die Würde eines Grafen des heiligen römischen Reichs mit ausnehmend schönen Begabungen und Bevorzugungen, wie sie gar nicht besser zu wünschen waren, zum großen Verdruß der Seitenverwandten, der Könige von Dänemark und des Herzoghauses von Holstein-Sonderburg und Holstein-Plön, ja sogar das Münzrecht wurde ihm verliehen, und als der Vater endlich in seinem vierundachtzigsten Jahre starb, so gebot der Sohn, Reichsgraf Anton der Erste, über sehr ansehnliche Herrschaften, über die Herrlichkeiten Kniphausen und Inhausen, über die Herrlichkeit und das Amt Varel, über die Vogtei Jahde, und eine Menge einzelne Allode, das sind freieigene Güter, die keinem Oberherrn zu Lehn gehen, oder Familienfideicommisse. Dieser Graf vermählte sich in zweiter Ehe mit der Großmutter meiner Großmutter, welche letztere du, liebe Sophie, in Hamburg kennen lerntest, starb aber schon acht Monate vor der Geburt seines einzigen Sohnes von der zweiten Gemahlin; von der ersten hatte er nur Töchter, welche in die Familien Güldenlöwe, Gödens, [438]Haxthausen, Bielcke und der Grafen von Wedel heiratheten. Es erhoben nun, während die gräfliche Wittwe in Doorwerth residirte, Dänemark, Holstein und Oldenburg verschiedene Ansprüche auf das Erbtheil, bis zu deren abermaligem Verdruß der Sohn erschien, und wackere Vormünder diesem seine Rechte wahrten; gleichwohl gab es der Verclausulirungen dabei eine Ueberfülle, welche dir mitzutheilen, äußerst langweilig und unerquicklich sein würde; nur ein Hofrath Brünings und ein Rath Melchers können Honig aus dieser Distel saugen! – Leider war auch dem Sohne, der sich zweimal vermählte, kein hohes Lebensziel zu erreichen beschieden und er starb ohne Söhne, nur eine einzige Tochter hinterlassend. Diese Tochter war meine selige Großmutter, die gütige Pflegerin meiner Jugend, die großmüthige Beschirmerin meiner Jünglingsjahre, deren Andenken ich dankbar segnen werde, so lange ich noch zu denken und zu segnen vermag. Weil die meisten Güter Allode und Familienbesitzthum waren, konnten dieselben meiner Großmutter nicht entrissen werden; sie vermählte sich mit einem in Holland geborenen, aber aus Deutschland, aus der Pfalz, unserer Angés Heimath, abstammenden Edelmann, mit dem sie jedoch nicht in glücklicher Ehe lebte, vielmehr sich von ihm trennte und Noth hatte, sich gegen Angriffe von allen Seiten her tapfer zu wehren, nächstdem, daß auch mannichfache Streitigkeiten in der Familie ihres Gemahls dazu beitrugen, ihr das Leben sauer zu machen. Sie war voll Kenntniß, Wissen, Geist und Gelehrsamkeit; sie stand mit den gelehrtesten Männern Europas im Briefwechsel, besonders über Alterthums- und Münzkunde, und weilte oft lange Zeit am Berliner, wie am Wiener und am französischen Hofe. Am Berliner Hofe betrieb sie ihre Angelegenheiten trotz eines Diplomaten, und hatte vielen Verkehr mit Voltaire. Die bedeutendsten Namen jener Zeit am Hofe zu Berlin und Potsdam sind erwähnt in einem Bruchstück ihres fast ganz verloren gegangenen umfassenden Tagebuches; bald speiste sie mit dem König, bald mit der Königin, bald mit dem Prinzen von Preußen, oder empfing Besuche hoher Personen, wie des Markgrafen von Bayreuth; schon ein flüchtiger Blick in diese Blätter begegnet einer Menge Namen von Grafen und Gräfinnen, Ministern, Künstlern, Gelehrten; das wirrt durcheinander, wie das Maskengewimmel eines großen Ballsaales. Schwerin, Arnim, Dankelmann, Voltaire, d’Argenteau, Algarotti, [439]Maupertuis, Grumbkow, Bismark, Pannewitz, Schmettau, Knesebeck, Nöllnitz, Schulenburg und zahlreiche Andere. Dort traf die Großmutter auch zusammen mit einem nahen Verwandten ihres Gemahls, dem Vater des jetzigen Herzogs von Portland, den sie stets Mylord William nennt. Unter Anderem schrieb sie: »Tyrconel,« dies war der Name eines Gesandten, »jagte mir großen Schrecken ein, daß Frankreich ohnfehlbar gegen mich sei, und daß er nichts Gutes voraussehe.« An einer andern Stelle heißt es: »Am Hofe der regierenden Königin traf ich den Grafen von Bentheim-Steinfurth, der mir gleichfalls einen großen Schrecken verursachte. Ich versprach ihm, ihn zum Markgrafen Heinrich zu führen.« An einer dritten Stelle schreibt sie: »Voltaire sollte bei mir diniren, er mußte aber nach Potsdam zurückkehren und konnte sich nur eine Stunde bei mir aufhalten. Kurz darauf besuchte er mich wieder und beruhigte mich in Betreff des Königs. Ich schrieb nun selbst und sandte meinen Läufer nach Potsdam; am folgenden Tage kam derselbe mit guten Nachrichten vom König zurück.« – So war ihr Leben ein außerordentlich bewegtes, bis sie sich endlich auf ihre Schlösser zurückzog, und auf diesen oder in ihrem Hause zu Hamburg der Wissenschaft lebte. Ihr Enkel, der Reichsgraf, dessen Schicksale du ja größtentheils bereits kennst, mußte erleben, daß bereits in Folge des Friedens von Campo Formio sein Lehensverband zwischen dem Herzogthum Brabant und der Herrschaft Kniphausen sich löste, daß der französische König von Holland alle seine Besitzungen und Herrschaften in Ostfriesland militärisch besetzte, daß der Tilsiter Friede Jever, nachdem Rußland es abgegeben, an Holland brachte, und daß Kaiser Napoleon seinem Bruder, dem König von Holland, über Varel und Kniphausen die Souveränetätsrechte verlieh, die dem rechtmäßigen Gebieter durch dessen Mediatisirung entrissen worden waren. In dem Jahre 1811 verschlang das nimmersatte Kaiserreich Alles, wie es war, große Lande und kleine Ländchen, Holland, Oldenburg, Varel und Kniphausen. Dafür bekam der Graf den Union-Orden, der ihm, nach Vereinigung Hollands mit Frankreich, in den Reunion-Orden umgewandelt wurde. Der Graf wünschte ganz andere Wiedervereinigungen herbei, als das Verhängniß der Napoleonischen Herrschaft ihr Mene Tekel schrieb; allein ein gewisses Vorhaben mißglückte ihm; er wurde in Haft genommen und von Vandamme mit dem Tode bedroht. [440]Nur der Reunion-Orden war es, der ihn rettete und schützte. Gleichwohl wurde er verbannt, und über seine Güter die Confiscation verhängt. Erst das Jahr 1814 befreite ihn; mittlerweile hatte Oldenburg die Herrschaften in Besitz genommen und wollte dem Grafen nicht einmal die Rechte eines Mediatisirten zugestehen. Darüber entstanden Prozesse, die noch immer schweben und den Grafen der Verarmung mehr und mehr zuführen. Wie wunderbare Geheimnisse doch in der deutschen Sprache ruhen! Sie sagt nicht: ein Proceß sitzt, steht, liegt, nein, sie sagt: er schwebt, wie ein Raubvogel, ein Falke, Habicht oder Geier in den Lüften schwebt, und mit scharfem gierigen Auge herab auf seine sichere Beute blickt – und zuletzt – da ruht der Proceß, wenn er endlich aus ist, wie wir auch ruhen, wenn es aus ist mit uns; mir ahnet aber, daß die Processe unseres Hauses eine wahrhaft Ahasverische Natur in sich tragen und immerdar schweben werden, gleich bösen Nachtgeistern.
Welche traurige Aussicht! rief Sophie mit Theilnahme. Wie froh bin ich, daß du, mein Theurer, losgerissen bist von jenem Hause und seinen Geschicken!
Ich kann auch froh sein und bin es vom Grunde meines Herzens, ich will nichts wissen von Processen! antwortete Ludwig. Jetzt hat der Graf von seiner Sara drei Söhne, diese wachsen heran, sein Bruder, Graf Johann Carl hat auch drei Söhne; gib Acht, noch einige Jahre, und die letzteren werden die legitime Abkunft der ersteren bestreiten, und wir können noch einen Kampf der Horatier und Curiatier erleben, freilich nicht mit Schwertern, sondern mit Advocatenfedern, aus den großen Schwebeschwingen des vorhin genannten Raubzeugs; Blut wird dabei nicht fließen, aber außerordentlich viele Tinte, und diese wird noch fortfließen, wenn längst unser Lebensnachen am umdunkelten Strande des Schattenreichs gelandet ist.
So machte der Graf häufig der Geliebten Mittheilungen aus seiner und seiner Familie Vergangenheit, und wie Vieles ließ sich für sie nicht daraus lernen. – Da die Zeit es ihm außerdem vergönnte, so las Ludwig sehr viel, und machte sich bewandert in schöner Literatur, Philosophie und Geschichte. Auch Physik blieb ihm nicht fremd. Es wird erzählt, der Graf habe sich auch viel mit Meteorologie beschäftigt, wozu des Hauses Höhe sich gut eignete; eine Hausapotheke [441]bot jenen Bedarf einfacher Mittel in leichten Krankheitsfällen, deren Besitz und Kenntniß dem Landbewohner von großem Vortheil ist.
Der unmittelbar nächste Nachbar des Schlosses war der Kammergutspachter, und der Graf empfand durch ihn hinlänglich die Wahrheit des Dichterwortes:
Wie sich bei Anwesenheit des flüchtigen französischen Hauptmanns und seiner Handvoll Leute die rohe Bauernnatur in Verhöhung des Unglücks von Seiten dieses Mannes offenbart hatte, so zeigte sich sein Charakter auch gegen jeden Andern. Der Geschäftsträger nannte ihn in Briefen an den Grafen »Monsieur Grobian«, und der Graf selbst schrieb in einer seiner häufigen Beschwerden, daß die Bauern diesen Mann nur den »kleinen General« zu nennen pflegten, wahrscheinlich, weil derselbe ein absolutistisches Commando auf seiner Pachtung führte. Obschon er von dem Bewohner des Schlosses nur Vortheile hatte, und dieser sich gegen ihn und die Seinen stets gütig erwies, trat immer auf’s Neue die bäuerische Grobheit und Habsucht in unverschämten Forderungen zu Tage. Des Grafen Pferde konnten nicht wohl anders in Stallung und Futter gegeben werden, als auf dem Gute. Unversehens beliebte es dem Pachter, die reichliche Bezahlung dafür noch zu steigern. Da sandte der Graf noch in der Nacht zum Schulzen, ließ ihn wecken und rufen, und verkaufte ihm die herrlichen Rappen um einen Drittheil ihres Werthes; vielleicht auch schon dadurch verstimmt, daß der nach Philipp’s Tode zum Kutscher angenommene junge Mensch sich untauglich erwies. Dem Pachter wurde aber nach wie vor Stall- und Futtergeld fortgezahlt, damit er fühle, daß nicht des Geldes halber die Pferde abgeschafft seien, sondern daß man blos seiner Unverschämtheit sich unterzuordnen nicht geneigt gewesen sei.
