Title: Deutsche Freiheit: Ein Weckruf
Author: Rudolf Eucken
Release date: March 23, 2014 [eBook #45191]
Most recently updated: October 24, 2024
Language: German
Credits: Produced by Norbert H. Langkau, Heiko Evermann and the
Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription:
Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Ãnderungen sind im Text gekennzeichnet, der Originaltext erscheint beim Ãberfahren mit der Maus.
von
Rudolf Eucken
1919
Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig
1. Das deutsche Volk hat in der Vergangenheit eine ihm eigentümliche geistige Freiheit in Religion, Moral, Erkenntnis und Kunst in unvergleichlicher Weise gezeigt.
2. Bei vielfacher politischer Rückständigkeit droht uns Deutschen politische Unfreiheit vor allem von seiten einer radikalen Demokratie und des Sozialismus.
3. Es ist eine Hauptaufgabe der Zukunft, unter voller Wahrung und Vertiefung der inneren Freiheit echte politische Freiheit in unserem Vaterlande zu entwickeln.
[5] Ãber die deutsche Freiheit zu reden, das kann in diesen Tagen gewagt, ja vermessen dünken, wo Deutschland schwer gelähmt, von übermächtigen Gegnern unterdrückt und in seiner Kraft durch inneren Zwist gebrochen darniederliegt; es wäre ein solches Unternehmen in Wahrheit töricht, hätte der augenblickliche Stand unseres Volkes das entscheidende Urteil über sein Ergehen und seine Bedeutung zu fällen, und besäÃe nicht die deutsche Art und die deutsche Geschichte einen tieferen Gehalt und eine gröÃere Kraft als unmittelbar vorliegt; nur eine solche Ãberzeugung läÃt uns Mut, Hoffnung, ja Zuversicht inmitten aller Trübsale schöpfen; sie gibt uns zugleich das Vertrauen, daà die deutsche Freiheit kein bloÃes Wahnbild ist, ja daà sie nicht nur uns selbst, sondern auch dem Ganzen der Menschheit unentbehrlich ist. Ist das aber der Fall, so muà und wird sie sich irgendwie gegen alle Hemmungen durchsetzen, die Menschen aber müssen ihr bewuÃt oder unbewuÃt dienen.
Zunächst sei der Freiheitsgedanke in seinen weltgeschichtlichen Zusammenhängen kurz gewürdigt; wir werden sehen, daà auch das deutsche Leben ihm eng verbunden ist. Alles heutige Streben nach Freiheit ist ein Ausfluà der Bewegung, welche die gesamte Neuzeit durchdringt und sie von anderen Epochen deutlich abhebt. Galt im Altertum und im Mittelalter[6] das Weltall mit seinen ewigen Sternen und mit ihm der menschliche Lebenskreis als ein festbegründetes und geschlossenes Ganzes und schien dieses Ganze alles Menschliche zu binden und zu lenken, so wird nun zum leitenden Gedanken ein Reich der Freiheit mit seiner unermeÃlichen Fülle; die Ordnung aber tritt erst an die zweite Stelle. Nunmehr wird alle Wirklichkeit in Fluà versetzt und zu rastloser Bewegung angehalten; es verbindet sich damit eng der Gedanke eines unbegrenzten Fortschritts zu immer weiteren Höhen; so wird nunmehr das Wachstum des Lebens, die Kraftsteigerung, zum höchsten aller Ziele. Hier heiÃt es: „Immer möchte der Mensch, was er erkennt, mehr erkennen, und was er liebt, mehr lieben, und die ganze Welt genügt ihm nicht, weil sie sein Wahrheitsverlangen nicht stillt“ (Nikolaus von Cues).
Alle GröÃen und Werte werden dadurch umgewandelt, alle Ruhe wird als etwas Starres und Totes ausgetrieben. Das Werden und Sichselbstgestalten erhält eine unbeschreibliche Freude, es scheint alle früheren Zeiten weitaus durch Kraft, Frische, Wahrheit zu überragen. Solches Flüssigwerden der ganzen Wirklichkeit erzeugt einen eigentümlichen Begriff des Modernen und gibt ihm das stolze Gefühl einer unbedingten Ãberlegenheit. Diesen Grundcharakter der Neuzeit hat jedes Streben zu würdigen, das nicht hinter dem Geist der Zeit zurückbleiben und erfolgreich zu den Zeitgenossen wirken möchte. Wie viele Probleme aber der Gesamtbegriff der Freiheit enthält, das läÃt sich hier nur nebenbei andeuten.
Eine nähere Betrachtung der Freiheit hat die politische oder nationale und die geistige Freiheit deutlich voneinander zu scheiden, jene bezieht sich auf das gesellschaftliche Zusammensein[7] der Menschen, diese auf den inneren Stand der Seele. Die politische Freiheit verficht die selbständige Teilnahme der einzelnen Volksgenossen am Ganzen des Staates und seiner Regierung, die geistige erstrebt eine Selbständigkeit und Ursprünglichkeit des Lebens im Ganzen der Seele; beides kann weit auseinandergehen, ein politisch Freier kann geistig gebunden, ein geistig Freier politisch abhängig sein; daà eine derartige Scheidung einen schweren Mangel bedeutet, ist ohne weiteres klar.
Die Deutschen hatten so lange kein politisches gemeinsames Leben, als das alte Reich zerfallen war; Deutschland war damals mehr eine ethnographische als eine politische Einheit. Erst im 18. Jahrhundert erwachte ein Streben darnach, aber auch die gewaltige französische Umwälzung rüttelte hier nicht am überkommenen Stande des Ganzen, sie hatte überwiegend einen literarischen und privaten Charakter, sie forderte für das persönliche Empfinden den freiesten Ausdruck und eine Austreibung alles Zopfes und Zwanges im geselligen Leben, aber politische und wirtschaftliche Fragen bewegten sie zunächst kaum.
Ein selbständiges nationales und politisches Leben des ganzen Deutschland erzeugten erst die Befreiungskriege; höher und höher stieg damals die Hoffnung, die Einheit und die Freiheit Deutschlands in Einem erreichen zu können; namentlich war die gebildete Jugend mit vielen Volksgenossen bis 1866 von solchem Streben durchglüht. Als dann aber schlieÃlich Bismarcks überragendes Genie das neue Deutschland schuf, da erfolgte eine Scheidung der nationalen und freiheitlichen Bewegung; sie war unter den gegebenen Verhältnissen wohl zwingend geboten, aber es war für den[8] Verlauf unserer Entwicklung ein nicht geringer Schaden, daà jene Bewegungen nebeneinander verliefen, und daà der nationale Aufstieg nicht durch eine Kräftigung der politischen Freiheit unterstützt wurde. Die zahlreichen Reformen im einzelnen konnten bei aller Tüchtigkeit diesen Mangel nicht voll ersetzen; so verblieb die politische Macht in der Hauptsache dem wohlgeordneten Beamtenstaate, der von oben her zu regieren und die Staatsbürger mehr als Objekt denn als Subjekt der Tätigkeit zu behandeln pflegte. Dies Beamtentum hatte unverkennbare Vorzüge, es war zuverlässig, gewissenhaft, sparsam – lauter Eigenschaften, die wir nach den jüngsten Erfahrungen besonders schätzen müssen –, aber es hatte wenig Unternehmensgeist, es verstand es nicht, neue und schwierige Verhältnisse zu leiten, sondern nur im gewohnten Lauf der Dinge seine Pflicht zu üben. Es besaà namentlich nicht die Gabe, die Gemüter anzuziehen, es konnte leicht den Staat den Bürgern mehr verleiden als sie ihm gewinnen. Dazu bestand bei den Spitzen des staatlichen Lebens oft wenig Teilnahme und wenig Kenntnis für die inneren Forderungen der Zeit, gelegentlich erschien eine erstaunliche Unkenntnis der Menschen und Dinge, kurz diese Persönlichkeiten waren nicht geeignet, schwierige und verantwortungsvolle Aufgaben selbständig zu lösen. Dazu das Hofleben mit seiner dünkelhaften Gespreiztheit und seiner inneren Leere.
