Title: Das zerstörte Idyll: Novellen
Author: Hans Flesch-Brunningen
Release date: August 10, 2014 [eBook #46551]
Most recently updated: October 24, 2024
Language: German
Credits: Produced by Jens Sadowski
Kurt Wolff Verlag
Leipzig
Bücherei »Der jüngste Tag« Band 44/45
Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
Kurt Wolff Verlag, Leipzig, Copyright 1917
Widmung für Karin | 5 |
Der Satan | 7 |
Das Lächeln des Geköpften | 26 |
Der Junitag | 35 |
Die Kinder des Herrn Hauptmanns | 51 |
Idylle | 62 |
KARIN, ich widme dir dies Buch. Du weißt so gut wie ich, wie schwer es jetzt ist, von Gefühlen zu sprechen. Oder gar sie mit Papier und Druckerschwärze zu vermählen. Man muß sich akrobatenhaft auf jene zweite Ebene hinaufarbeiten, auf der wieder die Worte herbeilaufen wie brave Hunde und sich zu Füßen legen. Wo man ruhig »Liebe« und »Sommertag« sagen kann, ohne in den schwärzesten Verdacht einer Lyrik zu kommen, die gewandt zwischen Geld und Gott zu vermitteln sucht. Ich habe es vermieden, in diesem Buche allzusehr an den Gefühlssträngen, die mit Milch und Sonnenschein geschmiert sind, zu zerren. Ich will aber gern arrogant sein und zugestehen, daß ich die zweite Ebene zum Heimatsort gewählt. Wenn auch nur für die Sekunden, in denen ich das schreibe.
Und so darf ich sagen: du warst doch das Einzige, das mich verhindert, mit Ludwig Hunner das Leben zu würgen und mit dem armen Erotomanen vor Autos zu hüpfen. Denn trotz der Jugend, die mich in ihren leichtsinnigen Armen schaukelt, hätte ich oft schon genug haben können.
Ich habe blasse Dummheit in der Schlankheit meiner Mädchen erkannt, Intrige und Ungewaschenheit in den Blicken der Intelligenz, geschäftigen Unsinn in Florenz und Amsterdam, Unnötigkeiten in der Montblanc-Gruppe und Gestank in Venedig. Und wie nun die Worte vor mir stehn, ahne ich auch den blonden Bart, wie er sich mir über die Schulter beugt und etwas von »Blasiertheit« murmelt. Doch diese bezahlte Bürgerlichkeit findet mich in Waffen. Nur Eines läßt mich wanken und weinen: Über allen Augen die Lüge. Siehst du, mein Liebling, man sollte nicht lügen. Gott hat uns schließlich — gegenüber der tausend Nachteile — einen Vorteil vor den Tieren geschenkt: wir dürfen reden. Doch das schöne Zueinander wird hin, wenn wir die Instrumente mißbrauchen, die Mauer der verschiedenen Stirnen reckt sich zwischen den Gehirnen auf, die Beweislosigkeit schreckt vor den Überzeugungen zusammen: wir sind allein und dumm. Tiere schmiegen sich — wild oder beruhigt — aneinander, wir müssen der Unehrlichkeit an die Kehle fahren und aus dem Maul der geschändeten Gottheit das Geständnis reißen, was wir für hilflose Hunde sind.
Vor diesem circulus vitiosus aller Menschlichkeiten, die sich in die müden Schwänze beißen, ist es billig und noch immer das Einfachste, gar nicht mitzutun.
Der Unhold der Hebamme hat mich hereingeschleudert, Dienerinnen haben mich genährt, Schwäche mich umzwitschert, Schmöcke und Dirnen mein Jugendlied mir vorgesummt: Da fand ich dich.
Liebe Karin, ich widme dir dies Buch.
DER kleine Prinz war immer schon blaß, hemmungslos und manchmal direkt verrückt gewesen. Er — vielmehr seine hochgeborene Frau Mama — hatte ein recht stattliches Vermögen von rund vier Milliarden Dollar, als sie herüberkamen mitgebracht. Die Kindheit sollte er wo in Florida verbracht haben, als er aber knapp sechzehn war, da wäre es nicht mehr mit ihm auszuhalten gewesen. Jede Woche schlug er mindestens einen Sklaven mit seiner eigens konstruierten Peitsche zu Tode. Jede Woche brüllte er, er wolle ein Land haben, er wolle herrschen, König sein. Er wolle Menschen kneten, auf Städte seine Hand legen. Da hätte man sich gegen Europa eingeschifft — natürlich auf der eigenen Jacht — und jetzt auf einmal sauste ein scharlachrotes Auto durch die Straßen Kölns.
Also sprachen die bauchigen Stadtväter und manche munkelten noch anderes: »Ja, gewiß, die ganze Überfahrt habe er Fieber gehabt — er sei überhaupt blind — wie er in Antwerpen ans Land stieg — er habe noch nie den Namen Köln gehört — habe er plötzlich geschrien ‚Köln! Köln!‘ — er sei allein vorausgejagt — in 1½ Stunden bis Lüttich, dann mit dem Aeroplan hierher — die Mutter weint immer — er hat das ganze Domhotel nur für sich gemietet — — siebenmal war er schon beim Bürgermeister gewesen — —«. Die Uhrketten wackelten bedenklich und fast jeder strich sich unruhig-blinzelnd über das Haar, bis sich ein behaglicher Schnalzer im Munde formte: ». . . nun, und die kleine Schwester — sie ist vierzehn-einhalb — na, dort im Süden — ich bitte, man sagt . . .« Wie jetzt Adjunkt Keppel dazutrat, machte man fast eine Gasse (Der Mann konnte Two-step tanzen wie ein junger Gott): »Ich habe eben das Scharlachene über die Rheinbrücke sausen gesehen . . .« »Oh, wohin, glauben Herr Adjunkt . . .« Dieser strich sich den englischen Schnurrbart — es ist wahr, er war schon zweimal verheiratet, erst 30, ein Verhältnis soll er auch haben — der Kerl — na, der Kerl sprach jetzt: »Man redet von ganz eigenartigen Dingen. Ich mit meinen Beziehungen zum Magistrat kann aber bestimmt sagen, er hat sich nach Berlin direkt an S. M. gewandt. Deutschland braucht Geld wie ganz Europa. Die Sozial- und Militärrevolution zehrt noch immer an unserm Gebein. Nun man hat ja — Gott sei Dank — diesen blutigen Scherzen ein entsprechendes Ende bereitet . . .«
(Finanzrat Müller, »der rote Müller«, räusperte sich scharf) . . . »aber Sie wissen, unser Handel und Wandel liegen noch arg danieder. Also kurz und gut, der kleine Prinz will unsere Stadt mit Gebiet bis zum Siebengebirge und bis Elshausen samt Bonn und Gladbach als eigenes Gebiet käuflich erwerben.«
Die Münder der Großstadtvertretung blieben weit offen, daß die Rachenmandeln sichtbar wurden und nur ein kleines, scharf gepfauchtes »Unmöglich« zur Luft konnte . . . . . . . .
Das scharlachene Auto sauste unterdessen quer durch das verwüstete Deutschland mit 200 km Stundengeschwindigkeit. Der Prinz und Claire schauten etwas höhnisch über die Schlachtfelder des alten Europa. Der Prinz hatte seine mädchenhaften, dünnen Beine zu sich auf den Sitz gezogen und die rechte Hand spielte mit dem Haar seiner wundervollen Schwester, himmelblaue Augen brannten wie traurige Sterne aus dem durchsichtigen Gesicht, hinter dem noch immer das Fieber wohnte, in die Gegend, in der der Frieden mit dem Grausen rang. »Ich werde es bekommen . . . Ich muß.«
»Bedenke, eine Großstadt . . . du bist krank . . . wie kamst du auf Deutschland? Denke, Paris, London, dort ist Leben . . .«
»Ich habe dir doch oft von der Nacht erzählt, wo unsere Inga starb. Ich bin nicht mehr der dumme Prinz . . . ich bin . . .« Sein Mund wurde gelangweilt und er zog die Vorhänge herunter. »Noch eine Stunde bis zur Haupt- und Residenzstadt.« Das Schwesterlein öffnete den Pelz, unter dem sie nackt war, und gab ihrem Körper die hingebende Linie. Sie legte sich sanft zu dem Bruder, dessen Augen für Momente unfiebrig und ein wenig glücklich wurden. Eine Zwerg-Angorakatze, die sich schläfrig-schnurrend erhob, vervollständigte die Familienszene . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Prinz überfuhr drei Personen, bevor er zum Hotel Adlon gelangte. Nichtsdestoweniger wurden noch drei Leute im Gedränge »Unter den Linden« erdrückt und die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Aufregung in der ganzen Stadt stieg noch, als man erfuhr, der Kaiser habe sich entschlossen, seine Hoheit den Prinzen Alvio di Santa Rocco noch heute zu empfangen. Der Prinz selbst war heute nichts weniger als erregt, er ging oben im Salon des Hotel Adlon, eine Zigarette nach der andern rauchend, etwas träumerisch auf und ab, streichelte bald Claire, die kandierte Früchte essend am Sofa lag, bald das Katerchen, er pfiff den Gassenhauer der Saison und schüttelte mit kindlicher Gebärde seine schwarzen Haare. Dann fuhr er fabelhaft elegant und liebenswürdig durch die Menschenmenge zum königlichen Schloß. Hinter ihm ritt ein livrierter Affe, der 10-Markstücke in das heulende Gedränge warf. Im königlichen Schloß blieb Alvio nicht lange. Er war direkt in die Privatgemächer geführt worden und niemand hatte gehört, was dort verhandelt wurde. Nach zehn Minuten verließ er zu Fuß das Schloß. Der Kammerdiener fand über dem Schreibtisch den alten Kaiser mit Tränen in den Augen, noch die Feder in der Hand, verstört und doch wieder begeistert wie von einem ganz unbegreiflichen Ding. Dies erfuhr aber niemand. Ganz Berlin, ganz Deutschland, die ganze Welt wurden aber nach einer halben Stunde von der Kunde in Erstaunen und Bestürzung versetzt, daß die Stadt Köln samt Gebiet mit Bonn und Gladbach um eine Milliarde Dollar in den Besitz und die Herrschaft des Prinzen Alvio di Santa Rocco gelangt sei. Da hatte damals kein Parlament drein zu reden, denn das war seit den Junikämpfen 1925 endgültig abgeschafft. Nur den Zeitungen konnte man es nicht verbieten, über den Stammbaum der Santa Roccas zu schreiben, ihre Beziehungen zu den europäischen Höfen. »Wie die Santa Roccas zu ihrem Gelde kamen,« von Ignotus, »Alvio der einzige Erbe?« usw. Und Rechtsgelehrte schossen vereint mit gewöhnlichen Historikern wie Pilze aus der Erde, um die staatliche Stellung von »Libertia« von vornherein festzunageln . . . . . . .
In Köln wollte man, als die ersten Nachrichten eintrafen, das Domhotel anzünden. Die ganze Stadt drehte sich wie ein blödsinniger Gärungsstoff um und um, strömte auf die Gassen. Die Studentenschaft von Bonn zog, Fackeln in den Händen, vor das Bürgermeisteramt, Aufklärung heischend. »Die Wacht am Rhein«, »Deutschland, Deutschland über alles« scholl aus allen Straßenecken zum blutigen Abendhimmel, der Dom ließ seine Glocken erklingen, von dem Gürzenichbalkon sprach ein roter Fleischhauer und Patriot schnarrend auf den Rathausplatz hinunter. Nur das Militär und die Polizei waren nirgends zu sehen. Es wurde langsam Nacht. Um zehn Uhr versuchten fanatische Arbeiter, Studenten, Bürger, schwarz-rot-gold im Herzen und Antlitz ins Domhotel einzudringen. Die Pforten waren verschlossen, man begann dagegen zu rennen, die Fenster einzuhauen — da donnerte plötzlich eine Salve in die Reihen der Massen — man wußte nicht, woher — niemand war zu sehen — sie schien aus den Wänden des schloßähnlichen Hotels zu kommen, die ganz eigentümlich porös aussahen. Dann noch eine und wieder und wieder. Ein hundertstimmiges Gebrüll warf sich über den Platz. Beine, Arme, Köpfe wirbelten sich zum Knäuel, entballten sich in Blut und Geschrei und dann waren nur mehr Leichen am Domplatz, darüber der Mond hinter gotischem Zierrat schwermütig und deutsch aufstieg. Eine Arbeiterhand ballte sich, sank zurück, es ward so still, daß man aus dem Hause ein Schluchzen hörte, das klang, als wäre es nicht von dieser Welt. In den andern Stadtteilen wurde man noch aufgeregter auf die Nachricht von dem Sturm und seiner eigenartigen Abwehr. Man schrie nach Waffen, klopfte an Kasernen, die noch immer verschlossen blieben. Es wurde elf, zwölf — da, dreizehn Minuten nach Mitternacht verstummte auf einmal das Gebrüll der Bürgerkehlen — vor dem Firmament, das ganz weiß wurde, erschien ein schwarzes Kreuz, das bald verschwand. Die stahlglühende Weiße blieb und ließ vor den Augen der angstgebärenden Mütter und schlotternden Männer einen großen Vogel erscheinen, der sich als eine Etrich-Taube erwies und bis hundert Meter über die Stadt hinabschwebte. Darin saß der Prinz mit Claire und spielte mit den Scheinwerfern. Hierauf senkte sich ein Blütenregen von Gold, Silber und Banknoten in die Taschen der Zugreifenden. Es ging noch tiefer — kein Schuß fiel — kein Pfuiruf erscholl, als Alvio jetzt, nur für die Nahstehenden vernehmbar zu reden begann. Die ihn aber hörten, wurden ganz weich und gerührt. Sie gingen in ihre bürgerlichen Betten und in ihren geschlossenen Reihen schritten mitten unter ihnen, lebendig und nur etwas bleich, die am Domplatz gefallen waren . . . . . . . . . .