Um sich und Sophien für die Entbehrung der Spazierfahrten zu entschädigen, miethete der Graf einen großen Wiesengarten, dicht vor dem Schloß, in welchem ein kleiner Beetgarten gelegen war. Zwischen dem Schloß und dem Garten rauschte die Rodach hin, von einem langen Steeg überbrückt. Hohes Buschwerk von Weiden, Ulmen und Rüstern friedeten diesen Wiesengarten ein, durch welchen der Graf einige Wege anlegen ließ, damit derselbe ihm und der Freundin [442]künftig zu Spaziergängen diene; eine Bretterwand von 8 bis 10 Schuh Höhe wurde neu angelegt, um der Außenwelt den Einblick in das schöne Geheimniß dieses friedlichen Stilllebens zu wehren.
Dieser Garten nun war die stille Insel, auf welcher in schöner Jahreszeit Ludwig und Sophie sich täglich ergingen. Klösterlich abgeschlossen gegen die Außenwelt, ganz sich selbst lebend, sich selbst genügend, genossen sie die einfache Schönheit dieser ländlichen Einsamkeit. Eine Geißblattlaube, von einem Fliederbaum überschattet, bot das trauliche Ruheplätzchen, wo sich plaudern und lesen, arbeiten und ruhen ließ. Frieden murmelte der Rodach leisere Welle, Frieden flüsterten der Weiden silbergraue Blätterzungen, Frieden tönten der Aeolsharfe schwellendschwebende Accorde vom hohen Hause in den Garten nieder, Frieden sangen die lieblichen Kehlen munterer Vögel, Grasmücken, Weidenzeisige, Grünlinge und Bachstelzen. Sophie blieb das schöne Wesen ihrer Kindheit und Jugend, von stillem Ernst, dessen Siegel das Leben ihr aufdrückte, gleichsam geweiht. Selten nur kamen Nachrichten von ihrer Mutter, diese Dame reiste noch in hohen Jahren umher, sie war nicht traurig darüber, ihr Geheimniß so fern, so treu bewahrt zu wissen, Niemand lebte mehr, der ihr eine Verlegenheit hätte bereiten können, außer Ludwig und Sophie, und zu diesen fand Jene nie den Weg. Und so war es gut, denn alle Theile waren zufriedengestellt. Was in Sophiens Innerem vorging, ob sie sich hinaussehnte in die Welt, ob sie sich als eine Gefangene fühlte, ob sie heimlich einer ungenossenen Jugend nachweinte? Nur Ludwig war der Vertraute ihrer Seele, keinem andern Herzen konnte ihr reiches und schönes Gemüth sich je erschließen, doch war ihr, jenes stillen Ernstes ungeachtet, ein kindlich heiterer Sinn geblieben und ein tiefes Empfinden.
Friedlich zogen ihnen so die Jahre vorüber, ihre Körper alterten, aber die Herzen blieben jung; ihre Haare bleichten, aber in ihren Augen glänzte die alte Jugend. Die Liebe verloderte und die Freundschaft am Altar ihrer Herzen nährte mit heiliger Hand ihr reines Vestafeuer.
Die Einsiedler im stillen Schloß zu Eishausen berührten die staatlichen und politischen Verhältnisse des Landes, das ihnen nun seit einer Reihe von fast zwanzig Jahren ein friedliches Asyl geboten hatte, nur wenig, doch blieben sie immerhin nicht ganz von dem damals stattfindenden Regierungswechsel unberührt; denn zu allernächst wußten sie ja nicht, ob unter einer neuen Regierung ihnen das Asyl, das nun nach so manchen widerstrebenden Gefühlen, nach so manchem Kampf ihnen lieb geworden, belassen werde? Sie wußten nicht, ob eine neue Regierung nicht blos neu, sondern nicht auch neugierig sein werde. Aber auch von dieser Seite wurde die zarteste Rücksicht gegen den Grafen beobachtet. Ein so lange Jahre still und unbescholten geführtes Leben und die Wohlthaten, welche derselbe nicht nur den Bewohnern von Eishausen, sondern auch den Armen der nahen Stadt erzeigte, waren zugleich ein entscheidendes Gegengewicht gegen jede Verdächtigung. Viele glaubten und glauben es noch, der unbekannte Bewohner des Schlosses zu Eishausen habe schriftlich oder persönlich dem neuen Landesherrn sich entdeckt; dies geschah jedoch nie, es wurde durchaus keine Enthüllung von Seiten des Grafen verlangt.
Alles erfuhr der Graf, was im Dorfe, in der Gegend und in der Stadt sich zutrug, während Dorf, Stadt und Umgegend von ihm noch eben so wenig wußten, als im ersten Jahre seiner Anwesenheit. Er hatte die schwere Kunst verstanden, die Leute zu nöthigen, ein stilles Geheimniß mitten im lauten Markt des Tages gewohnt zu werden. Eines Tages trat, von Niemanden geahnet, ein anderes [444]großes Geheimniß, mit dem sich nicht eine kleine Stadt oder ein kleines Dorf, sondern mit dem sich ganz Deutschland, ja, die halbe Welt beschäftigte, an das Eishäuser Geheimniß episodisch heran. Es war Sommer, die Blätter der Weiden rauschten, über der Flur lag tiefes Schweigen.
Ludwig und Sophie standen an einem Fenster und blickten nach dem Dorfe hinüber; der Klang eines Posthorns erregte ihre Aufmerksamkeit. Bald darauf hörten sie das Rasseln eines Wagens, der im Dorfe anhielt.
Eine Weile nachher erschien auf dem Wege, der aus dem Dorfe nach dem Schloß führte, ein stattlicher, wohlbeleibter Mann im Reiserock, sein Gesicht, voll und breit und lebhaft geröthet, drückte Wohlwollen aus; er nahm den Hut ab, da es sehr warm war, und zeigte, daß er blondes Haar hatte, die Augen erschienen klein, blau und klug. Der Begleiter war ein junger Mensch von unsicherer Haltung und schwankendem Gange; seine Züge hatten etwas Weiches, Unentwickeltes, er trug eine leichte Reisemütze, und that diese jetzt gleichfalls ab; die Blicke, welche er auf die Umgebung warf, drückten eine sonderbare Theilnahmlosigkeit aus, während die seines älteren Begleiters forschend und fast neugierig umhersahen; diese Blicke glitten suchend an allen Fenstern des Schlosses hin, und hatten eine ungemeine Lebendigkeit. Die beiden Fremden blieben bald stehen, bald schritten sie wieder eine kurze Strecke weiter nach dem Schlosse zu.
Soll dieser Besuch wohl uns gelten? fragte Sophie, welche verschleiert am Fenster stand, und nur hinter der grünen bemalten Gardine verstohlen hinabschaute.
Uns nicht, meine Liebe, aber unserm Geheimniß! antwortete Ludwig. Wenn mich nicht Alles trügt, so kenne ich diesen jungen Menschen.
Wie wäre das möglich? fragte Sophie ganz verwundert. Er scheint mir nicht älter als höchstens achtzehn bis zwanzig Jahre zu sein. In diesem Zeitraume hast du ja das Schloß nicht verlassen?
Und dennoch sah ich ihn schon, versetzte der Graf, schritt in sein Arbeitszimmer und kehrte alsbald aus demselben mit einem Buche zurück, dem ein Bild vorangestellt war, welches dem jungen Menschen vollkommen glich.
[445]Die Fremden standen noch unten. Der Herr deutete lebhaft sprechend, und, wie es den Anschein hatte, fragend, nach verschiedenen Richtungen hin. Der junge Mensch folgte jeder dieser Handbewegungen mit seinen Blicken, und machte häufig nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit den Händen entschiedene Bewegungen des Verneinens.
Sieh dir diesen Jüngling recht genau an, sprach Ludwig zur Freundin. Das ist ein Mensch, dessen Herkunft noch ungleich geheimnißvoller für die Welt ist, als die unsere, er ist das öffentliche Räthsel Deutschlands. Sieh, jetzt wenden sie sich, sie gehen wieder, er ist fremd hier, gehorsamer Diener, Herr Polizeirath! Wir bedanken uns für die gütige Aufmerksamkeit! Reisen Sie recht glücklich!
Du machst mich sehr neugierig, Ludwig! rief Sophie mit steigendem Erstaunen.
Ich durchschaue Alles, gab ihr der Graf lächelnd zur Antwort. Der junge Mensch ist der Findling Nürnbergs, dessen Geschichte ich dir erzählte, so weit mir dieselbe aus den über ihn erschienenen Schriften bekannt geworden ist, es ist Kaspar Hauser.
Das unglückliche Kind grausamer Eltern! rief Sophie bestürzt aus.
Derselbe, sprach Ludwig. Sein Begleiter und Führer war der Gothaische Polizeirath Eberhardt, der Schrecken aller Vagabunden und Gauner weit und breit, das hellsehendste Wächterauge in ganz Deutschland für die öffentliche Sicherheit.
Ich denke mir diesen Besuch einfach so: Polizeirath Eberhardt möchte längst gern wissen, wer ich bin, wer du bist, seinem Polizeibewußtsein ist es unerträglich, daß ein Mensch lebt, dessen Paß nicht jeden Augenblick vor aller Augen dargelegt werden kann, daß ein Mensch lebt, dessen Herkunft die Staatsregierung nicht kennt, und der Mann ist ohne Zweifel in seinem vollen Rechte, ja ich schätze ihn aus der Ferne sehr hoch. Sein Freund ist der berühmte Rechtsgelehrte und Criminalist Anselm Feuerbach zu Anspach, der sich Kaspar Hausers auf das Eifrigste angenommen hat und noch immer Alles aufbietet, um Spuren der Herkunft seines Schützlings aufzufinden. Jedenfalls lenkte Eberhardt jenes Mannes Verdacht auch auf uns und dieses Schloß, und daraufhin wurde Ersterem der arme Kaspar Hauser anvertraut um zu versuchen, ob nicht beim Anblick der hiesigen Oertlichkeiten [446]Jugenderinnerungen im Gemüthe des Jünglings wach würden? Denn wie nahe liegt der Gedanke eines Verdachts? Hier ein einsames und stilles Schloß, bewohnt von einem gänzlich von der Gesellschaft getrennten Paare, über dessen Herkunft die dichtesten Schleier gebreitet sind. Könnte nicht hier jener unglückselige Knabe geboren worden, nicht hier sein Kerker gewesen sein? Wehe uns, wenn der junge Mensch vielleicht durch Aehnlichkeiten dieses Ortes mit seiner früheren Umgebung getäuscht, Vermuthungen ausgesprochen hätte, unsere Ruhe wäre dann auf das Aeußerste bedroht.