Bei der Gestaltung der Verhältnisse wurden wir im Technischen der Verwaltung vortrefflich, in der hohen Staatskunst schlecht regiert, wie die Leistungen unserer meisten Diplomaten handgreiflich erwiesen haben. Es war ein arges MiÃverhältnis, daà ein kraftvolles, frisch aufstrebendes Volk an derartige Verhältnisse gebunden war, und daà wichtigste Entscheidungen ohne, ja gegen seinen Wunsch erfolgen konnten. Viele tüchtige Kräfte blieben bei solchem Stande[9] der Dinge zum Schaden des Staates ungenutzt; im Gesamtbilde aber schien Deutschland in seinem inneren Gefüge minder frei als andere Staaten; wohl wurde das in den Vorstellungen unserer Gegner oft arg übertrieben, und es wurde zugleich verkannt, wie viel Deutschland an eigenartiger Freiheit besitzt, aber nach den Meinungen anderer Völker blieb es zurück. Bei solchen Fragen aber ist auch der Schein eine Macht und eine Gefahr.
Im literarischen Leben und Schaffen entstand über die politischen Fragen hinaus eine miÃmutige und verneinende Denkart, eine Lust, aller Ãberlieferung schroff zu widersprechen, daran sowohl eine bittere Satire als einen kecken Spott zu üben, so in Religion und Moral, so in Weltanschauung und Sitte. Das ergab eine gewisse geistige Freiheit, aber diese Freiheit war überwiegend verwerfender und zerstörender Art, sie konnte weder fruchtbare Schöpfungen erzeugen, noch dem Menschen neue Bahnen erschlieÃen oder ihn gemäà Schillers Mahnung von der Angst des Irdischen befreien. Es war eine Freiheit mehr der zersetzenden Reflexion als einer inneren Erhöhung. Das Ganze unserer Denkart litt dadurch, daà eine vielseitige und formal gewandte intellektuelle Betätigung ohne ein Gegengewicht politischen Lebens und Handelns blieb. Für die Seele unseres Volkes aber, die somit unter sich gegenseitig durchkreuzenden Antrieben stand, war bei den meisten unserer Staatsmänner sehr geringes Interesse und Verständnis.
Seinen Schwerpunkt hatte das deutsche Reich in einer glänzenden technischen und wirtschaftlichen Kultur, es hat in dieser Richtung eine groÃartige Arbeit geleistet,[10] welche den ganzen Erdball umspannte und alles mit ihren Fäden durchwob. Aber diese in ihrer Weise erstaunliche Kultur war bei all ihrer Weite innerlich begrenzt, sie war an erster Stelle eine bloÃe Arbeitskultur, sie war vornehmlich darauf gerichtet, die Welt um uns in den Dienst des Menschen zu ziehen und emsig daraus Vorteile für sich selbst zu gewinnen, aber sie bot seinem Innern recht wenig, sie pflegte die Seele als eine bloÃe Nebensache zu behandeln und sich wenig um eine geistige Freiheit zu kümmern. Das Ganze unseres Volkes geriet durch solche einseitige Gestaltung des Lebens in eine unerfreuliche Lage; hier hielten keine überlegenen Ziele den ganzen Menschen aufrecht, hier gab es keine groÃen Ideale, kein kräftiges Empfinden. Das geistige Schaffen in Religion, Philosophie, Kunst und Literatur war dem Grundgehalte nach recht dürftig; so tüchtig die gelehrte Arbeit war, sie förderte nicht das Gedeihen eines schaffenden und ursprünglichen Lebens, auch war sie geneigt, ihr eigenes SelbstbewuÃtsein stark zu überspannen und Wissen für Leben zu geben; so hatte das Ganze bei allem rastlosen Eifer und Ãbereifer keinen wesenhaften Gehalt, eine innere Leere war bei allem Geschick und bei allem Aufputz nicht zu verkennen.
Anfang 1914 habe ich eindringlich auf das MiÃliche, ja Gefährliche dieser seelischen Lage hingewiesen und in einer Schrift: „Zur Sammlung der Geister“ (Quelle und Meyer) die Schäden dieser einseitigen Arbeitskultur mit ihrer Zurückstellung der Seele geschildert; es hat sich damals eine Anzahl Gleichgesinnter zur gemeinsamen Besprechung in Darmstadt zusammengefunden, und wir waren einig, die Sache möglichst zu fördern, bis der Ausbruch des Krieges die Ausführung derartiger Pläne verhinderte.
Es genügt in Kürze zu erwähnen, was wir alle bewuÃt oder unbewuÃt miterlebten: das weitere und weitere Auseinandergehen von Arbeit und Seele, deren enge Verbindung früher die GröÃe und der Stolz der Deutschen war, das ständige Anwachsen der ausschlieÃlichen Arbeitskultur, die Gleichgültigkeit des Arbeiters für seine Werke, die gegenseitige Entfremdung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, – Entfremdung auf allen Punkten und in allen Schichten, auch in der Weltanschauung, bis das Ganze in völlig getrennte Lager zerfiel.
Da kam der Weltkrieg. Zuerst führte die gewaltige Aufregung und glühende Begeisterung zur Einigung aller Parteien und Klassen; das groÃe deutsche Reich war für einige Zeit einig und erlebte gröÃte Triumphe. Seele und Arbeit kamen jetzt zu einer vollen Einigung. Aber nach und nach erlöschte das anfängliche Feuer, die Einigkeit der Gemüter sank mehr und mehr, bis das Reich dahin kam, wo es jetzt steht, niedergeworfen von Feinden und mehr noch durch inneren Zwist zerrissen, zerfallen an Leib und Seele.
Wie aber wird es möglich sein, daà wir uns aus so schweren Nöten erretten? Die nächste Hoffnung bildet unsere geistige Kraft mit ihrer Freiheit, aber was haben wir unter einer solchen Freiheit zu verstehen, und wie können wir sie suchen? Aus der vielfachen Verwirrung retten kann uns am besten ein Blick auf unsere geistigen Helden, die in leuchtender Klarheit und mit siegesgewisser Macht vor uns stehen.
Kein anderes modernes Volk hat eine solche Fülle selbstwüchsiger und schöpferischer Männer wie die Deutschen hervorgebracht, religiöse Führer wie Eckhart und Luther, Denker wie Leibniz und Kant, Dichter wie Goethe und Schiller,[12] Tonkünstler wie Bach und Beethoven; diese Männer haben aus der gröÃten Fülle des Geistes gelebt, sie alle sind unwiderlegliche Zeugnisse des Geistes und der Kraft für unser gemeinsames Leben. Daà aber alle diese Männer bei aller Verschiedenheit die geistige Freiheit als ihr höchstes Gut erklärten, das darf uns als ein erhebendes Zeichen dafür gelten, daà unser Volk in besonderem MaÃe das Vermögen ursprünglicher geistiger Freiheit hat, und daà es sich dadurch auf weitere Höhen emporheben, sowie sich aus tiefster Not retten kann. Eine groÃe Offenbarung des Lebens hat sich bei uns vollzogen; halten wir sie mit voller Kraft fest und schöpfen wir immer neuen Mut aus ihr!