Vierzehn Tage hindurch blieb alles ruhig. Man sah den blassen Prinzen mit seiner Schwester häufig auf der Gasse, in Hospitälern, in Kinos, wie er zu den Leuten aus dem Volke redete, weich und mit fremden Akzent. Das Domhotel war geräumt worden, sie lebten privat in einer schönen Wohnung in der Kyffhäuserstraße. Die Gesellschaft riß sich um die beiden. Einladungen wurden zwar angenommen, jedoch kam der Prinz zu einem Ball oder zu einem Jour nur immer auf eine Viertelstunde, sprach wenig und gemessen — fast traurig. Nichts schien sich an der bestehenden Ordnung geändert zu haben, deutsches Militär, deutsche Briefmarken. Am 15. Tage lief durch die Zeitungen Europas ein Gerücht, man habe bei den Scilly-Inseln in der Luft riesige Ballons von kastenartiger Gestalt in großer Menge von Südwesten daherkommen gesehen. Bald meldeten London, Ostende, Brüssel ähnliches. Am selben Tage wurde die gesamte Garnison von Köln und Gebiet auf dem großen Exerzierplatz zusammengerufen. Um ½4 Uhr fuhr der kleine Prinz im scharlachroten Auto vor. Er nahm seinem Diener ein kleines Sprachrohr aus der Hand, bestieg einen Schimmel und ritt die Reihen ab. Er trug einen gewöhnlichen Reiteranzug und schaute jedem ins Herz. Am Ende angelangt nahm er sein Sprachrohr aus der Tasche und redete leise und weich hinein — es hörte es aber jede brave, niederdeutsche Soldatenseele — »Soldaten, der Krieg ist Sünde. Mein Reich ist ein Reich des Friedens und der Zufriedenheit. Geht zu euren Frauen, die auf euch warten, und lebt euer Leben dem Glück, das auf euch harrt. Lebt wohl. Und jeder bekommt für Säbel und Uniform, die er am Gürzenich abgibt, 1000 Mark.« Wie Alvio »Frauen« sagte, wurde seine Hand beweglich und fuhr zitternd durch die Luft, das Wort wurde in den Hirnen der Uniformierten ganz lebendig und sie fühlten etwas Weiches, das ihnen ums Herz ging. Dann stoben sie auseinander. Nur einer holte sich die 1000 Mark nicht: Friedrich Bachmann, der fünfzigjährige, geschlechtslose Feind dieser Welt. Am selben Abend gingen bei Deutz 800 Kastenballons nieder, deren jedem 800 schwarze Männer entstiegen. Sie hatten riesige Hände und kleine Köpfe. Der Prinz fuhr sofort zur Landungsstelle, Claire war mit ihm. Er lachte über das ganze Gesicht, ließ sich von den 800 Führern Rechenschaftsberichte ablegen, die er zerknüllt zu Boden fallen ließ, drückte jedem vertraulich und selbstverständlich die Hand. Am Schalter aller Bahnhöfe von Köln und Umgebung wurden jedoch an diesem Abend die letzten Fahrkarten nach dem »Auslande« ausgegeben. Denn am nächsten Morgen prangte in handgroßen Lettern ein Manifest an allen Straßenecken, jeder Mensch hielt es in Händen, lachte darob, weinte ein wenig, schlug sich die Schenkel. In jedem Restaurant lag es auf jedem Tisch, jedes Lebewesen wurde von einem erdrückenden Gemisch aus Geilheit und Traurigkeit befallen, die zum Ausbruch drängten. Das Manifest lautete also:
»Bürger, Menschen, Männer und Frauen!
Ihr werdet leicht einsehen, daß die bisherige Staats- und Lebensform, die diese Welt in ihrer Gänze beherrschte, der größte und schrecklichste Irrtum war, den ein Teufel ersinnen konnte. Ihr werdet es um so leichter können, da ihr ja in vorhergegangener Revolution, in Kriegsgreuel an Blut, Mord und Unbehagen, die noch in euren Hirnen haften, Beispiele und Belege, letzte Konsequenzen dieser Raison vor euch habt. Weniger leicht werdet ihr wissen können, wie aus diesem Wust, dieser Maschine hinaus. Nun, der Angelpunkt des Leidens ist die Unter- und Überordnung, die Pflicht, das Muß. Ich sehe gar nicht ein, warum nicht jeder tun soll, was er will. Ich stelle euch in meinen fast hirnlosen, aber gutmütigen Sklaven die Arbeitsmaschine vor, die euch schneller und besser Luxus und Lebensunterhalt verschaffen wird, als ihr es könnt. In eurem Herzen werden aber Jahrtausende lang an das Rad gebundene Energien frei. Mein Vermögen, mein Geld ist imstande, euch zu dem zu führen, das euch dienenden, schwitzenden Menschen unerreichbar und darum Sünde schien: zur Schrankenlosigkeit. Ihr habt Jahrtausende hindurch, seit ihr zu eurem Schaden den Tierleib verlassen, an unerfüllten Wünschen laboriert. Seht, ich bringe euch Erfüllung aller eurer Wünsche. Laßt euren Trieb Gesetz werden, es wird euch nicht gereuen. Denn daß ihr nicht hungert, dürstet oder friert, dafür sorge ich. Umarmt eure Frauen und die eurer Nächsten, mordet, brennt, stehlt, zerstört — aber bitte, nur nicht diese jahrhundertalte Langeweile und Lüge. Ehrlichkeit ist die Tugend der neuen Religion, die ich euch bringe. Sucht sie in Bibliotheken, Betten, Gotteshäusern, Turnsälen, jeder als sein, aber nur sein Herr. Ihr Frauen aber, denen die größte Lust zu schenken gegeben wurde, öffnet weit eure Arme, denn eine ganze Welt will darin vergessen, wie dumm sie war.« Dann kamen noch einige technische Anordnungen, daß man folgerichtig sich von der andern Welt abtrennen müsse, daß jedem so und so viel Arbeitsmaschinen zur Verfügung stünden, daß Alvio der Nachfolger Christi sei. Am Schlusse hieß es dann: ». . . und jeder hat sich wie in besserer Urzeit in gleicher Weise sein Leben selbst zu machen, Frauen selbst zu holen und nur die Arbeitslosigkeit trennt ihn von Königen und Göttern. Sie müssen herrschen und führen. Ihr sollt nur leben. Lebt!«
Da lief, wie gesagt, manche Brille an, manche Züge verfinsterten sich unwillig: so ein Wahnsinn . . . Doch es bohrte sich auch bei Mann und Frau hie und da die Hand fester in eine gepolsterte Fauteuillehne: ». . . wenn, ja wenn — —.«
Am selben Nachmittag — es war Juni und schrecklich heiß — stellten sich die Arbeitsmaschinen — Neger von dem Gute auf Florida — bei arm und reich in gleicher Weise ein — am selben Nachmittag ging der Prinz mit Claire durch die Straßen und forschte in den Herzen. Am nächsten Tage starben in Köln und Umgebung dreitausend Personen am Schlagfluß. Zu tief war in ihnen der Wurm der Pflicht gesessen und hatte das schöne Gebäude benagen wollen, das ihnen der Satan gebaut.
Die ganze Welt blickte nun auf die Rheinlande — ein Gemurmel der Mißbilligung durchzog die Presse, man sprach von »Irrsinn«, »Bubenstreichen«. Auf einmal konnte man sich nicht mehr in Verbindung erhalten, da es hieß, der Verkehr mit dem Lande »Libertia« sei technisch unmöglich. Viele Leute verlangten jetzt bewaffnete Intervention.
In der Stadt Köln ereignete sich aber in den nächsten 16 Tagen noch immer nichts Erwähnenswertes. Allerdings auffallend erschien ein gewisses zwangloseres Benehmen der Einwohner. Tanzunterhaltungen, Sommerfeste, die gegen zwei Uhr in ein wüstes Getümmel verliefen, dem am nächsten Tage Duellforderungen, Selbstmorde folgten, gehörten nicht mehr zu den Seltenheiten. Dabei war die Laune der Bevölkerung eine übertolle zu nennen, die Sterblichkeit ging zurück, die Neger funktionierten tadellos. Es standen jetzt häufig Gewitter am Himmel, die sich oft in Hagelschauer entluden, wobei rötlich-weiße Körner niedergingen. In der Nacht dann, wenn die keuschen Sterne sich wieder verdutzt blicken ließen, schlichen kleine Gestalten, wie Kaulquappen, an den Häusern hin, hinauf die Treppen, schlüpften durch das Schlüsselloch, setzten sich in die armen Hirne der Schläfer. Sie schienen dem Prinzen ganz ferne zu stehen und auf eigene Faust zu operieren. Der war schon am 17. Juli mit seinem Palaste bei Brühl fertig geworden. Er wurde bei allen Redouten und Maskenfesten gesehen, als rosaroter Page verkleidet reizte er durch sein sinnloses Trinken und Küssen die Gesellschaft zu einer ungewollten Ausschweifung, die in der Gestalt von Alkoholvergiftungen in den besten Familien unpassende Blüten trieb. Die Frucht schien reif. Vielleicht durch den Widerspruch der Geistlichkeit, die noch immer gegen die Arbeitslosigkeit wetterte, angeregt, erschien eines schönen Julisonntags nach dem Hochamt im Dom Alvio auf der Kanzel und sprach zum Volk. Er begann: »Jedem seine Meinung in Ehren . . .« Aber jetzt wäre es Zeit. Er lüde sie alle zu sich aufs Schloß. Dann stieg er hinunter und ging geradeswegs in der Menschenmenge auf Dr. Halb zu, den schönsten Mann der ganzen Rheinprovinz. Der Prinz lächelte und klopfte dem gewesenen Ministerialbeamten auf die Schulter. Die Leute wurden schon aufgeregt und drängten sich warm und fest aneinander — in ihren Mienen standen Angst und Würdelosigkeit. Hände tasteten und griffen, Füße wollten zueinander, durch den gewaltigen Raum schlich auf einmal nur mehr ein dummes, armseliges »Dominus vobiscum . . .« — dann sprangen die großen Türflügel auf. Die Orgel begann einen Two-step zu spielen, die Priester am Altar erstarrten, die Menge drängte gegen das Tor. Der Platz draußen war rosengeschmückt und durch die Sonnenglut gingen zwei Herren im Jackett auf ein bildschönes Mädchen zu, das ihrer augenscheinlich harrte. Der eine Herr machte eine einladende Geste mit der rechten Hand. Hierauf flammte in der schwarzen Masse der Gläubigen ein Schuß auf, der ziemlich gewaltsam von den gotischen Hochsäulen zurückgeworfen wurde, man sah, wie einer eine Frau aufhob und forttragen wollte, die Altäre zitterten. Das Chaos der Gemeinsamkeiten brach los. Scham war tot und die lebendigen Rosen waren Brautbett der Fürsten und Gemüsemädchen. Inzwischen fuhr Claire mit dem schönen Dr. Halb in himmlischer Nacktheit in das Schloß der Lüste. Der blasse Prinz ging aber am Domplatz auf und ab, auf und ab und seine Haare hingen feucht in die Stirn. Er konnte das Begattungsgebrüll nicht vertragen und hatte sich Wattestöpseln in die Ohren gesteckt. Als die Gräfin Balthes auf ihn zurannte — der Rock zerrissen und um den Mund Blut — ließ er sich in ihr Haus zerren. »Mich hat noch keiner gehabt — du — du —.« Ihre Lenden boten sich ihm schamlos dar. Er ging zum Erker und schaute zum Domplatz hinunter. Er grinste: »Ich habe Fieber.« Und dann: »Liebst du mich?« Die Gräfin sprang ihm an den Hals. Er wurde ganz sanft. Eine Wolke war vor die Sonne gezogen. Aus dem Nebenzimmer — oder war es über ihnen? — klang Gepolter umfallender Sessel, Klirren von Gläsern, Ächzen. Am Domplatz floß Blut. Ein Haus in Deutz hatte zu brennen begonnen, und schwarze Maschinen trugen Verwundete, Bewußtlose ins Spital. Der Himmel war gelb vor Weh und Geilheit. Der drinnen streichelte höflich und erlöserhaft der Gräfin Haar und beugte sich zu ihr. Er flüsterte ihr ins Ohr: ». . . und hätten der Liebe nicht.« Er unterließ es auch nicht, sie dabei im Nacken zu krauen. »Du — weißt du, meine Schwester ist die Schlange.« Worauf die Gräfin aufheulte und schwarz im Gesicht ward. Sie krümmte ein wenig ihre aristokratischen Fingerspitzen und war tot . . . Der Prinz bedeckte sie mit einem Tuch und fuhr mit seinem Auto nach Brühl. Dort erschoß er den schönen Dr. Halb, wie er gerade aus Claires Schlafzimmer kam. Er selbst legte sich zu ihren Füßen hin und schlief bald ein. Sie aß kandierte Früchte und lächelte lieblich wie ein von Gott besoldeter Engel . . . Alle Hirne hatten sich anders eingestellt, die Temperatur in aller Adern stieg auf 39,6°. Das Banner der Zügellosigkeit flatterte über die Dächer. Daß Handel und Industrie nicht lahmlagen, hatte man nur den trefflich funktionierenden Negern zu verdanken, die stets an ihrem Platz waren. Sie waren unentbehrlich. Fast wie Alvio, der mit dem scharlachroten Lieblingsauto von Ort zu Ort, von Gasse zu Gasse fuhr. Er stieg aus, sprach da und dort ein Wort, legte den Frauen die Hand auf die Augen, daß sie weinten. »Also übermorgen«, sagte er jedem, »das Fest. Ihr kommt doch?« Und die verwirrt schlagenden Herzen, die Hirne, in denen der Wahnsinn saß, schnappten ein »Ja.« Denn der Bann, der von ihm ausging, hielt sie alle. Manche — besonders Professoren, ehemalige Offiziere und andere Ehrenmänner — begannen zu zittern, und aus allen ihren Poren brach Schweiß. Die Geistlichkeit hatte sich scharf gegen ihn gewehrt. Er aber versprach Messen, ließ goldene Kruzifixe, Meßgewänder in die Pfarreien tragen, daß sie schwiegen. Im niedern Volke hatte die Syphilis scharf um sich gegriffen. Der Prinz ging zu jedem Kranken hin und siehe — man wurde gesünder, fast gesund, wurde weiter gepeitscht. Tag und Nacht. Haus und Gasse und Herd und Kirche und Bett waren eins. Wo man müde war, schlief man ein. Das Pflaster war weich und gab nach, die Luft zart und schwül. In der Nacht hing ein Gestirn am Himmel, hell wie die Sonne, nur viel röter. Am 38. Juli fand unter Massenbeteiligung das Hochamt der Lust im Kölner Dom statt. Claire vereinigte sich mit dem Prinzen, die Erde dröhnte. Sonst schien der Kosmos keinen entsprechenden Anteil zu nehmen. Da war das Ausland schon bedeutend lästiger, das telegraphisch sich erkundigte, anklopfte an die Türen von »Libertia.«
»Wir wollen ihnen das Evangelium des Lebens bringen«, sagte der schlanke Keppel, Privatsekretär des Prinzen und Two-steptänzer.