Der Himmel sei gepriesen, daß sie wieder fort sind! sprach Sophie und suchte des Freundes Besorgnisse zu zerstreuen. –
In das Publikum kamen immer neue Märchen über den geheimnißvollen Grafen. Was längst gesichert erschien, Ludwigs völlig ungestörter Aufenthalt in Eishausen, das wurde jetzt erst als bedroht angesehen und erregte Besorgniß. Die Stadt und die dortige obere Behörde hätte nur ungern den Mann aus dem Lande scheiden sehen, der fort und fort durch großmüthige Unterstützung der Armen und Nothleidenden sich nützlich und wohlwollend erwies, und beschloß deßhalb, dem Grafen ein sichtbares Zeichen dankbarer Anerkennung zu geben. Sie verlieh ihm das Ehrenbürgerrecht der vormaligen Residenzstadt Hildburghausen. Es konnte nicht fehlen, daß dieses Zeichen dankbarer Würdigung und Hochachtung seines Charakters Ludwig tief rührte und innig erfreute, und um so lieber blieb er nun in der stillen Häuslichkeit und in dem engen Kreise, den nun schon so lange und bis in das nahende Alter hinein um ihn und Sophie die traute Gewohnheit gezogen hatte. Um aber nicht blos Bürger der Stadt Hildburghausen zu heißen, sondern auch der That nach es zu sein, erwarb er käuflich ein Wohnhaus in der Stadtnähe, mit einem an dasselbe stoßenden Garten und ließ auch noch einen an diesen angrenzenden Wiesengarten von einem dritten Besitzer erkaufen. Bald umgab auch dieses Haus der Zauber des Geheimnißvollen; hohe dichte Bretterumzäunungen friedigten das neue Besitzthum, Hof und Gärten ein; Läden, welche stets verschlossen blieben, verwehrten das Erdgeschoß gegen jeden zudringlichen Blick.
Das Haus wurde völlig zur Wohnung eingerichtet und angemessen möblirt, auch ein neuer, höchst eleganter Wagen wurde eigens von [447]Frankfurt verschrieben und es erfolgten nun bisweilen heitre Spazierfahrten Sophiens und Ludwig’s mit vier Postpferden, welche jedesmal erst von Hildburghausen nach Eishausen gebracht werden mußten. Bei diesen Fahrten wurde nie die Stadt berührt, indem sich ein Weg, die Mareistraße genannt, in ziemlicher Entfernung um dieselbe herumzog, unmittelbar in die von Coburg über Rodach kommende und nach der Meiningen oder nach Römhild führende Straße einmündete, und zwar ganz in der Nähe des Dörfchens Walrabs, das sich in geringer Entfernung von dieser Straße an eine bewaldete Thalrinne anlehnt. Auch in diesem Dorfe erwarb der Graf ein Haus, und da sich beim Heimfahren nahe dem Stadtberge oder eigentlich an demselben ein umbuschter Berggarten mit Häuschen häufig in einem besonders malerischen Lichte zeigte, so wurde auch dieses käuflich erworben, um zu schöner Jahreszeit einen Ruheplatz daselbst zu haben. Dieser Berggarten bot neben einer der schönsten Aussichten auf die freundliche und wohlgebaute Stadt mit ihrem stattlichen ehemaligen Residenzschloß und Hofgarten, auf die nahe vorbeiziehenden Straßen und auf die ganze friedliche Landschaft, zugleich mancherlei Schattenstellen unter vielen gemischten Holzarten, auch eine zwar nicht lange, doch tief schattende Allee niedriger aber stockstämmiger Kastanienbäume, welche Ludwig ganz eigenthümlich ansprach, indem es ihm war, als habe er schon einmal in dieser Allee gewandelt, aber er konnte sich durchaus nicht besinnen, wann und wo er eine ähnliche Oertlichkeit früher gesehen habe.
Obschon der Graf der Außenwelt stets rege Theilnahme widmete, so mußte er doch mehr und mehr wahrnehmen, wie Nichts Dauer hat auf Erden. Ohne der früheren Freunde zu gedenken, die der Tod ihm in so rascher Folge entrissen, hatte er auch im Laufe der Jahre einen Verlust nach dem andern zu beklagen, deren jeder in seiner Weise unersetzlich für ihn war. In des treuen Philipp’s Fußtapfen vermochte schon kein neuer Diener einzutreten. Der Graf wurde daher immer ernster, und es traten ihm nun zuweilen auch die Gedanken an das eigene Scheiden nah, als bald nach einander der redliche Geschäftsführer und der so äußerst gefällige hochgebildete Freund, der Geistliche des Dorfes starb. Als zu ungewöhnlicher Frühstunde die Glocken der Dorfkirche erklangen und den Tod des wackeren Predigers verkündeten, stimmte ihn dieses Geläute zur tiefsten Wehmuth. [448]Eine Thräne glänzte in seinen Augen und bewegt rief er aus: Wieder ein Band mit der Welt zerrissen, und wohl das letzte! Fast will mich bedünken, als lebe ich zu lang!
Nicht blos, um in Hildburghausen und dessen Weichbild selbst als Ehrenbürger Grundbesitz zu haben, hatte der Graf Häuser und Gärten käuflich erworben; mit treuer Sorge für die Menschen, die ihr Leben an das seine geknüpft hatten und ihm es weihten, war er darauf bedacht, deren Loos sicher zu stellen, falls ihm, vielleicht bald, der dunkle Genius nahen sollte. Zumal Sophien gegenüber war es eine heilige Pflicht, vorsorglich zu handeln, ja ihm selbst konnte der Tag noch kommen, wo er freiwillig oder durch Kündigung der Miethe das Schloß verließ, dann war es gut, sogleich ein Besitzthum zur Verfügung zu haben; war doch ohnehin des Verwunderns darüber kein Ende, daß der Bewohner des stillen Schlosses in demselben wohnen blieb und jährlich 500 Gulden Miethe zahlte, während er ein recht geschmackvoll, obschon ohne Luxus eingerichtetes Haus mit großem Garten sein Eigenthum nannte, und zumal in nächster Nähe der Stadt, wo für den Verkehr mit der Post, mit Kaufleuten, mit dem Geschäftsführer so ungleich größere Bequemlichkeiten sich darboten, als auf einem anderthalb Stunden weit entlegenen Dorfe. Man hatte damit abermals einen Grund mehr gefunden, den Grafen als Sonderling zu bezeichnen, aber unbekümmert um Wohl- oder Uebelmeinen der Menge spann sich das Leben im stillen Schlosse geräuschlos fort, unbewegt und doch voll innerer Bewegung.
Das Jahr 1830 war schon herangekommen mit seinen wichtigen politischen Ereignissen, wie mußten diese die Einsiedler zu Eishausen berühren und erschüttern! Abermals brach in Frankreich ein Revolutionssturm los, bebte der Boden, brach der Königsthron jenes Grafen von Artois, der als Karl X darauf saß, er brach durch die entsetzliche Wucht von vier leichten Papieren, von vier Ordonnanzen zusammen. Es war eine Revolution, die ringsum ihren Wiederhall fand, einen Hall, der Viele erschreckte und nachdenklich machte.
Da kam ein Brief an von Sophiens Mutter, und nach dem Eingange, welcher theilnehmende Fragen nach dem Ergehen der geliebten Einsiedlerin enthielt, schrieb die Prinzessin: »Wir Alle sind außer uns, alle Ereignisse der Politik, welche jetzt die Aufmerksamkeit von [449]ganz Europa auf sich lenken, denn nach allen Richtungen hin legt die republikanische Propaganda ihre Minen, und schon sind deren in Belgien, Polen, in Italien und in verschiedenen Theilen Deutschlands gesprungen – alle diese Ereignisse, sage ich, werden zurückgedrängt durch eine Begebenheit, welche uns zu allernächst auf das Schmerzlichste berührt und niederbeugt. Den letzten Stamm des Hauses Condé hat der Tod gebrochen, und welch’ ein Tod! – Ein schändlicher, verrätherischer, meuchelmörderischer Tod unter der schwärzesten Maske! Am 29. August dieses Jahres wurde Herzog Louis Henri Joseph von Bourbon, Prinz von Condé, auf seinem Landsitz zu Chantilly am frühen Morgen in seinem Schlafzimmer an einem Fensterkreuz erhängt gefunden, und die Schmach eines Selbstmordes auf sein unschuldiges Haupt gewälzt. Schmerz und Zorn zugleich nehmen mir die Feder aus der Hand – des Herzogs Testament ist eröffnet – lachende Erben nehmen das ungeheure Vermögen in Empfang und die gerechtesten Ansprüche Anderer werden mit Füßen getreten! – O, meine Sophie! Du bleibst, was du bisher gewesen bist, eine arme Waise, meine letzte Hoffnung, dir das Glück des Reichthums noch im irdischen Leben verschaffen zu können, denn drüben bedürfen wir dessen ja nicht, ist zertrümmert, wie Helm und Schild dem Letzten seines Stammes zerbrochen in das Grab nachgeworfen wurden!«
Laß doch Alles dahin sein, liebes Kind, sprach Ludwig mit der Ruhe eines Weisen zur Freundin, die von dieser Nachricht auf das Tiefste ergriffen wurde und in Thränen ausbrach; nur keine Thränen um irdische Habe, wahrlich, sie ist so köstlicher Thränen nicht werth, zumal solcher Habe, die Andere besaßen, nicht wir. Auch ich glaube hier nicht an einen Selbstmord, möchte aber auch Niemanden verdächtigen. Wir leben wieder in einer bösen Zeit und können nicht wissen, wie Alles sich gestalten wird.
Du bist unwohl und regst dich allzusehr auf, sagte Sophie, die mit Sorge wahrnahm, wie ihn alle diese Nachrichten immer wieder von Neuem erschütterten. – Ja, meine Theure, ich fühle mich in der That unwohl, entgegnete der Graf. Die lange Ruhe hat mich verwöhnt, so Manches stürmt jetzt auf mich ein, so Manches tritt mir nahe, was mich ängstlich und besorgt macht. Dein Schicksal, Sophie – wenn ich dir entrissen würde.
[450]O schweige, um Gottes Willen, schweige, bester Ludwig! rief sie abwehrend.
Wozu verhüllen, was doch einmal geschehen wird? fragte Ludwig und streichelte sanft ihre erbleichende Wangen. Wie lange noch, und wieder färbt der Herbst die Blätter? Ein anderer Brief, den ich heute empfing, hat mich bis zum Kranksein erschüttert. Was ich einst voraussagte, es ist geschehen, meine jüngeren Verwandten, wenn ich sie so nennen darf, treten auf zum Kampfe gerüstet, und befehden einander in diesem unseligen Jahre mit der Feder, in offenen Druckschriften, sie tragen offen vor das Auge der Welt den Familienzwist, und die Kinder meines Vetters Johann Carl nennen die Kinder meines Vetters, des regierenden Herrn aus der Ehe mit Sara Gerdes Bastarde, sie selbst eine Leibeigene – und so erfüllt sich mir zur Strafe, zur furchtbaren Strafe mein eigener verhängnißvoller Fluch! Ist das nicht schrecklich? Soll das nicht jedes Herz erschüttern? Kaum traute ich meinen Augen, als ich die öffentliche Ankündigung dieser Streitschriften in den Zeitungen las. Und du weißt, liebe Sophie, was Alles vorherging, wie der regierende Reichsgraf leiden mußte, und das gönn’ ich ihm nicht! – Als Wilhelm Gustav Friedrich durch die Alliirten im Jahr 1814 aus seiner Haft und Verbannung befreit war, sequestrirte Oldenburg immer noch seine Güter, und es mußte erst ein abermaliger Berliner Vergleich zu Stande kommen, zu welchem die Großmächte Oesterreich, Preußen und Rußland die helfende Hand boten, daß ihm Kniphausen wieder eingeräumt ward, daß er die Regierung mit Landeshoheit wieder antreten, manches der früheren Rechte wieder zurückerhalten durfte. Aber um die Vermögensverhältnisse, die ja nie glänzend waren, sieht es betrübend aus, was mir am Herzen nagt wie eine Natter. – Bereits im Jahre 1827 hat der Graf seinem ältesten Sohne, Wilhelm Friedrich, das Fideicommiß der deutschen Güter abgetreten und ist nach England gegangen, wo er in London mit dem Rang eines großbritannischen General-Majors anständig lebt. Was aus dem Streite weiter werden soll, das wird die Zeit lehren! Möge die Stunde recht bald schlagen, in welcher die streitenden Parteien den Frieden finden und die Versöhnung! Aber das prophezeie ich, daß diese Zeit spät, sehr spät kommen wird und erst dann, wenn ich längst von meinem stillen Schauplatz abgetreten bin, und die Personen [451]unseres Geschlechts, mit denen ich lebte, längst alle todt sind. Möchte mein so unbesonnener Fluch, der die dunkelste That meines Lebens war – ach, ich lebe nur, um ihn zu bereuen! – dann mindestens gesühnt sein, wenn ich selbst der Sühnung vor dem ewigen Richterstuhl bedarf. Nie soll ein Mensch Verwünschungen über seine Lippen gehen lassen, denn es hört sie eine dunkle dämonische Macht und nimmt sie hohnlachend auf ihre schwarzen Schwingen.