Als den Hauptführer des deutschen Lebens zu einer religiösen Freiheit dürfen wir Luther betrachten, natürlich unter Fernhalten alles Zufälligen und bloà Konfessionellen. Was war der Ausgangspunkt seines Strebens? Es war ein heiliger Ernst um die ewigen Güter und zugleich um die Rettung der eigenen Seele, es war ein glühender Zorn gegen das, was ihm als eine Entstellung und Entartung der Wahrheit galt; das trieb ihn zwingend zum Kampf gegen die ganze von seiner Umgebung geheiligte kirchliche Ordnung, zugleich aber zur Rettung der geistigen Freiheit. War es zufällig, daà seine mächtigste Schrift von der Freiheit des Christenmenschen handelte? Allem Zagen und Bedenken traten hier die markigen Worte entgegen: „Ãrgernis hin, Ãrgernis her, Not bricht Eisen und hat kein Ãrgernis. Ich soll der schwachen Gewissen schonen, sofern es ohne Gefahr meiner Seele geschehen kann. Wo nicht, so soll ich meiner Seele raten, es ärgere sich daran die ganze oder halbe Welt“. Das fordert Mut und Freiheit gegenüber den Menschen,[13] es fordert zugleich eine innere Belebung und Erhöhung des eigenen Wesens, es eröffnet eine neue Welt. Hier vollzog sich ein geistiges Wunder: das Erscheinen und Durchbrechen eines in Gott begründeten Lebens, als der Quelle des persönlichen Lebens; dies Durchbrechen war eine dem Einzelnen weit überlegene Macht, aber es war ihm zugleich eine eigene Tat und Entscheidung, es gab ihm zugleich das BewuÃtsein einer vollen Freiheit und Weltüberlegenheit, es lieà ihn vor allem Kirchlichen das Moralische mit seiner schlichten GröÃe schätzen. Für Luther war der Gottesgedanke nicht bloà eine jenseitige, aus überlegener Höhe gebietende Macht, sondern die Seele seines eigenen Lebens, er gewann bei ihm die unmittelbarste seelische Nähe, so daà es heiÃen konnte: „Daà nichts Gegenwärtigeres und Innerlicheres sein kann in allen Kreaturen denn Gott selbst“.
Aus der ungeheuren Erschütterung steigt für Luther durch überlegene Liebe und Gnade eine neue Welt empor; je schwerer früher der Druck des Feindlichen empfunden war, desto gröÃer wird jetzt der Jubel über die Befreiung davon, und je peinlicher der Zweifel an der Rettung war, desto freudiger wird jetzt ihre felsenfeste GewiÃheit. Die Frömmigkeit aber entwindet sich damit aller blinden und gedrückten Devotion, sie gewinnt einen durchaus mannhaften Charakter. Nur eine derartige Freiheit kann anerkennen, daà alle Christen wahrhaftig geistigen Standes sind, daà „ein Christenmensch ein allmächtiger Herr aller Dinge ist“, so daà es heiÃen kann: „Es ist ein freies Werk um den Glauben, wozu man niemand zwingen kann“. Aus solcher Ãberzeugung heiÃt es: „Gottes Wort ist unser Heiligtum und macht alle Dinge heilig“, aus ihr quillt unendliche Kraft und Frische, denn „das Wort Gottes kommt, die Welt zu verändern und zu erneuern, so oft es kommt“.
[14] Die Freiheit, welche hier entsteht, hat nichts mit Willkür zu tun, sie hat eben in der Freiheit oder besser in der Welt der Freiheit einen unwandelbaren Grund, sie ist nicht eine naturhafte, sondern eine geistige, eine schaffende Freiheit. Der Kern des ganzen Strebens ist hier zusammengefaÃt in die kurzen Worte: „Frei, christlich, deutsch“.
Diese Freiheit ist mehr als eine bloÃe Privatsache, sie hat ein Reich der Innerlichkeit, ein Reich des selbständigen und persönlichen Lebens, eines weltüberlegenen von Gott erfüllten Lebens bei uns erbaut; sie hat ein innigeres Verhältnis zu Gott und zugleich zum Ganzen der Wirklichkeit geoffenbart, sie wirkt mit solcher Art mächtig in die Seelen der Menschen, keineswegs allein der Deutschen. Sie bekundet sich so in der Musik eines Bach, auch in der Innigkeit des protestantischen Kirchenliedes; sie hat sich weiter in unseren groÃen Dichtern und Denkern unserer klassischen Kultur verkörpert, sie ist mit ihrer geistigen Kraft und mit ihrem sittlichen Ernst eine unerschöpfliche Quelle des gesamten deutschen Lebens. Und diese geistige Freiheit, diese Kraft, dieses ursprüngliche Leben sollte für die Gegenwart verloren sein, es sollte aufhören, das gemeinsame Streben zu erhöhen?
Was Luther in der Richtung zur Religion, das hat Kant in der zur Moral vollzogen: die Erhöhung des Lebens zu einer selbständigen Welt in dem eigenen Reich der Seele, zu einer Welt echter geistiger Freiheit. Die Moral ist ihm nicht eine Leistung für den Zustand des Einzelnen, auch nicht für die menschliche Gesellschaft, auch nicht eine bloÃe Unterordnung des Menschen unter Gott als eine äuÃere[15] Ordnung, sondern das Beleben des eigenen Wesens zu voller Selbständigkeit. Eine derartige Moral ist so streng wie nur möglich, aber als aus eigenem Wollen und EntschlieÃen entsprungen und fortwährend dadurch getragen, ist sie zugleich ein Werk höchster Freiheit, ist sie die Selbstbestimmung des vernünftigen Wollens. Auch ist sie nicht eine bloÃe Summe einzelner Vorschriften, sondern die Schöpferin einer neuen Ordnung; diese aber ist es allein, welche dem Leben einen Wert verleiht. Denn sie bewirkt bei uns eine Befreiung vom Mechanismus der bloÃen Natur und gibt uns die GröÃe eines Gesetzgebers. Hier gewinnt der Mensch ein unsichtbares Selbst in seiner Persönlichkeit, er wird zu einer Welt, die „wahre Unendlichkeit“ hat. Zugleich erreicht er eine sichere Ãberlegenheit gegen alles Niedere, was an Naturtrieben in ihm liegt, eine Ãberlegenheit über allen bloÃen GenuÃ, überhaupt gegen alles selbstisches Glück; einen unerschütterlichen Halt aber gibt ihm der Grundbegriff der Pflicht, der freilich dann einen tieferen Sinn und ein volleres Leben erhält, als ihm eine mehr äuÃerliche Fassung des Alltages zu geben pflegt. Der Mensch gewinnt nun als der Träger des sittlichen Gesetzes eine „Autonomie“, die ihn weit über alle andere Wesen erhebt und ihm eine unvergleichliche GröÃe und Würde verleiht.
Diese Selbsttätigkeit der Vernunft bedeutet aber für Kant die letzte Tiefe der ganzen Wirklichkeit, sie ist nach seiner Ãberzeugung nicht an besondere Bedingungen des Menschen geknüpft, sondern sie gilt gleichmäÃig für alle Vernunftwesen; sie ist hier kein besonderes Gebiet innerhalb einer weiteren Welt, sondern der Ursprung einer neuen Welt. Sie schafft sich ein eigenes Reich der Freiheit, das sein Recht und seinen Wert ganz und gar in sich selbst hat und keiner Bestätigung, keiner Befestigung von auÃen bedarf; so hindert hier nichts[16] den Menschen am Besitz einer weltüberlegenen schöpferischen Freiheit.
Diese Grundgedanken sind von Fichte wie von Schiller weiter ausgeführt. Für Fichte war die Kultur die Ãbung aller Kräfte für den Zweck der völligen Freiheit; als die höchste Aufgabe gilt ihm die, daà der Mensch sich mit Freiheit zu dem bilde, was die Natur bei ihm angelegt hat; alle Erziehung gilt ihm nur als eine Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit, zur vollen Mündigkeit; wenn er die Gleichheit alles dessen verlangt, was Menschengesicht trägt, so verherrlicht er damit keineswegs die bloÃe Natur, sondern er begründet solche Schätzung lediglich aus der Vernunft und dem sittlichen Gesetz; nur von dieser kann es heiÃen: „vor dem Sittengesetz ist das Menschenleben überhaupt von gleichem Wert“. – Der eifrigste Dichter der Freiheit aber war Schiller; es ist bezeichnend für unser Volk, daà in der Reclamschen Sammlung die höchste Auflage der ganzen deutschen Literatur der Wilhelm Tell erhalten hat.