»Noch ist es nicht an der Zeit. Nach dem Fest.« »Wo willst du übrigens so viel Tausende in diesem Schloß bewirten?« »Warte . . .«
Ja, im Schloß herrschte eine fieberhafte Erregung. Alles wurde mit Blumen, Düften und Tieren geschmückt. Der blasse Prinz ging oft tagelang nicht aus seinen Zimmern. Eines Tages hörte seine Mutter, die jetzt heiterer geworden war, ihn seufzen. Sie selbst durfte nicht eindringen, darum schickte sie Claire hinein. Claire — ja, kennt ihr Claire? — manchmal ist sie euch sicher schon begegnet, Claire, die Schlanke, Claire mit den verschleierten Augen, Claire, die Schlange — nun, Claire bog sich, als sie bei der Tür stand, ein wenig rückwärts und der Prinz lächelte wieder und nahm sie fröhlich hin. »Ach, wär’ ich geblieben doch in meinem Garten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
In dem Lande der Wollust rüstete sich unterdessen alles zum großen Fest. Kinder, die damals zur Welt kamen, wuchsen in Stunden so groß, wie sonst in Jahren. Und nur einer ging seines Wegs: Bachmann, der die Welt haßte. Vor dessen Haus fuhr aber zwölf Stunden vor Beginn des Gelages Prinz Alvio vor und erwürgte ihn höchsteigenhändig . . . . . . . . . .
Der Palast war in drei Trakten erbaut. Die beiden Seitentrakte waren für die Privatgemächer bestimmt, in der Mitte erhob sich das goldene Haus des Festes. Sein Grundriß war ein Dreieck, aus sich verjüngenden, viereckigen Sälen gebildet. Der Rest bestand aus unregelmäßigen Gängen und Gemächern, die stets verschlossen blieben. Am Vorabend des großen Tages erschien ein feuriges Transparent am Nachthimmel, auf dem stand: »Alle, die ihr gesund seid, kommt!« Am nächsten Tage startete man nach Brühl hinaus. Im Aeroplan, im Auto, zu Fuß, im Marathonlauf. Die Frauen von den Männern getragen, geführt, geschleppt. Ihre Lippen höhnisch und siegessicher. Die Negermaschinen waren zurückgeblieben, um die Städte und Kranken zu bewachen. Als man um ½6 vor Brühl anlangte, fuhr der Menge schon Alvio und Claire entgegen. Der Palast würde erst um 2 Uhr nachts geöffnet. Dann bekam man ein Fußballmatch zu sehen, die siegreiche Mannschaft wurde bei 2:1 von der Menge zertrampelt. Um 8 Uhr kam von einem der benachbarten Hügel Musik, vorher noch nie gehörte, unfaßbare, den Begierden zu sanft — man schrie, warum hat man uns hierher gebracht? — einen Rechnungsrat traf vor Ärger der Schlag. Doch mußte man sich notgedrungen beruhigen, da um 9 Uhr alle, wo sie saßen und lagen, friedlich einschliefen. Der Prinz — im Frack, die Orchidee im Knopfloch, — stieg mit Claire zwischen den Körpern umher und kitzelte dicke Beamtensgattinnen. Um 2 Uhr erwachte man, sah die Türen offen und fühlte sich merkwürdig rein. Man betrat den Palast. Der erste Saal war wie ein Garten — große, gelbe Sonnenblumen, eine Märchenmusik — Katzen, Papageien, Löwen, Tiger und Schlangen, alles furchtbar friedlich und harmlos. Ein kleines Mädchen, das erst vor sechs Stunden zur Welt gekommen war, rief: »schau, wie das Paradies.« Die Menschen benahmen sich auch etwas ungeschickt, zertraten Blumenbeete, flirteten blöd herum und wollten schließlich tanzen. »Tanzen, ja, tanzen bitte!« Die Mäderln drängten sich um den Arrangeur, der grün und zwerghaft war. »Wo ist der Prinz?« »Der Prinz und seine Schwester warten auf Sie im letzten Saal. Kommen Sie nur.« Der nächste war schon etwas salonhafter. Einige waren allerdings zurückgeblieben und sprachen mit kindlichen Zwergantilopen, aber die andern — ich bitte, das war ein flottes Gehüpfe. Es wurde da gleich etwas heißer. Der feurige Cymbalwalzer — bald war die frühere Temperatur erreicht. Und dann weiter und weiter von Saal zu Saal. Hinter den Vorwärtsstürmenden wurde es dunkel und ging der blaßmachende Tod. Verwandlung auf Verwandlung um sie, in ihnen. Da waren sie nackt und nur ein mattes Holzfeuer vom Kamin schien über stöhnende, verschlungene Glieder, aus der Luft kamen flüsternde Stimmen. Dort rasten sie zwischen überhellen Spiegeln dahin, fingen sich — in Tierfelle gehüllt — Lichtkaskaden, schrille Schreie — und dann sahen sie sich plötzlich auf dem Parkett des letzten Saales.
Die Mauern waren von Muscheln, und es brannte ein einziger Luster voll Kerzen. Sie sahen sich als Nonnen, und dort die Herren hatten einen Frack an, statt der Blume aber eine riesige Kreuzspinne im Knopfloch. Gemessen die Bewegungen und fast steif. Still. Still. Die Musik schwieg, man starrte sich an. Still. Es waren hier nur mehr wenige. Repräsentanten, schöne, kraftvolle Männer, süße, schlanke Frauen. Ein aschblondes Mädchen rief: »Wo sind die andern?« Still. Ganz leise gingen die Tore hinter ihnen auf. Alles lag hellblau in der Reihe der Säle da. Still. Sie drehten sich wieder. Die Kreuzspinne begann zu kriechen und kroch, wenn sie sich faßten, den Frauen unter das schwarze Nonnengewand. Von oben tropfte Blut, das vom Himmel kam, denn das Dach war auf einmal fort und alles war leer. Still. Der Prinz trat unter sie. Er hielt eine kurze Ansprache. Um seinen Mund ringelte sich eine Schlange. Er war sehr schrecklich anzuschauen, denn seine Augen waren nur weiße Lichter. Hinter ihm kam es jetzt schwarz und unermeßlich durch die Säle des Todes, mit großen Händen. Ein klirrendes Orchester aus Blech und Furchtbarkeit wurde vernehmbar. Die Hände wollten zupacken, der Prinz grinste. Der Schrecken trieb die Menschen durcheinander — jagte sie wieder zusammen. »Hier — du —« Die Nonnengewänder flogen, die Spinnen hatten sich auf die Frauenbrüste gesetzt und sogen Blut, die Köpfe wuchsen ineinander. Die Neger warfen sich unter sie wie mähende Sicheln. »Du — nein — ich will dich — dich — nimm mich — trag mich fort —« Die gelben Augen der Schwarzen waren schon nah. . . . da rief eine große und traurige Stimme: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und . . .« Der Tod trat in den Saal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Weltbewußtsein rüttelte sich nach einiger Zeit schweißbedeckt aus seinem Fiebertraum und suchte den Satan weiter in Erdbeben, Eisenbahnunglücken und Gehirnkrankheiten, nur nicht in der Liebe.
IM Jahre des Heils 1914 schienen die Angelegenheiten dieser Welt zu einem Punkte gediehen, der sie für den Henker reif machte. So ging es nicht mehr weiter. Unbedingt nicht. Man glaube nicht, daß etwas Besonderes geschehen sei. Nein, im Jahre des Heils 1914 war alles so, wie es eben gewöhnlich war. Hört: Gesellschaften drehten sich im Kreisel dummer Walzerhymnen, Flirt verwirrte sich tief in das Innerste des Fleisches, dazwischen flogen Revolverkugeln der Revolutionäre und Selbstmörder, Dirnen mit offenen Haaren. Über Apparaten und dicken Büchern saß bärtige Wissenschaft, über jungfernweiße Bergrücken rodelten Sport und rote Wangen, Wahnsinnige nagten an Stäben, Audienzen wurden erteilt, in hohen Sälen flossen Orden hernieder und stiegen Reden. Kaffeehäuser in Bukarest, Lissabon und San Francisco und allem, was dazwischen liegt, rollten Billardkugeln gegeneinander, ließen Meinungen in Zigarettenrauch verwehen, kuppelten Bürger und Boheme. Einer schrieb Bücher, ein anderer stand mit fleischigen Armen vor der Backstube des Lebens, im Kimono wurden galante Besuche erwartet. Akten und Geschreibsel, dicke Bäuche und Brillen lenkten das Getriebe. Ein Genie war besoffen, Tausende Arbeiter erstickten im Bergwerk. Kirchen, Schulen, Bordelle, Institute, Gefängnisse, Ballokale, Haus und Wiese und Wald und Feld: alles war überfüllt. Zu den Schaltern des Schicksals drängten sich Milliarden, um den neuesten Film zu besehen. Doch auch die Seelen aller waren voll wie Säcke, Ursache und Wirkung lösten sich in dümmster Selbstverständlichkeit ab, was man nicht gleich erklären konnte, wurde psychologisch ausgeschöpft, und je komplizierter die Untiefen erschienen, desto lächerlicher war der Rätsel Lösung. In den Herzen der Wesen, die zwischen längst aufgedeckten Nord- und Südpolen herumkrochen, war jegliches Gefühl religiöser Scheu abgestorben, und der Kampf ums Dasein war zum Geraufe zwischen Hemmungen und Frechheit geworden. Bettler hatten ein Innenleben und dachten nach, Tiere und Landschaften waren Ornamente einer Stimmung, Erotik auf Flaschen gezogen und für Kunstwerke verwendet. Kurz, das Gefüge der Maschinen war so kompliziert geworden, daß der Irrgarten der Geschehnisse im Wahnsinn der verschlungenen Linien sich wieder zum höchst simpeln Kreis schloß, der ohne Anfang und Ende war. Das Schmieröl roch stark, die Achsen knackten, Gott, der Herr, beschloß, dem ewigen Treiben ein Ende zu bereiten.