Ludwig war heftig aufgeregt, er legte sich fiebernd nieder. Es wurde ihm in der Nacht so unwohl, daß er die Klingel zog. Sophie eilte erschreckt aus ihrem Zimmer zu dem Kranken hinüber, auch die Köchin erschien.
Sophie weinte und wachte die ganze Nacht hindurch am Lager des Kranken. Dieser blickte sie lange schweigend an und sprach dann halb wie im Fieber:
Wenn ich nun dahingehe, was hat sie dann, die arme Verlassene? Wohin geht sie und wo bleibt sie dann? Unkundig aller Verhältnisse der Außenwelt – o wie unglücklich wird sie sein – o wie erbarmungswerth – und das ist dann mein Werk, ich Unglückseliger! Ich rang nach dem hohen Gute, ich errang es, weihte ihm mein ganzes Leben mit feierlichem Gelübde. Das Gelübde hab’ ich unerschütterlich gehalten, aber meine Eigensucht hat nicht daran gedacht, daß ich vor ihr abgerufen werden könnte!
Diese Betrachtungen marterten des Kranken Hirn bis zur heftigen Fieberglut, er fühlte sich völlig machtlos und sah im Fieber, wie eine hohe, dunkelverhüllte Gestalt die arme Sophie, welche einer geknickten Lilie glich, auf ihre Arme nahm und sie von hinnen trug, weit, weit fort. Immer sah er sie noch und vermochte ihr doch nicht zu folgen, immer weiter und weiter schritt jene Gestalt in eine unermeßliche öde Ferne, wurde immer kleiner, endlich war sie so weit, daß sie mit dem Dunkel der Ferne verschmolz, aber Sophiens Gestalt ward immer heller und heller, je weiter sie von ihm weggetragen wurde – endlich war auch sie nicht mehr sichtbar, sondern leuchtete nur noch wie ein kleiner reiner Stern.
Als der mit tödtlicher Sorge herangewachte Morgen erschien, fühlte sich der Graf besser, er sank aus der verwirrten Welt der Phantasieen in einen ruhigen Schlummer, doch mußte er noch mehrere Tage das [452]Bett hüten. Wie er wieder das Lager zu verlassen und zu schreiben im Stande war, erhielt der Geschäftsführer einige Zeilen, mit zitternder Hand geschrieben, die ihn, was nicht selten geschah, zu einer Unterredung nach Eishausen einluden.
Mein Herr, sprach der Graf, der seinen Besuch in dem Zimmer empfing, welches zwischen dem Vorzimmer und dem Arbeitszimmer lag: ich war sehr krank, aber ich habe eine Pflege, die über alles Lob erhaben ist. Ich habe eine Gefährtin, die mir die ganze Welt, die ich gern entbehre, ersetzt. Aber die Mahnung aus dem Reich der Schatten, die jüngst an mich gelangte, wie im Mittelalter ein Brief der verhüllten Fehme an einen Schuldigen – sagte mir auch, wie viel ich jener treuen Liebe schulde. Helfen Sie mir, meine Pflicht zu thun, wie es den Landesgesetzen gemäß ist, doch ohne Weitläufigkeiten; Sie wissen, daß ich diese nun einmal nicht liebe. Nur keine Gerichte! Nur keine Commissionen, Advocaten, Schreiber – nur das nicht!
Ich werde mir erlauben, erwiederte der Geschäftsführer, Eurer Gnaden gehorsamst auseinanderzusetzen, daß und wie –
Schriftlich, lieber Herr, schriftlich, wenn ich bitten darf! unterbrach ihn Ludwig. Ich bin noch so angegriffen – ich danke Ihnen und bleibe Ihnen im voraus verbunden.
Am folgenden Tage schrieb dieser Mann an den Grafen Folgendes: »Nach dem gestrigen Besuche, wo Euer Gnaden zum Erstenmale der Dame erwähnten, hoffe ich Eurer Gnaden Wünsche richtig zu erkennen. Sie wünschen Ihre hier belegenen Besitzungen an eine Dame, deren Namen Hochdieselben noch angeben werden, zu übertragen und diese als Eigenthümerin einzusetzen, damit diese Dame, bei einer Abreise, oder Abwesenheit, oder dem Ableben von Euer Gnaden stets als solche verfügen und handeln kann. Dieses wird sich auf das Gültigste und Kürzeste leicht, vielleicht auch ohne die persönliche Gegenwart von Gerichtspersonen machen lassen. Ich bin so frei, einen Entwurf zu einer zu treffenden derartigen Verfügung oder Cession zu gnädigster Ansicht und Prüfung beizulegen.«
»Die Form der Abtretung der erwähnten Grundstücke an die Dame ist dadurch leicht gefunden, wenn Euer Gnaden mich beauftragen, die alten Kaufbriefe an die Behörde zurückzugeben und einen neuen auf den Namen der Dame ausfertigen zu lassen.«
[453]Namen der Dame, Namen der Dame! rief der Graf in großer Betroffenheit.
»In Betreff anderweiter Gegenstände ist keine andere gültige Form einzurichten, als die, daß Euer Gnaden in Gegenwart zweier Zeugen eine Schenkung unter den Lebenden machen, wobei die Dame gegenwärtig ist und sagt: Ich nehme diese Schenkung an.«
»Letzteres hat jedoch nach hiesigen Gesetzen nur Rechtskraft und Rechtsgültigkeit, wenn die Schenkung unter 300 Ducaten beträgt. Ueber diese Summe hinaus ist die Schenkung nur gültig, wenn sie in Gegenwart von Gerichtspersonen geschieht.«
O mein Himmel, wie wäre das möglich! stöhnte der Graf, und seine Hände zitterten.
»Meine unmaßgebliche Meinung wäre dahin gerichtet, Hochdieselben wollten erlauben, daß ein Assessor des hiesigen Stadtgerichts hinauskommen dürfte, vor dem der ganze Actus für jetzt und alle Zukunft binnen drei Minuten zu beendigen wäre, indem ich Hochdero gnädige Dispositionen schon vorher zu Papier gebracht hätte, Euer Gnaden nur Namen und Daten ausfüllten und diese Schrift der Gerichtsperson dann mit den Worten übergäben: Dieses ist mein Wille, nehmen Sie denselben zu Protocoll. Das Uebrige besorgen dann die Gerichtspersonen in einem andern Zimmer, und es wird dann das gerichtlich ausgefertigte Instrument zu Hochdero Unterschrift vorgelegt; dabei werden, dafür stehe ich ein, Assessor und Secretair unaufgefordert kein Wort sprechen. Durch diesen Act wird bei einem etwaigen Sterbefall die Versiegelung überflüssig gemacht und jeder obrigkeitlichen Einmischung in Hochdero beiderseitige Hinterlassenschaft vorgebeugt. –«
Diese Schenkung, so weit sie Sophien betraf, gelangte nie zur Ausführung, denn Jene kam nicht in den Fall, derselben zu bedürfen.
Es kam Alles ganz anders, als der Graf geglaubt hatte. Noch eine Reihe von Jahren blieben sie in ihrer stillen Liebe vereinigt. Ludwig erfreute sich, wenn auch bisweilen schwankender, doch im Ganzen guter Gesundheit, aber Sophiens zartes Wangenroth, das so ungesehen von der Welt verblühte, wie eine schöne Blume im Hochgebirge oder in tiefer Waldeinsamkeit, wurde allmälig bleich, immer zarter und [454]durchsichtiger wurde ihre Haut, ihre Blicke aber leuchteten in einem noch höheren Glanze. Ein leises kurzes Hüsteln – der Anflug einer hohen Röthe auf den Wangen – das Alles sagte genug und ließ ahnen, was kommen mußte.
So viel wußte Ludwig aus Büchern, daß hier ärztliche Hülfe nichts mehr fromme, daß hier einzig Mittel der Linderung in Anwendung kommen könnten, die milden Kräfte der Pflanzenwelt, das isländische Moos, die süßen Wurzeln der Quecke und Althea.
So kam der November des Jahres 1837 herbei, dieser schaurige Monat, der das letzte Laub von den Bäumen weht, der der Mutter Erde das Leichentuch zu weben beginnt.
Ein unermeßlicher Schmerz zog durch des Grafen Seele. Das Leben mit all’ seiner genossenen Süße lag hinter ihm und vor ihm lag der Tod in seiner holdesten Gestalt!
Es war ein bitteres, tiefempfundenes Scheiden, doch ohne Schmerz, ohne Qual. Menschen konnten das Weh dieser Trennung nicht ermessen, und Menschen waren auch keine Zeugen derselben. Da schluchzte keine weinende Dienerschaft auf den Knien, da sprach kein Priester Worte des Trostes, wie bei Ottolinens Sterbelager, da kniete nur ein einziger weinender, alternder Mann, und hatte keinen Trost, nicht für sie, nicht für sich.
Ich sterbe gern, flüsterte Sophie mit matter Stimme. Ich danke dir, mein Ludwig! Wie ich soviel, wie ich Alles dir danke – so danke ich dir auch noch für deine Treue – in dieser letzten Stunde! – Vergiß deine arme Sophie nicht! – Du bleibst nun allein – o tritt wieder hinaus in die Welt – begrabe dich nicht länger in der Abgeschiedenheit, denn nur um meinetwillen hast du dich in diese Einsamkeit zurückgezogen. – Ich habe viel entbehrt, was das Leben andern glücklicheren Menschen bietet, aber ich habe dich gehabt, du hast mich reich entschädigt – und wir waren glücklich. Alles, was ich habe, gabst du mir – Alles was ich bedurfte, warst du mir – noch einmal das altgewohnte Wort: mein Ludwig – ich danke dir!
Bebend hielt der Graf die immer matter werdende zarte Gestalt, die auf ihr Ruhebette hingegossen lag, in seinen Armen, er küßte noch ihre letzten Thränen an den langen dunkeln Wimpern auf.
