The Project Gutenberg eBook of Pfarre und Schule: Eine Dorfgeschichte. Erster Band.

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Title: Pfarre und Schule: Eine Dorfgeschichte. Erster Band.

Author: Friedrich Gerstäcker

Release date: July 22, 2014 [eBook #46368]
Most recently updated: October 24, 2024

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK PFARRE UND SCHULE: EINE DORFGESCHICHTE. ERSTER BAND. ***

Pfarre und Schule.

Eine Dorfgeschichte
von
Friedrich Gerstäcker.


Erster Band.


Leipzig,
Georg Wigand's Verlag.
1849.

Vorwort.

Wenn der Leser auf kurze Zeit Lust hat mir zu folgen, so will ich ihn auf ein ganz nahe liegendes und ihm doch vielleicht vollkommen fremdes Terrain führen – mag er dann aber nicht zürnen, wenn er die Gestalten, die er sich vielleicht idealisirt gedacht, nicht auch idealisirt wieder findet. Rechts und links habe ich in das Leben hineingegriffen und hingestellt was und wie ich es fand – wir Menschen sind nun einmal keine Ideale, und selbst aus dem Romane müssen diese verschwinden, wenn er der Wirklichkeit gehören soll.

Auch kein vollendetes Ganzes war ich im Stande ihm zu bieten – diese Blätter haben Deutschland zum Schauplatz, und spielen in der Jetztzeit könnte der Leser da ein vollendetes Ganzes auch nur verlangen? Gewiß nicht, wenn er Wahrheit dabei haben will.

Ich bin aber kein Freund von langen Vorreden, die Einleitung mag daher den Leser auf den Schauplatz vorbereiten, und das Buch selbst ihm sagen, was er zu erwarten hat. Ich habe geschrieben, wie mir's aus dem Herzen kam – möge er es in dem Sinne nehmen und verstehn.

Der Verfasser.

Inhalt des ersten Bandes.

Seite
Erstes Kapitel.
Einleitung 1
 
Zweites Kapitel.
Flucht und Verfolgung 12
 
Drittes Kapitel.
Diaconus und Hülfslehrer 39
 
Viertes Kapitel.
Parterre und erste Etage 57
 
Fünftes Kapitel.
Der alte Jäger 75
 
Sechstes Kapitel.
Die Hornecker Schenke 101
 
Siebentes Kapitel.
Die Pfarre 128
 
Achtes Kapitel.
Jägers Fritz und Schulmeisters Lieschen  160
 
Neuntes Kapitel.
Die Schule 182
 
Zehntes Kapitel.
Die Schulmeister 214
 
Elftes Kapitel.
Des Musikanten Tochter 245
 
Zwölftes Kapitel.
Die Gutsherrschaft 270

Erstes Kapitel.
Einleitung.

Der Frühling des Jahres 1848 war gar außergewöhnlich früh und mild durch die starren, kalttrüben Winterwolken hereingebrochen, und hatte Felder und Fluren zu einer Zeit mit Grün bekleidet, wo diese sonst noch gewöhnlich unter bergender Schneedecke gleich sicher gegen bittere Nachtfröste wie eisige Nordweste geschützt lagen. Der Thau reinigte selbst die Gebirgsschluchten, in denen bei anhaltenderen Wintern manchmal wohl bis Anfang Mai frostige und schmutzig braune Schneeschichten gelegen, von jedem Nachzügler nordischen Herrscherthums, und Schneeglöckchen und Primeln küßten sich im Thal, und weinten perlende Freudenthränen, als die Lerche über ihren Häuptern emporstieg und dem sonnigen Himmelsblau ihre schmetternden Jubellieder entgegen wirbelte.

Aus dem Süden kam der ernste Storch und eilte mit raschem und immer rascherem Flügelschlag der Stelle zu, wo er im vorigen Jahre sein Nest gebaut und der jungen Brut das Fliegen gelehrt, und die Staare strichen von allen Seiten herbei, erzählten sich die bestandenen Abenteuer, die überstandenen Gefahren und Beschwerden, und schwatzten und zwitscherten und flatterten und schwirrten, daß die Sperlinge auf den Dächern ganz eifersüchtig wurden, und der ernste Rabe, der oben in der am Weiher stehenden Fichte saß, erst eine lange Weile mit dem Kopfe schüttelte, rechts und links hinunterschaute auf die lärmende Schaar, und dann mit langsam scharfem Flügelschlag dem stilleren Felde zustrebte, wo er mit den Brüdern gravitätisch hinter dem einsamen Pfluge herschritt, und sich aufmerksam die frischgewühlten Furchen betrachtete, was sie ihm neues und wohlschmeckendes zum Mahle böten.

Draußen im Raps lockte mit dem wehmüthigen Rufe das Rebhuhn; über die Raine und Feldflächen jagten sich spielend die Hasen; der Finke sang seine schmelzenden Melodieen im keimenden Wald; Huhn und Taube scharrten sich nicht mehr die kleinen Füße auf dem harten Erdboden wund und blutig, und über die Teichwiesen und den von Felsen umdämmten Fluß strich schwirrend und blitzschnell die Wildente hin, und suchte unter den dichten Zweigen und Dornen, die den kleinen Wald umhingen, Schutz und Verborgenheit.

Aber auch die Pflanzenwelt war nicht müßig; in gewaltiger Kraft brach sich das junge quellende Leben die freie fröhliche Bahn aus dem starren Holze; überall sproßten und schossen Halme und Gräser empor, die Blüthen schwollen in farbenduftiger Fülle und Tulpe und Hyacinthe, das stille Veilchen und die schüchterne Aurikel, und vor allen anderen das neugierig muthige Leberblümchen, das sich mit seinen herzig rothen Lippen oft schon Bahn selbst durch die Schneedecke bricht, erschlossen die würzigen Kelche und sandten Weihrauchopfer zu der freundlich über sie hingebeugten heiligen Pfirsichblüthe empor.

Und der Mensch?

Im Norden und Süden, im Osten und Westen der schönen deutschen Gauen, zwischen der erwachenden lächelnden Natur, unter den duftigen Blüthen und Knospen der Frucht- und Waldesbäume – strömte Blut; Barrikaden füllten die Straßen der sonst so friedlichen Städte, und hemmten den Verkehr – zerfleischte Leichen sahen stieren glanzlosen Blicks in die warme sonnige Luft hinauf, die für ihre Wange keinen fächelnden Hauch mehr hatte, und Verwundete mischten ihr Stöhnen und Schmerzenswinseln mit dem freudigen Jubelrufe der Frühlingsboten. Heeresmassen mit blitzenden Waffen füllten die Straßen, und Flammensäulen lodernder Gebäude leuchteten weit in die Nacht hinaus.

Auch in den Geistern der Menschen war es Frühling geworden, aber der Winter des kalten Zwangs und der starren Willkür hatte so lange, lange Jahre gedauert, daß es Gewalt brauchte, die übereisten Knospen zu brechen und die Banden zu lösen, mit denen die nach Freiheit Strebenden, Drängenden, so fest, ach so gar fest und streng umschlossen waren. Und die Glieder bluteten in der rasenden Kraftanstrengung, mit der sie sich dem, ihnen nur einmal dämmernden Lichte entgegen arbeiteten; aber »durch Nacht zum Sieg« tönte der Freiheitschrei, die Männer der Gewalt erbebten und die eiserne Bande, die Herzen und Arme des Volkes bis dahin gefesselt gehalten – borst.

In Deutschland war Frühling; aus Süden und Westen her wehte die frische belebende Luft herüber und vom nordischen und adriatischen Meer, vom Rhein und von der Donau zogen mit den fröhlichen Farben des Reichs, mit dem so lang verpönten und verschmähten Schwarz, Roth und Gold geschmückt, die Vertreter der Stämme zur Vorberathung des ersten deutschen Parlaments.

In Deutschland war Frühling, und in den Sitzen der bedeutenderen Intelligenz, in den größeren und bevölkerteren Städten, kochte und gährte es in Versammlungen und sich anschließenden Vereinen, in Ausbrüchen des Zorns und Ingrimms gegen verhaßte, des Jubels und Dankes gegen beliebte Bürger; wo die Waffen ruhten, nahm die befreite Presse den Kampf von Neuem auf, und jedes andere Interesse schwand in dem einzigen Worte Politik.

Anders und ruhiger zeigte sich dagegen noch die Wirkung in den kleineren, besonders den vom Hauptverkehr mit der geschäftigen wirkenden Welt mehr abgesonderten Städtchen und Flecken. Die Tagespresse hielt dort nicht den ruhigen Arbeiter in steter peinlicher Spannung des Kommenden, und imponirende Massen vermochten nicht von seinen Geschäften ihn loszureißen; wohl las er die Zeitung, aber meistens fand er hier nur wöchentliche Berichte, die das Geschehene ruhig erzählten, und deren enge Spalten keinen Raum ließen für weitere ausführliche Besprechungen und Pläne. Allerdings drang auch bis zu ihm der Ruf, einen Abgeordneten für das deutsche Parlament zu wählen, um auch ihre Stimme in Frankfurt, wo Deutschland stark und einig tagte, vertreten zu sehen, um auch ihren Wünschen, Forderungen und Beschwerden Worte zu geben, die nicht wirkungslos mehr im Papierkorb der Minister schlummern sollten. Aber sie begriffen größtentheils noch nicht die Wichtigkeit solcher Vertretung, sie wußten nicht, was man in Frankfurt, von woher ihnen bis dahin noch nie etwas Gutes gekommen, großes für sie ausrichten könne, und gleichgültig und schläfrig betrieben sie eine Sache, die ihrer ganzen ausschließlichen Energie bedurft hätte, um nicht als Fluch, statt als Segen auf sie zurückzuwirken.

Desto eifriger wurde aber dafür das, hier so plötzlich dem Ehrgeiz geöffnete Feld von allen denen benutzt, die nun, ob Beruf, oder nicht dafür im Herzen, Hoffnung zu haben glaubten, irgend einen Winkel Deutschlands für ihre Wahl bestimmen zu können. Besonders galt dies von einer Klasse Menschen, die sich gleich von vorn herein in den größeren Städten, oder da, wo man ihre bisherige Thätigkeit kannte, unmöglich wußten; diese stoben nach allen Seiten in kleine Städte und Ortschaften hinaus, stifteten Vereine, hielten Reden, haranguirten das Volk mit den Schlagwörtern des Tages und stürzten in Bierstuben und Tanzsälen Throne um und vernichteten Fürstenthümer.

Und war die Reaction so ganz müßig? That sie gar Nichts, dem Feuereifer der Republikaner entgegen zu wirken? Nein, wahrlich nicht; müßig keinen Augenblick, aber noch zu schüchtern, in der ersten Zeit wilder Begeisterung den Kampf auf offene unerschrockene Art zu beginnen. Der Begriff einer Reaction war auch noch zu wenig festgestellt worden, ja die meisten, dem zu raschen Fortschritt nicht geneigten, schienen sich kaum klar darüber zu sein, wie weit die Männer der Zeit eigentlich zu gehen beabsichtigten, und wie stark daher der Gegendruck sein müsse, sie zurück zu halten, ja ob nicht doch das Ganze am Ende nur ein einfacher Aufstand sei, der von dem Militair bald und rasch wieder unterdrückt werden könne, und dann – aber Berlin – Berlin – die dort umsonst abgefeuerten Kartätschen machten einen höchst unangenehmen Eindruck auf Jeden, der bis dahin an die Wiederherstellung des alten stillen Friedens geglaubt, und die höchst ungewisse Lage, in der man sich befand, ja wo sogar noch der Zweifel aufstieg, ob man die wirklich dagewesene Revolution auch eben so wirklich anerkennen solle oder nicht, vereiteltete jedes entschiedene und planmäßige Handeln. Nur die einzige Hoffnung blieb noch, im Geheimen und mit stillem unbeobachteten Wirken einen künftigen Sieg anzubahnen, und das schien um so nöthiger, da selbst ein großer Theil der Beamten, die große Majorität des Mittelstandes, ja sogar eine nicht unbedeutende Zahl der reicheren und intelligenten Bürger, zwar dem Wühlen der Hitzköpfe und unreifen Politiker nicht geneigt, aber doch zugleich auch fest entschlossen schien, sich die gegenwärtigen Errungenschaften zu wahren und gleich stark der Anarchie von unten wie von oben zu begegnen.

So lebendig nun also die Zeitverhältnisse in der Residenz des kleinen Landes, das ich mir zum Schauplatz dieser Erzählung ausersehen, besprochen wurden, wo Katzenmusiken und Fackelzüge anfingen zu den allergewöhnlichsten Begebenheiten zu gehören, so still und ruhig verhandelte man in dem, nur wenige Stunden davon entfernten Dorfe Horneck die Tagesfragen. Der ganze März war verflossen, und noch kein einziger Verein gegründet worden, die Nachrichten aus den benachbarten Reichen klangen den friedlichen Bewohnern wie Mährchen aus tausend und eine Nacht und sie hätten das Ganze am Ende nur ebenfalls wie eine Fabel und nicht einmal für möglich gehalten, wären nicht der Schulze und Gerichtsschreiber – Beides sonst ein paar sehr ernste und furchtbar strenge Gestalten, plötzlich so ganz unerklärbar freundlich geworden, ja selbst der Rittergutsbesitzer, ein unerhörter Fall, zweimal in eigener Person in die Schenke zu Biere gekommen.

Richtig war's nicht in der Welt, so viel stand fest, und umsonst steckten der Pastor und ihr Gerichtsherr auch nicht immer die Köpfe zusammen und lasen in Zeitungen, die sonst zu Horneck gar nicht gehalten wurden. Die Bauern fingen daher, durch dies Alles neugierig gemacht, selbst ein wenig mehr an, die sonst ziemlich vernachlässigten Berichte »von draußen her«, von Frankreich und Berlin und von Leipzig und der Türkei zu lesen, und in der Schenke gab dann ein Wort das andere. Die Köpfe wurden heiß, die Gemüther erregt, die Worte hitzig – Partheien bildeten sich und Leute traten auf, die mit donnernden Fäusten den erstaunten Zuhörern die Beweise auf den Tisch schlugen. Aber es blieb auch nur bei den hausbackenen einfachen Reden der Leute selber und die konnten weiter keine aufreizende oder bedenkliche Folgen haben, denn besonders der Landmann hält sich gern für eben so klug, als sein Nachbar, und glaubt das, was der ihm sagen kann, erst recht schon, und wer weiß wie lange, besser zu wissen.

Dem konnte auch der Pastor Scheidler, der sich überhaupt gleich von seinem ersten Amtsantritt her, viel um das Familienleben seiner Beichtkinder bekümmert hatte, leicht begegnen, und jedes Unheil und jede Störung durch Predigt und Wort abwenden, und nur erst, als die Zeitungen immer unaufhaltsamer kamen und die »Preßfreiheit« dem guten besorgten Mann doch etwas bedenklich wurde, da gründete er einen »Lesezirkel« und schickte seinen Diaconus hinein, um den Leuten die einzelnen Artikel auszulegen und ihnen, gleich an Ort und Stelle über verfängliche oder solche Sätze, die sie zu längerem Nachdenken zwingen könnten, Aufklärung zu geben.

Der einzige Mann vielleicht im ganzen Orte, der sich gar nicht um Politik bekümmerte und vollkommen damit zufrieden schien, wenn ihm der Hülfslehrer, der ihm im letzten Jahre beigegeben worden, nur manchmal Abends die »Neuigkeiten aus der Stadt« erzählte, das war der alte Schulmeister von Horneck, Sebastian Kleinholz, der seinen Jungen nach wie vor die zehn Gebote und das Ein mal Eins einprägte, und das Jahr 1848 mit einer wahrhaft gründlichen Verachtung behandelte. Mit der Revolution schien er aber nicht besonders einverstanden; der Pastor – sein Vorgesetzter, so lange er denken konnte – schüttelte stets, wenn er davon sprach, sehr bedenklich mit dem Kopfe, und der wußte was er that, denn der las alle Zeitungen von A bis Z und legte die Bibel aus, wie noch keiner vor ihm. Papa Kleinholz kümmerte sich übrigens nur wenig um die Außenwelt und mußte oft förmlich dazu gezwungen werden, wichtige neu eingelaufene Berichte mit anzuhören; ihm genügte es, daß in Horneck die Alten – noch die Alten blieben, und mit den Jungen – ei sapperment, da wollte er allein – heißt das mit dem Hülfslehrer – schon fertig werden.

Zweites Kapitel.
Flucht und Verfolgung.

Horneck lag in einer reizenden Gegend unseres schönen deutschen Gaues, an einem kleinen, aber malerisch gebetteten Strome, den wir die Rausche nennen wollen. Von hoher Bergeskuppe überschaute es weit und breit die benachbarten Thäler und die ausgedehnte Niederung, die sich gen Süden in flache fruchtbare Felder hinabzog, und dichte schützende Kieferkämme umdrängten den kleinen Ort gegen Norden, wo sie festen Schirm und Hort gegen die kalten Winterstürme bildeten. Tief unten aber rauschte und brauste der Strom über künstliches Wehr hinweg in das Bett hinein, das ihn der klappernden Mühle entgegenführte, und drüben am anderen Ufer, wo der Kahn so dicht und schaurig versteckt unter der frisch ausschlagenden Trauerweide lag, stand, von Buchen und jungem Eichenschlag fast verdeckt, die stille kleine Försterwohnung, mit dem blendendweißen Anwurf und dem schindelgrauen Dach, den mächtigen Hirschgeweihen über der Thür, zu denen der alte Forstmann bei jedem eine lange prächtige Geschichte erzählen konnte, und dem schmalen freundlichen Garten vor der Schwelle, in dem schon Tulpe und Aurikel blühte und die duftenden Veilchen das enge Rundtheil in der Mitte mit blauem reizenden Kranz umzogen.

Unten am Fuß des Berges, auf dem Horneck lag, standen von fruchtbaren Feldern und Wiesen gleich umschlossen und von dichten Obstgärten begrenzt, die Wirthschaftsgebäude des Rittergutes, das denselben Namen trug, oben aber, auf der höchsten Kuppe, ja selbst auf einem theilweis als Steinbruch benutzten Felskegel gebaut, der ihr auch großentheils aus seinem eigenen Selbst das Material zu den starken Mauern geliefert, ragte die kleine Kirche mit dem stumpfen abgerundeten Thurme hervor, und gewährte einen Fernblick selbst über die spitzen dunkelgrünen Wipfel des Nadelholzes hin nach den blauen zackigen Gebirgsrücken gen Norden, in denen die Rausche ihren Ursprung fand.

Die Pastorwohnung lag dicht unter der Kirche an der Nordseite, und eine enge in den Stein gehauene Treppe führte zu der kleinen Thür hinauf, durch die der Pastor das heilige Gebäude gewöhnlich betrat; an der Südseite dagegen schmiegte sich die Schulwohnung an und vor dieser vorbei führte auch der breite steile Fuhrweg selbst bis vor die Hauptthür der Kirche.

Der Diaconus wohnte mit in der Pfarre, der Hülfslehrer in einem kleinen Dachstübchen der Schule, das die Aussicht, über die unter ihr liegenden Dächer der Nachbarhäuser hinweg, gerade nach dem schattigen düsteren Schwarzholze hatte. Von der Schulwohnung aus führte ein kleiner schmaler Pfad dicht an einem niederen Kieferdickicht hin, wo sich die stachlichen Nadelzweige fest in einander schoben und ein Durchbrechen derselben fast zur Unmöglichkeit machten.

Auf dem Wege nun, der über die Felder bis weit an die oben gen Norden ziehende Straße lief, schritt, am Morgen des ersten April, wo die Sonne so recht warm und freundlich auf die Erde herniederschien, Vater Kleinholz, einen Spaten auf der Schulter, und für sein Alter noch rüstig genug, vorwärts, und rastete nicht eher, bis er an einen kleinen schmalen Streifen Feld kam in dessen einer Ecke, und dicht am Wege, ein mächtiger Steinblock wohl zwei Schuh hoch aus der Erde emporragte. An diesen lehnte er seinen Spaten, setzte sich selbst auf den Stein, und legte für einen Augenblick, wie ausruhend, die beiden zusammengefalteten Hände in den Schooß; sein Blick schweifte dabei prüfend über das kleine Stückchen Erde hinüber, das er sein nannte, und das noch starr und ungelockert, wie es der Winter gelassen, mitten zwischen den bestellten und wohl hergerichteten Feldern der Nachbarn lag.

»Ja ja,« sagte er da nach langer Pause, während er langsam und bedächtig dazu mit dem Kopfe nickte – »ja ja, ich kann es Meiers Frieden nicht verdenken, daß er mir den Zwickel hier nicht aufpflügen will – oder nicht kann, wie er meint; so mitten in Gräben drinn und hier noch den Stein, und da drüben den Wegweiser, da bleibt in der That kein Plätzchen, wo man Kuh oder Pferd umlenken könnte, und am Rande ist man auch immer gleich wieder. Nun mit Gott, dieß Jahr werden diese alten Knochen wohl noch im Stande sein, das bischen Arbeit zu thun, und im nächsten – na da laß ich vielleicht dem Hülfslehrer seinen Willen, der mich lange d'rum gequält hat – eigene Passion das – wer weiß – hm, ja – wer weiß, ob er's im nächsten Jahr nicht ohnedieß für sich selber bestellen muß.«

Der alte Mann zog seinen schwarzen, schon sehr abgetragenen Rock aus, faltete ihn sauber zusammen und wollte ihn eben neben sich auf den Stein legen, als sein Blick auf die deutlich hervortretenden hellblauen Näthe fiel, die dem sonst ganz schwarzen und ehrwürdigen Kleide ein eigenthümliches Ansehn gaben.

»Hm« sagte er, und betrachtete aufmerksam das abgenutzte Kleidungsstück – »der Färber hat mir die Montur doch nicht so recht ächt in der Kur gehabt, und der Müller guckt überall durch – das Blau muß eine sehr gute Farbe gewesen sein, daß es sich so durch das Schwarz hindurcharbeitet – ich wollte ich hätte den Rock gehabt, wie er neu war; mein Samuel soll mir doch einmal ein Bischen wieder mit Tinte nachhelfen – das hält eine lange Weile und sieht ordentlich gut aus; aber komm Sebastian, komm, der schöne Sonnabend vergeht und ich darf doch nicht wieder zu Hause gehen, ohne mich wenigstens ein Stückchen in die Ecke hier hineingestochen zu haben.«

Und vorsichtig, als ob er bange wäre von dem verwitterten Kleidungsstück vielleicht eine Ecke abzubrechen, legte er den Rock auf den Stein, griff nach dem Spaten, und war bald beschäftigt den, durch den letzten Regen ziemlich locker gewordenen und überdieß etwas sandigen Boden umzustechen.

Noch nicht lange hatte er so, dem Waldpfad den Rücken zukehrend, gearbeitet, als zwei Personen den kleinen Weg entlang kamen, und ruhig, von ihm unbemerkt, den eben erst verlassenen Platz auf dem Steine einnahmen. Es war ein Greis und ein junges Mädchen; beide bleich, und in anscheinend ärmlichen Verhältnissen, – das Mädchen aber auch noch von kränklichem Aussehn, mit blassen eingefallenen Wangen und glanzlosen Augen.

Sie mußte einmal recht schön gewesen sein, die arme Maid, weich und seidendicht schmiegten sich die langen nußbraunen Haare um die weiße, hohe und edelgeformte Stirn, dunkle und lange Wimpern überschatteten den Blick; auch ihre Gestalt war schlank und zart gebaut, und die Hand klein und zierlich wie der Fuß, aber die Elasticität der Jugend war aus der jugendlichen Form gewichen, und ernst und schwermüthig neigte sich das schöne bleiche Haupt.

Keines von beiden sprach ein Wort, der Alte aber, der eine in ein braunes Tuch gewickelte Violine unter dem Arme trug, stemmte diese jetzt vor sich auf den Stein, umklammerte sie mit beiden Händen, stützte dann sein Kinn oben darauf, schaute dem greisen Schulmeister eine ganze Weile schweigend zu und sagte mehr mit sich selbst redend, als zu dem Anderen gewandt:

»Auch ein sauer Stück Brod für weiße Haare – aber doch besser wie gar keins – ich kenne Leute, die recht gern grüben, wenn ihnen nur auch der Boden Kartoffeln trüge.«

Der Schulmeister richtete sich auf, schaute sich um, und blieb, die Rechte auf den Spaten stemmend, in eben der Stellung stehn.

»Guten Morgen, ihr Leute – woher des Weges?« sagte er tief Athem holend – »Ihr müßt früh aufgebrochen sein, wenn Ihr schon von Sockwitz kommt, und es liegt doch kein anderes Dorf mehr da hinüber zu.«

»Wir brauchten nicht zu warten bis der Kaffee fertig war« erwiederte ihm trocken und mürrisch der Alte, »da hält's nicht auf, wenn man morgens rasch fort will, das Frühstück hat uns auch nicht am Gehn gehindert.«

Es lag so viel Bitterkeit in dem Tone, mit dem der Fremde diese Worte sprach, daß der Schulmeister ihn lange mitleidig betrachtete; endlich ging er auf den Stein zu, auf dem sie saßen, nahm seinen Rock herunter, griff in die eine Rocktasche und frug, während er aus dieser irgend etwas in Papier gewickeltes herausnahm:

»Ihr seid wohl noch nüchtern liebe Leute? – ja, die Zeiten sind schlecht, und ein armer Mann muß sehn wie er sich durchschlägt; nun nehmt nur, ich finde was wenn ich wieder zu Hause komme.«

»Ihr seid der Schulmeister?« frug der Bettler, und schaute während er das Dargebotene zögernd annahm, etwas mißtrauisch nach dem schwarzen Rock hinüber, den Jener noch in der linken Hand hielt.

»Von Horneck,« bestätigte der Greis.

»Heißt Ihr Horneck?«

»Seh' ich aus wie ein Adelicher?« lächelte der alte Mann.

»Ih nun« brummte der Fremde, und warf einen finsteren Blick nach der Häusermasse des kleinen Orts hinüber; »nach einer Weile könnte das wahr werden – jetzt ist's freilich noch nicht – wenn Ihr aber der Schulmeister vom Dorfe seid, und uns Euer Frühstück schenkt, so muß ich mich wohl, und das recht herzlich dafür bedanken; die Schulmeister haben sonst auch gewöhnlich nicht viel wegzuschenken.«

»Besonders der von Horneck,« sagte Papa Kleinholz mit einem wehmüthigen Zug um die Lippen, der in diesem Fall wohl eben wieder zu einem Lächeln werden sollte, es aber doch nicht im Stande war, und nur zu einer leisen, kaum bemerkbaren Bewegung der Lippenmuskeln wurde, – »nun, es hat jeder sein Bündel Leid und Noth zu tragen, und da darf man nicht murren, wenn unseres vielleicht ein klein Bischen größer ist, als das des Nachbars; der Eine vermag auch mehr zu tragen, als der Andere, und der liebe Gott theilt das eben jedem nach seinen Kräften zu.«

»Herr Gott, was müssen wir doch für Riesen sein, Marie;« lachte der Alte, und wandte sich nach seiner Tochter um; die aber antwortete Nichts, nahm ihm nur das vom Schulmeister erhaltene Frühstück – ein Stück trockenes Brod – aus der Hand, brach sich einen kleinen Theil davon ab, und verzehrte es schweigend. – Ihr Blick heftete in dem Thale unten an irgend einem Gegenstand – sie sprach kein Wort und verzog keine Miene.

»Eure Tochter ist wohl stumm?« frug mit mitleidigem Blicke der Schulmeister.

»Stumm? nein,« lautete die Antwort, »nur maulfaul – sie denkt wahrscheinlich viel, aber sie hat die Gabe nicht, es von sich zu geben. Schade drum, die Welt wird viel verlieren.«

Ein vorwurfsvoller Blick des Mädchens fiel auf den Vater, als er die Worte sprach, doch es war nur ein Blick, und es wandte rasch wieder den Kopf. Dem Schulmeister fing es aber an unheimlich bei den Beiden zu werden. Das Mädchen hatte augenscheinlich schon bessere Tage gesehn; ihr Anstand war edel und selbst die Züge verriethen einen Grad von Ueberlegenheit, der um so auffallender gegen das gleichgültige Wesen ihres Begleiters abstach. Auch ihr Anzug gab Zeugniß einer besseren Zeit und ganz verschiedener Verhältnisse, wenn nicht die Ueberreste der Kleider von mitleidiger Hand kamen, und jetzt nur, wie zu Spott und Hohn die hageren Glieder mehr verhüllten als bedeckten.

Marie, wie sie der Alte nannte, trug ein zerrissenes, beschmutztes Kleid von schwerer schwarzer Seide, das an mehreren Stellen durch Stücken bunten gewöhnlichen Kattuns, ja über dem linken Aermel sogar mit Bindfaden zusammengehalten wurde. Die bloßen Füße staken in zerrissenen, aber feinen, mit Pelz noch hie und da verbrämten Lederschuhen, und den Kopf bedeckte ein sonngebleichter blauer Atlashut, von dem jedoch jeder Zierrath, der ihn sonst vielleicht bedeckte, heruntergeschnitten war, während darunter einzelne unordentliche Locken des üppigen Haares hervorquollen. Die Arme trug sie bloß, und einen in früherer Zeit vielleicht schön gewesenen Shawl, der aber jetzt durch Straßenschmutz und Regen höchst unansehnlich geworden, hatte sie, als sie mit ihrem Vater an dem jetzigen Ruheplatze angekommen, fest um sich hergeschlagen, jetzt aber, durch was nun auch ihre Aufmerksamkeit abgelenkt sein mochte, nachlässig niederfallen lassen, daß der bleiche Nacken, unter dessen durchsichtiger Haut die blauen Adern schimmerten, und die eine Schulter hervorschaute.

»Nun, kannst du den Mund nicht aufmachen, Mamsell?« fuhr sie nach kurzer Pause der Alte noch einmal an, »oder ist die Madame vielleicht heute Morgen nicht zu sprechen, und läßt sich absagen?«

Das Mädchen erwiederte keine Silbe, schien auch den Hohn, der in den Worten lag, gar nicht zu beachten oder zu bemerken, und deutete jetzt nur schweigend, mit der rechten, abgemagerten Hand nach dem Thale hinunter, wo sich eine Gruppe bewegte, die auch die Aufmerksamkeit der Männer, sobald sie ihrer nur ansichtig wurden, im höchsten Grade fesselte, und jedes weitere Gespräch für den Augenblick abschnitt.

Das Thal, durch welches sich ein schmaler Fußpfad links hinüberwand, und der, nach dieser Richtung hin etwa eine halbe Stunde entfernten, zur Residenz führenden breiten Chaussee zulief, war ziemlich offen und nur größtentheils von nackten Feldern und Wiesenstrichen durchkreuzt; erst gegen den Fuß der Anhöhe hin bildeten sich kleine, der Höhe zustrebende Schluchten, die mit niederem aber dichtem Gebüsch bewachsen, schon gewissermaßen die Vorpostenkette der stattlicheren Waldmassen bildeten, welche nachher von der Kuppe des Berges aus weit hin gen Norden und Osten zogen.

Zwischen diesen Schluchten lagen immer wieder freie Feldstrecken, und gegen den Kamm des Hügels hin, wo wir gerade den Schulmeister mit den beiden Fremden verlassen haben, verschwanden auch die Büsche, so daß hier eine einzige ununterbrochene Fläche diese von dem Walde selber vollkommen abschnitt. Nur ein kleines Weidendickicht lag gerade mitten auf der Kuppe, und dahinter hin dehnte sich, durch mehrere hier kräftig vorsprudelnde Quellen erzeugt, ein schmaler Streifen sumpfigen Moorgrundes aus.

Ueber das offene Feld aber, das noch unterhalb der Schluchten, und von dem Fußpfad durchzogen lag, lief, als die Dreie eben dort hinüberschauten, ein Mann, und schien mit aller nur möglichen Kraftanstrengung den nächsten Büschen zuzustreben. Hinter ihm aber, in kaum zweihundert Schritten Entfernung, sprengte ein Reiter, und trieb mit Peitsche und Sporn sein Pferd zu wildester Eile an, um den Flüchtigen einzuholen, oder ihn doch wenigstens von dem schützenden Dickicht abzuschneiden, wo Verfolgung im Sattel unmöglich gewesen wäre, und ihn aufzuhalten, bis ein anderer Hülfstrupp, der aus vier Fußgängern bestand, und ebenfalls so rasch als möglich, aber schon anscheinend erschöpft, herbeistürmte, die Anstrengungen des Berittenen zu unterstützen vermochte.

Der Flüchtling zeigte übrigens, wenn er Grund und Boden, auf dem er sich befand, nicht schon von früher kannte, einen so richtigen Blick in der Richtung, die er einschlug, und der Bahn, der er folgte, daß er nicht allein die für den Reiter schwierigsten Stellen rasch nach einander benutzte, sondern auch den alten Musikus durch seine Kraft und Gewandtheit zu lauter Bewunderung hinriß.

»Bei Gott!« rief dieser, »das ist nicht das erste Mal, wo der einem Gensdarmen aus dem Wege geht – hurrah mein Junge – nur noch ein paar Minuten ausgehalten, und der Schnurrbart mag nachher sehn, wo er zuerst in den Büschen hängen bleibt – hurrah mein Herzchen – das ist recht – ha ha ha – wie der die kleine Hecke und den Dornenbusch benutzt – jetzt links mein Schatz – noch mehr links, nachher kommen die Steine, und in denen bricht er Hals und Bein, wenn er sich hineinwagt – so brav – so brav, hol' mich der Teufel, das war ein kapitaler Sprung – jetzt hinein in's Dickicht – ha ha ha ha das thuts, das war famos ausgeführt:

»Heißa juchheißa, die Hetze ist aus,
Guten Morgen Herr Förster, itzt gehn mer zu Haus;
Itzt gehn mer zu Haus und itzt gehn mer zu Bett,
Und wer z'erst in den Federn liegt, g'winnet die Wett'!«

Der Alte schwang sein eingewickeltes Instrument jubelnd um den Kopf und sprang dann auf den Stein, um den weiteren Verfolg der Sache besser übersehn zu können.

Der Gehetzte hatte auch wirklich, wie es ihm der Alte in eigenthümlicher Theilnahme, obgleich weit außer Rufsweite, mit lauter ängstlicher Stimme angerathen, eine kleine Spitze dürren Haidelandes, auf dem scharfe Felsblöcke wild zerstreut umherlagen, gewonnen, und endlich, indem er diese zwischen sich und dem Reiter ließ, die Schlucht gerade in demselben Moment erreicht, als der Gensdarm eine Pistole aus der Holfter zog und nach ihm feuern wollte. Gählings aber in das tiefe Geröll hinabspringend tauchte er in dem maigrünen Laube unter, und verschwand den Blicken der auf dem Hügel Stehenden, wie auch wahrscheinlich denen des Gensdarmen, denn dieser wandte sich jetzt nach einigen vergeblichen Versuchen, mit dem Pferde in das Dickicht zu dringen, gegen seine herankeuchenden Genossen, winkte ihnen, den bewachsenen Platz zu umzingeln und sprengte dann selbst, um den Rand des Busches hin, der Höhe zu.

Die Dreie am Stein aber, standen wieder schweigend und in gespannter Erwartung da, und erharreten ängstlich das Resultat dieser merkwürdigen Jagd; ja selbst der Schulmeister, obschon sonst ein abgesagter Feind jeder Ungesetzlichkeit, ertappte sich zu seiner eigenen Ueberraschung auf dem Wunsch, den Menschen, der doch sicherlich irgend ein Verbrechen begangen hatte und Strafe verdiente, entwischen zu sehn – es ist das jenes eigene Gefühl, das unsere Theilnahme stets dem schwachen, anscheinend unterdrückten Theile zuwendet, und der Vernunft nicht Raum gewährt, kalt vorher zu entscheiden, auf welcher Seite das Recht, auf welcher das Unrecht sei.

Die Jagd nahte sich aber auch jetzt ihrer Entscheidung; denn hielt sich der Verfolgte, wie das auch das wahrscheinlichste war, da er jedenfalls einer kurzen Rast bedurfte, in dem Gebüsch, so konnte der Berittene leicht den oberen Theil der Schlucht besetzt halten, und ihm dadurch die Flucht zu dem dichten Wald vollkommen abschneiden; die anderen Verfolger aber hätten zu dreien das noch lichte und durchsichtige Gebüsch mit leichter Mühe abgetrieben, so daß er entweder diesen, die leichte Jagdflinten auf den Schultern trugen, in die Hände gefallen, oder von dem Gensdarmen, hätte er den Ausbruch erzwingen wollen, auf dem nun ebenen Boden eingeholt wäre, und was konnte der arme Teufel dann gegen den vollkommen Bewaffneten ausrichten?

»Wenn er nur nicht in dem verdammten Loch da unten stecken bleibt!« rief der Musikus, und hob sich hoch auf die Fußzehen, um den ganzen Umfang der buschbewachsenen Schlucht so weit als möglich zu übersehn – »Wetter noch einmal! wenn er den Wald erreichte, ehe der Himmelhund von Gensdarmen nachkommt, ich gäb' meiner Seel' –«

Er schwieg plötzlich, denn entweder fiel ihm ein, daß er gar nichts zu geben hatte, oder er war sich auch vielleicht nicht so ganz klar darüber, ob er in der That der Sicherheit eines Anderen, Fremden wegen, irgend etwas geben sollte – wenn er es hätte.

»Vater«, sagte da das Mädchen – »wenn er wirklich bis hier oben her kommt, so fürchtet er sich vielleicht, so lange wir hier stehen, herauszubrechen, weil er nicht wissen kann, ob wir Freunde oder Feinde sind. Sind wir hier nicht gerade zwischen ihm und dem Wald? – wir wollen auf die Seite treten!«

»O, geh' zum Teufel!« brummte der Alte, »da drüben kann man Nichts sehen, und glaubst Du etwa, der würde sich vor uns geniren, wenn er dort hinten in's Dickicht wollte? – Bist Du dumm, das ist ein alter Fuchs, und spürt mit einem Blick, ob wir Ehrenmänner oder Polizeigeschmeiß sind. – Bei Gott, da kommt der vermaledeite Hegereiter um die Spitze herum, wenn er doch den Hals bräche, der Lump!«

»Aber lieber Freund,« fiel ihm hier der Schulmeister, dem das doch zu arg werden mochte, in's Wort, »der Mann ist nur ein Vollzieher des Gesetzes, und was sollte ohne Gesetze aus uns werden? Wer weiß, was der Mensch, den sie da einfangen wollen, verbrochen hat; es sind jetzt schlimme Zeiten, und vieles böse Volk treibt sich im Lande herum.«

Der Musikant warf ihm einen halb verächtlichen, halb ärgerlichen Blick zu.

»Verbrochen?« brummte er – »ja, ein großes Verbrechen wird der begangen haben – vielleicht hat er im Wald ein trockenes Stück Holz abgebrochen, um daheim die Kinder nicht erfrieren zu lassen, oder gar einen hochfürstlichen Hasen erschossen, dem der liebe Gott das erlaubt hatte, was ihm versagt war, in Feld und Wald sein tägliches Brod zu suchen. Schreckliche Verbrechen das, aber – he he he he he – seht den Hegereiter:

»Holter polter alle zwei,
Wir fielen den Berg hinunter,
Das Rößlein streckt die Bein empor,
Der Reiter der liegt drunter,
Das Rößlein streckt sich einmal aus,
Und wie sie den Reiter suchen,
Da liegt er unter Rößleins Bauch
So flach als wie ein Kuchen.«

Sein jubelndes Lied war nicht ohne Grund; das Pferd des Gendarmen mußte mit dem einen Vorderbeine in eins der vielen Löcher, die hier den rauhen Boden überall zerrissen, getreten haben und dadurch plötzlich einknickend, schleuderte es den Reiter weit über sich weg zur Erde. Dieser aber, wenn er auch in die scharfen Steine hinein keineswegs sanft gebettet fiel und an Stirn und Händen blutete, raffte sich doch rasch empor, hob seine Mütze auf, sprang in den Sattel des zitternden schweißtriefenden Thieres und strebte schon nach wenigen Secunden mit fest zusammengebissenen Zähnen und zornfunkelnden Augen seinem Ziele wieder zu. So gering aber auch der Aufenthalt gewesen sein mochte, der durch den Sturz herbei geführt worden, so hatte er doch genügt, dem Verfolgten einen kleinen Vorsprung und so viel Zeit zu geben, das obere Dickicht, das er indessen erreicht, ohne Säumen zu verlassen, um vor allen Dingen den wirklichen Wald zu gewinnen, wo er dann, erst einmal dort, nicht zu fürchten brauchte, so rasch entdeckt zu werden.

Wie der Musikant vermuthet, kümmerte sich jener auch wenig um die drei Menschen, die er bald als harmlos erkannt hatte, ja er floh sogar stracks auf sie zu, da gerade hinter ihnen die ihm nächste Waldecke lag. Seine Lage wurde aber eine sehr mißliche, denn das Pferd war nur noch eine kurze Strecke von dem Kamm des Hügels, der Wald aber wenigstens vierhundert Schritte entfernt, und konnte der Reiter erst den obenliegenden verhältnißmäßig ebenen Grund benutzen, wo er den Verfolgten augenblicklich entdecken mußte, so war nur geringe Hoffnung, daß dieser mit seinen fast erschöpften Kräften aushalten würde gegen das kräftige Thier, das seinen Verfolger trug.

Jetzt flog dieses, mit kühnem Sprung, und von dem Sporn des Reiters gestachelt, auf den letzten, wohl zwei Fuß hohen Rain hinauf, der schräg am Rande des Hügels hinlief und kaum erblickte hier der, durch den Sturz nur noch mehr erbitterte und angereizte Mann den Flüchtigen, der mit raschen Sätzen über das holprige Feld dahin sprang, als er seinem Gaul fast die Schenkel in die Flanken drückte und zugleich, mit lautem Triumphruf den Arm emporwarf; denn auf der offenen Fläche sah er den Flüchtigen schon rettungslos in seine Hand gegeben.

Der also Gehetzte befand sich jetzt kaum funfzig Schritte von da, wo der Schulmeister mit dem Musikanten und seinem Kinde stand, ein niederer, flacher Graben aber, der auf der einen Seite mit Schlehen bewachsen war, und den er hier annahm, um die Sturzäcker zu vermeiden, die seine Flucht aufhalten mußten, entzog ihn auf etwa hundert Schritte ihren Blicken. Als er wieder daraus emportauchte und jetzt von ihnen fortfloh, führte ihn seine Richtung gerade auf den kleinen Weidenbusch zu, der, wie schon erwähnt, inmitten dies offenen Feldes stand, der Schulmeister aber, der, die Hände gefaltet und mit ängstlich klopfendem Herzen diesem eigenthümlichen Schauspiele zugeschaut, sagte halblaut und fast unwillkürlich:

»Großer Gott! in den Weiden ist er verloren – dort sinkt er ein.«

»Vermeidet den Busch!« rief da rasch entschlossen das Weib, und der Flüchtige, der die Worte nicht zu verstehen schien, wandte den Kopf nach ihr um – »in den Weiden ist Sumpf!« wiederholte eben mit noch lauterer Stimme die Frau, und das letzte Wort wenigstens mußte jener begriffen haben, denn ohne Weiteres rechts abbiegend, blieb er auf dem Raine, der die nächste Feldgrenze bildete. Dadurch aber beschrieb er einen kleinen Bogen um den moorigen Busch, und so nah kam ihm dadurch der Verfolger, daß dieser, in voller Hast und der freudigen Gewißheit, den Flüchtigen endlich erreicht zu haben, die eine Pistole wieder aus der Holfter riß, und, mit den Verhältnissen des Bodens hier unbekannt, gerade auf den Busch zu sprengte, über dessen niedere Sträucher hin, und anscheinend dicht vor sich er den nun wieder gerade dem Walde zu Fliehenden sehen konnte.

»Dort ist ein Sumpf!« wollte auch jetzt, fast unwillkürlich, der Schulmeister rufen, die breite Hand des Musikanten lag ihm jedoch bei der ersten Sylbe auf den Lippen, und gleich darauf betrat das Roß den gefährlichen Boden.

Die dem Flüchtenden gegebene Warnung schien aber keineswegs unnütz gewesen; schon bei den ersten Sätzen sprang das Pferd bis über die Fesseln in den weichen Moor; der Gensdarm übrigens, anstatt es rasch herumzuwerfen, glaubte durch Schnelle des Bodens Schwierigkeiten am Besten besiegen zu können, preßte noch einmal mit den Sporen nach, und fand sich wenige Secunden später bis an den Sattelgurt in einem schlammigen Graben, aus dem sich sein erschöpftes Thier nur nach langer mühseliger Anstrengung wieder heraus und auf festen Grund arbeiten konnte.

Der Verfolgte warf, als er das plätschernde Geräusch so dicht hinter sich hörte, einen scheuen Blick zurück, setzte aber seine Flucht ununterbrochen fort. Wohl sprengte der Reiter, als er sein Thier wieder befreit sah, ihm noch einmal nach, und wäre der Wald nur hundert Schritte weiter entfernt gewesen, so müßte er den zum Tode Ermatteten dennoch eingeholt haben, so aber erreichte dieser das schützende Dickicht und verschwand gerade, als der Gensdarme in vollem Ingrimm seinem Pferde in die Zügel griff und beide Pistolen hinter ihm her feuerte, zwischen dem dichten Nadelholzanwuchs, dem sich gleich dahinter ein noch weit undurchdringlicher Eichenschlag anschmiegte.

»Ha ha!« lachte und jubelte aber jetzt der Musikant.

Wirst mer's net so ibel nehme,
Wenn i net zerückkomm heut',
Denn i bin in schenster Arbeit
Und da han i, Schatz, kei Zeit.

»Ha ha ha! Se. Excellenz der Herr Gensdarme haben sich umsonst bemüht; kleine Bewegung schadet dem Pferdchen gar Nichts – wird doch blos gefüttert, um einen Faullenzer zu tragen, daß er keine Hühneraugen kriegt.«

»Ihr werdet uns den Gensdarmen auf den Hals ziehen,« sagte der Schulmeister und schaute sich etwas ängstlich nach dem Reiter um, der auch wirklich jetzt, während er zugleich frische Patronen in seine Pistolen hinunterschob, auf die kleine Gruppe zu trabte.

»Hallo da!« rief er, sobald er sich den Dreien gegenüber sah, und sein in Schweiß gebadetes keuchendes Thier einzügelte, »wer von Euch hat dem entwischten Schuft da etwas zugerufen? – nun? – könnt Ihr die Zähne nicht auseinander bringen? oder soll ich Euch erst gesprächig machen?«

»Ich war's!« sagte das Mädchen, und schaute dabei dem zornigen Soldaten fest und unerschrocken in das finster auf sie niederblickende Auge.

»Und was hast Du mit einem entflohenen Sträfling zu verkehren, Mamsell?« fuhr sie der ingrimmig an – »willst Du gestehen, Du – Ding Du? oder –«

»Bitt' um Verzeihung, Euer Gestrengen,« schnitt hier der alte Musikant rasch, aber mit einem eigenthümlichen Gemisch von Trotz, Unverschämtheit und Scheu der Tochter die Antwort ab – »Sie wissen wohl, die Weiber sind neugierig und wollen immer gern mehr wissen, als sie vertragen und behalten können, und da frug mein dummes Ding von Mädchen da den jungen Menschen, der in solcher Eile war, was er denn so liefe, und weshalb die anderen Herren hinter ihm drein rennten.«

»Du Lügenhund verdammter! hab' ich Dich schon gefragt?« schnauzte der Gensdarme den Alten an – »wer bist Du überhaupt, und wo kommst Du her? wo ist Dein Paß?«

»Hm« brummte der Musikant und fuhr sich langsam mit der rechten Hand in die Brusttasche, »Lügenhund werd' ich eigentlich gewöhnlich nicht gerufen – aber was thuts – hier Herr Lieutenant – bitt' um Verzeihung, wenn die Anrede nicht klappt – am Verdienst wird's nicht fehlen – hier ist der Paß – wird wohl Alles in Richtigkeit sein.«

Der Gensdarme riß das zerknitterte, beschmutzte und vielmal zusammengefaltete Papier, das ihm der Alte reichte, an sich, öffnete und durchflog es mürrisch, denn nicht freundlicher schien ihm das gerade zu stimmen, daß er keinen Halt an dem Musikanten fand, um seinem Zorne Luft zu machen.