Engelchöre sangen den abgedroschenen Schöpfungshymnus, in himmelblauen Seligkeiten schwammen Düfte und gebrauchte Lustgefühle. Bei der Himmelstür spielten die beiden wachthabenden Engel ihr Schach. Zu Petrus aber sprach der Herr und strich sich über das glatt rasierte Kinn: »Nein, so war dies nicht geplant. Als ich mit dem Chaos um die Zukunft würfelte und gewann, da wollte ich doch nicht Übles durch Übleres ersetzen. Unordnung, die sich als solche bekannte, durch Heuchelei, in der alles doch verschmiert und planlos hingeht. Nein — fort — ein anderes Bild.«
Schon hob sich die ringgeschmückte Hand des Schöpfers, um abzuwinken. Riesige Männer mit Stangen waren in den Thronsaal getreten und erwarteten den Befehl, einen kleinen, kosmischen Zusammenstoß zu veranlassen. Im Erdbebenbüro und in der Seuchenverschickungszentralstelle herrschte fiebrige Geschäftigkeit. Architekt Baron Julius Stil, Baumeister der Erde des Mars, beeideter Sachverständiger in Pflanzen-, Tier- und Menschenleibern, legte schon neue Pläne vor, von achtzehnbeinigen Wesen mit durchwegs blauen Augen — vielleicht probeweise 200-300 Stück — gehirnlos, nicht? — einen enormen Geruchssinn für das Ganze als Ersatz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ja, im Himmel ging alles schnell. Doch war es noch der Überredungskunst des schlanken Petrus gelungen, Gott vor der endgültigen Entscheidung zu bewegen, wieder einmal zuzusehen. Sie traten in das Beobachtungszimmer (4. Himmel, 3117. Stiege, Tür 933) und begaben sich vor die sinnreichen Apparate. Nichts aber schien hier geeignet, den Willen des Herrn umzustimmen. Der bedienende Geist — früher einmal Newton aus England, Erde — mußte oft die Platten wechseln, Schrauben drehen und immer neue Projektionsflächen einschalten. Es war auch wirklich zu langweilig und gewöhnlich, was man zu sehen bekam. Die Blicke konnten in Paläste, Kaschemmen und Boudoirs aller Erdteile dringen, konnten Lebensläufe zusammenfassend erschauen, wenn man die 344. Linse etwas mit Natriumchlorür bestrich und die M-Strahlen entstanden, konnten Gehirndeckel abheben, die Gedanken sich bilden und den Geist bei der Arbeit sehn. Nichts entging dem Schöpfer. Nach Ingangtretung der Menschheit hatte ihm zwar der Satan den Einfluß immer mehr und mehr abgekauft. Doch konnte er nicht gehindert werden, »Ja« und »Schluß« zu sagen. Oder mit Syphilis und Kriegsgreuel reinigend dreinzufahren und sich schließlich sein Werk zu betrachten, als den hohlen Rasierspiegel seiner Größe. Doch diesmal sah er nicht sich. Was er sah, war die Banalitat der tausend Teufel, die ihrem Berufe nachkamen.
Siehe, dort wurde ein Kindlein geboren, wuchs auf, Gymnasium, Sport, erste Frühlinge, Universität, Nachtleben, Ball, Verlobung, Dirnen, Ehrgeiz, Reisen, Beziehungen, Zeitung, Bücher — der liebe Gott ließ sich eine andere Platte einstellen (das waren ich und du . . .)
»Vielleicht das wäre etwas? Ein kleines Verbrecherleben. So was hält frisch und warm.« Da sah man einen Akrobaten Frauen vergiften.
»Ah so, Giftmörder Hopf. Den kenne ich schon aus Feuilletons. Danke.«
»Oder ein verlottertes Genie. Hungert. Ohne Namen. Niemand kennt ihn. Und steht doch dir nahe. Du kennst ihn. Und dann . . .«
»Dann kommt alles, wie es kommen muß. Schau nur hin. Anerkennung auf dem Totenbett. Er ist lungenkrank. Man bringt ihm Telegramme an das Lager. Das Auge leuchtet. Der Freund sinkt ins Knie. Weiß schon . . . Nein, ich möchte in meiner Allwissenheit einmal ein wenig erstaunt sein.«
»Vielleicht jenes Bild . . .«
Sonne schien stark auf eine penninische Alpenwiese. Viel Sonne kam über die Gletscher her und wurde durch den harten Geruch der Gebirgsblumen noch lebendiger. Dort wuchs bei Ziegen und Abgründen ein blonder Knabe. Die Augen leuchtend wie die guter Tiere. Die Muskel und der Bau der Knochen, der Schädel mit den langen, hellen Haaren an Riesen erinnernd. Der hatte nicht Vater und Mutter, der konnte nicht schreiben und lesen, der kannte nicht Mensch noch Gott, nur seine Sonne. Im Winter kroch er in Dörfer und lebte bei seinen Zieheltern, Uhrmacher und Gattin, in niedern Stuben. Im Sommer sprang er über Felsen. Sang mit gewaltiger Stimme Lieder und schleuderte Blöcke gegeneinander. Holte aus Schründen seine Zicklein. Als er zwanzig war und seine Hände erwachsen und göttergleich, da gefielen ihm die glänzenden Deckel der Uhren und der süße Leib seiner Stiefschwester. Um beides zu haben, erschlug er den Alten, den er Vater genannt. Stand über dem Blut und erstarrte, als er den Tod aus verdrehtem Auge springen sah. Abend war’s. An die Fensterscheiben drückten sich ängstliche Gesichter, das Dorf murrte und Kinder liefen schreiend durch die Gassen. Drinnen ging einer auf und ab, und begann zu begreifen. Gendarmen ritten durch die Nacht mit ihm fort. Die Schwester weinte. Im Mondschein lagen Instrumente und Gläser und Ketten umher und weißes Haar klagte an. Der Wind blies Wolken herab.
Der blonde Doré — wie man ihn nannte — wurde zum Tode verurteilt. Der Gerichtshof von Marseille hatte nach den vielen Mordtaten, die in den letzten Jahren die französischen Behörden beschäftigten, beschlossen, ein Exempel zu statuieren. Ein Verbrechen, das so tierisch war, so kalten Bluts ausgeführt und zugestanden, mußte die gehörige Bestrafung finden. »Zum Tode durch das Beil verurteilt.« Die Worte des Protokollführers blieben im überfüllten Raum in der Luft schweben und lösten das aus, was man in Berichten so schön als »Bewegung« verzeichnet findet. Der Kopf des Angeklagten, der während der Urteilsbegründung neugierig und stolz zu den Männern im schwarzen Rock aufgeschaut, sank schwer wie ein goldener Apfel auf die breite Brust nieder. Die Lippen bewegten sich, doch den Gesichtsausdruck konnte niemand erkennen, da ein schwerer Regenschauer Gassen, Höfe und Zimmer verdunkelte. Das Gaslicht wurde aufgedreht und der Mörder in völlig apathischem Zustande von den Soldaten der Justiz hinausgeleitet. Dem Verteidiger stand nur mehr die Berufung offen. Denn der Geisteszustand war von den Gerichtsärzten zwar als etwas unter dem Gewöhnlichen stehend, woran wohl die mangelhafte Erziehung schuld sei, aber keineswegs als anormal bezeichnet worden. Doch auch dem Gnadengesuch wurde nicht Folge geleistet. Am 25. August sollte der blonde Bauer seinen Tod finden. Der war aus dem Zustand der Apathie bald erwacht. Hatte in seiner Zelle zu toben und zu schrein begonnen. Sein Hirn, das offene Weiden und Blicke in den Himmel gewohnt gewesen, war durch die Untersuchungshaft betäubt worden und ermannte sich jetzt erst zur Revolte des gesunden Fleisches. Der blonde Doré biß in die Eisenstangen der vergitterten Luke, kratzte mit den Nägeln an den steinernen Wänden, verweigerte die Nahrungsaufnahme. Ein dunkler Sinn für die ewige Gerechtigkeit war in ihm aufgegangen. Immerfort rief eine Stimme: »Wie, wenn es Unrecht war von mir, zu töten, was dürft ihr mich, — mich, den Starken, Starken, Starken in den Tod stoßen? Weil ihr mehr seid? Oh . . .« Dann griff er mit den Händen in die Gitterstäbe, um das ewige Gewölk fortzuschieben, das jetzt Regenmassen in grauer, ruhiger Reihe niedertropfen ließ. Dort mußte seine Sonne sein. Dort vielleicht Freiheit . . . . . . . . . . . . .
Der Priester wurde mißhandelt und hinausgestoßen. »Es gibt keinen Gott. Ich kenne keinen Gott.« Hochaufgerichtet stand er da, das Hemd an der Brust offen, die Arme wirbelnd in der Luft, ein heller Fleck in dunkler Zelle das Haar: Ein Prophet des Nichts . . .
Am nächsten Morgen wurde er hinausgeführt. Es ging durch Gänge, über Stiegen, vorn die graue Jacke des Aufsehers. Die Lippen Dorés waren mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Wut zusammengekniffen. Die Handfesseln drückten tief ins Fleisch, das sich immer und immer wieder blutig stieß. Auf einem der äußersten Höfe wurde Halt gemacht. Staatsanwälte und andere Funktionäre standen feierlich umher, eine knarrende Stimme las noch einmal das Urteil. Gebete flossen gemurmelt von fleischlosen Mündern. Die Handlanger der Justiz traten auseinander, durch die Gasse, die sie bildeten, kam der Scharfrichter, ein mittelgroßer Herr im Frack. Er legte dem Verbrecher die Hand auf die Schulter. Die Geste war einladend und gar nicht unliebenswürdig. Mit diesem war in den letzten Sekunden eine Veränderung vor sich gegangen. Die Augen waren klar aufgeschlagen, der geplante Fluch schien in die Brust zurückgesunken. Der blonde Doré sah über die Menschen und die Maschine des Todes hinweg, in eine Ecke des Hofes. Dort stand ein breitstirniger Schubkarren und auf dem tanzte ein Sonnenkringel, der durch Mauerspalten hereingeschlichen war, auf und ab. Denn die Wolken hatten sich verzogen und über dem Haupte der Hinrichtung lag klares Firmament, über das langsam und feurig die Sonne heraufrollte.
»Haben Sie noch etwas zu sagen? Nein?«
Schweigen. Die Pupillen des Mörders hatten sich weit gemacht, um eine Welt in ihnen ertrinken zu lassen. Der Mund lächelte.
»Dann treten Sie dorthin.« Der mittelgroße Mann im Frack stieß ihn vorwärts. »Pax tibi semper — pax aeterna . . .« Ein Kreuz trat vor das Gesicht, der Mund spitzte sich zum Kuß.
»Auf jenen Polster, ja . . .« »Ich danke Euch, Herr.«
Und schon fiel — ritsch-ratsch — das Fallbeil herab. Das Lächeln war geblieben. Blutiger Stumpf starrte ins Gemäuer. Das herb vom Leib geschiedene Haupt trug seinen Segenswunsch, die Sonne aber hatte sich in dem blonden Haare verfangen und war mit in den schwarzen Sack gerutscht, der den Abfall empfing. Im Hofe des Gerichtsgebäudes von Marseille war Christus gestorben.
Die Welt ward dunkel wie das Antlitz von Pestkranken. Vom Zenit donnerte eine schreckliche Stimme über die Städte und Felder der Erde: »Weil einer von euch das Leben geliebt, aus wahrem Herzen und wie die Kinder, und der ein Mörder war, so sollt ihr fürder dies Getränk, den Leib und seine Lüste nicht mehr freundlich schlürfen, sondern hassen . . .«
Die Wolke verzog sich. Am Himmel hing ein rötlich leuchtender Kopf und gab Licht. Die Erde ließ Stachelkräuter wachsen, zackige Kakteen. Selbstmörder bevölkerten die Metropolen, die Verbrecher waren Herren der Scholle, Mörder, die gekreuzte Beile bläulich über der Stirn trugen. Die Tiere sind ausgestorben, die Maschinen streiken. Blut floß und fließt in riesigen Strömen, bis in letzter Barmherzigkeit ein Satan die Wagschale zur Hölle stößt. Dort dürfen wir schmoren und wimmern und heulen mit offenen, schwärenden Wunden in alle Ewigkeit. Amen.
IN der Wohnung des Sektionschefs von Hornische standen die Möbel schwer und altbraun herum und es roch nach Schmerzen. Die Doktoren sagten: »Man hat alles getan — man muß lindern«. Frau Alwine von Hornische zeigte sich gefaßt. Sie linderte und ging herum wie eine böhmische Krankenschwester. Oft richtete sich noch Sektionschef Otto von Hornische mit dem Kaiserbart im Bett auf, fluchte laut und warf seine Spuckschale mitten ins Zimmer und schrie und ward rot: »Die Alte hinaus . . . mein Mädel . . .« und der Rest wurde von einem quälenden dumpfen Schmerzenslaut unterdrückt. Dann hieß es »Das Mädel muß heraus — Krankenatmosphäre — Tante Frieda . . .«
Das Mädel war die siebzehnjährige Tochter. Sie hieß Gretel und hatte Augen, grau, jungfräulich und zum Weinen unschuldig. Auch sonst war sie hübsch und schlank. Es ist eigentlich von ihr nur zu sagen, daß sie siebzehn Jahre und ein Mädchen war. Sie hatte noch nie geküßt.
In Tante Friedas Wohnung hatte der Dämon der Zeit die Makart-Buketts mitzunehmen vergessen, und man ahnte von ferne Reifrockzeit und Familienblätter. Gretel langweilte sich hier äußerst. Jeden Tag kam Mama herüber und erzählte. Gretel wandte sich roh ab und dachte: »Wenn nur der Alte schon . . .« Und Tante Frieda erzählte viel von Bismarcks Frau, die sie einmal gekannt zu haben vorgab. Es war ihr alles zuzutrauen. Gretel war ein Sportsmädel, wie es sie trotz versichernder Feuilletons der Presse und trotz Semmeringtouren doch wirklich gibt. Sie riß die Fenster auf und sah sich nach einer Tennispartie um. Tante Friedas Villa lag in Hietzing . . . . . .