[455]Die Stimme versagte der Sterbenden – das reine Herz hörte auf zu schlagen, ihr Auge brach. Ludwig küßte seiner Verklärten die brechenden Augen zu, hielt sie noch eine Weile in seinen Armen, dann ließ er sie sanft in die weichen Kissen niedersinken und stieß einen lauten dumpfen Schrei des Schmerzes aus, indem er besinnungslos zu Boden sank. Der Tag war der fünfundzwanzigste November. Am vierundzwanzigsten November war Ottoline gestorben. Ob sie einander droben begegneten, die beiden guten Genien des armen Grafen? –
Es war vollbracht, und was noch zu vollbringen war, mußte gleichfalls geschehen. Ludwig ließ Alles durch die Bedienung und den schnell herbeigerufenen Geschäftsführer besorgen und anordnen. Er selbst war ohne Macht, ohne Kraft, ohne Willen, fast ohne Besinnung. Ach, wie marterten und peinigten ihn die dringenden und doch nöthigen Fragen und alle die Anordnungen, die solch ein Trauerfall hervorruft!
Tief versenkt in starres, schmerzliches Hinbrüten saß er da, ganz verloren in Erinnerungen an das selige Einst, und jetzt – jetzt fand er auch mit Einemmale die Erinnerung wieder an das stille, ihm so heilige Grab, und an jene Schattenallee im hochgelegenen Bergeshain, wie er letzteren einst im Traume geschaut, in Ottolinens Schloß geschaut, und wie er – so wunderbar ihn selbst besaß. – Hier die Klause, dort die Grabeszelle! so stand der Gedanke fest in ihm, und so führte er ihn auch aus.
Wortkarg, zurückhaltender als je, einsam und allein stand der Graf da. Keines Freundes tröstender Zuspruch konnte ihn erreichen, keine Theilnahme ihn aufrichten. Willenlos ließ er geschehen, was nicht zu ändern war, todtkrank weilte er beständig in seinem Zimmer, in stummem und darum doppelt unsäglichem Schmerz.
Und in diese schmerzliche Stille trat nun die Außenwelt mit ihren Ansprüchen, mit ihrer Allwissenheit; die Außenwelt, die da Buch führt über Leben und Sterben, über Sein oder Nichtsein. Des Ortes Küster kam, vom Geistlichen entsendet, mit dem Kirchenbuche. Eine Verstorbene, die lebend nie seiner Kirche bedurft, nie derselben begehrt, mußte in das Kirchenbuch mit Namen und Datum, mit Jahr und Tag, mit Alter und Heimath eingetragen werden! Ludwig war in [456]seinem tiefen Schmerz kaum fähig, eine Antwort zu ertheilen auf die Frage nach dem Namen, nach dem Geburtsort.
Sophie Botta! flüsterte er endlich seufzend. – Und woher? – Aus West – Westbachen – Westbacherhof wollte er sagen. – Sophie Botta aus Westphalen, schrieb der Küster nieder.
Die Schauer der Herbstnacht wehten um den entblätterten Berghain. Stille dunkle Gestalten wandelten hinauf aus der Stadt, von Neugier getrieben, denn es war bekannt geworden, daß auf dem Schulersberg, so hieß dieses Besitzthum des Grafen, die Dame beigesetzt werden solle, welche eine so lange Reihe von Jahren hindurch im Schlosse zu Eishausen gelebt und sich den Blicken der Neugier nie, ja selbst nicht einmal der vertrauten Dienerschaft entschleiert gezeigt hatte.
Mild berührt vom Friedenskusse des Todesengels lag sie in ihrem Sarge, den ein alter Tischler unter Thränen gezimmert hatte. Ein weißes Kleid von schwerem kostbarem Atlas umwallte die zarte Gestalt, sie lag da wie ein Kind, mit lächelnden Zügen, man sah ihr kein Alter an, sie glich aber auch keiner Gestorbenen, sie glich dem Marmorbilde eines Ideals aus der Meisterhand eines großen Künstlers. Da war kein Zug von Schmerz und keine Spur von Erdenleid, da war nur Schlummer, sanfter heiliger Schlummer.
So lag sie im offenen Sarge, an welchem Ludwig stand mit schmerzerfüllter, erschütterter Seele, an welchem er einsam stand – o, so unermeßlich einsam! – Er barg manche theure Reliquie unter den Todtenkissen, eine Mitgift für das Grab, ein Geschenk für die Verwesung, eine Speise für den Moder, zuletzt ein zerbröckelnder Fund für die, welche einst, wenn sie es vermögen, die heilige Asche dieser Verstorbenen durchwühlen. Locken vom Haupte ihres ermordeten Vaters, ihrer ohnlängst verstorbenen Mutter, Locken von Angés, auch [457]manchen werthvollen Schmuck, den ihr die Mutter gegeben. Was sollte er damit, was sollten Andere damit anfangen? Und Alles, was er an Schriften besaß, die nur im Entferntesten Sophiens Geheimniß berührten, barg er gleichfalls unter ihrem Gewande. In den gefalteten Händen hielt sie ein kleines Kruzifix aus Elfenbein vom höchsten Kunstwerth; das jetzt braune Haar, welches einst so reizend blond das Haupt des schönen Kindes umwallte, schmückte ein Kranz von weißen Immortellen, befestigt mit einer Nadel, die eine große Perle zierte.
Noch einen Blick, einen langen, zärtlichen Blick, noch eine Bewegung des Segnens, dann legte Ludwig selbst den Deckel des Sarges über seine schöne Todte und wankte zur Klingel.
Dunkele Männergestalten kamen herein, der Graf ging in sein Zimmer zurück, unten stand schon Alles bereit, scharrende Pferde, der Leichenwagen, Laternenträger, die Todtenfrauen und eine große schweigsame Volksmenge.
Langsam rollte der Wagen von dannen, stille Männer und Knaben mit Laternen schritten voran und zur Seite, Andere folgten.
Keine Glocke erklang, kein Geistlicher folgte dem Sarge.
Die Novembernacht war still, es begann leise zu schneien. Am Fenster stand der Graf und blickte mit thränenlosen Augen dem Schimmer nach, der sich seinem Auge erst eine Zeitlang entzog, als der stille Zug durch Steinfeld sich bewegte, dann jenseits dieses Dorfes wieder sichtbar werdend, mehr und mehr zur Höhe emporstieg. Hoch zogen sich die Lichter, es war, als wenn irrende Sterne aufwärts wollten, hinauf zu den Brudersternen am ewigen Himmel.
Jetzt wußte es Ludwig, wer damals, als er in Fieberphantasien lag, die dunkele Gestalt gewesen war, die seine Lilie ihm entführte, seine helle Lilie, die zuletzt zum Steine wurde; droben verschwanden die Lichter über die Berghöhe, eines nach dem andern, jetzt war nur noch Eins sichtbar – recht hell und wahrhaft wie ein Stern anzuschauen, jetzt erlosch auch dieses und war fort, den andern nach. –
Wo der Weg zu Thal sich senkt, an derselben Stelle, die einst den Liebenden einen reizenden Fernblick eröffnet und so manchen Traum von einer schönen liebverklärten Zukunft, da hielt der Leichenwagen, da hoben die Träger den Sarg herab, da ordnete sich der kleine Zug, [458]voran und hinter dem Sarge die Laternen tragenden Knaben, still durch die dunkle Nacht, dem Berghain, dem Grabe zu.
Ueber dem Berghaus war die öde, einsame Stätte, wo die Hülle der Tochter so hoher Ahnen, fern von ihrem Heimathlande, irdische Ruhe finden sollte.
Damit nicht noch um ihre Asche die Lügenmäre ihr Gespinnst webe, hatte der Graf ausdrücklich geboten, den Sarg vor der Einsenkung noch einmal zu öffnen und Allen, die bei derselben zugegen, nun das milde Angesicht zu zeigen, das sich so lange Jahre hindurch hinter dichtem Schleier verborgen gehalten hatte.
Lautlos standen Alle; da lag sie im Silberglanze, im hellen Schein, die marmorbleiche schöne Leiche.
Heimlich schauerte die Nacht. Thränen flossen; leise schloß man den Sarg, und nun wurde dieser hinabgesenkt. –
Schreckliche Tage nahten bald dem Grafen, Tage, wie er sie nie durchlebt, nie geahnet hatte, denn nun kam ihm, was unvermeidlich kommen mußte, die Einmischung der Behörden.
Es war nicht Alles formell hergegangen bei diesem Begräbniß. Sophiens Hülle ruhte schon im kühlen Erdenschooße, als erst Anzeige, und zwar die zufällige durch einen Kreisgerichtsdiener vom Ableben der geheimnißvollen Dame an die Gerichtsstelle erfolgte. Diese forderte Bericht von der Verwaltungsbehörde und erhielt eine Auskunft, die sich über den Grafen nur wohlwollend äußerte; daß derselbe mit der Verstorbenen seit länger denn 30 Jahren ruhig und geschätzt im Lande gelebt, daß noch von keiner Seite her der geringste Anspruch oder eine Beschwerde an und gegen ihn erhoben worden sei, daß er viel Vermögen habe und sich der Stadt und der Umgegend durch Nichts bemerkbar gemacht habe, als durch Wohlthun; es seien weder Kinder noch sonst Jemand da, die Ansprüche an die Nachlassenschaft der Verstorbenen zu erheben berechtigt seien. So viel Dank habe jedenfalls der Graf verdient, um schonend und zart behandelt zu werden, und ein Einschreiten der Civilbehörde vor des Grafen Tode sei wohl nicht rathsam, zumal derselbe dem Vernehmen nach eine bedeutende milde Stiftung für die Gegend beabsichtige, und eine unzarte Behandlung bei seiner Eigenthümlichkeit wohl nur vom entschiedensten Nachtheil sein werde. – Diese wohlmeinenden [459]Worte eines redlichen Beamten verfehlten die gehoffte Wirkung. Ansichten und Pflichten anderer Art ließen die gewünschte Schonung versagen.
Das Gericht ordnete die Versiegelung des Nachlasses der Verstorbenen an. Die Gefühle, die den Grafen hierbei bewegten, sind nicht zu schildern, doch nie verließ ihn die Würde. Er fügte sich ungern dem eisernen Willen des Gesetzes, aber er fügte sich. Er selbst blieb unsichtbar, er war krank; der Kammerdiener und eine alte treue Dienerin führten die Herren in die Zimmer, in welchen sich Sophiens Nachlaß befand, und erklärten, daß dieser Nachlaß von der Verstorbenen, wie von dem Grafen, der Dienerschaft zugedacht sei.
Auch als die Personen des Gerichts wiederkamen, um zur Aufnahme der Hinterlassenschaftsverzeichnisse zu schreiten, mußte der Geschäftsführer den Grafen, weil derselbe krank und sogar bettlägerig war, vertreten.