»Jacob Meier,« las er halb laut, und verglich dabei mit rasch und mißtrauisch hinüberschweifenden Blicken die Figur mit dem in dem Paß befindlichen Signalement – »Alter 53 Jahr – Haare grau gesprenkelt – Nase kurz – Backenknochen vorstehend – Pockennarben – mit Tochter – Marie Meier – Haare schwarz – Augen dunkel – Zähne vollständig – Gesichtsfarbe gesund – nun, das ist die doch nicht?« und er deutete dabei auf das Mädchen, in deren Wangen bei den rohen Worten ein leichter Hauch stieg und auf wenige Secunden zwei rothe eckige Flecken zurückließ, dann aber eben so rasch wieder verschwand, wie er gekommen.

»Das Kind sieht jetzt krank und angegriffen aus,« sagte hier der Schulmeister, dem es doch weh that, daß die armen und überdies schon so unglücklichen Leute so barsch und rauh angefahren wurden – »es wird ihr nicht wohl sein.«

»Wer ist Er, und was hat er hier d'rein zu reden?« fuhr der gewaltige Mann des Gesetzes grob genug den erschreckt Zusammenfahrenden an.

»Ich bin der Schulmeister aus Horneck,« sagte dieser fast unwillkürlich, aber selbst der schüchterne Greis fühlte sich entrüstet über das Entehrende solcher Behandlung, und mit etwas schärferer Betonung setzte er gleich darauf hinzu: »auch steh' ich hier auf meinem eigenen Grund und Boden und habe keinen Menschen beleidigt, daß ich verdiente, so angefahren zu werden.«

»Dann kümmern Sie sich auch um ihre Schule und stecken Sie die Nase lieber in ihre Bücher und nicht in anderer Leute Geschäfte,« entgegnete ihm, wohl nicht mehr so herrisch, aber doch noch immer ärgerlich und trotzig genug der Gensdarme, und wandte sich wieder von ihm ab. Den Paß dann dem alten Musikanten vor die Füße werfend, und, die Dreie weiter keines Blickes oder Wortes würdigend, sprengte er rasch seitwärts den Hügel hinab und der Stelle zu, wo jetzt seine den Berg heraufklimmenden und nicht berittenen Begleiter sichtbar wurden.

»Ist das ein rauher grober Mensch,« sagte Kleinholz und sah kopfschüttelnd dem Davongallopirenden nach, »und doch eigentlich weiter Nichts als ein berittener Polizeidiener, und das muß man sich gefallen lassen.«

»Wird schon zahm werden, Alterchen,« lachte der Musikant, »wird schon zahm werden, und lange kann's nicht mehr dauern; in Wien und Berlin sind sie mit Kolben gelaufen, und wenn wir hier ihnen noch nicht den Daumen auf's Auge gesetzt, so – aber komm Marie, 'swird spät und ich muß noch gehörig herumlaufen, daß ich auch morgen die Erlaubniß auftreibe – guten Tag Schulmeister, guten Tag, schönen Dank für den Imbiß und bessere Zeiten für den Morgen – Morgen? 'sist ein komischer Trost;

Und wenn wir am Morgen zusammenkommen,
Und denken zurück an das Heute,
Dann finden wir, daß wir zum Nutzen und Frommen
Der alten und jüngeren Leute
Gehofft und geharret, gewünscht und geträumt
Von nächst zu erhaschendem Glücke;
Und was ist uns worden – wir waren geleimt –
Der Bettler behielt seine Krücke.
Der Morgen bleibt morgen, wir aber wir harren
Und hoffen und träumen – wie Allerweltsnarren.«

Und mit dem Liede noch auf den Lippen wandte er sich, von seiner Tochter gefolgt, dem Dorfe zu, und verschwand bald darauf hinter den Hecken und Obstgärten, die dasselbe rings umschlossen.

Drittes Kapitel.
Der Diaconus und der Hülfslehrer.

Es war gegen Mittag desselben Sonnabends, mit dem ich diese Erzählung begonnen, als Pastor Scheidler in seiner Studierstube saß und sich gar eifrig für die morgende Predigt vorbereitete. Um ihn her lagen eine Masse Bücher, Hefte und Zettel, und er selber stand oft auf, ging mit auf den Rücken gefalteten Händen eine Zeit lang rasch im Zimmer auf und ab und memorirte laut und heftig.

Es mußte aber heute etwas ganz Wichtiges sein, was ihm bei seinem Studium so schwere Sorge machte, denn sonst wurden ihm die Predigten gar nicht so sauer, und ein paar Candidaten hatten in der benachbarten Stadt schon ausgesprengt, er wisse genau, wo er in alten staubigen Büchern nagelneue Sermone auffinden und benutzen könne. War das wirklich einmal der Fall, so durfte es sicherlich auf diese keine Anwendung finden, denn die ganze Nacht hatte er geschrieben, wieder ausgestrichen, wieder geschrieben, und endlich schon mit Tagesdämmerung den zu Papiere gebrachten Entwurf auswendig gelernt.

In derselben Etage, aber dicht an der Treppe und nach der Kirchmauer zugewandt, die nur wenig Licht und Wärme in das kleine Gemach ließ, hatte der Diaconus Brauer sein Arbeitszimmerchen, und hier saß er heute mit dem Hülfslehrer Hennig traulich auf dem Sopha, und Beide studierten die eben durch die Botenfrau aus der Stadt gebrachte Zeitung, in der sie des Neuen wohl viel, des Erquicklichen aber gar wenig fanden.

»Ich wollte, ich wäre jetzt Soldat,« seufzte Hennig endlich, und warf das Blatt unmuthig vor sich nieder auf den Tisch, »in der Welt giebt's nichts als Krieg und Aufruhr, und wir sollen hier indessen den Jungen noch die alte Geduld und Christenliebe einbläuen, während ihre Brüder und Vettern draußen, und ohne beides, in's Feld laufen. Es giebt doch in solcher Zeit nichts Elenderes, als einen Schulmeister.«

»Einen Diaconus vielleicht ausgenommen,« sagte Brauer trocken, und blies eine dichte Wolke blauen Tabacksdampfes in Ringeln gegen den Wachsstock hin, der vor ihm auf dem Tische stand.

Hennig sah ihn verwundert an, schüttelte aber dann mit einem halb gezwungenen Lächeln den Kopf und sagte leise:

»Ihr Geistlichen solltet gerade am wenigsten klagen! Ihr spielt hier, und besonders auf dem Lande, immer die erste Rolle, habt Euer gutes Auskommen und geltet bei den Bauern als was ganz Besonderes. Dazu haltet ihr Sonntags einfach Euere Predigt und geht dann die übrige Zeit blos mit feierlichem Ernst in den Zügen im Dorfe herum – es ist 'was Erhebliches, so ein Geistlicher zu sein.«

»Und gerade bei Ihrem Scherz haben sie den wunden Fleck getroffen,« sagte der Diaconus und strich sich mit der Hand ein paar Mal über die Stirn, als ob er Bahn machen wollte den freien Gedanken, die jetzt von Unmuth und Trübsinn umnachtet und verdüstert wurden, »Ihr haltet Sonntags die Predigt und geht dann die übrige Zeit blos mit feierlichem Ernst in den Zügen im Dorfe herum. Ja, ja, in dem feierlichen Ernst liegt Alles, was ich nur gegen Ihr Lob und Preisen erwidern könnte.«

»In dem feierlichen Ernst?« sagte der Hülfslehrer erstaunt, »nun ich dächte doch, das wäre die geringste Unbequemlichkeit, die eine Stellung mit sich bringen könnte.«

»Sehen Sie, Hennig,« fuhr Brauer, ohne des Freundes Einwurf zu beachten, fort und legte ihm die linke Hand leise auf den Arm, »der ›feierliche Ernst‹, von dem Sie sprachen, und den das Landvolk auch im Allgemeinen von einem Geistlichen erwartet, ja fordert, das ist die Heuchelei des Standes, die mir in der letzten Zeit und seit ich darüber zum klaren Bewußtsein gekommen, am Leben nagt und meinen Frohsinn zerstört, die Heuchelei sich zu geben, wie man nicht ist. Und nicht blos im Dorfe und außer der Kirche, das ließe sich ertragen – wenn es mir auch früher ein bischen schwer angekommen ist, nur weil ich ein Geistlicher war, Tanz und Jugendlust entsagen zu müssen, jetzt denk' ich überdies nicht mehr daran – nein, auf der Kanzel oben, da wo ich manchmal so recht aus dem Herzen heraus den Leuten sagen möchte, wie ich mir den lieben Gott denke, wie ich das Leben und Wesen der Religion empfinde, begreife, fühle, da, da müßt' ich mit dem ›feierlichen Ernst‹ zu Dogmen schwören, die ich im Herzen für Unsinn halten muß, von ewigen Strafen sprechen, wo mir die Brust von ewiger Liebe voll ist, muß Jesus Christus zu einem Gott erniedrigen, während er als Mensch so hoch, so unerreichbar stände. Und der Firlefanz dann, der unseren Stand umgiebt, der Priesterrock, die Krause, der bunte Fastnachtstant auf dem Altar, o Hennig, ich schwör' es Ihnen zu, ich komm' mir immer, wenn ich von dem verzerrten Bild des Gekreuzigten, und von all' den Quälereien der Märtyrer und Heiligen, mit ihren Sinnbildern, den Ochsen und Eseln, umgeben stehe, wie ein Indischer Bramine, Buddhapriester, oder sonst ein fremdländisches Ungethüm vor, und muß mich manchmal ordentlich umsehen, ob es denn auch wirklich wahr ist, daß ich als Christ in der ›allein selig machenden Religion‹ einen solchen Rang bekleide, wie der Bramine und Feuerpriester, wie der Bonze und Fetischmacher, und daß nur der einzige Unterschied in dem Fleckchen Erde liegt, auf das uns das Schicksal gerade zufällig hingeschleudert hat.«

»Nun bitt' ich Sie um Gottes Willen,« rief Hennig verwundert, »was fällt Ihnen denn auf einmal ein? Sie wollen doch nicht etwa unsere christliche Religion mit dem wilden Heidenthum der Brama- und Buddha-Anbeter, oder wie die langarmigen Götzen alle heißen, vergleichen? na, wenn das der Pastor hörte, das Bischen Strafpredigt!«

»Ich weiß es« sagte der Diaconus mürrisch, »und das gerade macht mich so erbittert, daß ich hier etwas gegen meine Ueberzeugung für das vorzüglichste ausgeben soll, was, wenn wir das Nämliche nur mit anderem Namen belegen, und in ein anderes Land versetzen, von uns verlacht und verachtet wird. Unsere Religion ist schön und herrlich, Christi Lehre in ihrer Einfachheit und Größe unübertroffen in der Geschichte, aber weshalb dürfen wir sie dem Volk nun nicht so rein und herrlich geben, wie wir sie von ihm empfangen? warum muß sie erst noch, mit alle dem, was spätere Schreiber und Pfaffen dazugethan, unkenntlich und ungenießbar gemacht werden? Die Schriftgelehrten sagen: was thut das, der Kern ist die Hauptsache, der ist gut und vortrefflich, an den wollen wir uns halten, und das was Schaale ist, weiß man zu sondern; ja, aber der gemeine Mann nimmt die Schaale für den Kern; ihm ist der Firlefanz so lange vorgehalten, bis er ihn für die Hauptsache, und das Andere Alles für Nebensache hält. Ein Löffel Cichorie kann, meinem Geschmack nach, den besten Kaffee ungenießbar machen, und hat man nun gar einen ganzen Topf voll Cichorie, und nur ein paar ächte Bohnen darin, so gehört ein Kenner dazu, das herauszufinden. Der Bauer sieht auch die Kirche in der That mehr als etwas Aeußeres an, und wie sollte er anders, da er von Jugend auf darauf hingewiesen wurde. Er geht nicht hinein, weil ihn Herz und Seele hineinzieht, weil er eben nicht draußen bleiben kann, wie es mich in die Natur, unter Gottes freien, herrlichen Tempel zieht, sondern, weil er sich vor dem Pastor fürchtet, und seinen Namen nicht gern, käme er nach längerer Zeit einmal wieder, von der Kanzel herunter hören möchte. Auch die Gewohnheit trägt viel dazu bei; er sitzt gern am Sonntag Morgen, wo er zu Hause doch nichts anderes anfangen könnte, auf seinem Platz im ›Gotteshaus,‹ aber nicht aufmerksam und gespannt den Worten lauschend – dem Sinn der Predigt folgend, sondern mehr in einer Art Halbschlaf, mit nur theilweis hinlänglich wachem Bewußtsein, um einzelne Worte und Sätze zu verstehen. Nur dann, wenn der Pastor von der Kanzel herab über irgend einen Mißbrauch, oder noch lieber über eine bestimmte, ja am liebsten namhaft gemachte Person, die er nur nicht selbst sein darf, loszieht, nimmt er die schlaffen Sinne zusammen, und schon der Beifall, den er solcher Predigt spendet, wenn er zu Hause kommt, beweist, in welchem Geist er das Ganze aufgefaßt. ›Der hat's en aber heute mal gesagt‹ spricht er, und freut sich dabei über seinen Pastor, wie er so tüchtige ›Haare auf den Zähnen‹ hätte.«

»Aber weshalb sind Sie dann, und wenn Sie so denken, überhaupt Geistlicher geworden?« frug ihn Hennig erstaunt.

»Weshalb?« sagte Brauer, »dieselbe Frage könnte ich Ihnen zurückgeben, denn glauben Sie das Alles selber, was Sie Ihrem Amtseid nach gezwungen sind, den Kindern im Religionsunterricht zu lehren? – nein, aber Sie wissen auch, wie wir im Anfang und von Jugend auf erzogen werden, und wie sich unser Leben fast stets so, daß unser freier Wille nur dem Namen nach dabei in's Spiel kommt, gestaltet und heranbildet. Schon mit der Taufe, unserer ersten Aufnahme in den Bund der Christen, fangen wir an; das schreiende Kind wird mit lauwarmem Wasser begossen, und seine Pathen bestätigen in seinem Namen, wohl häufig selbst ungläubig, den ›festen Glauben‹ des neuen Erdenbürgers. Das aber geht noch an; es ist eine symbolische Handlung, und manche Leute hängen am Formellen; aber nun ist der Junge vierzehn Jahr alt, also in den besten Flegeljahren, hat von einem selbstständigen Gedanken noch keine Idee, plappert nach, was ihm vorgebetet wird, und legt nun auf einmal, mit dem ersten Eid, den er leistet, und wie oft ein Meineid, sein Glaubensbekenntniß ab. Welche Erinnerung bleibt ihm in späteren Jahren von dieser so feierlich gehaltenen Handlung? – daß er sich da zum ersten Mal höchst unbehaglich in einem langschössigen schwarzen Frack gefühlt, und ungeheure Angst gehabt habe, die Oblate bliebe ihm auf der Zunge sitzen – weiter Nichts. Entschließt sich nun der Knabe, nach allen diesen Vorbereitungen dazu, Theologie zu studieren, so begreift er gewöhnlich erst dann so recht aus innerster Tiefe heraus, welchen Stand er gewählt – wenn es zu spät ist. Schritt nach Schritt wird er seinem neuen Berufe näher gezogen, das zweite Examen befestigt ihn endlich unwiderruflich darin, und wenn er sich auch mit Sophismen beschwichtigen und einschläfern will, der Geist in ihm wacht doch und ist lebendig, und raunt ihm Tag und Nacht in's Ohr: einen Priester der Wahrheit willst Du Dich nennen, und zweifelst selber an den Worten, die dir die todte Schrift auf die Lippen legt. –

Aber fort mit den Gedanken, sie quälen uns umsonst, und die Sache bleibt doch wie vorher, die Ketten, die unser Leben fest und unerbittlich umschlossen halten.«

»Sie mögen bei Manchen recht haben« sagte Hennig, und schien ebenfalls plötzlich weit ernster geworden zu sein, – »das hat dann freilich Jeder mit seinem Gewissen auszumachen, was aber das äußere Leben betrifft, so sind die Geistlichen doch unbedingt vor uns Lehrern auf das ungerechteste bevorzugt. Sie bilden auf dem Lande die alleinige Aristokratie, und werden von den Bauern geachtet und geehrt; wie aber steht dies dagegen mit dem Schulmeister? – so ein armes Thier von Dorfschul–«

Ein lautes Pochen am Hausthor unterbrach ihn hier, und der Diaconus, der eben aufgestanden, und ein paar Mal im Zimmer auf und abgegangen war, öffnete seine Thür, ging die Treppe hinab, und schob den Riegel zurück, der den Eingang verschlossen hielt.

»Is der Herr Paster uaben?« frug ihn hier eine vierschrötige Bauerngestalt, die einen derben, etwa elfjährigen Jungen an der Hand, gerade vor dem Eingange stand. Der Mann sah böse und gereizt aus, die Pelzmütze stak ihm seitwärts auf dem struppigen blonden Haar, und mit der linken, breiten, sehnigen Faust hielt er fest des Jungen rechten Arm gepackt, der seinerseits ebenfalls dickverweinten Angesichts und Trotz und Angst in den schmutzig geschwollenen Zügen, mit dem anderen freien Ellbogen die Spuren der letzten Thränen zu verwischen suchte.

»Der Herr Pastor studiert« sagte der Diaconus ruhig, »Ihr wißt wohl, es ist heute Sonnabend, und da läßt er sich nicht gern stören.«

»Ich muß ihn aber emol sprächen« beharrte der Unabweisbare – »'sis von wägen mein Jungen do, den hat mir der Schulmaistr verschlahn.«

»Der Schulmeister?«

»Jo, der Ole – blitzeblau is der Junge auf'm ›Setz Dich druff,‹ un der Rücken hat Striemen, wie meine Finger dick; soll mich der Böse bei Nacht besuche, wenn ich mer mein Jungen verschlahn lasse, wenn er keene Schuld nich hat.«

»Keine Schuld? aber woher wißt Ihr das schon? wird der Schulmeister ein Kind unverdient strafen? Vater Kleinholz ist doch sonst nicht so hart und grausam.«

»Ah was, grausam hin un her!« knurrte der gekränkte Vater, »mein Junge hot mer de ganze Geschichte verzählt, und gor nix hot er gethan, sein Hingermann is es gewäsen, der hot die ganze Suppe verdient, denn des is dem Klausmichel sein Crischan, das Raupenluder, un den hab' ich schon lange uff'm Striche.«

»Aber lieber Freund –«

»Ah, papperlapapp, mit dem Pastor will ich räden, wu is er, der hot noch Zeit gening zum Studieren!« und ohne eine weitere Antwort oder Erlaubniß abzuwarten, schleppte er seinen Jungen, der sich übrigens bei der ganzen Sache nicht wohl zu befinden schien, die Treppe hinauf, bis vor des Pastors Zimmer, klopfte hier rasch an, und trat, ohne selbst das gewöhnliche »Herein« abzuwarten, zu ihm ein.

Der Diaconus ging in seine eigene kleine Stube zurück, wo der Hülfslehrer noch sinnend auf dem Sopha saß, und die beiden hörten jetzt, wie der Bauer mit lauter ärgerlicher Stimme wahrscheinlich das ihm, in seinem Sohne widerfahrene Unrecht dem Pastor klagte.

»Hat denn Kleinholz Meinhardts Gottlieb so geschlagen?« frug der Diaconus den Hülfslehrer endlich, als auch jetzt des Jungen winselnde Stimme, sicherlich erst auf gestrenge Aufforderung, laut wurde, »er soll dicke Striemen haben.«

»Der Meinhardt ist ein böser, durchtriebener Bube« sagte mürrisch der Hülfslehrer, »hätte ich hier zu befehlen, die Range bekäme täglich dreimal Schläge, und das derbe, sonst wird aus dem nichts. Der alte Kleinholz hat aber die Kräfte kaum mehr, Striemen zu schlagen. Wenn er den Bengel übrigens doch gezüchtigt, so muß das schon gestern Nachmittag geschehen sein, denn heute Morgen ist er auf sein Feld hinaus, und ich begreife dann nicht, weshalb der Mann nicht gleich auf frischer That herüber kam.«

Des Pastors Thür ging drüben auf, und Sr. Ehrwürden rief heraus:

»Herr Diaconus – Herr Diaconus!«

»Herr Pastor?« sagte der Gerufene, und trat in die Thür.

»Bitte, bestellen Sie doch einmal, daß der Schulmeister herübergerufen werde – er soll aber den Augenblick kommen! Hören Sie?«

Der Diaconus, gerade nicht in der Laune sehr bereitwillig zu sein, brummte eine Art Antwort, schickte unten aus dem Haus das Mädchen nach der Schule hinüber, und kehrte in sein Zimmer zurück, der Hülfslehrer hatte dieses aber indessen verlassen, und war in das Dorf hinunter gegangen.

Etwa zehn Minuten mochten so verflossen sein, als der langsame Schritt des alten Keilholz auf der Treppe gehört wurde, und dieser gleich darauf leise und ehrfurchtsvoll an die Thüre des Herrn Pastors anklopfte. Drinnen die Leute waren aber im eifrigen Gespräch, und hörten nicht, wie der ängstliche Finger des Greises die Thüre berührte, dem geistlichen Herrn mochte aber indessen die Zeit zu lange dauern, der Bauer mit seinem Salbader hatte ihn so zu höchst unwillkommener Stunde in seinem Studium gestört, und rasch und ungeduldig, riß er die Thüre plötzlich auf, so daß er im nächsten Augenblick vor der eben zum Klopfen wieder niedergebeugten und jetzt ängstlich zurückfahrenden Gestalt des greisen Schullehrers stand.

»Halloh Herr, horchen Sie?« frug er scharf und überrascht.

»Bitte – bitte tau – tausendmal um Verzeihung,« stotterte, blutroth vor Schaam über die ungerechte Beschuldigung, der also Angeredete – »ich hatte schon zweimal angeklopft, aber der Herr Pastor –«

»Schon gut, Schulmeister,« fiel ihm der Seelsorger mit Autorität in's Wort, »kommt einmal auf ein paar Minuten herein – bringt nur Euren Hut mit – Schulmeister –« und er zog dabei die Thür hinter dem, durch die ernste Anrede etwas erschreckten kleinen Mann zu. – »Schulmeister, Meinhardt hier beklagt sich, daß Ihr seinen Jungen so unbarmherzig geschlagen haben sollt.«

»Die Striamen werd mer der Junge vier Wochen mit 'rim tragen,« fiel ihm der Bauer heftig in die Rede –

»Herr Pastor« sagte aber Kleinholz, der jetzt wohl merkte, um was es sich handele, »der Gottlieb hat eine kleine Strafe verdient gehabt, und meine Hand ist nicht mehr so schwer, daß sie einem Kinde Schaden zufügen könnte; von Striemen kann da wohl keine Rede sein.«

»Keine Rede sein?« rief der Bauer, »Gottlieb, gleich noch emol mit der Jacke ringer – keene Striemen nich – so? – ei da –«

Der erzürnte Vater legte schon selbst mit Hand an, die geläugnete Thatsache durch das corpus delicti, den geprügelten Körpertheil, zu Tage zu fördern, der Pastor unterbrach ihn aber darin, faßte ihn am Arme, und bat ihn, die Sache ruhen zu lassen, und jetzt still nach Hause zu gehen, er wolle schon mit dem Schulmeister sprechen, »es solle nicht wieder geschehen!«

Der Bauer wollte noch Einiges bemerken, kam aber nicht mehr zu Wort, und verließ bald darauf, den verdrossenen Jungen, wie bei der Ankunft, hinter sich herschleppend, das Zimmer. Draußen aber blieb er stehen, und die Unterredung im Innern wurde, wenigstens von der einen Seite, so laut geführt, daß er deutlich jedes Wort verstehen konnte.

»Schulmeister, Ihr dürft mir die Kinder nicht so mishandeln!« sagte die gereizte Stimme des geistlichen Herrn, »es sind schon mehrfach Klagen eingelaufen, und ich habe denn doch wahrhaftig keine Zeit, mich mit solchen Sachen fortwährend aufzuhalten; die halbe Nacht sitz' ich und arbeite, und muß mich jetzt wegen Euch und Eures unverzeihlichen Betragens wegen, mitten aus meinen Studien herausreißen.«

Es entstand hier eine kleine Pause, und wahrscheinlich erwiederte der Schulmeister etwas, denn der Pastor fiel gleich darauf, und mit fast noch größerer Hitze wieder ein:

»Schulmeister, macht mit Leugnen Euer Vergehen nicht noch schlimmer; ich habe den Rücken des Jungen selbst gesehen, und von drei leichten Streichen kriegt so ein derber Bengel nicht fünf oder sechs Schwielen über die Schultern – schon gut, schon gut, ich habe mehr zu thun, als mich mit Euch hier herum zu streiten – ich bin fest überzeugt, es geschieht mir nicht wieder, oder – ich müßte mich genöthigt sehen, ernstere Maaßregeln zu ergreifen – guten Morgen, Schulmeister, guten Morgen, die Sache ist für heute abgemacht.«

Das Geräusch drinn in der Stube ließ darauf schließen, daß die Unterredung beendet sei, und der Bauer, der doch nicht gern beim Horchen ertappt werden wollte, zog sich rasch nach der Treppe zurück, war aber nicht im Stande sie zu erreichen, ehe Kleinholz heraustrat. Dieser begriff leicht, daß der Mann alles in des Pastors Zimmer Verhandelte, gehört haben mußte, und ein tiefes Roth färbte für einen Augenblick seine Wangen, aber er sagte Nichts, und wollte grüßend an dem Bauer vorüber gehen, Meinhardt gab ihm fast unwillkührlich Raum, als er aber dicht bei ihm war, und er das bleiche abgemagerte Gesicht, und die Schaamröthe auf den fahlen Zügen sah, da fing er selbst an, sich bis in die Seele hinein zu schämen.

Er nahm den Schulmeister, trotz dem daß sich dieser leise dem Griffe zu entziehen suchte, fest bei der Hand, führte ihn die Treppe hinunter, und blieb dort einen Augenblick, wie um einen Anfang verlegen stehen. Endlich, da er das, was ihm eigentlich auf dem Herzen lag, gar nicht recht ausdrücken und zu Tage bringen konnte, ja vielleicht auch fühlte, daß mit Worten, die ihm selten zu Gebote standen, unverhältnißmäßig schwieriger sein würde, als durch die That selber, drehte er sich urplötzlich, und um diesem, ihm fatal werdenden Zustand ein Ende zu machen, nach seinem Jungen um, gab dem auf's Aeußerste Erstaunten links und rechts ein paar tüchtige Ohrfeigen, daß der sich schreiend und zurückprallend mit beiden Händen den mißhandelten Schädel hielt, und rief, indem er noch zum dritten Mal ausholte, was Gottlieb aber gar nicht abzuwarten gedachte, hinter dem jetzt sporenstreichs dem Thor zuspringenden Jungen her:

»Da, Du Kriate Du, Du bist auch su en nixnutziger Bengel, där seinen Lehrer de Galle in eine furt im Ufruhr hält – kumm mer wieder mit Striamen uf'm Hintern haim, un ich mach' der de Quärstriche driber, daß der der ›Setz Dich druff‹ wie'n Damenbrät aussähn sull.«

Jetzt, wo seiner Ansicht nach der Schulmeister eine glänzende Genugthuung erhalten hatte, wandte er sich noch einmal zu diesem, drückte ihm die Hand und sagte lächelnd:

»Där märkt sich's, Schulmeister – Dunnerwätter! was mer seine Noth mit den Kingern hat.«

Und damit schlug er sich den Hut fest in die Stirn, und verließ mit vieler Selbstzufriedenheit rasch, – wenn auch nicht so rasch wie sein ihm vorangegangener Sohn – die Pfarre.

Viertes Kapitel.
Parterre und erste Etage.

In Horneck, und zwar im westlichen Theile des kleinen Fleckens, gerade da, wo Försters Fähre von jenseits landete, und dicht an die malerischen Ufer der toll vorbeisprudelnden Rausche stoßend, stand eine Reihe städtisch aussehender Häuser, die auch größtentheils durch Bewohner der nicht fernen Residenz angelegt worden waren, und den des Stadtlebens Müden im Sommer zum Lieblingsaufenthalt dienten. In diesem Jahre waren sie denn auch wieder, und zwar außergewöhnlich früh, aus der Stadt hier eingetroffen, und hatten die so lang vernachlässigten Wohnungen bezogen; aber nicht das Frühjahr mochte die Ursache sein, obgleich dieses ebenfalls gar ungewöhnlich zeitig seine lieben duftenden Boten gesandt und den Wald mit Grün geschmückt, nicht die warmen Südwinde mochten die Schuld tragen, obgleich sie wie Sommerhauch durch die moosigen Schluchten und Thalgründe strichen, nicht der enteiste Strom schien die Stadtleute hervorgelockt zu haben, aus ihren engen düsteren Straßen, wenn auch er gleich so munter und lebensfroh unter den saftgrünen Weidenruthen und zwischen dem aufkeimenden Wiesensammet, ja von mancher stillen Waldblume geküßt und gegrüßt, vorüber tanzte, sondern die rauhe unruhige Zeit war es, die auf Sturmesfittigen über dem verschlafenen, schlafsüchtigen Deutschland die Lärmglocke erdröhnen machte, daß im Norden und Süden, im Osten und Westen, die Völker zu gleicher Zeit aus dem Traume auffuhren, und nun erstaunt, überrascht erkannten, wie hoch die Sonne stehe, wie lange sie im Schlummer gelegen hätten, und – wie stark, wie furchtbar stark sie selber seien.

Auch in der Residenz hatte nämlich der Schall seinen Wiederklang gefunden, und das sonst so gemüthliche, vergnügungssüchtige Völkchen derselben verließ Bälle und Theater; in unzähligen Vereinen traten donnernde Sprecher auf und hielten stundenlange unverständliche Reden, die so einer endlosen Wüste glichen, daß das Volk, wenn es nur ein einziges Mal zu einer Oase, das heißt, zu einem einigermaßen verständlichen Satz kam, rauschend applaudirte; andere sprangen dann hinter ihnen mit Feuereifer auf die Tribüne, die Schlagwörter des Tages folgten in rascher Reihenfolge, stürmischer Jubelruf begleitete fast jeden einzelnen Satz, das Wort »Freiheit« wurde zu einer Geißel gedreht, mit der man die »Reactionaire« blutig peitschte, das souveraine Volk schrie jeden mißliebigen Redner von dem Rednerstand hinunter, und heitere Katzenmusiken mit obligater Fensterscheibenbegleitung beschlossen dann gewöhnlich die freudig erregten Versammlungen. Um aber auch den ruhigeren oder vielmehr gleichgültigeren Bürgern, die trotz aller Aufmunterungen an solchen Vereinen nicht Theil nehmen wollten, oder gar, was noch weit schlimmer war, anderen, natürlich reactionair gesinnten Vereinen angehörten, eine ihnen höchst zuträgliche Bewegung zu verschaffen, oder auch zu bewirken, daß sie die so wichtigen Tagesfragen ordentlich bedächten, schlug man gewöhnlich, wenn die Männer der Freiheit um 10 Uhr zu Hause gegangen waren, Generalmarsch, und ließ dann die übrigen bis um ½1 Uhr Nachts die Vorgänge des Tages auf dem Marktplatz besprechen.

Sehr Vielen behagte eine solche abwechselnde und gewiß interessante Lebensweise, Andere aber sehnten sich auch wieder nach thatenloser Ruhe, nahmen es übel, daß sie, wenn sie sich kaum um zehn Uhr Abends niedergelegt, gleich wieder von einem Höllenlärm begrüßt wurden, von dem sie nie wußten, ob er ihnen, oder dem Nachbar galt (was sich übrigens auch gleich blieb, da immer Einer wie der Andere denselben Antheil empfing) und verließen, sobald die warme Frühlingsluft Blumen und Gräser aus der starren Erde lockte, die Stadt mit ihrem regen, ruhelosen Treiben.

Dieser Theil nun von Horneck, der sich sowohl an Eleganz der Wohnungen, als auch an Reinlichkeit vor dem übrigen Dorfe sehr vortheilhaft auszeichnete, wurde übrigens nicht von allen Bewohnern mit günstigen Augen angesehen, obgleich gerade die Besitzer desselben viel dazu beigetragen hatten, den Wohlstand des kleinen Ortes zu verbessern. Die »Stadtleute«, wie dessen Insassen in Horneck hießen, galten für entsetzlich »stolz« und die Dorfmädchen steckten immer die Köpfe zusammen und kicherten nach Herzenslust, wenn die »Stadtmamsells« in vollem Glanze durch die Kirchgasse strichen und mit den »Schleppen« den Fußweg »sauber fegten«.

Die Stadtleute kümmerten sich aber ihrerseits wenig um die »guten Bauern«, mit welchem Namen sie alle Landbewohner, trotz des gewaltigen Unterschiedes, den dieselben in solcher Benennung machen, belegten; erfreuten sich an der reizenden Umgegend, an der Lage des ganzen kleinen Ortes, an dem düstern Nadelholze und dem rauschenden Strome, an den wellenförmigen Feldern und »weichen Grasplätzen«, wie sie die Wiesen nannten, an den blökenden Heerden und dem melodischen Getön der Schafglocken, am Springen der Ziegen und dem komischen Gange und Schritten der bedeutenden Gänseheerden, kurz, von Allem was sie umgab, betrachteten sie nur die »Bauern« eben als eine nothwendige Zugabe zu diesem allen, um die landwirthschaftlichen »lebenden Bilder« in Gang zu halten, und verkehrten nicht weiter mit ihnen, als sie nothgedrungen mußten.

Unter den verschiedenen Familien, die ebenfalls und zwar schon Ende März ihre Sommerwohnungen in Horneck bezogen, befand sich auch eine alte Kommerzienräthin Schütte mit ihrer Tochter, die besonders freundlichen Umgang mit Pastors gesucht und gefunden hatte. Anna Schütte, ihre etwa vierundzwanzigjährige Tochter, war besonders die Liebenswürdigkeit selber; der Frau Pastorin hielt sie das Garn und half ihr mit nach den Kühen sehen, setzte sich zu ihr, und erzählte ihr tausend und tausend Geschichten, alle natürlich auf den Buchstaben wahr, aus dem Residenzleben (und wer hätte das nicht besser gekannt, als Anna Schütte, deren ganzes Leben in der Residenz eine ununterbrochene Kaffeevisite bildete) lobte ihre vortreffliche Butter und den delikaten Käse, versicherte selbst, in Itzingen keinen so guten Kaffee getrunken zu haben, und die Kinder – nein die Kinder, so 'was Herziges existirte auf der weiten Gotteswelt nicht mehr, mein himmlisches Louischen, meine Göttermimmi, mein Götterkind, mein Seelenplätzchen, mein Engelsgesichtchen – und wie gelehrig die »lieben herzigen Dinger« waren. Lieder lernten sie singen, merkwürdig schnell brachte sie die Melodie zum »Graf von Luxemburg« dem fünfjährigen Mädchen in drei gewöhnlichen Unterrichtsstunden bei, und zu Gesichterschneiden u. s. w. zeigten die lieben Dinger eine für ihr Alter ungewöhnliche Geschicklichkeit. Besonders in einer Sache wußte sie die »herzigen Kinder« zu wirklicher Vollkommenheit zu bringen, und diese war, daß sie den Namen irgend einer Person über die Straße hinüber, oder Etagen herauf oder hinunter, mit unverwüstlicher Geduld anriefen. Stand z. B. ihr Vater über dem Weg drüben und sprach mit Jemandem, so mußten die Kleinen rufen Va–ter, und die letzte Sylbe immer eine Quinte höher als die erste – Va–ter – Va–ter, bis der Vater, oder wer es nur war, der zu solchem Anruf als Opfer ausersehen worden, in voller Verzweiflung, denn seinem Schicksal entging er nicht, Folge leistete.

Daß das unartig oder unschicklich sei, konnte man den Kindern ebenfalls nicht gut sagen, denn Fräulein Schütte hatte es sie ja gelehrt, und die kleinen Dinger trugen ihr jedes Wort zu, was gesprochen wurde.

Fräulein Schütte hatte aber noch eine andere Eigenschaft – sie sang, und zwar fast stets – auch bei nicht außergewöhnlichen Gelegenheiten – fortissimo, als ob sie auf einer sehr großen Bühne stände und contractlich verpflichtet wäre, bis in die entferntesten Räume der Galerien verständlich hineinzuschreien. Allerdings klang ihre Stimme, bei leisem Gesange, keineswegs unangenehm, bei solchen Kraftanstrengungen wurden die Töne aber scharf und – etwas Entsetzliches bei jedem Gesange – unrein.

In diesem Frühjahr war auch ein junger Mann aus der Residenz ganz allein hier in Horneck eingetroffen, den man früher dort noch nicht gesehen. Es war ein »Schriftsteller«, wie er sich selber nannte, und ein »sunderbares Gestell!« wie ihn die Landleute titulirten. Was er eigentlich in Horneck wolle oder treibe, wußte man nicht, seiner Aussage nach, wünschte er »eine Arbeit zu beenden«, die Bauern schüttelten aber dazu den Kopf und sagten, »wenn der eine Arbeit fertig machen wolle, so müsse er auch erst dazu anfangen, jetzt sei er aber schon vierzehn Tage im Orte, und habe nicht d'ran gegedacht, zu arbeiten, sondern nur in einem fort geschrieben.«

Dieser Literat, Strohwisch mit Namen, wohnte in demselben Hause mit der Commerzienräthin Schütte, und zwar unten Parterre. Anstatt aber mit denen, die gleich ihm hier an »ferne Küste« verschlagen worden, in recht freundschaftlichem Verhältnisse zu stehen, schien er wunderbarer Weise und ohne etwa vorhergegangenen Streit, auf sehr gespanntem Fuße mit den Damen zu leben, ja selber eine Art Ingrimm gegen sie im Herzen zu tragen. Konnte das verschmähte Liebe sein? »Pastors Sophie«, ein liebenswürdiges junges Mädchen von 19 Jahren, hatte ihn deshalb im Anfang stark im Verdacht – heißt das ihn – denn wenn auch Anna die Kinderschuhe schon lange ausgetreten haben mochte, wäre sie doch noch immer zu hübsch für den wirklich häßlichen Fremden gewesen.

Um aber auch unseren jungen Schriftsteller mit wenigen Worten bei dem Leser einzuführen, wird es vielleicht gut sein, ihn kurz und oberflächlich, das heißt sein eigenes liebenswürdiges Aeußeres, zu schildern und abzuconterfeien.

Feodor Strohwisch war ein Mann nahe an sechs Fuß hoch, mit starkem grobknochigen Gestell, sehr hervorstehenden Backenknochen und etwas stumpfer Nase, die Stirne dabei niedrig und eher eingedrückt als vorstehend, die Lippen aufgeworfen, der Teint braun, das Haar struppig braun und ganz kurz, à la malcontent, abgeschnitten, die Augen groß und stier, auch die Gehörsorgane sehr »ausgearbeitet«, einen schmalen dunklen Schnurrbart von der Mitte des Nasenknorpels hoch an der Oberlippe bis zu den Mundwinkeln niederlaufend, kurz ein Gesicht, wie es Jedermann, wenn es ihm in New-Orleans oder Rio de Janeiro begegnete, für einem Mulatten gehörig, oder doch von Negerrace abstammend, halten würde. Dennoch wäre diese merkwürdige Menschengestalt in der gewöhnlich schlichten Modetracht vielleicht unbemerkt vorübergegangen; aber nein, daran lag dem Eigenthümer des Angesichts nichts; er wollte gesehen, und mit dem Sehen auch – bewundert sein. Ein fast weißer, roth gefütterter Burnus floß, afrikanisch gearbeitet, um seine Glieder, großcarrirte Unflüsterbare deckten die langen Unflüsterbaren, an den Stiefeln klirrten ein paar mächtige Sporen, und die Hand trug malerisch eine fischbeinerne Reitgerte mit elfenbeinernem Griff, der einen Fuß und ein zartgebogenes Mädchenknie bildete, was er auf der Straße stets sinnend und schwärmerisch an die dicken Lippen drückte. Papageigrüne Glacéhandschuh vollendeten die Toilette des »Gelehrten«. Feodor Strohwisch war auch musikalisch, spielte gar nicht übel Pianoforte, und schwärmte oft bis tief in die Nacht hinein, wenn – ihn Anna Schütte nicht daran verhinderte – doch davon später.

Feodor saß unten im Parterre in seinem Zimmerchen und schrieb; er mußte augenscheinlich Gedichte machen, denn er kaute sehr viel dabei an den Federn herum, sah manchmal ganz vergnügt vor sich hin, schrieb vier Zeilen, strich drei davon wieder aus, und fing dann mit denselben Experimenten von vorne an. Das Singen aber schien ihn auch nicht zu stören, es hatte wenigstens keinen äußerlichen Einfluß auf seine Bewegungen, und seine Arbeit hatte ihren Fortgang, nur wenn ein falscher Ton kam, fuhr er wie Einer in die Höhe, der plötzlich und unerwartet mit einer Stecknadel gestochen wird, schüttelte dann mit dem Kopfe, biß wie verzweifelt in die Feder hinein, daß die hätte laut aufschreien mögen, und fuhr wieder in seiner Beschäftigung fort.

Anders war es mit dem über die Straße Rufen des Fräuleins – das brachte ihn in der That oft der Verzweiflung nahe, und wenn die hohe Quinte auf der letzten Sylbe manchmal unverdrossen zehn, zwanzig Mal hintereinander durch das Haus schallte, begann er nicht selten die wunderbarsten Experimente, um seinem inneren Grimme Luft zu machen. Wie das aber geschah, werden wir im weiteren Fortgange der Erzählung sehen.

Da glitt plötzlich eine schlanke Mädchengestalt dicht an seinem Fenster vorüber, blitzesschnell fuhr er mit dem Kopfe nach und hinaus, doch – schon zu spät, die Gestalt war in das Haus geschlüpft und Feodor Strohwisch zog sein tief gerunzeltes Haupt wieder unverrichteter Sache zurück. Wenige Minuten später aber klopfte es oben bei Schütte's an und Anna flog mit einem lautschmetternden »Sie ist's – sie ist's, die Flagge der Liebe soll wehen!« das den Dichter unten um so mehr zur Verzweiflung brachte, da er nicht einmal wußte, wer es war, der Freundin, »Pastors Sophiechen«, entgegen.

»Ei du holder süßer Engel, das ist ja prächtig, daß Du mich heute besuchst,« rief sie nach der ersten Begrüßung, »ich habe schon gar nicht gewußt, womit ich den verzweifelt langen Nachmittag heute hinbringen würde; nun bleibst Du ein bischen bei mir und da plaudern –«

»Nein, liebe Anna,« fiel ihr hier lächelnd Fräulein Scheidler in die Rede, »der Nachmittag ist so herrlich, daß wir, so gut es mir bei Euch gefällt, unmöglich hier im engen Stübchen bleiben dürfen; deshalb komm' ich, Dich zu einem kleinen Spaziergang abzuholen.«

»Aber wohin, Soph'chen,« frug Anna, und ließ schon im Geist ihre Garderobe an sich vorbei defiliren, um die »Eingeborenen« wieder mit einer neuen Toilette in staunende Bewunderung zu versetzen; »wohin, unten am Fluß hin und her? Da wohnt ja Niemand, wie drüben über der Rausche etwa Försters.«

»Du närrisches Kind,« lachte das holde Mädchen, »wenn wir blos spazieren gehen wollen, kann es uns auch einerlein sein, ob da Jemand wohnt oder nicht; doch am Flusse sind wir schon so oft gewesen, und ich dächte deshalb, wir wollten heute einmal auf der Straße nach Sockwitz zu durch den Fichtenwald gehen. Du sollst nur einmal dort die herrlichen wunderschönen Bäume sehen, es ist ein reizender Spaziergang. Nur das einzige Unangenehme hat es, daß wir, von hier aus, hin und zurück durch das ganze Dorf der Länge nach durchmüssen, sonst –«

Anna's Zweifel schwanden mit einem Male.

»Das schadet Nichts,« sagte sie rasch, »es ist jetzt trocken und am Sonnabend Nachmittag besonders werden auch nicht die vielen fatalen Düngerwagen hinaus auf's Feld gefahren; ist Dir's also recht, so brechen wir gleich auf, und an mir soll es dann auch nicht liegen, wenn wir lange aufgehalten werden; – ich will mir nur ein anderes Kleid überwerfen.« –

»Ein anderes Kleid?« frug Sophie erstaunt, »aber warum denn das, um draußen im Wald spazieren zu gehen? Liebes Kind, Du bist für das Dorf viel zu hübsch angezogen, das Kleid, versichere ich Dich, ist vollkommen gut genug!«

»Ach bewahre,« lachte Anna naiv, »sieh nur, hier unten hat es ja gar einen kleinen Riß, wo ich neulich einmal an einem von den häßlichen Dingern mit Holzzacken, die an den Häusern aufgerichtet sind, hängen geblieben bin – laß mich nur, ich bin den Augenblick fertig – Friederi–keh – Friederi–keh!« Die hohe Quinte lag wieder auf der letzten Sylbe und der Ton schallte durch das ganze Haus.

»Was soll denn das Mädchen?« frug Sophie, »ich kann Dir ja wohl helfen das Kleid anziehen, wenn es denn einmal sein muß – was hast Du denn?«

»Laß mich nur,« sagte Fräulein Schütte, »weiß der liebe Himmel, wo das Mädchen wieder steckt, immer ist sie nicht da, wenn sie gebraucht wird, und schwatzen thut das Geschöpf, ich sage Dir, Sophie, das ist zum Verzweifeln; der Mund steht ihr nicht einen Augenblick stille. Nein, was man für eine Noth mit den Dienstleuten hat.« Sie trat an's offene Fenster und sah hinaus.

»Ja,« lachte Sophie, »das läßt sich nun nicht ändern und muß ertragen werden; uns ist es kaum besser gegangen, auch wir haben erst heute unser Mädchen abziehen lassen, und wissen nun noch nicht einmal, wie die einschlägt, die heute bei uns angezogen.«

»Das bleibt sich Alles gleich,« sagte Fräulein Schütte, »einen Satan schickt man fort und einen andern kriegt man wieder. Aber ich sehe unsere Friederike auch gar nicht auf der Straße, die muß dort um die Ecke gegangen sein – Friederi–keh! – Friederi–keh

Feodor Strohwisch unten that einen herzhaften Biß in die Feder, sprang von seinem Stuhle auf und lief wie ein Besessener in dem engen Zimmer auf und ab. Wunderbare Gesticulationen machte er dabei, und Einer, der ihn nicht näher kannte, wäre, wenn er das hätte unbemerkt beobachten können, sicher auf die sonderbarsten Gedanken gekommen.

In seinem Arbeitszimmer nämlich, und dicht neben dem Ofen, auf einem niederen braunlackirten Eckschranke, stand ein, wahrscheinlich der Wirthin gehörender alter hölzerner Haubenkopf, mit sehr roth gemalten Wangen und sehr dicht anliegenden Locken; einem ganz von Stecknadeln durchlöcherten Scheitel, ein paar dünnen, fest zusammengekniffenen ziegelfarbigen Lippen und sehr großen stieren blauen Augen, denen ein paar hochgestrichene rabenschwarze Brauen einen ganz eigenthümlichen Ausdruck gaben. Es sah fortwährend so aus, als ob der obere Theil des Gesichts ununterbrochen über irgend etwas auf das Aeußerste erstaunt wäre, und der untere Theil sich das unter keiner Bedingung wolle merken lassen.

Dieser Kopf nun war der Gegenstand, mit dem Feodor Strohwisch bei solchen Gelegenheiten, und zwar auf das lebhafteste verkehrte. Zuerst warf er dem Kopfe nur ein paar wüthende Blicke zu, die dieser auf das erstaunteste erwiederte, schoß dann noch einmal durch's Zimmer, und als die Friederi–keh von oben noch immer nicht kam, und der entsetzliche Ruf mit einer fabelhaften Geduld und Ausdauer hernieder schallte, da blieb er endlich vor dem Kopfe stehen, streckte ihm die eine geballte Faust entgegen und sagte mit dumpfer drohender Stimme:

»Fräulein Schütte, ich bin auch nur ein sterblicher sündhafter Mensch, und meine Geduld ist, wenn auch von Gummi elasticum, doch deshalb nichtsdestoweniger zerreißbar; ich hoffe, daß Sie jetzt –«

»Friederi–keh

Feodor sah in grimmer Wuth zu dem Kopfe auf; es war fast, als ob er eine Gewaltthat beabsichtige, so dunkel und drohend glühten seine Augen.