Diesen Männern bedeutet die Befreiung zugleich eine Bindung, aber eine Bindung, die nicht von auÃen auferlegt ist, sondern aus dem eigenen Wollen und Wesen entspringt, und die dem Menschen eine unendliche Kraft verleiht. Eine derartige Ãberzeugung entspricht der geistigen Art des Deutschen; die gewissenhafte, ja strenge Fassung der Pflicht mit ihrer Erhebung über alles bloÃes Belieben und über alle bloÃe Neigung, auch über allen bloÃen Nutzen, ist ihm unentbehrlich. So zieht sich der Pflichtgedanke als eine GroÃmacht durch das ganze deutsche Leben; würde seine Macht gebrochen, so wäre es um uns und um unsere geistige Selbsterhaltung geschehen. In dem Grundgedanken der Tätigkeit[17] gehen aber die leitenden deutschen und die griechischen Denker weit auseinander. Diese setzen das Handeln in eine Ãbereinstimmung mit einer geschlossenen, vom Menschen nur abzubildenden Welt, die Deutschen dagegen suchen in jenem etwas, das an keine fremde Welt gebunden ist und lediglich aus seiner eigenen Unendlichkeit schöpft, lediglich auf sich selbst steht. So übertrifft die deutsche Art augenscheinlich die griechische in der Fassung und Schätzung der Freiheit.
Die geistige Freiheit deutscher Art erweist sich weiter in einer eigentümlichen Gestaltung des erkennenden Denkens. Das deutsche Denken trägt den Charakter der Freiheit, insofern es sich nicht damit begnügt, eine gegebene Welt festzustellen und zu ordnen, daà es vielmehr die ganze Wirklichkeit an sich zu ziehen und sie in einen eigenen Besitz zu verwandeln strebt. Daraus entsprang ein gewaltiges Ringen, die Welt von innen her zu durchleuchten, hier galt es nicht eine Anzahl der Lehren aufzustellen, sondern ein Ganzes der Gedankenwelt in schöpferischem Entwerfen aufzubauen und dadurch alles Empfangene umzuwandeln. Demnach waren die deutschen Systeme nicht bloÃe Lehrsysteme, nicht bloà intellektuelle Leistungen, sondern sie waren Weiterbildungen der Wirklichkeit, sie waren innere Belebungen dieser Welt. So hat das deutsche Denken tief auf den Stand des deutschen Lebens gewirkt, es hat etwas Neues aus dem Menschen gemacht und alle Verzweigungen des Lebens ergriffen. Ihm wurde das Erkennen aus einem Aufnehmen einer fremden Welt zu einem Erkennen des eigenen Vermögens und der eigenen Bewegung des Geistes, zu einem Selbsterkennen gröÃten Stiles. Die leitende Idee des Ganzen aber war dabei die der Freiheit, sie sollte alles Fremde und Dunkle vertreiben, alle Wirklichkeit in lichte Klarheit erheben;[18] nur eine solche schien dem Denken und Leben echte Wahrheit zu geben. Gewià war mit dieser Kühnheit des Unternehmens viel Gefahr verbunden, aber in diesen Dingen alle Gefahren meiden, das heiÃt auch auf alle GröÃe verzichten; so gewià wir als gute Deutsche auf einem echten und durchdringenden Erkennen bestehen, so gewià ein Stück Faustnatur in uns steckt, so gewià werden wir mit Hegel ein gebildetes Volk ohne Metaphysik für einen Tempel ohne Allerheiligstes erklären. – Die spekulative Philosophie als Metaphysik ist aber nur der Höhepunkt eines durchgehenden deutschen Strebens. Dies Streben geht nicht an erster Stelle auf den Nutzen, den das Wissen und Erkennen dem Menschen gewährt, sondern es behandelt jenes als einen Selbstzweck, der die vollste Freude in sich selbst trägt. Mit welchem Eifer und mit welcher Hingebung war der Deutsche um die Erweiterung des Wissensbereiches bemüht, wie viele Mühe und Opfer hat er dafür dargebracht! Er erträgt es nicht, die Welt als etwas Fremdes zu behandeln, er will im Ganzen der Wirklichkeit zu Hause sein und dadurch geistige Freiheit erringen.
Die deutsche Freiheit erweist sich weiter in der Gestaltung des künstlerischen Schaffens. Sie will den Menschen nicht nur ergötzen und angenehm unterhalten, sie gewinnt ihn nicht durch blendende oder einschmeichelnde Eindrücke, auch nicht durch strenge Formen und Gesetze, sondern an erster Stelle ist sie bemüht, der Seele neue Quellen des Lebens zu erschlieÃen, ein Ganzes der Welt von innen heraus zu bauen, sich rein in die Entfaltung des Lebens zu versetzen und dieses in einen vollen Aufstieg zu bringen, mehr und mehr verborgene Tiefen aus ihm zu entdecken. Die deutsche Kunst möchte den Menschen sich selbst innerlich näher bringen,[19] sie begleitet ihn treulich in alle Probleme und Kämpfe des Lebens, sie möchte ihm den tiefsten Sinn seines Lebens enthüllen. So hat vornehmlich die deutsche Musik eine durchdringende innere Befreiung der Seele vollzogen, sie hat nicht bloà vorhandene oder naheliegende Gefühlslagen dargestellt, sondern sie hat neue Werte erzeugt, neue Zusammenhänge gebildet, ein unbegrenztes Vermögen des Vordringens und des Bewältigens erwiesen. Daher ist die deutsche Musik kein nebensächlicher Anhang, sondern ein Hauptstück des deutschen Lebens, ein Hauptweg, die Welt dem Geist und seiner Freiheit zu unterwerfen.
Ebenso wurde auf der Höhe unseres klassischen literarischen Schaffens die Kunst zum Träger einer Welt der Freiheit, sie strebte dahin, den Menschen von aller Schwere des Stoffes zu befreien, alle Mannigfaltigkeit einem Ganzen einzufügen, die Grundgestalten der Wirklichkeit klar und rein hervorzuheben, in dem allen aber den Geist als das Herrschende und Durchwaltende zu erweisen. Wie dabei die Kunst durchgängig der Freiheit dient, so hat namentlich Goethe befreiend zu den Menschen und den Dingen gewirkt; wenn er selbst sein Lebenswerk in Eins zusammenfaÃte, so hat er es als ein Befreien erklärt, es war ihm ein Befreien von aller engen Menschlichkeit, von aufdringlicher Subjektivität, von aller Enge der Parteien und Interessen, es war ihm ein lauteres Enthüllen der Natur und ein Entdecken ihres innigen Zusammenhanges mit der Welt. Daraus entsprang die bekannte „gegenständliche“ Art Goethes, sie schiebt kein Fremdes zwischen die Seele und die Welt, sondern sie läÃt beide miteinander vertraut verkehren, sie versteht es, die Seele in der Welt und die Welt in der Seele zu finden. So wird die Wahrheit unmittelbar zur geistigen Freiheit, der ganze Mensch aber wird in ein neues Verhältnis zur Welt[20] gehoben. Von der Kunst der Musik wie der Poesie strömt aber ein eigentümliches Leben in das Ganze unseres Volkes ein; wie nahe sich bei uns Dichtkunst und Musik berühren, das zeigt namentlich das Volkslied und seine Stellung bei uns.
So gewahren wir eine wunderbare Entwicklung der geistigen Freiheit im deutschen Leben; verschiedene Arten der inneren Freiheit begegneten uns: die religiöse des deutschen Glaubens, die moralische der deutschen Gesinnung, die intellektuelle des deutschen Erkennens, die künstlerische des deutschen Kunstschaffens; aber durch alle Mannigfaltigkeit geht ein beherrschender Grundzug: durchgehend ist uns die Freiheit an erster Stelle nicht eine verneinende, sondern eine bejahende Macht, wir wollen die Religion nicht nur befreien, sondern sie vertiefen und durch die Vertiefung im vollen Sinne erst gewinnen, wir wollen die Moral nicht nur von äuÃeren Fesseln befreien, sondern sie auf die Höhe voller Selbständigkeit und Ursprünglichkeit heben, wir wollen das Erkennen nicht bloà von äuÃeren Schranken ablösen, sondern es zu einer höheren Art führen, wir wollen das Kunstschaffen nicht nur nicht an äuÃere Hemmungen oder niedere Stufen binden, sondern wir wollen es aus der innersten Tiefe der Seele beleben.