Welch’ ein Inventar! – Ueber siebenzig Oberröcke und Kleider, theils von Seide in allen Farben, theils von Mousselin und sonstigen feinen Kleiderstoffen, gegen dreißig Shawls und Longshawls, ohne die übrigen Halstücher, ebenso viele Hüte nach den neuesten Formen der Mode, und in diesem Verhältniß alles Uebrige in staunenswerther Fülle. Schmuck fand sich wenig, außer was Sophie als Kind schon besessen, für wen hätte sie sich auch mit zahlreichen Ketten und Ringen schmücken sollen? Sie selbst, ihre ganze Liebe und liebliche Erscheinung war ja der schönste Schmuck, wie er aus der Idee des Schöpfers als Meisterwerk hervorgegangen war; gleichwohl waren einige goldene Halsketten, waren Ringe, Armbänder und dergleichen äußere Frauenzierden vorhanden. Am Meisten überraschend aber war für die Beamten und Taxatoren die Menge baaren Geldes, die in verschiedenen buntseidenen und zum Theil mit Perlen oder mit Fischschuppen gestickten Börsen sich vorfand. Jene Ducaten von theurer Hand, der kleinen Sophie damals in Doorwerth geschenkt, sie waren nicht ausgegeben worden, außerdem fanden sich Friedrichsd’or, Kronen-, Species- und einfache Thaler. Der Graf übernahm gegen Zahlung der Taxe den ganzen Nachlaß, und ließ ihn durch das Gericht seiner Dienerschaft aushändigen; die Summe, welche er zahlte, wurde beim Gericht hinterlegt, und von einer dringlichen Aufforderung, Namen, [460]Stand, Geburtsort und Alter der Verstorbenen ganz genau anzugeben, um so mehr Umgang genommen, als der Graf diese Auskunft zu geben sich entschieden weigerte und fest erklärte, sofort das Land verlassen zu wollen, wenn die Behörde darauf bestehen würde.
Dieselbe begnügte sich daher mit den bereits erfolgten Angaben.
Nach diesen Stürmen lagerte sich wieder die tiefste Stille über das Schloß zu Eishausen. Ludwig trauerte einsam hin, las viel und sprach sich oft mit schmerzlicher Rührung Goethe’s Worte vor, die so ganz auf ihn, auf seine Stimmung, selbst auf die Jahreszeit paßten:
Die Poesie war auch hier wieder die milde Trösterin, die ihm, dem Trauernden, mit ihren sanften Himmelsschwingen Frieden in die Seele fächelte. Alles was Ludwig in verschiedenen Schriften beziehungsweise auffand, merkte er an und schrieb es auch wohl ab.
Fast das einzige geistige Band mit der Außenwelt blieb ein Briefwechsel mit der Wittwe jenes zu Eishausen verstorbenen Predigers, welche nach Hildburghausen gezogen war, doch so, daß sie jeden empfangenen Brief zurückgab. Auch diese Frau hat den Grafen nie gesprochen. Das Bedürfniß, sich mitzutheilen, ist allzumächtig in der Menschenseele, als daß auch der allerverschlossenste Charakter ganz auf dasselbe zu verzichten im Stande wäre.
Aus Ludwig’s wehmuthvollster Zeit ergoß sich seine Klage in den Worten: »Meine Lage wird immer unerträglicher; es ist keine getrennte Ehe; es ist mehr: es ist die Zerreißung eines zusammengewachsenen Geschwisterpaares, Eines kann nicht ohne das Andere fortleben. – – Ich lege mich öfters des Tages nieder, doch vergeblich; die Schmerzen lassen meinem Körper so wenig Ruhe, als die mich umgebenden Gegenstände meinem Geist. Das Haus ist wie verödet.«
Ja, öde war es außer ihm, in ihm. Selbst jene Thiere, welche Sophie geliebt hatte, starben ungeachtet sorglichster Pflege schnell nach einander; des Pachters Hund, den sie oft aus dem Fenster herab [461]gefüttert hatte, heulte einige Tage und wimmerte, und eines Morgens lag er todt unter den Fenstern des Schlosses.
Als der Frühling kam, die Auen neu ergrünten, da zog es den Grafen mehr denn einmal hin nach jenem Berggarten, nach jener Einsamkeit. Hier war die Stelle, die einst sein Jugendtraum ihm zeigte. Wie war doch dieser Traum zur Wahrheit geworden! Gesehen und gehört hatte Ludwig lebensvolles Gewühl der Straßen und Märkte großer Städte, Waffenlärm der Heerlager, berghohe Meereswogen, Stürme und ruhige See – hohe Burgen und Schlösser, stille Thäler – und zuletzt – die Siedlerklause dort im stillen Schloß, hier die dunkelschattende Kastanienallee – ein einsames Grab, und in dieses Grab hinabgesenkt alles Ringen und Streben, alles Jubeln und Bangen, alles Hoffen und Fürchten eines langen Erdendaseins – all’ sein Glück.
Alles hatte sich erfüllt, Alles – und er stand am Ziele. Sanft elegisch war seine Stimmung, und sie fand die verwandten Klänge im stillen Weben der Natur, durch deren hellste, sonnigste Lenzespracht doch bisweilen Ahnungen wehen, die des Menschen Herz mit Schauern durchrießeln.
Die Neigung zum Wohlthun blieb ihm durch alle Jahre hindurch, die ihm noch zu leben vergönnt waren. Mit Geschenken an Arme feierte er Sophiens Todestag, mit Geschenken an Arme den Geburtstag des Landesherrn, ja, selbst als Leonardus van der Valck spendete er noch Liebesgaben nach verschiedenen Orten hin, von denen ihm immer noch Bitten zugingen. Auch Vincenz Martinus war nicht völlig in den Hintergrund getreten. Eine Stelle im letzten Briefe, den der Graf von ihm erhielt, lautete:
»O mein geliebter Vetter! Wir werden alt, wie lange wollen wir noch mit einander Briefe wechseln? Deine letzte geehrte Zuschrift traf mich nicht mehr in Amsterdam, ich wohne seit Jahr und Tag hier in Leiden, allwo nach dem deutschen Scherzwort der König David geboren ist, vergleiche Psalm 38, Vers 18. Allhie bin ich Pfarrer, wohlbestallter, und bete täglich auf das Allerfleißigste zu den lieben Gottesheiligen auch für dich, geliebter Leonardus. Neues weiß ich dir aus Amsterdam nicht zu melden; daß dein alter Seekapitän Richart Fluit in der That und gegen menschliches Vermuthen von [462]seiner alten Sibylla Nicodema wirklich einen Delphin erzielt hat, schrieb ich dir wohl schon vorlängst. Wir dachten damals oft an dich, als wir den kleinen Seekönig und Heiden tauften. Unsere Muhme Carolina Petronella, geborene Lippert, welche sich an den Brauereibesitzer Wirix verheirathet hatte, ist nun auch schon lange eine »bedroefde weduwe«. Du rühmtest mir einstmals den sinn- und deutungsvollen Reichthum der deutschen Sprache gegenüber der unsrigen. Nenne mir doch in der deutschen Sprache ein Wort, mein Leonardus, darin sich der Schmerz und die Klage und das Weinen einer Wittwe gewordenen Frau so ausgeprägt zeigte, wie im Worte Weduwe! das ist: wee te wee! Weh zu Weh! – Unsere anderen Muhmen, Cornelia’s Schwestern, Helena und Christina, können leider noch nicht in den traurigen Fall kommen, betrübte Wittwen zu werden, dieweil sie noch immer ledigen Standes sind. Ich habe ihnen dringend gerathen, in ein Kloster zu gehen, aber sie wollen nicht.«
»Helena Maria und Christina Theodora gleichen zwei alten Latten; wenn sie neben einander gehen, muß ich immer an die Säulen des Herkules denken, oder an ein römisches Jugum, nur Schade, daß Niemand Neigung trägt, seinen Nacken jemals unter diese antike Reliquien zu beugen, noch viel weniger, sie anzubeten. Im Vertrauen, geliebter Vetter – dir darf ich es sagen – ich habe niemals viel auf Reliquiendienst gegeben. Dabei fallen mir alle meine alten Sünden – nicht doch, wollte sagen: meine alten Tanten in Bochlio, zu Herzberg und zu Dahme ein, die sich vordessen auf deines wohlseligen Herrn Vaters Erbtheil spitzten, aber vergeblich. Jene deutschen Falken, die für ihr Leben gern Valcken sein möchten, warten auch auf deinen Tod. Thue ihnen aber ja nicht den Gefallen, bald zu sterben, sondern laß’ sie zappeln!«
»Ach, Leonarde! die Welt ist verderbt, ich sehne mich nach Ruhe. Ich habe das ewige Predigen, Beichtehören, Messelesen und was d’rum und d’ran hängt, von ganzem Herzen satt. Kein glücklicherer Mensch auf Erden als ein Pastor emeritus. Das Loos eines gutpensionirten Emeriti scheint mir viel beneidenswerther, als das eines Eremitä. Ach, wer doch schon ein Emeritus wäre! Nun ich hoffe, in einigen Jahren mich melden zu dürfen; hoffentlich bleibe ich noch so lange frisch und kräftig, daß ich mein Pensiönchen mit Behagen [463]verzehren kann. Der heiligen Ottilia werde ich nichts mehr zuwenden, sie hat sich undankbar gegen mich erzeigt, ich nehme wahr, daß das Licht meiner Augen leidet. Nun lebe wohl, Leonarde; sei und bleibe du der Eremita, und hilf mir zu allen heiligen Einsiedlern beten, daß ich baldigst als ein wohlverdienter Emeritus mich nennen darf deinen unwandelbaren Vetter und Freund
Vincentius Martinus van der Valck,
Pastor an Sanct Agatha in Leiden.
Ludwigs trüber Ernst stimmte schlecht zu diesem ungeistlichen Humor, doch konnte er sich eines wehmüthigen Lächelns nicht enthalten, wenn er daran dachte, was Alles nach seinem Dahinscheiden mit seinem Nachlaß vorgenommen werden würde, und wie und wohin er Manches bergen solle. Denn das war sein entschiedener und fester Wille, daß er die Spuren seines Daseins vernichten wolle, daß er die Hülle, unter der er hier so lange Jahre verborgen gelebt, nicht heben, den Schleier nicht lüften wolle. Der abgeschmackte Name, mit dem alle Welt ihn nannte, war ihm lieb geworden, weil er den wahren Namen verbergen half; keine Seele von allen den tausend Neugierigen dachte an das Ei des Columbus, dachte je daran, einen einzigen falschen Buchstaben wegzuwerfen und den richtigen einzusetzen, gleich einem Zahn zum Zerbeißen der Nuß des Geheimnisses.
Es war für ihn eine eigenthümliche schmerzliche Beschäftigung, die Sonderung seiner Briefschaften vorzunehmen; es that ihm weh, so manches theure Blatt den Flammen zu opfern, aber es mußte geschehen, denn ungelöst sollte das Räthsel seines Lebens bleiben. Die Menschen, sprach er einst in einer solchen stillen Opferstunde vor sich hin: glauben Alles, was sie glauben wollen, und nie das, was sie glauben sollen. Wenn ich todt bin, werden sie dennoch nicht müde werden, ihre Fabeln über den Grafen Vavel fortzuspinnen, und sollte ja in Zukunft irgend Einem vergönnt sein, den Nachkommen zu sagen, wer und woher ich war, so werden sie es ihm doch nicht glauben.
Sorglich ordnete Ludwig alle Papiere, die von Leonardus herrührten, wie jene Briefe von Angés an seinen liebsten Freund. Die Briefe jedoch, welche Leonardus und Angés an ihn geschrieben hatten, vernichtete er.