Es war ein gesegnetes warmes Frühjahr. Gretel fragte plötzlich: »Du Tante, was für einem Herrn gehört denn die Villa dort drüben?«
»Hoflieferanten Schneider Striberny. Mein seliger Mann hat immer . . .«
»Ja und der sitzt immer am Fenster dort bei den Büchern . . .«
»Ah nein — das — das ist nur ein Gast von ihm. Ich glaube Geschichtsprofessor — — krank gewesen — eigentlich verwandt mit euch — — — wohnt sonst in Ottakring so — Ja Gymnasialprofessor . . .«
Gretel lachte: »Sitzt immer bei die Bücher; bei so einem schönen Wetter.« Der Mensch dort drüben schaute auf. Gretel nickte: »Ja Sie mein’ ich.« Dann spitzte sie den Mund und wollte pfeifen. Tante Frieda verwies es ihr. — — — — — — Gretel war seit einiger Zeit müd, abgespannt. Sie ging nicht mehr zu den Tennispartien. Beim Essen blickte sie auf, und ein Knödel hing gedankenvoll an ihrer Gabel . . .
»Der erste Mai ist heute. Und schon so warm. Man sollte etwas anstellen heute.« Sie streckte sich, daß man die weiche Biegung ihres Körpers sah. »Ich werde wieder hinein zu den Eltern fahren . . .« Tante Frieda putzte die schwere Brille. Sie murmelte etwas von: ». . . armer Vater . . . ringt . . . sowieso nicht lange . . .« Plötzlich fragte Gretel: »Was ist denn mit meinem interessanten Geschichtsprofessor?« »Wieder zu Hause . . . Ottakringerstraße.« Dann kamen Wiener Tascherln herein und das Obst. Gretel steckte sechs Kirschen auf einmal in den Mund und dachte sich etwas . . . . . . .
Um halb Drei setzte sie ihren schicken Hut auf. »Ich geh spazieren . . .« Draußen war alles grün in der Allee und Vögel sangen. »Warum nicht?«, dachte das Mädchen und »es is a Hetz . . .« Von der Hausmeisterin drüben bekam sie gewünschten Bescheid: »Ja, also jetzten, gnä’ Fräul’n, bei saner Familie, Ottakringerstraße 157 im vierten Stock« . . . . . . . . . . . . .
Die feiertägliche Elektrische fuhr durch die staubige Vorstadt. Ihr Läuten und das Pfeifen und das Tönen der Trompete und »ja, ja, steigens nur ein, wir fahren nach Dornbach« — alles schlängelte sich die nicht angestrichene Wand des verklebten, blinzelnden Zinshauses hinauf. Denn es war eine Haltestelle knapp vor dem Tore . . . Oft fluchte darüber Ludwig Hunner und sah von seinen Pandekten in die Gulyasduft und Staub tragende Viertestockluft. Die Knaben nannten ihn Hunzer. Er hatte ein Gesicht wie ein lyrischer Lustmörder oder wie ein Revolutionär aus Traurigkeit. Er war irgendwie mit reichen, mächtigen Leuten wie Hornische und so verwandt. Der Reichtum war wie ein süßriechender Kelch an ihm vorüber gegangen. Er war in seiner Jugend ein Aufwühler und etwas verrückt und also am Wege liegen geblieben. Jetzt loderte sein Fanatismus in Büchern aus Schweinsleder mit Bücherskorpionen und zusammengebraunten Seiten auf. In seinem Hirn glühten und verfielen noch immer Welten. Doch die Hand schrieb »nicht genügend« und über seine gigantische Nase war das Gefängnis einer Brille gelegt. Die Augen waren erloschen. Er hatte eine Gattin, welche nicht abließ, ihn »Luschi« zu rufen und ihm Kinder zu gebären. Sie liebte ihn, und er hatte sie aus Wut einmal gegen wen Andern geheiratet. Jetzt war ihr Leib reizlos, und Ludwig Hunner ging an ihr bröckelnd und fluchend zugrunde. Siehe, auch jetzt rief sie es wieder herein: den Schlachtruf ihres Lebens: »Luschi, der Kaffee wird kalt.« Und inzwischen schoß der achtjährige Sohn Jonas mit einer Luftpistole an die Wand. Ludwig Hunner aber exzerpierte gerade mit seiner kleinen zerschmetterten Schrift etwas über den dreißigjährigen Krieg und brüllte hinein wie zehn Löwen und seine Stimme kam noch immer aus einem feurigen Krater: »Ich komme sofffort!« Da läutete es draußen . . .
»Ja natürlich ist das eine unglaubliche Keckheit — Aber ich hab mir gedacht, wir sind eigentlich verwandt. Und wissen Sie — ich langweil mich sooo — und ich hab Sie bei den Büchern sitzen gesehen und ich hab mir gedacht, Sie langweilen sich auch. Nicht? . . .« Sie schwieg und ihre Augen blieben an den waldigen Augenbrauen Ludwig Hunners haften.
Dieser brachte kein Wort hervor. Seine klobigen Hände zerknitterten irgend ein Papier. Er war eigentlich in dem »Dem-Herrn-Direktor-Vortrittlassen-ins-Konferenzzimmer« ein feiger Philister geworden. Aus dem Nebenzimmer kam der Kaffee gekrochen; eindringlich und braun.
»Wissen Sie . . . also man tut oft etwas Plötzliches mit siebzehn. So ganz etwas Plötzliches.« Sie . . . stand auf und in ihrem Innern dachte sie schon »So ein Blödsinn.«
»Ich könnte auch gehn.«
»Aber nein« — er wurde lebhaft. Er nahm sie bei der Hand. »Eigentlich ist das ein großes Glück . . . habe immer auf so etwas Plötzliches gewartet als ich jung war.« Seine Stimme versank. Er führte Gretel ins Speisezimmer. — — »Also, Emmy, das Fräulein war so lieb und hat sich uns anvertraut. Sie ist ohne nähere Verwandte« — er log aus Angst — Gretel zuckte spöttisch mit den Mundwinkeln — »ohne Verwandte und hat sich gedacht, wir werden uns ihrer annehmen. Wir werden ihr in Zukunft immer unser bescheidenes Heim zur Verfügung stellen.« Noch nie hatte er so lang und so weltmännisch mit seiner Frau geredet. Diese zwinkerte Gretel prüfend an, rief dann kreischend etwas von einer neuen Tasse in die Küche, verwies der kleinen Inga das Nasenbohren und der Anfang war gemacht . . . Ludwigs Glut war schon längst Zucht und Beherrschung geworden. Er war dabei allerdings ein wenig um die Theatralik und das Gepränge der gesprochenen und gehandelten Tat gekommen. Doch nun entzündete er sich, wie er mit einem so fremden, andern, neugierigen und selber angestaunten Individuum über den siebenjährigen Krieg sprach und Alt-Ägypten und Napoleon. Er fuhr sich mit der Hand einige Male über die Haare, die ungekämmt waren, und schob das kleine Mizzerl ganz aufgeregt beiseite, als sie sich auf seinen Schoß setzte und voll starren Staunens auf die weißen Mädchenhände Gretels blickte . . . Es war sieben Uhr geworden. Die Bücherdeckel erglänzten im letzten Sonnenstrahl. Gretel unterhielt sich geradezu. Sie dachte immer »Komisch — sehr komisch . . .« Es kam über das Staubmeer ein Duft. Dann zündete Emmy die Petroleumlampe an. Gretel ging. Sie ging über die Stiege und lachte über das ganze Gesicht. Sie dachte . . . »Komisch . . . sehr unterhaltend — also Napoleon hätte nicht mit Metternich sprechen sollen in Dresden und Amenhotep war der erste, der . . .« Sie lachte laut heraus und stieg fast in einen H2-Wagen ein, der sie nie nach Hietzing gebracht hätte. Oben trank Ludwig Hunner ein Glas Wasser in einem Zug aus, richtete seine aus der Fassung gebrachte Krawatte und rief dann ins Nebenzimmer »Emmy, unser Abendspaziergang!« Worauf er mit Kind, Kegel und Gattin in irgend einen Dr. Karl Lueger-Jubiläumspark ging, der rhachitische Kinder und staubige Reifen ahnen ließ — — — — — —
Es gefiel Gretel von Hornische in der Ungewaschenheit und Stilwidrigkeit des staubigen Kleinbürgertums herumzurühren. Sie ahnte auch irgendwo einen Brand, etwas Außerordentliches unter diesen Abzahlungsmöbeln. Sie kam öfter im Mai in die Ottakringerstraße. Sie sagte ganz offen zu Tante Frieda: »Ich gehe zu armen Verwandten. Aber laß mich mit deiner blöden Tennispartie aus.« Sie starrte die Hände Ludwig Hunners an, die die Hände eines Bergarbeiters waren. Ihre Neugierde wuchs; sie drehte sich im Nachmittagsschein vor dem Fenster und legte ihren Kopf auf die Hände. Und es erwachte die kleine Bestie in ihr. Ludwig Hunner aber sprach laut und deutlich. Er sprach jetzt von seinen Wünschen und Ambitionen. Gretel blinzelte. In muffigen Ehegebührsumarmungen, bei Kind und Nachttopf und hängenden Brüsten war in Ludwig jeglicher erotische Sinn abgestorben. Nur manchmal nahm er ein Stück Monatsgehalt und lebte sich aus. Trotz allem sah sein ästhetisches Auge, wie unglaublich gut diese Linie war, wenn sie sich bog, und die Hüften waren schlank und aufreizend. Er mußte auch lächeln; »Warum lachen Sie?« »Ich dachte, daß es eigentlich sehr komisch und sehr nett von Ihnen ist.« »Was denn?« »Daß Sie zu uns kommen.« Seine Stimme bebte. Später sah er ihr nach, gelehnt an seine älteste Tochter Karla, die dreizehn Jahre war, und zittrige Haarsträhnen krochen über ihr Gesicht. Gretel kehrte sich um und winkte herauf. Ihr Kleid leuchtet wie roter Mohn. Ein Gewitter-Windstoß fuhr Ludwig in die Haare, die er sich am nächsten Tage schneiden ließ . . . Er ließ sich auch den Schnurrbart abnehmen . . . Vater von Hornische rang noch immer. Tante Frieda meinte, die Besuche müßten aufhören. Gretel ging jetzt justament hin und fast jeden Tag. Gretel kam einmal unvermutet gegen Abend noch einmal. Sie hatte ihr Tascherl vergessen. Sie sah Ludwig nicht am Arbeitstisch. Aber über seiner Schreibmappe thronten, unten angeschwärzt und umgekehrt, zwei Röllchen. Dies wirkte furchtbar komisch. Sie mußte auch sehr lachen. Als Ludwig hereinkam und die Szene erkannte, bekam er einen guten Zorn, einen Bubenzorn, und warf die Röllchen mitsamt den 40 Heller-Imitations-Knöpfen in die Ottakringerstraße hinab und schrie ein ordinäres deutsches Schimpfwort. Gretel staunte. Aber Emmy mußte vier Tage hindurch Manschetten annähen, trotz ihrer Schwangerschaft — — — — — — — — —
In dem Hause und der Wohnung Ottakringerstraße 157 gab es viele Dinge und es war eine bewegte, kreischende Symphonie des Mittelstandes und der Arbeit. Es gab enge, verschrumpfte Drehstiegen mit unheimlichen, offenen Gasflammen, die zischten und pfauchten. Und einen Hof, in dem plötzlich in der Mittagsglut der Mehlspeisendüfte wandernde Sänger auftauchten und ihr Lied aufsteigen ließen, das da gewöhnlich ging: »Hupf mein Mäderl!« Vorn spielten Rotznäschen und schwarze Finger am Trottoir, das Risse hatte, mit undefinierbaren Kugerln. Und Klopfbalkons und Gerüche sämtlicher Kuchen Wiens. Da war eine Köchin mit stets aufgesprungenen, roten Armen, die jeden Dienst bei Hunners verrichtete. Sie roch aus dem Mund. Stühle waren vorhanden, die wackelten, und halbtrockene Windeln im Gangerl und fünf Kinder und der Knabe war gewalttätig und schlug Lärm. Ferner Nachttöpfe, die sehr begehrt waren, und ein Bett, das nie gemacht war, und Flüche und Häuptelsalat, worin eine Raupe umherkroch, und Mizzerl kreischte dann: »Schau, Máma, ein Vieeech!« und Zinnsoldaten am Boden zerstreut und ein Kübel mitten im Zimmer und an den Wänden Stiche aus der »Gartenlaube« und die gelbe, häßliche Uhr ging um eine Viertelstunde zurück und Berge, Berge von Büchern und Scripten und Heften, beklexten und halbvoll geschriebenen. Und »Pápa, darf ich heut in den Zirkas gehn?« und »Emmy, heute ist Konferenz, gib den Schlußrock heraus!« und der Ehrenteller bei Tisch war auch schon gesprungen und die Lotti hat sich einen Schiefer eingezogen. Über allem aber thronte, frisch und herrlich, Gretel von Hornische . . . . . . . . .