In solcher bejahenden Art liegt unmittelbar enthalten, daà uns die Freiheit nicht eine bloÃe Lebensform, sondern die Eröffnung eines neuen Inhalts ist, daà sie groÃe Lebenstatsachen erweist, groÃe Weltzusammenhänge offenbart. Die religiöse Freiheit gibt uns die GewiÃheit einer unmittelbaren Verbindung mit der weltbeherrschenden Macht der Liebe,[21] zugleich aber zeigt sie eine schroffe Kluft zwischen dem naturhaften und dem geistig gehobenen Menschen, die Verneinung selbst aber gibt uns die GewiÃheit einer endgültigen freudigen Bejahung; die moralische Freiheit hebt uns über allen Mechanismus der bloÃen Natur und auch des seelischen Getriebes hinaus, aber sie zeigt uns die Eröffnung eines neuen Lebensinhalts, der in einer Welt des persönlichen Lebens gipfelt und uns die feste Ãberzeugung von einem schaffenden Beisichselbstsein der Wirklichkeit gibt; die intellektuelle Freiheit befreit uns von dem Reich der Gegebenheit und Gebundenheit und erschlieÃt uns eine von Selbsttätigkeit getragene Welt als den Kern der Dinge; die künstlerische Freiheit offenbart uns einen unmittelbaren Zusammenhang mit der gegenständlichen Welt und entwindet uns damit der Herrschaft des bloÃen Subjekts mit seinen schwankenden und leeren Zuständen.
So wirken in der Freiheit groÃe Tatsachen, groÃe Lebensmächte, Lebensprozesse, die hoch über den Bestrebungen und Neigungen der Individuen liegen. Alles zusammen versetzt uns aus dem bloÃen Dasein in ein Reich des Schaffens, in eine Tatwelt; alles trägt hier insofern einen ethischen Charakter, als es durchgängig einen Aufstieg zu einer neuen Wirklichkeit, ja eine völlige Umwälzung vollzieht, sowie ein Hindurchgehen durch ein entschiedenes Nein, ein Stirb und Werde verlangt. So wird hier nicht nur der Standort des Lebens verändert, sondern der Mensch selbst von Grund aus umgewandelt, er bildet nunmehr nicht ein bloÃes Stück einer gegebenen Welt, sondern er wird ein Teilnehmer, ja Mitträger der ganzen Welt; so kann es mit Leibniz heiÃen: „In unserem Selbstwesen steckt eine Unendlichkeit, ein FuÃstapf, ein Ebenbild der Allwissenheit und Allmacht Gottes“. So erstreckt sich hier das Leben als geistiges über den einzelnen Punkt hinaus, der[22] Mensch hat nunmehr teil an der Unendlichkeit und Ewigkeit des Alls; er bedeutet damit unvergleichlich mehr als ein bloÃes Stück einer natürlichen und gesellschaftlichen Verkettung, er bildet eine Weltnatur; was gewöhnlich Welt heiÃt, das erscheint damit als eine unendliche Welt der Welten.
Damit müssen sich alle Ziele und Werte des Lebens wesentlich erhöhen, damit müssen völlig neue Kräfte entspringen, welche dem Vermögen des Einzelwesens weit überlegen sind.
Dies alles kann nicht ein Werk eines einzelnen Volkes sein, die ganze Menschheit hat dazu gewirkt. Aber wir dürfen ohne Selbstüberhebung sagen, daà das deutsche Volk auf der Höhe seines Vermögens diese wesenhafte und schaffende Art des Menschen besonders kräftig und rein herausgearbeitet hat, es hat mit besonderer Energie eine Befreiung des Lebens nicht nach einzelnen Richtungen hin, sondern in seinem tiefsten Grunde vollzogen, es hat den Menschen von sich selbst befreit, ihm ein neues Grundverhältnis zum All eröffnet, es hat etwas Wertvolleres aus ihm gemacht.
Hier erst kann eine volle geistige Freiheit entstehen, sie ist untrennbar von einer Welt der Freiheit. Insofern enthält alles echte deutsche Leben ein entschiedenes Bekenntnis von den letzten Gründen und von unserer Stellung in der Welt. So verstanden aber hat das deutsche Volk eine groÃe Aufgabe innerhalb des Ganzen der Menschheit; andere Völker mögen uns in anderen Richtungen übertreffen: im Reich reiner Innerlichkeit und innerer Freiheit stehen wir einzigartig da; so würde die Verkümmerung und Vernichtung dieses Volkes für die Menschheit einen schweren Verlust bedeuten.
[23] Die GröÃe der vom deutschen Wesen vollzogenen geistigen Befreiung kann demnach keinem Zweifel unterliegen. Aber gerade wer jene GröÃe vollauf würdigt, muà die Schwäche der deutschen Art im Bereich des gesellschaftlichen Lebens schmerzlich empfinden; ein starkes MiÃverhältnis der beiden Hauptentwicklungen ist unverkennbar. Ist es nicht bezeichnend für uns, daà die Höhepunkte des deutschen geistigen Schaffens in trübe oder doch gespannte Zeiten fielen. Bald nach Luthers Tod erfolgte der jähe Zusammenbruch des Schmalkaldischen Bundes im Kampf gegen die spanische Macht, Kant verlebte mehrere Jahre unter der russischen Militärgewalt, Goethe aber war bei aller liebenswürdigen persönlichen Behandlung zeitweise den Franzosen politisch unterworfen. Mochte das geistige Vermögen der Deutschen durch derartige Schicksale nicht gebrochen werden, es war doch ein schwerer Mangel, daà unser staatliches Leben nicht fest auf sich selber stand, daà die geistige GröÃe einer entsprechenden politischen Grundlage entbehrte; so drohte das Leben uns schroff auseinander zu fallen: einerseits war eine überlegene GröÃe der reinen Innerlichkeit, das freie Schalten und Walten über unsichtbare Welten vorhanden, andererseits aber eine abhängige und gedrückte Lage im sichtbaren Dasein. Wir hatten daher bis zur Gegenwart kein groÃes gemeinsames Leben und keine ihm entsprechende Freiheit. Unser Leben hat zunächst nicht die Ursprünglichkeit und die Festigkeit der Gesinnung, welche den nationalen Zusammenhang als etwas Selbstverständliches behandelt. Ferner neigen wir in politischen Fragen fortwährend zu einer höchst bedauerlichen Uneinigkeit, sie schädigt aufs schwerste unsere Leistung gegenüber der Welt. Dazu kommen besondere Schwächen unserer Art: wir leiden an Schwerfälligkeit und Umständlichkeit, wir neigen dazu, Prinzipienfragen weit auszuspinnen, wir sind ungeschickt, den Augenblick frisch zu[24] ergreifen und voll zu nutzen. Unsere vielgepriesene Gründlichkeit hat den Nachteil, uns mit viel Ballast zu belasten; wir müssen ferner zugestehen, daà nicht nur die einzelnen Bevölkerungsklassen, sondern auch die verschiedenen Kulturschichten bei uns einen gröÃeren Abstand voneinander zeigen als bei anderen Völkern; so kann sich uns auch das nationale und politische Leben leicht als etwas Fremdartiges, künstlich Bereitetes darstellen. In unserem Inneren haben wir viel Kraft gesammelt, wir verstehen es aber schwer, sie nach auÃen hin zu wenden. Auch in den politischen Lehren ergeben wir uns leicht dem überwiegenden Einfluà fremder Völker, und verkennen wir oft, was uns eigentümlich und groà ist, was uns selbst weiterbringen kann.