Oefter als früher nöthigte ihn jetzt Krankheit, bisweilen nach [464]einem Arzte zu senden. Dieser verständige Mann zeigte sich menschlich theilnehmend, nicht neugierig, und so geschah es, daß es wohl zuweilen im Laufe rascher und geistvoller Gespräche schien, als wolle der Graf sich ihm mittheilen, doch häufig unterbrach er sich dann plötzlich selbst und sprang schnell auf einen andern Gegenstand über.
Das Alter macht geschwätzig, ich merke, daß ich in die Jahre komme, äußerte er sich einst bei einem solchen Besuche, da er den Arzt im Bette liegend empfangen mußte. Ich werde mittheilsam, das ist ein Zeichen meines herannahenden Todes; denn wenn es mit dem Menschen abwärts geht, ändern sich in ihm Neigungen und Gewohnheiten. Daher das Sprichwort, wenn ein als geizig bekannter und vertrauter Mann anfängt zu verschenken: es ist vor seinem Tode.
Sie haben sich allzusehr zurückgezogen, Herr Graf! sprach der Arzt. Es war nicht gut, nicht heilsam. Der Mensch gehört zum Menschen, auch der Geistreichste kann sich nicht immer selbst genügen: ja, er wird leicht durch fortgesetztes Absperren von der Menschenwelt einseitig, schroff und heftig.
Sie mögen Recht haben, Herr Doctor! erwiederte der Graf. Ich taugte aber nicht unter die Menschen, ich bin eine reizbare Natur, von Jugend auf heftig geartet, vielleicht Folge eines Mangels an richtiger Erziehung. Meine ganze Jugendzeit verfloß in einsamen Schlössern, und da sah ich wenig von der Welt. Als ich in dieselbe eintrat, fand ich die Zeit zu bewegt, die Elemente zu gährend, so daß ich nicht zur Klarheit über mich selbst gelangen konnte. Ich ward in eine Strömung hineingerissen; eigenthümliche Verhältnisse schlangen Bande um mich, denen ich mich nicht entringen konnte und nicht wollte; sonst habe ich zu andern Zeiten wohl gezeigt, daß der Mensch kann, was er will, wenn er will, was er kann.
Gewiß reisten Euer Gnaden viel? fragte der Arzt.
Nun ja, ich sah Einiges von fremden Ländern, zum Beispiel von Holland, Frankreich, England, Deutschland und Rußland, weiter kam ich nicht.
Nach einer Weile sagte der Arzt: Ihr Leben, Herr Graf, war gewiß ein vielfach bewegtes, und die lesende Welt würde es Ihnen Dank wissen, wenn Sie derselben Ihre Memoiren überliefern oder sie ihr doch dermaleinst hinterlassen wollten.
Mein Dermaleinst liegt gar nicht mehr so fern, Herr Ober-Medicinalrath! [465]Memoiren sagen Sie? Nichts. Eine Sammlung von Küchenzetteln, das sind meine Memoiren.
Küchenzettel? fragte der Arzt verwundert.
Nun, könnte ich nicht ein gelernter Koch sein? fragte der Graf mit Ironie zurück. Entweder habe ich mir selbst gekocht, oder ich habe mir kochen lassen, es gibt keinen Mittelweg. Meinen Sie nicht, Herr Doctor, daß Küchenzettel ein schöneres Album bilden könnten, wie Recepte? Jedenfalls stehen sie vor diesen in erster Reihe, denn die Recepte entstehen meist nur, um das zu corrigiren, was die Küchenzettel verdorben haben.
Sie scherzen, um abzulenken, Herr Graf! entgegnete der Arzt. Ich beabsichtige nicht, Ihnen Geheimnisse zu entlocken.
Ein solches Bemühen würde auch das Vergeblichste von der Welt sein, versetzte Ludwig. Ich habe den Leuten das Räthsel nicht aufgegeben, um es in einer schwachen Stunde selbst zu lösen. Der schmerzlichste Verlust, den ich erlitt, machte mein Gemüth nur noch verschlossener, mein Schweigen nur um so tiefer. Gern hätte ich, als meine unvergeßliche Freundin dem Grabe – nicht zuwelkte, sondern zublühte, Sie rufen lassen, Herr Medicinalrath, aber sie wollte es nicht, und sie war ja die Herrin, meine angebetete Herrin, und über Alles, was mein war. Sie wollte es nicht, sie wollte von Ihnen nicht das Opfer.
Das Opfer des Schweigens? fiel der Arzt dem Grafen in das Wort. Ein solches Opfer wird dem Manne meines Standes nicht schwer. Schweigen ist unsere erste Pflicht.
Wohl jedem Ihrer Collegen, der so denkt! stimmte ihm Ludwig bei: und der anvertraute Geheimnisse treu im Busen bewahrt. Aber ich meine, angenehmer, leichter und froher lebe sich’s doch, wenn ein Mensch keine Geheimnisse zu bewahren hat und von solchen unbelastet bleibt? Meinen Sie nicht auch so?
Der Arzt lächelte und schwieg; sein heller Geist verstand den Wink sehr gut. – Ludwig sprach weiter: Ich sollte, und gewiß ist das auch Ihre Meinung, eigentlich darauf bedacht nehmen, mein Haus zu bestellen. Ich sollte, was man so nennt, testiren, nicht wahr? Vor Notaren und Actuaren, vor Zeugen und Zöpfen? Aber das fällt mir nicht ein! Wenn ich meine Augen schließe, so hören meine Geldquellen [466]auf zu fließen, das ist längst so geordnet. Meine Dienerschaft wird nicht unbedacht bleiben, verspricht sie sich aber goldene Berge und Crösusschätze, so ist sie im Irrthum. Was ich in der Nähe der Stadt besitze, das Haus, die Gärten, das Haus in Walrabs, der Berggarten mit meinem theuren Grabe, das ich gepflegt wissen will neben dem meinen, soll Alles in treue Dienerhände fallen. Zu meiner hiesigen Verlassenschaft werden sich lachende Erben melden, Einer davon besonders wird am Meisten lachen, er ist ein geistlicher Herr katholischen Glaubens.
Sie sind katholisch? entfuhr dem Munde des Arztes die Frage.
Ludwig lächelte. Wer fragt danach? Ich bin, der ich bin, und bin, der ich nicht bin.
Mit dieser apokalyptischen Wendung schnitt der Graf die fernere Unterredung ab, und indem er in ein ernstes Nachsinnen versank, ward ihm so recht die Eitelkeit und Nichtigkeit alles Irdischen, das so tausendfach vergebliche Ringen und Streben, Mühen und Abquälen der Menschen in innerster Seele klar. – Dort lag das Tagebuch der Ahnfrau seines Hauses, der gebornen Herzogin de la Tremouille; er griff mechanisch nach demselben und sprach, indem er es aufschlug, gedankenvoll vor sich hin: Wie sich doch die Kettenglieder der Lebenden aneinander reihen von uralten Zeiten her. Welche Stofffülle! Und so ganz begraben, so ganz vergessen zu sein! – Auch hier ist geschildert, was sich ewig erneut im steten Wechsel und im Laufe der Jahrhunderte, der Herzen unruhvolles Klopfen, der Liebe Kampf und Ringen. Meine Großmutter gab mir dies Buch – und ich – habe keinen Enkel, dem ich es hinterlassen könnte. Die Großmutter meiner Großmutter schrieb dies Buch, und diese erzählte nun wieder von ihrer Großmutter. Welch’ eine Kette von Lebenden, die alle zum ewigen Schlummer sich niederlegten! – Wie beginnt die alte Dame?
»Die kurze Dauer des menschlichen Lebens und die Ungewißheit der Zeit des Todes hat mich den Entschluß fassen lassen, meinen Lebenslauf aufzuzeichnen, weil derselbe ungewöhnlich genug gewesen ist, so daß ich in ihm sichtlich die wunderbare Leitung Gottes erkannt habe, welche Alles zu meiner eigenen Genugthuung gewandt hat.«
Ja, ja – die Ungewißheit der Zeit des Todes! murmelte der Graf vor sich hin. Selten kommen die Menschen zeitig zu den rechten [467]Entschlüssen. Diese Frau hat es über sich vermocht. Aber ihr Grund war auch ein gerechter; sie schrieb, was sie schrieb, für einen geliebten Sohn. Für wen sollte ich die Ereignisse meines Lebens aufzeichnen?
»Ich beginne dies,« schrieb sie: »im Jahre 1682, im einunddreißigsten meines Lebens, im ersten des deinigen.«
»Ich bin geboren zu Thouars, Mittwoch den 3. Januar 1652, nach der neuen Zeitrechnung, und den 25. December 1651, nach der alten. Ich wurde im Schlosse[15] von Herrn Chabrolle am 12. März getauft und Charlotte Amalie genannt. Herr von St. Cyr, Gouverneur von Thouars, vertrat meinen Pathen, welcher der Landgraf Wilhelm VI. von Hessen, Bruder meiner Frau Mutter, Emilie von Hessen war, außerdem waren Herr von Turenne, Herr Landgraf Friedrich von Hessen (Oheim des regierenden Landgrafen), und Graf Moritz von Nassau meine männlichen Pathen; meine Pathinnen waren die Frau Herzogin von Zweibrücken, Aebtissin von Herfort, die Gräfin Charlotte von Derby[16], geborene Herzogin de la Tremouille, die Frau Herzogin Eleonore Dorothea zu Sachsen-Weimar, die Frau Kurfürstin Charlotte von der Pfalz, Tochter des Landgrafen Wilhelm V. zu Hessen, und Mademoiselle de Bouillon. Den Namen Amalie empfing ich von meiner Großmutter, der Frau Landgräfin Amalie Elisabeth, Gemahlin des regierenden Landgrafen Wilhelm V. zu Hessen-Cassel.«
[15] Thouars an der Thoye hat ein schönes Bergschloß, die ehemalige Residenz der Herzoge de la Tremouille.
[16] Die hochherzige Wittwe des 1651 zu Bolton enthaupteten Jakob Stanislaus, Grafen von Derby.
Welch ein Kranz glorreicher und strahlender Namen um die Wiege eines kleinen Mädchens! rief Ludwig aus. Ist mir doch als erblickte ich meine gute Großmutter, die so bewandert war in der Genealogie, leibhaftig vor mir, und hörte sie den Ruhm und die Verbindungen ihres alten Hauses verkünden! Wie oft mag sie mit stillem Vergnügen über diesem interessanten Buche gesessen haben!