»Fräulein Schütte,« begann er noch einmal, »wenn Sie glauben, daß ich bei solchem Lärm, der Einem wie glühende Schwerter durch Leib und Seele dringt, humoristische Gedichte machen kann, so erlauben Sie mir nur, ihnen die Bemerkung zu Füßen zu legen, daß das eine reine Unmöglichkeit ist: ich kann viel ertragen, ich habe schon viel ertragen, Fräulein Schütte, aber ich verbitte mir von jetzt an alle dergleichen Barbarismen. Schon das Friederike, mit ihrer lauten gellenden Stimme gerufen, ist grausam, das keh aber hinten dran, mit der hohen Quinte, ist kannibalisch. Ich sage Ihnen –«

»Friederi–keh! Friederi–keh

Das war zu viel, Feodor Strohwisch schoß, wie aus einer Pistole geschossen, auf den Kopf los, ergriff ihn mit der Linken an dem langen dünnen Halse, und legte ihm die breite Rechte fest und entschlossen auf den Mund. Der Ausdruck des Gesichts, dessen untere Parthien so zugehalten wurden, daß nur der vollständig erstaunte obere Theil desselben sichtbar blieb, nahm einen wahrhaft beunruhigenden Charakter an, der Gereizte blieb aber unerbittlich und sagte nun nach wohl minutenlanger Pause, in der übrigens der Ruf nicht wiederholt wurde:

»Sehen Sie, mein Fräulein, sehen Sie? – Sie haben es nicht anders haben wollen, Sie haben mich förmlich zu Zwangsmaßregeln genöthigt; ich bitte Sie inständigst, ich bitte Sie um ihrer selbst willen, uns Beiden das nächste Mal solche unangenehme Auftritte zu ersparen.«

Und damit schob er den Kopf auf seine Stelle zurück, ging wieder an sein Schreibpult und war bald auf's Neue vollkommen in sein Sinnen und Grübeln vertieft. Aber auch Fräulein Schütte hatte die Genugthuung, daß ihre Friederikeh endlich, nach so unermüdlicher Anstrengung der Lungen, erschien, das gewünschte Kleid wurde gebracht und angezogen, saß ausgezeichnet, und Arm in Arm wandelten die beiden Freundinnen bald darauf den Berg hinauf, an der Pfarre und Schenke, die Sonnabends und Sonntags besonders stark besucht war, vorüber, folgten dabei immer nur dem ziemlich breiten und mit gelbem Kies beworfenen Fuhrweg, der bis zu den letzten Häusern des Dorfes sich erstreckte, und betraten nicht lange nachher den herrlichen grünen Wald, in welchem sich die Straße, allerdings immer schmäler werdend, hinschlängelte, bis sie zuletzt zu einem gewöhnlichen Holzfuhrweg wurde, der durch lange schmale Streifen Gras und alte, lange nicht aufgefrischte Wagenspuren verrieth, wie selten er befahren, wie wenig er überhaupt benutzt wurde, indem der Hauptweg nach Sockwitz schon früher rechts abzweigte, und in die große, im zweiten Kapitel erwähnte Chaussee auslief.

Fünftes Kapitel.
Der alte Jäger.

Indessen war Hennig, aus dessen innerstem Herzensschacht das Gespräch mit dem Diaconus wohl auch manch trüben Gedanken zu Tage gefördert haben mochte, ebenfalls aus dem Dorf heraus und durch den Wald geschlendert. Ihn trieb es, allein zu sein, denn das was ihm auf dem Herzen lag war zu schwer, zu freudlos als daß er es mit dem armen Mann, der schon für sich ein so tüchtiges Bündel zu tragen hatte, hätte theilen mögen. Es wurde Mittag, und er wußte, daß sie daheim auf ihn mit dem Essen warteten, aber er konnte sich jetzt nicht gleich wieder unter Menschen setzen, jetzt nicht gleich wieder über alltägliche Dinge plaudern oder »wichtige Schulberichte« mit anhören, wo ihm das ganze Leben so schal und nichtig vorkam, daß er sich ordentlich nach freier Luft und nach stillen grünen Waldesbäumen sehnte. Denen konnte er sein Leid klagen, ohne von ihnen verhöhnt zu werden, ja die nickten wohl auch mitleidig dazu mit dem Kopfe und schienen in ihrem stillen geheimnißvollen Rauschen mit ihm trauern, mit ihm zu dulden.

Es war etwa drei Uhr Nachmittags, als er erst wieder an die Rückkehr dachte; lange schon hatte er den Fuhrweg verlassen und die Biegung einer Waldwiese beibehalten, die sich wohl eine gute Stunde Weges lang am Bergeshang hinzog und erst oben wieder durch einen schmalen Fußpfad mit der Straße zusammen hing, die auch die beiden Mädchen eingeschlagen hatten, und die sonst nur gewöhnlich benutzt wurde, um die oben auf dem Bergeskamm gehauenen Stämme hinunter nach der Thalmühle zu schaffen.

Anstatt aber gleich den kleineren Pfad einzuschlagen, wandte er sich ein wenig links drei hohen Eichen zu, die hier stolz aufragend über die niederen düsteren Fichtenstämme emporschauten. Dort quoll aus dem weichen lauschigen Moos ein klarer Quell hervor, und rieselte mit leisem Murmeln durch die weiche, torfige Rasendecke hin in das Thal hinab, wo er sich – anstatt bedächtig, wie es der größere und verständigere Bach that, an der Abdachung hin zu gleiten und unten, in der weidenumgürteten Schlucht langsam in die Rausche hinaus zu treten – in tollem Muthwillen ordentlich die steilsten und schroffsten Felsenhänge aufzusuchen schien und in jähen kecken Sprüngen, über moosigen Stein und starre Lehmbank weg, wild und sprudelnd und weißen Schaum jubelnd um sich her sprühend, in den unten froh vorbeibrausenden Fluß sprang.

Diese Quelle suchte Hennig auf, denn ihn dürstete, als er aber den Fuß der Eichen erreichte, sah er, wie sich dort eine menschliche Gestalt bewegte; gleich darauf schlug ein Hund an und er erkannte näher tretend, den alten Jäger Holke, der hier beschäftigt war, ein anscheinend erst verendetes Reh aufzubrechen. Sobald der aber die Schritte hinter sich und das Bellen des Hundes hörte, hatte er, rasch auffahrend, nach der Flinte gegriffen, jetzt jedoch, als er sah wer es war, lehnte er diese wieder an den Baum, und fuhr, sich nur halb nach Hennig umwendend, in seiner Arbeit fort.

»Halloh Schulmeister« rief er dabei und stieß, um den Schlund des Rehes einzuknüpfen, den Genickfänger neben sich in eine der moosbewachsenen Eichenwurzeln – »was zum Blitz und Hagel treibt Euch denn zur Schulzeit mitten in den Wald hinein? es ist Euch doch nicht irgend ein Junge entlaufen, den Ihr wieder suchen wollt? Das ist schwere Arbeit ohne Spurschnee!«

»Guten Tag, Förster« sagte Hennig und ließ sich langsam zwischen diesem und der Quelle, aber dicht neben der letzteren nieder; er war durch das lange einsame Umherstreifen wieder ruhig, ja fast heiter geworden, und freute sich den alten Mann hier gefunden zu haben, den sie alle im Dorfe lieb hatten und der, wenn auch ein Bischen derb, ja oftmals grob in seinem Wesen, doch treu und aufrichtig war, und Niemandem etwas in den Weg legte oder zu Leide that – »man sieht es daß Ihr schon lange aus der Schule seid, Ihr müßtet sonst wissen, daß die Sonnabende frei sind, und an ihnen keine Schule gehalten wird.«

»Das ist eine neuere Mode,« brummte der Alte, »zu meiner Zeit waren nur die Nachmittage frei, in den Vormittagen quälten sich aber die Lehrer auch ein Bischen mit den Bälgern, und ließen sie nicht den ganzen lieben ausgeschlagenen Tag den Eltern über dem Hals.«

»Die paar Vormittagsstunden« erwiederte ihm lächelnd der Lehrer, »die wir am Sonnabend Morgen gewinnen, geben wir reichlich in der Woche zu, wo wir mehr Unterrichtsstunden halten, als uns das Gesetz eigentlich für den ganzen Zeitraum der Woche vorschreibt. – Doch wenn habt Ihr denn das Reh geschossen, es scheint noch ganz frisch und es hat doch, seitdem ich hier in der Nähe bin, nicht ein einziges Mal geknallt.«

»Werd' es wohl mit Baumwolle oder Hanfleinen geschossen haben,« brummte der Jäger – »das knallt nicht und macht auch keinen Rauch – ist eine kostbare Erfindung – ich wollte daß die verdammten Stubenhocker in der Stadt, die derlei Geschichten ausbrüten, sich und ihren nichtswürdigen Krimskram bis in die Mitte nächster Woche hineinsprengten, nachher würde die liebe Seele wohl einmal auf eine Weile Ruhe haben.«

»Halloh Förster, Ihr seid ja entsetzlich böse und brummig heute, was ist denn vorgefallen? – wieder einmal Streit mit dem Pastor gehabt? –«

»Der Pastor soll zu – Grase gehn, wie's mir d'ran liegt«, knurrte der Jäger, »hab' ihn Gott sei Dank seit acht Tagen gar nicht zu Gesicht gekriegt. So lange wir so weit auseinander wohnen, sind wir uns auch recht herzlich grün; hm –«

»Ihr seid merkwürdig übler Laune heute« sagte Hennig und richtete sich von der Quelle, an der er eben getrunken wieder auf – »ist denn irgend etwas geschehn, was Euch geärgert hat?«

»Aergern?« wiederholte der Jäger und drückte mit geschickter und starker Hand die feste Klinge in das Schloß des Rehes, »da soll sich auch Einer nicht dabei ärgern, wenn er in der Jahreszeit eine Rikke aufbrechen muß, die ein paar Wochen später das schönste junge Kalb in den Wald gesetzt hätte, das einmal tüchtiges Gehörn getragen. Geärgert? – Das Herz im Leibe drehte sich Einem bei solcher Arbeit um, und man möchte sich wahrhaftig lieber wünschen unter Kannibalen, als unter einer solchen verdammten Aasjägerrace zu leben, die das Kind im Mutterleibe nicht verschonen. Wer in der Jahreszeit nach einer Rikke schießen kann, der schlägt auch seinen eigenen Bruder um acht alte Groschen todt.«

»Also Ihr habt das Reh nicht geschossen?« frug Hennig, der wenig oder gar Nichts von der Jagd verstand, ruhig.

»Wer? – ich?« – schrie der alte Mann, und warf dem Lehrer einen ingrimmig wilden Blick zu, sich plötzlich aber besinnend, daß der da, der eben die Frage an ihn gerichtet, seinem eigenen Ausdruck nach »ein Stück Wild kaum von einer Windmühle zu unterscheiden vermochte,« warf er seufzend das Gescheide mit dem jungen Kalbe bei Seite, hob das jetzt fertig ausgeworfene Reh an die Quelle, wo er es mit dem klaren Wasser derselben rein auswusch, und sagte dann, nachher seine eigenen Hände und den Genickfänger ebenfalls darin abspülend.

»Man darf's Euch nicht so übel nehmen, Ihr verstehts nicht besser. Das laßt Euch aber gesagt sein, und es wäre gut Ihr prügeltet das jetzt schon Eueren Jungen ein, wenn's die Flegel auch später wieder vergessen – daß es Sünde und Mord ist überhaupt eine Rikke, besonders aber noch dazu im Frühjahr, zu schießen. Verstanden?«

»Eine Rikke ist das Weibchen vom Rehbock?« frug der Schulmeister den Jäger.

»Ja!« sagte der Forstmann, und warf einen halb spöttischen, halb mürrischen Blick nach dem Frager – »die Sie'n.«

»Aber wer hat denn die Rikke geschossen?« fuhr Jener, sich überall umschauend, fort, »sind etwa Wilddiebe hier im Holz?«

»Wilddiebe?« wiederholte der alte Jäger mit vieler Bitterkeit, »Wilddiebe? nein bei Gott, der Name ist noch viel zu ehrlich, und klingt zu rechtschaffen für solch nichtsnützige miserable Bande. Ich habe auch gewilddiebt zu meiner Zeit, und ich kenne ganz respektabele Leute, die ebenfalls Wilddiebe sind – wenn ich auch nicht etwa den Schuften das Wort reden will, die heimlicher Weise und bei Nacht und Nebel auf's Revier kommen, und Einem die paar Rehe, die noch dastehen, über den Haufen legen, daß man nicht einmal Schießgeld davon bekommt, die aber, die solch ein armes Geschöpf und zu solcher Zeit mit dünnem lumpigen Hühnerschrot waidewund schießen, oder vielmehr bloß im Wald herum liegen und nach allem plaffen, was rauch ist, und bei denen es nachher heißt, ›krieg ich's so ist's gut; und krieg ich's nicht, so hab' ich nichts verloren,‹ das ist eine gottverfluchte Mörderbande, die man bei den Beinen aufhängen sollte, daß sie nur einmal erfährt, wie es thut, wenn man rothes warmes Blut im Herzen hat.«

»Es scheint als ob das ungesetzliche Schießen jetzt überhaupt hier Ueberhand nehme« sagte Hennig; »die Leute benutzen die im Lande herrschende Aufregung und denken gerade in dieser Zeit am allerleichtesten ungestraft davon zu kommen.«

»Ungestraft? – nun ich wünsche mir nur, daß ich einen von den vermaledeiten Aasjägern einmal zum Schuß bekomme, ob der nachher davon reden wird, daß er ungestraft im Frühjahr eine Rikke angeflickt hätte, daß das arme Geschöpf helle Tage lang mit dem zerschossenen Kalb im Walde herumächzen muß.«

»Wenn die Leute aber nun das Recht dazu bekommen, Förster?« frug der Schullehrer – »wir leben jetzt in einer gewaltigen Zeit, wo der lang Unterdrückte endlich das Haupt erhebt und zu fühlen anfängt, daß er auch ein Mensch ist wie der, der ihm bis dahin die Ferse im eigenen Nacken gehalten; ja wenn sie sich das Recht wirklich nehmen, auf ihrem eigenen Lande jagen zu dürfen, was, ihnen zu verwehren auch, meiner Ansicht nach, eine reine Ungerechtigkeit ist, wie dann? wie wirds nachher mit der Jagd aussehen?«

»Unsinn!« knurrte der alte Jäger und schlug sich rasch wieder Feuer an, was er, während der Schulmeister mit dem eben Gesagten eine Masse höchst fataler Bilder vor ihm heraufbeschworen, indessen eingestellt hatte – »Unsinn – fragt doch lieber wie's im Monde aussehn wird, wenn die Erde einmal aus Versehen zusammenfällt. Ein Recht, hochbeschlagene arme Geschöpfe Gottes krank zu schießen? Ein Mord bliebe das, ob die verdammten Tintenklekser in der Stadt auch ganze Schreibstuben voll Bände und Akten darüber schmierten. – Und dann das Schießen nachher; ei wenn sie Jedem verstatteten auf seinem eigenen Grund und Boden zu schießen – hahahaha – dann möchts nachher schön im Lande aussehen. Wer sollte denn da noch riskiren auf die Landstraße, oder überhaupt in den Busch zu gehn? Wäre man wohl seines Lebens sicher, und könnte einem nicht hinter jeder Hecke so ein blinder Bauer eine Ladung Schrot in den Pelz schicken? Und was würde nachher aus dem Wild, wer sollte denn da schonen, heh, wenn man Nichts wie Grenze hat; und ein Huhn ließe sich ja fast gar nicht mehr auf eignem Lande schießen, das wäre immer und ewig über anderer Leute Feld. Auch – Unsinn, ich habe wohl davon gehört, daß sie in Berlin und Wien, oder wie die Städte heißen, Revolution gemacht und das unterste zu oberst gekehrt haben sollen, und daß jetzt besonders der Bauer und Handwerkerstand an die Reihe kommt, sein Fett oben abzuschöpfen, aber die Jagd frei, ne Schulmeister, da haben sie Euch was aufgebunden, damit wird's Nichts – hoffentlich Nichts, so lange wenigstens diese alten Knochen noch im Walde herumlaufen. Wenn die erst einmal unter der Erde liegen – nun dann meinetwegen, dann mag mein Fritz sehen wie er anders durch die Welt kömmt, mit der Jagd ist's ja auch ohnedieß schon, selbst wenn sie keine Jagdfreiheit geben, vorbei.«

Der alte Mann war ganz schwermüthig geworden, und zog, finster dabei vor sich nieder schauend, die dichten blauen Wolken aus dem kleinen unbeschlagenen Maserkopf.

»Und was wollt Ihr mit dem Reh da jetzt anfangen?« frug Hennig, als der Jäger endlich mit einem plötzlichen Ruck seinen Genickfänger in die Scheide zurückstieß, die Jagdtasche umwarf, die Mütze fester in die Stirn drückte, und nach der neben ihm lehnenden Doppelflinte griff, »werden sie's hier nicht stehlen?«

»Ich werd's ihnen vertreiben;« brummte der Alte, »nein wahrlich, anvertrauen möcht ich's der Bande keinen Augenblick, denn die Schufte wissen gar prächtig, daß ein Rehrücken gut schmeckt, und daß es sich wohl der Mühe lohnte ihn nach Hause zu tragen; aber mein Fritz ist schon nach den Holzschlägern gegangen, die unten im ›Buchentrog‹ die Stöcke ausroden, einer von denen mag das Reh in's ›Stadtviertel‹ tragen, dort wollten sie gern Wild haben, die wissen's auch nicht besser, und ich bin froh wenn ich von dem armen Ding da gar nichts weiter mehr zu sehn bekomme.«

»So geht Ihr also jetzt mit mir nach Horneck zurück?« frug Hennig. –

»Habe Nichts dawider« lautete die Antwort »mit meiner Runde bin ich durch, und – zu schießen giebts auch Nichts mehr im Wald heute, da mag ich eben so gut heimtraben.«

Und damit warf er noch einen halb mitleidigen, halb mürrischen Blick auf das zerwirkte Reh zurück, hing sich die Flinte über die Schulter, und schritt rasch, und von Hennig gefolgt, auf dem schmalen Fußwege hin, der sie der breiteren Straße zuführte. Noch waren sie nicht lange gegangen, als sie diese auch erreichten, und nun langsamer, um die milde Luft besser genießen zu können, die ihnen warm und labend aus Süden her entgegenströmte, ihren Weg dem noch etwa eine gute Stunde entfernten Horneck zu fortsetzten.

»Wie still das hier zwischen den Bäumen,« sagte Hennig endlich, als sie eine ganze Zeit lang schweigend neben einander hingeschritten waren; »es rührt und regt sich Nichts, und wenn nicht manchmal ein Holzhehr oder eine alte Krähe ihre rauhen Laute durch den Wald schickten, so sollte man glauben, der ganze Forst sei ausgestorben. Ich weiß, früher, als ich noch in der Stadt auf der Schule war, da glaubte ich immer, wo Wald sei, da müsse es auch Hirsche und wilde Thiere geben, und in dem kleinen Hölzchen dicht an der Stadt, durch das wir Sonntags Nachmittags immer nach Weinhausen zu spazieren gingen, sah ich mich, sobald wir in den dunkeln Schatten traten, eben so regelmäßig nach irgend einer reißenden Bestie um, und war dann sehr bestürzt, wenn ich ›nicht einmal einen Hirsch‹ zu sehen bekam.«

»Die Zeiten sind vorbei,« sagte der Jäger traurig, und mit einem tiefen Seufzer, »ja vor zwanzig und fünf und zwanzig Jahren, wo Schwarz- und Edelwild hier in jeder Schlucht seine Fährten eindrückte, wo in der Brunftzeit die alten Zwölf- und Sechzehenender wie besessen herumliefen, und ich schon in meinem sechzehnten Jahre mit eigener Hand drei Hauptschweine erschossen hatte, ja da war es noch eine Freude, ein Waidmann zu sein, damals war der Jägerstand auch noch geehrt, und mit Horn, mit Meute und Büchse zog man zur fröhlichen Lust in den Wald. Jetzt – ist der Name Jäger fast nur noch zum Hohne geworden; eine Flinte auf der Schulter und Blei darin, gerade stark genug, Sperlinge zu schießen, hat man weiter auf der Gotteswelt Nichts zu thun, als auf die Holzschläger zu passen, und den Holzdieben allenfalls aufzulauern; vor Wilddieben braucht man sich beinah nicht einmal mehr zu fürchten, denn die Zeit ist gar nicht mehr fern, wo man Hirsche auf der Messe, und Rebhühner zahm in Käfichen zeigen wird.«

Sie hatten jetzt gerade eine der Waldhöhen erreicht, von der sie die Aussicht in eine flache, mit Laubholz bewachsene Abdachung bekamen; auffallend war hier eine niedere breitastige Zwergbuche, die mit sehr starkem Stamme, die Wurzeln fast ganz entblößt von Erdreich, gerade inmitten der Senkung stand, und die knorrigen, aber dafür desto kräftigeren Zweige links und rechts so weit ausstreckte, daß sie den Abhang an beiden Seiten berührte. Hier blieb der Jäger stehen, nahm die Flinte herunter, stützte sich darauf, und schaute eine ganze lange Weile nach der »Delle« hinein, die sich, bald nachher rechts abbiegend, der Rausche zuzog, in die sie, etwas weiter unten, ebenfalls eine Quelle hineinsandte.

Hennig schaute aufmerksam nach derselben Richtung hin, weil er glaubte, der alte Mann bemerke dort irgend ein Stück Wild oder sonst etwas Auffallendes; es ließ sich aber Nichts erkennen, nur die verwachsene Buche streckte die wunderlich geformten Arme wie zornig und trotzig gegen die schlank und stolz auf sie herabschauenden Tannen und Fichten aus.

»Was giebt es denn, was habt Ihr hier: war dort etwas?« frug der Lehrer.

»Ja, – Ihr habt Recht, dort war wirklich etwas,« erwiederte ihm rasch, und sich wieder zum Gehen wendend, der Forstmann, – »aber jetzt ist's vorbei. – Drei und vierzig Jahre sind's nun her, daß ich gerade an der Buche meinen ersten Hirsch schoß – und was für einen capitalen Burschen. Der Schuß war auch die Ursache, daß ich meine Alte, die jetzt lange unter der kühlen Erde schlummert, bekam, denn der Oberförster freute sich unmenschlich über das prachtvolle Geweih, ein ungerader Zweiundzwanzig-Ender. Donnerwetter, das war ein Hirsch, und ich sehe ihn jetzt noch, wie er nach dem Schusse einem Ungewitter gleich durch die Büsche und Zweige rasselte.«

»Ihr hattet Euch an ihn hinangeschlichen,« ermunterte ihn der Lehrer, dem es mehr Freude machte, den alten Mann erzählen zu hören, als daß er sich selbst groß für die Jagd interessirt hätte.

»Hinangeschlichen?« wiederholte der Alte, in der Erinnerung an den schönen Jagdzug schwelgend, »ei ich war damals ein junger gewandter Bursch, aber das Menschenkind hätt' ich sehen mögen, das sich an den alten schlauen Gesellen hätte hinanschleichen mögen; ob der sich gewitzigt zeigte? Das erste, was man von ihm stets zu sehen bekam, war der weiße Spiegel. Nein, Schulmeisterchen, selbst der Oberförster mußte wohl schon mehr als zwanzig Mal dem Stück Wild zu Gefallen gegangen sein, ohne es auch nur ein einziges Mal ordentlich zum Schuß zu bekommen, denn grad hinaufblaffen, wenn sich was Rothes in den Büschen zeigt, wie es die sogenannten Jäger in jetziger Zeit machen, das wollte er auch nicht. Mich wurmte aber die Geschichte, ich konnte nicht schlafen mehr, denn im Wachen wie im Traume sah ich den Hirsch, der mir immer bald auf die eine, bald auf die andere Art entging. Zu der Zeit war ich auch des Revierjägers Tochter gut, der Vater wollte aber von einer Heirath Nichts hören, und meinte nur einmal, aber natürlich auch bloß im Spaß, ich sollte erst versuchen, ob ich nicht den starken Hirsch umlegen könnte, nachher wollten wir wieder davon sprechen.«

»Jetzt war's nun gar mit mir aus, sobald ich mich niederlegte, und die Augen zumachte, stand er vor mir, und äugte nach mir herüber, und dann hatt' ich nie die Büchse geladen, oder konnte die Kugel nicht in den Lauf kriegen, oder das Pflaster hing mit anderen zusammen, oder der Ladestock saß fest, kurz, es haperte beim Laden, und legte ich endlich an, und drückte ab, so konnte ich mich fest darauf verlassen, daß mir das Pulver von der Pfanne brannte, und der Hirsch stolz und ruhig davon zog. Ich härmte mich so ab, daß ich ganz mager und elend wurde; das Essen und Trinken schmeckte mir sogar nicht mehr, und ich beschloß endlich, es koste was es wolle, und sollte ich acht Tage nicht mehr zu Hause kommen, den Hirsch zu schießen.«

»So lange war ich ihm übrigens in den Fährten herumgekrochen, daß ich endlich ziemlich genau wußte, wie und zu welcher Tages- und Nachtzeit er auf den verschiedenen Stellen herüber und hinüberwechselte. So hatte ich auch erspürt, daß er unten an der Schlucht gerade etwa hundert Schritte weiter oben, als wo sich der Bach über die Steine hinweg jäh in die Rausche stürzte, jede Nacht über den Bach hinüber wechselte, und am Bergeshang langsam hinschritt. Das Holz war aber dort viel zu dicht und schattig, um mir auch nur ein erträgliches Büchsenlicht zu gönnen, trotzdem beschloß ich, wenigstens einen Versuch zu machen, und ging eines Abends, es war im August, und eine wundervolle mondhelle Nacht, hier auf der Bergkuppe hin, wo damals noch nicht einmal ein Fußpfad, vielweniger ein Fahrweg hinlief, bis ich gerade an die Schlucht kam, an der wir da oben stehen blieben. In dieser wollte ich mich hinunterpürschen, denn weiter unten, wo der Mond gerade durch das lichte Stangenholz schien, war es eher möglich, daß ich Licht genug auf's Korn bekam, um eines sichern Schusse gewiß zu sein. Langsam und geräuschlos schlich ich dann mich auf dem moosigen Boden bis gerade an jene alte Buche hin, die damals schon eben so stark und knorrig da stand, wie an dem heutigen Tag, und wollte just um sie herumbiegen, als ich – Hennig ich schwörs Euch zu, das Blut kocht mir noch heute in den Adern, wenn ich an den Augenblick zurückdenke, – langsame, schwere aber gemessene Tritte höre. Das Herz fing mir an zu schlagen, als ob's ihm zu eng in der Brust würde, und es sich aus Leibeskräften hinaus in's Freie arbeiten wollte, und ich bekam das wirkliche reguläre Hirschfieber dermaßen, daß mir alle Glieder am Leibe flogen und zitterten.

So stand ich wohl zwei volle Minuten und horchte, konnte aber gar Nichts mehr hören, denn meine eigenen Knochen schlugen so an einander, bis ich auf einmal in dem matten Mondenscheine, und kaum zwanzig Schritte von mir entfernt, die Büsche sich bewegen sah, und heraustrat – will ich mein Leben trocken Brod und Salz essen, wenn's nicht wahr ist – eben der Zwei und zwanzig-Ender, und stellte sich breit und schußgerecht, und so ruhig vor mich hin, als ob ich gar nicht in der Welt wäre, oder nur ein Blasrohr statt einer guten, scharfgeladenen Kugelbüchse in der Hand hielte.«

»Natürlich hatte ich das Rohr schon unwillkührlich und fast in demselben Augenblicke gehoben, wo ich die ersten Schritten im vorjährigen gelben Laub vernahm, aber hin und her flog die Mündung über die helle, vom Mondeslicht beschienene Gestalt, nicht möglich war es mir, den Lauf auch nur eine Secunde lang ruhig zu halten. – Ich mußte wieder absetzen, denn ich fühlte, ich hätte jedenfalls vorbei geschossen. Der Hirsch aber windete hoch gegen den Luftzug hin, der glücklicher Weise gerade aus der Schlucht heranwehte, streckte dann ganz behaglich erst den rechten, und dann den linken Hinterlauf, neigte ein paar mal den schönen Kopf, als ob er mir ordentlich zeigen wollte, ›sieh einmal, was für ein Geweih, was für Stangen ich habe!‹ und zog dann ganz vertraut, kaum funfzehn Schritte entfernt vor mir vorüber.«

»Jetzt aber hielt ich's auch nicht länger aus; hinter der Buche suchte ich mir an einer Stelle des lichten Firmamentes das Korn, kam mit dem Lauf der Büchse rasch herunter, und drückte in demselben Augenblicke ab, als der Hirsch, der vielleicht einen Schein von dem im Mondenlicht blitzenden Rohr erhalten, scheu und schreckend den Kopf emporwarf. Gott sei Dank, der Schuß versagte nicht, wie er mir hundertmal im Traume versagt hatte, und gleich nach dem Knall der Büchse brach der gewaltige Platzhirsch wie ein Ungewitter durch die dünnen Stangen, und rasselte die Schlucht hinunter, daß es eine Lust und Wonne war.«

»Aber Ihr kriegtet ihn?«

»Ich denke,« lachte der alte Jäger, und bließ dichte freudige Wolken aus dem kurzen Pfeifenstummel; »keine hundert funfzig Schritt war er mehr gegangen, und ich brauchte auch nicht einmal nach dem Anschuß zu suchen, einen Spektakel machte er, wie er so in den Stangen lag, und verendend mit den Läufen um sich herhieb, daß man's auf eine halbe Stunde weit hätte hören können. Nun wie gesagt, an dem Abend – alle Hagel!« unterbrach er sich plötzlich, und deutete nach vorn, denn die Biegung der Straße hatte sie gerade zu Zeugen einer eben so merkwürdigen, als ihre Gegenwart anscheinend erfordernden Scene gemacht.

In kaum hundert Schritten Entfernung nämlich, und mitten auf dem, hier gerade von dichten Büschen eng umschlossenen Fahrwege, stand eine Gruppe von drei Menschen, bei deren Anblick Hennig das Blut in den Adern stockte. Es waren zwei Damen, und vor ihnen, den Rücken den beiden Männern zugedreht, die Rechte auf einen starken Knittel gestützt, die Linke – aus welchem Grunde, konnten sie von dort nicht erkennen – gegen die Frauen ausgestreckt, ein etwas abenteuerlich aussehender Mann.

Da stieß die eine Dame plötzlich einen gellenden Schrei aus, und der Hülfslehrer, der in der ersten Ueberraschung wie an seine Stelle gebannt gewesen war, flog jetzt mit dem angstvollen, aber doch nur halblauten Ruf »Sophie!« und rasend schnellen Sätzen dem Orte zu, an dem der Fremde eben im Begriff schien, der Pastors Tochter Arm zu ergreifen, während Fräulein Schütte, ihre bisherige Begleiterin, mit wildem Hülfgekreische dem Dorfe zustob.

Auch der Jäger suchte jetzt so schnell als möglich an den Burschen, der, wie er nicht anders glauben konnte, wehrlose Frauenzimmer auf offener Straße anfiel, hinan zu kommen, und riß dabei die Flinte von der Schulter und in Anschlag. Hatte aber der Fremde Hennigs Ausruf, oder die lauten Schritte gehört, er wandte den Kopf, und erkannte kaum die herabstürmenden Männer, als er auch schon, nur noch einen Blick auf das zitternde Mädchen werfend, blitzesschnell zur Seite und in die nächsten Büsche sprang. In dem Moment blitzte es aus des Jägers Rohr, und während der Schuß noch durch die Waldeswipfel dröhnte, fing auch der junge Mann schon die, durch Angst und Aufregung betäubt niedersinkende Jungfrau in seinen Armen auf.

»Mamsell!« schrie jetzt der Jäger hinter der, in wilder Angst ausstreichenden Dame her, deren Eile der Schuß noch beflügelt zu haben schien – »Mam–sell! – wir sind's ja!« – doch umsonst, ihr eigenes Schreien ließ sie auch schon nicht das des anderen hören, und sie war bald in den Windungen des Pfades den Blicken der Männer entschwunden.

»Ei so lauf Du und der Henker« brummte der alte Waidmann ärgerlich hinter ihr drein, »Donnerwetter, hat das Frauenzimmer eine Courage; na, das sollte meine Tochter sein.«

Hennig befand sich aber indessen in Todesangst, denn noch immer gab die bleiche Jungfrau in seinen Armen kein Zeichen des Lebens von sich, und lag starr und regungslos auf seinem Knie; er rieb ihr die Schläfe und das Innere der Hand, und die Stirn und den Arm – Alles umsonst, es war, als ob er eine Todte umschlossen hielt. –

»Förster, um Gotteswillen helft mir hier!« rief er endlich, und schaute sich in aller Herzensangst nach diesem um, »was sucht Ihr denn dort? – laßt das doch sein, und steht mir hier bei.«

»Hm,« brummte der Alte, der indessen, ohne sich um die Ohnmächtige weiter zu bekümmern, die Büsche und das Gras, wo der Flüchtige hineingesprungen war, sehr sorgfältig und aufmerksam betrachtet hatte, – »ich habe nur einmal nach dem Anschuß gesehen, aber keine Spur von Schweiß – doch das schadet Nichts,« fuhr er, sich aufrichtend und zu der Ohnmächtigen tretend fort: »weiter hin werden wir's schon finden, denn einen Keulenschuß hat er, darauf wollte ich wetten – 's war zwar achtzig oder neunzig Schritt und dünner Schnepfenschrot, so weit trägt meine alte Caroline aber doch noch, und das weiß ich – ah – sehen Sie, die Mamsell kommt schon wieder zu sich – hier, reiben Sie ihr einmal den Rum in die Schläfe, das wird ihr gut thun – nichts besser wie Rum bei Ohnmachten, – wenn man besonders noch einen richtigen Schluck davon nehmen kann.«

Das junge Mädchen erholte sich aber wirklich rasch wieder, athmete ein paar Mal recht schwer und tief, und schlug dann die Augen auf. Zuerst sah sie sich ganz erstaunt, ja fast erschreckt um – augenscheinlich hatte sie das ganze Vorhergegangene vergessen, und die Sinne mußten sich erst wieder zu ihrer vollen Thätigkeit sammeln, dann aber mochte ihr doch wohl wieder einfallen, wie sie in diese Lage gekommen, denn ein leichtes Roth färbte ihre bleichen Wangen, und sich rasch, aber unbefangen emporrichtend, sagte sie, während sie dem jungen, wie mit Purpur übergossenen Lehrer die Hand reichte:

»Ich danke Ihnen, lieber Hennig!«

»Der Schuft wollte Hand an Sie legen!« sagte der Jäger, »Gott soll mich holen, wenn das nicht bald noch über den grünen Klee geht, das verfluchte Wildschützenzeug nimmt ja bald Alles an, was Beine hat.«

»Es war kein Wilddieb,« sagte Sophie, und blickte wie scheu nach den Büschen hinüber, so daß der alte Jäger bei dem Gedanken lächelte, sie könne glauben, der käme noch einmal dahin zurück, wo er stände – »er sah wild, verstört und bleich aus – ich weiß nicht einmal, ob er – ob er uns um etwas ansprechen wollte – nur als Anna Schütte so wild aufschrie, ergriff er meinen Arm – was er wollte, weiß ich nicht – aber so viel erinnere ich mich, sein Rock war von Dornen zerrissen, auch sein Gesicht blutig, und er – er glich eher einem unglücklichen, als einem bösen Menschen.«

»Alle Wetter noch einmal!« sagte da der Jäger, »das wird der Kerl gewesen sein, den die Polizeidiener aus der Stadt heute Morgen gehetzt haben; ein paar Holzschläger von mir haben oben an der Waldecke gestanden, und sich die ganze Geschichte mit angesehen, – der ist vom Felde 'rein in die Haidekiefern gefahren, in den jungen Schlag, und wird sich nun wahrscheinlich im Walde herumtreiben. Warte Canaille, solches Wild könnten wir hier gerade brauchen, weiter fehlte uns gar Nichts. Hören Sie Hennig, Sie gehen ja doch wohl mit dem Fräulein zu Hause.«

»Ich glaube kaum, daß ich noch etwas zu fürchten habe,« sagte Sophie.

»Nein, das glaub' ich auch nicht,« lachte der Jäger, der an seine Schrote dachte, »das bleibt sich aber gleich, allein können Sie doch nicht nach Hause zurückkehren, ich aber will gleich mit meinem Fritz und den Holzschlägern den Wald hier einmal absuchen, wahrscheinlich ist er nach dem Weidicht hinunter, in die dicken Büsche, und wenn er da drinn steckt, da finden wir ihn vielleicht, oder treiben ihn jedenfalls in's Dorf.«

Und ohne weiter eine Antwort abzuwarten, warf der Alte das Gewehr, das er indessen wieder geladen hatte, über die Schulter, und schritt rasch den Weg, den er vorher mit Hennig gekommen, zurück. Dieser aber, der sah, wie erschöpft die Jungfrau durch den vorigen Schreck sein mußte, denn sie hielt sich selbst jetzt noch an einer kleinen Buche, neben der sie stand, aufrecht, bot ihr seinen Arm. Sophie zögerte einen Augenblick, nahm ihn dann, und schweigend schritten die beiden dem noch ziemlich entfernten Dorfe zu.

Sechstes Kapitel.
Die Hornecker Schenke.

Es war Abend; aus dem Feld herein zog pfeifend der Knecht mit den Pferden, und der Gänsejunge trieb ebenfalls seine schnatternde Heerde den heimischen Ställen zu; auf dem Plane vor der Schenke hatte sich eine Schaar wilder Jungen und Mädchen eingefunden, die um die Linden herum und über die steinernen Bänke hin sprangen und jauchzten und tanzten und Haschens spielten, und sich in ihrer lauten herzlichen Lust wenig daran kehrten, daß der Thau schon feucht niederfiel auf die dampfende Erde und nebliche Dünste aus der Niederung herauf nach den Gipfeln der Berge stiegen.

Die Botenfrau, die aus der Stadt kam, keuchte mit dem schwer beladenen Korbe den steilen Hang hinauf, der wohl zwanzig Ellen hoch gerade hinter der Schenke herabführte, und hier und da blitzte schon zwischen den knorrigen Zweigen der Aepfel- und Pflaumenbäume hindurch ein einsam schimmerndes Licht hervor, und der Wanderer, der vorüberging, sah, wie da drinnen um die großen, mit frommem Spruch verzierten Schüsseln, nach ächt patriarchalischer Sitte, der Bauer mit seinen Knechten und Mägden saß, und Löffel nach Löffel aus der dampfenden Suppe herausholte.

Ein ganz besonders reges Leben herrschte aber in der Schenke selbst, denn da wurden Tische und Stühle gerückt und abgestäubt, Flaschen herbeigeschafft und Gläser parat gestellt. Dort in die Ecke kamen drei Tische für die Spielenden, zwei Lichter auf jeden, an die entgegengesetzten Ecken der buntbeklebte Papptrichter mit den geschnittenen Kartenfidibus auf den einen Leuchter. Auch die Markenteller mit den Spielmarken bekamen ihren Platz und die Spucknäpfe wurden zurecht gerückt, der sauber gescheuerten Stube zu Liebe.

»So,« sagte die dicke Wirthin, als sie auf den runden Drath, der am Fensterknopfe hing, frische Bretzeln gereiht, und den rostigen wieder an den alten Platz gehangen hatte, »so, itzt kennen se vor mir kummen, Annegrethe, hast de denn aber ooch des grine Zimmer in Ordnung gebracht? – Blitzmädel, Du weeßt doch, das der Herr Diaconus pinktlich is, un es die Bauern ooch schonst immer nich erwarten kennen.«

Annegrethe, ein derbes dralles Mädchen von achtzehn oder neunzehn Jahren, das, aber nicht nach der Horneck'schen Mode, sondern wie die Dienstleute in der Stadt gekleidet, eben hinter dem Schenkstande die halbgeleerten Glasflaschen (deren Etiketten bezeichneten, ob sie Doppelkümmel, Anis, Pomeranzen oder Kirsch in den flachen Bäuchen trugen) wieder aus großen steinernen Krügen vollfüllte, sagte, indem sie gerade die letzte Flasche mit einem wollenen Tuche abwischte und auf ihren Platz zurückstellte:

»Ei versteht sich, Frau Base, werde doch das beste Zimmer im Hause nicht vergessen; gelüftet habe ich's den ganzen Nachmittag, die Tische sind spiegelblank und von der Erde könnte man zur Nacht essen – wenn kein Sand d'rauf läge.«

»Hot denn die Butenfrau de Zeidungen schonst gebracht; ich habe kenen Zippel von 'er gesiehn.«

»Schon vor einer Viertelstunde.«

»Un die Sammeln?« – frug die Frau rasch und wie erschreckt.

»Alles richtig besorgt,« lachte Annegrethe, »auch Cigarren hab' ich vom Kaufmann mitbringen lassen, und ein Dutzend thönerne Pfeifen.«

»Bist en braves Madel,« sagte die Frau und setzte sich behaglich in ihre Ecke hinter den Ofen, wo ein kleines Tischchen mit ihrer Kaffeetasse stand; in der Röhre oben, dicht daneben brodelte der Kaffee, und dicht in der That mußte das Gedränge und laut der Ruf nach Bedienung in der Schenkstube werden, ehe »Mutter Läsig,« oder die »Mutter,« wie sie ihre Gäste kurzweg nannten, ihr heimliches Plätzchen verließ, um es mit dem geschäftigeren, ruhelosen in der Küche zu vertauschen.

Es dauerte denn auch gar nicht lange, so füllte sich das ziemlich geräumige Zimmer mit Gästen; hier und da über den offenen Platz herüber schlenderte eine lange, mit schwarzem Schafspelz umhüllte, oben in eine weiße Zipfelmütze auslaufende Gestalt, den Hügel herauf, und aus der Seitengasse, die zwischen Obstgärten und Häuslerwohnungen hin nach dem anderen Theile des Dorfes führte; von überall her kamen die Durstigen, den Sonnabend Abend, wie das von jeher Sitte in Horneck gewesen, in gemüthlicher Gesellschaft zu verbringen, und einmal wieder zu hören, »wie's draußen in der Welt eigentlich stehe.«

Auch das »grüne Zimmer« (was aber eigentlich gelb war und nur noch aus früherer Zeit, wo es vielleicht einmal grün gewesen, den Namen trug) füllte sich nach und nach; um die verschiedenen Lichter herum drängten sich neugierige kurzsichtige Gäste und suchten, bald mit bald ohne Brille, dem die Augen schmerzenden Druck Inhalt und Sinn abzugewinnen, bis der Diaconus endlich kam, der am Montag, Mittwoch und Sonnabend, und schon seit Anfang vorigen Monats, wo es auch erst angefangen hatte in Deutschland interessant zu werden, die Zeitungen, oder wenigstens das Wichtigste daraus, vorlas und das Gelesene dann erklärte.

Die Landleute hörten aufmerksam zu, tranken ihr Bier dabei, und schauten, das Kinn auf die beiden Fäuste oder in die aufgestemmten Arme gestützt, dem Diaconus in das wohl etwas bleiche aber ausdrucksvolle Gesicht, wie er ihnen die einzelnen Artikel vortrug, und hie und da bei etwas schwer verständlichen Stellen, eine Erklärung beifügte, die es auch den minder Begabten möglich machte, zu begreifen, was eigentlich die verschiedenen Artikel für eine Bedeutung hätten, und in welcher engen Verbindung die an allen Orten zugleich auftauchenden Unruhen zu einander ständen.

Er hatte ihnen auf solche Art über das Vorparlament in Frankfurt, das eben jetzt zusammentrat, über den Aufstand in Italien, denn die Oestreicher waren gerade aus Mailand verjagt, über die Verhältnisse in Oesterreich, und besonders in Wien selbst, wie über den dänischen Krieg, mitgetheilt, und ging dann auf die ihnen näher liegenden Gegenstände, jetzige Einberufung der beurlaubten Soldaten, die inneren Zustände des Landes u. s. w., über, wo dann das Gespräch allgemeiner wurde, und die Zeitung auch bei manchen Artikeln von Hand zu Hand ging.

Weniger geregelt war das Gespräch in der Neben- oder großen Gaststube, wo sich die Gäste nicht, wie im »grünen Zimmer«, um einen großen Tisch versammelten und dadurch die Unterhaltung zu einer gemeinschaftlichen machten, sondern, an verschiedenen Tafeln und Spieltischen vertheilt, auch ihre Sonderinteressen verfochten, oder gar nur, in die Kartenblätter vertieft, Acht gaben auf Eicheln und Schellen, auf Grün und Roth. Im Allgemeinen war es aber auch selbst hier die Politik, um die sich das Gespräch drehte, und sogar vom Schafskopf oder Scat aus mischte sich hier und da, wenn der Streit gar zu heftig wurde, ein »Passender« mit ein und warf, den scheuen Seitenblick freilich immer noch auf das indeß ununterbrochen vorwärts gehende Spiel gerichtet, sein Wort mit ein, in Debatte oder Grundspruch.

»Ja, hier steht's in der Zeitung aus Franken,« sagte da mit lispelnder aber scharf gellender Stimme ein kleines hageres Männchen. Pockennarben, röthliche Haare und etwas stark gekrümmte Nase waren die Kennzeichen des sogenannten Doctor Levi, der hier nur nach Horneck gekommen schien, um sich nach Frankfurt in das Parlament wählen zu lassen, und schon seit mehreren Wochen das allerdings etwas undankbare Geschäft übernommen hatte, die Bauern dieses und der benachbarten Orte aus ihrer politischen Lethargie aufzurütteln, und seinen Ansichten befreundet zu machen. So lange er in Horneck blieb, miethete er gewöhnlich ein kleines Häuschen, das mitten im Dorfe unbewohnt lag, und beschäftigte sich dann auch wohl mit etwas Chirurgie, Aderlassen, Schröpfen u. s. w. Zog er jedoch mit diesem manches böse Blut ab, so schuf er das, und in gewiß viel reichlicherem Maße auch auf der anderen Seite wieder, und die ruhigeren Bauern und Ansässigen des Dorfes schüttelten oft über seine aufrührerischen Reden den Kopf, während ihm dagegen die Jugend mit desto größerem Eifer anhing und besonders sämmtliche Lehrlinge und Ackerknechte des Dorfes für ihn schwärmten. Wer hätte ihnen auch das Alles versprochen, was ihnen Doctor Levi versprach, wer hätte so unermüdlich über ihre Herrschaften herziehen und sie unaufhörlich versichern mögen, daß der vierte Stand, der Stand der Arbeiter, gerade der sei, der obenan stehen müsse, und ohne den die anderen Stände gar nicht existiren könnten, der aber auch deshalb nur recht zusammenhalten, die Männer wählen, die es gut mit ihm meinten, und dann sehen solle, was er für Wunder wirken und wie er seine Stellung gestalten könne.