Nehmen wir zu allem diesem die jüngsten traurigen Erfahrungen unseres Volkes, so kann das Urteil über uns nur ungünstig lauten. Trotzdem sollten wir nicht schlechthin von einer politischen Unfähigkeit des deutschen Volkes reden. Es ist doch merkwürdig, daà sowohl die Holländer als die Schweizer nach ihrer Absplitterung vom alten Reiche ausgezeichnete politische Leistungen hervorgebracht haben; ferner aber sind unsere einzelnen Stämme durchweg kräftig und tüchtig; es fehlt nur eine feste Verbindung zu einem Ganzen, und das ist allerdings für die politische Aufgabe die Hauptsache. Aber wir dürfen billigerweise auch erwägen, daà wir mit recht vielen Hemmnissen zu kämpfen hatten, wir besaÃen eine zersplitterte und vielfach unglückliche Geschichte; wie viel davon auf die eigene Schuld oder auf die Ungunst des Schicksals kam, das ist schwer zu ermessen. Unsere Natur war mit manchen Mängeln behaftet; wer aber ein Volk nicht als eine von bloÃer Natur gegebene Rasse ansieht, sondern als[25] einen lebendigen Strom des geschichtlichen Lebens würdigt, der braucht die Hoffnung auf die Möglichkeit eines Aufstiegs nicht aufzugeben. Ein Volk, namentlich ein durch manche Erfahrungen und Leiden gereiftes und geläutertes Volk, ist an erster Stelle eine ethische Macht; es wird sich jetzt zu zeigen haben, ob wir genügende Kraft und genügenden Mut aufbringen oder ob unser Schicksal sich an uns durch unsere eigene Schuld erfüllt. Verbleiben wir in der kläglichen Unentschlossenheit, die uns jetzt befallen hat, und unterliegen wir der elenden Selbstsucht, die nur darauf denkt und sinnt, ob die Einzelnen oder die Parteien aus dem erschütternden Schiffbruch möglichst viele Vorteile für sich selbst ziehen, so ist uns nicht zu helfen. Erwachen wir aber endlich aus der jetzigen Trägheit und der überwiegenden Selbstsucht, kommen wir endlich durch das überwältigende Unglück zum BewuÃtsein unserer Tiefe und unserer Kraft, so dürfen wir hoffen, trotz aller Hemmungen uns und unser Volk zu retten. Diese Rettung ist für uns die alles überwiegende Sorge; nur wenn sie gelingt, wird es möglich sein, die reichen Schätze, welche das deutsche Volk im Laufe der Jahrhunderte, ja der Jahrtausende gesammelt hat, in vollen Eigenbesitz zu nehmen, nur so wird es möglich sein, daà geistige und politische Freiheit bei uns sich zusammenfinden, und das, was jene gewirkt hat, auch dieser zugute kommt. Vor allem aber ist es notwendig, daà die ethischen Mächte, welche in unserem Volke schlummern, vollauf erwachen und ihre Selbständigkeit erweisen. Dann – und nur dann – behält Luther Recht mit dem Wort: „Wo Mut bleibt, da folgt auch die Tat gewiÃlich“, dann mögen wir auch seines Wortes gedenken: „Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern sind zwei Dinge“. Viel GroÃes und Schönes war in uns angelegt, und wir hatten auch viele Arbeit darauf verwandt; wir durften hoffen, daà sich unsere geistige Freiheit kräftiger in unserem[26] gemeinsamen Leben verkörpere, die politische Freiheit aber sich über die bloÃe Tagespolitik vertiefe, beides aber miteinander die Freiheit des ganzen Menschen fördere. Wir durften hoffen, daà das Ganze unseres Volkes zu einer lebendigen Persönlichkeit, nicht einem bloÃen Zweckverband, wachse; wir durften hoffen, daà wir durch ein Zusammenarbeiten geistigen Schaffens und politischer Tätigkeit einen eigentümlichen, auch den anderen Völkern wertvollen Typus des Lebens erzeugen würden, nicht bloà für die Gegenwart, sondern für die Kette der Jahrhunderte; nun aber ist alles GroÃe und Erhöhende, wenn auch nicht verloren, so doch aufs ärgste gefährdet. Was ist nun an erster Stelle zu tun, um dieser unerträglichen Lage zu entgehen?
Wir flüchteten uns an erster Stelle zu dem Gedanken der Freiheit, der von Anfang an unser Leitstern war; er hat durch die Erfahrungen und die Nöte der Zeit eine besondere Färbung gewonnen. Um unsere Freiheit zu entwickeln und von hier aus die rechten Wege zu finden, bedarf es zunächst einer Befreiung von der Enge und von dem Druck, wodurch das übliche Parteiwesen uns hemmt und unsere Kräfte schwächt. Parteien sind unentbehrlich, um das staatliche Leben in Fluà zu halten und seinen Bewegungen Macht über die Menschen zu verleihen; sie sollen uns willkommene Mittel und Hilfen sein. Zu einer Gefahr aber werden sie, wenn sie den ganzen Menschen unter sich ziehen, wenn sie seine Ãberzeugungen und, was noch schlimmer ist, seine Interessen sich unterwerfen. Parteien muà es geben, Parteimenschen aber sind ein Unglück. Ein solcher Parteimensch betrachtet alles nur von seinem Standpunkt aus, er dünkt sich nicht nur klüger, sondern auch besser als seine Gegner. Die Enge seines Gesichtskreises[27] nimmt ihm alle Möglichkeit eines gegenseitigen Verstehens; er vermengt ewige Werte und bloÃe Augenblicksfragen; er behandelt das am meisten Problematische als etwas Selbstverständliches und umgekehrt das Selbstverständliche als etwas völlig Problematisches; er legt selbst in die Namen seine Affekte hinein, indem er die eigene Sache möglichst emporhebt, die andere möglichst herabsetzt. Die Vieldeutigkeit der Begriffe wird ihm ein willkommener AnlaÃ, die eigene Fassung den anderen als unentbehrlich und schlechthin vernünftig aufzudrängen. Wie schwankend und vieldeutig ist heute z. B. der Begriff der Demokratie, und wie viel wird jetzt in den des Sozialismus hineingelegt? So kann jeder Parteimann getrost seine Netze ausbreiten, die Menschen, die sich darin fangen, sind stets in groÃer Mehrzahl.
Dies alles war von altersher eine groÃe Gefahr, heute aber droht es uns ganz und gar in einen Stand der Unfreiheit zu versetzen. Es hat aber die Unfreiheit sehr verschiedene Grade, sie ist um so gröÃer und selbstbewuÃter, je mächtiger sich eine Parteibewegung fühlt, sie wird gemäÃigter und bescheidener, wo sie in überwiegender Verteidigung kämpft.
Bei den Aufregungen und Leidenschaften der Gegenwart erreicht das Problem seinen höchsten Gipfel, wir werden sehen, wie sehr verschiedene Grade der Unfreiheit daraus hervorgehen. Zunächst gilt es verschiedene Arten der Unfreiheit zu unterscheiden; sie unterscheiden sich aber gemäà den beiden Mächten, welche unser politisches, ja gesamtes Leben beherrschen und zusammenhalten, das sind aber Ordnung und Freiheit. Beide erzeugen entgegengesetzte Wirkungen, die Ordnung wird mehr Hemmungen, die Freiheit mehr Beschleunigungen unserer Tätigkeit bringen; wir[28] wissen, wie auch unser körperliches Leben für sein Wohlergehen eines richtigen Verhältnisses von Hemmungen und Beschleunigungen bedarf.
Nicht anders steht es im politischen Leben, auch bei ihm läÃt sich von gesunden und ungesunden Verhältnissen reden; wir können daran nicht zweifeln, daà wir uns heute in einem Stande übergroÃer Beschleunigung befinden. Darnach bemiÃt sich aber auch der Grad der Unfreiheit bei uns. Es gibt eine Unfreiheit der Ordnung, sie hat in früheren Zeiten drückend genug auf uns gelastet; es gibt aber auch eine Unfreiheit, die aus der Freiheit selbst, aus einer verkehrten und falsch angewandten Freiheit hervorgeht; diese im Namen der Freiheit geübte Unfreiheit ist gegenwärtig weit gefährlicher und verderblicher als die andere Unfreiheit, sie sucht die Freiheit nicht sowohl von auÃen her zu schädigen als sie von innen heraus zu zerstören. Es sind hier drei Hauptgrade der Unfreiheit auseinander zu halten, wovon der erste der Positiv, der zweite der Komparativ, der letzte der Superlativ der Unfreiheit genannt werden könnte; daà dieser Superlativ noch weiter übertroffen wird, dafür sorgen bekanntlich die extremen Gruppen. Betrachten wir nun etwas genauer, wie sich unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Schädigung der Freiheit und das Ãberwuchern der Unfreiheit bei uns ausnimmt.