»Meine Frau Mutter ließ mich im Schlosse bei der Herzogin meiner Großmutter, die mich als einzige Tochter adoptirte und für [468]meine Erziehung und meine Bedürfnisse zu sorgen versprach, was sie auch mit der äußersten Zärtlichkeit fast dreizehn Jahre lang that, und mich gründlich verzog. Ich wurde ein so halsstarriges und eigensinniges Kind, daß eine minder geduldige und zärtliche Dame, als es meine Großmutter für mich war, meine Unarten gewiß nicht ertragen haben würde.«
Es geht ein eigenthümlicher Grundzug durch die Generationen, sprach Ludwig, als er dies gelesen hatte. Häufig tritt zwischen Großeltern und Enkeln mehr Aehnlichkeit der Gesichtsbildung, ja selbst des Charakters, als zwischen Eltern und Kindern hervor, auch häufig mehr Liebe der Großeltern zu den Kindern ihrer Kinder, als diesen von den Eltern zu Theil wird. So wäre zuletzt die oft halsstarrige Festigkeit und Härte im Charakter meiner guten Großmutter zum Theil nur ein Erbe der ihrigen gewesen? Welch’ ein eigenthümlicher Reiz liegt in diesem alten Buche – ein so langes, vielbewegtes Leben, – es wäre ein Unrecht von mir, dieses Buch, so wie jene Tagebuchbruchstücke meiner Großmutter der Vernichtung Preis zu geben – aber wem soll ich sie anvertrauen? Meinen Vetter Wilhelm Gustav Friedrich deckt seit 1835 die Gruft, William, der Vice-Admiral, starb schon 1813. Ihre Kinder kenne ich nicht, stehe ihnen fern, bin ihnen fremd, wer weiß, ob Eines von ihnen durch diese Gabe erfreut würde! Auch für Leonardus Erben kann sie nicht den mindesten Werth haben, diese Holländer wären im Stande, Häringe in die Papiere zu wickeln, welche die Geschichten einst glühender Herzen enthalten! – Der Einzige, Vincentius Martinus, der vielleicht diese Blätter würdigte, leidet an Gesichtsschwäche, die heilige Ottilia rächt sich an ihrem Kirchlein, weil er ihr, wie ich große Ursache zu glauben habe, meine ansehnliche Schenkung entzogen und sie für sich selber behalten hat. Da würden diese altfranzösisch geschriebenen Blätter ihm nur Mühe machen, sie zu entziffern. Am Besten, ich überlasse es ganz dem Zufall, daß dieser sie in eine Hand bringe, die sie dereinst zu schätzen und zu übersetzen weiß.
Ludwig blätterte wieder in dem alten Bande, viel des Anziehenden enthielt er noch, eine reiche Stofffülle für Geschichte damaligen Hoflebens und persönlicher Verhältnisse der weitverzweigten Verwandtschaft des alten reichsgräflichen Geschlechts, endlich legte er das Buch zur Seite und sagte, sonderbar bewegt: Es ist ein Grabstein.
[469]Auch sein Ziel war nahe, näher als er selbst glaubte; gleichwohl versäumte er nicht, Alles vollends zu vernichten, was noch zu vernichten war, die Briefe der Großmutter, die Briefe und die Schenkungsurkunde Georginens, seine früheren Reisepässe, ein Flammenopfer nach dem anderen; ferner Leonardus’ Testament und Schenkungen, alle Quittungen, alle Danksagungen. – Alter Adrianus van der Valck! sprach er sinnend: Du, der mich rechnen lehrte, was sagst du zu meinem Rechnungsabschluß? Subtraction! Der Tod zieht mir das Leben ab, das ist das Facit meiner Rechnung.
Eines Tages wollte er noch schreiben, aber die Hand versagte ihm den Dienst. Der jüngere Diener ward herbeigerufen, der Herr wollte dictiren, aber er vermochte es nicht, er fühlte sich zu schwach dazu, und murmelte nur: O weh! daß ich doch zu keinem Entschluß kommen kann! Nun denn – mag es sein!
Noch einige unzusammenhängende Phantasien von Testamenten – von einer Dame, die aus weiter Ferne kommen werde – von einem Bruder, der ermordet worden – von einer Schwester, die ihm entgegenstrahle – von Engeln, die seiner harrten – und die Seele Ludwig’s löste sich leise los vom Erdenstaube. Er war »auf dem Sopha« – wie die Acten lauteten »sanft eingeschlafen.«
Der Tod des geheimnißvollen Grafen war ein Ereigniß, das lange Stadt und Land bewegte und allgemein die Neugier auf’s Höchste spannte. Nun endlich mußte doch Alles offenbar werden! Gegen Erwarten ward aber Nichts offenbar. Die Gerichte kamen, versiegelten, öffneten und inventirten den Nachlaß.
Es fand sich kein Testament. Die Dienerschaft erzählte, daß ihr entschlafener Herr stets den Wunsch ausgesprochen habe, in seinem Berge neben jenem Grabe beerdigt zu werden, das sein Theuerstes barg, denn in der Schenkungsurkunde des Berggartens an den Einen der Diener stand die Bedingung: »Das oder die Gräber in dem geschenkten Garten stets zu pflegen und zu bewachen.«
Ludwig wurde nicht neben Sophien zur Erde bestattet. Ein ausgemauertes Grab zu Eishausen nahm die sterbliche Hülle des Dunkelgrafen auf. Eingedenk der großen Wohlthaten, die er ihr erzeigt, ging die ganze Dorfgemeinde mit zu Grabe. Von Hildburghausen [470]her nahte ein stiller Zug, die Waisenkinder mit ihrem Lehrer an der Spitze, deren Wohlthäter Ludwig gewesen war. Neben dem vormaligen Ortsgeistlichen wurde er eingesenkt, dessen Hügel ein Denkstein schmückt, den Therese, Bayerns Königin, diesem ihrem einstigen Lehrer hatte errichten lassen. Dankbar hob der jetzige Geistliche in der Grabrede die Verdienste des edeln menschenfreundlichen Verstorbenen hervor.
In den nun vom Gericht durchsuchten Papieren Ludwig’s fanden sich zunächst der Briefwechsel mit seinem Agenten zu Hildburghausen, die quittirten Rechnungen und diejenigen Documente, welche den Verstorbenen fast zweifellos zum Leonardus Cornelius van der Valck stempelten, und den Namen eines Grafen oder Barons Varel oder Versay als nur angenommen erscheinen ließen. Es fand sich auch etwas Geld, nämlich an 300 Stück Doppellouisd’or, eine Rolle einfache, gegen 200 holländische Ducaten einschließlich einiger anderer Goldstücke, 576 Kronenthaler, 577 preußische Thaler, und über 150 Gulden sonstige Silbermünze, eine Totalsumme von mehr als 10,000 Gulden baar. Aufschlüsse über die Verhältnisse des Verstorbenen fanden sich, wie die Acten aussagen, nicht vor. Im Inventar befand sich ein silbernes Petschaft mit einem Lapislazuli-Stein, in welchem drei Lilien unter einer Krone eingegraben waren; reiches Silberzeug, sechs Uhren, nicht weniger als sieben Thermometer, drei Barometer. Unter der reichhaltigen Rubrik des Kapitels: Insgemein stand auch trocken und klanglos: Nummer 112 »eine Windharfe« – verstimmte Saiten! –
Da kein Testament und keine Erbnehmer vorhanden waren, so erfolgten nun von Seiten der Gerichte Edictalladungen auswärtiger Erbberechtigten, in vielen deutschen und hauptsächlich rheinischen, sowie holländischen Zeitungen, in denen ausgesprochen war, daß »fast ohne Zweifel«, wie aus den Papieren hervorgehe, der Verstorbene Leonardus Cornelius van der Valck geheißen habe, denn Leonardus’ Taufzeugniß war vorhanden; auch daß er fast bis an seinen Tod mit seinen Verwandten in Amsterdam in Briefwechsel gestanden habe. Auch der Dame wurde in diesen Vorladungen gedacht und einer Reihe Briefe aus Mans, Angés Barthelmy, geb. Daniels unterzeichnet, »ohne Zweifel« an den Verstorbenen gerichtet, und die Annahme zulassend, daß die [471]Verfasserin der Briefe mit der im Schlosse zu Eishausen verstorbenen Dame »vielleicht identisch« gewesen sein könne.
Es erschienen nun ein Anwalt aus Amsterdam und ein Notar aus dem Haag, überreichten Vollmachten, Pässe und den Stammbaum des Herrn Pastor Vincentius Martinus van der Valck zu Leiden, der verwittweten Frau Cornelia Petronella Adriana Wirix, geborenen Lippert, jetzt wohnhaft zu Weerd (Wörden), ingleichen der Fräulein Helena Maria und Christina Theodora Lippert, und bestellten zur Geltendmachung ihrer Rechtsansprüche einen Hildburghäuser Anwalt; sie legten auch die Taufzeugnisse von Vincentius Martinus Vater und Mutter, wie von den Eltern benannter Damen in bester Form verbrieft und besiegelt vor und eine Urkunde, kraft deren Vincentius Martinus van der Valck, römisch katholischer Pastor emeritus, für sich und seine Muhmen die Beauftragten an seiner Stelle zu handeln bevollmächtigte; bald flogen auch noch andere »Falken« in Briefen herbei, um an der schönen Erbschaft Theil zu nehmen; die Herzberger, die Bocholder, die von Dahme, zum Theil mit Beweismitteln, die manche Heiterkeit erregten, allein das Gericht sprach die Erbschaft und mit vollem Recht, dem lustigen Emeritus in Leiden und seinen alten Muhmen zu und soll derselbe, wie die von ihm nach der Hand abgesandten holländischen Bevollmächtigten, welche kamen, um die Erbschaft zu erheben, versicherten, in seiner jocosen Weise dankbar ausgerufen haben: Nun ist mein Leiden zu nichte gemacht!
Die Beauftragten aus Amsterdam trugen das reiche Erbe von dannen, sie verschmähten einen Haufen Maculatur und altes Papier, was auf dem Boden lag, und einige Scripturen, die zufällig dazu gekommen waren. Es war noch eine reichhaltige Briefsammlung, die zufällig unberührt geblieben war, das alte Tagebuch und das jüngere Tagebuchbruchstück lagen auch darunter. Es ist zu wünschen, daß alles Benutzbare davon nicht in allzuschlimme Hände gefallen sein möge.
Der Vorhang fiel, das Lebensdrama im stillen Schloß des Dunkelgrafen war zu Ende gespielt.
Wem vergönnt ist, durch Eishausen zu reisen und dort einen kleinen Aufenthalt zu machen, der besuche das Gasthaus und frage dort nach dem Grafen; da wird er hören, wie Ludwig’s Andenken noch immer in hohen Ehren gehalten wird.
[472]»Um den Mann sind viele Thränen geweint worden – der Mann hat unser Dorf sehr glücklich gemacht – solch’ ein Mann kommt niemals wieder!« das sind die einfachen Reden der schlichten Landleute.
Schön und würdig hatte Ludwig seine Sendung erfüllt. Was die Großmutter einst beim Abschied segnend zu ihm gesprochen, es war an ihm zur Wahrheit geworden. Er ging durch die schmerzlichen Flammen der Läuterung und ging rein aus ihnen hervor; er ehrte Gottes Gebote und liebte die Menschen. Er war mildthätig und barmherzig und vergalt Kränkungen nur mit Wohlthaten – darum dauert in dem stillen Kreise, in den er eintrat, sein Name im Segen fort von Geschlecht zu Geschlecht.
Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf Grundlage der 1854 als Band III in »Deutsche Bibliothek – Sammlung auserlesener Original-Romane« erschienenen Erstausgabe erstellt. Kleinere Unregelmäßigkeiten in der Schreibweise wurden beibehalten. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen.
Die Fraktur-Ligatur für »etc.« wurde durch etc. ersetzt. (S. 47, 397)
Transcriber’s Notes: This ebook has been prepared from the first print edition published in 1854 as volume III in “Deutsche Bibliothek – Sammlung auserlesener Original-Romane”. Minor spelling inconsistencies have been maintained. The table below lists all corrections applied to the original text.
The ligature for "etc." has been replaced by etc. (p. 47, 397)