»Hören Sie nur, meine Herren,« lispelte der Doctor weiter, als er sah, daß einige die Köpfe nach ihm umwandten:

»Von den Gutsherrschaften haben sich diejenigen, deren Eigenthum bei dem ersten Aufstand, woran allerdings auch ansässige Bauern Theil genommen hatten, verschont geblieben, mit ihren Grundholden auf gütliche Weise verständigt, und die Regierung von Oberfranken hatte, um diese Vermittlung zu Stande zu bringen, einen eigenen Commissar auf den Schauplatz der Unruhen abgeordnet. Auch anderwärts in Franken haben viele Gutsbesitzer ihren Grundholden freiwillig bedeutende Zugeständnisse gemacht.«

»Seht Ihr, die Sache wird Ernst, und in Franken wissen die Bauern schon, was sie wollen; die Süddeutschen sind uns überdies um ein halbes Jahrhundert voraus, und wenn es in Deutschland noch einmal Licht werden solle, so stecken sie dort die Laternen an.«

»Ja, daß uns nachher das Haus lichterloh über den Kopf in Flammen stehe,« brummte der Müller, der neben dem einen Spieltische saß, und bis jetzt dem Gang des Spieles augenscheinlich sehr eifrig gefolgt war; »solcher Aufruhr thut kein gut; denn wenn er noch allein bei den Bauern, das heißt bei denen bliebe, die wirklich ein Besitzthum haben, ja dann ließe man es sich gefallen, aber die, die gar nichts haben, die reißen nachher gerade das Maul am weitesten auf und sind vorne weg. Natürlich, die Menschen können Nichts bei der Sache verlieren; geht Alles, wie es gewohnt war, seinen stillen Gang ruhig fort, so bleiben sie Lumpe wie vorher, geht aber im Gegentheil Alles drunter und drüber, wird die ganze Einrichtung auf den Kopf gestellt, ei dann schließen sie sich mit dem größten Vergnügen dem an, ihnen fällt Nichts aus der Tasche und es müßte doch sonderbar zugehen, wenn sie von dem, was Anderen herausfiele, nicht später was zu fischen fänden. Das kennt man schon.«

»O ja, o ja,« lachte der kleine Doctor, »versteht sich – wer soll denn aber auch sonst die Revolution machen; die, die was haben, sitzen gern still und halten beide Fäuste auf die vollgestopften Taschen, die aber, die Nichts haben, das sind die Menschen, die sich am freiesten bewegen, die unparteiisch auf den Standpunkt des Besitzes hinüberblicken können.«

Ein großer Theil der Zuhörer lachte, dadurch wurde der kleine Mann aber erst recht böse gemacht, sah sich einen Augenblick im Kreise um und rief dann:

»Lacht nur, grinst nur und zieht die Mäuler von einem Ohre bis zum andern, und wenn Ihr's nicht anders haben wollt, so bleibt meinetwegen hier hinter Eueren Oefen sitzen, und wartet, bis sie Euch das, was die Anderen jetzt fordern, auf dem Präsentirteller bringen und Euch um Gotteswillen bitten, es doch nur anzunehmen.«

»Oho,« fiel ihm hier einer der Bauern in die Rede, »so schlimm is es ooch noch niche – mer wissen wuhl, was mer wolle, un ufgäsetzt is es ooch schonst; 's hat nur de rächte Gischtalt noch niche, es fehlt em noch de Fassong. Den Pastor han mer freilich drim gebeten, er sillts uns mache, der will aber net, do hat's der Diaconus ibernommen; des is en ganzer Kerl.«

»Ja, de Jagd misse mer frei han,« fiel hier ein Anderer vom Spieltisch aus in's Wort, »der Hos', der mer mei Kraut frißt, dem schlag' ich de Flinten uffen Kopp, daß er's bese Elend kreiht!« und die hoch gehobene Karte kam mit den Knöcheln schallend auf den Tisch nieder.

»Un die Ablösung misse mer ooch han,« sagte der erste wieder – »oh, 'ssein ä ganze menge Sachen, denn i zohl kei Hundekorn mehr, und schick' keine Hihner un Eier un Kapauner und Gänse uf's Gut; wenn se Kapauner fressen wolln, megn se se ooch selwer ziehen un stoppen.«

»Recht so,« fiel hier der Doctor ein, »das klingt schon ein Bischen besser, aber nach Frankfurt müßt Ihr dann auch solche Leute wählen, die wissen, was Euch fehlt und die Haare auf den Zähnen haben, und daß die gestrengen Herren nachher schon einwilligen werden, ich dächte, dafür bürgte uns die neueste Erfahrung. Ihr habt doch gehört, daß von Frankreich herüber 90,000 Mann im Anmarsch sind, um hier in Deutschland die Republik zu proclamiren?«

»Ne, keen Wort,« riefen Viele und wandten sich neugierig zu ihm hin.

»Was?« lachte der Doctor, »davon wißt Ihr noch Nichts? potz Schulmeister und Diaconusse, wozu habt Ihr denn da die Woche dreimal Euere geheimen Vorlesungen, wenn Ihr die Hauptsache nicht erfahrt? Aber das ist natürlich, daß es der Geistlichkeit nicht gerade gelegen kommt, wenn es den Beichtkindern klar wird, wo Barthel eigentlich den Most holt.«

»Aber Doctor, warum geht Ihr denn nicht mit hinein in's grüne Zimmer,« mischte sich hier der Wirth hinter den Schenktisch in's Gespräch, »da drinn wird ja die ganze Geschichte verhandelt.«

»Zu den Reactionairen!« brummte entrüstet der Mann des Blutes, »nein, wir haben uns auf den Barrikaden unsere Freiheit erkämpft, und die wollen wir schützen im freien Vereinsrecht, wie in der freien Presse, derlei Umtriebe aber, wie sie schon anfangen im Lande ihr giftiges Netz auszuspannen, sollten Männer, die sich dessen, was ihnen gebührt, bewußt sind, gar nicht dulden. Wenn es auf mich ankäme, sprengten wir die ganze Gesellschaft dadrinn auseinander.«

»Von wegen dem freien Vereinsrechte!« lachte der Wirth.

»Unsinn!« rief Levi ärgerlich, »wenn das Volk souverain ist, braucht es die Verräther im eigenen Hause wenigstens nicht zu dulden. Ihr würdet es Euch ebenfalls nicht gefallen lassen, wenn sich Jemand in Euerer Stube hinsetzte und Pläne machte, Euch aus Euerem rechtmäßigen Hause zu verjagen.«

»Ne« sagte der Wirth, »und bei mir ist das Volk nicht einmal souverain.«

Ein paar von den Bauern lachten, ehe aber der Doctor etwas darauf erwiedern konnte, ging die Thür des grünen Zimmers auf, und die Lesegäste, die jetzt die wichtigsten Tagesneuigkeiten gehört hatten, kamen heraus in das große Wirthszimmer, um sich dort gemüthlicher bewegen, und das Gehörte noch etwas freier besprechen zu können.

Die ebengeführte Unterhaltung wurde dadurch auf kurze Zeit unterbrochen, und auch der »Doctor« hatte sich zu einem der Tische zurückgezogen, wo er sein Glas Bier, mit einem Gläschen Pfeffermünze daneben, stehn hatte, als einer der Bauern, neben den sich der Diaconus eben gesetzt, diesen bat, er möchte doch einmal in »das Gedruckte« hinein sehn, ob etwas von den 90,000 Mann darin stände, die von Frankreich aus zu uns herüber kommen sollten.

»Neunzig Tausend Mann,« lachte der Diaconus, »wer hat denn das wieder ausgesprengt? Ueber dem Rhein drüben sollen sich, wie die Zeitung sagt, einzelne unordentliche Banden herumtreiben, aber von 90,000 Mann ist keine Rede.«

»Keine Rede?« knurrte der Doctor aus seiner Ecke vor, »warum denn nicht? – man will es dem Volke hier nur noch verheimlichen, damit es nicht aufsteht, sich mit den, bis jetzt in Frankreich verbannten und nun herüber strömenden Brüdern vereinigt, und seinen bisherigen Unterdrückern mit Gewalt den Daumen auf's Auge setzt.«

»Mein guter Herr Doctor« erwiederte ihm freundlich der Diaconus, »aus fremden Lande blüht uns keine Hülfe, und von dorther dürfen wir nicht auf Beistand hoffen oder rechnen. In uns selbst muß die Kraft, muß die Hülfe liegen, und wenn wir nicht im Stande sind sie aus uns selbst heraus zu schaffen, dann sieht es auch mit unserer Freiheit traurig aus. Gott wolle uns vor einem Zustand bewahren, den uns fremde Schaaren und wenn sie sich selbst Arbeiter nennten, brächten; nur im Stande wären sie einzureißen, und nicht Raum noch Athem bliebe zum Wiederaufbau.«

»Wiederaufbau, Wiederaufbau – das ist so das rechte Wort,« brummte der Doctor, und stieß heftig das Glas vor sich auf den Tisch, »erst muß eingerissen werden, ehe man aufbauen kann, denn von vorne anfangen können wir die Geschichte nicht; hab ich recht oder unrecht?«

»Ne, das hat seene Richtigkeet« sagte da der Schmid, der auch mit aus der grünen Stube herausgekommen war, »wenn mer hier ene angere Schenke herbauen wüllen, so missen mer die erscht nieder reißen.«

»Na, das sieht ja ein Kind ein« triumphirte der Doctor.

»Aber bedenkt Leute,« nahm der Diaconus wieder das Wort, »daß sich Einreißen und Aufbau auch nach äußeren Umständen richten muß.«

»Wie so?« frag Einer der Bauern.

»Wir wollen einmal hier bei der Schenke stehn bleiben,« erklärte Jener, sich in den einfachen Sinn seiner Umgebung schickend, »wenn wir die Schenke hier einreißen, um eine andere zu bauen, so ist das leicht, die steht frei und hat einen gehörigen Raum vor sich, um das alte Gerumpel abzuwerfen und den neuen Steinen und Balken Raum zu geben, und so war es auch mit Amerika, als sich jenes Land seine Freiheit erkämpfte, dort war Raum genug den alten Schutt abzufahren, und das neue Gebäude stieg rasch und schön empor. Wie wäre es aber, wenn Ihr drüben des Wagners Haus abbrechen und ein anderes dafür hinstellen wolltet? Ging das so ohne Weiteres? Wohin sollte er mit dem Schutt? Die Nachbarn würden sich bedanken, den solange in ihre Gärten zu nehmen; auf die Straße vor dem Haus dürft Ihr ihn auch nicht werfen, reißt Ihr also Vor- und Hintergebäude gleich zusammen ein, so sitzt Ihr nachher mitten im Gemenge drin, und kein Baumeister kann Euch mehr helfen, denn Ihr habt dem, indem Ihr seine freien Bewegungen hemmtet, selbst die Hände gebunden.«

»Das ist aber mit unseren Verhältnissen ganz anders,« fiel hier der Doctor ärgerlich ein.

»Allerdings« lächelte der Diaconus, »aber nur noch viel schlimmer, denn wenn diese jungen Leute, die jetzt überall auftauchen und von Umsturz des Bestehenden und Reorganisation ganzer Länder sprechen, erst einmal den Zügel in Händen hätten, wer wäre dann im Stande, ein solches Gewirr von Völkerstämmen und Nationalitäten zu vereinigen und in Ordnung zu halten? Wer sollte so rasch die Grenzlinie ziehn zwischen Anarchie und Volksherrschaften, und jene im Zaum halten, ohne von dem Volke selbst als Reactionair verschrien zu werden?«

»Das muß die Regierung thun!« sagte der Doctor ernsthaft.

»Ei was streiten wir uns denn dorum« fiel hier der Schmid dem Doctor in's Wort, »wenn jetzt die Franzosen kummen, da werd' sich die Sache schonst finden. So'ne neinzig Tausend Mann sin ooch keen Hund.«

»Da Ihr denn einmal bei den 90,000 bleibt« meinte der Diaconus, »so ist's vielleicht besser, ich lese den darauf Bezug habenden Artikel gleich vor; es ist eine Bekanntmachung, die das Generalcommando der Rheinprovinz erlassen hat, und lautet:

›Nach von mehrern Seiten bei der Militairbehörde eingegangenen zuverlässigen Nachrichten, sind von der französischen Grenze her Einfälle bewaffneter ungeregelter ungeordneter Arbeiterschaaren in die Rheinprovinz beabsichtigt. Um diesen zu begegnen ist die Aufstellung eines Corps gegen die Schaar erforderlich. Dazu ist, außer den Truppen in Trier – etc. etc.‹«

»Da haben Sie die ganze Geschichte; das sind Ihre 90,000 Mann gegen die, nur der Vorsorge wegen, ein paar Regimenter ausgeschickt werden.«

»So?« rief der kleine Mann höhnisch und hatte indessen schon, während Jener las, ein anderes, zerknittertes Zeitungsblatt aus der Tasche geholt – »so? da haben Sie wohl die Allgemeine oder die Kindermuhme? Das glaub ich, daß die solche Opiate zu verabreichen suchen – aber da ist hier ein anderes Blatt ›Die rothe Fahne!‹, an dem wir Mitarbeiter wie Pelz und E. O. Weller haben, das sagt Ihnen anderes, was Sie wissen sollen – Hier hören Sie:

›Bürger! Die Zeit der Rache ist gekommen – die Ketten, die Euch so lange in Euer klirrendes Elend geschlagen, stürzen von Euren erstarkenden Gliedern. – Der Tag der Vergeltung ist erschienen, die Throne zittern und das souveraine Volk steht jauchzend auf und vernichtet die Tyrannen. Bürger – schaart Euch um die rothe Fahne der Freiheit – aus dem Westen, aus dem göttlich freien Lande der Republik reicht uns ein freies Volk die entfesselte Rechte – 90,000 Mann‹ – hören Sie das, Herr Diaconus – ›90,000 Mann überschreiten in diesen Tagen den Rhein – 90,000 Mann fliegen Euch mit triumphirendem Siegesschrei an das Bruderherz. Oeffnet Eure Arme sie zu empfangen und reicht Euch dann die Hände zum fröhlichen Spiel. Unsere Schwerte sollen die Schläger und Kronen die Bälle sein, mit denen wir die Zeit verkürzen, bis wir des Spaßes müde sind, und den Plunder bei Seite werfen. Es lebe die Republik!‹«

»Und das steht gedruckt?« sagte der Gerichtsschreiber erstaunt und drängte sich durch die Bauern, die den kleinen Mann umstanden.

»Das steht gedruckt« lachte dieser triumphirend, »und Einer unserer thätigsten Kämpfer der Freiheit, unser Dr. Wahlert, durchstreift schon seit vierzehn Tagen das Land im fröhlichen Pilgerzug, die Guten zu sammeln und zum festen Werke zu einigen.«

Neben dem Ofen saß eine eng in sich zusammengekauerte Frauengestalt, die bis jetzt wenig oder gar keinen Antheil an dem Gespräch gezeigt hatte, nur daß sie manchmal, wenn Einer oder der Andere der Männer sprach, den matten Blick zu ihm hob, dann aber gleich wieder in ihre alte Stellung zurückfiel. Jetzt bei dem letztgenannten Namen aber, zuckte sie rasch und heftig empor, und schaute, während der folgenden Unterredung bald die sich dabei Betheiligenden, bald die Umstehenden, scheu und ängstlich an.

»Wahlert?« sagte der Diaconus, »ist, wie ich heute als ganz gewiß gehört habe, in der Stadt wegen offenen Aufruhrs und überwiesenen verbrecherischen Verkehrs mit den Feinden des Vaterlandes verhaftet und eingezogen worden; man spricht davon, daß er das Zuchthaus besuchen würde.«

»Hahaha« lachte der kleine Doctor, »die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn erst; eben habe ich Briefe mit der Botenfrau aus der Stadt bekommen, daß Wahlert heute allerdings sollte verhaftet werden. Er erhielt aber vorher einen Wink, entzog sich der Ausführung durch die Flucht und ist, wenn auch verfolgt, doch noch nicht eingefangen; die nach ihm ausgesandten Polizeiknechte sind wenigstens unverrichteter Sache zurückgekehrt.«

Die Thür ging in diesem Augenblick auf, und der alte Jäger trat, einen kurzen Gruß links und rechts hinübernickend, in die Stube.

»Annegrethe, mein Bier,« sagte er, während er sich auf seinen gewöhnlichen Platz zwischen dem Fenster und dem Schenkstand niederließ – »aber ein wenig warm.«

»Weiß es Herr Förster,« rief das flinke Mädchen, und füllte das hochaufschäumende Glas aus dem schon vorher, in Erwartung des Kommenden, warm gestellten Blechmaaß, drängte sich dann damit, zwischen der jetzt aufgerichtet neben dem Ofen stehenden Frau – unserer Bekannten von dem nämlichen Morgen her, und dem auch eben erst gekommenen Röhrmeister durch, und stellte das Glas, mit einem freundlichen Knix vor den mürrisch herumschauenden Jäger hin.

Die Unterhaltung war durch den Eintritt der Beiden, nach denen sich die Meisten umschauten, einen Augenblick in's Stocken gerathen.

Der Röhrmeister, der die letzten Worte des kleinen Doctors noch gehört hatte, trat jetzt weiter vor und rief, sich an diesen wendend:

»Hört einmal Doctorchen, wie sieht denn der Bursche aus, von dem Ihr da sprecht – trägt er etwa einen kleinen schwarzen Schnurrbart und hat er eine Narbe über's Gesicht herüber?«

»Die hat er,« sagte der Doctor schnell, »habt Ihr Wahlert gesehen?«

»Dann ist es derselbe, den sie heute Morgen hier bis in die Haidekiefern gehetzt haben,« fuhr der Röhrmeister fort, »ich kam gerade aus der Stadt und sprach auch nachher einen von den Holzschlägern, an dem er dicht vorbeigesprungen war.«

»Hier bis Horneck?« frug der Doctor schnell.

»Ja hier gleich bis oben in den Wald, wo das kleine Weidenbüschchen steht.«

»Wie heißt der Bursche?« mischte sich jetzt der Jäger in's Gespräch, und stand von seinem Platze auf, um besser nach dem Sprechenden hinübersehn zu können.

»Wahlert, Dr. Wahlert!« lautete die Antwort.

»Und einen Schnurrbart hat er?«

»Ja, und dunkle Haare, wie eine hohe, stattliche Figur; wer ihn einmal gesehn hat, vergißt ihn nicht so leicht wieder.«

»Nun ich denke, er wird sich meiner auch wohl etwa vierzehn Tage erinnern,« lachte der Jäger und nahm seinen Platz wieder ein.

»Was? – wie so? – Ihr habt ihn gesehen? – wo ist er jetzt? – haben sie ihn wieder?« So etwa lauteten die Fragen, die nun in rascher Reihenfolge an den Jäger gerichtet wurden, und dieser sah sich plötzlich als den Mittelpunkt aller der neugierig ihm zugewandten Gesichter.

»Weil ich ihm die Hinterläufe mit Schrot gespickt habe« lachte der Alte; »zwar nur Nr. 6 aber doch gerade hinreichend für einen derartigen kleinen Denkzettel.«

»Aber wo? – weshalb – wie kam das – wenn denn?« fiel hier das Chor wieder ein.

»Wo? wann? Im Holz drin, heut' Nachmittag, und weshalb? – ei weil er ein paar Frauenzimmer angefallen hatte wie ein Straßenräuber und sie schon plündern wollte als ich und der Schulmeister, der Hülfslehrer mein ich, gerade noch zur rechten Zeit und zum Schuß kamen.«

»Aber wo ist er jetzt? ist er gefährlich verwundet?« sagte der Doctor rasch und erschreckt.

»Hm – 's kann g'rade nicht so gefährlich sein,« meinte der Jäger kopfschüttelnd, »'s Auskratzen ging wenigstens nachher noch so ziemlich gut. Schweiß konnten wir auch nicht finden, aber mit meinem Fritz und den Holzschlägern bin ich ihm nachher nach, und richtig kriegten wir ihn auch wieder zu Gesicht, denn wir trieben das ganze Weidicht unten ordentlich ab. Mein Fritz und ich, wir nahmen die Flügel und wie wir oben an die Schwarzholzecke kamen, stellten wir Beide uns nach dem Dorf zu vor, und ließen die Holzmacher links herauf schwenken. Der Kerl war auch weiß es Gott im Treiben, und wollte, gleich wo's nachher nach dem Fluß zu geht, wie ein alter Fuchs durch die Treiber brechen. Das wäre ihm auch, da sie doch wenigstens funfzig Schritt auseinander gehn mußten, beinah gelungen, denn das Unglück wollt' es, daß er gerade zwischen dem alten lahmen Gottlieb und Richters Jungen hinein kam, die ihn alle Beide nicht wieder eingeholt hätten. Gerade da aber, wo er durchbrechen wollte, war ein offener Haidefleck – der Streifen Feld da oben, Wagner, wo wir vor zwei Jahren die jungen Kiefern steckten – und wie er eben über den hinspringen will, läuft der alte Gottlieb mit seinem Stock auf ihn an und schreit ihm zu, er soll sich ergeben. Hol' mich der Teufel, wie der den Stock auf sich gerichtet sieht, wobei er wahrscheinlich auch schon an das Blei dachte, das er bei sich trug, stieß er einen lauten Schrei aus, und sprang wie ein Donnerwetter in die dichten Büsche zurück.«

»Und was ist nachher aus ihm geworden?«

»Der Teufel weiß es« brummte der Jäger, »er ging wieder nach vorn, und wenn er nicht nachher doch noch einen Rückwechsel gefunden hat, so bleibt weiter gar nichts anderes möglich als daß er durch das Ufer des trockenen Baches, gerade unter den Dornen hin in das Dorf gekrochen ist.«

»In das Dorf?« riefen der Verwalter und Gerichtsschreiber, die jetzt ebenfalls an des Jägers Tisch getreten waren, »das kann ja doch gar nicht sein; der Graben oder was es ist, läuft gerade in Pastors Garten aus, und er wird sich doch wahrlich nicht, wenn einmal verfolgt, aus dem ihm allein noch Sicherheit bietenden Wald, mitten zwischen seine Feinde wagen?«

Der Doctor sagte kein Wort mehr, ging aber eine ganze Weile, und zwar im tiefsten Nachdenken, im Zimmer auf und ab, bis er wieder in die Nähe des Jägers kam; dort blieb er stehn, wandte sich noch einmal an diesen und frug ihn:

»Und Ihr glaubt wirklich, daß er durch den Graben nach dem Dorfe zu entkommen wäre?«

»Ich weiß wenigstens nicht wie er sonst durchgeschlüpft sein könnte,« meinte der Jäger, »ohne daß ihn Einer von uns auch nur gesehn, oder in dem Laube gehört hätte. Der Wald ist dort viel zu licht, als daß Einer, erst dort hinein getrieben, lange Verstecken spielen dürfte.«

»Könnte er aber nicht in einen Baum geklettert sein?« frug der Doctor noch einmal, im letzten verzweifelten Versuch, auch nur an die Möglichkeit einer anderen Flucht glauben zu dürfen, aber der Forstmann schnitt ihm auch diese Hoffnung ab.

»Oh was,« brummte er, »in die Rauschenecke hatten wir ihn hinein, soviel ist gewiß, und dort waren wir ihm, wenn's auch da wirklich Bäume gäbe, in die man sich verstecken könnte, viel zu dicht auf den Hacken, als daß er an so etwas hätte denken dürfen. Der ist im Dorf, und wenn er's hier nicht ganz schlau anfängt, so kriegen wir ihn doch noch, denn ich habe unten am Garten sowohl da, wo's nach der Straße niedergeht, wie oben nach dem Wald zurück, und an dem Weg in's Dorf hinein meine Wachen ausgestellt, die keine Katze, vielweniger einen so baumlangen Kerl durchlassen.«

»Hm, hm –« murmelte der kleine Mann vor sich hin, und drängte sich, ohne etwas weiter darauf zu erwiedern, der Thüre zu. Am Schenkstand bezahlte er seine Zeche und verschwand gleich darauf, die einbrechenden 90,000 Freischaarer und die rothe Republik gänzlich der Gnade und Ungnade der Zurückbleibenden überlassend, aus der Wirthschaftsstube.

Auch das fremde Mädchen verließ das Zimmer, schritt aus dem Haus bis unter die große Linde, setzte sich auf die dort angebrachte hölzerne Bank, in den Schatten des gewaltigen Baumes, barg das bleiche Antlitz zwischen den dünnen abgemagerten Fingern, und schluchzte leise und heftig.

Die Sterne blitzten und funkelten aus dem dunkeln, von keinem Mondenstrahl erhellten Himmel nieder, durch die breitästigen Wipfel der Linden rauschte und brauste der kühlfeuchte Nachtwind; im Dorfe herrschte Todtenstille, nur manchmal tönte das Bellen eines treuen Wachthundes aus Hof oder Garten her, oder der Schritt der jetzt einzeln aus der Schenke Heimkehrenden schallte hohl von dem harten Boden wieder. Auch die Lichter der verschiedenen Wohnungen waren fast alle verlöscht, nur in der Pastorwohnung, das Haus ließ sich deutlich erkennen, denn dicht dabei stieg der dunkle kahle Thurm starr und schroff empor, brannte noch in einem der oberen Fenster ein einsames Lämpchen.

»Marie!« rief die Stimme des alten Musikus von der Thüre der Schenke aus – »Marie – wo zum Donnerwetter steckt mir die Dirne nun wieder – Marie! will ich doch verdammt sein, wenn mir die nicht noch die Galle an den Hals ärgert. Ei so geh' zum Teufel« brummte er noch eine Weile, als er vergebens gehorcht und gewartet hatte, denn die dunkle Gestalt unter der Linde rührte und regte sich nicht – »wenn sie Dich ausschließen, magst Du sehn wie du in's Haus kommst.«

Und schimpfend warf er die schwere Thüre in's Schloß.

Hell und freundlich schienen die liebenden funkelnden Sterne auf die stille Erde nieder; in den Zweigen und Aesten des alten Baumes rauschte und flüsterte es geheimnißvoll und das Käuzchen, das mit geräuschlosem Flügelschlag über die Häuser strich, setzte sich auf das nächste Dach und rief sein wehmüthiges unheimliches »Komm mit – komm mit.« – Unbeweglich aber lehnte an dem knorrig rauhen Stamm das einsame Mädchen, fest und schweigend hafteten an den fernen glänzenden Himmelskörpern ihre feuchten Blicke, und erst als vom düsteren Thurm drüben die Glocke Mitternacht schlug, schlich sie durch die Thüre, die ihr der Vater offen gelassen zu ihrem kalten harten Lager hinauf, unter das Dach der Schenke.

Siebentes Kapitel.
Die Pfarre.

Als Fräulein Anna Schütte sah, wie der Fremde nach Sophiens Arme griff, und sich nur einen Augenblick unbeachtet wußte, ja auch schon dann vielleicht, als sie den ersten panischen Schrecken überwunden hatte, daß ein wild aussehender Mensch aus dem stillen Holz, wie ein Blitz aus heiterem, sonnenklaren Himmel auf sie herniederfahren konnte, floh sie in flüchtigen Sätzen die Straße entlang, und erfüllte mit ihrem Geschrei den friedlichen Waldesdom. Selbst der Heher schwieg, bestürzt vor den gellenden Tönen, und dachte erst später daran, sie wie das übrige Vogelgeschrei, mit spottendem Flügelschlag nachzuäffen; die übrigen Waldvögel aber mieden scheu den Platz, wo ihrer Ansicht nach, etwas Entsetzliches passirt sein mußte. Sie wäre auch sehr wahrscheinlich eben in solcher Art bis in das Dorf hineingerannt, hätte sie nicht glücklicher Weise gerade am Ausgange des Waldes einen Ackerknecht getroffen, dem sie ohne weiteres um den Hals flog, und nun hier so zu weinen und jammern anfing und solche gräßliche Geschichten von Mördern und Räubern erzählte, die dicht hinter ihr wären, daß es dem armen Teufel selber ganz angst und bange wurde, und er nicht recht wußte, was er am Meisten zu fürchten habe, die nahenden Räuber, oder den Zustand der fremden Dame, der ihm schon anfing mehr als bedenklich zu erscheinen.

Der Bursche war übrigens unter solchen Umständen eben so wenig von der Stelle zu bringen; denn im Walde hatte er nach der erhaltenen Beschreibung gar Nichts weiter zu suchen, und zu Hause, von woher er erst kam, wollte er auch nicht gleich wieder. Fräulein Schütte schien jedoch ebenfalls nun, da sie zum Glück einen Beschützer gefunden, fest entschlossen, keinen Schritt weiter allein zu thun, und so trafen sie noch Hennig und Sophie, als sie aus dem Walde auf das freie Feld traten.

Sophien schien es lieb zu sein, die Freundin noch hier zu finden, sie eilte gleich auf sie zu, ergriff ihren Arm, und versprach ihr, sie zu Hause zu geleiten, bat sie aber auch zugleich, von dem Vorgefallenen im Dorfe Nichts zu erzählen, da solche Sachen immer gleich verschlimmert und dem »armen Flüchtling,« der sie im Walde angeredet, vielleicht gar wieder die entsetzlichsten Absichten untergelegt würden.

Davon wollte nun freilich Fräulein Schütte im Anfang Nichts hören, ließ sich jedoch zuletzt überreden, und bat nur Sophien, als sie endlich zu Hause angelangt war, wenigstens so lange bei ihr zu bleiben, bis die Mutter, die irgend einen Besuch gemacht hatte, zurückkehre, »denn wenn sie jetzt, und mit Dunkelwerden allein im Zimmer sitzen solle, fürchte sie sich zu Tode.«

Das sagte ihr Sophie gern zu, denn sie selbst mochte nicht gerade jetzt gleich, und in der Aufregung, in der sie sich befand, nach Hause zurückkehren.

An dem nämlichen Abend beendete, ungestört und nicht behindert durch Singen oder Rufen, Feodor Strohwisch ein humoristisches Gedicht, – es war früher einmal ein altes Liebesgedicht gewesen, das er in süßer schwärmerischer Stunde gemacht, und er hatte es heute zu einem launig politischen Epos umgeändert – es blieb nichts zu wünschen übrig, viermal hinter einander las er es sich mit immer wachsendem Beifall selbst laut vor, und sprang endlich in aller Freude auf, schritt rasch zu dem ihn erstaunt anschauenden Haubenkopfe hin, streichelte ihm die zinnoberrothen Backen, und nannte ihn »sein liebes, frommes, schweigsames Mädchen.«


In der Dämmerung war es indessen, daß durch den kleinen Obstgarten, der dicht hinter der Pfarrerwohnung lag, und hier zugleich die Grenze des Dorfes nach dem Walde zu bildete, eine menschliche Gestalt aus dichtem Gestrüpp und Dornenwerk hervorkroch, und an der Hecke hin und von dieser gedeckt der kleinen hölzernen Thüre zu schlich, die hinaus auf einen schmalen Pfad führte, der den steilen, mit Obstbäumen bepflanzten Hügel hinab, und durch das Dorf, dem Flusse zu lief. Dort aber kaum angelangt und schon mit der Hand auf dem Thürdrücker, zuckte er plötzlich von jähem Schreck berührt, zusammen, denn dicht über sich, so nahe, daß er den Sprecher hätte mit der Hand erreichen können, hörte er eine Stimme, die ihm nur zu deutlich die Gefahr verrieth, in der er sich befand.

»Du, Kahle«, sagte Einer der dort Stehenden, »der kann hier gar nich 'nein sin, sonst werd' er ja doch nicht in den Diarndern stecken bleiben – der is widder in's Hulz zurück, un mer stehn hier umsunst, un han Maulaffen feel.«

»Schweig still,« brummte der Andere dagegen mit unwilliger, aber leiser und unterdrückter Stimme, – »in den Graben is er nein, un wär't Ihr mir gefulgt, so hätten mer'n jetzt; nu aber kennen mer de halbe Nacht hier schtehn, un erwischen en doch nich. Na, Fritze muß gleich mit den Angeren kummen, un nachher laassen mer den Hund nein – der find't en!«

»Wenn er aber nu drüben 'nausfährt?« frug die andere Stimme besorgt.

»Haste keene Angst nich,« sagte Kahle mit leisem, heiserem Lachen, »davor is gesurgt, 'raus kommt er hier nich, wenn er nich beim Paster nein fährt, und da is de Thire verschlossen. Doch bis jetzt ruhig – 's is wohl noch hälle, in den Bischern drinn kennte er aber doch so nahe 'ran kriechen, daß er Eenen heren kennte, und nachens wärsch Essig.«

Der Flüchtling lag zitternd unter die Hecke gedrückt, und schaute verzweifelnd nach einem Ausweg auf Rettung umher. Kam die gedrohte Verstärkung mit dem Hunde, so war er verloren, und hier, von allen Seiten umstellt, – es blieb ihm kein anderer Ausweg, als die Pfarre, dort hinein mußte er.

Ein dichter Holunderbusch, der schon fast vollständig seine Blätter getrieben hatte, machte es ihm möglich, unentdeckt wieder die Mitte des Gartens zu gewinnen, und von hier aus kroch er in einer Vertiefung, einer Art trockenem Graben, der dazu diente, das an der Hausthür ausgegossene schmutzige Wasser, wie auch den vom Dache niederträufenden Regen in die Schlucht hinab zu führen, bis dicht zum Haus hinan. Vorsichtig hob er sich empor und ergriff die Klinke. – Die Dämmerung wurde glücklicher Weise immer dichter, und gerade dieser Theil des Hauses lag in tiefem Schatten. – Aber wehe. – Die Thür war wirklich verschlossen, und den Berg herauf – er horchte mit klopfendem Herzen den nahenden Tönen – kamen Menschen, und Hundegebell tönte dazwischen.

»Tod und Teufel!« murmelte er vor sich hin, »und so unbewaffnet diesen Bauerlümmeln in die Hände zu fallen – versuche ich's aber durchzubrechen nach dem Walde hin, so schießen sie mir wie einem tollen Hunde auf den Leib, – trag' ich denn nicht selbst jetzt die Schrote von dem Schuft in der Haut, und hat nicht nachher schon wieder Einer der blutdürstigen Hallunken auf mich angelegt? Und geradezu herausgehen und mich ergeben? – das wäre ein verdammt gewagtes Ding – weiß der Böse, wie auch all' die Sachen so ganz auf einmal gegen mich aufgetaucht sind. Ja, wäre mit dem Volke hier etwas zu machen, da ließe sich der Geschichte leicht eine andere Wendung –«

Er erschrak, denn dicht neben ihm wurden inwendig im Pastorshause Schritte laut, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und Wahlert behielt nur noch eben genug Zeit, hinter ein paar, dort gerade neben der Thür lehnende Breter zu treten, als sich diese öffnete, und die Magd mit einem großen Kübel voll Wasser heraustrat, etwa zwanzig Schritte weit nach dem Graben zu ging, in welchem er eben heraufgekrochen, und das Wasser dort hinein ausgoß. Eine solche Gelegenheit kam nicht wieder, Wahlert glitt unter den Bretern hin, in's Haus hinein, und die knarrenden Stufen hinauf in den ersten Stock. Hier sah er noch eine kleine Treppe, über deren dritter Stufe ebenfalls eine kleine Thür befindlich war – jedenfalls ging die auf den Boden, sie war auf, und er sprang hinein.

»Alle Wetter,« murmelte er aber, und prallte daraus zurück – »das ist ja ein Zimmer –« durch den matten Lichtstrahl, der noch durch's Fenster fiel, konnte er den weißen Ueberzug eines Bettes und über den einen Stuhl hängende Frauenkleider erkennen.

Er wollte das Gemach rasch wieder schließen, und sein Heil wo anders suchen, da hörte er auf der Treppe Schritte, der Strahl eines Lichtes fiel herauf, und es blieb ihm nun gar keine andere Wahl, als geradezu wieder zurück zu springen, und die Thüre hinter sich zu zu ziehen; er mußte auf günstigeren Zeitpunkt warten, ein sichereres Versteck zu suchen.

Es war die Magd, die mit einem großen Kübel Wasser in den Händen, und das Licht in den einen Finger geklemmt, die Treppe langsam heraufstieg. Vor der Kammer, in welcher Wahlert stak, blieb sie stehen, hob den Kübel auf die Stufen, schob ihn dicht an die Thür, stellte das Licht daneben, und ging dann wieder hinunter, noch mehr Apparate zu ihrem Scheuerfeste zu holen.

Wahlert versuchte jetzt, die Thür wieder zu öffnen, um über den Gang hinüber wo möglich die Bodentreppe auszuspähen, aber – fest und unweichbar stand das schwere Wassergefäß davor, nicht einmal einen Zoll breit konnte er seinen Kerker lüften, und sollte er Gewalt brauchen? – Das ging auch nicht, dann warf er den bis zum Rand gefüllten Kübel gerade zu die Stufen hinab, und das Gepolter, und die in's Haus niederströmende Flut mußte ihm die Verfolger auf den Hals hetzen. Er behielt aber auch nicht einmal lange Zeit zum Ueberlegen, das Mädchen kam bald wieder zurück, und blieb nun oben auf dem Gange, den sie gleich darauf mit Scheuerbesen und Tüchern wacker in Angriff nahm.

Wie sollte das enden, wer wohnte überhaupt in dem Zimmer? Wahlert warf sich, den Kopf sinnend in die hohle Hand gestützt, auf einen der ihm nächsten Stühle, und überdachte seine Lage – die Möglichkeit seines Entkommens, – bedachte die Gefahr, der er ausgesetzt war, wenn er wirklich gerade jetzt, wo noch den Gerichten, wenigstens hier im Lande, nicht alle Macht genommen worden, in ihre Hände fiele. Auch die Erlebnisse ging er in seinem stillen Brüten durch.

Den, nach ihm ausgesandten Häschern glücklich entgangen, stand ihm jetzt die Welt offen – er konnte fliehen, konnte vielleicht die französische Grenze erreichen – aber was sollte er nachher dort? – Womit seine Existenz sichern, was überhaupt dort wirken, schaffen, nützen? – Nein, hier in Deutschland lag sein Ziel – Deutschland forderte von ihm seine Thätigkeit.

Das alte System, was sich lange Jahre hindurch, den Völkern zum Trotz und Hohn auf ihrem Nacken behauptet, war durch die jetzige Revolution nicht gestürzt, nein, nur kaum erst erschüttert worden, und nun galt es, daß die Männer der Freiheit Hand an's Werk legten, das schmachvolle Joch gänzlich darnieder zu schmettern und den neuen Tempel der Volkssouveränetät in herrlicher Schöne aus seinen Trümmern emporsteigen zu lassen. Und war er nicht vor tausend Anderen der Mann, der im heiligen Kampf vorangehen mußte, den Unschlüssigen? War ihm nicht die Gabe der Rede verliehen? Hatte er nicht seit dem 18. März schon zweimal das Volk zu wildem stürmischen Enthusiasmus erregt, und war es beide Male etwa nicht den »Bayonetten« gelungen, die überreif aufschwellende Knospe der Freiheit zurück zu halten und zu bewältigen? Fluch der alten Disciplin, die dem Soldaten noch wie Blei in den Gliedern lag, und ihn nicht wollte begreifen lassen, wie auch er ja nur eines Bürgers Sohn selbst wieder zum Bürger würde, wenn er den Rock auszöge, der ihm im Kampfe gegen seine Brüder nicht mehr ehre, sondern schände.

Der Zeitpunkt war jetzt erschienen, wo die letzte Hand an das große Werk gelegt werden mußte, wenn es nicht – wie das Jahr 1830 geschehen war, als ein bloßes Possenspiel endigen sollte – der Zeitpunkt war erschienen, wo es galt, das ganze ungeheure Gewicht der Volksherrschaft den Privilegien der Fürsten und des Adels gegenüber in die Schaale zu werfen, und Fluch dem knechtischen Volke dann, wenn es nicht mit ihm jubelte, daß der Schrei – ein Todesröcheln der Tyrannei – durch alle deutschen Gauen drang – »es lebe die deutsche Republik!«

Doch hier mußte er erst einen Halt unter dem Volke gewinnen, die Masse war noch zu roh, und ein energisches Auftreten von ihrer Seite, ohne vorherige wirkliche Veranlassung kaum zu hoffen – was konnte aber von hier aus auch geschehen, sie zu begeistern? – Gar Nichts, in die Residenz zurück mußte er vor allen Dingen, die Katastrophe des gewaltigen Werkes selber mit zu leiten, und nur ein Mann lebte hier im Orte, der ihm dazu behülflich sein konnte – der Doctor Levi, ein alter Bekannter von ihm, und ein Charakter, der ihm zum Werkzeug dienen konnte, seine edleren Pläne auszuführen. – Wie aber war er im Stande, dessen Haus erstlich heraus zu bekommen, und wenn das wirklich geschehen, es unentdeckt zu erreichen? – Wo wohnte der Doctor, und befand er sich gegenwärtig wirklich in Horneck? – Tod und Teufel! – der Gedanke war Wermuth und Galle in die kühne Seele dessen, der sich hier für die Freiheit eben des Volkes aufopferte, das ihn wie einen Verbrecher verfolgte, wo er sich nur öffentlich zeigte, mit Kerker und Eisen bedrohte, und wie auf ein wildes reißendes Thier nach ihm schoß. Aber fort mit dem Gedanken, das Volk war nicht schlecht, nur ein Schleier lag noch vor seinen Augen, und mit der Bürgerkrone würde es den bald lohnen, der ihm die Sehkraft wieder gab, und die Waffe in die riesenhafte Rechte drückte.

In wilden, wechselnden Bildern zuckten ihm die Gedanken und Pläne rasch und bunt durch das Hirn, bald aber wurde er wieder, und auf eben nicht tröstliche Weise zur trüben, trostlosen Gegenwart zurückgerissen. Das Mädchen draußen auf dem Gange rückte ihr Scheuerfaß und er fuhr rasch und lauschend von seinem Stuhl empor – noch aber hatte er Nichts zu fürchten – sie war nur zu einem andern Platz gegangen, und begann hier gleich wieder von Neuem.

»Wenn ich nur das Haus dieses Doctor Levi wüßte,« murmelte der Gefangene für sich hin, »was für Folgen aber selbst die einfachste, an einen fremden Menschen gerichtete Frage für mich haben kann, ist mir heute bewiesen worden. – Wie das eine liebe Kind erschrak – – daß der Teufel den Jäger hole.« Vorsichtig ließ er sich wieder auf den eben verlassenen Stuhl nieder, und fuhr eben so leise fort – »ich hätte mir's übrigens denken können, daß so schüchterne Dinger Zeter schreien würden, wenn ihnen ein solches dornzerrissenes wild aussehendes Subjekt wie ich jetzt bin, vor die Augen träte; – ich bin, beim Himmel, in einer verzweifelten Lage.«

Ein neues Geräusch vor der Thür mahnte ihn, auf seiner Hut zu sein – der Kübel wurde bewegt. – Er legte das Ohr an das Schlüsselloch – Gott sei Dank, endlich nahm die verwünschte Magd den Kübel von der Thür und trug ihn – ja, sie ging damit fort, er konnte es deutlich an ihrem Gange hören – den Corridor hinunter. Jetzt war ihm auch die Möglichkeit gegeben, diesen gefährlichen Aufenthaltsort zu verlassen, wo er jeden Augenblick entdeckt werden konnte. Nur so lange mußte er warten, bis draußen die verschiedenen Ingredienzien fort und, allem Vermuthen nach, in eine der entfernteren Stuben transportirt waren.

Aber auch draußen vor dem Fenster wurde es laut – das mußten seine Verfolger sein – ob er es wagte, sich dorthin zu schleichen? – ei, wenn er leise ging, konnte ihn unten, falls wirklich Jemand darunter wohnte, doch Niemand hören: auf den Zehen schlich er deshalb bis an das Fenster und schaute aus der dunkeln Stube heraus vorsichtig hinter den Gardinen vor in den Hof hinab, wo, wie er noch recht deutlich erkennen konnte, eine Anzahl von Männern versammelt stand und eifrig mit einander sprachen. Um aber zu hören, über was sie sich unterhielten, hätte er das Fenster öffnen müssen, und das durfte er nicht wagen. Er preßte das Ohr an die Scheibe, aber nur unverständliche Sylben waren es, die zu ihm herauf tönten. Er suchte die Gestalten zu erkennen – Einige trugen Flinten oder Stöcke, er vermochte nicht deutlich zu sehen was – wahrscheinlich das erstere – man deutete auf die Pfarrwohnung – er konnte der Versuchung nicht länger widerstehen, leise, leise schob er den vorgedrehten Fensterriegel zurück und suchte nun den Flügel so geräuschlos als nur möglich zu öffnen; glücklicher Weise knarrte das Holz auch nicht im mindesten; alt und vom Zahn der Zeit schon angegriffen, bewegte es sich weich und ohne Laut aus seinen Fugen und es gelang ihm, das Fenster gerade genug zu öffnen, um Alles zu hören und doch von unten aus nicht gesehen zu werden.

Da wurden plötzlich Stimmen auf dem Vorsaal laut – eine Hand lag auf der Klinke – Wahlert's Herz schlug wie ein Hammerwerk in der Brust, nicht einmal Zeit blieb ihm, das Fenster wieder zu schließen, nur eindrücken konnte er es und dann zurück in die dunkle Ecke neben die Gardinen springen, als sich die Thüre öffnete und eine weibliche Gestalt eintrat. Sie blieb aber auf der Schwelle stehen, legte Hut und Mantel ab, und wollte eben wieder zurücktreten, als der Luftzug auf's Neue den Flügel aufstieß und sie sich rasch danach umwandte.

»Ueber die Mädchen,« murmelte sie, als sie die Thür hinter sich schloß und der Stelle, wo Wahlert fest in dem engen Winkel geschmiegt stand, zuschritt, »ausdrücklich habe ich hier noch heute Morgen gesagt, mein Fenster ja fest zuzumachen, aber Gott bewahre, da ist doch eine wie die – ha!«

Ein laut gellender Schrei des Entsetzens entfuhr ihren Lippen, denn während sie mit der Linken das Fenster schloß, wollte sie mit der Rechten die vorgefallene Gardine zurückschieben, und ihre Hand kam dabei mit der hier versteckten Gestalt des Flüchtlings, die dabei unwillkürlich zusammenzuckte, in Berührung.

»Um Gotteswillen, mein Fräulein, verrathen Sie mich nicht,« rief aber Wahlert, der bei dem helleren Lichte des Fensters das Antlitz der jungen Dame erkannt hatte, und nun wohl vermuthen konnte, wen er vor sich hatte, schnell entschlossen – »ein Wort von ihren Lippen und ich bin ein Kind des Todes!«

»Härr Jäses, Frälen, was geiht's denn do?« rief die Magd in dem Augenblicke draußen auf dem Gange, und kam rasch herbeigeschlurrt – »was hewe Se denn?«

»Ihretwegen bin ich hier und Sie wollen mich dem Henker überliefern?« flüsterte noch einmal der Entdeckte – »mein Leben liegt in Ihrer Hand.«

Sophie sammelte sich mit krampfhafter Anstrengung und schritt auf die Thüre zu, in der jetzt eben die Magd, glücklicher Weise ohne Licht, erschien.

»Ich habe Dich doch gebeten, das Fenster nicht aufzulassen,« sagte sie, ihr entgegentretend.

»Aber Frälen, ich hob' es weeß der Himmel zugadriaht – was hatten Se denn nuar?«

»Das Fenster stand auf, und wie ich es schließen wollte, stieß ich mich in's Auge – es that weh – ich habe wohl geschrien?«

»Als wenn Se am Spieße stiaken,« lachte das Mädchen, »Härr Jeses, ich dachte der Deibel wär' lus – wullen Se Licht hawe?«

»Nein, ich danke Dir, ich komme gleich hinunter; essen sie schon?«

»Se sitzen gerade drim herim, der Härr Pastor is aber noch nich heeme.«

Und das Mädchen nahm ihren Eimer, klappte damit die Treppe hinunter und öffnete die Thüre wieder, um ihn auszugießen.

»Was war denn im Hause?« frug in dem Augenblicke unten vor der Thüre eine Stimme die heraustretende Magd – »wer schrie denn so – ist der Kerl etwa drinn?«

»Megte wissen wie,« lachte das Mädchen, »unser Frälen hat sich blos an'en Kopp geschtußen – na is die schreckhaft – wenn iche jedesmal kreischen wullte, wo ich wo anrenne, nachen's hätt' ich Arbet.«

Sophie, die oben mit klopfendem Herzen in der Thüre stand und den Worten lauschte, konnte nichts weiter verstehen, denn die Redenden traten mehr vor das Haus und gleich darauf wurde auch das Thor wieder geschlossen. Sie drückte ihre eigene Thüre in's Schloß, schob den kleinen Riegel vor, that ein paar Schritte gegen das Fenster und sagte hier mit leiser, aber vor innerer Angst zitternder Stimme:

»Was um Gotteswillen hat Sie unglücklicher Mann in dies Haus getrieben – wie kamen Sie in dies Zimmer, und wer hat sie hereingelassen?«

»Der Zufall und mein gutes Glück ließen mich, unbemerkt von Anderen, die rechte Thüre treffen,« sagte jetzt Wahlert, und trat, durch das Gefährliche seiner Lage gezwungen, eine Nothlüge zu machen, leise auf sie zu – »aber Sie, mein Fräulein, Sie allein waren die Ursache, die mich hierher geführt.«

»Ich? – wie um Gottes Willen – ich?«

»Gehetzt wie ein wildes Thier,« fuhr der Flüchtling mit leiser aber bitterer Stimme fort, »bin ich seit heute Morgen durch Wald und Forst gestreift, und weshalb – weil ich ein freies Wort gesprochen, weil ich dem Volke Glück und Freiheit geben wollte, und nicht darauf achtete, ob ich dabei die Großen der Erde erzürnte. Aus jahrelangem Schlaf ist Deutschland erwacht, die Fesseln der Tyrannei wirft es fort, und wären wir ein einziges Volk, jetzt, jetzt blühte die Zeit, wo wir mit einer Kraftanstrengung die Nacken heben, das Joch brechen könnten, aber während sich in dem einen Staate, in der einen Stadt das Volk in keckem Todesmuthe den Bayonetten entgegenwirft, sieht das Nachbarländchen müßig zu, und wartet, bis auch an seine Grenze die Reihe kommt, und die Fürstenknechte erst in dem einen Gebiete gesiegt haben, um nun auch in dem anderen, falls es dann noch Lust verspüren sollte, sich wirklich zu erheben, die Bande fester schürzen, die Knechtschaft unzerreißbarer machen zu können. Ihr dann, die Ihr der Gewalt kühn die Stirne bietet, werdet verfolgt, gefangen, und hält Euch erst einmal der Kerker umschlossen, o Ihr Armen, dann, wehe, wehe Euch, Ihr seht das Licht nicht wieder.«

»Aber mein Herr –«

»Verzeihung, Fräulein – ich dachte an Deutschland – nicht an mich – so hören Sie denn. – In eine fremde Gegend hierher geschleudert, wo mir Weg und Steg fremd war, wußte ich nicht, an wen ich mich, von Verfolgern umgeben, wenden könne, um die nächste Richtung nach der Grenze zu erfahren – jeder Mann, den ich anredete, konnte ein Feind sein. Da sah ich von meinem Versteck aus Sie vorübergehen – Ihr holdes Angesicht, in dem kein Falsch lag, kein Verrath lauerte, gab mir Muth, ich trat auf Sie zu, wollte mit wenigen Worten ihre Furcht über meinen Anblick beschwichtigen, das Wort der Bitte dann an Sie richten, da – ein sicherer Schütze war es, der das Blei nach mir sandte – doch vielleicht war es gut – es kürzt meine Leiden ab.«

»Großer Gott – Sie sind verwundet?« rief Sophie rasch und erschreckt.