Unzweifelhaft war auf deutschem Boden die politische Tätigkeit durch mannigfache geschichtliche Tatsachen und Mächte gebunden, so durch den Staat, der aber doch nicht bloÃer Obrigkeitsstaat war, so durch die ständische Gliederung, die aber doch nicht bloÃer Eigendünkel war, so durch die kirchlichen Ãberlieferungen und Einrichtungen, die aber doch in vielen[29] Herzen lebten, so überhaupt durch das Ganze einer vorhandenen und eingewöhnten Lebensordnung und Weltanschauung. Es war sicherlich in unserem Leben manches ohne einen auslangenden Grund, manches schleppte sich mühsam durch die Zeiten, eine gründliche Revision dieses Bestandes wurde von vielen Seiten verlangt, unser Leben bedurfte einer gewissen Verjüngung, wir arbeiteten zu sehr mit altgewordenen Kräften und lieÃen schöne Jugendjahre durch schwerfällige Einrichtungen nicht genügend genutzt. Alles das hat manche MiÃstände erzeugt, aber ist durch dieselbe eine wesentliche Unterdrückung unserer Freiheit entstanden, lag es nicht auch an den Einzelnen selbst, wenn sie zu wenig Mut und Kraft zu einer freien Bewegung fanden? Gewià sind alle künstlichen Hemmungen ein Ãbel, es frägt sich aber, ob es nicht auch andere, unentbehrliche Hemmungen gibt. Hier treibt es uns zwingend zu einem Urteil über die moralischen Bedürfnisse und das Verhalten des menschlichen Durchschnittes; die erfahrenen Politiker und die Anhänger von abstrakten Theorien pflegen dabei völlig auseinander zu gehen. Jene pflegen den Menschen als überwiegend von Selbstsucht und Begier erfüllt darzustellen, sie richten darnach auch ihr eigenes Verhalten ein, so waren alle groÃen Politiker als Praktiker entschiedene Pessimisten; jene Theoretiker dagegen schmücken ihr Bild mit den glänzendsten Farben, natürlich nur sofern der Betreffende ein Parteigenosse ist, denn der Gegner wird unbesehens zur Hölle verdammt. Hat aber die politische Erfahrung recht, so wird die Frage unvermeidlich, ob der Mensch nicht für sein eigenes Wohlergehen, ja für seine Selbsterhaltung starker Hemmungen dringend bedarf. Alle Erhebung über die bloÃe Natur kostet Mühe und Arbeit, paradiesische Zustände sind ein gefährlicher Traum. Wenn daher eine demagogische Denkart dem Menschen eine[30] solche Lage vorspiegeln und ihm alles Hemmende, alle Strenge, alle Zucht als überflüssig ausreden möchte, so begeht sie einen Frevel am Menschen selbst, so wird sie zu einem Zerstörer und Verderber. Aus derartigen Ãberzeugungen werden wir über das, was überkommene Verhältnisse an Hemmungen enthielten, etwas anders denken als jene Volksverführer. Prüfen wir mit unbefangenem Urteil, was von jenen Hemmungen für die geistige Erhaltung des Menschen notwendig war, und stellen wir dann mit genügender Klarheit und Entschiedenheit fest, wie viel davon aus menschlicher Schuld hervorging. Sicherlich wird dabei manches verbleiben, und es sei eine Unfreiheit dieser Art in keiner Weise beschönigt. So viel ist aber gewiÃ, daà alles, was nach dieser Richtung wirkt, heute bei weitem nicht so gefährlich ist als die Unfreiheit, welche aus der Freiheit hervorgeht, natürlich nicht aus der echten Freiheit, wohl aber aus der unter der bloÃen Form und unter dem Deckmantel der Freiheit verübten. So liegt hier heute die niederste Stufe der Unfreiheit.
Nunmehr kommen wir zur demokratischen Unfreiheit. Zunächst verwahren wir uns dabei gegen die Meinung, als wüÃten wir die Bedeutung und das gute Recht der Demokratie nicht zu schätzen. Wir würdigen vollauf die Bedeutung der freien Bewegung und der freien Betätigung des Individuums, wie sie einen Hauptzug der Neuzeit bildet, wir verkennen auch nicht den Reichtum von Bildungen, welche auf dem Boden der Demokratie möglich sind, – schon Aristoteles hat uns darüber sorgfältig berichtet, – wir wissen auch, wie glücklich besondere Arten der Demokratie, wie z. B. die schweizerischen, gewirkt haben. Aber hier handelt es sich zunächst um die Demokratie, die in unseren GroÃstädten,[31] vor allem in Berlin, entstanden ist, und von diesen Berliner Demokraten können wir kein Heil für die Freiheit erwarten. Auf den ersten Blick mag es ja scheinen, als könne von der Freiheit keine Gefahr der Unfreiheit entstehen, in Wahrheit kann sich die vermeintliche Freiheit in eine arge Unfreiheit verwandeln in der Hand der Menschen und durch ein Zusammenwirken der Verhältnisse; man möchte dabei des bekannten Wortes Rousseaus gedenken, daà alles gut von Natur an uns kommt, alles aber unter unseren Händen entartet. Mehr als in einer anderen Zeit erfolgt nämlich ein ungeheures Zusammenhäufen, ein Zusammenballen ungeschiedener Massen, der Mensch erfährt hier keinen Druck von auÃen her, um so mehr erfährt er ihn durch das gesellschaftliche Zusammensein; dieses erweist sich als eine weit überlegene Macht, der der Einzelne sich unbedingt unterwerfen muÃ. Tausendfach sind die Wege und Mittel, durch welche die Gesellschaft ihre Macht ausübt. Sie tut das vornehmlich durch die Presse, sie tut das so unmerklich, daà der Leser gar nicht bemerkt, daà er durch sein Blatt bestimmte Ziele und Werte aufnimmt; so denkt weniger er selbst, als daà er seine Zeitung für sich denken läÃt. Zugleich aber wirken bestimmte Parteitendenzen, sie ziehen den Einzelnen so geschickt ins Garn, daà er willenlos zum gehorsamen Diener einer Partei wird. Dabei pflegt bei uns Deutschen – vielleicht mehr als bei anderen Völkern – eine besondere Lebens- und Weltanschauung zusammenzugehen; es hat hier namentlich die französische Aufklärung gewirkt, sie tat und tut es, indem sie alle schwereren und minder angenehmen Probleme zurückschiebt, beflissen die GröÃe und Würde der Menschheit predigt, dabei eine verstandesmäÃige und überwiegend naturalistisch gehaltene Denkweise entwickelt, aus einer solchen alles verwirft, ja verketzert, was ihren Rahmen überschreitet. Kann man bei solcher Abhängigkeit von einer[32] auf der Höhe des Geisteslebens längst überwundenen Denkart von geistiger Freiheit sprechen?
Auf dem Gebiet der Lebensanschauung mag sich die Sache harmloser ausnehmen, aber auch hier reichen die Wurzeln oft bis in das politische Gebiet hinein. Eine besondere Gefahr für die Freiheit aber entsteht hier aus dem Wirken der Demagogen, der Volksumschmeichler, welche sich mit allen Mitteln um das Gefallen des Volkes bewerben und durch seine Gunst Einfluà oder Macht zu gewinnen suchen. Das ergibt eine Denkart, die alles Streben und Sinnen darauf richtet, den Beifall der groÃen Menge zu erhalten, die sich selbst zur Unfreiheit verurteilt, aber auch diejenigen erniedrigt, zu denen sie wirken möchte. Der bloÃe Mensch beherrscht hier die Sache, das Nützliche aber das Gute und Wahre; das ist bloÃer Menschendienst, inneres Sklaventum, um es mit dürren Worten zu sagen.