Mama spannte sie hie und da zu kleinen Dienstleistungen an. Trotzdem lächelte sie und kam weiter hin. Sie gingen auch manchmal zusammen nach Dornbach hinaus in den Wald — — — Es war ein warmer Mai — — — Einmal gingen Gretel und Ludwig mit der kleinen Marie. Plötzlich sagte diese: »Geh, Vater, geht’s voraus — ich hab da so viel schöne Veigerln gesehn!« Sie bückte sich und pflückte. Gretel lachte und sie gingen zu zweit weiter. Ludwig fuhr sich am Hemdkragen herum und etwas sagte in ihm: »Du bist verliebt.« Er aber erklärte, daß der Tag herrlich sei. Gretel lachte und war neugierig. Da sagte er: »Das Kind ist gescheit«, und küßte Gretel auf den Mund. Sie küßte ihn wieder und beide bluteten dann ein wenig. Am Rückweg fragte Gretel, ob sie wirklich verwandt seien, und sagte dann: »Da sind Sie ja mit Kinskys verwandt. Wir sind es nämlich.« Sie freute sich, daß sie doch nicht nur die glutvollen Lippen einer Feuerseele geküßt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Es war Juni. Es war bereits heiß. Wenn Gretel jetzt kam, ließ sie sich die Hand so von innen küssen und den Nacken und sie sagte möglichst kühl: »Gut, daß du rasiert bist!« Es war aber auch in ihr Juni . . . Ludwig Hunners Philisterherz zerschmolz zu dem heißen Steinkern seiner einstigen Jugendlichkeit. Wieder türmten sich die Gedanken und lauerten auf die Tat. Seine Seele hielt die Zügel und den Atem an . . . . . . . Arbeiter sangen, Elektrische und Automobile rasselten, es leuchtete drüben über dem Wienerwald. Die Luft war schwer. Im Speisezimmer flackerte das Petroleumlicht und der Aufschnitt stand auf dem Tisch. Gretel war heute auch zum Abendessen da; weswegen Mizzis neues Barterl vorhanden war und man es Jonas verbot Nägel zu beißen. Das ganz Kleine weinte, weil es Angst vor Gewittern hatte. Emmy stand nun auf; sie war gelb und, wie gesagt, wieder einmal in der Hoffnung. Ihr Leib war gedunsen und sie sah wie ein Traumbild Goyas aus. Sie stand auf und wankte hinein und man hörte sie erbrechen. Mizzerl lief ihr nach und die andern Kinder bekamen Angst und rannten aus dem Zimmer. Ein Bierglas war umgefallen und der Zylinder der Lampe knackte. Ludwig saß da, starr wie ein Stier. Gretel aber rief, flötete, sang: »Küß mich!« Er sprang auf, hob sie, trug sie aufs Sofa, riß ihr die Bluse auf und küßte sie auf die kleinen, zarten Brüste und den Lilienhals. Sie biß ihn und flüsterte sommerhaft und mädchenglutend: »Ich liebe dich!« Es weinte aber ein kleines Kind nebenan. Ein Donner schreckte die beiden auf und Emmy rief: »Also vorwärts, zu Tisch, Kinder!« Und man versetzte sich zurück in die Gefilde der Bürgerlichkeit und Gretel erklärte, sie sei beim Uhraufziehen an einem Nagel hängen geblieben und schade um die schöne Bluse. Die alte Uhr ging aber wirklich plötzlich. Unten sang man: »Trink ma no a Flascherl . . .« und Jonas gab fest und knabenhaft seiner Meinung Ausdruck, er esse keine Dürre nicht. — — — Obwohl es gegen Schulschluß ging, war Ludwigs starre und strenge Observanz doch so geschwunden, daß er sich um das Gymnasium gar nicht kümmerte. Er holte jetzt Gretel in Hietzing oft ab, sie gingen in einen Wald hinter der Einsiedelei. Es war vier Uhr und durch Blätter kam weiße Hitze und sie küßten sich. Das siebzehnjährige Mädchen war älter und wieder frischer als der Mann und ihre Leidenschaft sah Ziele. »Seltsam, daß ich mich in dich verliebt hab« und »wenn mein Vater stirbt, läßt du dich scheiden, wir heiraten. Oder ich ziehe in die große Wohnung und ich werfe Mutter hinaus und du wirst mein Geliebter. Übrigens habe ich da jetzt eine sehr nette Tennispartie gefunden, vielleicht lasse ich dich fallen . . .« Da wurde dann sein Gesicht zerrissen und gewaltig und sie bekam Angst. Manchmal dachte sie: »Ich liebe ihn wirklich, sicher, und es ist meine erste Liebe und seine Küsse sind Glut-Küsse, ah . . . Aber ich bin eine Jungfrau und muß klug sein.« Und: »Sollte ich nicht plötzlich verreisen?« Denn oft war es ihr, als wüchse seine Schwerheit und Trauer über sie hinaus, sie wollte sich verkriechen und, als er einmal brutal wurde — nur einmal — und sie auf einem Spaziergang in ein Stunden-Hotel zerren wollte, schrie sie so laut, daß Passanten stehen blieben und er ohne Gruß fortstürzte . . . Denn sein Inneres war ohne Weg und Form. Er torkelte zwischen Entschlüssen und Taten hin und her wie ein Betrunkener. Er kaufte sich einen Revolver; er wollte sich in die Donau werfen. Er wollte ganz schlicht und einfach eine Ehescheidung einleiten. Er wollte Gretel nicht mehr sehen. Er wollte mit ihr fliehen. Er wollte vieles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Am Abend des 26. Juni sagte Gretel ihm an der Gartentür in Hietzing adieu und, daß sie morgen wahrscheinlich nicht kommen könne, denn ihr Vater liege in Agonie. Ludwig sagte: »Gute Nacht, mein Liebling!« und war ganz weich. Wolken zogen über seinen Weg, als er heimging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(Seine Frau kränkte sich schon lange und hatte auch Szenen gemacht. Ludwig sagte immer: »Aber laß doch!« und »gardez les enfants!« Tante Frieda ihrerseits schüttelte nur den Kopf und in Hietzing lächelte man) . . .
Da kam der 27. Juni. Es war schon am Morgen heiß und man ahnte, dies sei ein Tag der Züchtigung und der Glut. Doktor Schwalbenschwanz hatte sich um ½9 in der Ottakringerstraße eingestellt, hatte »Hm, hm« gesagt und die gnädige Frau werde gegen Abend niederkommen und die Hebamm’, ja, ja, er werde schon alles ordnen. (Die Kinder waren schon seit drei Tagen bei den Großeltern mütterlicherseits.) Ludwig ging mit großen, idiotischen Schritten in seinem Zimmer auf und ab. Er schlug bald die Geschichte der Kolonial-Entwicklung auf, bald die Chronika der Stadt Nürnberg. Dann setzte er sich, strich sich über die Haare, lächelte befriedigt. Wurde unruhig, zerspitzte einen roten Bleistift und band sich einen neuen Schlips um. Zu Mittag warf er mit einem gewaltigen Aufbrüllen die Köchin, die ihm einen »falschen Hasen« hereinbrachte, zur Türe hinaus und aß überhaupt nur ein Stück Semmel und ein wenig Kirschen. Um ½3 Uhr ging er dann zu seiner Frau hinein, streichelte sie und sagte, er sei gleich wieder zurück, er müsse sich nur ein Buch besorgen. Hierauf ging er zum Thermometer im Hof, konstatierte, daß es 26 Grad im Schatten habe, nickte mit dem Kopf und nahm aus einer Lade den Browning. Dann bestieg er die Tramway, nahm sich eine 20-Umsteigen und fuhr über den Gürtel gegen den Parkring. Ja, ihr Vater war heute dort gestorben und er mußte sie sehen, heute sehen, gerade heute. Er fuhr im hintern Beiwagen. Neben ihm troff ein bläulicher Mann von Fusel und Schweiß. Die Fenster waren offen. Man sah die grünen Kastanienbäume und das aufgerissene Pflaster unserer Stadt. Die Blätter waren hie und da gegelbt von der Hitze, und die Arbeiter hatten das Hemd offen und zeigten die zottige Brust. Dort sprachen zwei mit Rackets von einem Tennistournier. Um die Ecke der Märzstraße zog ein Knabenhort und die Trompete klang schrill. Am Getreidemarkt hatte ein Roß gescheut. Leute liefen hin und her, Wache war da. Ludwig richtete sich auf und, als er einen umgestürzten Streifwagen sah, dachte er nur: »Ah, ja — ganz klar.« Im Palais Hornische sagte man ihm dann, da er sich für einen Abgesandten des Tennisturniers ausgab — er hatte etwas von Gretel gehört und benützte diese unwahrscheinliche Ausrede — »Ach, ja, gewiß« — und der Portier blickte von oben herab — ja, der gnädige Herr sei gestorben — das gnädige Fräulein könne natürlich nicht zum Tennisspielen kommen — sie sei aber zu Verwandten nach Dornbach oder so, um ihnen die Nachricht mitzuteilen. Ludwig lachte ihm ins Gesicht und klopfte ihm mit seiner gewaltigen Hand auf die Schulter und floh dann fort. Rannte zur nächsten Elektrischen und dachte — »Ah — ah — sie mußte mich auch sehen — nun ja, 26 Grad — morgen sind Wahlen.« Einer sprach von Schuhmeier und Lueger selig . . . . . Gretel war vom Sterbebett — es sah unordentlich und gar nicht wie ein Paradetod aus — es war zu sommerlich, um im Bett zu sein — sie war also unter irgend einem Vorwand weggestürzt. Sie rannte zu Fuß über den Gürtel, sie wußte nicht, was sie wollte, sie mußte ihm etwas sagen, sie zitterte, es flimmerte ihr vor den Augen. Nur heraus aus dieser Dumpfheit, dieser Krebsluft. Sie wollte mit ihm einen Ausflug nach Rodaun machen. »Das geht aber nicht, man darf sich nicht kompromittieren.« Sie seufzte. Keine Wolke war am Himmel. Sie kaufte sich Gefrorenes und verzehrte es trällernd. »Herrgott — die Sonne ist was Schönes!« Auf der Stiege trafen sie sich dann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
»Warum packst du mich so roh an der Hand?« Er zog sie in sein Zimmer. »Du — ah — du!« Die Rouleaux waren herabgelassen; es war bräunlich im Zimmer. »Küß’, ja, küß’ mich!« Sie waren ans Bett getaumelt. Er zerrte an ihrem Haar, an ihrem Kleid. In seinem Gesicht stand mit großen Zeichen die Sommerwut der Hunde zu lesen. »Nein — du laß — schau — es geht doch nicht s« Jetzt war etwas Schwärzliches da. Sie schlug ihm den Revolver aus der Hand. »Bist du wahnsinnig? — aah — mit Gewalt?!« Sie rüttelte an der Türe, die versperrt war. »Du — Du« Ihre beiden Schultern bebten vor Erregung. Er stand breit da wie ein brunftendes Tier. Sie sprang ihm mit den Händen ins Gesicht. »Du Prolet — du Kot-Mensch!« Sie kratzte. Er packte sie bei den zarten Handfesseln und schleuderte sie zu Boden. Einen Augenblick wimmerte sie, dann ein Schrei — doch er sprang an ihre Gurgel und schleuderte sie hin und her. Jetzt war nur mehr Lachen, ihr Lachen, ihr triumphierendes Lachen da. Es sprang von den Büchern herab, von der Wand herab in sein Hirn . . . . . . . . . . . . . . . . .
Da erwürgte er sie.