»Lassen Sie das –« sagte Wahlert mit leiser Stimme und ein Gedanke an Rettung zuckte ihm durch das Hirn – »mein Halstuch hat die Blutung gestillt und ich finde vielleicht morgen Jemanden, der mir die Kugel aus der Wunde zieht – ich wollte – ich wollte nur nicht der Gefahr ausgesetzt sein, vielleicht – vielleicht an Blutverlust im Walde liegen zu bleiben – ohne vorher wenigstens bei Ihnen rein dazustehen – die andere Dame schien mich für einen Räuber zu halten, der hülflose Frauen –«

»Heiland der Welt,« bat Sophie in Todesangst – »wie können Sie glauben – ich war – ich wußte –«

»Sophie!« rief in dem Augenblicke eine Stimme von der Treppe herauf – »Sophie!«

Die Jungfrau eilte zitternden Schrittes zur Thüre, öffnete diese und antwortete:

»Ja Mutter – ich komme gleich.« –

»Nein, Kind, machst Du lange,« sagte die Stimme unten, »die Suppe wird ja ganz kalt – der Vater ist auch eben gekommen.«

»Ich komme den Augenblick, Mutter!«

Die Thüre unten ging wieder zu.

»Sie müssen fort – gleich fort,« wandte sich jetzt das arme Mädchen in Todesangst an den Fremden, »aber wohin wollen Sie fliehen, wohin können Sie, verwundet und ohne Beistand.«

»Wenn ein Wundarzt hier im Orte wäre, dem ich mich anvertrauen dürfte,« flüsterte der Flüchtling, »es soll hier ein Doctor Levi in Horneck wohnen.«

»Das war ein glücklicher Gedanke,« rief schnell Sophie, »auch ist der seiner radicalen Gesinnungen wegen bekannt, und wird Sie nicht verrathen!«

»Aber wie find' ich sein Haus – wie verlass' ich diesen Ort, ich bin ja wie ein Wolf, wie ein gehetztes Thier des Waldes umstellt – doch was thut's – was schadet es, hab' ich mich doch jetzt wenigstens in Ihren Augen gerechtfertigt – halten Sie mich doch nicht mehr für schlecht – was kümmert mich's da, wie die Welt von mir denkt, was die Welt jetzt mit mir thut.«

»Bleiben Sie jetzt noch hier oben, bis wir gegessen haben,« sagte Sophie rasch und entschlossen, »ich werde Gelegenheit finden, dem Doctor ein paar Zeilen zu schreiben, später soll er Sie abholen; mit Hülfe von meines Vaters Hut und Mantel wird das möglich sein. Wenn auch Wachen ausstehen, kann man Sie nicht in der Kleidung vermuthen. – Heiliger Gott, mein Vater kommt – wenn er hier einträte. –«

Der schwere Schritt des Pastors wurde auf den knarrenden Stiegen laut – im nächsten Augenblicke klopfte er an der Tochter Zimmer.

»Sophie,« sagte er dabei, »mach' rasch, daß du hinunter kommst. Die Mutter wartet und wird schon ganz ungeduldig – aber – wie ist mir denn – hier – hier ist ja gescheuert – ich will doch nicht hoffen« – er eilte schnellen Schrittes nach seiner weit offen stehenden Stube hinter, und die laut zürnende Stimme verrieth bald, was er dort gefunden haben mußte.

»Nein da hört Alles auf – Sophie – Frau – nun das hat mir noch gefehlt – Sophie – wo ist das Mädchen, Christel, Rose oder Grete, wie heißt sie denn nur eigentlich – Christel.«

»Halten Sie sich ruhig – ich hole Sie bald ab,« flüsterte Sophie, schob den Riegel zurück und glitt rasch aus dem Zimmer, das sie hinter sich wieder verschloß.

»Aber Mütterchen, was giebt es denn nur?«

»Wer hat dem unglückseligen Geschöpf von einem Mädchen gesagt, daß es meine Stube scheuern soll?« frug hier der gestrenge Herr Pastor und stand, mit dem Lichte in der Hand, dem Hut auf dem Kopfe und den Mantel noch umgehangen, auf der Schwelle seiner Stube – »wer hat der Liese oder Christel oder Grethe, wie sie heißt, aufgetragen, mich hier mit meinen Papieren unter Wasser zu setzen?«

»Ih Du meine Güte, was giebt es denn da oben nur eigentlich, warum kommt Ihr denn heute gar nicht zum Essen?« frug die Frau Pastorin, und ihr Kopf erschien eben hoch genug, um durch das hölzerne Treppengitter hin den Gang entlang sehen zu können. »Was hast Du denn, Scheidler? Du machst ja einen entsetzlichen Spektakel?«

»Wer hat meine Stube scheuern lassen!« frug der Pastor hiergegen in lakonischer Kürze – »wer war der Unglückliche.«

»Deine Stube?« rief die Frau Pastorin erschreckt und kam rasch die Treppe ganz herauf – »ei Du lieber Gott, wenn man seine Augen doch auch nicht allerwegen hat – Rieke – Rieke – wo nur das Wettermädel wieder steckt – Sophie, ruf mir doch einmal die Rieke herauf, sie soll den Augenblick herkommen.« Und mit den Worten nahm sie ihrem Gatten das Licht aus der Hand, und hob dieses, die Stube betretend, aus der ihr ein feuchter warmer Dunst entgegenquoll, hoch empor.

Allerdings hatte aber auch der Pastor Ursache, erzürnt zu sein, und er wurde es erst noch, als er den vollen Umfang der angerichteten Verwirrung vollkommen überschauen konnte.

Die ganze Stube war gescheuert, aber nicht allein die Stube, sondern auch alles Holzwerk, es mochte nun Wasser vertragen oder nicht. Die Bücherbreter standen abgeräumt und naß, und auf den Stühlen, auf dem Ofen, auf Bett und Sopha lagen die Bücher, sorgfältig aber wild zusammengeschichtet über einander. Ja selbst der einfache Schreibtisch war der Scheuerwüthigen nicht entgangen, die Papiere, deren sie doch allein Anschein nach nicht sämmtlich Herr werden konnte, staken rücksichtslos in die oberen Fächer hineingestopft, oder flogen jetzt, da in diesem Augenblicke das Mädchen gerade unten mit einer neuen Tracht Wasser in's Haus kam, durch den Zug der geöffneten Thüre getrieben, von Bett und Sopha aus zerstreut in der nassen Stube herum. Kein Blatt, kein Buch, kein Stuhl lag oder stand an seinem alten gewohnten Platze, und der Raum glich eher jedem andern Zimmer, als dem stillen Studierstübchen eines fleißigen Pastors am Sonnabend Abend, wo er sich erst recht sorgsam auf die morgen zu haltende Rede vorbereiten sollte.

Der Pastor schritt rasch auf seinen Schreibtisch zu, sah sich hier mit ängstlich forschenden Blicken überall um, und wandte sich dann in stummer sprachloser Verzweiflung gegen die Thüre, wo eben die zankende Stimme seiner Frau laut und das bestürzte dummverdutzte rothbreite Antlitz der Magd sichtbar wurde.

»Wo hat Sie die Papiere hingethan, die auf meinem Schreibtische lagen, Christel? – rede Sie, Sie unglückseliges Geschöpf!«

Die Magd sah, nicht wissend ob sie oder Jemand anderes mit dem »Christel« gemeint sei, ängstlich von Einem zum Anderen, erwiederte aber gar Nichts –

»Rieke heißt sie,« fiel die Frau Pastorin, gegen ihren Eheherrn gewandt, ein, »wo hast Du die Papiere hingethan, Rieke, und wer hat Dir überhaupt gesagt, daß Du hier im Zimmer scheuern solltest?«

»Härr Jeses,« klagte das Mädchen, »das muß mer nur wissen, aber de Schtube sach so erschrecklich aus, un der Schnupptaback drinne, un die Flecken un die Papierschnitzeln –«

»Wo sind die Papierschnitzeln, Grethe« – rief jetzt der Pastor, immer mehr sich ereifernd und vergebens bemüht, den Namen des heute erst angezogenen Mädchens zu behalten, »wer hat Ihr gesagt, daß Sie Ihre Fäuste an meine Papiere legen soll.«

»Nu, wo sollen se sin,« brummte die Magd, »ufgereimt han ich se, das versteht sich doch? – Die sin Se los – de großen Stücken han ich in den Korb da gästeckt, wu schonst mehr Papier dringe stock, und die kleenen Schnitzelchen liegen im Ofen – ich han's Feier mit angemacht, daß es schnell dreige wären sülle.«

Der Pastor fuhr erschreckt nach dem Ofen, aber das Gräßliche war wirklich schon geschehen, es glimmte dort von dünnen Holzscheiten genährt ein kleines gemüthliches Feuer, und die leichte graue Papierasche, die ihm entgegenflog, bestätigte jedes Wort, was das Mädchen gesprochen.

»Die großen Stücken in den Papierkorb, und die Schnitzelchen in den Ofen,« stöhnte der Pastor und faltete die Hände, »meine kostbaren Citate und Bibelstellen, nach großen und kleinen Papierschnitzeln sortirt – Herr vergieb mir meine Sünde, aber bei dieser Gelegenheit möchte ein frommer Christ doch wahrhaftig aus der Haut fahren – Miene, Miene, Sie hat mir hier einen Streich gespielt, den ich Ihr im Leben nicht vergesse – und meine Predigt – entsetzliche Person, meine Predigt; wenn Sie die auch verbrannt hat, muß Sie mir wahrhaftig morgen, am Tage des Herrn, wieder aus dem Hause.«

Der Pastor konnte schwer überredet werden, sein Suchen vor der Hand aufzugeben, und erst zum Essen hinunter zu kommen, das verlassen und einsam auf dem Tische stand. Glücklicher Weise fand er wenigstens den größten Theil des Vermißten wieder, und die weitere Nachforschung bis nach dem Abendessen verschiebend, hing er Hut und Mantel, da in seiner eigenen Stube kein Zoll breit Raum mehr war, auch nur einen Handschuh abzulegen, draußen vor der Thür auf einen Stuhl von wo sie Sophie, als die Eltern vor ihr her die Treppe hinunter gingen, rasch wegnahm, in ihre Stube legte, die Thüre wieder verschloß, und dann, um keinen weitern Verdacht zu erregen, mit zu Tische ging.

Das Abendgespräch bildete natürlich zuerst das eben angerichtete Scheuerunglück und dann der Entflohene, von dem der Pastor gehört, wie auch, daß er seine eigene Tochter angefallen habe. Diese Anklage des »Unglücklichen« wies aber Sophie bestimmt ab; der Mann sei, wie sie sagte, gerade auf sie zu aus dem Walde getreten, und habe sie wahrscheinlich um etwas bitten wollen, als Anna Schütte, einen wilden Angstschrei ausstoßend, davon gelaufen sei; der dazu kommende Jäger aber wäre jedenfalls viel zu voreilig gewesen, gleich auf einen Menschen zu schießen, von dem er noch nicht einmal wissen konnte, ob er schuldig oder unschuldig sei.

Dagegen eiferte der Pastor, nannte den Entsprungenen einen »Wühler« und »sehr gefährlichen Menschen«, der sich aber auch sonst noch habe viel Schlechtes zu Schulden kommen lassen und schloß mit dem herzlichen Wunsche, daß er seinem Schicksale nicht entgehen und wieder eingefangen werden möge, ehe er etwa gar mehr Unheil anrichte, und andere Menschen in's Verderben führe.

Sophie war von den Erlebnissen des Tages aufgeregt und erschöpft – klagte über heftige Kopfschmerzen und Herzklopfen, und bat die Mutter, Friederiken noch einmal nach dem Doctor hinein schicken zu dürfen, daß er ihr ein Fläschchen von den Tropfen schicke, die ihr früher so gut gethan.

»Ich möchte dem Mädchen aber wohl den Namen aufschreiben,« sagte sie, als sie aufstand, es zu bestellen – »wer weiß, was sie mir sonst ausrichtet.«

»Gewiß, gewiß,« rief der Vater schnell, und zündete sich das Licht wieder an, um die unselige Verwirrung seiner Papiere, so weit das überhaupt noch möglich war, zu heben – »und schreib's ihr ausführlich auf, der ist Alles zuzutrauen; unsere Anna Marie, die heute abzog, hatte das Pulver auch nicht erfunden, aber so dumm, wie diese Hanne, war sie denn doch wahrhaftig nicht – daß sie mir nur nicht wieder über meine Schwelle kommt, so viel sag' ich Euch.«

Und damit verließ er das Gemach und stieg langsam in sein Studierzimmer hinauf.

Eine Viertelstunde später ging das Mädchen in das Dorf zum Doctor, der eben aus der Schenke heim gekommen war. Von diesem erhielt sie ein kleines Fläschchen, das sie auch glücklich zerbrach, ehe sie hundert Schritte weit gegangen war. Unverdrossen kehrte sie aber wieder um, ließ sich dasselbe noch einmal geben, und brachte es diesmal auch wirklich bis vor die Pfarre, wo es jedoch das Schicksal des ersten theilte. Noch einmal umkehren ging nicht an – der Wächter im Dorfe tutete eben zehn, und mit thränenden Augen und Todesangst ging sie zum »Frölen« hinein und klagte ihr Unglück.

Es schadete Nichts, die Kopfschmerzen hatten nachgelassen, aber warum ging das »Frölen« nur nicht zu Bette – da wurde bei Rieken der Kopfschmerz immer gleich wieder gut. – Sophie wollte noch ein Bischen auf dem Sopha sitzen bleiben, die Pferdehaarkissen kühlten ihre Schläfe und thaten ihr wohl. –

»Nu Härr Jeses, do nähm ich mer doch was mit ze Bette,« meinte die Magd.

»Es ist schon gut, Rieke, geh' nur, ich komme auch gleich nach,« sagte des Pastors zitterndes Töchterlein, und barg die fieberglühende Stirn an dem kühlen Polster.

Halb elf Uhr war's und in der Pfarre wachten noch drei Menschen. Der Eine saß zwischen wüsten Bücher- und Papierhaufen, die zu ordnen er an diesem Abende in Verzweiflung aufgegeben, und studierte, von der Außenwelt ganz abgeschlossen, an seiner morgenden, wenigstens stückweis geretteten Predigt. Der Andere stand, die heiße Stirn an die Fensterscheibe gepreßt, oben in der Jungfrau lauschigem Gemach, und zählte in peinlicher Ungeduld die Viertelstunden, wie sie der düstere, links über den Kirchhof hervorragende Thurm langsam und schläfrig zu ihm herüber wimmerte – schaute zu den Wolken auf, die rasch und geisterhaft an den funkelnden Sternbildern vorüber glitten, und horchte mit klopfendem Herzen dem leisesten Geräusch, das aus Garten oder Hofraum zu ihm herauf tönte.

Der Dritte aber, die scheue, angstdurchschauerte bebende Jungfrau, stand, die Hände krampfhaft auf den furchtsam wogenden Busen gefaltet, im kalten Zuge der Hausflur, und harrte in athemloser Erwartung des verlangten Zeichens.

Endlich – endlich wurden draußen leise, vorsichtige Schritte hörbar – dreimal klopfte es an – tick, tick, tick – tick, tick, tick – tick, tick, tick, und leise aber ohne Zögern erwiederte sie die Parole.

Kein Wort wurde gesprochen, rasch nur glitt sie die Treppe hinauf und kehrte nach wenigen Secunden mit einer in einen Mantel gehüllten, den Hut tief in die Augen gedrückten Gestalt wieder zurück.

»Hier, nehmen Sie, und Gott sei mit Ihnen,« flüsterte sie leise, und drückte dem Flüchtenden die kleine Börse, all' ihr Erspartes, in die Hand.

»Sophie,« sagte Wahlert, und eine eigene Rührung überkam sein sonst sanften Regungen nicht leicht zugängliches Herz – »ich weiß nicht – darf ich –«

»Nehmen Sie, die Augenblicke sind kostbar – es ist nur ein Darlehn, das sie mir in glücklicher Zeit zurückerstatten können.«

»Du mitleidsvoller Engel, aber nicht kränken will ich Dich jetzt durch kalte Weigerung – Dank – Dank, tausend Dank und – Lebewohl –«

Leise umfaßte sein Arm die zitternde willenlose Gestalt – er zog sie an sich und ein langer, glühender Kuß brannte auf den bleichen, kalten, unentweihten Lippen der Jungfrau.

Leise entzog sie sich endlich seiner Umarmung.

»Fort – fort –« flüsterte sie – »an jeden Augenblicke kann sich das Verderben hängen.«

Rasch, doch geräuschlos schob sie den schweren Riegel zurück – auch das Schloß wich, und ächzend öffnete sich die Thür – aber der Pastor oben vernahm nicht den Laut, der zu jeder Zeit seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätte, tiefbrütend saß er über der schwülstigen Rede, die morgen in vernichtender Kraft von der Kanzel hernieder donnern sollte, und durch den Garten draußen, an der Hecke hin, den schmalen Pfad hinunter auf dem breiten Weg, der in's Dorf führte, und in dieses hinein, bis zu dem kleinen niedrigen, von breitästigen Kastanien beschatteten Häuschen des Doctors schritten rasch und wortlos zwei Männer und verschwanden bald in die, sich augenblicklich wieder hinter ihnen schließende Thür.

In ihrem Kämmerchen aber, das holde thränenfeuchte Angesicht fest, fest in die Kissen hineingeschmiegt, und die Brust nur von dem einen Gedanken, dem einen Bewußtsein tiefen unsäglichen Schmerzes erfüllt, lag die Jungfrau und weinte – weinte, als ob ihr von diesem Augenblicke an alle und jede Freude auf der weiten schönen Gotteswelt abgestorben und gebrochen wäre.

Achtes Kapitel.
Jägers Fritz und Schulmeisters Lieschen.

Es war ein freundlicher sonntägiger Frühlingsmorgen, der zweite April im Jahre unseres Herrn 1848, der Himmel spannte sich blau und sonnig über die schöne, blüthengeschmückte Erde, der Wald lag schlummernd unter der leichten, maigrünen Laubdecke, die Lerchen stiegen fröhlich wirbelnd empor aus der schon wogenden Wintersaat, und der Storch stand langbeinig und ernst oben auf dem Kirchendach, ließ sich nicht stören durch den munteren Krähenschwarm, der oben um den Thurmgiebel krächzte, und schaute gar bedächtig in das Dorf hinunter, als ob er selber neugierig wäre zu sehen, wer heute bei dem herrlichen, köstlichen Wetter wohl in die kalte, feuchte, dumpfige Kirche käme, um zu seinem Gott zu beten, und es nicht vorzöge, draußen im Freien, in jeder Blüthenknospe, in jedem zwitschernden, jubelnden Sänger des Waldes und Feldes seinen Schöpfer und Erhalter, seinen liebenden, sorgenden, waltenden Vater zu verehren.

Unten an den Glockensträngen hing eine Schaar jubelnder, ausgelassener Schulkinder, und riß an den hanfenen Seilen, während droben der Klöppel summend und dröhnend gegen seine metallene Hülle schlug, und manche geschäftige Mädchenhand eilte das Mieder rascher zu schnüren, und die bandgeschmückte Haube zu ordnen, manchen breitgeschweiften Hut in die struppige Stirn seines Eigenthümers drückte und ihm das schwarzhäutige Gebetbuch unter den Arm schob.

Und drüben, am dunkelgrünen Rande des Nadelholzes stand ein schlankes, scheues Reh, und lauschte vorsichtig nach den wohl oft gehörten, aber doch unbegriffenen Tönen hinüber; auch der Storch drehte manchmal den Kopf dem summenden Laute zu, als wenn er sehen wollte, ob es der Klöppel oben oder die wilde Jugend unten am ersten überdrüssig würde, und die Lerche jubelte harmonisch in den Klang hinein und hob sich, wie von den schwellenden Tönen getragen, höher und höher; die aber zitterten durch die blaue, weißhauchige Luft, über die thauschweren Blüthen und Halme hin, nach dem Wald hinüber, und dem hehrrauch gefülltem Thal; und in die fernen Schlüchte und Gründe, in die Zweige und Büsche hinein, schmiegte sich der Schall, und der Luftzug trug ihn fort, weiter, immer weiter hin in dem Aethermeer, bis er in blauer Ferne über die Halden, über die Hänge hin verschwamm, und Maiblumen und Veilchen nur noch wie ahnungsvoll und grüßend hinüber nickten, und die perlenschweren Kelche wiegten und schaukelten.

Fromme, oder wenigstens pünktliche Kirchengänger zogen die engen Pfade entlang dem Gotteshause zu, rothe gesundwangige Mädchengesichter, die Augen züchtig auf die blankgewichsten Schuhspitzen niedergesenkt, und gebeugte Greise, die schon die Zeit berechneten, wo sie in ihrem schmalen, letzten Haus den Pfad hinauf getragen würden, den sie jetzt noch alterschwach, aber nicht lebensmüde, – denn der junge Lenz pflanzte auch neue Hoffnung in ihre alten Herzen – hinauf wandelten.

Warm und wohlthuend schien die schon hoch über dem fernen Wald stehende Sonne in des Schulmeisters kleines, aber freundliches Gärtchen, das von seines Töchterleins fleißiger Hand gepflegt, der lieben Blumen und Blüthen gar viele und herrliche trieb; Frühtulpen und Narcissen, Veilchen und Aurikeln, Maiglöckchen und Leberblümchen wetteiferten im Farbenschmelz und süßem Duft, und Schulmeisters Töchterchen selber war nicht die unbedeutendste Blume in ihrem lieben, freundlichen Garten.

Niemand wußte das übrigens besser, als Fritz Holke, des Jägers ältester Sohn und Gehülfe, der erst kürzlich seinen Militairdienst beendet hatte, und nun hoffen durfte, in späterer Zeit entweder in seines Vaters Stelle bestätigt zu werden, oder doch irgend einen anderen Posten, der seinen Mann ernährte, zu erhalten. Um aber auf alle Fälle gesichert zu sein, glaubte er nichts Eiligeres zu thun zu haben, als sich nach einer künftigen Hausfrau schon bei Zeiten umzusehen, und seinem Geschmack machte es allerdings Ehre, daß er dazu Schulmeisters Lieschen gewählt. – Ein herzigeres Kind, eine bessere Tochter, ein rechtschaffeneres Mädchen gab es nicht im weiten schönen Land, und was ihr Aussehen betraf, so konnte sie mit den gesundheitfrischen Wangen und den schelmischen Grübchen drinn, den treublauen Augen und der schlanken fast zarten Gestalt, auch den Vergleich mit Mancher aushalten, die sich sonst vielleicht weit schöner und besser dünkte, als eben »Schulmeisters Lieschen.«

Bei Schulmeisters war schon Alles seit Tagesanbruch munter und geschäftig gewesen, und so früh es auch noch an der Zeit sein mochte, liefen doch die Kinder schon gewaschen und angezogen im Hause herum, in der frisch gescheuerten Schulstube, denn diese diente der ganzen Familie zum Aufenthalt, kräuselte sich der klare schneeige Sand, und auf dem Tisch lag ein schloßenweißes Tuch mit dem schwarzen Brod, der kernigen Butter und dem blinkenden Messer darauf, weil der Vater gern, ehe er in die Kirche ging, einen Imbiß nahm. Niemand Anderes als Lieschen hatte das Alles besorgt, jetzt aber schlüpfte das maifrische Kind selber zur Thür hinaus, durch den Garten, und stand bald, von einem Fliederbusch gedeckt in dem kleinen Pförtchen, das auf den in den Wald vorbeilaufenden Pfad hinausführte. Einen grünen Rock hatte sie am Fenster draußen vorbei gehen sehen, und aus dem Fliederbusch streckte sich ihr jetzt mit herzlichem Gruß eine Hand entgegen, und eine freundliche Stimme sagte:

»Guten Morgen, Lieschen, das ist brav von Dir, daß Du zum Morgengruß heraus kömmst, wir sehen uns doch so selten, und es ist Einem den ganzen Tag wohl, wenn man gleich in aller Frühe in ein so liebes Gesichtchen geschaut hat.«

»Guten Morgen, Fritz,« lächelte seine Braut, »aber Du böser Mensch, willst am heil'gen Sonntag, und mit der Flinte in den Wald? Ist das auch recht? – na, wenn Dich der Herr Pastor sähe, der würde ein schönes Gesicht schneiden.«

»Er hat mich gesehen,« lachte der junge Jäger, »ich war erst beim Gerichtsschreiber, wegen des Burschen, den wir gestern verfolgt haben, und mußte nun den Kirchweg herauf. Gewöhnlich ist der Pastor nicht am Fenster, heute aber stand es auf, und er daneben, mit einem Papier in der Hand; er sah auch gerade nach mir herüber. Ei, was schiert das mich – sein Geschäft ist in der Kirche, meines im Walde, und wenn wir Beide dem obliegen, kann sich keiner über den anderen beklagen.«

»Am Sonntage ist aber Deines auch in der Kirche,« sagte Lieschen; »wenn nun Alle so denken wollten, da käme ja weiter kein Mensch zur Predigt, als der Pastor und Schulmeister selber; das wär' eine schöne Kirche.«

Der Jäger lachte bei dem Gedanken, daß der Pastor einmal keinen weiteren Zuhörer hätte, als den Schulmeister, sagte aber, schmeichelnd die Hand streichelnd, die er noch immer in der seinen hielt:

»Laß gut sein, Lieschen, Du hast vielleicht Recht –«

»Nein, nicht vielleicht, ich –«

»Du hast gewiß recht, aber sieh, heute geht's nicht anders; der Strauchdieb, der wehrlose Frauen im Walde anfällt, muß jedenfalls wieder zurückgewechselt sein, und da will ich nur einmal abspüren, wo er hinein ist, denn in dem feuchten Graben kann man jede Fährte genau bestimmen. Geschweißt hat er auch, vielleicht machen wir ihn noch aus, ehe er weiteres Unheil anrichtet.«

»Du lieber Gott, sprichst Du doch da von einem Christenmenschen, als ob es nur ein unvernünftiges wildes Thier wäre.«

»Ei was, ein Schuft, der Frauen anfällt –«

»Aber er hat sie ja gar nicht angefallen – Herr Hennig –«

»Er hat sie nicht angefallen? – ist denn mein Vater nicht gerade dazu gekommen, wie er des Pastors Tochter gefaßt hatte und plündern wollte?«

»Aber laß mich doch nur erst ausreden, Fritz –« rief Lieschen eifrig – »Herr Hennig ist ja auch dabei gewesen, und mit Sophiechen Scheidler nachher nach Hause gegangen, und die muß es denn doch wohl am Besten wissen, ob sie angefallen ist oder nicht.«

»Man sollte es denken,« meinte der Jäger.

»Nun die also – Herr Hennig hat uns die ganze Geschichte gestern Abend bei Tische erzählt – behauptet steif und fest, er hätte sie nicht angefallen, sondern sei nur aus dem Walde auf sie zugetreten, um sie wahrscheinlich nach irgend einem Weg zu fragen, vielleicht auch um etwas anzusprechen, und da habe die Mamsell aus der Stadt gleich Zeter geschrien, Dein Vater aber, der gerade dazu gekommen, Feuer gegeben, als der Fremde, wohl über das Schreien erschreckt, eben in den Wald zurück fliehen wollte.«

»Hm, das klingt freilich anders, als der Vater mir erzählt hat, der meinte –«

»Dein Vater ist aber weit davon entfernt, und Sophiechen dicht dabei gewesen,« vertheidigte das Mädchen ihren Schützling, »die muß es also auch besser gesehen haben, und sie soll recht traurig gewesen sein, daß der arme Mensch so ohne alles Verschulden, vielleicht ihretwegen verwundet ist. Herrn Hennig war's eben so – der hat selber den ganzen Abend kein Wort weiter gesprochen, und wir mußten ihm das, was wir überhaupt von ihm heraus haben wollten, Sylbe bei Sylbe vom Herzen ziehen. – Ich weiß aber wohl warum, so dumm ist unser eines auch nicht.«

»Nun warum denn?« frug der Jäger erstaunt, »der Schulmeister hat doch mit der ganzen Geschichte weiter Nichts zu thun gehabt, als daß er dem Fräulein beigesprungen ist.«

»Ach bist Du blind,« seufzte mit komischem Mitleiden des Schulmeisters Töchterlein, »Hennig ist bis über die Ohren in Pastors Sophie verliebt, und geht nun so traurig herum, weil er die doch im ganzen Leben nicht bekommen kann.«

»Nicht bekommen kann? nun das sehe ich denn doch nicht ein,« sagte der Jäger, »wenn sie ihm wieder gut ist, was sollte sie da Beide hindern, sich zu heirathen?«

»Ein Schulmeister eine Pastorstochter?« entgegnete ihm kopfschüttelnd sein Bräutchen, »das mag wo anders Sitte sein, aber hier zu Lande im Leben nicht. Ach du lieber Gott, unser Herr Pastor seine Tochter einem Schulmeister zur Frau geben – na, ich möchte dabei sein, wenn er um sie anhielte.«

Der Jäger runzelte die Stirn und sagte finster:

»Ich möchte nur wissen, was ein Pastor denn so weit Besseres wäre, wie ein Schulmeister, – wenn Dein Vater uns Jungen nicht ordentlich erzogen und belehrt hätte, da sähe es jetzt wild im Dorfe aus, und der Herr Pastor könnte sich von der Kanzel herunter heiser schreien, es kehrte sich kein Mensch an ihn und seine Predigt. Ich will Dir auch etwas sagen, Lieschen, früher, wie wir uns noch nicht kannten, und wie mir der Schulmeister weiter Nichts war, als ›der Lehrer‹, um den sich die Jungen in späterer Zeit leider immer wenig genug kümmern, da war mir's auch einerlei, was so vom, und wie über den Schulmeister im Dorfe gesprochen wurde; aber schon, wie ich anfing Dir gut zu sein, ehe Du mich nur selber so recht freundlich angesehen hattest, ärgerte es mich, wenn es hier und da bei Gelegenheiten hieß – ›es ist nur der Schulmeister‹, oder ›wenn's der Herr Pastor will, der Schulmeister muß schon –‹, der ›Herr Schulmeister‹ fiel keinem Menschen ein zu sagen. Wie ich erst einmal auf der Spur war, kam ich auch bald weiter – ich dachte d'ran, wie wir Jungen es in der Schule gemacht, und was für Schläge ich einmal zu Hause von meinem Vater bekommen, als ich gegen den Schulmeister mit dem Pastor gedroht; jetzt erst sah ich, wie demüthig der Schulmeister den Herrn Pastor immer grüßte, und wie freundlich herablassend dieser dankte. Ei zum Donnerwetter, was ist denn der Pastor eigentlich besseres als der Schulmeister – daß er den Leuten etwa Sachen vorpredigt, von denen er eben auch nicht mehr weiß, wie wir anderen Menschen?« –

»Fritz – Fritz,« bat hier ernst das Mädchen, – »greif mir meinen Glauben nicht an, über die Menschen magst Du sagen, was Du willst, aber nicht über den.«

»Du hast recht, mein Herz,« sagte der junge Mann leicht besänftigt, »mir that es nur weh, daß auch Ihr selber, Du sowohl, wie Dein alter Vater, den Pastor ebenfalls für etwas Besonderes haltet, und Euch ordentlich vor ihm fürchtet. Doch das muß anders werden; in der Stadt drinn, wo ich vorgestern war, sprachen sie ganz offen davon, daß die Schule von der Kirche getrennt werden, und die Geistlichkeit mit dem Lehramt gleichgestellt werden sollte, nachher hört die Unterthänigkeit von selber auf. Es ist auch gerade so mit der edlen Jägerei – edel, lieber Gott, der Revierjäger wird gewöhnlich von dem gnädigen Herrn wie der Bediente behandelt, und Jäger sind wir fast gar nicht mehr, höchstens noch Forstläufer, die nach den Holzschlägern und Holzdieben sehen, und das Pflanzen der jungen Sprößlinge, wie die Auctionen der geschlagenen Klaftern und Haufen besorgen müssen – mir graust's vor dem Dienste.«

»Aber lieber Fritz,« sagte das Mädchen traurig, »jeder Stand hat doch seine –«

»Lieschen – Lieschen!« rief's in dem Augenblick aus dem Haus – »wo steckt denn das Blitzmädel wieder – Lieschen!«

»Ich muß in die Kirche,« sagte Lieschen rasch – »behüt' Dich Gott, Fritz, und – nicht wahr, wenn Du den armen Menschen im Walde triffst, so thust Du ihm nichts? Er ist gewiß unschuldig und vielleicht gar schwer verwundet.«

»Nummer 6.« lachte Fritz, »und auf 80 oder 90 Schritte, er wird's kaum gespürt haben, – adieu Lieschen, leb recht wohl, heut' Abend, wenn ich darf, komm ich ein halb Stündchen herüber, am Sonntag leidt's schon.«

Ein herzlicher Händedruck, ein flüchtiger halbgestohlener Kuß, und der junge Jägersmann schritt, zur unbändigen Freude seines Hundes, dem die Zeit hier am Gartenzaune schon entsetzlich lang geworden war, rüstig den Pfad entlang dem Holze zu; Lieschen aber schlüpfte rasch in's Haus, und ging bald darauf, züchtig und ehrsam über den kleinen Plan hinüber und in die große Kirchthür hinein, die ihrer Stube gerade gegenüber lag.

Der Vater war mit dem Hülfslehrer schon vorausgegangen, und die feierlichen Klänge der Orgel grüßten sie, als sie in das kleine, mit bunten Bildern, Ernte- und Todtenkränzen und grobgeschnitzten Statuen von Märtyrern und frommen freigebigen Rittern geschmückte Heiligthum trat.


Von dem Hügel aus, auf dem die Schenke stand, konnte man das ganze Rauschenthal nach Westen zu übersehen, und ein lieblicher Anblick war es, den die weite, fruchtbare, nur hie und da mit dunklen Waldschatten durchzogene, und im fernsten Hintergrund von blauen Bergwänden begrenzte Ebene dem Auge bot. Tief unten schäumte der Strom, aber nur da, wo er sich, etwas weiter südlich, in leisem Bogen nach der Försterwohnung hinüberzog, ließ sich ein kleiner Theil seines in der warmen Frühsonne blinkenden Wassers erkennen, sonst deckte theils der baumbepflanzte Hügel, theils die unten angebauten Häuser seine Fläche. Aber drüben, am anderen Ufer, wechselte dafür der Farbenschmuck der frisch keimenden Felder um so freundlicher und belebter; breite Rapsflächen stachen mit ihrem saftigen Grün wohlthuend gegen das düstere Braun der Sturzäcker ab, junger Kieferschlag umdämmerte weite langgedehnte Wiesengründe und mehr nach Norden hinauf, gerade zwischen dem schwarzen Nadelholz des diesseitigen, und dem noch unbelaubten Eichenhügel des jenseitigen Ufers hin, blitzte ein klarer, weidenumschlossener Wasserspiegel, der große herrschaftliche Fischteich des dicht benachbarten Gutes, wie eine glänzende Perle aus ihrer matt smaragdenen Fassung, leuchtend hervor.

Oben um die Schenke herum war Alles still und wie ausgestorben; des Pastors schwerstes Interdikt lag auf dem, der während der Kirche es gewagt hätte die Schenke zu betreten und es schien ordentlich als ob sich der Wirth selber scheute in seine eigene Stube hinein zu gehn, denn er trieb sich faul und schläfrig unter der Linde auf dem freien Platz vor seinem Haus herum, und schaute nur manchmal ungeduldig nach dem über die Pfarrwohnung vorragenden Kirchthurm hinüber, ob die Zeit denn noch nicht bald heranrücke, wo seine Gäste, aus der Kirche zurückgekehrt, ihre nicht mehr als billige Station in der Schenke machten.

Seine Frau und Mutter, und Magd und Knecht, alle waren sie fort, Gottes Wort zu hören und nur das eine gewährte ihm jetzt eine wirklich vollkommene Beruhigung, daß er heute einmal ganz hinlängliche Entschuldigung hatte nicht auf seinem Stuhl gerade vor der Kanzel (er war übrigens fest entschlossen den Platz von Ostern an aufzugeben und einen bescheidneren mehr seitwärts zu nehmen) zu sitzen und sich zwei volle Stunden lang die größt möglichste Mühe zu geben munter zu bleiben.

Im Garten aber, der westlich vom Hause und durch breitbuschige Hecken links von dem Dorfe und rechts von einem vorbeiführenden Wege abgeschnitten lag, saß auf einem kleinen sonnigen Rasenfleck, das Antlitz dem vor ihr ausgebreiteten lieblichen Thal zugewandt, die Schulter gegen einen stämmigen Aepfelbaum gelehnt, die Hände im Schooß gefaltet, den Kopf gesenkt, wie im Anschaun des Waldgrundes vertieft, doch aber auch wieder mit einem Blick, der nur an leerer Luft zu haften schien, Maria, die Tochter des alten Musikanten.

Lange hatte sie schweigend so dagelehnt, und wohl recht trübe traurige Gedanken mochten es sein, die dem armen kranken Kinde durch Herz und Seele zogen. Endlich strich sie sich mit der Hand, als ob sie dem Schmerze wehren wolle, über die Augen, seufzte tief auf und pflückte, wie um sich zu zerstreuen, ein paar neben ihr wachsende Veilchen ab. Doch auch das war nicht im Stande ihre Aufmerksamkeit zu fesseln; die Blüthen entfielen unbeachtet ihrer Hand, der Blick haftete wieder fest und seelenlos am fernen Horizont und die Lippen öffneten sich endlich zu einem leisen schwermüthigen Lied, das sie mit wunderbar klangvoller aber nur halblauter Stimme sang und die beiden zarten Hände dabei fest und krampfhaft auf dem Herzen faltete:

»So will ich denn nun von hinnen gehn,
Und will Dich auf immer verlassen;
Gebrochen hast Du mir Deinen Schwur
Ich sollte Dich eigentlich hassen.
Doch kann ich es nicht; Erinnerung bleibt
Von früheren lieberen Tagen,
Es war ja doch meine schönste Zeit
Als ich dich im Herzen getragen.
Ich sage als – ach Du lieber Gott
Ich thue das ja noch immer,
Und wenn ich Dir auch entsagen muß –
Vergessen kann ich Dich nimmer.«

»Na, laß du nur den Pastor über dich kommen« rief da plötzlich eine rauhe mürrische Stimme hinter ihr – »der würde Dir's Handwerk legen, während der Kirche zu singen.«

»Singt er nicht auch in seiner Kirche?« frug die Tochter, ohne ihre Stellung zu verändern oder auch nur den Kopf empor zu heben, »warum ich nicht in der meinen

»Nein« lachte der alte Mann und schaute mit einem halb verächtlichen, halb spöttischen Blick nach der Kirche hinüber – »Da thust Du denen unrecht, wenn Du sagst sie sängen; ich bin einen Augenblick drin gewesen, konnte aber das Gebrüll keine zehn Minuten aushalten. Herr, Du mein Gott und davon sind die Menschen erbaut, das soll sie erheben. Der Schulmeister spielte wunderschön die Orgel, das muß man ihm lassen, aber von der Gemeinde schrie einer da und einer dort hinaus, und wenn er gar einmal wie es ihm gerade in Fingern und Gefühl lag, einen halben Takt länger Pause hielt, dann hätt'st Du das Nebenbei schrein der Lümmel, das Kopfschütteln vom Pastor auf der Kanzel und das Kichern und Lachen von den Jungen auf dem Chor hören und sehn sollen. – Es war mir ordentlich wohl, wie ich wieder vor der Thür draußen stand.«

»Und was hast Du ausgerichtet?« frug ihn die Tochter.

»Ausgerichtet? – ei, eine ganze Menge – aber wie gewöhnlich nicht viel Gutes – wär's mit dem Morgenconcert heute etwas geworden, so hätten wir gleich wieder auf eine Zeitlang zu leben; Du glaubst gar nicht wie sich die Leute im Dorfe, besonders im Stadtviertel freuten, als ich es ihnen sagte, und wie sie mir versprachen zu kommen. – Daß es der Pastor verbieten würde, daran dachte ich ja doch mit keiner Sylbe, aber mein Seel, muß mich das Unglück auch gerade in dem Augenblick zum Apotheker 'nein führen, wie der Pastor drinne sitzt und eine Tasse Kaffee trinkt, und kaum hört der von meiner Einladung, als er sich in die Brust wirft und mir gerade zu erklärt aus einem Morgenconcert in seinem Dorfe könne Sonntags unter keiner Bedingung etwas werden, das lenkte die Kirchgänger nur von ihrer Andacht ab, oder verhinderte sie wohl gar im Gotteshause zu erscheinen. Ich protestirte; sagte ihm daß ich schon meine ganzen Einladungen gemacht hätte – ja Du lieber Himmel, was kehrte sich der Herr Pastor daran, ob ein so armer Lump von Musikant noch einmal bis zehn Uhr Nachts, und mit leerem Magen im Dorf herum laufen und das selbst wieder abbestellen und zerstören muß, was ihm morgen doch wenigstens ein paar Groschen zu Brod gebracht hätte. Herr Du mein Gott, s'ist doch gerade zum aus der Haut fahren, wenn sich jetzt auch noch die Pastoren den Musikanten quer vor's Handwerk legen. – Aber zum Henker – was ärgere ich mich denn auch eigentlich über den Quark – giebt's denn auf der Welt etwa ein vortrefflicheres Leben als das unsere?

»Wo er naht, da tanzt man eben,
Durch das ganze Land,
Ist es nicht ein herrlich Leben
So ein Musikant?«
»Darum, sei's auch noch so schlimm hier,
Bleibt's der schönste Stand,
Und wenn's angeht, Mädchen, nimm Dir
Nur 'nen Musikant! – Juchhe!«

»Und die andern Spielleute?« frug die Tochter leise.

»Die lachten als ich es ihnen sagte, und meinten, das hätten sie vorher gewußt, da müßten sie ihr Prachtexemplar von einem Pastor nicht kennen. Die haben aber gut lachen, die sitzen warm und sicher, und denen ists einerlei, ob sie heute ein paar Groschen verdienen oder nicht – bei mir wird's aber zur Lebens- oder vielmehr zur Morgensfrage.«

Die Beiden schwiegen und starrten, Jedes in seine Gedanken vertieft, in das schöne sonnige Thal hinaus, und das eigene Herz mußte Ihnen, im Gegensatz zu all der Herrlichkeit, die sie umgab, wohl noch viel trüber und trauriger erscheinen. Endlich flüsterte Marie, als ob sie sich fürchte, die Frage laut zu thun –

»Und wie wird es hier mit uns? – in der Schenke können wir doch nicht bleiben, Du weißt was uns der Wirth gesagt hat?«

»Das hab' ich abgemacht.«

»Abgemacht?«

»Nun, nicht etwa mit baarem Gelde,« lachte der Musikant, »aber der Wirth will uns Nichts abnehmen, wenn wir heute Nachmittag, nach der Kirche heißt das, und sobald die Gäste heraufkommen, ein Stündchen musiciren. Ich spiele und Du singst – aber Marie – Du hast die Nacht wieder recht gehustet, wirst Du auch bei Stimme sein? – es schadet Dir doch nicht?«

Das Mädchen lächelte wehmüthig und sagte leise, während es sich vom Vater abwandte:

»Was soll mir's schaden – doch Vater –« fuhr sie, nach leichtem Zögern und mit leiserer Stimme fort – »weißt Du wem das Gut hier gehört?«

Der Alte nickte nur einfach mit dem Kopf, und brummte endlich ein mürrisches:

»Ja – was solls?«

»So laß uns lieber fort von hier ziehn« – bat die Tochter – »ich möchte nicht hier bleiben, wenn wir hoffen dürften, wo anders unser Brod zu finden.«

»Wir dürfen aber nicht hoffen, wo anders unser Brod zu finden, Mamsell!« rief der Vater heftig und sah sie mit finsteren Blicken an. »Zum Donnerwetter über das ewige Nasenrümpfen – überall stehts der Dame nicht an – einmal ist ihr die Gesellschaft zu schlecht, einmal der Ort selber nicht recht und bald dieß bald das nicht; zum Teufel, ich habe das Herumziehn jetzt satt – hier ist mir Hoffnung geboten, wenigstens den Sommer hindurch aushalten zu können, und hier blieb ich, wenn selbst zehn und zwanzig solche alte Halunken wie der Oberpostdirektor hier lebten; der wird uns schon aus dem Wege gehn, und wir brauchen ihn ebenfalls nicht aufzusuchen.«

»Aber Vater!«

»HeiligesHimmelDonnerwetter jetzt halt das Maul!« zankte der rohe Alte und streckte drohend den Arm gegen das Mädchen aus – »komm' mir noch einmal mit solch albernen Vorschlägen und sieh was ich thue. – Unsinn verdammter« brummte er dann, und wie sich selbst zu beschwichtigen, hinter drein – »jetzt wieder fort von hier zu gehen, wo's grade anfängt gut zu werden – na weiter fehlte mir gar Nichts. Die Aussichten sind jetzt gerade vortrefflich. Erstlich hab' ich für uns, unten im Dorfe d'rin, ein kleines Kämmerchen gemiethet, wovon wir den Zins wenigstens nicht gleich zu zahlen brauchen, und dann ist heute Abend hier oben Tanz, wobei ich, durch des alten Schulmeisters Verwendung, ebenfalls mit angenommen bin; ein paar Groschen wirft's da doch immer ab, theuer scheint's hier im Orte auch nicht zu sein, und da werden wir also wohl auch nicht gleich verhungern.«

»Vater« sagte das Mädchen, das in tiefen Gedanken verloren eine lange Weile schweigend vor sich nieder starrte, »Vater, hast Du Nichts wieder von – von dem Manne gehört, den sie gestern in den Wald hinein verfolgten?«

»Ich! – nein – doch ja, beim Schulmeister sprachen sie noch gestern Abend davon; der soll des Pastors Tochter und noch so eine andere Mamsell angefallen, und der gerade dazu gekommene Jäger auf ihn geschossen haben; nachher meinten sie, wär' er hier dem Dorfe zu geflüchtet, sie sind aber von seiner Spur abgekommen. Soviel weiß ich, erwischt ist er noch nicht – aber weshalb fragst Du?«

»O um Nichts – ich dachte nur gerade an ihn – komm Vater, wir wollen hier fortgehn, die Kirche ist aus, und die Leute kommen den Berg herauf.«

Sie stand auf und schritt langsam, unter den Obstbäumen hin, den Garten hinab, als ihr der Vater noch nachrief.

»Lauf aber nicht weit – der Wirth hat uns auch heute Mittag einen Teller warme Suppe versprochen – das geht mit ein.«

Sie nickte nur schweigend, daß sie es gehört, und verschwand dann durch die kleine Pforte, die hinaus auf den Hügel führte, der Musikant aber, in den Gedanken an die Suppe vertieft, und nur einen sehnsüchtigen Blick nach der Thurmuhr werfend, wie lange Zeit er bis zum Empfang derselben noch etwa zu warten habe, schritt langsam am Wirthshaus vorbei in's Dorf hinein, und summte dabei leise vor sich hin:

»Es strebt die Seele himmelwärts,
Hinauf, hinauf, zu höh'rer Sphäre,
O Gott, wie wollt' ich dichten, Herz –
Wenn ich nicht manchmal hungrig wäre!«

Neuntes Kapitel.
Die Schule.

Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber, Schulmeister Kleinholz hatte an Pastors Statt Betstunde gehalten, die dafür bestimmte Abtheilung der Schuljugend die Kirche ausgelauten, und aus dem »Stadtviertel« sowohl, wie aus dem Orte selbst belebten, des reizenden Tages sich freuend, Spaziergänger die Wege und Hänge, die nach dem Rauschenbett hinabliefen und die reizende Aussicht über das frühlingslichte Thal gewährten. Nur in der Schule saßen die Bewohner derselben noch in ihrer Sonntagsruhe um den weißgescheuerten Tisch herum, auf dem die braunglänzende Kanne mit den blaugeblümten Tassen und den blankgeputzten zinnernen Löffeln prangte, und den nicht asiatischen, sondern mehr vaterländischen Duft von gebrannten Möhren (die nichtsdestoweniger den fremdländischen Namen Kaffee trugen) zur Decke emporqualmte, daß er in den freundlichen Sonnenstrahlen, die schräg durch das geöffnete Fenster hereinfielen, allerlei wunderlich phantastisch wechselnde Figuren und Gestalten bildete.

Wenn aber selbst Bediente und Lakaien, ja sogar das Gesinde der Ritter- und Bauergüter ihre eigene Stube haben, wo sie nach des Tages Last und Arbeit zusammenkommen können und dem lästigen Gewirr enthoben sind, so war der Schulmeister, den die Gemeinde von Horneck direct, das ganze Land aber indirect einen Theil seiner heranwachsenden Bevölkerung mit dem Theuersten, was er besitzt, mit Geist und Herz, vertraut und übergeben hatte, kein solcher Raum angewiesen, in dem er wenigstens menschlich existiren konnte.

Der Schulmeister von Horneck war mit seiner ganzen Häuslichkeit einzig und allein auf die allgemeine Schulstube beschränkt.

Außer dieser besaß er, zu seiner eigenen Verfügung gestellt, nur ein kleines, kaum an Raum hinlängliches Käfterchen, wo er mit den Seinen, mit all seinen Kindern schlafen konnte – ein anderer, ebenfalls unter das Dach gedrückter und noch viel kleinerer Raum konnte dem Hülfslehrer angewiesen werden, und die dunstige Schulstube, die überdies so feucht lag, daß alle zwei Jahre neue Dielen gelegt werden mußten, [1] war Wohn-, Studier- und Kinderstube des armen Schulmeisterleins. Der Pastor hatte hinlängliche Räumlichkeit, ja, ihm ist sogar im Gesetz ein Platz zur Studierstube ausdrücklich bestimmt; daß aber der Lehrer, der sich doch auf seine Stunden ebenfalls, und eigentlich mehr noch vorbereiten muß als der Pastor auf die allwöchentliche – Gott weiß am Besten wie oft schale und wässerige – Predigt – daß dieser, sage ich auch, ein Zimmer haben sollte, in dem er ungestört von Kinderlärm existiren, wo er die kurze Zeit wenigstens, während er keinen Unterricht giebt, eine reine, gesunde Luft athmen müsse, um nicht erst körperlich und dadurch endlich auch geistig zu Grunde zu gehen, das scheint den Herren bis jetzt keineswegs eine dringende Nothwendigkeit gewesen zu sein. Ich weiß allerdings recht gut, daß es in den meisten Schulwohnungen wirklich der Fall ist, aber nicht geringere Schmach trifft deshalb, wenn das auch nur an einem einzigen Orte geduldet werden konnte, die, deren Aufsicht dort die Bildung der Jugend anvertraut worden.

Wenn auch Hennig besonders darauf sah, daß die Stube fortwährend gelüftet wurde, und Lieschen das Ganze so reinlich hielt, wie es nur möglicher Weise gehalten werden konnte, der eigenthümliche Dunst, der zuerst von den feuchten Dielen ausging, und dann überhaupt auch einer Schulstube immer eigen ist, konnte durch alle Vorkehrungen und Anstrengungen nicht abgehalten, oder wenn er sich gebildet hatte – entfernt werden – die Brust vermochte in der schweren Atmosphäre nicht frei zu athmen, und nur die Gewohnheit war im Stande, eine Existenz an solchem Orte einigermaßen erträglich zu machen.

Die Ecke hinter dem Ofen diente der ganzen Familie, wie auch dem Hülfslehrer, der in seinem Schlafkäfterchen keinen Raum hatte, einen Arbeitstisch aufzustellen, zum gewöhnlichen Aufenthalte, und nur wenn Hennig etwas recht Nothwendiges zu arbeiten hatte, was eben unten nicht möglich war, dann ging er hinüber zum Diaconus, der ihm das erlaubt hatte, und benutzte dessen freundlich sonniges Stübchen.

Daß aber die arme Schulmeisters Familie unter solchen Verhältnissen von einer bequemen und nur einigermaßen freundlichen Wohnlichkeit absehen mußte, versteht sich von selbst. Die sämmtlichen Möbeln, die sie hier möglicher Weise aufstellen konnten, bestanden in einer großen Kommode, die zugleich zum Bücherschrank und zur Speisekammer diente, in drei Holzstühlen, einem festen Tisch von Eichenholz und einem in der Ecke befestigten abgerundeten Bret, auf dem eine grüne Glasflasche mit hineingestecktem halb niedergebrannten Talglicht und ein irdener Wasserkrug standen. In diesem engen Raume, der von der allgemeinen Schulstube gerade auf dieselbe Art geschieden war, wie man wüste Territorien und Länder von einander scheidet – durch eine gedachte Linie – lebte Vater Kleinholz mit sieben lebendigen, regen, muntern und durch Lieschen's aufopfernden und nimmer rastenden Fleiß auch reinlich gehaltenen Kindern. Seine zweite Frau, die Mutter seiner Kinder, hatte er vor wenigen Sommern zu Grabe getragen.

Vater Kleinholz lebte dort, sagte ich, d. h. er existirte – aber wie? – Auf welche Art wurde ein Leben erhalten, das von einer ganzen Gemeinde bestimmt war, die Jugend zu braven, wackeren und tüchtigen Gliedern der menschlichen Gesellschaft heranzubilden?

Ursprünglich war der ganze Gehalt, den der Mann für seine Leistungen als Schulmeister, Organist, Kirchner oder Küstner und Glöckner bezog, Einhundert und funfzig Thaler gewesen – und es ist das nicht etwa eine der schlechtesten Stellen unseres Vaterlandes, denn sie gehen bis zu hundert und zwanzig Thaler jährlich, ja wohl noch tiefer hinunter. Papa Kleinholz gehörte aber zu den wenigen Menschen, die außer dem Nothwendigsten, keine Bedürfnisse kennen. Mit wenig Kenntnissen allerdings ausgestattet, machte er aber auch dafür wenig Ansprüche, schien zufrieden, wenn er so viel hatte, wie der geringste Tagelöhner zum Leben brauchte (und auf mehr konnte er mit seiner großen Kinderzahl auch kaum rechnen) und that seine Pflicht, so viel das in seinen Kräften stand und mit so freudigem Eifer wie nur irgend ein anderer Schulmeister im weiten Lande. Die Kinderzahl im Dorfe nahm aber in demselben Verhältnisse fast zu, als seine Kräfte abnahmen, es wurde deshalb nöthig, ihm wenigstens einen Hülfslehrer zu geben, und zu der Zeit und gleich nach seiner Frau Tod war Hennig hierher berufen worden.

Die Stelle selbst trug jedoch nur 150 Thaler, die Regierung legt in solchem Falle Nichts hinzu, die Gemeinde kann es nicht, und das, was der ganzen Gemeinde als unmöglich zugestanden wirdmuß der arme Schullehrer mit seiner großen Familie und seinen 150 Thalern allein bestreiten. Papa Kleinholz hatte an den Hülfslehrer Hennig 40 Thaler abzugeben und ihn in Kost und Logis zu nehmen.

Von dieser Zeit an begann eine schwere sorgenvolle Zeit für den armen alten Mann, und sie wäre wohl noch viel schwerer und sorgenvoller geworden, hätte er an Hennig nicht einen so wackeren und gutmüthigen Gehülfen gefunden, der wirklich Alles that, was in seinen Kräften stand (wenn das auch noch so wenig sein mochte) ihm seine trübe Lage zu erleichtern. Der Druck des ihm vorgesetzten Geistlichen lag damals auch sehr gewichtig auf dem armen, so schon genug geplagten Greis, das aber empfand er weit weniger als vielleicht mancher Andere an seiner Stelle. Aufgewachsen im alten Zwang und an die fast knechtische Ehrfurcht gegen den geistlichen Vorgesetzten gewöhnt, fühlte er nicht das oft Demüthigende und Unwürdige einer solchen Behandlung und freute sich nur, wenn ihm einmal ein wohlgefälliges Lächeln, ein Wort der Zufriedenheit – und wie selten wurde das dem armen alten Manne – für unausgesetztes Mühen und Leiden lohnte.

Nur das eine machte ihm manchmal Sorge und trübte den sonst so klaren Blick, wenn er in die Zukunft hinüberschauen wollte – der Gedanke an seinen Tod, und was dann aus den Seinen werden sollte, oder – das noch fast Schlimmere – wenn er die Zeit überleben würde, in der er wirken und schaffen konnte, und nun – emeritirt, das heißt mit einem Drittel seines jetzigen Gehaltes, also mit funfzig Thalern jährlich – in Ruhestand versetzt worden wäre – Funfzig Thaler und sieben Kinder – selbst der alte geduldige Mann schüttelte bei dem Gedanken den Kopf und es kam ihm dann manchmal vor, als ob sein Stand doch ein recht schwerer und keineswegs hinlänglich und ausreichend belohnender sei. Doch vertraute er auch in der Hinsicht wieder vollkommen auf eben seinen Vorgesetzten, denn Pastor Scheidler hatte ihn mehr als einmal und zwar unaufgefordert versichert, er würde später, wenn er, der Schulmeister, einmal nicht mehr so recht ordentlich fort könnte, Alles thun, was in seinen Kräften stehe, ihn zu unterstützen – und was stand nicht Alles in den Kräften eines so einflußreichen Mannes – oho, für Papa Kleinholz war hinreichend gesorgt, der brauchte sich keinen unnöthigen und unzeitigen Kummer zu machen.

Diese stille, anspruchslose hoffende Zufriedenheit sprach sich denn auch nicht allein in seinem Wesen und Charakter, sondern auch in seiner ganzen sonstigen Umgebung vollkommen und deutlich aus. Selbst das kleine Winkelchen, was ihm in der dunstigen Schulstube zum eigenen Aufenthaltsort gelassen worden, war mit den wenigen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, ausgestattet, ja ausgeschmückt. Auf der breitbauchigen Kommode – wahrscheinlich einem alten Erbstück vergangener Zeiten – stand in der Mitte ein großer Pokal aus gegossenem Glas, ein Hochzeitsgeschenk seiner Gemeinde; daneben lehnten in zwei langen Biergläsern (von denen das eine aber gesprungen und mit Bindfaden wieder gebunden war) zwei lange braunfedrige Schilfblüthenbüschel und über dem Ganzen hing ein breiter Kranz von gelben und rothen Strohblumen, mit einem großen weißen K in seiner Mitte.

Ein kleiner Spiegel in roth lackirtem Rahmen, der die ihm anvertrauten Gesichter auf das Scheußlichste entstellt zurückgab, vollendete den ganzen Zierrath des sonst in jeder Beziehung ungemüthlichen Raumes, und selbst der morsche, mit zerrissenem Lederwerk überzogene alterschwache Sorgenstuhl des Papa Kleinholz vermochte nur wenig dazu beizutragen, diesem Orte auch das Aussehn zu geben, als ob er wirklich dazu bestimmt sei, einem Manne zur bleibenden Stätte zu dienen, von dem man als Lehrer jedenfalls Bildung erwarten und verlangen konnte.

Papa Kleinholz saß in diesem Sorgenstuhle – neben ihm auf dem schmalen Tische dampfte seine zweite Tasse Kaffee, in den er heute, als an einem Sonntage, von dem wirthschaftlichen Lieschen auch Sahne bekommen hatte (welcher Luxusartikel sich übrigens keineswegs auf den übrigen Theil der Familie mit ausdehnte) und sein Blick hing sinnend und ernst an dem verblichenen, wohl schon Jahre alten Kranz, der sicherlich irgend einen der wenigen und bescheidenen Freudentage in sein Gedächtniß zurückrief, die eine frühere Zeit für ihn gehabt, denn jetzt, armer alter Mann, wo Du eigentlich den Lohn Deines jahrelangen Mühen und Fleißes erndten solltest, jetzt lag das Leben trüb und traurig vor Dir und seine Rosen blühten nur in der Vergangenheit.

Der Hülfslehrer Hennig stand mit Lieschen an dem einen Fenster, das auf den schmalen betretenen Pfad nach der Pfarrwohnung hinaussah, und das stets muntere lebensfrohe Mädchen – lebensfroh in ihrer freudigen Hoffnung und Zuversicht auf eine bessere Zukunft – war emsig bemüht, dem, besonders seit einigen Tagen auffällig ernsten und fast schwermüthigen jungen Mann etwas aufzuheitern und womöglich auch die Ursache seines Trübsinns nicht erst zu erfahren – nein, die wußte sie, wie wir früher gesehen haben, schon lange – nur von seinen eigenen Lippen und mit seinen eigenen Worten zu hören.

Hennig blieb aber still und schweigsam, antwortete ihr auf ihre Fragen nur einsylbig und schien überhaupt viel lieber seinem eigenen Nachdenken überlassen zu bleiben, als diesem, und damit auch vielleicht den zugleich heraufbeschworenen Bildern und Phantasien entzogen zu werden. Er hielt ein Zeitungsblatt, das er vorher gar aufmerksam wohl drei bis vier Mal durchgelesen, in der Hand.

Die Kinder spielten draußen auf dem sonnigen Plane, bauten (denn Herr Hennig hatte ihnen das in den letzten Stunden ausführlich erklärt und beschrieben, wie es jetzt in den großen Hauptstädten Deutschlands hergegangen sei) aus Trögen, Bänken, Sägeböcken und Bretstücken Barrikaden und Festungen und stürmten diese, wenn kaum errichtet, nach Herzenslust.

Da klopfte es an die Thür der Schulstube, und auf das rasche »Herein« öffnete sie Pastors Köchin, die gerade aus der Küche vom Aufwasch zu kommen und in größter Eile zu sein schien, nur eben weit genug, um in ihrer derben, aber nichtsdestoweniger freundlichen Art hereinrufen zu können:

»Gott griß Uech mitenanger – der Schulmeester sulle doch mit 'em Herrn Hennig uffn Ogenblick nach'm Herrn Pastor 'riber kommen, er hätte emm was ze sagen.«

Und ohne weitere Antwort abzuwarten, und überzeugt, daß sich die Erfüllung der Aufforderung ganz von selbst verstände, drückte Rieke die Thür wieder in's Schloß, und lief spornstreichs zu Hause zurück, um dort mit ihrer Arbeit bei Zeiten fertig zu werden, und heute Abend den angekündigten Tanz ja nicht zu versäumen.

»Zum Herrn Pastor?« sagte Kleinholz und setzte verwundert die Kanne nieder, die er eben gehoben hatte, seine dritte und letzte Tasse einzuschenken – »ich denke, der ist in die Stadt gefahren, wozu hätte ich denn sonst heute Nachmittag in der Kirche lesen müssen?«

»Der Herr Pastor wird wohl den Nachmittag ein Bischen geschlafen haben,« sagte da Lieschen – »Carl warf sich die Nacht so im Bette herum, und wie ich aufstand, sah ich drüben in der Pfarre noch Licht – der Strahl fällt hinüber auf das gegenüber liegende Scheunendach und man konnte es von oben aus deutlich erkennen – wahrscheinlich ist er spät aufgeblieben, um seine Predigt zu studieren.«

»Was werden wir denn da nur sollen?« sagte Papa Kleinholz, und stand etwas ängstlich von seinem Stuhle auf, »ich weiß doch nicht, daß etwas vorgefallen wäre.«

»Aber, lieber Vater, so trink doch nur erst deinen Kaffee,« bat Lieschen, »er wird Dir ja ganz kalt bis Du wieder herüber kommst, und gewärmt schmeckt er doch auch nicht.«

»Nein, der Herr Pastor wartet,« sagte der alte Mann, und schaute sich nach seinem Hute um; »er ist so, wenn auch ohne meine Schuld, böse auf mich.«

»Trinken Sie nur erst Ihren Kaffee, Herr Kleinholz,« bat ihn jetzt aber auch Hennig, »ich gehe keinen Schritt eher aus der Stube – der Pastor mag warten.«

»Ja aber Kinder,« bat der Greis – »ich weiß doch nicht –«

»Ungehorsam wird nicht geduldet,« lachte Lieschen, faßte den Vater an den Schultern und zog den nur noch schwach Widerstrebenden langsam in seinen Stuhl zurück.

»Wenn ich nur wüßte, was er von uns will,« sagte der alte Mann, nachdem er den heißen Trank mit größtem Eifer eine Weile geblasen hatte, bis ihm selbst die Pfeife darüber ausgegangen war – »Sonntag Nachmittag – das ist doch etwas ganz Außergewöhnliches – und wir alle Beide.«

»Machen Sie sich keine Sorge, guter Herr Kleinholz,« lächelte Hennig, als er das ängstliche Gesicht selbst des armen Lieschen bemerkte, das durch des Vaters Angst angesteckt schon nichts Geringeres befürchtete, als eine strenge Strafpredigt, weil ihr Fritz heute auf die Jagd gegangen. Daß ihr Vater und der Hülfslehrer deshalb gar nicht verantwortlich sein könnten, fiel dem armen Kinde nicht einmal ein, es war das Einzige auf der weiten Gotteswelt, was ihr Gewissen drückte, und all' ihre Angst und Sorge um den armen Jungen, ihren Fritz, der ja doch wohl nur geglaubt hatte, seine Schuldigkeit zu thun, lag in dem ängstlich scheuen Blick, den sie auf den Hülfslehrer wandte, als ob sie von dem ihrem Vater an Kenntnissen weit überlegenen jungen Manne, der überdieß in der Residenz erzogen und ein »Städter« war, Trost und Hülfe erwarte.

Doch auch dieser stand jetzt, den Ellbogen gegen die Wand, und die Stirn in seine Hand gestützt, am Fenster, und schaute in trübem Sinnen über das kleine Gärtchen hinaus nach dem fernen Schwarzholz hinüber; ja selbst die Kinder hatten aufgehört zu spielen, als sie Pastors Köchin in die Schulstube gehen sahen, und eine so gedrückte, ängstliche Stimmung herrschte plötzlich in dem noch vor wenig Augenblicken so freundlich stillen Raum, daß sich auch Lieschen nicht mehr widersetzte, als der Vater noch im Aufstehen seine Tasse leerte, die Kanne zurückschob und nach seinem Hute griff.

»Kommen Sie, Hennig, wir wollen doch sehen, was der Herr Pastor von uns will!«

»Ich kann mir's etwa denken,« erwiederte Hennig, während er seinem Beispiel folgte, und langsam zur Thüre schritt.

»Denken?« frug Lieschen schnell, wurde aber plötzlich feuerroth und schwieg, Hennig, der ihr Erröthen jedoch nicht bemerkte, sagte halb lachend:

»Eine Ermahnung wird's sein, uns, als würdige Diener der Kirche, von der politischen Bewegung der Gegenwart fern zu halten – nicht daran zu denken, uns von unserer Mutter – der Kirche nämlich – los zu sagen, wie das gottlose Menschen in der Welt draußen gethan, und, wie bisher, liebe folgsame, geduldige Schaafe zu sein – unter unserem Hirten, dem Herrn – das wird's sein, was er uns zu sagen wünscht.«

»Ja aber solche Sachen wollen wir gar nicht«, lächelte Papa Kleinholz schon bei dem Gedanken an einen derartigen Frevel – »Du lieber Gott, wir sind hier zufrieden, wenn uns die Menschen nur in Ruhe lassen, wir selber wollen gern nicht mit Ihnen anbinden, nicht wahr, Hennig?«

»Was hülfe es uns auch, – was hülf' es dem Einzelnen?« sagte Hennig mit tiefem schmerzlichen Seufzer, »die Stimme eines armen Dorfschulmeisters würde verhallen, wie eine Stimme in der Wüste, und – wer weiß, ob unser Loos nicht nachher noch am Ende gar ein schlimmeres, gedrückteres würde, – aber kommen Sie, kommen Sie, – wir werden ja hören.«

Die Männer schritten rasch der Pfarrerwohnung zu, Lieschen aber trat an's Fenster, von wo sie den Weg dorthin überschauen konnte, und so lange sie im Stande war, ihnen mit den Augen zu folgen, geschah das, als sie aber um die Kirche herumgebogen waren, schlich sie wieder zurück zu ihrem Nähplätzchen, wo der Holunder schon seine frischen Blätter gegen die Scheiben drückte, stützte da das kleine Köpfchen in die Hand, und sann und sann, und ward endlich sogar unwillig über sich selbst, daß sie gar nicht heraus bekommen konnte, weshalb sie eigentlich heute nur so traurig und betrübt wäre.


In des Pfarrers Studierstübchen, wo indessen die Papiere und Bücher wieder mit manchem schweren Seufzer, und mancher leise, ganz leise geflüsterten, aber deshalb nicht weniger herzlich gemeinten Verwünschung, geordnet waren, saß in der einen Ecke des Sophas der Herr Pastor Scheidler, in der anderen, aber wie aus ehrerbietiger Scheu auf der kleinsten, unbedeutendsten Ecke, die sein Gewicht kaum noch zu tragen im Stande war, Papa Kleinholz, der Schulmeister. Vor dem Tisch dagegen, auf hingerücktem Stuhl, Hennig, und am Fenster lehnte, ein Buch durchblätternd, ohne dem Inhalt jedoch viel Aufmerksamkeit zu schenken, der Diaconus.

»Lieber Schulmeister,« sagte endlich der Pastor, nachdem die ersten höflichen Begrüßungen und Gesundheitsfragen vorüber waren, und er den Männern jedem eine Cigarre angeboten hatte, die sich der Diaconus gleich am Feuerzeug anbrannte, während sie die beiden Schullehrer unangezündet in der Hand behielten – »ich hab Sie blos rufen lassen, um einmal ein paar Worte mit Ihnen und Herrn Hennig über die Tagesfragen, die uns denn doch immer dringender an's Herz gelegt werden, zu sprechen. Sie haben sicherlich schon über das neue Verhältniß nachgedacht, lieber Kleinholz, das mein' ich, was da entstehen wird, wenn man Kirche und Schule von einandergerissen hat, wie es die Neuerer so gerne heut' zu Tage wollen, und wie selbst in letzterer Zeit in Ihrem eigenen Stande – ich will nur Kell in Leipzig nennen – Stimmen laut geworden sind, die ihrer Collegen Herzen für diese angebliche Freiheit zu entflammen suchen – Sie haben sicherlich, sag' ich, schon darüber nachgedacht?«

»Ich? – Bitt' um Verzeihung, noch im Leben nicht,« rief Vater Kleinholz so rasch, und in so augenscheinlicher Verlegenheit, daß sich der Diaconus, ein Lächeln auf den Lippen, ab und dem Fenster zuwandte, und Hennig blutroth – aus Scham für seinen alten Freund – wurde.

»Das wäre in der That viel,« lächelte freundlich, die Hände dabei gefaltet, und die beiden Daumen fest gegeneinander gestemmt, der Pastor – »sehr viel, und ein seltenes Beispiel für unsere aufgeregte Zeit; – aber Sie doch wohl dagegen desto mehr, Herr Hennig,« und sein forschender Blick haftete, unter den kurzen borstigen Brauen vor, scharf und beobachtend auf dem Hülfslehrer.

»Allerdings Herr Pastor, kann ich nicht läugnen, daß mich die Sache, besonders in den letzten Tagen viel beschäftigt hat«, sagte Hennig, und rückte dabei auf dem Stuhl immer noch etwas verlegen hin und her.

»Sind Sie von selbst darauf gefallen?« frug der Pastor hingeworfen –

»Ja und – nein« erwiederte Hennig – »ja, denn schon seit längerer Zeit, seit einem Jahr wohl – eigentlich seit ich hier bin, hat mich der Gedanke an eine mögliche Selbstständigkeit der Lehrer erfüllt; ich dachte mir immer ein Lehrer sei doch eben – neben dem Geistlichen – das Höchste auf der weiten Gotteswelt, denn durch ihn, durch sein Herz, durch seinen Geist sollte die heranwachsende Generation, von der der Staat, die Welt einst Segen oder Fluch zu erndten habe, gebildet werden; in seiner Hand liegt, ich möchte sagen, fast das Schicksal der jungen Erdenbürger, die er zu edlen Menschen heranziehen, oder – vernachlässigen und dadurch verderben kann.«

»Ja ja, sehen Sie, mein junger Freund,« fiel ihm hier der Pastor, wohlgefällig dabei mit dem Kopfe nickend, in's Wort, »sehen Sie, da kommen wir gerade auf das Kapitel, auf das ich Sie eigentlich haben wollte, das, wie Sie das ganz richtig, ganz vortrefflich schildern, würde der eintretende Zustand der Schule, das Verhältniß des Lehrers zu seinen Kindern sein, wenn die Schule getrennt von der Kirche da stände, oder – mit anderen Worten, der Oberaufsicht der Geistlichkeit, die eben dieses Wirken überwacht, entzogen wäre, in den Händen jedes einzelnen Lehrers würde dann, ich möchte sagen, das Schicksal einer ganzen Gemeinde liegen, und Väter und Mütter dürften keine Nacht ruhig schlafen, aus Furcht, der Lehrer, der jetzt keinem Menschen weiter Rechenschaft schulde, verderbe in der Schule ihr einziges Kind, und schicke es nachher, verwahrlost an Leib und Seele ihnen wieder zu Hause.«

Der Diaconus trommelte an der Fensterscheibe und sah hinaus.

»Ich weiß doch nicht,« fuhr Hennig, durch die Sache selbst etwas wärmer werdend, fort, »ich weiß doch nicht, ob gerade die Oberaufsicht des Geistlichen das zu verhindern im Stande ist; ja, ob es in unseren jetzigen Verhältnissen nicht den Lehrer gerade eher einschläfert, und gleichgültiger gegen seine Erziehungsresultate macht, als es der Fall wäre, wenn auf ihm allein die Verantwortung läge, er allein aber auch die Ehre davon hätte. Jetzt nimmt der Geistliche die Kinder in die Schule auf, und entläßt sie wieder, die Censur kommt ebenfalls vom Geistlichen, der auch die Oberaufsicht der Klassen führt, und von dem Kinde natürlich mit weit höherer Ehrfurcht betrachtet wird, als selbst sein Lehrer, und ich muß aufrichtig gestehen, daß in meiner Brust selber oft die Frage aufgestiegen ist – müssen bei dem Kinde nicht Zweifel entstehen, wem es eigentlich seinen Unterricht zu verdanken habe, und kann es dann die herzliche Dankbarkeit gegen seinen wirklichen Lehrer bewahren, die diesen doch allein in der weiten Gotteswelt, für all' die Noth und Sorge, für all' die Entbehrungen und Aufopferung die ein armer Dorfschullehrer gezwungen ist zu tragen, entschädigen kann?«

»Hm – hm, mein guter Herr Hennig,« sagte kopfschüttelnd und mit einem eigenen Ausdruck in den Zügen, der Pastor, »Sie scheinen mir da die neuen Ideen schon ganz tüchtig eingesogen zu haben – die Saat ist bei Ihnen auf fruchtbaren Boden gefallen, darf man fragen, was den ersten Anlaß dazu gegeben hat?«

Zu jeder anderen Zeit würde Hennig, der doch noch einen tiefgewurzelten Respect vor seinem geistlichen Vorgesetzten im Herzen trug, scheu vor dem fast strengen Blicke des frommen Mannes zurückgebebt sein, und dann hätte ihm auch nicht die Todesangst entgehen können, die bei solchen frevelnden Worten in den stieren, bleichen Zügen des alten Schulmeisters lag, denn der alte Mann saß auf seiner äußersten Sophakante gerade so, als ob es rothglühendes Eisen, und nicht weichgepolsterte Pferdehaarkissen gewesen wären, die er unter sich fühlte. Hennigs Gedanken schienen aber mit seinen letzten Worten auch einen ganz anderen Flug genommen zu haben – starr und nachdenkend schaute er, weder die drohenden Anzeigen in des Pastors, noch die flehenden in seines Seniors Angesicht bemerkend, vor sich nieder, und wurde erst durch die directe Frage des ersteren wieder zu sich selbst gebracht. Rasch richtete er sich empor und sagte, an Papa Kleinholz vorbei nach dem Diaconus, der noch immer am Fenster stand und hinaussah, deutend:

»Den ersten Anlaß gaben Gespräche mit meinem Freunde –«

»Mit mir?« rief der alte Schulmeister, und sprang über das Fürchterliche solcher Beschuldigung entsetzt, von seinem Sitze auf.

»Mit Herrn Brauer,« fuhr Hennig, den Greis beschwichtigend, fort, »den zweiten, stärkeren aber erst in der That heute Morgen, und zwar durch einen Artikel der letzten Nummer der sächsischen Schulzeitung von J. Melde geschrieben, und Aufmunterung betitelt.«

»Sie haben die Zeitung bei sich?« frug der Pastor mit wieder ganz freundlichem aufmunternden Lächeln, das nur dem alten Kleinholz unheimlich vorkam, weil er allein von allen Uebrigen den vorigen Zornesblick aus den nämlichen Augen blitzend, gesehen hatte.

Hennig holte als Antwort das Papier aus der Tasche, und überreichte es dem Pastor, dieser schlug es auf; ein mit Bleistift bezeichneter Satz fiel ihm vor allen Dingen in die Augen, und er las:

»Kann Deutschland frei werden, ohne eine freie Volksschule? Kann das deutsche Volk stark und einig werden ohne eine freie Volksbildung? Können sich die freien Institutionen, welche unsere freisinnigen Fürsten gaben, dauernd erhalten, ohne eine gediegenere Volksbildung? Das sind Fragen, die insonderheit den deutschen Lehrerstand erfüllen sollen.«

»Die Volksbildung kann und darf nicht mehr einseitig und klerikal betrieben, die Lehrer können und dürfen nicht mehr wie Kinder bevormundet und bemaßregelt werden. Die Schule soll und darf nicht mehr als Magd betrachtet und behandelt werden; soll anders der große, himmelanstrebende Bau der deutschen Volksfreiheit nicht wie ein Haus auf Sand gebaut, zusammenstürzen.«

»Ja ja,« sagte er, während er die vorher aufgesetzte Brille wieder abnahm, und neben das Papier legte – »das klingt nicht übel, und ich kann mir denken, wie es durch sein bestechendes Aeußere junge Leute wie Sie sind, lieber Hennig, mit fortreißen mag. Glauben Sie denn aber wirklich, daß uns Geistlichen etwas daran gelegen wäre, die Schule mit der Kirche eng verbunden zu halten, wenn wir es nicht der guten Sache wegen thäten? Glauben Sie wirklich, daß die Schule ohne die Kirche fort bestehen kann? – Sehen Sie, lieber Hennig,« fuhr er fort, ohne dem jungen Manne Zeit zu einer Antwort zu lassen: »Das sind eben Fragen, die dem Publicum hier vorgelegt werden – ich will nicht sagen, um es irre zu machen, aber doch etwa mit demselben Erfolge; Deutschland kann allerdings nicht ohne freie Volksschule – frei werden, wenn Sie es denn einmal so nennen wollen, das deutsche Volk eben so wenig ›stark und einig‹ ohne freie Volksbildung sein, und ebenso gehört eine gediegene Volkserziehung dazu, die Völker der Gaben werth zu machen, die sie bis jetzt von ihren gnädigen Herren und Fürsten erhalten haben. Diese drei Fragen will ich Ihnen also von Herzen gern, und ganz in Ihrem, wie in des Schreibers Sinn, mit nein beantworten, nun aber beweisen Sie mir einmal, daß wir keine freie Volksschule haben; daß unsere freie Volksbildung gehemmt sei, und daß uns nicht Alles freistehe, was wir als vernünftige Menschen thun wollen und können, das Volk gediegener zu bilden? – Hab' ich z. B. Ihrem von Ihnen selbst entworfenen Schulplane je etwas in den Weg gelegt? Hab' ich mich hineingemengt, was Sie den Kindern in Geschichte und Geographie, in freien Ausarbeitungen und Verstandesübungen lehrten? – nie – nur das für den jungen Geist Gefährliche half ich aussondern, und das Erz reinigte ich mit Ihnen von den Schlacken; unsere Schule ist frei, denn daß der Geistliche als der Vorstand derselben dasteht, scheint mir, als Einwirkung auf die Sache selbst, nur von geringer Bedeutung. Uebrigens, und um Ihnen zu beweisen daß ich Verbesserungen wie sie wirklich das Wohl der Schule befördern können, keineswegs feindlich gesinnt bin, habe ich sogar selber schon darauf gedacht eine Aenderung in diesem, wie Sie sagen für den Schullehrerstand drückenden Verhältniß herbeizuführen und den sogenannten Uebelstand dadurch vollkommen abzuschaffen – doch davon später ein mehres. Für jetzt, mein guter Hennig, erlauben Sie mir, auch Ihnen ein paar Fragen vorzulegen, die nicht in dieser Aufmunterung, wie der Artikel ja wohl überschrieben ist, stehn, vorausgesetzt, daß Sie eine Trennung der Kirche von der Schule wünschen. Diese Fragen sind:

»Möchten Sie den Religionsunterricht der Kinder verlieren? und ist dieser nicht gerade das, was das kindliche Herz so innig an den Lehrer fesselt? – ist er nicht gerade die Mittheilung jenes geheimnißvollen göttlichen Waltens – der Erschluß, möchte ich sagen, eines bis dahin in des Kindes Brust noch ungeahnten Gefühls, der es mit scheuer liebender Ehrfurcht zu dem Lehrer hinzieht? Und das wollten Sie muthwillig, für das todte nichtssagende Wort ›Freiheit der Schule,‹ aufgeben? – ich glaube kaum; wenn die Lehrer untereinander die Sache nur erst einmal ordentlich überdacht haben werden – kommt jedenfalls ein anderes Resultat heraus, als das bisherige. Noch liegen wir im fröhlichen Jubelrausch der so unverhofft gewonnenen Errungenschaften – aber es ist eben auch nur ein Rausch, der bald verfliegen und die, die ihm fröhnten, nüchtern und mit Reue über ihr thörichtes unbedachtes Streben zurück lassen wird.«

»Aber das ist noch nicht Alles – ich habe das nur vorher erwähnt, was des Lehrers, des wahren guten und treuen Lehrers Seele am ersten rühren und bestechen muß – die Liebe und Anhänglichkeit seiner Schüler; nun kommt das noch, was leider mit seinem Geiste Hand in Hand gehn muß, und eine Zurücksetzung eben so wenig verträgt, wie dieser, da es sonst zu störend auf ihn zurückwirken würde – und das ist der Körper – das leibliche Wohl des Schullehrers.«

Der Diaconus trommelte schärfer auf der Scheibe und Hennig, der während der letzten Worten den Kopf gesenkt und das zurückerhaltene Zeitungsblatt fester und fester zusammengedreht hatte, sah jetzt wieder zu seinem Vorgesetzten auf, als ob er gespannt dessen weitere Auseinandersetzung erwarte.

»Daran haben Sie noch nicht gedacht, nicht wahr?« schmunzelte der Pastor, dem die Bewegung des jungen Mannes nicht entgangen war; »ja lieber Hennig, wenn sich die Schule von der Kirche absolut trennen will, und unsere hohe Staatsregierung natürlich ihre Einwilligung dazu giebt, was übrigens kaum zu erwarten steht und Gott verhüten möge, dann bleibt der Schullehrer auch natürlich nur auf seine Schuleinnahme angewiesen, und Alles was er bis jetzt an Glöckner-, Küster- und Cantor-Accidenzien eingenommen, fällt, wie sich das von selbst versteht, weg. Es wird nämlich wohl kein Schulmeister so thöricht sein, seinen vollen Gehalt für Läuten, Orgelspielen etc. etc. nach wie vor zu verlangen, da ja das Dorf dann noch besonders einen anderen Mann zu halten und zu bezahlen gezwungen wäre – und doppelt zahlen die Bauern Nichts, ich dächte das bedürfte, Ihnen Beiden gegenüber, keiner weiteren Bestätigung. Nun berechnen Sie sich selbst was Ihnen alles, wenn Sie sich wirklich in den Fall einer Trennung setzten –«

»Bester Herr Pastor.«

»Ich nehme ja nur den möglichen – für jetzt erdachten Fall, guter Kleinholz – was Ihnen Alles, sage ich abginge an Ihrem jetzt schon nichts weniger als brillanten Gehalt – Sie würden vielleicht nicht einmal im Stande sein zu leben und glauben Sie, daß Sie einem besseren Loos entgegengingen, wenn Sie von den Bauern allein abhängig in Ihrer Besoldung wären?«

»Sehn Sie, meine Freunde, jede Sache hat, wie ich Ihnen das auch eigentlich gar nicht mehr zu sagen brauche, ihre zwei Seiten – eine gute und eine böse – und es ist nicht allein nothwendig, nein es ist auch unsere Pflicht, die Schattenseiten dessen, was einst einen so wichtigen Theil unseres Lebens ausmachen soll, zu beleuchten, um sie entweder vorher kennen zu lernen oder – wenn wir sie für gar zu schwierig halten, zu vermeiden.«

»Damit habe ich Ihnen Beiden übrigens keineswegs alle die Unannehmlichkeiten aufgezählt, die eine Trennung der Schule und Kirche für den Lehrer haben müßte; nein, das lag auch gar nicht in meiner Absicht, denn Sie können sich wohl denken, daß es mir, des Nutzens wegen, den es mir bringt, ziemlich gleichgültig sein kann, ob ich Schulvorstand bin oder nicht; es ist das ein Amt, was mir viel Zeit raubt und gar Nichts einbringt, aber, da wir doch einmal gerade daraufkamen, hielt ich es für meine Pflicht, Ihnen wenigstens meine Ansichten darüber mitzutheilen – überlegen Sie sich die Sache nur selbst und prüfen Sie – Ihr gesunder Geist wird Sie dann schon das richtige wählen lassen.«

»Doch, was eigentlich die Hauptsache dessen war, worüber ich mit Ihnen zu sprechen wünschte, – Sie haben wohl heute hier in Horneck eine Art Conferenz der benachbarten Lehrer?«

»Allerdings«, sagte Hennig, »ich glaube sogar, daß sie schon größtentheils eingetroffen sein müssen, wenn sie nach dem Mittagsgottesdienst von zu Hause weggegangen sind.«

»Horneck liegt so von all den umliegenden Dörfern in der Mitte« entschuldigte Kleinholz die Versammlung.

»Ei ja wohl, ich finde das ganz natürlich« fiel rasch und beistimmend der Pastor ihm in's Wort, »es ist mir aber lieb, daß es sich so getroffen hat, und ich vorher noch im Stande war, Ihnen etwas mitzutheilen, was jedenfalls von Interesse für Sie und Ihre Freunde sein wird. Es ist nämlich keinem Zweifel mehr unterworfen, denn meine Berichte aus der Residenz sind ziemlich zuverlässig, daß die Minister einer Trennung der Kirche von der Schule vollkommen entgegen sind, wenigstens werden sie nie die Zustimmung der ersten Kammer dazu bekommen, wir Geistlichen selbst sehen aber ein, daß eine Reform in den jetzigen Verhältnissen, wenn auch nicht gerade unumgänglich nöthig, doch jedenfalls nicht ganz unzweckmäßig wäre, wir finden es sogar billig, daß den Schullehrern auch das Recht zustehn müßte, ihre Schulen selbst und durch aus ihrer eigenen Mitte gewählte und sachverständige Männer revidiren zu lassen.«

Der Diaconus wandte sich erstaunt nach dem Pastor um, und auch Hennig horchte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit einem Zugeständniß, das er nie erwartet hatte von des Geistlichen eigenen Lippen zu hören.

»Um also Allem und Jedem zu genügen, was nur vernünftigen Menschen, die nicht gerade das Unmögliche, und mit dem Kopf absolut gegen die Wand rennen wollen, auch vernünftiger Weise verlangen können, geht mein Plan dahin, daß künftig der Schulvorstand aus fünf Mitgliedern oder Theilhabern bestehe, von denen drei, also die Majorität Schullehrerzwei aber, und zwar die Minderheit, Geistliche sein müssen, wobei zugleich sonst jeder dazu gewählt werden kann, der den Betheiligten, also dem Schullehrerstande überhaupt, am meisten zusagt. Ist das geschehen, so denk' ich können Sie versichert sein, daß keine Klagen weiter über Uebergriffe der Pastoren vorfallen können, die Majorität des Schulvorstandes, also die Lehrer hätten sich das nur sonst selbst zuzuschreiben. Dieß ist also ein Gegenstand, der Ihre größte Aufmerksamkeit verdient, und es wäre mir sogar lieb, mein guter Herr Hennig, wenn Sie es heute Nachmittag in Ihrer Versammlung zur Sprache bringen wollten. Mit einigen meiner Amtsbrüder hab' ich darüber schon verkehrt, werde auch ebenfalls der nächstens zusammentretenden Geistlichkeit den Vorschlag machen, und bin ihrer Einwilligung ziemlich gewiß. Es wäre vielleicht auch nicht unpassend, wenn wir Alle zusammen, Lehrer und Geistliche eine gemeinschaftliche Bittschrift hierüber an ein hohes Ministerium aufsetzten und übergäben, damit dieses sich von der wahren Stimmung im Lande überzeugen und danach handeln und wirken könnte. Ich glaube bestimmt, daß Ihre Collegen ein solches Entgegenkommen von unserer Seite freudig begrüßen werden, und wie segensreich das dann auf die uns anvertraute Jugend zurückwirken muß, wenn wir, die wir für die Bildung des Geistes und der Seele vereinigt dastehen, auch vereinigt und freundschaftlich handeln, brauche ich Ihnen doch wahrlich nicht erst weiter auseinanderzusetzen.«

»Jetzt also, mein lieber Kleinholz, will ich Sie Beide Ihren Freunden nicht länger entziehen; morgen vielleicht, oder wenn Sie die Sache näher besprochen und überlegt haben, reden wir weiter darüber!«

Die beiden Schullehrer erhoben sich bei diesen Worten von ihren Sitzen, empfahlen sich dem Pastor, der ihnen freundlich und mit einigen gütigen Abschiedsworten die Hände drückte, und verließen das Zimmer. Der Diaconus wollte sie begleiten; diesen aber hielt der Pastor noch zurück und Hennig und Kleinholz schritten allein und schweigend, Jeder mit seinen Gedanken über das eben Gehörte beschäftigt, in die Schulwohnung langsam hinüber.

Zehntes Kapitel.
Die Schulmeister.

Zu Hause fanden die beiden Männer schon die Botschaft ihrer Collegen, die voraus in die Schenke gegangen waren, und sie bitten ließen, so bald als möglich nachzukommen. Der Pastor hatte sie gar so lange aufgehalten, und ungesäumt folgten sie dem Rufe; Papa Kleinholz, dem übrigens seines Hülfslehrers Keckheit beim Herrn Pastor fast den Athem versetzt hatte, benutzte den kurzen Weg von der Schule in die Schenke hinunter, um ihn darüber zur Rede zu stellen, und zu bitten, doch nur um des Himmels Willen zu bedenken, in welche Verlegenheiten er sich dadurch bringen, und was für Folgen so etwas für ihn und seine künftige Laufbahn haben könne.

Hennig antwortete all' diesen Vorstellungen aber nur höchst einsylbig, oft zerstreut; des Pastors Worte hatten einen wilden Sturm feindlicher Gefühle in seiner Brust erweckt, und Pflicht und Liebe schlugen in dem armen Herzen ihre erste, aber deshalb gewiß nicht minder heftige Schlacht. Schweigend schritt er an seines Vorgesetzten Seite dem verabredeten Berathungsplatze zu und unschlüssig kämpfte er mit sich, was er in dieser Sachlage thun, wie er handeln und auftreten solle.

In der Schenke zu Horneck hatten sich indessen zahlreiche Gäste eingefunden; der Wirth verstand selber die kunstgerechte Bereitung der edlen Gerste und braute ein ganz vorzügliches Bier, und der Horneck'sche Kartoffelkuchen war weit und breit berühmt; kein Wunder denn, daß das warme Frühlingswetter, das dem Mai selbst an Milde und Lieblichkeit nichts nachgab, eine Menge Hungriger und Durstiger herbeigezogen hatte, die nun im Garten oder in dem neuen, Veranda ähnlichen Ausbau des Hauses saßen, und den einzelnen Melodien des »Orchesters« lauschten.

Kleinholz und Hennig hielten sich jedoch nicht zwischen den Gästen auf, nur herüber und hinüber grüßten sie, wo sie vielleicht einen alten Bekannten sitzen sahen, drängten sich durch die zahlreich in der Hausflur und dem Billardzimmer nach dem Garten vielfach hin und her Wandernden, und stiegen zu einem kleinen stillen Hinterstübchen hinauf, das ihrer Conferenz von dem Wirthe eingeräumt worden.

Hier von dem Lärm und der Musik unten nicht gestört, da seine Fenster nicht nach dem Garten, sondern nach dem Dorfe aussahen, saßen um einen langen, in die Mitte gerückten Tisch die Schullehrer der benachbarten Ortschaften, und waren, allem Anschein nach, schon recht tief und eifrig in die Debatte hinein gerathen. Bei der Neuankommenden Eintritt wurde diese nun allerdings auf kurze Zeit unterbrochen, doch nur so lange, als es bedurfte, eine Bank, da es heute bei dem Andrange von Gästen an Stühlen fehlte, zum Tisch zu rücken, auf der dann Kleinholz und Hennig zusammen Platz nahmen.

Bis das Mädchen wiederkam, welches den Schullehrern bei ihrer Ankunft ein Glas Bier oder ein Schnäpschen besorgt hatte, schoben ihnen die Nachbarn ihre eigenen Gläser näher, und der Präsident, ein alter würdiger Schullehrer von Kosholz, der die Verhandlungen leitete, wiederholte nochmals mit kurzen Worten den schon besprochenen Gegenstand der Debatte – die Trennung der Schule von der Kirche, für die sich zwei, gegen die sich aber schon vier Stimmen erhoben hatten. Er setzte auseinander, wie nöthig es sei, daß sie sich über diesen Gegenstand, der in gar kurzer Zeit alle ihre Energie in Anspruch nehmen müsse, vorher klar und bewußt würden, daß jeder selber darüber ein Urtheil bekäme und nicht blos, entweder von seinen Vorgesetzten auf der einen, oder auch von leichtsinnigen, neuerungssüchtigen Menschen, die nur immer Freude am Niederreißen und nimmer am Aufbau fänden, auf der anderen Seite getäuscht und irre geleitet würden.