In verwandter Richtung wirkt zur Unfreiheit ein MiÃbrauch des Gleichheitsgedankens. Die Gleichheit finden wir weder in der Natur noch in der Kulturarbeit mit ihrer unbegrenzten Verschiedenheit. Der Gedanke stammt vielmehr aus dem Reiche der Ideen, zunächst von der Idee Gottes, dann von der einer allumfassenden Vernunft, die in allen Menschen wirkt und sie zu gleichem Recht beruft. Diese beiden Ideen sind heute dem modernen Durchschnittsmenschen sehr verblaÃt, trotzdem ist er eifrig bedacht, in allen Verhältnissen möglichste Gleichheit durchzusetzen, ist er geneigt, alles, was den Durchschnitt überschreitet, als ein schweres Unrecht, beinahe wie ein persönliches Unrecht, zu behandeln. So nimmt eine weitverbreitete Zeitströmung ohne weiteres Partei für die Jüngeren gegen die Ãlteren, für die Schüler gegen[33] den Lehrer, für den Untergebenen gegen den Vorgesetzten, als sei alle Ordnung und alle Zucht nur ein Ausfluà selbstherrlicher und brutaler Gesinnung, alle Ehrfurcht ein leeres Gerede. Alle Achtung vor einer Gleichheit, welche von der Gesinnung des ganzen Menschen getragen wird und die alle innerlich zusammenhält, aber keine Achtung vor einer Denkart, welche die Leistungen möglichst egalisieren möchte und neidisch allem Vorzug auflauert! Dafür gilt Goethes Wort: „Der schlimmste Neidhart ist in der Welt, der jeden für seinesgleichen hält“. Ein derartiges Egalisieren ist keine Freiheit, sondern eine traurige Unfreiheit.
Die letzte und höchste Stufe erklimmt die Unfreiheit unter dem Schein der Freiheit in der sozialistischen Gestaltung des Staates und des Lebens. Auch hier müssen wir uns des MiÃverständnisses erwehren, als würdigten wir nicht die Bedeutung und das Recht der groÃen Probleme, welche uns die sozialistische Bewegung mitteilt. Keine der anderen Theorien hat so sehr die Gegensätze in sich aufgenommen und durchdacht, welche die moderne Arbeit mit ihrer Wendung zur technischen und fabrikmäÃigen Arbeit erzeugt hat, keine hat so sehr den schroffen Zusammenstoà von Kapital und Arbeit gewürdigt, keine hat eine so groÃartige Organisation hervorgebracht, keine hat so auf dem modernen Boden auch einen gewissen Zusammenhang der Seelen zu bewirken gestrebt.
Etwas anderes aber sind solche Probleme, etwas anderes ist die gegenwärtige Gestaltung der politischen Verhältnisse. Hier, wo die bisherige Oppositionsbewegung zur herrschenden Stellung gekommen ist, und wo sie alle überkommenen Bindungen von sich abgeschüttelt hat, da hat die Unfreiheit den höchsten Gipfel erreicht. Das System des Sozialismus erhebt[34] die Freiheit formal zur äuÃersten Höhe, sachlich aber bedroht es sie mit einer völligen Zerstörung. Hier liegt alle Freiheit schlieÃlich am Gesamtwillen der Menschen; daà die einzelnen Punkte – von Gliedern kann man hier nicht wohl reden, da alle Verbindung nur eine mechanische Zusammensetzung ist – an diesem Gesamtwillen in gleicher Weise teilnehmen, das scheint schon volle Freiheit zu verbürgen. Aber von jenem Gesamtwillen besitzt jeder Einzelne nur einen verschwindenden Bruchteil, und was immer er von Freiheit hat, das hat er nur innerhalb des Ganzen und nach dem MaÃe des Ganzen; damit kann er nie selbständig walten, dem kann er nicht eine selbständige Denkweise und eigene Aufgabe entgegenstellen. Seine Partei ist hier seine Welt, sein Lebenskreis; daà das Ganze keinen Druck gegen den Einzelnen ausübt, und daà es selbst die höchste Vernunftinstanz bildet, die Quelle alles Guten und Wahren bildet, das wird als selbstverständlich vorausgesetzt; daà es das nicht ist, das muÃte kenntlich werden, sobald die sozialistische Bewegung von der Verneinung zur Bejahung überging und nun ihr Leistungsvermögen zu erproben hatte; nun muÃte die von ihr geübte Unfreiheit aufs Schwerste empfunden werden.
Es entstehen hier ungeheure Bindungen durch die Allgewalt des Staates, der alles Leben an sich rafft, durch die ausschlieÃliche Unterwerfung alles Lebens und Strebens durch das wirtschaftliche Ziel, durch die Benutzung aller wirtschaftlichen und technischen Kräfte für die erstrebte Sozialisierung. Das ergibt einen sehr begrenzten Lebenskreis, der unendlich viel von den wertvollsten geistigen Gütern der Menschheit unbedenklich preisgibt, und der eine Freiheit nur in dem Sinne einer schroffen Verneinung kennt, ja es entsteht damit[35] eine klägliche Erniedrigung und Unfreiheit des ganzen Lebens, sofern alles Streben auf das sinnliche Wohlergehen des Menschen gerichtet, alles Handeln wegen der Sache, alles erhöhende Schaffen aber verworfen, zugleich alle inneren Probleme verkannt, alle nichtmaterialistischen Ansichten wie ein krasser Unsinn abgelehnt werden. Wenn alles das mit seiner entsetzlichen Unfreiheit uns als ein Werk der Freiheit aufgedrängt wird, so muà das jeden mit Zorn und Unwillen erfüllen, der Freiheit und Unfreiheit zu unterscheiden vermag.
Wir sehen: die Probleme liegen ein gutes Stück tiefer als jene sozialistische Denkweise uns vorhält; wir überzeugen uns zugleich, daà es wichtig ist, politische und geistige Freiheit in das rechte Verhältnis zu bringen, inneres und gesellschaftliches Leben sowohl miteinander zu verbinden als genügend auseinander zu halten.
Das Staatsleben fordert eine eigentümliche Selbständigkeit, es muà sich an den menschlichen Durchschnitt halten, es verlangt einen gewissen Glauben an den Menschen, an sein Vermögen, an die Bedeutung seines Tuns; wo eine schroff pessimistische Denkweise ihm das verwehrt, wie etwa bei Hobbes und Schopenhauer, da kann das staatliche Leben keinen Reiz und keinen Antrieb gewähren, da kann sich keine politische Freiheit entwickeln, da entbehrt aber auch das geistige Leben wesentlicher Hilfen und Forderungen. Wer dagegen mit Rousseau oder den Sozialisten den Menschen als von Natur vortrefflich ausgestattet erklärt und alle Ãbelstände auf die gesellschaftlichen Verhältnisse schiebt, der mag viel politischen Eifer entfalten, aber er entbehrt einer Verbindung mit dem geistigen Leben und Schaffen, er kann daher auch weder dem[36] politischen Leben eine GröÃe noch seiner Seele eine Tiefe geben.
So gilt es, auf dem Grunde einer selbständigen Geisteswelt ein eigentümliches politisches Leben und eine politische Freiheit zu entfalten und dabei weder einem flachen Optimismus noch einem miÃmutigen Pessimismus zu verfallen, wohl aber einen Aktivismus der Ãberzeugung zu verfechten, der allen Sorgen und Nöten des menschlichen Lebens eine feste Zuversicht und eine tapfere Gesinnung entgegensetzt. Das entspricht dem tiefsten Grund der deutschen Art, und an diesen Grund wollen auch wir uns halten.
Druck von Richard Hahn (H. Otto) in Leipzig.