WENN Josef Mittermüller ins Gymnasium ging, um bei den Professoren Auskünfte über seinen vierzehnjährigen Sohn Max einzuholen, so sagte man ihm gewöhnlich: »Ja, gewiß, ganz brav ist der Bub. Aber, aber, ich glaube, er hat nicht viel Talente. Wissen Sie, lassen Sie ihn Offizier werden.« Das war noch so in der guten, alten Zeit, da noch Bismarck lebte und es noch keine Aeroplane gab. Josef Mittermüller folgte dem Rat der Behörden und so wurde sein Sohn Offizier. Da nicht viel Geld vorhanden war, wurde auch noch dazu die Infanterie ausgewählt, den blonden Maxl in ihre Reihen aufzunehmen. Der machte seinen Weg geradeaus und ohne viel Beschwerden und Neuigkeiten. Er war seine Jahre in Galizien, er erbte, als sein Vater starb, ein kleines, aber immerhin vorliegendes Kapital und blickte aus wasserblauen Augen noch immer nicht sehr intelligent in eine Welt, die ihm bis jetzt wohl neue Oberste und hie und da ein neues Dienstreglement, aber sonst nichts beschert. Sein Kopf saß steif auf dem nicht sehr jugendlichen Nacken, um den Mund lag jene Gutmütigkeit, die in den verzweifeltsten Situationen die Mistviecher zum Mitleid reizt, und die Hände waren gut bürgerlich. Als Max Mittermüller nach Innsbruck transferiert wurde, war er 27 Jahre und ein wohlbeschriebener Oberleutnant. In der lieblichen Bergstadt lernte er Margot Osten kennen. Sie lebte, abgeschnitten von jedem gesellschaftlichen Verkehr, bei einer alten Tante. Maxl war nur durch einen Zufall in das Haus gelangt. Margot Osten war damals noch sehr jung. Sie hatte schweres goldenes Haar, einen sanften Mund und Augen, die in gewissen Augenblicken ihre meergrüne Farbe zu nicht geahnten Effekten steigern konnten. Außerdem fast gar kein Geld. Die Achtzehnjährige las viel Bücher, gab italienische Stunden und war zu ernst für ihr Alter. Sie hatte so jung ihre Eltern verloren, die alte Tante hielt sie stramm und konnte gut schimpfen. Maxl Mittermüller war fast der erste Mann, den sie kennen lernte. Es hatte da einmal — — wie sie noch in Wien gelebt — — einen Cousin gegeben; sie war noch nicht sechzehn gewesen; einen Cousin verbunden mit Waldspaziergängen und Küssen. Max Mittermüller verliebte sich in die Schlanke mit der Goldkrone. Nicht gerade mit einer Leidenschaft, wie sie oft stille Seelen bis zum Irrsinn stachelt; aber doch immerhin, er war ziemlich aus dem Geleise und in der Zeit der Unentschiedenheit schmeckte ihm sein Morgenkaffee gar nicht. Die Unentschiedenheit konnte nicht lange dauern. Margot sah jemanden vor sich, der ihr körperlich und geistig nicht ekelhaft war, im Gegenteil, den sie sogar in Gespräch und Blick und Lebensführung mehr als achten gelernt; jemanden, der ihr andere Existenzmöglichkeiten bot. Die alte Tante mußte notgedrungen einwilligen; erstens wußte sie wirklich nichts Besseres, als »ja« zu sagen, und zweitens, wenn Margot etwas wollte, dann vermochten ihre Augen ihren Leib zu einem Trotz zu verhalten, ihm eine Linie des Aufstands zu geben, vor der die bissigsten Worte in Rauch und Asche zerfielen. An einem windigen Märztage also hatte sich Max die Zusage geholt. Er saß jetzt zu Hause, in seiner Junggesellenwohnung — hoffentlich nicht mehr lange! — vergönnte sich eine Zigarette und wiegte sich in Zukunftsträumen. »Ich liebe dich!« hatte sie sogar ganz weich gestammelt und hatte die Arme um den Waffenrock geschlungen, was jenem Braven alles sehr schön vorkam. Das war das Glück, jawohl. Das Glück, das Gott den Menschen geschickt, damit sie schön brav das liebe Leben loben. Und Kindlein würden aufwachsen, sie würden nützliche Mitglieder der . . . wir wissen schon. Der Oberleutnant summte eine Melodie und war ganz alltagserhoben. Er hätte fast ein Gedicht gemacht. Im richtigen Augenblick erinnerte sich sein Hirn einer Wohnung, die er jüngst draußen in Wilten — sehr hübsch gelegen, 3 Zimmer, ich glaube, ein kleines Haus ganz für sich, Garten — angeschlagen gesehen hatte. Und so ließ er die Reimerei und machte sich auf, eine Bestallung für die Zukunft zu mieten . . .
Die Zeit der Verlobung dauerte nicht lange. Die Wohnung in Wilten war eingerichtet worden und grüßte wirklich sehr nett aus dem kleinen Garten, den Habicht und den Weg nach dem Süden. Margot hatte es sich ausbedungen, außer ihren Büchern und den sehr bescheidenen Mädchenzimmermöbeln auch noch die Dienerin Annina mitzunehmen. In letzterem Falle wäre sie fast bei ihrem sonst sanften Bräutigam auf Widerstand gestoßen. Ja, das war so eine Sache mit Annina. Sie war nicht eigentlich eine Dienerin; es hieß, ihre Eltern wären mit Margots Eltern gut bekannt gewesen, hätten ihnen einmal vor Jahren einen großen, sehr großen Dienst erwiesen. Dafür sprach auch die Art und Weise, mit der sie Margot behandelte. Sie sagte ihr »Du« wie einer Freundin und schien sie fast zu lieben, sicherlich zu bewundern. Annina war erst siebzehn und sehr schön. Obwohl man auf den ersten Blick nicht wußte, worin ihre Schönheit lag. Sie ging auch immer so einfach; einfacher als alle Dienstboten der Erde. Sie hatte einen Gang wie eine Katze und sprach sehr wenig; und wenn, dann klangen in ihr Deutsch italienische Worte und Betonung. Oberleutnant Mittermüller hatte sie vom ersten Tage an nicht leiden können. Er war zwar nicht grob zu ihr; ignorierte sie aber vollkommen und konnte das Benehmen — sogar der alten Tante — ihr gegenüber nicht verstehn. Schließlich mußte er doch einwilligen, sie mit seiner Frau ins Haus zu nehmen, da diese sehr böse wurde, als er fragte: »Warum hängst du gerade an diesem Dienstmädel so?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Ehe Maxl Mittermüllers ließ sich anfangs sehr günstig an. Leute, die an dem kleinen Hause vorbeigingen, sahen in den ersten Monaten die Beiden entrückt und Hand in Hand in die untergehende Sonne schaun; andere wieder fingen bei Jours und Sport und gemeinsamen Bergtouren Blicke voll Liebe auf, die sogar einmal Hofratin Erzner zu dem Ausspruch bewogen: »Wie nett, so junge, glückliche Eheleute!« Margot hatte es auch wirklich gut; ein eigenes Heim, einen Mann, der sie vergötterte und außerdem jetzt Verkehr mit den ärarischen und nicht ärarischen Familien Innsbrucks.
Und doch entdeckte sie in sich Untiefen, für die niemand verantwortlich schien, die aber auch ihr Mann nicht verschütten und unsichtbar machen konnte. Ihre verzehrende Sinnlichkeit wuchs in um so abenteuerlichere Dimensionen, je menschlich sanfter die Liebe des Gatten in Küssen verebbte. Da glaubte sie auch ihrem Leibe nur die Gefährtin gewachsen. Annina, deren Macht schon, als sie selbst noch Mädchen war, bis in ihr tiefstes Blut gereicht, nahm sie für sich. Margot fand viel mehr Gleiches und viel mehr, das in ihrer Sprache zu ihr kam, in dem Herzen der Katze. Und wenn ihr Mann im schweren Bauernbett sie in den Armen hielt und über dem Garten lagen mitten in Blumen die Sterne, da glaubte sie ein Lachen ins Hirn rinnen zu spüren und wie ein weiches Tier legte es sich ihr um die Schultern. In das Stöhnen der Wollust traten Gesichte, die sie immer weiter lockten; das Zimmer ward voll schlangensüßer Leiber, die sich bis zur Decke reckten und ihr Früchte versprachen, goldene Äpfel, ungeheure, endlose Lust. Einmal auch war in solcher Liebesstunde Maxl Mittermüller aufgefahren. Der Vorhang des Bettes hatte sich bewegt, eine Maske, die von dort herstarrte, verschwand, eine Türangel knirschte. »Was war das?« Das Herz des Offiziers ging hart und hämmernd. »Nichts . . . du . . . nichts« Am nächsten Morgen schlug es wieder den Trott der Gezeiten und war beruhigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bis die Kinder kamen. Max Mittermüller war jetzt 37 und Hauptmann. Seine Ehe dauerte schon fast zehn Jahre. Seine Frau hatte ihm fünf Kinder geboren. Das jüngste war erst vier, das älteste neun. Alle waren Buben; alle dem Vater vollkommen unähnlich. Sie waren von dem ersten Tage an ungebändigt, wild, laut und hatten einen Zug um den Mund, der Bösartigkeit verriet. Dabei waren sie alle sehr groß und stark für ihr Alter, aufgeweckt und rechthaberisch. Alle schienen den Vater, der sie nur mit einer bärenmäßigen Strenge kuranzen zu können glaubte, zu übersehen. Sie waren um ihre Mutter, zupften sie an den Haaren, tollten um sie, küßten sie ab. Doch waren sie nie zärtlich zu ihr. Zärtlich waren sie nur zu Annina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Annina hätte einen Stationsvorstand aus Sterzing heiraten können. Sie hatte gelacht. Und als dieser — ein braver Mann und Bürger — sie sinnlos vor Leidenschaft verfolgt und belästigt hatte, war sie ihm bei der Gartentür in Wilten ins Gesicht gesprungen, hatte ihn gekratzt, hatte über die blutende Stirn des geilenden Männchens ihre schwarze Mähne geschüttelt. Dann war sie hinaufgelaufen, im Speisezimmer Margot um den Hals gefallen und hatte gerufen: »Ich bleibe bei dir, cara, carissima!« — — — Sie war auch die einzige, die durch ein Nicken die Kinder an ihren Platz stellen konnte, die aber auch durch einen nicht ausgesprochenen Gedanken sie die größten Dummheiten tun ließ. Max, der nur den erzieherischen Einfluß Anninas bemerkte, mußte seiner Frau wohl oder übel recht geben, wenn diese ihm auf seine Vorstellungen, die italienische Bestie doch hinauszuhauen, immer nur antwortete: »Was machst du dann mit den Kindern?« Ja, es war gräßlich, und jedem in der Stadt fiel es auf, was für eine Wirtschaft die Mittermüllers zu Hause hatten. Wenn man zusammen ausging, da fingen gewöhnlich die beiden Ältesten, Karl und Moritz, auf kolossal raffinierte Weise einen der vorbeikommenden, kleinen Hunde, rannten mit ihm weg und erschienen nach einigen Minuten mit einer plattgedrückten Leiche, die sie mit Hilfe eines Feldsteins oder einer elektrischen Straßenbahn hervorgebracht. Hauptmann Mittermüller hatte schon manche Strafe zahlen müssen; aber es half da wirklich nichts. Man konnte prügeln so viel man wollte, vierzehn Tage waren die Kinder dann wie die Engerln, gaben bei der Ecke dem armen, blinden Mann aus ihrem Taschengeld je einen Kreuzer, um ihm nach weiteren acht Tagen den Hut beim Vorbeigehen mit allem, was drin war, hämisch hinabzuschleudern. Max Mittermüller wollte für die ältesten eine Korrektionsanstalt, ein sehr strenges Institut heranziehen. Margot beschwor ihn davon abzustehn. Sie würden dort verdummen und ganz schlecht werden. »Sie sind doch so hübsch und gescheit!« Die beiden Eltern blickten in den Garten hinaus, der in summender Augustsonne dalag. Hinter ihnen im Speisezimmer verstreute Ludwig, der Sechsjährige, von dem noch nicht abgeräumten Esstisch sinnreich Kirschkerne über den Boden. Die Eltern aber beobachteten unten beim Springbrunnen Fritz und Robert, deren helle Lockenköpfe interessiert über ein Ding im Gras gebeugt waren. Es war eine kleine Eidechse, die sie mit Hilfe eines Brennglases in Brand versetzten. Margot meinte: »Fritz — bitte, er ist erst vier gewesen — kann schon ganz gut buchstabieren! Es ist unglaublich. Nicht, Liebling?« Hauptmann Max hatte sich umgedreht und die Tätigkeit seines Sprößlings im Zimmer entdeckt. »Schau, um Gottes willen, schau! Wie komme ich zu diesen Kindern?« Seine wasserblauen Augen wollten sich mit Tränen füllen wie immer in solchen Momenten. Da wurde dann aber Margot zornig. »Kümmere dich um sie! Du bist der Mann!« Der Hauptmann begann zu prügeln . . . . . . . . . . . . .
Besonders gründlich wurden Haus und Garten hergerichtet, wenn der Vater in der Kaserne war. Kein Mensch wollte mehr bei Mittermüllers verkehren. Wie Horden wilder Tiere durchstürmte die Schar der fünf die Zimmer, erfüllte sie mit Geschrei, warf Teller gegeneinander, riß Blumen aus, ließ Stinkbomben platzen, schlug sich blutende Wunden. Im Garten wurde ein Graben aufgeworfen, listige Fallen gelegt. Obwohl sie immer in Kampf miteinander lebten, schlossen sie sich sofort gegen den Erwachsenen solidarisch zusammen und nur vor Annina entbrannte Eifersucht. Wen sie streichelte, der wurde halbtot gehauen. Da konnte die Mutter Margot nicht konkurrieren, und je älter sie wurden, desto mehr haßten sie ihren Vater. Im Hin- und Herstreiten um das Schicksal der Kinder war auch das Einvernehmen der beiden Gatten sichtbar schlechter geworden. Streit, Rauheit und dunkle Sünden hatten sich um das weinlaubumrankte Haus gelegt und versuchten heimlich das Glück, das sich bereits zum Mittagstisch gesetzt, zu fesseln und zu würgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Im Winter des zehnten Jahres der Ehe mußte Margot zu ihrer Tante reisen, die schon lange nach München übersiedelt war. Während der Zeit ihrer Abwesenheit kam Hauptmann Max einmal gegen 12 Uhr nachts angeheitert von einer geselligen Zusammenkunft. Er dachte, daß er im Februar transferiert werde. Die Nacht war ganz in Schnee und Schnee stieg bis zum Himmel auf. Hauptmann Max stapfte durch die nicht gekehrten Vorstadtstraßen und sein Hirn funktionierte weiter: »Da werde ich wenigstens mit einer guten Ausrede diese — diese Annina los!« Jene Gedankenassoziation riß ihn plötzlich wach. In das dunkle Gefühl der allgemeinen Rauschseligkeit sprang böse Lust. Das Bürgerliche wurde pervers und erinnerte sich der festen Brüste des Mädchens, das ihm sonst höchst zuwider war. Max Mittermüller sperrte das Haustor leise auf, um die Kinder nicht zu wecken, die auf der rechten Seite des Vorzimmers in zwei Räumen schliefen. Dann schlich er, nachdem er den Säbel abgelegt, durch die Küche in das Dienstbotenzimmer und vergewaltigte die Schlafende. Mit männlichster Faust hielt er ihr den schreienden Mund zu und seine Betrunkenheit ließ ihn dann zu Bett taumeln, ohne den Blick erkannt zu haben, der den Augen Anninas Wut und Qual entriß . . . .