»Meine lieben Amtsbrüder,« nahm da Vater Kleinholz, von seinem Sitze aufstehend, mit zitternder Stimme das Wort, »ich bin kein Redner, und das, was ich auf den Herzen habe, kann ich nur mit kurzen und nicht zierlich gestellten Worten herausbringen, aber es kommt auch dafür gerade vom Herzen, und ich möchte es Ihnen ebenfalls an die Herzen legen. Ich bin gegen eine Trennung der Schule von der Kirche, und zwar aus recht vielen und wichtigen Gründen. Wir kommen Beide eben, Herr Hennig und ich, vom Herrn Pastor Scheidler, der mir stets, mit sehr wenigen Ausnahmen, ein freundlicher Vorgesetzter gewesen ist, und ich glaube, wir können uns mit dem, was er, als Geistlicher, uns selber vorschlägt, recht gut begnügen. Ich bin gegen eine Trennung der Kirche und Schule, weil es mir in der Seele weh thun würde, wenn wir mit dem Religionsunterricht auch das süße Einverständniß verlören, was wir jetzt, durch diesen, über den Geist der Kinder gewinnen; ich bin aber auch gegen die Trennung, weil sie für uns unmöglich ist, weil der Schulmeister ohne die verschiedenen Einnahmen, die ihm sein Kirchner-, Glöckner- und Cantordienst abwirft, möglicher Weise gar nicht mehr existiren könnte. Ich habe jetzt mit meiner Familie etwa 100 Thaler jährlich, und der Herr weiß es, oft genug esse ich in Sorgen mein Brod, und grüble und grüble, wie ich es nur anzufangen habe, einfach auszukommen. – Das Jahr ist lang – die Kinder wollen das ganze Jahr essen und gekleidet sein, und 100 Thaler sind eine entsetzlich kleine Summe für eine so gewaltig lange Zeit. Wären wir im Stande, uns ohne jene außer der Schule liegende Einnahme zu behelfen? – nein, das wären wir nicht, wir gingen der Noth und dem fürchterlichsten Elend entgegen, und wollen wir also den Nutzen nicht aufgeben, den wir durch jene Arbeiten genießen, so dürfen wir uns auch der Mühe und den Unbequemlichkeiten nicht entziehen, die daraus hervorgehen. Meine Stimme ist deshalb gegen eine Trennung, und ich hoffe, auch Ihr lieben Freunde werdet zuletzt einsehen, daß sie uns und der Schule nur zum Nachtheil gereichen, keineswegs aber eine gehoffte Besserung herbeiführen würde.«

Vater Kleinholz setzte sich wieder nieder, und von mehreren Seiten standen die Redner auf, die alle, wie der vorhergehende Sprecher, gegen eine Trennung waren, Viele beriefen sich dabei auf ihre eigenen Geistlichen, die mit ihnen ausführlich über die Sache gesprochen, Alle aber waren darin einig, daß das Aufgeben des Religionsunterrichtes ein Verlust für den Lehrer sein würde, den gar kein errungener Vortheil wieder aufwiegen oder ausgleichen könne.

»Mitbrüder und liebe Genossen,« sagte da endlich Hennig, der bis jetzt noch kein Wort in die Debatte gesprochen und manchmal fast augenscheinlich mit sich gekämpft hatte, jetzt aber plötzlich zu einem festen bestimmten Entschluß gekommen zu sein schien. »Ich bin zwar noch jung, viel jünger, als Manche hier, die in ihrem Ehrenamte ergrauten, aber desto weniger bin ich auch vielleicht mit den alten Gewohnheiten verwachsen, die es nachher so viel Mühe kostet, wieder abzuschütteln. Ich fühle eben so gut, wie Sie, daß wir dem Religionsunterrichte der Kinder nicht entsagen dürfen, der Lehrer würde durch den Verlust dieses Zweiges zu einer bloßen künstlichen Maschine, die den Kindern nur das Ein mal Eins und das Geheimniß der Buchstabenstellung einbläut. Herr Pastor Scheidler hat uns Beiden zwar heute Nachmittag gesagt, daß wir ihn wirklich einbüßen müßten, wenn wir uns von der Kirche losrissen, aber es ist das doch auch nur die Meinung eines einzelnen Mannes, noch dazu eines bei der Sache interessirten, die wahrlich nicht maßgebend für uns sein darf.«

»Aber bester Herr Hennig,« sagte Kleinholz erschreckt.

»Er mag es,« fuhr Hennig fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, »vielleicht recht gut mit uns Schullehrern meinen, ich will das gar nicht bezweifeln und – wäre der letzte der ihn kränken möchte, aber ich glaube, er sieht die Sache mit zu schwarzen Farben, und ich will Euch deshalb meine Ansicht darüber mittheilen. Wer hat uns denn schon eigentlich verbürgt, daß wir, bei einer Trennung der Schule von der Kirche, auch nothwendiger Weise den Religionsunterricht verlieren müßten? Wer hat uns das bis jetzt gesagt, als nur allein die Geistlichen selber, und sind wir denn so gewiß, daß das nicht hier und da, und im Anfang vielleicht, auch größtentheils deshalb mit geschehen ist, um uns in unserem Streben irre zu machen, oder davon abzubringen? Der Religionsunterricht ist eben ein Unterricht und gehört zur Schule und so wenig wie er in den Schulen der großen Städte fehlt, die gleichfalls schon der keineswegs für den Lehrer ehrenvollen Beaufsichtigung der Geistlichen entzogen sind, eben so wenig wird er in den Landschulen fehlen dürfen und wirklich fehlen. Selbst hier liegt übrigens ein Ausweg für uns ganz klar und leicht zu Tage; wir wollen uns ja gar nicht losreißen von der Kirche und dieser feindlich gegenüberstehen, im Gegentheil; das Wirken der Schule und Kirche ist ein so gleiches – oder sollte doch wenigstens ein so gleiches sein – daß ein förmliches Losreißen keinem zum Vortheil, Beiden aber vielleicht zum großen Nachtheil werden könnte; stehen Kirche und Schule aber neben einander, und glaubt der Staat, daß es nothwendig für die religiöse Erziehung der Kinder sei, den Pastor, wie bisher, Theil am Religionsunterrichte nehmen zu lassen, ei dann schadet das auch nichts, und gewährt uns höchstens eine wenn auch kleine Erleichterung unserer schweren Pflichten; an uns ist es nachher noch immer, den Stundenplan zu machen, in unsere Hand gegeben auch außer den vom Prediger ertheilten Lectionen durch moralische Belehrung den vollen Einfluß auf das kindliche Herz zu behalten, dessen wir uns bis jetzt erfreut haben. Ich meinestheils würde darin sogar einen neu errungenen Vortheil sehen, wenn wir der wirklichen Dogmen enthoben würden, und es dem Pastor überlassen könnten, diese zu lehren und – zu vertreten. – Der Lehrer mag dann sehen, ob er im Stande ist, auch ohne die Bibel den Glauben an Gott in des Kindes Brust zu festigen und die herrliche Natur wird ihm das Buch sein, in dem er auf jedem Blatt, wohin er sich auch wendet, die heiligste Bestätigung seiner Lehre findet. Laßt es denn einen Wetteifer werden, lieben Brüder, in einem ehrenvollen und selbst für die Kinder segensreichen Kampfe, in dem Ihr noch dazu so unendlich im Vortheil seid, denn der Geistliche wird, wie bisher, die jungen Gemüther in scheuer Ehrfurcht vor dem kaum geahnten Thron eines allmächtigen Gottes stehen lassen, während Ihr Euere Schutzbefohlenen mit lächelndem Angesicht in die unmittelbare Nähe des Alliebenden führt.«

»Aber selbst das ist noch keine nöthige Folge einer Trennung der Schule von der Kirche, denn war der Schullehrer bis jetzt noch befähigt genug, den Religionsunterricht zu ertheilen, so sehe ich nicht ein, weshalb das später nicht eben so gut der Fall sein soll. Die Aufsicht, die der Pastor darüber gehalten, fiele allerdings weg, aber es müßte uns erst bewiesen werden, daß die nöthig gewesen ist, und daß sie auch wirklich der Erziehung der Kinder genützt, nicht geschadet habe.«

»Was nun die Kirchner- und Glöcknerdienste betrifft, so ist der Gehalt, den wir für diese, wie das Orgelspielen bekommen, allerdings beträchtlich genug, um ihren Verlust Leuten fühlbar zu machen, die nicht einen Thaler von ihrem Gehalte einbüßen dürfen, wenn sie nicht Mangel und Noth leiden sollen. Aber auch das, glaube ich, beruht nur auf einer thörichten Angst von unserer Seite, der wir uns um Gotteswillen nicht weiter hingeben dürfen. Es wird Niemanden von uns einfallen, sein ehrenvolles Cantoramt, das Spielen der Orgel, aufgeben zu wollen, denn dort ist der Schullehrer schon deshalb auf seinem Platze, weil es in die Ausübung des von ihm gelehrten Gesangunterrichts fällt, und er die Kinder auf der Orgel unter seiner unmittelbaren Leitung behält. Die Gemeinde hat aber auch in ihrem Bezirke keinen andern, der es versteht, und einen besondern Organisten zu halten, kann ihr schon der zu hohen Kosten wegen, welche die gänzliche Unterhaltung eines solchen Mannes mit sich bringen müßte, gar nicht einfallen. Der andere Dienst aber, der Glöckner- und Küsterdienst, muß wegfallen, denn er gerade ist es, der das Amt des Schullehrers bis jetzt entwürdigt und diesen zum directen Diener des Pastors gemacht hat.«

»Hier in den alten General-Artikeln, von denen es eine Schmach und Schande ist, daß sie, die 1580 entworfen wurden, 1848 fast noch ohne Veränderung in Geltung sind, heißt es ausdrücklich:

»»Auch ein jeder Pfarrer, in deme seinem Glöckner zu befehlen und zu gebieten hat – er ihm auch hierinnen billigen Gehorsam zu leisten schuldig und nicht widerstreben soll.««

»Ferner sollen sie nach Vorschrift eben dieser General-Artikel tit. XXXVIII:

»»Auf die Pfarrer in allen Kirchenämtern bei den Predigten, Taufen, Sakramentreichen und Besuchung der Kranken warten, und deswegen ohne ihr Wissen und Willen nicht ausreisen, damit sie ihrer gewiß sind.««

»Den besten Aufschluß über das Verhältniß der Schullehrer zu den Pastoren giebt aber unstreitig M. Gottlieb Schlegel's ›Der Chursächsische legale Schulmann‹, der mit klaren dürren Worten als Anleitung für die Schullehrer, wie sie sich zu ihren Vorgesetzten zu verhalten haben, besonders die vorgenannten Stellen citirt und daraus den, leider Gottes auch von unseren Gemeinden, und was noch schlimmer ist, von uns selbst angenommenen Schluß zieht:

»»Hieraus ersieht man, in welches Verhältniß die Landesgesetze den Schulmeister oder Küster gegen seinen Pfarrer gesetzt haben. Er ist der Diener des Pfarrers und hat ihn nicht blos als seinen Vorgesetzten, sondern auch als seinen Herrn anzusehn. Diese Gesetze sind keineswegs antiquiret, wenngleich ein vernünftiger Pfarrer seine Superiorität dem ihm untergebenen Schulmeister nicht, wie in vorigen Zeiten, auf eine demüthigende Weise wird empfinden lassen. Es sollen aber, heißt es in dem nur angeführten 37. General-Artikel: Auch die Pfarrer ihre Glöckner, ferner nicht, denn soviel ihr Kirchendienst belangt, mit Botenlaufen oder anderen, zu ihrem Nutzen dringen oder beschweren, sondern sie ihren befohlenen Dienst jederzeit unveränderlich abwarten lassen.««

»»Aus diesem Verhältnisse, in welchem der Schulmeister gegen seinen Pfarrer steht, folget nun, daß er den Erinnerungen desselben, und was ihm dieser im Kirchendienst befiehlt, gehorsamlich nachkommen, die Lieder, die in der Kirche gesungen werden sollen, nicht etwa durch einen Schulknaben, sondern in eigener Person abholen; nicht eher, als er sich bei dem Pfarrer gemeldet, einlauten; ihn bei Amtsverrichtungen begleiten, und wenn dergleichen bei den eingepfarrten Dörfern vorfallen, den Priesterrock tragen[2], in Abwesenheit des Pfarrers den Gottesdienst und was demselben anhängig nach der ihm gegebenen Vorschrift besorgen; die eingegangenen Missiven abschreiben; dieselben, insofern solche nicht durch eigene Boten besorgt werden, weiter befördern; die Collectengelder, wenn es nicht nach der Gewohnheit des Orts die Kirchväter thun, wie auch die Berichte des Pfarrers in Kirchen- und Schulsachen dem Superintenden einhändigen; daß er sich aber auch äußerlich gegen seinen Pfarrer ehrerbietig beweisen, in dessen Gegenwart nicht den Hut aufbehalten, nicht Taback rauchen soll, denn welcher Herr würde seinem Diener so etwas verstatten? So darf er auch ohne Vorwissen des Pfarrers nicht verreisen und über Nacht aus dem Hause bleiben. Da pflegen es nun manche blos zu melden, daß sie da oder dorthin verreisen würden, wenn etwa der Herr Pfarrer etwas zu bestellen hätte. Das ist aber nicht genug, sondern sie müssen ihn um Erlaubniß bitten, und zugleich anzeigen, was sie in ihrer Statt wegen der Schule und des Kirchendienstes für Vorsehung getroffen haben u. s. w. u. s. w.««

»Ich habe Ihnen den langen und gewiß schon bekannten Satz noch einmal vorgelesen, lieben Freunde, um Sie erneut darauf aufmerksam zu machen, wie gerade die Glöckner- und Küsterdienste es sind, die den Schullehrer zum eigentlichen Diener des Pastors machen, und den Schullehrerstand überhaupt entehren. Meiner Ansicht nach muß es daher eine unserer Hauptsorgen sein, von diesen befreit zu werden, und nicht darf uns dabei die Furcht zurückschrecken, daß deshalb eine Verringerung unserer Einnahme stattfinden würde. Das kann, darf und wird nicht geschehn und die Ursachen dazu liegen klar genug auf der Hand.«

»Nimmt das deutsche Parlament, welches jetzt in Frankfurt vereinigt ist, die Sache auf, oder wird die Ordnung dieser Angelegenheit selbst den einzelnen Regierungen überwiesen, so werden diese, wenn wir Alle wie ein Mann zusammenstehn, der Schule ihre Recht wiederfahren lassen müssen, und sie von den Fesseln befreien, die sie jetzt drücken und entehren. Dann aber, und bei einer ganz neuen Reorganisation, muß auch der Lehrer so hingestellt werden, daß er mit seinen Einnahmen nicht mehr fast ausschließlich auf ungewisse Einnahmen und Deputate hingewiesen ist, und selbst von diesen nicht genug hat, sein Leben auf anständige Art zu fristen. Wie kann er dem Unterricht seiner ihm anvertrauten Kinder mit freiem fröhlichen Herzen sein ganze Zeit und Aufmerksamkeit widmen, wenn es Nahrungssorgen sind, die ihn quälen, und ihn sich abhärmen lassen, wie es um ihn und die Seinen morgen und übermorgen stehen werde? Das alte fabrikmäßige ›Stunde geben‹ könnte allerdings dabei fortbestehen, aber was würde die Folge sein? Die Kinder würden fort erzogen werden, wie sie bis jetzt erzogen sind und in Druck und Knechtheit aufwachsen, die Freiheiten, die ihre Väter für sie errungen haben, würden sie nicht begreifen, nicht zu würdigen verstehen, der günstige Zeitpunkt aber für die Möglichkeit einer solchen Reorganisation wäre verflossen, und statt des Segens künftiger Geschlechter, den wir jetzt verdienen, wenn wir uns um die Bildung des gemeinen Mannes, des Bauern, des arbeitenden Theiles der deutschen Nation bemühen, erndeten wir ihren Fluch, mit dem sie, lassen wir Alles ungenutzt vorübergehn, unserer Lethargie, unsere Theilnahmlosigkeit, unsere unverzeihliche Verblendung, ja Feigheit verdammen müßten.«

»Doch, ich habe Ihre Aufmerksamkeit wohl schon zu lange in Anspruch genommen, und will jetzt nur noch kurz einen vermittelnden Vorschlag erwähnen, den uns Herr Pastor Scheidler heut Nachmittag gemacht. Er lautet dahin, daß er die Ansprüche anerkennt, welche die Lehrer haben, sich aus ihrer eigenen Mitte ihre Vorgesetzten zu wählen, weil er es aber für gut hält auch den geistlichen Stand dabei vertreten zu sehn, und um besonders ein zu schroffes Entgegenstehn beider, der Schule gegen die Kirche zu vermeiden, will er der nächstens zusammentretenden Geistlichkeit den Vorschlag machen, freiwillig von ihren bisher genossenen Vorrechten zu abstrahiren, und die hohe Staatsregierung, dann aber mit den Lehrern, vereint, zu bitten, eine Schulcommission von fünf Personen durch die Schullehrer selbst wählen zu lassen, von denen die Majorität, also drei, Schullehrer, die andern zwei aber Geistliche sein sollten. So sehr, wie ich aufrichtig gestehen will, mich dieser Vorschlag im Anfang durch seine anscheinende Gerechtigkeit bestochen, so muß ich mich meines Theils für jetzt dagegen erklären, und bitte die Versammlung, ihre Meinung darüber auszusprechen.«

Es entstand jetzt eine lebhafte Debatte über das eben Gehörte, das zu viel Wahrheit enthielt, um es ganz ableugnen zu können, aber auch zugleich der bis dahin so fest und gewaltig eingewurzelten Ehrfurcht gegen ihre hohen Vorgesetzten so schnurstracks entgegenlief, um nicht viel mehr Widerstand als Vertheidiger zu finden. Nur der letzte Vorschlag wurde fast allgemein freudig begrüßt und besonders äußerten die älteren Lehrer: es sei das ein neuer Beweis von des Herrn Pastors Scheidler Humanität, der ihm nur zur Ehre gereichen, und von ihnen mit verbindlichen und dankbaren Herzen aufgenommen werden müsse. Eine Trennung der Kirche von der Schule sei überhaupt etwas unnatürliches – es wäre als ob man das Kind von der Mutter reißen wollte und könne keine segensreichen Folgen haben. Allerdings gestanden die Männer die schweren bösen Uebelstände ein, die von dem Küster- und Glöcknerdienst herkämen, gestanden ein, daß ihnen das dienstliche Verhältniß, in dem sie zu ihren verschiedenen Pastoren stünden, oft, o wie oft, drückend geworden, und mancher Mißbrauch auch, von Seiten der Geistlichkeit, vorgefallen wäre, aber durfte man fürchten, daß dieß auch ferner geschehe; hatten nicht die Zeitereignisse einen ganz gewaltigen Wechsel in den beiderseitigen Stellungen hervorgebracht? Zeigten sich die Pastoren jetzt nicht viel freundlicher und herablassender als je, und war es nicht auch Schuldigkeit der Lehrer, die Hand zu ergreifen, die ihnen in Freundschaft und Einigung entgegengestreckt wurde. Ja lag es nicht im eigenen Vortheil des Lehrers das Verhältniß zwischen Pastor, Lehrer und Gemeinde, wie es bisher bestanden, auch fortbestehen zu lassen? – War es nicht der Pastor, der so oft, und besonders wenn er »mit dem Schullehrer auf gutem Fuße stand« vor ihn gebrachte Klagen der Eltern mit wenigen Worten beseitigte, die, wenn sie hätten sollen jedesmal an die Schulinspektion gehn, gerade ihrer Unbedeutenheit wegen so fatal und unangenehm gewesen wären? Ueberhaupt, was half ihnen eine Besserung ihres Zustandes, wenn sie nachher mit denen in Unfrieden leben sollten, auf die sie bis jetzt angewiesen gewesen, und konnte das nachher überhaupt eine Besserung genannt werden? Nein – dankbar wollten sie nehmen was man ihnen böte, sich des Gegebenen dann freuen, und mit frischen Kräften an ihr großes schönes Werk gehn, die Kinder heranzuziehen zu guten Menschen und treuen Unterthanen.

Es lag etwas Rührendes in dieser Resignation der armen bedrückten Klasse – in der scheuen Ehrfurcht mit der sie von ihren Geistlichen sprachen, die ihnen nur in den wenigsten Fällen mehr als eben Vorgesetzte gewesen. Selbst Hennig, obgleich im Ganzen mit seinen Amtsbrüdern nicht ganz einverstanden, fühlte sich davon ergriffen, und es entstand eine ziemlich lange Pause, in der sich Jeder zu scheuen schien, das Wort zu nehmen.

Ein bleicher hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und hohl liegenden aber feurigen Augen, dabei mit edlen lebendigen Zügen, kühn gewölbter Stirn und freier Haltung, hatte bis jetzt an der entferntesten Ecke des Tisches schweigend gesessen und den einzelnen Ansichten gelauscht. Oft schien es auch als ob er, nur in seine eigene Gedanken vertieft, dem Lauf der Debatte gar keine Aufmerksamkeit weiter schenke, der rasche forschende Blick aber, der gleich darauf wieder, bei irgend einer, noch nicht geäußerten Idee aus seinen düsteren Augen blitzte, mußte jede solche Vermuthung bald verbannen und ein genauerer Beobachter hätte sogar das rasche Athmen der Brust, die wechselnde Farbe seiner sonst eigentlich fahlen Züge und die Unruhe, die in seinem ganzen Wesen lag, bemerken können. Es war der Lehrer Kraft aus Bachstetten.

»Mitbrüder« sagte er endlich mit leiser, doch leicht verständlicher, klangvoller Stimme – »Ihr seid gegen eine Trennung der Schule von der Kirche, weil Ihr es für das Wohl der Schule besser haltet. Ihr seid für den, vom Pastor Scheidler vorgeschlagenen Schulvorstand, weil Ihr meint, die Geistlichkeit meine es ehrlich mit Euch und wolle wirklich den Fortschritt. Mitbrüder, ich bin ein alter Schulmeister, neun und zwanzig Jahre esse ich das sauere Brod eines Dorflehrers – neun und zwanzig Jahre bin ich der Diener manches bald guten bald schlechten Geistlichen gewesen und neun und zwanzig Jahre hindurch habe ich es erprobt und als eine traurige Wahrheit befunden, daß der Geistliche stets mein Vorgesetzter, nie aber mir das gewesen ist, was uns Verstand und Ueberlegung sagen muß, daß er doch eigentlich sein sollte – der rathende Freund des Lehrers. Er mag noch so gütig gegen den Schulmeister sein, stets wird er es ihn doch merken lassen, daß er ihm sub-, nicht coordinirt ist und dieses Uebergewicht, das er dadurch erhält, ist es gerade, was ich für das Gedeihen der Schule so verderblich halte.«

»Das Kind soll vor seinem Lehrer Respekt haben, das kann aber nicht der Fall sein, wenn es nicht ebenfalls sieht wie der Mann, den es selber achten soll, auch von anderen Menschen, besonders von seinen Eltern und Nachbarn geachtet wird. Geschieht das aber? – Ich sage nein – nein und tausendmal nein. Es geschieht nicht und wäre es auch nur vor allen Dingen des leidigen todten Mammons wegen. Der Schullehrer bekommt 120 bis 200 Thlr. – Sie Alle wissen wie selten mehr; beim Pastor gehört eine Stelle von achthundert Thalern keineswegs zu den bedeutendsten und schon das hebt ihn in den Augen des Bauern, der gewohnt ist, den Werth des Menschen nach Pferden und Schaafen oder Ackern Land zu schätzen, um gerade so viel, als seine Einnahme die des Schullehrers übersteigt. Das hat aber auch Einfluß auf seine ganze Rede und Ausdrucksweise, denn es fehlt ihm das feine Gefühl selber zu bestimmen, wo in einem Wort oder Blick etwas kränkendes für den fein fühlenden Mann liegen könnte. Schon die gewöhnliche Anrede giebt den Beweis: ›Schullehrer‹ heißt's – ›wie geht's Euch‹ – der Pastor wird stets mit einem ehrerbietigen Herr angesprochen. Kommen die Kinder zu Hause und klagen, daß ihnen der Lehrer Unrecht gethan, so droht Vater oder Mutter mit dem Pastor, und nicht selten geschieht es, daß dieser sogar dem schuldigen Theile noch Recht, dem armen schutzlosen Schulmeister gegenüber, giebt. Ich will nur ein Beispiel hier erzählen, und ganze Bände ließen sich mit ähnlichen ausfüllen.«

»Vor ungefähr zwölf Jahren war der jetzige Seminar-Direktor Gehler Pastor in T– und ein Freund von mir wurde Knabenlehrer und Cantor daselbst. In der Zeit gab es in T– eine wahre Brut von Jungen und es war wirklich nöthig, Strenge zu üben, um nur das eingerissene Uebel erst einmal zu dämmen, und bessere Sitte einzuführen. Dem Lehrer blieb denn auch einst, nach der beispiellosesten Geduld kein anderes Mittel, einen der schlimmsten Buben zur raison zu bringen, als körperliche Züchtigung, und er mag ihm die wohl auch freigebig genug zugemessen haben. Das geschah Früh. Nachmittags wird er zum Herrn Pfarrer gerufen und findet dort Niemand Anderes als eben den gestraften Buben und seine Mutter. Der Pfarrer hält nun, in Gegenwart dieser Beiden ein Verhör und tadelt den Schulmeister, daß er den Knaben geschlagen habe. Dieser will sich vertheidigen, der Herr Pfarrer hört aber nicht darauf, sondern holt einen Apfel, giebt diesen mit Liebkosungen dem Knaben, und bittet ihn, es nicht übel zu nehmen – ja der Lehrer mußte sogar noch, wollte er seine Stelle nicht verlieren, versprechen nicht wieder zu prügeln. Und das ist der nämliche Mann, der vor einigen Tagen bei einer Versammlung von Geistlichen auftrat und zu behaupten wagte, die Lehrer seien noch gar nicht reif zur Emancipation.«

»Wie muß dadurch bei den Schulkindern die Achtung vor dem Lehrer sinken und ist es zu verwundern, daß dieser zuletzt selber mismuthig und verdrossen wird, und anfängt zu verzweifeln, das schöne Ziel, nach dem er im ersten Jugendfeuer und Eifer strebte, je zu erreichen?«

»Auch das trägt nicht dazu bei, den Schullehrer in der Achtung der Kinder zu erhöhen, wenn der Pastor manchmal so recht unverhofft in die Schulstube hineintritt, um, wie die Bauern sagen, den Lehrer einmal auf einem faulen Pferde zu erwischen. Ja, nicht selten kommt es sogar vor, daß er draußen erst eine Zeitlang vor der Thüre horcht, vielleicht in der besten Meinung den Lehrer durch sein Erscheinen nicht außer Fassung zu bringen – denn es giebt noch Thoren genug unter uns, die ihn wirklich fürchten – vielleicht auch in schlechtester Meinung irgend einen Haken an dem ihm Untergebenen zu finden, an dem er sein Müthchen einmal kühlen, seine Autorität beweisen könne.«

»Doch das nicht allein, die ganze Stellung, die der Pfarrer hier dem Schulmeister gegenüber einnimmt, muß dazu dienen, diesen in den Augen der Gemeinde herabzuwürdigen, oder doch ihm den Lohn zu schmälern, den er auch manchmal wieder in seinem Amte finden könnte – wenn der Pfarrer nicht wäre.«

[3]Man bringt das Kind, den rohen Sohn der Natur, zur Schule; acht volle Jahre hat der Lehrer an ihm sein mühevolles Tagewerk zu treiben; er kann oft kaum sprechen und die einfachsten Begriffe sind ihm fremd. Der Pfarrer nimmt ihn auf. Das Kind macht mehr oder mindere Fortschritte. Der Pfarrer beurtheilt dieselben, und versetzt es nach den Prüfungen, zu Ostern oder Michaelis. Es hat die Klasse durchlaufen: Der Pfarrer versetzt es in eine höhere. Zöge es weg von seinem bisherigen Schulorte, – so schreibt der Lehrer allerdings das Zeugnis, allein es mangelt noch an Legalität: Der Pfarrer unterzeichnet es. Das Kind versäumt die Schule, der Lehrer schreibt die Versäumnißtabelle, der Pfarrer aber unterzeichnet sie. Ostern und Michael nahen heran, und mit ihnen die Prüfungen: Der Pfarrer schreibt die Ordnung der Gegenstände vor. Die Prüfung fällt nun so oder so aus – der Pfarrer lobt oder tadelt, oft nach den momentanen Produktionen; oft das Kind, das der schlechteste Schüler im ganzen Halbjahr war, mit Lob überschüttend, oft den besten fleißigsten Schüler durch herben Tadel zurückschreckend. Der Schulmann ist in seinem Amt – Der Pfarrer inspicirt alle vierzehn Tage – der alte Polizeistaat, der in jedem Menschen einen treulosen erblickt, zeigt sich hier in seiner vollsten Glorie. Der Lehrer will ein neues Schulbuch einführen, er hat's geprüft, es ist ihm von Anderen empfohlen worden. Der Pfarrer muß seine Genehmigung dazu geben, mag er auch noch so wenig davon verstehen. Das Kind verläßt endlich die Schule. Acht Jahre sauren Schweißes hat es dem Lehrer gekostet: Der Pfarrer entläßt es, nachdem der Lehrer noch vorher das Wort väterlichen Ernstes an dasselbe gerichtet. Glücklich der Lehrer, dem man es zugesteht, daß nicht der letzte Confirmanden-Unterricht, sondern sein treuer Fleiß es wesentlich gefördert haben. Gab es ein Schulfest im Lauf des Jahres: Der Pfarrer hatte es zu genehmigen, denn ohne ihn vermag der Lehrer nichts.‹

»›Die Lehrer haben Nichts zu ordnen, zu verfügen, zu bestimmen, sie haben immer ihre Stellung im Auge zu behalten!‹ sagte einst ein Ephorus zum Director eines bedeutenden Lehrervereins und es ist bis jetzt leider Gottes nur zu wahr gewesen. Auch die schmählichen geheimen Inspections- und Revisionsberichte, Schulprotocolle und geheimen Conduitenlisten, die der Pfarrer an das Consistorium einsendet, ohne daß dem Lehrer das Recht zugestanden wird, zu erfahren was gegen ihn gemeldet worden, damit er sich vertheidigen oder rechtfertigen könne, sind ein Fluch unseres jetzigen Zustandes und müssen uns vor allen Dingen die Augen öffnen, wie der Schulmeister zum Pfarrer eigentlich steht, und was wir von einem Vorschlag wie Herr Pastor Scheidler ihn unserem alten Freunde Kleinholz und Hennig gemacht hat, zu erwarten haben. Auch ich bin, wie Herr Hennig, gegen den Vorschlag – die alte Ehrfurcht steckt noch zu viel im Schulmeisterrocke – er sieht in dem Pastor noch immer wirklich etwas Besseres, als er selbst ist, und so rasch ist das auch nicht heraus zu treiben. Bekämen wir also jetzt wirklich eine solche fünfköpfige Schulinspection von drei Schullehrern und zwei Pastoren, wobei sicherlich und mit Recht die ältesten Schullehrer zu solchem Ehrenamt gewählt würden, so wäre es doch sonderbar, wenn unter den dreien sich nicht Einer fände, der von den beiden Pastoren zu ihren Beschlüssen gewonnen werden könnte, und die Majorität wäre dann, aber mit noch weit böseren Folgen als bisher, auf jener Seite, denn bis jetzt duldeten wir nur, weil wir unterdrückt waren und nicht anders konnten; dann würden wir aber gar kein Recht mehr haben uns zu beklagen, denn es wäre unsere freie Wahl gewesen, und ausgelacht würden wir noch über unsere Thorheit.«

»Was dann noch den einen, vorher erwähnten Punkt betrifft, daß der Pastor, wie das Verhältniß jetzt ist, oft vermittelnd zwischen den Eltern der Kinder und dem Schullehrer auftritt, so gebe ich zu, daß dadurch manche Streitigkeiten und für den Lehrer sonst vielleicht unangenehme Folgen gehoben und beseitigt werden. Was aber, lieben Freunde, ist denn die eigentliche Ursache eben dieses erwähnten Uebelstandes? – wahrlich nichts anderes, als auch gerade die gedrückte, untergeordnete Stellung, in welcher der Lehrer in seinem Dienstverhältniß zum Pastor unmittelbar der Gemeinde gegenüber steht. Es würde keinem der Bauern einfallen, wegen wahren Erbärmlichkeiten manchmal ihren Pastor zu verklagen, aber den Schulmeister – ei sapperment, dem soll's der Pastor einmal sagen, daß er gewagt hat zu thun, als ob er der Herr in der Schule wäre. Was ist auch hiervon die Folge? – Die Kinder behalten – wenn sie den wirklich je gehabt, keinen Respect vor dem Schulmeister – ›er darf uns nichts thun, sonst sagt's mein Vater dem Pastor – und da kriegt er's.‹ Das wird der Trotzspruch der Knaben und demüthigend allein ist das schon für den armen, überall zurückgesetzten Lehrer, daß er durch ein solches Verklagen auch von der Gemeinde den Grundsatz ausgeführt sieht – der Schulmeister ist der Untergebene des Geistlichen. Glaubt deshalb nicht, Freunde, daß dadurch in Zukunft ein Zankapfel in den Kreis Eures stillen Wirkens geschleudert würde, wenn der Pastor den Streit nicht mehr mit wenigen Worten schlichten kann, sondern ihn an die Schulinspection verweist – das sind blinde Gespenster die Ihr dort seht, – steht der Schullehrer mit dem Pastor auf gleicher Stufe, d. h. genießt er erst einmal die Achtung, die er verdient, dann wird es auch den Eltern gar nicht mehr einfallen ihn für ein so unmündiges Subject zu halten, als das bis jetzt geschehen, und es wird – eine Lebensfrage für die Selbstständigkeit des Lehrers – auch nicht mehr, wie das bisher bei solchen Gelegenheiten der Fall war, in der Hand des Pastors und von seinen Launen abhängig liegen, den Lehrer durch ein Wort, ja durch einen Blick der Verachtung oder Geringschätzung bei den klagenden Eltern zu verdächtigen. – Der Geistliche wird die Klagenden nicht mehr an die Schulinspection weisen können, weil es eben keine Klagenden mehr geben wird, ausgenommen es wäre wirklich etwas Ernstes vorgefallen, und der Lehrer hätte sich einen Fehler zu Schulden kommen lassen – und dann ist die Schulinspection auch gerade der Gerichtshof, wo die Klage angebracht werden muß, und wohin sie gehört.«

»Also stehet fest zusammen, lieben Mitbrüder, und beweist einmal durch festes, vereintes Auftreten, daß Ihr auch wirklich verdienet frei zu sein. Die alten Vorrechte werden jetzt überall den bis dahin bevorzugten Ständen genommen, laßt nicht die schlimmsten von allen, die der Geistlichkeit, nach ihrem Willen den strebenden Geist der Völker zu unterdrücken, auf Euch allein und geduldig lasten, und bedenket, daß Ihr nicht nur für Euch, daß Ihr für Deutschland arbeitet, für Deutschland und seine heranwachsenden Generationen.«

Der Lehrer setzte sich nieder, aber fünfe, sechse traten nach einander gegen ihn auf. Keiner widerlegte das, was er gegen die Geistlichkeit gesagt – Alle stimmten ihm darin bei, daß das Uebelstände seien, denen abgeholfen werden müßte, denen aber auch abgeholfen würde, sobald nur einmal die neue Schulinspection, wie sie der Herr Pastor Scheidler vorgeschlagen, in Wirksamkeit träte; für jetzt aber, meinten sie, sei es zu gewagt, »feindlich gegen die Kirche aufzutreten, wo sie noch unter der Botmäßigkeit derselben ständen –« Pflichten zu verweigern, die sie bis jetzt geleistet, und für die sie Zahlung bekommen hätten, ohne auch gewillt oder in den Verhältnissen zu sein, die mit ihnen genossene Nutznießung mit ihnen aufzugeben. Nein, man vereinigte sich dagegen zu einem Gesuche an die hohe freisinnige Regierung, die Mißbräuche der vor Jahrhunderten gegebenen Gesetze abzuschaffen, man erbitte eine baldige, durchgreifende Reform des Volksschulgesetzes, man beantrage, daß dem Lehrer eine, seinem Stande und seiner Bildung würdigere, mehr coordinirte als subordinirte Stellung angewiesen werde, und sei dann überzeugt, daß die bis jetzt so gehässigen Fatalitäten zwischen Geistlichen und Lehrern von selber wegfallen würden – so lautete das Resultat.

Hennig trat noch einmal mit Kraft für seine Meinung auf, doch vergebens, er wurde überstimmt, und sogar eine Adresse an die übrigen Lehrer des Reichs beschlossen, um diese davon abzuhalten, daß sie einer Trennung der Schule von der Kirche das Wort redeten, dagegen aber aufzufordern, in der nächst zu haltenden großen Lehrerversammlung kampf- und schlagfertig zu erscheinen, und ihre Ueberzeugung dort zu verfechten.

Da stand Kraft auf, griff nach seinem Hut und sagte, während er hinter seinen Stuhl trat:

»Lieben Mitbrüder, Ihr habt Euch entschieden, und ich sehe die Folgen, die dieser Euer Entschluß haben wird. Nicht, daß Ihr die Trennung der Schule von der Kirche werdet aufzuhalten vermögen, nein, die Mehrzahl der Lehrer hat hoffentlich Energie genug, jetzt, wo ihr die Waffe der freien Rede in die Hand gegeben ist, sie auch zu gebrauchen und ihre Rechte damit zu erkämpfen; aber wehe thut es mir, den Geist erkannt zu haben, der in dieser Gegend noch die Herzen der Lehrer beherrscht, ja, bange Zweifel fangen schon an, in mir aufzusteigen, ob selbst die Emancipation im Stande sein wird, den Geist des Selbstgefühls zu erwecken, daß er ein Joch abschüttele, nicht etwa nur weil es ihn drücke oder beschwere, nein, sondern weil es überhaupt ein Joch ist, und ein Joch, das noch dazu anfängt, ihn zu schänden, weil er es freiwillig tragen will. Daß die Pastoren, noch ehe sie dazu gezwungen werden, schon ein selbst so precäres Zugeständniß machen, und uns das Recht zugestehen, unsere Schulinspectoren wenigstens zum Theil aus unserer Mitte zu wählen, das hätte Euch die Augen öffnen können, wie sie das Geringe geben, weil sie damit einem größeren Muß vorzubeugen gedenken. Blinde kurzsichtige Menschen die es sind, daß sie meinen, der einmal entfesselte Geist ließe sich sobald wieder in die alten Banden der Knechtschaft hineinpressen.«

»Lebt wohl, lieben Freunde – berathet Eure Adresse und sendet sie in alle Welt, gebraucht auch, als zu Eurer Conferenz gehörig, meinen Namen, verlangt aber nicht, daß ich selber unterschreiben soll, was mir das Herz in der Brust wenden würde. Ich will nach Bachstetten zurück, und vielleicht kommt die Zeit, wo ich im Stande bin, für Euer, für unser Wohl zu wirken!«

Er verließ das Zimmer, und nur Hennig folgte ihm von all' den Uebrigen.

Elftes Kapitel.
Des Musikanten Tochter.

Kraft und Hennig stiegen die Stufen der Treppe hinunter, und befanden sich gleich darauf im wirren Getreibe des Schenklebens, das sie in lauten fröhlichen Massen umtobte.

Sie blieben einen Augenblick neben der Gartenthüre stehen und überschauten die Menge, die hier, der wunderherrlichen Frühlingsluft froh, theils um einzelne Tische saß, theils langsam in den Gängen auf- und niederschlenderte, oder auch kurze Zeit nach dem kleinen Orchester hinüber horchte, das Märsche, Walzer, Rutscher und Galopps spielte, und aus den gewöhnlichen Dorfmusikanten bestand, die auch Abends beim Tanz den lustigen Reigen aufgeigten.

Nur manchmal schien sich die Aufmerksamkeit dem Orchester ganz und fast ungetheilt zuzuwenden, und das war stets, wenn ein einzelner Mann, unser alter Bekannter, mit seiner Tochter auf die Bank trat und auf seiner Violine, nicht Marsch oder Tanz, aber doch so eigenthümliche Weisen und mit für Horneck so unerhörter Geschicklichkeit spielte, daß den Bauern, nach ihrer eigenen Bestätigung, »Maul und Nase« aufstand, und sie manchmal nicht wußten, ob er an der linken Hand fünf oder zehn Finger hätte.

Kraft und Hennig waren aber noch viel zu sehr mit der eben verlassenen Conferenz beschäftigt, um das rege Leben um sich her viel zu beachten; sie schritten dicht an Haus und hinter den Hecken hin, die hier einen schmalen Raum des Gartens von den übrigen offenen Theilen abschied, um in's Freie hinaus den Weg zu gewinnen, an der engen Gartenpforte aber, die hier nach dem Felde hinauslief, fanden sie ein solch' wirres Menschengedränge, daß sie, um dem zu entgehen, wieder rechts einbogen, und endlich gerade unter der Stange anhielten, die hier zum Sternschießen errichtet war, und neben der ein paar noch unbesetzte Bänke standen.

»Mir thut es in der Seele weh,« brach Kraft endlich das Schweigen, »daß gerade hier von Horneck aus ein Schritt geschehen soll, über den die Feinde des freien Lehrerstandes triumphiren werden. ›Seht Ihr,‹ höre ich sie schon rufen, ›sie selber wollen es nicht – sie selber sehen ein, daß durch ein Losreißen von der Kirche die Schule selbst gefährdet sei – sie selber fühlen, daß sie der Aufgabe nicht gewachsen sind‹.«

»Und wo bedürften sie einen besseren Beweis für ihre hochmüthige Behauptung – »die Lehrer seien noch nicht reif zur Emancipation«,« seufzte Hennig – »diese Adresse wird ihnen eine furchtbare Waffe gegen uns in die Hand geben.«

»Das wolle Gott nicht,« rief Kraft – »das wird aber auch nicht geschehn – ja wenn wir hier nur etwas für uns selbst, für die materielle Verbesserung des Schullehrerstandes erringen wollten, wenn hier nicht das Interesse des ganzen Deutschlands mit in's Spiel käme, dann Freund, dann möchten Sie Recht haben, die Uneinigkeit würde dann unser Verderben sein, so aber ist die Sache gewaltiger, als Sie uns Allen jetzt hier vorkommt, und bricht sich endlich schon von selber Bahn. Die Adresse dauert mich auch deshalb nur der Leute wegen, die sie unterzeichnet, nicht um der guten Sache selbst willen, denn um die stände es schlimm, vermöchte eine kleine Conferenz unbedeutender Schulmeisterlein an ihrer Basis zu rütteln, ihre Grundpfeiler zu untergraben.«

»Aber es ist eine Schaufel voll Erde unter dem Fundamente weggenommen,« seufzte Hennig, »wieder und wieder und immer wieder eine, und wer weiß, ob der Bau nicht dennoch endlich schmetternd nachstürzt.«

»Ich glaube nicht,« sagte Kraft, und starrte die gefalteten Hände fest zwischen seine zusammengedrückten Knie gepreßt, gerade vor sich nieder – »ich glaube nicht, denn nach dem, was ich bis jetzt von der ganzen Erregung Deutschlands in den Zeitungen gelesen habe, müßte ich mich sehr irren, wenn nicht gerade die Schule zuletzt das sein wird, wonach sich die liberale Partei gezwungen sieht zu greifen, um ihre Hoffnungen zu realisiren; und daß so etwas dann nicht unter den jetzt zwischen Schule und Kirche bestehenden Verhältnissen geschehen kann, versteht sich, möcht' ich sagen, von selbst.«

»Ich begreife nicht recht, wie Sie das meinen,« sagte Hennig.

»Sehen Sie, lieber Freund,« sagte der alte Schulmeister, leiser noch fast als vorher und in der früheren Stellung verharrend, fort, »ich habe nicht viel mehr in den Funfzigen zu suchen, und Manches in der Welt gesehn und erlebt – denn ich war die neun und zwanzig Jahre keineswegs in einem Striche fort Schulmeister, und meine Lebensbeschreibung gäbe gewiß gar interessanten Stoff zu einem recht starken dickbändigen Romane, wenn – ich als Schullehrer nur damit herausrücken dürfte – doch das ist Nebensache, wie ich meine Erfahrungen gesammelt – es ist das einzige, was ich auf dieser Welt sammeln konnte, die aber sagen mir dafür auch Manches, was andere Leute erst durch bittere Enttäuschung zu lernen haben und – sie lügen selten. Doch zur Sache. Ich war vor drei Tagen in der Residenz und durch frühere Schulkameraden sah ich mich plötzlich in das ganze tolle Gewirr der jetzigen politischen Bewegung hinein versetzt – hörte ihre für Freiheit und Einheit schwärmenden Reden, sah den Jubel, der die jungen Herzen in aller Wonne frisch erkeimender Hoffnungen erfüllte, und kann wohl gestehen, daß ich alter Kerl im ersten Augenblick selbst mit hineingerissen wurde in den wirbelnden Rausch der jungen Ideen und Pläne. Der Sieg, den das Volk auf den Barrikaden Berlins gegen die bis dahin für unbesiegbar gehaltenen Bayonette erkämpft hatte, riß noch kaltblütigere Leute, als ich sonst gewöhnlich bin, in seinem Taumel mit fort; ich fühlte aber endlich wieder Grund, stemmte die Strömung, sah, wohin dies urplötzliche und tolle Durchbrechen aller Banden und Dämme führen müsse und werde – und watete langsam wieder an's stille Ufer zurück, von da aus den Verlauf der Sache besser und unparteiischer betrachten zu können.«

»Republik! ging der Ruf durch die Versammlungen; das Volk ist reif und hat seine Ketten zerbrochenfort mit der Tyrannei; die Volkssouverainetät allein ist die Macht, die wir anerkennen – einstimmig wurden alle Beschlüsse angenommen, denn wer sich als Einzelner der Masse entgegen gestellt hätte, wäre, wenn er recht gut weg kam, einfach hinausgeworfen – selbst beim Abstimmen wurden die, die sich durch Handaufheben vielleicht als eine sehr geringe Majorität herausstellten, ausgelacht und verhöhnt – das war ein Vorspiel zur Volkssouverainetät. Wenn übrigens die Massen noch keinen parlamentarischen Takt besitzen, so läßt sich das gewiß mit der Neuheit ihrer jetzigen Verhältnisse entschuldigen – was thut es, wenn sie beim Abstimmen manchmal beide Hände in die Höhe heben, in gemäßigteren Vereinen die Galerien füllen und die Redner der Gegenparthei nicht zu Worte kommen lassen, etc., das muß sich erst abschleifen, und eben so, wie unsere junge Preßfreiheit manchmal ausarten und hinten ausschlagen wird, wie ein tolles lebensfrohes Fohlen, so wächst sie doch mit der Zeit zu einem edlen Renner heran, der zwar seinen Reiter, den Geist, in Sturmesflug über die weite Flur dem schönen Ziele entgegenträgt, aber eben keine Seiten- und Bockssprünge mehr macht.«

»Nur die Volkssouverainetät, lieber Hennig, die, die kann ich noch nicht anerkennen – das Volk hat seine Ketten gebrochen, ja, wie der entfesselte Leu steht es ingrimmig brüllend da und weist seinen früheren Kerkermeistern die fürchterlichen Fänge, und wäre er jetzt in einer Wildniß, so möchte er in Gottesnamen mit der neugewonnenen Kraft toll und rücksichtslos in die Welt hineinstürmen, das Echo mit dem Laut seiner gewaltigen Stimme erwecken und die gigantischen Stämme erzittern machen, wenn er sich in übermüthiger ausgelassener Lust dagegen wirft, um die eisernen Pranken in das zähe Holz zu schlagen. So aber befinden wir uns gegenwärtig mit eben diesem Leuen mitten in einer civilisirten Stadt, und so lange er eben nur noch ruhig dasteht und seinen Feind anstarrt, mag das gehen, beim ersten Seitensprung aber wird er in irgend einen Porcellan- oder Spiegelladen hineinfahren, eine Menge Leute, ohne sich selber zu nützen, zum Tode erschrecken, kaum glaublichen Schaden anrichten, das Oberste zu Unterst kehren, endlich selbst die um ihre Sicherheit besorgt machen und gegen sich aufbringen, welche sich erst über die Freiheit des schönen stolzen Thieres gefreut haben, und sich doch noch zuletzt in irgend einer Sackgasse oder engen Bahn des ihm fremden Terrains, auf's Neue umstellt, gefangen und – Gott wolle verhüten, daß ich Wahrheit rede – gar besser bewacht finden als früher.«

»Aber die Fürsten,« warf Hennig ein, »werden sich jetzt doch, nach dem Siege in Berlin, gezwungen sehen, überall nachzugeben – was können die kleineren machen, da die Freiheit in den größeren gesiegt hat?«

»Ich bin kein Politiker, lieber Hennig«, erwiederte ihm Kraft, »ich kann auch nicht sagen und vorher bestimmen, welchen Einfluß diese gewaltigen Ereignisse auf das übrige Deutschland haben werden, mir nur ist es so ängstlich zu Sinn, daß ich selbst keine Rettung in dem geängstigten Erfolge finden kann. Sehen Sie sich unsere Bauern hier in Horneck, in Buchstetten, in der ganzen Umgegend an, gehen Sie Dorf für Dorf, Flecken für Flecken durch, und sagen Sie mir dann, wie viele Leute Sie gefunden haben, die im Stande wären, auch nur zu begreifen, was für Freiheiten in ihre Hände gelegt wurden. Es thut mir leid, daß ich's sagen muß, aber unser Bauer, wie er jetzt ist, paßt nur für das Joch, in dem bis dahin sein Nacken steckte – er ist von Herzen gutmüthig, aber dabei störrisch und hartköpfig, mißtrauisch bis zum äußersten Grad – kriechend höflich gegen die, in deren Händen die Gewalt liegt, übermüthig bis zum Ekel gegen die Untergebenen und rücksichtslos unverschämt, wo er sich im Rechte glaubt oder weiß. Der Tagelöhner dagegen, der Knecht und Häusler ist von Jugend auf in einem Zustande heraufgewachsen, der ihn nur nothdürftig an seine körperliche Bildung, an seine geistige fast gar nicht denken ließ. Das Bischen Schreiben und Lesen, was dem Jungen bis ins zwölfte, dreizehnte Jahr eingeprägt wurde, hat der Flegel, wenn er sechszehn alt ist, fast schon wieder vergessen, und wahrlich, es ist ihm auch nicht zu verdenken, wenn man sieht, wie er von Morgens früh bis spät in die Nacht das ganze Jahr hindurch arbeiten und schaffen muß, um nur das Bischen Leben elend genug zu fristen. Abends ist aber der Körper so ermüdet und angegriffen, daß von Lesen, Schreiben oder Denken gar keine Rede mehr sein kann. Ist es da also möglich, hier bei den erwachsenen jungen Burschen und alten Leuten noch einmal mit Schulunterricht, und schlimmer als Schulunterricht mit der Belehrung dessen anzufangen, was sie eigentlich sein sollten, um dem Zwecke freier Männer zu genügen? – Nein, die Zeit ist versäumt, denn was wir den Kindern nicht lehren durften, das können wir jetzt den Alten auch nicht mehr in die Schädel zwingen. Ja früher, da wäre der Augenblick gewesen, uns aber waren die Hände gebunden, das Beispiel hatten wir alle Tage vor Augen – wir sahen, wie die Schwalbe ihren Jungen das Fliegen und ihre Kräfte zu prüfen lehrte, uns aber, den denkenden mit Vernunft und Seele begabten Menschen war das, wenn auch nicht vom, doch durch das hohe Consistorium untersagt – den Fluch dieser Verdummung erndten wir jetzt, und mit bitterer Erfahrung würden wir es bezahlen müssen, wären wir thöricht genug zu glauben, ein Volk könne aus solcher Knechtschaft, wie wir sie eben abgeschüttelt, gleich mit einem kühnen Sprung zu der herrlichsten aber gerade durch ihre Einfachheit auch schwierigsten Regierung, der Selbstregierung gelangen. Unsere Tagelöhner und Häusler, unsere Knechte und Bauern sind eben Menschen, die noch kein eigenes Urtheil haben und sich deshalb so lange von anderen Menschen werden leiten und bei der Nase herumführen lassen, bis die heranwachsende Generation einmal mit frischen lebendigen Geisteskräften und klarem Bewußtsein ersteht, das aber ist jetzt unsere Aufgabe, eben die heranwachsende Generation und mit ihr das ganze künftige, und Gott wolle es fügen, einige Deutschland, ist in unsere Hände gegeben, daß wir den Saamen in das fruchtbare Erdreich streuen und in unseren eigenen Kindern die fröhliche herrliche Erndte aufkeimen und reifen sehen.«

Der Mann hatte sich bei den letzten Worten hoch aufgerichtet und sein über Hennig hinschweifender Blick hing wie begeistert an den blaßrothen Abendwolken, die von der untergehenden Sonne mit zartem Rosenhauch übergossen, wie sehnsüchtig und liebend ihr nachzustreben schienen in das Gluthenmeer ihres leuchtenden Grabes.

»Hallo Schulmeester un keen Ende,« lachte da plötzlich eine derbe aber gutmüthige Stimme, und Meinhardt, ein Bauer aus Horneck, derselbe, der am Sonnabend Nachmittag Klage beim Pastor gegen den alten Lehrer geführt, trat aus einer der nächsten Gruppen auf die beiden Männer zu – »hul mich diasar und jäner, wu mer hiar hintrett, trett mer uff'n Schulmeester, 's kriwwelt und wimmelt urdentlich von em. Aber lieb is mer'sch, daß ich Uech finge, Herr Hennig, Ihr kennt mer en großen Gefallen duhn.«

»Wäre der Herr Pastor das nicht vielleicht eher im Stande?« frug Hennig, der den Auftritt vom vorigen Morgen noch zu frisch im Gedächtniß hatte, nicht ohne Bitterkeit.

»Ach papperlapapp!« brummte der Bauer und kratzte sich unter der Mütze den dicken Schädel, »der Pastor sieht ooch durch en Brät – wenn en Loch drinne is – aber – Ihr hatt recht – ich han's gestern dumm angefangt, aber main verwetterter Junge hatte de Schuld – Jimine, wie han ich en ooch gekeilt – na, der lügt mer nich mehr de Hucke vull – doch – was ich nuch sagen wolle, Schulmeester – mein Junge war en Strick geweest – der Alte hatte'n gar nich so gehaun, Müllers Gottlieb warsch gewäsen, bei dem meine Krete dreuge Aeppel gemaust hatte – nu, Recht iss'n geschähn – ich wülle, se hatten em de Hingerpastete so waich gekluppt wie en Bingel Flachs – un nu han ich dem Schulmeester Unrecht gethan, un ich han em en ganzen Kurb vull Wirschte un Speck un Eier nuff geschickt – un den Jungen ooch; an den soll er sich nu noch en ganz besonderes Plaisir machen, un wenn er en halwes Dutzend Schtecken uff'm verschlaiht, ich han nischt derwidder.«

»Aber was kann ich dabei thun?« sagte Hennig kopfschüttelnd, denn mit innerem Weh durchzuckte ihn der Gedanke, wie Unrecht nun dem armen alten Lehrer gestern in Gegenwart dieses Mannes, in Gegenwart seines eigenen Schülers, und wie sich nun herausstellte, so ganz grundlos und unschuldig geschehen sei – »gekränkt habt Ihr den alten Mann durch Worte und That – glaubt Ihr das jetzt wieder durch Geschenke ungeschehen machen zu können?«

»Ne –« sagte der Bauer und kratzte sich immer bedenklicher den blonden struppigen Kopf – »ne, un desserwägen sullt Ihr mer en Bischen mit uf's Rad steigen, daß mer nich umkippen. – Ihr hatt's Maulwerk uff der richt'gen Ställe, un da megt ich uech bitten, den Schulmeester en Bischen ummen Bart rim zu gehn, bis er widder gut is – den Jungen sill er prügeln bis er blau un schwarz sicht, un wenn sich meine Ole das Maul noch e Mol värbrennt, dann kreiht se eens druff – nich wahr Schulmeester, Ihr sidd so gut?«

»Ich will mein Möglichstes thun, ihn davon zu überzeugen, daß es Euch von Herzen leid thut, ihn so ungerechter Weise beschuldigt zu haben –«

»Rächt so, Schulmeester!« rief der Bauer – »Ihr sidd en ganzer Kerl, un Eier Schade sills ooch nich sin – verstanden? Aberscht Herr Je – was kläwet Jär denn hiar in dar Ecke? – Das Mächen fengt grade widder an zu singen – Dunnerwetter! die singt schiane, da is unsen Vursänger, unsen Karl Gottlob saine Stimme Haberstroh dagegen – kommt Schulmeester – weeß Heppchen, 's geht grade los – ich will nur oben 'rim gähn, un mei Bier runger holen.«

Und damit schüttelte der Bauer dem jungen Lehrer noch einmal herzlich die Hand, nickte dem anderen vertraulich zu, und drängte sich rasch durch die Menge nach der Stelle hin, wo des alten Musikanten Tochter eben ein kleines, wehmüthig klingendes Lied, aber mit so süßer, schmelzender und glockenreiner Stimme sang, daß die beiden Freunde selbst ihre Unterhaltung darüber vergaßen und erstaunt den wunderlieblichen Tönen lauschten.

Das Mädchen war zwar noch in dasselbe ärmliche Gewand gekleidet, wie wir sie im zweiten Kapitel mit ihrem Vater gefunden, aber sie ging jetzt im bloßen Kopf, das dunkle volle Haar glatt auf der weißen Stirn gescheitelt, und den Shawl fest und dicht um ihre Schultern gezogen, daß er den oberen, zerrissenen Theil ihres Gewandes vollkommen verhüllte, und schlank und zart stand so die edle Gestalt des armen Kindes an den einen Pfeiler des niederen Orchesterdaches gelehnt, und schaute, als sie das kleine Lied beendet, still und schweigend vor sich nieder.

»Das sin immer so kurze Dinger,« sagte da ein reicher Bauer aus Horneck, der dicht daneben an seinem Tische saß, und mit tiefem Athemzug den schäumenden Bierkrug eben von den Lippen genommen hatte – »wenn mer äben glaubt es sille recht ordentlich lus gähn, dann is es g'rade widder aus – weeß de Jungfer nischt langes?«

»Ja – en langes Lied, mit recht viele Värsche« – fielen hier noch ein paar andere junge Bauerburschen ein – »daß mer ooch de Melodie behalten kann – un nich so traurig.«

»Sing doch einmal die ›Fahrt in's Heu‹, Marie,« stieß sie der Vater an – »das hören sie gerne.«

Marie schüttelte leise mit dem Kopfe –

»Nu? – wolln mer noch en Bischen?« frug der Bauer.

»Die Ballade, Vater!« flüsterte die Tochter – während dieser die auf das Knie gestellte Geige stimmte. –

»Ach, das langweilige Ding,« brummte der Alte, Marie trat aber einen Schritt von ihm zurück, hüllte sich fester in ihr Tuch, und schien entschlossen zu sein; das Publicum wurde dabei ungeduldig und Meier, der wohl einsah, daß er sich fügen mußte, nahm die Violine in die Höh', und stimmte nach kurzem Vorspiel eines jener reizenden schottischen Volkslieder an, die erst nur einzeln zu uns herüber geklungen sind und das Herz mit so süßer, schmerzlicher Wehmuth erfüllen. Die Tochter lauschte den Tönen erst mehrere Secunden lang und ihre Hand folgte fast unwillkührlich dem Tact des Liedes, bis sie endlich am Schlusse des Vorspiels mit anfangs leiser, dann aber immer bewegterer und schwellenderer Stimme einfiel:

Es steht am Meeresstrande
Eine stille bleiche Maid,
Barfuß im kalten Sande
Mit flatternd dünnem Kleid.
Und auf die schaumzersprühten
Und krausen Wogen aus
Streut sie zerpflückte Blüthen
Aus einem frischen Strauß.
Und wie mit den empfangenen
Die Welle naht und flieht,
Singt sie mit unbefangenen
Tönen ein leises Lied:
»Mein Lieb, in Meeresgründen,
Komme, o komm zu Licht,
Der Strauß hier mag Dir's künden,
Ich bin's! – Hörst Du mich nicht?
Ich bin's, in Windeswehen,
In Sturmgeheul und Graus
Schaut ich, nach Dir zu sehen,
Mir bald die Augen aus.
Die Leute spotten meiner,
Ich sei im Geist verwirrt,
Weil ich hier harrend Deiner,
So lang' umhergeirrt.
Sie wissen's nicht, die Thoren,
Daß so, wie wir geliebt,
Und so, wie wir geschworen,
Es keine Trennung giebt.
So komm, laß mich nicht länger
Vom Frost durchschauert hier,
Wo's mich nur bang' und bänger
Hinunter zieht zu Dir.
O, höre Lieb mein Flehen,
Schon netzt die Fluth den Fuß,
Sende in Sturmeswehen
Treuer Liebe den Gruß!
Ha! – klang nicht aus dem Grimme
Des Meers der theure Laut? –
Das – das war seine Stimme!
Hier ist – hier kommt die Braut!«
Am stillen öden Strande,
Vom Fluthenstrom umzischt,
Am Muschelkies und Sande
Bricht sich der Wellen Gischt.
Doch auf den schaumzersprühten,
Und krausen Wogen hin,
Treibt, zwischen Blum' und Blüthen
Die todte Sängerin!

Marie schwieg, als sie das Lied vollendet, und nahm den Blick nicht auf von dem Boden, an dem er haftete. Einzelne der Zuhörer applaudirten, und Hennig war von dem einfachen Liede so ergriffen worden, daß er fühlte, wie ihm die großen hellen Thränen in die Augen traten – er bückte sich unter irgend einem Vorwande, sie heimlich weg zu wischen, denn er schämte sich – wußte er doch selbst nicht weshalb – seiner Schwäche.

Aus der, vor dem Orchester stehenden Schaar von jungen Leuten bog sich aber plötzlich unser alter Freund Strohwisch, der bis dahin mit seinen papageigrünen Glacehandschuhen sehr zur Belustigung der überall in den Obstbäumen hängenden Hornecker Jugend aus Leibeskräften applaudirt hatte, so weit, als es ein dicht vor ihm stehender dicker Bauerbursche gestattete, nach dem Mädchen vor und flüsterte:

»Bravi, bravi mein holdes Kind, – ganz vortrefflich – aber viel zu traurig – ich bin selbst humoristischer Schriftsteller und weiß den Werth eines heiteren Liedes zu schätzen – singen Sie uns einmal etwas Lustiges – bitte meine Holde, etwas Lustiges!«

»Ja wahrhaftig, was Lustiges!« stimmten eine Menge Ladenschwengel aus der Stadt, mit rothen Gesichtern und noch viel rötheren Fäusten, ein – »bitte Mamsell, was Lustiges!«

»Sehn Sie, mein Fräulein, einstimmig angenommen,« lächelte Feodor und holte dabei ein Blatt Papier aus der Rocktasche – »hier haben Sie etwas Lustiges – Melodie: ›Ich bin der Doktor Eisenbart‹, ein wunderhübscher Text – pikant witzig – die Menge muß es bringen.«

»'Raus mit das Lustige!« rief der kleine Bauer, der dicht vor Strohwisch stand, »'raus dermit, juchhe!« und den Hut schwang er dabei in der Luft, sprang in die Höh und kam gerade wieder auf Feodors einem Hühnerauge nieder, daß dieser laut aufschrie und mit dem emporzuckenden Knie dem dicken Burschen dermaßen unter den letzten Rückenwirbel fuhr, daß er ihn jählings bis dicht an das Orchestergeläude ansandte.

Das Gedränge ließ aber keine Zeit zu weiteren Erörterungen – die Menge war augenscheinlich fest entschlossen »was Lustiges« zu hören und da auch der Wirth nicht weit von dem Orchesterplatz auf einen Stuhl trat und mit den Armen nach dem Mädchen hinübertelegraphirte – denn überschreien ließ sich der Lärmen nicht, – da drang auch Meier selber in die Tochter und fuhr sie endlich, da sie sich immer noch weigerte, mit rauher unfreundlicher, aber nichts destoweniger unterdrückter Stimme heftig an:

»Donnerwetter, dumme Liese – was stehst Du da und läßt den Kopf hängen wie eine geknickte Levkoye – siehst Du nicht was der Wirth da drüben herüber winkte? Willst Du etwa, daß wir heut Abend hungrig zu Bett gehn sollen? Dunkel wirds auch schon – das fehlte noch, daß Du Dich an zu zieren fingest – da – hier ist der Wisch, Du wirst's wohl eben noch lesen können, - na – wird's?« – Und ein häßlicher Fluch entfuhr seinen Lippen und färbte die Wangen des bleichen Kindes mit höherer Röthe. Der Alte hatte aber indessen die Geige genommen, das Lied präludirt und der Gesang des Mädchens fiel in die absichtlich schrill und komisch gehaltenen Töne des Instruments mit einem Wohllaut ein, der die Worte des faden Liedes Lügen strafte, und von ihren Lippen klang, als ob es wäre auf einer Orgel gespielt worden.

Eine ganze Menge Verse mußte das arme Kind der rohen Zuhörerschaar vorsingen, und nach jedem Refrain jauchzten und jubelten sie, und zugleich stellte sich bei ihr selber der alte fatale Husten wieder ein und gab dem Fleck auf ihren Wangen eine eigene fliegende Röthe. Endlich war das Lied beendet, rauschender Applaus schallte ihr von allen Seiten entgegen, und mit ängstlicher Verbeugung, das Tuch noch fester um sich herziehend, stieg sie die schmalen Stufen herunter, um das Papier dem Eigenthümer wieder zurück zu geben.

Freund Strohwisch stand aber noch immer in wüthenden Applaus versenkt, seinen linken Glacehandschuh hatte er schon im wahren Sinn des Worts geopfert, denn das papageigrüne Leder war, wie ob solcher Behandlung verzweifelt, auseinandergefahren.

»Bravi, bravi – excellentissime!« schrie er dabei kirschroth vor Freude und sein Hut, der ihm grad oben auf dem kurzen struppigen Haar saß, zog sich durch eine eigene Bewegung der Stirnmuskeln, bis fast dicht auf die buschigen Brauen hernieder, so daß seine Augen unter dem Rande wie eine Schildkröte, die sich eben in ihr Schild zurückgezogen hat, hervorsahen. –

»Hier mein Herr!« flüsterte Marie und reichte ihm den zerknitterten Zettel. –

»Ah – vortrefflich – vortrefflich – außgeßeignet« – rief rasch, und sich galant gegen das arme Kind verbeugend, der Ritter im afrikanischen Burnus – »Sie haben wirklich entschiedenes Talent zum Heiteren, mein Fräulein – erlauben Sie, daß ich vielleicht –«

Unter der Hand glitt sie ihm fort und zwischen den Männern hin dem Hause zu, in dessen jetzt schon dunklen Räumen sie verschwand, und Hennig, der, seit er zu dem Stand getreten war, lautlos den Tönen des fremden Mädchens gelauscht hatte, wandte sich langsam nach seinem Gefährten um und verließ mit diesem die Menge.

»Das arme Kind« brach Kraft endlich das Schweigen – »scheint auch bessere Tage gesehen zu haben – es ist gar hartes und saueres Brod den Leuten etwas vorzusingen und zu spielen, wenn's Einem gleich gar nicht wie singen und spielen um's Herz ist – wenn mich das ungewisse Abendlicht nicht getäuscht hat, so ist die Arme auch noch dazu krank, oder wenigstens schwach und leidend, was für eine gottvolle Stimme sie hat; o wie müßte die singen können, wenn's ihr so recht aus voller jubelnder Brust herausquölle und nicht – durch ein kaltes, todtes Maschinen- und Räderwerk herausgetrieben würde.«

»Kraft« sagte Hennig und legte seine Hand auf dessen Arm – »ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das letzte Lied ergriffen hat.«

»Das letzte? Das fade humoristisch sein sollende Ding?« sagte der alte Schulmeister erstaunt.

»Ergriffen« fuhr Hennig fort »weil ich mich dabei des Gedankens nicht erwehren konnte, es sei so, als ob man eine Leiche schlage.«

»Das soll in Rußland noch manchmal vorkommen, wenn der zur Knute Verurtheilte unter den Streichen stirbt und die ihm zugetheilte Quantität doch empfangen muß« erwiederte Jener zusammenschaudernd – »brrrr, mir läufts eiskalt dabei über den Rücken hinunter – das ist ja ein fürchterlicher Vergleich!«

»Das arme Mädchen sollte etwas ›Lustiges‹ singen, weil der langweilige Gesell vor ihr wahrscheinlich eins seiner eigenen Produkte, oder irgend etwas Aehnliches vorgetragen wünschte, und wenn ihr auch das Herz vor innerem Weh zu brechen drohte, die Lippen mußten dem wässrigen Liede Worte geben. – Heiliger Gott, ich fühle ordentlich, wie ihr das in die Seele schnitt.«

»Auch mir fiel der ernste Ausdruck des Mädchens bei dem Liede auf« sagte Kraft, »aber ich schrieb ihn mehr der gleichgültigen Gewohnheit des täglich Vorkommenden zu. – Doch – alle Wetter – was giebt es da? – – Wahrhaftig, des Doctor Levi Stimme, der wahrscheinlich wieder eine seiner Philippiken gegen Gott und die Welt vom Stapel laufen läßt?«

»Der Doctor scheint es allerdings zu sein« rief Hennig – »hier muß aber etwas Ernstes vorgefallen sein – das Volk ist so aufgeregt, wie ich es noch nie gesehen.«

Die Männer schritten rasch einem dichten Menschenknäul näher, der durch immer neu hinzuströmende Massen mit jedem Augenblick mehr anzuschwellen schien. Aus diesem aber drang ihnen bald in verworrenen Stimmen der Ruf entgegen – »Das Ministerium hat abgedankt« und Einer jauchzte es dem anderen zu, Einer nahm von den Lippen des Anderen die willkommene Kunde; denn was die Herzen der Jugend mit lauter jubelnder Siegeslust erfüllte, das fachte selbst in den Herzen der älteren Männer freudige, kaum geträumte Hoffnungen an. Es war für sie, für ihr Land das erste Zeichen der siegreichen Revolution und mit dem Sturz der verhaßten glaubten sie nun auch eine bessere Zeit erwarten zu dürfen.

Ein Mann aber vor allen Uebrigen schien förmlich außer sich vor lauter Jubel und Siegeslust, und das war der Doctor Levi. – Vor dem Tanzsaal, in der zweiten Abtheilung des Gartens, hatte er sich in die auszweigende Gabel eines knorrigen Apfelbaums geschwungen, und mit seiner weitgellenden, dünnen, lispelnden Stimme, welche von der telegraphenartigen Bewegung der Arme würdig accompagnirt wurde, schleuderte er seine Ideenfülle in die, über solchen Eifer fast noch mehr als über die Nachricht erstaunte Schaar der Bauern hinaus. Ueber die erduldete Schmach sprach er, die bis jetzt den Namen Deutschlands geschändet hätte, über die kommende Größe Deutschlands jubelte er, über seine Einigkeit und seinen Sieg, über den Phönix, der aus der lodernden Gluth der Knechtschaft erstanden sei, und sich nun in erneuter Jugendschöne dem freien reinen Aether entgegenschwingen werde.

Die Bauern verstanden keinen Satz davon, aber die Worte Sieg, Knechtschaft, erduldete Schmach etc. etc. gaben ihnen einen ungefähren Begriff von dem, was eigentlich gemeint sei, und ein lautes donnerndes Hurrah – sie hatten sich lange nicht so herzhaft schreien hören – füllte jede Pause, in der der kleine hitzige Mann für einen Moment rasten mußte, um nur wieder Athem zu schöpfen und frische Kräfte zu sammeln.

Von dem Lärmen angelockt, strömten immer mehr Männer und auch Frauen aus dem Dorfe herbei und die Versammlung wuchs so von Minute zu Minute. Unterdessen geschah aber in Horneck selber etwas, das seiner Bewohner Interesse noch fast mehr in Anspruch nahm als selbst die Ministerkrisis, da es den Leuten gewissermaßen vor der eigenen Thüre passirte, und sie selber mithandelnde Personen oder doch Zuschauer sein konnten. Dazu muß ich aber etwas weiter ausholen und will deshalb ein anderes Kapitel beginnen.

Zwölftes Kapitel.
Die Gutsherrschaft.

Die Kirche war eben ausgelauten und die frommen Leute, die den Nachmittagsgottesdienst beigewohnt, gingen raschen Schrittes zu Hause und freuten sich den ganzen Weg auf die braune Kaffeekanne, die, wie sie recht gut wußten, jetzt in der verschlossenen Röhre stand und zischte und brodelte. Die fröhliche Knabenschaar sprang jauchzend über den grünen Plan und neckte und tollte in muthwilligem sprudelnden Jugendmuthe, während die Mädchen, verschämt unter sich kichernd und lachend, zwei und zwei gar züchtig den Steg hielten, und sich erst da trennten, wo die Pfade links und rechts und gerade aus nach den verschiedenen Theilen des Dorfes hinunter führten.

Auch Fritz, des Jägers Sohn, schritt raschen Schrittes zwischen ihnen hin, aber nicht aus der Kirche kam er, denn die Doppelflinte hing ihm auf der Schulter, und auch nicht freundlich, wie er sonst gewohnt, nickte er herüber und hinüber, sondern mürrisch und augenscheinlich mit recht finsteren, ärgerlichen Gedanken beschäftigt, eilte er, ohne aufzusehn von seinem Pfad, oder das herzliche und oft gerufene »Gott griß Uech« auch nur einmal anders als mit stummem Kopfnicken zu beantworten, rasch den steilen Seitenpfad zum Gut hinunter, über den Hof hin und stand bald darauf im Vorsaal des hohen höchst elegant eingerichteten Gebäudes, das der Eigenthümer des Rittergutes im Sommer regelmäßig, manchmal aber auch sogar den ganzen Winter hindurch bewohnte.

»Ist Herr von Gaulitz zu Hause,« frug er hier einen grämlichen Bedienten, der mit einem ganzen Arm voll Teller gerade aus der Stube kam.

»Bei Tische,« lautete die lakonische, mürrisch genug gegebene Antwort des Alten, der, ohne den »Grünrock«, wie er ihn unten in der Küche titulirte, weiter eines Blickes zu würdigen, langsam und gravitätisch durch die andere Thüre verschwand.

»Das fehlte auch noch,« murmelte Fritz, ging zum Fenster, setzte sich dort auf den Sims und stellte, den Kopf müde an den eingeklappten Laden stützend, die Flinte zwischen seine Knie, wo er sie bequem mit der Hand halten konnte. Der Bediente kam indeß wieder zurück, ging in die Stube, kam nach etwa einer halben Stunde zum zweiten Male heraus und blieb jetzt, nachdem er durch kurze Seitenblicke vergebens gesucht hatte, die Aufmerksamkeit des jungen, geduldig harrenden, aber ganz mit seinen Gedanken beschäftigten Jägersmannes auf sich zu lenken, dicht vor diesem stehen und sagte mit scharfer, näselnder Stimme und mit recht hämischem Tone:

»Der junge Herr hat wohl gar nichts weiter zu thun?«

»Nein,« erwiederte trocken dieser, ohne seine Stellung im Mindesten zu verändern, oder auch nur den Kopf nach dem Frager herumzudrehn.

»Hm – verdammt kurz angebunden,« knurrte der Bediente und maß den Jäger mit tückischem Blicke – »hat wohl heute einmal gefällig Nichts zu betteln von der gnädigen Herrschaft.«

Fritz antwortete Nichts, nur die Finger seiner einen Hand umklammerten den Flintenlauf etwas fester, während er mit der anderen einen raschen Marsch auf dem Fensterbrete trommelte.

»Hat sich auch die Stiefeln wieder nicht abgetreten, der Mosje,« fuhr der Alte, augenscheinlich eine Ursache zum Streit suchend, fort, »und schmiert die fettige Mütze an der weiß und sauber lackirten Wand herum – wir sind hier nicht in der Schenke.«

»Wären wir's,« fuhr aber jetzt der heute überdies nicht gut gelaunte Jäger auf, dem die Geduld doch endlich riß – »so solltest Du sehen, Molch Du, wie ich Dir das ungewaschene Schandmaul stopfte.«

»Alle Wetter!« rief der greise Bediente, vor diesem unerwarteten Angriff zurückprallend.

»Was giebt's da wieder?« sagte aber in diesem Augenblicke die Stimme des Gutsbesitzers und Oberpostdirectors von Gaulitz, »könnt Ihr denn nicht die paar Minuten, die Ihr hier zusammenkommt, in Ruh' und Frieden verbringen? – Komm herein, Fritz, und Du Peter bekümmerst Dich um Deine Teller und Schüsseln und treibst Dich künftig nicht auf dem Gange hier herum, wenn Du anderweit zu thun hast.«

Er trat rasch in das Zimmer zurück und der Jägerbursche, der seine Flinte vorher in die Fensterecke gelehnt hatte, folgte ihm dort hinein und blieb auf der Schwelle stehen.

»Laß mir den Alten in Ruh',« redete ihn hier, gleich beim Eintritt, der gestrenge Herr von Gaulitz an – »Du hast fortwährend an ihm herumzuhäkeln.«

»Halten zu Gnaden,« platzte Fritz heraus – »der alte Schuft peinigt mich, wo er mich sieht, bis auf's Blut, weil ich seinen Sohn Karl bei Schulmeisters –«

»Ich verbitte mir in meiner Gegenwart alle Schimpfworte,« sagte der Herr scharf und streng, »und Ruhe jetzt – ich habe nicht Deine Anklagen hören, sondern Dir nur die Wiederholung der Excesse verbieten wollen. Ich habe Dich wegen zweierlei rufen lassen.«

»Eure Gnaden zu Befehl,« sagte der Jäger, der nur mit Mühe den gewaltsam aufdrängenden Unmuth verbiß.

»Zuerst,« fuhr der Oberpostdirector fort, »hat der Herr Pastor Scheidler heute erst und zwar wiederholt Klage über Dich geführt, daß Du die Kirche nicht allein regelmäßig versäumst, sondern Deine Frechheit sogar noch so weit treibst, mit der Flinte auf dem Rücken unter seinen Fenstern vorüber zu gehen.«

»Herr Oberpostdirector.«

»Ruhe jetzt – ich will Dich nicht erst darauf aufmerksam machen, wie es schon um Deiner Seelen Heil willen nothwendig wäre, daß Du die Predigt anhörtest und in Dein sündhaftes Herz aufnähmest – Dein Schulmeister hätte Dich das schon von Kindheit auf lehren müssen, wenn der Religionsunterricht nicht gerade durch die Lehrer auf wahrhaft traurige Weise vernachlässigt würde. Nur ermahnt möchte ich Dich hiermit haben, in Gottes und Christi Namen, seinem Rufe zu folgen – meide die Schenke und andere böse Gelüste, die der Versucher Dir entgegen halten könnte und blicke hinauf zum Herrn, der da ist die Liebe und die Herrlichkeit – Amen!«

Der Jäger erwiederte kein Wort und sah nur still und finster vor sich nieder, Herr von Gaulitz aber ging mit andächtig gefalteten Händen ein paar Mal im Zimmer auf und ab, blieb dann plötzlich vor Fritz Holke stehen, sah ihm fest in's Gesicht und fuhr fort:

»Das Andere, wegen dessen ich Dich zu sprechen verlangte, ist die Wilddieberei – der junge Poller hat heute Morgen ein krankes und ein verendetes Reh im Walde gefunden und ist zwei fremden Burschen mit Büchsen begegnet, die sich, wie er mich versichert, nicht einmal sehr vor ihm gescheut hätten, sondern so ruhig ihre Straße gegangen wären, als ob sie auf den gesetzlichsten Wegen wandelten. Das muß mir anders werden, Fritz, oder Ihr, Dein Vater und Du und ich, wir bleiben keine guten Freunde.«

»Halten zu Gnaden, Herr Oberpostdirector,« sagte Fritz jetzt, als der gestrenge Herr schwieg und finster nach ihm hinüberschaute – »die Wilddieberei im Holze ist schlimm, und der Vater und ich wissen das alle Beide gut genug, wir liegen aber auch Tag und Nacht im Holze und an den Holzrändern herum und thun unser Bestes, dem Uebel zu steuern. Ganz es zu heben ist aber uns zweien nicht möglich, das Revier ist zu groß, und die Rausche, die es noch dazu in zwei Theile schneidet, macht es manchmal zur Unmöglichkeit, an allen bedrohten Stellen zugleich zu sein. Wären es übrigens ordentliche Wilddiebe, die regelmäßig hinausgehen und ihr Reh todtschießen, so bliebe das immer schlimm genug, sie thäten aber nicht so großen Schaden und ließen sich auch endlich ausspüren und aufheben, oder doch wenigstens verscheuchen, so aber laufen die Bauern selber mit alten Schrot- und Communalflinten, in die sie klares Zeug laden, draußen herum, knallen auf Alles, was ihnen vorkommt und flicken Rikke und Kalb an, daß es später im Walde elendiglich verkommen muß. Schneidet man dann einmal so einem Burschen den Weg ab und kann er zuletzt gar nicht mehr fort, so wirft er seine alte Flinte, die des Aufhebens gewöhnlich nicht werth ist, in den nächsten Busch und leugnet nun Stein und Bein, selbst einen Schuß gehört zu haben; er ist meistens auch auf seinem eigenen Grund und Boden, und weiß recht gut, daß sich solcher Art nichts gegen ihn ausrichten läßt.«

»Das ist ja eine recht erfreuliche Botschaft,« sagte der Oberpostdirector mürrisch – »da halte ich zwei ausgelernte Jäger, einen alten und einen jungen auf meinem Gute, und muß nun hören, daß die mir ganz aufrichtig und ungenirt melden, die Wilddieberei nehme so überhand, daß es ihnen selbst zu arg würde. Ei zum – mit Verlaub, mein Bursche, ich soll wohl hinausgehen und Euch die Wilddiebe forttreiben, damit Ihr bequemer schlafen könnt.«

»Bitt' um Verzeihung, Herr von Gaulitz,« erwiederte Fritz, »das Holz hat fünf Stunden im Umfang und die Rausche nöthigt schon, daß Einer gewöhnlich an jedem Ufer bleiben muß. Eure Gnaden wissen dabei recht gut, wie es die Holzdiebe schon einmal im vorigen Jahre meinem Vater gemacht haben, den sie, weil er allein zwischen sie kam, an einen Baum banden, und die ganze Nacht in der Kälte stehen ließen. In diesem Jahre aber, und nach den Vorfällen in Berlin und Wien, ist mit den Leuten noch weit weniger auszukommen als früher. Heute Morgen traf ich zum Beispiel unten in der Rauschenmühle ein paar Bauern, die mir ganz rund heraus erklärten: die Leute aus der Stadt, die sie zu Abgeordneten wählen wollten, hätten sie versichert, auf ihren eigenen Feldern und in ihren eigenen Gehölzen seien sie nicht allein berechtigt zu jagen, sondern es würde auch in kürzester Zeit ein Gesetz herauskommen, das es ihnen in Wirklichkeit zuspräche, und nächstens gingen sie daher selbst in's Holz und schössen todt, was ihnen in den Weg käme. Ich möchte nun gleich bei Eure Gnaden anfragen, wie ich mich in einem solchen Falle zu verhalten habe, und ob es da doch nicht besser wäre, wenn wir noch ein paar Mann zum Forstschutz herbekämen.«

»Forstschutz? – Das fehlte mir auch noch,« rief der Oberpostdirector, der indessen seinen Geschwindmarsch auf und ab ununterbrochen fortgesetzt hatte, und nun jetzt vor dem Jägersmanne mit finsteren Blicken stehen blieb – »noch mehr Faulenzer ernähren, um die anderen in ihrem Müßiggange zu bestärken, nicht wahr? – Nein, dafür giebt's andere Mittel, wer sich auf meinem Reviere blicken und beim Wilddieben ertappen läßt, dem schießt Du eine Ladung Schrot auf den Pelz. Zum Henker, man muß der Canaille nur einmal zeigen, daß man Ernst macht. Das verwünschte Nachgeben hat schon viel zu viel Unheil angerichtet. Uebrigens habe ich von unserem Ministerium die Nachricht, daß es nach Sockwitz, wo sich erst neulich bedauerliche Zeichen von Anarchie kund gethan, eine Compagnie von der Linie verlegen wolle; das wird die Kerle schon Jesum Christum erkennen lassen.«

»Euer Gnaden,« warf hier der Jäger ein, und spielte verlegen mit dem Genickfängergriffe, der ihm am Gürtel stak – »es ist das mit dem Schießen so eine eigene Sache; todt kann man doch die Menschen eines gestohlenen Hasens oder Rehes wegen nicht gut schießen, und krank? – Flick' ich einem Bauer die Beine mit No. fünf oder sechs an, so vergißt er mir das in seinem ganzen Leben nicht und – würde das Alles wahr, was jetzt die Leute – selbst der Diaconus und der Doctor – von Frankfurt reden, dann bekämen sie sogar das Recht dazu, und nachher könnte unser Einer gar sehen, wo er bliebe, wenn er das ganze Dorf zum Feinde hätte.«

»Nun jetzt hab ich's satt!« rief eben der Gutsherr, der mit immer wachsendem Staunen und Zorn eine solche Neuerungsrede von den Lippen seines Untergebenen gehört hatte – »Was untersteht Er sich! – Er will hier als Jäger dem wilddiebischen Gesindel wohl auch gar noch die Brücke treten? – und was den Diaconus und den Doctor betrifft, so werd' ich mich nach denen näher erkundigen. Potz Donner und Blitzen, das hat mir noch gefehlt.«

»Aber Euer Gnaden, so war es doch gar nicht gemeint, ich wollte ja nur –«

»Nun ich will Dir's wünschen, daß ich Dich falsch verstanden habe. Jetzt fort, wo Du hingehörst, und daß Ihr mir bald Meldung von einem eingefangenen oder bestraften Wilddiebe macht, oder – ich mache Euch für das verlorene Wild verantwortlich. Wo steckt Dein Vater heute?«

»Er ist heute über der Rausche drüben, die Vorbereitung zur Auction der Stockklaftern und Haufen zu treffen, die wir von den, für die Eisenbahn gelieferten Stämmen übrig behalten haben.«

»Aha – also nicht geschont – nur einmal Einem der Bande die Jacke recht tüchtig voll geschossen, und die Uebrigen lassen sich das schon eine Warnung sein – ich vertret' es.«

Die Thür ging in diesem Augenblick auf, und der alte Bediente trat herein.

»Mein Karl ist draußen, Euer Gnaden, er hätte etwas zu melden.«

»Ich empfehle mich, Euer Gnaden« sagte Fritz, und wollte sich entfernen.

»Soll herein kommen – halt, noch Eins, Holke, wie ist denn das gestern Abend mit dem Flüchtling abgelaufen? – Habt Ihr keine Spur wieder von ihm gefunden?«

»Nicht das Mindeste, bis zu Pastors Obstgarten hatten wir ihn getrieben, denn als wir später die Hunde hinein brachten, wurden die laut, und es ließ sich nicht verkennen, daß etwas darin gewesen war; er muß aber zurückgewechselt sein, denn die ausgestellten Posten haben gar Nichts von ihm gesehen. Uebrigens soll er die jungen Damen, wie ich ganz bestimmt weiß, gar nicht angefallen, sondern nur angeredet haben; Fräulein Sophie Scheidler hat das selbst gesagt.«

Die Thür ging auf, und Karl Poller, der Sohn des alten Bedienten, ein bleicher, hagerer junger Mensch mit grünen Augen und dünnen, fast weißen Haaren, trat mit einer tiefen Verbeugung ein, und blieb dann, die Mütze in der Hand drehend, auf der Schwelle neben Fritz Holke stehen. Er that, als wenn er den Jägerburschen gar nicht sähe.

»Nun, Karl, wie ist's? – richtige Fährte?«

»Alles in Ordnung,« grinzte, mit widerlichem Lachen der Angeredete, »der Fuchs steckt richtig im Loch drinnen, ich hab' ihn nicht allein gehört, sondern sogar mit leibhaftigen Augen gesehen.«

»Wahrhaftig? – gut! – herrlich! – dann dürfen wir aber ja keine Zeit verlieren, ihn abzufangen – ruf' mir den Gerichtsschreiber herauf, Karl, rasch – er soll im grünen Zimmer auf mich warten –«

»Sehr wohl, Euer Gnaden,« erwiederte der Bursche, und schwenkte mit rascher Bereitwilligkeit rechts um, blieb jedoch noch einmal stehen und sagte zögernd –

»Bis Dunkelwerden möchten wir aber doch wohl damit warten – ich weiß nicht, die Bauern haben in letzter Zeit ganz andere Reden geführt wie früher.«

»Von denen haben wir Nichts zu fürchten,« lachte der Gutsherr höhnisch, »die hat mir der Pastor so unter der Fuchtel, daß sie sich hüten werden, ein Wort in meine Gerichtsbarkeit hinein zu werfen, doch es mag sein, also nach Dunkelwerden. Allons, marsch!«

Der Bleiche glitt wie ein Ohrwurm zur Thür hinaus, Fritz aber, der zuerst bei dem tölpischen Jagdvergleich desselben verächtlich die Nase gerümpft hatte, konnte doch nicht umhin, der späteren Verhandlung, die jedenfalls irgend ein wichtiges Ereigniß betraf, aufmerksamer zu horchen. Herr von Gaulitz ließ ihn jedoch nicht lange über das, was er bis dahin nur zu errathen gesucht hatte, in Zweifel.

»Siehst Du?« – sagte er, als sich die Thür hinter dem Burschen schloß – »die haben bessere Nasen, als Ihr Jäger mit allen Euren Treibern – die wissen, wo der Flüchtige zu Bau gegangen ist!«

»Wer? – Der, den wir aus dem Walde getrieben?« rief Fritz erstaunt.

»Allerdings, und heute Abend soll er ein sichereres Quartier haben, als sein jetziges ist. Du aber, Fritz, magst ebenfalls in der Nähe bleiben, bis sie den Gefangenen eingebracht haben; nicht etwa, daß ich glaubte er würde sich zur Wehr setzen, oder daß ich irgend eine andere Gewaltthat befürchtete, aber – es ist doch besser. Nach Dunkelwerden sollen sie ihn bringen, und jetzt geh einmal indessen hinauf zum Pastor, und bestell' dort, ich ließe ihn bitten, zum Kaffee herunter zu kommen, seine Tochter, die heute bei uns gegessen hat, bleibt auch noch unten – ich hätte etwas Wichtiges mit ihm zu sprechen.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden –«

»Also Holke!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Haltet mir die Bauern unter; find ich oder Jemand Anderes wieder ein angeschossenes oder verendetes Stück im Walde, ohne daß der Thäter, wenn nicht bestraft, doch angezeigt wäre, so könnt Ihr Euch Beide freuen – Du und Dein Vater –«

Der Jäger erwiederte Nichts weiter darauf, sondern verbeugte sich nur, und verließ das Zimmer.

Als sich der Oberpostdirector gerade wandte, um in den Speisesaal zurück zu kehren, trat der alte Poller mit einer riesigen Kaffeemaschine herein, und hinter ihm her kam die Wirthschaftsmamsell mit zwei Körbchen voll Gebackenem.

»Ist der Bote noch nicht aus der Stadt zurück?« frug Herr von Gaulitz diese.

»Nein, Euer Gnaden,« lautete die Antwort, »er wird auch wohl vor Dunkelwerden gar nicht hier sein können.«

»Wer war denn das Mädchen, welches da eben über den Hof ging? – Hat der Gerichtshalter etwas herüber sagen lassen?«

»Nein, Euer Gnaden, es war das Mädchen der Frau Kommerzienräthin Schütte, die sich hat erkundigen lassen, ob die gnädige Frau heut' Nachmittag zu Hause blieben, und ob sie störten, wenn Sie ein Bischen herüber kämen.«

»Herr, Du mein Gott!« seufzte der Oberpostdirector halblaut vor sich hin – »das wird ein angenehmer Nachmittag werden – nun fehlte mir nur noch unser tägliches Brod – der Literat Strohwisch.«

Das Mädchen, dem die Worte nicht entgangen waren, lächelte und verschwand gleich darauf mit ihrem Backwerk im anderen Zimmer, wo indessen die Damen um den großen runden, mit weicher Damastdecke überhangenen Eichentisch Platz genommen hatten.

Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.

Fußnoten

[1]: Diese Schilderung ist nicht übertrieben, denn noch bis zu diesem Augenblicke findet ganz das nämliche in dem Dorfe Roitzsch bei Wurzen statt.

[2]: Interessant ist die Note, die zu dieser Anforderung im »legalen Schulmann« steht; ich will sie deshalb beifügen. Sie heißt:

»Ob er schuldig sei, dem Pfarrer, wenn er auf's Filial geht, den Priesterrock zu tragen, kommt auf jeden Orts Observanz an. Ich will den Fall setzen, es hätte der vorige Pfarrer zwei Priesterröcke, einen in der Mutterkirche und den andern auf dem Filiale gehabt, und Nachfolger wollte sich nur einen anschaffen und dem Schulmeister zumuthen, denselben bei jeder Amtsverrichtung auf das Filial und wieder nach Hause zu tragen, so würde Jener damit nicht fortkommen, der Schulmeister würde dieses als eine Neuerung ansehn und berechtigt sein, diesfalls von dem Pfarrer eine billige Ergötzlichkeit zu verlangen. Bei Pfarr-Vacanzen hingegen kann er dergleichen von dem vicarirenden Prediger nicht fordern.«

[3]: Sächsische Schulzeitung.

Hinweise zur Transkription

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Abschnitte, die abweichend in Antiqua gesetzt wurden, sind in der Transkription in kursiver Schrift dargestellt.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen:

Seite VI:
"295" geändert in "270"
(Die Gutsherrschaft 270)

Seite 38:
"«" angefügt
(Und hoffen und träumen – wie Allerweltsnarren.«)

Seite 45:
"«" angefügt
(so tüchtige ›Haare auf den Zähnen‹ hätte.«)

Seite 49:
"." eingefügt
(den hat mir der Schulmaistr verschlahn.«)

Seite 53:
"»" eingefügt
es solle nicht wieder geschehen!«)

Seite 64:
"«" angefügt
(zu arbeiten, sondern nur in einem fort geschrieben.«)

Seite 69/70:
"Dienstleuleuten" geändert in "Dienstleuten"
(was man für eine Noth mit den Dienstleuten hat)

Seite 81:
"zumeiner" geändert in "zu meiner"
(Ich habe auch gewilddiebt zu meiner Zeit)

Seite 90:
"Tocher" geändert in "Tochter"
(Zu der Zeit war ich auch des Revierjägers Tochter gut)

Seite 91:
"zn" geändert in "zu"
(beschloß ich, wenigstens einen Versuch zu machen)

Seite 93:
"ich'" geändert in "ich's"
(Jetzt aber hielt ich's auch nicht länger aus)

Seite 97:
"«" eingefügt
(doch das schadet Nichts,« fuhr er)

Seite 110:
"," eingefügt
(fiel ihm hier einer der Bauern in die Rede, »so schlimm)

Seite 113:
"die Thür die Thür" geändert in "die Thür"
(ging die Thür des grünen Zimmers auf)

Seite 123:
"," eingefügt
(Mein Fritz und ich, wir nahmen die Flügel)

Seite 123/124:
"," eingefügt
(»Der Teufel weiß es« brummte der Jäger, »er ging wieder)

Seite 127:
"Himmelskörper" geändert in "Himmelskörpern"
(an den fernen glänzenden Himmelskörpern ihre feuchten Blicke)

Seite 133:
"hinabzu" geändert in "hinab zu"
(niederträufenden Regen in die Schlucht hinab zu führen)

Seite 137:
"Beide" geändert in "beide"
(war es beide Male etwa nicht den »Bayonetten« gelungen)

Seite 158:
"zugängliche" geändert in "zugängliches"
(sein sonst sanften Regungen nicht leicht zugängliches Herz)

Seite 169:
"," verschoben, "›" eingefügt
(Schulmeister muß schon –‹, der ›Herr Schulmeister‹ fiel)

Seite 172:
"," eingefügt
(Wasserspiegel, der große herrschaftliche Fischteich)

Seite 176:
"Kaffe" geändert in "Kaffee"
(der Pastor drinne sitzt und eine Tasse Kaffee trinkt)

Seite 177:
"vorhergewußt" geändert in "vorher gewußt"
(und meinten, das hätten sie vorher gewußt)

Seite 178:
"»" eingefügt
(lachte der Musikant, »aber der Wirth will uns)

Seite 206:
"sogenanten" geändert in "sogenannten"
(und den sogenannten Uebelstand dadurch vollkommen abzuschaffen)

Seite 208:
"Lauten" geändert in "Läuten"
(seinen vollen Gehalt für Läuten, Orgelspielen)

Seite 221:
"nehmeu" geändert in "nehmen"
(wie bisher, Theil am Religionsunterrichte nehmen zu lassen)

Seite 222:
"unserst bew iesen" geändert in "uns erst bewiesen"
(aber es müßte uns erst bewiesen werden)

Seite 230:
"Misbrauch" geändert in "Mißbrauch"
(und mancher Mißbrauch auch, von Seiten der Geistlichkeit)

Seite 232:
"Krafft" vereinheitlicht zu "Kraft"
(Es war der Lehrer Kraft aus Bachstetten)

Seite 233:
":" eingefügt
(die gewöhnliche Anrede giebt den Beweis: ›Schullehrer‹ heißt's)

Seite 263:
"," eingefügt
(Melodie: ›Ich bin der Doktor Eisenbart‹, ein wunderhübscher Text)

Seite 281:
"«" entfernt
(Er that, als wenn er den Jägerburschen gar nicht sähe.)