Föhn sprang um das Dach. Eine Kerze schwankte im Vorzimmer hin und her. Dort stand in einem weißen Mantel die Dienerin. Jetzt öffnete sie die Türe in das Kinderzimmer, trat ein. Das war noch nie vorgekommen, daß sie ihre Lieblinge zur Nacht besuchte; alle waren darum aus ihren Betten aufgefahren, fiebrig-erregt im Nachtkleid zu ihren Füßen gehuscht. Die Kerze tropfte in der zitternden Hand. »Was hast du? Du kommst zu uns?« Annina beugte sich zum Ältesten und flüsterte. Das Flüstern ging weiter. »Sie ist unser Vater?! Hast du das gewußt? Sie hat es gesagt! Der dort drüben aber . . .« Die kleine Faust ballte sich. Die Diele knackte. Das Flüstern erfüllte das Haus, stieg in den Kamin. Drüben schlief der Hauptmann den Schlaf der Gerechten und Sünder. Die Kinder schlichen durch den Gang; wie Tiere an sein Bett. Weiße Mäuse des Irrsinns. Dort stand eine und hielt das Licht. Es fiel dem Hauptmann flackernd vor die Stirn, doch der schlief fest. So fest, daß sein Ältester ihm mit dem Rasiermesser die Kehle durchschneiden mußte, um ihn zu besserem Leben zu erwecken. Der kleine Fritz, der schon lesen konnte, riß an des Vaters Füßen, bis sie locker wurden und einer schnitt an der Nase herum. Der Föhn sprang ums Dach. Annina hatte den Mantel fallen gelassen und war nackt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Am grauen Morgen fuhr ein Einspänner vor dem Hause vor. Freudig bewegt eilte Margot durch den Vorgartern auf die Türe zu. Sie hatte einen früheren Zug benützt und war schon da. Der Jüngste kam ihr im Hemd entgegengelaufen, trug ein Ding in der hohlen Hand und schrie: »Schau, das A-uge, das A-uge!« Durch ein Fenster sprang Annina, schwang sich in die Lüfte, hinter ihr die Kinder, jedes blutig und höhnisch. Im winterlichen Land lagen die Trümmer eines explodierten Lebens verstreut. Mitten im Zimmer ein großes, blutiges Herz. Im Garten die liebliche Gattin.
BAUER zenterte und Fischera konnte unhaltbar einsenden, eine halbe Minute später pfiff der Schiedsrichter ab: der Länderwettkampf Österreich-Ungarn war für ersteres 4:2 siegreich entschieden. Ein ungeheures Gebrüll durchdrang die Maienlüfte, die Menge warf sich ins Spielfeld, um ihre besonderen Fußballlieblinge auf den Schultern hinauszutragen. Das Logenpublikum eilte zu seinen Autos. »Ja, Josef, fahren Sie direkt nach Haus.« Frank Merten half seiner kleinen Frau in den Wagen. Die beiden sprachen anfangs kein Wort. Frau Herma hatte ihre rechte Hand über ihre müden Augen gelegt, die andere aber lag sehr kindlich in der des großen, breitschultrigen Mannes, der ihre Finger einzeln und sorgfältig liebkoste. Auf den Gassen weiter draußen gegen Lainz und Mauer waren die obligaten roten Blusen, in denen die Mädchen unserer Stadt steckten, und die Wiesen sah man voll Sonntags und Papierln. Die Grünheit des Tiergartens schien freundlich herüber, Sonne war da. Frank Merten sagte: »Weißt du, Liebling, wir haben heute viele Menschen gesehen — bei Renskys war es eigentlich ganz nett — und jetzt das Match.« Herma dehnte die vom Sitzen steifen Glieder: »Ja — du — vier Besuche . . . aber beim Ländermatch das Geschrei hab ich so gern.« Er steckte ihr ein Schokoladebonbon in den Mund und sie machte die Augen wieder zu. »Du, Hermelein, ich habe heute wieder den blödsinnigen Liebes-Tag. Am Abend haben wir heute keinen Menschen draußen — zwar, die Randolfis warten schon lange auf eine Einladung — —« Als sie dann vor ihrer Rodauner Villa ausgestiegen waren und das Auto war fortgeschickt — sie gingen Hand in Hand zwischen Taxushecken dem Hause zu — lächelte sie ganz plötzlich und zeigte ihre Zähne: »Schick auch die Diener weg außer dem Karl. Heute haben wir Mond. Wir wollen allein sein im Garten, nicht Bubi?« Als sie in die Halle traten, kam der Diener Karl schon auf sie zu. »Etwas Neues?« »Nichts, Euer Gnaden. Das heißt ein Mann war da, ein Gartenbursche von Scaldonettis drüben, glaub’ ich. Er hat das gebracht.« Karl wies auf einige schmutzige Tücher, unter denen die Pfoten eines Bullys hervorschauten. »Hat man ihn endlich gefunden — ja, aber so — wer hat ihn denn?« Dr. Merten machte ganz bestürzte Kinderaugen. »Die Lausbuben, die Pülcher, mit Schrot — wann i die derwisch.« Frau Herma war über die Fetzen gebeugt und sprach einige Worte zu dem toten Hundekopf. Dann richtete sie sich auf: »Na, armes Vieh . . . Erinnerst du dich, Tante Blanca hat es zu Ostern vor einem Jahr — -« Ihr Mann aber war schon ins Schlafzimmer vorausgegangen. Sie sagte noch zum Karl: »Übrigens sagen Sie den Leuten, es kommt heute niemand her. Sie können alle weggehen, auch die Fanny. Es ist doch Kaltes da und Obst? — ja, also decken Sie auf der Veranda auf.« »Ich möcht schön bitten, Euer Gnaden, meine Tante hat heut ihren 60. Hochzeitstag gefeiert und wir sind alle beim »Schneider« unten — —« »Gut, gehn Sie halt auch. Aber machen Sie alles nett. Ein paar Blumen zu Tisch. Und wenn Sie weggehn, machen Sie beide Türen gut zu.«
Drinnen im Badezimmer hatte Frank schon das verschwitzte Hemd von sich geschleudert, den Kopf unter die Brause getan und pustete gewaltig. Herma fuhr auch recht schnell und gewandt aus ihrer Straßentoilette. »Hast du die Lisie schon weggeschickt?« schrie er ins Schlafzimmer hinein, »soll ich dir helfen?« Da flog auch schon die gnädige Frau mit der Schnelligkeit ihrer zweiundzwanzigjährigen Beine ins Badezimmer und küßte Frank oft und stürmisch ins nasse Gesicht. Sie lachte unausgesetzt über ein Haar, das ihm von seinem Scheitel so komisch wegstand, wofür er sie hinterrücks mit der Douche überraschte. Hierauf trockneten sie sich zusammen in einem schneeweißen Badetuch ab. »Du, Nunnerl, ich zieh mir den Smoking an. Du, geh, nimm auch dein hellblaues.« »So üppig? Aber du mußt einen niedern Kragen haben, wo du wie ein Gymnasiast ausschaust.« »Ich — Gymnasiast?« Er straffte seinen Oberarmmuskel. »Schon gut.« Sie fuhr ordnend über seine Augenbrauen . . . . . . . . . .
Beim »Hellblauen« mußte er allerdings hinten mithelfen, Sie sah hübsch aus vor dem offenen Fenster — weiter drüben war ein blühender Kirschbaum in letzter direkt kitschiger Abendröte. »Ich glaube das mit dem Bobby war der Aushilfskoch, der mit mir so — war — du warst auch etwas roh.« »Ach was, so ein frecher Hund — überhaupt brauchen wir keine Riesen im Haus.«
»Euer Gnaden, es ist serviert.« »Also gut, gnädige Frau?« Frau Herma hing sich förmlich in ihres Mannes Arm ein, sie gingen durch ein paar Zimmer, die dunkel lagen, auf die Veranda. Der Tisch war voll Goldregen und alles sehr appetitlich. Nachdem sie auch Karl entlassen, liefen sie noch einmal zum Rosenbeet hinunter und Frank steckte der gnädigen Frau zwei Rosen ins Haar, er selbst befestigte sich eine im Knopfloch. Dann lächelten sie sich in die Augen und als von einer auf der Gasse vorbeiziehenden Menschengruppe Ziehharmonikaklänge heraufkamen, tanzten sie einen Walzer mitten im schönen Rasen. »Du, der Herr Rubek wird schimpfen —« Er hob sie und trug sie freudig zu Tisch. Die Abendschatten waren ganz lang geworden und eine Frühlingsnacht ließ Schleier von den Bäumen flattern. »Weißt du, — aber zum Essen muß man etwas sehn.« Frank stellte eine rote Lampe auf den Tisch, in deren Licht alles sehr freundlich zu ihrem Herzen kam. Dann aß man mit jugendlichem Appetit: Hummer und Mayonnaise, kaltes Händel und Roastbeef. Der Bursche hatte auch nicht den Champagner vergessen, ein Stöpsel flog in die Luft, sie tranken aus gewechselten Gläsern und er sagte: »Nunnerl, ich hab dich so lieb s« Er breitete die Arme weit. Bei den Erdbeeren wurde es dann ganz schön. Der Mond kam rot und lieblich wie eine Blüte über die Ebene, so daß sie die Lampe verlöschen und sich auf seinen Schoß setzen mußte. Die Erdbeeren rochen fabelhaft nach Wald und den warmen Lichtungen, auf denen sie gewachsen. Herma zerzupfte mit ihren Zähnen die Knopflochrose und schaute in das starke Gesicht ihres Mannes. Sie waren so nah — sie küßten sich. Der Horizont mit Stadtlichtern und einer geahnten Weite schien sich um sie in lieblichem Ringelreihen zu schließen — von dem Ginster dort sang die Nachtigall eines Dichters und der Springbrunnen war der Friede. Der Mond stieg — »Weißt du, Buberl, damals, als ich —« Ihr Arm hatte sich zu seinem Herzen geschlichen und hielt ihn ganz. Die Zigarette war ausgegangen. »Weißt du, daß wir glücklich sind?« — — Der Kies war wie Elfenbein und jetzt war ein Wind, der die Silberpappeln an der Einfahrt zittern machte, das Einzige, das zu leben schien. Die beiden atmeten und träumten. »Weißt du, wir sind im Himmel.« Eine Karaffe auf dem Tisch nickte ihren gleich schauenden Augen zu, Goldregen kam zu ihnen. Der Mond stieg und ließ Musik in ihr Herz. Ihre Körper wurden warm aneinander wie eine schöne Flamme. Frank summte leise eine Melodie. »Schau, Hermelein, hole deine Mandoline aus dem Herrenzimmer.« »Oh, was für eine gute Idee . . .« Sie biß ihn in das Ohr und fort war sie wie eine Katze. Er ließ die Arme von dem Fauteuil herabhängen und blies heitere Wolken von der neu angezündeten En A’ Ala dem Mond ins Gesicht. Drinnen warf scheinbar beim Herunternehmen der Mandoline die gnädige Frau das Konsoltischerl um. Pum. Pum. Nein, es war wieder still. »Wo das Mäderl nur bleibt?« Im Ginster raschelte es. Frank erhob sich — »sie hat wieder nicht Licht gemacht —« und trat in die Türe. Er wollte das »Elektrische« anzünden, das aber scheinbar nicht funktionierte und durchmaß deshalb im Dunkeln den nicht allzu großen Raum. »Weißt du, Mäderl, wir werden —« Da sah er, nachdem er die nächste Tür geöffnet, im süßen Mondschein eine weiße Hand, weiter nichts mehr. Denn ein furchtbarer Schatten fiel wie der eines Tieres von hinten über ihn, würgte ihn, ließ ihn nicht sich umdrehen, zog ihn zu Boden. Seine Hände spreizten sich — »Jetzt gilt’s — Leben — Herrgott —« — ganz rohe pfauchende, laute Stimmen. Etwas kollerte er von sich und dann kam eine Spitze durch die Smoking-Brust und tat weh. Er schlug hart mit dem Kopf auf, hörte noch, wie Kasten aufgerissen, zersprengt wurden, ein Wimmern, schwere Schritte. Dann stürzte sein Himmel ein, rote Kugeln schossen vor seinen Augen hin, seine Hand hob sich, sank zurück . . . . .
Die Raubmörder verließen das Haus, nachdem sie sämtliches Bargeld samt Pretiosen im Gesamtwert von rund 300000 K an sich gebracht und das Licht verlöscht hatten, über die hintere Mauer des Gartenkomplexes, bestiegen ein Auto und fuhren nach Italien, um sich gegen Brasilien einzuschiffen . . . . . . . . . . . . .
Dort drinnen schien aber der Mond noch immer auf einen frühlinglich gedeckten Tisch und gepflückten Goldregen. Nur das Blut, das in die Dielen sickerte und dann dick ward, war seinen heiteren Blicken neu. Und als er auf die entstellten Leichen der Liebenden schaute, die durch ein weites, verwüstetes Zimmer getrennt waren, zog er eine Wolke vor sich und weinte . . . .